Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine Akademische Antrittsrede bey Eroͤfnung seiner Vorlesungen gehalten von Friedrich Schiller , Professor der Geschichte in Jena. Jena , in der Akademischen Buchhandlung . 1789 . Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte ? Eine akademische Antrittsrede . E rfreuend und ehrenvoll ist mir der Auftrag, meine h. H. H., an Ihrer Seite kuͤnftig ein Feld zu durch- wandern, das dem denkenden Betrachter so viele Ge- genstaͤnde des Unterrichts, dem thaͤtigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschluͤsse, und jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnuͤgens eroͤfnet. Das große weite Feld der allgemeinen Geschichte, der An- blick so vieler vortrefflichen jungen Maͤnner, die eine edle Wißbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches wirksame Genie fuͤr das kommende Zeitalter aufbluͤht, macht mir meine Pflicht zum Vergnuͤgen, laͤßt mich aber auch die Strenge und Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfin- den. Je groͤßer das Geschenk ist, das ich Ihnen zu uͤbergeben habe — und was hat der Mensch dem Men- schen groͤßeres zu geben, als Wahrheit? — destomehr muß ich Sorge tragen, daß sich der Werth desselben un- A 2 ter ter meiner Hand nicht verringere. Je lebendiger und reiner ihr Geist in dieser gluͤcklichsten Epoche seines Wir- kens empfaͤnge, und je rascher sich ihre jugendlichen Ge- fuͤhle entflammen, desto mehr Aufforderung fuͤr mich, zu verhuͤten, daß sich dieser Enthusiasmus, den die Wahrheit allein das Recht hat zu erwecken, an Betrug und Taͤuschung nicht unwuͤrdig verschwende. Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Ge- schichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustaͤnde, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnde Gestalten der Meinung, durch seine Thor- heit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Veredlung, begleitet sie ihn, von allem was er sich nahm und gab, muß sie Rechenschaft ablegen. Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas wichtiges zu sagen haͤtte; alle noch so verschiedenen Bah- nen Ihrer kuͤnftigen Bestimmung verknuͤpfen sich ir- gendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung theilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, wel- che Sie auf die Welt mitbrachten — sich als Menschen auszubilden — und zu dem Menschen eben redet die Geschichte. Ehe ich es aber unternehmen kann, meine H. H., Ihre Erwartungen von diesem Gegenstande Ihres Fleis- ses genauer zu bestimmen, und die Verbindung anzu- geben, worin derselbe mit dem eigentlichen Zweck Ihrer so verschiedenen Studien steht, wird es nicht uͤberfluͤßig seyn, mich uͤber diesen Zweck Ihrer Stu- dien dien selbst vorher mit Ihnen einzuverstehen. Eine vor- laͤufige Berichtigung dieser Frage, welche mir passend und wuͤrdig genug scheint, unsre kuͤnftige akademische Verbindung zu eroͤfnen, wird mich in den Stand setzen, Ihre Aufmerksamkeit so gleich auf die wuͤrdigste Seite der Weltgeschichte hinzuweisen. Anders ist der Studierplan, den sich der Brodge- lehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener, dem es bey seinem Fleiß ein- zig und allein darum zu thun ist, die Bedingungen zu erfuͤllen, unter denen er zu einem Amte faͤhig und der Vortheile desselben theilhaftig werden kann, der nur darum die Kraͤfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und ei- ne kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, — ein solcher wird beym Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brodstudien nennt, von allen uͤbrigen, die den Geist nur als Geist vergnuͤgen, auf das sorgfaͤltigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letztern widmete, wuͤrde er seinem kuͤnftigen Berufe zu entziehen glauben, und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiß wird er nach den Foderungen einrichten, die von dem kuͤnftigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden, und alles gethan zu haben glauben, wenn er sich faͤhig gemacht hat, diese Instanz nicht zu fuͤrchten. Hat er seinen Kursus durchlaufen und das Ziel seiner Wuͤnsche erreicht, so entlaͤßt er seine Fuͤhrerinnen — A 3 denn denn wozu noch weiter sie bemuͤhen? Seine groͤßte Angelegenheit ist jetzt, die zusammen gehaͤuften Ge- daͤchtnißschaͤtze zur Schau zu tragen, und ja zu verhuͤ- ten, daß sie in ihrem Werthe nicht sinken. Jede Er- weiterung seiner Brodwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet, oder die vergangene un- nuͤtz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so muͤh- sam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat uͤber Reformatoren mehr geschrieen, als der Haufe der Brodgelehrten? Wer haͤlt den Fortgang nuͤtzlicher Re- volutionen im Reich des Wissens mehr auf, als eben diese? Jedes Licht, das durch ein gluͤckliches Genie, in welcher Wissenschaft es sey, angezuͤndet wird, macht ihre Duͤrftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtuͤcke, mit Verzweiflung, weil sie bey dem Schulsystem, das sie vertheidigen, zugleich fuͤr ihr gan- zes Daseyn fechten. Darum kein unversoͤhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehuͤlfe, kein bereitwilligerer Ke- tzermacher, als der Brodgelehrte. Je weniger seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen, desto groͤßere Vergeltung heischt er von außen; fuͤr das Verdienst der Handarbeiter und das Verdienst der Geister hat er nur Einen Maaßstab, die Muͤhe. Darum hoͤrt man nie- mand uͤber Undank mehr klagen, als den Brodgelehr- ten; nicht bey seinen Gedankenschaͤtzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerken- nung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlaͤgt ihm ihm dieses fehl, wer ist ungluͤcklicher als der Brodge- lehrte? Er hat umsonst gelebt, gewacht, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahr- heit, fuͤr ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fuͤr- stengunst verwandelt. Beklagenswerther Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts hoͤheres will und ausrichtet, als der Tagloͤhner mit dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Frey- heit eine Sclavenseele mit sich herum traͤgt! — Noch beklagenswerther aber ist der junge Mann von Genie, dessen natuͤrlich schoͤner Gang durch schaͤdliche Lehren und Muster auf diesen traurigen Abweg verlenkt wird, der sich uͤberreden ließ, fuͤr seinen kuͤnftigen Beruf mit dieser kuͤmmerlichen Genauigkeit zu sammeln. Bald wird seine Berufswissenschaft als ein Stuͤckwerk ihn an- ekeln; Wuͤnsche werden in ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen sei- ne Bestimmung auflehnen. Als Bruchstuͤck erscheint ihm jetzt alles was er thut, er sieht keinen Zweck sei- nes Wirkens, und doch kann er Zwecklosigkeit nicht er- tragen. Das Muͤhselige, das Geringfuͤgige in seinen Berufsgeschaͤften druͤckt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Muth nicht entgegen setzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahndete Vollendung begleitet. Er fuͤhlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zu- sammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Thaͤtigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen. A 4 Dem Dem Rechtsgelehrten entleidet seine Rechtswissenschaft, sobald der Schimmer besserer Kultur ihre Bloͤßen ihm beleuchtet, anstatt daß er jetzt streben sollte, ein neuer Schoͤpfer derselben zu seyn, und den entdeckten Man- gel aus innerer Fuͤlle zu verbessern. Der Arzt entzwey- het sich mit seinem Beruf, sobald ihm wichtige Fehl- schlaͤge die Unzuverlaͤßigkeit seiner Systeme zeigen; der Theolog verliert die Achtung fuͤr den Seinigen, so- bald sein Glaube an die Unfehlbarkeit seines Lehrgebaͤu- des wankt. Wie ganz anders verhaͤlt sich der philosophische Kopf! — Eben so sorgfaͤltig, als der Brodgelehrte seine Wissenschaft von allen uͤbrigen absondert, be- strebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern, und ihren Bund mit den uͤbrigen wieder herzustellen — herzu- stellen, sage ich, denn nur der abstrahirende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften von einander geschieden. Wo der Brodgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Fruͤhe hat er sich uͤberzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles in einander greife, und sein reger Trieb nach Uebereinstimmung kann sich mit Bruchstuͤ- cken nicht begnuͤgen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Unge- duld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht, und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick uͤber- schauet. schauet. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Thaͤtig- keit, die den Brodgelehrten niederschlagen, entzuͤcken den philosophischen Geist. Vielleicht fuͤllen sie eine Luͤcke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den lezten noch fehlenden Stein an sein Ideengebaͤude, der es vollendet. Soll- ten sie es aber auch zertruͤmmern, sollte eine neue Ge- dankenreyhe, eine neue Naturerscheinung, ein neu ent- decktes Gesetz in der Koͤrperwelt, den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstuͤrzen: so hat er die Wahrheit im- mer mehr geliebt als sein System , und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schoͤnern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von aussen sein Ideengebaͤude erschuͤttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der Erste, der es unbefriedigt aus einander legt, um es vollkommener wieder herzu- stellen. Durch immer neue und immer schoͤnere Ge- danken-Formen schreitet der philosophische Geist zu hoͤ- herer Vortreflichkeit fort, wenn der Brodgelehrte, in ewigem Geistesstillstand, das unfruchtbare Einerley seiner Schulbegriffe huͤtet. Kein gerechterer Beurtheiler fremden Verdiensts als der philosophische Kopf. Scharfsichtig und erfin- derisch genug, um jede Thaͤtigkeit zu nutzen, ist er auch billig genug, den Urheber auch der kleinsten zu ehren. Fuͤr ihn arbeiten alle Koͤpfe — alle Koͤpfe ar- beiten gegen den Brodgelehrten. Jener weiß alles A 5 was was um ihn geschiehet und gedacht wird, in sein Ei- genthum zu verwandeln — zwischen denkenden Koͤpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Guͤter des Geistes; was Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben — Der Brodgelehrte verzaͤunet sich gegen alle seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne mißgoͤnnt, und bewacht mit Sorge die baufaͤllige Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende Ver- nunft vertheidigt. Zu allem was der Brodgelehrte unternimmt, muß er Reiz und Aufmunterung von aussen her borgen: der philosophische Geist findet in seinem Gegenstand, in seinem Fleiße selbst, Reiz und Belohnung. Wie viel begeisterter kan er sein Werk angreiffen, wieviel lebendiger wird sein Eifer, wieviel ausdaurender sein Muth und seine Thaͤtigkeit seyn, da bey ihm die Arbeit sich durch die Arbeit verjuͤnget. Das Kleine selbst gewinnt Groͤße unter seiner schoͤpfe- rischen Hand, da er dabey immer das Große im Auge hat, dem es dienet, wenn der Brodgelehrte in dem Großen selbst nur das Kleine sieht. Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines Wirkens von seinen uͤbrigen Bruͤdern entferne, er ist ihnen verwandt und nahe durch einen harmonisch wir- kenden Verstand, er begegnet ihnen wo alle helle Koͤpfe einander finden. Soll ich diese Schilderung noch wei- ter fortfuͤhren, m. H. H. oder darf ich hoffen, daß es ber bereits bey Ihnen entschieden sey, welches von den beyden Gemaͤhlden, die ich Ihnen hier vorgehalten habe, Sie Sich zum Muster nehmen wollen? Von der Wahl, die Sie zwischen beyden getroffen haben, haͤngt es ab, ob Ihnen das Studium der Universalge- schichte empfohlen oder erlaßen werden kann. Mit dem Zweyten allein habe ich es zu thun; denn bey dem Bestreben, sich dem Ersten nuͤtzlich zu machen, moͤchte sich die Wissenschaft selbst allzuweit von ihrem hoͤhern Entzweck entfernen, und einen kleinen Gewinn mit einem zu großen Opfer erkaufen. Ueber den Gesichtspunkt mit Ihnen einig, aus wel- chem der Werth einer Wissenschaft zu bestimmen ist, kann ich mich dem Begriff der Universalgeschichte selbst, dem Gegenstand der heutigen Vorlesung, naͤhern. Die Entdeckungen, welche unsre europaͤischen See- fahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Kuͤsten ge- macht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als un- terhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Voͤlkerschaf- ten, die auf den mannichfaltigsten Stuffen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beyspiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Voͤlkerstaͤmme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in un- srer eignen Kultur weit genug wuͤrden fortgeschritten seyn, um von dieser Entdeckung eine nuͤtzliche Anwen- dung dung auf uns selbst zu machen, und den verlohrnen An- fang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder her- zustellen. Wie beschaͤmend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Voͤlker von unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht einmahl die erste Stuffe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fieng noch veraͤcht- licher an. Wir finden jene doch schon als Voͤlker, als politische Koͤrper: aber der Mensch mußte sich erst durch eine ausserordentliche Anstrengung zur Gesellschaft er- heben. Was erzaͤhlen uns die Reisebeschreiber nun von dies- sen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Kuͤnsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Thieren um Speise und Wohnung, bey vielen hatte sich die Sprache noch kaum von thierischen Toͤnen zu verstaͤndlichen Zeichen erhoben. Hier war nicht einmal das so einfache Band der Ehe , dort noch keine Kenntniß des Eigenthums ; hier konnte die schlaffe Seele noch nicht einmal eine Er- fahrung fest halten, die sie doch taͤglich wiederhohlte; sorglos sah man den Wilden das Lager hingeben, wor- auf er heute schlief, weil ihm nicht einfiel, daß er mor- gen wieder schlafen wuͤrde. Krieg hingegen war bey allen, und das Fleisch des uͤberwundenen Feindes nicht selten der Preis des Sieges. Bey andern, die mit meh- rern Gemaͤchlichkeiten des Lebens vertraut, schon eine hoͤhere Stuffe der Bildung erstiegen hatten, zeigten Knecht Knechtschaft und Despotismus ein schauderhaftes Bild. Dort sah man einen Despoten Afrikas seine Unterthanen fuͤr einen Schluck Brandwein verhandeln: — hier wur- den sie auf seinem Grab abgeschlachtet, ihm in der Un- terwelt zu dienen. Dort wirft sich die fromme Einfalt vor einen laͤcherlichen Fetisch, und hier vor einem grau- senvollen Scheusal nieder; in seinen Goͤttern mahlt sich der Mensch. So tief ihn dort Sclaverey, Dummheit und Aberglauben niederbeugen, so elend ist er hier durch das andre Extrem gesetzloser Freyheit. Immer zum Angriff und zur Vertheidigung geruͤstet, von jedem Ge- raͤusch aufgescheucht, reckt der Wilde sein scheues Ohr in die Wuͤste; Feind heißt ihm alles was neu ist, und wehe dem Fremdling den das Ungewitter an seine Kuͤste schleudert! Kein wirthlicher Heerd wird ihm rauchen, kein suͤßes Gastrecht ihn erfreuen. Aber selbst da, wo sich der Mensch von einer feindseligen Einsamkeit zur Gesellschaft, von der Noth zum Wohlleben, von der Furcht zu der Freude erhebt — wie abenteuerlich und ungeheuer zeigt er sich unsern Augen! Sein roher Geschmack sucht Froͤhlichkeit in der Betaͤubung, Schoͤn- heit in der Verzerrung, Ruhm in der Uebertreibung; Entsetzen erweckt uns selbst seine Tugend, und das was er seine Gluͤckseligkeit nennt, kann uns nur Ekel oder Mitleid erregen. So waren wir . Nicht viel besser fanden uns Caͤ- sar und Tacitus vor achtzehn hundert Jahren. Was sind wir jetzt? — Lassen Sie mich einen Au- genblick bey dem Zeitalter stille stehen, worinn wir le- ben ben, bey der gegenwaͤrtigen Gestalt der Welt, die wir bewohnen. Der menschliche Fleiß hat sie angebaut, und den widerstrebenden Boden durch sein Beharren und seine Geschicklichkeit uͤberwunden. Dort hat er dem Meere Land abgewonnen, hier dem duͤrren Lande Stroͤme ge- geben. Zonen und Jahrszeiten hat der Mensch durch einander gemengt, und die weichlichen Gewaͤchse des Orients zu seinem rauheren Himmel abgehaͤrtet. Wie er Europa nach Westindien und dem Suͤdmeere trug, hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heitrer Himmel lacht jetzt uͤber Germaniens Waͤldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstral aufthat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben. An seinen Ufern erheben sich volkreiche Staͤdte, die Genuß und Arbeit in munterm Leben durch- schwaͤrmen. Hier finden wir den Menschen, in seines Er- werbes friedlichem Besitz sicher unter einer Million, ihn, dem sonst ein einziger Nachbar den Schlummer raubte. Die Gleichheit, die er durch seinen Eintritt in die Ge- sellschaft verlohr, hat er wieder gewonnen durch weise Gesetze. Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Noth hat er sich unter die sanftere Herrschaft der Vertraͤge gefluͤchtet, und die Freyheit des Raubthiers hingegeben, um die edlere Freyheit des Menschen zu retten. Wohlthaͤtig haben sich seine Sorgen getrennt, seine Thaͤtigkeiten vertheilt. Jetzt noͤthigt ihn das ge- bieterische Beduͤrfniß nicht mehr an die Pflugschaar, jezt jetzt fordert ihn kein Feind mehr von dem Pflug auf das Schlachtfeld, Vaterland und Heerd zu vertheidigen. Mit dem Arme des Landmanns fuͤllt er seine Scheunen, mit den Waffen des Kriegers schuͤtzt er sein Gebiet. Das Gesetz wacht uͤber sein Eigenthum — und ihm bleibt das unschaͤtzbare Recht, sich selbst seine Pflicht auszulesen. Wie viele Schoͤpfungen der Kunst, wie viele Wun- der des Fleisses, welches Licht in allen Feldern des Wis- sens, seit dem der Mensch in der traurigen Selbstver- theidigung seine Kraͤfte nicht mehr unnuͤtz verzehrt, seitdem es in seine Willkuͤhr gestellt worden, sich mit der Noth abzufinden, der er nie ganz entfliehen soll; seit- dem er das kostbare Vorrecht errungen hat, uͤber seine Faͤhigkeit frey zu gebieten, und dem Ruf seines Ge- nius zu folgen! Welche rege Thaͤtigkeit uͤberall, seit- dem die vervielfaͤltigten Begierden dem Erfindungsgeist neue Fluͤgel gaben, und dem Fleiß neue Raͤume auf- thaten! — Die Schranken sind durchbrochen, welche Staaaten und Nationen in feindseligem Egoismus ab- sonderten. Alle denkenden Koͤpfe verknuͤpft jetzt ein welt- buͤrgerliches Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines neuern Galilei und Eras- mus bescheinen. Seitdem die Gesetze zu der Schwaͤche des Menschen herunterstiegen, kam der Mensch auch den Gesetzen ent- gegen. Mit ihnen ist er sanfter geworden, wie er mit ihnen verwilderte; ihren barbarischen Strafen folgen die die barbarischen Verbrechen allmaͤhlig in die Vergessen- heit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung ist ge- schehen, daß die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch gleich noch nicht die Menschen. Wo die Zwangspflich- ten von dem Menschen ablassen, uͤbernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen zuͤgelt, halten jetzt die Gesetze des Anstands und der Ehre in Schranken. Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Ueberreste aus den vorigen ein- gedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die das Zeitalter der Vernunft nicht haͤtte verewigen sol- len. Aber wieviel Gestalt hat der Verstand des Men- schen auch diesem barbarischen Nachlaß der aͤltern und mittlern Jahrhunderte anerschaffen! Wie unschaͤdlich, ja wie nuͤtzlich hat er oft gemacht, was er umzustuͤr- tzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grunde der Lehen-Anarchie fuͤhrte Teutschland das System sei- ner politischen und kirchlichen Freyheit auf. Das Schattenbild des roͤmischen Imperators, das sich dies- seits der Apenninen erhalten, leistet der Welt jezt un- endlich mehr Gutes, als sein schreckhaftes Urbild im alten Rom — denn es haͤlt ein nuͤtzliches Staatssystem durch Eintracht zusammen: jenes druͤckte die thaͤtig- sten Kraͤfte der Menschheit in einer sclavischen Ein- foͤrmigkeit darnieder. Selbst unsre Religion — so sehr entstellt durch die untreuen Haͤnde, durch welche sie uns uͤberliefert worden — wer kann in ihr den vere- deln- delnden Einfluß der bessern Philosophie verkennen? Unsre Leibnitze und Locke machten sich um das Dogma und um die Moral des Christenthums eben so verdient, als — der Pinsel eines Raphael und Cor- reggio um die heilige Geschichte. Endlich unsre Staaten — mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie einander verschlungen! wie viel dauerhafter durch den wohlthaͤtigen Zwang der Noth als vormals durch die feyerlichsten Vertraͤge ver- bruͤdert! Den Frieden huͤtet jezt ein ewig geharnisch- ter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats sezt ihn zum Waͤchter uͤber den Wohlstand des andern. Die europaͤische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen koͤnnen ein- ander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen. Welche entgegengesezte Gemaͤhlde! Wer sollte in dem verfeinerten Europaͤer des achtzehnten Jahrhun- derts nur einen fortgeschrittnen Bruder des neuern Kanadiers, des alten Celten vermuthen? Alle diese Fertigkeiten, Kunsttriebe, Erfahrungen, alle diese Schoͤpfungen der Vernunft sind im Raume von weni- gen Jahrtausenden in dem Menschen angepflanzt und entwickelt worden; alle diese Wunder der Kunst, diese Riesenwerke des Fleisses sind aus ihm heraus gerufen worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte die- se heraus? Welche Zustaͤnde durchwanderte der Mensch, bis er von jenem Aeussersten zu diesem Aeussersten, vom ungeselligen Hoͤhlenbewohner — zum geistreichen Den- B ker, ker, zum gebildeten Weltmann hinaufstieg? — Die allgemeine Weltgeschichte giebt Antwort auf diese Frage. So unermeßlich ungleich zeigt sich uns das nemli- che Volk auf dem nemlichen Landstriche, wenn wir es in verschiedenen Zeitraͤumen anschauen! Nicht weniger auffallend ist der Unterschied, den uns das gleichzeitige Geschlecht, aber in verschiedenen Laͤndern, darbie- tet. Welche Mannigfaltigkeit in Gebraͤuchen, Ver- fassungen und Sitten! Welcher rasche Wechsel von Fin- sterniß und Licht, von Anarchie und Ordnung, von Gluͤckseligkeit und Elend, wenn wir den Menschen auch nur in dem kleinen Welttheil Europa aufsuchen! Frey an der Themse, und fuͤr diese Freyheit sein eige- ner Schuldner; hier unbezwingbar zwischen seinen Al- pen, dort zwischen seinen Kunstfluͤssen und Suͤmpfen unuͤberwunden. An der Weichsel kraftlos und elend durch seine Zwietracht; jenseits der Pyrenaͤen durch seine Ruhe kraftlos und elend. Wohlhabend und ge- segnet in Amsterdam ohne Aernte; duͤrftig und ungluͤck- lich an des Ebro unbenutztem Paradiese. Hier zwey entlegene Voͤlker durch ein Weltmeer getrennt, und zu Nachbarn gemacht durch Beduͤrfniß, Kunstfleiß und politische Bande; dort die Anwohner Eines Stroms durch eine andere Liturgie unermeßlich geschieden! Was fuͤhrte Spaniens Macht uͤber den atlantischen Ocean in das Herz von Amerika, und nicht einmal uͤber den Tajo und Guadiana hinuͤber? Was erhielt in Italien und Teutschland so viele Thronen, und ließ in Frankreich alle, alle, bis auf Einen, verschwinden? — Die Univer- salgeschichte loͤßt diese Frage. Selbst daß wir uns in diesem Augenblick hier zu- sammen fanden, uns mit diesem Grade von National- kultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen buͤr- gerlichen Vortheilen, diesem Maaß von Gewissensfrey- heit zusammen fanden, ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten: die ganze Welt- geschichte wuͤrde wenigstens noͤthig seyn, dieses einzige Moment zu erklaͤren. Daß wir uns als Christen zu- sammen fanden, mußte diese Religion, durch unzaͤhlige Revolutionen vorbereitet, aus dem Judenthum hervor- gehen, mußte sie den roͤmischen Staat genau so finden, als sie ihn fand, um sich mit schnellem siegendem Lauf uͤber die Welt zu verbreiten und den Thron der Caͤsarn endlich selbst zu besteigen. Unsre rauhen Vorfahren in den thuͤringischen Waͤldern mußten der Uebermacht der Franken unterliegen, um ihren Glauben anzuneh- men. Durch seine wachsenden Reichthuͤmer, durch die Unwissenheit der Voͤlker und durch die Schwaͤche ihrer Beherrscher mußte der Klerus verfuͤhrt und beguͤnstigt werden, sein Ansehen zu mißbrauchen, und seine stille Gewissensmacht in ein weltliches Schwerd umzu- wandeln. Die Hierarchie mußte in einem Gregor und Innozenz alle ihre Greuel auf das Menschengeschlecht ausleeren, damit das uͤberhandnehmende Sittenver- derbniß und des geistlichen Despotismus schreyendes Scandal einen unerschrockenen Augustinermoͤnch auffor- dern konnte, das Zeichen zum Abfall zu geben, und B 2 dem dem roͤmischen Hierarchen eine Haͤlfte Europens zu ent- reissen, — wenn wir uns als protestantische Christen hier versammeln sollten. Wenn dieß geschehen sollte, so mußten die Waffen unsrer Fuͤrsten Karln V. einen Religionsfrieden abnoͤthigen; ein Gustav Adolf mußte den Bruch dieses Friedens raͤchen, und ein neuer all- gemeiner Friede ihn auf ewig begruͤnden. Staͤdte muß- ten sich in Italien und Teutschland erheben, dem Fleiß ihre Thore oͤffnen, die Ketten der Leibeigenschaft zer- brechen, unwissenden Tyrannen den Richterstab aus den Haͤnden ringen, und durch eine kriegerische Hansa sich in Achtung setzen, wenn Gewerbe und Handel bluͤhen, und der Ueberfluß den Kuͤnsten der Freude rufen, wenn der Staat den nuͤtzlichen Landmann ehren, und in dem wohlthaͤtigen Mittelstande , dem Schoͤpfer unsrer gan- zen Kultur, ein dauerhaftes Gluͤck fuͤr die Menschheit heran reifen sollte. Teutschlands Kaiser mußten sich in Jahrhundertlangen Kaͤmpfen mit dem roͤmischen Stuhl, mit ihren Vasallen, und mit eifersuͤchtigen Nach- barn — Europa sich seines gefaͤhrlichen Ueberflusses in Asiens Graͤbern entladen; und der trotzige Lehen-Adel in einem moͤrderischen Faustrecht, Roͤmerzuͤgen und hei- ligen Fahrten seinen Empoͤrungsgeist ausbluten: wenn das verworrene Chaos sich sondern, und die streitenden Maͤchte des Staats in dem gesegneten Gleichgewicht ruhen sollten, wovon unsre jetzige Muße der Preiß ist. Wenn sich unser Geist aus der Unwissenheit herausrin- gen sollte, worin geistlicher und weltlicher Zwang ihn gefesselt hielt: so mußte der lang erstickte Keim der Ge- lehr lehrsamkeit unter ihren wuͤthendsten Verfolgern aufs neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wissen- schaften den Raub verguͤten, den ein Omar an ihnen veruͤbt hatte. Das unertraͤgliche Elend der Barbarey mußte unsre Vorfahren von den blutigen Urtheilen Gots tes zu menschlichen Richterstuͤhlen treiben, verheerende Seuchen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der Na- tur zuruͤckrufen, der Muͤßiggang der Moͤnche mußte fuͤr das Boͤse, das ihre Werkthaͤtigkeit schuf, von ferne einen Ersatz zubereiten, und der profane Fleiß in den Kloͤstern die zerruͤtteten Reste des Augustischen Weltal- ters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunst hinhalten. An griechischen und roͤmischen Mustern mußte der nie- dergedruͤckte Geist nordischer Barbaren sich aufrichten, und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wann sie einen Weg zu dem Her- zen finden, und den Nahmen einer Menschenbilderin sich verdienen sollte. — Aber haͤtte Griechenland wohl einen Thucydides, einen Plato, einen Aristoteles, haͤtte Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Li- vius gebohren, wenn diese beyden Staaten nicht zu der- jenigen Hoͤhe des politischen Wohlstands emporgedrun- gen waͤren, welche sie wirklich erstiegen haben? Mit einem Wort — wenn nicht ihre ganze Geschichte vor- hergegangen waͤre? Wie viele Erfindungen, Entdeckun- gen, Staats- und Kirchenrevolutionen mußten zusam- mentreffen , diesen neuen, noch zarten Keimen von Wis- senschaft und Kunst, Wachsthum und Ausbreitung zu geben! Wie viele Kriege mußten gefuͤhrt, wie viele B 3 Buͤnd- Buͤndnisse geknuͤpft, zerrissen und aufs neue geknuͤpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Buͤr- gern vergoͤnnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten, und ihre Kraͤfte zu einem verstaͤndigen Zwecke zu versammeln! Selbst in den alltaͤglichsten Verrichtungen des buͤr- gerlichen Lebens koͤnnen wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur, wie die entlegendsten Welttheile zu un- serm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Wuͤrze an unsern Speisen und der Preis, um den wir sie kau- fen, viele unsrer kraͤftigsten Heilmittel, und eben so viele neue Werkzeuge unsers Verderbens — setzen sie nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vasco de Gama , der die Spitze von Afrika um- schiffte? Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenhei- ten von dem gegenwaͤrtigen Augenblicke bis zum An- fange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzaͤh- lich uͤberschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt. I. Unzaͤh- lig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen mensch- lichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder sie sind durch kein Zeichen fest gehalten worden. Dahin gehoͤ- ren ren alle, die dem Menschengeschlechte selbst und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen sind. Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tra- dition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Spra- che , so folgenreich sie auch fuͤr die Welt gewesen, ist fuͤr die Weltgeschichte verloren. II. Nachdem aber auch Sprache erfunden, und durch sie die Moͤglichkeit vor- handen war, geschehene Dinge auszudruͤcken und wei- ter mitzutheilen, so geschah diese Mittheilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen . Von Munde zu Munde pflanzte sich eine solche Bege- benheit durch eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie durch Media gieng, die veraͤndert werden und veraͤndern, so mußte sie diese Veraͤnderungen mit erleiden. Die lebendige Tradition oder die muͤndliche Sage ist daher eine sehr unzuverlaͤßige Quelle fuͤr die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Ge- brauche der Schrift fuͤr die Weltgeschichte so gut als verloren. III. Die Schrift ist aber selbst nicht unver- gaͤnglich; unzaͤhlich viele Denkmaͤler des Alterthums haben Zeit und Zufaͤlle zerstoͤrt, und nur we- nige Truͤmmer haben sich aus der Vorwelt in die Zei- ten der Buchdruckerkunst gerettet. Bey weitem der groͤßre Theil ist mit den Aufschluͤssen, die er uns ge- ben sollte, fuͤr die Weltgeschichte verloren. IV. Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die groͤßere Anzahl durch die Leidenschaft , durch den Unver- stand , und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber B 4 verun- verunstaltet und unkennbar gemacht. Das Mistrauen erwacht bey dem aͤltesten historischen Denkmal, und es verlaͤßt uns nicht einmal bey einer Chronik des heutigen Tages. Wenn wir uͤber eine Begebenheit, die sich heute erst, und unter Menschen mit denen wir leben, und in der Stadt die wir bewohnen, ereignet, die Zeugen abhoͤren, und aus ihren widersprechenden Berichten Muͤhe haben die Wahrheit zu entraͤthseln: welchen Muth koͤnnen wir zu Nationen und Zeiten mitbringen, die durch Fremdartigkeit der Sitten weiter als durch ihre Jahrtausende von uns entlegen sind? — Die klei- ne Summe von Begebenheiten, die nach allen bisher geschehenen Abzuͤgen zuruͤckbleibt, ist der Stoff der Ge- schichte in ihrem weitesten Verstande. Was und wie- viel von diesem historischen Stoff gehoͤrt nun der Uni- versalgeschichte? Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt le- benden Generation einen wesentlichen, unwidersprechli- chen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhaͤltniß eines historischen Datums zu der heuti- gen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien fuͤr die Weltgeschichte zu sam- meln. Die Weltgeschichte geht also von einem Prin- cip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegen- stehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ord- nung herab, der Universalhistoriker ruͤckt von der neue- sten Weltlage aufwaͤrts dem Ursprung der Dinge ent- gegen. Wenn er von dem laufenden Jahr und Jahr- hundert zu dem naͤchst vorhergegangenen in Gedanken hinaufsteigt, und unter den Begebenheiten, die das Leztere ihm darbietet, diejenigen sich merkt, welche den Aufschluß uͤber die naͤchstfolgenden enthalten — wenn er diesen Gang schrittweise fortgesetzt hat bis zum An- fang — nicht der Welt, denn dahin fuͤhrt ihn kein Wegweiser — bis zum Anfang der Denkmaͤler, dann steht es bey ihm, auf dem gemachten Weg umzukeh- ren, und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmaͤler bis zu dem neuesten Zeitalter herunter zu steigen. Dies ist die Weltgeschichte, die wir haben, und die Ihnen wird vorgetragen werden. Weil die Weltgeschichte von dem Reichthum und der Armuth an Quellen abhaͤngig ist, so muͤssen eben so viele Luͤcken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken in der Ueberlieferung giebt. So gleich- foͤrmig, nothwendig und bestimmt sich die Weltveraͤn- derungen auseinander entwickeln, so unterbrochen und zufaͤllig werden sie in der Geschichte in einander gefuͤgt seyn. Es ist daher zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte ein merkliches Mißverhaͤlt- niß sichtbar. Jenen moͤchte man mit einem ununter- brochen fortfließenden Strom vergleichen, wovon aber B 5 in in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle be- leuchtet wird. Da es ferner leicht geschehen kann, daß der Zusammenhang einer entfernten Weltbegeben- heit mit dem Zustand des laufenden Jahres fruͤher in die Augen faͤllt, als die Verbindung, worin sie mit Ereignissen stehet, die ihr vorhergiengen oder gleichzei- tig waren: so ist es ebenfalls unvermeidlich, daß Bege- benheiten, die sich mit dem neuesten Zeitalter aufs ge- naueste binden, in dem Zeitalter, dem sie eigentlich angehoͤren nicht selten isolirt erscheinen. Ein Fak- tum dieser Art waͤre z. B. der Ursprung des Chri- stenthums und besonders der christlichen Sittenlehre. Die christliche Religion hat an der gegenwaͤrtigen Ge- stalt der Welt einen so vielfaͤltigen Antheil, daß ihre Erscheinung das wichtigste Faktum fuͤr die Weltge- schichte wird: aber weder in der Zeit, wo sie sich zeig- te, noch in dem Volke, bey dem sie aufkam, liegt (aus Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklaͤrungs- grund ihrer Erscheinung. So wuͤrde denn unsre Weltgeschichte nie etwas an- ders als ein Aggregat von Bruchstuͤcken werden, und nie den Nahmen einer Wissenschaft verdienen. Jezt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Huͤlfe, und, indem er diese Bruchstuͤcke durch kuͤnstliche Bin- dungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmaͤßig zusammenhaͤngenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleich- foͤrmig- foͤrmigkeit und unveraͤnderlichen Einheit der Naturge- setze und des menschlichen Gemuͤths, welche Einheit Ursache ist, daß die Ereigniße des entferntesten Alter- thums, unter dem Zusammenfluß aͤhnlicher Umstaͤnde von aussen, in den neuesten Zeitlaͤuften wiederkehren; daß also von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unsrer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtlosen Zeiten verlieren, ruͤckwaͤrts ein Schluß gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann. Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie uͤberall so auch in der Geschichte ein maͤchtiges Huͤlfs- mittel: aber sie muß durch einen erheblichen Zweck ge- rechtfertigt, und mit eben soviel Vorsicht als Beur- theilung in Ausuͤbung gebracht werden. Nicht lange kann sich der philosophische Geist bey dem Stoffe der Weltgeschichte verweilen, so wird ein neuer Trieb in ihm geschaͤftig werden, der nach Ueber- einstimmung strebt — der ihn unwiderstehlich reizt, alles um sich herum seiner eigenen vernuͤnftigen Natur zu assimiliren, und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der hoͤchsten Wirkung, die er erkannt, zum Gedan- ken zu erheben. Je oͤfter also und mit je gluͤcklicherm Erfolge er den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwaͤrtigen zu verknuͤpfen: desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung in ein- ander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbin- den. Eine Erscheinung nach der andern faͤngt an, sich dem dem blinden Ohngefaͤhr, der gesetzlosen Freyheit zu entziehen, und sich einem uͤbereinstimmenden Ganzen (das freylich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureyhen. Bald faͤllt es ihm schwer, sich zu uͤberreden, daß diese Folge von Erscheinungen, die in seine Vorstellung soviel Regel- maͤßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verlaͤugne; es faͤllt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Nothwendigkeit zu ge- ben, was unter dem geliehenen Lichte des Verstandes angefangen hatte eine so heitre Gestalt zu gewinnen. Er nimmt also diese Harmonie aus sie selbst heraus, und verpflanzt sie ausser sich in die Ordnung der Dinge d. i. er bringt einen vernuͤnftigen Zweck in dem Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Welt- geschichte . Mit diesem durchwandert er sie noch ein- mal, und haͤlt es pruͤfend gegen jede Erscheinung, wel- che dieser große Schauplatz ihm darbietet. Er sieht es durch tausend beystimmende Fakta bestaͤtigt , und durch eben soviele andre widerlegt ; aber so lange in der Reyhe der Weltveraͤnderungen noch wichtige Bindungs- glieder fehlen, so lange das Schicksal uͤber so viele Be- gebenheiten den letzten Aufschluß noch zuruͤckhaͤlt, er- klaͤrt er die Frage fuͤr unentschieden , und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die hoͤhere Be- friedigung, und dem Herzen die groͤßre Gluͤckselig- keit anzubieten hat. Es Es dedarf wohl keiner Erinnerung, daß eine Welt- geschichte nach lezterm Plane in den spaͤtesten Zeiten erst zu erwarten steht. Eine vorschnelle Anwendung dieses großen Maaßes koͤnnte den Geschichtsforscher leicht in Versuchung fuͤhren, den Begebenheiten Ge- walt anzuthun, und diese gluͤckliche Epoche fuͤr die Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er sie beschleunigen will. Aber nicht zu fruͤhe kann die Auf- merksamkeit auf diese lichtvolle und doch so sehr ver- nachlaͤßigte Seite der Weltgeschichte gezogen werden, wodurch sie sich an den hoͤchsten Gegenstand aller menschlichen Bestrebungen anschließt. Schon der stille Hinblick auf dieses, wenn auch nur moͤgliche, Ziel muß dem Fleiß des Forschers einen belebenden Sporn und eine suͤße Erhohlung geben. Wichtig wird ihm auch die kleinste Bemuͤhung seyn, wenn er sich auf dem Wege sieht, oder auch nur einen spaͤten Nachfolger darauf leitet, das Problem der Weltordnung aufzuloͤ- sen, und dem hoͤchsten Geist in seiner schoͤnsten Wir- kung zu begegnen. Und auf solche Art behandelt, M. H. H. wird Ihnen das Studium der Weltgeschichte eine eben so anziehen- de als nuͤtzliche Beschaͤftigung gewaͤhren. Licht wird sie in Ihrem Verstande, und eine wohlthaͤtige Begei- sterung in ihrem Herzen entzuͤnden. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht morali- scher Dinge entwoͤhnen, und, indem sie vor Ihren Augen Augen das große Gemaͤhlde der Zeiten und Voͤlker aus- einander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidun- gen des Augenblicks, und die beschraͤnkten Urtheile der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen gewoͤhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zu faßen, und mit seinen Schluͤssen in die ferne Zu- kunft voraus zu eilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so druͤckend umschliessen, so breitet sie optisch taͤuschend sein kurzes Daseyn in einen unendli- chen Raum aus, und fuͤhrt das Individuum unver- merkt in die Gattung hinuͤber. Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Buͤhne; seine Meynungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Buͤrgerin aller Nationen und Zeiten. Wie der homerische Zeus sieht sie mit gleich heitern Blicke auf die blutigen Arbeiten des Kriegs, und auf die friedlichen Voͤlker herab, die sich von der Milch ihrer Heerden schuldlos ernaͤhren. Wie regellos auch die Freyheit des Menschen mit dem Weltlauf zu schalten scheine, ruhig sieht sie dem ver- worrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifen- de Freyheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors und Cromwells geheim haͤlt, eilt sie der Menschheit zu of- fenba- fenbaren: „ daß der selbstsuͤchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortrefliche befoͤrdert.„ Kein falscher Schimmer wird sie blenden, kein Vorurtheil der Zeit sie dahinreissen, denn sie erlebt das letzte Schicksal aller Dinge. Alles was aufhoͤrt, hat fuͤr sie gleich kurz gedauert: sie haͤlt den verdienten Olivenkranz frisch, und zerbricht den Obelisken, den die Eitelkeit thuͤrmte. Indem sie das feine Getriebe auseinander legt, wodurch die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kraͤfte des Men- schen planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeu- tet, was in jedem Zeitraume fuͤr diesen großen Natur- plan gewonnen worden ist: so stellt sie den wahren Maaßstab fuͤr Gluͤckseligkeit und Verdienst wieder her, den der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert an- ders verfaͤlschte. Sie heilt uns von der uͤbertriebenen Bewunderung des Alterthums, und von der kindi- schen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten; und indem sie uns auf unsre eigenen Besitzungen aufmerksam macht, laͤßt sie uns die gepriesenen goldnen Zeiten Alexanders und Augusts nicht zuruͤckwuͤnschen. Unser menschliches Jahrhundert herbey zu fuͤh- ren haben sich — ohne es zu wissen oder zu erzielen — alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schaͤtze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimge- bracht bracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Werth auf die Guͤter legen, denen Ge- wohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare theure Guͤter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errun- gen werden muͤssen! Und welcher unter Ihnen, bey dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Her- zen gattet, koͤnnte dieser hohen Verpflichtung ein- gedenk seyn, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtra- gen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entgluͤ- hen, zu dem reichen Vermaͤchtniß von Wahrheit, Sitt- lichkeit und Freyheit, das wir von der Vorwelt uͤberka- men und reich vermehrt an die Folgewelt wieder ab- geben muͤssen, auch aus unsern Mitteln einen Bey- trag zu legen, und an dieser unvergaͤnglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser flie- hendes Daseyn zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sey, die in der buͤrgerlichen Gesell- schaft Sie erwartet — etwas dazu steuern koͤnnen Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meyne ich, wo die That lebt und weiter eilt, wennn auch der Nah- me ihres Urhebers hinter ihr zuruͤckbleiben sollte.