Der grüne Heinrich . Der grüne Heinrich. Roman von Gottfried Keller. In vier Bänden. Erster Band. Braunschweig, Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 1854. Vorwort. Von diesem Buche liegt der erste Band schon seit zwei Jahren, der zweite seit einem Jahre fer¬ tig gedruckt, waͤhrend die Beendigung des dritten und vierten Bandes durch verschiedenes Ungeschick bis vor Kurzem verzoͤgert wurde. Absicht und Motive blieben dabei unveraͤndert dieselben, wie am ersten Tage der Conception, waͤhrend in der Ausfuͤhrung waͤhrend mehrerer Jahre der Ge¬ schmack des Verfassers sich nothwendig aͤndern mußte, oder ehrlich herausgesagt: ich lernte uͤber der Arbeit besser schreiben. Die ersten Bogen dieses Romanes datiren noch aus dem Jahr 1847, die letzten entstanden in diesen Tagen, und die Entstehungsweise des Ganzen gleicht derjenigen eines ausfuͤhrlichen und langen Briefes, welchen man uͤber eine vertrauliche Angelegenheit schreibt, oft unterbrochen durch den Wechsel und Drang des Lebens. Man laͤßt den Brief ganze Zeit¬ raͤume hindurch liegen, man wird vielfaͤltig ein Anderer; aber wenn man das Geschriebene wie¬ der zur Hand nimmt, faͤhrt man genau da fort, wo man aufgehoͤrt hatte, und wenn sich auch in dem, was man betont oder verschweigt, der Wech¬ sel des Lebens kund thut, findet sich doch, daß man gegen den, an welchen der Brief gerichtet, und in dieser Sache der Alte geblieben ist. Man hat den Brief mit einer gewissen, redseligen Breite begonnen, welche eher von Bescheidenheit zeugt, indem man sich kaum Stoffes genug zutraute, um den ganzen schoͤnen Bogen zu fuͤllen. Bald aber wird die Sache ernster; das Mitzutheilende macht sich geltend und verdraͤngt die gemuͤthlich ausgeschmuͤckte Gespraͤchigkeit, und endlich zwingt sich von selbst, und noch gedraͤngt durch die aͤuße¬ ren Ereignisse und Schicksale, nicht eine theore¬ tische, sondern im Augenblick praktische Oekonomie in die in der Eile besonnene Feder, so daß nur das Wesentliche sich loͤsen darf aus dem Fluge der Gedanken, um sich gegen den Schluß des Briefes hin wenigstens so viel Raum zu erkaͤmpfen, als noͤthig ist, mit der warmen Liebe des Anfanges zu endigen. So entsteht freilich nicht ein streng gegliedertes Kunstwerk, aber vielleicht ein um so treuerer Ausdruck dessen, was man war und wollte mit dem Briefe. Eine andere Frage aber ist es nun, ob das Gleichniß hinreiche, eine ge¬ wisse Unfoͤrmlichkeit vorliegenden Romanes zu entschuldigen oder zu beschoͤnigen. Ich bin weit entfernt, dies versuchen zu wollen; einzig und allein moͤchte ich durch das Gleichniß die Hoff¬ nung andeuten, der geneigte Leser werde wenig¬ stens, wenn auch nicht den Genuß eines reinen und meisterhaften Kunstwerkes, so doch den Ein¬ druck einer wahr empfundenen und mannigfach bewegten Mittheilung davon tragen. — Besagte Unfoͤrmlichkeit hat ihren Grund hauptsaͤchlich in der Art, wie der Roman in zwei verschiedene Bestandtheile auseinander faͤllt, naͤmlich in eine Selbstbiographie des Helden, nachdem er einge¬ fuͤhrt ist, und in den eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzaͤhlt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen ge¬ loͤst wird. Der eine dieser Theile ist viel zu breit, um als Episode des anderen zu gelten, und so bleibt nur zu wuͤnschen, daß die Einheit des Inhaltes Beide genugsam moͤge verbinden und die getrennte Form vergessen lassen. — Ueber den eigentlichen Inhalt weiß ich hier Nichts zu sagen, als daß man das Buch leider als ein Tendenzbuch wird ansehen koͤnnen, waͤhrend es in der That nur in¬ sofern ein solches ist, als es mit Absicht Nichts verschweigt, was in den nothwendigen Kreis sei¬ nes Stoffes gehoͤrt. Stoff und Form aber will ich hiermit bescheidenst dem ungewissen Stern jedes ersten Versuches anheim stellen. Berlin 1853. Der Verfasser. Erstes Kapitel. Zu den Schoͤnsten vor Allen in der Schweiz gehoͤren diejenigen Staͤdte, welche an einem See und an einem Flusse zugleich liegen, so, daß sie wie ein weites Thor am Ende des See's unmit¬ telbar den Fluß aufnehmen, welcher mitten durch sie hin in das Land hinauszieht. So Zuͤrich, Luzern, Genf; auch Konstanz gehoͤrt gewisserma¬ ßen noch zu ihnen. Man kann sich nichts An¬ genehmeres denken, als die Fahrt auf einem die¬ ser Seen, z. B. auf demjenigen von Zuͤrich. Man besteige das Schiff zu Rapperswyl, dem alten Staͤdtchen unter der Vorhalle des Urgebir¬ ges, wo sich Kloster und Burg im Wasser spie¬ geln, fahre, Huttens Grabinsel voruͤber, zwischen den Ufern des laͤnglichen See's, wo die Enden der reichschimmernden Doͤrfer in Einem zusam¬ I. 1 menhaͤngenden Kranze sich verschlingen, gegen Zuͤrich hin, bis, nachdem die Landhaͤuser der Zuͤ¬ richer Kaufleute immer zahlreicher wurden, zuletzt die Stadt selbst wie ein Traum aus den blauen Wassern steigt und man sich unvermerkt mit er¬ hoͤhter Bewegung auf der gruͤnen Limath unter den Bruͤcken hinwegfahren sieht. Das ganze Treiben einer geistig bedeutsamen und schoͤnen Stadt draͤngt sich an den leicht dahin schweben¬ den Kahn. So eben versammelt sich der gesetz¬ gebende Rath der Republik. Trommelschlag er¬ toͤnt. In einfachen schwarzen Kleidern, selten vom neuesten Schnitte, ziehen die Vertreter des Volkes auf den Ufern dahin. Auch die Gesichter dieser Maͤnner sind nicht immer nach dem neusten Schnitte und verrathen durchschnittlich weder ele¬ gante Beredsamkeit noch große Belesenheit; aber aus gewissen Strahlen der lebhaften Augen leuch¬ tet Besonnenheit, Erfahrung und das gluͤckliche Geschick, mit einfachem Sinn das Rechte zu tref¬ fen. Von allen Seiten wandeln diese Gruppen, je nach den Tagesfragen und der verschiedenen Richtung begruͤßt oder unbegruͤßt vom zahlreichen emsigen Volke, nach dem dunkeln schweren Rath¬ hause, das aus dem Flusse emporsteigt. Stolz neben diesen Gestalten hin rasseln diplomatische Fremdlinge uͤber die Bruͤcken in wunderlichem Aufputze, und ihre komischen Livreen ergoͤtzen, wie billig, einen Augenblick lang das einfache Volk. Zwischen durch steuert der deutsche Ge¬ lehrte mit gedankenschwerer Stirne nach seinem Hoͤrsaal; sein Herz ist nicht hier, es weilt im Norden, wo seine tiefsinnigen Bruͤder, in zerrisse¬ nen Pergamenten lesend, finstere Daͤmonen be¬ schwoͤrend, sich ein Vaterland und ein Gesetz zu gruͤnden trachten. Ausgeworfen von der Gaͤh¬ rung dieses großen Experimentes, begegnet ihm der Fluͤchtling mit unsichern, zweifelhaften Augen und kummervollen Mienen und vermehrt die Mannigfaltigkeit und Bedeutung dieses Treibens. Jetzt ertoͤnt das Getoͤse des Marktes von einer breiten Bruͤcke uͤber unserm Kopfe; Gewerk und Gewerb summt laͤngs des Flusses und truͤbt ihn theilweise, bis die rauchende Haͤusermasse einer der groͤßten industriellen Werkstaͤtten voll Ham¬ mergetoͤnes und Essenspruͤhen das Bild schließt. 1 * Aus dem pfeilschnell voruͤbergeflossenen Gemaͤhlde haben sich jedoch zwei Bilder der Vergangenheit am deutlichsten dem Sinne eingepraͤgt: rechts schaute vom Muͤnsterthurme das sitzende riesige Steinbild Karls des Großen, eine goldene Krone auf dem Lockenhaupt, das goldene Schwert auf den Knieen, uͤber Strom und See hin; links ragte auf steilem Huͤgel, thurmhoch uͤber dem Flusse, ein uralter Lindenhain, wie ein schweben¬ der Garten und in den schoͤnsten Formen, gruͤn in den Himmel. Kinder sah man in der Hoͤhe unter seinen Laubgewoͤlben spielen und uͤber die Brustwehr herabschauen. Aber schon faͤhrt man wieder zwischen reizenden Landhaͤusern und Ge¬ werben, zwischen Doͤrfern und Weinbergen dahin, die Obstbaͤume hangen in's Wasser, zwischen ihren Staͤmmen sind Fischernetze aufgespannt. Voll und schnell fließt der Strom, und indem man unversehens noch ein Mal zuruͤckschaut, erblickt man im Suͤden die weite schneereine Alpenkette wie einen Lilienkranz auf einem gruͤnen Teppich liegen. Jetzt lauscht ein stilles Frauenkloster hin¬ ter Uferweiden hervor, und da nun gar eine maͤchtige Abtei aus dem Wasser steigt, so befuͤrch¬ tet man die schoͤne Fahrt wieder mittelalterlich zu schließen; aber aus den hellgewaschenen Fenstern des durchluͤfteten Gotteshauses schauen statt der vertriebenen Moͤnche bluͤhende Juͤnglinge herab, die Zoͤglinge einer Volkslehrerschule. So landet man endlich zu Baden, in einer ganz veraͤnderten Gegend. Wieder liegt ein altes Staͤdtchen mit mannigfachen Thuͤrmen und einer maͤchtigen Burgruine da, doch zwischen gruͤnen Huͤgeln und Gestein, wie man sie auf den Bildern der alt¬ deutschen Maler sieht. Auf der gebrochenen Veste hat ein deutscher Kaiser das letzte Mahl einge¬ nommen, eh' er erschlagen wurde; jetzt hat sich der Schienenweg durch ihre Grundfelsen gebohrt. Denkt man sich eine persoͤnliche Schutzgoͤttin des Landes, so kann die durchmessene Wasserbahn allegorischer Weise als ihr krystallener Guͤrtel gel¬ ten, dessen Schlußhaken die beiden alten Staͤdt¬ chen sind und dessen Mittelzier Zuͤrich ist, als groͤßere edle Rosette. So haben Luzern oder Genf aͤhnliche und doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See und Fluß. Die Zahl dieser Staͤdte aber um eine eingebildete zu vermehren, um in diese, wie in einen Blumenscherben, das gruͤne Reis einer Dichtung zu pflanzen, moͤchte thunlich sein: indem man durch das angefuͤhrte, bestehende Beispiel das Gefuͤhl der Wirklichkeit gewonnen hat, bleibt hinwieder dem Beduͤrfnisse der Phantasie groͤße¬ rer Spielraum und alles Mißdeuten wird ver¬ huͤtet. Unser See bildet scheinbar ein weites ovales Becken, welches aus den blaͤulichen Farbenabstu¬ fungen des umgebenden Gebirges nur ahnen laͤßt, daß in der Ferne da und dort das Wasser in Buchten auslaͤuft und in den verschiedenen Sei¬ tenthaͤlern neue Seen bildet. Aus dem Hinter¬ grunde der klaren Gewaͤsser steigt die maͤchtige Gletscherwelt empor, senkt sich dann, im Kranze um den See herum, zum flacheren Gebirge herab, bis sich dieses in zwei schoͤnen Bergen schließt, welche den maͤßigen Strom zwischen sich durch¬ treten lassen, in das ebene Land hinaus. Am jenseitigen Berge, der seinen sonnigen runden Abhang, dem Suͤden zugewendet, aus dem See erhebt, liegt die Stadt hingegossen, fast von sei¬ nem Scheitel bis in das Wasser herunter, daß ihr steinerner Fuß sich noch in die spuͤlende Fluth hineintaucht. Vom diesseitigen Berge aber, wel¬ cher aus schroffen waldbewachsenen Felsen besteht, kann man in die Stadt hinein und hinuͤber schauen, wie in einen offenen Raritaͤtenschrein, so daß die kleinen fernen Menschen, die in den stei¬ len alten Gassen herumklimmen, sich kaum vor unserm Auge verbergen koͤnnen, indem sie sich in ein Quergaͤßchen fluͤchten oder in einem Hause verschwinden. Es ist eine seltsame Stadt, mit einem altergrauen Haupte und neuen glaͤnzenden Fuͤßen. Denn der Verkehr und das thaͤtige Le¬ ben haben unten am Ufer, wo die befrachteten Schiffe ab- und zugehen, nichts Altes und Unbe¬ quemes gelassen und die Steinmasse fortwaͤhrend erneuert, waͤhrend das Alter sich am Berge hin¬ auffluͤchtete, mitten an demselben, auf einem plat¬ ten Vorsprunge in der kuͤhlen byzantinischen Stadtkirche ausruhte und oben zuletzt auf der halbzerfallenen Burg stehen blieb. Seinen inni¬ gen Zusammenhang mit dem gegenwaͤrtigen Leben beweist es jedoch in den riesenhaften Burglinden, welche ewig gruͤn ihre Aeste zu einem maͤchtigen Kranze verschlingen hoch uͤber der Stadt, unmit¬ telbar unter dem Himmel. Wo der Fluß sich schon merklich verengt und seine eigene Stroͤmung annimmt, steht noch ein malerisches festes Bruͤ¬ ckenthor und sendet eine lange hoͤlzerne Bruͤcke heruͤber, bedeckt von einem alterthuͤmlichen Dache, dessen Gebaͤlke mit Schnitzwerk und verblichenen Schildereien uͤberladen ist. Diesseits empfaͤngt sie wieder ein grauer Thurm und aus diesem hervor fuͤhren mehrere Wege, theils dem Flusse entlang nach der Flaͤche hinaus, theils auf jaͤhen Steigen auf den Felsenberg. An dessen Mitte ragt ebenfalls ein betraͤchtliches Plateau hinaus; es traͤgt, wie es oft bei Flußstaͤdten vorkommt, eine Art Anhaͤngsel oder kleineren Theil der Stadt, bestehend aus einem Kastell und ehemaligen Klo¬ ster, deren innere Raͤume und Hoͤfe vollstaͤndig mit Graͤbern angefuͤllt sind, da sie der Stadt schon seit Jahrhunderten zum Kirchhofe dienen. Die Gebaͤude aber enthalten ein Irrenhaus, ein Armenhaus oder Hospital u. dgl. mehr. Seltsam und duͤster haben sich Tod und Elend zwischen dem alten winklichten Gemaͤuer eingenistet, aus dessen Dunkelheiten die herrliche schimmervolle Landschaft das Auge um so mehr blendet. Und uͤber die Graͤber hin fuͤhrt der Weg dann vol¬ lends, sich durch epheubewachsene Nagelfluhe empor windend, auf den Berg, wo er sich in einem weitgedehnten praͤchtigen Buchenwalde ver¬ liert. Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am fruͤhsten Ostermorgen ein junger Mensch: er trug ein gruͤnes Roͤcklein mit uͤbergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Sammtmuͤtze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhaͤher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kuͤndigten den zwanzigjaͤhrigen Gefuͤhlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimath scheiden und in die Fremde, nach Deutschland ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letz¬ ten Blick uͤber sein schoͤnes Heimathland zu wer¬ fen, beging er zugleich den Akt eines Naturkul¬ tus, wie es haͤufig bei hoffnungsreichen und en¬ thusiastischen Juͤnglingen geschieht. So wenig, außer dem tiefen ruhigen Stroͤ¬ men des Flusses, ein Ton in dieser Fruͤhe hoͤrbar wurde, ebenso wenig war an der weiten tiefen himmlischen Krystallglocke der leiseste Hauch eines Woͤlkleins zu sehen. Der weite See verschmolz mit den Fuͤßen des Hochgebirges in eine blau¬ graue Daͤmmerung; die Schneekuppen und Hoͤr¬ ner standen milchblaß in der Fruͤhe. Als Hein¬ rich an den Rand des Waldes trat, uͤberflog der erste Rosenschimmer der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde; uͤber dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern. Indem unser Knabe starr nach ihm hinsah, that er einen jener stummen, fluͤchtigen Gebet¬ seufzer, die, wenn sie in Worte zu fassen waͤren, ungefaͤhr so lauten wuͤrden: das ist sehr schoͤn, o Gott! ich danke dir dafuͤr, ich gelobe, das Mei¬ nige auch zu thun! Wo und wer du auch seist, habe Nachsicht mit mir, du weißt, wie Alles kommt in deiner Welt, uͤbrigens mache mit mir, was du willst! Die Brust des jungen Menschen hob und senkte sich sehr stark; aber seine Seele war so keusch, daß er vor allem pathetischen Verweilen, vor aller Selbstgefaͤlligkeit solcher Augenblicke floh, ehe sich obige wenigen Saͤtze in seinem Sinne deutlich entwickeln konnten. Also drehte er sich wie der Blitz auf seinem Absatze herum und eilte, nach Norden und Westen zu schauen. Die Sonne war aufgegangen; waͤhrend im Suͤ¬ den die Alpenkette nun im froͤhlichsten hellsten Golde glaͤnzte, hatte das westliche und noͤrdliche flache Land, gegen das Rheingebiet hin, die Ro¬ senfarbe des Morgens angenommen, besonders, wo sich die laublosen, fuͤr diese Farbe empfaͤng¬ lichen Waldungen und violetten Brachfelder dehn¬ ten; was junggruͤnes Saatland war, schimmerte mehr silbergrau in der Ferne. Von Schnee war außer dem Gebirge keine Spur mehr zu finden; aber das wenige Gruͤn war noch trocken und thaulos. Die Tiefe des Himmels und mit ihr das Gewaͤsser waren jetzt blau und das Land sonnig geworden. Nur der untere Theil der Stadt und der Fluß lagen noch im Schatten und letzterer ging tief gruͤn, und bloß die laͤnglich ziehenden Spiegel seiner Wellen warfen von ihren glatte¬ sten Stellen etwas Blau zuruͤck. Heinrich Lee sah in seine Vaterstadt hinuͤber. Die alte Kirche badete im Morgenschein, hie und da blitzte auch ein geoͤffnetes Fenster, ein Kind schaute heraus und sang, und man konnte aus der Tiefe der Stube die Mutter sprechen hoͤren, die es zum Waschen rief. Die vielen Gaͤßchen, durch mannigfaltiges steinernes Treppenwerk un¬ terbrochen und verbunden, lagen noch alle im Schatten und nur wenige freiere Kinderspielplaͤtze leuchteten bestreift aus dem Dunkel. Auf allen diesen Stufen und Gelaͤndern hatte Heinrich ge¬ sessen und gesprungen, und die Kinderzeit duͤnkte ihm noch vor der Thuͤre des gestrigen Abends zu liegen. Schnell ließ er seine Augen treppauf und ab in allen Winkeln der Stadt herum sprin¬ gen, die traulichen Kinderplaͤtze waren alle still und leer, wie Kirchenstuͤhle am Werktag. Das einzige Geraͤusch kam noch vom großen Stadt¬ brunnen, dessen vier Roͤhren man durch den Flußgang hindurch glaubte rauschen zu hoͤren; die vier Strahlen glaͤnzten hell, ebenso was an dem steinernen Brunnenritter vergoldet war, sein Schwertknauf und sein Brustharnisch, welch letz¬ terer die Morgensonne recht eigentlich auffing, zusammenfaßte und sein funkelndes Gold wunder¬ bar aus der dunkelgruͤnen Tiefe des Stromes herauf widerscheinen ließ. Dieser reiche Brunnen stand auf dem hohen Platze vor dem noch reicheren Kirchenportale und sein Wasser entsprang auf dem Berge diesseits des Flusses, auf welchem Heinrich jetzt stand. Es war fruͤher sein liebstes Knabenspiel gewesen, hier oben ein Blatt oder eine Blume in die verborgene Quelle zu stecken, dann neben den hoͤlzernen Roͤhren hinab, uͤber die lange Bruͤcke, die Stadt hinauf zu dem Brunnen zu laufen und sich zu freuen, wenn zu gleicher Zeit oben das Zeichen aus der Roͤhre in das Becken sprang: manchmal kam es auch nicht wieder zum Vorschein. Er pfluͤckte eine eben aufgehende Primel und eilte nach der Brunnen¬ stube, deren Deckel er zu heben wußte; dann eilte er die unzaͤhligen Stufen zwischen wuchern¬ dem Epheugewebe hinunter, uͤber den Kirchhof, wieder hinunter, durch das Thor uͤber die Bruͤcke, unter welcher die Wasserleitung auch mit hinuͤber ging. Doch auf der Mitte der Bruͤcke, von wo man unter den dunklen Bogen des Gebaͤlkes die schoͤnste Aussicht uͤber den glaͤnzenden See hin genießt, selbst uͤber dem Wasser schwebend, ver¬ gaß er seinen Beruf und ließ das arme Schluͤs¬ selbluͤmchen allein den Berg wieder hinaufgehen. Als er sich endlich erinnerte und zum Brunnen hinanstieg, drehte es sich schon emsig in dem Wirbel unter dem Wasserstrahle herum und konnte nicht hinaus kommen. Er steckte es zu dem Fe¬ derchen auf seiner Muͤtze und schlenderte endlich seiner Wohnung zu durch alle die Gassen, in welche uͤberall die Alpen blau und silbern hinein¬ leuchteten. Jedes Bild, klein oder groß, war mit diesem bedeutenden Grunde versehen: vor der niedrigen Wohnung armer Leute stand Heinrich still und guckte durch die Fensterlein, die, einan¬ der entsprechend, an zwei Waͤnden angebracht waren, quer durch das braune Geruͤmpel in die blendende Ferne, welche durch das jenseitige Fenster der Stube glaͤnzte. Er sah bei dieser Gelegenheit den grauen Kopf einer Matrone nebst einer kupfernen Kaffeekanne sich dunkel auf die Silberflaͤche einer zehn Meilen fernen Gletscher¬ firne zeichnen und erinnerte sich, daß er dieses Bild unveraͤndert gesehen, seit er sich denken mochte. So spielte dieser Juͤngling wie ein Kind mit der Natur und schien seine bevorstehende, fuͤr seine kleinen Verhaͤltnisse bedeutungsvolle Abreise, ganz zu vergessen. Allein ploͤtzlich fiel es ihm schwer auf's Herz, als er nun vor seinem duͤstern Vaterhause stand und die Mutter ihm ungedul¬ dig aus dem Fenster winkte. Schnell eilte er die engen Treppen hinauf, den Wohngemaͤchern der Haushaltungen vorbei, die alle im Hause wohnten. »Wo bleibst Du denn so lang?« empfing ihn die Frau Lee, eine geringe Frau von etwa fuͤnf und vierzig Jahren, an welcher weiter nichts auf¬ fiel, als daß sie noch kohlschwarze schwere Haare hatte, was ihr ein ziemlich junges Ansehen gab; auch war sie um einen Kopf kleiner als ihr Sohn. »Da habe ich schon angefangen, Deinen Kof¬ fer zu packen, weil Du sonst vor Abgang der Post nicht mehr fertig wuͤrdest.« Heinrich guckte in den Koffer; mit richtigem Sinn hatte die gute Frau Mappen und Buͤcher auf den Boden gebreitet; nur hatte sie mit we¬ niger Zartheit verschiedene Bogen und Papiere nicht genugsam zusammengeschichtet, so daß einige derselben an den Waͤnden des Koffers gekruͤmmt wurden, was der Sohn eifrig verbesserte. Fuͤr Papier haben die meisten Hausfrauen uͤberhaupt nicht viel Gefuͤhl, weil es nicht in ihren Bereich gehoͤrt. Die weiße Leinwand ist ihr Papier, die muß in großen, wohl geordneten Schichten vor¬ handen sein, da schreiben sie ihre ganze Lebens¬ philosophie, ihre Leiden und ihre Freuden darauf. Wenn sie aber einmal ein wirkliches Briefchen schreiben wollen, so findet sich kaum ein veralte¬ tes Blatt dazu und man kann sich aldann mit einem huͤbschen Bogen Postpapier und einer wohl¬ geschnittenen Feder sehr beliebt bei ihnen machen. Auch hier erwies es sich, daß die Mutter eigentlich die schweren Gegenstaͤnde zu unterst ge¬ packt hatte, um die zwoͤlf schoͤnen neuen Hemden zu schonen, welche sie jetzt hinein legte. »Trage doch recht Sorge fuͤr Deine Hemden,« sagte sie, »ich habe das Tuch selbst gesponnen; siehst Du, diese sechs sind fein und schoͤn, sie stammen aus meinen juͤngeren Jahren, diese sechs hingegen sind schon groͤber, meine Augen sind eben nicht mehr so scharf. Alle aber sind schnee¬ weiß, und wenn Du auch, waͤhrend sie noch gut sind, feinere Kleider anschaffen koͤnntest, so darfst Du doch meine Waͤsche dazu tragen, weil es an¬ staͤndige und ehrbare Leinwand ist. Wechsle recht gleichmaͤßig ab, wenn Du sie der Waͤscherin gibst, damit nicht ein Theil zu viel gebraucht wird, und verfasse immer einen genauen Waschzettel. Und daß Du mir nur das Weißzeug und dergleichen mehr estimirst, als bisher, und nichts verzettelst! Denn bedenke, daß Du von nun an fuͤr jedes Fetzchen, das Dir abgeht, baares Geld in die Hand nehmen mußt und es doch nicht so gut bekoͤmmst, als ich es verfertigt habe. Wenigstens untersteh Dich nicht mehr und wische deine kothi¬ gen Schuhe auf Spaziergaͤngen mit neuen Taschen¬ l . 2 tuͤchern ab, welche Du nachher wegwirfst, wie Du neulich gethan hast! Halte auch Deine zwei Roͤcklein gut und ordentlich und haͤnge sie immer in den Schrank, anstatt sie zu Hause anzubehal¬ ten und halbe Tage lang so zu lesen, wie ich Dich schon oft ertappt habe. Besonders wenn Du sie ausbuͤrstest, fahre nicht mit der Buͤrste darauf herum, wie der Teufel im Buch Hiob, daß Du alle Wolle abschabst!« »Das verwuͤnschte Kleiderputzen«, entgegnete hierauf der Sohn, welcher unterdessen beim Aus¬ breiten der Kleidungsstuͤcke seine Haͤnde auch im¬ mer unnuͤtzer Weise im Koffer hatte, »das ver¬ wuͤnschte Kleiderputzen wird uͤberhaupt nun ein Ende nehmen; denn wenn man in der Fremde ist und sich eine ordentliche Wohnung miethen muß, so bekommt man die Bedienung mit in den Kauf. Es reut mich jeder Augenblick, den ich mit dem widerlichen Geschaͤft zugebracht habe.« »Das ist wieder der Hans Obenhinaus!« rief etwas heftig die Mutter, »Bedienung! ich sage Dir, lasse Dich lieber nicht bedienen, wenn Du Dich dadurch billiger einrichten kannst. Ich sehe nicht ein, warum Du nicht selbst Deine Sachen in Ordnung halten solltest, waͤhrend Du sonst Stunden lang in die Berge hineinstarrst!« »Das verstehst Du halt nicht!« haͤtte Hein¬ rich fast gesagt, fand es aber fuͤr gut, die Worte zu verschlucken und sich dafuͤr mit dem festen Vorsatze zu wappnen, hinfuͤro keine Schuhbuͤrste mehr anruͤhren zu wollen. Das undankbare Kind vergaß hierbei gaͤnzlich, wie ruͤhrend ihn die Mut¬ ter oft uͤberrascht hatte, wenn er beim Antritt irgend einer kleinen Reise, oder wenn Fremde im Hause waren, seine Schuhe glaͤnzend gewichst fand, just wenn er mit Seufzen und falscher Scham vor dem Besuche an das verhaßte Ge¬ schaͤft gehen wollte. Indessen war Frau Lee besorgt, noch eine Menge Kleinigkeiten auf die geschickteste Weise in dem Koffer unterzubringen. Da brachte sie ein maͤchtiges Stuͤck feine Seife, wohl eingewik¬ kelt, eine zierliche Nadelbuͤchse, Faden und Knoͤpfe aller Art in einem artigen Schaͤchtelchen, eine Scheere, eine gute neue Kleiderbuͤrste, unterschied¬ liche Tuchabschnitzel, welche seinen Kleidungs¬ stuͤcken entsprachen, zusammengerollt und mit einem Bindfaden vielfach umwunden und die sie ihm ja nicht zu verlieren empfahl, indem ein gewandter Schneider die Existenz eines Rockes mit derglei¬ chen manchmal um ein volles Jahr zu fristen vermoͤge. Sie gerieth hierbei wieder in einigen Conflict mit dem Sohne, welcher alle vorhande¬ nen Luͤcken fuͤr die verschiedenen Bruchstuͤcke einer alten Floͤte, fuͤr ein Lineal, eine Farbenschachtel, einen baufaͤlligen Operngucker u. s. w. in Beschlag nehmen wollte. Ja, er machte, obgleich er kein Mediziner war, doch einen vergeblichen Versuch, einen defecten Todtenschaͤdel, mit welchem er sei¬ nem Kaͤmmerchen ein gelehrtes Ansehen zu geben gewußt hatte, noch unter den Deckel zu zwaͤngen. Die Mutter jagte ihn aber mit widerstandsloser Energie von dannen und man behauptet, daß das graͤuliche Moͤbel nicht lange nachher einem ehr¬ lichen Todtengraͤber bei Nacht und Nebel nebst einem Trinkgelde uͤbergeben worden sei. Sie schlossen mit Muͤhe den vollgepfropften Koffer; denn auch das Kind der unbemitteltsten Eltern, wenn es aus den Armen einer treuen Mutter scheidet, nimmt immer noch etwas We¬ niges uͤber seine Beduͤrfnisse hinaus mit und ist in einem gewissen Sinne wohl ausgestattet. Die Tage sind traurig, wo diese Ausstattung, diese warme Huͤlle sich nach und nach aufloͤst und ver¬ liert und mit bitteren, oft reuevollen Erfahrungen durch wildfremdes Zeug ersetzt werden muß. Waͤhrend Heinrich noch eine große, schwere Mappe einwickelte, die ganz mit Zeichnungen, Kupferstichen und altem Papierwerk angefuͤllt war, sein wanderndes Museum, besorgte seine Mutter das Fruͤhstuͤck und ermahnte ihn, unter¬ dessen noch bei den Hausgenossen Abschied zu nehmen. Das Haus gehoͤrte ihr und war ein hohes altes buͤrgerliches Gebaͤude, dessen unter¬ stes Geschoß noch in romanischen Rundbogen, die Fenster der mittleren im altdeutschen Styl und erst die zwei obersten Stockwerke modern doch regellos gebaut waren. Alles war duͤster und geschwaͤrzt. Drei oder vier Handwerkerfamilien bewohnten seit langen Jahren in guter Eintracht mit der Frau Hausmeisterin das Haus. Bei ihnen trat Heinrich nach einander ein und sagte sein Lebewohl. Die braven Leute wuͤnschten ihm mit herzlicher Theilnahme alles Gluͤck und er¬ mahnten ihn, nicht zu lange in der Welt herum zu fahren, sondern bald wieder zu ihnen und zu der Mutter zuruͤckzukehren. Die gluͤckliche Fest¬ tagsruhe, in welcher er die zufriedenen und nach nichts weiter verlangenden Menschen antraf, trat ihm an's Herz, und er bat sie, seiner Mutter, die nun ganz allein sei, mit Rath und That bei¬ zustehen. Die ernsthaften Hausvaͤter, den sonn¬ taͤglichen Seifenschaum um Mund und Kinn, versicherten, daß seine Bitte unnoͤthig sei, holten bedaͤchtig aus ihren bescheidenen Pulten einen harten Thaler hervor und druͤckten denselben dem Scheidenden mit diplomatischer Wuͤrde verdeckt in die Hand. Obgleich er, nach der Behauptung seiner Mutter, ein Obenhinaus war, so durfte er doch durch diese buͤrgerliche schoͤne Sitte sich nicht beleidigt finden. Auch lag ein rechter Segen in diesem sauererworbenen und mit ernstem Ent¬ schlusse geschenkten Gelde; es schien Heinrich die ersten Tage seiner Reise hindurch, wo er es zuerst gebrauchte, um seine Hauptkasse zu schonen, als ob es gar nicht ausgehen wollte. Endlich saß er seiner Mutter beim Fruͤhstuͤck gegenuͤber, auf dem Stuhle, auf welchem der dreijaͤhrige Knabe schon geschaukelt hatte. Es war nun Alles gethan und vorbereitet; ein Mann hatte den Koffer nach der Post geholt — es war eine Todtenstille in der Stube. Die Morgen¬ sonne umzirkelte die alterthuͤmlichen, ererbten Por¬ zelantassen, welche Heinrich schon zwanzig Jahre lang durch die Haͤnde seiner Mutter gehen sah, ohne daß je eine zerbrochen waͤre. Es war ein feierlicher Moment gewesen, als er fuͤr wuͤrdig erfunden ward, sein Kinderschuͤsselchen mit einer dieser bunten und vergoldeten Tassen versuchs¬ weise zu vertauschen. Frau Lee haͤtte ihrem Sohne noch gern aller¬ lei gesagt; aber sie konnte mit ihm gar nicht sentimental sprechen, so wenig, als er mit ihr. Endlich sagte sie schuͤchtern und abgebrochen: »Werde nur nicht leichtsinnig und vergiß nicht, daß wir eine Vorsehung haben! Denke an den lieben Gott, so wird er auch an Dich den¬ ken, und mach', daß Du bald etwas lernst und endlich selbststaͤndig werdest; denn Du weißt ge¬ nau, wieviel Du noch zu verbrauchen hast und daß ich Dir nachher nichts mehr werde schicken koͤnnen, das heißt, wenn es Dir uͤbel ergehen sollte, so schreibe mir ja, so lange Du weißt, daß ich selbst noch einen Pfennig besitze, ich koͤnnte es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wissen.« Der Sohn schaute waͤhrend dieser Anrede stumm in seine Tasse und schien nicht sehr geruͤhrt zu sein. Die Mutter erwartete aber keine ande¬ ren Geberden, sie wußte schon, woran sie war und fuͤhlte sich etwas erleichtert. Ach, du lieber Himmel! dachte sie, eine Wittwe muß doch Alles auf sich nehmen: diese Ermahnungen zu ertheilen, dazu gehoͤrt eigentlich ein Vater, eine Frau kann solche Dinge nicht auf die rechte Weise sagen; wenn das arme Kind nicht zurecht kommt, wie werde ich die Sorge mit dem gehoͤrigen klugen Ernste vereinigen koͤnnen? Heinrich aber war jetzt mit seinen Gedanken schon weit in der Ferne: die Neugierde, die Hoff¬ nung, Lebens- und Wanderlust hatten ihn maͤch¬ tig angewandelt und die Ungeduld uͤbernahm ihn. Er sprang auf und sagte: »Jetzt muß ich gehen, leb' wohl, Mutter!« Die Thraͤnen stuͤrzten ihr in die Augen, als sie ihm die Hand gab, und er fuͤhlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinab eilte, daß sein Gesicht ganz heiß wurde, aber er bezwang sich. Die Hausgenossen kamen auch noch unter die Hausthuͤre, wo Heinrich Allen zumal noch die Hand gab, ohne seine Mutter dabei stark auszuzeichnen, wenn man einen letz¬ ten, fluͤchtigen und wehmuͤthigen Blick, den er auf sie warf, ausnehmen will. Das Volk, das mit der aͤußern Sorge sein Leben lang zu kaͤm¬ pfen hat, erweist sich selbst wenig sichtbare Zaͤrt¬ lichkeit. Von verwandtschaftlichen Umarmungen und Kuͤssen ist wenig zu finden: Niemand kuͤßt sich, als die Kinder und die Liebenden und selbst diese mit mehr Decenz, als die gebildete und sich bewußte Gesellschaft. Daß Maͤnner einander kuͤßten, waͤre unerhoͤrt und uͤberschwenglich laͤcher¬ lich. Nur große Ereignisse und Schicksale koͤn¬ nen hierin eine Ausnahme bewirken. 2 * Als Heinrich Lee mit schnellen Schritten nach dem Posthause hinlief und einige Minuten darauf oben auf dem schwerfaͤlligen Wagen sitzend uͤber die Bruͤcke und neben dem Flusse das enge Thal entlang fuhr, mit begeisterten Augen das offene Land erwartend, die Primel noch auf seiner Muͤtze: da konnte dieser sonderbare Bursche fuͤr die Haͤlfte der Zuschauer etwas vortheilhaft An¬ regendes, aber gewiß auch fuͤr die andere Haͤlfte etwas ungemein Laͤcherliches haben. Fein gefuͤh¬ lig und klug sah er darein, jedoch sein Aeußeres war zugleich seltsam und unbeholfen. Was er eigentlich war und wollte, das muͤssen wir mit ihm selbst zuerst erfahren und erleben; daß man es in jenem Augenblick nicht recht wissen konnte, machte seiner Mutter genugsamen Kummer. Sie war auf ihre Stube zuruͤckgekehrt. Ein tiefes Gefuͤhl der Verlassenheit und der Einsam¬ keit uͤberkam sie und sie weinte und schluchzte, die Stirn auf den Tisch gelehnt. Der fruͤhe Tod ihres Mannes, die Zukunft ihres sorglosen Kindes, ihre Rathlosigkeit, Alles kam zumal uͤber ihr einsames Herz. Ein maͤchtiges Ostermorgen¬ gelaͤute weckte und mahnte sie, Trost in der Ge¬ meinschaft der vollen Kirche zu suchen. Schwarz und feierlich gekleidet ging sie hin; es ward ihr wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge Frauen gleichen Standes: allein, da der Prediger ausschließlich das Wunder der Auferstehung sowie der vorhergehenden Hoͤllenfahrt dogmatisirend ver¬ handelte, ohne die mindesten Beziehungen zu einem erregten Menschenherzen, so genoß die gute Frau vom ganzen Gottesdienste nichts, als das Vaterunser, welches sie recht inbruͤnstig mitbetete, dessen innerste Wahrheit sie aufrichtete. Die Erinnerung an empfangene Liebe, als ein Zeugniß, daß man Ein Mal im Leben liebenswuͤrdig und werth war, ist es vorzuͤglich, welche die Sehnsucht nach der fruͤheren Jugend nie ersterben laͤßt. Wer nicht das Gluͤck hatte, eine aufknospende zarte und heilige Jugendliebe zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue und liebevolle Mutter gehabt, und in den spaͤtern Tagen bringen beide Erinnerungen ungefaͤhr den gleichen Eindruck auf das Gemuͤth hervor, eine Art reuiger Sehnsucht. Wer aber in jeder Weise verwaist und einsam aufgewachsen ist, der kann wohl sagen, daß er um einen Theil des Lebens zu kurz gekommen sei. Zweites Kapitel. Indem eine Grundlinie der Landschaft nach der anderen sich verschob und veraͤnderte, und aus dem heiteren Ziehen und Weben ein ganz neuer Gesichtskreis hervorging, welcher allmaͤlig wieder in einen neuen sich aufloͤste, war Heinrich, mit hellen Jugendaugen aufmerkend, seinem eigenen Wesen zuruͤckgegeben. Die verlassene Mutter und Heimath bildeten wohl eine zarte und weiche Grundlage in seinem Gemuͤthe; doch auf ihr spielten mit ungebrochenen Farben alle Bilder der neuen Welt, welche ihm aufging. Denn ob¬ gleich schon ziemlich die weite Welt in leicht er¬ faßten Bildern seinem innern Sinne vorbeigezo¬ gen war und besonders sein Kuͤnstlergedaͤchtniß die Formen und Gestalten der fernsten Zonen be¬ wahrte, so war ihm doch jetzt die kleinste Neu¬ heit, welche durch jede weitere Stunde Wegs ge¬ bracht wurde, das Naͤchste und Wichtigste. Eine neue Art von bemalten Fensterladen oder Wirths¬ hausschildern, eine eigenthuͤmliche Gattung von Brunnensaͤulen oder Dachgiebeln in diesem oder jenem Dorfe, besonders aber die bald vor- bald seitwaͤrts, bald fern bald nah, immer frisch auf¬ tauchenden Bergzuͤge und Erdwellen machten ihm die groͤßte Freude. Es war ein windstiller, lieb¬ licher Fruͤhlingstag. Lange Zeit sah er eine milde weiße Wolke uͤber dem Horizonte stehen, zu sei¬ ner Rechten, oder auch zur Linken, wie der Wa¬ gen eben fuhr; die sanften, bald fern blauen, bald nah gruͤnen oder braunen Wogen der Erde flossen still darunter hin, sie aber blieb immer dieselbe, bis sie endlich, als er sie eine Weile ver¬ gessen hatte und wieder suchte, auch verschwunden war. Am Meisten freute ihn jedoch, wenn er, immer mehr sich von der Geburtsstadt entfernend, stets noch an einem ihm unbekannten Orte ein bekanntes Gesicht voruͤbergleiten sah, das er sonst an Wochenmaͤrkten oder Festtagen in der be¬ schraͤnkten Stadt bemerkt hatte; wohl zehn Stun¬ den von zu Hause weg, sah er sogar an einem Brunnen noch ein schoͤnes falbes Pferd trinken, welches ihm zu Hause schon oͤfters aufgefallen war, als vor ein buntes Waͤgelchen gespannt, auf welchem ein dicker Muͤller saß. Richtig ließ sich auch der Muͤller im Sonntagsstaate sehen und Heinrich wußte nun, wo das falbe Pferd zu Hause war. Dieses waren Alles noch Zeichen der Heimath, freundliche Begleiter und so zu sagen die letzten Thuͤrsteher, welche ihn wohl¬ wollend entließen. Aber nicht nur in der aͤußern Umgebung, auch an sich selbst empfand er den Reiz eines neuen Lebens. Dann und wann begegnete ein reisen¬ der Handwerksbursch, ein alter zitternder Mann, ein verlaufenes bleiches Bettlerkind dem dahin¬ rollenden Wagen. Waͤhrend keiner der andern Reisenden sich regte, wenn die demuͤthig Flehenden muͤhsam eine Weile neben dem schnellen Fuhrwerke hertrabten, suchte Heinrich immer mit eifriger Hast seine Muͤnze hervor und beeilte sich, sie zu befriedigen. Dabei fiel es ihm nicht schwer, es mit einer Miene zu thun, welche den Bettler gewissermaßen zu ihm herauf hob, statt noch mehr abwaͤrts zu druͤcken, und je nach dem besonderen Erscheinen des Bittenden, leuchtete aus Heinrichs Augen ein Strahl des Verstaͤndnisses, der unbe¬ fangenen Theilnahme, eines sinnigen Humores oder auch ein Anflug muͤrrischen, lakonischen Vor¬ wurfes; immer aber gab er und die von ihm Beschenkten blieben oft uͤberrascht und nachdenk¬ lich stehen. Weil Gewohnheit und Sitte nur eine kleine Gabe, ein Unmerkliches verlangen, so hielt er es um so mehr fuͤr wuͤrdelos, je einen Armen erfolglos bitten zu lassen, moͤge nun ge¬ holfen werden oder nicht, moͤge Erleichterung oder Liederlichkeit gepflanzt werden; ein gewisser mensch¬ licher Anstand schien ihm unbedingt zu gebieten, daß mit einer Art Zuvorkommenheit diese kleinen Angelegenheiten abgethan wuͤrden. Er hatte noch nicht die Kenntniß erworben, daß bei dem faulen und haltlosen Theile der Armen durch wieder¬ holtes Abweisen jenes Gekraͤnktsein und dadurch jener Stolz geweckt werden muͤssen, welche end¬ lich Selbstvertrauen hervorbringen. Allein bisher war es ihm nur spaͤrlich ver¬ goͤnnt, dem Zuge seines Herzens zu folgen. In¬ dem er als einziges Kind bei seiner vorsichtigen und haushaͤlterischen Mutter lebte, welche, waͤh¬ rend er seinen Traͤumen nachhing, ihm so zu sa¬ gen den Loͤffel in die Hand gab, geschah es sel¬ ten, daß er mit etwelcher Muͤnze versehen und wenn er es war, so brannte sie ihm in der Hand, bis er sie ausgegeben hatte. So kam es, daß ihn immer ein Schrecken uͤberfiel, sobald er von fern einen Bettler ahnte und ihm auszuweichen suchte. Konnte dies nicht geschehen, so ging er rasch abweisend vorbei, und wenn der Bettler nachlief, huͤllte er seine Verlegenheit in einen rauhen, unwilligen Ton, wobei aber sein weißes Gesicht eine flammende Roͤthe uͤberlief. Er konnte so rechte Ungluͤckstage haben, wo er viele und verschiedenste arme Teufel antraf, ohne einem Einzigen etwas geben zu koͤnnen und er mußte fortwaͤhrend ein boͤses Gesicht machen; denn als er einst ganz gemuͤthlich und vertraulich einem großen Schlingel gesagt hatte, er besaͤße selbst kein Geld, forderte ihn dieser hoͤhnisch auf, mit ihm betteln zu gehen. In allem diesen lag nun I. 3 freilich, wie viele Leute sagen wuͤrden, mehr ein unbefugter Hochmuth, als eine demuͤthige Barm¬ herzigkeit; vielleicht aber koͤnnte man auch sagen: Es ist die koͤnigliche Gesinnung eines urspruͤng¬ lichen und reinen Menschen, welche, allgemein verbreitet, die Gesellschaft in eine Republik von lauter liebevollen und wahrhaft adelich gesinnten Koͤnigen verwandeln wuͤrde; es ist die immer¬ waͤhrende Erhebung des Herzens, welche nach der That trachtet; es ist die goͤttliche Einfalt, welche nur ein Ja und ein Nein kennt und letz¬ teres verwahrt und verbirgt wie ein schneidendes Schwert. Wenigstens fuhr Heinrich wie ein wahrer Koͤnig in die helle Welt hinaus. Er war nun sich selbst uͤberlassen und konnte in den Kreis seines Geschickes aufnehmen, was sein leichtes Herz begehrte: und indem er gewissenhaft den Armen seinen Kreuzer mittheilte, rechnete er die¬ ses zu den seinem Leben noͤthigen Ausgaben. Er dachte uͤbermuͤthig: Zwei Pfennige sind immer genug, um den Einen wegzuschenken! und so trug er wenige Thaler in der Tasche, aber ein Herz voll Hoffnung und bluͤhenden Weltmuthes in der Brust. Waͤre er ein Koͤnig dieser Welt gewesen, so haͤtte er vermuthlich viele Millionen »verschleudert«, so aber konnte er nichts vergeu¬ den, als das Wenige, was er besaß: seines und seiner Mutter Leben. Gegen Mittag fuhr der Postwagen durch ein großes ansehnliches Dorf, wie sie in der flachern Schweiz haͤufig sind, wo Fleiß und Betriebsam¬ keit, im Lichte froͤhlicher Aufklaͤrung und unter oder vielmehr auf den Fluͤgeln der Freiheit, aus dem schoͤnen Lande nur Eine freie und offene Stadt erbauen. Weiß und glaͤnzend standen die Haͤuser laͤngs der breiten saubern Landstraße, dehnten sich aber auch in die Runde, mannig¬ faltig durch Baumgaͤrten schimmernd. Auch vor dem geringsten war ein Blumengaͤrtchen zu sehen und im aͤrmsten derselben bluͤhten eine Hyazinthe oder einige Tulpen hervor, Pflanzen, welche sonst nur von Vermoͤglicheren gezogen wurden. Es ist aber auch nichts so erbaulich, als wenn durch einen ganzen Landstrich eine fromme Blumen¬ liebe herrscht. Ohne daß die Hausvaͤter im Ge¬ 3 * ringsten etwa unnuͤtze Ausgaben zu beklagen haͤt¬ ten, wissen die Frauen und Toͤchter durch allerlei liebenswuͤrdigen Verkehr ihren Gaͤrten und Fen¬ stern jede Zierde zu verschaffen, welche etwa noch fehlen mag, und wenn eine neue Pflanze in die Gegend kommt, so wird das Mittheilen von Rei¬ sern, Samen, Knollen und Zwiebeln so eifrig und sorgsam betrieben, es herrschen so strenge Gesetze der Gefaͤlligkeit und des Anstandes daruͤber, daß in kurzer Zeit jedes Haus im Besitze des neuen Blumenwunders ist. So sind in neuerer Zeit eine der schoͤnsten Erscheinungen die Georginen. Vor zehn oder funfzehn Jahren bluͤhten sie nur noch in den stattlich umhegten Gaͤrten der Rei¬ chen, in der Naͤhe der Staͤdte, oder vor glaͤnzen¬ den Landhaͤusern: dann verbreiteten sie sich unter dem Mittelstande, sich zugleich in hundertfarbigen Arten entfaltend durch die Kunst der Gaͤrtner, und jetzt steht ein Strauch dieser merkwuͤrdigen Blume, wo nur ein Fleck Erde vor der Huͤtte des laͤndlichen Tageloͤhners frei ist. Wie die fluͤchtig wandernden Stammvaͤter eines spaͤter großen Weltvolkes sind die ersten einfachen Exem¬ plare der Georginen aus dem fernen Reiche der Montezumas heruͤbergekommen und schon bedecken ihre Enkel zahllos unsere Gaͤrten, aus der Tiefe ihrer Lebenskraft entwickeln sie eine endlose Farben¬ pracht, wie sie die Hochebenen Mexikos nie ge¬ sehen haben. Kinder des neuweltlichen Westens, herrschen sie nun neben den Kindern des alten Ostens, den Rosen, wie sonst keine Blume. Frei¬ lich noch immer geben diese allein den suͤßen Duft und jenes kuͤhlende Rosenwasser, welches krank geweinte Augen erfrischt, und noch immer eignen sie sich am Besten dazu, einen vollen Becher zu schmuͤcken. Aber darin wetteifern die bunten Schaaren Amerikas mit dem gluͤhenden Rosen¬ volke des Morgenlandes, daß sie mit unverwuͤst¬ licher Lebenslust unser Herz bis an das Ende des Jahres begleiten und ihre sammtenen Bruͤste oͤffnen, bis der kalte Schnee in sie faͤllt. Hell und aufgeweckt erschien das Dorf, durch welches die Reisenden fuhren, in vielen Erdge¬ schossen erblickte man die Abzeichen von Gewer¬ ben: Uhrmachern, Kuͤrschnern, sogar Goldschmie¬ den und von Kraͤmereien, welche man sonst nur in den Staͤdten findet; einige Haͤuser erschienen so herrisch, die Gaͤrten davor so wohlgepflegt, daß man in den Besitzern mit Recht reiche Dorf¬ magnaten vermuthete. Doch wenn auch der Eine, gleich einem Deputirten der franzoͤsischen Bour¬ geoisie, im eleganten Schlafrock, die Cigarre im Munde, aus dem Fenster schaute, so stand dafuͤr der Andere in bloßen weißen Hemdsaͤrmeln auf der Hausflur, und seine braunen Haͤnde verkuͤn¬ deten, ungeachtet des staͤdtischen Hauses, den ruͤ¬ stigen Ackersmann, ja vor einem seiner Fenster hing zum Durchluͤften die Uniform eines gemein¬ nen Soldaten, waͤhrend aus der Dachluke seines Knechtes diejenige eines Unteroffiziers in der Fruͤhlingsluft flaggte. Bei all' dieser Stattlich¬ keit war nun aber das Schulhaus doch das schoͤnste Gebaͤude im Dorfe, welches in der ganzen Gegend oͤfter der Fall war. Auf einem freien geebneten Platze ragte es mit hohen blin¬ kenden Fenstern empor und verrieth heitere ge¬ raͤumige Saͤle; von seiner Front schimmerte in kolossalen goldenen Buchstaben das Wort Schul¬ haus. Hier, auf dem sonnigen Vorplatze und auf der breiten steinernen Treppe, welche fast tem¬ pelartig den ganzen vorderen Sockel bekleidete, mochte der Ort sein, welchen sonst die alten Dorflinden bezeichnen; denn eine Gruppe aͤlterer und juͤngerer Maͤnner unterhielt sich hier behag¬ lich, sie schienen zu politisiren; aber ihre Unter¬ redung war um so ruhiger, bewußter und ern¬ ster, als sie vielleicht, dieselbe bethaͤtigend, noch am gleichen Tage einer wichtigen oͤffentlichen Pflichterfuͤllung beizuwohnen hatten. Die Phy¬ siognomien dieser Maͤnner waren durchaus nicht national uͤber Einen Leisten geschlagen, auch war da nichts Pittoreskes, weder in Tracht, noch in Haar- und Bartwuchs zu bemerken; es herrschte jene Verschiedenheit und Individualitaͤt, wie sie durch die unbeschraͤnkte persoͤnliche Freiheit erzeugt wird, jene Freiheit, welche bei einer unerschuͤtter¬ lichen Strenge der Gesetze Jedem sein Schicksal laͤßt und ihn zum Schmied seines eigenen Gluͤ¬ ckes macht. So erschienen hier die Einen von rastloser Arbeit gebraͤunt und getrocknet, zaͤh und hart, Andere in Energie und Gewandtheit auf¬ bluͤhend, Andere wieder von Speculation gefurcht Alle aber waren aͤußerlich ruhig, ungebeugt und sahen kundig und auch ziemlich proceßerfahren in die Welt. So uͤbereinstimmend mit seinen ruͤhrigen Be¬ wohnern nun das schoͤne Dorf dastand, um so fremdartiger ragte die Kirche aus ihm hervor. Dem Style oder besser Nichtstyle nach stammte sie aus dem achtzehnten Jahrhundert, ein ovales nuͤchternes Gebaͤude mit kreisrunden Fenstern, foͤrmlichen Loͤchern, war nicht alt und nicht neu, weder der verbrauchte Baustoff, noch die magern geschmacklosen Verzierungen so wenig als der gedankenlose Thurm, thaten die mindeste Wir¬ kung; man ahnte schon von außen die langweili¬ gen hoͤlzernen Bankreihen und die kleinliche Gipsbekleidung des Inneren, den unfoͤrmlich bau¬ chigen Taufstein, das laͤcherliche braune Kanzel¬ faß; ohne Begeisterung gebaut und keine erwe¬ ckend, verkuͤndete das Gebaͤude den untroͤstlichen Schlendrian, mit welchem es gebraucht wurde. Es sah aus, wie ein unnuͤtzes sonderbares Moͤ¬ bel in einem Hause, welches der Besitzer aber eigensinnig um keinen Preis veraͤußern will, weil er seit langen Jahren gewohnt ist, seinen Hut darauf zu stellen, wenn er nach Hause kehrt, oder, wenn man ein wenig artiger sein will, weil sein Firniß auf eine ihm angenehme Weise den Sonnenblick auffaͤngt und auf den Stuben¬ boden wirft. Aus diesem herzlos unschoͤnen Gebaͤude nun bewegte sich ein langer Zug sechszehnzaͤhriger Confirmandinnen quer uͤber die Straße, von einem dicken jovialen Pfarrherrn angefuͤhrt, so daß der Postwagen anhalten mußte bis alle vor¬ bei waren. Schwarz gekleidet, mit gebeugten Haͤuptern, die thraͤnenden Augen in weiße Ta¬ schentuͤcher gedruͤckt, wallten die zarten Gestalten paarweise langsam voruͤber, die keuschen Lippen noch feucht von dem Weine, welchen man ihnen als Blut zu trinken, in der Kehle noch das Brot, welches man ihnen als Menschenfleisch zu essen gegeben hatte. Diese dunkle Maͤdchenschaar mit dem rothnasigen Pfarrer an der Spitze, kam Heinrich vor, wie ein Flug gefangener Nachti¬ gallen aus dem Morgenlande, welche ein betrun¬ kener Vogelhaͤndler zum Verkauf umher fuͤhrt. Der Zug schlaͤngelte sich aber auch traumhaft genug unter dem klaren Himmel und durch Land und Leute hin. Wenn wir solche Dinge in der Weise schildern, wie sie sich dem jungen Wanderer eindruͤckten, so wird man in derselben nicht die ruͤcksichtslose Art der Jugend verkennen, welche mit einer ge¬ wissen, uͤbrigens gesunden Unbestechlichkeit zwi¬ schen dem scheinbaren und dem wirklich Anstoͤßi¬ gen durchaus keinen Unterschied zugeben will. Da religioͤse Gegenstaͤnde vor Allem nur Sache des Herzens sind, so bringt dieses in seiner auf¬ wachenden Bluͤthezeit das Recht zur Geltung, die Ueberlieferungen mit seinen angebornen reinen Trieben in Einklang zu setzen. Wer erinnert sich nicht jener gluͤcklichen Tage, wo man im geraͤusch¬ vollen schwindelnden Kreisen dieses Rundes er¬ wachend, mit den neuen feinen Fuͤhlhoͤrnern der jungen Seele um sich tastend, von keiner Auto¬ ritaͤt Notiz nehmen und den Maßstab seines un¬ verdorbenen Gefuͤhles auch an das Ehrwuͤrdigste und Hoͤchste legen will? Wer will wohl bestrei¬ ten, daß vielleicht, wenn das Urspruͤngliche und also auch wohl Goͤttliche, das in der jungen Menschenseele liegt, nicht in das hanfene, duͤrr¬ geflochtene Netz eines Katechismus, heiße er wie er wolle, abgefangen wuͤrde, die schneidende blutige Kritik des Mannesalters und die wilde¬ sten Kaͤmpfe verhuͤtet wuͤrden? Heinrich hegte eine besondere Pietaͤt gerade fuͤr die Begriffe Brot und Wein, das Brot schien ihm so sehr die ewig unveraͤnderte unterste Grundlage aller Erden- und Menschheitsgeschichten, der Wein aber die edelste Gabe der geistdurchdrungenen lebens¬ warmen Natur zu sein, daß Nichts ihn so geeig¬ net duͤnkte zur Feier eines gemeinsamen symbo¬ lischen Mahles der Liebe, als edles weißes Wei¬ zenbrot und reiner goldener Wein. Daher war es ihm auch anstoͤßig, diese wichtigen, aber ein¬ fachen und reinlichen Begriffe mit einer heidnisch¬ mystischen und wie ihm vorkam, widermenschli¬ chen Mischung zu truͤben. Auf das Historische des vorhandenen Sacramentes konnte er nun um so weniger Ruͤcksicht nehmen, als ihm die theo¬ logischen Einsichten und Kenntnisse abgingen. Als die Sonne sich bereits zu neigen anfing, machte der Wagen an einem Dorfe wieder Halt, damit die Pferde gewechselt werden konnten. Heinrich trat mit den andern Reisenden in das Gasthaus, um eine Erfrischung zu sich zu neh¬ men. Der Eine waͤhlte ein Glas Wein, der Andere eine Schale Kaffee, der Dritte verlangte schnell etwas Kraͤftiges zu essen, es ging geraͤusch¬ voll zu mit Genießen, Geldwechseln und Bezah¬ len; Alle thaten wichtig, zerstreut oder nur auf sich achtsam und liefen stumm an einander vor¬ bei in der Stube umher. Auch Heinrich spreizte sich, ließ es sich schmecken und zum Ueberfluß noch eine schlechte Cigarre geben, welche er un¬ geschickt in Brand zu stecken suchte. Da ge¬ wahrte er in einem Winkel der Stube eine aͤrmliche Frau mit ihrem jungen Sohne, welcher ein großes Felleisen neben sich auf der Bank stehen hatte. Beide waren ihm als Nachbars¬ leute bekannt. Er gruͤßte sie und vernahm, daß auch dieser junge Bursche, welcher das Handwerk eines Malers und Lackirers erlernt hatte, heute die Reise in die Fremde antrat, daß seine Mutter, die Feiertage benutzend, lange vor Tagesanbruch sich mit ihm auf den Weg gemacht und sie so, die Fuß- und Feldwege aufsuchend, bis hierher gekommen seien, wo sie sich nun trennen wollten. Die gute Frau gedachte dann bis zur voͤlligen Dunkelheit noch ein Stuͤck Weges zuruͤck zu wandern und bei bekannten Landleuten uͤbernacht zu bleiben. Sie tranken einen blassen duͤnnen Wein und aßen Brot und Kaͤse dazu; doch war es eine Freude zu sehen, wie sorglich die Frau die »Gottesgabe« behandelte, ihrem Sohne zu¬ schob und fuͤr sich fast nur die Krumen zusam¬ men scharrte. Dazwischen schaͤrfte sie ihm ein, wie er seinen Meistern gehorchen, bescheiden und fleißig sein und keine Haͤndel suchen sollte. Dann mußte er seinen Geldbeutel nochmals hervorziehen; vier oder fuͤnf neue große Geldstuͤcke wurden als bekannte Groͤßen einstweilen bei Seite gelegt, da¬ gegen eine Handvoll kleineres Geld uͤberzaͤhlt, betrachtet und ausgeschieden. Der Junge steckte seinen Schatz wieder ein, die Mutter aber ent¬ wickelte aus einem Zipfel ihres Schnupftuches etwas Kupfermuͤnze und bezahlte die Zeche. Inzwischen rollte das bewegliche Wanderhaus mit seinen ewig wechselnden Bewohnern wieder auf der Straße, eine Anhoͤhe hinan und der kuͤh¬ len Nacht entgegen. Heinrich schaute fortwaͤhrend zuruͤck nach Suͤden; rein, wie seine schuldlose Jugend, ruhte die Luft auf den Gebirgszuͤgen seiner Heimath, aber diese waren ihm in ihrer jetzigen Gestalt fast ebenso fremd, wie die Schwarzwaldhoͤhen im daͤmmernden Norden, de¬ nen er sich allmaͤlig naͤherte, und uͤber welchen roͤthliche Wolkengebilde einen raͤthselhaften Vor¬ hang vor das deutsche Land zogen. Fern hinter dem Wagen sah er seinen jungen Nachbar den Huͤgel hinankeuchen, noch kaum er¬ kennbar mit seinem schweren Felleisen. Ueber denselben hinweg gleiteten Heinrichs Augen noch einmal nach dem suͤdlichen Horizonte; er suchte diejenige Stelle am Himmel, welche uͤber seiner Stadt, ja uͤber seinem Hause liegen mochte und fand sie freilich nicht. Desto deutlicher hingegen sah er nun, als er sich in den Wagen zuruͤckleh¬ nend die Augen schloß, die muͤtterliche Wohnstube mit allen ihren Gegenstaͤnden, er sah seine Mut¬ ter einsam umher gehen, ihr Abendbrot bereitend, dann aber kummervoll am Tische vor dem Unge¬ nossenen dasitzen. Er sah sie darauf einen Band eines großen Andachtswerkes, fast ihre ganze Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hin¬ einblicken, ohne zu lesen; endlich ergriff sie die stille Lampe und ging langsam nach dem Alkoven, hinter dessen schneeweißen Vorhaͤngen Heinrichs Wiege gestanden hatte. Hier mußte er den Mantel ein wenig vor sein Gesicht druͤcken, es war ihm, als ob er schon Jahre lang und tau¬ send Stunden weit in der Ferne gelebt haͤtte und es befiel ihm eine ploͤtzliche Angst, daß er die Stube nie mehr betreten duͤrfe. Er konnte sich nicht enthalten, jene Familien bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und eine huͤbsche runde Zahl Geschwister nebst uͤbriger Verwandtschaft in sich vereinigen, wo, wenn ja Eines aus ihrem Schooße scheidet, ein Andres dafuͤr zuruͤckkehrt und uͤber jedes außerordentliche Ereigniß ein behaglicher Familienrath abgehalten wird, und selbst bei einem Todesfalle vertheilt sich der Schmerz in kleinere Lasten auf die zahl¬ reichen Haͤupter, so daß oft wenige Wochen hin¬ reichen, denselben in ein fast angenehm-weh¬ muͤthiges Erinnern zu verwandeln. Wie verschie¬ den dagegen war seine eigne Lage! Das ganze Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden die auseinander gerissen, so kannte jede die Ein¬ samkeit der anderen und der Trennungsschmerz wurde so verdoppelt. »Haben wohl«, dachte er, »jene Propheten nicht Unrecht, welche die jetzige Bedeutung der Familie vernichten wollen? Wie kuͤhl, wie ruhig koͤnnten nun meine Mutter und ich sein, wenn das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn nach jeder Trennung man sich gesichert in den Schooß der Gesammtheit zuruͤckfluͤchten koͤnnte, wohl wissend, daß der andere Theil auch darin seine Wurzeln hat, welche nie durchschnitten wer¬ den koͤnnen, und wenn endlich dem zufolge die verwandtschaftlichen Leiden beseitigt wuͤrden!« Im Mittelalter wurde der Tod als ein menschliches Skelett abgebildet und es hat sich daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt; sogar leblose Gegenstaͤnde, wie Meerschiffe, wur¬ den skeletisirt und mußten auf dem Meere als Todtenschiff spuken. Denkt man sich solcher Weise das fliegende Gerippe einer Kraͤhe, so war es der Schatten derselben, welchem der Gedanke glich, der so eben uͤber Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne schien reichlich durch das duͤrre Gitter der Knoͤchlein und Gebeine. »Nein,« rief ihm sein innerstes Gefuͤhl zu, »der Zustand, den sich diese Menschen wuͤnschen, gleicht zu sehr der stabilen gedankenlosen Seligkeit, welche das hoͤchste Ziel der meisten Christen ist. Man muß wohl unterscheiden zwischen Leiden und Leiden; das Eine ist zu dulden, ja zu ehren, waͤhrend das Andere unzulaͤssig ist!« »Der beste Maßstab,« dachte er weiter, »ist vielleicht der aͤsthetische. Alle Leiden lassen sich in schoͤne und unschoͤne eintheilen, in sittliche und unsittliche, unsittlich fuͤr die, welche sie ansehen und in ihrer Naͤhe dulden. Eine Waise, die auf einem Grabhuͤgel in Thraͤnen zerfließt, ist schoͤn und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben wohlthuend sein; aber ein Kind, welches verkom¬ men und hungerig im Staube liegt, ist eine Schande fuͤr die ganze Landschaft, und fuͤr es I. 4 selbst erwaͤchst nicht die mindeste ersprießliche Re¬ gung aus diesem Zustande; eine greise Mutter, welche ihre Kinder und Enkel dahin sterben sieht, wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebens¬ abend ist fuͤr sie und andere feierlicher; aber eine alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den Tagelohn arbeitet, eine Buͤrde auf dem gebeug¬ ten Ruͤcken, ist ein peinlicher Anblick und gereicht ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der Juͤngling, der mit maͤchtigen Leidenschaften ringt und seine Grundsaͤtze dem Leben Schritt fuͤr Schritt abstreitet, ist, so ungluͤcklich er sich oft fuͤhlt, bei alledem wohl daran, waͤhrend uns der Bauernknecht in den Augen weh thut, der ver¬ achtet und vergessen, unwissend und trotzig vor seiner Stallthuͤre liegt und nach nichts verlangt, als nach seinem Vesperbrot. Jener Juͤngling gewinnt in jedem Sturme und seine Energie er¬ freut den Zuschauer, dieser ungluͤckliche Faulpelz aber wird durch das langweilige Troͤpfeln seiner naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz, man soll nur dasjenige Ungluͤck dulden, was sei¬ nem Traͤger zur eigentlichen Zierde gereicht, alles Andere ist in einer anstaͤndigen Gesellschaft aus¬ zurotten.« So speculirte Heinrich in der Finsterniß seines Postwagens; er vergaß indessen eine Hauptsache, naͤmlich daß seine anstaͤndigen und unanstaͤndigen Leiden manchmal so durcheinander gemischt und mit Schuld und Unschuld so durchwebt sind, daß ein eigener Linné noͤthig waͤre, sie einzureihen, und gerade fuͤr den Aesthetiker koͤnnten bei un¬ vorsichtigem Aufraͤumen die seltensten Exemplare verloren gehen. 4 * Drittes Kapitel. Nicht ohne Herzklopfen vernahm er nun, daß man sich dem Rheine naͤhere und bald sah er den schoͤnen Fluß im Mondlichte glaͤnzend daher wallen. Die Post hielt in einem kleinen Graͤnz¬ orte, und als das Nachtquartier besorgt war, ging Heinrich wieder hinaus; denn die freie Na¬ tur, der naͤchtliche Himmel waren nun seine ein¬ zigen Bekannten. Einen jungen Fischer, der sin¬ gend in seinem Kahne saß, bewog er, ein wenig stromaufwaͤrts zu fahren. Die Nacht war schoͤn; das deutsche Ufer zeichnete sich dunkel mit seinen Waͤldern auf den heitern Himmel. Noch eine Ruderlaͤnge, und Heinrich konnte den Fuß auf dies Land setzen, dessen Namen ihn mit dunklen lockenden Erwartungen erfuͤllte. Das badische Ufer war gerade nicht sehr verschieden vom schweizerischen. Es war finster und still, eine einsame Zollstaͤtte ruhte unter Baͤumen, ein mat¬ tes Licht brannte darin. Aber schimmernd um¬ faßte die Rheinfluth den steinigen Strand, und ihre Wellen zogen gleichmaͤßig kraͤftig dahin, hell¬ glaͤnzend und spiegelnd in der Naͤhe, in der Ferne in einem mildern Scheine verschwimmend. Und uͤber diese Wellen war fast Alles gekommen, was Heinrich in seinen Bergen Herz und Jugend be¬ wegt hatte. Hinter jenen Waͤldern wurde seine Sprache rein und so gesprochen, wie er sie aus seinen liebsten Buͤchern kannte, so glaubte er we¬ nigstens, und er freute sich darauf, sie nun ohne Ziererei auch mit sprechen zu duͤrfen. Hinter diesen stillen schwarzen Uferhoͤhen lagen alle die deutschen Gauen mit ihren schoͤnen Namen, wo die vielen Dichter geboren sind, von denen jeder seinen eigenen maͤchtigen Gesang hat, der sonst keinem gleicht und die in ihrer Gesammtheit den Reichthum und die Tiefe einer Welt, nicht eines einzelnen Volkes auszusprechen scheinen. Er liebte sein helvetisches Vaterland; aber uͤber diesen Strom waren dessen heiligste Sagen in unsterblichen Liedern verherrlicht erst wieder zu¬ ruͤckgewandert; fast an jedem Herde und bei je¬ dem Feste, wo der ruͤstige Schatten mit Armbrust und Pfeil herauf beschworen wurde, trug er das Gewand und sprach die Worte, welche ihm der deutsche Saͤnger gegeben hat. Er schwaͤrmte nur fuͤr die deutsche Kunst, von welcher er allerlei Wundersames erzaͤhlen hoͤrte und verachtete alles Andere. Frankreich liebte er, wie man ein schoͤ¬ nes liebenswuͤrdiges Maͤdchen mitliebt, dem alle Welt den Hof macht, und wenn etwas Gutes in Paris geschah, so freute er sich hoͤchlich, kam etwas Widerwaͤrtiges vor, so wußte er allerlei galante Entschuldigungen aufzubringen. Erblickte hingegen in Deutschland etwas Gutes das Licht, so machte er nicht viel Wesens daraus, als ob sich das von selbst verstaͤnde, und des Schlechten schaͤmte er sich und es machte ihn zornig. Alles aber, was er sich unter Deutschland dachte, war von einem romantischen Dufte umwoben. In seiner Vorstellung lebte das poetische und ideale Deutschland, wie sich letzteres selbst dafuͤr hielt und traͤumte. Er hatte nur mit Vorliebe und empfaͤnglichem Gemuͤthe das Bild in sich aufge¬ nommen, welches Deutschland durch seine Schrift¬ steller von sich verfertigen ließ und uͤber die Graͤnzen sandte. Das nuͤchterne praktische Trei¬ ben seiner eigenen Landsleute hielt er fuͤr Erkal¬ tung und Ausartung des Stammes und hoffte jenseits des Rheines die urspruͤngliche Gluth und Tiefe des germanischen Lebens noch zu finden. Dabei hatte er alle Richtungen und Faͤrbungen desselben in einander geflochten, ohne Kenntniß und Beurtheilung ihrer natuͤrlichen Stellung un¬ ter und gegen einander. Dem Rationalismus hing die romantische Caprice am Arm, das Schil¬ ler'sche Pathos und der brittische Humor, Jean Paul'sche Religiositaͤt und Heine'sche Eulenspiegelei schillerten durch einander wie eine Schlangenhaut; die Beschwoͤrungsformeln aller Richtungen hatte er im Gedaͤchtniß und sah darum begeistert das vor ihm liegende Land als einen großen alten Zaubergarten an, in welchem er als ein willkom¬ mener Wanderer mit jenen Stichworten koͤstliche Schaͤtze heben und wieder in seine Berge zuruͤck¬ tragen duͤrfe. Neugierig schaute Heinrich, naͤher hinzufahrend, in die daͤmmernde Waldnacht hinein, welche nur spaͤrlich vom Mondlicht durchschienen ward, und als ein Reh aus dem Busche an das Ufer trat, ein in der Schweiz schon seltenes Thier, da be¬ gruͤßte er es freudigen Muthes als einen freund¬ lichen Vorboten. Es war uͤbrigens gut, daß er keine solidere und gefaͤhrlichere Schmuggelware in seinem leichten Fahrzeuge fuͤhrte, als solche Hoffnungen; denn ein Waͤchter des deutschen Zollvereins war dem Schifflein schon geraume Zeit mit gespanntem Hahn nachgeschlichen, um zu spaͤhen, wo es etwa landen moͤchte. Sein Rohr blinkte hin und wieder matt vom Scheine der mondbeglaͤnzten Wellen. Der Ostermontag sah den jungen Pilger schon fruͤh den Rhein hinauf und Hussens Brand¬ staͤtte vorbei uͤber den weithin leuchtenden Boden¬ see fahren. Das schoͤne Gewaͤsser, welches vom Mai bis zum Weinmonat der paradiesischen Landschaft zur Folie dient, machte jetzt noch sei¬ nen Reiz und seine Klarheit fuͤr sich selbst geltend, und das mehr und mehr im blauen Dufte ver¬ schwindende Ufer des Thurgaus schien nun bloß um der schoͤnen Umgraͤnzung des See's Willen da zu sein. Sanft und rasch trugen die Fluthen das Schiff an das fremde Gebiet hinuͤber und erst, als eine Schaar graͤmlich-hoͤflicher Bewaff¬ neter den ploͤtzlich Gelandeten umringte und von allen Seiten musterte, that es ihm fast weh, daß an der Schwelle seines Vaterlandes ihn gar Nie¬ mand um sein Weggehen befragt und besichtigt hatte. Ein Fuhrmann mit einer leer dastehenden alten Reisekutsche trug Heinrich fuͤr wenig Geld die Weiterbefoͤrderung an und bald kutschirte die¬ ser tief in das »Land der Zukunft« hinein. Die Sonne schien tapfer, er saß hoch auf dem Bock, immer noch die verwelkte Primel auf der Muͤtze; und fuͤhrte die Zuͤgel der beiden mageren Gaͤule, waͤhrend der Fuhrmann neben ihm sich einem suͤ¬ ßen Muͤssiggange uͤberließ und mit den befreun¬ deten Stallknechten aller Gasthaͤuser am Wege gelaͤufige Witz- und Schimpfworte austauschte. Das Land wurde bald flach und kornreich, doch die Ortschaften lagen unverbunden und einsam da, das Volk war schweigsam und eintoͤnig in seinem Aussehen. Aber Heinrich besaß eine un¬ verwuͤstliche Pietaͤt fuͤr die Natur; wo keine Ge¬ birge und Stroͤme waren, da fand er jedes Ge¬ hoͤlz, einen stillen Ackergrund, einen besonnten Huͤgel reizend um der »Stimmung« willen, die darauf lag, und seine Verbuͤndeten waren hierbei die Atmosphaͤre und die Sonne, welche ihm je¬ den Busch zu Etwas gestalten halfen. Und schon fruͤh hatte er, ohne theoretische Einpflanzung, un¬ bewußt, die gluͤckliche Gabe, das wahre Schoͤne von dem bloß Malerischen, was Vielen ihr Leben lang im Sinne steckt, trennen zu koͤnnen. Diese Gabe bestand in einem treuen Gedaͤchtniß fuͤr Leben und Bedeutung der Dinge, in der Freude uͤber ihre Gesundheit und volle Entwicklung, in einer Freude, welche den aͤußern Formenreichthum vergessen kann, der oft eigentlich mehr ein Baro¬ ckes als Schoͤnes ist. So war er im Stande, einen maͤchtig in den Himmel strebenden Tannen¬ baum mit frohem Auge zu betrachten, waͤhrend ein Anderer denselben sogleich auf die Kunst be¬ zog und die stoͤrende steife Linie hinweg wuͤnschte und irgend einem recht zerrissenen verkruͤppelten Birnbaum nachlief. Das glaͤnzende ungebrochene Gruͤn einer Wiese, eines Buchenwaldes im Fruͤh¬ ling erquickte seinen Blick, indessen Jener den »giftigen Ton« beklagte und ein Stuͤck faulen Sumpf bewunderte. In dieser Weise, die Natur zu ergreifen, war er uͤber das malerische Ver¬ staͤndniß hinaus zum allgemeinen Dichterischen zuruͤck gelangt, welches vom Anfang an in jedem Menschen liegt, und dieses zeigte ihm auch noch etwas Schoͤnes, wo der Maler darbte. Deswegen ließ Heinrich auch jetzt seine Augen schweifen, links und rechts vom Wege, und guter Laune wurde in einem ansehnlichen Dorfe Halt gemacht. Der arme fahrende Schuͤler sah sich an den runden Sondertisch des Gasthauses ver¬ setzt und begann eben, still auf seinen Teller schauend, an die heimathliche Mittagstafel zu denken, als ein herrschaftlicher Wagen mit Wap¬ pen und Bedienten heranfuhr und seine Inhaber unter großem Geraͤusch der Wirthsleute in die Stube traten. Es waren eine schoͤne Dame von etwa dreißig, ein noch schoͤneres Maͤdchen von funfzehn Jahren und ein großer feiner Herr im besten Mannesalter, welcher von dem Wirth un¬ terthaͤnigst Herr Graf genannt wurde. Diese Umstaͤnde waren hinreichend, um fuͤr den uner¬ fahrenen Heinrich ein kleines Abenteuer zu sein. Obgleich er sich gegen allen ungebuͤhrlichen Re¬ spect gewappnet fuͤhlte, konnte er doch nicht um¬ hin, einige neugierige Blicke nach diesen uͤber¬ buͤrgerlichen Wesen hinzuwerfen, von denen er noch Keines in der Naͤhe gesehen hatte und die jetzt am gleichen Tische Platz nahmen. Das nahe Rauschen und Knistern der seide¬ nen Gewaͤnder machte ihn befangen und behaglich zugleich, und waͤhrend er sich mit seinen Haͤnden und seinem Eßwerkzeuge moͤglichst enge zusam¬ menhielt, haͤtte er sich doch um keinen Preis ganz von seinem Plaͤtzchen hinweg locken lassen; denn wie zwei Fruͤhlingssonnen ruhten die offenen kindlichen Augen des jungen Maͤdchens auf ihm. Er wagte auch bald das zweite Paar Blicke auszusenden, welche diesmal auf die aͤltere Dame trafen, wie sie ihn mit einem eiskalten, merkwuͤr¬ digen Gesichte ansah und gar nicht zu bemerken schien, daß er sie ebenfalls betrachtete. Nachdem sie den rothgewordenen Heinrich eine Weile an¬ gesehen hatte, wandte sie ihre Augen wieder von ihm, wie wenn sie nur auf einem Krug oder einem Stuhl geruht haͤtten, ohne irgend einen jener feinen Uebergaͤnge, welche artigen und ruͤck¬ sichtsvollen Leuten in solchen Faͤllen schnell zu Gebote stehen. Diese Augengrobheit bewirkte, daß er von nun an nicht mehr aufsah und sich bestrebte, so bald als moͤglich vom Tische zu kommen. In diesem Bestreben schien ihn ein allerliebstes Bologneserhuͤndchen unterstuͤtzen zu wollen, welches, auf dem Tische umher laufend, ploͤtzlich vor seinem Teller ein Maͤnnchen machte. »Ach, sieh den kleinen Schelm!« rief die Dame mit kindlicher Freude; Heinrich hielt dem Thiere unwillkuͤrlich ein Stuͤckchen Kuchen hin, da rief sie dasselbe sogleich zuruͤck, und als es nicht kam, ergriff sie es unwillig beim Pelze und setzte es vor sich hin. »Willst du wohl da bleiben, du Landstreicher?« sagte sie, als der Graf hinzutrat und bemerkte: »Aber, Emilie, thu' doch den Hund vom Tisch, wir sind ja nicht allein!« Emilie aber entgegnete mit einer unnachahmlichen Unbe¬ fangenheit: »Ach Gott, das arme Thierchen wird doch Niemanden geniren?« Jetzt erst merkte Heinrich die neue Ungezogenheit und wollte diese uͤbermuͤthige Person heimlich mit irgend einem Schimpfworte bedienen, als die Kleine das Huͤnd¬ chen auf den Schooß nahm und mit ihren feinen Haͤndchen in festen Banden hielt. Zugleich trat der Herr zu ihm und redete ihn an: »Mein Herr, ich habe so eben von Ihrem Kutscher vernommen, daß wir den gleichen Weg reisen. Auch ich bin hierher gekommen, um mit¬ telst der Post bis zur naͤchsten Eisenbahnstation zu gelangen. Da Sie aber ganz allein sind, so haben Sie vielleicht nichts dagegen, wenn ich mich zu Ihnen geselle? denn ich ziehe die gemuͤth¬ liche Kutsche bei diesem Wetter dem dumpfen Postwagen vor: auch mein Gepaͤck, welches nicht betraͤchtlich ist, duͤrfte noch neben dem Ihrigen Platz finden.« Heinrich erwiederte etwas unbeholfen, daß er gar nichts zu verfuͤgen haͤtte, indem es dem Kutscher frei staͤnde, so viel Passagiere aufzuneh¬ men, als er unterbringen koͤnne. Die große Dame hingegen rief: »Du wirst Dich doch nicht in den alten Rumpelkasten setzen wollen, mit dem schmutzigen Fuhrmann auf dem Bock? Nein, da dank' ich dafuͤr!« »Wenn Du ein Herz fuͤr mich hast, liebe Schwester,« sagte der Herr, »so wuͤnschest Du mir vielmehr Gluͤck dazu, daß ich einige Stunden lang die freie Luft und das schoͤne Wetter genie¬ ßen kann!« »Gut, daß wir diesmal nicht mitreisen, sonst wuͤrdest Du uns am Ende noch zwingen, mit einzusitzen!« »Ebenso wenig, als ich Euch zumuthen wuͤrde, die Post zu gebrauchen!« »Zur Strafe werden wir Deine glorreiche Abfahrt aber auch nicht abwarten, sondern sogleich zuruͤckfahren!« »Das kann ich auch gern erlauben; denn dieser Herr und ich werden uns unmittelbar nach Euch auf den Weg machen.« Waͤhrend dieses Gespraͤches hatte sich zwischen Heinrich und dem jungen Daͤmchen ein artiger stummer Verkehr entsponnen. Das Huͤndchen auf ihrem Schooße blickte bestaͤndig nach dem Stuͤck¬ chen Kuchen hin, welches verlassen und unerreich¬ bar auf dem Tische lag, das Maͤdchen langte danach, Heinrich anblickend, wie um Erlaubniß zu bitten, konnte es aber nicht erreichen, so daß er es ihr naͤher hinschob. Der Hund mußte nun seine Kuͤnste machen, ehe er den Kuchen erhielt, Heinrich legte ein anderes Stuͤck auf die neutrale Mitte des Tisches, von wo es das freundliche Kind wegholte, und so ging es fort, bis der Vorrath verzehrt war. Dabei hatte sie den Fremden nicht mehr angesehen, jedoch so laut und froͤhlich zu dem Thierchen gesprochen und die Haͤnde so fest und traulich nach dem Backwerke bewegt, daß er sich wohl als zur Gesellschaft ge¬ hoͤrig betrachten durfte, und er erwiederte auch diese Freundlichkeit durch die groͤßte Stille und Bescheidenheit. Als der Graf nun die Damen nach dem Wagen hinaus fuͤhrte, um dort von ihnen Abschied zu nehmen, gruͤßte die Kleine un¬ ter der Thuͤre Heinrich ganz allerliebst und dieser machte dem unerwachsenen Kinde ein so ernsthaf¬ tes Compliment, als wenn er die ehrwuͤrdigste Matrone vor sich gehabt haͤtte. Indessen hatte sich im Gastzimmer eine Ge¬ sellschaft von sechs bis sieben Maͤnnern eingefun¬ den, saͤmmtlich mit runden vollen Gesichtern und blonden Schnurrbaͤrten verschiedensten Schnit¬ tes. Sie trugen graue Jagdroͤcke mit gruͤnen Aufschlaͤgen und einige waren mit Sporen verse¬ hen. Bald hatte Jeder einen schaͤumenden Krug Bier vor sich, welches, nebst einer beabsichtigten Kegelpartie, auch der Hauptinhalt des lauten Gespraͤches war, aus welchem es sich weiter er¬ gab, daß saͤmmtliche Gesellschaft aus Gerichts¬ assessoren, Forstleuten, Steuerbeamten und der¬ gleichen bestand; auch ein Physikus war dabei. Aeußerlich konnte man sie nicht unterscheiden, weil alle gleich ruͤstig und forstmaͤßig aussahen, und Heinrich betrachtete sie mit Wohlgefallen und gestand sich, daß diese sporenklirrenden Be¬ amten in ihren Jagdtrachten sich keck und male¬ risch ausnaͤhmen im Gegensatz zu den nuͤchternen und friedlichen Wuͤrdetraͤgern in den Doͤrfern sei¬ nes Vaterlandes. Die Maͤnner sprachen viel von I . 5 Buͤchsen und Kugeln und er schrieb ihnen des¬ wegen auch einen gehoͤrigen Verstand zu, von seiner Heimath her gewohnt, denselben meistens bei guten Schuͤtzen und wehrhaften Leuten zu finden. Ueber diesen Betrachtungen hatte er acht¬ los den Kopf bedeckt, um sich das Anlegen seines Mantels, das Bezahlen seiner Zeche u. dergl. bequemer zu machen und naͤherte sich schon der Thuͤre, als einer der Herren vor ihn hin¬ trat und ihm die Muͤtze vom Kopfe nahm mit den Worten: »Wenn Sie nicht wissen, mein Herr, was hier zu Lande Sitte ist, so ist man genoͤ¬ thigt, es Ihnen deutlich zu zeigen!« — Heinrich sah ganz verbluͤfft auf den Redner, dann auf die großen Bierkruͤge und in der braunen Stube umher; seine Augen glitten aber ab von den hoͤhnischen Gesichtern, auf welche sie trafen und die darauf hinwiesen, daß diese Scene das Resul¬ tat einer foͤrmlichen, vorhergehenden Berathung war; denn alle Genossen des Angreifers standen im Kreise um ihn herum. Jetzt erst wurde er feuerroth und stammelte zornig: »Wie koͤnnen Sie sich unterstehen —«, dabei hob er seine Muͤtze vom Boden auf, drehte sie krampfhaft zusammen und hatte nicht uͤbel Lust, den Mann damit in's Gesicht zu schlagen. Zugleich riefen verschiedene Stimmen: »Sein Sie ruhig, oder man wird Sie hinaus werfen!« »Ich ersuche Sie, das bleiben zu lassen, meine Herren!« sagte der Graf, welcher hereinkommend Alles mit angesehen hatte, mit entschiedener Stimme und trat neben Heinrich. »Wenn hier Jemand,« fuhr er fort, »keine Lebensart besitzt, so ist es jedenfalls nicht dieser junge Mann, und insbesondere verwahre ich mich dagegen, daß es deutscher Sitte gemaͤß sei, einen harmlosen Rei¬ senden durch Thaͤtlichkeiten zu belehren!« Die Anwesenden hatten sich schon stillschwei¬ gend zuruͤckgezogen und der dicke Wirth, welcher vorhin keine Miene gemacht hatte, den Fremden in seinem Hause zu beschuͤtzen, war in angstvoller Verlegenheit. Nur der Anfuͤhrer der Beamten¬ gesellschaft erwiederte mit unsicherer Stimme: »Wenn wir von einem Fremden die gebuͤhrliche Achtung verlangen, so geschieht es in Ruͤcksicht auf des Koͤnigs Majestaͤt, dessen Stellvertreter wir sind.« »Es liegt schwerlich im Wunsche des Koͤnigs, daß seine Beamten sich hinter den Bierkrug la¬ gern, um daruͤber zu wachen, daß jeder Reisende im Lande den Hut abzieht!« Damit faßte der Graf seinen Schuͤtzling unter den Arm und ging mit ihm hinaus. Die Beamten liefen in großer Verwirrung in der Stube umher und ergriffen stumm und grim¬ mig ihre Kruͤge; sie schaͤmten sich nicht vor ein¬ ander, sondern vor den Wirthsleuten, welche Zeugen ihrer Demuͤthigung gewesen waren. Nur Einer sagte: »Das war wieder einmal Wasser auf seine Muͤhle, da konnte er seine merkwuͤrdi¬ gen Launen wieder auslassen! Schade, daß er mit seinem Spleen nicht in England zu Hause ist!« »Ich glaube, er wuͤrde noch lieber nach Ame¬ rika gehoͤren,« versetzte ein Anderer mit pfiffigem Ausdruck. — In dem alten Wagen, als derselbe auf der Landstraße dahin fuhr, saßen die beiden Neube¬ kannten anfangs schweigend und verstimmt. Hein¬ rich aus guten Gruͤnden; denn die leiseste Be¬ ruͤhrung einer fremden maͤnnlichen Hand in feind¬ licher Absicht jagt das Blut immer in eine hef¬ tige Wallung und hat schon oft genug Mord und Todtschlag zur Folge gehabt; sein Begleiter hingegen mochte etwas aͤrgerlich daruͤber sein, daß er in so kurzer Zeit einen unscheinbaren Frem¬ den wiederholt gegen die Ungezogenheit der eige¬ nen Umgebung hatte schuͤtzen muͤssen, wozu noch die Ungewißheit kam, ob diese in Beziehung auf den inneren Werth des Schuͤtzlings wohl auch nothwendig sei? Wie um sich hierin zu versi¬ chern, eroͤffnete er endlich das Gespraͤch, indem er Heinrich nach seinem Herkommen befragte. Als dieser erwiederte, daß er Schweizer sei und zum ersten Mal in Deutschland reise, versetzte der Graf: »Und sind Sie uͤberrascht durch die vor¬ rige Toͤlpelei, oder finden Sie irgend eine vor¬ gefaßte Meinung bestaͤtigt?« »Ich soll eigentlich nicht uͤberrascht sein, wenn ich bedenke, daß jedes Volk seine eigenen Sitten hat, welche kennen zu lernen der Fremde wohl¬ thut. Ich erinnere mich jetzt wirklich, daß in meiner Heimath dem Reisenden aͤhnliche Unan¬ nehmlichkeiten widerfahren, indem dort das Land¬ volk, wenn es von Begegnenden nicht gegruͤßt, oder sein Gruß nicht erwiedert wird, dem Feh¬ lenden Schimpf und Spott nachsendet. Dabei herrscht eine so genaue Etiquette, daß der An¬ kommende oder Voruͤbergehende denjenigen, der an einer Stelle sitzt oder steht, zuerst begruͤßen muß, wenn er nicht ausgescholten werden will.« »Da scheint mir aber doch eine schoͤnere Sitte allgemeiner Freundlichkeit und Zutraulichkeit zu Grunde zu liegen, als die tolle Respectwuth un¬ serer Honoratioren ist. Oder ist es vielleicht die gleiche moralische Triebfeder, indem Ihr Land¬ volk sich als republikanischer Souverain respectirt wissen will?« »Durchaus nicht! Das Volk bei uns hat nicht noͤthig, sich seine Bedeutung durch solche Dinge zu vergegenwaͤrtigen; es athmet seine Le¬ bensluft, ohne daran zu denken: der Herzschlag seines politischen Lebens gehoͤrt eben sowohl zu den unwillkuͤrlichen Bewegungen, als derjenige seines physischen Koͤrpers. Auch sind Leute, welche eine absolute persoͤnliche Nichtsnutzigkeit und Hohlheit fortwaͤhrend durch ihren uͤberkommenen Antheil an der buͤrgerlichen Souverainitaͤt uͤber¬ tuͤnchen wollen, nicht besonders angesehen. So mag es kommen, daß das Volk auf den Straßen den Postzug eines durchreisenden gekroͤnten Hauptes mit kindlicher Verwunderung begafft und, wenn es etwas recht Großes und Reiches bezeichnen will, die Worte Koͤnig und koͤniglich so wohl an¬ wendet, wie alle uͤbrige Welt, oft mit solcher Naivetaͤt, daß der geschulte Democrat sich darob aͤrgern mag.« »Wenn Sie hierin noch die gluͤckliche Stim¬ mung ihres Volkes theilen, werden Sie sich also nicht unbequem fuͤhlen waͤhrend Ihres Aufent¬ haltes in einer Monarchie?« »So lange ich die Gewißheit habe, zuruͤckzu¬ kehren, sobald ich will, wohl nicht. Indessen muß ich Ihnen gestehen, mein Herr, daß doch schon eine sonderbare Stimmung anfaͤngt, sich meiner zu bemaͤchtigen, und der heutige Auftritt machte dieselbe nur klarer. Es ist mir zu Muthe, wie wenn irgend einer zarten und bisher unbe¬ ruͤhrten Saite meines Innern ploͤtzlich Gewalt angethan waͤre; jeder Stein, jeder Baum scheint hier einen Stempel zu tragen, noch neben dem der Gottheit und der Natur. Jedes Postschild scheint mir zuzurufen: Du mußt Dich auch zeich¬ nen lassen, wie ich, hier ist Alles das erste und letzte Eigenthum eines einzelnen Menschen! Und je weniger das Wort in Wirklichkeit wahr ist, besonders in einer gesetzlich eingerichteten Monar¬ chie, desto mehr kommt es mir als ein unwuͤrdi¬ ger Spaß, als ein blauer Dunst vor, den man sich mit ernsthaftem Gesicht vormacht: je weniger ich, wenn ich recht thue, nach Jemandem zu fra¬ gen habe, desto laͤstiger ist es mir, wenn ich mich doch so anstellen soll, vor einer Namenschiffer den Hut abzuziehen und den Nachbar dabei zu versichern, daß dies mein hoͤchster Ernst sei. Ei¬ gentlich regieren uͤberall doch diejenigen, welche die noͤthige Einsicht und Ueberlegenheit im Guten wie im Boͤsen dazu haben; manchmal ist es der Fuͤrst, manchmal der letzte Hirtensohn seines Rei¬ ches, zuletzt fast immer die oͤffentliche Meinung oder die Mehrheit, und Angesichts dieser That¬ sache wird wohl nur darum die Republik in der weiten Welt fast unmoͤglich, weil sie von ihren Verkuͤndigern anstatt zur Sache der kuͤhlen Ver¬ nunft und Lebenspraxis, zur Sache des Gefuͤhls, zum religioͤsen Ideal gemacht wird, welches wie¬ der der Heuchelei, der Schwaͤrmerei und einem politischen Pfaffenthum Thuͤr und Thor oͤffnet.« »Ei, Sie sprechen ja wie ein Buch, junger Freund! Sie sind wohl ein eifriger Politiker?« »Das gerade nicht mehr, als noͤthig ist! Ich habe aber als ein Buchrepublikaner daruͤber nach¬ gedacht, daß mein Volk so wenig Aufhebens macht mit seiner Republik, waͤhrend es sich wahr¬ haft und nicht voruͤbergehend ungluͤcklich fuͤhlte, wenn es durch irgend eine Uebermacht bezwun¬ gen, auch von dem besten Fuͤrsten zu besitzen und zu regieren versucht wuͤrde. Und je mehr sich dieses Volk von uns, die wir Buͤcher lesen und den weltgeschichtlichen Begriff der Republik ken¬ nen, unterscheidet, desto liebenswuͤrdiger ist es in seiner Duldsamkeit gegen Andersglaͤubige, gegen monarchische Unterthanen, denen es nicht das 5 * brutale car tel est notre plaisir entgegenzuschreien braucht, welches der bornirte Royalist hervorkehrt, wenn er uͤber seine Anhaͤnglichkeit an eine Dy¬ nastie, von der er in seinem Leben noch keinen kleinen Finger gesehen hat, keine Rechenschaft weiter geben kann. Ich fuͤr mich aber kann mir bereits vorstellen, wie es Einem ist, der in der Tuͤrkei reist, dem Drehtanze eines Derwisches zusehen und sich wohl huͤten muß, den Mund zu verziehen.« »Auf dieses wenig schmeichelhafte Gleichniß,« sagte der Graf laͤchelnd, »kann ich Ihnen ent¬ gegnen, daß ein Royalist vielleicht in aͤhnlicher Lage ist auf einer Reise durch die Schweiz und daß demselben die dortigen Zustaͤnde sehr barba¬ risch, zufaͤllig und roh vorkommen duͤrften!« »Dagegen,« erwiederte Heinrich ebenfalls la¬ chend, »koͤnnte ich nur das alte Spruͤchwort hal¬ ten, welches am Ende der besprochenen Toleranz meiner gemeinen Landsleute zu Grunde liegt: uͤber den Geschmack ist nicht zu streiten!« »Da haben Sie ganz Recht,« sagte Heinrichs Begleiter und gab ihm die Hand, »auch bin ich vielleicht am wenigsten im Fall, mit Ihnen zu streiten. Und was fuͤhrt Sie denn, wenn ich fragen darf, nach unserm monarchischen Deutsch¬ land? Dem Anscheine nach sind Sie entweder Student oder ein junger Kuͤnstler?« »Beides zusammen, wenn Sie wollen! letzte¬ res im engeren Sinne, ersteres uͤberhaupt, inso¬ fern ich mir in der Mitte meines großen Stamm¬ volkes selbst seine geistigen Errungenschaften an¬ eignen und diejenigen allgemeinen Grundlagen und Anschauungen erwerben moͤchte, welche nur bei großen Sprachgenossenschaften zu finden sind, und ohne welche es der Einzelne zu nichts Gan¬ zem und Hoͤherem bringen kann.« »Wie, Eure schweizerische Nationalitaͤt genuͤgt Euch also doch nicht fuͤr den Hausgebrauch in allen Dingen? Sie gibt Euch keine Ideen fuͤr ein hoͤheres Beduͤrfniß?« »Jedes Ding hat zwei Seiten, mein Herr! und, wie ich glaube, auch die Nationalitaͤt oder was man so nennen mag. Man kann ein sehr guter Hausvater, ein anhaͤnglicher, pflichtgetreuer Sohn sein und doch das entsprechende Gebiet fuͤr verschiedene Beduͤrfnisse und Faͤhigkeiten außer dem Hause suchen und finden. Und wie die Fa¬ milie die sicherste, trostreichste Zuflucht ist nach jeder Abschweifung und Irrfahrt, so ist das Vater¬ land, wenn seine Graͤnzen einen natuͤrlichen Zu¬ sammenhang haben, und wenn es zudem noch den sicheren Schooß eines aufgeweckten und ver¬ gnuͤglichen buͤrgerlichen Lebens bildet, der erste und letzte Zufluchtsort fuͤr alle seine besseren Kin¬ der, und je ungleicher diese sich an Stamm und Sprache manchmal sind, desto fester ziehen sie sich, nach gewissen Gesetzen, gegenseitig an, freund¬ lich zusammengehalten durch ein gemeinsam durch¬ gekaͤmpftes Schicksal und durch die erworbene Einsicht, daß sie zusammen so, wie und wo sie nun sich eingerichtet haben, am gluͤcklichsten sind. Eine solche Lage ist die unsrige. Um einen ur¬ alten Kern hat sich nach und nach eine mannig¬ faltige Genossenschaft angesetzt, welche die Ueber¬ lieferungen desselben, so weit sie in ihrer Bedeu¬ tung noch lebendig sind, mit aufnahm und sich bestrebt, sie fortwaͤhrend in gangbare Muͤnze um¬ zusetzen. Aehnliche Neigungen in der durchweg aͤhnlichen, schoͤnen Landschaft, eine Menge nachbar¬ licher Beruͤhrungen bei der gemeinsamen Zaͤhigkeit, den Boden unabhaͤngig zu erhalten, haben ein von jedem andern Nationalleben unterschiedenes Bundesleben hervorgebracht, welches allen seinen Theilnehmern wieder einen gleichmaͤßigen Charak¬ ter bis in die feineren Schattirungen der Sitten und Sinnesart verliehen hat. Und je mehr wir uns in diesem Zustande geborgen glauben vor der Verwirrung, die uns uͤberall umgibt, je mehr wir die traͤumerische Ohnmacht der altersgrauen großen Nationalerinnerungen, welche sich auf Sprache und Farbe der Haare stuͤtzen, rings um uns zu erkennen glauben, desto hartnaͤckiger hal¬ ten wir an unserem schweizerischen Sinne fest. So kann man wohl sagen, nicht die Nationalitaͤt gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in die¬ sen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigen¬ thuͤmliche Nationalitaͤt zu ihrer Verkoͤrperung ge¬ schaffen.« »Ich kann mich nun,« versetzte der Graf, »allerdings schon leichter in dieses sonderbare Nationalgefuͤhl hineindenken, muß aber um so eher darauf bestehen, daß die Schweizer folge¬ rechter Weise auch einer eben so eigenthuͤmlichen, aus ihren Verhaͤltnissen erwachsenden Geistescul¬ tur beduͤrfen sollten!« »Das ist eben die andere Seite! Es gibt zwar Viele meiner Landsleute, welche an eine schwei¬ zerische Kunst und Literatur, ja sogar an eine schweizerische Wissenschaft glauben. Das Alpen¬ gluͤhen und die Alpenrosenpoesie sind aber bald erschoͤpft, einige gute Schlachten bald besungen, und zu unserer Beschaͤmung muͤssen wir alle Trinkspruͤche, Mottos und Inschriften bei oͤffent¬ lichen Festen aus Schillers Tell nehmen, welcher immer noch das Beste fuͤr dieses Beduͤrfniß lie¬ fert. Und was die Wissenschaft betrifft, so be¬ darf diese gewiß noch weit mehr des großen Welt¬ marktes und zunaͤchst der in Sprache und Geist verwandten groͤßeren Voͤlker, um kein verlorener Posten zu sein. Der franzoͤsische Schweizer schwoͤrt zu Corneille, Racine und Moli è re, zu Voltaire oder Guizot, je nach seiner Partei, der Tessiner glaubt nur an italienische Musik und Gelehrsamkeit und der deutsche Schweizer lacht sie beide aus und holt seine Bildung aus den tiefen Schachten des deutschen Volkes. Alle aber sind bestrebt, Alles nur zur groͤßeren Ehre ihres Landes zuruͤckzubringen und zu verwenden, und Viele gerathen sogar uͤber diesem Bestreben in ein gegen die Quellen undankbares und laͤcher¬ liches Zopfthum hinein.« »Es ist vielleicht,« wandte Heinrichs Beglei¬ ter ein, »ein unbescheidener Mißbrauch, welchen ich mit einem wackeren Volke treiben moͤchte, wenn ich auf meiner alten Behauptung beharre und sogar wuͤnsche, daß Ihr es einmal versuchs¬ weise darauf anlegtet, in allen Dingen ganz selb¬ staͤndig und naturwuͤchsig zu sein und ganz auf Eurem Boden eine eigene Weisheit zu pflegen. Dem Lande, wie seiner Verfassung eigenst ange¬ messen, muͤßte gewiß etwas Frisches und fuͤr uns Andere Erbauliches zu Stande kommen. Sie wuͤrden vielleicht umkehren, junger Mann, wenn Sie wuͤßten, wie sich bei uns großen Nationen die Bildung im ewigen Kreise herumdreht, wie einflußlos unsere Heroen, die in Jedermanns Munde sind, an unserem innersten Herzen vor¬ uͤbergehen, und wie bis zur dumpfen Verzweif¬ lung sich Ungeschmack und Unsinn jeden andern Tag wieder so breit macht, als waͤre er nie uͤber¬ wunden worden!« Mit diesen Worten stieß der Graf einen ziem¬ lichen Seufzer aus; Heinrich aber schuͤttelte den Kopf und sagte: »Nein, nein! erstens thun Sie sich selbst un¬ recht und zweitens koͤnnen wir uns doch nicht abschließen! Zu einer guten patriotischen Existenz braucht es jederzeit nicht mehr und nicht weniger Mitglieder, als gerade vorhanden sind. Mit den Culturdingen ist es anders; da sind vor Allem gute Einfaͤlle, so viel als immer moͤglich, noth¬ wendig, und daß deren in vierzig Millionen Koͤpfen mehrere entstehen, als nur in zwei Mil¬ lionen, ist außer Zweifel!« »Das ist freilich ein praktischer und triftiger Grund!« sagte der Graf mit herzlichem Lachen, »ich will Ihnen ferner auch Nichts einwenden und wuͤnsche Ihrer Jugend wie Ihren Hoffnun¬ gen das beste Gedeihen. Es sollte mich recht freuen, spaͤter einmal zu erfahren, wie Sie Ihre Rechnung befunden haben. Ich verlasse mich auch darauf; denn wenn man mit so klarem, schoͤnem Willen in die Welt geht, so wird man gewiß etwas aus sich machen!« Da die friedlich wackelnde Kutsche an einem Haltorte der Eisenbahn angekommen war und in demselben Augenblicke auch ein maͤchtiger Wagen¬ zug heran pfiff, so stiegen sie nun aus und nah¬ men Abschied, indem der Graf, seinen jungen Ge¬ faͤhrten mit fast wehmuͤthiger Theilnahme ansehend, ihm noch ein freundliches »auf's Wiedersehen« nachrief. Heinrich draͤngte sich noch mit seinem Gepaͤcke unter den Leuten umher, um seinen Platz in der dritten Klasse aufzufinden, waͤhrend der vornehme Herr schon in einem bequemen und Praͤchtigen Coupé der ersten Klasse sich ganz allein ausstreckte. Er rutschte aber unruhig hin und her und sagte zu sich selbst: Wunderliches Verhaͤltniß! da wuͤrde ich nun gern mit diesem muntern Jungen weiter plaudern, aber der Unter¬ schied unserer Geldbeutel reißt uns aus einander und ich darf ihm keinen Platz bei mir anbieten, waͤhrend ich zu weichlich bin, mich unter das I. 6 Volk hinaus zu setzen! Doch was hindert mich eigentlich daran? Und schon wollte er wieder aus¬ steigen, als der Zug sich mit einem grellen Pfiff in Bewegung setzte und bald uͤber das Feld hin¬ glitt, die Sonne im Ruͤcken lassend. Dieselbe naͤherte sich bei der Ankunft in der großen Hauptstadt, dem Reiseziele Heinrichs, schon ihrem Untergange und vergoldete mit ihren letzten Strahlen die weite Ebene sammt der Stadt mit ihren Steinmassen und Baumwipfeln. Hein¬ rich hatte kaum seine Sachen in einem Gasthofe untergebracht, so lief er ungeduldig wieder auf die Straße und stuͤrzte sich unter das Wogen und Treiben der Stadt. Da gluͤhten im letzten Abendscheine griechische Giebelfelder und gothische Thuͤrme; Saͤulen der verschiedensten Art tauchten ihre geschmuͤckten Haͤupter noch in den Rosenglanz, helle gegossene Bilder, funkelneu, schimmerten aus dem Hell¬ dunkel der Daͤmmerung, indessen buntbemalte offene Hallen schon durch Laternenlicht erleuchtet waren und von geschmuͤckten Frauen durchwan¬ delt wurden. Steinbilder ragten in langen Rei¬ hen von hohen Zinnen in die Luft, Koͤnigsbur¬ gen, Palaͤste, Theater, Kirchen bildeten große Gruppen zusammen, Gebaͤude von allen moͤgli¬ chen Bauarten, alle gleich neu, sah man hier ver¬ einigt, waͤhrend dort alte geschwaͤrzte Kuppeln, Rath- und Buͤrgerhaͤuser einen schroffen Gegen¬ satz machten. Es herrschte ein aufgeregtes Leben auf den Straßen und Plaͤtzen. Aus Kirchen und maͤchtigen Schenkhaͤusern erscholl Musik, Gelaͤute, Orgel- und Harfenspiel; aus mit allerlei mysti¬ schen Symbolen uͤberladenen Kapellenthuͤren dran¬ gen Weihrauchwolken auf die Gasse; schoͤne und fratzenhafte Kuͤnstlergestalten gingen schaarenweis voruͤber, Studenten in Schnuͤrroͤcken und silber¬ gestickten Muͤtzen kamen daher, gepanzerte Reiter mit glaͤnzenden Stahlhelmen ritten gemaͤchlich und stolz uͤber einen Platz, uͤppige Courtisanen mit blanken Schultern zogen nach hellen Tanzsaͤlen, von denen Pauken und Trompeten herniedertoͤn¬ ten; alte dicke Weiber verbeugten sich vor duͤnnen schwarzen Moͤnchen, welche zahlreich umhergingen; unter offenen Hausfluren saßen wohlgenaͤhrte Spießbuͤrger hinter gebratenen Gaͤnsen und maͤch¬ 6 * tigen Kruͤgen und genossen den lauen Fruͤhlings¬ abend; glaͤnzende Wagen mit Mohren und Jaͤgern fuhren vorbei und wurden aufgehalten durch einen ungeheueren Knaͤuel von Soldaten und Hand¬ werksburschen, welche sich die Koͤpfe zerblaͤueten. Es war ein unendliches Gesumme uͤberall und ein seltsamer Uebergang der katholischen Festan¬ dacht und der kirchlichen Glockentoͤne in die laute Lustbarkeit des zweiten Osterabends. Heinrich hatte sich aus dem Laͤrm verloren in eine lange und weite Straße, welche ganz von maͤchtigen neuen Gebaͤuden besetzt war. Steinerne Bildsaͤulen standen vor ernsten byzantinischen Fronten, die still und hoch in den dunkelnden Himmel hinauf stiegen, bald dunkelroth gefaͤrbt, bald blendend weiß, Alles wie erst heute und zur Mustersammlung fuͤr lernbegierige Schuͤler auf¬ gestellt. Da und dort verschmelzten sich die alten Zierarten und Formen zu neuen Erfindungen, die verschiedensten Gliederungen und Verhaͤltnisse stritten sich und verschwammen in einander und loͤsten sich wieder auf zu neuen Versuchen; es schien, als ob die tausendjaͤhrige Steinwelt auf ein maͤchtiges Zauberwort in Fluß gerathen, nach einer neuen Form gerungen haͤtte und uͤber dem Ringen in einer seltsamen Mischung wieder erstarrt waͤre. Wie zum Spotte ragte tief im Hinter¬ grunde eine colossale alte Kirche im Jesuitenstyle uͤber alle diese Schoͤpfungen empor und die tollen Schnoͤrkel und Schlangenlinien derselben schienen in dem schwachen Mondlichte auf und nieder zu tanzen. Das Getoͤse der inneren Stadt summte nur von ferne in die einsame, stille Straße her¬ ein, man hoͤrte fast keines Menschen Tritt gehen, nur ein hoher, magerer Mann kam mit langen Schritten und wunderlichen Bewegungen durch das ersterbende Zwielicht daher und trat, als Heinrich ihn zerstreut ansah, ploͤtzlich auf densel¬ ben zu und schlug ihm die Muͤtze vom Kopfe, daß sie auf den Boden fiel. Es lag aber etwas Schwaͤrmerisches und gutmuͤthig Edles in den Augen dieses Mannes, so daß Heinrich verlegen dastand, sich hinter den Ohren kratzte und nicht wußte, was nun wieder zu thun sei. Der Fremde rief ihm aber mit lauter Stimme zu: »Warum gaffen Sie mich an und gruͤßen nicht? Was ist das fuͤr eine Ungezogenheit?« Heinrich sagte: »Ich kenne Sie ja gar nicht, Herr!« »So? Wissen Sie, ich bin der Koͤnig! Artig sein, Respect ha¬ ben, junger Mann!« und ohne eine fernere Rede abzuwarten, schritt er rasch von dannen. Heinrich hob seine Muͤtze vom Boden, schlug den Staub ab und suchte eiligst seine Herberge auf. Viertes Kapitel. Am andern Tage handtierte Heinrich Lee be¬ reits in einem gemietheten Zimmer umher und war bemuͤht, seine Siebensachen in den verschie¬ denen Hausgeraͤthen unterzubringen. Sein ge¬ waltiger altvaͤterlicher Holzkoffer stand mitten auf dem Boden und schien sich nicht erschoͤpfen zu wollen; denn außer dem reichlichen Vielerlei, wo¬ mit ihn die Mutter fuͤr des Leibes Beduͤrfniß versorgt hatte, fuͤhrte er auch einen ziemlichen Vorrath an sonstigen Dingen mit, von denen er sich nicht hatte trennen koͤnnen, obschon ein guter Theil keinen andern Werth hatte, als daß Hein¬ rich bisher die Sachen taͤglich vor Augen und in Haͤnden sah. Er kannte den Zustand noch nicht, wo man jedes entbehrliche Buch, jedes Kaͤstchen oder Schaͤchtelchen aus alter Zeit, Briefschaften, sogar musikalische Instrumente, die Einem fast an die Hand gewachsen sind, uͤber Bord wirft und starr und aͤngstlich seine Zukunft suchend, welche immer zuruͤckzuweichen scheint, waͤhrend sie fort¬ waͤhrend um uns herumschleicht und hinter unserm Ruͤcken unbemerkt zur Vergangenheit wird, mit dem zusammengepreßten Gepaͤcke eines Couriers Jahre lang dahin lebt, in Wohnungen, die eben so knapp eingerichtet sind, ein Bett, ein Tisch, ein Sopha, vier Stuͤhle, und das Alles in der jaͤmmerlichen Eleganz, wie sie der Laden eines Troͤdlers oder Moͤbelverleihers darbietet und der Geschmack einer hungrigen Wittwe zusammenstellt. Da ist keine trauliche Uhr an der Wand, ja kein uͤberzaͤhliges Tischchen am Fenster, kein Blumen¬ stock vor demselben; statt daß klare weiße Vor¬ haͤnge schlicht daruͤberhangen, schlingt sich toll ge¬ wordener rother und gelber Kattun um einen truͤbselig vergoldeten Spieß, welcher schon zwoͤlf¬ mal verkauft und wieder gekauft wurde. Und trotz dieser Armseligkeit hat die einzige Kommode im Nu das Mitgebrachte des fahrenden Bewoh¬ ners verschlungen wie ein Haifisch eine Katze und laͤßt Nichts zu sehen uͤbrig, als hier einen Bogen Briefpapier, dort eine Haarbuͤrste. Es ist ein unerquickliches Leben in dieser baumwollenen Pracht der Miethzimmer, immer den Reisekoffer neben dem Ofen! Die Wohnung jedoch, welche Heinrich gefun¬ den hatte, entsprach mehr seinen mitgebrachten mannigfaltigen Habseligkeiten. Sie war einfach, aber bequem und hatte in ihrer Einrichtung das Ansehen einer seit lange so bestandenen ordent¬ lichen Wohnstube. Die Fenster gingen auf einen stillen Hof, die Sessel an denselben standen noch auf besonderen Erhoͤhungen, und noch ein ande¬ rer behaglicher Sitz zum traͤumerischen Ausruhen versprach die endlich geleerte Arche Noaͤ Heinrichs zu werden, welche er zwischen den Ofen und das Bett hineinschob. Er saß auch schon auf dem soliden Deckel, ausruhend und nachdenklich, wie Einer, der fuͤr den Augenblick nicht weiß, was eigentlich zunaͤchst nun zu beginnen ist. Ohne Empfehlungen und Bekanntschaften in dieser Stadt angekommen, mußte er sich ganz allein zu helfen und nach eigenem Ueberblick und Urtheil seine Thaͤtigkeit zu ordnen suchen. In der Hand hielt er ein einge¬ bundenes Manuscript und blaͤtterte darin umher, als ob er eine Richtschnur oder wenigstens die Anknuͤpfungspunkte fuͤr eine solche herausfinden wollte. Es war die Geschichte seiner bisherigen Jugend, welche er in jugendlicher Subjectivitaͤt und Schreibseligkeit waͤhrend der letzten Zeit vor seiner Abreise niedergeschrieben hatte, um sich eine Art Abschluß und Uebersicht zu bilden. Bis seine neuen Verhaͤltnisse eine bestimmte Gestalt angenommen haben, wollen wir das maͤ¬ ßige Buͤchlein durchlesen, um ihn selbst wie sein ferneres Geschick desto klarer beurtheilen zu koͤn¬ nen. Schon daß er dasselbe geschrieben, ist so bezeichnend, daß auch der Inhalt denjenigen wei¬ ter anregen muß, der uͤberhaupt an unserm Hel¬ den Theil nehmen mag. Eine Jugendgeschichte. Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von einer seit vielen Jahrhunderten verschollenen Familie hat. Niemand weiß mehr, wo einst das Schloß gestanden, von dem man in den Chroniken noch schwache Spuren findet; eben so wenig weiß man, wann der letzte »Edle« dieses Namens gestorben ist; aber das Dorf steht noch da, seelenreich und belebter als je, waͤhrend das halbe Dutzend Fa¬ miliennamen unveraͤndert geblieben ist und fuͤr die zahlreichen, weitlaͤufigen Geschlechter fort und fort ausreichen muß. Der kleine Gottesacker, welcher sich rings an die trotz ihres Alters immer schneeweiß geputzte Kirche schmiegt und niemals erweitert worden ist, besteht in seiner Erde buch¬ staͤblich aus den aufgeloͤsten Gebeinen der voruͤber¬ gegangenen Geschlechter, es ist unmoͤglich, daß bis zur Tiefe von zehn Fuß ein Koͤrnlein sei, welches nicht seine Wanderung durch den mensch¬ lichen Organismus gemacht und einst die uͤbrige Erde mit umgraben geholfen hat. Doch ich uͤber¬ treibe und vergesse die vier Tannenbretter, welche jedesmal mit in die Erde kommen und den eben so alten Riesengeschlechtern auf den gruͤnen Ber¬ gen rings entstammen; ich vergesse ferner die derbe ehrliche Leinwand der Grabhemden, welche auf diesen Fluren wuchs, gesponnen und gebleicht wurde, und also so gut zur Familie gehoͤrt, wie jene Tannenbretter, und nicht hindert, daß die Erde unseres Kirchhofes so schoͤn kuͤhl und schwarz sei, als irgend eine. Es waͤchst auch das gruͤnste Gras darauf, und die Rosen nebst dem Jasmin wuchern in goͤttlicher Unordnung und Ueberfuͤlle, so daß nicht einzelne Staͤudlein auf ein frisches Grab gesetzt, sondern das Grab muß in den Blumenwald hineingehauen werden, und nur der Todtengraͤber kennt genau die Graͤnze in diesem Wirrsal, wo das frisch umzugrabende Gebiet anfaͤngt. Das Dorf zaͤhlt etwa zweitausend Bewohner, von welchen je etwa dreihundert den gleichen Namen fuͤhren; aber hoͤchstens zwanzig bis dreißig von diesen pflegen sich Vetter zu nennen, weil die Familienerinnerungen selten bis zum Urgro߬ vater hinaufsteigen. Aus der unergruͤndlichen Tiefe der Zeiten an das Tageslicht gestiegen, sonnen sich diese Menschen darin, so gut es gehen will, ruͤhren sich und wehren sich ihrer Haut, um wohl oder wehe wieder in der Dunkelheit zu ver¬ schwinden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Wenn sie ihre Nasen in die Hand nehmen, so sind sie sattsam uͤberzeugt, daß sie eine ununterbrochene Reihe von zwei und dreißig Ahnen besitzen muͤs¬ sen und anstatt dem natuͤrlichen Zusammenhange derselben nachzuspuͤren, sind sie vielmehr bemuͤht, die Kette ihrerseits nicht ausgehen zu lassen. So kommt es, daß sie alle moͤglichen Sagen und wunderlichen Geschichten ihrer Gegend mit der groͤßten Genauigkeit erzaͤhlen koͤnnen, ohne zu wissen, wie es zugegangen ist, daß der Gro߬ vater die Großmutter nahm. Alle Tugenden glaubt Jeder selbst zu besitzen, wenigstens dieje¬ nigen, welche nach seiner Lebensweise fuͤr ihn wirkliche Tugenden sind, und was die Missethaten betrifft, so hat der Bauer so gut Ursache, wie der Vornehme, die seiner Vaͤter in Vergessenheit begraben zu wuͤnschen; denn er ist zuweilen eine so wuͤste und wilde Bestie, wie manches andere Menschenkind. Ein großes rundes Gebiet von Feld und Wald bildet ein reiches unverwuͤstliches Ver¬ moͤgen der Bewohner; doch ist es eigentlich nicht ganz rund, indem mancher maͤchtige Acker, manche Zelle Laub- und Nadelholz jenseits der Huͤgel hinunter kuͤhn und naseweis in das Gebiet ande¬ rer Gemeinden eingreift, waͤhrend jene sich gele¬ gentlich durch die gluͤckliche und listige Erwerbung eines diesseitigen Graͤnzstuͤckes raͤchen und daher das Ganze einen so zerfetzten Rand hat, wie ein Bettlermantel. Dieser Reichthum blieb sich von je her so ziemlich gleich; wenn auch hie und da eine Braut einen Theil verschleppt, so unterneh¬ men die jungen Bursche dafuͤr haͤufige Raubzuͤge bis auf acht Stunden weit und sorgen fuͤr hin¬ laͤnglichen Ersatz, so wie dafuͤr, daß die Gemuͤths¬ anlagen und koͤrperlichen Physiognomieen der Gemeinde die gehoͤrige Mannigfaltigkeit bewah¬ ren, und sie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einsicht fuͤr ein frisches Fortgedeihen, als manche reiche Patricier- oder Handelsstadt und als die europaͤischen Fuͤrstengeschlechter. Die Eintheilung dieses Besitzes aber ver¬ aͤndert sich von Jahr zu Jahr theilweise und mit jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkennt¬ lichkeit. Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkom¬ men dieser treiben sich morgen muͤhsam in der Mittelklasse umher, um entweder ganz zu ver¬ armen oder sich wieder aufzuschwingen. Mein Vater starb so fruͤh, daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzaͤhlen hoͤren, ich weiß daher so gut wie Nichts von diesem Manne; nur so viel ist gewiß, daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermoͤglichkeit an seiner engeren Familie war. Da ich nicht annehmen mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei, so halte ich es fuͤr wahrscheinlich, daß sein Vermoͤgen durch eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vet¬ tern, welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß, die, wie die Ameisen krabbelnd, bereits wieder im Schwunge sind, ein gutes Theil der viel zer¬ hackten und durchfurchten Grundstuͤcke an sich zu bringen. Ja, einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kin¬ der wieder arm geworden. Dazumal war es nicht ganz mehr jene er¬ baͤrmliche Schweiz, wie sie Goͤthe im Werther¬ schen Nachlasse geschildert hat, und wenn auch die junge Saat der franzoͤsischen Ideen durch einen ungeheueren Schneefall oͤstreichischer, russi¬ scher und selbst franzoͤsischer Quartierbillets be¬ deckt worden war, so gestattete doch die kluge Mediations-Verfassung einen gelinden Nachsom¬ mer und verhinderte meinen Vater nicht, die Kuͤhe, die er weidete, eines Morgens stehen zu lassen und, einem hoͤheren Triebe folgend, nach der Stadt zu gehen, um ein gutes Handwerk zu erlernen. Von da an verscholl er so ziemlich fuͤr seine Mitbuͤrger; denn nach langen und harten, aber meisterlich bestandenen Lehrjahren fuͤhrte ihn sein Trieb, einen immer kuͤhnern Schwung neh¬ mend, in die Ferne und er durchschweifte als ein geschickter Steinmetz entlegene Reiche. Indessen aber hatte der sanftknisternde Papierblumenfruͤh¬ ling, welcher nach der Schlacht bei Waterloo auf¬ ging, wie uͤberall hin, so auch in die geheimsten Winkel der Schweiz sein blaͤuliches Kerzenlicht verbreitet und der große Dichter haͤtte sich jetzt eher wieder zurecht finden koͤnnen, wenn nicht unterdessen auch sein wackerer Lavater gestorben und mit demselben das letzte Restchen Phantasie aus dem staͤdtischen Zopfthume der Schweizer entflohen waͤre. Auch in meines Vaters Geburts¬ dorf, dessen Bewohner in den neunziger Jahren ebenfalls entdeckt hatten, daß sie seit undenklichen Zeiten mitten in einer Republik lebten, war die ehrwuͤrdige und zugleich muntere Dame Restau¬ ration mit allen ihren Schachteln und Cartons feierlich eingezogen und richtete sich in dem Neste so gut ein, als sie konnte. Schattige Waͤlder, Hoͤhen und Thaͤler mit den angenehmsten Freuden¬ plaͤtzen, ein fischreicher, klarer Fluß und die Wie¬ I. 7 derholung aller dieser guten Dinge in einer wei¬ ten, belebten Nachbarschaft, welche sogar noch mit einigen bewohnten Schloͤssern gespickt war, zogen den einwohnenden Herrschaften Jahr aus und ein eine Menge jagender, fischender, tanzender, singen¬ der, essender und trinkender Gaͤste aus der Stadt zu. Man bewegte sich um so leichter, als man den Reifrock und die Perruͤcke weislich da liegen ließ, wohin sie die Revolution geworfen hatte, und das griechische Costuͤm der Kaiserzeit, wenn auch in diesen Gegenden etwas nachtraͤglich, an¬ gethan hatte. Die Bauern sahen mit Verwun¬ derung die weißumflorten Goͤttergestalten ihrer vornehmen Mitbuͤrgerinnen, ihre sonderbaren Huͤte und noch merkwuͤrdigeren Taillen, welche dicht unter den Armen geguͤrtet waren. Die Herrlich¬ keit des aristokratischen Regimentes entfaltete sich am hoͤchsten im Pfarrhause. Die reformirten Landgeistlichen der Schweiz waren keine armen, demuͤthigen Schlucker, wie ihre Amtsbruͤder im protestantischen Norden. Da alle Pfruͤnden im Lande ausschließlich den Buͤrgern der herrschenden Staͤdte offen standen, so bildeten sie zu den welt¬ lichen Ehrenstellen eine Ergaͤnzung im Systeme der Herrschaft, und die Pfarrer, deren Bruͤder das Schwert und die Wage handhabten, nahmen Theil an der Glorie, wirkten und regierten auf ihre Weise im Sinne des Ganzen kraͤftig mit oder uͤberließen sich einem sorgenfreien, vergnuͤg¬ lichen Dasein, gleich den vornehmen Geistlichen der katholischen Kirche. Sehr oft waren sie von Haus aus reich und die laͤndlichen Pfarrhaͤuser glichen eher den Landsitzen großer Herren; auch gab es eine Menge adeliger Seelenhirten, welche die Bauern Junker Pfarrer nennen mußten. Ein solcher war nun zwar der Pfarrer meines Heimath¬ dorfes nicht, auch nichts weniger als ein reicher Mann; doch sonst einer sehr alten Buͤrgerfamilie angehoͤrend, vereinigte er in seiner Person und in seinem Hauswesen allen Stolz, Kastengeist und Lustbarkeit eines warmgesessenen Staͤdtethu¬ mes. Er that sich etwas darauf zu gut, ein Aristokrat zu heißen, und vermischte seine geist¬ liche Wuͤrde ungezwungen mit einem derben, mi¬ litaͤrisch-junkerhaften Anstriche; denn man wußte dazumal noch nichts, weder von dem Namen noch 7 * von dem Wesen des modernen, weinerlichen und heuchlerischen Conservatismus. Es ging in sei¬ nem Hause geraͤuschvoll und lustig her, die Pfarr¬ kinder steuerten reichlich, was Feld und Stall ab¬ warf, die Gaͤste holten sich selbst aus dem Forste Hasen, Schnepfen und Rebhuͤhner, und da Treib¬ jagden doch nicht landesuͤblich waren, so wurden die Bauern dafuͤr zu großen Fischzuͤgen freund¬ schaftlich angehalten, welches jedesmal ein Fest gab, und so war das Pfarrhaus nie ohne Freude und Laͤrm. Man durchzog das Land rings um¬ her, stattete Besuche ab in Masse und empfing solche, schlug Zelte auf und tanzte darunter oder spannte sie uͤber die lauteren Baͤche und die Griechinnen badeten darunter; man uͤberfiel in hellen Haufen eine einsame kuͤhle Muͤhle oder fuhr in vollgepfropften Nachen auf Seeen und Fluͤssen, der Pfarrer immer voran mit einer Entenflinte uͤber dem Ruͤcken oder ein maͤchtiges spanisches Rohr in der Hand. Geistige Beduͤrfnisse waren in diesen Kreisen nicht viele vorhanden; die weltliche Bibliothek des Pfarrers bestand, wie ich sie noch gesehen habe, aus einigen altfranzoͤsischen Schaͤferroma¬ nen, Geßners Idyllen, Gellerts Lustspielen und einem stark zerlesenen Exemplar des Muͤnchhausen. Zwei oder drei einzelne Baͤnde von Wieland schienen aus der Stadt geliehen und nicht mehr zuruͤckgeschickt worden zu sein. Man sang Hoͤlty's Lieder und nur die Jugend fuͤhrte etwa einen Mathisson mit sich. Der Pfarrer selbst, wenn einmal von dergleichen Dingen die Rede war, pflegte seit dreißig Jahren regelmaͤßig zu fragen: »Haben Sie Kloppstocks Messias gelesen?« und wenn das, wie natuͤrlich, bejaht wurde, schwieg er vorsichtig. Ein steinalter Herr, welcher sich in seiner Jugend einige Zeit in Berlin umhergetrie¬ ben hatte und in der Gesellschaft des Pfarrhauses allerlei schlechte Spaͤße uͤber den ehrwuͤrdigen Beruf des Hausherrn zum Besten gab, sprach viel von Voltaire und mischte ein pikantes Grauen in den unbefangenen Frohsinn der Damen. Im Uebrigen gehoͤrten die Gaͤste nicht zu jenen fein¬ sten Kreisen, welche die Cultur der herrschenden Interessen durch erhoͤhte Geistesthaͤtigkeit pflegen und durch eine edle Bildung zu befestigen suchen, sondern zu der gemuͤthlichen Klasse, welche sich dar¬ auf beschraͤnkt, die Fruͤchte jener Bemuͤhungen zu ge¬ nießen und sich ohne weiteres Kopfzerbrechen lustig zu machen, so lange es Kirchweih ist. Aber diese ganze Herrlichkeit barg bereits den Keim ihres Zerfalles in sich selbst. Der Pfarrer hatte einen Sohn und eine Tochter, welche beide in ihren Neigungen von denjenigen ihrer Umge¬ bung abwichen. Waͤhrend der Sohn, ebenfalls ein Geistlicher und dazu bestimmt, seinem Vater im Amte zu folgen, vielfache Verbindungen mit jungen Bauern anknuͤpfte, mit ihnen ganze Tage auf dem Felde lag oder auf Viehmaͤrkte fuhr und mit Kennerblick die jungen Kuͤhe betastete, hing die Tochter, so oft sie nur immer konnte, die griechischen Gewaͤnder an den Nagel und zog sich in Kuͤche und Garten zuruͤck, dafuͤr sorgend, daß die unruhige Gesellschaft etwas Ordentliches zu beißen fand, wenn sie von ihren Fahrten zuruͤck¬ kehrte. Auch war diese Kuͤche nicht der schwaͤchste Anziehungspunkt fuͤr die genaͤschigen Staͤdtebe¬ wohner, und der große gutbebaute Garten zeugte fuͤr einen ausdauernden Fleiß und treffliche Ordnungsliebe. Der Sohn endigte sein Treiben damit, daß er eine beguͤterte ruͤstige Bauerntochter heirathete, in ihr Haus zog und alle sechs Werktage hin¬ durch ihre Aecker und ihr Vieh bestellte. In An¬ wartschaft seines hoͤheren Amtes uͤbte er sich, als Saͤemann den goͤttlichen Samen in wohlberech¬ neten Wuͤrfen auszustreuen und das Boͤse in Gestalt von wirklichem Unkraut auszujaͤten. Der Schrecken und der Zorn hieruͤber waren groß im Pfarrhause, zumal, wenn man bedachte, daß die junge Baͤuerin einst als Hausfrau dort einziehen und herrschen sollte, sie, welche weder mit der gehoͤrigen Anmuth im Grase zu liegen, noch einen Hasen standesgemaͤß zu braten und aufzutragen wußte. Deshalb war es der allgemeine Wunsch, daß die Tochter, welche allmaͤlig schon uͤber ihre erste Jugend hinausgebluͤht hatte, entweder einen standesgetreuen jungen Geistlichen ins Haus locken oder sonst noch lange die zusammenhaltende Kraft desselben bleiben moͤchte. Aber auch diese Hoff¬ nungen schlugen fehl. Denn eines Tages geschah es, daß das ganze Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die Ankunft eines schoͤnen, schlanken Mannes, der einen feinen gruͤnen Frack trug nach dem neuesten Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und glaͤnzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen. Wenn es regnerisch aussah, so fuͤhrte er einen rothseidenen Schirm mit sich, und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen An¬ strich. Dieser Mann bewegte sich mit einem edeln Anstande in den Gassen des Dorfes umher und trat freundlich und leutselig in die niederen Thuͤ¬ ren, verschiedene alte Muͤtterchen und Gevattern aufsuchend, und war niemand Anders, als der weitgereiste Steinmetzgeselle Lee, welcher seine lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte. Man kann wohl sagen ruhmvoll, wenn man bedenkt, daß er vor zwoͤlf Jahren, als ein vierzehnjaͤhriger Knabe, arm und bloß das Dorf verlassen hatte, hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte, mit einem duͤrftigen Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und nun solchergestalt als ein foͤrmlicher Herr, wie ihn die Landleute nannten, zuruͤckkehrte. Denn unter dem niedern Dache seiner Verwandten stan¬ den zwei maͤchtige Kisten, von denen die eine ganz mit Kleidern und feiner Waͤsche, die andere mit Modellen, Zeichnungen und Buͤchern ange¬ fuͤllt war. Es war etwas Schwungvolles in dem ganzen Wesen des etwa sechs und zwanzig Jahre alten Mannes, seine Augen gluͤhten wie von einem anhaltenden Glanze innerer Waͤrme und Begeisterung, er sprach immer hochdeutsch und suchte das Unbedeutendste von seiner schoͤnsten und besten Seite zu fassen. Er hatte ganz Deutsch¬ land vom Suͤden bis zum Norden durchreist und in allen großen Staͤdten gearbeitet; die Zeit der Befreiungskriege in ihrem ganzen Umfange fiel mit seinen Wanderjahren zusammen und er hatte die Bildung und den Ton jener Tage in sich aufgenommen, insofern sie ihm verstaͤndlich und zugaͤnglich waren; vorzuͤglich theilte er das offene und treuherzige Hoffen der gebildeten Mittelklassen auf eine bessere, schoͤnere Zeit der Wirklichkeit, ohne von den geistigen Ueberfeinerungen und Wunderseligkeiten etwas zu wissen, welche in manchen romantischen Elementen dazumal als deutsches Wesen durch die hoͤhere Gesellschaft wucherten. Es waren nur wenige gleichgesinnte Arbeits¬ genossen, welche die ersten, seltenen und verborge¬ nen Keime bildeten zu der Selbstveredlung und Aufklaͤrung, so den wandernden Handwerkerstand zwanzig Jahre spaͤter durchdrang und welche einen Stolz darauf setzten, die besten und gesuchtesten Arbeiter zu sein und dadurch, verbunden mit er¬ hoͤhtem Fleiße und Maͤßigkeit, die Mittel erlang¬ ten, auch ihren Geist zu bilden und aͤußerlich wie innerlich schon in ihren Wanderjahren als achtungs¬ werthe, tuͤchtige Maͤnner dazustehen. Ueberdies war dem Steinhauer in den großen Werken alt¬ deutscher Baukunst ein Licht aufgegangen, welches seinen Pfad noch mehr erleuchtete, indem es ihn mit heitern Kuͤnstlerahnungen erfuͤllte und den dunkeln Trieb jetzt erst zu rechtfertigen schien, welcher ihn von der gruͤnen Weide hinweg dem gestaltenden Leben der Staͤdte zugefuͤhrt hatte. Er lernte zeichnen mit eisernem Fleiße, brachte ganze Naͤchte und Feiertage damit zu, Werke und Muster aller Art durchzupausen, und nachdem er den Meißel zu den kunstreichsten Gebilden und Verzierungen fuͤhren gelernt und ein vollkomme¬ ner Handarbeiter geworden war, ruhte er nicht, sondern studirte den Steinschnitt und sogar solche Wissenschaften, welche andern Zweigen des Bau¬ wesens angehoͤren. Er suchte uͤberall an großen oͤffentlichen Bauten unterzukommen, wo es viel zu sehen und zu lernen gab, und brachte es durch seine Aufmerksamkeit bald dahin, daß ihn die Baumeister eben soviel auf ihren Arbeitszimmern am Zeichnen- oder Schreibtische verwendeten, als auf dem Bauplatze. Daß er dort nicht feierte, sondern manche Mittagsstunde damit zubrachte, alles Moͤgliche durchzuzeichnen und alle Berech¬ nungen zu copiren, welche er erhaschen konnte, versteht sich von selbst. So wurde er zwar kein akademischer Kuͤnstler mit einer allseitigen Durch¬ bildung, aber doch ein Mann, welcher wohl den kuͤhnen Vorsatz fassen durfte, in der Hauptstadt seiner Heimath ein wackerer staͤdtischer Bau- und Maurermeister zu werden. Mit dieser ausgespro¬ chenen Absicht trat er nun auch im Dorfe auf zur großen Bewunderung seiner Sippschaft, und das Erstaunen wurde noch groͤßer, als er, mit einem feinen Manschettenhemd bekleidet und sein reinstes Hochdeutsch sprechend, sich mitten unter die franzoͤsisch-griechischen Gestalten des Pfarr¬ hauses mischte und um die Pfarrerstochter warb. Der laͤndlich gesinnte Bruder mochte hierzu eine Vermittelung, wenigstens ein aufmunterndes Bei¬ spiel darbieten; die Jungfrau schenkte dem bluͤ¬ henden Freier bald ihr Herz, und die Verwirrung, welche dadurch zu entstehen drohte, loͤste sich schnell, als die Eltern der Braut kurz hinter einander starben. Also hielten sie eine stille Hochzeit und zogen in die Stadt, sich weiter nicht nach der glanz¬ vollen Vergangenheit des Pfarrhauses umsehend, in welches alsobald der junge Pfarrer mit ganzen Wagen voll Sensen, Sicheln, Dreschflegeln, Rechen, Heugabeln, mit gewaltigen Himmelbet¬ ten, Spinnraͤdern und Flachshecheln und mit seiner kecken, frischen Frau einzog, welche mit ihrem geraͤucherten Speck und mit ihren derben Mehlkloͤßen schnell saͤmmtliche Mousselingewaͤnder, Faͤcher und Sonnenschirmchen aus Haus und Garten vertrieben hatte. Nur eine Wand voll vortrefflicher Jagdgewehre die auch der Nach¬ folger zu fuͤhren wußte, lockte im Herbst einzelne Jaͤger auf das Dorf und unterschied das Pfarr¬ haus einigermaßen von einem Bauernhause. In der Stadt fing der junge Baumeister damit an, daß er einen oder zwei Arbeiter an¬ stellte und, selbst arbeitend vom Morgen bis zum Abend, ganz kleine Auftraͤge aller Art annahm und darin so viel Geschick und Zuverlaͤssigkeit zeigte, daß noch vor Abl uf eines Jahres sein Geschaͤft sich erweiterte und sein Credit sich be¬ gruͤndete. Er war so erfinderisch und einsichts¬ voll, gewandt und schnell berathen, daß bald viele Buͤrger seinen Rath und seine Arbeit such¬ ten, wenn sie im Zweifel waren, wie sie etwas veraͤndern oder neu baue lassen sollten. Dabei war er immer bestrebt, das Schoͤne mit dem Nuͤtzlichen zu verbinden und war froh, wenn ihn seine Kunden nur gewaͤhren ließen, so daß sie manche Zierde, manches Fenster und Gesims von reineren Verhaͤltnissen erhielten, ohne daß sie des¬ wegen den Geschmack ihres Baumeisters theurer bezahlen mußten. Seine junge Frau indessen fuͤhrte mit wahrem Fanatismus das Hauswesen, welches durch ver¬ schiedene Arbeiter und Dienstboten schnell erwei¬ tert wurde. Sie beherrschte mit Kraft und Meister¬ schaft das Fuͤllen und Leeren einer Anzahl großer Speisekoͤrbe und war der Schrecken der Markt¬ weiber und die Verzweiflung der Schlaͤchter, welche alle Gewalt ihrer alten Rechte aufbieten mußten, einen Knochensplitter mit auf die Wage zu brin¬ gen, wenn das Fleisch fuͤr die Frau Lee gewogen wurde. Obgleich Meister Lee fast keine persoͤn¬ lichen Beduͤrfnisse hatte und unter seinen zahl¬ reichen Grundsaͤtzen derjenige der Sparsamkeit in der ersten Reihe stand, so war er doch so gemeinnuͤtzig und großherzig, daß das Geld fuͤr ihn nur Werth hatte, wenn etwas damit aus¬ gerichtet oder geholfen wurde, sei es durch ihn oder durch Andere; daher verdankte er es nur seiner Frau, welche keinen Pfennig unnuͤtz aus¬ gab und den groͤßten Ruhm darein setzte, Jeder¬ mann weder um ein Haar zu wenig noch zu viel zukommen zu lassen, daß er nach Verfluß von zwei oder drei Jahren schon solche Ersparnisse vorfand, welche seinem unternehmenden Geiste nebst dem Credite, den er bereits genoß, eine reichlichere Nahrung darboten. Er kaufte alte Haͤuser an fuͤr eigene Rechnung, riß sie nieder und baute an der Stelle stattliche Buͤrgerhaͤuser, in welchen er eine Menge Einrichtungen fremder oder eigener Erfindung anbrachte. Diese ver¬ kaufte er mehr oder weniger vortheilhaft, sogleich zu neuen Unternehmungen schreitend, und alle seine Gebaͤude trugen das Gepraͤge eines bestaͤn¬ digen Strebens nach Formen- und Gedanken¬ reichthum. Wenn ein gelehrter Architekt auch oft nicht wußte, wohin er alle angebrachten Ideen zaͤhlen sollte und Vieles der Unklarheit oder Un¬ harmonie zeihen mußte, so gestand er doch immer, daß es Gedanken seien, und belobte, wenn er un¬ befangen war, den schoͤnen Eifer dieses Mannes mitten in der geistesarmen und nuͤchternen Zeit des Bauwesens, wie sie wenigstens in den ab¬ gelegenen Provinzen des Kunstgebietes bestand. Dies thaͤtige Leben versetzte den unermuͤdlichen Mann in den Mittelpunkt eines weiten Kreises von Buͤrgern, welche alle zu ihm in Wechsel¬ wirkung traten und unter diesen bildete sich ein engerer Ausschuß gleichgesinnter und empfaͤnglicher Maͤnner, denen er sein rastloses Suchen nach dem Guten und Schoͤnen mittheilte. Es war nun um die Mitte der zwanziger Jahre, wo in der Schweiz eine große Anzahl hochgebildeter Maͤn¬ ner aus dem innersten Schooße der herrschenden Klassen selbst, die abgeklaͤrten Ideen der großen Revolution wieder aufnehmend, einen frucht- und dankbaren Boden fuͤr die Julitage vorbereiteten und die edeln Guͤter der Bildung und Menschen¬ wuͤrde sorgsam pflegten. Zu diesen bildete Lee mit seinen Genossen, an seinem Orte, eine tuͤch¬ tige Fortsetzung im arbeitenden Mittelstande, um so bedeutender, als viele Mitglieder in der Tiefe des Volkes auf den Landschaften umher ihre Wurzeln hatten. Waͤhrend jene Vornehmen und Gelehrten die kuͤnftige Form des Staates, philo¬ sophische und Rechtswahrheiten besprachen und im Allgemeinen die Fragen schoͤnerer Menschlichkeit zu ihrem Gebiete machten, wirkten die ruͤhrigen Handwerker mehr unter sich und nach unten hin, indem sie einstweilen ganz praktisch so gut als moͤglich sich einzurichten suchten. Eine Menge Vereine, oͤfter die ersten in ihrer Art, wurden gestiftet, welche meistens irgend eine Versicherung zum Wohle der Mitglieder und ihrer Angehoͤrigen zum Zwecke hatten. Schulen wurden gesellschafts¬ weise gegruͤndet, um den Kindern des gemeinen Mannes eine bessere Erziehung zu sichern, da die damaligen, sehr gut eingerichteten Stadtschulen nur den wohlhabenden Altbuͤrgerkindern zugaͤng¬ lich und die Volksschule in einem elenden Zu¬ stande waren; kurz, eine Menge Unternehmungen dieser Art, zu jener Zeit noch neu und verdienst¬ lich, gab den braven Leuten zu schaffen und Ge¬ legenheit, sich daran empor zu bilden. Denn in zahlreichen Zusammenkuͤnften mußten Statuten und Verfassungen aller Art entworfen, berathen, durchgesehen und angenommen, Vorsteher gewaͤhlt und nach außen wie nach innen Rechte und Formen erklaͤrt und gewahrt werden. Zu diesen verschiedenen Elementen kam und I. 8 beruͤhrte sie gemeinschaftlich der griechische Frei¬ heitskampf, welcher auch hier, wie uͤberall, zum erstenmal in der allgemeinen Ermattung die Gei¬ ster wieder erweckte und erinnerte, daß die Sache der Freiheit diejenige der ganzen Menschheit sei. Die Theilnahme an den hellenischen Bethaͤtigun¬ gen verlieh auch den nicht philologischen Genossen zu ihrer uͤbrigen Begeisterung einen edeln kosmo¬ politischen Schwung und benahm den hellgesinn¬ ten Gewerbsleuten den letzten Anflug von Spieß- und Pfahlbuͤrgerthum. Lee war uͤberall der Erste, ein zuverlaͤssiger, hingebender Freund fuͤr Alle, seines reinen Charakters und seiner gehobenen Gesinnung wegen allgemein geachtet, ja geehrt. Er war gluͤcklich zu nennen, um so mehr, als er von keinerlei Art Eitelkeiten befangen war, und erst jetzt fing er von Neuem an zu lernen und nachzuholen, was ihm immer erreichbar war. Er trieb auch seine Freunde dazu an und es war bald Keiner derselben mehr, der nicht eine kleine Sammlung geschichtlicher und naturwissenschaft¬ licher Werke aufzuweisen hatte. Da fast Allen in ihrer Jugend die gleiche duͤrftige Erziehung zu Theil geworden, so ging ihnen nun besonders bei ihrem Eindringen in die Geschichte ein reiches und ergiebiges Feld auf, welches sie mit immer groͤßerer Freude durchwandelten. Ganze Stuben voll waren sie an Sonntagsmorgen beisammen, disputirten und theilten sich die immer neuen Ent¬ deckungen mit, wie allezeit die gleichen Ursachen die gleichen Wirkungen hervorgebracht haͤtten und dergleichen. Wenn sie auch Schiller auf die Hoͤhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz prak¬ tisch nachfuͤhlten und genossen, ohne auf die kuͤnst¬ lerische Rechenschaft, die der große Schriftsteller sich selber gab, weiter eingehen zu koͤnnen. Sie hatten die groͤßte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Aehnliches aufzufinden, das sie so befriedigt haͤtte. Seine gleichmaͤßige Gluth und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck fuͤr ihr schlichtes, bescheidenes Treiben, als fuͤr das Wesen mancher Schiller¬ verehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber einfach und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden sie nicht volles Genuͤgen an der drama¬ tischen Lectuͤre im Schlafrock; sie wuͤnschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstaͤdten nicht die Rede war, so entschlossen sie sich, wiederum angefeuert von Lee, kurz, und spielten selbst Co¬ moͤdie, so gut sie konnten. Die Buͤhne und die Maschinen waren freilich schneller und gruͤndlicher hergestellt, als die Rollen erlernt wurden, und Mancher suchte sich uͤber den Umfang seiner Auf¬ gabe selbst zu taͤuschen, indem er mit vergroͤßerter Wuth Naͤgel einschlug und Latten entzwei saͤgte; doch ist es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil der Gewandtheit im Ausdruck und des aͤußeren Anstandes, welche fast allen jenen Freunden eigen geblieben ist, auf Rechnung solcher Uebungen ge¬ setzt werden darf. Wie sie aͤlter wurden, ließen sie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber sie be¬ hielten den Sinn fuͤr das Erbauliche in jeder Beziehung getreulich bei. Wuͤrde man heut zu Tage fragen, wo sie denn die Zeit zu Alledem hergenommen haben, ohne ihre Arbeit und ihr Haus zu vernachlaͤssigen: so waͤre zu antworten, daß es erstens noch gesunde und naive Maͤnner und keine Gruͤbler waren, welche zu jeder That und jeder außerordentlichen Arbeit einen Schatz von Zeit verschwenden mußten, indem sie Alles zerfaserten und breit quetschten, ehe es genießbar war, und daß zweitens die taͤglichen Stunden von sieben bis zehn Uhr Abends, gleichmaͤßig be¬ nutzt, eine viel ansehnlichere Masse von Zeit aus¬ machen, als der Buͤrger heute glaubt, welcher dieselben hinter dem Weinglase im Tabacksqualm verbruͤtet. Man war damals noch nicht einer Rotte von Schenkwirthen tributpflichtig, sondern zog es vor, im Herbste das edle Gewaͤchs selbst einzukellern, und es war keiner dieser Handwer¬ ker, vermoͤglich oder arm, der sich nicht geschaͤmt haͤtte, am Schlusse der abendlichen Zusammen¬ kuͤnfte ein Glas derben Tischweines mangeln zu lassen oder denselben aus der Schenke holen zu muͤssen. Waͤhrend des Tages sah man keinen, oder hoͤchstens fluͤchtig und heimlich, vor den Ge¬ sellen es verbergend, ein Buch oder eine Papier¬ rolle in die Werkstatt eines Anderen bringen, und sie sahen alsdann aus, wie Schulknaben, welche unter dem Tische einen Roman lesen, und ver¬ saͤumten wohl auch eben so wenig ihr zeitliches Wohl dabei. Doch sollte dies aufgeregte Leben auf andere Weise Unheil bringen. Lee hatte sich, bei seinen gehaͤuften Arbeiten in steter Anstrengung, eines Tages stark erhitzt und achtlos nachher erkaͤltet, was den Keim gefaͤhrlicher Krankheit in ihn legte. Anstatt sich nun zu schonen und auf jede Weise in Acht zu nehmen, konnte er es nicht lassen, sein Treiben fortzusetzen und uͤberall mit Hand anzulegen, wo etwas zu thun war. Schon seine vielfaͤltigen Berufsgeschaͤfte nahmen seine volle Thaͤtigkeit in Anspruch, welche er nicht ploͤtzlich schwaͤchen zu duͤrfen glaubte. Er rechnete, specu¬ lirte, schloß Vertraͤge, ging weit uͤber Land, um Einkaͤufe zu besorgen, war im gleichen Augenblick zu oberst auf den Geruͤsten und zu unterst in den Gewoͤlben, riß einem Arbeiter die Schaufel aus der Hand und that einige gewichtige Wuͤrfe da¬ mit, ergriff ungeduldig den Hebebaum, um eine maͤchtige Steinlast herumwaͤlzen zu helfen, hob, wenn es ihm zu lange ging, bis Leute herbei kamen, selbst einen Balken auf die Schultern und trug ihn keuchend an Ort und Stelle, und statt dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgend einem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in spaͤter Nacht ganz umgewandelt auf den Bret¬ tern, leidenschaftlich erregt, mit hohen Idealen in einem muͤhsamen Ringen begriffen, welches ihn noch weit mehr anstrengen mußte, als die Tages¬ arbeit. Das Ende war, daß er ploͤtzlich dahin starb, als ein junger, bluͤhender Mann, in einem Alter, wo Andere ihre Lebensarbeit erst beginnen, mitten in seinen Entwuͤrfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen, welcher er mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte. Er ließ seine Frau mit einem fuͤnfjaͤhrigen Kinde allein zuruͤck und dies Kind bin ich. Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an, als das, was er wirklich besitzt; so haben mich auch die langen Erzaͤhlungen der Mutter immer mehr mit Sehnsucht und Heimweh nach meinem Vater erfuͤllt, welchen ich nicht mehr gekannt habe. Meine deutlichste Erinnerung an ihn faͤllt sonder¬ barer Weise um ein volles Jahr vor seinem Tode zuruͤck, auf einen einzelnen schoͤnen Augenblick, wo er an einem Sonntag Abend auf dem Felde mich auf den Armen trug, eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte, schon bestrebt, Erkenntniß und Dankbarkeit gegen den Schoͤpfer in mir zu er¬ wecken. Ich sehe noch jetzt das gruͤne Kleid und die schimmernden Metallknoͤpfe zunaͤchst meinen Wangen und seine glaͤnzenden Augen, in welche ich verwundert sah von der gruͤnen Staude weg, die er hoch in die Luft hielt. Meine Mutter ruͤhmte mir nachher oft, wie sehr sie und die begleitenden Maͤgde erbaut gewesen seien von seinen schoͤnen Reden. Aus noch fruͤheren Tagen ist mir seine Erscheinung ebenfalls geblieben durch die befremd¬ liche Ueberraschung des vollen Waffenschmuckes, in welchem er eines Morgens Abschied nahm, um mehrtaͤgigen Uebungen beizuwohnen; da er ein Schuͤtze war, so ist auch dies Bild mit der lieben gruͤnen Farbe und mit heiterem Metallglanze fuͤr mich ein und dasselbe geworden. Aus seiner letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verwor¬ renen Eindruck behalten und besonders seine Ge¬ sichtszuͤge sind mir nicht mehr erinnerlich. Wenn ich bedenke, wie heiß treue Eltern auch an ihren ungerathensten Kindern hangen und die¬ selben nie aus ihrem Herzen verbannen koͤnnen, so finde ich es hoͤchst unnatuͤrlich, wenn soge¬ nannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und Preis geben, weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben, und ich preise die Liebe eines Kindes, welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verlaͤßt und verlaͤugnet, und begreife das unendliche, aber erhabene Weh einer Tochter, welche ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schaffotte beisteht. Ich weiß daher nicht, ob es aristokratisch genannt werden kann, wenn ich mich doppelt gluͤcklich fuͤhle, von ehrenvollen und geach¬ teten Eltern abzustammen, und wenn ich vor Freude erroͤthete, als ich, herangewachsen, zum ersten Male meine buͤrgerlichen Rechte ausuͤbte in 8 * bewegter Zeit, und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir herantrat, mir die Hand schuͤttelte und sagte, er sei ein Freund meines Vaters gewesen und er freue sich, mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen; als dann noch Mehrere kamen und Jeder den »Mann« gekannt haben und hoffen wollte, ich werde ihm wuͤrdig nachfolgen. Ich kann mich nicht enthalten, so sehr ich die Thorheit einsehe, oft Luftschloͤsser zu bauen und zu berechnen, wie es mit mir gekom¬ men waͤre, wenn mein Vater gelebt haͤtte und wie mir die Welt in ihrer Kraftfuͤlle von fruͤhe¬ ster Jugend an zugaͤnglich gewesen waͤre; jeden Tag haͤtte mich der treffliche Mann weiter ge¬ fuͤhrt und wuͤrde seine zweite Jugend in mir ver¬ lebt haben. Wie mir das Zusammenleben zwischen Bruͤdern eben so fremd als beneidenswerth ist und ich nicht begreife, wie solche meistens aus¬ einander weichen und ihre Freundschaft außer¬ waͤrts suchen, so erscheint mir auch, ungeachtet ich es taͤglich sehe, das Verhaͤltniß zwischen einem Vater und einem erwachsenen Sohne um so neuer, unbegreiflicher und gluͤckseliger, als ich Muͤhe habe, mir dasselbe auszumalen und das nie Er¬ lebte zu vergegenwaͤrtigen. So aber muß ich mich darauf beschraͤnken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schick¬ sale entgegenschreite, mich zusammen zu fassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken: Wie wuͤrde Er nun an deiner Stelle handeln oder was wuͤrde Er von deinem Thun urthei¬ len, wenn er lebte. Er ist vor der Mittagshoͤhe seines Lebens zuruͤckgetreten in das unerforschliche All und hat die uͤberkommene goldene Lebens¬ schnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen schwachen Haͤnden zuruͤck gelassen und es bleibt mir nur uͤbrig, sie mit Ehren an die dunkle Zu¬ kunft zu knuͤpfen oder vielleicht fuͤr immer zu zerreißen, wenn auch ich sterben werde. — Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwischenraͤumen, wiederholt getraͤumt, der Vater sei ploͤtzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Gluͤck und Freude bringend, zuruͤckgekehrt, und sie erzaͤhlte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, waͤhrend ich, von einem heiligen Schauer durchweht, mir vorzustellen suchte, mit welchen Blicken mich der theuere Mann ansehen und wie es unmittelbar werden wuͤrde, wenn er wirklich eines Tages so erschiene. Je dunkler die Ahnung ist, welche ich von seiner aͤußern Erscheinung in mir trage, desto heller und klarer hat sich ein Bild seines innern Wesens vor mir aufgebaut und dies edle Bild ist fuͤr mich ein Theil des großen Unendlichen ge¬ worden, auf welches mich meine letzten Gedanken zuruͤckfuͤhren und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube. Fünftes Kapitel. Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war fuͤr seine Wittwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge. Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und erforderte weitlaͤufige Verhandlungen, um sie ins Reine zu bringen. Eingegangene Vertraͤge waren mitten in ihrer Erfuͤllung abgebrochen, Unterneh¬ mungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche einzuziehen an allen Ecken und Enden, Vorraͤthe von Baustoffen mußten mit Verlust verkauft werden und es war zweifel¬ haft, ob bei der augenblicklichen Lage der Ver¬ haͤltnisse auch nur ein Pfennig uͤbrig bleiben wuͤrde, wovon die bekuͤmmerte Frau leben sollte. Gerichtsmaͤnner kamen, legten Siegel an und loͤsten sie wieder; die Freunde des Verstorbenen und zahlreiche Geschaͤftsleute gingen ab und zu, halfen und ordneten; es wurde durchgesehen, ge¬ rechnet, abgesondert, gesteigert. Kaͤufer und neue Unternehmer meldeten sich, suchten die Summen herunterzudruͤcken oder mehr in Beschlag zu neh¬ men als ihnen gebuͤhrte, es war ein Geraͤusch und eine Spannung, daß meine Mutter, welche immer mit wachsamen Augen dabei stand, zuletzt nicht mehr wußte, wie sie sich helfen sollte. All¬ maͤlig klaͤrte sich die Verwirrung auf, ein Ge¬ schaͤft um das andere war abgethan, alle Ver¬ bindlichkeiten geloͤst und die Forderungen gesichert, und es zeigte sich nun, daß das Haus, in wel¬ chem wir zuletzt wohnten, als einziges Vermoͤgen uͤbrig blieb. Es war ein altes hohes Gebaͤude, mit vielen Raͤumen und von unten bis oben be¬ wohnt, wie ein Bienenkorb. Der Vater hatte es gekauft in der Absicht, ein neues an dessen Stelle zu setzen; da es aber von alterthuͤmlicher Bauart war und an Thuͤren und Fenstern viele schoͤne Ueberbleibsel kuͤnstlicher Arbeit trug, so konnte er sich schwer entschließen, es einzureißen und bewohnte es indessen nebst einer Anzahl von Miethsleuten. Auf diesem Hause blieben zwar noch einige fremde Kapitalien ruhen, jedoch hatte es der ruͤhrige Mann in der Schnelligkeit so gut eingerichtet und vermiethet, daß ein jaͤhrlicher Ueberschuß an Miethgeldern meiner Mutter ein bescheidenes Auskommen sicherte. Die alte Woh¬ nung ist seither unveraͤndert geblieben, wie er sie verlassen hat, und wir haben darin gelebt bis auf diesen Tag, und eine einzige Geschaͤftsidee des fruͤh Verstorbenen hat hingereicht, seinen Hinterlassenen das Brot zu verschaffen, dessen sie bis jetzt bedurften. Das erste, was meine Mutter begann, war eine gaͤnzliche Einschraͤnkung und Abschaffung alles Ueberfluͤssigen, wozu voraus jede Art von dienstbaren Haͤnden gehoͤrte. In der Stille die¬ ses Wittwenthumes fand ich mein erstes deut¬ liches Bewußtsein, welches seinen Inhaber zur Uebung treppauf und ab im Innern des Hauses umherfuͤhrte. Die untern Stockwerke sind dun¬ kel, sowohl in den Gemaͤchern wegen der Enge der Gassen, als auf den Treppenraͤumen und Fluren, weil alle Fenster fuͤr die Zimmer benutzt wurden. Einige Vertiefungen und Seitengaͤnge gaben dem Raume ein duͤsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu entdeckende Geheim¬ nisse fuͤr mich; je hoͤher man aber steigt, desto freundlicher und heller wird es, indem der oberste Stock, den wir bewohnen, die Nachbarhaͤuser uͤberragt. Ein hohes Fenster wirft reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs, welcher einen heitern Gegensatz zu den kuͤhlen Finsternissen der Tiefe bildet. Die Fenster unse¬ rer Wohnstube gehen auf eine Menge kleiner Hoͤfe hinaus, wie sie oft von einem Haͤuservier¬ tel umschlossen werden und ein verborgenes be¬ hagliches Gesumme enthalten, welches man auf der Straße nicht ahnt. Den Tag uͤber betrach¬ tete ich stundenlang das innere haͤusliche Leben in diesen Hoͤfen; die gruͤnen Gaͤrtchen in den¬ selben schienen mir kleine Paradiese zu sein, wenn die Nachmittagssonne sie beleuchtete und die weiße Waͤsche in denselben wehte, und wunderfremd und doch bekannt kamen mir die Leute vor, welche ich darin gesehen hatte, wenn sie ploͤtzlich einmal in unsrer Stube standen und mit der Mutter plauderten. Unser eigenes Hoͤfchen enthaͤlt zwi¬ schen hohen Mauern ein ganz kleines Stuͤckchen Rasen mit zwei Vogelbeerbaͤumchen; ein nimmer¬ muͤdes Bruͤnnchen ergießt sich mit ewigem Ge¬ plaͤtscher in ein ganz gruͤn gewordenes Sand¬ steinbecken und der ganze Winkel ist kuͤhl und fast schauerlich, ausgenommen im Sommer, wo die Sonne gegen Abend einige Stunden lang darin ruht. Alsdann schimmert das verborgene Gruͤn durch den dunkeln Hausgang so kokett auf die Gasse, wenn die Hausthuͤr aufgeht, daß den Voruͤbergehenden immer eine Sehnsucht nach dem Freien befaͤllt. Im Herbste werden diese Sonnen¬ blicke immer kuͤrzer und milder, und wenn dann die Blaͤtter an den zwei Baͤumchen gelb und die Beeren brennend roth werden, die alten Mauern so wehmuͤthig vergoldet sind und das Waͤsserchen einigen Silberglanz dazu gibt, so hat dieser kleine abgeschiedene Raum einen so wunder¬ bar melancholischen Reiz, daß ich spaͤter noch oft aus der schoͤnsten offenen Landschaft nach Hause gelaufen bin, wenn ich wußte, daß die Sonne l. 9 jetzt in den Hof schien. Gegen Sonnenuntergang jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an den Haͤu¬ sern in die Hoͤhe und immer hoͤher, je mehr sich das Meer von Daͤchern, das ich von unserm Fen¬ ster aus uͤbersah, roͤthete und vom schoͤnsten Farbenglanze belebt wurde. Hinter diesen Daͤchern war fuͤr einmal meine Welt zu Ende; denn den duftigen Kranz von Schneegebirgen, welcher hin¬ ter den letzten Dachfirsten halb sichtbar ist, hielt ich, da ich ihn nicht mit der festen Erde ver¬ bunden sah, lange Zeit fuͤr Eins mit den Wol¬ ken. Als ich spaͤter zum erstenmale rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen, ungeheuerli¬ chen Daches saß und die ganze ausgebreitete Pracht des See's uͤbersah, aus welchem die Berge in festen Gestalten, mit gruͤnen Fuͤßen aufstiegen, da kannte ich freilich ihre Natur schon von aus¬ gedehnteren Streifzuͤgen im Freien; fuͤr jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große Berge und maͤchtige Zeugen von Gottes Allmacht, ich konnte und mochte sie darum nicht von den Wolken unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich be¬ schaͤftigte, deren Name aber ebenso ein leerer Schall fuͤr mich war, wie das Wort Berg. Da die fernen Schneekuppen bald verhuͤllt, bald hel¬ ler oder dunkler, weiß oder roth sichtbar waren, so hielt ich sie wohl fuͤr etwas Lebendiges, Wun¬ derbares und Maͤchtiges, wie die Wolken, und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen, wenn sie mir Achtung und Neugierde einfloͤßten. So nannte ich, ich hoͤre das Wort noch schwach in meinen Ohren klingen und man hat es mir nachher oft erzaͤhlt, die erste weibliche Gestalt, welche mir wohlgefiel und ein Maͤdchen aus der Nachbarschaft war, die weiße Wolke, von dem ersten Eindrucke, den sie in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte. Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise ein langes hohes Kirchendach, das maͤchtig uͤber alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen Westen gekehrte große Flaͤche war fuͤr meine Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten, wenn die letzten Strahlen der Sonne es beschienen, und diese schiefe, rothgluͤhende Ebene uͤber der dunkeln Stadt 9* war fuͤr mich recht eigentlich das, was die Phan¬ tasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden ver¬ steht. Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Thuͤrmchen, in welchem eine kleine Glocke hing, und auf dessen Spitze sich ein glaͤn¬ zender goldener Hahn drehte. Wenn in der Daͤmmerung das Gloͤckchen laͤutete, so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: Was ist Gott? ist es ein Mann? und sie antwortete: Nein, Gott ist ein Geist! Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Thuͤrmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich ploͤtzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei. Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kinder¬ gebeten, welche ich mit vielem Vergnuͤgen herzu¬ sagen wußte. Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam, in dem ein praͤchtig gefaͤrbter Tiger an¬ sehnlich dasitzend abgebildet war, ging meine Vor¬ stellung von Gott allmaͤlig auf diesen uͤber, ohne daß ich jedoch, so wenig wie vom Hahne, je eine Meinung daruͤber aͤußerte. Es waren ganz in¬ nerliche Anschauungen, und nur wenn der Name Gottes genannt wurde, so schwebte mir erst der glaͤnzende Vogel und nachher der schoͤne Tiger vor. Allmaͤlig mischte sich zwar nicht ein klare¬ res Bild, aber ein edlerer Begriff in meine Ge¬ danken. Ich betete mein Vaterunser, dessen voll¬ endet schoͤne Eintheilung und Abrundung mir das Einpraͤgen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Uebung gemacht hatte, mit großer Meisterschaft und vielen Variationen, indem ich diesen oder jenen Theil doppelt und dreifach aus¬ sprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut be¬ tonte und dann ruͤckwaͤrts betete und mit den Anfangsworten Vater unser schloß. Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niederge¬ schlagen, daß Gott ein Wesen sein muͤsse, mit welchem sich allenfalls ein vernuͤnftiges Wort sprechen ließe, eher, als mit jenen Thiergestalten. So lebte ich in einem unschuldig vergnuͤglichen Verhaͤltnisse mit dem hoͤchsten Wesen, ich kannte keine Beduͤrfnisse und keine Dankbarkeit, kein Recht und kein Unrecht, und ließ Gott einen herzlich guten Mann sein, wenn meine Aufmerk¬ samkeit von ihm abgezogen wurde. Ich fand aber bald Veranlassung, in ein bewußteres Verhaͤltniß zu ihm zu treten und zum ersten Mal meine menschlichen Anspruͤche zu ihm zu erheben, als ich, sechs Jahre alt, mich eines schoͤnen Morgens in einen großen, melancholischen Saal versetzt sah, in welchem etwa fuͤnfzig bis sechzig kleine Knaben und Maͤdchen unterrichtet wurden. In einem Halbkreise mit sieben andern Kindern um eine Tafel herum stehend, auf wel¬ cher riesige Buchstaben gemalt waren, war ich sehr still und gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten. Da wir saͤmmtlich Neulinge waren, so hatte der Oberschulmeister, ein aͤltlicher Mann mit einem großen groben Kopfe, die erste Leitung selbst uͤbernommen fuͤr eine Stunde und forderte uns auf, abwechselnd die sonderbaren Fi¬ guren zu benennen. Ich hatte schon seit gerau¬ mer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehoͤrt, und es gefiel mir ungemein, nur wußte ich durch¬ aus keine leibliche Form dafuͤr zu finden und Niemand konnte mir eine Auskunft geben, weil die Sache, welche diesen Namen fuͤhrt, einige hundert Stunden weit zu Hause war. Nun sollte ich ploͤtzlich das große P benennen, welches mir in seinem ganzen Wesen aͤußerst wunderlich und humoristisch vorkam, und es ward in meiner Seele klar und ich sprach mit Entschiedenheit: Dieses ist der Pumpernickel! Ich hegte keinen Zweifel, weder an der Welt, noch an mir, noch am Pumpernickel, und war froh in meinem Her¬ zen; aber je ernsthafter und selbstzufriedener mein Gesicht in diesem Augenblicke war, desto mehr hielt mich der Schulmeister fuͤr einen durchtriebe¬ nen und frechen Schalk, dessen Bosheit sofort gebrochen werden muͤßte, und er fiel uͤber mich her und schuͤttelte mich an den Haaren eine Mi¬ nute lang so wild hin und her, daß mir Hoͤren und Sehen verging. Dieser Ueberfall kam mir seiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein boͤ¬ ser Traum vor und ich machte augenblicklich nichts daraus, als daß ich, stumm und thraͤnenlos, aber voll innerer Beklemmung den Mann ansah. Die Kinder haben mich von je her geaͤrgert, welche, wenn sie gefehlt haben oder sonst in Conflict ge¬ rathen, bei der leisesten Beruͤhrung oder schon bei deren Annaͤherung in ein abscheuliches Zeter¬ geschrei ausbrechen, das Einem die Ohren zer¬ reißt; und wenn solche Kinder gerade dieses Ge¬ schreies wegen oft doppelte Schlaͤge bekommen, so litt ich am entgegengesetzten Extrem und ver¬ schlimmerte meine Haͤndel stets dadurch, daß ich nicht im Stande war, eine einzige Thraͤne zu vergießen vor meinen Richtern. Als daher der Schulmeister sah, daß ich nur erstaunt nach mei¬ nem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch einmal uͤber mich her, um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gruͤndlich auszutrei¬ ben. Ich litt nun wirklich; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male in mir klar und ich rief flehendlich in meiner Angst: Sondern erloͤse uns von dem Boͤsen! und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir so oft gesagt hatte, daß er dem Bedraͤngten ein huͤlfreicher Vater sei. Fuͤr den guten Lehrer aber war dies zu stark, der Fall war nun zum außer¬ ordentlichen Ereignisse gediehen, und er ließ mich daher straks los, mit aufrichtiger Bekuͤmmerniß daruͤber nachdenkend, welche Behandlungsart hier angemessen sei. Wir wurden fuͤr den Vormittag entlassen, der Mann brachte mich selbst nach Hause. Erst dort brach ich heimlich in Thraͤnen aus, in¬ dem ich abgewandt am Fenster stand und die ausgerissenen Haare aus der Stirn wischte, waͤh¬ rend ich anhoͤrte, wie der Mann, der mir im Heiligthum unserer Stube doppelt fremd und feind¬ lich erschien, eine ernsthafte Unterredung mit der Mutter fuͤhrte und versichern wollte, daß ich schon durch irgend ein boͤses Element verdorben sein muͤßte. Sie war nicht minder erstaunt, als wir beiden Andern, indem ich, wie sie sagte, ein durch¬ aus stilles Kind waͤre, welches bisher noch nie aus ihren Augen gekommen sei und keine groben Unarten gezeigt haͤtte. Allerlei seltsame Einfaͤlle haͤtte ich allerdings bisweilen; aber sie schienen nicht aus einem schlimmen Gemuͤthe zu kommen, und meinte sie ganz vernuͤnftig, ich muͤßte mich wohl erst ein wenig an die Schule und ihre Be¬ deutung gewoͤhnen. Der Lehrer gab sich zufrie¬ den, doch mit Kopfschuͤtteln, und war innerlich uͤberzeugt, wie sich aus wiederholten Faͤllen er¬ gab, daß ich gefaͤhrliche Anlagen zeige. Er sagte auch sehr bedeutsam beim Abschiede, daß stille Wasser gewoͤhnlich tief waͤren. Dieses Wort habe ich seither in meinem Leben oͤfter hoͤren muͤssen und es hat mich immer gekraͤnkt, weil es keinen groͤßeren Plauderer gibt, als mich, wenn ich mit Jemand zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt, daß viele Menschen, welche immer das große Wort fuͤhren, aus denen nie klug werden, welche ihretwegen nie zu Worte kommen. Sie pflegen dann ploͤtzlich einmal sich uͤber das Schweigen zu verwundern und zur Theilnahme aufzufordern; ehe aber diese laut werden kann, haben sie schon wieder das Wort genommen und auf ein anderes Gebiet gefuͤhrt, und wenn sie einmal einer Ant¬ wort Raum geben, so verstehen sie die einfache und kurze Logik nicht, an welche sich der Schwei¬ gende bei seinem Zuhoͤren gewoͤhnt hat. Die meisten Gesellschaften lassen in ihrem Gespraͤche nicht so viel Raum fuͤr ein einzuschaltendes Wort, daß man mit einer Naͤhnadel dazwischen stechen koͤnnte. Es gibt keinen Menschen, welcher nicht das Beduͤrfniß der Mittheilung empfaͤnde; nur muß man sich so weit entaͤußern koͤnnen, zuweilen in seine Weise einzugehen und ihm die Fesseln zu loͤsen. Unter den Erwachsenen ist der Mangel dieser Kunst kein so großer Uebelstand, und die an's Schweigen Gewiesenen befinden sich manch¬ mal nur um so gemuͤthlicher dabei. Im Umgange mit stillen Kindern aber kann es ein wahres Un¬ gluͤck werden, wenn die großen Schwaͤtzer sich nicht anders zu helfen wissen, als mit dem elen¬ den Gemeinplatze: Stille Wasser sind tief! Am Nachmittage wurde ich wieder in die Schule geschickt und ich trat mit großem Mi߬ trauen in die gefaͤhrlichen Hallen, welche die Ver¬ wirklichung seltsamer und beaͤngstigender Traͤume zu sein schienen. Ich bekam aber den boͤsen Schulmann nicht zu Gesicht; er hielt sich in einem Verschlage auf, welcher eine Art Bureau vor¬ stellte und ihm zur Einnahme von kleinen Colla¬ tionen diente. An der Thuͤre dieses Verschlages befand sich ein rundes Fensterchen, durch welches der Tyrann oͤfters den Kopf zu stecken pflegte, wenn draußen ein Geraͤusch entstand. Die Glas¬ scheibe dieses Fensterchens fehlte seit geraumer Zeit, so daß er durch den leeren Rahmen sein Haupt weit in die Schulstube hineinstrecken konnte zur sattsamen Umsicht. An diesem verhaͤngni߬ vollen Tage nun hatte der Hausmeister gerade waͤhrend der Mittagszeit die fehlende Scheibe er¬ setzen lassen und ich schielte eben aͤngstlich nach derselben, als sie mit hellem Klirren zersprang und der umfangreiche Kopf meines Widersachers hindurch fuhr. Die erste Bewegung in mir war ein Aufjauchzen der herzlichsten Freude, und erst, als ich sah, daß er uͤbel zugerichtet war und blu¬ tete, da wurde ich betreten und es ward zum dritten Male klar in meiner Seele und ich ver¬ stand die Worte: Und vergieb uns unsere Schul¬ den, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern! So hatte ich an diesem ersten Tage schon viel gelernt: zwar nicht, was der Pumpernickel sei, wohl aber, daß man in der Noth einen Gott an¬ rufen muͤsse, daß derselbe gerecht sei und uns zu gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache in uns zu tragen. Aus dem Gebote, seinen Be¬ leidigern zu vergeben, entsteht, wenn es befolgt wird, von selbst die Kraft, auch seine Feinde zu lieben; denn fuͤr die Muͤhe, welche uns jene Ueber¬ windung kostet, fordern wir einen Lohn und dieser liegt zunaͤchst und am natuͤrlichsten in dem Wohlwollen, welches wir dem Feinde schenken, da er uns einmal nicht gleichguͤltig bleiben kann. Wohlwollen und Liebe koͤnnen nicht gehegt wer¬ den, ohne den Traͤger selbst zu veredeln, und sie thun dieses am glaͤnzendsten, wenn sie dem gel¬ ten, was man einen Feind oder Widersacher nennt. Diese eigenthuͤmlichste Hauptlehre des Christenthums fand eine große Empfaͤnglichkeit in mir vor, da ich, leicht verletzt und aufgebracht, immer ebenso schnell bereit war, zu vergessen und zu vergeben, und es hat mich spaͤter, als mein Sinn sich der Offenbarungslehre zu verschließen anfing, lebhaft beschaͤftigt, zu ermitteln, inwiefern jenes Gesetz nur der Ausdruck eines schon in der Menschheit vorhandenen und erkannten Beduͤrf¬ nisses sei; denn ich sah, daß es nur von einem bestimmten Theile der Menschen rein und uneigen¬ nuͤtzig befolgt wurde, von denjenigen naͤmlich, welche ihre natuͤrlichen Gemuͤthsanlagen dazu trieben. Die Andern, welche ihr urspruͤngliches Rachegefuͤhl uͤberwanden und auf das Vergeltungs¬ recht mit Muͤhe verzichteten, schienen mir oft da¬ durch mehr Vortheil uͤber ihren Feind zu gewin¬ nen, als sich mit dem Begriffe der reinen Selbst¬ entaͤußerung vertrug; weil zufolge der tiefen Ver¬ nunft und Klugheit, die zugleich im Verzeihen liegt, der Widersacher allein es ist, welcher sich in seiner unfruchtbaren Wuth aufreibt und ver¬ nichtet. Dies Verzeihen ist es auch, was in gro¬ ßen geschichtlichen Kaͤmpfen die Ueberlegenheit des Siegers, nachdem er einen Handel maͤnnlich aus¬ gefochten hat, vermehrt und beurkundet, daß die¬ selbe auch moralisch eine reif gewordene ist. So ist das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweis¬ heit und vor der Einfuͤhrung des Christenthums wohl so oft zur Geltung gekommen, als nach derselben verlaͤugnet worden; das eigentliche Lie¬ ben aber des Feindes in voller Bluͤthe und so lange er uns Schaden zufuͤgt, habe ich nirgends gesehen, weil ich auch bei einigen armen und un¬ gebildeten Sectirern, welche in ihrem heißen Be¬ streben, das Evangelium ganz woͤrtlich zu neh¬ men, neben andern verpoͤntern Dingen auch diese Tugend uͤbten, das aufrichtige Wesen nicht satt¬ sam von dem aͤngstlichen Scheine unterscheiden konnte. Im Verlaufe meiner ersten Schuljahre fand ich nun haͤufige Gelegenheit, meinen Verkehr mit Gott zu erweitern, da die kleinen Erlebnisse sich vermehrten. Ich hatte mich bald in den Welt¬ lauf ergeben und that, wie die andern Kinder, was ich nicht lassen konnte. Dadurch war ich abwechselnd zufrieden und gerieth in Bedraͤngniß, wie es das Wohlverhalten oder die Vernachlaͤssi¬ gung meiner Pflichten nebst allerhand kindischem Unfuge mit sich brachten. In jeder uͤbeln Lage aber rief ich Gott an und betete in meinem In¬ nern in wenigen wohlgesetzten Worten, wenn die Krisis zu reifen begann, um eine guͤnstige Ent¬ scheidung und um Rettung aus der Gefahr, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich immer entweder das Unmoͤgliche oder das Unge¬ rechte verlangte. Oft war es der Fall, daß meine Suͤnden uͤbersehen wurden: und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen, welche um so vergnuͤglicher wa¬ ren, als mir der Sinn fuͤr die Verdientheit der Strafe so lange verschlossen blieb, bis ich bewußte Fehler beging. So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung; das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechnenexempels oder daß der Vorgesetzte fuͤr einen Tintenklex in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde, das andere Mal, ein zweiter Josua, um Stillstand der Sonne, wenn ich mich zu verspaͤten drohte, oder auch um Erlangung eines fremden reizenden Back¬ werkes. Als die Jungfrau, welche ich die weiße Wolke nannte, einst fuͤr lange Zeit verreiste und eines Abends bei uns Abschied nahm, waͤhrend ich schon in meinem Bettchen lag, jedoch Alles hoͤrte, bat ich meinen himmlischen Vater in sehn¬ lichen Ausdruͤcken, er moͤchte bewirken, daß sie mich hinter meinen Vorhaͤngen nicht vergesse und noch einmal tuͤchtig kuͤsse. Ich schlief uͤber der steten Wiederholung des gleichen kurzen Satzes endlich ein und weiß zur Stunde noch nicht, ob meine Bitte in Erfuͤllung gegangen ist. Eines Tages wurde ich zur Strafe uͤber die Mittagszeit in der Schule zuruͤckbehalten und ein¬ geschlossen, so daß ich erst auf den Abend etwas zu essen bekam. Das war das erste Mal, wo ich den Hunger kennen und zugleich die Ermahnun¬ gen meiner Mutter verstehen lernte, welche mir Gott vorzuͤglich als den Erhalter und Ernaͤhrer jeglicher Creatur anpries und als den Schoͤpfer unsers schmackhaften Hausbrotes darstellte, der Bitte gemaͤß: Gib uns heut unser taͤgliches Brot! welches nie fehlen duͤrfe, wenn die Sache nicht schief gehen sollte. Ueberhaupt gewann ich fuͤr Essen und Trinken ein großes Interesse und manche Einsicht in die Beschaffenheit derselben, indem ich fast ausschließlich den Verkehr von Frauen mit ansah, dessen Hauptinhalt der Er¬ werb und die Besprechung von Lebensmitteln war, und die Wichtigkeit, welche ich diesem Ver¬ kehre beilegen sah, trug sich mir auch auf meine Bitte um das taͤgliche Brot uͤber. Auf meinen Wanderungen durch das Haus drang ich allmaͤ¬ l . 10 lig tiefer in den Haushalt der Mitbewohner ein und ließ mich oft aus ihren Schuͤsseln bewir¬ then, und undankbarer Weise schmeckten mir die Speisen uͤberall besser, als bei meiner Mutter. Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Recepte ganz die gleichen sind, doch ihren Speisen durch die Zubereitung einen besondern Geschmack, wel¬ cher ihrem Charakter entspricht. Durch eine kleine Bevorzugung eines Gewuͤrzes oder eines Krau¬ tes, durch groͤßere Fettigkeit oder Trockenheit, Weichheit oder Haͤrte, bekommen alle ihre Spei¬ sen einen bestimmten Charakter, welcher das ge¬ naͤschige oder nuͤchterne, weichliche oder sproͤde, hitzige oder kalte, das verschwenderische oder gei¬ zige Wesen der Koͤchin ausspricht, und man er¬ kennt sicher die Hausfrau aus den wichtigsten Speisen des Buͤrgerstandes, naͤmlich dem Rind¬ fleisch und dem Gemuͤse, dem Braten und dem Salate; ich meinerseits, als ein junger fruͤhzeitiger Kenner, habe aus einer bloßen Fleischbruͤhe den Instinkt geschoͤpft, wie ich mich zu der Meisterin derselben zu verhalten habe. Die Speisen meiner Mutter hingegen ermangelten, so zu sagen, aller und jeder Individualitaͤt. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager, der Caffe nicht stark und nicht schwach, sie verschwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt, sie kochte schlecht und recht, ohne Manierirtheit, wie die Kuͤnstler sagen, in den reinsten Verhaͤltnissen; man konnte von ihren Speisen eine große Menge genießen, ohne sich den Magen zu verderben. Sie schien mit ihrer weisen und maßvollen Hand, am Herde stehend, taͤglich das Spruͤchwort zu verkoͤrpern: Der Mensch ißt, um zu leben, und lebt nicht, um zu essen! Nie und in keiner Weise war ein Ueberfluß zu bemerken und ebenso wenig ein Mangel. Diese nuͤchterne Mittelstraße langweilte mich, der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte, und ich begann, uͤber ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu uͤben, so¬ bald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt war. Da ich mit meiner Mutter immer allein bei Tische saß und sie lieber auf Gespraͤch und Unterhaltung dachte, als auf ein genaues Erzie¬ hungssystem, so wies sie mich nicht kurz und strafend zur Ruhe, sondern widerlegte mich mit 10 * Beredtsamkeit und stellte mir hauptsaͤchlich vor auf Menschenschicksale und Lebenslaͤufe uͤbergehend, wie ich vielleicht eines Tages froh sein wuͤrde, an ihrem Tische zu sitzen und zu essen; dann werde sie aber nicht mehr da sein. Obgleich ich dazumal nicht recht einsah, wie das zugehen sollte, so wurde ich doch jedesmal geruͤhrt und von einem geheimen Grauen ergriffen, und so fuͤr ein¬ mal geschlagen. Machte sie alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerksam, welche ich ge¬ gen Gott beging, indem ich seine guten Gaben tadelte, so huͤtete ich mich mit einer heiligen Scheu, den allmaͤchtigen Geber ferner zu beleidi¬ gen und versank in Nachdenken uͤber seine treff¬ lichen und wunderbaren Eigenschaften. Nun geschah es aber, daß in dem Maße, als ich ihn deutlicher erfaßte und sein Wesen mir un¬ entbehrlicher und ersprießlicher wurde, mein Um¬ gang mit Gott sich verschaͤmt zu verschleiern be¬ gann, und als meine Gebete einen vernuͤnftigen Sinn erhielten, mich eine wachsende Scheu be¬ schlich, sie laut herzusagen. Meine Mutter ist eines einfachen und nuͤchternen Gemuͤthes und nichts weniger, als das, was man eine warm andaͤchtige Frau nennt, sondern schlechthin gottes¬ fuͤrchtig. Ihr Gott war dazumal schon nicht der Befriediger und Erfuͤller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbeduͤrfnisse, sondern klar und einfach der versorgende und erhaltende Vater, die Vorsehung. Ihr gewoͤhnliches Wort war: Wer Gott vergißt, den vergißt er auch; von der inbruͤnstigen Gottesliebe dagegen hoͤrte ich sie nie reden, und ich selbst habe eine Stimmung dieser Art erst spaͤter empfunden, als das Wesen Got¬ tes mir endlich meiner reifern Empfaͤnglichkeit und Erkenntniß entsprechend sich ausgebildet hatte. Desto eifriger aber hielt sie darauf, und es ward ihr in unserer Verlassenheit fuͤr die lange und dunkle Zukunft eine Hauptsache, daß Gott der Ernaͤhrer und Beschuͤtzer mir immer vor Augen sei, und sie legte mit andauernder Sorge den Grund zu einem unwandelbaren Gottvertrauen in mich. In Folge dieses ruͤhrenden Bestrebens wollte sie eines Sonntags, als wir uns eben zu Tische gesetzt hatten, das Tischgebet einfuͤhren, welches bis dahin nicht uͤblich gewesen in unserm Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein klei¬ nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken hervorbrachte und dann ploͤtzlich verstummte und nicht weiter konnte! — Das Essen dampfte auf dem Tische, es war ganz still in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬ vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen, und sie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da sie mein Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt und sie wurde nun ernstlich bekuͤmmert und sagte: »Warum willst Du nicht beten? Schaͤmst Du Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬ mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es gethan, es doch nicht wahr gewesen waͤre in dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem solchen noch nichts wußte, und das Haͤndefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schuͤsseln wurde zu einer Ceremonie, welche mir alsobald unbesieglich widerstand. Es war nicht Scham vor der Welt, wie es der Priester zu nennen pflegt; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schaͤmen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war? Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selbst nicht sprechen hoͤren, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten. »Nun sollst Du nicht essen, bis Du gebetet hast!« sagte die Mutter, und ich stand auf und ging vom Tische weg in eine Ecke, wo ich in große Traurigkeit verfiel, mit einigem Trotze ver¬ mischt. Meine Mutter aber blieb sitzen und that so, als ob sie essen wuͤrde, obgleich sie es nicht konnte, und es trat eine Art duͤstrer Spannung zwischen uns ein, wie ich sie noch nie gefuͤhlt hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie ging schweigend ab und zu und raͤumte den Tisch ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Staͤubchen darin waͤre, wieder herein und sagte: »Da kannst Du essen, Du eigensinniges Kind!« worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Thraͤnen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ, sobald die heftige Be¬ wegung nachließ. Auf dem Wege zur Schule ließ ich es nicht an einem vergnuͤgten Dankseuf¬ zer fehlen fuͤr die gluͤckliche Befreiung und Ver¬ soͤhnung. Als ich in spaͤteren Jahren im Heimathdorfe auf Besuch war, wurde ich an das Ereigniß leb¬ haft erinnert durch eine Geschichte, welche sich vor mehr als hundert Jahren mit einem Kinde dort zugetragen hatte und einen tiefen Eindruck auf mich machte. In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel eingelassen, welche nichts als ein halbverwittertes Wappen und die Jahrzahl 1713 trug. Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes und erzaͤhlten allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von demselben, wie es ein vornehmes Kind aus der Stadt, aber in das Pfarrhaus, in welchem dazumal ein gottesfuͤrchtiger und strenger Mann wohnte, verbannt gewesen sei, um von seiner Gottlosigkeit und unbegreiflich fruͤhzeitigen Hexerei geheilt zu werden. Dieses sei aber nicht gelun¬ gen; vorzuͤglich habe es nie dazu gebracht wer¬ den koͤnnen, die drei hoͤchsten Namen der Drei¬ einigkeit auszusprechen, und sei in dieser gottlosen Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstor¬ ben. Es sei ein außerordentlich feines und klu¬ ges Maͤdchen in dem zarten Alter von sieben Jahren und dessenungeachtet die alleraͤrgste Hexe gewesen. Besonders haͤtte es erwachsene Manns¬ personen verfuͤhrt und es ihnen angethan, wenn es sie nur angeblickt, daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen boͤse Haͤndel angefangen haͤtten. Sodann haͤtte es seinen Unfug mit dem Gefluͤgel getrieben und insbesondere alle Tauben des Dorfes auf den Pfarrhof gelockt und selbst den frommen Herrn verhext, daß er dieselben oͤfters inbehalten, gebra¬ ten und zu seinem Schaden gespeist habe. Selbst die Fische im Wasser habe es gebannt, indem es Tagelang am Ufer saß und die alten klugen Forellen verblendete, daß sie bei ihm verweilten und in großer Eitelkeit vor ihm herumschwaͤnzel¬ ten, sich in der Sonne spiegelnd. Die alten Frauen pflegten diese Sage als Schreckmaͤnnchen fuͤr die Kinder zu gebrauchen, wenn sie nicht fromm waren, und fuͤgten noch viele seltsame und phantastische Zuͤge hinzu. Im Pfarrhause hin¬ gegen hing wirklich ein altes dunkles Oelgemaͤlde, das Bildniß dieses merkwuͤrdigen Kindes enthal¬ tend. Es war ein außerordentlich zartgebautes Maͤdchen in einem blaßgruͤnen Damastkleide, des¬ sen Saum in einem weiten Kreise starrte und die Fuͤßchen nicht sehen ließ. Um den schlanken feinen Leib war eine goldene Kette geschlungen und hing vorn bis auf den Boden herab. Auf dem Haupte trug es einen kronenartigen Kopf¬ putz aus flimmernden Gold- und Silberblaͤttchen, von seidenen Schnuͤren und Perlen durchflochten. In seinen Haͤnden hielt das Kind den Todten¬ schaͤdel eines andern Kindes und eine weiße Rose. Noch nie habe ich aber ein so schoͤnes, liebliches und geistreiches Kinderantlitz gesehen, wie das blasse Gesicht dieses Maͤdchens; es war eher schmal als rund, eine tiefe Trauer lag darin, die glaͤnzenden dunkeln Augen sahen voll Schwer¬ muth und wie um Huͤlfe flehend auf den Be¬ schauer, waͤhrend um den geschlossenen Mund eine leise Spur von Schalkheit oder laͤchelnder Bitter¬ keit schwebte. Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Fruͤhreifes und Frauen¬ haftes zu verleihen und erregte in dem Beschau¬ enden eine unwillkuͤrliche Sehnsucht, das leben¬ dige Kind zu sehen, ihm schmeicheln und es kuͤs¬ sen zu duͤrfen. Es war auch der Erinnerung des alten Dorfes unbewußt lieb und werth, und in den Erzaͤhlungen und Sagen von ihm war eben so viel unwillkuͤrliche Theilnahme als Abscheu zu bemerken. Die eigentliche Geschichte war nun die, daß das kleine Maͤdchen, einer adeligen, stolzen und hoͤchst orthodoxen Familie angehoͤrig, eine hart¬ naͤckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbuͤcher zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke huͤllte, wenn man ihm vorbetete, und klaͤglich zu schreien anfing, wenn man es in die duͤstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwar¬ zen Manne auf der Kanzel zu fuͤrchten vorgab. Es war ein Kind aus einer ungluͤcklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des An¬ stoßes sein. So beschloß man, als es durch keine Mittel von der unerklaͤrlichen Unart abgebracht werden konnte, das Kind jenem wegen seiner Froͤmmigkeit und Strengglaͤubigkeit beruͤhmten Pfarrherrn versuchsweise in Pflege zu geben. Wenn schon die Familie die Sache als ein be¬ fremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes Ungluͤck auffaßte, so betrachtete der dumpfe, harte Mann dieselbe vollends als eine unheilvolle infer¬ nalische Erscheinung, welcher mit aller Kraft ent¬ gegen zu treten sei. Demgemaͤß nahm er seine Maßregeln, und ein altes vergilbtes „ diarium “, von ihm herruͤhrend und im Pfarrhause aufbe¬ wahrt, enthaͤlt einige Notizen, welche uͤber sein Verfahren, so wie das weitere Schicksal des un¬ gluͤcklichen Geschoͤpfes hinreichenden Aufschluß ge¬ ben. Folgende Stellen habe ich mir ihres selt¬ samen Inhaltes wegen abgeschrieben und will sie diesen Blaͤttern einverleiben und so die Erinne¬ rung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen aufbewahren da sie sonst verloren gehen wuͤrde. „Heute habe ich von der hochgebornen und gottesfuͤrchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld fuͤr das erste Quartal richtig erhalten, alsogleich quittiret und Bericht erstattet. Ferner der kleinen Meret (Emerentia) ihre woͤchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie nackent auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen zuͤchtigte, nicht ohne Lamen ¬ tiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende fuͤhren moͤge. Hat die Kleine zwaren jaͤmmerlich geschrieen und de- und wehmuͤthig um Pardon gebeten, aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmaͤhet, so ich ihr zum Lernen vorgehalten. Habe sie derowegen kuͤrzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still gewor¬ den ist, bis sie urploͤtzlich zu singen und jubili¬ ren angefangen, nicht anders, wie die drey seli¬ gen Maͤnner im Feuerofen, und habe ich zugehoͤ¬ ret und erkennt, daß sie die naͤmliche versificir ¬ ten Psalmen gesungen, so sie sonsten zu lernen refusirete , aber in so unnuͤtzlicher und weltlicher Weise, wie die thoͤrichten und einfaͤltigen Ammen- und Kindslieder haben; so daß ich solches Gebah¬ ren fuͤr ein neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nemen gezwungen ward.« Ferner: »Ist ein hoͤchst lamentables Schreiben arri¬ viret von Madame , welche in Wahrheit eine fuͤr¬ treffliche und rechtglaͤubige Person ist. Sie hat besagten Brief mit ihren Thraͤnen benetzet und mir auch die große Bekuͤmmerniß des Herren Gemahls vermeldet, daß es mit der kleinen Me¬ ret nicht besser gehen will. Und ist dieses gewi߬ lich eine große Calamitaͤt , so diesem hochansehn¬ lichen und beruͤhmten Geschlecht passiret und moͤchte man der Meinung sein, mit Respect zu sagen, daß sich die Suͤnden des Herren Gro߬ papa vaͤterlicher Seits, welches ein gottloser Wuͤ¬ therich und schlimmer Cavalier ware, an diesem armseligen Geschoͤpflein vermerken lassen und re¬ chen. Habe mein Tractament mit der Kleinen changiret und will nunmehr die Hungerkur pro¬ biren . Auch hab ich ein Roͤcklein von grobem Sacktuch durch meine Ehefrau selbsten anfertigen lassen und verbothen, der Meret ein ander Habit anzulegen, sintemal diese Bußkleidung ihr am besten conveniret. Verstocktheit auf dem gleichen Puncto .« »Sahe mich heute gezwungen, die kleine De¬ moiselle von allem Verkehr und Unterhalt mit denen Baurenkindern abzusperren, weill sie mit selbigen in das Holz gelauffen, allda gebadet im Holzweiher, das Bußhemdlein, so ich ihr ordo¬ niret , an ein Baumast gehenkt hat und nackent davor gesprungen und getanzt und auch ihre Ge¬ spanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizet. Betraͤchtliche Correction .« »Heut ein großer Spectakel und Verdruß. Kame ein großer, starker Schlingel, der junge Muͤllerhans, und richtete mir Haͤndel an von wegen der Meret, welche er alltaͤglich schreien und heulen zu hoͤren vorgegeben, und disputirte ich mit demselben, als auch der junge Schul¬ meister, der Tropf, herankam und drohete, mich zu verklagen, und fiel uͤber die schlimme Creatur her, herzete und kuͤssete sie ꝛc. ꝛc. Ließ den Schul¬ meister alsogleich arretiren und zum Landvogt fuͤhren. Dem Muͤllerhans muß ich auch noch bei¬ kommen, obgleich selbiger reich und gewaltthaͤtig ist. Moͤchte bald selber glauben, was die Bauers¬ leute sagen, daß das Kind eine Hexe sei, wenn diese Opinion nicht der Vernunft widerspraͤche. Jeden Falls steckt der Teufel in ihr und habe ich ein schlimmes Stuͤck Arbeit uͤbernommen.« »Diese ganze Woche habe ich einen Maler im Hause tractiret , so mir Madame uͤbersendet, da¬ mit er das Portrait der kleinen Fraͤulein anfer¬ tige. Die bedraͤngte Familie will das Geschoͤpf nicht mehr zu sich nemen und allein zum trauri¬ gen Angedenken und zur bußfertigen Anschauung, auch von wegen der großen Schoͤnheit des Kin¬ des, ein Conterfey behalten. Insbesundere will der Herr nicht von dieser Idee lassen. Meine Ehefrau verabreicht dem Maler alltaͤglich zwei Schoppen Wein, woran er nicht genug zu haben scheinet, da er allabendlich in den rothen Loͤwen gehet und dorten mit dem Chirurgo spielet. Ist ein hochfahrendes Subject und setze ihm daher oͤfter ein Schnepfen oder ein Hechtlein vor, wel¬ ches in dem Quartal Conto der Madame zu ver¬ merken ist. Wollte anfenglich mit der Kleinen sein Wesen und Freundlichkeit treiben und hat sie sich sogleich an ihn attachiret , daher ich ihme be¬ deutet habe, mir in meinem Process nicht zu interveniren . Wie man der Kleinen ihr ver¬ wahrte Habit und Sonntagsstaat herfuͤrgeholt und angelegt benebst der Schapell und der Guͤrtlen, so hat sie großen Plaisir gezeiget und zu tanzen begonnen. Diese ihre Freude ist aber bald ver¬ bittert worden, als ich nach dem Befelch der Frau Mama 1 Todtenschedel hohlen ließe und in die Hand zu tragen gab, welchen sie partout nicht nemen wollen und hernachmalen weinend und zitternd in der Hand gehalten, wie wenn es ein feurig Eisen waͤr. Zwaren hat der Maler be¬ hauptet, er koͤnne den Schedel außwendig malen, weill solcher zu denen allerersten Elementen sei¬ ner Kunst gehoͤre, habe es aber nicht zugegeben, sintemal Madame geschrieben hat: Was das Kind leidet, das leiden auch wir, und ist uns in sei¬ nem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben, so wir fuͤr ihn's thun koͤnnen; derohalb brechen I. 11 Ew. Wohlehrwuͤrden in Nichts ab, Euere Fuͤr¬ sorge und Education betreffend. Wenn das Toͤch¬ terlein dereinst, wie ich zum allmaͤchtigen und barmherzigen Gott verhoffe, hier oder dort er¬ leuchtet und gerettet sein wird, so wird es ohn¬ zweifelhaft sich hoͤchlich erfreuen, ein gutes Theil seiner Buße schon mit seiner Verstocktheit abge¬ than zu haben, welche uͤber ihn's zu verhaͤngen, der unerforschliche Meister beliebt hat!« Diese tapferen Worte vor Augen, habe ich auch diese Gelegenheit fuͤr dienlich erachtet, der Kleinen mit dem Schedel eine ernsthafte Buße anzuthun. Man hat uͤbrigens einen kleinen leichten Kinds¬ schedel gebrauchet, dieweill der Mahler sich be¬ schwehret, daß der große Mannsschedel zu un¬ foͤrmlich seye fuͤr die kleinen Haͤndlein, in Betracht seiner Kunst- Regula und hat sie denselben nach¬ her lieber gehalten; auch hat ihr der Mahler ein weißes Roͤslein dazugesteckt, was ich wohl leiden mochte, weil es als ein gutes Symbolum gelten kann.« »Habe heut ploͤtzlich ein Contreorder erhalten in Betreff des Tableau und soll nun selbiges nicht nach der Stadt spediren , sondern hier be¬ halten. Es ist Schad um die brave Arbeit, so der Mahler gemacht hat, weil er ganz charmi¬ ret war von der Anmuth des Kinds. Haͤtt' ich es fruͤher gewußt, so haͤtt' der Mann fuͤr diesen Kostenaufwand mein eigen Conterfey auf das Tuch mahlen koͤnnen, wenn die schoͤnen Victua¬ lien nebst Lohn einmal drauff gehen sollen. Es ist mir fernerer Befelch zu Handen ge¬ kommen, mit aller weltlichen Instruction abzu¬ brechen, besonders mit dem Franzoͤsischen, da sol¬ ches nicht mehr noͤthig erachtet werde, so wie auch meine Gemahlin mit dem Unterricht auf dem Spinett aufhoͤren solle, was der Kleinen leid zu thun scheinet. Vielmehr soll ich sie fortan als ein einfaches Pflegekind tractiren und allein fuͤrsorgen, daß sie kein oͤffentlich Aergerniß gebe.« »Vorgestern ist uns die kleine Meret deser¬ tiret und haben wir große Angst empfunden, bis daß sie heute Mittag um 12 Uhr zu obrist auf dem Buchberge ausgespuͤret wurde, wo sie ent¬ kleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne saß und sich baß waͤrmete. Sie hatte ihr Haar ganz aufgeflochten und ein Kraͤnzlein von Buchenlaub darauff gesetzet, so wie ein dito Scherpen um den Leib gehenkt, auch ein Quantum schoͤner Erd¬ beeren vor sich liegen gehabt, von denen sie ganz voll und rundlich gegessen war. Als sie unser ansichtig ward, wollte sie wiederum Reißaus ne¬ men, schaͤmete sich aber ihrer Bloͤße und wollte ihr Habitlein uͤberziehen, dahero wir sie gluͤcklich attrapirten . Sie ist nun krank und scheinet con¬ fuse zu sein, da sie keine vernuͤnftige Antwort gibt.« »Mit dem Meretlein gehet es wiederum besser, jedoch ist sie mehr und mehr veraͤndert und wird des Gaͤnzlichen dumm und stumm. Die Consul¬ tation des herbeygeruffenen Medicus verlautet dahin, daß sie irr- oder bloͤdsinnig werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey; er offerirte sich auch zu derselbi¬ gen und hat verheißen, das Kind wieder auf die Beine zu bringen, wenn es in seinem Hause placiret wuͤrde. Ich merke aber schon, daß es dem Monsieur Chirurgo nur um die gute Pen¬ sion benebst denen Praͤsenten von Madame zu thun seye, und berichtete derohalb, was ich fuͤr gut befunden, nemlich daß der Herr seinen Plan nunmehr an ein Ende zu fuͤhren scheine mit sei¬ ner Creatur und daß Menschenhaͤnde hieran Nichts changiren moͤchten und duͤrften, wie es in Wirk¬ lichkeit auch ist.“ Nach Ueberschlagung von fuͤnf bis sechs Mo¬ naten heißt es weiter: „Es scheinet dieses Kind in seinem bloͤden Zustande einer trefflichen Gesundheit zu genießen und hat ganz muntere rothe Backen bekommen. Haͤlt sich nun den ganzen Tag in den Bohnen auf, wo man sie nicht siehet und weiter nicht um sie bekuͤmbert, zumalen sie weiter kein Aergernuß gibet.“ „Das Meretlein hat sich in Mitten des Bohnen¬ plaͤtz ein kleinen Salon arrangiret , so man ent¬ decket, und hat dorten artliche Visiten acceptiret von denen Baurenkindern, welche ihme Obst und andere Victualia zugeschleppet, so sie gar zierlich vergraben und in Vorrath gehalten hat. Daselbst hat man auch jenen kleinen Kindsschedel begra¬ ben gefunden, welcher laͤngst abhanden gekommen und dahero dem Custos nicht restituiret werden konnte. Dergleichen auch die Spatzen und andere Voͤgel herbeygezogen und zahm gemacht, daß die den Bohnen viel Abbruch gethan und ich jedoch nicht mehr in die Bohnenstauden schießen koͤnnen, von wegen der kleinen Insaß. Item hat sie mit einer giftigen Schlangen ihr Spiel gehabt, welche durch den Hag gebrochen und sich bei ihr einge¬ nistet; in summa , man hat sie wieder ins Haus nemen und inne behalten muͤssen.« »Die rothen Backen sind wiederum von ihr gewichen und behauptet der Chirurgus , sie werde es nicht mehr lang praͤstiren . Habe auch schon an die Eltern geschrieben.« »Heut vor Tag schon muß das arme Meret¬ lein aus seinem Bettlein entkommen, in die Boh¬ nen hinauß geschlichen und dort verschieden sein; denn wir haben sie alldort fuͤr todt gefunden in einem Gruͤblein, so sie in den Erdboden hinein gewuͤhlet, als ob sie hineinschluͤpfen wollte. Sie ist ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr Hemdlein feucht und schwer vom Thau, als welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren fast roͤthlichen Waͤnglein gelegen, nicht anders, denn auf einem Apfelblust. Und haben wir einen hef¬ tigen Schrecken bekommen und bin ich in große Verlegenheit und Confusion gerathen den heutigen Tag, dieweill die Herrschaft aus der Stadt an¬ gelanget, just wie meine Ehefrau verreiset ist nach K., um allda einiges Confect und Provision ein¬ zukaufen, damit die Herrschaften hoͤflichst zu re¬ galiren . Wußte derohalb nicht, wo mir der Kopf gestanden und war ein großes Rennen und Laufen, und sollten die Maͤgde das Leichlein waschen und ankleiden, und zugleich fuͤr ein guten Imbiß sorgen. Endlich habe ich den gruͤnen Schinken braten lassen, so meine Frau vor acht Tagen in Essig geleget, und hat der Jakob drei Stuͤck von denen zahmen Forellen gefangen, welche noch hin und wieder an den Garten kommen, obgleich man die selige (?!) Meret nicht mehren zum Wasser hinauß gelassen. Habe zum Gluͤck mit diesen Speißen noch ziemliche Ehre eingele¬ get und haben dieselbigen der Madame wohl ge¬ schmecket. Ist eine große Traurigkeit gewesen und haben wir mehr denn zwei Stunden in Ge¬ beth und Todesbetrachtungen verbracht, desglei¬ chen in melankolischen Reden von der ungluͤck¬ seligen Krankhaftigkeit des verstorbenen Maͤgd¬ leins, da wir nun annemen muͤssen zu unserem vermehrten Trost, daß selbe in einer fatalen Dis¬ position des Bluts und Gehirns ihren Ursprung gehabt. Daneben haben wir auch von den son¬ stigen großen Gaben des Kinds geredet und von seinen oftmaligen klugen und anmuthigen Ein¬ faͤllen und Impromptus und Alles nicht zusammen¬ reimen koͤnnen in unserer irdischen Kurzsichtigkeit. Morgens am Vormittag wird man dem Kind ein Christlich Begraͤbniß geben und ist die Praͤ¬ senz der fuͤrnehmen Eltern dazu kommlich, an¬ sonsten die Pauren sich widersatzen moͤgten.« »Dieses ist der allerwunderbarste und schreck¬ hafteste Tag gewesen, nicht nur allein, seit wir mit dieser unseligen Creatur zu schaffen, sondern der mir uͤberhaupt in meiner ruhsamen Existenz aufgestoßen ist. Denn als die Stunde gekommen und es zehn Uhr geschlagen, haben wir uns hin¬ ter dem Leichlein her in Bewegung gesetzet und nach dem Gottesacker begeben, indessen der Sigrist die kleine Glocken gelaͤutet, was er aber nicht mit sehrem Fleiße gethan, dieweil es fast erbaͤrm¬ lich geklungen und das Gelaͤute zur Halbpart vom starken Winde verschlungen worden, der un¬ wirsch gewehet hat. Und war auch der Himmel ganz dunkel und schwuͤl, sowie der Kirchhof von Menschen entbloͤßet außer unserer kleinen Com ¬ pagnie ‚ hergegen außerhalb denen Mauren die ganze Baursame versammelt und hat neugierig die Koͤpfe heruͤber gerecket. Wie man aber so eben das Todtenbaͤumlein (Todtenbaum = Sarg) in das Grab hinunter senken wollen, hat man ein seltsamen Schrei gehoͤrt aus dem Todten¬ baͤumlein hervor, so daß Wir auf das Heftigste erschrocken sind und der Todtengraͤber auf und davon gesprungen ist. Der Chirurgus aber, wel¬ cher sich auch herzugemachet, hat schleunigst den Deckel losgemacht und abgehebt, und hat sich das Toͤdlein als lebendig aufgerichtet und ist ganz be¬ hende aus dem Graͤblein gekrochen und hat uns angeblicket. Und wie im selbigen Moment die Sonne seltsam und stechend durch die Wolken gedrungen, so hat es in seinem gelblichen Brokat 11 * und mit dem glitzrigen Kroͤnlein ausgesehen, wie ein Feyen- oder Koboltskind. Die Frau Mama ist alsobald in eine starke Ohnmacht verfallen und der Herr v. M. weinend zur Erde gestuͤrzet. Ich selbst habe mich vor Verwunderung und Schrecken nicht geruͤhret und in diesem Moment steif an ein Hexenthum geglaubt. Das Maͤgdlein aber hat sich bald ermannt und ist uͤber den Kirchhof davon und zum Dorf hinaus gesprun¬ gen, wie eine Katz, daß alle Leute voll Entsetzen heimgelaufen sind und ihre Thuͤren verriegelt ha¬ ben. Zu selbiger Zeit ist just die Schulzeit aus gewesen und ist der Kinderhaufen auf die Gasse gekommen, und als das kleine Zeugs die Sache gesehen, hat man die Kinder nicht halten koͤnnen, sondern ist eine große Schaar dem Leichlein nach¬ gelaufen und hat es verfolget und hintendrein ist noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen. Es hat aber immer ein zwanzig Schritt Vor¬ sprung gehabt und nicht eher Halt gemacht, als bis es auf dem Buchberg angekommen und leb¬ los umgefallen ist, worauf die Kinder um dasselbe herumgekrabbelt und es vergeblich gestreichelt und caressiret haben. Dieses Alles haben wir nach der Hand erfahren, weil wir mit großer Noth in das Pfarrhaus uns salviret und in tiefer de¬ solation verharret sind, bis man das Leichlein wiederum gebracht hat. Man hat es auf ein Matraz gelegt und ist die Herrschaft darauf ver¬ reiset mit Hinterlassung einer kleinen Steintafell, worein Nichts als das Familienwappen und Jahr¬ zahl gehauen ist. Nunmehr liegt das Kind wie¬ der fuͤr todt und getrauen wir uns nicht, zu Bett zu gehen aus Furcht. Der Medicus sitzet aber bey ihm und meint nun, es sey endlich zur Ruh gekommen.« »Heute hat der Medicus nach unterschiedlichen Experimenten erklaͤrt, daß das Kind wirklich todt seye und ist es nun in der Stille beigesetzt wor¬ den und nichts Weiteres arrivirt u. s. f.« Sechstes Kapitel. Ich kann nicht sagen, daß, nachdem Gott ein¬ mal die bestimmte und nuͤchterne Gestalt eines Ernaͤhrers und Aushelfers fuͤr mich gewonnen hatte, er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Empfindungen oder hoͤheren Gemuͤthsfreuden er¬ fuͤllt habe, zumal er aus dem glaͤnzenden Gewande des Abendrothes sich verloren, um in viel spaͤte¬ rer Zeit es wieder umzunehmen. Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach, so fuhr sie fort, vorzuͤglich im alten Testamente zu verweilen, bei der Geschichte der Kinder Israel in der Wuͤste, oder bei den Kornhaͤndeln Josephs und seiner Bruͤder, bei der Wittwe Oelkrug, der Aehrenleserin Ruth u. dergl. oder ausnahmsweise bei der Speisung der fuͤnftausend Maͤnner im neuen Testamente. Alle diese Ereignisse gefielen ihr ausnehmend wohl und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor, waͤhrend diese mehr einem unparteiischen und pflichtgemaͤß frommen Erzaͤhlen Raum gab, wenn das bewegte und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde. So sehr ich daher den lieben Gott respectirte und in allen Faͤllen bedachte, so blieben mir doch die Phantasie und das Gemuͤth leer, so lange ich keine neue Nahrung schoͤpfte außer den bisherigen Erfahrungen, und wenn ich keine Veranlassung hatte, irgend einen angelegent¬ lichen Gebetvortrag abzufassen, so war mir Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person, die mich zu allerlei Gruͤbeleien und Sonderbar¬ keiten reizte, zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor. So gereichte es mir eine Zeit lang zu nicht geringer Qual, daß ich eine krankhafte Versuchung em¬ pfand, Gott derbe Spottnamen, selbst Schimpf¬ worte anzuhaͤngen, wie ich sie etwa auf der Straße gehoͤrt hatte. Mit einer Art behaglicher und muthwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung, bis ich nach langem Kampfe nicht mehr widerstehen konnte und im vollen Bewußtsein der Blasphemie eines jener Worte hastig ausstieß, mit der unmittelbaren Ver¬ sicherung, daß es nicht gelten solle und mit der Bitte um Verzeihung; dann konnte ich nicht um¬ hin, es noch einmal zu wiederholen, wie auch die reuevolle Genugthuung, und so fort, bis die selt¬ same Aufregung voruͤber war. Vorzuͤglich vor dem Einschlafen pflegte mich diese Erscheinung zu quaͤlen, obgleich sie nachher keine Unruhe oder Uneinigkeit in mir zuruͤckließ. Ich habe spaͤter gedacht, daß es wohl ein unbewußtes Experiment mit der Allgegenwart Gottes gewesen sei, welche ebenfalls anfing, mich zu beschaͤftigen, und daß schon damals das dunkle Gefuͤhl in mir lebendig gewesen sei: Vor Gott koͤnne keine Minute un¬ seres inneren Lebens verborgen und wirklich straf¬ bar sein, so fern er das lebendige Wesen fuͤr uns sei, fuͤr das wir ihn halten. Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlos¬ sen, welche meiner suchenden Phantasie zu Huͤlfe kam und mich von diesen unfruchtbaren Quaͤle¬ reien erloͤste, indem sie, bei der Einfachheit und Nuͤchternheit meiner Mutter, fuͤr mich das wurde, was sonst sagenreiche Großmuͤtter und Ammen fuͤr die stoffbeduͤrftigen Kinder sind. In dem Hause gegenuͤber befand sich eine offene dunkle Halle, welche ganz mit altem und neuem Troͤdel¬ kram angefuͤllt war. Die Waͤnde waren mit alten Seidengewaͤndern, gewirkten Stoffen und Teppichen aller Art behangen. Rostige Waffen und Geraͤthschaften, schwarze zerrissene Oelgemaͤlde bekleideten die Eingangspfosten und verbreiteten sich zu beiden Seiten an der Außenseite des Hauses; auf einer Menge altmodiger Tische und Geraͤthe stand wunderliches Glasgeschirr und Porcellan aufgethuͤrmt mit allerhand hoͤlzernen und irdenen Figuren vermischt. In den tieferen Raͤumen waren Berge von Betten und Haus¬ geraͤthen uͤbereinandergeschichtet und auf den Hoch¬ ebenen und Absaͤtzen derselben, manchmal auf einem gefaͤhrlichen einsamen Grate, stand uͤberall noch eine schnoͤrkelhafte Uhr, ein Crucifix oder ein waͤchserner Engel u. dergl. mehr. Im tief¬ sten Hintergrunde aber saß jederzeit eine bejahrte, dicke Frau in alterthuͤmlicher Tracht, in einem truͤben Helldunkel, waͤhrend ein noch aͤlteres, spitziges, eisgraues Maͤnnchen mit Huͤlfe einiger Untergebenen in der Halle herumhandthierte und eine zahlreiche Menge Leute abfertigte, welche fortwaͤhrend ab und zu ging. Die Seele des Geschaͤftes war aber die Frau und von ihr aus gingen alle Befehle und Anordnungen, ungeach¬ tet sie sich nie von ihrem Platze bewegte und man sie noch weniger je auf einer Straße gese¬ hen hatte. Sie trug immer bloße Arme und hatte schneeweiße Hemdsaͤrmel, auf eine kuͤnstliche Weise gefaͤltelt, wie man es sonst nirgends mehr sah und es vielleicht vor hundert Jahren schon so getragen wurde. Es war die originellste Frau von der Welt, welche schon vor dreißig Jahren mit ihrem Manne blutarm und unwissend in die Stadt gezogen, um da ihr Brot zu suchen. Nachdem sie mit Tagelohn und saurer Arbeit eine Reihe von muͤhseligen Jahren durchgekaͤmpft hatte, gelang es ihr, einen kleinen Troͤdelkram zu errichten und erwarb sich mit der Zeit durch Gluͤck und Gewandtheit in ihren Unternehmungen einen behaglichen Wohlstand, welchen sie auf die eigenthuͤmlichste Weise beherrschte. Sie konnte nur gebrochen Gedrucktes lesen, hingegen weder schreiben noch in arabischen Zahlen rechnen, welche letzteren es ihr nie zu kennen gelang; sondern ihre ganze Rechnenkunst bestand in einer roͤmi¬ schen Eins, einer Fuͤnf, einer Zehn und einer Hundert. Wie sie diese vier Ziffern in ihrer fruͤ¬ hen Jugend, in einer entlegenen und vergessenen Landesgegend uͤberkommen hatte, uͤberliefert durch einen Jahrtausend alten Gebrauch, so handhabte sie dieselben mit einer merkwuͤrdigen Gewandtheit. Sie fuͤhrte kein Buch und besaß nichts Geschrie¬ benes, war aber jeden Augenblick im Stande, ihren ganzen Verkehr, der sich oft auf mehrere Tausende in lauter kleinen Posten belief, zu uͤber¬ sehen, indem sie mit großer Schnelligkeit das Tischblatt mittelst einer Kreide, deren sie immer einige Endchen in der Tasche fuͤhrte, mit maͤch¬ tigen Saͤulen jener vier Ziffern bedeckte. Hatte sie aus ihrem Gedaͤchtnisse alle Summen solcher¬ gestalt aufgesetzt, so erreichte sie ihren Zweck ein¬ fach dadurch, daß sie mit dem nassen Finger eine Reihe um die andere ebenso flink wieder aus¬ I . 12 loͤschte, als sie dieselben aufgesetzt hatte, und dabei zaͤhlend die Resultate zur Seite aufzeichnete. So entstanden neue kleinere Zahlengruppen, deren Bedeutung und Benennung Niemand kannte, als sie, da es immer nur die gleichen vier nackten Ziffern waren und fuͤr Andere aussahen, wie eine altheidnische Zauberschrift. Dazu kam noch, daß es ihr nie gelingen wollte, mit Bleistift oder Fe¬ der oder auch nur mit einem Griffel auf einer Schiefertafel das gleiche Verfahren vorzunehmen, indem sie nicht nur raͤumlich einer ganzen Tisch¬ platte bedurfte, sondern auch nur mittelst der weichen Kreide ihre markigen Zeichen zu bilden im Stande war. Sie beklagte oft, daß sie sich gar nichts Fixirtes aufbewahren koͤnne, war aber gerade dadurch zu ihrem außerordentlichen Gedaͤcht¬ nisse gelangt, aus welchem jene wimmelnden Zahlenmassen ploͤtzlich gestalt- und lebenvoll er¬ schienen, um ebenso rasch wieder zu verschwinden. Das Verhaͤltniß zwischen Einnahme und Aus¬ gabe machte ihr nicht viel zu schaffen; sie bestritt alle haͤuslichen Beduͤrfnisse und sonstige Ausgaben vorweg aus dem gleichen Seckel, welcher auch den Geschaͤftsverkehr begruͤndete, und wenn eine uͤberfluͤssige Summe Geldes bei einander war, so wechselte sie dieses sogleich in Gold um und ver¬ wahrte dasselbe in ihrer Schatztruhe, wo es fuͤr immer liegen blieb, wenn nicht ein Theil davon fuͤr eine besondere Unternehmung oder fuͤr ein aus¬ nahmsweises Darlehen herausgenommen wurde, da sie sonst auf Zinsen kein Geld auslieh. Sie hatte besonders mit Landleuten von allen Seiten her Verkehr, welche sich ihre geraͤthschaftlichen Beduͤrfnisse bei ihr holten, und gab ihre Waaren Jedermann auf Borg, gewann oft viel dabei und verlor auch oft. So kam es, daß eine Menge von Leuten von ihr abhaͤngig waren oder in einem verbindlichen oder feindlichen Verhaͤltnisse zu ihr standen, und daß sie bestaͤndig von Nach¬ sichtsuchenden oder Bezahlenden umlagert war, welche ihr, zur Beherzigung oder als Dank, die mannigfaltigsten Gaben darbrachten, nicht an¬ ders, als einem alten Landpfleger oder einer reichen Aebtissin. Feld- und Baumfruͤchte jeder Art, Milch, Honig, Trauben, Schinken und Wuͤrste wurden ihr in gewichtigen Koͤrben zuge¬ 12 * tragen, und diese reichlichen Vorraͤthe bildeten die Grundlage zu einem stattlichen Wohlleben, welches alsobald begann, wenn das geraͤuschvolle Gewoͤlbe geschlossen war und in der noch selt¬ sameren Wohnstube das haͤusliche Abendleben zur Geltung kam. Dort hatte Frau Margreth die¬ jenigen Gegenstaͤnde zusammengehaͤuft und als Zierrath angebracht, welche ihr in ihrem Handel und Wandel am besten gefallen hatten, und sie nahm keinen Anstand, etwas fuͤr sich aufzube¬ wahren, wenn es ihr Interesse erweckte. An den Waͤnden hingen alte Heiligenbilder auf Gold¬ grund und in den Fenstern gemalte Scheiben, und allen diesen Dingen schrieb sie irgend eine merkwuͤrdige Geschichte oder sogar geheime Kraͤfte zu, was ihr dieselben heilig und unveraͤußerlich machte, so sehr auch Kenner sich manchmal be¬ muͤhten, die wirklich werthvollen Denkmaͤler ihrer Unwissenheit zu entreißen. In einer Truhe von Ebenholz bewahrte sie goldene Schaumuͤnzen, Ketten, Becher, silberne Filigranarbeiten und andere koͤstliche Spielereien, fuͤr welche sie eine große Vorliebe trug und dieselben nur wieder veraͤußerte, wenn ein besonderer Gewinn sich da¬ mit verband, was oͤfters der Fall war. Endlich war auf einem Wandgestelle eine betraͤchtliche Zahl unfoͤrmlicher alter Buͤcher aufgespeichert, welche sie mit großem Eifer zusammen zu suchen pflegte. Es waren verschiedene Bibeln, alte Kosmographien mit zahllosen Holzschnitten, fabel¬ gespickte Reisebeschreibungen, vorzuͤglich nordische, indische und griechische Mythologien aus dem vorigen Jahrhundert mit großen zusammengefal¬ teten Kupferstichen, welche vielfach zerknittert und zerrissen waren; sie nannte diese naiv geschriebenen Werke schlechtweg Heiden- oder auch Goͤtzenbuͤcher. Ferner hielt sie eine reiche Sammlung solcher Volksschriften, welche Nachricht gaben von einem fuͤnften Evangelisten, von den Jugendjahren Jesu, noch unbekannten Abenteuern desselben in der Wuͤste, von einer Auffindung seines wohl erhaltenen Leichnams nebst Documenten, von der Erscheinung und den Bekenntnissen eines in der Hoͤlle leidenden Freigeistes; einige Chroniken, Kraͤuterbuͤcher und Prophezeiungen vervollstaͤn¬ digten diese Sammlung. Fuͤr Frau Margreth hatte ohne Unterschied Alles, was gedruckt war, sowohl wie die muͤndlichen Ueberlieferungen des Volkes, eine gewisse Wahrheit, und die ganze Welt in allen ihren Spiegelungen, das fernste so¬ wohl wie ihr eigenes Leben, waren ihr gleich wunderbar und bedeutungsvoll; sie trug noch den lebendigen ungebrochenen Aberglauben vergangener kraͤftiger Zeiten an sich ohne Verfeinerung und Schliff. Mit neugieriger Liebe erfaßte sie Alles und nahm es als baare Muͤnze, was ihrer wo¬ genden Phantasie dargeboten wurde, und sie be¬ kleidete es alsbald mit den sinnlich greifbaren Formen der Volksthuͤmlichkeit, welche massiven metallenen Gefaͤßen gleichen, die trotz ihres hohen Alters durch den staͤten Gebrauch immer glaͤn¬ zend geblieben sind. Alle die Goͤtter und Goͤtzen der alten und jetzigen heidnischen Voͤlker beschaͤf¬ tigten sie durch ihre Geschichte sowohl, als durch ihr aͤußeres Aussehen in den Abbildungen, haupt¬ saͤchlich auch daher, daß sie dieselben fuͤr wirk¬ liche lebendige Wesen hielt, welche durch den wahren Gott bekaͤmpft und ausgerottet wuͤrden; das Spuken und Umgehen solcher halb uͤber¬ wundenen schlimmen Kaͤuze war ihr eben so schauerlich anziehend, wie das grauenvolle Trei¬ ben eines Atheisten, unter welchem sie nichts Anderes verstand und verstehen konnte, als einen Menschen, welcher seiner Ueberzeugung von dem Dasein Gottes zum Trotz dasselbe hartnaͤckig und muthwillig laͤugne. Die großen Affen und Wald¬ teufel der suͤdlichen Zonen, von denen sie in ihren alten Reisebuͤchern las, die fabelhaften Meer¬ maͤnner und Meerweibchen waren nichts Anderes, als ganze gottlose, nun verthierte Voͤlker oder solche einzelne Gotteslaͤugner, welche in diesem jammervollen Zustande, halb reuevoll, halb trotzig, Zeugniß gaben von dem Zorne Gottes und sich zugleich allerlei muthwillige Neckereien mit den Menschen erlaubten. Wenn nun am Abend das Feuer prasselte, die Toͤpfe dampften, der Tisch mit den soliden volksthuͤmlichen Leckereien bedeckt wurde und Frau Margreth behaglich und ansehnlich auf ihrem zierlich eingelegten Stuhle saß, so begann sich nach und nach eine ganz andere Anhaͤnger¬ schaft und Gesellschaft einzufinden, als die den Tag uͤber in dem Gewoͤlbe zu sehen war. Es waren dies arme Frauen und Maͤnner, welche, theils durch den Duft des wohlbesetzten Tisches, theils durch die belebte Unterhaltung von hoͤheren Dingen angezogen, hier mannigfache Erholung von den Muͤhen des Tages suchten und fanden. Mit Ausnahme einiger weniger heuchlerischer Schmarotzer hatten sonst Alle ein aufrichtiges Beduͤrfniß, sich durch Gespraͤche und Belehrungen uͤber das, was ihnen nicht alltaͤglich war, zu er¬ waͤrmen und besonders in Betreff des Religioͤsen und Wunderbaren eine kraͤftigere Nahrung zu suchen, als die oͤffentlichen Culturzustaͤnde ihnen darboten. Nichtbefriedigung des Gemuͤthes, un¬ geloͤschter Durst nach Wahrheit und Erkenntniß, erlebte Schicksale, hervorgerufen durch die ver¬ suchte Befriedigung solcher unruhigen Triebe in der sinnlichen Welt, trieben diese Leute hier zu¬ sammen und uͤberdies noch in mancherlei seltsame Secten hinein, von deren innerem Leben und Treiben sich Frau Margreth fleißig Bericht er¬ statten ließ; denn sie selbst war zu weltlich und zu derb, als daß sie so weit gegangen waͤre, dergleichen mitzumachen. Vielmehr tadelte sie mit scharfen Worten die Kopfhaͤnger und wurde sarkastisch und bitter, wenn sie allzu mystischen Unrath merkte. Sie bedurfte das Wunderbare und Geheimnißvolle, aber in der Sinnenwelt, in Leben und Schicksal, in der aͤußern wechsel¬ vollen Erscheinung; von innern Seelenwundern, bevorzugten Stimmungen, Auserwaͤhlten u. dgl. wollte sie nichts hoͤren und kanzelte ihre Gaͤste tuͤchtig herunter, wenn sie mit solchen Dingen auftreten wollten. Außer daß Gott als der kunst- und sinnreiche Schoͤpfer all der wunderbaren Dinge und Vorkommnisse fuͤr sie existirte, war er ihr vorzuͤglich in Einer Richtung noch merk- und preiswuͤrdig: naͤmlich als der treue Beistaͤnder der klugen und ruͤhrigen Leute, welche, mit Nichts und weniger als Nichts anfangend, ihr Gluͤck in der Welt selbst machen und es zu etwas Ordentlichem bringen. Deshalb hatte sie ihre groͤßte Freude an jungen Leuten, welche sich aus einer dunklen duͤrftigen Abkunft heraus durch Talent, Fleiß, Sparsamkeit, Klugheit u. s. f. in eine gute Stellung gearbeitet hatten und wohl gar hohe Protection genossen. Das Heranwach¬ sen des Wohlstandes solcher Schuͤtzlinge war ihr wie eine eigene Sache angelegen, und wenn die¬ selben endlich dahin gediehen waren, einen be¬ haglichen Aufwand mit gutem Gewissen geltend zu machen, so fuͤhlte sie selbst die groͤßte Genug¬ thuung, ihrerseits reichlich beizusteuern und sich des Glanzes mitzufreuen. Sie war von Grund aus wohlthaͤtig und gab immer mit offenen Haͤn¬ den, den Armen und arm Bleibenden im ge¬ woͤhnlichen abgetheilten Maße, denjenigen aber, bei welchen Hab und Gut anschlug, mit wahrer Verschwendung fuͤr ihre Verhaͤltnisse. Es lag meistens ganz in der Natur solcher Emporkoͤmm¬ linge, neben ihren anderweitigen groͤßern Bezie¬ hungen, auch die Gunst dieser seltsamen Frau sorglich zu pflegen, bis sie durch einen juͤngern Nachwuchs endlich verdraͤngt wurden, und so fand man nicht selten diesen oder jenen fein ge¬ kleideten und vornehm aussehenden Mann unter den armen Glaͤubigen, der durch sein gemessenes Betragen dieselben verschuͤchterte und unbehaglich machte. Auch nahmen sie wohl, wenn er ab¬ wesend war, Veranlassung, der Frau Weltsinn und Lust an irdischer Herrlichkeit vorzuwerfen, was dann jedesmal lebhafte Eroͤrterungen und Streitreden hervorrief. Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerb und emsiger Thaͤtigkeit mochte es auch kommen, daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen waren. Die Uner¬ muͤdlichkeit und staͤtige Aufmerksamkeit dieser Menschen, welche oͤfter bei ihr verkehrten und ihre schweren Lasten abstellten, volle Geldbeutel aus unscheinbarer Huͤlle hervorzogen und ihr zum Aufbewahren anvertrauten, ohne irgend ein Wort oder eine Schrift zu wechseln, ihre kindliche Gut¬ muͤthigkeit und neugierige Bescheidenheit neben der unberuͤckbaren Pfiffigkeit im Handeln, ihre strengen Religionsgebraͤuche und biblische Abstam¬ mung, sogar ihre feindliche Stellung zum Chri¬ stenthume und die groben Vergehungen ihrer Voraͤltern machten diese vielgeplagten und ver¬ achteten Leute der guten Frau hoͤchst interessant und gern gesehen, wenn sie sich bei den abend¬ lichen Zusammenkuͤnften vorfanden, am Heerde der Frau Margreth koschern Kaffe kochten oder sich einen billig erstandenen Fisch bucken. Wenn die fromm christlichen Frauen ihnen schonend vorhielten, wie es noch nicht gar zu lange her sei, seit die Juden doch schlimme Kaͤuze gewesen, Christenkinder geraubt und getoͤdtet und Brun¬ nen vergiftet haͤtten, oder wenn Margreth be¬ hauptete, der ewige Jude Ahasverus haͤtte vor zwoͤlf Jahren einmal im »rothen Baͤren« uͤber¬ nachtet, und sie haͤtte selbst zwei Stunden vor dem Hause gepaßt, um ihn abreisen zu sehen, jedoch vergeblich, da er schon vor Tagesanbruch weiter gewandert sei, dann laͤchelten die Juden gar gutmuͤthig und fein, und ließen sich nicht aus ihrer guten Laune bringen. Da sie jedoch ebenfalls Gott fuͤrchteten und eine scharf ausge¬ praͤgte Religion hatten, so gehoͤrten sie noch eher in diesen Kreis, als man zwei weitere Personen darin vermuthet haͤtte, welche allerdings irgend anderswo zu suchen waren, als gerade hier; und doch schienen sie eine Art unentbehrlichen Salzes fuͤr die wunderliche Mischung zu sein. Es waren dies zwei erklaͤrte Atheisten. Der Eine, ein schlichter, einsilbiger Schreinersmann, welcher schon manches Hundert Saͤrge gefertigt und zu¬ genagelt hatte, war ein braver Mann und er¬ klaͤrte dann und wann einmal mit duͤrren Wor¬ ten, er glaube eben so wenig an ein ewiges Le¬ ben, als man von Gott etwas wissen koͤnne. Im Uebrigen hoͤrte man nie eine freche Rede oder ein Spottwort von ihm; er rauchte gemuͤth¬ lich sein Pfeifchen und ließ es uͤber sich ergehen, wenn die Weiber mit fließenden Bekehrungsreden uͤber ihn herfuhren. Der Andere war ein be¬ jahrter Schneidersmann mit grauen Haaren und muthwilligem, unnuͤtzem Herzen, der schon mehr als einen schlimmen Streich veruͤbt haben mochte. Waͤhrend Jener sich still und leidend verhielt und nur selten mit seinem duͤrren Glaubensbekennt¬ nisse hervortrat, verfuhr dieser angriffsweise und machte sich ein Vergnuͤgen daraus, die glaͤubigen Seelen durch derbe Zweifel und Verlaͤugnungen, rohe Spaͤße und Profanationen zu verletzen und zu erschrecken, als ein rechter Eulenspiegel das ein¬ faͤltige Wort zu verdrehen und mit dick aufge¬ tragenem Humor in den armen Leuten eine suͤnd¬ hafte Lachlust zu reizen. Er besaß weder großen Verstand, noch Pietaͤt fuͤr irgend etwas, selbst fuͤr die Natur nicht, und schien einzig ein per¬ soͤnliches Beduͤrfniß zu haben, das Dasein Got¬ tes zu laͤugnen oder wegzuwuͤnschen, indessen der Schreiner sich bloß nicht viel daraus machte, hingegen auf seinen Wanderjahren die Welt auf¬ merksam betrachtet hatte, sich fortwaͤhrend noch unterrichtete und von allerlei merkwuͤrdigen Din¬ gen mit Liebe zu sprechen wußte, wenn er auf¬ thaute. Der Schneider fand nur Gefallen an Raͤnken und Schwaͤnken und laͤrmenden Zaͤnke¬ reien mit den begeisterten Weibern; auch sein Verhalten zu den Juden, gegenuͤber demjenigen des Sargmachers, war bezeichnend. Waͤhrend Jener wohlwollend und freundlich mit ihnen ver¬ fuhr, als mit Seinesgleichen, neckte und quaͤlte sie der Schneider, wo er nur konnte, und ver¬ folgte sie mit aͤcht christlichem Uebermuthe mit allen trivialen Judenspaͤßen, die ihm zu Gebote standen, so daß die armen Teufel manchmal wirklich boͤse wurden und die Gesellschaft ver¬ ließen. Frau Margreth pflegte alsdann auch ungeduldig zu werden und verwies den Daͤmon aus dem Hause; aber er fand sich bald wieder ein und wurde immer wieder gelitten, wenn er sein altes Wesen mit etwas Vorsicht und glatten Worten wieder begann. Es war, als wenn die viel redenden und disputirenden Genossen seiner als eines lebendigen Exempels des Atheismus bedurften, wie sie ihn verstanden; denn dies war er am Ende auch, indem es sich nicht undeutlich erwies, daß er den Gedanken Gottes und der Unsterblichkeit mehr zu unterdruͤcken suchte, weil er ihn in einem, kleinlichen und nutzlosen Treiben beschraͤnkte und belaͤstigte, und als er spaͤterhin starb, that er dies so verzagt und zerknirscht, heulend und zaͤhneklappend und nach Gebet ver¬ langend, daß die guten Leute einen glaͤnzenden Triumph feierten, indessen der Schreiner eben so ruhig und unangefochten seinen letzten Sarg hobelte, welchen er sich selbst bestimmte, wie einst seinen ersten. Dieser Art war die Versammlung, welche an vielen Abenden, zumal im Winter, bei Frau Margreth zu treffen war, und ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich ploͤtzlich am Tage oft in dem kurzweiligen Gewoͤlbe mitten unter den Geschaͤftigen und am Abend zu den Fuͤßen der Frau sitzen fand, welche mich in große Gunst genommen hatte. Ich zeichnete mich durch meine große Aufmerksamkeit aus, wenn die wunder¬ barsten Dinge von der Welt zur Sprache kamen. Die theologischen und moralischen Untersuchungen verstand ich freilich in den ersten Jahren noch nicht, obschon sie oft kindlich genug waren; jedoch nahmen sie auch schon damals nicht zu viele Zeit in Anspruch, da sich die Gesellschaft immer bald genug auf das Gebiet der Begeben¬ heiten und sinnlichen Erfahrungen, und damit auf eine Art von naturphilosophischem Feld hinuͤber verfuͤgte, wo ich ebenfalls zu Hause war. Man suchte vorzuͤglich die Erscheinungen der Geister¬ welt, so wie die Ahnungen, Traͤume u. s. w. in lebendigen Zusammenhang zu bringen, und drang mit neugierigem Sinne in die geheimnißvollen Localitaͤten des gestirnten Himmels, in die Tiefe des Meers und der feuerspeienden Berge, von denen man hoͤrte, und Alles wurde zuletzt auf die religioͤsen Meinungen zuruͤckgefuͤhrt. Es wur¬ den Buͤcher von Hellsehenden, Berichte uͤber merkwuͤrdige Reisen durch verschiedene Himmels¬ koͤrper und andere aͤhnliche Aufschluͤsse gelesen, nachdem sie der Frau Margreth zur Anschaffung empfohlen worden, und alsdann daruͤber ge¬ sprochen und die Phantasie mit den kuͤhnsten Gedanken angefuͤllt. Der Eine oder Andere fuͤgte dann noch aufgeschnappte Berichte aus der Wissenschaft hinzu, wie er von dem Bedienten eines Sternguckers gehoͤrt hatte, daß man durch dessen Fernrohr lebendige Wesen im Monde und feurige Schiffe in der Sonne sehen koͤnne. Frau Margreth hatte immer die lebendigste Einbil¬ dungskraft und bei ihr ging Alles in Fleisch und Blut uͤber. Sie pflegte mehrmals in der Nacht aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen, um nachzusehen, was in der stillen dunklen Welt vorging, und immer entdeckte sie einen verdaͤchtigen Stern, der nicht wie gewoͤhn¬ lich aussah, ein Meteor oder einen rothen Schein, welch' Allem sie gleich einen Namen zu geben wußte. Alles war ihr von Bedeutung I. 13 und belebt; wenn die Sonne in ein Glas Was¬ ser schien und durch dasselbe auf den hell polirten Tisch, so waren die sieben spielenden Farben fuͤr sie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten, welche in der Sonne selbst sein sollten. Sie sagte: Seht ihr denn nicht die schoͤnen Blumen und Kraͤnze, die gruͤnen Gelaͤnder und die rothen Seidentuͤcher? diese goldenen Gloͤcklein und diese silbernen Brunnen? und so oft die Sonne in die Stube schien, machte sie das Experiment, um ein wenig in den Himmel zu sehen, wie sie meinte. Ihr Mann und der Schneider lachten sie dann aus, und der Erste nannte sie eine phantastische Kuh. Jedoch auf einem festeren Boden stand sie, wenn von Geistererscheinungen die Rede war, denn hier hatte sie feste und un¬ laͤugbare Erfahrungen die Menge, welche sie schon Schweiß genug gekostet hatten, und fast alle Andern wußten auch davon zu erzaͤhlen. Seit sie nicht mehr aus dem Hause kam, waren freilich ihre Erlebnisse auf ein haͤufiges Pochen und Rumoren in alten Wandschraͤnken und etwa auf das Umherschleichen eines schwarzen Schafes in der naͤchtlichen Straße beschraͤnkt, wenn sie um Mitternacht oder gegen Morgen ihre In¬ spectionen aus dem Fenster hielt. Ausnahms¬ weise begegnete es ihr noch ein Mal, daß sie ein kleines Maͤnnchen vor der Hausthuͤr entdeckte, welches, waͤhrend sie mit scharfen kritischen Augen dasselbe beobachtete, ploͤtzlich in die Hoͤhe wuchs bis unter ihr Fenster, daß sie dasselbe kaum noch zu schlagen und sich in's Bett fluͤchten konnte. Hingegen in ihrer Jugend war es leb¬ hafter hergegangen, als sie, besonders noch auf dem Lande, bei Tag und Nacht durch Feld und Wald zu gehen hatte. Da waren kopflose Maͤn¬ ner stundenweit ihr zur Seite gegangen und naͤher geruͤckt, je eifriger sie betete, umgehende Bauern standen auf ihren ehemaligen Grund¬ stuͤcken und streckten flehend die Hand nach ihr aus, Gehenkte rauschten von hohen Tannen her¬ nieder mit schreckbarem Geheul und liefen ihr nach, um in den heilsamen Bereich einer guten Christin zu kommen, und sie schilderte mit er¬ greifenden Worten den peinlichen Zustand, in dem sie sich befand, wenn sie nicht unterlassen konnte, 13* die unheimlichen Gesellen von der Seite anzu¬ schielen, waͤhrend sie doch wußte, daß dieses hoͤchst schaͤdlich sei. Einige Male war sie auch ganz aufgeschwollen auf der Seite, wo die Ge¬ spenster gelaufen waren, und mußte den Doctor herbeirufen. Ferner erzaͤhlte sie von den Zaube¬ reien und boͤsen Kuͤnsten, welche zur Zeit ihrer Jugend, gegen das Ende des vorigen Jahrhun¬ derts, noch gang und gaͤbe waren unter den Bauern. Da waren in ihrer Heimath reiche gewaltige Bauernfamilien, welche alte Heiden¬ buͤcher besaßen, mittelst deren sie den schlimmsten Unfug trieben. Daß sie mit offener Flamme Loͤcher durch Strohbunde brennen konnten, ohne diese zu zerstoͤren, oder auf dem Wasser gehen, oder den Rauch aus den Schornsteinen in be¬ liebiger Richtung aufsteigen und possierliche Figu¬ ren bilden zu lassen verstanden, gehoͤrte nur zu den unschuldigen Scherzen. Aber graͤulich war es, wenn sie ihre Feinde langsam toͤdteten, indem sie fuͤr dieselben drei Naͤgel in einen Weiden¬ baum schlugen unter den gehoͤrigen Spruͤchen (Margreth's Vater siechte lange Zeit in Folge dieser freundschaftlichen Manipulation, bis sie entdeckt und er durch Kapuziner gerettet wurde), oder wenn sie den armen Leuten das Korn in der Aehre verbrannten, um sie nachher zu ver¬ hoͤhnen, wenn sie hungerten und Noth litten. Man hatte zwar die Genugthuung, daß der Teufel den Einen oder Andern mit großem Auf¬ wand abholte, wenn er reif war; allein das ge¬ rieth den gerechten Leuten selbst wieder zum Schrecken, und es war eben nicht angenehm, den blutigen Schnee und die gelassenen Haare auf dem Platze zu sehen, wie es der Erzaͤhlerin selbst begegnet war. Solche Bauern hatten Geld genug und maßen es bei Hochzeiten und Leichen¬ feiern einander in Scheffeln und Wannen zu. Die Hochzeiten waren dazumal noch sehr gro߬ artig. Sie hatte selbst noch eine solche gesehen, wo saͤmmtliche Gaͤste, Maͤnner und Weiber, be¬ ritten waren und nahe an hundert Pferde bei¬ sammen. Die Weiber trugen Kronen von Flit¬ tergold und seidene Kleider mit drei- bis vierfach umgewundenen Ketten von zusammengerollten Ducaten; aber der Teufel ritt unsichtbar mit, und es ging nach dem Nachtessen nicht am ehr¬ barsten zu. Diese Bauern hatten waͤhrend einer großen Hungersnoth in den siebziger Jahren ihren Hauptspaß daran, mit zwoͤlf Dreschern in weit geoͤffneten Scheunen zu dreschen, dazu einen blinden Geiger aufspielen zu lassen, welcher auf einem großem Brote sitzen mußte, und nachher, wenn genug hungrige Bettler vor der Scheune versammelt waren, die grimmigen Hunde in den wehrlosen Haufen zu hetzen. Bemerkenswerth war es, daß der Volksglaube diese reichen Dorf¬ tyrannen vielfach die verbauerten Nachkommen der alten Zwingherren sein ließ, unter welchen man alle ehemaligen Bewohner der vielen Bur¬ gen und Thuͤrme verstand, die im Lande zer¬ streut waren. Ein anderes ergiebiges Feld fuͤr abenteuerliche Kunden war der Katholicismus mit seinen hinterlassenen leeren Klosterraͤumen und den noch lebendigen Kloͤstern, welche etwa in der katholisch gebliebenen Nachbarschaft sich befanden. Dazu trugen die Ordensgeistlichen der letztern Vieles bei, besonders die Kapuziner, welche sich heute noch mit den Scharfrichtern freundschaftlich in die Arbeit theilen, bei den aberglaͤubischen reformirten Bauern Teufelsban¬ nerei und Sympathie-Kuͤnste zu treiben. In den abgelegenen Landesgegenden herrschte damals ein bewußtloser verkommener Protestantismus; die Landleute standen nicht etwa uͤber den katho¬ lischen, als hinwegsehend uͤber verdummte Men¬ schen, sondern sie glaubten alle Maͤhrchen dersel¬ ben getreulich mit, nur hielten sie den Inhalt fuͤr uͤbel und verwerflich, und sie lachten nicht uͤber den Katholicismus, sondern sie fuͤrchteten sich vor demselben, als vor einer unheimlichen heidnischen Sache. Eben so wenig, als es ihnen moͤglich war, sich unter einem Freigeiste einen Menschen vorzustellen, welcher wirklich in seinem Innern Nichts glaube, so wenig waren sie im Stande, von Jemandem anzunehmen, daß er zu Vieles glaube; ihr Maaß bestand einzig darin, sich nur zu denjenigen geglaubten Dingen zu be¬ kennen, welche vom Guten und nicht vom Boͤ¬ sen seien. Der Mann der Frau Margreth, Vater Jakob¬ lein genannt, von ihr schlechthin Vater, war funfzehn Jahre aͤlter als sie, und naͤherte sich den Achtzigen. Er besaß eine fast eben so leb¬ hafte Einbildungskraft, wie seine Frau, dabei reichten seine Erinnerungen noch tiefer in die Sagenwelt der Vergangenheit zuruͤck; doch faßte er Alles von einer spaßhaften Seite auf, da er von jeher ein spaßhaftes und ziemlich unnuͤtzes Maͤnnlein gewesen war, und so wußte er eben so viel laͤcherlichen Spuck und verdrehte Men¬ schengeschichten zu erzaͤhlen, als seine Frau ernst¬ hafte und schreckliche. In seine fruͤhste Jugend waren noch die letzten Hexenprocesse gefallen, und er beschrieb mit Humor aus der muͤndlichen Ueberlieferung geschoͤpfte Hexensabathe und Ban¬ kette ganz genau so, wie man sie noch in den actenmaͤßigen Geschichten jener Processe, in den weitlaͤufigen Anklagen und erzwungenen Gestaͤnd¬ nissen liest. Dieses Gebiet sagte ihm besonders zu, und er versicherte feierlich von einigen selt¬ samen Personen, daß sie sehr wohl auf dem Besenstiele zu reiten verstaͤnden, versprach auch von einem Tage zum andern, so lange er lebte, von einem Hexenmeister seiner Bekanntschaft die Salbe herbeizuschaffen, mit welcher die Besen bestrichen wuͤrden, um darauf aus dem Schorn¬ steine fahren zu koͤnnen. Dieses gedieh mir im¬ mer zum groͤßten Jubel, besonders wenn er mir die projectirte Fahrt bei schoͤnem Wetter, wo ich dann vorn auf dem Stiele sitzen sollte, von ihm festgehalten, mit lustigen Aussichten ausmalte. Er nannte mir manchen schoͤnen Kirschbaum auf einer Hoͤhe, oder einen trefflichen Pflaumenbaum aus seiner Bekanntschaft, bei welchem Halt ge¬ macht und genascht, oder einen delicaten Erd¬ beerschlag in diesem oder jenem Walde, wo tapfer geschmaust werden solle, indessen der Besen an eine Tanne gebunden wuͤrde. Auch benach¬ barte Jahrmaͤrkte wollten wir besuchen und in die verschiedenen Schaubuden, ohne Eintrittsgeld, durch das Dach eindringen. Bei einem befreun¬ deten Pfarrherrn auf einem Dorfe muͤßten wir freilich, wenn wir anders von seinen beruͤhmten Wuͤrsten etwas zu beißen bekommen wollten, den Besen im Holze verstecken und vorgeben, wir seien zu Fuß gekommen, um bei dem herrlichen Wetter den Herrn Pfarrer ein Bischen heimzu¬ suchen; hingegen bei einer reichen Hexenwirthin in einem andern Dorfe muͤßten wir keck zum Schornstein hineinfahren, damit sie, in der thoͤ¬ richten Meinung, ein Paar angehender hoff¬ nungsvoller Hexer bei sich zu sehen, uns mit ihren vortrefflichen Pfannkuchen mit Speck und mit frischem Honig ohne Ruͤckhalt bewirthe. Daß unterwegs auf hohen Baͤumen und Felsen Einsicht in die seltensten Vogelnester genommen und das Tauglichste von jungen Voͤgeln ausge¬ sucht wuͤrde, verstand sich von selbst. Wie alles ohne Schaden zu unternehmen sei, dafuͤr hatte er bereits eine Auskunft und kannte die Formel, mit welcher der Teufel, nach beendigtem Ver¬ gnuͤgen, um seinen Theil gebracht wuͤrde. Auch in dem Gespensterwesen war er sehr erfahren: doch auch hier verdrehte sich ihm Alles zum Lustigen. Die Angst, welche er bei seinen Abenteuern empfunden, war immer eine hoͤchst komische und endete oͤfter mit einem pfiffigen Streiche, welchen er den Quaͤlgeistern spielte. Auf diese Weise ergaͤnzte er trefflich das phantastische Wesen seiner Frau, und ich hatte so die Gelegenheit, unmittelbar aus der Quelle zu schoͤpfen, was man sonst den Kindern der Gebildeten in eigenen Maͤhrchenbuͤchern zurecht macht. Wenn der Stoff auch nicht so rein und zierlich unbefangen war, wie in diesen, und nicht fuͤr eine so unschuldige kindliche Moral berechnet, so enthielt er nichts desto weniger immer eine menschliche Wahrheit und machte, besonders da in dem vielfaͤltigen Sammelkrame der Frau Margreth eine reiche Fundgrube die sinnliche An¬ schauung vervollstaͤndigte, meine Einbildungs¬ kraft freilich etwas fruͤhreif und fuͤr starke Ein¬ druͤcke empfaͤnglich, etwa wie die Kinder des Volkes fruͤh an die kraͤftigen Getraͤnke der Er¬ wachsenen gewoͤhnt werden, ohne zu verderben. Denn was ich hoͤrte, beschraͤnkte sich nicht allein auf diese uͤbersinnliche Fabelwelt; sondern die Leute besprachen auch auf die leidenschaftlichste Weise ihre eigenen und fremde Schicksale, und hauptsaͤchlich das lange Leben der Frau Margreth und ihres Mannes war reich an ernsten und heitern Geschichten, an Beispielen der Gerechtig¬ keit und Ungerechtigkeit, der Gefahr, Noth, Ver¬ wicklung und Befreiung; Hunger, Krieg, Auf¬ ruhr und Pestilenz hatten sie gesehen; jedoch ihr eigenes Verhaͤltniß zu einander war so sonder¬ bar von Leidenschaften bewegt, und es traten so urspruͤnglich daͤmonische Gewalten der Menschen¬ natur darin zu Tage, daß ich mit kindlich er¬ stauntem Auge in die wilde Flamme sah und fuͤr ein spaͤteres Verstaͤndniß schon tiefe Eindruͤcke empfing. Waͤhrend naͤmlich die Frau Margreth die be¬ wegende und erhaltende Kraft in ihrem Haus¬ halte war, den Grund zum jetzigen Wohlstand gelegt hatte und jederzeit das Heft in den Haͤn¬ den hielt, war ihr Mann einer von denjenigen, welche nichts Erkleckliches gelernt haben, noch sonst thun koͤnnen, und daher darauf angewiesen sind, mehr den Handlanger einer thatkraͤftigen Frau zu machen und auf eine muͤßige Weise unter dem Schilde ihres Regimentes ein weich¬ liches ruhmloses Dasein zu fuͤhren. Als die Frau, besonders in fruͤhern Jahren, durch kecke Be¬ nutzung der Zeitlaͤufe und durch wahrhaft geist¬ volle Unternehmungen und originelle Handstreiche in woͤrtlichem Sinne Gold zusammenhaͤufte, spielte er nur die Rolle eines dienstbaren Haus¬ koboldes, welcher, wenn er seine Handleistungen gethan hatte, mit dem, was ihm die Frau gab, sich guͤtlich that und dazu allerhand Spaͤße trieb, welche maͤnniglich ergoͤtzten. Seine unmaͤnnliche Rathlosigkeit und Unzuverlaͤssigkeit, die Erfah¬ rung, daß sie in kritischen Faͤllen nie einen kraͤf¬ tigen Schutz in ihm fand, ließen Frau Margreth auch seine sonstige Nuͤtzlichkeit uͤbersehen und er¬ klaͤrten die Ruͤcksichtslosigkeit, mit welcher sie ihn ohne Weiteres von der Mitherrschaft uͤber die Geldtruhe ausschloß. Es hatte auch lange Zeit keines von Beiden ein Arges dabei, bis einige Ohrenblaͤser, worunter auch jener raͤnkesuͤchtige Schneider, dem Manne das Demuͤthigende seiner Lage vorhielten und ihn aufhetzten, endlich eine gesetzliche Theilung des Erworbenen und voll¬ staͤndige Mitherrschaft zu verlangen. Sogleich schwoll ihm der Kamm gewaltig und er drohte, die schlimmen Rathgeber hinter sich, der bestuͤrzten Frau mit den Gerichten, wenn sie nicht seinen Antheil an dem »gemein¬ schaftlich erworbenen« Gute herausgaͤbe. Sie fuͤhlte wohl, daß es sich mehr um einen gewalt¬ samen Raub, als um ein ehrliches Mitwirken zu thun sei, und straͤubte sich mit aller Kraft dagegen, zumal sie wohl wußte, daß sie nach wie vor die einzig erhaltende Kraft im Hause sein wuͤrde. Sie hatte aber die Gesetze gegen sich, da diese nicht auf eine Ausscheidung der bei¬ tragenden Kraͤfte eingehen konnten, und zudem gab der Mann vor, sich allerlei muthwilliger Anklagen bedienend, sich nach geschehener Thei¬ lung von ihr trennen zu wollen, so daß sie be¬ taͤubt und uͤberfuͤhrt wurde und, krank und halb bewußtlos, die Haͤlfte von allem Besitze heraus¬ gab. Er naͤhete sogleich seine schimmernden Goldstuͤcke, je nach der Art, in lange, seltsame Beutel, legte dieselben in einen Koffer, den er am Boden festnagelte, setzte sich darauf und schlug seinen Helfershelfern, welche auch ihren Antheil zu erschnappen gehofft hatten, ein Schnippchen. Im Uebrigen blieb er bei seiner Frau und lebte nach wie vor bei und von ihr, indem er nur dann zu seinem Schatze griff, wenn er eine Privatliebhaberei befriedigen wollte. Sie erholte sich indessen wieder und hatte nach einiger Zeit ihren eigenen Schatz wieder vervoll¬ staͤndigt und mit den Jahren verdoppelt; aber ihr einziger Gedanke war seit jenem Tage der Theilung, mit der Zeit wieder in den Besitz des Entrissenen zu gelangen, und das war nur moͤg¬ lich durch den Tod ihres Mannes. Daher ging ihr jedesmal ein Stich durch das Herz, wenn er ein Goldstuͤck umwechselte, und sie harrte un¬ verwandt auf seinen Tod. Er hingegen wartete eben so sehnlich auf den ihrigen, um Herr und Meister des ganzen Vermoͤgens zu werden und in voller Unabhaͤngigkeit den Rest seines langen Lebens zuzubringen. Dieses grauenhafte Ver¬ haͤltniß hatte man freilich auf den ersten Blick nicht geahnt; denn sie lebten zusammen wie zwei gute alte Leutchen und nannten sich nur Vater und Mutter. Insbesondere war die Margreth in allem Einzelnen auch gegen ihn die gute und verschwenderische Frau, die sie sonst war, und sie haͤtte vielleicht ohne den vierzigjaͤhrigen Lebens¬ genossen und sein spaßhaftes Umhertreiben nicht einen Tag leben koͤnnen; auch ihm war es mitt¬ lerweile wohl genug und er besorgte mit humo¬ ristischer Geschaͤftigkeit die Kuͤche, waͤhrend sie im Kreise ihrer schwaͤrmerischen Genossen die uͤberfuͤllte Phantasie entzuͤgelte. Doch in jeder Jahreszeit ein Mal, wenn in der Natur die gro¬ ßen Veraͤnderungen geschahen und die alten Men¬ schen an die schnelle Vergaͤnglichkeit ihres Lebens erinnerten und ihre koͤrperlichen Gebrechen fuͤhl¬ barer wurden, erwachte, meistens in dunklen schlaflosen Naͤchten, ein entsetzlicher Streit zwi¬ schen ihnen, daß sie aufrecht in ihrem breiten alterthuͤmlichen Bette saßen, unter dem Einen buntbemalten Himmel, und bis zum Morgen¬ grauen, bei geoͤffneten Fenstern, sich die toͤdtlichen Beleidigungen und Zankworte zuschleuderten, daß die stillen Gassen davon wiederhallten. Sie warfen sich die Vergehungen einer fern abliegen¬ den, sinnlich durchlebten Jugend vor und riefen Dinge durch die lautlose Nacht aus, welche lange vor der Wende dieses Jahrhunderts, in Bergen und Gefilden geschehen, wo seitdem ganze dichte Waͤlder entweder gewachsen oder verschwunden, und deren Theilnehmer laͤngst in ihren Graͤbern vermodert waren. Dann stellten sie sich daruͤber zur Rede, welchen Grund das Eine denn zu ha¬ ben glaube, das Andere uͤberleben zu koͤnnen? und verfielen in einen elenden Wettstreit, welches von ihnen wohl noch die Genugthuung haben werde, das Andere todt vor sich zu sehen. Wenn man am Tage darauf in ihr Haus kam, so wurde der graͤuliche Streit vor jedem Eintreten¬ den, ob fremd oder bekannt, fortgefuͤhrt, bis die Frau erschoͤpft war und in Weinen und Beten verfiel, indeß der Mann anscheinend munterer wurde, lustige Weisen pfiff, sich einen Pfann¬ kuchen backte und fortwaͤhrend irgend eine Flause dazu hermurmelte. Er konnte auf diese Weise einen ganzen Morgen hindurch Nichts sagen, als immer: Einundfunfzig! einundfunfzig! ein¬ undfunfzig! oder zur Abwechslung einmal: Ich weiß nicht, ich glaube immer, die alte Kunzin da druͤben ist heute fruͤh spazieren geritten! sie hat gestern einen neuen Besen gekauft! ich habe so was in der Luft flattern sehen, das sah unge¬ faͤhr aus, wie ihr rother Unterrock; sonderbar! I. 14 hm! einundfunfzig u. s. f. Dabei hatte er Gift und Tod im Herzen und wußte, daß seine Frau durch das Betragen doppelt litt; denn sie hatte keine Bosheit noch Muthwillen, um den Kampf auf diese Weise fortzusetzen. Was aber Beide in diesem Zustande sich zu Leide thaten, bestand dann gewoͤhnlich in einer verschwenderischen Frei¬ gebigkeit, womit sie Alles beschenkten, was ihnen nahe kam, gleichsam als wollte Eines vor des Anderen Augen den Besitz aufzehren, nach dem ein Jedes trachtete. Der Mann war gerade kein gottloser Mensch, sondern ließ, indem er in der gleichen wunder¬ lichen Art, wie an Gespenster und Hexen, so auch an Gott und seinen Himmel glaubte, den¬ selben einen guten Mann sein und dachte nicht im Mindesten daran, sich auch um die moralischen Lehren zu bekuͤmmern, welche aus diesem Glau¬ ben entspringen mußten; er aß und trank, lachte und fluchte und machte seine Schnurren, ohne je zu trachten, sein Leben mit einem ernstern Grundsatze in Einklang zu bringen. Aber auch der Frau fiel es niemals ein, daß ihre Leiden¬ schaften mit dem religioͤsen Gebahren im Wider¬ spruche sein koͤnnten, und sie zeichnete sich vor ihren Glaubensschwestern darin aus, daß sie nie¬ mals dem Ausdrucke dessen, was sie bewegte, einen Zuͤgel anlegte. Sie liebte und haßte, segnete und verwuͤnschte und gab sich unverhuͤllt und ungehemmt allen Regungen ihres Gemuͤthes hin, ohne je an eine eigene moͤgliche Schuld zu denken und sich unbefangener Weise stets auf Gott und seinen maͤchtigen Einfluß berufend. Jede der Ehehaͤlften hatte eine zahlreiche Ver¬ wandtschaft blutarmer Leute, welche im Lande zerstreut wohnten. Diese theilten unter sich die Hoffnung auf das gewichtige Erbe um so mehr, als Frau Margreth, zufolge ihrer hartnaͤckigen Abneigung gegen unverbesserlich arm Bleibende, ihnen nur spaͤrliche Gaben von ihrem Ueberflusse zukommen ließ und sie nur an Feiertagen gast¬ lich speiste und traͤnkte. Alsdann erschienen von beiden Seiten her die alten Vettern und Basen, Schwestern und Schwaͤger mit ausgehungerten langnasigen Toͤchtern und bleichen Soͤhnen, und trugen Saͤcklein und Koͤrbe herbei, welche die kuͤmmerlichen Gaben ihrer Armuth enthielten, um die alten launenhaften Leute fuͤr sich zu ge¬ winnen, und worin sie reichere Gegenspenden nach Hause zu tragen hofften. Diese Sippschaft war schroff in zwei Lager geschieden, welche sich nach dem Streite, der zwischen den Hauptper¬ sonen herrschte, ebenfalls den Hoffnungen auf den fruͤheren Tod des Gegners hingaben, um einst ein vergroͤßertes Erbe zu erhalten. Sie haßten und befeindeten sich eben so stark unter einander, als die Leidenschaften Margreth's und ihres Mannes das Vorbild dazu abgaben, und es entstand jedesmal, nachdem die zahlreiche Ge¬ sellschaft sich an dem ungewohnten Ueberflusse ge¬ saͤttigt und gewaͤrmt hatte und der Uebermuth den anfaͤnglichen Zwang aufloͤste, ein maͤchtiger Zank zwischen beiden Parteien, daß sich die Maͤnner die uͤbrig gebliebenen Schinken, ehe sie dieselben in ihre Quersaͤcke steckten, um die Koͤpfe schlugen und die armen Weiber sich gegen¬ seitig unter die blassen spitzigen Nasen schimpften und uͤber dem befriedigten Magen ein Herz voll Neid und Aerger auf den Heimweg trugen. Ihre Augen funkelten stechend unter den duͤrftig aufgeputzten Sonntagshauben hervor, wenn sie mit langen Schritten, die vollgepfropften Buͤn¬ del unter dem Arme, aus dem Thore zogen und sich grollend auf den Scheidewegen trennten, um den entlegenen Huͤtten zuzueilen. Solcherweise ging es viele Jahre, bis die alte Frau Margreth mit den Sterben den An¬ fang machte und in jenes fabelhafte Reich der Geister und Gespenster selber hinuͤberging. Sie hinterließ unerwarteter Weise ein Testament, welches einen einzelnen jungen Mann zum allei¬ nigen Erben einsetzte; es war der letzte und juͤngste jener Guͤnstlinge, an deren Gewandtheit und Wohlergehen sie ihre Freude gehabt hatte, und sie war mit der Ueberzeugung gestorben, daß ihr gutes Gold nicht in ungeweihte Haͤnde uͤbergehe, sondern die Kraft und die Lust tuͤch¬ tiger Leute sein werde. Bei ihrem Leichenbegaͤng¬ nisse fanden sich saͤmmtliche Verwandte beider Ehegatten ein, und es war ein großes Geheul und Gelaͤrm, als sie sich also getaͤuscht fanden. Sie vereinigten sich in ihrem Zorne alle gegen den gluͤcklichen Erben, welcher ganz ruhig seine Habe einpackte, was irgend von Nutzen war, und auf einen ungeheuerlichen Wagen lud. Er uͤberließ den armen Leuten Nichts, als die vor¬ handenen Vorraͤthe an Lebensmitteln und die ge¬ sammelten Seltsamkeiten und Buͤcher der Seligen, insofern sie nicht von Gold, Silber oder sonstigem Gehalte waren. Drei Tage und drei Naͤchte blieb der wehklagende Schwarm in dem Trauer¬ hause, bis der letzte Knochen zerschlagen und dessen Mark mit dem letzten Bissen Brot aufge¬ tunkt war. Sodann zerstreuten sie sich allmaͤlig, ein Jeder mit dem Andenken, das er noch erbeu¬ tet hatte. Der Eine trug eine Partie Heiden- und Goͤtzenbuͤcher auf der Schulter, mit einem tuͤchtigen Stricke zusammengebunden und mit einem Scheite geknebelt, und unter dem Arme ein Saͤcklein getrockneter Pflaumen; der Andere hing ein Muttergottesbild an seinem Stabe uͤber den Ruͤcken und wiegte auf dem Kopfe eine kunstreich geschnitzte Lade, sehr geschickt mit Kar¬ toffeln angefuͤllt in allen ihren Faͤchern. Hagere lange Jungfrauen trugen zierliche altmodische Weidenkoͤrbe und buntbemalte Schachteln, ange¬ fuͤllt mit kuͤnstlichen Blumen und vergilbtem Flitterkram, Kinder schleppten waͤchserne Engel in den Armen oder trugen chinesische Kruͤge in den Haͤnden, es war, als saͤhe man eine Schaar Bilderstuͤrmer aus einer gepluͤnderten Kirche kommen. Doch gedachte ein Jeder seine Beute als ein werthes Angedenken an die Verstorbene aufzubewahren, sich schließlich an das genossene Gute erinnernd, und zog mit Wehmuth seine Straße, indessen der Haupterbe, neben seinem Wagen einherschreitend, ploͤtzlich halt machte, sich besann, darauf die ganze Ladung einem Troͤdler verkaufte und auch nicht einen Nagel aufbe¬ wahrte. Dann ging er zu einem Goldschmied und verkaufte demselben die Schaumuͤnzen, Kelche und Ketten, und zog endlich mit ruͤstigen Schrit¬ ten aus dem Thore, ohne sich umzusehen, mit seiner dicken Geldkatze und seinem Stabe. Er schien froh zu sein, eine verdrießliche und lang¬ wierige Angelegenheit endlich erledigt zu sehen. In dem Hause aber blieb der alte Mann allein und einsam zuruͤck mit dem zusammen¬ geschmolzenen Reste jener fruͤheren Theilung. Er lebte noch drei Jahre und starb gerade an dem Tage, wo das letzte Goldstuͤck gewechselt werden mußte. Bis dahin vertrieb er sich die Zeit da¬ mit, daß er sich vornahm und ausmalte, wie er im Jenseits seine Frau harranguiren wolle, wenn sie da »mit ihren verruͤckten Ideen herum¬ schlampe«, und welche Streiche er ihr Angesichts der Apostel und Propheten spielen wuͤrde, daß die alten Gesellen was zu lachen bekaͤmen. Auch an manchen Todten seiner Bekanntschaft er¬ innerte er sich und freute sich auf die Wieder¬ belebung verjaͤhrten Unfuges beim Wiedersehen. Ich hoͤrte ihn immer nur in solch lustiger Art vom zukuͤnftigen Leben sprechen. Er war nun blind und bald neunzig Jahre alt, und wenn er von Schmerzen, Truͤbsal und Schwaͤche heim¬ gesucht, traurig und klagend wurde, so sprach er nichts von diesen Dingen, sondern rief immer, man sollte die Menschen todtschlagen, ehe sie so alt und elend wuͤrden. Endlich ging er aus, wie ein Licht, dessen letzter Tropfen Oel aufgezehrt ist, schon vergessen von der Welt, und ich, als ein herangewachsener Mensch, war vielleicht der einzige Bekannte fruͤ¬ herer Tage, welcher dem zusammengefallenen Restchen Asche zu Grabe folgte. Gleich dem Chorus in den Schauspielen der Alten hatte ich von meiner fruͤhsten Jugend an das Leben und die Ereignisse in diesem nachbar¬ lichen Hause betrachtet und war ein allezeit auf¬ merksamer Theilnehmer. Ich ging ab und zu, aß und trank, was mir wohlgefiel, setzte mich in eine Ecke oder stand mitten unter den Handeln¬ den und Laͤrmenden, wenn etwas vorfiel. Ich holte die Buͤcher hervor und verlangte, wessen ich von den Sehenswuͤrdigkeiten bedurfte, oder spielte mit den Schmucksachen der Frau Mar¬ greth. Alle die mannigfaltigen Personen, welche in das Haus kamen, kannten mich, und Jeder war freundlich gegen mich, weil dieses meiner Beschuͤtzerin so behagte. Ich aber machte nicht viele Worte, sondern gab Acht, daß Nichts von den geschehenden Dingen meinen Augen und Ohren entging. Mit all diesen Eindruͤcken be¬ laden, zog ich dann uͤber die Gasse wieder nach 14 * Hause und spann in der Stille unserer Stube den Stoff zu großen traͤumerischen Geweben aus, wozu die erregte Phantasie den Einschlag gab. In der That muß ich auf diese erste Kinderzeit meinen Hang und ein gewisses Geschick zuruͤck¬ fuͤhren, an die Vorkommnisse des Lebens erfun¬ dene Schicksale und verwickelte Geschichten anzu¬ knuͤpfen, und so im Fluge heitere und traurige Romane zu entwerfen, deren Mittelpunkt ich selbst oder die mir Nahestehenden waren, die mich viele Tage lang beschaͤftigten und bewegten, bis sie sich in neue Handlungen aufloͤsten, je nach der Stimmung und dem aͤußeren Ergehen. In jener ersten Zeit waren es kurze und wechselnde Bilder, welche sich rasch und unbewußt formir¬ ten und vorbeigingen, wie die befreiten Er¬ innerungen und Traumvorraͤthe eines Schlafen¬ den. Sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben, daß ich sie kaum von demselben unter¬ scheiden konnte. Daraus nur kann ich mir unter Anderem eine Geschichte erklaͤren, welche ich ungefaͤhr in meinem siebenten Jahre anrichtete, und die ich gar nicht begreifen koͤnnte, da die schlimme Art derselben sonst nicht in meinem Wesen liegt und sich zeither auch in keiner Weise wiederholt hat. Ich saß einst hinter dem Tische, mit irgend einem Spielzeuge beschaͤftigt, und sprach dazu einige unanstaͤndige, hoͤchst rohe Worte vor mich hin, deren Bedeutung mir unbekannt war und die ich auf der Straße gehoͤrt haben mochte. Eine Frau saß bei meiner Mutter und plauderte mit ihr, als sie die Worte hoͤrte und meine Mutter auf¬ merksam darauf machte. Sie fragten mich mit ernster Miene, wer mich diese Sachen gelehrt haͤtte, insbesondere die fremde Frau drang in mich, woruͤber ich mich verwunderte, einen Augen¬ blick nachsinnend und dann den Namen eines Knaben nannte, den ich in der Schule gesehen hatte. Sogleich fuͤgte ich noch zwei oder drei Andere hinzu, saͤmmtlich Jungen von zwoͤlf bis dreizehn Jahren und einer vorgeruͤckteren Klasse meiner Schule angehoͤrig, mit denen ich aber kaum noch ein Wort gesprochen hatte. Einige Tage darauf behielt mich der Lehrer zu meiner Verwunderung nach der Schule zuruͤck, sowie jene vier angegebenen Knaben, welche mir wie halbe Maͤnner vorkamen, da sie an Alter und Groͤße mir weit vorgeschritten waren. Ein geist¬ licher Herr erschien, welcher gewoͤhnlich den Religionsunterricht gab und sonst der Schule vorstand, setzte sich mit dem Lehrer an einen Tisch und hieß mich neben ihn sitzen. Die Kna¬ ben hingegen mußten sich vor dem Tische in eine Reihe stellen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Sie wurden nun mit feierlicher Stimme gefragt, ob sie gewisse Worte in meiner Gegenwart ausgesprochen haͤtten; sie wußten Nichts zu antworten und waren ganz erstaunt. Hierauf sagte der Geistliche zu mir: »Wo hast du die bewußten Dinge gehoͤrt von diesen Bu¬ ben?« Ich war sogleich wieder im Zuge und antwortete unverweilt mit trockener Bestimmt¬ heit: »Im Bruͤderleinsholze!« Dieses ist ein Gehoͤlz, eine Stunde von der Stadt entfernt, wo ich in meinem Leben nie gewesen war, das ich aber oft nennen hoͤrte. »Wie ist es dabei zu¬ gegangen, wie seid ihr dahin gekommen?« fragte man weiter. Ich erzaͤhlte, wie mich die Knaben eines Tages zu einem Spaziergange uͤberredet und in den Wald hinaus mitgenommen haͤtten, und ich beschrieb mit merkwuͤrdiger Wahrheit die Art, wie etwa groͤßere Knaben einen kleinern zu einem muthwilligen Streifzuge mitnehmen. Die Angeklagten geriethen außer sich und betheuerten mit Thraͤnen, daß sie theils seit langer Zeit, theils gar nie in jenem Gehoͤlze gewesen seien, am wenigsten mit mir! Dabei sahen sie mit erschrecktem Hasse auf mich, wie auf eine boͤse Schlange, und wollten mich mit Vorwuͤrfen und Fragen bestuͤrmen, wurden aber zur Ruhe ge¬ wiesen und ich aufgefordert, den Weg anzugeben, welchen wir gegangen. Sogleich lag derselbe deutlich vor meinen Augen, und angefeuert durch den Widerspruch und das Laͤugnen eines Maͤhr¬ chens, an welches ich nun selbst glaubte, da ich mir sonst auf keine Weise den wirklichen Bestand der gegenwaͤrtigen Scene erklaͤren konnte, gab ich nun Weg und Stege an, die an den Ort fuͤhren, und nannte hier ein Dorf, dort eine Bruͤcke oder eine Wiese. Ich kannte dieselben nur vom fluͤchtigen Hoͤrensagen, und obgleich ich kaum darauf gemerkt hatte, stellte sich nun jedes Wort zur rechten Zeit ein. Ferner erzaͤhlte ich, wie wir unterwegs Nuͤsse heruntergeschlagen, Feuer gemacht und gestohlene Kartoffeln gebra¬ ten, auch einen Bauernjungen jaͤmmerlich durch¬ geblaͤut haͤtten, welcher uns hindern wollte. Im Walde angekommen, kletterten meine Gefaͤhrten auf hohe Tannen und jauchzten in der Hoͤhe, den Geistlichen und den Lehrer mit laͤcherlichen Spitznamen benennend. Diese Spitznamen hatte ich, uͤber das Aeußere der beiden Maͤnner nach¬ sinnend, laͤngst im eigenen Herzen ausgeheckt, aber nie verlautbart; bei dieser Gelegenheit brachte ich sie zugleich an den Mann, und der Zorn der Herren war eben so groß, als das Er¬ staunen der vorgeschobenen Knaben. Nachdem sie wieder von den Baͤumen heruntergekommen, schnitten sie große Ruthen und forderten mich auf, auch auf ein Baͤumchen zu klettern und oben die Spottnamen auszurufen. Als ich mich weigerte, banden sie mich an einen Baum fest und schlugen mich so lange mit den Ruthen, bis ich Alles aussprach, was sie verlangten, auch jene unanstaͤndigen Worte. Indessen ich rief, schlichen sie sich hinter meinem Ruͤcken davon, ein Bauer kam in demselben Augenblicke heran, hoͤrte meine unsittlichen Reden und packte mich bei den Ohren. »Wart ihr boͤsen Buben!« rief er, »die¬ sen hab' ich!« und hieb mir einige Streiche. Dann ging er ebenfalls weg und ließ mich stehen, waͤhrend es schon dunkelte. Mit vieler Muͤhe riß ich mich los und suchte den Heimweg in dem dunklen Wald. Allein ich verirrte mich, fiel in einen tiefen Bach, in welchem ich bis zum Ausgange des Waldes theils schwamm, theils watete, und so, nach Bestehung mancher Ge¬ faͤhrde, den rechten Weg fand. Doch wurde ich noch von einem großen Ziegenbocke angegriffen, bekaͤmpfte denselben mit einem rasch ausgerissenen Zaunpfahl und schlug ihn in die Flucht. Noch nie hatte man in der Schule eine solche Beredsamkeit an mir bemerkt, wie bei dieser Erzaͤhlung. Es kam Niemand in den Sinn, etwa bei meiner Mutter anfragen zu lassen, ob ich eines Tages durchnaͤßt und naͤchtlich nach Hause gekommen sei? Dagegen brachte man mit meinem Abenteuer in Zusammenhang, daß der Eine und Andere der Knaben nachgewiesener Maßen die Schule geschwaͤnzt hatte, gerade um die Zeit, welche ich angab. Man glaubte meiner großen Jugend sowohl, wie meiner Erzaͤhlung; diese fiel ganz unerwartet und unbefangen aus dem blauen Himmel meines sonstigen Schwei¬ gens. Die Angeklagten wurden unschuldig ver¬ urtheilt als verwilderte boͤsartige junge Leute, da ihr hartnaͤckiges und einstimmiges Laͤugnen und ihre gerechte Entruͤstung und Verzweiflung die Sache noch verschlimmerten; sie erhielten die haͤrtesten Schulstrafen, wurden einige Wochen lang auf die Schandbank gesetzt, und uͤberdies noch von ihren Eltern geschlagen und eingesperrt. So viel ich mich dunkel erinnere, war mir das angerichtete Unheil nicht nur gleichguͤltig, sondern ich fuͤhlte eher noch eine Befriedigung in mir, daß die poetische Gerechtigkeit meine Er¬ findung so schoͤn und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und ge¬ litten wurde, und das in Folge meines schoͤpfe¬ rischen Wortes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentiren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Ver¬ lauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran so wenig etwas aͤndern konnte, als die alten Goͤtter am Fatum. Die Betroffenen waren saͤmmtlich, was man schon in der Kinderwelt rechtliche Leute nennen koͤnnte, ruhige, gesetzte Knaben, welche bisher keinen Anlaß zu grobem Tadel gegeben, und aus denen seither stille und arbeitsame junge Buͤrger geworden. Um so tiefer wurzelte in ihnen die Erinnerung an meine Teufelei und das erlittene Unrecht, und als sie es Jahre lang nachher mir vorhielten, erinnerte ich mich ganz genau wieder an die vergessene Geschichte, und fast jedes Wort ward wieder lebendig. Erst jetzt quaͤlte mich der Vorfall mit verdoppelter nachhaltiger Wuth, und so oft ich daran denke, steigt mir das Blut zu Kopfe, und ich moͤchte mit aller Gewalt die Schuld auf jene leichtglaͤubigen Inquisitoren schieben, ja sogar die plauderhafte Frau ankla¬ gen, welche auf die verpoͤnten Worte gemerkt und nicht geruht hatte, bis ein bestimmter Ur¬ I. 15 sprung derselben nachgewiesen war. Drei der ehemaligen Schulgenossen verziehen mir und lach¬ ten, als sie sahen, wie mich die Sache nachtraͤg¬ lich beunruhigte, und sie freuten sich, daß ich zu ihrer Genugthuung mich alles Einzelnen sowohl erinnerte. Nur der Vierte, ein etwas beschraͤnk¬ ter Mensch, der viele Muͤhe mit dem Leben hat, konnte niemals einen Unterschied machen zwischen der Kinderzeit und dem spaͤteren Alter, und trug mir die angethane Unbilde so nach, als ob ich sie erst heute, mit dem Verstande eines Erwachsenen, begangen haͤtte. Mit dem tiefsten Hasse geht er an mir voruͤber, und wenn er mir beleidigende Blicke zuwirft, so vermag ich sie nicht zu er¬ widern, weil das Unrecht doch auf mir ruht und Keiner von uns es vergessen kann. Siebentes Kapitel. Ich hatte mich nunmehr in der Schule zu¬ recht gefunden und befand mich wohl in dersel¬ ben, da das erste Lernen rasch auf einander folgte und, leicht faßlich, taͤglich fortschritt. Auch die Einrichtung derselben hatte viel Kurzweiliges, ich ging gern und eifrig hinein, sie bildete mein oͤffentliches Leben und war mir ungefaͤhr, was dem neugierigen Athenienser die Gerichtsstaͤtte und das Theater. Es war keine oͤffentliche An¬ stalt, sondern das Werk eines gemeinnuͤtzigen wohlthaͤtigen Vereins, und dazu bestimmt, bei dem damaligen Mangel guter niedriger Volks¬ schulen, den Kindern duͤrftiger Leute eine bessere Erziehung zu verschaffen, und hieß daher Armen¬ schule. Die Pestalozzi'sche Unterrichtsweise wurde angewendet, und zwar mit einem Eifer und einer 15 * Hingebung, welche gewoͤhnlich nur Eigenschaften von leidenschaftlichen Privatschulmaͤnnern zu sein pflegen. Mein Vater hatte bei seinen Lebzeiten fuͤr die Einrichtung und fuͤr die Ergebnisse dieser Anstalt geschwaͤrmt und oft den Entschluß aus¬ gesprochen, meine ersten Schuljahre in derselben verfließen zu lassen, schon darin eine Erziehungs¬ maßregel suchend, daß ich mit den aͤrmsten Kin¬ dern der Stadt meine fruͤhsten Jugendjahre zu¬ braͤchte, und aller Kastengeist und Hochmuth so im Keime erstickt wuͤrden. Diese Absicht war fuͤr meine Mutter ein heiliges Vermaͤchtniß und erleichterte ihr die Wahl der ersten Schule fuͤr mich. In einem großen Saale wurden etwa hundert Kinder unterrichtet, zur Haͤlfte Knaben, zur Haͤlfte Maͤdchen, vom fuͤnften bis zum zwoͤlf¬ ten Jahre. Sechs lange Schulbaͤnke standen in der Mitte, von dem einen Geschlechte besetzt, jede bildete eine Altersklasse, und davor stand ein vorgeschrittener Schuͤler von elf bis zwoͤlf Jah¬ ren und unterrichtete die ganze Bank, welche ihm anvertraut war, indessen das andere Ge¬ schlecht in Halbkreisen um sechs Pulte herum stand, die laͤngs den Waͤnden angebracht waren. Inmitten jedes Kreises saß auf einem Stuͤhlchen ebenfalls ein unterrichtender Schuͤler oder eine Schuͤlerin. Der Hauptlehrer thronte auf einem erhoͤhten Katheder und uͤbersah das Ganze, zwei Gehuͤlfen, aus ehemaligen Schuͤlern herangezogen, standen ihm bei, machten die Runde durch den ziemlich duͤstern Saal, hier und dort einschrei¬ tend, nachhelfend und die gelehrtesten Dinge selbst beibringend. Jede halbe Stunde wurde mit dem Gegenstande gewechselt, der Oberlehrer gab ein Zeichen mit einer Klingel, und nun wurde ein treffliches Manoͤver ausgefuͤhrt, mit¬ telst dessen die hundert Kinder in vorgeschriebener Bewegung und Haltung, immer nach der Klin¬ gel, aufstanden, sich kehrten, schwenkten und durch einen wohl berechneten Contre-Marsch in einer Minute die Stellung wechselten, so daß die fruͤ¬ her funfzig Sitzenden nun zu stehen kamen und umgekehrt. Es war immer eine unendlich gluͤck¬ liche Minute, wenn wir, die Haͤnde reglemen¬ tarisch auf dem Ruͤcken verschraͤnkt, die Knaben bei den Maͤdchen vorbei marschirten und unsern soldatischen Schritt gegen ihr Gaͤnsegetrippel hervorzuheben suchten. Ich weiß nicht, war es eine artige herkoͤmmliche Vergessenheit, oder eine Pietaͤt, oder gar eine Absicht, daß es erlaubt war, Blumen mitzubringen und waͤhrend des Unterrichts in den Haͤnden zu halten, wenigstens habe ich diese huͤbsche Licenz in keiner andern Schule mehr gefunden; aber es war immer gut anzusehen waͤhrend des lustigen Marsches, wie fast jedes Maͤdchen eine Rose oder eine Nelke in den Fingern auf dem Ruͤcken hielt, waͤhrend die Buben die Blumen im Munde trugen, wie Tabakspfeifen, oder dieselben burschikos hinter die Ohren steckten. Es waren alles Kinder von Holzhackern, Tageloͤhnern, armen Schneidern, Schustern und von almosengenoͤssigen Leuten. Habliche Handwerker durften ihres Ranges und Credits wegen die Schule nicht benutzen. Da¬ her war ich der best und reinlichst gekleidete unter den Buben und galt fuͤr halb vornehm, obgleich ich bald sehr vertraulich war mit den buntscheckig geflickten armen Teufeln, ihren Sit¬ ten und Gewohnheiten, insofern sie mir nicht allzu fremd und unfreundlich waren. Denn ob¬ gleich die Kinder der Armen nicht schlimmer und etwa boshafter sind, als die der Reichen oder sonst Geborgenen, im Gegentheil eher unschul¬ diger und gutmuͤthiger, so haben sie doch manch¬ mal aͤußerliche grinsende Derbheiten in ihren Gebehrden, welche mich bei einigen Mitschuͤlern abstießen. Die erste maͤnnliche Kleidung, welche ich er¬ hielt, war gruͤn, da meine Mutter aus der Schuͤtzenkleidung des Vaters eine Zwillingstracht fuͤr mich schneiden ließ, fuͤr den Sonntag einen Anzug und fuͤr die Werktage einen. Auch fast alle nachgelassenen buͤrgerlichen Gewaͤnder waren von gruͤner Farbe; bis zu meinem zwoͤlften Jahre aber reichte der Nachlaß zur Herstellung von gruͤnen Jacken und Roͤcklein aus, bei der großen Strenge und Aufmerksamkeit der Mutter fuͤr Schonung und Reinhaltung der Kleider, so daß ich von der unveraͤnderlichen Farbe schon fruͤh den Namen »gruͤner Heinreich« erhielt und in unserm Staͤdtchen bis auf den heutigen Tag trug. Als solcher machte ich in der Schule und auf der Gasse bald eine bekannte Figur und be¬ nutzte meine gruͤne Popularitaͤt zur steten Fort¬ setzung meiner Beobachtungen und chorartiger Theilnahme an allem, was geschah und gehan¬ delt wurde. Die thatkraͤftigen und stimmfuͤhren¬ den Groͤßen der Bubenwelt ließen meine Naͤhe immer gelten, nahmen mich in Schutz und ent¬ deckten oͤfter mit wohlwollender Herablassung, daß ich zu mehrerem zu gebrauchen sei, als es den Anschein hatte; Einzelne schlossen sich an mich an und blieben mir dann laͤngere Zeit ge¬ treu in allerlei Bestrebungen. Ich drang mit den verschiedensten Kindern, je nach Beduͤrfniß und Laune, in die elterlichen Haͤuser und war als ein vermeintlich stilles gutes Kind gern ge¬ sehen, waͤhrend ich mir genau den Haushalt und die Gebraͤuche der armen Leute ansah und dann wieder wegblieb, um mich in mein Hauptquar¬ tier bei der Frau Margreth zuruͤckzuziehen, wo es am Ende immer am meisten zu sehen gab. Sie freute sich, daß ich bald im Stande war, nicht nur das Deutsche gelaͤufig vorlesen, sondern auch die in ihren alten Buͤchern haͤufigen latei¬ nischen Lettern erklaͤren zu koͤnnen, sowie die arabischen Zahlen, die sie nie verstehen lernte. Ich verfertigte ihr auch allerlei Notizen in Frac¬ turschrift auf Papierzettel, welche sie aufbewahren und bequem lesen konnte, und ward auf diese Weise ihr kleiner Geheimschreiber. Schon sah sie, die mich fuͤr ein großes Genie hielt, einen ihrer zukuͤnftigen, klugen Gluͤckmacher in mir und war im Voraus meiner glaͤnzenden Lauf¬ bahn froh. Wirklich machte mir das Lernen weder Muͤhe noch Kummer, und ich war, ohne zu wissen wie, zu der Wuͤrde herangediehen, die kleineren Genossen unterrichten zu duͤrfen. Die¬ ses gerieth mir zu einer neuen Lust, vorzuͤglich weil ich, ausgeruͤstet mit der Macht zu lohnen und zu strafen, kleine Schicksale combiniren, Laͤcheln und Thraͤnen, Freund- und Feindschaft hervorzaubern konnte. Sogar die Frauenliebe spielte ihre ersten schwachen Morgenwoͤlkchen da¬ zwischen. Wenn ich in einem Halbkreise von neun bis zehn kleinen Maͤdchen saß, so war der erste ehrenvollste Platz bald zunaͤchst meiner Seite, bald war es der letzte, je nach der Gegend in dem großen Saale. So geschah es, daß ich die Maͤdchen, welche ich gern sah, ent¬ weder fortwaͤhrend oben hielt in der Region des Ruhmes und der Tugend, oder aber sie stets niederdruͤckte in die dunkle Sphaͤre der Suͤnde und der Vergessenheit, in beiden Faͤllen immer zunaͤchst meinem tyrannischen Herzen. Dieses aber ward selbst reichlich mitbewegt, wenn ich oft von der ohne Verdienst erhobenen Schoͤnen kein Laͤcheln des Dankes erhielt, wenn sie die unverdiente Ehre hinnahm, als ob sie ihr ge¬ buͤhrte und es mir durch muthwillige ruͤcksichts¬ lose Streiche unendlich erschwerte, sie auf der glatten Hoͤhe zu halten ohne auffallende Unge¬ rechtigkeit. Wenn ich hingegen eine andere Ge¬ liebte, jede kleine Unaufmerksamkeit benutzend, nach und nach heruntergebracht hatte bis auf den letzten ruhmlosen Platz an meiner Seite, nicht achtend auf ihre kummervollen Thraͤnen oder vielmehr angenehm durchschauert durch dieselben, so suchte ich das Leid dann durch verdoppelte Freundlichkeit aufzuhellen, bis mich die hart¬ naͤckige Trauer, welche nichts von meinen wah¬ ren Gefuͤhlen ahnen wollte, langweilte und ich die sproͤde Ungluͤckliche jaͤhlings wieder hinauf¬ jagte in die heitere kuͤhle Hoͤhe, wo sie wieder froͤhlich wurde, waͤhrend ich eine kleine unver¬ besserliche Suͤnderin ohne Muͤhe an den ihr ge¬ buͤhrenden Schandenplatz herniederdonnerte, wo dieselbe gar wohl gedieh, meinem Zorne laͤchelte und sich im Geheimen alle moͤglichen Neckereien gegen mich erlaubte, die ich halb murrend, halb verliebt erduldete. Nur zwei Dinge waren mir in dieser Schule quaͤlend und unheimlich, und sind eine unlieb¬ liche Erinnerung geblieben. Das Eine war die duͤstere kriminalistische Weise, in welcher die Schuljustiz gehandhabt wurde. Es lag dies theils noch im Geiste der alten Zeit, an deren Graͤnze wir standen, theils in einer Privatlieb¬ haberei der Personen, und harmonirte uͤbel mit dem uͤbrigen guten Ton. Es wurden ausge¬ suchte peinliche und infamirende Strafen ange¬ wendet auf dies zarte Lebensalter, und es ver¬ ging fast kein Monat ohne eine feierliche Execu¬ tion an irgend einem armen Suͤnder. Zwar wurden meistens wirkliche fruͤhzeitige Schlingel betroffen, war aber immerhin verkehrt, indem es die Kinder zu einem fruͤhen gelaͤufigen Verdam¬ men und Pharisaͤerthum hinfuͤhrte; so schon ist es eine seltsame Erscheinung, daß die Kinder, selbst wenn sie das Bewußtsein des gleichen Fehlers in sich haben, aber verschont geblieben sind, ein bestraftes und bezeichnetes verachten, verfolgen und verhoͤhnen, bis die letzten Wir¬ kungen verklungen oder die Verfolger selbst in das Netz gefallen sind. So lange das goldene Zeitalter nicht gekommen, muͤssen kleine Buben gepruͤgelt werden; ich fuͤhle die doppelte Wohl¬ that noch jetzt nach, wie mich ein tuͤchtiger Pruͤ¬ gelschauer wie ein Gewitter von einer druͤckenden Schwuͤle befreite und einem frischen Wohlver¬ halten wieder Raum verschaffte, da ich zu Hause nie gezuͤchtigt wurde. Allein einen widerlichen Eindruck machte es, wenn ein boͤser Junge, nach gehaltener Standrede, in ein abgelegenes Zim¬ mer gefuͤhrt, dort ausgezogen, auf eine Bank gelegt und abgehauen wurde, oder als einmal ein ziemlich großes Maͤdchen mit einer umgehaͤng¬ ten Tafel auf einem Schranke stehen mußte, einen ganzen Tag lang. Ich hatte großes Mit¬ leid mit ihr, obgleich sie etwas Großes begangen haben mußte. Vielleicht war sie auch unschuldig verurtheilt! Ein paar Jahre spaͤter ertraͤnkte sich das gleiche Maͤdchen waͤhrend des Confirmations- Unterrichtes, ich weiß nicht mehr weshalb, er¬ innere mich aber noch der trauernden Theil¬ nahme, welche ich fuͤr die Todte hegte, als ich sie begraben sah, gefolgt von einer großen Schaar weiß gekleideter Maͤdchen zwischen fuͤnf- und sechszehn Jahren, welche Blumen trugen. Man erwies ihr, ungeachtet ihres unchristlichen Todes, diese Ehre ihrer Jugend wegen, weil man zu¬ gleich das grelle Ereigniß damit verhuͤllen und maͤßigen konnte. Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden, waͤhrend deren wir uns damit beschaͤf¬ tigen mußten. Ein kleines Buch voll hoͤlzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem frischen Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den duͤrren Verstand bejahrter und ver¬ stockter Menschen zu beschaͤftigen, mußte waͤhrend der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Wiederkaͤuen auswendig gelernt und in verstaͤndnißlosem Dialoge hergesagt werden. Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklaͤrungen, beklemmende Angst, keines der dunklen Worte zu vergessen, die Anfeuerung zu diesem religioͤsen Leben. Einzelne Psalmstellen und Liederstrophen, ebenfalls aus allem Zusammenhange gezerrt und deshalb unlieber einzupraͤgen, als ein ganzes organisches Gedicht, verwirrten das Gedaͤchtniß, anstatt es zu uͤben. Wenn man diese, gegen die verwilderte Suͤndhaftigkeit ausgewachsener Men¬ schen gerichteten, vierschroͤtigen nackten Gebote neben den uͤbersinnlichen und unfaßlichen Glau¬ benssaͤtzen gereiht sah, so fuͤhlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Ent¬ wicklung, sondern den schwuͤlen Hauch eines rohen und starren Barbarenthums, wo es einzig darauf ankommt, den jungen, zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwangbleiche so fruͤh als moͤglich fuͤr den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen. Die Pein dieser Disciplin erreichte ihren Gipfel, wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich kam, am Sonntage in der Kirche, vor der ganzen Gemeinde, mit lauter vernehm¬ licher Stimme das wunderliche Zwiegespraͤch mit dem Geistlichen zu fuͤhren, welcher in weiter Entfernung von mir auf der Kanzel stand, und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte. Viele Kinder schoͤpften zwar gerade aus dieser Uebung Gelegenheit, mit Salbung und Zungengelaͤufigkeit, wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken, und der Tag gerieth ihnen immer zu einem Triumph- und Freuden¬ tag. Gerade bei diesen erwies es sich aber jeder¬ zeit, daß Alles eitel Schall und Rauch gewesen. Es giebt geborene Protestanten, und ich moͤchte mich zu diesen zaͤhlen, weil nicht ein Mangel an religioͤsem Sinne, sondern, freilich mir unbewußt, ein letztes feines Raͤuchlein verschollener Scheiter¬ haufen, durch die hallende Kirche schwebend, mir den Aufenthalt widerlich machte, wenn die ein¬ toͤnigen Gewaltsaͤtze hin und her geworfen wur¬ den. Nicht als ob ich mir einbilden wollte, ein scharfsinnig polemisches Wunderkind gewesen zu sein; sondern es war reine Sache des angebore¬ nen Gefuͤhles. So wurde ich gewaltsam auf meinen Privat¬ verkehr mit Gott zuruͤckgedraͤngt, und ich be¬ harrte auf meiner Sitte, meine Gebete und Ver¬ handlungen selbst zu verfassen nach meinem Be¬ duͤrfnisse, und sie auch in Ansehung der Zeit nur dann anzuwenden, wenn ich ihrer bedurfte. Ein¬ zig das Vaterunser wurde Morgens und Abends regelmaͤßig, aber lautlos, gebetet. Aber nicht nur Dieses geschah. Auch aus meinem inneren und aͤußeren Spiel- und Lust¬ leben wurde der liebe Gott verdraͤngt, und konnte weder durch die Frau Margreth, noch durch meine Mutter darin erhalten werden. Fuͤr lange Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einem prosaischen nuͤchternen Gedanken, in dem Sinne, wie die falschen Poeten das wirkliche Leben fuͤr prosaisch halten im Gegensatze zu dem erfundenen und fabelhaften. Das Leben, die sinnliche Natur waren merkwuͤrdiger Weise mein Maͤhrchen, in dem ich meine Freude suchte, waͤhrend Gott fuͤr mich zu der nothwendigen, aber nuͤchternen und schul¬ meisterlichen Wirklichkeit wurde, zu welcher ich nur zuruͤckkehrte, wie ein muͤdgetummelter, hun¬ griger Knabe zur alltaͤglichen Haussuppe, und mit der ich so schnell fertig zu werden suchte als moͤglich. Solches bewirkte die Art und Weise, wie die Religion und meine Kinderzeit zusam¬ mengekuppelt wurden. Wenigstens kann ich mich trotz dem, daß jene ganze Zeit wie ein heller Spiegel vor mir liegt, nicht entsinnen, daß ich vor dem Erwachen der Vernunft je einen An¬ dachtschauer, wenn auch noch so kindlich, empfun¬ den haͤtte. Selbst die biblischen Geschichten, welche wir lasen, verschmolzen sich ganz mit den weltlichen Unterhaltungen, und ich gewann an der Ge¬ schichte Josephs und seiner Bruͤder und andern praͤchtigen Episoden nur einen Stoff mehr fuͤr meine profanen Compositionen. Aus diesem Grunde waren die biblischen Erzaͤhlungen, wie sie gewoͤhnlich fuͤr Kinder ausgezogen werden, lange Zeit mein Hauptbuch neben der Bihliothek der Frau Margreth, und nur selten fuͤhrte mich I. 16 ein Anflug von Gelehrsamkeit dazu, mich in die Bibel zu vertiefen und ein ergiebiges Quellen¬ studium zu betreiben, da der hohe Schwung der Sprache fuͤr das Kind unzugaͤnglich war und nur Stoff zum Laͤcherlichmachen dessen gab, was ich nicht begriff. Ich betrachte diese halb gottlose Zeit gerade der weichsten und bildsamsten Jahre, welche deren wohl sieben bis achte andauerte, als eine kalte oͤde Strecke, und weise die Schuld einzig auf den Katechismus und seine Handhaber. Denn wenn ich recht scharf in jenen vergangenen daͤm¬ merhaften Seelenzustand zuruͤckzudringen versuche, so entdecke ich noch wohl, daß ich den Gott meiner Kindheit nicht liebte, sondern nur brauchte, und daß damit das lebendige Gefuͤhl der Liebe auch fuͤr alles uͤbrige Leben nicht zum Erwachen kam und nur schwer durch die unnatuͤrlich uͤbergewor¬ fene Eisdecke dringen konnte. Jetzt erst wird mir der truͤbe kalte Schleier ganz deutlich, wel¬ cher uͤber jener Zeit liegt und mir dazumal die Haͤlfte des Lebens verhuͤllte, mich bloͤde und scheu machte, daß ich die Leute nicht verstand und mich selbst nicht zu erkennen geben konnte in meiner vollen Natur, so daß die weisen Er¬ zieher vor mir standen, als vor einem Raͤthsel, und sagten: Dieses ist ein seltsames Gewaͤchs, man weiß nicht viel damit anzufangen! Desto eifriger verkehrte ich im Stillen mit mir selbst, in der Welt, die ich mir allein zu bauen gezwungen war. Meine Mutter kaufte mir nur aͤußerst wenig Spielzeug, immer und einzig darauf bedacht, jeden Heller fuͤr meine Zukunft zu sparen, und erachtete in ihrem Sinne jede Ausgabe fuͤr uͤberfluͤssig, welche nicht un¬ mittelbar fuͤr das Nothwendigste geopfert wurde. Sie suchte mich dafuͤr durch fortwaͤhrende muͤnd¬ liche Unterhaltungen zu beschaͤftigen, und erzaͤhlte mir tausend Dinge aus ihrem vergangenen Leben sowohl, wie aus dem Leben anderer Leute, indem sie in unserer Einsamkeit selbst eine suͤße Ge¬ wohnheit darin fand. Aber diese Unterhaltung, so wie das Treiben im wunderlichen Nachbar¬ hause konnte doch zuletzt meine Stunden nicht ausfuͤllen, und ich beduͤrfte eines sinnlichen Stoffes, welcher meiner schaffenden Gewalt an¬ 16 * heimgegeben war. So war ich bald darauf an¬ gewiesen, mir mein Spielzeug selbst zu schaffen. Das Papier, das Holz, die gewoͤhnlichen Aus¬ helfer in diesem Falle, waren schnell abgebraucht, besonders da ich keinen maͤnnlichen Mentor hatte, welcher mich mit Handgriffen und Kuͤnsten be¬ kannt machte. Was ich so bei den Menschen nicht fand, das gab mir die stumme Natur. Ich sah aus der Ferne bei vornehmern Knaben, daß sie artige kleine Naturaliensammlungen besaßen, besonders Steine und Schmetterlinge, und von ihren Lehrern und Vaͤtern angeleitet wurden, dergleichen selbst auf ihren Ausfluͤgen zu suchen. Ich ahmte dieses nun auf eigene Faust nach und begann gewagte Reisen laͤngs der Bach- und Flußbette zu unternehmen, wo ein buntes Ge¬ schiebe an der Sonne lag. Bald hatte ich eine gewichtige Sammlung glaͤnzender und farbiger Mineralien beisammen, Glimmer, Quarze, bunte Kiesel und solche Steine, welche mir durch ihre abweichende Form auffielen, wie Schieferstuͤcke, gegenuͤber einem seltsam verwaschenen Kiesel ꝛc. Glaͤnzende Schlacken, aus Huͤttenwerken in den Strom geworfen, hielt ich ebenfalls fuͤr werth¬ volle Stuͤcke, Glasperlen fuͤr Edelsteine, und der Troͤdelkram der Frau Margreth lieferte mir einigen Abfall an polirten Marmorscherben und halb durchsichtigen Alabasterschnoͤrkeln, welche uͤberdies noch eine antiquarische Glorie durch¬ drang. Fuͤr diese Dinge verfertigte ich Faͤcher und Behaͤlter und legte ihnen wunderlich be¬ schriebene Zettel bei. Wenn die Sonne in unser Hoͤfchen schien, so schleppte ich den ganzen Schatz herunter, wusch Stuͤck fuͤr Stuͤck in dem kleinen Bruͤnnlein und breitete sie nachher an der Sonne aus, um sie zu trocknen, mich an ihrem Glanze erfreuend. Dann ordnete ich sie wieder in die Schachteln und huͤllte die glaͤn¬ zendsten Dinge sorglich in Baumwolle, welche ich aus den großen Ballen am Hafenplatze ge¬ zupft hatte. So trieb ich es lange Zeit; allein es war nur der aͤußere Schein, der mich erbaute, und als ich sah, daß jene Knaben fuͤr jeden Stein einen bestimmten Namen besaßen und zugleich viel Merkwuͤrdiges, was mir unzugaͤnglich war, wie Krystalle und Erze, auch ein Verstaͤndniß dafuͤr gewannen, welches mir durchaus fremd war, so starb mir das ganze Spiel ab und be¬ truͤbte mich. Dazumal konnte ich nichts Todtes und Weggeworfenes um mich liegen sehen, was ich nicht brauchen konnte, verbrannte ich hastig oder entfernte es weit von mir; so trug ich eines Tages die saͤmmtliche Last meiner Steine mit vieler Muͤhe an den Strom hinaus, versenkte sie in die Wellen und ging ganz traurig und nie¬ dergeschlagen nach Hause. Nun versuchte ich es mit den Schmetterlin¬ gen und Kaͤfern. Meine Mutter verfertigte mir ein Garn und ging oft selbst mit mir auf die Wiesen hinaus; denn die Einfachheit und Billig¬ keit dieser Spiele leuchteten ihr ein. Ich fing zusammen, wessen ich habhaft werden konnte, und setzte eine Unzahl Raupen in Gefangenschaft. Allein ich kannte die Speise dieser Letzteren nicht und wußte sie sonst nicht zu behandeln, so daß kein Schmetterling aus meiner Zucht hervorging. Die lebendigen Schmetterlinge aber, welche ich fing, wie die glaͤnzenden Kaͤfer, machten mir saure Muͤhe mit dem Toͤdten und dem unversehrten Erhalten; denn die zarten Thiere behaupteten eine zaͤhe Lebenskraft in meinen moͤrderischen Haͤnden, und bis sie endlich leblos waren, fand sich Duft und Farbe zerstoͤrt und verloren, und es ragte auf meinen Nadeln eine zerfetzte Gesellschaft er¬ barmungswuͤrdiger Maͤrtyrer. Schon das Toͤdten an sich selbst ermuͤdete mich und regte mich zu zu sehr auf, indem ich die zierlichen Geschoͤpfe nicht leiden sehen konnte. Dieses war keine un¬ kindliche Empfindsamkeit; mir widerwaͤrtige oder gleichguͤltige Thiere konnte ich so gut mißhandeln wie alle Kinder; es war vielmehr ein aristokra¬ tisches Mitgefuͤhl fuͤr diese edleren Kreaturen, denen ich wohl gewogen war. Jeder der unseligen Reste machte mich um so melancholischer, als er das Denkmal eines im Freien zugebrachten Ta¬ ges und eines Abenteuers war. Die Zeit von seiner Gefangennehmung bis zu seinem qual¬ vollen Tode war ein Schicksal, welches mich interessirte, und die stummen Ueberbleibsel redeten eine vorwurfsvolle Sprache zu mir. Auch diese Unternehmung scheiterte endlich, als ich zum ersten Male eine große Menagerie sah. Sogleich faßte ich den Entschluß, eine solche anzulegen, und baute eine Menge Kaͤfige und Zellen. Mit vielem Fleiße wandelte ich da¬ zu kleine Kaͤstchen um, verfertigte deren aus Pappe und Holz und spannte Gitter von Draht oder Faden davor, je nach der Staͤrke des Thie¬ res, welches dafuͤr bestimmt war. Der erste In¬ sasse war eine Maus, welche mit eben der Um¬ staͤndlichkeit, mit welcher ein Baͤr installirt wird, aus der Mausefalle in ihren Kerker hinuͤbergelei¬ tet wurde. Dann folgte ein junges Kaninchen; einige Sperlinge, eine Blindschleiche, eine groͤßere Schlange, mehrere Eidechsen verschiedener Farbe und Groͤße, ein maͤchtiger Hirschkaͤfer mit vielen andern Kaͤfern schmachteten bald in den Behaͤl¬ tern, welche ordentlich auf einander gethuͤrmt waren. Mehrere große Spinnen versahen in Wahrheit die Stelle der wilden Tiger fuͤr mich, da ich sie entsetzlich fuͤrchtete und nur mit großem Umschweife gefangen hatte. Mit schauerlichem Behagen betrachtete ich die Wehrlosen, bis eines Tages eine Kreuzspinne aus ihrem Kaͤfige brach und mir rasend uͤber Hand und Kleid lief. Der Schrecken vermehrte jedoch mein Interesse an der kleinen Menagerie, und ich fuͤtterte sie sehr regel¬ maͤßig, fuͤhrte auch andere Kinder herbei und er¬ klaͤrte ihnen die Bestien mit großem Pathos. Ein junger Weih, welchen ich erwarb, war der große Koͤnigsadler, die Eidechsen Krokodille, und die Schlangen wurden sorgsam aus ihren Tuͤ¬ chern hervorgehoben und einer Puppe um die Glieder gelegt. Dann saß ich wieder stunden¬ lang allein vor den trauernden Thieren und be¬ trachtete ihre Bewegungen. Die Maus hatte sich laͤngst durchgebissen und war verschwunden, die Blindschleiche war laͤngst zerbrochen, so wie die Schwaͤnze saͤmmtlicher Krokodille, das Kanin¬ chen war mager wie ein Gerippe und hatte doch keinen Platz mehr in seinem Kaͤfig, alle uͤbrigen Thiere starben ab und machten mich melancholisch, so daß ich beschloß, sie saͤmmtlich zu toͤdten und zu begraben. Ich nahm ein duͤnnes langes Eisen, machte es gluͤhend und drang mit zittern¬ der Hand damit durch die Gitter und begann ein graͤuliches Blutbad anzurichten. Aber die Geschoͤpfe waren mir alle lieb geworden, auch erschreckte mich das Zucken des zerstoͤrten Orga¬ nismus und ich mußte inne halten. Ich eilte in den Hof hinunter, machte eine Grube unter den Vogelbeerbaͤumchen, worin ich die ganze Samm¬ lung, todte, halbtodte und lebende, in ihren Ka¬ sten kopfuͤber warf und eilig verscharrte. Meine Mutter sagte, als sie es sah, ich haͤtte die Thiere nur wieder ins Freie tragen sollen, wo ich sie geholt haͤtte, vielleicht waͤren sie dort wieder ge¬ sund geworden. Ich sah dies ein und bereute meine That: der Rasenplatz war aber lange eine schauerliche Staͤtte fuͤr mich, und ich wagte nie jener kindlichen Neugierde zu gehorchen, welche es immer antreibt, etwas Vergrabenes wieder auszugraben und anzusehen. Bei Frau Margreth that sich mir die naͤchste Spielerei auf. In einer verruͤckten, markt¬ schreierischen Theosophie, welche ich unter ihren Buͤchern fand, war eine Anweisung enthalten, die vier Elemente zu veranschaulichen, nebst an¬ dern kindischen Experimenten und den dazu ge¬ hoͤrigen Tafeln. Nach diesen Vorschriften nahm ich eine große Phiole, fuͤllte sie zum Viertheile mit Sand, zum Viertheile mit Wasser, dann mit Oel und das letzte Viertheil ließ ich mit Luft gefuͤllt. Die Materien sonderten sich nach ihrer Schwere aus einanander und stellten nun in dem geschlossenen Raume die vier Elemente vor, Erde, Wasser, Feuer (das Brennoͤl!) und Luft. Ich schuͤttelte sie tuͤchtig durch einander, daraus entstand das Chaos, welches sich wieder aufs Schoͤnste abklaͤrte, und ich saß sehr ver¬ gnuͤgt vor der hoͤchst gelehrten Erscheinung. Dann nahm ich Bogen Papier und zeichnete darauf, nach den Angaben jenes Buches, große Sphaͤren mit Kreisen und Linien kreuz und quer, farbig begraͤnzt und mit Zahlen und lateinischen Lettern besetzt. Die vier Weltgegenden, Zonen und Pole, Himmelsraͤume, Elemente, Tempera¬ mente, Tugenden und Laster, Menschen und Gei¬ ster, Erde, Hoͤlle, Zwischenreich, die sieben Him¬ mel, Alles war toll und doch nach einer gewissen Ordnung durch einander geworfen und gab ein angestrengtes, lohnendes Bemuͤhen. Alle Sphaͤren wurden mit entsprechenden Seelen bevoͤlkert, welche darin gedeihen konnten. Ich bezeichnete sie mit Sternen und diese mit Namen; der gluͤck¬ seligste war mein Vater, zunaͤchst dem Auge Gottes, noch innerhalb des Dreieckes, und schien durch dieses allsehende Auge auf die Mutter und mich herunter zu schauen, welche in den schoͤnsten Gegenden der Erde spazierten. Meine Wider¬ sacher aber schmachteten saͤmmtlich in der Hoͤlle, wo der Boͤse mit einem ansehnlichen Schwanze begabt war. Je nach dem Verhalten der Men¬ schen veraͤnderte ich ihre Stellungen, befoͤrderte sie in reinere Gegenden oder setzte sie zuruͤck, wo Heulen und Zaͤhnklappen war. Manchen ließ ich pruͤfungsweise im Unbestimmten schweben, sperrte auch wohl zwei, die sich im Leben nicht aus¬ stehen mochten, zusammen in eine abgelegene Region, indessen ich zwei Andere, die sich gern hatten, trennte, um sie nach vielen Pruͤfungen zusammenzubringen an einem gluͤckseligeren Orte. Ich fuͤhrte so ganz im Geheimen eine genaue Uebersicht und Schicksalsbestimmung aller mir bekannten Leute, jung und alt. In der Theosophie war ferner anbefohlen, geschmolzenes Wachs in Wasser zu gießen, um ich weiß nicht mehr was zu versinnbildlichen. Ich fuͤllte mehrere Arzneiglaͤser mit Wasser und belustigte mich an den Bildungen, welche durch das hineingegossene Wachs entstanden, verschloß die Glaͤser und vermehrte dadurch meine gelehrte Sammlung. Dieses Glaͤserwesen sagte mir sehr zu und ich fand einen neuen Stoff dafuͤr, als ich einst mit tiefem Grauen durch eine kleine anatomische Sammlung lief, welche dem staͤdtischen Krankenhause beigegeben war. Einige Reihen von Embryonen und Foͤten in ihren Glaͤsern jedoch erwarben sich meinen lebhaften Beifall und boten einen trefflichen Gegenstand fuͤr meine Sammlung dar, indem ich dergleichen nachzubil¬ den versuchte. In einem Schranke verwahrte die Mutter die aufgeschichtete Leinwand ihrer Jugend¬ zeit in rohen und gebleichten Stuͤcken, und da¬ selbst lagen auch, verborgen und vergessen, meh¬ rere Scheiben reinlichen Wachses, die verjaͤhrten Zeugen einer einstigen fleißigen Bienenzucht. Von diesen brach ich immer ansehnlichere Stuͤcke los und formte nun im Kleinen solche gro߬ koͤpfige wunderliche Burschen, wie ich sie gesehen, und bestrebte mich, die Verschiedenheit ihrer phantastischen Bildung noch zu vergroͤßern. Ich trieb Glaͤser auf, so viel ich konnte, von allen Formen und Groͤßen, und richtete die Bildwerke darnach ein. In langen schmalen Koͤlnischwasser¬ flaschen, denen ich die Haͤlse abschlug, baumelten eben so lange schmaͤchtige Gesellen an ihrem Fa¬ den, in kurzen dicken Salbenglaͤsern hausten knollenartige Gewaͤchse. Statt mit Weingeist fuͤllte ich die Glaͤser mit Wasser an und gab jedem Bewohner derselben einen Namen, welcher meinem humoristischen Interesse entsprach, das uͤber der belustigenden Arbeit aus dem bloß ge¬ lehrten entstanden war. Es waren schon einige dreißig Mitglieder dieses artigen Vereins bei¬ sammen und das Wachs nahezu aufgebraucht, als ich meine Geschoͤpfe taufte mit Namen, wie: Schnurper, Fark, Vogelmann, Saͤbelbein, Schnei¬ der, Schmerbauch, Nabelhans, Wachsbeißer, Waͤchserich, Honigteufel u. dgl., und ich empfand ein dauerndes Vergnuͤgen, indem ich zugleich fuͤr Jeden eine kurze Lebensbeschreibung verfaßte, die sich in dem Berge zugetragen hatte, aus welchem nach unserm Ammenmaͤhrchen die kleinen Kinder geholt werden. Ich verfertigte auch eigene Sphaͤrentafeln fuͤr sie, worauf Jeder verzeichnet war mit seiner tugendlichen oder schlimmen Auf¬ fuͤhrung, und wenn Einer mein Mißfallen er¬ regte, so wurde er so gut an einen schlechtern Ort gebracht als die lebendigen Leute. Ich trieb diese Dinge alle in einer abgelegenen Kammer, wo ich eines Abends in der Daͤmmerung alle Glaͤser auf meinen Lieblingstisch stellte, ein altes braunes Moͤbel mit etlichen Auszuͤgen. Ich reihte die Glaͤser in einen großen Kreis, die vier Elemente in der Mitte, und breitete meine bun¬ ten Tabellen aus, beleuchtet von einigen Wachs¬ maͤnnern, denen Dochte aus erhobenen Haͤnden brannten, und vertiefte mich nun in die Con¬ stellationen auf den Karten, waͤhrend ich die be¬ treffenden Schicksalstraͤger einzeln vortreten ließ und musterte, den Waͤchserich und den Huͤrli¬ mann, den Meyer oder den Vogelmann. Von Ungefaͤhr stieß ich an den Tisch, daß alle Glaͤser erzitterten und die Wachsmaͤnnchen schwankten und zappelten. Dies gefiel mir, so daß ich an¬ fing, nach dem Tacte auf den Tisch zu schlagen, wozu die Gesellen tanzten, ich schlug immer staͤr¬ ker und wilder und sang dazu, bis die Glaͤser wie toll an einander schlugen und erklangen. Auf einmal schneuzte es in einer Ecke, ein Paar feurige Augen funkelten hervor. Eine fremde große Katze war in die Kammer gesperrt, hatte sich bisher ruhig verhalten und wurde nun scheu. Ich wollte sie verscheuchen, da stellte sie sich dro¬ hend gegen mich, straͤubte die Haare und pustete gewaltig; ich machte in der Angst ein Fenster auf und warf ein Glas nach ihr, sie sprang hin¬ auf, konnte aber nicht weiter gelangen und kehrte sich wieder gegen mich. Nun schleuderte ich einen Wachsmann um den andern auf sie, sie schuͤttelte sich furchtbar und ruͤstete sich zum Sprunge, und als ich zuletzt die vier Elemente ihr an den Kopf warf, fuͤhlte ich ihre Krallen an meinem Halse. Ich fiel am Tisch nieder, die Lichter loͤschten aus und ich schrie in der Dunkelheit, obgleich die Katze schon wieder weg war. Meine Mutter trat herein, waͤhrend dieselbe hinausschluͤpfte, und fand mich halb bewußtlos und blutend am Boden liegen mitten in den Glasscherben, Wasserbaͤchen und Kobolden. Sie hatte nie auf mein Trei¬ ben in der Kammer geachtet, zufrieden, daß ich so still und vergnuͤglich war, und wußte sich nun meine ganze Geschichte und verwirrte Erzaͤhlung um so weniger zu reimen. Inzwischen entdeckte sie die gewaltige Abnahme ihres Wachses und betrachtete nun mit halbem Zorne und halber Lachlust die Truͤmmer der untergegangenen Welt. Die Sache machte Aufsehen. Frau Margreth ließ sich erzaͤhlen und die bemalten Bogen nebst uͤbrigen Truͤmmern zeigen, und fand Alles hoͤchst bedenklich. Sie befuͤrchtete, daß ich am Ende in ihren Buͤchern gefaͤhrliche Geheimnisse geschoͤpft haͤtte, welche bei ihrem mangelhaften Lesen ihr selbst unzugaͤnglich waͤren, und verschloß die be¬ denklichsten Buͤcher mit hoͤchst bedeutungsvollem Ernste. Jedoch konnte sie sich einer gewissen Genugthuung nicht erwehren, da es sich zu be¬ staͤtigen schien, wie hinter diesen Sachen mehr stecke, als man geglaubt habe. Sie war der festen Meinung, daß ich auf dem besten Wege I. 17 gewesen sei, durch ihre Buͤcher ein angehender Zaubermann zu werden. Ueber solchen Mißgeschicken verleidete mir die einsame Beschaͤftigung im Hause und ich schloß mich nun einigen Knaben an, welche sich gut zu unterhalten schienen, indem sie in einem großen alten Fasse Komoͤdie spielten. Sie hatten einen Vorhang davorgezogen und ließen eine beguͤn¬ stigte Anzahl Kinder respectvoll harren, bis sie ihre geheimnißvollen Vorbereitungen geendet. Dann wurde das Heiligthum geoͤffnet, einige Ritter in papiernen Ruͤstungen fuͤhrten ein ge¬ draͤngtes Zwiegespraͤch tuͤchtiger Schimpfreden, um sich darauf schleunigst durchzublaͤuen und un¬ ter dem Fallen des durchloͤcherten Teppichs todt hinzustrecken. Ich wurde bald eingeweiht als ein anstelliger Junge und brachte vor Allem aus einen bestimmteren Stoff in das Faß, indem ich kurze Handlungen aus der biblischen Geschichte oder den Volksbuͤchern auszog und die vorkom¬ menden Reden woͤrtlich abschrieb und durch einige Wendungen verband. Ich fand auch, daß es wuͤnschbar waͤre, wenn die Helden einen beson¬ dern Eingang haͤtten, um vorher ungesehen auf¬ treten zu koͤnnen. Deshalb wurde in die Hin¬ terwand ein Loch gesaͤgt, geschnitten und gekratzt, bis ein Wohlgewappneter bescheiden durchkriechen konnte, was sehr possierlich aussah, wenn er mit seinen donnernden Reden begann, ehe er sich voͤl¬ lig aufgerichtet hatte. Sodann wurden gruͤne Zweige geholt, um das Innere des Fasses in einen Wald umzuwandeln; ich nagelte sie rings herum fest und ließ nur oben das Spundloch frei, durch welches uͤberirdische Stimmen hernie¬ derzuschallen hatten. Ein Junge brachte eine an¬ sehnliche Duͤte Theatermehl und hiermit ein neues praͤchtiges Element in unsere Bestrebungen. Eines Tages wurde David und Goliath ge¬ geben. Die Philister standen auf dem Plane, fuͤhrten sich heidnisch auf und traten vor das Faß hinaus in das Proscenium. Dann krochen die Kinder Israel herein, lamentirten und waren verzagt und traten auf die andere Seite des Einganges, als Goliath, ein großer Bengel, er¬ schien und uͤbermuͤthige Possen machte zum gro¬ ßen Gelaͤchter beider Heere und des Publicums, bis David, ein unterwachsener bissiger Junge, ploͤtzlich dem Unfug ein Ende machte und dem Riesen aus seiner Schleuder, die er trefflich fuͤhrte, eine große Roßkastanie an die Stirne schleuderte. Daruͤber wurde dieser wuͤthend und hieb dem David eben so derb auf den Kopf, und sogleich waren beide im heftigsten Raufen in ein¬ ander verknaͤuelt. Die Zuschauer und die beiden Choͤre klatschten Beifall und nahmen Partei; ich selbst saß rittlings oben auf dem Fasse, ein Licht¬ stuͤmpfchen in der einen und eine thoͤnerne Pfeife mit Colophonium in der andern Hand, und blies als Zeus Donnerer gewaltige, ununterbrochene Blitze durch das Spundloch hinein, daß die Flammen durch das gruͤne Laub zuͤngelten und das Silberpapier auf Goliaths Helm magisch erglaͤnzte. Dann und wann guckte ich schnell durch das Loch hinunter, um dann die tapfer Kaͤmpfenden ferner wieder mit Blitzen anzufeuern, und hatte kein Arges, als die Welt, welche ich zu beherrschen waͤhnte, ploͤtzlich auf ihrem Lager wankte, uͤberschlug und mich aus meinem Him¬ mel schleuderte; denn Goliath hatte endlich den David uͤberwunden und mit Gewalt an die Wand geworfen. Es gab ein großes Geschrei, der Eigenthuͤmer des Fasses kam heran und schloß kraft hoͤheren Machtspruches das rollende Haus, nicht ohne Schelten und ausgetheilte Puͤffe, als er die willkuͤrlichen Veraͤnderungen entdeckte, welche angebracht waren. Insbesondere mißfiel ihm die Art, wie wir ein umgekehrtes Faß des Regulus hergestellt hatten, indem eine Unzahl Naͤgel mit den Spitzen nach außen ragten, gleich den Borsten eines Stachelschweines, und hin¬ gegen die Koͤpfe gemuͤthlich nach innen streckten. Jedoch vermißten wir dies verbotene Para¬ dies nicht allzusehr, da bald darauf eine deutsche Schauspielergesellschaft in unsere Stadt kam, um mit obrigkeitlicher Bewilligung vor den Bewoh¬ nern die Bretter, welche die Welt bedeuten, in einem vollkommeneren Maße aufzubauen, als bisher von Liebhabern und Kindern geschehen war. Der wandernde Kuͤnstlerverein schlug sei¬ nen Sitz im groͤßten Gasthause der Stadt auf, wandelte den geraͤumigen Tanzsaal in ein Theater um und fuͤllte zugleich alle bescheideneren Zimmer und Raͤume mit seinem haͤuslichen Leben. Nur der Director bewohnte vornehm ein glaͤn¬ zenderes Gemach. Ueberdies zog uns das belebte Haus nicht nur waͤhrend der abendlichen Vorstellungen an, sondern wir hatten auch waͤhrend des Tages genug vor demselben zu stehen und zu beobachten, theils um die bewunderten Helden und Koͤnigin¬ nen in ihrer verwegenen und anmuthigen Tracht und Haltung aus- und eingehen zu sehen, theils um keine Maschine, keinen Korb mit rothen Maͤnteln und Degen, kein Requisit aus den Augen zu verlieren, welches hineingetragen wurde. Vorzuͤglich hielten wir uns auch vor einem offenen Hintergebaͤude auf, wo ein kuͤhner Maler inmitten einer Anzahl auf Kohlen stehender Toͤpfe, aufrechtstehend und die eine Hand in der Hosentasche, mit einem unendlich verlaͤngerten Pinsel Wunder auf das ausgebreitete Papier warf. Ich erinnere mich deutlich des tiefen Ein¬ druckes, welchen die einfache und sichere Art auf mich machte, mit welcher er duftige und durch¬ sichtige weiße Vorhaͤnge um die Fenster eines rothen Zimmers zauberte; mit den wenigen wei¬ ßen, wohlangebrachten Strichen und Tupfen auf dem rothen Grunde ging ein erwaͤrmendes Licht in meiner Seele auf, welche vor solchen Dingen, wenn sie in der naͤchtlichen Beleuchtung vor mir standen, begriffslos gestaunt hatte. Es entstand in mir die erste ahnende Einsicht in den Geist der Malerei; das freie Auftragen von dichten deckenden Farben auf durchsichtige Unterlagen machte mir Vieles klar, und ich begann nachher der Graͤnze dieser zwei Gebiete nachzuspuͤren, wo ich ein Gemaͤlde zu sehen bekam, und meine Entdeckungen hoben mich uͤber den wehrlosen Wunderglauben hinaus, welcher es aufgiebt, jemals dergleichen selbst zu verstehen. Diese Be¬ fangenheit ist allgemein in den untern Kreisen des Volkes, wo selten, vermoͤge der beschraͤnkten Erziehung, ein fruͤher Einblick in das Technische der Kuͤnste vergoͤnnt wird, sondern nur die fer¬ tigen Fruͤchte in ehrerbietiger Entfernung und unnahbarer Vollendung vor dem staunenden Auge stehen. An den Abenden, wo gespielt wurde, waren wir vollzaͤhlig und unfehlbar auf unserm Platze und schlichen wie die Katzen um das Gebaͤude herum. Da ich bei der Sparsamkeit meiner Mutter keine Moͤglichkeit sah, auf legalem Wege in das Innere des Kunsttempels zu gelangen, so befand ich mich doppelt wohl bei meinen Ge¬ nossen der Armenschule, welche ebenfalls darauf gewiesen waren, entweder durch kleine Dienst¬ leistungen oder durch verwegene Schlauheit durch¬ zuschluͤpfen. Es gelang mir auch mehrere Male, mich mit klopfendem Herzen in den angefuͤllten Saal zu schleichen, und uͤberflog mit befriedigten Blicken die Decorationen, wenn der Vorhang aufging, dann die Costuͤme und Trachten der Spieler, um endlich, nachdem schon Erkleckliches gesprochen war, mich in das Studim der Fabel zu vertiefen. Dieses machte mir am meisten Vergnuͤgen bei den Opern, weil es dort am schwierigsten war; bei den Schauspielen war es zu leicht und riß mich zu schnell hin, indem es mir alle Objectivitaͤt, so wie die gehoͤrige Muße benahm, welche jene durch die unverstandene Musik darboten. Ich war bald ein großer Kenner und disputirte reichlich, unter angenom¬ mener Kaltbluͤtigkeit, mit meinen Freunden. Dieser Zwiespalt, die angenommene kennerhafte Ruhe und das unausbleibliche leidenschaftliche Hingeben auch an das verworfenste Stuͤck fing an mich zu aͤrgern, und ich sehnte mich auch sonst, mit Einem Schlage hinter die Coulissen zu kommen und das beruͤckende Spiel und seine Spieler, wie ihre Mittel, in der Naͤhe zu be¬ sehen; denn es beduͤnkte mich, daß es dort besser zu leben sein muͤsse, als irgendwo in der Welt, leidenschaftslos und uͤberlegen. Doch dachte ich nicht so leicht an eine Erfuͤllung meines Wun¬ sches, als ein guͤnstiger Stern dieselbe unver¬ hofft darbrachte. Wir standen eines Abends ziemlich muthlos vor einer Seitenthuͤr, als eben der Faust gege¬ ben wurde. Wir hatten gehoͤrt, daß man den famosen Doktor Faust, den wir genugsam kann¬ ten, nebst dem Teufel und allen seinen Herrlich¬ keiten sehen wuͤrde, fanden aber heute alle Hin¬ dernisse unuͤbersteiglich, welche auf unsern ge¬ wohnten Schlupfwegen sich entgegenstellten. So 17 * hoͤrten wir betruͤbt die Klaͤnge der Ouvertuͤre, welche von den vornehmen Liebhabern der Stadt aufgefuͤhrt wurde, und zerbrachen die Koͤpfe uͤber einem noch moͤglichen Eindringen. Es war ein dunkler Herbstabend und regnete kuͤhl und an¬ haltend. Es fror mich, und ich dachte ans Nach¬ hausegehen, zumal sich die Mutter uͤber das abendliche Umhertreiben beklagt hatte, als die dunkle Thuͤr sich oͤffnete, ein dienstbarer Geist heraussprang und rief: Heda, ihr Buben! Drei oder vier von euch moͤgen herein kommen, die sollen einmal mitspielen! Auf dieses Zauberwort draͤngten sich sogleich die Staͤrksten in das Haus; denn dies war ein Fall, wo ein Jeder nur an sich selbst denken durfte. Er wies sie aber zu¬ ruͤck, indem er sie fuͤr zu groß und dick erklaͤrte und mich, der ich ohne sonderliche Hoffnungen im Hintergrunde stand, heranrief und sagte: Der da ist recht, der wird eine gute Meerkatze sein! Dazu ergriff er noch zwei andere, schmaͤch¬ tig gewachsene Jungen, schloß die Thuͤr hinter uns und marschirte an unserer Spitze nach einem kleinen Saale, welcher als Garderobe diente. Dort hatten wir nicht Zeit, die aufgehaͤuften Gewaͤnder, Waffen und Ruͤstungen zu betrach¬ ten; denn wir wurden schnell unserer Kleider entledigt und in abentheuerliche Pelze gesteckt, welche vom Kopf bis zum Fuße eine Huͤlle bil¬ deten. Das Meerkatzengesicht konnte wie eine Kaputze zuruͤckgeschlagen werden, und als wir solchergestalt verwandelt dastanden, die langen Schwaͤnze in der Hand haltend, laͤchelten wir ganz vergnuͤgt und begluͤckwuͤnschten uns nun erst zu unserm unverhofften Gluͤcke. Nun wur¬ den wir auf die Buͤhne gefuͤhrt, wo wir von zwei großen Meerkatzen lustig begruͤßt und in aller Eile fuͤr unsere bevorstehende Aufgabe un¬ terrichtet wurden. Wir begriffen dieselbe bald und leisteten eine gelungene Probe verschiedener Purzelbaͤume und Affenspruͤnge, spielten auch zierlich mit einer Kugel, so daß wir bis zu un¬ serm Auftreten entlassen wurden. Wir spazierten gravitaͤtisch unter dem Gedraͤnge herum, das sich auf dem schmalen Raume zwischen den vier wirk¬ lichen und den gemalten Waͤnden schob und mischte; ich schaute unverwandt bald auf die Buͤhne, bald hinter die Coulissen, und beobach¬ tete mit hoher Freude, wie aus dem unkenntli¬ chen, unterdruͤckt laͤrmenden und streitenden Chaos sich still und unmerklich geordnete Bilder und Handlungen ausschieden und auf dem freien, hellen Raume erschienen, wie in einer jenseitigen Welt, um wieder eben so unbegreiflich in das dunkle Gebiet zuruͤckzutauchen. Die Schauspieler lachten, scherzten, koseten und zankten, hier und da ging einer ploͤtzlich von seiner Gruppe weg und stand in einem Augenblicke einsam und feier¬ lich mitten auf dem Zauberbanne und machte ein so frommes Gesicht gegen die mir unsichtbare Zuschauerwelt hinaus, als ob er vor den ver¬ sammelten Goͤttern staͤnde. Ehe ich mich dessen versah, war er wieder mit einem Sprunge unter uns und setzte die unterbrochenen Schimpf- oder Schmeichelreden fort, indessen schon irgend ein Anderer sich ausgeschieden hatte, um es ebenso zu machen. Die Menschen fuͤhrten ein doppel¬ tes Leben, wovon das eine ein Traum sein mochte; aber ich wurde nicht klug daraus, wel¬ ches davon der Traum, und welches fuͤr sie die Wirklichkeit war. Lust und Leid schien mir in beiden Theilen gleich gemischt vorhanden zu sein; doch im innern Raume der Buͤhne, wenn der Vorhang geoͤffnet war, schien Vernunft und Wuͤrde und ein heller Tag zu herrschen und so¬ mit das wirkliche Leben zu bilden, waͤhrend, so¬ bald der Vorhang sank, mit ihm Alles in truͤbe, traumhafte Verwirrung zu sinken schien. Auch duͤnkte es mich, daß diejenigen, welche sich in diesem wuͤsten Traume am heftigsten und leiden¬ schaftlichsten geberdeten, dort in dem bessern Stuͤck Leben, wenn die Sonne des Kronleuchters her¬ einschien, die edelsten und ausdruckvollsten Ge¬ stalten waren; diejenigen aber, welche in der Naͤhe ruhig, kalt und friedfertig herumstanden, in jenem Glanze eine ziemlich traurige Rolle spielten. Der Text des Stuͤckes war die Musik, welche das Leben in Schwung brachte. Sobald sie schwieg, stand der Tanz still, wie eine abge¬ laufene Uhr. Die Verse des Faust, welche jeden Deutschen, sobald er einen davon hoͤrt, elektrisiren, diese wunderbar gelungene und gesaͤttigte Sprache klang fortwaͤhrend wie eine edle Musik, machte mich froh und setzte mich mit in Schwung, ob¬ gleich ich nicht viel mehr davon verstand, als mancher Professor, der zum zwoͤlften Male uͤber Faust liest. Indessen fuͤhlte ich mich ploͤtzlich beim Schwanze gefaßt und ruͤcklings in die Hexenkuͤche gezogen, wo bereits saͤmmtliche Katzen umhersprangen und ein Schein und Gefunkel unzaͤhliger Gesichter und Augen aus dem Parterre hereinschimmerte. Ich hatte bisher uͤber meinen Betrachtungen die zu Tage getretene Decoration der Hexenkuͤche uͤbersehen und daher Vieles nachzuholen; denn die phantastischen Dinge um mich her, die Zerr¬ bilder und Gespenster reizten mich sowohl, wie das Treiben Mephistos, der Hexe und der an¬ dern Meerkatzen. Als ob ich nicht selbst eine Meerkatze waͤre und meine Aufgabe zu erfuͤllen haͤtte, vergaß ich ganz die eingelernten Spruͤnge und Possen und sah ruhig und selbstvergessen den Anderen zu. Nun schaute Faust voll Entzuͤcken in den Zauberspiegel, und es nahm mich hoͤchlich Wunder, was es dort zu sehen gebe? Indem ich in der gleichen Richtung nachahmend hinsah, gingen meine Blicke dem leeren, gemalten Spie¬ gel vorbei hinter die Coulisse und entdeckten dort in der Wirrniß des jenseitigen Lebens das Bild, welches Faust zu sehen vorgab. Gretchen war unterdessen auf die Buͤhne gekommen und legte sich, einige tief bewegte Worte nach ruͤckwaͤrts rufend, eben die letzte Schminke auf, nachdem sie sich Augen und Wangen mit einem weißen Tuche sorglich und fest getrocknet hatte, als ob sie geweint haͤtte. Es war eine sehr schoͤne Frau, von welcher ich kein Auge mehr abwandte, un¬ geachtet der heimlichen Puͤffe und Schelten, welche ich von meinen fleißigen Mitmeerkatzen erhielt. So verlangte ich, der ich mich vorher nach dieser hoͤheren Sphaͤre gesehnt hatte, nun nichts weiter, als dorthin zuruͤckzukehren, wo die volle schoͤne Frauengestalt wandelte. Die Zeit unseres Wirkens ging endlich voruͤ¬ ber, und ich machte meinen ersten und einzigen guten Sprung, als ich leidenschaftlich vom Schau¬ platze abtrat oder sprang, und mich moͤglichst in die Naͤhe des gesehenen Bildes zu bringen suchte. Aber in demselben Augenblicke befand sie sich ihrerseits einsam in der Handlung, und ich konnte sie nur wieder von ferne sehen. Sie schien irgend einen tiefen Verdruß in sich zu tragen, und daher war ihr Spiel halb aus Anmuth und halb aus sichtbarem Zorne gemischt. Diese Mischung brachte zwar kein gutes Gret¬ chen hervor, aber sie verlieh der Spielerin einen eigenthuͤmlichen Reiz, ich nahm Partei fuͤr sie gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir sogleich den Roman aus, in welchen sie etwa verwickelt sein moͤchte. Doch loͤste sich dieses fluͤchtige Gespinnste bald auf und verschmolz sich mit der dargestellten Dichtung, als Gretchens Schicksal tragisch wurde. Als sie im Kerker auf dem Stroh lag und nachher irre redete, spielte sie so meisterhaft, daß ich furchtbar erschuͤttert ward und doch in durstig heißer Aufregung das Bild des im graͤnzenlosesten Ungluͤcke versunkenen Weibes in mich hineintrank; denn ich hielt das Ungluͤck fuͤr wirklich und war eben so erstaunt als gesaͤttigt durch die Scene, welche an Staͤrke Alles uͤbertraf, was ich bisher gesehen, gehoͤrt oder selbst combinirt hatte. Der Vorhang war gefallen, und Alles lief auf dem Theater bunt durcheinander, waͤhrend ich einigen Papieren nachschlich, welche ich in den Haͤnden des Direktors und der Kuͤnstler ge¬ sehen hatte und in einem Winkel hinter einer ge¬ malten Mauer fand. Ich war begierig, Einsicht zu nehmen von dem Geschriebenen, welches so große Wirkung hervorgebracht; daher war ich bald in das Lesen der Rollen versenkt. Aber obgleich ich die koͤrperlichen Erscheinungen gefaßt und empfunden hatte, so waren doch nun die geschriebenen Worte, als die Zeichensprache eines gereiften und großen maͤnnlichen Geistes, dem unwissenden Kinde vollkommen unverstaͤndlich; der kleine Eindringling fand sich bescheidentlich wie¬ der vor die verschlossene Thuͤre einer hoͤheren Welt gestellt, und ich schlief uͤber meinen For¬ schungen schnell und fest ein. Als ich wieder erwachte, war das Theater leer und still, die Lampen ausgeloͤscht, und der I. 18 Vollmond goß sein Licht zwischen den Coulissen uͤber die seltsame Unordnung herein. Ich wußte nicht, wie mir geschah, noch wo ich mich befand; doch als ich meine Lage erkannte, ward ich voll Furcht und suchte einen Ausgang, fand aber die Thuͤren verschlossen, durch welche ich hereinge¬ kommen war. Nun schickte ich mich in das Ge¬ schehene und begann von Neuem, alle Seltsam¬ keiten dieser Raͤume zu untersuchen. Ich betastete die raschelnden, papiernen Herrlichkeiten und legte das Maͤntelchen und den Degen des Mephi¬ stopheles, welche auf einem Stuhle lagen, uͤber meinen Meerkatzenhabit um. So spazierte ich in dem hellen Mondscheine auf und nieder, zog den Degen und fing an zu gestikuliren. Dann ent¬ deckte ich die Maschienerie des Vorhanges, und es gelang mir, denselben aufzuziehen. Da lag der Zuschauerraum dunkel und schwarz vor mir, wie ein erblindetes Auge; ich stieg in das Or¬ chester hinab, wo die Instrumente umherlagen und nur die Violinen sorgfaͤltig in Kaͤstchen ver¬ schlossen waren. Auf den Pauken lagen die schlanken Haͤmmer, welche ich ergriff und zagend gegen das Fell schlug, daß es einen dumpf grol¬ lenden Ton gab. Jetzt wurde ich kuͤhner und schlug staͤrker, bis es zuletzt wie ein Gewitter durch den leeren, mitternaͤchtlichen Saal hallte. Ich ließ den Donner anschwellen und wieder ab¬ nehmen, und wenn er verklang, so duͤnkten mich die unheimlichen Pausen noch schoͤner als das Geraͤusch selbst. Endlich erschrak ich uͤber meinem Thun, warf die Schlaͤgel hin und getraute mir kaum, uͤber die Baͤnke des Parterre hinwegzu¬ steigen und mich zu hinterst an der Wand hin¬ zusetzen. Ich war kalt und wuͤnschte zu Hause zu sein, auch ward es mir bange in meiner Einsamkeit. Die Fenster in diesem Theile des Saales waren dicht verschlossen, so daß nur die Buͤhne, welche immer noch den Kerker vor¬ stellte, durch das Mondlicht magisch beleuchtet war. Im Hintergrunde stand das Pfoͤrtchen noch offen, hinter welchem Gretchen gelegen hatte, ein bleicher Strahl fiel auf das Strohlager, ich dachte an das schoͤne Gretchen, welches nun hingerichtet sein werde, und der stille, mondhelle Kerker kam mir zauberhafter und heiliger vor, als dem Faust einst 18 * Gretchens Kammer. Ich stuͤtzte meinen Kopf auf beide Haͤnde und sah mit sehnenden Blicken hinuͤber, besonders in die vom Lichte halb be¬ streifte Vertiefung, wo das Stroh lag. Da regte es sich im Dunkel, athemlos sah ich hin und jetzt stand eine weiße Gestalt in jenem Win¬ kel; es war Gretchen, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Mich schauerte es vom Wirbel bis zur Zehe, meine Zaͤhne schlugen zusammen, waͤhrend doch ein maͤchtiges Gefuͤhl gluͤcklicher Ueberra¬ schung mich durchzuckte und erwaͤrmte. Ja, es war Gretchen, es war ihr Geist, obgleich ich in der Entfernung ihre Zuͤge nicht unterscheiden konnte, was die Erscheinung noch geisterhafter machte. Sie schien mit dunklen Blicken in dem Raume umherzusuchen, ich richtete mich empor, es zog mich vorwaͤrts, wie mit gewaltigen, un¬ sichtbaren Haͤnden, und waͤhrend mein Herz hoͤr¬ bar klopfte, schritt ich uͤber die Baͤnke gegen das Proscenium hin, jeden Schritt einen Augenblick anhaltend. Die Pelzumhuͤllung machte meine Fuͤße unhoͤrbar, so daß mich die Gestalt nicht bemerkte, bis ich, an dem Soufleurkasten hinauf¬ klimmend, in meiner befremdlichen Tracht vom ersten Mondstrahle bestreift wurde. Ich sah, wie sie entsetzt ihr gluͤhendes Auge auf mich richtete und, doch lautlos, zusammenfuhr. Einen leisen Schritt trat ich naͤher und hielt wieder ein; meine Augen waren weit geoͤffnet, ich hielt die Haͤnde zitternd erhoben, indeß ich, von einem frohen Feuer des Muthes durchstroͤmt, auf das Phantom losging. Da rief es mit gebieterischer Stimme: Halt! kleines Ding! was bist Du? und streckte drohend den Arm gegen mich aus, daß ich fest auf der Stelle gebannt blieb. Wir sahen uns unverwandt an; ich erkannte jetzt ihre Zuͤge wohl, sie hatte ein weißes Nachtkleid um¬ geschlagen, Hals und Schultern waren entbloͤßt und gaben einen milden Schein, wie naͤchtlicher Schnee. Ich witterte alsogleich das warme Le¬ ben, und der abentheuerliche Muth, den ich dem Gespenste gegenuͤber empfunden hatte, verwan¬ delt sich in die natuͤrliche Bloͤdigkeit vor dem lebendigen Weibe. Sie hingegen war immer noch zweifelhaft uͤber meine daͤmonische Erschei¬ nung, und sie rief daher noch einmal: »Wer seid Ihr, kleiner Bursch?« Kleinlaut antwor¬ tete ich: »Ich heiße Heinrich Lee und bin eine von den Meerkatzen; man hat mich hier einge¬ schlossen!« Da trat sie auf mich zu, streifte meine Maske zuruͤck, faßte mein Gesicht zwischen ihre Haͤnde und rief, indem sie laut lachte: »Herr Gott! das ist die aufmerksame Meerkatze! Ei, Du kleiner Schalk! bist Du es, der den Laͤrm ge¬ macht hat, als ob ein Gewitter im Hause waͤre?« »Ja!« sagte ich, indem meine Augen fortwaͤhrend auf dem weißen Raume ihrer Brust hafteten und mein Herz zum ersten Male wieder so andaͤchtig erfreut war, wie einst, wenn ich in das glaͤn¬ zende Feld des Abendrothes geschaut und den lieben Gott darin geahnt hatte. Dann betrach¬ tete ich in vollkommener Ruhe ihr schoͤnes Ge¬ sicht und gab mich unbefangen dem suͤßen Ein¬ drucke ihres reizenden Mundes hin. Sie sah mich eine Weile still und ernsthaft an, dann sprach sie: »Mich duͤnkt, Du bist ein feiner Junge; doch wenn Du einst groß sein wirst, so wirst Du ein Luͤmmel sein, wie Alle!« Und hiermit schloß sie mich an sich und kuͤßte mich mehrere Male auf meinen Mund, der nur da¬ durch leise bewegt wurde, daß ich heimlich, von ihren Kuͤssen unterbrochen, ein herzliches Dank¬ gebet an Gott richtete fuͤr das herrliche Aben¬ theuer. Hierauf sagte sie: »Es ist nun am besten, Du bleibest bei mir, bis es Tag ist; denn Mit¬ ternacht ist laͤngst voruͤber!« und sie nahm mich bei der Hand und fuͤhrte mich durch mehrere Thuͤren in ihr Zimmer, wo sie vorher schon ge¬ schlafen hatte und durch mein naͤchtliches Spu¬ ken geweckt worden war. Dort ordnete sie am Fußende ihres Bettes eine Stelle zurecht, und als ich darauf lag, huͤllte sie sich dicht in einen sammetnen Koͤnigsmantel, legte sich der Laͤnge nach auf das Bett und stuͤtzte ihre leichten Fuͤße gegen meine Brust, daß mein Herz ganz ver¬ gnuͤglich unter denselben klopfte. Somit ent¬ schliefen wir und glichen in unserer Lage nicht uͤbel jenen alten Grabmaͤlern, auf welchen ein steinerner Ritter ausgestreckt liegt mit einem treuen Hunde zu Fuͤßen. Nur lag hier anstatt des starren Ritters ein lebendiges, leicht athmen¬ des Weib und an der Stelle des Hundes ein Knabe, dem im Kopf und Herz das fruͤhe Le¬ ben zu rumoren begann. Achtes Kapitel. In Folge der Angst, welche die Mutter uͤber mein naͤchtliches Wegbleiben empfunden hatte, war mir das abendliche Umhertreiben und der Besuch des Theaters strengstens untersagt wor¬ den; auch am Tage wurde ich sorgfaͤltiger beauf¬ sichtigt und in meinem Umgange mit den Kin¬ dern der armen Leute beschraͤnkt, welchen man faͤlschlicher Weise eine verderbliche und ansteckende Ungebundenheit zuschrieb. So hatten die frem¬ den Schauspieler die Stadt verlassen, ohne daß ich jene Frau, der mein Herz nun ganz gehoͤrte, wiedergesehen, ausgenommen ein Mal von ferne, wo sie mich zu sich winkte, ich aber scheu vor ihr floh, um mich in den stillen Raͤumen unserer Wohnung um so leidenschaftlicher mit ihrem Bilde zu beschaͤftigen. Als ich hoͤrte, daß die Gesellschaft fortgereist sei, bemaͤchtigte sich meiner eine tiefe Traurigkeit, welche laͤngere Zeit anhielt. Je unbekannter mir die Gegend war, wo sie hingezogen sein mochte, desto mehr war mir al¬ les Land, welches jenseits der Berge lag, ein Land unbestimmter Wuͤnsche und dunklen Ver¬ langens, und diesen Zug empfinde ich seither im¬ mer, wenn Jemand, den ich gern habe, die Ge¬ gend verlaͤßt, wo ich lebe. Um diese Zeit schloß ich mich enger an einen Knaben, dessen erwachsene, lesebegierige Schwe¬ stern eine Unzahl schlechter Romane zusammenge¬ tragen hatten. Verloren gegangene Baͤnde aus Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen Haͤusern oder von Troͤdlern um wenige Pfennige erstanden, lagen in der Wohnung dieser Leute auf Gesimsen, Baͤnken und Tischen umher, und an Sonntagen konnte man nicht nur die Ge¬ schwister und ihre Liebhaber, sondern Vater und Mutter und wer sonst noch da war, in die Lektuͤre dieser schmutzig aussehenden Buͤcher ver¬ tieft finden. Die Alten waren thoͤrichte Leute, welche in dieser Unterhaltung Stoff zu thoͤrichten Gespraͤchen suchten; die Jungen hingegen erhitzten ihre gemeine Phantasie an den gemeinen unpoeti¬ schen Machwerken oder vielmehr, sie suchten hier die bessere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte. Die Romane zerfielen hauptsaͤchlich in zwei Arten. Die eine enthielt den Ausdruck der uͤblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jaͤm¬ merlichen Briefwechseln und Verfuͤhrungsgeschich¬ ten, die andere bestand aus derben Ritterroma¬ nen. Die Maͤdchen hielten sich mit großem In¬ teresse an die erste Art und ließen sich dazu von ihren theilnehmenden Liebhabern sattsam kuͤssen und liebkosen; uns Knaben waren aber diese prosaischen und unsinnlichen Schilderungen einer verwerflichen Sinnlichkeit gluͤcklicher Weise noch ungenießbar und wir begnuͤgten uns damit, ir¬ gend eine Rittergeschichte zu ergreifen und uns mit derselben zuruͤckzuziehen. Die unzweideutige Genugthuung, welche in diesen groben Dichtun¬ gen waltete, war meinen angeregten Gefuͤhlen wohlthaͤtig und gab ihnen Gestalt und Namen. Wir wußten die schoͤnsten Geschichten bald aus¬ wendig und spielten sie, wo wir gingen und stan¬ den, mit immer neuer Lust ab, auf Estrichen und Hoͤfen, in Wald und Berg, und ergaͤnzten das Personal vorweg aus willfaͤhrigen Jungen, die in der Eile abgerichtet wurden. Aus diesen Spielen gingen nach und nach selbst erfundene, fortlaufende Geschichten und Abentheuer hervor, welche zuletzt dahin ausarteten, daß Jeder seine große Herzens- und Rittergeschichte besaß, deren Verlauf er den Andern mit allem Ernste berich¬ tete, so daß wir uns in ein ungeheures Luͤgen¬ netz verwoben und verstrickt sahen; denn wir trugen unsere erfundenen Erlebnisse gegenseitig einander so vor, als ob wir unbedingten Glau¬ ben forderten, und gewaͤhrten uns denselben auch, in eigennuͤtziger Absicht, scheinbar. Mir ward diese truͤgliche Wahrhaftigkeit leicht, weil der Hauptgegenstand unserer Geschichten beiderseits immer eine glaͤnzende und ausgezeichnete Dame unserer Stadt war und ich diejenige, welche ich fuͤr meine Luͤgen auserwaͤhlt, bald mit meiner wirklichen Neigung und Verehrung bekleidete. Daneben hatten wir maͤchtige Feinde und Neben¬ buhler, als welche wir angesehene, ritterliche Of¬ fiziere bezeichneten, die wir oft zu Pferde sitzen sahen. Verborgene Reichthuͤmer waren in unse¬ rer Gewalt, und wir bauten aus denselben wun¬ derbare Schloͤsser an entlegenen Punkten, welche wir mit wichtiger Geschaͤftsmiene zu beaufsichti¬ gen vorgaben. Jedoch beschaͤftigte sich die Ein¬ bildungskraft meines Genossen uͤberdies mit aller¬ hand Kniffen und Raͤnken und war eher auf Besitz und leibliches Wohlsein gerichtet, in wel¬ cher Beziehung er die sonderbarsten Dinge er¬ fand, waͤhrend ich alle Erfindungsgabe auf meine erwaͤhlte Geliebte verwandte und seine kleinlichen und muͤhsamen Geldverhaͤltnisse, welche er un¬ ablaͤssig zusammentraͤumte, mit einer kolossalen Luͤge von einem gehobenen unermeßlichen Schatze uͤberbot und kurz abfertigte. Dieses mochte ihn aͤrgern, und waͤhrend ich, zufrieden in meiner ersonnenen Welt, mich wenig um die Wahrheit seiner Prahlereien bekuͤmmerte, fing er an, mich mit Zweifeln an der Wahrheit der meinigen zu quaͤlen und auf Beweise zu dringen. Als ich einst fluͤchtig von einer mit Gold und Silber ge¬ fuͤllten Kiste erzaͤhlte, welche ich in unserm Kel¬ lergewoͤlbe stehen haͤtte, drang er auf das Hef¬ tigste darauf, dieselbe zu sehen. Ich gab ihm eine Stunde an, zu welcher dies moͤglich waͤre, und er fand sich puͤnktlich ein und versetzte mich in eine Verlegenheit, an welche ich im mindesten bisher noch nie gedacht hatte. Aber schnell hieß ich ihn eine Weile warten vor dem Hause und eilte in die Stube zuruͤck, wo in dem Sekretaͤr meiner Mutter ein alterthuͤmliches hoͤlzernes Kaͤst¬ chen stand, welches einen kleinen Schatz an alten und neuen Silbermuͤnzen und einige Dukaten enthielt. Dieser Schatz umfaßte einestheils die Pathengeschenke aus der Kinderzeit meiner Mut¬ ter, anderstheils meine eigenen und war saͤmmt¬ lich mein erklaͤrtes Eigenthum. Die Hauptzierde aber war eine maͤchtige goldene Schaumuͤnze von der Groͤße eines Thalers und bedeutendem Wer¬ the, welche Frau Margreth in einer guten Stunde mir geschenkt und der Mutter zum sichern Ver¬ wahrsam eingehaͤndigt hatte zum treuen Ange¬ denken, wenn ich einst erwachsen, sie hingegen nicht mehr sein werde. Ich durfte das Kaͤstchen hervornehmen und den glaͤnzenden Schatz be¬ schauen, so oft ich wollte, auch hatte ich densel¬ ben schon in allen Gegenden des Hauses herum¬ getragen. Ich nahm ihn also jetzt und trug ihn in das Gewoͤlbe hinunter und legte das Kaͤstchen in eine Kiste, welche mit Stroh gefuͤllt war. Dann hieß ich den Zweifler mit geheimnißvoller Geberde hereinkommen, luͤftete den Deckel der Kiste ein wenig und zog das Kaͤstchen hervor. Als ich es oͤffnete, blinkten ihm die blanken Sil¬ berstuͤcke gar hell entgegen, als ich aber die Du¬ katen und zuletzt die große Muͤnze hervornahm, daß sie im Zwielichte seltsam funkelte und der alte Schweizer mit dem Banner, der darauf ge¬ praͤgt war, so wie der Kranz von Wappenschil¬ dern zu Tage traten, da machte er große Augen und wollte mit allen fuͤnf Fingern in das Kaͤst¬ chen fahren. Ich schlug es aber zu, legte es wieder in die Kiste und sagte: »Siehst Du, sol¬ cher Dinge ist die Kiste voll!« Damit schob ich ihn aus dem Keller und zog den Schluͤssel ab. Er war nun fuͤr einmal geschlagen, denn obgleich er von der Unwirklichkeit unserer Maͤhrchen uͤber¬ zeugt war, so gestattete ihm doch der bisher fest¬ gehaltene Ton unseres Verkehrs nicht, weiter zu dringen, da es auch hier die ruͤcksichtsvolle Hoͤf¬ lichkeit des Lebens erforderte, den mit guter Ma¬ nier vorgetragenen blauen Dunst bestehen zu las¬ sen. Vielmehr gab meinem Freunde diese vor¬ laͤufige Toleranz Gelegenheit, mich zu weiteren Luͤgen zu reizen und auf immer bedenklichere Proben zu stellen. Wir trafen bald darauf, als es gerade Me߬ zeit war, am Seeufer zusammen, vor den Kram¬ buden flankirend, welche dort in langen Reihen aufgeschlagen waren, und begruͤßten uns wie Macbeth's Hexen mit: »was hast du geschafft?« Wir standen vor dem Magazine eines Italiaͤners, welcher neben suͤdlichen Eßwaaren auch glaͤnzende Bijouterien und Spielereien feil bot. Feigen, Mandeln und Datteln, Kisten voll reinlich wei¬ ßer Makaroni, besonders aber Berge ungeheurer Salamiwuͤrste reizten den Sinn meines Gesellen zu kuͤhnen Phantasien, indessen ich zierliche Frauenkaͤmme, Oelflaͤschchen und Schalen voll schwarzer Raͤucherkerzchen betrachtete und unge¬ faͤhr dachte, wo diese Dinge gebraucht wuͤrden, da waͤre es gut sein. »Ich habe soeben,« be¬ gann mein Luͤgengefaͤhrte, »solch' eine Salami¬ wurst gekauft, zur Probe, ob ich fuͤr mein naͤch¬ stes Bankett eine Kiste voll anschaffen soll. Ich habe sie angebissen, fand sie aber abscheulich und schleuderte sie in den See hinaus; die Wurst muß noch dort schwimmen, ich sah sie den Augenblick noch.« Wir blickten auf den schim¬ mernden Wellenspiegel hinaus, wo zwischen den Marktschiffen wohl etwa ein Apfel oder ein Sa¬ latblatt umhertrieb, aber keine Salami zu sehen war. »Ei, es wird wohl ein Hecht danach ge¬ schnappt haben!« sagte ich gutmuͤthig, und er gab diese Moͤglichkeit zu und fragte mich, ob ich nicht auch Einkaͤufe machen wolle? »Freilich,« erwiderte ich, »ich moͤchte wohl diese Kette haben fuͤr meine Geliebte!« und wies auf eine unaͤchte, aber schoͤn vergoldete Halskette. Jetzt ließ er mich nicht mehr los, sondern umwickelte mich mit einem moralischen Zwangsnetze, indem ihm die Neugierde, ob ich wirklich uͤber meinen ge¬ heimnißvollen Schatz zu verfuͤgen haͤtte, die Worte dazu lieh. So hatte ich keinen andern Ausweg, l. 19 als nach Hause zu laufen und mir mit meinem Sparkaͤstchen zu schaffen zu machen. Einige Au¬ genblicke nachher ging ich wieder davon, einige glaͤnzende Silberstuͤcke in der festverschlossenen Hand, mit klopfender Brust dem Markte zu, wo mein lauernder Daͤmon mich empfing. Wir handelten um die Kette, oder gaben vielmehr, was der Italiener forderte, ich waͤhlte noch ein Armband von Achatschildern und einen Ring mit einer rothen Glaspaste; der Kaufmann besah mich und die schoͤnen Gulden mit wunderlichen Blicken, steckte sie aber nichts desto weniger ein; ich aber wurde schon auf dem Wege nach dem Hause fortgedraͤngt, wo meine Dame wohnte. Auf einem abgelegenen Platze standen etwa sechs Patricierhaͤuser, deren Besitzer sich durch den Seidenhandel auf der Hoͤhe fruͤherer Vornehmheit erhielten. Weder eine Schenke noch ein sonstiges niederes Gewerbe zeigte sich in dieser Gegend, welche still und einsam in ihrer Reinlichkeit ruhte; das Pflaster war weißer und besser, als in an¬ deren Stadttheilen, und kostbare eiserne Garten¬ gelaͤnder begraͤnzten dasselbe. In dem groͤßten und vornehmsten dieser Palaͤste wohnte der Ge¬ genstand meiner Luͤgen, eine jener jungen, an¬ muthigen Damen, welche, schoͤn und elegant ge¬ wachsen, mit rosiger Gesichtsfarbe, großen, la¬ chenden Augen und freundlichen Lippen, mit rei¬ chen Locken, wehenden Schleiern und seidenen Gewaͤndern die Unerfahrenheit beruͤcken und selbst gefurchte Stirnen aufheitern, so lange sie durch Unschuld liebenswuͤrdig sind. Wir standen schon vor dem praͤchtigen Portale und mein Begleiter schloß seine Ueberre¬ dungen, daß ich jetzt oder nie meiner Ge¬ bieterin die Geschenke uͤberbringen muͤßte, endlich dadurch, daß er frech den goldenen Griff der Hausglocke packte und anzog. Aber trotz seiner Frechheit, wuͤrde ein Aristokrat sagen, reichte doch die Energie seines Plebejerthumes nicht aus, ein kraͤftiges Geklingel hervorzubringen; es gab nur einen einzigen zaghaften Ton, welcher im Innern des großen Hauses verhallte. Nach eini¬ gen Sekunden ruckte der eine Thorfluͤgel um ein Unmerkliches, und mein Begleiter schob mich hinein, was ich, aus Furcht vor allem Geraͤusche, 19 * willenlos geschehen ließ. Da stand ich in un¬ saͤglicher Beklemmung neben einer breiten steiner¬ nen Treppe, welche sich oben zwischen geraͤumi¬ gen Gallerien verlor. Ich hielt Armband und Ring in die Hand gepreßt, und die Kette quoll theilweise zwischen den Fingern hervor; in der Hoͤhe ertoͤnten Tritte, welche von allen Seiten widerhallten, und Jemand rief herunter, wer da sei? Doch hielt ich mich still, man konnte mich nicht sehen und ging wieder, Thuͤren hinter sich zuschlagend. Nun stieg ich langsam die Treppe hinan, mich vorsichtig umsehend; an allen Waͤn¬ den hingen große Oelgemaͤlde, entweder wunder¬ liche Landschaften oder Ahnenbilder enthaltend; die Decken waren in weißer, reicher Stuccatur gearbeitet mit kleinen Fresken dazwischen, und in abgemessenen Entfernungen standen hohe dunkel¬ braune Thuͤren von Nußbaumholz, eingefaßt von Saͤulen und Giebeln von der gleichen Art, alles glaͤnzend polirt. Jeder meiner Schritte er¬ weckte Geraͤusch in den Woͤlbungen, ich wagte kaum zu gehen und dachte doch nicht darin , was ich sagen wollte, wenn ich uͤberrascht wuͤrde. Vor jeder Thuͤr lag eine Strohmatte, aber vor einer allein lag eine besonders reich und zierlich ge¬ flochtene von farbigem Stroh; daneben stand ein altes, vergoldetes Tischchen und auf diesem ein Arbeitskoͤrbchen mit Strickzeug, einigen Aepfeln und einem huͤbschen, silbernen Messerchen zu aͤu¬ ßerst am Rande, als ob es so eben hingestellt waͤre. Ich vermuthete, daß hier der Aufenthalt der Dame sei, und im Augenblicke nur an sie denkend, legte ich meine Kleinodien mitten auf die Matte, nur den Ring zu unterst in das Koͤrbchen auf einen feinen Handschuh. Dann aber eilte ich trepphinunter aus dem Hause, wo ich meinen Quaͤlgeist ungeduldig meiner wartend fand. »Hast Du es gethan?« rief er mir ent¬ gegen. »Ja freilich,« erwiderte ich mit leichterem Herzen. »Das ist nicht wahr,« sagte er wieder, »sie sitzt ja die ganze Zeit an jenem Fenster dort und hat sich nicht geruͤhrt. Wirklich war die schoͤne Frau hinter dem glaͤnzenden Fenster sicht¬ bar und gerade in der Gegend des Hauses, wo jene Zimmerthuͤr sein mochte. Ich erschrak hef¬ tig, sagte aber: »Ich schwoͤre Dir, ich habe die Kette und das Armband zu ihren Fuͤsten gelegt und den Ring an ihren Finger gesteckt!« »Bei Gott?« »Ja, bei Gott!« rief ich. »Nun mußt Du ihr aber noch eine Kußhand zuwerfen, und wenn Du es nicht thust, so hast Du falsch ge¬ schworen; sieh, sie schaut gerade herunter!« Wirklich ruhten ihre glaͤnzenden frohen Augen auf uns; aber der Einfall meines Freundes war ein teuflischer; denn lieber haͤtte ich dem Teufel selbst in's Gesicht gespieen, als diese Zumuthung erfuͤllt. Durch meinen jesuitischen Schwur war ich aber erst recht in die Klemme gerathen, es war kein Ausweg. Rasch kuͤßte ich meine Hand und bewegte sie gegen das Fenster hinauf. Das Maͤdchen hatte uns aufmerksam angesehen, und lachte nun ganz unbaͤndig, indem es freundlich herunter nickte; doch ich lief, so schnell ich konnte, davon. Das Maß war gefuͤllt, und als mein Gefaͤhrte mich in der naͤchsten Straße wieder er¬ reichte, trat ich bleich vor ihn hin und sagte: »Wie ist's eigentlich mit Deiner Salamiwurst? meinst Du, dieselbe sei hinreichend, dergleichen Sachen, wie ich bestehe, das Gegengewicht zu halten? Damit warf ich ihn unversehens nieder und schlug ihn mit der Faust in's Gesicht, bis mich ein Mann weghob und rief: »Die Teufels¬ jungen muͤssen sich doch immer raufen!« Das war das allererste Mal in meinem Le¬ ben, daß ich einen Schul- und Jugendgenossen schlug; ich konnte denselben nicht mehr ansehen und zugleich war ich vom Luͤgen fuͤr einmal gruͤndlich geheilt. In dem lesebeflissenen Hause wurden indessen der Vorrath an schlechten Buͤchern und die Thor¬ heit immer groͤßer. Die Alten sahen mit selt¬ samer Freude zu, wie die armen Toͤchter immer tiefer in ein einfaͤltig verbuhltes Wesen hinein¬ geriethen, Liebhaber auf Liebhaber wechselten und doch von Keinem heimgefuͤhrt wurden, so daß sie mitten in der uͤbelriechenden Bibliothek sitzen blieben mit einer Heerde kleiner Kinder, welche mit den zerlesenen Buͤchern spielten und dieselben zerrissen. Die Lesewuth wuchs nichts destomin¬ der fortwaͤhrend, weil sie nun Zank, Noth und Sorge vergessen ließ, so daß man in der Behau¬ sung nichts sah, als Buͤcher, aufgehaͤngte Win¬ deln und die vielfaͤltigen Erinnerungen an die Galanterie der ungetreuen Ritter, als gemalte Blumenkraͤnze mit Spruͤchen, Stammbuͤcher voll verliebter Verse und Freundschaftstempel, kuͤnst¬ liche Ostereier, in welchen ein kleiner Amor ver¬ borgen lag u. dgl. Alles in Allem genommen will es mir scheinen, daß auch dieses Elend so¬ wohl, wie das entgegengesetzte Extrem, die reli¬ gioͤse Sectirerei und das fanatische Bibelauslegen armer Leute, wie ich es im Hause der Frau Mar¬ greth fand, nur die verwischte Spur eines edleren Herzensbeduͤrfnisses und das heiße Suchen nach einer schoͤneren Wirklichkeit sei. Bei dem Sohne dieses Hauses machte sich, als er groͤßer wurde, die vielgeuͤbte Phantasie auf andere, nicht minder bedenkliche Weise geltend. Er wurde sehr genußsuͤchtig, lag schon als Han¬ delslehrling in den Wirthshaͤusern als ein eifri¬ ger Spieler und war bei allen oͤffentlichen Ver¬ gnuͤgen zu sehen. Dazu brauchte er viel Geld und um sich dieses zu verschaffen, verfiel er auf die sonderbarsten Erfindungen, Luͤgen und Raͤnke, welche ihm nur eine Art Fortsetzung der fruͤheren Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halb¬ verdaͤchtige Treiben nicht lange vor, vielmehr sah er sich bald darauf verwiesen, zuzugreifen, wo er konnte. Denn er gehoͤrte zu jenen Menschen, welche nicht gesonnen sind, sich in ihren Begier¬ den im Mindesten zu beschraͤnken und in der Ge¬ meinheit ihrer Gesinnung dem Naͤchsten mit List oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig nicht lassen will. Diese niedere Gesinnung ist gleichmaͤßig der Ursprung scheinbar ganz verschie¬ dener Erscheinungen. Sie beseelt den ungeliebten Herrscher, welcher, in seinem Dasein jedem Kinde im Lande ein Ueberdruß, doch nicht von seiner Stelle weicht und nicht zu stolz ist, sich vom Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes zu naͤhren; sie ist der Kern der Leidenschaftlichkeit eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die bestimmte Erklaͤrung der Nichterwiederung erhal¬ ten hat, sich nicht sogleich bescheidet und in den edlen Schmerz der Entsagung huͤllt, sondern mit gewaltsamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben verbittert; wie in allen diesen Zuͤgen, lebt sie endlich auch in der Selbstsucht des Betruͤgers und Diebes jeglicher Art, groß und klein, uͤberall ist sie ein unverschaͤmtes Zugreifen, zu welchem mein ehemaliger Gefaͤhrte nun auch seine Zu¬ flucht nahm. Ich hatte ihn im Verlaufe der Zeit ganz aus den Augen verloren, waͤhrend er schon mehrere Male im Gefaͤngnisse gesessen hatte, und dachte vor ungefaͤhr einem Jahre an nichts weniger, als an ihn, da ich einen verkommenen Menschen durch die Haͤscher dem Zuchthause zu¬ fuͤhren sah. In demselben ist er seither gestorben. Ich war nun zwoͤlf Jahre alt, so daß meine Mutter auf meine weitere Schulbildung denken mußte. Der Plan des Vaters, daß ich der Reihe nach die von freisinnigen Vereinen begruͤndeten Privatanstalten besuchen sollte, war nun zerschnit¬ ten, indem dieselben inzwischen durch wohleinge¬ richtete oͤffentliche Schulen uͤberfluͤssig geworden; denn die abermalige Regeneration der Schweiz hatte zuerst auf diesen Punkt ihr Augenmerk ge¬ richtet. Der alte Gelehrten- und Lehrerstand der Staͤdte wurde durch einberufene deutsche Schul¬ maͤnner reichlich erweitert und in den meisten Cantonen an eine große Zwillingsschule vertheilt, welche aus einem Gymnasium und einer Ge¬ werbsschule bestand. Bei der letzteren brachte mich die Mutter nach mehreren Berathungen und feierlichen Gaͤngen unter, und die Leistungen meiner bescheidenen Armenschule, aus welcher ich halb wehmuͤthig und halb froͤhlich schied, erwiesen sich bei der Aufnahmepruͤfung so vorzuͤglich, daß ich neben den Zoͤglingen der guten alten Stadtschu¬ len vollkommen bestand. Denn diese wohlhaben¬ den Buͤrgerkinder waren nun ebenfalls auf die neuen Einrichtungen angewiesen. So fand ich mich ploͤtzlich in eine ganz neue Umgebung ver¬ setzt. Statt wie fruͤher der bestgekleidete und vornehmste meiner Mitschuͤler zu sein, war ich in meinen gruͤnen Jaͤckchen, welche ich auf's aͤußerste ausnutzen mußte, nun einer der unan¬ sehnlichsten und bescheidensten und das nicht nur in Ansehung der Kleidung, sondern auch des Be¬ nehmens. Die Mehrzahl der Knaben gehoͤrte dem altherkoͤmmlichen bewußtvollen Buͤrgerstande an, einige waren vornehme feine Herrenkinder und einige hinwieder stammten von reichen Dorf¬ magnaten, alle aber hatten ein sicheres Auftreten und Gebahren, entschiedene Manieren und einen fixen Jargon im Sprechen und Spielen, vor welchem ich bloͤde und unsicher dastand. Wenn sie sich stritten, so schlugen sie sich gleich mit raschen Bewegungen in's Gesicht, daß es klatschte, und mehr Muͤhe, als das neue Lernen, machte mir das Zurechtfinden in diese neue Umgangs¬ weise, wenn ich nicht zu viel Unbilden erleiden wollte. Ich erkannte nun erst, wie mild und gutmuͤthig die Gesellschaft der armen Kinder ge¬ wesen war und schluͤpfte noch oft zu ihnen, die mich mit wehmuͤthigem Neide von meinen jetzigen Verhaͤltnissen erzaͤhlen hoͤrten. In der That brachte jeder Tag neue Ver¬ aͤnderungen in meiner bisherigen Lebensweise. Seit alter Zeit war die Jugend der Staͤdte in den Waffen geuͤbt worden, vom zehnten Jahre an bis beinahe zum wirklichen Militairdienste des Juͤnglingsalters, nur war es mehr eine Sache der Lust und des freien Willens gewesen und wer seine Kinder nicht wollte Theil nehmen las¬ sen, war nicht gezwungen. Nun aber wurden die Waffenuͤbungen fuͤr die saͤmmtliche schulpflich¬ tige Jugend gesetzlich geboten, daß jede Cantons¬ schule zugleich ein soldatisches Corps bildete. Wir wurden in gruͤne Uniform gesteckt, ich glaubte schon mit meiner besonderen Gruͤnheit in der all¬ gemeinen aufgehen zu koͤnnen und von meinem Spitznamen erloͤst zu sein; aber weit gefehlt, meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, die gruͤ¬ nen Roͤcke meines Vaters, welche kein Ende neh¬ men zu wollen schienen, dem Schneider unterzu¬ schieben und so ermangelte meine Uniform niemals um einen Grad dunkler oder heller zu sein, als alle uͤbrigen und mich fortwaͤhrend auszuzeichnen. Mit den kriegerischen Uebungen war das Turnen verwandt, zu welchem wir ebenfalls angehalten wurden, so daß ein Abend exercirt und den an¬ dern gesprungen, geklettert und geschwommen wurde. Ich war bisher aufgewachsen, wie ein Gras, mich biegend und schmiegend, wie jedes Luͤftchen der Lebensregungen und der Laune es wollte; Niemand hatte mir gesagt, mich grad zu halten, kein Mann mich an See und Fluß ge¬ fuͤhrt und da hineingeworfen, wo es am tiefsten war, nur in der Aufregung hatte ich ein und andern Sprung gethan, den ich mit Vorsatz nicht zu wiederholen vermochte. Mein Temperament aber hatte mich nicht dazu getrieben, wie etwa die Soͤhne anderer Wittwen, da ich keinen Werth darauf legte und viel zu beschaulich war. Meine jetzigen Schulgenossen hingegen bis auf den Klein¬ sten herab schwammen alle wie die Fische im See herum, sprangen und kletterten wie Katzen, und es war hauptsaͤchlich ihr Spott, welcher mich zwang, mir einige Haltung und Gewandtheit zu erwerben, da sonst wohl mein Eifer bald erkaltet waͤre. Denn es ist nicht zu laͤugnen, daß das allzu pedantische Betreiben solcher Dinge nicht nur gedankenreichen Erwachsenen, sondern auch einem Kinde, dessen Phantasie oͤfters spazieren geht, unbequem werden kann. Aber noch viel tiefer sollten die Veraͤnderun¬ gen in mein Leben einschneiden. Ich war nun in eine Umgebung gerathen, welche saͤmmtlich mit einem mehr oder minder genugsamen Ta¬ schengelde versehen war, theils in Folge haͤus¬ licher Wohlhabenheit, theils auch nur in Folge herkoͤmmlichen staͤdtischen Wohllebens und sorg¬ loser Prahlerei der Aeltern. An reichlicher Ge¬ legenheit, Ausgaben zu machen, fehlte es noch weniger, da nicht nur bei den gewoͤhnlichen Uebun¬ gen und Spielen auf den entlegenen Plaͤtzen Obst und Backwerk zu kaufen uͤblich war, sondern auch bei groͤßeren Turnfahrten und militairischen Aus¬ fluͤgen mit klingendem Spiel es fuͤr maͤnnlich galt, sich in den entfernten Doͤrfern hinter Wurst und Wein zu setzen. Dazu kamen noch die Aus¬ gaben fuͤr allerhand Spielereien, welche in der Schule abwechselnd Mode wurden unter dem Vorwande nuͤtzlicher Beschaͤftigung, ferner der lehrreiche Besuch aller fremden Sehenswuͤrdig¬ keiten, von welchen Allem sich regelmaͤßig ent¬ fernt halten zu muͤssen, einen unertraͤglichen An¬ strich von Duͤrftigkeit und Verlassenheit verlieh. Meine Mutter bestritt mit gewissenhaftem Eifer alle die ungewohnten Ausgaben fuͤr Lehrmittel, Instrumente und Material und gab mir hierin sogar fuͤr eine gewisse Verschwendung Raum. Mit den feinen Zirkeln des Vaters durchstach ich das schoͤnste Papier in der Klasse, jede Gelegen¬ heit nahm ich wahr, ein neues Heft zu errichten und meine Buͤcher waren immer am elegantesten gebunden. Allein fuͤr alles Andere, was im ge¬ ringsten des Ueberflusses verdaͤchtig schien, be¬ harrte sie unerbittlich auf dem Grundsatze, daß kein Pfennig unnuͤtz duͤrfe ausgegeben werden und daß ich dies fruͤhzeitig lernen muͤsse. Nur fuͤr die allgemeinsten Ausfluͤge und Unternehmun¬ geu , von denen zuruͤckzubleiben ein zu großer Schmerz fuͤr mich gewesen waͤre, gab sie mir ein kaͤrgliches Geld, welches jedes Mal schon in der Mitte des frohen Tages aufgezehrt war. Dabei hielt sie mich in weiblicher Unkenntniß der Welt nicht etwa in der Abgeschiedenheit zuruͤck, wie es sich zu ihrer strengen Sparsamkeit geschickt haͤtte, sondern ließ mich meine ganze Zeit in der Gemeinschaft der Anderen zubringen, mich nur unter lauter wohlgezogenen Knaben und unter der Aufsicht des großen, angesehenen Lehrerper¬ sonales waͤhnend, waͤhrend gerade dadurch das Mitmachen und Vergleichen unvermeidlich wurde und ich in tausend Verlegenheiten und schiefe Stellungen gerieth. In der Einfachheit und Un¬ schuld ihres Gemuͤthes und ihres Lebenslaufes hatte sie keine Ahnung von dem unheilvollen Giftkraute, welches falsche Scham genannt wird und in den fruͤhesten Tagen des maͤnnlichen Le¬ bens um so mehr zu wuchern beginnt, als es von der Insolenz der alten Menschen eher gehaͤt¬ schelt und gepflegt, als unterschieden und ausge¬ reutet wird. Unter tausend Jugendfreunden und Mitgliedern von Pestalozzi-Stiftungen giebt es vielleicht keine zwoͤlf, welche aus ihren eigenen Erinnerungen sich noch auf das ABC des kind¬ lichen Gemuͤthes besinnen und wissen, wie sich daraus die verhaͤngnißvollen Worte bilden, und man darf sie eigentlich nicht einmal darauf auf¬ merksam machen, sonst werfen sie sich sogleich auf dieses Gebiet und errichten daruͤber ein Statut. Auf Pfingsten ward einst ein großer jugend¬ licher Feldzug verabredet; saͤmmtliche kleine Mann¬ schaft, einige Hundert an der Zahl, sollte mit klingendem Spiel ausruͤcken und, uͤber Berg und Thal marschirend, die bewaffnete Jugend einer benachbarten Stadt besuchen, um mit derselben gemeinschaftliche Paraden und Uebungen abzu¬ halten. Es herrschte eine allgemeine Aufregung, I . 20 gemischt aus der Freude der Erwartung und aus der Lust der Vorbereitung. Kleine Tornister wurden vorschriftsmaͤßig bepackt, Patronen wur¬ den so viele als moͤglich uͤber die bestimmte Zahl angefertigt, unsere Zweipfuͤnderkanonen, sowie die Fahnen bekraͤnzt, und uͤberdies ging unter der Hand das Gerede, wie unsere Nachbaren nicht nur propere und gedrillte Soldaten, sondern auch aufgeweckte und lustige Zecher und Kameraden waͤren, daß es also nicht nur gelte, sich moͤg¬ lichst blank und strack zu halten, sondern Je¬ der sich gut mit Taschengeld zu versehen haͤtte, um den beruͤhmten Nachbaren auf jede Weise die Stange zu halten. Dazu wußten wir, daß dort die weibliche Jugend ebenfalls Theil nehmen, festlich gekleidet und bekraͤnzt uns beim Einmarsche begruͤßen und daß nach dem gemeinschaftlichen Mahle getanzt wuͤrde. Auch in dieser Hinsicht waren wir nicht gesonnen, uns etwas zu verge¬ ben; es hieß, Jeder solle sich weiße Handschuhe verschaffen, um beim Balle eben so galant als militairisch zu erscheinen, und alle diese Dinge wurden hinter dem Ruͤcken der Aufseher mit solcher Wichtigkeit verhandelt, daß es mir angst und bange ward, Allem zu genuͤgen. Zwar war ich einer der Ersten, welcher Handschuhe aufzuweisen hatte, indem meine Mutter auf meine Klage aus den begrabenen Vorraͤthen ihrer Jugend ein Paar lange Handschuhe von feinem weißem Leder her¬ vorzog und unbedenklich die Haͤnde vorn ab¬ schnitt, welche mir vortrefflich paßten. Hingegen in Betreff des Geldes lebte ich der betruͤbten Aussicht, jedenfalls eine gedruͤckte und enthalt¬ same Rolle spielen zu muͤssen. In solchen Be¬ trachtungen saß ich am Vorabend der Freuden¬ tage in einem Winkel, als mir ploͤtzlich ein Ge¬ danke durch den Kopf fuhr, ich das Hinausgehen der Mutter abwartete und dann zu dem Schranke eilte, in welchem mein Schatzkaͤstchen lag. Ich oͤffnete es zur Haͤlfte und nahm unbesehen ein großes Geldstuͤck heraus, das zu oberst lag; die anderen ruͤckten alle ein klein wenig von der Stelle und machten ein leises Silbergeraͤusch, in dessen klangvoller Reinheit jedoch eine gewisse Gewalt lag, die mich schauern machte. Schnell brachte ich meine Beute zur Seite, befand mich aber nun in einer sonderbaren Stimmung, die mich scheu und wortkarg gegen meine Mutter machte. Denn wenn der fruͤhere Eingriff mehr die Folge eines vereinzelten aͤußeren Zwanges ge¬ wesen und mir kein boͤses Gewissen hinterlassen hatte, so war das jetzige Unterfangen freiwillig und vorsaͤtzlich; ich that etwas, wovon ich wußte, daß es die Mutter nimmer zugeben wuͤrde, auch die Schoͤnheit und der Glanz der Muͤnze schienen von der profanen Verausgabung abzumahnen. Jedoch verhinderte der Umstand, daß ich mich selbst bestahl zum Zwecke der Nothhuͤlfe in einem kritischen Falle, ein eigentliches Diebsgefuͤhl; es war mehr etwas von dem Bewußtsein, welches im verlornen Sohne daͤmmern mochte, als er eines schoͤnen Morgens mit seinem vaͤterlichen Erbtheil auszog, es zu verschwenden. Am Pfingsttage war ich schon fruͤh auf den Fuͤßen: unsere Trommler, als die allerkleinsten auch die muntersten Bursche, durchzogen in an¬ sehnlichem Haufen die Stadt, umschwaͤrmt von marschbereiten Schuͤlern, und ich beeilte mich, zu ihnen zu stoßen. Meine Mutter hatte aber noch gar viel zu besorgen; sie fuͤllte meinen Tornister mit Eßwaaren, hing mir ein artiges Reiseflaͤsch¬ chen um, mit suͤßem Wein gefuͤllt, steckte mir noch hie und da etwas in die Taschen und gab mir gute Verhaltungsregeln. Ich hatte laͤngst mein Gewehr auf der Schulter und die Patron¬ tasche umgehaͤngt, worin unter den Patronen mein großer Thaler steckte, und wollte mich endlich ihren Haͤnden entreißen, als sie ganz verwundert sagte, ich werde doch etwas Geld mitnehmen wol¬ len? Hierauf nahm sie das bereits Abgezaͤhlte hervor und unterwies mich, wie ich es einzuthei¬ len haͤtte. Es war zwar nicht uͤberreichlich, doch hoͤchst anstaͤndig und vollkommen hinreichend und selbst fuͤr unvorhergesehene Faͤlle berechnet. In einem Papiere war noch ein besonderes Stuͤck eingewickelt, welches ich in dem gastfreundlichen Hause, wo ich einquartirt wuͤrde, den Dienstboten zu geben haͤtte. Wenn ich die Sache recht be¬ trachtete, so war dies auch die erste Gelegenheit, wo eine gute Ausstattung eigentlich nothwendig schien und die Mutter ließ es also nicht an dem Ihrigen fehlen. Aber nichts desto minder war ich uͤberrascht, ich gerieth in die groͤßte Verlegen¬ heit und Aufregung und indem ich die Treppen hinunterstieg, drangen mir seltener Weise Thraͤ¬ nen aus den Augen, daß ich sie hinter der Haus¬ thuͤr abtrocknen mußte, ehe ich auf die Straße trat und zu dem froͤhlichen Haufen stieß. Der allgemeine Jubel haͤtte in meinem Gemuͤthe, welches durch die liebevolle Sorge der Mutter bewegt war, einen um so empfaͤnglicheren Grund gefunden, wenn nicht der Thaler in meiner Gi¬ berne wie ein Stein auf meinem Herzen gelegen haͤtte. Jedoch als sich die ganze Schaar zusam¬ menfand, das Kommando erklang und wir uns ordneten und abzogen, wurden meine duͤstern Ge¬ danken gewaltsam unterdruͤckt, und als ich, zur Vorhut eingetheilt, schon auf den freien Hoͤhen ging unter dem morgenfrischen Himmel, und der lange Zug, schimmernd und singend, mit wehen¬ den Fahnen, sich zu unsern Fuͤßen heranbewegte, da vergaß ich Alles und lebte nur dem Augen¬ blicke, welcher, Perle fuͤr Perle, von der glaͤnzen¬ den Schnur der naͤchsten Erwartung fiel. Wir fuͤhrten ein lustiges Vorhutleben, ein alter Kriegs¬ mann, in fremden Diensten ergraut und nun dazu verwendet, uns kleinen Nesthuͤpfern das Handwerk beizubringen, leitete uns an zu allerlei Schabernack und ließ sich unablaͤssig bestuͤrmen, aus unsern Feldflaschen zu trinken, was er mit scharfer Kritik des Inhalts that. Wir waren stolz, keinen der Schulmaͤnner bei uns zu haben, welche die große Colonne begleiteten, und hoͤrten andaͤchtig die Kriegsabenteuer, so uns der alte Soldat erzaͤhlte. Zur Mittagszeit machte der Zug in einem sonnigen unbewohnten Thalkessel Halt; der wilde Boden war mit vielen einzelnen Eichen besetzt, um welche sich das junge Kriegsvolk lagerte. Wir Leute der Vorhut aber standen auf einem Berge und schauten zufrieden auf das ferne froͤh¬ liche Gewuͤhl hinunter. Wir waren still gewor¬ den und schluͤrften den stillen glanzvollen Tag ein; der alte Feldwebel lag froh an der Erde und blinzte in den ruhevollen Horizont hinaus, uͤber blaue Stroͤme und Seen hin. Obgleich wir noch nichts von landschaftlicher Schoͤnheit zu sagen wußten und Einige vielleicht in ihrem Le¬ ben nie dazu kamen, fuͤhlten wir Alle doch ganz die Natur, und das umsomehr, weil wir mit unserem Freudenzuge eine wuͤrdige Staffage in der Landschaft bildeten, weil wir handelnd darin auftraten und daher der peinlichen Sehnsucht der unthaͤtigen bedeutungslosen Naturbewunderer ent¬ hoben waren. Denn ich habe erst spaͤter erfahren und eingesehen, daß das unthaͤtige und einsame Genießen der gewaltigen Natur das Gemuͤth ver¬ weichlicht und verzehrt, ohne dasselbe zu saͤttigen, waͤhrend ihre Kraft und Schoͤnheit es staͤrkt und naͤhrt, wenn wir selbst auch in unserm aͤußern Erscheinen etwas sind und bedeuten, ihr gegen¬ uͤber. Und selbst dann ist sie in ihrer Stille uns manchmal noch zu gewaltig; wo kein rauschendes Wasser ist und gar keine Wolken ziehen, da macht man gern ein Feuer, um sie zur Bewe¬ gung zu reizen und sie nur ein bischen athmen zu sehen. So trugen wir einiges Reisig zusam¬ men und fachten es an, die rothen Kohlen kni¬ sterten so leis und angenehm, daß auch unser graue und rauhe Fuͤhrer vergnuͤgt hineinsah, waͤhrend der blaue Rauch dem Heerhaufen im Thale ein Zeichen unseres Aufenthaltes war; trotz der mittaͤglichen Sonnenhitze schien uns die er¬ hoͤhte Gluth des Feuers lieblich, wir verloͤschten es ungern, als wir abzogen. Gar zu gern haͤt¬ ten wir einige Schuͤsse in die stille Luft gesandt, wenn es nicht streng untersagt gewesen waͤre; ein Knabe hatte schon geladen und mußte den Schuß kunstgerecht wieder aus dem Gewehre ziehen, was ihm so peinlich war, als einem Schwaͤtzer das Unterdruͤcken eines Geheimnisses. Im Scheine des Abendgoldes sahen wir end¬ lich die befreundete Stadt vor uns, aus deren mit Blumen und gruͤnen Zweigen bekleidetem, alterthuͤmlichem Thor die so wie wir geruͤstete Jugend uns entgegen trat, umgeben von den schaulustigen und freundlichen Eltern und Ge¬ schwistern. Ihre Artillerie loͤste uns zu Ehren eine Anzahl von Schuͤssen, wir betrachteten mit kritischem Auge, wie die kleinen Kanoniere neben der Muͤndung mit ebenso zierlicher Verrenkung sich zuruͤckbogen, wenn die Lunte sich dem Bran¬ der naͤherte, um mit einer ebenso veraͤchtlichen Schwenkung wieder zur Erde gewandt zu wer¬ 20 * den, wie das Alles bei uns uͤblich war. Noch mehr Ursache zur Eifersucht gaben uns die huͤb¬ schen Percussionsgewehre, womit unsere Kameraden versehen waren, da wir selbst nur alte Stein¬ schlosse hatten, welche sich dann und wann er¬ laubten zu versagen. Die Regierung dieses Stan¬ des war ein wenig im Geruche, in ihrem auf¬ geweckten Sinne fuͤr alles Gute und Schoͤne manchmal mehr Aufwand zu machen, als sich mit haushaͤlterischer Bedaͤchtigkeit vertruͤge, und hatte demgemaͤß fuͤr ihre Schuljugend solche neue Waffen beschafft zu einer Zeit, wo dergleichen erst bei groͤßeren Militaͤrstaaten in der Einfuͤh¬ rung begriffen waren. So hoͤrten wir denn, waͤhrend unsere Freunde uns wohlgefaͤllig erklaͤr¬ ten, wie bei ihnen waͤhrend der Ladung die Be¬ wegung des Patronbeißens nun wegfiele, unsere erwachsenen Begleiter heimlich einen bedaͤchtigen Tadel uͤber solchen Aufwand aussprechen. Doch waren wir endlich ermuͤdet und gaben uns willig den Einladungen der Familien hin, welche sich so eifrig um unsere Beherbergung stritten, daß unsere ganze Schaar in ihren offenen Armen so schnell verschwand, wie ein fluͤchtiger Regenschauer im heißen durstigen Erdreiche versiegt. Wir sahen uns nun vereinzelt in die Mitte haͤuslicher Wirth¬ lichkeit versetzt als Gegenstand des festlichsten Wohlwollens und belohnten diese Gastfreund¬ schaft dadurch, daß wir, als ob wir in Feindes¬ land waͤren, beim Schlafengehen unsere Flintchen mitnahmen und neben die großen Gastbetten stellten, welche zu ersteigen wir alle unsere Turnerkuͤnste aufbieten mußten. Das Fest des anderen Tages erfuͤllte alle Er¬ wartungen. Der Wetteifer ließ beide Parteien bei den Uebungen gleich wohl bestehen; gegen die Percussionsgewehre unserer Nebenbuhler aber hatten wir einen anderen Trumpf auszuspielen. Indem ihre Artillerie naͤmlich nur blind zu schießen gewohnt war und keine Kugeln kannte, schoß die unserige so geschickt nach dem Ziele, daß das bei solcher Gelegenheit stehende Spruͤchwort: »die Kleinen machten es wahrlich besser, denn die Großen!« diesmal nicht ganz unrichtig war und die Nachbaren dem ernsthaften Richten der Geschuͤtze verwundert zuschauten. Ein großes Festmahl, welches einige Tausend junge und alte Menschen vereinigte, wurde auf einer bluͤhenden Wiese eingenommen. Beliebte Jugendfreunde hielten Tischreden und trafen in denselben das Rechte, indem sie, anstatt uns in hohlem, fruͤhreifem Ernste zu halten, in reinem Humor den Ton unschuldiger Froͤhlichkeit an¬ stimmten, ihr Alter vergaßen, ohne kindisch zu thun, und uns dadurch desto leichter lehrten, die Freude nicht ohne Witz zu genießen. Darauf zog eine lange Reihe feiner Maͤdchen aus dem Thore an uns vorbei auf einen geebneten Rasen¬ platz und lud uns mit Gesang zu Spiel und Taͤnzen ein. Sie waren alle weiß und roth ge¬ kleidet und entfalteten sich in der lieblichsten Bluͤthe vom kindlichen Lockenkopfe bis zur an¬ gehenden Jungfrau, hinter dem weiten Kranze ragte manch weibliches Haupt in reifer Schoͤnheit, um die zarten Pflaͤnzlinge zu uͤberwachen und bei guter Gelegenheit selbst noch ein bischen jugendlicher uͤber den Rasen zu schluͤpfen, als in sonstigen Tagen erlaubt war. Hatten doch die Maͤnner ihrerseits die Gelegenheit auch ersehen und die Lust der Kinder bereits zu ihrer eigenen Sache erklaͤrt und schon mit mancher Flasche be¬ siegelt! Unsere tapfere Schaar naͤherte sich in dichtem Haufen dem fluͤsternden Kreise der Schoͤ¬ nen, Keiner wollte recht der Vorderste sein, un¬ sere Sproͤdigkeit ließ uns fast feindlich und duͤster aussehen, waͤhrend das Anziehen der weißen Handschuhe ein weitgedehntes Flimmern und Schimmern verursachte. Doch es zeigte sich nun, daß die Haͤlfte der Handschuhe uͤberfluͤssig war, indem wir in zwei verschiedene Theile zerfielen, in solche Knaben naͤmlich, welche groͤßere Schwe¬ stern zu Hause hatten, und in solche, welche die¬ ses angenehme Gluͤck nicht kannten. Die Er¬ steren zeigten sich Alle als zierliche Taͤnzer und Cavaliere, welche bald gesucht und ausgezeichnet wurden, indessen die Letzteren wie ungeleckte Baͤ¬ ren uͤber den Rasen stolperten und nach einigen mißlungenen Abenteuern sich aus den Reihen stahlen und bei den Trinktischen zusammenfan¬ den, wo wir mit energischem Gesang ein wildes Soldatenleben fuͤhrten, als rauhe Krieger und Weiberfeinde, und uns gegenseitig einzubilden suchten, daß die Maͤdchen doch haͤufig nach un¬ serem tuͤchtigen Treiben heruͤber schielten. Unser Zechen bestand zwar mehr in einer bescheidenen Nachahmung der Alten und uͤberwand den natuͤr¬ lichen Widerwillen gegen Unmaͤßigkeit nicht, der noch in jenem Lebensalter liegt; doch bot es hin¬ laͤnglichen Spielraum fuͤr unsere kleinen Leiden¬ schaften. Der Weinbau dieser Landschaft war bedeutender und edler als bei uns, daher hatten unsere jungen Nachbaren schon eine entschiedenere Faͤrbung in ihrer Froͤhlichkeit und vertrugen ein staͤrkeres Glas Wein, als wir, so daß sie ihren Ruf vollkommen rechtfertigten. Da galt es nun, sich hervorzuthun; ich gab mich diesem Bestreben ohne Ruͤckhalt hin, meine wohlversehene Kasse verlieh mir die noͤthige Sicherheit und Freiheit, und dieser erfolgte alsobald eine gewisse Achtung meiner Umgebung. Wir durchzogen Arm in Arm die Stadt und die Lustplaͤtze vor derselben, das schoͤne Wetter, die Freude, der Wein regten mich auf und machten mich beredsam und aus¬ gelassen, keck und gewandt; aus einem stillen und bloͤden Fernesteher war ich urploͤtzlich ein lauter Tonangeber geworden, der sich in uͤber¬ muͤthigen Bemerkungen, Witzworten und Erfin¬ dung von Schwaͤnken erging, und welchen die uͤbrigen Wortfuͤhrer, die sich bisher wenig aus mir gemacht, sogleich anerkannten und haͤtschelten. Die Eigenschaft als Fremder, der neue Schau¬ platz erhoͤhte noch die Stimmung, es ist schwer zu entscheiden, was groͤßer war, ob meine Red¬ seligkeit, mein Freudenrausch oder meine erwachte Eitelkeit, kurz ich schwamm in einem ganz neuen Gluͤcke, welches am dritten Tage wo moͤglich noch zunahm, als wir heimwaͤrts zogen und die all¬ seitige Zufriedenheit, sowie die freiere Ordnung und Haltung eine neue Reihe froͤhlicher Auftritte veranlaßten. Als ich mit Sonnenuntergang das Haus meiner Mutter betrat, bestaubt und sonnver¬ brannt, die Muͤtze mit einem Tannenreise ge¬ schmuͤckt, die Muͤndung des Gewehrchens und der eigene Mund prahlerisch von Pulver geschwaͤrzt, da war ich nicht mehr der Gleiche, wie ich aus¬ gezogen, sondern Einer, der sich mit den kecksten Fuͤhrern der Knabenwelt in verschiedene Verab¬ redungen und Versprechungen eingelassen hatte zur Fortsetzung des begonnenen Tones, mittelst welcher wir auch in unserer Stadt eine Rolle zu spielen gedachten. Hauptsaͤchlich sollten die tanzkundigen Feinthuer oder Weichlinge, wie wir sie nannten, verhindert werden, uns bei der ein¬ heimischen Schoͤnheit etwa in den Schatten zu stellen; wir wollten daher ihren zierlichen Kuͤn¬ sten ein derbes militaͤrisches Wesen, kuͤhne Tha¬ ten und allerlei Streifereien und Unternehmungen entgegensetzen zur Begruͤndung eines bedenklichen Ruhmes. Voll von diesen Ideen und noch voll der durchlebten Freude, die ich so wenig erschoͤpft hatte, als sie mich, fuͤhlte ich mich in der besten Laune und erging mich in unserem Hause in lauten Erzaͤhlungen und prahlerischem, barschem Wesen, bis ich durch einige magische Witzkoͤrner, die meine Mutter in die unbescheidene Brandung warf, fuͤr einmal zu Ruhe und Schlaf gebracht wurde. Meine neuen Freunde ließen mir nicht Zeit, aus meiner Verirrung zu kommen; schon der naͤchste Tag, an dem ich, selbst eine Art von Groͤße, in der renommirtesten Gesellschaft unserer Stadt zu sehen war, weckte alle neuen Erinne¬ rungen wieder, die Nachklaͤnge des Festes gaben Gelegenheit, den Rest meiner Barschaft anzubrin¬ gen und dagegen erneute Lorbeeren einzutauschen. Fuͤr einen der naͤchsten Sonntage wurde ein großer Spaziergang verabredet, welches wieder eine Demonstration gegen die Feinspinner wer¬ den sollte. In meinem Leichtsinn hatte ich nicht bedacht, woher ich die noͤthigen Mittel nehmen solle, also auch keinen Vorsatz gefaßt, als aber der Augenblick da war, griff ich wieder in den Schrein, ohne etwas Anderes zu fuͤhlen, als das zwingende Beduͤrfniß und eine Art dunklen Ent¬ schlusses, daß es das letzte Mal sein solle. So ging es den ganzen kurzen Sommer hin¬ durch. Die veranlassende Laune war laͤngst ver¬ flogen, die Theilnehmer hatten sich dem ordent¬ lichen Lauf der Dinge wieder gefuͤgt, auch uͤber mich haͤtten Maß und Bescheidenheit ihre Herr¬ schaft wieder gewonnen, wenn nicht eine andere Leidenschaft aus der Sache erwachsen waͤre, naͤm¬ lich die des unbeschraͤnkten Geldausgebens, der I . 21 Verschwendung an sich. Es reizte mich, jeden Augenblick die kleinen Herrlichkeiten, wonach jenes Alter geluͤstet, kaufen zu koͤnnen: immer hatte ich die Hand in der Tasche, um mit Muͤnzen hervorzufahren; Gegenstaͤnde, welche Knaben sonst vertauschen, kaufte ich nur mit barem Gelde, gab solches an Kinder, Bettler und beschenkte einige Gesellen, die meinen Schweif bildeten und meine Verblendung benutzten, so lange es ging. Denn es war eine wirkliche Verblendung. Ich bedachte im Mindesten nicht, daß die Sache doch ein Ende nehmen muͤsse, nie mehr oͤffnete ich das Kaͤstchen ganz und uͤbersah das Geld, sondern schob nur die Hand unter den Deckel, um ein Stuͤck herauszunehmen und uͤberdachte auch nie, wie viel ich schon verschleudert haben muͤsse. Ich empfand auch keine Angst vor der Entdeckung, in der Schule und bei meinen Arbeiten hielt ich mich nicht schlimmer, als fruͤher, eher besser, weil keine unbefriedigten Wuͤnsche mich zu traͤumeri¬ schem Muͤssiggange verleiteten und die vollkom¬ mene Freiheit des Handelns, welche ich beim Geldausgeben empfand, sich auch im Arbeiten durch eine gewisse Raschheit und Entschlossenheit aͤußerte. Zudem fuͤhlte ich das dunkle Beduͤrfniß, das unsichtbare Unheil, welches uͤber mir sich sammelte, durch sonstige Pflichterfuͤllung einiger¬ maßen aufzuwiegen. Jedoch trotz Allem befand ich mich jenen ganzen Sommer hindurch in einem unheimlichen und peinvollen Zustande, dessen Erinnerung, ver¬ bunden mit derjenigen an den blauen Himmel und Sonnenschein, an die stillen gruͤnen Wald¬ schenken, in welche wir uns zu heimlichen Ge¬ lagen verkrochen, eine seltsame Empfindung wach¬ ruft. Meine Genossen mußten laͤngst gemerkt haben, daß es mit meinem Gelde nicht mit rech¬ ten Dingen zugehe, aber sie huͤteten sich sorg¬ faͤltig, einen Verdacht zu aͤußern oder die leiseste Frage an mich zu thun; vielmehr stellten sie sich, als ob sich Alles von selbst verstuͤnde, waren mir stillschweigend behuͤlflich, die auffaͤlligen blanken Silberstuͤcke umzuwechseln, ohne in Eroͤrterungen einzugehen, und als die Herrlichkeit ein Ende nahm, wandten sie sich ganz trocken und unbe¬ theiligt von mir, ganz wie erwachsene brave Ge¬ 21 * schaͤftsleute, welche in aller Seelenruhe auch den Gewinn der Unredlichen an sich bringen, ohne uͤber den Ursprung desselben Forschungen anzu¬ stellen. Dies vorausgeahnte Benehmen druͤckte mich umsomehr, als ich bald bemerkte, daß sie sich sonderbar gemessen gegen mich betrugen und nur waͤrmer wurden, wenn ich wieder ein Geld¬ stuͤck auf die Straße brachte, daneben aber sich anderweitig uͤber mich zu besprechen schienen. Waͤh¬ rend jedoch die kleinliche und gewoͤhnliche Art der Mehrzahl keine heftige und leidenschaftliche Trennung bedingte, sollte mir die energische Selbstsucht eines Einzigen und der daraus ent¬ springende Haß Kummer und Leiden bereiten, wie sie wohl selten in diesem Alter sich zeigen. Derselbe war ein kleiner Bursche mit kleinen regelmaͤßigen Gesichtszuͤgen, welche von Sommer¬ sprossen bedeckt waren. Er besaß einen fruͤhreifen Verstand, lernte fleißig und genau, bestrebte sich gegen aͤltere Leute, besonders gegen Frauen, in wohlgesetzten, altklugen Worten auszudruͤcken und galt daher fuͤr einen ordentlichen ersprießlichen Jungen. Er war fast in allen Uebungen geschickt, durch Aufmerksamkeit und Ausdauer, und brachte Alles, was er unternahm, auf eine zierliche Weise zu Stande. Meierlein, so hieß er, besaß aber kein tieferes Talent; in seinen verschiedensten Un¬ ternehmungen war nie etwas Neues oder Eigenes sichtbar, sondern er brachte nur das gut zu Wege, was er sich vorgemacht sah, und ihn beseelte nur ein unablaͤssiges Beduͤrfniß, sich alles Erdenkliche anzueignen. Deshalb konnte er ebensowohl eine vollkommene und reinliche Papparbeit hervorbrin¬ gen, als uͤber einen breiten Graben setzen oder Ballschlagen, oder mit einem Steinchen eine be¬ zeichnete Stelle an einer Mauer treffen, alles durch langsame und anhaltende Uebung; seine Schulhefte waren correct und in bester Ordnung, seine Schrift klein und zierlich, besonders seine Zahlen wußte er ausnehmend angenehm und rundlich in Reihen zu setzen. Seine vorzuͤglichste Gabe aber war eine gewisse Faͤhigkeit, mit ver¬ staͤndiger Besprechung Alles zu uͤberspinnen, Verhaͤltnisse auszukluͤgeln und mit vielsagender Miene Aufschluͤsse und Vermuthungen aufzustel¬ len, welche uͤber unser Alter hinausgingen. Dabei war er ein zuverlaͤssiger und kurzweiliger Gesell, gesucht und nuͤtzlich, fing wenig Streit an, aber focht einen solchen hoͤchst hartnaͤckig aus und war daher um so respectirter, als er immer wohlbe¬ daͤchtig auf der Seite stand, wo das wirkliche oder scheinbare Recht ersichtlich war. Er war anderthalb Jahre aͤlter als ich, hatte sich indessen enger an mich geschlossen, als alle Uebrigen, so daß wir eine besondere Freundschaft bildeten und jeden freien Augenblick beisammen waren. Er ergaͤnzte mich vortrefflich und sagte mir daher sehr zu. Meine Unternehmungen gin¬ gen immer auf das Phantastische, Bunte und Wirksame aus, waͤhrend er durch Genauigkeit und Dauerhaftigkeit der mechanischen Arbeit mei¬ nen fluͤchtigen und rohen Entwuͤrfen Nutzen und Ordnung verlieh. Meierlein ließ mein Geheim¬ niß ebenso vorsichtig bestehen, wie die Anderen, obwohl es fuͤr seine verstaͤndige Aufmerksamkeit noch weniger Eines sein konnte; doch ließ er nicht ebenso zwischendurch seine Einsicht ahnen, sondern bestrebte sich vielmehr, mich von den zu leichtsin¬ nigen Ausgaben abzuhalten und meine Wuͤnsche auf scheinbar nuͤtzliche und gute Dinge zu richten mit gesetzten Worten, was dem Verkehr mit ihm einen soliden Anstrich verlieh. Nur fuͤr sich selbst war er mit noch groͤßerem Eifer bedacht, als die Uebrigen, und sich nicht begnuͤgend mit meiner un¬ mittelbaren Freigebigkeit, errichtete er mit großer Einsicht ein Schuldverhaͤltniß zwischen mir und ihm, indem er sich haushaͤlterisch aus meinem Gelde eine kleine Kasse ansammelte, aus welcher er mir, wenn ich augenblicklich nicht uͤber mein Kaͤstchen konnte, maͤßige Vorschuͤsse machte, die wir gemeinsam verbrauchten und die er in ein zier¬ lich angefertigtes Buͤchelchen eintrug, dessen Sei¬ ten mit Soll und Haben ansehnlich uͤberschrieben waren. Ueberdies wußte er mir eine Menge kin¬ discher Gegenstaͤnde zu verkaufen, deren Betrag er durchaus nicht in Bar annehmen wollte, son¬ dern in sein Buch setzte. Seine Gewandtheit in den verschiedensten Uebungen verwerthete er eben¬ falls, er war mein dienstbarer Daͤmon, der Alles konnte und Alles in Angriff nahm, was wir wuͤnschten, aber jede Dienstleistung durch kleine Muͤnzsorten in meinem Schuldregister bezeichnete. Auf Spaziergaͤngen reizte er mich stets, seine Ge¬ schicklichkeit auf die Probe zu stellen. »Soll ich mit diesem Steinchen jenes duͤrre Blatt treffen?« sagte er, und ich erwiederte: »das kannst Du nicht!« »Willst Du mir einen Kreuzer schuldig sein, wenn ich es thue?« »Ja« und er traf es und erschwerte unter den gleichen Bedingungen die Aufgabe manchmal zwoͤlfmal hinter einander, ohne sie je zu verfehlen. Dann schrieb er den Betrag genau in sein Buch mit allerliebsten wohl¬ gestalteten Zahlen, was mir solches Vergnuͤgen gewaͤhrte, daß ich laut auflachte. Er aber sagte ernsthaft, da sei gar nichts zu lachen, ich sollte bedenken, daß ich Alles einmal berichtigen muͤßte und daß sein Buͤchlein eine ordentliche Bedeutung und Guͤltigkeit haͤtte vor jedem Geschaͤftsmann! Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen Wetten, ob z. B. ein Vogel sich auf diesen oder jenen Pfahl setzen, ob ein vom Winde bewegter Baum sich das naͤchste Mal so oder so tief nieder¬ beugen, ob am Gestade des See's mit dem fuͤnf¬ ten oder sechsten Wellenschlage eine große Welle ankommen wuͤrde. Wenn bei diesem Spiele der Zufall mich manchmal gewinnen ließ, so setzte er in seinem Buche auf die Seite des Soll mit wichtiger Miene ein knappes Zaͤhlchen, welches sich in seiner Einsamkeit hoͤchst wunderlich aus¬ nahm und mir neuen Stoff zum Lachen, ihm hingegen zu ernsthaften Redensarten gab. Er suchte mich eifrigst zu uͤberzeugen, daß Schulden eine wichtige Ehrensache seien und eines Tages, als der Sommer sich seinem Ende nahte, uͤber¬ raschte mich Meierlein mit der Nachricht, daß er nun »abgerechnet« habe, und zeigte mir eine runde Zahl von mehreren Gulden nebst einigen Kreuzern und Pfennigen und bemerkte dabei, daß es nun thunlich waͤre, wenn ich darauf daͤchte, ihm den Betrag einzuhaͤndigen, indem er wuͤnsche, aus seinen Ersparnissen sich ein schoͤnes Buch zu kau¬ fen. Doch erwaͤhnte er hieruͤber die naͤchsten zwei Wochen nichts mehr und legte inzwischen eine neue Rechnung an, welches er mit vermehrtem Ernste that und wobei er ein seltsames Betragen aͤußerte. Er wurde nicht unfreundlich, aber die alte Froͤhlichkeit und Unbefangenheit unseres Ver¬ kehres war verschwunden. Eine große Traurig¬ keit beschlich mich, welche Meierlein durchaus nicht zu stoͤren schien; vielmehr nahm er selber einen elegischen Ton an, ungefaͤhr wie er Abraham uͤberkommen haben mochte, als er mit seinem Sohne Isaak den vermeintlich letzten Gang that. Nach einiger Zeit wiederholte er seine Mahnung, diesmal mit Entschiedenheit, doch nicht unfreund¬ lich, sondern mit einer gewissen Wehmuth und vaͤterlichem Ernste. Nun erschrack ich und fuͤhlte eine heftige Beklemmung, indessen ich versprach, die Sache abzumachen. Jedoch konnte ich mich nicht ermannen, die Summe zu entnehmen und verlor selbst den Muth, meine gewoͤhnlichen Ein¬ griffe fortzusetzen. Das Gefuͤhl meiner Lage hatte sich jetzt ganz ausgebildet, ich schlich truͤbselig umher und wagte nicht zu denken, was nun kommen sollte. Ich fuͤhlte eine beaͤngstigende Ab¬ haͤngigkeit gegen meinen Freund, seine Gegenwart war mir druͤckend, seine Abwesenheit aber pein¬ lich, da es mich immer zu ihm hintrieb, um nicht allein zu sein und vielleicht eine Gelegenheit zu finden, ihm Alles zu gestehen und bei seiner Ver¬ nunft und Einsicht Rath und Trost zu finden. Aber er huͤtete sich wohl, mir diese Gelegenheit zu bieten, wurde immer gemessener im Umgange und zog sich zuletzt ganz zuruͤck, mich nur auf¬ suchend, um seine Forderung nun mit kurzen, fast feindlichen Worten zu wiederholen. Er mochte ahnen, daß eine Krisis fuͤr mich nahe bevorstehe; daher war er besorgt, noch vor dem Ausbruche derselben sein so lang und sorglich gepflegtes Schaͤfchen in's Trockene zu bringen. Und so war es auch. Um diese Zeit war meine Mutter durch die verspaͤtete Mittheilung eines Bekannten auf¬ merksam gemacht worden, sie erfuhr endlich mein bisheriges Treiben außer dem Hause, woran hauptsaͤchlich die uͤbrigen Kumpane Schuld sein mochten, die sich schon fruͤher von mir gewendet hatten, als meine Niedergeschlagenheit begonnen. Eines Tages, als ich am Fenster stand und fuͤr meine Blicke auf den besonnten Daͤchern, im Gebirge und am Himmel stille Ruhepunkte und die vorwurfsvolle Stube hinter mir zu vergessen suchte, rief mich die Mutter mit ungewohnter Stimme beim Namen; ich wandte mich um, da stand sie neben dem Tische und auf demselben das geoͤffnete Kaͤstchen, auf dessen Boden zwei oder drei Silberstuͤcke lagen. Sie richtete einen strengen und bekuͤmmerten Blick auf mich und sagte dann: »Schau einmal in dies Kaͤstchen!« Ich that es mit einem halben Blicke, der mich seit langer Zeit zum ersten Male wieder den wohlbekannten inneren Raum der ge¬ pluͤnderten Lade sehen ließ. Er gaͤhnte mir vor¬ wurfsvoll entgegen. »Es ist also wahr,« fuhr die Mutter fort, »was ich habe hoͤren muͤssen, und was sich nun bestaͤtigt, daß sich mein guter und sorgloser Glaube, ein braves und gutartiges Kind zu besitzen, so grausam getaͤuscht sieht?« Ich stand sprachlos da und sah in eine Ecke, das Gefuͤhl des Ungluͤckes und der Vernichtung kreis'te in meinem Inneren so stark und gewaltig, als es nur immer im langen und vielfaͤltigen Menschen¬ leben vorkommen kann; aber durch die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Ver¬ soͤhnung und Befreiung. Der offene Blick mei¬ ner Mutter auf meine unverhuͤllte Lage fing an den Alp zu bannen, der mich bisher gedruͤckt hatte, ihr strenges Auge war mir wohlthaͤtig und und loͤste meine Qual und ich fuͤhlte in diesem Augenblicke eine unsaͤgliche Liebe zu ihr, welche meine Zerknirschung durchstrahlte und fast in einen gluͤckseligen Sieg verwandelte, waͤhrend meine Mutter tief in ihrem Kummer und in ihrer Strenge beharrte. Denn die Art meines Ver¬ gehens hatte ihre empfindlichste Seite, so zu sagen ihren Lebensnerv getroffen: einestheils das kind¬ liche blinde Vertrauen ihrer religioͤsen Rechtlichkeit, anderntheils ihre ebenso religioͤse Sparsamkeit und unwandelbare Lebensfrage. Sie hatte keine Freude beim Anblick des Geldes, nie uͤbersah sie unnoͤ¬ thiger Weise ihre Barschaft, aber jedes Gulden¬ stuͤck war ihr beinahe ein heiliges Symbolum des Schicksals, wenn sie es in die Hand nahm, um es gegen Lebensbeduͤrfnisse auszutauschen. Des¬ nahen war sie nun weit schwerer mit Sorge er¬ fuͤllt, als wenn ich irgend etwas Anderes began¬ gen haͤtte. Wie um sich gewaltsam vom Gegen¬ theile zu uͤberzeugen, hielt sie mir Alles deutlich und gemessen vor und fragte dann wiederholt: »Ist es denn wirklich wahr? Gestehe!« Worauf ich ein kurzes Ja hervorbrachte und mich meinen Thraͤnen uͤberließ, ohne indessen viel Geraͤusch zu machen; denn ich war nun voͤllig befreit und fast vergnuͤgt. Sie ging tief bewegt auf und nieder und sprach: »So weiß ich nun nicht, was werden soll, wenn Du Dich nicht fest und fuͤr immer bessern willst!« Damit legte sie das Kaͤstchen wieder in ihren Schreibtisch und ließ den Schluͤssel desselben an dem gewohnten Ort. »Sieh,« sagte sie, »ich weiß nicht, ob Du, wenn Du Deine paar Geldstuͤcke noch verbraucht haͤttest, alsdann auch nach meinem Gelde, welches ich so sparen muß, gegriffen haben wuͤrdest; es waͤre nicht unmoͤglich gewesen; aber mir ist es unmoͤglich, dasselbe vor Dir zu verschließen. Ich lasse daher den Schluͤssel stecken, wie bisher, und muß es darauf ankommen lassen, ob Du freiwillig Dich zum Bessern wen¬ dest; denn sonst wuͤrde doch Alles nichts helfen und es waͤre gleichguͤltig, ob wir Beide ein Bis¬ chen fruͤher oder spaͤter ungluͤcklich wuͤrden!« Es waren gerade etwa acht Tage Ferien, ich blieb von selbst im Hause und suchte alle Win¬ kel auf, in denen ich den Frieden und die Ruhe der fruͤheren Tage wieder fand. Ich war gruͤnd¬ lich still und traurig, zumal die Mutter ihren Ernst beibehielt, ab- und zuging, ohne vertraulich mit mir zu sprechen. Am traurigsten war das Essen, wenn wir an unserm kleinen Eßtischchen saßen und ich nichts zu sagen wagte oder wuͤnschte, weil ich das Beduͤrfniß dieser Trauer selbst fuͤhlte und mir sogar darin gefiel, waͤhrend meine Mutter in tiefen Gedanken saß und manchmal einen Seufzer unterdruͤckte. So verharrte ich im Hause und geluͤstete nicht im Mindesten in's Freie und zu meinen Genossen zuruͤck. Hoͤchstens betrachtete ich einmal aus dem Fenster, was auf der Straße vorfiel, und zog mich sogleich wieder zuruͤck, als ob die unheimliche Vergangenheit zu mir heranstiege. Unter den Truͤmmern und Erinnerungen meines verflogenen Wohlstandes befand sich ein großer Farbenkasten, welcher gute Farbentafeln enthielt, statt der harten Steinchen, die man sonst den Knaben fuͤr Farben giebt, die aber auch den heißesten Bemuͤhungen nicht eine wohlwollende Tinte preisgeben. Ich hatte schon durch Meier¬ lein erfahren, daß man nicht unmittelbar mit dem Pinsel diese Taͤfelchen aushoͤhlen, sondern dieselben in Schalen mit Wasser anreiben muͤsse. Sie gaben reichliche, gesaͤttigte Tinten, ich fing an, mit selben Versuche anzustellen und lernte sie mischen. Besonders entdeckte ich, daß gelb und blau das verschiedenste Gruͤn herstellten, was mich sehr freute, daneben fand ich die violetten und braunen Toͤne. Ich hatte schon laͤngst mit Ver¬ wunderung eine alte in Oel gemalte Landschaft betrachtet, welche an unserer Wand hing; es war ein Abend, der Himmel, besonders der unbegreif¬ liche Uebergang des Rothen in's Blaue, die Gleich¬ maͤßigkeit und Sanftheit desselben reizte mich un¬ gemein, eben so sehr der Baumschlag, welcher mich unvergleichlich duͤnkte. Obgleich das Bild unter dem Mittelmaͤßigen steht, schien es mir ein bewundernswerthes Werk zu sein, denn ich sah die mir bekannte Natur um ihrer selbst willen mit einer gewissen Technik nachgeahmt. Stunden¬ lang stand ich auf einem Stuhle davor und ver¬ senkte den Blick in die anhaltlose Flaͤche des Him¬ mels und in das unendliche Blattgewirre der Baͤume und es zeugte eben nicht von groͤßter Bescheidenheit, daß ich ploͤtzlich unternahm, das Bild mit meinen Wasserfarben zu kopiren. Ich stellte es auf den Tisch, spannte einen Bogen Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten Untertassen und Tellern; denn Scherben waren bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere Tage lang auf das muͤhseligste mit meiner Auf¬ gabe; aber ich fuͤhlte mich gluͤcklich, eine so wich¬ tige und andauernde Arbeit vor mir zu haben, vom fruͤhen Morgen bis zur Daͤmmerung saß ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Essen. Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde athmete, stieg auch in meine Seele und mochte von meinem Gesichte auf die Mutter hinuͤber¬ scheinen, welche am Fenster saß und naͤhte. Noch weniger, als ich den Abstand des Originales von der Natur fuͤhlte, stoͤrte mich die unendliche Kluft zwischen meinem Werke und seinem Vorbilde. Es war ein formloses, wolliges Geflecksel, in wel¬ chem der gaͤnzliche Mangel jeder Zeichnung sich innig mit dem unbeherrschten Materiale vermaͤhlte; wenn man jedoch das Ganze aus einer tuͤchtigen Entfernung mit dem Oelbilde vergleicht, so kann I. 22 man noch heute darin einen nicht ganz zu ver¬ kennenden Gesammteindruck finden. Kurz, ich wurde zufrieden uͤber meinem Thun, vergaß mich und fing manchmal an zu singen, wie fruͤher, erschrack jedoch daruͤber und verstummte wieder. Doch vergaß ich mich immer mehr und summte anhaltender vor mich hin, wie Schneegloͤckchen im Fruͤhjahr tauchte ein und das andere freund¬ liche Wort meiner Mutter hervor, und als die Landschaft fertig war, fand ich mich wieder zu Ehren gezogen und das Vertrauen der Mutter hergestellt. Als ich eben den Bogen vom Brette loͤste, klopfte es an die Thuͤr und Meierlein trat feierlich herein, legte seine Muͤtze auf einen Stuhl, zog sein Buͤchlein hervor, raͤusperte sich und hielt einen foͤrmlichen Vortrag an meine Mutter, indem er in hoͤflichen Worten Klage gegen mich einlegte und die Frau Lee wollte gebeten haben, meine Verbindlichkeiten zu erfuͤllen; denn es wuͤrde ihm leid thun, wenn es zu Unannehm¬ lichkeiten kommen sollte! Damit uͤberreichte der kleine Knirps sein unvermeidliches Buch und bat gefaͤllige Einsicht zu nehmen. Meine Mutter sah ihn mit großen Augen an, dann auf mich, dann in das Buͤchelchen und sagte: »Was ist das nun wieder?« Sie durchging die reinlichen Rechnungen und sagte: »Also auch noch Schulden? Immer besser, ihr habt das Ding wenigstens großartig betrieben?« waͤhrend Meierlein immer rief: »Es ist Alles in bester Ordnung, Frau Lee! Diesen letzten Posten nach der Hauptrechnung bin ich jedoch erboͤtig nachzulassen, wenn Sie mir jene berichtigen wollten«. Sie lachte aͤrgerlich und rief: »Ei ei! So so? Wir wollen die Sache ein¬ mal mit Deinen Aeltern besprechen, Herr Schul¬ denvogt! Wie sind denn diese artigen Schulden eigentlich entstanden?« Da reckte sich der Bursche empor und sagte: »Ich muß mir ausbitten, ganz in der Ordnung!« Die Mutter aber fragte mich streng, da ich ganz verbluͤfft und in neuer Be¬ klemmung dagestanden: »Bist Du dem Jungen dieses schuldig und auf welche Weise? Sprich!« Ich stotterte verlegen Ja und einige Thatsachen uͤber die Natur der Schulden. Da hatte sie schon genug und jagte den Meierlein mit seinem Buche aus der Stube, daß er sich mit frechen 22* Geberden davon machte, nachdem er noch einen drohenden Blick auf mich geworfen. Nachher befragte sie mich weitlaͤufig uͤber den ganzen Her¬ gang und gerieth in großen Zorn; denn es war vorzuͤglich das ehrbare Ansehen dieses Knaben gewesen, welches sie uͤber meine Vergehungen keine Ahnung empfinden ließ. Sodann nahm sie Gelegenheit, gruͤndlicher auf alles Geschehene einzugehen und mir eindringliche Vorstellungen zu machen, aber nicht mehr im Tone der strengen und strafenden Richterin, sondern der muͤtterlichen Freundin, die bereits verziehen hat. Und nun war Alles gut. Allein doch nicht Alles. Denn als ich nun wieder in die Schule trat, bemerkte ich, daß meh¬ rere Schuͤler, um Meierlein versammelt, die Koͤpfe zusammensteckten und mich hoͤhnisch ansahen. Ich ahnte nichts Gutes, und als die erste Stunde zu Ende war, welche der Rektor der Schule selbst gegeben, trat mein Glaͤubiger respektvoll vor ihn hin, sein Buͤchlein in der Hand, und erhob in gelaͤufiger Rede seine Anklage wider mich. Alles war gespannt und horchte auf, ich saß wie auf Kohlen. Der Rektor stutzte, durchsah das Heft und begann das Verhoͤr, welches Meierlein zu be¬ herrschen suchte. Aber der Vorsteher gebot ihm Stille und forderte mich zum Sprechen auf. Ich gab einige kuͤmmerliche Nachricht und haͤtte gern Alles verschwiegen; doch der Mann rief ploͤtzlich: »Genug, ihr seid beide Taugenichtse und werdet bestraft!« Damit trat er zu den aufliegenden Ta¬ bellen und bedachte Jeden von uns mit einer scharfen Note. Meierlein sagte betreten: »Aber, Herr Professor —« »Still«, rief dieser und nahm das verhaͤngnißvolle Buch, welches er in tausend Stuͤcken zerriß, »wenn noch ein Wort daruͤber verlautet oder sich dergleichen wiederholt, so wer¬ det ihr eingesperrt und als ein paar recht be¬ denkliche Gesellen abgestraft! Pack' Dich!« Waͤhrend der uͤbrigen Unterrichtsstunden schrieb ich ein Briefchen meinem Widersacher, worin ich ihm versicherte, daß ich ihm nach und nach meine Schuld abtragen und ihm jeden Kreuzer zustellen wolle, den ich von nun an ersparen koͤnnte. Ich rollte das Papier zusammen, ließ es unter den Tischen zu ihm hin befoͤrdern und erhielt die Ant¬ wort zuruͤck: Sogleich Alles oder Nichts! Nach Beendigung der Schule, als der Lehrer fort war, stellte sich der Daͤmon an der Thuͤr auf, um¬ geben von einer schaulustigen Menge, und wie ich hinausgehen wollte, vertrat er mir den Weg und rief: »Seht den Schelm! Er hat den ganzen Sommer hindurch Geld gestohlen und mich um fuͤnf Gulden dreißig Kreuzer betrogen! Wißt es Alle und seht ihn an!« »Ein artiger Schelm, der gruͤne Heinrich!« ertoͤnte es nun von meh¬ reren Seiten, ich rief ganz gluͤhend: »Du bist selbst ein Schelm und Luͤgner!« Allein ich wurde uͤberschrien, fuͤnf oder sechs boshafte Burschen, welche stets einen Gegenstand der Mißhandlung suchten, schaarten sich um Meierlein, folgten mir nach und ließen Schimpfworte ertoͤnen, bis ich in meinem Hause war. Von jetzt an wieder¬ holten sich solche Vorgaͤnge beinahe taͤglich; Meier¬ lein warb sich eine foͤrmliche Verbindung zusam¬ men und wo ich ging, hoͤrte ich irgend einen Ruf hinter mir. Ich hatte mein renommistisches Benehmen schon verloren und war wieder unge¬ schickt und bloͤde geworden; das reizte den Muth¬ willen und die Spottsucht meiner Verfolger, bis sie endlich muͤde wurden. Es waren alles solche Kumpane, welche selbst schon irgend einen Streich veruͤbt oder nur auf Gelegenheit warteten, Werg an die Kunkel zu bekommen. Es war auffallend, daß Meierlein trotz seines altklugen und fleißigen Wesens sich nicht zu aͤhnlich beschaffenen Naturen hielt, sondern immer in Gesellschaft der Leichtsin¬ nigen, der Muthwilligen und Thoͤrichten zu sehen war, wie mit mir und den Uebrigen. Dagegen nahmen nun die Ruhigen und Unbescholtenen unseres Alters Theil gegen das verfolgungssuͤch¬ tige Wesen Jener, beschuͤtzten mich zu wieder¬ holten Malen vor ihren Anfaͤllen und ließen mich uͤberhaupt weder Verachtung noch Unfreundlichkeit fuͤhlen, so daß ich mehr als Einem herzlich zu¬ gethan wurde, den ich vorher kaum beachtet hatte. Zuletzt blieb Meierlein ziemlich allein mit seinem Grolle, der aber dadurch nur heftiger und wilder wurde, so wie auch in mir jedes Vorgefuͤhl einer Versoͤhnung erstarb. Wenn wir uns begegneten, so suchte ich wegzublicken und ging stumm vor¬ uͤber; er aber rief mir laut ein giftiges und toͤdt¬ liches Wort zu, wenn wir allein in der Gegend oder nur fremde Menschen zugegen, waren wir aber nicht allein, so murmelte er dasselbe leise vor sich hin, daß nur ich es hoͤren konnte. Ich haßte ihn nun wohl so bitter, als er mich hassen konnte; aber ich wich ihm aus und fuͤrchtete den Augen¬ blick, wo es einmal zur Abrechnung kaͤme. So ging es ein volles Jahr lang und der Herbst war wieder gekommen, wo eine große militaͤrische Schlußuͤbung stattfinden sollte. Wir freuten uns immer auf diesen Tag; weil wir da nach Herzens¬ lust schießen durften. Aber fuͤr mich waren alle gemeinsamen Freuden truͤb und kalt geworden, da mein Feind zugleich Theil nahm und oͤfter in meine Naͤhe gerieth. Diesmal wurde unsere Schaar in zwei Haͤlften getheilt, von denen die eine den waldigen und steilen Gipfel einer An¬ hoͤhe besetzen, die andere aber den Fluß uͤber¬ schreiten, den Huͤgel umgehen und einnehmen sollte. Ich gehoͤrte zu dieser, mein Feind zu jener Abtheilung. Wir hatten schon die ganze Woche vorher mit koͤstlicher Freude einen leichten, spiel¬ zeugartigen Bruͤckenkopf gebaut und kleine Palli¬ saden zugespitzt und eingerammelt, waͤhrend einige Zimmerleute eine Bruͤcke uͤber das seichte Wasser geschlagen. Nun erzwangen wir mit unserm Geschuͤtze hoͤherer Verabredung gemaͤß den Ueber¬ gang und trieben ruͤstig den Feind berghinan. Die Hauptmasse zog auf einem schneckenfoͤrmigen Fahrweg aufwaͤrts, indessen eine weitgedehnte Plaͤnklerkette das Gebuͤsch saͤuberte und uͤber Stock und Stein vorwaͤrts drang. Bei dieser war das groͤßte Vergnuͤgen und auch die staͤrkste Aufregung; die einzelnen Leute ruͤckten sich auf den Leib, die zum Ruͤckzuge bestimmten wollten durchaus nicht weichen, man brannte sich die Schuͤsse fast in's Gesicht, Einige wurden ertappt, wie sie Steinchen in den Lauf steckten und mehr als ein Ladstock schwirrte, im Eifer vergessen, durch die Baͤume, und nur das Gluͤck der Jugend verhuͤtete ernst¬ liche Unfaͤlle; auch war der alte Feldwebel, wel¬ cher die Plaͤnkler beaufsichtigte, genoͤthigt, mit seinem Stocke dazwischenzuschlagen und reichlich zu fluchen, um die Disciplin einigermaßen zu wahren. Ich befand mich auf einem aͤußersten Fluͤgel dieser Kette, theilte aber die Aufregung meiner Kameraden nicht, sondern ging gedanken¬ los vorwaͤrts, ruhig und melancholisch meine Schuͤsse abgebend und mein Gewehr wieder la¬ dend. Bald hatte ich mich von den Uebrigen verloren und befand mich mitten am Abhange einer wilden, mir unbekannten Schlucht, in deren Tiefe ein Baͤchlein rieselte und die mit altem Tan¬ nenwalde erfuͤllt war. Der Himmel hatte sich be¬ deckt, es ruhte eine duͤstere und doch weiche Stim¬ mung auf der Landschaft, das Schießen und Trommeln aus der Ferne hob noch die tiefe Stille der unmittelbaren Naͤhe, ich stand still und lehnte mich ausruhend auf das Gewehr, in¬ dem ich einer halb weinerlichen, halb trotzigen Laune anheimfiel, welche mich oͤfter beschlichen hat gegenuͤber der großen Natur und welche der Bedraͤngten Frage nach Gluͤck ist. Da hoͤrte ich Schritte in der Naͤhe und auf dem schmalen Felspfade, in der tiefen Einsamkeit, kam mein Feind daher, das Herz klopfte mir heftig, er sah mich stechend an und sandte mir gleich darauf einen Schuß entgegen, so nah, daß mir einige Pulverkoͤner in's Gesicht fuhren. Ich stand un¬ beweglich und starrte ihn an; hastig lud er sein Gewehr wieder, ich sah ihm immer zu, dies ver¬ wirrte ihn und machte ihn wuͤthend, und in un¬ saͤglicher Verblendung der Gescheidtheit, der ver¬ meintlichen Dummheit und Gutmuͤthigkeit mitten in's Gesicht zu schießen, wollte er in dichter Naͤhe eben wieder anlegen, als ich, meine Waffe weg¬ werfend, auf ihn losfuhr und ihm die seinige entwand. Sogleich waren wir in einander ver¬ schlungen und nun rangen wir eine volle halbe Stunde mit einander, stumm und erbittert, mit abwechselndem Gluͤcke. Er war behend, wie eine Katze, wandte hundert Mittel an, um mich zu Falle zu bringen, stellte mir das Bein, druͤckte mich mit dem Daum hinter den Ohren, schlug mir an die Schlaͤfe und biß mich in die Hand und ich waͤre zehnmal unterlegen, wenn mich nicht eine stille Wuth beseelt haͤtte, daß ich aushielt. Mit toͤdtlicher Ruhe klammerte ich mich an ihn, schlug ihm gelegentlich die Faust in's Gesicht, Thraͤnen in den Augen und empfand dabei ein wildes Weh, welches ich sicher bin, niemals tiefer zu empfinden, ich mag noch so alt werden und das Schlimmste erleben. Endlich glitten wir aus auf den glatten Nadeln, welche den Boden be¬ deckten, er fiel unter mich und schlug das Hinter¬ haupt dermaßen wider eine Fichtenwurzel, daß er fuͤr einen Augenblick gelaͤhmt wurde und seine Haͤnde sich oͤffneten. Sogleich sprang ich unwill¬ kuͤrlich auf, er that das Gleiche, ohne uns anzu¬ sehen, ergriff Jeder sein Gewehr und verließ den unheimlichen Ort. Ich fuͤhlte mich an allen Gliedern erschoͤpft, erniedrigt und meinen Leib entweiht durch dieses feindliche Ringen mit einem ehemaligen Freunde. Die kuͤnstliche Verlaͤngerung des menschlichen Armes durch eiserne Waffen ist gewiß die Hauptursache der unaustilgbaren Streit¬ sucht; denn wenn die Maͤnner sich von Hand zu Hand angreifen muͤßten, so wuͤrden sie ohne Zweifel die wilde Bestialitaͤt, nicht maskirt durch den kalten Stahl, eher inne werden und das oͤftere Zusammentreffen scheuen. Von dieser Zeit an trafen wir nie wieder zu¬ sammen; er mochte aus meiner verzweifelten Ent¬ schlossenheit herausgefuͤhlt haben, daß er im Ganzen doch an den Unrechten gerathe und vermied jetzt jede Reibung. Aber der Streit war unentschieden geblieben und unsere Feindschaft dauerte fort, ja sie nahm zu an innerer Kraft, waͤhrend wir uns in den Jahren, die vergingen, nur selten sahen. Jedes Mal aber reichte hin, den begrabenen Haß aufs Neue zu wecken. Wenn ich ihn sah, so war mir seine Erscheinung, abgesehen von der Ursache unserer Entzweiung, an sich selbst uner¬ traͤglich, vertilgungswuͤrdig; ich empfand keine Spur von der milden Wehmuth, welche sich sonst beim Anblicke eines verfeindeten Freundes mit dem Unwillen vermischt, ich fuͤhlte den reinen Haß und daß, wie sonst Jugendfreunde fuͤr das ganze Leben, auch bei getrennten Verhaͤltnissen, eine Zuneigung bewahren, dieser im gleichen Sinne der Dauer mein Jugendfeind sein wuͤrde. Ganz die gleichen Empfindungen mochte er bei meinem Anblicke erfahren, wozu noch der Umstand kam, daß die engere Veranlassung unserer Feindschaft, die Geschichte des Schuldbuches, fuͤr ihn an sich selbst unvergeßlich sein mußte. Er war unter¬ dessen in ein Komtoir getreten, hatte seine eigen¬ thuͤmlichen Faͤhigkeiten fort und fort ausgebildet, bewies sich als sehr brauchbar, klug und vielver¬ sprechend und erwarb sich die Neigung seines Vorgesetzten, eines schlauen und gewandten Ge¬ schaͤftsmannes; kurz er fuͤhlte sich gluͤcklich und sah voll Hoffnung auf sein zukuͤnftiges Selbst¬ wirken. So kann ich mir gar wohl denken, daß die arge Enttaͤuschung, welche sein erster jugend¬ licher Versuch, ein Geschaͤft zu machen, erfuhr, fuͤr ihn eben so nachhaltig schmerzlich sein mußte, als einer kindlichen Dichter- oder Kuͤnstlernatur der erste verneinende Hohn, welcher ihren naiven und harmlosen Versuchen zu Theil wird. Wir waren schon konfirmirt, er etwa acht¬ zehn, ich siebzehn Jahre alt, wir begannen uns selbstaͤndiger zu bewegen und lernten nun Ver¬ haͤltnisse und Menschen kennen. Wenn wir an oͤffentlichen Orten zusammentrafen, so vermieden wir, uns anzusehen, aber Jeder weihte seine Freunde in seinen Haß ein, welcher manchmal um so gefaͤhrlicher zu wirken und auszubrechen drohte, als nun ein Jeder mit solchen jungen Leuten umging, die seiner Beschaͤftigung und sei¬ nem Wesen entsprachen und also einen empfaͤng¬ lichen Boden fuͤr eine weiterzuͤndende Feindschaft bildeten. Deswegen dachte ich mit Sorge an die Zukunft und wie das denn nun das ganze Leben hindurch in der kleinen beschraͤnkten Stadt gehen sollte? Allein diese Sorge war unnuͤtz, indem ein trauriger Fall ein fruͤhes Ende herbeifuͤhrte. Der Vater meines Widersachers hatte ein altes wun¬ derliches Gebaͤude gekauft, welches fruͤher eine staͤdtische Ritterwohnung gewesen und mit einem starken Thurme versehen war. Dies Gebaͤude wurde nun wohnlich eingerichtet und in allen Winkeln mit Veraͤnderungen heimgesucht. Fuͤr den Sohn war dies eine goldene Zeit, da nicht nur das Unternehmen uͤberhaupt eine Spekulation war, sondern es auch eine Menge Geschicklichkeiten und Selbsthuͤlfe an den Tag zu legen gab. Jede Minute, die er frei hatte, steckte er unter den Bauleuten, ging ihnen an die Hand und uͤber¬ nahm viele Arbeiten ganz, um sie zu ersetzen und zu sparen. Mein Weg zur Arbeit fuͤhrte mich jeden Tag an diesem Hause voruͤber und immer sah ich ihn zwischen zwoͤlf und ein Uhr, wenn alle Arbeiter ruhten, und am Abend wieder, mit einem Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fen¬ stern oder auf Geruͤsten stehen. Er war seit der Kinderzeit fast gar nicht mehr gewachsen und sah in seiner Emsigkeit, an den ungeheuerlichen Mauern haͤngend, hoͤchst seltsam aus; ich mußte unwillkuͤrlich lachen und haͤtte fast einem freund¬ licheren Gefuͤhle Raum gegeben, da er in diesem Wesen doch liebenswuͤrdig und tuͤchtig erschien, wenn er nicht einst die Gelegenheit wahrgenom¬ men haͤtte, einen ansehnlichen Pinsel voll Kalk¬ wasser auf mich herunterzuspritzen. Eines Tages, als ich des Hauses bereits ansichtig war, fuͤhrte mich mein milder Stern durch eine Seitenstraße einen andern Weg; als ich einige Minuten spaͤter wieder in die Haupt¬ straße einbog, sah ich viele erschreckte Leute aus der Gegend jenes Hauses herkommen, welche eifrig sprachen und lamentirten. Um die Weg¬ nahme einer alten Windfahne auf dem Thurme zu bewerkstelligen, hatten die Bauleute erklaͤrt, ein erhebliches Geruͤste anbringen zu muͤssen. Der Ungluͤckliche, der sich Alles zutraute, wollte die Kosten sparen und waͤhrend der Mittagsstunde die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte sich auf das steile hohe Dach hinausbegeben, stuͤrzte herab und lag in diesem Augenblicke zerschmettert und todt auf dem Pflaster. Es durchfuhr mich, als ich die Kunde ver¬ nommen und schnell meines Weges weiter ging, wohl ein Grauen, verursacht durch den Fall, wie er war; aber ich mag mich durchwuͤhlen, wie ich will, ich kann mich auf keine Spur von Erbar¬ men oder Reue entsinnen, die mich durchzuckt haͤtte. Meine Gedanken waren und blieben ernst und dunkel, aber das innerste Herz, das sich nicht gebieten laͤßt, lachte auf und war froh. Wenn ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam ge¬ schaut, so glaube ich zuversichtlich, daß mich Mit¬ leid und Reue ergriffen haͤtten; doch das unsicht¬ bare Wort, mein Feind sei mit einem Schlage nicht mehr, gab mir nur Versoͤhnung, aber die Versoͤhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich konstruirte zwar, als ich mich besonnen, rasch ein kuͤnstliches und verworrenes Gebet, worin ich Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergessen¬ l. 23 heit bat; mein Inneres laͤchelte dazu, und noch heute, nachdem wieder Jahre voruͤbergegangen, fuͤrchte ich, daß meine nachtraͤgliche Theilnahme an jenem Ungluͤcke mehr eine Bluͤthe des Ver¬ standes, als des Herzens sei, so tief hatte der Haß gewurzelt! Neuntes Kapitel. Um wieder zu jener Schulzeit zuruͤckzukehren, so kann ich nicht bekennen, daß dieselbe hell und gluͤcklich gewesen sei. Der Kreis des zu Erfah¬ renden hatte sich nun erweitert, die Anspruͤche waren ernster geworden, ich hatte ein dunkles Gefuͤhl, daß es sich um Wichtiges und Schoͤnes handle, und auch einen gewissen Drang, diesem Gefuͤhle zu genuͤgen. Aber die Uebergaͤnge von einer Stufe zur anderen waren mir nie klar und gingen mir immer verloren. Das einzige Ele¬ ment, in dem ich sicher lebte, wie in der Lebens¬ luft, war die Sprache. Meine Schulabtheilung war fuͤr Solche bestimmt, welche sich spaͤter dem Gewerb- oder Handelsstande widmen wollten; daher wurde in den niederen Klassen, durch welche ich gelangte, außer dem Deutschen, nur Franzoͤsisch und Italiaͤnisch gelehrt. Letztere Beiden bestritt ich ohne Muͤhe, indem ich, uͤber die grammatika¬ lischen und Vokabelnaufgaben fluͤchtiger hinweg¬ eilend, durch die Gelaͤufigkeit in der Muttersprache unterstuͤtzt, leicht errieth und daher gut in's Deutsche uͤbersetzte. Sollte ich dagegen von diesem in die fremden Sprachen uͤbersetzen, so kam mir eine große Geschicklichkeit im augenblicklichen Nach¬ schlagen zu Statten, da ich einmal sogleich fuͤhlte, was tauglich und wo es zu suchen sei. Dies taͤuschte die Lehrer, daß sie mich uͤberall fuͤr gut beschlagen hielten, mich zu denen zaͤhlten, welchen man weniger aufmerken muͤsse und zufrieden waren, wenn ich die Uebersetzungen und Styl¬ uͤbungen puͤnktlich und ertraͤglich einlieferte. Mein deutsches Lernen hingegen konnte gar keine Arbeit, sondern nur ein Vergnuͤgen genannt werden. Schon vor Jahren in der ersten Schule hatte ich Orthographie und Interpunktion mir vollkommen angeeignet, und wie man sprechen lernt. Nachher hielt meine kleine Schreibkunst mit meiner Erfahrung Schritt und was ich sagen wollte, konnte ich richtig niederschreiben und wunderte mich, wie gerade dies so viele Schuͤler in Verzweiflung setzte. Stylkuͤnste und Wendungen merkte ich aus den gelesenen Buͤchern; was mir, nach mei¬ nem jeweiligen Geschmacke auffiel, das wandte ich aus Nachahmungstrieb an, bis ich besser unter¬ scheiden lernte. Daher fielen meine Aufsaͤtze um¬ fangreich und uͤberschwaͤnglich aus, ich schriftstel¬ lerte foͤrmlich darin mit großer Liebhaberei und erschoͤpfte jedes Mal den Stoff nach allen Sei¬ ten, so weit der Verstand reichte. Waͤhrend meines Besuches der Schule waren sich zwei verschiedene deutsche Lehrer gefolgt. Der Erste war ein patriotischer Mann, welcher uns mit Begeisterung die Schweizergeschichte vorerzaͤhlte und stuͤckweise als Stoff zu schriftlichen Arbeiten aufgab. Dieser Stoff war mir zu knapp, da er jedesmal nur fuͤr zwei oder drei Seiten berechnet war und ich hier fuͤglich nicht viel hinzuthun konnte. Ich half mir mit allerlei Schilderungen der Lokalitaͤten und Personen, welche etwas selt¬ sam und unnuͤtz ausfielen und den Lehrer auf¬ merksam machten. Als wir zur Geschichte des Tell kamen, hatte ich das Schiller'sche Drama schon gelesen und glaubte mich im Besitze beson¬ derer Quellen. Mein Aufsatz war eine prosaische Wiedererzaͤhlung des Gedichtes und besonders die Liebesgeschichte weitlaͤufig ausgemalt. Als der Lehrer mit den durchgesehenen Heften in die Stunde und die Reihe des Beurtheilens an mich kam, fragte er mich freundlich, wo ich diese und jene Umstaͤnde hergenommen haͤtte. Ich fuͤrchtete Unrecht gethan zu haben und schwieg auf sein wiederholtes Andringen hartnaͤckig still. Beim Nachhausegehen forderte er mich auf, naͤchstens zu ihm in sein Haus zu kommen. Ich war ihm sehr zugethan und ahnte wohl, daß mir Gutes geschehen sollte; aber ich war zu schuͤchtern und ging nicht hin. Der Mann starb und ein An¬ derer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus dem Leben griff und uns anwies, die verschiedenen Vorkommnisse desselben zu beschreiben. So mußten wir einmal unsere Ferienreise aufzeichnen; ich hatte keine gemacht, sondern die ganze Zeit uͤber bei der Mutter hinter dem Ofen gesessen, erfand aber ein ganzes Heft voll muthwilliger Aben¬ teuer, welche in dem witzelnden Jargon irgend eines satirischen Buches, das ich gelesen, gehalten waren. Ein ander Mal sollten wir einen vom Gewitter uͤberfallenen Jahrmarkt schildern; auch dieser Aufsatz spann sich mir sehr lang aus, steckte aber so voller Possen, daß ich ihn so wenig ein¬ gab, wie jene Ferienreise. Der Lehrer fragte aber gar nicht darnach, weil er wußte, daß ich Alles konnte, was er von dieser Klasse verlangte, und da ich mich sonst still hielt, ließ er mich gaͤnzlich in Ruhe und that als ob ich nicht da waͤre, so daß ich waͤhrend seiner Stunden immer las. Gelegentlich wurde ich etwa aufgerufen, um irgend einen lateinischen Ausdruck der Grammatik zu sagen; diese hatte ich aber laͤngst vergessen, und kenne sie auch jetzt nicht, weil ich ohne sie oder vielmehr neben ihr vorbei schreiben gelernt hatte. Doch der Lehrer hielt mein Schweigen fuͤr Vorsaͤtzlichkeit und war froh, mich gelinde be¬ strafen zu koͤnnen, um mich nicht zu stolz werden zu lassen. Er war ein Schoͤngeist und diktirte uns dann und wann als Leckerbissen eine Stelle aus einem deutschen Klassiker, welche fuͤr uns zugaͤnglich war. Solche Bruchstuͤcke ließen mich das Untaugliche alles uͤbrigen Treibens lebhaft fuͤhlen; ich schrieb sie sorglich in's Reine, las sie wieder und arbeitete sogleich in dem betreffenden Style. In der Schule sah ich voll Sehnsucht auf die schoͤngebundenen Buͤcher, die der kuͤhle Mann mitbrachte, und nahm mir fest vor, diesmal zu ihm zu gehen, wenn er mich etwa einladen wuͤrde, wie der Ver¬ storbene. Er starb indessen auch, ohne es je ge¬ than zu haben; entweder liebte er dergleichen nicht oder war uͤberzeugt, daß ich fuͤr einmal genug Deutsch verstaͤnde. Nicht so gut erging es mir mit dem uͤbrigen Lernen. In allen Schulen, wo kein Latein ge¬ trieben wird, betrachtet man den Unterricht als einen Dampf, der moͤglichst rasch durch das Ge¬ hirn der Jugend gejagt werden muͤsse, um wieder zu verfliegen. Dies Ein Mal und nie wieder Hoͤren der Gegenstaͤnde, dies regelmaͤßige und vollkommene Vergessen dessen, was die einzelnen Naturen in den Jahren des Unverstandes nicht ansprach und was sie spaͤter doch so gerne wissen moͤchten, hat etwas Grauenhaftes in sich; es ist, als ob dies Unkraut nur da waͤre, um auch das zu beeintraͤchtigen und zu schmaͤlern, was man wirklich versteht und gerne lernt. Es sind viel¬ leicht nicht die schlechteren Gewaͤchse der Schule, welche fuͤr das, dessen Zweck sie einstweilen nicht einsehen, boͤswilligst keinen Sinn zeigen und be¬ harrlich darin nichts thun, und es fragt sich, ob manche Lehre nicht erst dann begonnen werden sollte, auch in ihren Anfaͤngen, wenn man im Stande ist, den großen und erhabenen Endzweck klar und eindringlich zu machen. Die meisten Schulmaͤnner haben ihr Leben lang Nichts ge¬ trieben, als das Fach, in welchem sie vierzehnjaͤh¬ rige Knaben unterweisen sollen. Von fruͤhster Jugend an haben sie besondere Neigung dafuͤr gezeigt, dann studirten sie, hoͤrten das gleiche Thema drei, vier Mal bei verschiedenen Lehrern, reis'ten und hoͤrten es wieder, lasen nichts An¬ deres, als was davon handelte, und nun treten sie vor die Jugend und verlangen von ihr, daß sie aus einigen trockenen, graͤmlichen Einleitungs¬ worten die ganze Einsicht und Begeisterung fuͤr eine lange Reihe von Unterrichtsstunden schoͤpfe, 23* und eben so uͤberzeugt sei von der Klarheit und Nothwendigkeit jedes Punktes, als sie selbst von ihrer Weisheit. Die Kinder des Latein und des Griechisch, der Student werden freilich gehaͤtschelt und gepflegt, damit die Kaste nicht ausgehe; aber alle Lehrer, welche in den geheiligten Mauern nicht unterkommen koͤnnen, betrachten sich auf den Profanschulen als ungluͤckliche Verbannte, welche Perlen vor die Saͤue zu werfen haben. Ich habe auch Schulmaͤnner gesehen, deren Lebensaufgabe darin bestand, die Volkserziehung zu verbessern. Tag und Nacht arbeiteten sie daran, reis'ten herum auf Kongressen, schrieben Buͤcher und fuͤhrten Polemik; ein inneres Feuer verzehrte sie. Was Wunder, wenn sie verdrießlich und einsilbig in die Stunde kamen und aͤngstlich daruͤber weg¬ eilten, um nur wieder an die Loͤsung ihres Einen Raͤthsels gehen zu koͤnnen? Man begann uns Weltgeschichte zu diktiren, und unzaͤhlige Namen orientalischer Urvoͤlker schwirrten an uns voruͤber, waͤhrend wir gleich¬ zeitig die Geographie von Europa betrieben, von dessen Bewohnern wir nichts vernahmen zu selber Zeit, und als die Sache umgekehrt wurde, hatten die Meisten die entsprechende Kenntniß schon gruͤndlich vergessen oder wußten sie nicht anzu¬ wenden; denn eben diese Einsicht kommt erst mit der reiferen Jugend, welcher die Welt anfaͤngt deutlich und wichtig zu werden. Die Lehrer der verschiedenen mathematischen Uebungen begannen ihren Kursus, mit wenigen Ausnahmen, durch einige magere Worte uͤber den Sinn des Titels und begannen dann unaufhalt¬ sam die Sache selbst, vorwaͤrtsschreitend ohne umzusehen, ob Einer mit dem Verstaͤndniß zuruͤck¬ bleibe oder nicht. Daher gab es unter vierzig Schuͤlern vielleicht hoͤchstens drei, welche von dem Gegenstande am Schlusse eine wirkliche Rechen¬ schaft geben konnten, Solche, deren Neigungen und Faͤhigkeiten er entsprach. Die uͤbrigen schleppten sich entweder mit muͤhseliger Aufmerk¬ samkeit und angstvollem Fleiße von Stunde zu Stunde, ohne je recht klar zu sein, oder sie ließen gleich im Anfange die Hoffnung sinken und sich regelmaͤßig bestrafen. Was ich selbst that, weiß ich kaum mehr zu sagen; ich lebte fortwaͤhrend wie in einem quaͤlenden Traume. Manchmal hatte ich den Faden einige Tage hindurch wieder erwischt, dann verlor ich ihn ploͤtzlich wieder, frei¬ lich durch eigene Schuld: aber die Schuld der Alten war eben, daß ein Moment der Unauf¬ merksamkeit fuͤr dieses Alter unwiederbringlich und zu einer Todsuͤnde werden konnte. Einst wurde uns ein edler stiller Mann vor¬ gefuͤhrt, welcher uns die Pflanzenkunde lehren sollte. Er begann mit langsamen, faßbaren Worten ganz von vorne, wir hatten ganz reinen Tisch, und er fuhr so fort, daß nur die wirklich stumpfen Geister zuruͤckblieben. Nachdem er uns die aͤußerliche Stellung der Pflanzen in der Na¬ tur klar gemacht und uns fuͤr sie eingenommen hatte, ging er auf ihre allgemeinen Eigenschaften und auf die Erklaͤrung ihres Organismus uͤber, wobei wir die ersten Blicke in die Bedeutung dieses Wortes erhielten, welche wir von nun an nicht vergaßen. Schon freuten wir uns der nahen Aussicht, einige Kenntniß im Bestimmen der ein¬ zelnen Gewaͤchse zu erhalten und mehr als Einer war vielleicht in der Klasse, bei welchem eine ein¬ flußreiche Anhaͤnglichkeit an die Natur und ihre Kenntniß geweckt worden waͤre, als der von uns trotz seiner Einsilbigkeit hochgehaltene Lehrer er¬ krankte und den Unterricht aufgeben mußte. Statt daß nun ein anderer Botanikbeflissener gesandt worden waͤre, welcher auf Grund unserer saͤmmt¬ lich musterhaften Hefte fortzufahren versucht haͤtte, wurde das Ganze unverhofft abgebrochen, und ein geistlicher Herr, welcher als Dilettant etwas Naturwissenschaft trieb, uͤberfiel uns mit einem Heere wilder Bestien, indem er uns etwas apho¬ ristische Zoologie vortrug. Waͤhrend wir so mit jener liebgewonnenen Botanik ein organisches Ganzes verloren, erhielten wir dafuͤr nur einige Thiergestalten; denn die Zoologie, welche man vierzehnjaͤhrigen Knaben lehrt, naͤhrt nicht ihren Geist, weil sie ohne vergleichend anatomische Kenntnisse, mit einem Worte ohne wissenschaft¬ liche Anknuͤpfungen bloßes Futter fuͤr die Neu¬ gierde ist. Solches blindes Einwirken des Zufalles in unser Fortschreiten kam mehr als ein Mal vor, und es verletzt das ohnehin zarte Gewebe des zusammenhaͤngenden Verstaͤndnisses rauher, als man denkt. Ich hatte ein sehr gutes Gehoͤr und war ein eifriger Saͤnger. Wir hatten fuͤr die erste Schul¬ zeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren Theorie verwechselt wurde. Die erste Stunde, in welche der Musikus etwas uͤber die Bedeutung und allgemeine Einrichtung derselben gesagt haben mochte, war ich abwesend, und als ich wieder eintraf, fand ich meine Mitschuͤler im aͤngstlichen Lesen der verschiedenen Skalen und Tonarten be¬ griffen. Ich war nun ein fuͤr alle Mal vor die Thuͤr gesetzt; wenn wir sangen, nachdem der Lehrer auf seiner Geige den Ton angegeben, kraͤhete ich mit heller Stimme, traf immer sicher und wurde oͤfter gebraucht, die Hoͤhe des Tones zu halten. Sollte ich aber das Lied lesen, so stockte ich bald und wurde als boͤswillig be¬ zeichnet. Ueberall war dieser unselige Zwiespalt zwi¬ schen klarem Zweck und scheinbarer Zwecklosigkeit, zwischen vorausgenommener Fertigkeit in diesem Ganzen und nachschleppendem Unverstaͤndniß jenes Einzelnen. Und doch war die Anstalt gut und besser als viele Andere; denn das Uebel liegt oder lag in der ganzen Erziehungsweise, in den ver¬ wendeten Menschen. Der Staat gibt die rechte Parole und bringt die groͤßten Opfer, mit denen er seiner Ehre genuͤgt; aber ehe sie Fruͤchte tra¬ gen, muß die ganze alte Generation der Paͤda¬ gogen aussterben und ein neues Geschlecht ent¬ stehen, welches ein ganz anderes Fuͤhlen, Sehen und Hoͤren mitbringt, als das alte. Doch, als ich mich ungefaͤhr dem fuͤnfzehnten Jahre naͤherte und die Stimme sich zu veraͤndern begann, brach durch alle Verwirrung hindurch ein helleres Licht; in dem Maße, als man uns Heranwachsende ernster, aber auch ruͤcksichtsvoller behandelte, fing an die eigentliche Lernbegierde aufzuthauen, und wie ich ahnte, daß alle Kennt¬ nisse wohl ineinander muͤnden und sich zu Einem lichten Zwecke verflechten wuͤrden, lernte ich die wirkliche und gewissenhafte Muͤhe kennen, welche nicht nur mit dem Talente spielen, sondern auch mit Lust arbeiten kann. Ich freute mich mit An¬ dern auf die hoͤheren Klassen, welche wir bald an¬ treten sollten und wir warfen hoffnungsvolle Blicke in die wohlbestellten und geordneten Samm¬ lungen, auf die mannigfaltigen Mittel, die jenen zu Gebote standen, auf das gesetzte und selbst¬ staͤndigere Wesen, das dann seinen Anfang neh¬ men sollte. Ich fuͤhlte die Wichtigkeit und noͤ¬ thige Fruchtbarkeit der naͤchsten Jahre; zu welchem Lebensberufe ich mich dann entscheiden wuͤrde, daruͤber konnte ich mir noch keine Rechenschaft geben. Denn auch insofern war die Anstalt vor¬ trefflich geschaffen, daß gegen das Ende ihrer Stadien , mitten aus ihr heraus, mit vollem Ueberblicke man sich einen Entschluß fassen konnte, ja mußte, wer nicht durch fruͤh ausgesprochene Neigung schon bestimmt war. Nur zwei Rich¬ tungen draͤngten sich deutlicher vor meine Augen und spielten unbestimmt in einander. Es war der große Zeichnungssaal mit seinen vielen Gyps¬ abguͤssen, schoͤnen Kunstvorlagen und dem ganzen kuͤnstlerischen Treiben darin, und anderseits die tiefere und ausfuͤhrlichere Behandlung der Sprache, das Lesen und Erklaͤren von Schriftstellern ver¬ schiedener Zungen, worauf ich mich freute und welche ich ganz zu benutzen mir vornahm. Allein zwischen der Zukunft und der Gegenwart lag noch eine tiefe und breite Kluft. Es lehrte an unserer Schule ein Mann, welcher mit wahrer Herzensguͤte und ehrlichem Sinne eine große Unerfahrenheit, mit der Jugend umzugehen, und ein schwaͤchliches und seltsames Aeußeres verband. Er hatte in dem Kampfe, welcher den Umschwung der Dinge und beson¬ ders das erneute Schulwesen herbeifuͤhrte, tapfer mitgewirkt und war in der konservativen Stadt als ein leidenschaftlicher Liberaler verschrieen. Wir Knaben waren allzumal gute Aristokraten, mit Ausnahme derer, die vom Lande kamen. Auch ich, obgleich meines Ursprunges halber auch ein Landmann, aber in der alten Stadt geboren, heulte mit den Woͤlfen und duͤnkte mich in kin¬ dischem Unverstande gluͤcklich, auch ein staͤdtischer Aristokrat zu heißen. Meine Mutter politisirte nicht und sonst hatte ich kein nahestehendes Vor¬ bild, welches meine unmaßgeblichen Meinungen haͤtte bestimmen koͤnnen. Ich wußte nur, daß l . 24 die neue radikale Regierung einige alte Thuͤrme und Mauerloͤcher vertilgt hatte, welche Gegenstand unserer besonderen Zuneigung gewesen, und daß sie aus verhaßten Landleuten und Emporkoͤmm¬ lingen bestand. Gleich beim Beginne der neuen Schulen, als der ungeschickte Lehrer seine Thaͤtigkeit mit vieler Gemuͤthlichkeit antrat, brachte ein Schuͤler, der Sohn eines fanatischen Stadtbuͤrgers, mit wich¬ tigen Worten die Nachricht unter uns, wie der Lehrer geschworen haͤtte, uns Aristokratenkinder mit eiserner Ruthe zu baͤndigen. Er war naͤmlich in einer Gesellschaft aufmerksam gemacht worden, wie er es theilweise mit einer durch altes Herkommen uͤbermuͤthigen und ausgelassenen Stadtjugend zu thun haben wuͤrde, worauf er antwortete, er werde mit den Buͤrschlein schon fertig zu werden wissen. Auf obige Weise dargestellt, wurde diese Rede nun, wahrscheinlich nicht ohne Zuthun der Alten, unter unsere verstandlose Masse geworfen und sie begann sogleich zu wirken. Wir nahmen den Handschuh auf, die Verwegensten eroͤffneten einen geordneten Widerstand und ein leichtes Ge¬ plaͤnkel des Unfuges. Schon dies verwirrte ihn und anstatt mit Sarkasmen und ruhiger, uͤber¬ legener Entschiedenheit die Angreifer zuruͤckzu¬ werfen, ruͤckte er sogleich mit seiner Hauptmacht und dem schweren Geschuͤtze vor, indem er jeden kleinen Muthwillen, auch jede unabsichtliche That blindlings mit den schwersten und einflußreichsten Strafen belegte, die ihm zu Gebote standen und welche sonst nur in seltenen Faͤllen angewendet wurden. Dadurch entzog er sich in unsern Augen den guten Rechtsboden, da wir in der Abschaͤtzung des Verhaͤltnisses zwischen Strafe und Vergehen eine große Gewandtheit besaßen. Seine Strafen wurden bald werthlos und zuletzt eine Ehren¬ sache, ein Martyrium. Es entstand offener Skandal in den Stunden, welcher sich auch in die anderen Saͤle verbreitete, wo der Gehetzte zu erscheinen hatte. Nun beging er einen neuen Fehlgriff; statt die Bewegung in sich selbst zerfallen zu lassen und eine Zeit lang ihr zu stehen, fing er an, jeden Schuͤler aus der Stube zu jagen, der das Geringste veruͤbte. Eine unschuldig gestellte Frage an ihn, das absichtliche oder unabsichtliche Fallen¬ 24 * lassen eines Gegenstandes reichte hin, in's Freie befoͤrdert zu werden. Wir merkten uns dies und bald hielt er regelmaͤßig nur mit zwei oder drei Frommen seinen Unterricht, waͤhrend der helle Haufen vor der Thuͤr sich auf seine Kosten be¬ lustigte. Das Einschreiten oberer Behoͤrden oder auch seine eigene Energie, wenn er, trotz des Verbotes, die Schuͤler zu schlagen, Einige ein einziges Mal bei den Koͤpfen genommen und tuͤchtig durchgeblaͤut haͤtte, wuͤrden hingereicht haben, die Ruhe herzustellen. Zu Letzterem besaß er nicht die geeignete Persoͤnlichkeit, das Erstere unterblieb, da die unmittelbar folgende Instanz aus Schulmaͤnnern bestand, welche dem Verfolgten abgeneigt waren und so lang als moͤglich die Vorfaͤlle nicht zu bemerken schienen. Die Schuͤler erzaͤhlten in ihren Familien mit Ruhmredigkeit ihre Thaten, wobei sie nicht unterließen, den Lehrer als den schreckbarsten Popanz darzustellen. Die behaͤbigen Buͤrger, sich mit Wohlgefallen ihrer eigenen Knabenstreiche erinnernd und in der Erfahrung der alten Zeit aufgewachsen, daß die Schule nur eine Art Unterkommen bilde, bis das wuͤrdige Buͤrgerkind, ohne sich den Kopf zer¬ brechen zu muͤssen, in das behagliche Privilegien- und Zunftwesen der guten alten Stadt aufge¬ nommen wuͤrde, bestaͤrkten ihre Soͤhnlein durch unverhohlenes Laͤcheln, wo nicht durch direkte Auf¬ reizung, in ihrem Treiben. Obgleich die Sache laͤngst Aufsehen gemacht hatte, wurde sie nach Oben hin stets so geschildert, als ob alle Schuld an dem Verfolgten laͤge; es kam etwa ein Herr in die Stunde, um selbst zu sehen, dann huͤteten wir uns aber wohl, etwas zu beginnen, so wie wir auch in den Stunden der uͤbrigen Lehrer uns doppelt ruhig verhielten. Der Ungluͤckliche war ein Ableiter fuͤr allen boͤsen Stoff, welcher in der Schule steckte. So schleppte er sich bei¬ nahe ein Jahr lang hin, bis er endlich fuͤr eine Zeit lang suspendirt wurde. Er waͤre so gerne ganz weggeblieben, indem er Schaden an seiner Gesundheit litt und ganz abmagerte; aber eine zahlreiche Familie schrie nach Brot und er war auf diesen Beruf angewiesen. So trat er eines Tages seinen Leidensweg wieder an, so versoͤhn¬ lich und bescheiden, als moͤglich; allein er fand keine Barmherzigkeit, ein wilder Jubel brach los, das alte Unwesen wiederholte sich und er mußte nach wenigen Tagen gaͤnzlich entlassen werden. Ich hatte mich lange Zeit ziemlich ruhig ver¬ halten und nur den zahlreichen Auftritten behag¬ lich zugesehen. Gegen den Mann selbst verging ich mich nicht ein einziges Mal, da es mir wider¬ stand, einem Erwachsenen gegenuͤber aufzutreten. Erst als das Hinausschieben der ganzen Klasse begann, suchte ich auch Theil zu nehmen und bewerkstelligte dies durch kleine schuͤchtern Streiche oder wischte auch so mit hinaus; denn erstens ging es sehr lustig her draußen und zweitens haͤtte ich um keinen Preis bei den wenigen ver¬ poͤnten Gerechten bleiben moͤgen, welche in der Stube saßen. Desto lauter wurde ich, wenn ich einmal draußen war, half Aufzuͤge und Umgaͤnge anordnen und uͤberließ mich, nach langer Zuruͤck¬ gezogenheit, einer so wilden Freude, daß mir das Herz heftig klopfte und mein Blut ganz in Wal¬ lung war, wenn wir bei dem folgenden Lehrer wieder an unseren Plaͤtzen saßen. Ich kann mir fest gestehen, daß ich mich damals uͤber die Freude selbst freute und keinerlei Bosheit in mir trug. Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit dem Armen, welches ich zu aͤußern aber unter¬ ließ, um nicht laͤcherlich zu werden. Einst traf ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er schien einen Erholungsgang zu machen; unwillkuͤrlich zog ich ehrerbietig meine Muͤtze, was ihn so freute, daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei so maͤrterlich ansah, als ob er um Barmherzig¬ keit flehte. Ich wurde geruͤhrt und dachte fest, daß es anders werden muͤsse. Gleich am naͤchsten Tage trat ich zu einer Gruppe der wildesten Mitschuͤler, um geradezu am rechten Flecke anzu¬ greifen und ein Wort des Mitgefuͤhls, des Nach¬ denkens unter sie zu werfen; ich hatte den rich¬ tigen Instinkt, daß dieses gewiß, wenn auch nicht augenblicklich, weiter wirken und die Laune der Menge anziehen wuͤrde. Sie sprachen eben von dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen erfunden, der so komisch klang, daß Alles bester Laune war und auflachte, die vorbedachten Worte verdrehten sich mir auf der Zunge und anstatt meine Pflicht zu thun, verrieth ich ihn und mein besseres Selbst, indem ich das gestrige Abenteuer auf eine Weise vortrug, die der gegenwaͤrtigen Stimmung vollkommen entsprach und dieselbe erhoͤhte! Nach seiner Entfernung wurde es still unter uns; die Laͤrmbeduͤrftigen und Schlimmgesinnten wandten sich unbehaglich hin und her, zehrten von der Erinnerung und konnten sich nicht zu¬ rechtfinden. Eines Abends, nach dem Schlusse des Unterrichts, ging ich ruhig meiner Wege und hatte bald meine Wohnung erreicht, als ich rufen hoͤrte: Gruͤner Heinrich! hierher! Ich wandte mich um und erblickte in einer andere Straße einen ansehnlichen Haufen Schuͤler, welche durch¬ einandertrieben, wie ein Ameisenhaufen, und sehr geschaͤftig schienen. Ich erreichte sie, man theilte mir mit, daß man in Gesammtheit dem verab¬ schiedeten Lehrer noch einen Besuch abstatten und ein rechtes Schlußvergnuͤgen veranstalten wolle und forderte mich auf, Theil zu nehmen. Der Plan wollte mir gar nicht einleuchten, ich lehnte kurz ab und ging weg. Jedoch die Neugier wandte mich, daß ich von ferne nachzog und sehen wollte, wie es abliefe. Der Haufen bewegte sich vor¬ waͤrts, andere Schulen, deren Bestandtheile um diese Zeit alle in den Gassen wimmelten, wurden angeworben, daß bald ein Zug von hundert Jun¬ gen aller Art sich fortwaͤlzte. Die Buͤrger stan¬ den unter den Thuͤren und betrachteten mit Ver¬ wunderung das Thun, ich hoͤrte Einen sagen: »Was moͤgen die Teufelsbuben nur wieder vor¬ haben? Die sind bei Gott fast so munter, als wir gewesen sind!« Diese Worte klangen in meinen Ohren wie Kriegsdrommeten, meine Fuͤße wurden lebendiger und schon trat ich dem letzten Manne des Zuges auf die Fersen. Es war ein unsaͤg¬ liches Vergnuͤgen in der Menge, hervorgerufen durch das improvisirte Beisammensein aus eigener Machtvollkommenheit. Ich ward immer waͤrmer, schob mich vorwaͤrts und sah mich ploͤtzlich bei der Spitze angelangt, wo die hohen Haͤupter gingen und mich mit Jubel begruͤßten. »Der gruͤne Heinrich ist doch noch gekommen!« hieß es, der Name erschallte laͤngs des ganzen Zuges und vermehrte den Stoff zu Geraͤusch und gegenstand¬ loser Freude, Mir schwebten sogleich gelesene Volksbewegungen und Revolutionsscenen vor. »Wir muͤssen uns in gleichmaͤßigere Glieder ab¬ theilen,« sagte ich zu den Raͤdelsfuͤhrern, »und in ernstem Zuge ein Vaterlandslied singen!« Dieser Vorschlag wurde beliebt und sogleich ausgefuͤhrt; so durchzogen wir mehrere Straßen, die Leute sahen uns mit Staunen nach, ich schlug vor, noch einen Umweg zu machen und dies Vergnuͤgen so lange als moͤglich andauern zu lassen. Auch dies geschah, allein zuletzt langten wir doch am Ziele an. »Was wollen wir nun eigentlich be¬ ginnen?« fragte ich, »ich daͤchte, wir saͤngen hier ein Lied und zoͤgen dann wieder mit einem Hur¬ rah davon!« »In's Haus! in's Haus!« toͤnte es zur Antwort, »wir wollen ihm eine Dankrede fuͤr sein Wirken abstatten!« »So sollen wenig¬ stens Alle fuͤr Einen stehen und Keiner davon laufen, damit Alle die gleiche Strafe tragen, wenn es Etwas absetzt!« rief ich, worauf der ganze Schwarm in das kleine enge Haus ein¬ stroͤmte und die Treppen hinantobte. Ich blieb an der Hausthuͤr stehen, theils um nicht dem Manne vor das Angesicht treten zu muͤssen, weil ich keinerlei Trieb dazu fuͤhlte, theils um keinen Mitschuldigen sich Einzeln entfernen zu lassen. Es war ein furchtbarer Laͤrm im Innern, die Knaben waren ganz berauscht von ihrer eigenen Aufregung; der Gesuchte lag krank in einem ver¬ schlossenen Zimmer, die Frauen waren bemuͤht, die uͤbrigen Thuͤren zu verschließen und sahen sich aus den Fenstern nach Huͤlfe um. Doch schaͤm¬ ten sie sich zu rufen, die Nachbaren wußten nicht, was Alles zu bedeuten haͤtte und sahen hoͤchst verwundert zu, ich blieb mit nichts weniger als heiteren Gedanken auf meinem Posten. Das Haus war von unten bis oben angefuͤllt, die Laͤrmenden erschienen unter den Dachlucken, war¬ fen alte Koͤrbe heraus und stiegen sogar auf das Dach, die Luft mit ihrem Geschrei erfuͤllend. Ein altes Weib drang endlich beherzt aus einem Kaͤm¬ merchen und trieb, geschuͤtzt durch Alter und Ge¬ schlecht, den ganzen Schwarm mit einem Besen allmaͤlig aus dem Hause. Dies Attentat war denn doch zu auffaͤllig gewesen, als daß die oberen Behoͤrden nicht end¬ lich aufmerksam wurden. Sie verlangten eine strenge Untersuchung. Wir wurden in einem Saale versammelt und einzeln aufgerufen, um vor ein Tribunal zu treten, welches in einer Nebenstube saß. Das Verhoͤr dauerte einige Stunden, die Zuruͤckkehrenden gingen sogleich weg, ohne Bericht zu geben; zwei Drittheile der Ver¬ sammelten waren schon fort und noch wurde ich nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zu¬ letzt Alle, welche aus der Verhoͤrstube kamen, mich ansahen, ehe sie weggingen. Zuletzt hieß es, der ganze Rest solle hereinkommen mit Ausnahme des gruͤnen Heinrich. Wenn ich nicht uͤberzeugt waͤre, daß die Kind¬ heit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzuͤge der menschlichen Zerwuͤrfnisse im Kleinen ab¬ spiegele, so daß spaͤter nur wenige Erlebnisse vor¬ kommen moͤgen, deren Umriß nicht wie ein Traum schon in unserm Wissen vorhanden, wie ein Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh zu erfuͤllen ist, wenn aber Uebles, als fruͤhe War¬ nung gelten kann, so wuͤrde ich mich nicht so weit¬ laͤufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschaͤftigen. Endlich kam die Reihe an mich; der letzte Trupp erschien wieder und hieß mich hineingehen. Ich wollte fragen, was denn vorginge, erhielt aber keine Antwort, vielmehr sputeten sie sich aͤngstlich von hinnen. So trat ich in die Neben¬ stube, halb von Neugierde vorwaͤrts gedraͤngt, halb von jener beklemmenden Furcht zuruͤckgehal¬ ten, welche die Jugend vor den Alten empfindet, wenn sie ihnen an Verstand uͤberlegene und all¬ maͤchtige Wesen voraussetzt. Es saßen zwei Herren am oberen Ende eines langen Tisches, zu dessen Fuß ich stand, einige Stuͤcke Papier und ein Bleistift vor sich. Der Eine war der naͤchste Vorsteher der Schule, der auch selbst Un¬ terricht ertheilte und mich kannte, der Andere ein hoͤherer gelehrter Herr, welcher wenig sagte. Zu Jenem stand ich in einem eigenthuͤmlichen Ver¬ haͤltnisse; er war ein gemuͤthlicher Poltron, gern viele Worte machend und froh, wenn ein Schuͤler durch bescheidene Widerrede ihm Gelegenheit gab, sich gruͤndlich uͤber ein Faktum zu verbreiten. Im Anfange hatte er mir wohl gewollt, da ich gerade bei ihm mich sehr ordentlich auffuͤhrte; aber meine Eigenschaft, den Vorwuͤrfen, Ermahnungen und Strafen bei vorkommenden Faͤllen ein un¬ wandelbares Schweigen entgegenzusetzen, hatte mir seine Abneigung zugezogen. Das aͤngstliche Laͤugnen, die Zungengelaͤufigkeit, Strafe von sich abzuwenden, das hartnaͤckige Feilschen um die¬ selbe waren mir unmoͤglich; glaubte ich eine solche verdient zu haben, so nahm ich sie schweigend hin, schien sie mir zu ungerecht, so schwieg ich ebenfalls, und nicht aus Trotz, sondern ich lachte innerlich ganz frohmuͤthig daruͤber und dachte, der Richter haͤtte das Pulver auch nicht erfunden. Darum hielt mich der Herr fuͤr einen unbrauch¬ baren, bedenklichen Burschen und fuhr mich nun mit drohender Miene an: »Hast Du an dem Skan¬ dale Theil genommen? Schweig! laͤugne nicht, es wird nichts helfen!« Ich brachte ein leises Ja hervor, der weiteren Dinge gewaͤrtig. Doch wie um mich in seinen Augen, da ihm einmal zur Weckung guter Laune durchaus ein gruͤndlicher Wortwechsel noͤthig war, noch zu retten, that er, als ob er ein Nein vernommen haͤtte und schrie: »Wie, was? Heraus mit der Wahrheit!« »Ja!« wiederholte ich etwas lauter. »Gut, gut, gut!« sagte er, »Du wirst gewiß noch Einen finden, der Dir gewachsen ist, einen Stein, der eine Beule in Deine eiserne Stirne schlaͤgt!« Diese Worte beleidigten mich und thaten mir weh; denn sie schienen nicht nur eine arge Verkennung mei¬ nes Wesens zu enthalten, sondern auch eine un¬ gehoͤrige Voraussagung der Zukunft, eine per¬ soͤnliche Bitterkeit zu sein. Er fuhr fort: »Hast Du auf dem Wege vorgeschlagen, einen foͤrm¬ lichen Zug zu ordnen und ein Lied zu singen?« Diese Frage machte mich stutzen, meine Genossen hatten also mich verrathen und deshalb ohne Zweifel sich rein gewaschen; ich schwankte, ob ich nicht laͤugnen sollte, aber es kam wieder ein Ja hervor, zumal ich unmoͤglicherweise denken konnte, daß Alles auf mich gewaͤlzt werde. »Hast Du am Hause des Herrn . . . . erklaͤrt, daß Keiner sich zuruͤckziehen duͤrfe und dieser Erklaͤrung durch Bewachung der Thuͤr Folge gegeben?« Das be¬ jahte ich unbedenklich, da es mir weder eine Schande, noch ein besonderes Vergehen zu sein schien. Diese beiden Momente, aus den ersten Fragen an die Mitschuldigen schon zu Tage ge¬ treten, schienen dem Herrn auf den Haupturheber hinzudeuten; sie ragten auch wohl am faßbarsten aus all' dem wirren Treiben hervor und er hatte allein auf sie hin verhoͤrt. Jeder bejahte regel¬ maͤßig die Frage darnach und war froh, nicht uͤber sich selbst sprechen zu muͤssen. Ich wurde entlassen und ging etwas bewegt, doch gemaͤchlich nach Hause; das Ganze schien mir sehr wuͤrdig zu verlaufen. Zwar fuͤhlte ich eine tiefe Reue, aber nur gegen den mißhandelten Lehrer. Zu Hause erzaͤhlte ich der Mutter den ganzen Vorgang, worauf sie mir eben eine Straf¬ rede halten wollte, als ein Schuldiener hereintrat mit einem großen Briefe. Dieser enthielt die Nachricht, daß ich von Stund an und fuͤr immer von dem Besuche der Schule ausgeschlossen sei. Das Gefuͤhl des Unwillens und erlittener Unge¬ rechtigkeit, welches sich sogleich in mir aͤußerte, war so uͤberzeugend, daß meine Mutter nicht laͤn¬ ger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekuͤmmerten Gefuͤhlen uͤberließ, da der große und allmaͤchtige Staat einer huͤlflosen Wittwe das einzige Kind vor die Thuͤre gestellt hatte mit den Worten: Es ist nicht zu brauchen! Wenn uͤber die Rechtmaͤßigkeit der Todes¬ strafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet, so kann man fuͤglich die Frage, ob der Staat das Recht hat, ein Kind oder einen jungen Men¬ schen, die gerade nicht tobsuͤchtig sind, von seinem Erziehungssysteme auszuschließen, zugleich mit in den Kauf nehmen. Gemaͤß jenem Vorgange wird man mir, wenn ich im spaͤteren Leben in eine aͤhnliche ernstere Verwicklung gerathe, bei gleichen Verhaͤltnissen und Richtern, wahrscheinlich den Kopf abschlagen; denn ein Kind von der allge¬ meinen Erziehung ausschließen, heißt nichts An¬ deres, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben koͤpfen. Der Staat hat nicht darnach zu fragen, ob die Bedingungen zu einer weiteren Privatausbildung vorhanden seien, oder ob trotz seines Aufgebens das Leben den Aufgegebenen doch nicht fallen lasse, sondern manchmal noch etwas Rechtes aus ihm mache: er hat sich nur an seine Pflicht zu erinnern, die Erziehung jedes seiner Kinder zu uͤberwachen und zu Ende zu fuͤhren. I . 25 Auch ist am Ende diese Erscheinung weniger wichtig in Bezug auf das Schicksal solcher Aus¬ geschlossenen, als daß sie den wunden Fleck auch der besten unserer Einrichtungen bezeichnet, die moralische Faulheit naͤmlich, die Traͤgheit und Bequemlichkeit der mit diesen Dingen Beauf¬ tragten, derer, welche sich als Erzieher par ex¬ cellence geben. Das Ausstoßen auch des nichts¬ nutzigsten Schuͤlers ist nichts als ein Armuths¬ zeugniß, welches eine Schule sich gibt. Der Kummer und die Niedergeschlagenheit meinerseits waren nicht allzugroß; ich hatte dem Lehrer des Franzoͤsischen einige Buͤcher zuruͤckzu¬ stellen, da er mir mit Wohlwollen ehrwuͤrdige Franzbaͤnde franzoͤsischer Klassiker zu leihen pflegte. Auch fuͤhrte er mich einige Male in einer großen Bibliothek umher, mir respektvolle Vorbegriffe vom Buͤcherwesen beibringend. Als ich zu ihm kam, druͤckte er mir sein Bedauern uͤber das Ge¬ schehene aus und gab mir zu verstehen, wie ich es nicht allzu hoch aufzunehmen haͤtte, da seines Wissens die Mehrzahl der Lehrer, gleich ihm, nicht unzufrieden mit mir waͤren. Ferner lud er mich ein, ihn zu besuchen und seinen Rath zu holen, wenn ich Lust haͤtte, das Franzoͤsische wei¬ ter zu betreiben. Ich sah ihn zwar nicht wieder im Wechsel der Zeit, aber seine Worte gaben mir eine gewisse Genugthuung, daß ich mich nun frei fuͤhlte, wie der Vogel in der Luft, zumal ich die Bedeutung des Augenblickes und die Wichtigkeit der Zukunft nicht zu uͤbersehen vermochte. Meine Mutter hingegen befand sich in großer Bedraͤngniß; sie konnte bestimmt annehmen, daß der Vater meine Schulbildung jetzt noch nicht abgeschlossen haben wuͤrde, wenn er noch lebte, und doch sah sie bei ihren beschraͤnkten Mitteln keine Moͤglichkeit, mir Privatlehrer zu halten oder mich auf eine auswaͤrtige Schule zu schicken, noch konnte sie sich den Beruf denken, welchen ich nun am besten ergriffe, da gerade fuͤr eine einsicht¬ vollere Selbstbestimmung der erweiterte Gesichts¬ kreis der nun verschlossenen hoͤheren Klassen haͤtte Gelegenheit bieten sollen. Meine haͤusliche Be¬ schaͤftigung hatte in letzter Zeit beinahe aus¬ schließlich in Zeichnen und Malen bestanden, und auch in dieser Hinsicht befand ich mich in einem 25 * sonderbaren Verhaͤltniß zur Schule. Dort galt ich fuͤr Nichts weniger, als fuͤr einen talentvollen Zeichner. Monate lang klebte der gleiche Bogen auf meinem Reißbrette, ich quaͤlte mich verdrossen ab, einen kolossalen Kopf oder ein Ornament mit dem magern Bleistifte zu kopiren, Dutzende von Linien wurden ausgeloͤscht und blieben halb sicht¬ bar, bis die richtige stehen blieb, das Papier wurde beschmutzt und durchgerieben und verkuͤn¬ dete einen faulen und verdrießlichen Zeichner. Sobald ich aber nach Hause kam, warf ich diese Schulkunst bei Seite und machte mich mit eifrigem Fleiße hinter meine Hauskunst. Nach jenem er¬ sten Versuche, eine gemalte Landschaft zu kopiren, hatte ich fortgefahren, dergleichen Gebilde in Wasserfarben hervorzubringen; da ich nun aber weiter keine Vorbilder besaß, mußte ich sie auf eigene Faust in's Leben rufen und that dieses mit anhaltendem und dankbarem Fleiße. Der gemalte Ofen unserer Stube enthielt eine Menge ganz naiv poetischer kleiner Landschaftsmotive, eine Burg, eine Bruͤcke, einige Saͤulen an einem See und solches mehr; ein altes Stammbuch der Mut¬ ter, so wie eine kleine Bibliothek verjaͤhrter Damen¬ kalender aus ihrer Jugend bargen einen Schatz sentimentaler Landschaftsbilder, dem lyrischen Texte entsprechend, mit Tempeln, Altaͤren und Schwaͤ¬ nen auf Teichen, mit Liebespaaren in Kaͤhnen sitzend und dunklen Hainen, deren Baͤume mir unvergleichlich gestochen schienen. Aus allen Diesem zusammen bildete sich eine hoͤchst unschuldige und so zu sagen elementare Poesie, welche meinem eifrigen Machen zu Grunde lag und mich waͤh¬ rend desselben begluͤckte. Ich erfand eigene Land¬ schaften, worin ich alle poetischen Motive reichlich zusammenhaͤufte und ging von diesen auf solche uͤber, in denen ein einzelnes vorherrschte, zu welchem ich immer den gleichen Wanderer in Be¬ ziehung brachte, unter dem ich, halb unbewußt, mein eigenes Wesen ausdruͤckte. Denn nach dem immerwaͤhrenden Mißlingen meines Zusammen¬ treffens mit der uͤbrigen Welt hatte eine unge¬ buͤhrliche Selbstbeschauung und Eigenliebe ange¬ fangen, mich zu beschleichen, ich fuͤhlte ein weich¬ liches Mitleid mit mir selbst und liebte es, meine symbolische Person in die interessanten Scenen zu versetzen, welche ich erfand. Diese Figur, in einem gruͤnen romantisch geschnittenen Kleide, eine Reisetasche auf dem Ruͤcken, starrte in Abend¬ roͤthen und Regenbogen, ging auf Kirchhoͤfen oder im Walde, oder wandelte auch wohl in gluͤckseligen Gaͤrten voll Blumen und bunter Voͤgel. Das Machwerk an der betraͤchtlichen Sammlung sol¬ cher Bilder, welche sich bereits angehaͤuft hatte, blieb immer auf dem naͤmlichen Standpunkte gaͤnzlicher Erfahrungs- und Unterrichtslosigkeit; nur eine gewisse Keckheit und Fertigkeit im Auf¬ tragen der grellen Farben, welche ich durch die unablaͤssige Uebung erwarb, verbunden mit der kuͤhnen Absicht meiner Unternehmungen uͤberhaupt, unterschied mein Treiben einigermaßen von son¬ stigen knabenhaften Spielen mit Bleistift und Farbe und mochte meinen vorlaͤufigen Ausspruch, daß ich ein Maler werden wolle, veranlassen. Doch wurde jetzt nicht naͤher darauf eingegangen, sondern bestimmt, daß ich einige Zeit in dem laͤndlichen Pfarrhause bei meinem muͤtterlichen Oheime zubringen sollte, um uͤber die naͤchsten Monate meines Ungemaches auf gute Weise hin¬ wegzukommen, indessen eine taugliche Zukunft fuͤr mich ermittelt wuͤrde. Das Heimathdorf lag in einem aͤußersten Winkel des Laͤndchens, ich war noch nie dort gewesen, so wie auch meine Mutter seit meinem Gedenken es nie mehr be¬ sucht hatte und die dortigen Verwandten, mit seltenen Ausnahmen, nie in der Stadt erschienen. Nur der Oheim Pfarrer kam jedes Jahr ein Mal auf seinem Klepper geritten, um an einer Kirchen¬ versammlung Theil zu nehmen und schied immer mit jovialen Einladungen, endlich einmal hinaus¬ zuwandern. Er erfreute sich eines halben Dutzends Soͤhne und Toͤchter, welche mir noch so unbekannt waren, wie ihre Mutter, meine ruͤstige Muhme und geistliche Baͤuerin. Außerdem lebten dort zahlreiche Verwandte des Vaters, vor Allen auch seine leibliche Mutter, eine hochbejahrte Frau, welche, schon laͤngst an einen zweiten, reichen und finstern Mann verheirathet, unter dessen harter Herrschaft in tiefer Zuruͤckgezogenheit lebte und nur selten mit den Hinterlassenen ihres fruͤh ge¬ storbenen Sohnes einen sehnsuͤchtigen Gruß aus der Ferne wechselte. Das Volk lebte noch in der stillen Einschraͤnkung und Entsagung vergan¬ gener Jahrhunderte, wo besonders die Frauen, wenn sie einmal durch einige Meilen getrennt waren, einander nicht wieder, oder nur bei sel¬ tenen, hochwichtigen Ereignissen sahen, bei wel¬ chen es alsdann wahrhaft episch herging und Thraͤnen der Ruͤhrung und schmerzlicher oder froher Erinnerung ihren Augen entflossen, waͤh¬ rend die Maͤnner wohl sich vom Orte bewegten, aber in ernstem Geschaͤftssinne an den Thuͤren halbverschollener Verwandter voruͤbergingen, wenn sie keinen Rath zu bringen oder zu holen hatten. Jetzt ist das Volk wieder lebendiger geworden; durch die erleichterten Verkehrsmittel, durch das wieder erstandene oͤffentliche Leben und zahlreiche Volksfeste veranlaßt, bewegt es sich froͤhlich von der Stelle und macht damit zugleich seinen Geist wieder jung und fruchtbar, und nur beschraͤnkte Eiferer predigen noch gegen die festliche Wander¬ lust Derer, die den Pflug fuͤhren, und ihrer Kinder. Meine Mutter befahl mir, insbesondere der einsamen uͤberlebenden Großmutter so viele Zeit als moͤglich zu widmen und in Ehrerbietung und Liebe bei ihr auszuharren, so lange es ihr gefiele, mich um sich zu haben und von meinem Vater, ihrem Sohne, zu reden. So machte ich mich eines Morgens vor Son¬ nenaufgang auf die Fuͤße und trat den weitesten Weg an, den ich bis dahin unternommen hatte. Ich genoß zum ersten Male das Morgengrauen im Freien und sah die Sonne uͤber nachtfeuchten Waldkaͤmmen aufgehen. Ich wanderte den ganzen Tag, ohne muͤde zu werden, kam durch viele Doͤrfer und war wieder stundenlang allein in ge¬ dehnten Waldungen oder auf freien heißen Hoͤhen, mich oft verirrend, aber die verlorne Zeit nicht bereuend, weil ich fortwaͤhrend in meinen Ge¬ danken beschaͤftigt war und zum ersten Mal, durch mein stilles Wandern bewegt, von der ernsten Betrachtung des Schicksals und der Zukunft er¬ fuͤllt wurde. Kornblumen und rother Mohn und in den Waͤldern bunte Pilze begleiteten mich laͤngs der ganzen Straße, wunderschoͤne Wolken bildeten sich unablaͤssig und zogen am tiefen stillen Himmel dahin, ich ging immer zu, indessen mich das selbst¬ gefaͤllige Mitleid mit mir selbst, welches mir die Welt aufgedraͤngt hatte, wieder uͤberkam, bis ich gegen alle Gewohnheit bitterlich weinte. Ich wußte mich vor Betruͤbniß nicht zu lassen und saß an einer schattigen Quelle nieder, immer schluchzend, bis ich mich schaͤmte, mein Gesicht wusch und uͤber mich selbst laͤchelnd den Rest des Weges zuruͤcklegte. Endlich sah ich das Dorf zu meinen Fuͤßen liegen in einem gruͤnen Wiesen¬ thale, welches von den Kruͤmmungen eines leuch¬ tenden kleinen Flusses durchzogen und von be¬ laubten Bergen umgeben war. Die Abendsonne lag warm auf dem Thale, die Kamine rauchten freundlich, einzelne Rufe klangen heruͤber. Bald befand ich mich bei den ersten Haͤusern, ich fragte nach dem Pfarrhause und die Leute, welche an meinen Augen und meiner Nase erkannten, daß ich zu dem Geschlechte der Lee gehoͤre, fragten mich, ob ich vielleicht ein Sohn des verstorbenen Baumeisters sei? So gelangte ich zu der Wohnung meines Oheims, welche von dem rauschenden Fluͤßchen bespuͤlt und mit großen Nußbaͤumen und einigen hohen Eschen umgeben war: die Fenster blinkten zwischen dichtem Aprikosen- und Weinlaube hervor und unter Einem derselben stand mein dicker Oheim in gruͤner Jacke, ein silbernes Waldhoͤrn¬ chen, in welchem eine Cigarre rauchte, im Munde und eine Doppelflinte in der Hand. Ein Flug Tauben flatterte aͤngstlich uͤber dem Hause und draͤngte sich um den Schlag, mein Oheim sah mich und rief sogleich: „Ha ha, sakerment, Herr Neveu! das ist gut, daß Du da bist, schnell heraufspaziert!“ Dann sah er ploͤtzlich in die Hoͤhe, schoß in die Luft und ein schoͤner Raubvogel, welcher uͤber den Tauben gekreis''t hatte, fiel todt zu meinen Fuͤßen. Ich hob ihn auf und trug ihn, durch diesen tuͤchtigen Empfang angenehm be¬ gruͤßt, meinem Oheim entgegen. In der Stube fand ich ihn allein neben einer langen Tafel, die fuͤr viele Personen gedeckt war. „Eben kommst Du recht!“ rief er, „wir halten heute das Erntefest, gleich wird das Volk da sein!“ Dann schrie er nach seiner Frau, sie er¬ schien mit zwei maͤchtigen Weingefaͤßen, stellte sie ab und rief: „Ei ei, was ist das fuͤr ein Bleich¬ schnabel, fuͤr ein Milchgesicht? Warte, Du sollst nicht mehr fort, bis Du so rothe Backen hast, wie Dein seliger Vater! Wie geht's der Mutter, was ist das, warum kommt sie nicht mit?« So¬ gleich richtete sie mir an der Tafel ein vorlaͤufiges Mal zu und trug mich, als ich zoͤgerte, ohne wei¬ teres wie ein Kind auf den Stuhl und befahl mir, stracks zu essen und zu trinken. Indessen naͤherte sich Geraͤusch dem Hause, der hohe Garben¬ wagen schwankte unter den Nußbaͤumen heran, daß er die untersten Aeste streifte, die Soͤhne und Toͤchter mit einer Menge anderer Schnitter und Schnitterinnen gingen nebenher unter Gelaͤchter und Gesang, der Oheim, seine Flinte reinigend, schrie ihnen zu, ich waͤre da, und bald fand ich mich mitten im froͤhlichen Getuͤmmel. Erst spaͤt in der Nacht legte ich mich zu Bette bei offenem Fenster; das Wasser rauschte dicht unter demselben, jenseits klapperte eine Muͤhle, ein majestaͤtisches Gewitter zog durch das Thal, der Regen klang wie Musik und der Wind in den Forsten der nahen Berge wie Gesang, und die kuͤhle erfrischende Luft athmend schlief ich so zu sagen an der Brust der gewaltigen Natur ein.