Eduard Allwills Briefsammlung herausgegeben von Friedrich Heinrich Jacobi mit einer Zugabe von eigenen Briefen Tel est l'effet de la vérité: on la repousse; mais en la repoussant on la voit, \& elle pénètre. Garat le jeune . Erster Band . Koͤnigsberg , bey Friedrich Nicolovius . 1792 . Though all things foul would wear the brows of grace, Yet grace must still look so. Macbeth Act. IV. Sc. III . Wenn auch alle boͤsen Dinge die Gestalt des Guten annaͤhmen, so muß doch das Gute immer diese Gestalt behalten. Esch . Uebers. An den Herrn Geheimenrath Schlosser in Carlsruhe . )( 2 E s ist wider allen loͤblichen Ge- brauch Jemanden ein Buch hinter seinem Ruͤcken zuzueignen. Da Du aber, als Freund, und fast in jeder andern Be- trachtung, Dich ausser dem loͤblichen Gebrauche zu halten pflegst; ja dem Zeitalter hinter dem Ruͤcken so- gar Selbst geworden bist, was Du bist zu seinem Kreuz: so haͤttest Du allein deswegen schon die Pflicht auf Dir, meine Verwegenheit, als eine un- schuldige Nachahmung hingehen zu lassen. Doch mir kommt ein besseres Recht zu Statten! Ein Recht, dem zwar ebenfalls, was nur mit laufender Sitte und ihren loͤblichen Gebraͤuchen zusammenhaͤngt, )( 3 den damit zu nahe zu treten, einen recht- maͤßigen Abscheu empfindet. Lieber will er es geschehen lassen, daß man diese Briefe als erdichtet, und das Ganze als sein eigenes Hirngespinnst an- sehe. Ja er wuͤnscht sogar, man moͤge diese Hypothese sich gefallen lassen, wenn man nur im Glauben dergestalt Maaß haͤlt, daß man sie nicht als eine historische oder sonst erwiesene Wahrheit, sondern al- lein wegen der obwaltenden Verlegenheit freywillig annimmt, und nothduͤrftig gel- ten laͤßt. Die hiemit dem Leser zugemuthete zwiefache Gefaͤlligkeit: zuerst, einer unwahrscheinlichen Hypothese beyzupflich- ten; hernach, das ihr gemaͤsse zwar zu glauben, aber doch im eigentlichen Ver- stande denn auch wieder nicht zu glauben: diese zwiefache Gefaͤlligkeit waͤre in der That zu groß, als daß sie auch von dem geneigtesten Leser erwartet werden duͤrfte, wenn er nicht seinen eigenen Vor- theil dabey faͤnde. Weil aber ungeneigte und geneigte Leser, wie ich zeigen werde; und zwar jene zuerst, ihren offenbaren Vortheil dabey finden; so bin ich ihrer Willfahrung desto gewisser, da bey der ihnen zugemu- theten zwiefachen Muͤhe, auch eine zwie- fache Erleichterung statt finden soll. Denn was die Hypothese unwahrschein- )( 5 liches hat, wird durch das: im eigent- lichen Verstande nicht glauben duͤrfen — verguͤtet; und: das im ei- gentlichen Verstande nicht glau- ben — giebt sich durch das Unwahrschein- liche der Hypothese beynah von selbst. Also habe ich dem Leser nur noch sei- nen eigenen Vortheil vor Augen zu stellen, welches ich mit wenigen Worten zu Stande zu bringen hoffe. Ich setze zum Voraus, daß ich Leser habe. Diese Leser sind meine Zeitgenossen; folglich geschworne Feinde aller Dunkelheit. Nun finden sich diese in Absicht des vorlie- genden Buches von Dunkelheiten ganz um- geben. Sie fragen: Wer ist Eduard All- will? Lebt er, oder ist er todt? Wo hat er gelebt? Wenn er noch im Leben ist, wo haͤlt er sich auf? Wie bekam er nur seine eigenen Briefe wieder in die Haͤnde? Wie brachte er die uͤbrigen in seine Gewalt? Was will er mit ihrer Bekannt- machung ? Woher seine Verbindung mit dem Herausgeber? — Und dergleichen Fragen noch eine Menge, die ich alle muͤßte unbeantwortet lassen, theils durch eigene Unwissenheit gebunden, theils durch mein gegebenes Wort. Der Leser also, unvermoͤgend sowohl in Absicht der Herleitung als Hin- leitung seines Buches sich zu recht zu finden, wuͤrde nicht allein mit dem Samm- ler und Herausgeber, sondern auch mit sich selbst unzufrieden werden, weil er mit dem Gegenstande der Fragen nun ein- mal verwickelt waͤre, und die Sache eben so wenig von der Hand schlagen, als nach seinem Wunsch ins Reine bringen koͤnnte. Mitten in dieser Verlegenheit komme ich ihm nun mit meiner Hypothese zu Huͤlfe: und gelingt es mir, sie nur einigermassen wahrscheinlich zu machen; so erhascht er diese Wahrscheinlichkeit gewiß mit Freu- den, da ihm mit und in ihr, Herleitung und Hinleitung zugleich gegeben wird, und er zu sich sagen kann, daß er begreift. Ich schlage demnach so fort dem Leser vor, sich unter dem Herausgeber einen Mann vorzustellen, dem es von seiner zar- testen Jugend an, und schon in seiner Kind- heit ein Anliegen war, daß seine Seele nicht in seinem Blute, oder ein blosser Athem seyn moͤchte, der dahin faͤhrt. Dieses Anliegen hatte bey ihm so wenig den blossen gemeinen Lebenstrieb zum Grunde, daß ihm vielmehr der Gedanke, sein gegenwaͤrtiges Leben ewig fortzusetzen, graͤßlich war. Er liebte zu leben wegen ei- ner andern Liebe, und — noch einmal! — ohne diese Liebe schien es ihm unertraͤglich zu leben, auch nur Einen Tag. Also schon als Knabe war der Mann ein Schwaͤrmer, ein Fantast, ein Mysti- ker — oder welches ist der rechte Name unter so vielen, die ich, mit ihren sorg- faͤltigen Definitionen, in so mancherley neueren Schriften gefunden und nicht be- halten habe? Diese Liebe zu rechtfertigen; darauf gieng alles sein Dichten und Trachten: und so war es auch allein der Wunsch, mehr Licht uͤber ihren Gegenstand zu erhalten, was ihn zu Wissenschaft und Kunst mit ei- nem Eifer trieb, der von keinem Hinderniß ermattete. Ein verzehrendes Feuer trug der Juͤng- ling im Busen. Aber keine seiner Leiden- schaften konnte je uͤber den Affect, der die Seele seines Lebens war, die Oberhand gewinnen. Jene, wenn sie Wurzel fassen sollten, mußten aus diesem ihren Saft holen und sich nach ihm bilden. So geschah es, daß er philosophische Absicht, Nachdenken, Beobachtung in Si- tuationen und Augenblicke brachte, wo sie aͤusserst selten angetroffen werden. Was er erforscht hatte, suchte er sich selbst so einzupraͤgen, daß es ihm bliebe. Alle seine wichtigsten Ueberzeugungen beruh- ten auf unmittelbarer Anschauung; seine Beweise und Widerlegungen, auf zum Theil (wie ihn daͤuchte) nicht genug bemerk- ten, zum Theil noch nicht genug vergliche- nen Thatsachen. Er mußte also, wenn er seine Ueberzeugungen andern mittheilen wollte, darstellend zu Werke gehen. So entstand in seiner Seele der Ent- wurf zu einem Werke, welches mit Dich- tung gleichsam nur umgeben, Menschheit wie sie ist, erklaͤrlich oder unerklaͤrlich, auf das gewissenhafteste vor Augen stel- len sollte. Erbaulicher als die Schoͤpfung; mora- lischer als Geschichte und Erfahrung; phi- losophischer als der Instinkt sinnlich ver- nuͤnftiger Naturen, sollte das Werk nicht seyn Ich nenne Instinkt diejenige Energie, welche die Art und Weise der Selbstthaͤtig- keit, womit jede Gattung lebendiger Natu- ren, als die Handlung ihres eigenthuͤmli- chen Daseyns selbst anfangend und al- leinthaͤtig fortsetzend gedacht werden muß, urspruͤng- . Denn Denn daß so viel ausgelassen wurde von den Philosophen, damit sie nur er- urspruͤnglich (ohne Hinsicht auf noch nicht erfahrne Lust und Unlust) bestimmt. Der Instinct sinnlich vernuͤnftiger (d. i. Sprache erzeugender) Naturen hat, in so fern diese Naturen blos in ihrer vernuͤnftigen Eigenschaft betrachtet werden, die Erhaltung und Erhoͤhung des persoͤnlichen Daseyns (des Selbst- bewußtseyns; der Einheit des reflectierten Bewußtseyns mittelst continuirlicher durch- gaͤngiger Verknuͤpfung: — Zusammen- hang —) zum Gegenstande; und ist folg- lich auf alles, was dieses befoͤrdert, unaus- setzlich gerichtet. In der hoͤchsten Abstraction, wenn man )( )( klaͤren koͤnnten; so viel verschwiegen von den Moralisten, damit ihr allerhoͤch- die vernuͤnftige Eigenschaft rein absondert; sie nicht mehr als Eigenschaft , son- dern ganz fuͤr sich allein betrachtet: geht der Instinct einer solchen blossen Ver- nunft allein auf Personalitaͤt , mit Aus- schließung der Person und des Daseyns , weil Person und Daseyn Individualitaͤt ver- langen, welche hier nothwendig wegfaͤllt. Die reine Wirksamkeit dieses letzten In- stincts, koͤnnte reiner Wille heissen. Spinoza gab ihr den Namen: Affect der Vernunft. Man koͤnnte sie auch das Herz der blossen Vernunft nennen. Ich glaube, daß wenn man dieser Indication philosophisch nachgeht, mehrere schwer zu erklaͤrende Er- scheinungen, auch die eines unstreitig vor- ster Einfluß nicht geleugnet wuͤrde: dies eben hatte den Mann verdrossen, der nach einem Lichte, worin nur das zu sehen waͤre, was nicht ist, sich wenig sehnte, und zu einer allerhoͤchsten Willenskraft des Menschen, ausser dem menschlichen Herzen, kein Vertrauen hatte; vielleicht aus Man- gel ihrer Gabe in seinem eigenen — Kopfe. handenen categorischen Imperativs der Sitt- lichkeit, seines Vermoͤgens und Unvermoͤ- gens, sich vollkommen begreiflich werden fin- den lassen. Man muß aber zugleich auf die Function der Sprache bey unseren Urthei- len und Schluͤssen wohl Acht haben, damit man durch Instanzen, welche auf nur etwas schwer zu entraͤthselnden Wortspielen beru- hen, nicht irre oder muthlos gemacht werde. )( )( 2 Er sammelte zu seinem Werke mit einer Liebe, die ihn von der Ausfuͤhrung dessel- ben entfernte. Nun ist er zu alt geworden, um an eine Vollendung nach dem ersten Plane zu denken: aber gewiß liefert er noch einen zweyten Band; und hoͤchst wahr- scheinlich einen dritten. Der zweyte Band, welcher schon auf Johanni erschienen waͤre, wenn nicht kluge Maͤnner anders gerathen haͤtten, enthaͤlt die Epoche von Clerdons Abwesenheit, die man in diesem ersten angekuͤndigt findet. So viel zur inneren Wahrscheinlich- keit meiner Hypothese, der Hauptsache, zufolge ihrer pragmatischen Absicht. Die aͤussere Wahrscheinlichkeit will ich von Aussen, durch Instanzen, zu bewirken suchen, wie folgt. Waͤre der angebliche Herausgeber nicht der wirkliche Verfasser dieses Buches, wie haͤtten die schon ehmals erschienenen Briefe dieser Sammlung die veraͤnderte Gestalt, in welcher man sie hier erblickt, erhalten, und sich, den neuen zu Gefallen, derge- stalt veraͤndern koͤnnen? Hier stoͤßt man auf einen Zusatz; dort auf eine Luͤcke; und uͤberall blickt eine geschaͤftige Hand hervor, die nicht Scheu traͤgt, mit diesen Brie- fen, wie mit einem Eigenthume zu schalten. Hiegegen kann eingewendet werden: da man die eilf Briefe, die hier zum erstenmal )( )( 3 erscheinen, ehmals nicht haͤtte bekannt ma- chen wollen; so waͤre man gezwungen gewe- sen, jene zehn Briefe, die man herauszu- geben sich bewegen ließ, damals so weit zu veraͤndern, als noͤthig war, damit sie nicht auf die dazwischen weggenommenen gerade zu hinwiesen, und ihre Abwesenheit un- moͤglich machten. Diese verdrießliche Ar- beit waͤre geschehen, wie verdrießliche Ar- beiten zu geschehen pflegen, und daruͤber die Abschrift durchaus fehlerhaft geworden. Demnach wuͤrde es der Wahrheit ganz zu- wider seyn, und eine seichte Kritik verra- then, wenn man als gemachte Veraͤn- derungen ansehen wollte, was im Gegen- theil nur weggeschafte Veraͤnderun- gen waͤren. Ich bin zu bloͤde, um dieser Einwen- dung das Uebergewicht von Wahrscheinlich- keit, wodurch sie meine Instanz entkraͤftet, geradezu abzusprechen. Lieber will ich das Gewicht meiner Instanz durch eine Zugabe, welche mir die Zugabe zu diesem ersten Bande von Allwills Briefsammlung, das Schreiben an Erhard O * *, an die Hand giebt, zu vermehren suchen. Ich frage also jedweden, ob er die Fa- milienaͤhnlichkeit zwischen dem Schreiben an Erhard O * * und den Briefen der Allwillischen Sammlung sich zu leugnen unterfangen werde? Jenes Schreiben ist durchaus philoso- phischen Inhalts, hat aber gar nicht die philosophische Einrichtung, welche den )( )( 4 Angriff von Aussen eben so bequem macht, als die Vertheidigung nach Aussen, und daher bey Feinden und Freunden gleich beliebt und wohl gelitten ist. Warum fehlt ihm diese bessere Einrich- tung? Ich sage, sie fehlt ihm deswegen, weil es ein Stuͤck der Allwillischen Samm- lung ist, das nur Reisaus genommen hatte. Es konnte aber fuͤr sich allein nicht beste- hen; kam zuruͤck, und wurde als eine Zu- gabe angenommen. Und hiemit glaube ich nun, was ich unternommen, vollbracht, und den Leser uͤber seine Fragen, wenn auch nicht ganz beruhigt, doch vollkommen und selbst uͤber die Maassen — zerstreut zu haben. Ich uͤberlasse ihn seiner Zerstreuung, und schließe meine Vorrede mit einem nicht genug bekannten, wenigstens nicht genug erwogenen alten Reim , der einen reichen Schatz des Trostes, nicht allein fuͤr jeden Autor, sondern auch fuͤr jeden Leser ent- haͤlt, wenn dieser nur ein Wort veraͤndern, und fuͤr Leser Autor setzen will: Leser, wie gefall ich Dir? Leser, wie gefaͤllst Du mir ? )( )( 5 Allwills Briefsammlung. Die Natur in ihren schoͤnen Formen spricht figuͤrlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Chiffernschrift ist uns im moralischen Gefuͤhl ver- liehen. — — Schon der bloße Reiz in Farben und Toͤnen nimmt gleichsam eine Sprache an, die einen hoͤhern Sinn zu enthalten scheint und die Natur naͤher zu uns fuͤhrt. Kant (Cr. d. Uk. S. 168. 170). Das Urbild jeder Tugend, jeder Schoͤne; Was ich nach ihm gebildet, das wird blei- ben! … Es sind nicht Schatten, die der Wahn er- zeugte, Ich weiß es, sie sind ewig , denn sie sind . Goethes Tasso A. II, Sc. 2. ΗΑ Ολυμπος ηυλει, Μαρσυου λεγω, τουτου διδαξαντος. τα ουν εκεινου εαν τε αγαϑος αυλητης αυλῃ, εαν τε φαυλη αυλητρις, μονα κατεχεσϑαι ποιει, και δηλοι τους των ϑεων τε και τελετων δεο- μενους, δια το ϑεια ειναι. Plato in Conviv. Ed. Bip. X. p. 257. Einleitung . S ylli , geborne von Wallberg, stammte aus einer alten Patrizischen Familie in C**. Als sie funfzehn Jahre alt war, verlor sie ihre Mutter, welche mehr als das gemeine Erden- leben in sie geboren hatte, und sich so ganz in ihr fuͤhlte, daß davon in beyder Herzen eine namenlose Liebe sproßte. Ihr Vater, von ei- ner ungluͤcklichen Leidenschaft bis zum Wahn- sinn gefoltert, begrub sich zwey Jahre nachher in ein Carthaͤuserkloster, wo er, als die fol- genden Briefe geschrieben wurden, noch lebte. Sylli gerieth nun mit ihrem Bruder unter Vor- mundschaft, und in eine so verwirrte Lage, daß ihr Herz davon um und um wund werden mußte. Sie mochte ein und zwanzig Jahre alt seyn, als einer von den Gefaͤhrten ihrer Kindheit und zartern Jugend, August Clerdon , sie wie- dersah, und die heftigste Liebe fuͤr sie empfand; ein feuriger Mann, von großen Geistesgaben, aber sehr unstaͤtem Sinne. Die Verbindung kam zu Stande, und Sylli zog nach E***, wo ihr Mann eine der ansehnlichsten Stellen bekleidete. Gleich darauf kam dessen Bruder, Heinrich Clerdon , als Regierungsrath nach C**. Beyde waren in der Schweiz ge- boren; aber schon als Kinder mit ihrem Vater nach Deutschland versetzt worden. Es hatte Sylli geahndet, daß August auf vielerley Weise sie ungluͤcklich machen wuͤrde; aber das Große und Herrliche in dem jungen Manne riß sie hin. Drey Jahre nach- her starb er mitten in der Verwickelung eines durch niedertraͤchtige Treulosigkeit gegen ihn angesponnenen Rechtshandels, der ihm die voͤllige Zerruͤttung seiner aͤusserlichen Gluͤcks- umstaͤnde drohte. Seine Wittwe, die wenig eigenes Vermoͤgen hatte, und auch das noch in Gefahr sah, mußte diesen Rechtshandel, von schlechten Menschen unterstuͤtzt, gegen schlechte Menschen fortsetzen, und deswegen zu E*** bleiben; an einem Orte, den sie nie geliebt hatte, und der ihr nun desto mehr zuwider war, da ihre ganze Seele nach C** hieng, wo alles, was sie noch an die Erde fesselte, sich beysam- men fand. Ein einziges Kind, das sie geboren hatte, war dem Vater nachgefolgt. Als sie die beykommenden Briefe schrieb, mochte sie acht und zwanzig Jahre alt seyn. Amalia , deren gleich im zweyten Briefe, ohne weiteres, gedacht wird, erscheinet selbst, in der Folge dieser Sammlung, als Heinrich Clerdons Gattinn ; und Lenore und Claͤr- chen von Wallberg — beyde, Schwe- stern (unter welchem Namen allein zuweilen ihrer auch Erwaͤhnung geschieht) — waren Syllis leibliche Cusinen . Alle diese Perso- nen hatten, in verschiedenen Perioden, viele Jahre neben und mit einander zugebracht, und liebten, und betrachteten sich, durch ihre aͤus- seren, noch weit mehr aber durch innere Ver- haͤltnisse auf das engste verbunder, als Ge- schwister. Von Eduard Allwill etwas voraus zu erinnern, waͤre uͤberfluͤßig. Druckfehler . S. 11 Z. 1 lies dem statt den. — 35 — letzte l. Sie st. sie. — 39 — 1 l. alsdann st. alsdenn. — 57 — 15 l. guten st. gute. — 79 — vorl. l. bliebe st. blieb. — 91 — 7 l. chauve-sauris st. chauvesouris — 99 — 4 l. Schooße st. Schoose. — 103 — 14 l. was st. das. — 115 — 5 v. u. l. Geistes st. Geist. — 118 — 8 v. u. l. Ich st. ich. — 119 — 8 l. sie st. Sie. — 121 — 2 l. das st. daß. * — 165 — 4 v. u. l. gehabt haͤtte st. haͤtte. — 170 — 5 u. 6 v. u. l. dich st. Dich. — 171 — 4 v. u. l. dem st. den. * — 221 — 2 l. weich und schwachherziger st. weichschwachherziger. — 316 — 3 v. u. l. Shakespeare st. Schakesspear. I. Sylli I. Sylli an Clerdon. Den 6ten Maͤrz. J a, mein Freund, noch alle Tage wird es oͤder um mich her; und so setzt sich denn die sonderbare Gemuͤthsstimmung, die Du an mir tadelst, und wofuͤr Du keinen Namen weißt, immer fester. Ich soll es Dir nennen, was weder Milzsucht, Truͤbsinn, Menschenhaß oder Menschenverachtung, noch sonst etwas ist, wo- zu sich aus Romanen oder Schauspielen eine Deutung holen ließe; was aber mein Herz zu- gleich so warm und so kalt macht, meine Seele so offen und so zugeschlossen. Lieber Clerdon, vielleicht ein andermal; diesmal hoͤre, was sich gestern zutrug. A Ich gerieth auf einige Stunden lang an das Bett einer Sterbenden. Sie war eine gute Bekannte meiner Tante Moßel; mich gieng sie weiter nichts an, stand mit mir in keinem eigentlichen persoͤnlichen Verhaͤltnisse; ein all- taͤgliches Geschoͤpf, sehr dumpfen Sinnes, aber ohne alles Arge. Ihre Leiden auf dem Ster- bebette waren groß. Man hatte zu ihrer Ge- nesung eine der schrecklichsten Operationen ver- sucht. Das alles stand sie gelassen aus: es war die Fassung ihres Temperaments, schlichte Fortsetzung ihres Lebens bis ans Ende. Vier Stiefkinder (eigene hatte sie nie) standen um ihr Bett; naͤher ihr Mann, der es blos wegen Gewinn und Gewerbe geworden war. Alle weinten und schluchzten recht ernstlich; gewiß, Clerdon, ihre Trauer gieng von Herzen. Aber im Grunde, was war es? Etwa ein wenig Reue , ein wenig Erkenntlichkeit , arm- selige Scheu vor der Befremdung , wenn sie jetzt nicht mehr da seyn wuͤrde, Bangen vor dem Bilde des Todes. — O wie gleicht doch alles einander so widerlich! Ich saß da so kalt; koͤrperlich gepeinigt von dem koͤrperlichen Leiden der Kranken; konnte sonst mit niemanden sympathisiren. Jetzt kam der Geistliche hinzu, und begann sein Geschaͤft. Ich versichere Dir, die gute Frau zagte nicht der Zukunft wegen, hatte nicht die mindeste Seelenangst: nur das Dahin- sterben ihrer Kraͤfte, die Lebensermattung preßte ihr manches Ach aus der Brust; und da kam jedesmal ein Zuruf, ein Spruch, ein Vers aus einem Liede: was denn nur die ohnmaͤchtigen Organe zu einem marternden Gebrauche wie- der aufjug , die milde Hand des Todes be- waffnete, und der Seele wehrte, still und sanft hinweg zu scheiden. — O des Wustes von Welt! Heute nun ist der Verstorbenen wegen ein Klagen, ein Weinen, auch hier unter den Meinigen, daß einem um Trost bange waͤre, wenn man nicht wuͤßte, daß unter allen diesen Hochbetruͤbten keiner ist, der nicht der Gat- tinn, Mutter, Freundinn, bey ihrem Leben A 2 immer ganz entbehren konnte. Und nun ich, welcher dies alles so klar vorschwebt, mitten unter diesem Haufen, ganz ohne Theilneh- mung; aber, ach, im Innersten meines Wesens erschuͤttert, von unertraͤglichen Gedanken! — Du mit den vielen Namen, das die Menschen alle zu einander zerrt, durch einander schlinget; was bist du? Quell und Strom und Meer der Gesellschaft; woher? Und wohin? … Ich sehe die finstere Hoͤhle, und den großen Kessel, worin Macbeths Hexen allerhand Stuͤcke von Thier und Mensch, Froschzehen, Wolfszahn, Fledermaushaar, Judenleber, Tuͤrkennase, Tartarlippe, und wie viel andre Dinge sammeln, um das Werk ohne Na- men zu bereiten; kochen und kochen am Zau- berwesen, bis aus dem Gemenge die Fan- tomen alle hervorgehn: Erscheinen, erscheinen, erscheinen, Kommen wie Schatten, und verschwinden wieder. Und dazu dann den grotesken Rundetanz, und die herrliche Musik, und die bezauberte Luft; die ganze, beste, vollstaͤndigste Lust- barkeit! Doch so abentheuerlich, mit unter so fuͤrchterlich, ist es lange nicht. Ich muß des Grausens lachen, das mich anstieß. Nein, guter Clerdon, nein; nur eine bunte hoͤlzerne Jahrmarktspuppe, Rumpf und Rock aus einem Kloͤtzchen; Arme, Fuͤße, Kopf daran geleimt, und ein Brettchen darunter, daß es stehe: ist denn das ein Gespenst? — A 3 II. Sylli an Clerdon. Den 7ten Maͤrz. I ch war heute lange vor Tag aus dem Bette. Ein sonderbar schoͤnes Licht, das im- mer heller mich umgab, trieb mich aus mei- nem Cabinette in das Zimmer gegen Morgen, welches die weite Aussicht nach dem kleinen Gebirge hat. Ich fuhr zusammen uͤber dem Anblick, und blieb unbeweglich am Eingange des Gemachs. Was mich fesselte, war die große Stille bey allem Glauze , bey allem Wer- den am weiten Himmel: unuͤberschauliche, unaufhoͤrliche Verwandlungen; und doch kein sichtbarer Wechsel, keine Bewegung. Aber jetzt trat die Sonne naͤher, und fuhr auf ein- mahl hinter den Huͤgeln herauf, daß ich da- von mit in die Hoͤhe fuhr. — Clerdon, es wa- ren selige Augenblicke! Und siehe, wie dieser Sonnenaufgang, so war der ganze heutige Tag; Fruͤhlings Anbeginn, Anbruch des Jah- res, erster Lichtstrahl einer viel groͤßern Schoͤpfung, als die Schoͤpfung eines einzel- nen Tages. Ich mußte heraus aus dem Gemaͤuer in die offene Welt. Sophie, bey der ich angerufen hatte, begleitete mich. Welch ein Spatziergang! Der Himmel war so rein, die Luft so sanft, die ganze Erde wie ein laͤchelndes Angesicht voll Trost und Verheißung, Unschuld und Fuͤlle des Herzens. Dies alles konnte ich jetzt wunder- bar auffassen; meine Blicke waren milde, segnend. Und so wurde ich unvermerkt wieder das gute zuversichtliche Geschoͤpf, das nichts als Wonne uͤber der Gottes-Welt Schoͤnheit, und volle Hofnung im Herzen hatte. Ja, volle Hofnung, bester Clerdon, ohne zu wissen, was ich hofte; alles Gute, alles Schoͤne: und diese liebe Verworrenheit, diese Daͤmmerung war es eben, warum mir so wohl war; warum kein Unglaube mich wach stoͤren konnte. A 4 Dieser Tag sollte recht genossen werden. Ich wollte unter freyem Himmel die Sonne auch untergehen sehen. Wir nahmen unsern Weg uͤber die Waͤlle. Ich verweilte an dem Orte, wo ich vor zwey Jahren im spaͤten Herbste mit Dir stand, und Du von der weiten mannichfaltigen Aussicht so entzuͤckt warest. „Saͤh er sie jetzt!”. Ein lieber Fruͤh- lingshauch wehte mich an, und stellte Dich an meine Seite. O wie war rund um uns alles so herrlich, so schoͤn! Aber es ließ sich nicht lange so ansehen; ich begab mich weg. Nun kam ich an die Stelle, wo man den lan- gen, breiten Weg um die Ecke nach S** Die erste Poststation nach C**. gerade vor sich sieht. — „Da kam ich her vor „sechs Jahren; da kam vor zwey Jahren Cler- „don her; da geht der Weg hin. — Ach „wann?” Du erinnerst Dich der Lage: eine unabsehbare Flaͤche; nichts, das Auge zu hemmen; der Weg ganz gerad aus, und so breit, und so eben — Wie ich daruͤber hin- rollen koͤnnte! — Indem ließen sich nahe bey, gleich hinter der Stadtmauer, zwey Instru- mente hoͤren. Es war eine Floͤte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen, sie begleiteten und fortfuͤhrten. Da ließ ich mich denn gehen, ließ es mir so wer- den, daß ich die Augen recht naß hatte. Meine gute Sophie neben mir wartete alles mit Freundlichkeit ab. Auf mein Stoͤckchen gelehnt blieb ich lange so da stehen: endlich lief ich hurtig mit ihr nach Hause, und — Gute Nacht, Clerdon! Amalia, Schwestern, gute Nacht! A 5 III. Clerdon an Sylli. Den 4ten Maͤrz. D u solltest wissen, liebe Sylli, wie man- che Stunde ich damit zubringe, daß ich Dir — Nicht schreibe. Ein Brief ist bald geschrie- ben; einen Brief Nicht schreiben, dauert viel laͤnger. Jetzt wieder saß ich eine große halbe Stun- de, vielleicht gar eine Stunde mit der Feder in der Hand vor diesem Blatte; nachsinnend, wo ich Trost fuͤr Dich faͤnde, und wie ich mit dem Troste Dir beykaͤme. Deine wenigen Zeilen vom 28. Februar, die uns heute einliefen, zeugen von einer Be- klemmung, die mich mit ergriffen und mir das Herz so zusammengepreßt hat, daß ich mei- ner Angst keinen Rath wußte, und mich ent- schloß, Amalien den Brief vorerst nicht mitzu- theilen. Du wirst am folgenden Tage, den ersten Maͤrz, einen Brief von mir erhalten haben, worin ich Dich flehentlich bat: Du moͤchtest einmal ohne Zuruͤckhaltung Dich gegen uns ergießen, uns Deinen Gemuͤthszustand, den wir uns nicht genug zu erklaͤren wissen, ganz offen legen. Neue Unfaͤlle sind Dir nicht be- gegnet; und nach dem, was Du erfahren hast, wuͤrden neue uns verborgene Wider- waͤrtigkeiten Dich nicht in dem Grade nieder- geschlagen haben, wie Du es augenscheinlich bist. Woher denn dieses Sinken in die fuͤrch- terlichste Gattung der Schwermuth, dieses Deinem Character so widersprechende Zagen, welches einem toͤdtenden Unglauben an Liebe, an Freundschaft, an Menschenwuͤrde den Weg bahnt? Daß diese Welt so weit ist; alle Toͤne in ihr so verhallen — Ich fuͤhle das auch; glaube mir, ich fuͤhle es. Und wie werde ich nicht gedruͤckt und verwundet, bis zur Verzweiflung oft gehemmt in den taͤglichen Geschaͤften meines Lebens und Berufs, ohne irgend eine Hoffnung des Besserwerdens, so lange die Einrichtung im Ganzen dieselbe bleibt? Aber es ist wahr, diese Peinigungen selbst haben das Gute fuͤr den braven Mann, daß er sich nur mehr zusammen nimmt. Kann er seine besten Faͤhigkeiten nicht in That ver- wandeln, seine besten Eigenschaften nicht fruchtbar machen; wird er von Dummheit, Niedertraͤchtigkeit und Bosheit umzingelt, angefallen, bedraͤngt: so haͤlt das seinen Geist wenigstens in Grimm empor. Was ihn niederwerfen sollte, richtet ihn in die Hoͤhe, unterstuͤtzt ihn, giebt ihm Haltung. Schwester, Freundinn, holde liebe Syl- li — Auf! Raffe Dich, so gnt Du kannst, zusammen; Du wirst Huͤlfe finden, denn Du hast sie in Dir selbst! — O, daß ich es vermoͤchte, Dir meine innigsten Gefuͤhle hier- uͤber in ihrer ganzen Wahrheit darzustellen! Das Beste an mir ist das Wissen von dem, was Du bist — Was Du bist ! Und Du, Sylli; Du Himmelskind , versinkst in Jammer; koͤnntest versinken in die schreck- lichste Trostlosigkeit! — — Eigene Vortref- lichkeit kann der hoͤchste Genuß nicht seyn; denn Sylli fuͤhlt sich elend! — Sagt, ihr Engel vor Gottes Angesicht: Ihr seyd wohl auch nicht seelig? — Sylli, Du muͤßtest in mein Herz schauen; nicht schauen ; Du muͤß- test in Deinen Busen es aufnehmen koͤnnen, um zu empfinden das Trauern uͤber Dich, das in mir ist, und den Trost fuͤr Dich, der in mir ist. IV. Sylli an Clerdon. Den 8ten Maͤrz. I ch habe Dir gestern und vorgestern ge- schrieben, lieber Clerdon; doch muß ich Deinen eben erhaltenen Brief auf der Stelle beant- worten. Wenn Du wuͤßtest, wie es mich aͤngstigt, daß Du so viele Sorge, so vielen Kummer meinetwegen hast! Glaubt es doch, ihr guten Leute, glaubts, daß ich lange nicht so uͤbel daran bin, als Ihr euch vorstellt. Alles Schoͤne in der Natur, alles Gute ist mir ja schoͤn und gut; wird es noch alle Tage mehr. Oder wißt Ihr Jemand, der jede menschliche Freude inni- ger kostet, als Eure Sylli? Und wie sollte ich nicht an Liebe glauben, ich, der die Brust so enge davon ist? Nur die Hyacinthe hier! Wie oft stand ich nicht vor ihr, mit klopfendem Bu- sen; sog an ihrem Wesen mit allem meinem Sinn, bis es meine Nerven durchbebte, und ich die Schoͤne, Gute in mir lebendig hatte, und — nennt es Thorheit, Unsinn, Schwaͤr- merey — und ich Gegenliebe von ihr fuͤhlte! So pflege ich eines jeden Dinges, von welchem Wohlthun unmittelbar ausgeht; es sey Gestalt oder Geist, Lied, Harmonie, Gemaͤhlde, was es wolle. Ich halte es an mich, leih ihm Heerd und Feuer, ruhe nicht, bis sein inneres Wesen, das Gute, Schoͤne, das Wohlthun in mich stroͤmt, Leben in mir empfangen hat und Liebe. Ach! nichts soll untergehen, was mir einen Blick der Vereinigung zuwarf; was mir Leben gab und Leben von mir nahm : wenigstens so lange soll es nicht untergehen, als ich selbst daure. Nun bin ich hiemit freylich mancher Ver- letzung blosgestellt, die ich ohne das nicht empfaͤnde. Alle Dumpfheit, Achtlosigkeit, Geringschaͤtzung, Fluͤchtigkeit der Menschen um mich her, und die noch aͤrgere Schmach ihrer voruͤberrauschenden Entzuͤckungen, trif f t mich, verwundet mich. So von allen Seiten ange- fochten, jedermanns Hand wider mich, ist doch meine Hand, ich schwoͤre Euch, wider kei- nen. Ich sehe immer noch viel Liebes und Gu- tes an den Menschen. Da habe ich hier ei- nige rosenwangichte Maͤdchen, die mich durch- aus erquicken, so oft sie mir begegnen. Es wird einem unter ihnen, als wandelte man zur Fruͤhlingszeit in einem Bluͤthenregen. So voll Muth, so voll Lust sind sie, daß sie Huͤlfe ru- fen muͤssen. Da hangen Sie denn an meinen Armen, an meinem Halse; entladen ihre Lip- pen, und lassen in ihren schuldlosen Augen mich einen Zauber finden, womit ich alles vergesse. Mit einer Wonne druͤcke ich sie dann an mein Herz, fast als wenn es Liebe, daurende Liebe waͤre. Und seht, gerade so treibe ichs mit hundert andern Dingen; lasse alles gut seyn, und mir zu gute kommen, was nur gut seyn mag. Ich werfe nichts auf den Boden, trete nichts unter die Fuͤße; mag aber auch nichts aufspeichern von Menschen Gunst und Achtung. Seht, wenn es mir wohl einmal wird, wird, als sollte dergleichen dauern, als er- wartete ich es; so uͤberfaͤllt mich doch gleich eine Schwermuth, ein Zagen, daß ich vergehen moͤchte. Wie warm auch von aussen mein Herz sich anfuͤhlt, wie von sich scheinend es auch ist; so duͤnkt es mich doch alsdenn in der Tiefe kalt. Ja, das ist es, daß jede Anwand- lung von Vertrauen, von Freundschaft in mei- ner Seele zum Trauer- und Schreckengedan- ken wird; daß ich es gleich so hell vor mir habe, daß es nur Wiedererscheinung ist jener laͤngst entwichenen Engelsgestalt, welche mir in den Schooß ein Todtengerippe gab. Ach! Clerdon, Amalia, Schwestern, zuͤrnt nicht uͤber Eure Sylli! Ihr wißt ja meine Geschichte zum Theil; — und wenn Ihr sie ganz wuͤßtet, Euch das alles offenbar waͤ- re, was hier tief und fest verschlossen liegt! — Aber redet, zeugt; ist es meine Schuld, daß es so mit mir geworden ist? War ich zaghaft, weichlich; dachte ich wohl darauf, mir Schmerz, Thraͤnen zu ersparen; brachte ich B je etwas in Anschlag, was nicht Liebe war? Voll Muth, voll Zutrauen, im Glauben un- beweglich, duldete ich nicht alles, wagte ich nicht alles, gab ich nicht alles daran? Alles, alles! — Was halfs! — Nach einander und mit einander sah ich alle sie verdorren, die Baͤume und Lauben in den Gefilden meiner Jugend; sah ich sinkend sie die Blumenbeete unter ihnen verheeren! O des unvergifteten Pfeils, der aus Freundes Hand in euer Herz faͤhrt; den er laͤchelnd darin umkehrt, und voll Unschuld fragt: wie kann das schmerzen? er war ja nicht giftig ! Nicht die wider mich Gewalt und boͤse Tuͤcke brauchten, waren meine Verderber; jene waren es, die nur sachte von mir ab- fielen, wie eine zeitig gewordene Frucht ab- faͤllt, ihren Baum laͤßt, und mit seiner Fuͤlle hinweg geht. Hoͤrt, ich bin nicht vom Blitze zersplittert, nicht abgehauen: nur ausgesogen bin ich; habe noch Aeste und Blaͤtter. Und so mag der Stamm sich erhalten, bis auch seine Aeste verdorrt sind, die Blaͤtter verwelken und nicht wieder kommen. O, daß ich meinen Augen wehren koͤnnte, umher zu schauen; wuͤßte, sie wohin abzu- wenden, weg von dem traurigen Einerley menschlichen Lugs und Trugs! Es ist ein wahrer Jammer, wie viel die Leute von ein- ander fodern, erwarten, hoffen, sich und ih- ren Bruͤdern zutrauen, wirklich zu geben und zu nehmen meynen . Jede Sonne bringt unsterbliche Liebe, unsterbliche Freundschaft auf die Welt; wer nur nicht wuͤßte, daß auch mit jedem Tage ein Abend kommt, und was dreymal geschehen wird, ehe der Hahn kraͤhet . Am meisten dauren einen die guten Seelen, die, wenn sie einige Jahre zusammen fortgeschlen- dert sind, oder wohl gar von Kindesbeinen an ihr Thun mit einander gehabt haben, und ihrer Sache recht gewiß zu seyn glauben, nur Ein B 2 Schicksal, nur Ein Grab sehen, allen Stuͤr- men Trotz bieten, — am Ende doch sich unver- sehens einander in den Grund segeln; oft, der armseligsten Grille wegen, gescheitert da lie- gen, ohne Rettung. Wohl ihnen, daß sie selten das Geheimniß ihres Schicksals verste- hen! Ich habe lange ein Bild alles menschlichen Thuns und Seyns, unserer sogenannten Laufbahn , in der Seele; ein aͤrgerliches, aber richtiges Bild: den Gang im Krah- ne . Mit zugeschlossenen Augen rennt jeder vorwaͤrts in seinem Rade, freut sich der zu- ruͤckgelegten Bahn; weiß so viele Thorheiten, so vielen Jammer hinter sich; und merkt nicht, daß dicht an seinem Ruͤcken dies alles wieder empor steigt, von neuem uͤber sein Haupt, vor seine Stirne, und unter seine Tritte kommt. Ich mag hievon nicht reden: denn wer es am hellsten einsieht, hat es nur um so viel besser, daß er in seinem Rade stille stehen bleibt, die andern auslacht, oder be- seufzt — und sich mit — — O, er ist weit am schlimmsten dran! Wo ich hingerathen bin! — Es war mein Wille nicht: aber nun sey es mein Wille; denn was schadet es? Ihr wißt ja, was tau- sendmal gesagt ist: daß jeder seine Noth in Augenblicken, wo er mit seinem ganzen Da- seyn in ihre Vorstellung uͤbergeht, als die groͤßte fuͤhlen muß; und so laßt Euch denn noch einmal gesagt seyn, daß es Eure Sylli im Grunde doch in der Welt so schlimm nicht hat. Glaubet mir, glaubt den Worten un- sers lieben Primrose : „Die dunkelsten „Gegenstaͤnde, wenn wir ihnen naͤher treten, „erhellen sich, und das Auge des Gemuͤths „bequemt sich nach der truͤben Lage.” Auch fuͤhrt ja Clerdon so oft die Verse im Munde: „Kein Zustand ist so hart, ein Chor von stillen Freuden „Gesellt sich ihm mitleidig bey.” O glaubet, glaubt, so wenig auch der Zeugen B 3 dafuͤr seyn moͤgen: wer nicht weiß, wie man sich auf Dornen bettet, den hat die beste Rast noch nicht erquickt! Freylich waͤre alles dies Sagen nichts, wenn mein Herz von den Menschen los waͤre; aber, gewiß, es haͤngt an ihnen mit seinen besten Nerven. Kann doch niemand sich er- wehren, die Kinder zu lieben, an denen wir sicher nicht mehr haben, und von denen wir nicht mehr erwarten, als ich von meinen Men- schen. So einen kleinen, huͤbschen, muntern Jungen, wenn ihr den an euch druͤckt, ihn kuͤßt und herzt, und ihn nicht lassen koͤnnt; ist das wohl, weil ihr den vortreflichen Mann denkt, der vielleicht in ihm verborgen ist? Nein; das bloße Kind zieht euch an, wie es in dem gegenwaͤrtigen Augenblicke vor euch leibt und lebt; weil es ist lieblich anzuschauen, suͤssen Mund, freundliche, blickende Augen, huͤ- pfende Glieder, Leib und Leben hat wie ihr, und seine Nerven mit den eurigen Triller schlagen. Ihr wißt, daß ihr seine Zuneigung mit Naschereyen und Spiel erkauft, und ge- nießet sie darum nicht minder mit herzlichem Wohlgefallen. Ihr trauert nicht, zuͤrnet nicht, wenn ein anderer mit glaͤnzenderen Ge- schenken oder hoͤherem Tanze es von euch ab- lockt, und es euch dann nicht mehr mag, und euch Bah! schilt; oder wenn es geradezu eu- rer muͤde wird, weil ihr seine Laune nicht laͤnger unterhalten, seine Begierden nicht alle erfuͤllen konntet. Ich erstaune, daß die Be- merkung: wir Erwachsene seyen nur aͤltere Kinder , meistens, wo nicht im- mer, mit einer verachtenden bittern Miene, und zum Behuf der Lieblosigkeit angebracht worden ist; da sie mir der zuverlaͤßigste Le- bensbalsam zu seyn scheint. Ja! helle Wonne ist es, so die Menschen zu lieben; ohne Eitelkeit, ohne Anspruͤche, eben mit lauter Liebe . Da geht alles so gerad und rein zum Herzen, und das Herz ist so maͤchtig. — O laßt, laßt mich nur schweben im Limbus, bis ich vollendet werde! B 4 V. Clerdon an Sylli. Den 8ten Maͤrz. L iebste Sylli, daß Du so lange nicht schrie- best! Wir alle zerbrechen uns die Koͤpfe daruͤber; die gute Amalia, die Nichtchen und ich; jeder nach seiner Weise. Aber naͤchsten Sonnabend kommt sicher ein Brief von Dir; denn ich weiß, Du laͤssest meinen juͤngsten kei- nen Tag unbeantwortet. In Faͤllen, die das Herz angehen, will ich alles Gute mit weit groͤßerer Zuverlaͤßigkeit von Dir, als von mir selbst, voraussagen; denn Sylli kann da nicht straucheln. Du seufzest doch wohl nicht uͤber meinen starken Glauben? Hier bey uns solltest Du jetzt seyn, lieb- ste Sylli; daß wir Dich mit in unsere Rei- hen schlaͤngen, den neuen Fruͤhling zu um- tanzen. Die unwiderstehliche Wonne des ge- strigen Tages mußt auch Du gefuͤhlt haben. Mich hat sie ganz durchdrungen, und sich wie gelagert in mein Gebein. Mir ist, wie ei- nem Juͤnglinge, der so eben aus eines from- men Maͤdchens Auge sich die Seele voll Liebe und Hofnung getrunken hat; so froh, und zu- gleich so heimlich, im Busen. Fruͤh mit dem Morgen gieng es an. Ich erwachte von der ersten sanftesten Daͤmmerung, fand mich aufgerichtet, wie von dem Arme ei- nes Freundes, der mich zum unerwarteten Wiedersehen aus dem Schlummer kuͤßte. Ich streckte meine Arme aus nach dem Liebens- wuͤrdigen; irrte ihm nach, und fand ihn, fand ihn — schaffend am Aufgange . — Wer an einer Musik fuͤr das Auge zweifelt, der haͤtte diese Morgenroͤthe sehen sollen. Ein solcher Engelsgesang schwebte mir nie auf Toͤnen in die Seele. Doch was weiß ich, mit welchen Sinnen ich empfand? Ich war ausser mir. Gleich im ersten Augenblicke, beym Erreichen der Gegenwart , uͤberwan- delte michs, durchschauderte michs; dann tiefer B 5 in der Brust ein Beben, immer tiefer und inni- ger; im geheimsten Busen aufloͤsendes Beben, das den Erdensohn toͤdtete. Tod, schoͤ- ner, himmlischer Juͤngling! Des verwesenden Theils entladen, flog ich in seine Arme, sank in seinen Schoos, war bey ihm, war in ihm, in Ihm , der da ist, und war, und seyn wird; kostete Allmacht, Schoͤpfung, ewiges Bleiben in Liebe . — Ach, Sylli, daß ich zuruͤckkehren, daß der Tag kommen mußte! Aber dennoch ein herrlicher Tag; einer der schoͤnsten meines Lebens! Mit dem ersten Blicke der Sonne, der meine Augen auf die umher verbreitete herr- liche Gegend niederlenkte, und mich der Erde wiedergab, schoß mir lichtschnell durch die Seele ein Strafgedanke: welch ein suͤndliches Wesen es doch sey, diese herrliche Pracht Gottes so uͤber Wall und Graben nur zu be- schielen; nur etwa am Abend ein wenig dar- an vorbey oder hinterher zu schleichen: da doch nichts wehre, sich hinein zu lagern in diese Herrlichkeit ganze Tage lang, sich an- zukleiden uͤber und uͤber mit dieser Pracht Gottes, zu genießen das seinige, den weiten offenen Himmel, und die große offene Erde. Ich raffte mich zusammen, und zog hin- aus in den vollen Sonnenglanz, wandelte, und nahm Besitz von Acker, Wiese, Bach, Wald und Strohm, Hoͤhe und Tiefe, Him- mel und Erde. Und als ich nun an den Huͤgel, mein Ziel, gelangte, hinankletterte, endlich droben stand und weit umherschaute; da huͤpfte in meinem Blut, pochte in meiner Brust, trotzte in meinem Gebein, und schau- derte in meinem Haar, jauchzte, klang und sang in allen meinen Nerven, Liebe, Lust und Macht zu leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diese Punkte, liebste Sylli, bedeuten eine gewaltsame Unterbrechung; eine Pause, die ich nun dem Liede muß ein Ende machen las- sen, weil ich Ton und Tact verloren habe. Ich war eben im Begriff meinen zweyten Theil anzustimmen, da Allwill im Phaeton vorgefahren kam, und mir keine Ruhe ließ, ich sollte mit Amalia vor Tische mich von ihm spatzieren fuͤhren lassen; dagegen wollte er zu Mittag unser Gast seyn. Wer nicht nachgiebt, das ist Allwill : also geschah, was er ver- langte. Nun bin ich zerstreut, und darf nicht daran denken, mich wieder in die Stimmung von heute fruͤh versetzen zu wollen. Besser, ich erzaͤhle Dir von Allwill , nach welchem, wenn ich nicht irre, Du schon zweymal ge- fragt hast. Ich werfe Dir nur einige Zuͤge von ihm hin. Meine Frau, die sich des jungen Menschen — er ist noch nicht vier und zwanzig Jahre alt — annimmt, um ihn zu beugen und zu bessern, wird Dir ausfuͤhrlichen Bericht von ihm erstatten. Seitdem Du ihn sahest, hat er sich sehr ausgebildet; aber ein unbegreifliches Durch- einander von Mensch ist er noch immer. Sein Vater erzaͤhlte juͤngst von ihm, er waͤre, als Knabe, seit seinem dritten Jahre nie heil gewesen, haͤtte immer ein Paar Beulen am Kopfe, und Wunden uͤberall ge- habt. Man wird nicht muͤde, den guten Major von den seltsamen Streichen des Kna- ben erzaͤhlen zu hoͤren; und wie er selbst und die Herren Praͤceptoren ihn eben fuͤr kein Kind guter Hofnung gehalten haͤtten: weil er, bey aller seiner Lebhaftigkeit, im Studieren doch sehr traͤge, und bey aller seiner Gutherzigkeit aͤusserst hartnaͤckig, ausgelassen und trotzig gewesen waͤre. Fuͤr etwas schwach am Geist hielt man ihn, weil seine Cameraden ihn bestaͤn- dig uͤberlisteten, ohne Muͤhe ihn zu allem be- redeten, und ihn die Zeche uͤberall bezahlen ließen. Mir fallen eben ein Paar Zuͤge ein, die kurz und leicht zu erzaͤhlen sind. Gegen sein sechstes Jahr hatte er sich in den Kopf gesetzt, sein treues Schaukelpferd, genannt der Fuchs, wuͤrde lebendig werden, wenn er ihm eine lebendige Fliege beybringen koͤnnte. Er quaͤlte sich unermuͤdet mit den Zube- reitungen zu seinem Versuche, der so leicht nicht angestellt werden konnte, weil die Schau- kelmaschine nicht hohl war. Einst, als er sie sehr heftig in Bewegung brachte, so daß sie mit den vordersten Enden bestaͤndig auf den Boden stieß, ward er unverhoft inne, daß sie fortrutschte. Nun trieb er sein Thier staͤrker an, und gelangte ziemlich geschwinde mit ihm bis an das entgegengesetzte Ende des Ge- machs. Seine Freude war ausgelassen. Kein Mensch vermochte ihm auszureden, daß sein Fuchs zu leben anfange, und fuͤr nichts in der Welt waͤre er mehr von seiner Seite gewichen. Es ward Mittag, und Eduard hatte keinen Hunger. Sein Vater ließ ihm sagen: er sollte wenigstens herunter kommen; aber so sehr er sonst den Major fuͤrchtete, konnte er diesmal nicht gehorchen. Alle Leute im Hause, die schon im Geiste ihren lieben Eduard bis aufs Blut peitschen sahen, liefen hinauf, fle- heten, schmeichelten, verhießen, drohten: alles war umsonst. Der Major, der schlech- terdings gehorcht seyn wollte, befahl, den Knaben mit Gewalt herunter zu schleppen. Das geschah. Nachdem er weidlich ausge- scholten worden, sollte er sich zu Tische setzen. Nein; er hatte keinen Hunger. Man droh- te, zwang; alles vergeblich: er sah nur sei- nen Fuchs, und den Himmel offen. Da nun aber schlechterdings ihm der Kopf gebrochen werden sollte, so blieb nichts uͤbrig, als ihn tuͤchtig abzupruͤgeln, und von seinem Fuchse zu trennen, welches denn unverzuͤglich also ins Werk gerichtet wurde, daß man ihn auf ein Paar Stunden in ein finsteres Loch sperrte. Einige Zeit nachher hatte er sich Abends im Dunkeln auf ein hohes Gestell geschlichen, in der Absicht, einen großen Sprung zu ver- suchen, den er nach vielen Uebungen und Successen jetzt glaubte wagen zu duͤrfen. Er sprang herzhaft zu; stuͤrzte aber so gewaltig, daß man fuͤrchtete, das Nasenbein waͤre ent- zwey. Kleinigkeit! Aber am folgenden Tage vor dem Vater zu erscheinen! Alles in der Welt; nur das Ausschelten konnte der Junge nicht leiden. Man hatte es diesmal leicht bey dem Major dahin gebracht, daß er seinem Eduard alle Strafe, und noch oben drein das zu Tische Sitzen erließ. Nun aber sollte nach dem Essen der Junge denn doch vor ihm erscheinen; und da entstand große Noth. Der schuͤchterne Starrkopf wollte durchaus nicht hinunter, bis sein aͤlterer Bruder Wilhelm , ein feiner, beredter, doch aber grundguter Knabe, ihn unter den heiligsten Versicherun- gen, der Vater werde der zerquetschten Nase mit keiner Miene erwaͤhnen, endlich dazu ver- mochte. Große Muͤhe hatte es dennoch ge- kostet, weil Wilhelms Kunst Eduard schon in so manchen schlimmen Handel verwickelt hat- te; aber eine unversiegende Quelle von Glau- ben im Grunde seines Herzens uͤberschwemmte immer bald sein Gedaͤchtniß, so daß er auch noch von dieser Seite nicht viel weiser gewor- den ist. Nun wanderte Eduard an des Bruders Hand Hand zum Major, der ihn verheißenermaßen ganz milde ansah; doch aber zu bemerken nicht unterließ: er wuͤrde ihm wohl muͤssen ein Nasen-Futteral machen lassen. Rasch dreht sich mein Eduard; und zu Wilhelm: „ Du Luͤgner !” mit einem so kraͤftigen Stoße, daß dieser vier Schritte weit ruͤcklings in einen Sandtrog tummelte. Der Major entsetzte sich, und warf den Thaͤter, als das veraͤcht- lichste Ungeheuer, von sich. Dergleichen begab sich alle Tage; aber Eduards Muth und guten Humor beugte von dieser Seite nichts. Wenige Menschen haben mehr Schlaͤge erlitten; denn nie wollte er sie durch willige Uebernehmung nur der kleinsten Schmach abkaufen, noch den Unwillen seiner Vorgesetzten durch Thraͤnen oder Flehen mil- dern. Er selbst erzaͤhlte mir neulich, daß er einst nahe auf den Tod gegeißelt worden sey, da sein Praͤceptor ihn durch Sokratische Fra- gen zu dem Gestaͤndnisse versucht: Pruͤgel waͤren Wohlthaten ; und er ihn immer C durch verstellte Albernheit aus der Schlußfol- ge gebracht habe. Fuͤr seine Cameraden uͤber- nahm er mehrmals Schuld und Strafe; nicht sowohl aus Freundschaftsenthusiasmus und Mitleid, als weil ihm vor ihrem Flehen und Heulen waͤhrend der Execution unertraͤglich ekelte. Bey allem dem nicht ein Schatten von Dreistigkeit; im Gegentheil so schuͤchtern, so demuͤthig gegen jedermann, wovon er Gutes dachte; zugleich so vorliebend, so dankbar, so mild und so gut, daß er den meisten, theils fuͤr einen Tropf, theils fuͤr einen Schmeich- ler galt. Vor Unwahrheit, ja vor bloßem Irrthum … Gut, daß ich hier ein neues Blatt suchen mußte, sonst waͤre mir schwerlich eingefallen, daß in einer Viertelstunde die Post abgeht. Wenn Du willst, so komme ich naͤchstens auf diese Materie zuruͤck, und erzaͤhle Dir von den Contrasten im kleinen Eduard: wie er bey aller seiner Unbaͤndigkeit nicht wild, sondern zur Stille, zum vertraulichen Leben geneigt war; wie er bey seiner heftigen Be- gierde nach sinnlicher Lust, bey seiner Unbe- sonnenheit im Handeln, doch immer gruͤbelte, und mit ganzer Seele an unsichtbaren Gegen- staͤnden hieng; wie er im vierzehnten Jahre ein Pietist geworden, u. s. w. — Es ist unaus- sprechlich reizend, alles dieses vom Kinde zu wissen, und hernach den Juͤngling zu beobach- ten: wie es immer noch dieselbigen Karten sind; nur etwa ein Paar dazu oder davon, anders gemischt und anders gespielt. N. S. Mir faͤllt ein, Dir einen Brief bey- zulegen, den Eduard mir juͤngst aus Kambeck schrieb. Ich muß ihn aber un- fehlbar zuruͤck haben, um seine erste Haͤlfte dem Verfasser einmal wieder vorzulegen. Die Waldbegebenheit wird Dich freuen. C 2 VI. Beylage zu Clerdons Briefe. Eduard an Clerdon. E s war gar nichts von einem Schlagflusse, mein Bester, was Ihnen so fuͤrchterlich be- schrieben worden ist; nur ein heftiger Schwin- del, der seine guten Ursachen hatte. Es ist nun wieder besser, und mir nicht mehr bey Strafe — des ewigen Lebens, oder — des Tollhauses verboten, zu lesen, zu schreiben, oder sonst etwas menschliches zu beginnen. Auch scheint die Sonne wieder am heitern Himmel; die Luft ist still; ich und die ganze Natur, wir sind bey gutem Humor. In unserm C * * heißt es also, ich sey der Frau von Kambeck im Netze; oder noch bes- ser: ich liege ihr zu Fuͤssen, bete sie an? Mag es doch! Aber Sie, lieber Clerdon, sollen die Sache besser wissen. Hoͤren Sie mein ganzes Geheimniß. Der Umgang des andern Geschlechts reizt mich unendlich; die artigen Geschoͤpfe haben so etwas sanftes, an- schmiegendes, was mir behagt. Neben ihnen stimmt allmaͤhlich das allzuheftige in meiner Empfindungsart sich herab; sie stehlen mir Gleichmuͤthigkeit und Ruhe ins Herz. Kommt nun gar noch eine etwas naͤhere Beziehung hinzu, und ich fahre mit meiner Juno dro- ben auf den Wolken, und die Stutzerchen un- ten klettern die Berge hinan, und thuͤrmen ihre Felsen auf einander — o, Clerdon! das bringt immer richtig meinen Satan um sein Latein; es ist so gut, als ob er in einen Weih- kessel scheiterte, und ich — habe gewonnen Spiel. Aber bey allem dem, oder vielmehr eben deswegen, ist es mir ein unertraͤglicher Gedanke, von eben belobten Goͤttinnen irgend eine anzubeten; ihr in ganzem Ernste zu Fuͤs- sen zu liegen. Vor Jahren, ja; da waren Ro- lands Thaten auch meine Sache: allein ich wurde doch ziemlich bald inne, wie es im C 3 Grunde mit meinen Unsterblichen beschaf- fen war, und bemuͤhte mich gluͤcklich, den Willen des allgewaltigen Schicksals auch zu dem meinigen zu machen. Lieber, ich habe nichts dagegen, daß es Clarissen, Clementinen, Julien, und sogar heilige Jungfrauen von unbefleckter Empfaͤng- niß uͤberall gebe: aber, ich bitte, nur kei- nen zu großen Laͤrm davon! Denn seht, diese erhabenen Einbildungen sind Schuld, daß so viele Menschen veraͤchtlich von denen Weibern denken, die Gott gemacht hat; von Weibern fuͤr diese Erde; und nicht fuͤr den Mond, wohin diese Herren den Weg suchen. Sie schelten und klagen uͤber Grausamkeiten, Treu- losigkeiten, Abscheulichkeiten, Schandthaten, die sie von ihnen erfuhren; da doch die guten Geschoͤpfchen mehrentheils nicht einmal wissen, was das fuͤr Sachen sind. Toll, daß wir so hart gegen sie verfahren! Lassen wir sie, wie die Natur sie beliebt hat, ohne sie zu Engeln martern und versuchen zu wollen; alsdenn werden sie uns sehr gerne lieben, und mit so viel Innigkeit, Vestigkeit und Groß- muth, als ihre artigen lieben Seelchen nur vermoͤgen. Ich muß meiner spotten, und mich aͤr- gern, wenn ich zuruͤckdenke, wie ich sonst nie an einem Maͤdchen hangen konnte, ohne mich aus allen Kraͤften zu bemuͤhen, es nach ei- nem gewissen Muster, das ich im Kopfe hat- te, umzubilden. Sie erinnern sich doch jener Amerikanischen Wilden, die zwischen zwey Brettern ihren Kindern Kopf und Hirn quet- schen, und sie zu Ungeheuern verstellen; in der loͤblichen Absicht, sie der vergoͤtterten Sonne und dem vergoͤtterten Monde aͤhnlich zu machen. Gerade so war auch mein Thun; und waͤhrend ich mit dieser Narrheit mich schleppte, habe ich schreckliche Leiden erduldet. Alle Augenblicke waren meine Gestirne in Verfinsterung; und so arg ich auch laͤrmte, um den haͤßlichen Drachen, der sie zu er- haschen lauerte, fortzuscheuchen, mußte ich ihn C 4 zuletzt doch immer sie vor meinem Angesichte jaͤmmerlich verschlingen sehen. So vieler un- gluͤcklichen Erfahrungen muͤde, sprach ich einst an einem fruͤhen Morgen sehr weislich zu mir selbst: Es ist Ja wahr, daß weder Aspasia, noch Danae , noch Phyllis , noch Melinde , noch so viele andre Namen, die du wohl weißt, Namen von Sternen am Him- mel sind: aber sag' an! zecht man nicht oft beym Wachslichte froͤlicher, als man im hoͤch- sten Sonnenglanze tafelt? Nun, so genieße der kleinen Feste, und laß die wunderbaren, ungeheuren Herrlichkeiten, womit es, ohne den Zauberstab des großen Merlin, doch nie recht gelingen kann. — Seit dieser Zeit, was fuͤr Abentheuer mir auch im Gebiete der Liebe zugestoßen sind, habe ich nie wieder an mei- nen Schoͤnen, Hoͤrner, Fischschwaͤnze, oder Krallen wahrgenommen; sondern — es mir immer wohl seyn lassen. Von hier komme ich vor Anfang der kuͤnf- tigen Woche schwerlich weg. Ich ließe mich auch gern halten, wenn nur der junge Graf von Batuff nicht waͤre, den mein boͤser Geist hieher gebannt hat, und der mir alle Augen- blicke etwas unangenehmes mit sich zu schaffen macht. Er verstimmte mich gleich im ersten Augenblicke, da ich hier ins Schloß trat. Sie wissen, daß mein Praͤsident mir den Auf- trag gab, auf dem Wege hierhin ein Paar Stunden umzureiten, um die neue Wasserma- schine in dem Bergwerke zu D * * * in Augen- schein zu nehmen. Ich that das so kurz ab, als moͤglich; und ritt nun in gestrecktem Trabe durch den Wald auf Kambeck zu. Ungefaͤhr in der Mitte des Waldes sah ich zwey aus- gespannte Pferde, einen umgeworfenen Kar- ren, und den Fuͤhrer, an einen Baum ge- lehnt, daneben stehen. Der arme Kerl hatte alles sein Holz abgeladen; auch das eine Rad ausgenommen: war aber dennoch nicht im Stande gewesen, den eingesunkenen Karren in die Hoͤhe zu luͤfren. Der Vorfall — wie ichs nehmen mochte — kam mir ungelegen. Ich ritt vorbey; aber vermuthlich hatte mein C 5 rechter Arm sich mechanisch zuruͤckgezogen; denn mein Pferd kam aus dem Trabe. Den Augenblick wurde es mir auffallender, ich sey nicht auf der Flucht; und so wurde Meister, was recht war. Ich stieg ab, und bot dem armen Huͤlflosen meine Dienste an. Ein Blick auf meine goldene Einfassung, mit einem bittern Laͤcheln, erwiederte mir, daß seines Gleichen von Vornehmen keinen Beystand, wohl aber den grausamsten Spott zu erwar- ten habe. Dies war ein Blitz in meine Seele, Clerdon! Ich fuͤhlte alle Schimpfreden und Pruͤgel, die ich unfehlbar dem Menschen ge- geben haͤtte, wenn er in aͤhnlichen Umstaͤnden mich angetroffen, und seine Huͤlfe mir ver- sagt haͤtte. Ohne weiteres griff ich den Kar- ren mit solcher Kraft an, daß er in einem Rucke auf der entgegengesetzten Axe ruhte; dann flog ich auf das Rad zu, und rollte es herbey; der Karren wurde hervorgezogen und das Rad eingesetzt. Ich wollte dem Manne auch sein Holz wieder aufladen helfen; aber das litt er schlechterdings nicht, so herzlich auch mein Bitten war. Er fuͤhlte nicht, was fuͤr eine Wohlthat er mir erwiesen haͤtte. — Ach, wie zufrieden der Arme mit mir war; wie er mir dankte; mich bewunderte; es nimmer verges- sen; es seinen Kindern, dem ganzen Dorfe erzaͤhlen wollte! Großer Gott! ich meinte vor Schaam, Unwillen und Schwermuth zu versinken, und waͤre diesmal gewiß nicht nach Kambeck geritten, wenn ich nur sonst wohin gewußt haͤtte. Ich kam spaͤt an. Aus mei- nem uͤbelzugerichteten Anzuge ward geschlossen, ich sey mit dem Pferde gestuͤrzt. Ich erzaͤhlte meine Geschichte. Graf Batuff stand ausge- spreitzt mir dicht vor der Nase, und hoͤrte mit dem Ihnen an einigen der Gattung wohl be- kannten, Anmaßung und Leerheit auf den er- sten Blick verrathenden Laͤcheln zu, welchem diesmal des Grafen Bewußtseyn eigener Erhabenheit uͤber dergleichen Schwach- heiten , wie ich mir hier eine hatte zu Schuld kommen lassen, etwas mehr Ausdruck und Leben gab. Kaum war ich mit der Erzaͤhlung zu Ende, so brach er mit einem schon laͤngst dagegen im Hinterhalte lauschenden Einfall hervor. Es ist ein Gluͤck, sagte er, — zu der Frau von Kambeck sich wendend — daß dem Bauer die Pferde nicht durchgegangen waren, und er selbst nicht mit einer starken Blessur da lag; sonst haͤtte Allwill seinen Englaͤnder einspannen, und den lieben Naͤchsten heimkarrigen muͤssen. — Herr Graf, erwiederte ich, sie urtheilen vielleicht zu guͤnstig von mir; denn ich haͤtte ja so nahe meinen armen Bauer huͤlflos gelassen, und waͤre — ein hartherziger Schurke gewe- sen. So leise ich, aus guter Lebensart, das Wort Schurke aussprach, so war es doch, gebraͤuchlicher maßen, der Frau von Kambeck nicht entgangen. Sie veraͤnderte die Farbe, und in den Augen des Grafen sah man — daß es ihm seltsam wurde in seinem Einge- weide. Aber ich fuhr fort, und schwatzte mir das Herz ganz rein, und ruhte nicht, bis ich alle Schimpfworte und Pruͤgel, worunter ich mich den Morgen geaͤngstigt, auf den jungen Herrn, der das Wort Mensch in keiner andern, als in der veraͤchtlichsten Neben bedeutung kannte, vollzaͤhlig abgela- den hatte. Damit war es denn gut — fuͤr diesmahl. Wollen Sie es wohl, lieber Clerdon, bey meinem Praͤsidenten in das rechte Licht stellen, daß ich einige Tage laͤnger ausbleibe; und es auch meinem Vater zu wissen thun? VII. Amalia an Sylli. Sonnabend, den 11ten Maͤrz, Morgens um halb sieben. G estern Nachmittag kamen Eduard, der Herr von Kambeck und ein Offizier, den Du nicht kennst, und entfuͤhrten meinen Clerdon nach Born, wohin diesen Morgen eine Kuppel Englischer Pferde kommt. Dem guten Cler- don war es gar nicht darum zu thun; aber Du weißt, wie er sich beschwatzen laͤßt. — Also bin ich jetzt allein mit meinem Caffee, und in der betruͤbten Lage, alles Fette der Milch in meine eigene Tasse schoͤpfen zu muͤs- sen. Ich fieng an zu lesen; aber schon auf der zweyten Seite gieng mir dies und jenes durch den Kopf, das mit Dir zu schaffen hatte; ich konnte der Zerstreuung nicht wehren, und legte das Buch weg. Liebe Sylli! der Him- mel ist nicht heiter, und dies ist Schuld, daß mein Cabinet weniger schoͤn ist. Ich habe ein Fenster geoͤffnet, und bin ein Weilchen daran stehen geblieben, um meinen Freunden nachzu- sinnen; und jetzt, bis meine Knaben kommen, will ich ein wenig mit Dir plaudern. Zuerst von unserm Jammer, unserm Ver- druß, Aerger, Zorn (was hievon es eigentlich seyn muͤsse, wissen wir eben, leider! noch nicht) uͤber das ungewoͤhnlich lange Ausbleiben Deiner Briefe. Clerdon will alles sein baares Geld darauf verwetten, (wie viel meynst Du, daß wir ihm dagegen setzen?) daß wir mit dem ersten Postillon mehrere Briefe auf einmal von Dir erhalten werden. So viel ist gewiß, daß das U..r Paket schon zwey Posttage aus- geblieben ist. Eine Ueberschwemmung, die bey E * * die Bruͤcke weggerissen und gewaltigen Schaden angerichtet hat, soll Schuld daran seyn. Schon am Montage glaubten wir, es koͤnne nicht mehr fehlen, ein Brief von Dir muͤsse kommen; und doch wars gefehlt: und so gings alle folgende Tage; nur daß an jedem, mit unserer Hoffnung, auch unsere Zweifel stiegen, und wir von einer Unruhe ergriffen wurden, mit welcher schlechterdings kein Ver- trag noch Auskommen war. Die Nachricht von der großen Ueberschwemmung, und den ausgebliebenen U..r Paketen, begleitet von Clerdons Zureden und kuͤhner Wette, hat uns von neuem ein wenig eingewiegt. Jene Sorge abgerechnet, liebste Sylli, bin ich jetzt so ganz gluͤcklich, so ganz zufrieden, so ruhig froh des Lebens! — O, laß Dirs wohl gehen, Sylli; laß Dirs ja wohl gehen, und mache mir die schoͤnen Tage nicht zu Schanden! Abends, halb fuͤnfe. Da kommen meine drey aͤltesten mit großem Jubel von einer Spatzierreise uͤber die Donau nach Hause, und sind gar herrlich und guter Dinge. Wie viel Freude mir die Knaben ma- chen! Alle drey fuͤhren sich ungemein gut — und Heinrich musterhaft gut auf. Dieser wird allgemach ein so lieber Junge, daß auch sein Vater anfaͤngt, weniger Arges von ihm zu zu denken, und Carl , den Topinambu, nicht mehr so grausam vorzieht. Sein Virtuoso ist ordentlich verliebt in ihn. In etlichen Wochen soll er schon die Ouvertuͤre vom Deserteur spie- len; und aus Luͤcile und andern Operetten, die er auffuͤhren sah, geigt er eine Menge Sachen mit einer solchen Herzenslust, daß man sich gern duͤnken laͤßt, er mache es so schoͤn wie moͤglich. Gewiß der Junge wird ganz musika- lisch, und verdient den ersten Platz in meiner Capelle; und ich habe es geschworen, kein an- derer soll ihn darum bringen. — Auch Herr Bering und Herr Kamp ruͤhmen ihn sehr; und da Georg ihn nun alle Tage fein ordentlich frisiret, so wuͤrdest Du viel Freude an ihm er- leben. Von diesem kleinen Heinrich verkuͤn- digt Heinrich der Große , daß er bey un- serm Geschlechte dereinst in hohem Ansehen stehen, und zu großen Ehren gelangen werde. In der That wird seine Bildung taͤglich einneh- mender. Aber, ach, der Knoten, der Knoten unter dem Kinn! Beym Ansehen nimmt man ihn nicht wahr; aber ich habe ihn in allen Fin- D gerspitzen, und kann mir ihn unmoͤglich aus dem Sinne schlagen. — Nun, das heißt von Buben geschwatzt! Wenn es Dir diesmal lan- ge Weile macht, so bedenke, liebe Sylli, daß Du mich durch Deine herzwillige Theilnehmung an allem dergleichen verwoͤhnt und verstockt hast. Gegen andere Leute rede ich … Ich hoͤre Clerdon ! Sonntag Morgen. Es ist schon neun Uhr. Ich schlief bis halb sieben, und erschrack fast so sehr, als ob ich — mich todt faͤnde. Laß mir das Gleich- niß, und hoͤre weiter. Ich bin im Neglige; oͤffne die Thuͤre: — Was um des Himmels willen? — Ja gewiß! Denke, Sylli; da sitzt meinem Clerdon gegen uͤber ganz unver- schaͤmt in meinem Sessel Eduard, und laͤßt es sich wohl schmecken aus meiner Schale. Ich wollte, Clerdon sollte ihn bey den Haaren aus dem Sessel nehmen; aber er rief aus allen Kraͤften: Ausstand! „Sehn Sie doch, meine „Gnaͤdige, ich bin noch nicht frisirt!” — Also beschied ich ihn auf den Mittag. Nun ward mir bedeutet, er habe meinen Caffee bloß deswegen zu sich genommen, weil er kalt gewesen waͤre, und mir ein beßeres Fruͤh- stuͤck gebuͤhrte. Es war auch schon dafuͤr ge- sorgt. Im Camin stand ein Schokolaten- Topf, welchen, mit allem Zubehoͤr, der wackere Ritter im Huy auf der Serviette hatte, und mit dem besten Anstande mich da- mit bediente. War das nicht sehr artig, Sylli? Aber Du magst es glauben, oder nicht; unser Beysammensitzen und Geschwaͤtz war doch wohl eben so viel werth. Allwill ist ein recht wackerer Junge, und ich traue ihm vor manchen Seiten sehr; von andern Seiten aber traue ich ihm nicht: es ist etwas von Ruchlo- sigkeit in ihm. Clerdon will das immer be- schoͤnigen. Nun ist in meinem Hauswesen alles bestellt, mein Kopf zurecht gemacht, und fuͤr Dich noch eine Stunde aufgehoben. Heinrich, Carl D 2 und Ludwig wurden gestern Abend nach Heimfeld Ein Landgut der Frau von Reinach, bey welcher Lenore und Claͤre von Wallberg sich aufhielten. Sie war ihre Tante, und folg- lich auch Clerdon anverwandt. abgeholt, wo sie bis morgen bleiben; und so kam heute Ferdinand ganz allein Morgen sagen, und hatte Sophiechen an der Hand. Der arme Edmund , wie Du weißt, sagt noch nichts. Von Sophiechen moͤchte ich Dir gern viel erzaͤhlen, wie es so hold, so fromm, so gehorsam, so schmeichelnd ist. Der Papa ist platt verliebt in das kleine Ding. Eben war es an der Thuͤre, und fragte: ob es kommen duͤrfte? Ich antwortete: Nein, weil ich noch zu schreiben haͤtte; darauf schlich es ganz sachte herbey, kuͤßte mir die Hand, und gieng ohne weiter ein Wort zu sagen wieder fort. Dergleichen Zuͤge haͤtte ich Dir eine Menge zu erzaͤhlen. Und denke! das Maͤdchen wird im May erst zwey Jahre alt. Liebe Sylli, ja, genau so wie Du neulich schriebst, soll alles werden, und seyn, und bald kommen. Der kleine Edmund , den Du bisher nur aus den Portraits kennst, die Albano von ihm gemacht hat, mit seinen großen hellbraunen Augen, deren Augaͤpfel man so klar da sieht, wo lau- ter Herzens-Froͤhlichkeit und Guͤte heraus kommt; der soll Dich gleich anlachen und an- jauchzen, wie er lacht und jauchzt, wenn er recht ausgeschlafen hat. Ohne Gutsel soll der Knabe Dich lieb haben; oder er waͤre nicht unser Fleisch und Blut, haͤtte nichts von mei- nem, nichts von Clerdons Herzen mitbekom- men — Siehe, ich kann diese Saite nicht be- ruͤhren, ohne daß es mir inwendig zittert, und mir Thraͤnen in die Augen kommen; aber diese Thraͤnen, o wie suͤß! Engel Sylli, Du mußt kommen und sehen, wie unser Clerdon mit jedem Tage mehr Vater und Hausvater, uͤberhaupt umgaͤnglicher wird; wie er sich mit seinen Kin- dern herumtreibt, sich immer freut, wenn ihm eins in den Weg kommt, und wie er diese Freude dem Unschuldigen immer lohnet. Mit Ferdinand ist des Singens und Springens oft kein Ende; und da laͤßt er alles mit sich an- D 3 fangen, sich zausen und hudeln, daß wir alle herum stehen und lachen und bange werden. Gewiß, Sylli; er wird ordentlich mit zum Bu- ben; hilft ihnen allerhand Streiche ausfuͤhren und erdenken; und wenn sie denn wohl ein- mahl das Ding besser verstehen und ihn aus- lachen; und er da steht, der Liebe, als der Kinder Spott, und die ausgelassenen Knaben herumtaumeln um den Cameraden , und jauchzen und lachen; und nur ich aus mei- ner Ecke in seinem Auge den Vater sehe und den Mann, den Meinen ! — Ach, Sylli! dann beben dem schwachen wonnevollen Weibe die Glieder; es sinkt in die Arme des Liebens- wuͤrdigen, haͤngt an seinem Halse — und Erd und Himmel moͤchten nur vergehen! Bin ich nicht allzugluͤcklich, Sylli? So einen Gatten; so wohlanlassende Kinder; so liebe treue Gefaͤhrtinnen, wie Lenore und Claͤr- chen, die Engel, meine Schwestern und Toͤch- ter; ein schickliches Auskommen; Stand, An- sehen, und Hoffnung; und um das alles her einen so schoͤnen, lieben Kranz von Freunden! Aber, sage mir, Sylli, ob die Leute meinen, man koͤnne das alles haben, ohne daruͤber froͤhlich, ohne herrlich zu seyn? Es muß wohl; denn wie wuͤrde ich sonst so oft gefragt, was ich doch habe, daß ich so heiter und vergnuͤgt aussehe? Gerade als ob das ein Wunder waͤre, was doch gar nicht anders seyn kann. Dir, beste Sylli, sollte ich vielleicht das Bild meiner Gluͤckseligkeit nicht so lebhaft vor Au- gen stellen; aber eben weil Du es bist, darf ichs. Du weißt, wie mich der Gedanke anzieht, dies alles mit Dir zu theilen; wie mein Herz so laut schlaͤgt vor Verlangen Dich zu haben und — mit gluͤcklich zu machen: und wie ich dann auf einmal wieder nicht gluͤcklich bin; manche Thraͤne um meine Sylli fallen laße — O, das weißt Du alles, meine Gute, meine Beste; denn Du kennst Deine Meli durch und durch. War Dirs nicht, als wenn Dein ganzes Inneres sich bestaͤndig von einer Seite zur andern hinbewegte, wenn Du etwas Widriges von uns vernahmst? So D 4 ist mir; und eine stachelnde Unruhe laͤßt mich keinen Augenblick zufrieden, wenn ich weiß, daß Du unpaͤßlich, mißvergnuͤgt oder schwer- muͤthig bist. Nach Deinem juͤngsten Briefe scheinst Du jetzt ziemlich gesund; auch machen Dir die ** und die *** noch manche Stun- de angenehm, wofuͤr ich ihnen so herzlich gern dankte, wenn Dank hier Platz faͤnde. Du wirfst mir vor, daß ich Dir nicht mehr von Ferdinand erzaͤhle. Der Junge ist eben kaum drey Jahre alt; daher sich nicht viel anderes von ihm erzaͤhlen laͤßt, als wie er aussieht; und dies — wie erzaͤhlt man dies? Er ist klein und rund, hat ein etwas finster liegendes Auge; doch kann er sehr freundlich daraus kucken, und Feuer ist die Menge darin. Du weißt, daß Clerdon sich schon laͤngst verbuͤrgt hat, wir wuͤrden an diesem Ferdinand den besten, freymuͤthigsten Jungen von der Welt bekommen. An mir haͤngt er wie ein Klette, und Bruder Heinrich holt ihn alle Morgen, ohne Fehl, aus seinem Bett- chen, zieht ihm Schuh und Struͤmpfe an; und dann gehen wir zusammen fruͤhstuͤcken. Nach dem Fruͤhstuͤcke muß Bruder Heinrich mit ihm fort auf den Hof, und ihm sein Spiel in Gang bringen; und das thut Bru- der Heinrich mit immer gleicher Geduld und Freundlichkeit. — Waͤhrend ich dies schrieb, ist Ferdinand mit einem Freudengeschrey ge- kommen, daß er mich funden hat, und laͤuft, spielt und schwatzt um mich herum. Fuͤr deinen Bombacino ließ ich auch gern hier ein Woͤrtchen einfließen, weil es mir vorkommt, als gehoͤrte er mit zur Kinder- Familie; allein die Kirche ist aus, meine gute Maͤdchen sind lange da, und ich habe heute noch gar nichts mit ihnen geschwatzt. — Wie das lacht und plaudert hierneben um Clerdons Camin! Ich will einen Augenblick hin, liebe Sylli, und mich dann anziehen, und dann essen, und dann in die Kirche, und dann — Ach, Himmel! zur Frau Directorinn an den Spieltisch. Ade, Du Beste, Du Liebe! — D 5 VIII. Claͤrchen an Sylli. Heimfeld , den 14ten Maͤrz. C lerdon und Amalia sind seit gestern hier. Als wir ihnen entgegen flogen, und ich mich an Clerdons linken Arm hieng, faßte er meine Hand und druͤckte sie leise an die Rocktasche. Leise rief ich: Briefe von Sylli! — Gute ? — „Geduld,” sagte Clerdon, „ich bringe drey Briefe, und Einer ist nicht wie der andre.” — Das sagte er mit einem Laͤ- cheln, wovon meine Ungeduld nur noch groͤßer wurde. Tante war noch nicht angezogen. Sie sollte alle Zeit haben. Wir liefen in das hin- terste Bosket. — „Nun, Clerdon, nun!” jauchzten und huͤpften wir. — Ein stillender Blick von Clerdon nahm uns die Hast. Wir schluͤpften an einander her und lagerten uns auf die Rasenbank. Clerdon stand noch einen Augenblick; da nahm auch er seinen Platz. Nun kam die Brieftasche hervor. Wir hien- gen an seinem Auge. Eine eigene — schauer- liche Freundlichkeit wandelte durch die Stille. Clerdon oͤffnete die Brieftasche: — „Ein herr- liches, liebes Weib!” sagte er: — „wenn sie sich erblickte, wie sie vor meiner Seele steht!” — und gleich darauf: „Gott, wem du ein tief fuͤhlendes Herz schenkst, dem schenkst du doch alles damit, alle deine Gaben, und dich selbst!” Die Briefe wurden gelesen. Zwey Stun- den verstrichen daruͤber. Wie sie zugebracht wurden diese zwey Stunden — dies, liebste Sylli, erzaͤhle Dir, wer es weiß, kann und mag. Meine … Clerdon. Keiner von uns wird es Dir erzaͤhlen. Das Anschauen, die Umarmung einer ganz enthuͤll- ten, schoͤnen, tiefempfindenden Seele ist zu heilig, um in Bildern und Worten nachgespie- gelt zu werden. Und wer vermoͤchte jenen Blitzstrahl dahin abzulenken; Leblosem den le- bendigen Kuß der Liebe zu verleihen? Nein, schaue selbst — den verklaͤrten Blick — Won- negefuͤhl uͤber ihn, die Augenlieder decken — und ein Unermeßliches dem Geiste aufgethan! Wohl glaube ich Dir, daß Du es im Grun- de in der Welt so schlimm nicht hast, wie arg es Dir auch ergangen ist, und so viel auch jetzt noch Deiner Leiden sind. Eine immer reiner und voller klingende Saite auf der Laute der Natur; ein immer maͤchtigeres Organ in dem Ganzen des Allliebenden zu werden: o, das lohnt Dir jeden Schmerz! Dornen malmen, sie zu Pflaumfedern wuͤhlen, lernte ich lange; und nun weiß ich, daß es fuͤr den Menschen eine Lauterkeit des Sinnes — mit ihr eine Kraft und Staͤtigkeit des Willens giebt — eine Erleuchtung, Wahr- heit, Eigenheit und Consistenz des Herzens und Geistes, wodurch ihm der eigentliche Ge- nuß seiner goͤttlicheren Natur, Ruͤck- und Aus- sicht wird, und wozu niemand gelangt, der nicht mehrmals im aͤussersten Gedraͤnge, von allem ausser sich verlassen war. Da hat die ganz auf sich selbst gestaͤmmte Seele sich in allen ihren Theilen gefuͤhlt; hat, wie Jacob , mit dem Herrn gerungen und seinen Segen davon getragen. Wer, liebste Sylli, wollte nicht gern fuͤr diesen Preis sich eine Zeitlang mit ei- ner verrenkten Huͤfte schleppen? Claͤrchen. Schoͤn, was Clerdon sagte; auch gut und wahr: aber wenn es am Ende doch — nur Trost waͤre; ein koͤstlicher Balsam, aber nur lindernd , und die Wunde — toͤdtlich ? Arme Sylli, wohl bist Du uͤbel daran; wohl hast Du es schlimm in der Welt! Ich hoͤre ihn ja so hell aus Deiner Brust hervorgehn den Schrey des tiefsten Schmerzes. Was hilft es mir, daß Du hintennach laͤchelst? Damit machst Du mich nur bitterlicher weinen. Du weißt: Arria laͤchelte auch. — Ach, Sylli, Du kannst nicht leben ohne Liebe; und was ist Liebe ohne Zuversicht? Sage was Du willst; Liebe, die sich nicht ewig weiß und ewig erwiedert, das ist keine Liebe; das ist bloßes Ergoͤtzen, dem Du nur, in der Angst, jenen Namen liehest — Blumenfreude, Schmuck, Tanz und Spiel. Und hieran sollte Dir genuͤgen — Dir Sylli? — Seifenblasen zu werfen — und alles, alles Seifenblase? — Je mehr ich nachgruͤbele …! O, ich fuͤhle, daß es Dir das Herz zersprengen muß. Lenore. Auf der Zunge: „Bist Du bald fertig, Claͤrchen?” trat ich ins Zimmer. Claͤrchens Anblick hemmte mir Sprache und Gang, und mein Herz hob sich zu dem Schlage, bey dem es einem auf einmal so ganz anders wird. Sie schob, ohne ihre Stellung zu veraͤndern, das Geschriebene mir zu. Nachdem ich es gelesen, hierauf einen Augenblick gesessen hatte, gieng ich an ihren Stuhl knieen, um sie zu kuͤssen. Wir kamen allmaͤhlich einander in die Arme, weinten — und fanden Worte. Deine Briefe wurden Stuͤckweise wieder- holt, und so nach und nach zu einem uns eigenen Ganzen umgebildet, das wir besser fassen konnten. Alles drang jetzt weit tiefer ein, und dennoch wurden wir heiterer. Wir ahndeten Deinen Zustand; gewannen Theil an Deinem himmlischen Wesen: Wer wollte nicht Sylli seyn ? sagten wir. Der bloße Abglanz — nur eines Theils ihrer Seele, und den wir — ach! nur so schwach aufzu- nehmen vermoͤgen; wie giebt er uns nicht Muth und Wonne! Und sie — besitzt — sie ist diese Seele selbst ; hat in ihrem eigenen Wesen, was so unbegreiflich entzuͤckt: den Quell und die Fuͤlle aller dieser Schoͤn- heit und Groͤße! — Wer wollte nicht Sylli seyn; gaͤbe nicht alles hin fuͤr die Unabhaͤn- gigkeit dieses hohen Selbstgenusses, fuͤr die helle Wonne , Goͤttlich zu lieben, die allein aus solchem Reichthum uͤberfließen kann! Gluͤckliche, gluͤckliche Sylli! … Claͤrchen. Meine Schwester ist abgerufen worden, und ich, liebste Sylli, bin nicht im Stande fortzufahren. Mein Blick ist schon wieder ge- truͤbt. Jenes Wehklagen, wovon ich erst sagte, daß ich es so hell aus Deiner Brust hervorgehen hoͤrte, dringt von neuem in mein Ohr; und kein Jubel wird es uͤbertaͤuben. Du kennst das an mir, daß ich nicht leicht in einem Gefuͤhle mich so ganz verliere, von einer Vorstellung so ganz befangen werde, daß ich nun weiter nichts saͤhe, noch wuͤßte. Wahr — Du hast den Him- mel in Dir selbst; und wer wird Dich nicht des- wegen selig preisen? Aber auch nicht minder wahr ist alles, was ich vorhin bemerkte: und so saͤßest Du mit Deinem Himmel denn doch in ei- ner Art von Hoͤlle. Deine Briefe sind ein Wechselgesang aus beyden, voll Verzweiflung und Wonne. Was muß ein Herz nicht aus- stehen, stehen, in welchem so feindliche Toͤne zusam- menkommen, das sie in einander schmelzen, zu einer Melodie vereinigen soll? Alle Saiten des Instruments muͤssen nach einander springen, und der Sangboden selbst. Liebste Sylli, ich ertrags nicht. O, daß ich bey Dir waͤre, oder ich duͤrfte meine Lenore fuͤr Dich missen! Wir entbehrten gern einander; opferten noch viel mehr auf, wenn Dir damit geholfen waͤre. Sage: ob Du eine von uns willst, und welche? So unvollkommen auch die Theilnehmung waͤ- re, die Du bey uns guten Kindern faͤndest; so waͤre sie doch rein, voll in ihrem Maaße und innig. Unsere Augen, Sylli, ließen gewiß die meisten Deiner Blicke ein. So gewoͤnne Deine Seele Raum; erhielte eine Staͤtte, wo sie einen Theil ihres Lebens hinfluͤchten und aufbewahren koͤnnte. — Sage, Liebe; soll ich kommen? Ich fuͤhle seit einiger Zeit einen aus- serordentlichen Trieb wieder einmal um Dich zu seyn, und wollte Dich schon juͤngst mit An- schlaͤgen dazu unterhalten. Damals war es mir fast allein um mich zu thun. Ich haͤtte E gern mehr Freude an mir selbst, und die er- hielte ich zuverlaͤßig, wenn ich Dir aͤhnlicher wuͤrde. Mich duͤnkt — was Amalia juͤngst vom kleinen Heinrich sagte — jeder Dei- ner Kuͤsse muͤßte mir etwas von Deinem holden Wesen einhauchen. Clerdon schickt: ich soll zusiegeln. Also bekommst Du nichts von Amalia . Die Gme hat sich wohl nicht uͤberwinden koͤnnen, unsere Frau von Reinach allein zu lassen. Ein wun- derbares Weib! So jung, so sprudelnd von Leben, und doch von allem was nur einer Schuldigkeit aͤhnlich sieht, so voͤllig hingerissen, als andre von ihren Leidenschaften. Wir fah- ren fort uns oft Vorwuͤrfe daruͤber zu machen, daß wir ihre immerwaͤhrenden Aufopferungen zulassen; aber es ist als wenn die Gottlose mit Fleiß einen gleich wieder verstockte. Ich sage tausendmal: boͤte sie einem Maͤgdedienste an, man daͤchte kaum daran sich zu wider- setzen; so lieb und schicklich geht ihr alles ab. Und huͤten kann sich einer nie genug vor ihr; im Huy hat er die Gefaͤlligkeit, das Gute weg, und weiß von keinem Dank. — Ade, Sylli! So laufe ich hin, und falle ihr um den Hals. E 2 IX. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg. A llerdings haͤtte ich Dein Verlangen eher er- fuͤllen sollen. Wo eigentliche Freundschaft ist, da sind auch Anspruͤche; und diese muͤssen von beyden Seiten laut anerkannt werden und uͤberall gelten, oder der Henker soll den losen nichtswuͤrdigen Bettel — an den Galgen han- gen. Also verzeih, Lieber, und laß mich Dei- ne weiteren Vorstellungen uͤbergehen. Du weißt ja, wie sehr ich Deiner Meynung bin; weißt, was ich fuͤr ein Gesicht machte, wann ich von Leuten hoͤrte, die sich einander so lieb haͤtten, daß sie sich gar nicht um einander be- kuͤmmerten: denn im Grunde ist es das, wenn man sich einander alles nachsehen kann. Fratzen! Mein Eckel daran nimmt von Tage zu Tage zu: aber mich daruͤber zu erboßen, wie ehedem, so kein Thor bin ich laͤnger; ich will mich nicht einmal daruͤber mehr aͤrgern. Es behagt nun einmal den Menschen, sie sind daruͤber einig, sich einander etwas weiß zu machen, und es kommt auch selten jemand dabey zu kurz. Was brauchen die Leute sich weiter lieb zu haben? woher und wozu? Sie haben ganz andre Dinge an einander zu be- stellen; geht es damit voran, so bleibt das gute Vernehmen, ohne daß sich der eine um den andern viel zu bekuͤmmern hat. Indessen, Lieber, wollen wir uns doch nicht verhehlen, was der eigentliche Geist jener freundlichen Toleranz und edlen Unbefangenheit ist: Gleichguͤltigkeit und Betteley ! — Also noch einmal, Bruder, verzeih mein Un- recht; aber daß ich mich bessern werde, dar- auf mußt Du nicht zu sicher rechnen. Bisher habe ich es mit allem zu ernstlich gemeynt; ich spuͤre, daß man dabey zu Grun- de geht, und fuͤr nichts. Wie ichs hinfuͤhro anders machen werde, weiß der Himmel. Ich bin, von innen und von aussen, in einem wun- derbaren Gedraͤnge. Etwas Ruhe habe ich E 3 wieder genossen, weil ich einige Tage her un- paͤßlich war. Bliebe mein Kopf so dumpf, so nebelicht, wie diese Zeit uͤber; dann saͤh' ich der Verwirrung ein Ende: alles sollte bald gerichtet und geschlichtet seyn; und was ein- mal ausgemacht waͤre, dabey blieb es. Du weißt, beym Nebel fließen die Dinge so huͤbsch in einander; es erscheinen einem nie mehrere, als neben einander in Ei- nem Gliede Platz haben ; keine Farben- verwirrung, alles grau, alles flach: und sieh, Bruder, so ist wahrhaftig der Nebel das tref- fendste Bild weiser Gemuͤthsfassung. Wenn mein Geist umnebelt ist, dann bin ich so altklug, so verstaͤndig, wie ein Schul- meister; dann weiß ich mich uͤber alles zu bescheiden, und was ich mir heiße, das thue ich; dann raͤume ich mein Zimmer auf, bringe meine Papiere in Ordnung, beantworte alle Briefe nach dem Datum ihrer Ankunft, und wuͤrde auch mein Testament machen, wenn ich nur Erben wuͤßte, die es sich gefallen las- sen koͤnnten. Clerdon , der mich gestern be- suchte, glaubte in der Thuͤre geirrt zu haben, so fremd sah ihm mein Zimmer aus: was zu stehen gehoͤrt, stand; was zu liegen gehoͤrt, lag. In dergleichen Ruͤcksichten ist mir eine solche neblichte Disposition zuweilen eine wahre Wohlthat: und je mehr ich der Sache nach- denke, desto heller leuchtet es mir ein, daß die Tugend der aͤchten Schul-Stadt- und Heer-Moral, welche die beliebte durchgaͤn- gig gute Auffuͤhrung , das exempla- rische Leben hervorbringt, nichts anders als eine Art von Nebel ist, der alles leichtfertige Aussenwesen, als da sind Glanz, Farbe, Licht und Schatten, an den Gegenstaͤnden verhuͤllt, und nur das solide Unveraͤnderliche an ihnen beaͤugen laͤßt. Die merkwuͤrdige Entwickelung meines Ro- mans mit Nannchen , woruͤber ich Dir eine eigene lange Epistel schreiben wollte? — Hoͤre, erst vor einer halben Stunde noch dachte ich Wunder, was ich Dir zu erzaͤhlen E 4 haͤtte: ich schnitt eine frische Feder, tunkte sie ein, wußte nicht anders, als daß es recht vom Fleck gehen sollte: als ich zu meinem nicht geringen Befremden inne wurde, es sey noͤthig, mich vorher ein wenig zu besinnen. Ich sann eine große halbe Stunde lang; da war ich fertig, habe es nun auf einmal — daß ich selbst nicht mehr weiß, was ich mich so eifrig angeschickt hatte, Dir zu wissen zu thun. Der Sachen erinnerte ich mich genug, nur konnte ich mich ihrer nicht auf die Weise erinnern, wie sie Dich so maͤchtig intereßieren sollten. Wer weiß, vielleicht haͤtte meine Materie mir weniger duͤrftig geschienen, waͤre zu ihrer Abhandlung die Feder nicht so schoͤn geschnitten, und gleich Anfangs so tief einge- tunkt gewesen. Nun ists darum geschehen; das ganze Abentheuer mit allen seinen Zufaͤl- len und Zubehoͤren, Schelmereyen, Zaube- reyen, Heldenthaten und Wundern, kommt mir, in diesem Augenblicke, nicht viel interessan- ter als ein Ammenmaͤhrchen vor — zum Er- zaͤhlen wenigstens. Versteh! Du Clemens von Wallberg warst es nicht, welcher bey der- maliger Katastrophe in dem Falle war — etwa vergiftet, erstochen, aus einer Canone ge- schossen, oder in einen Papagey, Drachen, Teufel, oder Gott verwandelt zu werden. Ich war es; und glaube mir, so etwas will in ei- gener Haut erfahren seyn. Demnach sollst Du mir erlauben, und zwar recht gern, daß ich Dich heute von ganz andern Dingen, als von meinen Begebenheiten im Feenlande unterhalte. Muß ich doch Luzien noch davon der Laͤnge nach Bericht erstatten, da sie mein heiliges Geluͤbde hat, ihr nichts von allem, was mir aͤusserlich und innerlich begegnet, zu verhehlen. Wahr- scheinlich wird sie den Brief Dir zu lesen geben; und ich schreibe ihr gewiß noch diese Woche. Also, wie gesagt, von andern Dingen! Wo fange ich an? Ich habe Dir eine Menge Neues von mir und meiner hiesigen Lage zu erzaͤhlen. Meine besten Stunden bringe ich in Clerdons Hause zu. Es kostet Muͤhe, auf einen etwas vertraulichen Fuß darin ge- E 5 litten zu seyn; aber mir wird es gluͤcken. Clerdon fuͤhlt und versteht mich ganz, und durchgaͤngig stehe ich in sehr gutem Rufe. Daß ich immer eine oder die andre Prinzeßinn, welche mich ihrer vollkommensten Hochachtung wuͤrdigt, ausnehmend verehre — ist natuͤrlich und macht wenig Laͤrm … Und gewiß, bester Wallberg, ich komme fast immer ganz unschuldig dazu; stifte auch uͤberall viel mehr Gutes als Boͤses. Einen Anschlag auf irgend ein weibliches Geschoͤpf zu machen, um es zu verfuͤhren, ist von jeher so fern von mir gewe- sen, daß ich einen Menschen, der dazu faͤhig ist, nicht ohne Haß und Eckel ansehen kann. Daß aber eine freundschaftliche Verbindung so warm und innig werde, daß sie ferner kein Maaß noch Ziel mehr wisse — wer koͤnnte das Herz haben, sich davor zu huͤten? — — — Mit Deinen Cousinen hat es keine Noth; die wandeln in einem Lichte, welches sie meiner Leuchte entuͤbrigt. Und Amalia — den moͤcht ich sehen, dem es nur von fern einfallen koͤnnte, ihr etwas anders seyn zu wollen, als Gast an Clerdons Heerde . Mir ist sie gut, weil ich ihrem Clerdon anstehe, und weil mir der treuherzige Junge aus den Augen sieht. Ihre Jugend, ihre Schoͤnheit hindern mich nicht, daß ich sie im vertraulicheren Umgange Mama heisse; ich wuͤßte mir auch keinen lieberen Namen fuͤr sie. Liebe Mama, Mama Meli , — wenn ich Dir sagen koͤnn- te, wie mir ist, wenn ich sie so heisse, und ich ihr dabey in das himmelhelle Angesicht schaue, das nur gut ist, und mich nur anlacht ! — Ich fuͤhle mich wie untergetaucht in Unschuld und Reinheit, und ich wuͤßte nichts so saures in der Welt, das ich alsdenn nicht unentgeldlich und mit Freuden thun koͤnnte. Die Lauterkeit ihres Herzens uͤbersteigt allen Glauben. Jedes Gute, jedes Schoͤne darin ist so ganz fuͤr sich selbst da, so ganz was es ist und scheint, un- versetzt und unaufloͤsbar; und kein Gefuͤhl, kein Hang, kein Wunsch, nichts, das sich zu verhehlen, nichts, das sich zu verstellen haͤtte! Aber hiemlt ist Dir so viel als nichts gesagt: denn, wie ich mich eben besinne, bin ich selbst, der ich doch Amalien persoͤnlich kenne, nicht einmal im Stande mir das Eigentliche dabey vorzustellen, wenn ich sie mir nicht in den be- stimmtesten Verhaͤltnissen, als die Gattinn ihres Clerdon , als die Mutter ihrer Kinder , als die Frau ihres Hauses denke. Sage, ob Du etwas davon weißt, daß es einen besonderen Affect giebt, der sich Eheliche Liebe nennt; ganz verschieden von jener Leidenschaft , welche allgemein den Namen der Liebe traͤgt, und die … Sa- ge, ist Dir das schon vorgekommen? Denn was rede ich sonst! Ich wußte nichts davon; und diese neue Entdeckung in Clerdons Hause ist das interes- santeste, was sich jemals meiner Betrachtung dargeboten hat. Der eigentlichen Liebe scheint das schoͤnere Geschlecht nicht faͤhig zu seyn; mir wenigstens ist noch kein Weib erschienen, das den Stoff dazu gehabt haͤtte. Amalien traue ich uͤber diesen Punkt fast weniger als andern zu, und Clerdon und sie selbst sind hieruͤber mit mir einig. Anfangs — sie wur- de Braut mit siebenzehn Jahren — hat ihr Mann weiter nichts als einen vorzuͤglichen Grad der Hochachtung ihr abzugewinnen ver- mocht; und bis auf diese Stunde weiß sie keine eigentliche Rechenschaft zu geben, wie sie her- nach allmaͤhlich sich so ganz an ihn verlohren hat, daß ihr Herz nun alle seine Rege allein von dem seinigen empfaͤngt, ihre gesammten Kraͤfte sich unverruͤckt in seinem Willen fuͤhlen; Freyheit, Leben, Gluͤck, Thun und Seyn — ihre ganze Seele hingewagt auf ihn. Ich weiß nicht, ob es eine herrlichere Liebe geben kann, als diese; wenn auch jene hoͤhere , wovon ich ehmals so wunderbare Ahndungen hatte, kein leeres Hirngespinnst waͤre; alle andere Liebe ist doch gewiß nur Schaum dagegen. Wo fin- dest du, bey den entgegengesetzten Eigenschaften und Beduͤrfnissen der Menschen, diese innige Theilnehmung, welche alle Kraͤfte in einen Willen zusammenschmilzt, und den Menschen wirklich verdoppelt? — Hier ist sie! Die klei- ne Welt, zu deren Schoͤpfung und Regierung beyde vereinigt sind, wird ihnen tausendfaches Organ, sich einander zu fuͤhlen, zu fassen. Das gemeinschaftliche Interesse giebt jedem da- zu beytragenden Vermoͤgen einen gefuͤhlten Werth; und so regen sich in dem Wesen des einen alle Kraͤfte des andern: und je vielfacher, je verschiedener nun diese Kraͤfte; desto merkba- rer der Gewinn, desto entzuͤckender das Buͤnd- niß. Bedenke, wie unterschiedene — auch ein- ander entgegengesetzte Interessen jeden einzel- nen Menschen in ihm selbst theilen, und was fuͤr eine Wonne ihn erquickt, so oft er ein wahrhaftes Einverstaͤndniß nur zwischen etlichen davon bewirkt hat; wie wir einstimmig denje- nigen fuͤr den Groͤßten und Gluͤcklichsten hal- ten, welcher, ohne Eine seiner Faͤhigkeiten, seiner Kraͤfte daran zu geben oder zu schwaͤ- chen, alle seine Triebe unter Einen Willen gemeindet — maͤchtig zu einem Heere sie geordnet hat. — Und nun Zwey , die so Eins werden! Es muß eine Fuͤlle seyn, eine Seligkeit, die .... O, daß ich dies alles so fuͤhlen muß; daß ich zu dem gluͤhenden Sinne, zu dem tobenden Herzen, diesen hellen unbestechlichen Geist, diese stille himmelanschwebende Seele erhalten mußte! — Thraͤnen, guter Wallberg, Thraͤ- nen uͤber Deinen armen Eduard, den die Liebe zum Schoͤnen verzehrt, und der in ewiger Zer- ruͤttung mit den Zaͤhnen knirschen muß; — der den Frieden Gottes ahndet, und verdammt ist zu taͤglicher Suͤnde! — — Nie, nie wird er eine Staͤtte finden, wo sein Haupt ruhe! Nie? — Doch, doch! es wird ja einst brechen — ja brechen in Wonne wirst du einst, gutes quaalvolles Herz! .... Aber es war ja von Gluͤcklichen die Rede! Liebe Mutter Amalia — dein Antlitz, dein Laͤcheln! Sie ist allen Menschen so gut, Mutter Amalia , und koͤnnte doch, gewiß, im Falle der Noth sie alle missen, wenn ihr nur der Mann blieb und die Kinder . Ich mag Dir nicht verhehlen, daß sie an diesen — an ihrem Hause auf eine sehr straͤfliche Weise haͤngt: nehmlich eben so ohngefaͤhr, wie die alten Republikaner an ihrem Vaterlande hien- gen. Aber Du gehoͤrst ja nicht zu unsern maͤch- tigen Philosophen, welche nie weniger als den ganzen Erdkreiß — was ? — das ganze Universum uͤbersehen, und, gemaͤßlich, zu Herzen nehmen, und aus brennender Liebe zu den Menschen uͤberhaupt dem Patrio- tismus der Alten und jeder andern partheyi- schen Liebe so gram sind. Sie sollen herkom- men, die guͤtigen Herren, mit ihrem unbe- schraͤnkten goͤttlichen Wohlwollen, mit ihrer allsehenden Gerechtigkeit — mit ihrem gan- zen Untadel ; sie sollen kommen, und schauen und fuͤhlen, wo von allem diesen — in That und Wahrheit am Ende denn doch mehr angetroffen wird, ob bey ihnen , oder bey dem Weibe hier, das fuͤr Mann, Kinder, Haus, sich wider die ganze Welt empoͤrte! — Holde Mutter Natur! o wie laut sagt mein klopfendes Herz mir da wieder, daß doch allein auf deinem Pfade wahres Heil zu suchen ist! — Sieh Sieh das wohlgemuthe Weib, wie die Befrie- digung ihrer reinen Triebe alle ihre Wuͤnsche vollendet; sie von allen andern Begierden so los macht, und ihr theilnehmendes Herz sich nun so frey und allgemein ergießen kann. — Ihr praͤchtigen Weltweisen, ihr lieblichen Her- ren und Damen, mit euren erhabenen Grund- saͤtzen und schoͤnen Sentiments! sagt, wie wird euch? — wie besteht ihr vor dieser Haus- frau ? Da verschleudert, da verpufft ihr eure Seele in die weite Welt; seyd uͤberall , und nirgend ; euer unbefangenes, richtungsloses Herz — jedem Anfalle blos; ohne Drang und ohne Ruhe, ohne Genuß und Gabe; strebend nach allem, hangend an allem; zu keinem Opfer willig, bey keinem Unfall leicht — be- bend durchaus bis in die kleinste Faser — schwach, elend, zehrend — voll allgemei- nen Wohlwollens ! Weg von diesen Allumfassern, hinab zu Amaliens Schemel, zu der Kurzsichtigen, zu der Armseligen, die nur ihren Mann liebt F und ihre Kinder ; allen uͤbrigen Wesen nur gut ist, und in Wohlthun gegen sie, aus voller Genuͤge, nur — uͤberfließt , wie die Sonne von sich scheinet Licht und Waͤrme, nur — weil sie Licht ist und warm, und die Fuͤl- le hat . Tritt in den Umfang von Amaliens Sphaͤre: du stehst in Segen; das ist alles. Darum ist Amalia auch das bescheidenste Ge- schoͤpf; das demuͤthigste , moͤchte ich sagen, das man finden kann. Daß sie Gutes aller Art unermeßlich wirkt — darauf giebt sie nicht Acht; daß sie alle Pflichten erfuͤllt, alle Gebote haͤlt — das weiß sie nicht; hat von den Gruͤn- den ihres durchgaͤngigen Verhaltens nichts we- niger als vollstaͤndige Begriffe, gar keine eigent- liche Moral , kaum eine solche wie schon vor Jahrtausenden dem uralten Hiob eine zu Dien- sten stand. Wunderbar , daß Amalia zu- rechtkommt; denn sie ist auch nicht einmal, was man fromm heißt. Aber ich fodre eure eckelsten Muͤckenseiger auf, ihren Wandel nach der Strenge zu pruͤfen; und wenn er wird laͤug- nen koͤnnen, daß sie suͤndenfreyer, daß sie ta- delloser sey (selbst nach so vielen Fratzenbegrif- fen unserer Zeit) als Eine ; so will ich vor dem Muͤckenseiger mich beugen und mich zu ihm bekehren. Du, lieber Wallberg, siehst doch hier wohl kein Wunder , oder argwohnest Blend- werk ? Tritt naͤher! Was ist es, als ein aͤchtes Gottesgeschoͤpf, in Gesundheit und na- tuͤrlicher Wohlgestalt; auferzogen ohne Kuͤnste- ley; alsdann bezogen auf einen Gegenstand, in welchem seine Kraͤfte sich sammeln, ordnen und zur schicklichsten Wirksamkeit vereinigen konnten. Sind doch alle Tugenden eine freye Gabe des Schoͤpfers; unmittelbare Naturtriebe ! nur verschieden gestaltet nach den verschiedenen Formen und Zustaͤnden mensch- licher Gesellschaft. Keine, die nicht da war, ehe sie Namen hatte und Vorschrift ! Alle Mo- ral — war sie doch von jeher blos philosophische Geschichte, speculative Entwickelung, Wissen- schaft ; und jene innere Harmonie, jene Einheit in Thun und Dichten (das Augenmerk emporstre- F 2 bender Menschheit) allemal nur die Geburt irgend einer ersprießlichen Hauptneigung, wel- che dem Menschen Beruf ertheilte, und Plan ! Wo Einheit der Neigungen entsteht, da macht sich die Einheit des Wandels von selbst; da bildet der Mensch seine erwaͤhlte Lage aus; formt sie je mehr und mehr zum Ganzen: und nun, je eingeschraͤnkter von der Einen Seite, desto freyer von allen uͤbrigen; verletzbar nur in Einem Punkte seines Wesens; in ihm selbst gewiß; muthig; begnuͤgt; und darum unabhaͤngig, edel, ge- faͤllig und von ganzer Seele gut. Greif es an allen Enden; Du wirst finden: gerader Sinn, dringendes Geschaͤfte, und darin Emsigkeit und Treue mit Lust , sind die Eckpfosten aller Gluͤckseligkeit und Tugend. Nun erinnere Dich, was ich im Anfange dieses Briefes uͤber Nebel und ordentlichen Wandel philosophierte. Vielleicht klang es Dir leichtfertig; tiefer erwogen, wie wahr? Wie dumpfen Sinnes, wie erstorben muß der seyn, der seine Neigungen sich aus lauter Moral bilden, der mit lauter Moral sie nach Gefallen unterdruͤcken kann! Zehnmal besser ist mir da der gutherzige Wildfang, der noch Leben im Busen naͤhrt und Liebe . Und dann noch Eins! Auch dem Menschen hoͤherer Art, der ein geordnetes, durchgaͤngig zusammenhangendes Leben fuͤhrt, muß vieles in Nebel verhuͤllt stehen; aber es ist nur der Duft, welcher von dem ganz aufgehellten Plane seines Wirkungskreises sich an dessen Graͤnzen gedraͤngt hat. Unsere Philoso- phen allein bewohnen Himmelnahe Felsenhoͤ- hen, von keinem Dufte getruͤbt, rundum end- lose Helle und Leere . Mir gienge da der Athem aus. Schon ist mir die Luft zu duͤn- ne wo ich bin; und ich sinne darauf, wie ich allmaͤhlich noch etwas tiefer herabkomme. Auch ist nicht wohl zu laͤugnen, daß in einem engern Horizonte uns die Gegenstaͤnde viel waͤrmer an Auge und Herz kommen. Graͤn- zenlose Begraͤnzung, Raum ohne Maaß und Ende; wo ichs erblicke, macht es mir F 3 Hoͤllen-Angst. Darum enge ich mich gern ein wenig ein; lasse mir es wohl seyn in ir- dischem Beginnen, wo ich ein Ende meines Thuns sehe, und doch alle meine Kraͤfte daran setzen muß. Zum Schlusse noch ein Woͤrtchen von Freundschaft . — Das nichtswuͤrdige, lose Wesen unter diesem Namen, wovon zuvor die Rede war, daß wir ihm beyde eben feind waͤren: ist es nicht auch eine Mißgeburt aus jenem todten Meere der Unbestimmtheit, der Richtungslosigkeit, der unendlichen Zerstreu- ung? Schwache Faͤden aus veraͤnderlichen Absichten und fluͤchtigem Ergoͤtzen gesponnen, wie bald muͤssen sich diese wirren? Und dann, Riß an Riß; Knoten an Knoten. Ganz an- ders die Bande aͤchter Freundschaft, wo zwey etwas anfassen, wie rechte und linke Hand, um es zu Einem Werke zu bilden; zwey etwas mit einander fortbewegen, wie beyde Fuͤße den Leib. — Weg mit dem, welcher sagt, eine solche Freundschaft sey auf Eigen- nutz gegruͤndet! Der Gegenstand, warum bey- de sich vereinigen, ist ihnen nur Medium einer den andern zu empfinden; Sinn, Or- gan. Nicht denjenigen liebe ich ja am mei- sten, der das meiste fuͤr mich thut; sondern den, mit welchem ich das meiste ausrichten kann. — Eigenliebe ? Alles soll Eigen- liebe seyn! Was gehe ich mich selbst denn mehr an, als mich andere angehen; ich, der ich nur im andern mich fuͤhlen, schaͤtzen, lieben kann? — Das heißt euren Philosophen Unsinn. Mags! Weiß ich doch, wer es besser hat; ich oder sie. Lebe wohl, und gruͤsse Luzie , die Gute, Treffliche ! Dein Eduard . F 4 X. Demselben. H eute sind es gerade drey Wochen, lieber Wallberg, daß ich einen langen Brief an Dich abgeschickt habe. Gleich am folgenden Tage wurde der Brief an Luzie fertig, wovon Du weißt, daß ich ihn schreiben wollte: uͤber meine Geschichte mit Nannchen . Eine lange Epistel! Auf diese habe ich schon Ant- wort; von Dir habe ich keine Antwort. Lu- zie gedenkt Deiner auch mit keiner Sylbe. Ich vermuthe daher, daß sie Dir meinen Brief nicht gezeigt hat. Also, ich erzaͤhlte ihr umstaͤndlich und ausfuͤhrlich, wie das heillose Verhaͤltniß mit Nannchen war; wie es, Gottlob! aus ein- ander gieng, und ich nun zu den Hoch- scheid gar nicht mehr ins Haus komme. Ueber dem Erzaͤhlen gerieth ich in Feuer. Ich war gehetzt, voll Verdruß; die Kata- strophe hatte mich erschuͤttert: und da schalt ich mich denn weidlich; gab mir, wie schon oͤfter geschehen ist, tuͤchtige Verweise uͤber meinen Leichtsinn; uͤber, ich weiß nicht was fuͤr eine abgeschmackte Nachgiebigkeit in mir — ein verdammtes loses liederliches We- sen, welches andere Gutherzigkeit nennen moͤ- gen, wodurch ich in dergleichen Verwickelun- gen gerathe, die mich gleich von Anfange aͤr- gern und peinigen, und wohinein ich mich denn doch ziehen und weiter ziehen lasse. Daruͤber schrieb ich, wie ichs fuͤhlte, und schenkte mir nichts. Aber daß ich ploͤtzlich ein ganz andrer Mensch geworden sey, fiel mir nicht ein, und ich habe es auch, weder gesagt, noch von weitem zu verstehen gegeben. So aber scheint es Luzie genommen zu haben, und dachte, sie muͤsse mich geschwinde und recht fest jetzt beym Wort halten, zu meinem Besten . Das verdroß mich aus zwey Ur- sachen: erstlich, weil es albern; und zwey- tens, weil es unredlich war. Albern war F 5 es, weil mich Luzie von der blinden Kuh und dem edlen Gaͤnsespiel her schon kennt; her- nach, da ihre Mutter starb, in unserm Hause neben mir aufgewachsen ist; endlich jetzt in Wien von neuem mich so lange gesehen hat. Freylich wurden wir dort ein wenig in einan- der verliebt, und das bringt gewaltig aus der Bekanntschaft; aber wir hoͤrten auch auf in einander verliebt zu seyn, und das stellt noch gewaltiger die Bekanntschaft wieder her. — Du schuͤttelst inclement den Kopf, guter Cle- mens; und Du hast Recht. Ich sollte von dieser Geschichte in dem Tone nicht reden; es ist die widerlichste in meinem Leben, und ich muß mich schaͤmen vor Luzie, die mich demuͤ- thigte ohne Stolz: die wahrhaft Gnaͤdige ! so daß ich ewig ihr zu Fuͤßen liegen und sie verehren muß, wie ein Wesen hoͤherer Art, wofuͤr ich sie erkenne. Aber darum sollte sie doch nicht so feyerlich thun, und ein solches Gluͤckwuͤnschungs-Schreiben an mich, den Eduard Allwill , ergehen lassen, wie sie gethan hat. Das war, ich sage es noch ein- mal, unredlich ! Denn da sie mich an mei- ner schlimmsten Seite, wie vor ihr kein Mensch, ins Auge gefaßt und zu Herzen genommen hat; so kann es unmoͤglich ihr wahrer Ernst seyn mit den frohen Hoffnungen, wofuͤr sie mir den Dank zu Fuͤßen legt. Ihr Brief ist eine Predigt en chauvesouris, die mich mit einer Bekehrung anfuͤhren will. Ich habe Luzie zu lieb, als daß ich ihr dies so koͤnnte hinge- hen lassen. Auch muß ich, Gewissens hal- ber, einen Angriff auf ihr feyerliches We- sen thun. Die Liebhaberey am Feyerlichen ist den Maͤdchen besonders eigen: wer ihr Freund ist, warnt sie davor; oder sinnt, wenn es mit dem Warnen zu spaͤt ist, wie er sie heile. Luzie muß heyrathen, ohne Verzug. Sie wird jetzt drey und zwanzig Jahre alt; das ist fuͤr ein Fraͤulein schon ein fuͤrchterliches Alter. Wie sie jetzt gestimmt ist, findet sie keinen Mann, der ihr recht waͤre; und am Ende werde ich die Schuld haben muͤssen, ob ich gleich unter allen Maͤnnern am wenigsten fuͤr sie getaugt haͤtte. Deine Schwester, nimm mirs nicht uͤbel, ist auch keine gute Bekannt- schaft fuͤr Luzie, so eine vortreffliche Freun- dinn sie auch seyn mag. Sie spannt die arme Luzie nur immer hoͤher, und vermehrt ihren Hang zum weinerlichen Ernst. Wie mich das alles schiert, kann ich Dir nicht ausdruͤcken. Es war so natuͤrlich, was mir mit Luzie begegnete; und doch liegt es mir — soll ich sagen auf dem Gewissen? Da ich sie wieder- fand in Wien, hatte ich sie seit mehreren Jah- ren nicht gesehen. Das schoͤne, holde, Gefuͤhl- volle, Geistreiche Maͤdchen: ich sah meine Kindheit, meine Jugendjahre in ihm wie ver- klaͤrt ! Ein solcher Eindruck wird mir nie wie- der. Und ihre Freude bey unserem Wiederse- hen! — „ Bruder Eduard !” rief sie, und fiel mir um den Hals. Mir schmolz das Herz; aber in Liebe zerschmolz es nicht. Was denn? Darf ich das Wort Freundschaft nennen, da ich die ihrige zu mir in eine Lei- denschaft uͤbergehen sah, die ich nicht theilen wollte, und dennoch naͤhrte; wissentlich naͤhr- te? — Wie ich Dir vorhin sagte: — ich ließ mich gehen ; wurde verwickelt, gerieth aus einer Nachgiebigkeit gegen mich selbst in die andere; wollte mich taͤuschen, konnte nicht, und wurde verstockter . . . . Du weißt den großmuͤthigen Schritt, den sie that; und wie nur alle ihre Sorge dahin gieng, daß ich mir von Herzen moͤchte selbst verzeihen koͤnnen. Sie nahm von mir den Schwur, daß ich auf jede Gefahr aufrichtig gegen sie seyn, und sie nie mehr in irgend etwas hintergehen wolle. Die- sen Schwur werde ich halten, und auch bey die- ser neuen Gelegenheit mich ihr darstellen, wie ich bin. Ihr soll kein Wahn in Absicht meiner bleiben. Das verkehrte Hoffen und Erwarten von mir; das bestaͤndige Anliegen und Gequaͤle daruͤber, ist mir unertraͤglicher als Verachtung und Haß. Ich will durchaus nicht die Voll- kommenheit eines andern seyn; nicht ein- mal meine eigene; denn ich weiß noch nicht, was meine eigene Vollkommenheit fuͤr ein Ding ist. Am wenigsten soll Luzie sich etwas in den Kopf setzen von einem Allwill, der noch kom- men moͤchte . Das taugt ihr nicht; und ich muß es ihr mit Gewalt aus dem Kopfe brin- gen. Bin ich einmal todt, so moͤgen sie mich selig sprechen, oder gar canonisieren, und dem Teufel, der es nicht leiden will, die Hoͤlle so heiß machen, als sie Lust haben. Aber so lan- ge ich lebe, sollen sie ihn nicht tuͤckischer gegen mich machen, als er es schon ist. Mir eckelt gar zu sehr, wenn ich mich als so ein Bild- chen sittlicher Heiligkeit , das ich werden soll, betrachte. Laß mich abbrechen, und sage Luzien nichts. Ich fieng diesen Brief an, in der Absicht, daß Du sie vorbereiten solltest; aber ich bin anderes Sinnes geworden uͤber dem Schreiben. — Du Boͤsewicht lachst wohl uͤber meine uͤble Laune, und denkst: Er hats doch gefuͤhlt ! — Meinetwegen! Lebe wohl! Dein Eduard . XI. Amalia an Sylli. Den 20ten Maͤrz. A lle haben Dir geschrieben S. den VIII ten Brief. ; Mann und Maus, und Maus und Mann; Amli allein hat nicht geschrieben, hat sogar ihren gewoͤhnli- chen Syllis-Posttag vorbeygehen lassen, und moͤchte fast den heutigen wieder vorbeygehen lassen. Bin ich Dir etwa boͤse, Sylli? Hast Du mir etwas gethan? Mir allein? Ja, mir al- lein hast Du was gethan; wenigstens kommt es mir so vor, daß ichs allein bin. Mir allein hast Du das gethan, daß ich mich schaͤmen muß, wenn ich an Dich denke, weil es Mir wohl geht, und Dir geht es uͤbel; und das nicht recht ist. Ich fuͤhle das, wie einen Vor- wurf, ob ich gleich mir selbst daruͤber keinen machen kann; und sieh, gerade davon wird man boͤse. Ich habe Clerdon sonst wohl gefragt, wenn ich Weiber sah, die unartige, widerwaͤrtige, unertraͤgliche Maͤnner hatten, und doch ganz heiter aussahen; auch wirklich sich gar nicht ungluͤcklich fuͤhlten, sondern wohl so fortleben mochten: wie das zugienge; wie das moͤglich waͤre? Da ich Clerdon zum erstenmal fragte, (es war bey Gelegenheit der sanften, Geistrei- chen, allerliebsten Strohmfels ) bekam ich zur Antwort: die Strohmfels hat Kin- der . Das wußte ich schon. Also weißt Dus? sagte Clerdon, und setzte hinzu: Ama- lia wird auch Kinder haben ! faßte mich darauf in seine Arme, kuͤßte mich und ließ mich nicht weiter reden. Nun habe ich Kinder, und verstehe etwas besser was Clerden meinte, und glaube ihm auch fuͤr die Frau von Strohmfels und andre, und und bin froh, daß ich es gelten lassen kann: aber naͤher muß mir kein Mensch, am wenig- sten Clerdon damit kommen wollen. Ich weiß nicht, woher ich den Heinrich , den Carl , die uͤbrigen nach der Reihe so lieb habe; so ganz anders lieb wie andre Kinder: als da- her, daß es Clerdons Kinder sind, die ich ihm brachte. So verstehen es ja auch alle andere Men- schen. Sagten nicht die Leute bey meiner er- sten Niederkunft: „das ist eine wackere Frau, „die Clerdon; sie hat ihrem Manne einen „ Sohn gebracht.” Hernach: „Die Clerdon „wird stolz seyn; sie hat ihrem Manne wie- „ der einen Sohn gebracht.” Endlich: „die „Clerdon ist gluͤcklich; ihr Mann wuͤnschte sich „eine Tochter, und nun hat sie ihm eine „Tochter gebracht.” — O ja! Sylli, die Clerdon ist stolz und gluͤcklich; aber Amli ist nicht stolz, und Amli fuͤr sich waͤre nicht gluͤcklich; auch nicht mit ihren Kindern. Es waͤre auch wohl der Muͤhe werth, daß Amli G Kinder haͤtte. Arme Kinder, wenn ihr es nur von Amli waͤret! Auf dies alles hat mich die liebe Stelle in Deinem Briefe gebracht, von Deinem Han- gen an Kindern und Kindesgleichen. Und da wollte ich Dir sagen, liebe Schwester: Komm zu der Mutter; komm zu den Kindern und der Kinder Vater; komm zu den Maͤdchen von Heimfeld! Ich glaube, noch vor Jahres En- de bin ich wieder in Wochen. Bis dahin we- nigstens komm, und auf immer. Jetzt gleich mußt Du das festsetzen, daß Du kommen, und, was sich bis dahin nicht gefuͤgt hat, las- sen willst. Du bist auch Mutter gewesen, Sylli; und ob Du gleich das Kind verlorst, wuͤr- dest Du doch das nicht missen wollen, daß Du Mutter warst und Mutter bleibst. O Mutter, komm zur Mutter! Du hast selbst Dein Kind gestillt, wie ich auch thue. Daruͤber geht auch nichts. Wenn so ein kleines Wesen ausgeschlafen hat, und nun gestillt ist, und liegt einem da im Schoose, und faͤngt an zu girren vor Lust und sich zu regen vor Lust, und faͤngt an zu lachen und zu scherzen mit der Mutter, die ihm alles, alles ist: — Ach, Sylli! weiß es, was die Mutter; weiß es, was es selbst ist? Nichts weiß es. Aber es haͤngt an der Mutter, und hat so Recht, so unaussprechlich Recht, an ihr zu hangen! Sage, liebe Sylli; wenn das suͤße holde Wesen so vor Dir lag unter Deinen Augen, und hinaufschaute, und hinaufreichte mit allen seinen Gliedern; Dich hatte und Dich suchte; unbegreiflich Dir dankte, unbe- greiflich Dich liebte: wenn Du es denn an Dich druͤcktest und an Dich herztest, falteten beym Umfassen sich Deine Haͤnde nicht von selbst; Deine Augen, hatten sie einen andern offenen Weg als nach dem Himmel, und konn- test Du das beten lassen? Mir deucht, wenn das Vater Unser nicht schon da gewesen waͤre, ich haͤtte es hundert und hundert mal erfunden! G 2 Liebe Sylli! Andere werden sagen, es sey nicht gut, Dich an dergleichen zu erinnern: aber Amli, ob sie gleich lange nicht so klug ist als andere, versteht das doch besser, und weiß, daß es wohl gut ist. Was Du von Deiner Freude an Kindern schreibst, von dem Troste, den Du daher nimmst; ich sage auch, und so sehr als keiner, daß es lieb ist und schoͤn, und man ja es Dir nicht nehmen soll. Aber das rechte ist es doch nicht, und das rechte soll man Dir noch viel weniger nehmen. Wo Du mit Deinem Lieb- und Gern-haben der Kinder anfaͤngst, da ist gar nicht der Anfang; der ist nicht bey den rothen Backen, nicht bey dem Tanzen und Springen und Jauchzen, und beym Bon-Bon: der ist ganz wo anders. Der ist da wo man nichts sieht, und man nichts weiß; da wo die Welt angefangen hat . Weißt Du, wo die Welt angefangen hat? Ich weiß es; kann es aber niemanden sagen, der es nicht schon weiß. Dir kann ichs sagen, und wills Dir sagen, ins Ohr — Hast Du gehorcht? — — — — Und verstanden? Erst gestern war jemand bey uns, der war recht voll von hieher und daher , und wollte meinem Clerdon anstreiten, alles kaͤme von der Eigenliebe: und wie uns etwas Nutzen oder Schaden, Freude oder Leid braͤchte; so hielten oder ließen wirs. Damit hatte diesem Herrn die Welt angefangen. Clerdon machte einige Einwuͤrfe; daruͤber kamen Heinrich und Carl den Saal herein gedreht und getanzt, und hien- gen sich dem Vater an Haͤnde und Arme, und ließen sich wegschleudern, daß sie auf dem Tep- pich herumtummelten, und kamen dann zur Mutter sie zu zerren, zu draͤngen und zu necken. Sehen Sie, sagte Clerdon zu dem klugen Manne: wenn Ihre Philosophie auch ganz die meinige gewesen waͤre; so haͤtte ich sie dieser Knaben wegen aufgeben muͤssen. Das Daseyn uneigennuͤtziger Liebe, eines Wohlthuns ohne den entferntesten Gedanken an Ersatz, einer alles uͤberwiegenden Treue, habe ich durch sie als Thatsache in mir selbst. Und schon das Weib da, auch ohne Kinder, haͤtte mich um jene Philosophie gebracht. Sie wuͤrden mir G 3 dies ohne Muͤhe anders zu erklaͤren, und sogar meine Thatsachen dergestalt mit Worten auf Ihre Seite zu bringen wissen, daß ich mit Worten nicht gegen Sie aufkaͤme; denn immer hat die tiefer liegende Wahrheit das Wortge- webe wider sich; es ist der Instinkt des Buch- stabens, die Vernunft unter sich zu bringen; sein Instinkt, mit der Vernunft umzugehen, wie Jupiter mit seinem Vater. Das letzte hoͤrte und verstand ich nur halb; denn da Clerdon die Worte aussprach: Schon das Weib da ! fuhr ich zusammen, wurde roth, und sah wo anders hin. Da fiel mir Garbetto in die Augen, und ich dachte: was brauchte Clerdon Frau und Kinder in das Spiel zu mischen; er durfte ja nur den Hund fragen, das gute treue Thier, das auch sprechen kann. Indem giengs mir unwillkuͤhrlich aus dem Munde: „ Wie spricht der Hund? “ — Du weißt, wie Garbetto auf diese Frage zu bellen anfaͤngt. Dem Clerdon, der mich er- rieth, kam das Lachen an. Um es zu verbeis- sen, wollte er zornig thun gegen den Hund. Daruͤber kam auch mir das Lachen. Er tuͤsch- te, und ich in einem fort zu rufen: wie spricht der Hund ? Das gab eine Hetze, ein Geraͤusch, einen Rumor mit den Kindern dazwischen, und ein allgemeines Lachen, wel- ches der Unterredung ein Ende machte. Gleich darauf empfahl sich der Philosoph. Was will ich Dir damit, liebe Sylli? Ich will, daß Du nicht die Augen zu haben sollst, um desto mehr zu denken, wie der Philosoph, dem Garbetto den Mund stopfte; sondern of- fen sollst Du die Augen haben, wie Clerdon, und sollst, wie Clerdon, etwas haben, das Dir in die Augen faͤllt, und Dir das Denken zurecht weist. Wie es hergeht vor Einem, wenn einem Nichts in die Augen faͤllt, das hast Du oft genug im Traum erfahren. Man kann sich da gar nicht heraushelfen, wie sehr man auch im Traume meint, die Augen auf- zuthun. Gehen sie einem aber wirklich auf, so wird in einem Nu auch wieder alles in der Welt vernuͤnftig. G 4 Darum habe ich oft gedacht, wir moͤchten wohl unsern Verstand nicht so ganz an uns selbst haben; und ich denke es gern, wegen der guten Aussichten fuͤr das Mehr bekom- men, welche ich da finde, und wegen des Fingers , der mich zurecht weist, den ich er- greifen und mich daran halten kann. Hoͤre nur, wie Clerdon einmal, da ich zu B — war, getraͤumt hat. Ich will Dirs von Wort zu Wort aus seinem Briefe abschreiben. „Was mir die vorige Nacht erschienen ist, liebe Amli, erraͤthst Du nicht, und kein Mensch wirds errathen. Also laß Dir erzaͤh- len. Ich hatte mich zu Pferde gesetzt und war bey Dir in B —. Wir sitzen froh und ru- hig beysammen; da kommt der Bediente mit einem Briefe. Nachrichten von Hause ! rufst Du; erbrichst mit Ungeduld das Siegel und liesest. Gott im Himmel, Clerdon ! sagst Du ploͤtzlich; ich bin gestern mit drey Kindern niedergekommen, zwey Knaben und einem Maͤdchen. — Das ist unmoͤglich, gebe ich Dir zuruͤck; Du bist ja hier gewesen. Wohl! antwortest Du; aber lies den Brief: Du kennst Lenorens und Claͤrchens Hand; sie schreibens beyde. Ich habe viel ausgestan- den; aber ich befinde mich wohl, und meine Kinder leben. Ich sehe den Brief an, wer- de uͤberfuͤhrt, lasse in groͤßter Eile satteln, um nach Hause zu jagen, damit die armen Kinder Ammen und Taufe bekommen.” Sieh, liebe Herzige, so wunderlich kann es in der Welt zugehen, wenn man nicht in vol- lem Ernste mit dabey ist; sondern nur davon sich traͤumen laͤßt. Ach, Schwesterchen; und es giebt schlimme, schlimme Traͤume! — und man kann nicht glauben, waͤhrend man traͤumt, daß es nur getraͤumt ist. Verzeihe meine Anspielungen, und komm nur zu uns, wo Dir die schlimmen Traͤume gewiß verge- hen und die Augen offen bleiben sollen. Clerdon hat Dich wegen Allwill auf mich verwiesen: ich wuͤrde Dir ausfuͤhrlich G 5 von ihm erzaͤhlen . Das ist Neckerey von ihm. Er weiß, daß ich nicht ganz seiner Mei- nung uͤber den Helden bin, und will aus Rach- sucht mich in die Verlegenheit setzen, entweder Partey wider meinen Herrn zu ergreifen, und um den Ruhm meiner graͤnzenlosen Unter- thaͤnigkeit zu kommen, oder ein wenig zu heu- cheln. Wirklich habe ich in dieser Verlegenheit Dir von Allwill nur obenhin geschrieben, und ihn blos vorkommen lassen, wo und wie er wirk- lich vorgekommen war. Das heißt Clerdon sich tuͤckisch aus dem Handel ziehen. Er sagt: es sey unverantwortlich von mir, da mir die wahre große Andacht, die All- will zu mir habe, bekannt sey, daß ich ihn so fuͤr eben viel behandelte . Gut denn! Ich will in mich gehen, und habe schon angefangen. — Zuerst habe ich genau wissen wollen, wie alt der junge Mann sey; denn Clerdon hat uns daruͤber in große Ver- wirrung gebracht. Dir hat er geschrieben, Allwill sey zwey und zwanzig — oder wa- rens drey und zwanzig? — Jahre alt, und ich mußte ihn deswegen loben, weil er ihn hier gewoͤhnlich kaum zwanzig Jahre alt seyn laͤßt, und wir uns oft genoͤthigt sehen, ihn noch dar- unter anzunehmen. Diesen Noͤthigungen ein Ende zu machen, habe ich mir eine Urkunde verschafft, die ich bey Gelegenheiten vorzeigen werde, nach welcher Allwill heute unwider- sprechlich fuͤnf und zwanzig Jahre, drey Monate und sieben Tage alt wird . Begreifst Du, warum Allwill nicht einerley Alter haben darf? Ich daͤchte, soviel Einer- ley duͤrfte doch wohl in ihm seyn, ohne daß es einem Langeweile machte. Es ist gewiß eine schoͤne Sache um die Jugend; und da All- will so vieles weiß, so vieles kann, große An- lagen so treflich entwickelt hat, und sich die meiste Zeit wirklich zum Bewundern gut aus- nimmt, so ist es eine Zierde mehr fuͤr ihn, daß er noch so jung ist. Aber ich daͤchte doch, er waͤre jung genug mit kaum fuͤnf und zwan- zig Jahren. Auch kommt das nie vor, daß er kaum zwey und zwanzig, oder gar noch nicht zwanzig Jahre alt ist, wenn allein sein Lob erschallen soll; sondern bey andern Vor- faͤllen. Davon ist Clerdon erst recht warm fuͤr ihn geworden, daß er ihn so oft vertheidigen mußte, und die Vertheidigung von gestern sich mit der Vertheidigung, die morgen noͤthig wurde, nicht vertragen wollte; mit der von uͤbermorgen noch weniger, und so immer viele neue Kuͤnste und groͤßere Anstrengungen noͤthig wurden. Die Anstrengung allein vermehrt schon den Eifer, habe ich oft von Clerdon gehoͤrt; alsdann der Eifer wieder die Anstren- gung: so macht man sich eine Sache eigen — sagt Clerdon — vergißt sich selbst und lebt nur in dieser Sache; wird Eins mit dem Dinge, das man treibt — — Sylli, wenn die Liebhaberey an Allwill mir den Cler- don mit ruchlos machte? Fort, fort mit dem boͤsen Menschen! Habe ich das Eis gebrochen, Schwester- chen? Warte, es wird allmaͤhlich noch besser kommen. Umsonst soll mich Clerdon nicht ge- hetzt haben. Immer tiefer will ich in mich gehen , bis er selbst in sich geht, oder wenig- stens das Hetzen laͤßt. Diesen Augenblick erhalte ich ein Billet aus Heimfeld. Die Maͤdchen haben einen Brief von Dir erhalten, den sie mir aber nicht schicken, weil sie den Nachmittag selbst herein zu kommen denken, und gern dabey seyn wol- len, wenn ich ihn lese. Ich lobe mir das; denn nun kann ich mich doppelt auf die lieben guten Maͤdchen freuen. Soll ich nun diesen Brief bis uͤbermorgen liegen lassen? Behuͤte der Him- mel! Er soll diesen Augenblick gesiegelt werden, und auf die Post. XII. Sylli an Lenore und Claͤrchen. Den 14ten Maͤrz. I ch habe dreymal hintereinander nach C * * geschrieben; aber die arme Sylli muß nur wieder geschwinde hinsitzen, und noch einmal nach C * * oder Heimfeld schreiben, sonst haͤlt sies nicht aus. Es ist ihr von neuem so trau- rig ums Herz; ihr Sehnen nach Euch hin ist in so starkem Schwunge, daß sie unmoͤglich sich zur Ruhe bringen kann. — Diesen Morgen, unterdessen Susanna sie anziehen half, kam eine Einladung … Antwort: „Meine Em- pfehlung; ich wuͤrde aufwarten gegen Abend.” — Und nun seufzte die arme Sylli, und konnte sich nicht enthalten zu Susanna zu sagen: „Wer nur fliegen koͤnnte! Ich wuͤßte wohl „wohin ich auf Vesuch floͤge.” Die hoͤlzerne Susanna hatte nichts hierauf zu antworten. Das Maͤdchen ist mir ein allzu unbehuͤlfliches Geschoͤpf. Auf Empfindung bey ihr machte ich gern keine Anspruͤche; aber auch nicht ein- mal so viel Fantasie, so viel Glaube, daß sie an mich und Euch auf irgend eine Art zu hangen kaͤme. — Doch ist es keine Glieder- puppe! denke ich wohl einmal, und versuche neuerdings, dies oder jenes bey ihr anzubrin- gen; aber da kommt sie mir ein wie allemal entgegen mit ihrer Seele, eben so hoͤlzern, wie mit der vorgereckten Brust ihres Leibes. Auch wenn sie wohl von selbst des Herrn Re- gierungs-Raths oder der Frau Regierungs- Raͤthin erwaͤhnt, welche sie gekannt zu haben die Gnade gehabt hat ; so hat sie dabey ein so unlebendiges Aussehen, wie die Toilettschachteln, neben denen sie steht, mir die Nadeln daraus zu reichen … Seht, Kin- der! so gehts mir . Die vergangene Woche war wegen meines boͤsen Rechtshandels ein Vergleich im Vor- schlage. Ich mußte bey dieser Gelegenheit allerhand fatale Leute sehen; hauptsaͤchlich denn auch den grundschlechten Gierigstein . Der alte Unhold war mir lange nicht vor Augen gekommen; ich erschrack vor seiner Gestalt, die seitdem noch um vieles widriger geworden ist. Denkt nur, der Mensch mach- te mir Vorwuͤrfe, und zuletzt, nach einigem hin und wieder reden, fieng er gar an zu weinen. Ach! daß Augen wie die seinigen — daß alle Augen Thraͤnen haben! Einem Gierigstein , wenn er weinen wollte, muͤß- te, statt der Thraͤnen, etwas aus den Augen kommen, was man wie Staubflocken von sich abschuͤtteln koͤnnte; denn Thraͤnen ruͤh- ren einen doch immer, betriegen einen. An diesem Gierigstein ist es mir zum Schre- cken aufgefallen, was fuͤr eine Gestalt zum Vorschein kommt, wenn einem verkehrten Menschen das Alter die Maske wegdorret, Fleisch und Farbe seine Zuͤge nicht mehr ver- huͤllen. Da zeigt sich die abgehaͤrtete Nerve. Erstarrt im Haͤßlichen liegt sie da zur graͤß- lichen Schau: da bebt der nackende Mund, der kalte, unholde; da zittert das truͤbe Au- ge, dessen Blick, nicht mehr lenksam, harren muß muß im Ausdruck des Argen; da schlappt, Odemleer, die Nase, verkuͤndiget Stadt- Neuigkeiten, Skandale, und weiter nichts; da senkt sich die kraftlose Stirne, auf welche Furchtsamkeit und Mißtrauen die Hauptrun- zeln gepraͤgt haben. — Es ist ein peinlicher Anblick, ein wahres Hoͤllenbild, so ein ganz verkommener Mensch, der nun offenbar heil- los in die Erde hinunter starrt! — Meine Mutter, die Suͤße, Liebe, o, wie war die so schoͤn durch ihre schoͤne Seele! — Sie ver- schwand wie ein Engel. Nie werde ich das liebe Bild vergessen; werde es noch oft wieder anfrischen mit Thraͤnen, mit Freudenthraͤ- nen uͤber die liebe Mutter, daß sie so war, und daß sie so aussah. Ich moͤchte wissen was Ihr heute treibt. Beysammen seyd Ihr gewiß, denn es ist Sonntag; aber was fuͤr eine Art Wohlleben Ihr mit einander habt, wie und wohin Ihr Euch mit einander weidet, darauf sinn ich. Ist Amalia die Heerfuͤhrerin, dann gehts H wohl nach der Fasanerie, und Ihr bekommt Gebackenes, Milch und Musik; ist aber Clerdon an der Spitze, dann geht es in den Wald, oder uͤber die Felder laͤngst der Donau, und Ihr holt Euch Hunger und Durst. — Und Euer eigenes Geschaͤft dabey, Ihr zwey losen Maͤdchen? Was wohl unter Euren Schalksau- gen sich fuͤr Gluͤck und Ungluͤck zutraͤgt? … Daß nur von Eduard keine Frage sey! An diesem Eduard in Eurer Mitte kann ich un- moͤglich Behagen finden; und ich sehe aus ei- nem Briefe, den ich gestern von Clerdon S. den V ten Brief. er- hielt, und der groͤßtentheils von Allwill han- delt, wie sehr dieser unter Euch gelitten ist. Was ich von ihm erfahre, was mir auch mein Bruder Clemens von Wallberg. von ihm meldet, der doch gewaltig auf ihn haͤlt, macht mich zittern fuͤr Unheil. Der unbaͤndige Mensch mag wohl dabey ein wackerer Junge seyn, und es mit andern gewoͤhnlich besser meynen, als mit sich selbst: aber dadurch wird er nur gefaͤhrlicher; das giebt ihm die offene, unschuldige Miene, wogegen kein Rath ist, worauf man ihm die Hand von ferne reicht, sich ihm anschlingt, und Gemeinschaft mit ihm macht. Erst hin- tennach wird man gewahr, was er fuͤr un- sichere Straßen wandelt, wie verwegen er im Handel ist, wie wohlfeil er seine Haut bietet, und folglich die seines Genossen mit . . . . Nun ein Maͤdchen, das seines Weges kaͤme — diesem auszuweichen — wie waͤre es moͤglich? So ward unsere Luzie hingewagt, so gieng uns das suͤße Geschoͤpf verloren; denn sie stirbt, Kinder, und ihr Tod ist dieser Allwill ? Nie war der Holden ein Juͤngling er- schienen wie Allwill — so sinnig, so beschei- den und zugleich so voll Geist und edlen Ei- fers. Keine Tugend, keine Liebenswuͤrdigkeit, die sich nicht in ihm abspiegelte, wie Sonn im Meer; und das so ganz aus nackender Eigenschaft seiner Natur. Ueberall in vollem H 2 Entzuͤcken uͤber fremdes Verdienst, war sein einziges Bestreben, daß er nur gelitten wuͤrde. Eine so ruͤhrende Einfalt , bey so vielen Vortreflichkeiten, bey dem schoͤnsten Ju- gendglanze, mußte jeden bezaubern. Unserer Luzie — dies alles vor Augen! … O, ich sehe den Engel — still und unbemerkt in der Ferne schweben — beten fuͤr den seltnen Juͤngling — Entzuͤndet nur in Freude , in reiner Engels-Freude uͤber den Edlen ! … Und dennoch war es Gift! … Kinder! wenn es Euch nur hiebey schaudern koͤnnte, wie es mich schaudert! … Thoͤricht! Es kann Euch so dabey nicht schaudern. Aber wie rette ich Euch? Cler- don, Amalia, huͤtet mir die zwey lieben Ge- schoͤpfe! Es soll unerhoͤrt seyn, daß diesem Eduard je ein Anschlag mißlungen waͤre. Er wagt sein Alles an die Erreichung jedes Zwecks. Wer ihm abgewoͤnne, gewoͤnne ihm nie weni- ger, als sein Leben, ab. Clemens nennt ihn einen Besessenen , dem es fast in keinem Falle gestattet sey, willkuͤhrlich zu handeln. — Ein schrecklicher Charakter! — Und was fuͤr ein Goͤttliches Ansehen der Mensch ha- ben muß, wenn er das Gute, das Schoͤne ver- folgt! — O, huͤtet euch! O, flieht! — Du Lenore besonders; du mit dem zarten durch- dringlichen Sinn! — Glaube mir, Beste! Liebe macht uns Weiber immer ungluͤcklich. Die Maͤnner verdienen so wenig das Opfer unseres Daseyns, daß sie nicht einmal anzunehmen wissen, was wir ihnen geben. Das Gluͤck ein ganzes Herz zu besitzen — wie sollten sie das schaͤtzen koͤnnen, da ihr Herz nie einen Augenblick ganz , nie ein Gefuͤhl des Herzens bey ihnen lauter ist? Keine Wonne, nicht die hoͤchste der Menschheit, gilt ihnen so viel, daß sie dieselbe rein bewahrten. Keine Em- pfindung ist ihnen in dem Grade lieb, daß sie nicht durch eckelhafte Vermischungen sie truͤbten, ihr Bild entweihten. Die Fuͤlle des Koͤstlichen — die schmecken sie nie, H 3 haben sie nie; darum kann ihnen nie genuͤgen; darum sind sie — ohnmaͤchtig zur Liebe. Wir Arme merken das nicht gleich; wir glauben wohl gar eine Zeitlang staͤrker geliebt zu seyn, als wir selbst lieben. Aber, o wie bald offenbart sich das anders! — Da stehen wir dann dem Geliebten gegen uͤber, und fuͤhlen durch unser ganzes Wesen: — Dein ! — fuͤhlen durch unser ganzes Wesen: — nicht Mein ! … Wenn Du das Graͤß- liche — die unaussprechliche Schmach des Gefuͤhls ahnden koͤnntest: — ich — Dein! Du — nicht Mein ! — — Verloren zu seyn, ganz verloren an einen andern … Unser eigenes Selbst entflohen aus uns — entflohen aus Ihm … Gar kein Daseyn mehr! Man ist verschwunden unter den Le- bendigen; getilget mit Schande aus ihrer Zahl — Elend ohne Maaß, ohne Namen! … XIII. Lenore an Sylli. Heimfeld , den 22ten Maͤrz. D u weißt von Amalia, daß wir Deinen Brief erhalten haben, und mit dem Briefe zu ihr kommen wollten. Uns hatte dieser Brief trau- rig gemacht, und ich weiß nicht in was fuͤr eine Bangigkeit versetzt, die wir uns selbst nicht zu erklaͤren wußten, und wovon wir ganz miß- muͤthig waren. Amli schalt uns daruͤber, erzaͤhlte uns was Sie Dir geschrieben haͤtte, hieß uns gutes Muths seyn, und floͤßte uns eine solche Zuversicht zu Deinem nahen Kom- men ein, daß wir heiter, und, am Ende, lauter Freude mit ihr wurden. Da sie uns wie- der froh hatte, warnte sie uns hinterher noch einmal: nicht , sagte sie, vor dem betruͤbt , sondern vor dem truͤbe seyn. Was Du von Allwill schreibst, war ihr, wegen Clerdon, sehr willkommen; ob es gleich, H 4 sagte sie, im Guten wie im Boͤsen, etwas uͤber die Schnur gienge. Aber desto besser fuͤr mei- nen Gebrauch, setzte das lose Weib hinzu. Claͤrchen und ich, wir sollten ihr beym Angriffe helfen; und es war drollicht, wie sie uns die Verhaltungsbefehle daruͤber ertheilte. Ich schlug vor, wir wollten erst Probe halten. Beyleibe nicht! sagte Amli; wenns denn nicht so kaͤme, wie wir probiert haben, so wuͤrden wir irre. So giengs fort, und wir trieben sonst noch allerley, und waren eben in gewal- tigem Lachen, als Clerdon ins Zimmer trat. Du wirst zanken, rief ihm Amli entgegen. Claͤrchen hats gethan; die stand, eh ichs mich versehen konnte, auf dem Stuhl, und langte den Caͤsarskopf von der Console herun- ter, um an ihm zu versuchen, wie uns die Hauben da stehen wuͤrden. Es uͤberlief mich kalt, da sie hinauf langte; und ich habe gewal- tig geschrieen. Aber da der kahle Herr einmal gluͤcklich auf der Commode stand, habe ich ihn auch fuͤr mich wegen einer Haube zu Rathe ge- zogen, und ihn auch um das Maͤntelchen ge- fragt, daß er noch anhat. Nein! sagte Cler- don nur mit halbem Lachen; solche Schaͤcke- reyen muͤßt ihr nicht treiben. Du unnuͤtze Claͤre, wenn du mir den Kopf zerbrochen haͤt- test, wie erholte ich mich an dir? Wollte ich den deinigen auch dagegen nehmen; so paßte er ja nicht zu den uͤbrigen? Caͤsar mußte nun geschwinde Haube und Maͤntelchen zuruͤckgeben, welches er im Leben wohl nicht gethan haͤtte; und Clerdon setzte ihn wieder an seine Stelle. Die Maͤdchen haben einen Brief von Sylli, sagte jetzt Amalia, und kamen so beklommen hierhin, daß sie mich dauerten. Du mußt durchaus Rath schaffen, daß die Schwester zu uns kommt; oder Ich schaffe Rath und ziehe nach E *; denn meine Sylli soll nicht umkommen ohne mich! Es war schoͤn, sehr schoͤn, liebe Sylli, H 5 wie Amalien hiebey die Thraͤnen in den Augen standen; und wie auf ihren Wangen und um ihren Mund, Zuͤrnen, Laͤcheln und Bitten wechselte und beysammen war. Du kennst den Blick von Clerdon, womit er wie zu Amalien hinuͤber langt, sie anruͤhrt; und wie ihr denn die Hand schon bebt, die er fodern wird, um Mund und Stirne darauf zu druͤcken, und die Augen wieder auszuruhn. Da Clerdon den Brief gelesen hatte, stand er auf, ohne ein Wort zu sagen, und gieng mit uͤbereinander geschlagenen Armen im Zimmer auf und nieder, den Kopf bald tief ge- senkt, bald in die Hoͤhe gerichtet. Clerdon! rief Amalia: wenn du auf Rath sinnst, so wird dir das morgen in der Fruͤhe besser gelingen. Besinne dich jetzt nur, und sage uns, was Lenore wegen Allwill ant- worten soll. Mir war ganz heiß; denn was eben vor- gegangen war, und Clerdons finsteres Auf- und Abgehen, hatte mich wieder in die Weh- muth versetzt, mit der ich von Heimfeld ge- kommen war. Ich lag in Gedanken vor Dir auf den Knieen, weinte und schluchzte in Dei- nem Schooß. Aber wie schoͤn hier Amalia den Gang der Unterredung leitete: ach, wenn ich Dir dies erzaͤhlen koͤnnte! Beyde, Amalia und Clerdon, sagten treffliche Dinge. Aber alles, was Amalia sagte, war so ganz uns gesagt, so gut, so unvergeßlich und so wahr; und wie sich das machte, und immer besser machte, uͤber- all von selbst unter Ernst und Scherz; wie auch Claͤrchen und ich unser Woͤrtchen bequem einzumischen fanden, so daß wir bey diesem Woͤrtchen das uͤbrige noch besser behielten, und es hintennach uns eindringlicher machen konnten — Liebe! es laͤßt sich nicht aufschrei- ben. Aber sey Du nur ruhig unsertwegen; so lange wir in Amaliens Naͤhe sind, wird kein Boͤses, wenn es uns auch beruͤhrte, uns etwas anhaben koͤnnen. Ich habe Claͤrchen in der Stadt gelassen, wo sie bis Montag bleiben wird, um fuͤr Clerdon verschiedenes abzuschreiben, was er nicht in andere Haͤnde geben mag; und mit ihm, wie er hinzusetzte, zu uͤberlegen und zu disputieren . Das ist nicht blos zum Lachen mit dem Disputiren; beyde sind be- staͤndig an einander, und wer anfaͤngt, das ist immer Claͤre . Gewoͤhnlich mit einer Frage . Dann ist sie mit der Antwort nicht zufrieden; und fragt weiter; ist wieder, und noch einmal, und immer weniger zufrie- den: damit ist der Streit im Gange, der schon mehr als einmal Zank geworden ist. Clerdon sagt ihr, sie waͤre von so schwerem Begriff und so eigensinnig, daß er sie fuͤr kei- nen Preis zu seiner Uebung missen moͤchte. Wir alle stehen uns sehr wohl bey diesem Unfrieden, und loben uns das Abschreiben, aus dem er nach und nach entstanden ist. Du kennst Clerdon, wie er jede Gefaͤlligkeit, die man fuͤr ihn hat, einem gern zur Lust macht, und keinen Ochsen, der da drischet, mit verbundenem Maule sehen kann. Dies hat die schlaue Claͤre wohl benutzt, und sich bald vom Geheimschreiber zum wirklichen Beysitzer empor geschwungen. Natuͤrlich mußten Amalia und ich bey dieser Standes- erhoͤhung mit befoͤrdert werden; und wir haͤt- ten es gewiß nicht zugelassen, daß es in un- seren Koͤpfen weniger kraus wuͤrde, als in Claͤrchens Koͤpfchen. Welche Lust uns das schon gemacht hat, und wie schoͤn wir unsern Clerdon oft damit um seine Zeit bringen, kann ich Dir nicht sagen. Wir fuͤrchten nur, Claͤre wird uns am Ende wirklich zu gelehrt, und kann nicht mehr so recht mit spassen. Denn das hat sie schon an sich, daß, wenn wir mit Clerdon wider sie gemeine Sache machen, ihr das Achselzucken ankommt. Schlagen wir uns hingegen zu ihr, so laͤßt sie es gelten, und wir duͤrfen alsdann, mit ihrer Erlaubniß, zu- weilen gar das große Wort fuͤhren. Gestern uͤber dem Nachtessen wurde Cler- don sehr aufgeraͤumt, und erzaͤhlte uns zuletzt ein tolles Maͤhrchen, welches ich durchaus Dir wieder erzaͤhlen soll — um meinen Brief zu erheitern , sagte der boshafte Mann. Ich habe ihm die Hand darauf gegeben. Da muß ich aber weit ausholen, und ich wuͤnsche nur, daß Du recht dabey gaͤhnen moͤgest; denn das ist die Absicht. Hoͤre an! Wir machten vorgestern die Reise nach der Stadt im Cabriolet. Die Luft war hell und strenge. Von dieser strengen Luft und der blanken Sonne waren Claͤrchen, welche dazu die Nacht nicht viel geschlafen hatte, die Augen etwas schwer geworden. Das ver- gieng ihr nachher, und sie fuͤhlte die ganze Zeit vor Tische nichts davon. Waͤhrend dem Nachtessen aber kam es desto staͤrker wieder, so daß ihr zuletzt mitten im Reden ein paarmal die Augen zufielen. Clerdon wollte wissen, wovon sie so schlaͤfrig geworden sey. Sie schob es auf die Katzen, die mit ihrem ab- scheulichen Geheule sie die vorige Nacht nicht haͤtten ruhen lassen. Armes Kind! sagte Clerdon; und wenn du erst wuͤßtest, was den Kaͤtzchen bey dem Heulen im Sinne liegt, du wuͤrdest noch weniger schlafen koͤnnen. Darum will ichs dir jetzt zur Strafe erzaͤh- len, weil du bey Tische genickt hast; und ich bin gewiß, du nickst nicht mehr. Am Anfange der Katzen wurde ein bildschoͤner Kater einem bildschoͤnen Kaͤtzchen hold, kreuzte ihm bestaͤndig vor den Augen herum, und machte so lange, bis ihn das Kaͤtzchen gern sah. Einmal nun, da das gute Kaͤtzchen an der Zaͤrtlichkeit seines Freundes den groͤßten Gefallen hatte, und vor Wonne, sich ihn so ganz eigen gemacht zu haben, ausser sich war, erscheint ein Maͤuschen. Mein Ka- ter, auf und davon, dem Maͤuschen nach. Und mein Kaͤtzchen — mit einem Zeterge- schrey — sinkt in Ohnmacht! Alle Kaͤtzchen kommen herbey; und wie sie hoͤren was gesche- hen ist, faͤllt es jedem aufs Herz, wie ihm eben das begegnen und noch einmal begegnen koͤnne. Da machen sie denn unter großem Geheul zu- sammen aus, daß sie jedesmal, wenn ihr Lieb- haber ihnen zu Fuͤßen laͤge, und sie ihn gern zu ihren Fuͤßen liegen saͤhen, das Geheul von heute wiederholen wollten, damit alle Maͤuse vor Schrecken sich tiefer in ihre Loͤcher verkroͤ- chen, und Liebhabertreue unangefochten ließen. So der Naturforscher Clerdon! Zu dieser Posse soll ich Dir noch eine ande- re, und zwar in demselben Briefe, von we- gen Amalia , der ich auch die Hand darauf habe geben muͤssen, hinterbringen. Und ganz ernsthaft soll ich dabey aussehen; denn es be- trifft eine Pommade, wovon einem die Haare wachsen, so lang und so viele, und wie und wo man es verlangt. Willst Du ein Front à la grecque ganz natuͤrlich, so daß Stirnhaar und Augenbraunen zusammen kommen? Es steht bey bey Dir. — Das ist aber nicht die Hauptsache; sondern die Hauptsache ist, Dir zu erzaͤhlen, wie wir dazu gekommen sind. Also: — gaͤhne so viel Du willst! — Also, sage ich: wir standen gestern Morgen am Fen- ster unten im Saal; ich, ganz reisefertig, in Erwartung des Cabriolets, welches den Au- genblick vorfahren sollte, um mich wieder nach Heimfeld zu bringen; neben mir Amalia und Claͤrchen: so standen wir, sage ich noch einmal, am Fenster, als eine wunderliche Gestalt von einem Menschen, mit einem Haarzopfe — ich luͤge nicht! — so dick wie Dein Arm, und Seitenhaaren wie Loͤwenmaͤhnen dicht an uns vorbeyschwebte. Gleich darauf hoͤrten wir klin- geln, und es wurde uns ein Franzose gemeldet, welcher kleine Toͤpfchen vorgezeigt und dringend um Gehoͤr gebeten haͤtte. Wir waren neugie- rig, die wunderliche Gestalt genauer zu betrach- ten, und ließen sie hereinkommen. Sie kuͤn- digte sich gleich als ein Zeichen und Wunder der Wahrheit an von dem, was in einer An- J zeige, die uns uͤberreicht wurde, geschrieben stand. In der Anzeige stand auch von Ma- dame Amon, „daß der Liebhaber an der „Menge ihrer Haare von dem Effekt der Pom- „made sich gleichfalls uͤberzeugen koͤnne.” — Nun ist allein die Frage: ob Du fuͤr einen gan- zen, oder nur fuͤr einen halben Dukaten Haare befiehlst? denn so sind die Toͤpfchen eingetheilt. Ich denke, da der Mensch einen so unermeßli- chen Haarzopf und so gewaltige Maͤhnen hat, Du haͤttest fuͤr einen halben Dukaten uͤberfluͤßig. NB! Auch wo keine Haare sind, noch waren, bringt diese Pommade welche hervor; bey jun- gen Leuten in zwey, bey aͤltern aber erst in drey Monaten. Verschiebe nicht, Amalien Deine Auftraͤge zu geben; sonst heißt es, ich haͤtte die Sache nur so obenhin, und wohl gar etwas unglaͤubig ausgerichtet. Sage mir, liebe Sylli, was ist die Glocke? Du denkst gewiß, es sey Mittag, weil ich so viel geschrieben habe, und verweisest mir, daß ich nun mit dem Ankleiden nicht zu rechter Zeit fertig seyn werde. Hoͤre; da schlaͤgt es sieben! und sieh die Sonne, wie sie eben uͤber das Eck meines lieben blauen Tisches sich herbey macht. Ich bin Punkt drey aufgestanden; und das ha- ben mir die haͤßlichen Katzen mit ihrem Poltern und Schreyen angethan. Sonst schlafe ich leicht uͤber dem Laͤrm selbst wieder ein, und bleibe nachher im Schlafe; aber die Erinnerung an Clerdons Posse machte mirs so laͤcherlich, daß ich vollends aus dem Schlummer kam. Da entschloß ich mich denn kurz und gut zum Auf- stehen. Du bist jetzt auch aufgestanden, und ich koͤnnte Dich meinen Brief beym Fruͤhstuͤcke lesen lassen, wenn nicht die Entfernung den ungluͤckseligen Bund mit der Zeit haͤtte. Laß mir diese ungereimte Klage hingehen, damit sie mir Weg mache, der Zeit und Entfernung zum Trotz, Dir meinen Brief zu Deinem heutigen Fruͤhstuͤcke wenigstens zu dedizieren . Em- pfange den Morgengruß, den ich von meinem blauen Tische her, unter dem frohen Gezwit- scher einer Menge Voͤgel, die in unseren Hecken und Obstbaͤumen flattern und nisten, an Dich J 2 abfertige, und der sich durch das alles hindurch recht frisch in einem Nu zu Dir hin begeben soll — Empfange ihn, und nimm ihn als eine Weissagung froher Tage in Dein Herz auf; laß ihn da gedeyhen; sprich zu seiner Weissagung: Es werde wahr! Lenore . XIV. Beylage zu Lenorens Briefe. L enorens Brief kam zu spaͤt, um noch gestern Abend mit der Post abzugehen, und das war recht gut, sage ich; denn nun kann ich Dir auch einen schoͤnen Morgen bieten, einen so schoͤnen als der von Lenore immer seyn mochte. Ich sitze oben, in dem gruͤnen Zimmer, und schaue uͤber die Castanienallee weg, gerad aufs freye Feld. Am Himmel herum schwebt duͤn- nes Gewoͤlk, so schoͤn bemahlt von der aufge- henden Sonne, daß es wohl schoͤner ist, als sie selbst; aber doch bin ich auf der Lauer, und meyne alle Augenblicke sie hervorbrechen zu se- hen. Wie meynst Du, daß es meinem Stumpf- naͤschen laͤßt, so hoch uͤber die hohen Gipfel weg in die Sonne zu blicken, gleich dem ma- jestaͤtischen Donnervogel ? Ich muß selbst daruͤber lachen. Aergerlich ist es aber doch, ein Gesichtchen zu haben, dem so etwas nicht laͤßt. Liebe Sylli, ich schaͤme mich jetzt, neulich J 3 daruͤber gemurrt zu haben, daß wir so fruͤh aufs Land sollten: aber Du weißt, Heimfeld ist eine Stunde weit von Clerdons Hause; und dann, wer haͤtte binnen unsern dreyfachen Mauern sich einbilden koͤnnen, daß draussen schon der Fruͤhling waͤre? Hecken und Straͤu- che gruͤnen; und uͤberall — aus der Erde her- auf — von allen Zweigen herab — faßt es einen doch so lieblich, aͤugelt einen an, o, so herzig, wie ein Mutterauge den angeschlunge- nen Saͤugling. Ich kann Dir nicht sagen, wie es mir ans Herz greift — so nahe, Sylli, so nah und immer naͤher, daß mir bange ist fuͤr meinen lieben May, wenn er kommt, ich moͤchte ihm wohl ein wenig untreu geworden seyn. Vorgestern spazierten wir nach Son- nenuntergang laͤngst den Ufern der Donau. Ich setzte mich hin und sang: „Maͤdchen, laßt euch die Freude schmecken.” Hinaufwaͤrts den Strohm sah es dunkel — dunkel und dunke- ler; — und hell und heller hinab. So sahen wir den Tag von dannen ziehn; und gerade uͤber uns die Nacht, ihm an der Ferse. Leise rauschte, nah an mir vorbey, der herrliche Fluß, und spiegelte den Himmel ab mit sei- nem Abendroth und schoͤnfarbichten Gewoͤlk und mit seiner Nacht. Ich erinnerte mich Deiner, beste Sylli, und segnete Deine Seele, mit der heitern Ruhe, welche rund um mich her uͤber alles, und auch uͤber mich sich ergoß. Beym Weggehen rief ich Dir, gute Nacht! Eben blickte der erste Stern hervor, und ich warf Dir einen Kuß zu. Hast Du ihn gefuͤhlt? Was ich beynah vergessen haͤtte ! — Die verlaͤumderischen Nachrichten von mir in Le- norens Briefe: wirst Du sie ungeruͤgt lassen? Einem Lamme, wie Dein Claͤrchen ist, so mitzuspielen! Aber bestrafe sie doch nicht zu hart, die arme Lenore; sie meint es so boͤse nicht im Grunde. Nur daß sie Dir so vor- luͤgen darf, das ist arg. Allein sie betruͤgt J 4 sich zuerst, und beschuldigt mich, die Nach- giebigkeit und Demuth selbst, der Rechtha- berey, aus bloßem Parteyeifer. Also sagt sie zwar das Ding das nicht ist , aber man kann ihr nicht Schuld geben daß sie luͤgt. Darum, liebste Sylli: Gnade fuͤr Lenore! Claͤrchen . XV. Claͤre an Sylli. Den 29ten Maͤrz. Liebe Sylli ! D u hast jetzt schon Lenorens Brief vom 22ten mit meinem Nachschreiben, und denkst, ich bin wieder zu Heimfeld; aber sieh, ich bin noch hier, und bleibe noch bis uͤbermorgen. Unterdessen ist es richtig geworden, daß je- mand anders bald nicht mehr hier seyn wird, und ich habe Dir dies, als eine sehr gute Nachricht, mit sehr schwerem Herzen zu berichten. Clerdon hat den Auftrag, wovon Du weißt, daß er ihn sich wuͤnschte, erhal- ten. Wir muͤssen uns also freuen. Nun ver- reist er aber auf Gott weiß wie lange; und daruͤber koͤnnen wir uns unmoͤglich freuen. Daß Du reisest: Das haͤtte sollen richtig werden! — Wird es denn nie? J 5 Ach, Sylli! Warum hat allein die Seele Fluͤgel! Und wie konnte sie mit ihren Fluͤgeln an den haͤßlichen Leim gerathen, der ihr das Gefieder so zusammen klebte, daß an kein Los- werden in dieser Zeit zu denken ist? Dein guter Plato spricht zwar von einem Schrinnen und Jucken an der Stelle der Fluͤgel, welches ein Zeichen des Losklebens seyn soll, und daß sie nun bald sich hervorthun werden. Aber ich glaube fast, der gute Mann hat uns das nur zum Zeitvertreibe erzaͤhlt; denn, wenn es wahr waͤre, wie lange haͤtten wir beyde, Du und ich, nicht schon andre als diese aͤrgerlichen Gaͤnsefedern, womit wir so leidig zu einander kommen. Oft, liebe Sylli, wenn ich mich im An- denken an Dich vertiefe, wandelt mich etwas an, wie ein Naheseyn von Dir. Es faͤhrt mir ein Schauer uͤber das Gesicht, und noch einer, und mir wird, als koͤnnte ich Dir ge- bieten, zu erscheinen. Wenigstens so wird es einmal seyn, sage ich mir dann zum Troste, und zuͤrne mit Cler- don, der, als Philosoph, mir diesen Trost zu nehmen sich verpflichtet fuͤhlt, und mich durch- aus uͤberreden will, wir wuͤrden in alle Ewig- keit sinnliche Wesen bleiben, folglich einen Koͤrper haben muͤssen. Ich will aber durchaus Haͤnde und Fuͤße nicht mit aus dieser Welt nehmen, und schlage sogar die Fluͤgel aus, im Fall sie mir an die Stelle geboten wuͤrden. Nichts von allem, was die gegenwaͤrtige Ein- richtung nur verbessern koͤnnte, steht mir an. Denn gesetzt, es besserte sich, nach La- vaters Vorschlag, mit unserer Gabelfoͤrmigen Einrichtung dergestalt, daß ich mit Einem Schritte von einem Stern zum andern kaͤme; so muͤßte ich doch schreiten , und haͤtte ja fast eben so viel zu thun, wenn ich diesseits der Milchstraße stuͤnde, und Du stuͤndest jenseits, um zu Dir zu kommen, als wanderte ich von hier nach E **. So lange Streben und Erstreben, Wollen und Vollbringen in gleichem Verhaͤltnisse, wie hier, ausser einander bleiben, wird keine sonderliche Seligkeit zu Stande kommen, wie groß auch der aͤusserliche Auf- wand dazu sey. Darum bestehe ich darauf, es muß doch anders seyn, als die Herren, um ja nur zu bleiben wie sie sind , es ha- ben wollen. Zwischen Clerdon und mir ist es dahin ge- kommen, daß wir uͤber diesen Punkt in offen- barer Feindschaft leben; denn ich gebe fuͤr jenseits der Erde meine ganze Sinnlichkeit auf, und streite fuͤr meine ganze Sinnlichkeit diesseits , daß man sie bey Ehren lasse; Clerdon hingegen will die Sinnlichkeit hier um alle Ehre bringen, und dann doch zuletzt mit ihr gen Himmel fahren. Ich bin schon einige mal recht boͤse geworden, und Clerdon ist auch boͤse geworden. Er hat ein Buch von einem Englaͤnder, Berkeley , vorn mit einem Kupferstiche, worauf ein Kind vorge- stellt ist, das nach seiner Erscheinung in einem Spiegel greift, und diese fuͤr ein wirkliches Wesen haͤlt. Daneben sitzt ein ehrwuͤrdiger Philosoph, der uͤber den Irrthum des Kindes lacht; und darunter stehen lateinische Worte, welche dem Philosophen, als dem Repraͤsen- tanten saͤmmtlicher ungeneigten Leser, bedeu- ten: er lache uͤber sich selbst . Von die- sem Buche wuͤrden mir die Kinderschuhe aus- fallen, sagte Clerdon. Da sie aber nicht aus- fielen, meinte er, er muͤsse mich einmal in die Hoͤhe heben und schuͤtteln, so wuͤrde es sich wohl geben. Allein es gab sich durch sein Nachhelfen nur noch weniger; denn ich fand: alles, was er vorbringe, laufe am Ende darauf hinaus, daß, weil wir nur mit den Augen saͤhen, nur mit den Ohren hoͤr- ten, wir auch nichts saͤhen, als unsere eige- nen Augen, und nichts hoͤrten, als unsere eigenen Ohren. Das wollte er nicht Wort haben, und wurde boͤse. Hernach drang er in mich, ihm zu sagen, was ich denn mit meinen Augen und mit meinen Ohren wei- ter saͤhe und hoͤrte, und trieb mich herum auf eine Weise, daß nun auch ich boͤse wurde. Er schilt mich eigensinnig und boͤsartig, weil ich mich von der Vernunft, die er mir wie Rinald seinen Feinden das enthuͤllte glaͤnzende Schild, bestaͤndig vorhaͤlt, nicht will blind ma- chen lassen. Aber ich kann nun einmal die Au- gen, die Nichts sehen, die Ohren, die Nichts hoͤren, und eine um lauter Nichts in alle Ewigkeit geschaͤftige Vernunft, nicht dul- den. Warum will er nicht, daß ich, was mir hier gegeben ist, fuͤr aͤcht und gut annehme, der Natur auf ihr ehrliches Gesicht glaube, und mich fuͤr dort auf etwas ganz neues freue; nicht blos auf ein Mehr von und zu Nichts. Da kaͤmen wir, sage ich ihm, ja immer aus einem Nichtsdahinter fuͤr uns , in ein ande- res. Sprich, ob ich nicht Grund habe, und wohl thue mich fuͤr die Kluͤgste zu halten? Der Aerger, den wir uns einander machen, Clerdon und ich, ist naͤrrisch genug; denn ihm ist es mit seinen Gespenstern, die nicht einmal als Ge- spenster etwas vorstellen, so wenig ein rechter Ernst, als es mir ein rechter Ernst ist, daß ich in jener Welt Dich nicht sehen und nicht empfin- den will. Ich soll nur der Buͤndigkeit der Schlußverkettung Gerechtigkeit widerfahren lassen, womit er meine arme Vernunft gern gefangen naͤhme, und zu einem bloßen Spuͤcke- ding fuͤr lauter Spuͤckedinger machte; seine Kunst soll ich nicht allein bewundern , son- dern mich auch daran erfreuen . Das will er dann und wann in vollem Ernste, und dann werde ich allemal in vollem Ernst auch boͤse. So standen die Sachen bis gestern Abend. Ich habe mich hingehen lassen im Schreiben uͤber diese Materie, weil ich von gestern Abend noch so ganz voll war; und so will ich Dir denn auch noch erzaͤhlen, was sich da zutrug. Der Finanzrath von Eck und Bibliothekar Soder brachten den Abend bey uns zu. Beyde hatten schon mehr von dem Hader zwischen mir und Clerdon gehoͤrt, und fragten, wie es darum stuͤnde. Auf Clerdons Antwort, diese Feind- schaft werde mit jedem Tage bitterer, konnte von Eck seine Begierde, einem Kampfe zwischen dem gewaltigen Clerdon und der gewaltigen Claͤre einmal beyzuwohnen, nicht verbergen, und ich beschloß, so von ganzem Herzen gut ich auch sonst dem Manne bin, daß er diese Lust nicht haben sollte. Clerdon hatte das Gegen- theil beschlossen; das sah ich auch, und es be- staͤrkte mich in meinem Vorsatze. Ungluͤcklicher Weise gelang es ihm bey Amalien, daß sie ihm half. Er erzaͤhlte auf die wunderlichste Weise meine Behauptungen und Einwendungen; fragte dann Amalia, ob es nicht so sey? worauf diese ihm entweder Recht gab, oder auf eine so bos- hafte Weise zu meinem Nachtheile ihn verbes- serte, und mich erlaͤuterte, daß es nicht aus- zuhalten war. Von mir war es sehr albern, mich so fangen zu lassen, da ich voraussehen konnte, daß bey dem entschiedenen Vorhaben der unartigen Leute, mich einmal recht boͤse zu sehen, mein Einreden nichts helfen wuͤrde. Dennoch kam ich ganz ertraͤglich davon; denn Amalia, sobald sie erreicht hatte, daß ich mich einließ, schlug sich unvermerkt auf meine Seite, und half mir wacker, besonders gegen die zwey Secundanten, die Clerdon nicht im Stiche las- sen durfte, und daruͤber oft einen harten Stand bekam. Der Muth, den mir das machte, hatte mich verfuͤhrt, etwas zuviel zu wagen, und ich war in einer ziemlich argen Klemme, da die Thuͤre aufgieng, und wir Allwilln, mit einer Rolle Papier in der Hand, ins Zimmer treten sahen. Clerdon rief ihn den Augenblick zum Richter auf, und, ohne die Amazoninnen zu fragen, ob sie den Schiedsmann sich wollten gefallen lassen, erzaͤhlte er ihm den ganzen Streit; diesmal — ich muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen — ziemlich ehrlich. Allwill entschied, ohne weiter zu fragen, fuͤr Amalien und mich. Darauf besann sich Clerdon, All- will koͤnne nicht Richter seyn, weil er uͤberall den Damen geschworen habe. Gut! sagte All- will; ich bin auch lieber geradezu Partey, und richte mit dem Schwerdt. Clerdon sollte sich entschließen, verlangte Allwill, entweder meine Beschuldigung gelten zu lassen: daß wir, nach seiner Philosophie, mit unsern Ohren uͤberall nur unsere eigenen Ohren hoͤrten; mit unseren Augen uͤberall K nur unsere eigenen Augen saͤhen; und so hinter den Augen und Ohren, ruͤckwaͤrts, bis zum Mittelpunkte der Empfindung, uͤberall nur Empfindungen empfaͤnden ; oder sich deutlich uͤber das erklaͤren, was wir mit unseren Augen nicht saͤhen, mit unseren Oh- ren nicht hoͤrten, und zuruͤck, bis zum Mit- telpunkte der Empfindung, durch unsere Em- pfindung nicht empfaͤnden, und welches nichts destoweniger Etwas , und zwar das eigentli- che wahre Etwas waͤre. Dieses wahre ei- gentliche Etwas, Kraft dessen und in Verglei- chung mit welchem wir alles andere, als ein Nicht -Etwas erkennen, und zu erkennen allein im Stande sind, muͤsse er zu Tage brin- gen; oder wir spraͤchen ihm die vernuͤnftige Moͤglichkeit, einen solchen Unterschied zwischen Etwas und Etwas zu machen, rein ab . Cler- dons Forderung an uns, ihm zuvoͤrderst ins Klare zu setzen, was wir mit unseren Augen und Ohren mehr als unsere eigenen Augen und Ohren saͤhen und hoͤrten, sey wider alles Recht und alle Form, da er offenbar der an- greifende Theil sey, und uns in einem wohl hergebrachten Besitze mit seinen Anmaßungen zu stoͤren unternehme. Wir bekennen, setzte Allwill hinzu, frey und ungedrungen, daß wir nicht begreifen, wie es zugehe, daß wir, vermoͤge einer bloßen Ruͤhrung und Bewegung unserer Empfindungs- werkzeuge, nicht allein empfinden , sondern auch Etwas empfinden; etwas von uns ganz verschiedenes gewahr werden, und wahrnehmen ; daß wir am allerwenigsten begreifen, wie wir uns selbst, und was zu unserem inneren Zustande gehoͤrt, unterschei- den und uns vorstellen koͤnnen, auf eine von aller Empfindung ganz verschiedene Weise. Aber es daͤucht uns weit zuverlaͤßiger, uns hier auf einen urspruͤnglichen Instinkt, mit dem alle Erkenntniß der Wahrheit anfaͤngt , zu berufen, als jenes Unbegreiflichen wegen zu behaupten: die Seele koͤnne empfinden, und auf eine unendliche mannichfaltige Weise vor- stellen — nicht sich selbst, noch auch an- K 2 dere Dinge, sondern solches einzig und allein , was weder sie selbst, noch was andre Dinge sind. Ich wurde roth und blaß vor Freude, daß Allwill die Worte zu meinen Gedanken gefun- den hatte. Hervor, Rinaldo, rief ich; her- vor mit dem blinkenden Schilde, damit wir nicht ernstlicher darauf bestehen, daß das Nicht -Nichts zu Tage komme! Zu meiner großen Verwunderung sah ich Feind Clerdon, anstatt boͤse zu werden, laͤ- cheln, und auch in seinen Augen sogar ei- nen gewissen Glanz von Freude funkeln. Keine Kriegslist wurde unversucht gelassen, um Allwilln aus seiner Schanze zu locken; und hier war ihm seine Minerva, (ich meine mich ) durch ihre Warnungen, nicht ohne Nutzen. Endlich mußte Clerdon, wenn er nicht mit Schimpf abziehen wollte, zum Aus- ruͤcken mit seinem Nicht-Nichts Anstalt machen; und da fieng es an, ihm und seinen Alliirten erst recht uͤbel zu gehen. Jedes Wort, womit sie ausruͤckten, wurde angehal- ten und entwafnet, indem Allwill zeigte, daß es den Sinn, den sie ihm hier geben wollten, ihrem eigenen System zufolge, durchaus nicht haben koͤnne, und, wo moͤglich, noch leerer sey, als das klare baare Nicht-Nichts un- vermittelt . Clerdon hatte Muͤhe nicht zu lachen, da ihm die Sprache immer enger und enger gemacht wurde, und er wohl voraus sah, wie ihm zuletzt nur ein Hauch ohne Ar- ticulation uͤbrig bleiben wuͤrde. Merken Sie sich doch, mein Fraͤulein, sagte Allwill zu mir, und bewundern Sie, wie uns diese Herren zum Besten haben. Sie fußen, wie wir, auf einen urspruͤnglichen In- stinkt, der uns gebietet , Wesen und Wahr- heit, als das Erste und Vesteste, unmit- telbar , vorauszusetzen; der uns folglich auch von Wahrheit und Wesen, unmittel- bar , eine Vorstellung geben muß; denn K 3 Gott selbst kann das Unmoͤgliche nicht befeh- len, und es ist eine platte Unmoͤglichkeit, Et- was vorauszusetzen, was auf keine Art und Weise, in einer wirklichen Anschauung gegeben ist. Dieses aber sollen wir uns nicht einfallen lassen, und noch weniger in Erwaͤgung zie- hen; damit wir nur ja vor der Niedertraͤch- tigkeit, uns zu einem blinden Gehorsam zu bequemen, recht gesichert seyen. Sie fragen trotzig: was so ein Instinkt fuͤr sich aufzuweisen habe ? Und wenn wir in aller Demuth antworten: er habe nichts, als seine Gewalt und Erstgeburt fuͤr sich aufzu- weisen; so ist ihnen das ein Graͤuel. Dennoch wollen sie das Ding des Graͤuels nicht so ganz verbannen, daß sie ihm nicht einen Namen ließen; es soll ihm vielmehr, als dem allein wahrhaften Nicht-Nichts, die hoͤchste Ehre gebuͤhren und oͤffentlich be- zeugt werden. Diesem Dienste, gienge er auch, was nicht unmoͤglich ist, von Herzen, muͤssen wir uns widerwaͤrtig zeigen, indem wir unse- ren Veraͤchtern die vollkommene Nichtigkeit ih- rer Anspruͤche, wenn sie auf ein wahrhaftes wesentliches Etwas auch nur die entfernteste Weisung ertheilen zu koͤnnen, ja nur ein verstaͤndliches Wort , es sey fuͤr die Sache oder ihre Weisung , zu haben sich vermessen, unaufhoͤrlich vor Augen stellen. Mit ihrem Nicht-Etwas, da es so durch und durch ein Nicht -Etwas ist, laͤßt sich, mit Fug und Recht, kein Doch Etwas verbinden, welches, als ein Nicht-Nichts auch nur in Gedanken sich zu zeigen faͤhig waͤre. Aller und jeder Weg diesem oder einem aͤhnlichen Ausdrucke Bedeutung zu verschaffen, ist unseren Widersachern, vermoͤge des syste- matischen Zusammenhangs ihrer Grundsaͤtze unwiderruflich abgeschnitten. Ihr wahrer vester Boden ist ein ausgemachtes, allgegen- waͤrtiges und ewiges Nichtsdahinter fuͤr den Menschen . Wenn sie dieses anerken- nen; hinfort nur ihre Graͤnze decken; ihre eigene Graͤnze nur immer vester machen wol- K 4 len: so, denke ich, koͤnnen wir zu einem Frie- den, selbst zu einer Art von Buͤndniß mit ih- nen uns verstehen, und aus Feinden Freunde werden. Wohl ! sagte ich; und bot Clerdon groß- muͤthig die Hand, der mir ein: weg mit dem Frieden ! zuruͤck gab; hoͤchstens einen Waffen- stillstand eingehen wollte: wie er versicherte, aus bloßer Menschlichkeit, damit die vielen Verwundeten auf unserer Seite gepflegt, meine Todten begraben werden koͤnnten. Unterdessen war meine allerliebste Heinun- gen mit ihrem treflichen Manne und der herzi- gen Albertine, die zum Nachtessen gebeten wa- ren, angekommen; und so machte sich der Waffenstillstand ohne weitere Tractaten. Ama- lia, die schon fruͤher einen Waffenstillstand wuͤnschte, hatte Allwilln die Rolle, womit er kam, aus der Hand genommen — es war eine Opernscene von Majo — und ihn von Zeit zu Zeit mit Fragen uͤber diese Scene unterbrochen, und sich ungeduldiger gestellt sie zu hoͤren, als sie es wirklich war. Jetzt, damit der Streit nur ja nicht wieder anfienge, fuͤhrte sie die Heinungen gleich in den anstoßenden Saal, und setzte Allwilln ans Clavier. Die anderen Herren blieben bey ihren Diskursen. Allwill schlaͤgt treflich das Clavier, und singt mit viel Geschmack und Ausdruck, ob- gleich er keine sonderliche Stimme hat. Wir alle waren von der neuen Scene ganz entzuͤckt. Die Oper heißt Iphigenia; und die Anfangs- worte des Recitativs sind: Chi resister potria. Es ist goͤttlich gesetzt, und die darauf folgende Arie: Ombra cara ch' intorno t' agiri, hat eine Fuͤlle und Majestaͤt, daß mich daͤuchte, ich waͤre noch nie von Musik so erschuͤttert und hingerissen worden. Nachher bat die Heinun- gen, ich moͤchte die wunderschoͤne Arie von Jo- melli : Se cerca, se dice, fingen. Der En- thusiasmus, worin ich war, half mir, daß ich sie vorzuͤglich gut heraus brachte. Allwill frag- te, ob mir die viel aͤltere, sehr einfache Com- K 5 position eben dieser Arie von Pergolese be- kannt sey. Ich hatte nie davon gehoͤrt. Er wußte sie auswendig, setzte sich ans Clavier, und ließ sie uns hoͤren. Als musikalisches Kunstwerk fiel diese Composition gegen die Jo- mellische gewaltig ab. Dagegen uͤbertraf sie diese, nach meinem Gefuͤhl, in demselben Maaße an Richtigkeit des Ausdrucks, an In- nigkeit und hoher Absicht. Besonders fand ich die Toͤne und ihre Bewegung zu den Worten: che abisso di pene …, so unuͤbertreflich ge- waͤhlt, daß jeder Versuch, es besser zu machen, mißlingen muͤßte, und selbst die heilige Caͤcilia im Himmel, wenn sie sich dergleichen koͤnnte einfallen lassen, damit zu Hause bleiben sollte. Allwill hatte große Freude an meinem Eifer, und plagte sich nun, uns noch zwey andere Compositionen eben dieser Arie von großen Mei- stern vorzutragen. Er brachte sie heraus, und beyde machten uns ungemeine Freude; aber was ich von Pergolese gesagt hatte, dabey bliebs, mit Allwills vollkommener Beystim- mung. Ich weiß kaum etwas angenehmeres, als die Gespraͤche, worin man zufaͤllig beym Aus- ruhen am Clavier geraͤth; denn es ist fast un- moͤglich dann auf andere, als sehr interessante Gegenstaͤnde zu kommen, und fuͤr ihre Behand- lung in einer besseren Stimmung zu seyn. Alles legt sich, wie von selbst, auseinander und wie- der zurecht — — — Da hoͤre ich Clerdons Wagen in den Hof rollen! Nun wird man gleich zu Tische rufen. Heute Abend, es komme was will, schreibe ich meinen Brief zu Ende. Abends um 10. Uhr. Clerdon und Amalia, die Armen, sind auf einem großen Schmause bey dem Praͤsidenten von S *. Ohne viele Muͤhe erhielt ich die Erlaubniß, zu Hause bey den Kindern zu blei- ben. Diese sind nun zu Bette, und ich will eilen, damit auch ich nach gethaner Arbeit ru- hen koͤnne. Gewiß hatte Sancho Pansa so unrecht nicht, daß er sich den als einen großen Mann lobte, der das Schlafen erfunden haͤtte. Wir sitzen also beym Clavier; Allwill da- vor, ich daneben, und dicht an mir Albertine, die sich um meinen Arm geschlungen hatte. Amalia war mit der Heinungen nach dem Ca- napee gegangen. Ich weiß nicht, sagte Allwill, indem er sich gegen mich wendete, und, melodramatisch , noch einige Accorde griff, — ob ich es Ihnen entdecken oder verschweigen soll? … Nun that er noch einige lebhafte Griffe auf dem Claviere, als wenn er, festgehalten von den Saiten, sich losreissen muͤßte; ruͤckte dar- auf seinen Stuhl ein wenig auf die Seite, legte die Haͤnde zusammen, und fuhr fort. Helfen Sie mir zurecht! Ich will es gern. Das ist mir geschehen unter dem Singen und Spielen, daß mir unsere gute Sache wider Onkel Clerdon verdaͤchtig wurde, und es mir schwer aufs Herz fiel, daß ich vielleicht zum Feinde uͤbergehen, und das wackere Cusinchen im Stiche lassen muͤßte. Rufen Sie sich die verschiedenen Namen, welche wir dem, was wir hoͤrten, gaben, ins Gedaͤchtniß zuruͤck; wir nannten es schoͤn, ruͤhrend, erhaben, majestaͤtisch, himm- lisch, Goͤttlich ; und keiner von uns meinte damit wohl etwas, was sich von den Saiten des Instruments abloͤste, und ihm vor den Ohren klaͤnge, sondern die Empfindungen in seiner eigenen Brust ; Empfindun- gen, welche nicht durch jedes Ohr in jede Brust mit denselben Toͤnen kommen; die wir also selbst erzeugten, und die in keinem ganz dieselben waren. Hieruͤber werden wir ohn- gefaͤhr einig seyn. Aber nun, was die Toͤne selbst, als bloße Toͤne, angeht! Clavier und Stimme hoͤrten wir wirklich. Dazu kamen, in der Vorstellung, die Flau- ten, Geigen und Hoͤrner, welche wir in der Partitur lasen; und Ihnen brauche ich nicht zu sagen, welche Wirkung diese Begleitung auf unsere Einbildungskraft machte. Neh- men Sie fuͤr einen Augenblick an, alle diese Instrumente waͤren gegenwaͤrtig gewesen; und hernach denken Sie das menschliche Ohr sich weg: was bleibt? — Nichts, als eine so oder anders erschuͤtterte Luft; kein Flauten- Hoͤr- ner- Geigen- oder Clavier-Ton. Alle diese verschiedenen Toͤne sind allein in Ihrem Ohr; und ihre mannichfaltigen Erscheinungen loͤsen sich in ein reines Vermoͤgen zu hoͤren , als ihre erste Quelle, den Grund ihrer Moͤg- lichkeit, auf. Wir werden also durchs Gehoͤr, wenn wir etwas anders, als das blosse Hoͤren selbst, dadurch gewahr werden, ein blosses Nicht-Nichts gewahr; denn der Ton ist offenbar ganz und allein in uns, und bezeich- net nur eine Modification unseres reinen Ver- moͤgens zu hoͤren, zu welchem Etwas, ein Nicht-Nichts hinzukommt. So entsteht ein Hoͤrender und ein Gehoͤrtes , die beyde uͤbrigens in unserer Vorstellung ein bloßes Nicht-Nichts sind. Verfolgen Sie diese Betrachtungen, und sagen Sie mir, ob wir nicht dem Onkel, wenn er sich gehoͤrig damit bewafnete, wuͤrden unterliegen muͤssen? Wenn Sie, antwortete ich, unter dem Worte gehoͤrig nicht etwas noch ganz beson- deres verstehen, so hat Clerdon in dieser Ruͤ- stung schon vor mir, und auch vor Ihnen ge- standen; und ich kann nicht finden, wo das Eigene darin ist, welches Ihnen so ploͤtzlich allen Muth zu Ihren kurz zuvor noch mit Gluͤck versuchten Waffen benommen hat. Was Sie von den verschiedenen Instrumenten in Bezie- hung auf das reine Hoͤren sagten; eben das laͤßt sich von den verschiedenen Sinnen in Be- ziehung auf den gemeinschaftlichen inneren Sinn behaupten; so, daß, wie allem wirklichen Se- hen ein reines Sehen von Nichts ; al- lem wirklichen Hoͤren ein reines Hoͤren von Nichts u. s. w. zum Grunde laͤge: allem Em- pfinden uͤberhaupt auch ein reines Empfin- den von Nichts zum Grunde liegen muͤßte, und es sich am Ende zeigen wuͤrde, daß die Wurzel , die tiefste eigentlichste Wur- zel des Lebens, ein bloßer leerer Raum der Empfindung, ein Bewußtseyn ohne Bewußt- seyn, ein reines Vermoͤgen zu leben, von und zu Nichts waͤre. Allwill laͤchelte. Ich erzaͤhlte ihm jetzt noch von einem ungedruckten Aufsatze, den ich ein- mal fuͤr Clerdon abgeschrieben, und wovon ich, mit seiner Bewilligung, auch fuͤr mich eine Ab- schrift genommen haͤtte. Aus diesem Aufsatze fuͤhrte ich ihm folgende Stellen, die ich aus- wendig wußte, an. „Unsere Vernunft ist jenem blinden Theba- nischen Wahrsager, Tiresias , aͤhnlich, dem seine Tochter, Manto , den Flug der Voͤgel beschrieb: er prophezeyte aus ihren Nachrichten. „ .... Unsere Gedanken sind nichts als Frag- Fragmente. Unser Wissen ist Stuͤckwerk. Die sichtbare Welt muß dem zum Himmel erschaf- fenen Geiste eine Wuͤste scheinen, aͤhnlich jener Wuͤste, worin sich fuͤr Tausende, welche der Hunger verzehrte, nur fuͤnf Brodte und zwey Fische fanden. Aber die Brodte, die uns Gott auftraͤgt, moͤgen noch so kuͤmmerlich aussehen, die Fische noch so klein seyn; sie sind gesegnet: wir mit ihnen sind gesegnet von einem allmaͤch- tigen, wunderthaͤtigen, Geheimnißvollen Gott. „ .... Ist es nicht unser Geist selbst, der uͤber seine Entfernung vom Wahren und Wesentlichen klagt; durch diese Klage seinen hohen Ursprung verraͤth; selbst ein Zeichen da- von giebt, dadurch, daß er sich als einen Schoͤpfer uͤber die sinnlichen Eindruͤcke er- hebt, daß er sie fruchtbar macht, sie zu einem Geruͤste fuͤgt und baut, um den Himmel zu ersteigen, oder — sich Goͤtzen schafft, fuͤr die er Ziegel brennt und Stoppeln zusammensucht. „.... Jene philosophische Neugierde, L die sich uͤber Daseyn und Ursprung des Unvoll- kommenen, Nichtigen und Boͤsen beunruhiget und wundert: sollte sie nicht fuͤr ein dunkles Bewußtseyn des Goͤttlichen Ebenbildes in un- serer Vernunft gehalten werden duͤrfen? .... Niemand ist gut, als der Einige Gott ! Anstatt also zu fragen: wo kommt das Unvoll- kommene, Nichtige und Boͤse her? sollten wir die Frage vielmehr umkehren, und uns wun- dern, daß endliche Geschoͤpfe faͤhig sind, nach Wahrheit zu fragen, das Gute sich selbst zu gebieten, und auf Gluͤckseligkeit Anspruch zu machen? „Alle Erscheinungen der Natur sind Traͤu- me, Gesichte, Raͤthsel , die ihre Bedeu- tung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Schiffern , verborgene Zeichen, die einen Schluͤssel fodern, welchen auch diejenigen, die eine Offenbarung glauben, zu derselben Aus- legung beduͤrfen, und welcher selbst die Ab- sicht, die einzige Absicht einer Offenba- rung, und der Beweiß ihrer Eingebung seyn koͤnnte.” Der Herausgeber ist im Besitze der Hand- schrift, woraus diese Stellen gezogen sind. Sie ist uͤberschrieben: London , den 16ten May 1758. Ein Fragment von anderthalb Bogen, voller Luͤcken. Aber so wie es ist, soll es dem Publikum, mit andern Fragmenten, einst mitgetheilt werden. Allwills stille Aufmerksamkeit, seine ganze Geberde, die den Ausdruck hatte, als moͤchte er sich gern verbergen, um mein Gedaͤchtniß nicht zu stoͤren; die einzelnen Worte, womit er die kleinen Pausen, wenn ich mich von ei- ner Stelle zur andern besann, ausfuͤllte: das alles war sehr gut. Am besten war sein Auge, aus dem sich eine Heiterkeit ergoß, die sein Gesicht uͤberall wie durchsichtig machte, und eine wirklich schoͤne, ich moͤchte sagen from- me Seele, die sich nicht verbergen L 2 konnte , sehen ließ; — „an eye full of gentle salutations and soft responses.” — Es war aber nicht gut, daß er zuletzt mit seinen beyden Haͤnden ploͤtzlich meine Hand er- griff, und mit einer Lebhaftigkeit sie kuͤßte, daß ich davon erschrack, und mich die Furcht anwandelte, ich moͤchte blaß geworden seyn, und nun saͤhe das Allwill. Aber er hat nichts gesehen; dafuͤr stehe ich Dir. Das ist es, sagte er, daß der Urheber der Welt nur nach seinem Bilde schaffen konnte, und jedem Wesen so viel Wahrheit geben mußte, als er ihm Leben ertheilte. Wir scheinen ein Hauch, oft nur der Schatten eines Hauches zu seyn; oder wie ein alter Dichter sich ausdruͤckte: eines Schattens Traum . Aber ein Wesen, das nichts als Schatten; ein Wesen, das lauter Traum waͤre, ist ein Unding. Wir sind , wir leben , und es ist unmoͤglich, daß es eine Art des Lebens und des Daseyns gebe, die nicht eine Art des Lebens und Daseyns des hoͤchsten Wesens selbst waͤre. Toͤne, Farben, und was alles wir noch sonst, als bloßes Sinnenspiel und wesenlose Taͤuschungen betrachten moͤgen, wird einmal als Anschauung des Wahren aus einem groͤßeren Zusammen- hange neu hervorgehen, und den Grund des Mißverstandes uns erkennen lassen, der uns so unsaͤglich geneigt machte, in das Buch der Natur einen besseren Sinn immer nur hinein radieren zu wollen Diese letzten Worte scheinen auf eine Stelle des Tristram Shandy Th. III. C. 37. an- zuspielen. . Wir wurden durch die Botschaft: das Nachtessen sey aufgetragen, unterbrochen. All- will fragte mich noch beym Aufstehen vom Clavier: ob ich mit Plato bekannt sey ? — Weiter nicht, sagte ich, als durch das, was Clerdon uns von Zeit zu Zeit daraus erzaͤhlt haͤtte. So wuͤßte ich, z. B. daß die Seele Fluͤgel haͤtte und wieder bekommen koͤnnte. — L 3 „Mit dem Gespraͤche, worin dies vorkommt, „sind Sie nicht naͤher bekannt?” — Nein! — „Auch nicht mit dem Jon ?” — Nein! — „Mit Theages?” — Nein! Allwill suchte, wie er beym Nachtessen ne- ben mich zu sitzen kaͤme. Das mißlang, und ich sah es gern mißlingen. Warum ich es gern mißlingen sah? — Aus mehreren Ur- sachen, liebe Sylli! Aber ich will Dir nur gleich die schlimmste offenherzig beichten, damit Du nicht glaubst, ich wollte Dir, oder gar mir selbst etwas verheimlichen. Ja, beste Sylli, ich war Allwilln an diesem Abend sehr gut geworden; ganz anders gut, als ich es bis dahin gewesen war: und das haͤtte mich auch weiter nicht gestoͤrt, wenn ich nicht so son- derbar erschrocken waͤre, da er mir die Hand kuͤßte. Von dem Augenblicke an war ich ver- legen, und aͤrgerte mich, daß ich es war. Das sollte wohl vergehen, dachte ich, wenn wir nur erst vom Claviere weg, und wieder zu der uͤbrigen Gesellschaft kaͤmen; und das haͤtte gewiß auch nicht gefehlt, waͤre nicht Allwills sichtbare Begierde, bey Tische neben mir zu sitzen, dazwischen gekommen. Mir wurde bange, alle saͤhen es; und konnte doch nicht dawider, daß es mich freute. Also neuer Aerger, und noch mehr neue Ver- legenheit. — Wenn Dir das Angst macht, liebe Sylli, so kann ich nicht dafuͤr. Und ich muß Dir noch mehr entdecken: dieses nehmlich, daß ich mir unmoͤglich vorstellen kann, und es auch nicht will , daß es mit Allwill so arg sey, als Du es machst. Was soll denn einen Menschen gut machen, wenn nicht das, was Allwill in so reichem Maaße in sich traͤgt? Des Guten und Schoͤnen in ihm ist zu viel, als daß es nicht dem Boͤsen Meister werden sollte. Wenn auch, wie Du versicherst, zu- gleich etwas ruchloses in ihm ist, so ist es ihm angethan ; es ist nicht sein Eigenes; und nie- mand wird froher seyn, als er selbst, diesen boͤsen Geist los zu werden. Um anders zu den- ken, muͤßte ich nicht dem armen Allwill allein; ich muͤßte der menschlichen Natur gram wer- L 4 den; und welche Freude koͤnnte ich denn noch am Leben haben? Der bloße Gedanke schlaͤgt mich nieder, und macht mich wehmuͤthig — — — Gute Nacht, Sylli! Gute Nacht, Du Liebe, liebe, liebe! Den 30ten Maͤrz. Ich war heute, nach dem Fruͤhstuͤcke, wie- der herauf in mein Zimmer gegangen, um, was ich gestern Abend geschrieben hatte, zu uͤberlesen, und dann meinen Brief zu siegeln, als gleich darauf Clerdon und Amalia mir nachgesprungen kamen; jener mit einem offe- nen Briefe in der Hand, den er mir vorhielt; diese, mit dem noch gefaltenen Einschlusse. Es waren Deine Briefe vom 18ten und 20ten. In demselben Augenblicke standen wir auch schon dicht beysammen, um mit einander zuerst den Brief an Clerdon zu lesen. Da fielen mir, als waͤren sie mit anderer Dinte geschrie- ben, gleich die Worte in die Augen: „ Claͤr- chen traf eine Saite, die bebte lan- ge !” — Du kannst Dir vorstellen, wie das auf mich zuruͤck wirkte. Und was nun folgte; und weiter, weiter bis ans Ende. Mir daͤuchte, ich waͤre in meinem Leben so nicht erschuͤttert worden. Und doch ergriff mich der melancholische Gesang in dem Briefe an Ama- lia noch mehr. Dasselbe wiederfuhr Amalien und auch Clerdon. Ach, die liebe Meli ! … Du haͤttest sie sehen, sie hoͤren sollen! Wie ich da wieder fuͤhlte, daß ich neben ihr doch so gar Nichts bin. In allem ist sie so ganz , mit Sinnen Herz und Geist; und herrscht wieder uͤber alles, man weiß nicht durch welche Kraft . Mir konnte Gott kein groͤßeres Zeichen geben, als ich eins an diesem wunderbaren Weibe habe. Und nun begreife, warum mein Brief so zerknittert aussieht. Nachdem wir Deine Briefe gelesen hatten, und waͤhrend wir daruͤber spra- chen, schien es mir unertraͤglich, mein Ge- schreibe an Dich abzuschicken. Es uͤberkam mich ein solcher Ekel und Verdruß an dem Ge- schwaͤtze, daß ich die Bogen, die gerade auf dem L 5 Tische lagen, zusammenknuͤllte, um sie hernach ins Feuer zu werfen. Clerdon riß sie mir aus der Hand, und hat mich uͤber Tische, nicht blos beredet, sondern mir durch Amalia befehlen lassen, sie Dir zu schicken. Kurz vor Tische kam ein Brief an mich von Allwill, der mich verlegen macht. Amalia ist daran, ihn abzuschreiben, damit ich ihn beyle- ge. Sie und Clerdon wuͤnschen es. Du wirst fragen, was Clerdon zu dem Briefe gesagt habe? Er laͤchelte beym Lesen mit einer etwas be- denklichen Miene, und sagte hernach: „ Da muͤssen wir doch zusehen . Cusinchen, nimm Dich in Acht !” — Ja wohl; Cu- sinchen, nimm Dich in Acht ! Nicht wahr? Amalia laͤßt Dir, unter tausend Gruͤßen, sagen, was Du jetzt gewiß schon weißt; daß sie Dir den 20ten geschrieben hat. XVI. Allwill an Claͤre. Den 30ten Maͤrz. V erzeihen Sie, meine liebenswuͤrdige Cusi- ne — zuerst diese etwas vertraulichere Anrede, wegen der mich Clerdon, den ich Onkel nen- nen darf, entschuldigen mag; — verzeihen Sie, holde Claͤre, wenn ich Ihnen bringe, was Sie nicht gefodert haben. Es ist der Ver- such eines Schuͤlers, der von seinem Meister gern erfahren moͤchte, ob er ihn genug verstan- den hat, und der, von Schuͤchternheit und Ei- telkeit in gleichem Maaße geaͤngstigt, gern einen Dritten ins Spiel bringt, mit dem er sich decken, oder hinter den er sich verbergen koͤnne. Sokrates, der Jugendfreund , soll mich vertreten; soll mich unter seine Fluͤgel nehmen. Zu diesem kam ein Juͤngling, mit Namen Theages , gluͤhend von Begierde, in seinem Umgange Weisheit zu lernen. Um ihn zu pruͤfen, that der Mann mit dem Genius seinem Verlangen Widerstand. Er rieth ihm, sich an einen unter den vielen be- ruͤhmten Maͤnnern zu wenden, welche den Vortheil in ihrer eigenen Gewalt haͤtten, womit sie andern Menschen fortzuhelfen wuͤßten; und nicht wie er einem Genius , ohne den er nichts ver- moͤchte, unterworfen waͤren. Des Sokrates Widerstand machte den Juͤng- ling traurig. Ach, sagte er zu seinem Vater Demodokus , in dessen Begleitung er gekom- men war, und der fuͤr ihn das Wort fuͤhrte: Sokrates treibt nur sein Spiel mit uns, indem er diese Dinge redet; denn ich kenne einige, die mit mir entweder gleiches Alters, oder auch noch etwas aͤlter sind als ich, welche, ehe sie mit diesem Umgang hatten, nichts taugende Leute waren; nachdem sie aber in seine Gesellschaft gekommen sind, so sind sie in sehr kurzer Zeit viel besser geworden, als alle diejenigen, die sonst besser waren, als sie. Dieses laͤugnete Sokrates nicht, sondern versicherte nur, es duͤrfe ihm , seiner Kunst und gutem Willen dieser gluͤckliche Erfolg nicht bey- gemessen werden. Er selbst habe bey Einem dieser Juͤnglinge, der ein Enkel des Aristides gewesen, sich erkundigt, wie es zugegangen sey, daß er so großen Vortheil aus seinem Umgange gezogen, da er ihn doch nie etwas gelehrt habe, und darauf folgende Antwort erhalten: „Wie „du selbst sagst, o Sokrates, hast du eigent- „lich mich nie etwas gelehrt; aber ich nahm „zu, so oft ich bey dir war, auch wenn ich nur „in demselben Hause mit dir lebte, ohne in „Einem Gemache mit dir zu seyn. War ich „aber mit dir in demselben Gemach, so daͤuchte „mir, ich gewoͤnne noch mehr. Waͤhrend du „redetest, gewann ich vielmehr, wenn ich dich „ansehen, als wenn ich dich nicht ansehen konn- „te. Am allermeisten aber und aufs hoͤchste „nahm ich zu, wenn ich neben dir saß, so daß „wir einander beruͤhrten.” Holde Claͤre ! der Sinn dieser Worte uͤbernahm mich in dem Augenblick, da ich vor- gestern, wie ein Begeisterter, Ihre Hand er- griff, um meinem Dank einen Ausdruck zu ver- schaffen, und mit groͤßerem Danke mein Herz von neuem und auf immer zu erfuͤllen. Sokrates gab dem flehenden Juͤngling, den sein Vater unterstuͤtzte, endlich nach. „Wir muͤssen also, sagte Theages, uͤber „unsern Umgang den Willen des Daͤmons er- „forschen; und wenn er sich uns sogleich nicht „guͤnstig zeigen sollte, das Goͤttliche , was „dir beywohnt, durch Gebet und Opfer und „jedes fromme Mittel zu gewinnen trachten.”— „Nun denn,” sagte Sokrates zuletzt, „ wenn „es euch scheint, daß wir es so machen „muͤssen, so wollen wir es so machen .” Gluͤcklicher Theages, dem die gute Vorbe- deutung seines Namens: Eines von Gott geleiteten , Wahrheit und Erfuͤllung wurde! Von noch einem Juͤnglinge erzaͤhlt Plato, der hieß Phaͤdrus . Dieser Phaͤdrus war der Schuͤler und Liebling eines redseligen Weisen, mit Na- men Lysias ; und Sokrates fand ihn eines Tages in der vollen Bewunderung einer kuͤrz- lich von seinem Freunde und Lehrer gehaltenen Rede, worin von der begeisternden Liebe des Schoͤnen lauter Boͤses; von der nicht begeisternden Liebe des Vortheilhaften lauter Gutes gesagt wurde. Sokrates noͤthigte den Phaͤdrus, ihm die Rede vorzulesen, und fand, nicht allein die Weisheit , sondern auch die Kunst des be- ruͤhmten Mannes seicht. Es laufe beym Lysias, bemerkte Sokrates, alles darauf hinaus, daß der Klugheit der Vorzug vor der Unbesonnenheit gebuͤhre. Da mit dem Schoͤnen, sage Lysias, das Ange- nehme so nahe verwandt sey, daß sie uͤberall gemeine Sache mit einander machten; das An- genehme aber leicht dem Vortheilhaften vorge- zogen werde: so faͤnde sich zuletzt, wenn man, was der Begierde und was der Vernunft zugehoͤre, richtig unterschiede, daß sich die Liebe des Schoͤnen zur Liebe des Nuͤtzlichen verhalte, wie das Laster zur Tugend; wie zum Zustande der Besonnenheit der Zustand der Rase- rey . Diese Seite , versicherte Sokrates, koͤnne noch mehr hervorgezogen, schaͤrfer gestellt, und dann mit besserem Erfolg, als es von Lysias geschehen sey, das Ding der Ueberlegung uͤber das Ding der bloßen Empfindung erhoben, und die reine Sache des Buchstabens wider die un- reine des Geistes vertheidigt werden. Phaͤdrus zwang ihn zum Beweise; worauf Sokra- Sokrates sich verhuͤllte, damit er nicht vor Schaam in seiner Rede stecken bliebe; alsdann zu reden anfieng, und sein Wort wahr machte. Nach geendigter Rede enthuͤllte sich Sokra- tes, um, mit entbloͤßtem Angesicht, durch ei- nen oͤffentlichen Widerruf den Gott der Liebe zu versoͤhnen, den er, wider Willen, haͤtte laͤ- stern muͤssen. „Ich kann es dem Lysias zugeben, sagte Sokrates, daß die Liebe des Schoͤnen, ihrer Natur nach, unbesonnen, und, da sie, in ih- rem hoͤchsten Grade, den Menschen ausser sich setzt, eine Gattung der Raserey sey. Ich kann dieses zugeben, ohne darum aufzu- hoͤren, diese maͤchtige Liebe, als das wahrhaft Goͤttliche im Menschen anzubeten. „Was aller menschlichen Besonnenheit vor- hergeht; was ihr im Menschen Moͤglichkeit und Daseyn, Gegenstaͤnde, Antrieb, Leitung und Gesetze giebt; ist uͤber jede mittelbare M Geschaͤftigkeit und duͤrftige Nachhuͤlfe dersel- ben so weit erhaben, als die Spruͤche der Pythia zu Delphi uͤber das Waͤhnen von Zei- chendeutern aus Eingeweiden und Vo- gelflug. „Wenn der Gott in deiner Seele dir nicht wahr sagte , so wuͤrdest du vergeb- lich auf Wahrheiten Dich besinnen, uͤber Wahrheit etwas ausmachen wollen. Es kaͤme weder Besinnung noch Besonnenheit in dir zum Vorschein. „Was der Mensch fuͤr sich allein ersinnen kann, ist leere Muthmaßung und Meinung, wodurch er schaͤdlicher, als durch den Trieb der Lust, mißleitet wird; alle seine Verrich- tungen aus sich allein sind ohne Kraft und Wuͤrde. Siehe jenen Thoren, der ohne die unmittelbare Begeisterung der Musen sich dem Tempel der Dichtkunst naht, in der Meinung, es sey an der bloßen Kunst genug. Er wird als ein Todter unter Lebendige kommen, und sein Dichten, als eines blos Vernuͤnftigen, wird gegen die befluͤgelten Spruͤche des Be- geisterten wie nichts seyn. Siehe jenen an- dern, der auf menschliche Besonnenheit ge- gruͤndet, blos sterbliche und kaͤrgliche Vortheile und Dienstleistungen zur Absicht hat; er wu- chert mit lauter unedlen Gesinnungen; hat und erzeugt keine Tugend, obgleich der ge- meine Haufen ihm das Lob der Weisheit und der Tugend ohne Maaß ertheilt, und hinge- gen den von Gott begeisterten, der nur, in dem was Goͤttlich ist, zu leben strebt, und, im Verlangen nach diesem Hoͤheren alles Ir- dische zu klein findet, als einen Schwaͤrmer, als einen Unsinnigen und Rasenden ver- spottet. „ Worte koͤnnen nur an schon bekanntes erinnern; und alles ist todtes Wort und sinn- loser Buchstabe, ohne den Geist der Deu- tung , der in unmittelbarer Anschauung und Erkenntniß sein Wesen hat, und der alleinige Geist der Wahrheit ist: unzuverlaͤßig den M 2 Rohen ; den Weisen aber sicher und gewiß .” „Unzuverlaͤßig den Rohen .” Im Griechi- schen ( Tom. III. p. 245. c. Ed. Bipont. X. p. 318.) steht δεινος, welches Ficinus hier contentiosus , und im Jon, wo es haͤufig vorkommt, peritus (Tom. I. p. 532. a. Ed. Bipont. IV. p. 182.) uͤbersetzt. Kleuker hat wie Allwill, oder dieser wie jener uͤber- setzt, welches dem Herausgeber fuͤr seinen Freund Kleuker nicht weniger lieb ist, als fuͤr Allwill. Der Herausgeber, nachdem er mit Muͤhe und Verdruß die durch den ganzen Phaͤdrus zerstreuten Stellen, worauf Allwill Bezug nimmt, zusammengelesen hat, wuͤrde noch ganz andre Dinge zu erinnern haben, wenn es der Muͤhe lohnte. So scheint Allwill sogar ignoriert zu haben, daß es fast streitig ist, ob die Griechen von Zei- chendeutern aus Eingeweiden wußten. Edle Freundinn! — lassen Sie mich hoͤ- ren, ob ich, oder ob ich nicht mit meinem Plato auf dem rechten Wege bin? Zum Beweise aber, daß ich den Weg, den ich fuͤr den rechten halte, nicht seit gestern, der Begleitung wegen, erst betrat, erhalten Sie hier, in betrauter Abschrift, noch ein Selbstgespraͤch von mir. Ich verfiel in dieses Selbstgespraͤch am zwanzigsten May des vorigen Jahrs, im An- gesicht der herrlichen Linde auf meines Vaters Landhause, die Sie kennen. Daß meine Urkunde nicht eine Erdichtung ist, werden Sie mir auf mein Wort, wenig- stens auf einen Schwur bey jener Linde glauben. Erquickendes Gruͤn, die lieblichste Farbe im schoͤnsten Wechsel, tanzend und spielend mit dem Lichte, — das ist es — Ja das, und wei- ter nichts, was deinen Blick an diese leisewe- M 3 hende Lindenkrone heftet; was mit sanftem Ent- zuͤcken deinen Busen fuͤllt; in dir alle Regun- gen der Liebe weckt, und dich begeistert! Das und weiter nichts? … Jener Leben und Liebe erweckende Schein, eine Schrift oh- ne Sinn und Sprache? Davon klopfte mir so das Herz, draͤngte mich so mein Geist, heiterte sich mein ganzes Wesen so; daß ich leere Zuͤge ohne Bedeutung anschaute? Stille! — und naͤher hinzu! O rede, suͤßes Farbenspiel; rede und enthuͤlle mir deine Wahrheit; denn auch in dir muß Wahrheit seyn! Du winkest mir aus deiner Herrlichkeit auf jene Blaͤtter im Erstreben ihres hoͤchsten Da- seyns, wie sie laͤngst den saftvollen Aesten in jugendlicher, kraftvollster Gestalt sich bruͤsten — Du winkest … O, hoͤher schlaͤgt mir das Herz, froͤhlicher schwingt mein Geist seine Fluͤ- gel: Ich sehe! — Die ganze Fuͤlle , die ganze Kraft des Wesens da; das war es, was mich ergriff, mich durchdrang, sich mir darstellte, als ich erkannte und nicht wußte vor Entzuͤcken! Wohl uns! So bringt die Natur ihren ge- sammten Inhalt dem Menschen ans Herz, und unterrichtet ihn auf die lieblichste Weise un- mittelbar . Warum verstocken wir gegen sie unser Herz? Warum mißtrauen wir ihrer Weis- heit und Liebe? Warum wollen wir ihre Offen- barungen fuͤr Trug; ihre Anweisungen fuͤr Fall- stricke; ihre hohe Regierung fuͤr den Taumel ei- nes Unsinnigen halten? M 4 XVII. Sylli an Clerdon S. den XV ten Brief am Ende. S. 168. . Den 18ten Maͤrz. I ch habe Euren lieben schoͤnen Brief aus Heimfeld S. den VIII ten Brief. ; will ihn beantworten, Euch dafuͤr danken, und kann nicht. Tief geruͤhrt hat mich Euer Schreiben; es hat mich auch gefreut, gewiß recht sehr gefreut; aber mich er freuen, mich erwecken, das hat es nicht gekonnt. O, Ihr Lieben! daß ich mir dies gestehen; Euch dies Bekenntniß ablegen muß! Claͤrchen traf eine Saite, die bebte stark. Ja! was einmal so hell wach in mir geworden ist, das laͤßt sich nicht decken, viel weniger toͤdten. Manchmal ist mirs auf Augenblicke, als gaͤbe sichs; wuͤrde sich allmaͤhlich geben: und dann gleich sitze ich wieder da, den Kopf in der Hand, und weiß mich nicht zu lassen. Glaubt mir, meine Lieben, Besten! ich trage Euch im Herzen noch eben warm, wie es da herum auch oͤfter schaudern mag. Lieber Clerdon, ich schaͤme mich, es Dir zu sagen. Vor nenn Monaten, bald nach mei- nem letzten Besuche bey Euch, schien es mir, als vergaͤßest Du mich ein wenig, naͤhmest weniger Antheil an mir; Deine Freude an mir wuͤrde alt. Amalia kam in Wochen und litte lang. Eben deswegen schrieben auch Lenore und Claͤrchen seltner und wenig. Du verstumm- test beynah ganz. Ja, Lieber, Du versaͤum- test mich , Du , der naͤchste Anverwandte, der Blutsfreund meiner Leiden! Ich klagte nicht, sondern versank in Gruͤbeley. Diese und ein schreckhaftes Wesen blieben mir. M 5 Mir daͤuchte, es waͤre mir ein Licht uͤber den Zusammenhang meiner Schicksale aufgegangen; ich fand sie nicht mehr so ausserordentlich — ach! und es wurde so oͤde um mich herum; in mir so todt! Es ist entsetzlich, wie ich mich herunter ge- traͤumt habe, immer mehr und mehr, und desto tiefer, je entfernter und dunkler mir der erste Anlaß wurde. Lieber! Was ich mir nicht verbergen kann: auch Wahres, viel Wahres ist mir in meinen Traͤumen erschienen. Dies Wahre kann ich mir, und will ich mir auch nicht wieder unwahr machen. Da nun heraus zu kommen — wie? Das sehe ich noch nicht; das aͤngstigt mich! Ich soll mich so gut ich kann zusammenraf- fen, schriebst Du neulich S. den III ten Brief. . Nein, Lieber! nur so gut ich kann , will ich mich nicht zusammenraffen. Angegriffen im Mittelpunkte meines Wesens, muß mir aus dem Mittel- punkte meines Wesens Huͤlfe, volle Huͤlfe kommen. Sie wird kommen; Du sagst es; ich sage es auch. Jeder merkwuͤrdige neue Zustand leitet zu neuem Rath, zu neuen Mit- teln. Wie oft ist mir gewesen, so, daß ich glaubte, laut rufen zu muͤssen: Hilf, Cler- don! Hilf ! — Aber ich mußte nicht, und rief nicht. Was waͤre es, wenn ich mich immer nur so halten ließe? Was wuͤrde mir? Keine bestaͤndige feste Huͤlfe wuͤrde mir. Die will ich, dahin will ich. Ich will durchkom- men wollen , wenn ich auch nicht durch- komme. Einst, vor Jahrhunderten, ließ sich eine Stimme hoͤren vom Himmel: „ Siehe, er betet !” — Und dem Betenden fiel es von den Augen wie Schuppen! Genug fuͤr heute. Morgen will ich versu- chen, an Amalia zu schreiben, von der ich ei- nen so lieben lieben Brief vor dem Eurigen er- hielt S. den VII ten Brief. . Und die gute, arme Luzie — und mein Bruder, die so lange nichts von mir hoͤr- ten, und wohl sehr bekuͤmmert daruͤber seyn moͤgen! — Ihr Guten Alle! daß ich Euch so blos zum Herzeleid da seyn muß! XVIII. Sylli an Amalia. S. Seite 168. Den 19ten Maͤrz. L iebe! Treue! — Ich haͤtte manches Dir vielleicht zu sagen; aber — nicht koͤnnen, oder nicht moͤgen? — ich weiß selbst nicht. Ich zeichnete heute fruͤh an einem Auge; unter- dessen schrieb ich Dir viel in meinem Sinn. Auch so unten waͤhrend dem Mittagsessen. Dennoch kommt schwerlich etwas davon auf dieses Blatt. Ich stoͤrte wohl die meisten da- mit, wenn ich von mir selbst redete, hie und da bedeuten wollte. Was daraus werden wird, verstehe ich selbst noch nicht; aber, lie- be Frau, ich bin in sehr geschaͤftigem Wesen; es kommt vieles vor in meiner Einsamkeit, was mich in meinem Inneren recht emsig seyn laͤßt. Auch geschieht es, daß ich die freyesten Augenblicke genieße: aber die sind so einzeln, so getrennt … Ach, liebe Frau, das schwindet! Ich sehe hin, und alles dreht vor meinen Augen. Wie ist mir? — O lie- be! Frage Du nicht; laß mich allein das fragen: Wie ist mir ? — Aber das glaube, daß Deine Sylli durchkommt, es wird besser mit ihr. Auch Clerdon wird Dirs sagen. Darum sey getrost, und ruhig, und stille. Seit Montag ist die S — hier, und es schickt sich zwischen uns beyden. Ihr wuͤrdet doch Eure Freude daran haben, wenn Ihr saͤhet, wie ich in Uebung komme, mit einer wirklich leichten Munterkeit allerhand Leute zu unterhalten und mich ihnen anzupassen. In der That habe ich es hierin schon weit ge- bracht. Nur muß ich mich nicht zu lange an- strengen wollen. An meiner Einsamkeit han- ge ich mit Leidenschaft. Den vertrautesten Zu- tritt bey mir hat seit einiger Zeit Mon- taigne . Ich lebe mit ihm, wie mit einem Lebendigen. Der Mann ist mir so recht; er stillt mein Gemuͤth, indem er mich Vertraͤg- lichkeit lehrt. Die versteht er so gut; und die soll auch in mir wunderbar aufkommen. Nur daß ich fuͤr dies Gute nicht ein Besseres daran gebe, und mich an mir selbst verkuͤrze: davor will ich mich huͤten! Ja wohl! Wie danke ich Dir genug, Du liebe, fuͤr die fortgesetzte große Wohlthat Deiner Briefe? Dein juͤngster Der VII te dieser Sammlung. — wie er mich erquickt hat! Du weißt so ganz, was mir dient, was ich bedarf. So wie Du nur von weitem die Hand nach mir ausstreckst, fuͤhle ich mich schon auf- gerichtet? Und was hast Du nicht alles von jeher mir gethan? Giebt es eine Liebe, die mir nicht durch Dich erwiesen, dargethan waͤre durch Dich? Und was habe ich nicht an diesen Erinnerungen allein? Waͤren meine Empfindungen freyer, als sie es gegen- waͤrtig sind; dann koͤnnte ich mich der Liebe, die ich zu Dir habe, noch besser freuen! Du bist so wahrhaft gut ! Und, liebe Amalia, Du bist auch gluͤck- lich ! Erst vor einer Stunde stimmte Mon- taigne mir darin noch bey, daß Du Amalia, so wie Du bist, einzig am besten geschaffen und gebildet wurdest, um gluͤcklich zu seyn, und andre gluͤcklich zu machen. Darum bitte und beschwoͤre ich dich, daß du Dich sorgfaͤl- tig erhalten moͤgest in Deinem Wesen; blei- ben moͤgest ganz so wie Du bist, und abweh- rest jede, auch die mindeste Aenderung, die sich koͤnnte an Dich machen wollen. Den 20ten Maͤrz. Ich wurde gestern auf eine sehr unange- nehme Weise im Schreiben unterbrochen. G. und S., Freunde , wie sie heißen, von Gierigstein , S. den XII ten Brief. S. 112. wurden mir gemeldet. Diese Gierigsteinischen sind so sachtsinnig, thun so gemach, haben eine so milde freundliche Rede von lauter Vernunft, Billigkeit und Recht, Recht, daß mir allemal wird, wenn ich sie bey mir habe, als risse man mir die Zaͤh- ne aus. Ich habe dennoch gut geschlafen, und bin jetzt eine Stunde in meinem Zimmer auf und ab gegangen, meinen Montaigne in der Hand. Bombacino begleitete mich, spielte und zerrte an meinem Rocke; gieng und blieb stehen, so wie ich gieng oder stehen blieb. Jetzt ist er um meine Fuͤße herum, und macht sich mit meinem Pantoffel zu schaffen. Lange habe ich das Thierchen nicht so um- gaͤnglich gesehen. Warte, du sollst auch was haben. Da, Bombacino! Es sind gebackene Mandeln, welche die Justitzraͤthinn Melbert mir am Sonnabend gab. Da der haͤßliche Gierigstein mich verlassen hatte, und meine Stimmung mir unleidlich war, gieng ich zu der wackern Frau, die uns noch etwas ver- wandt ist, und es so gern hoͤrt, wenn ich sie Tante nenne. Ich nahm kleine Geschenke fuͤr ihre Toͤchter mit. Der alte Justitzrath er- N schien auch. Alle waren so freundlich, so gut; und da gab die Tante nachher dem Bedien- ten noch ein Koͤrbchen Gebackenes fuͤr mich mit. Ich blieb bis acht Uhr, und verweilte gern. Alles ist so aufgedeckt bey diesen Leu- ten; man kann nicht sagen, daß sie offen- herzig sind — denn da ist nichts, das sich moͤchte verbergen wollen — aber treuherzig sind sie. Ich konnte da so anstreichen mit meinen Gefuͤhlen; mir wurde vertraulich und wohl. Ich habe eine Zeit her auch viel mit ei- ner Kranken zu thun gehabt. Die Wald- beck — Du wirst Dich ihrer und ihres recht- schaffenen Mannes, und der Schaar wohlge- zogener Kinder in dem Hause noch erinnern — die lag am Tode. Es half diesen schwer Bekuͤmmerten sehr, daß sie mich unter sich hatten. Wie sie mir halfen, das ahndete kei- nem. Es ist so suͤß in dergleichen Theilneh- mung hineingezogen zu werden; so suͤß, das willige Werkzeug zu seyn, hinter welchem Gott oder ein Engel sich verbirgt. Die Waldbeck genest. Und soll ich es Dir sagen, liebe Amalia, wie mir nun von dem allen ist? — Sieh, die Nahrung, die ich mir so, hie und da, hole — mein Herz, das da draussen etwas, wie von Liebe und Freund- schaft, seinem eigensten Wesen, ergreift; es ergreifts ohne Macht und Gewalt, es zu dem seinigen zu machen; es kann es nicht vereini- gen mit seinem Wesen; es gedeiht ihm nicht. Groͤßeres Unbehagen folgt. Ich frage mich: Was ich will? was ich nicht will? — Was seyn soll, kann , ist? — Und da ichs nicht ins Reine zu bringen weiß, moͤchte ich oft alles nur noch mehr und aͤrger durcheinander gewirrt sehen. Hier habe ich lange inne gehalten; ver- ließ endlich meinen Schreibtisch; kleidete mich an, und gieng zu Tische. Nun ists Abend. Eben sah ich von dem heute bestaͤndig mit Regenstuͤrmen abwechselnden Sonnenschem den Glanz des Untergangs, des Abschieds. Dort N 2 uͤber dem Landschaͤftchen wars, das man jen- seits der Donau aus meinem Fenster erblickt. Es gab die sonderbarsten Hellungen und Licht- wechsel. Schoͤn, sehr schoͤn war es, und feyerlich und ruͤhrend. Ich stand allein da, liebe Amalia — Sylli stand da allein ! Ich kann erschrecken, wie vor einer Geistererscheinung, wenn ich mich unversehens so allein finde: so ganz allein! Heute Morgen, wie ich so in meinem Zimmer auf und niedergieng, und ich hin- blickte, oͤfter hinblickte auf die Antigone , die Clerdon zu meinem Geburtstage fuͤr mich uͤbersetzte, und seine andere Uebersetzung, mir zu Liebe, von Xenophons Gastmahl — diese zwey Hefte, die mir da immer muͤssen liegen bleiben an der angewiesenen Stelle auf dem Sessel neben meinem Schreibtische, und sie einnehmen, als waͤre es etwas Liebes, das Leib und Seele haͤtte, und das ich so gern diesen Platz da einnehmen saͤhe — wie das immer wiederkam, mich staͤrker bewegte, fast Erscheinung wurde — empoͤrte michs zuletzt; ich gab mir Verweise, ernstliche Verweise, die mich zum Weinen brachten … So ist es! — So, daß unter allen den Be- klemmungen, die ich erfahre, mein Herz nur immer regsamer, an sich ziehender, sehnender und strebender wird. Jeder Tropfen Blut in mir scheint seine Bewegung nur davon zu haben, daß meine Seele dieses da, gerade dieses jetzt anschaut; es so anschaut, gerade so, daß diese Empfindung, diese und keine andere daraus entspringt; diese Empfindung, die lebendige, setzt allein mein Herz in Be- wegung; davon schlaͤgt es; es schluͤge sonst nicht; — mein Blut, es wallt in meinen Adern nur von diesen Schlaͤgen, stockte oh- ne sie; denn anderes Leben ist nicht mehr in mir. Ich schreibe bald wieder, liebe Amalia! Claͤrchen, Lenore, Deine Kinder, wie sie N 3 vor Dich kommen, herze sie in meine Seele. Der kleine Edmund wird doch auch schon von einer Sylli gehoͤrt haben, von Deiner Sylli! — Lebe wohl, Du liebe Einzige! XIX. Sylli an Amalia. Den 25ten Maͤrz, um Mitternacht. Liebe Amalia ! I ch kam heute Abend um neun Uhr von der guten Waldbeck, die sich langsam erholt, zu- ruͤck nach Hause, und fand mitten auf meinem Tische Deinen Brief Den XI ten dieser Sammlung. . Wie, nach einem schoͤnen Sommertage, Blitze, nur zum Wetter- kuͤhlen, zucken, und sich mit der Daͤmmerung vermischen: so flammte mirs ums Herz bey seinem Anblick. Ich erbrach ihn schnell, blos um zu sehen, wie lang er waͤre, und ob alles wohl bey Euch stuͤnde; dann verschloß ich ihn, eilte mich auszukleiden, bestellte mein Nacht- essen ab, und machte mich ganz einsam. Ich konnte auf die Labung, die mir durch N 4 Dich gereicht werden sollte, nicht besser vorbe- reitet seyn, als ich es war. Mir war sehr wohl gewesen unter den Waldbecks; es ist eine so schlichte wackere Menschenart! Vater, Mut- ter, Toͤchter, Soͤhne sind, an Guͤte und Treue, einer wie der andere, und doch abste- chender von Character, als man es sonst fin- det, weil von dieser Seite nichts an ihnen ge- modelt, sondern nur gerade zu auf Rechtschaf- fenheit und Tuͤchtigkeit, als etwas, wozu je- der Character sich wohl bequemen muͤsse, ge- arbeitet worden ist. So war der Mann er- zogen worden, so die Frau ; und so erziehen sie nun wieder ihre Kinder, ohne rechts oder links zu sehen. Waͤhrend der Krankheit der Frau, wo ich bey den Leuten wie zu Hause wurde, konnte ich das erst so recht von nahem besehen und ei- genst zu Herzen nehmen. Heute fruͤh kamen nun die zwey aͤlteren Toͤchter, Friederike und Malchen, die schon lange sehr an mir hiengen, und jetzt ihr Leben fuͤr mich ließen, und sagten mir, der Arzt haͤtte erlaubt, daß die Mutter sich den Nachmittag im Saale aufhielte; und da waͤre es so schoͤn, wenn ich hinkommen wollte, damit es eine rechte Freude wuͤrde. Ich gieng gleich nach Tische, fand aber schon alle beysammen im Saal. Der gute Wald- beck empfieng mich mit einer Ruͤhrung, wel- che dem derben, bideren, muntern Manne uͤber alles Sagen schoͤn ließ. Die Genesende sah nach uns hin mit einem Blicke und einem Strahlen des Angesichts, wobey wohl nicht mir allein der Tag der Auferstehung in Ge- danken kam. Wir waren umzingelt, Wald- beck und ich, von den Maͤdchen und Knaben, die uns nach dem Sessel der Mutter draͤng- ten. Die Gute umfassend ließ ich mich an ihr nieder auf die Kniee, um ihr ins Ohr zu lispeln, daß sie stille wuͤrde, und um ihr Ge- sicht in meinem Busen zu verbergen, waͤhrend ich die andern mit Winken in Ordnung brach- te. Es wurde gar lieblich unter uns. Die wackere Fischering allein, und Vikarius Boͤck, die treue Seele, mit seinem Bruder, dem N 5 Assessor, denen beyden ich so gut bin, kamen noch dazu. Es wurde von vielerley gesprochen, und von allem eben gut und verstaͤndig. Ich hoͤrte mehrentheils nur zu, und freute mich im stillen Geiste, daß es zur gesunden Ver- nunft wenig oder nichts thut, ob ein Mensch von Natur einen großen Verstand oder einen kleinen hat; sondern darauf, wie seine Fan- tasie beschaffen ist, und daß bey einmal gu- ten, treuen und tuͤchtigen Menschen diese fest steht, wie ein Fels. Was ihnen als Grundsatz, Regel oder Glaube ehrwuͤrdig ge- worden ist, das bleibt und gilt. Sie urthei- len und wandeln, ohne Furcht und Zweifel. Wir alle, wenn wir die hoͤchste Versiche- rung geben wollen, sagen: das ist so gewiß, als ich jetzt vor Ihnen stehe, mit Ihnen rede, diese Feder in der Hand habe: und es ist nur feyerlicher, oder soll noch mehr heißen, wenn wir statt dessen sagen: so wahr ein Gott im Himmel lebt ; oder: so wahr ich selig zu werden hoffe . Hier nimmt alle Wahrheit und Treue ihren Anfang, wo auch die eigentliche gesunde Vernunft zu Hause ist. Wunderlich ist mir oft zu Mu- the gewesen, wenn ich unter Leuten von der großen und ganz großen Welt, auch un- ter großen Geistern mich befand, und zusah, welche Gewalt sie unter Umstaͤnden, nichts- wuͤrdiger Dinge wegen, uͤber sich selbst hat- ten und behielten, und in welcher scheußlichen Ohnmacht sie unter andern Umstaͤnden da la- gen, ohne Gram und Schaam. So zu seyn, dazu wurde ihre Fantasie von Jugend auf gebildet, oder spaͤterhin verzerrt. Nun diese Menschen, mit allem ihrem Glanze, hinge- stellt neben einen bideren, festen, uͤberall treuen Mann, wie Waldbeck ; jener in- nere Wirthschaft verglichen mit der inneren Wirthschaft von diesem: wen schaudert nicht bey dem Contrast? Hier, in stetem Gange, ein fortgesetztes Leben der Zucht : Muth, Freudigkeit, Standhaftigkeit und Wuͤrde. Dort, im truͤben Taumel, ein ewig gestoͤrtes, zerbrochenes Leben der Un -zucht: Feig- heit, Unlust, Wankelmuth und Selbstver- achtung. Es hatte sieben geschlagen, ehe wirs uns versahen. Der Arzt kam mit Verweisen uͤber das zu lange Aufsitzen seiner Kranken. Wir brachten sie zur Ruhe, und ich blieb noch eine Stunde bey dem lieben Weibe auf dem Bette sitzen, mich beynah vergessend im suͤßen Ge- schwaͤtze mit den drey Maͤdchen, die mich all- maͤhlich ganz umklammert hatten. Unterdessen war die Mutter eingeschlummert. Wir schli- chen fort nach dem Saal, wo mein Mantel und mein Arbeitsbeutel lagen. Da sahen wir, hinter Wolken, den Mond gerade vor dem mitt- leren Fenster stehen. Waldbecks Saal hat eine entzuͤckende Aussicht, besonders wegen der Do- nau, die nahe daran vorbeyfließt, und zur rechten Hand herunter kommt, so weit her, daß man nicht unterscheiden kann, von welcher Seite oben. Mit gleicher Bewegung flogen wir zum offen stehenden Fenster, und blieben da lange, lange. Ich sah den ziehenden Woͤlk- chen zu, die sich bald so, bald anders beweg- ten und formten, und den Mond nicht wollten helle werden lassen. Nun wurde er lichter und lichter; endlich stand er rein da, und uͤberzog den Strohm, mit seinem zitternden Glanze. Die Maͤdchen verglichen es mit Silbertropfen, die hinein regneten. Jetzt nahm ich Abschied, gieng nach Hause, und fand Deinen Brief. Er lag unten am Rande einer Zeichnung, die ich, nach Maratti, Vormittags vollendet hatte: ein schlummernder Knabe; eine wahre Engelsgestalt. Schlummere du nur fort, sagte ich zu dem schoͤnen Jungen, da ich vom Auskleiden zuruͤck- kam: du Engel! ich will dich nicht stoͤren; — und wirklich ruͤckte ich leiser meinen Sessel, ließ mich leiser darauf nieder, und war vor- sichtig, nicht an den Tisch zu stoßen. Ich las bis an das Capitel von Allwill, womit ich heute mich nicht stoͤren wollte; fieng dann wieder von vorn an — und noch einmal; las immer langsamer, bis ich, unvermerkt, nicht mehr auf dem Blatte las, und doch noch immer las wie vom Blatte … Meli , beste Meli ! — Sieh den hold laͤchelnden Engel da! Auf seiner besten Ruheseite liegt er; den Kopf sanft aufs Aermchen gestuͤtzt: er schlaͤft! — Meli ! So hast Du mir gesungen, so, daß ein Schlummer der Genesung uͤber mich gekommen ist. Sanft eingewiegt hast Du mein Herz: eine suͤße warme Fuͤlle, die Fuͤlle Deiner Liebe darauf gedeckt. Sie ist in meinem Herzen, diese Fuͤlle Deiner Liebe, Deiner Unschuld, Deines Glaubens. Ja, stille ist es nun! Durch den Vorhang hindurch glaͤnzte mir jetzt der hochstehende Mond ins Auge. Da bist du ja wieder ! dachte ich, und stand auf. So helle und frey habe ich den Mond lan- ge nicht scheinen sehen. Alle Woͤlkchen waren von ihm weg, zogen seitwaͤrts, hierhin, dort- hin, so Truppweise, lauter kleine runde Woͤlk- chen; und uͤberall weit dazwischen der schoͤnste blaue Himmel; hie und da auch Sternlein; und sie blinkten so sanft. Nur Ein Stern, der war recht hell, und flimmerte rascher. Ich sah ihn darauf an: „Wie du flimmerst, du Heller!” Und der Helle wurde mir so freund- lich, daß ich mich nicht erwehren konnte, ihm sein Laͤcheln zu erwiedern, und mich darauf ertappte. An mein Schlafzimmer mochte ich nicht denken. Ich holte meinen Schreibtisch, setzte ihn vor den Sopha, und schrieb, was Du bis- her gelesen hast. Da habe ich es nun auch uͤberlesen; bin wieder an Deinen Brief gegangen, und habe eine lange suͤße Pause gemacht. Was ist es, liebe Meli; was ist das, woran ich mich in Ruhe und Stille hier wie angelehnt fuͤhle? Es ist mir gegenwaͤrtig; aber es stellt sich mir nicht dar, ich habe kein Bild davon — sondern nur in Worten, in Worten vom unaussprechlich Schoͤnen, Heiligen und Guten hergenommen, darin giebt es wie ein Zeichen von sich. Angeschmiegt an dies Un- sichtbare mit allen meinen Gefuͤhlen, so habe ichs, so halte ichs; es umfaßt, traͤgt und hebt mich. Sieh, es stuͤrzen mir Thraͤnen aus den Augen, und gewiß ist doch kein Zug des Wei- nens in meinem Gesicht; alle meine Zuͤge muͤs- sen Heiterkeit aussagen; denn es umgiebt, es erfuͤllt mich die lauterste Wonne. Laß mich, Du Holde, Liebe! laß mich an dieser Stelle dem Morgen entgegen schlummern. Ruhe sanft! Den 26ten. Guten Morgen, Amalia! guten Morgen, Schwester! Ich sinne auf neue Namen, auf neue neue Gruͤße fuͤr Dich, und kann nicht finden, was ich suche. Du Gluͤckliche hast bald ge- funden; fandest ohne Suchen. Mutter , riefst Du; o Mutter, komm zur Mutter ! und mir wurde, als waͤre ich umgeschaffen nach diesem Zuruf. Wohl, liebe Meli , verstehst Du es besser, als sie alle, Du Einzige, Du Seherinn — nicht in Traͤumen , wie die arme Sylli — Seherinn mit offenem Auge , Seherinn der Wahrheit ! Vergleiche nur mein Schrei- ben von heute vor acht Tagen mit diesem hier! Du hattest noch nicht gerufen: Komm zur Mutter, komm zu den Kindern und der Kinder Vater, komm zu den Maͤdchen von Heimfeld; komm und lasse alles — Und die kranke Sylli traͤumte fort, konnte nur weinen uͤber alle die lieben Worte von Cler- don, dem Edlen, von den herrlichen Maͤdchen. Sage Clerdon, sage Claͤrchen und Lenoren, sage Deinen Kindern: Sylli kommt! Sie laͤßt O alles und kommt; ehe die Blaͤtter wieder ab- fallen, ist sie bey uns! Daß ich Mutter war und Mutter bleibe — welch ein Engel gab Dir ein, mir dieses vorzusagen? Wie ichs da fand in Deinem Briefe, daͤuchte mir, ich hoͤrte es zum ersten- mal, und mir wuͤrde eine Krone aufgesetzt. Es war gerade um diese Jahrszeit, da ich meinen Gustav unter meinem Herzen zuerst sich regen fuͤhlte. Daß ers so gut traf mit seinem Erwachen, wie mich das fuͤr ihn freu- te! Du hattest damals noch keinen Gatten, warst noch nicht meine Schwester. Ich waͤhl- te mir eine; sie waͤhlte mich. O der Zaͤrt- lichkeit, mit der ich der ganzen Natur mich anherzte; und die Gute! wie sies aufnahm, den vertraulichen Schwestergruß mit Haͤnde- druck und Kuͤssen mir erwiederte! Ich gieng an ihrer Hand, wie ein Kind, das man mit- nimmt, und zu dem man sagt: Komm, wir wollen dieses oder jenes thun, Du sollst helfen ! Das Entfalten der Bluͤthen, das Sprossen der Blaͤtter und Zweige — es geschah nicht ohne mich; ich half, war dabey geschaͤftig: so fuͤhlte ichs. Und die Voͤglein alle, wie sie auf den Baͤumen um mich her sich versammelten, so vielerley Art; wie sie zwitscherten, sangen, flatterten und flogen; ihre Nesterchen anleg- ten und bauten: so ganz anders noch, wie sonst, war ich dabey mit Augen, Ohren, Theilnehmung und Sorge. Wo nur Luft sich regte, wo es irgend nur eine Witterung von Leben gab, kam ich mit suͤßen Ahndungen hinzu, machte jedes Anliegen zu dem mei- nigen. Und ich weiß noch wohl, wie ich damals oͤfter dachte, wenn erfolgen sollte, was nach- her geschah; wenn ich den bitteren Schmerz erfuͤhre, wieder entbehren zu muͤssen, was ich schon so unaussprechlich liebte: — ich haͤtte ihn gesehen den Engel, an mich ihn gedruͤckt, sein Kosen, sein Laͤcheln, seine Blicke genossen, ihn schon zum Lallen, zur Freude, zum Wie- O 2 derlieben aufgesaͤugt und gepflegt: und nun laͤge er vor mir da erstarrt, und ich muͤßte ihn ins Grab tragen lassen — ins finstre Grab! .. Mir graute fuͤrchterlich! Dennoch gelobte ich, und praͤgte mir es tief ein, daß, wie unsaͤglich auch dann mein Leiden seyn wuͤrde, ich dabey der Seligkeit, die ich genossen, nicht verges- sen, und die neue reine Liebe, welche mir gewor- den, bis zu meinem eigenen Tode segnen wollte. So versprach ich meinem Gustav, und wie- derholte in den zwey Jahren, die er lebte, ihm dies Versprechen oft und immer heiliger. — O, daß ich Mutter war, und Mutter bleibe, wie koͤnnte ich das missen wollen? — Liebe Amalia — der helle Stern, der mir so freundlich winkte, der mich anlaͤchelte, und dessen Laͤcheln ich erwiedern mußte, das war mein Gustav; mein Gustav erschien mir in dem hellen Stern. Wie ich Dich uͤberall so ganz verstehe, Du Herrliche! in Deinem Wissen und Nichtwissen; in Deinem Stolz und in Deiner Demuth. Was Clerdon zu dem Manne mit dem lauter hieher und daher sagte: „ es sey der Instinkt des Buchstabens, die Vernunft unter sich zu bringen ,“ ist mir wie ein Blitz durch die Seele gefahren. Es erinnerte mich an ein treffendes Wort von Fenelon . „Der Mensch in seinem verkehrten Wesen, sagt Fenelon, hat nur Augen, um Schatten zu erblicken; und die Wahrheit erscheint ihm als ein Trugbild. Was Nichts ist, haͤlt er fuͤr Etwas; und was Etwas uͤber Alles ist, haͤlt er fuͤr Nichts. Du findest diese Stelle in seinem Buche vom Daseyn Gottes, am Schlusse des ersten Theils, wo er die Gottheit anredet. Laß mich nur diese Eine Stelle hier einruͤcken. „Waͤrest Du ein ohnmaͤchtiger, lebloser O 3 Koͤrper, wie eine Blume die verwelkt, ein Bach der vorbey fließt, ein Gebaͤude das steht und hinfaͤllt, ein Farbengemenge das Ge- maͤhlde heißt, wenn unsere Einbildungs- kraft Gestalt hineintraͤgt; ein mit etwas Glanz uͤberzogenes Metall: so wuͤrden die Menschen auf Dich merken, und Dir, in ihrer Thorheit, das Vermoͤgen zuerkennen, ihnen einige Freude zu gewaͤhren; obgleich Freude von nichts Seellosem ausgehen kann, sondern allein von Dir, Du Quelle des Lebens und alles Genusses. Waͤrest Du also nur ein Wesen groͤberer Art, hinfaͤllig, leblos, eine Masse ohne Selbstvermoͤgen, nur der Schat- ten eines Wesens; so wuͤrde Deine nichtige Natur unsere Nichtigkeit beschaͤftigen; Du waͤrest dann ein angemessener Gegenstand fuͤr unsere niedrigen und thierischen Gedanken. Weil Du aber zu sehr in ihnen selbst bist, wo sie nie einkehren; so bist Du ihnen ein ver- borgener Gott. Denn dieses Innere ihrer selbst ist am weitesten von ihrem irre gewor- denen Blick entfernt. Die Ordnung und Schoͤnheit, die auf dem Angesicht Deiner Ge- schoͤpfe strahlt, ist wie ein Schleyer, der Dich ihrem kranken Auge entzieht.“ Sage, liebe Amalia! ist es Dir nie auf- gefallen, — so daß Du dabey stehen geblieben, lange stehen geblieben waͤrest — dabey : daß der Mensch sich entschließen kann zu sterben ? Zu waͤhlen zwischen Tod und Leben ver- mag kein Thier: es hat nur sinnliche Triebe, die alle auf Erhaltung gehen, die es zwin- gen , nur sein Daseyn auf der Erde fort- zusetzen. Der Mensch vermag es. Du waͤhltest Leben, und ich waͤhlte Tod ! sagt Antigone zu ihrer Schwester Ismene . O 4 Eine Liebe ist dem Menschen gegeben, die den Tod unter die Fuͤße tritt; keinen Schmerz achtet und keine Lust. Ihr Saame geht auf in der Anschauung, Bewunderung und Ach- tung eines Andern . Alsdann verliert der Mensch sein Leben, um es zu gewinnen. Es erwacht der Instinkt seiner vernuͤnftigen Na- tur, welcher nicht die Seele des Leibes, son- dern des Geistes Seele zu erhalten, empor zu bringen, herrschend zu machen strebt. Und hiemit, mit der Einsetzung einer Liebe, die den Tod uͤberwindet und Unsterblichkeit ge- biert, hat die Welt angefangen . Die Geheimnisse der Liebe und des Lebens durchdringt kein menschlicher Blick. Alles reg- same Daseyn faͤngt mit einer Begierde an, die ihren Gegenstand nicht kennt. Spaͤter, und nur hie und da luͤftet der leitende Trieb ein wenig seinen dichten Schleyer. Aber jedes Leben, auch das dunkelste, fodert seine Erhal- tung mit einem Nachdrucke, der sein Recht ist. Der Nachdruck des am tiefsten verborge- nen Lebens ist der maͤchtigste; und heilig uͤber alles ist sein Recht . Wer dies Recht erkannt, es gefuͤhlt hat, der vertraut ihm; er hat, wie Du sagst, das Rechte gefunden, und ihm ist wohl da, wo man nichts sieht und nichts weiß; wo die Welt angefangen hat . Den 27ten Maͤrz. Ich habe noch den Punkt von Allwill in Deinem Briefe zu beantworten. Wie ich von dem jungen Manne denke, weißt Du aus mei- nem Briefe an Lenore und Claͤrchen S. den XII ten Brief. . Es mag wohl etwas uͤberspannt seyn, was ich ge- schrieben habe; aber mit dem Verhaͤltnisse des Guten zum Boͤsen, das ich angab, wird es wahrscheinlich seine Richtigkeit haben. Ich kenne diese Menschengattung aus dem Grunde; habe Gelegenheit gehabt, sie lange zu beobach- ten, mit einem Interesse, wovon mir das Herz noch blutet. Daher gerieth ich uͤber dem Schrei- O 5 ben jenes Briefes in eine Bewegung, die ich mir vorwarf, sobald er fort war. Dergleichen wird mir noch oͤfter begegnen, und Ihr muͤßt Euch darauf gefaßt halten. Ueberhaupt wird es ohne mancherley Ruͤckfaͤlle nicht her- gehen. Was nun diese Menschengattung angeht, uͤber die ich so gruͤndlich zu seyn behaupte, so fuͤhren schon die vorzuͤglichen Anlagen, die bey ihr vorausgesetzt werden muͤssen, die Gefahr ihres Mißbrauchs mit sich. „ Huͤte Dich ,“ habe ich irgendwo gelesen —: „ Huͤte Dich vor dem, den Gott gezeichnet hat !“ Jedes Ue- bermaaß von Kraͤften reizt zu irgend einer Art der Gewaltthaͤtigkeit und Unterdruͤckung. Hie- zu kommt bey den Allwillen , daß ihren vorzuͤglichen Gaben eine besonders zarte und lebhafte Sinnlichkeit, eine große Gewalt des Affects, und eine ungemeine Energie der Ein- bildungskraft zum Grunde liegt. Ich nenne den Affect vor der Einbildungskraft, weil die Einbildungskraft der Allwille vornehmlich eine Einbildungskraft des Affects, und weniger als bey andern Menschen ein freyeres Geistes - Vermoͤgen ist. Die Mischung dieser Grundei- genschaften ist in keinem Einzelnen dieselbe; und so haben auch in jedem Einzelnen der Verstand, die Besonnenheit und der Wille ihre eigene Art und Weise. Man kann aber ohne Gefahr annehmen bey dieser Gattung , daß wo der hellere Kopf ist, auch ein hoͤherer Grad der Ruchlosigkeit sich einstellen werde. Bey der Helle des Kopfs wird der Uebergang von der Empfindung zur Reflexion; zur Be- schauung und Wiederbeschauung — mit Bey- huͤlfe des Gedaͤchtnisses — immer schneller, mannichfaltiger, gegenseitiger, durchgreifender, umfassender; bis endlich Anschauung, Betrach- tung und Empfindung jeder Art, von der zur groͤßten Fertigkeit gediehenen Selbstbesinnung, Geistesgegenwaͤrtigkeit und inneren Sammlung, welche die Helden dieser Gattung, selbst in der aͤrgsten Beklemmung der Leidenschaft, nie ganz verlaͤßt, unaufhoͤrlich nur verschlungen werden, und fuͤr sich keine Gewalt und natuͤrliche Rechte mehr haben. Der ganze Mensch, sei- nem sittlichen Theile nach, ist Poesie gewor- den; und es kann dahin mit ihm kommen, daß er alle Wahrheit verliert, und keine ehrliche Faser an ihm bleibt. Die Vollkommenheit die- ses Zustandes ist ein eigentlicher Mysticismus der Gesetzesfeindschaft, und ein Quietismus der Unsittlichkeit. Unter den Egoisten machen diese Zauberer eine eigene Classe aus. Jede leidenschaftliche Bewegung ist, ihrer Na- tur nach, eigensuͤchtig. Daher kann man in der Regel annehmen, daß uͤberhaupt der empfind- samere Mensch, als solcher , auch der ei- gensuͤchtigere ist. Nicht, daß er es wollte; im Gegentheil: er moͤchte gern sich aufopfern; aber er kann nicht, weil er so uͤber alle Maaßen zuerst von sich selbst geruͤhrt ist. Verstehe mich wohl! Die blos empfindsamen, als solche, diese allein sind gemeint; und von dieser beson- dern Gattung blos weichschwachherziger Be- ber ( tremblers ) habe ich wenig gelitten. Ihre Zaͤrteley und Heucheley; ihre Ohnmacht und ihre Tuͤcke widerstanden mir so sichrbar, daß sie mich nicht weniger flohen, als ich sie vermied. Mit den Allwillen vertrage ich mich weit eher, zumal da nur wenige unter ihnen die Vollkommenheit ihrer Gattung erreichen. Sie widerstehen mir auch weniger, als die Plan- vollen kalten Egoisten, wenn diese schon nicht zu der niedrigsten Classe ihrer Art gehoͤren; keine Gierigsteine sind. Weil die All- wille sich selbst aͤusserlich nicht schonen, Groͤße, und in manchen Faͤllen Edelmuth beweisen, auch, so lange sie nicht ganz verdorben sind, die schoͤnsten Regungen der Seele haͤufig blicken lassen, ja, durch sie nicht selten auch geleitet werden; so kann man sie weder ganz verachten, noch bestaͤndig hassen. Und dies eben macht sie so gefaͤhrlich. Denn ihre Eigensucht ist hart und grausam, wie keine andere. Einer eigent- lichen Verlaͤugnung sind sie nicht faͤhig, und die Federkraft der Sittlichkeit in ihnen ist so gut als todt. Ich wuͤrde mich nicht enthalten koͤnnen, noch schlimmeres zu sagen, wenn ich nicht ab- braͤche. Was Euren Eduard angeht, so genuͤgt mir an Deinem Mißtrauen gegen ihn; Du wirst mir die Maͤdchen schon verwahren. Wegen Claͤrchen hat es ohnedem nicht leicht Gefahr; die sieht so hell und kann mit auf Lenore Acht geben. Und so mag Clerdon denn nur immer beschoͤnigen. Wie er es mit diesem jungen Lieblinge treibt, hat er es von jeher mit allen Menschen getrieben, woran er einen etwas lebhaften Antheil nahm. Es scheint, daß je geschickter wir sind, alle Falten des mensch- lichen Herzens zu durchdringen, desto fertiger sind wir auch, uns in jedem Einzelnen Falle zu taͤuschen. Wir erdichten Menschen, so, daß man glaubt, sie muͤßten irgendwo vor- handen seyn; und wieder, aus den wirklichen Menschen machen wir uns etwas, was sich nirgend findet. Bey dem großen Umfange, den jede Art Character hat, geht das ohne Wunder zu. Unsere Einbildungskraft ist be- reit, uns hundert Plane vorzulegen, um den- jenigen heraus zu waͤhlen, nach welchem die Vorstellung sich am leichtesten und besten aus- fuͤhren laͤßt, die der gegenwaͤrtige Affect sich wuͤnscht. Verschwindet der Affect, und wir uͤberschauen nachher unsere gemachten Be- obachtungen; dann ist kein Mensch, der es besser gewußt haͤtte, als wir, wenn es uns darum zu thun gewesen waͤre. Uebel wird es mir bekommen, wenn Du Clerdon dies zu lesen giebst. Ich ergebe mich darein; und gruͤße Du ihn nur von mir recht herzlich, den Papa Allwill . XX. Eduard Allwill an Luzie. I hr langes Sendschreiben, gute Luzie, habe ich so eben zum dritten male wieder gelesen; habe alles auf die Seite geworfen, und sitze Ihnen nun da auf meinem Stuhle so fest, als wenn der kleine Schreibtisch hier die ungeheure runde Tafel in unserm Rathssaale waͤre; und Sie, mein theures Fraͤulein, waͤren das Lan- desherrliche Portrait unter dem gruͤnen goldbefranzten Baldachin; aber wohl zu mer- ken, daß Sie nur in sofern das Portrait Ihro — — vorstellen, als mein trautes Tisch- lein hier die verwuͤnschte ungeheure runde Ta- fel in dem Rathssaal vorstellt; und daß die ganze Vergleichung sich einzig und allein auf mein festes Sitzen gruͤndet. Naͤrrisch genug mit allem dem, daß ich so ganz von ungefaͤhr, und ohne alles Arge, Sie in das Bildniß eines gepanzerten Erdengottes ver- verwandelte; denn in der That, liebe Luzie, juͤngst, als Du mit aller Weisheit Himmels und der Erde vor mich tratest, sah ich Dich wirklich von der Scheitel bis zu den Sohlen in schoͤn geblaͤutem Stahl — maͤchtig erhaben auf den Zehen des linken Fußes; das andre Bein kuͤnstlich von der Erde geschwungen; em- por die heilige Rechte, das Haupt mit einem Lorbeerzweige zu beschatten; und Dein ganzes Wesen begriffen — in der Verdauung der goͤttlichen Eule, welche Du so eben roh und ungepfluͤckt hinuntergeschluckt hattest. Gewiß hattest Du neulich meine geringe Person unter einer nicht viel weniger veredel- ten Gestalt erblick; als da waͤre eine uner- meßliche Peruͤcke uͤber meinem trotzigen Haar- zopf, die mir dicke Schweißtropfen aus der Stirne preßte; zwey Seraphimsfluͤgel an den Schultern, die mir zu Faͤchern, um mich an- zuwehen, dienten; ebenfalls auf einem Beine stehend, fest wie ein Fels. — O komm doch, komm, liebe Luzie! laß uns auf einander zu- P hinken; dann her Deinen Helm, daß ich mei- ne Peruͤcke hineinlege; — und nun sieh: hier ist Eduard und dort Luzie; wir sind unter vier Augen; reden wir mit einander, wie ich und Du ! Schade was, liebe Luzie! Schade was fuͤr unsere Weisheit, fuͤr alle die praͤchtigen Verwandlungen, woruͤber wir uns so hoch zu gratuliren pflegen; gemeiniglich hat es am Ende so viel damit zu sagen, daß — wir uns schaͤmen muͤssen. Man schwitzt im Sommer, und friert im Winter: im ersten Falle kleidet man sich in Tafft, und im letzten in Pelz; das ist meistens die ganze Geschichte. Sie wissen, was die Ptolemaͤische Epicycloide fuͤr ein Ding ist: (sonst kann Wallberg Sie dar- an erinnern) Auf- Ab- und Durcheinander- schwingungen ohne Ende; doch nur ein Mit- telpunkt, und der Planet tritt immer wieder in die Graͤnze seines Zirkels zuruͤck. Es liegt mir noch klar genug im Gedaͤcht- niß, wie ich ehmals, bey jeder merkwuͤrdi- gen Sinnesaͤnderung, mich nun endlich zur wahren Weisheit bekehrt, und den einzigen Weg zur Gluͤckseligkeit betreten zu haben glaub- te; dann vor Entsetzen und Schaam vergehen wollte, daß ich vor nur so wenigen Tagen — oft vor nur so wenigen Stunden, noch ein so unbegreiflicher Thor hatte seyn koͤnnen. Aber, o Tyranney des Schicksals! bald darauf kam mein unbegreiflicher Thor wieder ganz statt- lich, als der weiseste Mann, ans Licht, und schaͤmte sich seines Vorfahrs nicht weniger, als dieser vor kurzem seiner sich geschaͤmt hatte. Ein Schelm thut mehr als er kann , sagt ein altes deutsches Spruͤchwort. Es ließe sich ein schoͤnes dickes Buch uͤber die- ses Spruͤchwort schreiben, und es soll mein erstes seyn, wenn ich je eins unternehme. Ein feuriger, geistvoller Juͤngling, der ein Epic - tet seyn will, will mehr als er kann, und muß schlechterdings dabey zum Schelmen wer- P 2 den. Wie kann er alles Gute, alles Schoͤne mit Entzuͤcken lieben, und so genaues Maaß halten, und nie irre gehen? Wie kann er schon wissen, was jene Freude zur Thorheit macht? euch euren Ueberdruß, eu- ren Eckel, eure Mattigkeit nachfuͤhlen, lieben Graubaͤrte? Wie kann sein Muth sich vor euren Furchten entsetzen? Er , der dem Schmerze trotzt, und dem Tode, und nur Lust wittert. Kurz, euren innern Sinn koͤnnt ihr ihm nicht geben; und so haͤttet ihr ihm, wenn er euch hoͤrte, vollends allen Genuß des Lebens geraubt. In seinem Kopfe, wenn er ein bischen eigenes Wesen hat, muß eure Vernunft zum aͤrgsten Unverstande wer- den; hoͤchstens kann sie durch Schreckbilder einige Schwermuth in seine Einbildungskraft staffieren. Ihre Stimme toͤnt alsdann seinem Ohr, wie ein verdrießliches Gegreine, und macht ihm Weh. Sie heißt ihn die aͤrgsten Qualen unaufhoͤrlich lei- den, damit ihm nur ja kein Leid widerfahre . Um die Lehren eurer klugen Weisheit zu verstehen, um sie annehmlich zu finden , muß die Seele sich im Zustande des Gleich- gewichts befinden, muͤssen ihre lebhaftesten Begierden — eingeschlaͤfert seyn; welches so viel gesagt ist, als sie muß ausser Stand, oder doch wenigstens ausser der Lage seyn, ir- gend eine entzuͤckende Freude zu empfinden. — Hole der Henker einen solchen Zustand fuͤr jeden wackern Jungen! Genießen und Leiden ist die Bestimmung des Menschen. Der Feige nur laͤßt sich durch Drohungen abhalten, seine Wuͤnsche zu verfolgen: der Herzhafte spottet des; ruft Liebe bis in den Tod ! und weiß sein Schicksal zu er- tragen. Es ist die hohlste Idee von der Welt, daß bloße Vernunft die Basis unsrer Handlun- gen seyn koͤnne; da sie fuͤr sich allein nur das Vermoͤgen hat, gegebene Empfindungen und Neigungen dem Herzen vorzuschemati- sieren, und augenscheinlich uͤberall nur im P 3 Dienste der urspruͤnglichen Lebens- quelle geschaͤftig ist, aus welcher erste Richtung, letzte Bestimmung, Kraft, Be- wegung und That einzig hervorgehen. Nur ein Preßwerk, ihm das Blut durch die Adern zu spritzen, kein Herz muß der- jenige im Busen tragen, der sich auf dieser un- serer Erde zu einer fortdaurenden Gemuͤthsruhe stimmen, und darin die Erfuͤllung seiner Wuͤn- sche schmecken kann. — Und der sollte gluͤck- lich seyn — gluͤcklich vor allen ? Es giebt der Feigen genug, die vor jedem Zufalle beben, und doch fast keinen unter ihnen, selbst unter Betagten, der in eure Freystaͤtten fluͤchtete; alle wagen immer von neuem ihre Haut, um der Freuden mehr zu haschen, um die Fuͤlle ihres Lebens zu geniessen. So schuf den Menschen Gott , und es ist doch wohl ein bischen un- sinnig, zu behaupten, er waͤre besser, wie Gott ihn nicht haben wollte. Glaube mir, Holde, Liebe, das beste ist, wir bleiben eines Sinnes mit der Natur. Ihr Wesen ist Unschuld, und wenn wir annehmen, was sie uns nach Zeit und Umstaͤnden in die Ohren raunt, werden wir uns so wohl befin- den, als irgend jemand unter dem Monde. Wir brauchen starke Gefuͤhle, lebhafte Bewe- gungen, Leidenschaften . Was man ge- woͤhnlich mit einem vernuͤnftigen klugen Wan- del meint, ist eine erkuͤnstelte Sache; und der Seelenzustand, den sie voraussetzt, ist zuver- laͤßig derjenige, der am wenigsten Wahrheit in sich faßt. — Nimm, einer wollte ein Haus von so kuͤnstlicher Einrichtung bauen, daß, wenn er sein Licht unter dem Dache auf- steckte, das ganze Haus davon erleuchtet waͤ- re. Es kann geschehen, — wenn er den Docht ausspreitet und wohl auflockert, — daß etwas Schimmer durch das ganze Gebaͤu- de dringe; aber welche arme verwirrende Daͤmmerung! Lieber gewoͤhnte ich mich im Dunkeln zu handtieren. Indessen mag es, als ein Kunststuͤck, auf Bewunderung Anspruch machen: sonst wird doch jeder Verstaͤndige P 4 lieber sein Licht allemal dahin tragen, wo er gegenwaͤrtig zu sehen braucht, und es hin- ter sich dunkel werden lassen, so sehr es will. Ich soll mich um feste Grundsaͤtze bemuͤhen, damit ich zu unwandelbarer Tugend gelange. Nun klingt es mir gerade so, wenn mir jemand vorschlaͤgt, aus Grundsaͤtzen tugendhaft zu wer- den, als wenn mir einer vorschluͤge, mich aus Grundsaͤtzen zu verlieben. Ein Verlieb- ter — nicht aus Empfindung, sondern aus Vorsatz, waͤre freylich wohl sehr treu . Und eben so wuͤrde der Herzhafte, der Großmuͤthige, der Wohlwollende, der es nicht aus leidigem Triebe waͤre, und der Empfindung dazu entbehren koͤnnte, nicht nur zu allen Zei- ten herzhaft, großmuͤthig, wohlwollend seyn; sondern auch in jedem besondern Falle so sehr, und so nicht-sehr, als er muͤßte. — O, ja wohl! und ich weiß das alles; bin ja mehr als sonst Ein Mensch gehuͤtet worden, irgend zu wollen — was ich wollte; zu empfinden — was ich empfand; wurde fruͤh genug mit Strenge angewiesen, wie ich etwas schoͤn und gut , und nur dies Etwas so finden muͤsse; gefuͤllt bis oben an mit erkuͤnsteltem, erzwungenem Glauben; verwirrt in meinem ganzen Wesen durch gewaltsame Verknuͤpfung unzusammenhangender Ideen; hingewiesen, hin- gestoßen zu einer durchaus schiefen, ganz erlo- genen Existenz. Dennoch behielt wahres Leben in mir die Oberhand. Mich rettete mein eigenes Herz. Darum will ich ferner ihm gehorchen, und mein Ohr nach seiner Stimme neigen. Diese zu ver- nehmen, zu unterscheiden, zu verstehen, sey mir Weisheit; ihr muthig zu folgen, Tugend! Schreye nicht uͤber Gefahr, liebe Luzie! Was geht uns das an, wenn der Ruchlose vorgiebt, er thue eben das, und dabey immer ruchloser wird. Jedes Wesen ersprießt in sei- ner eigenen Natur: wird nicht auch die schoͤne Seele, aus ihrem Keim, sich immer schoͤner P 5 bilden? Was ist zuverlaͤßiger, als das Herz des edel gebornen ? — — Nimm alle Moralen, alle Philosophieen des Lebens zusam- men, und versuche streng nach ihren Vorschrif- ten zu wandeln: wenn du wahres Gefuͤhl von Schoͤnheit und Vortreflichkeit hast, auf wie viele Ausnahmen wirst du stoßen? Willst du nun, aus Furcht zu verirren, keine solche Aus- nahme gelten lassen: wie muß da nicht endlich dein Herz und Verstand sich verstocken, dein Geist zu jedem freyen Bestreben unfaͤhig wer- den? Nehmen wir auch einen einzelnen Menschen, den gefuͤhlvollesten, staͤrksten; und lassen wir ihn, nach gemachten unzaͤhligen Erfahrungen, blos fuͤr seine Person, mit dem freyesten Muthe, eine Philosophie des Lebens entwer- fen: er wird in der Folge doch wieder auf Ausnahmen stoßen; und fuͤrchtet er sich, diese gelten zu lassen, so wird er nach und nach zu einer Art Maschine, wiewohl zu einer vor- zuͤglicheren als jener andre, der sich im Ra- de noch mehr gemeiner Vorschriften dreht. All- zu oft muß er sein gegenwaͤrtiges Gefuͤhl unter- druͤcken, ihm nicht glauben, nicht trauen wol- len; folglich blos nach dem Buchstaben han- deln. Umgeht, verdreht er das Gesetz, so wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke; unterwirft er sich ihm redlich — so kommt er allmaͤhlich um Sinn und Gefuͤhl — wird, je hoͤher er die Fertigkeit seiner Tugend treibt, desto kaͤlter, geschmackloser; gehorcht immer nur (blindlings oder sehend — wie es kommt) seinem ehmaligen Willen, hat aber jetzt kei- nen eigenen Willen mehr; kann sich hinfort nie weiter uͤber sich selbst empor schwingen. Wir wissen, daß, der allgemeinen Sicher- heit wegen, jeder Richter nach dem duͤrren Buchstaben der Gesetze urtheilen, und fuͤr jede andre Betrachtung blind seyn muß; daher denn oft die abscheulichsten Unthaten gerichtlich bestaͤ- tiget werden, weil der Boͤsewicht nicht gegen den Buchstaben des Gesetzes gehandelt, und er die Form der Procedur zu seinem Schutze angewendet hatte: der gewissenhafte Richter konnte nicht anders, er mußte — war er auch der waͤrmste Menschenfreund — Verderben uͤber den vervortheilten Rechtschaffenen aus- sprechen. Aber was fuͤr ein Mensch waͤre die- ser Richter, wenn er kein anderes, als dieses gesetzmaͤßige, oͤffentliche Gewissen haͤtte; wenn er den Verurtheilten nun wirklich fuͤr ei- nen Verbrecher hielte? — Und siehe, gerade solche Richter sind doch alle unsere unbewegli- chen Sittenbesteller. Ich weiß nicht, wie weit ich ihnen aus dem Wege gehen moͤchte! System der Gluͤckseligkeit , so heis- set, was sie uns lehren wollen — hoͤchster Genuß der Menschheit ; was das ist, das wissen sie — fuͤr jedweden unter allen Umstaͤnden; haben im Auge die Har- monie aller Beduͤrfnisse, in der Seele das Maaß aller menschlichen Kraft. Hochweise, Hochgebietende Herren! wir sind nicht fuͤr einander. Ich singe ein ganz anderes Lied, als wovon die Melodie auf die Walze eures heiligen moralischen Dudeldeys genagelt ist. Auch genießen wir ganz verschie- dene Kost; koͤnnen nicht an Einem Tische mit einander sitzen; mein gesunder Verstand, mei- ne gesunden Sinne giengen mir bey eurer Kran- kendiaͤt zu Schanden. Deswegen uͤberlaßt mich meiner guten Natur; welche verlangt, daß ich jede Faͤhigkeit in mir erwachen, jede Kraft der Menschheit in mir rege werden lasse. Freylich draͤngt sichs da wohl einmal: aber die freye Bewegung hilft durch, paßt, sondert und ver- einigt, — bessert auch. — — Du hohulaͤ- chelst, weiser Mann? Was soll das lange Re- gister meiner Vergehungen, meiner Thorhei- ten? — Sage, bin ich schlimmer, bin ich thoͤrichter geworden, als ich war? — bin ich schlimmer, thoͤrichter, weniger gluͤcklich, als du? — — Es wehet durch alle meine Em- pfindungen der lebendige Athem der Natur, der vermehrende, ewig neu gebaͤhrende. — Laß ihn wehen! — Ja, fallen werde ich noch oft, aber auch eben so oft wieder aufstehen, und gluͤcklicher fortwandeln. Sagte dirs nicht deine Amme, daß man nur durch Fallen gehen lernt? — O ihr Doppeltgegliederten, ihr Kruͤp- pel in eurem Gaͤngelwagen! Es ist traurig anzusehen, wie manche gu- ten Leute so aͤngstlich und emsig — ja zuse- hen, — daß sie — nur ja nichts Boͤses, nur ja nichts Ungerechtes verursachen oder zulassen; und daruͤber in ihrem Truͤbsinn es nur zehnmal aͤrger anrichten, oft an unsaͤglichem Unheile Schuld werden. Um nicht, pflichtwidrig, durch des abwesenden Nachbars verschlossene Thuͤre einzubrechen, uͤberließen sie euch wahr- scheinlicher, dringender Gefahr; als wohl, in dessen Garten von seinem ruchlosen Sohn ermordet zu werden. Nun verloͤre dieser arme Nachbar daruͤber Naͤhrer, Helser und Freund, und muͤßte seinen Sohn auf dem Rade sterben se- hen: aber sie haͤtten dann doch kein Gesetz uͤber- treten, haͤtten sich nichts vorzuwerfen, behiel- ten ein reines Herz und ein gutes Gewissen. Es ließe sich auf alle Weise darthun, und durch eine Menge Beyspiele erlaͤutern, daß in dem Begriffe der entschiedensten Tugenden doch immer etwas schwankendes bleibt, so daß zu- weilen der Mensch sich am vortreflichsten zei- gen kann, indem er ihnen schnurstracks entge- gen handelt. Ich kann mir Faͤlle gedenken, wo es das erhabenste Verdienst waͤre . . . . . . . . . . . aber das leitete mich in ein zu weites Feld. Nur noch ein Beyspiel fuͤr was ich vorhin sagte. Die erhabenste aller Tugenden, welche zu- gleich die allgemeinste Anwendung vertraͤgt, die uͤbrigen alle schuͤtzt, vermehrt, gebiert — ist wohl durchgaͤngige Wahrhaftigkeit . Was fuͤr ein goͤttlicher Mensch muͤßte der nicht werden, welcher sich entschloͤsse, immer wahr zu seyn? Schon das wuͤrde nothwendig zur Recht- schaffenheit leiten, wenn man den Vorsatz aus- fuͤhrte, nur keine Unwahrheit je zu sagen; so groß ist unsre Achtung fuͤr unsre Mitmenschen, so brennend der Spiegel, der unsre Gestalt aus ihnen in uns zuruͤck wirft! Man erinnere sich irgend eines Vorfalls, wo man um eine Lei- denschaft zu befriedigen, einen Betrug zu Huͤlfe genommen, und stelle sich nun vor, man haͤtte, anstatt heimlich zu Werke zu gehen, demjenigen, den man hintergangen, die nacken- de Wahrheit, sein eigentliches Vorhaben ent- decken muͤssen — wie wird man nicht auffah- ren und erblassen vor dem bloßen Gedan- ken! — Leichtsinn, in Absicht der Wahrheit, ist Sohn und Vater des Lasters, sein Helm und Schwerd, und schon die kleinste Luͤge eins der aͤrgsten Verbrechen gegen uns selbst, gegen die Menschheit. — Aber wer koͤnnte zu unsern Zeiten den unuͤberlegten Entschluß fassen, nie eine Unwahrheit sagen zu wollen? Und hat es nicht zu allen Zeiten Faͤlle ge- geben, wo es Trieb der erhabensten Mensch- heit, wo es Eingebung Gottes war zu luͤ- gen? — „O wer hat diese entsetzliche That gethan?” — „Niemand, antwortet Desde- mona ; mona; ichselbst , lebe wohl; bringe meinem Gemahl meinen letzten Gruß; o lebe wohl!” — Othello ruft: „Sie ist als eine Luͤgne- rinn zur Hoͤlle gefahren; ich wars, der sie ermordete.” — Aber, o gerechtester Gott! wer wollte nicht mit einer solchen Luͤge im Munde den Geist aufgeben, und sich vor dei- nen Richterstuhl stellen? Auch ist sogar schon das schwankend, was ich vorhin zum Behuf der Wahrhaftigkeit, der Unverstelltheit, der Offenherzigkeit vorbrachte; z. B., wir scheuen uns nicht selten eben so sehr das Unschuldige , das Ruhmwuͤrdige sogar, zu offenbaren, als das Boͤse und Schaͤndliche; und diese Schuͤchternheit zu uͤber- winden, ist zuweilen Heldenmuth vonnoͤthen. Das schoͤne Register eurer sogenannten Tugenden auf diese Weise durchgegangen; dann in dem Mischmasche sie betrachtet, wie ihr sie ganz und alle zusammen , durch einen chemischen Proceß so gern in unsre See- Q len treiben, und darinn hermetisch versiegeln moͤchtet! — So sollten wir (billig!) wohl eine Art Gewaͤchs seyn, das zugleich Castanien truͤge und Pomeranzen, und auch eine Ananas waͤre, und ein Erdapfel, und ein Rosenstrauch — aber bey Leibe! daran keine Dornen! — Sollte wohl — Asia gelegen seyn in Europa — sollten uns wohl bemuͤhen, die Kunst der Barometer und Thermometer so weit zu trei- ben, daß wir rund um die Erde Zonam temperatam bekaͤmen, und immer schoͤnes und fruchtbares Wetter zugleich haͤtten — sollten wohl alle Tugenden erwerben und ausuͤben — beym Ball schlagen, oder beym Taroc, à l'hombre — sollten — sollten — Ja, so in etwa — denken laͤßt sich freylich manches — noch so eben . Aber von der schimaͤrischen Vorstellung bis zur wahren ; vom Traum bis zur Wirk- lichkeit — wie weit! Es wird uͤberhaupt nie genug erwogen, was fuͤr ein unendlicher Unterschied zwischen Bild und Sache, zwischen Begriff und An- schauung ist. Welche Menge der entgegen- gesetztesten Dinge koͤnnen wir nicht im Begriffe zusammen nehmen, auf einander folgen lassen? Viele denken sich Himmel und Hoͤlle , und ihnen ist bey dem Einen ungefaͤhr zu Muthe, wie beym Andern. Darum uͤberwiegt so haͤu- fig sinnlicher Reiz die Vorstellungen von den schrecklichsten Plagen der Zukunft: und darum ist es so ein Lumpenkram um alle ge- lernte Religion und alle gelernte Moral. Ein Mensch, der bestaͤndig in der An- schauung edler Gegenstaͤnde ist, wird nicht leicht unedel handeln; wer aber das minder Gute, das minder Schoͤne in der Anschau- ung , und das hoͤhere Schoͤne und Gute blos in einem angeblichen , anschauungslosen Be- griffe hat; wie wollte der handeln koͤnnen diesem gemaͤß? Alles stimmt zusammen die Menschen un- srer Zeit in diesen Fall zu setzen. Daher der bestaͤndige Widerspruch zwischen Handlungen Q 2 und Grundsaͤtzen; daher die Irrungen selbst in dem System der Grundsaͤtze, weil nichts irrleitender ist, als die Combinationen blos speculativ practischer Begriffe. — Was fuͤr Meinungen, was fuͤr Entschluͤsse werden in unsrer Kindheit nicht in unsre Koͤpfe ge- schraubt, was fuͤr Gesinnungen nicht hinein- gedaͤmmert? — Und wenn wir Arme dann hinausgestoßen werden in die Welt, wo jetzt alles dawider angeht; welch innerer Zwiespalt, welche Zerruͤttung, welch gegenseitiges Miß- trauen zwischen Herz und Geist! O, schlage du nur fort, mein Herz — muthig und frey; dich wird die Goͤttin der Lie- be — es werden die Huldinnen alle dich be- schirmen: denn du ließest alle — alle Freuden der Natur in dir lebendig werden; — vertrau- test unumschraͤnkt der allguͤtigen Mutter — schenktest ihrem zartesten Laͤcheln jedesmal von neuem dich ganz — stroͤhmtest hin in verdacht- losem Entzuͤcken: lerntest, empfingest von ihr, zu geben und zu nehmen, wie sie selbst. Gleich den Millionen Lichtstralen, die von un- zaͤhligen Gegenstaͤnden zuruͤckprallen, ohne sich zu verwirren, dann im Auge sich sammeln — wieder ohne sich zu verwirren: — o, unaus- sprechliches Wohlthun — unendliche Guͤte — Leben und Liebe! Luzie! liebe Luzie! daß ich es Dir mittheilen koͤnnte! koͤnnte leben Dich lehren dies unend- liche Leben. Nie wuͤrdest Du dann befestigen wollen die Sonne, weder in Osten noch in Westen, sondern wuͤrdest wenden Dich nach Aufgang und Untergang. — Und schoͤn ist ja auch der Mond unter Sternen am Nachthim- mel — Und schoͤn der dunklere Nachthimmel mit hellerfunkelnden Sternen im Neulicht! — O, daß ich diese Gottesader in Dir ruͤhren, und zum immerwaͤhrenden Pulsschlage bringen koͤnnte! Q 3 XXI. Luzie an Eduard Allwill. I hr juͤngster Brief, mein theurer Freund und Lehrer, war mir beynah so viel werth, als eine persoͤnliche Erscheinung. Was Sie fuͤr ein Zauberer sind! Als ich ihn gelesen hatte, diesen Brief, war ich — nein, ich war nicht zwey Jahre juͤnger; nur die Zeit hatte sich um so viel verjuͤngt; Sie waren noch bey uns, und ich hatte Sie ganz rund da stehen, wie kurz vor unserer Trennung. Nun urtheilen Sie, wie mir das so wunderlich im Kopfe herumge- hen mußte, daß ich an Sie geschrieben hatte, und geschrieben hatte alles das, wovon Sie so lustig geworden waren, und daneben so hel- denwuͤthig . Meine herzliche Epistel an Sie wurde mir nun gerades Weges zur Posse; ich mußte lachen und erroͤthen. Großer Mann, verzeihen Sie meine Unbe- sonnenheit: ich vergaß, daß Sie ein Held sind; daß ich — nur ein unbedeutendes, un- schuldiges Maͤdchen bin, und daß Unschuld dem Helden etwas so unnuͤtzes, so nichtswuͤr- diges scheinen muß; daß der Goͤttliche — Unschuld verspottet; der Goͤttliche — Unschuld mit Fuͤßen tritt; uͤber sie hin, erhaben, seine Bahn nimmt. Unschuld , Eduard! — lieber Eduard, Unschuld, Unschuld, Unschuld ! — Er- wacht keine erste Erinnerung davon in Ihrer Seele? Besinnen Sie sich doch — weit, weit zu- ruͤck! Dort in der schattichtsten Gegend Ihrer Seele — schwebt da nicht etwas noch von dem Schauder, der Sie ergriff, als ihr offe- nes Auge enger, Ihre lichte Stirne dunkel wurde, als das Gewoͤlbe Ihres Busens wich, Ihr Athem sich verminderte; Stand und Tritt, Ihr ganzes Wesen schwankte: — als Un- schuld Sie zu verlassen drohte? Und wallet da nicht in dumpfem Nachhall noch etwas Q 4 von dem Donner — als Sie Unschuld von sich warfen …? Nein, armer Eduard, das ist verschwun- den, Dir auf immer verschwunden! Was will ich also? Sie koͤnnen ja unmoͤg- lich mich verstehen … Ihr guten Leute uͤberwachst euch in den Kinderschuhen. Be- vor ihr euch in euch selbst ganz sammeln koͤnnt, ist euer Wesen schon angegriffen; bevor sich euer Herz selbst fuͤhlen kann, ist es schon bethoͤrt. Da entstehen denn hoͤchstens, wo Schoͤnheit und Groͤße in der Anlage waren, solche herrliche Ungeheuer, wie ehemals die Centauren. Eduard! ein sehr ausserordentlicher Mensch sind Sie wahrlich. Wer Sie durchaus kennt, dem muß es oft wunderbar vorkommen, daß Sie nicht ein Engel an Tugend, oder ein Satan an Laster geworden sind. Die Unge- reimtheit Ihres Wesens widersteht allem Begriff. Unbaͤndige Sinnlichkeit und stoischer Hang; weibische Zaͤrtlichkeit, der aͤusserste Leichtsinn — und der kaͤlteste Muth und die festeste Treue; Tigers-Sinn — und Lammes-Herz; allge- genwaͤrtig — und nirgend wo ; alles — und nie etwas . Lassen Sie mich, Eduard! Ich ertrag es nicht laͤnger, an Ihnen Theil zu nehmen. — Und muß es doch ertragen! So hoͤren Sie denn, woran Ihre lange Epistel mich zuerst erinnert hat. An einen andern Eduard hat sie mich erinnert, der sich einmal gegen unsern D** — Sie wer- den wohl noch wissen, bey welcher Gelegen- heit — auf folgende Weise ergoß. „Vertraͤglich, nachsehend, tolerant,” sagt der feurige Juͤngling, „bin ich gewiß so „sehr, als ich es ohne meinen eigenthuͤmlichen „Charakter zu verderben, ohne Inconsequenz Q 5 „seyn kann. Mir daͤucht, wer auf eine andere „Weise tolerant ist, der mißbraucht Sache und „Wort, der ist nicht tolerant, der ist wankel- „muͤthig, schwach, kindisch. Ein Kind wird „von allen Dingen entzuͤckt, die nur im Vor- „uͤbergleiten einen angenehmen Eindruck auf „seine zarten Sinne machen; es unterscheidet, „es schaͤtzt sie weiter nicht: in jeder Stunde ist „ihm etwas anderes schoͤn, und was in dem „gegenwaͤrtigen Augenblicke es vergnuͤgt, das „schoͤnste von allem. Ein Mann im Gegen- „theil unterscheidet die Dinge an ihren eigen- „thuͤmlichen Merkmalen; er ordnet sie nach ih- „rem Gebrauche fuͤr sein ganzes Daseyn, und „weiß, was gut und schoͤn ist, mit Namen „zu nennen.” „Alles Moͤgliche von einer gewissen Seite „betrachtet, laͤßt sich in einem ertraͤglichen „Lichte sehen; denn nichts kann durchaus „haͤßlich und boͤse seyn. Aber so, wie wir „von entfernten Koͤrpern nur dann sagen, „daß wir sie in ihrer wahren Gestalt erken- „nen, wann wir sie so sehen, wie sie uns in „der Naͤhe, in derjenigen Distanz er- „scheinen, welche ich die Betastungssphaͤ- „ re nennen moͤchte; eben so haben auch die „ moralischen Gegenstaͤnde ihre ausgemachte „Distanz oder Sphaͤre, in der ihre verschiede- „nen Erscheinungen berichtiget, und auf die „ bestaͤndigen Gestalten der Gegenstaͤnde zu- „ruͤckgefuͤhrt werden muͤssen. Wer nicht fuͤr „sich eine solche bestimmte Sphaͤre unwandel- „bar annimmt, sondern bald in diese, bald in „jene flattert; alle Augenblicke den Horizont „wechselt, und uͤberall zu Hause ist: der „kann — vielleicht die Haͤlfte seiner Lebenszeit „ein ganz guter Mensch scheinen; die andre „Haͤlfte aber scheint er zuverlaͤßig ein desto „ schlechterer ; ein wuͤrdiger nie; ist kei- „nen Augenblick ein ganzer Mann.” An eben diesen D** schrieb derselbe Eduard : „Das romantische Gebrause Ihres „jungen Grafen ist unertraͤglich. Ein Clo- „ dius , der den Brutus spielen will! Was „ich davon denke, darf ich der Mutter nicht „sagen, wohl aber Ihnen. So ein Laffe, der „alle Tage regelmaͤßig seinen dummen oder „schlechten Streich spielt, mag sich einfallen „lassen, die Welt sey nicht gut genug fuͤr „ihn! Er soll doch nur ja mit ihr vorlieb „nehmen; denn wie der junge Herr beschaf- „fen ist, so ist er noch lange nicht gut genug „fuͤr sie, und er mag nur zusehen, daß er „nicht heute oder morgen auf eine unebne „Weise seinen Abschied daraus erhaͤlt. Mir „fallen gleich Maulschellen ein, wenn ich Leute „mit erhabenen Gesinnungen heran kommen „sehe, die nicht einmal nur rechtschaffene „Gesinnungen beweisen. Und ich werde nicht „zufriedener mit ihnen, wenn sie auch ihre „schoͤnen Gesinnungen mit sogenannten schoͤnen „Handlungen begleiten; denn jedem, der ein „weiches Herz und etwas Feuer im Blute „hat, wird es leichter dergleichen zu thun als „zu lassen. Aber das Boͤse zu meiden ! „das erfodert andere Kraͤfte; da muß der „ganze Mensch sich zusammen nehmen, oft „bis zur Vernichtigung sich anstrengen, und „am Ende finden, daß er zu wenig hatte an „den Kraͤften seiner ganzen Menschheit. — „Noch einmal! Es ist leicht, sehr leicht, „mancherley Gutes zu thun; und Großes „zu thun, ist immer eine Lust: aber ohne „Suͤnde bleiben, ohne Missethat — das ist „— o wie schwer! Aber auch, wie weit er- „haben uͤber alles! Was ist der wunderbarste „Luftspringer gegen den Unerschuͤtterlichen im „Kampfe? — Ein vortreflicher Schriftsteller „sagt irgendwo: ich wuͤßte nichts preiß- „wuͤrdiges, wozu nicht auch der aͤusserst „mißrathene, durchaus fehlerhafte Mensch „zuweilen sich erheben koͤnnte — Ord- „nung, Maͤßigung und Bestaͤndig- „keit ausgenommen .” Ich fodere Sie nicht auf, guter Eduard, diese Auszuͤge mit den erheblichsten Stellen Ih- res juͤngsten Briefes an mich in Verbindung zu bringen, Wer weiß, was Sie leisteten? Ich habe eine solche hohe Idee von Ihren phi- losophischen Gaben, daß ich Ihnen beynah das Unmoͤgliche zutraue. Allein Ihrem Herzen sey es anheim gegeben, wo die Fuͤlle der Wahrheit ist; dort oder hier. Sie glauben ja Ihrem Herzen alles; ich glaube ihm auch. Fragen Sie Ihr Herz, wann es sich am freye- sten fuͤhlte; wo es ganz einstimmte und mit Ihren Gedanken gleichen Strohm nahm: ob bey den Briefen an D**, oder bey dem an mich? Lieber, offener — koͤniglicher Juͤngling! Ach, so tief herabgewuͤrdigt — zum bangen, schielenden Sophisten! Sie erinnern sich wohl schwerlich eines Briefes, den Sie mir vor anderthalb Jahren schrieben; es war einer der ersten, nachdem Sie Wien verlassen hatten. Ich bin aͤusserst ver- sucht, ihn hier ganz abzuschreiben; aber lesen Sie nur folgende Stellen wieder: „Wenn in „den vergangenen Tagen, Nachts vor Ein- „schlafen, fruͤh beym Erwachen, in jedem „stillen Augenblicke mein Wiener Aufenthalt „mir vor die Seele trat; mancher verblichene „Rest des Vergangenen neues Leben erhielt; „was in Beziehung stand, sich einigte; alles „auf einander wog, ganzer und inniger wur- „de — und ich nun uͤber vieles, o! uͤber so „vieles in herbes, tiefes Trauern versank; so „fuhr es mir wohl unversehens, wie ein gifti- „ger Pfeil, durch die Brust: was soll dein „Jammer, deine Reue, dein Klagen? Es „ist nur Hohn damit! Ein unbezwinglicher „Leichtsinn, eine verruchte Achtlosigkeit, „liegt zu tief in deiner brausenden, unauf- „hoͤrlich gaͤhrenden Natur . Wer dich „kennt, traut dir nicht, liebt dich nicht! — „O Luzie! bis zur Verwirrung hats mich fast „gebracht, dies Sinnen uͤber mich selbst, dies „Hadern mit mir. — Ich moͤchte nicht alles „erzaͤhlen, wenn ich auch koͤnnte.” Wie groß, wie lieb! Damals, wie nah mein Eduard den Besten seiner Gattung! — Allwill ! Sie wurden dennoch nicht weiser; und so mußten Sie bald nur desto thoͤrichter, desto ungluͤcklicher werden. Es kann nicht anders seyn, die unbesonnene Heftigkeit, wo- mit Sie uͤberall sich anwerfen, so vielfach sich zertrennen, muß die ungereimteste Verwirrung in Ihrem Wesen verursachen, der gaͤnzlichen Zerruͤttung es immer naͤher bringen. Alle Haͤnde voll, wollen Sie noch immer mehr greifen, und koͤnnen dann weder fassen noch halten . Ueberdem soll sich jeder Gegenstand des Genusses Ihnen noch in jedem andern Ge- genstande vervielfaͤltigen. Sie sind gerade der Mann, uͤber den Sie spotteten, der von einem Oranienbaum Castanien , und von einem Castanienbaum Pomeranzen verlangt; die leichtfertige Dirne soll auch die hohen Reize, alle Tugenden, die Liebe eines frommen Maͤdchen; und das fromme Maͤdchen wieder, die schnoͤden Annehmlichkeiten, die ganze Thor- heit der leichtfertigen Dirne besitzen: und wenn dergleichen sich nicht findet, dann ist es eine Noth, ein Jammer, daß man zweifelt, ob auch auch wohl diese Welt einen Gott zum Urheber haben koͤnne? Und das heißt denn doch Eines Sinnes seyn mit Natur! — Allwill! Sie , eines Sinnes mit Natur? Sie , der immerwaͤhrend die aͤchtesten Bande der Natur aufloͤset; wahre, reine Verhaͤltnisse zerstoͤrt, um ertraͤumte, schimaͤrische an die Stelle zu setzen — dann sich abarbeitet, alle Schwarzkuͤnsteleyen zu Huͤlfe nimmt, um den wankenden Schatten zu befestigen; und da nichts destoweniger die Son- ne ihn verruͤckt, dem Segens-Wandel der Sonne fluchet — Sie , Eines Sinnes mit Natur ? Wenn ich nur etwas wuͤßte, was der Na- tur mehr entgegen waͤre, als jene Unmaͤßigkeit, welche alle Beduͤrfnisse vervielfaͤltiget und graͤn- zenlosen Mangel schafft, mit seinen unendlichen Noͤthen — Angst, Schmerz, Gewaltthaͤtigkeit, Betrug, Arglist und Tuͤcke. Nur einen fluͤch- tigen Blick auf die Welt — was in ihr alles so R verdirbt, daß wir sie boͤse nennen muͤssen! — Es ist offenbar nur jene Ungenuͤgsamkeit, jenes blinde Ringen nach Allem, jenes Schei- dekuͤnsteln an den Dingen, um das Wesen von der Substanz, die Wirkung von der Ur- sache abzuloͤsen; um zu widernatuͤrlichen Be- duͤrfnissen widernatuͤrliche Mittel zu erfinden. Ich weiß wohl, daß es wenig fruchtet, da- gegen zu predigen; aber dafuͤr zu predigen, die Theorie der Unmaͤßigkeit, des Lasters, als die einzige Philosophie des Lebens, als den einzigen Weg zur Gluͤckseligkeit, ja zur hoͤch- sten Vortreflichkeit, anzupreisen: das waͤre, daͤucht mich, doch wohl das unsinnigste Be- ginnen, das sich erdenken ließe, und das boͤseste ! Ja, Eduard, Theorie der Unmaͤßig- keit, Grundsaͤtze der ausgedehnte- sten Schwelgerey , das sind die eigent- lichen Namen fuͤr das, was Sie mit so vie- lem Eifer, mit so großem Aufwande von Witz, Raisonnement, und dichterischem Schmucke, an die Stelle der alten Weisheit zu setzen trachten; und das gewiß nicht auf Anrathen Ihres Herzens , das groß und edel ist; sondern Ihrer Sinnlichkeit zu Liebe, welche Sie, unter dem Worte Em- pfindung , so gern mit Ihrem Herzen in Eins mischen, wie wohl auch jeder andere Mensch mehr oder weniger thut, und nicht an- ders kann. Sinnesfreude ist die Lichtwolke, worauf alles Goͤttliche vom Himmel zu uns hernieder steigt; aber Dunst aus Moor und Gruͤften ist keine Wolke vom Himmel, obschon er die Huͤgel hinan schleicht, und Sonnen- licht haschet. Aber Sie koͤnnen das nicht unterscheiden! Doch unterscheiden Sie uͤbrigens so scharf, em- pfinden so reinweg alles Schoͤne! — Freylich; aber auch alles Schoͤne so lebhaft , daß je- der Eindruck davon Sie berauscht, Ihnen fuͤr die Zeit alle weitere Besinnung raubt. Nur ein Tropfen Nektar an des Bechers Ran- de, und Sie verschlingen, ohne es zu merken, das abscheulichste Getraͤnk. R 2 Eine fuͤrchterliche Bestimmung, dieser Eduard Allwill zu seyn! Unaufhoͤrlich, auf so mancherley Weise bis ins Mark erschuͤttert; und die Menge tiefer Leiden in der Folge. Armer! — daß Du nicht endlich mit zu Grunde gehest bey den Stoͤßen, da alles an Dir zerschellt; oder erstickest unter dem Schutte. Koͤnnte ich nur jedes liebe unschuldige Ge- schoͤpf aus Deinem Bann entfernen! Ach, wie viele der Ungluͤcklichen Du noch machen wirst, die Du ihrer eigentlichen Bestimmung, ihres natuͤrlichen Verhaͤltnisses entsetzen, sie aller Hal- tung fuͤr ihr kuͤnftiges Leben verlustig machen wirst! — Gutes Maͤdchen, das sage ich nicht, daß er dich nicht liebt. Er liebt dich ge- wiß; mit mehr Wahrheit vielleicht, als kein anderer Mensch dich lieben koͤnnte; liebt ge- rade alles wahrhaft Schaͤtzbare an dir, gera- de das, worin deine gutgeschaffene Seele ihre angemessenste Thaͤtigkeit, ihre eigenste Wonne, fuͤhlet. Nicht wahr, das fuͤhlst du, das sichert dich, daß er dich innig liebt, wie du dich selbst , und wie du ihn liebest; und du hast Recht so an ihn zu glauben; dein ist seine ganze Liebe . Aber, armes Kind! Allwill liebt nie anders; er ist immer seinem Gegenstande ganz ; morgen vielleicht — der Ehre; einem vortreflichen Manne; ei- ner Kunst; vielleicht — einer neuen Ge- liebten . — Sieh, dieser Allwill — der Un- gluͤckliche! muß unstaͤt und fluͤchtig seyn; er ist verflucht auf Erden — aber gezeichnet mit dem Finger Gottes; daß kein Mensch Hand an ihn zu legen wagt . — Eduard, guter Eduard! jammert Dich nicht das arme Geschoͤpf? O so schone denn! schone, schone! — Aber, was hilft mein Flehen; was huͤlfe das Flehen einer Welt? Deine Sinne, Dei- ne Begierden sind Dir zu maͤchtig; und da sie eine so bequeme taͤuschende Huͤlle an Deiner schoͤnen Fantasie haben, wirst Du nie sie fuͤr das erkennen, was sie sind. Ach, die Beduͤrf- R 3 nisse Deiner Sinne, die Taͤuschungen Deiner Sinne — glaube mir, Allwill — (schwindender Athem meiner Brust, komm, sammle dich, daß meine Stimme weniger be- be, und ihr kranker Laut ihn erreiche) — Allwill, es sind Moͤrder ! — Hieher und daher wird es Dir immer graͤßlicher in die Ohren gellen: Moͤrder! — Meuchel- moͤrder ! So manches Unheil, so unsaͤglicher Jam- mer allein in diesem Bezirk der Mensch- heit durch Sie angerichtet, wuͤrde Ihnen die Nichtigkeit Ihres Systems hinlaͤnglich blos stellen, wenn es nicht ausdruͤcklich erfunden waͤre, Sie fuͤr dergleichen Ansichten blind zu machen. Da soll nun eine Menge herrlicher Empfindungen, welche sich anders nicht erwer- ben und zusammen bringen ließen, alles Boͤse mit Wucher ersetzen, und dieser innere Genuß alle seine Kosten aufwiegen. Hiebey faͤllt mir ein, was ich Sie oft vom Wissen sagen hoͤr- te. Sie verglichen den großen Haufen unse- rer Studierenden mit Leuten, die gar emsig hin und her liefen, um zu suchen — was sie nicht verloren haͤtten. Gern belachte ich mit Ihnen die Thorheit eines solchen geschaͤftigen Muͤßiggangs, um lauter Wisserey ohne Wissen . Aber sagen Sie mir, lieber Eduard, ist es eine reellere Sache um das muͤßige Sammeln von Empfindungen, um das Bestreben, Em- pfindungen — zu empfinden, Gefuͤhle — zu fuͤhlen ? Findet hier nicht eine viel un- gereimtere Absonderung statt, wie dort beym Wissen? Ich glaube, wer eine schoͤne große Seele in der That besitzt, haͤlt sich nicht da- mit auf, die Empfindungen, welche seine Handlungen treiben, die entzuͤckenden Ge- fuͤhle, welche sie begleiten, auf solche Weise abzusondern; wird sich ihrer nie dergestalt be- wußt, daß er sie in Vorstellungen aufbewah- ren, und aus ihrer Betrachtung einen unab- haͤngigen Genuß sich bereiten koͤnnte: er sagt nicht: es ist Seligkeit in dieser Empfindung, in diesem Gefuͤhl, sondern es ist Seligkeit in die- ser That . Und das, Lieber, macht die Bahn des Edlen richtig. R 4 Vor einigen Monaten starb ein Greis, mit Namen Wigand Erdig; der hatte aus dem elenden Flecken D* eine ansehnliche Stadt voll gluͤcklicher Buͤrger gemacht. Ich glaube nicht, daß er ausser seinem Gewerbe viel mehr als seinen Katechismus wußte; aber sein Ge- werbe verstand er gut, war an Ordnung, Fleiß, Maͤßigkeit — an gesunde Vernunft gewohnt, und so von Tag zu Tage kluͤger, geschickter, emsiger und unternehmender gewor- den. Nun legte er zu D* eine Tuchmanu- factur an. Der Fortgang seines Unternehmens litt unzaͤhlige Hindernisse; aber er war ein- mahl im Gedraͤnge, und mußte durch. Eine Schwierigkeit nach der andern wurde uͤberwun- den; der Mann immer muthiger und weiser. Wenige Jahre verstrichen, da waren fuͤnfhun- dert Familien in seinem Brodte. Der benach- barte Bauer, um dieses zu schaffen, ver- groͤßerte sein Haus und machte oͤde Laͤndereyen urbar; es wurden fruchtbare Baͤume gepflanzt, Gaͤrten angelegt; die ganze Gegend fuͤllte und verschoͤnerte sich. Endlich ward diesen Gluͤck- lichen das Thal zu enge. Da sprengten sie Fel- sen weg und bauten Stufenweise die Berge hinan. Das alles brachte dieser einzige Mann zuwege, und ohne andre Absicht (seines Be- wußtseyns) als sein Gewerbe in Flor zu brin- gen, sein Haus zu gruͤnden, und seine Nach- kommen in Segen zu setzen. Eben so wurden ihm die Eigenschaften ehrwuͤrdiger Menschheit. Die Klugheit und die Unstraͤflichkeit seines Wandels hatten ihn bey seinen Mitbuͤrgern in solches Ansehen gesetzt, daß sie, wie einen Va- ter, ihn uͤber sich walten ließen. Sein Ur- theil , das Licht seines Gewissens , galt ihnen mehr als alle Gesetzbuͤcher. In den letzten Jahren, wenn der alte Erdig uͤber die Straße gieng, traten die Leute vor ihre Haͤuser, und wer ihm begegnete, wich auf die Seite, um ihn mit gebuͤhrender Ehrfurcht zu gruͤßen. Man muß die Leute sehen, wenn sie erzaͤhlen, wie der Ehrenreiche Greis langsam so einher trat, gegen jeden, freundlich, sein leuchtendes Haupt neigte, und ihnen alles Gute erinner- lich wird, was er gestiftet hat. — Nicht R 5 Thraͤnen, es kommt ihnen sonst etwas in die Augen, verbreitet sich uͤber ihr ganzes Ge- sicht — Verheissung des ewigen Le- bens : Er ist bey Gott ! — Allwill! dieser Glanz der Heiligkeit — wissen Sie etwas daruͤber? Eure Flitter-Philosophie moͤchte gern alles, was Form heißt, verbannt wissen. Alles soll aus freyer Hand geschehen; die menschliche Seele zu allem Guten und Schoͤnen sich selbst — aus sich selbst bilden ; und ihr bedenkt nicht, daß menschlicher Charakter einer fluͤßi- gen Materie gleicht, die nicht anders als in einem Gefaͤße, Gestalt und Bleiben ha- ben kann; laßt euch deswegen auch nicht ein- mal einfallen zu erwaͤgen, daß eitel Wasser in einem Glase mehr taugt, als Nektar in Schlamm gegossen. Ich kann Ihnen alle moralischen Systeme, als wirklich Haltung ertheilende Form betrachtet, Preis geben, und bin dazu bereit, da ich selbst nur der ganzen Menschheit eines Men- schen traue, und mich wenig auf die Weisheit und Tugend, die nur in und an ihm ist, ver- lasse. Aber zur Menschheit eines jeden Menschen gehoͤren Grundsaͤtze, und irgend ein Zusammenhang der Grundsaͤtze; und es ist klarer Unsinn, hievon als von etwas Ent- behrlichem zu reden. Was nuͤtzen Erfahrun- gen, wenn nicht durch ihre Vergleichung standhafte Begriffe und Urtheile zuwege gebracht werden; und was waͤre uͤberall mit dem Menschen vorzunehmen, wenn man nicht auf die Wirksamkeit solcher Begriffe und Ur- theile zu fußen haͤtte? Auch nehmen wir so allgemein fuͤr den eigenthuͤmlichsten Vorzug der Menschheit an, nach Grundsaͤtzen zu han- deln, daß der Grad der Fertigkeit hierin den Grad unserer Hochachtung oder Verachtung bestimmt. Wir preisen denjenigen, bey wel- chem der Empfindung das Gefuͤhl, und dem Gefuͤhl der Gedanke die Wage haͤlt. Al- so nicht unsere Gefuͤhle verringern, nicht sie schwaͤchen will die Weisheit; sie nur reinigen will sie; und dann bis zur Lebhaftigkeit des Ge- fuͤhls den Gedanken erhoͤhen: also die Empfin- dung uͤberhaupt — schaͤrfen, vergroͤßern. Ich weiß, daß Sie mehrmals, von ho- her Idee begeistert, heftige Begierden un- terdruͤckten, Leidenschaften uͤberwaͤltigten. Haben Sie jemals sich groͤßer gefuͤhlt, als in solchen Augenblicken; waren Sie je freu- diger, triumphierender? Auf nichts duͤnken Sie sich ja mehr, als daß gewisse Ideen so fest in Ihnen halten, daß kein Vorfall Ihren Glauben daran einen Augenblick irre machen kann, Sinne und Imagination moͤgen vorspie- geln was Sie wollen. Edler Stolz kann nie eine andre Quelle haben. Jede Erhabenheit des Charakters kommt von uͤberschwaͤng- licher Idee . Als Portia den Brutus uͤberfuͤhren wollte, daß ihre Seele faͤhig sey, die seinige in allen ihren Unternehmungen zu begleiten, wußte sie kein besseres Mittel, als ihm eine Probe vor Augen zu legen, daß sinnliche Eindruͤcke nichts uͤber sie vermoͤchten. Steigen wir von der Helden-Sitte bis zum gefaͤlligen Wesen unserer Tage herab; uͤberall sehen wir am meisten geehrt, was Obermacht des Gedankens uͤber sinn- liche Triebe beweiset. Die Lebensarten moͤgen noch so verschieden seyn, die Gebraͤuche noch so mannichfaltig und abwechselnd; diese Begriffe halten, bey genauer Untersuchung, uͤberall Stand; sie erstrecken sich bis auf die Urtheile von Mienen und Geberden, und fuͤh- ren uns selbst zur Quelle aller Gefuͤhle von An- staͤndigem und Unanstaͤndigem. Wo Gedanke den Menschen zu verlassen scheint; wo er ganz in des Triebes Gewalt ist; wo er diesen nur die Oberhand gewinnen laͤßt; nur der Ge- fahr sich aussetzt, von ihm uͤbermeistert zu werden: da fuͤhlen wir Unanstaͤndigkeit. Es ist gerade zum Vortheile der Grund - saͤtze, was Sie am Anfange Ihres Briefes von den widersprechenden Erscheinungen im Men- schen anfuͤhren, wo ihm wechselsweise seine Weisheit zur Thorheit, und seine Thorheit zur Weisheit wird. Man sollte glauben, eben diese feine Organisation, welche Sie zu der- gleichen Bemerkungen geschickt macht, Ihnen Materie und Form dazu bietet, muͤßte Ihnen auch die Ueberzeugung aufdringen, daß dem Menschen eine feste Lehre des Achtungswuͤrdi- gen, daß ihm unverbruͤchliche Vorschriften des Verhaltens unentbehrlich sind. Was anders kann in seinem Thun ihn sichern; was als ei- nen zuverlaͤßigen Mann ihn darstellen? — In alle Wege muß er sonst verloren gehen. Den eingestandenen Wankelmuth des mensch- lichen Herzens sogar bey Seite, und angenom- men, das Ihrige waͤre so beschaffen, daß es Sie immer recht leitete; aber nur auf eine Weise, welche der eingefuͤhrten allgemeinen Ordnung oft zuwider liefe: so muͤßte dennoch Ihr Character verwildern. Es koͤnnte nicht fehlen, indem Sie diejenigen Gesetze angrif- fen, welche der gemeine Menschen-Sinn fuͤr unverbruͤchlich erklaͤrt, daß Ihnen beynah jeder im Wege stuͤnde; Ihre Bestre- bungen hemmte; unwissend oder aus Absicht Ihnen die aͤusserste Quaal verursachte; kurz. daß Jedermanns Hand sich wider Sie erhoͤbe. Zwiefach waͤre dann gegen Jedermann die Ih- rige. Eckel, Gram und Haß naͤhmen Ihre Seele ein. Mit der Gewalt draͤngen Sie nicht durch. Sie muͤßten also, um Ihr erhabene- res Leben zu retten, List, Verstellung, Be- trug zu Huͤlfe rufen; lauter krumme Wege gehen: dies entzweyte Sie nothwendiger Wei- se mit sich selbst; und so muͤßten Sie bald voll tiefen Graͤuels sich und die Welt verfluchen. Schnoͤde Prahlerey, daß Ihr Herz immer freyer und freyer schlage. Es kann nicht frey schlagen, so lange es Geheimnisse des Frevels und der Schande zu bergen hat; so lange es vor dem Blicke des Unstraͤflichen sich zusammen ziehen — von dem Athem des Reinen ersticken muß in seinem Blute — damit nur Deine Stirne weiß bleibe, wenn er Dinge der Finsterniß mit ihrem Namen bezeichnet, und Du fuͤhlest, er redet von Deinen Thaten. Allwill ! mir schaudert, wie ich Dich manchmal beben — vergehen sah; bis zur Ohnmacht in Verwirrung uͤber dem Absichtlo- sen Worte eines Thoren, eines Kindes; uͤber dem Muthwillen eines Gassenbuben, den Schmaͤhreden eines Trunkenen. Aber Sie haben wohl nunmehr dergleichen Schwachheiten von sich abgeworfen. Aus ei- nem Stuͤcke Ihres Briefes, wo Sie die Zwey- deutigkeit aller Tugenden zu erweisen trachten, erhellet, daß Sie wenigstens mit großer Muͤhe daran arbeiten. Ich will Sie nicht stoͤren, Eduard. Doch, zur Erholung, lassen Sie sich erzaͤhlen, was ich gestern von ungefaͤhr in meinem ehrlichen Montaigne las, und dann eine Anekdote , die ich weiß. Der treuherzige Montaigne erzaͤhlt, daß man ihn nie haͤtte vermoͤgen koͤnnen, fuͤr Koͤ- nig und Vaterland sogar, in etwas Schlech- tes zu willigen. Er glaubte, wenn er einmal sich selbst waͤre untreu geworden, wuͤrde er leicht leicht es nachher auch dem Staate werden. Man muß eine Sache Gott uͤberlassen, sagt er, wenn menschlich zu helfen un- moͤglich ist; und was ist unmoͤglicher, als daß ein rechtschaffener Mann Treue und Glauben verlasse ? Was kann we- niger geschehen, als was ein Mann von Ehre nur auf Unkosten der Ehre und Treue bewerk- stelligen koͤnnte? Hiernaͤchst erwaͤhnt er, unter andern, des Epaminondas , des vortreflichsten unter den Menschen, bey welchem jede einzelne Pflicht in so hohem Ansehen stand, daß er nie in der Schlacht den Ueberwundenen zu Boden stieß; der sich ein Gewissen daraus machte, selbst um des unschaͤtzbaren Guten willen, die Freyheit seinem Lande zu verschaffen, einen Tyrannen oder seine Mitgenossen, ohne Form der Ge- rechtigkeit, umzubringen; und der denjenigen fuͤr einen schlechten Menschen hielt, so ein guter Buͤrger er auch seyn mochte, der unter den Feinden und in der Schlacht seinen Freund S und Wohlthaͤter nicht verschonte. — „Schreck- lich in seinen Waffen und mit Blute bespritzt, kommt er und zertruͤmmert ein unuͤberwindli- ches Volk, ihm allein uͤberwindlich. Aber mitten im Handgemenge begegnet ihm sein Gastfreund, und er geht seitwaͤrts .... Schon ist es ein Wunder mit der Wuth des Krieges etwas von Gerechtigkeit zu vereinba- ren; aber nur der Festigkeit eines Epaminon- das war es verliehen, die Sanftmuth der mil- desten Sitten damit zu verbinden und die rein- ste Unschuld! .... Wenn es Groͤße des Muths, und Wirkung einer ausserordentlichen Tugend ist, fuͤr das allgemeine Wohl oder aus Gehorsam gegen die Obrigkeit, Freundschaft, Privatpflichten, Wort und Verwandschaft aus den Augen zu setzen: so ist das wahrlich genug uns hievon loszusprechen, daß es eine Art Groͤße ist, welche in Epaminondas Seele nicht Platz haben konnte.” Nun die Anekdote . Sie kennen Au- guste von G * *, die treue, makellose Seele, die so einzig ist, weil sie nur Begriffe von Gutem und Wahrem hat, nur im Guten und Wahren Witz und Laune. Eine unselige Cokette ver- fuͤhrte ihren Mann. Auguste , im hoͤchsten Grade arglos, merkte lange nichts. Weil aber G * * genoͤthiget war, ihr manche Unwahr- heit zu sagen, und jede Unwahrheit Luͤgen ohne Zahl gebiert, so mußte wohl das liebe Weib endlich merken, daß es hintergangen wurde. Nun begab es sich an einem Tage, daß ihr, in des Mannes Gegenwart, auf einmal zwey recht auffallende Betruͤgereyen offenbar wurden. Sie koͤnnen sich G * * s Zustand vorstellen. Kaum war der Freund, welcher unschuldiger Weise die Sache ans Licht gebracht hatte, zur Thuͤr hinaus, so hub Au- guste an: „Hoͤre doch, Max , du hattest mir ja diese Sache so , und jene so gesagt, und ich hoͤre es nun ganz anders? Ich merke seit einiger Zeit, daß du mir oͤfters Unwahrheiten sagst — Wenn du wuͤßtest, wie mich das be- truͤbt!” — Freylich, antwortete G * *; aber das ist nicht meine Schuld; wer sich unbeschei- S 2 dene Fragen erlaubt, der zwingt den andern zur Luͤge. — O Gott , sagte Auguste mit freundlicher, weinender Stimme: Wenn ich denn nur wuͤßte was ich nicht fragen muß; ich wollte gewiß nie so etwas fra- gen, damit du nie zu luͤgen brauchtest . Ist Ihnen eine Luͤge bekannt, Eduard, die an Kraft zum Guten, auch an Erha- benheit , diesem unschuldigen Gebet meiner Auguste um Wahrheit gleich zu schaͤtzen waͤre? Unschuld, Eduard! lieber Eduard, Un- schuld, Unschuld! So fieng ich an; so muß ich endigen. — Suͤße, reine, ewige Wonne der Unschuld — das ist es doch; ja, Eduard, das ist es, was auch Du suchest: ach, auf dem Wege der Verstockung! Liebes Maͤdchen, Deinen Namen ? Wo bist Du? Eile! Eile, Freundinn, daß sein Blick Dich finde, Dir begegne, und der Deinige ihn fasse! Liebe kann vielleicht ihn retten; kann vielleicht zuerst in seinem Her- zen den Geschmack an Lauterkeit und Unschuid wieder rege machen. O, so komm doch! komm und entzuͤnde den Strahl in seinem Auge, der alle Sehkraft an sich zieht, da- mit er aufhoͤre, leichtfertig umher zu gaffen; damit ihm sein Auge ein Licht werde. Fuͤlle ihm den Busen mit Ahndungen jener Wonne, die keinen Zusatz vertraͤgt, damit er nuͤchtern werde, und, was Leben, und, was Freude ist, erfahren lerne! O jener Tage, wo ich noch glaubte, selbst berufen zu seyn, Dein Wesen in Liebe zu erwecken, durch Liebe zu heiligen! Eduard, ich haͤtte alles geduldet, alles entbehrt, um Deinetwillen! S 3 Aber es kam eine Stunde, da fuͤhlte ich, daß ich wohl einst Dich wuͤrde verach- ten muͤssen. Es ergriff mich ein tiefes Schrecken, und ich entfloh. Ich war ent- flohen, und kam zuruͤck mit verhuͤlltem Ange- sicht. Alle meine Liebe zu Dir hatte sich in heisse Sorge um Dich verwandelt. Verbor- gen kam ich zuruͤck mit aller meiner Liebe, um Dich nie zu lassen. Ich sey von Schwaͤrmerey; ich sey an der Einbildung gestorben, wird es heissen. — Nun ja! — Wenn nur Du auf mein Grab kommst, Eduard, mit dem Maͤdchen, das ich Dir rief, mit dem Maͤdchen, das Dein Wesen erneuern, zu jeder Freude der Menschheit Deine Sinne wieder rein stimmen soll! Dann wirst Du immer nur Eins , das Koͤst- lichste , wollen; aneckeln alles andere, wirst dies Koͤstlichste , liebste , mit Deiner gan- zen Kraft geniessen, und darum jeden Genuß des aͤhnlichen Geringern fuͤr Verlust achten. Ja, Eduard, Du kommst auf mein Grab mit dem Maͤdchen, und kuͤssest da den himm- lischen, ewig neuen Kuß der Treue. — Komm nur bald! Il y a cette difference entre l'amour et le so- leil, que le soleil montre sur terre à ceux qui ont des yeulx, autant les laides que les belles choses, et que l'amour n'est la lumiere que des belles seulement. Plutarque. Λεος ανϑρωπῳ ου μιγνυται, αλλα δια του δαιμονιου πασα εστιν ἡ ὁμιλια και ἡ διαλεκτος ϑεοις προς ανϑρωπους. Διοτιμα. S 4 Zugabe. An Erhard O * *. Quid est enim verius, quam neminem esse oportere tam stulte arrogantem, ut in se ratio- nem et mentem putet inesse, in cœlo mundoque non putet? aut ut ea, quæ vix summa ingenii ratione comprehendat, nulla ratione moveri putet? quem vero astrorum ordines, quem die- rum noctiumque vicissitudines, quem mensium temperatio, quemque ea, quæ gignuntur nobis ad fruendum, non gratum esse cogant; hunc hominem omnino numerare, qui decet? Cicero de Legg. II. 7. S 5 Βουλει δητα και ἡμεις τοις εμπροςϑεν ὁμο- λογουμενοις ξυμφησωμεν, ὡς ταυϑ̕ ὁυτως εχει; και μη μονον οιωμεϑα δειν τ̕αλλοτρια ανευ κιν- δυνου λεγειν, αλλα και συγκινδυνευωμεν και με- τεχωμεν του ψογου, ὁταν ανηρ δεινος φῃ ταυτα μη ὁυτως, αλλ̕ ατακτως εχειν; Πως γαρ ουκ αν βουλοιμην; Plato Phileb. T. II. p. 28. 29. Ed. Bipont. IV. p. 244. Den 28ten Jaͤnner 1791. D as heissest Du schimpfen, und zuͤrnst, daß ich, laͤchelnd, Dich einen Antediluvianer nannte? Doch laͤcheltest Du ehmals mit, es schien Dir zu gefallen, wenn man Dich unter die Riesen zaͤhlte, unter jene derben elastischen Maͤnner, denen kein strafender Geist eine Strieme oder Beule zu schlagen den Arm hat- te; unter jene Gluͤcklichen, die immer guter Dinge waren, freyeten um alles, von allem sich freyen ließen, und des graͤmlichen Noah spotteten, bis er einpackte, und mit seinem Kasten davon schwamm. Bist Du nun ein Feind Deiner unsklavi- schen herzhaften Ahnen geworden? Nicht mehr jener derbe, durch und durch elastische Mann? Nicht mehr guter Dinge uͤberall und immer? — Das sey ferne, sagt Dein ganzer Brief! Du bist was Du warest in einem nur noch hoͤheren Grade, und nur von Rechtswegen soll, wie Du zunimmst in Deinem Wesen, auch meine Liebe zu Dir immer hoͤher steigen. Hast Du wo an meiner Freundschaft eine Abnahme gespuͤrt? Ehre ich Dich weniger als ehmals; richte oder schaͤtze ich Dich anders? Dir gab die Natur, zu den ausserordent- lichsten Geistesfaͤhigkeiten, ein heiteres Ge- muͤth von unschaͤtzbarem Werthe; Gutmuͤ- thigkeit, Brudersinn, edlen Fleiß und schoͤnen Muth. Dies liebte ich an Dir; dies werde ich an Dir lieben und ehren, so lange ich athme. Ich liebe nicht an Dir, und kann nicht an Dir lieben, was Du nicht hast; was ich Dir mehrmals definieren sollte, und nicht konnte; was, undefiniert , Dein großer Kopf als eine Armseligkeit des Herzens verschmaͤhte und belaͤchelte — Dir fehlt In- nigkeit ; ein tieferes Bewustseyn des gan- zen Menschen ; ein aus diesem tieferen Be- wustseyn hervorgehendes eigenes Vermoͤgen: Sich selbst naͤhrender, staͤrkender, in sich selbst gedeihender Sinn und Geist ! Dir fehlt jene stille Sammlung, die ich — verzeihe! — Andacht nennen muß; jenes feyerliche Schweigen der Seele vor sich selbst und der Natur; das feste An- saugen an Schoͤnes und Gutes, welches tief lebendig macht, und dadurch unabhaͤngig groß. Es fehlt Dir — ein nie verstummen- des, eine zweyte bessere Seele allmaͤhlich bil- dendes Echo in dem Mittelpunkte Deines Wesens. Hoͤre mich, Erhard! — Ich sage das mit Dir: „Heitern Sinn und immer frohen „Muth, wenn der Mensch sich dieses geben „kann, so giebt er sich das Hoͤchste.” — In Freude erscheint die Wahrheit, in Freude erscheint das Leben. Ihre Bedeutung , ernst und groß, verborgen, mit ihr, im Triebe , der sich und seinen Gegenstand zu- erst nicht kennt, erschallt durch sie als ein le- bendiges Wort in unserer Brust; durchdringt jede selbstthaͤtige, sich selbst ausfuͤhrende und fortbildende Natur: Ein ἑυρηκα, dessen Zeug- niß ist: So wahr ich lebe , so wahr ich bin ! Hast Du Freude, Erhard? Du Liebhaber der Vergaͤnglichkeit, der Ungestalt, des Todes? Du spottest meiner Hofnungen, meines Ringens nach einer festen Ueberzeugung, die ich, im voraus, Wahrheit und Erkenntniß nenne. Schatzgraͤberey willst Du ein Suchen dieser Art genannt wissen. Du fragst und fragst wieder, damit ich ja nicht unterlasse mich selbst zu fragen: Was ist Wahrheit ? — Und Dir ist so wohl bey dieser Frage! Du ruhst so sanft im Schooße Deiner Gott- heit — jenes ewig verschlingenden, ewig wie- derkaͤuenden Ungeheuers, welches Werthern erschien, wie ehmals dem Brutus sein boͤser Genius. „ Du wirst mich wiedersehen „bey Philippi! ” — Und bey Philippi gab der Held seinen Geist mit den Worten auf: „ Tugend, du bist nur ein lee- „rer Name !” Das ist sie nicht! Du selbst, Erhard, rufst mit edlem Unwillen: Das ist sie nicht! Nun, so laß mich denn auch nach Wahrheit ringen, nach meinem Schatze graben, und am Finden nicht verzweifeln. Schein und Schatten umgeben uns. Nicht einmal das Wesen unseres eigenen Daseyns erkennen wir. Alles praͤgen wir mit unserm Bilde, und dies Bild ist eine wechselnde Ge- stalt; jenes Ich, daß wir unser Selbst nen- nen, eine zweydeutige Geburt aus Allem und aus Nichts: die eigene Seele nur Erschei- nung .. Doch eine der Wesenheit sich naͤ- hernde Erscheinung ! Selbstthaͤtigkeit und Leben offenbaren sich in ihr unmittelbar Non valet tantum animus, ut se ipsum ipse videat: at, ut oculus, sic animus se non videns alia cernit. Non videt autem, quod minimum est , formam suam. Fortasse: quamquam id quoque . Cic. Tusc. Quæst. L. I. c. 28. . Darum ist uns der Seele reines Gefuͤhl, Substanz — Urbild des Seyns von Al- lem; ihr reines Sinnen, von allem die bil- dende Kraft; ihr reiner Trieb, das Herz der Natur. So erfuͤllt das Unendliche ein leben- diger, sehender, ordnender, bestimmender Geist. Vertieft in diese Gesichte gleicht der staunende Forscher jenem Beherrscher Assyriens, der nur wußte: Es lag ihm ein Traum in der Seele ! Ein Traum, den er nicht auszubilden, vielweniger zu deuten im Stan- de war Daniel. II. . Wird Wird der Weisere vielleicht ihn deuten, in- dem er das Lebendige aus dem Unlebendigen, das Vernuͤnftige aus dem Unvernuͤnftigen, das Sittliche aus dem Viehischen — ergruͤndet? Wahrlich, das hiesse thoͤrichter die Todten fragen , als noch kein Aberglaube sie zu fra- gen je und irgendwo versuchte! Man hat Milton getadelt, daß er von einer sichtbaren Finsterniß sprach, weil sich eine sichtbare Finsterniß nicht denken lasse. Es gieng diesem wie allen Sehern: ihre Auslegung und Rechtfertigung ist der Fuͤlle der Zeiten aufbe- halten. Milton prophezeyte von der Weisheit unserer Tage, welche durch Mondscheine und Daͤmmerungen des Irrens und Waͤhnens bis zu der materiellen Nacht und sichtbaren Fin- sterniß einer positiven Unwissenheit kuͤhn hindurch gedrungen ist The opinions of the Academics and Epicu- reans were of a less religious cast — (than those of the Stoics and Platonists) —; but . Ehmals dachte T man sich hinter jedem Irrthum eine Wahr- heit, und eiferte nur fuͤr das geraubte Licht. Aber jener Glaube selbst an Wahrheit, war der aͤrgste Irrthum. Uns leuchtet ein andrer Stern — jener Stern eines uͤberschwaͤnglichen Unlichts — vielleicht zum unfruchtbaren Jubel goldener Hochzeitfeyer des Erebus mit der Nacht, ohne die Nachkommenschaft eines neuen Himmels und einer neuen Erde Aether und Luft entsprangen aus der Nacht, die sich mit dem Erebus vermaͤhlt hatte. Dies war, nach der aͤltesten Mythologie, der Anfang der Dinge. . Eben, da ich diese letzten Zeilen schrieb, wurden mir die juͤngsten Blaͤtter des Tage- buchs der großen, nunmehr allerfreyesten whilst the modest science of the former induced them to doubt, the positive igno- rance of the latter urged them to deny, the providence of a supreme Ruler. Gibbon . Hauptstadt gebracht. Oben lag die vierzehnte Nummer, und mein Auge fiel auf die- se Worte: „Seit Locke haͤlt keine Taͤuschung „mehr; von nun an muß, was dauern „soll, auf die ewigen Felsen der Natur ge- „gruͤndet seyn, welche die strengen Demon- „strationen der Vernunft gleichsam — kahl „gemacht haben ( en quelque sorte mis à „nud par les demonstrations rigoureuses „de la raison )”. Kahle Felsen allerdings! Aber auch ewi- ge Felsen der Natur? Sie heißen mit ihrem wahren Namen, Selbstsucht und Schein- sucht ; sind der klare baare Egoismus . Und es ist wahr daß dieser, wenn er einmal vor sich selbst nackend da steht ohne Gram und Schaam, wenigstens keine Tugenden mehr sich weis macht. Aber heucheln muß er doch, trotz aller seiner Frechheit, damit er taͤusche . Er muß taͤuschen; und schwaͤrmen muß er uͤber alle Graͤnzen, damit er sich ein Leben mache. Taͤuschen und je mehr und mehr be- T 2 truͤgen muß er andre und sich selbst, damit er nicht vor Ekel an sich selbst vergehe. Ja, ein neuer Himmel und eine neue Erde; jener Unten , diese Oben ! Ihre Gaben und Ver- heissungen fließen in Ein Allgenugsames zu- sammen, das Gluͤckseligkeit heißt; reine vollendete Gluͤckseligkeit des sterblichen Menschen. Darum weg zuerst mit der Eh- re ; und Achtung allein des Nuͤtzlichen trete an der Thoͤrinn Stelle. Weg mit der Liebe , denn sie ist eine Schwachheit unter jeder Gestalt; und eine richtige Einsicht in den Zusammenhang der Vortheile erhebe sich uͤber sie. Weg mit Glaube, Wort und Treue, denn sie haben ihr Wesen im Mangel des Au- genscheinlichen, welcher die Wurzel alles Boͤ- sen ist — In den Abgrund mit der Brut des Argen Ich moͤchte nicht, daß man mich wegen dieser Aeusserungen auch nur einen Augenblick ge- wissen Gegnern der franzoͤsischen Revolu- tion in und ausser Frankreich beygesellte, ! Ich entfliehe, und kuͤsse die von dem erha- benen Felsgebirge weggefegte Erde. Ich will Glauben behalten, und Liebe, und Schaam, und Ehrfurcht und Demuth; will behalten tief deren politische Gesinnungen den meinigen gerade so heterogen sind, als es alle meine Schriften, ohne Ausnahme, beweisen, und noch besser die Geschichte meines Lebens. — Bellum est in eos qui judiciis coërce- ri non possunt! Dies bleibt ewig wahr; und ich gestehe ohne Scheu, daß Cromwell unter seinen Enthusiasten von allerley Art mich weniger empoͤrt, mein Herz vertraͤglicher mit der Menschheit laͤßt, als sein koͤniglicher Nachfolger, unter seinen Lustigmachern, An- zettlern, Metzen und Suͤndenvergebern. Jener hieng doch wirklich an Ideen , und hatte uͤberall Gemeinsames im Auge, womit sein Eigennutz sich nur vermischte ; dieser hieng allein an sich, haßte alles Ge- meinsame , und laͤchelte abscheulich je- dem Frevel, der seine veraͤchtliche Willkuͤhr, als solche, alleinherrschend zu machen versprach. — — Salomo , ein Koͤnig und ein Weiser, T 3 im Auge Ewigkeit; Ernst und feyerlichen Auf- schwung tief in der Brust; hohe und hoͤhere Ahndungen im Geiste; vollen wirklichen Genuß des Unsichtbaren in der Seele. O des armen Stolzes, der alles das als Dinge des verschwindenden Gefuͤhls, als we- senlose Taͤuschungen der geringeren Seele ver- achten, unter seine Fuͤße treten will. Oeffnet uns das Allerheiligste eures Unveraͤnderlichen, Selbststaͤndigen, Wirklichen, in sich Wahren, Wuͤrdigen und Guten! — Auf dem Vorhange steht: Alleinige Vernunft ! — Wohl! Es muß, da uͤberhaupt Vernunft vor- handen ist, auch eine reine Vernunft, eine Vollkommenheit des Lebens vorhanden seyn. Alle andre Vermunft ist von dieser nur Erscheinung oder Wiederschein. Und sagt im Prediger , einem canonischen Buche: „Es ist ein Ungluͤck das ich sah unter der Sonne, naͤmlich Unverstand , der unter den Gewaltigen gemein ist.” diese Vernunft ist gewiß im strengsten Sinne Einzig und Allein . . . . Ἑν και παν! — Leider, fuͤr die menschliche Anschauung auch: Οὐδεν και παντα! Nicht so hinter dem Vorhange; das weiß ich! Aber ich stehe nur davor. Und da sage ich zu Dir, der Du neben mir auch nur davor stehest: — So wenig der unendliche Raum die besondere Natur irgend eines Koͤrpers bestimmen kann; so wenig kann reine Vernunft des Menschen mit ihrem uͤberall eben guten Willen, da sie in allen Menschen Eine und dieselbe ist, die Grundlage eines besondern, verschiedenen Lebens ausmachen, und der wirklichen Person ihren eigenthuͤmlichen individuellen Werth ertheilen. Was die eigene Sinnesart, den eigenen festen Geschmack hervorbringt, jene wunderbare innerliche Bil- dungskraft, jene unerforschliche Energie , die, alleinthaͤtig , ihren Gegenstand sich bestimmt, ihn ergreift, festhaͤlt — eine Per- son annimmt — und das Geheimniß der T 4 Sklaverey und Freyheit eines jeden insbesondere ausmacht: das entscheidet. Es entscheidet und stehet da im Vermoͤgen — nicht des Syllogis- mus (welches man mit dem Vermoͤgen der Ei- nen Haͤlfte einer Scheere oder Zange vergleichen koͤnnte) — sondern der Gesinnungen ; im Vermoͤgen eines unveraͤnderlichen, uͤber alle Lei- denschaften siegenden Affects . Wenn ich auf das Wort eines Namentlichen Mannes fuße, so bringe ich dabey seine reine Vernunft nicht mehr, als die Βewegung seiner Lippen und den Schall aus seinem Munde in Anschlag. Ich traue dem Worte um des Mannes, und dem Manne um sein selbst willen. Was in ihm mich gewiß macht, ist seine Sinnesart, sein Geschmack, sein Gemuͤth und Charakter. Ich gruͤnde meinen Bund mit ihm auf den Bund, den er mit sich selbst hat, wodurch er ist der er seyn wird. Ich glaube dem in seinem Herzen tief verborgenen unsichtbaren Worte, das er geben will und kann . Ich verlasse mich auf eine geheime Kraft in ihm, welche staͤrker ist als der Tod. Uebrigens, da dem Menschen jede Mey- nung lieber als sein Leben werden kann Toute opinion est assez forte, pour se faire espouser au prix de la vie, sagt Montaigne im XL. Cap. des Ersten Buches seiner Ver- suche, und laͤßt es nicht an Beweisen mangeln. , so liegt die Gewalt uͤberhaupt der Begriffe , die uͤberwiegende Energie der vernuͤnftigen Natur (nicht des Gedankendinges Ver- nunft) damit so klar zu Tage, daß nur ein Thor sie laͤugnen kann. Und wie sollte ihre Gewalt nicht die hoͤchste, der Begriff nicht im allgemeinen maͤchtiger als die Empfindung seyn, da unser zeitliches , aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetztes Be- wußtseyn, im Begriffe allein sein Daseyn haben kann? Alles was in der Zeit lebt, muß sein gegenwaͤrtiges Bewußtseyn, sein zeitliches Leben erst erzeugen, innerlich alleinthaͤ- tig , durch Verknuͤpfung . Also ist die Form des Lebens, und der Trieb zum Le- ben, und das Leben selbst , im Wirkli- T 5 chen nur Eins. Der Gegenstand des un- bedingten Triebes, welchen wir den Grund- trieb nennen, ist unmittelbar die Form des Wesens, dessen Trieb oder wirksames Vermoͤ- gen er ist. Diese Form im Daseyn zu erhal- ten, sich in ihr auszudruͤcken, ist sein unbe- dingter Zweck und das Princip aller Selbst- bestimmung in der Kreatur; so daß kein Wesen vermag sich einen Zweck vorzusetzen, als Kraft seines Triebes und ihm gemaͤß. Ueber- haupt beziehen sich die Triebe auf Beduͤrf- niß . Alles Lebendige in der Natur bewegt sich mit Absicht , das ist, nach Verhaͤltnissen der Beduͤrfnisse . Der erste Grund und die Art der Entstehung dieser Verhaͤltnisse ist unerforschlich, und wir koͤnnen daher eben so we- nig den Trieb aus dem Beduͤrfnisse, als das Beduͤrfniß aus dem Triebe erklaͤren; koͤnnen eben so wenig sagen, dieser bestimme jenes, als jenes diesen. Der erste Anfang von bey- den ist ausser ihnen, und ist ein gemein- schaftlicher Anfang. Nur das Geschaͤft des Triebes: einen gewissen Zusammenhang zu er- halten, fortzusetzen , zu erweitern , erkennen wir, und zwar, als nothwendig; weil ein unverknuͤpftes, und nicht sich selbst (inner- lich und aͤusserlich) verknuͤpfendes endliches Wesen, ein Unding ist. TOTUM PARTE PRIUS ESSE, NECESSE EST. Aber kann auch das Nichts , eine Form haben oder annehmen, und dadurch Etwas seyn oder werden? Laͤßt sich eine Form, die lauter Form waͤre, denken; eine Wirksamkeit, deren alleinige Absicht reine , das ist leere Ab- sicht waͤre, ohne von und ohne zu ? Kein Trieb, wie sehr man ihn in sich allein betrachte, will nur seine eigene freye Wirksam- keit. Sein Wesen ist Verhaͤltniß : er will Befriedigung . Der Trieb der vernuͤnftigen Natur zum an sich Wahren und Guten ist auf ein Daseyn an sich, auf ein vollkommenes Leben, ein Leben in sich selbst gerichtet; er fodert Un- abhaͤngigkeit; Selbstgenugsamkeit; Freyheit! — Aber in wie dunkler, dunkler Ahn- dung nur ! Denn wo ist Daseyn und Leben in sich, wo ist Freyheit? Wahrlich nur jenseits der Natur! Denn innerhalb der Natur ist alles offenbar unendlich mehr im andern als in sich , und Freyheit nur im Tode! Dennoch wissen wir daß etwas ist , und war , und seyn wird — ein Urheber jener natuͤrlich unerzeugten Thaͤtigkeit in uns, des Kerns unseres Daseyns, wunderbar um- geben mit Vergaͤnglichkeit — in sie versenkt, ein Saame der aufgehen wird. Ewiges Le- ben ist das Wesen der Seele, und darum ihr unbedingter Trieb . Und woher kaͤme ihr der Tod? Nicht von dem Vater des Lebens und alles Guten, der in dem innersten unse- res Herzens und Willens sein eigenes Herz und seinen eigenen Willen abdruͤckte, und nichts anderes darin abdruͤcken konnte. Animi præstantissimi, schreibt Plato an Dionys, hæc ita se habere divinant, deterri- mi autem contra. Sed majoris fidei sunt divi- norum virorum præsagia, quam aliorum Plat. Ep. II. Ed. Bip. Tom. XI. p. 66. . Nicht ein kahler Fels; — eine athmende Veste dringt hervor aus den Eingeweiden der Erde, und erhebt sich uͤber die Wolken; ein Altar des Ewigen, um den von jeher alle Voͤlker sich versammelt haben: Gewissen, Religion . Sind das nur Gespenster, Erhard? „Wer wird so frech seyn — lese ich in Deinem Briefe —” und Gespenster laͤugnen? „Sie erscheinen so gewiß, als es Mondenlicht, „Nachtlampenschein, ein halbes Erwachen aus „Traͤumen, eine bildende Fantasie giebt. „Auch der kann sie noch sehen, der schon im „Besitze der Theorie ihrer Erscheinungen ist, „er kann sogar vor ihnen noch erschrecken. „Nur wird er ihren Umgang eben nicht su- „chen; noch weniger, ihn dem Umgange mit „wirklichen Dingen vorziehen; am allerwe- „nigsten aber wird er ihres Gleichen zu wer- „den trachten.” Du sagst mir etwas Großes, lieber Erhard. Denn, wenn ich Dich recht verstehe, so kannst Du uͤberhaupt Erscheinungen entkleiden, und das an sich Wirkliche allein betrachten. Ich habe mich hieran oft bis zur Verzweiflung ver- sucht, und nur ein neues Raͤthsel , das Raͤth- sel meiner unheilbaren Unwissenheit dabey zu- letzt erbeutet. Koͤnnte der Mensch seine An- spruͤche an wirkliches Daseyn, an Freyheit und Erkenntniß fahren lassen; laͤngst haͤtte ich die meinigen, uͤber allen den hart abschlaͤgigen Antworten, die mir von der Natur, von der Geschichte, von meiner Vernunft, meinem Willen, Herzen und Bewußtseyn zu Theil wurden, aufgegeben. Verschwinde ich doch vor mir selbst uͤber dem Forschen nach mir selbst, wie nichts anderes vor mir verschwindet; werde zu Nichts vor mir selbst, wie nichts anderes vor mir zu Nichts wird! Vor mir selbst! diesem Selbst , das ich doch mehr und inniger als alles andre fuͤhle! Siehe auch den Mittelpunkt der menschli- chen Vernunft, auf dem allein sie ruhen, um den allein sie sich bewegen — denken, dichten und trachten kann: die Idee eines Unbe- dingten , eines Selbststaͤndigen , welches im strengsten Sinne von Allem der Anfang und das Ende seyn muß! Sobald der Mensch sie ausfuͤhren, zu der Vorstellung oder dem Begriffe eines Wesens bilden will — siehe, wie sie vor seinem Geiste zu einem in sich grund- losen Undinge sich entstellt, und die Vernunft, die auf ihr ruhte, fuͤrchterlich erschuͤttert. Einheit und Zusammenhang; Zusammen- hang und Einheit: das Zweckmaͤßige , su- chen, sehen und fuͤhlen wir; sein Begriff ist Anfang, Mittel und Ende alles unseres For- schens! — Und nichts sind wir doch zu erfor- schen unvermoͤgender, als einen Zusammenhang der Zwecke Der gesammten Beduͤrfnisse, ihrer Verhaͤlt- nisse und harmonischen Befriedigung. . Je mehr wir lernen, desto weniger begreifen wir; desto betroffener stehen wir zwischen Himmel und Erde da; desto ver- legener in uns selbst! … Oder haben wir vielleicht genug und alles was wir brauchen an einem — und noch einem — und noch ei- nem … allgewaltigen Luͤckenbuͤßer ? — die es sind und nicht sind; es wohl seyn moͤ- gen , und durchaus nicht seyn moͤgen; die nicht uns, sondern nur, gegenseitig, sich ein- ander selbst ausfuͤllen und unterstuͤtzen? — Haben wir in der That? … „ Und verste- „hest Du auch was Du liesest ?” Ein Knochengebaͤude ist das Fundament der Menschlichen Gestalt; ihrer Schoͤnheit, ihres Koͤniglichen Anblicks. Wenn es aber allein da da steht, ohne Inhalt und Bekleidung, so be- deutet es den Tod — der, noch weniger als die Nacht , Jemandes Freund ist. Auch ist ein scheußliches Gerippe nicht das Erste. Es ruͤhrte und regte sich Etwas. Etwas Lebendiges in einem Lebendigen . Der Anfang war eine Begierde, die heftig wirkte, ohne sich selbst zu verstehen — Gabe der Weissagung Plato nennt es, etwas mystischer, Wie- dererinnerung . Der Hungrige, bemerkt Plato, empfin- det als solcher, nehmlich in so fern er Saͤt- tigung anstrebt, das Entgegengesetzte des- jenigen Zustandes, worin er wirklich ist. Der Ausgehungerte kann fuͤr sich nur Schmerz empfinden, nur die gegenwaͤrtige Zerruͤttung seines Koͤrpers; nicht, was ihn herstellen wuͤrde, kein Verlangen nach Speise; wenn nicht die Erfahrung, daß jener Schmerz durch Speise gestillt wurde, vorhergieng. Die Begierde aber wittert, sucht und fin- det ihren Gegenstand zuerst vor aller Er- ! U — — — Genug, Erhard; so unwissend, ganz so unwissend, wie ich Dir sage, bin ich. Unwissend in einem Maaße, daß ich den fahrung; sie wird gewahr, was sich in dem Subject ihrer Wahrnehmung jetzt schlechter- dings nicht findet. Also sieht die Begierde weiter, als die Empfindung reicht; sie er- blickt, was die entgegengesetzte Empfindung hervorbringen und das mit Untergang be- drohte Wesen retten kann. Dieser innerliche Arzt, Rath und Helfer, ist die Kraft selbst, welche in jedem einzel- nen Wesen, Endliches und Unendliches auf eine gemessene Art verknuͤpft und zu- sammenhaͤlt: Die Seele . Die Erkennt- niß, welche sie beweist, kann sie nicht aus ihrem Koͤrper, dessen Daseyn und Leben sie verursacht ; nicht aus den Erfahrungen, die sie in Gemeinschaft mit ihm machte, her- nehmen; denn jene Erkenntniß gieng vor diesen Erfahrungen her und machte sie erst moͤglich. Da also diese Erkenntniß vorher gedacht werden muß, so erscheint sie in dem gegenwaͤrtigen Zustande als Besin- bloßen Zweifler verachten darf! — Den- noch; weit davon entfernt, mit dieser uͤber- schwaͤnglichen Unwissenheit mich zu bruͤsten; sie zu verwechseln mit der Wahrheit, deren Verheißung ich im Busen trage; ihr, von Hochmuth trunken, Tempel und Altar zu weihen, und die sinnloseste aller Abgoͤttereyen anzurichten: demuͤthigt mich vielmehr ihr Be- wustseyn bis zu einer Schwermuth — die sich zwar mit keinem Hohn vertraͤgt; wohl aber zum Lachen satter Wisser und Nichtwisser sa- gen moͤchte: Du bist toll ! zu ihrer Freude: was machst du ? Wie Sokrates — der Große, Ahndungs- volle! — Unwissenheit wider Trotz und Luͤge in die Schlacht fuͤhren, und im Hinterhalt die Wahrheit haben; das ist Groß! Aber es nung ; und die Besinnung, wodurch die Seele vorhergegangenes, alleinthaͤtig, im Andenken behaͤlt, nennen wir Gedaͤchtniß . S. den Philebus . U 2 ist nicht groß, fuͤr die Wahrheit aller Wahr- heiten zu achten: es gebe keine Wahrheit. Der ganze Mensch muß seicht und schaal ge- worden seyn, wenn er zu sich selbst sagen und dabey guter Dinge bleiben kann: Ich bin nichts; ich weiß nichts; ich glaube nichts. Nur soviel ist Gutes am Menschen; nur in so weit ist er sich und andern etwas werth, als er Faͤhigkeit zu ahnden und zu glauben hat. Es liegt in der Natur des endlichen, nur mittelbar , das ist sinnlich erkennen- den Wesens, daß ihm Wahrheit, daß ihm eigentliches Daseyn und Leben, so wenig ganz aufgedeckt, als ganz verborgen seyn kann. Sympathie mit dem unsichtbaren Wirk- lichen, Lebendigen und Wahren ist Glaube . Je mehr Sinn jemand fuͤr das Unsichtbare in der Natur und im Menschen zeigt; je wirksamer und thaͤtiger aus dem Unsichtbaren in ihm selbst er sich beweist; fuͤr desto vor- treflicher muͤssen wir ihn achten, und achten wir ihn allgemein — — Seltsam, daß wir sammt und sonders in unserer Wissenschaft, Kunst, oder anderen Geschaͤftigkeit, so gern das Ueberschwaͤngliche, das Wunderbare er- reichen moͤgen, damit man uns ehre, uns liebe, und — nicht begreife ! Seltsam, daß wir nach demselben Maaße auch andre ehren und lieben; dann aber uns ploͤtzlich weg- wenden, und nur — was sich theoretisch dar- thun, gewissermaaßen nach machen und, so, mit Haͤnden greifen laͤßt, der Muͤhe werth achten wollen, unseren Blick darauf zu heften. Ein finsteres Geheimniß liegt eben schwer auf uns allen: das Geheimniß des Nichtseyns, des Daseyns durch Vergaͤnglichkeit, des Ver- moͤgens mit und durch lauter Unvermoͤgen — das Geheimniß des Endlichen . Un- endliches scheint der Stoff ; Endlichkeit die Form der Dinge zu seyn. Also waͤre Nicht- seyn — wenn die Begriffe von Endlichkeit und Nichtseyn in einander fließen — die Moͤg- lichkeit ; Nichtseyn waͤre die naͤchste Ursache der Natur und ihres Inhalts! U 3 Plato aͤussert sich auf eine merkwuͤrdige Weise uͤber diesen Gegenstand. Kuͤhn weist er, in der Reihe der Dinge, dem Unendlichen die Unterste; dem Maaß , welches das Endliche mit dem Unendlichen vereinigt, und wirkliche Dinge zuerst ans Licht bringt, die Oberste Stelle an. Er setzt einen Gott voraus, der ein Geist , ein besonnenes per- soͤnliches Wesen ist, als den Urheber aller Din- ge, durch die Vollkommenheit seines Willens Im Philebus . Plato versteht unter dem Unendlichen das Unbestimmte, welches unter dem Bilde von Mehr oder Weniger allein gedacht, aber, als an sich wirklich, nie vorgestellt werden kann. Dem Unendlichen setzt er entgegen — nicht das Endliche, sondern — das Ewige, Al- lein Wahre und Wirkliche , durch welches alle Dinge sind und erkannt werden, in so fern sie erkannt werden koͤnnen und ein wirkliches Daseyn besitzen. . Aber wie hat das Zeitliche von dem Ewigen erzeugt werden koͤnnen; welch ein Das Endliche steht zwischen dem Unendli- chen und dem Ewigen, dem Wahren und Unwahren, dem Seyn und Nichtseyn in der Mitte. Darum muß in der Reihe der Wesen als das Oberste und Erste gesetzt werden: Maaß ; ein in und durch sich selbst be- stimmtes, unerzeugtes Bestimmen- des . Als das zweyte: Ebenmaaß , welches das erzeugte Endliche im Daseyn erhaͤlt; die gemessene Mischung : Schoͤn- heit, Vollkommenheit . Als das dritte: Erkenntniß . Sie steht in der Ordnung billig nach ihrem Ge- genstande, und nach ihrer Absicht; denn eine Erkenntniß von Nichts und zu Nichts, waͤre keine Erkenntniß. Ueberall ist ihr Werth der Werth ihres Inhalts ; ihr Grad, der U 4 moͤgliches Verhaͤltniß beyder zu einander laͤßt sich, menschlicher Weise, denken? Diese Klust Grad des Wahren , dessen Vorstellung sie ist . Als das vierte: Theorie und Kunst . Als das fuͤnfte und letzte: die ange- nehme Empfindung . Sie erhaͤlt die unterste Stelle, weil sie fuͤr sich weder An- fang, noch Mittel, noch Ende hat, sondern dies alles von dem Zwecke nimmt, dessen Erzeugung sie begleitet, und gleichsam nur das Signal seiner Erfuͤllung ist. Die nicht voruͤbergehende , nicht passive , folglich unter dieser Gattung nicht begriffene Freude , wird von dem Verstande selbst, der von der Art der Ersten Ursache ist, als eine der Erkenntniß und Tugend zu ihrer Genugsamkeit unentbehrliche Beymi- schung, hervorgebracht, und gehoͤrt demnach zu der Natur des Ewigen. Diese Eroͤrterungen laͤßt Plato den So- krates mit folgenden Worten beschließen: fuͤllt keine Philosophie, und es bedarf, um hinuͤber zu kommen, einer Bruͤcke — oder Fluͤgel . Ist es etwas Großes einzusehen, daß man mit den Fuͤßen nur auf der Erde wandeln, nicht mit ihnen sich hinauf uͤber die Wolken schwingen kann? Was ich mit den Augen — blos mit den Augen — und nur kaum entdecken; nicht mit den Haͤnden greifen, oder mit den Fuͤßen „Allein werden nun nicht zuerst alle Ochsen „und Pferde und das saͤmtliche uͤbrige Vieh „widersprechen, weil sie blos der Lust nach- „jagen? Eben ihnen glauben so viele, wie „Wahrsager den Voͤgeln, und urtheilen da- „her, daß die Wolluͤste die koͤstlichsten Guͤ- „ter zum Leben waͤren. Ja sie glauben, daß „die Lusttriebe der Thiere viel ansehnlichere „Zeugen fuͤr die Wahrheit waͤren, als alle „eingegebene Reden einer philosophischen „Muse.” U 5 in Besitz nehmen kann: das verknuͤpft mein Verstand auf folgende Weise. So wenig Ewigkeit durch Zeit her- vorgebracht, dargestellt oder erfuͤllt werden kann: so wenig kann Vergaͤngliches We- sen die Seele der Natur; Lebendiges nur eine Modification des Unlebendigen; vernuͤnf- tiges Daseyn nur eine Zufaͤlligkeit von Ein- schraͤnkungen, eine leere Form und nichtige Erscheinung seyn. Darum glaube Du — entscheidet mein Verstand — an ein Ewiges , das nicht blos ein Unendliches der Erscheinun- gen, ein Luͤckenbuͤßer ohnmaͤchtiger Fantasie, sondern in der That das Erste und der An- fang ist; glaube Du an ein in sich Leben- diges , welches das Gute und die Wahr- heit selbst — an einen allmaͤchtigen Gott , der ein Geist und Dein Schoͤpfer ist. Hat er mich mit Haͤnden gemacht, dieser Geist und Gott ? Dem Frager mit diesen Worten antwortet die Vernunft, ein festes Ja ! Denn hier, wo jeder, auch der entfernteste Versuch, durch Analogien einer wirklichen Einsicht naͤher zu kommen, dem Irrthum entgegen schreitet, ist der hart anthropomorphisierende Ausdruck, als offenbar symbolisch, der Vernunft — die entgegengesetzte Wirkungsarten nie kann assimilieren wollen — der liebste. Nie habe ich begreifen koͤnnen, wie eine maschinistische Vorstellungsart der Schoͤ- pfung — das ist der Moͤglichkeit des Welt- alls — vernuͤnftiger, erhabener, dem hoͤchsten Wesen, das wir alle, auf irgend eine Weise , vorauszusetzen genoͤthigt sind, annaͤ- hernder, als eine anthropomorphistische seyn sollte. Der Glaube an ein hoͤchstes Wesen uͤber- haupt, als der Quelle alles Seyns und alles Werdens; und der Glaube an einen Gott, der ein Geist ist, sind beyde dem Menschen in der unerforschlichen Thatsache seiner Sponta- neitaͤt und Freyheit, ohne welche nicht einmal Euklids erstes Postulat sich denken ließe, gege- ben. Darum ist der Glaube uͤberhaupt an ei- nen Gott dem Menschen natuͤrlich; und am natuͤrlichsten der Glaube an einen lebendigen Gott. Der Gruͤbler, der ihn losgeworden ist, mußte zuvor, durch den geilsten Mißbrauch des Vermoͤgens willkuͤhrlicher Be- zeichnung , dieses zweyschneidigen Schwerd- tes der Wahrheit und Luͤge, sich von der Na- tur und seinem eigenen Wesen gewaltsam ab- sondern; er mußte sein Leben gleichsam bey der Wurzel anfassen, um es von sich zu werfen. Werde ich es sagen, endlich laut sagen duͤrfen, daß sich mir die Geschichte der Philo- sophie je laͤnger desto mehr als ein Drama ent- wickelte, worin Vernunft und Sprache die Menaͤchmen spielen S. das Schauspiel dieses Namens im Plau- rus , oder im Regnard , oder im Schakespear , bey welchem letzteren, es die Irrungen heißt. ? Dieses sonderbare Drama, hat es eine Katastrophe, einen Ausgang; oder reihen sich nur immer neue Episoden an? Ein Mann, den nun alles, was Augen hat, groß nennt, und der in seiner Groͤße fuͤnf und zwanzig Jahre fruͤher schon da stand, aber in einem Thale, wo die Menge uͤber ihn weg sah, nach Hoͤhen und geschmuͤckten Buͤh- nen — dieser Mann schien den Gang der Ver- wickelungen dieses Stuͤcks erforscht zu haben, und ihm ein Ende abzusehen S. Kants Untersuchung uͤber die Deutlichkeit der Grundsaͤtze der natuͤrlichen Theologie und der Moral, zur Beantwortung der Frage, welche die Koͤnigliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat. . Mehrere behaupten, es sey nun dies Ende schon gefun- den und bekannt. Vielleicht mit Recht … Und es fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache , die eine Metakritik der Ver- nunft seyn wuͤrde, um uns alle uͤber Metaphy- sik eines Sinnes werden zu lassen. Mir daͤucht, ich sehe Dich Augen machen, als schriebe ich wunderliche Dinge. Lassen wir es dabey, und lebe Du wohl! F. H. Jacobi. Verzeichniß der Briefe . I. Sylli an Clerdon Seite 1 II. Sylli an eben denselben ‒ 6 III. Clerdon an Sylli ‒ 10 IV. Sylli an Clerdon ‒ 14 V. Clerdon an Sylli ‒ 24 VI. Beylage zu Clerdons Briefe. Eduard an Clerdon ‒ 36 VII. Amalia an Sylli ‒ 46 VIII. Claͤre an Sylli ‒ 58 IX. Eduard Allwill an Clemens von Wallberg ‒ 68 X. Demselben ‒ 88 XI. Amalia an Sylli ‒ 95 XII. Sylli an Lenore und Claͤre ‒ 110 XIII. Lenore an Sylli ‒ 119 XIV. Beylage zu dem vorhergehenden Briefe. Claͤre an Sylli ‒ 133 XV. Claͤre an Sylli ‒ 137 XVI. Allwill an Claͤre ‒ 171 XVII. Sylli an Clerdon ‒ 184 XVIII. Sylli an Amalia Seite 189 XIX. Sylli an ebendieselbe ‒ 199 XX. Eduard Allwill an Luzie ‒ 224 XXI. Luzie an Eduard Allwill ‒ 246 Zugabe von dem Herausgeber. An Erhard O ** ‒ 281 Ueber- Uebersetzung der griechischen Stellen . Auf dem Titelblatt nach der Vorrede: ΗΑ Ολυμπος ηυλει u. s. w. Was Olympos spielte, nenne ich Stuͤcke des Marsyas ; denn dieser war sein Lehrer. Daher jenes Stuͤcke ein guter Floͤtenspieler oder eine schlechte Floͤtenspie- lerinn spielen mag; weil sie goͤttlich sind, so setzen sie fuͤr sich allein in Begeisterung und offenbaren, wem Goͤtter und Reli- gion Beduͤrfniß sind. Am Schlusse der Allwillischen Briefsamm- lung: Θεος ανϑρωπῳ u. s. w. Gott laͤßt sich nicht (unmittelbar) mit dem Menschen ein, sondern nur durch Vermittelung des Daͤmons haben Goͤtter mit Menschen Umgang und Unterredung. X Auf dem Titelblatt der Zugabe: Βουλει δητα u. s. w. Die Stelle hat folgenden Zu- sammenhang: Sokrates . Wollen wir annehmen, daß dies All und was wir das Ganze nen- nen, durch die Kraft des Unvernuͤnftigen und Absichtlosen, und nach Zufall regiert werde: oder daß im Gegentheil, wie unsere Alten sagten, ein Verstand und eine gewisse be- wundernswuͤrdige, zusammenordnende Weis- heit am Ruder sey? Protarchos . Nein, goͤttlichster So- krates, jenes ja nicht! denn, was du da gesagt hast, scheint mir ruchlos. Aber anzu- nehmen, daß Verstand das All in Ordnung halte, ist des Anblicks der Welt und der Sonne und des Mondes und der Sterne und des ganzen Umlaufs wuͤrdig. Und anders moͤchte ich wenigstens nie daruͤber sprechen noch auch denken. Sokrates . Willst du also, daß wir mit unsern einstimmigen Alten annehmen, es verhalte sich so; und daß wir uns nicht begnuͤgen, ohne eigene Gefahr an- dern nachzusprechen, sondern auch die Gefahr mit uͤbernehmen und dem Tadel nicht ausweichen, wenn ein gelehrter Mann behauptet, es verhalte sich nicht so, sondern uͤberall sey Unordnung? Protarchos . Wie wollte ich denn nicht?