Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt . Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt . Herausgegeben von J. G. Herder . Siebente Sammlung . Riga, 1796. bei Johann Friedrich Hartknoch . Inhalt der siebenten Sammlung . Br. 81. Vom Unterschiede der alten und neuen Voͤlker in der Poesie, als Werkzeug der Cultur und Hu- manitaͤt betrachtet. Ankuͤndigung einiger Fragmente uͤber diesen Inhalt. S. 1. Erstes Fragment . Verfall der Poesie bei Griechen und Roͤ- mern. S. 5. Nachschrift . Ursachen des Ver- falles. S. 19. Br. 82. Zweites Fragment . Christ- liche Hymnen. Gebrauch der Psalmen unter den Christen. Ei- gene Gesaͤnge. Ihr ausgezeich- neter Charakter. Ihre Wirkung auf Nationalcharaktere, Musik, Sprache, Wissenschaften, und Stimmung der Seele. S. 21. Nachschrift . Proben dieser Gesaͤnge. S. 45. — 83. Was in der Cultur des Menschen vom Urtheil des Auges und des Ohrs abhaͤngt. Poesie des Au- ges und Ohres. Resultat des- sen, was nach dem Gegebnen fuͤr eine neue Denkart in My- thologie, Umriß der Begriffe, Interesse, Farbe der Handlun- gen und Leidenschaften, und de- ren Ausdruck werde entstehen muͤssen. S. 52. Br. 84. Drittes Fragment . Bildung eines neuen Geschmacks in Eu- ropa und dessen erste Verfeine- rung. Lieder von Thaten der Vorfahren. Unterschied der nor- dischen und suͤdlichen Tonbildung. Nordisches und suͤdliches System der Anklaͤnge und Alliterationen. Erzaͤhlungen. Hang zu Aben- theuern, und Abentheuersagen. Chroniken. Grober Moͤnchsge- schmack. — Cultur der Araber in Spanien. Entstehung der Pro- venzalpoesie, als angenehme Un- terhaltung. S. 62. Br. 85. Daß ein besserer Geschmack hier entstehen muͤssen. Warum er nirgend anders als von hieraus also entstanden? Hoͤflichkeit der Araber in Reimen. S. 84. — 86. Wohin der Reim gehoͤre? Wem er unentbehrlich sei. S. 98. Nachschrift . Große Verschie- denheit im Entstehen dieses Ge- schmacks und der Cultur der Alten. Gutes, was die Proven- zal Poesie bewirkt hat, Bildung. der Landessprache, Freiheit der Gedanken. S. 104. — 87. Viertes Fragment . Einfluß der Provenzalen in die Europaͤi- sche Cultur und Dichtkunst. Von der Italiaͤnischen Dichtkunst im Aeußern und Innern. Vom ly- rischen Drama der Italiaͤner. Metastasio . Vom Charakter der Franzosen, Erzaͤhlen und Re- praͤsentiren. Von der Spani- schen Dichtkunst. S. 109. Br. 88. Wie schwer es sei, vom Charak- ter einer Nation oder eines Zeit- alters zu sprechen! Wie schwer, von der Poesie einer Nation zu reden! Was uns dennoch dazu treibe? Wie es moͤglich und noth- wendig sei? S. 135. — 89. Fuͤnftes Fragment . Vom Werth der Europaͤischen Dichtung mittlerer Zeiten. Ihre Nach- theile und Vortheile. Ihr Cha- rakter in Andacht, Tapferkeit und Liebe. S. 142. Br. 90. Fortsetzung des Fragments. Er- weiterung des Feldes der Wissen- schaft. Vereinigung vieler Natio- nen zu Einem Zweck. Gesellung der Staͤnde zu einander. Froͤh- liche Wissenschaft. S. 156. 81. I hnen ist der beruͤhmte Streit bekannt, der unter Ludwig dem vierzehnten uͤber den Vorzug der alten oder der neuern Natio- nen in Wissenschaften und Kuͤnsten mit großer Waͤrme gefuͤhrt ward, und an wel- chem auch außer Frankreich Gelehrte und Kuͤnstler Antheil nahmen. Da man nicht allemal gnug bestimmte, von welchen Alten oder Neuern, von welchen Kuͤnsten und Wissenschaften die Rede sei? es uͤbrigens dabei auch mehr auf einen Rangstreit da- Siebente Samml. A mals lebender Personen, als auf eine un- partheiische Schaͤtzung alter und neuer Ver- dienste angesehen war, so konnte wenig ausgemacht werden, obgleich von beiden Theilen viel Gutes gesagt ward. In der Cultur zum Schoͤnen , die wir der Kuͤrze halben Poesie nennen wol- len, springt uns der Unterschied alter und neuer Zeiten d. i. der Griechen und Roͤ- mer in Vergleich aller neueren Europaͤischen Voͤlker ins Auge. Wir moͤgen Italiaͤnische, Spanische, Franzoͤsische, Englische, Deutsche Dichter, aus welchen Zeiten wir wollen, lesen; der Unterschied ist unver- kennbar . Und doch wird es schwer, ihn sich im reinsten Umriß aufzuklaͤren; noch schwerer, ihn bis auf seine ersten Ursachen zuruͤckzu- fuͤhren, und dabei jeder Nation und Zeit ihr Recht wiederfahren zu lassen. Wie? kann man fragen, bluͤhet diese schoͤne Blu- me der Humanitaͤt, Poesie in Denk - art , Sitten und Sprache nicht uͤberall und allezeit gleich gluͤcklich? Und wenn zu ihrem Aufkommen ein besondrer Boden, eine eigene Pflege und Witterung gehoͤret; welches ist dieser Boden, diese Witterung und Pflege? Oder wenn sie mit jeder Zeit, unter einem andern Himmelsstrich auch ihre Gestalt und Farbe veraͤndern muß; welches ist das Gesetz dieser Veraͤnde- rung? geht sie ins Bessere oder Schlech- tere uͤber? — Ueber diese Fragen, die man oft ge- than hat, sind mir einige Fragmente zu Haͤnden gekommen, die mir der Auf- merksamkeit unsrer Gesellschaft nicht un- werth scheinen. Die Bluͤthe der alten Cultur unter Griechen und Roͤmern setzen sie entweder als bekannt voraus, oder es A 2 fehlt die Untersuchung daruͤber in den mir zugekommenen Blaͤttern. Diese bemerken vorzuͤglich, wie sich die mittlere und neue Europaͤische Cultur in und durch Dichtkunst und zwar bei den verschiedenen Nationen Europa's, nach besondern Ver- anlassungen, Huͤlfsmitteln und Zwecken ge- bildet habe? Das Endurtheil, in manchen Stuͤcken die Vergleichung selbst uͤberlassen sie dem Leser. Da in ihnen die Poesie in einem weiten Verstande genommen und als Werkzeug oder als Kunstprodukt und Bluͤ - the der Cultur und Humanitaͤt nach Nationen und Zeiten im All - gemeinen betrachtet wird; mich duͤnkt, so werden wir bei jedem Fragment zu eignen Gedanken Gelegenheit finden, und dies ist doch der schoͤnste Zweck einer schriftlichen Un- terhaltung. Erstes Fragment Verfall der Poesie bei Griechen und Roͤmern . I m Fruͤhlinge und in der Jugend singt man; in der Winterzeit und im Alter ver- stummen die Toͤne. Die lebendigste Poesie Griechenlandes traf auf eine gewisse Ju- gendzeit des Volks und der Sprache, auf einen Fruͤhling der Cultur und Gesinnun- gen, in welchem sich mehrere Kuͤnste, keine noch im Uebermaas, gluͤcklich verbanden, endlich selbst auf einen Fruͤhling von Zeit- umstaͤnden und Weltgegend, in welchem entsprießen konnte was entsprossen ist. Von der Poesie der aͤltesten Saͤnger und von Bildung der Sprache durch ihren Gesang, von Alcaͤus und der Sappho , von Pindar und dem Chor der Griechen ha- ben wir geredet Diese Fragmente fehlen. A. d. H. und allenthalben einen jugendlich-aufstrebenden Geist, jene erste Blume der Cultur bemerket, die, wenn sie verbluͤhet und zur Frucht gediehen ist, der laueste Zephyr nicht wieder erwecken mag. Alles in der Welt hat seine Stunde. Es war eine Zeit, da Poesie alle mensch- liche Weisheit in sich faßte, oder deren Stelle vertrat. Sie sang die Goͤtter, und erhielt die ruhmwuͤrdigen Thaten der Vorfahren, der Vaͤter und Helden; sie lehrte die Men- schen Lebensweisheit und war so wie das einzige und schoͤnste Mittel ihres Unter- richts, so auch an Festen und in Gesellschaft ihr geistigstes Vergnuͤgen. Ehe die Schrift erfunden oder so lange sie noch nicht haͤu- fig im Gebrauch war, sangen die Toͤchter der Erinnerung , die Musen, und wur- den mit Entzuͤcken gehoͤret. Dichter waren der Mund der Vorwelt, Orakel der Nach- welt, Lehrer und Ergetzer des Volks, Loh- ner großer Thaten, Weise. — Je mehr die Schrift aufkam und sich durch sie die Sprache ausbildete, je mehr mit der Zeit Wissenschaften aus einander gingen und einzeln bearbeitet wurden: desto mehr mußte der Poesie allmaͤhlich von ihrer Allgemeinherrschaft entnommen werden: denn sobald man schreiben konnte, wollten viele eine wahre Geschichte lieber in Prose, die der Poesie nachgebildet war, lesen oder lesen hoͤren; als Fabel und Geschichte fer- nerhin in Hexametern durch Gesang verneh- men. Allmaͤhlich verstummte also die erzaͤh- lende Muse, oder sang aus Sagen ihrer aͤltern Schwester kuͤnstlich-gearbeitete Toͤne nach. Je mehr die Philosophie aufkam, je mehr man die Natur der Dinge, inson- derheit des Menschengeschlechts und seiner Verfassungen untersuchte: desto weiter ent- fernte man sich von jener alten Einfalt moralischer Spruͤche , denen die Poesie einst Glanz und Nachdruck geben konnte. Philosophische Unterredungen und Systeme konnte der Dichter nicht mit derselben Kraft wie alte Begebenheiten und sinnliche Ge- genstaͤnde darstellen; er war hier in einem fremden Lande. Auch die Mythologie selbst, die der Poesie einst so viel Schwung gegeben hatte, ward mit der Zeit eine alte Sage. Der kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt an Goͤtter und Heroën war dahin; was tau- sendfach gesungen war, mußte zuletzt bloß dem Herkommen gemaͤß, mit trockner Kaͤlte ge- sungen werden; es hatte seine Zeit uͤber- lebet. Endlich, da Scherz und Freude die Eltern des Gesanges sind, wo waren diese hingeflohen in jenen traurigen Zeiten, die Griechenland zuletzt erlebte? In- und aus- waͤrtige Kriege zerstoͤrten, loͤseten auf und mischten alles unter einander. Der leben- dige Geist aufbluͤhender Pflanzvoͤlker, froͤh- licher Inseln, im Ruhm und Gesange wetteifernder Staͤdte war laͤngst entwichen; und ob man gleich die Anstalten, durch welche er gewirkt hatte, oͤffentliche Gebraͤu- che, Tempel, Spiele, Wettkaͤmpfe, Theater u. f. so lange es moͤglich war, erhielt oder wiederherstellte: so war doch jene Jugend nicht zuruͤckzurufen, in welcher dies alles wie durch sich selbst entstanden und veran- laßt war. Auch Hadrian rief diesen Genius nicht aus Hektors Grabe. Zu- letzt kamen die Barbaren heran; und als die christliche Religion uͤber Griechenland herrschte, da sang z. B. Synesius der Bischof Synesius ward im Jahr 410 Bischof zu Ptolemais und bedung sich dabei ausdruͤck- lich, daß er weder seine Frau verlassen, noch eine Auferstehung des Leibes glauben doͤrfe. Seine Hymnen sowohl als seine andern Schrif- ten sind ein Gemisch des Christenthums und der Alexandrinischen Philosophie, in welcher Hypatia seine Lehrerinn gewesen war. A. d. H. von jenen alten Zeiten also: Wohlauf, Klangvolle Cither! Nach Tejer-Melodieen Nach Lesbischen Gesaͤngen In feierlichern Toͤnen Ein Dorisch Lied zu singen; Ein Lied, doch nicht von Nymphen, Die Aphrodisisch laͤcheln, Auch nicht von holden Knaben In suͤßer Lebensbluͤthe. Ein himmlisch-reines Feuer Von Gottgeweihter Inbrunst Treibt mich, daß ich die Cither Zu heilgen Liedern schlage, Und jeder suͤßen Suͤnde Der Erdenlust entweiche. Was ist dann Macht und Schoͤnheit? Was ist dann Ruhm und Reichthum? Und alle Koͤnigsehren Entgegen frommer Andacht? Der sei ein schoͤner Reiter, Ein schneller Schuͤtze Jener , Ein Anderer bewache Gehaͤufte goldne Schaͤtze. Dem hange seine Locke Zierlich hinab die Schulter; Von Jenem sei gepriesen Bei Juͤnglingen und Maͤdchen Sein glaͤnzend-holdes Antlitz. Mir sei ein stilles Leben, Ein heiliges vergoͤnnet, Unscheinbar vor den Menschen, Doch nicht vor Gott verborgen. Mir stehe bei die Weisheit, Die stark ist, mich zu leiten Durch Jugend und durch Alter. Sie , Koͤniginn des Reichthums, Die auf unebnen Wegen Das harte Joch der Armuth Mit leichtem Muth ertraͤget; Sie , die in bittrem Kummer Des Lebens heiter laͤchelt. — So viel sei mir gewaͤhret, Daß, schwarzer Sorg' entnommen, Ich eines Nachbars Huͤtte Im Mangel nie beduͤrfe. — Horch auf! Cicada singet Von Morgenthaue trunken. Schau, wie die Saite staͤrker Mir schlaͤgt, und eine Stimme Begeisternd mich umtoͤnet? Was giebst du fuͤr ein Lied mir, Du heilige Begeistrung? — Und so geht der Gesang in Platonisch- Christliche Ideen uͤber Fuͤr Verstaͤndige bedarf es der Erinnerung nicht, daß es auch im christlichen Zeitalter, bis zur Eroberung Constantinopels und fer- nerhin griechische Dichter gegeben habe. Es gab Griechische Dichter, aber keine Poesie Griechenlandes in dem Sinne, von dem hier die Rede ist. A. d. H. Die Geschichte der Roͤmer endete nicht anders. Ihnen war die Poesie, in- sonderheit der Lyrische Gesang gewisserma- ßen immer eine fremde Kunst geblieben; die Oden Catulls und Horaz sind nur ein Nachhall der griechischen Lyra. Auch hat es ein Gelehrter unsrer Zeit wahr- scheinlich gemacht Meierotto de rebus ad auctores quosdam classicos pertinentibus. Berol. 1785. p. 131. sequ. iudicium aequalium de Horatio. , daß selbst Horaz Oden zuerst lange nicht so viel Celebritaͤt hatten, als sie in der Folge, insonderheit seitdem die lateinische Sprache eine todte Sprache war, mit Recht erhielten. Nachfolger fand dieser schoͤne Dichter unter den Roͤmern wenige, und keinen, der an ihn reichte. Bis auf ein paar Stuͤcke des Statius und einige arme Gedichte der Grammati- ker sind diese auch untergegangen, so daß in Latium das Feld der lyrischen Poesie von Augustus Zeiten hinab fuͤr uns am oͤdesten daliegt. Was uͤbrig geblieben ist, hat Wernsdorf in den poet. lat. minorib. T. III. sammt Die Ursachen hievon sind fast dieselben, wie in der griechischen Geschichte. Die alte Mythologie war den Roͤmern von An- beginn an ungleich fremder und entfernter, als sie es in den neueren Zeiten den Grie- chen je werden konnte. Schon bei Vir - gil und Ovid , bei Properz und Ho - raz bemerkt man dies Fernhergebrach - te zuweilen mit einigem Anstoß; bei Se - neka , Statius , beim bluͤhenden Clau - dian , Ausonius u. f. noch vielmehr. Man fuͤhlt, die alte Goͤtterlehre habe sich uͤberlebet. Ohne Zweifel war dies mit eine Ursache, warum die meisten roͤmischen Dichter, z. B. Ennius , Lucan , Si - lius , Claudian lieber historische als rein- heroische Gedichte schrieben, und den Nachrichten von dem was untergegangen ist, mit großem Fleiß gesammelt. A. d. H. einige sogar ziemlich unpoëtische Gegen- staͤnde waͤhlten. Der alte Blumengarten war abgebluͤhet. Die Thebaiden- und Achil- leiden-Dichter, noch mehr aber die schreck- lichen Atriden-Saͤnger hatten nicht nur den Reiz der Neuheit verlohren; sondern die Satyrendichter gingen ihnen auch hart entgegen. Der Zustand Italiens und der roͤmi- schen Provinzen unter den meisten Kaisern lockte noch minder einen neuen Fruͤhling hervor. Wahnsinnige Tyrannen bedruͤckten die Welt; Kriege, bald auch die Anfaͤlle der Barbaren verheereten sie, und unter den wenigen guten Kaisern ward aus meh- reren Ursachen lieber Griechische Philoso- phie als Roͤmische Dichtkunst gepfleget. Jener hatte nach damaligen Umstaͤnden die Trost- und Huͤlfbeduͤrftige Zeit mehr als dieser noͤthig. In Zeiten, die Tacitus beschreibt, beschreibt, in andern, die nachher folgten, wollte man wahrlich oft weniger singen, als seufzen. Der letzte Roͤmer Boëthius endlich suchte auch in lyrischen Sylbenmaaßen Trost gegen sein Ungluͤck; seine Philosophie ge- waͤhrte ihm aber nicht sowohl Gedichte als philosophische Sentenzen Boëthius und Auson 's Gedichte sind zur Zeit des allgemeinen Verfalls der Roͤmi- schen Sprache und Poesie merkwuͤrdige Er- scheinungen. Beide Dichter waren Christen, und doch lassen sie es sich in ihren Gedich- ten wenig merken; der Erste gar nicht, der Zweite ist gleichsam wechselsweise Christ und Heide. Beide suchen, wie aus Truͤmmern vergangener Zeiten Schaͤtze hervor; Jener Philosophie, die er in alle Sylbenmaaße sei- nes Seneka ordnet, Dieser das Andenken an alle ihm werthe Sachen und Menschen. Bei- de, insonderheit Boëthius , sind den fol- genden dunkeln Jahrhunderten leitende Sterne Laͤngst Siebente Samml. B schon war nach und nach das Christenthum ins Reich gedrungen; es hatte den Sieg erlangt und erfuͤllte bald alle heilige Orte mit christlichen Gesaͤngen und Hymnen. gewesen; wie denn auch in ihm und in meh- reren Dichtern der letzten Zeit bereits sicht- barer Weise ein neuer Geschmack hervor- gehet, der den folgenden Zeiten verwandt und ihnen daher lieber war, als der große Geschmack der alten classischen Dichter. Von Boëthius haben wir nach zwei merkwuͤrdi- gen Uebersetzungen des vorigen Jahrhunderts (Nuͤrnberg 1660. Sulzbach 1667. letzte vom Sulzbachschen Canzler Knorr von Rosen - roth ) neulich eine unsrer Zeit gemaͤßere er- halten, auf welche viel Fleiß gewandt ist. ( Trost der Philosophie aus dem Latei- nischen des Boëthius von F. C. Freitag , Riga 1794.) In den Sylbenmaaßen ist der Uebersetzer dem Dichter nicht gefolget; die seinen aber sind edel und streben im Rhythmus der Jamben dem Milton nach. Boëthius ist ein Philosoph fuͤr alle Zeiten. A. d. H. Nachschrift . So weit das erste Fragment. Samm- len wir seine Winke, so werden wir gewahr, daß in Griechenland und Rom die aͤchte Poesie mit Religion, Sitten und dem Staate selbst untergegangen sei: denn wor- an sollte sie sich, außer diesen ihren drei Grundstuͤtzen halten? Waren die Goͤtter zu Maͤhrchen worden, an welche niemand mehr glaubte: so ward man ihrer Lobge- saͤnge, zuletzt auch des Gelaͤchters uͤber sie bald uͤberdruͤssig; der Hymnus sowohl als der Mimus hatte sich an ihnen erschoͤpfet. Mit dem Ernst und der Anstaͤndigkeit in Sitten hatte die Poesie ihren gesundesten und vestesten Nerv verlohren: denn das Lachen eines Kranken ist nicht ein Zeichen seiner Gesundheit. Die niedrigen Zwecke, wozu man im uͤppigen Rom die Poesie an- B 2 wandte, machten sie veraͤchtlich, zuletzt ab- scheulich; so wie Gegentheils die strafende Poesie , die ihre Geißel dagegen erhob, noth- wendig auch oft uͤber die Grenzen des Schoͤ- nen und Wohlgefaͤlligen streifen mußte. Sank endlich der Staat: so sank alles Edle mit ihm; nichts konnte sich retten: denn wohin haͤtte es außer dem Staat sich retten moͤgen? Wie in einbrechender Nacht sehen wir also allmaͤhlich die Sonne, die Abendroͤthe, zuletzt auch die hie und da noch funkelnden Sterne verschwinden: das Firmament umziehen dunkle Wolken, es wird Nacht. Vermuthlich waͤre das ganze suͤdliche Europa eine so dunkle Nacht und ein Chaos worden, wenn nicht aus Orient ein sonder- barer Stral die Finsterniß zertheilt und einer neuen Morgenroͤthe von fern den Weg ge- bahnt haͤtte. Das zweite Fragment wird hievon reden. 82. Zweites Fragment . Christliche Hymnen . D en Hymnen, die das Christenthum ein- fuͤhrte, lagen jene alte Ebraͤische Psalmen zum Grunde, die wo nicht als Gesaͤnge oder Antiphonien, so doch als Gebete sehr bald in die Kirche kamen. Das Denkmal, das die bleibende Gegenwart des Stifters unter den Seinigen darstellen sollte, das Abendmal , war unter Lobgesaͤngen aus dem Psalmbuch eingesetzt; Er, der Stifter des Christenthums selbst, hatte sich mit Worten aus dem Psalmbuch getroͤstet; dem Psalmbuch also gaben Apostel und Kirchen- vaͤter mit Recht, auch seiner Popularitaͤt wegen, das groͤßeste Lob, da sowohl die Stimme einzelner Personen, als eines gan- zen Volks in ihm so herzlich, so stark und lieblich erschallte. Luther bei sehr veraͤn- derten Zeitumstaͤnden nennet es einen Blu - mengarten von allerlei Blumen , einen ganzen Weltlauf von Zustaͤnden des menschlichen Herzens und Le - bens . Luthers Vorrede zum Psalter. Da ist keine Klage, meynt er, kein Schmerz, kein Jammer, aber auch keine Hoffnung, kein Trost, keine Freude, die in ihm nicht ihren Ausdruck finde. Und weil es mit der groͤßesten Einfalt abgefaßt ist: (denn lyrisch-einfacher kann nichts seyn, als der Parallelismus der Psal- men, gleichsam ein doppeltes Chor, das sich einander fragt und antwortet, zurechtweiset und bestaͤrket;) so war es einer einfaͤltigen Christen-Gemeine, sowohl in Zeiten des Drucks, als in Empfindungen der Freude und Hoffnung, wie vom Himmel gegeben. Daher der fruͤhe Gebrauch dieses Buchs in der christlichen Kirche; daher von den ersten Zeiten an, ehe es christliche Dichter geben konnte, jene lauten Gesaͤnge, dadurch sich ihre Zusammenkuͤnfte den Roͤmern merkbar machten; Plinius Brief an Traian. es waren Psalmen . Das schoͤne Buch, das Richtscheid guter Sitten, Die starke Kraft den Himmel zu erbitten, Des Lebens Trost, der Muth zum Sterben giebt, Was Der Held sang, den Gott grundaus geliebt, Ward durch den Saal der ganzen Welt gesungen, Und regte sich in aller Christen Zungen — sagt Opitz . Nicht nur von Seiten des Inhalts , sondern auch von Seiten der Form ward dieser Gebrauch der Psalmen dem Geist und Herzen der Menschen eine Wohlthat. Wie man in keinem lyrischen Dichter der Grie- chen und Roͤmer soviel Lehre, Trost und Unterweisung, wie hier, beisammen fand; so war auch schwerlich irgendwo sonst, (wenn man die Psalmen nur als Oden be- trachtet,) eine so reiche Abwechselung des Tons in jeder Gesangesart, wie hier, ge- geben. Zwei Jahrtausende her sind diese alte Psalmen oft und vielfach uͤbersetzt und nachgeahmet worden; und doch ist noch manche neue Bildung ihrer vielfassen- den reichen Manier moͤglich. Sie sind Blu- men, die sich nach jeder Zeit, nach jedem Boden verwandeln und immer in frischer Jugend dastehn. Eben weil dies Buch die einfachsten lyrischen Toͤne zum Ausdruck der mannichfaltigsten Empfindungen enthaͤlt, ist es ein Gesangbuch fuͤr alle Zeiten . Den naͤheren Ton zu christlichen Gesaͤn- gen gaben indeß die Lobgesaͤnge Zacha - rias und der Maria , der Gruß des Engels , der Abschied Simeons u. f., mit denen das neue Testament anfing. Ihre sanftere Stimme war dem Geist des Christenthums gemaͤßer, als selbst der laute Paukenschall jener alten frohlockenden Hal- lelujah, obgleich auch diese vielfach ange- wandt, und mit Stimmen der Propheten oder andrer biblischen Gesaͤnge bald ver- staͤrkt, bald gemildert wurden. Ueber den Graͤbern der Verstorbenen, deren Auferste- hung man im Geist schon gegenwaͤrtig er- blickte, in Einoͤden und Katacomben ertoͤn- ten zuerst diese Buß- und Gebet- diese Trauer- und Hoffnungs-Psalmen, bis sie nach oͤffentlicher Einfuͤhrung des Christen- thums aus dem Dunkel ins Licht, aus der Einsamkeit in praͤchtige Kirchen, vor ge- weihte Altaͤre traten, und jetzt auch in ihrem Ausdruck Pracht annahmen. Schwer- lich wird jemand seyn, der z. B. im Gesange des Prudentius : Jam moesta quiesce querela , nicht von ruͤhrenden Toͤnen sein Herz ergriffen fuͤhlte, dem der Todtenge- sang: Dies irae, dies illa nicht Schauder einjagte, den so viel andre Hymnen, jeder mit seinem Charakter bezeichnet, z. B. Veni, redemtor gentium: Vexilla Regis pro- deunt: Salvete, flores Martyrum: Pange lingua gloriosi u. f. nicht in den Ton ver- setzten, den jeder Hymnus will, und in seiner demuͤthigen Gestalt, mit allen seinen kirchlichen Idiotismen maͤchtig gebietet. In Diesem toͤnt die Stimme der Betenden; Jenen koͤnnte nur die Harfe begleiten; in andern schallt die Posaune; es ruft und toͤnt die tausendstimmige Orgel u. f. — Fragt man sich um die Ursache der son- derbaren Wirkung, die man von diesen altchristlichen Gesaͤngen empfindet, so wird man dabei eigen betroffen. Es ist nichts weniger, als ein neuer Gedanke , der uns hier ruͤhrt, dort maͤchtig erschuͤttert; Gedanken sind in diesen Hymnen uͤberhaupt sparsam. Manche sind nur feierliche Reci- tationen einer bekannten Geschichte, oder sie sind bekannte Bitten und Gebete. Fast kommt der Inhalt Aller in Allen wieder. Selten sind es auch uͤberraschend-feine und neue Empfindungen , mit denen sie uns etwa durchstroͤmen; aufs Neue und Feine ist in den Hymnen gar nicht gerechnet. Was ists denn, was uns ruͤhret? Einfalt und Wahrheit . Hier toͤnt die Sprache eines allgemeinen Bekaͤnntnisses, Eines Her- zens und Glaubens. Die meisten sind ein- gerichtet, daß sie alle Tage gesungen wer- den koͤnnen und sollen; oder sie sind an Feste der Jahreszeiten gebunden. Wie diese wieder kommen, kommt in ewiger Umwaͤl- zung auch ihr christliches Bekaͤnntniß wieder. Zu fein ist in den Hymnen keine Empfindung, keine Pflicht, kein Trost ge- griffen: es herrscht in ihnen allen ein allgemeiner populaͤrer Inhalt in großen Accenten. Wer in einem Te Deum oder Salve regina neue Gedanken sucht, sucht sie an unrechtem Orte; eben das taͤglich - und ewig Bekannte soll hier das Gepraͤge der Wahrheit seyn. Der Ge- sang soll ein ambrosisches Opfer der Natur werden, unsterblich und wiederkehrend, wie diese. Es ergiebt sich hieraus, daß, da man bei christlichen Hymnen auf die Schoͤnheit eines klassischen Ausdrucks, auf die Anmuth der Empfindung im gegenwaͤrtigen Moment, kurz auf die Wirkung eines eigentlichen Kunstwerks gar nicht rechnete, diese Ge- saͤnge, sobald sie eingefuͤhrt waren, die sonderbarsten Folgen haben musten. Wie naͤmlich die Hand der Christen Bildsaͤulen und Tempel der Goͤtter dem unsichtbaren Gott zu Ehren zerstoͤrte: so hielten diese Hymnen auch einen Keim in sich, der den heidnischen Gesaͤngen den Tod bringen sollte. Nicht nur wurden von den Christen jene Hymnen an Goͤtter und Goͤttinnen, an Heroën und Genien als Werke der Unglaͤu- bigen oder der Aberglaͤubigen angesehen; sondern und vorzuͤglich ward auch der Keim, der sie hervorgebracht hatte, die dichtende oder spielende Einbildungskraft , die Lust und Froͤhlichkeit des Volks an Nationalfesten und als eine Schule boͤser Daͤmonen verdammt, ja der Natio - nalruhm selbst , auf welchen jene Ge- saͤnge wirkten, als eine gefaͤhrlich-glaͤnzende Suͤnde verachtet. Die alte Religion hatte sich uͤberlebet; die neue Religion hatte gewonnen, wenn die Thorheit des heidni- schen Goͤtzendienstes und Aberglaubens, die Unordnungen und Graͤuel, die an den Festen des Bacchus, der Cybele, der Aphrodite vorgingen, ins Licht kamen. Also auch was von der Poesie dahin gehoͤrte, war ein Werk des Teufels. Es begann eine neue Zeit fuͤr Poesie , Musik , Sprache , Wis - senschaften , selbst fuͤr die ganze Rich - tung der menschlichen Denkart . Denn 1. Fortan war die Poesie keinem Volk , keinem Lande eigen , weil dieser Geist christlicher Hymnen, mit Zerstoͤhrung aller Nationalheiligthuͤmer, die Voͤlker insgesammt umfaßte und glauben lehrte. An die Stelle jener laͤngst verleb- ten Heroën und Nationalwohlthaͤter traten jetzt neue Heroën , die Maͤrtyrer; die auf der Erde ihre Festtage, Kirchen und Patrimonien bekamen, wie sie als Schutz- patronen und Fuͤrbitter bei Gott angesehene Plaͤtze droben besaßen. Himmel und Erde war also den Heiligen gegeben, die christ- liche Welt war unter sie vertheilet. Statt einzelner irrdischer Wohlthaten sang man Eine große Wohlthat, die Erloͤsung der Welt vom Aberglauben und den Daͤmonen . Statt eingeschraͤnkter irrdi- scher Hoffnungen sang man Eine große Hoffnung, die Erwartung der Ankunft des Richters uͤber Lebendige und Todte , mit welcher die Gesammtherrschaft in seinem Reiche wesentlich verknuͤpft war. Jahrhunderte lang hielt man diese Ankunft fuͤr nah; alle traurige Zeichen der Zeit, an denen man großentheils selbst Schuld war, wurden auf sie gedeutet; und ungeheure Dinge, Verfolgungen, Schenkungen, Kriege wurden durch sie befoͤrdert. Hymnen an die Maͤrtyrer, Hoffnungen der Auferstehung und der Wiederkunft Christi machen also einen großen Theil der Dichtkunst dieser Zeiten aus; sie waren auch eine maͤchtige Triebfeder. Von heidnischer Poesie mochte untergehen was untergehen wollte; was man rettete, ward etwa der Sprache, der Sylbenmaaße, der spaͤteren platonischen Phi- losophie oder zufaͤllig eines dem Christen- thum thum zutraͤglichen Umstandes wegen erhal- ten. Selbst die Juͤdischen Psalmen wurden jetzt blos und allein christlich verstanden, und gegen Ketzer, ja gegen die Juden selbst Zeitmaͤßig gedeutet; es ward mit ihnen ge- betet, geflucht, verbannet, exorcisiret. Was irgend man in der Literatur fand und an- wenden wollte, verlor seinen alten Zweck und ward christlich . 2. Die Musik bekam durch die christ- lichen Hymnen mit der Zeit eine ganz an- dre Art und Weise. Da der Inhalt dieser Gesaͤnge gleichsam ein Chor der Voͤlker und so allgemein war, daß sich die Toͤne dem einzelnen Ausdruck einer individuellen Empfindung weder anschließen konnten noch sollten: so ging dabei der Strom der Musik, allumfassend, in seinem großen Gange desto ungehinderter und praͤchtiger fort. Wenig achtete er auf Fuͤße des Sylbenmaaßes, auf Siebente Samml. C den Inhalt einzelner Strophen, auf einzelne Worte; mit der Strophe, welches Inhalts sie auch war, kehrte der Gesang wieder; das Feierliche verbarg jede Verschieden- heit in seinen weiten Mantel. Bei den Griechen war dies anders gewesen; bei ihnen war die Poesie herrschend, die Musik dienend. Jetzt ward die Musik herrschend, die im Sylbenmaaß gebrechliche Poesie diente. Ein einziger Umstand, der schon einen voͤlligen Unterschied zwischen der alten und neuen Poesie, der alten und neuen Musik gruͤndet. Die jetzt herrschende Musik, die gleichsam von einem unermeßlichen Chor in den Wolken getragen ward, mußte noth- wendig, spaͤter oder fruͤher, fuͤr sich selbst ein Gebaͤude der Harmonie ausbil- den, da bei den Hymnen des Christenthums auf Melodie wenig, auf einzelne Glieder des Versbaues und der Empfindungen noch weniger, und auf ein daraus entspringen- des momentanes Kunstvergnuͤgen gar nicht gerechnet war. Der Tonkuͤnstler dagegen war Zauberer in den Wolken, der mit sei- nen Schritten im großen Gange der Har- monie desto gebietender den Inhalt des Ganzen verfolgte, und auf andaͤchtige Ge- muͤther in diesem vollstimmigen Gange desto staͤrker wirkte. Durch den christlichen Gesang war also die Harmonie der Stimmen im Concert der Voͤlker gleichsam gegeben . 3. Auch die Sprache ward durch diese neue Einrichtung der Dinge sehr ver- aͤndert. Wenn bei Griechen und Roͤmern jener alte aͤchte Rhythmus, nach welchem jede Sylbe ihr bestimmtes Zeitmaas an Laͤnge und Kuͤrze, an Tiefe und Hoͤhe hatte, nicht schon verlohren gegangen war, so ging er jetzt, wie die christlichen Hymnen C 2 zeigen, bald verlohren. Man achtete auf ihn wenig und folgte dagegen, weil auf Popularitaͤt alles gerechnet war, der ge - meinen Aussprache , ihren Perioden und Cadenzen , kurz dem Wohlklange des plebejen Ohrs . Ohne Quantitaͤt der Sylben brachte man also Reime und Assonanzen ins Spiel; man formte einen gewissen Numerus der Strophe, der dem alltaͤglichen Gehoͤr gemaͤß war, den aber die Griechen und Roͤmer nur in den soge- nannten politischen oder gemeinen Volks- versen ertraͤglich gefunden hatten. Im Innern konnte die Sprache eben so wenig rein bleiben, da jetzt in Poesie und Rede der Genius fast aller Voͤlker miteinander vermischt ward . Aus- druͤcke der Ebraͤer und andrer Asiaten, der Griechen und Roͤmer in den verschie- densten Provinzen, endlich der Barbaren, die Sieger waren und Christen wurden, flossen zusammen: so ward dann nach Ort und Zeit das Griechische und das Latein der mittleren Zeiten gebildet, das man mit Recht die Moͤnchssprache nennet. Sie bildete sich einen Reichthum neuer Ausdruͤcke nach ihren Beduͤrfnissen und Umstaͤnden, der alte Roͤmergenius aber war ver- schwunden. 4. Wie manche Wissenschaften das damalige Christenthum entbehrlich glaubte, erweiset die Geschichte der mittleren Zeiten. Gesaͤnge, Predigten und Ordens-Regeln, die vom Untergange der Welt, (seculi huius) von der Eitelkeit aller irrdischen Dinge, von der Truͤglichkeit des menschlichen Gei- stes, von der Naͤhe eines Reichs sprechen, in welchem alles anders seyn wird und seyn muß, fachen nicht eben die Luft an, den gegenwaͤrtigen Zustand der Welt, wie er ist, zu beleben. Im Himmel war das Vaterland der Christen; dahinauf strebten ihre Gesaͤnge; das Schema der gegenwaͤr- tigen Welt war ihnen vergaͤnglich, ob sie es uͤbrigens gleich fuͤr sich sehr gut und Ein Theil mit Bedruͤckung eines groͤßeren andern Theils der Menschheit zu gebrau- chen wußten. 5. Dagegen ward bald, hie und da, jene mystische Empfindungs - Theo - logie ausgesponnen, die, ihrer stillen Ge- stalt ungeachtet, vielleicht die wirksamste Theologie in der Welt gewesen. Im Chri- stenthum schlang sie sich dem juͤngeren Pla- tonismus an, der ihr viel Zweige der Ver- einigung darbot; aber auch ohne Plato- nismus war sie bei allen Voͤlkern, die em- pfindend dachten und denkend empfanden, in jeder Religion, die beseligen wollte, am Ende das Ziel der Betrachtung. Sinn- liche Voͤlker selbst haben zuweilen auf die sonderbarste Weise einen Mysticismus gesucht und sich in ihm berauschet; ver - nuͤnftelnde Voͤlker suchten ihn auf ihre Weise. Der Grund dazu liegt in der Natur des Menschen. Er will Ruhe und Thaͤtig- keit, Genuß und Beschauung auf die kosten- freieste, dauerhafteste, zugleich auch auf die untruͤglichste, auf eine gleichsam unend - liche Weise. So gern moͤchte er mit Ideen leben und selbst Idee seyn . Die traͤge Zeit, den leeren Raum, die lahme Bewegung um sich her moͤchte er gern uͤberspringen, und vernichten, dagegen Alles an sich ziehn, sich Allem zueignen und zuletzt in einem Ideal zerfließen, das je- den Genuß in sich faßt, wohin seine Vor- stellung reichet. Viele Umstaͤnde der dama- ligen und folgenden Zeit kamen zusammen, diesen Mysticismus zu naͤhren und ihn dem Christenthum, zu welchem er urspruͤnglich nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein specu- lirender Geist, dem es an Materie zur Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne Gegenstand der Liebe, geraͤth immer auf den Mysticismus. Einsame Gegenden, Klosterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß und Kerker, endlich auch auffallende Bege- benheiten, die Bekanntschaft mit sonderbar- liebreichen und bedeutenden Personen, Worte, die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit, die man erlebt hat, u. f. alle diese Dinge bruͤten den Mysticismus, dies Lieblings- kind unsrer geistigen Wirksamkeit und Traͤg- heit, in einer groben oder seidenen Umhuͤl- lung aus und geben ihm zuletzt die bunten Fluͤgel des himmlischen Amors. Man lie- bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und weiß nicht Was? Etwas Unendliches , das Hoͤchste , Schoͤnste , Beste . So unentbehrlich dem Menschen diese Tendenz nach dem Vortreflichsten und Voll- kommensten ist, ohne welche er wie eine Raupe umherkroͤche und vermoderte: so leer bleibt dennoch die Seele, wenn sie blos auf Fluͤgeln der Imagination im Tau- mel der Begeisterung fortgetragen in unge- heuren Wuͤsten umherschweift. Das Un- endliche giebt kein Bild: denn es hat keinen Umriß; selten haben diesen auch die Poe- sieen, die das Unermeßliche singen. Sie schwingen sich entweder in ein Empyreum des Urlichts voll Gestaltloser Seraphim auf, oder wenn sie von da in die Tiefen des menschlichen Herzens zuruͤckkehren, kann die erhoͤhete Speculation dennoch nur aus ihm jene Urbilder himmlischer Schoͤnheit holen, die sie uͤber den Wolken begruͤßet und in ein Paradies der Liebe und Seligkeit hin- auf zaubert. Die Hymnen der mittleren Zeiten sind voll von diesen goldnen Bil- dern in die unermeßliche Blaͤue des Him- mels gemahlet. Ich glaube nicht, daß es Ausdruͤcke suͤßerer Empfindungen gebe, als die bei der Geburt, dem Leiden und Tode Christi, bei dem Schmerz der Maria, bei ihrem Abschiede aus der Sichtbarkeit, oder bei ihrer Aufnahme in den Himmel und bei dem freudigen Hingange so manches Maͤrtyrers, bei der sehnenden Geduld so mancher leidenden Seele, meistens in den einfachsten Sylbenmaaßen, oft in Idiotis- men und Soldcismen des Affects geaͤußert wurden. Wer sich davon uͤberzeugen will, lese die frommen Liebesgesaͤnge des heil. Bernhards und Thomas , des Cardi- nals Bona , der heil. Therese , des Juan de la Cruz und ihres Gleichen; oder viel- mehr er hoͤre sie mit Musik begleitet. Das Stabat Mater dolorosa (Jacobus de Bene- dictis ist sein Verfasser) ist in Pergolesi 's Composition sehr bekannt; dergleichen suͤße Schmerzen- und Liebesgesaͤnge giebts in der Moͤnchssprache viele, die ganz dazu geschaf- fen scheinet. Wilder Sylbenmaaße bediente man sich dabei nicht; vielmehr aͤußerst an- staͤndiger und sanfter. Selbst das verzuͤckte Metrum des sogenannten Pervigilii: cras amet, qui numquam amauit, das in den Hymnen oft gebraucht ist, erhaͤlt in ihnen einen Triumphton und eine Wuͤrde, die uns gleichsam aus uns selbst hinaussetzt und unser ganzes Wesen erweitert. Wie konnte dies auch anders seyn, da, wo man die Bibel nur aufschlaͤgt, im Hohenliede, Pro- pheten, Psalmen, in den Evangelien, Briefen und der Offenbahrung man Aus- druͤcke bald der erhabensten Einfalt, bald der innigsten Zaͤrtlichkeit und Liebe findet? Wer Haͤndels Messias, einige Psalmen von Marcello , und Allegri 's, Leo , Palaͤstrina Compositionen der simpelsten biblischen Worte gehoͤrt hat und dann die lateinische Bibel, christliche Epitaphien, Passions- Grab- Auferstehungslieder lieset, der wird sich Trotz aller Soloͤcismen und Idiotismen in dieser christlichen wie in einer neuen Welt fuͤhlen. Nachschrift Da ich es nicht voraussetzen kann, daß Jedem von Ihnen eine Menge der Hymnen bekannt sey, von denen das Fragment re- det: so lasse ich von einigen der angefuͤhr- ten nur Strophen abschreiben, die ich etwa mit einer Anmerkung begleite. Die Soloͤ- cismen und Idiotismen darinn gehoͤren zur Sprache der Zeit; uͤberhaupt sind diese Verse nicht zu lesen, sondern mit der ihnen gebuͤhrenden Musik zu hoͤren: 1. Jam moesta quiesce. Von Prudentius . Unser alter Gesang: Hoͤrt auf mit Klagen ist eine Nachah- Jam moesta quiesce querela! Lacrimas suspendite, matres; Nullus sua pignora plangat Mors haec reparatio vitae est. Nunc suscipe, terra, fovendum Gremioque hunc concipe molli; Hominis tibi membra sequestro Generosa et fragmina credo. Veniant modo tempora justa, Cum spem Deus impleat omnem; Reddas patefacta, necesse est, Qualem tibi trado figuram. seq. 2. Dies irae. Der Graf Roscommon uͤbersetzte diesen Gesang ins Englische: The Day of Wreath, Dies irae, dies illa Solvet saeclum in favilla Teste David cum Sibylla. mung einiger Strophen dieses alten Hymnus, der beim Prudentius anfaͤngt: Deus, ignee fons animarum. Quantus tremor est futurus, Quando judex est venturus, Cuncta stricte discussurus. Tuba mirum spargens sonum Per sepulcra regionum Coget omnes ante thronum. Mors stupebit et natura, Cum resurget creatura Iudicanti responsura. Liber divus tunc pandetur, In quo totum continetur, Unde mundus judicetur. that dreadful day, und starb mit den Wor- ten aus ihm: Prostrate, my contrite heart I rend, My God, my Father, and my Friend, Do not forsake me in my End. Unser Deutsches Lied: Es ist gewißlich an der Zeit , ist eine Nachahmung dieses Gesanges. Iudex ergo cum sedebit, Quidquid latet apparebit, Nil inultum remanebit. Quid sum miser tunc dicturus? Quem patronum rogaturus? Cum vix justus sit securus. Rex tremendae Majestatis, Qui salvandos salvas gratis, Salva me, fons pietatis. seq. 3. Lauda Sion Salvatorem, Lauda Ducem et Pastorem In hymnis et canticis; Quantum potes, tantum aude, Quia major omni laude Nec laudare sufficis. Sit laus plena, sit sonora Sit jucunda, sit decora Mentis jubilatio. Dies Dies enim agitatur, In qua mensae ruminatur Hujus institutio. seq. 4. Pange lingua gloriosi proelium certaminis Et super crucis trophaeo dic triumphum nobilem; Qualiter redemtor orbis immolatus vicerit. Crux fidelis inter omnes arbor una nobilis Nulla talem sylva profert fronde, flore, germine, Dulce lignum, dulce signum, dulce pondus sustinet. seq. 5. Ave maris stella, Dei mater alma, Atque semper virgo, felix coeli porta. Virgo singularis, inter omnes mitis Nos culpis solutos miles fac et castos etc. Siebente Samml. D 6. Uebersetzt von Wieland , im Deutschen Merkur, Februar 1781. Stabat mater dolorosa, Juxta crucem lacrimosa Dum pendebat filius. Cujus animam gementem, Contristatam et dolentem Pertransivit gladius. O quam tristis et afflicta Fuit illa benedicta Mater Unigeniti, Quae moerebat et dolebat Et tremebat, cum videbat Nati poenas incliti. Fac me cruce custodiri Morte Christi praemuniri Confoveri gratia. Quando corpus morietur, Fac vt anima donetur Paradisi gloria. 7. Vom Deutschen Moͤnch Gottschalk , aͤlter als Otfried , dem sehr hart begegnet ward. Er schrieb dies als ein Vertriebner, im Ge- faͤngniß. Ut quid jubes, pusiole? Quare mandas, filiole, Carmen dulce me cantare, Cum sim longe exsul valde Intra mare; O cur jubes canere? Magis mihi miserale Flere libet puerale Plus plorare quam cantare Carmen tale jubes quare? Amor care, O cur jubes canere? D 2 83. M it Ihrem dies irae, dies illa haben Sie mir eine schoͤne Welt zu Grabe gelaͤu- tet; die Welt der Erscheinungen des Al- terthums in ihren bestimmten , lieb - lichen Formen , in ihren bedeuten - den Gebehrden , in ihren gleich - sam organisirten Toͤnen . Sie wird nicht wieder kommen auf unsrer Erde; so wenig uns unsre Jugend zuruͤckkommt. Jene ersten Versuche der Menschen, sich das Unsichtbare sichtbar , das Ver- gangene und Entfernte gegenwaͤrtig zu machen, eine Welt von Gegenstaͤnden, von Bildern und Empfindungen durch Worte und Toͤne darzustellen und zwar also dazustellen, daß auch ihre Folge spre- chend, daß ihre Veraͤnderung in Licht und Farben bis zum Kleinsten empfun- den oder bemerkt werde; diese Versuche, in einer gegebnen langen Zeit zu Meister- werken der poetischen Kunst erhoͤhet, von einer Nation, der die Kunst Natur , der Geschmack am Schoͤnen Charakter gewesen zu seyn scheinet, werden ihres gleichen schwerlich in Zeiten finden, die Ihre angefuͤhrte Hymnen eingelaͤutet haben. Nichts ist von zarterem Wesen, als der aͤchte Natur - und Kunstgeschmack . Durch Froͤmmigkeit und Andacht, selbst durch Gelehrsamkeit und Fleiß laͤßt er sich nicht erlangen; er ist eine himmlische Gra- zie, die auf unsrer Erde nur hie und da, dann und wann erscheinet. Sie kann eben so leicht weggebetet, als wegstudirt wer- den; einmal vertrieben kommt sie selten oder spaͤt wieder. Und doch ist mit diesem Natur - und Kunstgeschmack selbst der richtige Sinn , die wahre Vernunft des Menschen so innig verbunden. Schwer- lich werde ich in Ihrem Athanasius und Ambrosius so schlicht und rein zu lesen bekommen, was mich Cicero 's Pflichten, Horaz Briefe und Sermonen lehren. Die Litaneien und Legenden der Heiligen, ja das ganze Breviarium dieser Sitten- lehre und Weisheit wird das aͤchte Richt- maas menschlicher Moralitaͤt kaum so stren- ge an mich legen, als es die vesten Leh - ren des Alterthums , seine mit sichrer Hand, im bestimmtesten Umriß gezeichne- ten Charaktere zu thun vermochten. Ist Einmal der Gesichtskreis und das Ziel der Bestimmung verruͤckt, zu welchem die Men- schen auf Erden leben, so erscheinen durch katoprische Spiegel zuruͤckgeworfene selt- same Bilder und Vorbilder des Lebens. Eine Zauberlaterne bringt Gestalten her- vor, die in Schrecken und Verwunderung setzen koͤnnen, denen man aber nicht ohne Gefahr folget. Ihr Fragment meldete uns an, daß sich fortan die Musik von der Poesie scheiden und in eignen Regionen ihr Kunstwerk treiben werde ; fuͤrs unbewehrte menschliche Geschlecht eine ge- faͤhrliche Scheidung. Musik ohne Worte setzt uns in ein Reich dunkler Ideen; sie weckt Gefuͤhle auf, jedem nach seiner Weise; Gefuͤhle, wie sie im Herzen schlummern, die im Strom oder in der Fluth kuͤnstli- cher Toͤne ohne Worte keinen Wegweiser und Leiter finden. Eine Musik, die uͤber Worte gebietet, ist nicht viel anders; sie herrscht despotisch . Erinnern Sie sich in Drydens Ode am Caͤcilientage, wo- hin die Gewalt der Musik den Alexan - der reißt? Der Halbgott sinkt der Buh- lerinn in den Arm, er schwingt die Fackel zu Persepolis Brande. Auf gleiche Weise kann durch eine geistliche und, wenn man will, eine himmlische Musik die Seele der- gestalt aus sich gesetzt werden, daß sie sich, unbrauchbar und stumpf gemacht fuͤr dies irrdische Leben, in gestaltlosen Worten und Toͤnen selbst verlieret . Unsre zarte, fehlbare und fein empfaͤng- liche Natur hat aller Sinne noͤthig, die ihr Gott gegeben; sie kann keinen seines Dienstes entlassen, um sich einem andern allein anzuvertrauen: denn eben im Ge - sammtgebrauch aller Sinne und Organe zuͤndet und leuchtet allein die Fackel des Lebens. Das Auge ist, wenn man will, der kaͤlteste, der aͤußerlichste und oberflaͤchlichste Sinn unter allen; er ist aber auch der schnellste, der umfassendste, der helleste Sinn; er umschreibt, theilt, bezirkt und uͤbt die Meßkunst fuͤr alle seine Bruͤ- der. Das Ohr dagegen ist ein zwar tief- dringender, maͤchtigerschuͤtternder, aber auch ein sehr aberglaͤubiger Sinn. In seinen Schwingungen ist etwas Unabzaͤhl- bares, Unermaͤßliches, das die Seele in eine suͤße Verruͤckung setzt, in welcher sie kein Ende findet. Behuͤte uns also die Muse vor einer bloßen Poesie des Ohrs ohne Berichtigung der Gestalten und ihres Maaßes durchs Auge . Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch und frage: „wie wenn aus dieser heilgen Moͤnchspoesie eine Volksdichtung hervorge- hen sollte, wie wird sie werden? Gewiß anders als die Poesie der Griechen war, nicht nur im Inhalt des Gesanges, sondern auch in desselben ganzer Art und Weise.“ 1. Von Mythologie wird in ihr nicht die Rede seyn koͤnnen, da man diese als eine Daͤmonensage ansah. Wenn Eine der- selben gebildet werden sollte, wird sie aus dem Glauben der Kirche, aus Sagen des gemeinen Volks, aus National-Meinun- gen und Abentheuern hervorgehn. Jede solcher Gestalten wird die Kirche weihen und ordnen. — 2. Reine Umrisse der Phantasie und des Natursinnes nach Art der Griechen wird diese Dichtkunst schwerlich enthalten, da diese Welt ihr nur ein vor - uͤbergehender Schatte zur kuͤnftigen Welt ist. Zwischen beide wird sich der Blick theilen, mithin Jene sich in eine Art Daͤmmerung verliehren. Hoͤchstens also werden Allegorieen auftreten, statt rei- ner und bestimmter Begriffe; auch wirkli- che Personen werden gern als Allego - rieen und Larven oder als heilige Nebel- gestalten erscheinen, die sich in der Ferne verlieren. 3. Das Interesse , das diese Poesie giebt, wird selten ein National - In - teresse seyn, wie bei Griechen und Roͤ- mern, vielleicht aber ein allgemeine - res Interesse christlicher Voͤlker , die alle das heilige Bad besprengt hat, die als Beguͤnstigte des Himmels mit dem Kreutz bezeichnet, eine eigne christliche Pro- videnz uͤber sich erkennen, Engel zu ihrer Seite haben, und von der Erde gen Him- mel wandern. In der Erzaͤhlung wird dies den Ton der Geschichte und Dichtung ganz aͤndern. 4. Allen Handlungen und Leidenschaf- ten der Menschen, ihren Tugenden und Lastern wird hiemit eine eigne religiose Farbe , ein Anzug gegeben werden, den die alte Welt nicht kannte. In die Liebe wird sich Andacht mischen; und die Uep- pigkeit dagegen vielleicht desto sinnlicher ihr Werk treiben. Statt des Verdienstes der Vorfahren um ein enges Vaterland wird ein andaͤchtiger Ruhm , eine Ehre hervorgehn, die Stand ist und nach Staͤnden wirket. Auf diesem Wege wird eine Sentimentalitaͤt zum Vor- schein kommen, von der die Poesie der Al- ten nicht wußte, eine anerzogne Senti - mentalitaͤt der Staͤnde . 5. Endlich, da der Rhythmus der Grie- chen verlohren ist und sich der poëtische Genius hier ungebildeten, mit dem Roͤ- mischen Volksdialekt vermischten Sprachen mittheilen soll: so werden in dieser Ver- wirrung ohne Sylbenmaaße der Alten sich ohne Zweifel rohere Volksgesaͤnge nach dem Modell der Moͤnchspoesie for - men . Was das innere Maaß und Ge- wicht der Sylben nicht thun kann, wird der Reim ersetzen sollen, mit dem von jeher das Ohr und die Zunge des Volks spielte. Poesie wird also eine gereimte Prose in Versperioden werden, de- ren Abwechselung und Ruͤndung etwa auch ein unwissendes Ohr verfolgen kann; da- gegen die Musik, vom Bau der Sylben getrennt, in ihrer eignen Region ihr Werk treibet. Lassen Sie uns bald einige Glocken- und Posaunen- und Orgeltoͤne, aber wenn ich bitten darf, auch einige Toͤne der Harfe aus diesem neuen christlichen Odeum aller Europaͤischen Nationen hoͤren. 84. Drittes Fragment . Bildung eines neuen Geschmacks in Europa und dessen erste Verfeinerung. A lle Deutsche Nationen, die das Roͤmi- sche Reich unter sich theilten, kamen mit Heldenliedern von Thaten ihrer Vorfahren in die ihnen neue Welt; es sind auch Zeugnisse vorhanden, daß diese Gesaͤnge unter ihnen sich lange erhalten haben. Wie auch anders? Diese Gesaͤnge waren ja die ganze Wissenschaft und Gei- stesergoͤtzung solcher barbarischen Voͤlker, das Archiv ihres Ruhmes und Nachruhms. Was zu den Zeiten der griechischen Saͤn- ger (ϰοιδων) der Fall gewesen, kam jetzt auf eine rohere Weise wieder. Voͤlker, die das Schreiben nicht viel kannten und noch weniger liebten, erhielten durch Lie- der das Andenken ihrer Vorfahren, und jedes Volk hatte dabei seine eigne Lieb- lingshelden, seine eigne Lieblingstoͤne. Sehr nuͤtzlich waͤre es, wenn wir diese alten Wurzeln des Stammes der Denkart und Sprache unsrer Vorfahren noch be- saͤßen; wenn wir die Lieder von Mann und Hermann , Dietrich von Bern , Alboin , Hildebrand , Ruͤdiger , Siegfried , die Englaͤnder ihr horn- Child , Hervart , Grym , Hanelock , und so jedes Deutsche Volk die Seinigen noch haͤtten. Es gilt aber von allen die- sen, was Horaz von jenen uralten griechi- schen Helden sagt, die vor Homer lebten: Sie liegen alle, weil sie der heiligen Gesaͤnge darben, unbejammert, Ruhmlos in ewiger Nacht begraben. Die Veraͤnderung und Mischung der Spra- chen, bei den wandernden Voͤlkern die Ver- schiedenheit des nordlichen und suͤdlichen Klima, wohl aber am meisten der Fort- gang der Sitten selbst, hat uns dieser wahrscheinlich in rauhen Toͤnen besunge- nen Heldengestalten beraubet. Wie verschieden naͤmlich die Mundar- ten der Deutschen Sprache nach den ver- schiedenen Volksstaͤmmen, Zeiten und Ge- genden waren, dergestalt, daß man die Gothen am schwarzen Meer, in Italien und Spanien, die Wandalen in Pommern und Afrika, die Angeln zu Hengst und zu Wil- Wilhelm des Eroberers Zeiten nicht fuͤr Eins nehmen darf: so ist doch in allem, was wir von ihren Sprachen wissen, ihr nordisches Gewand unverkennbar. Die Deutsche Sprache naͤmlich, zumal in rau- hen Gegenden, liebt einsylbige Toͤne . Hart wird der Schall angestoßen, stark an- geklungen, damit so viel moͤglich Alles auf Einmal gesagt werde. Eine Sylbe soll alles fassen; die folgenden werden zusam- mengezogen, und gleichsam verschlungen; so daß sie selten aushallen und kaum zwi- schen den Lippen als erstickte Geister schweben. Die ganze Bildung unsrer Sprache, am meisten die aus dem Latein bei uns aufgenommenen Worte und Na- men beweisen dies; es sind hart zusam- mengedraͤngte Laute; und was noch son- derbarer ist, mit dem Verfolg der Jahr- hunderte hat sich dies Zusammendraͤngen Siebente Samml. E der Buchstaben nicht vermindert, sondern vermehrt. Ulfila 's und Ottfrieds Sprache sind ungleich toͤnender, als wie man z. B. im vorigen Jahrhundert oder noch jetzt aus dem Munde des Volks die Worte schreibet. Das Angelsaͤchsische schlich mit viel stummen E. in mehreren Sylben langsam fort; das Englische, das sich unter den Normaͤnnern bildete, warf Buchstaben weg, draͤngte sie zusammen, schnitt vorn und hinten ab die Sylben; so entstand ein ganz neuer Gang und Rhyth- mus der Sprache. Aus dieser beliebten Einsylbigkeit der nordischen Mundarten, bei der man aus Traͤgheit oder wie in boͤser Luft die Lippen kaum zu oͤfnen waget, und immer nur hm ! hm ! sprechen moͤchte, war es natuͤrlich, daß wenn man Worte gegen einander kuͤnstlich stellen wollte, dies in- sonderheit im Anklange bemerkt werden mußte, indem der Ausgang der Worte gern im Dunkeln blieb. Dies ist nun jenes be- ruͤhmte System nordischer Alliteratio - nen , (Annominationen,) Naͤhere Kaͤnntniß von diesem sonderbaren System der Nordischen Prosodie findet man in Olaus Wormius literatura Danica, Hickes thesaur. linguar. septentrion. und aͤhnlichen Werken. Wer ihrer entbehrt, ziehe die Briefe uͤber Merkwuͤrdigkeiten der Literatur (Schleswig 1767.) Th. I. S. 150, zu Rath; eine Sammlung Briefe, die weit mehr Aufmerksamkeit verdient, als das um kein Haar unnatuͤrlicher als der Reim ist; in- dem man hier nur in der Mitte oder vorn reimet. Den Alten, d. i. Griechen und Roͤmern waren beide Arten eines solchen Wohlklanges Uebelklaͤnge; aͤhnliche An- klaͤnge der Worte suchten sie, wie den Reim E 2 zu vermeiden. Auch fuͤr die Gegenden eines besseren Klima war dieser nordische rauhe Sylbentritt nicht; die Spanische Ro- manzen, die vielleicht nach Gothischen Volks- liedern geformt sind, haben jenen wilden, maͤnnlichen Jambus, der urspruͤnglich in Waͤldern zum Jagd- und Kriegshorn toͤnte, fahren lassen und statt dessen langsame Trochaͤen in weiblichen Ausgaͤngen mit dem zuletzt praͤchtig-verhallenden ar gewaͤhlet. In Italiens Luft zerfloß gleichfalls der go- thische und longobardische Sylben-Anklang sie erlangt. Das System der Allitera - tionen , daß gewisse Worte im Anfange und in der Mitte des Verses von einem Buch- staben anfangen und einen aͤhnlichen Vocal haben, ist, wie mich duͤnkt, mehr angestaunt als erklaͤrt worden; sein natuͤrlicher Grund ist der Bau der Sprache selbst, der Genius des Volks, das sie sprach und die Art, wie man die Worte antoͤnte. A. d. V. in weiche und immer weichere Toͤne. Kein Wunder also, daß jene alten Helden-Me- lodieen in dieser sanfteren Luft den Toͤnen nach allmaͤhlich verhallten. Dabei aber gingen nicht sofort auch die Erzaͤhlungen selbst, jene Heldensa - gen zu Grunde, die gleichsam die Seele dieser Voͤlker, ihr Trank und ihre geistige Speise waren. Sie konnten nicht zu Grunde gehen, weil diese Voͤlker, (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) abentheuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abentheuer lebten. Ein Volk von we- nigen aber starken Begriffen und Leiden- schaften geregt und getrieben, hat wenig Lust zu Ordnungsmaͤßigen, gewoͤhnlichen, ruhi- gen Geschaͤften; es bleibt gegen sie kalt und traͤge. Dagegen flammets auf, wenn ein Abentheuer ruft, wenn wie ein Jagd- und Kriegshorn die Abentheuersage ertoͤnet. In eingepflanzten Trieben, in an- gebohrnen Begriffen und Neigungen ging diese Liebe zum Abentheuer auf Geschlech- ter hinab; der geistliche Stand, in dessen Haͤnden die Bildung der Menschen nach Begriffen der Zeit war, bemaͤchtigte sich dieses Triebes; er fabelte, dichtete, erzaͤhlte. Von Erzaͤhlungen faͤngt alle Cultur roher Voͤlker an; sie lesen nicht, sie vernuͤnfteln nicht gern, aber sie hoͤren und lassen sich erzaͤhlen. So Kinder, so alle Staͤnde, die insonderheit unter freiem Himmel ein halb- muͤßiges Leben fuͤhren. Wo sie auch leben, Norweger und Araber, Perser und Mogo- len, der Gothe, Sachse, Frank und Katte des Mittelalters, noch jetzt alle halbmuͤs- sige Abentheurer, Krieger, Jaͤger, Reisen- de, Pilger haben hierinn Einerlei Geschmack, Einerlei Zeitkuͤrzung. Unwissenheit ist die Mutter des Wunderbaren, unternehmende Kuͤhnheit seine Ernaͤhrerinn, unzaͤhliche Sa- gen seine Nachkommenschaft und ihr gro- ßer Mentor, der Glaube. Wenn Moͤnche dergleichen Erzaͤhlungen in ihre Chroniken aufnahmen und ihre Legenden selbst dar- nach schrieben: so thaten sie es nicht im- mer aus Lust zu betruͤgen. Es war Ge- schmack und sogar Kreis des Wissens, Denkart der Zeit; eine aͤchte Moͤnchschro- nik mußte vom Anfange der Welt anfan- gen und in bestimmten Zeitraͤumen durch Fabel und Geschichte der Griechen und Roͤ- mer, (Geschichte und Dichtung auf Einem Grunde betrachtet) bis zum Ende der Welt fortgehn; das war der gegebene Umriß. Eben nach den Begebenheiten der Zeit, die allesamt geistliche und weltliche Abentheuer waren, formte sich der Um- riß der Erzaͤhlung, bildete sich der Ton des Ganzen. Mehr als Eine Chronik der mittleren Zeiten ist wie ein cyklisches Gedicht zu lesen. Wenn aber und wie wird aus diesen vermischten Sagen und Abentheuermaͤhr- chen so verschiedner Voͤlker in so verschied- nen Gegenden und Umstaͤnden ein Ilias, eine Odyssee erwachsen, die Allem gleich- sam den Kranz raubte, und jetzt als Sage der Sagen gelte? Dazu gehoͤrt viel; insonderheit aber daß die Sprache und der Witz der Euro- paͤischen Voͤlker einigermaßen verfeinert werde, daß Voͤlker mit einander in Ver- bindung oder in Wettkampf gerathen, da- durch sie einander verstehen lernen, endlich daß, wenns seyn kann, hier oder da ein Homer aufkomme, dem alle horchen. Aeußerst schwer und langsam konnte diese Aufgabe aufgeloͤset werden, da Einestheils die Voͤlker durch Stammesvorurtheile und Leidenschaften blind getrennt, anderseits die Sitten so grob oder verderbt waren, daß schwerlich ein Lorbeerbaum fuͤr ganz Euro- pa sprossen konnte. Tapferkeit und Witz sind nicht immer beisammen; eben so sel- ten sind es Witz und Klosterandacht, wie die Esels- und Narrenfeste, das Hez, Sir Ane, Hez, und andre Anstalten zeigen. Wenn in die Sprachen Europa's Bildung, in seine Sitten Geschmack, in seine Poesie Unterhaltung kommen sollte, so mußten diese anderswoher kommen, als vom Waffenplatz und aus dem Kloster. Sie mußten aus einer Gegend kommen, wo ein fremder Um- gang etwas anders als den bloßen Moͤnchs- und Klostergeist zeigte. Kurz — Spanien war die gluͤckliche Gegend, wo fuͤr Europa der erste Funke einer wie- derkommenden Cultur schlug, die sich denn auch nach dem Ort und der Zeit gestalten mußte, in denen sie auflebte. Die Ge- schichte davon lautet wie ein angenehmes Maͤhrchen. Spanien naͤmlich, so sagt die Geschichte, hatte unter der Herrschaft der Mauren eine sehr bluͤhende Gestalt gewonnen; mit dem Ackerbau, dem Fleiß, dem Handel, waren in ihm mehrere Wissenschaften und Kuͤnste, unter diesen auch die Dichtkunst cultivirt worden. Die Maurische Galan- terie hatte sich unter dem schoͤnen Himmel von Granada , Murcia , Andalusien veredelt; glaͤnzende Ritterspiele waren im Gebrauch, an denen als Preisaustheilerin- nen auch die Damen Theil nahmen. Ohne Zweifel war die Nachbarschaft dieses gebil- deten Volks mit andern eine Ursache, daß unter dem gleichschoͤnen Himmel von Va- lenzia, Catalonien, Arragonien und den suͤdlichen Provinzen Frankreichs sich die so- genannte Provenzal - oder Limosini - sche Sprache auch aus der Barbarei riß und eine frische Bluͤthe, die provenzali - sche Dichtkunst hervorbrachte. Von Valenzia an uͤber die Inseln Majorka, Minorka, Ybiza, uͤber Arragonien und Katalonien, jenseit der Alpen uͤber die Provence , Languedoc , Guienne , das Delphinat , bis nach Poiton hin- ein erstreckte sich diese Sprache, die nach damaligen Zeitumstaͤnden allgemach die ge- bildetste in Europa ward In Crescimbeni istoria della volgar Poesia, in Velasquez - Diez Geschichte der Spanischen Dichtkunst und denen daselbst angefuͤhrten Schriften, in mehreren Abhand- lungen des um die Provenzalen sehr verdien- ten Curne de St. Palaye in der Academie . Regierende Fuͤrsten und Grafen, Ritter und Edle von jedem Range sahen es als eine Ehre an, sie an ihren Hoͤfen und in ihren Schloͤs- sern, die kleine Hoͤfe waren, zierlich zu sprechen. Die Damen nahmen daran Theil, nicht nur als Richterinnen und als der vielfaͤltige Gegenstand der Gedichte, son- dern zuweilen auch als Dichterinnen selbst. Die Provenzal-Poesie ward das Organ des galanten Rittergeistes in allen Zweigen seiner Denkart . Man be- sang die Liebe und warf Fragen der Liebe auf, die in sogenannten Corte d'amore verhandelt wurden; man nannte ihre Vers- art Tenzonen . Kleine und große Aben- theuer, Begebenheiten des Lebens und der der Aufschriften, Millots histoire des Troubadours, Abbt Andrès storia d'ogni literatura T. I. II. kann man sich uͤber diese merkwuͤrdige Erscheinung weiter belehren. Sie ist die Morgenroͤthe der neueren Eu- ropaͤischen Cultur und Dichtkunst. Geschichte, auch geistliche Dinge wurden in Canzonen , Villanesca 's und an- dern Gedichtarten besungen, unter welchen man die Satyren Sirventes nannte. Auch Lehre und Unterricht trug man in mancherlei Einkleidungen vor; ja es ereig- neten sich keine Haͤndel der damaligen Zeit, die an großen Ereignissen und Verwirrun- gen sehr reich war, an denen hie und dort nicht irgend ein Provenzal Antheil genom- men haͤtte. Kreuzzuͤge und andre Kriege, Vererbungen der Reiche und Schloͤsser, Sitten der Fuͤrsten, der Damen, der Geist- lichkeit, der Paͤbste selbst; alles beruͤhrte diese Dichtkunst, oft mit einer kuͤhnen Frei- heit. Finder , Trobadoren nannten sich die Dichter, die vorher in der baͤuri- schen Roͤmersprache Fatisten (Macher, faiseurs ) geheißen hatten. Ihre Kunst hatte den Namen der froͤhlichen Wis - senschaft (gay saber, gaya ciencia) so wie auch ihr entschiedner Zweck froͤhliche angenehme Unterhaltung war. Der erste Garten, wo diese Blume auf- sproßte, war vielleicht der Hof zu Bar - cellona ; sehr bald aber muͤssen andre ge- folgt seyn: denn der aͤlteste Provenzaldich- ter, den wir haben, Wilhelm der neun- te, Graf von Poitou , Herzog von Aqui - tanien , am Ende des eilften und im An- fange des zwoͤlften Jahrhunderts, sang schon in einer zur Poesie voͤllig gebildeten Spra- che. Auch in Gallicien, Castilien, Portu- gal finden sich zu eben dieser Zeit aͤhnliche Uebungen der Verskunst ohngefaͤhr in dem- selben Gedankenkreise. Die sogenannten Jeux floraux aber, eine Blumengesell - schaft , wo der Preis der Dichtkunst ein goldnes Veilchen war, ist von weit spaͤ- terem Datum. (1324.) Ihre Stifterinn war Clemenzia Isaura , Graͤfin von Toulouse . Man hat uͤber den Ursprung des Reims viel gestritten, und ihn bei Nordlaͤndern und Arabern, bei Moͤnchen, Griechen und Roͤmern gesucht; mich duͤnkt mit unnoͤthi- ger Muͤhe. Man koͤnnte uͤber ihn das be- kannte Kinderspiel mit dem Motto: „alles was reimen kann, reimt“ spielen. Moͤnche reimen, Otfried reimte, die Araber reimen, Mahomed im Koran, der Engel Gabriel reimt; der alte Lamech vor der Suͤndfluth reimte. Aber Griechen und Roͤmer in ih- ren schoͤnsten Zeiten vermieden die Reime und suchten einen fortgehenden, hoͤheren Wohlklang. Die Trobadoren, die in jedem Innern die Poesie der Araber nicht nach- ahmen konnten , sondern sich eine Poesie, wie sie ihnen ihr Zeitgeist , ihre Spra - che und das naͤhere Vorbild der latei - nischen Moͤnchspoesie gab, finden mußten; sie mußten reimen, ja sogar in die Mannichfaltigkeit gereimter Versarten einen großen Theil der An - muth ihrer Poesie legen, weil sie ihrer Zeit und Sprache nach nichts Anders thun konnten. Die Limosinische Mundart, wie jedes andre Kind der lingua rustica Ro- mana wußte vom Rhythmus der alten Roͤmerpoësie ganz und gar nichts; also konnten die Provenzalen ihre Verse nicht nach der Grammatik der Alten scandiren; sie accentuirten sie, wie Spanier, Portu- giesen, Italiener und Franzosen noch bis jetzt ihre Verse accentuiren, solche daher auch nicht nach einer eigentlichen Quantitaͤt der Sylben, sondern zur artigen , ver - staͤndigen Declamation einrichten Dieser Unterschied zwischen der alten Pros- odie, von dem viele keinen deutlichen Begriff . Diese accentuirte Declamation ward eine eigne Kunst, auf welche sich die Rhapso- den der damaligen Zeit, die auch Erzaͤhler hießen, (Conteours,) legten. Mit den Ge- dichten der Trobadoren reiseten sie an den Hoͤfen umher, und begleiteten sie theils mit einem Instrument, theils mit Gebehr- den; daher man sie auch Jongleours, (Jo- culatores) Musars, Comirs Plaisantins haben, und der doch zum Unterschiede der alten und neuen Poesie viel beitraͤgt, ist am besten in Isaak Voß bekannter Abhandlung de cantu veterum (uͤbersetzt in der Samm - lung vermischter Schriften Th. I. Berl. 1759.) in des Abbt Du Bos Betrach- tungen uͤber Poesie und Malerei, in Mura - tori Abhandlung de rhythmica Veterum poesi (Antiqu. Ital. med. aevi T. III. p. 664.) sonst aber auch in Klopstocks u. a. grammatischen Schriften vorgetragen, wie er denn zur Prosodie jeder neueren Sprache ge- hoͤret. Siebente Samml. F nannte. Sie unterhielten die Gesellschaft mit Liedern und Erzaͤhlungen, den bekann- ten fabliaux vergangner und damaliger Zeiten, bis sie es zuletzt so arg machten, daß sie von mehreren Hoͤfen verbannt wur- den. Die urspruͤngliche froͤhliche Wissen - schaft (gaya ciencia) ging also von Ar- tigkeiten des Gespraͤchs, von Fragen und Unterredungen, von einer angenehmen Un- terhaltung aus; auch in Sonnetten der Liebe, im Lobe und im Tadel, ja bei je- dem Inhalt blieb dieser Charakter den Pro- venzalen; ein hoͤherer poëtischer Ton war ihnen ganz fremde. Also mußte das an- genehme und mannichfaltige Spiel der Rei- me, an welche damals in geistlichen und Volksliedern das Ohr gewoͤhnt war, den Mangel des hohen lyrischen Wohlklanges und Rhythmus der Alten, von dem ihre Sprache und ihr Organ nicht wußte, er- setzen. Jede Versart bekam ihre Strophe, d. i. ihren abgemessenen Perioden der De- clamation in einer angewiesenen Ordnung und Art der Reime; in welcher Wissen - schaft eben die Kunst der Trobado - ren bestand. Und so haben wir die Ge- stalt der neuern Europaͤischen Dichtkunst, sofern sie sich von der Poesie der Alten un- terscheidet, auf einmal vor uns. Sie war Spiel , eine amusirende Hofvers - kunst in gereimten Formen , weil der damaligen Sprache der Rhythmus und der damaligen Denkart der Zweck der Poesie der Alten fehlte. Sie war ein Hofgarten, in dem hier ein Baum zum Sonnet, dort zur Tenzo- ne, zum Madrigal u. f. kuͤnstlich ausgeschnit- ten ward; eine hoͤhere Gartenkunst war dem Geschmack der damaligen Zeit fremde. — F 2 85. G luͤck also zum ersten Stral der neueren poetischen Morgenroͤthe in Europa! Sie hat einen schoͤnen Namen: die froͤliche Wissenschaft , (gaya ciencia, gay saber;) moͤchte sie dessen immer werth seyn! Wir wollen uns nicht in den Streit einlassen, ob die Spanische oder Limosinische Sprache die ersten Dichter gehabt? ob in dieser dies- oder jenseit der Pyrenaͤen fruͤher und gluͤck- licher gedichtet worden? Ich ruͤcke diese Briefe hier ein, weil der so lange gefuͤhrte Streit uͤber den Antheil, den Die Erschei- nung selbst, daß an den Grenzen des Ara- bischen Gebiets sowohl in Spanien als in Sicilien fuͤr ganz Europa die erste Aufklaͤrung begann, ist merkwuͤrdig und auch fuͤr einen großen Theil ihrer Folgen entscheidend. Unlaͤugbar ists naͤmlich, daß die Ara- ber in ihrem weiten Reiche, das sich von China bis Fez , von Mosambique bis fast an die Pyrenaͤen erstreckte, Sprache die Roͤmer, die Araber, die Normaͤnner u. f. an der Bildung unsres Geschmacks und unsrer Literatur haben, noch nichts weniger als bei- gelegt ist. Warton z. B. in der Geschichte der Englischen Dichtkunst, Thyrwitt in seinen Anmerkungen zu Chaucer , Artea - ga in der Geschichte der Italiaͤnischen Oper, Andrès in der storia d'ogni literatura u. f. sind noch weit aus einander; und doch liegt alles Material so nahe beisammen vor uns. A. d. H. und Wissenschaften, Handel und Kuͤnste sehr cultivirt hatten. Wie anders nun, als daß in Spanien, wo ein Hauptsitz dieser Cul- tur war, wo Jahrhunderte lang die Chri- sten mit ihnen in Streit oder ihnen unter- wuͤrfig gelebt hatten, neben diesem hellen Licht nicht ewig und immer die Dunkelheit verharren konnte? Es mußten sich mit der Zeit die Schatten brechen; man muß - te sich seiner schlechten Sprache und Sit- ten, der ungebildeten Rustica schaͤmen ler- nen, und da die meisten Spanier Arabisch konnten, auch eine unsaͤgliche Menge ara- bischer Buͤcher und Anstalten in Spanien Jedermann vor Augen war: so konnte es ja nicht fehlen, daß jeder kleine Schritt zur Vervollkommnung auch unvermerkt nach diesem Vorbilde geschah. Was sie nicht hatte, konnte die Moͤnchspoesie nicht geben; Gegentheils konnte und wollte auch die Provenzalpoesie nicht nachahmen, was bei den Arabern fuͤr sie nicht gehoͤrte, Mahomeds Lehre , so wenig einst die Araber den Homer und die griechische Mythologie hatten aufnehmen moͤgen. Aber was sich aufnehmen ließ, der Ge - nius des Werks , die Arabische Denk - und Lebensweise ; sie sind in den Versuchen der Provenzalen, (diese moͤ- gen schlecht oder gut seyn,) wie mir duͤnkt, unverkennbar. Bei welch anderm Volk in Europa wa- ren poetische Fragen und Antwor - ten in Gebrauch, als bei den Arabern? Es wurde Kunst und Lebensart darinn ge- setzt, auch unvorbereitet witzig in gereim - ten Versen zu antworten Zahlreiche Proben und Nachrichten hieruͤber finden sich in Herbelots morgenlaͤndischer . Daher also die Fragen und Antworten der Liebe bei den Provenzalen. Welch andres Volk in Europa hielt die Sprache fuͤr Eins sei- ner edelsten Heiligthuͤmer und feierte Wett- kaͤmpfe des schoͤnsten poetischen Ausdrucks in ihr? Kein andres, als die Araber; die angrenzenden Christen, beschaͤmt uͤber ihre Rohheit, zuerst vielleicht auch nur aus Nachahmungssucht, folgten ihnen nach. Ihre Großen und Edlen thaten aus Mode, was die Araber seit Jahrhunderten aus Trieb und aus Nationalstolz gethan hatten, sich der Wissenschaften anzunehmen und in der Sprache der Dichter selbst zu glaͤnzen. Bibliothek, W. Jones commentar. de Poesi Asiat., Richardsons Vorrede zu seinem Persischen Woͤrterbuch (uͤbersetzt Leipz. 1779.) Andrès storia d'ogni letteratura aus Ca - siri , ja in der Geschichte der Araber selbst. A. d. H. Welch andres Volk in Europa verband in seinen Vorstellungen Tapferkeit , Liebe und Andacht , wie die Araber? Von den aͤltesten Zeiten an war es bei ihnen die gewoͤhnliche Regel eines Gedichts, von Gott und vom Propheten anzufangen, sodann der Liebe ihren Zoll zu entrichten, und darauf gegen Freund oder Feind seine Tapferkeit zu bezeugen. Wie uͤbel auch oft diese Stuͤcke zusammenhingen; es war das angenommene poetische Gesetz , dem sich, wiefern es Religion und Sitte erlaubte, nun auch die Christen bequemten. Die festgesetzten Gattungen der Poesie der Araber, Preis und Tadel, Frohlocken und Klage, Liebe und Haß, Lehre und Beschrei- bung wurden auch hier der Inhalt ver- schiedener Gesangesarten; selbst die Pros- odie der Provenzalen ward nach der blos accentuirten und declamirten arabischen Verskunst, in welcher der Reim unentbehr- lich war, eingerichtet. Hoͤren Sie daruͤ- ber das Zeugniß des vielleicht gelehrtesten Arabers, den unsre Nation gehabt hat, Reiske : Neuer Buͤchersaal, Th. 10. S. 220. u. f. „Die alleraͤltesten Schriften der Araber sowohl in gebundner als freier Rede sind in Reimen abgefaßt. Die Art ohne Reime zu reden und zu schreiben, ist neuer als jene. Noch heutiges Tages pflegen sie auch in ihren ungebundenen Schriften , wenn sie recht schoͤn schreiben wollen, den Reim beizubehalten, so daß sie, wenn sie einen Reim drei- vier- oder mehrmal wiederholt haben, alsdann einen andern vor die Hand nehmen, und es mit diesem eben so machen, und dann wieder- um einen andern. Auf diese Weise ist der ganze Hariri geschrieben, der fuͤr den Cicero der Araber gehalten wird; im- gleichen des Tamerlans Arabische Lebens- beschreibung.“ „In der Poesie sind ihre aͤltesten Stuͤcke gereimt. Die alten Araber uͤbten sich auch sogar ihre haͤuslichen und vertraulichen Ge- spraͤche in Reimen vorzutragen. So hat man ein noch vor dem Muhamed ver- fertigtes, etliche achtzig bis neunzig Verse langes Gedicht, das ein gewisser Haretsch Ben Helza ohn' einiges vorhergegangnes Bedenken, sich auf seinen Bogen lehnend, hergesagt hat. Die Uebung hierinn muß bei ihnen sehr groß gewesen seyn.“ „Wie die erste Haͤlfte des Verses sich schließt, schließt sich auch die andre Haͤlfte eben desselbigen Verses; und wie sich der erste Vers in der Mitte und am Ende en- digt, so endigen sich auch alle andre fol- gende, wenn ihrer auch noch so viel waͤ- ren, bis zwei- dreihundert und noch mehr. Doch pflegen sie ihre Gedichte so lang nicht zu machen. Schon zu Christi Zeiten und kurz hernach muͤssen sich die Araber der Reime bedient haben, weil ihre Dichtkunst schon einige Jahrhunderte vor Muhamed vollkommen gewesen und nicht die geringste Spur von einem Reimlosen Gedicht bei ih- nen gefunden wird; es sei lang oder kurz, heroisch oder jambisch. Doch sind ihre jam- bischen Gedichte so beschaffen, daß sie den einmal gefaßten Reim nicht bestaͤndig bei- behalten, welches sonst ein wesentliches Er- forderniß der heroischen Gattung ist; son- dern sie wechseln mit dem Rhythmus ab, beinahe wie wir. Haben sie Einen Rhyth- mum drei- viermal wiederholt, so fallen sie auf einen andern.“ U. f. — Ich glaube nicht, daß die Erbauung der Sonnette, Madrigale und andrer Versarten der Pro- venzalen ihrem Ursprunge nach einer hel- lern Erklaͤrung faͤhig sei oder beduͤrfe, als dieser. Urspruͤnglich waren sie eine Art gereimter , oft aus dem Stegreif gereimter Prose ; die meisten Poesieen der Provenzalen sind offenbar nichts an- ders. Daß viele unsrer Poesieen diesen Ara- bischen Schmuck noch an sich tragen, wis- sen wir alle; wenige aber wissen den Ur- sprung dieser Fesseln, daß ein Volk naͤm- lich sich dieselbe aus Uebermuth der Be- geisterung sogar im gemeinen Leben ange- legt, und damit so leicht umzugehen ge- wußt habe, daß es lange Reden durch so- gar Einen und Denselben Reim beibehal- ten konnte. Auch bei den Provenzalen war es in mehreren Sylbenmaaßen offenbar aufs oͤftere Wiederkommen desselben Reims angesehen, womit denn weder unser Ohr noch unsre Sprache sonderlich zufrie- den seyn duͤrfte. Wenige wissen es, daß die Poesie der Araber zwar leidenschaftlich und Bildervoll, nicht aber im besten Ge - schmack abgefaßt war Proben davon geben W. Jones commentar. de Poesi Asiat. und alle von ihm und andern bekannt gemachten Poesieen der Araber. An Leidenschaft und Bildern sind sie reich; ihr Geschmack aber in Composition dieser Bilder ist von dem unsrigen ganz verschieden. ; daher auch schon die Provenzalen von diesem ganz und gar Asiatischen Geschmack sehr abgehen mußten. Da ihnen nun mit der Leidenschaft und dem Scharfsinn dieses fremden Volks auch dessen ausgebildete Sprache fehlete; was Wunder, daß ihnen oft nur die Form des Gedichts, angenehm wiederkommende Schaͤlle uͤbrig blieben, in die sie das Wesen der Dichtkunst setzten? Diese sollte ja nur Un - terhaltung in einer angenehm-gereim- ten Prose seyn und bleiben. Ganz anders wird die Sache fuͤr uns, die wir einen artigen Umgang in haͤus- lichen und vertraulichen Gespraͤchen nicht eben in Reime setzen, uns auch von Ju- gend auf nicht geuͤbt haben, sinnreich ex tempore zu reimen. Einzig in der Poesie haben wir diese alte arabische Hoͤflichkeit beibehalten, das Ohr unsrer Freunde mit Reimen zu vergnuͤgen Rhythmi cum alliteratione avidissimae sunt aures Arabum. In florilegio hoc (Elnawa- big vel Ennawawig, quod vocabulum de- signat scaturientes partim poëtas, partim versus vel rhythmos nobiliore quadam ve- na se commendantes) linguae Arabicae ge- nius egregie relucet, nativum que illum . Und dennoch wuͤrde auch das Reimsuͤchtigste Ohr es sich verbitten, wenn wir wie die Araber den - selben Klang oder Endbuchstaben einige hundertmal wiederkommen ließen und in heroischen Gedichten unsern Helden durch Einen Reim zehntausendmal wiederkom- mend priesen. Fuͤge ich nun zu dieser Reimgalan - terie der Araber noch das andre Ge- schenk hinzu, damit sie (andre Nationen nicht ausgeschlossen) die Poesie der Euro- paͤer beschenkt haben, jene Phantome Asiatischer Einbildungskraft naͤm- lich, cernere licet characterem , qui per rhyth- mos et alliterationes mera vibrat acumina . Schultens in der Vorrede zu Erpenius Arabischer Grammatik. Mich duͤnkt, weder unsre Sprache noch unsre Nation habe die- sen angebohrnen Witzsprudelnden Reimcharak- ter. A. d. V. lich, die vom Berge Kaf uͤber Afrika und Spanien, uͤber Palaͤstina und die Tatarei zu uns gekommen sind; gewiß, so sind wir ihnen wie in der Chemie und Arznei- kunst so auch in der Dichtung viele ge - brannte Wasser schuldig. Siebente Samml. G 86. D en Reim lasse ich unsrer Poesie nicht nehmen; vielmehr zeigt der bemerkte Ur - sprung desselben zugleich auch seine gluͤck - lichste Anwendung . Er gehoͤrt 1. Fuͤr Kirchen - und andre Volks - lieder . Umsonst fuͤhrten ihn nicht die heiligen Vaͤter von Ambrosius an in ihre Choͤre und Hymnen ein. Der gute Prudentius ging ihm noch aus dem Wege; Sedulius , Fortunatus u. f. gebrauchen ihn schon haͤufig, ohne ihn von den Arabern gelernt zu haben. Sie wuß- ten, was fuͤrs Volk gehoͤre. Zuletzt ward er insonderheit in den lateinischen Liebes- gesaͤngen so uͤberfließend gebraucht, als ihn wohl kein Araber gebraucht hat. 2. Denkspruͤche fuͤrs Volk klin- gen in Reimen praͤchtig! Daher die Macht unsrer gereimten Spruͤchwoͤrter, unsrer al- ten Oden und Alexandriner. Ein beruͤhm- ter Dichter hat von einem ungezwungenen Reim gesagt: „Er stuͤtzt und hebt die Harmonie; und leimt die Rede ins Gedaͤchtniß.“ Dies ist wahr. Wohlgereimte Sentenzen sind Machtspruͤche; sie tragen im Reim das Siegel der ewigen Wahrheit. Von An- fange der Welt an hat man Raͤthsel und Denkspruͤche gereimet. 3. Lebhafte Antworten sind fuͤr den Reim, nicht nur in Arabien, sondern bei allen Voͤlkern. Vom Franzoͤsischen Thea- G 2 ter werden Sie sich solcher unerwarteten Ausgaͤnge gnug erinnern; aus Epigram- men, wohin sie eigentlicher gehoͤren, noch mehrere. Es ist ein Fehler des Versifica- tors, wenn er um Einen gluͤcklichen Reim zu erhaschen fuͤnf ungluͤckliche vorhergehn oder folgen laͤßt But those that write in rhyme still make The one verse for the other's sake; For one for sense and one for rhyme I think sufficient for a time. Buttler's Hudibras P. II. C. I. ; ein solcher ist kein Haretsch Ben Helza , der auch im Staatsrath seines Koͤniges sein Votum fuͤr den Krieg in donnernden Reimen hinstellte. 4. Es giebt mehrere Gattungen an - genehmer Conversationspoesie , die ohne Reimen nichts sind. Der gesuchte, so wie der ungesuchte, der versteckte so wie der klingende Reim sind in ihnen Kunst- maͤßig geordnet. Man sollte sie Arabes - ken nennen: denn eben auch den Arabern galt der Reim fuͤr ein Siegel des vollen- detsten Ausdrucks. 5. Endlich muͤssen Sie der Gewohn - heit nachgeben und Sprachen sowohl als Dichtern erlauben, sich auf ihre Art zu vergnuͤgen. Diesem Dichter ist der Reim ein Steuer, jenem ein Ruder der Rede; ohne ihn litte jenes poëtische Fahrzeug Schiffbruch, dieses strandete auf dem nie- drigsten Sande For Rhyme the rudder is of verses, With which, like ships, they steer their courses. Buttler. . Einem andern Versi- ficator ist er noch etwas Wertheres, ein Erwerbmittel der Gedanken; wollten Sie ihm also mit dem Reim seine hyperusische Nahrung nehmen? Einem Dritten ist der Reim eine Werb-Trommel, Bilder zu ver- sammeln; zwar kommen die Geworbenen oft etwas bunt zusammen, aber was scha- dets? Desto staͤrker fallen sie ins Auge. Nehmen Sie Pope , Cowley und ihren fuͤnf Bruͤdern den Reim; so haben Sie ihnen Moses und die Propheten genom- men; wen sollen sie fuͤrder hoͤren? Neh- men Sie der Franzoͤsischen Sprache den Reim — hoͤren Sie, was daruͤber ihre eigne Autoren sagen: Nos Vers affranchis de la rime ne pa- roissent differer en rien de la Prose. Prevot. Je n'ai garde de vouloir abolir les ri- mes; sans elles notre versification tomberoit. Fenelon. Les Italiens et les Anglois peuvent se passer de rime, parceque leur langue a des inversions et leur poesie mille liber- tés qui nous manquent. Chaque langue a son genie; le genie de notre langue est la clarte et l'elegance: nous ne permet- tons nulle licence à notre Poesie, qui doit marcher comme notre Prose dans l'ordre precis de nos Idees. Nous avons donc un besoin essentiel du retour des mêmes sons pour que notre Poesie ne soit pas confondu avec la Prose . Voltaire. Nos sillabes ne peuvent produire uno harmonie sensible par leurs mesures lon- gues ou breves; la rime est donc neces- saire aux vers Francois. Voltaire. Hier sind klare Bekenntnisse; schonen Sie also in mehr als Einer Sprache der Reime, dieser unschuldigen Kinder. Auch bei uns gehoͤren rime und raison zusam- men, wie bei den Arabern. Ungereimt ist uns, was — sich nicht reimet. Nachschrift . Ernsthaft gesprochen, laͤßt sich an die- sem Ursprunge der Europaͤischen Cultur in Vergleich mit der Poesie der Alten noch Manches bemerken. 1. Bei den Griechen war Poësie mit der Sprache entstanden; jene hatte diese gleichsam von innen heraus gebildet; ehe schriftstellerische Prose entstand, war Ge- sang und Poesie — gewesen. In der li- mosinischen Sprache, so wie in allen ihren Schwestern hatte man nicht nur laͤngst Prose gesprochen, ehe man durch Versarten mit abgezaͤhlten Sylben und Reimen diese gemeine Sprache (lingua volgare) zu ver- edeln suchte; sondern die Vulgarpoesie selbst sollte eine gereimte , cadenzirte , schoͤ - nere Prose seyn und bleiben. Die Syl- benmaaße der Alten fanden in ihr nicht Platz , weil sie eigentlich blos von der Conversation ausging, und auf diese hinfuͤhrte. 2. Die Poesie der Alten hatte in ihrem Ursprunge viel mehr Wichtigkeit, Zweck und Anlage in sich, als diese neuere haben konnte. Vor Erfindung der Schreibekunst vertrat Jene die Stelle aller Wissenschaft; sie war die Sprache der Goͤtter, der Gesetzgeber und Weisen; was der Nachwelt wuͤrdig geachtet war, ward in sie gelegt, daher auch von ihr fast jede Wissenschaft ausging. In Europa war alles anders. Die Spra- che des Heiligthums war und blieb die lateinische , in welcher sich denn auch lange Zeit hin die Wissenschaften fortge- bildet haben; die Vulgarpoesie wollte we- der gelehrt noch andaͤchtig, sondern un - terhaltend seyn. In allen Sprachen, denen die Provenzalpoesie den Ton gab, ist dies ihr Hauptcharakter geblieben. 3. Dagegen aber ward Etwas, wor- auf die Poesie der Alten ihre Segel nicht hatte richten doͤrfen, dieser Poesie Ziel und Zweck, naͤmlich Freiheit der Gedan - ken . Durch die Provenzalpoesie und durch das was sie hervorbrachte, so viel oder wenig es war, ward zuerst das Joch zer- brochen, das alle Voͤlker Europa's unter dem Despotismus der lateinischen Spra - che festhielt; und damit war viel gesche- hen. Sollten Europa's Voͤlker denken ler- nen, so mußten ihre Landes-Sprachen gebildet werden; sie mußten in ihrer Volks- sprache witzige, sinnreiche, anmuthige Dinge hoͤren, an denen sich ihr Verstand schaͤrfte. Wenn dieses zuerst auch nur in den obern Staͤnden und auf eine sehr unvollkommene Weise geschah; so gelangte es doch bald weiter. Mit Fragen der Liebe fing man an; zu weit wichtigern schritt man fort; die mittleren Zeiten haben manche Dinge sehr scharf und rein eroͤrtert. Mit Erzaͤh- lungen fing man an, und wußte in sie ein- zukleiden, was man nackt nicht sagen dorf- te; ja was die Erzaͤhlung nicht sagte, ge- sticulirte das rohe Schauspiel. Den besten Erweis, daß durch die Ausbildung der Pro- venzalsprache fuͤr ganz Europa Freiheit der Gedanken bewirkt worden, zeigt die in ihr entstandene erste Reformation , die sich von den Pyrenaͤen und Alpen nach- her in alle Laͤnder verbreitete. In dieser Sprache naͤmlich wurde die edle Unter - weisung (la noble leyçon) der erste Volks- und Sittenkatechismus geschrieben; in sie wurde zuerst die Bibel uͤbersetzt; in ihr das apostolische Christenthum erneuert. Mit großem Muth ging sie den Aerger- nissen der Klerisei entgegen, und hat wie den poetischen Lorbeerkranz, so auch unsaͤg- licher Verfolgungen wegen die Maͤrtyrer- krone der Wahrheit fuͤr ganz Europa ver- dienet. Sind wir den Provenzalen und ihren Erweckern den Arabern nicht viel schuldig? Mehrere Nachrichten hieruͤber giebt die Ge- schichte der sogenannten Waldenser, Albigen- ser, bons hommes, u. f. deren verschiedne Na- men sowohl als erlittene grausame Verfolgun- gen bekannt sind. In Legers Geschichte der Waldenser sind ihre in der Provenzalsprache geschriebene Schriften angefuͤhrt; ausfuͤhrli- chere Nachricht giebt die hist. generale de Languedoc, T. III. Des Wiklif , mithin auch Huß und Luthers Reformation han- gen mit dieser ersten Insurrection gegen den herrschenden Clerus zusammen, wie die feine- re Cultur in Europa mit den ersten Versu- chen der provenzalischen Dichtkunst. A. d. V. 87. Viertes Fragment Einfluß der Provenzalen in die Euro- paͤische Cultur und Dichtkunst. D ie Verskunst der Provenzalen ging auf alle benachbarte Nationen uͤber; ja sie ist das Vorbild der Poesie aller suͤdlichen Voͤlker Europa 's, in manchem sogar der Englaͤnder und Deutschen worden: denn mit den Kaisern aus dem Schwaͤbi- schen Hause kam die provenzalische Dicht- kunst auch nach Deutschland. Die Min - nesinger sind unsre Provenzalen. Zu Dante 's Zeiten waren schon sie- ben Gattungen dieser Verskunst in der Ita- liaͤnischen Sprache, Sonnet, Ballade, Can- zone, Rodondilla, Madrigal, Servente, Stanze; sie haben sich seitdem zahlreich vermehrt, vielfach veraͤndert; immer aber ist die Italiaͤnische Sprache jenem Richt- maas treu geblieben, das zu Dante , Boccaz und Petrarka Zeiten die Pro- venzalpoesie ihr anwies. Die Sylbenmaaße der Griechen und Roͤmer, so oft sie ver- sucht worden, haben in Italien, Spanien und Frankreich ihr Gluͤck nie machen moͤ- gen. Nun muͤßte es wohl ein sehr barbari- sches Ohr seyn, das nicht, zumal unter jenem Himmel, die Musik dieser Versarten fuͤhlte. Der weitverhallende Wohlklang einer regelmaͤßigen Italiaͤnischen oder Spa- nischen Stanze, die schoͤn verschlungene Harmonie eines vollkommenen Sonnets , Madrigals , oder einer vortreflichen Canzone , die abwechselnde leichte Melo- die einer schoͤnen Canzonette , Rodon- dilla oder Seguidilla toͤnt so anmuthig; der Tanz ihrer Sylben ist so aͤtherisch, daß ihn unsre deutsche Sprache, die ein ganz andrer Genius belebet, vielleicht auch nicht nachahmen sollte. Die Poesien so vieler Lyrischen und Epischen Dichter in Italien und Spanien sind gleichsam so viel Hespe- rische Zaubergaͤrten, wo die Baͤume singen, und an jedem Zweige des singenden Baums ein Gloͤckchen toͤnet. Die Poesie der Alten singt nicht also; aber das Rauschen des Baumes selbst, das Wehen seiner Zweige im zartesten Sproͤßling ist begeisternd, ist heilig. So im Aeußern; ists aber auch anders, wenn man die Poesie der Italiaͤner mit den Alten im Innern vergleichet? Neh- met z. B. ein Sonnet, ein Madrigal, eine Canzone, eine Stanze, und fuͤhret sie auf Formen der Griechen und Roͤmer zuruͤck. Hier, findet man oft, mußte der Ausdruck des Gedankens gedehnt, dort die Empfin- dung gelaͤngt und geweitert werden. Ein- schiebsel und fremde Zusaͤtze mußten zu Huͤlfe kommen, um ein regelmaͤßiges Son- net, ein klingendes Madrigal zu werden; als ein Epigramm , als ein Bild (ειδος) und Skolion der Alten wuͤrde Alles in natuͤrlichem Maas einfacher und reiner dastehn. — Eine Canzone oder Ode der Italiaͤner mit Pindar oder Horaz vergli- chen, hat, wie es uns Deutschen scheint, viel Declamation, viel prosaische, redneri- sche Schoͤnheit. Wie anders? Auf diese schoͤne schoͤne gereimte Declamation war die Can- zone angeleget. Die Stanzen, (ottave rime) sind hallende Kammern; Anspielung auf das Wort Stanza, das ein Zimmer, eine Kammer bedeutet. A. d. H. jede Abtheilung in ihnen, zuletzt der Schluß jeder Stanze, (il clave) haͤlt uns melodisch an, damit er uns weiter fortfuͤhre. Vortreflich. Aber der Hexameter der Alten ist ein langer uner- meßlicher Gang, wo nichts uns aufhaͤlt; wir wandern ungestoͤrt fort, und haben den Blick immer am Ziele. So koͤnnte man mehr vergleichen; wozu aber die Ver- gleichung, wenn sie den Genuß stoͤret? Die Poesie der Italiaͤner ist, was sie ihrem Ursprunge nach seyn wollte, Unterhal - tung , accentuirte Conversation ; das ist ihr Standpunkt. Ein Sonnet, ein Siebente Samml. H Madrigal wird adressirt; eine Canzone wird abgesandt und bekommt am Schluß eigne Verse als ein Creditiv mit, ein Siegel der Sendung, (il commiato della Canzone.) Ariost schrieb seinen unsterblichen Orlan - do , daß er in Gesellschaften gelesen wer- den, daß er als ein Fabelbuch angenehm unterhalten sollte. Dazu schrieben Ber - nardo Tasso , Fortinguerra , Tas - soni , Marino , und jene unzaͤhlbare Schaar Italiaͤnischer lustiger Dichter. Wenn Torquato nebst wenigen andern sich hoͤher erhob, so erhebt ihn der Inhalt seines Gedichtes; im Ganzen aber verfolgt er den Zweck aller seiner Bruͤder. Ob diesen Zweck jede dieser Poësieen erreicht habe? daruͤber kann kein Auslaͤn- der entscheiden; indessen scheinets. In Italien sind die Sonnette eigentlich nichts als feinere Anreden in einem gegebnen Ton der Gesellschaft; beinahe jeder gebil- dete Mensch macht ein Sonnet, ohne daß er deßhalb ein Dichter zu seyn sich einbil- det. Die Werke ihrer großen Dichter sind jedem Gebildeten bekannt; ihre Sprache ist ins Ohr der Nation uͤbergegangen und man hoͤrt Stellen aus Dichtern oft von Personen, von denen man sie am wenig- sten erwartet. Der gemeine Mann, das Kind sogar gebraucht Ausdruͤcke, die man diesseit der Alpen in viel andern Kreisen weder sucht, noch hoͤret. Die ganze Dichtkunst Italiens hat etwas sich Anneigendes , Freundliches und Holdes , dem die vielen weiblichen Reime angenehm zu Huͤlfe kommen, und es der Seele sanft einschmeicheln. Dagegen frei- lich steht die Poesie der Alten fuͤr sich selbst da , in schweigender Wuͤrde, in natuͤrlicher Schoͤnheit. Sie spricht und H 2 laͤßt sich sprechen; die Italiaͤnische Poesie buhlet zwar nicht, aber sie declamirt an- genehm vor; sie conversiret . Ungerecht waͤre es also, wenn man selbst bei der eigentlichen Empfindungspoesie die- ser Sprache, z. B. den Schaͤfergedich - ten , einen Maasstab gebrauchen wollte, der ihr nicht geziemet. Wie viel Unzeiti- ges z. B. ist uͤber den Aminta des Tasso , uͤber den Pastor fido des Guarini und uͤber aͤhnliche Gedichte gesagt worden! — Unsre Schaͤfer freilich, unsre Liebhaber rai- sonniren so nicht von Liebe, oder mit der Liebe; nimmt man indessen das Local der Italiaͤner, die Zeit, in welcher diese Dich- ter lebten, die einmal getroffene Arabisch- Provenzalische Convention, uͤber die Lie - be in Reimen zu conversiren , auch viele kleine Umstaͤnde der damaligen Lebens- weise zusammen: so werden uns diese mu - sikalische Liebes - Conversationen nicht nur erklaͤrlich, sondern beinahe natuͤr- lich erscheinen. Das ganze lyrische Dra - ma der Italiaͤner beruhet auf dieser Con- versation; Nationen, denen sie fremde ist, wird die ernsthafte sowohl als die komische Oper der Italiaͤner, dem eigentlichen Mo- tiv nach, immer fremde bleiben. So kommen wir dann auf das poëti- sche Meisterwerk dieser Nation, die Oper, das lyrische Drama . Wohl nirgend anders als in Italien konnte es entsprie- ßen und zugleich zu der Bluͤthe gelangen, zu welcher es zuletzt in Metastasio ge- langt ist. Er, ein Schuͤler des philosophi- schen Kenners der Alten, des Gravina , Er, dem das Gluͤck ward, hinter den Ver- diensten des Apostolo Zeno und so viel andrer großen Maͤnner in Italien und Frankreich dies Drama in einer Sprache zu bearbeiten, die zum Gesange geschaffen ist, brauchte seines Gluͤcks und erhob aus ihr alles Singbare , (cantabile) in jeder Art des Affekts, in jedem Perio- den des Recitativs, der Arien und Choͤre, zur Blume des Gesanges und Vortrags. Zeige man ein singbares Wort, das er nicht und zwar auf der besten Stelle ge- braucht, eine unsingbare Wendung, die er nicht gemildert oder vermieden haͤtte! Auch aus der menschlichen Seele, aus Fabel und Geschichte zog er jeden singbaren Ge- genstand, jede melodische Gesinnung und Empfindung auf die zierlichste Weise her- vor und wußte sie zu einem musikali - schen Sentiment im zartesten und vol- lesten Ausdruck zu bilden. Jede Arie des Metastasio ist gleichsam ein poëtisch-musi- kalischer Canon worden. Um hieher zu gelangen, welchen langen Weg hatte das Melodrama zuruͤckgelegt, seit es in rauhen Provenzalischen Canzo- nen nach Italien gekommen und von um- herziehenden Minstrels mit einer Art thea- tralischen Vorstellung verbunden hie und da gespielt war! Durch Maitaͤnze , (Mag- giolate) Carnevalesken , Choͤre mit Zwi- schenspielen u. f. hatte es einen beschwer- lichen Weg nehmen muͤssen, bis es unter der Beihuͤlfe vieler fremden Kuͤnstler, Fran- zosen, Spanier, Niederlaͤnder, Deutscher, nur zu einiger Regelmaͤßigkeit gelangte. Italienische Fuͤrsten, die Pracht und Ver- gnuͤgen liebten, hatten ihm dazu Raum und Kosten verschafft; der Geschmack der Nation in beiden Geschlechtern hatte es mit Freude empfangen; Florenz insonder- heit hatte ihm zuerst seine glaͤnzende Ge- stalt gegeben. Unwissend hatten, von Dante und Petrarca an, alle Dichter dazu gearbeitet; Tasso und Guarini mit ihren Schaͤferpoesien hatten dazu naͤher den Ton gegeben; hundert Componisten geistlicher und weltlicher Melodieen die Pforten geoͤfnet; Metastasio kam, und setzte der ganzen Gattung den Kranz auf. Indessen auch bei Metastasio denke man nicht an die Griechen; vielmehr hat vielleicht Er aufs weiteste von ihnen ver- fuͤhret, und steht wie auf einem andern Hemisphaͤr da. Bei Jenen sprach die Poesie; die Musik begleitete ihre Worte in jeder Wendung des Ganges der Rede, zwanglos. Hier mahlet die Musik, und die Worte dienen. Gesetzt daß es ihr auch gefiele, sie zehnmal dienen zu lassen, sie umher zu kreisen und wie im Spott zu wiederholen; sie tanzt ihren Tanz, und unter ihrer Herrschaft dorfte der Dichter nichts als das ihr Wohlgefaͤllige waͤhlen, Keiner Leidenschaft dorfte er tiefer nachgehn, als es die Musik ertrug und mußte sich daher uͤberall an das Weichste, das Zar- teste, die Liebe halten. Mit Verletzung jedes Costume der Zeiten und Orte sind Metastasio's Helden Schaͤfer, seine Prin- zessinnen Schaͤferinnen; erhabne Fresco- Gestalten der Geschichte werden durch ihn Miniaturgemaͤhlde des lyrischen Theaters; denn auf diese und auf keine andre Dar- stellung hat Er gerechnet. Wenn also Me - tastasio in jedem seiner Stuͤcke einen zierlichen Porcellanthurm mit klingenden Silbergloͤckchen erbauen wollte: so sollte und konnte dieser kein griechisches Odeum werden. Indessen hat auch diese Poesie ihre Zwecke erreicht. Sie ward was sie seyn wollte, ein Vergnuͤgen feinerer Seelen, die auf die angenehmste Weise in suͤßen Toͤnen sich schoͤne Gesinnungen einfloͤßen laßen und sich singend belehren. Wer sich durch eine uͤbermaͤßige Liebe dieses Dichters und dieser Kunst den Geschmack verwoͤhnt, und ihn zum Unmaͤnnlichen erweichet, der hat daran selbst die Schuld; gewiß aber wird durch Metastasio 's Gesaͤnge Niemandes Herz verderbt, vielmehr kann seine mora- lische Empfindung, wenn er sie aufwecken lassen will, erweckt und zart gelaͤutert wer- den. Kurz in allen Italiaͤnischen Dichtern ist Conversation und Gesang herr- schend; sie conversiren singend , sie singen dichtend . Der Zweig der Provenzalischen Dicht- kunst, der sich in Frankreich verbreitete, trug andere Fruͤchte. Die Franzoͤsische Spra- che, die lange nicht so sangbar war, als die Italiaͤnische, hatte desto mehrere Lust zu erzaͤhlen , und zu repraͤsentiren . Sie nahm also von ihren Provenzalen Einerseits vorzuͤglich die Contes und fabliaux auf, die bald zu großen Romanen ausgebildet wurden. Andererseits gefielen der Nation die Gebehrdenspiele der Musars, Co- mirs, Plaisantins so sehr, daß sie mit der Zeit auch Spiele der Nation wurden, aus welchen zuletzt das Franzoͤsische Thea - ter hervor ging. Wir wollen von beiden Charakterzuͤgen dieser Nation, vom Er - zaͤhlen und Repraͤsentiren , den großen Erweis der Zeiten bemerken. Muntre Erzaͤhler sind die Franzosen von jeher gewesen; das ganze Gebilde ihrer Sprache traͤgt davon den Charakter. Schon unter Philipp August reimte man Maͤhr- chen; unter Philipp dem kuͤhnen fan- den die Fabelerzaͤhler allenthalben Zutritt; zahlreiche Romane von Artus und sei- nen Rittern, von Karl dem großen und seinen Pairs, vom Amadis und so vielen andern Helden der Tapferkeit und Liebe wurden in Frankreich zwar nicht erfunden, aber ausgebildet, als die Normaͤnner die- sen Zweig der Dichtkunst bluͤhend machten. Sie verbreiteten sich nach England, Spa- nien, Italien, zuletzt nach Deutschland. In der Periode des neueren franzoͤsi- schen Geschmacks, wer waren ihre ersten Meister? Villon und Rabelais , Ma - rot und Seines Gleichen, die durch muntre Einfaͤlle und Erzaͤhlungen bleibenden Ein- druck machten; die ernsthaften Dichter gin- gen in die Vergessenheit uͤber. Frankreichs Philosoph war Montagne , der so Vie- les von sich selbst und von andern zu er - zaͤhlen wußte. Im goldnen Zeitalter Ludwigs end- lich war ein Erzaͤhler, la Fontaine, wohl das eigenthuͤmlichste Genie, dessen Grazie nicht veralten wird, so lange die franzoͤ- sische Sprache dauret. Eine zahlreiche Menge von Erzaͤhlern in jeder Gattung des Styls, prosaisch, poetisch, burlesk, komisch, war vorhergegangen und folgte. Bei Voltaire ist lustige Erzaͤhlung viel- leicht sein gluͤcklichstes Talent; die Prophe- tinn von Orleans und Guillaum Vadé gelangen ihm besser als die Henriade. Dies Talent, das in Marmontel , Di - derot , Cazotte und so vielen andern immer neue Fruͤchte gebracht hat, solche wahrscheinlich auch bringen wird, so lange ein Franzose oder eine Franzoͤsin die Lippen beweget, hat ihrer Sprache in Allem, selbst in den ernsthaftesten Wissenschaften, jene Klarheit und Nettigkeit, jene muntre Praͤ- cision gegeben, die beinah ganz Europa zur Nachahmung erweckt hat. Discours heißt der Genius ihrer Schreibart. Alles ist ihnen klar; was sie wissen und nicht wissen, koͤnnen und doͤrfen sie erzaͤhlen . Repraͤsentation ist der zweite Zug ihres entschiedenen Charakters. Das Volk repraͤsentirt gern und liebte von jeher Re- praͤsentationen. Schon unter den ersten barbarischen Koͤnigen spielten die Histrio - nen an allen Staatsfesten ihre Rollen, denen die Jongleurs und Jongleuresses, die Joueurs de Farces, Bateleurs u. f. folgten. In mehreren und wiederholten Reglemens mußte diesen bei Gefaͤngniß- und Leibesstrafe verboten werden, nur nicht an Sonn- und Festtagen, waͤhrend des Gottesdienstes, in geistlichen Kleidern, an oͤffentlichen Orten, aͤrgerliche Farcen zu spielen. Zur Zeit der Kreuzzuͤge und der Wallfahrten nach dem heiligen Lande, ka- men die Pilgrime wieder, um in ihrem Vaterlande zu repraͤsentiren . In aben- theuerlicher Kleidung erzaͤhlten und agirten sie ihre Geschichten von weither , Wunderdinge, Abentheuer, Visionen; man repraͤsentirte die Geschichte des alten und neuen Testaments, unter andern la Pas- sion de N. S. Jesus Christ en Vers bur- lesques. Bruͤder der Passion (les Confréres de la Passion) entstanden; sie zogen die Privilegien des Narrenprin - zen (prince des sots) und des Narren - festes (de la fête des foux) an sich; man raͤumte ihnen Hotels ein; so ward das erste franzoͤsische Theater, das bald darauf devans leurs Majestès dans la salle du Château Moralitaͤten spielte. Der Ge- schmack dieser Moralitaͤten, in denen sich das Heilige und Profane sonderbar mischte, ist bekannt; sie hießen Jeux des pois pilés, Spiele zerstoßener Erbsen , und blie- ben es so lange, bis aus ihnen die fran - zoͤsische Comoͤdie hervorging, in wel- cher denn, so wie auf dem franzoͤsischen Theater uͤberhaupt, Repraͤsentation von jeher der Hauptgesichtspunkt gewesen und geblieben ist, nach welchem sich Alles ordnet. Es ist zu erweisen, daß Alles Gute und Mangelhafte des franzoͤsischen Theaters offenbar aus Repraͤsentation , aus franzoͤsischer Repraͤsentation erwachsen sei, als einem der Nation unab- leglichen Charakter. Jene Lebhaftigkeit und Natur des Spiels mit Anstand und Ge- faͤlligkeit begleitet, jene Klarheit nicht nur in der Exposition sondern auch in der gan- zen Oekonomie des Stuͤcks, insonderheit in der Folge und Bindung seiner Scenen; in der Oper das Feierliche der Choͤre, die Pracht Pracht der Decoration u. f. kurz, was Repraͤsentation fodert und geben kann, ward dort gegeben und ausgebildet. Da- gegen was Repraͤsentation nicht leistet, was manchmal z. B. im Trauerspiele sie sogar nicht wuͤnschet und gern verbirgt, die tiefere Wahrheit und Natur der Leiden- schaften dem franzoͤsischen Theater, ver- glichen mit dem Griechischen und Engli- schen, oft fremd blieb. Sowohl der He - roismus als die Liebe erscheinen in der franzoͤsischen Theaterkunst, (von vortreflichen Ausnahmen ist hier nicht die Rede) nach dem Gesetz einer National-Convention repraͤsentiret ; diese Convention herrscht in Allem, im Ton der Stimme, in der Kleidung und Gebehrde, in jedem Schritt und Tritt des Acteurs und der Actrice. Wenn Der oder Jene aus diesem Gleise des Anstandes gluͤcklich herauszutreten wuß- Siebente Samml. J ten; so ward ihre Ausnahme bald selbst zur conventionellen Regel. Fast auf alle Werke des Geistes, selbst der Wissenschaft, erstreckt sich diese Franzoͤsische Repraͤsen- tationsgabe; auf ihre gerichtlichen und Kanzelreden, auf ihre Akademien und Elo- gien, selbst auf ihre Staatsverhandlungen und Staatsgrundsaͤtze; in ihnen erscheint die Gerechtigkeit, die Andacht, die Ge- lehrsamkeit, das Lob, die Politik, die Wis- senschaft repraͤsentirend . Es wird der Nation schwer fuͤr sich allein zu seyn; sie ist gern im Auge andrer, am liebsten im Auge des Universum sprechend, schreibend, agirend . Die groͤßeste Repraͤsentantin ist die Franzoͤsische Sprache. Mit dem Schein Alles aufs genaueste, aufs feinste zu sagen, umschreibt sie in geltenden Ausdruͤcken, die jeder zu verstehen glaubt; und giebt, was sie in so großer Menge hat, ins Ohr fal- lende Worte, gemein gewordne Abstrac - tionen . Unendlich reich an Ausdruͤcken der Hoͤflichkeit, der guten Lebensart, der Kunstphilosophie u. f. huͤtet sie sich wohl, mit diesen Ausdruͤcken etwas mehr zu mei- nen, als zum conventionellen Alltagsver- staͤndniß derselben gehoͤret. Wehe dem, der sich auf ein Franzoͤsisches Modewort, auf eine Formel und Wendung des Fran- zoͤsischen Styls verließ; die Mode aͤndert sich und das Wort bedeutet ganz etwas Andres. — Sollen den Franzosen jetzt die Spanier nachtreten, wie auch sie etwa von den Provenzalen gelernt haben? Nein. Die Cultur der Spanier ist von den Proven- zalen nicht erborgt, sondern an ihrer J 2 Seite stolz und eigenthuͤmlich erwachsen. Jahrhunderte lang hatten die Araber ihr schoͤnes Land besessen, und in alle Provin- zen desselben ihre Sprache und Sitten ver- breitet. Jahrhunderte gingen hin, ehe es ihnen entrissen ward, und in diesem lan- gen Kampf zwischen Rittern und Rittern hatten sie wohl Zeit, den Charakter zu er- proben, der sich auch in Werken des Ge- schmacks als ihr Genius zeigt; es ist die Idee eines christlichen Ritterthums, den Heiden und Unglaͤubigen entgegen. Als alte, vom H. Jakobus bekehrte Christen waren sie in die Gebuͤrge geflohen; als solche hielten sie sich in ihnen vest und er- oberten ihr Land wieder. Als solche wa- ren sie zu stolz, sich mit Maurischem Blute zu vermischen und entvoͤlkerten dadurch ihr Land; als solche waren sie in fremden Welttheilen stolz und grausam. Ihr Vor- trefliches und ihre Fehler kommen aus Einer Quelle; aus welcher mit beiden, mit Fehlern und Tugenden, auch ihre Poe- sie und Sprache floß. Diese stehet zwi- schen der Italiaͤnischen und altroͤmischen in der Mitte; an Majestaͤt und Wuͤrde der Mutter aͤhnlicher als eine ihrer Schwe- stern; voll Wohlklanges fuͤr die Musik, und in dieser fast eine heilige Kirchenspra- che. Nicht lief sie, wie die Provenzalinn, auswaͤrts umher; sie war stolz und blieb zu Hause, brachte aber in ihrer schoͤnen Wuͤste unter manchem Sonderbaren und Abentheuerlichen edle Fruͤchte. Vielleicht giebt es keine scharfsinnigern Spruͤche und Spruͤchwoͤrter als in der Spanischen Spra- che; von Alphons dem Weisen an hat sie in allen Productionen diesen Cha- rakter behauptet. Ihre Erzaͤhlungen, Thea- terstuͤcke und Romane sind voll Verwicke- lungen, voll Tiefsinnes und bei vielem Befremdenden voll feiner und großer Ge- danken. Ihre Sylbenmaasse sind sehr wohlklingend und die Leidenschaft der Lie- be steigt in ihnen oft bis zum schoͤnen Wahnsinn. Sie sind veredelte Araber; auch ihre Thorheit hat etwas Andaͤchtiges und Erhabnes. 88. W ie mir immer eine Furcht ankommt, wenn ich eine ganze Nation oder Zeitfolge durch einige Worte charakterisiren hoͤre: denn welch eine ungeheure Menge von Verschiedenheiten fasset das Wort Nation , oder die mittleren Jahrhunderte , oder die alte und neue Zeit in sich! eben so verlegen werde ich, wenn ich von der Poesie einer Nation oder eines Zeitalters in allgemeinen Ausdruͤcken reden hoͤre. Die Poesie der Italiaͤner , der Spanier , der Franzosen , wie viel, wie mancherlei begreift sie in sich! und wie wenig denket, ja wie wenig kennet der sie oft, der sie am wortreichsten cha- rakterisiret! Wenn ich meinen Dante und Pe - trarca , Ariosto und Cervantes las, und Jeden dieser Dichter, wie meinen Freund und Lehrer von Innen aus kennen lernen wollte: so war es mir angenehm, ihn als einen Einzigen zu betrachten. Zu diesem Zweck suchte ich Alles auf, was in ihm liegt, was rings um ihn zu seiner Bildung oder Misbildung beigetragen. Die ganze Dichterwelt vor und nach ihm ver- schwand vor meinen Augen; ich sahe nur ihn. Und doch wurde ich bald an die ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte gelernt und lehrte; er folgte andern, andre ihm nach. Das Band der Sprache, der Denkart, der Leidenschaften, des Inhalts knuͤpfte ihn mit mehreren, ja zuletzt mit allen Dichtern: denn — er war ein Mensch , er dichtete fuͤr Menschen . Unvermerkt werden wir also darauf geleitet, zu unter- suchen, was jeder gegen jeden Aehnlichen in und außer seiner Nation, was seine Nation gegen andre vor- und ruͤckwaͤrts sei; und so ziehet uns eine unsichtbare Kette ins Pandaͤmonium , ins Reich der Geister. Wenn Poesie die Bluͤthe des mensch- lichen Geistes, der menschlichen Sitten, ja ich moͤchte sagen das Ideal unsrer Vorstellungsart , die Sprache des Gesammtwunsches und Sehnens der Mensch- heit ist: so, duͤnkt mich, ist der gluͤcklich, dem diese Bluͤthe vom Gipfel des Stam- mes der aufgeklaͤrtesten Nation zu brechen vergoͤnnt ist. Es ist wohl kein ge- ringer Vorzug unseres inneren Lebens , außer den Morgenlaͤndern und Alten mit den edelsten Geistern Italiens, Spaniens, Frankreichs sprechen und bei jedem bemer- ken zu koͤnnen, wie Er die Begriffe und Wuͤnsche seines Herzens, die Ihn am mei- sten entflammten, auf die wuͤrdigste Art einzukleiden und fuͤr Welt und Nachwelt angenehm, ja hinreißend vorzutragen suchte. Hingerissen in eure suͤße und bittre Traͤu- mereien, ihr Dichter, wandeln wir mit euch in einer Zauberwelt und hoͤren eure Stimme als ob ihr lebtet. Andre erzaͤhlen von sich und andern; ihr versetzet uns in euch selbst, in eure Welt von Gedanken und Empfindungen des Leides und der Freuden. Und ach, wie klein ist unsre Welt! wie oft wiederholen sich Empfindungen und Ge- danken! Enge ist der Kreis des menschli- chen Tichtens und Trachtens; in wenige, wenige Knoten ist alle unser Interesse ge- knuͤpfet. In dieser Ruͤcksicht nun kann man freilich die Geschichte der Dichtkunst d. i. die Geschichte menschlicher Einbil - dungen und Wuͤnsche , und wenn ich so sagen darf, des suͤßen Wahns der Menschheit , der aufs feurigste aus - gedruckten Leidenschaften und Em - pfindungen unsres Geschlechts nicht allgemein und im Großen gnug neh- men. Wie ganzen Nationen Eine Spra- che eigen ist, so sind ihnen auch gewisse Lieblingsgaͤnge der Phantasie, Wendungen und Objecte der Gedanken, kurz ein Ge - nius eigen, der sich, unbeschadet jeder einzelnen Verschiedenheit, in den beliebte- sten Werken ihres Geistes und Herzens ausdruckt. Sie in diesem angenehmen Irr- garten zu belauschen, den Proteus zu fes- seln und redend zu machen, den man ge- woͤhnlich Nationalcharakter nennt und der sich gewiß nicht weniger in Schriften als in Gebraͤuchen und Handlungen der Nation aͤußert; dies ist eine hohe und feine Philosophie. In den Werken der Dichtkunst d. i. der Einbildungskraft und der Empfin- dungen wird sie am sichersten geuͤbet, weil in diesen die ganze Seele der Nation sich am freiesten zeiget. So ist es auch mit dem Geist Eines oder mehrerer Zeitalter , so viel die- ser Name unter sich begreifet: denn jedes Zeitalter hat seinen Ton, seine Farbe; und es giebt ein eignes Vergnuͤgen, diese im Gegensatz mit andern Zeiten treffend zu charakterisiren. Mir sind z. B. die soge- nannten mittleren Zeiten auch in ihren Maͤhrchen, in dem guten Glauben und Aberglauben, der sie beherrschte, in der ganzen Richtung, den die Europaͤische Denk- art damals nahm, sehr merkwuͤrdig. Die- ser Wahn liegt uns naͤher, als die My- thologie der Griechen und Roͤmer; manche Zuͤge davon haben wir vielleicht in ange- bohrnen Neigungen und Vorstellungsarten, gewiß aber in Resten der Gewohnheit von unsern Vaͤtern geerbet. 89. Fuͤnftes Fragment Vom Werth der Europaͤischen Dich- tung mittlerer Zeiten. W ir haben jetzt Umfang gnug gewonnen, die Europaͤische Cultur durch die Poesie der mittleren Zeiten in dem weiten Raum, den sie durchging, unpartheiisch zu schaͤtzen, und ihren Werth oder Unwerth zu zeigen. Ein großer Nachtheil war fuͤr sie die allenthalben mit fremden Spra - chen vermischte , in ihr selbst ver - fallene Roͤmersprache . Mit Recht hieß diese rustica , eine Bauernsprache; die Dichtkunst, die in ihr aufkam, konnte mit Noth und Muͤhe auch nur eine vulgare Dichtkunst werden. Alles war hier durch einander gemischt und verdorben. Nordi- sche Voͤlker kamen mit einer harten, skla- vische, in Feigheit versunkene Voͤlker spra- chen eine vernachlaͤßigte Sprache. Unruhe und wiederkommende Verwuͤstung, Nacht und Aberglaube verheerten die Welt; was aus diesem Chaos uͤber einander stuͤrzen- der Voͤlker und Sprachen hervortoͤnte, konnte nicht oder sehr spaͤt der Gesang je- ner Muse seyn, die einst in Jonien, Athen und Tibur reingestimmte, harmonische Sai- ten beseelt hatte. Hier schrieb man Reime. (coplas, rime.) Einen noch herbern Feind hatte die Bildnerinn der Sitten, die Poesie, an den Sitten dieser Nationen selbst , im mittleren Zeitalter . Kriegerischen Voͤl- kern ertoͤnt nur die Tuba; unterjochte, Baͤurische Voͤlker sangen rohe Volksgesaͤn- ge; Kirchen und Kloͤster Hymnen. Wenn aus dieser Mischung ungleichartiger Dinge nach Jahrhunderten ein Klang hervorging; so wars ein dumpfer Klang, ein vielarti- ges Sausen. Schon der Charakter-Name des Inhalts der Zeiten sagt dies. Er heißt Abentheuer , Roman ; ein Inbegriff des wunderbarsten, vermischtesten Stoffs, der urspruͤnglich nur ununterrichteten Oh- ren gefallen sollte, und sich fast ohne Kaͤnntniß der Natur, Kunst und Geschichte von der Vorwelt her uͤber Meer und Laͤn- der in wilder Riesengestalt erstreckte. Von den Arabern her bestimmten drei Ingre - dien - dientien den Inhalt dieser Sagen, Lie - be , Tapferkeit und Andacht ; schoͤne Namen, waͤre ihre Bedeutung nur im- mer auch in der Anwendung der Namen werth gewesen. Liebe . Gewiß aber wars nicht immer jene zaͤrtlich-bewundernde Liebe, die man aus einem guten Vorurtheil, den Erzaͤh- lungen und Liedern des Mittelalters ge- meiniglich als Charakter zuschreibt. Viele Gesaͤnge und Geschichten zeigen ein Andres, das sich auch zu jenen Gedankenlosen, und dabei unternehmenden Zeiten besser schickt und fuͤget. In muͤßigen, reichen und uͤp- pigen Staͤnden, in Schloͤssern, an Hoͤfen, deren es damals so viel gab, hatte man Zeit und Mittel, jene Galanterie , die gepriesene Bluͤthe der Ritter-Jahrhunderte, oft in einem Geschmack zu treiben, wie sie des Boccaz Decamerone oder Bran - Siebente Samml. K tome und so manches uͤppige Capitolo schildert. Man ruͤhmte sich dessen, was man erfahren haben wollte, nicht immer auf die feinste und sittlichste Weise. Tapferkeit . Ein edles Wort; die damaligen Zeiten aber gebrauchten es nicht immer in der edelsten Anwendung. Der Ritter, der in die Welt zog, Unglaͤubige oder Ketzer zu vertilgen und sich außer den Pflich- ten gegen Ebenbuͤrtige, gegen Damen, ge- gen seinen Lehnsherren und die Kirche Alles erlaubt hielt, war eben nicht das reinste Ideal maͤnnlicher Tugend. Eine Poesie also, die solche Ritterzuͤge besang oder erzaͤhlte, mußte oft dumpf umherschwaͤrmen und bis zum Ermuͤden singen und sagen, was Rit - terthum und Ritterehre erfodert. Oder um diesem Einerlei zuvor zu kommen, mußte sie sich ins Ungeheure, ins Unmoͤgliche ver- lieren, hier eine brutale Macht loben, dort Ahnenstolz, Raͤubergluͤck oder leeren Glanz preisen. Wider Willen mußte sie oft lang- weilig, oft Geistlos und unmoralisch wer- den, weil sie Geistlose Menschen in Zweck- losen oder unmoralischen Thaten zu schil- dern hatte, und auch bei großen und gu- ten Zwecken sie mit zu viel falschem Glanz vergulden mußte. Andacht endlich. Bloß als Feierlich- keit behandelt, ermuͤdet sie und laͤßt die Seele bald leer; als eine Verbindung mit dem Unendlichen, als Anschauung des Un- ermeßlichen betrachtet, erhebt sie zwar die Seele, entzuͤckt sie aber auch in einen Glanz, in welchem der Poesie zuletzt jede Form schwindet. Soll Andacht aber sogar Misse- that versoͤhnen, es sei mit leeren Gebraͤu- chen, oder mit Geschenken und Vermaͤcht- nissen, ohne daß dem Unterdruͤckten Er- stattung geschehe; o da wird sie dem Men- K 2 schensinn, dem moralischen Gefuͤhl widrig und auch im schoͤnsten poëtischen Nachbilde veraͤchtlich. Alle diese Maͤngel und Laster entspran- gen aus dem Verderben der Religion und Sitten damaliger Welt in obern und un- tern Staͤnden; eine froͤhliche Wissenschaft, die an Hoͤfen entstanden, von Großen ge- naͤhrt und nur zur Zeitkuͤrzung gebraucht ward, konnte und wollte die Schwaͤchen des Jahrhunderts weder abthun noch ver- soͤhnen. Sie dachte an den Inhalt einer Erzaͤhlung nur sofern als dieser Inhalt vergnuͤgte , und es war Sitte der Zeit, sich bisweilen auch langweilig und gemein zu vergnuͤgen. Das Ohr des Volks, vor welches zuletzt diese Divertissements auch kamen, nahm sie mit Freuden auf, weil sie bei Hofe erfunden waren, weil man sie in hoͤheren Staͤnden belachte. Es war eine Hof-Art (cortesania) sie schoͤn zu finden — — So gewiß ists, daß nichts bleibend schoͤn seyn kann, als das Wahre und Gute. Keine Kunst, kein Kuͤnstler vermag von einem falschen Schimmer der Macht und Hoheit, vom geschminkten Reiz der Wohl- lust und Ueppigkeit, oder von der Schwaͤr- merei ein Ideal zu borgen, das bestehe und fortdaure. Was unrein dem mensch- lichen Gemuͤth ist, muß ihm fruͤher oder spaͤter auch in der Poesie unrein erschei- nen: denn nur fuͤrs menschliche Gemuͤth wird gedichtet. Jene Romane voll Langweiligkeiten des Ritterthums, voll falschen Glanzes der Hofsitten oder gar jene Gemaͤhlde des Gar- tengottes und der Goͤttinn Crapula , was sind sie unter dem Fuß der Zeit worden? Schlamm und Moder. Es ist Gesetz der Natur, daß auch in der Poesie und Kunst nur das Wahre und Gute bleibe . Der Keim, der davon auch in der Dichtkunst der mittleren Zeiten lag, ist nicht verweset. Fruchtreich hat ihn die Zeit aus- gebildet: denn in den drei grossen Namen Liebe , Ehre und Andacht liegt Alles, was die Menschheit wecken, die Poesie beleben kann. Sie sind mehr als Patrio- tismus; ein weites und tiefes Meer der Seeligkeit, aus dem die Schoͤnheit ent- sprang und in welchem sie sich spiegelt. 1. Andacht . Freilich ists nicht jedem Geist in seiner sterblichen Huͤlle gegeben, sich Formlos ins Flammenmeer der Gott- heit zu versenken; aber auch nur im Ab- glanz diese Sonne, das hoͤchste Ideal mensch- licher Gedanken zu betrachten, erquickt und erheitert. Die Poesie der mittleren Zeiten hatte sich hiezu das Bild des ewigen Vaters , des Sohnes Gottes und sei- ner Mutter, der heiligen Jungfrau ausgemahlt und in das letzte insonderheit ein hohes Ideal weiblicher Tugend, alle Grazie ihres Geschlechts geleget. Jung- fraͤuliche Keuschheit, Huld und Anmuth, eine sich selbst unbewußte Hoheit und Wuͤr- de, muͤtterliche Liebe, schweigende Geduld, Großmuth, Hoffnung, endlich ein stiller Dank- und Freudegenuß jenes uͤberschweng- lichen Lohns, dessen sich die Wohlthaͤtige jetzt in Ewigkeit werth macht — alles dies ward nach und nach von der dichtenden Andacht in sie gesenkt, in ihr besungen und gepriesen. Der Werth der Heiligen , die Maͤrty- rer waren, scheinet von geringerer Art; die Tapferkeit der Seele aber, die um des Bekaͤnntnißes der Wahrheit willen Lei- den ertraͤgt und Martern erduldet; jene stille Großmuth , die verkannt einher- geht, die Reichthum, Wohllust, und nie- drigen Ruhm verschmaͤht, unbillige Ver- achtung, Schmach und Hohn fuͤr nichts achtet und dennoch wohlzuthun fortfaͤhrt; die Heiterkeit der Seele endlich, die durch Einfalt, Unschuld, Zuversicht und Erfahrung bewaͤhrt, in der Wolke des To- des den offnen Himmel sieht, und das Lied der Vorangegangenen hoͤret; eine An - dacht dieser Art ist mehr als eine Helden- wuͤrde von außen. Und es sangen sie so viele Hymnen, so praͤchtige Canzonen. 2. Tapferkeit . Auch der Werth eines Mannes, der nach reinen Begrif- fen des Ritterthums um Ehre streitet, ist nicht von geringer Art. Schwache zu be- schuͤtzen, die Unschuld zu vertheidigen, auch im heftigsten Streit sich nichts Unwuͤrdiges zu erlauben, im Feinde noch den Mann zu erkennen, im Ueberwundenen den Tapfern zu ehren, endlich, die wehrlose, die kranke Menschheit mit ritterlicher Hand zu pfle- gen, zu warten; dies alles waren Pflich- ten des Ritterthums, die freilich mit gro- ßen Ausnahmen, allesammt auch nur un- ter dem Mantel der Religion, und noch nicht als reine Obliegenheiten des Menschen gesungen und eingeschaͤrft wur- den. Sie oͤfneten indeß einer allgemeinern, reineren und hoͤheren Tugend die Schran- ken, als selbst in einem weit engeren Be- zirk von der alten Heldensage der Grie- chen und Roͤmer gepriesen werden konnte. Wenn Andacht , Liebe und Tapferkeit reiner Art sich ritterlich in einander ver- weben, erniedern sie den maͤnnlichen Cha- rakter nicht. 3. Liebe . Hier findet wohl kein Zwei- fel statt, daß die Hochachtung und zarte Behandlung des weiblichen Geschlechts , welche Araber und Nor- maͤnner in Romane und Poesie brachten, die sich auch mit dem Dienst der heiligen Jungfrau und dem Christenthum uͤberhaupt wohl vertrug, eine Blume sei, die Griechen und Roͤmer eben nicht vorzuͤg- lich cultivirten. Groͤßtentheils besangen diese im Weibe nur das Weib oder gar eine Buhlerinn, eine Hetaͤra. Da das noͤrdliche Klima Lustbarkeiten, wie sie Horaz oder Petron schildern, keinen Raum gab, auch in diesen Gegenden die spaͤter entwik- kelte und desto laͤnger daurende Jugend des Weibes eine sittlichere, reifere Liebe fodert: so wandte sich jetzt allmaͤhlich die Poesie auf Etwas, darauf jene Zeiten nicht ausgehen konnten, auf Cultur des Um - ganges beider Geschlechter mit ein - ander , von welchem unsre nordische Wohlerzogenheit groͤßtentheils abhaͤngt. Das Weib war von der Religion geehrt; warum sollten sie nicht auch Menschen eh- ren? Sie gaben den Maͤnnern Rath, dem Leben Anmuth; sie bewegten das Herz des roheren Mannes und waren gleichsam Mittlerinnen im Himmel und auf Erden. Nach christlichen Begriffen schlang die Liebe nicht nur in dieser Sichtbarkeit einen un- aufloͤslichen Knoten, sondern auch das Band der Freundschaft in einer ewigen Welt. Durchs Christenthum sahe man dort lich- tere Gegenden vor sich, als den traurigen Orkus; in ihnen besang Dante seine Beatrice , Petrarca eine himmlische Laura . U. f. 90. D as unvollendete Fragment vom Werthe der Poësie mittlerer Zeiten moͤchte ich, gleichfalls fuͤr und wider , mit Vortheil und Nachtheil also ergaͤnzen. Erstens . Fuͤgt man dem Vorigen hinzu, daß die Poesie der mittleren Zeiten nach und nach mit mehreren Wissen - schaften bekannt ward, als jene Poesie der Jugend-Welt je kennen lernen konnte: so war ihr hiemit, eben wie bei Andacht , Liebe und Ehre , ein großer aber auch ein sehr gefaͤhrlicher Knaͤuel in die Hand gegeben. Sie konnte daraus Vieles ent- wickeln, aus jeder Wissenschaft sich zu eigen machen, was fuͤr sie diente; jede Erfin- dung, jedes neu entdeckte Land stand ihr zu Gebote. Sie konnte aber auch auf die- sem Wege zu gelehrt , spitzfuͤndig und scholastisch werden; und waͤre sie es nicht hie und da reichlich geworden? Der groͤßere Boden von Wissenschaft indeß, den der menschliche Geist gewann, war ein betraͤchtliches Erwerbniß. Die neuere Poesie hat davon Nutzen gezogen und wird davon Vortheile ziehen, so lange Wissenschaften wachsen , Erfindungen sich mehren , so lange der menschliche Geist fortschreitet . Nicht vergebens hat der Vater der neueren Dichtkunst, Dante , mit einem Werk begonnen, das eine Art von Encyklopaͤdie des menschlichen Wissens uͤber Himmel und Erde enthaͤlt; er hat seinem von jeder Vorzeit unterrich- teten Kinde hiemit den Weg eines immer fortschreitenden Verdienstes gewiesen. Zweitens . Und da in der mittleren Zeit viele Nationen , die gesamm - ten Voͤlker des roͤmisch - christli - chen Europa auf Einem Kampf - platz des Ruhms standen, und durch mehrere Verbindungen in Einer Schule der Unterweisung lernten: so bekam, ungeachtet aller Nationalunterschiede von Sitten und Sprachen, die Europaͤische Poesie und Lehre hiemit eine gemein - schaftliche Richtung . Mit so vielem Unreinen sie hie und da vermischt war, so trug sie allenthalben dazu bei, das Schwert der Barbaren, das noch nicht gestumpft war, einzuhalten, zu weihen, zu veredeln. Rittern und edlen Herren ward ein Kranz des Ruhms und der Ver - dienste vorgehalten, ohne welchen sie, wie die Geschichte mehrerer Laͤnder zeigt, harte Herren, Trunkenbolde, raͤuberische stolze Barbaren blieben. Selbst die Grie- chen des oͤstlichen Kaiserthums, die an den Rittergesetzen der Westwelt keinen Antheil nahmen, erlaubten sich Niedertraͤchtigkeiten gegen Feinde und Ueberwundene, die in Spanien, Italien und Frankreich kein Rit- ter sich jemals erlaubt haben wuͤrde. Als uͤppige Treulose gingen sie unter. — Alles also was Menschen, Staͤnde und Voͤlker miteinander verband, was die Ge- schlechter einander freundlich, Gemuͤther einander geneigt machte, was zu einem gemeinschaftlich-anerkannten Zweck und gleichsam zu der Lehrform beitrug, nach welcher man von Jugend auf, wenn gleich auf rohe Weise, der Tapferkeit , Liebe und Andacht huldigen lernte, offenbar bahnte dies der Menschenliebe oder zufoͤrderst jener christlichen Herzens - guͤte den Weg, die als carità die Grazie der Grazien ist, und jede Huldigung ver- dienet. Die Poesie des Mittelalters wirkte zu diesem Zweck unverkennbar. Aus den Haͤnden der Araber hatten die Europaͤer Andacht , Liebe und Ta - pferkeit , als einen Kranz der Ritter- wuͤrde empfangen; sie verschoͤnten ihn nach christlicher Weise. Und da gerade diese Poesie es war, die auch das Volk nicht verachtete, die sich auf oͤffentlichen Plaͤtzen und Maͤrkten hoͤren ließ und durch Geist, Witz und Spott eigene Gedanken und ein freies Urtheil auch uͤber Zeithaͤndel, uͤber die Sitten geistlicher und weltlicher Staͤnde, uͤber das Verhaͤltniß derselben gegen einander weckte: so ward, wie die Geschichte zeigt, Poesie der erste Reformator . Immerhin wird dies dies auch die froͤhliche Wissenschaft , (gaya ciencia, gay fabè) seyn und bleiben. Ich weiß es sehr wohl, daß zum innern Ver- staͤndniß dieser Fragmente und Briefe eine Kaͤnntniß nicht nur der Geschichte, sondern auch der Dichtungen aller mittleren Jahr- hunderte gehoͤrt, und ich stand lange bei mir an, ob ich nicht hie und da, so wie von christlichen Hymnen, so auch von Arabern, Provenzalen, Italiaͤnern, Franzosen und Spa- niern Proben einruͤcken sollte. Das Buch haͤtte sich vergroͤßert; ich fuͤrchte aber nicht der innere Verstand dessen, was hier vorge- tragen ist: denn die Producte des Geistes, worauf sich das Vorgetragene beziehet, muͤs- sen im Zusammenhange erwogen, und nach so vielen National- und Zeitumstaͤnden un- terschieden werden, daß der Commentar hier- uͤber ein neues, siebenfach groͤßeres Buch ge- worden waͤre. Entweder muß der Leser also den Verfassern dieser Fragmente und Briefe glauben, oder er muß die Fruͤchte genannter Zeiten selbst kosten, zu denen ihm I. A. Fa - Siebente Samml. L bricius in seiner biblioth. latina und me- dii aevi, Hamberger im 3. und 4. Theil seiner zuverlaͤßigen Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern, und die Ge- schichte jeder National-Dichtkunst dieser Voͤlker das Verzeichniß liefert. Beides, so- wohl Briefe als Fragmente, sind Resultate von so mancherlei Untersuchungen und Zusam- menstellungen, daß nur der ein Urtheil dar- uͤber haben kann, der denselben weiten Weg gegangen, den die Verfasser dieser Aufsaͤtze genommen zu haben scheinen. A. d. H.