Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt . Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt. Herausgegeben von J. G. Herder . Sechste Sammlung. Riga, 1795. bei Johann Friedrich Hartknoch . Inhalt der sechsten Sammlung. Br. 63 Wie die Griechische Kunst eine Schule der Humanitaͤt sei. Vom Werthe rein dargestellter Gedan- kenformen. S. 1 — 64. Vom bedeutenden Ideal der Kind- heit, und des jugendlichen Alters in beiderlei Geschlechtern. Von ihrer Sprache zum menschlichen Herzen. S. 9 — 65. Charaktere ihrer Heldengestalten. Herkules. Laokoon. Castor und Pollux. Verdienst der Griechen in Darstellung dieser Ideen und Ideale. S. 22 Br. 66. Goͤtterformen. Bacchus, Ariadne. Apollo, Diana. Merkur. Aphro- dite. Vesta. Von verschiednen Classen menschlicher Charaktere. S. 38 — 67. Mars. Vulcan. Ceres. Pallas. Juno. Zevs. Verschiedener Ge- brauch und Untersuchung der My- thologie in verschiedener Absicht. S. 51 — 68. Einwendungen dagegen. S. 61 — 69. Beantwortung derselben. Von Fau- nen, Satyren, Centauren, Mas- ken, Ungeheuern in der Kunst. Werth dieser Unterscheidungen fuͤr die sittliche Menschheit. S. 63 — 70. Ob die Griechen kuͤnftigen Jahr- hunderten Alles vorweggenommen haben. Charakter der heiligen Jungfrau. Andre christliche Ideen. S. 72 — 71. Was uns die Griechische Kunst soll. Vom Werth einer gluͤckli- chen Bildung. Von unsern Klei- dungen, unsern Stellungen, un- serm Beisammenseyn, verglichen mit Vorstellungen der Griechischen Kunst. Charakter der Angelika Kaufmann. S. 81 Br. 72. Von einer Formlosen Guͤte und Wahrheit. S. 94 — 73. Daß es eine solche fuͤr uns schwer- lich gebe. Vom hoͤchsten Anstaͤn- digen oder Geziemenden der Menschheit. S. 96 — 74. Stimme der Musen zu Vorstellun- gen der Griechischen Kunst. In Ansehung der Mutterliebe. S. 106 — 75. In Ansehung der Kindes- und Juͤng- lingsjahre, andrer freundschaftli- chen Bande, der Erziehung und Virtuositaͤt des Lebens. S. 117 — 76. In Ansehung der Unformen, der Gesellung verschiedener Vorstellun- gen der Allegorie. Von der christ- lichen Grazie. Raphaels und an- drer Verdienst. Schluß dieser Ma- terie. S. 130. Br. 77. Bonhommien eines Buͤrgers. Von buͤrgerlichen Tugenden. Von praktischer sittlicher Aufklaͤrung, d. i. Volkserziehung. S. 138 — 78. Homer und Montesquieu . Von oͤffentlichen Sitten. Vom Gemeingeist. Vom Gemeingeist der Naturforschung. S. 154 — 79. Von den vier Facultaͤten. Kant . Von der Encyklopaͤdie. Einfuͤh- rung einer neuen Muse. Problem des Fortganges der Humanitaͤt. S. 168 — 80. Von der Freiheit des Geistes und Handels. Andenken an einige ver- diente Maͤnner. Denkmahl, dem Verfasser der Bonhommien ge- widmet. S. 184 63. A uch die Griechische Kunst ist eine Schule der Humanitaͤt ; ungluͤcklich ist, wer sie anders betrachtet. Als die Natur, die sich in allen ihren Hervorbringungen einwohnend und leben- dig offenbaret, auf unsrer Erde zur hoͤch- sten Hoͤhe ihrer Wirkung stieg, erfand sie das Geschoͤpf, das Mensch heißt, in des- sen Gliederbau sie alle Regeln der Voll- kommenheit, nach denen sie in ihren an- dern Werken, Theilweise und zerstreuet, mit ungeheurer Kraft und unuͤbersehlichem Sechste Samml. A Reichthum gearbeitet hatte, im kleinsten Raum, im wirksamsten Leben zusammen- draͤngte. Kraͤfte, die sie in andern Ele- menten, dem Wasser, der Luft, oder auch auf der Erde in großen Organen auszu- bilden sich Zeit und Raum nahm, deutete sie im Menschen oft nur an, ordnete aber alle diese Millionen Kraͤfte und Gefuͤhls- arten in ihm so kuͤnstlich, so harmonisch zusammen, daß er nicht nur als ein In - begrif aller dieser Fuͤhlbarkeiten unsrer Erde , (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist,) sondern auch als ein Gott da- stehet, der diese in ihr zusammengedraͤng- te, in seiner Natur begriffene Gefuͤhle selbst zusammenstellt, schaͤtzet und ordnet. Die ganze Natur erkennet sich in ihm, wie in einem lebendigen Spiegel; sie sie- het durch sein Auge, denkt hinter seiner Stirn, fuͤhlet in seiner Brust, und wirkt und schaffet mit seinen Haͤnden. Das hoͤchst- aͤsthetische Geschoͤpf der Erde mußte also auch ein nachahmendes, ord- nendes, darstellendes, ein poetisches und politisches Geschoͤpf werden. Denn da seine Natur selbst gleichsam die hoͤchste Kunst der großen Natur ist, die in ihm nach der hoͤchsten Wirkung strebet; so muß- te diese sich in der Menschheit offenbaren. Der Bildner unsrer Gedanken, unsrer Sit- ten, unsrer Verfassung, ist ein Kuͤnstler ; sollte also, da Kunst der Inbegrif und Zweck unsrer Natur ist, die Kunst , die sich mit dem Gebilde des Menschen und allen ihm einwohnenden Kraͤf - ten darstellend beschaͤftigt, fuͤr die Mensch- heit von keinem Werth seyn? Von einem sehr hohen Werthe. Sie hat nicht nur Gedanken, sondern Gedan - kenformen , ewige Charaktere sicht- A 2 bar gemacht, die mit solcher Energie we- der Sprache noch Musik, noch irgend ei- ne andre Bemuͤhung der Menschen aus- druͤcken konnte. Diese Formen ordnete, reinigte sie, und stellte sie selbst in deut- lichen, ewigen Begriffen dem Auge jedes Sehenden fuͤr alle Zeiten dar, in welchen sich Menschheit in diesen Formen genießt und fuͤhlet, in welchen Menschheit nach diesen Formen wirket. Sie giebt uns also nicht nur eine sichtbare Logik und Meta- physik unsres Geschlechts in seinen vor- nehmsten Gestalten, nach Altern, Sinnes- arten, Neigungen und Trieben; sondern indem sie diese mit Sinn und Wahl dar- stellt, ruft sie als eine zweite Schoͤpferinn uns schweigend zu: „blicke in diesen Spie- gel, o Mensch; Das soll und kann dein Geschlecht seyn. So hat sich die Natur in ihm mit Wuͤrde und Einfalt, mit Sinn und Liebe geoffenbaret. Also erscheint das Goͤttliche in deinem Gebilde; anders kann es nicht erscheinen.“ Auf diesem Wege gingen die Griechen; zu dieser Idee arbeiteten sie hin. Ohne ihre Kunst wuͤrden wir manche Gedanken ihrer Dichter und Weisen nicht verstehen; als oͤde Worte schwebeten sie vor uns voruͤber. Nun hat sie die Kunst sicht - bar gemacht , und damit auch den gan- zen Geist der Composition ihrer Schrif- ten, den Zweck ihrer Sittenformung und was sie sonst unterscheidet, in anschauli- chen Bildern dem menschlichen Verstande vorgestellt; kurz, anschauliche Katego - rien der Menschheit gegruͤndet. Da- von verstanden nun freilich jene Barbaren nichts, die in einem Basalt-Kopfe Ju - piters nichts als den schwarzen Kopf ei- nes Satans, im schoͤnen Apollo einen wahrsagenden boͤsen Geist, und in der himmlischen Aphrodite eine unzuͤchtige Dirne zerstoͤrten. Der einzige Begriff, daß alle diese Kunstwerke Gegenstaͤnde der Abgoͤtterei, Behausungen Orakelgebender, Lustverfuͤhrender, boͤser Daͤmonen seyn, hing wie ein schwarzer Nebel vor ihren Augen, daß sie den wahren Daͤmon, das Ideal der Menschenbildung in ih - ren reinsten Formen nicht zu erken- nen vermochten. Auch Keinem von denen wird er sichtbar, die in der Statue nur die Statue, in der Gemme den Edelstein und in Allem nur Pracht, Zierrath, her- kommlichen Geschmack, oder Alterthums- und mechanische Kunstkenntnisse suchen. Am weitsten entfernt davon eine falsche und enge Theorie, die sich gegen jede Aeußerung und Offenbarung des Men- schenfreundlichen, Wahrheitdarstellenden Gottes hinter Wortlarven mit einem kal- ten Stolze bruͤstet. Zu uns wird der Daͤ - mon der Menschennatur aus den Werken der Griechen rein und verstaͤndlich sprechen koͤnnen: denn wir werden ihn mitfuͤhlend, sympathetisch hoͤren. Schwaͤr- merei und Begeisterung koͤnnen uns hier nicht helfen, wo es auf helle Begriffe uͤber die Frage ankommt: „ wie zeigt sich der Genius der Menschheit ? auf wie verschiedene Art in Hauptformen ? welches sind unter diesen die hoͤch - sten Puncte , gleichsam die conso - nen Stellen der gespannten Sai - te , in welchen Harmonie toͤnet ?„ Haͤtten Sie Lust mit mir unter diesen Himmel glaͤnzender Sternbilder zu treten? Nur aus einem tiefen Thale kann ich von fern auf sie weisen; dennoch aber wird sich Ihr Geist befluͤgeln, daß Sie ausrufen: „Siehe da den hellen Zodiakus der sicht - bar gewordenen bedeutenden Menschheit .„ 64. D ie erste Kindheit als ein noch un- reifes Gewaͤchs der Natur haben die Grie- chen seltner gebildet. Herkules an der Brust der hohen Juno ist die einzige, mir erinnerliche Darstellung eines Saͤug- linges, obgleich mehrere Kinder in Armen zart getragen werden. Sey es, daß sie diese suͤße Pflicht der Mutter zu den Ge- heimnissen der haͤuslichen Kammer rechne- ten, die nicht jedem Blick offen stehen muͤßte, oder daß sie solchen Geheimnissen lieber das Gebiet der Malerei anwiesen, indem diese eine Mutter und ihr Kind durch Blick und Liebe so viel sanfter in Eins zu verschmelzen weiß; gnug, das bloße Beduͤrfniß eines beduͤrftigen Wesens ga- ben sie bildend weniger dem Auge Preis. Die schoͤnen Kinder, die die griechische Kunst schuf, waren schon in Spielen begriffen; in Neckereien mancher Art, am liebsten mit einen sanften Thier, einem Vo- gel, mit einem Neste von Voͤgeln, oder mit Fruͤchten. Diese Vorstellung setzt uns jedesmal in das Leben der Kinder, in die unschuldigen Vergnuͤgungen der Kindes- Jahre. Ihre Natur athmet die volle Ge- sundheit, die offne Froͤhlichkeit, die uns Kinder so lieb macht. Die hoͤchste Idee aller Kinder — was konnte sie also seyn? Im Himmel und auf Erden nichts anders als Eros , Amor , Unschuld und Liebe . Sind Kinder nicht sichtbargewordene Darstellun- gen eines Moments der Liebe , in dem sie ihr Wesen empfingen? und in welche Gestalt konnten die mancherlei Spiele und Neckereien, die Vergnuͤgen und Unbesonnenheiten, die uns die Liebe spielt, die wir ihr unschuldig spielen, bes- ser gekleidet werden, als in die Gestalt des Kindes oder Knaben Amors? Bei den Dichtern, insonderheit des Idylls oder der Froͤhlichkeit und Freude hatte er so viele Scherze begonnen; er begann sie auch in der Kunst , und aus manchen Vorstellungen derselben waͤre noch viel Niedliches zu dichten. Seine Geschichte mit der Psyche ist der vielseitigste, zar- teste Roman, der je gedacht ward, uͤber den schwerlich etwas Hoͤheres auszudenken seyn moͤchte; auch seine Taͤndeleien mit der Mutter und mit andern Goͤttern sind voll Grazie und Schoͤnheit. Setzt man nun hinzu, daß die meisten dieser Spiele Amors und seiner Gesellen, die man Lie - besgoͤtter oder kindliche Genien zu nennen pflegt, nur zur Verzierung, auf schmalen Basreliefs, wo ihnen der Ort ihre Kleinheit erlaubte, ja solche noͤthig machte, oder auf geschnittenen Steinen, Siegelringen und sonst an Plaͤtzen oder Plaͤtzchen vorkommen, an denen diese Taͤn- deleien ein angenehmes Mehr als Nichts waren; so tritt Amor mit seinen Bruͤdern gerade in das Licht, in welchem er auf der Tafel der Menschheit zu stehen verdienet. Der kleine Gott der Goͤtter wird ein Amu- let der Brust oder ein angenehmes Ne- benwerk, das sich hie und da einschleicht, das man immer gerne siehet, und den man zum verschwiegenen Boten lieber als den Boten der Goͤtter selbst brauchet. Außerdem aber war Amor nicht ein Kind; ein schoͤner Genius war er, und Hy - men sein Bruder. Hiemit komme ich zu Euch, Ihr Ge - nien der Juͤnglingschaft , schoͤnste Bluͤthe des menschlichen Lebens. Was Winkelmann von Euch in seinen schoͤ- nen Traͤumen gedichtet hat, ist kein Traum; auch der Name Genius, den man euch gegeben, ist ein treffender Name: denn welcher holderen Idee koͤnnte man am Ge- burtstage seines Daseyns opfern? So dachte sich die Natur ihre schoͤnsten Kin- der, Engel in Menschengestalt oder viel- mehr Menschen, aus deren Gestalt man den Engel abzog. Suͤße Ruhe, holde Einfalt, ein nuͤchternes In sich gekehrt seyn , dem das Leben selbst noch wie ein Traum der Morgenroͤthe vorschwebet, die unbefleckte Rose der Jugend , die noch von keinem Sturm gebrochen, von keiner Mittagssonne versengt ist, o wie liebe ich euch, ihr zarten Sprossen der Menschheit und ehre mich, daß ich euch liebe. Ein Blick auf dich, du Vatikani- scher oder Borghesischer Genius, vernich- tigt die Verlaͤumdungen, die man uͤber die Liebe zu Juͤnglingen den edelsten Grie- chen gemacht hat; wie rein war die Idee, in welcher diese Geschoͤpfe, die Bluͤthe der Menschheit , gedacht und gebildet wurden. Es haben Einige ein Trauriges, einen duͤstern Zug an diesen Genien bemerken wollen; sie haben aber, wie mich duͤnkt, Zeiten und Gattungen verwirret. Die Antinous haben freilich einen duͤstern Zug, wie sie auch, ihrem Urbilde nach, haben sollten; so wie uͤberhaupt die Kunst zu Hadrians Zeiten schon sehr repraͤsen- tiret, und aus sich selbst heraustritt . Aber jene Genien einer aͤchten Gattung sind in sich gesenkt, als ob keine Welt um sie waͤre, und fuͤhlen sich im leisesten Selbstgenusse zufrieden. Die Idee der Traurigkeit, die wir in sie legen, kommt wahrscheinlich von uns selbst her; wir empfinden ihre Bluͤthe naͤmlich auf so zar- ter Sprosse, daß uns, mitten im Genuß, der Unbestand derselben zu schmerzen an- faͤngt. Wir, zumal fremde Nordlaͤnder, fuͤhlen, der zarte Ton verhalle, die Rosen- knospe entwickle sich und ersterbe. Das sollten wir indeß nicht fuͤhlen, vielmehr dem Schoͤpfer der Natur danken, daß er uns eine solche Bluͤthe menschlichen Da- seyns zeigte. Was Anakreon und die Anthologen, was Sappho , Platon , und wenn er noch vorhanden waͤre, Jby - kus von schoͤnen Juͤnglingen gedichtet und gesungen haben, bliebe uns ohne diese sichtbargewordene Ideen vielleicht ein lee- rer Hall, an den wir kein Bild heften koͤnnten; jetzt uͤberzeugt uns das Auge von der Wesenheit jener lieblichen Traͤume und bestimmt sie uns in Bildern. Das maͤnnliche Geschlecht ging in der Kunst der Griechen dem weiblichen vor; doch ward auch diesem sein reicher Antheil an der Kunst nicht versaget. Nymphen , Grazien , Horen , ja die Parcen , Fu - rien und Medusa selbst empfingen ihr Antheil an dieser Bluͤthe jungfraͤulicher Ju- gendschoͤnheit. Warum bist du von Her - kules Knieen entruͤckt, du Goͤttin mit der Schale ewiger Jugend, bluͤhende Hebe ? Ihr Horen um Jupiters Haupt, ihr Schwester - Grazien , die ihr, in untrennbarer Liebe verschlungen, am Ke- phisusstrom eure ewigen Taͤnze feiert; warum erscheinet ihr uns in Nachbildern, die die uns nur eure Idee gewaͤhren? In- dessen haben wir Figuren des Alterthums gnug, um den Begrif der weiblichen Ju- gendschoͤne aus ihnen zu schoͤpfen. Und Ihr heiligen Musen , vor al- len du, hochaufsteigende Melpomene , mit deinem Antlitz voll edlen Unmuths, und hoher Wuͤrde; so oft ich bei euch, (ungleich an Kunst, wie ihr dastehet) im vatikanischen Tempel war, duͤnkte ich mich, zwar nicht auf dem Parnaß zu seyn und eures begeisterten Fuͤhrers Apollo Stim- me zu hoͤren; aber in der Gesellschaft rei - ner Wesen fand ich mich, deren Jede uns mit ihrer Bildung, mit ihrem Anstan- de, ihrer Aufmerksamkeit und Gebehrde mehr sagt, was Dichtkunst , Musik , Wissenschaft und Muse des Lebens sei, als eine Encyklopaͤdie uns sagen koͤnnte. Ihr kehrt den Blick gewaltig in Sechste Samml. B uns, und macht uns scheu, euren Namen nur auszusprechen, oder den Saum eures Gewandes zu beruͤhren. Im Kapitolium rupft die Muse der Sirene mit Schmerz den Fluͤgel; und in mehreren Darstellun- gen wird Marsyas dem Apoll ein graͤß- liches Opfer. Wenn die griechische Kunst der weibli- chen Jugend Grazientanz , froͤhli - chen Leichtsinn , oder Schuͤchtern - heit , Sproͤde , endlich jenen noch un - gebaͤndigten Stolz zum Charakter gab, den mehrere griechische Dichter in Worten charakterisirt haben: so sei es erlaubt, mich von ihnen zu einer ungluͤcklichen Fa- milie zu wenden, die fuͤr mich in ihrem heiligen Styl die hohe Tragoͤdie der Kunst ist, Niobe mit ihren Kindern . Ich will sie mit Worten nicht entweihen; aber einige Toͤchter und einige Soͤhne ma- chen einen so reinen und tiefen Eindruck, daß jeder Vater, jede Mutter wuͤnschen muͤßte, Kinder ihrer Art zu erzeugen, je- de Braut und jeder Braͤutigam, sich in diesem Geschlecht zu verloben. In dem Zimmer zu Florenz, wo ich mich mit den Eingekerkerten einschloß, kamen mir alle Ungluͤcksfaͤlle vor Augen, die je auf Erden eine Schuldlose schoͤne Familie betroffen haben moͤchten; statt aller stand sie mir da, im Mutter- und Jugendschmerz eine heilige Krone. — Soll ich nach ihr alle Scenen durch- gehn, wo Empfindungen der Bruder - und Schwester - der Freundes - und Gattenliebe in stummen Bildern ruͤh- rend dastehn? Nie bin ich, ihr schoͤnen Juͤnglinge, die man Orest und Pylades nennet; nie von euch, ihr stillen Vertrau- ten, die man als Hippolytus und B 2 Phaͤdra faͤlschlich anklagt, nie von so mancher andern Gruppe, da sich auf dem Grabsteine noch, (das Kind in ihrer Mitte,) liebende Haͤnde den Bund der ewigen Treue schwoͤren, weggegangen, oh- ne daß mein Herz durch die Innigkeit der Gefuͤhle, die aus diesen Gebilden spra- chen, innig erweicht war. Ich war in einer andern Welt gewesen, und sprach zu mir: koͤnntest du mit ihnen leben, und waͤrest Einer derselben! Der ganze Ha - bitus der Menschheit , waͤre er in Unschuld, Liebe und Einfalt noch nach die- sem Bilde gebildet! „Solche Gefuͤhle hat- ten mir zur Aufmerksamkeit auf alles, was diese meine geliebten Menschen an- ging, auf die Verhaͤltnisse ihrer Glieder , ihren Stand , ihre Ge - behrde und Sitte , den Grad der Leidenschaft , dessen sie faͤhig schienen, auf ihre Kleidung und ihren Wink das Auge geschaͤrfet. Soll ich Ihnen aus die- ser stummen Schule der Humanitaͤt Einiges noch erzaͤhlen? Ich darf voraussetzen, daß den Lesern dieser Briefe die in ihnen angefuͤhrten Denkmale der Kunst, wenn nicht in den Urbildern, so doch in Abguͤssen, Abdruͤcken, Zeichnungen, Kupfern, oder aus Beschreibungen z. B. in Winkelmanns Geschichte der Kunst, Stolbergs Reisen u. a. endlich wenigstens aus der Mythologie bekannt sind; ihnen al- so eine Classification nach der reinsten und hoͤchsten Bedeutung nicht unangenehm seyn werde. A. d. H. 65. V on Menschen komme ich zu Helden - und Goͤttergestalten , ob ich deren gleich auch schon einige voruͤbergehend be- ruͤhrt habe; wir betrachten sie hier, wie sie es auch waren, als reine Formen der Menschheit . Jeder Held erscheinet in seinem Cha - rakter . Der schoͤne Kopf, den man den Achilles nennt, so wie Ulysses , Ajax u. f.; sie zeigen, in welcher hohen Idee die Griechen sich jene Helden Homers ge- dacht haben. Und hierinn sind sie im ge- hoͤrigen Maas des Abstandes von so vie- len Koͤpfen der Dichter, der Dichterinnen und Weisen nicht verschieden; die meisten davon sind idealisch gebildet, nicht weni- ger als Apollo und die Musen. Eben aber durch diese idealische Form - Er - findung werden sie lehrreich. Man sie- het, wenn das Bild alt und aͤcht ist, wie die Kunst sich aus dem Inbegrif der Gesaͤnge und Sagen einen Homer , wie sie sich einen Pythagoras und Plato dachte. Der Held der Helden ist Herkules ; er ist es auch in der Kunst, fofern diese ihr Ideal nicht hoͤher hinauftreibt, als daß sie unbezwingbare Staͤrke , un- erschoͤpfliche Kraͤfte, in einem Menschen- koͤrper darzustellen zum Zweck hat. Mit- telst solcher Glieder hat er seine Thaten gethan und den Olymp ersieget; die Fa- beln hievon hat die Kunst mit großer Energie ausgebildet. Herkules in mehre- ren seiner Gefahren, insonderheit wie er den Hoͤllenhund bezwingt, gab eine schoͤ- ne Gruppe; und sein Torso, in welchem er von seinen Muͤhseligkeiten ausruht, ist durch Michael — Angelo der neuern Kunst ein großes Vorbild worden. Koͤpfe vom jungen Herkules sind von unbeschreib- licher Schoͤnheit; und seine Jole , Om - phale , Dejanira , sind von der Kunst und Dichtkunst sehr wohl gebraucht wor- den. Da indessen die bloße Uebermacht koͤrperlicher Staͤrke in der menschlichen Natur, noch kein hoͤchstes Ideal giebt; eine wohlthaͤtige Guͤte aber in Herkules Thaten schwerlich sichtbar gemacht werden koͤnnte: so ging seine Idee gleichsam mit der Zeit nicht mit; er blieb ein Colossus der alten Fabel. Uns zumal duͤnken seine riesenhaften Schenkel auch in Glykons Kunstgebilde ungeheuer und Geistlos. Lieber verweilen wir z. B. an Lao - koons Bilde. Der heilige Mann, der durch seinen verstaͤndigen Rath ein Retter des Vaterlandes werden wollte, und da- durch die feindliche Goͤttinn erzuͤrnte, wird mit seinen geliebten Kindern, die am Al- tar neben ihm dienen, von ungeheuren Schlangen ergriffen, und mit Jenen zu einer Todesgruppe verschlungen. Sein Arm, seine Brust, seine Seele hat aus- gekaͤmpft; das Gesicht gen Himmel ge- kehrt, athmet er sie aus in einem uner- maͤßlichtiefen, langen Seufzer. Fuͤrchter- lich-schoͤne Gruppe; ein Ideal der Kunst auch fuͤr das Gefuͤhl der Menschheit. Reiner kann schwerlich ein Maͤrtyrer ge- dacht, ruͤhrender und zugleich bedeutend schoͤner im Kreise der Kunst schwerlich vor- gestellt werden. Die Schlangen verunzie- ren nichts, und in ihren Banden macht der stumme Seufzer des Leidenden eine Wirkung, die St . Sebastian , Lorenz und Bartholomaͤus nicht gewaͤhren moͤgen. Herkules auf dem Berge Oeta war zu solchem Zweck nicht bildsam. Zu welcher schrecklichen Sprache koͤnnte der Seufzer Laokoons lautbar gemacht wer- den, wenn wir ihn, wie den Philoktetes auf Lemnus jammern hoͤrten! — Nicht aber Laokoon; Ihr seyd meine Helden der Kunst, Castor und Pollux auf dem Quirinalischen Berge; in Euch lebt mein Pindar. Großes Werk, eines Phidias und Polyklets nicht unwuͤr- dig; uns wenigstens ausser Griechenland und nach dessen zerstoͤrten Heiligthuͤmern statt der Werke des Phidias und Po - lykletus . „Lebten Menschen wie Ihr?„ fragte mein emporklimmender, umwan- delnder Blick. „Nein! antwortete der Geist, der euch umschwebet; aber uns dachten, uns bildeten Menschen. Helden- juͤnglinge, wie wir, waren einst in der Seele vieler junger Maͤnner und Helden. Auch den Dichtern sind wir erschienen; und das Vaterland hat auf uns gerech- net.“ — Lebt wohl, Idole der Menschheit! Das Wetter ziehe euch voruͤber und eine freche Faust muͤsse euch nie beruͤhren — — Ehe wir hoͤher hinauf steigen, lassen Sie uns auf dieser Hoͤhe des Helden - ideals verweilen. Zu den Fuͤßen dieser goͤttlichen Menschen sitzen wir nieder, die Idee des Weges zu sammlen, den wir zuruͤck gelegt haben. Die Griechische Kunst kannte, ehrte und liebte die Menschheit im Men - schen . Den reinen Begriff von ihr zu erfassen, hatte sie sich auf vielseitigen, muͤhsamen Wegen, uͤber schroffen Felsen, durch tiefe Abgruͤnde, mit manchen Ueber- treibungen und Haͤrten unablaͤßig bestre- bet, bis dann selbst diese uͤbertreibende Muͤ- he, die die Wahrheit um so schaͤrfer ver- folgte, nicht anders als zum Gipfel der Kunst fuͤhrte. In allen Menschenaltern und jeder ihrer merkwuͤrdigsten Situatio- nen in beiden Geschlechtern hatte sie die Bluͤthe des Lebens gewonnen, die auf solchem Stamme bluͤhet; denn die Grie- chen besaßen noch Einfalt des Geistes, Reinheit des Blickes, Muth und Kraft gnug, diese als eine vollstaͤndige , durch sich bestehende Idee in ihren Werken darzustellen und zu vollenden. Im Kinde dachten und bildeten sie die Kind- heit, im Juͤnglinge den Fruͤhling des Le- bens, im Manne den Goͤttersohn voll Selbstgenusses ist Kraft und Wuͤrde. An dieser Heldenidee nahm auch das weibli- che Geschlecht Theil, wie jene schoͤnen Bil- der der Amazonen zeigen, deren man- che im Geist eine Schwester des Castor und Pollux zu seyn verdiente. Nach- dem in allen diesen Formen die Kunst der reinen Idee Selbststaͤndigkeit , Wuͤr - de , eine in allen Theilen lebendiggewor- dene Bedeutung gegeben, und sie von jedem ungewissen, schwankenden oder frem- den Beiwerk, wie durchs Feuer gereinigt hatte: so war von diesen Gebilden noth- wendig auch jene Kraft , die ausfuͤl - lend zum Verstande und zum Her - zen in hoͤchster Einfalt spricht , un- abtrennlich. Der Zwang der Materie war uͤberwunden; Geschlecht, Alter, Characte- re waren in ihrer Verschiedenheit und lei- sen Angraͤnzung aufs sicherste bemerkt; und mit gegebenen großen Vorbildern in ieder Art und Gattung waren dauerhaf - te Kategorien der edelsten und schoͤnsten Menschenexsistenz geord- net. Auf wie wenige Hauptformen tritt die formreiche menschliche Natur in Gesinnungen, Leidenschaften und Situatio- nen zuruͤck, wenn wir sie mit dem weisen und nuͤchternen Auge der Griechen an- sehn! Der biegsame, Kraft- und Schoͤn- heitreiche Gliederbau der Menschheit, in wie wenige Hauptbedeutungen loͤset er sich auf, sobald die Seele Kraft hat, diese in jedem Theil, in jeder Stellung ganz zu behaupten! Unvergeßlich und ewig lehrreich sind mir die Stunden, da ich vor den Kunstgebilden der Alten, (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist,) die Mecha - nik und Statik menschlicher See - lenkraͤfte im menschlichen Glieder - bau ruhig betrachtete und abwog. Wel- che Freuden schoͤpfte ich in Erwaͤgung der Symmetrie und Eurythmie , noch mehr aber der schoͤnen Gegenstellung , die in Ruhe und Bewegung, nach verschie- dener Art der Charaktere, diesen goͤttlichen Koͤrpern mitgetheilt ist, also daß sich die Seele liebreich-strenge bis im Wurf des Gewandes und in seinen Falten, wie ein wehender Geist offenbaret. Ihr habt un- sre Natur gekannt und geadelt, ihr Grie- chen; ihr wußtet, was das menschliche Le- ben in seinen voruͤbergehenden Scenen sei, das ihr auf so manchen Sarkophagen eben so richtig und wahr, als einfaͤltig und ruͤhrend vorgestellet habt. Da erfaßtet ihr die Bluͤthe jeder fluͤchtigen Scene und heiligtet sie in einem nie verwelkenden Kranz der Mutter des Menschengeschlech- tes. Wenn unsre Art je so entartet wer- den sollte, daß wir diese innere Kraft und Anmuth der Menschheit , das hohe Siegel unserer Exsistenz gar nicht mehr erkennten; dann zerbrich, o Natur, die Form deines ausgearteten edelsten Ge- schoͤpfes; oder vielmehr sie zerbraͤche von selbst und zerfiele in Staub und Scher- ben. Und wodurch kamen die Griechen zu diesem Allen? Nur durch Ein Mittel; durch Menschengefuͤhl , durch Einfalt der Gedanken und durch ein lebhaftes Studium des wahresten, voͤlligsten Genus- ses, kurz, durch Cultur der Mensch - heit . Hierinn muͤssen wir alle Griechen werden, oder wir bleiben Barbaren. 66. 66. M it heiligem Ernst treten wir zum Olymp hinauf und sehen Goͤtterformen im Menschengebilde . Jede Religion cultivirter Voͤlker, (die christliche nicht aus- genommen) hat ihren Gott oder ihre Goͤt- ter mehr oder minder humanisiret ; die Griechen allein wagten es, humanisirte Gottheiten, ihrer und der Menschheit wuͤr- dig, in Kunst d. i, auf eine dem Gedan- ken rein und voͤllig entsprechende Weise darzustellen . Oder vielmehr sie laͤu- terten alles Schoͤne, Vortrefliche, Wuͤr- Sechste Samml. C dige im Menschen zu seiner hoͤchsten Bedeutung , zur obersten Stuffe seiner Vollkommenheit , zur Gottheit hin- auf, und theificirten die Menschheit. Andre Nationen erniedrigten die Idee Gottes zu Ungeheuern; sie huben das Goͤttliche im Menschen zum Gott empor. Unten sahen wir einen Reiz der Ju - gend , dessen fluͤchtige Bluͤthe wir bedau- erten; unter den Goͤttern ist er verewigt, eben dadurch daß er aufs hoͤchste gelaͤu- tert ward. Als das himmlische Sinnbild aller Juͤnglings - Genien auf Erden, stehet Dionysos hier, dessen zarte Idee die niedren Sterblichen so mißkennen, daß ich seinen Namen Bacchus kaum zu nennen wage. Er ist die sichtbargewordene ewi - ge Froͤhlichkeit ; im Genusse sein selbst, ohne Anstrengung und dennoch mit der leichtesten Elasticitaͤt ein suͤßer Begluͤ - cker der Goͤtter und Menschen . Im schoͤnen Charakter dieses thaͤtigen suͤ- ßen far niente rettete er einst den Olymp, und cultivirte die Welt durch Gaben und Geschenke. Sein Daseyn ist ein ewiger Triumph unter Trauben, mit denen er die Sterblichen erquickt und getroͤstet hat, un- ter dem ewigen Freudenliede jauchzender Maͤnaden. Und an seiner Seite senkt den Liebe- trunknen Blick auf ihn die durch ihn ge- rettete, selige Ariadne . Von ewigem Dank und innigem Ergetzen stroͤmt der geruͤhrte Blick, den keine Maͤnas, keine Baccha mit ihr theilet. Ohne Kinder, in seligem Anschaun des Genusses feiren die zwei ihr unzerstoͤrbares Triumphleben, in welchem Bacchus selbst die Bluͤthe der Weiblichkeit in seiner Natur genießet. Le- C 2 bet wohl, ihr gluͤcklichen Beide, du Ge- rettete und du ihr Retter; habt viel Nach- folger auf der Erde, die unter Scherz und Freude die Menschheit beseligen, die ret- ten und wohlthun, ohne daß sie es Zwang kostet. Der Triumphswagen solcher Ge- muͤther umjauchzen dankende Choͤre. — Schoͤne Statuen sind vom Bacchus da, und das capitolinische Haupt der Ariadne ist ganz ihr Charakter. Neben Bacchus stehet Apollo , das hoͤchste Symbol aller Heldenjuͤng - linge der Menschheit . Ueber Castor und Pollux erhaben ist seine Gestalt ein sichtbargewordener Heldengedanke . Seine Thaͤtigkeit ist Blick, Gang, Daseyn, Sieg mit der Schnelle des Pfeiles. Und dieser kuͤhne, rasche, selbst zornige Juͤng- ling ruͤhrt in andern Gestalten die Leier, der alle Musen horchen. Ihr horcht der Schwan, oder Greif zu seinen Fuͤßen; ihr horcht die Natur. Aller Musen Kuͤn- ste sind diesem Heldenjuͤnglinge eigen, der ein Ideal griechischer Cultur ist zur thaͤtigen und Musenhaften Hel - denjugend . In seinen drei Hauptstel- lungen, als Sieger, Saͤnger, und ruhen- der Juͤngling ist er immer Apollo; auch wenn er sanftangelehnt nur die Eidexe toͤdtet. Und neben ihm seine unermuͤdliche Schwester Diana . Sie, die Jung - fraͤulichkeit , daher auch die Keusch - heit und immer muntre Thaͤtigkeit selbst, ohne welche jene nicht bestehn konn- ten. In der gruͤnenden Natur, mit Nym- phen umgeben, eine Goͤttinn unter den Nymphen, eilt sie dahin wie ein jugendli- cher Hirsch, unbewußt ihrer Schoͤnheit; ihr Blick ist in der Ferne. Und wenn in ihrem Herzen der Funke der Liebe zuͤndet, und sie den Endymion belauscht; wie rein und stille verschwiegen ist dieser Anblick! wie ruͤhrend stellte ihn auf Grabmahlen die griechische Kunst vor! — Juͤnglinge und Maͤdchen sangen das Lob des Apolls und der Diana in Wechselchoͤren: denn beide Gottheiten waren das Abstractum ihrer Tugend . Erst nur, wenn Hy- men den Guͤrtel der Jungfrau loͤsete, trat die Verlobte aus dem Dienste der strengen Diana ins Gebiet der schaamhaf- ten Aphrodite. In Apolls schoͤnen Dar- stellungen ist also eine der hoͤchsten Zierden menschlicher Tugend erhalten; und wenn die Bildnisse der Schwester dem Ideal des Bruders nicht gleich seyn moͤchten, so verlaͤugnet dennoch keine Vorstellung den Charakter einer Artemis oder der sanf- teren Luna . Eine dritte Juͤnglingsart stehet dort an der Pforte des Olympus; es ist Merkur , der Gott schlauer Beredsamkeit , der behendesten Betriebsamkeit in al - len Geschaͤften . Er hat den Apoll uͤberlistet, hat mancherlei Anschlaͤge erfun- den, und traͤgt den Beutel. Auch traͤgt er Botschaften und geleitet die Seelen selbst zum Orkus, gefluͤgelt an Fuͤßen und Haupte. Es ist ein geschaͤftiger, munte- rer Gott, das Haupt einer großen Ge- meinschaft, die in ihm personificirt ist, ein unentbehrlicher Gott im Himmel und auf der Erde. Fabel und Kunst haben ihn so vollkommen ausgebildet, als den Jupiter oder die Minerva; er ist aber ein Erdgebohrner, der Maja Sohn, subaltern an Dienst und Charakter. Wir wollen den schoͤnen Gott, schoͤn an Haupt, an Fuͤßen und Haͤnden nicht ohne Betrachtung vor- beigehn. Bemerken Sie, wie er lauschet, wie er mit sich selbst und seinem Schlan- genstabe und seinem Hahn und Beutel so ganz Eins ist; ein vortreflicher Gott an der Pforte. Dir nahen wir uns, himmlische Aphro - dite , unuͤbertroffnes Ideal des weibli - chen Liebreizes , einer sittlichen Schoͤnheit . Aus der Welle des unru- higen Meeres stiegst du hervor, vom lau- en Zephir getragen; da legten sich die Wellen; deine sittsame Gegenwart machte sie zum Spiegel der Luͤfte. Bescheiden trocknetest du dein Haar, und jeder fal- lende Tropfe deines irrdischen Ursprunges ward ein Geschenk, eine Perle der Mu- schel, die dich wohlluͤstig in ihrem Schoos wiegte. Du stiegst zum Olymp, und die Goͤtter empfingen dich in deiner Gestalt: denn sie selbst war deine Huͤlle; die Gra - zie , mit der du dich , durch und durch sichtbar , dem Auge unsicht - bar zu machen weißt , diese in sich gehuͤllete Schaam und Bescheiden - heit ist dein Charakter. Auch auf dem haͤuslichen Altar der Griechen standest du nicht anders als unter diesem Bilde: denn nur Schaam kann Liebe erwecken und zeu- gen. Es ist ein verfehlter Charakter, wenn Aphrodite zuruͤckblickt, oder sich mit Wohl- gefaͤlligkeit zeiget; ihre Schoͤnheit ist die, daß sie, sich vor ihr selbst gleichsam und vor Allem verbergend, Himmel und Erde entzuͤckt; dem wegschluͤpfenden Thautropfen einer jungen Rose aͤhnlich, in dem sich die anbrechende Morgenroͤthe spiegelt. Das bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin hat sie der Sinn der Griechen, selbst mit ihrem zu kleinen Koͤpfchen und was man sonst an ihr tadelte, gedichtet. Beschei- denheit und eine Kunstlose Schaam, die selbst die hoͤchste Kunst ist, sind und we- cken den Liebreiz. Es giebt keine feinere Zunge dieser Waage. Neben ihr stehe die verschleierte Vesta . Als die große Mutter der Natur ken- nen wir sie nur auf Gemmen, oder in der Flamme ihres Altars; aber ihre Vestalen, die Dienerinnen ihres heiligen Heerdes, sind uns ehrwuͤrdige Jungfrau - Ma - tronen . Aus jeder Falte ihres Gewan- des haͤtten Nonnen und Heilige lernen koͤnnen, was zu beobachten sei, um in ei- ner reinen Menschheit also ehrwuͤrdig zu erscheinen, daß man bei einer kaum sicht- bar gewordnen Hand und dem Engelrei- nen Antlitz den großen dichten Schleier heiliger Geluͤbde verehret. — Wieder lasse ich mich am Fuß dieser Ve- stale nieder und frage: „was helfen uns die- se Bilder? diese so groß und rein und rich- tig bestimmten Menschen-Ideale?“ — Und antworte mir selber: „viel! sehr viel!“ Dort nahm Pallas dem Diomed die Wolke vom Auge hinweg, daß er ei- nen Gott und einen Sterblichen unterschei- den konnte; eben diese Wohlthat wird uns durch dies Studium der griechischen Kunst gewaͤhret. Leibhaft wandeln unter uns keine Apollo's und Dianen umher; jene Anlagen des Charakters aber, die ei- ne Diane oder Vestale, eine Ariadne oder Anadyomene, einen Merkur, Bacchus, Apollo im hoͤchsten Ideal gaben, sind in zersteueten , oft sehr verworrenen Zuͤgen vor uns. Diese Anlagen nur zu erkennen, ist eine Charakteristik menschlicher Denkar- ten und Seelenformen noͤthig, die sich auf wilden Wegen schwerlich erlangen laͤßt. Sind Linneus genera plantarum das Inventarium der Botanik worden, schaͤtzet man seine nach Naturkennzeichen gegebne Thierclassen hoch; sollte es nicht auch Menschenclassen nach Natur - eigenschaften geben? und waͤren diese, auf die reinsten Begriffe gebracht und in unzerstoͤrbaren Formen dargestellt, nicht al- ler Betrachtung werth? Daß die Griechen den Menschen mit einem unbefangeneren, schaͤrfern Blick angesehen haben, als wir, wird niemand laͤugnen; daß unsre Tempe- raments- und physiognomische Eintheilun- gen zu Nichts sicherm fuͤhren, muß jeder- mann klar einsehn; warum liegen uns denn jene von Meistern erfundene scharfe und große Formen der Unterschei - dung so weit ab? Warum sonst, als, weil wir sie nicht verstehen, oder zu ge- brauchen nicht vermoͤgen. Wir fuͤhlen, daß der edelste Saame, unter uns aufkei- mend, kein Klima zum Aufkommen, ge- schweige einen Olymp zur Gottesgestalt findet, und tappen also fort im Nebel. Wenn aber die liebliche Scham, die See- len verhuͤllte Vestale oder Dianens keusche Tochter keinen Olymp verdienen, geniessen sie nicht eines haͤuslichen Altars? Eine reine Kritik dieser der erlesensten Menschenformen , die man Goͤtterge- stalten nennt, pruͤft und sichert unser Ur- theil auch fuͤr alle sittlichen Composi - tionen . Von wie manchem Nebenbegriff bin ich frei geworden, wie manche Mei- nung habe ich vergessen lernen, seitdem die Kunst drr Griechen, gestuͤtzt auf ihre Weis- heit und Sittenlehre, meine Fuͤhrerin ward. Demuͤthig wie ein Fragender zu Delphi, frage ich mich: hat diese Composition, hat dies Urtheil, hat dies Werk einen Werth ? haben sie einen sittlichen Charakter ? Von welcher Art ist dieser? hoch oder nie- drig? und ist er sich selbst treu, in sich bestaͤndig? durch die ernste Fragen, wie manches lernt man vergessen und weg- thun! Dies Urtheil uͤber eine Composition z. B. kann nur auf zwiefache Weise, sub- jectiv und objectiv ein Gewicht haben. Subjectiv : indem der Urtheilende den ganzen Sinn des Werkes, das er beur- theilt, treu erfasset, ihn an allen Theilen vesthaͤlt und dessen Bestandheit oder Un- bestandheit wie in einem Kunstwerk zei- get. Objectiv , indem er uns das rei- ne Richtmaas vorhaͤlt, nach welchem und nach keinem andern es gebildet werden konnte noch sollte. Thut der Urtheiler keins von beiden, oder verwirret er beide Arten mit einander; ist er so schwach, daß er den Sinn des Gedankenwerks oder der Handlung weder zu begreifen noch darzustellen vermag, oder so anmaassend, daß er eine ungepruͤfte mangelhafte, fal- sche Regel, aus Unkunde oder Vermes- senheit, uns als ein Gesetz vorhaͤlt; wer wird daruͤber ein Wort verlieren? Seit- dem ich uͤber den vaticanischen Apollo, uͤber Laokoon und die tragische Muse, uͤber das Ideal der Alten u. f. gehoͤrt und gelesen habe, was ich daruͤber ge- hoͤrt und gelesen, kuͤmmern mich wenige Urtheile mehr, aber das Urtheil der We- nigen, die eine vollstaͤndige Idee des Werks, als eines griechischen Kunst- werks, haben, gehen mir auf Leib und Leben. Was endlich die Anwendung dieser großen Gedanken betrift; wozu sind die Bilder meiner Goͤtter und Helden nicht angewendet worden? Das muß den Meister eines Werks nicht kuͤmmern; gnug, sie stehen da und leben. Wenn ihr inwohnender Genius sie nicht schuͤtzt und aus ihnen spricht, so ist alle Wache und Fuͤrsprache verlohren. 67. 67. D ie Idee des Kriegesgottes unter dem Bilde des Mars ( Ares ) war den Grie- chen seit dem Homer nicht so geehrt, als sie es den Roͤmern ward, die von diesem Gott ihr Geschlecht ableiteten. Seine Statue ist selten, und wo man sie dafuͤr haͤlt, wird sein Ansehn durch Ruhe oder durch Amor und Venus gemildert. Die nackte Idee eines Kriegers, kann als ein unbestimmter Begriff kein hohes Ideal ge- ben. Eben also Vulkan . Der Gott aller Kuͤnstler, der nur als ein Werkmeister bei seiner Arbeit vorgestellt werden konnte, Sechste Samml. D war eines hohen Ideals unfaͤhig. Pro - metheus selbst gab mit seiner Menschen- bildung zu schoͤneren Ideen Anlaß, inson- derheit unter dem Beystande der Minerva. Feierlicher erscheint jene große und zaͤrt- liche Mutter, die Hausmutter der Erde, Ceres , Demeter . Ruhig und Haus - muͤtterlich ist ihr Anstand; wie erschreckt und eilig aber schwingt sie die Fackeln, wenn sie ihre verlohrne Tochter Proser - pina sucht! Diese Geschichte, eine der sinnreichsten und bedeutendsten des Alter- thums, ist in ihren schoͤnen Vorstellungen auf Grabmaͤhlern der Menschheit so lieb, als die Geschichte Endymions, der Psyche oder die Scenen des menschlichen Lebens von Prometheus an bis zum schuͤchternen Eintritt der Seele ins Reich des Aides . Traurig und milde thront Proserpina da, sie selbst eine geraubte Koͤnigin des Orkus. Noch drei Goͤttercharaktere sind vor uns, Pallas , Jupiter und Juno . Das Bild der Pallas , die zuerst ei- ne fuͤrchterliche Kriegesgoͤttinn war, ist viel bedeutender und edler, als Mavors ausgebildet worden: denn eine maͤchtige Staͤdtebeschuͤtzerin war sie, keine to- bende Wilde. Sie vereinigte Muth mit Verstand, und war dadurch von jeher dem roh-angreifenden Mars uͤberlegen. Vor ihrer Brust das Haupt der Medusa, und jenen Schild, den Homer lebendig beschrieben; in ihrer Hand den maͤchtigen Speer; den schrecklichen Helm auf ihrem Haupte, war und blieb sie selbst die heili- ge Jungfrau, die aus dem Haupte Jupi- ters entsprossen, gleichsam sein sicht - bargewordener maͤchtiger Schreck - Gedanke , und in der Folge die Goͤt - tinn aller Weisheit , insonderheit des D 2 haͤuslichen ruhigen Fleißes war. In beiden Eigenschaften ward sie gebil- det; bald als jene furchtbare Goͤttinn, de- ren ploͤtzliche Gegenwart Verwirrung und Flucht bringt, bald als die friedliche Staͤdtebeschuͤtzerinn, die Mutter aller nuͤtz- lichen Kuͤnste. In beiden Vorstellungen ist ihre daͤmonische , maͤchtig - stille Gegenwart wirksam. Wie vor einem hinabgeschwebten olympischen Wesen stehet man vor der Minerva Giustiniani; man wagt ihr kaum zu nahen, und doch ist ihr Daseyn so in sich geschlossen und friedlich. Keine andre Goͤttinn fuͤhrt diese Gattung heiliger Majestaͤt bei sich, die eine Pallas auch nicht verlaͤßt, wenn sie in haͤuslichen Kuͤnsten arbeitet. Dank dem glorreichen Athen, das seine Goͤttinn so schoͤn ausge- bildet. Es weihete ihr alle Kraͤnze, die aus seinem Flor entsproßten, indem das Fest der Gedankentochter Jupiters sein großes Fest war. Mit Andacht opferte ihr Mutter und Kind der Krieger, wie der Weise. Das verschlossene Bild der Juno Lu- dovisi stellet die Koͤnigin des Himmels dar, des hoͤchsten Gottes Schwester und Gemahlin. Alle weibliche Majestaͤt, Pracht und Groͤße ist in dies ruhige Ant- litz gesenket. Sie hat nicht ihres glei- chen; ihres gleichen kann sie nicht haben; die goͤttliche, koͤnigliche Juno. Besaͤßen wir vom Jupiter selbst ein Bild wie die- ses! Dennoch aber, ob uns gleich ein Phi- dias-Bild vom hoͤchsten Gott fehlet, ist sein Charakter in allen Vorstellungen merk- bar, Macht , Weisheit und Guͤte in Ein unsterbliches Haupt versammlet. Was sein Weib in stolzem Anstande zeiget, das ist er in ruhiger Wuͤrde, Vater der Goͤt- ter, Koͤnig des Himmels und mit seinem Stabe ein Hirt der Voͤlker. Der Blitz in seiner Hand hat die Riesen zerschmettert und die Luͤfte gereinigt; sein Blick hat den Elementen Frieden geboten, darum feiern um seinen Thron Grazien und Ho- ren unzertrennbare Reigentaͤnze. Sein Haupthaar, dessen Wallen den Olymp er- schuͤttert, faͤllt in ruhigen Locken nieder; sein Mund ist guͤtig und der Wink seines Augenbrans verheißt dem Flehenden, der sein Knie beruͤhret, vaͤterlichen Beistand. Heil dem Gott der Goͤtter! Er gebe sei- nen Erdgebohrnen Soͤhnen, was er hat und ist, maͤchtige Guͤte , gnaͤdige Weisheit . Nach Jupiter darf ich von seinen bei- den Bruͤdern nicht reden; sie tragen sei- nen Charakter, nur in niedrigern Rei- chen. Neptun in den Wellen des Meers zeigt den Sturm desselben, aber nur in seinem Haar; sein Anblick glaͤttet das Meer, und gebietet Stuͤrmen und Wellen Friede. Pluto 's (Jupiter-Serapis) Antlitz mit seinem duͤster-guͤtigen Blick eroͤfnete mir jedesmal die dunkle Unter- welt, wenn ich ihn ansah. In duͤstern Gegenden ist dieser traurig ernste und doch milde Jupiter Koͤnig. So charakterisirten die Griechen Leben und Tod, Himmel und Orkus. O waͤren uns von so manchen Gottheiten, die im Pausanias genannt sind, Abbildungen uͤbrig; wir haͤtten eine Charakteristik selbst aller Leidenschaften der Seele . Wenn dieser mein Brief oͤffentlich be- kannt wuͤrde, so koͤnnte es schwerlich an- ders seyn, als daß er Manchem enthusia- stisch vorkaͤme. Diesem aber haͤtte ich nur Eins zu sagen: gehe hin, sieh' und be- trachte. Je kaͤlter, desto besser; um so mehr wirst du, was ich andeutete, finden. Nur habe kein vorgefaßtes System.“ Alle wissen wir, daß die Goͤtter der Griechen, in verschiedenen Gegenden ent- sprossen, hie und dort anders gedacht, mit Nebenumstaͤnden oft verkleidet, von Dichtern aͤußerst verschieden behandelt, von Philosophen endlich mit Allegorieen dergestalt uͤberladen worden sind, daß man in jedem Gott einen ganzen Olimp von Goͤttern finden koͤnnte. Aus diesem allen folgt aber nichts, was meiner in Denk- mahlen vorliegenden Wahrheit zuwider waͤre. Der Mytholog zaͤhle jede oͤrtli- che Gottheit mit ihren Attributen und Na- men her; eine sehr lehrreiche Tempelreise. Der Ausleger bemerke jede Verschieden- heit der Goͤtterfabel nach Zeitaltern, Dich- tungsarten und einzelnen Dichtern; eine sehr lehrreiche Reise, wenn sie mit Ari - stoteles Scharfsinn angestellet wird. Un- ter andern guten Folgen wuͤrde sie uns auch vor der unseligen Uebertragung des Bildes Einer Dichtungsart in eine von ihr verschiedene, ja vor hundert andern unnuͤtzen Anfuͤhrungen bewahren. — Der Kunstliebhaber reise die Kunstwerke durch, sowohl die noch vorhanden sind, als auch von denen die Alten reden. Er untersuche das Spiel der Kuͤnstler-Ideen nach Zeiten, Gelegenheiten, am meisten nach dem Ort und Zweck ihrer Anwen- dung: denn unmoͤglich koͤnnen doch Sta- tuen, Bas-Reliefs, Gemmen und Muͤn- zen auf Einen Fuß genommen, Zeiten und Laͤnder verwirrt, und Alles wie auf Einer Tafel betrachtet werden. Hieruͤber ist noch wenig geleistet worden, zumal so viele schoͤne Basreliefs noch nicht bekannt, und wenige Kunstliebhaber in dem gluͤcklichen Fall sind, alles Bekanntgewordene zu ken- nen, oder mit Musse zu gebrauchen. — Endlich vergleiche dieser Kunstliebhaber Kuͤnstler und Dichter ; von allen vori- gen das schwereste Werk, das nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch Verstand und einen wirklichen Kunst- und Dichtersinn fo- dert. Hier brach Leßing eine große Bahn, auf welcher aber noch nicht weite Schritte gemacht sind. Eine veste Kritik hieruͤber wuͤrde uns vor mancher ungluͤcklichen An- wendung der Kunst auf die Dichter, die in theuren Werken vor uns liegen, und doch bloße Barbarei sind, bewahren. — Alle diese und noch mehrere Erwaͤgungen aber verruͤcken den Gesichtspnnkt nicht, den ich verfolgte, naͤmlich: „ welche rei - ne Idee lag der Kunst , und zwar in ihren heiligsten Werken vor , die oͤffentlich dargestellt und fuͤr die Ewigkeit geschaffen wurden ? Wie kam die Kunst zu ihr ? wie hat sie solche ausgefuͤhret ?“ Dies duͤnkt mich gleichsam das letzte, innigste Resul- tat beim Ueberschauen ihrer Werke, in denen der Kuͤnstler nicht eigenmaͤchtig spie- len, sondern den Charakter seines Gegen- standes als eine bleibende, ja gar als eine hoͤchste Idee angeben wollte. Wuͤrde mir also Jemand gegen meinen Jupiter die Vase zeigen, auf der er als Maske die Rolle des Amphitruo spielet, oder gegen meine Juno ihren Zank im Ho- mer anfuͤhren: so koͤnnte ich ihm nichts sagen, als: „fuͤr dich habe ich nicht ge- schrieben.“ Ich schrieb von den Idea - len der Humanitaͤt in der grie - chischen Kunst und diese bleiben vest, wenn auch bei Dichtern und Kuͤnstlern tausend Inhumanitaͤten vorkaͤmen; von diesen moͤge ein Andrer schreiben. 68. „ A ber, m. F., die Faunen , die Sa - tyren , Pan , Silen , der Indische Bacchus , die Maͤnaden , die Cen - tauren , (an mehrere Ungeheuer nicht zu denken) — wie bestehen diese mit Ihrem Ideal der Humanitaͤt in Griechischen Kunstwerken?“ „Zweitens. Und haͤtten die Griechen uns denn Alles vorweg genommen? waͤ- ren außer diesen und hinter ihnen nicht noch andre, feinere sittliche Ideale moͤg- lich? Ja waͤren diese von mehreren Kuͤnst- lern nicht wirklich gegeben?“ „Endlich, was hilft uns diese Huma- nitaͤt der Griechen, da wir nicht Griechen sind? Unser Himmel, unsre Einrichtun- gen, unsre Lebensweise legen uns andre Beduͤrfnisse auf, und fodern von uns an- dre Pflichten. Wir luͤsten also, wenn wir jene, soll ich sagen, feinere oder groͤbere Sinnlichkeit alter Zeiten, jugendlicher Voͤl- ker der Welt begehren, nach einer uns versagten, dazu gefaͤhrlichen Traube. Un- sre Humanitaͤt bluͤht in philosophischen Begriffen ohne sinnliche Darstellung. Die Bluͤthenzeit ist voruͤber; wir kosten Fruͤch- te.„ Wollten Sie uns wohl Einige dieser Zweifel loͤsen? 69. D ie Satyren der Griechen sind eben sowohl Denkmale ihrer humanen Weis- heit, als die erhabendsten Goͤtterbilder. Nicht alles laͤßt sich in der Menschheit zum Helden und Gott idealisiren; deßhalb aber ist dieser Theil unsres Geschlechts so ganz und gar nicht verwerflich. Es giebt eine geringere, eine Faunen - und Sa - tyrennatur in der menschlichen Bildung, die wir nicht verlaͤugnen koͤnnen; sie ist behend, aufgeweckt, lustig, munter in Ein- faͤllen, in laͤndlichen Scherzen und Spielen; dabei luͤstern, uͤppig; uͤbrigens einem Theil nach, (denn es giebt auch grobe boͤse Faunen) gutartig, dienstfertig, wohl- gefaͤllig, freundlich. Warum sollte man diesen Geschoͤpfen, die einst die Besitzer der jungen Welt waren, ihre Freuden und Spiele stoͤren? Warum sollte man diesem Satyrus, der mit so unendlichem Appetit die suͤße Traube kostet, jenem Faunchen, das die Nymphe belauscht oder haschet, jenem andern, der mit kindischer Freude die Floͤte blaͤset, oder gaukelnd auf- huͤpfet, ihre jugendliche Freude, ihre uner- fahrne Luͤsternheit und Neugier rauben? Vergnuͤgungen oder Lustkeime dieser Art ma- chen ja einen so großen Theil der Jugend- Freuden aus, die man unschuldige Freu- den zu nennen gewohnt ist; und manche Charaktere haften daran Zeitlebens. Also bemaͤchtige sich auch die Kunst dieser Clas- se der Menschheit; nur sie sondre sie ab , ab , und charakterisire sie also , daß man sogleich ihre Natur wahr - nimmt . Dies hat die Kunst gethan, und zwar (ich gehe alles voruͤber, was fuͤr luͤ- sterne Augen, in Wohllust- Kammern oder Gaͤrten gemacht wurde) auf eine dem Ge- nius dieser Gattung ganz gemaͤße Weise. Diesem jungen Satyr sprießt ein Hoͤrn- chen, jenem ein Schweifchen; sein spitzes Ohr lauscht, sein Blick, seine Zunge luͤ- stet; also ist er schon seiner Art nach zum gaukelnden Sprunge, zur luͤsternen Froͤh- lichkeit gemacht; in dieser Art hat die Kunst ihn ergriffen, und charakterisiret. Es giebt Satyren von großer Schoͤnheit; nur sobald sie Satyren sind, zeichnete sie die Kunst aus, als der reinen Menschheit nicht ganz wuͤrdig. War es Grobheit oder zartes Gefuͤhl, das diesen Unterschied machte? Unser Auge wuͤrde vielleicht nicht Sechste Samml. E beleidigt, wenn ein ganz menschlicher Juͤngling mit einer Nymphe scherzt; das Auge der Griechen ward es. Die Gestalt eines Juͤnglinges war heilig; aber ein Satyr durfte so scherzen und taͤndeln. Diese charakteristische Unterscheidung, die Begierden solcher Art gleichsam an die Grenze der menschlichen Natur ruͤckte, war also hoͤchst-sittlich gedacht, und die reine menschliche Natur, insonderheit der menschliche Juͤngling ward durch sie sehr geehret. Ueberhaupt machen wir uns von dieser ganzen Gattung Geschoͤpfe zu grobe Be- griffe, weil unserm Klima die laͤndlichen Spiele und Feste, die dazu Gelegenheit gaben, fremde sind. Wir denken uns al- lenthalben grobe Waldfaunen und Wald- teufel, von denen dort nicht die Rede war; es waren bekannte froͤhliche Mas - ken . Die Griechen hatten sogar eine eigne Gattung Schauspiele, wo nur Sa- tyren sprachen und huͤpften; Schauspiele, die unmittelbar hinter den groͤßesten Stuͤk- ken Aeschylus und Sophokles gespielt wurden, und deren sich die groͤßesten Mei- ster nicht schaͤmten. Diese Stuͤcke waren Denkmale der Freiheit und Froͤhlichkeit alter Zeiten; ein Satyr durfte sprechen, was der ehrsame Mann nicht sprach, und man durfte es hoͤren: denn es sprachs aus den Kindeszeiten der Welt ein Satyr. Neuere Kuͤnstler haben dies sittliche Costu- me, was einem Menschen und einem Sa- tyr zieme? nicht eben so genau unter- schieden. Damit habe ich zugleich dem Silen , dem sogenannten Indischen Bacchus , den Centauren , Sirenen , noch mehr aber jenen Ungeheuern, die sich ganz von E 2 der menschlichen Natur absondern, das Wort geredet. Bei uns laufen alle diese Dinge durch einander; der Silen heißt ein ehrlicher Mann, der gerne trinkt; Jahrhunderte lang waren unsre Trimal - cions Leute von der großen Welt; ihre Sitte hieß Hofsitte und Kunst zu leben. Bei den Griechen nicht also; Silen und Trimalcion waren Masken ausge- zeichnet-niedriger Charaktere. Haben Sie in dieser Ruͤcksicht uͤber- dacht, welchen Vortheil solche Masken der griechischen Kunst, welchen Adel sie der menschlichen Bildung gaben? Durch sie ward von unsrer Natur abgesondert, was sie verzerret, was ihr nicht ziemet. Alle Carrikatur naͤmlich war in Masken ver- legt, classificirt und geordnet. Damit blieb sie vom edlen menschlichen Koͤrper getrennt: kein Hogarth durfte Prome- theus seyn und Menschen bilden; wohl aber konnte das Kind, der Knabe mit Masken spielen, selbst Jupiter und Mer- kur konnten in Masken agiren, wenn sie's gutfanden. Sie waren jetzt nicht Goͤtter, sondern Misgestalten; denn wer eine sol- che Maske traͤgt, bezeugt eben damit, daß er jetzt kein Mensch, oder Gott, sondern das Thier, der Thor sei, in dessen Gestalt er erscheint. Der edeln Menschengestalt, die bei den Griechen uͤber Alles galt, hat er entsaget. — Selbst an die Griechische Classification und Ordnung dieser der Menschheit unwuͤrdigen Formen hat kaum ein neuer Begriff gereichet. Die Centauren der Griechen, inson- derheit Chiron , der den Achilles unter- weiset, haben mich immer lehrreich ver- gnuͤget. Ich kann den Gedanken, daß ei- ne verstaͤndige, zaͤrtliche, tapfere und keu- sche Thierheit die Erzieherin und Wieder- herstellerin des Menschengeschlechts sei, nicht zarter ausdruͤcken, als er hier aus- gedruͤckt ist: denn Swifts edle verstaͤndi- ge und keusche Huynhyms im Contrast seiner Yaoh 's, sind, gegen die Dichtung der Griechen, barbarische, in sich selbst nicht bestehende Gedanken. Chiron unter- weiset den Achill, nicht etwa in der Jagd allein, sondern in allen Kuͤnsten der Mu- sen, sorgsam, strenge und zaͤrtlich. Die Leyer in der Hand eines Centaurs; eine mit ihren menschlichen Mutterbruͤsten naͤh- rende Centaure, auf deren Ruͤcken Amor sitzt, wuͤrde den Stof zu einer aͤußerst sitt- lichen Unterhaltung geben, auf welche die Deutungen der Fabel, daß dergestalt die Helden der Vorwelt cultivirt worden, selbst weisen. So auch Ihr, ihr schoͤnen Medusen , Gorgonen , Sirenen , Scylla und Charybdis , ihr Bacchen , Maͤna - den , Titanen und Cyklopen , wo und wie ihr in der Kunst der Griechen erscheint, seyd ihr an eure Plaͤtze geordnet. Unter uns lauft ihr umher; eine Titane laͤßt sich als Held, eine Meduse als Charis, eine Baccha als die Koͤnigin des Himmels an- schauen und physiognomisch malen. Waͤren wir den Griechen nicht Dank schul- dig, daß, was wir nicht koͤnnen, sie ge- than, und nach unveraͤnderlichen Regeln und Kennzeichen Classen geordnet, Abar- ten ausgezeichnet und die reine Form von der Unform getrennet haben? Auch die Barbaren, und den sogenannten Trimal - cion haben sie treffend bezeichnet. 70. I hre zweite Frage „Haben die Griechen uns alles vorweggenommen, und sind nicht nach und hinter ihnen andre, feine- re und sitlichere Ideale moͤglich? Ja sind diese nicht vielleicht schon laͤngst in der neueren Kunst gegeben?“ diese Frage wird sich, wie mir es scheint, aus dem Vori- gen von selbst beantworten. Die Griechen naͤmlich haben, indem sie alles ordneten, als Raͤuber nichts vorweggenommen; sie haben der Erfindung keines sterblichen Menschen geschadet, sondern dieser Raum gemacht und sie geleitet. Im Anbeginn der Dinge, sagen die Dichter, schwebte alles in wuͤster Unord- nung und es war zu nichts Raum. Da begann eine Welt; jedes ordnete sich zu Seines gleichen; es wurden Planeten und Sonnen. Elemente sonderten sich; es ent- standen Kunstgeschoͤpfe. Nun ward Raum: denn die harmonischen Toͤne der Welt- leyer waren erklungen, und Alles gesellet sich seitdem zu seinem Geschlecht, zu sei- ner Ordnung. Noch jetzt erhalten sich al- le Classen der Lebendigen also; so reihen noch jetzt sich Sonnen an Sonnen; Ne- belsterne ziehen sich zu Systemen zusam- men und gewaͤhren Raum; so ward und so wird die Schoͤpfung. Auch die Kunst, die Schoͤpfung der Menschen nicht anders. Die Griechen er- fanden und vollendeten Ideale ; sie schuf- fen Classen der Menschheit , und trenneten ab, was nicht zu ihr gehoͤret. Damit bildeten sie den reinen goͤttlichen Begriff unsres Geschlechts zart und viel- seitig aus; wem haben sie hiemit gescha- det? Wer sich edler als Castor und Pollux, schoͤner als Dionysos oder Apollo, jung- fraͤulicher als Diana, daͤmonischer als Mi- nerva fuͤhlt, der trete her und die Kunst wird ihm opfern. Ein Koͤnig, der uͤber Jupiter, eine Koͤnigin, die uͤber Juno herrlich, eine Geliebte, die zaͤrtlicher ist als Psyche, trete her und die Kunst wird ihr opfern. Die hohen Sternbilder, die geordneten Sonnen-Systeme stehen da; und zwischen ihnen ist Raum zu andern Systemen. Jede reine Idee, die ein vollendetes Bild giebt, theilt nachbarlichen Ideen Klarheit mit; dies zeigt die griechische Kunst in hohem Grade. Aus jener be- scheidenen Aphrodite ward mit einer kleinen Veraͤnderung eine Nemesis aus ihr und aus allen urspruͤnglich wenigen Goͤtterformen, wie viel Ideen sind erwach- sen! Parcen und Eumeniden, Grazien und Horen, Nymphen allerlei Art, Schutz- goͤttinnen der Laͤnder und Personen, per- sonificirte Tugenden und Ideen. Eine Genealogie dieser Gestalten wuͤrde zeigen, von wie wenigen Hauptformen sie ent- sprossen sind, und wie sich, der einmal festgestellten Ordnung nach, immer Glei- ches zu Gleichem gesellte. Bis auf die Muͤnzen der Roͤmer in ziemlich spaͤten Zei- ten erstreckte sich diese Fruchtbarkeit jener kleinen Anzahl Griechischer Ideen; auf ihnen erhielten sich Bilder sittlicher Hu- manitaͤt selbst in Zeiten, da alles dem Ge- setz und Kriege, dem Zwange und der Noth diente. Sollten also jene Denkbilder reiner Formen der Menschheit je einem Sterbli- chen den Weg zu Ideen verschliessen oder verschlossen haben? Niemals; nur lange Jahrhunderte waren in so dunklem Nebel, daß auch der Umriß solcher Formen nicht erkannt werden mochte. Endlich zerfloß der Nebel; der menschliche Geist gelangte wieder zu einigermaßen hellen Begriffen; Andacht und Liebe verkuͤrzten den Weg dahin, und so sind jene Bildnisse erschie- nen, die wie Morgensterne aus der wei- chenden Nacht hervorschimmern. Man humanisirte feine Religionsbegriffe; und so trat vor allen andern die gebenedeie - te Jungfrau , die Mutter des Welthei- landes in einer eignen Idee hervor, zu der ihr die griechischen Musen nicht halfen. Der Gruß des Engels half ihr dazu, der sie die Holdselige , die Got - tesgeliebte ; ihre eigne Demuth half ihr dazu, in der sie sich die Magd des Herren nannte. Aus diesen beiden Zuͤ- gen floß ihr liebliches Wesen zusammen, das sich dem menschlichen Herzen sehr ver- traut machte. Dichter hatten sie mit der Stimme des Engels in zarten Worten oft gegruͤßt, zutrauliche Gebete sie liebreich angeredet; jetzt trat die Kunst hinzu, sie auch sichtbar zu machen, sie und das Kind in ihren Armen, die selige Mutter und die heilige Jungfrau . Keuschheit also und muͤtterliche Liebe, Unschuld des Her- zens und jene Demuth, die in der groͤße- sten Hoheit sich selbst nicht kennet, die in tiefer Armuth die seligste ihres Geschlechts ist; diese neue Form der Menschheit ward vom Himmel gerufen; ein Marien - Cha - rakter . Sein unterscheidender Zug ist, wenn ich so sagen darf, jene christliche Unbefangenheit , in der die Mutter von ihr selbst, von ihrer Herrlichkeit, kaum von ihrem Kinde zu wissen scheinet, das sie dennoch, das dennoch sie liebreich umfaͤngt, und den Menschen hold ist. Eine humane Gruppe, die Kind und Knabe, Maͤdchen und Jungfrau, Braut und Mutter, Mann und Greis, der Ster- bende selbst zutrauend-sanft, gleichfalls mit christlicher Unbefangenheit gern ansehn; da uͤbrigens Raphaels Marien, gewiß die hoͤchsten und reinsten ihrer Art, alle Land - maͤdchen sind, nur sehr innig gedacht und rein idealisiret. Jene Glorreiche, selbst, die, das Kind im Arm, uͤber den Wolken schwebet, kennet sich selbst nicht und ist in ei- ner sanften Verwunderung uͤber die Hoheit, die ihr zu Theil wird. Ausser Raphael ha- ben wenige diese Idee erreichet; die gebeugte Schmerzensmutter gelang ihnen viel mehr. Den Sohn Gottes in Menschenge- stalt haben ausser Raphael , da Vinci , del Sarto wenige wuͤrdig gedacht und empfunden, also naͤmlich daß die goͤttliche Menschheit des Erloͤsers der Menschen nicht zugleich Niedrigkeit wuͤrde. Das Bild des ewigen Vaters fand noch mehrere Schwierigkeiten; die Idee des ge - fallenen maͤchtigen Engels nicht minder. In allem aber, was der naͤhere Kreis unsrer Menschengestalten einschließt, welchen Reichthum schoͤner Compositionen haben in Neueren eben die Alten erweckt und befoͤrdert! Wer hat je Raphaels Schule zu Athen und seine andre vatika- nische Gemaͤhlde gesehen, ohne zu empfin- den, „in ihm war eine griechische Seele.“ Engelsangesichte sind in seinen Gemaͤhl- den; seine Muse war ein schaffender Geist, der Gestalten hervorruft und jeden Cha- rakter mit Grazienhand das Seinige an- weiset. Was Angelo und so viel andere den Alten schuldig sind, haben sie selbst bekannt; in gluͤcklichen Zeiten der Kunst werden andere kommen, und neu erfinden. Der Ideenbildende Geist ist nicht ausge- storben und kann nicht aussterben; in den griechischen Kunstwerken ist ein ewiger Same zu seiner Neubelebung. 71. „ W as in unserm Klima, in unsrer Ver- fassung uns die Griechische Kunst solle?“ fragen Sie; und ich antworte kurz: „ wir wollen nicht sie , sondern sie soll uns besitzen ;“ gerade das Gegentheil, was jener Grieche von sich in Ansehung der Lais ruͤhmte. Diese Lais verfuͤhrt nur schlechte Gemuͤther; die bessere wird sie als eine Aspasia bilden. Wir wollen , meyne ich, die grie - chische Kunst nicht besitzen , da so Sechste Samml. F wenige nordische Seelen sie kaum fuͤhlen. Die griechischen Kunstwerke selbst sind ja unserm unfreundlichen Klima fremde; und es dauerte mich stets, wenn ich Schaͤtze dieser Art nach Britannien hinuͤber ge- schifft sah. Ein Raub der Proserpina; wer wird sie in jenen plutonischen Hai- nen, wo sie unverstanden, zerstreut und verschlossen dastehn, suchen und von ihnen lernen? Lasset ihr Weltuͤberwinder, den Raub Griechenlandes und Aegyptens ih- rer alten Beherrscherin, dem milden und ewigen Rom, wo Jedermann, dem das Gluͤck den Weg dahin nicht versagte, um ein Nichts zu ihnen Zutritt findet. Sen- det eure Kuͤnstler dahin, oder gewaͤhret euch selbst ihren mildernden Anblick; nur machet sie nicht zu Boten unter den Voͤl- kern, oder zu Hermessaͤulen auf euren glorreichen Wegen. Die griechische Kunst , meyne ich, soll uns besitzen , und zwar an Seele und Koͤrper. Allenthalben z. B. gingen die Voͤlker bekleidet umher, und schaͤmeten sich des Gottgebildes, das sie verhuͤllten; die Grie- chen wagten es, den Menschen in der Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott an- schuf. Welcher Vater, welche Mutter wuͤnschet sich nicht gesunde, wohlgestaltete Kinder? wer erfreuet sich nicht an ihrem Anblick und fuͤhlt seine Brust erweitert, wenn er einen schamhaften Juͤngling, ei- ne zuͤchtige Jungfrau siehet? In dieser Jugendkraft, die, von einer gluͤcklichen Natur erzeuget, durch Maͤßigkeit und Ue- bung allein gedeihet, fuͤhlt jedermann die Anlage zu einem thaͤtigen, heitern Leben; und bedauret die Gelegenheit, die ihm zu Ausbildung dieser Gestalt und Kraͤfte ver- F 2 sagt ward. Wenn nun ein unfreundlicher Daͤmon uns die Brust zusammendruͤckte, sollten wir kuͤnftigen Geschlechtern nicht ei- nen gluͤcklichern Daͤmon goͤnnen? Und da vom Menschen-Schicksal viel, sehr viel in der Hand der Menschen, in ihrem Wil- len, in ihrer Verfassung und Einrichtung liegt: koͤnnte uns zu Befoͤrderung solcher Anstalten wohl ein Groͤnlaͤnder, der aus seiner Hoͤle gezogen ward, oder nicht viel- mehr ein Grieche, der ein Mensch wie wir war und als ein Gottesbild dasteht, erwecken und reizen? — An den Koͤrpern betrachte man der Griechen Kleidung. Die unsre hat Pe - nia , die Duͤrftigkeit selbst erfunden, und eine Megaͤra des Luxus und der Unver- nunft vollendet. Die Kleidung unsrer Weiber entsprang aus der armen Schuͤrze, die man noch bei Negern und Wilden siehet. Als sie endlich rings die Lenden umgab, ward sie zu einem Rock, der aus druͤckender Armuth kaum uͤber den Nabel den Unterleib zusammenschnuͤret. Jahrtau- sende hin haben diese schnuͤrende Lenden- Schuͤrzen fortgedauert; und um ihren Reichthum zu zeigen legten manche nordi- sche Volkstrachten sogar sieben dergleichen Lendenschuͤrzen dick uͤbereinander, daß das abentheuerliche Geschoͤpf dem Ansehen nach auf einer Tonne ruhen moͤchte. Man wagte es oft nicht, diese Schuͤrze bis zu den Fuͤßen hinab zu verlaͤngern, geschwei- ge, daß man sie zu einem Gewande zu erheben sich getrauet haͤtte; und zeigte lie- ber seine ungestalten Glieder. Die Beklei- dung des nordischen Weibes an der Brust entsprang aus einem Mieder, das man nach und nach mit mehreren Theilen zu- sammensetzte, woraus dann jener unselige Seiten- und Brustharnisch entstand, der tausend Muͤttern und Kindern ihre Wohl- gestalt, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Freuden an Muttergeschaͤften gekostet hat, und dennoch fortdauret. Da man Einmal auf dem Wege der Mißgestalt war, so wurden mancherlei Kleidungen erdacht, um diese oder jene einzelne Misgestalt zu ver- bergen, denen sodann unter dem Gesetz der Mode auch die bluͤhendste Gestalt nachahmen mußte. Bei jeder unsinnigen Tracht naͤmlich kann man zeigen, welchem koͤrperlichen Fehler zu gut sie entstanden sei, so daß man fast auch keinen koͤrperli- chen Fehler gedenken kann, den unsre weib- liche Tracht nicht verbergen moͤchte. „Bist du das Alles?„ sagte jene Griechin zu ei- nem Europaͤischen Reifrock; und was der Reifrock haͤtte antworten koͤnnen, hat La- dy Montague frei gesagt. Die maͤnn- liche Kleidung der Europaͤer hat einen eben so barbarischen Ursprung. Zum Reiten sind wir da; das zeigt die Bekleidung un- srer Beine. Die uͤbrigen Fetzen haben wir uns nach und nach, insonderheit der Ta- schen wegen, zugeleget, und als ob wir uns des Stranges unaufhoͤrlich bewußt seyn sollten, insonderheit unsern Hals jaͤm- merlich zugeschnuͤret; eine Kleidung, in der wir allen Nationen der Erde laͤcher- lich werden. Da blicke man eine Muse, eine Juno, ja nur irgend eine bekleidete griechische Nymphe an, und erroͤthe. Man betrachte einen griechischen Mann, er sei Juͤngling, Held oder Weiser, in seinem Gewande; und sehe beschaͤmt auf sich selber. Fuͤhl- ten beide Geschlechter die Wuͤrde ihrer Koͤrpergestalt und hielten ihre Zwecke fuͤr Pflicht; haͤtten sie sich diesen Fesseln bar- barischer Duͤrftigkeit nicht laͤngst entwun- den? Ohne Zweifel muͤssen Sie in Statuen sowohl als auf allen griechischen Denkma- len den bescheidenen und vesten Stand , die ruhige Stellung der Personen beiderlei Geschlechts, die nicht Fechter, oder Faunen sind, bemerkt ha- ben; Winkelmann hat daruͤber seine fuͤr die Schoͤnheit sehr empfindliche Seele reich ausgeschuͤttet, und den zarten Ge - muͤthscharakter , den diese Ruhe ver- raͤth, unuͤbertreflich geschildert. Verglei- chen Sie damit unsre alten Gemaͤlde in Spanischer Tracht mit ihrem Ritter- und Heldentritte, oder alle jene gewohnten Gebehrden, die uns das Etiquett der Ge- sellschaft auflegt. Beide Geschlechter haben in ihrer Kleidung fast keine natuͤrliche Stellung mehr; Haͤnde und Fuͤße sind uns zur Last, und jene ruhige Innigkeit, die von keiner Repraͤsentation weiß, die auch in der Bewegung ganz fuͤr sich da ist; wir sehen sie kaum noch an einigen gluͤck- lichen Ausnahmen, in denen wir sie Un - erzogenheit oder Naivetaͤt zu nennen gewohnt sind. Und doch ist diese nuͤchter - ne Innigkeit die Grundlage aller wah- ren und ruhigen Besinnung im Men- schen, so wie sie das Kennzeichen einer reinen Unbefangenheit , eines richti - gen Gefuͤhls , eines tieferen Mitge - fuͤhls , kurz der einzigen und aͤchten Humanitaͤt ist. Wer in seinen Bewe- gungen zeigt, daß er nicht Zeit habe, zwei Augenblicke in sich selbst zu verweilen und ohne Ruͤcksicht der Dinge, die außer ihm sind, sein Geschaͤft zu treiben, ist ein un- reifes Geschoͤpf der Menschheit. Nur An- triebe von aussen, Sturm und Zwang koͤnnen ihm gebieten; er fuͤhlet nichts von jener innern Seelenruhe, die auch im Ge- gengewicht und Kampf lebendiger Kraͤfte, vermoͤge der Symmetrie und Eurythmie des Koͤrpers und der in ihr sanft-ergosse- nen Seele auf sich selbst haftet. Aber wie soll ich das freundliche Beisammenseyn der griechischen Koͤr- per und Seelen unter und mit einander bezeichnen? Jene Ruhe, mit der sie ein- ander anschaun und hoͤren? Die Ueberre- dung wohnet auf ihrer Lippe, ob man gleich kein Wort vernimmt; es ist Ein ge - genwaͤrtiger Geist , der den Hoͤrenden und Sprechenden bindet . Und wenn ih- re Haͤnde einander beruͤhren, wenn dieser sanfte Arm auf der Schulter, oder nur das Auge auf dem Anblick des andern ru- het; welche suͤße Harmonie, welche liebende Anhaͤnglichkeit offenbaret sich zwischen Bei- den! Nie habe ich eine griechische Gruppe, man nenne sie Orest und Pylades , oder Orest und Elektra , Biblis und Caunus , Paͤtus und Arria , Amor und Psyche , oder wie man wolle, bemer- ket, ohne diese liebliche Zusammen - stimmung zu fuͤhlen, die beide zu Einem vereinet. Nie habe ich in den wenigen Gemaͤhlden, die von ihnen uͤbrig sind, oder in ihren zahlreichern Bas-Reliefs eine griechische haͤusliche Gesellschaft gesehen, in welche nicht jener Geist der Ruhe er- gossen war, der unsern Tumultvollen Compositionen so oft fehlet. Raphael hatte von diesem Geist empfangen; Mengs hat ihn, wenn das antike Gemaͤhlde, in welchem sich Ganymedes dem Jupiter na- het, sein ist, sowohl in dem Annahen selbst, als auf dem Munde des Vaters der Goͤt- ter in dem ewig freundlichen Kuß ausge- druͤckt, mit dem er ihn aufnimmt. In allen Compositionen der Angelika ist diese ihr eingebohrne moralische Grazie der Charakter ihrer Menschen. Selbst der Wilde wird durch ihre Hand milde; ihre Juͤnglinge schweben wie Genien auf der Erde; nie war ihr Pinsel eine freche Ge- behrde zu schildern vermoͤgend. Wie etwa ein Schuldloser Geist sich menschliche Cha- raktere denken mag, so hat sie solche, aus ihren Huͤllen gezogen, und mit einem schoͤ- nen Verstande, der das Ganze aufs leise- ste umfaßt, und jeden Theil wie eine Blu- me entsprießen laͤßt, harmonisch sanft ge- ordnet. Ein Engel gab ihr ihren Namen, und die Muse der Humanitaͤt ward ihre Schwester. Meynen Sie noch, daß die Kunst der Griechen, ihrem Geiste nach, nicht fuͤr uns gehoͤre? Dem Worte selbst nach haͤt- ten Sie uns damit zu einer ewigen Bar- barei verdammet. Denn, um aller Musen willen, wozu lesen wir die Griechen? Ists nicht, daß wir eben diesen zarten Keim der Humani- taͤt, der in ihren Schriften, wie in ihrer Kunst liegt, nicht etwa nur gelehrt ent- falten, sondern in uns, in das Herz un- serer Juͤnglinge pflanzen? Wer in Ho - mer , ja in allen Schriftstellern von aͤcht- griechischem Geist bis zu Plutarch und Longin hinab, blos Griechisch lernet, oder irgend eine Wissenschaft in ihnen blos und allein mit Nordischem Fleisse verfolgt, ohne den Geist ihrer Composition , die- se feine Bluͤthe, mit innerer Zustimmung seines Herzens zu bemerken, der koͤnnte, duͤnkt mich, an ihrer statt Sinesen und Mogolen lesen. 72. D er Schluß Ihres letzten Briefes scheint auf den alten Satz hinauszukommen, „daß fuͤr uns Menschen das Wahre , Gute und Schoͤne nur Eins sei:“ Sollte es nicht aber auch ein Wahres und Gutes ohne schoͤne Form geben? ja muͤßte sich nicht eben das hoͤchste Wahre und Gute von al- ler Form entkleiden? Die Griechen lebten im Juͤnglingsal- ter der Menschheit; bei ihnen lief oft die Einbildungskraft mit dem Verstande da- von, oder wenigstens lief sie ihm voran, und kleidete sinnlich ein, was doch allein fuͤr den Verstand gehoͤret. Schonend ha- ben Sie die Misbraͤuche verschwiegen, die von den Kuͤnsten des Schoͤnen gemacht wurden und taͤglich noch gemacht werden. Ists also nicht eine wohlthaͤtige Hand, die diese Dinge scheidet? Wir Nordlaͤnder sind einmal nicht wie die Griechen organisiret; laßet jenen, statt der Wahrheit eine Aphrodite auf ihrem Altar; unsre Wahrheit ist ein unsichtbarer Geist, unsre Moral eine Gesetzgeberin fuͤr alle reindenkende Wesen, in welcher Koͤr- perform diese auch erscheinen moͤgen. Sinnlichkeit schadet dem Verstande; durch seine Liebe zum Schoͤnen ging Griechen- land unter. 73. U nd wodurch gingen denn so viele Bar- baren unter? Durch Unverstand und Toll- kuͤhnheit, durch eine erschlaffende Ueppig- keit, die ohne alle Empfindung des Schoͤ- nen war, oder durch sklavische Traͤgheit. Also lassen Sie uns die Schicksale der Voͤlker, die im Wurf der Zeiten von so mancherlei Umstaͤnden bestimmt werden, nicht in unsre Frage mischen. Mißbrauch bleibt uͤberall Mißbrauch, Laster allenthal- ben Laster, unter welcher Larve es auch erscheine. Auch Auch reden wir nicht von einer Sinn - lichkeit , die dem Verstande entgegen gesetzt waͤre. Eine solche sollten wir nicht kennen; so wenig uns ein Verstand ohne Sinnlichkeit und eine Moral voͤllig reiner Geister bekannt ist. Nach meiner Philosophie erweisen sich alle Naturkraͤfte, die wir kennen, in Or- ganen; je edler die Kraft, desto feiner ist das Organ ihrer Wirkung. Koͤrperlose Geister sind mir unbekannt. Ausser der Menschheit kenne ich uͤberhaupt keine ver- nuͤnftige Wesen, deren Denkart ich erfor- schen koͤnnte; ich schließe mich also in mei- nen engen Kreis, ich wickle mich in den armen Mantel meines irrdischen Daseyns. Und in diesem finde ich durchaus kei - ne Formlose Guͤte und Wahrheit . Ich spreche nicht von Wortformen , die als bloße Mittel des Empfaͤngnisses und Sechste Samml. G Ausdrucks unsrer Gedanken ganz an ih- rem Ort bleiben; ich rede nicht von Grund - saͤtzen , die als Grundsaͤtze freilich nicht dargestellt werden koͤnnen; sondern von Gegenstaͤnden und Sachen , von der Natur unser selbst und der Dinge , die uns umgeben . Jede Wahrheit, die aus diesen abgezogen ward, muß auf sie zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnnen, und eine Menschenmoral kann sich nicht anders als in menschlichen Gesinnungen, Neigungen, Handlungen aͤußern. Mithin hat alles Form und Weise ; eine Form, die er- kannt, eine Weise, die sichtbar gemacht werden kann und muß. Und diese Form des Wahren und Guten (verzeihen Sie meine Unphiloso- phie,) ist Schoͤnheit . Je reiner sie er- scheint, je lebendiger in ihr Erkenntniß und Guͤte ausgedruͤckt sind, desto mehr be- hauptet sie ihren Namen, und uͤbt ihre Kraft auf menschliche Gemuͤther und Or- gane. Wie das heilige Wort Guͤte und Schoͤnheit (ϰαλον ϰ'αγαϑον) vom Poͤbel gemißbraucht werde, darf und muß uns nicht irren: denn wer legte uns die ver- wirrte Sprache des Poͤbels zum Gesetz auf? Es giebt aber keine haͤßliche Wahr- heit, so wenig es ein haͤßlich Gutes ge- ben kann: dem Erkennenden sowohl als dem Ausuͤbenden sind beide von der hoͤch - sten Schoͤnheit . Lassen Sie uns z. B. bei der Moral bleiben. Ihr Grund liegt im Verstande und Herzen des Menschen; im Wesentli- chen ist er auch von allen Voͤlkern aner- kannt; die Griechen aber haben ihren hoͤch- sten Grundsatz der Sprache nach schoͤn ausgebildet. So verschieden ihre Philoso- phen sich ausdruͤckten; so war ihnen allen G 2 Tugend das hoͤchste Geziemende der Menschheit in Gesinnungen, Handlun- gen und der ganzen Lebensweise, kurz das sittlich - Schoͤne . Plato suchte es in ewigen Ideen, Aristoteles als die fein- ste Mitte zwischen zwei Extremen, die Stoische Schule als das hoͤchste Ge- setz aller Vernuͤnftigen in einer großen Stadt Gottes; alle aber kamen darinn uͤberein, daß es ein ϰαλον, ein πϱεπον, das hoͤchste Anstaͤndige der menschli- chen Natur sei. Dies Anstaͤndige nun hat keinen Maas- stab von aussen; durch politische Gesetze kann mir die reine Gemuͤthstugend nicht aufgelegt werden; auch die Meinungen andrer erkennet sie als ihr Gesetz nicht. Noch weniger die Bequemlichkeit, den Nuz- zen, die Eitelkeit des Artigen von innen und außen; aͤußerst mißverstanden sind Griechen und Roͤmer, wenn man ihr ho- nestum, ihr pulcrum et decens dahin er- niedrigt. In jedem zweifelhaften, schwe- ren Fall setzen sie es dem Nutzen, der Bequemlichkeit, der aͤusserlichen Ehre und Schande gerade entgegen; Arbeiten und Muͤhe, Marter und Tod waͤhleten sie fuͤr diese schoͤne Braut, den hoͤchsten Kampf- preis des Lebens, das rectissimum, opti- mum, die Tugend . Und mich duͤnkt, dies hoͤchste Anstaͤn - dige der Menschheit enthalte sowohl die schaͤrfste Bestimmung als den innig- sten Reiz der Tugend. In ihr befolge ich naͤmlich nicht sowohl ein Gesetz, das ich mir selbst aufgelegt habe, oder als Gesetzgeber allen vernuͤnftigen Wesen auf- lege. In der stolzen Monarchie mein selbst verwechseln sich oft Gebieter und Sklave; einer betruͤgt den andern; dieser straͤubt sich, jener bruͤstet sich; und uͤber- haupt ist ein Gesetz, als Gesetz, ohne Reiz und inneres Leben . Das mir selbst , das der Menschheit Anstaͤndige reizt; es reizt unaufhoͤrlich, als ein nie ganz zu erringender Kampfpreis, als mei- ner innern und aͤussern Natur, als mei- nes ganzen Geschlechts hoͤchste Bluͤthe. Wer dafuͤr keinen Sinn haͤtte, der wuͤrde sich zwar selbst nicht verachten; er bliebe aber eben dadurch ein Unmensch, weil ihm dies Anstaͤndige , diese innere Wohlgestalt , das Gefuͤhl und Bestre- ben des honesti fehlte. Er ist, (in der Sprache der Griechen zu reden,) ein Thier oder Halbthier, ein Centaur, ein Satyr. In der Menschheit hat dies Ideal des moralischen Anstandes so viele Stuf- fen der Annaͤherung, daß es nicht etwa nur Gesinnungen fuͤr sich und die Seinen, sondern Vaterland und zuletzt die ganze Menschheit unter sich begreifet. Der waͤ- re der Edelste und Schoͤnste, der mit den groͤßesten Gefahren, der schwersten Muͤhe, der langsamsten Aufopferung sein selbst, nicht Freunde, nicht Kinder, nicht das Vaterland allein, sondern die gesammte Menschheit zu dieser innern suͤßen Wuͤrde, dem lebendigsten Gefuͤhl des honesti jeder Art, mithin zum Endlosen Bestreben nach der reinsten Menschenform heben koͤnnte. Hier hoͤret Despot und Sklave voͤllig auf; auch wenn ich mir gebiete, bin ich unter dem Evangelium, in einem Wettkampf liberaler Uebung . Wenn ich das Schwerste und Groͤßeste gethan haͤtte, ha- be ich nichts gethan; ich weiß nicht, daß ich es gethan habe; aber dem Ziel fuͤhle ich mich naͤher, ein Retter , ein Erhoͤ - her der Menschheit in mir und an- dern zu werden aus innerer Lust und Nei- gung. Sie sehen, in welchen unendlichen Plan diese Idee des moralisch-Schoͤnen (ϰαλον ϰ'αγαϑον) gehoͤret. „Die Erziehung der Alten, sagt Win - kelmann Allegorie, S. 13. , war der unsrigen sehr ent- gegengesetzt. Bei ihnen in ihren besten Zeiten wurden nur heroische Tugenden geschaͤtzt; diejenigen naͤmlich, welche die menschliche Wuͤrdigkeit erheben, da ande- re hingegen, durch welche unsre Begriffe sinken und sich erniedrigen, nicht gelehret noch gesuchet, vielweniger auf oͤffentlichen Denkmalen vorgestellt wurden. Jene Er- ziehung war bedacht, das Herz und den Geist empfindlich zu machen fuͤr die wah- re Ehre; die Jugend zu einer maͤnnlichen großmuͤthigen Tugend zu gewoͤhnen, wel- che alle kleine Absichten, ja das Leben selbst verachtete, wenn eine Unternehmung der Groͤße ihrer Denkungsart nicht gemaͤß ausfiel. Bei uns wird die edle Ehrbe- gierde ersticket und der tumme Stolz ge- naͤhret.“ 74. W ie waͤre es, wenn ich Ihren Gang in Arkadien unter den Kunstgebilden der Griechen mit einigen Stimmen der griechischen Muse begleitete? Sie zei- gen wenigstens, daß das Menschengefuͤhl, das Werke der Kunst schuf, sie auch an- sah, daß man den milden Sinn des Kuͤnstlers zu erfassen und auszudruͤcken strebte. Die griechische Anthologie giebt uns hiezu mehr als Einen Wink, und Heyne hat in ein paar Vorlesungen diese ge- sammlet. Priscae Artis opera ex epigrammatibus graecis partim eruta partim illustrata. Comment. I. II. v. Comment. Soc. Goet- ting. hist. et phil. T. X. p. 80. Der stolzen Juno hat wahrscheinlich ein Griechisches Epigramm ihren Todfeind, den Herkules an die Brust gelegt. Brunk Analect. T. III. p. 202. Der Dichter fand, daß die marmorne Brust, dem Kinde die Milch versagend, die Brust einer Stiefmutter, einer Juno seyn muͤßte — nicht ohne Grund. Diese zarte Pflicht muͤtterlicher Liebe gehoͤrt wirk- lich mehr fuͤr den Pinsel des Mahlers, als fuͤr den harten Marmor. Kraͤftiger druͤckten die Griechen die muͤtterliche Liebe im Kampf der Lei - denschaft aus. Wie jene Henne, die von Schnee und Kaͤlte erstarret auch im Tode noch das Nest ihrer Geliebten deckt und es vor dem Tode beschirmt Herders zerstreute Blaͤtter Th. I. S. 90. Anthol. Steph. L. I. Cap. 87. ; so ste- het in der Kunst die fuͤr alle ihre Kinder leidende Niobe da, und die Stimme der Musen bezeichnet das Ideal der muͤtter- lichen Heroide: Schau das lebendige Bild der ungluͤckseligen, Mutter; Noch im Tode beweint ihre Geliebtesten sie, Mit unhoͤrbarer Klage; sie steht erstarret. Der Kuͤnstler Bildete sie, wie im Schmerz lebend zum Felsen sie ward. Und da die Bildsaͤule der Mutter mit denen um sie getoͤdteten Kindern einen entfernten Anblick forderte, so sprach der Dichter: Stehe von fern' und wein', anschauender Wanderer. Tausend Schmerzen zeigen sich hier, die ein un- gluͤckliches Wort Dieser Mutter gebracht. Zwoͤlf Kinder, Bruͤ- der und Schwestern, Liegen von Artemis Pfeil, liegen von Cynthius Pfeil Schon danieder; die andern ereilt ihr Koͤcher. Es aͤchzet Sipylus dort auf der Hoͤh. Schaue, die Mutter erstarrt. In einem andern Epigramm hebet sie die Haͤnde empor; es loͤset sich ihr Haar; seufzend schauet sie umher; dieser Tochter schlaͤgt das Herz in der Angst des Todes, jene schmieget sich sterbend an sie, eine andre ist schon erblaßt. So ihre Soͤhne; Gram folget der Mutter ins Todtenreich nach. — Eine andre Stimme bringt der Erstarrenden die Nachricht vom Tode ih- rer Kinder. Anthol. Stephan. C. 9. I. 4. Kurz, Niobe steht im Namen aller Ungluͤcklichen da, die je ein bluͤhendes Geschlecht beweinten. Wie man- che Toͤne der Vater- und Mutterliebe, kommen uns hieruͤber aus der Anthologie wieder, wenn wir, wie z. B. dort auf der Mnasylla Grabe die Tochter im Arm der Mutter verscheiden sehen Brunk Analecta III. 4. , und sonst in mancherlei Art Denkmale der Liebe auf den Gruͤften der Gestorbenen erblicken. So oft mir das bekannte Bild erscheinet, da Merkur eine schuͤchterne Seele dem guͤtigen Pluto und der Pro - serpina darstellt, hoͤre ich jene fragende Stimme: Du, der Proserpina Bote, wer ist es, den du o Hermes Schon so fruͤhe dem Reich dunkeler Schatten gesellst? „Jener Ariston ists von sieben Jahren. Du siehest Zwischen den Eltern ihn dort stehen im traurigen Mahl.“ Thraͤnenliebender Pluto ; dir reift ja Alles, was athmet; Und du maͤhest die Frucht fruͤh' in der Blume dir schon? Um den Schmerz der Mutterliebe zu hoͤren, lesen Sie der Hekuba , Prog - ne , der Andromache Klagen; hoͤren Sie, wie von den Stuͤrmen des Meeres umhergetrieben, die Danae ruft: Brunk. T. I. p. 121. Als um die Kunstgezimmerte Kiste Brauste der Wind und das wogige Meer; Da sank erstarret vor Schrecken Der Mutter das Herz. Mit Thraͤnenbe- deckter Wange Schlang sie um Perseus ihren liebenden Arm und sprach: „O Kind, was leid' ich um dich! Und du schlummerst mit deinem unschuldi- gen Herzen In dieser grausen, Erzumklammerten, naͤcht- lichen Wohnung, In schwarzer Finsterniß so sanft. Der Welle, die um dein weiches Haupthaar schlaͤgt, Und der Winde Sausen achtest du nicht; Da Da im Purpurkleide verhuͤllet Dein schoͤnes Antlitz ruht. Gewiß, wenn dieses Erschreckliche Dir schrecklich waͤre, du vernaͤhmst Von meinen Klagen ein kleines Wort. Doch schlafe sanft, mein Kind! Schlaf' auch das Meer, mein unermeßliches Ungluͤck schlafe. Vereitle, Vater Zeus, der strafenden Eltern Rath — Und sprach ich jetzt ein zu verwegnes Wort, Verzeih, um dieses deines Kindes willen verzeih. Sie erinnern sich jenes stuͤrzenden Gip- fels, der ein schlafendes Kind nicht trift, weil auch der harte Stein den Schmerz der Mutter fuͤhlte. Zerstreute Blaͤtter Th. I. S. 12. Sie erinnern sich Sechste Samml. H der Mutter, die ihr Kind vom Rande des Abgrundes mit ihrer Mutterbrust hin- weglockt und ihm zum zweitenmal das Leben schenket. Zerstr. Bl. Th. I. S. 84. Anth. St. l. I. c. 87. Diese und so manche andre Stimmen der Mutterliebe erklaͤren uns die heilige Innigkeit, die um alle Gebilde des Alterthums in dieser Gattung schwebet. Der hoͤchste Triumph der Kunst im Ausdruck dieser Empfindung erscheint end- lich im Bilde der Medea , der Kindes- moͤrderinn selbst. Den Streit der wuͤten- den Eifersucht mit der muͤtterlichen Liebe wußte Timomachus so sichtbar zu ma- chen, daß man sah, sie wolle toͤdten und retten. Im drohenden Auge hing eine Thraͤne, in ihr Erbarmen war Zorn ge- mischt; sie zoͤgert zur That zu schreiten; gnug, sagte zum Kuͤnstler der Weise, Gnug die Zoͤgerung, gnug! Der Kinder Blut zu vergießen, Ziemet Medeens nur, nicht des Ti - momachus Hand. Was hier der Weise sprach, sagte das edlere Menschengefuͤhl dem Kuͤnstler selbst. Eine Reihe von Sinngedichten preisen diese seine Schonung Anthol. Steph. I. 4. c. 9. ; andre stellen das Bild der Medea , als ein Schreckbild vor, an welchem auch die Schwalbe nicht nisten sollte. Zerstr. Blaͤtter, Th. I. S. 6. Anth. Steph. l. I. c. 87. Athamas zuͤrnete selbst nicht seinem Sohne Learchus Wie Medea ; sie ward Moͤrderinn ihres Geschlechts. H 2 Eifersucht ist aͤrger als Wut. Vermag eine Mutter Kinder zu morden; o wem sollen sich Kinder vertraun? Wer, wenn er dergleichen Anwendun- gen der Griechischen Kunst lieset, wird nicht mit Freude fuͤhlen, daß Menschen sie fuͤr Menschen geuͤbt haben? 75. R eizend, wie die Kunst der Griechen, wenn sie die Kindesjahre darstellt, ist auch die Stimme der Musen, die sie erklaͤret. Gehen Sie alle Taͤndeleien durch, in welche Dichter und Kuͤnstler den klei- nen Gott gesetzt haben, und nehmen ihm die Fluͤgel, so sind es gewoͤhnliche Kinder- und Knabenspiele, womit er sich belustigt. Was ist holdseliger, als ein schlafen- des Kind? Die Kunst und das Epigramm erfreuete sich also sehr am schlummernden Amor. „Man solle ihm nicht nahen, sprach diese; auch im Schlafe traue man ihm nicht.“ Oder er wird im Schlummer gefesselt, seine Pfeile werden ihm genom- men; seine Fackel wird in eine Quelle ge- taucht, damit sie erloͤsche; und es ergluͤht die Welle, sie wird ein Lustbad der Liebe. Was ist Kindern erfreulicher, als mit Pfeil und Bogen zu spielen, sich zu kraͤn- zen, Blumen zu brechen, Schmetterlinge zu verfolgen, wohl auch zu quaͤlen; mit dem Schwan, der Gans, der Taube zu taͤndeln, auf jedem Lebendigen zu reiten, sich in die Kleider, in den Waffenschmuck der Erwachsnen zu setzen, sich zu verste- cken und finden zu lassen, einander zu er- schrecken, sich zu maskiren. — Lauter Spie- le des Amors, in Kunst und Dichtkunst, mit immer neuer Veraͤnderung und Be- deutung. In Spielen der Kinder und ei- ner Mutter mit Kindern ist Amors ganzes Reich, seine Scherze und Unfaͤlle, seine Begegnisse mit Paphia , mit der Psyche , mit Herkules , mit dem Loͤwen, der Bie- ne, den Kraͤnzen, u. f. uns vor Augen; alle mit zartem Kindessinn gedacht und mit Griechischer Lieblichkeit angewendet. Aus dem einzigen Wort Psyche , das den Schmetterling und die Seele bedeu- tet, sind hundert sinnreiche Anwendungen in Kunst und Dichtkunst entsprossen, de- ren eine die andre erklaͤrt hat. Wenn Amor und Psyche beide als Kinder ein- ander kuͤssen; meint man nicht, in diesem Augenblick, im ersten Gefuͤhl ihrer unschul- digen Liebe sproßten beiden die Fluͤgel? So wenn Psyche dem Amor flehet, wenn er sie peiniget oder troͤstet. — Glaube man doch nicht, daß Apulejus diese Fabel er- sonnen habe; sie war lange vor ihm da in Denkmahlen, die sein Zeitalter nicht bilden konnte, ja selbst in der Sprache. Er that nichts, als die einzelnen Auftritte zu einem Maͤhrchen dichten, und dazu auf eine sehr Afrikanische, der Venus unan- staͤndige Weise. Selbst die Symbole bei- der Personen, den Schmetterling und die Fackel hatte die Dichtkunst vielfach ange- wandt; Liebenden ließ sie die Fackel Amors bis in die Unterwelt leuchten. Die Schoͤnheit der Juͤnglinge in der Kunst hat die griechische Poesie eben so suͤß begleitet. Ich darf sie nicht an die zwei Oden Anakreons erinnern, die Franz Junius fuͤr die Kunst commen- tirt hat; in Dichtern und Weltweisen, von Plato bis zu Plutarch , von Ho - mer bis zum letzten Romanschreiber der Griechen wird dieser Jugendbluͤthe der Schoͤnheit wie auf einem Altar der Gra- zie geopfert. Der Kuß jenes juͤngern Plato , in welchem seine Seele ihm auf den Lippen schwebte, hauchet noch; sein geliebter Stern , (αςηϱ) den er mit tau- send Augen anzusehen wuͤnschte, glaͤnzet noch unter den Sternen. So mehrere Ge- dichte Meleagers ; und o waͤre die Stimme der Lyra nicht verhallet, die die- se Blume der Menschheit mit hoͤchstem Wohlgefallen pries! Die Griechische Spra- che hat in Bezeichnung der Jugend-Gra- zie einen anerkannten Reichthum an Aus- druͤcken, unter andern auch deßwegen, weil diese meistens auf die Kunst anspie- len. Die Kunst machte ihre Begriffe klar, und gab ihren Empfindungen die Gestalt der Worte. Unter andern z. B. finde ich, daß die Jungfraͤulichkeit des Juͤng- linges, die holde Schaam auf seinem Gesicht, in seinem Anstande und in seinen Sitten eben so hoch von der Muse geprie- sen ward, als die Kunst sie fein ausdruͤck- te. Beide bemerkten die zarte Bluͤthe des Lebens, in der sich die Geschlechter gleichsam trennen wollen, und doch noch zusammen wohnen; (ein Punkt, der von den Neuern sehr mißverstanden ist, und den auch die spaͤtere Kunst vielleicht zu uͤppig ausgebildet,) als den wahren Reiz der Schoͤnheit. Kein Juͤngling, duͤnkt mich, kann Einen dieser Juͤnglinge an- schauen, ohne daß die heilige Schaam sich sanft auf seine Stirn senke, und jeden Frevel, jede Frechheit von ihm verscheu- che. Fuͤgen wir hiezu die Stimme der Mu- sen, die das Gefuͤhl der Freundschaft , der Schwester - und Bruderliebe , der Pietaͤt gegen Eltern , gegen Wohl - thaͤter des Menschengeschlechts , gegen Goͤtter und Helden singet; hoͤ- ren wir bei dem Dichter die Klagen Achills um seinen Patroklus , der Elektra um ihren Orest , der Antigo - ne um ihren Bruder Polynices ; hoͤren wir den Priamus um die Leiche seines Sohnes bitten, den Ajax sein nachblei- bendes Kind segnen; begleiten wir bei Eu - ripides die jungfraͤuliche Iphigenia zum Opferaltar, die Polyxena zu Achills Grabe; und sehen jene den Orest wiedererkennen am Altar der Diana ; und hoͤren Hippolytus Klagen uͤber die Liebe seiner Mutter u. f. — so schließt sich uns das Herz auf zu diesen edeln Ge- stalten, auch wenn sie in der Kunst er- scheinen. Wir verstehen die Sprache, die um Orest und Pylades , um Iphige - niens und Hippolytus stumme Lippen schwebet; wir begreifen die Seelenvolle Einfalt, die uns in jeder Griechischen Gruppe, bei jedem friedlichen Zusammen- seyn mehrerer Personen innig vergnuͤget. Wir verstehen die Trunkenheit des Danks im Haupt der Ariadne , die Schaam in der Andromeda , die vom Felsen niedersteiget, im Antlitz der wiedererken- nenden Iphigenia Wuth, Erbarmen und zaͤrtliche Erinnerung wunderbar ge- mischt, und lesen, wie der Dichter sagt, den ganzen Trojanischen Krieg in der Po - lyxena Augen. Zur Erlaͤuterung moͤgen dienen die aus der Anthologie uͤbersetzten Epigramme, Zerstr . Blaͤtter Th. 1. S. 9-12. 16-19. 22. 23. 31. 34. 39. 45-47. 52. 55. 56-58. 62-70. 81. 86. 91. 98. Th. 2. S. 14-23. 34-41. 44. 45. 62-67. 78. 79. 85. 87. 94. 95. Die Stellen bei Homer , Sophokles und Euripides , auf welche sich der Brief beziehet, sind Je- dermann bekannt. Die Epigramme, die Stolberg , Voß , Conz u. a. uͤbersetzt haben, wuͤnschte ich gesammlet zu finden. A. d. H. Ohne jene erklaͤren- de Stimme der Dichtkunst wuͤrden uns die Kunstgestalten der Griechen vielleicht Wundererscheinungen seyn; jetzt werden sie unserm Herzen innig-zusprechende Freun- de. Da endlich die hoͤchste Bluͤthe der schoͤ- nen Gestalten Griechenlands eine Helden - tugend in jeder Art und in beiderlei Geschlecht war: so wird hieruͤber die Stim- me der Musen gleichsam ein fortgehender Hymnus. Von jener Vorstellung an, da die Nymphe den Jupiter als Kind traͤn- ket, bis zur Erziehung Achills bei sei- nem freundlichen Centaurus, vom Her - kules , der in der Wiege die Schlangen erdruͤckt, durch alle Gefahren hin, bis er zum Olymp und zum Besitz der Hebe gelanget, stehen Helden und Heldin - nen , Ringer , Kaͤmpfer , Wetteife - rer um den Ruhm eines großen Verdien- stes fuͤr ihr Vaterland, fuͤr ihre Freunde und Gesellen in Stellungen vor uns, wie sie die Muse verkuͤndigt, und ihnen den Kranz der Unsterblichkeit darreicht. Ohne dieses Gefuͤhl der Ehre waͤren keine schoͤne griechische Koͤrper und Seelen, keine Hel- den und Goͤtter, auch keine Kunst, die sie wuͤrdig darstellete, entstanden: denn auch die griechischen Goͤtter und Goͤttinnen sind Helden der Tugend, d. i. einer Virtuo - sitaͤt , jeder in seiner Art. So preisen sie die Hymnen; den Zevs als den Maͤch- tigsten und Besten, dem Themis zur Seite sitzt, und mit ihm weise Gespraͤche pfleget; die Pallas , aus seinem Haupte gebohren, als eine Beschuͤtzerin der Staͤd- te, die Meisterin des Krieges, die Erfin- derin der schoͤnsten Kuͤnste des Friedens; so den Hephaͤstus , der den Sterblichen die nuͤtzlichsten Werkzeuge und Gaben ge- schenkt hat; Hermes und Vesta , die Waͤchter des Hauses; Bacchus und Apollo , die Ideale griechischer Helden- jugend in zwo verschiedenen Gestalten; sammt der Artemis , Demeter , Aphrodite , selbst Ares , und Here . Alle sind Ideale der Werkthaͤtigkeit und Vollkommenheit in einer gewis- sen Art, und als solche Vorbilder der Menschen. Der Hymnus des Homeriden an Apollo ist der Glorreichste Commen- tar des Gedankens, der den Kuͤnstler bei der Darstellung des Gottes belebte; so in verschiednen Stuffen die andern Homeri- schen Hymnen. Die Weihgesaͤnge des Or - pheus und Prollus verdunkeln oft die Gestalt des Gottes, und verhuͤllen sie in einen heiligen mystischen Nebel. Aber Ho - mer und Pindar , die tragischen Choͤ - re und jeder Laut einer aͤltern Stimme simplificirt die Gestalt und kommt der Kunst nahe. Alle zeigen, der hoͤchste Kampfpreis der Griechen sei in den fruͤhe- sten Zeiten Maͤnnlichkeit, (Tugend,) in den spaͤtern Nutzbarkeit fuͤrs gemeine Be- ste, schoͤner Wohlstand und die Bluͤthe ei- nes unsterblichen Ruhmes gewesen. In solcher Ruͤcksicht schaue man Goͤtter und Helden an; sie ermuntern uns alle, unsre Tage nicht in uͤppiger Traͤgheit langsam zu verdauen, sondern, worinn es sei, nach dem edelsten, hoͤchsten Kranz in ei- nem bestimmten und vollendeten Charakter zu streben. Kraͤftiger kann dies schwerlich gesagt werden, als es uns die Bildsaͤulen und Denkmahle der Goͤtter und Helden, der Dichter und Wei- sen von Theseus bis zu Antonins Zeiten hinab, begleitet von der Stimme der Musen sagen. Sei deine aͤußre Ge- stalt dem Gott und Helden unaͤhnlich; dein Gemuͤth darf es im Beßten ihres Charakters nicht seyn: denn dies Beß- te ist in jedem ihrer edlen Geschaͤfte Vir - tuositaͤt , Tugend . Sechste Samml. I 76. D ie bestimmte und schoͤne Art, wie die Griechische Kunst in menschlichen Charakte- ren die Form von der Unform trenn - te und diese in Regeln einschloß, ist ein Meisterwerk ihres sondernden Verstandes. Daher, daß wir so wenig Portraͤte und so viel Ideale der aͤltern Griechischen Kunst sehen; daher, daß auch in ihren Ungeheu- ern und verworfenen Gestalten so viel Bedeutung wohnet. Ihr Volk der Saty- ren hat mich nie erschreckt; Gestalten die- ser Art gehoͤrten dahin, wo sie standen und zeigten an, daß auch unter dem laͤnd- lichen Volk Freude herrschen sollte. Wo diese verstummt, wo kein Pan und Sa - tyr die Floͤte blaͤset, keine Nymphen im Hain und auf den Wiesen laͤndliche Feste feiern; da stehen freilich sowohl die Satyren, als die Goͤtter und Helden am unrechten Ort; sie sind Bedeutungslose Goͤtzenbilder. Aber auch darinn muß der schoͤne Ver- stand der Griechen gepriesen werden, wie sie die Denkmahle der Goͤtter gesellten . Oft standen die verschiedensten neben ein- ander, und Einer milderte des andern Bedeutung; die Ueberschrift bemerkte die- ses. So fuͤgte die Kunst nicht etwa nur den Mars und die Venus , Vulkan und Pallas , sondern auch Bacchus und Pallas , Bacchus und Herkules , die Hoffnung und die I 2 Nemesis , Vergessen und Erinne - rung , und so manche andre Dinge zu- sammen, die sich einander gleichsam be- schraͤnkten oder belehrten. Ein angeneh- mer Lustweg waͤre es, den Pausanias , und die griechischen Dichter in dieser Ab- sicht zu durchwandeln: denn was die Alle- gorie der Griechen eben so schoͤn macht, ist ihre holde, ich moͤchte sagen, wahre Einfalt . Nie wollte sie zu viel sagen; sie ward nur gebraucht, wohin sie gehoͤr- te, wo man durch sie sprechen mußte . Nach Gelehrsamkeit strebte sie nur in den schlechtern Zeiten; was sie aber sagte, deu- tete sie so an, daß wenn man das Bild auch nicht verstand, man doch ein schoͤnes Bild sah und von der Vorstellung selbst geneigt gemacht wurde, ihr einen Sinn anzudichten. Ein Vorzug, den wenige neue Allegorieen erreichen. Aber es kam die Zeit, da dieser schoͤ- ne Kunstsinn untergehen, und eine ge- druͤckte, mystische Vorstellungsart die Ge- muͤther der Menschen benebeln sollte. Lan- ge, barbarische Jahrhunderte hindurch wa- ren dem Schmetterlinge die Fluͤgel ge- nommen; er kroch als Raupe daher, oder lag eingesponnen in rauhen Windeln. Als er wieder erwachte, zeigte sich, (wir wollen es nicht verhehlen) eine neue sitt - lichere Kunstgestalt , von welcher in manchem Betracht die Griechen nicht wuß- ten. Das weibliche Geschlecht, das bei ihnen in Gynecaͤen eingeschlossen war und, wenige Faͤlle ausgenommen, nur in Ge- stalt der Goͤttinnen und Amazonen, der Musen und Nymphen der bildenden Kunst einverleibt werden konnte; (von den grie- chischen Gemaͤlden koͤnnen wir nicht ur- theilen) dies Geschlecht hatte durch das Zusammentreffen christlicher und nordischer Sitten gleichsam einen oͤffentlichen Charakter , und mit diesem eine sittli - che Bildung erhalten, von der vielleicht die Griechen nicht wußten. Ich moͤchte sie die christliche Grazie (Carita) nen- nen, die, nachdem sie in den Lobgesaͤngen auf die heilige Jungfrau lange gepriesen war, auch auf ihre Nachbilder uͤberging, und in den Gesaͤngen der Trobadoren zu- erst jene zuͤchtige Anmuth schuf, in der sich Religion , Liebe und haͤusliche Sittsamkeit wie drei Huldgoͤttinnen zu- sammengesellten. Diese christliche Grazie ist es, die zuerst in den Bildern der Ma- ria erschien, aus ihnen sodann in die Ge- saͤnge der Dichter uͤberging und von den Zeiten der wiederauflebenden Kunst die Compositionen der Neuern mit einem eig- nen Geist durchhauchte. Gewiß hatte die Welt waͤhrend der barbarischen Jahrhun- derte nicht geschlafen; Voͤlker, Sitten, Ideen hatten sich mannigfaltig gemischt und gelaͤutert; von diesem vielleicht etwas dumpfen, aber nicht verwerflichen Ge- schmack zeugt schon die aͤltere florentinische Schule. Raphael klaͤrte ihn durch For- men der Alten, ganz in eigner Weise, auf; andre Gluͤckliche folgten. Selbst die Uebertreibungen des Julio Romano und mehrerer seines Gleichen zeigen in ihrer Trunkenheit einen Reichthum neuer Be- griffe, obwohl ohne Maas und Ziel; eini- ge neuerfundene Gehuͤlfskuͤnste gaben oh- nedies dem Ganzen eine andre Ansicht. Welch ein schoͤner, fast noch unberuͤhrter Kranz bluͤhet fuͤr den, der Raphaels Genius in seiner eignen holdseligen Ge- stalt durch alle seine Werke verfolgen, und aufs bestimmteste zeigen wird, was Er gegen die Alten sei. Eben dieser Genius wird ihn nothwendig vor- und einige Schritte ruͤckwaͤrts fuͤhren. In Ansehung der Humanitaͤt taucht er damit in ein weites, hie und da kaum zu beruͤhrendes Meer. Wo stehen wir jetzt mit unserm Kunst- geschmack? — „Neulich, sagt Petron , ist jene windige und enorme Schwatzhaf- tigkeit aus Asien nach Athen gewandert, und hat die Gemuͤther der Juͤnglinge, die nach etwas Großem streben, mit dem Hauch der Pestilenz vergiftet. Das Richt- maas der Beredsamkeit ist verfaͤlscht, die wahre Beredsamkeit ist verstummet. Wer hat sich seitdem zur Hoͤhe des Thucydi - des , wer zum Ruhm des Hyperides erhoben? Kein Gedicht sogar hat mit gesunder Farbe hervorgeglaͤnzt; alles ist von demselben Brei genaͤhrt, und kann zu einem ruͤhmlichen grauen Alter nicht gedeihen. Auch die Malerei hat keinen andern Ausgang haben koͤnnen, seitdem die Keckheit der Aegypter ein Com - pendium dieser so großen Kunst erfand . „ Petron ist ein Prophet fuͤr alle Zeitalter; die Compendienkunst unsrer Aegypter liegt vor uns. Ein andermal davon mehr. 77. B ei unsrer weitverbreiteten Deutschen Sprache, die auch in fernen Laͤndern ge- sprochen und geschrieben wird, kommen nicht selten kleine Schriften zum Vorschein, die einer allgemeinen Aufmerksamkeit und Theilnehmung werth waͤren. Aus Daͤn - nemark , Preußen , Polen , Kur - und Liefland , wohl gar aus Amerika waͤren dergleichen zu nennen; jetzt werde ich Ihnen aus einer kleinen Schrift: „ Bonhommien , geschrieben bei Er- oͤfnung der neuerbauten ‒ ‒ schen Stadtbibliothek;“ einige schoͤne Gedanken auszeichnen. Da- mit mich aber nicht eine Jugendliebe zu der Stadt, fuͤr die die Schrift zunaͤchst geschrieben ist, angenehm taͤusche, will ich ihren Namen nur ans Ende versparen, und blos das Allgemeinnuͤtzliche bemerken. Der Verfasser faͤngt, wie es seyn muß, von den Grundvesten seiner Stadt, den buͤrgerlichen Tugenden an. „Ehrenbenennungen sagt er, welche Betriebsamkeit , Maͤßigung , Liebe zur Ordnung andeuten, die gebet dem Staͤdter. Sie erinnern ihn an Tugenden, auf welche sein Wohlstand gegruͤndet ist. Ein Gewerbe, das ohne diese Stadttu - genden durch blindes Gluͤck, durch traͤge Schlauigkeit getrieben werden koͤnnte, ist nicht das Unsrige.“ „Sie glaͤnzen nicht, diese Tugenden; aber sie waͤrmen. Sie erhalten die Ge- muͤther ruhig; die Neigung zu staͤdtischen Gewerben und Beschaͤftigungen wird da- durch gestaͤrket, so wie die Sucht nach aͤußern Vorzuͤgen diese Gewerbe verleidet. In Staͤdten ist eine Ehre, die Regierun- gen nicht geben, nicht nehmen koͤnnen. Wohlstand ist das Wort fuͤr Staͤdte. Man denkt sich dabei Mittel und Genuß haͤuslicher Gluͤckseligkeit. Wohlerwor - ben zu haben , ist hier das gute Aequi- valent von dem Wohlgebohren seyn des Ersten Standes, dessen edelster Vor- zug es ist, den Zweiten zu beschuͤtzen. Je- ne heroische Zeit verlangte Aufopferungen; Armuth, Entbehrungen waren damals auch Buͤrgertugenden. Sie sind es nicht mehr. Die Anmuthungen an den Stadtbuͤrger sind jetzt: er soll erwerben, soll das Erworbene geniessen; aber zu einem vesten Wohlstande ist nur durch Rechtschaffenheit und Betriebsamkeit zu gelangen.“ „Zu diesen Buͤrgertugenden Anleitung geben, das ist in der Macht der Regie- rung; und es thut dem Herzen wohl, bei Eindringung in den Geist einer Ver- fassung auf Anleitungen und Antriebe zu ihnen zu treffen. Bei neuen Einrichtun- gen ist insonderheit daran gelegen, den Geist davon gleich richtig aufzufassen. Die- ser erkannte Sinn der Gesetzgebung, in Blut und Saft verwandelt, geht so- dann in gute Grundsaͤtze uͤber, die zu Aufrechthaltung der oͤffentlichen Gluͤck- seligkeit so kraͤftig mitwirken. Der gute Geist ist in einer Gemeine leicht zu er- halten, wo derselbe bereits lange gewal- tet hat.“ Diese Grundsaͤtze, denen der Verfasser viel Lokal-Interesse einstreuet, fuͤhren ihn bei seiner neuerrichteten Bibliothek zum großen Hauptsatz: „ Praktische sittliche Aufklaͤ - rung ist gute Volkserziehung .“ „Die Buͤcher in der alten Stadtbiblio- thek, sagt er, waren groͤßtentheils aus den aufgehobnen Kloͤstern gesammlet; und so standen nun hier, wie vormals in Zel- len, dicke Moͤnchsgelehrsamkeit in Thier- haͤuten, seltene Bibelausgaben an Ketten, alles ungelesen, in Lichtscheuen Gemaͤ- chern.“ „Religion und Gelehrsamkeit wohnten unter einem friedlichen Dache; sie gingen aber nicht Hand in Hand, sondern eine jede dieser ernsten Bewohnerinnen ging fuͤr sich ihren einsamen dunkeln Pfad. Die Diener der Religion waren Sammler und Bewahrer der zu einer kuͤnftigen An- wendung modernden Schaͤtze der Weis- heit. Ueberhaupt haͤtte die Religion der Christen, deren praktische Lehren im Testa- ment fuͤr diese so klar sind, den Aufwand von Gelehrsamkeit auch entbehren koͤnnen. Sie behielt aber nicht lange ihre edle Ein- falt; es entstand die Wissenschaft, Theo- logie genannt, die von gelehrten Zusaͤtzen wie von frommen Taͤuschungen, durch al- le neue Kraft noch nicht hat gereinigt werden koͤnnen.“ „Diese Religion, welche geoffenbarte Vernunft und die reinste Moral ist, wuͤr- de mit sittlicher Aufklaͤrung zugleich hieher gekommen seyn, wenn sie nicht bereits in Suͤden im Grunde verdorben gewesen waͤ- re, wie sie von da nach dem treuherzigen Norden kam.“ (Hier gehet der Verfasser die naͤhern Umstaͤnde dieser Ankunft durch.) „Die Religion also, welche Schuͤtzerinn der Menschheit seyn sollte, trat diese mit Herrschsuͤchtigen Fuͤßen; sie predigte nicht mehr Wuͤrde der Menschen, die Quelle aller Moral; sondern Erniedrigung. Sie fuͤhrte Leibeigenthum ein, und hob jedes andre Eigenthum auf; sie herrschte, statt durch Beispiel gehorchen zu lernen.“ — Der Verfasser verfolgt das daher mehr noch im Frieden als im Kriege bewirkte Sittenverderbniß und faͤhrt edel fort: „Wir wollen diese Misgeburten der Zeit nehmen, wie sie damals, nach den Meinungen und der Denkungsart der Menschen darinn geformt werden konnten. Wir wuͤrden in derselben Lage dasselbe Ge- praͤge angenommen haben. Laßt uns aber auch mit derselben Billigkeit das gute, durch Religion nicht belehrte , sondern unterjochte Volk behandeln. Es war von Natur nicht unfaͤhig zum Guten: denn denn es war schon auf dem letzten Grade der Cultur der buͤrgerlichen Gesellschaft; es trieb Ackerbau, es lebte in Doͤrfern. Als es aber durch seinen Unglauben Frei - heit und Eigenthum verwirkt haben sollte, als Doͤrfer zu Hoffeldern gemacht wurden, und der Sauerteig der Sklaverei Jahrhunderte lang in seinem Eingeweide gewuͤtet hatte; da — verlangte es selbst nichts mehr, als — Brot und Ruthen von seiner Herrschaft. Es verlangte nicht Freiheit.“ „Wie ist denn ein Volk zu zwingen, gluͤcklicher zu seyn, als es selbst seyn will? Zwang und Furcht sind Policei-Mittel. Das moralische Gute, wovon hier die Rede ist, kann nur durch Besserung des Willens bewirkt werden.“ „Dazu gab man ja dem Volke Lehr - buͤcher ? Lehrbuͤcher einem Volke, das Sechste Samml. K nicht lesen konnte, nicht lernen wollte. Auch Lernen ist eine Arbeit , der es sich so unwillig unterzieht, als jeder an- dern Arbeit, weil es dafuͤr haͤlt, daß nicht ihm , sondern seinem Herrn die Fruͤchte aller Arbeit gebuͤhren . Gebet dem Volke mehr, als trocknen Un- terricht, gebet ihm Erziehung . Ge- woͤhnt es zu Begriffen von Eigenthum , und ihr werdet es einer buͤrgerlichen Gluͤck- seligkeit empfaͤnglich machen. Durch ein zu- gesichertes Eigenthum wuͤrde das Volk Zu- trauen zu sich und zu seinem Herrn wie- der erhalten.“ „Gebt ihm Erziehung; macht den Men- schen in ihm froh und empfindend. Jetzt muß es arbeiten; dann wirds arbeit - sam werden.“ „Gebt ihm Erziehung. Lehret den Sklaven genießen . Schafft ihm mehr Beduͤrfnisse als Schlaf und Trunk; laßt ihm mehr von dem Ersten, als von dem Letzten. Jener Koͤnig gab den Befehl in seinem Lande, daß der Bauer nicht an- ders als in Stiefeln, des Sonntags, zur Kirche kommen sollte. Durch dies befohl- ne Beduͤrfniß vermehrte er die Cultur auf dem Lande und den Fleiß in den Staͤd- ten. Wenn unser Landbauer seinen Fuß mit der Haut des fuͤr sich geschlachteten Viehes statt wie jetzt mit den Haͤuten der dazu ausgerotteten Baͤume bekleiden wird, dann wird er sich achten, und sowohl sich als das Land besser cultiviren lernen.“ „Diese Mittel, Eigenthum , Froh - seyn und Beduͤrfniß sind Sach- und Lage-Erziehung, die zur Bildung wirksa- mer ist, als Wortunterricht. Ein Guts- herr gab seinen Landbauern reinlichere Wohnungen und einen Spiegel darinn, K 2 um sich ihre Gestalt vorhalten zu koͤnnen. Diese Anleitung zur Selbstschaͤtzung, zur Reinlichkeit, ist auch gute Volkserziehung.“ „Wozu aber alle diese Verfeinerungen? Die gegenwaͤrtige grobe Anwendung un- williger Kraͤfte schafft schon dem Lande Ueberfluß, und zieht auswaͤrtige Reichthuͤ- mer dahin. — Glaubt davon nichts. Ein Land ist arm, wo die Wenigsten ge- nießen, und die Mehresten arbeiten muͤs - sen . Es ist alsdenn nicht der Ueberfluß, der aus dem Lande geht, sondern der ent- zogene Genuß. Was dafuͤr ins Land ge- zogen wird, ist nicht wahrer Reichthum, und wenn dieser in baarer Muͤnze dahin kaͤme. Reichthuͤmer sind die, welche durch groͤßere Cultur des Landes entstehen und im Lande genossen werden. Auch war bei den Mitteln zur Bildung des Volks nicht die directe Bereicherung der Herrschaft die Absicht, wenn gleich die Vermehrung der Einkuͤnfte eine Folge ihrer Auslagen bei dieser Bildung seyn wuͤrde.“ „Ein in sich erniedrigtes Volk kann, wie gesagt, nur durch langsame geduldige Leitungen auf den Weg, sich seiner Exsi- stenz zu freuen, wiedergebracht werden. Und es ist billig, daß die , welche Guͤ - ter erben , die darauf haftenden Schulden bezahlen .“ — „So sollte also wohl ein jeder Guts- besitzer der Erzieher seiner der Erde zuge- schriebenen Arbeiter seyn? Allerdings. Und der Regent ist aus angestammter Schuldpflicht der Erzieher des Landes.“ „Die besoldeten Volkslehrer sind zu dieser Erziehung die zugeordneten Raͤthe der Landesbesitzer. Dieser ehrwuͤrdige Stand denkt jetzt allgemein uͤber seine Be- stimmung nach, und findet, daß dieselbe nur dadurch auf die kuͤnftige Gluͤckseligkeit wirken kann, wenn er die gegenwaͤrtige befoͤrdern hilft. Durch praktische Anwei- sungen aus der Natur- und Sittenlehre, durch Anleitungen in Gewerben und Wirth- schaftsangelegenheiten, worinn derselbe auf dem Lande ohnedies mit verflochten ist, werden diese Volkslehrer jetzt mehr aus- richten, als jemals durch unfruchtbare Dogmen zu bewirken ist. Warum gesellen sie sich nicht, diese unsre Volkslehrer, den Eingebohrnen des Landes zur Huͤlfe?“ „Heil Dir, Gerechter auf A. * *, der du mit deinen Erbmenschen, wie mit Mit- menschen, einen gesellschaftlichen Vertrag uͤber gegenseitige Pflichten errichtetest! Leicht sei Dir dafuͤr deine Erde! Zu Dei- nem Grabe sollten die Soͤhne des Landes und der Stadt wallfahrten, um gemein- nuͤtzige Gesinnungen, richtige Einsichten uͤber ihr gemeinschaftliches Interesse als Reliquien von da mitzubringen.“ — Der Verfasser kehrt nach dieser men- schenfreundlichen Umsicht zu seiner gelieb- ten Vaterstadt zuruͤck. Die kleinere Men- ge in Staͤdten, sagt er, ist eher zu beleuch- ten, insonderheit in einer Handelsstadt, wo Freiheit und Duldung bald nothwen- dig werden. Hier war anfangs der oͤf- fentliche Unterricht ein Monopol der Dom- herrn. Kaufleute, Feinde von allem Zwan- ge, entzogen sich auch diesem Lehrzwange, und schickten ihre Soͤhne nach einer aus- waͤrtigen Schule, die damals wegen einer bessern Lehrmethode beruͤhmt wurde. Die- se kamen mit ihrem dort verfolgten Leh- rer zuruͤck und zuͤndeten hier das erste neue Licht an, das man damals nicht, so be- scheiden wie jetzt, Aufklaͤrung , sondern dreister, Reformation nannte. Die Verbesserung kam also von daher, woher eine jede ausgehen muß, wenn sie Grund und Bestand haben soll, von der Ju - gend und vom Unterrichte .“ „Buͤcher trugen damals noch wenig zur Aufklaͤrung bei. Was auf einheimi- schen Gymnasien und Akademien damals geschrieben und gelehret wurde, mag wohl Gelehrsamkeit gewesen seyn, befoͤrderte aber, nach Materie, Form und Sprache, in der sie verschlossen war, keine Art der Aufklaͤrung. Und so verschließet immer- hin Fruchtleere Gelehrsamkeit, abstracte politische Speculationen; aber gute prakti- sche Wahrheiten behaltet nicht in verschlosse- ner Hand. Sittliche ruhige Aufklaͤrung voll- endet, was das schnelle Licht der Erleuch- tung nur beginnen konnte. Sie hat vollen- det, wenn die tiefe Einsicht in die Natur der moralischen Dinge allgemein geworden ist: „daß alles oͤffentliche und privat-Boͤ- se Unsinn und Thorheit sind,“ „daß Rechtschaffenheit Stadtweisheit und Staatsklugheit ist.“ „Zwar ist Vollendung nicht das Loos von hienieden, aber eine jede vermehrte sittliche Aufklaͤrung erleichtert den buͤrger- lichen Regierungen die Sorge fuͤr die oͤf- fentliche Gluͤckseligkeit.“ — Werden Sie nicht geneigt, nach einem solchen Eingan- ge unsern Ober-Bibliothekar weiter zu hoͤren? „Dann gedeihet, sagt er, Aufklaͤ- rung, wenn auf die untere Masse Licht von oben herabfaͤllt .“ 78. A ls Geschenke der Gutmuͤthigkeit stehen vor dem Eingange seiner Bibliothek zwei Koͤpfe Homer und Montesquieu . „Der Erste mit dem Stempel der noch nicht verschliffenen Natur floͤßt Ehrfurcht ein; man findet sich, auf seinem Angesicht verweilend, so behaglich und mit sich selbst zufrieden. Der Zweite druͤckt bei aller Offenheit seiner edlen Zuͤge die hoͤchste ge- sellschaftliche Cultur ab; ihm gegenuͤber wird man aufmerksam auf sich und em- pfindet Unruhen. Guter Alter, wie wuͤr- dest du in einer Unterredung mit dem Praͤ- sidenten bei seiner Darstellung der neuern politischen Einrichtung in der Welt stau- nen! Der Ariadnische Faden dieses Staats- weisen wuͤrde dir kaum aus dem anschei- nenden Gewirre heraushelfen. Zu deiner Zeit, welch einfacher Gang der Dinge! die Tugenden, wie einfoͤrmig; die Sitten, wie schlicht! Die Maͤnner waren alle tap- fer, die Weiber alle haͤuslich. Jetzt Staͤn- de, deren jeder verschiedne Pflichten, ver- schiedene Tugenden, verschiedne Ehre hat. Welche Federn sind bei Vervollkommnung der buͤrgerlichen Gesellschaft in die vergroͤs- serten Staatsgebaͤude gelegt, daß Alles, ohne sich zu hindern, zu Einem Zweck wirke! Sie sind „geordnete buͤrgerliche Freiheit, eine gesetzliche ausuͤbende Gewalt, und Ehrfurcht fuͤr beide.“ Der Verfasser fuͤhrt uns uͤber China , das treffend geschaͤtzt wird, zu seinem Grundsatz: Sitten unterstuͤtzen die Ver - fassungen . „Staͤdtische Gebraͤuche, sagt er, belacht von dem Hofmann, dem nur Etikette wichtig ist, ehrwuͤrdig dem Staats- mann, der einsieht, wie sie an Tugenden hangen und zusammen das bilden, was wir Sitten nannten. Wenn vordem lau- te Hausandachten gehoͤrt wurden, so war dies nicht groͤßere Froͤmmigkeit, (die wohnt nur im Herzen) es war gute Sitte , welche Ehrerbietung gegen Hausvaͤter, Ordnung im Hauswesen, Regelmaͤßigkeit in Geschaͤften und Gewerbe vermehrte. Hat doch die einzige gute Manufactur, die bei uns Bestand gehabt hat, der Ge - brauch eingefuͤhret. Die Toͤchter der Stadt sind wie die Lilien auf dem Felde; sie spinnen nicht, aber — sie stricken. Al- les von der arbeitsamsten Hand bis zur schoͤnsten strickt, auch bei freundschaftlichen Besuchen, und bei groͤßern Zusammenkuͤnf- ten. Bringt diese gesellschaftliche Hand- arbeit, die hier in Ehren ist, in Verach- tung; (dies ist das Mittel, Gebraͤuche ab- zuschaffen;) wieviel Tugend und Wohl- stand gingen zugleich verlohren.“ Der Verfasser geht mehrere gute Ge- braͤuche seiner Stadt mit seinen Bemer- kungen durch, und kommt zu einem andern Satze: Arbeit und Geduld fuͤhren zum Wohlstande . „Die neuen Erzieher, sagt er, suchen den Schulweg ebner zu machen; sie duͤrf- ten ihn nur fuͤr die Jugend zu ihrer prak- tischen Bestimmung gerade ziehen. In Lehranstalten wuͤrde alsdann die Bildung des kuͤnftigen Buͤrgers so anfangen, wie sie in Dienstjahren fortgesetzt wird. So leicht in den Gewerben des buͤrgerlichen Lebens die Theorieen seyn moͤgen, so erfordern sie doch in der Anwendung an- haltende Uebungen, um die in Geschaͤften nothwendige Fertigkeit , Puͤnktlich - keit und Zuverlaͤßigkeit sich eigen zu machen. Die in Staͤdten von bedaͤchtigen Vorfahren angeordneten laͤngeren Dienst- und Lehrjahre waren wohl gut, den brauch- baren Mann in der buͤrgerlichen Gesell- schaft zu bilden. Der Ritter wie der Kaufmann, der Kaufmann wie der Hand- werker mußten durch die Grade von Knap- pen, Burschen und Gesellen gehn, ehe sie ein Meisterrecht erhielten. Der ungedul- dige Genius unsres Zeitalters bricht lieber herbe Fruͤchte, als daß er ihre Reife ab- warte. Es gehoͤrt nunmehr auch schon dazu ein Herkules , um auf dem Schei- dewege der Tauglichkeit oder Untauglich- keit im Staat, jener Verfuͤhrerinn, die mit Seifblasen zum unzeitigen Genusse lockt, nicht zu folgen, sondern mit lang- samen Schritten die Hoͤhe zu ersteigen, wo der gruͤnende Kranz des Wohlstandes aufgesteckt ist.“ Auf dieser Hoͤhe spricht der Verfasser vom Gemeingeist , der alles in Ruͤcksicht des Ganzen betrach- tet, dem wahren Schutzgeist der Staͤdte . „Das Alterthum, sagt er, hatte soviel oͤffentliche Gebaͤude, praͤchtig durch ihre Groͤße; Akademieen , Colisaͤen , The - ater u. f., die wie die Luft zum freien Gebrauch waren. Die neuere Zeit hat lauter eingeschraͤnkte Besitzungen, oͤffentli- che Gebaͤude, wo der Eintritt vor der Thuͤr bezahlt wird. Sind in unsern en- gen Kreisen Herz und Geist beschraͤnkter, wie in jenem uns romantischen Alter: so streben wir jetzt desto sicherer nach einem nicht zu hoch gesteckten Ziele. „ Gemeingeist , (public spirit) diese Benennung stammt von der Brittischen Insel; wir verehrten ihn aber lange vor- her unter dem ehrbaren Namen, der Stadt Beßtes . Dieses Wort hatten unsre Voralten oft im Munde. Ihre Er- richtungen und Verwaltungen, von wel- chen wir noch die Vortheile genießen, be- zeugen, daß sie die Sorge fuͤr das Beßte der Stadt auch im Herzen getragen ha- ben. Die Stadt ist eben so gluͤcklich auf die Vorstellung: „wir arbeiten zusammen fuͤr uns und unsre Kinder,“ als auf ihre Lage gegruͤndet.“ „An „An der toͤdtenden Gleichguͤltigkeit fuͤr ein oͤrtliches allgemeines Beßte waren Re- gierungen weniger Schuld, als Theolo - gen , Staatsbeamte , Philosophen . Die Theologen zuerst sagten: die Erde sei ein Gasthaus fuͤr Durchreisende, die nur im Himmel Buͤrger waͤren; als wenn Der dort ein guter Buͤrger werden koͤnnte, der hier ein schlechter war. Die niedern Staatsbeamten redeten nur von einem Krons-Interesse; ein Wort, worinn kein Sinn ist, wenn dieses Interesse mit dem allgemeinen Wohl in Widerspruch genom- men wird. Und nun die Philosophen mit ihrer Alleweltsbuͤrgerschaft, die nirgend zu Hause ist? Ich bin ein Buͤrger der Stadt , und nichts was meinen Mitbuͤrger darinn angeht , ist mir fremd . — Diese Gesinnung ist be- schraͤnkter, hat aber mehr Energie, als Sechste Samml. L der Terenzische Ausspruch vom Theater gesagt: homo sum etc. „ Da bist du was Rechts ! antwortete Leßing von der neuern Buͤhne. Und was ist auch in einer bestimmten buͤrgerlichen Gesellschaft der Mensch in abstracto, und ein Buͤrger in concreto der ganzen Welt?“ Der Verfasser verfolgt den Gemeingeist seiner Stadt auch in die oͤffentlichen Ge- sellschaften: denn „wo nistet, wuͤrde der Spaͤher Montaigne sagen, die Tugend sich nicht zuweilen hin?“ Andringend und local zeigt er, daß praktische Gelehrte seiner Stadt unentbehrlich sind und wie sie ihr nuͤtzlich werden; er kommt endlich auf die Geschichte der Lecture . „Buͤcher, sagt er, die Einfuhr fremder Ge- danken, ist hier Zollfrei. Eine Censur waͤ- re nuͤtzlich: nur Werke von wahrem innern Werth sollten eingefuͤhrt und gelesen wer- den koͤnnen.“ „Zu uns schießen von Messe zu Messe, so unendlich viele, einander durchkreuzen- de, auf die veredelten Lumpen Deutsch- lands geworfene Lichtstralen, daß vor zu vielem Licht der Tag oft nicht zu sehen ist. Durch welchen Wust von Schriftchen muß- ten wir uns durcharbeiten, ehe wir auf die wenigen Bogen „ Etwas , was Leßing gesagt hat , geriethen, worinn so stark die Wahrheit gesagt wird, daß das Gute in der buͤrger- lichen Gesellschaft nicht befohlen, sondern nur aus freiem aufgeklaͤrtem Willen ent- stehen kann. Wie viel große Baͤnde muß- ten wir durchblaͤttern, ehe wir auf die Ueber die Einsamkeit kamen. Diese floͤßten Geschmack an haͤus- lichen Freuden ein, erregen Widerwillen L 2 gegen Geist- und Zeitverderbende Zer- streuungen, gegen muͤßige Beschaͤftigun- gen u. f. „Wirkungen vom Buͤcherlesen waren nicht so selten, wie noch weniger gedruck- tes Papier zu uns kam. Damals waren hier von Zeit zu Zeit herrschende Werke. Pamela , Clarissa , Grandison folg- ten sich in der Regierung, und theilten diese mit keinen andern Romanen. Auch wurden sie nicht fuͤr Romane gehalten, sondern taͤuschten lehrreich das noch treu- herzige Publicum. Dieser gute Glaube an die Exsistenz vollkommener Muster ist, zum Schaden der Nacheiferung, durch die nachherigen vielen Carricaturen verlohren gegangen, so daß sich ein Romanheld in dem zur Wirkung noͤthigen Credit seiner Exsistenz kaum noch erhalten mag. Als unsre Hausvaͤter nur noch den alten Si - rach vorzulesen hatten, leiteten seine wei- sen Lehren Jugend und Alter. Als unsre Toͤchter nur noch den frommen Gellert lasen, wußten sie seine Moral auswendig. Eine Geschichte der Lectuͤr haͤngt mit der Geschichte der Sitten sehr zusammen.“ — Gern moͤchte ich auszeichnen, was der Verfasser uͤber die Naturgeschichte sagt, wenn es nicht zu local waͤre. Er recla- mirt alle Naturmerkwuͤrdigkeiten aus Pri- vatsammlungen in die oͤffentliche Samm- lung: „diese hieherzuliefernden Stuͤcke blie- ben einem Jeden und wuͤrden zugleich ein allgemeines Gut .“ „Es giebt also noch, faͤhrt er fort, auf dieser mit Maas und Gewicht zuge- theilten Erde, Guͤter, die gemeinschaftlich besessen werden muͤssen. Muͤssen : denn aus den drei Reichen der Natur haben die einzelnen Stuͤcke erst einen Werth, sind zu Betrachtungen und zum Unterricht erst geschickt, wenn sie in Ein jedem Lernbegierigen offenes Behaͤltniß gebracht sind. In geizenden Privat-Be- wahrungen werden sie der Aufmerksamkeit eben so entzogen, als wie sie in der wei- ten Welt zerstreuet lagen.“ — Mit edlem Enthusiasmus zeigt er die praktische Nutz- barkeit dieser Wissenschaft fuͤr seine Stadt. „Gewiß, sagt er, hangt von einem ver- edelten Geschmack eine veredelte Thaͤtig- keit ab. Der Geschmack an Naturkennt- nissen verleidet das Gefallen an aller Fri- volitaͤt, und giebt seinen Liebhabern den Drang zu mancherlei nutzbaren Ausfuͤh- rungen. Alles, was die Vegetation befoͤr- dert und der Natur die Eier unterlegt, worauf sie bruͤtet; aller Wegwurf, sogar todte Nachbleibsel von Allem, was Othem und Wachsthum gehabt hat, von Natur- kenntnissen begleitet, wird es mit Inte- resse angesehen werden.“ „In diesem Cabinett wie vormals in den Tempeln sind die inlaͤndischen Na - turbeobachtungen niederzulegen. Die- se Wetter- und Krankheitsjournale, mit der jaͤhrlichen Erndte und den Mortali- taͤtslisten in Vergleichung gebracht, wuͤr- den zu einer allmaͤlichen Kalender-Ver- besserung Stoff geben; mit einer ploͤtzli- chen Verbesserung hat es nirgend gluͤcken wollen. Der Mensch, der einmal vom Denken abgebracht ist, befindet sich bei seinen Zeichen und Wundern so behaglich, wie der Philosoph bei seinem einmal an- genommenen System. Naturkenntnisse bringen auf den Weg der Wahrheit zuruͤck und lehren Aberglauben kennen und ver- achten.“ 79. L eicht werden Sie denken, mit welcher Gemuͤthsstimmung der Verfasser in den großen Buͤchersaal der vier Facultaͤten eintritt. Er laͤßt einen Peripatetiker funf- zig Denkschritte in die Laͤnge machen, und ihn fragen: „Alle die ungeheuren Packete, Theolo- gie, Jurisprudenz bezeichnet, muͤsset Ihr studiren, jene, um Gott verehren zu ler- nen, diese um mit euren Mitbuͤrgern in Friede zu leben? „ So ist es wohl bei Euch eine gelehrte, schwer zu erlernende Kunst, wie fromme Gesinnung zu erregen und darnach zu handeln ist? Ihr habt besondre Gelehrte, die die Gesetze wissen, die alle andre doch auch befolgen sollen? Wenn Eure Gelehr- te diese Wissenschaften fuͤr die uͤbrige Men- ge lernen und anwenden: so ist es bequem fuͤr diese Menge, wenn dies fremde Wis- sen im Leben und im Sterben ihr zugut kommt.“ „Welch ein Schatz da in dem anstos- senden Schrank fuͤr die Heilkunde! Ihr werdet wohl, seit Hippokrates , der nur noch den Gang der Krankheiten beobachtete, die Mittel gefunden haben, sie alle zu heben? Zu seiner Zeit war das Leben kurz, die Kunst lang; jetzt ists wohl im umgekehrten Verhaͤltniß?“ „Aber die angelegentlichste Frage des Mannes im Mantel wuͤrde gewesen seyn, wieviel spekulative Wahrheiten von den neuern Philosophen gefunden worden und im philosophischen Schrank aufbewahrt staͤnden? Eine einzige, antwortet der Ver- fasser, von meinem Freunde Kant , diese: daß wir noch keine Philosophie, keine rei- ne hatten. Eine Wahrheit, die er bewie- sen hat, und die Sokrates vor ihm, ohne Beweis, so ausdruͤckte: wir wissen nichts. Durch schwelgerische Spekulatio- nen uͤber uͤbersinnliche Dinge abgeleitet, liessen wir das uns zum Bearbeiten ange- wiesene Feld mit dem eingestreueten Sa- men in uns verwachsen daliegen. Nach- dem der Schutt des angemaaßten Wis- sens, wodurch die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch kam, vom Herzen geraͤumt ward, konnte dasselbe fuͤr das Sittlichgute freischlagen.“ „Wir erfahren naͤmlich durch unsern innern Sinn die unbedingte Foderung: recht zu thun . Wir erfahren in uns die Freiheit , nach dieser Foderung zu handeln. Von diesen beiden Thatsachen koͤnnen wir sicher ausgehn und sicher schließen: wir sind moralischen Ur - sprungs . Ein hoͤchstes moralisches We- sen hat dies Gesetz und diese Freiheit in uns gelegt; unsre Bestimmung ist mora- lisch, selbstverdiente Gluͤckseligkeit . Wer mir in meinen letzten Augenblicken noch eine gute Handlung vorzuschlagen hat, dem will ich danken, sagte Kant zu seinem ihn besuchenden Freunde. Unnennbar schoͤn und nuͤtzlich waͤre es gewesen, wenn diese reine Absicht Kants von allen seinen Schuͤlern, (von den Bes- sern und Beßten ists geschehen) erkannt und angewandt worden waͤre. Das Salz, womit er unsern Verstand und unsre Ver- nunft abreibend geschaͤrft und gelaͤutert hat, die Macht, mit der er das morali- sche Gesetz der Freiheit, in uns aufruft, koͤnnen nicht anders als gute Fruͤchte er- zeugen. Und niemand waͤre es eingefal- len, seiner Absicht gerade zuwider, das Dorngebuͤsch, womit er die verirrte Spe- kulation eben verzaͤunen wollte und muß- te, zu einem Gartengewaͤchs auf jeden nutzbaren Acker, in jede populare Kunst und Wissenschaft zu verpflanzen. Und niemand waͤre es eingefallen, die Arz- nei, die er zur Reinigung vorschrieb, als einziges und ewiges Nahrungsmittel nicht anzuempfehlen, sondern durch gute und boͤse Kuͤnste aufzudringen und anzube- fehlen. Jedoch ging es dem Griechischen Sokrates in seinen Schulen anders? Ich habe das Gluͤck genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen bluͤhendsten Jahren hatte die froͤhliche Munterkeit eines Juͤng- linges, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerstoͤrbarer Heiterkeit und Freude; die Gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune stan- den ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit eben dem Geist, mit dem er Leib - nitz , Wolf , Baumgarten , Crusius , Hume pruͤfte, und die Naturgesetze Kep - lers , Newtons , der Physiker ver- folgte, nahm er auch die damals erschei- nenden Schriften Roußeau's , seinen Emil und seine Heloise , so wie jede ihm bekannt gewordene Natur-Entdeckung auf, wuͤrdigte sie, und kam immer zuruͤck auf unbefangene Kenntniß der Natur und auf moralischen Werth des Menschen . Menschen-Voͤlker-Natur- geschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung, waren die Quellen, aus de- nen er seinen Vortrag und Umgang be- lebte; nichts Wissenswuͤrdiges war ihm gleichguͤltig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vortheil, kein Namen-Ehrgeiz hatte je fuͤr ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahr- heit. Er munterte auf, und zwang ange- nehm zum Selbstdenken ; Despotismus war seinem Gemuͤth fremde. Dieser Mann, den ich mit groͤßester Dankbar- keit und Hochachtung nenne, ist Imma - nuel Kant ; sein Bild steht angenehm vor mir. Ich will ihm nicht die barbari- sche Inschrift setzen, die einst ein sehr un- wuͤrdiger Philosoph empfing: Noster Aristoteles, Logicis quicunque fuerunt Aut par aut melior; studiorum co- gnitus orbi Princeps; ingenio varius, subtilis et acer, Omnia vi superans rationis etc. — sondern mit dem Verfasser der Bonhom - mien ihn, seiner Absicht nach, Sokra - tes nennen und seiner Philosophie den Fortgang dieser seiner Absicht wuͤn- schen, daß naͤmlich nach ausgereuteten Dornen der Sophisterei die Saat des Verstandes, der Vernunft, der morali- schen Gesetzgebung reiner und froͤhlicher sprosse; nicht durch Zwang, sondern durch innere Freiheit. Verzeihen Sie diese mir angenehme Erinnerung; ich komme zuruͤck zu meinem Autor. Eine Huͤlfswissenschaft fuͤr seine Stadt, die buͤrgerliche und Wasser - baukunst ist ihm in der Ordnung die naͤchste. Seine Urtheile daruͤber sind scharfsinnig, seine Wuͤnsche wohlgemeint. Der Mann im Mantel geht die Stadt durch und um; endlich kommt er an sein geliebtes Thor zuruͤck, das die Inschrift hat: „Ungestoͤrte Betriebsamkeit, Pax , Theilnehmung an einander, Concor - dia , Und am Ganzen, Pietas . Diese; nicht Wall, nicht Festung erhalten die Stadt.“ — Jetzt treten wir zum encyklopaͤdi - schen Schranke. „Der gelehrte Thurm, von Diderot und d'Alembert , (samt ihren Mitarbeitern) aufgefuͤhrt, sollte den Schatz aller goͤttlichen und menschlichen Kenntnisse enthalten. Diesem gallischen Ton Ton hat die buͤrgerliche Gesellschaft Ver- bindlichkeit. Er schaffte schuͤchternen Ge- lehrten und ihren Schriften da Eingang, wo sie ihn nie gehabt haͤtten. Es ent- stand in Buͤchern eine Berathschlagungs- stimme, gegeben von dem freidenkenden Verstande, vernommen in Cabinetten, ge- hoͤrt bei Verwaltungen, wo bisher die stupide Goͤttinn, Routine , ihr Wesen getrieben hatte. Wahrheiten kamen in lebhaftern Umlauf, und gelehrte Kennt- nisse wurden ein gemeines Gut fuͤr jede Wißbegierde.“ — Wie wahr! Die Fran- zoͤsische Encyklopaͤdie, so unvollkommen sie war, hat selbst durch die Verfolgungen, die sie erlitt, eine Wirkung hervorgebracht, die ihr so leicht keine vollkommnere Encyklo- paͤdie wird abgewinnen koͤnnen und moͤgen. Jetzt die classische alte und neue Literatur ; die schoͤnen Kuͤnste der Sechste Samml. M Handelschaft , wo der Verfasser im Scherz eine neue Muse, die Kochkunst, den aͤltern, vornehmeren Musen beifuͤget. „Schoͤne Kunst oder Wissenschaft, sagt er; die Erziehung eines jeden Volks faͤngt ele- mentarisch mit dem Essen an. Wo dieses noch nicht mit Ordnung, Reinlichkeit und Geschmack geschiehet, da ist die Cultur noch nicht beim Anfange. Dieser Tafel- genuß, der in einer Handelstadt, wo man auf innere Guͤte achtet, zuerst den guten Grad der Vollkommenheit erreicht, hilft bilden . Unsre Toͤchter, unter der An- fuͤhrung ihrer Muͤtter, moͤgen also immer die Ehre des Hauses beim hellen Heer- de behaupten, wofuͤr die Maͤnner jetzt ar- beiten und vordem stritten. Nehmet sie, ehe sie zu den schoͤnen Wissenschaften uͤber- geht, in eure Mitte, ihr neun Schwe- stern, diese keusche Muse mit der reinli- chen Schuͤrze, mit der kostenden Zunge und Salz in der verstaͤndigen Hand. Sie laͤßt ihren geistreichern Schwestern gern ihren unbestrittenen Rang.“ Der Verfasser geht die andern schoͤnen Kuͤnste, den Blick auf seine Stadt gehef- tet, durch, und endet mit dem wahren Spruche: „Der fuͤr das Schoͤne gebildete Sinn leitet den guten Aufwand. Dem verderblichen Aufwande des Buͤrgers setzt nichts Schranken, als die Bildung eines vesten Sinnes fuͤr Gerechtigkeit und Pflicht. Haͤusliche Weisheit im Nationalgeiste su- chet zu pflanzen durch jede Kraft der Re- ligion, der Beispiele und Staatskunst. Dieser moralische Sinn streitet nicht mit dem Sinne fuͤr Schoͤnheit; beide sind viel- mehr nahe mit einander verwandt, beide fuͤhren auf des Menschen letzten Zweck, seine Veredlung.“ M 2 Ich uͤbergehe den Abschnitt, der von einer uns ziemlich fremden Literatur, und von der dem Verfasser vaterlaͤndischen Ge- schichte redet, so manche patriotische und feine Bemerkung z. B. uͤber das Verhaͤlt- niß der Staͤnde gegen einander, jetzt und in andern Zeiten er enthaͤlt. — Vor der historischen Wand endlich, wo die Rei- sen zu Wasser und zu Lande, die Welt- und Voͤlkergeschichten vorkommen, fuͤgt der Verfasser hinzu: „Moͤchten zu allen diesen, mit historischer Kritik aufgestellten Thatsachen, die dem gemeinen Auge so bunt durch einander laufen, die Ideen unsres Compatrioten Nicht leicht ist mir ein Andenken unerwartet- erfreulicher gewesen, als das in dieser Schrift: denn von den Ideen zu einer Philoso - phie der Geschichte der Menschheit ist hier die Rede. Dankbar gebe ichs zuruͤck, — der oͤffnende Schluͤssel seyn! So waͤre denn, Trotz al- ler unschuldigen Leiden in und ausser der ob es gleich, was das Buch betrifft, in die Wolke eines leisen Zweifels gehuͤllt scheinet. Gebe mir das gute Gluͤck Raum und Zeit- umstaͤnde, jene Ideen, zu denen diese Briefe vorbereitend mit gehoͤren, zu vollenden. Oh- ne ein Newton zu seyn, wußte ich den Charakter unsres Geschlechts, seine Anlagen und Kraͤfte, seine offenbare Tendenz, mithin auch den Zweck, wozu es hienieden bestimmt ist, in kein simpleres Wort zu fassen, als Humanitaͤt , Menschheit . Andre vor- trefliche Denker sind mir seitdem hierinn ge- folget; (wobei es einem Jeden uͤberlassen bleibt, sich den Begrif der Humanitaͤt en- ger zu denken) unter denen ich nur Eine neuere Gedankenreiche Schrift anfuͤhre: Ue - ber Humanitaͤt , Leipz. 1793. deren Ver- fasser ich nicht kenne. Im folgenden Theil dieser Briefe werden einige Blaͤtter uͤber die Kraͤfte der menschlichen Intel - ligenz eingeruͤckt werden, die der bezweifel ten Aufgabe ein großes Licht geben. A. d. H. buͤrgerlichen Gesellschaft, Trotz der bestaͤn- digen Fort- und Ruͤckschritte in derselben, und des immer wechselnden Zerstoͤrens und Aufbauens, Trotz aller Wirrungen und anscheinenden Zwecklosigkeit in der Ge- schichte des Menschen, doch darinn ein im- mer staͤrkeres Aufblicken der Humani - taͤt dem philosophisch-forschenden Auge sichtbarer Zweck. Vernunft und Billigkeit naͤhme in der Gesellschaft zu, der Mensch werde darinn immer menschlicher. Ein Altar, dem Schutzgeist der Erde errich- tet! „Es gehoͤrt fuͤr die Newtone in dem Sturz eines Apfels die Ordnung des Weltsystems zu finden. Wir andern, de- ren Theodicee sich damit behilft, die mo- ralische Ordnung der Dinge sei durch ei- nen Apfelbiß gestoͤret worden, drehen uns ohne tieferes Nachdenken ruhig um un- sre Axe, ohne zu wissen, wie wir bei den großen Umwaͤlzungen ins Ganze ein- greifen, und lassen die Vorsehung daruͤber bei unsrer Betriebsamkeit walten.“ 80. W ider Willen muß ich den Artikel der Handelsbibliothek mit allen seinen schoͤnen Vorschlaͤgen uͤbergehen, um zu ei- nem Briefe zu kommen, in dem sich die Seele des Verfassers der Bonhommien ganz zeiget. Er hatte einen Schrank fuͤr Publicitaͤt bestimmt; „in ihm haͤtten al- le oͤffentliche Verhandlungen, die das ge- meine Stadtwesen betreffen, Berathschla- gungen, Vorschlaͤge, Vorstellungen, abge- legte Verwaltungsrechnungen zur Beleh- rung und zur Rechtfertigung niedergelegt werden koͤnnen;“ das Wort ging nicht durch. Auch statt der Materialien zur vaterlaͤndischen Geschichte aus dem Archiv hatte der Bibliothekar eine schoͤne Sammlung von Kirchenvaͤtern un- terzubringen, u. f. Da dieser Brief auf einer Reise in Deutschland geschrieben ist und auf allen Seiten Blicke des feinen Staatsmannes, gemildert mit der Bon- hommie des Buͤrgers, verraͤth; so zeichne ich einige Bemerkungen mit dem Anden- ken einiger Personen aus, die auch uns werth sind. Z. B. uͤber die Preußische Staatsverfassung. „Ist mehr Freiheit im Handel und weniger Freiheit im Denken dem Preußi- schen Staat ersprießlich? Der Handel kann nicht ohne Freiheit, der Preußische Staat aber wohl ohne großen auswaͤrtigen Han- del bluͤhen. Der wahre Handelsvortheil eines Landes ist immer in dem lebhafteren Sechste Samml. N inneren Verkehr. Weniger als die Frei- heit im Handel leidet die Geistesfrei - heit Einschraͤnkung zum Besten der Preu- ßischen Staaten. Diese Staatsmaschiene ist ganz das Werk der Freiheit des Geistes , die, durch die karge Natur des Bodens aufgefodert, soviel vermochte, daß sie ein Land, welches nur einer ge- ringen Macht faͤhig zu seyn schien, weit uͤber das Mittelmaͤßige erhoben hat, durch Beleuchtung der Grundsaͤtze, die daher de- sto standhafter befolget wurden. Die Preußische Kriegsmacht ist zur Beschuͤtzung des Landes fuͤrchterlich; aber ohne seine, unabhaͤngig von derselben, freiwirkende Geschaͤftsmaͤnner wuͤrde Friederich selbst dies Werk der Regierungskunst nicht zu der Vollkommenheit gebracht haben.“ „Ich fuͤhle mich gluͤcklicher, unter ei- ner Regierung gebohren zu seyn, welche die buͤrgerliche Freiheit weniger einschraͤnkt; gluͤcklicher in einem Lande, dessen Natur reicher ist, als daß es noͤthig waͤre, dem Unterthan die Staatssparbuͤchse bestaͤndig vorzuhalten; Geist und Herz des Buͤrgers haben hier mehr Spielraum. Aber in der benachbarten Monarchie ist es doch nicht Kleinheit in der Staatskunst, diese Einschraͤnkung, wie eine aus Kaͤnntniß der Sache nothwendige Diaͤt, vorzuschreiben und zu beobachten.“ Der Verfasser nimmt dabei die Preußische Regierung gegen den Vorwurf, daß sie militarisch sei, in Schutz: „Was wuͤrde auch aus dem Staat werden, sagte ein Hauptmann, wenn die, welche Gewalt in Haͤnden haben, deßwe- gen auch alles thun duͤrften?“ „In Berlin , faͤhrt er fort, suchte ich nicht Sparta , sondern Athen , wozu die Stadt mehr als das Thor hat. Fuͤr N 2 wissentschaftliche Unterhaltung, worinn Ci - cero die Belustigung der Alten setzt, ist hier gesorget. Gelehrte in und ausserhalb Geschaͤften versammeln sich; wider gelehr- ten und politischen Betrug, fuͤr Wahrheit waren alle eingenommen; ausser dieser Ue- bereinstimmung fuͤr gute Aufklaͤrung fand ich uͤbrigens die Meinungen uͤber Perso- nen und Sachen so verschieden, daß der Berlinismus hier wenigstens seinen Sitz nicht hat, wenn uͤberhaupt das Wort Sinn haben mag und nicht vielmehr Frei - muͤthigkeit bedeuten soll. Diese Frei - muͤthigkeit ist hier Rechtskraͤftig. Vor die hoͤchste Instanz des Denkens werden sowohl oͤffentliche Anordnungen, als rich- terliche Ausspruͤche gezogen. Nur die Kan- zelvortraͤge wurden privilegirt.“ Hier ein Opfer der Achtung „dem lie- benswuͤrdigen Greise, der die Lehren des Christenthums mit Sokratischer Weisheit vortrug, und auch in seiner Abschiedspre- digt nicht Stachel zum Andenken seiner Ehrwuͤrdigen Person, sondern an seine, mit wahrer Salbung vorgetragene Lehren nachlassen wollte.“ Und ein reicheres Andenken „dem schlichten großen Mann , der da sag- te: wenn ich das Gesetzwerk endige, habe ich gnug gelebt. Auf dieser nun aufgefuͤhr- ten Pyramide lebt der Name Carmer .“ Der Methode zu Errichtung dieses Werks, der deßhalb fortwaͤhrenden Com- mission, auch dem Verfasser der Anna - len der Preußischen Gesetzgebung , (der sich gegen den Satz: „daß Gerechtig- keit der Fuͤrsten wohl nur Gnade seyn moͤchte“ freimuͤthig erklaͤrte,) wird beschei- den ihr Lob ertheilet. Auf einer Reise in Chursachsen kommt zwischen den Reisenden die Frage vor, „ob in diesem betriebsamen Lande ein Pe - rikles bei der Verwaltung gemeinnuͤtzi- ger seyn wuͤrde, als jetzt ein Aristides ?“ Und in Leipzig wird das Lob des Man- nes sehr edel bemerket, der „bei allem, was in dieser eleganten Buͤrgerstadt der Verfasser Schoͤnes sah, Kirche, Biblio- thek, Concertsaal, Promenade u. f. immer als der genannt wurde, der alles dies an- gelegt oder verschoͤnert habe.“ Die Ein- fachheit und Eleganz in seinem Hause, ( Oesers dabei unvergessen) wird anstaͤn- dig beschrieben, mit dem Geschmack und der Wuͤrde eines andern Mannes von die- sem Stande, den der Verfasser in Koͤ - nigsberg wiederfand, parallelisiret, und hinzugefuͤgt: „ich weiß nicht, oder vielmehr ich weiß es, warum ich mich durch das, was ich so unempfindsam beschreibe, so geruͤhrt fuͤhle. Wahrlich, es ist nicht Neid, es ist Freude uͤber die gluͤckliche Lage die- ser wuͤrdigen Maͤnner. Sollte denn ein geschmackvoller bescheidner Lebensgenuß, sollte ein Sorgenfreies Alter eine zu große Belohnung der Wachen fuͤr den Wohl- stand und selbst fuͤr die Annehmlichkeiten des Lebens seiner Mitbuͤrger seyn?“ — Auf seiner Ruͤckreise durch Pommern und das vormalige Polnische Gebieth, in Preußen, war es dem Verfasser erfreulich, zu erfahren, wie auch hier Humanitaͤt seit seiner ersten Reise vor vierzig Jahren zu- genommen hatte: „denn, sagt er, fuͤr Be- zahlung freundliche Begegnung und Si- cherheit erhalten, ist der Wohlgeruch der bluͤhenden Europaͤischen Humanitaͤt. Wenn nur in dieser beruhigenden Hypothese des bestaͤndigen Fortschreitens die wilden Auf- tritte bei einem durch Klima und Kuͤnste humanisirten Volke jetzt nicht einen so schrecklichen Knoten schuͤrzten.“ — Auch dieser Knote wird sich loͤsen, guter Wan- drer, und gewiß, (wenn auch nur war- nend und belehrend,) zum Fortschritt des Ganzen: denn ein so großer, so unterstuͤtz- ter Versuch ist in unsrer bekannten Voͤl- kergeschichte noch nie gemacht worden. Ueberdem ist das Ziel, wornach wir zu streben haben, nicht bloße Behaglichkeit auf Wegen oder daheim, wie sehr diese auch wohlthut; das Ziel liegt weiter, hoͤ- her hinauf. Der Strom der Dinge fließet auch hier nicht gerade; er reißt ab, setzt an, dringt aber doch weiter. „Naͤher der ungekuͤnstelten Humanitaͤt in unserm Norden, wo sie nicht in Treib- haͤusern aufbluͤhet,“ nahm der Verfasser noch einen Umweg, den er mit einem „Friede mit dem Manne“ schließet. Und auch Friede von mir dem Manne! Denn zu lange habe ich die Theilnehmung verborgen, die ich beym Auszuge dieser Bonhommien am Verfasser sowohl, als an seiner Stadt, und mehreren dabey bemerkten Personen herzlich genommen ha- be. So an den Letzten, denen er Friede im Grabe, oder in ihrer Ruhe wuͤnschet; so an ihm selbst, der in seiner geliebten Dunkelheit endigen wollte. „Dieser schlich- te Denkstein, sagt er, sey dem vormaligen Rathsstande am Wege gesetzt!“ und ich muß dabey die hohe Gerechtigkeit, Guͤte und Sanftmuth bemerken, mit welcher der Verfasser den neuen Rath sowohl, als jedes Kind seiner Vaterstadt zur Pflicht und Wuͤrde derselben hinweiset. Unter dem unscheinbaren Titel einer neuerrichte- ten Bibliothek und eines Reisebriefes ist ein Buͤrgerkatechismus seiner bluͤhen- den Vaterstadt enthalten, der er damit gleichsam sein Herz vermacht hat. Lesen Sie, was sein und mein Freund, der mir die Bonhommien zusandte, von ihm schrieb: „Das Buch in ihre Haͤnde zu wuͤnschen, habe ich keinen andern Beruf, als die Liebe gegen unsern Freund, den ich allgemein geliebt, geschaͤtzt und geehrt gesehen habe; aber von wenigen nach sei- nem ganzen Werth, und als Schriftsteller von sehr wenigen verstanden glaube. Die- sem seinem Buch also, dem eigensten Ei- genthum seines Geistes und Herzens, dem reifsten Nachlaß der Gedanken und Em- pfindungen, in denen und mit denen er Lebenslang lebte und wirkte, den er krank, schwaͤchlich, und oft niedergeschlagenen Ge- muͤths auf den Altar des Vaterlandes als ein Andenken der Liebe gutmuͤthig nieder- legte, und gleich darauf mit seinem Tode besiegelte, diesem moͤchte ich bey Ihnen auch eine gute Staͤte wuͤnschen.“ „So liebenswuͤrdig unser Freund im Umgange, so allgemein anerkannt seine Guͤte war, so sehr ich ihn in seinem Col- legium geehrt und Maͤnner, wie *.*. an der Rede seines Mundes hangen gesehen habe, so gluͤcklich er Wissenschaft und Lie- be zur Kunst zu Bildung seines Geistes und zu Verschoͤnerung seines Lebens anzu- wenden wußte: so ist oder war doch Pa - triotismus die Seite, von der er mir vorzuͤglich unaussprechlich ehrwuͤrdig war und Lebenslang bleiben wird.“ „In einem Leben, wo oft in seinen Aemtern und vielfachen Bestrebungen, Ar- beiten von heterogener Natur, im Grunde seiner Neigung so fremde, seinen Geist niederschlagen und das Herz in die Enge ziehen mußten, hat er doch immer seine Stellen geliebt, sie mit Kraͤften und Red- lichkeit ausgefuͤllt; und zuletzt noch, nach- dem sein Leben ganz seiner Stadt gehoͤrt hatte, und nur der letzte Rest desselben durch die Umstaͤnde der Wirksamkeit ent- zogen war, suchte er ihr durch seine Schrift noch nuͤtzlich zu werden. Hielt es Filan - gieri fuͤr gut, daß Maͤnner, die in oͤffentlichen Aemtern gelebt, nach ihrer Weise Unterricht geben; mich duͤnkt, so darf man auch bey seiner freymuͤthigen Redlichkeit seinem Herzen folgen: denn er schrieb, wie er redete, redete und lebte wie er dachte, und starb wie er gelebt hatte.“ „In seinem letzten Sommer begegnete er mir, da er eben im Begriff war, fuͤr den Ueberrest der Jahrszeit die Stadt zu verlassen, um seine Gesundheit auf dem Lande herzustellen; er sagte mir, daß er im Begriff sey, etwas drucken zu lassen. „Meine Absicht ist, sagte er, bey man- chen unserer guten Buͤrger der Indifferenz entgegen zu wirken, womit man sich allen oͤffentlichen Geschaͤften jetzt zu entziehen an- faͤngt, auf gleichviel-welchen Wegen, und immer damit sich entschuldigt: es haͤtte doch jetzt Alles aufgehoͤrt! die vorigen Zei- ten des Patriotismus seyn nicht mehr — und was dann so der Zeitgeist spricht.“ Hier wollte er zeigen, wie der gutdenken- de Buͤrger sich an die neue Stadtordnung anschließen koͤnne. Dies nehmliche hat er noch in den letzten Tagen an seinen Arzt wiederholet, und bat, ihn seinen Freunden zu sagen: daß der Gegenstand seines Buchs seine Stadtmoral sey.“ So sein Freund. Die Stadt, fuͤr wel- che dieser edle Buͤrger und Senator schrieb, ist Riga ; sein Name ist: Jo - hann Christoph Berens ; und der gleichfalls trefliche Mann, an welchen auf seiner Reise in Deutschland der angefuͤhr- te Brief geschrieben war, Johann Chri - stoph Schwarz , Buͤrgermeister des al- ten Rathes derselben. Empfindlich wird meine Seele geruͤhret, wenn ich an die Zeiten, in denen ich in ihrem Kreise lebte, an so manche vortrefliche Charaktere ihrer edlen Geschlechter, an meine Freunde in denselben, und unter ihnen an den Ver- fasser der Bonhommien zuruͤck geden- ke. Wollte ich, was meine Erfahrung von ihm kennen lernte, in wenig Wor- ten sagen, so waͤre es jene Inschrift al- ten Gehalts, die Kleist seinem Freunde setzte: Witz, Einsicht, Wissenschaft, Geschmack, Be- scheidenheit, Und Menschenlieb' und Redlichkeit, Des Buͤrgers Tugenden, des feinsten Man- nes Gaben, Besaß Er, den man hier begraben. Er lebte seiner Stadt; er starb mit stillem Muth. Ihr Winde, wehet sanft, wo seine Asche ruht. Lebe wohl, geliebte, gutmuͤthige Seele!