Die Chronik der Sperlingsgasse . Die Chronik der Sperlingsgasse . Herausgegeben von Jakob Corvinus . Berlin . Verlag von Franz Stage. 1857. Am 15. November. — E s ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist theuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Don- nerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krank- heit, Hunger und Noth ihren unheimlichen Schleier ge- legt; — es ist eine böse Zeit! Dazu ist’s Herbst, trauriger melancholischer Herbst, und ein feiner, kalter Vorwinter- regen rieselt schon wochenlang herab auf die große Stadt; — es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Be- kannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne G ru ß an einander vorüber; — es ist eine böse Zeit! — Mißmuthig hatte ich die Zeitung weggeworfen, mir eine frische Pfeife gestopft, ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein einfaches altes Buch, i n welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche Bil- der gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum por- 1 tans, der prächtige Wandsbecker Bote des alten Mat- thias Claudius, weiland Homme de lettres zu Wands- beck, und recht ein Tag war’s, darin zu blättern. Der Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Wiederschein desselben auf dem Boden und an den Wänden, — alles trug dazu bei, mich die Welt da drau- ßen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und Gemüth auf den Blättern vor mir zu versenken. Auf’s Gerathewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! — da ist der herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist eben so nebelig und trübe wie heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als bräche eine unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem Ohr? — Er ist’s — Mat- thias Claudius, der wackere Asmus selbst! — Bedäch- tiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehe n blei- bend; jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zier- liche Geäder desselben betrachtend, jetzt in die neblige Luft hinauf schauend. Er scheint in Gedanken versun- ken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder d en Freund Hain, an den Invaliden Görgel mit der Pud el - mütze und dem neuen Stelzbein; denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen Hofmarschall- Albiboghoi? Wer weiß! — Sieh! wieder bleibt er ste- hen. Was fällt ihm ein!? Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft und thut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm „auf’s Herz geschossen“, — das große neue Fest der Herbstling ist erfunden, — der Herbstling, so anmuthig zu feiern, wenn der erste Schnee fällt mit Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von Jung und Alt! — Wenn der erste Schnee fällt — — — wie ich in diesem Augenblick wieder einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinauf werfe, da — kommt er herunter — wirklich herunter der erste Schnee ! Schnee! Schnee! der erste Schnee! — In großen wässrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die Scheiben, grüßend wie ein alter Be- kannter, der aus weiter Ferne nach langer Abwesenheit zurück kommt. Schnell springe ich auf und an’s Fen- ster. Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz anders aus. Ge- gen den Regen suchte jeder sich durch Mäntel und Schirme auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und verwegen das Gesicht zu. Der erste Schnee! der erste Schnee! — An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, 1* kleine Händchen klatschen fröhlich zusammen: welche Ge- danken an weiße Dächer und grüne funkelnde Tannen- bäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem wir- belnden, weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholen- den Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind! — „Gehorsamster Diener Herr Professor Niepeguk! Auch im ersten Schnee?“ „Aerztliche Verordnung!“ brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so gut es Würde und Hypochon- drie erlauben. Auf der Sophienkirche schlägt’s jetzt! — Erst vier? und schon fast Nacht! — „Vier!“ wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt. Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurrah — hinaus in den beginnen- den Winter: die Buben wild und unbändig, die Mäd- chen ängstlich und trippelnd, dicht sich an den Häuser- wänden hinwindend. Hier und dort blitzt nun schon in einem dunkeln La- den ein Licht auf, immer geisterhafter wird das Aus- sehen der Sperlingsgasse. Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen, schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen Dichter. — Ganz aufgeregt schritt ich hin und her; vergessen war die böse Zeit; — auch mir war, wie wei- land dem ehrlichen Matthias, ein großer Gedanke „auf’s Herz geschossen“. „Ich führe ihn aus, ich führe ihn aus!“ brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief; wie verwundert mich auch alle meine Quartan- ten und Folianten von den Büchergestellen anglotzten, wie spöttisch auch das Allongeperückengesicht auf dem Titelblatt der dort aufgeschlagenen Schwarte hergrinzte! „Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!“ „Eine Chronik der Sperlingsgasse !“ Ein Kinderkopf drückt sich drüben im Hause gegen die Scheibe, und der Lampenschein dahinter wirft den runden Schatten über die Gasse in mein dunkles Fen- ster und über die Büchergestelle an der entgegengesetzten Wand. Ein gutes, ein glückliches Omen! Grinzt nur, ihr Meister in Folio und Quarto, ihr Aldinen und El- zeviere! Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse; eine Chro- nik der Sperlingsgasse! Ich mußte mich wirklich setzen, so war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen Gedanken und einen letzten Blick hinaus zu werfen in den ersten Schnee. Bah! — Wo war er geblieben? Wie ein guter Diener war er, nach- dem er die Ankunft seines Meisters, des gestrengen Herrn Winters verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen. — — — Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden, ewig neuen Bilder dieses gro- ßen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr verschwim- men sie, mehr und mehr fließen sie in einander. Ich bin mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem Uebergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle, traum- und geistervolle Nacht über Alles, Gutes und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die Zeit, wo die Erinne- rung an die Stelle der Hoffnung tritt. Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar dasselbe Lächeln, dasselbe Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her, wie vor langen blühen- deren Jahren, aber wenn auch Freude und Leid diesel- ben geblieben sind auf der alten Mutter Erde: — die Gesichter selbst sind mir fremd, — ich bin allein! — Allein, — und doch nicht allein. Aus der dämmrigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Ge- stalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst gern sah und hörte in vergangenen bösen und guten Tagen werden wieder wach und lebendig; todte, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu blühen; vergessener Kindermärchen entsinne ich mich; ich werde jung und — fahre auf und — er- wache! Versunken ist dann die Welt der Erinnerung, mich fröstelt in der kalten traurigen Gegenwart, drückender fühle ich meine Einsamkeit und weder meine Folianten noch meine anderen mühsam aufgestapelten gelehrten Schätze vermögen es, die aufsteigenden Kobolde und Quälgeister des Greisenalters zu verscheuchen. Sie zu bannen schreibe ich die folgenden Blätter, und ich schreibe, wie das Alter schwatzt. Für einen Freund will ich diese Bogen ansehen, mit dem ich plaudere, der Geduld mit mir hat und nicht spöttelt über Wiederholungen, — ach das Alter wiederholt ja so gern — der nicht zum Auf- bruch treibt, wo die vertrocknete Blume irgend einer süßen Erinnerung mich fesselt, der nicht zum Bleiben nöthigt, wo ein trübes Angedenken unter der Asche der Vergessenheit noch leise fortglimmt. Eine Chronik aber nenne ich diese Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen alten naiven Auf- zeichnungen gleichen wird, die in bunter Folge die Be- gebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Er- scheinen eines wundersamen Himmelszeichens beobachten; die bald über den nahen Weltuntergang predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche Kaiserin im Klostergarten vorführen läßt, wundern und freuen. Und wie die alten Mönche hier und da zwischen die Pergamentblätter ihrer Historien und Meßbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene Heiligenbilder legten, so will auch ich ähnliche Blätter einflechten und durch die eintönigen farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere blüthenvollere Ranken schlingen. Ich, der Greis — der zweiten Kindheit nahe, will von einem Kinde erzählen, dessen Leben durch das meinige ging wie ein Sonnenstrahl, den an einem Regentage Wind und Wolken über die Fluren jagen; der im Vor- beigleiten Blumen und Steine küßt, und in derselben Minute das glückliche Gesicht der Mutter über der Wiege, die heiße Stirn des Denkers über seinem Buche und die bleichen Züge des Sterbenden streifen kann. Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schrift- stellerischen Contrapunkt bekümmern; was mir die Ver- gangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart giebt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefaßt, zusammenheften und bin ich müde — nun so schlage ich dieses Heft zu, wühle weiter in meiner schweinsledernen Gelehrsamkeit und compilire lustig fort an meinem wichtigen Werke De vanitate hominum , einem ausnehmend — dicken Gegenstande. Am 20. November. — Ich liebe in großen Städten diese ältern Stadttheile mit ihren engen, krummen, dunkeln Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen hineinzublicken wagt; ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und wundersamen Dach- traufen, mit ihren alten Carthaunen und Feldschlangen, welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in liniengraden, parade- mäßig aufmarschirten Straßen und Plätzen angesetzt hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend mit der Hand zu be- rühren. Selbst die Bewohner des ältern Stadttheils scheinen noch ein originelleres, sonderbareres Völkchen zu sein, als die Leute der modernen Viertel. Hier in diesen winkligen Gassen wohnt das Volk des Leichtsinns dicht neben dem der Arbeit und des Ernst’s, und der zusam- mengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren, ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmern, aber auch öderen Straßen. Hier giebt es noch die alten Patrizierhäuser, — die Geschlechter selbst sind freilich meistens lange dahin — welche nach einer Eigenthüm- lichkeit ihrer Bauart oder sonst einem Wahrzeichen unter irgend einer naiven merkwürdigen Benennung im Munde des Volks fortleben. Hier sind die dunkeln verrauchten Comptoire der alten gewichtigen Handelsfirmen, hier ist das wahre Reich der Keller- und Dachwohnungen. Die Dämmerung, die Nacht produciren hier wundersamere Beleuchtungen durch Lampenlicht und Mondschein, selt- samere Töne als anderswo. Das Klirren und Aechzen der verrosteten Wetterfahnen, das Klappern des Windes mit den Dachziegeln, das Weinen der Kinder, das Miauen der Katzen, das Gekeif der Weiber, wo klingt es passender — man möchte sagen dem Ort angemessener, als hier in diesen engen Gassen, zwischen diesen hohen Häusern, wo jeder Winkel, jede Ecke, jeder Vorsprung den Ton auffängt, bricht und verändert zurückwirft! — Horch, wie in dem Augenblick, wo ich dieses nieder- schreibe drunten in jenem gewölbten Thorwege die Dreh- orgel beginnt; wie sie ihre klagenden an diesem Ort wahrhaftig melodischen Tonwogen über das dumpfe Murren und Rollen der Arbeit hinwälzt! — Die Stimme Gottes spricht zwar vernehmlich genug im Rauschen des Windes, im Brausen der Wellen und im Donner; aber nicht vernehmlicher als in diesen unbestimmten Tönen, welche das Getriebe der Menschenwelt hervorbringt. Ich be- haupte ein angehender Dichter oder Maler — ein Mu- siker, das ist freilich eine andere Sache — dürfe nirgend anders wohnen als hier! Und fragst Du auch, wo die frischesten originellsten Schöpfungen in allen Künsten entstanden sind, so wird meistens die Antwort sein: in einer Dachstube ! — In einer Dachstube im Brick Court war es, wo Oliver Goldsmith, von seiner Wirthin wegen der rückständigen Miethe eingesperrt, dem Dr. Johnson unter alten Papieren, abgetragenen Röcken, geleerten Madeiraflaschen und Plunder aller Art ein besudeltes Manuscript hervorsuchte mit der Ueberschrift: Der Landprediger von Wakefield. In einer Dachstube schrieb Jean Jacques Rousseau seine glühendsten, erschütterndsten Bücher. In einer Dachstube lernte Jean Paul den Armenadvokat Siebenkäs zeichnen und das Schulmeisterlein Wuz und das Leben Fibels! — — Die Sperlingsgasse ist ein kurzer enger Durchgang, der die Kronenstraße mit einem Ufer des Flusses verknüpft, welcher in vielen Armen und Kanälen die große Stadt durchwindet. Sie ist bevölkert und lebendig genug, einen mit nervösem Kopfweh Behafteten wahnsinnig zu machen und ihn im Irrenhause enden zu lassen; mir aber ist sie seit vielen Jahren eine unschätzbare Bühne des Weltlebens, wo Krieg und Friede, Elend und Glück, Hunger und Ueberfluß, alle Antinomien des Daseins sich wiederspiegeln. In der Natur liegt Alles ins Unendliche auseinander, im Geist concentrirt sich das Universum in einem Punkt, docirte einst mein alter Professor der Logik. Ich schrieb das damals zwar gewissenhaft nach in meinem Heft, be- kümmerte mich aber nicht viel um die Wahrheit dieses Satzes. Damals war ich jung und Marie die niedliche kleine Putzmacherin wohnte mir gegenüber und nähte ge- wöhnlich am Fenster, während ich, Kants Kritik der reinen Vernunft vor der Nase, die Augen — nur bei ihr hatte. — Sehr kurzsichtig und zu arm, mir für diese Fenster- studien eine Brille, ein Fernglas oder einen Operngucker zuzulegen, war ich in Verzweiflung. Ich begriff was es heißt: Alles liegt ins Unendliche auseinander. — Da stand ich eines schönen Nachmittags, wie ge- wöhnlich am Fenster, die Nase gegen die Scheibe gedrückt und drüben unter Blumen, in einem lustigen hellen Sonnenstrahl, saß meine, in Wahrheit ombra adorata. Was hätte ich darum gegeben zu wissen, ob sie herüber- lächele! Auf einmal fiel mein Blick durch eines jener kleinen Bläschen, die sich oft in den Glasscheiben finden. Zu- fällig schaute ich hindurch nach meiner kleinen Putzmache- rin und — ich begriff, daß das Universum sich in einem Punkt concentriren könne. So ist es auch mit diesem Traum und Bilderbuch der Sperlingsgasse. Die Bühne ist klein, der darauf Erscheinenden sind wenig und doch könnten sie eine Welt von Interesse in sich begreifen für den Schreiber und eine Welt von Langweile für den Fremden, den Unbe- rufenen, dem einmal diese Blätter in die Hände fallen sollten. — Am 30. November. — Der Regen schlägt leise an meine Scheiben. Was und wer der sonderbare lange Gesell ist, der vorgestern da drüben in Nr. Eilf eingezogen ist, in jene Wohnung, wo auch ich einmal hauste, wo einst auch der Doctor Wimmer sein Wesen trieb, hab’ ich noch nicht heraus gebracht. — Es ist recht eine Zeit zu träumen. Ich sitze, den Kopf auf die Hand gestützt am Fenster und lasse mich allmählig immer mehr einlullen von der mo- notonen Musik des Regens da draußen, bis ich endlich der Gegenwart vollständig entrückt bin. Ein Bild nach dem andern zieht wie in einer Laterna magica an mir vorbei, verschwindend, wenn ich mich bestrebe es fest zu halten. O, es ist wahrlich nicht das, was mich am meisten fesselt und hinreißt, was ich auf das Papier fest- bannen kann; — ein ganz anderer Maler müßte ich sein, um das zu vermögen. — Das verschlingt sich, um sich zu lösen; das verdichtet sich, um zu verwehen; das leuchtet auf, um zu verflie- gen, und jeder nächste Augenblick bringt etwas Anderes. Oft ertappe ich mich auf Gedanken, welche aufgeschrieben, kindisch, albern, trivial erscheinen würden, die aber, mir dem alten Mann in ihrem flüchtigen Vorübergleiten so süß, so heimlich, so beseligend sind, daß ich um keinen Preis mich ihnen entreißen könnte. Nur das Concreteste vermag ich dann und wann festzuhalten, und diesmal sind es Bilder aus meinem eigenen Leben, die ich hier dem Papier anvertraue. Was ist das für eine kleine Stadt zwischen den grü- nen buchenbewachsenen Bergen? Die rothen Dächer schimmern in der Abendsonne; da und dort laufen die Kornfelder an den Berghalden hinauf; aus einem Thal kommt rauschend und plätschernd ein klarer Bach, der mitten durch die Stadt hüpft, einen kleinen Teich bildet, bedeckt am Rande mit Binsen und gelben Wasserlilien, und in einem andern Thal verschwindet. Ich kenne das Alles; ich kann die Bewohner der meisten Häuser mit Namen nennen; ich weiß, wie es klingen wird, wenn man in dem spitzen schiefergedeckten Thurm jener hüb- schen alten Kirche anfangen wird zu läuten. Habe ich nicht oft genug mich von den Glockenseilen hin und her schwingen lassen? Das ist Ulfelden, die Stadt meiner Kindheit, — das ist meine Vaterstadt! — Und schau, dort oben in dem Garten, der sich von jenem zerbröckelnden, noch stehenden Theil der Stadt- mauer aus, den Berg hinanzieht, gelagert unter einem blühenden Holunderstrauch die drei Kinder. Da sitzt ein kleines Mädchen mit großen glänzenden Augen, dem wilden Franz aus dem Walde zuhörend. Franz Ralff, aufgewachsen im Wald und jetzt in der Zucht bei dem Vater der kleinen Marie, dem strengen lateinischen Stadt- rector Volkmann, erzählt, ein gewaltiges angebissenes Butterbrod in der Hand, kauend und zugleich durch sei- nen eigenen Vortrag gerührt, eine seiner wunderbaren Geschichten, die er aus der Waldeinsamkeit mitgebracht hat und mit denen er uns kleines Volk stets zum „Gru- seln“ brachte oder zu bringen versuchte. Und nun sieh da, im Grase ausgestreckt, da bin auch ich, der kleine Hans Wachholder, der Sohn aus dem Pfarrhause; blinzelnd zu dem blauen Himmel hinauf- schauend und den kleinen weißen „Schäfchen“ in der reinen Luft nachträumend! — Die Glocken der heimkehrenden Heerden erklingen zwischen den Bergen, rings umher summt und tönt un- endliches Leben; im Gras, in den Bäumen, in der Luft, und das Kinderherz versteht Alles, es ist ja noch eins mit der Natur, eins mit — Gott! — Aber warum öffnet sich nicht dort unten die braune Thür, die aus dem hübschen, vom Weinstock übersponne- nen Hause mit den hellglänzenden Fenstern, in den Gar- ten führt? Wo ist der alte Mann mit den ehrwürdigen grauen Haaren, der da allabendlich seine Blumen zu begießen pflegt? Wo ist — wo ist meine Mutter? Meine Mutter! Keine freundliche Stimme antwortet! Ich selbst habe ja graue Haare. Vater und Mutter schlummern lange in ihren vergessenen eingesunkenen Gräbern auf dem kleinen Stadtkirchhof zu Ulfelden. Jüngere Geschlechter sind seitdem hinab gegangen. — — Plötzlich verändert sich das sonnige, sommerliche Bild. — Da ist schon die große Stadt! Diesmal ist es nicht Frühling, nicht blühender Sommer, sondern eine stür- mische, dunkle Herbstnacht; — vielleicht wird eine ähn- liche auf den heutigen Tag folgen. — In dieser Nacht sitzt hoch oben in einem kleinen, mehr drei- als vier- eckigen Dachstübchen ein Student vor einem gewaltigen schweinsledernen Folianten, über welchen er hinwegstarrt. Wo wandern seine Gedanken? Draußen jagt der Wind die Wolken vor dem Monde her, rüttelt an den Dach- ziegeln, schüttelt den zerlumpten Schlafrock, welchen der erfinderische Musensohn, um sich und seine Studien ganz von der Außenwelt abzusperren vor dem Fensterkreuz fest- genagelt hat, — kurz geberdet sich so unbändig, wie nur ein Wind, der den Auftrag hat, das letzte Laub von den Bäumen in Gärten und Wäldern zu reißen, sich geberden kann. Lange hat der Musensohn in tiefe Ge- danken versunken dagesessen; jetzt springt er plötzlich auf, und dreht mir das Gesicht zu, — — — das bin ich wieder. — Johannes Wachholder, ein Student der Phi- losophie in der großen Haupt- und Universitätsstadt. Sehr aufgeregt scheint der Doppelgänger meiner Jugend zu sein; mit so gewaltigen Schritten, als das enge, wun- derlich ausstaffirte Gemach nur erlaubt, rennt er auf und ab. Plötzlich springt er auf das Fenster zu, reißt den improvisirten Vorhang herunter und läßt einen präch- 2 tigen Mondenstrahl, der in diesem Augenblick durch die zerrissenen Wolken fällt, hinein. — „Marie! Marie!“ flüstert mein Schattenbild lleise , die Arme gegen ein schwach erleuchtetes Fenster drüben ausstreckend, gegen dessen herabgelassene Gardine der kaum bemerkbare Schatten einer menschlichen Gestalt fällt, und — — — — Es ist eine gefährliche Sache, in den Momenten un- gewöhnlicher Aufregung — sei es Freude oder Schmerz, Haß oder Liebe — sich dem klaren, weißen Licht des Mondes auszusetzen. Das Volk sagt: Man wird dumm davon. Wirklich, wundersame Gedanken bringt dieser reine Schein mit sich; allerlei tolles Zeug gewinnt Macht, sich des Geistes zu bemächtigen und ihn unfähig zu machen, fürderhin gemüthlich auf der ausgetretenen Straße des Alltagslebens weiter zu traben. „Man wird dumm davon!“ — Zauberhafte Aussichten in phanttasti- sche , nebelhafte Gründe öffnen sich zu beiden Seiten; nie gehörte Stimmen werden wach, locken mit Siremen- sang , flüstern unwiderstehlich, winken den Wanderer ab vom sicheren Wege, und bald irrt der Bezauberte in den unentrinnbaren Armidengärten der Fee Phantasie. — „Ich liebe Dich,“ flüstert mein Schattenbild, „ich will Dich reich, ich will Dich glücklich, ich will Dich berühmt machen, ich will — der schreibende Greis kann jetzt nur lächeln — die Welt für Dich gewinnen, Ma- rie!“ — Mehr noch flüstert mein Doppelgänger, die Stirn an die Scheiben gedrückt, hinüber nach dem kleinen Stübchen, wo die Jugendgespielin, fortgerissen von dem kalten Arm des Lebens aus der waldumgebenen fried- lichen Heimath, einsam in der dunkeln stürmischen Nacht arbeitet, als ein anderer Schatten seine Träume von Glück und Ruhm durchkreuzt. — Da ist eine andere Gestalt, schwarze, dichte Locken umgeben ein sonnverbranntes Gesicht, die Augen blitzen von Lebenslust und Lebenskraft, es ist der Maler Franz Ralff, der von Italien zurückkehrend, voll der göttlichen Welt des Alterthums und voll der großen Gedanken einer ebenso göttlichen jüngern Zeit, den Freund um- armt. Und weiter schweift mein Geist. — Ich sehe noch immer die junge Waise in ihrem kleinen Stübchen un- ter Blumen arbeitend. Ich sehe zwei Männer im Strom des Lebens kämpfen, ein Lächeln von ihr zu gewinnen, und ich sehe endlich den Einen mit keuchender Brust sich an’s Ufer ringen und den schönen Preis erfassen, während der Andere weiter getrieben, willenlos und wis- senlos auf einer kahlen, sceptischen Sandbank sich wie- derfindet. — Ich sehe mich , ein blöder Grübler ge- 2* worden, der sich nur durch erborgte und erheuchelte Sta- cheln zu schützen weiß, bis er endlich nach langem Um- herschweifen in der Welt hervorgeht aus dem Kampf, ein ernster, sehender Mann, der Freund seines Freundes und dessen jungen Weibes. — Ich lebe durch ein kurzes Jahr von Glück und Ruhe; ich sehe während dieses Jahres eine feine blondlockige Gestalt lächelnd, wie unser guter Genius, Franz und mich umschweben und ihre schützende Hand ausstrecken über seine leicht auflodernde Wildheit und meine hinbrütende Traurigkeit; — ich sehe bald ein kleines Kind — Elise genannt in den Blättern dieser Chronik — des Abends aus den Armen der Mutter in die des Vaters und aus den Armen des Vaters in die des Freundes übergehen, mit großen, verwunderten Augen zu uns aufschauend — — — — Plötzlich hört der Regen auf, an die Fenster zu schla- gen; ich schrecke auf; — es ist späte Nacht. Einen letz- ten Blick werfe ich noch in die Gasse hinunter. Sie ist dunkel und öde; der unzureichende Schein der einen Gas- laterne spiegelt sich in den Sümpfen des Pflasters, in den Rinnsteinen wieder. Eine verhüllte Gestalt schleicht langsam und vorsichtig dicht an den Häusern hin. Von Zeit zu Zeit schaut sie sich um. Geht sie zu einem Verbrechen, oder geht sie ein gutes Werk zu thun? Eine andere Gestalt kommt um die Ecke; — ein leiser Pfiff, — „Du hast mich lange warten lassen, Riekchen!“ „Ich konnte nicht eher, die Mutter ist erst eben ein- geschlafen,“ .... Ein in der Ferne rollender Wagen macht das Uebrige unhörbar. Die Figuren treten aus dem Schatten; ich sehe Ballputz unter den dunkelen Mänteln. — Sie verschwinden um die Ecke und ich schließe das Fenster. So endet das erste Blatt der Chronik, die wie die Geschichte der Menschheit, wie die Geschichte des Einzel- nen beginnt mit — einem Traume . — Am 2. December. — Es ist heute für mich der Jahrestag eines großen Schmerzes und doch trat heute Morgen der Humor auf meine Schwelle, schüttelte seine Schellen, schwang seine Pritsche und sagte: „Lache, lache, Johannes, Du bist alt und hast keine Zeit mehr zu verlieren.“ — Jener sonderbare lange Mensch von drüben, im ab- getragenen grauen Flausrock, einen ziemlich roth und schäbig blickenden Hut unter dem Arme, klopfte an meine Thür, kündigte sich als der Carrikaturenzeichner Ulrich Strobel an, breitete eine Menge der tollsten Blät- ter auf dem Tische vor mir aus und verlangte: ich solle ihm für den Winter — den Sommer bummele er drau- ßen herum — eine Stelle als Zeichner bei einem der hiesigen illustrirten Blätter verschaffen. Er behauptete, meinen dicken Freund, den Doctor Wimmer in München, sehr gut zu kennen, und malte wirklich als Wahrzeichen das heitere Gesicht des vortrefflichen Schriftstellers so- gleich auf die innere Seite des Deckels eines daliegen- den Buches. Ich versprach dem wunderlichen Burschen, dessen Federzeichnungen wirklich ganz prächtig waren, von meinem geringen Ansehen in der Literatur hiesiger Stadt für ihn den möglichst besten Gebrauch zu machen, und er schied, indem er in der Thür mir die Hand drückte, mich süß-säuerlich anlächelte und sagte: „Sie thun sehr wohl, mich so zu verbinden, verehr- tester Herr, denn als braver Nachbar würde ich doch manche angenehme Seite an Ihnen entdecken, die, zu Papier gebracht, sich sehr gut ausnehmen könnte. Gute Nachbarn werden wir übrigens diesen Winter hindurch wohl sein, theuerster Herr Wachholder, denn — Sie schauen gern aus dem Fenster, eine Eigenthümlichkeit aller der Leute, mit welchen sich auf die eine oder an- dere Weise leicht leben läßt. Guten Morgen!“ Um eine originelle Bekanntschaft reicher, kehrte ich zu meiner Chronik zurück, mit der Gewißheit, dem Mei- ster Strobel von Zeit zu Zeit darin wieder zu be- gegnen. — Am Nachmittag. — Es ist heute Jahrestag. Ich werde die Erinne- rung nicht los, sie verfolgt mich, wo ich gehe und stehe. Es war ein eben so trüber, regenfarbiger Winter- nachmittag wie jetzt, als ich traurig dort drüben in je- nem Fenster saß — vor langen Jahren — dort drüben in jenem Fenster, von welchem aus mir eben der Zeich- ner Strobel zunickt, — und traurig hinaufschaute zu der grauen, eintönigen Himmelsdecke. Die Gasse sah damals wohl nicht viel anders aus, als heute; doch sind viele Gesichter, deren ich mich noch gar gut erinnere, ver- schwunden und haben andern Platz gemacht, und nur Einzelne, wie zum Beispiel der alte Kesselschmidt Mar- quart im Keller drunten, der heute wie vor so vielen Jahren lustig sein Eisen hämmert, haben sich erhalten in diesem ununterbrochenen Strom des Gehens und Kommens. Diese sind denn auch mit die Anhaltepunkte, an welche ich bei meinem Rückgedenken den stellenweis unterbrochenen Faden meiner Chronik wieder anknüpfe. Einem Wässerchen will ich diese Chronik vergleichen, einem Wässerchen, welches sich aus dem Schooß der Erde mühevoll losringt und anfangs trübe , noch die Spu- ren seiner dunklen, schmerzenvollen Geburtsstätte an sich trägt. Bald aber wird es in das helle Sonnenlicht sprudeln, Blumen werden sich in ihm spiegeln, Vögel- chen werden ihre Schnäbel in ihm netzen. An dieser Stelle werdet Ihr es fast zu verlieren glauben, an je- ner wird es fröhlich wieder hervorhüpfen. Es wird seine eigene Sprache reden in wagehalsigen Sprüngen über Felsen, im listigen Suchen und Finden der Auswege — — Gott bewahre es nur vor dem Verlaufen im Sande! … So fahre ich fort: Es war, wie gesagt, ein trauriger unheimlicher Tag, aber nicht er war es, der damals so schwer auf meine Seele drückte. An jenem Tage sah ich von dem Fenster dort drüben, die Fenster der Kammer meiner jetzigen Wohnung weit geöffnet trotz der Kälte, trotz dem Regen. Die weißen Vorhänge waren herabgelassen und an den Seiten befestigt, damit der Wind, welcher sie heftig hin und her bewegte, sie nicht abrisse. Der Tod hatte seine finstere kalte Hand trennend auf ein glückliches Zusammenleben gelegt; der kleine Stuhl dort unter dem Epheugitter auf dem Fenstertritt vor dem Nähtischchen war leer geworden. Marie Ralff war todt! — — — — Ich sah von meinem Fenster aus hier eine Gestalt im Zimmer auf und ab gehen. Armer Franz! Armes kleines Kind! Armer — Johannes! — Sie war so lieblich, so jungfräulich-frauenhaft mit ihrem Kindchen im Arm! — Da hängt im Museum der Stadt ein kleines Ma- donnenbild, wo die „Unberührbare“ den auf ihrem Schooß stehenden kleinen Jesus gar liebend-verwundert und mütterlichstolz betrachtet. Dem Bilde glich sie , die eben so blondlockig, eben so heilig, eben so schön war, und oft genug bleibe ich vor diesem Bilde, einem Werk des spanischen Meisters Morales, den seine Zeit- genossen el divino nannten, stehen, alter vergangener schöner Zeit gedenkend. O, ich liebte sie so, ich hatte so gelitten, als sie mich nur „Freund“ und ihn meinen Freund Franz Ralff „Ge- liebter“ nannte. Und jetzt war sie todt; einsam hatte sie uns zurückgelassen! Der Abend sank tiefer herab und die Dämmerung legte sich zwischen mich und das Drüben. Ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte hin- über! Als ich eintrat, schritt Franz immer noch auf und ab; er schien mich nicht zu bemerken und still setzte ich mich in den Winkel neben die Wiege, wo Martha, die Wärterin über dem Kinde wachte, welches ruhig schlief, die kleinen Hände zum Mündchen hinauf gezogen. Ich weiß nicht wie lange ich da gesessen habe, ich weiß von keinem meiner Gedanken in jener Nacht Rechen- schaft zu geben. Die tiefe Stille, die auf der großen Stadt lag, ließ nur das Gefühl mich überkommen, als ob das Leben auch dieses zuckende bewegte Herz eines ganzen großen Landes verlassen habe, als ob das leise Picken der Wanduhr das letzte verklingende Getön des Weltenrades sei und die ewige Stille nun binnen Kur- zem alles Leben zurückgeschlürft haben würde. Das leise Weinen des Kindes neben mir erweckte mich endlich; Franz legte mir die Hand auf die Schul- ter und fiel dann plötzlich erschöpft auf einen Stuhl ne- ben mir. „Gute Nacht, Johannes,“ sagte er den Kopf an meine Brust legend, „morgen wollen wir sie begraben!“ — Es waren die ersten Worte die er an dem Tage sprach! — Am 3. December. — O cara, cara Maria vale! Vale cara Maria! Cara, cara Maria vale! Es war ein großer Dichter, der dies auf den Grab- stein einer geliebten Abgeschiedenen setzte, er hatte große, gewaltige, herzerschütternde Gesänge gesungen; hier wußte er nichts weiter als diese drei Worte, herzzerreißend wiederkehrend. Und jenes: Morgen, dämmerte. Das Leben der großen Stadt begann wieder seinen gewöhn- lichen Gang; der Reichthum gähnte auf seinen Kissen, oder hatte auch wohl das Herz ebenso schwer, als die Armuth, die jetzt aus ihrem dunkeln Winkel huschte, um einen neuen Ring der Kette ihres Leidens, einen neuen Tag ihrem Dasein anzuschmieden. Die Gewerbe faßten ihr Handwerkszeug; die großen Maschinen begannen wie- der zu hämmern und zu rauschen; die Wagen rollten in den Straßen und der Taufzug begegnete dem Todten- wagen, denn es war nicht die einzige Leiche drüben in der kleinen Kammer, die in der menschenvollen Stadt im letzten Schlaf ausgestreckt lag. — Ich ging hinüber. Der Kesselschmidt Marquart — er war damals noch jünger und kräftiger als heute — hatte sein Hämmern eingestellt und lehnte traurig in der niedrigen Thür, die in seine unterirdische Werkstatt hin- abführt; er liebte die todte Marie so gut wie Alle, die mit ihr je in Berührung gekommen waren. Hatte sie nicht für jeden fremden Schmerz eine Thräne, für jede fremde Freude ein theilnehmendes Lächeln? War sie nicht in der dunkeln Sperlingsgasse wie jene sonnige, gute, kleine Fee, die überall wo sie hintrat, eine Blume aus dem Boden hervorrief? — Auf dem Hausflur standen flüsternde Frauen, die mir traurig, als ich vorüberging, zunickten und auf einer Treppenstufe saß ein kleines schluchzendes Mädchen, eine zerbrochene Puppe im Schooß. — O, ich weiß das Alles noch! Und jetzt trat ich ein — — — Da lag sie in ihrem weißen, mit rothen Schleifen besetzten Kleide, eine aufgeblühte Rose auf der Brust, in ihrem schwarzen Sarge; die einst so klaren innigen Augen geschlossen, die ewige ernste Ruhe des Todes auf der reinen Stirn! Franz fiel mir weinend um den Hals; junge Nachbarinnen in weißen Sonntagskleidern befestigten Guirlanden von Tannenzweigen und Immer- grün, aus denen hier und da eine einsame Blume her- vorschaute, um den schwarzen Schrein. Ach, die Armuth und der Winter erlaubten nicht, allzu viel: „Süßes der Süßen“ zu streuen! — Der junge Tischler Rudolf unten aus dem Hause stand, die Augen mit der Linken bedeckend, Hammer und Nägel in der Rechten zur Seite; seine junge Braut lehnte schluchzend das Haupt auf seine Schulter. O, ich weiß das Alles, Alles noch! — Einen letzten, langen, langen Blick warf ich auf die schöne, bleiche, stille Ge- spielin meiner Kindheit, die Heilige meiner Jünglings- jahre, die Trösterin meines Mannesalters, dann hob ich leise Franz von ihrer Brust, über die er hingesunken war, auf und führte ihn an die Wiege seines Kindes. — Rudolf der Tischler, begann sein trauriges Werk. Unter dumpfen Hammerschlägen legte sich der Deckel über dies Reliquarium eines Menschenlebens. Ein kalter Schauer überlief mich! Vale, vale cara Maria! — — Die Träger kamen, hoben die leichte Last auf die Schultern und trugen sie die schmale enge Treppe hinab; die Frauen schluchzten, Kinderköpfe lugten verwundert- ernst durch die Hausthür und wichen scheu zur Seite, als der traurige Zug hinaustrat auf die Straße. Freunde und Bekannte hatten sich eingefunden, das Weib des Malers auf dem letzten Wege zu begleiten; der Kessel- schmidt zog das Mützchen ab und strich mit seiner schwarzen schwieligen Hand über die Augen. Den, wie in einem bösen Traum gehenden Franz führend, schritt ich dem Bretterhäuschen nach, welches unser Liebstes barg — O, ich weiß das Alles noch ganz genau! So ist das Menschenherz! Viele Jahre sind vorüber gegangen seit jenem traurigen Tage, und heute noch erinnere ich mich an alle die finstern Gedanken, die damals durch meine Brust zogen, während ich so manche jüngere Freude vergessen habe! Es lernt und sieht sich so Manches auf einem solchen Gange, für den, der es versteht, auf den Gesichtern der Begegnenden und Nachschauenden zu lesen. Sieh dort an der Ecke die arme, mit Lumpen be- kleidete Frau aus dem Volk, wie sie ihr Kind fester an sich drückt und flüstert: „Was sollte aus dir werden, mein kleines Herz, wenn ich heute so still liege wie die, welche man da fortträgt.“ — Dort kommt eine elegante Equipage, Kutscher und Bediente in prächtiger Livree mit Blumensträußen im Knopfloch. Bunte Hochzeitsbänder flattern an den Kopf- geschirren der Pferde; der junge vornehme Mann führt seine schöne Braut zur Trauung, ihr Auge trifft den Sarg, der langsam auf den Schultern der Träger daher schwankt und die junge Verlobte birgt zitternd ihr Juwelenblitzendes Haupt an der Brust neben ihr. — Sieh den Arbeiter, der dort das Beil sinken läßt und stier dem Zuge des Todes nachsieht. „Schaffe weiter Proletarier, auch dein Weib liegt zu Hause sterbend; schaffe weiter, du hast keine Zeit zu verlieren; der Tod ist schnell aber du mußt schneller sein, Mann der Arbeit, wenn du sie in ihren letzten Stunden vor dem Hunger schützen willst.“ — Beugt das Haupt und tretet zur Seite ihr Ketten- klirrende Verbrecher! Der Tod zieht vorüber! Er wird auch euch einst von euern Ketten befreien! Beugt das Haupt ihr armen Geschöpfe der Nacht, der Tod zieht vorüber, und auch euch hebt er einst, den erborgten Flitterputz, den armen beschmutzten Körper, die Sünde der Gesellschaft euch abstreifend, rein und heilig empor aus der Dunkelheit, dem Schmutz und dem Elend. — Von dir, du Spötter mit dem faden Lächeln auf den Lippen fordere ich nicht, daß du zur Seite tretest! Der Zug des Todes mag dir ausweichen; — du bist würdig dein Leben doppelt und dreifach zu leben! — Es ist ein langer Weg aus der Mitte der großen Stadt bis zu dem Johanniskirchhofe draußen, und nie ist mir ein Weg so lang und doch zugleich so kurz vor- gekommen. Ich dachte an den Verurtheilten, der dem Richtplatz näher und näher kommt, dem jede Minute eine Ewigkeit und der stundenlange Weg ein Augenblick ist. — Ach wir armen Menschen, ist nicht das ganze Leben ein solcher Gang zum Richtplatz — und doch freuen wir uns und jubeln über die Blumen am Wege, und sehen in jedem Thautropfen, der in ihnen hängt, Himmel und Erde! — Armes glückliches Menschenherz! Die schweren, massigen Regenwolken wälzten sich dicht über der Erde weg, als wir aus dem Thor traten. Grau in Grau Himmel und Erde! Grau in Grau Herz und Welt! Die Bäume streckten ihre leeren Aeste wehmüthig empor, eine Meise flog von Ast zu Ast vor dem Zuge her. Und jetzt waren wir angelangt vor der Pforte des Friedhofes. Langsam wand der Zug sich den Weg ent- lang, an frischen und eingesunkenen Hügeln, stolzen Mo- numenten und dürftig naiven Putz vorüber, der Stelle zu, wo die Hülle der todten Marie ruhen sollte. Im folgenden Frühling machten wir einen hübschen heimli- chen Ort daraus, wo die Goldregenbüsche ihre duften- den Trauben herabhängen ließen und die Vögel in den Rosensträuchern zwitscherten, heute aber war’s rings um- her gar traurig und unheimlich. Auf dem Grunde der Grube, die unser Liebstes aufnehmen sollte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser, in welchem sich aber plötz- lich eine lichte blaue Stelle, die oben am Himmel zwi- schen den ziehenden Wolken durchlugte, wiederspiegelte. — — Ich habe Nichts, Nichts vergessen! Und nun ihr Männer laßt den Sarg hinabgleiten; gebt der alten schaffenden Mutter Erde ihr schönes Kind zurück! Und nun Franz, wirf drei Hände voll Erde auf die versinkende Welt deiner Freude! — Ergreift die Schaufeln ihr Clowns und vollendet euer Geschäft! Du alter, rothnäsiger Bursch, bemühe dich nicht, ein weh- müthiges Gesicht zu ziehen, winke nur deinem Gefähr- ten, daß er die Flasche bei Yaughan füllen lasse, und brumme leise dein altes Todtengräberlied in den Bart! — Wie die Schollen dumpfer und dumpfer auf den Sarg poltern, und wie jeder Ton das arme Herz erzittern läßt in seinen tiefsten Tiefen! Wie das Auge sich anklammert an den letzten Schein des schwarzen Holzes, der durch die bedeckende Erde schimmert, bis endlich jede Spur verschwindet, die hinabgeworfene Erde nur noch Erde trifft, die Höhle sich allmählig füllt und endlich der Hügel sich erhebt, der von nun an mit dem geliebten begrabenen Wesen in unsern Gedanken identisch ist! — — — Wunderliches Menschenvolk, so groß und so klein in demselben Augenblick! Welch’ eine Tragödie, welch’ ein Kampf, welch’ ein — Puppenspiel jedes Leben; von dem des Kindes, das vergeblich nach der glänzenden Mond- scheibe verlangt und verwelkt, ehe es das Wort „Ich“ aussprechen kann, bis zu dem des grübelnden Philoso- phen, der in dasselbe Wörtchen „Ich“ das Universum legt und zusammenbricht, ein körper- und geistesschwacher 3 Greis, welcher kaum noch das Gefühl für Wärme und Kälte behalten hat. Sieh um dich, Johannes: Verkehrt auf dem grauen Esel „Zeit“ sitzend, reitet die Menschheit ihrem Ziele zu. Horch, wie lustig die Schellen und Glöckchen am Sattelschmuck klingen, den Kronen, Tiaren, phrygische Mützen — Männer- und Weiberkappen bilden. Welchem Ziel schleicht das graue Thier entgegen? Ist’s das wie- dergewonnene Paradies; ist’s das Schaffot? Die Rei- terin kennt es nicht; sie — will es nicht kennen! Den Kopf dem zurückgelegten Wege, der dunkeln Vergangen- heit zugewandt, lauscht sie den Glöckchen, mag das Thier über blumige Friedensauen wandern oder durch das Blut der Schlachtfelder waten, — sie lauscht und träumt! Ja, sie träumt. Ein Traum ist das Leben der Mensch- heit, ein Traum ist das Leben des Individuums. Wie und wo wird das Erwachen sein? Auf einem Berliner Friedhofe liegt über der Asche eines großen volksthümlichen Tonkünstlers ein Stein, auf welchen eine Freundeshand geschrieben hat: „Sein Lied war deutsch und deutsch sein Leid, „Sein Leben Kampf mit Noth und Neid, „Das Leid flieht diesen Friedensort, „Der Kampf ist aus — das Lied tönt fort! —“ Ich lege die Feder nieder und wiederhole leise diese Zeilen. — Ich kann heute nicht weiter schreiben. — Am 5. December. — Meinem Versprechen gemäß hatte ich der Redaction der welken Blätter — Wimmerianischen Angeden- kens — einige der Federzeichnungen meines Nachbars Strobel vorgelegt und konnte heute schon ihm seine Auf- nahme unter die Zeichner jenes witzigen Journals mit- theilen. Da ich seine Nase hinter den Scheiben seiner Fenster einige Male hatte hervorlugen sehen, so machte ich mich auf den Weg hinüber zu meiner alten Woh- nung, in die ich, seit ich sie verlassen, so Viele ein- und ausziehen gesehen habe. Die dicke Madame Pimpernell hat es aufgegeben, in eigener, gewichtiger Person über den Vorräthen des Viktualienladens zu thronen, sie hat sich in einen ge- waltigen, ausgepolsterten Lehnstuhl hinter dem Ofen zurückgezogen, von wo aus sie oft genug Dorette — auch Rettchen genannt — ihre hagere Tochter und Nach- folgerin im Reich der Käse, der Butter und der Milch zur Verzweiflung zu bringen vermag. 3* Das mittlere Stockwerk des Hauses Nr. 11 steht augenblicklich leer, indem nach heftigen Kämpfen mit dem Parterre, Trepp’ auf und ab, die letzten Ein- wohnerinnen: die verwittwete Geheime Ober-Finanz-Se- cretairin Trampel und ihre zwei sehr ältlichen und sehr ansäuerlichen Töchter Heloise und Klara — Oehlliese und Knarre von der Madame Pimpernell genannt — abgezogen sind. Clavier, Harfe und Guitarre, die drei Marterinstrumente der Sperlingsgasse, nahmen sie glück- licherweise mit, so wie auch den edlen Kater Eros und den eben so edlen, schiefbeinigen Teckel Anteros — Ge- schenke eines neuen und doch schon antediluvianischen Abälards und Egmonts. — Wie oft war ich einst diese steilen, engen Treppen hinauf und hinabgeklettert; jetzt einen Haufen Bücher unter dem Arm, jetzt einen, wie ich glaubte, Furore machensollenden Leitartikel in der Rocktasche. Wie oft haben Mariens kleine Füße diese schmutzigen Stufen be- treten, wenn sie mit Franz zu einem prächtigen Thee- abend kam, dem ich immer mit so untadelhafter, haus- väterlicher Würde vorzustehen wußte! Wie ich dann ihr helles Lachen, welches die feuchten, schwarzen Wände so fröhlich wiedergaben, erwartete; wie sie so reizend über meine verwilderte Stube spötteln konnte und dann trotz aller meiner vorherigen stundenlangen Bemühungen erst durch fünf Minuten ihrer Anwesenheit einen mensch- lichen Aufenthaltsort daraus machte! Wie ich dann spä- ter von der kleinen Quälerin gezwungen wurde, eine un- glückliche Flöte hervorzuholen und steinerweichend eine klägliche Nachahmung von: „Guter Mond, du gehst so stille,“ hervorzujammern, bis Franz Einspruch that, oder mir der Athem ausging, oder der kleinen Tyrannin die Kraft zu lachen. Es waren selige Abende, und ich nahm das Andenken daran mit herauf bis zur Thür des Zeich- ners. Auf mein Anklopfen erschallte drinnen ein un- verständliches Gebrumme; ich trat ein. — — — Manche Junggesellenwirthschaft habe ich durchgemacht und kann viel vertragen in dieser Hinsicht. Den Doc- tor Wimmer, den Schauspieler Müller, den Musiker Schmidt, den Candidaten der Theologie Schulze habe ich in ihrer Häuslichkeit gesehen, von meiner eigenen Unordnung nicht zu sprechen, aber eine solche malerische Liederlichkeit war mir doch noch nicht vorgekommen. Eine Phantasie, durch Justinus Kerner’s kakodämoni- schen Magnetismus in Verwirrung gerathen, könnte, ge- froren, versteinert, verkörpert in einem anatomischen Mu- seum ausgestellt, keinen tolleren Anblick gewähren! Auf einem unaussprechlich lächerlichen Sopha, viel zu kurz für ihn, lag, den Kopf gegen die Thür, die Beine über die Lehne weg gestreckt, und die Füße gegen die Fenster- wand gestemmt, der lange Zeichner, die Cigarre, die große Trostspenderin des neunzehnten Jahrhunderts im Munde, ein Zeichenbrett auf den Knien und den Stift in der Hand. Ein dreibeiniger Tisch, der ohne Zweifel einst unter die Quadrupeden gehört hatte, war an diese Lagerstatt gezogen; ein leerer Bierkrug, eine halbgeleerte Cigarrenkiste, Tuschnäpfchen, bekritzelte Papiere und an- dere heterogene Gegenstände bedeckten ihn im reizendsten Mischmasch. Drei verschiedengestaltete Stühle hatte die „Bude“ aufzuweisen; der eine aus der Rokokozeit diente als Bibliothek, der andere, ein grünangestrichener Gar- tenstuhl, verrichtete die Dienste eines Kleiderschranks, und der dritte, von dessem früheren Polster nur noch der zer- fetzte Ueberzug herabhing, war o horror! — zur — Toilette entwürdigt, und ein Waschnapf, Seife, Kämme und Zahnbürsten machten sich breiter auf ihm als eigent- lich nöthig war. In einer Ecke des Zimmers lehnte der Ziegenhainer des wanderlustigen Karikaturenzeich- ners und auf ihm sein breitrandiger Filz. In einem andern Winkel hing eine umfangreiche Reisetasche, und die Wände entlang war mit Stecknadeln eine tolle Zeich- nung neben der andern festgenagelt. Das Ganze ein wahres Pandämonium von Humor und scurrilem Un- sinn! — „Ah, mein Nachbar!“ rief Meister Strobel, bei mei- nem Eintritt von seinem Sopha aufspringend, mit der einen Hand das Zeichenbrett fortlehnend, mit der an- dern den wackelnden Tisch am Fallen hindernd. „Das ist sehr edel von Ihnen, daß Sie meinen Besuch so bald erwiedern; seien Sie herzlichst gegrüßt und neh- men Sie Platz!“ Mit diesen Worten ließ er die Last des Bibliothekstuhls zur Erde gleiten und zog ihn an den Tisch, von dem er ebenfalls die meisten Gegenstände an beliebige Plätze schleuderte. „Ich bin gekommen, Ihnen mitzutheilen, Herr Stro- bel, daß Ihre Blätter großen Anklang bei der Redac- tion der welken Blätter gefunden haben, und daß die- selbe stolz sein wird, Sie unter ihre Mitarbeiter zu zählen.“ „Sehr verbunden,“ sagte der Zeichner, der sich auf mysteriöse Weise eben am Ofen beschäftigte, „bitte, neh- men Sie eine Cigarre und erlauben Sie mir, Ihnen eine Tasse Kaffee anzubieten.“ Er schaute in einen sehr verdächtig aussehenden Topf, den er aus der Ofenröhre nahm. — „O weh,“ rief er, während ich alle Heiligen des Kalenders anrief, „die Quelle ist versiegt!“ — „Bitte, machen Sie keine Umstände, Ihre Cigarren sind ausgezeichnet!“ „Ja,“ sagte Strobel, sich nun wieder auf sein So- pha setzend, „das ist der einzige Luxus, den ich nicht entbehren könnte, und ich preise meinen Stern, der mich in einer Zeit geboren werden ließ, wo man die Redens- art: Kein Vergnügen ohne die Damen —, in die je- denfalls passendere: Kein Vergnügen ohne eine Cigarre, — umgeändert hat.“ „Sind Sie ein solcher Weiberfeind?“ „Keineswegs; im Gegentheil, ich beuge mich ganz und gar dem französischen Wort: Ce que femme veut, Dieu le veut und ziehe — deshalb gerade, die nicht so anspruchsvolle Cigarre vor, die für uns glüht, ohne das Gleiche zu verlangen, die interessant ist, ohne in- teressirt sein zu wollen und so weiter, und so weiter!“ „Sie sind wirklich ein echtes Kind unserer Zeit, die durch zu viele und zu verschiedenartige Anspannungen im Ganzen, bei dem Einzelnen das Gehenlassen, die Athaumasie, die Apathie zur Gottheit gemacht hat.“ „Puh,“ sagte der Zeichner, eine gewaltige Dampf- wolke fortblasend, „ich konnt’s mir denken, da sind wir schon in einem solchen Gespräche, wie sie alles Zusam- menleben jetzt verbittern; übrigens ist unsere Zeit durch- aus nicht apathisch, aber der Einzelne fängt an, das wahre Princip herauszufinden, daß nämlich die Sache durch die Sache gehen muß. — Nicht jeder Erste Beste soll sich fähig glauben, den Wegweiser spielen zu kön- nen, den Arm ausstrecken und schreien: Holla, da lauft, dort geht der rechte Weg, dorthin liegt das Ziel!“ „Und die seitwärts abführenden Holzwege? …“ „Laufen alle der großen Straße wieder zu, nachdem sie an irgend einer schönen, merkwürdigen, lehrreichen Stelle vorübergeführt haben. Ich, der Fußwanderer, habe nie so viel Erfahrungen für den Geist, so viel Skizzen für meine Mappe mitgebracht, als wenn ich mich verirrt hatte.“ „Sie müssen ein eigenthümliches Leben geführt ha- ben und führen!“ sagte ich, den sonderbaren Menschen vor mir ansehend. Er strich mit der Hand über das sonnverbrannte, verschrumpfte Gesicht und lächelte. — „Ein Leben, das gern auf Irrwegen geht, ist stets eigenthümlich!“ sagte er. „Uebrigens wird jeder Mensch mit irgend einer Eigenthümlichkeit geboren, die, wenn man sie gewähren läßt — was gewöhnlich nicht ge- schieht — sich durch das ganze Leben zu ranken vermag, hier Blüthen treibend, dort Stacheln ansetzend, dort — von Außen gestochen — Galläpfel. Was mich betrifft, so bin ich von frühester Jugend auf mit der unwider- stehlichsten Neigung behaftet gewesen, mein Leben auf dem Rücken liegend hinzubringen und im Stehen und Gehen die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Sie lächeln, — aber was ich bin, bin ich dadurch geworden.“ „Ich lächelte nur über die Richtigkeit Ihrer Bemer- kung. Wir Alle sind Sonntagskinder, in Jedem liegt ein Keim der Fähigkeit, das Geistervolk zu belauschen, aber es ist freilich ein zarter Keim, und das Pflänzchen kommt nicht gut fort unter dem Staub der Heerstraße und dem Lärm des Marktes.“ „Holla,“ rief der Zeichner, plötzlich aufspringend und nach dem Fenster eilend, „sehen Sie, welch’ ein Bild!“ — In der Dachwohnung über der meinigen drüben hatte sich ein Fenster geöffnet. Die kleine Ballettänze- rin, welche dort wohnt, ließ ihr hübsches Kindchen nach den leise herabsinkenden Schneeflocken greifen. Das Kind streckte die Aermchen aus und jubelte, wenn sich einer der großen, weißen Sterne auf seine Händchen legte oder auf sein Näschen. Die arme, ohne die Schminke der Bühne so bleiche Mutter sah so glücklich aus, daß Nie- mand in diesem Augenblick die traurige Geschichte des jungen Weibes geahnt hätte. „Ich habe auf ihrem Schreibtische Blätter gesehen mit der Ueberschrift: Chronik der Sperlingsgasse,“ sagte Strobel, „das Bild da drüben gehört hinein, wie es in meine Skizzenmappe gehört.“ „Es würde eine dunkle Seite darin bilden,“ ant- wortete ich, „und die Chronik hat deren genug. Wie wär’s aber, wenn Sie Mitarbeiter dieser Chronik der Sperlingsgasse würden; Sie haben ein gar glückliches Auge!“ „Glauben Sie?“ sagte der Karikaturenzeichner, der den Kleiderschrankstuhl an das Fenster gezogen hatte und emsig auf einem Papier kritzelte. „Sie wollen keine dunkeln Blätter; — kennen Sie vielleicht die Geschichte jenes englischen Zerrbildzeichners, der vor dem Spiegel an seinem eigenen Gesichte die Fratzen der menschlichen Leidenschaften studirte?“ „Nein, ich kenne die Geschichte nicht. Was ward mit ihm?“ „Er — schnitt sich den Hals ab,“ sagte der Zeich- ner dumpf, seine vollendete Skizze fortlegend. Verwundert schaute ich auf. Das Gesicht Strobels hatte einen Ausdruck von Trübsinn angenommen, der mich fast erschreckte. Er sprach nicht weiter und es trat eine Stille ein, während drüben das Kind lachte und jubelte und die Tänzerin den Spatzen, die sich zwit- schernd auf die Dachrinne setzten, Brodkrumen streute. Ich sah, daß der Zeichner allein sein wollte und ging; der sonderbare Mensch begleitete mich bis zur Treppe. Dort sagte er, mir die Hand drückend und lächelnd: „Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik wer- den, Signor!“ — So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturen- zeichner Ulrich Strobel. Am 10. December. — Es ist jetzt vollständig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt der verspäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hö- ren könnte. Es ist tiefe Nacht. Was ist das für ein bleiches, verfallenes Gesicht, welches da vor mir auftaucht? Ist das Franz, — der lebensmuthige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einst kannte? — Drei Monate waren hingegangen, seit man die todte Marie zu ihrer stillen Ruhestätte hinausgetragen hatte. Ich saß neben meinem Freunde, der, auf die graugrun- dirte Leinwand vor ihm starrend, plötzlich begann: „Höre, Johannes, ich muß Dir eine Geschichte er- zählen. Es wird gut sein, daß Du sie kennst, auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind sie er- fahren müßte. Letzteres will ich dann Dir überlassen, Johannes.“ „Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unsere früheste Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ah- nungslose Kinder waren. — O Johannes, laß mich sie zurückrufen, diese seligen Tage! Klingt es Dir nicht auch bei jeder Erinnerung daran, wie das Läuten jener im Wald verlorenen Kirche? O, mein Jugend-Wald- leben! — Wie ich es jetzt vor mir sehe, dieses alte, braune, verfallende Jägerhaus, mitten in der grünen, duftigen Einsamkeit! Vorbei plätschernd der klare Bach, der dann tiefer im Walde den stillen Teich bildet, den die Sage so wundersam umschlungen hat! Wie oft bin ich nicht, das Kinderherz voll geheimnißvollen Bebens, an funkelnden Mondscheinabenden, wenn die Bewohner des Jägerhauses vor der Thür saßen und der alte Burch- hard das Waldhorn — Du weißt wie schön — bließ, dem durch das Dunkel glitzernden Bach nachgeschlichen, dem stillen Wasser zu, das Treiben der Nixen und El- fen zu belauschen. Wie fuhr ich nicht zusammen, wenn eine Eidechse im Grase raschelte, oder ein Nachtvogel schwerfälligen Flugs über den glänzenden Spiegel des Teichs hinflatterte, indem ich dachte, jetzt müsse das wun- dersame Geheimniß an’s Licht treten und sein Wesen und Wehen beginnen um die volle Scheibe des Mon- des, die in der klaren, stillen Fluth wiedergespiegelt lag. Erst später erfuhr ich, woher der tiefe, geheime Zug in mir nach diesem Waldwasser stamme. Wie oft bin ich nicht, wenn der Sturm in den Bäumen rauschte, hinauf gestiegen in eine hohe Tanne, um mich, die Arme fest um den rauhen, harzigen Stamm geschlungen, das Herz gepreßt von Angst und unsäglicher Seligkeit — hin und her schleudern zu lassen vom Winde. Und dann, wenn draußen die heiße Julisonne auf der Welt lag, die in diese Waldnacht nur vorsichtig neugierig hinein zu lugen wagte: welch’ ein Träumen war das! — Welch’ eine Wonne war’s, im Grase zu liegen, während der Rauhbach an meiner Seite rauschte und murmelte und seine Kiesel langsam weiterschob; während die Sonnenlichter an den schlanken Buchen- stämmen oder über den Wellchen des Baches spielten und zitterten; die Wasserjungfer über mich hinschoß; rings umher die Glocken-Blumen ihre blauen Kelche der Erde zuneigten und der stolze Fingerhut die seinen trotzend emporhob, als wolle er die verirrten Strahlen der Sonne darin auffangen. Welche Winterabende waren das, wenn ich dem al- ten, weißbärtigen Mann, den ich Oheim nannte, auf dem Knie saß, mit den Quasten seiner kurzen Jäger- pfeife spielte und seinen Geschichten und Sagen lauschte, während die Hunde zu unsern Füßen schliefen und träum- ten, und nur von Zeit zu Zeit aufhorchten, wenn der alte Caro draußen anschlug. Es war ein glückliches Leben, dieses Leben im Walde, und ist von großem Einfluß auf meine spätere künst- lerische Entwickelung gewesen. Noch gar gut erinnere ich mich des Tages, an welchem ich mein erstes Kunst- werk an der Stallthür zu Stande brachte. Es war ein Portrait unseres alten Burchhards und seines getreuen Begleiters, des kleinen Dachshundes, der die Eigen- thümlichkeit hatte, gar keinen Namen zu besitzen, son- dern nur auf einen besonderen Pfiff seines Herrn hörte. — Der folgende Zeitraum meiner Geschichte, Johannes, ist Dir fast so gut als mir bekannt, und ich könnte kürzer darüber weggehen, wenn es mich nicht überall, wo ihr Bild auftaucht, so gewaltig festhielte. Wieviel heimliche Thränen — der Oheim liebte das Weinen nicht — wischte ich mir aus den Augen, als der Tag kam, an welchem ich meiner grünen Waldes- nacht Ade sagen mußte. Gern hätte ich mich an jeden Baum, an jeden Strauch, an welchem der Weg aus dem Walde heraus vorbeiführte, festgeklammert. Wie un- ermeßlich weit und groß kam mir die Welt vor. Wie eine Eule, die man aus ihrer dunkeln Höhle in den Son- nenschein gezerrt hat, schien ich mir anfangs in Ulfel- den. Ich war unglücklich, wie ein Kind von zwölf Jah- ren es nur sein kann, ehe ich mich in das ungewohnte Leben hinein fand. — Wie deutlich steht mir der erste Abend in unserer Kindheitsstadt noch vor dem Gedächtniß! Der Oheim war zurückgekehrt in sein einsames Waldhaus, die Frau Rectorin wirthschaftete in der Küche, der alte Rector saß oben in seinem kleinen Studirstübchen über dem Tacitus, seinem Lieblingsschriftsteller, wie ich später er- fuhr und — ich kauerte einsam mit verquollenen, thrä- nenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hause und schaute in dumpfem Hinbrüten den vorbeischießen- den Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas schmutziges Händchen mir einen angebissenen rothbackigen Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen sich unter meine Nase drängte und ein feines Stimmchen sagte: „Nicht weinen … Junge … Mama auch Eierku- chen backen.“ Ich hatte damals große Lust, die kleine Trösterin zurückzustoßen, sie ließ sich aber nicht abweisen, und als ich über ihr Mitgefühl stärker zu schluchzen anfing, fing auch sie an zu weinen. Unter diesem Thränenstrom wurden wir von dem alten Rector überrascht, welcher plötzlich in seinem rothgeblümten Schlafrock — ein Por- trait von ihm giebt es dort unter meinen Skizzen — und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns stand. „Nun, kleines Volk,“ sagte er lächelnd, das ist ja eine prächtige Freundschaft zwischen Euch, die so mit Heulen anfängt! Wer hat denn dem Andern etwas zu Leide gethan?“ Diese diplomatische Wendung der Sache brachte auf einmal meinen Thränenstrom zum Stehen, und auch die kleine Marie lächelte sogleich wieder durch die hellen Tropfen, die ihr über beide Backen rollten. „Wird schon gehen, wird schon gehen!“ brummte der alte Scholarch, fuhr mit der Hand über meine Haare und ging dann zurück in’s Haus, um seiner Frau beim Eierkuchenbacken zuzusehen. Die kleine Marie aber führte mich zu ihrem Gar- ten im Winkel, grub eine keimende Bohne hervor, zeigte sie mir jubelnd und versprach mir ein ähnliches Feld für meine Thätigkeit. Dann zogen wir uns in die Geisblattlaube zurück, wo der Tisch gedeckt war. Da fand ich neben dem Nähzeuge der Frau Rectorin ein Buch auf der Bank, — ein Bilderbuch, welches mich den Wald, das Jägerhaus, den Ohm, den alten Burch- hard, mein ganzes Heimweh zuerst vergessen ließ. Es war ein zerlesener und zerblätterter Band des Welt- und Kinderbekannten Bertuch’schen Werks! Welch’ eine neue Welt ging mir da auf! — Und die kleine Marie lehnte neben mir; lachte, erklärte und kitzelte mich mit Stroh- 4 halmen; — dann kam die Frau Rectorin mit dem Eier- kuchen und der Rector verließ seinen Tacitus; die Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden Sonntag ein; — ich hatte mich gefunden! — Erin- nerst Du Dich wohl noch, Hans, dieses Sonntagmor- gens, der auf meinen ersten Tag in Ulfelden folgte? Weißt Du wohl noch, wie Du mir in der Kirche zu- nicktest und beim Nachhausegehen unsere Freundschaft ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche Du mir in die Haare warfest? Weißt Du wohl, Jo- hannes, wie ich aus dem blöden Waldjungen zu dem tollsten, verwegensten Schlingel der ganzen Gegend her- anwuchs und nur duckte, wenn mich die kleine Marie aus ihren großen Augen so traurig ansah? Es war eine prächtige Zeit und — das Latein war durchaus keine so böse Krankheit wie das Scharlachfriesel; — ich hatte diesen Gedanken aus dem Walde mitgebracht — son- dern höchstens ein leichter Schnupfen, der bald wieder auszuschwitzen war. Dann kamen die Zeichenstunden bei dem alten Ma- ler Gruner, der mir zuerst die Welt des Schönen deut- licher vor die Augen legte, der in seiner trockenen, kau- stischen Weise das Leben, welches er sehr wohl kannte, an mir vorübergleiten ließ, daß ich verlangte und mich hinaus sehnte in diese so schön blühende Welt, wo man nur die Hand auszustrecken brauchte, um Glück, Ruhm und Reichthum zu erfassen. Den Wald hatte ich fast ganz vergessen; ich sehnte mich gar nicht zurück; hinaus wollte ich in die Welt, Maler werden, tausend Träume machte ich und — in allen schwebte Mariens holdes Bild! — Da wurde ich eines Tages zurückgerufen in das ein- same Jägerhaus und fand — meinen alten Oheim auf dem Sterbebette. Eine Erkältung, die er sich zu- gezogen und nicht beachtet, hatte bei seinem vorgerück- ten Alter eine tödtliche Wendung genommen. Alle ärzt- liche und geistliche Hülfe verschmähend, hatte er nur nach mir verlangt. Eine schreckliche Enthüllung erwar- tete mich am Bette des Mannes, an dessen Seite ich nur den alten Burchhard traf, während die Waldgrethe, die bejahrte Magd des Försterhauses, ab und zu ging. — Als ich, — jetzt ein neunzehnjähriger Jüngling, — an das Lager meines Ohms trat, sah mich dieser, eben aus einem kurzen, unruhigen Schlummer erwachend, starr an. „Er gleicht ihm immer mehr,“ murmelte er. Als ich mich über ihn beugte, küßte mich der alte, strenge Mann und sagte mit erloschener Stimme: „Franz, — Du siehst, es ist vorbei mit mir; ich brauche den Jagdranzen nicht zu füllen und nicht für 4* Schießzeug zu sorgen für den Gang, den ich jetzt gehen muß. Heule nicht, Junge; weißt, ich hab’s nie leiden können. Ist Weibermode! — Ich möchte Dir aber noch etwas sagen, eh’ ich abmarschire vom Anstand; kannst dann daraus machen, was Du willst. Setze Dich und höre zu! — Schau, da hinten,“ — der Alte zeigte durch das offene Fenster, in welches grüne Zweige schlu- gen und die Abendsonne zitterte, während ein Buchfink davor sang;“ — „da hinten hinter dem Walde kommst Du in die große Ebene, wo Du Tage lang gehen kannst, ohne einen Berg zu sehen. Die Leute nennen’s ein schönes Land; — mag sein, hab’s aber nie leiden können und mag den Wald lieber. Einen Hügel aber giebt’s doch da, mitten in dem flachen Lande und den Kornfeldern, mit einem Schloß, Seeburg geheißen, und am Fuße des Hügels ein Dorf desselbigen Namens. Daher stammt unsere Familie, da bin ich geboren, da ist auch Burchhard her.“ Der Letzterwähnte nickte hier mit dem Kopfe und brummte vor sich hin: „Beides ’ne gute Art, die Ralffs und Burchhards!“ „Hast Recht, Alter,“ fuhr mein Oheim fort, „hoffe auch, der da (er wies auf mich) soll nicht aus der Art schlagen, wenn er gleich unrecht Blut in den Adern hat! Höre weiter, Junge: War ein stolz Volk, die Grafen Seeburg, die da seit alter Zeit auf dem Neste saßen. Hab’s gelesen in alten Chroniken, wie sie die Leute plag- ten und die Kaufleute fingen. Trieb’s auch die neue Art, die damals in seidenen Strümpfen und Schuhen ging, nicht viel besser, wenn auch anders. Halt’s Maul, Burchhard, weiß, was Du sagen willst. — Ich war da- mals ein schmucker Bursch’, wußte trefflich mit der Büchse umzugehen und war Andreas Ralff bekannt als Meisterschütze auf Kirchweihen und Vogelschießen weit und breit, wie Deine Mutter, Franz, meine Schwester, als das schönste Mädchen im Lande. Sagte mir da- mals der junge Graf, der eben von Reisen zurückkam: „Hör’ Andreas, tritt in meinen Dienst, will Dich gut halten und soll es Dein Schaden nicht sein. — Da faßte mich der Satan, daß ich’s für mein Glück hielt und einschlug.“ Der Alte stöhnte hier laut auf und barg den Kopf in den Kissen, während Burchhard aufstand und leise eine Jägerweise aus dem Fenster pfiff. Ich beschwor den Ohm, seine Erzählung abzubrechen und zu ver- schieben. „Hab’ das nie gethan,“ sagte der alte, eiserne Mann, „ist nicht rechte Jägermanier, eine Kreatur angeschossen umherlaufen zu lassen. Reine Büchse, reiner Schuß. — Schuf’s der böse Feind, daß der Graf die Louise zu sehen kriegte und — Burchhard, erzähl’s dem Jungen weiter .....“ Dieser, der wieder neben dem Bette seines alten Freundes saß, nickte finster und fuhr fort in der unter- brochenen Erzählung, den Blick auf den Boden geheftet. „Waren wir zusammen aufgewachsen und hatte ich sie gar lieb die Louise mit ihren schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Hatte aber nicht den Muth, ihr zu sagen: Herzlieb, wolltest Du mich nicht zum Manne nehmen? Wollte Dich auch auf’n Händen tragen! Stand ich immer und schaute ihr nach auf den Kirchwegen und allenthalben, wenn sie durch das Dorf hüpfte, lachend und schäckernd, flink wie ein Reh, lustig wie eine Am- sel! …“ Der Kranke seufzte tief auf, Burchhard legte ihm das Kopfkissen zurecht und schwieg dann, von seiner Er- innerung überwältigt, einige Minuten, während drau- ßen die Vögel gar lustig zwitscherten und die Sonne immer glühender dem Untergange zusank. Plötzlich fuhr der Erzähler fast barsch auf: „Was ist da weiter zu berichten! War sie ein jung’ Blut und hatte ihr der Pastor mehr Gutes als Böses von den Menschen erzählt … Wurde Andreas hierher in den Wald geschickt auf Antrieb des Grafen; jubelte er mächtig, denn von je war’s sein Wunsch gewesen, ein Jägersmann zu sein, und zog er sogleich fort von Seeburg, dies alte, verfallene Haus in Stand zu setzen, daß die Louise nachfolgen könne. War ich damals nicht daheim, sondern im fremden Franzosenland, wo das Volk der Plackerei und Adelswirthschaft müde geworden war und reinen Tisch machte; schlug ich mich herum in der Champagne in dem Regiment Weimar-Cuirassire, bis der Herzog von Braunschweig und die Preußen und Alle retiriren mußten durch Dreck und Regen. Kam ich zurück auf Urlaub, stellte mein Pferd ab im golde- nen Hirschen, putzte den Staub von den hohen Stie- feln, rieb den Harnisch so blank als möglich, setzte den Dreimaster verwegen auf’s Ohr und faßte mir ein Herz, — war ich nicht Wachtmeister in der sechsten Schwa- dron? — meinen heimlichen Schatz zu bitten um seine hübsche weiße Hand. Sahen mich die Leute so sonder- bar an, als ich durch das Dorf schritt dem kleinen Häu- sel zu, wo mein Schatz wohnte, und begegnete mir auch der Castellan vom Schloß, der mich nicht leiden konnte, und grinste er mich so höhnisch an, daß ich den Pallasch fester faßte und einen welschen Fluch brummte. Ahnte ich aber nichts und schob Alles auf die Verwunderung über mein martialisch’ Ansehen, und schritt mit einem Herzen, das halb freudig, halb furchtsam klopfte, der kleinen Thür in dem Zaune zu, der das Ralff’sche Haus umgab. Hörte ich aus dem kleinen Stübchen eine Stimme singen, die mir gar fremd und doch gar bekannt vorkam. Sang die Stimme immer nur den Anfang eines alten Liedes: „Es trägt mein Lieb ein schwarzes Kleid, Darunter trägt sie groß Herzenleid In ihren jungen Tagen. …“ „Nahm ich den Hut ab und trat in die Hausflur: Grüß Gott, Jungfer Lieschen, bin zurück aus Franzo- senland, — wollte ich sagen, sprach aber kein Wort, sondern fiel mir der Hut zur Erde und mußte ich mich am Pfosten halten, um nicht selbst zu fallen. Da saß ein bleiches Wesen mit eingefallenen Wangen im Win- kel, hatte die Hände im Schooß gefaltet und zitterte, als ob ein heftiger Frost es schüttle. — „Louise, Louise! schrie ich auf, in die Knie vor ihr stürzend, in unmenschlicher Angst. „Die Gestalt erhob sich, kam schwankend auf mich zu und sagte, indem sie mit eiskalter Hand mir über die Stirn strich: „Ei, mein schön’s Lieb, bist zurück aus fremdem Land? Hab’ lange auf Dich gewartet, mein blankes Herz! —“ „Schlug mir das Herz, daß mir der Harnisch zu springen drohte, den sie betastete und über dessen Glanz sie sich zu freuen schien. „Was weiter vorging, weiß ich nicht; noch eine Zeit- lang hörte ich dumpf den Gesang: „Es trägt mein Lieb ein schwarzes Kleid, Darunter trägt sie groß Herzenleid“ — dann vergingen mir die Sinne, — das war meine Heimkehr aus dem Franzosenkrieg. Ich erwachte am Abend in meinem eigenen Häuschen, das ich vermiethet hatte, und die alte Frau, die damals drinnen wohnte, saß neben mir. Glaubte ich geträumt zu haben, — einen bösen, bösen Traum; besann mich erst allmäh- lich wieder, und fügte es Gott, daß ich weinen konnte. Erzählte mir die gute Frau den Eingang und Aus- gang des Leidens und schaute ich nach meinen Pistolen, den bübischen Grafen hinzuschicken vor Gottes Richter- stuhl; erfuhr ich aber, daß er auf und davon sei in ferne Länder; habe es ihn nicht mehr rasten und ruhen lassen und sei er auf einmal spurlos verschwunden ge- wesen, ohne über sein Verbleiben etwas zu hinter- lassen. …“ „Und hat ihn Gott davor behütet, uns vor die Augen zu kommen,“ fiel mein Oheim mit abgewandtem Gesicht ein. „Schrieb ich dem Andreas am andern Morgen das Geschehene, denn er wußte noch nichts davon. …“ Der Kranke im Bett stöhnte, als ob ihm das Herz zerbreche, während ich schwindelnd und wortlos da saß. … „Verkauften wir unsere Liegenschaften und brachten wir die Louise und Dich, Franz, ihr kleines Kind, hier- her in den grünen Wald. Sie war immer still vor sich hin und ward immer stiller; sie sang nicht mehr ihre alten Liederverse und saß am liebsten in der Sonne und hielt ihre armen magern Finger gegen das Son- nenlicht. Dann lachte sie wohl und sagte: „Noch immer, — noch immer, — wie es rinnt, rinnt!“ — „Und eines Morgens — — — Ja, wie war’s denn, was ich einmal im Franzosenland von Einem den Offi- ficieren vorlesen hörte, als ich Wache vor dem Zelt stand. Ich glaube, Herr Göthe oder so nannten sie ihn, der es las (er zog mit des Herzogs Durchlaucht) und es handelte von einer dänischen Prinzessin, die wahnsinnig wurde, weil ihr Liebster sich wahnsinnig gestellt hatte. …“ „Bleib’ bei der Stange, Burchhard,“ rief mein Oheim plötzlich, sich aufrichtend, — „eines Morgens lag sie am Rande des Hungerteiches ertrunken im Was- ser!“ — Laut aufschreiend stürzte ich auf die Knie und ver- barg den Kopf in dem Kissen des alten sterbenden Mannes. Dieser saß jetzt auf den Ellenbogen gelehnt aufrecht, un- terstützt von der weinenden Waldgrethe, seine Augen funkelten; er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte leise: „Er war jünger als Burchhard und ich; er wird leben; — — — such’ ihn!“ — Damit sank er erschöpft zurück, während ich betäubt liegen blieb. — Endlich legte mir der alte Burchhard die Hand auf die Schulter und führte mich heraus. „Ich will dir ein Wahrzeichen geben,“ sagte er, als wir unter den grünen Bäumen waren, die auf jene Tra- gödie eben so grün und lustig herabgesehen hatten. Wieder einmal folgte ich dem Laufe des Baches durch die grüne Wildniß. Mit welchen Gefühlen?! — Jetzt wußte ich, woher der tiefinnere Zug nach dem stillen Waldteiche in mir kam! Da lag die klare Fläche in der Abendgluth vor uns, der leise Wind flüsterte in den Binsen, schlug die gelben Irisglocken an einander und schaukelte die auf ihren breiten saftigen Blättern schwimmenden Wasser- rosen; das war alles so friedlich, so heimlich, so schön und doch — welch unnennbares Grauen gewährte mir der Anblick! — „Als ich sie da fand,“ sagte Burchhard, „hielt sie die eine Hand fest zu und das Gold eines Ringes schim- merte durch die starren Finger. Komm mit!“ — Der Alte führte mich seitab in den Wald, wo ein Stein mit einem Kreuz bezeichnet im Moose lag. Er knieete nieder, hob ihn weg und wühlte eine Zeitlang in der Erde. „Da!“ sagte er plötzlich und schleuderte den kleinen goldenen Reif, als habe er eine Schlange berührt, in’s Gras. Es war auch eine Schlange, die einen wappen- geschmückten Rubin mit Kopf und Schweifende umschlang. „Du wirst ihn in diesem Kästchen finden, Johannes!“ — An jenem Abend noch starb mein Oheim und ich führte seine Leiche, wie du weißt, Johannes, nach Ul- felden. Ich weiß nicht, der Tod des alten Mannes erschien mir als gleichgültig im Vergleich mit dem Schrecklichen, welches mir enthüllt war. — Es war übrigens ein seltsamer Zug; wir hatten den schwarzen Sarg auf einen niedern Wagen mit Zweigen und Wald- blumen geschmückt, gestellt; die Holzhauer mit ihren Aexten, die umwohnenden Köhler mit ihren Schürstan- gen gaben ihm das Geleit. Dicht hinter dem Sarg schritt der alte Burchhard, die Büchse und das Wald- horn über der Schulter, die Hunde um ihn her. Von Zeit zu Zeit bließ er eine lustige, schmetternde Jäger- weise, die er dann ergreifend und seltsam in einen Choral übergehen ließ. — Unter den letzten Bäumen hielt er an, die Holzhauer und Köhler um ihn her; noch ein- mal bließ er einen fröhlichen Jagdgruß, dann drückte er mir schweigend die Hand und sagte dumpf: Lebe wohl Franz Ralff! und schritt langsam in den Wald zurück, und immer ferner hörte ich die Töne seines Hornes ver- klingen. Der Ohm wurde auf dem Ulfeldener Kirchhof, dicht neben seiner Schwester, meiner Mutter, begraben. Den alten Burchhard habe ich nicht wieder gesehen; ich hielt’s nun gar nicht mehr aus in der engen Welt um mich her, ich ging nach Italien. Burchhard aber zog nach dem Harz, wo Verwandte von ihm lebten und wo er auch bald gestorben ist.“ — „Das, Johannes, ist der Theil meiner Geschichte, den selbst Du, mein Freund nicht kanntest. Ich über- lasse Dir nun, welche Anwendung Du davon einst für mein Kind wirst machen können; von jenem Mann habe ich nie eine Spur entdecken können. — Versunken und vergessen! — Das Schloß Seeburg ist jetzt eine Fabrik!“ — Da liegt das alte vergilbte Heft vor mir, aus wel- chem ich diese Bogen der Chronik der Sperlingsgasse abgeschrieben habe. Lange saß ich noch an jenem Tage neben meinem Freunde; er sprach viel von seinem Tode und lächelte oft trübe vor sich hin. Während seiner Er- zählung hatte er mit der Reiskohle die Umrisse eines Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen. „ Das Bild male ich dir erst noch, Johannes,“ sagte er. Ich kannte die milden Züge zu wohl, um sie nicht selbst in diesen leichten Linien zu erkennen. — Und so geschah es! Je heller und sonniger die Far- ben auf der Leinwand aufblühten, je lieblicher der Locken- kopf Mariens aus dem Grau auftauchte, desto bleicher wurden die Wangen meines Freundes, und eines Mor- gens — war er ihr hinabgefolgt und hatte sein kleines Kind und seinen Freund allein zurückgelassen! — Am 24. December. — Weihnachten! — Welch ein prächtiges Wort! — Immer höher thürmt sich der Schnee in den Straßen; immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen; immer schwerer thauen am Morgen die gefrorenen Fen- sterscheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen thun sie es gar nicht mehr. — Hinter den meisten Fenstern lugen erwartungsvolle Kindergesichter hervor; da und dort liegt auf der weißen Decke des Pflasters ein ver- lorner Tannenzweig. Es wird viel Goldschaum verkauft, und bedeckte Platten von Eisenblech, die vorbeigetragen werden, verbreiten einen wundervollen Duft. — — „Was ist ein echter Hamburger Seelöwe?“ fragte Strobel, der bei mir eintrat und beim Abnehmen des Hutes ein Miniaturschneegestöber hervor brachte. „Ein Hamburger Seelöwe?“ fragte ich verwundert. „Doch nicht etwa ein Mitglied des Raths der Ober- alten?“ „Beinahe,“ lachte der Zeichner. „Ein Hamburger Seelöwe ist eine Hasenpfote, auf welche oben ein men- schenähnliches Gesicht geleimt ist. Ein solches Indivi- duum versteht an einem Tischrande gar anmuthige Be- wegungen zu machen. Sehen sie hier!“ Dabei zog er den Gegenstand unsres Gesprächs her- vor, hing ihn an meinen Schreibtisch und brachte ihn durch eine Art Pendel in Bewegung. „Ist das nicht eine wundervolle Erfindung?“ „Prächtig,“ sagte ich, — „in meiner Jugend brachte man aber denselben Effect durch den abgenagten Brust- knochen eines Gänsebratens, in welchen man eine Gabel steckte, hervor, aber die Cultur muß ja fortschreiten.“ „Ja, die Kultur schreitet fort!“ seufzte der Zeichner. „Sogar die einfachen Tannen machen allmählich diesen Pyramiden von bunten Papierschnitzeln Platz. Papier, Papier überall! Aber was ich sagen wollte: wäre es nicht eigentlich die Pflicht zweier Mitarbeiter der welken Blätter, jetzt auf die Weihnachtswandrung zu gehen?“ „Auch ich wollte Sie eben dazu auffordern,“ sagte ich. „Vorwärts!“ rief Strobel und stülpte seinen Filz wieder auf, während ich meinen Mantel und rothen baumwollenen Regenschirm hervorsuchte. Wir gingen. Den Hamburger Seelöwen ließen wir ruhig am Tisch fortbaumeln, nachdem ihn Strobel noch einen letzten Stoß gegeben hatte. Zur Weihnachtszeit habe ich gern ein solches Spielzeug in der Nähe; er- freute sich doch auch der alt und grau gewordene Jean Paul zu solcher Zeit gern an dem Farbenduft einer höl- zernen Kindertrompete. — Welch ein Gang war das, den ich mit dem tollen Karikaturenzeichner in der Dämmerung des Abends machte! In wie viel Keller- und andere Fenster mußte der Mensch schauen; in wie viel kleine frostgeröthete Hände, die sich an den Ecken und aus den Thorwegen uns entgegenstreckten, ließ er seine Viergroschenstücke glei- ten! Welch ein Gang war das! Die Geister, die den alten Scrooge des Meister Boz über die Weihnachts- welt führten, hätten mich nicht besser leiten können, als Herr Ulrich Strobel. Jetzt betrachteten wir die phan- tastische Ausstellung eines Ladens, jetzt die staunenden, verlangenden Gesichter davor; jetzt entdeckte Strobel eine neue Idee in der Anfertigung eines Spielzeugs, jetzt ich; es war wundervoll! — An der Ecke des Weihnachtsmarktes blieben wir ste- hen, in das fröhliche Getümmel, welches sich dort um- hertrieb, hinein schauend. Im ununterbrochenen Zuge strömte das Volk an uns vorbei: Väter, auf jedem Arme und an jedem Rockschoß ein Kind; Handwerksge- sellen mit dem Schatz, den sie aus der Küche seiner „Gnädigen“ weggestohlen hatten; ehrliche unbeschreiblich gutmüthig und dumm lächelnde Infanteristen, feine schmucke Garde-Schützen, schwere Dragoner und „klobige“ Artillerie. — Hier und da wanden sich junge Mädchen zierlich durch das Getümmel; jedes Alter, jeder Stand war vertreten, ja sogar die vornehmste Welt überschritt einmal ihre Grenzen und zeigte ihren Kindern die — Freude des Volks! — Der Zeichner war auf einmal sehr ernst geworden. „Sehen Sie,“ sagte er, „da strömt die Quelle, aus wel- cher die Kinderwelt ihr erstes Christenthum schöpft! Nicht dadurch, daß man ihnen von Gott und so weiter Unverständliches vorräsonnirt, sie Bibel- oder Gesang- buchverse auswendig lernen läßt; nicht dadurch, daß man sie — wo möglich in den Windeln — in die Kirchen 5 schleppt, legt man den Keim der wunderbaren Religion in ihre Herzen! An das Gewühl vor den Buden, an den grünen funkelnden Tannenbaum knüpft das junge Gemüth seine ersten, wahren — und was mehr sagen will, wahrhaft kindlichen Begriffe davon!“ — Ich wollte eben darauf etwas erwiedern, als plötzlich eine Gestalt in einen dunkeln Mantel gehüllt, ein Kind auf dem Arme tragend, an uns vorbeischlüpfen wollte. Ein Strahl der nächsten Gaslaterne fiel auf ihr Gesicht, es war die kleine Tänzerin aus der Sperlingsgasse. Ich freute mich über die Begegnung und rief sie an: „Das ist prächtig, Fräulein Rosalie, daß wir Sie treffen. Vielleicht werden Sie uns erlauben, daß wir Sie begleiten, denn um die Mysterien eines Weihnachtsmark- tes zu durchdringen, ist es jedenfalls nöthig, ein Kind bei sich zu haben.“ Die Tänzerin knixte und sagte: „O, Sie sind zu gü- tig, meine Herren; Alfred hat mir den ganzen Tag keine Ruhe gelassen und da kein Theater ist, so mußte ich ihm doch die Herrlichkeit zeigen.“ „Ja Mann,“ — sagte Alfred unter einer dicken Pudelmütze gar verwegen hervorschauend — „mitgehen!“ — Ich stellte der Tänzerin den Nachbar Zeichner vor und das vierblättrige Kleeblatt war bald in der Stim- mung, die ein Weihnachtsmarkt erfordert. Was für ein Talent, Kinder vor Entzücken außer sich zu bringen, ent- wickelte jetzt der Karikaturenzeichner. Er hatte der Mutter den dicken Bengel sogleich abgenommen, ließ ihn nun gar nicht aus dem Aufkreischen herauskommen und schleppte ihn hoch auf der Schulter durch das Gewühl voran. „O ich bin Ihnen so dankbar, so dankbar Herr Wachholder,“ flüsterte die kleine Tänzerin, zu deren Be- schützer ich mich sehr gravitätisch aufwarf. „Liebes Kind,“ sagte ich, „ein Paar solcher Jung- gesellen wie ich und mein Freund würden solche Abende wie dieser sehr übel zubringen, wenn nicht dann aus- drücklich eine Vorsehung über sie wachte!“ — „Sie sollen einmal sehen, wie prächtig wir heute Abend noch Weihnachten feiern werden; — hören Sie nur, wie Alfred jubelt; — sehen Sie, wie stolz und glück- lich er unter der Pickelhaube vorschaut, die ihm eben der Herr Strobel übergestülpt hat!“ — Der Karikaturenzeichner hätte sich in diesem Augen- blick sehr gut selbst abconterfeien können — er that es auch, aber später. — Wundervoll sah er aus. Im Knopfloche baumelte ein gewaltiger Hampelmann, in der rechten Hand hatte er eine große Knarre, die er energisch schwenkte; während auf seinem linken Arm Al- fred mit aller Macht auf eine Trommel paukte. „Kleine Dame,“ sagte der Zeichner jetzt zu unserer 5* Begleiterin, „stecken Sie mir doch einmal jene Düte in die Rocktasche, ich komme nicht dazu! Heda, alter Wach- holder!“ schrie er dann mich an, „gleiche ich nicht auf’s Haar einer Kammerverhandlung? Rechts Geknarre, links Getrommel und für das Fassen und Einsacken der be- gehrten Süßigkeiten weder Kraft noch Platz!“ — „Mama, der Onkel aber mal rechter Onkel!“ rief der Kleine entzückt von seinem Throne herab, als Ro- salie der Anforderung Strobel’s nachkam, und ich eben- falls die Taschen mit Allerlei füllte. — So ging es weiter, bis uns endlich die Kälte zu heftig wurde. Der Zeichner löste sich auf — wie er’s nannte — und überlieferte mir die Spielzeugbehangene Linke, behielt jedoch die Knarre in der Rechten und nun gings durch die Menschen- und Lichtererfüllten Straßen nach Hause. Wie glänzte heute Abend die alte, dunkle Sperlingsgasse! Von den Kellern bis zum sechsten Stock, bis in die kleinste Dachstube war die Weihnachtszeit ein- gekehrt; freilich nicht allenthalben auf gleich „fröhliche, selige, gnadebringende“ Weise. Welch’ einen Abend feierten wir nun! Wir ließen unsere kleine Begleiterin natürlich nicht zu ihrem kaltgewordenen Stübchen hin- aufsteigen. War ich nicht schon auf der Universität mei- nes famosen Punschmachens wegen berühmt gewesen? (eine Kunst, die mir mein Vater mit auf den Lebens- weg gegeben hatte.) Der Karikaturenzeichner holte einen Tannenzweig, den er auf der Straße gefunden hatte, hervor und hielt ihn ins Licht. „Das ist der wahre Weihnachtsduft,“ sagte er, „und in Ermangelung eines Bessern muß man sich zu helfen wissen.“ Horch! was trappelt auf einmal da draußen auf der Treppe? Ein leises Kichern erschallt auf dem Vorsaal und scheint noch eine Treppe höher steigen zu wollen. „Zu mir?“ sagt Rosalie und springt verwundert nach der Thür. — — Ach, da ist sie?! schallt es draußen, und auch ich stecke meinen Kopf heraus. „Guten Abend alter Herr! Guten Abend Rosalie! Guten Abend Röschen!“ erschallte ein Chor heller lusti- ger Stimmen. „Wo ist Alfred, wir bringen ihm einen Weihnachts- baum!“ — „Hurrah, das ist’s, was wir eben brauchen!“ schreit der Zeichner seine Knarre schwingend. „Schönen guten Abend meine Damen und fröhliche Weihnachten!“ Aus dunkeln Mänteln und Shawls und Pelzkragen entwickelt sich jetzt ein halbes Dutzend kleiner Theater- feen, die alle jubelnd und lachend meine Stube füllen und — auf einmal alle ein verschiedenes Musikinstrument hervorholen, welches sie auf dem Weihnachtsmarkt er- standen haben. Ein Heidenlärm bricht los; das knarrt und quickt und plärrt und klappert, daß die Wände wiederhallen, und Rosalie, welche beschwörend von einer der kleinen Ratten zur andern lief, die Ohren zuhal- tend in dem fernsten Winkel sich verkriecht. — Endlich legt sich der Scandal mit dem ausgehenden Athem und der ausgehenden Kraft des Karikaturenzeich- ners, der vor Wonne über das Pandämonium, kaum noch seine Knarre schwingen kann. Welch’ ein Punsch war das! Welche Gesundheiten wurden ausgebracht! Welche Geschichten wurden erzählt! Vom Souffleur Flüstervogel bis zum Balletmeister Spolpato, ja bis zu seiner Excellenz dem Herrn In- tendanten! — Heute Abend malte Strobel keine Karikaturen, aber sich selbst machte er oft genug zu einer. Beim Versuch, sich auf einer, mit dem Halse auf der Erde stehenden, Flasche sitz’end zu drehen, beim Zuckerreiben, beim Ver- such, den glimmenden Docht eines ausgeputzten Wachs- lichtes wieder anzublasen und bei anderen Kunststücken. Alfred, der durch Unterlegung von Pfuffendorf’s und Bayle’s schweinslederner Gelehrsamkeit und verschiedener dickbändiger Erziehungstheorien dazu gebracht war, neben seiner kleinen Mutter sitzend, über den Tisch schauen zu können, jubelte mit, bis ihm die Augen zufielen und er auf meinem Sopha ein- und weiter schlief bis elf Uhr, wo das Fest endete, die kleinen Gäste wieder in ihre Mäntel krochen, mich für einen „gottvollen alten Herrn“ erklärten, Röschen küßten und nach einem vielstimmigen „gute Nacht“ die Treppe herabtrippelten. Darauf trug Strobel den schlafenden Alfred eine Treppe höher (wozu ich leuchtete) und — auch dieser Weihnachtsabend der Sperlingsgasse war vorbei. — Am 1. Januar. — Neujahrstag! — Ich habe einen Brief bekommen aus dem fernen Italien; ein köstliches Neujahrsgeschenk. Er spricht von der alten dunkeln Sperlingsgasse und Glück und Wiedersehen, und eine Frauenhand hat diese feinen, zierlichen Buchstaben gekritzelt. Den Namen der Schreiberin nenne ich aber noch nicht, sondern fahre in meinem Gedenkbuch fort, wozu ich diesmal eine neue Mappe hervorsuchen muß. — So war ich denn allein mit der kleinen Elise, die unbewußt ihres Waisenthums und des unbehülflichen Pflegevaters, auf Martha’s Schooß tanzte, als ich auch von dem Begräbnisse zurückkehrte in diese vor kurzem noch so fröhliche, jetzt so öde Wohnung in No. 7. der Sperlingsgasse. Da stand — es steht noch da — auf dem Fenstertritt Mariens kleines Nähtischchen mit un- vollendeten Arbeiten, Zwirnknäulchen, Nadeln und Bän- dern, wie sie es an jenem Abend, über Kopfweh kla- gend, verlassen, um nicht wieder davor zu sitzen, nicht wieder durch die Rosen- und Resedastöcke und das Epheu- gitter in die dunkle Gasse hinaus zu schauen. Da waren noch allenthalben die Spuren ihrer zierlichen Geschäftig- keit. Franz hatte die letzten drei Monate wie ein Ar- gus über ihre Erhaltung gewacht. — Dort auf jenem Stuhl hing ihr Hütchen, dort das Handkörbchen, welches sie bei ihren Einkäufen mit sich führte. — Im zweiten Fenster stand Franzens Staffelei: das vollendete Bild Mariens, lächelnd, wie sie nur lächeln konnte, — darauf lehnend. Seine farbenbedeckte Palette hing daneben, seine Skizzenmappen und Rollen lehnten und lagen allenthalben. Hinter der Thür hing sein zerdrückter Biber, den wir so oft auf unsern Spa- ziergängen mit Blumen und Laubgewinden umkränzten und der Marien, seines jämmerlichen manchen -sturm- durchlebten Aussehens wegen, ein solcher Dorn im Auge war. Kein Fleckchen, kein Geräth ohne seine traurig süße Erinnerung. Zerbrochenes Kinderspielzeug auf dem Bo- den ....... und ich allein mit dem Kinde in dieser kleinen Welt eines verlornen Glücks, — Erbe von so viel Schmerz und Thränen und Verlassenheit! Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen. Ich mußte mich aufraffen. Ich nahm der Wärterin das kleine Lischen aus den Armen, küßte es und versprach mir leise dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer Helfer zu sein im Glück und Unglück, bei Nacht und bei Tage und — ich glaube den Schwur gehalten zu haben. Das Kind schaute mich mit seinen großen, blauen — denen der Mutter so ähnlichen — Augen lächelnd an, griff mit beiden Händchen mir in die Haare und begann lustig zu zausen, wobei die alte Martha mit gefalteten Händen zusah. Martha war schon Mariens Wärterin im Rectorhause zu Ulfelden gewesen, war mit ihr zur Stadt gekommen und hatte sie nicht verlassen, bis an ihren Tod. Da meine Wohnung drüben in No. 11 zu beschränkt war, um die ganze kleine Welt dahin überzusiedeln, so hielt ich zuerst mit der Martha einen Rath, dessen Re- sultat war, daß ich meine Bücher, Herbarien, Pfeifen und unleserlichen Manuscripte nach No. 7. herüber holte, worauf Martha Alles auf’s Beste einrichtete. Indem ich alle Liebe für die Eltern nun in dem Kinde concen- trirte, hoffte ich auf den Trümmern des zusammenge- stürzten Glücks ein neues hervorblühen sehen zu können. — Drüben blieb die Wohnung nicht lange leer; mein dicker Freund, der Doctor Wimmer, zog ein und machte eine geraume Zeit den Haupthelden und Faxenmacher der Sperlingsgasse. Am 5. Januar. — Elise! — So oft ich diesen Namen niederschreibe, klingt es wieder in der immer dunkler herabsinkenden Nacht meines Alters, wie ein Kindermärchen, wie Lerchen- jubel und Nachtigallenklage, — umgaukelt es mich so duftig, so leicht, so elfenhaft ...... Elise, Elise komm zurück! Sieh’ ich bin alt und einsam! Weißt Du nicht, daß ich Dich auf den Armen schaukelte, daß ich über Dir wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über ihrem Kinde wachen kann? — Und aus weiter Ferne glaube ich oft eine zärtliche wie Musik tönende Stimme zu vernehmen: Ich komme! ich komme! — Geduld, nur noch eine kurze Zeit! — Und ich warte und hoffe und fülle diese Blätter mit den Namen meines Kindes Elise! So tauche denn auf aus dem Dunkel du Idyll, bringe mit dir deine Märchenwelt, dein Lächeln durch Thränen! Komm mein kleines Herz; — aus den schweins- ledernen Folianten lassen sich so hübsche Puppenstuben bauen; schau’ einmal her, was für ein prächtiges Bett giebt mein Papierkorb ab für die Jungfern Anna, Laura, Josephine und wie die Kleiegefüllten Donnen sonst heißen! Einen niedlichen, goldigen Canarienvogel schenke ich Dir, wenn Du nicht weinen willst und hübsch herzhaft den Löffel voll brauner Medizin herunterschluckst! — Weine nicht Liebchen, sieh wie das Epheu aus Deiner Mutter Heimathswalde Blättchen an Blättchen ansetzt und im- mer höher an der Fensterwand sich emporrankt. Schau, wie der Sonnenschein hindurchzittert und auf dem Fuß- boden tanzt und flimmert; — es ist wie im grünen Wald — Sonnenschein und blauer Himmel! Du mußt aber auch lächeln! — Und wie das Epheu höher und höher emporsteigt, so wächst auch Du, mein kleines Lieb; schon umgeben eben so feine, lichtbraune Locken, wie die auf jenem Bilde, Dein Köpfchen. Wer hat Dich gelehrt, das Köpf- chen so hinüber hängen zu lassen nach der linken Seite, wie sie es that? Schüttle die Locken nicht so und gucke mich nicht so schelmisch an aus Deinen großen, glänzenden Augen! Soll das ein R sein, dieses Ungethüm? O, welch ein Klex Schriftstellerin! Welche Dintenverschwendung von den Händen bis auf die Nasenspitze! Wie wird die alte Martha waschen müssen! Du sagst: Du habest nun ge- nug Buchstaben gemalt, Du müssest jetzt herunter; Du meinst: sogar die Fliegen hielten es nicht mehr aus in der Stube, Du sähest wohl, wie sie mit den Köpfen ge- gen die Scheiben stießen?! Nun so lauf und fall’ nicht, Wildfang; ich sehe ein, wir müssen Dich doch wohl zu dem Herrn Roder in die Schule schicken, damit Du Stillsitzen lernst. — — Was ist das auf einmal für ein helles Stimmchen, welches drüben aus dem Fenster meiner alten Wohnung in No. 11 ruft: „Onkel Wachholder, Onkel Wachholder! Ausgehen, Ausgehen!“ Quält die kleine Hexe nicht schon wieder den Doc- tor der Philosophie Heinrich Wimmer, der da drüben seine Leitartikel und schlechten Romane schreibt? Wirk- lich es ist so. Eine Baßstimme brummt herüber: „Wachholder, ’s ist ’ne absolute Unmöglichkeit, bei dem Heidenlärm, den Euer Mädchen hier mit dem Buch- druckerjungen und dem Rezensenten — (Rezensent heißt der Hund des Doctors, ein ehrbarer, schwarzer Pudel) treibt, weiter zu schreiben. Ich bin mitten in einer der sentimentalsten Phrasen abgeschnappt, — die kleine Range ist aus Rand und Band und dabei grinst der Lümmel Fritze im Winkel und will Manuscript für die morgende Nummer“ .... „Schicken Sie doch das Mädchen fort, Doctor, und riegeln Sie Ihren Musentempel hinter ihr zu!“ lache ich hinüber. „Dummes Zeug,“ brummt der Doctor, der eine echte Zeitungsschreibende Bummelnatur ist, und dem die Störung durchaus nicht mißfällt. „Dummes Zeug; ich schreibe „Fortsetzung folgt“ und wir bringen die Dirne nach Schreier’s Hunde- und Affenkomödie; der Rezen- sent hat’s auch nöthig, daß seine ästhetische Bildung auf- gefrischt werde, wie ein Pack verflucht sonderbar riechen- der Zeitungsnummern in der Ecke zur Genüge beweist! Machen Sie sich fertig, Verehrtester! —“ Damit verschwindet der Doctor vom Fenster; ich höre drüben auf der Treppe ein Getrappel kleiner Füß- chen und Lise erscheint, begleitet vom Rezensenten, in der Hausthür. Mit einem Satz ist sie über die Gasse, ebenso schnell bei mir und im Handumdrehen fertig — wenn’s sein müßte, eine Reise um die Welt anzutreten. Einige Minuten später stürzt Fritze, der Drucker- junge, aus der Thür von Nummer Eilf mit einem Blatt Papier, welches noch sehr naß zu sein scheint, denn er trägt es gar vorsichtig und hält es mit beiden Händen weit von sich ab. Jetzt erscheint der Doctor ebenfalls in der Gasse, den östreichischen Landsturm pfeifend, die Cigarre im Munde und mit dem Hakenstock sehr burschi- kose Fechterübungen gegen einen eingebildeten Gegner machend. Er brüllt herauf: „Wetter, edler Philosoph, lassen Sie die deutsche Presse nicht zu unvernünftig lange warten.“ Halb gezogen von Lischen, halb umgeworfen vom Rezensenten, der, wie es scheint, seiner höheren Bil- dungsschule sehr ungeduldig entgegengeht stolpere ich die Treppe hinunter: über Eimer und Besen, über Kin- der und Körbe. Aus allen Thüren schauen alte und junge, männliche und weibliche Köpfe, die alle der klei- nen Lise Ralff freundlich zunicken. Und wirklich, sie ist auch, — wie einst ihre Mutter, nur jetzt noch auf andere Weise — das bewegende Princip der ganzen Hausge- nossenschaft. Auf der Gasse taucht der Klempner Mar- quart aus seiner Höhle auf und erhält von der Lise Gruß und Handschlag, nicht aber vom Rezensenten, der den Feuerarbeiter haßt und, wie es so oft in der Welt geschieht, das Werkzeug für die Ursache nimmt. — Hat nicht Marquart auf hohe polizeiliche Anordnung ihm, dem ehrbaren, soliden Rezensenten, dem Muster aller Pudel, den Maulkorb mit der Steuermarke um die be- schnurrbartete Schnauze geschlossen? Wer verdenkt es dem braven Köter, wenn er wehmüthigwüthig vor dem Keller den Husarenfederbuschartig zugeschnittenen Schwanz zwi- schen die Beine zieht und seitwärts schielend vorbeischleicht, „sich in die Büsche schlägt“ wie Seume und mein Freund Wimmer sagen? Und nun durch die Gassen! Himmel, was sollen wir der Kleinen nicht Alles versprochen haben! Da eine „reizende“ Gliederpuppe mit Wachsgesicht, an jenem Laden wieder ein „wonniges“ kleines Puppen- servi ç e von gemaltem Porzellan und so fort, daß der Doctor ganz wehmüthig den Hut auf die Seite schiebt und sich hinter dem Ohr kratzt. „Ja, kucke nur, Onkel Wimmer, hast Du nicht gesagt, Du wolltest mir solch’ ein hübsches Kaffee- geschirr kaufen, wenn ich nicht wieder aus Deinen alten, schmutzigen Schreibbüchern dem Rezensenten einen Feder- hut machen wolle?“ „Denken Sie, Wachholder“ — sagt der Doctor zu mir — „da hatte die Herostratin vorgestern einen gan- zen Bogen Manuscript, das ganze zwanzigste Kapitel der Flodoardine zu dem eben von ihr erwähnten Zwecke vermißbraucht! Denken Sie sich meine Verblüfftheit, als der Köter so geschmückt aus seinem Winkel mir ent- gegenstolzirt, auf den Stuhl mir gegenüber springt und einen verachtenden Blick über den Schreibtisch und die noch übrigen Bogen wirft, als wolle er sagen: Pah, aus dem andern Schund machen wir eine ganz famose Jacke!“ „Kriege ich mein Geschirr?“ ruft der kleine Verzug zwischen uns ungeduldig. „Ja,“ sagte der Doctor gravitätisch; „mit der zwei- ten Auflage der Flodoardine!“ — „Ach,“ mault die Kleine wehmüthig über diese dunkle, ihr unverständliche Vertröstung — „ich sehe schon, Du hast wieder mal kein Geld!“ Lachend marschirte ich weiter, während der Doctor ebenfalls etwas Unverständliches in den Bart brummte. Und jetzt sind wir am Eingange der buntgeschmück- ten Bude angekommen und einen Augenblick darauf auch drinnen. Affen und Aeffinnen, Hunde und Hündinnen, machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten auch hier eine Welt, und Affe und Aeffin, Hund und Hündin betrugen sich wie Menschen. Die kleine Elise jauchzte, und Rezensent starrte verwundert seinen Stam- mesgenossen auf der Bühne zu. Er schien ganz perplex und von Zeit zu Zeit stieß er einen heulenden Laut, den der Doctor verdollmetschte: „Berichterstatter war außer vor Entzücken.“ Bellte der gelehrte Pudel kurz und schroff, so meinte der Doctor das bedeute: „Berichterstatter war außer sich über die Inso- lenz eines so unreifen Künstlers, vor einem so kritisch gebildeten Publikum, wie das unserer Re- sidenz, zu erscheinen.“ Wedelte das Vieh mit seinem Husarenbusch, so hieß das: „Diese junge Künstlerin verdient alle Ermunte- rung. Bei fortgesetztem fleißigem Studium ver- spricht sie etwas Großes zu leisten.“ Gähnte der Köter, so sagte der Doctor: „Berichterstatter räth dem Verfasser dieses geist- vollen Stücks, sein elendes Machwerk nicht für dramatische Poesie auszugeben. Mit einer Tragödie hat es nichts gemein, als fünf Acte!“ — Als am Schluß der Vorstellung das große und kleine Publikum sich erhob und Beifall klatschte, der Pudel aber wie von einer großen Verpflichtung be- freit, unter die Bank sprang, erklärte der Doctor, das bedeute: „Gottlob, daß die Geschichte vorbei ist. Jetzt kann man sich doch mit Gemüthsruhe eine Cigarre anstecken und zu Butter und Wagener am Gänse- markt gehen.“ Und das that der Doctor auch. Vorher aber hob er die kleine Elise noch zu sich empor und gab ihr — 6 wie sehr sie sich auch sträubte — einen tüchtigen Schmatz. „Also bei der zweiten Auflage der Flodoardine schaf- fen wir uns ein neues Theeservi ç e an,“ sagte er lachend. Rezensent schien erst im Zweifel mit sich zu liegen, welcher von beiden Parteien er folgen solle. Zuletzt gewann aber der Gedanke an Wurstschelle und so weiter die Oberhand. Er trabte dem Doctor nach. — — Wir aber gehen nicht zu Butter und Wagener am Gänsemarkt. Wir kaufen noch Obst von der alten Hökerfrau an der Ecke, und kehren glücklich — das kleine Herz voll vom Affen Kätz mit der Laterne und dem Spitz Hudiwudri, der lustigen Madame Pompadour und all den andern Wundern, zurück in unsere Sper- lingsgasse und schlafen, müde vom Gehen, Lachen und Jubeln, schon beim Ausziehen ein. — — — Dann steigt der volle, reine Mond über den Dächern auf. Der Abendwind weht frischere Lüfte über die große Stadt. Der Lärm des Tages ist vorbei; manche bedrückte Brust athmet leichter in der dämmerigen Kühle. Mancher sehnige Mannsarm, der den Tag über den Hammer, das Beil, die Feile regierte, legt sich sanft um ein befreundetes Wesen, das ihm neuen Muth im harten Kampf gegen die Materie giebt; manche harte Hände heben kleine, schlaftrunkene Kindchen aus den ärmlichen Bettchen, um an den kleinen Lippen Hoffnung und Muth zum neuen Schaffen zu saugen! Und auch ich beuge mich dann über meine schlafende Pflegetochter, den leisen, ruhigen Athemzügen der kleinen Brust lau- schend, während die alte Martha am Fußende des Bet- tes strickt. Das Lockenköpfchen des Kindes liegt auf dem rech- ten Aermchen, das Gesichtchen ist in dem Kopfkissen be- graben; ich kann die lieblichen, reinen Züge nicht sehen. — — — — — — — — — — — Da sieh! Plötzlich wendet sich das Kind um und dreht mir voll das Gesicht zu — es murmelt etwas — „Mama!“ flüstert es leise und ein heiliges, glückseliges Lächeln gleitet über das Gesichtchen. Wer raunt der Waise das süße Wort zu! — Die alte Martha hat die Hände gefaltet und betet leise! — „Mama, liebe, liebe Mama!“ flüstert das Kind wieder, das Aermchen ausstreckend. Ist es ein Traum, oder kommt die erdentodte Mutter zurück, über ihrem Kinde zu schweben? Dann fällt wohl ein Mondstrahl glänzend durch das Epheugitter auf das Bild Mariens! Der Canarienvogel zwitschert auch wie im Traume auf! — — — Eine Wolke legt sich vor den Mond, der Strahl verschwindet, 6* — das Kind versenkt, sich umdrehend, das Köpfchen wieder in die Kissen. — — — — — — — „Gute Nacht, Elise! Felicissima notte, sagen sie in dem schönen Italien, wo Du heute weilst, eine glück- liche, liebende Frau: Felicissima notte, Elise!“ — Am 10. Januar. — Seit ich jene Mappe, überschrieben: Ein Kinderleben, — hervorgenommen habe, ist in meinem bisherigen Fen- ster- und Gassenstudium eine Pause eingetreten. Es soll draußen sehr kalter Winter sein; Strobel behauptet es, auch Rosalie ist nicht dagegen. Ich kann nicht sagen, daß ich viel davon wüßte. In diesen vergilben- den Blättern hier vor mir ist es sonniger Frühling und blühender Sommer. Es macht mir Freude, mich darin zu verlieren und ich erzähle deshalb weiter. Da ist so ein altes Blatt: Wir sind sehr ungnädig. Ein alter, dicker, lächeln- der Herr ist da gewesen, hat uns den Puls gefühlt, noch mehr gelächelt, einige Mal mit seinem spiegelblan- ken Stockknopf seine Nasenspitze berührt, hat Dinte und Papier gefordert und kurze Zeit auf einem länglichen Papierstreifen gekritzelt. Martha hat diesen Zettel dar- auf fortgetragen, der Alte hat uns auf das Köpfchen geklopft und gesagt: „Schwitzen, Schwitzen!“ — „Brr!“ — — Mühe genug hat’s dem Onkel Wachholder gekostet, einen solchen kleinen, strampelnden Wildfang zur Raison und ins Bett zu bringen. — S’ist auch zu viel verlangt, die Arme so ruhig unter die Decken zu halten und nur den Kopf frei zu haben. — Himmel, was bringt Martha da für einen kleinen, braunen Kerl an! Er gleicht fast dem Sem, dem Ham oder dem Japhet aus dem Noah- kasten, trägt ein rothes Mützchen über das Gesicht ge- zogen und mit einem Faden umbunden, und schleppt hinter sich her einen langen, papiernen Zopf. Was ist’s für ein Glück, daß wir noch nicht im Stande sind, die Inschrift darauf zu lesen: Fräulein Elise Ralff. Alle 2 St. einen Eßlöffel voll. Wir sehen den Burschen aber doch mißtrauisch genug aus unserm Bettchen an, und der Doctor Wimmer, der zur Hülfe herübergekommen ist, (natürlich begleitet vom Rezensenten) meint gegen mich gewandt: „Geben Sie Acht, Wachholder, ohne Spectakel wird’s nicht abgehen. Das Volk hat sich erkältet oder erhitzt; einerlei! Schwitzen, schwitzen! Schweiß und Blut! Probatum est. “ Martha kommt nun mit einem Löffel, einem Glas Wasser und einem Stück Zucker, während die Kleine in ihrem Bette immer unruhiger wird und Rezensent immer gespannter auf die Entwickelung der Dinge zu warten scheint. „Ich mag nicht einnehmen!“ wehklagt jetzt Lise, als ich dem Meister Sem die rothe Mütze abziehe, — „es schmeckt so scheußlich!“ — „Aha,“ lacht der Doctor Wimmer, — „die Ver- fassung!“ Während ich mich mit dem Löffel voll Medizin der Kleinen, die sich immer weiter zurückzieht, nähere, suche ich vergeblich alle möglichen Gründe für das schnelle Herunterschlucken hervor. „Gieb’s dem Rezensenten, — er war auch gestern mit im Regen!“ ruft Lischen endlich weinerlich. „Ja, das ist auch wahr; kommen Sie, Onkel Wach- holder! der Redactionspudel soll’s wenigstens kosten, damit die Lise sieht, daß es den Hals nicht gilt.“ Und der Doctor nimmt, den Rücken der Kleinen zugekehrt, den Köter zwischen die Knie, thut als ob er ihm einen Löffel voll Mixtur eingösse und liebkost den Pudel dabei, daß dieser freudig aufspringt und lustig bellt. „Siehst Du, Jungfer, wie prächtig es ihm ge- schmeckt hat! Allons, kleine Donna! Frisch herunter! — — — Eins! Zwei! Drei und“ ..... Herunter war’s. Schnell das Glas Wasser und das Stück Zucker dahinter her! „Du häßlicher Hund!“ sagt die Kleine ärgerlich, den Mund in dem Deckbett abwischend, während die alte Martha sie fester wieder zudeckt. Der Doctor geht nun zurück zu seinen Correctur- bogen, aber der Hund begleitet ihn dies Mal nicht, sondern springt auf den Stuhl neben dem Bettchen seiner grollenden Gespielin und schaut gar ehrbar auf sie herab. „Ja, kucke mich nur so an und lecke deinen Schnurr- bart,“ sagt Lischen. „Es schmeckte ja doch bitter?! Warte nur, wenn ich erst wieder aus dem Bett darf“ ..... Da Rezensent nicht antwortet, so nehme ich für ihn das Wort: „Vielleicht freute sich das arme Thier nur, daß es nun auch bald wieder gesund werden könne, — es war doch eben so naß geworden wie Du und hat gewiß auch die ganze Nacht hindurch gehustet.“ „Nein,“ sagte die Kleine, „er thats nur, weil ich ihm meine Schürze über den Kopf gebunden hatte. Sieh nur, wie er sich freut, wie er seinen Schnurrbart leckt!“ — Dagegen läßt sich nichts einwenden, das Redactions- vieh leckt wirklich mit ungeheuerm Behagen die Schnauze, und ich ziehe es vor, die moralische Seite herauszukehren. „Das war aber auch sehr unrecht von Dir, Elise! Was hatte Dir denn das arme Thier gethan? Eigent- lich dürfte ich Dir nun die schöne Geschichte, die ich weiß, gar nicht erzählen.“ „Wir wollen uns wieder vertragen,“ sagt Elise wehmüthig und nickt dem Pudel zu. „Nicht wahr, Du?“ Glücklicherweise legt Rezensent gravitätisch seine schwarze Pfote auf die Bettdecke, und so nehme ich den Frieden für geschlossen an. „Gut denn, wenn Du hübsch artig und still liegen bleiben und weder Händchen noch Füßchen hervorstrecken willst, so werde ich Dir eine wunderbare Geschichte er- zählen, die noch dazu ganz und gar wahr ist.“ „Höre:“ „Es war einmal ein — Küchenschrank; ein sehr vor- trefflicher, alter, ehrenfester Küchenschrank und er stand und steht — draußen, in unserer Küche, wo wir ihn uns morgen ansehen wollen! — Er war fest verschlos- sen, welches von zwei sehr wichtigen und angesehenen Personen, die davor standen, für das einzige Uebel an ihm erklärt wurde. Martha hatte aber die Schlüssel in ihrer Tasche, und beide Personen, die ich Dir sogleich näher beschreiben will, erklärten das einstimmig — sie waren selten einer Meinung — für sehr unangenehm, sehr unrecht und sehr Mißtrauen und Verachtung erregend.“ „Ich habe schon gesagt, daß beide davor sitzenden Personen von großem Ansehen und Gewicht waren, so- wohl in der Küche, als auf dem Hofe und dem Boden. Beide machten sich oft nützlich, oft aber auch sehr un- nütz. Jede hatte ein Amt zu verwalten und verwaltete es auch, — das war ihre Pflicht; jede mischte sich aber auch nur zu gern in Dinge, die ihr durchaus nichts angingen und das — war sehr unartig. Vor dem Küchenschrank zum Beispiel hatten sie in diesem Augen- blick durchaus nichts zu thun und doch waren sie da; guckten ihn an, guckten darunter, guckten an ihm herauf. Es roch aber auch gar zu lieblich daraus hervor!“ „Die eine dieser Personen war mit einem schönen, weißen Pelz bekleidet, einen kleinen Schnurrbart trug sie um das Stumpfnäschen und schritt ganz leise, leise auf vier Pfoten mit scharfen Krallen einher. Einen schönen, lan- gen, spitzen Schwanz hatte sie auch und sie schwang ihn in diesem Augenblick heftig hin und her, denn sie ärgerte sich eben sehr und zwar über drei Dinge: erstens: über den verschlossenen Schrank, zweitens: über die andere Person, drittens: über sich selbst.“ „Es war, es war ..... nun Lischen, wer war es?“ „Die Katze, die Katze!“ „Richtig, die Katze, Mietz, der Madame Pimpernell ihre Katze. (Holla, Rezensent! Du brauchst nicht auf- zustehen!) Die andere Person war etwas größer, als Mietz, hatte einen braunen Pelz an, marschirte auch auf vier Beinen einher, wie Mietz, aber lange nicht so leise, und ärgerte sich auch über drei Dinge: das Schloß am Schranke, die Katze und sich selbst. Ihren Schwanz hätte sie ebenfalls gern hin und her geschleudert, aber sie konnte es leider nicht, denn sie besaß nur einen ganz kleinen Stummel, nicht der Rede werth. Das machte sie fast noch ergrimmter, als Mietz, denn die konnte doch wenigstens ihrem Zorn Luft machen.“ „Nun, wer mochte diese zweite Person wohl sein, Lise?“ „Der Hund, Marquart’s Bello!“ schrie Elise ganz entzückt. — „Gerathen, es war Bello, der Edle; ein weiter Ver- wandter vom Rezensenten und sonst auch ein ganz netter Kerl, aber — wie gesagt — vor dem Schrank hatte er nichts zu suchen!“ „Nun?“ sagte Mietz, den Bello anguckend. „Nun?“ sagte Bello, die Mietz anguckend. „Miau!“ klagte Mietz, den Schrank anguckend. „Wau!“ heulte Bello, den Schrank anguckend. „So weit waren sie; sie wollten aber dabei nicht bleiben!“ — „Packen Sie sich auf den Hof,“ sagte die Katze, was haben Sie hier zu gaffen?“ — „ Sie hätte ich Lust zu packen, schrie der Hund, „scheren Sie sich gefälligst auf Ihren Boden und fangen Sie Mäuse. Aufkriegen Sie ihn doch nicht!“ „Pah!“ sagte die Katze und schleuderte ihren schönen Schweif dem Hunde zu, welches so viel heißen sollte, als: „Armer Kurzstummel, wenn ich nur wollte!“ — Das war aber dem armen Bello zu viel, denn jede An- spielung auf seinen Stummel machte ihn wüthend, wie auch der Swinegel, der mit dem Hasen auf der Buxte- huder Heide um die Wette lief, nichts auf seine krum- men Beine kommen ließ.“ „Auf sprang also Bello, heulte furchtbar und wollte eben der Mietz an ihr schönes, glattes Fell, als auf einmal ...... Piep, Piep, Piep! es im Schranke ertönte.“ „Mause, Mi — ause, Mi — ause am Braten drinnen — und ich dri—außen, dri—außen, dri—i—i—außen!“ — jammerte die Katze.“ „Wau, wau; das kommt von Ihrem albernen Be- tragen und Ihrer Nachlässigkeit!“ heulte der Hund und dann — kam Martha vom Markte zurück, und Hund und Katze gingen hin, wo sie her gekommen waren.“ „Jetzt aber, mein Kind, schlaf ein und schwitze recht tüchtig, damit wir morgen die Stelle besehen können, wo diese merkwürdige Geschichte vorgefallen ist.“ Und so geschah’s; Lischen schlief ein, ich aber freute mich, wieder einmal ein Mährchen geendet zu haben, wie ein wahres Mährchen enden muß; nämlich ohne Schluß und ohne Moral. Daß der Doctor nicht bei meiner Er- zählung war, konnte mir ebenfalls nur lieb sein. Jeden- falls hätte er wieder schnöde Vergleiche und Anspielun- gen losgelassen, was mir sehr unangenehm gewesen wäre.“ „Herr Wachholder!“ sagte Martha auf einmal ganz treuherzig, — „das Loch im Schranke hat der Tischler Rudolf schon wieder zugemacht. Die Mäuse können nun nicht mehr hinein“ .... „Bis sie sich wieder durchgefressen haben, Martha!“ Ich dachte an den Doctor und seine Anspielungen. Am 11. Januar. — Wie das Epheu aus dem Ulfeldener Walde höher und höher hinaufsteigt an der Wand des Fensters, geküßt von der warmen Sonne, getränkt von kleinen, sorgenden Händen, welche alle verwelkten, gelben Blätter abpflücken, daß die Pflanze immer frisch und jung dastehe. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, aus Monaten Jahre, und das junge Menschenkind wächst und entfaltet sich schöner und blühender als die köstlichste, wundersamste Pflanze. Die alte Martha wird immer älter und gebückter, und graues Haar mischt sich mehr und mehr unter mein braunes. Zum ersten Mal ist der Tod an mein Kind herangetreten. Es hat über der ersten Leiche geweint. Der hübsche, goldgelbe Canarien- vogel, der so zahm und lieb war, lag eines Morgens kalt und erstarrt auf dem Boden seines kleinen Hauses. So fand ihn Elise und schrie auf, nahm ihn in ihre Hände, hauchte ihn an und suchte ihn zu erwärmen — ach armes Kind: die Todten kommen nicht wieder! — Leg’ ihn nieder, Deinen kleinen Freund; auch Dir jungem Wesen ist es jetzt schon nicht mehr vergönnt zu klagen und zu trauern, wie Du wohl möchtest; auch Dich hat das Leben jetzt schon erfaßt und in seine Wirbel ge- zogen; — gehe hin mit Deinem gedrückten, kleinen Her- zen — daß Du die Schule nicht versäumst! — Eilf Jahre alt ist mein Kind jetzt in den Blättern der Chronik. Das runde Gesichtchen zieht sich schon mehr und mehr zu jenem Oval, welches das Bild dort an der Wand so lieblich macht; aus Lischens Kinderstimme klingt mir nun oftmals, — wenn sie sich wundert, sich freut oder klagt — ein Ton entgegen, der mich fast er- schreckt auffahren läßt. Es ist derselbe Ausruf, den sie an sich hatte! Wer hat ihn Dich gelehrt, kleines Herz? Diesen Ton, den ich für ewig verklungen hielt und welcher jetzt nach so langen Jahren wieder frisch und lebendig wird? — Weine nicht mehr, Lischen, sieh’, ich will Dich an ernstere Gräber führen, draußen vor der Stadt. Da wollen wir uns hinsetzen unter die blühenden Rosen- büsche und denken, daß die Welt so groß, so unendlich groß sei — und doch Nichts verloren gehe! Da wollen wir auch dem todten Vogel sein kleines Grab graben und uns vorstellen, daß im nächsten Frühlinge aus sei- nem kleinen Leibe eine hübsche, goldgelbe Blume auf- sprießen werde: zur Freude des bunten, winzigen Schmet- terlings und des großen, ewigen Gottes! — Stecke Dein Butterbrot in Deine Korbtasche, Lischen (wenn du es heute vielleicht auch verschenken wirst) — gieb mir einen Kuß und grüße den Herrn Lehrer Roder! Du kannst ihn auch fragen, ob er nicht morgen am Sonntag mit uns hinausgehen wolle in den Wald und vielleicht auch weiter. — Lischen nickte und ging — noch immer schluchzend; ich aber machte mich auf den Weg zur Expedition der Welken Blätter, ohne eine Ahnung von dem neuen tragischen Ereigniß, welches den Tag noch wichtig machen sollte. Mohrenstraße No. 66 war damals schon und ist auch heut noch das Bureau dieses bekannten Blattes. Ich hatte bald meine Geschäfte abgemacht mit dem Haupt- redacteur dem Doctor Brummer, einem kleinen, queck- silbrigen Individuum mit goldener Brille und rother Perrücke — jetzt lange todt — und schwatzte noch mit den anwesenden Journalisten und den Künstlern beiderlei Geschlechts, die gelobt sein wollten, — — als plötzlich die Thür aufgerissen wurde und der Doctor Wimmer erschien, begleitet von dem, uns nur zu wohl bekannten dicken, hochrothgesichtigen Polizeicommissar Stulpnase. Da sie mit einander eintraten, war es nicht ausge- macht, wer von Beiden den Andern eigentlich mit- schleppe. „Meine Herren!“ schrie einen gestempelten Bogen schwingend der Doctor, — „Ausgewiesen!“ — „Ausgewiesen!?“ ertönte es im Chor verwundert und fragend. „Auskewiesen? Was das sein, Signor dottore?“ fragte Signora Lucia Pollastra, die jüngst angekommene Baßsängerin. „Ausgewiesen, — ausgewiesen, — das heißt, — cela veut dire: — eliminito! “ sagte der Hauptredac- teur, der alle Sprachen zu kennen glaubte. „Dio mio!” rief die Sängerin, die so klug als zu- vor war. „Sehen Sie, Wimmer; ich hab’s mir gleich gedacht!“ schrie eine feine sächsische Stimme, die dem zweiten Re- dacteur Flußmann aus „Dresen“ zugehörte, — „wie konnten Sie aber auch das schreiben?“ Der Journalist nahm die letzte Nummer der Wel- ken Blätter und las: … Und wenn alle Esel dieser Maßregel Beifall brüllen sollten: — ich kann sie nur „bewimmern!“ — — „Und er hatte seinen Lohn dahin und wurde selbst gemaßregelt!“ sagte der Doctor, welcher sehr ge- müthlich, den Hut auf einem Ohr, die Cigarre im Munde, auf einem hohen Dreibein saß. „Ich hätte das Deinetwegen schon nicht aufnehmen sollen, Wimmer!“ sagte Brummer. „Dann hättest Du ja selbst unter die Beifallsbrüller gehört, Alter!“ — — Jetzt mischte sich aber die hohe Polizei ein, welche bis dahin stillgeschwiegen und nur mit Würde ge- schnauft hatte. „Also in vierundzwanzig Stunden, Herr Doc- tor“ ..... „Habe ich das Nest hinter mir, Edelster! seien Sie unbesorgt!“ lachte der Doctor. — „Aber halt, Verehr- tester, würden Sie mir vielleicht wohl erlauben, Ihnen jetzt noch eine kleine Rede zu halten? — Fritze, Lümmel! Gieb dem Herrn Commissar einen Stuhl!“ Fritze, der unendlich selig grinzte, kam dem Gebote nach; die Polizei ließ sich schnaufend nieder und ihr Opfer — begann: „Ich habe in Jena studirt, Herr Polizeicommissarius. Das ist eine allgemein historische Thatsache, aber es knüpft sich Bemerkenswerthes daran. — Damals gab es dort einen raffinirt groben Philister, Deppe genannt, der alle Augenblicke eine sehr drastische Redensart her- ausdonnerte, übrigens aber der Gott aller der wilden Völkerschaften: Vandalen, Hunnen, Alanen, Viso-, Möso- und Ostrogothen u. s. w. u. s. w. war. Verehrtester Herr Commissarius: der deutsche Student, viel zu zart- fühlend, viel zu sehr von Alberti’s Complimentirbuch 7 angekränkelt, konnte unmöglich diese Redensart adopti- ren. Eben so wenig aber konnte er auch den Effect derselben auf Pedelle, Manichäer und dergleichen Gesindel entbehren. Was that er? — Er deckte Rosen auf den Molch und sagte: Deppe! — Deppe überall! Deppe konnte jeder Rector magni- ficus, Deppe jeder Professor, Deppe jede Professoren- tochter sagen. Also Herr Polizeicommissarius: Deppe ! ’N Morgen meine Herren! Addio Signora Polla- stra, brüllen Sie wohl! Ich muß packen!“ — Damit schob sich der Doctor der Philosophie Hein- rich Wimmer und verließ das Expeditionszimmer der Welken Blätter, um es nie wieder zu betreten. Nie aber habe ich ein solches Gesicht wiedergesehen, als das des edlen Stulpnase. Sprachlos saß er da; auf einmal aber sprang er auf, stülpte den Dreimaster über und schrie: „Man soll ja nicht denken, seinen Spaß mit einer hohen Behörde treiben zu können!“ — Damit stürzte auch er fort. „Wenn er nur nicht herausbringt, was „Deppe“ heißt!“ — sagte der Hauptredacteur unter dem unend- lichen Gelächter der Redaction und der Anwesenden, und die Versammlung löste sich auf. — Nach Hause zurückgekehrt, traf ich die kleine Lise, die bereits aus ihrer Schule zurückgekommen war, über einer bunten Pappschachtel an, in welche Martha den Vogel gelegt hatte. Den Doctor hörte ich drüben ge- waltig rumoren und von Zeit zu Zeit erschien er am Fen- ster, blies eine Rauchwolke zum blauen Sommerhimmel hinauf, oder pfiff eine Passage aus dem östreichischen Land- sturm, seinem Lieblingsstück. Der kleinen Lise sagte ich von dem Schicksal ihres dicken Freundes noch nichts; ich wollte ihr das Herz nicht noch schwerer machen. Mittags konnte sie schon so vor Betrübniß nichts essen, obgleich sie ihr Butterbrod richtig weggeschenkt hatte. Alle Augenblicke richteten sich ihre Augen auf die bunte Schachtel, worin das todte Thier lag. Am Abend begruben wir es unter dem blühenden Rosenstrauch zu den Füßen der Gräber von Franz und Marie. Die rothen Abendwolken segelten über uns weg, die Rosen dufteten so herrlich; überall Licht und Blumen. Ich saß auf dem Bänkchen neben den Grä- bern; Elise hatte ihr Köpfchen an meine Brust gelegt, sie hatte sich so müde getrauert, daß sie — o glückliche Kindheit! — die Augen schloß und einschlummerte. Eine schöne, bleiche, schwarzgekleidete Dame kam und kniete an einem einfachen Denkmale nieder; arme Kin- der legten, weiter weg an der Kirchhofsmauer, Wald- 7* blumenkränze auf das Grab des todten Vaters; ein Greis schritt gebückt an den Steinen und Kreuzen um- her, die Aufschriften lesend. In der Stadt verkündeten alle Glocken den morgen- den Sonntag; voll und rein wogten die feierlichen Klänge, die in den Straßen im Rollen und Rauschen der Ar- beit ersticken, über diese stille Welt hinweg. Immer goldner glänzte der Himmel im Westen, immer tiefer sank die Sonne dem Horizont zu. Nacht wird’s auf der einen Hälfte dieses drehenden Balles, während auf dem großen atlantischen Ocean vielleicht eben ein Schiff dem jungen Amerika entgegensegelnd, die Sonne auf- steigend begrüßt. Vielleicht ist es nur ein Schiff, das jetzt im jungen Tage segelt, während hier die Nacht sich über so viele Millionen legt. — Dort steht der Führer auf dem Verdeck, das Fernrohr in der Hand; — im Mastkorb schaut ein freudiges Auge nach dem ersehn- ten Lande aus, überall Leben und Bewegung. — Hier zündet der einsame Denker seine Lampe an und schlägt die Bücher der Vergangenheit auf — die Zukunft dar- aus zu enträthseln und findet vielleicht, daß die Nacht, die auf den Völkern liegt, ewig dauern wird, in dem- selben Augenblick, wo auf jenem einsamen Schiff der Will- kommensschuß donnert: „Amerika!“ die zu den Schiffs- rand stürzende Auswandrerschaar ruft, und eine Mutter ihr kleines lächelndes Kind in die Morgensonne und dem neuen Vaterland entgegenhält! — Das Gras fängt an feucht zu werden, ich muß meine kleine Schläferin aufwecken. Die bleiche Frau erhebt sich ebenfalls; sie kommt auf uns zu. Wir ken- nen uns nicht; aber hier auf dem Kirchhof scheut sie sich nicht, sich über mich und das schlummernde Kind zu beugen. „Lassen Sie mich die Kleine küssen!“ sagt sie. — — — — — — — Ich sehe sie unter den Bäumen verschwinden, ein Tuch vor den Augen. Elise erwacht: „O wie schön!“ ruft sie, in die Glut des Abends schauend. — „Gute Nacht Franz! Gute Nacht Maria!“ — — Holla! Was ist in der Sperlingsgasse los? Als wir nach Haus kommen, herrscht ein Tumult darin, wie ich ihn noch nie darin erlebt habe. In allen Hausthüren schwatzende Gruppen, jede Arbeit eingestellt: Salat- waschen, Schuhflicken, Strümpfestopfen, Hämmern, Sä- gen, Federkritzeln, Alles in’s Stocken gerathen, nur nicht — die Zungen! „O je, o je Herr Wachholder, sehen Sie mal da oben!“ schreit Martha, die auf der Treppe unserer Haus- thür, umgeben von einem Kreis Nachbarinnen, Posto gefaßt hat, mir schon von weitem entgegen. „Was giebt’s denn Martha? was ist los?“ — rufe ich ihr entgegen. — „Der Herr Doctor Wimmer ist los!“ — jubeln zwanzig Stimmen um mich und zwanzig Finger zeigen nach dem Fenster des vortrefflichen Burschen, welcher der „bunte Hund“ der ganzen Gasse war. Ein großer Bogen Papier flattert dort oben und darauf steht mit gewaltigen Buchstaben: DR. WIMMER P. P. C. Aus dem offenen Fenster aber beugt sich — Herrn Polizeicommissarius Stulpnase’s ehrwürdiges Vollmond- gesicht, und seine weißbehandschuhten Hände sind bemüht, den Zettel abzunehmen. Ich überliefere schnell die verwunderte Lise der alten Martha und steige die Treppen zu der Wohnung des Doctors hinauf, welches sehr langsam geht, denn vor mir her schiebt sich eine unbeschreibliche, wunderbare Masse von Kleidungsstücken ächzend und stöhnend den engen Weg langsam, langsam hinauf. Das war die dicke Madame Pimpernell, die das Ereigniß seit langen Jahren zum ersten Male wieder in die obern Räume ihres Hauses trieb. Das Zimmer beschrieb ich neulich bei meinem Besuch des Zeichners Strobel und brauche daher jetzt nur zu sagen, daß der Nachlaß des Doctors in einem zerspal- tenen Stiefelknecht, einer leeren Zigarrenkiste — Fuma- doria regalia — und einem Exemplar der Flodoardine bestand. Stulpnase saß da auf einem Stuhl, schaute das leere Nest wehmüthig-grimmig an und ächzte: „Ausgewiesen! Nun gar ausgekniffen! Donner- wetter — ohne erst für seinen „Deppe“ gesessen zu haben.“ „Jotte, einer armen Wittfrau ihren besten Miether abzutreiben, is das in der Ordnung Herr Kumzarius? Habe ich darum Ihrer Frau die Butter immer um ’nen Dreier billiger gelassen?“ greint die dicke Madame Pim- pernell, die ebenfalls dem Beamten gegenüber auf einen Stuhl gesunken ist. „Halte Sie das Maul, Frau!“ schnauzt Stulpnase, worauf die Dicke ein Gesicht macht, wie es einst jedes brave corinthische Weib geschnitten haben muß, als es das Wort des Apostels Paulus hörte: Mulier taceat in ecclesia. Nach einer feierlichen Stille von einigen Minuten stößt Stulpnase ein dumpfes Geheul aus und seufzt in sich: „Deppe“. Plötzlich aber, mit Wuth auf seine Brusttasche schlagend, schreit er: „Und hier hab’ ich den Verhaftsbefehl: Beleidigung eines Beamten im Dienst, und — ausgekniffen!“ Ich wage es nicht, den aufgebrachten Leuen durch Lachen noch mehr zu reizen, verschwinde und platze erst auf der Treppe los, die beiden Würdigen einander ge- genüber sitzen lassend. In der Gasse steckt mir Marquart ein Billet zu und flüstert geheimnißvoll, nach dem Fenster des Doctors deutend: „Das hat er zurückgelassen für Sie Herr Wachhol- der!“ Der Zettel lautet: Liebster Freund! „Eine hohe Polizei weiß, was „Deppe“ heißt, „obgleich es nicht im Conversationslexikon steht. Ein „Freund hat mich gewarnt; — ich verschwinde! — „In den böhmischen Wäldern sehen wir uns wieder! — Dr. Wimmer.“ P. Scr. Der Redactionspudel begleitet mich! — „Onkel, was soll denn das Alles bedeuten, wo ist denn der Onkel Doctor?“ fragt die kleine Lise, welche, obgleich schon im Nachtzeug, nicht vom Fenster wegge- kommen ist. Ich schreibe: pour prendre congé auf einen Zettel und Lischen, die jetzt schon eine kleine Gelehrte ist, hat mit Hülfe eines Dictionnaires noch vor dem Schla- fengehen heraus: „Um — nehmen — Abschied“ — „Der Onkel Wimmer muß eine kleine Reise machen, Schatz!“ — Damit geht Elise getröstet zu Bette und verschläft und verträumt sanft ihren ersten Schmerz. In diesem Alter genügt noch eine Nacht , ihn zu begraben. Am 12. Januar. — Ich hab’s mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte und ich hab’s auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich male Bilder und bringe keine Handlung; ich breche ab ohne den alten Ton ausklingen zu lassen; ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen, ich — schreibe keinen Roman! — Heute werfe ich zum ersten Mal einen prüfenden Blick zurück und muß selber lächeln. Alter Kopf, was machst Du? Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinaus- zugerathen unter sie? Doch — einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die Stunde, wo ich den Entschluß faßte diese Blätter zu bekritzeln, — mit einem Fuß in der Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der Vergangenheit! — Wieviel trübe, einsame Stunden sind mir dadurch nicht vorüber geschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter. Manche alte verstaubte Mappe mit Büchern, Heften, Zeichnungen, vertrockneten Blumen und Bändern liegt da; ich brauche nur hinein zu greifen, um eine süße oder traurige Erinnerung aufsteigen zu lassen, — keine aber so duftig, so waldfrisch, als die folgende, welche ich überschreibe: Ein Tag im Walde . „Fahren wir, oder gehen wir?“ hatte Lischen am Abend jenes auf den vorigen Seiten beschriebenen so ereiguißvollen Tages noch gefragt. „Wir fahren!“ war die Antwort gewesen und glück- lich darüber hatte sie das Näschen nach der Wand ge- kehrt und war eingeschlafen. Mit dem Wagen erschien am andern Morgen auch Roder, der Lehrer Elisens, den leichten Strohhut auf dem Kopf, die grüne Botanisirbüchse auf dem Rücken, schon an der Ecke lustig nach dem Fenster hinaufwinkend. Die alte Martha hatte den Kaffee fertig und Lis- chen, die bei ihrem Eifer ebenfalls fertig zu sein, dies- mal mehr Hülfe als gewöhnlich nöthig gehabt hatte, sprang die Treppe hinunter und erschien nun, den Lehrer hinter sich herziehend. — — Roder ist einer jener Volkslehrer, wie sie nur Deutsch- land hervorbringt. Er ist, wie es sich fast von selbst versteht, der Sohn eines Schulmeisters, der wiederum der Sohn eines Schulmeisters war; denn wenn es einen Stand giebt, der sich durch Generationen fortpflanzt, so ist es das deutsche Volkslehrerthum. Da bringt der Vater vom Lande einen seiner, gewöhnlich sehr zahl- reichen Söhne, in die Stadt; mit einer Bibel, einem Gesangbuch und vor allem einem Choralbuch als Biblio- thek. Der Junge ist der Stolz seines Vaters. Wer hat ein größeres Talent die Orgel zu spielen? wer hat eine bessere Stimme — wenn sie auch gerade sich setzt? So ausgerüstet betritt der junge Gelehrte den Schau- platz seiner weitern Ausbildung; gewaltig packt ihn an- fangs das Heimweh unter der wilden Bande seiner Mit- schüler, die ihn hänseln und zum Besten haben in seiner Gutmüthigkeit und Unerfahrenheit. Das Leben ist ihm anfangs nur ein erster April, wo man die Narren „umherschickt — in den April.“ Selbst der Zuwachs seiner Bibliothek, bestehend aus den Schulbüchern seiner Klasse und — Funke’s Naturgeschichte, vermag ihn nur mittelmäßig zu trösten; ein größerer Freund ist ihm in dieser Epoche seines Daseins das alte wacklige Clavier, welches ihm der Vater gemiethet und in sein Dachstüb- chen gestellt hat. Davor sitzt der Arme und spielt seine Choräle und Volksweisen, — letztere nach dem Gehör — und denkt zurück an sein Dorf, an seine Eltern und Geschwister und vor allem an die Schule, wo er der Erste war, — ja sogar in der Ernte den Vater zuweilen vertreten durfte; während er hier — er der große Ben- gel! ganz unten seinen Platz unter den Kleinsten und Faulsten bekommen hat! Warte nur, armer Kerl, — sieh, da bricht schon der erste freudige Strahl in Dein dunkles Sein. Ge- wöhnlich giebt es auf jeder Schule einen Lehrer, der ein Original, ein Sammler, vielleicht ein leidenschaftlicher Naturfreund ist, womit meistens die Gabe der Mit- theilung sich verbindet, dem begegne Du armes einsames Gemüth und Du wirst einen Freund gefunden haben. Jetzt verändert sich Alles! Welch’ ein Schweifen nun über Berg und Thal; welch’ ein Versenken in all’ die kleinen und kleinsten ge- waltigen Wunder in der Luft, im Wasser, auf und unter der Erde! Wie sich das Dachstübchen füllt mit Käfern, Schmetterlingen, Herbarien u. s. w. Welch’ eine selige Ermüdung an jedem Abend, welch’ ein Träumen des Nachts, welch’ ein Erwachen am Morgen! Nun zieht eine Wissenschaft alle andern nach sich; die Klassen werden durchflogen, — den Schiller lernen wir auswendig und die Welt dehnt sich immer schöner und weiter vor uns aus! — Ach ein Faust zu sein, ist es nicht nöthig Alles studirt zu haben : das Wollen allein genügt, den Mephistopheles aus dem Nebel her- vortreten zu lassen! Stütze nur die heiße Stirn auf die Hand Du Sohn Deutschlands in langen durchwachten Nächten, beschwöre nur die Geister alter und neuer Zeit herauf, sie sind doch stets um Dich, die Gespenster: Lebensnoth und Zweifel und vergebliches Streben! Der Arm der Nothwendigkeit faßt Dich und schleudert Dich mit Deinem Wissensdrang in ein kleines ablegenes Walddorf oder an die Armenschule einer großen Stadt; da begrab Dein volles Herz und suche — zu vergessen! Glücklich, wenn Du’s kannst; glücklicher aber viel- leicht doch, wenn es Dir gegeben ist, auch hier weiter zu suchen. Der Pulsschlag des Weltgeistes pocht ja überall: „Suchet, so werdet ihr ihn finden!“ sagt das schönste der Bücher, das so leicht zu verstehen ist und so schwer verstanden wird. — — — — — Ungeduldig klatscht der Kutscher unten vor der Thür, ungeduldig treibt Elise, während Martha noch immer Zurüstungen macht, wie zu einer Reise nach dem Nord- pol! Endlich aber steigen wir ein. Unsere Sonntagsodyssee beginnt! „Hätte der Onkel Doctor nicht morgen abreisen kön- nen?“ fragt noch Lischen nach dem Zettel droben schauend, auf welchem die Madam Pimpernell ankündigt: „Hier ist eine Stube mit Cabinet zu vermiethen.“ Roder lächelt, scheint etwas auf dem Herzen zu haben, aber sich gegenwärtig auf Weiteres nicht einlassen zu wollen, und so rollen wir durch die noch stillen Straßen dem Thore zu. An den Wochentagen ist’s um diese Zeit schon lebendig genug, heute aber schläft das Volk der Arbeit in den Morgen und den Sonntag hinein; es hat das Recht dazu nach sechs Schöpfungstagen. Jetzt sind wir in den grünen Anlagen, die sich rings um die Stadt ziehen. Landhäuser und Gärten fassen auf beiden Seiten die Straße ein. Eine Eisenbahn- linie geht mitten über den Weg und wir müssen an- halten, denn ein Zug fliegt eben brausend und schnau- bend dem Bahnhofe zu. Der Sonntag, der den Städter hinaus führt, bringt den Landmann hinein in die Stadt und alle die Tausende, die heute ein- und ausfliegen werden, suchen alle ein anderes Ziel des Genusses; jeder die Freude auf eine andere Weise! Schon haben wir die letzten Gärten hinter uns und fahren nun langsam die Pappelallee hinauf den Höhen zu, welche im weiten Umkreis die große Ebene und die große Stadt umgrenzen. Die Sonne steigt empor über dem Walde; die Knospen, die Blätter, die Blumen tra- gen alle einen Thautropfen, das Geschenk der Nacht; die Lerche erhebt sich jubelnd in die blaue frische Luft und auch sie schüttelt Thau von den Flügeln. Wenn wir zurückschauen, liegt die große Stadt noch verhüllt in dem silbergrauen Duftschleier, den sie selbst sich webt und den sie wie Penelope den ihrigen nur zertrennt, um ihn von Neuem zu knüpfen. Wie eingewebte Goldsterne blitzen die Kreuze der Thürme — die Zeichen des Leids — darauf. — Wir aber fahren schon im vollen Sonnenschein und jetzt — sind wir am Rande des Waldes angekommen; nun brauchen wir den Wagen nicht mehr, und schnell rollt er die Höhen wieder herab, der Stadt zu. Was trappelt auf einmal vor uns und raschelt durch das welke Laub des vorigen Jahres, das den Boden bedeckt? Was bricht da durch’s Gebüsch, die Ohren und den schwarzen Pelz naß vom Morgenthau, lustig jetzt um uns her bellend und springend und die hellen blitzenden Tropfen abschüttelnd? „Hurrah! Willkommen im Walde!“ ruft eine wohl- bekannte Baßstimme. — Wer trabt da lachend her — hinter einer kleinen Rauchwolke, eine hohe schwankende Königskerze auf dem Hut, — auf dem Fußpfade, der seitab tiefer ins Holz führt? „Willkommen fahrender Recke!“ ruft Roder den Hut schwingend. „Allerseits schönsten guten Morgen!“ grüßt der aus- gewiesene Doctor, den abgenommenen Maulkorb des Pudels in die Höhe schleudernd und wiederfangend. „Hast Du mit Rezensent im Walde geschlafen?“ fragt die kleine Lise. „Der Herr Polizeicommissarius läßt Sie grüßen, Wimmer!“ lache ich. Jeder hat zu gleicher Zeit zu fragen und zu ant- worten und Jeder thut es auch, während Rezensent sich immer dicht an Elise hält, von Zeit zu Zeit ein kurzes fideles Gebell ausstößt und immer unsern Proviantkorb im Auge behält. Mit pathetischer Geberde tritt jetzt der Doctor an den Rand der Höhe, streckt den Arm gegen die Stadt aus und declamirt: „Ha, da liegt sie — die Undankbare, sie wo ich meine Nächte durchwachte — Sänger und Sängerinnen, Schauspieler und Schauspielerinnen, Ballettänzer und Ballettänzerinnen lobte oder herunterriß, — wo ich so manchen Leitartikel schrieb, — wo ich so manche Pfeife rauchte! — Da liegt sie wollüstig träumend im Mor- genschlummer, — während ich umherirre verbannt, ver- trieben, an die Luft gesetzt, eliminito, wie der Doctor Brummer sagte, gejagt, gemaßregelt, — ein Lamm im scharfen Nordwind. Nest! — Brüste Dich mit Deinen Gardelieutenants — Deiner famosen Musenbude, die ich dort über die Dächer zwischen dem Pfeffer- und Salz- fasse ragen sehe — ich verachte Dich, ein deutscher Zei- tungsschreiber! — Mache in der Liste Deiner unter polizeilicher Aufsicht Stehenden ein dickes Kreuz hinter dem Namen: Heinrich Theobald Wimmer Dr. phil. , setze ein dreimal unterstrichenes „Ausgewiesen“ dahinter; ich schüttle Deinen Staub von meinen Füßen, ich ver- achte Dich! — Bin ich nicht heimathsberechtigt in Mün- chen an der Isar, stehen nicht viele Löcher offen im edlen Was-ist-des-Deutschen-Vaterland? — Zeugt nicht dieser solide Bauch (hier schlug sich der Doctor auf den erwähnten Körpertheil) von Baiern? Es lebe München! — Ha, prophetisch verkünde ich Dir, ausweisender Pascha von so und so viel Roßschweifen: ein Schmächtigerer 8 aber — Giftigerer wird meine Stelle einnehmen. Er- fahren sollst Du Zeitungenüberwachende Behörde, daß das, was Ihr Unkraut nennt, wenigstens auch die Tu- gend desselben hat: nämlich nicht zu verderben und aus- zugehen! — Fort in die Bresche, mein unbekannter Mitkämpfer! Mein Segen begleitet Dich! — Dixi , ich habe gesprochen! — Komm Lischen!“ — Damit warf der Doctor den Maulkorb den Berg hinunter der Stadt zu, hob die Kleine empor, setzte sie mit ihrer Tasche und den ersten während seiner Rede von ihr gepflückten Blumen auf seine Schulter und schrie: „Allons, meine Herren; hinein in den Wald! Kehren wir dem Neste den Rücken zu!“ — Mit diesen Worten trabte der tolle Gesell den Fuß- pfad, den er gekommen war, zurück in’s Holz; Roder und ich folgten lachend. Der Ex-Redactionspudel sprang wie toll hinter uns her; gaudeamus igitur tönte des Doctors Baß in das beginnende Conzert der Vögel — unser Sommer-Sonntag im Walde hatte begonnen! Welch’ ein Tag war das! — Dieses erste Eintreten in die grüne Blätterwelt, — dieses Aufathmen aus voller Brust! Der Doctor hatte mit der sich gewaltig sträubenden Lise einen ordentlichen Galopp angeschlagen und war unsern Augen entschwun- den, unsern Ohren aber nicht. Die Kleine lachte, — wurde ärgerlich, — bat; — der Pudel bellte aus Lei- beskräften, und der Doctor fiel aus einem seiner Stu- dentenlieder in’s Andere. Mit seiner Ausweisung schien der alte Jenenser Bursch alle gesellschaftlichen Bande für aufgelös’t zu halten. „Das ist ein sonderbarer Menschentypus,“ sagte Roder lächelnd, als wir langsamer hinterhergingen; „die personificirte Gutmüthigkeit unter dieser tollen, barocken Maske. Wir sind Jugendfreunde, welches sonderbar scheinen kann, da er in Lumpenhausen das Gymnasium besuchte, während ich auf dem Seminar mich zum Schul- meisterlein einpuppte. Eben so gut hätte ein Guelfe mit einem Ghibellinen Arm in Arm auf der via dei malcontenti in Florenz spazieren gehen können. — Aber es war so; — er lehrte mich Cigarren drehen, ich da- gegen brachte ihm bei: sich auf dem Clavier mit einem Finger zu dem famosen Liede zu begleiten: Mihi est propositum In taberna mori … Später verlor ich ihn aus den Augen; ich ward Hülfslehrer in Lammsdorf, er ging auf die Universität. Da saß ich eines Abends und untersuchte Moose durch die Loupe, als mich plötzlich Jemand auf die Schulter klopfte und eine Bierbaßstimme — wie weiland Leib- 8* geber zum Armenadvokat Siebenkäs — „’n Morgen Roder,“ hinter mir sagte. — Es war Wimmer, der, wegen Uebertretung der Duellgesetze relegirt, „die große Tour machte,“ wie er sagte. — Geld besaß er schon damals nicht, aber viel Humor und guten Muth, und so hat das Schicksal uns öfters wieder einander in den Weg geführt und immer war der Doctor Wimmer — derselbe … „Und aussterben wird diese Art nicht in Deutschland, so lange man noch die Namen: Bier, Ro- mantik und Politik nennen hört,“ sagte ich … „Halt,“ rief der Lehrer, „welch’ ein prächtiges Aconitum, ent- schuldigen Sie!“ — Damit sprang er in’s Gebüsch, die Pflanze auszugraben, während ich in den Bart murmelte: „Und auch Deine Art, deutsche Seele, wird nicht ausgehen, so lange noch in eine Blüthe das deutsche Gemüth sich versenken kann zwischen Weichsel und Rhein.“ „Onkel Wachholder, Onkel Wachholder; kommt Alle schnell, schnell einmal her!“ rief jetzt Lischen in der Ferne. „Was giebt’s denn Lise? ruft Röder, seine Blume in die Botanisirbüchse legend. „Ein wunder-wunderhübsches Vogelnest hat der Onkel Doctor gefunden!“ schallte es wieder und wir setzten uns in Trab. Auf einem kleinen sonnigen Platz seitab stand der Doctor, hochroth vom Singen und Rennen und ließ die Kleine in einen Fliederbusch schauen. Lise, den Athem anhaltend, um die kleine piepende Welt nicht zu stören, guckte selig durch die Zweige; während der Rezensent das Wunder weiter unten suchte und, den Kopf und Leib im Laubwerk verborgen, nur die Hinterbeine und den wedelnden Husarenbusch zeigte. „Nicht wahr Lise, das mußte ich Dir doch zeigen? S’ist doch prächtig, wenn Einen die Polizei so früh hinaus jagt in den Wald!“ Ein Buch guckte dem Doctor hinten aus der Rock- tasche und der Lehrer zog’s ihm heraus. Es war — Reineke de Voß, des Doctors ewiger Begleiter auf allen seinen Fahrten, den er fast auswendig wußte. Bei der Berührung des Lehrers schaute er sich auch so- gleich um und begann: De quad deyt, de schuwet gern dat licht: Also dede ok Reinke de bösewicht. He hadde in de stad so vele missdan, Dat he dar nicht dorfte kamen noch gan. He schuwede seer des Konniges hoff Darin he hadde seer kranken loff!“ — „Aber hier Lise ist’s was Anderes, wenn wir hier ein Vogelnest finden, so dürfen wir auch hinein- gucken und unsere Meinung darüber sagen“ — — — „O das ist wunder-wunderhübsch,“ ruft die Kleine, welche gar nicht hört, was der Doctor sagt. „Sieh der alte Vogel fürchtet sich gar nicht, — o, welche große Schnäbel, — er sitzt ganz still zwischen seinen Jungen und sieht nur nach Rezensenten hinunter! — Er thut Dir nichts, kleiner Vogel, — bleib ruhig sitzen!“ — Jetzt ließ der Doctor das Kind auf den Boden gleiten: „Nun lauf zu Fuß,“ sagte er, „das Gras ist trocken.“ Welch ein Tag! Noch zogen weiße Wölkchen über die Baumwelt weg, bald aber hatte die Sonne sie ver- zehrt, und das ewige Blau lächelte rein und klar auf uns herab. Immer tiefer versenkten wir uns in die duftende Wildniß: „Wo lassen wir alle die Blumen, die wir pflücken, Lischen? — Die Händchen sind schon so voll, daß wir bei jedem Schritt eine verlieren und daß der Doctor sagen muß: „Ist’s nicht wie im Märchen, wo der Vater die ver- lorenen Kinder durch hingestreute Steinchen wiederfindet? Ein verfolgter Zeitungsschreiber — schrecklich — die Hä- scher sind ihm auf den Fersen, — wo hat er sich hin- gewendet? — „Ha,“ sagt der Erfahrenste der Spürer, ein wahrer Pfadfinder auf der Vagabondenjagd: „Seht die Blumen — untermischt mit Cigarrenenden! Laßt uns dieser Spur folgen, Brüder! — Ha, seht hier im weichen Boden die Hundetapfen! — Er ist’s, er ist’s — Fort, ihm nach!“ — Schrecklich! — — — „Bravo Wimmer!“ lachte der Lehrer, der wieder eine Pflanze im Gehen zerlegte. „Welcher Stoff für Dein nächstes Werk; wo Du es auch schreiben magst, ich hoffe auf ein Exemplar.“ „In München werde ich es schreiben, Verehrtester! Habe ich nicht einen Contrakt mit dem Buchhändler und Eigenthümer der „Knospen“ — Gabriel Pümpel, in der Tasche? Ist nicht Gabriel Pümpel mein Onkel? Ist nicht Nanette Pümpel meine Cousine? Wetter, ich sehne mich ordentlich nach dem Nannerl!“ „Doctor! Doctor!“ rufe ich lächelnd. „Wahrhaftig,“ seufzt der eliminirte Schriftsteller, „ich habe heute ordentlich Lust solid zu werden!“ Ehrlicher alter Bursch! „Also das waren Deine Gedanken,“ sagt der Lehrer lächelnd und gerührt, „als Du gestern den ganzen Nach- mittag auf meinem Sopha lagst? Ich konnte Dich vor Tabacksqualm nicht recht sehen, aber Du schienst mir außergewöhnlich nachdenklich und träumerisch. Gottlob, wenn diese Exilirung so ausschlüge“ …. „Hurrah,“ schreit der Doctor, den Hut in die Luft werfend: „Es leben die Knospen! Es lebe das Bockbier! Es lebe das Haus Pümpel und Com- pagnie!“ Der Exredactionspudel ist außer sich; jetzt hat er die größte Lust Elise vor Wonne über den Haufen zu werfen, jetzt springt er an seinem Herrn in die Höhe, jetzt ist er im Gebüsch verschwunden, jetzt kommt er auf der andern Seite wieder zum Vorschein! Bumms — da liegt er im Grase, wälzt sich, daß man nicht weiß, was Oben oder Unten, Beine oder Rücken, Kopf oder Schwanz ist! „Wer hat eine Uhr? Niemand? Desto besser, der Magen ist unsere Uhr. Hier unter dieser prächtigen Buche wollen wir uns lagern. Wie das Moos so weich ist! Ausgepackt die Taschen, den Korb, die Botanisir- büchse! Eine Flasche Wein erscheint. Wer hat einen Korkzieher? Niemand? Desto besser, wir schlagen ihr den Hals ab; ein niedliches Glas hat Elise mitgebracht.“ „Holla, Roder, aufgepaßt! Rezensent hat den Kopf in Ihrer Rocktasche!“ „Welch Behagen, sich so im weichen Grase auszu- strecken! Wie das schmeckt im grünen Walde; — die alte Martha soll leben, sie hat prächtig gesorgt!“ — „Komm Kind, unsere kleinen Beine sind doch wohl müde! Was bedeuten diese Faden? Aha, jetzt werden wir Kränze winden. Welche prächtigen, wilden Rosen!“ „Sieh, da kriecht ein Marienkäfer auf Deinem Arm, Lischen; — er entfaltet die Flügel — prr, dahin geht er, ein kleines rothes Pünktchen im Sonnenstrahl.“ Elise schaut ihm nach und fängt an zu singen: Marienvogel kleine, Rühre Deine Beine, Kriech an meinem Finger n’auf, Setz Dich als das Knöpflein drauf! Ist er nicht ein hoher Thurm Für so kleinen rothen Wurm? Und dann mit ganz feiner Stimme: „Rothen Purpur trag’ ich, „Flüglein viere schlag’ ich! „Gar kein’ Flüglein regst Du, „Nur zwei Bein’ bewegst Du — „Beine achte rühr’ ich, „Sieben Punkte führ’ ich, „Fliege höher als der Thurm! „Wer ist nun der kleine Wurm? — Etsch! Die Sonne muß draußen gar heiß und drückend sein, sie steht hoch im Mittage. Hier aber hat sie die Herrschaft mit dem Schatten zu theilen und zwar so, daß man gar nicht mehr weiß, wo Dunkel, wo Licht ist, so flimmert und zuckt beides durcheinander. „Wirst Du müde, Lischen? berauscht Dich der Wald- duft, kleines Herz? Komm, lege Dein Köpfchen hierher; keine Mücke, keine Fliege, und wenn sie noch so golden wäre, soll Dich im Schlummer stören. Schließe dreist die Augen und träume einen hübschen Elfentraum von Schmetterlingen und Blumen und kleinen Vögeln.“ Wie behaglich der Pudel gähnt und, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, mit den Augen blinzelt. „S’ist doch ein ganz ander Ding ohne Maulkorb, — nicht wahr Rezensent?“ Wie der Doctor so nachdenklich die blauen Cigarren- wölkchen von sich bläs’t! Denkt er an seinen ersten Auf- satz in den „Knospen;“ denkt er an die Münchener Cousine? Wie sich der Lehrer mit leuchtenden Augen in die Pflanzenschätze seiner Botanisirbüchse vertieft! „Heda Roder, was schaut da zwischen den Blättern und Wurzelwerk für ein Heft hervor?“ „Her damit!“ Der Lehrer erröthet und reicht lächelnd das Heft herüber. „Was sehe ich! Vermag der Schulstaub solche Blü- then zu treiben?!“ Grinsend steckte der Doctor Wimmer den Kopf über meine Schulter und machte nach einigen Blicken auf das Manuscript sogleich Anstalt, es für die Knospen mit Beschlag zu belegen, aber der Lehrer that gewaltig Ein- sprache dagegen. Später schenkte er es mir. Soll ich ein Blatt daraus der Chronik einschieben? Es sei! Da ist eins! „Ich lag am Rande des Bachs und sann nach über „die Geschicke der Völker und Könige und über — meine „Liebe. Hinten in der Türkei lagen jene einander in „den Haaren und drüben in der kleinen Gartenlaube saß „mein Schatz und schmollte. Ah! „Lippe-Detmold ist mein Vaterland — was geht „mich die orientalische Frage an und der General Sa- „balkanskoi und die Schlacht bei Navarino?! „Aber das Frauenzimmer dort? „Beim großen Pan, damit muß es anders werden! „Roth wie die Liebe ist der Abendhimmel; goldne „Wölkchen, weiße Tauben schweben darin hin und wie- „der wie Liebesgedanken … Wo sind meine Diploma- „ten, wo meine Kabinetscouriere? „Es schwanken die Gräser — es regt sich — es „läuft, es kriecht, es klettert, es hüpft, es flattert und „fliegt — tausendbeinig, tausendflügelig! Es zwitschert „und summt — tausendtönig! „Dichter-Minister, Frühlings-Räthe, Liebes-Gesandte „versammeln sich um mich zu Rath und That. „Wohlan, — die Conferenzen sind eröffnet! Allen „Gegenwärtigen und Zukünftigen Gruß! Wen send’ ich „zuerst an Jene dort, hinter den Holunderblüthen? „Ach! Du da — fort mit Dir zu Ihr hin — Du „mein leichtgeflügelter, magenloser Herold, Du den sie „den „rothen Augenspiegel“ nennen, zeig Ihr auf „Deinen weißen Schwingen die beiden Purpurtropfen, „sag Ihr, es sei Herzblut — mein Herzblut aus dem „wilden Kampf um die Liebe, die rothe Liebe! … Da „flattert der Bote der Laube zu; es zittert mein Herz, „mein banges Herz. — Sie — niest !!!.. O Dank, „Dank ihr ewigen guten Götter, Dank für das Omen! „(Erkälte Dich nicht, Louise; nimm ein Tuch um, „hörst Du?) „Wer ist der zweite meiner Boten? Schnell, schnell „meine kleine emsige Biene; — hin zu Ihr — summe „Ihr ins Ohr, Honiggedanken, Hausgedanken, Leinen- „und Drellgedanken! „(Was hat das Frauenzimmer zu lachen über ihrem „Nähzeuge, in der kleinen Laube?) „Und nun mein letzter Bote, mein schwarzer Trauer- „mantel flattere hin zu Ihr! Hör’, was Du Ihr sagen „sollst. Sag Ihr: „Louise, Louise, der Tag ist zu „Ende — die Eintagsfliegen wurden müde, todmüde — „der Bach schaukelt ihre armen kleinen Leiber fort, vor- „über an den Blumen, über denen sie vor einer Stunde „noch tanzten und spielten. Louise, Louise das Leben „ist kurz; Louise die Nacht bricht herein; sieh den roth- „finstern Streif im Westen, sieh wie es im Osten un- „heimlich zuckt und leuchtet — horch wie es grollt!“ „(Es regt sich in der kleinen Laube! Sie seufzt!) „Louise! Louise! „(Sie tritt heraus!) „Louise! Louise! „Die Bäume schütteln ihre Blüthen herab auf Sie: „ Ave Louisa! Der Abendwind flüstert Ihr zu: Ave „Louisa! Die Blumen des Tages neigen sich Ihr: „ Ave Louisa! Die Blumen der Nacht öffnen ihre „Weihrauchkelche Ihr — Ave Louisa! Ave Louisa! „(Sie winkt .... sie lächelt ....) „Friede? „Friede! „Friede! Läuten die Glocken im Reich! Erleuchtet „die großen Städte, die Dörfer, erleuchtet jedes ein- „same Haus! Orgelklang in allen Domen, Kirchen und „Kapellen! Auf die Knie, auf die Knie alles Volk! „Männer, Weiber, Greise, Kinder, Jünglinge und „Jungfrauen: Herr Gott! Dich loben wir! Herr Gott! Wir danken Dir! „Friede! Friede im Himmel und auf Erden und den „Menschen ein Wohlgefallen! Ich kannte diese „Louise“ des Lehrers gar gut. War sie nicht Gouvernante bei den Kindern des Baron Silber- heim? Hat sie nicht später den Lehrer Roder geheirathet? Hat sie nicht Glück und Kummer und Verbannung mit ihm getheilt? Seid gegrüßt Otto und Louise Roder, wo Ihr auch weilen mögt! — — — „Ei, das war schön!“ sagte Lischen erwachend und das Köpfchen aufrichtend. Sie dachte an ihren Traum im Grünen, nicht an des Lehrers Phantasien, — die hatte sie richtig verschlafen. „Was hat Dir denn geträumt, Lischen? fragte der Doctor und das Kind schaute ihn verwundert an. „Hab’ ich denn geschlafen?“ fragte sie. „Das kann man bei solchem kleinen Mädchen wie Du bist Lise, niemals recht wissen. Was hast Du denn gesehen und gehört? Erzähle mal!“ sagte ich. „O es war wunderschön was ich gesehen habe!“ „Ich konnte gar nicht über das Gras weggucken; es war wie ein kleiner Wald, und welch’ eine Menge kleiner Thiere lief darin herum! Und wenn ich die Augen zumachte, wurde Alles so roth, als brennte der ganze Himmel, daß ich sie schnell wieder aufmachen mußte. Ich dachte, ich wäre ganz allein, da kam auf einmal ein wunderschöner gelber Schmetterling mit zwei großen Augen in den Flügeln, die unten ganz spitz zu liefen, der setzte sich dicht vor meinem Gesicht auf einen Halm und sagte mit ganz feiner, feiner Stimme: „Ein schönes Compliment, kleines Fräulein, und ob Sie nicht zum Thee kommen wollten, zur Waldrosen- königin?“ Der Herr Lehrer las in diesem Augenblick was vor, ich hätte gern weiter zugehört und sagte es dem Schmet- terling auch. Der aber sagte: bei der Königin säße ein gelehrter Herr, Namens Brennnessel, der hielte gar nichts von der Geschichte, ich solle daher nur dreist mitkommen. Ich frug den Schmetterling: ob’s sehr weit wäre; er meinte: weit wär’s nicht, aber wir müßten einen Um- weg machen, da läge ein groß schwarz Thier im Grase, das habe greulich nach ihm geschnappt, als er vorüber- geflogen sei. Das war der arme Rezensent! Dann sagte der Schmetterling: er müsse auch den giftigen Wolken ausweichen, die da herumzögen und ihm seine hübschen Flügel ganz schwarz machten. Das war des Onkel Wimmer’s Cigarrendampf! — Ich war auf einmal so klein geworden, daß mich der schöne gelbe Schmet- terling ganz leicht auf seinen Rücken nehmen und fort- tragen konnte zu dem Rosenbusch dort bei der Buche. Da war eine gar niedliche vornehme Gesellschaft bei der Königin. Da war der brummige, böse, alte Herr Brenn- nessel, dem Jeder gern auswich; da war die dicke Ma- dame Klatschrose, die dicht hinter der hübschen Königin stand. „Fräulein Elise,“ sagte die Königin, „ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ist das Ihr Onkel drunten, der den häßlichen Dampf ausbläs’t?“ „Nein“, sagte ich, „das ist der Onkel Doctor, den sie weggejagt haben aus der Stadt; er schreibt Bücher und ist unartig gewesen und hat zuviel Klexe und Schreib- fehler gemacht! „So, er schreibt Bücher? Dann will ich ihn mal besuchen!“ sagte der kluge Herr Brennnessel böse ...... „Alle Wetter, lachte der Doctor hier, halb ärgerlich über Lisens Traum, und griff mit der Hand hinter sich, um sich aufzurichten ..... „Au, Teufel!“ schrie er plötz- lich. — Er hatte wirklich mit der Hand in einen Brenn- nesselbusch gefaßt! Wir lachten herzlich und nur Lischen sagte ganz ernst: „Siehst Du Onkel Wimmer, das war er! Dann fuhr sie fort: „Wir tranken nun Thee aus wunderniedlichem Ge- schirr (Onkel Wachholder gieb mir noch ein Butterbrod!) und Jeder erzählte eine hübsche Geschichte vom Frühling, Sommer oder Herbst; vom Winter aber wußten sie nichts, — da schlafen sie. Dabei hörte ich aber immer den Herrn Lehrer lesen und Herr Brennnessel brummte dann dazwischen. Der war auch der Einzige, welcher vom Winter erzählen wollte, es ward aber nicht gelitten. — Auf einmal hörte Herr Roder auf zu lesen und ich lag wieder bei Dir, Onkel Wachholder, im Grase und Rezensent steckte dicht vor meinem Gesicht seine schwarze Nase zwischen den Halmen durch und schaute mich groß an! Das habe ich gesehen! — War das nicht hübsch? Und nun Herr Roder — lesen Sie Ihre Geschichten noch einmal — bitte, bitte!“ „Danke schön,“ sagte lachend der Lehrer. „Der kluge Herr Brennnessel hatte ganz Recht, und jetzt sehe ich auch ein; meine Geschichten sind gar nicht hübsch!“ — Wie lange haben wir so geträumt und erzählt und im grünen Gras und weichen Moos gelegen? — Schon steigt die Sonne wieder abwärts am blauen Himmel! — Muß nicht der Doctor heute noch durch den Wald nach der nächsten Eisenbahnstation? — Auf, Lise, winde dem Rezensenten den letzten Kranz um den schwarzen Pelz! Laßt nichts zurück von Euern Sachen! Vorwärts! — — — Auf engen schattigen Waldpfaden geht’s nun quer durch das Holz, bis wir endlich das Rollen der Wagen auf der großen Landstraße hören und zuletzt den 9 weißen Streif durch die Stämme schimmern sehen. Horch, Geigen- und Hornmusik! Im weißen Roß mitten im Wald an der Chaussee ist Tanz. Die Hausthür ist mit Laubgewinden geschmückt; Stadtvolk und Landvolk drängt sich allenthalben davor und dadrinnen, im Haus und im Garten. — Wir erobern noch eine schattige Laube und der Doctor geräth in sein Element. Jetzt ist er oben im Saal, schwenkt sich lustig herum mit einer frischen Landdirne oder einer kleinen bleichen Nähterin aus der Stadt; jetzt erregt er unter den Kegelnden ein schallendes Gelächter durch einen wohlangebrachten Witz; jetzt sitzt er wieder bei uns, den Rock ausgezogen, glühend, pustend, fächelnd. Und überall, wo der Doctor ist, ist auch der Pudel. Jetzt oben im Saal wie toll zwischen die Tanzenden fahrend; jetzt, ausgewiesen, wie sein Herr aus der Stadt, steckt er seine feuchte Schnauze unter unserm Tische hervor. Immer tiefer sinkt die Sonne herab! Doctor, Doctor, wir müssen scheiden! — Und der Doctor zieht den Rock wieder an und hängt die Reisetasche um. Wir Alle stehen auf. „Also mußt Du wirklich weg, Onkel Wimmer?“ fragt Elise weinerlich. „Ja ja, liebes Kind!“ sagt der wunderliche Mensch plötzlich ernst. Er hebt die Kleine empor, die sich dies- mal nicht sträubt, sondern selbst ihm einen herzhaften Kuß giebt. „Wirst Du auch wohl zuweilen an den Pudel und mich denken, Lischen?“ „Ganz gewiß,“ schluchzt Lischen, „und ich will schreiben und der Pudel — nein, Du mußt’s auch thun!“ Der Doctor setzt die Kleine vorsichtig wieder auf ihren Stuhl: „Adieu Wachholder,“ sagt er, „Adieu Roder, alter Freund!“ Der Pudel schaut ganz verblüfft von seinem ernsten Herrn auf uns und wieder zurück: es muß etwas nicht ganz in der Ordnung sein! „Lebt Alle wohl! Ein fröhliches Wiedersehen! Alle! „ En avant Rezensent!“ schreit der Doctor, über die Gartenhecke und den Chausseegraben springend und rennt ohne sich umzusehen dem Walde zu. Am Rande bleibt er noch einmal stehen und schwenkt den Hut. „Smollis!“ ruft der Lehrer, ihm mit einem Glase zuwinkend. — „Grüß die Münchener Cousine, die hübsche Nannerl!“ — „Fiducit!“ ruft der Doctor zurück und verschwindet hinter den Büschen. Rezensent steht noch am Rande, schaut nach uns herüber und stößt ein kurzes Gebell aus! Jetzt ist auch er verschwunden! — — — Wir sitzen noch eine Weile still allein. 9* „Gott gebe dem ehrlichen alten Gesellen Glück!“ sagt der Lehrer vor sich hin. Ein Omnibus will eben nach der Stadt abfahren. Was sollen wir noch hier? Wir nehmen Plätze und steigen ein. — Zurück geht’s nun nach der großen Stadt, die stau- bige Landstraße hinunter! Fröhliche Gesichter jedes Alters und Geschlechts um uns her im dichtbepackten Wagen! Wie die Sonne so prächtig untergeht! Ade, du schöner Wald! Ade Du alter Freund Wimmer! — Da sind wir schon in den Anlagen. Welche sonn- täglich geputzte Menge noch ein- und ausströmt! Wir steigen aus auf dem freien Platz vor dem Thor; den Weg durch die Stadt bis in unsere Sperlingsgasse kön- nen wir wohl noch zu Fuße machen. — — Da sind wir, als es eben dämmerig wird. Sieh, da steht die alte Martha, strickend in der Thür; sie er- blickt uns: „Guten Abend, guten Abend!“ — „Ach Martha, das war schön — und — der Onkel Doctor ist fort!“ — sagt die kleine müde Elise. Auch der Lehrer sagt jetzt gute Nacht und kehrt zurück in sein einsames Stübchen, eine lange Woche mühsamer Arbeit vor sich! — Das war ein Sommertag im Walde, den ich hier aufzeichne in einer öden kalten Winternacht. Am 25. Januar. — Die Kälte ist auf’s Höchste gestiegen. Wenige Na- sen werden in der Sperlingsgasse herausgestreckt, und die es werden, laufen roth und blau an. Welch’ ein Künstler der Winter ist; die Spatzen färbt er gelb und den freien Deutschen macht er ausrufen: mein Haus ist meine Burg! Was kann ein Chronikenschreiber bei so bewandten Umständen Besseres thun, als sein Haus einzig und allein zum Gegenstand seiner Aufzeichnungen zu machen und die große Welt draußen, die allgemeine Gassen- geschichte, gehen zu lassen wie sie will? — Im Jahre der Gnade 1619 verbrannten sie zu Rom einen Gottesleugner, genannt Julius Cäsar Vanini, der hob, auf seinem Scheiterhaufen stehend, einen Stroh- halm zwischen den Holzklötzen auf und sagte lächelnd: „Wenn ich auch das Dasein Gottes leugnen würde, die- ser Halm würde es beweisen!“ — Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit, und die Geschichte der Mensch- heit ist die Geschichte — Gottes! Wohin führt uns das? Kehren wir schnell um und steigen wir die Trep- pen hinunter in das unterste Stockwerk. Da sitzt in dem vorderen Zimmer des Hauswirth’s und Tischlermeister’s Werner eine weißhaarige gebückte Frau in ihrem Lehnstuhl hinter dem Ofen, spinnend vom Morgen bis zum Abend. Das ist die alte Mutter der Hausfrau, die Tochter des Erbauers des Hauses, welche den Grundstein legen und den Knopf auf die Giebelspitze setzen sah und mit dem Hause und seiner Geschichte verwachsen ist durch und durch. Manche Leiche hat sie in den langen Jahren ihres Lebens hinaustragen sehen: ihre Eltern und alle ihre Geschwister, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf eins, die Anna, die Frau des jetzigen Besitzers. Sie hat den Sarg Mariens mit schmücken helfen und den Sarg Franzens; sie hat ihre Freundin, meine alte Martha, mit hinausbegleitet zum Johanniskirchhof, wo sie begraben ward an der Seite ihrer Herrin, und manchen Andern vom Dachstübchen bis zur Keller- wohnung. Einst war sie das schönste Mädchen der Gasse — wie sie jetzt noch die schönste alte Frau ist — und als der Hausknopf geschlossen werden sollte, und jedes Glied der damals zahlreichen Familie ein Gedenkzeichen hinein that, legte sie erröthend und unbemerkt ein kleines Blättchen hinzu, welches aus fernem Land gekommen war, und die Ueberschrift trug: „Dieses kleine Briefelein kommt an die Herzallerliebste in Herz und Liebe.“ und schloß: „… meiner Liebsten noch einen Gruß und Kuß und „hoff ich zu kommen im Frühling mit den Schwal- „ben und Hochzeit zu feiern freudiglich mit meinen „Schatz, den grüßt und küßt in Gedankensinn sein „herzlieber Gottfried Karsten , Tischlergeselle. Oft, wenn der Wind die alte Wetterfahne knirschen und kreischen läßt, mag sie wohl an das Blättchen im Knopf darunter denken und an den, der’s schrieb und der nun auch schon so lange todt und begraben ist. An wie manches Kindbett im Hause aber auch ist die alte Margarethe Karsten gerufen und wie manches junge Leben hat sie aufblühen sehen im Hause Nr. 7 in der Sperlingsgasse. Wer weiß so viel Wiegenlieder wie sie; wer weiß so viel Märchen, die alle anfangen: „Es war einmal“ und damit enden, daß Jemand in ein Faß mit Nägeln und Ottern gesteckt und den Berg herabgerollt wird? Wer im Hause hat zu allen Tageszeiten so viele Kinder um sich, die den Geschichten lauschen, dem schnurrenden Rade zusehen und Abends mit der zunehmenden Dämmerung immer dichter an den großen Lehnstuhl sich drängen? Wie oft habe ich einst da die kleine Elise mit Re- zensent an ihrer Seite gefunden, andächtig lauschend, und wie oft, wenn ich mit der besten Absicht kam, sie heraufzuholen zu Bett, bin ich selbst sitzen geblieben, den Schluß einer Historie abwartend, bis endlich auch noch Martha herabkam, und es uns fast ging wie dem Herrn, welcher den Jochen ausschickte, den Pudel zu holen. Heute freilich treffe ich die kleine Lise nicht auf der Fußbank am Lehnstuhl sitzend, auch die alte Martha kommt nicht mehr herunter uns Beide abzuholen; aber einen Anderen treffe ich häufig genug seit Mitte des vorigen Herbstes, und dieser Andere ist kein Geringerer, als unser Freund und Nachbar, der Karikaturenzeichner Strobel. In der Werkstatt bei Meister und Gesellen, in der Küche bei der Hausmutter, überall ist der Zeich- ner ein willkommener Gast. Die Gesellen zeichnet er ab für ihre respectiven Schätze, mit dem Meister politisirt er, der Meisterin lehrt er neue Gerichte fabriciren — er hat unter seiner Bibliothek ein dickes Kochbuch — und der Großmutter — hört er zu. So traf ich ihn heute Abend, als ich herunter kam, einen geborgten Leimtopf wieder abzuliefern. Da es Feierabend war, so war die ganze Familie in der Stube versammelt, der Zeichner hatte alle seine Gesprächs- elemente beieinander und plätscherte mit Wonne darin herum. „.... Also Meister,“ sagte er, als ich eintrat, wer , meinen Sie, kriegt dabei die Prügel?“ „Der Russe nicht!“ antwortet nach einer kleinen Pause bedächtig der Meister, der mit der Brille auf der Nase die Zeitung hinter das Licht hielt, um besser zu sehen. „Also die Alliirten?“ Der Meister nimmt eine Prise und da seine Erinne- rungen nur bis zu den Befreiungskriegen gehen, schaut er verwundert auf, es scheint ihm auch das unwahr- scheinlich. — Plötzlich aber besinnt er sich: „Donnerwetter, da sind ja auch die Franzosen bei!“ ruft er. — „Himmel! das hat sich ja auf einmal ganz umgedreht!“ — „Richtig Meister,“ sagt der Zeichner, dem Tischler- meister auf die Schulter klopfend. „Richtig! Alles in der Welt dreht sich von Zeit zu Zeit um.“ „Meisterin, die Kartoffeln brennen an!“ unterbricht Anton, der Lehrjunge, die Politik. „Wir kommen gleich!“ ruft Strobel lachend. — „Ich gehe auch mit, Meisterin, und die Kinder auch! Vor- wärts! En avant! On with you boys! Heraus in — die Küche!“ So werden die Kartoffeln gerettet, der Meister studirt seine Zeitung weiter und das Spinnrad summt und schnurrt im Winkel wie immer. Endlich kommen Stro- bel, die Frau Anna und die Kinder zurück und die Alte fragt: „Also der Franzos ist auch wieder dabei? Ist das derselbe der Anno Sechs hier war?“ „Nein,“ sagt Strobel, „jetzt trägt er rothe Hosen.“ „Und der Napoleon — ich meine der ist lange todt?“ „Ja, Mutter,“ sagt der Meister von seiner Zeitung aufsehend, — „das ist auch ein Anderer.“ „Gott,“ sagt die Großmutter, — „wenn ich noch daran denke, wie das kleine, gelbe, schwarze Volk hier war und in den Straßen kauderwelschte, und eine Sorte hatte in ihren Hüten große Kochlöffel stecken und Acht hatten wir hier im Haus.“ Strobel, der jetzt die Alte da hat, wo sie ihm in- teressant wird, rückt einen Schemel an ihren Lehnstuhl und sagt: „Großmutter es ist noch früh, erzählen Sie uns noch etwas von den Achten, wenn der Meister seine Zeitung lies’t, ist gar kein Auskommen mit ihm. Kom- men Sie, Wachholder, rücken Sie her. Burschen, seht wo Ihr Plätze findet und haltet das Maul, die Groß- mutter will von den acht Franzosen in Nummero Sie- ben erzählen!“ Die Alte lächelt und bringt ihr Rad wieder in Gang: „Solchen gelehrten Herren soll ich erzählen? Die haben ja Alles viel besser in Büchern gelesen; von Allen Achten weiß ich auch nichts!“ „Großmutter, was ich in Büchern gelesen, habe ich Gottlob nun bald wieder vergessen,“ sagt der Zeichner, „und wenn Sie von allen Achten nichts wissen, so sind wir auch mit Vier zufrieden, oder mit so viel, als Sie wollen; erzählen Sie nur!“ „Nun, wenn Sie’s denn wollen, so muß ich mich mal besinnen. — Gut!“ — „Also es war Anno Sechs, als der Franzos im Lande rumorte und drunten schrecklich hausen sollte, denn er hatte einen großen Sieg erfochten und glaubte das Recht dazu zu haben. Die Leute fürchteten sich alle sehr, gruben ihre Löffel weg und näheten ihren Kindern jedem ein Goldstück in den Rocksaum, auf den Fall, daß sie abhanden kämen oder mitgenommen würden. Aber mein Seliger that gar nicht, als ob ihn das was anginge. — Wenn sie kommen, sind sie da — sagte er, und dabei blieb er, und wenn die Nachbarn kamen und klagten und jammerten, sagte er nur: Einmal wir, einmal sie! — Und wenn sie ihm die Ohren zu voll schrieen, zog er eine weiße Zipfelmütze, die er zu mei- ner Verwunderung seit kurzer Zeit immer in der Tasche führte — darüber und that als ob er einschliefe. Es war immer ein sonderlicher Mann, Annchen, Dein Vater! Gut! Eines Morgens erhub sich ein Lärm: Sie sind da! heiliger Gott, mir fuhr’s ordentlich in die Knie; meine Jungen (Gott hab’ sie selig) in allen Gas- sen, Gott weiß wo, und nur mein Annchen hatt’ ich in der Wiege; mein Alter hatte mal wieder die Zipfel- mütze hervorgekriegt und übergezogen und sägete im Hofe. „Gottfried, Gottfried!“ schreie ich, „sie sind da! sie sind da!“ Er that, als ob er’s nicht hörte, obgleich ich dichte bei ihm stand. In meiner Angst und auch vor Aerger riß ich ihm die dumme Mütze ab, warf sie auf die Erde und schrie wieder: „… Und die Jungen sind auf der Straße — heiliger Vater! — und unsere Löffel — Mann! — Mann!“ — Er hob ganz ruhig seine Mütze auf, klopfte die Sägespäne an mir ab, setzte sie ruhig wieder auf und sagte: Ja, — wenn’s so ist, werden sie wohl durch’s Wasserthor kommen, da her geht der Weg von Jena. Ich glaube so hieß es. Dann sägt’ er weiter. Richtig, da trommelte es schon die lange Straße vom Wasserthor her, herunter, — mir zitterte das Herz immer mehr! — „Meister Karsten! Meister Karsten! Schnell, schnell!“ schrieen plötzlich mehrere Nachbarn, die in den Hof stürzten im besten Sonntagsstaat. „Ihr sollt kommen, Ihr sollt mit zur Depentatschon an den französchen General!“ „So?!“ — sagt mein Gottfried, stellte seine Säge hin und ging langsam in das Haus, gefolgt von den Nachbarn, dem Herrn Secretair Schreiber, dem Herrn Rath Pusteback, dem Schornsteinfeger Blachdorf und dem Schmied Pruster und anderen. Alle zogen mit meinem Alten in die Stuben, weil sie dachten, er würde nun gleich in den Bratenrock fahren und mitrennen. Aber proste Mahlzeit! — An den Tabackskasten ging mein Alter, stopfte sich eine Pfeife, schlug langsam Feuer und sagte: „Nun, so kommt meine Herren!“ Die standen alle mit offenen Mäulern da, aber mein Gottfried ließ sich nicht irre machen. In Schlaf- rock und Pantoffeln marschirte er ruhig — ich sehe ihn wie heute — voran bis an die nächste Straßenecke. Da blieb er stehen und die Nachbarn um ihn herum; zeigte mit der Pfeifenspitze auf einen Zettel, der da klebte und auf welchem stand: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ oder so was, — ich hab’s vergessen — klappte seinen Pfeifendeckel zu, drehte sich langsam um und ging in’s Haus zurück. Meine beiden Jungen brachte er mit, worüber ich seelenfroh war. „Da Mutter,“ sagte er, als er sie in die Thüre schob. „Heb’ sie mir auf,“ sagte er, „wir brauchen sie einstmal!“ Ich wußte damals nicht, was das heißen sollte; — später erfuhr ich’s!“ — Hier traten der alten Frau die Thränen in die Augen und ihr Spinnrad hörte auf zu schnurren. Es herrschte eine leise Stille im Zimmer. — — „Gut. Von nun ab bekümmerte sich mein alter Seliger um nichts mehr draußen, sondern ging wieder zu seinen Sägebock und sägte weiter, bis die Einquar- tirung kam. Herr meines Lebens; da hättet Ihr den Mann sehen sollen! das ganze Haus kam in Aufruhr; das Beste, was Küch’ und Keller hielt, ward aufgetischt und je mehr die kleinen, gelben Kerle schwadronirten und sakermentirten, desto fröhlicher wurde mein Alter. „Das ist die rechte Sorte!“ rief er immer, sich die Hände reibend. „Solche mußten’s sein! Wenn nur genug von ihnen da sind?!“ — Französisch hatt’ er etwas von der Wanderschaft mit- gebracht und so waren sie bald die besten Freunde mit- einander und auf Du und Du, daß die Nachbarn ordent- lich die Nasen rümpften. Die aber gingen zu allen Depentaschonen und illuminirten und bekränzten ihre Häu- ser und so, — das that aber mein Gottfried nicht und wenn er Einen vom Rath der Stadt sah, zog er jedes- mal richtig die Zipfelmütze herunter über die Ohren. Gut, da war ein Franzos zwischen den Andern, der war von daher, wo sie halb Deutsch, halb Französch’ sprechen, den konnt’ ich auch verstehen, und es war so gut, als wenn ich Französch’ gekonnt hätte. Was ge- schieht? Eines Abends sitzen sie alle zusammen und mein Alter mitten drinnen und kauderwelschten, daß Einem Hören und Sehen verging, und saß ich im Winkel und strickte und die Jungen spielten im Winkel. Spricht mein Alter auf einmal zu dem Deutschfranzos: „Nun sagt mal Kamerad, wie lange denkt Ihr denn eigentlich noch in Deutschland zu bleiben?“ Der Deutschfranzos stieß mit den Andern den Kopf zusammen, und sie schnatterten was in ihrer Sprache. Dann lachten sie aus vollem Halse. „Immer bleiben wir da!“ sagt der Deutschfranzos. „Wir sein einmal da; wir gehen nit raus wieder!“ — „Woui!“ schrieen die Andern und hielten sich die Bäuche. „Nit raus! nit raus!“ — „Ne,“ sagt mein Alter, „immer nicht. Ihr seid zwar da und Unsereins kann unserm Herrgott nur dank- bar sein, daß er Euch geschickt hat, aber immer —“ „Nit raus! Nit raus!“ — schrieen die Franzosen. „Lasset Euch handeln!“ sagt mein Alter, „ich biete zwölf Jahr, — höchstens!“ — „Nit raus! Nit raus!“ kauderwelschten die wieder. „Willem! Ludwig! kommt mal her!“ rief mein Alter jetzt die Jungen, die sogleich angesprungen kamen und sich an seine Knie stellten. „Richt’ Euch!“ rief mein Alter. „Augen rechts! Seht mal Jungens die da, — das sind Franzosen, die eigentlich hier nicht in unsere Stube gehören. Das kleine Annchen kann gar nicht schlafen vor ihrem Specta- kel — und doch haben sie Lust immer da zu bleiben! Was meint Ihr, Jungens, — wenn Ihr stark genug wäret? — — — Kuckten meine Jungen gewaltig wunderbar aus den Augen und die Franzmänner an, und dann sich und dann meinen Alten! „Das sich finden — ich groß werden — ich schon Pustebacks Theodor zwinge“ — sagte Willem, mein Kleinster. Ludwig, mein Aeltester, sagte gar nichts, aber auf einmal rann ihm eine dicke Thräne über die Backe, und sein Vater klopfte ihn auf die Schulter und sagte: „Warte nur, mein Junge, Du kommst zuerst.“ Die Franzosen hatten ihren Heidenjubel und beson- ders einer — sie nannten ihn Piär oder so — wußte sich gar nicht zu helfen vor Lachen. Mein Alter aber war sehr ernst geworden und sprach den ganzen Abend kein Wort mehr. Die andere Woche zogen die Franz- männer ab und lachten noch beim Abschied, als sie uns Allen die Hand drückten und ordentlich sich bedankten für gute Bewirthung: „Nit raus! Nit raus!“ „Wird sich finden,“ sagte mein Alter. „Wird sich finden!“ schrieen meine beiden Jungen. Gut, nun kamen lange Jahre und immer andere Franzosen. „Bald ist’s genug,“ brummte mein Gottfried. Und einmal zogen sie Alle hinauf nach Norden, aber zurück kam Keiner. Und dann fing’s auf einmal an zu rumoren im Lande und ganz andere Zettel standen an den Ecken, die mein Alter immer las und wobei er mit dem Kopf nickte. Er war die Zeit nicht viel zu Haus. Da kam er eines Tages zurück und rief den Lud- wig aus der Werkstatt und sie kamen beide in die Küche zu mir. „Sieh, Mutter,“ sagte mein Gottfried, „s’ist gut, daß Dein Feuer brennt! Paß auf, Ludchen!“ Damit 10 zog mein Alter seine Zipfelmütze aus der Tasche und warf sie unter meinen Topf, daß sie verschwielte und das ganze Haus voll Qualm ward; dann ging er mit meinem Ludwig fort und kam allein und ganz still wieder. Am andern Morgen zog ein Trupp schwarzer Reiter in die Stadt — auch durch das Wasserthor. Einer kam zu Pferd hier in die Sperlingsgasse vor unser Haus und stieg ab, — mir sank das Herz in die Knie — es war mein Ludwig! — „Adjes Mutter! Adjes Vater!“ rief er, — „behüt Euch Gott!“ — und dann ritt er fort, den Andern nach, die schon durch das Grüne Thor zogen. „Da geht’s nach Frankreich, Alte!“ rief mein Mann, während ich heulte und jammerte. Aber es war noch so weit nicht. Wir hörten lange Zeit nichts, bis eines Tages alle Glocken in der Stadt läuteten, und auch im ganzen Land, wie sie sagten. — Es war eine große Schlacht gewesen und Unsere hatten gewonnen und mein Ludwig war — todt! — „Der Erste,“ sagte mein Alter. — Wieder ging ein Jahr hin und einmal kam das Ka- nonenschießen so nahe, daß die Leute vor das Thor liefen, es zu hören; natürlich lief mein Gottfried und ich mit. Da kamen bald aus der Gegend her, wo es so rollte und donnerte, Wagen mit Verwundeten, Freund und Feind durcheinander und immer mehr und mehr. Die wurden alle in die Stadt gebracht. „Herr, mein Heiland!“ — mußte ich auf einmal ausrufen, „ist das nicht der Piär von damals, von Anno Sechs?“ Richtig, er war’s. Mit abgeschossenem Bein lag er auf dem Stroh und wimmerte ganz jämmerlich. „Den nehm’ ich mit,“ sagte mein Alter und bat ihn sich aus, und wir brachten ihn hier in’s Haus — in Ihre Stube, Herr Wachholder. Da kurirten wir ihn. Als er besser wurde, hatte mein Mann oft seine Reden mit ihm. Ein- mal war der Franzos oben auf, einmal mein Alter. Da hieß es plötzlich, die Deutschen seien wieder geschla- gen und der Napoleon abermals Obermeister. Mein Alter schaute den Willem bedenklich an, als ginge er mit sich zu Rath; als aber in der Nacht die Sturmglocken auf allen Dörfern läuteten, wußte ich, was geschehen würde und weinte die ganze Nacht und — am Morgen zog auch mein Willem fort mit grünen Jägern zu Fuß, und Minchen Schmidt, die mit ihrer alten Mutter in Ihrer Stube drüben wohnte, Herr Strobel, weinte auch und winkte mit dem Taschentuch. Vorher aber führte ihn mein Alter noch an das Bett des Franzosen und sagte: 10* „Das ist der Zweite!“ — Der Franzos schaute ganz kurios und bewildert drein und sagte gar nichts, son- dern drehte sich nach der Wand. Das Kanonenschießen kam nun nicht wieder so nah und der Willem schrieb von großen Schlachten, wo viele tausend Menschen zu Tod kamen, aber er nicht, und die Briefe kamen immer ferner her und auf einmal standen gar welsche Namen darauf. Die brachte mein Alter dem Franzos herauf, der nun schon ganz gut Deutsch konnte und sagte lachend zu ihm: „Nun, Gevatter! Nit raus? Nit raus?“ — Und der Franzos machte ein gar erbärmlich Gesicht und sagte, den Brief in der Hand: „Das sein mein ’Eimathsort, da wohnen mein Vatter und mein Mutter.“ Mein Alter aber saß am Bett und rechnete an den Fingern: „Eins, zwei, vier — acht. Acht Jahr, Gevatter Franzos! Warum habt Ihr dunnemalen meine zwölf nicht genommen?“ — Die Briefe von unseren Willem kamen nun immer seltener und auf einmal blieben sie ganz aus und eines Tages — kommt mein Alter nach Haus, setzet sich an den Tisch, legt den Kopf auf beide Arme und — weint. Ich dachte der Himmel fiele über mich — — — — der und Weinen! „Der Andere!“ stöhnte mein Alter in sich hinein und ich fiel in Ohnmacht zu Boden. Da vor der großen Franzosenstadt Paris muß ein Berg sein — ich kann den Namen nicht ordentlich aussprechen — von wo man die Stadt ganz übersehen kann. Da schossen sie zum letzten Mal auf einander und da ist auch dem Willem eine Kugel mitten durch die Brust gegangen, wie der Kamerad schrieb, und ist er da begraben mit vielen, vielen Andern aus Deutsch- land. — Das ist meine Geschichte! Den Franzosen aber kurirten wir aus und mein Alter gab ihm einen Zehr- pfennig und brachte ihn an das Thor, wo der Weg nach Frankreich geht, den auch meine Jungen gezogen waren, sah ihn da abhumpeln und kam wieder nach Haus murmelnd: „Nit raus, nit raus!“ — Gott hab’ ihn selig, den Mann, es war ein Wunderlicher, Dein Va- ter, Annchen.“ So erzählte die alte Margarethe Karsten und wir Alle saßen um sie herum, als sie geendet hatte, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Der Meister hatte lange seine Zeitung weggelegt und auch die Ge- sellen, die nach und nach eingetreten und gewöhnlich ziemlich fröhlich und laut waren, standen und saßen diesmal ganz still umher. „Nun will ich noch was erzählen!“ rief plötzlich die Alte, deren Augen durch die wachgewordenen Erinnerun- gen in einem seltsamen Glanz leuchteten. „Ich will was erzählen, was lange nachher geschah und doch mit dazu gehört! — Wenn die Fensterscheiben nicht so ge- froren wären, könntet Ihr den Thurm der neuen So- phienkirche sehen, die gebaut ist, nachdem die alte ab- gebrannt ist. In der alten war’s, wo eine Tafel an der Wand hing, wo die Namen aller der drauf standen, welche in dem Franzosenkriege aus unserm Viertel ge- fallen waren und worunter auch meine Jungen waren: Ludwig Friedrich Karl Karsten und Wilhelm Johannes Albert Karsten. Die Tafel hatten wir unserm Kirchstuhl grade gegenüber, und des Sonntags schauten wir immer darauf und dachten an unsre brave Jungen und mein Alter war stolz auf die Tafel und ich auch, wenn ich auch genug darüber geweint hatte und noch weinte. — Aber es blieb nicht so bei meinem Gottfried. — Es kam eine Zeit, da schlich er an der Tafel vorbei, ohne aufzukucken, und wenn wir an unserm Platze saßen und sein Blick fiel mal drauf hin, schaute er schnell weg, oder auf den Boden, oder murmelte etwas, was ich nicht verstand. Gut, eines Tages gegen Abend stand ein schreckba- res Gewitter über die Stadt; es donnerte und blitzte unbändig und auf einmal hieß es: in der Sophienkirche hat’s eingeschlagen! — Richtig, — da brannte sie lich- terloh. Mein Alter, der sonst bei so was immer vorn dran war, rührte diesmal nicht Hand, nicht Fuß, und es hätte auch nichts geholfen. Er hatte mich unterm Arm und wir standen in der Menschenmenge und sahen zu. Auf einmal schwankt der Thurm, der wie eine Fackel war, hin und her und stürzt dann herunter auf das Kirchendach mit einem Krach, daß Menschen und Pferde in die Knie schossen und ich mit. Mein Alter aber blieb aufrecht stehen und kehrte sich um und brachte mich nach Hause. Als wir in unserer Stube waren, ging er den ganzen Abend auf und ab, bis er plötzlich vor mir stehen blieb und sagte: „Mutter, Gottlob, die Tafel ist verbrannt! Mutter, ich konnt’ sie nicht mehr ansehen! — Gute Nacht Mut- ter!“ — Ich verstand ihn gar nicht und fragte, was das bedeuten solle, aber er schüttelte nur mit dem Kopf und ging zu Bett. Und das will ich auch thun, mein Flachs ist alle! Gute Nacht Ihr Herrn, gute Nacht Kinder! — Komm Annechen!“ — Damit erhob sich die alte Frau, und ging auf ihren Stock und den Arm ihrer Tochter gestützt hinaus, ihrer kleinen Kammer zu, um von ihrem alten Gottfried mit dem eisernen Her- zen, um von den beiden erschossenen Freiheitskämpfern weiter zu träumen. Der Karicaturenzeichner macht heute Abend keinen Witz mehr, der Meister sog an der erloschenen Pfeife. Es war, als wage Keiner sich von seinem Platz zu rühren; es war, als müsse nun gleich die Thür sich öffnen und der alte gewaltige Mann her- eintreten mit dem schwarzen Reiter und dem grünen Jäger an seiner Seite, von denen der Eine an der Oder und der Andere dicht vor Paris begraben liegt auf dem Montmartre ..... „Ich weiß, warum der Meister Karsten die Tafel nicht mehr ansehen konnte!“ rief plötzlich eine klangvolle Mannsstimme, daß Alle fast erschrocken aufsahen. Es war Rudolf, der Altgeselle, der sich in seinem Winkel hoch aufgerichtet hatte. „Ich auch!“ — rief Bernhard, der zweite Gesell, seinem Gefährten die Hand auf die Schulter legend. „Ich auch!“ — rief Strobel aufspringend. „Wie viel Wissende noch?“ — „Ich auch!“ rief der Meister. „Ich auch!“ sagte ich, Und dann — — — — — — — — — — — — kam die Meisterin mit den Kartoffeln! Am 10. Februar. — Und wieder überschreibe ich ein Blatt der Chronik: Elise . Wir haben gejubelt und gelacht, — auch wohl ge- weint über kleine Schmerzen und verunglückte Freuden! — Wie die Jahre kommen und gehen! — Das Epheu hat nun eine ordentliche, schattige, grüne Laube gebildet; rothe und blaue Wachsbilder hat eine kleine schmückende Hand zwischen das Blätterwerk ge- hängt; wieder flattert ein zahmer Kanarienvogel in der Stube hin und her, von meinen Büchern und Schreibe- reien auf eine hübsche runde Schulter im Fenster oder auf einem niedlichen Finger, der ihm winkend hingehal- ten wird. — Elise ist nun dreizehn Jahr alt auf den Blättern dieser Chronik. Oft wenn ein lustiger Son- nenstrahl über das Blätterwerk schießt, zwitschert wohl Flämmchen — so heißt der neue kleine Freund — fröh- lich auf, hüpft aus seinem Bauer, dreht das Köpfchen mit den funkelnden kohlschwarzen Aeuglein einige Male hin und her und flattert dann zum offenen Fenster hin- aus. — Einen Augenblick glänzt er, hin und her schie- ßend, wie ein Goldpünktchen im Sonnenschein, dann flattert er nach der jenseitigen Häuserreihe und verschwin- det in einem Fenster des mittleren Stockwerkes in Nr. 12. Von dort ward er herübergebracht, auch dort hat er ein kleines Messingbauer. — Neue Gesichter sind aufgetaucht, neue Fäden schlin- gen sich wundersam in unser Leben und damit heute an diesem regnigen windigen Februartage auch in diese Blätter. — — — Was todt war, wird lebendig; was Fluch war, wird Segen; die Sünde der Väter wird nicht heimgesucht an den Kindern bis in’s dritte und vierte Glied! Eine helle frische Stimme erschallt unten im Hause; ein leichter Schritt kommt die Treppe herauf — Elise horcht. — Nach einigen Minuten erschallt plötzlich drau- ßen ein Gepolter — Martha’s Stimme läßt sich hören, klagend und ärgerlich. — Da ist er — der Tauge- nichts der Gasse! Die Thür wird halb aufgemacht und herein schaut ein lachendes, kerngesundes, mit unzähligen Sommer- flecken bedecktes Knabengesicht. „Nun Gustav, was giebt’s wieder?“ „O gar nichts!“ sagt das mauvais sujet, den Mund von einem Ohr bis zum andern ziehend, während Martha jetzt kläglich draußen nach Elisen ruft. „Was mag er nur angefangen haben?“ sagt diese aufspringend und hinausgehend. Ein helles Gelächter, in welches ich sie herzlich draußen ausbrechen höre, zwingt auch mich von meinen Büchern aufzustehen, während Gustav sich ganz ehrbar in einen Band von Becker’s Weltgeschichte ver- tieft zu haben scheint. Ich nehme die möglichst ernsteste Miene an und schreite hinaus. Welch’ ein Anblick er- wartet mich! Die gute Alte hat höchst wahrscheinlich ihre Mittags- ruhe gehalten und ist, das Strickzeug im Schooß, ein- geschlafen. Diesen günstigen Augenblick zu benutzen hat der Taugenichts, der vielleicht mit sehr guten Vorsätzen die Treppe heraufkam, doch nicht unterlassen können. Festgebunden sitzt die Unglückliche in ihrem Stuhle; — Handtücher, Bindfaden, das Garn ihres Strickzeuges, kurz alles nur mögliche Bindematerial ist benutzt, sie unvermögend zu machen, sich zu rühren. Vor ihr auf einem, noch dazu sehr zierlich gedeckten Tischchen, steht — ein großer Napf Milch, der höchst wahrscheinlich zu den wichtigsten culinarischen Zwecken bestimmt war und um ihn im Kreis sitzt schlürfend und schmatzend, — die ganze Katzenwelt des Hauses, — von Zeit zu Zeit einen höhnenden Blick nach dem Lehnstuhl werfend, wo die gefesselte Küchentyrannin strampelt und droht, in wahr- haft tantalischen Qualen. „Lischen — so jag’ sie doch weg — (Elise hat vor Lachen die Kraft gar nicht dazu und sitzt athemlos auf einem Schemel) — o der Schlingel — aber Herr Wach- holder jagen Sie sie doch weg — es bleibt ja nichts übrig — o meine schöne Milch — der Bösewicht!“ — Ja der Bösewicht, — wo war er, als diese Tragico- mödie zu Ende gekommen war, und man sich nach dem Urheber umsah? Der Band von Becker’s Weltgeschichte lag freilich noch aufgeschlagen da, aber von Gustav — nirgends eine Spur! — Wer ist dieser Gustav? Der Enkel eines Mannes, dessen Name schon einmal gar unheimlich in diese Blätter hineingeklungen ist — der Enkel des Grafen — Friedrich Seeburg. — Es war im Jahr 1842, als in die Wohnung drüben in Nro. 12, in deren Fenster später der Kanarienvogel so oft hinüberflatterte, eine schöne, schwarz gekleidete, bleiche Frau zog, welche sich Helene Berg nannte, die Wittwe eines vor Kurzem verstorbenen Mediziners. Sie war es, die schon einmal durch unser Leben und durch die Blätter dieser Chronik geglitten ist, mit jenem Sonnabend im Sommer 1841, als wir den todten klei- nen Vogel auf dem Johanniskirchhofe begruben zu den Füßen der Gräber von Franz und Marie. Sie küßte damals die kleine Elise, aber wir kannten einander nicht. — „Georg Berg“ stand auf dem Grabstein, an welchem sie gekniet und geweint hatte, und in der ärmlichen Woh- nung drüben in Nro. 12, in der engen dunkeln Sper- lingsgasse verklingt die letzte Saite der unheilvollen wilden Geschichte, die einst der sterbende Jäger dem Maler Franz Ralff erzählte. — Ist das Lied vorbei? — Eine junge fröhlichere Weise nahm den letzten Ton auf und „Gustav und Elise Berg“ wird die neue Me- lodie lauten! — — — Wie die Letzte aus dem stolzen Hause der Grafen Seeburg das Zusammenhängen ihres Schicksals mit dem kleinen Mädchen an meiner Seite erfuhr? — Ihre Ge- schichte? Ich fürchte mich fast, die Decke, die über soviel kaum vergessenem und begrabenem Unheil liegt, wieder auf- zuritzen. — „Sieh welch’ ein schöner Ring!“ sagte einmal Elise, der Frau Helene, die bei uns saß, jenen Reif zeigend, den vor langen langen Jahren der alte Burchhard am Hungerteiche im Ulfeldener Walde der todten Louise aus der erstarrten Hand gezogen hatte, der so lange Jahre unter jenem bekreuzten Stein gelegen hatte und der das Wappen des Grafen von Seeburg trug! — Ich habe nicht nöthig aufzuschreiben, was folgte! — — — — Wir trennten uns damals so bald nicht. Den gan- zen Abend ließ die weinende Helene die kleine Elise nicht aus den Armen, und Gustav, — Gustav der Tauge- nichts der Gasse begrüßte jubelnd seine Cousine auf seine Weise. — — — Nachdem er lange unstät sich umhergetrieben hatte, heirathete in Italien der Graf Friedrich Seeburg eine schöne, vornehme, aber arme Italienerin; sie ward die Mutter Helenens und starb sie gebärend im zweiten Jahr ihrer Ehe. Die Griechen dachten sich die Kluft zwischen Gott und dem Menschthum ausgefüllt durch ein Ver- mittelndes, das Dämonische: da schwebten, „damit das Ganze in sich selbst verbunden sei“ Geister „viel und vielerlei“ auf und nieder; strafende und lohnende Boten der Gottheit und Niemand entging seinen Thaten. Diese Geister verfolgten auch den Grafen: Reue, Ruhelosigkeit, Lebensüberdruß hießen sie, und auf jede Lebensfreude legten sie ihre ertödtende Hand. Wieder zog der Graf über die Alpen nach Deutschland. Das Schloß Seeburg war verkauft — er kam nach Wien, wo er menschenscheu und finster in einem einsamen kleinen Hause wohnte. Oft hörte ihn seine Tochter auf- und abgehen in der Nacht; sie hatte keine Bekanntinnen, keine Freundin; eine alte Dienerin ihrer Mutter war ihr ganzer Umgang. So verlebte sie ihre ersten Jugendjahre fast ganz sich selbst überlassen; während ihr Vater immer finsterer und finsterer ward. Er verbot ihr zu singen — zu spielen; sie seufzte und fügte sich. — Da wurde eines Morgens der alte Graf Seeburg todt im Bett gefunden; kein Mensch war in seinen letzten Augenblicken zugegen ge- wesen, er war gestorben wie ihn Helene nur gekannt hatte — einsam und allein! — Einsam und verlassen war aber auch sie jetzt, ein junges Mädchen in einer großen fremden Stadt, die sie nicht kannte, wo Niemand sie kannte. — Es fand sich, daß die Hinterlassenschaft ihres Vaters kaum hinreichte, die während seines Auf- enthalts in Wien gemachten Schulden zu bezahlen. Unter den Wenigen, die von Zeit zu Zeit das Haus ihres Vaters betreten hatten, war ein Doctor Berg, ein nicht mehr ganz junger Mann, und dieser war der Ein- zige, der, an das Todtenbett des alten Grafen ge- rufen, nachdem er ihm die Augen zugedrückt hatte, sich der jungen Waise annahm. Er brachte ihre Vermögens- verhältnisse in Ordnung; er führte sie, die ebenfalls fast menschenscheu Gewordene, zu guten Menschen, zu seiner alten freundlichen Mutter. — Er schien Alles, was er that, nur als seine Pflicht anzusehen und er, — der ihr anfangs gleichgültig war, gewann ihre Zuneigung mehr und mehr. Da bot er ihr seine Hand, und die Gräfin Helene Seeburg ward seine zufriedene glückliche Gattin, bald noch glücklicher durch die Geburt eines Sohnes, der Gustav genannt wurde. Da zwangen Verhältnisse — auch seine Mutter war gestorben — den Doctor Berg, Wien zu verlassen; er zog hierher und bemühte sich, eine Praxis zu gewinnen. Eben schien es ihm zu gelingen, als eine heftige Seuche, die verheerend von Osten kam und über das ganze Land todbringend zog, auch ihn wegraffte; — er ließ seine Frau und seinen Sohn fast unbemittelt zurück. Auf dem Johanniskirchhof, zwanzig Schritte von Franz und Marie Ralff, ward er begraben. Das war es, was die Frau Helene Berg erzählte, während der Ring mit dem Wappen des Grafen See- burg, die Schlange, die den Rubin umwand, vor ihr auf dem Tische funkelte. Noch an demselben Abend trug ich ihn auf die Königsbrücke und warf ihn weithin in den Strom, nachdem ich ihn in zwei Stücke zerbrochen. — — — Helene lehnte neben mir am Geländer und schweigend gingen wir zurück in die Sperlingsgasse zu — unsern Kindern. — War’s nicht ein hübsches, ein glückliches Vorzeichen dieser kleine goldgelbe Vogel, der zwischen den beiden Wohnungen hin und her flatterte, der seine Wohnung dort und hier hatte, oft ein kleiner treuer Bote war, und an seinem beweglichen Hälschen gar wichtige Nach- richten, Fragen oder Antworten hinüber- und herüber- trug? — — „Schau mal nach, Lise, das Flämmchen trägt wieder einen Zettel am Halse. Jetzt werden wir wohl erfah- ren, wo der Bösewicht, über den ich die alte Martha draußen noch brummen höre, steckt.“ Zwitschernd hüpft Flämmchen auf Elisens Hand. Sie nimmt ihm den Zettel ab und in einer weitbeinigen Knabenhandschrift lautet die Botschaft: Lise! „Da ich mich vor Morgen bei Euch nicht zu zeigen „wage und noch dazu leider gezwungen bin (scheußlich!) „3 Seiten, schreibe drei Seiten voll lateinischen Unsinn’s „zu übersetzen (ich möchte nur wissen, wozu ein Maler, „und ich will einer werden, Latein braucht ?????) so „bitte ich Dich, den Onkel ( Du brauchst ihm diesen „ Brief nicht zu zeigen ) ebenso auf seinem Lehnstuhl „festzubinden, wie ich die alte Martha und sobald als „ möglich vor die Thür zu kommen. — Ich will Dir „mal was Wichtiges sagen. Gustav. „ P. Scr. Ich passe auf und wenn ich Deine Nasen- „spitze sehe, schleiche ich an den Häusern hin zu Euerer „Thür! Komme bald!! „ P. Scr. Bring’ Deine Korbtasche mit!“ „Was mag er nur wollen?“ fragt Lischen, die schon nach dem Nagel guckt, an welchem ihre Tasche hängt, während ich trotz des warnenden Passus den Brief des Uebelthäters und seine echte Tertianerlogik studire. Es ist prächtig: Weil ich ein dreiseitiges Excercitium machen muß — so komme sobald als möglich ! Und dann 11 die kleine Heuchlerin, die recht gut weiß, was der Faul- pelz will! „Was für einen Tag haben wir heute, Lischen?“ „Ah — Sonnabend!“ ruft Elise. — „Jetzt weiß ich’s! — Er hat sein Taschengeld gekriegt — — — — „Welches eigentlich die alte Martha confisciren müßte. Höre Lischen; schreib ihm als Bedingung Deines Kom- mens vor, daß die „scheußliche“ Arbeit fertig sein müsse.“ — „Wie lange dauert das wohl, Onkel?“ fragt die Lise ganz bedenklich; sie zöge das „Sobald als möglich“ unbedingt vor. „Nun, — zwei Stunden; mindestens!“ — „O, oh zwei Stunden?!“ — „Ja, und dann wimmelt sie doch noch von Fehlern, einer immer schlimmer als der andere!“ — „Onkel, Gustav sagt aber: je länger er an einer Arbeit säße, desto mehr Böcke mache er!“ „Nun denn, wenn er das sagt, so soll er sie fürs Erste nur fertig machen und mit herüberbringen. Schreib ihm das!“ — Elise stellt nun eine große Auswahl unter meinen Federn an und beklagt sich sehr über „unsere“ schlechte Dinte; während Flämmchen, auf einer Stuhllehne sitzend, anfangs geduldig wartet, dann aber, als ihm die Sache zu lange dauert, sich bemüht, über dem Tisch flatternd, ebenfalls in das Dintenfaß zu schauen, um den Grund der Zögerung zu erfahren. Endlich aber ist Elise mit ihren Vorbereitungen fertig und schreibt: Lieber Gustav! „Dein Brief ist glücklich angekommen. Flämm- „chen hat ihn gebracht. Die alte Martha hat einen „nassen Waschlappen im Fenster liegen; sie will Dich „tüchtig waschen, wenn Du kommst. Den Onkel „kann ich nicht festbinden, er rennt heute immer in „der Stube auf und ab und sitzt keinen Augenblick „still. Du sollst erst Dein Exercitium fertig machen „und es mit bringen, eher soll ich nicht kommen! „Mach’ schnell!!! Meine Tasche bringe ich mit!“ — Elise. Auch diese Botschaft wird dem Flämmchen umge- hängt — die Praxis hat es gelehrig gemacht; zwitschernd schüttelt es das Köpfchen, als wolle es sagen, nun ist’s aber genug, jetzt komme ich nicht wieder, und — ver- schwunden ist’s. Elise sitzt wartend vor ihrem Nähtisch- chen unter der Epheulaube, ich vertiefe mich wieder in meine Bücher, aber keine halbe Stunde vergeht, da er- tönt unterm Fenster ein heller Pfiff, und Elise springt auf und schaut hinaus. „Da ist er schon!“ ruft sie halb zurück mir zu. — „Komm herauf Gustav!“ — ruft sie herunter. 11* „Dieses weniger!“ erschallt unten die Schülerredens- art und mich wundert wirklich, daß der Bengel diesmal nicht die noch dazu gehörende weise Benachrichtigung damit verbindet: Aber mein Bruder bläst die Flöte. — „Hast Du Dein Exer?“ ( scilicet citium) ruft Elise. — „Versteht sich; fix und fertig, komm herunter, Du kannst es ihm herauf bringen.“ Elise sieht mich fragend an und ich nicke. Herunter ist sie wie der Blitz und ich gehe ans offene Fenster, hüte mich aber wohl, etwas von meiner werthen Persön- lichkeit sehen zu lassen. „Du bist aber schnell damit fertig geworden, Gustav!“ sagt Elise und ich stelle mir oben lebhaft vor, wie der Schlingel grinst, als er ihr sein Machwerk einhändigt. „Mit Geduld und Spucke Fängt man jede Mucke!“ lautet die Antwort: „Hier, nimm Dich in Acht, es ist noch naß; und höre Lischen — komm schnell wieder herunter, eh er hereingekuckt hat; er könnte mich noch zurückrufen!“ — „Taugenichts! — das mag was Schönes sein!“ moralisirt Elise, die ich nun die Treppe heraufkommen höre. — „Da ist’s Onkel!“ ruft sie in die kaum handbreit geöffnete Thür, wirft das edle Manuscript auf den nächsten Stuhl, schlägt die Thür zu und — in drei Sätzen ist sie die Treppe hinunter. „Lise, Lischen, Elise!“ rufe ich, aber wer nicht hört, ist Fräulein Elise Johanne Ralff. „Komm schnell, er ruft schon!“ sagt unten der Schlingel, sie am Arm fassend, und fort sind sie um die Ecke! — Da liegt nun das blaue Heft; auf dem Umschlag: „Gustav Berg“ und drunter die geniale Uebersetzung Gustavus Mons mit Angabe von Wohnort, Datum und Jahreszahl. Ich schlage es auf und es ist wirklich zweifelhaft, ob der Collaborator Besenmeier es mit rother Dinte, oder ob es Meister Gustavus Mons mit schwar- zer geschrieben hat. — Hier sind die neuesten Seiten. Reizend! Ita uno tempore quatuor locibus (Schlin- gel!) pugnabatur etc. etc. Als Schulmeister müßte ich ausrufen: „Was soll aus dem Jungen werden? Als Nichtschulmeister aber halte ich mich an das — Lösch- blatt und rufe aus: „Was kann aus dem Jungen wer- den!“ — Hier „an vier Orten“ schlagen sie ebenfalls Römer, Carthager, Macedonier, Sarden, und zwar besser als im Latein! Pferde, Menschen, Hannibal ante portas, Triarier, Veliten, Principes! Ausgezeichnet! Ich werde dem Schlingel eine tüchtige Rede halten so- wohl über seine „ locibus, “ als auch über die Unver- schämtheit, ein Heft mit solch’ beschmiertem Löschblatt drin, „abliefern“ zu wollen. Das Letztere aber werde ich confisciren, und Zeichenstunde soll der Junge auch haben; dieser Signifer hat doch etwas zu lange Arme. — Eine halbe Stunde sitze ich nun noch arbeitend, dann schlägt es auf der Sophienkirche Sechs. Ich weiß nicht, ist es das schlechte Beispiel, welches mir da gegeben wurde, oder der blaue Sommerhimmel und die Sonne draußen; auf meinem Papier rücke ich nicht weiter, wohl aber unruhig auf dem Stuhl hin und her. Elise hat übrigens auch Recht: „unsere“ Dinte ist wirklich abscheulich. — Ich schlage meine Bücher zu, ziehe den Rock an und — gehe den Tönen eines Fortepiano’s nach, welche von drüben herüberklingen. Wenn ich in Nr. 12 die Treppe hinaufgestiegen bin, so finde ich dort in dem einfach aber hübsch ausgestatteten Zimmer des ersten Stocks eine Dame vor dem Clavier sitzen, die mir freundlich zunickt, ohne sich in ihren Phantasien stören zu lassen. Ich setze mich neben die Rosen- und Resedatöpfe im Fenster, der Musik lauschend und kann dabei zugleich einen musternden Blick über das Zimmer gleiten lassen. Hier gleich neben mir unter den Blumen steht Flämm- chen’s Messingbauer, in welchem der kleine Vogel bereits auf der Stange sitzt, das Köpfchen unter den Flügel gezogen. Müde von den Anstrengungen des Tages, ist er früh zu Bett gegangen. Im zweiten Fenster, mir gegenüber, steht ein ähnliches Nähtischchen, wie das, vor welchem ich sitze; ein Stickrahmen mit angefangener Arbeit liegt darauf. — Das ist Elisen’s Platz; auch sie hat, wie Flämmchen, hier eine zweite Behausung. — Zwischen beiden Fenstern, gegen das Licht gezogen, macht sich ein, einst roth bemalt gewesener Tisch breit; bedeckt mit Büchern, Schreibzeug, Heften, Federmessern u. s. w. u. s. w. bekritzelt, zerschnitten, zerhackt, ist er der Schau- platz von Gustav’s „stillen Freuden.“ Hier brütet das Genie über seinen „ locibus, “ den Kopf auf beide Fäuste gestützt und in den Haaren wüh- lend; hier füllen sich die Blätter mit Fratzen aller Art, statt mit lateinischen Phrasen; hier werden alle die Dummheiten ausgebrütet, welche die Gasse in Verwun- derung und Verwirrung setzen sollen; hier werden mit dem demüthigsten Gesicht, der reuevollsten Miene, die Ermahnungen und Vorwürfe, welche die Mutter von ihrem Thron herab auf das Haupt des Taugenichts der Gasse schüttet, in Empfang genommen und richtig quittirt durch — einen tollen Streich, eine Viertelstunde nach- her; hier, kurz hier — ist Gustav Berg’s Schreibtisch! — Als die Tante Helene ihr Spiel beendet, erzähle ich ihr die Geschichte des Katzendiners, von dem sie natür- lich noch nicht das Mindeste weiß. „Ich kann ihn nicht mehr bändigen!“ ruft sie halb lachend, halb in Verzweiflung aus. „Und die Elise verdirbt er mir auch ganz! Statt zu sticken und Vo- kabeln aufzuschlagen, schießen sie sich mit Papierkugeln; wenn er ihr einen Käfer in den Nacken gleiten läßt, bin ich sicher, daß sie ihm einen Zopf ansteckt oder einen Eselskopf auf den Rücken malt. Ich spreche und schelte mich heiser und müde, aber es hilft nichts! „Tante, er hat angefangen, ich saß ganz ruhig!“ „Mutter, s’ist nicht wahr, sie hat zuerst geschossen!“ So geht das den ganzen lieben Tag! — Wo mögen sie nur jetzt wieder stecken?“ — „Wenn man den Wolf an die Wand malt, so kommt er um die Ecke!“ sagt das Sprichwort und unsere Alt- vordern wußten, was sie thaten, als sie es aufbrachten. Mit Helenen’s Frage öffnet sich die Thür, oder viel- mehr, sie wird aufgerissen und herein, hochroth, stürzt — Windbeutel und Wildfang! Kaum erblickt mich aber Freund Gustav, so macht er Kehrt und sucht schleunigst die Thür wieder zu gewinnen, glücklicher Weise aber bin ich diesmal schneller. „Halt, Messire! hier geblieben!“ „Ja, hier geblieben, Gustav!“ ruft die Mutter. Ich beginne nun das Verhör. „Wie alt bist Du jetzt, Gustav? Antwort!“ — „Vierzehn und ein halb!“ „Welchen Platz in der Classe hast Du jetzt?“ „Ich bin der Vierundzwanzigste von Oben!“ „Und von Unten?“ „Der — der — der Fünfte!“ — (Pause.) Ich lege nun ein Gesicht an, wie Zeus Kronion, wenn’s lange heiß gewesen ist und er donnern will, und beginne eine Rede, die anfängt: „Als ich in Deinem Alter war;“ (wie Nota bene alle Väter und Erzieher beginnen, seit Adam seinen Erstgeborenen „rüffelte“) ich flechte die Milchgeschichte ein, gehe dann zu den „ locibus “ und der letzten Arbeit über, bringe einen kleinen Seitenhieb auf Elise an und ende, indem ich die rührend-pathetische Seite — den Kummer der Mut- ter, herauskehre! — Während der ganzen Dauer dieser „Pauke“ hat mein Missethäter, bald auf dem einen, bald auf dem andern Fuß stehend, mit einem dummpfiffigreuigwehmüthigen Ge- sicht angestrengt einen Punkt oben an der Decke, der ihm sehr merkwürdig erscheinen muß, in’s Auge gefaßt. Kaum aber habe ich geendet, so verliert auch besagter Punkt alles Interesse für den Schlingel, „die Erde hat ihn wieder,“ er schiebt sich hinter Elise, — die fort- während mit ihrer Schürze zu thun gehabt hat, — und dann zu seiner Mutter, die ihm bemerkt: „Siehst Du; ich hab’s Dir oft gesagt, aber auf mich hörst Du nicht. Wie heiß Ihr seid! Geh’ aus dem Zugwind, Elise, Kind, Du erkältest Dich! Wo habt Ihr eigentlich gesteckt?“ „Wir sind nur auf dem Fontainenplatz gewesen!“ sagt Elise, mit dem Rücken der Hand über den Mund fahrend. „So! — Und was habt Ihr da gemacht?“ „Wir haben die Goldfische gefüttert!“ — „Die Goldfische?! — Gustav, wie viel von Deinem Taschengeld hast Du noch?“ Bei dieser Wendung des Gesprächs steht Gustav auf einmal wieder auf einem Bein und scheint sehr zu be- dauern, daß er sich nicht wie die Gänse mit dem andern hinterm Ohr kratzen kann. Langsam fährt er mit der Hand in die Tasche, besinnt sich aber und zieht sie schnell zurück. „Nun?!“ — „Hast Du’s mir zum Ausgeben gegeben, Mama?“ fragt der Schlingel, den seine Erziehung Weiberlogik kennen gelehrt hat. „Freilich — aber — aber“ — — — „Nun, ausgegeben hab’ ich’s! Lise kann es be- zeugen!“ — „Ja, das kann ich!“ — ruft Lischen ganz eifrig. „Darüber braucht Ihr ihn nicht auszuschelten!“ — Ich komme jetzt der bedrängten Tante zu Hülfe. „Ausgeben kann er’s freilich, aber das „Wie“ ist jetzt die Frage. Was habt Ihr mit dem Gelde an- gefangen?“ Das Paar sieht sich stumm an. Plötzlich greift Lise in ihre Tasche, zieht einen Kirschkern hervor und schnellt ihn Gustav an die Nase. Die Frage ist ge- löst! Ach so! — ruft die Tante Berg. „Nun es ist gut, daß es fort ist, so kann er wenigstens nicht wieder Ci- garren dafür kaufen, wie vorige Woche.“ Auch ich bin ganz damit einverstanden, während Elise dem Vetter den Ellenbogen in die Seite stößt und ihm zuflüstert: „Warte nur, morgen kriege ich meins!“ Glückliche Kindheit! Alle späteren Lebensalter, die eine einsame Minute fröhlich verträumen wollen, lassen dich vor sich aufsteigen, und ich — der alternde Greis fülle diese Bogen mit längst vergangenen, längst verges- senen Kindergedanken und Kindersorgen! — Träumt nicht sogar die Menschheit von einem „goldenen Zeit- alter“ einer längst untergegangenen glücklichen Kinder- Welt? — Am 28. Februar. — Es ist gar kein übler Monat dieser Februar, man muß ihn nur zu nehmen wissen! — Da ist erstlich die ungeheuere Merkwürdigkeit der fehlenden Tage. Was habe ich mir einst, vor langen Jahren, den Kopf über ihr Verbleiben zerbrochen. Jeder andere Monat paßte auf’s Haar mit Einunddreißig auf den Knöchel der Hand, mit Dreißig in das Grübchen und nur dieser eine Fe- bruar — ’s war zu merkwürdig! — Das ist ein Stück aus der formellen Seite der Vorzüge dieses Monats, jetzt wollen wir aber auch die inhaltvolle in Betrach- tung ziehen: Was ist an diesem Regen auszusetzen? Thut er nicht sein Möglichstes, die Pflicht eines braven Regen zu erfüllen? Macht er nicht naß, was das Zeug halten will und mehr? — Der alte Marquart in sei- nem Keller ist freilich übel dran, seine Barrikaden, die er brummend anbringt, werden weggeschwemmt, seine Treppe verwandelt sich in einen Niagarafall. Alles, was Loch heißt, nimmt der Regen von Gottes Gnaden in Besitz. Immer ist er da; seine Ausdauer gränzt fast an Hartnäckigkeit! Man sollte meinen, Nachts würde er sich doch wohl etwas Ruhe gönnen. Bewahre! Da pladdert er erst recht. Da wäscht er Nachtschwärmer von Außen, nachdem sie sich von Innen gewaschen haben; da wäscht er Doktoren und Hebammen auf ihren Berufs- wegen; da wäscht er Kutscher und Pferde, Herren und Damen — maskirt und unmaskirt, da wäscht er Katzen auf den Dächern und Ratten in den Rinnsteinen; da wäscht er Nachtwächter und Schildwachen in ihrem Schil- derhaus. Alles was er erreichen kann, wäscht er! Kurz: „Bei Tag und Nacht allgemeiner Scheuertag, und Hausmütterchen Natur so unliebenswürdig, wie nur eine Hausfrau um drei Uhr Nachmittag’s an einem Sonn- abend sein kann!“ Das ist das Bülletin des Februars, den man einst mensis purgatorius nannte. — Jetzt finde ich auch einen Vergleich für das Aussehen der großen Stadt. Lange genug hab’ ich mich besonnen, keiner schien passend. Nun aber hab’ ich’s! Auf’s Haar gleicht sie einem unglücklichen Hausvater, den die Flu- then des sonnabendlichen Scheuerns auf einen Stuhl am kalten Ofen geschwemmt haben, wo er sitzt — ein neuer Robinson Crusöe — mit Kind, Hund, Katze und Dompfaffenbauer, die Beine auf einem hohen Schemel stehend und die Schlafrockenden herabhängend in die Wogen. „Brr!“ — Das ist mal wieder ein Wetter, um in alten Mappen zu wühlen und — ich wühle auch darin schon seit geraumer Zeit! Da muß ein Brief sein, den ich trotz aller Mühe nicht finden kann und der doch ei- gentlich schon früher der Chronik hätte eingelegt werden sollen. Briefe mit späterm Datum von derselben Hand finde ich da genug; sie berichten von Kindtaufen, und einer auch von dem Hinscheiden eines ehrwürdigen Pu- dels „Rezensent“ genannt. Ich möchte aber gern ein älteres Schreiben haben, welches noch nicht von Kind- taufen erzählt! Gottlob, hier ist’s! Die Chronik hätte es, wie gesagt, viel früher aufnehmen müssen, aber was thut’s. Je älter solche Briefe werden, je älter ihr Schreiber selbst geworden ist, desto frischer klingen sie! Hier ist das Scriptum: „Unter Verantwortlichkeit der Redaction.“ Liebe und Getreue! Eben hatte ich diesen Anfang „Liebe und Getreue“ gemacht, als sich auf einmal ein kleines Patschhändchen auf meine Schulter legte, ein brauner Lockenkopf sich vorbeugte und ein Stimmchen ganz fein sagte: „Erlaube liebes Kind („liebes Kind,“ das bin ich, der Dr. Wimmer) — erlaube liebes Kind, an was für eine Dame willst Du da schreiben?“ Ich schaute ver- wundert auf und erblickte — eine kleine runde Dame, (sie sitzt jetzt neben mir und zieht mich für das „rund“ tüchtig am Ohr) die eine allerliebste moue machte: „Liebes Kind, ich möcht’s halt gern wissen!“ „Sollst Du auch Schatz,“ sagte ich lachend. Gieb Acht, es ist eine seltsame Geschichte! — Es war einmal ein Mann, der lief in der Welt herum und die Leute nannten ihn Dr. Heinrich Wimmer; einige freilich titulirten ihn auch „Esel“ oder so. Das waren aber nur die, welchen er dasselbe Epitheton gegeben hatte — was er oft sogar schriftlich, Schwarz auf Weiß, that. — Gut; — dieser Mensch hatte eigentlich nur wenig wahre Freunde, (Be- kannte genug) denn er war so eine Art von Vagabond, wenn auch nicht in der schlimmsten Bedeutung des Worts. Er war ein Literat. Zu den Freunden, die ihn ertru- gen und nicht „Esel“ nannten, gehörte erstens ein Schul- meister Namens Roder, zweitens ein ältlicher Herr, Wachholder genannt, und drittens — ein junges Mäd- chen, (beruhige Dich Nanette, sie war höchstens eilf Jahr alt, als wir schieden) Namens Elise Ralff. Wir wohn- ten in einer großen Stadt, wo es viel Staub giebt und aus der sie mich wegjagten, weil jener Staub mich stets zum Husten brachte, ziemlich dicht zusammen und betrugen uns gegen einander wie gute Freunde sich be- tragen müssen. Sogar der Pudel Rezensent, mein vier- ter Freund, fühlte oft eine menschliche Rührung darüber; wie es in der That ein vortreffliches Vieh ist, was Du auch sagen magst, Nannerl! — Und nun höre — grimme Othelloin das „Liebe und Getreue“ gilt den drei Freunden und „halt“ nicht einer Dame, Du Eifersucht! — Da wir nun aber einmal dabei sind, so laß Dir auch weiter erzählen, liebe Nanette. Mit diesen Freun- den lag ich an dem Tage, an welchem ich den letzten Staub von den Füßen über jene Sand-Stadt schüttelte, in einem Holze, wo wir den ganzen Tag über Vogel- nester gesucht, Blumen gepflückt und Märchen erzählt hatten, als auf einmal ein Gefühl bodenloser Einsam- keit und moralischen Katzenjammers u. s. w. u. s. w. über mich kam. Da stieg plötzlich, mitten im grünen Walde, wo die Vögel so lustig sangen und die Sonne so hell und fröhlich durch die Zweige schien, ein Gedanke in mir auf, ein Gedanke an ein kleines hübsches Mäd- chen, mit welchem ich einst zusammen gespielt, und an das ich oft, oft gedacht hatte in spätern Jahren. — Daran aber dacht’ ich in dem Augenblick nicht, daß zwischen dem Kinderspiel und dem Waldtage so lange Zeit lag; — ich dachte — ich dachte: — Heinrich, warum gehst du nicht nach München, wo du geboren bist, wo dein Onkel Pümpel, wo dein — kleines lie- bes Mühmchen Nanette wohnt? Wie ein Lichtstrahl, — viel heller und fröhlicher als die Sonne — durchzuckte mich das; ich sprang auf, warf den Hut in die Luft und schrie: „Hurrah, ich gehe nach München zu meinem Onkel Pümpel zu mei- ner Cousine Nanette!“ — Die Freunde schauten mich verwundert und lächelnd an, und der Lehrer Roder sagte: „Junge, das wäre prächtig, wenn Du — solide wür- dest!“ — (Gieb mir einen Kuß, Schatz, und ich erzähle weiter.) Sieh’, da wand die kleine Lise Ralff dem Pudel einen hübschen Waldblumenkranz um den Pelz, sie drück- ten mir Alle die Hand — das kleine Mädchen weinte sogar — und — — — ich ging nach München. Lange Jahre waren hingegangen, seit ich meine Va- terstadt nicht gesehen hatte, und ganz wehmüthig ge- stimmt, schritt ich in der Abenddämmerung durch die alten bekannten Gassen der Altstadt. Da lag das Haus meiner Eltern; — Fremde wohnten darin. Ich schaute durch die Ritze eines Fensterladens und sah zwei Kinder, die allein am Tische bei der Lampe saßen; sie waren sehr eifrig in ein Gänsespiel vertieft und ich dachte an unsere Jugend Nannerl und das Herz ward mir immer schwerer. — Seidelgasse Nr. 20., da stand ich jetzt vor einem andern Haus. Dort hing ein altes wohlbekann- tes Schild: „Pümpels Buchhandlung“ darauf gemalt. Der Laden war bereits geschlossen, der Onkel jedenfalls schon im Hofbräuhaus; ein Lichtschein erhellte noch die Fenster des obern Stockwerks. Ich wagte kaum die K l ingel zu ziehen. Endlich 12 that ich’s aber doch. Mein Gott, eben so jämmerlich klang die Glocke schon vor zehn Jahren. Schlürfende Schritte näherten sich — die Thür ging auf; — da war sie noch, die dicke Betty, eher jünger als älter! Der Pudel und ich hätten sie beinah über den Haufen geworfen; sie kannte mich nicht und stand starr vor Schrecken und Verwunderung, als ich mit meinem vier- beinigen Begleiter in zwei Sätzen die Treppe hinauf war. Eine kleine runde .... (Au, mein Ohr! Hör’ ein- mal Nanette, das ist das Ohr, in welches es bei mir „hineingeht“, was wird das für eine Ehe abgeben, wenn Du mir das abkneifst. Nanette, ich würde in Deiner Stelle mal das andere, zu welchem es „herausgeht“ nehmen!“) Dame trat mir entgegen: „Der Vater ist nicht zu Haus, mein Herr!“ — — Ich antwortete nicht, sondern nahm ihr das Licht aus der Hand, — die kleine runde Dame erschrack ebenfalls gar sehr, — und hielt es so, daß mir der Schein voll in’s Gesicht fiel … „Herr Gott, der Vetter Heinrich!“ rief die kleine rrr .. Dame (Nanette sag’ ’mal, ich glaube, ich habe Dir in dem Augenblick einen Kuß gegeben?) „O welch’ abscheulicher Bart — — und eine Brille trägt er auch! Betty, Betty, schnell nach dem Bräu- haus: der Vetter Wimmer sei da!“ Ja, er war da, der Vetter Heinrich Wimmer und der alte Onkel kam auch; er umarmte den Landläufer und steckte ihn in seinen Sonntagsschlafrock; er wollte — — ja, was wollte er nicht Alles! Der Pudel sprang wie toll und machte sogleich, als ein vernünftiger Köter, Freundschaft mit dem dicken Pümpel’schen Ka- ter Hinz. Und dann — dann ward ich Redakteur der Kospen, unter der Bedingung, den fatalen Husten vorher erst auszuschwitzen; dann ward ich von Deinem Papa, mei- nem guten, dicken, vortrefflichen Onkel in den deutschen Buchhandel „eingeschossen“ und dann — — — Nun Nanette und dann? — — — — — — — — — — — — — — — Meine Herren und Freunde, was hab’ ich Ihnen da geschrieben ! — So geht’s, wenn man verlobt ist und neben seiner Braut einen Brief schreiben will! Die reine Unmöglichkeit! Statt eines soliden, nach allen Regeln der Logik und Brief- schreibekunst abgefaßten Berichts, schmiere ich Ihnen meine Unterhaltung mit dem Frauenzimmer. S’ist göttlich! Nun — was thut’s? Die Hauptmomente meiner Geschichte habt Ihr doch bei der Gelegenheit erfahren. 12* Ich habe eine neue Seite meines Lebens aufgeschlagen; und wer hat diese vita nuova bewirkt? Der edle Po- lizeicommissar Stulpnase nebst seinen Myrmidonen und — meine kleine Beatrice, genannt Nanette Pümpel! Gesegnet sei das Haus Pümpel et Comp. bis ins tau- sendste Glied!! — Ich schließe. Meine gentilissima verlangt ebenfalls Platz auf diesem Bogen. Mich soll’s wundern, was sie schreiben wird; ihre Augen leuchten gar arglistig. Dr. Wimmer . Liebe, kleine Elise ! Obgleich wir uns noch nicht mit Augen gesehen haben, so kann ich doch halt nicht unterlassen, Dir, Herz, diesen ganz kleinen Brief zu schreiben, der böse Mensch hat nicht viel Raum übergelassen. So ganz böse freilich ist er doch nicht, denn er hat mir viel Gutes und Schönes von Dir erzählt, aber sage doch den beiden Herren, die ich auch nicht kenne, daß sie das thörichte Zeuch, was er alles geschrieben hat, halt nicht Alles glauben. Ich hab’ ihn durchaus nicht so viel in’s Ohr gekneift, als er sagt. — Liebes Kind, Ihr müßt uns einmal Alle besuchen. Ich habe zwei Kanarien- vögel und einen Stieglitz, der sich sein Futter selbst herauf- zieht. Ich hätte Dir gern eins von den Vögelchen ge- schickt, aber der Onkel Doctor meint, sie könnten das Fahren nicht vertragen, das könnte selbst sein häßlicher Puhdel nicht. Es ist nur gut, daß das schwarze Thier sich so vor meinem schönen bunten Hinz fürchtet; sie beißen sich zwar halt nicht, aber sie sehen sich oft schief an von der Seite. Liebes Kind, besuche uns einmal und grüße den Herrn Onkel Wachholder und den Herrn Lehrer recht schön! Deine unbekannte Freundin Nanette P. P. Scr. Verehrtester, überreichen Sie doch meiner dicken Freundin, der Madam Pimpernell, beifolgende drei Fünfthalerscheine; da wird ein noch zu tilgender Schuldenrest sein. Dr. W. P. Scr. Ich muß in die Küche, sonst hätte ich mich eben noch recht über den Doctor zu beklagen. Er ist recht böse. Gestern hat er sein Dintenfaß über meine beste Tischdecke gegossen. Das geht mein Lebtag nicht wieder heraus! — Aber das ist das Wenigste. — S’ist nur gut, daß ich den Tabacksdampf gewohnt bin, auch mein Papa macht furchtbare Wolken und die Gardinen müssen nun nur noch einmal so bald gewaschen werden. Adieu! Nanette . P. Scr. Der Onkel Pümpel hat sich’s in den Kopf gesetzt, dem armen „Puhdel,“ wie Nann’l schreibt — auf seine alten Tage noch das „Todstellen“ beizubringen. Dr. W. P. Scr. Bier mag er schon! (Ich meine halt den Pudehl — so wird’s wohl recht geschrieben sein) Gott, ich muß wirklich in die Küchen! N. P. Scr. Nanette ist fort! Meine lieben Freunde, ich bin sehr glücklich und fidel! Ich hoffe auf baldige Nachrichten von Euch Allen. Gruß und Brüderschaft! Euer H. Wimmer . Welchen Jubel hatte einst dieser Doppelbrief mit seinen Postscripten in der Sperlingsgasse erregt! Wie tanzte an jenem Augustnachmittag im Jahr 1841, als er ankam, der Lehrer Roder mit der kleinen Elise im Zimmer herum! Heute, wo ich ihn wieder hervor- suchte, ist weder Roder bei mir, — sie haben ihn Acht- zehnhundertundachtundvierzig nach Amerika gejagt, sie fürchteten sich gewaltig vor ihm — noch schaut das kleine Lischen, auf einem Stuhl stehend, mir über die Schulter. Aber allein bin ich doch nicht beim Wieder- lesen; trotz dem Regen hat sich der Zeichner Strobel herausgewagt und ist, da das Glück dem Kühnen lächelt, wohlbehalten, wenn auch etwas durchnäßt, bei mir angekommen. „Es ist ein prächtiges Ehepaar geworden,“ sagte er lächelnd, indem er mir die Nadel einfädelte, mit welcher ich das Document der Chronik anheften wollte. „Seit der Doctor den bösen, politischen Husten, der ihn sonst plagte, losgeworden ist, hat er einen Umfang gewon- nen, dem nur das Embonpoint der kleinen fidelen Frau Doctorin Nannerl nahe kommt. Und diese kleinen, fet- ten Wimmerleins: Hans, Fritz und Elise, „das jüngste Wurm,“ wie der Doctor sagt! — Und diese Nachkom- menschaft des edlen Rezensent! — Für jedes Wimmer- lein ein Pudel, einer immer schwärzer und schnurrbärti- ger als der andere. Wie heißen sie doch? Richtig: Stulpnas (gewöhnlich Stulp abgekürzt), Dinte und Quirl. Es ist ein Schauspiel für Götter, die Fa- milie spazieren gehen zu sehen. Voran schreitet der Doctor mit dem alten Großvater Pümpel, dann folgen Dinte und Quirl, die den Korbwagen ziehen, in welchem das „Kroop“ Elise liegt. Neben ihnen trabt Stulp mit des Doctors Hut und Stock und zuletzt kommt die Nannerl, an der Rechten den Hans, an der Linken den Fritz. Von Zeit zu Zeit treibt sie mit dem Sonnenschirm das Paar der Zugthiere an oder ruft dem Doctor zu: „Wimmer, Du wirst gleich Dein Taschentuch ver- lieren!“ oder: „Wimmer, renne nicht so mit dem Vater. Wir kommen halt nicht mit!“ oder: „Wimmer, Stulp hat nur noch Deinen Stock!“ Dann dreht sich der Doctor gravitätisch um, wirft einen Feldherrnblick über den langsam daher ziehenden Heereszug, pustet und fächelt, knöpft die Weste auf, bindet das Halstuch ab oder zieht wohl gar den Rock aus und sagt: „Schatz, das Spazierengehen müssen wir aufstecken. Beim Zeus, es wird zu angreifend für Unsereinen! — Stulp, Schlingel, hol’ meinen Hut — dort! — Allons!“ Während nun der Zug so lange hält, bis Stulp mit dem Verlorenen zurückkommt, sagt der Alte wohl: „Heinerich, paß auf, das neue Complimentirbuch geht nicht!“ „Weshalb nicht, Papa?“ „Wir sind hier zu Lande nicht recht dran gewöhnt!“ lautet die Antwort. „Das weiß ich schon aus den Nibelungen und dem Parcival,“ sagt der Doctor, eine gewaltige Rauchwolke auspuffend. „Es soll aber schon „gehen,“ Onkel und Schwiegerpapa Pümpel! Das Ungewohnte und Unge- wöhnliche macht am meisten Gl. … Fritz, laß den Frosch in Ruhe, setz’ ihn wieder in’s Gras! — Vor- wärts! Yankee doodle doodle dandy! “ — Da- mit setzt sich das Haus Pümpel et Comp. wieder in Marsch.“ — — — Ich lachte herzlich über diese Schilderung. „Es wachse, blühe und grüne das Haus Pümpel et Comp. wie — wie — —“ „Hopfen! — Vivat hoch!“ — schrie der Zeichner, nahm den Hut und trabte wieder davon. Wo er ge- sessen hatte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser. Einen Schirm brauchte ich ihm also nicht anzubieten! — Abends 11 Uhr. — Wie traurig hat dieser Tag geendet! Ich wollte die Geschichte der armen Tänzerin über mir, die wir einst auf den Weihnachtsmarkt begleiteten, nicht erzählen aus Furcht, diesem Bilderbuch eine dunkle Seite mehr zu schaffen, aber die unsichtbare Hand, welche die gewalti- gen Blätter des Buches, Welt und Leben , eins nach dem andern umwendet, mit ihren zertretenen Generatio- nen, gemordeten Völkern und gestorbenen Individuen, will es anders, als der kleine nachzeichnende Mensch. Dunkel wird doch dieses Blatt, dunkel — wie der Tod! — „Herr Wachholder,“ sagte die Frau Anna Werner, die um neun Uhr Abends an meiner Thür klopfte. „Herr Wachholder, das Kind der Tänzerin stirbt in dieser Nacht! Der Doctor Ehrhard, der eben oben ist, hat’s gesagt. — Ist’s nicht schrecklich, daß die Mutter in die- sem Augenblick tanzen muß? — Sie haben ihr nicht erlauben wollen, die schlechten Menschen, wegzubleiben diesen Abend: es wäre heute der Geburtstag der Köni- gin, sie müsse tanzen!“ — Arme, arme Mutter! Ein hübscher, leichtsinniger Schmetterling gaukeltest Du, bis die Verführung kam und — siegte. Verlassen, verspottet, suchtest Du Dein Glück nur in den Augen, in dem Lächeln Deines Kin- des und jetzt nimmt Dir der Tod auch das! — Arme, arme Mutter! Mit geschminkten Wangen und den Tod im Herzen zu tanzen! Du hörst nicht die tau- send jubelnden Stimmen der Menge, Du hörst nicht die rauschende Musik: das Aechzen des winzigen, sterbenden Wesens in der fernen Dachstube übertönt Alles. — — Ich steige die enge, dunkle Treppe hinauf, die zu der Wohnung der Tänzerin führt. Frau Anna und der gute, alte Doctor Ehrhard sitzen an dem Bettchen des kranken Kindes. Eine verdeckte Lampe wirft ein trübes Licht über das kleine Zimmerchen; hier und da liegt auf den Stühlen phantastischer Putz; eine schwarze Halb-Maske unter den Arzneigläsern auf dem Tische. Der Doctor legt das Ohr dem Knaben auf die Brust und lauscht den schweren ängstlichen Athemzügen; ich stehe am Fen- ster und schaue in die Nacht hinaus. Der Regen schlägt noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal der niedrigsten Volksklasse dringen die schrillen, schnei- denden Töne einer Geige bis hier herauf. — Jetzt zieht der Doctor die Uhr hervor und sagt leise und ernst: „Sie muß sich beeilen!“ Das Kind stöhnt in seinem unruhigen Schlaf; die Hand des Todes drückt schwer und schwerer auf das kleine unwissende Herz, dem sich gleich ein Geheimniß enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde rathlos steht. — Auf der Sophienkirche schlägt es dumpf Zehn. Der Wind macht sich plötzlich auf und rüttelt an den schlecht- verwahrten Fenstern. Die Februarnacht wird immer un- heimlicher und düsterer. — — Unter Blumenkränzen sich verneigend, steht jetzt im Theater die große, berühmte Künstlerin, die Menge jubelt und klatscht Beifall; der König, die Königin, das Publikum hat sich erhoben; — der schwere, goldbesternte Vorhang rollt langsam nieder. Die bleiche Königin ist müde in ihren Wagen gestiegen; die große Künstlerin nimmt die Glückwünsche und Schmeicheleien der sie Um- gebenden in Empfang; leer wird das eben noch so Men- schengefüllte Opernhaus und — die arme Choristin ist halb bewußtlos an einer Coulisse zu Boden gesunken, um wie aus wildem Traume zu noch wilderer Wirklich- keit erwachend, mit dem herzzerreißenden Schrei: „mein Kind! mein Kind!“ fortzustürzen. — — — Wir in dem kleinen Dachstübchen haben das nicht gesehen, nicht gehört, aber jeder kürzer werdende Athemzug des sterben- den Kindes sagte uns, was dort in dem Lichterglänzen- den, Musikerfüllten Gebäude am andern Ende der großen Stadt geschehe. Horch! Ein Wagen rasselt heran; er hält drunten. „Die Mutter,“ sagt der Doctor aufstehend. „Es war Zeit!“ — Ein eiliger Schritt kommt die Treppe herauf; eine Frau, in einen dunkeln Mantel gehüllt, erscheint todt- bleich und athemlos in der Thür. Sie läßt den regen- feuchten Mantel fallen und im phantastischen Costüm, wie wir es in Satanella sahen, stürzt sie auf das Bettchen zu. „Mein Kind! Mein Kind!“ flüstert sie, in gräßlicher Angst den Doctor ansehend. Sie beugt sich, sie hört den leisen Athem des Kindes: Es lebt noch! — Das schwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glas- diamanten und feuerrothen Bändern sinkt auf das ärm- liche Kissen. „Mama! liebe Mama!“ stöhnt das sterbende Kind, mit den kleinen fieberheißen Händchen durch die schwar- zen Haare der Mutter greifend, daß die Steine darin blitzen und funkeln. — — Jetzt läuft ein Schauer über den kleinen Körper — — — „Vorüber!“ — sagt der alte Doctor dumpf, mir die Hand drückend. — — Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht bei der armen, bewußtlosen Mutter. — Am 7. März. — Gestern Nachmittag begannen die schweren Regen- wolken, die wochenlang über der großen Stadt gehan- gen hatten, sich zu heben. Sie zerrissen im Norden wie ein Vorhang und wälzten sich langsam und schwer- fällig dem Süden zu. Ein Sonnenstrahl glitt pfeil- schnell über die Fenster und Wände mir gegenüber, um eben so schnell zu schwinden; ein anderer von etwas längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigste Frühlingssonnenschein auf den Dächern und in den Stra- ßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht mehr einem scheuergeplagten Ehemann; sie gleicht viel- mehr seiner bessern Hälfte, die nun ihre Pflicht gethan zu haben meint, erschöpft auf einen Stuhl zum Kaffee- trinken niedersinkt und lispelt: „Puh! hab’ ich mich abgequält, aber Gottlob, nun ist’s auch mal wieder rein!“ — Ja, rein ist’s! — Verschwunden ist der Schnee, der zuletzt doch gar zu grau und unansehnlich geworden war; viel mißmuthige, verdrossene Gesichter haben sich auf- gehellt und — die kleine Leiche von Oben ist fort. Die alte Großmutter Karsten hat auch ihr nachgeschaut; sie hat die arme Mutter auf die Stirn geküßt, als man den Sarg hinabtrug und hat, gleichsam als wundere sie sich über etwas, lange das Haupt geschüttelt. Wer weiß, wie viel jüngere Leben sie noch dahin schwinden sieht! — Ich habe diese Blätter, glaub’ ich, einmal ein Traumbuch genannt; — wahrlich, sie sind es auch. Wie Schatten ziehen die Bilder bald hell und sonnig, bald finster und traurig vorüber. Jetzt ist der dunkle Grund, aus dem sie sich ablösen, ganz bedeckt von Leben und Jubel; — jetzt taucht wieder die unheimliche finstere Folie auf. Die Freude verstummt, der Jubel verhallt, es ist todte Nacht allenthalben, die nur dann und wann ein Klagelaut unterbricht. Sei die Nacht aber auch noch so dunkel, ein Stern funkelt stets hinein: Elise! — Ich brauche nur in meine alten Mappen und Er- innerungsbücher mich zu versenken und die Gespenster entfliehen, die Nebel sinken und es wird wieder fröh- licher Tag in mir! — Elise! Die Knospe, die hundert duftige Blumenblätter in ihrer grünen Hülle einschloß, entfaltet sich wie ein süßes, liebliches Geheimniß. — Noch ein warmer Kuß der Sonne und die Centifolie, den reinen Thautropfen der Jugend und der Unschuld im Busen, ist die schönste der Erdenblüthen. Ich glaube an keine Offenbarung, als an die, welche wir im Auge des geliebten Wesens lesen; sie allein ist wahr, sie allein ist untrüglich; in dem Auge der Liebe allein schauen wir Gott „von Angesicht zu Angesicht.“ — Die Zunge ist schwach und des Menschen Sprache unvollkommen; die Schrift ist noch schwächer und un- vollkommener und ein Blatt Papier zum Urquell der Erkenntniß des ewigen Geistes machen zu wollen, ist ein arm thöricht Beginnen. Ich drücke die Augen zu und — sie ist vor mir mit ihrem süßen Lächeln, sie schlägt sie auf, diese großen blauen Augen, in denen ich Trost suche und finde. Elise, Elise, nun bist Du ein großes, schönes Mädchen geworden und das Bild dort, welches Dein todter Vater von Deiner todten Mutter malte, gleicht einem Spiegel, wenn Du so sinnend davor stehst und so süßtraurig lächelnd zu ihm empor schaust. Die wilden Spiele, die tollen Streiche in dem Hause und auf der Gasse sind vorüber; — (wenn auch noch nicht ganz, Schelm) — wo Du sonst lachtest, Elise, lächelst Du jetzt, wo Du sonst weintest und klagtest, senkst Du jetzt die Augen und träumst; wo Du sonst den Schürzen- zipfel in den Mund stecktest oder die Aermchen auf dem Rücken in einander wandest, fliegt jetzt ein hohes Roth über Deine Wangen, — Du bist eine Jungfrau ge- worden in den Blättern der Chronik, Elise! — Oftmals lässest Du, vor dem Nähtischchen Deiner Mutter unter der Epheulaube sitzend, die Arbeit lau- schend in den Schooß sinken, das Köpfchen in das dich- teste Blätterwerk verbergend. — Eine helle, frische Stimme klingt dann von drüben herüber, ein Studen- tenlied anstimmend. Wo will Flämmchen hin, Elise? — Einen Augenblick sitzt es auf ihrer Schulter, ihr in’s Ohr zwitschernd, als habe es ihr ein wichtiges, ein gar wichtiges Geheimniß mitzutheilen, dann verschwindet es aus dem Fenster. Wo ist es geblieben? — Die Stimme drüben, die plötzlich mitten in ihrem Gesang abbricht, giebt Antwort darauf. Ein wohlbe- kanntes, wenig verändertes, braunes Gesicht, von dun- keln Locken umwallt, erscheint in No. 12 am Fenster; es ist der junge Maler Gustav Berg, der Vetter Gustav, der einstige Taugenichts der Gasse, jetzt ein „denkender“ Künstler und, wie man munkelt, oft genug der „Tauge- nichts des Ateliers“ beim Meister Frey in der Rosen- straße. — „Cousine, Cousine Elise! Onkel Wachholder!“ ruft er. „Die Mama ist außer sich! Flämmchen hat ein Leinölglas umgestoßen, und — Unordnung über Un- ordnung — nicht nur eine sehr angenehme Verschöne- rung auf dem Fußboden, sondern auch eine sehr unan- genehme Verbesserung auf meiner Zeichnung angebracht. Es ist keine Möglichkeit, weiter zu arbeiten! — Wie wär’s mit einem Spaziergang?“ — Ich denke lächelnd an den Doctor Wimmer, der auch einst oft genug Aehnliches von drüben herüber rief; die Chronik der Sperlingsgasse hat ihre Wiederholungen, wie Alles in der Welt. — Elise setzt ihren Strohhut auf und wir gehen hinüber. Auf der Treppe schon empfängt uns Gustav, noch im leichten farbebeschmutzten Malrock, den Canarienvogel auf dem Finger. „Da ist der Verbrecher,“ lacht er. „Sieh, Lis- chen, wie unschuldig er aussieht, grade wie Du, die doch auch um kein Haar breit besser ist, als er.“ „Was? — Was hab’ ich denn verbrochen?“ fragt Elise. „Höre nicht auf den bösen Menschen,“ sagt die Tante Helene, die jetzt in der Thür erscheint. 13 „So; — das ist ja prächtig, Mama! höre nicht auf den bösen Menschen! Das ist himmlisch! Onkel Wach- holder, das Frauenzimmervolk hängt wie Pech zusam- men; ich rufe Sie zum Richter auf. Aber kommen Sie herein, die Sache ist zu wichtig, als daß man sie auf der Treppe abmachen könnte.“ Wir treten ein, Jeder sucht sich einen Platz und Gustav beginnt: „Hören Sie zu, Onkel! Heute Morgen gehe ich, mit meiner Zeichenmappe unter dem Arm, ganz solide von hier weg. Die besten Vorsätze und Gesinnungen bewegten meinen Busen und ich rechnete mir innerlich für den immensen Fleiß, den ich heute beweisen wollte, verschiedene Bummeleien zu Gute. Ich wollte, ich hätte das Selbstgespräch, welches ich hielt, stenographiren können, es würde mir jetzt von großem Nutzen sein. An mancher Scylla und Charybdis, wo meine guteu Vorsätze sonst dann und wann gescheitert waren, war ich diesmal glücklich vorbei gesegelt. Als mich Thomas Helldorf aus seinem Fenster anbrüllte, hatte ich mich taub gestellt, als aus Schnolly’s Conditorei Leopold Dunkel mir zuwinkte, hatte ich mich blind gestellt; ge- fühllos zu sein, hatte ich geheuchelt, als Richard Brei- müller mich in die Seite stieß und mir den Arm fast ausrenkte, um mich mit zu einem großartigen Frühstück zu ziehen, welches die unmoralischen Menschen, die Frei- willigen von den Zweiunddreißigern, gaben. Ich ent- wickelte eine riesige Moral! Da biege ich im vollen Ge- fühl meiner Sittlichkeit um die Ecke, die auf den Ge- müsemarkt führt und — renne gegen einen Korb oder vielmehr eine Korbträgerin, die mir entgegen kommt und mir ohne Weiteres mit ihrem Sonnenschirm den Weg versperrt ....“ „Oh, dieser Lügner!“ fällt hier Elise ein. „Wer hat Dir den Weg versperrt? Hast Du mich nicht an- gehalten? Hast Du mir nicht meinen Korb weggenom- men! Du …“ .... „Die mir also den Weg versperrt und ....“ „Verleumder! — Hast Du mir nicht meinen ganzen Korb umgekramt und die größte Mohrrübe hervorgezo- gen, um sie auf der Stelle mit Deinem Messer ....“ .... „Die mir, wie gesagt, den Weg versperrt und sagt: Sieh, das ist prächtig, Gustav; jetzt sollst Du wider Deinen Willen einmal zu Etwas nützlich sein; hier, nimm meinen Korb! — Kannst Du das leugnen, Lise?“ — „Onkel,“ sagt Elise, „er verdreht die ganze Ge- schichte. Ich hätte ihn doch nicht den Korb tragen lassen?! — Er war es, der ihn nicht wieder heraus gab und da er noch dazu zwischen jedem Biß, den er 13* an seine Mohrrübe that, an einem Rosenstrauch roch, welchen er ebenfalls herausgewühlt hatte, so sagte ich: Ich habe keine Zeit mehr und …“ „Onkel Wachholder,“ unterbricht jetzt Gustav, „ich verband das Schöne mit dem Nützlichen! Mama, sind rohe Mohrrüben nicht etwa gut gegen Würmer?“ .... … Ich habe keine Zeit mehr und wenn Du den Korb einmal nicht wieder herausgeben willst, so behalte ihn und schleppe ihn, meinetwegen!“ — „Siehst Du! Seht Ihr! Da gesteht sie ihre Schlech- tigkeit selbst ein. Denken Sie, Onkel Wachholder, auf einmal dreht sie sich um, rennt davon wie eine Gazelle und läßt mich an der Ecke stehen wie ein Kameel, bela- den mit Rosen von Schiras und Gemüse aus dem Thal von Sch â m. Elise, Lischen, Cousine Ralff! rufe ich aus vollem Halse; Lise mit dem Korb kann ich doch nicht in’s Atelier gehen! Himmlische Cousine Lischen, befreie mich von diesem Stillleben! — Wer aber nicht hört, ist Elise. Was war zu thun? Ich setze mich in Trab; mit Korb und Mappe, mit Rüben und Rosen hinter ihr her. Solch’ eine Jagd! — Von Zeit zu Zeit sehe ich ihren Strohhut oder ihr blaues Kleid zwischen dem Schwefelholz-, Härings-, Butter- und Käsehandel, — ich glaube sie zu haben — Täuschung, da ist sie wie- der hinter einer Bude verschwunden! Ich fange an, dem kaufenden und verkaufenden Publicum lächerlich zu wer- den mit meiner Mohrrübe, die ich noch immer krampf- haft in der Hand halte. — Ich trete in einen Eierkorb! Riesiger Scandal! — Die Polizei erscheint! — „Ver- koofen Se Ihr Grünkraut sachte,“ sagt grinsend Poli- zeimann Nr. 69., „immer langtemang!“ — Ich bezahle für den Eierkorb mit blutendem Herzen und gelben Stie- feln; — von Elise keine Spur! — Neue Jagd, — ich glitsche über einem Kohlstrunk aus — baff, da liege ich mit Korb und Mappe; Kohlrüben, Rosen, Zwiebeln, meine Zeichnungen und Elisens Marktrechnungen im malerischen Durcheinander um mich her. „O Jotte, det arme Kind,“ sagt eine dicke Gemüsefrau, „ebent in die Eier und nu in den D …! Soll ich Se ufhelfen, Män- neken!“ — „Immer langtemang,“ grinst wieder Polizei- mann Nr. 69., der mir wie mein böses Princip gefolgt ist. — Ich suche meine Schätze, die ich zu allen Teufeln wünsche, gleich im Liegen auf, und erhebe mich dann in einer wirklich anmuthigen Verfassung. Außer Athem und hinkend, schlage ich mich durch die Menge und sinke auf den Eckstein an derselben Ecke, wo mein Leiden begon- nen hatte. Ich stelle den Korb zwischen die Beine und starre mit äußerst bitterm Gefühl hinein. Soll ich das Ungethüm wirklich hinschleppen nach der Sperlingsgasse? — Vorbei an der Caserne der Zweiunddreißiger und an Schnolly’s Conditorei? — Einen Spitznamen hätte ich und meine ganze Nachkommenschaft weg — drei Ellen lang! Mein innerer Mensch sträubte sich dagegen. Eine Droschke konnte ich nicht nehmen, denn meinen Geldvor- rath hatte das Eierunglück aufgefressen, es blieb mir nichts anderes übrig, — als eine neue Mohrrübe abzu- kratzen, meine Verzweiflung an ihr zu verbeißen. Das kommt davon, wenn man mit soliden Vorsätzen von Hause weggeht! Wie gemüthlich hätte ich in dem Augenblick, statt auf diesem fatalen Eckstein, bei dem Frühstück der Freiwilligen sitzen können! — Ich weiß nicht, wie lange ich so brütend da gesessen habe, als ich plötzlich, um zum Himmel zu schauen, meinen Blick aufschlage, aber halbwegs erstarrt ruhen lasse! — — Da saß sie ! — Kichernd lehnt sie an dem Eckstein der andern Straßenecke, mir gegenüber, eine große, grüne, angebissene Birne in der Hand! — „Guten Morgen, Vetter!“ lacht sie, ohne sich vom Fleck zu rühren. „Könn- test Du mir jetzt vielleicht meinen Korb geben? Ich muß wirklich nach Haus; der Onkel kriegt sonst nichts zu essen!“ — Ich fahre mit der Hand über die Stirn, ich muß wirklich erst meine Sinne zusammensuchen; ich stoße einen tiefen Seufzer aus, — da erhebt sie sich, als schicke sie sich an, wieder fortzurennen. In Todes- angst springe ich auf, bin in einem Satz mit dem ver- dammten Korb an ihrer Seite, hänge ihn ihr an den Arm und sinke nun auf den Eckstein neben ihr, um auch ihn als Sitzmittel zu probiren. — „Hab’ ich Dich aber gesucht, Gustav!“ hohnlächelt die Boshafte. „Gott, wie siehst Du aus? Wo hast Du denn gesteckt?“ — „Δαιμονίη!“ murmele ich dumpf, während es auf der unirten Kirche Eilf schlägt und die Atelierszeit ihrem Ende naht; und so ziehen wir nach Haus, Elise immer kichernd voran, ich hinkend hinter her, meine Rockschöße vorsichtig zusammenhaltend. Eine derangirte Toilette, ein leerer Geldbeutel, müde Beine, ein gräßlicher Nach- geschmack von den fatalen Mohrrüben, und das bodenlose Gefühl, mich unendlich lächerlich gemacht zu haben, das waren die Ergebnisse dieses Morgens! Und nun richten Sie Onkel Johannes!“ — „Onkel, laß das Richten nur sein,“ sagt Elise. „Er hat sich schon selbst gerichtet. Hat er nicht?“ „Ich glaube auch,“ sagt die Tante Berg. „Ich desgleichen,“ gebe ich mein Verdikt ab. „Das dachte ich wohl,“ brummt der denkende Künst- ler. „Wann hätte je die Unschuld gesiegt?! Abgemacht. Wie wird’s nun mit unserm Spaziergang?“ — „Ja, wo wollen wir hin!“ ruft Elise, und Gustav meint: „Ein Vorschlag zur Güte: Wir gehen nach dem Wasserhof; da ist bal champêtre! Was meinst Du, Lischen?“ „ Kann man da hingehen?“ fragt die Tante Berg bedenklich. „Warum nicht? Sind wir doch dabei!“ sagt der denkende Künstler, gravitätisch den Halskragen in die Höhe zupfend. „Uebrigens ist heute auch das Atelier mit seinen Schwestern da; ebenso der Professor Frey mit seinen sechs Nichten und …“ „Nach dem Wasserhof!“ rufe ich electrisirt. „Tante Berg, man kann dahin gehen!“ — Und wir gehen hin. — Wer kennt nicht den Wasserhof? Hat ihn nicht Göthe im Faust unsterblich gemacht? „Der Weg dahin ist gar nicht schön.“ Welcher Weg um diese Stadt ist schön? Es lebe der Wasserhof! Da giebt es Schatten und kühle Lauben am Tage; Musik, bunte Lampen und fliegende Johanniswürmer am Abend; da giebt es Kell- ner mit, einst weißen Servietten, die in der rechten Ho- sentasche stecken; da giebt es vor Allem einen — präch- tigen Tanzplatz im Grünen! „Lischen, heute Morgen hast Du mir einen Korb gegeben; ich will Dir das verzeihen, wenn Du mir jetzt keinen anhängen willst: Mein Fräulein, darf ich um den ersten Walzer bitten?“ „Laß uns erst ankommen, Vetter!“ sagt Lischen, die auf dem ganzen Wege stets die Vorderste wäre, wenn nicht Gustav gleichen Schritt mit ihr hielte. — — Da sind wir! Heda, da sitzt schon der alte Meister Frey mit der langen Pfeife hinter einer Flasche Wein, behaglich dem lustigen Treiben zuschauend und lächelnd das schwarze Käppchen auf den langen, weißen Haaren hin und her schiebend. Schon aus der Ferne winkt er uns, als wir uns durch die Menge drängen und ruft uns sein „Willkommen“ entgegen. Hurrah, da ist das „Atelier mit seinen Schwestern,“ wie Gustav sagt, und die sechs Nichten des Professors. Eine lustige Gruppe: lange Haare, schwarze Sammetröcke, Calabreser mit ge- waltigen Troddeln; dann wieder weiße Kleider, bunte Bänder, Strohhüte; und Gustav und Elise natürlich so- gleich mitten dazwischen. Beim heiligen Vocabulus, ist das nicht der lange Oberlehrer Besenmeier, der da, aptus adliciendis feminarum animis , der dicken Frau Rectorin Dippelmann einen Stuhl erobert? Wahrlich, er ist’s, und da ist der Rector selbst, der Ruthen und Beile so vollständig abgelegt hat, daß ihn in diesem Augenblick jeder Secundaner, ohne böse Folgen, um — Feuer für seine Cigarre bitten könnte. Wen haben wir hier? Darf ich meinen Augen trauen! Der Königliche Professor der Gottesgelahrtheit, Hof- und Domprediger Dr. Nipeguck!? — Wirklich, er ist’s; mit Frau und Kin- dern steuert er durch die Menge. „Weg die Dogmatik!“ lautet das Studentenlied; warum sollte der alte Hallen- ser das an einem solchen prächtigen Abend nicht auch noch einmal in — das Doppelkinn summen dürfen? Wie die Universität vertreten ist! Professoren, Pri- vatdocenten und Studenten von allen Facultäten und Verbindungen! Dacht’ ich mir’s doch, da sind auch die „unmoralischen Menschen,“ die Freiwilligen! Natürlich durften sie nicht fehlen! — „Guten Abend, Cäcilie, Anna! Guten Abend Elise, Johanne, Clärchen, Josephine! Das ist ja prächtig, daß ihr auch da seid!“ — schwirrt und summt das durcheinander! „Gott, wo bleibt mein Tänzer! Der abscheuliche Mensch wird mich doch nicht „ sitzen “ lassen?!“ „Auf keinen Fall, mein Fräulein!“ sagt der Auscul- tator Krippenstapel, sein ambrosisches Haupt über die Schulter der erschrockenen Sprecherin streckend und etwas von „nur Personal-Arrest“ murmelnd. „Lischen, keinen Korb — bitte!“ ruft Gustav, ein Paar wundersame Handschuh anziehend und eine Rosen- knospe in’s Knopfloch steckend. „Nun, Vetter, — wenn’s denn nicht anders sein kann — so komm’ schnell, die Musik fängt schon an.“ „Höre, Peter van Laar,“ sagt Gustav, schon im Rennen, zu einem wohlbeleibten Kunstjünger. „Wenn Du mich wieder auf den Fuß trittst, wie neulich, stecke ich Dich morgen mit der Nase in Dein Terpentinfaß! Komm Lischen!“ — Prr — davon sind sie: „Muthwill’ge Sommervögel.“ Ich habe unterdessen mit der Tante Helene Platz am Tische des Meister Frey genommen, der eben unter schal- lendem Gelächter eine Schnurre aus seinem italischen Wanderleben beendet. Der Domprediger redet über die Wirkungen des Weißbiers auf seine Constitution; wäh- rend Petrus und Paulus, seine Sprößlinge, sich unter dem Tisch wälzen und balgen, und die Frau Dompredi- ger sich darüber aufhält, daß die Kellner sich mit der Hand schnäuzen. „Es ist immer noch besser, als mit der Serviette!“ sagt der Rector Dippelmann, eine Prise nehmend und in der Zerstreuung die Dose der Tante Helene anbietend. An ein und demselben Punkt werden nun zwei Gespräche angeknüpft: die Weiber plumpsen in die große Wäsche, und der Domprediger mit dem Rector Dippelmann in die — Theologie. — „Kommen Sie, Wachholder,“ sagt der Professor Frey, wir wollen lieber den Kindern beim Tanzen zuse- hen! — Mir wird wässrig und schwül zugleich!“ Da ich wirklich etwas Aehnliches in mir spüre, nehme ich den Vorschlag mit Freuden an, und wir wandeln durch die Gänge mit den bunten Lampen und Laub- gewinden dem Tanz-Platz zu. Da ist ein lustiges Treiben. „Welche prächtigen Reflexe!“ ruft der alte Maler ganz enthusiasmirt. „Sehen Sie Wachholder, da kommt der Berg, aus dem ich Ihnen trotz seiner sporadischen Bummelei und Liederlichkeit doch noch einen ächten Künstler mache.“ „Nun sanello ,“ wendet er sich an den Herbeieilenden, „ich hoffe, Ihr werdet meine Mäd- chen nicht „dörren“ lassen — wie sie sagen!“ Der denkende Künstler grinst auf eine unbeschreibliche Weise: „Wir thun unser Möglichstes, Herr Professor. Se- hen Sie nur den Peter Laar! Segelt er nicht wie ein wahrer Fapresto mit Fräulein Julie dahin? Hier können Sie sich doch wahrlich nicht beklagen, daß er keine Fortschritte mache. Sehen Sie nur, wie er weiter kommt. — Sehen Sie, wie — buff! Dacht ich’s doch! Da bohrt er den Auscultator Krippenstapel mit seiner Donna zu Grund! Alle Wetter! das giebt Scandal! — Da muß ich retten! — — — „Herr!“ schreit der Königliche Auscultator wüthend aufspringend und seine Tänzerin trostlos-lächerlich auf ihrem „séant“ sitzend lassend. „Herr, können Sie nicht sehen, haben Sie keine Augen im Kopfe, Sie ....“ „Halt Krippenstapel!“ fällt hier Gustav ein, den gefallenen Engel des Juristen aufhebend. „Sie sollen fürchterlich gerächt werden, ich gebe Ihnen mein Ehren- wort! — Peter Holzmann, Bamboccio, Ungethüm! ein schreckliches Loos harrt morgen Deiner! — Mein Fräu- lein, Sie haben sich doch nicht weh gethan? Wollen Sie eine kalte Messerklinge auflegen, das soll gut sein gegen Beulen? — Fräulein Julie geben Sie doch ge- fälligst dem dicken Ungeheuer an Ihrer Seite einen tüch- tigen Nasenstüber als Vorgeschmack! — Krippenstapel, sein Sie ein guter Kerl und fangen Sie keinen Lärm an; kommen Sie, lassen Sie sich von Ihrer Dame eine Stecknadel geben, ehe Sie weiter schweben. Vergessen Sie’s nicht, es ist wichtig; ich als Aesthetiker muß das wissen!“ — — — Ein allgemeines Gelächter löst die Sache in Wohl- gefallen auf. Krippenstapel schleicht mit seiner Steckna- del ingrimmig in’s Gebüsch; seine Dame verkündet hin- ter ihrem Taschentuch, keine kalte Messerklinge anwenden zu wollen; Peter Holzmann stolpert mit Fräulein Julie zu einem Sitz, und alle übrigen Paare ordnen sich zu einem neuen Tanz. Schon während des Verlaufs dieser Scene habe ich mich gewundert, nirgend’s Elisen’s Lockenkopf hervorlugen zu sehen, nirgends ihr helles Lachen zu hören; als nun ein neuer Tanz beginnt und sie auch jetzt nicht erscheint, wird mir die Sache bedenklich. „Gustav, heda hier! Wo hast Du denn meine Lise gelassen?“ „Ich? — Onkel, fragen Sie lieber: wo hat Dich die Lise gelassen. Sie behauptet böse zu sein und ist mit Fräulein Henriette Frey weggelaufen, nachdem sie mich einen — einen — „Theekessel“ genannt hat.“ „So? — was habt Ihr denn wieder vorgehabt?“ „Ich kann mich auf Weiteres nicht einlassen!“ sagt der „denkende Künstler,“ zieht ein wehmüthig-sein-sollen- des Gesicht und verschwindet unter der Menge. „Wenn die Sachen so stehen,“ lacht der alte Frey, „so werden die Mädchen jetzt wohl bei der Wäsche und Theologie sitzen. Kommen Sie, wir müssen uns doch erkundigen, was der Friedensstifter (machte er seine Sache nicht prächtig?) da für Unheil und Unfrieden angestiftet hat?“ — „Ich kann’s mir schon denken,“ brumme ich in den Bart, und so schlagen wir uns seitwärts in’s Gebüsch und gelangen zu unserm Tisch zurück. „Richtig, da sitzen die Turteltäubchen!“ ruft der Pro- fessor. „Wie andächtig sie dem Oberlehrer Besenmeier zuzuhören scheinen und doch ganz wo anders sind! Kurre, kurre, kurre, Fräulein Elise, mein Täubchen, was hat Ihnen denn ein gewisser — hm — gewisser „Theekessel“ gethan?“ „Wer?“ — fragt Lischen, die sich dicht an die Tante gedrängt hat und von ihr mit einem gewaltigen Tuche umwickelt ist, während Henriette an ihrer andern Seite emsig sich mit ihrer Theetasse beschäftigt. „Wer? fragst Du!“ nehme ich das Wort. „Nun wir begegneten eben Jemand, der ziemlich nahe am — „Ueberkochen“ war.“ „Ach, Du meinst den Vetter! — Pah — Der !“ — „Nun, was hat’s gegeben? Tante Helene, hat sie Ihnen vielleicht schon ihr Herz ausgeschüttet?“ „Nein!“ sagt die Tante. Haben sie sich wieder ge- zankt?“ „Es scheint so! Fräulein Henriette, Sie wissen ge- wiß etwas Näheres davon?“ „Soll ich’s sagen, Lischen?“ fragt kichernd Henriette, ihre Freundin am Ohr zupfend.“ „Meinetwegen!“ sagt Elise, mit einem Gesicht wie Menschenhaß und Reue einen Nachtschmetterling ver- scheuchend, der ihr um den Kopf flattert und mit aller Gewalt sich in ihren Locken fangen will. „Er hat — Herr Gustav hat gesagt: — wenn er ihr nicht die Tänzer schicke und Propaganda (ich glaube so heißt’s) für sie mache, so würde sie — ihr Lebtag außer ihm keinen kriegen. Sie müsse daher hübsch dankbar und zuvorkommend gegen ihn sein und“ — — Ein Ausruf des Entsetzens entringt sich Allen. „Abscheulich!“ ruft die Tante Berg. „Finis mundi!“ lacht der Rector Dippelmann. „Schändlich!“ ächzt die Frau Rectorin; „Gräßlich!“ die Frau Dompredigerin. „Beim Himmel, das ist stark!“ meint ihr Gemahl. „ Das hätte ich nicht gedacht,“ brumm’ ich. „ Daß soll er büßen,“ ruft der Professor Frey „und“ .... „Er büßt es schon!“ — sagt eine Stimme, und der Uebelthäter schaut durch das Gebüsch hinter Elisens Platze. „Theilweise hat er es sogar schon gebüßt!“ — Mit diesen Worten windet sich der Blasphemist vollends hervor, schiebt sich ganz sachte zwischen seine Mutter und Elise, die schnell nach der andern Seite rückt, wohin er ihr eben so schnell folgt. Seinen Arm um sie legend, hält er folgende Rede: „Lischen, englische Cousine Ralff, ich beschwöre Dich, höre mich! — Glaubst Du etwa ich habe, nachdem Du jenem Schau- platz eitler Freuden den Rücken gewandt, weiter ge- walzt? Du irrst! Du irrst! — Gute Werke habe ich gethan, meine Schuld zu sühnen: den edlen Holzmann, — Holzmann, komm mal her und gieb mir die Schach- tel mit den feurigen Thränen! — den edlen Holzmann habe ich aus den Klauen des racheschnaubenden Krippen- stapels gerettet; Fräulein Thekla Stichel habe ich aus der amüsantesten aller Lagen, oder vielmehr Sitzungen, emporgezogen; als mitten im Contretanz dem Freiwilli- gen Breimüller der Steg riß und ihm die Unnennbare bis zum Knie hinaufschnurrte, habe ich ihm eine Droschke herbeigepfiffen; kurz überall, wo Thränen zu trocknen waren, war auch ich — wie gesagt — nur um meine Schuld zu büßen. Und hier, Lischen (Holzmann gieb mir die Schachtel), nicht allein getrocknet habe ich Thränen, auch gesammelt habe ich welche! — Sieh, Lischen!“ — Einen Ausruf der Verwunderung und Freude stößt Elise trotz ihrem Groll aus, als ihr der Bösewicht den Inhalt seiner Schachtel in den Schooß schüttet und un- zählige, funkelnde, leuchtende Johanniswürmer um sie herum kriechen und schwirren. Die Lampen sind weit genug entfernt, daß die Thier- chen in ihrem ganzen Glanz erscheinen können, und es ist wirklich ein hübscher Anblick — diese besternte Elise! — „Das sind meine Reuethränen und Du — kriegst Tänzer leider zu viel — ohne mich! — und ich bin ein Theekessel und et cetera — Lischen?! — Lischen, gucke mich mal an!“ — 14 „Taugenichts!“ sagt Elise, dem Sünder in die Haare greifend und — der Friede ist geschlossen! — — War denn der alte Meister Frey an diesem Abend ganz aus Rand und Band? Auf einmal verkündete er, daß er seinen morgenden 69sten Geburtstag (es war der letzte seines Lebens) jetzt feiern wolle, da bei solchen Gelegenheiten das Improvisiren den wahren Genuß und Jubel hervorbringe. Das halbe Atelier machte er halb betrunken, die ganze weibliche Welt ganz angeheitert. Einen Kranz bekam er aufgesetzt trotz allem Sträuben, — einen Kranz, der nur so sein mußte. Der Dom- prediger hielt eine Rede, die „verehrter Greis“ anfing und ähnlich endete, und Reden wurden losgelassen und Toaste ausgebracht bis zwölf Uhr. Dann erhob sich das alte, bekränzte Geburtstagskind, beklagte sich über Nachtkühle und Nachtfeuchte und — das Fest war vorbei! — — — Vorbei! Wo sind heute Alle die, welche es feierten? Todt ist der alte Meister Frey, zerstreut in alle Welt sind seine Schüler. Peter Holzmann, genannt Peter van Laar, oder auch Bamboccio, ist 1849 in einer römischen Villa von französischen Plünderern erstochen, als er eine Raphael’sche Madonna vor ihrer Zerstörungswuth schützen wollte. Der Domprediger ist noch immer nicht zum Mormonenthum übergetreten und der Oberlehrer Besen- meier hat Fräulein Julie Frey geheirathet und steht, — „mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei,“ — fürchterlich unter dem Pantoffel. Die Frau Rector Dippelmann knüpft noch wie immer alle Morgen ihrem Gemahl die Halsbinde um, steckt ihm das Butterbrod, in die gestrige Zeitung ge- wickelt, in die Rocktasche und sieht ihm stolz nach aus dem Fenster, wie er über die Friedensbrücke nach dem Schimmelstädtischen Gymnasium wandelt. Und Gustav und Elise ? — — — Ich werde nachher dieses Blatt der Chronik herübertragen zu jener schönen ältlichen Frau — in No. 12 der Sperlingsgasse, deren Fortepianoklänge sich schon den ganzen Nachmittag über in meine Gedanken verwoben haben. — Dann werden wir von Gustav und Elise sprechen! — Am 14. März. — „Hören Sie, Wachholder,“ sagte heute Strobel, mit den zusammengehefteten Bogen der Chronik auf’s Knie schlagend, „wenn Ihnen einmal Freund Hain das Lebenslicht ausgeblasen hat; irgend Jemand unter ihrem Nachlaß diese Blätter aufwühlt, und er sich die Mühe 14* giebt, hineinzuschauen, ehe er sie zu gemeinnützigen Zwecken verwendet, so wird er in demselben Fall sein, wie der alte Albrecht Dürer, der ein Jagdbild lobte, aber sich zugleich beklagte: er könne nicht recht unter- scheiden, was eigentlich die Hunde, und was die Hasen sein sollten. Sie würfeln wirklich Traum und Historie, Vergangenheit und Gegenwart zu toll durch einander. Theuerster, wer darüber nicht confus wird, der ist es schon! Und wenn Sie noch Ihre Bilder einfach hin- stellten, wie ein alter, vernünftiger, gelangweilter Herr und Memoirenschreiber! Aber nein, da rennt Ihnen Ihr Mitarbeiterthum der „Welken Blätter“ zwischen die Beine, da putzen Sie Ihre Erinnerungen auf mit dem, was Ihnen der Augenblick eingiebt; hängen hier ein Glöckchen an und da eins und ehe man’s sich versieht, haben Sie ein Ding hingestellt wie — wie ein Gebäude aus den bunten Steinen eines Kinderbaukastens. Das ist hübsch und bunt, aber — es paßt nichts recht zusammen, und wenn man es genau besieht — puh! — Nehmen Sie’s nicht übel; aber manchmal gleicht Ihre Chronik doch dem Machwerk eines angehenden literarischen Lichts, das sich mit Rousseau getröstet hat: Avec quelque talent qu’on puisse être né, l’art d’écrire ne s’apprend pas tout d’un coup “ — Ich hatte dieser langen Rede des Karikaturenzeich- ners geduldig zugehört, jetzt sagte ich, während ich er- bost meine Pfeife ausklopfte: „Sie haben vor einiger Zeit versprochen, ein Mitarbeiter meiner Chronik wer- den zu wollen, ich nehme Sie jetzt nach Ihrer so tief eingehenden Kritik sogleich beim Wort und — lasse Sie mit Dinte, Feder und Papier allein, daß Sie Ihren Beitrag derselben auf der Stelle anhängen. Der einst Confuswerdende mag auch von Ihnen etwas mit auf- wühlen. Guten Abend!“ Der Karikaturenmaler lachte, sagte „ fiat “ und be- gann eine Feder zu schneiden, während ich Hut und Stock nahm und abzog mit dem Gefühl eines Men- schen, der eine belebte Straße hinabzieht unter der festen Ueberzeugung, daß ihm hinten ein ungreifbares, ellen- langes Band von Vorhemde über den Rockkragen bau- melt. „Und Recht hat er doch!“ brummte ich, indem ich die Treppe herabstieg. „Wenn nur die Lise erst wieder da wäre! Komm zurück, Schlingel von Gustav und bringe sie mit, daß Euer alter Onkel ruhig wieder an seinem Werke de vanitate weiter schreiben kann!“ Damit trat ich aus dem Hause und zog eben die Handschuh an, als sich oben mein Fenster öffnete, der Karikaturenzeichner den Kopf heraussteckte und her- unter rief: „Hören Sie, alter Herr, ich kann Sie so nicht weggehen lassen — ich habe Gewissensbisse und muß erst Oel in Ihre Wunden gießen! Hören Sie, meine Tante theilt die Bücher in zwei Arten: gute, über welchen sie nach Tisch einschlafen kann, und schlechte, bei denen das nicht geht. Ihre Chronik würde sie unter die ersteren rechnen, wenn sie, aufgewühlt, ihr in die Hände fallen sollte. Adieu!“ Ich wandte dem unverschämten Gesellen lachend den Rücken und marschirte ab. Am Abend. — Ich bin zurückgekommen von meinem Spaziergang und sitze wieder allein und einsam vor den zerstreuten Bogen meiner Chronik. Der Karikaturenzeichner hat wirklich ein Blatt vollgekritzelt, alle meine Federn ver- dorben, einen Dintenklex auf den Fußboden gemacht, meinen Siegellackvorrath zerbissen, zerdreht und zer- brochen und — eine Ecke von meinem Schreibtisch ab- geschnitzelt. — Er hat mir fast die Fortsetzung der Auf- zeichnung meiner Phantasien verleidet, — und es war doch so süß, wenn der Blick an irgend einen Gegen- stand meines Zimmers, dort an jenes kleine, leere Mes- singbauer, an jenen Sessel vor dem Nähtischchen, an ein altes Blatt, eine vertrocknete Blume, eine bunte Zeichnung in meiner Mappe, sich fest hing, und allmäh- lig eine Erinnerung nach der andern aufstieg und sich blühend und grünend darumschlang. Wir sind doch thörichte Menschen! Wie oft durchkreuzt die Furcht vor dem Lächerlichwerden unsere innigsten, zartesten Gefühle! Man schämt sich der Thräne und — spottet; man schämt sich des fröhlichen Lachens und — schneidet ein lang- weiliges Gesicht; die Tragödien des Lebens sucht man hinter der komischen Maske zu spielen, die Komödien hinter der tragischen; — man ist ein Betrüger und Selbst- quäler zugleich! — Mit einem Kinderbaukasten verglich Strobel diese bunten Blätter ohne Zusammenhang? Gut, gut, — mag es sein, — ich werde weiter damit spielen, weiter luftige, tolle Gebäude damit bauen, da die fern sind, welche mir die farbigsten Steine dazu lieferten? Ich werde von der Vergangenheit im Präsens und von der Gegenwart im Imperfectum sprechen, ich werde Märchen erzählen und daran glauben, Wahres zu einem Märchen machen und zuerst — die bekritzelten Blätter des Meisters Strobel der Chronik anheften! Hier sind sie: Strobeliana . 3 Uhr. Ich habe mir eine Cigarre angezündet, den Bogen neben mich in’s Fenster gelegt und beginne meine Beobachtungen. Zuerst bringe ich zu Papier natürlich das Wetter: das holdseligste Himmelblau, den präch- tigsten Sonnenschein. Hätte ich nur einen Funken poeti- schen Feuers in mir, so würde ich mir beide durch ein junges, schönes Paar personifiziren, welches da hoch oben im Himmelszelt auf seinem weißen, weichen Wol- kendivan tändelt und kos’t und total vergessen hat, daß noch so viel hunderttausend deutsche Hausfrauen auf — Märzschnee warten zum Seifekochen! Wahrhaftig, da ist ja eine Fliege! Welch’ ein Fund für einen Chroniken- schreiber! Summend stößt sie gegen die sonnebeschiene- nen Scheiben, die wir schnell schließen wollen, um das arme Thierchen zu seinem Besten vor dem heuchlerischen Frühling da draußen zu bewahren. Sie scheint auch jetzt ihre Thorheit einzusehen, sie läßt ab und umfliegt mich. Halt, jetzt setzt sie sich auf meine Knie, nach mehreren vergeblichen Angriffen auf meine Nasenspitze; sie nimmt den Kopf zwischen beide Vorderbeine, kratzt sich hinter den Ohren und — — — kleiner ....! — Dahin geht sie, eine Spur hinterlassend auf meinem Knie und — in der Chronik der Sperlingsgasse. Ich wollte, es gäbe ein Sprichwort: „Schämt Euch vor den Fliegen an der Wand.“ Um wie viel menschliche Tollheiten und Thorheiten schnurren diese winzigen Flügelwesen! Wer weiß, was der Punkt, den der kleine Tourist da eben niedergelegt hat, eigentlich bedeutet! Wer weiß, ob es nicht ein deponirtes Tagebuch ist, voll der geistreichsten Bemerkungen; ein Tagebuch, das man nur aufzurollen und zu entziffern brauchte, wie einen egyptischen Papy- rus, um wunderbare, unerhörte Dinge zu erfahren. Welch’ eine Revolution würde es hervorbringen, wenn dem so wäre; wenn man sich vor den Fliegen an der Wand schämen müßte! Wie würden die Fliegenklatschen in Gang kommen. Arme Fliegen! Kein „redlicher Greis in gestreifter kalmankener Jacke“ würde euch mehr ver- schonen „zur Wintergesellschaft.“ Wie den Vogel Dudu würde man euch ausrotten und höchstens — einige in Uniform gesteckt, mit einer Cocarde auf jedem Flügel, als Regierungsbeamte besolden. Es wäre schrecklich, und ich breche ab. — — — 3¼ Uhr . — Welche Reisegedanken dieser blaue Him- mel schon wieder in mir erweckt! An solchen Vorfrüh- lingstagen, wo der Geist die Last des Winters noch nicht ganz abgeschüttelt hat, ist’s, wo die Sehnsucht nach der Ferne uns am mächtigsten ergreift. Es ist ein sonder- bares Ding um diese Sehnsucht, die wir nie verlieren, so alt wir sein mögen. Da zupft Etwas an unserm tiefsten Innern: Komm heraus, komm heraus, was sitzest Du so still Du Thor und hältst Maulaffen feil? Hier findest Du nicht, worüber Du grübelst, wonach Du Dich sehnst, ohne es zu kennen. Sieh’ wie blau, wie duftig die Ferne! Viel, viel weiter liegt’s! Komm heraus, heraus! — Bah, diese blaue duftige Ferne; wie oft hab’ ich mich von ihr verlocken lassen. Die Erde läßt uns ja nicht los; wir sind ihre Kinder, und sie ist nichts ohne uns, wir nichts ohne sie. — Folge jetzt der lockenden Stimme, Deine Füße werden schon in den weichen Boden versin- ken, närrische Sprünge wirst Du mit den Erdklößen an den Stiefeln machen! Fühle, daß zur Zeit wo die Sehn- sucht am stärksten ist, auch die Fesseln am stärksten sind; kehre um, ziehe Pantoffeln an und nimm die gestrige Zeitung vor die Nase: das Glück liegt nicht in der Ferne, nicht über dem „wechselnden Mond!“ — 3½ Uhr . — Da höre ich eben unten in der Gasse eine merkwürdige Redensart aus dem Munde eines Tage- löhners, der einen andern, sehr übelgelaunt Aussehenden, mit den Worten auf die Schulter klopft: „Man muß nie verzweifeln; kommt’s nicht gut, so kommt’s doch schlecht heraus !“ In demselben Augenblick öffnet sich nebenan ein Fenster. Eine beschmierte rothe Sammet- mütze auf einem Wald schwarzer Haare beugt sich heraus; es ist mein würdiger Freund Monsieur Anastase Tour- billon, seines Zeichens ein französischer Sprachlehrer. Er scheint die Redensart drunten auch gehört und — verstanden zu haben und gähnt: „Ah, ouf quelle bête allemande! Eh vogue la galère, — jusqu’à la mort tout est vie!“ Da habt ihr die beiden Nationen und ..... Wet- ter, — da gebe ich nicht Acht und — meine Fliege von vorhin entschlüpft summend aus dem wiedergeöffneten Fenster! Nie mehr wird sie meinen Freund Wachholder umschwirren, niemehr auf dem Rande der Zuckerdose umherspazieren oder gegen die Scheiben stoßen! Sie hat, was sie wollte — unbegrenzte Freiheit, aber ach — heute Abend — keinen warmen Ofen mehr, sich daran zu wärmen; in den Rinnsteinen der Sperlingsgasse fließt weder Milch noch Honig! — Verflucht sei die Freiheit! Amen! — 3¾ Uhr . Die meisten Dichterwerke der neusten Zeit gleichen dem Bilde jenes italischen Meisters, der seine Geliebte malte, als Herodias, und sich in dem Kopfe des Täufers auf der Schüssel portraitirte. Da pinseln uns die Herren ein Weibsbild, Tendenz genannt, hin, welches anzubeten sie heucheln, und welches auf dem Prä- sentirteller, hochachtungsvoll und ergebenst, uns das ver- zerrte Haupt des werthen Schriftstellers selbst überreicht. Die Nützlichkeit solchen Treibens läßt sich nicht ab- streiten, also — nur immer zu! — Wie komm’ ich darauf ? 4 Uhr . — Es ist merkwürdig; seit ich dieses Blatt bemale, ist dieselbe Traumseligkeit über mich gekommen, die dieser Chronik ein so zerfetztes, zerlumptes Ansehen gegeben hat. Wachholder hat Recht, es ist ein eigen- thümlich-behagliches Gefühl, seinen Gedankenspielen sich so ganz und gar hinzugeben, ohne sich Geist-heraus- quälend im Kreise zu drehn, wie ein hartleibiger Pudel. — — Wo war ich eben, als das Kindergeschrei drunten auf der Straße mich aufweckte? Ich will versuchen, es der Chronik einzuverleiben, worin zugleich für meinen ehrenwerthen Freund Wachholder die größte Genugthuung für meine vorigen Reden liegen wird: Es war an einem Sonntagmorgen im Juli, als ich auf Braunschweig’schem Grund und Boden am Ufer- rand der Weser lag und hinüberschaute nach dem jensei- tigen Westphalen. Früh vor Sonnenaufgang war ich, über Berg und Thal streifend, mit dem ersten Strahl im Osten, in ein gleichgültiges Dorf hinabgestiegen. Ich hatte Kaffee getrunken unter der Linde vor dem Dorf- krug, hatte behaglich das Treiben des Sonntagsmorgens im Dorf belauscht und andächtig der kleinen Glocke zu- gehört, die in dem spitzen schiefergedeckten Kirchthurm läutete. Manchem hübschen, drallen, niedersächsischen Mäd- chen, das sich über den sonderbaren, plötzlich in’s Dorf geschneiten Fremdling wunderte, hatte ich lächelnd zuge- nickt; ich hatte Bekanntschaft mit der gesammten Kinder-, Hühner-, Gänse- und Enten-Welt des „Krugs“ gemacht, dem weißen Spitz den Pelz gestreichelt und manche Frage über „Woher und Wohin“ beantwortet. Mit meinem Wirth, (der zugleich Ortsvorsteher war), hatte ich das Bienenhaus besucht; darauf die Gemeinde, den Cantor und Pastor in die Kirche gehen sehen, und hatte mich zuletzt allein im Hofe unter der Linde gefunden, nur umgeben von der quackenden, pipsenden, geflügelten Schaar des Federviehs. Aus diesem süßen dolce far niente hatte mich plötzlich das Schreien eines Kindes aufgeschreckt. Es drang aus dem Haus hinter mir, und bewog mich aufzustehen und in das niedere, vom Wein- stock umsponnene Fenster zu schauen. Eine alte Frau war eben beschäftigt, einen widerspänstigen, heulenden, strampelnden Bengel von vier Jahren mit Wasser, Seife und einem wollenen Lappen tüchtig zu waschen, wel- cher Procedur drei bis vier andere kleine „Blaen“ angstvoll zusahen, wartend bis die Reihe an sie kommen würde. — „Nun Mutter,“ sagte ich, mich auf die Fensterbank lehnend; „und Ihr seid nicht in der Kirche?“ Die Alte sah auf und sagte lachend: Et geit nich immer; ek mott düsse lüttgen Panzen waschen und an- trecken. — Herre — Kinderschrieen is ok een Gesang- bauksversch!“ — Ich nahm den Hut ab und trat unwillkührlich einen Schritt zurück. Welch’ eine wunderbar schöne Predigt lag in den fünf Worten des alten Weibes! Eine Schwalbe beschrieb eben ihren Bogen um mich, ihrem Neste unter dem niedrigen Dachrande zu, und klammerte sich, ihre Beute im Schnabel, an die Thür ihrer kleinen Wohnung, begrüßt von dem jubelnden Gezwitscher der federlosen Brut. Ich konnte der alten Frau kein Wort mehr sagen. — „Kinderschrieen is ok een Gesangbaukversch!“ murmelte ich leise, zu meinem Tisch unter der Linde zurückgehend. Ich riß ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf: Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch, und zog es mit einem Strauß Waldblumen unter das Hutband. Träumend schritt ich dann durch die Thür des Dorf- kirchhofs, vorüber an den bunten, geputzten Gräbern, zu dem offnen Kirchthor (auf dem Lande braucht der Pro- testantismus seine Kirchen während des Gottesdienstes noch nicht zu schließen) und lehnte andächtig an der Esche davor. Mit großer Freude hörte ich, wie der junge Pastor eine Gellert’sche Fabel in das Gleichniß aus dem fernen Orient schlang; während die Schwalben in dem heiligen Gebäude hin und her schossen und ein verirrter Schmetterling seinen Weg durch die geöffnete Kirchthür eben wieder zurück fand. „Kinderschrieen is ok een Gesangbauksversch!“ rief ich, über die niedere Mauer in das freie Feld springend, und durch die gelben Kornwogen mit ihrem Kranz von Flatterrosen am Rande, der Weser zuwandernd. Da hatte ich mich in’s Gras unter einen Weidenbusch ge- worfen und träumte in das Murren des alten Stromes neben mir hinein; während drüben im katholischen Lande eine Prozession singend den Capellenberg zu dem Marien- bild hinaufzog und hinter mir die protestantischen Orgel- töne leise verklangen. Welch’ ein wundervoller, blauer, lä- chelnder Himmel über beiden Ufern, über beiden Religio- nen; welch’ eine wogende Gefühlswelt im Busen, anknüpfend an die fünf Worte der alten Bäuerin! Ich war damals jünger als jetzt und legte das Gesicht in die Hände: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! „Ich habe keinen Namen „Dafür! Gefühl ist Alles“ — — — — Ein näher kommender Gesang weckte mich plötzlich; ich schaute auf. Brausend und schnaufend, die gelben Fluthen gewaltig peitschend, kam der „Hermann“ die Weser herunter. Der Kapitain stand auf dem Räder- kasten und griff grüßend an den Hut, als das Schiff vorbeischoß. — — Hunderte von Auswandrern trug der Dampfer an mir vorüber, hinunter den Strom, der einst so viele Römerleichen der Nordsee zugewälzt hatte. Ein Männerchor sang: „Was ist des Deutschen Vaterland,“ und die alten Eichen schienen traurig die Wipfel zu schüt- teln; sie wußten keine Antwort darauf zu geben, und das Schiff flog weiter. Die Weser trägt keine fremde Lei- chen mehr zur Nordsee hinab; wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter! — Ich verließ meine Stelle und ging durch den Buchen- wald den nächsten Berg hinauf bis zu einer freien Stelle, von wo aus der Blick weit hinausschweifen konnte in’s schöne Land des Sachsengau’s. Welch’ eine Stelle deut- scher Erde! Dort jene blauen Höhenzüge — der Teuto- burger Wald! Dort jene schlanken Thürme — die große germanische Culturstätte, das Kloster Corvey! Dort jene Berggruppe — der Ith! cui Idistaviso nomen sagt Tacitus. Ich bevölkerte die Gegend mit den Ge- stalten der Vorzeit. Ich sah die achtzehnte, neunzehnte und zwanzigste Legion unter dem Proconsul Varus gegen die Weser ziehen, und lauschte ihrem fern verhallenden To- desschrei. Ich sah den Germanicus denselben Weg kom- men und lauschte dem Schlachtlärm am Idistavisus; bis der große Arminius, der „turbator Germaniae“ durch die Legionen und den Urwald sein weißes Roß spornte, das Gesicht unkenntlich durch das eigene, herabrieselnde Blut, geschlagen, todmüde. Ich sah, wie er die Cherusca von Neuem aufrief zum neuen Kampf gegen die „urbs“; wie das Volk zu den Waffen griff: pugnam volunt, arma rapiunt: plebes, primores, juventus, senes! Aber wo ist denn die Puppe? kam mir damit plötzlich in den Sinn. Ich schleuderte den Tacitus in’s Gras, stellte mich auf die Zehen, reckte den Hals aus, so lang als möglich, und schaute hinüber nach dem Teutoburger Walde. Da eine vorliegende „Bergdruffel,“ (wie Joach. Heinr. Campe sagt) mir einen Theil der fernen blauen Höhen verbarg, gab ich mir sogar die Mühe, in eine hohe Buche hinaufzusteigen, wo ich auch das Fernglas zu Hülfe nahm. Vergeblich; — nirgends eine Spur vom Hermannsbild! Alles, was ich zu sehen bekam, war der große Christoffel bei Cassel und mit einem leisen Fluch kletterte ich wieder herunter von meinem luftigen Auslug. Hatte ich aber eben einen leisen Segenswunsch von mir gegeben, so ließ ich jetzt einen um so lautern los. Ich sah schön aus! „Das hat man davon,“ brummte ich, während ich mir das Blut aus dem aufgeritzten Dau- men sog, „das hat man davon, wenn man sich nach deutscher Größe umguckt: einen Dorn stößt man sich in den Finger, die Hosen zerreißt man, und zu sehen kriegt man nichts als — den großen Christoffel.“ Aergerlich schob ich mein Fernglas zusammen, steckte den Tacitus 15 zurück in die Tasche und ging hinkend den Berg hin- unter, wieder der Weser zu. Aergerlich warf ich mich, am Rande des Flusses angekommen, abermals in’s Gras. Was hatte sich Alles zwischen die gefühlsselige Stim- mung von vorhin und den jetzigen Augenblick gedrängt! Der Himmel war noch eben so blau, die Berge noch eben so grün, der Papierstreifen von vorhin steckte noch neben den Waldblumen an meinem Hute, und doch — wie verändert schaute mich das Alles an! Hätte das Dampfschiff mit seinen Auswanderern nicht später kom- men können, da es doch sonst immer lange genug auf sich warten läßt?! Hätte ich Narr nicht unterlassen können, nach dem Hermannsbild auszuschauen? Wie ruhig könnte ich dann jetzt im Grase meinen Mittags- schlaf halten, ohne mich über den großen Christoffel, den so viele brave Chatten mit ihrem Blute bezahlt haben, zu ärgern! — Ich versuchte mancherlei, um meinen Gleichmuth wieder zu gewinnen; ich kitzelte mich mit ei- nem Grashalm am Nasenwinkel, ich portraitirte einen dicken, gemüthlichen Frosch, der sich unter einem Kletten- busch sonnte, — es half Alles nichts! — Der Dämon Mißmuth ließ mich nicht los, wüthend sprang ich auf, schrie: Hole der Henker die Wirthschaft! und marschirte brummend auf Rühle zu — — — — — — — — Wetter, was ist das für ein Lärm in der Sperlings- gasse?! Heda, — da ist ein Hundefuhrwerk in einen Victualienkeller herabgepoltert und ich — ich der Kari- katurenzeichner Ulrich Strobel sitze hier und schmiere Un- sinn zusammen! — Hol’ der Henker auch die Chronik der Sperlingsgasse! — Adieu Wachholder! — — Am 21. März. Abend. — Es giebt ein Märchen — ich weiß nicht, wer es erzählt hat — von Einem, der nach großem Unglück sich wünschte, die Erinnerung zu verlieren, und dem in einer dunkeln Nacht sein Wunsch gewährt ward. Er empfand von da an keinen Schmerz, keine Freude mehr; er ver- lernte zu weinen und zu lachen; es ward ihm einerlei, ob er Blumenknospen oder Menschenherzen zertrat: alles das hübsche Spielzeug, welches das Leben seinen Kindern mitgiebt auf ihrem Wege von der Wiege bis zum Grabe, zerbrach ihm in den Händen mit der Erinnerung. Das ist ein schrecklicher Gedanke! — Ihr Weisen und Predi- ger der Völker, nicht der Gedanke an Glück oder Unheil in der Zukunft ist’s, der liebevoll, rein, heilig macht; nie ist dieser Gedanke rein von Egoismus und über jede Blüthe, die das Menschenherz treiben soll, legt er 15* den Mehlthau der Selbstsucht: die wahre lautere Quelle jeder Tugend, jeder wahren Aufopferung, ist die traurig süße Vergangenheit mit ihren erloschenen Bildern, mit ihren ganz oder halb verklungenen Thaten und Träumen. Wer könnte ein Kind beleidigen, der daran denkt, daß er einst selbst sich an die Mutterbrust geschmiegt, daß ein Mutterauge auf ihn herabgelächelt hat? Die Erin- nerung ist das Gewinde, welches die Wiege mit dem Grabe verknüpft, und mag das dunkle stachlige Grün des Leidens, des Irrthums, noch so vorwaltend sein; niemals wird’s hier und da an einer hervorleuchtenden Blume fehlen, bei welcher wir verweilen und flüstern können: „Wie lieblich und heilig ist diese Stätte!“ — Ich habe meine kleine Lampe angezündet und träume wieder über den Blättern meiner Chronik. Wie die ältliche freundlich-schöne Frau, die mir heute den Strauß junger Veilchenknospen herüberbrachte, auf den Wogen ihrer Melodien sich schaukeln läßt, kann ich ja nur auf diese Weise festhalten. — Ich habe bis jetzt Bilder gezeichnet aus unserer Kinder Kinderleben, heute will ich ein anderes farbiges Blatt malen, wie ein Zau- berspiegel voll blühenden Lebens, voll süßen Flüsterns, voll träumenden Sehnen’s und lächelnden Träumens, — ein einziges Blatt aus der vollen Pracht des Herzensfrüh- lings, ein einziges Blatt aus der Zeit der jungen Liebe! „O daß sie ewig grünen bliebe,“ „Die schöne Zeit der jungen Liebe!“ sang der Dichter und überall treffen wir den Spruch an, auf Kaffee-Tassen, in Stammbüchern und auf Pfeifen- köpfen. Das soll kein Spott sein! Was das Volk er- faßt hat, will es auch vor sich sehen, es spielt mit ihm, es spricht den gereimten Gedanken, den es zu seinem Eigenthum gemacht hat, oft zwar mit einem Lächeln auf den Lippen aus, aber es trägt ihn darum doch tief im Herzen. Das Volk steigt nicht zu dem Wahren und Schönen hinauf, sondern es zieht es zu sich herab; aber nicht, um es unter die Füße zu treten, sondern um es zu herzen, zu liebkosen, um es im ewig wechselnden Spiel zu drehen und zu wenden und sich über seinen Glanz zu wundern und zu freuen. Ueber der Wiege des ewigen Kindes „Menschheit“ schweben die guten Genien, die großen Weltdichter, schütten aus ihren Füllhörnern die goldenen Weihnachtsfrüchte herab, und sind mit ihren Wiegenliedern stets da, wenn häßliche schwarze Kobolde erschreckend dazwischen gelugt haben. — — Schön ist die Zeit der jungen Liebe! Sie ist gleich der Morgendämmerung, wo der Himmel im Osten leise sich röthet, wo Knospen, Blumen und alles Leben dem kommenden Tage in die Arme schlummern, und nur hin und wieder eine Lerche, den Thau von den Flügeln schüt- telnd, jubelnd, glückverkündend emporsteigt. Noch be- deckt der Nebelduft zauberhaft, geheimnißvoll alle Ab- gründe und öden Stellen des Lebens; die jungen Herzen glauben nur Blumen und flatternde Schmetterlinge und bunte nesterbauende Vöglein unter dem Schleier der Zu- kunft verborgen. „Süßes Geliebtsein, süßeres Lieben!“ hat ein anderer Dichter einmal ausgerufen, und ich ein alter, einsamer Mann bedecke die Augen mit der Hand, denke an die Gräber auf dem Johanniskirchhof, denke an den Stern meiner Jugend: „Maria!“ — — — — — — — — Würde ich diese Erinnerung mit all’ ihrem Schmerz, für der ganzen Welt Macht, Reichthum, Weisheit lassen? — — — — Ich glaube nicht. — Der Mond kommt wieder hervor über die Dächer und vermischt sein weißes Licht mit dem kleinen Schein meiner Lampe; über und durch das alte immergrüne Epheu aus dem Uhlfeldener Walde schießt er seine blanken Strahlen, seltsame Schatten auf den Fußboden und an die Wände werfend. Mit sich bringt er das heutige Blatt der Chronik der Sperlingsgasse. Dort auf dem Stühlchen im Fenster zeichnet sich die feine liebliche Gestalt Elisens dunkel in der Mond- dämmerung eines lange vergangenen Abends ab; währ end auf einem andern Stuhl niedriger neben ihr eine andere Gestalt sitzt. Was haben die Beiden so heimlich, so leise sich zuzuraunen, was haben sie zu kichern? Ein Garnknäuel, das von Lischen’s Nähtisch fällt und über den Boden rollend, um Stuhl- und andere Beine sich schlingt; ein verirrter Nachtschmetterling, eine vorbeischießende Fle- dermaus, ein Ball, der von der Straße in’s Zimmer fliegt, und über dessen Herausgabe Gustav mit dem un- vorsichtigen Besitzer kapitulirt alles, alles wird in die- ser Mondscheindämmerung zu einem Märchen, zu einem Traum. Ist nicht die Dämmerung die Zeit der Märchen; ist nicht die Zeit der jungen Liebe die Zeit des Traums? — „Liebe kleine Elise!“ flüstert Gustav, in das mond- beglänzte zu ihm sich herabbeugende Gesicht schauend. „Lieber großer Junge!“ lächelt Elise, indem sie dem vormaligen Taugenichts der Gasse die Locken aus der Stirn streicht. Sie sagen einander weiter nichts, aber diese abgebrochenen Worte enthalten Alles, was das Menschenherz in seinen heiligsten Augenblicken bewegt. „Ich liebe Dich so!“ flüstert Gustav wieder, worauf Elise nichts erwidert, sondern den Kopf in die Blätter ihres Epheu’s verbirgt. Der Mond kann sich in diesem Augenblick wahrscheinlich in einem flimmernden Perlen- tröpfchen, das in einem blauen Auge hängt, spiegeln, und als das Köpfchen sich wieder erhebt aus dem grünen Blätterwerk, ist an Gustav die Reihe, Elise die Locken aus der Stirn zu streichen. „Sieh, wie der Mond da oben schwimmt,“ sagt Elise. „Warum macht er uns oft so tiefes Heimweh, als ob wir hier auf der Erde gar nicht recht zu Hause wären, Gustav? Sieh, da ist nur noch ein einziger, kleiner Stern, mutterseelenallein, wie ein goldener Fun- ken. Sieh, — rechts vom Monde!“ „Ich sehe noch zwei!“ sagt Gustav. „Ganz nah’, und habe darum auch gar kein Heimweh und — willst Du wohl wieder die Augen aufmachen, Blondkopf! — Sieh, das hast Du davon; was ich noch Weises sagen wollte, hab’ ich nun rein vergessen!“ „Dann war’s gewiß eine Lüge, Braunkopf!“ meint Elise lachend. „Und nun steh’ auf, der Onkel und die Tante sitzen da den ganzen Abend im Dunkeln; — es ist sehr unrecht, daß wir uns gar nicht darum beküm- mern. Komm, wir müssen wirklich zusehen, ob sie nicht eingeschlafen sind.“ Gewiß waren sie nicht eingeschlafen. Nur das Spinn- rad der alten Martha hatte aufgehört zu schnurren und schlummernd saß sie in ihrem Winkel. „Soll ich Euch Licht anzünden, oder — sollen wir wieder einmal einen Mondscheingang machen?“ fragt Elise, mir den Arm um die Schulter legend. „ Euch ?“ fragt die Tante Helene. Warum denn nur „ Euch “ Licht anzünden?“ „Das will ich Dir sagen, Mama,“ mischt sich Gustav ein. Du kannst bekanntlich keine Mäuse sehen , und da es seit einiger Zeit hier beim Onkel Wachholder ordentlich von ihnen wimmelt, so sind wir Deinetwegen so aufopfernd, im Dunkeln zu sitzen.“ „Waren das etwa Mäuse, was wir da am Fenster knuspern und pispern hörten?“ frage ich. „Ich habe nichts gehört!“ sagt Lischen treuherzig, während Gustav: „Versteht sich!“ ruft und den Inhalt eines Obstkörbchens in seine Taschen ausleert. „Was machst Du da, Mäusekönig?“ fragt seine Mutter. „Ich verproviantire mich zu unserer Mondscheinfahrt, Mama; Lischens Frage war natürlich höchst überflüssig. Da, Lise, nimm den Rest — ich kann nicht mehr lassen!“ Elise läßt sich das nicht zweimal sagen und scheint in der That ihre Frage für unnöthig zu halten. Nach einigen Einwendungen der Tante wegen kalter Abend- luft u. s. w. machen wir uns auf, hinaus in die Som- mermondscheinnacht! — Die scharfen Schatten auf dem Pflaster und an den Häuserwänden, das Glitzern der Fensterscheiben, die ziehenden, beleuchteten Wolken am dunkeln Nachthimmel, die flüsternden Gruppen in den Hausthüren und an den Straßenecken, — alles wird nun zu einem Bilde für Gustav, zu einem Märchen für Elise. Da beleben sich die Straßen, Gassen und Plätze mit den wundersamsten Gestalten; auf den Ecksteinen lauern, zusammengekauert, grimmbärtige Kobolde; aus den dunkeln Thorwegen der alten Patrizierhäuser treten seltsame Gesellen mit nicken- den Federn und weiten Mänteln, und schöne Damen be- steigen weiße Zelter, in die Nacht davon reitend; Söld- ner im Harnisch, die Partisanen auf den Schultern, ziehen über den Markt; Prozessionen vermummter Mönche winden sich langsam aus dem Domportal und — alles liegt morgen in den hübschesten Scizzen festgebannt, auf Elisens Nähtischchen oder treibt sich auf dem Fuß- boden umher. Natürlich sind Gustav und Elise immer einige Schritte uns voraus, und nur von Zeit zu Zeit kann ich abge- rissene Sätze ihrer Unterhaltung erfassen. Ich denke an Paul und Virginie unter den Palmbäumen von île de France; ich denke an die beiden süßen Gestalten des deutschen Märchens, an Jorinde und Joringel, von denen es heißt: „Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern.“ — Nach- dem wir manche Straße durchstreift und vor dem er- leuchteten Opernhause die ein- und ausströmende Menge, die harrenden Equipagen, die Blumen und Zuckerwerk verkaufenden Kinder betrachtet haben, finden wir uns zuletzt auf dem Schloßplatz, an dem Becken des lustig im Mondschein sprudelnden Springbrunnens zusammen. Von den Rasenplätzen bringt ein warmer Luftzug den Duft der Nachtviolen, der Holunder- und Goldregen- büsche zu uns herüber; am südlichen Himmel wetter- leuchtet eine dunkle Wolke prächtig in die Mondnacht hinein und neben uns plätschert und murmelt — als wolle er sich selbst in den Schlaf sprechen — der Spring- brunnen. Es ist eine herrliche Sommernacht! Woran denkt Elise? Wie nachdenklich sie, das Kinn in die Hand gelegt, dem schwatzenden Wasserspiel zuschaut! „Lischen, woran denkst Du?“ fragt die Tante Helene. „Ihr würdet lachen,“ antwortet Elise. „Es ist ein Traum und ein Märchen.“ „Erzählen! erzählen!“ ruft Gustav den Arm ihr um die Hüfte legend. Was soll ich anfangen heute an diesem einsamen Abend; ich ergreife ein Heftchen von blaßrothem Papier, bedeckt mit mädchenhaft zierlichen Schriftzügen, durch- woben mit hübschen, feinen Federzeichnungen. Da ist’s! So erzählte Elise an jenem fernen Abend, als der Brun- nen neben uns plätscherte: „Ich saß neulich mal des Abends ganz allein. Du warst ausgegangen, Onkel; Gustav war am Morgen schon mit seiner großen Mappe abgezogen, um Bäume und Bauerhäuser zu zeichnen; wo die Tante war, weiß ich nicht; kurz, ich war mutterseelen allein und nur mein guter, dicker Kater schnurrte auf der Fußbank neben mir und putzte sich den Schnauzbart. Ich hatte eine Menge Augen an meinem Strickzeug fallen lassen und durchaus keine Lust, sie wieder aufzunehmen. So schrob ich denn die Lampe tief herunter und schaute aus dem Fenster in den Mond, der nicht ganz so voll wie heute über die Dächer und Schornsteine herauf kam. Es war ganz dämmerig in der Stube und nur zuweilen tanzte ein Lichtschein aus den Fenstern drüben über die Wände. Da plötzlich war der Mond hoch genug, — ein glänzender, lustiger Strahl schoß wie ein weißer Blitz über meinen Topf mit Nachtviolen und ein Glas mit Waldblumen, welches neben mir stand und — mit ihm kam mein Märchen oder mein Traum. Es war zu hübsch! — Zuerst guckte ich eine ganze Weile in die glänzende Straße auf dem Boden, die immer weiter rückte, als — auf einmal — Ihr glaubt’s gewiß nicht, — der ganze Strahl von unzähligen, klei- nen, zierlichen, durchsichtigen Flügelgestalten lebte, die darin auf und abschwebten und durch ihren Glanz selbst die Bahn bildeten. Halb erschrocken und halb erfreut, schaute ich diesem wundersamen Weben zu; als plötzlich das Blumenglas im Fenster einen schrillen, langanhal- tenden Ton, wie er entsteht, wenn man mit dem Finger um den Rand eines Glases streift, von sich gab. Das Wasser darin hob und senkte sich, blitzte, funkelte und bewegte die Waldrosen hin und her; die Blüthen der Nachtviolen öffneten sich und aus jeder schwebte eben- falls ein zierlich geflügeltes Wesen, fast noch feiner als die Lichtgeisterchen. Nach allen Seiten flatterten sie, den köstlichsten Duft verbreitend. Während dessen tönte der schrille Ton des Glases fort, bis er mit einem Male aufhörte, gleich einem Faden durchschnitten, worauf eine tiefe Stille eintrat. — Jetzt hatte der Mondstrahl Deinen Schreibtisch erreicht, Onkelchen; das kleine Gei- stervolk tanzte lustig über Deinen Büchern und Papieren und soweit hatte ich mich schon von meiner Verwunde- rung erholt, daß ich herzlich über die sonderbaren Ka- priolen einiger der winzigen Dingerchen lachen konnte, die auf alle Weise sich bemühten, in unser großes Din- tenfaß zu gucken, ohne den Muth zu haben, sich in die Nähe zu wagen. Andere wieder schwebten über den Federn und noch andere machten sich um einen recht dicken, abscheulichen Dintenklex zu schaffen; sie schienen ihm das Lebenslicht mit aller Macht ausblasen zu wollen. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen zauberischen Wesen zugesehen hatte, als eine Menge feiner Stimmchen: Folge! Folge! rief und ich plötzlich, immer kleiner wer- dend, endlich selbst als ein solches geflügeltes Figürchen, in den Tanz gezogen wurde und mit den Geistern des Mondlichts und den Duftgeistern der Waldblumen und der Nachtviolen langsam dem Fenster zuschwebte. Denn wie der Mond höher stieg, zog sich auch der Strahl mit seinen glänzenden Bewohnern wieder zurück, und lief hinab an der Hauswand, um in die Gasse hinunter zu steigen. — Ich hatte durchaus keine Furcht, trotz- dem daß es da draußen wie eine verzauberte Welt war. — Die ganze Gasse war ein Gewirr von Tönen und Licht, und nichts von dem Leben und Weben des Gei- stervolks war mir mehr verborgen, und von Geistervolk lebte und webte Alles! — Dabei hatte ich auch nicht die Fähigkeit verloren, die gröbere, gewöhnliche Welt zu schauen und zu vernehmen; ich kannte und belauschte die Leute in den Hausthüren, die Kinderköpfe in den Fen- stern, die schlafenden Sperlinge und Schwalben in ihren Nestern; — es war wunderhübsch! — Jetzt zog der Strahl mit seinen Bewohnern schräg über unsere Wand fort und glitt auf die Fenster unserer Nachbarn zu. Halb zehn Uhr hörte ich’s schlagen, als der Reigen vor dem Fenster der armen Frau Nudhart, die mit ihrem kranken Kind da wohnt, ankam, und zitternd über einen knospenden Rosenbusch in das kleine Zimmer glitt. Leise singend schwebten die Geisterchen des Lichts, und ich mit ihnen, über den Fußboden hin, jagten sich um den Schatten des Rosenbusches auf den Boden, küßten das bleiche Kindergesicht auf dem Bettchen und die ebenso bleichen Züge der darüber hingebeugten, armen, sorgen- vollen Mutter. Wir bringen Hoffnung, wir bringen Genesung, wir bringen Leben! flüsterten die Geister. Das kranke Kind legte seine magern Händchen lächelnd in den zitternden Strahl auf seinem Kissen. Wir brin- gen Hoffnung, Genesung, wir bringen Leben, sang ich mit im Chor und fast widerstrebend folgte ich dem zu- rückweichenden Strahl. Noch einen letzten Blick konnte ich zurück in’s Zimmer werfen, und im nächsten Augen- blick schwebte ich schon wieder in der Gasse. Die Tante aber mußte jetzt wohl nach Haus gekommen sein, denn plötzlich mischten sich die Töne ihres Flügels in den Reigen; ich hörte, wie der alte Marquart drunten vor seinem Keller die Jungen zur Ruhe ermahnte. Aber mein Abenteuer war noch nicht zu Ende. Wir waren jetzt vor dem Fenster des ersten Stockes unseres Nachbarhauses; ein heller Lampenschein drang aus dem Zimmer hervor, und über ein Glas mit Goldfischen und das Strickzeug in den Händen der Frau Hofräthin Zehrbein schwebten wir hinein, lustig und glänzend, ohne eine Ahnung des Schrecklichen, welches uns bevorstand. Mein Fräulein, lispelte eine Stimme, in deren Inhaber ich den Assessor Kluckhuhn erkannte. Mein Fräulein, in- commodirt Sie diese abominable schwüle Luft nicht zu sehr, bitte, so lassen Sie uns noch einmal jene köstliche Barcarole aus Hayd é e hören. — Um Gottes willen! dachte ich, aber schon war’s zu spät, meinen winzigen Begleitern das Drohende mitzutheilen und zu schneller Flucht zu rathen; schon hatte Eulalia begonnen: Das Lido-Fest ist heute Lust und Vergnügen ringsum lächelt … Entsetzen faßte die Geisterschaar; ihre schillernden, glän- zenden Farben verblichen; von dem Resonanzboden des ächzenden Musikkastens (wie Gustav sagt), und zwischen den Lippen der Sängerin entwickelte sich eine mißge- staltete Gnomenschaar, die, gespenstisch kreischend und jammernd, sich in der Luft überstürzte und überschlug und grimmig über die Geister des Lichts herfiel. Es war schrecklich! Schon fühlte ich mich von einem kobold- artigen C , welches mich an dem Hals gepackt hielt, halb erdrosselt, und zappelte wie eine unglückliche Mücke in den Krallen der Spinne; da — erhob sich die Frau Hofräthin; die weiße Gardine sank herab: wie ein elek- trischer Schlag durchzuckte es mich und das ganze Heer des Lichts! Gerettet! — An der Außenseite des Tuchs hing der Strahl mit seinen Kindern, bleich und ange- griffen; drinnen aber tönte es fort: Ein schöner Herr, ein holder Jüngling, Mit mildem, liebendem Aug’, Umflattert mich, mit schmeichelnder Zunge! .... Schnell und schneller sank jetzt der Strahl herab und eben berührte er die Erde, da — erwachte ich und Gustav, dicht vor mir, den Kopf auf beide Fäuste ge- stützt, grins’te mich an. — (Au, Nein, Du hast mich nicht angegrins’t?!) Eine dicke, schwarze Wolke stand vor dem Mond und mein Traum war zu Ende, mein Märchen ist zu Ende!“ — Das Märchen war zu Ende, aber noch nicht unser Mondscheinabend damals. „Und nun, Gustav, Quälgeist .... hier .... da“ .... Mit diesen Worten greift Elise in das Wasserbecken neben ihr und schleudert eine Hand voll blitzender Tropfen ihrem nichts ahnenden Gefährten in’s Gesicht. 16 Erschrocken und prustend springt dieser zur Seite, wor- auf die Uebelthäterin, böse Folgen ahnend, sogleich, um das Becken herum, die Flucht ergreift. „Ihr seid Zeugen, daß Sie angefangen hat!“ ruft Gustav, ebenfalls die Hand in’s Wasser tauchend und Elisen nacheilend. „Tante! Tante! — Onkel, Hülfe!“ schreit diese, mit der abgebundenen Schürze den Verfolger im Ren- nen abwehrend und ihn mit der andern freien Hand unaufhörlich bespritzend. „Warte, Wasserjungfer!“ ruft Gustav und bemäch- tigt sich der Schürze. „Das sollst Du büßen, Ver- rätherin!“ Mit einem Schrei läßt Elise ihre Aegide fahren, und — wie ein Reh ist sie seitwärts im Gebüsch hinter den Holundersträuchen verschwunden, doch nicht, ohne ihren durchnäßten Verfolger auf den Fersen zu haben. „Diese Wildfänge!“ seufzt die Tante Helene, auf eine Bank sinkend; während ich Taschentuch, Arbeits- körbchen und umherrollende Aepfel, welches alles das Frauenzimmer, den Ausgang ihres Attentats vorher- sehend, sogleich zu Boden geworfen hat, auffuche , wie es einem guten Onkel und Vormund geziemt. „Hören Sie nur, wie das Mädchen kreischt!“ — Indem wir noch der wilden Jagd zwischen den Büschen lauschen, belebt sich plötzlich die Scene und andere Figuren kommen durch die Monddämmerung. Mädchen- und Männerstimmen, kichernd und summend und Opernmelodien pfeifend! Jetzt treten die Kommen- den aus dem Schatten in den hellern Lichtkreis um das Fontainenbecken: „Der Onkel Wachholder!“ rufen ver- wundert mehrere Stimmen und im nächsten Augenblick sind wir von den Nachtschwärmern und Abendfaltern um- geben und erkennen in ihnen wohlbekannte Freunde und Freundinnen von Gustav und Elise. Ein Gewirr von Begrüßungen und Fragen erhebt sich nun. Wo ist Fräulein Ralff, wo ist Lischen, wo ist die Lise; wo ist Herr Gustav, wo steckt der Mensch? schwirrt das durch- einander und wird beantwortet; bis endlich Gustav und Elise zurückkommen von ihrer wilden Jagd, keuchend und roth, die Haare in Unordnung, Elise einen großen Riß im Kleide, aber Beide Arm in Arm, wie artige, verträgliche Kinder. — Jetzt geht der Jubel erst recht an! Das ist schön, das ist prächtig, das ist ausgezeich- net; guten Abend, Natalie; guten Abend, Ida; ich grüße Sie, mein Fräulein; wo kommt Ihr her, Ihr Herumtreiber u. s. w., u. s. w. Wie ist doch die Jugend so schön; wie wenig bedarf sie um glücklich zu sein! Ein Bischen Mondschein, ein Paar klingende Wassertropfen, die Strophe eines Liedes, 16* und — die jungen Herzen fühlen Gedichte, wie sie noch nie dem Papier anvertraut werden konnten. Ich, der alte Mann, welch’ ein Dichter, welch’ ein Maler müßte ich sein, wenn ich alle diese frischen, blühenden Gestalten, die da heute an diesem einsamen Abend wieder um mich her auftauchen, mit ihrem fröhlichen Lachen, ihren kleinen Sorgen und Freuden, ihren klei- nen Sünden und Tugenden, mit ihren verstohlenen Seufzern, noch verstohleneren Zärtlichkeiten und ihren lauten Neckereien auf die Blätter dieser Chronik fest- bannen wollte! Wie abgeblaßt und schal sieht Alles aus, was ich bis jetzt zusammengetragen und niedergeschrieben habe; wie farbenbunt und frisch erlebte es sich! Aber wo war auf einmal der Mond geblieben? Die dunkeln Wolkenmassen, die im Süden lange genug ge- droht hatten, hatten sich unbemerkt herangewälzt; es grollte und murrte in der Ferne und schwere warme Re- gentropfen schlugen vereinzelt in die lenes susurros sub noctem, in das leise Geflüster im Schatten der Nacht. — — Kennt Ihr das „Rette sich wer kann!“ bei einem plötzlich hereinbrechenden Gewitter in einer großen Stadt? Alle Gruppen lösen sich; — Schürzen werden über den Kopf, Taschentücher über die Hüte gebunden; hier flüch- tet ein Pärchen unter eine laubige Akazie, dort ein dicker alter Herr unter den Vorsprung eines Hauses; hier schlüpft leichtfüßig ein junges Mädchen dicht an den Häuserwän- den hin, dort wandelt langsam und gleichmüthig ein Na- turmensch daher, nichts vor dem Regen schützend als seine glühende Cigarre. Die Droschken scheinen sich zu vervielfältigen und — „süß ist’s vom sichern Hafen Schiffbrüchige zu sehen“ — an allen Fenstern erscheinen lachende Gesichter. Studen- ten, Referendare, junge Theologen u. s. w. wischen ihre Brillen ab; Maler verlassen ihre Palette und Staffelein und machen Studien nach dem Leben; Tanten und Müt- ter schelten über Indecenz. — Platsch! platsch! alle Dachrinnen senden, wie hämische Ungeheuer ihre Wasser- güsse der dahertrabenden Menschheit in den Nacken. Es ist lächerlich-schrecklich! bei Tage, schrecklich bei Nacht! „Siehst Du Lischen, das hast Du erst gewollt, — so lange hast Du mit dem Wasser gespielt! Das kommt davon!“ ruft ärgerlich die Tante Helene. Gustav’s Ju- bel erreicht den höchsten Grad und lachend schleppt er seine Mutter nach, während diesmal ich mit Lisen vor- auslaufe. Nach allen Seiten haben sich unsere Freunde und Freundinnen von vorhin zerstreut. Das Gewitter kommt immer näher, der Donner brummt ganz artig und die Blitze sind gar nicht übel. Selbst Gustav meint: „Gottlob, da ist die Sperlingsgasse!“ Welche Ueber- schwemmung! — Gute Nacht und keine langen Worte!! — Gustav verschwindet mit seiner Mutter hinter ihrer Hausthür und auch wir erreichen glücklich die unsrige. „Gott, Herr Wachholder, was habe ich für ’ne Angst gehabt!“ ruft die alte Martha uns von der Treppe entgegen. Lischen pustet und ächzt und lacht, hält Arme und Hände weit ab vom Leibe und wird so schnell als mög- lich in’s Bett geschickt. Gustav ruft natürlich von drü- ben noch einige Fragen herüber, auf welche wir aber nicht antworten und der Mondschein-Spaziergang ist zu Ende. — — Am 15. April. — Der April, der einst mensis novarum hieß, ist der wahre Monat des Humors. Regen und Sonnenschein, Lachen und Weinen trägt er in einem Sack, und Regen- schauer und Sonnenblicke, Gelächter und Thränen brachte er auch diesmal mit und manch Einer bekam sein Theil davon. Ich liebe diesen Janusköpfigen Monat, welcher mit dem einen Gesichte grau und mürrisch in den enden- den Winter zurückschaut, mit dem andern jugendlich fröh- lich dem nahen Frühling entgegenlächelt. Wie ein Ge- dicht Jean Paul’s greift er hinein in seine Schätze, und schlingt ineinander Reif und keimendes Grün, verirrte Schneeflocken und kleine Marienblümchen, Regentropfen und Veilchenknospen, flackerndes Ofenfeuer und Schnee- glöckchen, Aschermittwochsklagen und Auferstehungsglocken. Ich liebe den April, den sie den Veränderlichen, den Un- beständigen nennen, und den sie mit „Herrengunst und Frauenlieb“ in einen so böswilligen Reim gebracht haben. — Ich wurde diesen Morgen schon ziemlich früh durch das Geräusch des Regens, der an meine Fenster schlug, erweckt, blieb aber noch eine geraume Zeit liegen und träumte zwischen Schlaf und Wachen in diefe monotone Musik hinein. Das benutzte ein schadenfroher Dämon des Trübsinns und des Aergernisses, um mich in ein Netz trauriger, regenfarbiger Gedanken einzuspinnen, welches mir Welt und Leben in einem so jämmerlichen Lichte vorspiegelte und so drückend wurde, daß ich mich zuletzt nur durch einen herzhaften Sprung aus dem Bette dar- aus erretten konnte. — Aprilwetter! Die Hosen zog ich, — wie weiland Freund Yorik — bereits wieder als ein Philosoph an, und der erste Sonnenblick, der pfeil- schnell über die Fenster der gegenüberliegenden Häuser und die Nase des mir zuwinkenden Strobels glitt, ver- trieb alle die Nebel, welche auf meiner Seele gelastet hatten. Frischen Muthes konnte ich mich wieder an meine Vanitas setzen, und als ich gar in einem der schweins- ledernen, verstaubten Tröster, die ich gestern von der Bibliothek mitgebracht hatte, eine alte vertrocknete Blume aus einem vergangenen Frühling fand, konnte ich schon wieder die seltsamsten Muthmaßungen über die Art und Weise, wie das todte Frühlingskind zwischen diese Blätter kam, anstellen. Hatte sie vielleicht an einem lang vergangenen Feiertage ein uralter College mitge- bracht von einem lustigen Feldwege, oder hatte sie viel- leicht eins seiner Kinder spielend in dem Folianten des gelehrten Vaters gepreßt? Hatte sie etwa ein Student von der Geliebten erhalten und hier aufbewahrt und vergessen? Welche Vermuthungen! hübsch und anmuthig, und um so hübscher und anmuthiger, als sie unwahr- scheinlich sind. — O, versteht es nur, Blumen zwischen die öden Blät- ter des Lebens zu legen; fürchtet Euch nicht, kindisch zu heißen bei zu klugen Köpfen; Ihr werdet keine Reue empfinden, wenn Ihr zurückblättert und auf die vergilb- ten Angedenken trefft! — Sei mir gegrüßt, wechselnder April, du verzogenes Kind der alten Mutter Zeit und — — — — „Beschütze Deinen Sohn Ulrich Georg Strobel! — Guten Morgen, Meister Wachholder!“ sagte eine Stimme hinter mir. Es war der Karikaturenzeichner, der, den grauen Filz auf dem Kopf, die Reisetasche über der Schulter, den Eichenstock in der Hand, hinter mir stand. „Ach Gott, nun ist mein’ Zeit vorbei!“ fuhr er lachend fort. „Ich komme Ihnen Lebewohl zu sagen, alter Herr.“ „Was, Sie wollen fort? Was fällt Ihnen ein?“ „Kann Deutschland nit finden „Rutsch allweil drauf ’rum!“ sang der Zeichner und zeigte auf eine lustige blaue Stelle zwischen den ziehenden Wolken. „Es ist nicht anders; haben Sie einen Gruß an die freie weite Welt zu bestellen, heraus damit! Oder noch besser; kommen Sie — dort steht Ihr Regenschirm — begleiten Sie mich. Hören Sie, wie lustig der Spatz da in’s Fenster pfeift!“ Was sollte ich machen; ich schlug meinen Folianten zu, der tolle Vagabond bot mir seinen Arm und wir traten hinaus in die Gasse. „Leben Sie wohl Mama, Adieu Fräulein!“ rief der Zeichner seiner Hausgenossenschaft zu, die ganz aufgeregt in der Thür stand. „Adieu Freund Marquart; lebt wohl Mutter Karsten; lebt wohl Meister und Meisterin! lebt wohl, lebt wohl!“ rief er nach Rechts und Links herüber. An der Ecke warf er noch einen letzten Blick hinauf nach seiner verlassenen Wohnung, wo die Fenster offen standen und eine zerrissene Gardine lustig im Frühlingswinde flatterte, und brummte: „Adieu Nest!“ — „Und wo wollen Sie nun hin?“ fragte ich meinen wunderlichen Begleiter. Der Zeichner lachte. „Was meinen Sie,“ sagte er, „wenn ich mir das Völkergewühl im Orient ein wenig ansähe, Costüme zeichnete und über das Bemühen lachte: einen neu eintretenden Factor der Menschheitsentwick- lung durch Lancasterkanonen und Kriegsschiffe aufhalten zu wollen?“ „Was?!“ rief ich mit offnem Munde. „Wem gilt das „Was?“ lachte Strobel. „Meinem Vorhaben oder meiner Meinung?“ „Sie glauben“ ...... „Ich glaube, daß die Erde jung ist, alter Freund! Wir brauchen frisches Blut und wollen nicht meinen, daß, weil man uns nur Geschichte der Vergangenheit lehrt, es keine der Zukunft geben werde. Wir leben uns gar zu gern in alles ein: in unsern Rock, in unsern Körper, in unsere Familie, in unser Volk; wir freuen uns, wenn ein kleiner verwandter Mitbürger das Licht der Welt er- blickt; wir ärgern uns, wenn wir den Rock zerreißen oder ein Krähenauge bekommen; wir betrüben uns, wenn unser Vater, unsere Mutter stirbt; aber wir halten das alles für natürlich, — blos weil wir es leichter übersehen können. Soll nun auf einmal in das Krähenaugenkrie- gen, Geborenwerden und Sterben der großen Völkerfa- milie der Erde ein Stillstand eintreten; ein deus ex machina mit Manschetten in das ewige Werden fahren und sagen: Stop! Halt da; entwickelt Euch in Euch selbst und — entschlaft an Euthanasie?“ — „Bah!“ — Der Redner blies eine gewaltige Rauchwolke aus seiner Cigarre und fuhr fort, während ich den Kopf be- dachtsam schüttelte: „Es hat den Griechen nichts geholfen, die besten Dichter, Bildhauer und Maler zu sein, die geistreichsten philosophischen Systeme aufstellen zu können: die eiser- nen Männer Roms klopften an, stellten die griechische Bildung sub hasta, spielten Würfel auf den Gemälden, fabrizirten corinthisches Erz aus den Metall-Statuen und — die Weltgeschichte — ging einen Schritt vorwärts! — Es hat den Römern nichts geholfen, die größten Kriegs- und Verwaltungskünstler zu sein, — Zündnadel- gewehre und Lancasterkanonen sind Spielzeug im Kampf gegen die eine Macht im Weltall, welche die Gestirne treibt und die Wandervögel, und welche die Völker be- wegt zur rechten Zeit. Die Barbaren kümmerten sich nicht um Commando-Wörter; sie stürmten die Thore Roms und — die Weltgeschichte — ging einen Schritt wei- ter!“ — — Ich schüttelte wieder das Haupt und brummte: „Im- mer zertrümmern, zertrümmern!“ „Meine Mutter starb, indem sie mich gebar!“ sagte der Zeichner grimmig und stand still. Wir hatten den Ausgang der Sperlingsgasse erreicht; ein kleiner Hand- wagen mit Kisten und Kasten beladen, versperrte uns den Weg. „Jetzt will ich Ihnen auch sagen, wo ich in der That hin will; nicht wohin ich gehen könnte !“ sagte Strobel. „Kommen Sie!“ Verwundert folgte ich dem in eine dunkle Keller- Wohnung Herabsteigenden. So ist das menschliche Leben. Lange, lange Jahre hatte ich in dieser Gasse gewohnt, täglich fast war ich vor diesem Hause, vor diesen trüben Fenstern vorbeige- gangen, und heute, am letzten Tage, den die arme hier wohnende Familie dahinter zubringt, steige ich zum ersten Male die feuchten Stufen hinab zu ihr. Der Zeichner stellte mich dem Hausherrn vor, dem Schuhmacher Bur- ger, einem Manne, welchem eine ganze Passionsgeschichte vom Gesichte abzulesen war. Heute Abend führt ihn und die Seinigen die Eisenbahn dem Meere zu, von wo sie ein Schiff nach einer neuen Heimath, nach dem jun- gen Amerika bringen soll; und der Zeichner — will die Familie begleiten nach Hamburg. Die wenigen, des Mitnehmens werthen Habseligkeiten der ärmlichen Wohnung waren schon zusammengepackt; die bleichen, traurigen Gesichter der Eltern; das theil- nahmlose der alten Großmutter, die auch heute noch am gewohnten Platz hinter dem Ofen spann; die Kinder, welche verwundert in den Winkeln kauerten, alles machte einen tiefen wehmüthigen Eindruck auf mich. Es ist nicht mehr die alte germanische Wander- und Abenteuerlust, welche das Volk forttreibt von Haus und Hof, aus den Städten und vom Lande; die den Köhler aus seinem Walde, den Bergmann aus seinem dunkeln Schacht reißt, die den Hirten herabzieht von seinen Al- penweiden und sie Alle fortwirbelt dem fernen Westen zu: Noth, Elend und Druck sind’s, welche jetzt das Volk geißeln, daß es mit blutendem Herzen die Heimath verläßt. Mit blutendem Herzen; denn trotz der Stamm- zerrissenheit, trotz aller Biegsamkeit des Nationalcharak- ters, der so leicht sich fremden Eigenthümlichkeiten an- schmiegt und unterwirft, — worin übrigens in diesem Augenblick vielleicht allein die welthistorische Bedeutung Deutschlands liegt — trotz alledem hängt kein Volk so an seinem Vaterland, als das deutsche! — In englischen Schriften läuft Deutschland öfters als „the fatherland“ Κατ̕ ἐξοχήν. Das wird zwar mit einem gewissen „ sneer “ gesagt, aber es ist eine Ehre für unsere Nation und wir können stolz darauf sein. O ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands, sagt und schreibt nichts, Euer Volk zu entmuthigen, wie es leider von Euch, die Ihr die stolzesten Namen in Poesie und Wissenschaften führt, so oft geschieht! Scheltet, spottet, geißelt, aber hütet Euch, jene schwächliche Resig- nation, von welcher der nächste Schritt zur Gleichgül- tigkeit führt, zu befördern, oder gar sie hervorrufen zu wollen. — Als die Juden an den Wassern zu Babel saßen und ihre Harfen an die Weiden hingen, weinten sie, aber sie riefen: „Vergesse ich Dein, Jerusalem, so werde meiner „Rechten vergessen!“ Die Worte waren kräftig genug, selbst die zucken- den Glieder eines Volkes durch die Jahrtausende zu er- halten. — Ihr habt die Gewohnheit, ihr Prediger und Vor- münder des Volks, den Wegziehenden einen Bibelvers in das Gesangbuch des Heimathsdorfs zu schreiben; schreibt: „Vergesse ich Dein, Deutschland großes Vater- „land: so werde meiner Rechten vergessen!“ — Der Spruch in aller Herzen, und — das Vater- land ist ewig! — Das letzte Hausgeräth war zusammengebunden und auf den kleinen Wagen in der Gasse gelegt. Traurig schauten sich die armen Leute in ihrer verödeten Woh- nung, die alle Leiden und Freuden der Familie gesehen hatte, um. „S’ist ’n hart Ding, s’ist ’n hart Ding!“ sagte seuf- zend der Meister, und Strobel klopfte ihm leise auf die Schulter. „Es ist Zeit, Mann! Faßt Euch ein Herz, geht Eurer Frau mit einem guten Beispiel voran.“ „Der Todtengräber hat versprochen, er will unseres Fritzen Hügel draußen nicht verrotten lassen!“ schluchzte die Frau. Burger wischte sich mit dem Aermel über die Augen, erhob sich aus seinem Hinbrüten und ging, seine alte Mutter hinaufzuführen; seine Frau weinte laut, brach einen Zweig von der verkümmerten Myrthe im Fenster, legte ihn in ihr Gebetbuch und nahm ihr jüngstes Kind auf den Arm, während sich die andern an ihre Schürze und ihren Rock hingen. Die Familie stieg die enge, schwarze Treppe, welche auf die Straße führt hinauf, — sie hatte ihren langen Weg begonnen! Draußen wechselte Regen mit Sonnenschein, wie der April es mit sich brachte. Der Meister zog seinen Wa- gen voraus, wir Andern folgten. Einen letzten Blick werft zurück in die enge, dunkle, arme Sperlingsgasse — Ihr werdet wohl oft genug an sie denken — und damn hinaus in die weite Welt, ihr Wanderer! Bis an das Thor brachte ich den Zeichner und sei n e Schützlinge. Ein letzter Händedruck, ein letzter Gruß! Wer weiß, ob wir nicht noch einmal uns wieder sehen Strobel! Lebt wohl! lebt wohl! — Und wieder ei n - mal konnte ich einsam und allein zurückkehren, einsam und allein dies Blatt der Chronik der Sperlingsgasse aufzuzeichnen! — Am 1. Mai. Abend. — Ich saß heute Nachmittag draußen im Park in den warmen Sonnenstrahlen, die hell und lustig durch die noch kahlen Zweige der höheren Bäume und durch das, mit zartem, frischem Grün bedeckte niedere Gesträuch fielen. Kinder mit Sträußen von Frühlingsblumen zogen an mir vorüber; ein Maikäfer, einen Zwirnfaden am Bein, hing schlaftrunken an einem Zweige mir zur Seite und ein stubengesichtiger junger Mann, dem ein Buch hinten aus der Rocktasche schaute, grub sorgsam eine Pflanze aus. Es war ein prächtiger Frühlings- Nachmittag. Da begannen auf einmal in der Stadt die Glocken zu läuten, den morgenden Sonntag zu ver- künden und wieder schwebte, von den „Himmelstönen“ getragen, eine süße Erinnerung heran. Es war auch ein erster Mai. Da war der Frühling gekommen mit jungem Grün, bauenden Schwalben und einem — Hochzeitstage in der alten, dunklen Sperlings- Gasse. Sie hatten Blumen gestreut, und mit Blumen und Laubkränzen die Pfosten umwunden; sie hatten Sonn- tagskleider angezogen in der Sperlingsgasse, und Alle hatten fröhliche, fröhliche Gesichter. Und der Himmel war blau, und die Sonne schien strahlend durch das Epheu, welches vor so langen Jahren Marie Ralff im Ulfeldener Walde ausgegraben hatte; aber weder Him- melsblau noch Sonnenschein kamen an heiliger Reinheit dem Gesichtchen gleich, das sich an jenem ersten Mai an meine Schulter schmiegte und durch Thränen lächelnd zu mir aufschaute. Das Bild der Mutter sah aus seinem Rahmen und den Kränzen, die es heute umwan- den, ebenfalls lächelnd auf uns herab. Lächeln, Lächeln überall! Und als das junge Herzchen an meiner Brust pochte, auf der andern Seite Gustav mir den Arm 17 um die Schultern legte; als Helene weinend der jungen Braut den Kranz in die Locken drückte, da war es mir, als sei nun ein lange dunkles Räthsel gelöst und ich senkte das Haupt vor der geheimnißvollen Macht, welche die Geschicke lenkt und ein Auge hat für das Kind in der Wiege und die Nation im Todeskampf. Wie die Fäden laufen mußten, um hier in der armen Gasse sich zusammen zu schürzen zu einem neuen Bande! Wie so viele Herzen fast brechen wollten, um ein neues Glück aufsprießen zu lassen! Das ist die große, ewige Melodie, welche der Weltgeist greift auf der Harfe des Lebens, und welche die Mutter im Lächeln ihres Kindes, der Denker in den Blättern der Natur und Geschichte wahrnimmt! — Wir sprachen an jenem Tage nicht viel! Das Glück ist stumm und was die Liebe — die wahre Offenbarung Gottes — sich zuflüstert, hat noch kein Dichter auf Papyrus, Pergament oder Papier festgehalten. Die kleine Kirche war gar feierlich heilig, als der junge Maler — er dachte in dem Augenblick gewiß nicht an sein gefeiertes Bild: Milton, den Galilei im Gefängniß zu Rom besuchend —, als der junge Maler seine schöne Braut hineinführte an den geschmückten, lichterglänzen- den Altar. Und Niemand fehlte in dem Kreise theilneh- mender Gesichter umher! Da war das Atelier, da waren Elisens Freundinnen, da war vor Allem die alte Martha und die Hausgenossenschaft und Nachbarschaft der Sper- lingsgasse. Die Orgel begann den Choral — und Jungfrau Elisa Johanna Ralff und Herr Gustav Theo- dor Maximilian Berg wurden durch ein ganz leises, leises Ja und ein anderes viel lauteres, auf eine gar verfängliche Frage, Mann und Frau! — Die Chronik der Gasse nähert sich ihrem Ende. Was sollte ich auch noch Vieles erzählen? Unsere Kinder sind glücklich in dem schönen Italien; die alte Martha schläft nicht weit von Mariens Grabe auf dem Johanniskirch- hofe; ich bin alt und grau. Wenn ein Paquet von Rom gekommen ist, so gehe ich hinüber zu der freundlichen, schönen, weißhaarigen Frau, die da drüben in Nr. 12 gewöhnlich strickend am Fenster sitzt und unsere alten Herzen schlagen höher bei dem frischen Lebensglück, wel- ches uns aus den engbeschriebenen Bogen entgegenleuch- tet. Wir folgen den Kindern durch alle die alten und neuen Herrlichkeiten, wir stehen mit ihnen vor dem Laokoon, wir steigen mit ihnen zum Kapitol hinauf, unsere Schritte hallen an ihrer Seite in den Sälen des Vatikans, in den Loggien Raphaels wieder. Wie eine reizende Märchenarabeske ist jeder Brief: blauer Him- mel und Sonne und ein fröhliches Lachen auf jeder Seite! Es ist spät in der Nacht, als ich dieses schreibe; tiefe Dunkelheit herrscht in der Gasse; kein einziges er- helltes Fenster ist zu erblicken. Der einzige Laut, den ich vernehme, ist das Schlagen der Thurmuhren oder der Pfiff des Nachtwächters. — Da liegen alle die be- kritzelten Bogen vor mir! bunt genug sehen sie aus! — Was sollte ich noch viel hinzufügen? Wenn die alten Chronikenschreiber ihre Aufzeichnungen bis zu ihren Ta- gen fortgeführt und ihr Werk beendet hatten, hefteten sie noch einige weiße Bogen hinten an, damit der Be- sitzer die „wenigen“ Ereignisse, welche vor dem Unter- gang der Welt noch geschehen würden, darauf nachtragen könne. Das nachzuahmen habe ich nicht im Sinn. Diese Erde wird sich noch lange drehen, in dieser engen Gasse wird noch manches Kind geboren werden, manche Leiche wird man hinaustragen und unter den letzteren viel- leicht in nicht langer Zeit auch den, welchen sie Johannes Wachholder nannten. — Was die paar Tage, die mir noch übrig sind, bringen werden, will ich in Ruhe erwarten; viel Neues können sie mir nicht zeigen! — Ich öffne das Fenster und schaue in die dunkle, stille, warme Nacht hinaus. Hier und da flimmert ein ein- samer Stern an der schwarzen Himmelsdecke. Wie feierlich der Glockenton in der Nacht klingt! Zwölf! … In wie viel Träume mag sich dieser Schall verschlingen. Der grübelnde Gelehrte wird von seinem Buche ver- wirrt aufsehen, das junge Mädchen wird von Tanz- und Ballmusik träumen, der arme Kranke wird von dem kommenden Tage Genesung erflehen, die Mutter wird im Schlaf ihr kleines Kind fester an sich drücken und der Herrscher, die Stirn wund vom Druck einer Krone des Zeitalters der Revolution, wird das Haupt in die Kissen senken und seufzen: Ein neuer Tag! — Meine Lampe flackert und ist dem Ausgehen nahe. Mit müder Hand schließe ich das Fenster und schreibe diese letzten Zeilen nieder: Seid gegrüßt, alle ihr Herzen bei Tage und bei Nacht; sei gegrüßt, du großes, träumendes Vaterland; sei gegrüßt, du kleine, enge, dunkle Gasse; sei gegrüßt, du große, schaffende Gewalt, die du die ewige Liebe bist! — Amen! Das sei das Ende der Chronik der Sperlingsgasse! — — Druck von Brandes u. Schultze in Berlin, Roßstraße 8.