Jenny. Von der Verfasserin von „Clementine“. Zweiter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus 1843 . Jenny. Zweiter Theil. Jenny. Von der Verfasserin von „Clementine“. Ein Stamm, aus dem der Erlöser, die Madonna, die Apostel hervorgegangen, der nach tausendjähriger Ver- folgung dem Glauben und den Sitten seiner Väter treu geblieben, nach tausendjährigem Drucke noch hervorra- gende Größe für Wissenschaft und Kunst erzeugt, muß jedem andern ebenbürtig sein. Die Verhältnisse der Juden in Preussen von v. Rönne und Simon. Zweiter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus 1843 . I n Berghoff, dem prächtigen, am Meere gelegenen Landhause des Kaufmanns Meier, finden wir Jenny wieder. Neben ihr Clara Horn, die zu Jenny hinausgefahren war und nun mit bangem Herzklopfen der Ankunft Eduard's harrte. Sie hatte ihn noch nicht wie- dergesehen, und war lange mit sich zu Rathe gegangen, wie und wann dies erste Begegnen vor sich gehen könne. Eduard war allerdings in seinem Berufe bei ihrer Mutter gewesen, und hatte lange dort verweilt, in der Hoffnung, Clara werde endlich wieder für ihn sichtbar werden; aber sie war nicht erschienen. So re- signirt sie sich fühlte, war sie doch ihrer Fassung II. 1 nicht gewiß genug, um im Beisein ihrer Mutter Eduard zum ersten Male sprechen zu wollen, und endlich, als die Sehnsucht nach ihm immer reger wurde, benutzte sie ihr Versprechen, Jenny in Berghoff zu besuchen, in der Voraussetzung, daß Eduard den Abend dort zubringen und die Anwesenheit der ganzen Familie ihr eine ruhige Haltung möglich machen werde. Clara's Eintritt erregte große Freude bei den Damen, aber zugleich ein allgemeines Fra- gen nach ihrem Ergehen, denn man fand sie sehr bleich und leidend. Sie versicherte indessen, sich vollkommen wohl zu fühlen, und ging gleich zu einer allgemeinen Unterhaltung über, wozu Herr Meier, der ebenfalls anwesend war und Clara mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit be- handelte, ihr hülfreich die Hand bot. Jenny aber täuschte das nicht, und sie benutzte die erste Gelegenheit, sich mit Clara zu entfernen, um wo möglich von ihr selbst zu erfahren, was seit der Scene im Garten zwischen Eduard und ihrer Freundin vorgegangen sei, und ob sie den beiden, ihr so theuern Personen irgend Beistand oder Trost gewähren könne. Wie wir früher berichtet, hatten die jun- gen Mädchen eine innige Freundschaft für ein- ander gefaßt, und sich fast über Alles ausge- sprochen, was sie berührte. Jenny kannte Wil- liam's Neigung für ihre Freundin, seine Wer- bung und die Scheu, mit der Clara an die Zeit seiner Rückkehr dachte, ohne daß eines der beiden Mädchen aus leicht begreiflicher Rücksicht jemals den Grund berührt hatte, der Clara dieser Verbindung abgeneigt machte. So lange Jenny ihre Freundin heiter und Eduard unver- ändert ruhig gesehen, hatte sie es für indiscret gehalten, sich in ein Verhältniß zu drängen, das man ihr verheimlichen wollte; nun sie aber in Clara's bleichem Antlitz, in Eduard's düste- rer Stimmung das Leiden ihrer Seelen las, 1* konnte sie sich nicht länger überwinden, und mit aller ihr eigenthümlichen Lebhaftigkeit kniete sie vor Clara nieder, und bat, indem sie sie mit beiden Armen umschlang: „Sage mir, Clara, was ist geschehen? Warum hast Du so viel ge- litten, daß Du bleich und traurig aussiehst? Was fehlt Eduard? Sage es mir, wenn ich nicht das Aergste fürchten soll, wenn Du mich genug liebst, mich mit Dir leiden zu lassen.“ „Du weißt es“, antwortete Clara, „aber gerade darum laß mich davon schweigen. Helfen kannst Du mir nicht, Niemand kann es, und das Einzige, was Du für mich thun sollst, ist, mich mit Eduard ein paar Minuten allein zu lassen, wenn er heute herauskommt. Willst Du das?“ Jenny versprach es, und traurig saßen sie lange beisammen, bis der Hufschlag eines Pfer- des die Ankunft eines Reiters verkündete und nach einer Pause banger Erwartung Herr Meier mit Eduard zu ihnen kam. So gewaltig dieser nach Fassung rang, so deutlich sah man ihm die innere Aufregung an, als er, Clara be- grüßend, ihre Hand ergriff und küßte. In Clara's Augen schwammen große Thränen, welche nur die Anwesenheit des Vaters zurück- hielt, der anscheinend es nicht bemerkte. Er hielt einen Brief in der Hand und fragte seine Tochter, ob sie etwas von Erlau's Abreise ge- wußt hätte, die er Eduard in diesem Briefe melde, mit welchem er zugleich von allen seinen Freunden Abschied nehme. Jenny verneinte es, und Herr Meier sagte: „Dieses Schreiben ist nun wieder Erlau's treuestes Abbild; hört nur, wie es lautet: „An Eduard Meier, mit dem Befehl, es als Currende an das übrige Volk zu senden, das sich nach 24 Stunden Abwesenheit noch eines Entfernten erinnern sollte.“ „Lieber Doctor! ziehe Dein Taschentuch her- vor und trockne Deine verwunderten und hof- fentlich weinenden Augen, da Du erfährst, daß ich längst zum Thore hinaus bin, wenn ich Dir dies Lebewohl sage. Du kannst nicht behaup- ten, daß ich treulos desertire — die lange und langweilige Campagne eines norddeutschen, nebel- grauen Winters habe ich voll rührender Geduld und lobenswerther Theilnahme mit Euch durch- gemacht; ich habe Eure steifgeschnürten, gebilde- ten Schönen tanzen gesehen, mich in hundert Gesellschaften gelangweilt und ruhig Eurem so- genannten vernünftigen Treiben und Wirken, Eurer Aesthetik und Politik, Euren Diners und Zweckessen, Euren Vereinen und all den tau- send Narrheiten zugeschaut und, was noch mehr ist, ich habe meine rechte Hand im Zaume ge- halten, die täglich sich in hundert Karikaturen zu zeigen verlangte. Die Karikatur aber ist ein Bastard der Kunst, ein unwürdiger Sohn, den die Mutter verleugnen muß, und zu dessen Vater ich mich und meinen ehrlichen Namen nicht hergeben mag. Wehe Euch! wenn Eure unverbesserliche Geschmacklosigkeit mich endlich dazu verleitet hätte, und Ihr waret nahe daran, mich auf diesen Irrweg zu führen. Darum fliehe ich Euch und wende meine Schritte nach jenen Gegenden, über denen ein blauer Himmel lacht, in denen man das Regieren den Fürsten und das Denken den Pfaffen überläßt, die da- für bezahlt werden und es doch nicht thun, und wo man keinen Gewerbschein zu lösen braucht, wenn man nichts verlangt, als ruhig in der Sonne zu liegen und sich der paradiesi- schen Wonne des dolce far niente zu befleißi- gen. — Von Euch und Eurem gepriesenen civilisirten Leben verlange ich gar nicht zu hö- ren. Ihr sollt und könnt mir nicht schreiben, weil ich nicht weiß, wo ich sein werde, und, wenn ich es irgend vermeiden kann, meine schreibkundige Hand zu nichts brauchen will, als die Blüthen und Freuden zu pflücken, die mir am Wege winken. Erst wenn dieser Win- ter lange hinter mir liegen wird, soll der Pinsel die einzelnen Lichtstrahlen wiedergeben, die durch Eis und Schnee unvergeßlich in meine Seele drangen. Denn jede Nacht hat ihre Sterne; auch im nordischen Eise blitzen sonnenhelle Bril- lanten funkelnd hervor, das Auge zu erfreuen — aber zu beleben, zu erwärmen, das verschmäh- ten sie leider. Und somit lebet wohl! Du lieber Eduard, die Deinen alle und Ihr übri- gen Freunde; genießet des spärlichen Sonnen- lichtes, das Euch geworden, wachset und gedei- het, Jeder auf seine Art, und wenn Ihr in Berghoff die Sonne untergehen und den Mond am Horizonte emporsteigen sehet, so betet mit mir, daß der Götter reichster Segen dies Fleckchen Erde, diese Oase in der Wüste, dies Thal be- glücken möge, wo unter dem Schutze sorglicher Liebe die schöne Rose von Saron erblühte. Möge Apoll ihr und ihren Pflegern den süßen Duft lohnen, den sie in die Seele eines seiner Söhne gehaucht, sie, die allein ihn vor dem gänzlichen Erstarren in der traurigen Farblosig- keit Eures Landes beschützte. Nochmals lebet wohl!“ „Da hast Du noch ein Abschiedscompliment, mein Kind!“ sagte der Vater, „und zum Danke für dasselbe magst Du sorgen, daß der Brief nach Erlau's Wunsch den näheren Freunden des Hauses mitgetheilt werde. Uebrigens freut es mich um des jungen Mannes willen, daß er noch solch rascher Entschlüsse fähig ist; denn Italien wird ohne Frage ihm die Vollendung geben, für die er berufen ist. Gib mir jetzt den Brief, ich will ihn der Mutter und The- resen zeigen und ihnen die Abreise des liebens- würdigen Wildfangs erzählen.“ „Ich komme mit Dir“, rief Jenny, als ihr Vater, nachdem er seinem Wunsche gemäß Eduard über die Pein des ersten Wiedersehens 1** fortgeholfen, sich entfernen wollte. Clara selbst hielt sie aber zurück, und sprach: „Nein, liebe Jenny! bleibe nur, es ist besser so. Was Dein Bruder und ich uns zu sagen haben, braucht für Niemanden, am wenigsten für Dich ein Ge- heimniß zu sein.“ „Clara!“ rief Eduard, „um Gottes willen nicht diese Ruhe, die Sie und mich tödtet, von der in diesem Augenblick meine Seele weit ent- fernt ist. O! das Glück, Sie endlich, endlich wiederzusehen, ist doch nicht im Stande, mich das Leid vergessen zu machen, das uns trifft.“ „Auch ich leide,“ erwiderte Clara mit be- bender Stimme, „aber wir müssen als Freunde mit einander zu tragen versuchen, was wir nicht zu ändern vermögen. Sie bleiben mir ja“, sagte sie, und faßte Eduard's und Jenny's Hände, die sie vereint an ihr Herz drückte, „und auch meine kleine Jenny bleibt uns, und so vieles Gute, und die Achtung vor uns selbst,“ und — die Liebe. Das muß uns genügen und erheben“, schloß sie, und verbarg weinend ihr Gesicht an Jenny's Brust, die sich zärtlich und mit ihr weinend an sie schmiegte. Eduard bog sich zu den Mädchen nieder, machte seine Hand von Clara los und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn. „Möge uns Friede werden!“ seufzte er, und stumm saßen sie lange beisammen. Endlich versuchte Eduard mit der Frage, ob Clara noch am Abende nach der Stadt zurückkehre, das Gespräch anzu- knüpfen. „Ja!“ antwortete sie, „und ich zweifle, daß wir uns in den ersten Tagen sprechen werden, wenigstens hier in Berghoff nicht, da meine Mutter die Ankunft meines Vetters erwartet und“ — sie stockte; aber Eduard und Jenny erriethen das Fehlende. „Da stehen Dir schwere Tage bevor“, sagte Jenny, und blickte ängstlich Eduard an, der todtenbleich geworden war und unwillkürlich ausrief: „Auch das noch und schon jetzt!“ „Mein Onkel ist hergestellt“, fuhr Clara fort, „und ich wußte schon, als wir uns zuletzt sahen, daß William zurückkehren werde. Ich wollte es Ihnen sagen, als ich herkam, aber es war mir später wieder entfallen.“ Und wieder entstand eine lange, drückende Pause, in der Niemand sprach, weil Jeder sich scheute, von dem Gegenstande zu reden, der ihn allein beschäftigte. Eduard wollte irgend einen bestimmten Entschluß fassen; er wollte Clara beschwören, diese stumme Resignation aufzuge- ben, oder lieber ein Beisammensein zu vermei- den, das für ihn bitterer, als jede Trennung sein mußte. Dazustehen vor der Geliebten, der man entsagen soll, und sein Herz zu bezwingen, das in einen Schrei des Schmerzes, in die glü- hendsten Worte der Leidenschaft ausbrechen wollte, das fand Eduard unerträglich. So süß es sei- ner entstehenden Neigung geschienen, ohne Worte jede zarte Regung in dem geliebten Herzen zu verstehen, ehe das entscheidende Geständniß den Lippen entfloh, so qualvoll dünkte ihn jetzt ein Zwang, der ihn zu leidender Unthätigkeit, zu peinlichem Erwarten des Kommenden verur- theilte, ihn, der bis jetzt allen Begegnissen sei- nes Lebens rasch handelnd entgegengetreten war. Deshalb erschien ihm Reinhard, der, eben in Berghoff angelangt, seine Braut suchte, wie ein Erlöser aus drückenden Banden. Erst nach- dem die ganze Familie beisammen und eine Stunde in Mittheilungen mancher Art vergan- gen war, konnten sich Eduard und Clara all- mälig von den schmerzlichen Empfindungen be- freien, die sie erduldet hatten, und zu des Va- ters großer Genugthuung sich, wenn auch ohne alle Theilnahme, in die Unterhaltung der Uebri- gen mischen, bis endlich, von Eduard heiß er- sehnt, die Trennungsstunde schlug. Und wieder geleitete er Clara zu ihrem Wagen, wie an dem letzten Abende, den sie in der Stadt zusammen verlebt; aber gegen den dumpfen Gram, den Beide jetzt empfanden, mußte ihnen der Schmerz jener Stunde wie ein Glück erscheinen. Denn in jenem Schmerze lag noch Bewegung und Leben; heute aber fühlten sie die Entsagung wie ein Leichentuch über ihre Zukunft gebreitet und schieden wortlos und vernichtet. Wie man verabredet hatte und wir berich- tet, sollte Jenny's Taufe nun in wenig Tagen vollzogen werden, und die Abfassung des nö- thigen Glaubensbekenntnisses führte sie zu ernst- lichem, erneuertem Nachdenken über diesen Punkt. Menschen von besonders lebhafter Phantasie ist es möglich und eigen, sich allmälig in einen bestimmten Ideenkreis hineinzudenken, ihn nach allen Richtungen hin mit Gründen auszustat- ten, und sich so ein Gebäude zu errichten, das den Schein der Festigkeit und Vollendung an sich trägt, ohne irgend eine wirkliche Basis in der Ueberzeugung Desjenigen zu haben, der es aufgeführt. Wie der Dichter, namentlich in seiner Jugend, die Geschöpfe seines Geistes kaum von den um ihn her lebenden Menschen zu un- terscheiden vermag; wie Kinder sich spielend so fest in die erfundenen Verhältnisse ihrer Pup- pen hineindenken, daß sie unwillkürlich Erfun- denes und Wirkliches vermischen und nicht mehr trennen können, so ging es in gewisser Art Jenny mit ihrer religiösen Erkenntniß. Nach- dem sie vergebens versucht, die Symbole des Christenthums mit dem Verstande zu erfassen, bemächtigte sich einst plötzlich ihre Einbildungs- kraft derselben, und sie wurde mit Ueberraschung gewahr, daß sie Vieles sich denken und in sei- nen Folgen und Veranlassung ausmalen, ja es bis zu einer deutlichen Vorstellung in sich aus- bilden könne, woran ihr der Glaube fehlte. Christus, der eingeborne, gekreuzigte und wieder auferstandene Sohn Gottes, wurde für sie zu einer so festen Gestalt in seinen Wundern, wie es ihr früher irgend ein Gott des Olymps ge- wesen, wie es ihr noch jetzt Goethe's göttlicher Mahadö war, der die sich opfernde Geliebte mit sich verklärt aus den Flammen emporhebt. Sowie sie, trotz der historischen Kenntniß des mittelaltrigen Johannes Faust, diesen gänzlich in der unsterblichen Gestalt des Goethe'schen Faust verloren hatte, weil der Letztere allein ihr durch die poetische Schönheit des Gedankens als wirk- lich erschien: so bildete sie aus dem Menschen Jesus, den die Apostel beschrieben, jenen mysti- schen Christus in sich aus, wie ihn die spätern christlichen Philosophen als Theil der Dreieinig- keit dachten. Nur wähnte sie, als diese Erschei- nung in einer bestimmten Form in ihr lebte, endlich an Christus und seine Wunder zu glau- ben, in dem Sinne, den Reinhard verlangte sodaß sie mit vollem Vertrauen von sich zu behaupten wagte, jetzt sei ihr nicht blos die christliche Moral, sondern die Menschwerdung Christi zu einer vollkommenen Wahrheit gewor- den. Wie bei allen Trugschlüssen stimmte nun Alles zu ihren Ideen, nachdem sie willkür- lich einen Anfangspunkt für ihr System gefun- den hatte, den sie als richtig annahm, obgleich er es in der That nicht war. Die sichere Ruhe, mit der sie sich hinterging, täuschte auch Rein- hard und den sie unterrichtenden Pastor, ob- gleich der Letztere über eine so unerwartete Ver- änderung der Ansichten bei seiner Schülerin sehr überrascht zu sein schien. Dazu kam, daß seit einigen Wochen Cla- ra's und Eduard's Lage sie beunruhigte und ihre Theilnahme in Anspruch nahm, während zugleich die Entdeckung von Theresens Liebe für Reinhard und Erlau's unerwartetes Geständniß sie vielfach beschäftigt und ihre Gedanken von den Forschungen über das Christenthum abge- zogen hatten, bis der für die Taufe festgesetzte Termin herannahte und sie wieder darauf hin- lenkte. Als sie nun jenes Glaubensbekenntniß niederschreiben wollte, das sich eigentlich streng an die im Glauben enthaltenen Dogmen binden mußte; als sie ihr Nachdenken fest auf den Punkt richtete, fing das Luftgebäude ihrer künst- lichen Ueberzeugung zu schwanken an, und die Schöpfung einer regen Phantasie zerfloß vor dem hellen Strahl des Geistes. Das bemerkte Jenny mit Entsetzen. Sie hatte Ruhe und Heiterkeit gewonnen durch die Täuschung, der sie sich unbewußt hingegeben: was frommte ihr eine Einsicht, die ihr Beides schonungslos raubte, sie in das alte Chaos des Zweifels stürzte und, wenn sie wahr sein wollte, sie von Reinhard trennte, weil ihr Uebertritt zum Christenthum bei diesen Zweifeln zu einer Lüge wurde? Ver- gebens wollte sie die Vorstellungen in sich zu- rückrufen, die ihr vor wenig Stunden geläufig und klar gewesen waren; es gelang ihr nicht ebenso wenig, als es dem Erwachsenen gelingt, jene Empfindung in sich hervorzuzaubern, die wir als Kinder gewiß Alle gehabt haben, wenn wir im Wagen dahinfahrend wähnten, Bäume und Häuser an uns vorüberfliegen zu sehen, während wir stille ständen. Nachdem uns ein- mal das Gegentheil unumstößlich bewiesen wor- den, kann selbst unser fester Wille das Trug- bild nicht mehr erwecken. Einen Moment lang mag man hoffen, sich gegen die Wahrheit ver- blenden, eine liebgewordene Täuschung in sich festhalten zu können — die Wahrheit siegt im- mer. Es ist ihr Prüfstein, daß sie siegen muß, und auch Jenny sträubte sich jetzt vergebens gegen ihre Gewalt. Die Ueberzeugung, daß der Geist des Chri- stenthums die Hauptsache in demselben sei, war es allein, die ihr einen Ausweg für ihre Be- sorgnisse zeigte, vor dem sich jedoch Anfangs ihre Redlichkeit scheute. Was aber sollte sie thun? Jetzt, nachdem sie unaufhörlich ihren Glauben an die christlichen Dogmen behauptet hatte, plötzlich erklären, sie habe sich getäuscht und sie könne nichts davon glauben? Das hätte sie eigentlich am liebsten gethan; aber würde man nicht an der Unfreiwilligkeit dieser Täuschung zweifeln, und annehmen, sie habe bis jetzt gegen ihre Ansicht etwas behauptet, um ihren Zweck zu erreichen, was zu beschwö- ren ihr der Muth fehle? Vor Reinhard und ihrem Vater, vor Eduard in diesem Lichte zu erscheinen, brachte sie zur Verzweiflung, ab- gesehen selbst von der Trennung von dem Ge- liebten, die unvermeidlich wurde, wenn sie sich weigerte, Christin zu werden. Sie schauderte, zwischen der Wahrheit und Reinhard wählen zu sollen; sie fühlte, daß Alle sie bedauern müß- ten wegen dieser unglückseligen Alternative, und daß wol Alle mit ihr leiden würden, falls sie sich wirklich entschließen müßte, den Geliebten ihrer Ueberzeugung zu opfern. Alle würden es beklagen, selbst Joseph, der sie ungern Christin werden sah, und Erlau, der sie liebte — Alle, nur Therese nicht. Ja, Therese würde sich freuen darüber, denn für sie konnte nur daraus eine Hoffnung erblühen, und, wie sie dieselbe jetzt kannte, würde Therese eigensüchtig genug sein, auf den Trümmern von Jenny's Glück- und Liebestempel sich eifrig ein bürgerliches Wohnhaus zu gründen. Das sollte und durfte aber nicht geschehen; Therese sollte nicht ern- ten, wo Jenny mit ihrem Herzblute gesäet hatte, und wieder und immer wieder ging sie daran, Alles durchzudenken, was ihr je von re- ligiösen Ansichten bekannt geworden war, bis sie entschieden zu der Ueberzeugung gelangte, die Dogmen als eine Nebensache zu betrachten, und, um Reinhard's Meinung zu schonen, endlich ein Glaubensbekenntniß zu Stande brachte, das in Spitzfindigkeit dem ältesten Jesuiten Ehre gemacht hätte. Mit großem Geschick hatte sie vermie- den, jener Lehren von der Kindschaft Christi, der Erlösung durch seinen Tod und der damit gegebenen Genugthuung zu erwähnen, ohne irgend Zweifel an ihrem Glauben bei Rein- hard dadurch zu veranlassen, der sich ganz ein- verstanden mit dem Glaubensbekenntnisse erklärte, als Jenny es ihm mit innerster Beschämung vorlegte. Des Geliebten Beifall, seine Freude über ihre Erkenntniß waren Dolchstöße für ihr Gefühl. Er liebte sie, er freute sich über sie, während sie ihn in Dem betrog, was ihm das Heiligste war. Sie sagte sich, daß sie Rein- hard's Vertrauen unwürdig hintergehe; sie hätte ihm gern die Wahrheit gestanden, wenn er nur gleich ihr dem Gedanken Raum gegeben hätte, daß man an Christus auf verschiedene Weise glauben, und doch sich unaussprechlich lieben und glücklich mit einander sein könne. Sie be- griff es nicht, wie der sonst so freisinnige Mann nur in diesem Einen Punkte von so unerbitt- licher Strenge sein konnte. Was that es ihrer Liebe oder ihrem häuslichen Glücke, wenn Jenny Jesus für den Ersten unter den Menschen, statt Christus für Gott hielt, so lange sie nur seine Lehren befolgte? Indessen führten alle diese Gedanken sie doch nur immer auf den einen Punkt zurück, daß Reinhard es nimmer zugeben würde, sie Christin werden zu lassen, wenn sie ihm die Wahrheit bekenne: daß sie ihn verliere, wenn sie es nicht werde. Das machte sie ver- zagt, und diese Kämpfe ermüdeten sie so sehr, daß sie aus Schwäche Muth zu einer Trennung von dem Geliebten fühlte, wie Feiglinge zu Selbstmördern werden würden, wenn im Mo- ment der Entscheidung nicht eben ihre Feigheit sie von der That zurückhielte. Wir sind so sehr gewohnt, in den Erzählun- gen unserer Dichter nur auf Edelmuth und er- habene Motive bei den Helden derselben zu stoßen, sodaß die nackte Prosa des Lebens uns fremd und widerwärtig erscheint. Deshalb wird viel- leicht Jenny in den Augen manches Lesers und in seiner Gunst sinken, wenn wir behaupten, daß es zuletzt nur Schwäche und Furcht wa- ren, welche sie abhielten, das Aeußerste zu wa- gen und ihr Glück zu opfern, um vor sich selbst gerechtfertigt zu sein. Von Natur offen und mittheilend, sah sie sich theils durch Verhält- nisse, theils durch ihre eigne Schuld in ein Gewebe von Heimlichkeiten und Täuschungen verwickelt, das sie in ihren eignen Augen ernie- drigte. Clara's ruhige ergebene Entsagung leuchtete ihr als Beispiel vor; sie wollte nicht kleiner sein als ihre Freundin, denn auch sie war sich bewußt, das Unvermeidliche würdig tragen und eher das Glück, als Achtung vor sich selbst entbehren zu können. Wie würde es sein, fragte sie sich, wenn ich vor Reinhard hinträte und ihm erklärte: „Ich liebe Dich mehr, als Du ahnen kannst, ich hatte meine ganze Zukunft an Dein Dasein geknüpft; aber Christin nach Deinem Sinne kann ich nie wer- den, darum müssen wir der Wonne entsagen, auf die wir gehofft. Therese liebt Dich, sie glaubt wie Du an Christus, möge sie Dir ein Glück gewähren, das Du aus den Händen einer Jüdin nicht annehmen darfst.“ Bei dieser in- nerlich gehaltenen Rede zerfloß Jenny in Thrä- nen. Der Schmerz, den sie empfinden würde, wenn der Moment dieser traurigen Entscheidung II. 2 gekommen, sie fühlte ihn jetzt schon lebhaft, ob- gleich eine Art von Beruhigung für sie in dem Akte der Großmuth lag, den sie gegen ihre Nebenbuhlerin ausüben wollte. Sie stellte sich den Kummer vor, in dem sie die schönsten Jahre ihres Lebens fern von Reinhard vertrauern würde, der ihrer an Theresens Seite vielleicht bald vergessen könnte, und noch heißer und bit- terer flossen ihre Thränen. Was würden ihre Eltern sagen? Was würde man in den Kreisen ihrer Bekannten denken? Welch' widersprechende, tadelnde und nachtheilige Gerüchte könnten sich über sie verbreiten! Während sie ihr höchstes Glück einer religiösen Überzeugung mit bluten- dem Herzen opferte, würden Neid und böser Wille sich in die innersten Verhältnisse ihres Lebens drängen und Motive zu dieser Hand- lung suchen, von denen keine Spur in ihrer Seele war. Könnte nicht selbst Therese bereit sein, Reinhard zu beweisen, daß Mangel an Liebe zu ihm oder die Furcht vor seinen be- schränkten Verhältnissen und dem Leben in länd- licher Zurückgezogenheit sie zur Lösung dieses Bündnisses veranlasse, und daß sie die Religion nur zum Deckmantel gebrauche? Jenny sah Reinhard vor sich, sie sah, wie er mit Verach- tung auf sie blickte, wie er sie von sich stieß, er, der sie einst geliebt, an dem sie stets mit warmer Neigung gehangen, und trotz aller in- nern Kämpfe, trotz der warnenden Stimme ihres Gewissens ließ Jenny die Taufe für eine bestimmte Stunde ansetzen, und beschloß, durch jenes gekünstelte Glaubensbekenntniß, das sie beschwören konnte, ohne gerade einen Meineid zu begehen, sich unauflöslich mit Reinhard zu verbinden, weil sie sich vor den Leiden fürchtete, die eine Trennung von ihrem Geliebten noth- wendig zur Folge haben mußte. Reinhard, seine Mutter und Clara sollten die Zeugen bei Jenny's Taufe sein, und die 2* Pfarrerin war zu diesem Zwecke nach Berghoff gekommen, wo sie ein paar Wochen zu bleiben versprochen hatte. Auch Reinhard machte sich frei von seinen Geschäften in der Stadt, um diese Zeit ganz mit seiner Braut zu verleben, da er, wie schon gesagt, gleich nach der Taufe mit seiner Mutter zu seinem alten Onkel fah- ren und dort verweilen wollte, bis die Entschei- dung über seine Anstellung definitiv erfolgt sein würde. Obgleich nur ein paar Monate seit der Abreise der Pfarrerin verflossen waren, fand sie das Verhältniß ihres Sohnes zu Jenny wesentlich verändert und fast umgekehrt. Rein- hard's Eifersucht hatte sich gelegt, da Erlau dieselbe nicht mehr erregte; mit den äußern Verhältnissen seiner Zukunft, mit dem Reich- thum seiner Braut hatte er sich ausgesöhnt, je mehr er sich überzeugte, daß die ganze Familie denselben zwar in seinem Werthe begriff, aber doch nicht überschätzte oder damit absichtlich prunkte; und da nun auch Jenny's religiöse Erkenntnisse sich seinen Ansichten angeschlossen hatten, war er vollkommen glücklich, und zu jener innern Zufriedenheit gelangt, die ihn seit seiner Verlobung geflohen hatte. Diese innere Ruhe machte ihn heiter, nachgebender und mit- theilender, als er es jemals gewesen. Er hatte tausend Aufmerksamkeiten für Jenny's Eltern, behandelte Eduard mit der zartesten, ängstlichsten Sorgfalt, da er ihn über einen Verlust trösten wollte, dessen Größe Reinhard mit ihm empfand, ohne daß Jener irgend über seine Liebe oder seinen Gram mit ihm gesprochen hatte. Mit Jenny unabläßlich beschäftigt, war er es jetzt, der sich an jeder Kleinigkeit erfreuen und bei jedem Begebniß eine fröhliche, scherzhafte Seite hervorheben konnte. Selbst Theresens Neigung für ihn diente, so sehr er es auch verheimlichen wollte, nur dazu, sein Glück zu erhöhen, indem sie seiner Eitelkeit, deren er sich kaum bewußt war, schmeichelte und ihm in Jenny's Eifersucht einen ihm wohlthuenden Beweis ihrer Liebe ge- geben hatte. Er fühlte sich in gewisser Weise Theresen dafür verpflichtet, behandelte sie mit freundlicher Zuvorkommenheit, und in dem täg- lichen Beisammensein mit ihr stellte sich ein zu- traulich bequemes Verhältniß zwischen ihnen her, das aber von Theresens Seite an Unbe- fangenheit verlor, je ruhiger Reinhard sich dem- selben überließ. Mit Freuden hatte die Pfarrerin die Ver- wandlung bemerkt, welche die Stimmung ihres Sohnes erlitten hatte, aber um so räthselhafter erschien ihr Jenny. Ein düstrer Ernst, eine krankhafte Reizbarkeit hatten sich ihrer bemäch- tigt, und besonders hatte Therese von der Letz- tern zu dulden, sodaß sie der alten Dame Be- dauern deshalb erregte. Jenny's Liebe zu ihrem Bräutigam schien grenzenlos; sie konnte sich keinen Augenblick von ihm trennen; sie war unruhig, wenn sie ihn nicht sah, und doch ver- mißte das scharfe Auge der Pfarrerin, trotz der Heftigkeit und Leidenschaft, die Jenny's Liebe verrieth, jene innige Hingebung, welche sie frü- her für Reinhard gezeigt hatte. Es lag ein Etwas in dem Betragen, in der ganzen Art Jenny's, das ihr unheimlich, ja fast dämonisch vorkam, und wovon sie sich doch keine bestimmte Rechenschaft geben konnte, um so weniger, als Jenny von einem unersättlichen Hang zu im- mer neuen Zerstreuungen erfüllt schien, der Niemanden in ihrer Umgebung zur Ruhe kommen ließ. Fahrten zu Wasser und zu Lande, Be- suche in der Nachbarschaft und stundenlange Spazierritte wechselten schnell mit einander ab, ohne daß Jenny, die eifrig darnach verlangte, Genuß darin zu finden schien. Reinhard liebte die Natur und jede Art von Bewegung im Freien, deshalb ließ er sich gern bereitwillig finden zu jedem Vorschlag der Art, welchen Jenny machte, bis auch ihm endlich ihre fieber- hafte Unruhe auffiel, die nicht eher nachließ, bis sie körperlich ganz erschöpft zusammenbrach und dann stundenlang in vollkommener Abspannung und weichster Stimmung verharrte. Bat er sie, von dieser anstrengenden Lebensweise abzu- stehen, sich Ruhe und Erholung zu gönnen, so riß sie sich gewaltsam aus der Apathie empor, versicherte, weder krank noch ermüdet zu sein, und bestand darauf, diesen letzten Sommer in Berghoff mit Reinhard, wie sie es nannte, noch recht in Eile zu genießen. Gegen dies wilde Treiben, das zuletzt Jen- ny's Mutter ebenso beunruhigte, als die Pfar- rerin, erschien Theresens stille, häusliche Thä- tigkeit um so wohlthuender. Sie hatte allmä- lig sich fast des ganzen häuslichen Regimentes bemächtigt und wußte für Jeden mit Sicherheit das Bequeme und Angenehme zu verschaffen, ohne daß man es von ihr verlangt hatte. Da- durch machte sie sich namentlich den ältern Da- men unentbehrlich, und auch Reinhard konnte nicht umhin, ihr lobend zu gestehen, daß sie ein seltenes Talent besitze, die materiellen Wünsche ihrer Umgebung zu errathen und zu befriedigen. Je mehr durch Gewöhnung auch für ihn der Comfort des Lebens an Reiz gewann, um so angenehmer erschien ihm die Weise, mit der Therese denselben zu bereiten verstand. Jenny's Aeußerung, daß Therese sich Liebe erkoche und erwirthschafte, begegnete daher allgemeinem Ta- del, wie überhaupt ihr Verhältniß zu ihrer Freundin der Pfarrerin immer mehr mißfiel und Allen ein Räthsel war, Reinhard ausge- nommen, der diese Schattenseite an Jenny's Charakter nur zu leicht und zu gern entschuldigte. Nach Jenny's früher geäußertem Wunsche sollte auch Therese unter ihren Taufzeugen sein, doch schien sie diesen oft besprochenen Vorsatz ganz aufgegeben zu haben, und erklärte, als die 2** Pfarrerin sie deshalb zur Rede stellte und ihr bemerklich machte, wie diese Zurücksetzung für Therese höchst empfindlich sein müsse: „Es thäte ihr leid, aber sie könne sich nicht entschließen, es wäre ihr unmöglich, sie dazu aufzufordern.“ Diese entschiedene Aeußerung veranlaßte die Pfar- rerin, weiter in Jenny zu dringen, ohne daß sie eine nähere Erklärung von ihr erlangen konnte. Sie behauptete, sich in Therese geirrt zu haben, und eine Abneigung gegen sie zu füh- len, die fast an Haß grenze und die sie nicht überwinden könne. Als zufällig gerade in die- sem Augenblick Therese mit einer gleichgültigen Frage im Auftrag von Jenny's Mutter hinzu- kam und mit einer heftigen, kurzen Antwort von Jenny abgefertigt wurde, die gleich darauf das Zimmer verließ, benutzte die Pfarrerin die Gelegenheit, mit Theresen einmal darüber zu sprechen, ob sie vielleicht den Grund zu Jenny's gereizter, launenhafter Stimmung kenne? „Nein“, sagte sie, „ich weiß auch nichts Bestimmtes darüber; nur Das fühle ich, ihr Betragen gegen mich habe ich nicht verdient, und würde es nicht dulden, wenn mich das Andenken an unser früheres Verhältniß nicht nachsichtig gegen sie machte.“ „Und wissen Sie denn nicht, liebes Kind, seit wann diese Verstimmung sich Jenny's be- mächtigt hat? Man könnte vielleicht irgend Etwas zu ihrer Beruhigung thun, wenn man nur im Entferntesten die Veranlassung dazu ahnen würde.“ „Sowie Sie Jenny jetzt sehen, liebe Frau Pfarrerin, ist sie seit wir in Berghoff sind“, antwortete Therese, „und allerdings habe ich eine Vermuthung darüber, die ich Ihnen mit- theilen möchte, wenn Sie mir heilig versprechen wollen, gegen Jeden, besonders aber gegen Ih- ren Sohn darüber zu schweigen.“ Die Pfarrerin zauderte einen Augenblick, dann bat sie Therese, diese Mittheilung lieber zu unterlassen, wenn sie nicht wirklich nöthig zu Jenny's Glück, zu ihrer Herstellung sei. „Ich bin in einer sonderbaren Lage“, ant- wortete Therese, „und weiß selbst nicht, ob es nicht meine Pflicht ist, ein Geheimniß zu ver- rathen, zu dessen Kenntniß ich nur zufällig ge- langte; denn noch dürfte es Zeit sein, ein Unheil zu vermeiden, das meinen theuersten Freunden droht.“ Die Pfarrerin wurde unruhig, und Therese fuhr fort: „Den Abend, ehe wir nach Berg- hoff zogen, zeichnete Jenny mit Erlau auf dem Balkon vor dem Treibhause eine Ansicht der Gegend, welche sie für ihren Bräutigam be- stimmte. Sie war Anfangs ganz heiter; Stein- heim war auch mit ihnen und Jenny rief mich ebenfalls herbei, um mir ihre Arbeit zu zeigen und mich an der Unterhaltung Theil nehmen zu lassen. Diese nahm, wie gewöhnlich, wenn jene Drei ohne Reinhard beisammen waren, eine ziemlich fade Wendung. Das Gespräch lang- weilte mich, sodaß ich Jenny aufmerksam machte, wie wenig diese Conversation ihrem Bräutigam zusagen würde. Darüber wurde sie verdrießlich und heftig, und so ist es seit jenem Tage geblieben.“ „Aber, liebe Therese“, sagte die Pfarrerin im Tone des Vorwurfs, „Sie können doch kaum annehmen, daß ein so geringer Tadel Jenny's ganzes Wesen, ihr ganzes Verhältniß zu Ihnen so vollkommen verändern könne, beson- ders da sie sonst Tadel von Jedermann mit großer Freundlichkeit zu ertragen pflegte, was mir stets angenehm aufgefallen ist.“ „O, Gott bewahre! das glaube ich auch nicht“, erwiderte Therese, „ich halte es nur für begreiflich, daß ihre üble Laune sich gerade gegen mich richtet, weil wir zufällig jenen klei- nen Streit in einer Stunde hatten, die außer- dem von entschieden traurigen Folgen für Jenny war.“ „Therese“, unterbrach die Pfarrerin sie sehr ernsthaft, „Ihre halben Reden scheinen mir ein Geheimniß mittheilen zu wollen, das Sie viel- leicht verschweigen sollten. Sie sind aber be- reits zu weit gegangen, und ich muß Sie bit- ten, mir nun die volle Wahrheit zu enthüllen, damit ich selbst entscheide, was wir für Jenny, die ich als meine Tochter liebe, thun können und müssen.“ Therese schien zu schwanken, dann aber sagte sie rasch und mit großer Bestimmtheit: „Nun denn, Frau Pfarrerin! Ich glaube, Erlau's Abreise ist die Veranlassung zu der vollkomme- nen Veränderung, welche mit Jenny vorgegan- gen ist.“ „Das wäre ein großes Unglück“, rief die alte Dame erschreckt. „Aber was bringt Sie auf diese Vermuthung, Therese?“ „Eine bloße Vermuthung hätte ich Ihnen nicht mitgetheilt“, antwortete Therese, „ich habe die feste Überzeugung, daß es so ist. Nachdem Steinheim den Balkon verlassen hatte, hörte ich, denn ich war im Treibhause beschäftigt, Erlau lebhaft mit Jenny sprechen, und obgleich ich weder Alles verstehen konnte noch wollte, vernahm ich, daß Erlau ihr seine Liebe gestand und ihr zugleich Lebewohl sagte, weil er ohne Hoffnung in ihrer Nähe nicht leben könne. Den nächsten Tag war er abgereist, und als sein Abschiedsbrief uns gebracht wurde, behaup- tete Jenny, die man darum fragte, von seiner Reise ebenso wenig gewußt zu haben, als wir. Trotzdem hat sie ihm wahrscheinlich das für Reinhard bestimmte Bildchen zum Andenken geschenkt, denn ich habe es seit dem Abend nicht mehr gesehen und es ist auch nie wieder die Rede davon gewesen. Am nächsten Tage zogen wir hieher und seitdem ist Jenny's traurige Stimmung, wie Sie selbst wissen, im Zuneh- men begriffen.“ Die Pfarrerin schwieg lange Zeit und schien mit sich selbst zu Rathe zu gehen, dann sprach sie: „Gott verhüte, daß Ihre Behauptung wahr sei! Ich kann nicht glauben, daß Jenny sich so vollkommen über ihre Gefühle getäuscht haben könne, und bin ebenso fest von ihrer Liebe zu Reinhard überzeugt, als von der sei- nen für sie. Indeß ist leider unser Herz tau- send befremdlichen Eindrücken zugänglich, und es wäre nicht unmöglich, daß sich irgend ein Widerstreit von Gefühlen in der Seele meiner armen Jenny erhoben hat, den sie mit ihrer leidenschaftlichen Weise gewaltsam bekämpfen will und hoffentlich bekämpfen wird. Daher mag ihre Unruhe entstehen, und ich danke Ih- nen, liebe Therese, für das Geständniß, das Sie mir gemacht, ebenso für die Geduld, mit der Sie die Unfreundlichkeit des geliebten Kindes ertragen. Nur Eins muß ich Ihnen wie die heiligste Pflicht ans Herz legen: Lassen Sie weder Jenny, noch meinen Sohn es ahnen, daß Sie irgend eine Vermuthung der Art hegen.“ „Wie können Sie das nur glauben?“ fragte Therese. „Rechnen Sie fest auf meine Verschwiegenheit, um so mehr, als auch Ihres Sohnes Glück davon abhängt, dem ich lebens- lang für so Großes verpflichtet bin und für den kein Opfer mir zu schwer fallen sollte.“ Die Pfarrerin umarmte sie gerührt und konnte nicht umhin, ihr zu versichern, wie sie ihre Achtung in hohem Grade gewonnen habe, und wie sehr sie ihr die Schonung Dank wisse, mit der sie Jenny behandle. „Lassen Sie uns vereint“, sprach sie, „dahin wirken, Jenny mit sich selbst wieder auszusöhnen und ihr das Glück zu erhalten, das Sie und mein Sohn von der Zukunft erwarten. Unsere innigste Anerkennung wird es Ihnen danken, und wenn Sie sich wirklich meinem Sohne verpflichtet fühlen, tra- gen Sie ihm Ihren Dank jetzt in einer Weise ab, welche ihn für immer zu Ihrem Schuld- ner macht.“ Therese versprach Alles und die Damen schieden mit einer wiederholten Umarmung und den herzlichsten gegenseitigen Versicherungen. Wie weit Therese bei dieser Unterredung sich selbst über die Beweggründe ihrer Hand- lungen getäuscht hatte, wie weit sie absichtlich dabei zu Werke gegangen, möchte schwer zu ent- scheiden sein. Ob sie wirklich an Jenny's Liebe für Reinhard zweifelte, an eine Neigung für Erlau glaubte, ob nur der Wunsch, Reinhard und Jenny vor Reue zu bewahren, allein sie antrieb, der Pfarrerin jenen Bericht zu erstat- ten, das lassen wir dahingestellt sein. Jeden- falls aber war sie sich der eigensüchtigen Mo- tive, die zweifelsohne in ihrer Seele sich regten, nicht deutlich bewußt, sodaß sie die Lobsprüche der Pfarrerin mit ruhigem Gewissen annahm und sich Jenny gegenüber in einer stillen Größe erschien, welche es ihr leichter machte, sich füg- sam und nachgebend gegen sie zu betragen. Ihrem Vorsatz getreu, schwieg die Pfarrerin gänzlich über die Entdeckung, welche Therese ihr gemacht hatte. Jenny that ihr leid und doch zürnte sie ihr, weil sie nicht daran zweifelte, daß Erlau wirklich einen Eindruck auf Jenny's bewegliche Phantasie gemacht und sie verleitet haben könnte, Reinhard untreu zu werden, wäre Erlau selbst ihr nicht zu rechter Zeit zu Hülfe gekommen. So lieb sie ihre künftige Schwie- gertochter hatte, konnte sie sich doch nicht ver- bergen, was sie stets gedacht und früher auch gegen ihren Sohn geäußert hatte, daß eine Frau mit so unruhigem Geiste, mit solch' hef- tigen Leidenschaften viel weniger zu Hoffnungen auf ein ruhiges eheliches Glück berechtigte, als z. B. ein Mädchen von Theresens soliden, wenn auch weniger glänzenden Eigenschaften. Sie zitterte bei dem Gedanken, ihr Sohn könne durch irgend einen Zufall von der Neigung seiner Braut für Erlau unterrichtet werden, und fühlte sich sehr beruhigt, als endlich der für die Taufe be- stimmte Tag gekommen war und sie die Aus- sicht hatte, nun mit ihrem Sohne Berghoff auf einige Monate zu verlassen. In dieser Zeit, so hoffte sie, würde Jenny zur Ruhe kommen, ohne daß Reinhard etwas von dem Kampfe in ihrem Herzen zu erfahren brauchte. Herr und Madame Meier, Eduard, Joseph, die Pfarrerin, Therese und Clara waren in ernster Haltung in einem Zimmer beisammen, in das freundlich die Strahlen der untergehen- den Sonne hineinfielen. Ein runder, mit kost- barem Teppich behangener Tisch, auf dem ein silberner Becken in silberner Schale stand, nahm die Mitte desselben ein. Neben diesem impro- visirten Hausaltar stand Jenny's Lehrer, der würdige Pastor, und erwartete, gleich den Übri- gen, den Eintritt seiner Schülerin. Sie hatte gewünscht, die letzten Stunden vor ihrer Taufe ganz allein zu bleiben, und ihren Bräutigam ersucht, sie erst rufen zu kommen, wenn Alles zu der feierlichen Handlung bereit sein würde. Nun trat sie an Reinhard's Arm in das Zimmer und Allen fiel die Todtenblässe ihrer schönen Züge auf, als sie sich in die Nähe des Pastors stellte und Reinhard zurücktrat. Nach einer kurzen Anrede des Geistlichen sprach Jenny ihr Glaubensbekenntniß und empfing die Taufe. Sie schien furchtbar ergriffen zu sein und bebte sichtlich zusammen, als das Taufwasser ihre bleiche Stirn berührte. Aber keine Thräne war in ihr Auge gekommen, kein Muskel ihres Gesichtes hatte gezuckt, und nur der bebende Ton der Stimme hatte, während sie das Glau- bensbekenntniß ablegte, der Herrschaft ihres festen Willens Trotz geboten. Jetzt war die kurze Ceremonie vorüber; Jenny war Christin geworden. Mit unbe- schreiblicher Innigkeit zog Reinhard die Geliebte an sein Herz und Thränen der reinsten Freude, des zärtlichsten Dankes glänzten in seinen Au- gen. Doch nur einen kurzen Moment ruhte sie, wie um sich zu erholen und Kraft zu ge- winnen, an seinem Herzen; dann flog sie, von einem innern Impuls getrieben, zu ihrer Mutter sank, bitterlich weinend, ihr in die Arme. Es wäre vielleicht für den ruhigen Zuschauer ein interessantes Schauspiel gewesen, hätte er wäh- rend der Taufe in den Seelen der anwesenden Personen zu lesen vermocht, die alle von den verschiedensten Gefühlen dabei bewegt waren. Madame Meier zerfloß in Thränen, weil es ihr vorkam, als trete durch die Taufe ein frem- des Element zwischen sie und ihre Tochter. Eduard und Clara, welche sich gegenüber stan- den, waren in schmerzliche Gedanken vertieft, und wenn ihre Blicke sich zufällig trafen, wand- ten sie dieselben schnell von einander ab, als fürchteten sie, die ernste Feier durch die beredte Sprache ihrer Augen zu entweihen. Die Pfar- rerin dankte Gott, daß es endlich so weit ge- diehen sei, und betete inbrünstig, der Herr möge nun auch ferner dies Paar beschützen und alles Störende, das ihnen noch in der nächsten Zukunft drohen könne, gnädig an ihnen vor- überführen. Dieses innere Gebet verhinderte sie, Theresens Unruhe zu bemerken, die keinen Blick von Reinhard und seiner Braut abwen- dete und, fast ebenso bleich als diese, mit Ge- walt in Jenny's Seele lesen zu wollen schien. Joseph aber entging dies ängstliche Spähen Theresens nicht, das ihn ebenso wenig, als Jenny's qualvolle Aufregung befremdete. Er sah finster auf die Scene vor seinen Augen als auf etwas, das er lange erwartet hatte; nur als Reinhard nach der Taufe die Braut in seine Arme schloß, fuhr Jener mit der Hand nach dem Herzen, als ob er dort einen flüchti- gen Schmerz empfinde. Der Vater allein war vollkommen ruhig und heiter geblieben, er freute sich Reinhard's, der sich der glücklichste Mensch unter der Sonne zu sein dünkte, und dies mit so stolzer, voller Freude äußerte, daß es auf alle Übrige, Therese vielleicht ausgenommen, einen wohlthuenden, besänftigenden Eindruck hervorbrachte und end- lich auch über Jenny's Thränen und ihren nicht zu verbergenden Schmerz zu siegen begann. Eine Weile ließ Herr Meier den erregten Empfindungen Raum, sich zu beruhigen, dann war er es, der die Thüren des Zimmers öff- nete, in den Garten hinaustrat und die Uebri- gen aufforderte, ihn zu begleiten. Es war drückend warm im Zimmer geworden, denn die Sonne brannte auf die Scheiben der geschlosse- nen Fenster. Um so erquickender erschien Jedem die frische Abendluft, welche, von dem Duft der prächtigsten Orangenblüthen balsamisch durch- zogen, ihnen entgegenströmte. Reinhard war einer der Ersten, die der Aufforderung des Va- ters folgten. Er verlangte sehnlichst, mit seiner Braut allein zu sein, und wandte sich mit ihr, sobald es thunlich war, einem entlegenern Theile des Parkes zu. Dort angekommen, setzten sie sich nieder unter den Schatten einer mächtigen, von Epheu grün umrankten Kastanie und schweigend sah Reinhard lange mit der innig- sten Liebe auf Jenny, die, noch sehr bleich und ermattet, sich mit geschlossenen Augen an ihn II. 3 lehnte und dringend Ruhe zu bedürfen schien. Die Spannung der letzten Zeit hatte, nun die That vollbracht war, nachgelassen und wie na- türlich einer großen Erschöpfung Platz gemacht. Als Reinhard das zarte Mädchen so in seinen Armen hielt, das mit den geschlossenen Augen, den ruhigen, regungslosen Zügen und der weißen Kleidung wirklich einer schönen Leiche glich, fuhr ihm schmerzlich der Gedanke durch die Seele, sie könne sterben, während er sich von ihr trenne, und er werde sie niemals wieder- sehe. Er schrak zusammen. Wäre es eine Ah- nung? fragte er sich, und eine fast kindische Furcht ließ ihn die Möglichkeit wähnen, die Geliebte könne gerade jetzt in seinen Armen ge- storben sein. Behutsam küßte er plötzlich Jen- ny's lange Wimpern, indem er sie mit den zärtlichsten Worten bat, nur einen Laut zu sprechen, ihm nur zu sagen, daß sie lebe, daß sie sein Glück mit ihm fühle. „Ja, ich lebe, mein Gustav!“ antwortete sie auf seine Frage und schlug lächelnd die Au- gen zu ihm empor. „Ich lebe! Und ob ich Dich liebe? O! Gott weiß es, wie ich davon in dieser Stunde Zeugniß gegeben habe. Ich liebe Dich wie mein Leben, wie meine Seele — nein, mehr als meine Seele. Ist es so recht?“ fragte sie und lehnte sich wieder an ihn, nachdem sie sich während des Sprechens aufgerichtet und die Hände fest ineinander ge- faltet hatte. „Aber warum fragst Du mich, Gustav, ob ich Dich liebe?“ fuhr sie nach einer kleinen Pause fort. „Weil ich den Ton Deiner Stimme hören wollte, mein süßes Leben. Du sahst so heilig, so verklärt aus, daß ich fürchtete, Du könntest die Erde verlassen und aus meinen Armen in Deine Heimat, in den Himmel, zurückkehren, von dem Dein Antlitz ein so treues Bild war.“ „Ach! hätte ich so hinüberschlummern kön- 3* nen“, seufzte Jenny, „so im vollen Besitz Dei- ner Liebe.“ „Als ob diese Liebe Dir jemals fehlen könnte“, rief Reinhard fast entrüstet aus. „Siehe, Jenny, einst gab es eine Zeit, in der ich an Dir, an Deiner Liebe zweifelte, Dich fliehen und vergessen wollte. Das ist Alles nicht mehr möglich, und seit Du durch Deine Liebe mich zum Herrscher über Dein Schicksal gesetzt, hast Du mich ja zu Deinem treuesten Sklaven gemacht. Du weißt es“, sagte er, immer wärmer werdend, „ich würde vor keinem Könige knien, kein Weib hat mich jemals zu seinen Füßen gesehen, ich glaubte, nur vor Gott mich beugen zu können — und nun knie ich vor Dir, und bekenne Dir, daß ich Dich fußfällig bitten könnte, mich zu lieben, mir treu zu bleiben, wenn ich daran zweifeln könnte, weil in Dir allein das ganze Glück meines Le- bens beruht.“ Er war wirklich vor ihr niedergesunken und hielt sie mit seinen Armen umfaßt, während seine Augen an den ihren hingen. Jenny glaubte vor Wonne zu vergehen und gab sich ganz dem Glück der Gegenwart hin, bis drohend der Zweifel vor ihr aufstieg, ob Reinhard sie mit dieser Innigkeit lieben, ob seine Neigung nicht wanken würde, wenn er einst erfahren sollte, wie sie ihn getäuscht, um sich seine Liebe zu bewahren, um die Seine zu werden. „Gustav“, sagte sie, „vergiß diese Stunde nie, wie ich dies Glück nie vergessen werde, und wenn einst ein Tag käme, an dem Du irre an mir würdest, an dem ich Deiner Liebe weniger werth schiene — dann Gustav, aus Barmherzigkeit, dann denke an diese Stunde, dann laß mich Dich daran erinnern und eine Stütze in dieser Erinnerung bei Dir finden!“ „Was bedeutet das?“ fragte Reinhard ver- wundert, „wie kannst Du glauben, jemals eines andern Fürsprechers bei mir zu bedürfen, als meiner Liebe zu Dir?“ „Das gebe Gott!“ rief Jenny. „Gustav, wenn Du mich einst schwach und tadelnswerth finden, wenn Du mich deshalb weniger lieben, mich von Dir weisen solltest, dann möge Deine Neigung mein treuer Schutz sein; sie möge Dir deutlich machen, daß ich aus Liebe kein Opfer scheute, daß ich Alles erdulden wollte, Alles! Nur Dir entsagen — das konnte ich nicht, das werde ich niemals können, dazu fehlt mir die Kraft.“ „Ich verstehe Dich nicht, mein Herz“, sagte Reinhard, vergebens einen Sinn in diesen Re- den suchend, der in irgend einem Zusammen- hang mit ihren Verhältnissen stehen konnte, „aber das schwöre ich Dir, ich werde nie an der Lauterkeit Deiner Seele, an der Reinheit Deines Herzens zweifeln; Du sollst in mir alle Liebe finden, die Dir gebührt, und auch Nach- sicht, wenn es möglich wäre, daß Du sie jemals brauchtest; denn wie sollte ich Dir nicht Alles verzeihen, so lange Deine Liebe mir bleibt!“ „Schwöre mir das, mein Geliebter“, flehte Jenny mit einer Angst, als ob sie fürchtete, er könne seine Neigung ändern. „Ich schwöre es Dir“, antwortete Rein- hard und reichte Jenny seine rechte Hand, welche sie lange fest hielt, dann leidenschaftlich an ihre Lippen drückte und mit den Worten: „Nun bin ich ruhig Gustav, nun ist es gut“, endlich wie- der losließ. Eine Stunde vollkommenen Glückes verging den Liebenden, die ihnen doppelt kurz erschien gegen die lange Trennung, welche ihnen bevor- stand, wenn Reinhard am nächsten Morgen seine Reise antrat. Auch hatten sie der übri- gen Familie so vollkommen vergessen, daß die Pfarrerin selbst sie zu suchen kam, weil der alte Pastor ihnen Lebewohl sagen und zur Stadt zurückkehren wollte. Wenige Tage nach Clara's erstem Besuch in Berghoff war William zurückgekehrt. Da er den Tag seiner Ankunft nicht bestimmt an- gegeben, fand er zufällig weder seine Tante, noch Clara zu Hause, und wurde von dem Diener zu Herrn Horn in das Comptoir ge- wiesen, mit dem Bemerken, Frau Commerzien- räthin würde sehr überrascht sein, ihn schon zu finden, da man seine Ankunft heute noch nicht erwartet hätte. Nicht erwartet zu werden von Personen, nach denen man sich gesehnt, gehört zu den peinlichsten Gefühlen, die uns nach längerer Trennung von denselben berühren können. Tau- sendmal hatte er es sich vorgestellt, während er in seinem Wagen einsam und rasch dahinflog, wie die Tante und Clara ihm entgegeneilen und er mit dem Willkomm zugleich den Braut- kuß von den Lippen seiner Cousine küssen werde. Statt dessen empfing ihn sein Onkel zwar freundlich, aber zerstreut durch Geschäfte, in denen er ihn unterbrochen hatte, und mit so eiligen Fragen nach dem Befinden seines Va- ters, nach seiner Reise und den Aussichten für das nächste Handelsjahr in London, daß der junge Mann wohl bemerken konnte, wie gern sein Onkel ihn abzufertigen wünsche. Deshalb zog er sich bald zurück und begab sich in die Zimmer der Damen, um dort die Heimkehr derselben zu erwarten. Eine eigenthümliche Empfindung beschlich ihn, als er sich wieder in den Räumen befand, aus denen er, von Furcht und Hoffnung be- wegt, geschieden war. Gleich nach seiner An- 3** kunft in London hatte er der Commerzienräthin geschrieben und einen kurzen, herzlichen Brief für Clara beigelegt, dem sie ihm beantwortete, ohne eigentlich seiner Werbung zu gedenken, indem sie ihm hauptsächlich ihre Theilnahme an der Krankheit seines Vaters ausdrückte, ihr Bedauern über seine plötzliche Abreise unter so traurigen Umständen und die Hoffnung, daß dennoch Alles sich zum Besten und nach ihren Wünschen fügen werde. William selbst gehörte nicht zu den Menschen, welche es lieben, sich mündlich oder gar schriftlich über seine Gefühle auszusprechen; deshalb überraschte ihn Clara's Zurückhaltung nicht. Sie wußte, daß er sie liebe; die Tante hatte ihm die Hand ihrer Toch- ter zugesagt, ihm selbst die Versicherung gege- ben, daß Clara seine Neigung erwidere, und da diese sich nicht dagegen erklärt hatte, las er mit fröhlichem Vertrauen aus den wenigen und flüchtigen Briefen, welche er von Clara erhielt, Alles, was sein Herz begehrte. Jetzt, wo er jeden Augenblick den leichten Tritt der Geliebten zu hören hoffte, wo er ihrer mit leb- hafter Ungeduld entgegen harrte, fiel es ihm auf, wie wenig Clara bis jetzt dazu gethan, ihn ihrer Liebe oder nur der Zustimmung zu seinen Ansprüchen zu versichern. Er setzte sich sinnend auf den Platz nieder, den er so häufig Clara gegenüber an ihrem Arbeitstische einge- nommen hatte. Ein Nähkästchen, welches Eduard in einer Verlosung gewonnen und in William's Beisein Clara geschenkt hatte, er- kannte er wieder. Es war schon ein wenig abgenutzt und mußte eben gebraucht sein, denn es enthielt außer verschiedenen Apparaten für weibliche Arbeit eine Visitenkarte des Doctor Meier, auf welche mit Bleistift das Datum eines der letzten Tage und die Worte geschrie- ben standen: Bedauert, die Einladung der Frau Commerzienräthin Horn für heute nicht annehmen zu können. Eine politische Broschüre lag aufge- schlagen neben dem Kästchen; sie gehörte eben- falls dem Doctor Meier, wie die von seiner Hand geschriebenen Anmerkungen in derselben verriethen. Von all' jenen eleganten Kleinig- keiten, die William seiner Cousine geschenkt, schien sie keinen Gebrauch zu machen, denn sie standen in kalter Ordnung mit andern Nippes auf einer Etagère aufgerichtet, wo sie nur die Hand des Hausmädchens gesäubert und Clara's Auge vielleicht niemals getroffen haben mochte. Das that William wehe und machte ihn un- muthig und nachdenkend, so daß er fast erschrak, als er endlich die Stimme seiner Tante hörte. Eilig stand er auf und ging den Damen entgegen. Mit einem: „Willkommen, mein Sohn!“ umarmte ihn die Commerzienräthin und fügte, gegen Clara gewendet, hinzu: „Nun, da ist er! Ich will wie eine ächte Romanmutter, die ich Euch immer war, den zärtlichen Erguß Eurer Herzen nicht stören und erwarte Euch erst in einer halben Stunde in meinem Zim- mer“, worauf sie sich rasch entfernte. Es ging der sonst so klugen Frau, wie allen sehr förmlichen, abgemessenen Leuten, die, wenn sie einmal unbefangen und herzlich erscheinen wollen, gleich gänzlich aus der Rolle fallen und nur zu leicht die ungeschicktesten Verstöße begehen. Clara und William standen sich ver- legen gegenüber, was besonders den Letztern peinigen mußte, da er fühlte, wie unvortheil- haft ein Mann in solchem Falle erscheint. In- dessen wäre es fast Jedem an seiner Stelle ebenso ergangen, wenn er statt einer zärtlichen Braut, die ihn liebend begrüße, sehnsüchtig nach ihm verlange, ein Mädchen gefunden hätte, das ihn mit scheuer Zurückhaltung behandelte und offenbar eher erschreckt, als erfreut durch seine Anwesenheit war. Er fand Clara verändert, und theils um das peinliche Schweigen zu brechen, theils um sich wirklich über ihr leiden- des Aussehen zu beruhigen, fragte er freundlich: „Warst Du krank, mein Clärchen? Ich finde die schöne Röthe Deiner Wangen ganz ver- blichen. Und freut es Dich nicht, daß wir bei- sammen sind?“ „O gewiß“, lieber Cousin!“ antwortete sie, „es freut mich von Herzen, daß Dein Vater hergestellt ist und Du zu uns zurückkehren konntest.“ „Lieber Cousin?“ rief William scherzend. „Nein, mein Clärchen, das klingt doch gar zu cousinenmäßig für eine Braut, und selbst eine Cousine hätte mir längst ihren Mund statt der Hand zum Willkomm reichen müssen.“ Bei diesen Worten schloß er sie in seine Arme und drückte sie, trotz ihres Widerstrebens sie herzlich küssend, an seine Brust. „Ah, nun lebe ich erst!“ sagte er dann, „nun weiß ich erst recht, daß ich meine Braut wiedersehe und daß ich glücklich bin. Clara, wie freuen sich meine Eltern, Dich als meine Frau zu begrüßen! Mein Vater will, wenn seine Kräfte es erlauben, selbst bei unserer Hochzeit gegenwärtig sein, und ich habe ihm versprochen, daß wir auf ihn warten, wenn er sich ein wenig mit der Erholung beei- len will.“ „Und wie weit ist diese vorgeschritten?“ fragte Clara, froh, das Gespräch von der bis- herigen Richtung ablenken zu können. William aber deutete diese Frage nach seinem Sinne und antwortete tändelnd: „So weit, mein Fräulein, daß Sie Ihr Hochzeitskleid bestellen und Ihr Reisekostüm anordnen müssen; denn so lieb mir Deutschland und seine Sitten ge- worden, nach der Trauung bist Du meine Eng- länderin und wir steigen gleich in den Wagen, um unsern Honigmonat in Hugheshall zu ver- leben.“ In der Freude seines Herzens bemerkte Wil- liam nicht, daß er fast ausschließlich die Kosten der Unterhaltung trug, während Clara mit schlecht verhehlter Spannung seinen Worten zuhörte und nur dann und wann eine gleich- gültige Frage dazwischen warf. „Kommt mein Bruder nicht bald zurück?“ unterbrach sie den Erzählenden. „Das ist eine üble Sache, er hat sich — erschrick nur darüber nicht — er hat sich dort ziemlich leichtsinnig in ein Verhältniß einge- lassen, welches leicht bindend werden könnte und — aber das ist nichts für Dein Ohr, lie- bes Bräutchen, und ich werde noch Zeit haben, mit Deiner Mutter darüber zu sprechen.“ „So komme gleich“, bat Clara, besorgt über William's Mittheilung hinsichtlich Ferdi- nand's, und doch froh, dem tête à tête zu ent- gehen, da außerdem, wie William selbst be- merkte, die Mutter sie wol schon erwarten dürfte. Natürlich war eine der ersten Fragen, welche die Commerzienräthin an ihren Neffen richtete, nach dem Ergehen ihres Sohnes. Dieser hatte die Zeit seiner Abwesenheit von Monat zu Mo- nat ausgedehnt, obgleich Herr Horn schon lange seine Heimkehr gewünscht. Ferdinand hatte sich nämlich in London einer unbegrenzten Ver- schwendung hingegeben und Mr. Hughes, wenn er Anzeige von den Summen machte, welche der junge Horn von ihm entnommen, schon mehrmals darauf hingedeutet, es möchte vielleicht gerathen sein, den jungen Mann nach Deutsch- land zurückzuberufen. „Ferdinand ist gesund“, berichtete William; fügte aber mit einer gewissen Zurückhaltung hinzu, „ich zweifle jedoch, ob er freiwillig so- bald zurückkehrt, als Sie wünschen, liebe Tante.“ „Und was, glaubst Du, ist es, was ihm davon abhält? Was fesselt ihn so sehr?“ „Eine Schwäche, falls man eine Leiden- schaft so nennen darf, mit der man Nachsicht haben müßte, wenn sie einem würdigern Gegen- stande zugewendet wäre.“ Die Commerzienräthin wechselte die Farbe und befahl ihrer Tochter unter dem Vorwande irgend eines Auftrages das Zimmer zu ver- lassen. Dann nöthigte sie William, sich zu ihr zu setzen, und beschwor ihn, indem sie seine Hand ergriff, ihr rasch und unumwunden das Aergste zu sagen. Die qualvolle Angst der Mutter bewog William, in den schonendsten Aeußerungen ihr mitzutheilen, wie Ferdinand gleich bei seiner Ankunft in England die Be- kanntschaft einer Frau von hoher Schönheit, aber von den verworfensten Sitten gemacht habe, welche seine erklärte Geliebte geworden sei und ihn in seinem Hange zur Verschwen- dung bestärke, nachdem sie ihren frühern Ge- liebten, Lord D., einen jungen Mann vom Stande, ruinirt und verlassen hatte.“ „Sie hat Ferdinand vorgespiegelt“, erzählte William, „um seinetwillen und nur aus Liebe für ihn mit ihrem ersten Verehrer gebrochen zu haben, der, wie sie behauptet, ihr die Ehe versprochen hatte, und Ferdinand ist in einer unglücklichen Stunde so thöricht gewesen, ihr schriftlich eine eben solche Zusicherung zu geben, die er später in Gegenwart ihrer und seiner Bekannten wiederholte und auf deren Erfüllung sie jetzt dringt, ohne von irgend einem Ver- gleich oder einer Abfindung hören zu wollen.“ William hielt inne, weil die zitternde, eis- kalte Hand seiner Tante, welche noch immer angstvoll die seine hielt, ihm deutlich verkündete, wie entsetzlich diese Nachricht ihr Herz verwunde. „Nur weiter, weiter!“ bat sie, als sie das Zaudern ihres Neffen bemerkte. „Hältst Du es für möglich, daß mein Sohn ehrlos genug sein könnte, wirklich an eine Heirath mit einer Ver- worfenen zu denken? daß er mir, seiner Mut- ter, ein solches Weib zur Tochter aufdringen könnte?“ „Ich hoffe“, antwortete William, „daß es Ihren Ermahnungen gelingt, ihn davon zurück- zubringen, was bis jetzt freilich weder meinem Vater, noch mir möglich war.“ „Er muß zurück, noch heute werde ich es ihm befehlen“, rief die Commerzienräthin wie außer sich, „er soll und muß gehorchen.“ „Das wird er nicht, liebste Tante“, bemerkte William, „und Sie würden sich, falls er Ihnen sogar gehorchte, nur der Unannehmlichkeit aus- setzen, diese lästigen Verhältnisse in Ihre Nähe zu ziehen; denn ich zweifle keinen Augenblick, daß jene Frau ihm auch gegen seine Erlaubniß hieherfolgen und hier auf die Erfüllung seines Wortes dringen würde. Darum haben Sie Geduld, schreiben Sie ihm, daß Sie um das Verhältniß wissen, daß Sie es mißbilligen; aber vermeiden Sie eine Strenge, welche ihn leicht zu offenem Widerstand, zu unüberlegten Schrit- ten treiben könnte, da er sie von Ihnen nicht gewohnt ist. Vielleicht wäre es sogar besser, Sie überließen es Ihrem Manne, obgleich mein Vater mir rieth, es Ihnen zuerst mitzutheilen.“ „Das lohne ihm Gott!“ sagte die alte Dame. „Denn sieh, mein Sohn, Du bist ja auch mein Sohn, und Dir darf ich es beken- nen, Du weißt es vielleicht selbst, daß niemals ein gutes Vernehmen zwischen Ferdinand und seinem Vater stattfand. Männer vergessen es leicht, daß sie einst selbst jung und der Nach- sicht bedürftig gewesen sind. Der Commerzien- rath wenigstens scheint sich dessen, Ferdinand gegenüber, nicht mehr zu erinnern und“ — fuhr sie fort, plötzlich umgestimmt durch den Gedan- ken, ihr Liebling Ferdinand könne irgendwie den Tadel seines Vaters auf sich ziehen — „viel- leicht ist es mit Ferdinand so schlimm nicht, als wir glauben. Deshalb versprich mir, sei- nem Vater davon nichts zu sagen, bis ich selbst eine Antwort von meinem Sohne erhalten habe und Dich dazu ermächtigen werde.“ William sagte das zu und seine Tante er- suchte ihn, sie allein zu lassen, da seine Mit- theilung sie unangenehm berührt habe und sie sich sammeln wolle, um bei der Mittagstafel ihrem Manne keine Besorgniß zu geben. Aber die Kränkung, die ihr Stolz erlitten hatte, der Schreck und die Unruhe, die sie empfunden, waren so lebhaft gewesen, daß ihre gewohnte Selbstbeherrschung sie verließ und sie von ner- vösen Zufällen ergriffen wurde, welche sie nö- thigten, ein paar Tage ihr Zimmer zu hüten und ihr Clara's Pflege und Wartung unent- behrlich machten. Dadurch bekam William seine Braut — denn als solche betrachtete er Clara — nur wenig zu sehen. Trotzdem mußte ihm ihr Betragen auffallen, das offenbar zurückhaltender und be- fangener war, als sie sich ihm jemals gezeigt hatte. Er konnte nicht begreifen, warum sein Onkel kein Wort mit ihm über dies Verhältniß spreche; er sah, daß man es wie ein Geheimniß behandelt haben müsse, und obgleich dieses ge- wissermaßen durch die Umstände entschuldigt werden oder selbst geboten sein konnte, fand er die strenge Beobachtung der Etiquette unter so nahen Verwandten, die alle einig und glücklich über diese Verbindung waren, übertrieben. Er nahm sich vor, sobald die Commerzienräthin wieder wohl und sichtbar sein würde, auf die Bekanntmachung seiner Verlobung mit Clara zu dringen, weil ihm die jetzige Stellung höchst unbequem war und er hoffte, die ungewöhnliche Schüchternheit seiner Braut werde sich von selbst geben, wenn ihr beiderseitiges Verhältniß zu einander kein Geheimniß mehr sei. Am zweiten Abende hatte sich der Zustand von Madame Horn so weit gebessert, daß Clara sie auf ihren ausdrücklichen Befehl verlassen mußte, um sich ihrem Bräutigam nicht unnö- thig zu entziehen, der, innig erfreut, sie wieder zu haben, ihr den Vorschlag machte, mit ihm nach Berghoff zu fahren. Er wünschte, Clara möge sich nach den in der Krankenstube ihrer Mutter verlebten Tagen in freier Luft erholen und zugleich mit ihm die Meier'sche Familie besuchen, von der er noch Niemand gesehen hatte. Clara lehnte aber Beides ab und bat William, ihr in ihr Zimmer zu folgen, da sie ihn allein und gleich sprechen müsse. Als sie sich dort niedergelassen hatte, be- gann Clara: „Ich weiß wirklich nicht, lieber William, wie ich es machen soll, Dir zu sagen, was Du doch erfahren mußt. Du bist mir mit so herzlichem Vertrauen entgegengekom- men, so gut, so unbeschreiblich freundlich gegen mich gewesen, daß ich Dir nie genug danken kann.“ Sie stockte; William sah sie verwundert an und sagte: „Ist denn das Versprechen, die Meine zu werden, nicht der schönste Dank, den meine Liebe von Dir begehrt?“ „Das ist es eben“, fiel Clara ein, „was mich beunruhigt. Glaube mir, William, ich erkenne Deine treue Anhänglichkeit mit tiefer Beschämung, ich achte Dich von Herzen.“ „Aber Du liebst mich nicht“, rief William, „sage es kurz, Clara. Du schlägst meine Hand aus, weil ich Dir gleichgültig, oder wol gar zuwider bin.“ „Nein, das nicht; gewiß, das nicht. Ich habe Dich lieb, William, von Herzen lieb, ich bin überzeugt, daß einer Frau ein schönes Loos an Deiner Seite werden muß — aber ich kann Deine Frau nicht werden.“ „So liebst Du einen Andern?“ fragte William heftig und stand auf. Ein leises, kaum hörbares Ja von Clara's Lippen gab ihm die Antwort, die ihn tief zu II. 4 betrüben schien; denn er blieb lange schweigend vor Clara stehen und fragte endlich, mühsam seinen Schmerz bekämpfend: „Und weiß der Glückliche, daß Du ihn liebst? Verdient er ein Glück, das er mir raubte?“ „Er weiß es, William“, antwortete Clara, „aber glücklich ist er nicht, so wenig als ich; denn es ist keine Vereinigung für uns möglich.“ Diese Aeußerung enthüllte dem Erstaunten plötzlich ein Geheimniß, von dessen Dasein er nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte. Nur Eduard konnte es sein, den seine Cousine liebte, durch den er seine Braut verlieren sollte. Das schmerzte ihn um so tiefer, und im Tone des Vorwurfs fragte er: „Und das erfahre ich erst jetzt, nachdem ich seit lange an Deine Liebe geglaubt, auf Deine Hand gerechnet hatte? Wie durftest Du so an mir handeln? Wie konnte Deine Mutter mir so zuversichtlich ihr Wort für Dich geben?“ „Vergib mir, William“, bat Clara, „wenn ich Dir verschwieg, was wir erst vor wenigen Wochen uns selbst gestanden, um es für ewig vergessen zu müssen. Niemand weiß davon, und von Dir, von Deiner Großmuth erflehe ich es als die höchste Gunst, daß Du selbst dem Anspruche an meine Hand entsagst und mir beistehst, die Verzeihung meiner Mutter zu er- langen. Sie wird unerbittlich darauf dringen, daß ich ihr Wort löse und Dir meine Hand gebe, die doch ohne Werth für Dich sein muß, nun Du Alles weißt.“ William hatte sich ruhig wieder niedergesetzt und sah düster sinnend vor sich nieder. Die widersprechendsten Gefühle wogten in seiner Brust. Ein paarmal war es, als ob er seinen Gedanken Worte geben wolle, dann aber unter- drückte er sie wieder, wie wenn er das rechte noch nicht gefunden hätte, bis er endlich auf- stand, Clara die Hand reichte, und sagte: „Du 4* siehst wohl, daß ich darauf nicht vorbereitet war, mich nicht darein finden kann; denn es fällt schwer, so plötzlich von seinen liebsten Hoff- nungen zu scheiden. Darum fordere heute kei- nen Entschluß, kein Versprechen von mir; nur darauf nimm mein Wort, Niemand, auch Deine Mutter nicht, soll Dich zu einem Schritte zwin- gen, der mich nicht glücklich machen kann, wenn Du ihn nicht freiwillig thust.“ „Guter, edler Mann!“ rief Clara dem Enteilenden nach, der sie nach seinen letzten Worten verlassen hatte, um Eduard aufzusuchen und sich mit diesem zu erklären, wonach ihn lebhaft verlangte. Er traf den Doctor glücklicherweise in der Stadt und zu Hause, wo er in den jetzt ein- samen Gängen des Gartens umherging und schnell William entgegeneilte. Beide junge Männer reichten sich die Hände zum gewohnten Gruß, aber plötzlich zog Hughes seine Hand zurück und Eduard, die Absichtlichkeit dieser Handlung bemerkend, fragte, während eine glü- hende Röthe sein Gesicht überflog: „Sie kom- men von Clara?“ „Ich komme von ihr und weiß Alles“, ant- wortete der Andere. „Was haben Sie mir darauf zu sagen?“ Einen Augenblick bedurfte Eduard, um sich zu sammeln, dann sprach er mit sicherer Stimme: „Wir Beide, denke ich, können auch in dieser Angelegenheit, die uns gleich nahe berührt, offen zu Werke gehen, weil sie dem Einen so heilig ist, wie dem Andern. Es wäre unwahr, wenn ich mich einer Großmuth rühmen wollte, die ich nicht in mir fühlte. Ich liebe Clara, das wissen Sie, und würde mein Leben daran ge- setzt haben, sie zu besitzen, wäre es möglich für mich gewesen, ohne meine Ehre zu opfern. Nur nachdem ich alles Mögliche versucht, ver- geblich versucht habe, fügte ich mich widerstre- bend in den Gedanken, Clara zu entsagen.“ „Und das erzählen Sie mir? mir, dessen Ansprüche an Clara Sie kannten, mir, der Sie für seinen Freund hielt?“ „William, mir ahnte, daß Clara Ihnen bestimmt und theuer sei, ich wußte fast gewiß, daß meine Hoffnung sich nur von meinen Wün- schen täuschen ließ, aber dennoch sträubte ich vergebens gegen eine Neigung, die Clara errieth und theilte, so sehr ich sie ihr zu verbergen strebte. Der Kampf um Liebe, um ein Weib ist ein unerbittlicher Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod. Es gibt kein Drittes. Und wenn zwei Unglückliche auf dem Meere schiff- brüchig umhergetrieben werden, wenn ein letztes Bret Beide von sicherm Verderben trennt, wenn Einer untergehen muß , werden sie Den verdammen, der, um sich zu retten, den Andern im unwillkürlichen Trieb der Selbsterhaltung hinunterstößt, auf die Gefahr hin, ihn sinken zu sehen?“ „Ihr Gleichniß mag recht schön sein“, sagte William höhnisch; „ich bin nur leider nicht in der Stimmung, Ihre poetischen Produktionen zu bewundern, und muß Sie deshalb bitten, mir unumwunden zu erklären, wie Sie in Be- treff meiner Cousine jetzt zu handeln gedenken.“ Eduard aber bezwang seine leicht aufbrausende Heftigkeit und antwortete ruhig: „Ich handle, wie Clara es von mir gefordert, wie ich es vor mir selbst verantworten kann, und bitte Sie, zu bemerken, daß nur die Rücksicht auf Ihr gekränktes Gefühl und auf die Ansprüche, welche Sie an Clara zu haben glauben, mich zu irgend einer Erklärung veranlaßt, die Sie in diesem Tone von mir zu fordern nicht be- rechtigt sind. Hören Sie mich ruhig an. Ich wollte, nachdem ich jede Hoffnung verloren, mir Clara zu gewinnen, und ihr im ersten Schmerz darüber meine Liebe gestanden hatte, von ihr scheiden; ich sagte ihr das schriftlich. Sie selbst befahl mir zu bleiben, obgleich auch sie von der Hoffnungslosigkeit unserer Liebe vollkommen überzeugt war. Ich blieb, weil sie es wünschte, weil sie das Unglück, das uns ge- troffen, leichter zu tragen hoffte, wenn wir uns nicht plötzlich und gewaltsam trennten. Seit- dem habe ich sie nur selten und niemals allein gesprochen; ich habe mir keine Annäherung er- laubt, ich wage auch nicht, den kleinsten An- spruch an Clara zu machen, weil ich leider ihr nichts bieten, nichts sein darf, was mich dazu ermächtigte. Ich weiß, man wird darauf drin- gen, daß Clara sich verheirathe. Schwer wird mir der Gedanke“, sagte er, und seine Festig- keit wankte so sehr, daß seine Stimme zitterte, „schwer wird es mir, die Geliebte als das Weib eines Andern mir vorzustellen, sehr schwer!“ Dann sammelte er sich wieder, reichte William die Hand und sagte: „Aber meine Hand darauf, ich werde sie ruhiger und lieber in Ihren Ar- men, als in denen jedes andern Mannes sehen, denn auch Sie sind mir werth und Sie verdie- nen ein Mädchen wie Clara, weil Sie sie achten.“ William war von Eduard's sichtbarem Schmerz und seiner Offenheit überwunden. Er schlug in die dargebotene Rechte und sagte: „Auch ich liebe Clara, aber gerade darum möchte ich nicht, daß sie mir mit Widerstreben folgt, ich will nicht, daß der Gedanke, sie hätte doch vielleicht die Ihre und mit Ihnen glücklicher werden können, wenn ich nicht dazwischen ge- treten wäre, jemals von meiner Frau gedacht werden soll. Darum überlegen Sie selbst: Gibt es eine Möglichkeit, ein Mittel, durch das Sie Clara's Hand erlangen, so trete ich zurück und Sie ist die Ihre.“ „Ich habe keine Aussicht, keine“, antwor- 4** tete Eduard schmerzlich, aber bestimmt, „als die Emancipation unsers Volkes, die noch in wei- ter Ferne liegt, und auch dann stehen mir die Ansichten von Clara's Eltern entgegen. Clara selbst hat mir jede Hoffnung genommen und glaubt an keine.“ „Dann ist sie mein!“ rief William mit einer Freude, welche deutlich hervorbrach, obgleich er sie aus Zartgefühl vor dem Freunde zu ver- bergen trachtete. Eduard saß in sich gekehrt und wortlos, und sein Freund ehrte, ebenfalls schweigend, diese Todtenfeier eines innigen Gefühls. So verging eine lange Zeit, bis William sich erhob und, indem er sich zum Fortgehen anschickte, Eduard Lebewohl sagte. „Sie gehen schon?“ fragte dieser, wie aus schwerem Traume erwachend, und sah, nach- dem sie sich mit einem Händedruck getrennt, dem rasch Dahineilenden lange nach. Dann, als er ihn aus dem Gesichte verloren hatte, rief er: „Er geht zu seiner Braut.“ Wie ein Todesstoß zuckte die Gewißheit durch sein Herz und ein paar schwere Tropfen fielen aus seinen Augen. Sie galten der verlornen Geliebten. „Seit wie lange netzen solche Thränen die Erde“, sagte er, schmerzlich über sich selbst lä- chelnd, „und noch immer will der Keim der Freiheit nicht Wurzel fassen, der doch zum Baume erwachsen wird, unter dem auch wir einst Schatten finden müssen.“ Nachdem die Commerzienräthin sich einiger- maßen erholt hatte, war es nur der Gedanke an Ferdinand, der sie unablässig beschäftigte. Sie schrieb ihm, daß sie durch ihren Schwager und durch William von dem Grunde unterrich- tet sei, der ihn abhalte, nach Deutschland zurück- zukehren. Sie beschwor ihn, sich loszureißen, kein Opfer an Geld zu achten, um sich von einem Weibe zu befreien, dessen einzige Absicht ihm nicht verborgen sein könne, und war un- vorsichtig genug, ihn zu diesem Zweck eine be- deutende Summe aus ihrem Privatvermögen zu übergeben, damit sein Vater gar nichts von diesem Verhältniß zu erfahren brauche. Was die aufrichtige Besorgniß einer Mutter, die Furcht vor öffentlicher Beschimpfung einer so stolzen Frau nur einzugeben vermochten, das stellte sie ihm in den beredtesten Worten vor und harrte angstvoll und ungeduldig seiner Antwort. Doch der erste Termin, der sie bringen konnte, verging und kein Brief von Ferdinand erschien. In dieser tödtlichen Ungewißheit traten alle übrigen Angelegenheiten in ihren Augen zurück und selbst von Clara's Verlobung war gar nicht die Rede. Die Commerzienräthin nahm dies Verhältniß als längst entschieden an; sie sah William und Clara oft und freundlich bei- sammen, das genügte ihr, und jetzt an irgend eine gesellschaftliche Rücksicht wie die Bekannt- machung dieser Verbindung zu denken, konnte sie nicht gestimmt sein. William aber war es gerade so genehm. Er hätte Clara dem Freunde abzutreten ver- mocht, wenn sie dadurch glücklich geworden wäre. Da dies nicht möglich war, dachte er nur daran, sie dauernd und fest an sich zu bin- den. Deshalb wollte er Clara durch keine raschen Schritte beunruhigen; er sprach nicht von seiner Liebe, aber sein schonendes Betragen, seine zarten Rücksichten thaten das um so deut- licher. Unbefangen brauchte er das Recht, wel- ches sein doppeltes Verhältniß zu ihr ihm gab, fast unausgesetzt in ihrer Nähe zu sein. Er las mit ihr, begleitete sie auf ihren Spazier- gängen, und sie konnte es sich nicht verhehlen, daß William's Unterhaltung in ihrer jetzigen Lage eine Zerstreuung für sie sei und sie ab- halte, gänzlich in den Gram über Eduard's Verlust zu versinken. Eduard hatte sie fast täglich, aber nur flüchtig in dem Zimmer ihrer Mutter gesehen, deren Zustand seine Behand- lung nöthig machte. Außerdem hatte er es ver- mieden, sie zu besuchen, und der Aufenthalt seiner Familie in Berghoff bot ihm eine Ent- schuldigung bei der Commerzienräthin, welche wuẞte, daẞ er die Abende fast ausschlieẞlich dort verbringe, während zugleich das oft wiederkeh- rende Unwohlsein ihrer Mutter Clara abhielt, nach Berghoff zu fahren, und sie auf die klei- nern Promenaden in William's Begleitung be- schränkte. So waren einige Wochen vergangen, als William, der Clara in ziemlich heiterer Stim- mung sah, sich entschloß, endlich mit ihr über seine Unterredung mit Eduard zu sprechen. „Ich bin Dir noch Aufklärung über mein Verhältniß zu Dir und zu Eduard schuldig, liebe Clara“, sagte er. „Daß man sich nicht ohne Kampf entschließt, ein Glück, wie Deine Liebe, hinzuge- ben, oder auf Deinen Besitz zu verzichten, das glaubst Du mir, denn jetzt am wenigsten würde ich Dir schmeicheln. Doch hätte ich zu entsagen vermocht, um Dich glücklich mit Eduard zu wissen, den Du liebst, und ich habe das Eduard gesagt.“ Clara reichte ihm bewegt die Hand und sagte: „Du kannst mir doch nicht helfen, so edel Du auch bist.“ „Aber lindern kann ich, trösten“, fiel er ihr ins Wort, „und das vergönne mir. Eduard fühlt wie ich, daß Deine Mutter nicht darein willigen würde, Dich unvermählt zu lassen, auch wenn ich ganz auf Deine Hand verzichtet hätte. Und glaube mir, kein Mann, den man für Dich wählen könnte, wird Dich mehr lie- ben, als ich, Niemand mit größerm Vertrauen die Zeit abwarten, bis Dein gerechter Schmerz sich gemildert hat und Du im Stande sein wirst, wieder an ein Glück zu glauben, das Dir jetzt unmöglich scheint.“ Clara schüttelte schweigend den Kopf, aber William that, als ob er es nicht bemerke, und fuhr nur noch freundlicher fort: „Ich komme Dir vielleicht kalt vor und Du fürchtest Dich vor dieser Ruhe; aber sie kommt aus der Zu- versicht, daß Du Dich in die unabwendbare Trennung von Eduard fügen und daß es mei- ner treuen Liebe gelingen müsse, Dich wieder zu erheitern, Dich froh zu sehen in dem Be- wußtsein, das höchste Gut eines Mannes, mein größtes Glück zu sein.“ Dann schilderte er Clara, wie sehnsüchtig seine Mutter in ihr die Tochter erwarte, die der Himmel ihr selbst ver- weigert habe; wie man sie lieben und mit off- nen Armen im Hause seiner Eltern empfangen werde, und endete scherzend mit der Bemerkung: „Du kannst nicht wollen, daß ich jetzt, nachdem ich den Eltern die Versicherung gegeben habe, in Dir den größten Schatz des Continents mit nach Hause zu bringen, allein zurückkehren soll und sagen: Ich war ein eitler Thor, als ich von ihrer Liebe sprach, sie hat mich nicht gemocht.“ Unwillkürlich lächelte Clara; da konnte Wil- liam sich nicht länger halten, mit aller Fröh- lichkeit eines Liebenden sprang er auf, nahm sie in seine Arme, küßte sie und rief: „Mag nun daraus entstehen, was da will, das ertrage ein Anderer, wenn man sich Monate lang für den glücklichsten Bräutigam gehalten hat, mit einem- mal wieder zum Cousin zu werden. Einen Kuß habe ich glücklich gestohlen, nun will ich wieder geduldig warten und ruhig Deinen Zorn ertragen.“ Und zornig war Clara wirklich über einen Ausbruch, der in so grellem Widerspruch zu seinen Worten stand, daß sie ihn verließ, ohne ein Wort darüber zu sprechen. Indessen blieb diese Unterredung nicht ohne Wirkung. Ver- ständig und ruhig, wie Clara es war, konnte sie sich nicht leugnen, daß William recht hatte, als er behauptete, ihre Mutter werde auf eine andere Heirath bestehen, wenn es ihr selbst ge- länge, sich jetzt von der Verbindung mit ihrem Cousin zu befreien, dessen Betragen ihren auf- richtigen Dank verdiente. Sie sah ein, daß sie und Eduard der Wahrheit gemäß keine Aussicht oder Hoffnung hätten; aber daß Eduard es William zugestanden, verletzte sie, ohne daß sie wußte weshalb. Sie konnte an Eduard's Treue, an seinen Schmerz über ihre Trennung nicht zweifeln; sie begriff, es sei ehrenwerth, daß er sie jetzt vermeide — und doch war sie unzufrieden mit ihm, mit William und mit sich, obgleich sie fühlte, daß Keiner von Allen anders han- deln konnte, als er es that. Der Gedanke, von Eduard getrennt zu sein, faßte tief Wurzel in ihr, ohne daß dadurch William ihr näher rückte, der sich in liebender Hingebung gleich blieb und sein Ziel keinen Augenblick aus dem Gesichte verlor. Er strebte, die Neigung der Geliebten zu gewinnen, und hatte zugleich die schwere Pflicht, seine Tante über sein eigenthümliches Verhältniß zu Clara zu täuschen, was um so nöthiger war, als die Commerzienräthin noch immer vergebens auf Antwort von Ferdinand harrte und deshalb in der gereiztesten Stim- mung von der Welt war. Sie hatte ihrem Sohne zu wiederholten Malen geschrieben, sich endlich an ihren Schwa- ger gewendet und von ihm erfahren, wie Fer- dinand gleich nach Empfang ihres Briefes mit seiner Geliebten verreist sei, ohne irgend eine Nachricht zu hinterlassen, wohin er gehe oder wohin man ihm die Briefe von Hause nach- senden solle. Es scheint, bemerkte ihr Schwa- ger schließlich, als ob er aufs Neue in den Besitz einer größern Summe gekommen sei, welche ihm diese Reise möglich macht. Die Commerzienräthin war in der tödtlichsten Un- ruhe, sie entschloß sich, ihrem Manne das Ge- heimniß zu enthüllen, und die unangenehme Scene, welche die Heftigkeit beider Theile her- vorrief, warf die Mutter aufs Neue nieder. Da langte endlich ein Brief von Ferdinand an, aber er war nicht an die Eltern, sondern an William gerichtet und lautete wie folgt: „Du hast Dich der Mühe unterzogen, ohne daß ich darum bat, meiner Mutter eine Mit- theilung zu machen, die ich noch geheim zu hal- ten wünschte. Es scheint, daß dergleichen Com- missionen Dir Vergnügen machen, und Du wirst es deshalb entschuldigen, wenn ich Dich ersuche, jetzt meine Eltern davon zu unterrich- ten, daß ich mich in der vorigen Woche verhei- rathet habe und mit meiner Frau nach Paris gegangen bin. Ich werde dort bleiben, so lange die Summe, welche meine Mutter mir geschenkt, ausreicht, in Paris in der Weise zu leben, an welche meine Frau gewöhnt ist. Danke meiner Mutter, daß sie, wie immer meine Wünsche er- rathend, auch jetzt meiner Bitte zuvorkam und mir die Mittel gab, schneller zur Ausführung eines Entschlusses zu schreiten, der unwiderruflich war, weil er mein Glück sichert und zugleich die Erfüllung einer Pflicht ist gegen eine Frau, die aus Liebe für mich eine glänzende Zukunft aufgegeben. Jeder Versuch, diese Verbindung zu lösen, würde vergebens sein, da sie durchaus nach allen Gesetzen gültig vollzogen ist, und würde nur die Folge haben, daß ich mit mei- ner Frau früher nach Hause käme, um die nö- thigen Schritte dagegen zu thun, obgleich, wie meine Mutter in ihrem Vorurtheil schreibt, die Anwesenheit meiner Frau, welche Lord D. zu seiner Gemahlin erkoren hatte, ein Schimpf für unsere Familie sein würde. Darüber will ich nicht streiten und ersuche Dich nochmals, meinen Auftrag auszurichten. Meinen nähern Freun- den habe ich es selbst gemeldet. Meine Frau und ich wünschen Dir und Clara bald ein Glück, wie wir es genießen.“ William war erschrocken, obgleich der thö- richte Entschluß ihm nicht unerwartet kam. Er wußte, welchen Eindruck diese Neuigkeit auf seine Tante hervorbringen mußte, aber es war nicht möglich, sie ihr zu verheimlichen, da Fer- dinand zugleich an seine Freunde geschrieben und damit dies Verhältniß zum Stadtgespräch gemacht hatte. Die Familie war in der höchsten Aufregung. Der Commerzienrath wüthete und tobte gegen seine Frau, deren unglückliche Verblendung den Sohn verzogen und, wie dieser jetzt selbst ge- stand, ihm die Mittel zur Ausführung dieser wahnsinnigen Heirath gegeben hatte. Clara weinte über das Loos, das ihr Bruder sich be- reitete, und mußte doch ihre ganze Aufmerksam- keit auf ihre Mutter richten, die dieser Brief vollkommen vernichtet hatte. Die Commerzien- räthin versicherte, diesen Schimpf nicht überleben zu können; sie gab sich einer so ungemessenen Verzweiflung hin, daß Eduard selbst unruhig über ihren Zustand wurde. Er bat deshalb William und Clara, die Mutter auf irgend eine Weise zu besänftigen, da bei einer Frau ihres Alters und ihrer Constitution die Nerven- zufälle, welche sich seit einiger Zeit immer wie- derholten und jetzt bedeutend zugenommen hat- ten, leicht einen traurigen Ausgang nehmen könnten. Anfänglich war jede Vorstellung, jeder Einwand verloren, und erst nach einigen Tagen gelang es William, der leidenschaftlichen Frau einen Trost zu geben, mit der Hindeutung, wie Clara's Liebe und Sorgfalt, die sich jetzt im schönsten Lichte zeige, wol ein Glück sei, das die Mutter nicht verkennen dürfe. Dadurch bekamen die Ideen der Commerzienräthin plötz- lich eine andere Wendung. „Ja, Du hast recht, mein Sohn“, sagte sie, „an Clara habe ich mich schwer versündigt, das Kind habe ich nicht genug geliebt. Aber jetzt werde ich vergelten; sie soll jetzt mein Stolz, mein Alles sein, und jetzt gleich soll Eure Verlobung gefeiert werden, damit die Leute nicht glauben, die Schande, die mein Sohn über mich bringt, habe mich ganz nieder- gebeugt. Sie sollen sehen, daß mir in Clara und Dir noch große Freude geblieben ist, und daß ich weder so schwach, noch so alt bin, mich von irgend einem Unglück beugen zu lassen. Hole mir Clara, ich will gleich mit ihr Rück- sprache nehmen.“ Das hatte William nicht beabsichtigt und es setzte ihn in Verlegenheit, um so mehr, als Clara es leicht für ein planmäßiges Werk von seiner Seite halten konnte. Er versuchte also, der Tante zu beweisen, wie ein zu gleichgülti- ges Verhalten bei der Nachricht von Ferdinand's unerwarteter Vermählung mißdeutet werden könne, und beredete sie, nicht jetzt, während sie noch leidend und Clara so betrübt über ihren Bruder sei, ein Fest zu feiern, das mit voller Freudigkeit begangen werden müsse. Dadurch erlangte er einen kurzen Aufschub. Offenbar hatte aber die Aussicht, welche ihr William in Clara's Glück eröffnete, eine fast wunderbare Wirkung auf seine Tante gehabt. Sie erklärte, sich wohler zu fühlen, erstand von ihrem Lager und söhnte sich mit ihrem Manne aus, um sich mit ihm über Clara's Dotirung auszusprechen, die sie jetzt ebenso sehr zu erhöhen wünschte, als sie früher auf Beschränkung derselben zu Ferdinand's Gunsten gedrungen hatte. Dies Alles entging Clara nicht, und in ängstlicher Erwartung sah sie der Stunde entgegen, in der dieser Gegenstand endlich zwischen ihr und ihrer II. 5 Mutter zur Sprache kommen mußte, und auch diese blieb nicht aus. Eines Morgens ließ die Commerzienräthin Clara früher als gewöhnlich rufen. Sie hatte ihre Krankenstube verlassen und saß in einer gewissen feierlichen Toilette auf einem Sopha. Freundlich reichte sie der Tochter die Hand, nöthigte sie, sich zu ihr zu setzen, und sagte, nachdem sie einen Augenblick über den Anfang der Un- terhaltung nachgedacht hatte: „Mein Kind, es ist zwischen uns nicht immer so gewesen, wie es sein sollte; ich habe Dich verkannt, Deine Sanftmuth für Schwäche gehalten und Dir auch sonst in meinem Herzen Unrecht gethan, weil ich alle Plane für das Ansehen unsers Hauses nur auf Ferdinand basirte. Er hat meine Hoffnungen betrogen — ich habe keinen Sohn mehr.“ Ein nervöses Zittern fuhr trotz der Mühe, mit der sie es verbergen wollte, sichtbar durch ihre Glieder. Clara bat sie, sich zu schonen; sie versuchte ein Wort zu Gunsten ihres Bru- ders einzulegen und der Mutter vorzustellen, wie seine unbesonnene Handlung vielleicht we- niger traurig in ihren Folgen sein würde, als man glaube. Die Commerzienräthin ließ sie aber nicht enden. „Das verstehst Du nicht“, sagte sie hef- tig; „oder kann irgend Etwas die Schmach ver- tilgen, daß ein Weib wie jenes den Namen un- serer Familie, meinen Namen trägt? Fürchte nicht, daß Ferdinand Mangel leiden, daß Dein Vater ihn enterben könne, wie er neulich ge- droht. Er soll mehr haben, als er bedarf, mehr, als Lord D. dem Weibe geboten hätte, unter der einzigen Bedingung, daß er unsern Namen ablegt, daß er nie nach Deutschland kommt, daß ich nie von ihm und seinem Weibe höre. Für mich ist Ferdinand todt, ich habe keinen Sohn mehr“, wiederholte sie nochmals. 5* Während dieser Rede war sie immer hefti- ger geworden und brach zuletzt in krampfhaftes Weinen aus, das sie zu erleichtern schien, sodaß sie bald darauf fortfuhr. „Auf Dich allein ist nun meine Zukunft angewiesen. Deine Söhne sollen die Erben dieses Hauses werden und Wil- liam hat mir versprechen müssen, daß sie un- sern Namen neben dem Euren führen sollen. Morgen muß der Ehecontrakt aufgenommen werden und sehr bald Eure Hochzeit sein. Ich würde nicht Ruhe haben, ehe ich die einzige Angelegenheit beendet, die mir auf Erden noch Freude machen kann, und daß Du mir diese letzte Freude machst, das wird Dir Segen brin- gen. Gott gebe, Du würdest eine glücklichere Mutter, als ich.“ Ganz erschöpft fiel sie in die Kissen des Sophas zurück und sprachlos stand Clara an ihrer Seite, bemüht, sie durch den Geruch stärkender Essenzen zu beleben. Sie hatte sich vorgenom- men, ihrer Mutter zu sagen, daß sie William nicht liebe und ihn nicht heirathen könne, und hatte sich gefaßt gemacht, den heftigen Zorn derselben mit Ergebung zu tragen. Jetzt aber, als die Mutter vor ihr lag, in der gewohnten prächtigen Kleidung, die stolzen Züge ganz ge- brochen von der Macht des Leidens, fehlte ihr der Muth, sie durch eine entschiedene Weigerung noch mehr zu betrüben. Nur um Aufschub wollte sie fürs Erste bitten und that es, indem sie der Commerzienräthin vorstellte, wie ihr lei- dender Zustand keine Aufregung gestatte und wie William gern bereit sein würde, zu war- ten, bis die Mutter wieder ganz wohl und kräftig sei. Aber auch davon wollte diese nichts hören, und als in diesem Moment Eduard in das Zimmer trat, um seinen täglichen Morgen- besuch zu machen, richtete die Commerzienräthin sich lebhaft mit der Frage empor: „Sagen Sie, lieber Doctor, glauben Sie, daß Freude meinen Nerven schaden könne?“ „Im Geringsten nicht“, antwortete er un- befangen; „ich glaube vielmehr, daß Erheiterung Ihres Gemüths mehr zu Ihrer Genesung bei- tragen würde, als irgend eine Arzenei.“ „Also haben Sie nichts dagegen, wenn wir morgen die Verlobung meiner Tochter feiern?“ Eduard erbleichte und schwieg. Clara sah ihn mit flehenden Blicken an, ihr Athem stockte; denn von dieser Antwort hing ihre Zukunft ab. Die Commerzienräthin schien aber zu glauben, ihr Arzt überlege, ob ihre Anwesenheit in größe- rer Gesellschaft zulässig sei und sagte: „Ich spreche ja von keiner großen Fete, nur im eng- sten Kreise wollen wir die Verlobung vor sich gehen lassen. An solche Feste, wie Ihre Eltern bei Jenny's Verlobung veranstalteten, darf ich jetzt freilich nicht denken, auch wird Clara zur Entschädigung in dem Hause ihrer Schwieger- eltern Glanz und Feste in Ueberfluß finden — deshalb soll Alles morgen in Stille vor sich gehen und dagegen dürfen Sie keine Einwen- dungen machen.“ „Nein, ich darf keine Einwendungen machen“, antwortete er mit einem Seufzer und blickte auf Clara, die wie erstarrt sich an einen Stuhl lehnte, um nicht ihrer Bewegung zu unterliegen. Kaum aber hatte die Commerzienräthin Eduard's Erlaubniß erhalten, als sie die Klin- gel zog und dem Diener befahl, Herrn Hughes zu ihr zu bitten, der auch bald auf ihren Wunsch erschien, als Eduard die Hand der alten Dame noch in der seinen hielt und einige Fragen über ihren Zustand an sie richtete. „Gleich, gleich, Doctor!“ unterbrach sie ihn, „seien Sie nicht böse. Aber Sie selbst gestan- den mir, Freude sei meine beste Arzenei, darum muß ich William sagen, daß Sie mir die Er- laubniß gegeben haben, morgen die Verlobung feiern zu dürfen.“ „Eduard!“ rief William. Doch ehe er noch ein Wort hinzufügen konnte, sprang Eduard auf und wollte Clara zu Hülfe eilen, die tod- tenbleich der Thüre zuwankte. Plötzlich blieb er stehen und sagte rasch, aber mit einer Selbst- beherrschung, die Jeden täuschen mußte, der die Verhältnisse nicht kannte: „Ihre Braut ist un- wohl, William, begleiten Sie sie.“ In demselben Augenblick war William an Clara's Seite, ihre letzte Kraft verließ sie, sie sank halb ohnmächtig in die Arme ihres Bräu- tigams und an seine Brust; in Eduard's und in ihrer Mutter Gegenwart weinte sie heiße Thränen über ihr schweres Loos. Noch am Abende fuhr Eduard nach Berg- hoff. „Clara Horn ist Braut mit William“, sagte er, nachdem er sich mit den Seinen be- grüßt hatte. „Das freut mich sehr“, antwortete sein Va- ter und drückte Eduard die Hand, während die Damen ihn um eine nähere Mittheilung baten. Mehr wurde zwischen Vater und Sohn nie wieder über eine Angelegenheit gesprochen, welche früher der Gegenstand lebhafter Erörterungen, banger Besorgniß und schweren Kampfes gewe- sen war. Nach wie vor fuhr Eduard jeden Morgen in das Haus der Commerzienräthin, so lange ihre Gesundheit seine Pflege erforderte; nur Zeuge von Clara's Verlobung zu sein, hatte er unter einem Vorwande verweigert, wofür William und Clara ihm Dank wußten. Die ersten Tage, an denen er das neue Brautpaar sah, bedurfte es seiner ganzen Kraft, um äu- ßerlich eine Fassung zu erzwingen, die ihm in seinem Geiste noch fehlte. Aber William stand ihm auf die edelste Weise bei. Er selbst be- gleitete bald darauf Clara nach Berghoff und 5** mit einer Gewandtheit, die aus dem feinsten Schicklichkeitsgefühl und einem wohlwollenden Herzen entsprungen war, wußte er Eduard und Clara vor jeder zu schmerzlichen Berüh- rung zu bewahren. Während die Damen sich mit einer Unterhaltung über die in beiden Häu- sern nöthig gewordenen Ausstattungen für die Bräute beschäftigten, zog William seinen Freund mit sich und sagte: „Lieber Eduard! Clara hat gegen mich das Verlangen geäußert, Sie noch einmal allein zu sprechen, und ich hatte ihr zu- gesagt, ihr dazu Gelegenheit zu geben. Später bin ich anderer Meinung geworden, ich habe Clara gebeten, der Erfüllung dieses Wunsches zu entsagen. Sie werden mir zugeben müssen, daß es für uns Alle besser ist, wenn wir uns so schnell als möglich über eine Zeit fortzu- helfen versuchen, die überreich an schmerzlichen Eindrücken sein muß. Deshalb habe ich meine Tante überredet, unsere Hochzeit zu beschleu- nigen, und diese soll in vierzehn Tagen spä- testens vollzogen werden.“ „Ich billige Ihre Ansicht vollkommen und danke Ihnen für Alles, was Sie thun, Clara's Gefühle zu schonen“, antwortete Eduard. „Und nun Eduard!“ sagte William, „noch eine Bitte. Ich habe Sie seit unserm ersten Begegnen für einen seltenen Menschen gehal- ten; weil Sie der sind, lassen Sie es mich nicht entgelten, daß ich glücklicher als Sie bin. Ich werde bald eine Frau haben, die ich liebe — soll ich deshalb den Freund verlieren, den ich gewonnen zu haben glaubte?“ „Nein, bei Gott! das sollst Du nicht!“ rief Eduard, hingerissen von William's Wor- ten. „Glaube mir, William! daß ich Dich aus Grund der Seele achte; aber wundre Dich nicht, wenn mir jetzt, wo ich von den Hoff- nungen meiner Vergangenheit so plötzlich scheide, Gegenwart und Zukunft noch umwölkt erschei- nen; wenn ich keinen andern Gedanken habe, als wie groß das Glück war, auf das ich ge- hofft. Dir vertraue ich dies Glück an und könnte mich Etwas trösten, so wäre es das Be- wußtsein, Clara an den Würdigsten verloren zu haben, der mein Freund bleiben soll für das Leben.“ Arm in Arm kehrten sie zu den Uebrigen zurück, bei denen sie Steinheim fanden, welcher eben angelangt war. „Ich schwöre Ihnen“, sagte er, „ich wäre längst einmal hieher ge- kommen, wenn die fatale Hitze mir nicht eine vollkommene Nervenabspannung zu Wege brächte; besonders da die Stadt so still und einsam ist, wie Pompeji vor der Ausgrabung.“ „So bringen Sie uns keine Neuigkeiten mit, und wir Landleute wissen mehr als Sie. Denken Sie nur, der stolze Engländer entführt mir meine Clara schon in der nächstfolgenden Woche!“ bemerkte Jenny. „Ja! dann hat er ein Recht, stolz zu sein, weil wir dann das Einzige an ihn verlieren, um das England uns beneiden mußte“, rief Steinheim, Posa's Worte parodirend, indem er sich galant gegen Clara verneigte. „Die Hitze bekommt Ihnen wirklich schlecht!“ sagte Jenny lächelnd, „und Sie vergessen, daß Mr. Hughes mich nicht ebenfalls mitnimmt, sondern daß ich hier bleibe, um mich fürchter- lich an Ihnen für Ihren Mangel an Galanterie zu rächen.“ „Gehört die Rache auch zu den christlichen Tugenden einer Frau Pfarrerin?“ fragte Steinheim und, da Jenny, gegen sein Er- warten, nichts darauf erwiderte, sondern die Frage fallen ließ, wendete sich zu den Her- ren, die seitwärts lebhaft conversirten. Bald aber kehrte er wieder zu den Damen zurück, weil, wie er behauptete, da, wo die Männer säßen, ein furchtbarer Zugwind wehe, von dem man in dieser Witterung den Tod haben könnte. Man lachte ihn aus, und doch war er heute Clara willkommen. Seine Anwesenheit, seine Unterhaltung, die freilich nur sein geliebtes „Ich“ betraf, zog die Aufmerksamkeit von ihr ab; und je größer der Zirkel wurde, um so ungestörter konnte sie sich in die Erinnerung alles Dessen versenken, was sie in diesem Kreise erlebt hatte, und was sich heute unwillkürlich ihrem Geiste aufdrängte. „Sehen wir Sie vor Ihrer Hochzeit noch?“ fragte Madame Meier, als sie später schieden. „O, gewiß!“ antwortete Clara, „ich komme noch Abschied von Ihnen Allen zu nehmen, da wir gleich nach der Trauung abreisen. Denken Sie unser, wenn wir nicht mehr hier sein wer- den“, bat sie mit kaum unterdrücktem Weinen und ein langer, tiefer Blick traf Eduard, der ihn nur zu wohl verstand. William aber machte der stummen Scene schnell ein Ende, und führte seine Braut mit sich fort. Die Trauung des neuen Ehepaares war vorüber; die junge Frau in Reisekleidern war des Augenblickes gewärtig, in dem die Diener melden würden, daß Alles zur Abreise bereit sei. Die Gäste hatten sich entfernt, nur Jenny und Eduard waren noch geblieben. In sich gekehrt sah dieser kaum, was um ihn vorging, und wünschte sehnlich, der letzte, schwere Kampf wäre an Clara und ihm schon vorüber. Die Commerzienräthin sprach mit ihrem Schwieger- sohne und empfahl ihm die dringendste Vor- sicht für die junge Frau, welche Hand in Hand mit ihrem Vater da saß, der in ihr seine ein- zige Freude verlor. Da trat ein Diener herein und wie ein elektrischer Schlag durchzuckten Jeden die ein- fachen Worte: „Der Postillon hat ange- schirrt!“ Weinend schieden die Eltern von der ein- zigen, schönen Tochter; weinend sank sie Jenny in die Arme und wollte, sich gewaltsam los- reißend, an Eduard vorüber, ihrem Manne folgen. Dieser aber hielt sie zurück, sagte leise: „Und Eduard?“ — und führte sie selbst zu dem Freunde. Jetzt in der Stunde der Tren- nung bedurfte es keines Geheimnisses, gab es keine Entweihung für diese reine Liebe; über- rascht, aber mit ehrendem Schweigen, sahen Clara's Eltern, wie Eduard die junge Frau tief erschüttert an sein Herz zog und einen langen Kuß auf ihre Stirne drückte. „Gott segne Euch!“ rief er, und schloß nochmals Clara und William in seine Arme. „Ihnen, Eduard! vermache ich meine Eltern“, sagte Clara kaum hörbar, „stehen Sie ihnen bei!“ — Und nun erst nahm William ihren Arm und trug sie mehr, als sie ging, in den Wagen, der sie bald den Augen der nachsehenden Freunde entzog. Nach Clara's Abreise schien Eduard sich plötzlich zu ermannen. Er war ernster gewor- den, aber die tiefe Trauer war von ihm ge- wichen. Ein Leben, das ihm keine Freude bot, wollte er für Andere nützen, so sehr er ver- mochte; und nicht umsonst hatte er seine Hoff- nungen geopfert und der Geliebten entsagt. Er fing an wieder vorwärts in das Leben zu blicken, und nahm mit neuem Eifer seine me- dizinischen Studien und die Bestrebungen vor, die er im Verein mit gleichgestimmten Män- nern schon früher für die Befreiung seiner Glaubensgenossen gemacht hatte. So hatte Herr Meier ihn zu finden erwartet, und das erhabenste Verhältniß bildete sich immer schöner zwischen Vater und Sohn aus, auf dessen rasche Thätigkeit die Ruhe und Weisheit des Vaters den segensreichsten Einfluß übten. Seit Eduard ganz von der Leidenschaft für Clara beherrscht, nur dieser und dadurch sich selbst gelebt, war er auch mit Joseph und Steinheim weniger zusammengekommen, die den Rück- kehrenden mit Freuden wieder aufnahmen. Jetzt erst erfuhren sie, welche Forderung Eduard an die Regierung gestellt, und die abschlägige Antwort, die ihm geworden, und Beide errie- then leicht, was ihn bewogen hatte, jene An- gelegenheit so heimlich zu betreiben. „Wir müssen mit unerschütterlicher Con- sequenz, aber ruhig den Weg gehen“, sagte Eduard, „den wir für den rechten halten. Es kommt nur darauf an, daß wir nicht ermüden, nicht verzagen und immer wieder kommen, so oft man uns auch abweist.“ „Das werden sie jüdische Unverschämtheit nennen!“ bemerkte Joseph. „Mögen sie es immerhin. Nur in der Beharrlichkeit liegt Hoffnung, nur wenn wir unablässig dagegen stürmen, können die Ver- schanzungen fallen, hinter denen sie die Wahr- heit und unser Recht verstecken möchten; und fallen müssen sie. Unser Recht muß uns werden.“ „Und wär' es mit Ketten an den Himmel geschlossen!“ unterbrach ihn Steinheim, der selbst in einer ernsten Unterredung, die ihm sehr am Herzen lag, seine üble Angewohnheit nicht überwinden konnte. Glücklicherweise war man so sehr daran gewöhnt, daß Niemand es weiter beachtete. Auch Joseph und Eduard hörten nicht darauf, sondern überlegten lange, ob man jetzt, nachdem Eduard's persönlicher Wunsch abschlägig beschieden worden, dieselbe Bitte für die Juden im Allgemeinen bei der Regierung wagen solle. Sie stritten hin und her und kamen endlich überein, daß Eduard sich nach Jenny's Hochzeit, die nicht allzu fern mehr war, selbst nach der Residenz begeben und versuchen möchte, was dort zu erreichen sein würde. Nach diesem Beschlusse verließ Steinheim die Andern und Eduard, der erst jetzt wieder auf seine Umgebung aufmerksam zu werden anfing, sagte zu Joseph: „Da wir Jenny's Hochzeit erwähnen, sage mir, Du, der Du das Mädchen nie aus den Augen ver- loren hast, was quält Jenny? liebt sie Rein- hard nicht? scheut sie sich vor dem Leben auf dem Lande? oder was geht sonst mit ihr vor? Ich finde sie geistig in einer Weise verändert, die mich um so mehr überrascht, als sie mir bis jetzt gänzlich entgangen war.“ „Du hast recht!“ sagte Joseph, „aber wir können ihr nicht helfen, sie quält sich selbst, und ich weiß nicht, wie das enden wird.“ „Wie meinst Du das?“ fragte Eduard bestürzt. „Ich bin überzeugt, Jenny ist ohne allen Glauben an die christlichen Dogmen Christin geworden, und der Gedanke, einen Meineid geschworen zu haben, peinigt und verfolgt sie in einer Gewissensangst, vor der sie sich nicht zu schützen weiß.“ „Wär's möglich? — sollte es Das sein? Was bringt Dich auf die Vermuthung?“ „Jenny's ganzes Wesen und vor Allem eine Unterhaltung, die ich vor einigen Tagen mit ihr hatte. Sie brachte absichtlich das Ge- spräch auf Religionsverschiedenheit und gestand mir, jetzt, da sie Christin geworden wäre, käme sie sich manchmal wie ausgeschlossen oder ver- stoßen von den Ihren vor. Es sei ihr, als wenn sie nicht mehr so ganz zu den Eltern gehöre, obgleich sie sich doch Reinhard durch die Taufe nicht näher gebracht fühle. Sie fragte mich, was ich von dem Eide denke? ob ich überhaupt glaube, daß alle sogenannten Sünden auch Sünden vor Gott seien? und äußerte sich überhaupt in einer Art, die mir bei ihrem Geiste lächerlich und kindisch erschie- nen wäre, wenn ich nicht darin eine vollkom- mene, innere Verwirrung, einen Zwiespalt ge- funden hätte, der mir herzlich leid that. Zu- letzt sagte sie mir, sie könne den Gedanken nicht fassen, nicht mit ihren Eltern auf dem- selben Kirchhofe zu ruhen. Ich stellte ihr vor, das sei eine Thorheit; auch wir, obgleich noch Juden, könnten leicht fern von allen Freunden eine Ruhestatt finden, und es sei gewiß höchst gleichgültig, wo sie uns begraben würden. Sie aber blieb dabei, es wäre ihr schrecklich, und war überhaupt in einer Stimmung, in der jeder Vernunftgrund fruchtlos bleiben mußte.“ „Das arme Kind!“ rief Eduard, „was kann man für sie thun?“ „Wir müssen sie sich selbst überlassen. Ich bin überzeugt, daß sie den Ausweg finden wird. Das muß man abwarten und ich hoffe, sie findet ihn bald, besonders, wenn irgend ein äußerer Anlaß ihrer Unentschlossenheit zu Hülfe käme und sie veranlaßte, sich offen darüber zu erklären, wo eigentlich die Quelle ihres Lei- dens ist.“ „So laß uns gemeinschaftlich über sie wa- chen“, bat Eduard, „damit wir den rechten Augenblick nicht verfehlen, wenigstens Jenny glücklich zu machen, da wir es nicht gewor- den sind.“ „Leidensgefährte!“ — sagte Joseph mit einer Miene und einem Tone, die ein eigenthümliches Gemisch von Spott und Schmerz ausdrückten. „Wir wollen sie behüten, so gut es geht, aber ich fürchte, auch sie wird nicht glücklich!“ Und leider war Joseph's Vermuthung nur zu richtig. Je glücklicher sich Jenny in Rein- hard's anbetender Liebe fühlte, um so mehr de- müthigte sie der Gedanke, unwahr gegen ihn zu sein. Von frühster Kindheit an hatte man ihr die Lüge als etwas so Unedles, so Verächt- liches dargestellt, daß sie sich nur mit Entsetzen zu gestehen vermochte, wie tief sie sich in die- selbe verwickelt habe. Der Zustand ihrer Seele möchte für Den, der ihn nicht von selbst ver- steht, schwer zu beschreiben sein. Sie fühlte sich dem Elemente, in dem sie geboren, der Atmosphäre, in der allein sie athmen konnte, entrissen. Man hatte sie gelehrt, wahr gegen sich selbst, gegen jeden Andern zu sein, und Recht und Wahrheit waren die Sterne gewe- sen, auf die man von jeher ihr Auge gelenkt. Gott ist die Wahrheit, das Recht, das Gute und das Schöne, hatte ihr Vater ihr stets ge- sagt, und so lange Du das Recht thust, so lange Du wahr bleibst, bist Du Gottes Kind und mein liebes Kind! Stundenlang konnte die Erinnerung an diese freundlichen Worte, bei denen sie sich sonst so glücklich gefühlt, sie jetzt quälen. Nachdem sie damit angefangen hatte, unwahr gegen sich selbst zu sein, hatte sie, durch eine damals unfreiwillige Selbsttäu- schung von ihrem Vater die Erlaubniß erlangt, zum Christenthume überzutreten, an das sie zu glauben wähnte. Als aber tausend Zweifel in ihr erwachten; als sie mit aller Anstrengung und dem Aufwande von tausend Scheingrün- den in sich die Lehren Reinhard's und des Pastors zu motiviren strebte; da, sagte sie sich jetzt, da habe sie gewußt, daß sie niemals werde glauben können, was sich gegen ihre Vernunft sträube; und daß sie dennoch, trotz dieser in- II. 6 nern Gewißheit, Christin geworden; daß sie ihren Vater, Reinhard und sich selbst habe hin- tergehen wollen, das war ein Verbrechen, um dessentwillen sie sich verächtlich vorkam, eine Sünde, die Gott nicht vergeben konnte. Aber was ist Sünde? fragte sie sich. Wenn ich Reinhard nicht anders glücklich machen konnte als durch eine Unwahrheit; wenn ich selbst ohne sie elend werden mußte, kann Gott ein Unrecht strafen, das aus heißer Liebe begangen wurde? Einen Augenblick fühlte sie sich frei und gerechtfertigt durch die Liebe; durch den Kampf, den es sie gekostet, aus Liebe gegen ihre Ueberzeugung zu handeln. Sie hatte aus Liebe ein Opfer gebracht, das ihr schwer ge- worden war, sie hatte sich selbst überwunden — das war es ja gerade, was Gott von uns ver- langt — und diese Idee gab ihr Ruhe, bis sie sich gestand, daß auch dies eine neue Unwahr- heit sei. Nicht nur, um glücklich zu machen, sondern um es zu werden, war sie Christin ge- worden; es lag Selbstsucht auch in dieser Handlung, und die Bemerkung, daß es ihr fast zur Gewohnheit geworden, sich nach ihrem Be- dürfniß selbst zu täuschen, vermehrte ihre See- lenpein in einem Grade, der ihr jedes ruhige Urtheil raubte. Eine Furcht vor der Strafe Gottes bemächtigte sich ihrer Seele und sie, die nicht an die mystischen Lehren des Chri- stenthums zu glauben vermochte, überließ sich fast willenlos dem Aberglauben des alten Te- staments, das in Gott einen Rächer zeigt das Böse strafend bis in das fernste Glied. Auch Reinhard, sagte sie sich, ziehe ich mit in mein Verderben; auch ihn wird der Strudel erfassen, wenn ich ihm nicht mehr verbergen kann, daß ich nicht glaube. Was soll er dann beginnen? Er wird mich lieben und mir doch nicht ver- zeihen können! Auch er wird in den heillosen Kampf zwischen seiner Liebe und seinem Glau- 6* ben gerathen; auch auf sein theures Haupt werde ich das Elend herabbeschwören, das mich nicht ruhen läßt, und das wird die erste Strafe sein, mit der Gott meine Sünden rächt.“ In dieser Verfassung ihrer Seele vermehr- ten die Briefe Reinhard's ihr Leiden. Sie sprachen die heißeste Liebe und ein volles un- bedingtes Vertrauen aus. Er schilderte ihr das Glück einer Ehe, wie er sie an ihrer Seite erwarte, die, auf gleichen Ansichten, gleicher Ueberzeugung gegründet, in gemeinsamen Stre- ben nach Vollkommenheit, den Himmel auf Erden bieten müsse; und meldete ihr endlich mit Entzücken, daß der Tag zu seiner Ordi- nation bestimmt sei und er, sobald ihm diese Weihe geworden, zurückkehren werde, um sie heimzuführen. Seine Mutter, die seiner Or- dination beizuwohnen wünsche, sei bereits bei ihm und werde mit ihm zur Hochzeit nach Berghoff kommen. Dann wünsche er vor der- selben mit Mutter und Braut das Abendmahl zu nehmen, was Jenny bisher noch nicht em- pfangen hatte, und bald nach der Hochzeit ab- zureisen, während seine Mutter in der Stadt bleiben würde, um sie die Wonne des ersten Beisammenseins ganz ungestört und allein ge- nießen zu lassen. Jenny's Herz schlug freudig der langersehn- ten Nachricht entgegen. Selig drückte sie das Blatt an ihre Lippen. Vor der sichern Hoff- nung auf die nahe Vereinigung mit dem Ge- liebten war für einen Augenblick jeder andere Gedanke aus ihrer Seele geschwunden; und sie begann den Brief nochmals zu lesen, um nur keines der Worte zu verlieren, welche sie so glücklich machten. Da fiel ihr Blick auf die Stelle: „Ich wünsche noch vor unserer Hoch- zeit mit Dir das Abendmahl zu nehmen und auch auf diese Weise in die heiligste, innigste Gemeinschaft mit Dir zu treten, die bald als mein geliebtes Weib, unauslöslich, untrennbar mit mir verbunden, mein sein wird.“ Ihrer Hand entsank das Blatt, sie war vernichtet. Zum zweiten Mal, wie bei der Taufe, ein freventliches Spiel zu treiben mit Dem, was Reinhard das Heiligste auf der Welt war, das vermochte sie nicht. Jetzt, das fühlte sie, war der entscheidende Moment gekommen, in wel- chem sie entweder sich durch einen gewaltsamen Entschluß in ihrer eigenen Achtung wieder her- stellen und ihr Gewissen in Bezug auf Rein- hard beruhigen, oder sich mit geschlossenen Augen in ein Labyrinth stürzen mußte, in dem sie und der Geliebte untergehen konnten. Der Kampf war furchtbar. Endlich siegte die Wahrheit, und aufgelöst in Schmerz schrieb sie nach durchwachter Nacht, als schon das helle Tageslicht in ihre Fenstern schien, folgenden Brief an Reinhard: „Einzig Geliebter! Wie unaussprechlich glücklich wären wir Beide, wenn statt dieses Briefes die Nachricht in Deine Hände käme, Deine Jenny sei gestorben. Du würdest weinen, mein Gustav! Du würdest um mich trauern, mein Andenken lieben, wie Du mich liebst, und ich wäre, glücklich in diesem Ge- danken, geschieden und hätte Ruhe. Warum konnte ich nicht sterben, als ich das letzte Mal in Deinen Armen lag, als Deine volle, ganze Liebe mich beglückte? Denkst Du dar- an, wie ich es wünschte, weil ich so glücklich war; weil ich schon damals ahnte, daß ein Augenblick, wie der jetzige, mir bevorstehen könnte?“ „Bei der Erinnerung an jene Stunde be- schwöre ich Dich, bei der Liebe und Nach- sicht, die Du mir damals gelobt, stoße mich jetzt nicht von Dir, Du, Geliebter! Du, der mich fast seit meiner Kindheit kennt, den ich anbetete, seit ich ihn zuerst sah. Gustav! Du bist mein Lehrer gewesen und kennst meine Seele; Du weißt, daß mein Geist ebenso glühend nach Wahrheit dürstet, als mein Herz Liebe verlangt. Darum kannst Du mich verstehen, darum mußt Du Mit- leid mit mir haben, wenn ich Dir sage, daß ich Dich mehr als die Wahrheit liebe, daß ich meine Ueberzeugung zwingen wollte, sich meiner Liebe zu fügen. Ich vermag es nicht länger.“ „Von Augenblick zu Augenblick zögere ich, Dir ein Bekenntniß zu machen, von dem ich fürchte, daß es Dich tief betrüben, mich in Deinen Augen heruntersetzen könne. Ich möchte Dich mit Feuerzungen an die heiligen Bande erinnern, die uns vereinen; an die Wonne, welche wir einander verdanken, da- mit sie und nur sie Dir vorschweben, wenn ich Dir Alles gesagt.“ „Ich glaube nicht, daß Christus der Sohn Gottes; daß er auferstanden ist, nachdem er gestorben. Ich glaube nicht, daß es seines Todes bedurfte, um uns Gottes Vergebung und Nachsicht zu erwerben. Die Dreieinig- keit, die er lehrte, ist mir ein ewig unver- ständlicher Gedanke, der keinen Boden in meiner Seele findet. Ich glaube nicht, daß es ein Wunder gibt, daß Eines geschehen kann, außer den Wundern, die Gott, der Eine, einzig Wahre, täglich vor unsern Au- gen thut. Und selbst zu Christus, des er- habenen, göttlichen Menschen Erinnerung kann ich das Abendmahl nicht nehmen, mich nicht zu einer Ceremonie entschließen, die mir wie eine unheimliche Form erscheint, während Du die innigste Verbindung mit Gott darin findest.“ „Ich kann nicht anders! Diese Ueberzeu- gung ist stärker als meine Liebe, als ich! Nach furchtbarem Kampfe wurde ich Christin; 6** denn schon vor der Taufe war die Wahr- heit in mir Herr geworden über eine Täu- schung, die ich mit der Angst der Ver- zweiflung in mir zu erhalten strebte, um Deinetwillen! Lügen kann ich nicht länger, aber auch glauben kann ich nicht — kein Ausweg ist möglich; und mit dem Gefühl der unaussprechlichsten Liebe, die ewig wahr und unverändert in mir ist, werfe ich mich an Deine Brust. Du sollst mir sagen, wie ich Friede mache zwischen Liebe und Glau- ben, wie ich mich wiederfinde in dem Gewühl des Kampfes.“ „Wenn Du mich liebst, habe Mitleid mit mir, komme bald, komme gleich und laß mich aus Deinem Munde die Worte hören, die meiner Seele allein Ruhe geben können; sage mir, daß Du mich lieben kannst, wenn ich auch nicht an Christus glaube, wie Ihr es verlangt. Ihr sagt, er sei die Liebe — nun, dann ist er mit mir, denn ich liebe Dich, wie je ein Mensch zu lieben vermochte; ich kenne kein Glück als Deine Liebe. Schreibe mir nicht! Das dauert zu lange, komme selbst, damit ich Dich sehe und in Dir eine Antwort finde, die langsam aus todten Lettern zu lesen, eine Qual wäre, die Du mir ersparen wirst, weil Du mich liebst. Ja! ich weiß, daß Du mich liebst: mit dem Glauben, sage ich Dir, auf Wie- dersehen! — Adieu! Gustav! Geliebter, Leh- rer, Freund, Gatte, mein Alles auf der Welt! Laß mich nicht lange auf Deine An- kunft warten, jetzt, wo jede Minute mir zu Jahrtausenden wird, bis ich Dich sehe!“ Nachdem Jenny diesen Brief gefaltet und der Diener ihn besorgt hatte, schien es ihr, als hätte sie nichts von Dem gesagt, was sie eigent- lich gedacht. Sie wollte ihn zurück haben, es anders sagen, nochmals überlegen. Sie warf sich vor, zu rasch gehandelt zu haben, und be- schwor den Diener, sich zu beeilen und Alles aufzubieten, um ihr diesen Brief zurückzubrin- gen. Aber vergebens. Die Post war abge- gangen, kein Widerruf war möglich. „Nun, so mag Gott sich meiner erbarmen!“ rief Jenny und stürzte weinend zu ihren Eltern, die jetzt durch sie das Unabänderliche erfuhren und, mit ihr leidend, Alles aufboten, ihr Ruhe und Trost zu geben. Zärtlich, nur für den Augenblick be- sorgt, versicherte ihre Mutter, Jenny könne doch unmöglich daran zweifeln, daß Reinhard sie liebe, und sie hege das Vertrauen, ein so auf- geklärter Mann werde an seiner Braut wegen einer Meinungsverschiedenheit nicht irre werden. Sie erinnerte sie, wie duldsam sich Reinhard und die Pfarrerin gezeigt, noch ehe von irgend einem Verhältniß zu Jenny die Rede gewesen, und sprach die feste Ueberzeugung aus, Reinhard in wenigen Tagen hier und Jenny glücklich zu sehen. Und doch weinte sie mit der Tochter, denn ihr Herz war fern von den Hoffnungen, mit denen sie diese zu beruhigen strebte. „Täusche Jenny nicht mit Erwartungen, die sich nicht erfüllen werden, oder ich müßte Reinhard nicht kennen“, sagte der Vater. „Ich fürchte, er kommt nicht.“ „Gott im Himmel, was habe ich gethan!“ rief Jenny. „Was ich Dir selbst gerathen hätte“, ant- wortete ihr Vater, „wenn ich Deinen Zustand früher gekannt. Du durftest nicht daran den- ken, in eine Ehe zu treten, der nach Reinhard's Ansicht das innere Bindungsmittel fehlte. Du durftest namentlich ihn nicht täuschen über Deine Gesinnung. Jetzt hast Du Deine Pflicht erfüllt und Du wirst in dem Bewußtsein, das Rechte gethan zu haben, Kraft finden, auch das Schwerste zu tragen.“ Jenny war trostlos. Sie wollte einen zwei- ten Brief schreiben. „Kannst Du etwas von Dem widerrufen, was Du in dem ersten ge- sagt?“ fragte der Vater. Jenny mußte zuge- ben, das sei ihr nicht möglich. „So schreibe auch nicht“, sagte er. Dann verlangte sie, gleich jetzt zu Reinhard zu reisen; sie wollte ihn sprechen, alle seine Ein- wendungen besiegen, aber auch Das erklärte ihr Vater für unthunlich. „Sieh, mein geliebtes Kind,“ sagte er, „Du bist nun leider einmal in einen Kreis von Widersprüchen gerathen, aus denen nur ein gewaltsamer Ausweg möglich sein wird. Reinhard ist duldsam gegen den Andersgläubigen, aber seine Frau will er nicht nur dulden, er will sie lieben, sie soll ein Theil seines Ichs werden. Das kannst Du nicht, wenn Du in Dem, was einmal der Mittelpunkt sei- ner Seele ist, so vollkommen von ihm abweichst. Selbst wenn er sich überwinden und schweigen wollte, würde schon die Nothwendigkeit, gegen seine Frau auf seiner Hut zu sein, mit ihr nicht über seine heiligsten Interessen sprechen zu können, eine Störung Eures Glückes werden, abgesehen davon, daß Deine Gesinnung gerade zu seinem Verhältniß als Geistlicher in noch schrofferem Widerspruche steht.“ Innig zog er sein leidendes Kind in seine Arme, aber er versuchte nicht, sie zu trösten. „Blicke fest in Dein Inneres“, sagte er, „dort wirst Du Quellen des Trostes finden, die uns nie fehlen, wenn ein Schmerz uns trifft, ein Unglück uns droht, das wir nicht selbst verschul- det haben. Wir alle leiden mit Dir und Gott wird Dir beistehen.“ Eine tiefe Trauer schien über dem Hause zu liegen. Jeder fürchtete, Jenny auf irgend eine Weise zu verletzen, ihr wehe zu thun. Man wollte sie schonen, sie die ganze Größe der Liebe fühlen lassen, die man für sie empfand, und selbst Therese, der die obwaltenden Verhält- nisse kein Geheimniß bleiben konnten, hatte wahres Mitleid mit Jenny, die sich in stiller Ergebung zu fassen versuchte, was bei ihrem heftigen Charakter um so rührender erschien. Ebenso traurig sah es bei Reinhard und seiner Mutter aus. Ihn hatte Jenny's Brief wie ein Blitzstrahl aus heiterm Himmel getroffen und er war Anfangs keiner Empfindung, kei- nes Gedankens mächtig gewesen. Nur das Be- wußtsein, daß ihn ein großes unersetzliches Un- glück getroffen habe, stand klar vor seiner Seele. „Wie war das möglich, wie hatte das gesche- hen können?“ fragte er sich und saß in starrer Betäubung lange da, bis die Pfarrerin hinzu- kam und mit Schrecken den Ausdruck tiefen Jammers in den Zügen ihres Sohnes erblickte. Sie fragte, was ihm geschehen sei, und statt aller Antwort reichte Reinhard ihr Jenny's Brief hin, der auch auf die Matrone den schmerz- lichsten Eindruck zu machen nicht verfehlte. „Das also ist das Ende aller meiner Hoff- nungen“, rief er endlich und versank wieder in sein früheres Brüten. „Ach, und Jenny“, sagte er dann, „was wird aus Dir mit Deinem heißen Herzen?“ „Für das wird sich Trost finden“, meinte die Pfarrerin mit Bitterkeit. Denn kaum hatte sie sich von dem ersten Schrecken erholt, als ihr mit erneuerter Deutlichkeit Theresens Be- hauptung einfiel, Jenny liebe Erlau und habe sich schon lange nicht glücklich in Reinhard's Liebe gefühlt. Die Pfarrerin war eine verstän- dige, welterfahrne Frau, sie war aber auch Christin und Mutter und tief verletzt in ihrem Glauben und in ihrem Sohne. Unzählige ver- schiedene Verhältnisse hatte sie im Leben kennen gelernt. Selbst in dem Kreise ihrer Bekannten gab es viele Juden, die zum Christenthum über- getreten waren und glücklich und ruhig in dem- selben lebten. Warum sollte Jenny allein, die ihr selbst so oft mit wahrer Erbauung von Jesu und seinen Lehren gesprochen, kein Heil zu finden im Stande sein an der Quelle, aus der Segen für die ganze Menschheit geströmt war? Jenny, die obenein Reinhard zum Lehrer gehabt, dessen innige fromme Ueberzeugung Je- den gewinnen mußte? An diesen Grund von Jenny's Zerrissenheit konnte sie nicht glauben, und that sie es, dann schauderte sie vor dem Leichtsinne, mit dem das Mädchen einen Mein- eid begangen hatte. Wer mit den heiligsten Dingen spielen konnte, bot auch dem Gatten keine Sicherheit. Ebenso wie gegen Gott würde sie sich gegen ihren Ehemann versündigen, be- sonders da nur Erlau's würdiges Betragen sie abgehalten hatte, schon ihrem Bräutigam un- treu zu werden. Der Schmerz über die Leiden ihres Sohnes machte sie ungerecht, und ihre gekränkte Muttereitelkeit gewann so sehr über ihre Vernunft den Sieg, daß sie dem Sohne ihre Zweifel an Jenny's Aufrichtigkeit und ihre ganze Unterredung mit Therese mittheilte. Kaum aber hatte sie es gethan, als sie das Unheil zu bereuen anfing, das sie angerichtet. Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, kann keine zerstörendere Wirkung hervorbringen, als die Worte seiner Mutter auf Reinhard. Mit tiefer Wehmuth hatte er Jenny's bis jetzt ge- dacht. Sein Leiden und das ihre fühlte er gleichmäßig und vereint, und hätte sich alle Be- redsamkeit der Welt gewünscht, um Jenny eine Ueberzeugung zu geben, welche es möglich machte, ihre Trennung zu verhindern, die für sie in den jetzigen Verhältnissen unvermeidlich wurde. Nun, bei der Erzählung der Mutter, erwachte seine Eifersucht aufs Neue. Sein altes Miß- trauen fing sich zu regen an und wie eine Furie verfolgte ihn unablässig der Gedanke, das Spiel- zeug in den Händen eines Mädchens gewesen zu sein, das ihn verwarf, sobald ein neuer Wunsch es gleichgültig gegen den frühern machte. Er hatte sie so grenzenlos geliebt, er war bereit gewesen, ihr Alles, selbst seinen Stolz, sein Ehrgefühl zu opfern; zu Allmosen von der Hand ihres Vaters hatte er sich um ihretwillen erniedrigen gewollt, und nun er sich am Ziele wähnte, in ihre Hand seine Hoffnungen, seine geheimsten Wünsche legte — nun besaß ein An- derer ihr Herz und sie entzog ihm ihre Hand unter einem Vorwande, der sie in seinen Augen verächtlich machte. Jenny zu verlieren schien ihm ein Glück gegen die Pein, sie nicht mehr achten zu können; sie, in deren junge Seele er selbst den Keim alles Großen und Schönen ge- pflanzt, die er als das schönste Werk des Schöpfers angebetet hatte. Würde nur Jemand ihm warnend, beruhi- gend zur Seite gestanden haben, er hätte sich aus der Verwirrung der Leidenschaften leicht und schnell zurecht gefunden; denn nur zu deut- lich verrieth ihm, so lange er selbständig ur- theilte, Jenny's Brief den Zustand ihres Her- zens, und kein Zweifel an der Wahrheit ihrer Worte kam in ihm auf, bis die Mutter seinen Argwohn rege machte. In ihrer Entrüstung achtete diese nicht auf die heißen, flehenden Bit- ten Jenny's, mit denen sie nichts sehnlicher verlangte, als Reinhard's Eigenthum zu blei- ben; der Gedanke allein, Jenny weigere sich, Reinhard's Frau zu werden, sie schlage die Hand ihres Sohnes aus, ihr Gustav sei von seiner Braut abgewiesen, war ihr gegenwärtig und erbitterte sie um so mehr, als sie Grund hatte, auf ihren Sohn stolz zu sein, der diese Ver- bindung wie sein höchstes Glück erstrebt hatte. Geschäftig, ihn zu trösten, hielt sie ihm das Unrecht vor, das man an ihm begehe, und stei- gerte dadurch sein eigenes Leiden so sehr, daß er, von Eifersucht und gekränktem Stolze ge- trieben, in der ersten Aufregung seines leiden- schaftlichen Schmerzes diese Antwort schrieb: „Ein Mädchen, das Seelenstärke genug be- sitzt, den vertrauenden Mann, der mit glühen- der Liebe jeden Zweifel an sie für eine Tod- sünde gehalten, mit dem heiligsten Eide zu täu- schen, wird die Kraft finden, eine Trennung zu ertragen, der mein Männermuth zu unter- liegen droht. Wohl ihr, wenn diese Kraft sie auch vor Reue bewahrt.“ Anfänglich sollte das Alles sein, was er ihr sagen wollte, und seine Mutter, welche dies Blatt gelesen, beeilte sich, es abzusenden, weil es gerade so ihrer Gesinnung entsprach. Aber ein anderer Geist, eine unsägliche Traurigkeit kam über Reinhard. Er entriß das Blatt den Händen seiner Mutter, öffnete es nochmals und fuhr fort: „Jenny, warum hast Du mir das gethan?“ Gab es kein anderes Spiel, als das mit mei- nem Herzen? Ich weiß jetzt Alles, weiß, daß mich mein Argwohn nicht betrog. Du kannst mich nicht mehr täuschen. Alle Bande zwischen uns sind gelöst, mein Gewissen verlangt, daß ich sie zerreiße, aber mein Herz blutet. Ich fühle, daß ich kein Weib die Meine nennen darf, dem der heilige Glaube, welchen zu ver- künden ich berufen bin, ein Spott ist. Und doch könnte ich Dich lieben, könnte Dich seg- nen, wenn Du mir nur die Möglichkeit gelassen hättest, Dich zu achten. Warum sagtest Du mir nicht, daß Du Erlau liebtest, daß nur er Dich beglücken könne? Für Dich wäre mir das Opfer nicht zu schwer gewesen. Aber Du lieb- test ihn und gelobtest mir Treue, Du verlachst meinen Glauben und schwörst, daß auch Dich Christus durch seinen alleinseligmachenden Tod mit dem Vater im Himmel vereint. Jenny, wie durftest Du so grausam das Ideal zerstö- ren, das ich in Dir anbetete? Wie konntest Du Deine Seele, dies heilige, Dir von Gott ver- traute Pfand, bis zu dieser That versinken lassen? Sage mir nicht, daß Du Dich getäuscht, das ist unmöglich, wenn Du es nicht wolltest. Selbst Liebe entschuldigt die Lüge nicht, und diese Lüge ist es, die uns für ewig trennt, denn ich habe unwiederbringlich den Glauben an Dich verloren, in der ich alles Heilige und Wahre anbetete. Lebe denn wohl, Du, die ich nimmer vergessen kann, die mir das größte Glück und das tiefste Leid meines Lebens gegeben. Lebe wohl, Jenny, ich klage Dich nicht an, denn Du bist unglücklicher, als ich, der im Glauben eine Stütze finden wird. O, wollte Gott, daß ich Dir den Glauben geben könnte zum Dank für die Seligkeit, die ich in Deiner Liebe gefunden?“ So kam der Brief in Jenny's Hände. Sie selbst vermochte ihn nicht zu lesen, ihre Hände zitterten, die Buchstaben schwammen vor ihren Augen. Sie reichte ihrem Vater, der gerade bei ihr war, den Brief und fragte bebend: „Kommt er? Sage mir, ob er kommt, ich kann nicht lesen.“ Verneinend schüttelte der Vater das Haupt, nachdem er den Brief beendet, und gab ihn der Tochter wieder, die sich gewaltsam zusammennahm und ihn mit Todesangst durch- flog. Eine tiefe Ohnmacht, das einzige Glück, das ihr in dieser Stunde werden konnte, senkte sich auf sie nieder. Als sie erwachte, las sie wieder und immer wieder den Brief, ohne zu begreifen, wie Rein- hard an ihrer Liebe zweifeln könne, oder was der Gedanke bedeute, daß sie Reinhard um Erlau's willen aufopfere. Sie hatte sich ge- sagt, daß eine Trennung bei Reinhard's Ge- sinnung denkbar sei, aber für möglich hatte sie es nicht gehalten, trotz der Andeutungen ihres Vaters. „Von dem Geliebten verachtet, ohne II. 7 Glauben, ohne Hoffnung, mir selbst eine Last, was bleibt mir im Leben?“ rief sie aus. „Jenny!“ sagte der Vater verweisend und doch mit unaussprechlicher Liebe, zog seine Toch- ter in seine Arme und rief auch die Mutter herbei, daß sie Beide mit ihrer Liebe das Kind beschatten möchten vor dem versengenden Strahl des Schmerzes, der sie getroffen. In tiefem Kummer schwanden Stunden und Tage für Jenny hin; immer erwartete sie, Rein- hard werde zur Erkenntniß kommen, er werde bereuen, und wenn auch eine Wiedervereinigung unmöglich sei, werde er dennoch kommen, um sie noch einmal zu sehen, um in Frieden von ihr zu scheiden. Aber vergebens. Und wieder verlangte Jenny, dem Geliebten zu schreiben, sie wollte ihm nur sagen, wie sie Niemanden liebe, als ihn, wie ihr der Argwohn in Bezug auf Erlau unbegreiflich und schmerzlich sei. Sie bat, man möge ihr die Beruhigung gönnen. Aber auch ihr Vater und die Ihren fühlten sich schwer gekränkt durch Reinhard's Betragen gegen Jenny, und der Vater fragte: „Erlaubt es Dein Stolz, Dich einem Mann zu nähern, der Dich so verkennt?“ „Ich fühle keinen Stolz“, antwortete Jenny, „nur das Bedürfniß nach seiner Liebe, die mein höchster Stolz gewesen. Nur seine Achtung will ich mir erhalten, er soll nicht wie einer Unwürdigen meiner denken, er soll mir glauben, daß ich ihn allein geliebt.“ „Nein“, sagte der Vater, „wenn Reinhard nur das leiseste Verlangen nach einer Erklärung ausspräche, würde ich jedem Deiner Wünsche in dieser Rücksicht meine Billigung geben. Vor einem Manne aber, der seiner Braut die un- würdigste Wortbrüchigkeit zutraut und weder an ihre Liebe, noch an ihre Schwüre glaubt, vor dem soll meine Tochter sich mit keiner Bitte 7* um Vertrauen erniedrigen. Mit Reinhard's krankhaftem Ehrgefühl, mit all' seinen Forde- rungen hatte ich Nachsicht, denn er selbst ver- diente Achtung und Du liebtest ihn — jetzt in- dessen scheint es mir fast eine Wohlthat, wenn ein Verhältniß sich löst, in dem Du nimmer glücklich werden konntest, sei es, daß Reinhard so gering von Dir dachte, als er es augenblick- lich thut, oder auch, daß Heftigkeit sein Urtheil so ganz verblenden, ihn so ungerecht selbst gegen seine Braut zu machen vermag. Ich fordere es als einen Beweis Deiner Liebe zu mir, daß Du keinen Versuch machst, Dich mit Reinhard zu verständigen, eine friedliche Lösung Eurer Bande herbeizuführen, wenn er es nicht aus- drücklich von Dir verlangt. Du warst Rein- hard's Braut, aber Du bist auch meine Toch- ter, auch die Ehre Deines Vaters muß Dir heilig sein, auch ihr mußt Du ein Opfer brin- gen können, ja, ich fordere, daß Du es bringst.“ Und so geschah es. Reinhard und Jenny sahen sich nicht wieder, niemals fand irgend eine Erklärung zwischen ihnen statt und ein Brautpaar, das mit glühender Sehnsucht nach innigster Vereinigung gestrebt hatte, war plötz- lich und auf die schmerzhafteste Weise für im- mer getrennt. Still und einsam verlebte man den Som- mer in Berghoff, da auch Therese einige Zeit nach diesen Ereignissen zu ihrer Mutter zurück- kehrte. Sie behauptete, zu Hause nöthig zu sein, und Madame Meier sah es gern, als Therese selbst den Wunsch aussprach, sie zu ver- lassen, weil ihre Anwesenheit Jenny nicht an- genehm zu sein schien. Erst spät im Jahre kehrte man in die Stadt zurück und Jenny mußte sich allmälig wieder in Verhältnisse hineinleben, die ihr fremd ge- worden, da ihnen die Beziehung auf Reinhard genommen war. Und als diesmal der Sylvesterabend erschien, der im vorigen Jahre so glückliche Menschen im Meierschen Hause vereinte, war die Familie allein und nahm selbst Steinheim's Besuch nicht an, um Jenny's schmerzliche Erinnerungen zu schonen, obgleich man mit Dank sein Bestreben erkannte, den Freunden, mit denen er so viel frohe Stunden verlebt, auch am bösen Tage ein treuer Gefährte zu sein. Wer Baden-Baden kennt, erinnert sich wol der einzeln liegenden Häuser auf der Kloster- wiese und der schönen Eichen vor einem der- selben. Im Schatten dieser Bäume saß an ei- nem Junimorgen des Jahres 1841 eine Dame und zeichnete. Es war eine kleine, feine Figur. Lange rabenschwarze Locken fielen auf das Pa- pier nieder und verbargen das Gesicht der Ar- beitenden; aber man war berechtigt, schöne Züge zu erwarten, wenn man von ihrer schma- len Hand und dem graziösen Fuß auf ihr Gesicht schließen sollte. Ein sechsjähriger, hell- blonder Knabe spielte in einiger Entfernung und versuchte vergebens, die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu ziehen. Er kam endlich näher und rief: „ Look my dearest aunt, there comes papa and Lord Walter. “ — Dann, als die Dame sich erhob, um die Kommenden zu begrüßen, sprang er fröhlich fort und bot den Herren in fremdklingendem Deutsch seinen Willkomm und guten Morgen. „Ist Deine Mutter noch in ihrem Zimmer, Richard?“ fragte der Vater des Knaben. „Nein!“ antwortete für ihn Jenny Meier — denn sie war die Zeichnerin — „nein, lie- ber Hughes; Clara ist Ihnen mit der Wär- terin und Luch entgegengegangen, um Ihnen von den neuesten Fortschritten zu erzählen, welche die Kleine gemacht hat. Ich wundre mich, daß Sie ihr nicht begegnet sind. Sie wollte am Goldbrünnlein auf Sie warten.“ „O, Schade!“ rief Hughes, „daß wir durch die Stadt gingen und sie verfehlten. Ich will sogleich zurückkehren, sie zu holen, und ich denke, Sie bleiben hier bei Fräulein Meier, lieber Walter, und erwarten unsere Rückkehr.“ „Mit dem größten Vergnügen!“ antwortete der Angeredete, „wenn ich das Fräulein nicht in der Arbeit störe!“ „Ach! die kann ich später beenden“, sagte Jenny freundlich. „Kommen Sie, Herr Graf, und beichten Sie, warum man Sie in den letz- ten Tagen gar nicht gesehen hat?“ Walter that, wie sie von ihm begehrte und Hughes ging mit seinem Knaben davon, die Mutter und das kleine Schwesterchen zu holen. Während nun der Graf von seinen Aus- flügen und Streifereien in der Umgegend er- zählt, sei es uns vergönnt, mit flüchtigen Um- rissen den Zeitraum von acht Jahren auszu- füllen, der zwischen der ersten und zweiten Hälfte unserer Erzählung liegt. Der Schmerz über die Trennung von Rein- hard hatte Jenny's Seele in ihren innersten Tiefen erschüttert und sie prüfend in ihr eige- nes Herz blicken lassen, um dort einen Grund für Reinhard's ihr unerklärliches Betragen zu finden. Es schien ihr leichter, Unrecht zu ha- ben, sich selbst eines Fehlers zu zeihen, als Reinhard eine Schuld beizumessen: denn wahre Frauenliebe klagt lieber sich, als den Geliebten an. Nun ist das menschliche Herz recht eigent- 7** lich der Acker, den man nur zu durchwühlen braucht, um die köstlichsten Schätze zu ent- decken. Auch Jenny fand in sich, statt des Unrechts, das sie in ihrem Herzen suchte, die Kraft, das Leben zu ertragen, es trotz seiner Schmerzen zu lieben. Sie gewann es über sich, fremdes Glück und Leid zu dem ihren zu machen und im Wohlwollen gegen die Mensch- heit Trost für einen Verlust zu finden, der ihr unersetzlich schien. Als Herr Meier sie so weit beruhigt und fähig sah, sich durch den Wechsel äußerer Ge- genstände zerstreuen zu lassen, machte er den Vorschlag zu einer Reise, die im Beginn des Frühjahrs angetreten wurde. Man ging nach dem südlichen Frankreich, verlebte einen Winter in Paris und besuchte Italien im folgenden Jahre. Hier war es, wo Jenny den Maler Erlau wiederfand, dessen Name aus der Ferne ruhmvoll erklungen war, und dessen Meister- werke sie in Paris zu bewundern Gelegenheit gehabt. Das Wiedersehen war ein Moment tiefer Bewegung für Beide. Erlau, seinem Vorsatz getreu, hatte außer aller Verbindung mit sei- nen Freunden gelebt; er wähnte Jenny längst mit Reinhard verheirathet und die Entdeckung des Gegentheils erfüllte ihn mit den freudigsten Hoffnungen. Von der Stunde an wurde er Jenny's Führer in der Wunderwelt, die sich in Italien vor ihren Augen erschloß und die ihren vollen Zauber auf zwei so lebhaft füh- lende Menschen auszuüben nicht verfehlte. Aber nicht lange sollte Jenny diese Wonne unge- trübt genießen. Sie gewahrte mit Schmerz, daß Erlau's Leidenschaft für sie nicht erloschen sei, daß sie jetzt in dem täglichen Beisammen- sein wieder heftig entbrannte und sich von Hoffnungen nährte, die Jenny nicht zu erfül- len vermochte. Dies veranlaßte Herrn Meier, auf Jenny's Wunsch, Italien zu verlassen und rief Erlau's Erklärung hervor, daß auch er entschlossen sei, der Meierschen Familie zu fol- gen und bald in seine Heimat zurückzukehren. Je weniger Jenny dieses erwartet hatte, um so mehr hielt sie es für Pflicht, alle jungfräu- liche Schüchternheit zu überwinden und sich frei gegen Erlau über ihr gegenwärtiges Ver- hältniß zu erklären. Sie gestand ihm, wie jetzt, kaum genesen von unsäglichem Leiden, ihr der Gedanke an eine neue Liebe unmöglich sei. Sie beschwor ihn, um seiner und ihrer Ruhe willen, ihr nicht zu folgen. Sie sagte ihm, wie werth er ihr sei, wie sie hoffe, statt seiner Liebe einst seine Freundschaft zu erwer- ben, und erlangte endlich von ihm das Ver- sprechen, daß er nach England gehen und dort in William's und Clara's Nähe leben wollte, da er versicherte, ohne Jenny jetzt in Italien nicht ausdauern zu können. So trennten sie sich zum zweiten Male und Jenny kehrte nach einer Abwesenheit von an- derthalb Jahren in ihre Heimat zurück. Hier fand sie in den äußern Verhältnissen nur we- nig verändert. Eduard ging ruhig und ernst die Bahn, welche er sich vorgezeichnet hatte. Berühmt und unermüdlich in seinem ärztlichen Beruf, hatte er zugleich unverwandt das Wohl und den Fortschritt seines Volkes im Auge, dessen freie Entwickelung aber nur dann mög- lich war, wenn überhaupt eine freie, zeitgemäße Verfassung in seinem Vaterlande Raum fand. Sein eifriges Bestreben zur Erreichung dieses Zieles beizutragen und, der Gesammtheit nützend, zugleich sein Volk zu erlösen, verband ihn mit vielen Gleichgesinnten aus allen Stän- den. Die Besten des Landes erkannten seine Fähigkeit und die hohe Uneigennützigkeit seines Charakters; denn die Hoffnung, nach erlangter Emancipation, für sich selbst Würden und Eh- renstellen zu erwerben, hatte ebenso wenig Einfluß auf ihn, als die Furcht vor jenen Verantwortungen, denen sein kühnes Wort und seine freisinnigen Schriften ihn bereits häufig unterworfen hatten. Ihm genügte sein Bewußtsein und die achtende Anerkennung sei- ner Mitstrebenden. — Noch immer lebte er in seinem väterlichen Hause. Sei es, daß seine Thätigkeit ihn so ganz absorbirte und ihn sein Alleinstehen nicht fühlen ließ, oder daß er kein Mädchen gefunden hatte, das seine Neigung erregte, er war bis jetzt unverheirathet ge- blieben. Den Eltern Clara's, welche sie scheidend seiner Sorgfalt empfohlen, war er ein treuer und geschätzter Freund geworden. Ihm, das wußten sie jetzt, verdankten sie das Glück ihrer Tochter, das in einer vollkommen übereinstim- menden Ehe mit William immer schöner er- blühte. In Eduard's Brust schüttete die Com- merzienräthin ihren Kummer über das Schicksal ihres Sohnes aus, der unstät Deutschland und Frankreich durchstreifte und, von seiner Frau beherrscht, ein unwürdiges Leben führte. Ferdi- nand fühlte bereits das Elend und die Schande, in die er sich gestürzt, aber er war zu schwach, die Sklavenketten zu brechen, die ihn entehrten. Auf den ausdrücklichen Wunsch der Hornschen Familie, war Eduard mit ihm in Verbindung getreten, und da es ihm gelungen, Ferdinand's Vertrauen zu gewinnen, gab er die Hoffnung nicht auf, es werde ihm einst möglich sein, den Verlornen seiner Familie wiederzugeben. Mit herzlicher Freude empfingen Eduard und der treue Joseph die heimkehrenden Lieben. Der Anblick jener Räume, in denen sie so glücklich gewesen und so unendlich gelitten hatte, erweckte in Jenny's Brust die wehmüthigsten Erinnerungen, und sobald sie sich mit Eduard allein sah, wagte sie nach Reinhard zu fragen, was sie in ihren Briefen nie gethan. Sie wußte, daß er sein Amt angetreten und die ungetheilte Liebe und Achtung seiner Gemeinde erworben hatte. Das hatte ihr Therese mit- getheilt, deren Mutter bald nach der Abreise der Meierschen Familie gestorben war. Seit aber Therese eine Gouvernantenstelle auf dem Lande angenommen, hatte Jenny auf einige Briefe, die sie ihr schrieb und in denen sie ihr die freundschaftlichsten Anerbietungen machte, keine Antwort erhalten. Um so unerwarteter traf sie die Nachricht, Therese habe durch Ver- mittelung der Pfarrerin jene Stelle, ganz in der Nähe von Reinhard's Wohnort, erhal- ten und sich vor wenigen Wochen mit ihm verlobt. Als Jenny dies erfuhr, zog ein trübes Lächeln um ihren Mund, und Eduard drückte ihr schweigend die Hand. Er und Joseph schienen sich jetzt Jenny's Zufriedenheit gleich- sam zum Zweck ihres Lebens gemacht zu haben; und in beglückender Eintracht, in friedlicher Ruhe schwanden der Meierschen Familie einige Jahre nach ihrer Rückkehr dahin. Treffliche Männer hatten sich um Jenny werbend ihr genaht, die Wünsche von Jenny's Eltern hat- ten sie unterstützt, aber kein Erfolg ihre Be- mühungen gekrönt. Wagte die besorgte Liebe ihrer Mutter, ihr je zuweilen Vorstellungen des- halb zu machen, so bat Jenny, man möge Nachsicht mit ihr haben, denn es sei ihr un- möglich, die Wünsche zu erfüllen, die man für sie hege. „Ich bin ja zufrieden und glücklich, liebe Mutter!“ sagte sie dann; „ich habe Dich, Vater, Eduard, Joseph und Alles, was nur irgend mein Herz begehrt, an Liebe und Scho- nung. Würde ich das in dem Hause eines Mannes finden, den ich nicht liebte?“ Und da alle Zumuthungen und Gespräche dieser Art Jenny sichtlich für längere Zeit verstimm- ten, war es Herr Meier selbst, der seiner Frau anrieth, nicht in Jenny zu dringen, sondern ruhig eine Zukunft zu erwarten, in der die Er- innerung an Reinhard ihren Einfluß auf Jenny verloren haben und die Vorschläge ihrer Freunde leichter Gehör bei ihr finden würden. Aber diesen Zeitpunkt sollte Madame Meier nicht erleben; ein plötzlicher, schmerzloser Tod entriß sie ihrer Familie. Wie tief der Verlust empfunden wurde, wie er die Engverbundenen nur noch fester aneinander schloß, wie Jeder die Lücke auszufüllen strebte, die dadurch in den Herzen der Andern entstanden war, bedarf kaum einer Erwähnung. Nun stand Jenny allein an der Spitze ihres Hauses, auf sie war ihr Vater gewiesen. Dies Bewußtsein erhob sie in ihren eigenen Augen und tilgte jeden andern Wunsch aus ihrem Herzen, als den für ihren Vater zu leben und sein Alter zu ver- schönen. Jene religiösen Zweifel, welche einst das Glück ihrer ersten Jugend untergraben, waren längst und glücklich besiegt. Eigenes Nachdenken und der Beistand ihres Vaters hat- ten sie zu dem Standpunkt einer Gottesver- ehrung geführt, zu dem ihre ganze Erziehung sie hingeleitet hatte. Geistig frei und mit klar- stem Bewußtsein, die zärtlichste Tochter, der Trost aller Leidenden und doch wieder die ele- gante, geistreiche Wirthin ihres gastfreien, vä terlichen Hauses, so erschien Jenny, nachdem der Schmerz über den Tod ihrer Mutter sich gemildert hatte. So finden wir sie auch einige Wochen nach ihrer Vereinigung mit Clara in Baden wieder. Der Wunsch, sich zu sehen, war bei beiden Freundinnen gleich mächtig ge- worden, doch hatten Umstände mancher Art die Erfüllung desselben bis jetzt unmöglich gemacht und mit inniger Freude trafen sie nach acht- jähriger Trennung in Baden-Baden zusammen. Dort hatte man sich rendez-vous gegeben und wollte später gemeinschaftlich in die Heimat der Damen zurückkehren, um Clara's beide Kinder den Großeltern vorzustellen. Anfäng- lich sollte auch Erlau, der sich ganz in Eng- land angesiedelt und dort eine ehrenvolle Stel- lung erworben hatte, William nach Deutschland begleiten. Die unruhige, rasche Lebhaftigkeit des Jünglings war aber in dem Manne nicht erloschen und er hatte den Wunsch, sein Va- terland und seine Freunde zu sehen, aufgegeben, um sich einer englischen Gesandtschaft nach dem Orient anzuschließen, bei der sein Hang für das Ungewöhnliche volle Befriedigung zu finden hoffen durfte. Die beiden befreundeten Familien hatten nun, sobald sie in Baden angelangt waren, ab- sichtlich ihre Wohnung außerhalb der eigent- lichen Stadt genommen, um allein in dem Besitz des gemietheten Hauses und in der freien, ländlichen Natur zu sein. Man wollte sich selbst leben und Jenny war gar nicht damit zufrieden, als William ihr gleich nach ihrer Ankunft erzählte, wie er in einigen Tagen ei- nen Freund, den Grafen Walter, erwarte, den er ihr als einen Genossen für die Zeit ihres Aufenthalts in Baden ankündigte. Graf Walter gehörte einer der ältesten Fa- milien Deutschlands an. Wie die meisten Jüng- linge seines Standes früh in das Militair ge- treten, war er mit seinem Regiment in die Vaterstadt Clara's gekommen und in ihrem elterlichen Hause fast mit allen Personen un- serer Erzählung bekannt, mit Hughes befreun- det geworden. Später hatte er den Dienst verlassen, bedeutende Reisen gemacht und war, um sich zur Uebernahme seiner Güter in land- wirthschaftlicher Beziehung vorzubereiten, auch nach England gegangen, wo er aufs Neue mit William und Clara zusammentraf. Auf ihre Bitten war er ihr Gast geworden, so lange er in England verweilte, und noch jetzt rechnete er die Zeit, welche er mit ihnen, theils in Lon- don, theils in dem reizenden Hugheshall verlebt hatte, zu den anmuthigsten Erinnerungen seines genußreichen Lebens. Nichts konnte ihm also willkommener sein, als die die zufällige Begegnung mit jenen Freunden an den Ufern des Rheines; und unabhängig, wie er es in jeder Beziehung war, ließ er sich bereitwillig finden, den Som- mer mit ihnen in Baden zuzubringen. Jenny hatte er früher nur flüchtig gesehen, aber obgleich er sie nicht näher kannte, erin- nerte er sich dunkel, von einer Liebe Jenny's zu einem jungen Theologen gehört zu haben. Jetzt hatte er von Clara, auf sein Anfragen, einige Details über Jenny und die Lösung je- nes Verhältnisses erfahren und war, durch Clara's und William's Erzählungen, gespannt auf die Bekanntschaft eines Mädchens gewor- den, von dem beide Gatten mit Interesse spra- chen. Trotz der günstigen Vorurtheile aber, fand er doch in Jenny bald noch mehr, als er erwartet hatte; und auch Herr Meier und Jenny wußten es William Dank, den Grafen für ihren kleinen Kreis gewonnen zu haben, da auch ihnen der Umgang des hochgebildeten Man- nes große Freude gewährte. Nachdem Walter an jenem Morgen Jenny den verlangten Bericht abgelegt, bat er um die Erlaubniß, die Arbeit zu besehen, mit der sie sich beschäftigt hatte, als er ankam. Bereit- willig nahm sie ihr Skizzenbuch wieder vor und zeigte ihm eine Gruppe von Bäumen, die sie am Tage vorher in der Nähe des kleinen Wasserfalls entworfen hatte. „Ich kann es nicht ausdrücken“, sagte Jenny, „wie ich diese schönen, großen Bäume liebe. Sie geben mir immer ein Bild unsers Lebens, das fest in der Erde gewurzelt, doch sehnsüchtig himmelan strebt, und in dem Spiel der sonnenbeschienenen Blätter liegt außerdem für mich ein hoher Genuß. Die schönsten Träume meiner Kindheit, die rosigsten Mär- chen gaukeln an mir vorüber und alle Wun- der der Feenwelt scheinen mir möglich, wenn ich das flüsternde Kosen der Blätter höre.“ „Das ist eine ächt deutsche Empfindung“, bemerkte Walter, „die ich vollkommen begreife und mit Ihnen theile. Ich bin so glücklich, in meinem Park die herrlichsten Eichen zu besitzen und weiß meinen Voreltern Dank, die mir jene Bäume gepflanzt. Auch für mich sind sie eine Quelle immer neuen Genusses, wie die ganze Natur, die uns umgibt. Sie schreitet mit uns fort, sie lebt mit uns, sie hat Antwort für unsere Fragen, und es ist für mich das Zeichen eines wahren Dichters, wenn er die Sprache versteht, welche die Natur in seinen Tagen zu den Menschen spricht.“ „Glauben Sie denn“, fragte Jenny, „daß die Einwirkung der Natur auf das Gemüth des Menschen nicht zu allen Zeiten dieselbe blieb?“ „In sofern gewiß“, antwortete der Graf, „als sie immer die höchsten, heiligsten Empfin- dungen seiner Seele anregt. Aber je nachdem diese Gefühle sich im Laufe der Zeiten ändern, wechselt auch der Eindruck, den sie auf uns macht. Der heitre Grieche sah in den schön- sten Bäumen seines Waldes liebliche Dryaden, die ihn mit Liebe umfingen. Dem deutschen Mittelalter predigten sie den Ernst, der auch in den düstern Domen gelehrt wurde, sie spra- II. 8 chen ihm von dem Kreuz, das aus ihrem Holze gezimmert worden ..“ „Uns uns“ fragte Jenny lebhaft. „Uns weisen sie hinauf in die Region der Klarheit, uns predigen sie Freiheit und Licht mit ihren himmelan strebenden Zweigen“, sagte Walter mit schöner Erhebung. Dann, als er sah, daß Jenny ihm erfreut zuhörte, fuhr er nach einer Weile fort: „Wie Heine das Meer, so hat Carl Beck die Baumwelt begriffen. Er versteht, was jetzt in den Aesten rauschet und aus dem Gelispel der Zweige tönt, und ich halte ihn für einen Dichter, weil ihm die Na- tur nicht jene alten längst vergessenen Ammen- märchen, sondern die großen Gedanken unserer Tage vertraut. Das scheint überhaupt bei ei- nigen der jüngern Talente der Fall zu sein. Es ist, als wolle ein neues, kräftiges Leben in der Poesie sich entfalten, und ich hoffe, wir werden nun endlich eine Menge veralteter, ste- reotyp gewordener Bilder los, von denen viele für die jetzige Zeit noch obenein ganz ungenü- gend und verkehrt sind.“ „Verkehrt?“ wiederholte Jenny und fragte mit steigendem Interesse: „und welche rechnen Sie dazu?“ Walter sann einen Augenblick nach, dann sagte er: „Um gleich eines der gewöhnlichsten zu nennen: Das Bild des Baumes und des Schlingkrautes für die Ehe. Sie glauben nicht, Fräulein! wie müde ich dieser ewigen Eichen bin, an die sich zärtlich Epheu schmiegt; der Ulmen, an denen die Rebe sich vertrauend em- porrankt. Leider sind viele Ehen so wie diese! Wie mancher Baum, der in angebornem Na- turtrieb hoch und kühn emporstrebt und sich von einer kümmerlichen Pflanze umrankt findet, die weder ihn zurückzuhalten noch sich aufzu- schwingen und zu gedeihen vermag in einer 8* Höhe, für die sie nicht geschaffen ist! Aber schlimm genug, daß es so ist, und kein Dichter dürfte dies Bild brauchen, wenn er das Ideal schildern will, das von dieser innigsten Verei- nigung in uns lebt. Das Gleichniß ist falsch!“ schloß er und sah verwundert auf Jenny, die während er gesprochen, den Stift aufgenommen hatte und mit dem größten Eifer zeichnete. Nach einigen Minuten reichte sie dem Grafen, der über ihre scheinbare Zerstreutheit ein wenig verletzt und schweigend neben ihr saß, ihre Zeichnung hin und fragte: „Und so Graf Walter? befriedigt dies Gleichniß Sie mehr?“ Sie hatte mit kunstgeübter Hand eine vor- treffliche Skizze entworfen. Zwei kräftige, üp- pige Bäume standen dicht nebeneinander, frisch und fröhlich emporstrebend, mit eng verschlun- genen Aesten. Darunter las man die Worte: „Aus gleicher Tiefe, frei und vereint zum Aether empor!“ Walter betrachtete das kleine Bild mit Freude; sah dann mit einem Ausdruck hoher Bewunderung in Jenny's glühendes Gesicht und sagte: „So vermag man nur das wieder- zugeben, was tief empfunden in uns selbst lebt. Schenken Sie mir dies Blatt, als Zeichen, wie unsere Gesinnung in dieser Beziehung überein- stimmt. Ich bitte, lassen Sie es mir!“ „Nein!“ antwortete Jenny, „wenn Ihnen die kleine Zeichnung gefällt, wenn sie Ihnen richtig scheint, werden Sie es natürlich finden, daß ich sie meinen schönen Vorbildern dedicire; daß ich sie Clara gebe, welche eben mit ihrem Manne und den Kindern über die Brücke kommt. Auch mein Vater ist mit Ihnen! Lassen Sie uns ihnen entgegengehen.“ Es war ein gar erfreulicher Anblick, die Familie zu sehen, als sie über die Wiese dahin- schritt. William nun gegen das Ende der dreißiger Jahre, war ein Bild selbstbewußter, kräftiger Männlichkeit, wie man es in England häufig findet. Er und die blühend schöne Mut- ter führten die kleine Lucy in ihrer Mitte, die seit einigen Tagen die ersten Versuche machte, auf den eigenen Füßchen fortzukommen und mit aller Gewalt dem Bruder nachlaufen wollte, der fröhlich jubelnd voransprang. Man konnte kein anmuthigeres Bild ehelichen Glückes finden und Walter's Augen suchten Jenny, die aber bereits plaudernd am Arme ihres Vaters hing und nur allein mit ihm beschäftigt war. Nachdem man sich niedergelassen und eine lange Zeit mit den lieblichen Kindern vertändelt hatte, sagte William zu Walter: „Ich habe gewünscht, daß wir alle beisammen wären, ehe ich Ihnen einen Plan enthülle, den ich schon seit einigen Tagen in mir ausgebildet habe. Ich wollte Ihnen vorschlagen, jetzt, wie einst in England, unser Hausgenosse zu werden, um die flüchtige Zeit unsers Beisammenseins recht zu genießen. Sie finden Raum genug bei uns und sollen durchaus nicht genirt sein. Auch für Ihre Dienerschaft, Ihre Equipage ist hin- reichend Platz, und wie sehr es mich erfreuen würde, Sie wieder einmal als meinen Gast zu sehen, bedarf keiner Versicherung.“ Herr Meier vereinte seine Bitte mit Wil- liam's, und ohne lange zu überlegen, nahm Walter den Vorschlag unbedingt und mit sicht- lichem Vergnügen an. Man machte Entwürfe, wie man sich einrichten wolle, um so viel als möglich mit einander zu sein und doch Jedem die nöthige Ruhe und Freiheit zu gönnen, ohne welche auf die Länge keine behagliche Existenz denkbar ist; und man trennte sich erst, nach- dem man übereingekommen war, Walter solle noch im Laufe des Tages sein Hotel verlassen, um sich gleich heute bei seinen Freunden zu etabliren. Als er fortgegangen war, bemerkte Jenny: „Mir hat die Art sehr gefallen, mit der Walter William's Erbieten annahm. Ein Anderer hätte vielleicht Einwendungen gemacht, das Bedenken geäußert, er könne beschwerlich sein und zuletzt sich in Danksagungen erschöpft, wenn er die Einladung angenommen hätte. Von dem Al- len that Walter nichts. Er dachte offenbar im ersten Augenblick nur daran, ob es ihm selbst zusagend sei; dann, als er sich davon überzeugt, sagte er, ohne weitere Umstände: „Ich komme mit großer Freude, wenn Sie mich haben wollen!“ und doch lag gerade in dieser Einfachheit für mich etwas besonders An- genehmes.“ „Das ist es auch!“ bestätigte Herr Meier. „Es spricht sich darin ein festes Zutrauen zu dem Freunde und zu sich selbst aus; die Ueber- zeugung, er wisse, wie willkommen er seinen künftigen Wirthen sei, und die Versicherung, er sei ihnen gern verpflichtet. Ueberhaupt charakterisirt sich ein edles Gemüth, ein freier, durchgebildeter Sinn am meisten in der Art, mit welcher man Dienste empfängt und Gefäl- ligkeiten annimmt. Sie auf eine schickliche Weise zu leisten, erlernt Mancher.“ „Ach! auch das ist nicht jedes Menschen Sache!“ wandte William ein. „Wie oft er- drückt man uns mit der Art, in der man sich uns dienstwillig und gefällig zeigt!“ „Eben weil man es nicht ist!“ erwiderte Herr Meier. „Weil man sich das für eine Tugend, für eine Pflichterfüllung, oder gar für ein Opfer auslegt, was dem wohlwollenden Charakter ganz einfach und natürlich erscheint. Wer bereit ist, Andern zu dienen und gefällig zu sein, wer empfunden hat, wie viel Freude darin liegt, der gönnt diesen Genuß auch den Uebrigen und nimmt Hülfsleistungen und Ge- fälligkeiten so gern und unbefangen an, als er sie erzeigt. Er weiß, daß Geben seliger sei als 8** Nehmen, und daß die Befriedigung des Ge- währenden gewiß ebenso groß ist, als die des Empfangens. Darum habe ich Vertrauen zu Personen, die mit guter Art „anzunehmen“ verstehen, ohne innerlichen Vorbehalt, durch ei- nen Gegendienst bald möglichst quitt zu wer- den oder zu vergelten. Dies Vertrauen hat mich fast niemals betrogen und findet in Wal- ter aufs Neue seine Bewährung. Damit aber auch er sich nicht getäuscht finde, wollen wir doch selbst einmal zusehen, daß Alles für ihn bereit sei, wenn er kommt.“ Mit diesen Wor- ten erhob sich Herr Meier und entfernte sich mit William, um die nöthigen Anordnungen treffen zu lassen. So sehr Jenny und Clara über dies Wie- dersehen in Baden erfreut gewesen, so lieb sie einander waren, so konnte es Beiden doch nicht verborgen bleiben, daß es ihnen eigentlich an jenen gemeinsamen Berührungspunkten fehle, welche die Basis der Freundschaft machen. Sie hatten im Ganzen nur wenig Monate zusam- men verlebt und eine Reihe von Jahren war seitdem verflossen, sodaß trotz eines fleißigen Briefwechsels die Damen sich ziemlich fremd geworden waren und sich nicht recht ineinander zu finden wußten. Wie Clara's ganze Er- scheinung Glück und Zufriedenheit ausdrückte, wie jeder Zug die Wonne aussprach, welche sie als Gattin und Mutter empfand, so zeigte sich auch in ihrer geistigen Richtung eine gewisse Ruhe, ein abgeschlossenes Begnügen. Sie hatte die höchsten Schätze des Lebens erreicht und, obgleich sie für die Außenwelt nicht ab- gestorben war, interessirte sie dieselbe doch ei- gentlich nur in so weit, als sie William be- rührte und mit seinen Wünschen und Ansichten zusammenhing; denn nach schöner Frauen Art lebte sie nur in ihrem Manne und in ihren Kindern. Jenny hingegen wollte, durch Eduard daran gewöhnt, Theil nehmen an allem Großen und Wichtigen. Mit weiblicher Schwärmerei hing sie an den Planen und Hoffnungen Eduard's, nicht um seinetwillen allein, sondern weil sie auch die ihren geworden waren. Gei- stige und künstlerische Beschäftigungen füllten die größte Zeit ihres Tages aus und mit ihrer gewohnten Lebhaftigkeit strebte sie nach neuen Kenntnissen, nach höherer, vielseitiger Ausbil- dung der Anlagen, die sie ungenützt in sich fühlte. Mit schmerzlichem Lächeln sah Clara auf dieses Treiben Jenny's hin. Sie glaubte in sich die Erfahrung gemacht zu haben, daß bei Frauen die lebhafte Theilnahme an den Er- scheinungen der Außenwelt ein Zeichen innern Unbehagens sei, ein Surrogat, mit dem sie sich für ein Glück entschädigen, das ihnen nicht ge- worden. Jenny hingegen erschien Clara's Wesen als eine Resignation, die sie bewunderte, ohne zu glauben, daß sie selbst im Stande wäre, Glück oder Zufriedenheit darin zu finden. Bei so verschiedenen Ansichten ward eine gegenseitige Schonung derselben zur Pflicht, und da die ersten Versuche sich zu verständigen, ohne Erfolg geblieben waren, vermied man jede Unterhaltung der Art und Jenny war nahe daran, ihr Beisammensein mit Clara etwas einförmig zu finden, als durch Walter's tägliche Anwesenheit eine erwünschte Abwechselung in ihr Leben kam. Bald war dieser ihr steter Begleiter bei den Promenaden, zu denen die Umgegend Badens so unwiderstehlich lockt. Vor ihm ließ sie sich sorglos in ihrer eigenthümlichen Denkweise ge- hen und Walter, der dadurch Jenny's hohen Werth täglich mehr erkennen und schätzen lernte, äußerte nach einiger Zeit gegen William und Clara, daß Jenny ihm vor allen Frauen interessant und bedeutend erscheine. „Und nicht auch schön?“ fragte Clara. „Sehr schön!“ antwortete der Graf“, und um so anziehender, als man ihren Augen an- zusehen glaubt, daß sie schon geweint, ihrem Munde, daß er einst vor Schmerz gebebt. Solch feucht verklärten Augen gegenüber fühlt man den Beruf zu trösten, zu vergüten, und so ruhig heiter Jenny auch erscheint, ist mir doch immer, als hätte die Zukunft bei ihr noch Vieles gut zu machen, als müsse sie durch Glück für früheres Leid entschädigt und belohnt werden.“ „Das klingt sehr warm, lieber Graf!“ sagte William scherzend, „und fast, als ob Sie nicht abgeneigt wären, die Entschädigung zu übernehmen. Hüten Sie sich vor den feucht verklärten Augen.“ „Sie thun mir Unrecht“, entgegnete Walter, „wenn Sie meinen Worten irgend einen an- dern Sinn unterlegen. Daß ich Jenny Meier so innig bewundre, ohne sie zu lieben, das gerade macht mir ihren Umgang so anziehend und erhöht den Reiz, den ihr scharf ausge- prägter Charakter, ihr selbständiges Wesen für mich haben.“ In dem Augenblick kam der kleine Richard herbei und rief: „O kommt doch Tante Jenny sehen, kommt doch an das Fenster!“ Man folgte ihm dorthin und erblickte Jenny, die eine junge leichenblasse Frau niedern Stan- des unterstützte, während sie das Kind der- selben auf dem Arme trug. Walter flog die Treppe hinab, um ihr beizustehen; denn es war Mittag, die Sonne brannte glühend heiß und Jenny schien erschöpft von der ungewohnten Anstrengung. „Führen Sie die Frau ins Haus“, sagte Jenny, als Walter dazu kam, „aber behutsam. Das Kind behalte ich.“ Walter erfüllte ihren Wunsch, und nachdem man für die arme Kranke gesorgt hatte, er- zählte Jenny, wie sie dieselbe ohnmächtig am Wege gefunden, sie durch ihre Bemühungen ins Leben gerufen und mit unsäglicher An- strengung bis hieher gebracht, da jetzt in der Mittagsstunde Niemand die Straße gekommen sei, den sie um Hülfe hätte bitten können. „Nicht Ein Mensch war zu sehen“, sagte sie. „Ich blickte nach allen Seiten, ich rief so laut ich konnte und der unerträglichste Stutzer wäre mir ein hülfreicher Götterbote gewesen, wenn er in dem Augenblicke erschienen wäre.“ „Es ist besser so!“ meinte Clara. „Du hast die arme Frau glücklich hieher gebracht und bist allen Bemerkungen entgangen, die man darüber leicht gemacht hätte.“ „Zu diesen bot wol eine so einfache Hand- lung keinen Anlaß“, sagte Jenny unbefangen. „Ich konnte doch unmöglich die Frau allein und hülflos liegen lassen, bis ich von hier oder aus der Stadt Beistand geholt hätte. Zudem hätte ich das schreiende Kind doch mit mir nehmen müssen und endlich weißt Du, liebes Clärchen, daß mir die Urtheile der Menge sehr gleichgültig sind, wenn ich Das, was ich thue, vor mir und meinem Vater verantwor- ten kann.“ In Jenny's Worten, in ihrem ganzen We- sen lag in diesem Moment soviel Natürlichkeit und doch ein so edler Stolz, daß Walter sie mit Entzücken betrachtete, obgleich auch ihm der Gedanke unangenehm gewesen, man hätte Jenny in jener Situation beobachten und sie falsch beurtheilen können. „Wie wir doch nach allen Seiten hin auf Widersprüche in den Sitten unserer so- genannten civilisirten Welt stoßen!“ sagte Wal- ter zu Herrn Meier, der indeß dazu gekommen war. „Wäre eine der Dienerinnen des Hau- ses der Unglücklichen begegnet, und hätte sich ihrer angenommen, so würden wir das schön und lobenswerth gefunden haben; und nun ta- delt man Fräulein Jenny, daß sie nicht un- barmherziger zu sein vermochte, als Jene, ob- gleich der Dienst, den sie leistete, größer war, denn er mußte ihr beschwerlicher scheinen.“ „Sie billigen also die Handlung meiner Tochter unbedingt?“ fragte Herr Meier. Walter stockte einen Augenblick und meinte dann: „Wenigstens hätte ich selbst nicht anders zu handeln vermocht.“ „Aber Sie würden wünschen“, sagte der alte Herr, „daß Jenny auf keine zweite Probe der Art gestellt würde, denn wir wollen einmal kein Mädchen von der gewohnten Sitte ihres Standes abweichen sehen. Dennoch ehre ich ein Gefühl, das in solchen Augenblicken rück- sichtslos zu handeln vermag, ohne an das qu'on dira l'on? zu denken; und ich bin vielleicht selbst Schuld daran, wenn Jenny das Urtheil der Leute nicht zu hoch anschlägt. In meinen Ver- hältnissen war es mir Pflicht, meine Kinder bis zu einem gewissen Grade gleichgültig gegen die öffentliche Meinung zu machen, die wir ein für allemal gegen uns hatten und deren Ein- fluß auf uns und auf Jeden doch viel größer ist, als wir glauben wollen.“ Clara, die gleich Anfangs ihre Aeußerung bereut hatte und es nun doppelt that, da sie Herrn Meier zu einer Erklärung bewogen, welche er ebenso gern vermied, als Eduard sie suchte — Clara sagte: „Versteht mich nicht falsch! Ich tadle Jenny nicht. Nur vor der Verderbt- heit Derjenigen war mir bange, welche ihr ir- gend ein unlauteres Motiv, ein Schaustellen dabei zur Last legen könnten. Wir Frauen sind so sehr gewöhnt, uns nur innerhalb un- seres schützenden Hauses zu denken, daß wir erschrecken, wenn wir uns außerhalb desselben handelnd erblicken.“ „Entschuldige Dich nicht und mich nicht, Clärchen!“ sagte Jenny, die bis dahin schwei- gend einer Unterhaltung zugehört hatte, bei der sie so nahe betheiligt war.„Du kennst mei- nen alten Wahlspruch: „Thue, was Du sollst, komme, was mag.“ Kann ich dafür, wenn ich den Muth dazu von früher Jugend an fühlte?“ Mit diesen Worten entfernte sie sich schnell, um nach ihrem Schützling zu sehen, und ließ Walter in großer Bewegung zurück. Es war das erste Mal, daß er mit einer jüdischen Fa- milie in nähere Berührung kam und Jenny's Geist und Schönheit, des Vaters Weisheit zo- gen ihn um so mehr an, als sie etwas ihm Fremdes und Eigenthümliches besaßen. Er hatte von jeher gewußt, daß Jenny eine Jüdin sei; aber so fern hatte er diesen Verhältnissen gestanden, daß er fast nie daran gedacht, es könne ein edles Unglück darin liegen, Jude zu sein. Jetzt aus des alten Herrn schlichter Aeußerung tönte ihm, dem Glücklichen, der Schmerzensschrei eines ganzen Volkes entgegen und sein Mitleid mit demselben knüpfte, ihm unbewußt, ein neues Band, das ihn an Jenny fesselte. Er widmete sich ihr bald ausschließlich und hatte eine wahre Freude daran, sie, die er so lebhaft bewunderte, selbst unter der großen Zahl schöner und liebenswürdiger Frauen, die Baden in sich vereinte, als eine der schönsten und liebenswürdigsten zu erblicken. Er wenigstens wollte durch sein Verhältniß zu Jenny und ihrem Vater zeigen, daß er frei von den Vorurtheilen sei, durch die, wie er allmälig von Jenny erfuhr, auch sie und die Ihrigen so empfindlich gelitten hatten. Er schien eine Ehre darin zu finden, Jenny's un- ausgesetzter Begleiter zu sein, und erklärte offen, wie er die Gesellschaft des alten Herrn Meier und seiner Tochter fast jeder andern vorzöge. Dabei ging Walter's Selbsttäuschung so weit, daß er jenes Gefühl, welches ihn zu han- deln antrieb, nur für eine Gerechtigkeit, für eine Genugthuung des freien Glücklichen gegen den Unterdrückten hielt. Er glaubte, nur sei- ner politischen Ueberzeugung, seiner Achtung vor Menschenrechten zu folgen, die ritterliche Pflicht eines Edelmannes zu erfüllen, indem er durch sein Beispiel gegen ungerechte Vorurtheile kämpfte. Einem Onkel, der durch Bekannte von Wal- ter's Verhältniß zur Meierschen Familie unter- richtet war und mit einiger Unruhe desselben gegen ihn erwähnte, schrieb er in dieser Zeit folgenden Brief: „Sie haben mich gewöhnt, mein theurer Onkel! die Besorgnisse und Vorwürfe zu verstehen, die Ihre schonende Liebe für mich zwischen die Linien schreibt, um mir jede un- angenehme Empfindung zu ersparen. So lese ich hinter dem wohlwollenden Rath, in die Heimat zurückzukehren und nicht wieder so gar lange von meinen Besitzungen fern zu bleiben, die Besorgniß, ich könnte nicht allein in diese Heimat einziehen, sondern eine Gattin mit mir bringen, die Ihnen, dem ehemaligen Vormund, dem väterlichen Freunde, nicht willkommen wäre, so gern Sie mich übrigens verheirathet und unser altes Geschlecht fortgepflanzt wüßten.“ „Fürchten Sie nichts! Meine liaison mit dem Kaufmann Meier und seiner Tochter ist allerdings eine sehr innige und, wie ich denke, dauernd; indeß ist mir der Gedanke, Fräu- lein Meier zu heirathen, vollkommen fremd. Sie wissen, und ich glaube das fürchten Sie gerade, daß kein Vorurtheil irgend einer Art mich abhalten könnte, ein Mädchen zur Gräfin Walter zu machen, das ich liebte: doch ich liebe Jenny Meier nicht, so sehr ich sie bewundre und mich ihrer Freundschaft, ihres Umganges erfreue. Es ist wahr, sie ist schön und liebenswürdig in hohem Grade, aber eine gewisse Jugendlichkeit, das weiblich Weiche fehlt ihr, das man an Mädchen un- gern vermißt. Sie weiß mit Sicherheit, daß sie gefällt; es ist ihr lieb, ohne daß sie An- spruch darauf macht, und sie würde, wie mich dünkt, nicht das Geringste dazu thun, die Meinung oder Gunst eines Mannes zu erwerben. Gefällt sie, ist's ihr recht, wenn nicht, so gilt's ihr gleich. Gestehen Sie, das ist eigentlich nicht die Art, die wir lie- ben. Es liegt etwas Männliches darin, das interessant ist, den Umgang sehr erleichtert, unser Vertrauen, unsere Freundschaft erweckt, aber nicht Liebe.“ „Ich traf mit dieser Familie Meier zu- fällig durch die Vermittlung eines gemein- samen Freundes zusammen und nahm mit Dank das Erbieten desselben an, seine und ihre Wohnung zu theilen. Dies veranlaßte vermuthlich jenes Gerücht meiner Verlobung mit einer Jüdin, das Sie erschreckt hat. Für diesmal, das sehen Sie, sind Sie der Sorge ledig, mich eine Heirath schließen zu sehen, die so stark gegen Ihre aristokratischen Ansichten verstoßen würde. Was die Zukunft bringt, dafür kann ich nicht einstehen. Doch ohne Scherz! Sie wissen, wie ich darüber urtheile, und habe ich je den Beruf gefühlt, mit allen Waffen kämpfend gegen Vorurtheile II. 9 aufzutreten, so war es nach manchen Mit- theilungen, die mir Fräulein Meier über ihre Jugend und die Verhältnisse ihres Bruders machte, der auch Ihnen dem Namen nach bekannt sein muß. Jene Vorurtheile, das sind die Drachen unserer Tage, die zu ver- tilgen, Ritterpflicht wäre, weil sie zerstörender wüthen, als jene Ungeheuer es vermocht; und so viel an mir ist, will ich beweisen, daß ich noch ein Ritter bin, wie jener St. Georg, der den Lindwurm tödtete. Es würde Sie selbst ergreifen, wenn Sie Jenny mit Stolz von dem Unglück sprechen hörten, das sie mit Tausenden theilt und für Alle empfindet; denn obgleich sie lange zum Christenthum übergetreten, ist sie von Grund der Seele Jüdin geblieben. Sie gesteht das frei und es macht sie mir um so interessanter, wie denn ihr ganzes Wesen mir eine neue Er- scheinung, ein Räthsel ist, das mich anmuthig beschäftigt. In ihr vereinen sich der Geist und der Muth eines Mannes mit unend- licher Güte, und es überrascht mich oft, daß doch zuletzt, trotz aller männlichen Klarheit, irgend eine liebenswürdige weibliche Schwäche oder ein lebhaftes Gefühl den Sieg über den Verstand davon tragen.“ „Sie sehen aus der Weise, in der ich ruhig den Charakter des Fräuleins zergliedere, daß mein Herz frei ist. Selbst der geübteste Anatom vermöchte das nicht, wenn das Klopfen des Herzens ihm die Hand unsicher macht, wie viel weniger ich. Also unbesorgt, mein Freund! finden Sie mir in unsern Kreisen eine liebens- würdige Gattin und ich will mich nicht länger sträuben, mir Ketten anlegen zu lassen, die sehr beglückend sein können, wie ich an mei- nem Freunde William und seiner schönen Frau bemerke.“ 9* Tage und Wochen schwanden auf die an- muthigste Weise dahin. Walter überließ sich immer mehr dem steigenden Interesse, das ihn an Jenny fesselte und ihm ihren Umgang zu einem Bedürfniß machte, das er nicht mehr entbehren konnte, und auch ihr war Walter be- reits seit lange ein werther Freund geworden. Da entzog die Ankunft einer Freundin, der Geheimräthin von Meining, Jenny auf e inige Tage der Gesellschaft ihrer Hausgenossen. Frau von Meining, nur wenige Jahre älter als Jenny, war an einen bejahrten Mann verheirathe, der in Berlin als Arzt eine bedeutende Stellung einnahm. Dort hatte Jenny sie kennen gelernt und ein unbedingtes Vertrauen zu ihr gefaßt, das durch den hohen sittlichen Werth jener Dame vollkommen gerechtfertigt wurde. Fast jeden Sommer pflegte die Geheimräthin in Ba- den zu leben, wo sie eine Besitzung hatte, wäh- rend ihr Mann seinem fürstlichen Herrn auf dessen Reisen folgte, und die Aussicht, Jenny zu treffen, hatte sie um so mehr bestimmt, auch in diesem Jahre ihren Lieblingsort wieder zu besuchen. Leider aber war sie diesmal unpaß in Baden angelangt, und eine große Reizbar- keit der Nerven nöthigte sie, sich fürs Erste der Gesellschaft fern zu halten und sich allein auf Jenny zu beschränken, die mit Freude ihre Zeit zwischen der Geheimräthin und den Ihrigen theilte. Willig ließ man sie darin gewähren; nur Graf Walter konnte sein Mißvergnügen über Jenny's häufige Abwesenheit nicht verbergen und äußerte eines Abends gegen Herrn Meier, wie er sich die Abwesenheit einer so liebenswür- digen Tochter nicht gefallen lassen würde. Clara lachte darüber und Herr Meier bemerkte: „Sie werden auch uneigennützig werden, mein Freund, wenn Sie das Glück kennen werden, das man in der Zufriedenheit seiner Kinder empfindet. Uebrigens muß man auch der armen Leidenden die kleine Zerstreuung gönnen, die Jenny's Ge- sellschaft ihr gewährt.“ „Aber heute bleibt Fräulein Jenny doch ungewöhnlich lange dort“, sagte Walter, als man Anstalten machte, sich für den Abend zu trennen, ohne Jenny's Rückkehr zu erwarten. „Meine Tochter hat den Wagen erst nach elf Uhr bestellt. Die Geheimräthin leidet an Schlaflosigkeit und Jenny wollte versuchen, ob es ihr nicht gelänge, sie durch leises, gleichmäßi- ges Vorlesen oder auf irgend eine andere Weise in Schlaf zu wiegen. Ich wünsche der liebens- würdigen Frau und Euch eine gute Nacht.“ Mit den Worten entfernte sich Herr Meier; auch Clara und William zogen sich zurück und ließen Walter allein. Es war ihm zu früh, sich zur Ruhe zu begeben. Er ging hinab ins Freie, um noch eine Stunde der Kühlung zu genießen, denn er fühlte sich verdrießlich, un- ruhig und in großer Spannung. Ihm war, als stehe er am Vorabende einer neuen Epoche seines Lebens, als erwarte er etwas, oder als müsse ihm heute irgend ein besonderes Ereigniß begegnen. Und wenn er sich fragte, was ihn so bewege, worauf er so sehnsüchtig harre: dann mußte er sich bekennen, daß er es selbst nicht wisse. Vergebens versuchte er diesen Zustand zu bekämpfen, und um endlich, wie er glaubte, eine körperliche Erregtheit durch Ermüdung ab- zustumpfen, ging er rastlos und schnell vor- wärts. So befand er sich nach kurzer Zeit am Ausgange der Lichtenthaler Allee, in der Nähe des Hauses, in dem Frau von Meining wohnte. Die Meiersche Equipage hielt noch vor der Thüre. Die Fenster der Geheimräthin waren matt beleuchtet. Zerstreut blieb Walter eine Weile stehen, sah zu den Fenstern empor und schickte sich dann plötzlich zur Rückkehr an. Kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte gemacht, als er sich auf eine der Bänke warf, die sich in der Allee befinden, und in ein tiefes Hinträumen versank, aus dem ihn dennoch der Fußtritt jedes Vorübergehenden emporschreckte. Allmälig wurde die Allee einsamer. Die Uhr des Nonnenklosters in der Stadt schlug zwölf. Bald darauf hörte er das Rollen von Rädern, er fuhr auf und blickte nach der Gegend, woher der Ton zu kommen schien. Aber täuschte er sich nicht? Ein weißes Kleid schimmerte glän- zend aus der Dunkelheit empor, er eilte der Gestalt entgegen, sein Herz schlug hörbar — Jenny stand vor ihm. „Sie hier, Graf Walter?“ sagte sie über- rascht, doch freundlich, und legte ihren Arm in den des Grafen, der ihn ihr schweigend bot. Wer es nicht empfunden, wie viel Vertrauen in der Art liegen kann, mit dem eine Frau sich auf den Arm eines Mannes lehnt, der wird nicht begreifen, wie Walter sich so glücklich fühlte, als Jenny's Arm jetzt in dem seinen ruhte. Denn es gibt gewiß nichts Gleichgül- tigeres, als die Sitte, einer fremden Dame den Arm zu bieten, und doch fast nichts Süßeres, als wenn diese gleichgültige Sitte unter Per- sonen zur traulichen Gewohnheit wird, die es noch selbst nicht wissen, wie nahe sie schon zu einander gehören. Was unverstanden wie eine dunkle Ahnung in Walter geschlummert hatte, das fühlte er plötzlich als unwiderstehliche Wahrheit. Er hatte Jenny immer schon geliebt und jetzt, da sie freundlich und doch sorglos, als müsse es so sein, seinen Schutz und seine Stütze annahm, jetzt ging die Sonne der Liebe glorreich in sei- nem Bewußtsein auf und er fragte sie inner- lichstselig: „Warum erst jetzt?“ Schweigend legten sie eine Strecke des We- ges zurück, denn Walter vermochte nicht zu sprechen vor innerer Wonne, und Jenny fühlte 9** sich so geborgen unter dem Schutze dieses Man- nes, so zufrieden in dem Gedanken an die Er- leichterung, die sie ihrer Freundin verschafft hatte, daß sie sich willig jener weichen Ruhe überließ, zu der die schöne Sommernacht ver- führerisch einlud. Allmälig aber wurde ihr Walter's Schweigen peinlich. Es war, als ob seine Stimmung sich ihr mittheilte, sie fühlte sich beklommen, geängstigt, und um nur eine Veränderung in diese Situation zu bringen, sagte sie: „Es war so schwül in den Zimmern der Frau von Meining, daß ich dringend die Nothwendigkeit fühlte, mich abzukühlen und deshalb mit unserm alten Diener den Fußweg einschlug. Die Nacht ist wunderschön.“ „O, unaussprechlich schön!“wiederholte Wal- ter und die frühere Stille trat wieder ein. Jenny's Unruhe stieg dadurch von Minute zu Minute. Sie bildete sich endlich ein, um ihre Unruhe zu motiviren, ihrem Vater sei irgend ein Unglück begegnet und man habe ihr Walter entgegengeschickt, sie davon in Kenntniß zu setzen. „Wie ging es meinem Vater, als sie ihn ver- ließen?“ fragte sie bebend. „Er war wohl und munter, und hatte sich zur Ruhe begeben, ehe ich fortging“, antwor- tete der Graf, und Jenny, als sie in diesem Augenblick ihre Wohnung erreichten, machte ihren Arm aus dem des Grafen los und sank tief aufathmend auf den Sitz vor ihrer Thüre nieder. Sie hätte weinen mögen, so bewegt war ihr Herz; sie wollte aufstehen und noch in das Zimmer ihres Vaters ge- hen, um sich zu überzeugen, daß er wohl sei, und war doch so erschöpft von der Beängsti- gung auf dem Wege, daß sie kein Glied zu rühren vermochte. Schweigend saß Walter ne- ben ihr. Die tiefste Stille herrschte ringsum; nur das Rauschen der Blätter, das leise Rieseln des Oelbaches tönte an ihr Ohr. Balsamisch drang der Duft des frisch gemähten Grases von den Wiesen empor und Jenny's Seele fand Ruhe und Friede in dieser feierlichen Stille, der sie sich mit Wonne hingab. Da tauchte plötzlich ein lichter Schein am nördlichen Horizonte auf, hell und immer heller, sodaß der ganze Him- mel davon durchleuchtet und verklärt schien, während ein Lichtmeer den Ursprung der herr- lichen Erscheinung bezeichnete. Einzelne Strah- len schossen blitzschnell gegen den Zenith empor, im wechselnden Farbenspiel und mit ganz überirdi- scher Pracht; dann verschwammen sie wieder in dem Lichtmeer und neue, ebenso glänzende Flammenstreifen tauchten daraus hervor. Es war das schönste Nordlicht, das man seit lange gesehen hatte und bewundernd hingen Jenny's Blicke an dem erhabenen Anblick. Ihre Hände falteten sich unwillkürlich und mit bebender Stimme sagte sie: „Und sie sprechen von Offen- barung! Als ob es eine göttlichere, unwider- stehlichere geben könnte, als diese. Wer sollte nicht glauben an Den, der so zu uns spricht? Das ist Gott! Das ist der Gott, den ich anbete, und der keines Mittlers, keiner sinnverwirren- den Lehren von Kreuz und Blut und Tod be- darf, um uns fühlen zu lassen, daß sein die Macht und Er die Liebe ist.“ Thränen der seligsten Begeisterung flossen aus Jenny's Augen. Kein Gedanke, als die anbetende Verehrung, die tiefste Demuth vor Gott war in ihrer Seele, als Walter mit einem Ausruf von Entzücken sich vor Jenny nieder- warf und ihre gefalteten Hände an seine glü- henden Lippen preßte. Erschreckt und unan- genehm durch diese leidenschaftliche Berührung in ihrer Andacht gestört, stand Jenny auf und sagte mit einem Tone des Vorwurfs: „Ent- weihen Sie die Stunde nicht. Knien Sie nicht vor dem Geschöpf, wenn der Schöpfer selbst Sie einer solchen Offenbarung würdigt.“ Und schritt rasch in das Haus, an dessen Thüre ihr Diener ihres Eintritts wartete. Bestürzt sah Walter ihr nach. Sein Herz hatte voll grenzenloser Liebe verlangt, sich in dieser feierlichen Stunde der Geliebten für im- mer zu eigen zu geben, und im Uebermaß des Gefühls war er vor sie niedergesunken. Er be- tete sie an, wie sie den Schöpfer, und kalt und tadelnd hatte sie ihn von sich gestoßen. Er warf es sich vor, wie ein blöder Träumer vor Jenny gestanden zu haben, statt wie ein Mann von ihr die Seligkeit zu fordern, die er be- gehrte, die sie allein ihm zu gewähren vermochte. „Jetzt“, sagte er sich, „jetzt könnte sie mein sein. Ich könnte meine brennenden Lippen auf die ihren drücken, den Schlag ihres Herzens an dem meinen fühlen, wissen, daß sie mein ist für immer — daß sie mich liebt. ...“ Walter hielt inne. Daß sie ihn liebte, da- für hatte er keinen Beweis und doch glaubte er daran. Eine Liebe wie seine konnte nicht unerwidert bleiben, sie mußte Gegenliebe finden. Diese Hoffnung gab ihm Muth und voll Ver- trauen auf einen glücklichen Ausgang wollte er am nächsten Morgen Jenny seine Liebe gestehen und von ihrem Vater die Hand seiner Tochter fordern. Doch nur zu oft vernichtet der Morgen die Hoffnungen des vorigen Tages. Als Walter das Zimmer betrat, in dem man sich zu ver- sammeln pflegte, sah er an den verstörten Zü- gen der beiden Damen, daß ihre Ruhe erschüt- tert, ein unangenehmes Ereigniß hereingebrochen sein müsse. Clara schien geweint zu haben und schüttelte traurig das Haupt, als Herr Meier tröstend sagte: „Sie sollten froh sein, mein Kind, daß dies Verhältniß nun endlich zu einer Entscheidung gekommen ist. An den augenblick- lichen Schmerz darf man nicht denken, wo eine lange und so Gott will bessere Zukunft gewon- nen werden soll.“ Um nicht zu stören, verließ der Graf das Zimmer und ging zu William, den er schreibend fand. Von ihm erfuhr er, wie vor einer Stunde ein Brief Eduard's angekommen sei, der diese allgemeine Aufregung verursacht hatte. Er war an William gerichtet und lautete: „Mein Freund. Mache Dich gefaßt, eine Mittheilung zu hören, die, obgleich erwünscht in ihren Folgen, doch für den Augenblick ihr tief Betrübendes hat. Ferdinand ist bei mir, aber er ist krank und sehr zu beklagen.“ „Vorgestern in der Nacht schellte man an meiner Thüre. Man öffnete und kam, mich zu wecken, weil ein Kranker nach mir begehre. Gleich darauf trat der Fremde bei mir ein und ich fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt sei? „Ich selbst bin krank zum Sterben und ich wollte, ich wäre schon todt“, antwortete der Unbekannte. Ich sah ihn prüfend an. Eine verfallene Gestalt, üsirte Züge und wenig, fast ergrautes Haar — obgleich der Mann so alt nicht schien, um diesen gänzlichen Verfall zu rechtfertigen. „Sie kennen mich nicht mehr, oder wollen Sie mich nicht kennen?“ fragte er höh- nisch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz der fast unglaublichen Veränderung in seinem Aeußern. Es war Ferdinand.“ „Ich nöthigte ihn, sich niederzusetzen. Ich fragte nach seiner Frau. „Nennen Sie das Weib nicht!“ rief er und sein Gesicht zuckte krampfhaft. „Mit dem Wenigen, das man mir als Almosen hinwarf, vermochte sie sich nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An- sprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich war krank, ein Fieber nahm mir die Besinnung und diesen Zeitpunkt benutzte sie, mir Alles zu rauben, was ich noch besaß, und mich zu ver- lassen. Ich hatte ja nichts mehr zu verschenken, zu verschwenden“ So schloß er und wieder flog das convulsivische Zittern durch seine Züge.“ „Ich sah, daß seine körperliche Erschöpfung aufs Höchste gestiegen war, und redete ihm zu, die Nacht bei mir zu bleiben, zu ruhen; wir könn- ten das Nöthige dann am Morgen überlegen. Er betrachtete mich mit einem Mißtrauen, das mich befremdete, da er gerade mich ausgesucht hatte, und sagte: „Wollen Sie erst von der Familie Horn Verhaltungsbefehle holen?“ Nun wußte ich, wie ihm beizukommen war. Es ge- lang mir, ihn zu beruhigen. Ich ließ eine Mahl- zeit auftragen, denn er bedurfte dringend einer Erquickung. Mit gieriger Hast griff er nach den Speisen und brach dann, als er sich gesät- tigt hatte, in lautes Weinen aus. „So komme ich in meine Heimat zurück!“ rief er und fing dann an, mir zu erzählen, wie er seit gestern fast keine Nahrung zu sich genommen, den Post- wagen nicht verlassen hätte, aus Scheu, hier in der Nähe seiner Vaterstadt Bekannten zu begegnen. „Auch hatte ich kaum, wovon eine Mahlzeit zu bezahlen“, sagte er. Sie hat mir Alles genommen, ehe sie mich verließ. Als ich zum Bewußtsein erwachte, war ich allein, ein Bettler. Seit Monden war unser Credit er- schöpft, Niemand wollte uns mehr borgen. Ich erfuhr, daß sie einem Russen gefolgt war, der ihr lange nachgestellt hatte und ihr glänzendere Aussichten versprach, als sie bei mir erwarten konnte. Ein Ring, den ich nie abgelegt und den ich jetzt verkaufte, bot mir die Mittel, sie zu verfolgen — doch bald sah ich die Thor- heit dieses Unternehmens ein. Ich mag sie nicht wiedersehen. Eine unbezwingliche Sehnsucht trieb mich hieher. Ich will hier sterben, wo ich einst glücklich war.“ „Erschöpft fiel er in den Sopha zurück, und da ich absichtlich schwieg, schlief er bald ein, obgleich er heftig fieberte. Seitdem hat sich unverkennbar ein nervöses Fieber deklarirt und die Krankheit ist im Steigen. Er hat nur we- nige klare Augenblicke, in seinen Phantasien aber spricht er mit dem tiefsten Haß von seiner Mut- ter, der er sein Unglück zuzuschreiben scheint. Wenn nicht besondere Zufälle dazwischen treten, ist sein Zustand nicht gefährlich, und ich hoffe, ihn herzustellen. Indessen halte ich es für rath- sam, den Eltern die Anwesenheit Ferdinand's zu verbergen, bis er körperlich und geistig im Stande ist, ein Wiedersehen zu ertragen. Jetzt, da die Trennung von seiner Frau erfolgt ist, wird es uns ein Leichtes sein, ihn allmälig sei- nen Eltern und seinen frühern bürgerlichen Ver- hältnissen wieder zu geben.“ „Beruhige Deine Frau deshalb und sage ihr, daß es ihm an der Pflege und Sorgfalt, die sein Zustand erfordert, nicht fehlen soll. Ich bürge dafür und hoffe, Dir bald tröstlichere Nachrichten geben zu können.“ Mit der Entschlossenheit, die William's gan- zes Wesen charakterisirte, erklärte er gleich nach Lesung dieses Briefes sich bereit, nach Clara's Vaterstadt zu reisen, um nicht Eduard allein die Sorge für den Unglücklichen aufzubürden, und unter strömenden Thränen beschwor ihn Clara, sie mit sich zu nehmen, es ihr zu ver- gönnen, daß sie selbst die Pflege des Bruders übernehmen und seine Rückkehr in das väter- liche Haus einleiten könne. Auch dazu war William geneigt, nur die Unmöglichkeit, mit den Kindern eine so schleunige Reise zu machen, wie sie hier erforderlich war, schien Clara's Wünschen ein Hinderniß in den Weg zu legen, bis Jenny mit ihres Vaters Zustimmung sich erbot, die Kinder unter ihre Obhut zu nehmen und mit sich nach Hause zu bringen. So ward es beschlossen, noch an demselben Nachmittage abzureisen, und in trauriger Stimmung sah Clara der Stunde entgegen, in der sie zum ersten Mal sich von den Lieblingen ihres Herzens trennen sollte, während William und Jenny ihr Muth zusprachen und das Nöthige besorgten. Natürlich mußten Walter's persönliche Wünsche vor diesen Ereignissen in den Hinter- grund treten. Jenny schien des vorigen Abends vergessen zu haben. Sie war eifrig um Clara bemüht und gönnte sich nicht eher Ruhe, bis sie die Freundin wohlversorgt auf dem Wege in die Heimat wußte. Dann ließ sie die Kin- der in ihr Zimmer bringen, richtete sie dort ge- hörig ein und traf endlich zur Theestunde mit dem Grafen und ihrem Vater zusammen. Jetzt erst fühlte sie, wie sich seit gestern ihr Verhältniß zu Walter geändert hatte. Sie wußte nun, daß er sie liebte, und obgleich er ihr sehr werth war, war ihr seine Liebe nicht willkommen. Sie konnte den rechten Ton für die Unterhaltung nicht finden, wurde zerstreut, dann verdrießlich, daß sie sich so wenig zu be- herrschen wisse, und entfernte sich unter dem Vorwande, Frau von Meining ihren Besuch zugesagt zu haben. Walter, dem Jenny's befangenes Wesen, ihre Zurückhaltung nicht entgangen war, glaubte sie durch sein leidenschaftliches Betragen verletzt und benutzte ihre Abwesenheit dazu, ihrem Va- ter seine Bitte um Jenny's Hand auszusprechen, um sich dann auch gegen sie zu erklären und in seiner Liebe eine Entschuldigung für den Un- gestüm zu finden, mit dem er sie gestern erschreckt hatte. So oft Herr Meier auch in gleicher Lage gewesen war, so sehr überraschte ihn Walter's Antrag. Er fragte, ob der Graf die Liebe sei- ner Tochter besitze? „Ich glaube mit Zuversicht, daß mir ihre Freundschaft und Achtung gewiß ist, ich hoffe, ihre Liebe zu erwerben“, antwortete Walter. „Und ist Ihre Familie von dem Schritte unterrichtet, den Sie thun wollen, lieber Walter?“ „Nein, aber Sie wissen, daß ich unabhän- gig und Herr meiner Handlungen bin.“ „Indem Sie mir diese Erklärung geben“, sagte Herr Meier, „gestehen Sie mir zu, daß Sie die Meinung der Ihrigen gegen sich haben würden. Das fürchte ich selbst, und wünschte, ich könnte Ihre Werbung ungeschehen ma- chen. Ich weiß nicht, ob Jenny Sie liebt, noch wenigstens ist sie, wie ich hoffe, frei genug, eine Trennung von Ihnen zu ertragen; darum fol- gen Sie meinem Rathe, Walter, benutzen Sie William's Abreise, uns gleichfalls zu verlassen, und geben Sie einen Wunsch auf, dessen Er- füllung Ihnen und uns Kummer machen könnte.“ „So verweigern Sie mir Jenny's Hand?“ fragte Walter erbleichend und setzte mit einem Ton, dem man den tief gekränkten Stolz an- hörte, hinzu: „Darauf war ich nicht vorbereitet.“ Ruhig nahm Herr Meier Walter's Hand und zog ihm zu dem Sitze nieder, von dem er aufgestanden war. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte er. „Ich glaube, Ihnen durch mein Betragen gegen Sie gezeigt zu haben, daß ich Sie achte, Sie für einen edlen Menschen halte. Sie selbst wissen, daß Ihre Stellung in der Welt den Ansprüchen des ehrgeizigsten Vaters genügen müßte. Aber Sie würden Jenny zu einem Range erheben, dessen die gräflich Waltersche Familie die Tochter eines Juden nicht würdig achten könnte. Davor möchte ich Jenny be- wahren und Sie vor der schweren Pflicht, Ihre Frau gegen die Vorurtheile Ihrer Familie und Ihrer Standesgenossen zu schützen.“ „Und glauben Sie, daß mir dazu der Wille oder die Kraft fehlte?“ fragte Walter. „Glau- II. 10 ben Sie, daß Jenny's persönlicher Werth nicht die Einwendungen besiegen würde, die mein Onkel gegen diese Verbindung machen könnte? Er ist der Einzige, dessen Meinung mir Werth hat, dessen Ansichten ich schonen möchte, und er wird den Schritt billigen, wenn er Jenny kennt und meine Liebe für sie. Ich war glück- lich, seit ich denken kann — ich habe Alles, was das Leben schön macht, nur eine Gattin fehlt mir, mein Glück zu theilen. Da führt ein günstiges Geschick mir Jenny zu. Ich liebe sie, ich möchte ihrer Hand mein höchstes Gut verdanken, und Sie verweigern es mir, weil Sie mich von Vorurtheilen nicht frei glauben, die man in unsrer Zeit kaum noch der Rohheit des Niedrigsten verzeiht.“ „Wollte Gott, es wäre so!“ sagte Herr Meier ernst, „dann sollte mir kein Gatte will- kommner für Jenny sein, als Sie; Keinem würde ich meine Tochter mit größerer Zuver- sicht vertrauen, als Ihnen. Die Erklärung muß Ihnen für meine volle Achtung bürgen.“ Bei den Worten reichte er Walter seine Hand, der sie herzlich drückte. „Was aber nun Ihren Antrag und Ihr Verhältniß zu Jenny betrifft, darin folgen Sie mir. Es gilt das Glück meiner Tochter und Ihres, Walter. Trauen Sie mir, der ich die Welt und die Menschen länger kenne, als Sie. Ich betrachte Sie für frei von jeder Verpflichtung gegen uns. Ueber- eilen Sie nichts. Lassen Sie sich Zeit, die An- sicht Ihres Onkels zu hören, prüfen Sie selbst die Meinung des Kreises, dem Sie angehören, und wenn Sie dann ihren Wunsch noch hegen, wenn Jenny damit einverstanden ist, will ich von Herzen einen Bund segnen, der in Bezug auf Sie schon jetzt meine vollkommenste Zustim- mung hat. Sind Sie damit zufrieden, Walter?“ fragte er. „Muß ich nicht?“ antwortete der Graf, 10* der sich nur ungern in den Gedanken fand, sein Ziel so weit hinausgeschoben zu sehen, obgleich er fühlte, daß Herr Meier seiner Denkart nach nicht anders handeln konnte und ihn deshalb nur um so höher schätzte. Mit Widerstreben verstand er sich dazu, sich gegen Jenny nicht zu erklären, bis er seinen Onkel von seiner Ab- sicht in Kenntniß gesetzt und dessen Antwort erhalten hätte, und verließ den Greis, um dem Onkel zu schreiben. Auch Herr Meier zog sich zurück, um Eduard seinerseits von dem Gesche- henen zu benachrichtigen. Er machte ihn auf die glänzenden Verhältnisse, auf den trefflichen Charakter Walter's aufmerksam und sagte: „Dennoch widerstrebt meine innere Ueberzeugung dieser Verbindung fast ebenso sehr, als der mit Reinhard, mit dem Unterschiede, daß jetzt meine Besorgniß den Verhältnissen gilt, während sie bei Reinhard den Charakter des Mannes betraf. Niemand ist so gleichgültig gegen das Urtheil der Menschen, daß Lob oder Tadel seiner Um- gebung ihn kalt ließe, und es könnte für Jen- ny's Glück eine harte Probe werden, wenn sie es erleben müßte, Walter's Entschluß von sei- nen Standesgenossen getadelt und ihn dadurch verletzt zu sehen. Ihre erste Verlobung brachte sie in geistiger Beziehung in einen traurigen Conflikt, diese könnte sie in ein schwer zu über- windendes Mißverhältniß zu den äußern Um- ständen versetzen und sie leicht ebenso unglücklich machen, als jene. Wie ich Jenny beurtheile, fühlt sie das selbst und hat Scheu vor Walter's unverkennbarer Neigung, weil sie sich nicht den Muth zutraut, seiner Liebe und seiner Werbung zu widerstehen. Bei Walter's persönlichen Eigen- schaften und seiner Stellung in der Welt würde es vielleicht jedem Mädchen schwer, da keines von Eitelkeit frei und Walter ganz der Mann ist, Liebe und Zutrauen zu erwecken. Doch bin ich überzeugt, daß diese Heirath früher oder später zu Stande kommt, und theile Dir diese Nachricht mit als Etwas, das ich nicht gerne sehe, aber nicht zu hindern vermag. Deinen Ansichten dürfte das Verhältniß willkommen sein. Gott gebe, daß meine Besorgniß mich trüge und Jenny so glücklich werde, als sie es verdient.“ In seiner Ansicht von Jenny's Scheu vor der Bewerbung Walter's und ihrem Mißtrauen gegen sich selbst hatte ihr Vater sich wirklich nicht getäuscht. Jenny war zu sehr an Huldi- gungen gewöhnt und nicht mehr jung genug, um in jeder Annäherung eines Mannes Liebe zu erblicken. Gerade deshalb hatte sie sich in ihrem Verhältniß zu Walter, in seiner Gesell- schaft um so behaglicher und freier gefühlt, als sie mit Sicherheit glaubte, hier keinen andern Ansprüchen zu begegnen, als denen, welche man einem geachteten Freunde willig zugesteht. Jetzt war ihr plötzlich die Ueberzeugung des Gegen- theils geworden und mit ihr das Bewußtsein, daß sie durch Walter's Liebe manchem neuen Kampfe ausgesetzt werden könnte: sei es, daß er ihre Hand verlange, oder aus Rücksicht auf seine weltliche Stellung darauf verzichte. Ver- stimmt gemacht durch diese Gedanken, langte sie, während Walter die Unterredung mit ihrem Vater hatte, bei Frau von Meining an, die in Jenny's beweglichem Gesicht die Spuren einer innern Unruhe leicht bemerkte. Sie fragte um die Ursache derselben, obgleich Jenny anfangs die Thatsache läugnete, und erst nach freund- lichem Bitten und Dringen von Seiten der Geheimräthin sagte Jene: „Ich habe die Entdeckung gemacht, die Liebe eines Mannes zu besitzen, an die ich nie ge- dacht, und das ist mir unangenehm.“ Die Geheimräthin sah sie verwundert an, lächelte dann und meinte: „Das heißt, Du be- mitleidest ihn, weil Du diese Liebe nicht erwi- derst und er Dir nicht gefällt. Das kommt wohl vor im Leben und sollte Dir nicht so neu sein, Dich so sehr zu verstimmen.“ „Im Gegentheil“, antwortete Jenny, „er ist mir lieb und werth, und gerade darum thut es mir so wehe.“ „Jenny“, sagte die Geheimräthin, plötzlich ernsthaft geworden, „ich will kein Vertrauen erzwingen, wenn Du nicht geneigt bist, es mir zu gewähren. Nur das Eine sage mir, mich zu beruhigen: Ist der Mann, der Dich liebt, verheirathet, oder sonst in einer Weise gebun- den, die Deine Unruhe erregt? Nur die Eine Frage beantworte mir.“ „Nein, nein, mein guter, lieber Engel!“ rief Jenny, über den feierlichen Ernst ihrer Freundin lächelnd. „Er ist frei und unumschränkter Herr seines Willens; ich zweifle nicht, daß er mir seine Hand anträgt, aber das ist es, was ich fürchte und was mein Vater ungern sehen wird.“ „So ist er arm und seine Stellung der Deinen zu ungleich?“ fragte Frau von Meining. „Kennst Du meinen Vater und mich so wenig“, entgegnete Jenny im Tone des Vor- wurfs, „zu glauben, daß dergleichen uns irren könnte? Nein, im Gegentheile, Walter ist es, der mich liebt, und dessen Liebe ich fürchte.“ „Walter!“ rief die Geheimräthin erfreut und setzte dann hinzu: „Du bist unwahr gegen Dich oder mich. Walter's Liebe kann Dir nicht un- willkommen sein, denn gleichgültig ist er Dir nicht.“ „Auch habe ich das nicht behauptet,“ ant- wortete Jenny. „Aber ich habe durch meine Verlobung mit Reinhard so viel gelitten, mich so an das ruhige Glück gewöhnt, welches ich jetzt genieße, daß ich vor dem Gedanken zittere, neuen Stürmen ausgesetzt zu sein. Ich habe in der Liebe meines Vaters und meiner Brüder — denn auch Joseph ist mir ein Bruder — in der Kunst mir eine Welt geschaffen, in der 10** ich Freude finde und sie den Andern bereite. Nenne es Feigheit oder Egoismus, wie Du willst, ich mag aus diesem sichern Hafen mich nicht in das Meer des Lebens wagen. Ich will nicht heirathen.“ „Und wenn Dein Vater stirbt?“ „Dann leben mir die Brüder ....“ „Die wahrscheinlich Deinen Entschluß nicht theilen“, fiel ihr die Geheimräthin ins Wort, „sich verheirathen würden, wenn Du Dich ihnen durch einen vernünftigen Entschluß entzögest und so ihr und Dein Bestes fördertest. Wie viel hundert Mal hast Du mir über die hohe Ansicht gesprochen, die Du von der Ehe hegst! Wie erhaben hast Du mir Walter's Idee davon geschildert, als Du mir neulich von der Unter- haltung erzähltest, die Du über diesen Gegen- stand mit ihm gehabt. Also Gleichnisse zeich- nen kannst Du, aber im Leben sie durch Dich zu realisiren, stehst Du an!“ Sie war ganz erhitzt durch den Eifer, mit dem sie gesprochen hatte, lehnte sich in ihrem Fauteuil zurück und sagte lächelnd, da Jenny nachdenkend schwieg: „Wie sich doch Alles im Leben wiederholt. Meine Tante würde eine Freude haben, könnte sie sehen, wie ich jetzt an Dir die Ermahnungen probire, die sie mir ge- macht, ehe ich mich verheirathete. Ich denke aber, sie finden bei Dir ein so williges Ohr, als bei mir, und nehmen auch ein so glückliches Ende.“ „Das sagst Du, Clementine“, rief Jenny, „Du, die mir selbst erzählt, welchen Kampf Du noch nach Deiner Hochzeit zwischen Pflicht und Liebe bestanden hast?“ Clementine strich mit der Hand über die hohe, zarte Stirn und sagte mit unbeschreib- licher Weichheit und Demuth: „Ich halte Dich nicht für schwächer als mich. Was ich ver- mochte, mußt Du auch vermögen. Du sollst sie auch kennen lernen, die Wonne, seine Nei- gung dem Glücke eines Andern zu opfern, und darin ein neues, besseres Glück zu finden.“ Dann nach einer Pause fuhr sie fort: „Uebri- gens, was will ich denn? Von dem Opfer einer Neigung ist ja hier die Rede nicht! Du liebst keinen Andern; Du bist frei und Walter ist Dir werth. Was drückt und ängstigt Dich denn?“ „Der Gedanke, man könne mir ehrgeizige Motive unterlegen“, sagte Jenny lebhaft, „wenn ich Walter's Hand annehme; und — daß ich es Dir gestehe — die Möglichkeit, er könne es einst bereuen, eine Bürgerliche, eine Jüdin, ge- heirathet zu haben, wenn mir der Zutritt zu den Cirkeln des Hofes versagt bleibt, oder wenn irgend ein anderes Ereigniß ihn unangenehm daran erinnert. Ich mag nicht, wie Walter es in jenem Gleichniß nannte, die kümmerliche Pflanze sein, die sich zu einer Höhe emporrankt, für die sie nicht geboren ist. Liebte ich Walter, vielleicht wäre ich schwach genug, meine Ver- nunft zu verleugnen; jetzt nimmermehr! Mag Walter sich eine Gefährtin wählen, die ihm gleich ist an Vorzügen des Ranges und der Geburt, die mit ihm auf gleicher Höhe erwuchs. Ich will keinem Menschen Etwas verdanken, das er jemals bereuen könnte, mir gegeben zu haben.“ „Aus der Hand eines geachteten Gatten entehrt keine Gabe und er bereuet sie nicht, wenn er sie, wie Walter Dir, mit ruhiger Ueberzeugung gibt“, sagte Clementine, die wol fühlte, daß hier der Punkt läge, von dem Jen- ny's Weigerung gegen Walter's Wünsche aus- ging. Auch sie kannte Walter und, erfreut durch den Gedanken, ihn und Jenny verbunden zu sehen, wünschte sie womöglich dazu beizu- tragen. Darum vermied sie es für diesmal, Jenny auf dieser für sie empfindlichsten Seite anzugreifen und bemerkte ablenkend: „Und das ist doch der einzige Grund, der Dich besorgt machen kann!“ „Nein!“ antwortete Jenny, „auch in mir sind Gründe dagegen. Mir fehlt die Fähigkeit, mich in dem Leben eines Andern aufgehen zu lassen. Meine Existenz ist eine fest bestimmte, in sich abgeschlossene. Ich habe mich an eine gewisse Freiheit gewöhnt, die ich nicht mehr entbehren kann und die ich in der Ehe doch aufgeben müßte. Vor Allem aber, wie ich Reinhard liebte, kann ich nicht wieder lieben. Mir fehlt die Jugendlichkeit, die Frische des Herzens, das fühle ich tief. Ich kann so nie wieder lieben!“ „So liebe Walter anders!“ wandte Frau von Meining ein. „Auch Du bist sicher nicht das erste Mädchen, das ihn die Liebe kennen lehrt. Er ist ein Mann, der in der Schule des Lebens und des Hofes seine Prüfungen be- stand. Den ruhigen Mann reißt keine Leiden- schaft blindlings hin; was er thut, hat er über- legt, was er verspricht, will und wird er hal- ten. Und was die Frische des Herzens betrifft, so ist es mit der Liebe wie mit dem Menschen überhaupt. Die Geschlechter gehen und kom- men, jedes hat die Erfahrungen des vorigen für sich, sie gleichen sich fast alle und doch — hat jedes neue Geschlecht seine Thorheit und seine Weisheit, seine Jugend, seine Blüthe, nach seiner Individualität; eine Blüthe, die rein und schön ist, obgleich sie erst auf der Asche der geschiedenen Generation erwuchs. Darum Muth, mein Herz! Den falschen Stolz besiege und im Uebrigen vertraue der Liebes- fähigkeit und der Liebebedürftigkeit des Frauen- herzens.“ Eine innige Umarmung beendete diese Un- terhaltung, die in Frau von Meining den Entschluß hervorgerufen hatte, sich sobald als es ihr möglich sein würde, der Gesellschaft an- zuschließen, um Jenny und Walter schnell an ein Ziel zu bringen, das ihr für Beide so glückversprechend schien. Diese freudige Hoff- nung that für die Anregung ihrer Nerven mehr, als irgend eine Arzenei vermochte und schon am nächsten Tage nahm sie zum ersten Male Walter's Besuch an, der fast täglich in ihrer Wohnung gewesen war, um sich nach ih- rem Ergehen zu erkundigen. Zwei Gefühle waren es besonders, die Jenny beunruhigten und sie bewogen, sich von Walter zu entfernen. Die Furcht, welche sie Frau von Meining gestand, vor einer Verbindung, die man gerade in den Kreisen eine mesalliance nennen würde, in denen sie als Walter's Frau zu leben bestimmt war, und was sie nur sich selbst bekannte, Scham vor sich selbst, daß sie einer zweiten Neigung fähig sei, die sich ent- schieden zu Walter's Gunsten in ihr geltend machte. Trotz ihres klaren Verstandes besaß Jenny die Schwärmerei eines tieffühlenden Her- zens und hatte mit Treue das Andenken des Geliebten ihrer Jugend in sich gepflegt, bis sich nach Reinhard's Verheirathung der Gedanke in ihr ausgebildet, sie habe nunmehr keinen Anspruch an Liebesglück zu machen, ihr Leben sei in der Beziehung beendet. So hatte sie sich seit Jahren mit der Idee: „entsagt zu haben“ wie mit einem Wittwen- schleier geschmückt, den sie jetzt abzulegen sich nicht entschließen konnte. Sie fühlte ihre wach- sende Neigung für den Grafen, aber sie kämpfte dagegen, wie gegen ein Unrecht, weil sie sich scheute, den Ihrigen zu sagen: „Ich liebe wie- der!“ und doch zu wahrhaft war, um eine Verbindung mit Walter, die sie trotz aller Be- denken wünschte, für eine bloße Convenienz auszugeben, was außerdem kränkend für ihn gewesen wäre. Nach Jahren innern Friedens mit sich selbst machte dieser Zwiespalt ihrer Seele ihr doppelte Unruhe und gab ihr einen Anstrich von Kälte, die Walter irre an ihr zu machen drohte; da ohnehin die Sorge für Clara's ihr anvertraute Kinder und für die kranke Frau, welche sie am Wege gefunden, ihr einen Grund gab, den Grafen weniger zu sehen, als es früher der Fall gewesen war. Dadurch trat eine Art von Spannung zwischen Walter und Jenny ein, von der Beide gleichviel zu leiden schienen, bis es Frau von Meining gelang, Walter's Ver- trauen zu gewinnen. Sie bat ihn, Geduld zu haben, Jenny Zeit zu lassen, bis sie sich selbst klar geworden sei: „Glauben Sie, lieber Graf!“ sagte sie, „je deutlicher in uns Frauen das Be- wußtsein von der Heiligkeit der Ehe wird, je langsamer entschließt man sich, den Schritt zu thun. Jenny steht jetzt bang und zögernd auf der Schwelle des Tempels, die sie vor zehn Jahren hüpfend und sorglos überschritten hätte. Lassen Sie sich dadurch nicht irren! Ich bin wirklich nicht intrigant und halte es für un- recht, Leute zu einem Entschlusse zu überreden, zu dem sie keine Neigung haben oder dem ihre Eigenthümlichkeit widerstrebt. Wenn aber, wie bei Jenny, nur ein mißverstandenes Gefühl sie davon abhält, ihr Glück und das Glück eines Mannes zu gründen, den sie lieb hat, wie Sie, lieber Walter! da muß man aus Freundschaft ein Uebriges thun und das Mädchen zwingen, glücklich zu sein.“ „Das ist ein hartes Wort!“ bemerkte Walter, „und selbst Jenny's Hand möchte ich weder der Ueberredung, noch dem Zwange ver- danken.“ „Aber Sie sind damit zufrieden, wenn Jenny sich und Ihnen gestehen lernt, daß ihre eigene Neigung sie zwingt, die Ihre zu wer- den?“ fragte Frau von Meining freundlich. „Wenn Sie Jenny davon überzeugen könn- ten“, erwiderte Walter, „würde ich es Ihnen ewig danken!“ „Lassen Sie das, mein Freund!“ wandte die Geheimräthin ein. „Ich bleibe Ihnen ver- pflichtet und mein Mann wird es Ihnen Dank wissen, daß Sie mich aus meiner Abspannung befreiten, indem Sie mir Gelegenheit gaben, an Ihnen und meiner Freundin ein gutes Werk zu üben. In wenig Tagen denke ich Jenny in ihrer Wohnung selbst aufzusuchen und rechne dann auf Ihre Begleitung.“ „Heute ist ein wahrer Glückstag“, sagte Jenny zu Frau von Meining, als dieselbe an einem heitern Morgen in Walter's Begleitung zum ersten Male Jenny besuchte und mit ihr unter dem Schatten der Bäume saß. „Du scheinst den letzten Rest von Schwäche von Dir geworfen zu haben und auch meine arme Kranke ist heute so wohl, daß ich es wagen konnte, sie gehörig um ihre Verhältnisse zu fragen.“ „Und was haben Sie erfahren?“ fragte Walter, den die Frau interessirte, weil Jenny Theil an ihr nahm. „Eigentlich nicht viel mehr, als Vater schon durch die Behörde wußte. Es ist eine von den traurigen Geschichten, die sich leider täglich wiederholen. Sie ist die Tochter eines Handwerkers aus Gernsbach und kam gewöhn- lich während des Sommers nach Baden, um in einem Hause auszuhelfen, in dem man Woh- nungen vermiethet. Hier hat sie einen armen Jägerburschen kennen gelernt und ihn gegen den Willen ihres Vaters geheirathet, der sie einem wohlhabenden, aber sehr alten Bürger in Gerns- bach bestimmt hatte. Ein unglücklicher Fall auf der Jagd, in Folge dessen das Gewehr losging, raubte ihrem Mann im Herbst das Leben, lange ehe ihr Kind geboren wurde. Im Win- ter gab es kein Verdienst für sie und in die bitterste Armuth versunken, aus Mangel er- krankt, ist sie nun schwach und elend nach Gernsbach gegangen, um dort das Mitleid ihres Vaters anzuflehen. Der aber hat ihr Kind mit Verwünschungen von sich gestoßen und sie hat hieher zurückkommen und Arbeit suchen wollen, als sie auf dem Wege zusam- menbrach, wo ich sie fand. Sie sagte mir, daß ihr Vater kein anderes Kind hätte als sie, und wol die Mittel, für sie zu sorgen. Aber er hätte gehofft, mit dem Gelde des reichen Schwiegersohnes sein Gewerbe zu vergrößern und selbst ein reicher Mann zu werden, und daß sie ihn um diese Hoffnung betrogen, werde er ihr nicht vergessen und verzeihen.“ „So muß man hier für sie sorgen!“ meinte Frau von Meining. „Sie selbst verlangt nichts mehr, als die Mittel, sich durch einige Pflege Kräfte zu er- werben, um wieder arbeiten zu können“, sagte Jenny. „Wie sie mir erzählt, hätte ihr Vater sie, ohne das Kind, wol zu sich genommen, weil er hoffte, jener Bürger würde sie auch jetzt noch heirathen, wenn sie sich von ihrem Kinde trenne. Das aber will und soll sie na- türlich nicht und so meint mein Vater, man müsse einen der nächsten Tage dazu benutzen, nach Gernsbach zu fahren und versuchen, ob man nicht durch ein Jahrgeld, das man an das Leben des Kindes knüpft, den Vater vermögen könne, Tochter und Enkel bei sich aufzuneh- men, wo sie am Ende doch am besten unter- gebracht sind.“ Walter stimmte dieser Ansicht bei und man verabredete eben einen Tag für diese Fahrt, als ein Herr von etwa 40 Jahren mit einer jun- gen Frau am Arme sich dem Platze näherte, auf dem die Gesellschaft vor dem Hause saß. Ein Diener trug ihnen, trotz des schönen Wet- ters, einen Männerüberrock und einen kleinen Teppich nach. „Steinheim!“ rief Jenny, als sie ihn er- kannte, und stand auf, ihn und seine Beglei- terin zu begrüßen: „Vielmals willkommen!“ „Erneute Huldigung gestatte mir!“ sagte Steinheim, ihr mit steifer Galanterie die Hand küssend, „und vergönnen Sie mir zugleich, Ih- nen meine Frau vorzustellen und sie Ihrer Freundschaft zu empfehlen.“ Madame Steinheim war ein sehr hübsches, siebzehnjähriges, höchst schüchternes Wesen, das zu ihrem Manne wie zu einer Gottheit emporsah und sich nicht der Ehre werth zu füh- len schien, ihm anzugehören. Steinheim hatte ein bedeutendes embonpoint gewonnen und pflegte sein Aeußeres und seine Gesundheit noch mit der alten übertriebenen Vorsicht, worin ihm die junge Frau, welche diese Schwäche noch nicht zu kennen schien, mit ängstlicher Sorgfalt beistand. Nachdem Jenny die Angekommenen mit ih- ren Freunden bekannt gemacht hatte, fragte sie Steinheim, was ihn, den abgesagten Feind alles Reisens, zu dem Entschluß gebracht habe, sich dennoch auf den Weg zu machen und eine II. 11 Häuslichkeit zu verlassen, die jetzt erst wahren Reiz für ihn haben müsse. „Ich bin mir selbst ein Räthsel!“ ant- wortete er, „und mir scheint, daß mit dem Liebesfrühling, der so urplötzlich in meiner Brust erwachte, ein ganz neues, junges Leben für mich begonnen hat. Ein unbegreiflich holdes Sehnen trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehen. Ich wünschte meiner Frau zu zeigen, wie schön die Welt sei und konnte mich der Gefahr, die das Reisen für meine Gesundheit hat, jetzt leichter aussetzen, da Hannchen — so hieß Madame Steinheim — mit dankenswerther Sorgfalt über mich wacht. Aber findest Du nicht“, sagte er, sich unter- brechend, „daß der Fußboden hier feucht ist, liebes Hannchen?“ Hannchen bejahte es und nach einer Ent- schuldigung gegen die Damen, ließ Steinheim den Teppich unter seine Füße breiten und zog den Ueberrock an, wobei der Diener und seine Frau ihm behülflich waren. Dann fragte er nach William und Clara, von deren Anwesen- heit in Baden er durch Eduard gehört hatte, während ihre Abreise ihm fremd war, denn auch er war schon längere Zeit auf der Reise und vom Hause entfernt. Er erkundigte sich, wem die Kinder gehörten, die seitwärts unter Obhut der Wärterinnen sichtbar waren. Man rief Richard herbei, ließ Lucy bringen und auch das hübsche, nun sauber gehaltene Kind der armen Frau, wobei die Verhältnisse derselben nochmals flüchtig besprochen wurden. „Da sieht man“, sagte Steinheim, „wie tief das Gefühl für Standesunterschiede im Menschen begründet ist, das man einen leeren Wahn schilt. Doch dieser Wahn ist uns ins Herz gelegt, wer mag sich gern davon be- freien, besonders, wenn es darauf ankommt, 11* eine Ehe zu schließen, in der vollkommene Gleichheit der Verhältnisse die erste Bedingung zum Glücke ist?“ Hätte Steinheim absichtlich eine Aeußerung machen wollen, die für alle Anwesende gleich verletzend wäre, er hätte keine bessere finden können. Seine Frau und Frau von Meining waren Beide wol um zwanzig Jahre jünger als ihre Männer und welch unangenehmen Ein- druck Jenny und Walter durch die Behauptung empfingen, bedarf keiner Erwähnung. Stein- heim fühlte aber davon nichts, da er die Ver- hältnisse der einzelnen Personen nicht kannte und fuhr, immer nur mit sich beschäftigt, fort: „Es hat eine Zeit gegeben, in der ich auch an ein Verschmelzen der Stände, wo möglich gar an eine gleichmäßige Vertheilung der Güter dachte und, von Eduard's Ueberspanntheit ange- steckt, nur von Reformen und Weltverbesserungen träumte. Der Traum war kindisch, aber gött- lich schön; ich gestehe es, obgleich ich mich freue, daraus erwacht zu sein.“ „Und was hat denn Ihre plötzliche Sinnes- änderung bewirkt, Herr Steinheim?“ fragte Walter. „Herr Graf! die Zeit kommt auch heran, wo wir was Gut's in Ruhe schmausen mö- gen“, antwortete der Gefragte, sich selbst Bei- fall lächelnd. „Dies Reformiren, Politisiren und dergleichen schickt sich nur für die Jugend, die Nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen hat. Zudem der ewige Aerger, in dem solch ein Parteienkampf uns hält, trieb mir die Galle ins Blut, raubte mir den Schlaf und hätte mich zuletzt noch um Gesundheit und Leben ge- bracht, wenn mir nicht endlich die Erkenntniß gekommen wäre, daß es für mich Zeit sei, den Liberalismus Andern zu überlassen und fortan nur mir, der Literatur, die Ansprüche an mich hat, und meiner Frau zu leben, die wol mit diesem Arrangement zufrieden sein wird. Ge- stehen Sie, Herr Graf! das ist das Vernünf- tigste, was man thun kann. Sie, ein Edel- mann aus altem Hause, werden es begreiflich finden, daß ich, ein nicht unbemittelter Bürger und als Haupt einer Familie, mich aus Grund- satz zur äußersten Rechten halte und entschieden gegen Alles eifre, was gegen das Bestehende läuft. Der Unterschied der Stände ist ein hei- liger und muß aufrecht erhalten werden, wie der des Besitzes und des Glaubens; und nur wenn das geschieht, kehrt sie wieder: Die goldne Zeit, womit der Dichter uns zu schmeicheln pflegt.“ Steinheim glaubte, als er das Schweigen der Gesellschaft, das entzückt aufhorchende Ge- sichtchen seiner Frau bemerkte, des allgemeinen Beifalls sicher zu sein und warf sich mit der Bravour einer Sängerin, die eine große Arie glücklich beendet hat und nun der Bravo's harrt, in seinen Stuhl zurück. Umsonst! Nie- mand rief ihm Beifall zu, die Damen sprachen unter einander und nur Walter sagte kurz: „Ich theile Ihre Meinung nicht!“ als ob er es nicht der Mühe werth halte, sich in irgend eine Erörterung einzulassen. Dann ging er schnell zu andern Dingen über, fragte Stein- heim nach seinen Reisen und bald war dieser auf ein neues Steckenpferd gebracht. Er sprach von den Theatern, die er besucht, und von der Art, in der ein gewisser Schauspieler, den Alle kannten, den Nathan dargestellt und die er für die vollendetste Schöpfung der Schauspielkunst erklärte. „Der Kunst“, bemerkte Walter, „insofern sie der Natur entgegensteht, denn diese fehlt seinen Schöpfungen, mehr oder weniger, fast immer.“ „Wo fehlts nicht irgendwo auf dieser Welt? dem dies, dem das“, recitirte Steinheim, „und Sie müssen doch eingestehen, daß Lessing's Na- than ein Meisterwerk ist und daß jener Schau- spieler die Absicht des Dichters immer vollkom- men begreift und versinnlicht.“ „In diesem Falle bestimmt nicht!“ sagte der Graf. „Mir scheint, was die Dichtung anbetrifft, Nathan der Weise überhaupt mehr eine großartige Allegorie, ein didaktisches Ge- dicht, als ein darstellbares Schauspiel zu sein. In dem Bestreben, die positiven Religions- unterschiede als unwesentlich darzustellen, sobald die innre, wahre Religion vorhanden, hat Les- sing den einzelnen Repräsentanten der verschie- denen Confessionen ihren nationalen und durch den Glauben bedingten Typus genommen, so daß Saladin, der Templer und Nathan, drei so ganz abweichende Charaktere, eine Art von protestantischer Familienähnlichkeit bekommen. Das thut dem Interesse Abbruch, welches man an ihnen nehme, wenn die Gegensätze schärfer gezeichnet wären. Dazu kommt nun, daß die Ruhe, mit der der Templer, der strenggläubige Christ, sich als den Abkömmling eines Musel- mannes, den Bruder einer Jüdin erblickt, et- was Unwahres hat, wie der ganze Schluß, der nicht befriedigt — wenigstens auf der Bühne nicht. Das Schauspiel unterhält den Zuschauer nicht, so herrlich das Gedicht ist, und wird durch den Darsteller noch langweiliger.“ „Mir hat es auch kein Vergnügen ge- währt“, sagte Madame Steinheim schüchtern, die bis dahin fast kein Wort gesprochen, son- dern sich mit den Kindern beschäftigt hatte. „Die langen, feierlichen Reden Nathan's fand ich sehr ermüdend.“ „Brutus! auch Du?“ rief ihr Mann, und drohte ihr mit dem Finger, in einer Weise, die er für schalkhaft zu halten schien. „Madame Steinheim hat recht!“ bekräf- 11** tigte Walter. „Gerade da liegt jenes Schau- spielers Fehler in dieser Rolle. Er ist nicht der schlichte, klare Mann, der aus eigener An- schauung Gott, die Welt und den Menschen begriffen hat; nicht der anspruchlose Weise, der sich seiner hohen Weisheit kaum bewußt ist und sie für die natürlichste Erkenntniß hält — sondern ein selbstbewußter Gelehrter, der seine Sentenzen im Cathedertone vorträgt, weil er ihre wichtige Bedeutung fühlt. Deshalb stellt er sich jedesmal in Position, ehe er eine seiner moralischen Behauptungen spricht und der Schein von Demuth, von Schlichtheit, mit dem er sich umgibt, täuscht uns keinen Augenblick. Les- sing dachte sich einen Abraham in heiliger, er- habener Einfalt und jener stellt uns einen Pro- fessor des neunzehnten Jahrhunderts vor, der wohl fühlt, daß er tausendmal geschickter sei als sein Auditorium, sich aber hütet, es zu zeigen, weil er weltklug genug ist, Niemand beleidigen zu wollen. Er erscheint feig und arrogant zugleich.“ Frau von Meining lächelte und stimmte dem Grafen bei, auch Jenny schien seine An- sicht zu theilen. „Dergleichen Reden hören sich gut an, doch hat es allerlei Bedenkliches damit!“ sagte Steinheim. „Vor Allem vergessen Sie nicht, daß Nathan, der Unterdrückte, der verachtete Jude, zu seinem Herrn und Unterdrücke spricht. Das mag die bescheidene, fast furchtsame Weise seines Auftretens bei aller seiner Selbstschätzung entschuldigen.“ „Im Gegentheil!“ rief Jenny. „Wenn er es fühlt, daß er ein freier Mensch ist vor den Augen des Schöpfers, wenn er die Qual em- pfindet, unterdrückt, verachtet zu sein, so muß ihn das nur stolzer gegen seinen Unterdrücker machen. Was kann ein Mann wie Nathan fürchten? — Ketten und Gefängniß? Darüber erhebt ihn sein Selbstgefühl; — den Tod? Er hat sein Weib und seine Söhne sterben sehen und Gott getraut, er kann den Tod für sich nicht fürchten. Feigheit ist nur die Schwäche kleiner Seelen; wer sich wie Nathan frei em- pfindet, fürchtet Niemand und fühlt sich, selbst als verachteter Jude , den Besten gleich!“ Sei es, daß Jenny durch Steinheim's frü- here Behauptung über die nothwendige Gleich- heit in der Ehe verstimmt worden war, oder daß der Ausdruck „verachteter Jude“, den er jetzt gebraucht, ihr in Walter's Anwesenheit unangenehm gewesen, genug, sie fühlte einen Unmuth in sich, der ihr fast Thränen erpreste. Mit ungewohnter Heftigkeit hatte sie die letzten Worte gesprochen und stand dann schnell auf, um ihrem Vater entgegenzugehen . Sie fiel ihm um den Hals und küßte seine Hände: „Du weiser Mann, Du armer verachteter Jude!“ sagte sie so leise, daß selbst ihr Vater die Worte nicht vernahm, der sich begrüßend zu Steinheim wandte, nach Nachrichten aus der Heimat fragte und Alle in die Unterhaltung verwickelte. Nur Jenny war in tiefes Nach- denken versunken. Walter bemerkte es und ver- suchte vergebens, in ihrer Seele zu lesen, als ein leichter Windstoß durch die Luft fuhr und Madame Steinheim unruhig auf ihren Gatten blickte. Er schlug den Kragen seines Ueber- ziehers in die Höhe und rief: „Wie ras't die Windsbraut durch die Luft! Mit welchen Schlä- gen trifft sie meinen Nacken! Weißt Du, Hann- chen! ich fühle ein Schnupfenfieber im Anzuge und wenn wir dies Baden - Baden nicht bald verlassen, stehe ich für Nichts. Indeß, wenn es Dir hier gefällt ....“ „Um Gottes willen, nein!“ sagte die kleine Frau ängstlich und dann zu den Damen ge- wandt: „Es ist ganz wunderprächtig in Baden und ich hatte gehofft, hier das Badeleben ken- nen zu lernen, von dem man mir immer er- zählt; aber mein Mann hat so erstaunlich reiz- bare Nerven und meinte gleich, die Luft in diesem engen Thale würde ihm nicht zusagen. Darum wollte ich nur, wir wären schon her- aus und in Ems, wo mein lieber Steinheim eine Cur zu brauchen denkt.“ Während dieser Rede war Steinheim auf- gebrochen, hatte sich fest in seinen Rock ge- knöpft, seine kleine Frau an den Arm genom- men und empfahl sich, Goethe's Worte paro- dirend, also: „Wir aber, die wir hier nur Fremde sind und hier nur wenig Augenblicke weilten, wir kehren freudig und entzückt zurück, wenn wir Euch in der Vaterstadt begrüßen. Ihr zählt uns zu den Euren und wir fühlen, welch einen Vorzug uns dies Loos gewährt.“ Bald war das ungleiche Paar den Blicken entschwunden. Der Diener mit dem zusam- mengerollten Teppich folgte in kleiner Ent- fernung. Eine größere Gesellschaft hatte sich am Abend bei Frau von Meining versammelt. Es war das erste Mal, seit sie in Baden lebte, und sie hatte es Herrn Meier und Jenny zur Pflicht gemacht, von der Partie zu sein, da sie dieselben mit einigen Personen bekannt zu machen wünschte, die ihnen fremd waren. Die Gesellschaft war ziemlich belebt, man hatte ge- plaudert, musicirt und die Geheimräthin for- derte Jenny auf, nun auch etwas zu singen. Bereitwillig ging diese aus dem Salon in das Wohnzimmer, in der Hoffnung, unter den dort befindlichen Noten mehrstimmige Sachen zu finden, weil sie glaubte, daß dergleichen unter- haltender sein würde. Die Etagère, auf der die Noten lagen, stand hinter einer Thüre, de- ren geöffnete Flügel Jenny verbargen, sodaß sie von einigen Personen, die in der Thüre standen, nicht gesehen werden konnte, obgleich kein Wort, das jene sprachen, für Jenny ver- loren ging. „Was wird man jetzt singen?“ fragte eine alte Dame, deren Brust ein Stiftskreuz zierte, einen jungen Attaché der ... Gesandtschaft beim Bundestage. „Ich glaube das Fräulein Meier proponirte mehrstimmige Piècen!“ antwortete der junge Mann. „Sagen Sie mir, lieber Baron! die Meiers scheinen ja Juden zu sein, wie kommt Frau von Meining zu denen und namentlich Graf Wal- ter? Man sagt, er soll der unablässige Begleiter dieser Familie sein und man hält ihn für extra- vagant genug, die Vermuthungen, von denen ich eben in dieser Rücksicht hörte, wahr zu machen“, sagte die Stiftsdame. „Wie können Sie nur so etwas wieder- holen, meine Gnädigste! Graf Walter gefällt sich allerdings darin, der Rotüre gegenüber den Liberalen zu spielen, indeß von der Thorheit, die Sie ihm zutrauen, eine Jüdin zu heirathen, ist er sicher fern. Die Meier ist hübsch und pikant. Die Galanterie eines Grafen wird ihrer Eitelkeit schmeicheln und Sie wissen, die Freiheit des sogenannten Badelebens entschuldigt Manches!“ schloß lachend der Baron. Athemlos und wie gelähmt stand Jenny da, den Kopf gegen eine Säule der Etagère ge- lehnt, als Frau von Meining zu ihr trat, der ihr langes Ausbleiben aufgefallen war. Er- schreckt fuhr sie empor, faßte sich aber gleich und sagte anscheinend ruhig: „Ich finde die Noten nicht und möchte überhaupt nicht sin- gen, wenn Du mich davon freisprechen woll- test.“ Aber davon wollte Frau von Meining nichts hören; mit den freundlichsten Bitten nö- thigte sie Jenny an dem Flügel Platz zu neh- men und wenigstens irgend ein Lied zu singen, um damit der Gesellschaft ihren Tribut zu zahlen. Einen Augenblick schien Jenny nach- zudenken, sie mochte um die Wahl eines Liedes verlegen sein, dann war es, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme, sie griff mit sicherer Hand ein paar Accorde und begann Byron's. „Mäd- chen von Juda“ zu singen, das von Kücken so meisterhaft komponirt ist. Ihre starke, metall- reiche Stimme schien von dem Schmerz in ih- rer Brust einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefste Trauer klang aus ihren Tönen und als sie die zweite Strophe mit den Worten endete: „O Vaterland süß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott sein?“ wagte Niemand zu athmen und Alle standen wie fest- gebannt und beherrscht durch die Gewalt des Schmerzes, der in diesen Tönen zu Gott rief und von ihm Rache erflehte. Dann ging der Gesang wieder zu wehmütiger Klage über, Jenny's Stimme wurde weicher, bis sie noch- mals mächtig erklang in den Worten: „in Knechtschaft des Feindes der Jude verlacht“, und endlich matt in dem Wunsche erstarb: „O Vaterland süß, o Vaterland mein! könnt ich nur im Tode vereinet dir sein.“ Die Röthe der Begeisterung, die während des Singens Jenny's Wangen gefärbt hatte, war gegen das Ende des Liedes gewichen. Ru- hig aber angegriffen stand sie vom Instrumente auf. Kein lautes Zeichen des Beifalls war zu hören, in Vieler Augen standen Thränen; Andre sahen sich befremdet an. Sie schienen dunkel zu ahnen, daß ihnen hier, wo sie flüch- tige Unterhaltung zu finden gehofft, eine Wahr- heit entgegengetreten war, vor der sie erschracken, wie vor einem Gespenste, das plötzlich am hellen Tage in die Reihen der Lebenden tritt. Selbst Walter und Frau von Meining waren über- rascht. So hatte der Graf Jenny niemals singen hören; er, der ihre Seele kannte, hätte vor ihr hinsinken und sie beschwören mögen, ihm die Ursache des Schmerzes zu vertrauen, der sie erschüttert hatte. Er wollte und mußte sie sprechen, aber sie vermied seine Annäherung und verließ bald, nachdem sie gesungen hatte, die Gesellschaft. Walter begleitete sie aus dem Saale hinaus und benutzte einen Augenblick, in dem ihr Vater im Nebenzimmer von einem Bekannten angeredet wurde, zu der Bitte, Jenny möge ihm heute noch eine kurze Unter- redung gestatten, an der sein Glück und seine Hoffnung hänge. „Ihr Glück, Herr Graf“, antwortete Jenny, „liegt außerhalb meiner Sphäre und Sie täuschen sich, wenn Sie es in meiner Nähe suchen! Glauben Sie mir das, und dringen Sie nicht in mich!“ Sie reichte ihm bewegt die Hand zum Abschied und ging am Arme ihres Vaters davon. Jenny's Gesang und ihre ganze Persönlichkeit waren, während dies in einem der Nebenzim- mer geschah, im Saale der Gegenstand der Unterhaltung geworden. Einige priesen ihre Schönheit und Anmuth, andere fanden ihr Auftreten abstoßend und stolz, zu ernsthaft und selbstbewußt für ein Frauenzimmer; und ebenso große Meinungsverschiedenheit herrschte über ih- ren Gesang. „Die Stimme ist vortrefflich“, bemerkte die Stiftsdame, „aber es zeigt immer von wenig Erziehung, sich und seine Gefühle so preiszu- geben. Ich will gestehen, es mag unangenehm genug sein, dem jüdischen Volke anzugehören, indeß ist es doch nicht unsere Schuld, daß Fräu- lein Meier eine Jüdin ist und sich dessen schämt, und ich begreife nicht, mit welchem Rechte sie sich in der Gesellschaft in einer Weise gehen läßt, die für meine Nerven zum Beispiel viel zu stark ist. Elle m'a fait mal, je vous assure!“ “ Viele stimmten ihr bei, schwiegen aber, als Frau von Meining sich dem Kreise näherte, in dem bald leichte Unterhaltung den Eindruck verwischte, den Jenny's Lied auf die Gesellschaft hervorgebracht. Nur Frau von Meining dachte mit ängstlicher Besorgniß an sie, und ihr entging es nicht, daß auch der Graf bald nach Jenny's Entfernung das Haus verlassen hatte. Der Abend war schwül und dunkel, als Walter aus den glänzend erleuchteten Zimmern der Geheimräthin in die nächtliche Dämmerung hinausschritt. Er hatte im Laufe des Tages die Antwort seines Onkels erhalten, der es ihm nicht verbarg, wie diese Verbindung mit Jenny entschieden gegen seine Ansichten und seine Wünsche sei. „Was ich aber nicht hindern kann“, schrieb er, „mag ich auch nicht tadeln. Du bist unwiderruflich entschlossen und so wün- sche ich von Herzen, daß Du in der Persön- lichkeit Deiner künftigen Gattin, in ihrer Liebe Ersatz finden mögest, für die unerhört großen Opfer, die Du ihr bringen willst. Sobald Deine Verlobung erklärt ist und Du mit Deiner Braut in unsere Gegend kommst, denke ich Dich zu treffen, um das Mädchen kennen zu lernen, das Dir würdig scheint, den Namen einer Gräfin Walter zu tragen; eine Ehre, um die manche hochgeborne Jungfrau sie beneiden möchte. Fräulein Meier wagt viel, indem sie sich auf diese Höhe stellt, und Du wirst Muth und Energie brauchen, um sie dort zu halten. Aber das gerade zeigt Dich! Nun, so ge- schehe, was geschehen soll und man muß sehen, wie man der Angelegenheit die beste Wendung gibt.“ Durch diesen Brief von dem Versprechen gegen Herrn Meier befreit, Jenny seine Liebe noch zu verschweigen, hatte er mit freudiger Bewegung den ganzen Tag eine Gelegenheit gesucht, sie allein zu sprechen. Steinheim's Besuch, ihre darauf folgende Verstimmung hat- ten es ihm aber unmöglich gemacht, sich ihr zu nähern und ihn genöthigt, sie bei Frau von Meining um jene Unterredung zu bitten, die sie ihm verweigert hatte. Niemand konnte weniger persönliche Eitelkeit besitzen als Walter; indeß war er sich der Vorzüge bewußt, welche ihm seine Geburt und seine Verhältnisse vor vielen Männern geben. Von Jugend auf hatte man ihm wiederholt, wie er jedes Mädchen durch seine Bewerbung ehre und überall waren die Frauen ihm in einer Weise entgegengekom- men, die ihm eine Bestätigung für jene Be- hauptung geboten. Jetzt liebte er mit aller Hingebung seiner Seele. Jenny's früheres Be- tragen hatte in ihm die Hoffnung erweckt, daß sie seine Gefühle theile; er war bereit, sie ge- gen die Vorurtheile einer Welt zu schützen, de- ren Ansicht er gegen sich hatte, und sie verwei- gerte sich ihm, obgleich sie seine Liebe kannte. Voll quälender Ungewißheit kehrte er endlich nach seiner Wohnung zurück; in Jenny's Zim- mer brannte Licht und ein Schatten bewegte sich an den Vorhängen hin und her. Auch sie mußte noch wach sein. „Das muß anders werden“, sagte Walter zu sich selbst. „Ich will, so theuer sie mir ist, weder um ihre Liebe betteln, wenn sie mich ihrer unwerth hält, noch II. 12 ihren Frieden stören. Morgen ist sie mein, oder ich sehe sie nie wieder!“ Trotz des männlichen Entschlusses seufzte er tief auf und blickte nochmals nach Jenny's Fenstern. Aber eine Thräne verdunkelte seinen Blick. War es der Gedanke, Jenny zu verlieren, oder das Ge- fühl gekränkten Stolzes, das sie erpreßte? Walter zerdrückte sie schnell, als schämte er sich derselben und ging in das Haus, um auf sei- nem Lager, das der Schlummer floh, der Ge- liebten und des kommenden Tages zu denken. Auch Jenny konnte keine Ruhe finden. In der ersten Empörung ihrer Seele hatte sie, kaum heimgekehrt, sich ihrem Vater in die Arme werfen, ihm das Erlebte mittheilen und ihn beschwören wollen, am folgenden Tage Baden mit ihr zu verlassen. Aber der Ge- danke, wie tief die Ueberzeugung ihren Vater schmerzen würde, daß immer wieder der Fluch der Vorurtheile auf seinen Kindern ruhe, daß kein Alter und kein Verhältniß sie davor schütze, nöthigte sie zum Schweigen und scheuchte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie sich einsam der tiefsten Verzweiflung überließ. Sie konnte sich es nicht verhehlen, sie liebte Walter; nicht mit der stürmischen Glut der Leidenschaft, die sie für Reinhard gefühlt, sondern mit jener ru- higen Zuversicht, die an der Brust des Gelieb- ten zwar nicht den Himmel jugendlicher Hoff- nung, aber eine sichere Zuflucht in allen Stür- men des Lebens erwartet. Sie wußte, wie theuer sie ihm sei, sie konnte sich in den lieb- lichsten Farben eine Zukunft an seiner Seite denken und hatte ihre Hoffnung, ohne es zu wissen, bereits an diese Zukunft geknüpft, das fühlte sie an dem Schmerz, den die Idee, sich von Walter trennen zu müssen, in ihr hervor- rief. Aber diese Trennung stand jetzt als Nothwendigkeit vor ihr. Die Aeußerungen Steinheim's am Morgen und die Unterhaltung, 12* deren Zuhörerin sie am Abend gewesen war, hatten ihr gezeigt, was sie ohnehin fühlte, daß sie Walter, indem sie seine Hand annehme, in den Kampf verwickle, den sie als Jüdin gegen die Meinung der Menge zu bestehen hatte. „Ich war stark genug“, sagte sie, „noch ein Kind, meiner Liebe zu entsagen, um Frieden mit mir selbst zu haben, und sollte nicht Kraft besitzen, für Walter ein Gleiches zu thun, für ihn, der mir ein so großes Opfer bringen will? Nimmermehr! Den Leidenskelch, der mir vom Schicksal bestimmt ist, will ich allein lee- ren. Ich will Walter wiedersehen, ich will ihm morgen sagen, daß ich nie die Seine werde, weil ich ihn liebe, und mir wenigstens den Trost erhalten, sein Leben nicht verbittert zu haben. Man hatte verabredet, am nächsten Tage die Fahrt nach Gernsbach zu machen, um mit dem Vater Mariens, so hieß Jenny's Schütz- ling, zu unterhandeln und wollte in zwei leich- ten Wagen fahren, da die Ungleichheit des Weges einer großen Equipage manche Schwie- rigkeiten bot. Noch am Abend hatte Herr Meier Frau von Meining aufgefordert, einen Platz in seinem Coupé anzunehmen und Jenny wußte also, daß sie mit Walter fahren würde. Dieses Arrangement wollte sie benutzen, sich gegen ihn zu rechtfertigen, und ihm begreiflich zu machen, daß sie scheiden müßten. Auch Walter hatte seine Hoffnungen auf diese Fahrt gesetzt und war unangenehm überrascht, als am Morgen, nachdem die Equipage vorgefahren, der kleine Richard Jenny beschwor, ihn mit sich zu nehmen. Anfangs schlug Jenny es ihm ab, aber der kleine Schmeichler schlang seine Arme um ihren Hals und rief weinend: „Jenny! Du hast mir's ja gestern versprochen und hast Mama versprochen, daß Du mich immer mitnimmst, und Du sagst, man muß Wort halten. Ich bitte Dich, Tante! nimm mich mit, ich werde ganz artig, ganz artig sein.“ Wollte sie die Absicht, mit Walter allein zu sein, nicht ver- rathen, so war es nicht möglich, dem Knaben die Bitte abzuschlagen, da sie ihm dieselbe wirklich am vorigen Tage gewährt hatte. Ebenso wenig konnte sie daran denken, ihn in den Wagen ihres Vaters zu placiren, dem die Unruhe des lebhaften Kindes bei solchen Par- tien sehr lästig war. So mußte sie sich also, wenn auch nicht gern, dazu entschließen, Ri- chard in Walter's Wagen mit sich zu nehmen, der, eine ungemein leichte Briczka mit Wal- ter's muthigen Pferden bespannt, schnell einen so bedeutenden Vorsprung gewann, daß sie den Wagen ihres Vaterss bald nicht mehr er- blickten. Der Morgen war prächtig und die schnelle Fahrt durch die wunderschöne Gegend erheiterte Jenny's Seele. Zu jener Unterredung, zu der sie sich die Nacht hindurch mit Kraft und Muth gewaffnet hatte, ließ es die Anwesenheit Richard's nicht kommen, der bald Deutsch bald Englisch sein Entzücken aussprach, nach dem Namen jedes Dorfes fragte, an dem man vor- über fuhr und im Wagen aufspringend mit seiner Schmetterlingsscheere nach den Schmet- terlingen haschte, welche fröhlich gaukelnd durch die Lüfte flogen. Sagte man ihm, sich ruhig zu halten, so fiel er Jenny um den Hals, fragte, ob er denn nicht artig sei, versprach, sich gleich besser zu betragen und war einen Augenblick darauf zu der ausgelassensten Fröh- lichkeit und Unruhe zurückgekehrt. „Wie dies fröhliche Kind mit der heitern Natur harmonirt, die uns umgibt“, sagte Walter, der mit Vergnügen den schönen, kräf- tigen Knaben betrachtete. „Wir sind bestimmt Alle erschaffen, um so glücklich zu sein; und wird einst jenseits eine Rechenschaft von uns gefordert, so würde uns sicher jede Stunde, die wir durch unsere Schuld an Glück verloren, als eine Sünde ausgelegt werden.“ „Es kommt darauf an“, erwiderte Jenny, „was Sie unsere Schuld nennen, und ob ...“ „Jenny! wie heißt der Fluß?“ fragte der Knabe, sie unterbrechend, als man eben jetzt eine freie Stelle erreicht hatte und die Murg sichtbar ward, an deren hohem Felsenufer der Weg nach Gernsbach hinführt. Je näher man diesem Städtchen kommt, je steiler werden die Abhänge des Weges. Die ganze Gegend hat einen ernstern Anstrich, man kommt in die Hö- hen des Schwarzwaldes, die tiefer ins Land hinein bei Vorbach, wo jene bekannten Holz- schwellungen statthaben, einen fast schauerlichen Charakter gewinnen. Jetzt fuhr man an dem linken Ufer der Murg dahin und Jenny konnte sich eines leich- ten Schwindels nicht erwehren, wenn sie von der Höhe, auf der die Straße gebahnt ist, hinab sah in das dunkle Wasser des Berg- stromes, das hart an dem Fuße der steilen Felswand hinfließt. Das ununterbrochene Steigen und Fallen des Weges brachte na- türlich auch eine große Abwechslung in der Schnelle des Fahrens hervor, da die Pferde bald langsam eine Höhe hinaufstiegen, bald sie in Eile hinunterliefen, woran Richard eine un- sägliche Freude zu finden schien. Endlich hatte man den höchsten Punkt der Straße erreicht, von wo sie sich zu einer Tiefe senkt, welche die Anlegung von Hemmschuhen, auch für das leichteste Fuhrwerk und selbst bei den stärksten Pferden nöthig macht. Der Kutscher stieg ab, um diese Vorkehrung zu treffen und Richard erbat sich die Erlaubniß, zwischen Jenny und Walter auf den Sitz zu steigen, um zuzusehen, wie jener die Ketten losmachte, die Räder in die Gleise hob und dann zu den Pferden zu- 12** rückkehrend, dem Diener die Zügel abnahm und vorwärts fuhr. „Laß mich da stehen bleiben, Jenny!“ sagte der Knabe, „und zusehen, wie faul die Räder nun sind! Ach!“ rief er dann, indem er sich mit der Schmetterlingsscheere in der Hand hinüberbog, als ob er sie antreiben wollte: „Ich werde euch laufen lehren!“ In dem Augenblick hörte man ein leises Klirren und Richard rief fröhlich: „Hei, wie die Dinger nun fortfliegen!“ Die Kette des einen Hemmschuhes war gerissen, das andere Rad, durch die plötzliche Bewegung des Wa- gens aus dem Gleise gesprungen und mit fürch- terlicher Schnelle flog die Briczka der Tiefe zu, ohne daß die Anstrengungen des Kutschers etwas gegen die Vehemenz vermochten, mit der der Wagen auf die Pferde eindrang, was sie zu verdoppelter Eile antrieb. Ein Sturz der Pferde, ein Fehltritt nur, und der Wagen, aus der Richtung gekommen, lag zerschmettert am Fuße der Felsen in den Wellen der Murg! Niemand, außer dem jubelnden Knaben, konnte sich es verbergen, wie drohend die Gefahr sei. „Das Kind, das Kind!“ schrie Jenny, als sie das Unheil bemerkte, und zog mit Walter's Beistand den Knaben zu sich her- unter, den sie in Todesangst an sich preßte. Walter sah unverwandt auf die Pferde hin. Er hatte seinen Arm wie schützend um Jenny gelegt und sagte: „Keinen Laut! keinen Schrei! ich beschwöre Sie!“ Dann zum Kutscher ge- wandt: „Muth, Muth! halte die Zügel kurz, sieh nicht zur Seite! halte die Pferde nur noch wenig Augenblicke fest und wir sind gerettet!“ Aber so ruhig er sich zu scheinen zwang, seine Stimme bebte und Leichenblässe bedeckte sein Gesicht, als endlich der Wagen in der Tiefe stillstand und der erschöpfte Kutscher den keu- chenden Pferden Zeit zur Erholung gönnte. Walter's erster Gedanke, sein erster Blick galt Jenny. Sie war leblos, aus einer kleinen Stirnwunde blutend, zurückgesunken und ihre Arme hatten den Knaben losgelassen, der sie jetzt weinend umfaßt hielt. Bei der Hast, mit der Jenny das Kind an sich gedrückt, hatte der eiserne Griff der Schmetterlingsscheere Jenny's Stirne mit so heftigem Schlage getroffen, daß er die Haut zerriß, ohne daß Jenny in der entsetzlichen Aufregung des Momentes die Ver- wundung oder das herabtröpfelnde Blut be- merkte. Nur des einen Gedankens, das Kind zu retten, das man ihr anvertraut hatte, war sie sich bewußt gewesen, und als mit dem Stillestehen der Pferde die furchtbare Angst von ihr gewichen, war sie, von einer in See- lenleiden durchwachten Nacht schon ohnehin an- gegriffen, ohnmächtig zusammengebrochen. An eine augenblickliche Hülfe war hier nicht zu denken; kein Haus in der Nähe, und wie weit der zurückgebliebene Wagen noch entfernt sei, ließ sich nicht berechnen. Mit zitternder Hand legte Walter ein Tuch um Jenny's Stirne, nahm die ganz Bewußtlose in seine Arme und befahl dem Kutscher, so schnell als möglich vorwärts zu fahren, um Gernsbach zu erreichen, damit man das Nöthige für Jenny herbeischaffen könnte. Wie hatte er gewünscht, die Geliebte in seine Arme zu schließen, sie an seiner Brust zu halten! Jetzt war sein Sehnen erfüllt und doch wie anders als er es gehofft! Mit unaussprech- licher Liebe hingen seine Augen an Jenny's bleichen Zügen, er versuchte durch Reiben ihre Hände zu erwärmen und wer schildert sein Entzücken, als ein leiser Schimmer von Röthe, ein schwacher Athemzug die Wiederkehr des Le- bens anzeigten, als Jenny endlich langsam die großen dunkeln Augen aufschlug, Richard mit seligem Lächeln anblickte, der ängstlich schwei- gend vor ihr saß, und dann still weinend wieder an Walter's Brust sank. Seiner selbst nicht mächtig drückte er sie an sein Herz und er- wärmte mit glühenden Küssen ihre noch kalten Lippen. „Warum weinst Du noch? Warum küßt Dich Graf Walter, Jenny?“ fragte der Knabe, ungeduldig das ihm peinliche Schwei- gen brechend. „Weil Jenny meine Braut ist, weil wir uns freuen, daß wir dem Tode entgangen sind“, antwortete ihm Walter, strahlend vor Liebe und Wonne, „weil nun ein glückliches, seliges Leben vor uns liegt! Komm, Richard, komm! Du mußt unsere Freude theilen, denn auch über Dir, geliebtes Kind! hat die Hand des Todes geschwebt; komm, küsse auch Deine Jenny, meine schöne, süße Braut!“ Und Jenny? Bei des Knaben erster Frage hatte sie sich von Walter's Brust emporgerichtet, beschämt über das Geständniß, welches sie dem- selben in ihrer Schwäche gemacht, als sie Ruhe suchend, sich an ihn, wie an ihren anerkannten Beschützer lehnte. Jetzt stieg der Gedanke an die Trennung von dem Grafen wie ein düsterer Schatten vor ihrem Geiste auf, sie wendete sich ab von dem Geliebten und barg mit einem tiefen Seufzer das Gesicht in ihren Händen. Aber Walter's Stimme, die Freude und Liebe, die aus seinen Worten klang, machte ihr inner- stes Herz erbeben, und als er zärtlich sagte: „Du wendest Dich fort, Jenny?“ vermochte sie nicht zu widerstehen, reichte ihm beide Hände hin und sagte: „Ich habe es gewollt, ich wollte Dich meiden, weil mir Dein Glück theurer ist, als meines! Gott will es anders — wir leben noch! so will ich auch nur in Dir leben, Walter!“ Jenny's Hand in der seinen, Richard auf seinen Knien haltend, so langte Walter vor dem Gasthause in Gernsbach an, wo man ihn schon kannte, da er früher mehrmals auf seinen Streifereien hier eingesprochen war. Er und der Diener halfen Jenny aus dem Wagen, die sich bereits wohler fühlte und dem Grafen, der nach einem Arzt verlangte, versicherte, wie sie weder eines Arztes, noch irgend eines Bei- standes bedürfe. „Nur der Kopf ist mir ein wenig schwer“, sagte sie, während sie die Binde von der Stirne nahm, „mir ist, als hätte ich zu tief und zu lange geschlafen — und wirklich weiß ich kaum, ob ich erwacht bin, oder ob ein schöner Traum mich noch umfängt.“ „Frau Gräfin sollten doch den Doctor kom- men lassen!“ sagte die geschäftige Wirthin und rief damit eine flüchtige Röthe und ein freund- liches Lächeln auf Jenny's Wangen hervor, das Walter unendlich glücklich machte. Arm in Arm harrten sie der Ankunft ihres Vaters, der mit Ueberraschung sie in dieser Stellung sah, und, als er den Vorgang erfahren, als Walter ihn an sein Versprechen erinnert und dessen Erfüllung verlangt hatte, tief bewegt sein Kind segnete,das in so großer Gefahr ihm erhalten war und nun einer glücklichen Zukunft entgegenging. Herr Meier und Frau von Meining allein genossen der Reize, welche Gernsbach und das zauberisch schöne Ebersteinsche Schloẞ schmücken. Walter und Jenny sahen nur sich, und wäh- rend jene sich der köstlichen Aussicht erfreuten, die man aus den Fenstern jenes Schlosses über das ganze Thal genießt, saß das Brautpaar am Fuße des Berges in dem Schatten einer Laube und Jenny erzählte dem Geliebten, wie sie noch gestern ihn habe beschwören wollen, sie zu verlassen, und wie schwer ihr der Entschluẞ geworden, weil sie ihn so lieb, so herzlich lieb habe. Alle ihre Besorgnisse sprach sie ihm offen und frei aus, selbst jenes Gespräch der Stiftsdame theilte sie ihm mit, das sie so tief verletzt hatte, und fragte: „Walter! wird es Dich nie schmerzen, wenn Du Aehnliches hören müßtest?“ „Niemals!“ sagte Walter entschieden. „Glaube mir! Habe ich es je als ein Glück empfunden, auf der Höhe des Lebens geboren zu sein, so war es, weil von dieser Höhe aus, mir jene Vorurtheile, die den Sinn der Menge verwirren, stets so gar klein und thöricht er- schienen; weil dieser Standpunkt unser Thun und Handeln sichtbar zur Richtschnur für viele Andere macht. Ich bin stolz darauf, Dich, Du Geliebte, mit der Grafenkrone zu schmücken, zu zeigen, daß mir Dein Besitz mehr gilt als alle Würden der Welt und kein Tadel kann mich verletzen, da ich weiß, daß nie ein herrlicheres Weib unsern alten Namen getragen, als Du!“ „Und Dein Onkel? Deine Angehörigen? Werden sie mich willkommen heißen, werden sie gleich Dir denken?“ wandte Jenny ein. „Mein Onkel ist ein edler Mann und hat wie ich nicht mit dem Leben zu ringen gehabt; wir fanden unsern Platz bereitet. Darum wür- digt er, gleich mir, die Stellung, die das Ver- dienst unserer Voreltern uns erworben; aber er ehrt auch die Würde Desjenigen, der sich selbst erst seine Welt erschaffen muß. Vergiß es nicht, daß es das freie, stolze England war, das zuerst seine Sklaven befreite. Je freier ein edler Mensch sich selbst empfindet, je weiter wird sein Herz, je lebhafter empört er sich gegen Fesseln, die man den Andern anlegt, gegen Unterdrückung und Unrecht. Mein Onkel bil- ligte meine Wahl nicht, ich gestehe das selbst, weil sie die alte Sitte unsers Hauses gegen sich hatte; nun sie unwiderruflich ist und mein Glück begründet, wird er Dich lieben, wenn er Dich sieht, und gerade in ihm wirst Du den treusten Beistand finden, wie ich ihn kenne.“ In solchen Gesprächen und in fröhlichen Entwürfen für die Zukunft flogen die Stunden vorüber, und Herr Meier mußte Jenny erin- nern, welche Absicht sie eigentlich hierher geführt. Wie leicht mit Glücklichen zu unterhandeln sei, das empfand der Vater der kranken Marie bald. Was er irgend verlangte, wurde ihm gern und schnell gewährt. Man kam überein, ihm eine Summe zur Erweiterung seines Ge- werbes anzuvertrauen, während man für Marie und ihr Kind ein kleines Kapital festsetzte, hin- reichend, sie unabhängig von ihrem Vater zu unterhalten, der unter diesen Verhältnissen nicht anstand, der Tochter und dem Enkel sein Haus wieder zu öffnen, in das sie nach wenig Tagen wieder einziehen sollten. Erst spät am Tage fuhren die Glücklichen nach Baden zurück, wo eine neue Freude ihrer harrte in den Briefen, die aus der Heimat an- gekommen waren. Wie Herr Meier es voraus- gesehen, hatte Eduard sich der Verbindung Jenny's mit Walter gefreut, von deren Wahr- scheinlichkeit sein Vater ihn benachrichtigt hatte. Er sah darin unwiderleglich den Triumph der Vernunft über jene Vorurtheile, deren Bekäm- pfung sein Lebenszweck geworden; und während diese Heirath Jenny's Glück begründete, ge- wann sie ihm einen Bundesgenossen, der aus Rücksicht auf sein eigenes Interesse und seine eigene Ehre, künftig die Rechte der Juden ver- treten mußte, wo sie irgend angefochten wur- den. Eduard meldete noch, daß Ferdinand her- gestellt und in den Kreis seiner Familie zurück- gekehrt sei, was auch ein Brief von William und Clara wiederholte, die Beide in den wärm- sten Ausdrücken von dem Danke sprachen, zu dem sie Eduard verpflichtet wären. Sie nann- ten ihn den Gründer ihres Glückes, eines Glückes, dem jetzt nur die Anwesenheit ihrer Kinder fehle, um ein ganz vollkommenes zu sein, und Clara bat Jenny und Herrn Meier, ihre Abreise von Baden zu beschleunigen, falls es diese kein Opfer koste, weil sowol sie als William sich lebhaft nach den Kindern sehnten. Da nun ohnehin die Zeit, welche Frau von Meining gewöhnlich in Baden zuzubringen pflegte, sich bereits ihrem Ende nahte, so ent- schied man sich, Clara's Bitte nachzukommen und Baden etwas früher zu verlassen, als man es beabsichtigt hatte. Noch einmal aber kehrten sie alle nach Gernsbach zurück, um Marie im Hause ihres Vaters zu besuchen, um noch einmal die Stelle wiederzusehen, an der dem Brautpaar aus Todesangst das höchste Glück erwachsen. Diesmal war es Frau von Meining vergönnt, auch Jenny und Walter bewundernd die Gegend betrachten zu sehen, die ihr durch den alljährlich wiederholten Auf- enthalt in derselben so werth war, und erst, nachdem der Graf ihr versprochen, im nächsten Jahre mit seiner Frau Baden wieder zu be- suchen, schied man von der Gegend, in der Jenny's Schicksal eine so freundliche Wendung genommen hatte. Ueber der Meierschen Familie, die wir durch wechselnde Erlebnisse begleitet, schien nun ein günstiges Gestirn in ruhiger Klarheit zu leuch- ten. Vereint mit Frau von Meining und Walter hatte man Baden verlassen; die Er- stere fast bis in ihre Heimat begleitet und nach- dem man die Kinder wohlbehalten in Clara's Arme geführt, hatte Jenny selig an Walter's Seite ihr väterliches Haus betreten. Die in- nigste Eintracht verband ihre Familie mit der Hornschen. Eduard schien in dem Glücke seiner Jenny, in der Freundschaft William's und Clara's den fröhlichen Sinn seiner frühesten Jugend wiederzufinden und gab sich mit gan- zer Seele dem Vertrauen hin, mit dem Walter ihm brüderlich entgegenkam. Männer wie Eduard und der Graf mußten sich leicht ver- ständigen, da ihre Gesinnungen, wenn auch von verschiedenen Punkten ausgehend, sich am Ziele in dem Enthusiasmus begegneten, mit dem sie die Idee der Freiheit und des Fortschrittes um- fingen. Selbst die Ankunft von Walter's Onkel, deren Jenny bisweilen mit Scheu gedacht hatte, trug nur dazu bei, ihr Glück zu erhöhen. Eine gewisse vornehme Zurückhaltung, welche der alte Graf bei der ersten Begegnung mit Jenny und ihrer Familie beobachtet hatte, war vor Jenny's Liebenswürdigkeit und der ruhigen Würde ihrer Angehörigen bald gewichen. Schon nach wenigen Tagen, in denen Jenny die vollste Liebe des alten Grafen gewonnen hatte, sagte er, als er sich Abends mit Walter allein be- fand: „Da es einmal nicht zu ändern ist, be- kenne ich Dir, Du hättest schlechter wählen können, als dies Mädchen, die, ihre Geburt abgerechnet, eine wahre Perle unter den Frauen ist. Aber folge mir! heirathe sie bald. Es klingt mir doch nicht angenehm, Deinen Na- men immerfort mit dem dieses übrigens wackern Banquier Meier vereinigt zu hören. Ist Jenny Deine Frau, so hört das natürlich auf und die Gräfin Walter ist leichter zu souteniren gegen jede Einwendung als Mademoiselle Meier. Sage dem lieben Kinde, daß ich es wohl mit ihr meine und darum die Beschleunigung Eurer II. 13 Ehe wünsche. Ich denke den Vater schnell zu überzeugen, daß es für Euch das Beste ist, wenn Ihr bald als Mann und Frau auf Deine Güter geht und dort verweilet, bis Alles in die Residenz zurückkehrt, wo ich Euch erwar- ten will, um Jenny's erstes Auftreten zu er- leichtern.“ Obgleich die Wichtigkeit, welche der alte Graf auf die Ausführung dieses Planes legte, Walter übertrieben schien, stimmte er doch so wohl mit seinen eigenen Wünschen zusammen, daẞ er bereitwillig darauf einging und man erlangte von Herrn Meier das Versprechen, Jenny's Hochzeit mit Walter schon in den er- sten Tagen des Novembers zu feiern. Der Onkel — wie wir den alten Grafen mit Walter nennen wollen — der Onkel selbst machte mit Walter fast überall den Begleiter und Beschützer der glücklichen Jenny, deren Gesellschaft ihm das lebhafteste Vergnügen gewährte. Bis- weilen fiel es ihm wol auf, wie er jetzt ganz außer seinem gewohnten Kreise, in der Mitte einer jüdischen Familie lebe und sich ganz be- haglich dabei fühle, dann aber beruhigte er sich mit dem Gedanken, daß es vernünftig sei, bonne mine à mauvais jeu zu machen und daß seine Pflicht ihm gebiete, den Schritt, den sein Neffe nun doch gethan, gleichsam durch die Anerkennung zu rechtfertigen und zu heiligen, die er der künftigen Gräfin Walter schon jetzt bewies. Er hatte erklärt, bis zur Hochzeit seines Neffen in dieser Stadt bleiben zu wollen, und unbeschäftigt, wie er es war, betrieb er auf das Angelegentlichste die Besorgung der Equipagen, des Silbergeräthes und alles Dessen, was sonst noch zur vollständigen Einrichtung des künftigen Haushaltes gehörte; oder er be- suchte, da die Jagdzeit begonnen hatte, die Edelleute seiner Bekanntschaft, die in der Nähe ihre Besitzungen hatten. 13* So war man in die letzten Tage des Ok- tobers gekommen, als der Onkel, während sie im Meierschen Hause zu Mittag aßen, seinen Neffen aufforderte, ihm zum Dank für die Mühe, welche ihm die Besorgung der neuen Einrichtung verursachte, auch seinerseits gefällig zu sein und ihn zu einem Freunde zu begleiten, der am nächsten Tage eine Jagdpartie veran- stalten wollte, zu der er auch die beiden Gra- fen eingeladen hatte. Walter antwortete an- fangs ausweichend, aber der alte Herr wollte keine Entschuldigungen annehmen und sagte zu Jenny: „Ich bitte Sie, Töchterchen! legen Sie ein gutes Wort für einen alten Onkel ein, der Ihrem Bräutigam einst die erste Flinte in die Hand gab und sich nun ein- mal an den Künsten seines Schülers erfreuen möchte.“ Was wollte Walter machen? Er mußte die Einladung des Greises annehmen, dessen bit- tender Ton sonderbar gegen seine befehlende Haltung abstach, und man stand von der Tafel auf, weil der Graf schon in der Dämmerung auf das Land zu fahren wünschte, um vor der Nacht bei seinen Freunden einzutreffen. In lebhafte Diskussionen über eine Maß- regel der Regierung vertieft, saßen nach dem Mittagsessen die beiden alten Herren ihren Kaffee trinkend vor der Flamme eines Ka- mins, während Walter mit seiner Braut in der Brüstung eines Fensters stand und Eduard und Joseph die neuesten Zeitungen durchflogen. „Ich fahre ungern hinaus!“ sagte Walter, „so sehr ich die Jagd liebe, so wenig sagt mir gerade diese Gesellschaft zu, die mich außerdem ein paar Tage von Dir trennt.“ „Wie wäre es“, fragte Jenny, „wenn ich den Onkel bäte, Dich mir und meinem Vater zu lassen, da wir ja doch kaum noch eine Woche bei ihm bleiben?“ „Nein! laß das, Liebchen!“ antwortete der Graf, „und am Ende müssen wir diese kleine Trennung, die uns gerade jetzt so unangenehm ist, wie ein Opfer betrachten, das wir den Göttern bringen, damit sie uns nicht beneiden. Wir sind zu glücklich gewesen bis jetzt und nun diese Zukunft vor uns!“ „Sage das nicht, Walter!“ bat Jenny; „es klingt so sicher und wer ist des nächsten Tages nur gewiß?“ „Abergläubisches Kind!“ schalt der Graf, indem er sie an sich zog. „Warum sollte das Schicksal, das mich von Jugend auf begün- stigte, mir jetzt seine Huld entziehen, da ich sie mit Dir zu theilen denke? Sei nicht bange, Jenny! und vertraue mit mir meinem alten, wohlbekannten Glück!“ Indessen hatte Eduard von der Zeitung aufgesehen und blickte mit innigstem Wohl- wollen auf das Brautpaar hin: „Schade, daß die Mutter das nicht sieht!“ sagte er leise zu Joseph, „daß sie nicht sieht, welch eine Zukunft Jenny's harrt, wie froh der Vater in Jenny's Glück sich fühlt! Wie würde sie Theil nehmen auch an den Hoffnungen, die ich jetzt fester als jemals in mir hege; die vielleicht bald zu schö- ner Wahrheit werden!“ „Weißt Du, was noch bis dahin geschieht?“ entgegnete Joseph in seiner gewohnten Art. „Den Todten ist am wohlsten, laß sie ruhn.“ Unangenehm durch diese Worte in seiner heitern Stimmung berührt, stand Eduard auf und trat zu dem alten Grafen, der sich eben zum Fortgehen anschickte und Walter auffor- derte, jetzt mit ihm zu kommen. Herzlich nahm dieser Abschied von seiner Braut; es war die erste tagelange Trennung seit ihrer Verlobung, und Jenny begleitete ihn bis in das Vorzim- mer hinaus. „Also zwei Tage, Walter!“ sagte Jenny, „länger bleibst Du nicht! — Hören Sie, lie- ber Onkel! Keine Stunde länger borge ich Ihnen Walter und Sie selbst bringen mir ihn wieder!“ — rief sie den Scheidenden zu. „Auf mein Wort!“ antwortete der alte Graf, als er mit Walter davonging. Es war noch hell am Tage und Walter bat seinen Onkel, da sie noch Zeit hätten, mit ihm in den Laden des Juweliers zu treten, bei dem er den Brautschmuck für Jenny bestellt hatte, der noch einiger Abänderungen bedurfte. Dort fanden sie einen Baron Werner, der früher mit Walter in demselben Regimente ge- dient hatte und nun nach jahrelangem Aufent- halt an verschiedenen Höfen Europas nach Deutschland zurückgekehrt war. Verwundert, die beiden Grafen Walter hier zu sehen, wo sie weder Angehörige noch Be- sitzungen hatten, fragte Werner, während der alte Graf mit dem Juwelier in ein Nebenzim- mer ging, wo Jenny's künftiges Silbergeräth aufgestellt war. „Welch ein Zufall führt Sie in diese Stadt, lieber Graf?“ „Ich bin meiner Braut von Baden-Baden hieher gefolgt, und bleibe bis nach unserer Hoch- zeit hier!“ „Sie sind Bräutigam?“ fragte Werner weiter — „eine Feldheim? eine Erstner ver- muthlich!“ „Nein! keines von Beiden! Meine Braut ist Fräulein Jenny Meier, die Tochter des Bankier Meier.“ „Ah, fidonc! Scherzen Sie nicht, das ist nicht möglich! ein Judenmädchen?“ rief der Baron lachend. „Was fällt Ihnen daran so sonderbar auf?“ fragte Walter verletzt und sehr ernsthaft. „Ich kann's nicht glauben! Ihre Verhält- nisse sind zu gut arrangirt“, antwortete Wer- 13** ner noch immer lachend, „als daß sie nöthig hätten, ein solches Mädchen zu heirathen pour fumer vos terres! “ „Die Aeußerung durfte keinen Mann von Ehre machen, nachdem ich erklärt, daß Fräu- lein Meier meine Braut sei!“ sagte Walter, heftig auffahrend. Werner wollte in demselben Tone antwor- ten, als der alte Graf mit dem Juwelier in das Zimmer und, ohne die Veranlassung des Streites zu kennen, zwischen sie trat. „Keine Scene, meine Herren!“ — sagte er gebietend, aber leise. „Sie wissen, wo Sie sich finden, was braucht es weiter?“ — Und indem er den Goldarbeiter ruhig noch einige Befehle gab, schritt er grüßend am Arme seines Neffen hinaus. „Was gab es, Walter?“ fragte er, und dieser berichtete aufgeregt, was geschehen sei. Der alte Herr schüttelte das Haupt: „Das war es, was ich fürchtete! Dergleichen konnte nicht ausbleiben!“ sagte er, wie zu sich selbst. Dann zu Walter sich wendend: „und was willst Du thun?“ „Können Sie noch fragen?“ antwortete dieser. „Der Unverschämte soll mir Genug- thuung geben für die Beleidigung. Ich eile, einen meiner Freunde aufzusuchen. Ich werde Sie nicht hinausbegleiten, Onkel!“ „Ruhig, ruhig, Walter!“ sagte der alte Graf. „Ich werde ebenso wenig hinausfahren. Die Angelegenheit mit Werner ist mir fatal! Indeß muß sie ernst und rasch beseitigt werden, darin stimme ich Dir bei. Es ist das Beste, Du weisest jede Vermittelung ab, zeigst gleich jetzt, daß Du in der Beziehung keine Scherze liebst, und damit man sieht, wie wir Achtung vor Deiner Braut hegen, will ich selbst Dei- nen Secundanten machen. Das Handwerk ist mir etwas fremd geworden — indeß ich finde mich wol noch zurecht und sehe dann morgen doch, was mein Unterricht im Schießen für Früchte bei Dir getragen hat.“ Walter drückte dem väterlichen Freunde die Hand, der seine Unruhe scherzend verbergen wollte und nahm dankbar sein Erbieten an. Werner's Herausforderung ließ nicht auf sich warten und Walter bat seinen Onkel, es so einzurichten, daß sie sich am nächsten Mor- gen schon treffen könnten. Er selbst wolle seine Angelegenheiten ordnen und den Abend dann bei Jenny zubringen. Aber sein Onkel rieth ihm davon ab. Er stellte ihm vor, daß Jenny ihn nicht erwarte. „Und“, sagte er, „das gibt unnöthig eine Rührung, die sie beunruhigt und Dich aufregt. Ihr jungen Herren der jetzigen Zeit nehmt solche Dinge viel zu schwer. In meiner Jugend war das anders! Doch will ich Dich nicht hindern, Deine Angelegen- heiten, wie Du es nennst, zu ordnen. Nur zu Jenny gehe nicht! Du siehst sie ja mor- gen wieder, sei es, daß Dir ein kleiner Ader- laß zugedacht ist, oder daß Du so davon kommst, und Du gehst ruhiger an die Sache, wenn Du Deine Braut ganz unbesorgt weißt.“ Diese Einwendungen überzeugten Walter und er fügte sich ihnen willig. Jenny schlief am Morgen ruhig von an- muthigen Träumen gewiegt, als man gegen die Gewohnheit sie aufzuwecken kam. Ver- wundert fragte sie, was man verlange? Da der Eintritt ihres Vaters und Eduard's sie ein unerwartetes Ereigniß ahnen ließen. „Jenny!“ sagte ihr Vater, „kleide Dich schnell an, Du sollst heute zeigen, daß Du die Seelenstärke hast, die wir Dir zugetraut. Wal- ter ist erkrankt und verlangt nach Dir!“ „Er ist todt!“ — rief Jenny überwältigt von dem jähen Schreck. „Nein, er lebt!“ antwortete Eduard, „aber er ist schwer verwundet auf der Jagd, und auf seinen Wunsch hat man ihn hierher ge- bracht!“ Wenig Augenblicke darauf kniete Jenny an dem Lager des Geliebten. Er kannte sie noch, dies bewies der Blick voll Liebe und Trauer, mit dem er sie begrüßte, die matte Bewegung, mit der er seine Hand auf ihr Haupt legte, als sie neben ihm niedersank. Aber der Jam- mer auf den Gesichtern der Anwesenden, die Ruhe und Unthätigkeit, welche in dem Zimmer herrschten, sagten ihr deutlich, daß hier keine Hoffnung sei, daß sie an einem Sterbebette stehe. Walter's müdes Haupt ruhte wieder an ihrer Brust, unverwandt hing ihr Blick an den Zügen des Geliebten, keine Thräne kam in ihre Augen, keine Klage entschlüpfte ihren Lippen. Ihr stummer Schmerz beunru- higte die Anwesenden, und mit den Worten: „Jenny! so mußte ich mein Wort lösen!“ — versuchte der alte Graf, so tief er selbst gebeugt war, die Unglückliche aus ihrer furchtbaren Ruhe zu reißen. Aber umsonst! Sie sah den Onkel ihres Bräutigams bemitleidend an, reichte ihm die Hand und versenkte ihre Seele wieder in das regungslose Anschauen des Geliebten. Eine Stunde gräßlicher Stille war so ent- schwunden, nur Eduard's Bestrebungen, dem Verwundeten einige Erleichterung zu schaffen, unterbrachen die herrschende Ruhe. Da hörte man plötzlich einen lauten Athemzug, Walter's Kopf sank vorwärts — er hatte geendet. Und mit einem Schrei des furchtbarsten Schmerzes fuhr Jenny nach ihrem Herzen und fiel auf die Leiche ihres Bräutigams nieder. Am folgenden Tage verkündete die Zeitung: „Gestern fand hier ein Schuß-Duell zwischen dem Grafen W... und dem Baron W... statt, dessen Folgen für den Grafen tödtlich waren. Er stand auf dem Punkte, sich zu vermählen und der Schmerz über seinen Verlust hat auch der unglücklichen Braut das Leben ge- kostet. Familienverhältnisse sollen die Veran- lassung zum Streite gegeben haben!“ Weiter unten las man: „Den plötzlich er- folgten Tod seiner einzigen Tochter Jenny mel- det tief betrübt unter Verbittung des Beileides seinen Freunden und Bekannten. R. Meier.“ Bei Fackelschein hatte Graf Walter die Leiche seines Neffen aus der Stadt führen las- sen, um sie selbst in die Gruft seiner Ahnen nach ihrem Stammschlosse zu begleiten. Jetzt am Morgen standen drei Männer an einem frisch aufgeworfenen Grabe. Es waren Herr Meier, Eduard und Joseph. Sie hatten es von ihren Freunden als eine Gunst verlangt, daß man ihnen allein die Bestattung des theuern Lieblings überlasse, und Niemand hatte es gewagt, ihre Trauer zu stören. Hell ging die Sonne an dem heitern Himmel auf, der freundlichste Herbstmorgen beleuchtete Jenny's Grab. Einsam standen die Ihren auf dem fremden christlichen Kirchhof, auf dem nun Jenny fern von ihrer Mutter, fern von jedem Blutsverwandten ruhte. Starr und schweigend sah der unglückliche Vater zur Erde nieder, die sein Kind bedeckte, als aus Joseph's Brust der der Ausruf: „Wozu leben wir noch?“ herzzer- reißend zum Himmel tönte und die ersten Thrä- nen in die Augen des Vaters lockte. Da richtete Eduard sich mächtig empor: „Wir leben“, sagte er, mit der Begeisterung eines Sehers — „um eine Zeit zu erblicken, in der keine solche Opfer auf dem Altare der Vor- urtheile bluten! Wir wollen leben, um eine freie Zukunft, um die Emancipation unsers Volkes zu sehen!“ Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig. Druckfehler zum ersten Theil. Seite 7 Zeile 20 statt wir lies mir 〃 232 〃 4 〃 Vergangenheit l. Zukunft 〃 264 〃 15 〃 lobt's l. lebt's 〃 — 〃 17 nach Minuten fehlt später 〃 269 〃 13 statt Savon l. Saron 〃 369 〃 4 〃 Band l. Land. Druckfehler zum zweiten Theil. Seite 16 Zeile 19 statt Nur l. Nun 〃 201 〃 16 〃 sie l. sich. Bei F. A. Brockhaus in Leipzig ist erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben: Aus einer kleinen Stadt. Erzählt von Frau von W. Gr. 12. Geh. 1 Thlr. 24 Ngr. Sämmtliche Schriften von Johanna Schopenhauer. Vierundzwanzig Bände. Mit dem Bildnisse der Verfasserin. 16. 1834. 8 Thlr.