Das Staatsrecht des Deutschen Reiches . Erster Band. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches . Von Dr. Paul Laband, Professor d. Deutschen Rechts an der Universität Straßburg. Erster Band. Tübingen , 1876. Verlag der H. Laupp’s chen Buchhandlung. Das Recht der Uebersetzung wird vorbehalten. Druck von H. Laupp in Tübingen. Vorwort . In den ersten Jahren nach Gründung des Norddeutschen Bundes wendete sich das öffentliche Interesse naturgemäß der politischen Würdigung der Neugestaltung Deutschlands zu. Die großen Ereignisse, welche dieser Gründung vorangegangen waren, hatten die politischen Leidenschaften des Volkes in unge- wöhnlichem Grade erregt. Die neue Verfassung war für Jeden, der an dem politischen Leben der Nation Antheil nahm, ein Gegen- stand der Sympathie oder Antipathie, also des Gefühls. Ob die neue Schöpfung Bestand haben werde oder nicht, ob sie zur Ver- einigung oder zur Zerreißung Deutschlands führen werde, ob sie die Wohlfahrt des Deutschen Volkes fördern oder hindern werde, das waren die Fragen, welche Erörterung verdienten und fanden. Von untergeordneter Wichtigkeit erschien es dagegen, in welcher Art die neuentstandenen Zustände rechtlich zu definiren und welche Rechtsbegriffe auf sie anwendbar seien. Die nächste Aufgabe be- stand nicht in der Durchführung schulgerechter Construktionen, son- dern in der Vollbringung einer geschichtlichen That. Im Laufe der Zeit ändert sich dies vollständig. Je längeren und je festeren Bestand die neue Verfassungsform hat, desto müßi- ger erscheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für heilsam oder für schädlich zu erachten sei. Die Errichtung des Norddeutschen Bundes und die Erweiterung desselben zum Deut- schen Reich erscheint immer mehr und mehr als eine unabänderliche Thatsache, in welche auch derjenige sich schicken muß, dem sie un- erwünscht ist. Die Verfassung des Reiches ist nicht mehr der Gegen- stand des Parteistreites, sondern sie ist die gemeinsame Grundlage für alle Parteien und ihre Kämpfe geworden; dagegen gewinnt das Verständniß dieser Verfassung selbst, die Erkenntniß ihrer Vorwort. Grundprinzipien und der aus den letzteren herzuleitenden Folge- sätze und die wissenschaftliche Beherrschung der neu geschaffenen Rechtsbildungen ein immer steigendes Interesse. Mit dem Ausbau der Verfassung und mit ihrer Durchführung gliedern sich die Ver- hältnisse des neuen öffentlichen Rechts immer feiner und reicher, es wird immer schwieriger, zugleich aber auch wichtiger, in den einzelnen Erscheinungen des öffentlichen Rechtslebens die einheit- lichen Grundsätze und leitenden Principien festzuhalten; es ent- stehen durch die Praxis selbst in unerschöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politischen Wunsch oder der politischen Macht, sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts entschieden werden müssen. Nachdem die That der Neuge- staltung Deutschlands vollbracht ist, entsteht das Bedürfniß, sich zum Bewußtsein zu bringen, worin diese That bestanden hat, welchen Erfolg sie bewirkt hat. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist eine Aufgabe der Rechtswissenschaft. Mit einer bloßen Zusammenstellung der Artikel der Reichsverfassung und der Reichsgesetze unter gewissen Ueber- schriften kann sie nicht gelöst werden; ebensowenig durch die Hin- zufügung von Stellen aus den Motiven der Gesetzesvorlagen und aus den Verhandlungen des Reichstages, welche meistens doch nur Erwägungen de lege ferenda enthalten. Es handelt sich vielmehr um die Analyse der neu entstandenen öffentlich rechtlichen Ver- hältnisse, um die Feststellung der juristischen Natur derselben und um die Auffindung der allgemeineren Rechtsbegriffe, denen sie untergeordnet sind. Man darf sich über diese Aufgabe nicht mit der Versicherung hinwegsetzen, daß die Verfassung des Deutschen Reiches so eigenartig sei, daß sie unter keine der herkömmlichen juristischen Begriffskategorien passe. Eigenthümlich ist der Deutschen Verfassung, sowie jeder concreten Rechtsbildung, nur die thatsäch- liche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe; dagegen ist die Schaffung eines neuen Rechtsinstitutes, welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht un- tergeordnet werden kann, gerade so unmöglich wie die Erfindung einer neuen logischen Kategorie oder die Entstehung einer neuen Naturkraft. Es kann schwierig sein, bei einer neuen Erscheinung im Rechtsleben zu erkennen, aus welchen juristischen Elementen das rechtliche Wesen derselben zusammengesetzt ist; aber die wissen- Vorwort. schaftliche Behandlung des Rechts besteht eben darin, daß sie die Erscheinungen des Rechtslebens nicht nur beschreibt, sondern er- klärt und auf allgemeine Begriffe zurückführt. Mit der Auffindung der allgemeinen Principien ist die Auf- gabe noch nicht vollständig gelöst; es müssen auch die, aus den gefundenen Principien sich ergebenden Folgerungen entwickelt werden und es muß ihre Uebereinstimmung mit den thatsächlich bestehen- den Einrichtungen und den positiven Anordnungen der Gesetze dar- gethan werden. Bei dem Versuch, das Staatsrecht des Deutschen Reiches in der angegebenen Weise zu erörtern, zeigt sich sofort der innere, unauflösliche Zusammenhang des Verfassungsrechts mit den übrigen Gebieten der Rechtswissenschaft, namentlich mit dem Strafrecht , und es macht sich die Thatsache bemerkbar, daß ein erheblicher Theil des Staatsrechts nicht in der Verfassung, sondern in dem Strafgesetzbuch seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat. Diese staatsrechtliche Seite der Strafgesetze erfordert um so eingehendere Berücksichtigung, als in der bisherigen Literatur die Publicisten gewöhnlich den Strafrechtslehrern, die Kriminalisten den Staats- rechtslehrern sie überlassen haben. Es läßt sich ferner die Unterschei- dung des Reichsstaatsrechts von dem Landesstaatsrecht nicht streng durchführen; beide ergänzen sich gegenseitig und stehen zu einander in vielfachen Wechselbeziehungen. Eine große Zahl von wissenschaftlichen Begriffen und Rechtsinstituten ist dem Reichsrecht und dem Staatsrecht der einzelnen Bundesstaaten gemeinsam, so daß auch die theoretische Erörterung derselben Reichsrecht und Landes- staatsrecht umfassen muß. Endlich ergiebt sich, daß auf dem Ge- biete des Staatsrechts zahlreiche Begriffe wiederkehren, welche ihre wissenschaftliche Feststellung und Durchbildung zwar auf dem Gebiete des Privatrechts gefunden haben, welche ihrem Wesen nach aber nicht Begriffe des Privatrechts sondern allgemeine Be- griffe des Rechtes sind. Nur müssen sie allerdings von den spezi- fisch privatrechtlichen Merkmalen gereinigt werden. Die einfache Uebertragung civilrechtlicher Begriffe und Regeln auf die staats- rechtlichen Verhältnisse ist der richtigen Erkenntniß der letzteren gewiß nicht förderlich; die „civilistische“ Behandlung des Staats- rechts ist eine verkehrte. Aber unter der Verurtheilung der civili- stischen Methode versteckt sich oft die Abneigung gegen die juristische Vorwort. Behandlung des Staatsrechts und indem man die Privatrechtsbegriffe vermeiden will, verstößt man die Rechtsbegriffe überhaupt, um sie durch philosophische und politische Betrachtungen zu ersetzen. Im Allgemeinen hat die Wissenschaft des Privatrechts vor allen anderen Rechtsdisciplinen einen so großen Vorsprung gewonnen, daß die letzteren sich nicht zu scheuen brauchen, bei ihrer reiferen Schwester zu lernen und bei dem heutigen Zustande der staatsrechtlichen und insbesondere reichsrechtlichen Literatur ist weit weniger zu fürchten, daß sie zu civilistisch, als daß sie unjuristisch wird und auf das Niveau der politischen Tagesliteratur hinabsinkt. Von diesen Gesichtspunkten aus ist die folgende Darstellung des Staatsrechts des Deutschen Reiches unternommen worden, deren Anfang in dem vorliegenden ersten Bande veröffentlicht wird. Derselbe umfaßt diejenigen Lehren, welche die eigentliche rechtliche Struktur des Reiches, sein juristisches Wesen, seine Grundlagen und seine Organisation betreffen. Die Darstellung derjenigen Re- geln, welche die Lebensthätigkeit des Reiches in formeller und materieller Hinsicht beherrschen, wird der zweite Band enthalten. Von der bisherigen Literatur des Reichsrechts konnte die zweite Auflage des Werkes von Ludwig v. Rönne , deren erster Band während des Druckes des vorliegenden Buches erschienen ist (Leipzig 1876), nicht mehr berücksichtigt werden. Mehr noch zu bedauern ist es, daß die Ergebnisse der Reichs- tags-Session 1875/76 keine Verwerthung mehr finden konnten. Je- doch sind die Veränderungen der Behörden-Organisation, welche mit dem 1. Januar 1876 eingetreten sind, in den Nachträgen am Schlusse des Bandes aufgeführt worden. Inhalts-Verzeichniß. Erstes Kapitel. Die Entstehungsgeschichte des Deutschen Reichs. Seite §. 1. Die Auflösung des Deutschen Bundes 3 §. 2. Die Gründung des norddeutschen Bundes 9 §. 3. Das Verhältniß des norddeutschen Bundes zu den süddeutschen Staaten 34 §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches 37 §. 5. Die Redaktion der Reichsverfassung 48 §. 6. Die Erwerbung von Elsaß-Lothringen 52 Zweites Kapitel. Die rechtliche Natur des Reiches. §. 7. Das Reich als Rechtssubject 56 §. 8. Der Begriff des Bundesstaates 70 Drittes Kapitel. Das Verhältniß des Reiches zu den Einzelstaaten. §. 9. Das Subject der Reichsgewalt 85 §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich 94 §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten 109 §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten 124 Viertes Kapitel. Die natürlichen Grundlagen des Reiches. Volk und Land. I. Abschnitt. Reichs-Angehörige . §. 13. Begriff und staatsrechtliche Natur der Reichs-Angehörigkeit 130 §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen 137 §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts 148 §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat 156 §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit 162 §. 18. Der Verlust der Staatsangehörigkeit 171 §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung 175 Inhaltsverzeichniß. Seite II. Abschnitt. Bundes-Gebiet . §. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur 182 §. 21. Gebiets-Veränderungen 186 §. 22. Der Schutz des Gebietes 192 §. 23. Die räumliche Begrenzung der Kompetenz der Behörden 200 Fünftes Kapitel. Die Organisation der Reichsgewalt. I. Abschnitt. Der Kaiser . §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums 206 §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte 214 §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte 220 II. Abschnitt. Der Bundesrath . §. 27. Allgemeine Erörterung seines Wesens 230 §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe 234 §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches 250 §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes 272 §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse 281 III. Abschnitt. Die Reichsbehörden und Reichsbeamten . A. Die Reichsbehörden. §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden 291 §. 33. Der Reichskanzler 306 §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden 313 §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden 349 §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden 359 B. Die Reichsbeamten. §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten 381 §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten 401 §. 39. Die Amts-Kaution 410 §. 40. Die Pflichten und Beschränkungen der Reichsbeamten 418 §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung 432 §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten 459 §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche 475 §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension 478 §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses 487 §. 46. Einfluß des Beamten-Verhältnisses auf andere rechtliche Verhält- nisse 495 IV. Abschnitt. Der Reichstag . §. 47. Allgemeine Charakteristik 498 §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages 505 §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht 523 §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages 556 Inhaltsverzeichniß. §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte 559 §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder 570 §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedschaft 575 Sechstes Kapitel. Die Sonderstellung Elsaß-Lothringens im Reiche. §. 54. Bundesglied und Reichsland 578 §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen 604 Nachträge 613 Literatur-Uebersicht *. Archiv des Norddeutschen Bundes von Glaser . Berlin 1867. Archiv des Norddeutschen Bundes und des Zollvereins (resp. des Reichs) von Koller Berlin Kortkampf seit 1868. Annalen des Norddeutschen Bundes und des Zollvereins (resp. des deut- schen Reiches) von Hirth seit 1868 (Berlin u. Leipzig). v. Martitz , Betrachtungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes. Leipzg. 1868. Hermann Schulze , Einleitung in das deutsche Staatsrecht. Leipz. 1867. S. 365—474. R. Römer , Die Verf. des Nordd. Bundes und die süddeutsche, insbes. württemberg. Freiheit. Tübingen 1867. Hiersemenzel , Die Verfassung des Nordd. Bundes. Berlin 1867. — Das Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Nordd. Bundes und des Deutschen Zoll- und Handelsvereins. 2 Bde. Berlin 1868—1870. Gg. Meyer , Grundzüge des Norddeutschen Bundesrechts. Lpzg. 1868. Das Bundesstaatsrecht der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Nordd. Bundes zusammengestellt von einem Juristen. München 1868. Fr. Thudichum , Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes und des Deut- schen Zollvereins. Tübingen 1870. v. Gerber , Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts. 2. Aufl. Leipz. 1869. Beilage IV. Der Norddeutsche Bund (S. 237—250). v. Rönne , Das Staatsrecht der Preuß. Monarchie. 3te Aufl. I. Band 2te Abth. S. 717—836. Leipzig 1870. G. A. Grotefend , Das Deutsche Staatsrecht der Gegenwart. Berlin 1869. S. 784—812. Fr. v. Holtzendorff, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechts- pflege des Deutschen Reiches. Leipzig seit 1871. Zeitschrift für Reichs- und Landesrecht mit besonderer Rücksicht auf Bayern von Hauser . Nördlingen seit 1874. Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart von Grünhut . Wien seit 1874. Auerbach , Das neue Deutsche Reich und seine Verfassung. Berlin 1871. Hauser , Die Verfassung des Deutschen Reiches. Nördl. 1871. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 1 Riedel , Die Reichsverfassungsurkunde v. 16. April 1871. Nördl. 1871. Gg. Meyer , Staatsrechtl. Erörterungen über die Deutsche Reichsverfassung. Leipz. 1872. J. Pözl , Das Bayerische Verfassungsrecht auf der Grundlage des Reichs- rechtes. Supplem. zur IV. Aufl. des Bayr. Verfassungsr. München 1872. v. Rönne , Das Verfassungsrecht des Deutschen Reiches. Leipz. 1872. (Auch in Hirth’s Annalen 1871 S. 1—312 und 1872 S. 421 fg.). J. v. Held , Die Verfassung des Deutschen Reiches. Leipz. 1872. M. Seydel , Commentar zur Verfassungs-Urkunde für das Deutsche Reich. Würzb. 1873. J. Bender , Grundzüge des Verfassungs-Rechtes des Deutschen Reiches. Cassel u. Göttingen 1873. Westerkamp , Ueber die Reichsverfassung. Hannover 1873. Hänel , Studien zum Deutschen Staatsrechte. I. Die vertragsmäßigen Ele- mente der Deutschen Reichsverfassung. Leipz. 1873. Rob. von Mohl , Das deutsche Reichsstaatsrecht. Tübingen 1873. Koller , Die Verfassung des Deutschen Reiches. Erstes Heft. Berlin 1875. Die Monographien, Abhandlungen und Kommentare einzelner Reichsge- setze werden bei den betreffenden Abschnitten angegeben werden. Ausführliche Literatur-Angaben über den Norddeutschen Bund und das deutsche Reich enthalten die „ deutschen Monatshefte des Reichsan- zeigers .“ Bd. III. (1874) S. 55 fg. Ferner Mühlbrecht , Allgemeine Bibliographie der Staats- und Rechts- wissenschaft. W. N. Schulze , Die reichsrechtl. Literatur seit Entstehung des norddeutschen Bundes, 1867 bis Ende 1874. Leipz. 1875. Eine treffliche zusammenfassende Darstellung der Literatur des Reichsrechts hat v. Pözl in der kritischen Vierteljahresschrift Bd. XVI. S. 63 ff. 161 ff. gegeben. Erstes Kapitel. Die Entstehungsgeschichte des Deutschen Reichs Das urkundliche Material für die Gründungsgeschichte des Nordd. Bun- des ist enthalten in Glaser ’s Archiv des Nordd. Bundes. Berlin 1867. Aegidi und Klauhold , das Staatsarchiv. Bd. 10 und folgende. Ham- burg 1866 ff. Am Vollständigsten und Uebersichtlichsten L. Hahn . Zwei Jahre preußisch-deutscher Politik 1866—1867. Berlin 1868. Für die Grün- dung des Deutschen Reiches findet sich das Wichtigste in den Drucksachen des Reichstages des Nordd. Bundes von 1870. Ferner in Koller ’s Archiv des Nordd. Bundes und Zollvereins, in Hirth ’s Annalen des Nordd. Bundes (resp. des Deutschen Reichs); in v. Bezold ’s Materialien der Deutschen Reichsverfassung. 3 Bde. 1872 und L. Hahn , der Krieg Deut- schlands gegen Frankreich und die Gründung des Deutschen Kaiserreichs. Die Deutsche Politik 1867—1871. Berlin 1871. . §. 1. Die Auflösung des deutschen Bundes. Als am 14. Juni 1866 die deutsche Bundesversammlung auf Antrag Oesterreichs den Beschluß gefaßt hatte, die Mobilmachung des VII., VIII., IX. und X. , d. h. sämmtlicher nicht österreichischen und nicht preußischen, Bundes-Armeecorps anzuordnen, obwohl der Preußische Gesandte gegen jede geschäftliche Behandlung des Antrages, als formell und materiell bundeswidrig, Namens seiner Regierung Protest eingelegt hatte, erklärte derselbe Gesandte sofort nach der Beschlußfassung im Namen und auf Befehl Seiner Majestät des Königs: „daß Preußen den bisherigen Bundesvertrag für gebrochen und deshalb nicht mehr verbindlich ansieht, denselben viel- mehr als erloschen betrachten und behandeln wird“ Hahn , Zwei Jahre S. 124 fg. Glaser , Archiv I, 1. S. 27. . An diesen Vorgang knüpften sich mehrere bundesrechtliche Streit- fragen; ob der Antrag Oesterreichs materiell zulässig gewesen, ob seine geschäftliche Behandlung im Einklang mit den Vorschriften 1* §. 1. Die Auflösung des deutschen Bundes. des Bundesrechts sich gehalten, ob die Abstimmung und Beschluß- fassung namentlich mit Rücksicht auf die Vota in der 16. Curie ordnungsmäßig stattgefunden, ob der Austritt Preußens aus dem Bunde rechtlich statthaft war Vgl. darüber Schulze , Einleit. in das deutsche Staatsrecht (Neue Ausgabe 1867) S. 379 fg. . Alle diese Fragen haben das praktische Interesse vollständig verloren; der Fortbestand des deut- schen Bundes war nicht mehr von der juristischen Lösung staats- rechtlicher Streitigkeiten, sondern von dem Gange weltgeschichtlicher Ereignisse abhängig. Der Bund wurde von den letzteren zu Grabe getragen. Aber die thatsächliche Beendigung des Bundesverhält- nisses hat auch ihre, nach allen Seiten hin vollkommene, formelle rechtliche Sanction erhalten. Der deutsche Bund war ein völker- rechtlicher Verein, der nach Art. I. der Bundesacte unauflöslich war. Es konnte daher allerdings kein einzelner Staat willkührlich aus demselben ausscheiden; durch übereinstimmenden Willensent- schluß aller , zu dem Bunde gehörenden Staaten war seine Auf- lösung aber zulässig, da das Bundesverhältniß unbezweifelt den Charakter eines völkerrechtlichen Vertragsverhältnisses hatte Auf die Austritts-Erklärung Preußens in der Sitzung der Bundesver- samml. v. 14. Juni 1866 erwiderte das Präsidium: „Der deutsche Bund ist nach Art. I. der Bundesacte ein unauflöslicher Verein, auf dessen ungeschmä- lerten Fortbestand das gesammte Deutschland, sowie jede ein- zelne Bundesregierung ein Recht hat , und nach Art. V. der Wiener Schlußacte kann der Austritt aus diesem Vereine keinem Mitgliede desselben freistehen.“ Dies ist im Wesentlichen richtig; abgesehen davon, daß „das gesammte Deutschland“ kein staatliches Gemeinwesen, überhaupt kein Rechts- subject war und deshalb auch kein „Recht“ haben konnte; Rechte hatten nur die einzelnen Bundesglieder. Das Gleiche gilt von dem „unveräußerlichen und unverjährbaren Recht des deutschen Volkes auf eine ganz Deutsch- land umfassende politische Verbindung“, von welchem Zachariä in der Vor- rede der 3ten Auflage (1866) seines deutschen Staats- und Bundesrechts Bd. II. spricht. . Diese Willensübereinstimmung sämmtlicher Bundesmitglieder, so weit sie die Katastrophe von 1866 überdauert haben, ist erfolgt und in rechtswirksamer Weise erklärt worden und zwar durch nachstehende Acte: Zuerst schied aus der Reihe der selbstständigen Bundes- mitglieder der König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg aus; indem derselbe durch den Wiener §. 1. Die Auflösung des deutschen Bundes. Frieden vom 30. Oktob. 1864 Art. 3 auf alle seine Rechte auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg zu Gunsten des Königs von Preußen und des Kaisers von Oesterreich ver- zichtete, en s’engageant à reconnaître les dispositions, quel Leurs dites Majestés prendront à l’égard de ces duchés. Dadurch sind allerdings die Herzogthümer Holstein und Lauen- burg aus dem deutschen Bund nicht ausgeschieden; die Wahrung ihrer Rechte war aber fortan in die Hände der Souveräne von Preußen und Oesterreich, und nachdem Oesterreich seine Rechte auf Lauenburg durch die Gasteiner Convention v. 14. August 1865 Art. IX. und auf Schleswig-Holstein durch den Nikolsburger Frieden Art. III. an Preußen abgetreten hatte, in die Preußens allein gelegt. Sodann beantragte in der Sitzung vom 19. Mai 1866 der König der Niederlande die Entlassung des Herzogthums Limburg aus dem deutschen Bunde Staatsarchiv XI. Nro. 2227. ; der Antrag kam aber nicht mehr zur ordnungsmäßigen Erledigung. Nachdem Preußen am 14. Juni 1866 seinen Austritt aus dem deutschen Bunde erklärt hatte, folgten seinem Beispiele Wir entnehmen diese chronologische Zusammenstellung Schulze ’s Ein- leitung in das deutsche Staatsrecht. (Neue Ausg. 1867). S. 399 Note 3, dem auch Thudichum , Verfassungsr. des Nordd. Bundes S. 3 folgt. : den 21. Juni Oldenburg und Lippe-Detmold. den 23. Juni Sachsen-Altenburg. den 25. Juni Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck. den 29. Juni Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe, Hamburg, Bremen, Lübeck. den 1. Juli Coburg-Gotha, Reuß j. L., Mecklenburg. den 5. Juli Sachsen Weimar. den 26. Juli Sachsen-Meiningen. den 2. August Baden. den 4. August Braunschweig. Oesterreich erkennt im Art. II. des Präliminarfriedens- vertrages von Nikolsburg v. 26. Juli 1866 Staatsarch. XI. 2364. Hahn S. 188. Glaser S. 32. „die Auflösung des bisherigen deutschen Bundes an und §. 1. Die Auflösung des deutschen Bundes. gibt seine Zustimmung zu einer neuen Gestaltung Deutsch- lands ohne Betheiligung des Oesterreichischen Kaiserstaates.“ Die Bestimmungen des Nikolsburger Friedens wurden aner- kannt und der Beitritt zu denselben, soweit sie die Zukunft Deutsch- lands betreffen, erklärt von Württemberg im Berliner Frieden v. 13. Aug. 1866 Art. IX. Staatsarch. XI. 2372. Hahn S. 198. Glaser S. 41. . Baden im Berliner Frieden v. 17. Aug. 1866 Art. X. Staatsarch. XI. 2374. Hahn S. 199. Glaser S. 49. . Bayern im Berliner Frieden v. 22. Aug. 1866. Art. V. Staatsarch. XI. 2373. Hahn S. 200. Glaser S. 44. . Großh. Hessen im Berliner Frieden v. 3. Spt. 1866 Art. XIII. Staatsarch. XI. 2375. Hahn S. 202. Glaser S. 61. . Reuß ä. L. im Berliner Frieden v. 26. Sept. 1866 Art. I. Staatsarch. XI. 2430. Glaser S. 72. . Sachsen-Meiningen im Berliner Frieden v. 8. Oct. 1866 Art. I. Staatsarch. XI. 2432. Glaser S. 70. . Königr. Sachsen im Berliner Frieden v. 21. Oct. 1866 Art. II. Staatsarch. XI. 2434. Hahn S. 205. Glaser S. 52. . Das Königreich Hannover, das Kurfürstenthum Hessen, das Herzogthum Nassau und die freie Stadt Frankfurt hatten durch den Krieg ihre Existenz als Staaten verloren und waren ebenso wie die Elbherzogthümer mit dem Preußischen Staate vereinigt worden. Luxemburg und Limburg hielten sich von der Theilnahme an den Bundestags-Verhandlungen seit der Austrittserklärung Preu- ßens fern und erkannten die Auflösung des deutschen Bundes und die neue politische Gestaltung Deutschlands im Londoner Vertrag vom 11. Mai 1867 ausdrücklich an Schon die Rede des Prinzen-Statthalters Heinrich bei Eröffnung der Luxemburger Ständeversammlung v. 29. Oktober 1866 sprach die Anerkennung der Auflösung des deutschen Bundes aus. Sie ist auszugsweise abgedruckt im Staatsarchiv XII. 2449. . Von allen Mitgliedern des ehemaligen deutschen Bundes mit alleiniger Ausnahme Liechtenstein’s liegt demnach, soweit sie ihre staatliche Existenz bewahrt haben, das ausdrückliche, in bindender völkerrechtlicher Form abgegebene Einverständniß mit der Auf- lösung des deutschen Bundes vor Eine ernsthafte Untersuchung, ob Liechtenstein der Auflösung des deutschen Bundes ein Veto entgegenzusetzen berechtigt gewesen wäre, verbietet . §. 1. Die Auflösung des deutschen Bundes. Aber nicht nur einzeln haben alle deutsche Staaten diese Anerkennung abgegeben, sondern auch der Bundestag selbst, der freilich seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten immer mehr einge- schrumpft war, sich aber immer noch als das verfassungsmäßige Organ des Bundes ansah, faßte in seiner letzten Sitzung am 24. August 1866 zu Augsburg den Beschluß: „nachdem in Folge der Kriegsereignisse und Friedensverhand- lungen der deutsche Bund als aufgelöst betrachtet werden muß, seine Thätigkeit mit der heutigen Sitzung zu beendigen, auch hiervon die bei ihm beglaubigten Vertreter auswärtiger Regierungen zu benachrichtigen.“ Der deutsche Bund war entstanden nicht durch die völlig freie Entschließung seiner Mitglieder, sondern unter der Mitwirkung der beim Wiener Friedenscongreß vertretenen Europäischen Mächte. Er war ein Theil der allgemeinen politischen Gestaltung Europa’s, die unter gegenseitiger Zustimmung der Großmächte geschaffen worden war; die Bundesacte bildet einen Bestandtheil der Wiener Congreßacte von 1815 Die ersten elf Artikel wurden sogar der Congreßakte selbst einverleibt, außerdem wurde die Bundesacte in ihrem vollständigen Umfange als Beilage für einen Bestandtheil der Wiener Congreßakte erklärt. . Die Europäischen Großmächte hatten daher an der staatlichen Neubildung Deutschlands nicht nur das politische Interesse, welches alle Kulturstaaten der Welt daran nahmen, sondern es konnte aus völkerrechtlichen Gründen ihre besondere Zustimmung zur Auf- lösung des — unter ihrer Mitwirkung begründeten — deutschen Bundes erforderlich erscheinen. Auch diesem Erforderniß ist Ge- nüge geschehen durch den internationalen Londoner Vertrag v. 11. Mai 1867 Hahn , S. 586. Glaser , Arch. I. 4. S. 125 ff. , welcher die Neutralität Luxemburgs unter die Collectivgarantie der Europäischen Großmächte mit Einschluß Italiens stellte, indem der Art. 6 dieses Vertrages ausdrücklich auf die Auflösung des deutschen Bundes Bezug nimmt. sich von selbst, da die Existenz eines souverainen Gemeinwesens wie Liech- tenstein eine Ironie des Staatsbegriffes ist. Für das juristische Gewissen aber, welches für die Auflösung des deutschen Bundes Einstimmigkeit erfordert, mag es genügen, daß Liechtenstein gegen die Auflösung des Bundesverhält- nisses keinen Widerspruch erhoben, sich thatsächlich gefügt und in concludenter Weise seine Einwilligung stillschweigend erklärt hat. §. 1. Die Auflösung des deutschen Bundes. Der deutsche Bund war kein staatliches Gemeinwesen, sondern ein Gebilde des Völkerrechts; er stand in rechtlicher Beziehung lediglich unter völkerrechtlichen Regeln. Auch seine Auflösung ist ausschließlich nach völkerrechtlichen Grundsätzen zu beurtheilen. Für Zweifel, wie sie die Beendigungsweise des alten deutschen Reiches in Be- treff der rechtlichen Würdigung des Vorganges hervorrief Vgl. H. Schulze , Einleitung S. 281 Note 10. , bietet die Auflösung des deutschen Bundes keinen Raum. Mag man politisch über die Ereignisse des Jahres 1866 denken wie man wolle, mag man die Auflösung des alten völkerrechtlichen Staaten- verbandes vielleicht beklagen: für die rechtliche Beurtheilung kommt nur die Thatsache in Betracht, daß die Auflösung des Bundes- verhältnisses unter dem einstimmigen Consens aller Staaten erfolgt ist, welche einen Rechtsanspruch auf dessen Fortbestand hätten gel- tend machen können. Es ergiebt sich zugleich noch ein anderes Resultat. Man kann die Auflösung des deutschen Bundes auch hinsichtlich ihrer recht- lichen Wirkungen nicht mit der des alten deutschen Reiches auf gleiche Linie stellen So namentlich Zachariä in der angef. Vorrede S. IV. u. Schulze a. a. O. S. 403. Im Wesentlichen auch v. Rönne Reichsverfassung S. 27. u. Preuß. Staatsr. I. 2 S. 740 (3. Aufl.). . Das Reich hatte staatliche Rechte, war überhaupt ein staatliches, formell mit souveräner Gewalt ausge- stattetes Subject. In seine Rechte konnte daher eine Succession stattfinden und zwar succedirte in der That jeder Staatssouverän für sein Gebiet in diejenigen Hoheitsrechte, welche das Reich bis zu seiner Auflösung hatte. Das Reich konnte ferner Gesetze geben, welche wegen ihres Ursprungs formell gemeinrechtliche Kraft und Geltung hatten und welche trotz der Auflösung des Reiches diese Bedeutung behielten, bis sie durch die souverain gewordene Landes- staatsgewalt beseitigt wurden. Der deutsche Bund war ein völker- rechtliches Verhältniß. Mit seiner Auflösung war dasselbe nach allen Seiten hin beendet; es wurde freilich nicht „rückwärts“ an- nullirt, aber für die Zukunft vollständig beseitigt; es giebt weder eine Succession in Bundesrechte, noch eine Fortwirkung von Bundesbeschlüssen, soweit nicht erworbene Rechte durch die- selben zu Zeiten des Bundes schon begründet waren. Der Bund §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. hatte keinerlei gesetzgebende Gewalt. Weder die Bundesacte noch die Wiener Schlußacte sind Gesetze, trotzdem sie Grundgesetze des deutschen Bundes hießen; kein Bundesbeschluß war ein Gesetz, selbst wenn er Bundesgesetz genannt wurde, sondern nur eine Ver- einbarung über die von den einzelnen Staaten zu erlassenden Ge- setze oder über das völkerrechtliche Bundesverhältniß der Einzel- staaten selbst. Der Mißbrauch, der mit dem Worte „Bundesrecht“ getrieben wurde, ist allerdings weit verbreitet gewesen; für die juristische Betrachtung ist aber nicht der Klang des Wortes, sondern die rechtliche Natur der Sache maaßgebend. Ein, von dem Landes- recht der einzelnen Staaten verschiedenes Bundesrecht , das einen anderen Inhalt als die vertragsmäßige Normirung des Bundesverhältnisses und deren Ausführung im Einzelnen hatte, gab es nicht. Alles, selbst durch Bundesbeschlüsse provozirte und in allen deutschen Staaten gleichmäßig geltende Recht war ohne Ausnahme nicht Bundesrecht sondern Landesrecht Thudichum S. 6. . Dieses Recht ist daher auch durch die Auflösung des deutschen Bundes nicht beseitigt worden, eben weil es kein Bundesrecht war. Da- gegen ist alles Bundesrecht , d. h. der Inbegriff aller vertrags- mäßigen und statutarischen Bestimmungen über den völkerrechtlichen Verein, welcher unter den deutschen Staaten mit der Bezeichnung deutscher Bund bestanden hat, mit der Auflösung dieses Vereins gegenstandslos geworden und vollständig und in allen Beziehungen in Wegfall gekommen. § 2. Die Gründung des Norddeutschen Bundes. Die Vorgeschichte des Norddeutschen Bundes reicht in die Zeiten des ehemaligen deutschen Bundes hinauf. Schon im Jahre 1863 erklärte Fürst Bismarck bei Erörterung des Oesterreichischen Reformprojects in einer Denkschrift des Staatsministe- riums vom 15. September 1863 Auszugsweise auch bei Hahn S. 60. Anm. für die wichtigste und wesentlichste Reform der Bundesverfassung, die Einfügung einer National-Vertretung , welche berufen sei, „die Sonderinteressen der einzelnen Staaten im Interesse der Gesammt- heit Deutschlands zur Einheit zu vermitteln“, und er verlangte §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. im Gegensatz zu der von Oesterreich unter dem Beifall der Mittel- staaten in Vorschlag gebrachten Delegirten-Versammlung: „eine Versammlung, die aus dem ganzen Deutschland nach dem Maß- stabe der Bevölkerung durch direkte Wahlen hervorgeht“ Vergl. die Darstellung des österreich. Reformprojekts und seines Schick- sals bei Schulze Einleitung S. 337 ff. und ebendaselbst (2. Ausg.) S. 406 ff. die Erörterung über „die deutsche Politik des Grafen Bismarck 1862—1866.“ . Eine weitere Verfolgung dieses politischen Programmes war durch die Gestaltung, welche die schleswig-holsteinische Angelegenheit durch den am 15. November 1863 erfolgten Tod des Königs Friedrich VII. von Dänemark erhielt, namentlich durch das Zusammengehen der beiden deutschen Großmächte und durch den gemeinsamen Gegen- satz, in welchem sie sich zur Mehrzahl der deutschen Mittel- und Kleinstaaten befanden, zunächst unthunlich. Als aber der Conflict zwischen Preußen und Oesterreich im Jahre 1866 drohender wurde, stellte Fürst Bismarck die Bundesreform wieder in den Vorder- grund. Und mit Recht. Nicht um einen Länderzuwachs zum Preußischen Staatsgebiet, und sei er auch von solcher Wichtigkeit wie die Elbherzogthümer, sollte der gewaltige und gefährliche Kampf unter den deutschen Großmächten und der Krieg gegen die mit Oesterreich verbündeten deutschen Bruderstämme gewagt werden. Wurde er glücklich zu Ende geführt, so mußte der auf Deutsch- land lastende Dualismus der beiden Großmächte, die Zersplitterung der Nation in staatlich mit einander nicht verbundene Parcellen, die darauf beruhende politische Ohnmacht nach Außen und Zer- fahrenheit im Innern beseitigt werden. Darin liegt die historisch- politische, die sittliche Berechtigung des Krieges von 1866, daß er nicht im Sonderinteresse Preußens, sondern in dem Gesammtin- teresse Deutschlands geführt wurde und daß von Anfang an nicht die Vergrößerung Preußens, sondern die Erlösung Deutschlands von dem politischen Elend, welches die Verträge von 1815 über dasselbe gebracht haben, das hohe Ziel des Kampfes war Es mag hier daran erinnert werden, daß Fürst Bismarck in der Sitzung des Preuß. Abg.-Hauses vom 13. Juni ausdrücklich erklärte, daß die Idee der Annexion der Elbherzogth. hervorgerufen werde, „durch die Weigerung, Preußen billige, ja im Interesse Deutschlands sogar ganz nothwendige Zugeständnisse zu machen“ und daß Preußen noch am 14. Juni 1866 den deutschen Staaten, welche sich mit ihm zur Herstellung einer deutschen Verfassung ver- . §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Am 14. März 1866 berührte das offizielle Organ der Preu- ßischen Regierung, die Provinzial-Correspondenz, die Nothwendig- keit, bei der Entscheidung der schleswig-holsteinischen Angelegenheit auch die Reform der Bundesverhältnisse in Frage zu ziehen; sie erinnerte an die in der Denkschrift vom 15. September 1863 vom Preußischen Staatsministerium dargelegten Grundsätze und erklärte: „die Preußische Regierung würde, falls jetzt die Nothwendigkeit hervorträte, die Umbildung der Bundesverhältnisse wieder ins Auge zu fassen, vermuthlich an ihre Vorschläge in der erwähnten Denk- schrift wieder anknüpfen“ Hahn S. 37. . Bald darauf, am 24. März 1866, richtete Fürst Bismark an die Vertreter Preußens bei den deutschen Regierungeu eine Cir- cular-Depesche Hahn S. 43 ff. , welche eine scharfe Kritik der Bundesverhältnisse enthält und die Nothwendigkeit einer Bundesreform den deutschen Regierungen dringend ans Herz legt Bemerkenswerth ist folgende Stelle: „Wenn wir Deutschlands nicht sicher sind, ist unsere Stellung gerade wegen unserer geographischen Lage gefährdeter, als die der meisten andern europäischen Staaten; das Schicksal Preußens aber wird das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen, und wir zweifeln nicht, daß, wenn Preußens Kraft einmal gebrochen wäre, Deutschland an der Politik der europäischen Nationen nur noch passiv betheiligt bleiben würde. .... Wenn der deutsche Bund in seiner jetzigen Gestalt und mit seinen jetzigen politischen und militärischen Einrichtungen den großen, europäischen Krisen, die aus mehr als einer Ursache jeden Augenblick auftauchen können, entgegen gehen soll, so ist nur zu sehr zu befürchten, daß er seiner Aufgabe erliegen und Deutsch- land vor dem Schicksale Polens nicht schützen werde .“ . Am 9. April 1866 stellte Preußen am Bundestage den An- trag auf eine Reform des deutschen Bundes Hahn S. 60—65. . In der Erklärung des Preußischen Bundestags-Gesandten wird die Nothwendigkeit einer Umgestaltung der Bundesverfassung nachgewiesen, namentlich aber darauf der größte Nachdruck gelegt, daß weder die einseitigen Verhandlungen unter den Regierungen, noch die Debatten und Beschlüsse einer gewählten Versammlung allein im Stande wären, eine Neugestaltung des nationalen Verfassungswerkes zu schaffen, einigen würden, die Integrität ihres Gebietes gewährleistete. Vgl. Hahn S. 128 ff. Staatsarch . XI. Nr. 2322 und 2324. (An Hannover, Sachsen und Kurhessen gerichtete, sogenannte Sommationen.) §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. daß vielmehr nur durch ein Zusammenwirken beider Factoren das Ziel erreicht werden könne. Für die zu wählende Versammlung schlug Preußen das allgemeine Stimmrecht und directe Wahlen vor und demgemäß ging der Antrag dahin: Hohe Bundesversammlung wolle beschließen: „eine aus directen Wahlen und allgemeinem Stimm- „recht der ganzen Nation hervorgehende Versammlung für „einen noch näher zu bestimmenden Tag einzuberufen, um „die Vorlagen der deutschen Regierungen über eine Reform „der Bundesverfassung entgegenzunehmen und zu berathen; „in der Zwischenzeit aber, bis zum Zusammentritt derselben, „durch Verständigung der Regierungen unter einander diese „Vorlage festzustellen.“ Die Bundes-Versammlung verwies den Antrag an eine Com- mission von 9 Mitgliedern, die am 26. April gewählt wurde; schon am 27. April erließ Fürst Bismarck eine neue Circular-Depesche an die Preuß. Vertreter bei den deutschen Regierungen bei Hahn S. 67. , in welcher er nochmals betonte, daß die Bestimmung des Termins der Parla- ments-Eröffnung vor Beginn der Regierungsverhandlungen über die Reformvorlagen der Kern des Antrages vom 9. April sei. „Mit der Ablehnung dieser Frage wäre die ernstliche Behand- lung der Bundesreform überhaupt thatsächlich abgelehnt.“ Als die Bundesreform-Commission ihre Berathungen am 11. Mai 1866 begann, skizzirte der Preußische Gesandte die Reform- Pläne seiner Regierung näher, indem er 8 Punkte formulirte Hahn S. 69. . Sie betrafen die Einführung einer periodisch einzuberufenden National- vertretung in den Bundesorganismus mit der Wirkung, daß die bisher erforderliche Stimmeneinheit der Bundesglieder durch Beschluß- fassung der Nationalvertretung auf speciell bezeichneten Gebieten der künftigen Bundesgesetzgebung ersetzt werden solle (Nro. a ); ferner die Feststellung der Kompetenz (Nro. b—e ); endlich Organi- sation des Konsulatwesens, Gründung einer deutschen Kriegsmarine und Revision der Bundeskriegsverfassung (Nro. f—h ). Diese Preußischen Vorschläge sind darum von höchster Bedeutung, weil sie die Grundlinien der späteren Verfassung enthalten und gewisser- §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. massen die rechtsgeschichtliche Brücke zwischen der alten Bundes- Verfassung und der neuen Bundesstaats-Verfassung bilden. Es war zum ersten Male, daß die Umrisse des neu zu schaffenden Bau’s deutlich entgegen traten. Es war zugleich zum letzten Male, daß eine Bundes- reform angestrebt wurde. Zwischen den Preußischen Vorschlägen vom 11. Mai 1866 und den alsbald zu erwähnenden vom 10. Juni 1866 liegt eine staatsrechtlich überaus bedeutsame Kluft. Die ersteren haben die Fortdauer des Bundes, die letzteren seine Auflösung zur Voraussetzung; wären die Reform-Vorschläge vom 11. Mai von Erfolg gewesen, so bestünde zwischen dem alten Bunde und dem heutigen Verfassungszustande rechtliche Con- tinuität ; die Ereignisse vom 14. Juni 1866 haben dieselbe zer- stört; der Bund wurde vernichtet, nicht reformirt; und es mußte erst wieder die Grundlage zu einem staatsrechtlichen Neubau ge- schaffen werden. Unmittelbar vor der Katastrophe, am 10. Juni 1866 richtete Fürst Bismarck an die deutschen Regierungen eine Circular-Depesche Hahn S. 123. , in welcher er ihnen „ Grundzüge zu einer neuen Bundes- verfassung “ zur Erwägung mittheilte und sie ersuchte, sich zu- gleich über die Frage schlüssig machen zu wollen, „ob sie eventuell, wenn in der Zwischenzeit bei der drohenden Kriegsgefahr die bisherigen Bun- desverhältnisse sich lösen sollten , einem auf der Basis dieser Modifikationen des alten Bundesvertrages neu zu errichtenden Bunde beizutreten geneigt sein würden.“ Die „Grundzüge“ Hahn S. 121. Glaser I. 1. S. 29. gehen davon aus, daß das Bundesgebiet aus denjenigen Staaten besteht, welche bisher dem Bunde an- gehört haben, mit Ausnahme der österreichischen und niederländi- schen Landestheile (Art I ). Es sollten demnach die nicht zum ehe- maligen Bunde gehörenden Landestheile Preußens und Schleswig eingeschlossen werden, Oesterreich und die niederländischen Landes- theile d. h. Limburg; denn Luxemburg steht mit Holland nur in Personal- ausscheiden. Die Beziehungen des Bundes zu den deutschen §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Landestheilen des österreichischen Kaiserstaates sollten durch besondere Verträge geregelt werden (Art. X ). Der Machtstellung Bayerns sollte dadurch Rechnung getragen werden, daß die Land- macht des Bundes in 2 Bundesheere, die Nordarmee und die Süd- armee eingetheilt und in Krieg und Frieden der König von Preußen Bundes-Oberfeldherr der Nordarmee, der König von Bayern Bundes-Oberfeldherr der Südarmee sein sollte (Art. IX ). Im Uebrigen stimmen die Grundzüge nicht nur sachlich, sondern zum Theil selbst hinsichtlich des Ausdrucks so sehr mit der späteren Verfassung des Norddeutschen Bundes überein, daß man sie mit Recht als den ersten Entwurf der Norddeutschen Bundesverfassung be- zeichnen kann. Der in der Note vom 10. Juni vorhergesehene Fall trat sehr bald ein. Der Bundesbeschluß vom 14. Juni 1866 bewirkte die Sprengung des Bundesverhältnisses. Der Preußische Bundestags- Gesandte verband mit der Austritts-Erklärung Preußens aus dem Bunde sogleich die Aufforderung, eine neue „Form für die Einheit der deutschen Nation“ zu vereinbaren und erklärte die Bereitwil- ligkeit der Preußischen Regierung „einen neuen Bund mit denjenigen deutschen Regierungen zu schließen, welche ihr dazu die Hand reichen wollen“ Hahn S. 126. Vgl. die Preuß. Proclamation „An das deutsche Volk“ vom 16. Juni 1866. ( Hahn S. 134.) . Die Verwirklichung dieses Planes wurde durch den raschen und glücklichen Verlauf des Krieges in unerwarteter Weise ge- fördert, zugleich aber in Beziehung auf die süddeutschen Staaten näher präcisirt. Die wesentliche Voraussetzung des neuen Bundes, der Ausschluß Oesterreichs , gleichzeitig aber die Unter- scheidung zwischen den nördlich vom Main gelegenen und den süd- lichen Staaten Deutschlands wurde Oesterreich gegenüber völker- rechtlich festgestellt durch Art. II. des Präliminar-Friedens von Nicolsburg vom 26. Juli 1866, mit welchem Art. IV. des Prager Friedensvertrages vom 23. August 1866 abgesehen von einem Zu- Union, ist also kein niederländischer Landestheil. Daß die Absicht Preußens nur auf den Austritt Limburgs gerichtet war, ergiebt sich auch aus der, dem Art. I. beigefügten Parenthese: „Für diese ist der Austritt aus dem Bunde schon vor Kurzem beantragt worden“, was sich nur auf Limburg beziehen konnte. Siehe oben S. 5. §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. satz am Schluß wörtlich gleichlautend ist Die Provinzial-Correspondenz vom 5. Sept. 1866 sagt: „Mit Recht erkennen erleuchtete deutsche Patrioten vom national-deutschen, wie vom Preußischen Standpunkte in dem Artikel des Friedensvertrages, durch welchen eine neue Gestaltung Deutschlands ohne Betheiligung des österreichischen Kaiser- staates anerkannt ist, die höchste Errungenschaft, den edelsten Siegespreis der Preußischen Waffen.“ Vergl. Herm. Schulze , die Friedensbestimmungen in ihrem Verhältniß zur Neugestaltung Deutschlands. Breslau 1866. . Dieser Artikel enthält vier Sätze. Er lautet: ( I. ) „Seine Majestät der Kaiser von Oesterreich erkennt die Auflösung des bisherigen deutschen Bundes an und ( II. ) gibt seine Zustimmung zu einer neuen Gestaltung Deutsch- lands ohne Betheiligung des österreichischen Kaiserstaates. ( III. ) Ebenso verspricht Seine Majestät das engere Bundes- verhältniß anzuerkennen, welches Seine Majestät der König von Preußen nördlich von der Linie des Mains begründen wird Vgl. Nikolsb. Fr . Art. V. und Prager Frieden Art. VI. Ver- sprechen Preußens, den Territorialbestand Sachsens zu erhalten. „Dagegen verspricht S. Majestät der Kaiser von Oesterreich, die von S. Majestät dem Könige von Preußen in Norddeutschland herzustellenden neuen Einrichtungen, einschließlich der Territorial-Veränderungen, anzuerkennen.“ , und ( IV. ) erklärt sich damit einverstanden, daß die südlich von dieser Linie gelegenen deutschen Staaten in einen Verein zusammentreten, dessen nationale Verbindung mit dem norddeutschen Bunde der näheren Verständigung zwischen beiden vorbehalten bleibt“ Vergl. über die Bedeutung dieses 4. Satzes Aegidi , die völkerrechtl. Grundlagen einer neuen Gestaltung Deutschlands, in der Zeitschrift für deutsches Staatsrecht. 1867. S. 522 ff. und Römer Verf. des nordd. Bundes (Tübingen 1867) S. 68 ff. . Der Prager Friedensvertrag setzt hinzu: und der eine internationale unabhängige Existenz haben wird. Begriff und Name des Norddeutschen Bundes erscheint in offiziellen Aktenstücken zum ersten Male im Nikolsburger Präli- minar-Vertrag. Sämmtliche mit Preußen im Kriege befindlich gewesene Staaten traten in den mit ihnen festgestellten Friedensverträgen diesen Be- stimmungen bei. (Siehe oben S. 6). Damit war zunächst nur die negative Voraussetzung für §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. die Errichtung des Norddeutschen Bundes, die Beseitigung des Widerspruchs der Mitglieder des ehemaligen deutschen Bundes, gegeben. Die positive Schöpfung erfolgte durch folgende That- sachen: Am 16. Juni 1866, sogleich nach dem Austritte Preußens aus dem Bunde, wurde von Preußen mittelst identischer Noten sämmtlichen norddeutschen Staaten mit Ausnahme von Hannover, Sachsen, Kurhessen, Hessen-Darmstadt und Luxemburg der Vor- schlag zu einem Bündniß gemacht, welches nur von Sachsen- Meiningen und Reuß ältere Linie abgelehnt, von allen übrigen angenommen wurde. Nach einem mit diesen Staaten stattgehabten Schriftenwechsel wurde durch eine Preußische Circular-Depesche vom 4. August Hahn S. 462. der Entwurf eines Bündniß-Vertrages vorgelegt und am 18. August 1866 zu Berlin ein Bündniß-Vertrag definitiv abgeschlossen Hahn S. 463. Glaser I, 1. S. 78. . Die ursprünglichen Contrahenten dieses Vertrages waren Preußen, Sachsen-Weimar, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen- Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Sonders- hausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Waldeck, Reuß j. L., Schaum- burg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen, Hamburg. Diesen 16 Staaten gesellten sich sofort am 21. August die beiden Mecklenburg hinzu, unter dem Vorbehalte der ständischen Genehmigung Hahn S. 464. Glaser S. 79. . Reuß ältere Linie trat durch den Friedensver- trag vom 26. September Art. 1. Staatsarchiv XI. 2430. Glaser S. 72. , Sachsen-Meiningen durch den Friedensvertrag vom 8. October Art. 1. Staatsarch. XI. 2432. Glaser S. 70. , Königreich Sachsen durch den Friedensvertrag vom 21. Oktober Art. 2 Staatsarch. XI. 2434. Glaser S. 52. dem Bünd- nißvertrage bei. Hessen-Darmstadt endlich übernahm in dem Frieden vom 3. September 1866 Staatsarch. XI. 2375. Glaser S. 61. Art. 14. Abs. 2 die Verpflichtung, „mit seinen sämmtlichen nördlich des Mains liegenden Gebietstheilen auf der Basis der in den Reformvorschlägen vom 10. Juni 1866 §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. aufgestellten Grundsätze in den Norddeutschen Bund einzu- treten.“ Dieser Bündniß-Vertrag vom 18. August 1866 bildet die völkerrechtliche Grundlage für die Errichtung des Norddeutschen Bundes und sein Verhältniß zu der nachmaligen Bundesverfassung ist für die gesammte staatsrechtliche Auffassung des Norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches von so großer Wichtigkeit, daß ein näheres Eingehen auf seinen Inhalt uner- läßlich ist. Der Vertrag vom 18. August 1866 steht im schärfsten Gegen- satz zu dem Bundesvertrage von 1815. Der letztere schuf eine politische Organisation Deutschlands, sein Inhalt war demgemäß auf die Dauer berechnet; der Bund war ein „beständiger“ d. h. ein unauflöslicher, von dem sich kein Mitglied lossagen durfte, für den kein vorausbestimmter Endtermin fixirt war; sein Zweck zwar nach Art. 2 und 6 der Bundes-Acte ein für alle Zeiten realisir- barer Art. 2. „Der Zweck des Bundes ist Erhaltung der äußeren und in- neren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten.“ Art. 6 erwähnt „gemeinnützige Anordnungen.“ ; die Bundesacte enthielt die Verfassung des Bundes, soweit man den Ausdruck Verfassung von einem vertragsmäßigen Rechts- verhältniß gebrauchen darf. Das Bündniß vom 18. August 1866 ist in allen diesen Be- ziehungen verschieden. Die Dauer des Bündnisses ist durch Art. 6 auf ein Jahr festgesetzt; mit Ablauf dieses Zeitraumes erlosch der Vertrag von selbst, falls er nicht schon vorher durch Gründung eines dauernden Bundesverhältnisses erledigt wurde Vgl. die Rede des Fürsten Bismarck in der Reichstags-Sitzung vom 4. März 1867. (Sten. Ber. S. 41.) . Die Pflichten, welche die Contrahenten gegen einander über- nahmen, lassen sich auf zwei Punkte zurückführen. 1) Sie schlossen ein Offensiv- und Defensiv-Bündniß zur Er- haltung der Unabhängigkeit und Integrität, sowie der inneren und äußeren Sicherheit ihrer Staaten (Art. 1) und stellten ihre Truppen unter den Oberbefehl des Königs von Preußen, mit dem Vorbehalt, daß die Leistungen während des Kriegs durch besondere Verabredungen geregelt werden (Art. 4). Laband , Reichsstaatsrecht. I. 2 §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. 2) Sie verpflichteten sich, die Zwecke des Bündnisses definitiv durch eine Bundesverfassung sicher zu stellen (Art. 2) und verein- barten in dieser Beziehung vier Sätze: a ) Die Preußischen Grundzüge vom 10. Juni 1866 sollten die Basis der Bundesverfassung bilden (Art. 2). b ) Die Verfassung sollte unter Mitwirkung eines gemeinschaft- lich zu berufenden Parlaments festgestellt werden (Art. 2). c ) Zur Erreichung dieses Zweckes versprachen die Regierungen, gleichzeitig mit Preußen die auf Grund des Reichswahl- Gesetzes vom 12. April 1849 vorzunehmenden Wahlen der Abgeordneten zum Parlament anzuordnen und Letzteres ge- meinschaftlich mit Preußen einzuberufen (Art. 5). d ) Sie verpflichteten sich, Bevollmächtigte nach Berlin zu senden, um nach Maßgabe der Grundzüge vom 10. Juni den Entwurf der Bundesverfassung festzustellen, welcher dem Parlament zur Berathung und Vereinbarung vorgelegt werden sollte (Art. 5). Außerdem enthielt der Vertrag nur noch die Bestimmung, daß alle unter den Verbündeten bestehenden Verträge und Ueber- einkünfte in Kraft bleiben, soweit sie nicht durch dieses Bündniß selbst ausdrücklich modificirt werden (Art. 3). Außer der für ein Jahr geschlossenen Offensiv- und Defensiv- Allianz verpflichten sich demnach die Contrahenten zu einer ein- maligen Leistung, zu einer, ihrer Natur nach nicht wiederkehren könnenden Handlung , nämlich zur Herstellung einer Bundes- Verfassung. Sie gründen nicht einen Bund, sondern sie verpflichten sich, einen Bund zu gründen; sie vereinbaren nicht eine Verfassung, sondern sie vereinbaren einen Modus behufs Feststellung einer Ver- fassung Hänel Studien zum deutschen Staatsrechte. Leipzig 1873. I. S. 69 fg. . Der Art. 10 der Bundes-Acte behielt der Bundesversammlung die Abfassung der Grundgesetze des Bundes und dessen organische Einrichtung vor oder — nach dem Wortlaute der Wiener Schluß- acte vom 15. Mai 1820 — die deutschen Staaten übernahmen die Verpflichtung, den Bestimmungen der Bundesakte „eine zweck- mäßige Entwickelung“ und „mithin dem Bundesverein selbst die erforderliche Vollendung zu sichern“. Der Art. 6 des Bündniß- §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Vertrages vom 18. August 1866 setzt die Dauer des Bünd- nisses bis zum Abschluß des neuen Bundes-Verhält- nisses fest. Dieser Abschluß ist nicht die Prolongation, nicht die Entwicklung und Vollendung, sondern die Beendigung des August-Bündnisses und zwar die Beendigung durch Erfüllung . Der Norddeutsche Bund ist nicht am 18. August 1866 gegründet worden; Sachsen-Meiningen, Reuß. ä. L. und Königreich Sachsen treten in den mit ihnen abgeschlossenen Friedensverträgen nicht dem Norddeutschen Bunde, sondern dem Bündniß-Vertrage vom 18. August 1866 bei, und ebenso verpflichtet sich Hessen-Darmstadt nicht, mit seinen nördlich des Mains gelegenen Gebietstheilen in den schon bestehenden Norddeutschen Bund, sondern in den zu gründenden einzutreten. Der Bündniß-Vertrag vom 18. August 1866 und die ihn er- weiternden Friedensverträge begründen gegenseitige völkerrecht- liche Pflichten und Rechte. Kam die Herstellung des Bundes nach Maßgabe der in dem Augustbündniß vereinbarten Modalitäten zu Stande, so durfte keiner der Contrahenten von diesem Bunde sich fern halten, keiner von demselben ausgeschlossen werden. Die Pflicht und das Recht der Antheilnahme sowohl an den zur Her- stellung des Bundes in Aussicht genommenen Verhandlungen als auch an dem Bunde selbst waren für alle Contrahenten des Ver- trages wechselseitig festgestellt. Das August-Bündniß ist die alleinige völkerrechtliche Basis für die Errichtung des Bundes, in keiner Hinsicht dagegen die staatsrechtliche Grundlage des Norddeutschen Bundes selbst. Die Feststellung dieser Thatsache ist von größter Bedeutung, weil ihre Verdunkelung zur Rechtfertigung einer völlig haltlosen Theorie über die rechtliche Natur des Norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches verwerthet worden ist. Die contrahirenden Regierungen begannen mit der Erfüllung der ihnen obliegenden Verpflichtung, indem sie ihren Landtagen ein Wahlgesetz für den Reichstag vorlegten, welches sich so eng als möglich an das Wahlgesetz von 1849 anlehnte. Gleich an- fangs stieß aber das Werk der Constituirung des Bundes auf eine sehr ernstliche Schwierigkeit an einer Stelle, wo man sie kaum er- wartet hätte. Das Preußische Abgeordnetenhaus wollte das gemeinsame Parlament nicht mit der Befugniß ausstatten, die 2* §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Verfassung mit den Regierungen zu vereinbaren , sondern nur sie zu berathen ; die Majorität desselben konnte „die Neigung, partikularistische Rechte dem gesammten Gemeinwesen gegenüber zu verklausuliren“ Vgl. die Rede des Fürsten Bismarck in der Sitzung des Preuß. Abg.- Hauses vom 12. September 1866. , nicht unterdrücken; es sollte die zwischen dem Parlament Norddeutschlands und den norddeutschen Regierungen zu vereinbarende Verfassung noch einer Superrevision und Ge- nehmigung durch den Preußischen Landtag und mithin, da das gleiche Recht jedem anderen norddeutschen Staat nicht versagt werden konnte, durch mehr als 20 landständische Versammlungen vorbehalten werden. Durch das Augustbündniß waren die Re- gierungen nur verpflichtet, eine mit dem Reichstage verein- barte Bundesverfassung anzunehmen; jeder Versuch eines Einzel- landtages an der Feststellung dieser Verfassung positiven Antheil zu nehmen, hätte sie ihrer vertragsmäßigen Verpflichtung entbun- den. Die Hoffnung auf die Herstellung des Bundes hing jetzt nicht nur davon ab, daß die Vereinbarung zwischen den Regie- rungen und dem Norddeutschen Reichstage gelingen werde, sondern daß auch sämmtliche Landtage der Versuchung, die vereinbarte Verfassung verbessern zu wollen, widerstehen würden. Auch an den Bestimmungen des Wahlgesetzes wurde amendirt Vgl. den Commissionsbericht des Abg.-Hauses (Berichterstatter Twesten) v. 4. Sept. 1866. (auch bei Hahn S. 467 ff.) , obwohl die vertragsmäßige Verpflichtung der Regierungen ausdrücklich darauf gerichtet war, die Wahlen auf Grund des Reichs-Wahlge- setzes vom 12. April 1849 vornehmen zu lassen. Dessenungeachtet fügte sich die Regierung und vermochte auch das Herrenhaus der von dem Abgeordneten-Hause beliebten Fas- sung zuzustimmen Vgl. die Erklärung des Regierungs-Commissars im Herrenhause vom 17. September 1866. Auch bei Hahn S. 478. ; so daß am 15. Oktober 1866 das Wahlgesetz für Preußen publizirt und kurz darauf in dem Jadegebiet und in den neuerworbenen Landestheilen durch königliche Verordnung ein- geführt werden konnte Preuß. Gesetz S. 1866. S. 735. 738. 891. 895. . Auch in allen übrigen Staaten wurde auf verfassungsmäßigem Wege das Wahlgesetz für den Reichstag zu Stande gebracht; in einigen, namentlich in Mecklenburg, dem §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. vom Preußischen Abgeordneten-Hause gegebenen Beispiele folgend, nicht ohne erhebliche Modifikationen des Reichswahlgesetzes von 1849 Eine vollständige Sammlung aller dieser Wahlgesetze und der zu ihrer Ausführung ergangenen Verordnungen und Reglements enthält das 2. Heft des I. Bandes von Glaser’s Archiv des Nordd. Bundes. ; und in der überwiegenden Mehrzahl wurde dem zu wählen- den Reichstage nur die Befugniß zur „Berathung“ der Verfassung ertheilt. Es konnte mithin die eine, der im Art. 5 des Augustbünd- nisses übernommenen Verpflichtungen, die Parlamentswahlen an- zuordnen und das Parlament gemeinsam einzuberufen, von allen Staaten erfüllt werden. Ebenso wurde die zweite daselbst stipulirte Vereinbarung aus- geführt. Bevollmächtigte Vertreter aller verbündeten Staaten traten auf Grund von Einladungsschreiben, welche die Preußische Regierung am 21. November erlassen hatte, am 15. Dezember 1866 in Berlin zu Conferenzen zusammen, um einen Entwurf einer Ver- fassung zu vereinbaren. Fürst Bismarck legte Namens der Preußischen Regierung einen Entwurf vor Veröffentlicht zuerst von Hänel in den Studien zum deutschen Staats- recht (Leipzig 1873) I. S. 270 ff.; über den Entwurf brachte aber bereits die Pro- vinzial-Correspondenz vom 19. Dezember 1866 ausführliche Mittheilungen. Vgl. Hahn S. 483—485. , welcher eine weitere Ausführung der Grund- züge vom 10. Juni 1866 ist und im Hinblick auf die letzteren als der II. Entwurf der Verfassung bezeichnet werden kann. Die Verhandlungen über diesen Entwurf waren vertrauliche ; über die Diskussion der einzelnen Artikel und die von den Regierungen gestellten Amendements sind Protokolle nicht veröffentlicht worden. Dagegen sind die Resultate der Berathungen in der Form von Protokollen festgestellt und publizirt worden. Es giebt vier solcher Protokolle. Das erste vom 18. Januar 1867 Stenogr. Berichte des verfassungber. Reichstags. Anlage Nr. 8. und 10. Hahn S. 486. Glaser I, 3. S. 1. Staatsarchiv XII. 2725 (S. 353). über die „erste förmliche Sitzung“ constatirt den einstimmigen Beschluß der Bevollmächtigten, daß die Krone Preußen dem einzuberufenden Reichstage gegenüber zur einheitlichen Vertretung der verbündeten Regierungen ermächtigt §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. und zur Ausübung der in Art. 14 und 25 des Entwurfs er- wähnten Rechte (Einberufung, Eröffnung, Vertagung, Schließung, Auflösung des Reichstages) befugt sein solle. Bei weitem wichtiger ist das zweite Protokoll vom 28. Ja- nuar 1867 Stenograph. Berichte des verf. Reichstags. Anlagen S. 19. Hahn S. 487. Glaser I, 3. S. 6. Staatsarch. XII. S. 357. . Die Sitzung war anberaumt worden, „um die vertraulich gepflogenen Berathungen zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen.“ Zu diesem Zwecke hatten die Preußischen Bevoll- mächtigten sich der Aufgabe unterzogen, „aus den von den übrigen Herren Bevollmächtigten formulirten zahlreichen Amendements diejenigen auszuwählen und zu bearbeiten, welche die Mehrzahl der geäußerten Wünsche befriedigen dürften, ohne den Prin- zipien des Entwurfs entgegenzulaufen .“ Diese Arbeit hatte zu einer Umgestaltung des Entwurfs vom 15. Dezember 1866 geführt; war zunächst aber auf den 8. Ab- schnitt vom Postwesen und den 11. Abschnitt vom Bundeskriegs- wesen noch nicht erstreckt worden. Der Preußische Bevollmächtigte erklärte zugleich, „daß die königliche Regierung sich in Betreff der Abschnitte, auf welche diese Arbeit sich bezieht, zu ferneren Aende- rungen nicht verstehen könne.“ Das Protokoll berichtet nun weiter: „Nachdem die bezeichneten, von Preußen angenommenen Amen- dements vorgelesen und discutirt waren, vereinigten die Herren Bevollmächtigten sich zu der Erklärung: daß sie die auf diese Weise amendirten Abschnitte des Verf.-Entwurfs als vorläufig fest- gestellt betrachten und demgemäß deren Vorlegung an den Reichs- tag genehmigen, unter dem Vorbehalte jedoch, daß es den hohen verbündeten Regierungen unbenommen bleibe, wenn das vollständige Resultat der Conferenz vorliegen wird, in ihrer definitiven Er- klärung auf die heute angenommenen Abschnitte zurückzukommen Außerdem gaben beide Mecklenburg noch eine Erklärung ab in Be- ziehung auf die Uebergangs-Bestimmungen, welche hinsichtlich des Einschlusses dieser Staaten in die Zollgränze u. s. w. erforderlich wären. .“ Das dritte Protokoll vom 7. Februar 1867 Stenogr. Berichte Anlagen S. 21. Glaser I. 3. S. 10. Hahn 488. Staatsarch . XII. S. 358. enthält hinsichtlich der Abschnitte über das Postwesen und das Kriegswesen §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. dieselbe Feststellung wie das 2. Protokoll hinsichtlich der übrigen Theile des Entwurfes; so daß das zweite und dritte Protokoll zusammen den Entwurf, wie er dem Reichstage (mit neuer Numeri- rung der Artikel) vorgelegt werden sollte, definitiv feststellten Vgl. Stenogr. Berichte a. a. O. S. 22. . Dieser Entwurf ist demnach der III. Entwurf der Verfassung. Neben diesen, die Feststellung des Entwurfs enthaltenden Protokollen gibt es noch ein viertes, ebenfalls am 7. Februar 1867 aufgenommenes „ Schlußprotokoll ,“ welches Erklärungen einzelner Bevollmächtigten enthält Stenogr. Berichte a. a. O. S. 23. Glaser I. 3. S. 15. Hahn 489. Staatsarchiv XII. S. 359. . Die überwiegende Mehr- zahl derselben betrifft Fragen vorübergehender Bedeutung, welche inzwischen längst erledigt sind Derartige Vorbehalte und Erklärungen gaben ab: Hessen wegen Kastel und Kostheim, wegen des Waaren-Verkehrs mit Südhessen, wegen Ver- theilung der Postüberschüsse, wegen einer Militär-Convention; Mecklenburg wegen einer Entschädigung für Aufhebung des Elbzolles, wegen des Mecklenb.- Französ. Handelsvertrages, wegen des Fahnen-Eides; Braunschweig wegen des Dislocationsrechts des Bundesfeldherrn; die meisten thüringischen Staaten wegen der Militairlasten; die Hansestädte wegen des Aversums, der Bundesflagge und des Consulatswesens, der Kosten der Lokal-Post-Ein- richtungen. , einige andere enthalten politische Wünsche, auf deren Durchführung die Staaten im Interesse des baldigen Zustandekommens der Verfassung verzichten Besonders Oldenburg und Sachsen-Coburg-Gotha , welche ein Oberhaus, Bundesministerien, Vereinbarung des Militair-Etats statt des Pauschquantums und ein Bundesgericht wünschten. , einige end- lich beziehen sich auf die Auslegung einiger Artikel des Entwurfs Namentlich über die Bedeutung des Wortes „Bevölkerung“ in Art. 57 (Sachsen und die Hansestädte) und über die Fortdauer der Austrägalgerichte trotz Art. 68 (Hessen und Hamburg.) . Auch dieses Protokoll constatirt aber, daß sämmtliche Bevollmächtigte trotz ihrer besonderen Erklärungen darüber einverstanden seien, „daß der in amendirter Form definitiv festgestellte Ver- fassungs-Entwurf Namens der Gesammtheit der in der Con- ferenz vertretenen Regierungen durch die Krone Preußen dem Reichstage vorgelegt werde.“ Nachdem die allgemeinen Wahlen am 12. Februar 1867 statt- gefunden hatten, berief der König von Preußen in Ausführung §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. des am 18. Januar gefaßten Beschlusses der Bevollmächtigten sämmtlicher Staaten durch Patent vom 13. Febr. 1867 den Reichs- tag des norddeutschen Bundes auf Sonntag den 24. Februar 1867 nach Berlin. In der Thronrede, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde, ist der Entwurf, welcher Namens der Regierungen dem Reichstag vorgelegt werden sollte, dahin charakterisirt, „daß die verbündeten Regierungen, im Anschlusse an gewohnte frühere Verhältnisse , sich über eine An- zahl bestimmter und begrenzter, aber factisch bedeutsamer Einrichtungen verständigt haben, welche eben so im Bereiche der unmittelbaren Möglichkeit, wie des zweifellosen Bedürf- nisses liegen.“ Für das Verständniß der Verfassung ist dieser Gesichtspunkt von größter Wichtigkeit; trotzdem rechtlich die Continuität mit den Verhältnissen des deutschen Bundes gelöst war, ist sie den- noch so viel wie möglich erhalten worden. Der Bundestag mit seinem Plenum und mit seinen Ausschüssen und Matrikularbeiträgen, der Zollverein und manche andere Institution der älteren Zeit bilden die Grundlage der zunächst ins Leben gerufenen Einrichtungen; die Einfügung des Parlaments, die Ersetzung der früher erforderten Einstimmigkeit durch Majoritätsbeschlüsse, die Erweiterung der Kompe- tenz auf das gesammte Gebiet der Verkehrs-Verhältnisse, die Organi- sation des Bundesheeres, der Marine, der Diplomatie, des Kon- sulatwesens — das sind die wesentlichen Neuerungen. Es ist das Programm, welches der Preußische Antrag vom 9. April 1866 verfolgte, mit den durch die veränderten politischen Verhältnisse nothwendig gewordenen Modifikationen durchgeführt; bei der Neugründung des Bundes blieben dieselben Gesichts- punkte maßgebend von denen aus die Bundesreform angestrebt worden war. Bei den Berathungen des Reichstages fehlte es nicht an einer Fluth von Abänderungs-Vorschlägen, unter denen sich viele befan- den, „die — wie Fürst Bismark sagte — von Allem, was wir gethan und geleistet haben, abstrahiren, von dem in der Geschichte unerhörten Fall, daß die Regierungen von 30 Millionen Deutschen sich nicht blos dem Wortlaute nach, wie bei der alten Bundesacte, sondern auch dem Geiste nach über einen solchen Entwurf geeinigt §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. haben, keine Notiz nehmen.“ Der Werth recht zahlreicher An- träge besteht lediglich in den durch sie hervorgerufenen Widerleg- ungen Seitens der Bundescommissare; indem die letzteren Grund und Tragweite der in dem Entwurf enthaltenen Bestimmungen entwickelten und dadurch theilweise dem Mangel an Motiven ab- halfen, von deren Ausarbeitung theils aus Rücksicht auf den Zeit- aufwand theils auf die Schwierigkeit ihrer Feststellung Abstand ge- nommen worden war Erklärung des Fürsten Bismarck v. 11. März 1867. Stenogr. Berichte S. 135. . Im Allgemeinen aber hielt der Reichstag an den Grundge- gedanken des Entwurfs fest, lehnte alle mit demselben in unverein- barem Contrast stehende Abänderungen ab und erwarb sich das Verdienst, den Entwurf an einer bedeutenden Anzahl von Stellen erheblich verbessert zu haben Fürst Bismarck gab in der Sitzung vom 15. April 1867 (Stenogr. Berichte S. 695) eine Uebersicht der etwa 40 Punkte, in denen der Reichstag Abänderungen beschlossen hatte und erklärte, daß die Regierungen darin „zum Theil zweifellose Verbesserungen erkannt haben“, während ihnen bei einem andern Theile „die Annahme nicht leicht geworden.“ — Eine erhebliche Diffe- renz blieb nur bestehen hinsichtlich der Sicherstellung der Heereseinrichtungen und der Bewilligung von Diäten. In Beziehung auf den ersten Punkt einigte man sich über eine temporäre Fixirung des Präsenzstandes mit einem Pausch- quantum, in dem zweiten Punkt gab der Reichstag nach. . Am 16. April 1867 hat der Reichstag die Berathung des Entwurfs zu Ende geführt und ihn in der Gestalt, wie er aus dieser Berathung hervorgegangen ist, mit 230 gegen 53 Darunter 11 Polen und — — 5 Abgeordnete der Stadt Berlin !! (Hahn S. 599). Stim- men angenommen. An demselben Tage traten die Commissarien der verbündeten Regierungen zu einer Sitzung zusammen und be- schlossen einstimmig: den Verfassungs-Entwurf, wie er aus der Schlußberathung des Reichstages hervorgegangen ist, anzunehmen Das Protokoll ist dem Reichstag am 17. April 1866 mitgetheilt worden. (Stenogr. Berichte S. 731.) Noch an demselben Tage wurde der Reichstag mit einer Thronrede geschlossen, welche dem Gefühle aufrichtiger Genugthuung über das Zustandekommen des nationalen Werkes beredten Ausdruck gab. . Die rechtliche Lage, welche durch diese Beschlüsse geschaffen wurde, bedarf einer näheren Fixirung. Die Errichtung des §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. norddeutschen Bundes war noch nicht erfolgt ; von allen anderen Gründen abgesehen schon deshalb nicht, weil dem Reichstage durch die Mehrzahl der Wahlgesetze nur die Befugniß zur Berathung einer Bundesverfassung ertheilt worden war. Unter den verbündeten Staaten bestand vielmehr dasjenige Rechts- verhältniß, welches durch das Augustbündniß und die dasselbe in Bezug nehmenden Friedensverträge geschaffen war, im Wesentlichen unverändert fort. Nur war der Art. 5 desselben erledigt durch vollständige Erfüllung und der Art. 2 war inhaltlich näher be- stimmt; die Verpflichtung und Berechtigung der Staaten, einem Bunde anzugehören, dessen Verfassung unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments vereinbart werden sollte, hatte sich spezialisirt zu der Pflicht und dem Recht, einem Bunde mit der am 16. April 1867 festgestellten Verfassung anzugehören. Es war nunmehr eine Verfassung den Bestimmungen des August- Bündnisses gemäß vereinbart worden; die wechselseitige Pflicht, einen Bund zu gründen, konnte jetzt durch diese Gründung selbst erfüllt werden. Hierzu aber waren die Regierungen der verbündeten Staaten nach dem Staatsrecht der letzteren ohne Zustimmung der Landes- vertretungen nicht befugt. Sie konnten nicht in einen Bund ein- treten, der nach Maaßgabe der Verfassung vom 16. April 1867 organisirt war, ohne eine in der Form des verfassungsändernden Gesetzes ertheilte Ermächtigung, weil durch diesen Eintritt die Verfassung jedes Einzelstaates auf das Tiefste verändert und dem Staate wie seinen Angehörigen finanzielle Lasten auferlegt wurden. Demgemäß bedurfte die von ihnen erklärte Annahme der Bundes- verfassung mindestens der nachträglichen, ordnungsmäßigen Ge- nehmigung der Gesetzgebungsfactoren ihrer resp. Staaten Voraus war die landständische Genehmigung ertheilt worden in Braun- schweig und Bremen. . In allen zum Norddeutschen Bunde gehörenden Staaten ist diese Genehmigung unter Beobachtung der verfassungsmäßigen Form-Vorschriften ertheilt und in allen einzelnen Staaten ist die Verfassung des Norddeutschen Bundes in der für Gesetzes-Pub- likationen vorgeschriebenen Form verkündet worden Sämmtliche Publikations-Patente sind abgedruckt in Glaser’s Archiv des Nordd. Bundes I. Heft 4. S. 117 ff. . Alle diese §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Publikationspatente enthalten außer der Publikationsclausel die Bestimmung, daß diese Verfassung in den betreffenden Staatsge- bieten „am 1. Juli 1867 in Kraft treten soll“ Diese Klausel fehlt nur in dem Braunschweigischen Patent vom 15. Juni 1867, welches sich auf die bloße „Verkündigung zur Nachachtung“ beschränkt. (Siehe S. 26. Note 1). . Die juristische Bedeutung dieses legislativen Aktes ist mehr- fach mißverstanden worden. Seydel Commentar z. Verf.-Urkunde S. 5 fg. schließt aus diesen Publikationen, daß die mit dem norddeutschen Reichstage vereinbarte Verfassung gleich- mäßiges Landesgesetz sämmtlicher verbündeten Staaten ge- worden sei Einigen Publikationspatenten liegt dieselbe Rechts-Anschauung zu Grunde; so wurde die Verf. in Oldenburg verkündet „als Gesetz für das Großherzogthum“, in Schwarzburg-Rudolstadt „als Landesgesetz“; das Lübecker Patent erwähnt die Zustimmung der Bürgerschast „zu deren gesetzlicher Geltung für den Lübeckischen Freistaat.“ Auch H. Schulze Ein- leitung S. 473 nimmt an, daß „die Bundesverfassung durch die Pu- blikation Landesg esetz und integrirender Theil der Landesverfassung geworden ist.“ . Die norddeutsche Bundesverfassung sei Landesrecht jedes Bundesstaates geworden, nicht mehr, nicht weniger. Er zieht daraus die Folgerung, daß alle auf Grund der Bundesverfassung erlassenen Gesetze ihre Giltigkeit von einem Landesverfassungs- gesetze ableiten, also wieder Landesgesetze seien und verwerthet diese Sätze für die juristische Construction des Reiches. Die Unrichtigkeit dieser Auffassung ist in durchschlagender Weise von Hänel Studien I. S. 53 ff. 75 ff. dargethan worden. Er macht mit Recht geltend, daß die Bundesverfassung einen für das Landesgesetz jedes einzelnen Staates unmöglichen Inhalt hat; sie setzt einen Verein von Staaten voraus, dessen Organisation sie bestimmt, ein Landesgesetz aber kann nur solche Gegenstände recht- lich regeln, welche in das Herrschaftsgebiet dieses Staates fallen, nicht solche, welche die Coexistenz mehrerer Staaten voraussetzen. „Die rechtliche Regelung eines solchen Co ë xistenzverhältnisses liegt über den Bereich des Herrschaftsverhältnisses jedes einzelnen Staates und damit irgend eines Landesgesetzes hinaus. Der nord- deutsche Bund und seine Verfassung konnte darum auch nicht durch §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. eine Summe übereinstimmender Partikulargesetze zur thatsächlichen und rechtlichen Existenz gelangen“. Hänel a. a. O. S. 76 findet in der Mitwirkung der Landes- vertretungen eine doppelte rechtliche Bedeutung; zunächst die An- erkennung, daß die Bundesverfassung den durch das Augustbünd- niß begründeten Pflichten und Rechten entspreche; „sodann die negative Funktion, diejenigen Bestimmungen der Verfassung und der Gesetze der Einzelstaaten auf verfassungsmäßigem Wege außer Wirksamkeit zu setzen, welche den in Aussicht genommenen unmit- telbaren Wirkungen und Ermächtigungen des norddeutschen Bundes und seiner Verfassung im Wege standen.“ Auch diese Auffassung ist nicht zutreffend. Der erste Punkt ist nicht nur unrichtig, sondern auch unwesentlich. Die überwiegende Mehrzahl der Landesvertretungen war nicht gehindert, die Bundes- verfassung zu verwerfen, selbst wenn sie anerkannte, daß die Ver- fassung den Bestimmungen des Augustbündnisses entspreche, indem die Landtage sich das Recht der Verwerfung ausdrücklich dadurch vorbehalten hatten, daß sie die Wahlen nur für einen „berathenden“ Reichstag genehmigten. Wofern man in der Genehmigung des Wahlgesetzes mit Hänel überhaupt eine Zustimmung der Landes- vertretungen zu dem Augustbündniß erblicken will, ist diese Zu- stimmung jedenfalls nur mit dem Vorbehalt ertheilt worden, daß über Annahme oder Verwerfung der Verfassung die Entschließung frei bleibe. Ebenso wenig war aber ein Landtag gehindert, die Bundesverfassung zu acceptiren, trotzdem sie sich seiner Ansicht nach von den Bestimmungen des Augustbündnisses entfernte Dies ist in der That der Fall, indem die Verfassung die Competenz des Bundes viel weiter bestimmt als dies die Grundzüge v. 10. Juni 1866 thaten. Dies hob schon bei den Berathungen der Bevollmächtigten der Ver- treter Hamburgs in Beziehung auf die Flagge der Handelsschiffe hervor. Vgl. die Anlage vom 15. Januar zu dem Schlußprotokoll vom 7. Februar 1867. (Stenogr. Berichte des verfass. Reichst. Anlagen S. 26. Glaser I, 3 S. 22. Staatsarchiv XII. S. 366.) . Die Er- klärung der Landtage ging auch gar nicht dahin, daß die Bundes- verfassung der Prüfung unter diesem Gesichtspunkte unterworfen worden sei; keines von allen Publikationspatenten enthält ein der- artiges Urtheil . Bei weitem beachtenswerther ist der zweite, von Hänel betonte §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. Gesichtspunkt. Darnach soll die Publikation der Verfassung in den einzelnen Staaten eine lediglich negative Bedeutung haben, nämlich die Aufhebung der entgegenstehenden Bestimmungen der Landesgesetze. In jedem Staate würde mithin diese Publikation etwas Anderes bedeuten, da in jedem Staate ein anderer Inbegriff von Rechtssätzen aufgehoben wurde; nicht die Einführung der Bundesverfassung, sondern die Aufhebung eines Stückes der Landesverfassung wäre der Sinn und Inhalt der Publikationsge- setze. Damit hätte man aber Nichts erreicht, als in das Landes- recht jedes einzelnen Staates ein ungeheures Loch geschlagen, es geradezu zerstört; eine positive Schöpfung wäre nicht vollführt worden. Es bleibt immer noch der Sprung über eine unüber- brückte Kluft übrig. Wie gewann die Bundesverfassung eine posi- tive Grundlage der gesetzlichen Geltung? Die bloße Zerstörung des Landes-Verfassungsrechts aller einzelnen Staaten kann ihr die- selbe doch nicht bieten. Hänel a. a. O. antwortet hierauf, indem er die Gründung des norddeutschen Bundes darauf zurückführt, „daß diejenigen Organe des Wollens und Handelns, welche die mit dem Reichstag vereinbarte Bundesverfassung vorgesehen hatte, in das Leben treten mußten und der hiermit organisirte Bund die Bundesverfassung als seine oberste rechtliche Willensbestimmung sich aneignen mußte.“ Dies ist aber ein offenbarer Cirkel und schließ- lich Nichts Anderes als eine schwach umhüllte generatio aequivoca. Denn einerseits soll die Bundesverfassung bestimmen, welche „Organe in das Leben treten müssen“ und dann soll erst wieder der „hier- mit organisirte“ Bund sich die Bundesverfassung „aneignen.“ Das logische Verhältniß wird von Hänel geradezu umgekehrt. Die Einführung der Norddeutschen Verfassung hatte die Folge , daß sie in jedem einzelnen Deutschen Staate das damit im Wider- spruch stehende Landesrecht beseitigte Die meisten Publikationspatente erwähnen diese Folge als selbst- verständlich gar nicht; diejenigen, welche darauf hinweisen, nämlich die von Weimar und Schwarzburg-Sondershausen, erklären, daß „ durch diese Ver- fassung die bestehenden Landesgesetze ..... als abgeändert zu betrachten sind.“ , aber die Aufhebung eines noch so großen Bestandtheiles des Landesrechts konnte niemals §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. die Folge haben, daß nunmehr die Bundesverfassung Geltung erlangte. Die richtige Auffassung ist wohl folgende: die Form des Ge- setzes ist bekanntlich im modernen Staatsrecht nicht blos dann an- wendbar, wenn eine Rechtsregel in einem Staat sanctionirt werden soll, sondern für jede Willenserklärung des Staates, für welche die Uebereinstimmung des Landesherrn und der Landesvertretung erforderlich ist. Das Wort Gesetz hat eine doppelte Bedeutung, eine materielle und eine formelle. Das Gesetz im formellen Sinne ist eine Form der Willenserklärung des Staates, gleichviel worin ihr Inhalt besteht. Die Gründung des Norddeutschen Bundes, der gleichzeitige Eintritt der norddeutschen Staaten in denselben, kann nicht als die Aufstellung einer Rechtsregel oder eines Com- plexes von Rechtsregeln angesehen werden, sondern als eine That , als eine Recht shandlung der norddeutschen Staaten. Die Staaten vollzogen als willens- und handlungsfähige Personen durch Gründung des Norddeutschen Vundes einen Willens-Ent- schluß . Die Art und Weise wie dieser Entschluß erklärt und verwirklicht wurde, bestand darin, daß jeder Staat in der Form des Gesetzes d. h. unter Constatirung der Uebereinstimmung der Krone und der Volksvertretung, ihn öffentlich bekundete und dadurch zugleich seine Regierung ermächtigte und verpflichtete, alle zur Ausführung dieses Entschlusses erforderlichen Maßregeln zu treffen. Der Entschluß in den Norddeutschen Bund einzutreten, konnte aber in keiner anderen Weise mit der erforderlichen Bestimmtheit ausgedrückt werden als durch Bezugnahme resp. Mittheilung der Verfassung desselben. In ihr allein war der präcise Ausdruck seines Zweckes, seines Mitgliederbestandes und Gebietsumfanges, seiner Kompetenz, seiner Verfassungseinrichtungen u. s. w. gegeben. Der Name Norddeutscher Bund erhält nur durch die Bundesver- fassung einen concreten und fest bestimmten Inhalt. Sie mußte daher mitpublicirt werden. Die Klausel: „Die Verfassung des Norddeutschen Bundes tritt in dem Gebiete des Staates X am 1. Juli 1867 in Kraft,“ welche die Einführungspatente haben, ist vollkommen identisch mit dem Satze: §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. „Der Staat X tritt am 1. Juli 1867 in den Norddeutschen Bund ein.“ Denn die Verfassung des Norddeutschen Bundes konnte in einem Einzelstaat gar nicht anders in Kraft treten, als durch Gründung des Norddeutschen Bundes, resp. Eintreten in denselben; und kein Staat konnte anders in den Norddeutschen Bund ein- treten als dadurch, daß die Verfassung des letzteren in seinem Ge- biete in Kraft trat. Hieraus ergiebt sich: Nicht die Norddeutsche Bundesverfassung ist ein übereinstimmendes Landesgesetz der Einzelstaaten, nicht ihre Sanction wird für jeden Staat besonders von der Landesstaats- gewalt ertheilt, sondern der Entschluß des Staates , in den durch diese Verfassung definirten Bund einzutreten, ist in jedem Einzelstaat durch Landesgesetz erklärt worden. Object der Publi- kationsgesetze vom Juni 1867 sind nicht die Bestimmungen der Norddeutschen Bundesverfassung an sich, sondern Object ist die Erklärung des Beitritts zu demjenigen Bunde, welcher in dieser Verfassung definirt ist. Kein Staat war im Stande, diese Ver- fassung bei sich als Landesgesetz einzuführen, wol aber konnte jeder Staat für seine (ideelle) Person in der Form des Gesetzes erklären, daß er am 1. Juli 1867 an der Errichtung des Norddeutschen Bundes Theil nehmen werde. Nicht die zahlreichen Bestimmungen der Bundesverfassung sind von jedem Einzelstaat für sein Gebiet als Landesgesetz eingeführt worden, sondern die Publikationspatente sanctioniren nur einen einzigen Satz, der überall derselbe ist, und der lautet: Der Staat X gehört vom 1. Juli 1867 an zum nord- deutschen Bunde. Eben darum aber haben diese Publicationspatente keinen bloß negativen Inhalt, wie Hänel annimmt, indem sie das mit der Norddeutschen Bundesverfassung im Widerspruch stehende Verfas- sungsrecht der Einzelstaaten aufheben. Hänel will für den Nord- deutschen Bund erst die Bahn frei machen, indem er die Hinder- nisse, welche die Landesverfassungen bieten, durch die Publikations- gesetze beseitigen und dann in den geschaffenen freien Raum den Norddeutschen Bund eintreten läßt. Dies ist undenkbar. Man kann sich keinen Staat auch nur während einer Secunde in einem Zustande denken, in welchem sein Verfassungsrecht in soweit auf- gehoben ist, als es mit der Bundesverfassung im Widerspruch §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. steht, und in welchem der Norddeutsche Bund doch noch nicht ins Leben getreten ist Nach Hänel S. 77 trat erst am 26. Juli 1867 durch das Publikan- dum des Königs von Preußen der neue Bund an die Stelle des Bündnißver- trages vom 18. August 1866; der Nordd. Bund datirt erst vom 26. Juli 1867. Dagegen die Aufhebung der partikulären Landesverfassungs-Rechtssätze, welche mit der Nordd. Bundesverfassung collidirten, trat am 1. Juli 1867 ein; so daß ein Zwischenraum von 26 Tagen bleibt. . Der Eintritt in den Norddeutschen Bund ist das Frühere, ist Grund und Ursache, die Abänderung der damit unvereinbaren Be- stimmungen der Landesverfassungen das Spätere, die Folge und Wirkung. Die Publikationspatente haben überall einen positiven und identischen Inhalt, die Erklärung des Beitritts zum Nord- deutschen Bunde, nicht einen negativen und in jedem Staate anderen Inhalt, die Beseitigung von Landesgesetzen Auch in der Preuß. Thronrede vom 24. Juni 1867 wird dies ange- deutet: „ Durch die Zustimmung der Preuß. Landesvertre- tung zur Errichtung des Nordd. Bundes sind nunmehr alle Vor- bedingungen für die Geltung der Verfassung desselben — in Preußen erfüllt. . Die Publikationsgesetze und die zu ihrer Durchführung er- folgten Regierungshandlungen sind die definitive und vollständige Erfüllung des Augustbündnisses. Sie stellen die Handlung dar, zu welcher sich die Staaten gegenseitig verpflichtet hatten, nämlich die Gründung des Bundes. Mit dieser Gründung war das Augustbündniß nach der ausdrücklichen Bestimmung in Art. VI desselben erloschen. Am 1. Juli 1867 war der Norddeutsche Bund errichtet, nicht früher und auch nicht später. Als am 14. Juli 1867 der König von Preußen den Grafen von Bismarck zum Bundes- kanzler des Norddeutschen Bundes ernannte, am 26. Juli 1867 die Einführung des Bundesgesetzblattes anordnete und in der ersten Nummer desselben die Verfassung desselben abdrucken ließ, war der Norddeutsche Bund schon vorhanden und die Verfassung des- selben bereits in Geltung. König Wilhelm handelte bereits auf Grund derselben Kraft der durch diese Verfassung ihm übertragenen Rechte. Diese Publikation ist keine Sanction der Verfassung; das „Publikandum“ vom 26. Juli 1867, mit welchem das Bundes- Gesetzblatt beginnt, enthält keine Clausel, welche dieser Verfassung Gesetzeskraft beilegt , sondern der König „thut kund und fügt im Namen des Norddeutschen Bundes zu wissen“, daß §. 2. Die Gründung des nordd. Bundes. die Norddeutsche Bundesverfassung — folgt deren Wortlaut — unter dem 25. Juni d. J. verkündet worden und am 1. Juli die Gesetzeskraft erlangt hat .“ Indem der König dies „zur öffent- lichen Kenntniß bringt,“ erklärt er zugleich, die durch die Verfas- sung ihm übertragenen Rechte, Befugnisse und Pflichten zu über- nehmen Vgl. auch G. Meyer Staatsr. Erörterungen S. 60. 61. . Der Vorgang der Gründung kann auch nicht Anders gedacht werden. Der norddeutsche Bund konnte ohne eine bestimmte Ver- fassung nicht zur Existenz kommen und folglich konnte die Sanction dieser Verfassung nicht von ihm ausgehen. Das Problem, daß ein erst zu gründendes Staatsgebilde sich selbst die Bedingungen seiner Entstehung schafft, gleicht der Quadratur des Cirkels. Der Bund wurde in das Leben gerufen von Staaten, die vor ihm da waren und sich zu diesem Zwecke vereinigt hatten: sie haben ihm seine Verfassung gegeben; er hat gleich bei seiner Geburt seine Konstitution und Organisation mit auf die Welt gebracht. Aber sie haben diese Verfassung ihm gegeben, nicht sich selbst; daraus folgt, daß diese Gründung nicht unter den Gesichtspunkt des Lan- desgesetzes gebracht werden darf, sondern als eine freie Willens- that aller bei der Gründung betheiligter Staaten aufzufassen ist. Zur Vornahme derselben war für den Souverain jedes Staates die Zustimmung der Landesvertretung erforderlich, und aus diesem Grunde ergab sich die Nothwendigkeit, daß der Willensentschluß des Staates in der Form des Gesetzes erklärt werden mußte Thudichum S. 51 construirt die Entstehung des Nordd. Bundes in anderer Art. Er sagt: „Dieser Bundesstaat ist am 1. Juli 1867 ins Leben getreten vermöge Vereinbarung aller betheiligten Regierungen mit dem aus allgemeinen directen Wahlen hervorgegangenen Reichstag des Bundes, eine Vereinbarung, welche für jedes Bundesland ihre besondere Gültigkeit erlangt hat durch die verfassungsmäßige Zustimmung der Landesvertretung desselben und die Verkündigung im Landesgesetzblatt.“ Dies beruht auf einem höchst sonderbaren Mißverständniß. Darnach soll nämlich der Norddeutsche Bund beruhen auf einer Vereinbarung, welche zwischen den verbündeten Regierungen einerseits und dem berathenden Reichstage andererseits zu Stande gekommen ist. Der Reichstag aber konnte nicht contrahiren, er war kein Rechtssubject, er vertrat keinen Staat, er vertrat nicht einmal im eigentlichen Sinne des Staatsrechts das Volk; denn eine staatsrechtlich wirksame Vertretung des Volkes setzt die staatliche Organisation desselben schon voraus. Politisch kam dem berathenden Reichstage die Autorität eines Parlaments im vollsten . Laband , Reichsstaatsrecht. I . 3 §. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den südd. Staaten. § 3. Das Verhältniß des Norddeutschen Bundes zu den süddeutschen Staaten. Durch den Prager Frieden Art. IV hatte Preußen sich Oesterreich gegenüber verpflichtet, das „engere Bundesverhältniß“ nach Süden hin nicht über die Linie des Mains auszudehnen; den süddeutschen Staaten sollte vielmehr freistehen, in einen Verein zusammenzutreten, der mit dem norddeutschen Bunde zwar über eine „nationale Verbindung“ sich sollte „verständigen“ dür- fen, aber „eine internationale, unabhängige Existenz haben“ sollte. Zur Bildung des Südbundes kam es nicht und daher auch nicht zur „näheren Verständigung“ des Südbundes und Nordbun- des; wol aber gelang alsbald eine sehr nahe Verständigung zwi- schen dem Norddeutschen Bunde und den einzelnen süddeutschen Staaten, welche ein ungleich festeres Einheitsband um alle deut- schen Staaten (mit Ausnahme Oesterreichs) schlang als es jemals zu den Zeiten des alten Deutschen Bundes bestanden hatte Von den zahllosen verläumderischen Vorwürfen, mit denen die Preu- ßische Politik von 1866 überschüttet wurde, ist keiner von der Wahrheit weiter entfernt, als der, daß die Mainlinie eine Zerreißung Deutschlands bewirkt habe; sie bedeutete nur einen graduellen Unterschied in der Vereinigung Deutschlands, in dem die Staaten nördlich des Mains enger unter einander verbunden waren, als mit den Staaten südlich des Mains und diese unter sich. Im Vergleich zu dem, was der Deutsche Bund gewährte, war auch diese weniger enge Verbindung ein unermeßlicher Fortschritt. . Da diese Zustände nur vorübergehende Bedeutung hatten, so ge- nügt es, dieselben ganz kurz zu scizziren. Maaße zu; rechtlich war er nur eine Versammlung, vom Volke gewählter politischer Vertrauensmänner oder Sachverständiger, welche über den von den verbündeten Regierungen vorgelegten Verfassungsentwurf ein Gutachten abzu- geben hatte. Die „Vereinbarung“ zwischen den Bundesregierungen und dem Reichstage war nur die Ausgleichung der Ansichten über die dem Bunde zu gebende Verfassung, welche aber allerdings für die Erfüllung des August- bündnisses eine wesentliche Voraussetzung war. Eine Vereinbarung im Sinne des Vertrages schlossen lediglich die Regierungen unter einander. In derselben Richtung wie Thudichum argumentirt Westerkamp S. 21 u. 28; er nimmt aber 3 Klassen von „Kontrahenten bei der Norddeutschen Bundesver- fassung“ an, nämlich „1. die Fürsten und die freien Städte. 2. die Bevöl- kerungen der einzelnen Staaten, repräsentirt durch ihre gesetzlichen Vertreter; 3. das Norddeutsche Volk in seiner Gesammtheit, repräsentirt durch den kon- stituirenden Reichstag.“ Richtig betont die blos berathende Function des Reichstages G. Meyer , Staatsrechtliche Erörterungen S. 57 Note 3; eine entgegengesetzte Theorie versucht Hänel I . S. 71 zu begründen. §. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den südd. Staaten. Das Verhältniß des Norddeutschen Bundes zu den vier süd- deutschen Staaten war, abgesehen von der nationalen Basis, ein rein völkerrechtliches, vertragsmäßiges, und war begründet durch folgende Verträge: 1) Gleichzeitig mit den Friedensverträgen wurden zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten Schutz- und Trutz- bündnisse geschlossen Sie tragen, mit Ausnahme des Hessischen, dasselbe Datum, wie die be- treffenden Friedensverträge, wurden zunächst aber geheim gehalten und erst im April 1867 veröffentlicht. Ihr Wortlaut ist gedruckt bei Hahn S. 212; Glaser I , 3 S. 39 fg. 53. Staatsarchiv XII , 2734. Sie wurden in den süddeutschen Staaten, außer in Bayern, den Landtagen zur Genehmigung vor- gelegt und diese wurde ihnen überall ertheilt. Siehe die näheren Angaben bei Thudichum S. 29. 30. , durch welche sich die Kontrahenten ge- genseitig die Integrität des Gebietes ihrer bezüglichen Länder garantirten und sich verpflichteten, im Falle eines Krieges ihre volle Kriegsmacht zu diesem Zwecke einander zur Verfügung zu stellen. Für diesen Fall wurde der Oberbefehl über die Truppen der süddeutschen Staaten dem Könige von Preußen übertragen. Dadurch wurde der einzige Werth, welchen der ehemalige Bund hatte, nämlich die Kollectivgarantie aller Deutschen Staaten für die Integrität des Bundesgebietes wieder hergestellt, zugleich aber eine Einheitlichkeit des Oberbefehls über die Deutsche Armee für den Kriegsfall begründet, wie sie zu den Zeiten des Deutschen Bundes nicht einmal angestrebt werden konnte. Der französische Krieg brachte frühzeitig die Gelegenheit, um den hohen Werth dieser Festsetzungen zu erproben. Um die Schutz- und Trutzbündnisse wirksam erfüllen zu kön- nen, verabredeten die süddeutschen Staaten auf einer in Stuttgart abgehaltenen Conferenz am 5. Februar 1867 ihre Streitkräfte den Prinzipien der Preußischen Wehrverfassung gemäß zu orga- nisiren Die Vereinbarung ist gedruckt bei Glaser I , 3 S. 42 und im Staats- archiv XII , 2733. . Zur Ergänzung des Zusammenhanges des Defensivsystems von Süddeutschland und dem des Norddeutschen Bundes diente ferner die Errichtung einer süddeutschen Festungscommission durch den Münchener Vertrag vom 10. October 1868 und die Errichtung 3* §. 3. Das Verhältniß des nordd. Bundes zu den südd. Staaten. einer gemeinschaftlichen Inspizirungscommission für die Festungen Ulm, Rastatt, Landau und Mainz durch Protokoll vom 6. Juli 1869 Beide Urkunden sind gedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1579 ff. . 2) Nicht minder bedeutsam war der Zollvereins-Ver- trag vom 8. Juli 1867. Er erhielt nicht blos die Freiheit des Waarenverkehrs und die Einheitlichkeit des Zollgebietes in Bezie- hung auf Süddeutschland in dem vor Ausbruch des Krieges vor- handenen Umfange aufrecht, sondern gab dem Vereine zum ersten Male eine festere Organisation und eine sichere Gewähr der Dauer Vgl. den Bericht der vereinigten Ausschüsse für Zoll- und Steuerwesen und für Handel und Verkehr des Nordd. Bundesrathes v. 24. August 1867. (Hirth’s Annalen 1868 S. 1 ff.) und Thudichum a. a. O. S. 39 fg. . Die Verfassung des Zollvereins war der Verfassung des Nord- deutschen Bundes so völlig analog, daß sie wie ein Schatten er- scheint, den die Reichs verfassung vor sich her warf. 3) Außerdem wurden die vor dem Kriege abgeschlossenen Ver- träge und Uebereinkünfte, soweit sie mit der neuen politischen Gestaltung Deutschlands vereinbar waren, wieder in Kraft gesetzt Ausdrücklich ist dies vereinbart im Friedensschluß mit Bayern Art. 8 und mit Hessen Art. 8. und ergänzt durch den Vertrag über die Salzsteuer vom 8. Mai 1867, durch den Postvertrag vom 20. April 1868, durch Verträge über die sogenannte militärische Freizügigkeit und über die Ge- währung der Rechtshülfe zwischen dem Norddeutschen Bunde und Baden u. s. w. In der Verfassung des Norddeutschen Bundes war überdies der Eintritt süddeutscher Staaten besonders vorgesehen, indem Art. 79 Abs. 2 bestimmte: Der Eintritt der süddeutschen Staaten oder eines derselben in den Bund erfolgt auf den Vorschlag des Bundes-Prä- sidiums im Wege der Bundesgesetzgebung. Einer der Abgeordneten, welche die Aufnahme dieser Bestim- mung in die Verfassung beantragt haben, Lasker , erläuterte dieselbe durch die Erklärung Stenogr. Berichte des verfass. Reichst. S. 685. : „Wir wollen durch unser Amen- dement ausdrücken, daß wir den Beitritt der süddeutschen Staaten nicht für eine Veränderung der Bundes-Idee halten, daß — — — §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. also dieser Beitritt nichts weiter ist als eine innere Angelegenheit welche geregelt wird nicht durch Aenderung der Verfassung, son- dern durch Gesetze.“ Der Norddeutsche Bund war von Anfang an darauf ange- legt, zum Deutschen Reiche erweitert zu werden. Es hing ledig- lich von den politischen Verhältnissen Europa’s und den eigenen Wünschen der süddeutschen Staaten und Bevölkerungen ab, wann die Vollendung der staatlichen Wiedergeburt Deutschlands erfolgen sollte. Der glorreiche Krieg, welcher zur Abwehr des französischen Angriffs vom Norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten gemeinschaftlich in treuer Erfüllung der Schutzbündnisse geführt wurde, beseitigte nicht nur die Hindernisse, welche bis dahin dem Beitritt der süddeutschen Staaten entgegenstanden, sondern er gab durch die Wiedererwerbung von Elsaß-Lothringen der politi- schen Neugestaltung Deutschlands einen Abschluß, der die kühnsten patriotischen Wünsche übertraf. § 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. Ueber den äußeren Hergang der Verhandlungen, welche zur Gründung des Deutschen Reiches geführt haben, gab der Präsident des Bundeskanzler-Amts, Staatsminister Delbrück in der Sitzung des Norddeutschen Reichstages vom 5. Dez. 1870 einen Bericht, der theils wegen seines offiziellen Charakters theils wegen seiner Vollständigkeit und Klarheit in seinem eigentlich re- ferirenden Theile hier wörtlich folgen mag: „Die Initiative kam von Bayern. Die Königl. Baye- rische Regierung gab im Laufe des September dem Bundes- präsidium zu erkennen, daß die Entwicklung der politischen Verhältnisse Deutschlands, wie sie durch die kriegerischen Ereignisse herbeigeführt sei, nach ihrer Ueberzeugung es bedinge, von dem Boden der völkerrechtlichen Verträge, welche bisher die süddeutschen Staaten mit dem Norddeut- schen Bunde verbanden, ab zu einem Verfassungsbündnisse überzugehen. Sie verband mit dieser Mittheilung den Ausdruck des Wunsches, mit einem Bevollmächtigten des Präsidiums über die Vorschläge in Besprechung zu treten, welche sie zur Ausführung ihres Gedankens vorbereitet hatte. Das Präsidium beeilte sich, diesem Wunsche zu ent- §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. sprechen, und es wurde mir der Befehl zu Theil, mich zu diesem Zwecke nach München zu begeben. Der Zweck war nicht eine Verhandlung, sondern eine Anhörung der Vor- schläge, die von der Königl. Bayerischen Regierung vorbe- reitet waren, eine Besprechung dieser Vorschläge aus der Kenntniß der Verhältnisse heraus, die mir meiner Stellung nach beiwohnte; die einzige Instruktion, welche ich erhielt, war die, mich jeder Aeußerung zu enthalten, welche gedeu- tet werden könnte, als ob das Präsidium im jetzigen Mo- ment gesonnen sei, auf die freien Entschließungen eines treuen und bewährten Alliirten auch nur den entferntesten Druck auszuüben. Die Besprechungen in München fanden statt und wurden wesentlich gefördert dadurch, daß die Königl. Württembergische Regierung durch eines ihrer Mit- glieder an diesen Besprechungen theilnahm. Während das Ergebniß dieser Besprechungen der Erwägung des Bundes- Präsidiums unterlag, wurde von Stuttgart der Wunsch ausgesprochen, die in München eingeleiteten Besprechungen in Versailles fortzusetzen und zu ergänzen, namentlich nach der militairischen Seite hin, indem der Königl. Württem- bergische Vertreter in München nicht in der Lage gewesen war, sich über diesen vorzugsweise wichtigen Theil der Verfassung weiter, als in einigen allgemeinen Andeutungen zu äußern. Gleichzeitig mit dieser Anregung erfolgte der offizielle Antrag Badens auf Eintritt in den Norddeutschen Bund. Das Präsidium konnte nicht zögern, diesen Anregungen zu entsprechen, und sowohl die Königl. Württembergische als die Großherzogl. Badische Regierung zur Entsendung von Bevollmächtigten nach Versailles einzuladen. Es gab gleichzeitig davon nach München Nachricht, indem es zur Wahl stellte, entweder ebenfalls in Versailles die Münche- ner Besprechungen fortzusetzen, oder, wenn es vorgezogen werden sollte, das Ergebniß der Verhandlungen mit den anderen dort vertretenen Deutschen Staaten abzuwarten, um sodann die Verhandlungen in München wieder aufzu- nehmen. Endlich erklärte auch die Großherzogl. Hessische Regierung ihren Entschluß, mit dem südlichen Theil ihres §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. Gebietes in den Bund einzutreten, und so geschah es, daß in der zweiten Hälfte des Octobers Vertreter der sämmt- lichen süddeutschen Staaten in Versailles zusammentraten, um über die Gründung eines Deutschen Bun- des zu verhandeln. Die Verhandlungen mit Württemberg, mit Baden und mit Hessen führten sehr bald zu der Ueber- zeugung, daß es ohne große Schwierigkeiten gelingen werde, auf Grundlage der Verfassung des Norddeutschen Bundes zu einer Verständigung zu gelangen; die Verhandlungen mit Bayern boten Anfangs größere Schwierigkeiten und es war auf den eigenen Wunsch des Königl. Bayerischen Bevollmächtigten, daß zunächst die Verhandlungen mit den drei anderen süddeutschen Staaten fortgesetzt wurden. Die Königlich Bayerischen Bevollmächtigten fühlten das Bedürf- niß, nicht ihrerseits durch die sich darbietenden Schwierig- keiten den Abschluß mit den anderen Staaten zu verzögern. So kam es, daß gegen Mitte des November die Verstän- digung mit den drei anderen süddeutschen Staaten zum Abschluß gekommen war. Ein unvorhergesehener Zufall verhinderte es, daß gleich am 15. November Württemberg an der mit ihm bereits in allen Hauptpunkten festgesetzten Verständigung theilnahm. Es wurde deshalb zunächst mit Baden und mit Hessen abgeschlossen. Während dem wur- den die Verhandlungen mit Bayern wieder aufgenommen oder fortgesetzt; sie führten rascher, als es Anfangs er- wartet werden durfte, zum Abschluß, der in dem Vertrage vom 23. November vorliegt. Am 25. November erfolgte alsdann auf Grund der in Versailles bereits festgestellten Verständigung der Abschluß mit Württemberg.“ — — Die Resultate der hier erwähnten Verhandlungen sind nieder- gelegt in folgenden Urkunden: I. Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden und Hessen , geschlossen zu Versailles, den 15. No- vember 1870 Bundesges.-Bl. 1870 S. 650. . Diesem Vertrage ist beigegeben eine „Verfassung des Deut- §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. schen Bundes“ ebendas. S. 627. , welche eine Redaction der Verfassung des Nord- deutschen Bundes mit einer Reihe von Abänderungen ist, die theils durch die Aufnahme Badens und Südhessens von selbst erforder- lich waren, theils auf den in Versailles gepflogenen Verhandlungen beruhten. Der Vertrag selbst enthält die Festsetzung, daß diese Verfassung am 1. Januar 1871 in Wirksamkeit treten soll und daß der Vertrag nach erlangter Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren des Norddeutschen Bundes, Badens und Hessens im Laufe des Monats Dezember ratifizirt werden soll. Es ist jedoch die Einschränkung hinzugefügt worden, daß die Gemeinschaft der Ausgaben für das Landheer für Baden und Hessen und die Bestimmungen der Art. 49—52 über die Posten und Telegraphen für Baden erst mit dem 1. Januar 1872 in Wirksamkeit treten sollen. Im Uebrigen wurden noch unter 9 Nummern besondere Erklärungen über die Anwendung oder Aus- legung einzelner Verfassungs-Artikel vereinbart. II. Zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden und Hessen einerseits und Württemberg andererseits wurden abgeschlossen: 1. Der Vertrag von Berlin vom 25. Nov. 1870 Bundes-Ges.-Bl. 1870 S. 654. . Derselbe enthält im Art. 1 die Bestimmung, daß Württemberg dem Vertrage von Versailles vom 15. November dergestalt bei- tritt, daß alle in der dort vereinbarten Verfassung enthaltenen Bestimmungen auf Württemberg volle Anwendung finden. Art. 2 enthält einige auf Württemberg bezügliche Sonderbestimmungen. Art. 3 betrifft die einzuholende Genehmigung der Volksvertretun- gen und die Auswechselung der Ratifikationen. 2. Das Schlußprotokoll von Berlin vom 25. Novem- ber 1870 Bundes-Ges.-Bl. 1870 S. 657. enthält die Ausdehnung der Mehrzahl der im Ver- sailler Protokoll niedergelegten Erklärungen auch auf Württemberg und 2 Bestimmungen, welche den Eisenbahntarif und die Vorrechte der Post betreffen. 3. Die Militair-Konvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg von den Nov. 1870 Bundes-Ges.-Bl. 1870 S. 658. . §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. III. Zwischen dem Norddeutschen Bunde und Bayern wurden festgestellt: 1. Der Vertrag von Versailles vom 23. Novem- ber 1870 Reichs-Ges.-Bl. 1871 S. 9. . Derselbe enthält 6 Artikel folgenden Inhalts: a ) Art. I. bestimmt: die Staaten des Norddeutschen Bundes und das Königreich Bayern schließen einen ewigen Bund , welchem Baden und Hessen schon beigetreten sind und zu welchem der Beitritt Württemberg’s in Aussicht steht Der Vertrag mit Württemberg ist zwei Tage später unterzeichnet worden. . Dieser Bund heißt der Deutsche Bund. b ) Art. II enthält die Verfassung dieses Bundes . Es ist die Verfassung des Norddeutschen Bundes mit einer erheb- lichen Anzahl von Abänderungen. c ) Art. III führt eine Anzahl von Sonderbestimmungen auf, welche sich auf Bayern beziehen und die Anwendung der vereinbarten Verfassung auf dieses Königreich beschränken. d ) Art. IV enthält eine Uebergangsbestimmung über den Zeitpunkt, in welchem die Gemeinschaft der Militair-Ausgaben und der Zölle und Verbrauchssteuern beginnen soll. e ) Art. V reproduzirt eine, auch in dem Badisch-Hessischen Vertrage sich findende Erklärung, daß Sonderrechte nur mit Zu- stimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden können und sichert insbesondere die Anwendung dieses Grundsatzes auf die im Art. III enthaltenen Bestimmungen. f ) Art. VI setzt fest, daß der Vertrag am 1. Januar 1871 in Wirksamkeit treten und nach eingeholter Genehmigung der Volksvertretungen im Laufe des Monats Dezember ratifizirt wer- den soll. 2. Das Schlußprotokoll von Versailles vom 23. November 1870 Reichs-Ges.-Bl. 1871 S. 23. . Dasselbe enthält eine Anzahl von Erläuterungen, Beschränkungen, Ergänzungen, welche sich theils auf die Bundesverfassung überhaupt theils auf deren Anwendung auf Bayern beziehen. Art. 16 legt den Bestimmungen dieses Protokolls dieselbe verbindliche Kraft bei wie dem Vertrage vom gleichen Datum. §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. Hinsichtlich des Verhältnisses, in welchem diese verschiedenen, mit den süddeutschen Staaten abgeschlossenen Verträge zu einander stehen, ist ein Umstand von erheblicher Bedeutung, welchen Staats- minister Delbrück in der oben in Bezug genommenen Rede in folgender Weise angegeben hat: „Als mit Württemberg, Baden und Hessen verhandelt wurde, waren die Wünsche Bayern’s bekannt. Es fand von Seiten des Präsidiums keinen Anstand, einer Zahl dieser Wünsche sofort zu entsprechen. Es wurde davon, wie es nicht anders sein konnte, den übrigen verhandeln- den Staaten Mittheilung gemacht; sie eigneten sich die Bayerischen Amendements an, und so sind in … die An- lage des Protokolls vom 15. November eine Anzahl Be- stimmungen aufgenommen, welche eigentlich, wenn ich so sagen darf, Bayerischen Ursprungs sind, welche der Initia- tive Bayerns ihren Ursprung verdankten.“ Aus dieser Thatsache erklärt sich, daß Baden und Hessen nicht einfach die Verfassung des Norddeutschen Bundes mit den in Folge ihres Beitritts selbstverständlichen formellen Abänderun- gen annahmen, sondern daß dem Vertrage vom 15. Nov. 1870 eine Verfassung beigelegt wurde, welche von der des Norddeutschen Bundes mehrfach und zwar in der Tendenz abweicht, um den von Bayern erhobenen Wünschen zu genügen, obwohl die Zuge- hörigkeit Bayerns zum Bunde in dieser Verfassungsredaction selbst nicht vorausgesetzt ist. IV. Endlich ist am 8. Dezember 1870 noch ein Vertrag zu Berlin unterzeichnet worden, in welchem Württemberg, Baden und Hessen dem zwischen dem Norddeutschen Bunde und Bayern geschlossenen Vertrage, und Bayern, soweit dies noch erforderlich war, den zwischen dem Norddeutschen Bunde und Baden, Hessen und Württemberg abgeschlossenen Verträgen, nebst Anlagen, Pro- tokollen und Militair-Konvention zustimmten. V. In formeller Beziehung erfuhr die unter den deutschen Staaten vereinbarte Verfassung dadurch eine wichtige Veränderung, daß auf Anregung des Königs von Bayern einstimmig vereinbart wurde, daß der deutsche Bund den Namen „Deutsches Reich“ er- halte und daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werde Vgl. die Stenogr. Ber. des Nordd. Reichstages vom 5., 8. u. 9. De- zember 1870 S. 76. 150. 167. . Es erhebt sich nun die Frage nach der juristischen Bedeu- tung und Wirkung dieser Vorgänge. Die Beantwortung derselben ist durch die Ausführungen über die Gründung des Norddeutschen Bundes im Wesentlichen vorbereitet und erleichtert. Die Versailler November-Verträge finden ihre Analogie in dem Berliner Augustbündniß von 1866 . Sie sind durchaus völkerrechtlicher Natur; sie begründen ver- tragsmäßige Rechte und Pflichten. Der Inhalt derselben besteht für den Norddeutschen Bund in der Pflicht — und dem dieser Pflicht correspondirenden Rechte — am 1. Januar 1871 die süddeutschen Staaten unter den mit denselben vereinbarten Bedingungen in den Bund aufzunehmen, für jeden der Süddeut- schen Staaten in der Pflicht — und dem dieser Pflicht correspon- direnden Rechte — am 1. Januar 1871 dem Bunde beizutreten. Verschieden von den August-Verträgen von 1866 sind die No- vember-Verträge von 1870 nur in folgenden Beziehungen: 1) Während die Contrahenten der Augustbündnisse lauter von einander völlig unabhängige Staaten waren, welche über- einkamen, unter sich einen Bund zu errichten , wurden die No- vember-Verträge geschlossen auf der einen Seite von dem Nord- deutschen Bunde als Einheit und auf der anderen Seite von den einzelnen süddeutschen Staaten. Der unter den Norddeutschen Staaten bereits bestehende Bund wird nicht beendigt und aufgelöst, um durch einen neuen Bund ersetzt zu werden, sondern er wird erweitert und modifizirt. Während zwischen dem alten deutschen Bunde und dem Norddeutschen Bunde keine Rechtscontinuität besteht, ist dieselbe zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Reiche gewahrt Vgl. Auerbach S. 56. 59 fg. Meyer Erörterungen S. 61. Hä- nel S. 82. v. Mohl S. 51. Anderer Ansicht ist nur Riedel S. 77. . Die Reichsgründung war keine Neuschöpfung sondern eine Reform des Norddeutschen Bundes, eine in der Verfassung des letzteren selbst vorgesehene Erweiterung und Umbildung desselben. Im Württemberger Vertrage heißt es ausdrücklich, daß die Contra- §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. henten, von dem Wunsche geleitet, die Geltung der vereinbarten Verfassung auf Württemberg „auszudehnen,“ verabreden, daß Württemberg dieser Verfassung „beitritt;“ und wenn auch der Badisch-Hessische und der Bayrische Vertrag von der „Gründung eines deutschen Bundes“ reden, so ist doch nirgends angedeutet, daß dieser Gründung die Auflösung des Norddeutschen Bundes vorhergehen solle, daß dieselbe überhaupt etwas Anderes sei als die Ausdehnung, Erweiterung und Modification des Norddeutschen Bundes, der natürlich formell in seiner alten Gestalt nicht mehr fortdauern kann, neben der neuen größeren Gestalt, zu der er sich fort entwickeln sollte. 2) Die Augustbündnisse verabredeten nicht eine bestimmte Verfassung, welche der Norddeutsche Bund haben sollte, sondern zunächst einen Modus, wie eine Verfassung für denselben verein- bart werden sollte. Die November-Verträge bedurften dieses Vorspiels nicht; die Verfassung des Norddeutschen Bundes war die von selbst gegebene Grundlage auch für die Einrichtungen des erweiterten Bundes. Man konnte daher sofort die Verfassung des letzteren entwerfen. Daraus ergiebt sich folgender Satz: Das Rechtsverhältniß zwischen dem Norddeutschen Bunde und den süddeutschen Staaten war nach Abschluß der November-Verträge ganz analog dem Rechtsverhältnisse, welches unter den norddeut- schen Staaten seit dem 16. April 1867, d. h. seit Vereinbarung des Verfassungs-Entwurfs unter den norddeutschen Regierungen nach Schluß der Berathungen des Reichstages, aber vor dem 1. Juli 1867 bestand. Die Anlage zum Baden-Hessischen Ver- trage (nebst den mit Württemberg vereinbarten Modificationen) war ein Verfassungs-Entwurf , für den Fall, daß Bayern dem Bunde nicht beitreten sollte; der Art. II des Bayerischen Vertrages war ein Verfassungs-Entwurf für den entgegen- gesetzten Fall. Der Deutsche Bund selbst war durch diese Ver- träge und Verfassungsentwürfe noch nicht existent geworden, son- dern es war nur eine vollständige Willensübereinstimmung erzielt worden, wie dieser Bund beschaffen sein sollte. Das deutsche Reich ist nicht am 15/23. November 1870 gegründet worden mit einem dies a quo (1. Januar 1871), sondern es ist am 15/23. November 1870 vertragsmäßig stipulirt worden, daß am 1. Ja- §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. nuar 1871 das deutsche Reich gegründet werden sollte, daß an diesem Tage die Verfassung desselben in Kraft treten sollte. 3) Die Genehmigung der Volksvertretungen des Norddeut- schen Bundes und der 4 süddeutschen Staaten beziehen sich auf diese „Gründung“ d. h. im Norddeutschen Bunde auf die Erwei- terung desselben durch Aufnahme der süddeutschen Staaten, in den süddeutschen Staaten auf deren Eintritt in den Bund. Die Reichs- verfassung ist in den süddeutschen Staaten nicht als „Landesgesetz“ eingeführt worden; es wäre dies eben so unmöglich gewesen, wie die Einführung der Norddeutschen Bundesverfassung als Landes- gesetze der Norddeutschen Staaten Siehe oben S. 27 ff. . Der Eintritt der Süddeut- schen Staaten in den Bund hat zwar eine höchst eingreifende Ver- änderung ihres Landesrechtes bewirkt und zur Folge gehabt, aber nur dieser Eintritt selbst ist ein Willensakt der süddeutschen Staa- ten gewesen, die Einrichtungen des Bundes sind nicht Objecte der Staatsgewalt und mithin auch nicht der Gesetzgebung der süddeut- schen Staaten. Auch formell war in den Süddeutschen Staaten der Vorgang diesem Sachverhalt entsprechend, indem nicht die Bundesverfassung als solche gesetzlich sanctionirt wurde, sondern die „Verträge“ un- ter Constatirung der ihnen zu Theil gewordenen landständischen Genehmigung und der erfolgten Ratifizirung verkündet wurden Badisches u. Hessisches Regierungsblatt v. 31. Dezem- ber 1870. Württemberg Regierungsbl. 1871 Nr. 1. Bayerisches Gesetzbl . 1871 Nr. 22 S. 149. In den 3 ersten Staaten wurde dann noch besonders der Bayerische Vertrag verkündigt. Vgl. Thudichum in v. Hol- zendorffs Jahrb. I S. 5 Note 2. . Dagegen hat die Zustimmung des Norddeutschen Reichstages eine etwas abweichende Bedeutung. Auch hier war sie „Geneh- migung der Verträge“ Der Reichstag nahm an dem Vertrage mit Bayern drei unerhebliche Fassungs-Aenderungen vor, welche sowohl vom Bundesrath und von Bayern als auch von den anderen süddeutschen Staaten acceptirt wurden. und damit staatsrechtliche Ermächtigung der Bundesregierung, die zur Ausführung der Verträge erforder- lichen Handlungen vorzunehmen. Aber zugleich gehörte zur Aus- führung dieser Verträge eine Veränderung der bisher geltenden Bundesverfassung, und zwar nicht nur redactionell durch §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. Erwähnung der neu aufgenommenen Staaten bei der Bestimmung des Bundesgebiets, der Stimmen im Bundesrath, der Reichstags- Abgeordneten, und nicht nur ergänzend durch Aufnahme der auf die neu aufgenommenen Staaten bezüglichen Sonderbe- stimmungen hinsichtlich der Bier- und Branntweinsteuer, der Post- und Telegraphen-Verwaltung, des Militairwesens u. s. w.; son- dern es sollte zugleich die Rechtsordnung, welche für die Mitglie- der des Norddeutschen Bundes galt, erheblich verändert werden, z. B. durch Erweiterung der Bundeskompetenz auf Vereins- und Preßwesen, durch Erschwerung der Erfordernisse für Verfassungs- änderungen u. s. w. Die Abänderung der bestehenden Bundes- verfassung war die Bedingung der Erweiterung des Bundes. Die Genehmigung der November-Verträge Seitens des Reichstages des Norddeutschen Bundes und Seitens des Bundesrathes desselben war daher zugleich Zustimmung zu einer Aenderung der Ver- fassung, welche für diesen Fall nach der besonderen Bestimmung des Art. 79 der Verf. im Wege der einfachen Gesetzgebung er- folgen konnte Die Vorlage der Verträge, sowie die nachträgliche Aenderung derselben durch Aufnahme der Worte „Kaiser“ und „Reich“ wurde als Gesetzes- Vorlage behandelt, d. h. einer dreimaligen Berathung unterzogen. Vgl. auch die Bemerkung des Präsidenten Simson Stenogr. Ber. des II. außer- ordentl. Reichst. 1870 S. 151. . Formell wurde aber auch im Norddeutschen Bunde derselbe Weg beschritten, wie in den Süddeutschen Staaten. Das zu Berlin am 31. Dez. 1870 ausgegebene Bundesgesetzblatt enthält lediglich die Verträge mit Baden-Hessen und Württemberg und die „Verfassung des Deutschen Bundes“ nur als Beilage des ersteren; das Bundesgesetzblatt vom 31. Januar 1871 enthält in derselben Art den Bayrischen Bündniß-Vertrag. Eine Umgestal- tung der bisherigen Norddeutschen Bundes-Verfassung zur neu vereinbarten Reichsverfassung in der Form des Gesetzes fehlte noch. Es war hier einmal das Gegenstück gegeben zu dem häufiger vorkommenden Falle, daß die Form des Gesetzes Anwen- dung findet, wenn es sich nicht um Acte der Gesetzgebung im ma- teriellen Sinne handelt; die Verfassung des Norddeutschen Bundes war materiell abgeändert und die Zustimmung der dazu befugten Bundesorgane war materiell ertheilt worden, aber die Form des §. 4. Die Gründung des Deutschen Reiches. Gesetzes hatte nicht Anwendung gefunden. Die Nachholung dieser Form war dem Reiche selbst nach seiner definitiven Gründung vorbehalten. Die Gründung desselben erfolgte am 1. Januar 1871 und zwar auch in Beziehung auf Bayern; denn obgleich die Bayrische Landesvertretung erst am 21. Januar 1871 den Vertrag geneh- migte und die Ratificationen desselben erst am 29. Januar 1871 ausgetauscht wurden, so enthält doch der Vertrag selbst die Be- stimmung, daß er am 1. Januar 1871 in Wirksamkeit treten soll und diese Bestimmung wurde mit genehmigt Vgl. Verhandlungen des Reichstages 1871 Stenogr. Berichte S. 787 ff. Thudichum in Holzendorff’s Jahrb. I. 1 S. 5. v. Rönne S. 25. Rie- del S. 4. . Die Verzögerung der Genehmigung des Bayrischen Landtages suspendirte nicht die rechtzeitige Erfüllung des Vertrages, sondern die Versagung der Genehmigung hätte sie resolvirt , die Erfüllung erfolgte unter der selbstverständlichen Voraussetzung ( iuris conditio ) der nachfolgenden Ratihabirung Seitens des bayrischen Landtages. Am 1. Januar 1871 ist die in den November-Verträgen festge- stellte Verfassung in gesetzliche Geltung getreten. Die Gründung des Deutschen Reiches stellt sich — wie die Errichtung des Nord- deutschen Bundes — als eine Handlung dar, welche der Nord- deutsche Bund, Hessen, Baden, Württemberg und Bayern am 1. Januar 1871 vollzogen und durch welche sie die November- Verträge erfüllten . Am 18. Januar 1871 erließ der König von Preußen vom Hauptquartier Versailles aus eine Proklamation an das deutsche Volk, worin er die Annahme des kaiserlichen Ti- tels bekannt machte. Das rechtliche Interesse, welches Oesterreich an der Vereini- gung der süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bunde wegen des Artikels 4 des Prager Friedens hatte, wurde auf diplomatischem Wege gewahrt und erledigt, indem der Kanzler des Norddeutschen Bundes der kais. Oesterreichischen Regierung am 14. Dezember 1870 formelle Anzeige machte und darauf Oesterreich durch eine Note vom 26. Dezember 1870 der Errich- tung des Deutschen Reiches ausdrücklich zustimmte und das Reich formell anerkannte. §. 5. Die Redaction der Reichsverfassung. § 5. Die Redaktion der Reichsverfassung. Das neugegründete Reich unterzog sich alsbald der Aufgabe, seine Verfassung ordnungsmäßig zu redigiren. Die Publikation der Verträge enthielt zwei von einander sehr abweichende Redac- tionen, die eine, wie sie im Badisch-Hessischen, die andere, wie sie im Bayerischen Vertrage vereinbart war, und überdies die im Württembergischen Vertrage stipulirten Veränderungen und Vor- behalte. Die Ausdrucksweise ließ die Consequenz vermissen, indem die Bezeichnungen Kaiser und Reich zunächst nur an zwei Stellen vorläufig Aufnahme gefunden hatten. Es kam das schon vorhin berührte Moment hinzu, daß formell der Reichstag nur einen Vertrag über die Abänderung der Norddeutschen Verfassung ge- nehmigt hatte, die Abänderung selbst aber nicht direct, sondern nur in dieser Vertrags-Genehmigung ausgesprochen war. Dem ersten Reichstage wurde deshalb der Entwurf einer Reichsverfassung vorgelegt; derselbe wurde am 14. April 1871 von dem Reichstage genehmigt und am 16. April 1871 als Reichs- gesetz verkündigt. Das Reichsgesetz vom 16. April enthält zwei von ein- ander scharf getrennte Bestandtheile, die Redaction der Verfassung selbst und das Publikationsgesetz. I. Die Verfassungs-Urkunde . Dieselbe schließt sich an die im Bayerischen Vertrage vereinbarte Fassung an, modifizirt dieselbe aber in folgenden Punkten: 1) Die im Versailler Schlußprotokoll unter Nr. XV vorsorg- licher Weise getroffene Bestimmung, daß, wenn sich ergeben sollte, daß in Folge des mangelhaft (in Versailles) vorliegenden Mate- rials bei Aufführung des Wortlautes der Bundesverfassung ein Irrthum unterlaufen ist, die contrahirenden Theile sich dessen Be- richtigung vorbehalten, ist erledigt worden durch correcte Feststel- lung des Wortlautes. 2) Die im Art. 2 des Vertrages mit Württemberg die- sem Staate zugesicherten Sonderrechte und die im Art. III des Bayerischen Vertrages vereinbarten Beschränkungen der An- wendbarkeit der Verfassung auf Bayern sind in den Text der Verfassung selbst aufgenommen worden. Dabei ist eine Incon- §. 5. Die Redaktion der Reichsverfassung. gruenz zwischen dem Württembergischen und Bayerischen Vertrage betreffend das Recht zum Abschluß von Postverträgen mit außer- deutschen Nachbarstaaten im Art. 52 Abs. 3 ausgeglichen worden; nur der Württembergische Vertrag erwähnte dieses Recht, der Bayerische nicht; in der Reichsverfasiung ist es beiden Staaten gleichmäßig zugestanden. 3) Die in dem Baden-Hessischen Schlußprotokoll und in dem Bayerischen Vertrage unter Nr. V enthaltene Erklärung, daß be- stimmte Rechte einzelner Bundesstaaten nur mit Zustimmung der letzteren abgeändert werden können, ist in die Verfassung selbst als Art. 78 Abs. 2 aufgenommen worden. 4) Die Uebergangsbestimmungen über die Termine, an denen Norddeutsche Bundesgesetze in den süddeutschen Staaten in Kraft treten sollten, welche als Art. 80 der Norddeutschen Bundesverfas- sung angehängt worden waren, sind aus der Reichsverfassung weg- gelassen und in das Publikationsgesetz aufgenommen worden. 5) Endlich enthält die Reichsverfassung eine materielle Abänderung der vereinbarten Verfassung, indem der durch den Bayrischen Vertrag Art. II. § 6 geschaffene Ausschuß des Bundes- rathes für die auswärtigen Angelegenheiten, außer den Bevoll- mächtigten von Bayern, Sachsen und Württemberg, aus zwei vom Bundesrath alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesstaaten bestehen soll. II. Das Publikations-Gesetz . 1) Dasselbe verfügt in § 1, daß die beigefügte Verfassungs- urkunde für das Deutsche Reich an die Stelle der zwischen dem Norddeutschen Bunde und den Großherzogthümern Baden und Hessen vereinbarten Verfassung des Deutschen Bundes, sowie der mit den Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt zu dieser Verfassung geschlossenen Verträge vom 23. u. 25. No- vember 1870 tritt. Damit sind diese Verträge als solche nicht aufgehoben oder modifizirt So Hänel S. 87—90 und die meisten Schriftsteller. ; dieselben bilden für alle Ewigkeit die völkerrechtliche Grundlage, auf welcher die Gründung des Reiches erfolgt ist. Der Eingang der Reichsverfassung leistet vielmehr ausdrückliches Laband , Reichsstaatsrecht. I. 4 §. 5. Die Redaction der Reichsverfassung. Zeugniß für diese historische völkerrechtliche Grundlage der Reichs- gründung durch Bezugnahme auf den Vertrag, den der Nord- deutsche Bund mit den süddeutschen Staaten geschlossen. Ebenso wenig wird das durch diese Verträge begründete Rechtsver- hältniß durch das Publikationsgesetz tangirt, dasselbe war vielmehr schon am 1. Januar 1871 erloschen durch vollständige gegenseitige Erfüllung. Schon am 1. Januar 1871 trat an die Stelle des Vertrages die Verfassung und zwar diejenige Verfas- sung, welche in den Novemberverträgen vereinbart worden war. Dagegen wird durch das Publikations-Gesetz die formelle Gel- tung dieser, am 1. Januar 1871 auf Grund der No- vember-Verträge in Kraft getretenen Bundesver- fassung beseitigt und — bei materieller Aufrechterhaltung ihres Inhalts — durch die formelle Geltung der Reichsverfassung vom 16. April 1871 ersetzt. Da das Bundesgesetzblatt (Nr. 16), welches das Publikations- gesetz enthält, zu Berlin den 20. April 1871 ausgegeben worden ist, so ist nach Art 2 diese Ablösung der alten (November-) Re- daction durch die neue Redaction im ganzen Reiche am 4. Mai 1871 erfolgt. Das Inkrafttreten dieser Verfassungs-Redaktion ist nicht mehr als Vertrags-Erfüllung anzusehen und beruht nicht auf den vertragsmäßigen Vereinbarungen, sondern es beruht auf der ge- setzgebenden Gewalt des Reiches, wie dieselbe durch die Verfassung vom 1. Januar 1871 begründet worden war, Das Publikations- Gesetz hat die gewöhnliche Eingangsformel der Reichsgesetze: „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preu- ßen ꝛc. verordnen hiermit im Namen des Deutschen Reiches, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrathes und des Reichs- tages.“ 2) Die im Art. 80 der in den November-Verträgen verein- barten Verfassung enthaltenen Uebergangsbestimmungen über die Einführung der im Norddeutschen Bunde ergangenen Gesetze in den süddeutschen Staaten sind durch § 2 des Publikations-Gesetzes in Kraft erhalten worden. Es wird zugleich beigefügt: „Die dort bezeichneten Gesetze sind Reichsgesetze.“ Es wird dadurch der Rechtsgrund ihrer Geltung angegeben; sie gelten nicht als gleich- lautende Landesgesetze, über deren Einführung die Deutschen §. 5. Die Redaction der Reichsverfassung. Staaten sich verständigt haben, wie ehemals zur Zeit des früheren Bundes über Wechsel-Ordnung und Handelsgesetzbuch, sondern sie gelten, weil das Reich sie erlassen hat. Dasselbe gilt auch für das Königreich Bayern, in welchem durch das Reichsgesetz vom 22. April 1871 (B.-G.-Bl. S. 87) zahlreiche Norddeutsche Bun- desgesetze „als Reichsgesetze“ eingeführt worden sind. 3) Endlich bestimmt § 3: „Die Vereinbarungen in dem zu Versailles am 15. November 1870 aufgenommenen Protokoll, in der Verhandlung zu Berlin vom 25. November 1870, dem Schluß- protokoll vom 23. November 1870, sowie unter IV des Vertrages mit Bayern vom 23. November 1870 werden durch dieses Gesetz nicht berührt .“ Als Grund, warum diese Bestim- mungen nicht in die Verfassung selbst aufgenommen worden sind, wird in den Motiven Reichstag 1871. Drucksachen Nr. 4. angegeben: „ihr theils vorübergehender, theils erläuternder, theils administrativer Charakter;“ hinzugefügt wird: „Ihre fortdauernde Geltung ist durch § 3 des Einf. Ges. außer Zweifel gestellt.“ Der § 3 verhält sich aber diesen Bestimmungen gegenüber ganz negativ; er constatirt nur, daß das Publikationsgesetz der Reichsverfassung „sie nicht berührt;“ er stattet weder die Geltung der Bestimmungen mit einem neuen Rechtsgrunde, dem der ge- setzlichen Sanctionirung aus, noch verändert er den ursprünglichen Charakter ihrer Feststellung Vgl. Hänel Studien I. S. 89. . Soweit die Bestimmungen der Schlußprotokolle ꝛc. aus sachlichen oder rechtlichen Gründen un- wirksam geworden oder ihre Kraft verloren haben, werden sie durch § 3 des Einf. Gesetzes nicht gestützt und aufrecht erhalten oder gar wieder hergestellt. III. Das in der beschriebenen Art zum formellen Abschlusse gelangte Verfassungswerk des Deutschen Reiches hat nachträglich folgende Abänderungen erfahren: Art. 28 Abs. 2 wurde aufgehoben durch Ges. v. 24. Febr. 1873 (R.-G.-Bl. S. 45) Art. 4 Nr. 9 erhielt einen Zusatz durch Ges. v. 3. März 1873 (R.-G.-Bl. S. 47) 4* §. 6. Die Erwerbung von Elsaß-Lothringen. Art. 4 Nr. 13 wurde abgeändert durch Ges. v. 20. Dezember 1873 (R.-G.-Bl. S. 379) abgesehen von der Erweiterung des Reichsgebietes durch die Er- werbung von Elsaß-Lothringen, welche noch einer besonderen Er- örterung bedarf. §. 6. Die Erwerbung von Elsaß-Lothringen. I. Der völkerrechtliche Titel für die Zugehörigkeit Elsaß-Lothringens zum Reiche ist der Präliminar-Friedens- Vertrag von Versailles vom 26. Febr 1871 R.-G.-Bl. 1871 S. 215 fg. . Derselbe ist ab- geschlossen zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich. Die Minister der drei süddeutschen Staaten, welche neben dem Reichs- kanzler an dem Abschluß des Vertrages Theil nahmen, werden so wie der letztere durch den Zusatz: représentant l’Empire ger- manique charakterisirt. Die einzelnen Deutschen Staaten hatten durch die Reichsgründung, also seit dem 1. Januar 1871 die Fähigkeit, Friedensverträge zu schließen, an das Reich abgegeben Der Beitritt der süddeutschen Bevollmächtigten zu dem Vertrage wird in einer Schlußbemerkung zu demselben damit motivirt, „daß die Königreiche Bayern und Württemberg und das Großherzogthum Baden als Verbün- dete Preußens an dem gegenwärtigen Kriege theilgenommen haben und jetzt zum Deutschen Reiche gehören.“ . Im Artikel I verzichtet Frankreich auf die daselbst angeführten Gebiete „zu Gunsten des Deutschen Reichs ( en faveur de l’Em- pire allemand )“ und es wird eben daselbst ausgesprochen: „ Das Deutsche Reich wird diese Gebiete für immer mit vollem Souveränetäts- und Eigenthumsrechte besitzen.“ Der definitive Friedensvertrag von Frankfurt vom 10. Mai 1871 R.-G.-Bl. 1871 S. 223 fg. , welcher zwischen dem Deutschen Kaiser und der Französischen Republik geschlossen worden ist, bestätigt diese Abtretungen mit einer im Art. 1 näher festgestellten Abwei- chung, der zu Folge einerseits bei Belfort das bei Frankreich verbleibende, andererseits bei Thionville das an Deutschland ab- zutretende Gebiet erweitert wurde. Durch den Zusatz-Artikel 3 zum Frankfurter Frieden R.-G.-Bl. 1871 S. 237. wurde das, an Frankreich zurück- §. 6. Die Erwerbung von Elsaß-Lothringen. übertragene Gebiet bei Belfort noch um eine Anzahl von Dör- fern vermehrt. Auch diesem Vertrage sind durch ein in Berlin am 15. Mai 1871 unterzeichnetes Protokoll die Bevollmächtigten der drei süd- deutschen Staaten Namens ihrer Souveraine beigetretreten R.-G.-Bl. 1871 S. 238 fg. . Die Ratifikationen des Friedensvertrages sind, nachdem die Französische National-Versammlung am 18. Mai denselben geneh- migt hatte, am 20. Mai 1871 zu Frankfurt a/M. ausgetauscht worden R.-G.-Bl. 1871 S. 240. . Eine nachträgliche Abänderung hat der Umfang des an das Deutsche Reich abgetretenen Gebietes erfahren durch den Zusatz- vertrag von Berlin vom 12. Oktober 1871 Art. 10 R.-G.-Bl. 1871 S. 367. 368. Vgl. auch die von der Grenzregulirungs- Kommission vereinbarten Conventionen vom 24/27 und 28/31. August 1872 im Gesetzbl. f. Elsaß-Lothringen 1873 S. 283. 287. , in welchem ein Paar Gemeinden an Frankreich zurückgegeben wurden. II. Staatsrechtlich beruht die Zugehörigkeit von Elsaß und Lothringen zum Deutschen Reiche auf dem Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 R.-G.-Bl. 1871 S. 212. , dessen erster Paragraph bestimmt, daß die von Frankreich abgetretenen Gebiete in der — in den vor- stehend aufgeführten Verträgen — festgestellten Begrenzung mit dem Deutschen Reiche für immer vereinigt werden . § 3 desselben Gesetzes überträgt die Ausübung der Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen dem Kaiser, der jedoch bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Reichsverfassung bei Ausübung der Gesetz- gebung an die Zustimmung des Bundesraths und bei der Auf- nahme von Anleihen, durch welche irgend eine Belastung des Reichs herbeigeführt wird, auch an die Zustimmung des Reichs- tages gebunden wurde. Die Verfassung des Deutschen Reiches sollte in Elsaß und Lothringen am 1. Januar 1873 in Wirksamkeit treten; durch Reichsgesetz vom 20. Juni 1872 R.-G..Bl. 1872 S. 208. ist dieser Termin auf den 1. Januar 1874 verlegt worden. §. 6. Die Erwerbung von Elsaß-Lothringen. Das Gesetz vom 9. Juni 1871 § 2 ertheilte aber die Er- mächtigung, daß durch Verordnung des Kaisers mit Zustimmung des Bundesrathes einzelne Theile der Verfassung schon früher eingeführt werden können und bestimmte, daß Art. 3 der Reichs- verfassung (Indigenat) sofort in Wirksamkeit trete. Auf Grund dieser Ermächtigung sind in Elsaß und Lothrin- gen eingeführt worden am 1. Januar 1872: Art. 33 (Einheit des Zollgebiets) durch Verordnung vom 17. Juli 1871 Gesetzbl. f. Elsaß-Lothr. 1871 S. 247. Abschnitt VIII , betreffend das Post- und Telegraphenwesen, durch Verordnung vom 14. Oktober 1871 ebendas. S. 347. Abschnitt VII , betreffend das Eisenbahnwesen, durch Verord- nung vom 11. Dezember 1871 ebendas. S. 371. am 14. Februar 1872 vgl. Ges. v. 3. Juli 1871 § 2 (ebendas. S. 2). Die Musterung begann aber erst im Oktober 1872. : Die Art. 57. 58. 59. 61. 63—65 (Militairwesen) und das Kriegsdienstgesetz vom 9. November 1867 durch Verord- nung vom 23. Januar 1872 ebendas. 1872 S. 83 fg. . Das Reichsgesetz vom 25. Juni 1873 R.-G.-Bl. 1873 S. 161. Ges. Bl. f. Els.-Lothr. S. 131. endlich führte die Reichsverfassung als Ganzes vom 1. Januar 1874 ab in Elsaß und Lothringen ein. Eine neue Redaktion der Verfassung, in welcher auf das Reichsland Rücksicht genommen wäre, hat nicht stattgefunden; es sind lediglich die beiden Aenderungen, welche die Gesetze vom 24. Februar 1873 und 3. März 1873 an dem Wortlaut der Verfassung vorgenommen hatten, bei der Publikation berücksichtigt worden Die durch Ges. v. 20. Dez. 1873 erfolgte Abänderung des Art. 4 Nr. 13 der Verf. konnte natürlich nicht berücksichtigt werden. Eine besondere Pu- blikation dieses Gesetzes für Elsaß-Lothringen hat damals nicht stattgefunden; die am 20. Dez. 1873 im Reichsgesetzblatt erfolgte hatte für Elsaß-Lothringen keine staatsrechtliche Wirkung, da Art. 2 der Reichsverf. daselbst erst am 1. Januar 1874 in Geltung trat. So ergab sich das sonderbare Resultat, daß die durch Ges. v. 20. Dezember 1873 festgestellte Abänderung des Textes der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen keine gesetzliche Kraft erlangt hatte. Erst . §. 6. Die Erwerbung von Elsaß-Lothringen. Dagegen hat das Einführungsgesetz selbst die Bestimmung getroffen, daß dem in Art. 1 bezeichneten Bundesgebiete das Ge- biet des Reichslandes Elsaß-Lothringen hinzutritt, daß in Elsaß- Lothringen 15 Abgeordnete zum Reichstage gewählt werden, daß bis auf Weiteres die in Art. 35 erwähnte Besteuerung des in- ländischen Bieres der inneren Gesetzgebung vorbehalten bleibt und daß bis auf Weiteres die durch Art. 40 aufrecht erhaltenen Be- schränkungen, welchen die Erhebung von Kommunal-Abgaben nach Art. 5 des Zollvereinsvertrages unterliegt, auf die in Elsaß-Loth- ringen bestehenden Bestimmungen über das Octroi keine Anwen- dung finden. Schon das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 § 3 hat die An- ordnung getroffen, daß nach Einführung der Reichsverfassung bis zu anderweitiger Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetz- gebung auch in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten in Elsaß-Lothringen dem Reiche zusteht. Diese Bestimmung ist am 1. Januar 1874 in Geltung getreten mit der Modifikation, daß der Kaiser unter Zustimmung des Bundesrathes, während der Reichstag nicht versammelt ist, Verordnungen mit gesetzlicher Kraft erlassen kann, welche Nichts enthalten dürfen, was der Verfassung oder den in Elsaß-Lothrin- gen geltenden Reichsgesetzen zuwider ist. Solche Verordnungen sind dem Reichstage bei dessen nächstem Zusammentritt zur Genehmi- guug vorzulegen und sie treten außer Kraft, sobald die Geneh- migung versagt wird Ges. v. 25. Juni 1873 § 8. . Trotzdem die Reichsverfassung durch diese Gesetzgebungs-Acte in Elsaß und Lothringen zur vollen und uneingeschränkten for- mellen Geltung gekommen ist, ergiebt sich dennoch bei näherer Betrachtung für das Reichsland eine rechtliche Stellung im Reiche, welche von derjenigen der Bundesstaaten in den wesentlichsten Beziehungen durchaus verschieden ist. durch das Ges. v. 8. Febr. 1875 (Gesetzbl. f. Els.-Lothr. S. 9) ist das Verse- hen beseitigt worden. §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Zweites Kapitel. Die rechtliche Natur des Reiches. §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Die Aufsuchung der höheren juristischen Begriffs-Kategorie, welcher das Reich unterzuordnen ist, fällt zusammen mit der Frage: Ist das Reich ein Staat oder ist es eine Ver- einigung von Staaten zur gemeinsamen Er- füllung staatlicher Aufgaben? Der begriffliche Gegensatz, um den es sich handelt, ist genau derselbe, wie auf dem Gebiete des Privatrechtes der Gegensatz zwischen der juristischen Person und der Gesellschaft. Die Orga- nisation, die Dauer auf unbestimmte Zeit, die Fülle der dem Reiche überwiesenen Machtmittel, die Zahl der ihm obliegenden Aufgaben genügen nicht zur Entscheidung dieser Frage. Sowie auf dem Gebiete des Privatrechtes in sehr zahlreichen Fällen die- selbe Aufgabe, derselbe Zweck sowohl in der Rechtsform der ju- ristischen Person als auch in der der Gesellschaft erfüllt werden kann und sowie die innere Einrichtung einer Sozietät sich der Verfassung einer juristischen Person überaus nähern und andererseits die Verfassung einer juristischen Person Elemente aus der Sozietät in bedeutendem Umfange in sich aufnehmen kann, immerhin aber juristische Person und Gesellschaft begriffliche Gegensätze sind, zwischen denen eine nicht zu überbrückende Kluft bleibt: so lassen sich auch staatliche Aufgaben von unermeßlicher Bedeutung nicht nur durch Staaten, sondern auch durch Verbände von Staaten lösen, so kann im Verband von Staaten eine feste Zusammenfü- gung der Theilnehmer, im Staat eine weitreichende Sonderberech- tigung der einzelnen Glieder bestehen. Aber trotz aller thatsächlich vorhandenen Uebergänge und Mittelbildungen ist niemals ein Staat ein Staatenbund und niemals ein Staatenbund ein Staat; es giebt kein politisches Gebilde, das beides zugleich ist, denn das Eine ist die Negation des Andern Sehr treffend äußert sich bereits Welcker wichtige Urkunden für den Rechtszustand der Deutschen Nation 1844 S. 43 über die logische Unmöglich- keit einer Mischung von Bundesstaat und Staatenbund. Dagegen wirft Gro- . §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Der Gegensatz zwischen juristischer Person und Sozietät läßt sich am Kürzesten dahin formuliren: Die juristische Person ist ein Rechtssubject , die Sozietät ein Rechtsverhältniß . So ist auch der Staatenbund ein Rechtsverhältniß unter Staaten, also kein Rechtssubject; der Staat dagegen eine organisirte Ein- heit, eine Person, also kein Rechtsverhältniß Ganz abweichend ist die Auffassung Hänel ’s. Er sagt, Studien I. S. 42: „Auch der Staatenbund ist juristische Person,“ gleichzeitig aber soll er „ein vertragsmäßiges Verhältniß der Einzelstaaten unter einander darstellen.“ . Selbstverständlich schließt dies nicht aus, daß zwischen dem Staat und seinen Mit- gliedern Rechtsverhältnisse bestehen, wie auch zwischen den Korpo- rationen des Privatrechtes und ihren Mitgliedern. Jeder Staatenverband, mögen demselben noch so weitreichende und wichtige staatliche Aufgaben zugewiesen sein, ist seiner juri- stischen Natur nach kein Gebilde des Staatsrechts, sondern des Völkerrechts; jeder Staat dagegen, mag sein Gefüge noch so locker und der Zusammenhang seiner Glieder noch so lose sein, schließt, soweit die staatliche Organisation reicht, die Anwendung völker- rechtlicher Grundsätze aus. Die rechtliche Grundlage des Staaten- verbandes wie der Sozietät ist der Vertrag, die rechtliche Grund- lage des Staates wie der Korporation des Privatrechts ist die Verfassung, das Statut. Das Wesen der juristischen Person besteht in der selbst- ständigen Rechtsfähigkeit , welche ihrerseits wieder eine selbstständige Willensfähigkeit voraussetzt. Für die juristische Per- son des Privatrechts sind Rechtsfähigkeit und Willensfähigkeit be- schränkt auf das Gebiet des Vermögensrechtes; für den Staat, die juristische Person des öffentlichen Rechtes, erstreckt sich Rechts- fähigkeit und Willensfähigkeit auf das Gebiet des öffentlichen Rechts, der Herrschafts- oder Hoheitsrechte Ueber die Persönlichkeit des Staates als den Ausgangspunkt für die juristische Behandlung des Staatsrechts ist auf die vortrefflichen Ausfüh- . tefend Deutsches Staatsrecht § 18. 19 bei seiner Charakterisirung des Nord- deutschen Bundes beide Begriffe völlig durcheinander. Nach ihm „haben die Bundesstaaten sich nur verpflichtet, gewisse Angelegenheiten des öffentlichen Lebens gemeinsam regeln zu wollen,“ dessenungeachtet sei dieser Bund „ein wirklicher Bundesstaat mit durchaus staatlichem Charakter;“ und doch wird dann hinzugefügt: „allein es ist dieser Bundesstaat kein wirklicher Staat.“ §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Die juristische Persönlichkeit des Staates besteht darin, daß der Staat selbstständige Herrschaftsrechte behufs Durch- führung seiner Aufgaben und Pflichten und einen selbstständigen Herrschaftswillen hat. Grade darin liegt das Unterscheidende aller Arten von Staaten gegenüber allen Arten von Staaten- Verbänden. Bei dem Staatenverband ist der Wille des Bundes nur der Ausdruck des gemeinsamen Willens der Mitglieder; und zwar auch dann, wenn die Einrichtung getroffen ist, daß die Minorität ihren Willen dem der Majorität unterwirft. Dagegen bei dem Staate, auch dem zusammengesetzten, ist der Wille des Staates verschieden von dem Willen seiner Mitglieder; er ist nicht die Summe ihrer Willen, sondern ein ihnen gegenüber selbstständiger Wille, auch wenn die Mitglieder berufen sind, an dem Zustande- kommen des Staatswillens mitzuwirken. Bei dem Staatenverbande stehen die öffentlichen Herrschafts- rechte der einzelnen verbundenen Staaten, jedem für sein Gebiet zu, wenngleich die Einrichtung besteht, daß diese Rechte gemein- schaftlich oder übereinstimmend ausgeübt werden. Die dem Staate, auch dem zusammengesetzten, zustehenden Hoheitsrechte sind nicht Rechte seiner Mitglieder, die der Staat gleichsam als gemein- schaftlicher Verwalter für Alle ausübt, sondern diese Rechte stehen dem Staate selbstständig zu; die Mitglieder haben keinen Theil an ihnen, auch dann nicht, wenn sie selbst zur Ausübung dieser Rechte berufen sind. Die Rechte des Staates sind nicht Rechte der Mitglieder, sondern Rechte über die Mitglieder. Die correcte Formulirung der Frage nach der juristischen Natur des Deutschen Reiches ist daher die: Ist das Reich eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder ist es ein Rechtsverhältniß unter den Deutschen Staaten, welche das Reich bilden oder sich zum Reich verbunden haben? Während die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller über das Recht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches sich für die staatliche Natur entscheidet Aufgeführt sind diese Schriftsteller bei G. Meyer Erörterungen S. 81 , hat Seydel den rungen v. Gerber ’s Grundzüge S. 2 u. S. 219 fg. (Beilage II ) hinzu- weisen. §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Versuch unternommen, das Reich als einen Staatenbund aufzu- fassen und die Bestimmungen der Reichsverfassung von diesem Prinzip aus zu erklären. Dieser Versuch ist um so beachtenswerther als die Gründe, welche man für den staatlichen Charakter des Reiches anzuführen pflegt, zum Theil in der That nicht zwingend sind, sondern sich mit dem Charakter des Reiches als Staatenbund vereinigen lassen. Seydel geht davon aus, daß der Staat die höchste, voll- kommene Einigung ist für die Menschen, die er umfaßt; daß der ihn beherrschende Wille ein einheitlicher sein muß; daß mithin der herkömmliche Begriff des Bundesstaates, der eine Theilung der Souveränetät voraussetzt, ein wissenschaftlich unmöglicher sei, weil er im Widerspruch steht mit dem Wesen des Staates. Wenn daher mehrere bisher selbstständige Staaten sich vereinigen, so seien nur zwei Fälle denkbar. Entweder die Vereinigung sei ein Staat, dann hören die vereinigten Staaten auf, es zu sein; oder die vereinigten Staaten bleiben Staaten, dann könne die Verei- nigung kein Staat, sondern nur ein Staatenbund sein Seydel Kommentar S. 8. . Mit diesem Obersatz sind wir, wie sich aus dem folgenden Paragra- phen näher ergeben wird, in einer wesentlichen Beziehung einver- standen. Seydel a. a. O. S. 9 fg. argumentirt nun weiter: Aus der Entstehungs- geschichte des Norddeutschen Bundes und des Reiches ergebe sich, daß die Staaten, die sich zu ihm vereinigten, einen Vertrag schlossen zur gemeinsamen Ausübung einzelner bestimmter Souveränetätsrechte, daß sie aber nicht ihre eigene staatliche Exi- stenz vernichten wollten. Dies werde bestätigt durch den Wortlaut der Verfassung, namentlich durch den Eingang derselben, der die vertragschließenden Souveräne aufführt und das Deutsche Reich als einen ewigen Bund bezeichnet und durch die in der Verfassung mehrfach wiederkehrende Bezeichnung der Bundesglieder als Staa- ten . Ergiebt sich hieraus, daß die Glieder des Reiches Staaten geblieben sind, so folge mit Nothwendigkeit, daß das Reich kein Staat, sondern ein Bündniß von Staaten sei. und Brie Bundesstaat I S. 81 fg. Hinzuzufügen ist noch Koller Verf. des D. R. S 76 ff. §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Es sind also zwei Gründe, auf welche diese Theorie sich stützt; erstens die Entstehungsart des Reiches In dieser Hinsicht stimmt mit Seydel überein G. Meyer Staatsrechtl. Erörterungen S. 56 ff. und zweitens die verfas- sungsmäßige Anerkennung der Bundesglieder als Staaten. Die Berufung auf die Entstehungsgeschichte des Norddeutschen Bundes, beziehentl. des Deutschen Reiches, ist von Hänel Studien zum Deutschen Staatsrechte I S. 31 fg. 68 fg. in so trefflicher Weise widerlegt worden, daß seinen Ausführungen kaum etwas Wesentliches hinzugefügt werden kann. Aus der That- sache, daß die Norddeutschen Staaten durch einen völkerrechtlichen Vertrag sich gegenseitig verpflichtet haben, einen Bund zu gründen, folgt ebenso wenig, daß dieser Bund selbst einen vertragsmäßigen völkerrechtlichen Charakter habe, wie auf privatrechtlichem Gebiete daraus, daß mehrere Personen behufs Gründung einer juristischen Person, z. B. eines Actienvereins, einen Vertrag unter einander abschließen, die Folgerung gerechtfertigt wäre, daß dieser Verein selbst ein obligatorisches Verhältniß der Gründer sei Hänel S. 32 fg. besonders S. 34. . Die Ent- stehungsgeschichte des Norddeutschen Bundes läßt, wie oben aus- geführt worden ist Vgl. oben S. 17 ff. 30. , eine andere Auffassung nicht zu als die, daß durch die Errichtung des Norddeutschen Bundes der Vertrag vom 18. August 1866 erfüllt wurde. Damit hörte das vertrags- mäßige Verhältniß auf und die staatsrechtliche Organisa- tion trat an seine Stelle Logisch ungenau ist die Ausdrucksweise v. Rönne ’s S. 36: „der Vertrag der Deutschen Staaten hat .... die rechtliche Natur einer paktirten Verfassung erhalten, wodurch die Vertragseigenschaft in die zweite Linie getreten ist.“ Der Vertrag kann nicht die Natur einer Ver- fassung erhalten; der Bund kann nicht in erster Linie Staatseigenschaft und in zweiter Linie Vertragseigenschaft haben. Das vertragsmäßige Verhält- niß (nicht der Vertrag selbst) hat vielmehr durch Erfüllung aufgehört. Vgl. Seydel S. 6. . Wenn Seydel a. a. O. S. 5. behauptet, der Bündnißvertrag sei nicht auf eine einmalige Leistung, sondern auf Begründung immerwährender gegenseitiger Verpflichtungen gegangen; durch das Zustandekommen der Verfassung sei der Ver- trag daher keineswegs vollständig erfüllt worden, er habe im Ge- gentheil nun erst thatsächliche Bedeutung erlangt, — so hat er §. 7. Das Reich als Rechtssubject. für diese Auffassung nicht nur keine Gründe beigebracht, sondern der Wortlaut des Bündnißvertrages vom 16. August 1866, die Beschränkung der Dauer des Bündnisses auf längstens ein Jahr, die Mitwirkung eines Reichstages bei Feststellung der Verfassung, stehen ihr entgegen Vgl. Hänel S. 69 ff. und oben S. 19. 26. . Auch aus den Vorgängen bei Gründung des Deutschen Rei- ches ist Nichts zu entnehmen, was für ein vertragsmäßiges Ver- hältniß der Mitglieder zu einander in das Gewicht fiele. Die November-Verträge begründeten allerdings vertragsmäßige Rechte und Pflichten der Contrahenten; aber der Inhalt derselben bezog sich nur auf den Eintritt und die Aufnahme der süddeutschen Staaten in den unter den Norddeutschen Staaten bereits bestehen- den Bund. Mit dem erfolgten Eintritt waren diese vertragsmä- ßigen Rechte und Pflichten durch Erfüllung erloschen Siehe oben S. 43. . Jeden- falls wurde das für die Norddeutschen Staaten bereits bestehende Bundesverhältniß nicht in seiner rechtlichen Natur verändert, sondern nur erweitert; hatte daher der Norddeutsche Bund den Charakter eines Staates, so kommt derselbe auch dem zum Deut- schen Reiche erweiterten Bunde zu Hänel S. 79 fg. . Endlich wird die Annahme, daß die Absicht der vertragschließenden Theile auf die Begründung eines völkerrechtlichen Verhältnisses von fortdauernd vertragsmä- ßigem Charakter gerichtet war, durch die Thatsache widerlegt, daß die definitive Redaction der Grundsätze, über welche man sich bei den Verhandlungen über die Aufnahme der süddeutschen Staaten geeinigt hatte, nicht in der Form eines Vertrages, sondern in der Form eines Verfassungs-Gesetzes erfolgte Hänel S. 89. Siehe oben S. 49. 50. . Man kann sich daher auch nicht auf den Eingang der Ver- fassung berufen, um die Vertragsnatur des Reiches darzuthun. Derselbe constatirt nur, daß die Gründung des Reiches durch den freien ungezwungenen Willen der souveränen Staaten, in Folge eines unter ihnen abgeschlossenen Vertrages stattgefunden hat v. Mohl Reichsstaatsrecht S. 49. . Man darf aber nicht das Rechtsverhältniß, welches zur §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Gründung des Reiches geführt hat, identifiziren mit der Institu- tion, welche durch diese Gründung geschaffen worden ist. Es bleibt demnach — wenn die Berufung auf die Entstehungs- geschichte des Reiches zurückgewiesen wird — nur das logische Argument Seydel’s übrig, daß das Deutsche Reich deshalb kein Staat sein könne, weil die Mitglieder desselben Staaten seien. Dieses Argument enthält eine petitio principii und reduzirt sich auf einen Wortstreit um den Ausdruck „Staat.“ Zuzugeben ist, daß es eine oberste und höchste Gewalt geben muß, die keiner anderen irdischen Gewalt unterworfen ist, die in Wahrheit die potestas suprema, souverän und folglich untheilbar ist. Es folgt allerdings aus dem Begriff der Souveränetät, daß es keine doppelte und keine getheilte Souveränetät giebt Siehe den folgenden Paragraphen. . Da nun in der politischen und staatsrechtlichen Literatur der Einheits- staat als die einfachste und regelmäßige Form gewöhnlich den Erörterungen über den Staat zu Grunde gelegt und kurzweg mit dem Staate überhaupt identifizirt wird, so ist es erklärlich, daß man regelmäßig den unabhängigen, isolirten, also souveränen Staat in das Auge faßt, um den logischen Begriff des Staates zu abstrahiren und mithin die Souveränetät als ein wesentliches Moment dieses Begriffes hinstellt. So wenig man bestreiten kann, daß in der staatsrechtlichen Theorie diese Begriffsbestimmung des Staates die fast ausschließlich herrschende ist, so gewiß ist es doch andererseits, daß der Sprachgebrauch diese doctrinäre Definition vom Staate widerlegt. Zur Zeit des ehemaligen Deutschen Reiches hat man nicht angestanden, die nicht souveränen Deutschen Landes- herrschaften Staaten zu nennen Zahlreiche, leicht zu vermehrende Belege giebt Brie S. 28 fg. (Note 17—26). Für die ältere Zeit ist auch zu vergleichen Limnäns Jus public. imp. Rom. I, 1, 10. I, 7, 65 sqq. IV, 7 u. a. In der doctrinären Termi- nologie des Reichsrechts wird der Ausdruck status ursprünglich grade im Ge- gensatz zu der souveränen Reichsgewalt gebraucht. ; die Mitglieder der Amerika- nischen Union heißen Staaten; Rumänien, Serbien, Tunis, Tri- polis, Aegypten und andere nicht souveräne politische Gebilde be- zeichnet man als Staaten. Es fehlt auch in der Literatur des Deutschen Staatsrechts nicht an gewichtigen Stimmen, welche die §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Souveränetät nicht zu den wesentlichen Merkmalen des Staats- begriffes zählen v. Mohl Encyclop. der Staatswissensch. (2. Aufl.) S. 86: „Unrichtig ist die Forderung der Souveränetät, wenn darunter vollständige Unabhängig- keit von äußeren Einflüssen verstanden sein soll.... Die tägliche Erfahrung zeigt, daß es politische Gestaltungen giebt, welche in jeder Beziehung die Auf- gabe eines Staates erfüllen und die Rechte eines solchen ausüben, aber doch nicht ganz unabhängig von einer außer ihnen stehenden Gewalt sind. Sol- chen Verbindungen ist die Bezeichnung als Staat niemals verweigert worden .“ — Auch v. Gerber Grundz. S. 22 rechnet die Souveränetät nicht zu den wesentlichen Merkmalen des Staatsbegriffes, trotzdem er in der Regel als ein Vertreter dieser Ansicht citirt wird. Er sagt nur: „Soll die Staatsgewalt ganz ihrer Idee entsprechen .... so muß sie souverän sein“ und in der Anm. 5 fügt er erläuternd hinzu: „Souveräne- tät ist nicht selbst Staatsgewalt, sondern bezeichnet nur eine Eigenschaft der vollkommenen Staatsgewalt.“ Er giebt daher die Existenz einer unvoll- kommenen, nicht souveränen Staatsgewalt zu. Am bestimmtesten erklärt sich G. Meyer , Erörterungen S. 4 fg., gegen das Erforderniß der Souveräne- tät. Vgl. auch v. Pözl im Staatswörterbuch von Bluntschli und Brater II. S. 285. Hartmann Institutionen des Völkerrechts S. 23. . Wenn mehrere bisher unabhängige Staaten in eine solche Verbindung mit einander treten, daß sie eine höhere Gewalt über sich haben, so hören sie zwar auf, souverän zu sein, aber sie brauchen nicht aufzuhören, Staaten zu sein. Den bisher unabhän- gigen Staaten kann eine solche Fülle von Herrschafts- und Hoheits- rechten, von Aufgaben für die Ordnung des Gemeinwesens und von Machtmitteln zu ihrer Durchführung verbleiben, die neuer- schaffene höhere Gewalt kann sich auf ein so geringes Maaß von Herrschaftsrechten und staatlichen Aufgaben beschränken, die Glieder können das, was sie durch ihre Unterordnung unter die höhere Gewalt einbüßen, dadurch, daß sie an der Ausübung dieser höheren Gewalt selbst Antheil erlangen, in so reichem Maaße ersetzt erhalten, daß es dem allgemeinen Sprachgebrauch und den dem Volke ge- läufigen Anschauungen vollständig entspricht, diese Glieder Staaten zu nennen. Es ist ganz erklärlich, daß man den bisher souverän gewesenen Staaten, welche thatsächlich einen großen Theil ihrer Herrschaftsrechte und ihrer Aufgaben behalten und keineswegs ihre politische Existenz einbüßen, die Bezeichnung „Staaten“ läßt und für die neu geschaffene höhere Gewalt ein anderes Wort, wie Bund oder Reich, anwendet, anstatt daß man der Schuldefinition §. 7. Das Reich als Rechtssubject. vom Staate zu Liebe für die bisherigen Staaten diesen Ausdruck außer Anwendung setzt Auch die Frankfurter Reichsverf., die doch unzweifelhaft die Cen- tralgewalt mit der Souveränetät ausstatten wollte, spricht von den „einzelnen Deutschen Staaten “ z. B. § 5. 12. 13. 17. 186 und oft. . Und sie heißen nicht bloß Staaten, sie sind es auch; denn sie sind nicht zu bloßen Verwaltungs- Districten des Reiches herabgesunken, sondern selbstständig berechtigte Subjecte höchst umfassender und wichtiger öffentlicher Hoheitsrechte geblieben. Es ist mithin kein logischer Widerspruch, daß sowohl das Reich als auch seine Glieder staatlichen Charakter haben, sofern man nur nicht den Sinn unterschiebt, daß beide gleichzeitig sou- verän seien; man kann daher daraus, daß die Glieder des Reiches Staaten sind und verfassungsmäßig als solche bezeichnet werden, nicht die Schlußfolgerung ziehen, daß das Reich kein staatliches Wesen sein könne. Wenden wir uns nach dieser Widerlegung entgegenstehender Ansichten der positiven Beantwortung der Frage zu, so kömmt es gemäß unserer obenstehenden Ausführung hierbei darauf an zu er- mitteln, ob das Reich selbstständige Rechte den Einzelstaaten gegenüber hat. Entscheidend sind nicht Umfang nnd Wichtigkeit der vom Reiche gehandhabten Befugnisse, sondern die rechtliche Unab- hängigkeit der dem Reiche zustehenden Willens- und Rechtssphäre von derjenigen der Einzelstaaten. Diese Selbstständigkeit ergiebt fich aus Folgendem: 1. Das Reich hat zur Herstellung seines Willens eigene Or- gane, welche nicht eine Vereinigung der Willensorgane der Einzelstaaten und ebensowenig gemeinschaftliche Organe der Regierungen und Bevölkerungen der Einzelstaaten sind Der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 nennt im Art. 7 den Bundesrath des Zollvereins „das gemeinschaftliche Organ der Regierungen“ und das Zollparlament „die gemeinschaftliche Vertretung der Bevölkerungen.“ In dem entsprechenden Art. 5 der Nordd. Bundesverf. und der jetzigen Reichsverf. fehlen diese Charakterisirungen, welche den Zweck hatten, die vertragsmäßige Natur des Zollvereins im Gegensatz zu einem staatlichen Organismus her- vorzuheben. . Ein Beschluß des Bundesraths kann nicht vertreten oder ersetzt werden durch einen Austausch von übereinstimmenden Erklärungen sämmt- licher Einzelstaats-Regierungen; ein Beschluß des Reichstages kann §. 7. Das Reich als Rechtssubject. nicht vertreten oder ersetzt werden durch übereinstimmende Beschlüsse sämmtlicher Landtage der Einzelstaaten. Ein in allen deutschen Staaten mit gleichem Wortlaut erlassenes Gesetz wird dadurch, daß diese Staaten untereinander übereinkommen, nur nach gegenseitiger Verständigung und allseitiger Zustimmung dieses Gesetz zu verän- dern oder aufzuheben, noch kein Reichsgesetz und verlangt nicht die Kraft eines solchen; es steht auf gleicher Stufe mit den Landes- gesetzen und kann durch ein Reichsgesetz, welches nur mit der ver- fassungsmäßigen Bundesraths- Majorität beschlossen worden ist, in allen Staaten beseitigt werden. Andererseits kann ein Reichs- gesetz dadurch nicht weggeschafft werden, daß sämmtliche Staaten seine Aufhebung beschließen, falls der Reichstag in die Aufhebung nicht einwilligt. Bundesrath und Reichstag sind daher nicht Apparate, um den Sonderwillen der Einzelstaaten zu sammeln und das Resultat dieser zusammengezählten Einzelwillen herzustellen, sondern sie sind Organe für die Herstellung eines selbstständigen, einheitlichen Willens, der in Contrast treten kann selbst mit den überein- stimmenden Willens-Entschlüssen sämmtlicher Ein- zelstaaten . Das ist der entscheidende Punkt; an ihm allein wird es völlig klar, daß der Wille des Reiches nicht die Summe der Willen der Einzelstaaten, auch nicht der Majorität derselben, ist. 2. Das Reich hat zur Durchführung seiner Wil- lensentschlüsse seine eigenen Organe, welche nicht gemeinschaft- liche Organe der verbündeten Einzelstaaten sind. Der Reichs- kanzler ist weder dem Souverän noch dem Landtag irgend eines Einzelstaates verantwortlich, sondern nur dem Kaiser und Bundesrath und dem Reichstage Siehe unten §. 33 . Die Reichsbeamten sind nicht Beamte der verbündeten Regierungen Während z. B. im Zollverein die Vereinsbevollmächtigten und Kon- trolleure „Beamte der einzelnen Vereinsstaaten“ waren, die nur für gemein- same Zwecke vom Präsidium verwendet wurden. Vgl. Zollvereinsvertr. vom 8. Juli 1867. Schlußprotokoll Ziff. 15 Abs. 1 zum Art. 20. ; sie werden nicht in ihrem Namen ernannt und für sie vereidigt, sondern sie werden vom Kaiser er- nannt und für das Reich vereidigt; sie sind keinerlei Disciplinar- gewalt der Landesregierungen, sondern ausschließlich der Discipli- Laband , Reichsstaatsrecht. I. 5 §. 7. Das Reich als Rechtssubject. nargewalt der Reichsregierung unterworfen Reichsbeamtengesetz § 80 ff. ; sie haben keinerlei Ansprüche auf Gehalt und Pensionsbezüge gegen die Kassen der Einzelstaaten, sondern allein gegen die Reichskasse Reichsbeamtengesetz § 151. . Der Reichs- dienst wird nicht als eine Abart des Staatsdienstes, sondern als der Gegensatz desselben bezeichnet Reichsbeamtengesetz § 30. 46. 52 Z. 3. 57 Z. 2 u. a. . Das Reichs-Oberhan- delsgericht und das Bundesamt für das Heimath- wesen erlassen ihre Entscheidungen „Im Namen des Deutschen Reichs,“ nicht im Namen der verbündeten deutschen Souveräne Wäre das Reichs-Oberhandelsgericht ein gemeinschaftliches Gericht der Deutschen Staaten, wie das Ober-Appell.-Gericht zu Jena es für die thürin- gischen Staaten ist, so müßte es in jeder Sache im Namen desjenigen Sou- veräns erkennen, dessen Gerichte in den Vorinstanzen erkannt haben. . 3. Das Reich hat Hoheitsrechte, welche ihrem Inhalt nach nicht Hoheitsrechte der Einzelstaaten sein können , die also auch nicht gemeinschaftlich ausgeübt werden, sondern welche selbstständige Rechte des Reiches über die Einzelstaaten sind. Bei der überwiegenden Mehrzahl der dem deutschen Reiche zustehenden Befugnisse läßt sich zwar theoretisch die Anschauung durchführen, daß dieselben de jure den einzelnen Staaten für ihre Gebiete zustehen, dem Reiche nur die gemeinsame Ausübung über- tragen sei. Es fehlt aber an jedem formellen Grunde in dem Wortlaut der Reichsverfassung Art. 2 und Art. 5 sprechen zwar von der Ausübung der Ge- setzgebung, aber nur um die Wirkungen und die Art des Zustandekommens der Reichsgesetze zu bestimmen. Nach Art. 4 u. 35 hat das Reich die „Gesetz- gebung,“ nach Art. 50 gehört dem Kaiser die obere Leitung der Post- und Telegraphen-Verwaltung an. Vgl. Hänel Studien I. S. 52. und an jedem materiellen Grunde in den Einrichtungen des Reiches, um eine solche künstliche Unter- scheidung zwischen dem Recht selbst und der Befugniß zur Aus- übung desselben zu rechtfertigen. Wären die dem Reiche zustehen- den Machtvollkommenheiten nicht Befugnisse ex jure proprio, son- dern ihm nur delegirt, so müßten sie doch durch die eigentlich Berechtigten irgend wie rechtlich vinkulirt, bedingt oder beschränkt sein; dies ist aber nicht der Fall und es erweist sich daher die Unterscheidung zwischen dem Recht selbst und der Befugniß zur Ausübung desselben nicht nur als eine künstliche, sondern auch §. 7. Das Reich als Rechtssubject. zugleich als eine willkührliche Hänel a. a. O. . Besteht aber der Zweck jeder juristischen Construktion darin, ein einheitliches Prinzip für die rechtliche Beurtheilung eines Inbegriffs von Thatbeständen und Rechtsbeziehungen zu finden, so erweist sich jene künstliche und willkührliche Construktion als unmöglich, wenn unter den dem Reich zustehenden Gerechtsamen auch solche sich befinden, welche nicht als die Ausübung fremder Rechte aufgefaßt werden können. Solche Rechte hat das Reich in der That und zwar sowohl gegen die Angehörigen des Reiches als an dem Gebiet. Es wird unten näher ausgeführt werden, daß es Unterthanenpflichten gegen das Reich giebt, sowohl zum staatsbürgerlichen Gehorsam als zur staats- bürgerlichen Treue, die nach Inhalt und Wesen verschieden sind von den Unterthanenpflichten gegen die Einzelstaaten, und daß dem Reiche am Bundesgebiet als Einheit eine Gebietshoheit zukömmt, welche sich sehr bestimmt unterscheiden läßt von der Staatsgewalt des Einzelstaates an seinem Landesgebiete. 4. Endlich fällt für die selbstständige Willens- und Rechts- fähigkeit, also für die Persönlichkeit des Reiches der Umstand ins Gewicht, daß dasselbe durch einen Majoritätsbeschluß und in der Form eines Gesetzes seine eigene Zuständigkeit nach Art. 78 Abs. 1. erweitern kann Vgl. über diese Befugniß des Reiches, die demselben eine Zeit lang bestritten worden ist, unten bei der Lehre von der Reichsgesetzgebung. . Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewiesene Competenz ist eine so umfassende, daß es fast keine Seite des staatlichen Lebens giebt, die nicht von ihr direct oder indirect betroffen wird. Für die Annahme eines bloß vertragsmäßigen Verhältnißes der Deut- schen Staaten zur gemeinsamen Ausübung gewisser Hoheitsrechte ist schon diese Kompetenz von zu unbestimmter Begrenzung, von zu ungemessener Dehnbarkeit. Daß hier der Einzelstaat auf seine individuelle Einwilligung verzichtet und die Entschließung der Majorität von Bundesrath und Reichstag als die ihn bindende Norm anerkennt, ist bereits die Schaffung einer höheren, über dem Willen des Einzelstaates stehenden Willensmacht. Die Ge- sammtheit der im Art. 4 dem Reiche zugewiesenen Angelegenheiten läßt sich nicht mehr als eine Auslese einzelner Staatsaufgaben 5* §. 7. Das Reich als Rechtssubject. und Hoheitsrechte auffassen, wie dies vom Zollverein, Postverein u. s. w. mit Recht gesagt werden konnte, sondern sie ergreift den Staat in allen Theilen seiner Lebensthätigkeit. Wenn bei einem Sozietätsverhältniß das Majoritätsprinzip anerkannt ist, was immer nur als Ausnahme gelten kann, so ist doch vertragsmäßig der Geltungsbereich des Majoritätswillens auf so genau bestimmte Gegenstände oder Zwecke beschränkt, daß alle denkbaren Beschlüsse der Majorität nur als Oscillationen innerhalb einer, von allen Gesellschaftern vertragsmäßig, d. h. einstimmig festgestellten Linie erscheinen. Im Vergleiche zu den allgemeinen Lebenszwecken und Lebensaufgaben der Gesellschafter sind die Zwecke und Aufgaben der Sozietät untergeordnete oder wenigstens festbestimmte und aus- gesonderte; und innerhalb der vertragsmäßig feststehenden und nur mit Einstimmigkeit abzuändernden Grundlagen der Sozietät, ist das den Majoritätsbeschlüssen überlassene Gebiet ein so geringfü- giges, daß jeder Gesellschafter durch den Abschluß des Gesellschafts- vertrages es für nicht erheblich erklärt, wenn er mit seiner Ansicht innerhalb dieser Grenzen einmal nicht die Majorität erlangen sollte. Ein naheliegendes Beispiel eines öffentlich rechtlichen Sozietätsver- hältnisses bietet auch in dieser Beziehung der Zollverein, bei wel- chem seit 1867 das Majoritätsprinzip zwar anerkannt war, der aber nicht nur auf eine Thätigkeit beschränkt war, die verschwin- dend klein erscheint gegen die Gesammtheit der Lebensaufgaben eines Staates, sondern der auch innerhalb dieser Thätigkeit die Majori- tät nur in den durch den Art. 3 und 7 des Vertrages festgezogenen Grenzen entscheiden ließ. Wenn dagegen Art. 4 der Reichsverfassung allein in Nr. 13 das gesammte Civilrecht, Strafrecht und Prozeßrecht der Gesetzge- bung des Reiches unterwirft, so ist damit schon dem Reiche eine Competenz zugewiesen, welche jede Lebensaufgabe, jeden Zweig der Thätigkeit, jedes Recht und jede Pflicht aller Einzelstaaten treffen kann. Jeder Staat hat schon jetzt, bei dem im Art. 4 normirten Umfange der Reichskompetenz nicht einzelne, festbestimmte, oder gar verhälnißmäßig untergeordnete Angelegenheiten, sondern sich selbst in seiner Totalität, in dem innersten Kern seines Wesens, seiner Aufgaben, seiner Zwecke einer Beschlußfassung unterworfen, die gegen seinen Willen ausfallen kann. Kein Staat kann er- messen, welche Wege ihn die Reichsgesetzgebung — lediglich unter §. 7. Das Reich als Rechtssubject. Beschränkung auf die im Art. 4 begränzte Kompetenz — in seinen wichtigsten wirthschaftlichen und politischen Lebensfunktionen führen kann. Bei einer so ausgedehnten Kompetenz das Prinzip der Ma- joritätsbeschlüsse anerkennen, heißt nicht, sich mit Gleichberechtigten zur gemeinsamen Durchführung bestimmter Zwecke und Willensent- schlüsse vergesellschaften, sondern sich dem Willen der Gesammtheit als einem höheren Willen unterwerfen. Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die Kompetenz überhaupt begrenzt ist, nicht auf die Art, wie sie be- grenzt ist, wollte man die Fülle der im Art. 4 aufgeführten An- gelegenheiten noch als einzelne und bestimmte Hoheitsrechte gelten lassen, so macht doch Art. 78 auch diesen Standpunkt unhaltbar. Denn nach Art 78 ist, soweit nicht der zweite Absatz hinsichtlich der Individualrechte einzelner Staaten eine für die Beurtheilung des Ganzen unerhebliche Schranke zieht, dem Reich die rechtliche Befugniß gegeben, durch Majoritätsbeschluß seine Kompetenz schran- kenlos auszudehnen, so weit nur der Bereich seiner physischen Macht und seines vernunftgemäßen Wollens reicht. Daß die dazu erforderliche Majorität eine verstärkte ist, wirkt politisch als eine starke Sicherheit, rechtlich kommt es nur darauf an, daß nicht Einstimmigkeit der Bundesstaaten erfordert ist. Daß der einzelne Staat in der Minderheit bleiben kann , daß er verfassungsmäßig verpflichtet ist, die Einwirkung des Reiches auf solche Hoheitsrechte zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demselben nicht zu- gewiesen worden sind, selbst wenn er dieser Ausdehnung seinen Widerspruch entgegensetzt, das macht ihn zum Object eines höheren Willens. Der Einfluß, den der Einzelstaat auf das Zustande- kommen und die Durchführung dieses höheren Willens hat, kann politisch nicht nur ein Ersatz für die verlorene Unabhängigkeit, sondern ein hoher Gewinn sein; für die logisch juristische Betrach- tung ist entscheidend, daß der Einzelstaat in der Minorität bleiben kann, daß sein Wille nicht der höchste, letzte, endgültige ist. Nicht nur materiell ist eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches von dem Erforderniß der Einstimmigkeit frei, auch formell erfolgt dieselbe nicht durch einen Vertrag, sondern durch ein Gesetz, nicht in der Gestalt der Bethätigung oder Ausübung des Willens der Einzelstaaten, sondern in der Gestalt einer sie bindenden Rechts- norm, der Bethätigung eines über ihnen stehenden Herrschafts- §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. willens. Es ist eine unabweisbare Konsequenz aus Art. 78, daß die gesammte Rechtssphäre der Einzelstaaten zur Disposition des verfassungsmäßig erklärten Willens des Reiches steht. Nimmt man zu dem Allen noch hinzu, daß die Zugehörigkeit zum Reiche von keinem einzelnen Staate willkürlich gelöst werden darf, daß es keine rechtliche Möglichkeit des Ausscheidens aus dem Reiche giebt und es mithin nicht von dem Willen des Einzelstaates abhängig ist, ob er dieser dem Reiche übertragenen Machtfülle unterworfen bleiben will oder nicht, so muß man den Beweis als erbracht anerkennen, daß das Reich ein selbstständiges Willens- und Rechtssubject, eine staatsrechtliche Person ist. Und da nach dem Eingange der Verfassung das Reich gegründet ist „ zum Schutze des Bundesgebiets und des innerhalb des- selben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes ,“ da dem Reiche daher eine Willens- und Handlungssphäre von solchem Umfange zuge- wiesen ist, wie er überhaupt nur möglich ist für die Willens- und Handlungssphäre eines Staates, da die Bethätigung dieses Wollens und Handelns auf ein bestimmtes Gebiet und eine bestimmte Be- völkerung sich erstreckt, da sie rechtlich normirt und geordnet ist, so entspricht das Reich allen begrifflichen Erfordernissen und Merk- malen eines Staates . § 8. Der Begriff des Bundesstaates. Im einfachen Staate sind Land und Leute unmittelbar der Herrschaft, den Hoheitsrechten des Staates unterworfen, die Staatsgewalt richtet sich direct gegen das dem Staate zugehörige Gebiet und die auf demselben ansässigen Bewohner. Mitglieder des Staates sind die einzelnen Individuen, und als solche sind sie das Object der dem Staate zustehenden öffentlichen Rechte (Un- terthanen). Der zusammengesetzte Staat unterscheidet sich hievon dadurch, daß eine doppelte (oder mehrfache) Gliederung stattfindet. Land und Leute sind zunächst einer Unter-Staatsgewalt unterworfen und die Staaten einer Ober-Staatsgewalt, welche wir mit dem Ausdruck Reichsgewalt bezeichnen. Das directe, unmittelbare Ob- ject der in der Reichsgewalt enthaltenen Herrschaftsrechte sind die Staaten ; die Staaten als Einheiten, als juristische Personen §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. des öffentlichen Rechts sind die Mitglieder, die Unterthanen des Reiches. Die Gebiete der Gliedstaaten sind mittelbar Reichsgebiet, die Bürger der Gliedstaaten sind mittelbar Reichsunterthanen. Das Wesen des Reiches besteht in der Mediatisirung der Staaten, nicht in ihrer Unterdrückung oder Auflösung; der Gliedstaat ist nach Unten Herr, nach Oben Unterthan. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Reichsgewalt in einzel- nen Beziehungen ihre Hoheitsrechte direct gegen das Reichsgebiet oder gegen die einzelnen Angehörigen des Reichs ausübt; daß sie durch die Einzelstaatsgewalt hindurch unmittelbar auf das natür- liche Substrat jedes staatlichen Gebildes, Land und Leute, einwirkt. Hinsichtlich bestimmter Bethätigungen der Reichsgewalt können die Einzelstaaten nicht blos mediatisirt, sondern gänzlich außer Func- tion gesetzt sein und für diese Hoheitsrechte des Reiches sind dann nicht die Staaten, sondern die Bürger und das Reichsgebiet die unmittelbaren Objecte. Andererseits ist es ebenso wenig erforderlich, daß die Staats- gewalt der Einzelstaaten in allen Beziehungen mediatisirt ist, die Reichsgewalt auf allen Gebieten des staatlichen Lebens Herrschafts- rechte entfaltet. Es kann den Gliedstaaten ein Kreis von Aufga- ben verbleiben, von welchem sich das Reich in Folge bewußter und gewollter Selbstbeschränkung fern hält und diesen Aufgaben entsprechend kann den Gliedstaaten ein Inbegriff von Hoheits- rechten zustehen, hinsichtlich dessen sie keine höhere staatliche Ge- walt über sich haben, hinsichtlich dessen ihre Mediatisirung that- sächlich nicht durchgeführt ist. Das Wesen des zusammengesetzten Staates wird dadurch aber nicht verändert, daß sein Begriff nicht schablonenmäßig verwirk- licht wird. Das wesentliche Merkmal des Begriffes besteht darin, daß zwei (oder mehrere) Staatsgewalten übereinander auf- gebaut sind, so daß die Reichsgewalt Staaten zu Unterthanen hat. Man kann daher den zusammengesetzten Staat treffend Staatenstaat nennen. Nicht jeder zusammengesetzte Staat ist Bundes- staat . Die Reichsgewalt kann nämlich entweder von der Staats- gewalt der Gliedstaaten losgelöst sein, so daß die Gliedstaaten einem von ihnen oder einem Dritten unterworfen sind. Dies ist der Fall bei der Unterordnung sogen. Vassallenstaaten unter einen §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. Lehnsherrn Nach v. Mohl Reichsstaatsrecht S. 43. 44 besteht eine derartige Ver- fassung in Japan. . Ein Beispiel giebt das alte Deutsche Reich, inso- fern man die Landesherren als Träger der Territorial-Staatsge- walt, den Kaiser als Träger der Reichsgewalt gelten lassen will. Auf eine solche Staatsform wendet man die Bezeichnung Bundes- staat nicht an; die Staaten sind nicht mit einander als prinzi- piell gleichberechtigte verbunden, sondern sie stehen zu einem Su- zerain im Verhältniß der Unterordnung Vgl. über den Gegensatz des Bundesverhältnisses und des Suzeräne- tätsverhältnisses Heffter, Europ. Völkerr. § 19. 20. Meyer, Erörter. S. 11. . Die Reichsgewalt kann aber auch der Gesammtheit der Gliedstaaten, die letztere als begriffliche Einheit gedacht, zu stehen. Die Träger der Landes- Staatsgewalt bilden dann zusammengenommen die juristische Per- son des öffentlichen Rechts, welche das Subject der, unter dem Namen Reichsgewalt zusammengefaßten, Hoheits- oder Herrschafts- rechte ist. Das nennt man einen Bundesstaat . Die einzelnen Gliedstaaten sind nicht in dem Sinne mediatisirt, daß sie einem von ihnen oder einem Fremden unterworfen sind, son- dern sie sind vereinigt zur Herstellung eines Gemeinwesens höherer Ordnung. Sie sind nicht einem, von ihnen verschiedenen physischen Herrn, sondern einer ideellen Person, deren Substrat sie selbst sind, staatlich untergeordnet. So wie in der einfachen Demokratie jeder Bürger Unterthan, d. h. Object der Staatsgewalt, und doch zugleich mit betheiligt an der Sou- veränetät, also Subject der Staatsgewalt ist, so ist in dem Bun- desstaat jeder Einzelstaat für sich betrachtet Object der Reichsge- walt, als Mitglied der juristischen Person des Bundesstaates be- trachtet, antheilsmäßig berechtigtes Subject der Reichsgewalt. Der Antheil ist nicht nach Art der Sozietät oder des Miteigenthums des Privatrechts Sonderrecht der Gliedstaaten, die Hoheits- rechte des Reiches stehen nicht pro diviso oder pro indiviso den Einzelstaaten zu, sondern der Antheil der Einzelstaaten besteht lediglich in der Mitgliedschaft am Reich und in dem hierauf beruhenden Recht, an dem Zustandekommen und der Bethätigung des Willens des Reiches Theil zu nehmen und mitzuwirken. Das ist der juristische Begriff des Bundesstaates, wie er in §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. der Verfassung des Deutschen Reiches seine Verwirklichung gefun- den hat; von diesem Prinzip aus ist das staatsrechtliche Ver- hältniß des Reiches zu den Einzelstaaten einheitlich nach logischen Regeln zu erklären und zu entwickeln. Der hier gegebene Begriff des Bundesstaates ist sehr abwei- chend von der in der Theorie herrschenden Definition. Die Ge- gensätze bestehen in folgenden Punkten: 1) Nach der von Waitz aufgestellten Begriffsbestimmung, die bis in die neueste Zeit die fast ausschließliche und unbestrittene Herrschaft behauptete Ueber die Dogmengeschichte des Bundesstaatsbegriffes vgl. Brie der Bundesstaat I. Abtheilung. Leipzig 1874. , besteht das Wesen des Bundesstaates in der Theilung der Souveränetät. Auf gewissen Gebieten des staatlichen Lebens sei der Gesammtstaat, auf gewissen anderen Gebieten der Einzelstaat souverän; Gesammtstaat sowohl wie Einzelstaat seien wirkliche Staaten und es sei für jeden Staat das erste Erforderniß, daß er selbständig sei, unabhängig von jeder ihm selbst fremden Gewalt. „Nur da ist ein Bundesstaat vor- handen, wo die Souveränetät nicht dem einen und nicht dem andern sondern beiden, dem Gesammtstaat (der Centralgewalt) und dem Einzelstaat (der Einzelstaatsgewalt) jedem innerhalb seiner Sphäre zusteht.“ ( Waitz Polit. S. 166.) Versteht man unter der Souveränetät im staatsrechtlichen Sinne aber — wie dies allge- mein geschieht — die oberste, höchste, nur sich selbst bestimmende Macht, so schließt dieser Begriff das Merkmal der Unbeschränktheit logisch ein und folglich auch das Merkmal der Untheilbarkeit, denn eine getheilte Souveränetät wäre eine beschränkte Souveränetät, eine halbe Souveränetät v. Mohl Encycl. (2. Aufl.) S. 367 sagt zwar: „Es besteht für die Gliedstaaten keine beschränkte, sondern eine getheilte Souveräne- tät,“ aber er sagt nicht, wie man sich eine Theilung der Souveränetät ohne Beschränkung denken könne. Waitz S. 166 sagt: „Nur der Umfang nicht der Inhalt der Souveränetät ist beschränkt;“ aber er sagt nicht, wodurch sich eine Beschränkung des Umfangs von einer Beschränkung des Inhalts un- terscheide; eine Souveränetät von beschränktem Umfang hat doch auch einen beschränkten Inhalt. , die nicht, wie Heffter Völkerr. S. 19 sagt „beinahe ein Widerspruch,“ sondern eine vollkommene con- tradictio in adjecto ist. Bei allen Mängeln, welche den Ausfüh- rungen Seydel’s anhaften, ist es als ein Verdienst seiner Ab- handlung in der Zeitschrift für die gesammten Staatswissenschaften §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. Bd. 28 und der Einleitung zu seinem Commentar der Reichsverf. hervorzuheben, daß er gegen die Theilbarkeit der Souveränetät sich mit Entschiedenheit erklärt und auf den Widerspruch hingewiesen hat, der in fast allen neueren Darstellungen des Staatsrechts sich findet, daß einerseits die Einheit und Untheilbarkeit als zum Wesen der Staatsgewalt und andererseits die Theilung der Staatsgewalt als zum Wesen des Bundesstaats gehörig bezeichnet wird. Auch Held Verf. des Deutschen Reichs. Leipzig 1872 S. 19. 22 ff. Vgl. Held System des Verfassungsrechtes I. 392 fg. und dazu Brie 145. erklärt „eine Theilung der Souveränetät nach Inhalt und Innehabung für eine absolute Unmöglichkeit . Denn schon der Versuch dazu müßte die Folge haben, daß jeder Theil und sein Inhaber sich in jedem Falle einer Collision mit einem andern Theil und dessen Inhaber als solchem, entweder über diesen stellte und dessen Souveränetät aufhöbe, oder unter denselben ge- riethe und sonach seine eigene Souveränetät verlöre.“ Es ist in der That eine Chimäre, die staatlichen Aufgaben dergestalt in zwei Theile zerlegen zu wollen, daß auf jedem dieser beiden Theile eine gesonderte Staatsgewalt unabhängig von der andern herrsche. Das Gesammtleben der Nation läßt sich so wenig auseinanderreißen, wie das Leben des Menschen; alle Aufgaben und Zwecke des Staates und demgemäß alle Einrichtungen und Herrschaftsrechte des Staates stehen in Wechselwirkung und be- stimmen sich gegenseitig. Keine Seite des staatlichen Lebens läßt sich isoliren und ohne Rücksicht auf die gesammte Ordnung des Staates für sich verfolgen. Es erhebt sich daher sofort die Frage, ob die Einzelstaatsgewalt bei der Durchführung der ihr verbliebe- nen staatlichen Aufgaben sich innerhalb der von der Gesammt- staatsgewalt aufgestellten Normen halten muß, oder ob um- gekehrt die in den Einzelstaaten bestehenden Normen eine Schranke bilden für die Ausübung der Centralstaatsgewalt. Findet die Einzelstaatsgewalt an den von der Centralgewalt aufgestellten Normen eine Schranke, welche ihr von Außen, von einem ihr frem- den Willen gesetzt ist, so ist damit ihre Souveränetät verneint; sie ist dann auch auf dem ihr verbliebenen Felde staatlicher Thä- tigkeit nicht mehr souverän, da sie auch auf diesem Gebiete un- mittelbar oder mittelbar die Einwirkungen der Centralgewalt ver- spürt und sich ihnen zu fügen, rechtlich verbunden ist Sehr gut äußert sich darüber v. Held 163. . §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. Ebenso ist es eine Chimäre, die Competenz der Gesammt- staatsgewalt in der Art von der Competenz der Einzelstaatsgewalt abgränzen zu wollen, daß kein Gebiet übrig bleibt, für welches es zweifelhaft ist, welcher Staatsgewalt die Competenz zusteht, und daß die Abgränzung für alle Zeit unabänderlich dieselbe bleibt. Es entsteht also auch hier die Frage, wer hat den Zweifel über die Competenzgränze zu entscheiden, die Centralgewalt oder der Einzelstaat, und wer hat über eine Veränderung der Competenz zu befinden. Weisen die Einzelstaaten durch ihren Willen dem Bunde die Gränzen seiner staatlichen Befugnisse zu oder empfan- gen sie umgekehrt von der Centralgewalt die rechtliche Begränzung ihrer Willenssphäre? Nur eins von beiden ist möglich und die Beantwortung der Frage enthält zugleich die Entscheidung, wer souverän ist, die Centralgewalt oder der Einzelstaat. Vollkommen treffend sagt Hänel S. 149: „In der Rechts- macht des Staates über seine Competenz liegt die oberste Bedin- gung der Selbstgenugsamkeit, der Kernpunkt seiner Souveränetät.“ In Anwendung auf das Reich kömmt Hänel S. 240 zu dem Schluß, daß das Reich ausschließlich souverän ist „denn mit der souveränen Bestimmung seiner eigenen Competenz bestimmt es in endgültiger entscheidender Weise über den Umfang der Compe- tenz der Einzelstaaten, die um deswillen souverän nicht sein können . Damit ist das Reich eine Potenz über den Einzelstaaten auch in der Rechtssphäre, welche nach Maßgabe der bestehenden Bestimmungen der Verfassung ihrer Selbständigkeit und ihrer Wirksamkeit nach der Weise von Staaten anheim fällt.“ Ebenso haben schon vorher aus demselben Grunde Auerbach S. 92 und Meyer Erörter. S. 82 den Einzelstaaten die Sou- veränetät abgesprochen Meyer nimmt zwar die Reservatrechte aus und erklärt hinsichtlich dieser die Einzelstaaten für souverän; indeß wird hier der Begriff der Souveränetät verwechselt mit der Zusicherung der Unentziehbarkeit eines Rechts. . In einer Theilung der Souveränetät ist daher das Wesen des Bundesstaates nicht zu sehen; die Souveränetät steht im Staa- tenbund ganz den Einzelstaaten, im Bundesstaat ganz dem Gesammtstaat zu. 2) Im Zusammenhange mit seiner Auffassung von dem We- sen des Bundesstaates fordert Waitz, daß die Bundesstaatsge- §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. walt ihre Herrschaftsrechte nicht durch Vermittlung der Einzelstaaten, sondern direct gegen die Untertha- nen ausübe ; er hält es daher für wesentlich für die Existenz eines Bundesstaates, daß die Bundesgewalt Gesetze mit unmittel- bar verpflichtender Kraft gebe und sie auch selbst ausführe Waitz Polit. S. 186 ff. vgl. Brie 110. . Er verlangt nicht nur eine directe staatsrechtliche Beziehung zwischen der Centralgewalt und den einzelnen Staatsbürgern, sondern er erklärt gradezu eine Unterordnung der Einzelstaaten unter den Gesammtstaat für grundsätzlich ausgeschlossen Vgl. auch H. Schulze Einleitung in das Deutsche Staatsr. 206. . „Ganz unrichtig“ ist nach Waitz S. 166 die Ansicht: Das Wesen des Bundesstaates sei, daß hier Staaten die Unterthanen seien und daß für die Re- gierungen der Gliedstaaten eine wahre Gehorsams- und Unter- thanenpflicht bestehe. Der Gesammtstaat selbst sei nur ein Staat wie die Einzelstaaten, freilich nicht räumlich, aber dem Begriff und Recht nach diesem nebengeordnet Waitz S. 213. Vgl. Brie 117. . Verwirft man die Theilung der Souveränetät, so fällt auch die Nebenordnung und Gleichberechtigung von Bundesstaatsgewalt und Einzelstaatsgewalt fort; im Bundesstaat sind die Einzelstaaten der Centralgewalt untergeordnet Richtig sagt schon Welcker , Wichtige Urkunden für den Rechts- zustand der Deutschen Nation 1844 S. 36: „Die Natur des Bundesstaates besteht darin, daß er seiner rechtlichen Wesenheit nach noch ein staatsrechtlicher Verein von Staaten, ein Staat in höherer Instanz oder ein Oberstaat ist .“ In diesem Sinne schreibt er den Gliedstaaten S. 38: „eine beschränkte, eine halbe Souveränetät“ d. h. gar keine Souveränetät zu. . Dies wird übrigens von vielen Staatsrechts-Lehrern, die im Uebrigen der Waitz’schen Auffassung folgen, anerkannt, wenngleich nicht immer mit derselben Bestimmtheit und ohne Aufklärung, wie sich die Souveränetät der Einzelstaaten mit ihrer Unterordnung verträgt Hierher gehören Zachariä, Pözl, Escher . Ferner Zöpfl, Meyer, v. Mohl . Nachweisungen giebt Brie I. S. 133 Note 60. 134 Note 70. 136 fg. 143 Note 118. 144 Note 122. 163 Note 18. Am bestimmte- sten äußert sich Stahl in seiner Abhandlung über „Die Deutsche Reichsver- fassung.“ Berlin 1849 S. 78: „Im Bundesstaat ist die Souveränetät bei der Centralgewalt, diese ist daher eine obrigkeitliche Gewalt über die . §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. Dagegen wird mit um so größerer Einmüthigkeit als wesent- lich für den Bundesstaatsbegriff das Erforderniß aufgestellt, daß die obrigkeitlichen Hoheitsrechte der Centralgewalt unmittelbar gegen die einzelnen Bürger gerichtet seien, nicht gegen die Glied- staaten und durch deren Vermittlung gegen die Individuen. v. Gerber S. 24 Note 3 definirt den Bundesstaat als „eine zwar auf einen gewissen Kreis beschränkte, innerhalb desselben aber wirkliche Staatsgewalt mit unmittelbarer Beherrschung des Volks.“ v. Martitz beginnt seine „Betrachtungen über die Ver- fassung des Norddeutschen Bundes“ mit der Bemerkung, daß, wie man auch über den begrifflichen Unterschied des Staatenbundes vom Bundesstaate denken möge, man unzweifelhaft das we- sentliche Moment desselben immer nur in der Art der Wirksam- keit suchen müsse, welche die Bundesgewalt zugewiesen erhält, worunter er die unmittelbare Ausübung der Hoheitsrechte meint. G. Meyer Staatsr. Erörter. S. 13, welcher die Lehre von der Theilung der Souveränetät verwirft, sagt: „Man muß jedes Bundesverhältniß, in welchem die Bundesgewalt nur eine Herrschaft über die Staatsgewalten der Einzelstaaten ausübt, als Staatenbund (!), ein solches, in welchem sie unmittelbar über die Staatsangehörigen herrscht, als Bundesstaat bezeichnen.“ H. Schulze Einleitung S. 432, und die Mehrzahl der Schriftsteller über die Verfassung des Norddeutschen Bundes und Deutschen Reiches schreiben dem Norddeutschen Bunde grade des- halb den Charakter des Bundesstaates zu, „weil die Bundesgewalt innerhalb ihrer Sphäre keineswegs blos auf die Vermittelung der Einzelstaaten, auf die Re- quisition der Einzelregierungen angewiesen ist, sondern weil sie sich an die einzelnen Bürger wendet, unmittelbar ein- greift und durch ihre eigenen Organe verwaltet Ganz in derselben Weise erklärt Zachariä „die Verf.-Aender. nach Art. 78“ S. 19 den Nordd. Bund, „trotzdem er nicht vollständig und nicht rein die Prinzipien des Bundesstaats verwirklicht,“ deshalb für einen Bundesstaat, weil er die Befugniß hat, für die Glieder (Individuen) unmittelbar verbind- liches Recht zu schaffen. .“ Unter den Anhängern der herrschenden Theorie vom Bundes- Einzelstaaten und deren Regierungen, wenn diesen auch eine große Sphäre der Selbstständigkeit belassen ist.“ §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. staat sind v. Mohl Encycl. der Staatsw. 376 Note 9 (2. Aufl.) Reichsstaatsr. S. 29 Note 1. und v. Holtzendorff Encycl. der Rechtsw. (2. Aufl.) I. 792. Vgl. Brie 174. die einzigen, welche die unmittelbare Herrschaft der Centralgewalt über die ein- zelnen Staatsangehörigen für nicht wesentlich und charakteri- stisch für den Bundesstaatsbegriff erklären. Man muß aber noch einen Schritt weiter gehen als diese Schriftsteller. Grade das ist wesentlich für den Begriff des Staa- tenstaats oder zusammengesetzten Staates und folglich auch für den Bundesstaat, der nur eine Art desselben ist, daß sich die Central- gewalt zum Zweck der Erreichung der staatlichen Aufgaben der Gliedstaaten bedient. Es ist begreiflich, daß man den Bundesstaat vollkommen nach dem Muster des Einheitsstaates organisirt sich denkt, wenn man von der Theilung der Souveränetät ausgeht und sowohl den Bundesstaat als den Einheitsstaat als einen partiellen Staat charakterisirt. Im Gegensatz zum Staatenbund fordert man dann für den Bundesstaat unmittelbare Vollstreckung der Herrschaftsrechte. Erblickt man aber in dem Bundesstaat einen Staat über den Einzelstaaten, ein souveränes politisches Gemeinwesen, welchem die Totalität der staatlichen Aufgaben seinem idealen Zwecke gemäß obliegt, und der sich zur Durchführung dieser Aufgaben der Glied- staaten bedient, so erlangt für die Begriffsbestimmung nicht die Aehnlichkeit des Bundesstaats mit dem Einheitsstaat, sondern die Verschiedenheit die wesentliche Bedeutung. Gegen den Staatenbund hin ist der Begriff des Bundesstaates hinlänglich ab- gegränzt dadurch, daß der letztere eben ein Staat d. h. ein Rechts- subject ist, der Staatenbund ein völkerrechtliches Gesellschaftsver- hältniß; gegen den Einheitsstaat unterscheidet er sich dadurch, daß er zwischen sich und den einzelnen Angehörigen noch Staaten hat, die ihm subordinirt sind. Die Gesetzgebung des Nordd. Bundes und des deutschen Rei- ches giebt zahlreiche Beispiele von der Ausübung staatlicher Herr- schafts-Rechte Seitens der Bundesgewalt gegen die Einzel- staaten . Das Verbot, die Freizügigkeit zu beschränken im Art. 3 Abs. 2 der Verf., das Verbot, Eingangs- Durchgangs- oder Ausgangszölle zu erheben, im Art. 33 Abs. 2. Art. 35 der Verf. §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. und im Zollgesetz, das Verbot der Doppelbesteuerung, der Erhebung von Abgaben von der Flößerei, der Gestattung von öffentlichen Spielbanken, der Emission von Papiergeld u. s. w. richten sich ganz direct und zweifellos gegen die Staaten. Aber so lange die Einzelstaaten die Gerichtsgewalt als ein selbstständiges Recht haben, ist auch das Strafgesetzbuch eine Norm, welche das Reich den Ein- zelstaaten setzt, wie die Einzelstaaten mittelst ihrer Gerichts- behörden die Strafjustiz wahrzunehmen haben, und ebenso lange ist eine Reichsprozeß-Ordnung eine Norm für die Einzelstaaten, wie sie durch ihre Gerichte für die Entscheidung von Rechtsstrei- tigkeiten Sorge zu tragen haben Auch das Verbot der Schuldhaft, der Beschlagnahme von Arbeitslöh- nen, das Rechtshülfe-Gesetz, die Gewerbe-Ordnung, das Gesetz über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit und zahlreiche andere Gesetze sind ganz oder theilweise Rechtsnormen für die Staaten . . Daß diese Reichsgesetze Seitens der Einzelstaaten nicht besonders verkündet zu werden brauchen und daß kein Einzelstaat befugt ist, mit rechtl. Wirksamkeit An- ordnungen zu treffen, welche den Reichsgesetzen widersprechen, steht in keiner Weise dem Satze entgegen, daß die Reichsgesetze ihrem Inhalte nach zum großen Theil Rechtsnormen sind, welche die Lebensthätigkeit der Einzelstaaten, ihre Befugnisse, Rechte und Pflichten, regeln. Dem Reiche gegenüber stehen die Staaten dafür ein, daß die Reichsgesetze innerhalb des Staatsgebietes von den Verwaltungs- Behörden und Gerichten befolgt und durchgeführt werden; eine unmittelbare Abhängigkeit der Behörden von der Centralgewalt des Reiches besteht in der Regel nicht, auch auf den von der Gesetz- gebung des Reiches beherrschten Gebieten nicht. Werden Reichs- gesetze in einem Bundesstaat verletzt, so kann das Reich der Regel nach keine unmittelbare Remedur eintreten lassen, sondern es kann nur den Staat anhalten, das Reichsgesetz zu beachten oder zu vollziehen. Dem Staat gegenüber macht das Reich sein obrigkeit- liches Herrschaftsrecht geltend, und wenn es zur zwangsweisen Durchführung kommt, wird die Execution gegen den widerspenstigen Staat vollstreckt. Von derselben betroffen werden alle Mitglieder desselben, schuldige und unschuldige, ohne Rücksicht darauf, ob sie gerade an der Verletzung der Reichsgesetze Theil genommen §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. haben oder nicht. Sie werden von der Execution des Reiches be- troffen, weil sie Mitglieder des Staates sind, der seine Bundes- pflichten nicht erfüllt, und weil das Reich seine Herrschaftsrechte gegen diesen Staat znr Geltung bringt. Bei einem Bundesstaat nach der herrschenden Begriffsbestimmung wäre für eine Bundes- execution gar kein Raum, denn wenn Bundesstaat und Einzelstaaten ganz getrennte Sphären haben, partielle Staaten sind, die neben einander bestehen und ihre Aufgaben mit eigenen Mitteln ver- wirklichen, so müßte es ja an einem Gebiete fehlen, auf welchem der Bundesstaat den Einzelstaat zur Pflichterfüllung anhalten könnte. Allerdings binden die Reichsgesetze nicht nur die Staaten als solche, sondern auch deren Angehörige, ohne daß es einer Pu- blikation der Gesetze von Seiten der Einzelstaaten bedarf. Es ist aber nicht zuzugeben, daß hieraus eine unmittelbar Unterordnung der Bevölkerung unter die Reichsgewalt in der Art folgt, daß die einzelnen Individuen auf den der Reichsgesetzgebung unterstellten Gebieten von dem Einzelstaat emancipirt seien. Diese Vorstellung ist wohl im Wesentlichen verschuldet durch die doctrinäre Gegen- überstellung von Staatenbund und Bundesstaat. Im Staatenbund kann von einer gesetzgebenden Gewalt des Vereins keine Rede sein; Gesetze können nur die einzelnen Staaten geben; der Bund kann nur die Grundsätze feststellen, welche die einzelnen Staaten hierbei befolgen sollen. Wenn auch ein Bundesbeschluß als Gesetz bezeichnet wird, er ist niemals etwas Anderes als eine Vereinbarung über eine zu veranstaltende Gesetzgebung. Erst die Verkündigung als Landesgesetz und sie allein ist wirkliche Gesetzgebung. Im Bundesstaat ist der Erlaß eines Bundesgesetzes kein bloßes Gebot an die Einzelstaaten, daß sie bestimmte Rechtsnormen er- lassen sollen, obwohl dies begrifflich wohl auch zulässig wäre, sondern in der Regel die Sanction eines Rechtssatzes selbst. Dieser Rechtssatz bindet nicht bloß die Staaten als solche, sondern auch die Individuen, welche den Einzelstaaten angehören, und zwar gerade darum, weil sie ihnen angehören. Er gilt nicht blos für die Staaten, sondern auch in den Staaten, weil die Staaten mit Land und Leuten der Centralgewalt unterworfen sind. Das Bun- desgesetz bildet einen Theil der Rechtsordnung nicht bloß des Ganzen, sondern auch seiner Bestandtheile, nämlich der Einzel- §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. staaten Dies ist wol auch die Auffassung Welcker’s a. a. O. S. 37. . Eine Verkündigung der Reichsgesetze Seitens der Ein- zelstaaten wäre im Bundesstaate widersinnig, wofern man unter der Verkündigung nicht etwa bloß eine Bekanntmachung, sondern die Erklärung der Sanction versteht. Denn ein Gesetz kann nicht von demjenigen verkündigt werden, dem es gegeben ist. Eine Verkündigung der Bundesstaats-Gesetze Seitens der Einzelstaaten hätte nicht mehr Sinn, als wenn die einzelnen Gemeinden ihren Mitgliedern, die einzelnen Bürger sich selbst, ihren Familienge- nossen, Gewerbegehülfen u. s. w. die Staatsgesetze und obrigkeit- lichen Verordnungen verkündigen wollten. Ganz richtig ist es daher, daß im Bundesstaat das Bundes- gesetz direct und unmittelbar die Angehörigen der Einzelstaaten bindet; ganz unrichtig ist es aber hieraus zu folgern, daß die Angehörigen der Einzelstaaten, losgelöst von der Staatsgewalt der letzteren, der Reichsgewalt unmittelbar unterworfen seien. In Beziehung auf die Verwaltung und auf die Vollziehung der Gesetze unterscheidet sich der Bundesstaat vom Staatenbunde sehr bestimmt dadurch, daß der letztere eine eigene Verwaltung und Gesetzesvollziehung gar nicht haben kann, während der Bun- desstaat dazu befähigt ist. Aber es ist nicht nothwendig, daß er von dieser Befähigung überall und in allen Richtungen Gebrauch macht; er hat vielmehr die Wahl, ob er selbst für die Durchfüh- rung der Gesetze und die Verwaltung sorgen oder ob er dieselbe den Einzelstaaten überlassen oder übertragen will. Der eigentliche Beweis für die Richtigkeit der Ansicht, daß sich die Reichsgewalt regelmäßig an die Einzelstaaten wendet und durch deren Vermittlung Land und Leute beherrscht, wird durch die gesammte folgende Darstellung erbracht werden. 3) Es ist endlich als ein begriffliches Erforderniß des Bun- desstaates von Waitz und zahlreichen Anhängern seiner Theorie hingestellt worden, daß die Einzelstaaten von der Leitung der Ge- sammt-Angelegenheiten ausgeschlossen seien, daß die Regierung in keiner Weise in Abhängigkeit von den Einzelstaaten stehe. „Da- rum sei jede Delegation durch diese unbedingt ausgeschlossen; weder die Regierungen der Einzelstaaten noch ihre Volksvertretungen können das Organ bestellen, welches die Leitung der für die Ge- Laband , Reichsstaatsrecht. I. 6 §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. sammtheit der Nation gemeinsamen Angelegenheiten besorgen soll, auf welche die Einzelstaaten ihre Einwirkung gar nicht zu erstrecken haben.“ Ein durch die Einzelstaaten bestelltes Collegium von Bevoll- mächtigten, wie es den Staatenbund charakterisirt, hält Waitz für allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesstaat aus- zuschließen Politik S. 173 fg. . Das gerade Gegentheil hievon ist richtig. Da die norddeutsche Bundesverfassung diesem Erforderniß des doctrinären Bundesstaats- begriffs durch die Institution des Bundesrathes direct widersprach, so haben sehr zahlreiche Schriftsteller, welche trotzdem den Nordd. Bund als wirklichen Bundesstaat charakterisirten, dieses Erforder- niß für kein wesentliches erachtet, es gleichsam von einem Essen- tiale zu einem Naturale degradirt, so daß es aus historisch-poli- tischen Zweckmäßigkeitsgründen abgeändert werden könne, oder sie haben die Organisation der Bundesgewalt für begrifflich gleichgültig erklärt Nachweisungen aus der Literatur in großer Zahl bei Brie S. 175 ff. . Dies ist eine halbe Wahrheit, eine Verwechslung der species mit dem genus , des Bundesstaates mit dem zusammen- gesetzten Staat. Der zusammengesetzte Staat oder Staatenstaat verlangt eine Staatsgewalt, welche über den Einzelstaatsgewalten steht und solglich begrifflich von den letzeren verschieden ist. Sowie aber im Einheitsstaat die Souveränetät nicht immer den gleichen Träger hat, sondern bald der Gesammtheit der Bürger bald einer einzel- nen physischen Person zustehen kann und man darnach die Demo- kratie, die Monarchie u. s. w. unterscheidet, so kann auch die Staatsgewalt im Staatenstaat der Gesammtheit der Mitgliedsstaaten oder Einem von ihnen, (von andern denkbaren, aber nicht prak- tischen Möglichkeiten abgesehen) zustehen. Von einem Bunde spricht man nur im ersten Falle. Es gibt kein einziges Beispiel eines zusammengesetzten Staatswesens, welches man als Bund oder Bundesstaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht den Einzelstaaten ein Antheil an dem Zustandekommen und der Bethätigung des Gesammtstaats-Willens zugestanden hätte Vgl. oben S. 72. Auch in der Schweizer-Verf. v. 1848, auf welche man sich gewöhnlich für die entgegengesetzte Ansicht beruft, sind die Kantone . Richtig ist daher, daß §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. für das genus, den zusammengesetzten Staat, eine bestimmte Or- ganisation kein begriffliches Erforderniß ist; dagegen die species , der Bundesstaat, wird gerade durch eine gewisse Form dieser Or- ganisation, nämlich durch die Betheiligung der Einzelstaaten an der Herstellung des Gesammtwillens, begrifflich bestimmt Welcker, a. a. O., welcher Bundesstaat und zusammengesetzten Staat identifizirt, erachtet S. 41. 42 einen Bundesrath oder einen Senat zwar für erforderlich, aber mehr aus politischen, als begrifflichen Gründen. . 4) Im Widerspruch mit der herrschenden Theorie hat Hänel Studien I S. 63 fg. eine neue Begriffsbestimmung des Bundes- staates gegeben. Er erklärt sich gegen die Theilung der Souve- ränetät, gegen die mechanische Zerreißung der staatlichen Aufgaben durch eine Competenzlinie, auf deren einer Seite die Bundesgewalt auf deren anderer Seite die Einzelstaatsgewalt herrsche, als gingen sie sich einander nichts an Rüttimann Nordamerik. Bundesstaatsr. I. § 54 S. 49 drückt die herrschende Vorstellung am schärfsten aus, in dem er sagt: „Jeder Theil bewegt sich in der ihm zugewiesenen Sphäre mit der gleichen Freiheit, wie wenn der andere Theil gar nicht vorhanden wäre.“ (!) . Den Begriff des Staates findet er „weder in dem Bundesstaat noch in dem Einzelstaat noch gleich- zeitig in beiden in ihrer Sonderstellung betrachtet, sondern nur in dem organischen Miteinander und dem planmäßigen Zusammenwirken beider.“ „Nicht der Einzelstaat, nicht der Ge- sammtstaat sind Staaten schlechthin, sie sind nur nach der Weise von Staaten organisirte und handelnde politische Gemeinwesen. Staat schlechthin ist nur der Bundesstaat als die Totalität beider Eine ähnliche Auffassung entwickelt Fricker in der Tübinger Zeit- schrift für die gesammte Staatswiss. Bd. 28 S. 351 ff. .“ So richtig diese Auffassung ist, wenn man den Staat lediglich als objective Institution, als rechtliche Ordnung der Gesellschaft zur Erfüllung der Cultur-Aufgaben sich denkt, so wenig ist sie ausreichend als Prinzip für die juristische Entwicklung des Bundes- an der Bundesgewalt betheiltigt, indem nach Art. 69 der Ständerath aus 44 Abgeordneten der Kantone besteht, von denen jeder Kanton 2 Abgeordnete wählt und nach Art. 114 eine revidirte Bundesverf. Kraft erlangt, wenn sie nicht nur von der Mehrheit der stimmenden Schweizerbürger, sondern von der Mehrheit der Kantone angenommen ist. Desgl. nach der Verfassung der Vereinigten Staaten, Sect. 3 Art. 1, indem der Senat aus zwei Depu- tirten eines jeden Staates zusammengesetzt ist. 6* §. 8. Der Begriff des Bundesstaates. staatsrechts. Denn hiefür ist es vor Allem nothwendig den Staat als Subject von Rechten aufzufassen. Subjecte von Herrschafts- rechten, von obrigkeitlichen Befugnissen, sind sowohl der Bundes- staat als der Einzelstaat und für die Abgrenzung der beiderseitigen Rechtssphäre ist es daher unerläßlich sie einander gegenüber zu stellen . Da auch der Einzelstaat wichtige und umfassende staatliche Aufgaben zu erfüllen und zu diesem Zweck kraft eigenen Rechts obrigkeitliche Herrschaftsbefugnisse seinen Unterthanen und seinem Gebiete gegenüber hat, so sind allerdings beide, sowohl der Bundesstaat als der Einzelstaat, „in ihrer Sonderstellung betrachtet,“ Staaten; nur daß die Einzelstaaten nicht sou- verain, sondern dem Bundesstaat unterworfen sind. Wenn man dagegen beide zusammen nur als den Staat gelten lassen will, wenn man im Bundesstaat einen Gesammtorganismus erblickt, in welchem bestimmte Funktionen den Einzelstaaten zuge- wiesen sind, so geht der begriffliche Unterschied zwischen dem Bundesstaat und dem dezentralisirten Einheitsstaat verloren und es erscheinen die Einzelstaaten als Einrichtungen des Bun- desstaats, als Theile seiner Organisation. Der Staat als An- stalt zu Erfüllung des gesammten Inbegriffs seiner Kultur-Auf- gaben ist auch durch das Zusammenwirken von Bundesstaat und Einzelstaat noch nicht vollkommen gegeben; auch Kreise und Ge- meinden, und andere Selbstverwaltungskörper aller Art sind wesentliche Bestandtheile des Gesammtorganismus, sind „Glieder des Ganzen.“ Zum „Staat schlechthin“ gehören auch sie. Das Wesen des Bundesstaats aber beruht grade darauf, daß er Glie- der mit individueller staatlicher Sonderexistenz voraussetzt. Hänel verkennt den wahren Sachverhalt auch nicht; denn er bezeichnet S. 66 als das Unterscheidungsmerkmal des Bundes- staates vom Einheitsstaate eine so lose Gliederung des Ganzen „daß die Einzelstaaten, den Begriff der Selbstverwaltung durchbrechend, nach der Weise eines Staates d. h. zu eigenem Rechte und nach eigenen Gesetzen staatliche Aufgaben vollziehen.“ Wenn die Einzelstaaten aber nach der Weise eines Staates staatliche Aufgaben vollziehen, so ist kein Grund vorhanden, sich gegen ihre Anerkennung als Staaten zu sträuben. Bei einer politischen Würdigung des Bundesstaates als Form der gesell- §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. schaftlichen Organisation ist es genügend, die Einzelstaaten als Gliederungen des Gesammt-Organismus anzusehen; für die recht- lichen Beziehungen ist es erforderlich Bundesstaat und Einzel- staat als Subjecte von staatlichen Rechten und Pflichten aufzu- fassen. Bei der von Hänel gegebenen Begriffsbestimmung tritt es aber insbesondere nicht hervor, daß die dem Bundesstaat zu- kommenden Hoheitsrechte grade den Einzelstaaten gegenüber wirk- sam werden, daß die Bundesstaatsgewalt die Einzelstaaten, die- selben als Personen gedacht, beherrscht, ihnen Rechtsnormen giebt, welche ihr Handeln und Wirken rechtlich bestimmen, und regel- mäßig erst durch sie hindurch, also mittelbar, eine Beherrschung der einzelnen Staatsangehörigen bewirkt. Unter allen Schrift- stellern aber, welche bisher den Begriff des Bundesstaates festzu- stellen versucht haben, ist Hänel der hier vertretenen Ansicht am nächsten gekommen Neuerdings hat auch von Treitschke in einer Abhandlung in den Preuß. Jahrb. Novemb. 1874 (Bd. 34 S. 513) sich von der herrschenden Ansicht über den Begriff des Bundesstaates losgesagt und anerkannt, daß die Souveränetät allein und ungetheilt dem Gesammtstaat, nicht den Gliedstaaten zusteht. Seine Ausführungen, die übrigens mehr auf historischen und politi- schen Erwägungen, als auf juristischen Deduktionen beruhen, beziehen sich aber vorzugsweise auf den Nordamerikanischen und Schweizerischen Bundesstaat. Für Deutschland versucht v. Treitschke den Begriff des Reiches im Gegensatz zum Bundesstaat zu construiren und diesen Gegensatz findet er in der prä- valirenden Macht Preußens und der monarchischen Spitze des Reiches in dem Könige von Preußen als Kaiser. So wenig verkannt werden kann, von wie überaus großer Bedeutung diese Thatsachen in politischer Hinsicht sind und dem Deutschen Reiche für alle seine Lebensfunktionen einen Charakter aufprägen, der von der Vereinigung der Nordamerikanischen Staaten und Schweizerischen Kantone weit verschieden ist, so ist doch für die staatsrechtliche Betrachtung festzuhalten, daß der Kaiser nicht Souverän, nicht Monarch des Reiches ist. . Drittes Kapitel. Das Verhältniß des Reiches zu den Einzelstaaten. §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Wenn man von dem Grundsatz ausgeht, daß der Staat eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist, so kann die Frage, §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. wer das Subject der Staatsgewalt ist, gar nicht anders beant- wortet werden, als: der Staat selbst . Alles, was man für die juristische Construction und wissenschaftliche Durchbildung des Staatsrechts durch die Personifikation des Staates gewinnt, opfert man sofort wieder auf, wenn man den Monarchen oder das Volk oder wen sonst für das Subject der Staatsgewalt, für den eigent- lichen Souverän erklärt. Denn man entzieht dadurch dem Staat eben das, was ihn im Rechtssinn zur Person macht, nämlich die Eigenschaft Subject von Rechten zu sein, man macht ihn zum Object eines fremden Rechts So sagt z. B. Seydel Comment. S. 99. „Der Staat ist der Gegen- stand der Souveränetät.“ oder löst ihn auf in ein Aggregat von Befugnissen eines Menschen oder einer Vielheit von Menschen. Man braucht nur an die juristischen Personen des Privatrechts sich zu erinnern, um sofort zu begreifen, daß, wenn man nicht die Privatrechts-Person selbst als das Subject ihrer Vermögens- rechte ansieht, sondern etwa ihren Vorstand oder ihre General- versammlung, oder die Destinatäre, denen das Vermögen zu Gute kommt, man die Annahme der juristischen Person wieder aufhebt, eine selbstständige, durch logische Abstraction erkannte Persönlich- keit nicht mehr übrig bleibt. Ebenso verschwindet die Persönlich- keit des Staates als das Subject von obrigkeitlichen Herrschafts- rechten, wenn man den Inbegriff aller dieser Rechte, die Staats- gewalt, nicht dem Staate, dem „organischen Gemeinwesen“ selbst, sondern dem Fürsten oder dem Parlament oder beiden zusammen oder sonst einem, von dem Staate selbst begrifflich verschiedenen Subjecte beilegt Für die Begründung der Staatssouveränetät in dem entwickelten Sinne sind zu vgl. Zachariä Deutsch. Staatsr. I. § 18. Schulze Einleitung in das Deutsche Staatsr. § 49. 53. Bluntschli Allgem. Staatsr. II. S. 10 fg. v. Mohl Encyclopäd. (2. Aufl.) S. 116 u. besonders v. Gerber Grundzüge § 7 Note 1 und S. 219 ff. (Beilage II. ) Abweichender Ansicht ist namentlich Zöpfl I. § 54. . Wendet man dieses allgemeine Prinzip auf das Deutsche Reich an, so ergiebt sich, daß das Subject der Reichsge- walt nur das Reich selbst sein kann als selbststän- dige ideale Persönlichkeit, deren Grundlage die Gesammtheit der Deutschen Einzelstaaten ist So v. Gerber S. 244. Nur nimmt er, seinem Begriffe des Bundes- . §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Im Gegensatz dazu hat sich die Anschauung geltend gemacht, daß den einzelnen Deutschen Staaten als staatsrechtliche Sozietät verbunden gedacht, die Reichsgewalt zusteht. Zu gemeinschaftlicher Ausübung bestimmter, den einzelnen Staaten in ihrem Gebiete zustehender Befugnisse seien sie einen Bund eingegangen und die Reichsgewalt stehe ihnen daher gemeinschaftlich zu nach Art des Condominium pro indiviso oder der Ganerbschaft So namentlich Seydel Commentar S. 89, der die Bildung des Reiches mit der Zusammenlegung mehrerer, verschiedenen Personen gehörigen Grundstücken zu einem einzigen Weidebezirk vergleicht. . Diese Theorie leugnet überhaupt den staatlichen Charakter des Reiches und die Selbstständigkeit der dem Reiche zustehenden Hoheitsrechte. Für die Einzelstaaten ist sie nur scheinbar günstiger, denn die Rechte der Einzelstaaten sind ihrem Inhalte nach keine größeren, wenn man die Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen So- zietät oder wenn man sie als Mitglieder einer juristischen Per- son denkt. Jede juristische Person ist nun aber an sich willens- und handlungsunfähig; sie bedarf eines Vertreters, sie bedarf willens- und handlungsfähiger Organe, deren Willensakte und Rechtshand- lungen als Wille und Rechtshandlungen der Person gelten. Dies gilt auch vom Staat und folglich auch vom Reich. Dadurch ergiebt sich die Nothwendigkeit eines Trägers der staatlichen Ge- walt, der an und für sich (von Natur) willens- und handlungs- fähig ist. Auch dieser Träger der Staatsgewalt wird „Souverän“ genannt, indem er die dem Staat als gedachte Person zustehende rechtliche Macht verwirklicht. Nach den, für unsere Kulturperiode allein in Betracht kommenden Staatsformen kann dieser Träger der Staatsgewalt entweder ein Einzelner, ein Monarch sein, oder die Gesammtheit aller Mitglieder des Staates. Im Deutschen Reich ist das letztere Prinzip adoptirt. Das staates gemäß, als Grundlage „das in den Einzelstaaten gruppirte (Nord)- Deutsche Volk an.“ Nach unserer Auffassung ist das deutsche Volk allerdings das letzte natürliche Substrat, jedoch zunächst und unmittelbar nur für die Einzelstaaten und erst diese, als öffentlichrechtliche Personen sind das Substrat des Reiches. An v. Gerber schließt sich fast wörtlich an v. Rönne S. 29, jedoch mit dem komischen Mißverständniß, daß er die Einzelstaaten des Reiches „als natürliche Grundlage des Deutschen Volkes“ (!) erklärt. Vgl. ferner v. Held Verf. des d. Reichs 89 Nr. 50. §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Deutsche Reich ist keine Monarchie, sondern — wenn man den Ausdruck auf eine Vielheit juristischer Personen anwenden könnte — eine Demokratie. Das heißt: Träger der Souve- ränetät des Reiches sind die sämmtlichen Mitglieder des Reiches, nicht der Kaiser Fürst Bismarck : „Die Souveränetät ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei der Gesammtheit der verbündeten Regierungen“ (Stenogr. Bericht d. Reichst. I. Sitzungsper. 1871 S. 299.) In der Literatur herrscht darüber volles Einverständniß, daß der Kaiser nicht Souverän des Reiches ist. Trotz- dem beruht nach v. Rönne S. 29 Note 4 die Deutsche Reichsverfassung „auf dem sogen. monarchischen Prinzip in der richtigen (!) Auffassung dieses Ausdruckes.“ Auch v. Treitschke a. a. O. S. 538 schreibt dem Kaiser „eine wirkliche monarchische Gewalt“ zu; „sie zeigt sich formell in der Kriegs- herrlichkeit und der Vertretung des Reichs nach Außen, thatsächlich in der Leitung der gesammten Reichspolitik.“ Richtig Grotefend Staatsr. § 751; jedoch erklärt derselbe im § 767 den Bundesrath (!) als das Subject der souveränen Macht des Bundes. . Hier zeigt es sich zunächst von Wichtigkeit, den Begriff des Bundesstaates fest und ohne Schwanken im Auge zu behalten. Mitglieder des Reiches sind nicht die einzelnen Bürger und sie sind auch nicht zusammengenommen Träger der Reichsgewalt; Mit- glieder des Reiches sind vielmehr die einzelnen Staaten und sie sämmtlich sind an der Reichsgewalt mitbetheiligt, grade so wie in der Demokratie die vollberechtigten Staatsbürger an der Staatsgewalt. Das Deutsche Reich ist nicht eine juristische Per- son von 40 Millionen Mitgliedern, sondern von 25 Mitgliedern Reichsverf. Art. 6 zählt die „Mitglieder des Bundes“ auf. Vgl. Art. 7. 19. 41 Abs. 1. . Da nun diese Mitglieder selbst wieder Staaten sind, so wie- derholt sich bei ihnen das, aus der Natur der juristischen Person sich ergebende, Gebot nach einer Vertretung Auf dem Gebiete des Privatrechts würde man ein vollständiges Ana- logon haben, wenn die Aktien eines bestimmten Aktienvereins im Besitz von lauter Aktienvereinen wären. . Mit Ausnahme der freien Städte sind alle Deutsche Staaten Monarchien; die Landesherrn sind daher die allein berechtigten Träger der Staats- gewalt und als solche üben sie auch die Mitgliedschaftsrechte im Deutschen Reich, den Antheil ihrer Staaten an der Reichsgewalt aus. In den freien Städten sind die freien Bürgerschaften, als §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Einheiten gedacht, das Subject der Staatsgewalt und als solche Mitglieder des Reiches Der Hamburger ist sowenig wie der Anhaltiner Reichsmitglied; die Hamburger Bürgerschaft ist es in derselben Weise wie der Fürst von Anhalt. . In diesem Sinne kann man daher sagen, daß die Deut- schen Fürsten und freien Städte in ihrer Gesammt- heit die Träger oder Inhaber der Reichssouveränetät sind So v. Martitz 45 ff. G. Meyer Nordd. Bundesr. 60 (vgl. dessen Er- örterungen S. 43.). Grotefend § 751 S. 785. . Der Ausdruck kann aber zu einer mißverständlichen Auffassung führen Thudichum Verf.-R. des Nordd. B. S. 60 Note 1 spricht dieses Mißverständniß ausdrücklich aus, indem er sagt, daß unter den Bundesglie- dern oder Mitgliedern des Bundes nicht die Bundesstaaten, sondern die Bundesfürsten und die Senate der 3 Hansestädte zu verstehen seien. (Vgl. jedoch denselben im Jahrb. I. S. 21 Note 3). Ebenso sagt Meyer S. 65 Note 1, die preuß. Vertreter im Bundesrathe seien „keine Vertreter des Staates Preußen, sondern des Königs von Preußen“ (!). Auch Seydel S. 15 u. 97 verwerthet dieses Mißverständniß zu Schlußfolgerungen. Richtig und treffend v. Held S. 103. 104. . Denn die Deutschen Fürsten sind nicht für ihre Person, sondern nur als Oberhäupter und Vertreter ihrer Staaten Mit-Träger der Reichsgewalt. Wenn ein Deutscher Landesherr abdankt oder sonst in rechtlicher Weise die Vertretung seines Staa- tes verliert, so verliert er zugleich den Antheil an der Reichsge- walt; im Falle einer Regentschaft ist nicht der nominelle Monarch sondern der Regent Mitsouverän des Reiches. Es kann im Deut- schen Reiche keine Personalisten geben Vgl. v. Mohl Reichsstaatsr. S. 10. . Das Deutsche Reich ist kein Fürstenbund, sondern ein aus den Deutschen Staaten ge- bildeter Staat. Daß nach dem Eingange der Verfassung die Fürsten den Bund geschlossen haben, ist ein Einwand, der kaum ernsthaft erhoben werden kann, denn bei Errichtung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches handelten die Deutschen Souveräne nicht als Privatpersonen, sondern als Staats- Oberhäupter und die Deutschen Staaten wurden, wie es in Mo- narchien nicht anders sein kann, durch ihre Landesherren vertreten. Sollte in irgend einem Deutschen Staate einmal eine Aenderung der Verfassungsform eintreten, so bleibt der Staat mitberechtigt an der Reichsgewalt, wenngleich er keinen Fürsten mehr hat, und §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. sollten zwei Deutsche Staaten in einer Personal-Union verbunden werden, so bleibt für jeden der Mitantheil an der Reichsgewalt gewahrt und unverändert, wenngleich sie beide nur einen Für- sten, d. h. einen identischen Vertreter, haben Daß Lauenburg im Bundesrathe keine Stimme führt, beruht nicht, wie Geo. Meyer Nordd. Bundesrecht S. 65 Note 1 und ihm fast wörtlich folgend v. Rönne 148 Note 2 irrthümlich meinen, darauf, daß die Preuß. Ver- treter im Bundesrath gleichzeitig auch Mandatare des Herzogs von Lauenburg sind, sondern auf einem davon durchweg verschiedenen Grunde. Siehe unten §. 28. . Aus dem Grundsatz, daß der Einzelstaat als Mitglied des Reichs mitberechtigt an der Reichsgewalt ist, ergiebt sich ferner, daß die Ausübung dieser Mitgliedschaft eine Lebensthätigkeit des Staates ist, die im innigsten Zusammenhange mit den übrigen Bethätigungen des staatlichen Lebens steht und daß der Landesherr bei der Ausübung dieser Seite des staatlichen Handelns keine andere Stellung hat, als sie ihm das öffentliche Recht seines Staates überhaupt anweist. Die Ausübung der Mitgliedschaft am Reich, die sich namentlich, wenngleich nicht ausschließlich, in der Instruction der Vertreter des Staates im Bundesrath bethätigt, kann daher nicht getrennt oder losgelöst werden von der Regierung des Staates; sie ist keine persönliche Prärogative des Landesherren, hinsichtlich deren er freier gestellt oder willkührlicher zu handeln befugt wäre, als sonst bei der Leitung der Regierungsgeschäfte. Die Instruction der Bundesrathsmitglieder gehört eben zu den Regie- rungsgeschäften des Einzelstaats und Alles, was staatsrechtlich oder factisch einen Einfluß hat auf das Zustandekommen des Staats- willens, hat diesen Einfluß auch hinsichtlich der Ausübung der Reichsmitgliedschaft. Der Landesherr muß sich daher der verfas- sungsmäßigen Behörden bedienen, welchen die Centralleitung der Regierungsgeschäfte des Landes obliegt, um die Mitgliedschaft am Reiche auszuüben, d. h. die Instruction der Bundesmitglieder muß entweder durch Vermittlung der Central-Staatsbehörde, des Staats-Ministeriums, erfolgen oder, falls der Landesherr direct und persönlich seine Vertreter am Bundesrath instruirt, so bedarf dies, wie jeder andere landesherrliche Regierungsact, zu seiner staatsrechtlichen Gültigkeit der Contrasignatur eines verantwort- lichen Ministers Vgl. Grotefend Staatsr. §. 754. Daß diese Contrasignatur durch die . Die herrschende Lehre von der völligen §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Trennung der bundesstaatlichen Sphäre von der einzelstaatlichen zeigt sich auch an diesem Punkte als verfehlt; die Einheitlichkeit des Staats und die Untheilbarkeit seines Willens bewährt sich für den Einzelstaat darin, daß die Führung der Landesregierung und die Ausübung des Antheils an der Reichsgewalt nicht aus- einandergerissen werden können, sondern sich gegenseitig bestimmen und zusammengenommen die volle Lebensthätigkeit des Staats darstellen. Eine wichtige staatsrechtliche Consequenz dieses Satzes besteht darin, daß die Regierung des Einzelstaates nach Maßgabe des Staatsrechts dieses Staates politisch und rechtlich verantwortlich bleibt für die Art und Weise, wie sie die Mitglied- schaft am Reich ausübt Am Bestimmtesten und ganz unzweideutig ist dies ausgesprochen wor- den von Fürst Bismarck im Verfassungberathenden Reichstage Sten. Ber. 393. 397. Vgl. ferner Lasker u. nochmals Fürst Bismarck im Reichstag v. 1867 Sten. Ber. 135. 137. Vgl. Hiersemenzel II. 293 fg. In der Litera- tur wird diese Verantwortlichkeit anerkannt von Hauser S. 35. v. Bezold im Jahrb. II. (1873) S. 334. Auerbach 102 Note. Grotefend §. 754 S. 788. v. Mohl S. 277 fg. Die entgegengesetzte Ansicht vertreten nament- lich Hänel S. 221; ferner v. Rönne Staatsr. d. Preuß. M. I. 2. S. 699 ff. (3. Aufl.) Meyer Grundz. 85. Thudichum 117. Riedel 26. . Man hat dies mehrfach mißverstanden und dann in Folge dieses Mißverständnisses den Rechtssatz selbst verworfen. Zunächst handelt es sich nicht, um die Rechtsgültigkeit der im Bundesrath abgegebenen Abstimmung. Der Landesherr ist nach dem Staatsrecht der Monarchie der alleinige und aus- schließlich befugte Vertreter des Staates Dritten gegenüber. Die gültige Abgabe einer Stimme im Bundesrath hat keine andere Voraussetzung, als die formell ordnungsmäßige Legitimation des Bevollmächtigten, welche demselben von dem Landesherrn bez. von dem Minister desselben ertheilt wird. Ganz unberührt von der ausschließlichen Befugniß des Landesherren, den Bevollmächtigten im Bundesrath zu ernennen und mit einer Legitimation zu ver- sehen, und von der rechtlichen Wirkung der von einem gehörig Reichsverfassung nicht vorgeschrieben ist, was Meyer Grundzüge S. 85 hervorhebt, ist gänzlich unerheblich. Ueber die Frage, ob die Instruction der Bundesraths-Bevollmächtigten von der Zustimmung der Landtage landes- gesetzlich abhängig gemacht werden darf, vgl. unten §. 28. §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. legitimirten Bevollmächtigten abgegebenen Stimme bleibt die Frage, nach welchen staatsrechtlichen Grundsätzen die Instruction des Bevollmächtigten zu beurtheilen ist Vgl. unten §. 28. . Die Verantwortlichkeit bezieht sich ferner nicht auf die Be- schlüsse des Bundesraths Auf diesem Mißverständniß beruhen die Ausführungen von Hierse- menzel II. 300, Meyer Grundzüge 85 ff., Thudichum Verf. der Nordd. B. S. 117 u. v. Treitschke in den Preuß. Jahrb. Bd. 34 S. 538. , noch viel weniger auf Reichsgesetze, bei denen der Bundesrath überdies durch die Zustimmung des Reichstages gedeckt ist. Der Einzelstaat steht unter dem Reich; weder hat die Einzelregierung den Beruf und die Verpflichtung die Regierungshandlungen des Reiches zu rechtfertigen und zu verantworten, noch hat der Einzellandtag die Berechtigung, eine solche Rechtfertigung und Verantwortung zu fordern. Eine par- lamentarische Verantwortlichkeit besteht für die Reichsregierung einzig und allein dem Reichstage gegenüber. Es handelt sich vielmehr lediglich um die Verantwortung für Regierungshandlungen des Einzelstaates , d. h. um die Verantwortung für die Instructions-Ertheilung an die Vertreter des Staates im Bundesrath, resp. für die Unterlassung einer In- structions-Ertheilung, wo eine solche durch das Interesse des Ein- zelstaates geboten gewesen wäre. Ob eine derartige Regierungs- handlung oder Unterlassung überhaupt geeignet ist, eine juristi- sche Verantwortlichkeit zu begründen, ist ausschließlich nach dem Staatsrecht, insbesondere nach dem Minister-Verantwortlichkeits- Gesetz des einzelnen Staates zu entscheiden Vgl. auch v. Mohl 64 fg. Wo eine Minister-Anklage gestattet ist wegen Handlungen, welche dem Landeswohl nachtheilig sind, kann sehr wohl auch das Verhalten der Landesregierung im Bundesrath den Grund einer solchen Anklage abgeben; ebenso die Thatsache, daß eine Regierung lange Zeit hindurch die Ernennung eines Vertreters im Bundesrath ganz unterläßt. So gestattet das Badische Ges . über die Verantw. der Minister v. 20. Febr. 1868 §. 67 a die Minister.-Anklage „wegen schwerer Gefährdung der Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates.“ Vgl. Samuely Ministerverantwortl. 80. 81. Hinsichtl. Bayerns vgl. Pözl S. 598 Note 5. . Eine politische (parlamentarische) Verantwortlichkeit ist in jedem Falle vorhanden und keine Regierung wäre berechtigt, eine Rechtfertigung ihres Verhaltens und eine Darlegung der Gründe §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. desselben ihrer Landesvertretung gegenüber mit dem Hinweise ab- zulehnen, daß die in Rede stehende Angelegenheit Reichssache sei; denn die Instructions-Ertheilung an die Vertreter des Staates im Bundesrath ist in der That niemals Reichssache, sondern im- mer eine Regierungs-Angelegenheit des Einzelstaates Auch der Hinweis auf die parlamentar. Controlle durch den Reichstag ist gänzlich unpassend. Der Reichstag ist niemals in der Lage, die Regierun- gen der Einzelstaaten zur Darlegung der Gründe ihres Verhaltens zu veran- lassen. Die Vertreter des einzelnen Staates können sich immer darauf beru- fen, daß sie lediglich ihrer Instruction gemäß abzustimmen haben und daß sie die Motive der ihnen ertheilten Instructionen nicht zu prüfen befugt sind, ja dieselben gar nicht zu kennen brauchen. Eine Discussion über die Instruc- tion der Vertreter im Bundesrath ist eine häusliche Angelegenheit der Einzel- staaten und kann lediglich zwischen den verantwortlichen Leitern der Regierung und der Volksvertretung des Einzelstaates statt haben. . Ganz unberührt von diesem Grundsatz bleibt natürlich die materielle Würdigung der Gründe, welche die Regierung eines Einzelstaates veranlassen können, im Interesse des Wohles der Gesammtheit ein Opfer zu bringen. Es ist eine aus der Reichsangehörigkeit des Staats sich von selbst ergebende politische Pflicht, nicht lediglich das partikularistische Interesse, sondern gleichzeitig das allgemeine Interesse des Reiches zu fördern. Wenn man den Antheil der Einzelstaaten an der Reichsge- walt, wie er so eben entwickelt worden ist, in Betracht zieht, so ergiebt sich zugleich, in welchem Sinne man den Einzelstaaten den Charakter der Souveränetät beilegen kann. Der Einzelstaat ist dem Reich gegenüber, wie wir bereits dargethan haben, nicht souverän, und da es keine Beschränkung und folglich auch keine Theilung der Souveränetät geben kann, auch nicht „innerhalb seiner Sphäre“ souverän. Aber der Ein- zelstaat ist an dieser, über ihm stehenden Gewalt mitbetheiligt; die Deutschen Staaten sind nicht Einem von ihnen oder einem fremden Machthaber unterworfen, sondern sie sind als einzelne der von ihnen selbst gebildeten Gesammtheit unterworfen. „Inner- halb des Bundesraths findet die Souveränetät einer jeden Regie- rung ihren unbestrittenen Ausdruck“ sagte Fürst Bismarck im ver- fassungber. Reichstage Stenogr. Ber. 388. . Die Deutschen Staaten sind als Gesammtheit souverän . §. 9. Das Subject der Reichsgewalt. Daraus rechtfertigt es sich vollkommen, daß die Landes- herren der Einzelstaaten ihre persönliche Souveränetät und alle damit verbundenen staatlichen und völkerrechtlichen Ehrenrechte ungeschmälert behalten haben und daß auch die Einzelstaaten als solche ebenfalls die völkerrechtlichen Ehrenrechte der souveränen Staaten noch jetzt ausüben. Gegen die Bezeichnung der Einzel- staaten als souverän ist daher vom staatsrechtlichen Standpunkt nichts einzuwenden, wenn man dabei nicht an das Verhältniß der Einzelstaaten dem Reiche gegenüber , sondern an das Verhält- niß der Mitbetheiligung der Einzelstaaten an der Reichs- gewalt denkt. Von einer durchaus abweichenden Ansicht über das Subject der Reichsgewalt gehen mehrere Schriftsteller Thudichum Verf.-Recht S. 101 fg. v. Mohl S. 50. Vgl. auch Pözl 106 Note 2. aus, welche als „Träger der Reichsgewalt“ den Kaiser, den Bundesrath und den Reichstag bezeichnen. Es bedarf aber kaum einer weiteren Aus- führung, daß hier der Träger der souveränen Gewalt mit den Organen der Reichs-Regierung verwechselt ist Es ist ein ähnlicher Irrthum als wollte man in der Nordamerik. Union oder in der Schweiz nicht das Amerikanische Volk oder das Schweizer Volk, sondern die parlamentarischen Körperschaften und Präsidenten dieser Bundesstaaten als Träger der Souveränetät erklären. . §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. Das Verhältniß der Unterordnung der Einzelstaaten unter die Reichsgewalt ist ein dreifach verschiedenes. 1) Für gewisse Hoheitsrechte sind die Einzelstaaten außer Funk- tion gesetzt; das Reich erfüllt seine Aufgaben mit seinen eigenen Hülfs- mitteln und macht die ihm zustehenden Rechte selbstständig und direct geltend. Das ist zunächst hinsichtlich der Gesetzgebung des Reiches der Fall, indem die Reichs-Gesetze mit begrifflicher Nothwendigkeit ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen er- halten. Aber auch auf einzelnen Gebieten der Staatsverwaltung, z. B. Consulatwesen, auswärtige Angelegenheiten, Marine, obere Post- und Telegraphenverwaltung u. s. w. hat das Reich sich von den Einzelstaaten völlig emancipirt und sich seinen eigenen Apparat zur Ausübung seiner Lebensthätigkeit geschaffen. Soweit dies ge- §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. schehen ist, ist der Kreis der den Einzelstaaten obliegenden Auf- gaben und der dazu erforderlichen Befugnisse verengt. Würde das Reich die Gesammtheit der staatlichen Aufgaben in dieser Weise selbst übernehmen, so würde die Existenz der Einzelstaaten beendigt sein und die Fortdauer ihrer Namen wäre eine historische Remini- scenz wie es heut die Namen der mittelalterlichen Herzogthümer und Grafschaften sind. Höchstens als Provinzen des Reichs könnten die Gebiete der Einzelstaaten eine Bedeutung behalten. 2) Für einen großen Kreis von Hoheitsrechten des Reiches sind die Einzelstaaten Selbstverwaltungs-Körper . Der Begriff der Selbstverwaltung wird hier in einem Sinne genommen, der von der herrschenden Lehre erheblich abweicht, und da im Folgenden dieser Begriff vielfach Verwendung finden wird, so ist es unerläßlich, seinen Inhalt hier näher festzustellen. Das Wort „Selbstverwaltung“ ist in Nachbildung des eng- lischen Ausdrucks selfgovernment vorzugsweise durch die zahlreichen ausgezeichneten Schriften Gneist’ s über das englische Verwal- tungsrecht in allgemeinen Gebrauch gekommen und zu einem poli- tischen Schlagworte geworden. Gneist selbst hat fast ausschließlich die politische Bedeutung der Verwaltung mittelst unbesoldeter Ehrenämter entwickelt und den Gegensatz einerseits zu einer büreau- kratischen Verwaltung durch besoldete Berufsbeamte andererseits zu der Thätigkeit beschließender, aber nicht verwaltender, Deputir- ten-Collegien anschaulich gemacht. Er hat stets mit dem größten Nachdruck hervorgehoben, daß das System der Selbstverwaltung der „Zwischenbau zwischen Staat und Gesellschaft“ und das in England bewährt gefundene Mittel sei, um die collidirenden egoi- stischen Interessen der verschiedenen socialen Klassen einer staatlichen Rechtsordnung zu unterwerfen. Im Hinblick auf die positive Ge- staltung der englischen Einrichtungen definirt er den Begriff des selfgovernment als „eine innere Landesverwaltung der Kreise und Ortsge- meinden nach den Gesetzen des Landes durch persön- liche Ehrenämter , unter Aufbringung der Kosten durch communale Grundsteuern“ (Selfgovernment, Communalverfassung. 3. Aufl. S. 882 fg.). Gneist wird nicht müde, in allen seinen Schriften hervorzu- heben, daß die Selbstverwaltung nicht der Gegensatz der Staats- §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. verwaltung, sondern eine Unterart der Staatsverwaltung ist. „Alle Aemter des selfgovernment haben den reinen Amtscharakter, — alle Rechte und Ehren, — alle Pflichten und Verantwortlichkeiten der Staatsämter a. a. O. S. 883. Vgl. Gneist Preuß. Kreis-Ordnung 1870 S. 9 u. Verwaltung, Justiz, Rechtsweg 1869 S. 98 fg. . Nicht die Staatsverwaltung sondern die „Mi- nisterverwaltung,“ d. h. die Verwaltung durch besoldete Berufs- personen, bildet nach der Auffassung von Gneist den Gegensatz zur Selbstverwaltung und in seiner Schrift: „Der Rechtsstaat“ Berl. 1872 S. 161 fg. führt er aus, daß die Wiedereinführung oder weitere Ausbildung des Ehrenamtes der „archimedische Punkt des Rechtsstaates“ sei, weil die Verwaltung durch besoldete Beamte wegen der Ernennungs- Beförderungs- und Absetzungsbe- fugniß des Chefs Parteiverwaltung sei, während das Ehrenamt sich nicht parteimäßig behandeln lasse. Diese Auffassung des Begriffes der Selbstverwaltung ist schnell herrschend geworden und es könnten unzählige Zeugnisse aus poli- tischen Reden, Flugschriften und Zeitungsartikeln dafür beigebracht werden, daß man sich fast allgemein daran gewöhnt hat, Selbst- verwaltung und Verwaltung mittelst Ehrenämtern zu identifiziren. Indeß so wichtig in politischer Beziehung das System der Ehrenämter ist, so sehr die Reaction gegen die übermäßige und einseitige Ausbildung der büreaucratischen Beamtenverwaltung ein Merkmal unserer Zeit ist und in dem Worte „Selbstverwaltung“ ein politisches Schlagwort gesucht und gefunden hat, so erweist sich doch für die staatsrechtliche, d. h. juristische, Betrachtung der Organisation des Staates der von Gneist zur Herrschaft gebrachte Begriff der Selbstverwaltung als nicht hinlänglich bestimmt und nicht consequent verwendbar. Die Dotirung eines Amtes mit einer Besoldung ist weder für den Begriff des Amtes noch für die amtlichen Pflichten und Rechte maßgebend Vgl. unten §. 32. §. 37 ff. . Es fehlt vor Allem an einer festen Grenze zwischen Ehrenämtern und besoldeten Aemtern; denn der Begriff des Ehrenamtes schließt den Ersatz von Kosten, von Diäten und Reisegeldern, von Repräsentationsgebühren u. s. w. nicht aus; auch nicht eine Remuneration mit einer Pauschsumme, aus der dergleichen Kosten zu tragen sind. Wo ist da die Grenze zwischen §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. der Remuneration des Ehrenamtes und der Besoldung des Berufs- amtes? Die geschichtliche Entwicklung des Brandenburgisch-Preu- sischen Landrathsamtes Vgl. die literar. Nachweisungen bei v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1. §. 265. liefert ein höchst bedeutsames und an- schauliches Beispiel dafür, wie leicht das Ehrenamt in ein Berufs- amt, die Kostenentschädigung mittelst einer Pauschsumme in einen, mit dem Amt verbundenen Gehalt übergehen kann. Andererseits gibt es auch unbesoldete Staatsämter. Ist der unbesoldete Gerichts- oder Regierungs-Assessor ein Beamter der Selbstverwaltung? Hat der Gesandte, der doppelt so viel auszugeben genöthigt ist, als seine Amtseinkünfte betragen, ein Ehrenamt? Auch Alles, was von der Selbstverwaltung in der herrschen- den Bedeutung des Wortes ausgesagt wird, die Unpartheilichkeit in der Ernennung und Entlassung, die Ausübung der obrigkeit- lichen Functionen nach Maßgabe der Gesetze, die Rechtscontrollen in den Formen des contradictorischen Verfahrens vor unabhängi- gen Gerichten, ist auf die Verwaltung durch besoldete Berufsbe- amte anwendbar und nach den Grundsätzen des Rechtsstaates von jeder Form der Verwaltung geltend. Ebensowenig ist die Decentralisation ein für die Selbstver- waltung characteristisches Moment, worauf mit vielen Andern Schulze Preuß. Staatsr. § 127. 128 besonderes Gewicht legt. Bei völlig büreaucratischer Staatsverwaltung kann die Decentra- lisation im größten Maaße erreicht werden durch Beschränkung der Beschwerden und anderen Rechtsmitteln, durch Ausstattung der untern Instanzen mit weitreichenden Befugnissen. Die unjuristische Definition der Selbstverwaltung als einer Verwaltung durch Ehrenämter hat zu immer weiterer Abirrung geführt. Man definirt die Selbstverwaltung geradezu als „Selbst- thätigkeit“ der Bürger Gneist Preuß. Kreis-Ordn. S. 11. „Das an jedem Punkt Entschei- dende ist die gewohnheitsmäßige Selbstthätigkeit im Staatsberuf.“ . Als ob bezahlte und berufsmäßige Thä- tigkeit im Staatsdienste keine „Selbstthätigkeit“ wäre, als ob die Hunderttausende von Berufsbeamten der Militair- Finanz- Ge- richts- Polizeiverwaltung u. s. w. ihre Geschäfte ohne „Selbstthä- tigkeit“ erledigen könnten oder keine Staatsbürger wären. Man betont aber nicht nur ein begrifflich ganz unerhebliches Laband , Reichsstaatsrecht. I. 7 §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. Moment, sondern man verliert darüber das Wesen der Sache ganz aus den Augen, indem man vergißt, daß es sich um obrigkeit- liche Funktionen, um die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte handelt. Gneist unterscheidet das System des obrigkeitlichen Self- governments und das System der wirthschaftlichen Selbst- verwaltung. Im Sinne des Selfgovernments, welches der eng- lischen Parlamentsverfassung zu Grunde liegt, in dem Sinne des älteren, ungetrübten Verfassungsrechts sind Gegenstände der Selbst- verwaltung nach Gneist’s Worten (Preuß. Kreis-Ordn. S. 9., Self- government , Communalverf. und Verwaltungsger. in England 3. Aufl. S. 882): „nicht eigene Rechte, nicht gesellschaftliche In- teressen, sondern die staatlichen Funktionen der innern Landesver- waltung; der Geschworenendienst, die Verwaltung der Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei, die Militäraushebungen und das Landwehr- system, die Armen- Schul- und Wegeverwaltung, die Erhebung und Verwaltung der Communalsteuern und des communalen Stamm- vermögens, wo ein solches vorhanden — doch so, daß alle Ver- mögensverwaltung hier nur als Mittel zum Zweck der Erfüllung staatlicher Pflichten erscheint. Dieser Umfang der Selbstverwaltung ergiebt sich aus der Natur der Staatsgeschäfte . Es sind die Functionen der örtlich thätigen Staatsgewalt , die sich zur Handhabung im Nachbarverbande eignen“ Vgl. auch die anschauliche Darstellung in Gneist’ s Verwaltung, Ju- stiz, Rechtsweg S. 95 ff. . Im Gegensatz hierzu construirt Gneist ein „System der wirthschaftlichen Selbstverwaltung,“ welches „eine örtliche Gruppi- rung von Interessen“ bedeute und welches seinen Ausdruck in ge- wählten Localvertretungen und in der Verwaltung durch besoldete Unterbeamte der letzern finde. Gegenstände dieser Selbstverwaltung sind nach Gneist (Communalverf. S. 941) nicht die Funktionen des örtlich thätigen Staats , sondern die wirthschaftlichen In- teressen des Verbandes: an erster Stelle die Verwaltung des eigenen Vermögens, sodann die Armenpflege, die Gesundheitspflege, Wegeverwaltung, die Besorgung des örtlichen Polizeidienstes. Die „eigentlichen“ Gegenstände des selfgovernment dagegen: der Ge- schworenendienst, das Decernat der Sicherheits- und Wohlfahrts- §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. polizei, die Militäraushebung und Einquartierung, die Steuer- jurisdiction der directen Staats- und Communalsteuern, rechnet die Gesellschaft überhaupt nicht mehr zu ihrer Selbstverwaltung.“ Aus einer Vergleichung dieser beiden Stellen ergiebt sich, daß nur scheinbar die wirthschaftliche Selbstverwaltung im Sinne Gneist’s auf andere Gegenstände wie die obrigkeitliche Selbstverwaltung sich erstreckt. Das Verzeichniß der zu dem obrigkeitlichen Selfgovern- ment gehörenden Functionen ist nur größer; was der wirthschaft- lichen Selbstverwaltung zugerechnet wird, nämlich Armenpflege, Gesundheitspflege, die ja doch ein Theil der Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei und in einigen Beziehungen ein Theil der Ar- menpflege ist, — Wegeverwaltung, Ortspolizeiverwaltung, Ver- waltung des Communalvermögens, findet sich auch in dem von Gneist aufgestellten Verzeichniß der Gegenstände der obrigkeitlichen Selbstverwaltung. Es sind auch in der That lauter Aufgaben, denen sich der Staat nicht entziehen kann, die ihrer Natur nach Staatsgeschäfte sind. Wie alle großen Aufgaben des Staates haben auch sie eine wirthschaftliche Bedeutung und können sie ohne finan- zielle Mittel nicht durchgeführt werden; ebenso wenig aber ist ihre Durchführung möglich ohne die Staatsgewalt im Sinne einer obrig- keitlichen Herrschaft, ohne die Macht des Staates, zu befehlen und zu verbieten. Auch in diesen Gebieten der Verwaltung wird das Hoheitsrecht des Staates wirksam. Der von Gneist betonte Gegensatz berührt nicht sowohl das Object der Selbst- verwaltung, als die Organisation derselben; seine Darstellung gipfelt in dem Nachweise, daß in den gewählten Versammlungen mehr die wirthschaftlichen Interessen der gesellschaftlichen Klassen als die staatlichen Interessen zur Geltung kommen, daß dem alten englischen Friedensrichter-Amt ein anderes politisches System als den boards zu Grunde liegt. Am deutlichsten tritt dieser Gedanke hervor in seinen vortrefflichen Ausführungen in „Verwaltung, Justiz, Rechtsweg“ S. 102 ff. In dieser Hinsicht kann man ihm vollkom- men zustimmen und sein Urtheil über die politische Bedeutung ge- wählter Lokalvertretungen adoptiren. Dagegen hört der Begriff der Selbstverwaltung auf, ein juristisch begränzter zu sein, wenn man die Fähigkeit juristischer Personen zur Vermögens-Administra- tion nach Maßgabe ihrer Korporationsverfassung und nach den Regeln des Privatrechts dazu zählt. Dieser Vorwurf trifft Gneist 7* §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. selbst nicht; seine Ausdrucksweise aber hat die Veranlassung gege- ben, unter wirthschaftlicher Selbstverwaltung die Beseitigung oder Einschränkung der Bevormundung von Gemeinde-Verbänden hin- sichtlich der Verwaltung ihres privatrechtlichen Vermögens zu ver- stehen; ja selbst die Handlungsfähigkeit der einzelnen Menschen innerhalb der rechtlichen Schranken als Selbstverwaltung zu be- zeichnen. Aus diesem doctrinären Begriff der Selbstverwaltung ist jede Spur von staatsrechtlichem, überhaupt von juristischem, Inhalte entschwunden. Die äußerste Linie ist in dieser Richtung wohl er- reicht worden von Hermann Rösler das sociale Verwaltungs- recht. 1872. I. S. 43 fg. Er sagt: „Die Selbstverwaltung im materiellen Sinne bedeutet die rechtliche Anerkennung der Wahrheit, daß die Entwicklung der Menschen auf ihrer eigenen , gesellschaftlich bedingten Thä- tigkeit beruht, und sie besteht in der rechtmäßigen Durchführung der socialen Freiheit in allen Verhältnissen des Culturlebens. Die Selbstverwaltung verleiht ( sic !) den Einzelnen ein bestimmtes Gebiet unabhängiger Thätigkeit gegenüber den Verwal- tungsorganen und namentlich auch gegenüber dem Staate; sie verleiht aber zugleich den Einzelnen einen bestimmenden Einfluß auf die Bildung und die Thätigkeit der Verwaltungsorgane selbst“ Keineswegs richtiger, sondern noch unklarer sind die Bemerkungen in Tellkampfs Schrift „Die Selbstverwaltung“ Berlin 1872 S. 15 sg. 31 fg. über das „Wesen der Selbstverwaltung“ und über „ihre Bedeutung für den Rechts- und Verfassungsstaat.“ . Für diese Charakteristik der Selbstverwaltung beruft sich der Verf. auf Gneist , nur rectifizirt er ihn dahin, daß auch „eigene Rechte und gesellschaftliche Interessen“ Gegenstand der Selbstver- waltung seien, indem er ihn auf den Mündel aufmerksam macht, „der mündig wird und zur Selbstverwaltung übergeht.“ (!) Welche Theorie der Selbstverwaltung auf solcher Grundlage erbaut wird, kann man wohl ahnen. Als „allgemeine Sätze“ stellt Rösler folgende hin: 1. Alle Selbstverwaltung im materiellen Sinne beruht noth- wendig auf der Freiheit des natürlichen (!) Lebens und des Ge- wissens, sowie auf Freiheit der Religion, der Wissenschaft und der Kunst. 2. Die freie Entscheidung und Thätigkeit müssen in allen An- §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. gelegenheiten gewahrt bleiben, in denen sie als sittliche Nothwendig- keit empfunden werden. Dazu die Note: z. B. bei der Begründung rein persönlicher Verhältnisse, namentlich bei der Eheschlie- ßung , Wahl des Glaubensbekenntnisses, geistiger Mittheilung und Verbindung mit andern.“ u. s. w. Dahin führt die Begriffsbestimmung der Selbstverwaltung als freie, unbesoldete Selbstthätigkeit der Bürger, daß schließlich Hei- rathen, Zeitunglesen, Briefschreiben und vielleicht auch Essen, Trinken und Tabakrauchen zum Bereich der Selbs tverwaltung gehören, da der Staat freilich alles dieses für seine Bürger nicht besorgen kann, und „die freie Entscheidung und Thätigkeit“ in diesen Dingen gewiß von Jedem „als sittliche Nothwendigkeit empfunden wird.“ Um den Begriff der Selbstverwaltung für das Staatsrecht zu bestimmen, muß man von einem andern Gesichtspunkt ausgehen. Selbstverwaltung ist nicht der „Zwischenbau zwischen Staat und Gesellschaft“, sondern der Zwischenbau zwischen Staat und Unter- than Die bürgerliche „Gesellschaft“ oder „sociale Gemeinschaft“ ist weder Rechtssubject noch Object von Rechten noch ein rechtlich bestimmtes Verhältniß; sie ist überhaupt kein Rechtsbegriff, mithin auch kein Begriff des Staatsrechts. So bedeutsam der Begriff für Volkswirthschaftslehre und Politik sein mag, so unbrauchbar und verwirrend ist er für die Rechtswissenschaft. . Anstatt daß der Staat seine obrigkeitlichen Herrschafts- rechte direct durchführt, überträgt er die Durchführung an Per- sonen, die ihm zwar unterworfen sind, die aber ihm gegenüber eine besondere öffentliche Rechtssphäre, eine begrifflich verschiedene Exi- stenz haben. Selbstverwaltung beruht auf der Selbstbeschrän- kung des Staates hinsichtlich der Durchführung seiner Auf- gaben und der Geltendmachung seiner obrigkeitlichen Herrschaftsrechte auf die Aufstellung der dafür maßgebenden Normen und auf die Controlle ihrer Befolgung, während die Handhabung dieser Normen selbst Zwischengliedern übertragen wird. Es ist ganz unrichtig, in der Selbstverwaltung die freie Thätigkeit der einzelnen Bürger zu sehen. Der einzelne Bürger steht auch den Organen der Selbst- verwaltung als Unterthan, als Object obrigkeitlicher Rechte gegen- über; nicht die natürliche Freiheit des Einzelnen bethätigt sich in der Selbstverwaltung, sondern die staatliche Herrschaft, der obrig- keitliche Zwang über den Einzelnen. Nur ist es andererseits nicht §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. der Staat selbst, der diesen Zwang handhabt, sondern ein öffent- lich rechtliches Subject, das zwischen den Staat und den Einzelnen gestellt ist und das vom Staat zur Durchführung seiner Aufgaben verwendet wird. Dieser Zwischenbau zwischen Staatsgewalt und Staatsbürger kann verschieden organisirt sein. Es können die Mittelglieder monarchisch gebildet sein; dies war der Fall bei den Immunitäts- herren des Mittelalters, bei den zu Landesherren gewordenen Für- sten und Grafen des alten Reiches, bei den mit Gerichtsbarkeit und Ortspolizeigewat ausgestatteten Grundherren. Dem feudalen Staat entspricht der patrimoniale Charakter der Selbstverwaltungs- Aemter. Patrimonialgerichtsbarkeit und gutsherrliche Polizei sind demnach nicht, wie man gewöhnlich sagt, der Gegensatz der Selbstverwaltung, sondern eine Bethätigung, eine Form derselben; aber allerdings eine Form, die im Widerspruch steht mit den Prin- zipien des heutigen Staatsrechts und den sein ganzes Wesen be- herrschenden Ideen. Es können ferner die Mittelglieder in der Gestalt der juristi- schen Personen des öffentlichen Rechts, also corporativ organisirt sein, als örtlich begränzte Verbände, die ihre rechtlich normirte Verfassung haben und als Subjecte von öffentlichen (obrigkeitlichen) Rechten und Pflichten fungiren. Selbstverwaltungskörper dieser Art waren in Deutschland im Mittelalter die Städte und freien Landgemeinden und auch in England nimmt die Geschichte des Self- governments ihren Ausgangspunkt von der Bildung öffentlich recht- licher Corporationen. Vgl. Stein, Verwaltungslehre 2. Aufl. I. 2. S. 160 fg. Die Verwandlung der feudalen Selbstverwaltungs- ämter in corporative, beziehentlich die Neubildung corporativer Verbände und die Beauftragung derselben mit obrigkeitlichen Ge- schäften, die bisher der Staat selbst durch eigene Beamte ausge- führt hat, das ist die politische That unserer Zeit, die man — soweit es sich um die Beseitigung der gutsherrlichen Polizei dabei handelte — ungenau die Einführung der Selbstverwaltung nennt, indem man eine Gestalt der Selbstverwaltung für den Begriff derselben nimmt. Für das richtige Verständniß der Selbstverwaltung hat Lo- renz Stein in der zweiten Auflage seiner Verwaltungslehre I. Theil 2. Abth. (Stuttg. 1869) in so fern einen bedeutenden Fort- §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. schritt angebahnt, als er den Begriff des Verwaltungskör- pers im Gegensatz zum Regierungsorgan entwickelt, und die öffentlich rechtliche (juristische) Persönlichkeit des Verwaltungskör- pers als begriffliches Erforderniß desselben dargethan hat Auch H. Schulze Preuß. Staatsr. II. S. 3 hebt die juristische Per- sönlichkeit der korporativen Verbände, denen die Selbstverwaltung übertragen ist, mit Nachdruck hervor. Zu den besten Erörterungen über das Wesen der Selbstverwaltung gehören die kurzen Ausführungen von Ernst Meier in v. Holtzendorff’s Encyclopädie I. 2. Aufl. S. 853 fg. . Dieses Resultat wird aber theils dadurch verdüstert, daß Stein die Selbst- verwaltungskörper mit den „Vertretungen“ und „Vereinen“ in Zusammenhang bringt und aus ihnen ein „System der freien Verwaltung“ combinirt, theils in seinem staatsrechtlichen Werth verkümmert, indem er die Selbstverwaltung stützt „auf die örtlich begrenzte aber sachlich unbegrenzte Gemeinschaft, die durch den Grundbesitz und seine Interessen und Verhältnisse gegeben wird“ (S. 128). Die Rechtssphäre der Selbstverwaltungs- körper ist keine sachlich unbegränzte, der Grundbesitz ist nicht die alleinige Quelle der in dem Selbstverwaltungskörper zur Erschei- nung kommenden Gemeinschaft. Das natürliche Substrat des Selbstverwaltungskörpers ist ganz dasselbe wie dasjenige des Staates : ein örtlich begrenztes Gebiet und die auf demselben ansässigen Staatsbürger , und die recht- liche Quelle seiner Befugnisse ist das souveräne Herrschaftsrecht des Staates , welcher dem Selbstverwal- tungskörper die selbstständige Handhabung obrigkeitlicher Rechte und Pflichten übertragen resp., wo er denselben vorgefunden, über- lassen hat. Selbstverwaltung bedeutet seinem Wortsinn nach den Gegen- satz zum Verwaltet-werden. Wird von einem politischen Körper ausgesagt, daß er sich selbst verwaltet, so setzt das begrifflich immer eine höhere Macht voraus, von der er auch verwaltet werden könnte . Das Wort ist daher unanwendbar von der höchsten, obersten, wirklich souveränen Macht, da bei ihr ein Verwaltet- werden unmöglich und undenkbar ist Eine Folge der herrschenden Lehre von der Selbstverwaltung ist die, daß man selbst die Volksvertretung dahin rechnet. So sagt z. B. Wester- kamp Reichsverfassung S. 232: „die Selbstverwaltung innerhalb des Deut- . Dagegen findet der Begriff §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. der Selbstverwaltung überall da Anwendung, wo eine obere Gewalt die ihr zustehenden Hoheitsrechte nicht unmittelbar mittelst eines eigenen, zu ihrer ausschließlichen Disposition stehenden Appa- rates durchführt, sondern sich darauf beschränkt, die Normen für die Ausübung dieser Hoheitsrechte aufzustellen und ihre Durch- führung zu beaufsichtigen, während die Durchführung selbst niedern, untergeordneten politischen Körpern übertragen oder überlassen ist. Ob die Verwaltung durch besoldete Berufsbeamte oder durch unbe- soldete Inhaber von Ehrenämtern besorgt wird, ist für den Be- griff der Selbstverwaltung unerheblich. Die communale Ver- waltung durch besoldete, auf lange Zeit oder lebenslänglich ange- stellte Bürgermeister bleibt Selbstverwaltung; die Thätigkeit unbe- soldeter Consuln oder der unbesoldeten Mitglieder der Reichsschul- denkommission ist unter keinem Gesichtspunkt Selbstverwaltung. Im einzelnen Staate ist Selbstverwaltung diejenige obrigkeitliche Verwaltung, welche nicht durch Behörden und Beamte des Staates, oder da diese Behörden nur Organe oder Apparate des Staates sind, nicht durch den Staat selbst , sondern durch ihm zwar untergeordnete, aber innerhalb ihres Wirkungskreises selbstständige Corporationen oder Einzelpersonen versehen wird. Im Reich ist der Einzelstaat eine, innerhalb seines Wirkungs- kreises selbstständige Person (Corporation), welche unter der sou- veränen Gesetzgebung und Aufsicht des Reiches die Verwaltung führt. Der Art. 4 der Reichsverfassung normirt prinzipiell das Verhältniß des Reiches zu den Einzelstaaten in der Art, daß die in diesem Artikel aufgeführten Angelegenheiten „der Beaufsichtigung Seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen.“ Das Reich ist demnach dem Prinzip nach auf diejenigen Be- fugnisse beschränkt, welche der Selbstverwaltung gegenüber be- stehen, die das Complement der Selbstverwaltung bilden, sie nega- tiv im Gegensatz zur eigenen und directen Verwaltung durch die souveräne Gewalt bestimmen, nämlich auf die Aufstellung der Nor- men und die Beaufsichtigung ihrer Befolgung. Die Durchführung und Handhabung der Gesetze dagegen ist auf das Reich nicht übergegangen, folglich den Einzelstaaten verblieben. Jedoch hat schen Reiches besteht in der ausgedehnten Einwirkung, welche der aus Vertre- tern des Deutschen Volkes bestehende Reichstag auf alle Reichsangelegenheiten ausübt.“ §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. die Reichsverfassung selbst dieses Prinzip, wie bereits S. 94 ausge- führt ist, in einzelnen Beziehungen durchbrochen und kraft der dem Reiche zustehenden souveränen Gewalt kann es durch ein, nach Art. 78 zu Stande gekommenes, die Verfassung abänderndes Ge- setz die Selbstverwaltung der Einzelstaaten für gewisse Angelegen- heiten beseitigen oder beschränken. Das Maaß der den Einzel- staaten überlassenen Selbstverwaltung ist auf den verschiedenen Gebieten der staatlichen Thätigkeit höchst mannigfach bestimmt. Während z. B. die Handhabung der Gewerbepolizei den Einzel- staaten vollständig verblieben ist und das Reich in der Gewerbe- ordnung nur die Rechtsgrundsätze, nach denen die Verwaltung zu führen ist, aufgestellt hat, ist die Selbstverwaltung der Zölle an feste Formen und Regeln gebunden und einer stetigen, unmittel- baren Controlle unterworfen. Bei der Darstellung der einzelnen Verwaltungszweige wird die Gränzlinie der Verwaltungscompetenz des Reichs und der Einzelstaaten näher festgestellt werden. 3) Neben den der Gesetzgebung und Aufsicht des Reichs un- terstellten Angelegenheiten ist noch ein großer Kreis von öffentlich rechtlichen Funktionen vorhanden, welche den Einzelstaaten ver- blieben sind. Es gehört dahin zunächst die Organisation der Ein- zelstaaten selbst, die Normirung des Thronfolgerechts, Wahlrechts, der Beamtenverfassung, der Provinzial-, Kreis- und Gemeindever- fassung, ferner das gesammte Gebiet der directen Steuern, das Unterrichtswesen u. s. w. Hinsichtlich dieser Angelegenheiten sind die Einzelstaaten nicht Selbstverwaltungskörper des Reiches, sondern ihre Stellung ist eine freiere und unabhängigere, indem sie weder der Gesetzgebung noch der Oberaufsicht des Reiches unterworfen sind . Freilich können diese Angelegen- heiten nicht völlig getrennt und losgelöst werden von denjenigen, auf denen das Reich competent ist; die verschiedenen Lebensfunc- tionen des Staates hängen innerlich so fest zusammen, durchdringen und bestimmen sich gegenseitig so vielfach, sind so ineinander ge- schlungen und verwickelt, daß es unmöglich ist, sie durch einen tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwischen ihnen eine Competenzgrenze wie eine chinesische Mauer aufzurichten. Die Einzelstaaten empfinden auf allen Gebieten des staatlichen Lebens die höhere Macht, der sie unterworfen sind, da sie sich nur inner- halb des Raumes bewegen können, den die Reichsgesetzgebung §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. ihnen frei läßt. Aber ein solcher Raum ist vorhanden; er ist durch das Reich begränzt, aber nicht absorbirt. Aus diesem Grunde erweist es sich als unrichtig, wenn man sagt, die Einzelstaaten seien zu Verwaltungs-Districten des Reiches geworden, sie hätten aufgehört, Staaten zu sein. Sie haben viel- mehr eine Fülle obrigkeitlicher Befugnisse und öffentlich rechtlicher Macht kraft eigenen Rechts; nicht durch Uebertragung vom Reich; nicht als Organe, deren sich das Reich bedient zur Erfül- lung seiner Aufgaben, zur Durchführung seines Willens, son- dern als selbstständige Rechtssubjecte mit eigener Rechtssphäre, mit eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Dadurch eben unter- scheidet sich der zusammengesetzte Staat von dem decentralisirten Einheitsstaat, beziehentlich der Gliedstaat vom Selbstverwaltungs- Körper. Allerdings ist eine Einschränkung hinzuzufügen. Das Reich hat nämlich nach Art. 78 ideell eine unbegrenzte Kompetenz; es kann die verfassungsmäßig gestellte Gränze zwischen seiner Machtsphäre und der Machtsphäre der Einzelstaaten in der Form der Verfassungs-Aenderung einseitig d. h. ohne Zustimmung der einzelnen Gliedstaaten verändern; es kann also den Gliedstaaten die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewissen Sinne kann man daher sagen, daß die Einzelstaaten ihre obrig- keitlichen Rechte nur durch die Duldung des Reiches, nur preca- rio, haben, daß ideell das Reich die staatliche Gewalt in voller Integrität besitze und daß die Einzelstaaten auch diejenigen Rechte, auf welche sich die Kompetenz des Reiches nicht erstreckt, ebenso wie diejenigen, welche ihnen das Reich innerhalb seiner Kompetenz zuweist, nur durch den Willen des Reiches haben. Damit ist aber nur gesagt, was überhaupt von allen Rechten gilt, auch von sämmtlichen Berechtigungen des Privatrechts, daß sie nämlich nur bestehen, so lange eine höhere staatliche Macht sie duldet. Es ist gewiß, daß der souveräne Staat Eigenthum, Lehn- recht, die Gültigkeit gewisser Obligationen, die väterliche Ge- walt u. s. w. abzuschaffen vermag; daß jeder Staatsbürger jedes einzelne Vermögensrecht nur hat in dem Umfange und so lange, als der Staat es duldet. Aber dessen ungeachtet wäre es eine verkehrte Anschauung, alle dinglichen und Forderungsrechte der Individuen als vom Staate abgeleitete, von ihm übertragene §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. Rechte zu bezeichnen; der Staat ist nicht positiv Ursprung und Quelle, Schöpfer und Träger dieser Rechte, sondern sein Wille ist nur ein negatives Erforderniß, indem Rechte, welche der Staat nicht duldet, nicht entstehen oder fortbestehen können. Ganz in derselben Weise können die obrigkeitlichen Hoheits- rechte der Einzelstaaten allerdings nicht ausgeübt werden und überhaupt nicht fortbestehen, so weit das Reich ihre Ausübung oder Fortexistenz nicht ferner duldet; aber dessenungeachtet wurzeln diese Rechte der Einzelstaaten nicht im Willen des Reiches und sind nicht aus der Machtfülle des Reiches abgeleitet, sondern sie haben ihren positiven Grund in der historischen Thatsache, daß die Einzelstaaten älter sind als das Reich, daß sie souveräne Gemeinwesen waren, bevor das Reich gegründet worden ist. Das Verhältniß der Einzelstaaten zum Reich kann juristisch nicht darnach bestimmt werden, wie es sich im Laufe der geschicht- lichen Entwicklung einmal gestalten könnte , sondern darnach, wie es nach dem gegenwärtig gültigen Recht geregelt ist . Der jetzige Rechtszustand aber ist der, daß den Einzelstaaten ein Gebiet staatlicher Thätigkeit und Macht verblieben ist, auf welchem sie, und nicht das Reich, die Herren sind. Ebenso unrichtig ist es aber, die Einzelstaaten hinsichtlich der ihnen verbliebenen Sphäre als souverän zu bezeichnen Vgl. oben S. 74 ff. . Der Unterschied dieser Sphäre gegen diejenigen Gebiete, auf denen das Reich nach Art. 4 competent ist, besteht nur darin, daß die Einzelstaaten nicht bloß die Selbstverwaltung haben, sondern daß sie auch die rechtlichen Normen dieser Verwaltung aufstellen, die Ziele, Zwecke und Mittel der Verwaltung rechtlich bestimmen. Das ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den zur Kompetenz des Reiches gezogenen Gebieten und den nicht dazu gehörigen, daß auf den ersteren das Reich die Rechtsnormen der Verwaltung giebt, auf den letzteren der Einzelstaat. Auf den letzteren Gebieten hat der Einzelstaat die Selbstgesetzgebung , die Autonomie . Der Begriff der Autonomie ist dem der Selbstverwaltung analog und wird mit ihm nicht selten zusammengeworfen. In §. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. früherer Zeit verstand man auch unter Autonomie, gerade wie jetzt vielfach unter Selbstverwaltung, die natürliche Freiheit des Menschen, seine Rechtsverhältnisse durch Willensacte zu ordnen Vgl. darüber v. Gerber Ges. Jurist. Abh. I. S. 36. . Dieser Begriff ist kein Rechtsbegriff, sondern nur der Aus- druck für die rechtlich anerkannte Willens- und Handlungsfähigkeit. Autonomie ist, im juristischen Sinne, immer eine gesetzgebende Gewalt . Aber sie steht im Gegensatz zur Souveränetät. Selbst - gesetzgebung kann man nur demjenigen Gemeinwesen als besondere Eigenschaft zuschreiben, dem die Gesetze auch von einer über ihm stehenden Gewalt gegeben werden könnten ; die wahrhaft sou- veräne Gewalt kann keine Gesetze von außen erhalten, es würde daher eine selbstverständliche Trivialität sein, von ihr auszusagen, daß sie die Befugniß habe, sich selbst Gesetze zu geben. Autono- mie, als ein juristisch relevanter Begriff setzt daher eine nicht souveräne, öffentlich rechtliche Gewalt voraus, der die Befugniß zusteht, kraft eigenen Rechts, nicht auf Grund bloßer Delegation, verbindliche Rechtsnormen aufzustellen. Der Mangel der Souveräne- tät tritt bei dieser Gesetzgebungsgewalt zu Tage, indem sie sich innerhalb der Gränzen halten muß, die der Souverän der Auto- nomie gesteckt hat, und indem sie keine Rechtsnormen aufstellen kann, welche den vom Souverän aufgestellten widersprechen. Die erste dieser beiden Schranken ist für die Einzelstaaten aufgerichtet durch Art. 78 Abs. 1 der Reichsverfassung, welcher dem Reich die Be- fugniß giebt, die Gränzlinien der Autonomie der Einzelstaaten nach seinem Belieben zu verrücken; die zweite Schranke enthält Art. 2 der Reichsverfassung, wonach die Reichsgesetze den Landes- gesetzen vorgehen Ein Beispiel dafür, daß selbst hinsichtlich des Landes verfassungs - rechtes die Einzelstaaten zwar Autonomie haben, jedoch nicht souverän sind, giebt der §. 49 des Reichsmilitärgesetzes vom 2. Mai 1874 (R.-G.-Bl. S. 59), welcher ausspricht, daß für Militärpersonen die Berechtigung zum Wählen in Betreff der einzelnen Landesvertretungen ruht und daß besondere Militär- Wahlbezirke nicht gebildet werden dürfen. Hierdurch ist namentlich das Preuß . Wahlgesetz vom 30. Mai 1849 § 9 verändert worden. . Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß soweit die Autonomie der Einzelstaaten reicht, ihnen auch die Verwaltung (Regierung) im vollen Umfange zusteht. §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. Fassen wir das Resultat dieser Erörterungen zusammen, so ergiebt sich, daß die Einzelstaaten, abgesehen davon, daß sie Mit- glieder des Reiches und als solche antheilsmäßig an der Reichs- gewalt mitberechtigt sind, dem Reiche unterworfen sind a ) theils als Bestandtheile, als bloß geographische Districte, in denen die Reichsgewalt sich direct und unmittelbar be- thätigt; b ) theils als Selbstverwaltungskörper, welche die Durchführung und Handhabung der Reichsgewalt nach den vom Reich ge- gebenen Normen und unter Aufsicht des Reichs vermitteln; c ) als autonome, (nicht souveräne) Staaten. §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten Vgl. meine Abhandlung in Hirth’s Annalen 1874. S. 1487—1524. Eine ausführliche Entgegnung auf dieselbe hat Löning ebendaselbst 1875 S. 337 ff. veröffentlicht, welche in ihren wesentlichen Resultaten mit der von Hänel Studien I. S. 183 ff. entwickelten Theorie übereinstimmt. . Aus der Natur des Bundesstaates als einer aus Staaten be- stehenden öffentlich rechtlichen Corporation ergiebt sich, daß die Mitglieds-Staaten Rechte, sowie auch Pflichten haben. Die Or- ganisation einer juristischen Person ist selbst ein Gegenstand der objectiven Rechtsordnung und sie erzeugt subjective Berechtigungen, Befugnisse, die rechtlich begränzt und rechtlich geschützt sind, für ihre Mitglieder. Den Rechten entsprechen dann öffentlichrechtliche Pflichten. Diese Rechte sind aber nicht durchweg von gleicher juristischer Natur; ihr Verhältniß zur Mitgliedschaft an sich ist vielmehr ein verschiedenes und dadurch ergeben sich Unterschiede von practischer Bedeutung für diese Rechte selbst. Es lassen sich folgende Kate- gorien unterscheiden. I. Mitgliedschaftsrechte . Die Mitgliedschaft bei jeder juristischen Person ist ein Complex von Rechten und Pflichten und kann in einzelne Befugnisse und Verpflichtungen aufgelöst werden. Diese Rechte und Pflichten sind lediglich das Resultat oder der Reflex der Korporations-Verfassung, die Wirkung der Korporations- Verfassung auf die einzelnen Mitglieder Laband a. a. O. S. 1501. 1502. . Dies gilt auch vom deutschen Reich. Die dem Reiche oblie- §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. genden staatlichen Aufgaben involviren einerseits Beschränkungen der Mitgliedstaaten, indem die zur Erfüllung dieser Aufgaben er- forderlichen Hoheitsrechte dem Einzelstaat entzogen und auf das Reich übertragen sind; sie begründen aber andererseits Rechte der Einzelstaaten und ihrer Angehörigen, daß das Reich diese Aufgaben auch für sie und zu ihren Gunsten erfüllt. Rechte dieser Art sind der Anspruch jedes Staates auf den diplomatischen und militärischen Schutz gegen Rechtsverletzungen Seitens des Auslandes und Seitens anderer Bundesstaaten und der Anspruch, daß das Reich die ihm obliegende Pflege der Wohl- fahrt des deutschen Volkes allen zum Reiche gehörenden Theilen gleichmäßig angedeihen läßt Eingang zur Reichs-Verfassung. . Die Thätigkeit der Reichs-Gesandt- schaften und Konsulate, der Reichsgerichte und anderen Reichsbehör- den, die Einrichtung und die Verwaltung der Post und Telegraphie, die Kontrole des Eisenbahnwesens im Interesse des Verkehrs und der militärischen Leistungsfähigkeit, die Förderung der Erwerbs- fähigkeit der Nation durch Handels- und Schiffahrtsverträge und durch Regelung und Handhabung des Zollwesens u. s. w. alles dieses liegt dem Reich für jeden zu ihm gehörenden Staat ob und begründet nicht nur Beschränkungen der dem einzelnen Staate zu- stehenden Gewalt, sondern in demselben Maaße und Umfange auch Ansprüche desselben auf die Fürsorge des Reiches. Entsprechend diesen Rechten der Einzelstaaten auf den Schutz und die Wohlfahrtspflege Seitens des Reiches sind die Pflichten des Einzelstaates zur antheilsmäßigen Tragung der militärischen und finanziellen Lasten. Aber auch nach einer anderen Richtung involvirt die Mitglied- schaft Rechte der Einzelstaaten, indem dieselben betheiligt sind an den Organen, durch welche das Reich seinen Willen äußert und bethätigt. Hierhin gehört das Recht jedes Staates auf diejenige Anzahl von Stimmen im Bundesrath, welche nach dem im Art. 6 festgestellten Grundsatz ihm zukommen, und der Anspruch, daß die von ihm abgegebene Abstimmung bei der Feststellung der Be- schlüsse des Bundesraths Berücksichtigung findet. Ferner das Recht jedes Staates auf antheilsmäßige Vertretuug seiner Bevölkerung im Reichstage nach Maaßgabe des dem Reichswahlgesetz zu Grunde §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. liegenden Wahlsystems. Endlich das Recht jedes Staates, daß seine Angehörigen unter den gleichen Bedingungen wie die Ange- hörigen der andern Staaten zur Bekleidung von Reichsämtern be- fähigt, daß sie von denselben nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind. Aus der Natur dieser Rechte als unmittelbarer Wirkungen der Reichsverfassung ergeben sich zwei Rechtssätze. 1. Die Rechte der Einzelstaaten können sich mit jeder Aende- rung der Verfassung ändern, ja auch ohne Abänderung der Ver- fassungs-Urkunde in Folge der dem Reiche zustehenden Gesetzgebung. So ist z. B. durch das Ges. über die Rechtsverhältnisse der zum dienstlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung bestimmten Gegen- stände v. 28 Mai 1873 und durch das Ges. über die Errichtung eines Reichs-Eisenbahn-Amtes vom 3. Juli 1873 eine solche Aen- derung der Mitgliedschafts-Rechte der Einzelstaaten eingetreten. Es ist demgemäß der Inhalt der Mitgliedschaftsrechte ein wechselnder. Bestimmt wird derselbe einseitig vom Reich durch die von ihm ausgehenden Willensakte, welche theils im Wege der verfassungsändernden theils im Wege der einfachen Gesetzgebung theils auch im Wege eines Beschlusses des Bundesraths, so weit die Kompetenz des letzeren sich erstreckt, erfolgen können. Der einzelne Staat kann nur durch seine Abstimmung im Bundes- rath auf die Erhaltung oder Erweiterung seiner Rechte oder auf die Einschränkung seiner Pflichten hinwirken; hat das Reich seinen Willen in verfassungsmäßiger Weise erklärt, so ist der Wille des einzelnen Staates unerheblich. Die Gesammtheit der einzelnen Staaten erscheint tamquam unum corpus und der Theil wird durch die Veränderung des Ganzen ohne Weiteres mitbetroffen. Die einzelnen in der Mitgliedschaft enthaltenen Rechte und Pflichten der Staaten sind daher dem Reiche gegenüber nicht iura quaesita , die nicht ohne Zustimmung der einzelnen Staaten ein- geschränkt oder beseitigt werden können. Ebenso wenig sind die in der Mitgliedschaft begründeten Pflichten ihrem Umfange nach definitiv begränzt, so daß sie nicht ohne Zustimmung der einzelnen Staaten erschwert werden können. Wol aber können sich aus der Mitgliedschaft einzelne Rechte und Pflichten ablösen als perfekt ge- wordene Wirkungen, als selbständig gewordene Rechte und Pflichten, die man der Mitgliedschaft gegenüber mit separirten Früchten ver- §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. gleichen kann Laband a. a. O. S. 1502. . Dahin gehört z. B. der Anspruch der einzelnen Staaten auf die Postüberschüsse gemäß Art. 51 der R.-V. und § 3 des Ges. vom 10. März 1870 oder auf die Vergütung der Er- hebungskosten für Zölle und Verbrauchsabgaben gemäß Art. 38 der R.-V. rücksichtlich der bereits abgelaufenen Zeit. Das Reich kann allerdings jeder Zeit die angeführten Gesetzesbestimmungen ändern; würde das Reich dies aber mit rückwirkender Kraft thun, so würde es dadurch zweifellos in iura quaesita einzelner Staaten eingreifen. Rücksichtlich der Pflichten der Staaten liefern die Matrikular-Beiträge ein analoges Veispiel; das Reich kann jeder Zeit für dieselben einen neuen Vertheilungs-Maaßstaab einführen; für die Zeit aber bis zu dieser Aenderung hat der Einzelstaat ein erworbenes Recht, daß die bis dahin fällig ge- wordenen Beiträge nach den bestehenden Grundsätzen berechnet werden. 2. Die Mitgliedschaftsrechte sind grundsätzlich für alle Staaten dieselben, nicht etwa in dem Sinne, daß sie für alle Staaten absolut gleich sind, sondern daß auf alle Staaten dieselben Rechtsregeln Anwendung finden. Bei der Begründung des Nord- deutschen Bundes und dem Hinzutritt der Süddeutschen Staaten standen sich die, bis dahin souveränen Deutschen Staaten als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gegenüber und auf der An- erkennung dieser Gleichberechtigung, der Koexistenz aneinander ebenbürtiger staatlicher Personen beruht das Bunde sverhältniß, der bundes staatliche Charakter des Reiches. Es ist nicht ausge- schlossen, daß nicht einzelnen Staaten Sonderrechte eingeräumt werden, durch welche die Lasten und Pflichten der übrigen nicht erschwert werden, wie z. B. die Kompetenz-Beschränkungen des Reiches hinsichtlich der süddeutschen Staaten; es ist ferner zu- lässig, einzelnen Staaten mit Zustimmung aller übrigen Prä- rogativen beizulegen, wie z. B. die Präsidialrechte Preußens; es ist endlich vollkommen zulässig, einem Staat größere Lasten auf- zuerlegen oder ihm größere Opfer an Hoheitsrechten zuzumuthen, wie andern, aber es setzt dies seine spezielle Einwilligung vor- aus Beispiele sind die Ausantwortung der Preuß. Marine und aller Ma- rine-Etabissements an das Reich ohne Entschädigung, die Abfindung des Für- . §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. Von diesen Fällen abgesehen hat die Reichsverfassung aber den Grundsatz, daß alle Bundesstaaten gleiche Rechte und Lasten haben, überall durchgeführt, wenngleich er als ein allgemeines Prinzip nicht ausgesprochen worden ist. Den deutlichsten Ausdruck hat er im Art. 58 hinsichtlich der Kosten und Lasten des Kriegs- wesens gefunden, ferner im Art. 70 hinsichtlich der Vertheilung der Matrikular-Beiträge. Aber auch in allen andern Beziehungen finden Belastungen und Beschränkungen einzelner Staaten über das Maaß hinaus, welches für Alle als Regel gilt, nicht statt und es muß als ein allgemeines Prinzip für die Reichsgesetzgebung überhaupt anerkannt werden, daß jede Abweichung von der Gleich- berechtigung zu Ungunsten eines oder einzelner Mitglieder des Reiches deren spezielle Zustimmung erfordert Laband a. a. O. S. 1514. 1515. Wenn Löning a. a. O. S. 359 ff. gegen die Annahme eines solchen Sonderrechts polemisirt, so ist seine Polemik insofern gegenstandslos, als ich den Anspruch jedes Einzelstaates auf gleiche Behandlung gerade für das Gegentheil eines Sonderrechts, für den, allen Mitgliedern gleichmäßig zu Gute kommenden Ausfluß der Mitgliedschaft, für ein Mitgliedschafts -Recht erklärt habe. Wenn er aber den Rechts- satz selbst, daß die Verletzung dieses Mitgliedschafts-Rechtes ohne Zustimmung des Berechtigten nicht zulässig sei, bestreitet, so hätte es m. E. dafür gewich- tigerer Gründe bedurft, als daß der Rechtssatz in der Regel entbehrlich sei, weil seine Verletzung schon durch die „Ehrlichkeit und Gerechtigkeit“ sich ver- biete, und daß er unter Umständen unbequem sein könne. . II. Sonderrechte einzelner Mitglieder ( iura singularia ) . Unter Sonderrechten versteht man bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit, welche Abweichungen von der sonst geltenden Regel zu Gunsten eines oder einzelner Staaten bilden. Sie ergeben sich nicht aus der An- wendung der verfassungs- oder gesetzmäßigen Prinzipien, sondern sie beruhen auf der Nichtanwendung derselben; sie sind nicht Reflexwir- kungen der Verfassung, sondern Modifikationen derselben Laband a. a. O. S. 1502. 1503. . Immer handelt es sich dabei um Rechte der Mitglieder in deren Verhältniß zur Gesammtheit, nicht um Rechte, welche den einzelnen Staaten außer aller Beziehung zum Reiche zustehen. Man könnte daher wohl auch die Sonderrechte als eine Unterart der Mitgliedschafts- sten Thurn-Taxis für sein Postregal auf Kosten Preußens, die zeitweise Ver- wendung preußischer Beamtenkräfte, namentlich in den Ministerien, für Reichs- zwecke u. dgl. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 8 §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. rechte bezeichnen; jedoch sind sie nicht ohne Weiteres in der Mit- gliedschaft enthalten, sondern sie bedürfen eines besonderen Titels. Dieser Titel kann entweder ein Vertrag zwischen dem Reich und dem Einzelstaat sein oder ein legislatorischer Akt des Reiches, und der letztere wieder in dreifacher Abstufung, entweder eine Bestim- mung der Verfassung, oder ein einfaches Gesetz oder ein Beschluß des Bundesraths innerhalb der demselben zustehenden Kompetenz Vgl. zu dem Folgenden Laband a. a. O. S. 1507 fg. Ein Beispiel für die Begründung von Sonderrechten durch einen Bundesraths-Be- schluß liefert die Reichsschulkommission. Durch einen Beschluß vom 19. Fe- bruar 1875 (Protok. §. 143 S. 131) hat der Bundesrath bestimmt, daß von den 6 Mitgliedern, aus denen diese Kommission besteht, Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg je ein Mitglied ernennen; ferner daß ein Mitglied alternirend von Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen und Mecklenburg-Schwerin in der angegebenen Reihenfolge jedesmal auf zwei Jahre ernannt wird; endlich daß ein Mitglied alternirend von den übrigen Bundesstaaten und zwar nach der Reihenfolge im Art. 6 der R.-V. jedesmal auf zwei Jahre ernannt wird. . Diese Form ihrer Begründung ist von Einfluß hinsichtlich der Form, welche zu ihrer Aufhebung erforderlich ist. Ihrem Inhalte nach sind die Sonderrechte: 1. Beschränkungen der Kompetenz des Reiches , indem einzelnen Staaten Hoheitsrechte vorbehalten sind, welche hinsichtlich der übrigen dem Reiche zustehen. Diese Rechte nennt man daher Reservatrechte . In der Norddeutschen Bundesverfassung hatten lediglich die Hansestädte das Reservatrecht, daß sie als Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgränze bleiben, bis sie ihren Einschluß in dieselbe beantragen. Nachdem Lübeck den Einschluß beantragt hat, ist im Art. 34 der Reichs-Verfassung für Hamburg und Bremen dieses Sonderrecht anerkannt worden Daß dieses Recht unter dem Schutz des Art. 78 Abs. 2 steht, zeigt sehr treffend gegen Hänel a. a. O. S. 200, der sich auf die Aufnahme Lü- becks durch Bundesrathsbeschluß als Präzedenzfall beruft, Löning a. a. O. S. 365 fg. . Bei dem Hinzutritt der süddeutschen Staaten zum Reiche haben sich dieselben folgende Sonderrechte reservirt: Baden . Die Besteuerung des inländischen Branntweins und Bieres bleibt der Landesgesetzgebung vorbehalten und der Ertrag dieser Steuern verbleibt Baden Reichsverf. 35 Abs. 2. 38. . §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. Württemberg a ) Die Besteuerung des inländischen Branntweins und Bieres bleibt der Landesgesetzgebung vorbehalten und der Ertrag dieser Steuern verbleibt Württemberg Reichsverf. 35 Abs. 2. 38. . b ) das Recht des Reiches gemäß Art. 45 der Reichsverfassung auf die Einführung des Einpfennigtarifs für den Eisenbahn-Transport der in diesem Artikel genannten Gegenstände bei größeren Entfernungen hinzuwirken, ist beschränkt durch die Bestimmung des Schlußprotokolls vom 25. November 1870 Nr. 2 „Zu Art. 45 der Verfassung wurde anerkannt, daß auf den Württemb. Eisenbahnen bei ihren Bau-, Betriebs- und Verkehrsverhältnissen nicht alle in diesem Art. aufgeführten Transportgegenstände in allen Gattungen von Ver- kehren zum Einpfennig-Satz befördert werden können.“ Der praktische Sinn dieser Bestimmung ist der, daß die Einführung des Einpfennig-Satzes in Württemberg nicht ohne die Zustimmung der Württembergischen Regierung erfolgen kann. . c ) die Einrichtung und Verwaltung des Post- und Tele- graphenwesens und die Einnahmen der Post und Telegraphie sind Württemberg reservirt. Ebenso der Erlaß der reglementarischen und Tarifbestimmungen für den in- ternen Verkehr Württembergs, sowohl der Post als auch der telegraphischen Korrespondenz. Desgleichen die ver- tragsmäßige Regelung des unmittelbaren Post- und Tele- graphen-Verkehrs Württembergs mit seinen dem Reiche nicht angehörenden Nachbarstaaten d. h. mit der Schweiz Art. 52 der Reichsverf. . Endlich ist die Gesetzgebungs-Kompetenz des Reiches hin- sichtlich der Vorrechte der Post in Beziehung auf den internen Verkehr Württembergs in so weit beschränkt, als nur mit Zustimmung Württembergs der Post Vorrechte beigelegt werden können, welche derselben nach der gegen- wärtigen Gesetzgebung in Württemberg nicht zustehen Schlußprotok. vom 25. November 1870 Nr. 3. . d ) Die Bestimmungen der Reichsverfassung über das Reichs- kriegswesen ( XI. Abschnitt Art. 57 — 68) finden in Württemberg nach näherer Bestimmung der Militär-Kon- vention vom 21/25. November 1870 Anwendung. 8* §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. Bayern . a ) Die Beaufsichtigung und Gesetzgebung des Reiches ist aus- geschlossen hinsichtlich der Heimaths- und Niederlas- sungsverhältnisse R.-V. Art. 4 Nr. 1. , wohin auch das Verehelichungs- wesen, soweit es mit den Heimaths- und Niederlassungs- verhältnissen in Zusammenhang steht, gehört Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. I. . b ) Eine reichsgesetzliche Regelung des Immobiliar-Ver- sicherungswesens kann in Bayern nur mit Zustim- mung der Bayerischen Regierung Geltung erlangen Schlußprotokoll Z. IV. . c ) hinsichtlich der Besteuerung des inländischen Branntweins und Bieres hat Bayern dasselbe Reservatrecht wie Ba- den und Württemberg R.-V. Art. 35 Abs. 2. Art. 38. . d ) Die dem Reiche in den Artikeln 42—46 der Reichsverfas- sung beigelegten Rechte hinsichtlich des Eisenbahn-We- sens haben für Bayern keine Geltung; jedoch kann das Reich auch Bayern gegenüber im Wege der Gesetzgebung einheitliche Normen für die Konstruktion und Ausrüstung der für die Landesvertheidigung wichtigen Eisenbahnen aufstellen. e ) Hinsichtlich des Post- und Telegraphenwesens hat Bayern dasselbe Reservatrecht wie Württemberg, abgesehen von dem Vorbehalt Württembergs wegen der Vorrechte der Post R.-V. Art. 52. . f ) Die Bestimmungen des XI. Abschnitts (Art. 57—64) der Reichsverfassung über das Reichskriegswesen kommen in Bayern nur nach Maaßgabe des Bündnißvertrages vom 23. November 1870 unter III. §. 5 zur Anwendung. g ) Das Recht des Reiches zur Aufstellung des Militär-Etats ist Bayern gegenüber nur nach näherer Anordnung der Schlußbestimmung zum XII. Abschnitt der Reichsverfassung auszuüben. h ) Die Kompetenz der Normal-Eichungskommission ist in Bayern ausgeschlossen gemäß §. 3 des Ges. v. 26. Nov. 1871. §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. 2. Eine zweite Klasse von Sonderrechten besteht in einer be- vorzugten Stellung einzelner Staaten hinsichtlich der Organisa- tion des Reiches . Solche Rechte haben a ) Preußen . Dem Könige von Preußen steht das Präsi- dium des Bundes zu; dies schließt alle in der Reichsver- fassung oder den Reichsgesetzen dem Kaiser oder Präsidium beigelegten Vorrechte in sich R.-R. Art. 11. . b ) Bayern hat folgende Sonderrechte: α) Es hat 6 Stimmen im Bundesrath, während ihm nach dem in der Reichsverfassung zu Grunde gelegten Prinzip, wonach jeder Staat so viele Stimmen im Bundesrath hat, als er in dem Plenum des ehemaligen Deutschen Bundes hatte, nur 4 Stimmen zukommen würden R.-V. Art. 6. . β) Es hat einen ständigen Sitz in dem Bundesraths-Aus- schuß für das Landheer und die Festungen R.-V. Art. 8. Abs. 2. . γ) Es führt den Vorsitz in dem Ausschuß für die auswär- tigen Angelegenheiten R.-V. Art. 8 Abs. 3. . δ) Bayern hat den Anspruch auf die Stellvertretung im Vorsitz des Bundesrathes Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. IX. . ε) Die Bayerischen Gesandten sollen bevollmächtigt werden, die Reichsgesandten in Verhinderungsfällen zu vertreten Schlußprotokoll Z. VII. . c ) Württemberg und Sachsen haben ständige Sitze in den Bundesraths-Ausschüssen für das Landheer und die Festungen und für die auswärtigen Angelegenheiten R.-V. Art. 8 Abs. 2. Württemb. Milit.-Konv. Art. 15 Abs. 2. Sächs. Militärconvent. Art. 2. . 3. Endlich giebt es noch Sonderrechte , welche in finan- ziellen Begünstigungen einzelner Staaten bestehen. Dieselben wer- den an den betreffenden Stellen Erwähnung finden Sie sind zusammengestellt bei Laband a. a. O. S. 1512 ff. . Das Wesen der Sonderrechte besteht darin, daß sie nur mit Zustimmung des berechtigten Staates aufgehoben werden §, 11. Die Rechte der Einzelstaaten. können. Es ist dies in einzelnen Anwendungen anerkannt, z. B. im Württembergischen Schlußprotokoll Z. 3, im Bayrischen Schluß- protokoll Z. IV , im Art. 34 der Reichsverfassung, welcher die Aufnahme der Hansestädte in das Zollgebiet von einem Antrage derselben abhängig macht. Auch die Bestimmung des Art. 78 Abs. 1, wonach Verfassungs-Aenderungen im Wege der Gesetzge- bung zulässig sind, läßt das materielle Erforderniß der Zustim- mung des berechtigten Staates bei der Aufhebung von Sonder- rechten unberührt. In dem Badisch-Hessischen Schlußprotokoll Ziffer 8 wurde dies „allseitig als selbstverständlich“ constatirt; dieselbe Bestimmung wurde in das Bayerische Verfassungs-Bünd- niß Ziffer V aufgenommen und später bei der definitiven Redak- tion der Reichsverfassung dieser als Art. 78 Abs. 2 beigefügt Ueber die Controverse, welche sich an diesen Satz der Verfassung an- knüpft, vgl. Laband a. a. O. S. 1487 u. 1516 ff. . Das Erforderniß der Zustimmung des berechtigten Staates hat damit Nichts zu thun, daß Vorschriften der Verfassung geändert werden, sondern nur damit, daß „bestimmte Rechte einzelner Bun- desstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit“ verändert oder beseitigt werden sollen. Dasselbe gilt daher auch von Sonder- rechten, welche nicht in der Verfassung festgestellt worden sind Dies bestreiten Hänel und Löning an den oben angeführten Stel- len. — Die Großherzogl. Hessische Regierung hat mit Bezug auf die im Pro- tokoll vom 15. Nov. 1870 Ziffer 4 enthaltene Bestimmung über die Vergütung für die postalische Benutzung der Eisenbahnen, bei der Beschlußfassung im Bun- desrathe über einen Gesetzentwurf, betreffend Abänderung des §. 4 des Post- gesetzes, mit Recht den Standpunkt festgehalten, daß die Leistungen der Eisen- bahnen des Großherzogthums für Postzwecke ꝛc. durch weitere Verständi- gung mit der Hessischen Regierung geregelt werden müssen. In den verei- nigten ( V. u. VI. ) Bundesraths-Ausschüssen ergab sich bei der Abstimmung über einen darauf bezüglichen Antrag Stimmengleichheit; im Plenum des Bundesrathes kam die Frage nicht zur Entscheidung, da Hessen sich eventuell mit den in dem Gesetzentwurfe enthaltenen Bestimmungen einverstanden erklärte. Protokolle des Bundesrathes 1875 §. 70 S. 63. . Zu unterscheiden von Sonderrechten sind aber wider- rufliche Begünstigungen einzelner Staaten, z. B. der zeitweise Aufschub der Einführung von Reichsgesetzen, wie er in den Bünd- nißverträgen mit den süddeutschen Staaten verabredet wurde, oder finanzielle Begünstigungen auf Widerruf. §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. Eine bestimmte Form für die Aufhebung von Sonderrechten ist weder durch positives Recht vorgeschrieben, noch aus der Natur der Sonderrechte abzuleiten. Es genügt in vielen Fällen ein that- sächlicher Verzicht So z. B. wenn Württemberg auf seinen Eisenbahnen den Einpfennig- Tarif einführen oder der Post dieselben Vorrechte beilegen würde, die ihr nach dem Reichspostgesetz zustehen. . Ist das Sonderrecht aber gleichzeitig ein Bestandtheil der Verfassung, so bedarf es außer der Zustimmung des berechtigten Staates auch der für Verfassungsänderungen im Art. 78 Abs. 1 vorgeschriebenen Form. Ein förmlicher Staats- vertrag zwischen dem Reich und dem Einzelstaat ist in keinem Falle für erforderlich zu erachten, da das Reich wegen seiner sou- veränen Macht über seine Glieder sich stets der Form des Ge- setzes bedienen kann Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Hänel S. 236 ff., dem Löning S. 347 beistimmt, so weit diese Sonderrechte in der Form des Vertrages ge- gründet worden sind, d. h. soweit sie in Bestimmungen der Schlußprotokolle enthalten sind, die nicht in die jetzige Redaction der Reichsverfassung Aufnahme gefunden haben und durch §. 3 des Publikationsgesetzes zur Reichsverf. in Geltung erhalten worden sind. . Es ist nur nothwendig, daß es bei Aus- übung dieser Macht die materiellen Schranken beobachtet, welche ihm der Rechtssatz zieht, daß wohlbegründete Rechte nicht ohne Zustimmung des Berechtigten aufgehoben werden dürfen. In der Zustimmung eines berechtigten Staates zu einem Gesetz, welches ein Sonderrecht aufhebt oder beschränkt, ist zugleich ein Verzicht auf dieses Sonderrecht enthalten. Wenn daher im Bundesrath die Stimme des berechtigten Staates unter der, dem Gesetz zustimmenden Majorität sich befindet, so ist dies zur rechts- gültigen Beseitigung des Sonderrechts genügend Es wurde auch praktisch demgemäß verfahren, als das Reichs-Postge- setz vom 28. Oktober 1871 das Vorrecht der Post auf ausschließliche Beför- derung politischer Zeitungen in Württemberg, wo es bis dahin nicht bestand, einführte, also die im Württemb. Protokoll vom 25. Nov. 1870 unter 3 ent- haltene Festsetzung abänderte. Hänel a. a. O. S. 237. Vgl. ferner den S. 118 Note 2 mitgetheilten Fall aus dem Protokoll des Bundesrathes vom 1875 §. 70. . Ein Zustim- mung des Landtages des berechtigten Einzelstaates ist nicht erfor- derlich, weder eine vorgängige vor der Beschlußfassung des Bun- desrathes noch eine nachträgliche behufs der Ratihabition des Reichsgesetzes. Bei allen Gesetzgebungsacten des Reiches wird der §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. Wille der Bundesstaaten, welche bei diesen Akten mit zu wirken berufen sind, durch ihre Abstimmung im Bundesrath erklärt. Eine andere Form, wie der einzelne Staat bei Beschlüssen des Reiches seinen besonderen Willen zu erklären habe, kennt die Reichsver- fassung nicht Vgl. Hänel S. 211 und in Betreff der Verhandlungen über diese Frage im Reichstage und den süddeutschen Kammern S. 214 ff. Die Litera- tur ebendaselbst S. 220 Note 116. Ferner die ausführliche Erörterung bei Seydel S. 266 ff. . Es ergiebt sich dies aus dem oben entwickelten Grundsatz, daß der Wille des Reiches nicht die Summe der Wil- len der Einzelstaaten ist, sondern ein einheitlicher, selbstständiger Gesammtwille, an dessen Herstellung die Bundesstaaten antheils- mäßig mitwirken und zwar mitwirken durch das Organ des Bun- desrathes In diesem Sinne äußert sich auch ein Bericht des Bundesraths-Aus- schusses für Zoll- und Steuerwesen vom 9. Febr. 1875 betreffend den Anschluß der Bremischen Gebiete Vegesack und Aumund an das Zollgebiet. (Drucksachen des Bundesr. Session 1874/75 Nr. 26.) „Der Senat der freien Stadt Bremen wird nach der abgegebenen Erklärung einem Beschlusse des Bundesrathes, wel- cher der Ansicht des Ausschusses entspricht, nicht widersprechen (d. h. zustimmen). Der gemachte Zusatz „das Einverständniß der Bremer Bürgerschaft vorausge- setzt,“ hat nicht die Bedeutung einer eigentlichen Bedingung, so daß die abge- gebene Erklärung, so lange diese Bedingung nicht erfüllt wäre, nicht ertheilt oder bei der Nichterfüllung wieder erloschen wäre. Es kann damit nur auf ein internes Verhältniß hingedeutet sein, welches nach der Ansicht des Senats geordnet werden muß, und von welchem die Beschlüsse des Bundesrathes nicht weiter abhängig sein können .“ . Ein Reichsgesetz, welches unter Beobachtung der Vorschriften des Art. 78 Abs. 1 und 2 zu Stande gekommen ist, hat demnach verbindliche Kraft, auch wenn der Landtag des Einzelstaates, dessen Sonderrechte beseitigt werden, gegen die Aufhebung derselben pro- testirt hat; und, da nach Art. 2 die Reichsgesetze den Landesge- setzen vorgehen, selbst dann, wenn durch ein Landesgesetz ange- ordnet ist, daß der Verzicht auf ein Sonderrecht nur nach vor- gängiger Genehmigung des Landtages erfolgen dürfe Auch in dieser Beziehung besteht kein Unterschied zwischen den in der Verfassung selbst erwähnten Sonderrechten und den neben der Verf. bestehenden, in den Schlußprotokollen festgesetzten Sonderrechten. . Die Zulässigkeit eines solchen Landesgesetzes kann jedoch nicht verneint werden. Denn da das Reichsgesetz nicht gültig zustande §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. kommt, wenn der Einzelstaat gegen dasselbe sich erklärt, und ebenso wenig, wenn er sich der Abstimmung enthält, sondern nur, wenn derselbe positiv seine Einwilligung, also seinen Verzicht auf das Sonderrecht ausspricht, so handelt die Regierung des Einzelstaates bei ihrer zustimmenden Erklärung stets in doppelter Eigen- schaft, einerseits als Mitglied des Reiches, andererseits als ein dem Reiche selbstständig gegenüberstehendes Rechtssubject, welches an das Reich ein Recht aufopfert. In dieser letzteren Eigenschaft führt die Regierung nicht ein staatsrechtliches Geschäft des Reiches, sondern ein staatsrechtliches Geschäft des Einzelstaates und es ist daher auch Sache des Einzelstaates, die Grundsätze aufzustellen, nach denen dieses Geschäft zu führen ist. Soll z. B. Hamburg in das Zollgebiet oder Württemberg in die gemeinsame Postverwaltung eintreten, so ist dieser Act sowohl von dem Interesse des Reiches aus, als auch von dem Interesse der genannten Einzelstaaten aus zu prüfen und zu beschließen und es muß zwischen dem Reich und dem betreffenden Einzelstaat ein Consens Was nicht zu verwechseln ist damit, daß formell ein Vertrag geschlos- sen werden müsse. erzielt werden. So weit es sich um den Willensentschluß des Reichs handelt, ist der- selbe von der Zustimmung und Mitwirkung der partikulären Volksvertretungen emancipirt; soweit die specielle Zustimmung des Einzelstaates erforderlich ist, handelt es sich um einen Willensact des Einzelstaates, bei welchem dessen Regierung die Regeln des Landesstaatsrechts befolgen muß. Würde unter Verletzung dieser Regeln der Vertreter Hamburgs im Bundesrath der Aufnahme Hamburgs in das Zollgebiet oder der Vertreter Württembergs dem Anschluß dieses Staates an die Reichspostverwaltung zustim- men, so wäre das in dieser Art zu Stande gekommene Reichsgesetz auch für Hamburg und Württemberg verbindlich, weil die Reichs- verfassung lediglich diese Zustimmung im Bundesrath erfordert; aber die Regierungen dieser Staaten könnten nach Maßgabe des betref- fenden Landesrechts wegen ihres Verhaltens zur Verantwortung gezogen werden In diesem Resultate ist Hänel a. a. O. S. 222 im Wesentlichen übereinstimmend. Vgl. unten §. 28. . III. Rechte der Bundesstaaten als Einzelner. ( Jura singulorum. ) Die Mitgliedschaft bei einer Corporation §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. absorbirt nicht die Rechtssphäre der Mitglieder; die letzteren hören dadurch, daß sie Theile einer höheren Gesammtheit werden, nicht auf Individual-Existenzen zu sein mit selbstständiger Persönlichkeit. Es ergiebt sich daraus eine Scheidung derjenigen Rechte, welche durch die Mitgliedschaft, d. h. durch das Verhältniß zur Gesammt- heit hervorgerufen und begründet werden, und derjenigen Rechte, welche den Mitgliedern ut singulis, als Sonder-Persönlichkeiten, zustehen. Diese Scheidung wird durch den Zweck und die Auf- gabe der Korporation und durch die zur Erreichung dieses Zwecks der Korporation verfassungsmäßig zugewiesenen Mittel, oder mit einem Worte: durch die Kompetenz der Korporation näher bestimmt. Alles, was der Kompetenz der Korporation entzogen ist, bildet den Bereich der iura singulorum ihrer Mitglieder Dies ist auch der technische Begriff der iura singulorum im Gegen- satz zu Sonderrechten ( iura singularia ) im alten Deutschen Reichsrecht. Laband a. a. O. S. 1489 fg. Vgl. namentlich Häberlin Handbuch des Teutschen Staatsrechts I. S. 585 ff. . Diese allgemeinen, aus der Natur der Korporation sich erge- benden Sätze finden auch auf das Deutsche Reich Anwendung. Die Bundesstaaten als solche, als einzelne, sind nicht völlig im Reich aufgegangen, ihre Rechtssphäre ist nicht vollständig vom Reich aufgesogen worden. Soweit das Reich competent ist, bilden die Staaten tamquam unum corpus und sind an der rechtlichen Gewalt des Reiches nur als Mitglieder betheiligt, soweit dagegen die Kompetenz des Reiches ausgeschlossen ist, sind die Staaten als individuelle Personen des öffentlichen Rechts, als Einzelne, Sub- jecte der Staatsgewalt. Der Kreis der iura singulorum wird daher bestimmt durch die der Reichskompetenz gezogenen Gränzen. Demnach gehören dahin: 1) Alle fiskalischen Rechte der Einzelstaaten, soweit nicht die zu Zwecken der Verwaltung dienenden Gegenstände mit der Verwaltung selbst auf das Reich übergegangen sind, nach näherer Bestimmung des Reichsgesetzes vom 28. Mai 1873. 2) Die Selbstverwaltungsbefugnisse der Einzelstaaten hinsicht- lich der, der Gesetzgebung und Beaufsichtigung des Reiches unter- liegenden Angelegenheiten. §. 11. Die Rechte der Einzelstaaten. 3) Die Autonomie der Einzelstaaten hinsichtlich der außerhalb der Reichskompetenz liegenden Angelegenheiten. Die Begränzung dieser Jura singulorum ist ausschließlich Sache des Reiches Vgl. Laband a. a. O. S. 1505. . Da das Reich seine Kompetenz unter Be- obachtung der im Art. 78 aufgestellten Regeln erweitern kann, so ist es ihm anheimgestellt, den Kreis der iura singulorum einseitig enger oder weiter abzustecken. Nach der umfassenden Zweckbestim- mung des Reiches im Eingange der Verfassung und der sachlich unbegränzten Zulässigkeit der Verfassungs-Aenderung, also auch der Kompetenz-Erweiterung nach Art. 78, giebt es keine Hoheits- rechte der Einzelstaaten, welche iura singulorum bleiben müssen , die nach der Natur des Reiches den Character der iura singulo- rum haben. Die Jura singulorum in dem hier entwickelten Sinne sind demnach keine iura quaesita, welche dem Einzelstaat nur mit seiner Zustimmung entzogen werden könnten Im Gegensatz zu den Sonderrechten einzelner Staaten in dem sub. II entwickelten Sinne. Die zu Gunsten einzelner Staaten besonders festgesetzten Kompetenz-Beschränkungen des Reiches begründen zugleich iura quaesita und iura singularia. Es könnte auffallend erscheinen, daß grade diese Ho- heitsrechte mit einem so viel wirksameren Schutz umgeben sind, als alle übri- gen, z. Th. doch viel erheblicheren obrigkeitlichen Rechte derselben Staaten. Dies erklärt sich aber sehr wohl. Bei jeder anderen Kompetenz-Erweiterung des Reiches wird allen Staaten gleichmäßig eine Einbuße von Rechten zu- gemuthet und es erscheint daher als ein ausreichender Schutz, daß 14 Stimmen im Bundesrath im Stande sind, sie abzulehnen; bei der Aufhebung von Son- derrechten brauchen die anderen Staaten nur zuzustimmen, daß Befugnisse, die sie selbst bereits dem Reiche abgetreten haben, nun auch dem Sonderbe- rechtigten entzogen werden. . Aber so lange die Rechtssphäre des Reiches durch eine be- stimmte Linie abgegränzt ist, kann jeder einzelne Staat verlangen, daß sich die Reichsgewalt eines Uebergriffs in das jenseits dieser Linie liegende Gebiet enthalte. Dies gilt nicht nur von der ver- fassungsmäßig festgestellten Kompetenz, über welche hinaus auch die Reichsgesetzgebung nicht sich erstrecken darf, ohne daß den Erfordernissen der Verfassungsänderung Rechnung getragen wird; sondern eben so auch von der durch gewöhnliche Reichsge- setze näher bestimmten Sphäre der Selbstverwaltung und Landes- gesetzgebung, welche der Bundesrath bei seinen Verordnungen und §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. der Reichskanzler sowie alle übrigen Reichsbehörden bei ihren Verfügungen respektiren müssen. §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. Das Reich als Bundesstaat setzt nach dem von uns entwickelten Begriff desselben autonome Staaten als Mitglieder voraus. Es entsteht daher die Frage, in wie weit die Fortexistenz der einzelnen Staaten durch die Reichsverfassung geboten oder gewährleistet ist. Bei der Beantwortung derselben ist aber zunächst die Fragestellung selbst näher zu präcisiren, denn es kommen hier sehr verschiedene Gesichtspunkte in Betracht, deren Vermengung eine richtige Beant- wortung unmöglich macht. Man deducirt die verfassungsmäßige Garantie der Einzelstaaten öfters aus dem Wesen des Bundesstaates und leitet daraus die Nothwendigkeit einer Beschränkung der Reichscompetenz auf ein solches Maaß ab, daß für die Einzelstaaten noch Raum genug übrig bleibt, um wirklich als Staaten bezeichnet werden zu können. Diese Deduction hat zunächst mit unserer Frage Nichts zu thun; denn der Begriff des Bundesstaates würde bestehen bleiben, wenn auch das eine oder andere der Mitglieder verschwinden sollte. Man muß zugeben, daß das deutsche Reich als Bundesstaat nicht gedacht werden kann ohne autonome Staaten; aber es läßt sich gewiß nicht behaupten, daß das deutsche Reich aufhören würde ein Bundes- staat zu sein, wenn es statt aus 25 Staaten aus 24 oder aus 18 bestünde. Aus dieser Erwägung folgt daher niemals eine reichs- verfassungsmäßige Garantie der thatsächlich vorhandenen einzelnen Staaten. Ferner hat aber die Reichsverfassung nirgends eine Grenze gezogen, wo die Kompetenz-Erweiterung des Reiches Halt machen müsse. Die Möglichkeit, daß im Laufe der Zeit die ein- zelnen Staaten so fest mit einander verwachsen, daß die ihnen verbleibende Autonomie bis zur Inhaltslosigkeit zusammenschrumpft, ist durch den Art. 78 allerdings gegeben. Die Kompetenz-Aus- dehnung des Reiches hat keine begriffliche Schranke, sondern nur eine factische Erschwerung durch die im Art. 78 für Verfassungs- Aenderungen erforderte Majorität erhalten. Es ist freilich wahr, daß, wenn das Reich seine Kompetenz immer weiter und weiter ausdehnt, es schließlich aufhören würde, ein Bundesstaat zu sein; aber es ist in der Verfassung ja nirgends ausgesprochen, daß das §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. Reich für alle Zeit ein Bundesstaat sein und bleiben müsse. Die Verfassung gestattet ebenso wohl die Fortentwicklung in decentrali- sirender, föderalistischer Richtung als die Consolidirung zum Ein- heitsstaat Abweichender Ansicht scheint v. Gerber zu sein, indem er Grundz. S. 245 Note 2 eine Erweiterung der Kompetenz nur für zulässig erklärt, „sofern es sich nicht um eine grundsätzliche Aenderung der Bundesanlage (?) und Verschiebung der Gewaltverhältnisse (?), sondern nur um eine Entwicklung der schon in der Bundesverf. liegenden Prinzipien handelt.“ . Aus dem Wesen des Bundesstaates ergibt sich jedoch in einer andern Richtung eine Garantie der Existenz der Einzelstaaten und zwar aus der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Mitglieder Vgl Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1515. . Nach den oben S. 112 fg. entwickelten Grundsätzen muß es als unzulässig erachtet werden, daß einzelnen Staaten ohne ihre Zu- stimmung durch Reichsgesetz Hoheitsrechte entzogen werden, welche den übrigen Staaten verbleiben. Daraus folgt, daß um so weniger einzelne Staaten ohne ihre Zustimmung ganz aufgehoben, etwa mit andern vereinigt oder zu Reichsland erklärt, werden können G. Meyer Erörterungen S. 65 hat daher Unrecht, wenn er sagt, daß derjenige, der den Vertragscharakter der Bundesverfassung gänzlich leugnet, consequenter Weise der Reichsgewalt das Recht zusprechen müßte, die Existenz der einzelnen Staaten selbst gegen deren Willen — durch Abänderungen des Artikels 1 — aufzuheben. . Wenn die Frage daher etwa so gestellt wird, ob die Existenz des zum Bunde gehörenden Staates X. durch die Reichsverfassung ge- währleistet wird, so ist dies in dem Sinne zu bejahen, daß dieser Staat als einzelner vor der Unterdrückung durch die Reichs- gewalt allerdings geschützt ist; nicht aber in dem Sinne, daß der Staat X. nicht gleichzeitig mit allen übrigen Bundes- gliedern seine staatliche Individualität verlieren und im Reichs- staat aufgehen könnte Diesen Unterschied übersieht Riedel S. 8. . Hiergegen haben die Staaten keinen andern Schutz als den, daß 14 Stimmen im Bundesrath genügen, um jede Kompetenz-Erweiterung des Reiches zu verhindern, und dieser Schutz dürfte sich für sehr lange Zeit als völlig genügend er- weisen. Völlig zweifellos ist es ferner, daß die Reichsverfassung jeden Bundesstaat vor gewaltsamen und widerrechtlichen Angriffen sichert. §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. Der Bund, der nach dem Eingange der Reichsverfassung „zum Schutze des innerhalb des Bundesgebietes gültigen Rechts“ geschlossen worden ist, ist dadurch zum Wächter der Existenz und Integrität seiner Gliedstaaten gesetzt. Die Frage, um welche es sich handelt, ist daher lediglich die, ob die rechtmäßige Vereinigung mehrerer Staaten zu Einem, sei es in Folge des gültigen Thronfolgerechts, sei es in Folge rechtsgültiger Staatsverträge, nur unter der, in der Form der Verfassungs-Aenderung auszusprechenden Genehmigung des Reiches erfolgen dürfe. Diese Frage würde zu bejahen sein, wenn die Reichsverfassung die Fortdauer derjenigen Staaten, welche bei der Reichsgründung vorhanden waren und noch jetzt bestehen, aus- drücklich oder stillschweigend anordnen würde. In diesem Falle würde jeder Rechtssatz eines partikulären Thronfolgerechts, welcher zur Vereinigung eines Staates mit einem andern oder zur Zer- theilung eines Staates führen würde, der Reichsverfassung wider- sprechen und folglich nach Art. 2 der R.-V. aufgehoben sein, und aus demselben Grunde würde jeder Staatsvertrag, durch welchen zwei Bundesglieder zu einem Staate sich vereinigen, unwirksam sein, so lange das Reich ihn nicht sanctionirt hat. Einen solchen Rechtssatz enthält die Reichsverfassung aber nicht. Die deutschen Staaten werden an 3 Stellen der Verfassung namentlich aufgeführt; im Eingange, im Art. 1 und im Art. 6. Der Eingang zur Verfassung berichtet, daß der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes und die süddeutschen Souveräne einen ewigen Bund schließen. Diese Eingangsformel enthält überhaupt keinen Rechtssatz, sondern ist bloß referirend; sie bekundet nur die Thatsache, daß das Reich durch den freien Willensentschluß der deutschen Souveräne errichtet worden ist v. Martitz S. 9 folgert aus der vertragsmäßigen Vereinigung der Deutschen Fürsten zur Gründung des Nordd. Bundes, daß die Verschmelzung zweier Bundesstaaten zu einem nur unter Genehmigung sämmtlicher Bundesstaaten rechtlich zulässig sei. Ihm folgen G. Meyer Grundzüge 47. (der aber Erörterungen S. 65 Note 1 seine Ansicht modifizirt) und im Wesentlichen, wenngleich sehr unklar, Riedel 77. 80. Besonders lebhaft ver- tritt Seydel Commentar S. 16. 30 diese Ansicht. Vgl. dagegen: Thu- dichum S. 62 Note 3. v. Rönne 38. Hänel I. S. 92 ff. u. oben S. 49. 50. . Am wenigsten aber kann man aus dieser Eingangsformel den Rechts- §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. satz ableiten, daß die darin genannten Staaten fortbestehen müssen, da ja der Norddeutsche Bund gerade durch die Gründung des deutschen Reiches seine Existenz als besonderes staatliches Gemein- wesen verloren hat. Art. 1 betrifft, was durch seine Ueberschrift noch beson- ders hervorgehoben ist, das Bundesg ebiet und normirt, wie weit es sich erstreckt. Anstatt die Grenzen desselben zu beschreiben, zählt Art. 1 die Theile auf, aus denen es besteht. Er nennt demgemäß diejenigen Staaten, deren Staatsgebiete zusam- men das Bundesgebiet bilden . Davon aber steht im Art. 1 Nichts, daß diese Theile als solche fortbestehen müssen. Die innere Eintheilung des Bundesgebietes in 25 Staatsgebiete ist nicht Gegenstand einer Anordnung des Art. 1, sondern die äußere Abgrenzung des Gebietes, welches den Territorialbestand des Reiches bildet Thudichum S. 61. . Falls etwa einmal die beiden Mecklenburg zu einem Staate vereinigt und Sachsen-Koburg-Gotha in zwei Staaten getrennt werden sollten, so würde zwar die Aufzählung in Art. 1 den thatsächlichen Verhältnissen nicht mehr entsprechend sein, aber die staatsrechtliche Vorschrift über die Ausdehnung und den Bestand des Bundesgebietes wäre nicht verletzt. Der Ausdruck: „Das Bundesg ebiet besteht aus den Staa- ten Preußen u. s. w.“ ist ein offenbar incorrecter Er stammt her aus den „Grundzügen vom 10. Juni 1866.“ Siehe oben S. 13. ; das Wort Staat kann nur in dem Sinne von „Staatsgebiet“ verstanden werden Der Art. 1 lautet nicht: „Der Bund besteht aus den Staaten;“ er betrifft nicht die Mitglieder des Bundes, sondern das Gebiet desselben. . Ganz deutlich tritt dies hervor in dem Art. 1 der Verf. des Nordd. Bundes: „Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen u. s. w.... und aus den nördlich vom Main be- legenen Theilen des Großherzogth. Hessen.“ Diese Theile bildeten keinen Staat, wohl aber ein Gebiet. Es wird dies ferner bestätigt durch §. 2 des Ges. v. 25. Juni 1873 „Dem im Art. 1 der Verf. bezeichneten Bundesgebiete tritt das Gebiet des Reichslandes Elsaß-Lothringen hinzu“ Elsaß-Lothringen ist nicht Mitglied des Bundes, wohl aber Bundes- gebiet. . §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. Der Art. 1 spricht daher nur den Rechtssatz aus, daß das Gebiet der in ihm aufgezählten Staaten dem Reiche nicht entzogen und kein anderweitiges Gebiet dem Reiche einverleibt werden darf, ohne daß das Reich selbst in den Formen der Verfassungs-Aenderung zustimmt; aber Art. 1 verfügt nicht, daß die in ihm erwähnten Staaten „Staaten bleiben müssen.“ Art. 6 endlich betrifft die Vertheilung der Stimmen im Bundes- rath. Aus der Fassung, welche dieser Artikel in der Norddeutschen Bundesverfassung und ebenso in der mit Baden, Hessen und Würt- temberg vereinbarten deutschen Bundesverfassung gehabt hat, er- giebt sich zweifellos, daß der verfassungsmäßige Grund- satz , welchen Art. 6 normirt, nur der ist, „daß die Stimmfüh- rung sich nach Maaßgabe der Vorschriften für das Plenum des ehemaligen Deutschen Bundes vertheilt“ Löning a. a. O. S. 368 wendet zwar ein, es enthalte dieser Satz nicht die Aufstellung eines allgemeinen Grundgesetzes, sondern nur die Angabe des historischen Grundes. Aber es ist nicht abzusehen, warum nicht ein Ver- fassungs-Grundsatz ebenso wohl historischen Verhältnissen wie rationellen Er- wägungen entnommen werden könne. Das Princip für die Vertheilung der Stimmen ist allerdings nicht logisch geboten, sondern historisch gegeben; aber daraus folgt doch nicht, daß es überhaupt kein Prinzip ist. . Lediglich als Conse- quenz dieses Prinzips wird das Register der den einzelnen Staaten zustehenden Stimmen beigefügt; durch die Worte „so daß,“ mit denen dieses Register beginnt, wird deutlich hervorgehoben, daß die folgende Aufzählung der Staaten und der ihnen zustehen- den Stimmen, nicht den Charakter einer selbstständigen Rechts- satzung hat, sondern nur die factische Durchführung des sanctio- nirten Prinzips enthält. Da Bayern im Zollbundesrath jedoch durch Zutheilung von 6 Stimmen begünstigt wurde, so ließ man im Art. 8 §. 1 des Zollvertrages vom 8. Juli 1867 das Prinzip ganz weg und stellte nur das Register der Stimmen auf und ebenso wurde in dem Ver- fassungs-Bündniß mit Bayern die jetzige Fassung des Artikels 6 verabredet, welche die ausdrückliche Erwähnung des für die Stim- menvertheilung maaßgebenden Prinzips zwar vermeidet, es dadurch aber doch als materiell fortwirkend anerkennt, daß die Preußen zustehenden 17 Stimmen „mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt“ ge- §. 12. Die Existenz der Einzelstaaten. rechtfertigt werden. Das Wort „ehemalig“ kann keinen andern Sinn haben als die Bezugnahme auf den Bundestag. Aus diesen Erwägungen folgt, daß Art. 6 der Reichsverf. in seinem dispositiven Bestande eine Bestimmung trifft über die Stimmen der thatsächlich vorhandenen 25 Staaten, nicht aber eine Anordnung über das Vorhandensein der 25 in ihm ge- nannten Staaten Eingehende und interessante Erörterungen über diese Frage fanden mit Bezug auf den Accessions-Vertrag mit Waldeck in der Sitzung des Preuß. Abg.-Hauses vom 11. Dez. 1867 Statt. Der Reichskanzler bemerkte, (Stenogr. Ber. I. S. 338): „daß die Waldeck’sche Stimme und deren Bezeichnung, sowie die bisherige Stimmenzahl einen integrirenden Theil der Bundesverf. bilden, daß also um eine dieser Stimmen verschwinden zu lassen, eine Aenderung der Bundesverf. unvermeidlich wäre.“ Allein wenn die Stimme eines Staates auf einen andern mit dem Staate selbst übergeht, so „verschwindet“ weder die Stimme noch ändert sich die Stimmenzahl. Auch die Bemerkungen des Reichs- kanzlers (ebendas. S. 341), daß ein Vertrag unzulässig sei, durch welchen ein Bundesfürst sich verpflichte, seine Stimme ruhen zu lassen, treffen nicht den Fall, daß zwei Staaten mit einander verschmelzen und in Folge dessen ein Fürst zwei oder mehrere Stimmen cumulire . . Allerdings würde eine Aenderung in dem vorhandenen Bestande der deutschen Bundesstaaten eine formelle Aenderung des Wortlautes des Art. 6 und möglicher Weise Tritt keine Aenderung des Art. 6 ein, so würde die Stimme des un- tergegangenen Staates auf den Staat übergehen, in welchen er einverleibt worden ist. Dadurch könnte allerdings ein immer noch sehr kleiner Staat 2 oder 3 Stimmen erlangen, oder Preußen eine große Stimmenzahl vereinigen, überhaupt das Verhältniß der Stimmführung verändert werden; dies ist aber nur die Folge davon, daß das Prinzip der Stimmenvertheilung von einer historischen Thatsache, der Stimmführung im Plenum des ehemaligen Deutschen Bundes entnommen ist. Thudichum S. 62 meint, daß bei einer Vereini- gung zweier Staaten die Stimme des einverleibten Staates wegfallen würde, giebt aber für seine Ansicht keinen Grund an. Unbestimmt äußert sich v. Mohl S. 10. Die richtige Ansicht hat der Abg. Waldeck im Preuß. Abg.-Hause am 11. Dez. 1867 entwickelt. (Stenogr. Ber. I. 343.) eine Modifizirung des dem Artikel zu Grunde liegenden Prinzips der Stimmen-Vertheilung zur Folge haben; dagegen würde sie nicht in ihrer rechtlichen Gültigkeit von einer Aenderung des Art. 6 bedingt sein. Ergiebt sich sonach, daß die Reichsverfassung keine positive Anordnung enthält, welche eine Aenderung in der Zahl und dem Bestande der Mitglieder des Reiches untersagt, und ist ebensowenig Laband , Reichsstaatsrecht. I. 9 §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. aus dem Wesen des Reiches als Bundesstaat eine solche Unver- änderlichkeit des Mitglieder-Bestandes herzuleiten, so folgt, daß alle Rechtstitel, welche zur rechtmäßigen Verschmelzung Deutscher Staaten mit einander führen könnten, nämlich Thronfolgerechte und Verträge — nach dem Vorbilde der zwischen Preußen und den Hohenzollern’schen Fürstenthümern abgeschlossenen — mit voller Wirkung fortbestehen und gerade nach dem Eingange der Reichsverf. vom Reich „geschützt“ werden sollen Auch die Successionsrechte Deutscher Bundesfürsten an außerdeutschen Territorien und die Successionsrechte von Personen, die nicht zu den Deutschen Bundesfürsten gehören, an Deutschen Territorien sind durch die Reichsverfas- sung rechtlich nicht beseitigt worden. Nur versteht es sich von selbst, daß durch den Eintritt derartiger Successionsfälle die Vorschrift des Art. 1 über das Bundes gebiet nicht alterirt werden würde. Was v. Mohl S. 19 ff. im entgegengesetzten Sinne ausführt, besteht lediglich aus politischen, nicht aus jurist. Erwägungen. Im Nordd. Bunde lieferte Hessen-Darmstadt ein Beispiel für die Möglichkeit, daß ein Bundesfürst auch ein Territorium be- herrschen könne, welches nicht zum Bundesgebiet gehört. Es wird dadurch am schlagendsten die Behauptung widerlegt, daß die Unzulässigkeit der Real- union mit einem auswärtigen Staat „aus der Natur des Bundes“ folgt und daß „dies so einleuchtend sei wie die Regel, daß Niemand zwei Herren dienen kann“. So Thudichum S. 63. Dagegen erachtet derselbe Schriftsteller eine Personal-Union für gestattet. Ebenso v. Rönne S. 39. Riedel 76 fg. Die richtige Ansicht findet sich bei Hirsemenzel I. S. 5 (Note 4 zu Art. 1). . Viertes Kapitel. Die natürlichen Grundlagen des Reiches. (Volk und Land). Erster Abschnitt. Reichs-Angehörige Literatur . v. Flottwell , Was bedeutet das Deutsche Heimathwesen. Potsdam 1867. . §. 13. Begriff und staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. Die herrschende Theorie vom Wesen des Bundesstaates führt nothwendig zur Annahme eines getheilten oder doppelten Bürger- §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. rechts. Da der Gesammtstaat und der Gliedstaat zwei einander nebengeordnete Staaten sein sollen, unter denen die Souveränetät getheilt sei, so ergiebt sich, daß der Einzelne in gewissen Beziehungen dem einen, in anderen Beziehungen dem anderen Staate angehört, daß er Bürger zweier coordinirter Staaten ist, daß aber sein Bür- gerrecht, da keiner dieser beiden Staaten ein vollständiger Staat ist, in keinem derselben ein volles Staatsbürgerrecht ist. Am Be- stimmtesten spricht schon v. Mohl Bundesstaatsrecht der Vereinigten Staaten S. 380 dies aus: „Da der Bund aus zweierlei Staaten besteht, dem Bundesstaate und den einzelnen Bundesgliedern, so steht auch den Bewohnern ein zweifaches Bürgerrecht zu, das des speziellen Staats, welchen sie bewohnen, und dann das allgemeine Bürgerrecht des Bundes.“ Waitz Politik S. 171 citirt mit voller Zustimmung eine Aeußerung des Herrn von Radowitz , welcher mit Beziehung auf die 1849 in Aussicht genommene Verfassung sagt: „Daher steht in gewissen Beziehungen jeder Deutsche unter der Centralgewalt, in anderen Beziehungen unter der einzelnen Staatsgewalt, in keiner Beziehung aber unter beiden zugleich“ Vgl. auch die bei Waitz S. 172 angeführte Aeußerung Tocque- ville ’s. In ähnlicher Art sagt Schulze Preuß. Staatsr. II. 358: „Wäh- rend in einem Einheitsstaate ein doppeltes Indigenat in diesem und zugleich in einem fremden Staate sich als Irregularität darstellt, hat in einem Bun- , Brückner , Ueber das gemeinsame Indigenat. Gotha 1867. v. Groß im Gerichtssaal. Zeitschr. f. Strafrecht u. Strafprozeß. Bd. XIX. S. 330 ff. (1867). [ Goltdammer ] Archiv für Preußisches Strafrecht. Bd. XVI. S. 449 ff. (1868). Landgraff in den Preuß. Jahrbüchern. 1869. S. 226 ff. Derselbe Ausführungen zu dem Reichs- und Staatsangehörigkeits-Gesetz in Hirth’s Annalen. Bd. III. S. 625 ff. 1870. Kletke , Das norddeutsche Bundes-Indigenat. Berlin 1871. Stolp , Deutsche Reichsangehörigkeits- u. Heimathsgesetzgebung. Berlin 1872. Auch Arnoldt , Freizügigkeit und Unterstützungswohnsitz. Berlin 1872 ist hier anzuführen. Riedel , Reichsverfassungs-Urkunde. Nördl. 1871. S. 84 ff. S. 249—279 (Kommentar zum Reichsgesetz v. 1. Juni 1870). Böhlau , Die Wandelung des Heimathsrechts in Mecklenburg-Schwerin. Jena 1873. (Separat-Abdruck aus Hildebrand’s Jahrbüchern f. Natio- nalökon. u. Statistik. Bd. XIX. ) v. Martitz , Das Recht der Staatsangehörigkeit im internationalen Verkehr. In Hirth’s Annalen 1875. S. 793 ff. 1113 ff. 9* §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. und Waitz selbst erklärt S. 200: „Die Angehörigen eines Bun- desstaates bilden Ein Volk, das eine doppelte staatliche Organisation empfangen hat; an der einen nehmen sie Theil, in welchem Ein- zelstaat sie auch wohnen; denn nicht durch diesen, sondern unabhängig von demselben, sind sie Bürger des Gesammtstaates .“ Diese Anschauung ist mit der Theorie vom Bundesstaat zu fast allgemeiner Herrschaft gelangt und die überwiegende Mehrzahl aller Schriftsteller über das Recht des Nordd. Bundes und des Deutschen Reiches ist nicht nur darüber vollkommen einverstanden, daß es neben dem Staatsbürgerrecht ein davon begrifflich verschie- denes Reichsbürgerrecht oder Reichs-Indigenat giebt, sondern sie begründet auch gerade damit ihre Charakteristik des Reiches als eines Bundesstaates Vgl. z. B. Schulze Einleitung in das d. Staatsr. S. 432. 443. v. Gerber Grundz. S. 240. v. Rönne Verf. des Deutsch. Reichs S. 32. . Sowie aber an der Verfassung des deutschen Reichs die bis- herige Theorie vom Wesen des Bundesstaates überhaupt Schiffbruch leidet, so auch insbesondere in Beziehung auf das Reichs- und Staatsbürgerrecht. Jeder Versuch, den Inhalt dieser beiden Bür- gerrechte gegeneinander abzugränzen, erweist sich sofort und nach allen Richtungen hin als unmöglich; es giebt nicht zwei Sphären hinsichtlich des staatlichen Lebens, von denen die eine durch das Reichsbürgerthum, die andere durch das Landesbürgerthum aus- gefüllt würde. Auf welches Gebiet staatlichen Lebens man auch den Blick richtet, fast nirgends kann man bestimmen, wo der Ein- zelne Staatsbürger wo er Reichsbürger ist; in der Regel ist er beides zugleich. In das entgegengesetzte Extrem verfällt Seydel . Er leugnet ganz das Vorhandensein eines Reichsbürgerrechts; in consequenter Durchführung seiner Grundanschauung, daß das Reich ein Staaten- bund sei, nimmt er nur das einfache Unterthanenverhältniß dem eigenen Staate gegenüber an. „Indem der Einzelne der Bundes- gewalt gehorcht, gehorcht er ihr als der von seinem Staate be- stellten Gewalt, er gehorcht seiner eigenen Staatsgewalt.“ (S. 43.) desstaate jeder Bürger mit Nothwendigkeit ein doppeltes Indigenat, wie sich sein ganzes politisches Leben in einer zweifachen Sphäre , der des Centralstaates und der des Einzelstaates, bewegt.“ §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. Zur Begründung seiner Ansicht macht Seydel geltend, daß Art. 3 der Reichsverf. von einem Reichsbürgerrecht gar nicht handelt und alle in diesem Artikel gewährleisteten Rechte nicht im Ver- hältniß zum Reich begründet sind, sondern den Staatsbürgern eines Bundesstaates in den andern einzelnen Bundesstaaaten zu- stehen, wie sie ihnen ebenso vertragsmäßig auch in außerdeutschen Staaten zugesichert werden können. Seydel selbst sieht sich aber genöthigt, seine Theorie zu verleugnen, indem er S. 45 erklärt, daß er „als praktischen Inhalt des Bundesbürgerrechts höchstens das Reichstagswahlrecht zu nennen wüßte,“ und unmittelbar da- rauf unter 8 Nummern einen Katalog „der Rechte und Pflichten, welche sich allenfalls unter dem Begriffe eines Bundesindigenats zusammenfassen ließen,“ aufstellt Daß Seydel hier Bundesindigenat in demselben Sinne wie Bundes- bürgerrecht nimmt, ergiebt sich außer aus dem Zusammenhange auch daraus, daß er diese Aufzählung mit dem aktiven und passiven Reichstagswahlrecht be- ginnt. . Er kann sich daher der That- sache doch nicht verschließen, daß die Reichs-Angehörigkeit ein staatsrechtlich relevanter Begriff und die gemeinsame Voraussetzung oder der Rechtsgrund einer Reihe von Rechten und Pflichten ist. Das richtige Verhältniß des Landesbürgerrechts zum Reichs- bürgerrecht ergiebt sich aus dem von uns entwickelten Wesen des Bundesstaates. Der Bundesstaat ist ein zusammengesetzter Staat, dessen Mitglieder die Einzelstaaten sind, die Bundesstaatsgewalt ist eine souveräne Gewalt über den Einzelstaaten. Die Einzelstaaten können nicht getrennt von ihrem Substrat, ihren Angehörigen, dem Reiche unterworfen sein, sondern natürlicher Weise nur mit Land und Leuten. Die Herrschaftsrechte des Reiches über die Staaten involviren daher zugleich Herrschaftsrechte über die Angehörigen dieser Staaten, gleichviel in welcher Form sie geltend gemacht werden; die Pflichten, welche das Reich den Einzelstaaten abge- nommen hat, um sie selbst an ihrer Stelle auszuüben, erfüllt es für die Angehörigen der Staaten. Die Bürger des Einzelstaates haben daher gegen die Reichsgewalt Unterthanen-Pflichten und staatsbürgerliche Rechte. Weil der Einzelne ein Angehöriger des Staates Preußen oder Sachsen ist und weil der Staat Preußen und der Staat Sachsen zum Reiche gehören und der Reichsgewalt unterworfen sind, darum ist der Preuße und der Sachse ein §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. Angehöriger des Reichs und der Reichsgewalt unterthan. Man braucht nur den oben angeführten Satz von Waitz umzukehren und man erhält den vollkommen getreuen Ausdruck der Wahrheit. Die Angehörigen eines Bundesstaates sind nicht unabhängig von demselben, sondern durch diesen Bürger des Gesammtstaates . Der Einzelne hat nicht zwei Staatsgewalten über sich, welche einander nebengeordnet sind und von denen eine jede einen Theil der obrigkeitlichen Rechte in sich schließt; sondern er hat zwei Staatsgewalten über sich, welche einander übergeordnet sind. Man kann das Reich einer An- zahl von Häusern vergleichen, über welche eine gemeinsame Kuppel gewölbt ist; die Insassen wohnen nicht theilweise unter dem Sepa- rat-Dach ihres Hauses und theilweise unter der gemeinsamen Kup- pel, sondern unter beiden zugleich. Die Reichsangehörigkeit ist keine selbstständige Eigenschaft, sondern sie drückt mit einem Worte zwei verbundene Eigenschaften aus, nämlich daß Jemand einem Staate angehört, welcher dem Reiche angehört. Die Reichsunter- thänigkeit ist keine unmittelbare, sondern eine mittelbare; die Ein- zelstaatsgewalt bildet das Medium. Die herrschende Theorie stützt sich vorzüglich darauf, daß die Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen erhalten. Hierin erblickt man den Ausdruck der un- mittelbaren Herrschaft des Reiches über die Angehörigen; während man eine mittelbare Unterordnung nur dann annimmt, wenn eine landesgesetzliche Publikation hinzukommen muß, um den Bundes- gesetzen Geltung zu verschaffen. Es ist oben S. 80 ff. bereits ge- zeigt worden, daß diese Beweisführung unhaltbar ist. Der Erlaß des Reichsstrafgesetzbuchs, des Preßgesetzes, der Gewerbe-Ordnung ist allerdings kein bloßer Beschluß, wie die Ein- zelstaaten die Handhabung der Strafjustiz, des Preßwesens, des Gewerbe-Wesens gesetzlich zu normiren haben, ebenso wenig aber eine Emanzipation des einzelnen Staatsbürgers von seiner Staatsgewalt, und eine directe Unterwerfung unter die obrigkeit- liche Hoheit des Reiches, sondern eine Aufstellung von Rechts- normen über die Handhabung der Strafjustiz, des Preßwesens, des Gewerbe-Wesens, die der Einzelstaat als solcher, zugleich aber auch alle seine Behörden und Angehörigen zu befolgen und zu be- achten haben. §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. Aus der verbindlichen Kraft der Reichsgesetze, ohne daß die- selben Seitens der Einzelstaaten publizirt werden, folgt daher Nichts für die Frage, ob die Individuen unmittelbar oder durch Vermittlung der Einzelstaaten der Reichsgewalt unterworfen sind. Ebenso wenig kann dies daraus gefolgert werden, daß das Reich für einige Zweige seiner Thätigkeit einen eigenen Behörden-Appa- rat mit Exekutiv-Gewalt hat. Denn wie wir oben näher aus- geführt haben, widerspricht es dem Begriff des Bundesstaates nicht, wenn die Centralgewalt einzelne Befugnisse der Selbst- verwaltung den Einzelstaaten entzieht und sich selbst beilegt. Geht man von der Anschauung aus, daß das Reich eine staatliche Einigung der deutschen Staaten ist, so ergiebt sich für das Verhältniß von Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht Folgendes: 1. Das Staatsbürgerrecht ist das primäre Verhältniß; es zieht ohne Weiteres das Reichsbürgerrecht nach sich. Wer Bür- ger eines zum Reich gehörenden Staates ist, der bedarf keines besonderen Erwerbsactes um das Reichsbürgerrecht zu erlangen, er nimmt als Mitglied seines Staates am Reiche Theil. Er kann aber nicht Reichs-Angehöriger sein ohne einem deutschen Einzelstaat anzugehören; denn das unmittelbare Substrat des Reiches sind die deutschen Staaten, nicht das deutsche Volk. (Siehe oben S. 86 fg.) Das Staatsbürgerrecht ist daher die wesentliche Voraussetzung zur Erlangung des Reichsindigenats. Es kann Niemand Reichsbürger werden, der nicht in irgend einem deutschen Staat die Staatsangehörigkeit erworben hat; es giebt keine Natu- ralisation durch das Reich unmittelbar Bekanntlich besteht in der Nordamerikanischen Union das umgekehrte Verhältniß. Das Bundesbürgerrecht ist das primäre Verhältniß; wer Bun- desbürger ist erwirbt durch den Wohnsitz das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. Der Fremde kann demnach nur von der Union naturalisirt werden, nicht vom Einzelstaat. . Ebenso wenig kann die Reichsangehörigkeit für denjenigen fortdauern, der aufgehört hat, einem deutschen Staate anzugehören; man kann nicht das Reichs- bürgerrecht sich vorbehalten, wenn man die Staatsangehörigkeit aufgiebt oder verliert. Reichsges . v. 1. Juni 1870 § 1. Die Bundesangehörig- §. 13. Begriff u. staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. keit wird durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundes- staate erworben und erlischt mit deren Verlust Landgraff S. 627 „Beide Rechte sind wie ein Recht mit einander verbunden, sie werden ipso iure gemeinsam erworben und verloren, sie machen zwei Theile eines untheilbaren Ganzen aus.“ Wörtlich gleichlautend ist die Aeußerung v. Rönne ’s S. 104. . 2. Die Staatsangehörigkeit kann wechseln , während das Reichsbürgerrecht unverändert bleibt, wenn der Einzelne nur nicht aus dem Kreise der zum Reiche verbundenen Staaten ausscheidet. Der Wechsel der Staatsangehörigkeit innerhalb des Reiches löst das politische Band, in welchem sich der Einzelne befindet, nicht vollständig und begründet kein völlig neues; wer in einen anderen deutschen Staat überwandert, rückt nur an ein anderes Glied der- selben festgeschlossenen Kette. Eine Veränderung der souve- ränen Staats-Gewalt, welcher er unterworfen ist, vollzieht sich für ihn nicht; nur die mit Autonomie und Selbstverwaltung aus- gestattete Unter-Staatsgewalt wird vertauscht. Dies hat zwei sehr bedeutende Rechtsfolgen. a ) Jeder Angehörige eines deutschen Staates kann in jedem anderen deutschen Staate, in welchem er seine Niederlassung be- wirkt, die Aufnahme als Staatsbürger verlangen Reichsges. vom 1. Juni 1870 §. 7. Siehe unten §. 17. . Kein Staat darf sich gegen die Mitglieder der übrigen Staaten abschließen oder ihre Aufnahme an lästige Bedingungen, Einzugsgelder, Ge- bühren u. dgl. knüpfen. Die Gemeinsamkeit des Reichsverbandes begründet unter den Angehörigen aller einzelnen Staaten die „po- litische Freizügigkeit“ Der Ausdruck rührt her von dem Hessischen Bundesbevollmächtigten Hofmann . (Stenogr. Berichte des Reichstages 1870 S. 82.) . Die wichtigsten staatlichen Aufgaben werden für das ganze Reich gemeinschaftlich gelöst und deshalb kann derjenige, der dem Ganzen bereits angehört, von einem einzelnen Theile nicht als ein Fremder abgestoßen werden Der Rechtsgrund ist nicht mit John in v. Holtzendorff’s Handbuch des Deutschen Strafrechts III. 1. S. 9 Note 7 in dem subjectiven Reichsbür- gerrecht des Einzelnen zu sehen, welches für ihn einen wohlerworbenen Rechts- anspruch gegen jeden deutschen Einzelstaat auf Verleihung der Staatsange- hörigkeit begründe, sondern in der Unterordnung aller Einzelstaaten unter das Reich, in ihrer Verbindung zu einem Gesammtstaat. . b ) Es kann Jemand gleichzeitig mehreren deutschen Staaten §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. angehören. Da die wesentlichsten politischen Interessen für alle dieselben sind, so kann die gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren deutschen Staaten keine erhebliche Collision der Pflichten der Treue und des Gehorsams begründen. Es fallen daher die aus der ethischen Natur des Staatsbürgerverhältnisses entnommenen Gründe, welche fast regelmäßig es ausschließen, daß Jemand gleichzeitig mehreren Staaten angehört Vgl. v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 805. , für die im deutschen Reich verbun- denen Staaten fort. § 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. Die Reichsangehörigen haben gegen das Reich dieselben Pflich- ten, welche in jedem Staate den Staatsangehörigen obliegen, näm- lich zum verfassungsmäßigen Gehorsam und zur Treue . 1. Die Gehorsamspflicht . Das Wesen der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Organis- mus besteht in der Unterthanenschaft, d. h. in der Unterwerfung unter die obrigkeitliche Herrschermacht. Der Bürger ist als Ein- zelner Object der obrigkeitlichen Rechte des Staates; die Willens- sphäre des Staates richtet sich gegen ihn und verpflichtet ihn zu Handlungen, Leistungen und Unterlassungen behufs Durchführung der dem Staate obliegenden Aufgaben Diese Auffassung u. jurist. Formulirung des Verhältnisses der Staats- gewalt zur Person des Staatsbürgers ist mit voller Klarheit hingestellt wor- den von v. Gerber Grundz. §. 15—17. Sie hat mehrfachen Widerspruch erfahren, in der Tübinger Zeitschrift f. d. ges. Staatsw. Bd. 22 S. 434, in Haimerl ’s Oesterr. Vierteljahresschr. Bd. 17 (Literaturbl. S. 19 ff.), und namentlich von Schulze in Aegidi ’s Zeitschr. I. S. 424 ff. Hierauf hat v. Gerber in der zweiten Aufl. S. 222 ff. (Beilage II. ) so meisterhaft replicirt, daß es genügt, auf diese Ausführungen hinzuweisen. Die Analogie auf privatrechtlichem Gebiete darf allerdings nicht in den Instituten des Sachenrechts , sondern nur in den Gewaltverhältnissen des Familien- rechts gesucht werden. . Der Angehörige eines deutschen Staates ist nun der Staatsgewalt seines Staates und mit diesem Staat der darüber stehenden, souveränen Gewalt des Reiches unterthan. Daraus ergiebt sich, daß der Inhalt des Staatsbürgerrechts und der des Reichsbürgerrechts sich zu einander ganz so verhalten, wie die Kom- §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. petenz der Staatsgewalt zu der des Reiches . So- weit das Reich seine eigene Kompetenz beschränkt und die einzelnen Staaten eine selbstständige Lebensthätigkeit entfalten läßt, beschränkt das Reich auch das Maaß seiner obrigkeitlichen Herrscher-Rechte und läßt die Einzelstaaten in deren Besitz; in demselben Umfange ist daher der Einzelne Object der Territorial-Staatsgewalt, Lan- desunterthan, Staatsbürger. In allen Beziehungen dagegen, in denen das Reich seine staatliche Macht entfaltet, obrigkeitliche Herrschaftsrechte ausübt, ist der Einzelne das Object der Reichs- gewalt, sei es nun daß das Reich seine Gewalt unmittelbar oder durch Vermittlung und Verwendung der Staatsgewalt des Einzel- staates zur Geltung bringt. Die Reichangehörigkeit ist wesentlich Reichsunterthanenschaft, d. h. die Pflicht den Geboten und Ver- boten der Reichsgewalt, welche in gesetzlicher, dem Recht entspre- chender Weise erlassen werden, Gehorsam zu leisten. Da nun die Kompetenz des Reiches und die der Einzelstaaten vielfach ineinander geschlungen ist und die letzteren auch auf den dem Reich zugewie- senen Gebieten des Staatslebens regelmäßig Selbstverwaltung haben, so läßt sich die in der Reichsunterthanenschaft liegende Ge- horsamspflicht nicht von der in der Landesangehörigkeit begründeten äußerlich abgrenzen. Wer einem strafrichterlichen Erkenntniß oder der Verfügung einer Zollbehörde nachkömmt, wer den Anordnungen der Militärbehörde gemäß sich zur Aushebung gestellt, u. s. w. der leistet gleichzeitig dem Reich Gehorsam, welches die Straf- Zoll- und Militärgesetze erlassen hat, und dem Einzel- staat , welcher diese Gesetze handhabt Vom Standpunkte der herrschenden Bundesstaatstheorie aus bleibt einem consequent denkenden Juristen gegenüber dieser durchweg hervortreten- den Verquickung und Verbindung von Staatsbürger- und Reichsbürger-Pflich- ten Nichts Anderes übrig, als einfach die Augen vor ihr zu verschließen. Nur so kann man es erklären, wenn v. Gerber S. 240 sagt: „Der Bürger des Nordd. Bundes steht unter einer doppelten Regierung, der seines Einzel- staates und des Bundesstaates; aber jede dieser beiden Regierungen hat ihre besondern, im Ganzen vollständig getrennte Sphäre der Wirksamkeit.“ (!) . Es ist daher unmöglich, die Pflichten einzeln aufzuzählen, welche das Reichsbürgerrecht involvirt und ihnen diejenigen gegenüber zustellen, welche mit dem Staatsbürgerrecht verknüpft sind. Auch die Pflichten, die §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. Reichssteuern zu entrichten und die vom Reich angeordneten Heer- dienste zu leisten, sind nicht von den Hoheitsrechten des Einzel- staates losgelöst Aus der Einheit des Deutschen Heeres nach Art. 63 der R.-V. ergiebt sich aber, daß jeder Deutsche nicht blos in seinem Heimathsstaat, sondern auch in jedem anderen Bundesstaate, in welchem er zur Zeit des Eintritts in das militärpflichtige Alter seinen Wohnsitz hat oder in welchen er vor erfolgter endgültigen Entscheidung über seine aktive Dienstpflicht verzieht, seine Militär- pflicht erfüllen kann und daß er seinem Heimathsstaate gegenüber von der militärischen Dienstpflicht frei wird, wenn er dieselbe in irgend einem Bundes- staate erfüllt hat. R.-V. Art. 3 Abs. 5. Ges. vom 9. November 1867 §. 17. Man nennt dies „die militärische Freizügigkeit.“ und in keinem Falle erschöpfen sie die durch die Reichsangehörigkeit begründete Unterthanen-Pflicht Gewöhnlich werden nur diese Pflichten, die doch nur Anwendungsfälle der allgemeinen Gehorsamspflicht sind, hervorgehoben. So Thudichum V.-R. S. 73. G. Meyer Grundzüge S. 109. v. Rönne S. 103. Von den richtigen Gesichtspunkten geht aus Pözl , das Bayr. Verf.-Recht auf den Grundl. des Reichsrechts S. 31 fg. . 2. Die Treuverpflichtung . Dieselbe ist juristisch in ihrer negativen Richtung von Bedeutung d. h. sie involvirt die Rechts pflicht zur Unterlassung von Handlungen, welche auf die Beschädigung des Staates ab- zielen. Der Staat bedroht solche Handlungen zwar auch mit Strafe, wenn sie von einem Ausländer begangen werden; ja in den schwer- sten Fällen selbst dann, wenn sie ein Ausländer im Auslande begeht R.-Str.-G.-B. §. 4 Nr. 1. . Aber es beruht dies nicht darauf, daß der Ausländer durch seine Handlung eine Rechtspflicht verletzt, sondern auf dem politischen Interesse des Staates, sich durch die Strafdrohungen gegen feindliche Angriffe zu schützen, von wem dieselben auch aus- gehen. Der „Verrath“ setzt nach dem Sinne des Wortes und dem Rechtsbewußtsein des Volkes die Verletzung eines Treuverhält- nisses, der Hoch- und Landesverrath den Treubruch des Staats- genossen gegen den Staat und das Vaterland voraus Wenngleich das Strafgesetzbuch Inländer und Ausländer wegen der- jenigen Handlungen, welche den objectiven Thatbestand des Hochverrathes und Landesverathes bilden, z. Th. mit der gleichen Strafe bedroht, und diese . In §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. analoger Weise beruht die strafrechtliche Aussonderung der Maje- stätsbeleidigung als eines besonderen Delicts auf der Verpflichtung des Staats-Angehörigen zur Treue und Pietät gegen den Träger der Staatsgewalt oder den vornehmsten Vertreter des Staates Schütze S. 225 fg. 245. 247. . Hoch- und Landesverrath und Majestätsbeleidigung enthalten, weil sie zu den Staatsverbrechen gehören, ein subjectives Moment von staatsrechtlicher Natur und so wie der Begriff des Bundesstaates sich von Einfluß zeigt auf die gesetzliche Feststellung ihres That- bestandes, so ist auch umgekehrt aus den strafrechtlichen Bestim- mungen über diese Delicte eine Beleuchtung des Unterthanen- Verhältnisses zu gewinnen Vgl. Heinze Staatsrechtl. u. strafrechtl. Erörterungen zu dem Entw. 1870 S. 53 flg. 61 fg. Knitschky das Verbrechen des Hochverraths Jena 1874 S. 123 ff. . Aus dem Begriffe des Bundesstaates folgt nun, daß die Verpflichtung zur Treue svwohl gegen den Gliedstaat, dem Jemand angehört, als auch gegen den Gesammtstaat begründet ist; daß demnach feindselige Handlungen sowohl gegen jenen wie gegen diesen durch das subjective Moment des Treubruches zum Verrath im eigentlichen Sinne gestempelt werden. Ebenso ist die Beleidigung des Oberhauptes des Reiches in gleicher Weise wie die Beleidigung des eigenen Landesherrn eine Verletzung der mit der Unterthanen- Treue verbundenen Pietätspflicht. Dagegen fehlt es an dieser subjectiven Treuverpflichtung im Verhältniß zu den anderen Einzelstaaten und ihren Landesherren. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß eine solche Handlung straflos bleiben müsse. Es ergiebt sich vielmehr aus dem freund- schaftlichen Verhältniß der Staaten, aus der Solidarität ihrer Interessen und der sogen. comitas nationum , daß feindliche Hand- lungen gegen „befreundete“ Staaten und Beleidigungen ihrer Sou- veräne unter der Bedingung der Reciprocität bestraft werden. Handlungen gemeinsam mit dem Namen Hochverrath resp. Landesverrath be- zeichnet, so bleibt doch in subjectiver Hinsicht immerhin der Unterschied bestehen, daß der Staatsangehörige die seinem Staate schuldige Treue bricht, der Ausländer nicht. Vgl. Schütze Lehrbuch des Deutschen Strafrechts S. 230 Note 5. Schwarze Kommentar S. 286. Manche wollen allerdings hiervon ganz absehen, so Berner Lehrb. S. 231. John in Holtzendorff’s Handb. III. 1. S. 15. §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. Schon dieses Prinzip würde genügen, um feindliche Handlungen gegen irgend einen Bundesstaat und Beleidigung irgend eines Bundesfürsten unter Strafe zn stellen. Die bundesstaatliche Eini- gung derselben hat aber noch weiter gehende Folgen. Die übrigen Gliedstaaten außer demjenigen, welchem der Thäter angehört, sind mehr als befreundete Staaten, sie sind verbündete d. h. Theile des gesammtstaatlichen Organismus Vgl. Schwarze Kommentar zum St.-G.-B. Allgem. Bemerk. zu §§. 80—93. John a. a. O. III. 1. S. 5. . Daraus folgt zunächst der Wegfall der Bedingung der Reciprozität . Durch das gemeine Strafgesetz, welches allgemein die feindliche Handlung gegen jeden zum Bunde gehörenden Staat und die Beleidigung der Bundesfürsten mit Strafe bedroht, ist diese Bedingung von selbst erfüllt. Ueberdies rechtfertigt sich aber auch eine höhere Normirung des Strafmaaßes durch das enge staatsrechtliche und nationale Band, welches die Gliedstaaten umschlingt, durch die höhere Gemeinsamkeit der Interessen, welche unter ihnen besteht, durch die größere Entwicklung des Verkehrs unter ihren Angehö- rigen und durch den Antheil, welchen die Landesherren aller ein- zelnen Staaten an der Reichsgewalt haben Eine völlige Gleichstellung des Hoch- und Landesverrathes gegen den eigenen Staat mit dem (Quasi-) Hoch- u. Landesverrath gegen einen andern Deutschen Staat ist dadurch aber noch nicht geboten. Was John a. a. O. S. 7 ff. in dieser Richtung ausführt, ist von der Idee des Einheitsstaates, nicht der des Bundesstaates beherrscht. Andererseits geht Knitschky a. a. O. S. 127. 128 ganz fehl, wenn er meint, daß das Verhältniß zwischen den einzel- nen Gliedern des Reiches nur als ein völkerrechtliches aufgefaßt werden kann. . Es ergiebt sich daher hinsichtlich der Unterthanen des Reiches eine dreifache Abstufung des Verbrechensbegriffs nach Maaßgabe der Staats-Angehörigkeit: a ) Der eigentliche Landesverrath und die eigentliche Majestäts- beleidigung richtet sich entweder gegen das Reich und dessen Oberhaupt oder gegen den eigenen Staat und dessen Lan- desherrn. Gleichgestellt ist der Staat und dessen Landes- herr in dessen Gebiet man sich unter dem Schutze desselben aufhält. (Siehe unten § 22. III. ) b ) Feindliche Handlungen gegen andere Bundesstaaten oder Beleidigungen anderer Bundesfürsten, als der unter a ) ge- nannten. §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. c ) Feindliche Handlungen gegen befreundete, nicht zum Reiche gehörende Staaten und Beleidigungen ihrer Landesherren, deren Stafbarkeit unter der Bedingung der Reciprozität steht. Diese dreifache Gliederung hat das Reichsstrafgesetzbuch in der That durchgeführt bei dem hochverrätherischen Mordversuch (§ 80. 81. 102.) und der Fürsten-Beleidigung. In dem zweiten Theile des R.-Str.-G.-B.’-s behandelt der 2. Abschnitt gleichmäßig die Beleidigung des Kaisers und des eigenen Landesherrn, der 3. Abschnitt die Beleidigung anderer Bundesfürsten, der 4. Ab- schnit § 103 die Beleidigung von Landesherren nicht zum deutschen Reiche gehörender Staaten, welche strafbar ist, wofern dem deut- schen Reiche die Gegenseitigkeit verbürgt ist Hinsichtlich der Abstufung des Strafmaaßes bestimmt beispielsweise §. 95 für die Beleidigung des Kaisers oder des eigenen Landesherren Gefäng- niß oder Festungshaft von 2 Monaten bis zu 5 Jahren, §. 99 für die Be- leidigung eines Landesfürsten Gefängiß oder Festungshaft von 1 Monat bis zu 3 Jahren, §. 103 für die Beleidigung des Landesherrn eines fremden Staates Gefängniß oder Festungshaft von 1 Monat bis zu 2 Jahren. . In diesen Bestimmungen spiegelt sich das staatsrechtliche Ver- hältniß getreu wieder. Das Unterthanen verhältniß besteht zum eigenen Staate und zum Reiche und deshalb sind in jedem Staate der eigene Landesherr und der Kaiser (als Oberhaupt des Reiches Der Kaiser ist zwar nicht der Souverän des Reiches, hat aber in der Reichsverfassung eine so hervorragende Stellung, daß er als Oberhaupt des Reiches denselben strafrechtlichen Schutz genießt, als wäre er der Souverän. Der Deutsche, der nicht zugleich Preuße ist, ist zwar nicht Unterthan des Kai- sers, aber Unterthan des Reichs. Vollständig verkennt dies Knitschky a. a. O. S. 125 u. 129 fg. mit einem höheren strafrechtlichen Schutze gegen Thätlichkeiten und Beleidigungen ausgestattet wie die anderen deutschen Landesherren, während andererseits die staatliche Zusammengehörigkeit der deutschen Staaten in der Unterscheidung zwischen Bundesfürsten und fremden Landesherren einen Ausdruck gefunden hat. Was diejenigen Handlungen anlangt, welche den objectiven Thatbestand des Hoch- und Landesverrathes bilden, so ergibt sich zunächst aus dem staatlichen Charakter des Reiches ein bemerkens- werther Unterschied gegen das zur Zeit des deutschen Bundes gültig §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. gewesene Recht. Gegen den deutschen Bund konnte ein Hochverrath oder Landesverrath nicht begangen werden; das Bundesverhältniß war kein Gegenstand eines Staatsverbrechens, der Bund hatte keine Staatsangehörigen Klüber Oeffentl. Recht §. 184 Note 6 S. 240 (4. Aufl.). . Allerdings bestimmte der, in allen Bundesstaaten publizirte Bundesbeschluß v. 18. August 1836 Sitz XVI. Prot. §. 226. , daß die gegen die Existenz, Integrität, Sicherheit oder Verfassung des deutschen Bundes gerichteten Handlungen in dem Staate, in dem der Thäter Unterthan ist , als Hochverrath, Lan- desverrath oder unter einer anderen Benennung gestraft werden sollen, unter welcher die gleiche Handlung, gegen den einzelnen Staat selbst begangen, zu strafen sein würde. In diesem Beschluß selbst aber wird als Grund angegeben, daß die Verfassung des deutschen Bundes auch ein Theil der Landesverfassung sei. Die Bundesinstitutionen hatten daher keinen selbständigen oder unmittelbaren Schutz, sondern nur mittelbar durch den Schutz der Verfassungs-Einrichtungen der einzelnen Staaten; Unterneh- mungen gegen den Bund waren nur strafbar als Hoch- oder Lan- desverrath gegen den Einzelstaat Vgl. Heffter im N. Arch. des Criminalrechts 1840 S. 223 ff. und Lehrbuch des Strafr. §. 203 Note 5. . Durch den Art. 74 der Verfassung hat sich dieses Verhältniß vollständig geändert. Zwar lehnt er sich in seiner Fassung an den Wortlaut des Bundesbeschlusses von 1836 an, weil es zur Zeit der Errichtung des Norddeutschen Bundes noch kein gemeines Straf- recht gab; aber er bestimmt nicht, daß der Hochverrath oder Lan- desverraty gegen das Reich als Hoch- oder Landesverrath gegen den einzelnen Staat, in dessen Gebiet die That verübt worden ist, anzusehen sei, sondern daß er ebenso wie der Hoch- oder Lan- desverrath in den einzelnen Staaten zu bestrafen sei „Nach Maßgabe der in den letzteren bestehenden oder künftig in Wirk- samkeit tretenden Gesetze.“ . Gegen- stand des Verbrechens ist nicht der Einzelstaat in seiner Eigenschaft als Bundesglied, sondern das Reich selbst Schütze Lehrbuch S. 228. . Das Reichs-Straf- Gesetz-Buch hat die partikulären Gesetze beseitigt und die Bestra- fung des Hoch- und Landesverrathes sowohl gegen das Reich als §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. auch gegen die einzelnen Staaten geregelt. Im §. 81 wird das Unternehmen, „die Verfassung des Deutschen Reichs gewaltsam zu ändern oder das Bundesgebiet ganz oder theilweise einem frem- den Staate gewaltsam einzuverleiben oder einen Theil desselben vom Ganzen loszureißen,“ als ein selbstständiger Thatbestand des Hochverraths anerkannt und völlig gleichartig neben den Fall ge- stellt, daß ein gleiches Unternehmen gegen einen Bundesstaat ge- richtet wird. Ebenso führt der §. 92 die Gefährdung des Wohles und der Rechte des Deutschen Reiches neben der Gefährdung des Wohles und der Rechte eines Bundesstaates auf. Das Reich erscheint auch in dieser Beziehung als Staat, nicht als Staaten- bund. Endlich sind der Bundesrath und der Reichstag und seine Mitglieder grade ebenso wie die gesetzgebenden Versammlungen der einzelnen Staaten und deren Mitglieder gegen gewaltsame Angriffe und gegen Beleidigungen geschützt. Reichs-Straf-Gesetz- Buch §. 105. 106. 196. 197. Aber auch in einer anderen Beziehung hängt die strafrecht- liche Gestaltung des Landesverrathes mit der bundesstaatlichen Verfassung des Reiches zusammen. Die Kompetenz-Abgränzung zwischen Reich und Einzelstaat, welche, wie wir ausgeführt haben, für die Bestimmung der Unterthanen-Pflichten maßgebend ist, hat auch zur Folge, daß ein Landesverrath in gewissen Fällen nur gegen das Reich, nicht gegen den Einzelstaat verübt werden kann. Bekanntlich theilt man den Landesverrath ein in den mili- tärischen und diplomatischen. Der militärische Landesver- rath besteht in der Aufreizung eines fremden Staates zum Kriege gegen das Vaterland oder in der Unterstützung, Begünstigung und Vorschubleistung des Feindes nach ausgebrochenem Kriege. Da nun die einzelnen Staaten das Recht der Kriegsführung nicht haben, dieses vielmehr ausschließlich dem Reich zusteht, so kann sich ein sogenannter militärischer oder Kriegs-Landesverrath niemals gegen einen Gliedstaat, sondern immer nur gegen den Gesammtstaat richten Der von einigen Kommentatoren zum R.-Str.-G.-B., z. B. Oppen- hoff zu §. 88 Note 1. Schütze Lehrb. S. 240 Note 37 erwähnte Fall, daß nur ein Bundesstaat mit einem ausländischen Staate sich im Kriege befindet, ist aus staatsrechtlichen Gründen unmöglich. Vgl. John a. a. O. S. 47. und es kömmt daher auch in subjectiver Beziehung le- diglich die Reichsangehörigkeit, nicht die Staatsangehörigkeit in §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. Betracht. Demgemäß bedrohen die §§. 87—90 „einen Deutschen,“ welcher die daselbst angeführten Handlungen gegen das Deutsche Reich oder dessen Bundesgenossen verübt, mit Strafe John a. a. O. S. 48. . In einem inneren Zusammenhange damit steht die Bestimmung des Gesetzes über die Bundes- und Staatsangehörigkeit v. 1. Juni 1870 §. 20 „Deutsche, welche sich im Auslande aufhalten, können ihrer Staatsangehörigkeit durch einen Beschluß der Centralbehörde ihres Heimathsstaates verlustig erkärt werden, wenn sie im Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr einer durch das Bundespräsidium für das ganze Bundesgebiet anzu- ordnenden ausdrücklichen Aufforderung zur Rückkehr binnen der darin bestimmten Frist keine Folge leisten.“ Auch diese Bestimmung hat ihren Grund in der Verpflichtung zur Treue aller Reichsangehörigen gegen das Reich in denjenigen Angelegenheiten, die allgemeine Reichsinteressen betreffen und ist für das Verhältniß von Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht sehr bezeichnend. Der Kriegszustand und die Kriegsgefahr bedro- hen das Reich als Ganzes; der Aufenthalt von Deutschen im Auslande zu solcher Zeit kann daher nur mit der Unterthanen- treue gegen das Reich , nicht gegen einen einzelnen Staat, colli- diren. Deshalb ist die Aufforderung zur Rückkehr vom Kaiser, nicht von den einzelnen Staaten zu erlassen. Die Aufforderung darf ferner nicht für die Angehörigen eines oder einiger Staaten ge- schehen, sondern sie ist gleichzeitig für die Angehörigen aller Bun- desstaaten, oder wie das Gesetz sehr ungeschickt sagt „für das ganze Bundesgebiet“ Da die Aufforderung an die im Auslande sich aufhaltenden Deutschen gerichtet ist, so hat sie keine Beziehung auf das Bundesgebiet . Nicht in territorialer, sondern in personaler Hinsicht soll sie eine generelle, d. h. an die Angehörigen aller Staaten gerichtete sein. , anzuordnen. Aber das Reichsbürgerrecht kann nicht für sich allein und nicht unmittelbar entzogen werden: es kann nur verloren gehen mit und durch den Verlust der Staatsangehörigkeit in dem betref- fenden Einzelstaat. Deshalb droht das Reichsgesetz für die dem Reich gegenüber gezeigte Entfremdung vom Vaterland den Verlust der Staats angehörigkeit an und ermächtigt die Centralbehörde Laband , Reichsstaatsrecht. I. 10 §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. des Heimathsstaates diesen Verlust durch einen Beschluß zu erklären. Die Entziehung der Reichsangehörigkeit wird dadurch bewirkt, daß das Fundament, auf welchem sie ruht, ihr genommen wird. Die innere Einheit von Staats- und Reichsbürgerrecht tritt hier mit besonderer Deutlichkeit hervor und ebenso wird es an- schaulich, wie die Unterthanen-Pflicht gegen den Staat sich an dem Punkte von selbst in die Unterthanen-Pflicht gegen das Reich ver- wandelt, wo das Reich die Erfüllung der staatlichen Zwecke dem Einzelstaate abgenommen hat. Der sogenannte diplomatische Landesverrath , wel- cher in der Mittheilung von Staatsgeheimnissen oder Urkunden, in der Vernichtung von Aktenstücken oder Beweismitteln behufs Gefährdung staatlicher Rechte oder in der Führung eines Staats- geschäfts mit einer andern Regierung zum Nachtheil des Staates, welcher den Auftrag dazu ertheilt hat, besteht, kann seinem objec- tiven Thatbestande nach eben sowohl gegen das Reich, wie gegen jeden einzelnen Staat verübt werden und es hätte daher in diesen Fällen sehr wohl ein Unterschied gemacht werden können, ob die feindliche (verrätherische) Handlung gegen das Reich resp. den eigenen Bundesstaat oder ob sie gegen einen anderen Bun- desstaat gerichtet ist. Diese Unterscheidung ist aber natürlich nur dann möglich, wenn man in subjectiver Beziehung überhaupt die Angehörigkeit zum Deutschen Reich als Requisit des Verbrechens erfordert. Dies ist in dem Reichs-Straf-Gesetze weder beim Hoch- verrath noch bei den erwähnten Fällen des Landesverrathes ge- schehen. Der §. 92 sagt nicht: „Ein Deutscher, welcher vorsätzlich u. s. w.“ sondern: „Wer vorsätzlich u. s. w.“ Trotz dieser allgemeinen Fassung nimmt Berner Lehrb. §. 239 an, daß nur ein Inländer einen diplomatischen Landesverrath begehen könne. Auch John in Holtzendorff’s Handbuch des d. Strafr. III. 1. S. 53 sagt ohne Angabe eines Grundes, daß für die Fälle des §. 92 Nr. 1 u. 2 als Subject ein Deutscher vorausgesetzt sei. Vgl. dagegen Schütze S. 243. Oppenhoff zu §. 92 Note 2. Rudorff zu §. 92 Note 1. Schwarze S. 286. und hat somit den Zusammenhang der in diesem Paragraphen aufgeführten Fälle des Landesverrathes mit der in der Staatsangehörigkeit begrün- deten Treuverpflichtung gelöst Ueber das Bedenkliche dieses Verfahrens vergl. Heinze a. a. D. S. 64 ff. ; Inländer und Ausländer sind §. 14. Die Pflichten der Reichsangehörigen. einander völlig gleichgestellt Dadurch wird natürlich nicht ausgeschlossen, daß bei der Straf- Ausmessung vom Richter das subjective Moment gewürdigt und der Verrath des eigenen Staates strenger bestraft wird, als die gleiche Handlung eines Ausländers bestraft werden würde. Vgl. auch Schütze S. 231. ; nur daß ein Inländer auch wegen eines im Auslande begangenen Landesverrathes zur Strafe gezo- gen werden kann. (Reichs-Straf-Gesetz-Buch §. 4 Z. 2.) Dadurch war es von selbst ausgeschlossen, den Landesverrath, welchen ein Deutscher gegen den eigenen Staat verübt, von dem Landesverrath, welchen ein Deutscher gegen einen anderen Bun- desstaat verübt, zu unterscheiden, und der Staatsangehörigkeit innerhalb des Deutschen Reiches in dieser Richtung eine strafrecht- liche Wirksamkeit beizulegen. Das Reichsstrafgesetzbuch ignorirt an dieser Stelle — und zwar nach Ausweis der Motive S. 83 ff. mit Bewußtsein und Absicht — die Fortdauer eines besonderen staatlichen Angehörigkeits-Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und seinem Heimathsstaate und geht davon aus, daß man im ganzen Bundesgebiet jeden Bundesangehörigen als Inländer auffassen müsse. Dem ethischen und rechtlichen Bewußtsein des Volkes dürfte es freilich anstößig erscheinen, „daß der Angehörige des Einzelstaates R , der ein Geheimniß des Einzelstaates S seinem eigenen Staate verrathen hat, überall in Deutschland ebenso straf- bar, also auch von seinem eigenen Heimathsstaat ebenso zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen wäre, wie wegen irgend eines Privatverbrechens Vgl. Heinze a. a. O. S. 65. Wenn John a. a. O. S. 54 zur Rechtfertigung des Strafgesetzb. sich auf die Anschauung beruft, daß durch die Verletzung des Theils das Ganze verletzt erscheint, so ist zu erwidern: 1) daß diese Anschauung falsch ist, in so weit das Interesse des Theils ver- schieden ist von dem Interesse des Ganzen und 2) daß es strafrechtlich nicht gleichgültig ist, ob Jemand denjenigen Theil des Ganzen, dem er selbst an- gehört, verletzt oder einen andern Theil desselben Ganzen. .“ So wie die Strafe des Kriegs-Landesverraths eine Analogie in dem oben erörterten Verlust der Staatsangehörigkeit auf Grund des §. 20 des Ges. vom 1. Juni 1870 hat, so auch der sogen. diplomat. Landesverrath. Dasselbe Gesetz bestimmt im §. 22. „Tritt ein Deutscher ohne Erlaubniß seiner Regierung in fremde Staatsdienste, so kann die Centralbehörde seines Heimathstaates denselben durch Beschluß seiner Staatsan- 10* §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. gehörigkeit verlustig erklären, wenn er einer ausdrücklichen Aufforderung zum Austritte binnen der darin bestimmten Frist keine Folge leistet.“ Unter fremden Staatsdiensten sind nur Dienste bei einem nicht zum Reiche gehörenden Staate zu verstehen; weder der Reichsdienst noch der Dienst bei einem andern Bundesstaat ist ein fremder Staatsdienst. Dagegen ist ein feindliches Verhalten des außerdeutschen Staates nicht vorausgesetzt, der fremde Staat kann ein befreundeter (im Sinne des R.-St.-G.-B. Thl. II. Abschn. 4) sein. Der Eintritt in seine Dienste kann gleichwohl eine Ent- fremdung vom Heimathsstaat bekunden oder eine Collision der übernommenen Amtspflichten mit der Treupflicht gegen den Hei- mathsstaat herbeiführen. Der Verlust der Staatsangehörigkeit zieht zwar auch in dem Falle des §. 22 den Verlust der Reichs- angehörigkeit nach sich, aber nur deshalb weil beide Eigenschaften mit einander untrennbar verbunden sind; dagegen ist das Reich als solches bei der Entziehung der Staatsangehörigkeit nicht be- theiligt, weder beim Erlaß der Aufforderung zur Rückkehr noch bei dem Beschluß der Expatriirung. „Wenn Jemand mit Erlaub- niß seiner Regierung bei einer fremden Macht dient, so verbleibt ihm seine Staatsangehörigkeit“ (§. 23 des angef. Gesetzes); d. h. er kann von seiner Regierung nicht durch Androhung der Entzie- hung der Staatsangehörigkeit zum Austritte genöthigt werden Riedel S. 269. . §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. Vollkommen entsprechend den Unterthanenpflichten gegen das Reich sind die reichsbürgerlichen Rechte. Es sind dies die gewöhnlichen staatsbürgerlichen Rechte innerhalb der dem Reiche zugewiesenen Kompetenz . Das Reichs- bürgerrecht enthält Nichts, was nicht auch das Staatsbürgerrecht in dem souveränen Einheitsstaat enthalten würde; es ist nichts Anderes als das Staatsbürgerrecht in denjenigen Beziehungen, in denen das Reich an die Stelle des Einzelstaates getreten ist. Der Begriff des Staatsbürgerrechts wird in der Literatur fast durchweg in einem Sinne genommen, in welchem völlig Ver- §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. schiedenes zusammengeworfen wird. Man rechnet darunter theils die sogenannten politischen Rechte, theils die bürgerlichen Rechte, das heißt die Vorrechte des Einheimischen vor den Fremden, theils die sogenannten Freiheitsrechte oder Grundrechte Ueber die gemeinrechtliche Theorie vgl. die ausführlichen Darstel- lungen bei Klüber §. 257 (4. Aufl. S. 364). Maurenbrecher Grund- sätze §. 57 (S. 79). Weiß System des Deutschen Staatsrechts §. 273 ff. Zöpfl II. §. 281 ff. und besonders Zachariä I. §. 85 ff. (3. Aufl. S. 430—558). Von denselben Gedanken gehen die Darsteller der Partikular- rechte aus, unter ihnen sind hervorzuheben v. Mohl Staatsr. des Königreichs Württemberg I. §. 69 (2. Aufl. S. 323 ff.). v. Pözl bayer. Verfassungsr. §. 27 ff. (4. Aufl. S. 61—98). v. Rönne Staatsr. der Preuß. Monarchie I. §. 89 ff. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 376 ff. . Die beiden letzten Kategorien sind überhaupt keine Rechte im subjectiven Sinne . Die Vorrechte des Einheimischen vor den Fremden sind lediglich die Negation der Belastungen oder Be- schränkungen, denen Fremde unterworfen sind, haben aber keinen positiven Inhalt und zerfließen sofort in Nichts, wenn der Staat Fremde den Einheimischen gleich behandelt. Die Freiheitsrechte oder Grundrechte sind Normen für die Staatsgewalt, welche dieselbe sich selbst giebt, sie bilden Schranken für die Machtbefugnisse der Behörden, sie sichern dem Einzelnen seine natürliche Handlungs- freiheit in bestimmtem Umfange, aber sie begründen nicht subjective Rechte der Staatsbürger. Sie sind keine Rechte, denn sie haben kein Object Vgl. die vortrefflichen Ausführungen v. Gerbers Ueber öffentliche Rechte (Tübingen 1852) S. 76 ff. besonders S. 79 und Grundzüge des Staats- rechts §. 10 Note 5 und §. 17. Auch Zachariä Staatsr. I. S. 443 (§. 87 Note 1) erkennt an, daß es sich bei den sogen. Freiheits- oder Grundrechten nicht um subjective Rechte der Einzelnen, sondern um Schranken der Regie- rungsgewalt handelt; behält jedoch die alte Sitte bei, diese objectiven Regie- rungs-Normen als Rechte der Staatsbürger darzustellen. Diese Sitte ist die herrschende geblieben und hat sich auch in der Literatur des Bundes- und Reichsrechts eingenistet und so findet man bei Thudichum , G. Meyer, Riedel und anderen Schriftstellern das reichsbürgerliche Recht auf Paß- und Gewerbefreiheit, auf freie Verehelichung, auf Briefgeheimniß u. s. w.; also das subjective Recht, bei Reisen keinen Paß, beim Gewerbebetrieb keine Concession, bei der Verehelichung keinen polizeilichen Consens zu bedürfen! Wenn Thudichum S. 524 unter den „Freiheitsrechten“ sogar auch die Ein- schränkung der Beschlagnahme von Arbeitslöhnen und der Schuldhaft aufführt, so ist nicht einzusehen, warum nicht auch der gesammte Inhalt des Handelsgesetz- buches und der Wechselordnung hierher gezogen werden könnte und weshalb . §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. Als Inhalt des Staatsbürgerrechts ist vielmehr nur anzuer- kennen, der Anspruch des einzelnen Staatsbürgers auf die Er- füllung der Aufgaben, welche der Staat seinen Angehörigen gegen- über übernommen hat und zwar sowohl nach Außen als im Innern und auf die verfassungsmäßige Antheilnahme an dem staatlichen Leben selbst. Dem entsprechend giebt es auch ein Reichsbürger- recht, welches allen Angehörigen des Reiches ohne Rücksicht auf den Einzelstaat zusteht und gegen das Reich unmittelbar gerichtet ist, mit dreifachem Inhalt: Schutz im Auslande, Schutz im Inlande und Theilnahme am Verfassungsleben des Reiches. 1) Der Anspruch auf Schutz im Auslande . Grade in dieser Beziehung ist das Reich am Vollständigsten an die Stelle der Einzelstaaten getreten und hat ihnen ihre Pflichten abgenommen. Die Reichsverfassung selbst bestimmt Art. 3 Abs. 6 „ dem Auslande gegenüber haben alle Deut- schen gleichmäßig Anspruch auf den Schutz des Reichs .“ Nicht blos die Einzelstaaten haben einen Anspruch an das Reich, daß dieses ihre Angehörigen dem Auslande gegenüber schützt Siehe oben S. 110. , sondern „alle Deutschen“ haben diesen Anspruch unmittel- bar. Durch den Art. 4 Nro. 7 der R.-Verf. ist die Kompetenz des Reiches dieser Aufgabe gemäß erstreckt auf „die Organisation eines gemeinsamen Schutzes des deutschen Handels im Auslande, der deutschen Schifffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung gemeinsamer konsularischer Vertretung, welche vom Reiche ausge- stattet wird.“ Zur Gewährung des Schutzes hat das Reich Ge- sandtschaften eingerichtet und Konsulate organisirt und zur wirksamen Durchführung verfügt es über das Heer und die Kriegsmarine. Auch hier sind die Einzelstaaten übrigens nicht völlig elimi- nirt und durch das Reich keineswegs gänzlich verdrängt. Eine Trennung von Centralgewalt und Einzelstaatsgewalt, wie sie die herrschende Bundesstaats-Theorie lehrt, daß auf gewissen Gebieten nur das Reich, auf anderen nur der Einzelstaat Hoheitsrechte hat, besteht nicht einmal hier, wo die Machtbefugnisse des Reiches am man z. B. die „Freiheitsrechte“ eines Deutschen, Wechsel zu trassiren und zu acceptiren, zu domiziliren und zu indossiren, aus dem System des Staatsrechts so erbarmungslos ausstößt. §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. meisten entwickelt sind. Denn abgesehen davon, daß es den Ein- zelstaaten unbenommen ist, Landes- Gesandtschaften zu unter- halten, denen der Schutz und die Vertretung der Interessen der Landes-Angehörigen zunächst obliegt, bestimmt auch hinsichtlich der Konsulate, zu deren Errichtung das Reich ausschließlich be- fugt ist Nur interimistisch ließ Art. 56 der R.-V. Landesconsulate bestehen bis die Organisation der Deutschen Konsulate vollendet war. , der §. 3 Abs. 2 des Gesetzes v. 8. Nov. 1867 „In besonderen, das Interesse (eines einzelnen Bundes- staates oder) einzelner Bundesangehörigen betreffenden Ge- schäftsangelegenheiten berichten sie an die Regierung des Staates , (um dessen besonderes Interesse es sich handelt, oder) dem die betheiligte Privatperson ange- hört ; auch kann ihnen in solchen Angelegenheiten die Regierung eines Bundesstaates Aufträge ertheilen und un- mittelbare Berichtserstattung verlangen“. Hiernach ist es den Einzelstaaten unbenommen, sich selbst ihrer Angehörigen im Auslande anzunehmen und kein Deutscher ist ge- hindert, sich an die Regierung seines Heimathsstaates zu wenden und ihre Fürsorge für seine Interessen zu verlangen. Aber er ist auf sie nicht angewiesen. Die Organe des Reiches, Gesandt- schaften und Konsulate, sind ihm unmittelbar zugänglich, eben- so das Auswärtige Amt des Reiches, und das Reich allein verfügt über die Machtmittel, um den Schutz dem Auslande gegenüber fühlbar und wirksam zu machen. 2) In den inneren Angelegenheiten entspricht der Pflicht des Staatsbürgers zur Tragung der staatsbürgerlichen Lasten, zum Gehorsam und zur Treue sein Recht, an den Wohlthaten des staatlichen Gemeinwesens Theil zu nehmen. Die ursprünglichste, natürlichste und im Ganzen auch die wichtigste Seite des Staatsbürgerrechts in dem entwickelten Sinne ist der Anspruch, im Staate — d. h. im Gebiet und unter dem Schutz des Staates — leben zu dürfen. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen der rechtlichen Stellung des Staatsangehörigen und derjenigen des Fremden, daß der letztere im Staat geduldet wird, der erstere berechtigt ist, im Staate zu leben. Zwar ist die Duldung von Fremden, welche friedlich und §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. den Gesetzen gemäß sich halten, eine völkerrechtliche Pflicht; aber es ist unbezweifelt, daß jeder Staat ganz unabhängig und frei prüfen kann, ob er den ferneren Aufenthalt eines Ausländers in seinem Gebiet als mit seinem Interesse verträglich erachtet und daß er, falls er dies verneint, jeden Ausländer aus seinem Ge- biet verweisen kann Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß der wesentlichste Inhalt des Indigenats oder der Staatsangehörigkeit in dem Wohnrecht besteht. Vgl. z. B. Zöpfl II. §. 298 und besonders v. Bar International. Privat- u. Strafrecht S. 83 fg. Auch [ Goldammer ] Archiv für Preuß. Strafrecht Bd. XVI. S. 453. Indeß ist festzuhalten, daß ein Woh nrecht vertragsmä- ßig auch einem Fremden eingeräumt werden kann, was in früherer Zeit z. B. hinsichtlich der Juden öfters vorkam. (Vgl. Otto Stobbe die Juden in Deutschl. während des Mittelalters S. 23 ff.), und daß andererseits das Wohnrecht den Inhalt der durch die Staatsangehörigkeit begründeten Rechte nicht erschöpft. . Eine Landesverweisung der Staatsangehörigen dagegen giebt es nicht Im früheren Recht kam dieselbe allerdings vor; mit dem modernen Staatsbegriff ist sie ganz unvereinbar. Vgl. auch Zachariä II. S. 301. Die bei Zöpfl II §. 298 Note 3 angeführten Verfassungsbestimmungen. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 2 §. 335. v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 800. . Der Staatsangehörige, der sich gegen die Gesetze vergeht, kann nach Maaßgabe derselben bestraft, aber niemals aus dem Staatsgebiete verwiesen werden. Demgemäß kann kein Reichs angehöriger aus dem Reichsgebiet verwiesen werden, weder aus polizeilichen noch strafrechtlichen Gründen. Durch das Gesetz über die Freizügigkeit v. 1. Nov. 1867 §. 1 „Jeder Bundesangehörige hat das Recht , innerhalb des Bundes- gebietes an jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen , wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen sich zu verschaffen im Stande ist.“ ist dieses staatsbür- gerliche Grundrecht gewährleistet. Das Strafgesetzbuch kennt dem entsprechend die Strafe der Landesverweisung gegen Reichsange- hörige nicht, wohl aber gegen Ausländer (§. 39 Abs. 2 §. 284 Abs. 2. §. 362 Abs. 3). Das Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu, vom 4. Juli 1872 unterscheidet im §. 2, ob die Jesuiten Ausländer oder Inländer sind; im ersteren Falle können sie ausgewiesen, im letztern Falle internirt werden Der Regierungs-Entwurf wollte allerdings Reichsangehörige und aus- ländische Jesuiten gleichstellen; auf den Antrag des Abgeordneten Meyer (Thorn) . Endlich das §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. Gesetz vom 4. Mai 1874, betreffend die Verhinderung der unbe- fugten Ausübung von Kirchenämtern, gestattet zwar im äußersten Falle die Ausweisung des renitenten Geistlichen, erfordert aber, daß derselbe zuvor seiner Staatsangehörigkeit durch Verfügung der Centralbehörde seines Heimathsstaates verlustig erklärt werde und sichert durch den § 4 ausdrücklich die Consequenz, daß dieser Verlust der Staatsangehörigkeit den Verlust der Reich sangehörig- keit nach sich zieht, indem er seine Wirkung gleichzeitig auf alle einzelnen Bundesstaaten erstreckt „Personen, welche nach den Vorschriften dieses Gesetzes ihrer Staats- angehörigkeit in einem Bundesstaate verlustig erklärt worden sind, verlieren dieselbe auch in jedem anderen Bundesstaate und können ohne Geneh- migung des Bundesraths in keinem Bundesstaate die Staatsangehörigkeit von neuem erwerben.“ . Im engsten Zusammenhange mit dem entwickelten Prinzip steht der weitere Rechtssatz: Ein Reichsangehöriger darf in keinem Falle einem ausländischen Staat aus- geliefert werden . Auch dies ist ein wesentlicher Bestandtheil des Reichsbürgerrechts, das Wort in seiner wahren, juristischen Bedeutung genommen. Der Grundsatz, welcher seinen Platz in der Reichsverfassung verdiente, ist gesetzlich sanktionirt im Reichs-Strafgesetzbuch § 9. Ein Deutscher darf einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung nicht überliefert werden Auch zu anderen Zwecken nicht. Wenn z. B. im Falle eines Krieges eine befreundete Regierung sich erbieten würde, verwundete Deutsche Krieger zur Verpflegung und Heilung zu übernehmen, so dürften doch Deutsche Sol- daten wider ihren Willen nicht an ausländische Lazarethe abgeliefert werden. . Er ist außerdem in sämmtlichen völkerrechtlichen Verträgen, welche das Reich mit auswärtigen Staaten über die Auslieferung von Verbrechern abgeschlossen hat, ausnahmslos anerkannt wor- den Vertr. mit Nordamerika vom 16. Juni 1852 Art. 3 resp. vom 22. Februar 1868 Art. 3 (B.-G.-Bl. 1868 S. 229. 234); mit Belgien vom 9. Februar 1870 Art. 2 (B.-G.-Bl. 1870 S. 57); mit Italien vom 31. Oktober 1871 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1871 S. 449) u. Uebereinkunft v. 8. August . aber, welcher hervorhob, „daß ein solcher Verlust des Indigenats den Grund- sätzen des modernen Rechts überall widerstreitet,“ verbesserte der Reichstag das Gesetz in dem angegebenen Sinne. §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. Das staatsbürgerliche Recht, dem Staat auch thatsächlich ange- hören zu dürfen, beschränkt sich aber nicht auf das bloße Existiren in dem Gebiet, in der Luft des Heimathsstaates; sondern es er- hält seinen bedeutungsvollen Inhalt in dem Anspruch, daß die Fürsorge des Staates für Aufrechthaltung der Rechtsordnung und zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt auch Jedem zu Theil werde, d. h. daß die bestehenden Gesetze, welche für ihn Rechte begründen oder seinem Interesse förderlich sind, auch wirklich zu seinen Gunsten angewendet werden. Im Einzelnen läßt sich dieses Recht ebenso wenig spezialisiren, wie die Gehorsamspflicht; beide empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch die Lebensthätigkeit des Staates selbst. Dem Begriff des Bundesstaates als eines zwei- fach gegliederten Staates gemäß ist dieses Recht sowohl gegen den Einzelstaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze zwischen dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt sich auch hier nicht anders fixiren, wie bei der Unterthanenpflicht d. h. ledig- lich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die Einzelstaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinsam thätig sind und zusammenwirken und sich in ihrer Kompetenz gegenseitig ablösen, so wie sie zusammen die Staatsaufgabe erfüllen, so richtet sich auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von dieser Fürsorge nicht ausgeschlossen zu werden, bald gegen den Einzelstaat bald gegen das Reich. In letzterer Beziehung kann man als Bethätigungen dieses Rechts oder als Mittel seiner Gel- tendmachung ansehen: die Appellation an die Reichsgerichte, die Beschwerdeführung bei den Reichsbehörden und die Einreichung von Petitionen bei dem Reichstage. In einer Hinsicht hat dieses Recht einen prägnanten Ausdruck in der Reichsverfassung gefunden. Nach der Einleitung zur R.-V. gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes in dem Bundesgebiet; die Handhabung dieses Schutzes ist indeß zum größten Theile den Einzelstaaten überlassen. Wenn aber ein einzelner Staat dieser fundamentalsten Aufgabe nicht nachkommt und der Fall einer Justizverweigerung eintritt, so liegt es nach Art. 77 1873 wegen Uebernahme von Auszuweisenden Art. 4 (Centralbl. I. S. 282); mit Großbritannien vom 14. Mai 1872 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1872 S. 232); mit der Schweiz vom 24. Januar 1874 Art. 2 (R.-G.-Bl. 1874 S. 115). §. 15. Der Inhalt des Reichsbürgerrechts. der Reichs-Verfassung dem Bundesrathe ob Siehe unten §. 29 III. , Beschwerden anzu- nehmen und zu prüfen, „und darauf die gerichtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.“ Dieser Verfassungssatz ist die Ergänzung zu dem Art. 3 Abs. 6, welcher dem Deutschen den Schutz des Reiches dem Auslande gegenüber verheißt und beide zusammen bilden den Inhalt des staatlichen Rechts des Reichsbürgers auf Schutz, des Correlats seiner Pflicht zur Treue. 3) Endlich begründet die Staatsangehörigkeit den Anspruch auf Antheilnahme an dem Verfassungsleben, der Willensthätigkeit des Staates, oder wie man, im Anschluß an die französische Ter- minologie gewöhnlich sagt, die politischen Rechte. Es folgt dies zwar nicht aus dem Begriff und Wesen des Staates selbst, wohl aber aus der Verfassungsform des sogen. constitutionellen Staates, welche das deutsche Reich angenommen hat. Es ist auch dieser Anspruch nicht durch die Thatsache der Staatsangehörigkeit allein mit Nothwendigkeit gegeben, wie die Pflicht zum Gehorsam und der Anspruch auf Schutz; sondern die Staatsangehörigkeit bildet nur die wesentliche Voraussetzung und das eigentliche Fundament dieser Rechte. Um zur Ausübung derselben berechtigt zu sein, kann das Gesetz auch noch andere Voraussetzungen, namentlich männliches Geschlecht, ein bestimmtes Alter, Unbescholtenheit, Aufenthalt oder Wohnsitz von bestimmter Dauer u. dgl. verlangen. Da das Reich, wie oben bereits ausgeführt worden ist, seine eigenen Organe zur Herstellung und Ausführung seines Willens hat, d. h. Organe, die nicht Organe der Einzelstaaten sind, sondern dem Reiche unmittelbar angehören; da insbesondere der Reichstag keine Delegirten-Versammlung der Einzellandtage oder der Bevöl- kerung der Einzelstaaten ist, so ist auch das aktive Reichstags- Wahlrecht unmittelbar auf die Reichsangehörigkeit gegründet und die Ausübung dieses Rechts ist an keine territoriale Landes- grenze innerhalb des Reiches gebunden. Ebenso ist das sogen. passive Wahlrecht oder richtiger die Qualification zum Reichstags- mitglied im ganzen Reich durch die Reichsangehörigkeit gegeben. In Preußen, Sachsen, Bayern ist nicht bloß der Preuße, Sachse §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. oder Bayer, sondern jeder Deutsche zur Theilnahme an den Reichs- tagswahlen berechtigt und wählbar Vgl. unten §. 47 und §. 49. . 4) Regelmäßig wird zu den staatsbürgerlichen oder politischen Rechten auch die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter ge- zählt, Allein dies ist kein Recht im subjectiven Sinn, denn Nie- mand hat einen Anspruch darauf, im Staatsdienst angestellt zu werden und ein öffentliches Amt zu erhalten Richtig hervorgehoben im Verfassunggeb. Reichstage von dem Hess. Bundescommissar Hofmann . (Sten. Ber. 244.) . Es handelt sich hier vielmehr lediglich um einen objectiven Rechtssatz, welcher die Voraussetzungen betrifft, an welche die Qualifikation der Personen, die im Staatsdienst Verwendung finden dürfen, geknüpft ist. Nicht ein subjectives Recht des einzelnen Staatsangehörigen, sondern eine objectiv-rechtliche Schranke der Staatsregierung wird durch den Rechtssatz, daß nur Staatsangehörige im Staatsdienst angestellt werden dürfen, begründet. In die Lehre vom Staatsbürgerrecht gehört dieser Satz daher keinesfalls. Für das Reichsrecht besteht er aber überhaupt nicht; die Reichsregierung ist nicht gehindert, Ausländer in den Reichsdienst zu berufen Das Gesetz über Errichtung des Oberhandelsgerichts für den Nordd. Bund vom 12. Juni 1869 §. 6 behielt ausdrücklich die Ernennung von öffent- lichen Lehrern des Rechts an einer Deutschen Universität vor; also auch von südd. Professoren, welche damals für den Nordd. Bund „Ausländer“ waren. . Im Gegentheil be- stimmt das Gesetz v. 1. Juni 1870 ausdrücklich, daß der Aus- länder durch seine Anstellung im Reichsdienst die Staatsangehö- rigkeit (mithin auch das Reichsbürgerrecht,) in demjenigen Bun- desstaate, erwirbt , in welchem er seinen dienstlichen Wohnsitz hat. Es ist also das Reichsbürgerrecht nicht Voraussetzung , sondern Wirkung der Anstellung im Reichsdienst; eine Natura- lisation des Ausländers braucht seiner Anstellung nicht voraus zu gehen , sondern sie wird durch seine Berufung zu dem Reichs- amt ersetzt. Auch materiell ist es daher unrichtig, die „Fähigkeit“ zur Bekleidung von Reichsämtern zum Inhalt des Reichsbürger- rechts zu machen. §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. Die vorstehenden Erörterungen ebnen den Weg, um nun auch den Inhalt des Staatsbürgerrechts im Einzelstaat und das Ver- §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. hältniß desselben zum Reichsbürgerrecht näher zu bestimmen. Nie- mandem kann es entgehen, wie sehr das Staats bürgerrecht durch die Zusammenfassung der deutschen Staaten zu einem Gesammt- staat afficirt, in seinem Inhalt beschränkt und an seiner Wichtig- keit verringert worden ist. Aber es ist nicht beseitigt worden; es ist im Gegentheil die unerläßliche Grundlage und Voraussetzung des Reichsbürgerrechts geworden. Die einzelnen Staaten wären keine Staaten mehr, wenn sie keine Staatsbürger hätten. Das Reich wäre kein Bundesstaat, sondern ein Einheitsstaat, wenn das Staatsbürgerrecht in den Einzelstaaten in dem Reichsbürgerrecht untergegangen wäre. Der Satz, daß jeder Angehörige des Reiches in jedem Einzelstaate als Inländer zu behandeln ist, dessen recht- liche Bedeutung wir bald näher feststellen werden Vgl. unten §. 19. , ist nicht identisch mit dem Satz, daß jeder Angehörige des Reiches in jedem dazu gehörenden Staate Staatsbürger sei. Im Allgemeinen ist für die Grenze zwischen Staats- und Reichsbürgerrecht schon oben die Kompetenzgrenze zwischen Staats- und Reichsgewalt als maaßgebend bezeichnet worden. Im Ein- zelnen folgt daraus: 1) Soweit die Einzelstaaten im Besitz staatlicher Hoheitsrechte geblieben sind, ist der Staatsbürger ihnen unterworfen, zum Gehorsam verpflichtet , Object der Einzelstaatsgewalt. Er steht unter ihrer Jurisdiction, Polizei, Finanzhoheit. Aus der souveränen Gewalt des Reiches über die einzelnen Staaten folgt aber, daß die Einzelstaaten ihre Hoheitsrechte nicht im Widerspruch mit den verfassungsmäßig erlassenen Anordnungen des Reiches ausüben dürfen und daß jede Ausübung von Hoheitsrechten, die mit den Anordnungen des Reiches collidirt, rechtsunwirksam und nichtig ist. 2) Der Staatsbürger hat seinem Heimathsstaat gegenüber Anspruch auf Schutz im Auslande und zwar auch in den Ge- bieten der übrigen Bundesstaaten, soweit der Einzelstaat rechtlich und factisch noch in der Lage ist, diesen Schutz zu gewähren. Die einzelnen Staaten können sowohl im Reichs-Auslande als im Reichs- Inlande bei den anderen Bundesstaaten Gesandtschaften halten, was bekanntlich auch theilweise geschieht. Denselben liegt die Vertretung der Privat-Interessen ihrer Staats-Angehörigen ob. §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. Dieser Schutz kann verwirklicht werden theils durch eine direkte Reclamation bei der Regierung des auswärtigen oder verbündeten Staates, theils durch eine Anregung bei der Centralbehörde des Reiches, daß dasselbe sich des Angehörigen des reclamirenden Ein- zelstaates annehme, theils durch eine förmliche Beschwerde einer Bundesregierung bei dem Reich, wenn ein Einzelstaat zum Nach- theil der Angehörigen eines anderen Anordnungen der Reichsver- fassung oder anderer Reichsgesetze verletzt. 3) Das Wohnrecht in dem Staate , dem man angehört, hat durch das jedem Reichsangehörigen eingeräumte Wohnrecht im ganzen Reichsgebiet sehr wesentliche Modifikationen erfahren, und zwar nicht blos eine bedeutungsvolle Erweiterung, sondern auch sehr wichtige Einschränkungen. Für einen besonderen Fall giebt es auch jetzt noch eine Aus- weisung von Reich sangehörigen aus dem Gebiete eines deutschen Staates , zu welchem sie nicht staatsangehörig sind, so daß sich die Staatsangehörigkeit als das stärkere, wirksamere Rechts- verhältniß erweist. Da nämlich das Gesetz über den Unterstützungs- wohnsitz in Bayern nicht eingeführt worden und nach dem Schluß- protokoll vom 23. November 1870 Ziffer III. der Gotha’er Ver- trag vom 15. Juli 1851 für das Verhältniß Bayerns zu dem übrigen Bundesgebiet in Geltung geblieben ist, so können auf Grund des §. 1 Lit. a. des gedachten Vertrages die andern Deut- schen Staaten von Bayern und Bayern von den anderen Deut- schen Staaten die Uebernahme von hülfsbedürftigen Staats- angehörigen verlangen, was einer Ausweisung von Reichsangehö- rigen aus dem Einzelstaatsterritorium gleichkömmt. Dagegen kann kein Staat nach der gedachten Convention §. 1 Lit. b. von einem andern die Uebernahme solcher Personen verlangen, welche ihm selbst angehörig geworden sind. Im Uebrigen aber hat das Wohnrecht im Bundesgebiet und die durch das Freizügigkeits-Gesetz durchgeführte Einheitlichkeit des Bundesgebiets in Beziehung auf Aufenthalt und Niederlassung die Wirkung, daß in mehreren Fällen der Staatsangehörige aus dem Gebiete seines eigenen Heimathsstaates ausgewiesen werden kann, dagegen nicht aus dem Bundesgebiete. Das Wohnrecht im Bundesgebiet hat gleichsam das Wohnrecht in einem einzelnen Theile desselben, nämlich im Gebiete des Heimathsstaates, absorbirt. Diese Fälle sind folgende: §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. a ) Das Freizügigkeits-Gesetz vom 1. Nov. 1867 §. 3 Abs. 2 bestimmt „Solchen Personen, welche derartigen (nämlich polizeilichen) Aufenthaltsbeschränkungen in einem Bundesstaate unterlie- gen, oder welche in einem Bundesstaate innerhalb der letzten zwölf Monate wegen wiederholten Bettelns oder wegen wiederholter Landstreicherei bestraft worden sind, kann der Aufenthalt in jedem anderen Bundes- staate von der Landespolizeibehörde verweigert werden.“ Also nicht blos den Angehörigen eines anderen Bundes- staates So versteht, wie es scheint, Thudichum S. 534 dieses Gesetz. , sondern auch den eigenen Angehörigen kann der Aufenthalt im Staatsgebiet verweigert werden, wenn dieselben in einem andern Bundesstaate die in diesem Artikel erwähnten Be- strafungen erlitten haben. b ) Ein zweiter Fall betrifft reichsangehörige Jesuiten und renitente Geistliche nach den Gesetzen vom 4. Juli 1872 §. 2 und vom 4. Mai 1874 §. 1. Denselben kann der Aufenthalt in be- stimmten Bezirken oder Orten versagt oder angewiesen werden. Durch die ausdrückliche, unwidersprochene Erklärung des Abg. Meyer (Thorn), von welchem die zum Gesetz erhobene Fassung des Jesuitengesetzes vorgeschlagen worden ist, wurde in der Sitzung des Reichstages vom 17. Juni 1872 „constatirt:“ „daß die Gren- zen der einzelnen Bundesstaaten hier nicht in Betracht kommen; es soll also vollständig möglich sein, daß Jemand, der in Mainz, in Hessen-Darmstadt Inländer ist, also ein Hesse, von Hes- sen ausgeschlossen oder in einen andern Bundesstaat hinein- gewiesen werde. Es würde sonst bei der geringen Ausdehnung vieler Bundesstaaten die Maßregel leicht einen völlig illusorischen Charakter annehmen können“ Stenogr. Ber. 1872 S. 1061. Vgl. Hirth’s Annalen 1872 S. 1188. . Zum Zweck der Internirung steht der Landes polizeibehörde in diesem Falle nicht nur das Lan- desterritorium, sondern das ganze Bundes gebiet zur Verfügung. c ) Sodann kann eine thatsächliche Ausweisung von Staats- angehörigen aus dem Staatsgebiet in ein anderes zum Reich ge- höriges Gebiet auf Grund des Gesetzes über den Unter- stützungswohnsitz vorkommen. Wenn Jemand nämlich in §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. seinem Heimathsstaat das Staatsbürgerrecht behalten, in einem andern Bundesstaat dagegen den Unterstützungswohnsitz erworben hat und dann in hülfsbedürftigem Zustand in seinen Heimathsstaat zurückkehrt, so kann er zum Zweck seiner Verpflegung an den ver- pflichteten Armenverband ausgewiesen, also aus dem Gebiet seines Heimatsstaats entfernt werden Freizügigkeitsges. vom 1. November 1867 §. 5. Unterstützungswohn- sitzgesetz vom 6. Juni 1870 §. 6 und §. 55. Vgl. auch Riedel S. 258. . d ) Vor Allem wichtig aber ist der im §. 23 des Gesetzes über die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni 1869 ausgesprochene Grundsatz, daß ein Bundesstaat seine eigenen An- gehörigen den Gerichten eines anderen Bundesstaates zum Zweck der Verfolgung oder Bestrafung wegen einer im Gebiete des re- quirirenden Bundesstaates verübten, strafbaren Handlung aus- zuliefern verpflichtet ist. Hier ist im Interesse der einheitlichen Strafrechtspflege im Reich die Kraft des Staatsbürgerrechts in den Einzelstaaten völlig gebrochen Es ergiebt sich hier aber eine, durch die Fassung des §. 25 des gedach- ten Gesetzes hervorgerufene, schwierige Frage. Nach dem §. 25 findet nämlich „bis zum Erlasse eines gemeinsamen Strafgesetzbuchs“ die Auslieferung in einer Reihe von Fällen nicht statt, insbesondere nach Nr. 2, wenn die Hand- lung nach den Gesetzen des Staates, in dessen Gebiete der Beschuldigte oder Verurtheilte sich befindet, nicht mit Strafe bedroht ist. Es frägt sich nun, ob seit dem Erlaß des Strafgesetzbuchs die Auslieferung auch verlangt werden kann, wenn die Handlung nicht nach dem Strafgesetzbuch und ebensowenig nach den Landes gesetzen des requirirten Staates, sondern nur nach den Landesgesetzen des requirirenden Staates strafbar ist. Faßt man die Worte „bis zum Erlasse eines gemeinsamen Strafgesetzbuchs“ als eine bloße Feststellung eines fixen terminus ad quem, ohne auf den Grund dieser Bestimmung zu achten, so wäre die Auslieferungspflicht mit dem Tage des Inkrafttretens eine unbeschränkte geworden. Geht man aber davon aus, daß der Sinn der Bestimmung der ist, daß kein Staat Personen zum Zweck der Bestrafung ausliefern soll, denen eine nach dem Recht dieses Staates strafbare Handlung überhaupt nicht zur Last fällt, so haben die Worte: „bis zum Er- lasse eines gemeinsamen Srafgesetzbuchs “ den Sinn: „so lange das materielle Strafrecht in den Bundesstaaten nicht einheitlich normirt ist.“ Bei dieser Auslegung besteht daher die Bestimmung des §. 25 Z. 2 noch in Kraft hin- sichtlich derjenigen Materien, welche das R.-St.-G.-B. nicht einheitlich geregelt hat und hinsichtlich deren die Einzelstaaten die strafrechtliche Autonomie behal- ten haben. Die Auslieferung könnte daher nur gefordert werden, wenn die Handlung sowohl nach dem Landesgesetz des requirirenden, als auch nach dem Landesgesetz des requirirten Staates strafbar ist. . §. 16. Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat. 4) Die Fortdauer des Staatsbürgerrechts in den Einzelstaaten zeigt sich besonders deutlich und wirksam hinsichtlich der sogen. politischen Rechte. In Beziehung auf das politische Sonderleben der Einzelstaaten, auf den Antheil der Bevölkerung an der ver- fassungsmäßigen Herstellung und Ausführung des Staats-Willens innerhalb der den Einzelstaaten verbliebenen Sphäre, ist die Staatsangehörigkeit maaßgebend geblieben und die Angehörigen der anderen Bundesstaaten sind in dieser Hinsicht Ausländer, Fremde. Es gilt dies namentlich von dem wichtigsten dieser Rechte, dem Wahlrecht; für die Landtage der Einzelstaaten können, falls nicht das partikuläre Staatsrecht eine Ausnahme zuläßt, nur Angehörige des Staates wählen oder an ihnen als Mitglieder Theil nehmen. An keinem Punkte kann man Reichsbürgerrecht und Staatsbürgerrecht schärfer auseinanderhalten als durch den Gegen- satz zwischen Reichstagswahlrecht und Landtagswahlrecht. Hier allein sind beide wirklich getrennt. Der Autonomie der Einzelstaaten ist es auch überlassen, das Maaß der politischen Rechte und die Voraussetzungen ihrer Aus- übung, welche außer der Staatsangehörigkeit selbst erfordert werden, wie Alter, Geschlecht, Domizil, Entrichtung direkter Steuern u. s. w. zu bestimmen. Nur in Einer Hinsicht hat das Reich hier den Einzelstaaten eine Schranke aufgerichtet durch das Reichsgesetz vom 3. Juli 1869 : „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des reli- giösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bür- gerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hier- durch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom religiösen Bekennt- niß unabhängig sein.“ Mit dem Reichsbürgerrecht hat der Inhalt dieses Ge- setzes gar nichts zu thun; im Norddeutschen Bunde und im Reiche hat es Beschränkungen der reichsbürgerlichen Rechte wegen irgend eines religiösen Bekenntnisses niemals gegeben; sie konnten daher auch nicht aufgehoben werden. Ein „Recht der Glaubensfreiheit“ oder der „Bekenntnißfreiheit“, das durch das Reichsindige- nat begründet und durch dieses Gesetz gewährleistet worden sei, ist ein juristisches Unding; denn der Deutsche hat die Fähigkeit, Laband , Reichsstaatsrecht. I. 11 §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. seine eigenen religiösen Ueberzeugungen zu haben und zu bekennen, von der Natur, nicht vom Recht. Um zu glauben, was man will, bedarf man des Reiches nicht. Aufgehoben ist vielmehr nur der Mißbrauch der Staatsgewalt, an die Ausübung dieser natür- lichen Fähigkeit Strafen, Rechtsnachtheile und politische Be- schränkungen zu knüpfen. Das Gesetz bezieht sich nur auf die Einzelstaaten und stellt einen gemeinrechtlichen Grundsatz des öffent- lichen Rechts auf, der seine praktische Anwendung innerhalb der Einzelstaaten findet; für das Reich selbst ist das Gesetz ganz gegenstandslos. Das Reich greift hier ausnahmsweise in das Verfassungsrecht der Einzelstaaten ein, indem es der Einzelstaatsgewalt eine Schranke setzt, die sie hindert, die Gewissensfreiheit anzutasten. Nicht das Verfassungsrecht des Reichs wird durch dieses Gesetz berührt, sondern es wird ein gemeinrechtlicher Grundsatz des Territorial- Staatsrechts reichsgesetzlich sanctionirt. Es darf demgemäß kein Staat ein bestimmtes Glaubensbekenntniß zur Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts und der anderen politischen Rechte erklären. Im Uebrigen dagegen ist es jedem Staate unbenommen, die Voraussetzungen der politischen Rechte nach eigener Willkühr festzusetzen Eine ausdrückliche Anerkennung hat dieser Rechtssatz in dem Bayer . Schlußprotokoll vom 23. Nov. 1870 Z. II. gefunden. . §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. Bei dem engen, untrennbaren Zusammenhange zwischen Staatsangehörigkeit und Reichsangehörigkeit war es erforderlich, die rechtlichen Voraussetzungen für den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit reichsgesetzlich zu ordnen. Dies ist geschehen durch das Reichsgesetz vom 1. Juli 1870 Das Gesetz enthielt einige besondere Bestimmungen hinsichlich der süd- deutschen Staaten (§. 1 Abs. 2 §. 8 Abs. 3 §. 16), welche durch den Hinzu- tritt derselben zum Reich ihre Anwendbarkeit verloren haben und formell auf- gehoben worden sind durch das R.-G. vom 22. April 1871 §. 9. (R.-G.-B. S. 89.) . Es ist in Geltung getreten am 1. Januar 1871. In Folge Gesetzes vom 21. Juli 1870 sind aber die §§. 17 und 20 sofort in Wirksam- keit gesetzt worden. In Baden, Südhessen und Württemberg gilt §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. das Gesetz seit dem 1. Januar 1871. In Bayern ist es einge- führt durch das Reichsgesetz vom 22. April 1871 und ist, da dieses Gesetz in dem am 29. April 1871 ausgegebenen Reichsgesetzblatt verkündet worden ist, am 13. Mai 1871 in Geltung getreten Riedel S. 271. . In Elsaß-Lothringen ist das Gesetz eingeführt worden durch Ver- ordnung vom 8. Januar 1873 Art. 2. Dieselbe ist im Reichs- gesetzblatt zwar erst in der am 17. März 1873 ausgegebenen Nummer, im Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen dagegen schon in der am 14. Januar 1873 ausgegebenen Nummer publi- cirt worden. Bei diesen Publicationen ist der §. 27, wonach das Gesetz am 1. Januar 1871 in Kraft tritt, zwar unverändert mit aufgenommen worden, es beruht dies aber lediglich auf einem Redaktionsfehler der Einf.-Verordn. vom 8. Januar 1873; denn man kann unmöglich annehmen, daß der Gesetzgeber dem Gesetz rückwirkende Kraft und zwar bis auf einen Zeitpunkt, in welchem Elsaß-Lothringen noch gar nicht zum Deutschen Reiche gehörte, habe beilegen wollen. Nach den Vorschriften dieses Gesetzes wird die Staatsange- hörigkeit begründet theils ipso iure durch familienrechtliche Ver- hältnisse theils durch einen staatsrechtlichen Willensact, durch Ver- leihung. I. Auf Grund familienrechtlicher Verhältnisse wird die Staats- angehörigkeit erworben 1) Durch die Geburt ; und zwar erwerben eheliche Kinder eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche Kinder einer Deutschen die Staatsangehörigkeit der Mutter. (§. 3.) Es ist gleichgültig, ob die Geburt im Inlande oder Auslande erfolgt; ebenso ist es unerheblich, ob die Geburt innerhalb Deutsch- lands im Gebiet des Heimathsstaates des Vaters (resp. der Mut- ter) oder in dem Gebiete eines andern Bundesstaates stattgefunden hat; und zwar macht auch die Begründung eines wirklichen Wohn- sitzes der Eltern außerhalb des Heimathsstaates keinen Unterschied hinsichtlich der Staatsangehörigkeit der Kinder Der §. 3 des Gesetzes sagt ganz allgemein: „ Durch die Geburt , auch wenn diese im Auslande erfolgt, erwerben ꝛc.“ . Wenn daher preußische Eheleute ihren Wohnsitz in Sachsen haben, so sind die 11* §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. daselbst geborenen und erzogenen Kinder nicht Sachsen, sondern Preußen. Da nun die Staatsangehörigkeit durch den Aufenthalt in dem Gebiet anderer Bundesstaaten nicht verloren geht, gleich- viel wie lange derselbe dauert, und ebenso wenig die Staatsange- hörigkeit durch Aufenthalt oder Begründung eines Wohnsitzes er- worben wird (§. 12 des Gesetzes), so können Familien, welche aus einem Bundesstaat in einen andern übersiedeln, ohne die Staatsangehörigkeit zu ändern, für eine unabsehbare Reihe von Generationen die Staatsangehörigkeit in demjenigen Staate behal- ten, dem sie am 1. Januar 1871 angehört haben. In Verbin- dung mit der Freizügigkeit, welche innerhalb des ganzen Reichs- gebietes besteht, wird dieser Grundsatz es daher im Lauf der Zeit immer schwieriger machen, die Staatsangehörigkeit festzustellen , und an großen Verkehrs-Mittelpunkten mit schnell wechselnder Bevölkerung wird bald in verhältnißmäßig kurzer Zeit auch die ansässige Bevölkerung aus Staatsangehörigen der verschiedensten Bundesstaaten zusammengesetzt sein, von denen Jeder seine Staats- angehörigkeit in alle Ewigkeit vererben und in jeden beliebigen Bundesstaat mitnehmen kann. Es muß dies nothwendig dahin führen, die Staatsangehörigkeit immer mehr der Reichsangehörig- keit gegenüber zurücktreten zu lassen Vgl. unten den Abschnitt über Elsaß-Lothringen. Daselbst gilt bereits ein durchaus anderes Prinzip. . Bei der Beurtheilung der Frage, ob ein Kind aus einer gül- tigen oder aus einer nichtigen Ehe entsprossen ist, ob es also der Staatsangehörigkeit des Vaters oder derjenigen der Mutter folgt, kömmt nach allgemeinen Grundsätzen über die Herrschaft der Rechts- normen hinsichtlich der materiellen Erfordernisse der Ehe das Recht des ersten Ehedomizils, hinsichtlich der Form der Eheschlie- ßung das Recht des Orts, an welchem dieselbe stattgefunden hat Stobbe Deutsches Privatr. I. 203. 204. Förster Preuß. Privatr. I. §. 11 Nr. 5. Beseler Deutsches Privatr. I. S. 115 (3. Aufl.). Böhlau Mecklenb. Landr. I. S. 441. 469 ff. Hinschius Kommentar zum Personen- standsges. S. 163 ff. Abw. Ansicht v. Savigny System Bd. 8 S. 357. v. Gerber Privatr. §. 32 Note 18. Zu bemerken ist jedoch, daß Kinder aus einer formell gültig eingegangenen, aus materiellen Gründen anfechtbaren Ehe, welche vor der gerichtlichen Nichtigkeits-Erklärung geboren sind, als eheliche gelten. Roth u. Meibom Kurhess. Privatr. I. S. 354 Note 25. S. 477. In , zur Anwendung. §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. 2) Durch Legitimation eines unehelichen Kindes Seitens eines Deutschen erwirbt das Kind die Staatsangehörigkeit des Vaters (§. 4) und verliert gleichzeitig seine bisherige Staatsan- gehörigkeit (§. 13 Nr. 4.) Hat die Mutter des Kindes dieselbe Staatsangehörigkeit wie der Vater, so kann die Legitimation diese Folge selbstverständlich nicht haben, weil das Kind in diesem Falle die Staatsangehörigkeit des Vaters schon von Geburt an hat. Die Legitimation hat nur dann Wirksamkeit, wenn sie „den gesetzlichen Bestimmungen gemäß erfolgt ist.“ Entscheidend sind in dieser Hinsicht die Gesetze des Ortes, wo der Vater zur Zeit der Legi- timation seinen Wohnsitz hat Eine Zusammenstellung der in den verschiedenen Rechtsgebieten Deutsch- lands geltenden Grundsätze über die Legitimation giebt Hinschius Kommen- tar zum Personenstandsgesetz S. 82 ff. ; und zwar gilt dies auch für die Legitimation durch nachfolgende Ehe Vgl. Roth Bayer. Civilr. I. S. 140 Note 47. . Die Adoption bewirkt den Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht Ueber den Grund vgl. die Motive zu §. 2 des Gesetzes (S. 157). . 3) Die Verheirathung mit einem Deutschen begründet für die Ehefrau die Staatsangehörigkeit des Mannes (§. 5.) Auf Kinder aus einer früheren Ehe oder auf uneheliche Kinder erstreckt die Verheirathung der Mutter ihre Wirkung nicht. — Da in Bayern das Bun- desges. vom 4. Mai 1868 über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung keine Geltung erlangt hat, so begründet in Bayern die Ver- heirathung einer Nichtbayerin mit einem Bayer für die erstere nur dann die bayerische Staatsangehörigkeit, wenn das im bayer. Ges. vom 16. April 1868 Art. 33 u. 39 vorgeschriebene Verehelichungszeugniß erholt worden ist. Siehe Riedel S. 255 fg. Hinschius a. a. O. S. 159 fg. . Betreff der Frage, ob Kinder, welche während der Ehe geboren , aber vor Eingehung derselben erzeugt worden sind, als eheliche gelten, wie nach dem Preuß. Landr. II. 2 §. 1, oder als uneheliche, wie nach dem gemeinen Recht, vgl. Hinschius Kommentar zum Personenstandsgesetz von 1875 S. 71 ff., oder endlich ob ihre Ehelichkeit von einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Anerkennung des Ehemannes abhängig gemacht ist, wie nach dem Königl. Sächs. Bürgerl. Gesetzb. §. 1776, vgl. auch Code civil Art. 314, entscheidet der Wohnort des Ehemannes (Vaters) zur Zeit der Geburt des Kindes. Das Kind hat aber in allen Fällen die Staatsangehörigkeit des Ehemanns, da seine Mutter seit ihrer Verheirathung die Staatsangehörigkeit des letztern theilt; dem Kinde also, mag es als ehelich oder unehelich gelten, dieselbe Staatsan- gehörigkeit, im einen Falle wegen des Vaters, im andern wegen der Mutter, zu Theil wird. §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. II. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit ist ein Verwaltungsact, zu dessen Vornahme die „höhere“ Verwaltungs- behörde des Staates competent ist. Als solche gilt im Gegensatz zur Ortspolizei-Behörde die Verwaltungsbehörde zweiter Instanz, die Bezirks- oder Kreisregierung Die Instruction der Sache, die Entgegennahme der Gesuche, protokol- larische Vernehmung u. s. w. kann jedoch von der Lokalbehörde erfolgen . Die Verleihung ist ein staatliches Rechtsgeschäft , welches die Form der Schriftlichkeit, d. h. eine von der competenten Be- hörde ausgestellte Urkunde erfordert. (§. 6.) Das Rechtsgeschäft ist ein zweiseitiges, indem es die Acceptation der Staatsangehö- rigkeit Seitens des aufzunehmenden Bürgers erfordert Seine Analogie findet dieser staatsrechtliche Vertrag auf dem Gebiete des Privatrechts natürlich nicht in den Contracten des Obligationenrechts, sondern in den familienrechtlichen Verträgen, insbesondere in der Adoption. . Regel- mäßig wird diese Acceptation schon vorher erklärt, indem die Verleihung nur auf Grund eines Gesuches erfolgt (§. 7) Minderjährige bedürfen demgemäß zur Stellung des Gesuchs der vä- terlichen oder vormundschaftlichen Genehmigung. Vgl. Landgraff S. 635. ; in allen Fällen aber treten die Wirkungen der Verleihung erst ein mit dem Zeitpunkte der Aushändigung der Verleihungs- urkunde (§. 10), durch deren Entgegennahme die Acceptation der Verleihung in concludenter Weise erklärt wird Das Gesetz begnügt sich nicht mit der Ausfertigung der Urkunde sondern es verlangt deren Aushändigung . Ob dieselbe stattgefunden hat oder nicht, ist nach den allgemeinen Grundsätzen über die Insinuation obrigkeitlicher Verfügungen zu beurtheilen; sie kann demnach statt an den Auf- zunehmenden selbst auch an dessen Angehörige oder legitimirte Bevollmächtigte erfolgen. Kann jedoch eine Aushändigung thatsächlich nicht stattfinden, so wird die Verleihung der Staatsangehörigkeit nicht perfekt und kann demnach auch keine Rechtswirkungen haben. Vgl. über die frühere preußische Praxis v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2 S. 125 Note 3 (3. Aufl.) . Da die Ehe- frau und die noch unter väterlicher Gewalt stehenden minderjäh- rigen Kinder der Regel nach die Statusverhältnisse, insbesondere auch die Staatsangehörigkeit des Hausherrn theilen, so erstreckt sich die Verleihung der Staatsangehörigkeit auch auf sie mit Auf großjährige Kinder, welche sich unter väterlicher Gewalt befinden, erstreckt sich die Verleihung nicht mit; denselben muß vielmehr die Staatsan- gehörigkeit besonders verliehen werden. Die Motive geben als Grund an, daß die Feststellung der Thatsache, daß sie unter väterlicher Gewalt stehen, häufig sehr zweifelhaft ist. Vgl. Landgraff S. 634. 635. Riedel 262. . §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. Dieser Satz ist aber nur von dispositiver Kraft; die Contrahenten können ihn durch eine entgegenstehende Vereinbarung ausschließen; sei es, daß der Ehemann oder Vater die Staatsangehörigkeit nicht für alle seiner Gewalt unterworfenen Angehörigen erwerben will, sei es, daß die Verwaltungsbehörde sie nicht allen ertheilen will §. 11. „Die Verleihung der Staatsangehörigkeit erstreckt sich, insofern nicht dabei eine Ausnahme gemacht wird , zugleich auf die Ehe- frau und die noch unter väterlicher Gewalt stehenden minderjährigen Kinder.“ . Abgesehen von diesen allgemeinen Regeln sind die Voraus- setzungen der Verleihung verschieden, je nachdem ein Angehöriger eines Deutschen Bundesstaates oder ein Ausländer sie verlangt. Diese Verschiedenheit hat ihren Ausdruck auch in der technischen Bezeichnung gefunden, indem das Gesetz die Verleihung im ersten Falle Aufnahme , im zweiten Falle Naturalisation nennt. 1) Die Aufnahme eines Deutschen setzt außer dem Gesuche um Ertheilung und dem Nachweise, daß er einem deutschen Bun- desstaate angehöre Ges. über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 §. 2. , also das Reichsindigenat bereits habe, nur voraus, den Nachweis, daß er in dem Bundesstaate, in welchem er die Aufnahme nachsucht, sich niedergelassen habe. (Ges. §. 7) Die Verleihung der Staatsangehörigkeit an Deutsche, welche sich nicht im Staatsgebiete niederlassen, z. B. die Ertheilung eines Ehren-Staatsbürger- rechts, ist demnach unzulässig. Vgl. auch Riedel S. 258 unter 3 b. . Unter der Niederlassung ist nach der feststehenden Termino- logie der Reichsgesetzgebung die Begründung eines Wohnsitzes (Domizils) im Gegensatz zum bloßen Aufenthalt zu verstehen. So zweifellos es nun ist, daß ein bereits begründeter Wohnsitz trotz des Aufenthalts an anderen Orten fortbestehen kann, Wohnsitz und Aufenthaltsort demnach verschieden sein können, so gewiß ist es doch andererseits, daß die Begründung eines neuen Wohn- sitzes ohne Aufenthalt daselbst nicht erfolgen kann, und daß namentlich derjenige, welcher an einem Orte sich aufzuhalten gar nicht befugt ist, dessen Aufenthalt dort nicht geduldet wird, sich daselbst auch nicht niederlassen kann. Soweit daher ein Bundes- staat befugt ist, den Angehörigen anderer Bundesstaaten in seinem Gebiet den Aufenthalt zu versagen, kann er auch eine Nie- derlassung derselben in seinem Gebiete verwehren und mithin §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. den Eintritt der Voraussetzung hindern, an welche das Gesetz das Recht auf Verleihung der Staatsangehörigkeit knüpft. Die Gründe, welche einen Bundesstaat berechtigen, einem Angehörigen eines anderen Bundesstaates in seinem Gebiet den Aufenthalt zu ver- sagen, sind reichsgesetzlich festgestellt in dem Freizügigkeitsges. v. 1. Nov. 1867 §§. 2 bis 5 Diese Gründe sind: bei unselbstständigen, d. h. einer familienrechtlichen Gewalt unterworfenen Personen Mangel der Genehmigung des Gewalthabers, (§. 2), polizeiliche Aufenthaltsbeschränkungen bestrafter Personen (§. 3), Man- gel hinreichender Kräfte zur Beschaffung des nothdürftigen Lebensunterhalts, wobei das Gesetz unterscheidet, zwischen der Gestattung, an einem Orte anzu- ziehen (§. 4), und der Entziehung der Erlaubniß nach erfolgtem Anzuge den Aufenthalt fortzusetzen (§. 5). Eine eingehende Erläuterung dieser Bestimmun- gen giebt Arnoldt . Die Freizügigkeit und der Unterstützungswohnsitz. Berlin 1872. S. 33—60. ; dieselben Gründe berechtigen ihn demnach, einem Angehörigen eines anderen Bundesstaates die Ver- leihung der Staatsangehörigkeit zu versagen. Diese Folgerung, welche nach den vorstehenden Erörterungen sich von selbst ergiebt, ist von dem Gesetz ausdrücklich gezogen worden, indem es im §. 7 die Clausel hinzugefügt hat „sofern kein Grund vorliegt, welcher nach den §§. 2 bis 5 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. Nov. 1867 die Abweisung eines Neuanziehenden oder die Versagung der Fortsetzung des Aufenthalts rechtfertigt.“ Dieser Zusatz begründet aber, ebenso wie die §§. 2 bis 5 des Freizügigkeitsgesetzes, für die Staaten nur eine Berechtigung, keine Verpflichtung zur Abweisung einwandernder Reichsbürger; er ist eine Beschränkung ihrer reichsgesetzlichen Pflicht , die An- gehörigen anderer Bundesstaaten als Staatsbürger aufzunehmen, aber kein Verbot §. 7 des Ges. sagt: „die Aufnahme-Urkunde wird jedem Angehörigen eines anderen Bundesstaates ertheilt“ d. h. sie muß ertheilt werden, der Staat darf die Verleihung nicht versagen, „sofern kein Grund vorliegt“ ꝛc. . Es ist daher keinem Staate verwehrt, trotz- dem einer der Versagungs-Gründe des Gesetzes vorliegt, die Staats- angehörigkeit, und damit auch das Recht zum Aufenthalt und der Niederlassung, einem bisherigen Angehörigen eines anderen Bun- desstaates zu ertheilen. 2) Die Naturalisation darf Ausländern nur ertheilt werden, wenn die im §. 8 des Gesetzes aufgeführten Voraussetzungen §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. begründet sind. Die Einzelstaaten dürfen demnach von keiner dieser Voraussetzungen einen Ausländer dispensiren; es ist ihnen vom Reich verboten , das Staatsbürgerrecht an Personen zu ertheilen, welche den Erfordernissen des §. 8 nicht genügen Der Grund ist der, daß die Staatsangehörigkeit in einem Bundes- staate das Recht begründet, in jedem andern Bundesstaate die Aufnahme zu verlangen; der Ausländer könnte sich daher in einem Bundesstaate unter erleichterten Bedingungen naturalisiren, und dann in einem anderen Bun- desstaate aufnehmen lassen. Deshalb ist das im §. 8 des Ges. aufgeführte Minimum von Erfordernissen ius cogens . . Da- gegen ist es ihnen unbenommen, die Voraussetzungen der Aufnahme durch partikuläre Gesetze oder Verwaltungsvorschriften zu er- schweren oder auch das Gesuch des Ausländers ohne Angabe von Gründen abzuweisen; da kein Ausländer ein Recht auf Natu- ralisation, kein Bundesstaat eine Pflicht zur Ertheilung derselben hat Riedel S. 259. 260. Thatsächlich wird ein Staat von dieser Be- fugniß nicht leicht Gebrauch machen, da die von ihm eingeführten Erschwerun- gen der Naturalisation auf dem in der vorigen Note angegebenen Wege um- gangen werden können. Indeß ist es z. B. einem Staate unverwehrt, für die Ertheilung von Naturalisations- Urkunden Stempel- und Ausfertigungs- gebühren zu erheben, während die Ertheilung von Aufnahme- Urkunden kostenfrei erfolgen muß. §. 24 Abs. 1. Ueber die Höhe der für die Natu- ralisation zu zahlenden Kosten, sagt das Gesetz Nichts; ihre Normirung ist daher den Einzelstaaten überlassen. Die Annahme von Landgraff S. 648, daß die Naturalisations-Urkunde wie die Entlassungsurkunde zu behandeln sei, weil die Nichterwähnung der dafür zulässigen Gebühren angeblich auf einem Redaktionsversehen beruht, ist unbegründet. Auch ist zu beachten, daß beide Fälle nicht analog sind; denn hohe Gebühren für die Entlassungs- Ur- kunde kämen einer Auswanderungs-Steuer gleich; hier handelt es sich um Zahlungen, die Inländer leisten, bei der Naturalisation um Zahlungen, welche von Ausländern erhoben werden. In Bayern ist von der Befugniß, die Naturalisation von Ausländern an erschwerende Bedingungen zu knüpfen in- sofern Gebrauch gemacht worden, als der Minist.-Erl. vom 9. Mai 1871 Nr. 5 (bei Riedel S. 274) verfügt, daß Ausländern die Naturalisation in der Regel nur dann zu ertheilen sei, wenn sie nachweisen, daß sie für den Fall der Naturalisation, sofort die Heimat in einer bayerischen Gemeinde erhalten. . Die Voraussetzungen der Naturalisation sind a ) Dispositionsfähigkeit des Aufzunehmenden nach dem Recht seiner bisherigen Heimath. Der Mangel der Dispositionsfähigkeit kann ergänzt werden durch die Zustimmung des Vaters, Vormunds oder Kurators. §. 17. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit. b ) Unbescholtener Lebenswandel. c ) eigene Wohnung oder ein Unterkommen an dem Orte der beabsichtigten Niederlassung. d ) die Fähigkeit, an diesem Orte nach den daselbst bestehenden Verhältnissen sich und ihre Angehörigen zu ernähren. Die Beweislast für das Vorhandensein dieser 4 Voraus- setzungen trägt der Aufzunehmende; bevor aber die Verwaltungs- behörde diesen Beweis für geführt erachtet uud demnach die Naturalisations-Urkunde ertheilt, ist sie verpflichtet, die Gemeinde, beziehungsweise den Armenverband desjenigen Ortes, wo der Aufzunehmende sich niederlassen will, in Beziehung auf die Erfor- dernisse unter b. c. d. mit ihrer Erklärung zu hören. (§. 8 Abs. 2.) Ein contradictorisches Verfahren mit förmlichem Urtheil findet aber, im Falle die Gemeinde der Naturalisation widerspricht, nicht statt; die Entscheidung erfolgt durch Beschluß Trotz dieses Gehörs, welches die Gemeinde bei den Verhandlungen über die Naturalisation findet, sind aber Naturalisation und Aufnahme in einen bestimmten Gemeindeverband oder Erwerb des Gemeindebürgerrechts von ein- ander völlig unabhängig. Landgraff S. 639. . 3) Sowohl die Aufnahme als die Naturalisation kann still- schweigend d. h. ohne Ertheilung einer Urkunde verliehen wer- den, wenn Jemand, der dem Staate bisher nicht angehört hat, „in dem unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienst oder in dem Kirchen- Schul- oder Kommunaldienst“ angestellt wird und wenn er für diese Anstellung: „eine von der Regierung oder von einer Central- oder höheren Verwaltungsbehörde eines Bundesstaates vollzo- gene oder bestätigte Bestallung erhält.“ Eine solche Urkunde gilt zugleich als Aufnahme- oder Natu- ralisations-Urkunde; wenn nicht das Gegentheil in ihr selbst durch Vorbehalt der bisherigen Staatsangehörigkeit ausgedrückt wird. (Art. 9 Abs. 1) Landgraff S. 633 verkennt das Wesen dieses Erwerbsgrundes, wenn er ihn nicht mit der Verleihung, sondern mit den familienrechtlichen Erwerbs- gründen zusammenstellt. Im Gesetz hat er seine richtige Stelle in dem von der Verleihung handelnden Theile gefunden. . Wenn ein Ausländer im Reichsdienst angestellt wird, so wird derselbe stillschweigend naturalisirt von demjenigen §. 18. Der Verlust der Staatsangehörigkeit. Bundesstaat, in welchem er seinen dienstlichen Wohnsitz hat d. h. seinen ersten Dienstwohnsitz. Bei einer Versetzung in das Ge- biet eines andern Bundesstaates ändert sich die Staatsangehörigkeit des Reichs- beamten nicht; denn zu dieser Zeit ist er nicht mehr Ausländer, sondern Reichsangehöriger. Wenn ein Deutscher im Reichsdienst angestellt wird, so ändert sich seine Staatsangehörigkeit nicht, wenngleich sein dienstlicher Wohn- sitz außerhalb seines Heimathsstaates ist. Die entgegengesetzte Ansicht von Riedel S. 261 Nr. 6 ist irrig. . (Art. 9 Abs. 2.) Für den Fall, daß der im Reichsdienste ange- stellte Ausländer seinen dienstlichen Wohnsitz im Auslande hat, ist eine gesetzliche Regelung bisher nicht ergangen. Ein solcher Reichs- beamter bleibt daher Ausländer. § 18. Der Verlust der Staatsangehörigkeit. Derselbe erfolgt aus Gründen, die denen des Erwerbs analog sind; also entweder ipso iure durch Verhälnisse des Familienrechts oder durch zweiseitiges Rechtsgeschäft; dazu tritt aber noch der Verlust wegen langer Abwesenheit und die Entziehung zur Strafe. I. Aus familienrechtlichen Gründen hört die Staats- angehörigkeit auf 1) bei unehelichen Kindern durch eine den gesetzlichen Bestim- mungen gemäß erfolgte Legitimation, falls der Vater einem an- dern Staate angehört als die Mutter. (§. 13 Nro. 4.) 2) bei einer Deutschen durch Verheirathung mit dem Ange- hörigen eines andern Bundesstaates oder mit einem Ausländer. (§. 13 Nro. 5.) II. Die Entlassung ist der contrarius actus der Verleihung und in der juristischen Gestaltung ihr völlig gleichartig. Auch die Entlassung ist ein zweiseitiges, die Willensübereinstimmung der beiden Parteien erforderndes Rechtsgeschäft, welches zu seiner Per- fection der Schriftform, der Ausfertigung und Zustellung Siehe oben S. 166 Note 4. einer Urkunde Seitens der höheren Verwaltungsbehörde des Heimaths- staates, bedarf. (§ 13 Nr. 1, §. 14, §. 18 Abs. 1.) Damit aber die Entlassung nicht als Scheingeschäft geschlossen werde, durch welches Jemand sich den staatsbürgerlichen Pflichten entziehen würde, ohne auf die Vortheile der Staatsgemeinschaft zu verzichten, so wird die Entlassung unwirksam, wenn der Entlassene nicht binnen 6 Monaten vom Tage der Aushändigung der Entlassungs- §. 18. Der Verlust der Staatsangehörigkeit. Urkunde an entweder seinen Wohnsitz außerhalb des Bundes- gebiets verlegt oder die Staatsangehörigkeit in einem anderen Bundesstaate erwirbt, wozu — wie oben erörtert — die Nieder- lassung in dem Gebiete des letzteren erforderlich ist. (§. 18 Abs. 2) Das Gesetz sagt: „Die Entlassung wird unwirksam , wenn“. Eine Unwirksamkeits- Erklärung der Entlassung ist nicht vorgeschrieben und auch nicht sachlich erforderlich. Es kann daher auch nicht bezweifelt werden, daß die Entlassung von Anfang an unwirksam gewesen ist, nicht erst es nachträglich wird und daß mithin auch in der Zwischenzeit die staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt werden müssen. Vgl. Landgraff S. 643. Die Annahme Böhlau ’s a. a. O. S. 35 Note 168, daß während der sechsmonatl. Frist pendente conditione resolutiva die Bundesangehörigkeit ohne Staatsan- gehörigkeit selbstständig fortbesteht , wird durch das Gesetz in keiner Weise gerechtfertigt. . Die Entlassung erstreckt sich, wie die Verleihung auf die der familienrechtlichen Gewalt des Entlassenen unterworfenen Per- sonen, soweit nicht eine Ausnahme festgesetzt ist. (§. 19.) In Betreff der Voraussetzungen der Entlassung wird ähnlich wie bei der Verleihung unterschieden, ob der Staatsangehörige nur in einen andern Bundesstaat verzieht, also die Reichsange- hörigkeit beibehält, oder ob er aus dem Reiche auswandert . 1) Die Entlassung zum Zweck der Uebersieblung innerhalb des Bundesgebietes „wird jedem Staatsangehörigen er- theilt, welcher nachweist, daß er in einem anderen Bundesstaate die Staatsangehörigkeit erworben hat.“ (§. 15 Abs. 1.) Wer also die Verleihungs-Urkunde eines anderen Bundesstaates vorlegt, muß auf seinen Antrag Wenn er diesen Antrag nicht stellt, verbleibt ihm die Staatsangehörig- keit seines bisherigen Heimathsstaates; es kann daher ein Deutscher gleichzeitig mehreren, ja sogar allen Bundesstaaten als Staatsbürger angehören. die Entlassungs-Urkunde seines bis- herigen Heimathsstaates erhalten und zwar kostenfrei. (§. 24 Abs. 1.) 2) Die Entlassung behufs Auswanderung d. h. die Entlassung, welche das Aufhören der Reichsangehörigkeit zur Folge hat, darf von den Einzelstaaten nicht ertheilt werden sol- chen Personen, welche sich durch die Entlassung ihrer Militärpflicht entziehen wollen Das Ges. §. 15 Abs. 2 führt drei Kategorien solcher Personen auf, nämlich: 1) Wehrpflichtige , im Alter vom vollendeten 17. bis zum voll- endeten 20. Lebensjahre, wenn sie nicht ein Zeugniß der Kreis-Ersatz-Kommis- sion beibringen, daß sie die Entlassung nicht blos in der Absicht nachsuchen, um sich der Dienstpflicht zu entziehen. 2) Militärpersonen , welche zum . Es darf daher an solche Personen die Ent- §. 18. Der Verlust der Staatsangehörigkeit. lassung nur dann ertheilt werden, wenn sie nachweisen, daß sie in einem andern Bundesstaate die Staatsangehörigkeit erworben haben. Von dieser Vorschrift darf kein Staat dispensiren, ande- rerseits darf er die Entlassung nicht verweigern oder an erschwerte Bedingungen knüpfen (§. 17), auch für die Ertheilung der Ent- lassungs-Urkunde nicht mehr als höchstens einen Thaler an Ge- bühren erheben (§. 24 Abs. 2) Man nennt diese, den Einzelstaaten gegebene Rechtsnorm bisweilen die „Auswanderungs-Freiheit“ und stempelt sie zu einem sogen. Grundrecht. . Ferner ermächtigt das Gesetz den Kaiser, für die Zeit eines Krieges oder einer Kriegsgefahr im Wege der Verordnung beson- dere Bestimmungen zu erlassen. (§. 17). III. Die Staatsangehörigkeit kann verloren gehen für einen Deutschen, wenn er sich zehn Jahre lang ununterbrochen im Auslande aufhält . Dieser Erlöschungsgrund qualifizirt sich juristisch als Nichtgebrauch Das Gesetz knüpft den Verlust an den 10 jährigen Aufenthalt , auch ohne daß ein neuer Wohnsitz begründet wird, also an ein rein thatsäch- liches Verhältniß. Daher kömmt die Willens- und Handlungs fähigkeit nicht in Betracht, welche wol für die Niederlassung, nicht aber für den Aufent- halt erforderlich ist. Demgemäß fehlt es an jedem Grunde, für Minder- jährige die Frist erst mit dem Eintritt der Vollfährigkeit beginnen zu lassen, wie Landgraff S. 645 annimmt. Man muß im Gegentheil sogar auch für Geisteskranke an den 10 jährigen ununterbrochenen Aufenthalt im Auslande den Verlust der Staatsangehörigkeit knüpfen. . So lange der Abwesende seine Staatsangehörigkeit manifestirt, tritt der Erlöschungsgrund nicht ein; daher beginnt die Frist, wenn der Austretende sich im Besitze eines Reisepapieres oder Heimathsscheines befindet, erst mit dem Ablauf dieser Papiere Den Landesregierungen ist die Festsetzung ihrer Gültigkeits-Dauer überlassen. ; sie wird unterbrochen, wenn sich der Abwesende in die Matrikel eines Bundeskonsulats eintragen läßt, und ihr Lauf beginnt von Neuem erst mit dem auf die Löschung in der Matrikel folgenden Tage. (§. 21 Abs. 1) Vgl. Konsulats-Gesetz v. 8. Nov. 1867 §. 12 (R.-G.-Bl. S. 139). . Der Verlust stehenden Heere oder zur Flotte gehören, Offiziere des Beurlaubtenstandes und Beamte, bevor sie aus dem Dienste entlassen sind. 3) Die zur Reserve des stehenden Heeres oder zur Flotte und die zur Landwehr und Seewehr ge- hörigen und nicht als Offiziere angestellten Personen, nachdem sie zum activen Dienst einberufen worden sind. Vgl. ferner Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 §. 60 (R.-G.-Bl. S. 61.) §. 18. Der Verlust der Staatsangehörigkeit. der Staatsangehörigkeit erstreckt sich natürlich nicht mit auf die Ehefrau und die minderjährigen Kinder des Abwesenden, wenn die letzteren im Bundesgebiet zurückgeblieben sind. Das Ges. §. 21 Abs. 2 aber sagt: „der Verlust erstreckt sich zugleich auf die genannten Personen, soweit sie sich bei dem Ehemanne, bezie- hungsweise Vater befinden.“ Diese positive Formulirung läßt den Fall unentschieden, wenn auch die Kinder zwar 10 Jahre lang von Deutschland abwesend sind, aber sich nicht bei dem Vater befinden. Auf Grund des Abs. 1 des §. 21 ist auch bei ihnen der Verlust als eingetreten anzusehen. Für die beim Erlasse dieses Gesetzes im Auslande sich aufhaltenden Angehörigen derjenigen Bundesstaaten, nach deren Gesetzen die Staatsangehörigkeit durch einen zehnjährigen oder längeren Aufenthalt im Auslande verloren ging, wird der Lauf dieser Frist durch das Gesetz nicht unter- brochen. (§. 25 Abs. 1.) Diese Staaten sind den Motiven zu Folge Peußen (ältere Provinzen), Kgr. Sachsen, Mecklenburg, Großh. Sachsen, Oldenburg, Anhalt, Schwarzb.-Rud., Waldeck, Reuß, Lübeck und Hamburg. Für die Angehörigen der übrigen Bundesstaaten beginnt die Frist mit dem Tage der Wirksamkeit dieses Gesetzes. (§. 25 Abs. 2.) Wesentlich erleichtert ist der Wiedererwerb der Staats- (resp. Reichs-) Angehörigkeit, welche durch bloßen Nichtgebrauch erloschen ist. Es ist nämlich jeder deutsche Staat, in dessen Gebiet ein Deutscher sich niederläßt, der seine Staatsangehörigkeit durch 10jährige Abwesenheit im Auslande also ohne Entlassungs- Vertrag verloren hat, verpflichtet , demselben die Aufnahme- Urkunde auf Verlangen zu ertheilen (§. 21 Abs. 5); es sind also auf denselben nicht die von Ausländern, sondern die von Reichs- angehörigen geltenden Bestimmungen anzuwenden. Außerdem ist der frühere Heimathsstaat In dieser Hinsicht erweist sich demnach die Staatsangehörigkeit im Gegensatz zur Reichsangehörigkeit wirksam. berechtigt (aber nicht verpflichtet), seinen ehemaligen Angehörigen, auch ohne daß sie sich in seinem Gebiete niederlassen, die Staatsangehörigkeit wieder zu verleihen, also ihnen gegen die Folgen der langen Abwesenheit eine in integrum restitutio zu ertheilen. Vorausgesetzt ist jedoch in diesem Falle, daß sie nicht inzwischen eine andere Staatsange- hörigkeit erworben haben. (§. 21 Abs. 4.) §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. Die Reichsregierung ist ermächtigt, durch Staatsvertrag mit ausländischen Staaten die zehnjährige Frist für Deutsche, welche sich in einem Staate des Auslandes Nicht im Auslande schlechtweg, sondern in demselben Staate wäh- rend der ganzen Frist. mindestens fünf Jahre lang ununterbrochen aufhalten, bis auf eine fünfjährige zu ver- mindern Veranlassung hierzu war der Art. 1 des Vertrages mit Nordamerika vom 22. Februar 1868 (G.-Bl. S. 228). Es sollte nicht nur dieser Vertrag in Kraft bleiben, sondern der Reichsregierung auch die Möglichkeit gewährt werden, ähnliche Verträge mit anderen Staaten zu schließen. Ueber diesen Vertrag vgl. Thudichum S. 94 ff. und v. Martitz in Hirth’s Annalen 1875 S. 827 ff. . (§. 21 Abs. 3.) IV. Durch einseitigen Rechtsact der Staatsregierung kann die Staatsangehörigkeit entzogen werden in den bereits oben erörterten Fällen des §. 20 und §. 22 des Ges. v. 1 Juni 1870 und des Ges. v. 4. Mai 1874. (Siehe S. 145. 147 fg. 153.) Die Entzie- hung erfolgt im Verwaltungswege durch einen Beschluß; competent dazu ist nur die Centralbehörde, nicht wie bei der Ertheilung der Entlassung auf Antrag die höhere Verwaltungsbehörde. Ueber die Wiederverleihung der Staatsangehörigkeit an Personen, denen dieselbe entzogen worden ist, bestimmt das Gesetz vom 1. Juni 1870 Nichts. Dagegen enthält §. 4 des Ges. v. 4. Mai 1874 die Anordnung, daß Personen, welche nach den Vorschriften dieses Gesetzes ihrer Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate verlustig erklärt worden sind, ohne Genehmigung des Bundes- raths in keinem Bundesstaate die Staatsangehö- rigkeit von neuem erwerben können. Sollen die §§. 20 und 22 des Ges. v. 1 Juni 1870 nicht illusorisch und wirkungs- los sein, so muß dieses Prinzip auch auf diejenigen Personen aus- gedehnt werden, welche nach Maaßgabe dieser Paragraphen ihre Staatsangehörigkeit verloren haben. Durch die völlige Analogie der Fälle könnte die extensive Interpretation des § 4 cit. gerecht- fertigt erscheinen, wenn ihr nicht der Charakter des Gesetzes vom 4. Mai 1874 als eines Ausnahmegesetzes entgegen stände. §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. Der Artikel 3 der Reichsverfassung stellt den Grundsatz an die Spitze: §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Ange- hörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als Inländer zu behandeln ist . Dieses Indigenat ist in der Literatur fast durchweg mit dem Reichsbürgerrecht identifizirt worden und man hat vorzugsweise in ihm den Inhalt des Reichsbürgerrechts zu finden geglaubt Riedel S. 85 fg. u. v. Pözl S. 7 ff. unterscheiden zwar im An- schluß an die im Bayerischen Staatsrecht längst übliche Auseinanderhaltung von Indigenat und Staatsbürgerrecht dem Begriffe nach richtig das Reichs- indigenat von den reichsbürgerlichen Rechten und Pflichten, nicht aber in Hinsicht auf den Inhalt beider. . Aus den einzelnen Consequenzen dieses Prinzips hat man reichsbürgerliche Grundrechte gemacht, namentlich das Recht zum Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zur Erwerbung von Grundstü- cken u. s. w. Dies ist unrichtig. Ein subjectives, individuelles Recht be- gründet der Art. 3 überhaupt gar nicht; auch dann nicht, wenn man selbst zugeben könnte, daß die Aufhebung von Be- schränkungen der natürlichen Handlungsfähigkeit, z. B. die sogen. Zugfreiheit, Gewerbefreiheit, Preßfreiheit u. s. w. als subjective Rechte der Einzelnen logisch gedacht werden können. Denn der Art. 3 enthält auch hiervon Nichts. Er sagt nicht, jeder Deutsche hat das Recht zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe u. s. w. im ganzen Bundesgebiet; sondern als Consequenzen des durch ihn begründeten Indigenats hebt er hervor, daß der Ange- hörige eines jeden Bundesstaates in jedem andern Bundesstaate „zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Aemtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Vorausse- tzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes dem- selben gleich zu behandeln ist. Ueber die Voraussetzungen und Bedingungen der Niederlassung, des Gewerbebetriebes, der Anstellung im Staatsdienst, der Rechts- verfolgung und des Rechtsschutzes u. s. w. enthält der Art. 3 der §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. Verf. demnach gar keine Anordnung; er verfügt nur die gleiche Behandlung aller Reichsangehörigen wie der Angehörigen des eigenen Staates. Er enthält daher keine positive Bestimmung über die Rechte der Reichsangehörigen, sondern lediglich den negativen Satz: Kein Deutscher darf in rechtlicher Beziehung ungünstigeren Regeln unterworfen werden als der Angehörige des eigenen Staates Nicht einmal ein Wohnrecht im Bundesgebiet hat der Art. 3 ge- währt; denn wofern das Landes gesetz die Ausweisung von Inländern ge- stattete, konnten alle Bundesangehörigen ausgewiesen werden. Erst das Frei- zügigkeitsgesetz hat dem Reichsangehörigen das Recht, im ganzen Bun- desgebiet sich aufzuhalten und sich niederzulassen, gewährleistet. Daher ist die Ausführung in Goltdammer ’s Archiv Bd. XVI. S. 466 nicht ganz correct. . Der Art. 3 stellt demnach nur einen objectiven Rechts- satz hin, für dessen Anwendung das Reich und folglich auch das Reichsbürgerrecht gar keine logisch-nothwendige Voraussetzung ist. Auch jeder Einheitsstaat kann den Grundsatz gesetzlich feststellen, daß alle rechtlichen Beschränkungen der Ausländer aufgehoben wer- den, daß Ausländer und Staatsangehörige vor dem Gesetze gleich zu behandeln seien; ebenso können völlig unabhängige Staaten vertragsmäßig vereinbaren, daß sie wechselseitig die Unterthanen der andern wie die eigenen behandeln wollen. Deshalb konnte Art. 3 der R.-V. in Elsaß-Lothringen durch das Ges. v. 9. Juni 1871 sofort in Wirksamkeit gesetzt werden, lange Zeit vor Ein- führung der Reichsverfassung, und es war seine Einführung gerade dort wegen der rigorosen Härte, mit welcher das französische Recht Ausländer behandelt, besonders dringend geboten und von prak- tischer Wirksamkeit. Das Indigenat des Art. 3 ist daher kein Aus- fluß des Reichs bürgerrechts und kann andererseits ebensowenig dazu dienen, das Reichs bürgerrecht zu construiren Im Wesentlichen richtig Rud. Brückner Ueber das gemeins. Indi- genat. Gotha 1867 und Seydel Commentar S. 44. Auch bei den Ver- handlungen im verfassungberathenden Reichstage wurde die wahre Bedeutung des Art. 3 sehr richtig charakterisirt; namentlich von v. Wächter (Sten. Ber. S. 251) und von Braun -Wiesbaden (S. 253). Dagegen kann man den Sinn des Art. 3 kaum unrichtiger wiedergeben, als dies in einem Bericht des Bundes-Ausschusses für Justizwesen v. 12. Dezember 1868 (Hirth’s Annalen II. S. 14) in dem an die Spitze gestellten Satze geschehen ist: „Nach Art. 3 sollen kraft des in der Verf. anerkannten Bundes-Indigenats die Angehörigen des einen . Laband , Reichsstaatsrecht. I. 12 §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. Es hat dies nicht mehr Berechtigung, als wenn man etwa aus der Aufhebung des Paßzwanges für Ausländer Gesetz vom 12. Oktober 1867 §. 2. oder aus der Pflicht der Ortsarmenverbände, hülfsbedürftige Ausländer vorläufig zu unterstützen Gesetz vom 6. Juni 1870 §. 60. , ein subjectives Nichtreichsbürger-Recht herleiten wollte. Der Art. 3 war in materieller Beziehung völlig wirkungslos, soweit bei Einführung der Verf. in den einzelnen Staaten Angehörige anderer deutscher Staaten oder überhaupt Fremde den eigenen Staatsbürgern bereits gleich behandelt wurden und er begründet auch jetzt nirgends einen Anspruch der Deutschen, vor Ausländern bevorzugt oder begünstigt zu werden, sondern eben nur nicht schlechter als die Angehörigen des Staates behandelt zu werden. Seine praktische Bedeutung läßt sich vielmehr in folgende zwei Rechtssätze zusammenfassen: 1. Alle in den einzelnen deutschen Staaten bestehenden Rechtsregeln, wonach Fremde ungünstiger als die eigenen Staats- angehörigen zu behandeln sind, werden in Ansehung der Ange- hörigen der übrigen Bundesstaaten aufgehoben. 2. Kein deutscher Staat darf künftig im Wege der Gesetz- gebung oder Verwaltung Anordnungen treffen, durch welche recht- liche Ungleichheiten zwischen den eigenen Angehörigen und den Angehörigen der übrigen deutschen Staaten begründet werden Im Art. 3 ist die praktische Tragweite des im Abs. 1 ausgesprochenen Grundsatzes noch besonders im Abs. 2 hervorgehoben. „Kein Deutscher darf in der Ausübung dieser Befugniß durch die Obrigkeit seiner Heimath oder durch die Obrigkeit eines andern Bundesstaates beschränkt werden.“ . Der erste dieser Sätze brachte eine weitreichende Aenderung der Partikularrechte der einzelnen Staaten hervor, der zweite enthielt ein Verbot an die Einzelstaaten, eine Beschränkung ihrer Autonomie und Regierungsgewalt. Eine gemeinrechtliche Norm von positivem, materiellem Inhalt enthält keiner derselben. Hätte man den richtigen Sinn des Art. 3 von Anfang an festgehalten, so würden viele der zahlreichen Zweifel, zu denen er Veranlassung gegeben hat, gar nicht entstanden sein. Es ist die Ansicht ver- treten worden, daß der Art. 3 nur einen legislatorischen Grund- Bundesstaats zugleich als Angehörige der anderen Bundes- staaten gelten .“ §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. satz enthalte, der für den Richter nicht anwendbar sei, sondern erst durch Ausführungsgesetze anwendbar gemacht werden müsse Diese Ansicht entwickelt ausführlich v. Groß im Gerichtssaal Bd. 19 (1867) S. 329 ff., bes. 340 und ein Erk. des Appellations-Gerichts zu Gotha in Goltdammer ’s Archiv Bd. XVI. S. 472. . Dies ist unrichtig; der Art. 3 war kraft des ersten von uns entwickelten, in ihm enthaltenen Satzes sofort anwendbar; er hob in der That eine Reihe von Vorschriften aller deutschen Partikular- rechte theilweise (nämlich in Ansehung der Angehörigen der übrigen Bundesstaaten) auf z. B. die Verpflichtung der Ausländer , Kaution für Prozeßkosten zu erlegen, die Eigenschaft eines Ausländers als causa arresti, ferner namentlich die Zulässigkeit, Ausländer aus dem Lande zu verweisen. Vgl. die „Zusammenstellung der Streitfragen,“ welche dem oben S. 177 Anm. 2 erwähnten Ausschußbericht beigegeben ist, in Hirth ’s Annalen II. S. 25 fg. Auch die nur für Ausländer begründeten besonderen Gerichts- stände sind für Reichsangehörige nicht mehr maaßgebend. Urth. des Reichs- Oberhandels-Gerichts Bd. 2 S. 206 ff., Bd. 3 S. 395 ff., Bd. 5 S. 368, Bd. 12 S. 138 ff., Bd. 15 S. 1 ff. Der in den Fürstenthümern Schwarzburg bestehende Territorial -Retract wird von den Landesgerich- ten für aufgehoben erachtet ( Hirth ’s Annalen II. S. 28 Nr. 11); der in Mecklenburg bestehende Orts-Einwohner-Retract (ex iure incolatus) bleibt von Art. 3 unberührt. Böhlau Heimathsrecht S. 28. . Aber ebenso wenig hat der Art. 3 die Verschiedenheit der einzelnen Partikularrechte hinweggeschafft und einheitliches, gleiches Recht an deren Stelle gesetzt; auch für den Angehörigen des Reiches waren Rechtsschutz und Rechtsverfolgung, Niederlassung und Gewerbebetrieb nicht überall im Reich gleich geordnet, sondern er begegnete überall denjenigen Bedingungen und Beschränkungen, welche das Landesrecht aufstellt Eine Vertheidigung der hier bekämpften Ansicht hat namentlich in Be- ziehung auf die strafprozessualischen Kompetenz-Regeln versucht Spinola in Goltdammer’s Archiv Bd. XX. S. 321 ff. Gegen ihn erklären sich mit aus- führlicher Widerlegung seiner Gründe Schwarze und Francke ebendaselbst Bd. XXI. S. 64 fg. u. S. 73 ff. . Es bleibt ferner für die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte im eigentlichen Wortsinne das Staatsbürgerrecht des betref- fenden Staates nach Maaßgabe des Landesstaatsrechts Voraus- setzung; der Art. 3 stellt in dieser Hinsicht die Reichsangehörigen nicht in der Art einander gleich, daß „die Angehörigen des einen Bundesstaates zugleich als Angehörige der andern Bundesstaaten 12* §. 19. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. gelten.“ (Vgl. oben S. 177 Note 2.) Daher sind z. B. in Meck- lenburg landesfremde, aber reichsangehörige, Rittergutsbesitzer von der Ausübung der Landstandschaft und der obrigkeitlichen, po- lizeilichen oder gerichtsherrlichen Rechte ausgeschlossen Mecklenb. Verordn . vom 28. Dezember 1872 §. 5. Böhlau a. a. O. S. 30 Note 141. S. 33 Note 155. . Die Reichsangehörigkeit hat im Art. 3 demnach nur die Be- deutung, daß sie eine Grenze setzt für die durch den Art. 3 be- wirkte Modifikation der Partikularrechte. Die Reichsverfassung hat die Bestimmungen der letzteren vollständig unangetastet gelassen in Ansehung der nicht-reichsangehörigen Fremden; die Abänderung der Partikularrechte kömmt nur den Angehörigen der Bundesstaaten zu Gute Daß dies begrifflich etwas wesentlich Anderes ist als die Constituirung subjectiver Rechte, bedarf wol keiner Ausführung. Der volksmäßige Sprachgebrauch kann hier allerdings leicht irre führen. Wenn z. B. die für Ehefrauen bestehenden Beschränkungen für Handelsfrauen aufgehoben werden, so sagt man wol, die Handelsfrauen haben das Recht , selbständig Prozesse zu führen u. s. w.; in Wahrheit aber handelt es sich nicht um Rechte, sondern um Rechtsregeln. . Aus diesen Ausführungen ergiebt sich, daß die praktische Be- deutung des Art. 3 in materieller Beziehung die Fortdauer der Partikularrechte der Einzelstaaten zur wesentlichen Vor- aussetzung hat und daß die praktische Bedeutung in demselben Umfange aufhört , als die Ausbildung des gemeinen Rechts fort- schreitet. Denn jedes Reichsgesetz hebt nach Art. 2 von selbst alle collidirenden Landesgesetze auf und setzt der Autonomie der Ein- zelstaaten eine unantastbare Schranke; es bedarf daher der beiden im Art. 3 enthaltenen Rechtssätze nicht, um die in einem Reichs- gesetz enthaltenen Rechtsregeln gleichmäßig für alle Deutsche in jedem Einzelstaate zur Geltung zu bringen. Die Gesetze über die Freizügigkeit, über den Unterstützungs- wohnsitz, über die Gewährung der Rechtshülfe, über die Beseitigung der Doppelbesteuerung, die Gewerbeordnung, das Strafgesetzbuch und die in Aussicht stehenden Prozeß-Ordnungen haben materiell die Voraussetzungen und Bedingungen der Niederlassung, des Ge- werbebetriebes, des Rechtsschutzes und der Rechtsverfolgung für alle Deutsche und für das ganze Reichsgebiet einheitlich und gleichmäßig geregelt und es ist daher in diesen Materien die rechtliche Möglich- §. 19. Das Indigenat. des Art. 3 der Reichsverfassung. keit gar nicht mehr vorhanden, daß für die Angehörigen eines einzelnen Staates günstigere oder überhaupt andere Vorschriften als für die Angehörigen der übrigen deutschen Staaten bestehen. Soweit ist daher der Art. 3 erledigt, für seine Anwendung kein Raum mehr geblieben Man kann auch nicht sagen, daß das Reichsbürgerrecht im subj. Sinn wenn nicht durch Art. 3, so doch jedenfalls jetzt durch diese Gesetze, gleichsam die Ausführungsgesetze des Art. 3, einen materiellen Rechtsinhalt bekommen habe. Nach Maßgabe der Gewerbe-Ordnung ein Gewerbe betreiben oder nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes einen Wohnsitz begründen zu dürfen, ist ebenso wenig ein Recht im subjectiven Sinn, als nach Maaßgabe des Civil- rechts Darlehnsgläubiger, Miether, Servitutberechtigter oder Eigenthümer werden zu dürfen. Will man hier von einem Rechte reden, so ist es nur das eine, weit umfassende Recht, unter dem Schutz der Gesetze zu stehen, welches wie oben S. 154 ausgeführt, allerdings in dem Staats- resp. Reichsbürgerrecht ent- halten ist. . Seine Bedeutung hat er aber noch nicht verloren; denn abgesehen von sämmtlichen, noch nicht gemeinrecht- lich (reichsgesetzlich) normirten Gebieten, z. B. der direkten Steuern, des Privatrechts u. s. w. Ueber die Auslegung des Wortes „Ausländer“ im Art. 84 der Wechs.- Ordn. vgl. Urth. des Reichs-Oberhandelsgerichts Bd. 6 S. 357 ff. , erweist er sich wirksam in einer materiellen und in einer formellen Beziehung. 1. Materiell ist er eine Schranke für die Autonomie der Einzelstaaten, soweit die oben erwähnten Reichsgesetze dieselbe fortbestehen lassen. Dies gilt namentlich von der Landesgesetz- gebung in Strafsachen und in Gewerbe-Angelegenheiten, welche das Einf.-Ges. zum Strafgesetzb. §. 2, 5 und 8 und die Gewerbe- Ordnung §. 7, 8, 9, 21, 23, 28 u. s. w. in großem Umfange aufrecht erhalten haben. 2. Formell ist er auch eine Schranke für die Reichs- gesetzgebung , welche zwar die oben erwähnten und später noch zu erlassenden Gesetze im Wege der einfachen Gesetzgebung verändern oder aufheben kann, welche aber den für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Erfordernissen genügen müßte, wenn ein solches späteres Gesetz den Grundsatz der Rechtsgleichheit unter Einheimischen und den Angehörigen anderer Bundesstaaten etwa verletzen sollte. Hierauf beschränkt sich aber auch die staatsrechtliche Bedeutung des Art. 3. Die Einzelbestimmungen der Gesetze, zu deren Erlaß er Veranlassung gegeben hat, namentlich der Gesetze §. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur des Bundesgebietes. über die Freizügigkeit, über den Unterstützungswohnsitz, über die Gewährung der Rechtshülfe, der Gewerbe-Ordnung u. s. w. ge- hören nicht in eine Darstellung des Reichsstaatsrechts . Zweiter Abschnitt . Bundesgebiet. §. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur. Daß zum Begriff des Staates ein Gebiet erforderlich ist, wird in der Theorie nicht in Zweifel gezogen; ebenso wenig daß die Staatsgewalt eine Herrschaft an diesem Gebiet von öffentlich recht- lichem Inhalt, die sogen. Gebietshoheit, involvirt. Es ergiebt sich hieraus von selbst, daß auch die Centralgewalt im Bundesstaat nicht ohne Gebietshoheit gedacht werden kann. Dagegen fehlt es an einer wissenschaftlichen Erörterung der Frage, wie sich im Bundesstaat die Gebietshoheit der Bundesgewalt zu der Gebiets- hoheit der Einzelstaatsgewalt verhält. Für die Theorie von der Theilung der Souveränetät wäre eine solche Untersuchung auch recht unbequem gewesen, da die Identität des Territoriums, auf welches die beiden „nebengeordneten“ Staatsgewalten sich erstrecken, ein sehr erhebliches Hinderniß „für die völlige Trennung ihrer beiden Sphären“ darbietet; und für die politischen Reformbestre- bungen zur Zeit des deutschen Bundes, denen die Erkenntniß des begrifflichen Unterschiedes zwischen Bundesstaat und Staatenbund so viel zu danken hat, lag kein praktischer Anlaß vor, diese Frage a priori zu lösen. Erst die Reichsverfassung hat eine positive Grundlage für die staatsrechtliche Erörterung der hier in Betracht kommenden Rechts- verhältnisse geschaffen und der Theorie die Aufgabe gestellt, Be- griff und Wesen der Reichsangehörigkeit nicht nur in Bezug auf die Personen, sondern auch in Bezug auf das Gebiet aufzuklären. Die bisherigen Bearbeiter des deutschen Staatsrechts sind der Lösung dieser Aufgabe aber ausgewichen und haben bisweilen zum Ersatz einige statistische Notizen über Umfang, Flächeninhalt, Bevölkerungszahl u. s. w. gegeben, als wollten sie nicht ein Reichs- staatsrecht sondern ein Lehrbuch der Geographie verfassen So namentlich Thudichum S. 53 ff. v. Mohl Reichsstaatsrecht S. 8 ff. Bluntschli Staatslehre für Gebildete (1874) S. 345 fg. , bis- §. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur des Bundesgebietes. weilen die Frage nach dem Recht des Reichs am Reichsgebiet mit der Frage nach dem Mitgliederbestande des Reiches verwechselt oder zusammengeworfen So v. Rönne S. 33 fg. auch Seydel Comment. S. 29 fg. u. a. Ebenso giebt Grotefend deutsches Staatsr. §. 324 nicht viel mehr als eine Aufzählung der im Art. 1 der Verf. genannten Staaten. . Auch nach einer anderen Richtung hin ist die Bedeutung der Frage noch näher festzustellen. Es liegt in der Natur jeder poli- tischen Einrichtung, daß sie räumlich begränzt ist, daß sie ein Gebiet hat Zu den sonderbarsten Curiositäten der Literatur des Reichsstaatsrechts gehört die Schrift von H. Beta Das Neue Deutsche Reich. 1871, in welcher es dem Deutschen Reiche zum Vorwurf gemacht wird, daß es ein räumlich begränztes Gebiet habe und nicht alle in der ganzen Welt zerstreut lebenden Deutsche umfasse, überhaupt nicht „kosmopolitisch“ sei. . In dieser Hinsicht ist daher zwar auch der Staat auf ein Gebiet begränzt; aber die Begriffe Staat und Gebiet brauchen nicht zusammenzufallen. Auch der Staatenbund hat sein Bundes- gebiet; man spricht von dem Deutsch-Oesterreichischen Postgebiet, vom Zollvereins-Gebiet u. s. w., und man kann andererseits inner- halb jedes Staates nach den verschiedensten Rücksichten Gebiete unterscheiden, z. B. Geltungsgebiete einzelner Gesetze oder Ver- waltungs-Einrichtungen. Es ist daher staatsrechtlich völlig werth- los, diejenigen Angelegenheiten aufzuzählen, in welchen das deutsche Reich ein Gebiet bildet So z. B. Riedel S. 9 ff., der dahin nicht blos die räumliche Com- petenz der Normal-Eichungskommission, des Oberhandelsgerichts und des Bun- desamts für das Heimathswesen, sondern sogar Marine, Schifffahrt und Con- sulatwesen zählt. ; denn nicht die territoriale Abgränzung irgend einer Einrichtung ist entscheidend, sondern das rechtliche Verhältniß, welches ein räumlich begrenztes Stück der Erdober- fläche zu einer rechtlich relevanten Einheit macht. Nicht daß die zum deutschen Reiche gehörenden Länder in vielen Beziehungen zugleich die Grenzen für eine Reihe von Einrichtungen sind und den räumlichen Geltungsbereich einer Reihe von Gesetzen bilden, ist staatsrechtlich erheblich, sondern von Bedeutung ist, daß das Gebiet des Reiches das Object der staatlichen Reichsgewalt ist und durch die letztere zu einer staatsrechtlichen Einheit gemacht wird. In Beziehung auf das Wesen der Gebietshoheit kann man die ältere Ansicht, wonach die Gebietshoheit einen besonderen Be- §. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur des Bundesgebietes. standtheil der Staatsgewalt ausmacht und bestimmte, einzelne Befugnisse involvirt, wohl als beseitigt ansehen Sie wird noch vertreten von Zöpfl II. §. 443, der auf dieselbe 5 „Rechte“ und 2 „Ausflüsse“ (nämlich die Anwendung der statuta realia und den Gerichtsstand der Forensen, den sogen. Landsassiat) zurückführt. . Die Gebiets- hoheit ist die Staatsgewalt selbst in ihrer Richtung auf das Land, die Ausübung der dem Staate zustehenden Herrschaftsrechte über seinen räumlichen Machtbereich Am schärfsten ist dieser Begriff präcisirt von v. Gerber Grundzüge §. 22. Vgl. auch den Artikel „Staatsgebiet“ von Brockhaus in v. Holtzen- dorffs Rechtslexicon Bd. II. . Sie ist analog dem Hoheits- recht über die Staatsangehörigen. Land und Leute sind zwei wesentliche Voraussetzungen, oder wenn man den Ausdruck vor- zieht: Substrate des Staates; Land und Leute sind die Objecte der staatlichen Herrschaftsrechte. Die Staatsgewalt ist ein Ge- walt verhältniß gegenüber den Unterthanen, ein staatsrechtliches Sachenr echt gegenüber dem Territorium Die Gebietshoheit ist kein Eigenthum im Sinne des Privatrechts, so wenig wie die Staatsgewalt über die Unterthanen privatrechtliche potestas oder mundium ist. Der Satz, daß die Gebietshoheit nicht dominium sondern imperium sei, ist fast zum staatsrechtlichen Gemeinplatz geworden. Ihrem Inhalte nach ist die Gebietshoheit nur staatsrechtlicher Natur, es sind nur obrigkeitliche Hoheitsrechte, welche sie involvirt. Aber so wie das Herrschafts- recht über die Unterthanen eine Analogie findet an den familienrechtlichen Gewaltverhältnissen; so die Gebietshoheit an dem sachenrechtlichen Eigenthum. Die allgemeine Begriffskategorie der ausschließlichen und totalen Herrschaft über eine körperliche Sache ist dieselbe, nur die Art der Herrschaft, ihr Zweck und Inhalt, sind verschieden. Die Analogie tritt am deutlichsten hervor im Völkerrecht , wo das Territorium eines Staates im Verhältniß zu an- deren Staaten in völlig gleichartiger Weise wie das Eigenthum in privatrecht- licher Beziehung behandelt wird. Vgl. Klüber Völkerr. §. 128. Heffter Völkerr. §. 64 ff. Hartmann Institut. des prakt. Völkerrechts (Hannover 1874) §. 58 fg. Die Analogie zwischen der Gebietshoheit und dem Eigen- thumsrecht wird zwar in Abrede gestellt von Fricker Vom Staatsgebiet. Tübingen 1867, aber seine Gründe sind nicht stichhaltig. Er beruft sich darauf, daß der Staat nur einen kleinen Theil der Bodenfläche zu seiner Benutzung ergreift, die Hauptmasse dagegen dem Eigenthum des Einzelnen überläßt. (S. 15 ff.) Allein grade die Verschiedenheit der öffentl. und der privatrechtlichen Herrschaft gestattet, daß beide Herrschaften gleichzeitig an demselben Ob- ject bestehen; dagegen giebt es an demselben Grund und Boden gleichzeitig weder zwei Eigenthumsrechte noch zwei Staatsherrschaften und so weit der Staat Eigenthum im Privatrechtssinne hat, ist er nicht Person des öffentlichen Rechts sondern Fiskus. Ebenso wenig kann die begriffliche Analogie zwischen . §. 20. Begriff und staatsrechtliche Natur des Bundesgebietes. Wenn man von diesem Begriffe ausgeht, so ergiebt sich daß im Reiche in ähnlicher Weise eine doppelte Gebietshoheit besteht, wie eine doppelte Unterthanen-Hoheit. Die Staaten sind mit Land und Leuten der Reichsgewalt unterthan. Ihre Gebietshoheit haben sie in soweit behalten, als ihnen Herrschaftsrechte geblieben sind; sie ist auf das Reich übergegangen, so weit das Reich die Hoheits- rechte der Einzelstaaten auf sich vereinigt hat Vgl. auch Rüttimann Nordamerik. Bundesstaatsr. I. §. 58. . Die Kompetenz- Grenze zwischen Reich und Einzelstaat ist zugleich die Grenze, welche die Gebietshoheit des Reiches am Reichsgebiet von der Gebietshoheit der Staaten am Staatsgebiet scheidet . Es sind zwei hiervon, nach verschiedenen Richtungen abwei- chende Ansichten geltend gemacht worden. Bei der Berathung der neuen Redaktion der Reichsverf. äußerte Fürst Bismarck in der Sitzung des Reichstages v. 1. April 1871 Stenogr. Ber. S. 95. hinsichtlich des An- trages anstatt Bundesgebiet den Ausdruck Reichsgebiet in der Verf. zu setzen: „Bei den Worten „Reichsgebiet“ und „Bundesgebiet“ gebe ich gern zu, daß der Unterschied sich nicht nothwendig und scharf fühlbar macht. Es kommt aber auf den sprachlichen Begriff an, den man mit „Reich“ und „Gebiet“ verbindet. Wir haben geglaubt, daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit, die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten verblieben ist , bei Bezeichnung des Gesammtgebietes der Be- griff des Bundesverhältnisses in den Vordergrund zu stellen sei.“ Auf diese Aeußerung berufen sich manche Schriftsteller für die Behauptung, daß das Reich als solches keine Gebietshoheit habe So besonders Seydel Comment. S. 28 fg. . Andererseits geht die Behauptung, daß „das Bundesgebiet ein wahres einheitliches Staatsgebiet sei, innerhalb dessen von Aus- land und Inland nicht mehr die Rede sein könne“ So äußert sich z. B. Schulze Einleit. S. 441. Ganz ähnlich „Das , viel zu weit. Eigenthum und Gebietshoheit damit widerlegt werden, daß das Gebiet ein wesentliches Moment im Begriff des Staates sei und daß deshalb es kein Recht des Staates an seinem Gebiet geben könne. (S. 17 fg. 23 fg.) Grade dieses ausschließliche Herrschaftsrecht am Gebiet ist für den Staatsbegriff we- sentlich. §. 21. Gebiets-Veränderungen. Die Binnen-Grenzen der deutschen Staaten sind noch immer von höchst bedeutungsvoller Wichtigkeit. Besteht am deutschen Land eine doppelte Gebietshoheit, so ist dies doch keine in der Art getheilte, daß gewisse Herrschaftsbe- fugnisse dem Reich, gewisse andere dem Einzelstaat in völliger begrifflicher und praktischer Trennung zustehen. Sondern die Sou- veränetät hat auch in dieser Beziehung das Reich, die Einzelstaaten haben die Rechte der Autonomie und Selbstverwaltung in ihren Territorien. Die oben dargelegte Verknüpfung von Reichsgewalt und Staatsgewalt zeigt sich grade in den Wirkungen der staatlichen Gewalt auf das Gebiet am deutlichsten. Im Einzelnen bestimmt sich das Verhältniß von Reich und Staat hinsichtlich des Gebietes durch folgende Rechtssätze. §. 21. Gebiets-Veränderungen. I. Der Umfang des Bundesgebietes ist durch die Verf. Art. 1 reichsgesetzlich bestimmt. Nach diesem Artikel giebt es kein Bundesgebiet, welches nicht einem Staate angehört. Der Artikel sagt: Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen u. s. w. Derselbe Grundsatz, der die Reichsangehörigkeit der Person von der Angehörigkeit zu einem Bundesstaat abhängig macht, gilt auch hinsichtlich des Gebietes. Durch die Erwerbung von Elsaß-Lothringen ist auch in dieser Hinsicht eine Anomalie begründet, die im Zusammenhange mit der staatsrechtlichen Stel- lung des Reichslandes erörtert werden muß. Der Art. 1 enthält aber auch noch ein anderes Prinzip. So wie jeder Angehörige eines Bundesstaates Reichsangehöriger ist, so ist das ganze Gebiet jedes Einzelstaates, welches ihm bei Gründung des Reiches zustand, Bundesgebiet. Es giebt nach Art. 1 kein Bundesgebiet, welches nicht Staatsgebiet, und kein Staatsgebiet der Bundesstaaten, welches nicht Bundesgebiet ist. Da nun die räumliche Erstreckung einés Staates ohne dessen Willen nicht verändert werden kann, so ergiebt sich, daß das Bundesgebiet nicht ohne den in verfassungsmäßiger Form erklär- ten Willen des Reiches abgeändert werden kann; d. h. daß ein Bundesstaatsr. der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Nordd. Bundes zusammengestellt von einem Juristen.“ München 1868 S. 14. §. 21. Gebiets-Veränderungen. in den Formen der Verfassungs-Aenderung (Art. 78 Abs. 1) be- schlossenes Reichsgesetz dazu erforderlich ist. Hieraus ergeben sich zwei unzweifelhafte Rechtssätze; nämlich: 1. Kein Staat darf Gebietstheile ohne Genehmigung des Reiches an einen außerdeutschen Staat abtreten oder aus dem Reichsgebiet loslösen; es ist hierzu ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich. 2. Erwerbungen von außerdeutschem Lande, welche ein Einzelstaat macht, gehören nicht ipso iure zum Bundesgebiet; es ist hierzu ebenfalls ein verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich. Zweifelhaft kann es dagegen erscheinen, ob das Reich befugt ist, Gebietstheile eines Einzelstaates ohne dessen Zustimmung an außerdeutsche Staaten abzutreten oder aus dem Bundesgebiet auszuschließen, und ob es dem Einzelstaat verwehrt ist, ohne Zu- stimmung des Reiches außerdeutsche Gebietstheile zu erwerben, welche nicht dem Bundesgebiet einverleibt werden. 1) Bei der ersten dieser beiden Fragen ist zu unterscheiden zwischen freiwilligen (im Frieden getroffenen) Maßregeln und ge- zwungenen Abtretungen (Friedensbedingungen). a) Das Recht des Reiches einzelne Theile eines Staates aus dem Reichsgebiet auszuschließen , ohne die Zustimmung dieses Staates z. B. der Gebietstheile Preußens mit polnisch redender Bevölkerung ist unbedingt zu verneinen. Jeder Staat hat ein Recht auf die Mitgliedschaft für seinen Gesammtbestand, in seiner Integrität. Er kann weder ganz noch theilweise aus dem Reich ausgeschlossen Vgl. auch v. Mohl Reichsstaatsr. S. 11. , er kann nicht in seinem Bestande zerrissen und zer- splittert werden, indem ein Theil seines Gebietes aus der im Reiche vollzogenen staatlichen Einigung herausgerissen wird. Es ergiebt sich dies aus dem, was oben §. 11 über die Mitgliedschafts- rechte der Einzelstaaten entwickelt worden ist. Ebenso muß aber auch die Befugniß des Reiches, Gebiets- theile eines Bundesstaates ohne dessen Zustimmung an einen außerdeutschen Staat freiwillig abzutreten, verneint werden. Das Reich kann nicht einem einzelnen Staate das Opfer einer Einbuße an Land und Leuten auferlegen, wenn dieser Staat nicht freiwillig es übernimmt. Es kömmt grade hier das in der Mitgliedschaft enthaltene Recht jedes Einzelstaates auf gleichmäßige Behandlung §. 21. Gebiets-Veränderungen. mit allen andern, die Unzulässigkeit ihm höhere Lasten und größere, besondere Opfer zuzumuthen, welches wir oben S. 112. 125 entwickelt haben, zur Anwendung. Daher könnte z. B. das Deutsche Reich nordschleswigsche Districte nicht ohne die besondere Zustimmung des Preußischen Staates an Dänemark abtreten, so wenig wie bayrische ohne die Zustimmung Bayerns an Oesterreich. In formeller Beziehung ist zwischen den beiden Fällen der Ausschließung aus dem Reich und der Abtretung aber ein Unter- schied. Soll ein Theil eines Staatsgebietes zwar diesem Staat verbleiben, aber aus dem Reich ausgeschlossen werden, so genügt ein Reichsgesetz nach Art. 78, welchem der davon betroffene Staat im Bundesrath zustimmt; denn es handelt sich hier lediglich um eine Aenderung des Bundesgebietes, nicht um eine Aenderung des Staatsgebietes. Soll dagegen ein Theil eines Staatsgebietes an einen auswärtigen Staat abgetreten werden, so ist sowohl ein ver- fassungsänderndes Staatsgesetz des Einzelstaates als auch ein nach Art. 78 zu Stande gekommenes Reichsgesetz erforderlich; denn es handelt sich hier zugleich um eine Aenderung des Staatsgebietes und des Bundesgebietes Sollte einmal ein Theil von Schleswig an Dänemark abgetreten wer- den, so müßte demnach zuerst der Preuß. Landtag in verfassungsmäßiger Weise einem Gesetz zustimmen, welches die abzutretenden Gebiete zum Zweck ihrer Abtretung aus dem Preuß. Staate ausscheidet oder welches die Preuß. Regierung ermächtigt , einem Reichsgesetz zuzustimmen, welches diese Abtre- tung anordnen wird. Vgl. die Verhandlungen des verfassungsgebenden Reichs- tages vom 18. März 1867 (Stenogr. Ber. I. 219. 220) u. Seydel S. 33 fg. Unklar Hiersemenzel I. S. 6 und ihm nachschreibend v. Rönne S. 40 Note 4. Abweichender Ansicht Thudichum S. 57. . b) Anders gestaltet sich die Frage hinsichtlich der in einem Friedensschluß zugestandenen Abtretung von Bundesgebiet. Hier ist die Zustimmung des Staates, dessen Gebiet abgetreten werden muß, staatsrechtlich nicht erforderlich. Zwar nicht aus dem Grunde, weil im Falle des Krieges die Rechte der Einzel- staaten ruhten oder das Prinzip der Gleichberechtigung suspendirt wäre. Das Reich hat vielmehr grade im Kriege die Pflicht, sie alle gleichmäßig zu schützen und zu vertreten. Aber die Erfüllung dieser Pflicht kann thatsächlich unmöglich sein. Wenn nach einem unglücklichen Kriege das Reich im Friedensschluß zur Abtretung von Bundesgebiet sich entschließt, so erklärt es eben dadurch, daß §. 21. Gebiets-Veränderungen. es seine Pflicht, das Bundesgebiet und alle zu ihm gehörenden Einzelstaaten zu schützen, nicht ferner erfüllen kann , oder daß es dieser Pflicht wegen der Größe der Opfer, wegen der Gefahr noch größerer Verluste oder aus anderen politischen Erwägungen nicht weiter als geschehen, nachkommen will Vgl. Hartmann Institut. des Völkerrechts S. 170. . Die höhere Gewalt, welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus dem rechtlichen Organismus des Reiches selbst stammt, sondern von Außen an dasselbe herantritt, ist der Grund, wegen dessen der Staat, dessen Gebiet ganz oder theilweise abgetreten wird, diesen casus tragen muß. Es bedarf keiner Ausführung der politischen Nachtheile, ja der Absurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das Reich in keinem Friedensschlusse Gebietstheile eines Bundesstaates ohne dessen Zustimmung abtreten könne Dies behauptet Seydel S. 29. ; es würde dies jedem Einzelstaat ein Recht darauf geben, in das eigene Unglück den Ruin und Untergang des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die Reichsverfassung selbst schließt aber eine solche Annahme auch dadurch aus, daß sie im Art. 11 Abs. 1 dem Kaiser die Be- fugniß ertheilt, „Frieden zu schließen,“ ohne dieser Befug- niß irgend eine Einschränkung hinzuzufügen, als daß nach Abs. 3 in gewissen Fällen die Zustimmung des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichstages erforderlich ist. Der Schutz der Einzelstaaten liegt in diesem Falle nicht in einem formalen Rechts- satz, sondern in der thatsächlichen Solidarität der Interessen, da jede erzwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht blos den Ein- zelstaat, zu dem es gehört, sondern ebenso schwer auch das Reich als Ganzes trifft. 2. Die zweite Frage, ob es einem Deutschen Staate verwehrt ist, außerdeutsches Gebiet ohne Zustimmung des Reiches zu erwer- ben, welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, ist ohne praktische Bedeutung. Da die Reichsverfassung an keiner Stelle dies untersagt und die Deduction, daß aus dem Wesen des Bundes- staates die Unzulässigkeit eines solchen Erwerbes sich ergäbe, durch die Hinweisung auf die Stellung des Großherzogthums Hessen im Norddeutschen Bunde ihre Widerlegung findet, so ist diese Frage zu verneinen Vgl. Hiersemenzel S. 4. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37. . Zuzugeben ist aber, daß sowohl nach dem Art. 1 §. 21. Gebiets-Veränderungen. der R.-Verf. als nach dem Verfassungs-Organismus des Reiches der Fall, daß ein Staat nicht mit seinem ganzen Gebiet dem Reich angehört, als ein anormaler, wenn auch nicht verfassungsmäßig verbotener, anzusehen wäre. II. Der Umfang der Staatsgebiete innerhalb des Reiches ist weder durch die Reichsverfassung bestimmt noch unterliegen Abänderungen der Verfügung und Genehmigung des Reiches. Grade hier zeigt sich die Gebietshoheit der Einzelstaaten sehr deut- lich und sie äußert ihre Wirkungen in negativer und positiver Richtung. 1. Die negative Richtung, der Ausschluß einer anderen Ver- fügungsgewalt über das Staatsgebiet, äußert sich dem Reiche gegenüber in dem Satze: Das Reich ist nicht befugt, die Grenzen der einzelnen deutschen Staaten ohne deren Zustimmung zu verändern ; es darf nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen oder aus anderen Motiven die Gebiete der einzelnen Staaten abrunden oder zusammenlegen oder gar der Größe nach ausgleichen. Die Integrität der Mitglieder des Reiches steht nicht zur Verfügung der Reichsgewalt; die Mitglieder haben vielmehr ein verfassungsmäßiges Recht, daß das Reich ihre Inte- grität schütze. In diesem Sinne verstanden ist die oben erwähnte Aeußerung des Reichskanzlers, daß die Landeshoheit bei den ein- zelnen Staaten geblieben ist, richtig. Die Gebiete der Staaten sind eben nicht Provinzen, Verwaltungsdistricte des Reiches. Es bewährt sich hier die Behauptung, daß auch noch andere Maß- regeln des Reiches als die im Art. 78 Abs. 2 erwähnten Verfas- sungs-Aenderungen der besonderen Zustimmung einzelner Staaten bedürfen Siehe oben S. 113. 118 fg. . 2. In positiver Richtung kommt die Gebietshoheit der Ein- zelstaaten zur Geltung, indem es den Einzelstaaten frei- steht, die Binnen-Grenzen ihrer Gebiete zu verän- Seydel S. 30. Abweichender Ansicht sind G. Meyer Staatsrechtl. Erörter. (1872) S. 68 und v. Mohl S. 22. 25. Daß politische Bedenken im einzelnen Falle entgegenstehen können , ist dem Letzteren zuzugeben; indeß doch nicht immer. Was würde es dem Deutschen Reich schaden, wenn ein Deutscher Landesherr etwa einmal kraft Erbrechts oder Kaufes souveräner Fürst von Lichtenstein oder Monaco würde? In keinem Falle genügen politische Beden- ken zur Aufstellung eines Rechtssatzes. §. 21. Gebiets-Veränderungen. dern, durch Abtretung oder Austausch, ohne daß sie dazu der Zustimmung des Reiches bedürfen . Eine Gebiets-Abtretung unter den deutschen Staaten hat an politischer Bedeutung fast den größten Theil eingebüßt; denn das abgetretene Stück bleibt, wenn es auch die Staatsangehörigkeit wechselt, der souveränen Reichsgewalt, der Reichsgesetzgebung, den vom Reich erforderten Lasten und Leistungen u. s. w. in derselben Weise wie bisher unterworfen. Gebietsabtretungen unter den Bundesstaaten verhalten sich zu Gebietsabtretungen unter den souveränen Staaten etwa wie Ueberwanderungen zu Auswanderungen. Für das Reich besteht der Regel nach gar kein rechtliches Interesse, ob ein Stück des Bundesgebietes zu diesem oder jenem Einzelstaat gehört. Selbst- verständlich ist es, daß kein Stück des Bundesgebietes den Hoheits- rechten des Reiches ohne Zustimmung des letzteren dadurch entzogen werden kann, daß es an einen, mit Reservatrechten ausgestatteten Staat, z. B. an Bayern abgetreten wird; es könnte an Bayern nur in derjenigen rechtlichen Lage, in welcher es sich vor der Ab- tretung befand, übergehen. Ebenso ist es selbstverständlich, daß, wenngleich die Abtretung von Gebietstheilen an einen andern deutschen Staat der Reichs- genehmigung nicht bedarf, dennoch ein Reichsgesetz in dem Falle erforderlich ist, wenn zugleich das Stimmen-Verhältniß im Bun- desrath und die Abgränzung der Reichstags-Wahlkreise verändert werden sollen. Endlich ist es zweifellos, daß, wenn Gebietsver- änderungen zugleich eine Veränderung der Bevölkerungs- zahlen herbeiführen, die Berücksichtigung dieses Umstandes bei allen Vertheilungen von Lasten und Rechten, welche nach Maaß- gabe der Bevölkerungsziffern erfolgen, z. B. der Matrikular-Bei- träge, der Rekruten-Gestellung, der Reichskassenscheine, nicht direkt unter den Staaten, welche den Gebiets-Austausch vornehmen, be- wirkt werden kann, sondern eines Bundesraths-Beschlusses bedarf Vgl. z. B. Bundesraths-Protok. 1874 §. 348 S. 244 fg., über den Preuß.-Oldenburg. Gebiets-Austausch vom 8. April 1873 und Bundesraths- Protok. 1875 §. 229 S. 194 wegen Wolde und der Theilung des Kommunion- harzes. . Einzelne Schriftsteller gehen in Verkennung des wahren Sach- verhältnisses so weit, daß sie zu Grenzveränderungen unter deutschen Staaten nicht blos Genehmigung des Reiches, sondern sogar die §. 22. Der Schutz des Gebietes. Einwilligung sämmtlicher Bundesglieder verlangen Namentlich v. Martitz S. 10 u. G. Meyer Grundz. S. 47, der jedoch später, Staatsr. Erörter. S. 65 seine Ansicht dahin modifizirt hat, daß er nicht Zustimmung aller Einzelstaaten, sondern nur die des Reiches verlangt. Diese Schriftsteller berufen sich auf die „Vertrags-Natur“ des Bundes; dagegen verwirft der entschiedenste Vertheidiger dieser Theorie, Seydel S. 30 aus- drücklich die in Rede stehende Consequenz. Die richtige Ansicht haben auch Thudichum S. 61. Riedel S. 80. v. Rönne S. 37. . Die richtige Ansicht ist jedoch nicht nur in der Theorie die herrschende, sondern ist auch in der Praxis befolgt worden, indem seit Gründung des Norddeutschen Bundes eine große Zahl von Gebietsveränderungen und Gränzregulirungen unter den deutschen Staaten stattgefunden haben, ohne daß jemals die Zustimmung des Norddeutschen Bundes oder des Deutschen Reiches ertheilt worden ist Gebietsveränderungen in Deutschland seit 1867: vgl. Ernst Meier . Ueber den Abschluß von Staatsverträgen (1874) S. 253 ff. 1. Preuß. Ges. vom 23. März 1873 über die veränderte Abgrenzung des Jadegebietes. 2. Vertrag zwischen Preußen und Sachsen-Altenburg vom 9. Juni 1868 und das Preuß. Gesetz vom 3. April 1869, wodurch die zu Altenburg gehörigen Theile der Dörfer Willschütz und Gräfendorf gegen den unter preuß. Lan- deshoheit stehenden Theil von Königshofen ausgetauscht wurden. 3. Vertrag zwischen Preußen und Bremen v. 8. Dezember 1869 wegen Er- weiterung des Bremerhaven-Districts. 4. Rezeß zwischen Preußen und Mecklenb.-Schwerin über Regulirung der Landeshoheitsgrenzen in den Dörfern Suckow, Drenikow und Prorep vom 12. Oktober 1872. 5. Gebiets-Austausch zwischen Sachsen-Weimar und Sachsen-Coburg-Gotha. (Geogr. Jahrbuch III. S. 17. Petermann’s Mittheilungen. Ergänzungs- heft 33 S. 11 Anm. 24 u. 30.) 6. Theilung des Communions-Gebietes am Unterharz zwischen Braunschweig und Preußen durch Vertrag vom 9. März 1874. Preuß. Gesetz-Samml. S. 295 ff. . §. 22. Der Schutz des Gebietes. I. Der Zweck und die Aufgabe des Reiches ist der Schutz des Bundesgebiets. (Einl. der R.-V.) Dieser Aufgabe und den zu ihrer Durchführung dienenden Hoheitsrechten gegenüber ist das Bundesgebiet eine Einheit. Im Staatenbund besteht zwar auch die gemeinsame Aufgabe zum Schutz des Bundesgebietes; hier wird sie aber erfüllt durch eine Collectivgarantie für die Integrität §. 22. Der Schutz des Gebietes. der einzelnen Staatsgebiete; jeder Staat ist verpflichtet, den übrigen behufs Vertheidigung ihrer Gebiete zu helfen; das Bundesgebiet ist lediglich die Summe der unter diesen Schutz gestellten Staats- gebiete. Im Bundesstaat wird durch einen feindlichen Angriff oder durch einen unbefugten Eingriff eines auswärtigen Staates nicht blos der Staat, dessen Gebiet davon betroffen ist, sondern der Bund selbst als völkerrechtlich anerkanntes, staatliches Rechtssub- ject verletzt. Das Reich vertheidigt sein eigenes Recht, wenn es Angriffe (oder Eingriffe) auf das Bundesgebiet zurückweist, während im Staatenbund die nicht unmittelbar verletzten Staaten durch Leistung der Bundeshülfe ihre vertragsmäßige Pflicht zur Vertheidigung eines fremden Rechts erfüllen. Dieser Pflicht des Reiches, das Bundesgebiet als Einheit zu schützen, entspricht das ausschließliche Recht des Reiches, auswär- tigen Staaten gegenüber die Gebietshoheit über das ganze Bundes- gebiet wahrzunehmen und im Inneren des Reiches alle Anordnungen zu treffen, welche zur Vertheidigung des Bundesgebietes erforder- lich sind. 1. Dem Auslande gegenüber hat das Reich am Bun- desgebiet alle diejenigen Rechte, welche nach den Grundsätzen des Völkerrechts dem Souverän des Einheitsstaates an seinem Staats- gebiet zustehen und die in dem Satz sich zusammenfassen lassen, daß jeder andere Staat, soweit ihm nicht rechtsgültig Staatsservi- tuten bestellt sind, die Ausübung von Hoheitsrechten an dem Bun- desgebiet unterlassen muß. Hier tritt aber der Unterschied von Bundesstaat und Staatenbund und die dem ersteren zustehende stelbstständige Gebietshoheit in einer sehr bemerkenswerthen Weise hervor. Im Staatenbund kann jeder einzelne Staat einem aus- wärtigen Staate Staatsservituten bestellen, ihm die Ausübung von Hoheitsrechten erlauben, Truppen-Durchzüge durch das Land oder Stationirung von Kriegsschiffen in den Häfen ihm gestatten, Kar- tell-Konventionen zur Ermöglichung von Gränzüberschreitungen be- hufs Verfolgung von Schmugglern, Forstfrevlern u. s. w. ab- schließen. Die übrigen Staaten und die Bundes-Organe haben kein Einspruchsrecht gegen solche selbstgewollte und bewilligte Be- schränkungen der dem einzelnen Staate zustehenden Gebietshoheit; sie haben nur Bundeshülfe zu leisten, bei feindlichen und wider- rechtlichen Angriffen. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 13 §. 22. Der Schutz des Gebietes. Im Reiche, als einem Bundesstaate, kann kein Einzelstaat einem fremden Staate Eingriffe in die Gebietshoheit gestatten; dies kann nur das Reich selbst. Die Bestellung von Staatsservituten, die Erlaubniß von Truppendurchmärschen, der Abschluß von Kar- tell-Konventionen, sowie jede andere Einschränkung der Gebiets- hoheit zu Gunsten eines außerdeutschen Staates kann für das gesammte Bundesgebiet und jeden Theil desselben nur vom Reiche gewährt werden. Die Reichsverfassung schließt zwar keineswegs das Recht der Einzelstaaten aus, auch mit auswärtigen Staaten Verträge zu schließen; diese Verträge dürfen aber keinen Inhalt haben, welcher mit der Souveränetät des Reiches im Widerspruch steht und ein solcher Widerspruch würde vorhanden sein, wenn einem fremden Staate die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte in einem Theile des Bundesgebietes eingeräumt werden würde. Ebenso wenig kann der Einzelstaat feindliche Angriffe eines auswärtigen Staates dulden oder verzeihen oder mit ihm über die zu leistende Genugthuung sich verständigen; denn nicht blos der Ein- zelstaat, sondern das Reich selbst erscheint als verletzt und an- gegriffen. Obwohl weder die Reichsverfassung noch die Reichsge- setze das Prinzip selbst allgemein aussprechen, so tritt es doch in einer Reihe von Anwendungsfällen zu Tage. a) Nach R.-V. Art. 11 hat der Kaiser das Recht, im Namen des Reiches Krieg zu erklären, und zwar ohne daß die Zustimmung des Bundesrathes erforderlich ist, wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Dieses Recht ist nicht nur unabhängig davon, daß der Einzelstaat, gegen dessen Gebiet der Angriff erfolgt ist, die Hülfe des Reiches verlangt; sondern es besteht selbst dann, wenn der Einzelstaat gegen diese Hülfe protestiren und sich direct mit dem Gegner vergleichen wollte. b) Der Eintritt von Angehörigen fremder Staaten in das Bundesgebiet unterliegt der Gesetzgebung und Beaufsichtigung des Reiches, indem Art. 4 Z. 1 der R.-V. das Paßwesen und die Fremdenpolizei der Reichscompetenz zuweist. Das Gesetz über das Paßwesen v. 12. Oktob. 1867 §. 9 ermächtigt den Kais er durch Verordnung die Paßpflichtigkeit überhaupt oder für einen bestimmten Bezirk oder zu Reisen aus und nach bestimmten Staaten des Auslandes vorübergehend einzuführen, wenn die Sicherheit des Bundes oder eines einzelnen Bundesstaates oder die öffentliche §. 22. Der Schutz des Gebietes. Ordnung durch Krieg, innere Unruhen oder sonstige Ereignisse bedroht erscheint. Die Einzelstaaten haben keine Ermächtigung dieser Art für ihr Gebiet. c) Ebenso unterliegt der Waarenverkehr mit dem Auslande der Regelung durch das Reich, welchem die ausschließliche Befug- niß zur Zollgesetzgebung, zur Erhebung von Abgaben von fremden Schiffen oder deren Ladungen gemäß Art. 54 Abs. 6 der R.-V., zum Abschluß von Handels- und Schifffahrtsverträgen und zur Verfügung von Gränzsperren zusteht In Bezug auf den letzten Punkt hat das Gesetz vom 7. April 1869 die Verwaltungsbehörden der einzelnen Staaten „ verpflichtet und er- mächtigt “, wenn die Einschleppung der Rinderpest zu befürchten ist, Beschrän- kungen und Verbote der Einfuhr zu erlassen. Sobald eine Regierung in die Lage kommt, ein Einfuhrverbot zu erlassen, zu verändern oder aufzuheben, muß sie dem Bundespräsidium davon Mittheilung machen und erforderlichen Falls kann der Reichskanzler selbstständig Anordnungen treffen. (Ges. §. 1. 2. 9. 12.) Die Behörden der Einzelstaaten erlassen das Einfuhrverbot daher nicht in Ausübung eines Hoheitsrechtes des Einzelstaates, sondern kraft beson- derer Delegation in Ausübung eines Hoheitsrechtes des Reiches und nach Maaßgabe der vom Reich erlassenen Instruktion. Vgl. die Revid. Instr. v. 9. Juni 1873 §. 1—10. (R.-G.-Bl. S. 147). Anwendungsfälle dieser Gebiets- hoheit des Reiches sind ferner das vom Kaiser erlassene Verbot der Einfuhr von Reben zum Verpflanzen v. 11. Febr. 1873. (R.-G.-Bl. S. 43) und das Verbot der Einfuhr von Kartoffeln aus Amerika v. 26. Febr. 1875 (R.-G.-Bl. S. 135.) Auch Ausfuhrverbote kann nur das Reich erlassen, so wie im Nordd. Bunde dieselbe nur von dem Bundespräsidium verordnet werden konnten. Die Bestimmungen des Art. 4 des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867 sind durch den Eintritt der süddeutschen Staaten in das Reich unanwendbar ge- worden, da sie von einander unabhängige, souveräne Staaten voraussetzen. Auch das Pferde-Ausfuhrverbot v. 4. März 1875 (R.-G.-Bl. S. 159) ist im Namen des Deutschen Reichs verordnet worden, jedoch in einer dem Deut- schen Reichsrecht gänzlich unbekannten Form, nämlich: „nach erfolgter Zustim- mung der Bundesregierungen .“ . d) Auch der Abschluß von Verträgen mit auswärtigen Staaten über die Herstellung von Eisenbahn-Verbindungen, würde, wenn in solchen Verträgen zu Gunsten des Auslandes Beschränkungen der Gebietshoheit zugestanden werden sollten, Sache des Reiches, nicht des Einzelstaates sein Der Sächs.-Oesterreich. Eisenbahn-Vertrag vom 29. September 1869, in der Königl. Sächs. Gesetzsammlung publicirt am 15. Mai 1871, begründet nur Rechte Sachsens im Böhmischen Gebiet, keine Beschränkungen der Sächs. Gebietshoheit zu Gunsten Oesterreichs. Die Eisenbahnverträge mit dem Aus- . 13* §. 22. Der Schutz des Gebietes. 2. Im Innern des Bundesgebietes hat das Reich entsprechend der ihm obliegenden Schutzpflicht das Recht, die zur Vertheidigung und Sicherung erforderlichen Maaßregeln anzuordnen, ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen und die Gebietshoheit des Einzelstaates. Auch hier erscheint das Bundesgebiet als Einheit. Anwendungsfälle sind folgende: a) Der Kaiser hat das Recht, innerhalb des Bundesgebietes die kriegsbereite Aufstellung eines jeden Theils des Reichsheeres anzuordnen (R.-V. Art. 63 Abs. 4), sowie Festungen innerhalb des Bundesgebietes anzulegen (R.-V. Art. 65). Die Zustimmung des Einzelstaates, in dessen Gebiet die Anlage gemacht wird, ist nicht erforderlich, abgesehen von Bayern, welchem in dem Vertrage von Versailles Z. III §. 5 Nro. V in dieser Beziehung ein Son- derrecht zugestanden worden ist. In untrennbarem Zusammenhange damit steht die Befugniß, die zur Anlage fortifikatorischer Werke erforderlichen Grundstücke zu expropriiren und die in der Umge- bung von Festungen liegenden Grundstücke Gebrauchs-Beschrän- kungen zu unterwerfen Ges. vom 21. Dezember 1871 (Rayon-Gesetz) R.-G.-Bl. S. 459. . b) Der Kaiser kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Theil desselben in Kriegs- zustand erklären, R.-V. Art. 68. Auch dieses Recht ist für Bayern bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes ausgeschlossen Vertr. v. Versailles Z. III. §. 5 Nr. VI. . Bei der Abgränzung des in Kriegszustand zu erklärenden Theiles des Bundesgebietes braucht der Kaiser nicht die Gränzen der einzelnen Staatsgebiete zu berücksichtigen; sie sind in dieser Beziehung nicht vorhanden Die Verordnung vom 21. Juli 1870 erklärte in Kriegszustand „die Bezirke des 8., 11., 10., 9., 2. und 1. Armeekorps.“ . c) Das Reich ist befugt, Eisenbahnen, welche im Interesse der Vertheidigung Deutschlands oder im Interesse des gemeinsamen Verkehrs für nothwendig erachtet werden, anzulegen und zwar auch gegen den Widerspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die lande, welche Preußisches Gebiet betreffen, sind seit der Gründung des Reiches im Namen des Reiches geschlossen worden; nämlich der Vertrag mit Rußland vom 8. Juli 1871, mit der Niederlande vom 18. August 1871, mit Oesterreich vom 21. Mai 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 23. 39. 353) u. s. w. Vgl. Ernst Meier Abschluß von Staatsverträgen S. 272. §. 22. Der Schutz des Gebietes. Eisenbahnen durchschneiden. R.-V. Art. 41. Dem Reich steht behufs Durchführung einer solchen Eisenbahn-Anlage das Expro- priationsrecht zu und, falls die Anlage einem Privat-Unternehmer konzessionirt wird, kann das Reich denselben mit dem Expropria- tionsrechte ausstatten. Wenn das Reich von dieser Befugniß Ge- brauch macht, wird die in Folge dessen angelegte Eisenbahn aber keineswegs völlig von der Gebietshoheit des Staates eximirt und gleichsam reichsunmittelbar; sondern es besteht auch ihr gegenüber die Landeshoheit des Einzelstaates in demjenigen Umfange fort, in welchem die R.-V. sie überhaupt hat bestehen lassen. Dies hat der Art. 41 der R.-V. hervorgehoben durch die Clausel: „unbe- schadet der Landeshoheitsrechte.“ Grade hier zeigt sich wieder, daß einerseits die Souveränetät des Reiches keine die Hoheitsrechte der Einzelstaaten vernichtende, erschöpfende ist und daß andererseits die Hoheitsrechte der Einzelstaaten keine souveräne d. h. unbe- schränkte sind; denn eine Gebietshoheit ohne Widerspruchsrecht gegen Eingriffe einer andern Gewalt in das Gebiet ist keine souveräne. II. Im Verhältniß der einzelnen Bundesstaaten zu einander ist die Gebietshoheit derselben am Staatsterritorium zwar keineswegs beseitigt, aber durch die Unterordnung unter die souveräne Reichsgewalt sehr erheblich an Kraft geschwächt und ge- lockert. Es gilt dies namentlich von der negativen Richtung der Territorialgewalt, d. h. von der Abschließung des Staatsgebiets gegen Außen. Durch die Zollgesetzgebung ist das ganze Bundes- gebiet dem Waaren-Verkehr frei gegeben und Reste der Gebiets- hoheit der einzelnen Staaten bestehen in dieser Beziehung nur, so weit die süddeutschen Staaten von der Bier- und Branntweinsteuer- Gemeinschaft eximirt sind. Durch das Freizügigkeits- und Staats- angehörigkeits-Gesetz ist für den Personen-Verkehr das ganze Bun- desgebiet zur Einheit geworden. Durch den 7. und 8. Abschnitt der Reichsverfassung ist in Beziehung auf das Eisenbahn- Post- und Telegraphenwesen eine Abschließung der einzelnen Staatsge- biete gegen die übrigen deutschen Gebiete unmöglich gemacht wor- den. Dasselbe ist durch den Art. 54 der R.-V. geschehen hinsicht- lich der Seehäfen und aller natürlichen und künstlichen Wasser- straßen. Demgemäß ist die Absperrung ihres Gebietes den Ein- zelstaaten überhaupt nicht mehr gestattet; gegen das Reichs-Ausland nicht, weil das Reich hierzu ausschließlich befugt ist, gegen das §. 22. Der Schutz des Gebietes. übrige Bundesgebiet nicht, weil dies mit der bundesstaatlichen Einigung unverträglich ist. In ihrer positiven Richtung dagegen besteht die Gebietshoheit der Einzelstaaten in demselben Umfange fort wie ihre Staatsgewalt überhaupt, was z. B. in Ansehung der Enteignungs-Befugniß, der Regalien, des Rechts auf herrenlose oder verlassene Grundstücke deutlich zu Tage tritt. Eine besondere Betrachtung erfordert nur noch die Ausweisung und die Internirung. 1. Das Reichs-Strafgesetzbuch gestattet in einigen Fällen die Ausweisung von Ausländern aus dem Bundesgebiete. Nach §. 39 Nro. 2 ist die höhere Landespolizeibehörde befugt, den Aus- länder, gegen welchen auf Polizei-Aufsicht erkannt ist, aus dem Bundesgebiete zu verweisen. Vgl. §. 284. 362. Obwohl die Aus- weisung von der Behörde des Einzelstaates verfügt wird, erstreckt sie ihre Wirkung auf das ganze Bundesgebiet. In der Staats- gewalt des einzelnen Bundesstaates kann unmöglich die Befugniß enthalten sein, Jemanden aus den Gebieten der übrigen Bundes- staaten auszuweisen. Es handelt sich vielmehr hier um eine An- wendung der selbständigen Gebietshoheit des Reiches am Bundes- gebiet; die Landespolizeibehörden üben ein Hoheitsrecht des Reiches, nicht ihres Staates aus, welches ihnen durch §. 39 des St.-G.-B. zur Handhabung übertragen ist Es verhält sich hier also ebenso wie mit dem Recht, Einfuhrverbote auf Grund des Ges. vom 7. April 1869 zu erlassen. . Es steht damit im Einklang, daß die in einem Staate verfügte Ausweisung in den übrigen Staaten keiner Bestätigung für deren Gebiete bedarf und daß es unzulässig ist, daß die Landespolizei-Behörde eines Einzelstaates die Ausweisung nur für das Gebiet dieses Staates verfüge. Dieser Bedeutung der Verweisung entspricht es auch, daß dieselbe in dem vom Reichskanzler-Amt herausgegebenen Central-Blatt für das deutsche Reich bekannt gemacht wird Ueber die seltenen Fälle, in denen eine Ausweisung von Reichsange- hörigen aus dem Gebiet des Einzelstaates vorkommen kann, vgl. oben S. 158. . 2. Die Internirung innerhalb des Bundesgebietes ist im Allgemeinen den Staatsbehörden nicht gestattet; sie steht im Wider- spruch mit dem reichsgesetzlich sanctionirten Grundsatz der Frei- zügigkeit und kann auch Fremden gegenüber wegen der §§. 5 und 6 §. 22. Der Schutz des Gebietes. des Einführungs-Gesetzes zum Strafgesetzbuch nicht in Anwendung gebracht werden. Nur ausnahmsweise ist sie zugelassen gegen reichsangehörige Jesuiten und renitente Geistliche auf Grund der Reichsges. v. 4. Juli 1872 und v. 4. Mai 1874 und zwar kann auch hier die Landespolizeibehörde Bundesrathsbeschl. vom 5. Juli 1872 Nr. 3. (R.-G.-Bl. S. 254). Ges. vom 4. Mai 1874 §. 1. die Internirung in dem Ge- biete eines anderen Staates verfügen Siehe oben S. 159. . Es bedarf keiner Ausführung, daß auch hier die Landesbehörde kraft gesetzlicher Delegation ein Hoheitsrecht des Reiches handhabt, obwohl nicht verkannt werden kann, daß diese Anordnungen nicht ganz im Ein- klang stehen mit den Grenzen, welche im Uebrigen zwischen der Gebietshoheit des Reiches und der der Einzelstaaten festgehalten werden. III. Neben dem Schutz des Gebiets gegen auswärtige Staaten kömmt noch der Schutzdes Gebietes gegen verbrecherische Unternehmungen in Betracht. Auch hier zeigt sich, daß das Bundesgebiet weder die bloße Summe der Staatsgebiete ist, noch daß die Staatsgebiete ihre Sonderexistenz verloren und im Bun- desgebiet aufgegangen sind; vielmehr ist das Bundesgebiet die höhere Einheit, welche die Staatsgebiete umschließt. 1. Der §. 81 des R.-St.-G. unterscheidet zwei von einander völlig getrennte, mit denselben Strafen bedrohte Fälle des Hoch- verrathes, die dem Gegensatz von Bundesgebiet und Staatsgebiet entsprechen: Er bestimmt: Wer es unternimmt: … 3) Das Bundesgebiet ganz oder theilweise einem fremden Staate gewaltsam einzuverleiben oder einen Theil desselben vom Ganzen loszureißen, oder 4) das Gebiet eines Bundesstaates ganz oder theil- weise einem anderen Bundesstaate gewaltsam einzuverlei- ben oder einen Theil desselben vom Ganzen loszureißen wird wegen Hochverraths .... bestraft. Daß es sich hier um zwei verschiedene Objecte des Hochverrathes handelt, daß das Reich selbstständig einen Schutz in Ansehung des Bundesgebietes und jeder Staat selbstständig einen Schutz in Ansehung seines Staatsgebiets erhalten hat, zeigt der §. 22. Der Schutz des Gebietes. Wortlaut. Es handelt sich aber keineswegs blos um eine begriff- liche Unterscheidung; sondern es lassen sich sehr wohl Unterneh- mungen denken, in denen nicht gleichzeitig in ideeller Concurrenz beide Fälle des Hochverraths vorliegen, sondern nur entweder der eine oder der andere. So würde z. B. das Unternehmen, die Provinz Posen zwar beim Königreich Preußen zu belassen, aber sie gewaltsam vom Reiche loszureißen, nur unter Nro 3 Die Aufzählung bei John in Holtzendorff’s Handb. des Deutschen Strafrechts III, 1 S. 14, wonach der Hochverrath gegen das Bundesgebiet in doppelter Weise begangen werden kann, indem entweder ein Theil des Bundesgebiets einem fremden Staat einverleibt werden oder aus demselben ein neuer selbständiger, dem Reich nicht angehöriger Staat gemacht werden soll, ist nicht erschöpfend. ; da- gegen das Unternehmen, die Provinz Hannover zwar beim Reiche zu belassen, aber sie gewaltsam vom Königreich Preußen loszu- reißen, nur unter Nro. 4 fallen. 2. In ähnlicher Weise wie beim Hochverrath kömmt das Ge- biet in Betracht bei denjenigen strafbaren Handlungen, zu deren Thatbestand es gehört, daß sie gegen das Oberhaupt des Reiches oder eines Bundesstaates Beziehentl. gegen den Regenten oder gegen ein Mitglied des landes- herrlichen Hauses. verübt werden. Der Kaiser ist gegen hochverrätherische Mord-Unternehmungen und gegen Beleidigungen im ganzen Bundesgebiet durch die gleichen Strafandrohungen ge- schützt; dagegen sind die Landesherren gegen dieselben Verbrechen nur dann mit einem ebenso starken strafrechtlichen Schutz wie der eigene Landesherr des Thäters umgeben, wenn die verbrecherische That in dem Gebiete ihres Staates verübt worden ist. St.-G.-B. §. 80. 94 bis 97. 3. Endlich stellt auch Str.-G.-B. §. 361 Nro. 2 die Gebiets- hoheit des Reiches und die der Einzelstaaten dadurch unter gleichen Schutz, daß er denjenigen mit Strafe bedroht: „der, nachdem er des Bundesgebietes oder des Gebietes eines Bundes- staates verwiesen ist, ohne Erlaubniß zurückkehrt.“ §. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden. Am deutlichsten markirt sich das Nebeneinander-Bestehen der stelbstständigen Gebietshoheit des Reiches am Bundesgebiet und §. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden. der Gebietshoheit der Bundesglieder an ihren Staatsgebieten an der Kompetenz der Behörden Vollkommen analoge Grundsätze gelten von der Befugniß zum Erlaß von Gesetzen und Verordnungen. . I. Soweit die eigene Verwaltung des Reiches sich erstreckt, giebt es innerhalb des Bundesgebiets keine Gränzen . Es tritt dies nicht sowohl dort hervor, wo das ganze Bundesgebiet resp. das ganze, nicht kraft besonderer Reservatrechte eximirte Bundesgebiet überhaupt ein untheilba- rer Bezirk ist, z. B. hinsichtlich des Kompetenzbereiches des Oberhandelsgerichts, des Bundesamtes für das Heimathswesen, des Eisenbahn-Amtes u. s. w., als grade bei den Verwaltungs- Ressorts, bei denen das Bundesgebiet in Bezirke abgetheilt ist. Für die Abgränzung dieser Bezirke sind die Gränzen der einzelnen Staaten nicht vorhanden; sofern sie dennoch zusammenfallen, ist dies die Folge von Zweckmäßigkeits-Erwägungen nicht von Rechts- gründen. Das Reich kann mehrere Staatsgebiete und Gebietstheile verschiedener Staaten zu einem Verwaltungsbezirk vereinigen und in einem einzelnen Staate mehrere getrennte Verwaltungsbezirke einrichten. Den umfassendsten Gebrauch hat das Reich von dieser Befugniß gemacht bei der Abgränzung der Oberpostbezirke und der Bezirke der Telegraphen-Direktionen , der Bezirke der Disciplinar-Kammern , sowie der Armee- Korps-Bezirke . Die selbstständige Verwaltung Bayern’s und Württemberg’s hinsichtlich des Post- und Telegraphenwesens und die selbstständige Armeeverwaltung Bayern’s, Sachsen’s und Württemberg’s verleihen hier den Gebietsgrenzen dieser Staaten eine Bedeutung, welche im Uebrigen den Staatsgrenzen völlig ermangelt Beispiele für die Zusammenlegung von Gebietstheilen verschiedener Staaten zu einem Oberpost-Bezirk enthält das Reichsgesetzblatt in großer Zahl; z. B. die Allerh. Erlasse vom 25. Nov. 1868, 24. April 1869, 14. März 1871, 14. Nov. 1871, 5. März 1873, 4. Dez. 1873; nicht minder sind in Preußen Oberpostbezirke vereinigt, in Sachsen und Baden die Staatsgebiete unter zwei Oberpostdirektionen getheilt worden. Hinsichtlich der Telegraphen-Verwaltung ist z. B. das Mecklenb. Gebiet der Direktion in Hamburg, das Hohenzollernsche Gebiet der Direktion in Carlsruhe unterstellt. Erl. vom 16. April 1870 und vom 19. Dez. 1871. (R.-G.-Bl. 1870 S. 274. 1872 S. 1); Gebietstheile Preußens gehören zum Bezirk der Direktion in Dresden u. s. w. . Nur wird die Landeshoheit der Einzelstaaten in §. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden. so weit berücksichtigt, als den einzelnen Landesregierungen von den Ernennungen der Reichs-Post- und Telegraphen-Beamten, soweit dieselben ihre Gebiete betreffen, und von den ihre Kontin- gente betreffenden Veränderungen, Avancements und Ernennungen Mittheilung erhalten. (R.-V. Art. 50. 66.) Zu erwähnen ist hier auch das Recht des Kaisers, inner- halb des Bundesgebietes die Garnisonen zu bestimmen (R.-V. Art. 63 Abs. 4) und andererseits das Recht der Einzel- staaten, zu polizeilichen Zwecken nicht blos ihre eigenen Truppen zu verwenden, sondern auch alle anderen Truppentheile des Reichs- heeres, welche in ihren Ländergebieten dislocirt sind, zu requiriren. (R.-V. Art. 66 Abs. 2.) Ueber die Bedeutung, welche für die Reichstags-Wahlbezirke ausnahmsweise den Staatsgebieten zukömmt, vgl. unten §. 47. II. Soweit die Selbstverwaltung der Einzel- staaten sich erstreckt — und zwar gleichviel, ob dem Reiche die Gesetzgebung und Aufsicht zusteht oder ob die Einzelstaaten auch die Autonomie haben — kömmt die Gebietshoheit der Einzelstaaten zu voller Geltung . Für die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchs- Abgaben, für die Thätigkeit der Eichungsämter, der Strandämter, für die Handhabung der Gewerbe-Ordnung, für die Zuständigkeit der Gerichte auch in Handels- und Wechselsachen, Strafsachen und anderen reichsgesetzlich geregelten Materien besteht das Terri- torialprinzip innerhalb der Einzelstaaten in demselben Umfange, wie hinsichtlich der Erhebung directer Steuern, der Aufsicht über Kirchen und Schulen, über Gemeinden, über Forsten und Berg- werke. Dem Reiche ist hier ein Eingriff in die Gebietshoheit Ueber die Abgränzung der Bezirke der Disciplinarkammern vgl. die Verordn. vom 11. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 293), welche nicht blos die kleineren Staaten benachbarten Bezirken zulegt, sondern auch sie an verschie- dene Bezirke weist, z. B. der Hessische Kreis Wimpfen gehört nicht nach Darm- stadt, sondern nach Karlsruhe u. s. w. Die Eintheilung des Bundesgebietes in Armee-Korps-Bezirke , derselben in Divisions- und Brigade-Bezirke und derselben — „je nach Umfang und Bevölkerungszahl“ — in Landwehr- Bataillons- und Landwehr-Kompagniebezirke überläßt das Reichs-Militärgesetz vom 1. Mai 1874 §. 5 dem Reiche. Eine Uebersicht der Armeekorps-Bezirke und ihrer Bevölkerungszahlen findet man in Hirth’s Annalen 1874 S. 500 fg. §. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden. eines einzelnen Staates, eine Bestimmung über die Abgränzung, Zusammenlegung oder Theilung der Verwaltungs-Districte u. dgl. entzogen. Es steht ihm frei, auf verfassungsmäßigem Wege den Bereich der Selbstverwaltung aller einzelnen Staaten einzuschrän- ken und den der Reichsverwaltung auszudehnen; aber nicht über die von ihm reichsgesetzlich gezogenen und für alle Staaten gelten- den Grenzen der Selbstverwaltung in die Gebietshoheit eines oder mehrerer einzelnen Staaten überzugreifen. Es wäre dies eine Verletzung von iura singulorum. (siehe oben S. 122 fg.) Ebenso wenig aber können die Behörden eines Bundesstaates Hoheitsrechte auf dem Gebiete eines andern ausüben, selbst wenn die Ausübung dieser Hoheitsrechte für das ganze Bundesgebiet einheitlich geregelt ist. Denn die Landesbehörden sind eben auch hinsichtlich solcher Materien nicht Willens-Werkzeuge (Organe) des Reiches, sondern der Einzelstaaten. Dagegen ergiebt sich aus der bundesstaatlichen Einigung der Einzelstaaten die gegenseitige Pflicht zur Hülfe, insbesondere zur Erledigung ordnungsmäßig ergangener Requisitionen. Diese Grundsätze sind reichsgesetzlich anerkannt und im Ein- zelnen geregelt für die Handhabung der Rechtspflege durch das Gesetz, betreffend die Gewährung der Rechtshülfe vom 21. Juni 1869. Die territoriale Begränzung der Zuständigkeit der Landes- gerichte ist das Prinzip, von welchem dieses Gesetz ausgeht Einzelne Anwendungsfälle enthalten §. 30 Abs. 2. §. 40 Abs. 2. ; aber die Gerichte des ganzen Bundesgebietes haben sich gegenseitig Rechtshülfe zu leisten, gleichviel ob das ersuchende und das er- suchte Gericht demselben Bundesstaate oder ob sie verschiedenen Bundesstaaten angehören. (§. 1 §. 20). Nur ausnahmsweise gestattet der §. 30 Abs. 1 Sicherheitsbeamten eines Bundesstaates, inbesondere Gendarmen, die einer strafbaren Handlung verdächti- gen Personen unmittelbar nach verübter That, oder unmittelbar nachdem dieselben betroffen worden sind, im Wege der Nach- eile bis in benachbarte Staatsgebiete zu verfolgen und daselbst festzunehmen. Ganz ähnliche Grundsätze sanctionirt das Zollcartel vom 11. Mai 1833 Art. 2—6, dessen fortdauernde Geltung durch §. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden. Art. 3 §. 7 des Zollvereinsvertrages vom 8. Juli 1867 und R.-Verf. Art. 40 gewährleistet ist Vgl. auch das Gesetz zur Sicherung der Zollgrenze vom 1. Juli 1869 Art. 17. (B.-G.-Bl. S. 374) und das Brausteuer-Gesetz vom 31. Mai 1872 §. 42 (R.-G.-Bl. S. 166.) . Der Bundesrath hat ferner am 2. Februar 1874 beschlossen (Protokolle §. 63), daß die Gemeindebehörden des Bundes- gebietes einander zum Zwecke der vorläufigen Vollstreckung ihrer auf Grund des §. 108 der Gewerbe-Ordnung ergehenden Entschei- dungen nach den über die Rechtshülfe geltenden allgemeinen Grund- sätzen Beistand zu leisten haben. Im Wesentlichen geht auch der Entwurf des Gerichtsverfas- sungsgesetzes von diesen Prinzipien aus, obgleich die Fassung desselben eine so unklare ist, daß sie zu vielfachen Zweifeln Anlaß bietet. §. 4 erklärt die Gerichte für „Staatsgerichte,“ sie sind also nicht Organe des Reiches, sondern der einzelnen Staaten; §. 137 aber stellt den Grundsatz auf, daß ein Gericht Amtshand- lungen außerhalb seines Bezirks ohne Zustimmung des Amtsge- richts des Orts vornehmen darf, wenn Gefahr im Verzuge obwaltet — in diesem Falle also wol auch außerhalb des Staats- gebietes. §. 127 verpflichtet die Gerichte, sich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen Rechtshülfe zu leisten und §. 134 ordnet an, daß, wenn eine Freiheitsstrafe in dem Bezirke eines anderen Gerichts vollstreckt oder ein in dem Bezirke eines anderen Gerichts befindlicher Verurtheilter zum Zwecke der Straf- verbüßung ergriffen und abgeliefert werden soll, der Staatsanwalt bei dem Landgerichte des Bezirks um die Ausführung zu ersuchen ist. Die Sicherheitsbeamten eines Bundesstaates sind nach §. 138 ermächtigt, die Verfolgung eines Flüchtigen auf das Gebiet eines benachbarten Bundesstaates fortzusetzen und den Flüchtigen daselbst zu ergreifen; der Ergriffene muß aber unverzüglich an die nächste Polizeibehörde des Bundesstaats, in welchem er ergrif- fen wurde, abgeführt werden. In sofern stimmen die Bestimmungen des Entwurfs mit den bundesstaatlichen Prinzipien und den bereits gegenwärtig gelten- den Grundsätzen im Wesentlichen überein. Dazwischen aber findet sich der §. 131, welcher lautet: §. 23. Die räumliche Begränzung der Kompetenz der Behörden. Die Herbeiführung der zum Zwecke von Vollstreckungen, Ladungen und Zustellungen erforderlichen Handlungen erfolgt nach Vorschrift der Prozeßordnungen ohne Rücksicht darauf, ob die Handlungen in dem Bundesstaate, welchem das Prozeßgericht angehört, oder in einem anderen Bun- desstaate vorzunehmen sind. Der hier aufgestellte Satz führt auf den Einheitsstaat oder auf einen Bundesstaat, in welchem die Rechtspflege Bundessache ist und alle Gerichte Bundesgerichte sind, zurück Die Motive (Drucksachen des Reichstages von 1874/5 Bd. I. Nr. 4) S. 193 sagen ausdrücklich: „Ein Unterschied, ob er Gerichtsvollzieher und das in Betracht kommende Prozeßgericht, vor welches zu laden ist oder dessen Entscheidungen zu vollstrecken sind, demselben oder verschiedenen Bundesstaaten angehören, ist nicht gemacht.“ ; abgesehen von der Schwierigkeit, was man sich unter „ Herbeiführung einer Handlung , welche zum Zwecke von Vollstreckungen u. s. w. erforderlich ist,“ zu denken habe. Eine Aeußerung der fortdauernden Gebietshoheit der Einzel- staaten ist auch das Recht derselben, den von auswärtigen Staa- ten bestellten Konsuln für ihr Gebiet das Exequatur zu ertheilen. Es handelt sich hierbei nicht, wie bei der Ernennung von Konsuln um die einheitliche Vertretung des Reiches dem Auslande gegen- über, sondern umgekehrt um die Wahrung der Interessen von Angehörigen auswärtiger Staaten im Reichsgebiete. Die Erlaub- niß, einen Konsul zur Wahrung solcher Interessen zu bestellen und die Anerkennung desselben, d. h. die Einräumung derjenigen Rechte, welche nach Grundsätzen des Völkerrechts oder besonderen Verträgen, Konsuln zustehen, an die von dem auswärtigen Staate für dieses Amt ausersehene Person, kann jeder Staat für den Umfang seines Gebietes ertheilen Es ist dies ausdrücklich „allseitig“ anerkannt worden im Bayrischen Schlußprotokoll Nr. XII. R.-G.-Bl. 1871 S. 25. . Ein Hoheitsrecht des Rei- ches wird dadurch nicht berührt. Nur kann selbstverständlich kein Einzelstaat einem fremden Konsul Rechte beilegen, welche mit Reichsgesetzen, mit Verträgen, welche das Reich abgeschlossen hat, oder mit der dem Reiche zustehenden, völkerrechtlichen Souveräne- tät in Widerspruch stehen. §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. Fünftes Kapitel. Die Organisation der Reichsgewalt. Erster Abschnitt . Der Kaiser. §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. Die Norddeutsche Bundesverfassung kannte den kaiserlichen Titel oder einen, ihm in staatsrechtlicher Beziehung entsprechenden nicht. Diejenigen Rechte, welche nach der jetzigen Verfassung kai- serliche sind, standen dem Oberhaupte des Norddeutschen Bundes unter drei Bezeichnungen zu. Die meisten derselben gehörten ihm als Präsidium des Bundes; insbesondere die völkerrechtliche Vertretung des Bundes, die Berufung, Eröffnung und Schließung des Bundesrathes und Reichstages, die Ernennung des Bundes- kanzlers, die Ausfertigung und Verkündigung der Bundesgesetze, die Ernennung und Entlassung der Bundesbeamten und die Ober- aufsicht über alle Zweige der Bundesverwaltung Nordd. B.-V. Art. 11. 12. 15. 17. 18. 36 Abs. 2. 50. 56 u. s. w. . Der Bundes- feldherr dagegen hatte den Oberbefehl über die gesammte Bundes- armee, die Oberaufsicht über die Vollzähligkeit und Kriegstüchtig- keit aller Truppentheile, das Recht zur Inspection derselben, die Bestimmung des Präsenzstandes und der Gliederung der Contin- gente, die Befugniß, innerhalb des Bundesgebietes Festungen an- zulegen und die Mitglieder der Bundesraths-Ausschüsse für das Landheer und die Festungen und für das Seewesen zu ernennen Nordd. B.-V. Art. 62. 63. 64. 65. 8 Abs. 2. . Ebenso stand ihm als Bundesfeldherrn das Recht zu, jeden Theil des Bundesgebietes in Kriegszustand zu erklären, sowie die Voll- streckung einer etwa erforderlichen Bundesexecution ebenda Art. 68. 19. . Der König von Preußen endlich hatte den Oberbefehl über die Bundes- Kriegsmarine und die Bestimmung über Organisation und Zusam- mensetzung derselben Art. 53. . §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. Diese Dreitheilung war nicht zufällig oder lediglich Folge mangelhafter Fassung, sondern überlegt und beabsichtigt Bei der Berathung der Verfassung wurde allerdings die Ansicht ge- äußert, daß diese Ausdrücke identisch seien. Vgl. v. Rönne Verf.-R. S. 151 Note 7. Meyer Grundz. S. 80. . Das „ Bundespräsidium “ wird nach der Verfassung des Norddeut- schen Bundes immer nur als die Spitze des Bundesrathes und in engem Zusammenhange mit demselben gedacht Vgl. besonders Art. 7 und Art. 8 Abs. 2. Art. 11 Abs. 2. Art. 16. Art. 37 Abs. 2. Art. 56 Abs. 1. Art. 61 Abs. 2. ; es ist in sehr vielen Fällen in seinen Handlungen von der Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages abhängig; die vom Bundespräsidium ernannten Beamten sind Bundesbeamte Art. 18. ; alle vom Bundesprä- sidium erlassenen Anordnungen bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers Art. 17. . Die Rechte dagegen, welche das Bundesoberhaupt als Bundesfeldherr oder in seiner Eigenschaft als König von Preußen ausübt, erscheinen in weniger engem Zu- sammenhange mit der Bundesorganisation. Die Offiziere, Beamten und Mannschaften der Marine wurden nach der Norddeutschen Bundesverfassung nicht für den Bund, sondern „für Sr. Majestät den König von Preußen“ vereidet Art. 53 Abs. 1 ; in den Fahneneid der Trup- pen wurde die Clausel aufgenommen, „den Befehlen des Bun- desfeldherrn unbedingt Folge zu leisten Art. 64. Cabinets-Ordre vom 14. Dez. 1867. Koller Archiv I , 678. Thudichum Bundesverf. 382 Note 2. ;“ für die Anord- nungen des Bundesfeldherrn war nach der Verf. des Nordd. Bundes das Erforderniß der Contrasignatur des Bundeskanzlers nicht vorgeschrieben Hiersemenzel Verf. des Nordd. Bundes S. 77. Grotefend Staatsr. §. 771 Note 3, Die Frage war übrigens controvers; vgl. Meyer Grundzüge S. 83 und Erörterungen S. 48. ; die Geschäfte der Marine- und Heeres- verwaltung ressortirten nicht vom Bundeskanzler-Amte. Eine ein- heitliche Bezeichnung für den Träger dieser Rechte hat erst das Norddeutsche Strafgesetzbuch Art. 80. 94. 95 eingeführt, welches ihn als „ Bundesoberhaupt “ bezeichnet und zu den in der Verfassung begründeten staatsrechtlichen Befugnissen desselben §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. einen ausgezeichneten strafrechtlichen Schutz gegen Beleidigungen hinzufügte Die Annahme Knitschky’ s Hochverrath S. 125, daß dadurch eine Aenderung der staatsrechtlichen Stellung des Königs von Preußen begründet und er als „Inhaber der Landeshoheit im Reiche“ angesehen werde, ist nicht gerechtfertigt. . Bei Feststellung der Verträge mit den süddeutschen Staaten ist die oben berührte Dreitheilung nicht verschwunden; es ist zu- nächst nur an einer Stelle der Kaisertitel eingefügt worden, nämlich im Art. 11 Abs. 1: „Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt.“ In der am 31. Dezember 1870 publizirten Verfassung des Deutschen Bundes ist zwar im Art. 19 der Ausdruck Bundesfeld- herr durch den Ausdruck Bundespräsidium ersetzt, der Art. 53 aber erwähnt den „Preußischen“ Oberbefehl über die Marine und bestimmt, daß die Organisation und Zusammensetzung derselben „Sr. Majestät dem Könige von Preußen“ zusteht, und in den Art. 62—68 erscheint der „Bundesfeldherr“ wie in der früheren Verfassung des Nordd. Bundes. Das Gleiche ist der Fall in der Würtembergischen Militär-Convention, welche an keiner Stelle das Bundespräsidium erwähnt, sondern nur von „Sr. Majestät dem Könige von Preußen als Bundesfeldherrn“ oder dem „Bundes- feldherrn“ schlechthin spricht, und in dem Vertrage mit Bayern v. 23. Nov. 1870 unter III §. 5 III. IV , der ebenfalls nur den Bundesfeldherrn in militärischen Angelegenheiten kennt Dagegen wird in dem Schlußprotokoll Z. VII. die Bevollmächtigung der Bayer. Gesandten zur Bertretung der Bundesgesandten zugesichert „von Sr. Majestät dem Könige von Preußen kraft der Allerhöchstihnen zustehenden Präsidialrechte .“ . Erst die jetzt geltende Redaction der Reichsverfassung hat so- wohl bei den Bestimmungen über die Marine als bei denjenigen über das Reichskriegswesen die Bezeichnung „Kaiser“ durchgeführt und damit die frühere Dreitheilung, oder falls man den König von Preußen mit dem Bundesfeldherrn für ganz identisch halten will, die frühere Zweitheilung der dem Bundesoberhaupte zustehen- den Befugnisse formell beseitigt. Auch in der Redaction des Straf- gesetzbuchs für das deutsche Reich ist an die Stelle des Bundes- oberhauptes der Kaiser getreten. §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. Die jetzige Reichsverfassung hat in den Artikeln 5 Abs. 2, 7 Abs. 2 und 3, 8 Abs. 1 und 37 Die Zusammenstellung von Thudichum in v. Holzendorff’s Jahrb. I. S. 11 ist nicht ganz vollständig. den Ausdruck „Präsidium“ beibehalten; im Uebrigen durchweg den Ausdruck „Kaiser“ an die Stelle gesetzt. Daß beide Ausdrücke sachlich ganz dasselbe bedeuten, ergiebt sich aus der oben erwähnten Fassung des Art. 11 Abs. 1. Noch bestimmter und klarer ist dies ausgesprochen in dem Schrei- ben des Königs von Bayern an den König von Preußen, durch welches die Anregung zur Wiederherstellung des Kaisertitels gegeben wurde. In demselben heißt es St.-B. des Nordd. Reichstages 1870. II. außerord. Sess. S. 76. : „Ich habe Mich daher an die deutschen Fürsten mit dem Vorschlage gewendet, gemeinschaftlich mit Mir bei Eurer Majestät in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsi- dialrechte des Bundes mit Führung des Titels eines deut- schen Kaisers verbunden werde “ Uebereinstimmend damit ist die Erklärung des St.-Min. Delbrück vom 8. Dez. 1870 bei Einbringung des Ges.-Entw. über die Aufnahme der Bezeichnung Kaiser und Reich. Die Bezeichnung „Kaiser“ sollte darnach zu- nächst nur aufgenommen werden: „an der Stelle der Bundesverfassung, welche die Präsidialstellung der Krone Preußen bezeichnet.“ Stenogr. Ber. II. außerord. Sess. 1870. S. 167. . Durch die consequente Durchführung der Bezeichnung „Kaiser“ in der Reichsverfassung ist indeß auch eine sachliche Aenderung be- wirkt worden, trotzdem nach der ausdrücklichen Angabe der Motive, mit denen die neue Redaction dem Reichstage vorgelegt wurde I. Session 1871. Drucksachen Nr. 4. , „materielle Aenderungen des bestehenden Verfassungsrechts nicht beabsichtigt worden sind“ und bei den Berathungen des Reichstages die gleiche Intention vom Abg. Lasker und dem Fürsten Bismarck sehr bestimmt betont worden ist Stenogr. Berichte S. 95. . Denn die Bestimmung des Art. 17, daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers im Namen des Reiches erlassen werden und zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen, erstreckt sich nunmehr auch auf alle diejenigen Anordnungen des Kaisers, welche sich auf die Marine beziehen oder welche nach der früheren Verfassung nicht dem Bundespräsidium, sondern dem Bundesfeldherrn zustanden. La and , Reichsstaatsrecht. I. 14 §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. Alle Anordnungen, welche in der Norddeutschen Bundesverfassung und den zu ihrer Durchführung erlassenen Gesetzen das Bundes- präsidium betrafen, sind nunmehr auf den gesammten Kreis der kaiserlichen Rechte und Pflichten ausgedehnt und verallgemeinert worden. Aber das ist allerdings festzuhalten, daß eine neue staats- rechtliche Institution durch die Wiederherstellung der Kaiserwürde nicht geschaffen worden ist. Der Begriff des Bundespräsidiums ist durch die Verknüpfung desselben mit dem Kaisertitel nicht verän- dert worden. Aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Wieder- Aufrichtung des Kaisertitels führten, aus den Motiven und Er- klärungen, mit denen die Vorlage der jetzigen Verfassungs-Redac- tion und deren Berathung begleitet wurde, und vor Allem aus dem Art. 11 der Reichsverfassung selbst, ergiebt sich mit unzwei- felhafter Gewißheit, daß das Kaiserthum ganz und vollkommen identisch ist mit dem Bundespräsidium, und daß es, abgesehen von dem Titel und den demselben entsprechenden Insignien keine Rechte enthält als die Präsidialrechte Man sollte es kaum für nöthig halten, darauf aufmerksam zu machen, daß „Bundespräsidium“ etwas ganz Anderes ist, als „Bundesrathspräsidium“; und doch hat Grotefend Staatsrecht §. 769 es fertig gebracht, den König von Preußen zum Vorsitzenden des Bundesraths (!) zu erklären. . Die Feststellung der staatsrechtlichen Natur des Kaiserthums ist nicht ohne Schwierigkeiten, da ein aus Monarchien zusammen- gesetzter Bundesstaat ohne Vorgang in der Geschichte ist. Aus dem Umstande, daß der Kaisertitel bisher nur zur Bezeichnung des Monarchenrechts verwendet worden ist, können Schlüsse nicht gezogen werden, da Art. 11 der R.-V. ausdrücklich dem Kaiser nicht die Souveränetät des Reiches, sondern das Präsidium des Bundes beilegt. Es kann vielmehr dieser Begriff nur aus der Natur des Reiches als eines Bundesstaates gefunden werden. Er ergeben sich sofort zwei Sätze negativen Inhalts. 1. Der Kaiser ist nicht Monarch des Reich es d. h. Souverän desselben; die Reichsgewalt steht nicht ihm, sondern der Gesammtheit der Deutschen Bundesfürsten und freien Städte, also einem von ihm begrifflich verschiedenen Subject zu Siehe oben §. 9. ; wo er für das Reich Willenserklärungen abgiebt oder Handlungen vornimmt, handelt er nicht im eigenen Namen, sondern im Namen §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. des Reiches R.-V. Art. 17. ; wo dem Reichstage gegenüber das Subject der Reichsgewalt in Betracht kommt, also in dem staatsrechtlichen Verhältniß der Organe des Reiches zu einander, handelt er im Namen der verbündeten Regierungen So z. B. bei Eröffnung und Schließung des Reichstages. . 2. Der Kaiser ist nicht Präsident in dem Sinne, wie dies Wort in democratischen Staaten genommen wird, d. h. Beam- ter des Reiches. Er wird nicht von dem Souverän des Reiches ernannt, er ist nicht absetzbar, er ist nicht verantwortlich; er ist Nie- mandes Unterthan; er hat die Präsidialrechte kraft eigenen Rechtes. Auch eine „Theilung der Centralgewalt“ unter die Gesammt- heit der Mitglieder und die Präsidialmacht, welche v. Martitz Betrachtungen S. 48 annimmt, kann nicht zugegeben werden. Eine Theilung der Souveränetät ist begrifflich unmöglich Vgl. Meyer Grundz. S. 63 Erörter. S. 47. . Man darf daraus, daß der Kaiser weder Souverän noch Beamter des Reiches ist, nicht mit Held Verf. des Deutschen Reichs S. 86—102, bes. S. 98. schließen, daß das Deutsche Kaiserthum etwas Unfertiges und Widerspruchsvolles ist, noch mit v. Mohl ganz davon absehen, den Begriff des Kaiser- thums theoretisch festzustellen und zu construiren Deutsches Reichsstaatsrecht 282. 289. . Diese Feststellung des Begriffes läßt sich gewinnen, wenn man die Thatsache im Auge behält, daß der Kaiser Mitglied des Rei- ches ist. Er kann nicht Beamter sein wie der Präsident einer Repu- blik, weil er Mitsouverän ist, und er kann nicht Monarch sein, weil er nicht alleiniger Souverän ist. Aber er ist kein Mitglied des Reiches lediglich wie die übrigen Bundesfürsten, sondern ein bevorrechtetes , ein mit weitreichenden Sonderrechten iura singularia, nicht iura singulorum. Siehe oben S. 113. 117. ausgestattetes Mitglied. Das Recht auf das Bundespräsidium ist ein Sonderrecht des Königs von Preußen, nur daß es sich nicht auf die Kompetenz des Reiches gegenüber der Einzelstaatsgewalt bezieht, wie die süddeutschen Reservatrechte, sondern auf den An- theil an der Willensthätigkeit des Reiches selbst. Es ergeben sich hieraus eine Reihe der wichtigsten Rechtssätze, sowohl in Bezug auf das Subject als auf den Inhalt der kaiserlichen Rechte. 14* §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. Vor Allem ist klar, daß die Stellung des Kaisers im Reiche durch die kaiserlichen Rechte allein gar nicht vollständig gegeben ist; sie finden ihre nothwendige Ergänzung in den Mitglied- schaftsrechten Preußens. Nur wenn man die Mitgliedschafts- rechte, welche Preußen mit allen übrigen Deutschen Staaten ge- mein hat, mit dem Sonderrecht, welches durch seine Präsidial- befugnisse gebildet wird, zusammenaddirt, erhält man die volle Summe der dem Kaiser zustehenden Rechte und ein vollständiges Bild der Stellung des Kaisers im Reiche. Denkt man sich Je- manden, der nicht zugleich Landesherr eines Deutschen Staates, also nicht Mitglied des Reiches ist in dem oben S. 88 fg. entwickelten Sinne. , ausgestattet mit allen kaiser- lichen Rechten der Reichsverfassung und der auf Grund derselben erlassenen Gesetze, so hat man ein Zerrbild des Kaisers, das in die Reichsverfassung nach keiner Richtung paßt. Denkt man sich den Landesherrn eines der kleineren Staaten mit den Präsidial- befugnissen ausgestattet, so könnte man formell juristisch die von dem Kaiser geltenden Grundsätze auf ihn zwar anwenden, that- sächlich und politisch betrachtet wäre das Kaiserthum aber etwas durchaus Verschiedenes von dem, was es wirklich ist. Nur dadurch daß man die Präsidialbefugnisse in untrennbaren Zusammenhang bringt mit den, der Krone Preußen zustehenden Mitgliedschafts- rechten, ja daß man das Recht auf die Ausübung dieser Präsidialbefugnisse als ein zu diesen Mitglied- schaftsrechten accessorisches Vorrecht (Sonderrecht) Preußens auffaßt, gewinnt man den staatsrechtlichen Begriff des Kaisers. Wenn nach Art. 5 Abs. 2 und Art. 37 „die Stimme des Präsidiums,“ nach Art. 9 Abs. 2 „die Präsidialstimme“ bei der Beschlußfassung des Bundesraths den Ausschlag giebt, wenn nach Art. 8 in jedem der dauernden Bundesraths-Ausschüsse „das Präsidium“ vertreten sein muß, so ist „Präsidium“ und „Preußen“ hier völlig identisch; es ist bei der schärfsten logischen Unterschei- dung unmöglich, einen begrifflichen Unterschied zwischen der sieb- zehnfachen Stimme Preußens und der Präsidialstimme aufzustellen oder sie im Gegensatz zu einander zu denken. (Vgl. unten §. 28.) Die wichtige Consequenz dieser Auffassung ist der Satz, daß die Ausübung der Mitgliedschaftsrechte Preußens und die Hand- §. 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaiserthums. habung der kaiserlichen Präsidialbefugnisse unter keinen Umständen und in keinem Falle getrennt und an verschiedene Subjecte ver- theilt sein können. Es ergiebt sich ferner, in welchem Sinne der oft wiederholte Satz richtig ist, der Kaiser sei den Bundesfürsten nicht überge- ordnet, sondern primus inter pares. Richtig ist dies nur hinsicht- lich der Mitgliedschaftsrechte, die der Kaiser neben den Präsidial- rechten hat; diese stehen allen Deutschen Staaten prinzipiell gleich- mäßig zu; in Beziehung auf sie sind die Bundesfürsten — von den Sonderrechten abgesehen — pares und der König von Preu- ßen als Landesherr des hervorragendsten und größten der Mit- gliedsstaaten ist unter ihnen primus. Hinsichtlich der eigentlichen Kaiserrechte giebt es keine pares, weil es überhaupt nicht mehrere Berechtigte giebt. Die Präsidialrechte stehen nicht mehreren Bun- desfürsten collectiv oder nach räumlich begränzten Theilen des Bundesgebietes Bekanntlich sollte nach den Preuß. Reformvorschlägen vom 10. Juni 1866 der König von Preußen Bundes-Oberfeldherr der Nordarmee, der Kö- nig von Bayern Bundes-Oberfeldherr der Südarmee werden. , sondern dem Könige von Preußen allein zu. Man muß nun aber ferner unterscheiden zwischen dem Rechte auf die kaiserliche Stellung und dem Inhalt der letzteren selbst. Ihrem Inhalte nach sind die Rechte des Kaisers nicht Rechte Preußens, sondern des Reiches. Der Kaiser übt als ein Organ des Reiches die dem letzteren zustehenden Souveränetätsrechte aus, soweit die Verfassung oder Gesetze des Reiches ihn dazu berufen. Da die einzelnen Deutschen Staaten und ihre Landesherren der Souveränetät des Reiches untergeordnet sind, so sind sie auch dem Kaiser, als dem verfassungsmäßigen Willensorgan des Reiches untergeordnet; zwar nicht dem Kaiser als physischer Person, son- dern begrifflich nur dem Reich als ideeller oder juristischer Person, wirksam wird diese Unterordnung aber gegenüber dem Kaiser inso- fern, als er einen bedeutenden Theil der dem Reiche zustehenden staatlichen Hoheitsrechte handhabt und verwaltet. Hieraus und aus dem oben entwickelten Begriff des Bundes- staates folgt weiter, daß der Kaiser nicht Collectiv-Mandatar der einzelnen Deutschen Bundesfürsten oder Bundesstaaten ist Dies ist die Auffassung Seydel ’s Commentar S. 91. 112. . Er leitet seine Machtbefugnisse und Hoheitsrechte nicht ab von den §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. Bundesgliedern, welche als Einzelne unter der Souveränetät des Reiches stehen, sondern von dem Reiche selbst, welches eine souveräne Gewalt über den Bundesstaaten ist. Sind auch die Bundesglieder in ihrer Gesammtheit Subject der Reichsgewalt, so sind sie doch als Einzelne Unterthanen der Reichsgewalt, wäh- rend der Kaiser das Organ derselben ist. Und zwar ist der Kaiser der einzige Bundesfürst, welcher individuell einen Antheil an der Regierung des Reiches hat. Alle übrigen Bundesfürsten haben als einzelne keinerlei Functionen an der Lebensthätigkeit des Reiches auszuüben, sondern nur als Gesammtheit durch das Instrument des Bundesraths. Der Kaiser ist das einzige Bun- bes mitglied , welches zugleich Organ der Reichsgewalt ist. Es folgt endlich hieraus, daß zwar das Recht auf die Kai- serwürde ein Sonderrecht Preußens ist, die einzelnen Präsi- dialbefugnisse selbst dagegen nicht unter den Begriff der Sonderrechte eines Mitgliedes fallen. Vielmehr bilden die Präsidialbefugnisse einen Theil der Organisation, welchen die Reichsgewalt erhalten hat und sind mithin nicht subjective Rechte des Preußischen Staates und seines Königs. Die Bezeichnungen „König von Preußen“ und „Deutscher Kaiser“ beziehen sich zwar mit rechtlicher Nothwen- digkeit stets auf dieselbe Person, aber sie charakterisiren zwei ver- schiedene staatsrechtliche Stellungen derselben. Hinsichtlich der Ausübung und Handhabung der Präsidialbefugnisse kann demnach in keiner Beziehung das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, sondern lediglich das Reichsrecht Anwendung finden. Für die Beschränkung oder Aufhebung einzelner Präsidial-Befugnisse durch ein Reichsgesetz ist der Satz, daß sie keine Preußischen Sonder- rechte sind, insofern, als die Präsidialbefugnisse in der Verfassungs- Urkunde selbst sanctionirt sind, praktisch unerheblich, da die Stimme Preußens immer in der Lage ist, eine Verfassungs -Aenderung abzuwenden. Soweit aber durch einfache Reichsgesetze dem Kaiser Rechte beigelegt werden, ist es von Wichtigkeit, festzuhalten, daß die von den Sonderrechten einzelner Staaten geltenden Regeln auf dieselben nicht anwendbar sind. §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. Art. 11 der Norddeutschen Bundesverfassung bestimmte: „Das Präsidium des Bundes steht der Krone Preußen zu;“ in §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. der jetzigen Reichsverfassung lautet der Satz: „Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu.“ Diese Fas- sungs-Aenderung war nothwendig, wegen der Hinzufügung des Relativsatzes: „welcher den Namen Deutscher Kaiser führt.“ Man hat in dieser Fassungsänderung auch eine materielle Aenderung finden wollen, indem sie die Anwendung der Preußischen Bestim- mungen über Regentschaft auf das Reich ausschließe Auerbach S. 106. Vgl. auch v. Mohl S. 285. ; diese Annahme ist jedoch bereits mehrfach widerlegt worden Riedel S. 103. Thudichum in Holtzendorff’s Jahrbuch I. S. 25 Note 4 und besonders Seydel Comm. S. 112 fg. . „König von Preußen“ bedeutet genau dasselbe wie „Krone Preußen“, nämlich den Träger der Preuß. Krone. Aber auch abgesehen von dieser Frage der Wort-Interpreta- tion hat man die Anwendung der Preußischen Verfassungs-Bestim- mungen für den Fall der Nothwendigkeit einer Regentschaft aus sachlichen Gründen für unzulässig erklärt. v. Rönne , Verfas- sungsrecht des Deutschen Reichs S. 157 glaubt, „daß es nicht zulässig sein würde, wie die Art. 56 u. 57 der Preuß. V.-U. bestimmen, die beiden Häuser des Preußischen Landtages zur Ent- scheidung über die Nothwendigkeit der Regentschaft für das Deutsche Reich zu berufen, und, wenn kein volljähriger Agnat vorhanden ist, den Regenten durch die beiden Häuser des Preußischen Land- tages erwählen zu lassen, so wie auch die Regierung des Deutschen Reiches provisorisch durch das Preußische Staatsministerium führen zu lassen.“ In weiterer Ausführung dieses Gedankens und sach- lich ganz übereinstimmend äußert sich v. Mohl Reichsstaatsrecht S. 284 fg. Vgl. auch v. Pözl Supplement zum Bayr. Verf.-Recht S. 106 Note 3. . Es liegt hier unseres Ermessens eine vollständige Verkennung des im Art. 11 der R.-V. ausgesprochenen Rechtsprinzips vor. Das Deutsche Kaiserthum ist kein Recht, welches selbstständig d. h. unabhängig von der Krone Preußens erworben oder ausge- übt werden könnte; es ist ein Accessorium der Preußischen Krone. Das Reichsrecht enthält daher auch über den Erwerb der Kaiser- würde keinen einzigen Rechtssatz und könnte keinen aufstellen, ohne den im Art. 11 der R.-V. enthaltenen Rechtsgrundsatz für gewisse Eventualitäten zu beseitigen. Würde der Erwerb der Kaiserwürde §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. irgend eine Voraussetzung mehr oder weniger oder anders haben als der Erwerb der Preußischen Krone, so wäre die Möglichkeit gegeben, daß Deutsches Kaiserthum und Preußisches Königthum auseinanderfallen. Ihre dauernde verfassungsmäßige Vereinigung in demselben Subject ist nur möglich, wenn entweder das Reichs- recht positiv die Grundsätze über den Erwerb der Kaiserkrone regelt und bestimmt: „Wer Kaiser ist, ist zugleich ipso iure immer auch König von Preußen;“ oder wenn das Reich vollständig die gesammte Ordnung des Rechts auf die Krone dem Preußischen Staatsrecht überläßt und sich auf den einfachen Rechtssatz beschränkt: Die Kaiserwürde folgt ipso iure der Preußischen Königskrone. Daß das Letztere geschehen, der Erwerb des Preußischen Throns das prius, das Präsidium des Bundes das Accessorium ist, kann einem Zweifel nicht unterliegen. In der That handelt es sich daher bei Anwendung des Art. 11 der R.-V. gar nicht um eine Anwendung Preußischer Verfas- sungssätze auf das Reich oder um eine Einwirkung Preußischer Staatsorgane auf Reichsangelegenheiten. Diese Einwirkung ist eine faktische, keine rechtliche. Die Anordnungen der Preußischen Verfassung über Thronfolgerecht und Regentschaft finden nur in Preußen Anwendung, der Preußische Landtag und das Preußische Staatsministerium handeln nur für Preußen. Die Einrichtung einer Regentschaft in Preußen ist eine ausschließlich Preußische Staatsaction. Aber das Reichsrecht knüpft kraft eines objectiven Rechtssatzes, dessen Wirkung der Willensmacht des Preußischen Landtages gänzlich entzogen ist und ebenso ohne jeden Willensact und ohne jede Beschlußfassung des Bundesraths und Reichstages eintritt, an die Erlangung der Preußischen Krone die Folge des Erwerbes der Kaiserwürde an. Das rechtliche Interesse des Rei- ches ist auf den einen Punkt beschränkt, daß dieselbe Person die Rechte der Preußischen Krone und die Präsidialbefugnisse ausübe; es erstreckt sich nicht auf die Normirung der Regeln, nach denen die Preußische Krone erworben wird. Diese Sätze werden unbestritten und unbezweifelt anerkannt hinsichtlich des eigentlichen Thronfolgerechts. Es ergiebt sich na- mentlich aus ihnen die Consequenz, daß eine Abänderung des Preußischen Thronfolgerechts resp. der Hausgesetze des Königlichen Hauses Hohenzollern nach Maaßgabe des Preußischen Staatsrechts §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. erfolgen kann und daß, wenn sie verfassungsgemäß in Preußen erfolgt ist, sie thatsächlich auch für die Succession in die Kaiser- würde entscheidend ist, ohne daß ein Reichsgesetz ihr Anerkennung und Bestätigung zu verleihen braucht. Das Preußische Thron- folgerecht ist formell kein Reichsrecht. Es ist nun durchaus nicht einzusehen, warum dieselben Grund- sätze nicht vollständig zur Geltung kommen sollen, wenn eine Re- gentschaft in Preußen erforderlich wird v. Gerber Grundz. §. 34 Note 4. (S. 101): „Der Fall des Ein- tritts der Regentschaft ist ein unvollkommener Fall der Thronerledigung. Es ist zwar ein Monarch vorhanden, aber ein solcher, der das Monarchenrecht nicht ausüben kann; insoweit ist der Thron leer.“ . Die Präsidialbefug- nisse haften nicht an dem Titel eines Königs von Preußen und sind nicht Rechte, welche dem Könige für seine Person , d. h. unabhängig von seiner staatsrechtlichen Stellung in Preußen, zu- kommen. Das Recht auf die Kaiserwürde ist ein Recht der Preu- ßischen Krone; der König hat es in seiner Eigenschaft als Monarch des Preußischen Staates. Sowie der Staat Preußen eigentlich das Mitglied des Reiches, sein König nur der verfassungsmäßige Vertreter ist, so ist auch das Sonderrecht auf die Kaiserwürde im letzten Grunde ein Recht des Preußischen Staates, zu dessen Geltendmachung und Ausübung der König von Preußen beru- fen ist. Wenn also nach Grundsätzen des Preußischen Staatsrechts der König durch einen Regenten vertreten werden muß, so ist der Vertreter berufen, ihn in allen Rechten und Pflichten der Krone zu vertreten und mithin auch die Präsidialstellung im Reiche ein- zunehmen. Der Titel des Kaisers, wird allerdings demjenigen zukommen, welcher den Titel des Königs von Preußen führt und dem quoad ius auch die Preußische Krone zusteht; die Ausübung der Preußischen Kronrechte aber ist untheilbar und deshalb erstreckt sie sich auch im Falle der Regentschaft nothwendig auf das, der Preußischen Krone zustehende Präsidium des Bundes Vgl. Seydel S. 114. „Ist einmal das Präsidium ein Recht der Krone Preußen, dann kann es von Niemand Anderem ausgeübt werden als von dem, der die anderen Kronrechte wahrnimmt. Eine Vertheilung dieser Rechte an Verschiedene wäre dem Geiste der Reichsverfassung entgegen; denn das Präsidium steht mit der preußischen Königskrone nicht in Personalunion, sondern es ist ein preußisches Recht im Bunde.“ . §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. Damit ist dann aber von selbst die Folge gegeben, daß über die Normirung der Fälle, in welchen eine Regentschaft eingerichtet werden muß, über das Recht zur Uebernahme der Regentschaft, über die gesetzliche Fürsorge für den Fall, daß kein volljähriger Agnat vorhanden ist, über das eventuell eintretende Wahlrecht des Landtages, über die interimistische Führung der Regierung durch das Staatsministerium und über den Antritt der Regent- schaft, einzig und allein die Bestimmungen der Preußischen Ver- fassung (Art. 56—58) zur Anwendung kommen können. Die Einrichtung einer Regentschaft in Preußen ist für das Reich ganz ebenso wie ein Thronwechsel in Preußen, der durch Todesfall herbeigeführt wird, ein thatsächliches Ereigniß, dessen Folgen es hinnehmen muß. Auch in einer anderen Richtung hat eine Bestimmung der Preußischen Verfassungs-Urkunde zu Bedenken hinsichtlich des Er- werbes der kaiserlichen Rechte Veranlassung gegeben. Im Art. 54 der Pr. V.-U. wird nämlich dem Könige von Preußen die Ablei- stung eines Verfassungseides zur Pflicht gemacht. Hieraus folgert nun v. Rönne a. a. O. S. 157, „daß, sowie der Nachfolger in der Preußischen Krone, wenn er es unterlassen oder sich aus- drücklich weigern sollte, der Verpflichtung des Abs. 2 des Art. 54 nachzukommen, rechtlich nicht befugt ist, die durch die Preuß. Verfassungsurk. mit der Preußischen Krone verbundenen Regie- rungsrechte auszuüben, derselbe auch rechtlich nicht die Befugniß hat, die durch die Verfassung des deutschen Reiches nur dem jedes- maligen Inhaber der Preußischen Krone übertragenen Regierungs- rechte auszuüben.“ Uebereinstimmend hiermit ist v. Mohl Reichs- staatsr. S. 284. Diese Folgerung für das Reichsrecht wäre richtig, wenn der von v. Rönne angenomme Satz des Preußischen Staats- rechtes begründet wäre. In seinem Staatsrecht der Preußischen Monarchie I §. 185 (3. Aufl. I. 2 S. 588 fg.) führt er aus, daß die Ableistung des Eides eine „Bedingung“ der Ausübung der verfassungsmäßigen Rechte des Königs sei und daß im Falle der Verweigerung des Ver- fassungseides die Regierung des Königs vorläufig eine rein that- sächliche, nicht aber eine rechtliche und verfassungsmäßige sei Die Theorie beruht auf den Ausführungen v. Mohl ’s in dessen Württemb. Staatsr. I. S. 172 ff. . §. 25. Das Subject der kaiserlichen Rechte. Diese Auffassung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Preuß. Verf.-Urk. sie ausdrücklich bestätigen würde; da dieselbe aber über die Folgen der Verweigerung oder Verzögerung der Eidesleistung gar Nichts bestimmt, so muß die von v. Rönne aufgestellte Theorie, weil sie mit den Grundsätzen des monarchischen Staatsrechts im Widerspruch steht, verworfen werden. Der Erwerb der Krone erfolgt, wie allgemein anerkannt und auch von v. Rönne nicht bezweifelt wird, ipso iure im Augenblick der Erledigung des Thrones. Der Regierungs-Nachfolger wird daher König und zwar mit allen verfassungsmäßigen Rechten aus- gestatteter König, bevor er nur die Möglichkeit hat, den Eid zu leisten. Er muß mit Nothwendigkeit vor Leistung des Eides Regierungshandlungen vornehmen, z. B. die Einberufung und Eröffnung des Landtages, in dessen Gegenwart er den Eid leisten soll. Er ist auch schon vor Leistung des Eides und ohne denselben staatsrechtlich zur unverbrüchlichen Beobachtung der Verfassung verpflichtet. Die Leistung des Eides ist eine verfassungsmäßige Pflicht des Königs; die Verzögerung oder Verweigerung der Eides- leistung eine Pflichtversäumniß, eine Verfassungsverletzung. Die- selbe ist aber mit keiner andern Rechtsfolge bedroht als andere Verfassungs-Verletzungen Seitens des Königs. Niemals hat eine solche die Rechtswirkung, daß der König mit Verlust der Krone bestraft werden könnte. Darauf läuft aber die Theorie v. Rönne’s hinaus. Denn der im Moment des Anfalls ipso iure vollendete Erwerb der Krone kann nicht rückwärts annullirt werden, sondern die Krone könnte nur, nachdem die Verweigerung oder ungebühr- liche Verzögerung der Eidesleistung vom Landtage constatirt wor- den, dem Könige entzogen werden. Dies ist eine Theorie, welche das Wesen des Monarchenrechts verleugnet und in dem Prinzip der Volks- oder Parlaments- Souveränetät wurzelt Vgl. Held System des Verfassungsr. II. S. 272 Note 2 u. S. 295 Note 1. Zachariä Staatsr. I. §. 56 Note 8 (S. 302). Schulze Preuß. Staatsr. I. §. 63 S. 203 fg. . Welche Mittel der Preußische Landtag nach Preußischem Staatsrecht hat, um Verfassungs-Verletzungen Seitens des Königs zu verhindern, resp. die Ableistung des Verfassungseides zu erzwin- gen, kann hier unerörtert bleiben; es genügt, daß er in keinem Falle befugt ist, den König abzusetzen. Für das Reich ist dies §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. allein von Bedeutung. Eine wirkliche oder angebliche Verletzung der Preußischen Verfassung durch den König von Preußen ist eine innere Angelegenheit des preußischen Staates und dem Reiche ge- genüber ohne Rechtswirkung. Der Art. 11 macht das Recht des Königs von Preußen auf das Präsidium des Reiches nicht von der Bedingung abhängig, daß derselbe die Preußische Verfassung nicht verletze. Eine Einmischung in innere Angelegenheiten des Preuß. Staates steht dem Reiche nicht zu, es sei denn, daß auf Grund des Art. 76 Abs. 2 der R.-V. die Vermittlung oder Regelung einer Preuß. Verfassungsstreitigkeit von Seiten des Reiches durch Anrufen eines Theiles herbeigeführt wird. Was die materielle Normirung des Preußischen Thronfolge- rechts anlangt, so steht dieselbe im Einklang mit den gemeinrecht- lichen Grundsätzen, welche in allen deutschen Fürstenhäusern zur Anwendung kommen Vgl. darüber Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 178 ff. Preuß. V.-U. Art. 53. „Die Krone ist den Königl. Hausgesetzen gemäß erblich in dem Mannsstamme des Königl. Hauses nach dem Rechte der Erstgeburt und nach der agnatischen Linealfolge.“ . Ueber den Regierungs-Antritt des Kaisers enthält die Reichs- verfassung keine Vorschrift; derselbe ist demnach an keinerlei Forma- lität rechtlich gebunden. §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. Die mit dem Präsidium des Bundes verknüpften Rechte sind theils persönliche oder Ehrenrechte theils Regierungsrechte. I. Persönliche Rechte . Die Reichsverfassung ist mit der Ausstattung des Bundes- oberhauptes mit persönlichen und Ehrenrechten sehr karg. Sie war aus zwei Gründen dazu veranlaßt; erstens weil der an die Spitze des (Nordd. Bundes) Reiches berufene Bundesfürst als Monarch einer Europäischen Großmacht bereits im Besitze aller Ehrenrechte sich befand, welche gekrönten Häuptern zukommen; und zweitens weil man die übrigen Bundesfürsten ihm gegenüber nicht zurück- setzen und die denselben gebührende persönliche Ehrenstellung von Souveränen nicht verletzen wollte. Die Norddeutsche Bundesver- fassung kannte überhaupt gar kein Ehrenrecht des Präsidiums; die §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. Reichsverfassung kennt nur ein einziges, den Titel: Deutscher Kaiser . 1. Dieser Titel hat einen andern Charakter, als die sonst üblichen, aus früherer Zeit herstammenden Titel der Landesherren. Die letzteren beziehen sich auf den Besitz eines Gebietes, sind Herrschafts-Titel; sie sind ein Nachklang der patrimonialen oder feudalen, d. h. der privatrechtlichen Auffassung des Staates. Der Landesherr wird in derselben Art bezeichnet, nur mit höherem Titel, wie der Privatbesitzer einer Standes-Herrschaft oder eines Ritterguts. Der Titel „Deutscher Kaiser“ ist ein obrigkeitlicher Titel, er bezieht sich lediglich auf die staatsrechtliche Stellung seines Trägers; er ist seinem Wesen nach — im Gegensatz zu den ein Besitzrecht andeutenden Titulaturen — ein Amts-Titel Es soll damit natürlich nicht gesagt werden, daß der Kaiser ein Reichs- beamter sei (siehe oben S. 211), sondern nur die Natur des Titels charac- terisirt werden. . Aeußerlich zeigt sich dieser Unterschied in der von der Regel abweichenden Form; der Titel heißt nicht „Kaiser von Deutschland“ sondern „Deutscher Kaiser;“ es fehlt die sachenrechtliche Beziehung auf ein Gebiet als Object. Wichtiger ist die materielle Verschie- denheit. Die sonst üblichen Titel der Souveräne werden von den- selben, ebenso wie Namen, ganz allgemein d. h. für alle denkbaren Beziehungen und Verhältnisse geführt. Dagegen sollte nach dem Wortlaut des Briefes des Königs von Bayern , welcher die Annahme des Kaisertitels in Anregung brachte, „die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes“ mit Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werden und in der Proclama- tion von Versailles vom 18. Januar 1871 erklärte der Kaiser bei Verkündigung der Annahme der Kaiserwürde: „Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen.“ Es ist demgemäß streng genommen und dem Charakter des kaiserlichen Titels als eines obrigkeitlichen entsprechend, die Füh- rung desselben beschränkt auf die Angelegenheiten des Reiches , auf die Ausübung der Präsidialb efugnisse, also auf diejenigen Fälle, in denen kaiserliche Funktionen verrichtet werden; dagegen §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. ist er nicht anwendbar, wenn der Kaiser in seiner Eigenschast als König von Preußen oder als Herzog von Lauenburg u. s. w. in Betracht kommt Bei dem Erlaß Preußischer Staatsgesetze, Königl. Verordnungen für Preußen, Bestallungs- und Entlassungs-Urkunden für Preuß. Beamte u. s. w. wird demgemäß der Titel „Deutscher Kaiser“ nicht gebraucht. . Thatsächlich wird dies zwar nicht durchweg beobachtet. Jeder Titel, auch der reine Amtstitel, dient nicht blos zur Bezeichnung eines Kreises von Rechten und Pflichten, einer Stellung oder eines Wirkungskreises, sondern seine Führung ist ein persönliches Ehrenrecht . Darauf beruht der allgemeine Gebrauch, daß man Titel zur individualisirenden Bezeichnung einer bestimmten Person verwendet, ohne die sachliche Bedeutung des Titels in Betracht zu ziehen. Ebenso wie man einem Beamten seinen Amtstitel auch in allen nicht amtlichen Verhältnissen und Beziehungen beilegt, lediglich als ehrende Bezeichnung seiner Person, so wird auch der kaiserliche Titel ganz allgemein zur Bezeichnung seines Trägers angewendet, wenngleich derselbe nicht in seiner Eigenschaft als Oberhaupt des Reiches in Betracht kommt. Die Natur des kaiserlichen Titels zeigt sich aber darin, daß neben demselben der Titel des Königs von Preußen nicht außer Anwendung gekommen ist, wie dies sonst regelmäßig der Fall ist, wenn ein höherer Titel zu einem gleichartigen, niedrigeren hinzu- tritt. Der Titel „Deutscher Kaiser“ deckt den Titel „König von Preußen“ nicht; er ist nicht der höhere; er ist ihm überhaupt nicht homogen; er bezeichnet nur einen Theil der Rechte und eine be- sondere Ehrenstellung des Königs von Preußen. Deshalb wird in offiziellen Aktenstücken der Titel „Deutscher Kaiser“ nicht allein und selbstständig gebraucht, sondern der Titel „König von Preußen“ hinzugefügt Ebenso auf den auf Preuß. Münzstätten geprägten Reichsgoldmünzen. , selbst wenn es sich um Reichs-Angelegenheiten, z. B. die Verkündigung von Reichsgesetzen oder den Abschluß von völ- kerrechtlichen Verträgen des Reiches handelt Eine Ausnahme macht die Eidesformel für den Diensteid der unmit- telbaren Reichsbeamten. R.-G.-Bl. 1871 S. 303. , während anderer- seits in Angelegenheiten des Preußischen Staates der Titel „König von Preußen“ selbstständig geführt wird. §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. 2. Die Erblichkeit der Kaiserwürde, welche sich aus dem Art. 11 der R.-V. ergiebt, findet einen Ausdruck theils in der Formel „von Gottes Gnaden,“ theils darin, daß der Kronprinz von Preußen den Titel „Kronprinz des deutschen Reiches“ und das Prädikat „Kaiserliche Hoheit“ führt, neben welchen Bezeichnungen die Benennungen „Kronprinz von Preußen“ und resp. „König- liche Hoheit“ beibehalten werden. Diese Würde und das damit verbundene Prädikat geht auf jeden künftigen Thronfolger an der Preußischen Krone ohne Weiteres über Allerh. Erlaß des Kaisers vom 18. Januar 1871. Preuß. Min.-Bl. der inneren Verw. 1871 S. 2. Thudichum im Jahrb. von v. Holtzendorff I. S. 6. v. Rönne S. 156 Note 1 b. . 3. Nicht nur der Kaiser für seine Person, sondern auch die von ihm kraft seiner Präsidial-Befugnisse ernannten Behörden und Beamten sind als kaiserliche zu bezeichnen. Es ist dies ausdrück- lich bestimmt worden durch den Allerh. Erlaß vom 3. Aug. 1871 Nro. 1 (R.-G.-Bl. 1871 S. 318) und entspricht der Uebung. Ebenso können das Prädikat „Kaiserlich“ die in der kaiserlichen Hofhaltung angestellten Privatbeamten und Diener, Hoflieferanten und dergleichen Personen führen Die unbefugte Führung des Prädicats „Kaiserlich“ fällt nicht unter R.-Str.-G.-B. §. 360 Nr. 8, wenn nicht zugleich die unbefugte Annahme eines Titels damit verbunden ist. . Dagegen werden die preußi- schen Staatsbehörden und Beamten nicht als kaiserliche, sondern lediglich als königliche bezeichnet. 4. Mit dem Kaiserlichen Titel ist die Kaiserkrone, die Führung des Kaiserlichen Wappens und der Kaiserlichen Standarte verbunden. Diese Insignien sind festgestellt worden durch einen Allerhöchsten Erlaß vom 3. August 1871 Nro 2 und 3 R.-G.-Bl. 1871 S. 318 mit der Berichtigung S. 458. Das Kaiser- liche Wappen ist der schwarze, einköpfige, rechtssehende Adler mit rothem Schnabel, Zunge und Klauen, ohne Scepter und Reichsapfel, auf dem Brust- schilde den mit dem Hohenzollern-Schilde belegten Preußischen Adler, über demselben die Krone in der Form der Krone Karl’s des Großen, jedoch mit zwei sich kreuzenden Bügeln. Die Kaiserl. Standarte enthält in gelbem Grunde das eiserne Kreuz, belegt mit dem Kaiserlichen, von der Kette des Schwarzen Adler-Ordens umgebenen Wappen im gelben Felde und in den vier Eckfeldern des Fahnentuchs abwechselnd den Kaiserlichen Adler und die Kaiserliche Krone. Vgl. Graf Stillfried . Die Attribute des Neuen . §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. 5. Das Kaiserliche Wappen ist durch die Bestimmung des Reichs- Strafgesetzb. Art. 360 Z. 7 gegen den Mißbrauch durch unbefugte Abbildung zur Bezeichnung von Waaren auf Aushängeschildern oder Etiketten verwendet zu werden, geschützt. Durch einen Allerh. Erl. v. 16. März 1872 R.-G.-Bl. S. 90. hat der Kaiser aber allen „ Deutschen Fabrikanten “ Also nicht Fremden und ebenso wenig Deutschen Kaufleuten, welche die Waaren nicht fabriziren, sondern sie nur detailliren und verpacken. Jedoch wird die Bestimmung thatsächlich nicht strict interpretirt. den Gebrauch und die Abbildung des kaiser- lichen Adlers in der durch den Erlaß vom 3. Aug. 1871 festge- stellten Form gestattet; ausgeschlossen ist jedoch die Form eines Wappenschildes Bekanntm. des Reichskanzlers v. 11. April 1872. (R.-G.-Bl. S. 93.) . 6. Pekuniäre Vorrechte, insbesondere eine sogen. Civilliste, sind mit der Kaiserwürde nicht verbunden. In Beziehung auf die Hofhaltung und auf die sogenannte Repräsentation ist ein Unter- schied zwischen den durch die Stellung als König von Preußen und den durch die Stellung als Deutscher Kaiser verursachten Kosten nicht durchführbar; es läßt sich nicht einmal die Behaup- tung begründen, daß durch die kaiserliche Würde größere Reprä- sentationskosten verursacht werden, als sie auch durch die Stellung eines Königs von Preußen geboten sind. Die Dotation der Krone ist ausschließlich Sache des Preußischen Staates. Die Erhabenheit der kaiserlichen Würde wird dadurch, daß sie mit keinen pekuniären Vortheilen verbunden ist, noch erhöht. II. Regierungsrechte . Eine Erörterung der einzelnen Befugnisse, welche die Reichs- verfassung und die Reichsgesetze dem Kaiser auf den verschiedenen Gebieten der Staatsthätigkeit beilegen, kann nur bei der speziellen Darstellung dieser Gebiete gegeben werden; denn die kaiserlichen Befugnisse stehen überall im engsten Zusammenhange mit den Funk- tionen der übrigen Organe des Reiches und der materiellen Rege- lung der einzelnen Reichsverwaltungszweige In der Literatur des Deutschen Reichsstaatsrechts ist es üblich gewor- den, Kataloge der kaiserlichen Rechte aufzustellen. So z. B. bei Thudichum . Welche Rechte d. Deutschen Reiches. Abgebildet, beschrieben und erläutert. Mit 16 Tafeln 2. Aufl. Berlin 1874. §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. d. h. staatliche Funktionen der Kaiser z. B. in Zollsachen, Militär- sachen, Angelegenheiten der Post- und Telegraphie u. s. w. hat, läßt sich nur bei der Darstellung des Zoll- Militär- Post- und Telegraphen-Wesens u. s. w. entwickeln, wenn nicht der innere, sachliche Zusammenhang zerstört werden soll. Dagegen ist es von wesentlicher Bedeutung, die Stelle, welche der Kaiser im Organis- mus des Reiches einnimmt, juristisch zu bestimmen und gerade diese Aufgabe ist in der bisherigen Literatur des Reichsstaatsrechts ganz vernachlässigt worden. Den Ausgangspunkt muß auch hier die rechtliche Natur des Reiches und das Wesen des Bundesstaates bilden. Das Reich ist — wie oben entwickelt worden ist — eine Corporation des öffent- lichen Rechts, deren Mitglieder die einzelnen Deutschen Staaten, beziehungsweise deren Landesherren als Vertreter der Staaten sind. In der Reichsverfassung kehren demgemäß die allgemeinen Grundzüge der Korporationsverfassung wieder und die Organe des Reiches haben ihr Analogon in den Organen der Privatcorporation; nur daß ihre Stellung von den Prinzipien des öffentlichen Rechts, nicht von denen des Privatrechts beherrscht wird, alle ihre Rechte auf die Ausübung von Hoheits- oder Herrschaftsrechten sich beziehen und in untrennbarem Zusammenhange mit den Pflichten zur Er- füllung der staatlichen Aufgaben des Reiches stehen. In dieser öffentlichrechtlichen Korporation, welche das Reich ist, ist der Kaiser dasjenige Organ, welches man bei der Privatcorporation den Vor- stand oder Director nennt, und seine Befugnisse und Pflichten, seine — sozusagen amtlichen — Funktionen entsprechen im Wesent- lichen den Befugnissen und Pflichten, welche der Vorstand oder Director einer juristischen Person überhaupt hat. Es sind dies im Wesentlichen folgende: 1. Der Kaiser ist der alleinige, ausschließliche Vertreter des Reiches Dritten gegenüber . Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Umfang seiner Vertretungsbefugniß, seiner Vollmacht, ein unbegrenzter , Nordd. Bundesverf. S. 125, v. Gerber S. 246, Hauser S. 72 ff., Rie- del S. 29 ff., Meyer Erörter. S. 52, Westerkamp S. 145, v. Rönne S. 157 ff. u. bes. v. Mohl S. 283 ff. Diese Aufzählungen sind unvollständig und meistens ohne dogmatische Gesichtspunkte; sie bieten kaum den Nutzen, wie das Wortregister des Reichsgesetzblattes von 1871 unter dem Wort: Kaiser. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 15 §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. allumfassender ist; daß der Kaiser rechtlich befugt sei, mit verbind- licher Kraft für das Reich, jeden Vertrag abzuschließen, der ihm beliebt. Er kann hierin sehr wohl an die Zustimmung des Bun- desrathes und Reichstages gebunden oder durch Reichsgesetze mate- riell beschränkt sein, was in der That der Fall ist Vgl. R.-V. Art. 11 Abs. 3. . Aber das Reich hat keinen andern Vertreter als den Kaiser , beziehentlich die von ihm ernannten Beamten als dessen Gehülfen. Weder der Bundesrath allein noch Bundesrath und Reichstag zusammen, noch die einzelnen deutschen Landes- herren in Person können für das Reich einen Vertrag abschließen; der Kaiser allein ist zur Vertretung des Reiches befugt; für das Reich kann kein Vertrags-Verhältniß begründet werden, ohne daß der Kaiser es contrahirt. Es folgt ferner aus diesem Grundsatz, daß alle vom Kaiser im Namen des deutschen Reiches innerhalb seiner verfassungs- mäßigen Vertretungsbefugniß abgeschlossenen Verträge für das Reich rechtswirksam sind, Rechte und Pflichten für das Reich be- gründen. Diese Funktion des Kaisers als Vertreter des Reiches ist in der Reichsverfassung Art. 11 Abs. 1 für die völkerrechtlichen Beziehungen anerkannt: „ Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten , im Namen des Reiches Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen.“ Allein es ist unrichtig, die Vertretung des Reiches durch den Kaiser auf die völkerrechtlichen Beziehungen des Reiches zu be- schränken. Der Kaiser ist auch in allen übrigen Beziehungen, in welche das Reich zu dritten Personen treten kann, sein Vertreter. Insbesondere auch bei allen privatrechtlichen (fiskalischen) Erwerbungen für das Reich und Belastungen des Reiches. Zur Aufnahme von Anleihen und zur Uebernahme von Garantien zu Lasten des Reiches, zur Veräußerung von Reichsvermögen, zur Erwerbung von Vermögen für das Reich und zu allen anderen privatrechtlichen Geschäften des Reichsfiskus mit Dritten ist allein der Kaiser, beziehentlich der von ihm zu seiner Vertretung ermäch- §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. tigte und von ihm ernannte Reichsbeamte, der auf seinen Befehl und in seinem Namen handelt, befugt. Nicht minder ist der Kaiser der Vertreter des Reiches bei allen Rechtsbeziehungen zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten. Bei der Begründung oder Geltend- machung von Rechten und Pflichten zwischen dem Reich und einem Gliedstaat wird der letztere durch seinen Landesherrn, die Ge- sammtheit (das Reich) durch den Kaiser vertreten. Auch bei der Ernennung der Reichsbeamten handelt der Kaiser als Vertreter des Reiches, in soweit dadurch der Beamte vermö- gensrechtliche Ansprüche gegen die Reichskasse erwirbt. Wenn das Reich im Wege der Gesetzgebung Rechtsnormen aufstellt, so ist es der Kaiser, der sie „im Namen des Reiches verordnet,“ wie die Eingangsformel jedes Reichsgesetzes lehrt. Der Kaiser ist also der Vertreter des Reiches nicht nur in völkerrechtlicher, sondern auch in staatsrechtlicher und privatrechtlicher Beziehung. 2. Dem Kaiser liegt die Regierung des Reiches ob . Es entspricht dies der Befugniß und Verpflichtung des Vor- standes einer Privatcorporation zur Geschäftsführung . Be- grifflich beruht der Gegensatz der Geschäftsführung und der Ver- tretung darauf, das die erstere eine lediglich innere Angelegenheit der Corporation ist, welche die Vornahme aller, zur Erfüllung der Zwecke der Corporation erforderlichen Handlungen und Maßregeln umfaßt, während die Vertretung nur Dritten gegenüber in Betracht kommt und darin besteht, daß für die Corporation Dritten gegen- über durch den Vertreter Rechts-Verhältnisse begründet werden. Dieser Unterschied ist auch für das Staatsrecht von sehr großer Bedeutung. Was man gewöhnlich Verwaltung oder auch in un- passender Weise „Executive“ nennt und woraus die frühere Theorie irrthümlich eine „executive Gewalt“ gemacht hat, entspricht diesem Begriff der Geschäftsführung, der für die Corporationen und Gesell- schaften des Privatrechts längst erkannt und festgestellt ist. Er unterscheidet sich von ihm nur durch die Art der Geschäfte; die Geschäfte des Staates sind öffentlichrechtlichen Inhalts, sie betreffen die Erfüllung der Aufgaben und Zwecke des Staates, die Hand- habung der ihm zukommenden Hoheitsrechte, die Förderung seines Gedeihens; sie sind Regierungsgeschäfte . Bei einem Theile dieser Geschäfte ist der Kaiser durch Ver- fassung oder Gesetz an die Mitwirkung anderer Organe gebunden, 15* §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. nämlich des Bundesrathes und des Reichstages oder auch an die der Einzelstaaten. Es ist ferner nicht zweifelhaft, daß bei Füh- rung der Regierungsgeschäfte die Reichsgesetze nicht verletzt werden dürfen; daß vielmehr die letzteren theils positiv den Inhalt der Regierungsthätigkeit bestimmen, theils negativ rechtliche Schranken für die Handlungsfreiheit des Kaisers bei der ihm obliegenden Regierungsthätigkeit sind. Im Allgemeinen aber ist der Kaiser das mit der Führung der Regierungsgeschäfte betraute Organ des Reiches. Es äußert sich diese, dem Kaiser obliegende Funktion in folgenden Haupt- richtungen: a ) Die Thätigkeit der übrigen Organe des Reiches, des Bun- desrathes und Reichstages, wird von dem Kaiser in Gang erhalten und gewissermaßen regulirt Auch in dieser Hinsicht bietet die Einwirkung des Kaisers auf die Thätigkeit des Bundesrathes und Reichstages vielfache Analogien zu dem Ein- fluß des Vorstandes einer juristischen Person des Privatrechts auf die Func- tionen des Verwaltungsrathes oder Curatoriums oder der Generalversammlung in Beziehung auf die Einberufung, den Vorsitz, die Ausfertigung und Fest- stellung der Beschlüsse u. s. w. . Im steht es zu, den Bundesrath und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen (Art. 12); er ernennt den Vorsitzenden des Bundesrathes (Art. 15); er bringt die von den Bundesgliedern gemachten Vor- schläge im Bundesrathe zur Berathung (Art. 7 Abs. 2); in seinem Namen werden die Beschlüsse des Bundesrathes an den Reichstag gebracht (Art. 16); und nach erzielter Uebereinstimmung zwischen Bundesrath und Reichstag steht ihm die Ausfertigung und Ver- kündigung der Reichsgesetze zu. (Art. 17.) b ) Dem Kaiser liegt die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze ob (Art. 17, 36 Abs. 2) und theils die Reichsver- fassung selbst theils eine bedeutende Anzahl von Reichsgesetzen er- mächtigen ihn zum Erlaß von Administrativ-Verordnungen, welche zur Ausführung einzelner Reichsgesetze erforderlich sind. c ) Der Kaiser ernennt nach freiem Belieben den Reichskanz- ler, den verantwortlichen Minister des Reiches, und kann ihn nach freiem Belieben in den Ruhestand versetzen R.-V. Art. 15. Reichsbeamten-Gesetz §. 25. . Dadurch ist dem Kaiser die oberste Leitung der Regierung übertragen; er bestimmt §. 26. Der Inhalt der kaiserlichen Rechte. die Richtung der Politik, die Zielpunkte der staatlichen Geschäfts- führung des Reiches. Wenn auch thatsächlich die Führung der Geschäfte dem Reichskanzler obliegt, so ist derselbe doch rechtlich lediglich das Willenswerkzeug und der Gehülfe des Kaisers. Auch die übrigen Reichsbeamten werden der Regel nach vom Kaiser ernannt und erforderlichen Falles entlassen oder in den Ruhestand versetzt Siehe unten die Lehre von den Reichsbehörden und den Reichs- beamten. . (R.-V. Art. 18.) d ) Dem Kaiser liegt die Wahrnehmung der auswärtigen Be- ziehungen des Reiches ob, die Aufrechthaltung des diplomatischen Verkehrs Natürlich nur, insofern der Kaiser denselben für erforderlich oder nütz- lich erachtet. Aus dieser, in der Natur der Regierungsthätigkeit liegenden Handlungsfreiheit macht v. Mohl Reichsstaatsr. S. 310 ein besonderes, dem Kaiser zustehendes „unbeschränktes Recht der Abbrechung des diplomatischen Verkehres.“ , die Anbahnung und Führung von Verhandlungen über abzuschließende völkerrechtliche Verträge, die Wahrnehmung der Interessen des Reiches, seiner Mitglieder und seiner Ange- hörigen fremden Staaten gegenüber. R.-V. Art. 11. 56. 3. Der Kaiser ist der Verwalter der Machtmittel des Reiches . Auch in dieser Beziehung ist seine Stellung derjenigen analog, welche der Vorstand einer privatrechtlichen Korporation hat. Nur darf man nicht vergessen, daß eine Privatrechts-Korporation keine anderen Machtmitteln hat als pekuniäre und keine andere Admini- stration als Vermögensverwaltung. Für den Vorstand einer Privat- korporation äußert sich die hier in Betracht kommende Funktion etwa darin, daß er die Vereinskasse unter seinem Verschluß hat. Der Staat dagegen gebietet auch über Machtmittel öffentlich recht- licher Natur, über die staatlich organisirten Streitkräfte. Die Ver- waltung dieser Machtmittel findet ihren schärfsten Ausdruck in dem Oberbefehl über das Heer und die Kriegsmarine und in der Ausübung dieses Oberbefehls nicht nur zur Bekämpfung äußerer Feinde, sondern, wenn es erforderlich ist, auch zur Vollstreckung der Execution gegen Bundesglieder, welche ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen (Art. 19), und zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit im Innern, wenn dieselbe in einem §. 27. Wesen des Bundesrathes. Theile des Bundesgebiets bedroht ist, durch Erklärung desselben in Kriegszustand. (Art. 68.) 4. Endlich hat der Kaiser die — dem Reiche zustehende — Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen auszuüben Ges. vom 9. Juni 1871 §. 3. . Es ist dies eine Funktion des Kaisers, welche zwar durch die Orga- nisation des Reiches selbst nicht gegeben und in der Reichsverfas- sung selbst in keiner Art vorgesehen ist; welche aber mit ihr auch nicht im Widerspruch steht, sondern sich mit der Befugniß des Kaisers zur Leitung der Regierung, zur Führung der Geschäfte des Reiches leicht und ungezwungen verbindet. Bei der sehr ano- malen Rechtsstellung des Reichslandes im Vergleich zu den Bun- desgliedern kann auch das staatsrechtliche Verhältniß des Kaisers zum Reichslande seine nähere Erörterung erst in dem, Elsaß-Loth- ringen gewidmeten, besonderen Abschnitte finden. Zweiter Abschnitt . Der Bundesrath. §. 27. Allgemeine Erörterung seines Wesens. Der Bundesrath ist die eigenthümlichste Institution des deut- schen Reiches. Man hat ihn vielfach angegriffen, weil er weder mit der herkömmlichen Theorie vom Bundesstaat vereinbar ist, noch in die Schablone der konstitutionellen Monarchie paßt; und man hat ihn andererseits als die kühnste und glücklichste Schöp- fung des Gründers des Norddeutschen Bundes bezeichnet, als die geistvollste Erfindung seiner politischen Gestaltungskraft gerühmt Unter den kritischen Beurtheilungen des Bundesrathes sind aus der wissenschaftlichen Literatur hervorzuheben: v. Martitz Betrachtungen S. 45 fg. Thudichum Verf.-Recht S. 118 fg. Meyer Grundz. S. 102 fg. Seydel Commentar S. 99. v. Mohl Reichsstaatsr. S. 239 fg. Wester- kamp S. 97 fg., 110 fg., 153 fg. v. Held Verf. des Deutschen Reichs S. 103—118. — Die Schrift von August Winter Der Bundesrath und die Reichsoberhausfrage. Tübingen 1872 halte ich für durchweg verfehlt. . Beide Auffassungen sind nicht begründet. Daß die Verfassung des deutschen Reiches weder der früher herrschenden Theorie vom Bun- desstaat noch der doctrinären Form der konstitutionellen Monarchie entspricht, ist wahr, aber kein Vorwurf; und andererseits ist der Bundesrath bei der Gründung des Nordd. Bundes überhaupt nicht §. 27. Wesen des Bundesrathes. erdacht und erfunden worden, sondern gleichsam von selbst ent- standen, historisch gegeben gewesen. Die politische Genialität des Fürsten Bismarck zeigte sich nicht sowohl in der Schöpfung des Bundesrathes, sondern darin, daß er ihn nicht verwarf, trotzdem derselbe mit der Theorie vom Bundesstaate und der konstitutio- nellen Doctrin in unversöhnbarem Contrast zu stehen schien. Wenn für irgend ein Institut des jetzigen deutschen Reichsstaatsrechtes die historischen Wurzeln klar erkennbar sind und für das juristische Verständniß verwerthet werden können, so ist es der Bundes- rath Grade im Gegensatz hierzu nennt ihn v. Mohl S. 228. 230 „eine ganz eigenthümlich kühne Schöpfung“ und eine „proles sine matre creata.“ . Es ist hier daran zu erinnern, daß vor der Gründung des Norddeutschen Bundes die Preußische Regierung die Reform des deutschen Bundes durch Einfügung einer Volksvertretung, Abschaf- fung des Prinzips der Einstimmigkeit und Erweiterung der Com- petenz angestrebt hat. Dieser Gedanke wurde bei der Neugründung des Norddeutschen Bundes festgehalten. Er führte von selbst zu den Grundlinien der Organisation des letzteren und diese Grund- linien waren schon vor der Errichtung des Norddeutschen Bundes in Folge des Augustbündnisses verwirklicht, gleichsam provisorisch eingeführt. Die Commissäre der deutschen Regierungen, welche im Winter 1866 in Berlin zusammentraten, um den Verfassungsent- wurf zu berathen, bildeten zusammen ein Collegium, welches im Wesentlichen dem alten Bundestags-Plenum entsprach, d. h. sie waren zu einem Kongreß vereinigte, nach Instructionen stimmende und beschließende Bevollmächtigte völkerrechtlich verbundener Re- gierungen, das Präsidium und die Leitung der Geschäfte fiel natur- gemäß dem ersten Vertreter Preußens zu und man hatte in dem in Aussicht genommenen und im Februar 1867 zusammentretenden Reichstage das Zusammenwirken von Bundesrath und Reichstag vor Augen. Man brauchte in der That keine Organisation zu erfinden, sondern nur die Einrichtungen, welche schon vorhanden waren und welche gleichsam der natürliche Ausdruck der gegebenen Verhältnisse, der Reflex der historisch entstandenen Thatsachen waren, rechtlich zu fixiren und näher zu bestimmen Auch für die Neugestaltung des Zollvereins im Jahre 1867 ergab sich dieselbe Organisation von selbst. . §. 27. Wesen des Bundesrathes. Dies ist nicht nur für die politische Würdigung, sondern in höherem Grade noch für die Erkenntniß des juristischen Wesens des Bundesrathes von Bedeutung. Der Bundesrath vereinigt in sich zwei Eigenschaften, er hat eine Doppelnatur; die eine entspricht seiner historischen Abkunft vom alten Bundestage; die andere ent- springt aus der Natur und den Bedürfnissen des neu gegründeten Bundesstaates. In dieser Doppelnatur liegt die Schwierigkeit für die staatsrechtliche Begriffsbestimmung des Bundesrathes, die Un- möglichkeit ihn mit den herkömmlichen Institutionen zu identifiziren. Diese Doppelnatur entspricht aber vollkommen dem Grundbau des deutschen Reiches; sie correspondirt vollständig mit der Doppel- stellung des Kaisers. Sowie der Kaiser theils Mitgliedschaftsrechte hat als König von Preußen theils Organ des Reiches ist und als solches die Präsidialbefugnisse ausübt; so dient auch der Bundes- rath theils zur Ausübung und Geltendmachuug der Mitglied- schaftsrechte der einzelnen Bundesstaaten theils als ein Organ des Reiches , das letztere als begriffliche Einheit, als staatliche Person genommen. Man hat den Bundesrath mit einem Oberhause oder Staaten- hause verglichen Am breitesten führt dies aus Winter a. a. O. S. 58 ff. . Der Bundesrath steht aber zu jeder Art von parlamentarischer Körperschaft im schroffsten Gegensatz; denn die Mitglieder des Bundesrathes stimmen nicht nach freier, indivi- dueller Ueberzeugung, sondern nach den ihnen ertheilten Instruc- tionen und sind ihrer Regierung verantwortlich für ihr Verhalten im Bundesrath. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, daß der Bundesrath thatsächlich im Reich in einzelnen Richtungen ähn- liche Dienste wohl zu leisten vermag, wie sie von einem Oberhause oder Staatenhause geleistet werden können. Jede Vergleichung zwischen dem Bundesrathe und einem Staatenhause sieht aber gänz- lich ab von dem Wesen der Institution, von dem staatsrechtlichen Charakter derselben und faßt nur factische, zufällige Aehnlichkeiten ins Auge. Man hat den Bundesrath und seine Ausschüsse andererseits mit Ministerien verglichen v. Gerber Grundz. S. 248 scheint an eine Verbindung beider Func- tionen zu denken, in dem er sagt: „Der Bundesrath ist keineswegs mit einem bloßen Oberhause zu vergleichen, vielmehr hat er auch den Charakter eines . Von diesem Vergleiche gilt ganz dasselbe. §. 27. Wesen des Bundesrathes. Der Bundesrath vermag thatsächlich in vereinzelten Beziehungen ähnliche Dienste dem Reiche zu leisten, wie sie anderswo wohl von Ministerien geleistet werden; seinem Begriffe und juristischen Wesen nach steht er zu einem Ministerium in nicht minder scharfem Contrast wie zu einem Parlament, denn er wird nicht von dem obersten Chef der Regierung, vom Kaiser, ernannt und seine Auf- gabe besteht nicht darin, die Führung der Regierungsgeschäfte im Namen und Auftrage des Kaisers zu besorgen, sondern er steht dem Kaiser als ein zweites Organ des Reiches, ebenso wie der Reichstag, in voller Unabhänigkeit gegenüber Man kann den Bundesrath des Deutschen Reiches daher auch nicht in Parallele stellen mit dem Schweizerischen Bundesrath, der ein Regierungs- collegium ist, noch mit dem Schweizerischen Ständerath, der ein Staatenhaus, eine parlamentarische Körperschaft ist. Bundesverf. vom 29. Mai 1874 Art. 95 fg. Art. 80 fg. . Will man Vergleichungen zum besseren Verständniß der Natur des Bundesrathes verwerthen, so bietet sich hierzu der Reichstag des alten deutschen Reiches dar Vgl. auch v. Mohl S. 230 und Gierke das alte und das neue Deutsche Reich S. 25. 26. (Deutsche Zeit- und Streit-Fragen. III. Jahrgang Heft 35. 1874.) . Freilich thatsächlich kann die Verschiedenheit zwischen beiden Körperschaften größer kaum ge- dacht werden, als sie wirklich ist; in seinem juristischen Wesen aber entsprach der alte Reichstag dem jetzigen Bundesrath, denn er war einerseits ein Willensorgan des Reiches als des souveränen deut- schen Staates und andererseies kamen in ihm und durch ihn die individuellen Mitgliedschaftsrechte der Glieder des Reiches, der Stände, zur Geltung und Ausübung. In dem Bundesrath sind diese beiden, hervorgehobenen Func- tionen mit einander zwar in enge Verbindung und Wechselwirkung gesetzt; für die theoretische Erkenntniß seines juristischen Wesens aber ist ihre begriffliche Unterscheidung geboten. höchsten Regierungscollegiums ꝛc. ꝛc.“ v. Rönne S. 148 hat dies wörtlich nach- geschrieben. Allein der Bundesrath ist keines von beiden. Auch nach der „von einem Juristen“ gemachten Zusammenstellung des Bundesstaatsrechts der Nordamerik. Union, der Schweiz und des Norddeutschen Bundes, Mün- chen 1868, S. 35 sind die Befugnisse des Bundesrathes theils die eines Ober- hauses, theils die eines Staatsrathes, theils die eines Bundesministeriums. Vgl. auch v. Held S. 113 Nr. 63. §. 26. Die Staatenrechte im Bundesrathe. §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. I. „Innerhalb des Bundesrathes findet die Souveränetät einer jeden Regierung ihren unbestrittenen Ausdruck“, sagte Fürst Bis- marck in dem zur Berathung der Nordd. Bundesverfassung einbe- rufenen Reichstage am 27. März 1867 Stenogr. Ber. S. 388. . Die Souveränetät der einzelnen Staaten ist in Wahrheit — wie oben ausgeführt worden ist — ein Antheil an der Souveränetät des Reiches und dieser Antheil wird ausgeübt durch die Theilnahme der einzelnen Staaten am Bundesrathe. Jedes Mitglied des Reiches hat als solches ein Anrecht auf Theilnahme am Bundesrathe und andererseits ist die Mitgliedschaft am Bunde das unerläßliche Fundament für die Theilnahme am Bundesrathe. Hieraus folgt: 1. Der Kaiser als solcher, d. h. als Organ des Reiches, hat nicht die Befugniß, Mitglieder des Bundesrathes zu ernennen oder in irgend einer anderen Art an der Thätigkeit des Bundes- rathes Theil zu nehmen; nur der König von Preußen als Mitglied des Reiches hat einen Antheil am Bundesrath. Die Reichsverfassung spricht zwar an mehreren Stellen (Art. 5 Abs. 2. Art. 7 Abs. 3. Art. 37) von einer „Stimme des Präsidiums“ oder einer „Präsidialstimme,“ und im Art. 8 von einer Vertretung des „Präsidiums“ in den Bundesraths-Ausschüssen; allein der Bundes- rath hat nach Art. 6 der Verf. keine anderen Mitglieder als „Ver- treter der Mitglieder des Bundes“ und außer den Stimmen, welche „Preußen“ nach Art. 6 im Bundesrathe führt, giebt es keine, dem Kaiser zustehende Stimmen. Die Präsidialstimme ist sonach nicht die kaiserliche Stimme, sondern die preußische Fürst Bismarck im Nordd. Reichstage am 16. April 1869: „Die Instruktion des Preußischen Bevollmächtigten wird beschlossen in dem Preu- ßischen Ministerium ebenso wie die des Sächsischen Bevollmächtigten im Säch- sischen Ministerium; letztere geht aus von Sr. Maj. dem Könige von Sachsen, und die meinige in letzter Instanz nicht von dem Präsidium des Bundes, sondern von Sr. Maj. dem Könige von Preußen .“ . 2. Elsaß-Lothringen hat keine Stimme im Bundes- rathe und kann keine haben. Es beruht dies nicht auf den prak- tischen Schwierigkeiten, wie die Vertreter von Elsaß-Lothringen ernannt und mit Instruktionen versehen werden sollen, sondern §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. auf dem prinzipiellen Grunde, daß Elsaß-Lothringen nicht Mitglied des Reiches, sondern Reichsland ist Vgl. unten §. 54. . 3. Der Bundesrath bietet keinen Raum für die Aufnahme von Vertretern einzelner Bevölkerungsklassen oder von Individuen von hervorragender Stellung oder ausgezeichneten Verdiensten, sondern einzig und allein von Vertretern von Staaten des Bun- des. Darum ist z. B. der Anspruch der ehemals reichsunmittel- baren Landesherren (der sogen. Mediatisirten oder Standesherren) auf eine Theilnahme am Bundesrath mit dem Wesen des letzteren gänzlich unvereinbar Dies ist verkannt von Prof. Bischof . Denkschrift betreffend das fürstl. und gräfl. Gesammthaus Schönburg und dessen Anrecht auf Einräumung von Sitz und Stimme im hohen Bundesrathe des Norddeutschen Bundes. Gießen 1871. . 4. Die Stimmen der einzelnen Staaten im Bundesrathe sind nach demselben Verhältniß vertheilt wie im ehemaligen Plenum des Bundestages Vgl. oben S. 128. , mit der alleinigen Ausnahme, daß Bayern statt vier Stimmen sechs Stimmen erhalten hat Dies ist also ein Sonderrecht ( ius singulare ) zu Gunsten Bayerns. Siehe oben S. 117 und Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1510 fg. Wenn Löning ebendas. 1875 S. 369 die Stimmrechte sämmtlicher Staaten als Sonderrechte erklärt, so beruht dies auf einem Verkennen des Begriffes „ Sonderrecht .“ Ein solches muß immer einer Regel als Aus- nahme gegenüber stehen. Andererseits kann ich aber auch der von v. Mohl S. 234 aufgestellten Ansicht nicht beitreten, daß einzelnen Staaten ohne deren Zustimmung durch ein verfassungsänderndes Gesetz ihre Stimmrechte entzogen oder daß sie zu Kurien vereinigt werden können. Denn aus der prinzipiellen Gleichheit der Mitgliedschaftsr echte folgt, daß, so lange das dem Art. 6 zu Grunde liegende Prinzip verfassungsmäßig besteht, es auf alle Staaten gleichmäßig Anwendung finden muß. Vgl. Laband a. a. O. S. 1511. . Für Preußen nebst Lauenburg ergeben sich daraus 17 Stim- men, indem es die „ehemaligen“ Stimmen von Preußen (4), Hannover (4), Kurhessen (3), Holstein-Lauenburg (3) Das Holstein im ehemaligen Bundestage zukommende Stimmrecht be- ruhte gemäß dem Protokoll der Bundesvers. vom 5. November 1816 §. 3 pro indiviso auch auf Lauenburg. Dies ist der Grund, warum für Lauenburg , trotzdem es mit dem Preuß. Staate nicht vereinigt ist, im Bundesrathe keine besondere Stimme geführt wird. Vgl. über abweichende Auffassungen oben S. 90 Note 1. , Nassau (2) §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. und Frankfurt (1) in Folge der im Jahre 1866 erfolgten Ge- biets-Erwerbungen vereinigt. Sachsen und Württemberg führen je 4, Baden und Hessen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braun- schweig je 2 Stimmen, die übrigen 17 Staaten je eine Stimme; so daß die Gesammtzahl der Stimmen 58 beträgt. So wenig es im Bundesrathe eine Stimme giebt, die nicht einem Mitgliede des Bundes angehört, so wenig giebt es ein Mitglied des Bundes, welchem eine Stimme im Bundesrathe versagt wäre. II. Die verfassungsmäßige Stimmenzahl im Bundesrathe ist für jeden Deutschen Staat Inhalt eines subjectiven Rechts, dessen Ausübung von seiner individuellen Willensent- schließung bestimmt wird. Dieses Prinzip schließt eine große Reihe von wichtigen Con- sequenzen in sich. 1) Zunächst bedarf die Frage einer Untersuchung, in wiefern dem Rechte eines Einzelstaates auf eine Stimme im Bundesrathe die Pflicht correspondirt, dieses Recht auch auszuüben und an den Beschlüssen des Bundesrathes wirklichen Antheil zu nehmen. Eine Beantwortung dieser Frage ist nur möglich, wenn man zwei rechtliche Beziehungen, die hier zugleich in Betracht kommen kön- nen, scharf auseinanderhält, nämlich die Beziehung der Regie- rung eines Einzelstaates zu diesem Einzelstaate selbst und die Beziehung des Einzelstaates zum Reich. In der ersten Richtung ist nicht zu bezweifeln, daß zu den Pflichten der Regierung auch die Wahrnehmung der Rechte des Staates im Bundesrath gehört. Ein Minister, der es unterlassen würde, einen Bevollmächtigten im Bundesrath zu ernennen oder denselben mit Instruktionen zu versehen, würde die ihm obliegende Sorgfalt in der Führung der Regierungsgeschäfte verletzen: er würde bei fortgesetzter Nichtausübung seines Rechts die Interessen seines Staates tief schädigen und ihn seines berechtigten Einflusses auf die Reichsangelegenheiten berauben. Er würde wegen eines solchen Verhaltens innerhalb des Einzelstaates, dessen Regie- rung er führt, nach Maaßgabe des Staatsrechts desselben verant- wortlich gemacht, also nach Umständen auch durch Anklage verfolgt werden können. Es entspricht also dem Recht der Regierung, die Mitgliedschaftsrechte des Staates im Bundesrathe auszuüben, in Ansehung des berechtigten Staates die Pflicht, die Mitglied- §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. schaftsrechte im Interesse des Staates auszuüben, weil diese Aus- übung ein Theil der Regierungsthätigkeit und der dabei zu be- obachtenden Sorgfalt ist. In dem Verhältniß zwischen Reich und Einzelstaat beantwor- tet sich die Frage dagegen in entgegengesetzter Richtung. Zwar ist vom politischen Gesichtspunkt aus gewiß nicht zu verkennen, daß jeder Deutsche Staat die Pflicht hat, die Interessen des Rei- ches zu fördern und dies durch Antheilnahme an den Berathungen und Beschlüssen des Bundesrathes zu bethätigen. Das eigene politische Interesse des Einzelstaates wird auch dahin drängen, daß dieses Gebot der Staatsklugheit von seiner Regierung nicht verletzt wird. Aber eine rechtliche Pflicht des Einzelstaates dem Reiche gegenüber, für eine Vertretung und Stimmabgabe im Bun- desrathe Sorge zu tragen besteht nicht. Es verhält sich hier ganz ebenso wie mit den Reichstags-Mitgliedern, welche zwar ein Recht, und gewiß auch eine politische, ethische, Pflicht haben, an den Ar- beiten und Beschlüssen des Reichstages Theil zu nehmen, aber keine Rechtspflicht dieses Inhalts. Ein Staat, der sich vom Bun- desrath, oder ein Reichstags-Abgeordneter, der sich vom Reichstag fern hält, verübt kein juristisches Unrecht. Es beruht dies bei beiden auf demselben Grunde. Der einzelne Staat ist ebenso wenig wie der einzelne Abgeordnete ein Organ des Reiches, übt keine Lebens- oder Willensfunctionen des Reiches aus; und mit diesem Mangel eines Rechts, für das Reich zu handeln, entfällt auch die Pflicht, es zu thun. Nur der Bundesrath als Ganzes wie der Reichstag als Ganzes sind Organe des Reiches und des- halb staatsrechtlich verbunden, die ihnen übertragenen Functionen auch auszuüben Es ist zwar zuzugeben, daß wenn alle einzelnen Bundesstaaten ihre Thätigkeit im Bundesrath und alle einzelnen Abgeordneten ihre Thätigkeit im Reichstage einstellen würden, auch Bundesrath und Reichstag als Ganzes nicht mehr in Funktion treten könnten; ein solcher Fall setzt aber eine solche Erschütterung der thatsächlichen Grundlagen, auf denen die Reichsverfassung beruht, voraus, daß diese Verfassung selbst nicht mehr fortdauern könnte; und es ist daher begreiflich, daß sie für diesen Fall keine Rechtsnormen enthält. . Hinsichtlich des Bundesrathes ist es in der Reichs-Verfassung ausdrücklich anerkannt, daß es von dem freien, nur durch politische Rücksichten bestimmten Willensentschluß der Einzelstaaten abhängig §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. ist, ob sie ihre Mitgliedschaftsrechte im Bundesrathe ausüben wol- len oder nicht. Denn Art. 7 sagt in Beziehung auf die Beschluß- fassung des Bundesrathes: „ Nicht vertretene oder nicht instruirte Stim- men werden nicht gezählt .“ Hier ist ausdrücklich die Möglichkeit hingestellt, daß ein Staat entweder gar nicht sich vertreten läßt oder daß er seinen Vertreter im einzelnen Falle nicht instruirt, also sein Stimmrecht nicht aus- übt. Es ist auch die Rechtsfolge eines solchen Verhaltens bestimmt normirt. Sie besteht nicht darin, daß der Einzelstaat vom Reiche angehalten werden könnte, seine Stimme abzugeben; sondern darin daß der Staat, welcher auf die Ausübung seines Stimmrechts verzichtet, bei der Beschlußfassung des Bundesraths unberücksichtigt bleibt Auch Fürst Bismarck hat bei der Verhandlung über den Waldeck’- schen Accessions-Vertrag im Preuß. Abgeordneten-Hause am 11. Dezember 1867 (Stenogr. Berichte I. S. 341) anerkannt, daß es dem Fürsten von Waldeck völlig frei stehe, die ihm zustehende Stimme im Bundesrath ruhen zu lassen. . Im Zusammenhange damit steht der Grundsatz, daß zur Beschlußfähigkeit des Bundesrathes keine bestimmte Anzahl von Stimmen erforderlich ist In der Reichsverfassung dadurch anerkannt, daß im Gegensatz zu den Bestimmungen über den Reichstag für die Bundesrathsbeschlüsse kein Minimum der Stimmenzahl angeordnet ist. v. Rönne S. 149. Westerkamp S. 100. Seydel S. 105. . Damit entfällt das rechtliche Interesse des Reiches daran, daß die Einzelstaaten von ihren Mitgliedschaftsrechten im Bundesrath Gebrauch machen. Der Bundesrath, als ein unentbehrliches Organ des Reiches, dessen Funktionen es nicht missen kann, wird in seiner Thätigkeit dadurch nicht gehemmt, daß ein oder einige Einzelstaaten ihr Stimmrecht nicht ausüben. 2) Die Theilnahme an dem Bundesrath wird Seitens der Einzelstaaten ausgeübt durch Geschäftsträger, welche die R.-V. in demselben Art. 6 als „Vertreter“ und „Bevollmächtigte“ be- zeichnet. Beide Ausdrücke bedeuten dasselbe; sie beziehen sich auf den Gegensatz zu den an Aufträge und Instruktionen nicht gebun- denen Reichstags-Abgeordneten. In der Abstimmung des Bevoll- mächtigten kommt nicht sein subjectiver Wille, auch nicht die per- §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. sönliche Ansicht seines Landesherrn, sondern der staatliche Wille des Bundesgliedes zum Ausdrucke Fürst Bismarck charakterisirte in seiner berühmten Rede im Reichs- tage vom 19. April 1871 die Stimmen im Bundesrathe in folgender Art: „Nach der Erfurter Verfassung stimmte im Staatenhause nicht der Staat, sondern das Individuum; es war Jemand ernannt worden (ich weiß nicht, ob auf Lebenszeit oder limitirt), aber er stimmte nicht nach Instruktionen, sondern nach seiner Ueberzeugung. So leicht wiegen die Stimmen im Bun- desrathe nicht; da stimmt nicht der Freiherr v. Friesen, sondern das König- reich Sachsen stimmt durch ihn, nach seiner Instruktion giebt er ein Votum ab, was sorgfältig destillirt ist aus all den Kräften, die zum öffentlichen Leben in Sachsen mitwirken. In dem Votum ist die Diagonale aller der Kräfte, die in Sachsen thätig sind, um das Staatswesen zu bilden. — — — Analog ist es in den Hansestädten, in den republikanischen Gliedern; es ist das ganze Gewicht einer reichen, großen, mächtigen, intelligenten Handelsstadt, was sich Ihnen in dem Votum der Stadt Hamburg im Bundesrath darstellt, und nicht das Votum eines Hamburgers, der nach seiner persönlichen Ueberzeugung so oder so votiren kann. Die Vota im Bundesrath nehmen für sich die Achtung in Anspruch, die man dem gesammten Staatswesen eines der Bundesglieder schuldig ist.“ . Hieraus ergeben sich folgende Sätze: a ) Da nicht die einzelnen Bevollmächtigten als Individuen, sondern die Staaten im Bundesrathe Stimmen haben, so kann jedes Mitglied des Reiches, welches mehrere Stimmen im Bundes- rath führt, die Gesammtheit der zuständigen Stimmen nur ein- heitlich abgeben. Es ist dies im Art. 6 der R.-V. besonders aus- gesprochen; versteht sich aber von selbst, da es vernunftwidrig ist, daß ein Staat gleichzeitig zwei oder mehr sich widersprechende Willen habe. b ) Die Anzahl der Stimmen, welche ein Staat im Bundes- rath führt, ist ganz unabhängig von der Anzahl der Bevollmäch- tigten, welche als seine Vertreter an der Bundesrathssitzung Theil nehmen. Nach Ausweis der Protokolle des Bundesrathes ist die Anzahl der Personen, welche an den Sitzungen Theil nehmen, sehr viel geringer als die Anzahl der Stimmen, welche im Bundesrath geführt werden; indem von den größeren Staaten in der Regel nur ein oder zwei Bevollmächtigte anwesend sind und die kleineren sehr häufig durch einen, mit Substitutions-Vollmacht versehenen Vertreter eines anderen Bundesgliedes ihre Stimmen abgeben. Für die Berathung und Discussion ist dies unter Umständen von §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. Belang, für die Abstimmung ist es völlig unerheblich Nehmen mehrere Vertreter desselben Staates an der Bundesrathssitzung Theil, so ist einer von ihnen mit der Stimmführung betraut; führt ein Mit- glied des Bundesrathes die Stimmen mehrerer Staaten, so giebt er das Vo- tum jedes Staates besonders ab. ; denn nicht die Bevollmächtigten, sondern die Staaten stimmen ab. c ) Aus der Stellung, welche den Bundesraths-Bevollmäch- tigten zukömmt, ergiebt sich ferner der im Art. 9 der Verfassung ausgesprochene Satz, daß Niemand gleichzeitig Mitglied des Bun- desrathes und des Reichstages sein kann. Denn derjenige, welcher beiden Körperschaften angehört, müßte als Mitglied des Bundes- rathes nach der ihm ertheilten Instruktion, als Mitglied des Reichstages nach freier persönlicher Ueberzeugung stimmen. Es könnte daher Jemand, der beiden Körperschaften angehört, in die Lage kommen, im Reichstage diejenige Maßregel zu bekämpfen, welcher er im Bundesrathe zugestimmt hat, und umgekehrt. Dagegen steht es jedem Mitgliede des Bundesrathes frei, im Reichstage die Ansichten seiner Regierung zu vertreten und zwar auch dann, wenn dieselben von der Majorität des Bun- desrathes nicht adoptirt worden sind. R.-Verf. Art. 9. d ) Die Mitglieder des Bundesrathes sind nicht Beamte des Reiches. Sie beziehen aus Reichsmitteln keinen Gehalt; sie sind nicht der Disciplinargewalt des Reiches unterworfen; sie können für ihre Abstimmungen und ihre anderweitige Thätigkeit im Bun- desrathe weder vom Bundesrathe selbst noch vom Kaiser oder vom Reichstage in irgend einer Form zur Rechenschaft gezogen werden. Sie sind vielmehr bevollmächtigte Geschäftsträger der Einzelstaaten. Eine indirecte Anerkennung hat dieser, aus der Natur des Bun- desrathes sich ergebende Satz in der R.-V. Art 10 gefunden: „Dem Kaiser liegt es ob, den Mitgliedern des Bundes- rathes den üblichen diplomatischen Schutz zu ge- währen.“ Dadurch ist ihnen und dem zu ihrer Hülfe ihnen beigegebenen Personal, soweit sie nicht Preußische Staatsangehörige sind, die Exterritorialität der Preußischen (Landes-) Staatsgewalt gegenüber gewährleistet Was in Folge der Reichsangehörigkeit von geringer praktischer Bedeu- tung ist, abgesehen von der Exemtion von direkten Steuern. und ihnen der Genuß derjenigen Vorrechte zuge- §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. sichert, welche nach der Uebung des Völkerrechts diplomatischen Geschäftsträgern zukommen Thudichum Verf.-Recht S. 106. Seydel Comment. S. 111. v. Mohl S. 276. . e ) Dagegen ist der Bundesraths-Bevollmächtigte Mandatar und in der Regel auch Beamter des Einzelstaates, welchen er vertritt. Er ist daher seiner Regierung verantwortlich dafür, daß er seinen Instruktionen gemäß gestimmt habe; nicht minder aber für seine anderweitige amtliche Thätigkeit, namentlich für die ihm obliegende Bericht-Erstattung an die Regierung über die Vorgänge am Bundesrathe. Wenn der Bevollmächtigte — was die Regel ist — zugleich Beamter des von ihm vertretenen Staates ist, so bestimmt sich seine Verantwortlichkeit nach dem, in diesem Staate geltenden Beamten- gesetz v. Mohl S. 277 fg. ; er ist ferner der Disciplinargewalt seiner Regierung unter- worfen und er bezieht aus den Mitteln des Einzelstaates seinen Gehalt. f ) Da die Anzahl der Bevollmächtigten weder das Stimmen- verhältniß im Bundesrath noch die Finanzen des Reiches berührt, so ist es prinzipiell den Einzelstaaten überlassen, wie viele Be- vollmächtigte zum Bundesrathe sie ernennen wollen. Da aber eine unbegränzte Anzahl von Bevollmächtigten eine große Belästigung und Erschwerung des Geschäftsganges herbeiführen könnte, so hat die R.-V. Art. 6 Abs. 2 ein Maximum festgesetzt durch die Bestim- mung: „Jedes Mitglied des Bundes kann „kann“, nicht „muß“. so viel Bevollmächtigte zum Bundesrathe ernennen, wie es Stimmen hat.“ Ueberdies steht es jedem Bundesstaate frei, Stellvertreter für die Bevollmächtigten zum Bundesrathe zu ernennen. 3) Die Ertheilung der Instruktion an die Bevollmächtigten ist ein Regierungs-Geschäft des Einzelstaates und steht unter den Regeln des Landesstaatsrechts Vgl. oben §. 9 S. 90 fg. . Daß bei der Instruktionsertheilung die Gesammt-Interessen des Reiches berücksichtigt werden, ist eine patriotische Pflicht, ja eine politische Nothwendigkeit; rechtlich ist es aber jedem Staate Laband , Reichsstaatsrecht. I. 16 §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. unverwehrt, sein egoistisches, partikuläres Interesse dabei allein im Auge zu behalten. Der Minister, welcher die Instruktion ertheilt oder gegenge- zeichnet hat, ist für diese Regierungshandlung nach Maaßgabe des öffentlichen Rechts seines Staates verantwortlich Siehe oben S. 91 Note 1. . Man kann es daher auch nicht für unzulässig erachten, wenn in einer beson- ders wichtigen und das Interesse eines einzelnen Staates in hohem Grade berührenden Angelegenheit die Regierung dieses Staates dadurch ihre Verantwortlichkeit zu erleichtern, und sich zu decken sucht, daß sie vor Ertheilung der Instruktion an den Bundesraths- Bevollmächtigten die Ansicht des Landtages einholt und im Einver- ständniß mit demselben ihr Verhalten im Bundesrath bestimmt. Ja es kann dies unter Umständen für eine Regierung eine poli- tische oder auch rechtliche Pflicht sein; jedenfalls steht das Reichs- recht in keiner Weise dem entgegen, daß in den einzelnen Staaten die Regierungen wichtige Staatsgeschäfte, zu denen die Ertheilung der Instruktionen an die Bundesraths-Bevollmächtigten gehören kann, nur in Uebereinstimmung mit der Volksvertretung vornehmen. Hiernach beantwortet sich auch die mehrfach erörterte Frage, ob es zulässig ist, daß durch ein partikuläres Staatsgesetz die In- struirung des Bundesraths-Bevollmächtigten von der vorgängigen Zustimmung des Landtages abhängig gemacht werde. Die Reichsverfassung selbst bestimmt darüber Nichts. Sie begnügt sich mit der Abstimmung des Bevollmächtigten im Bundes- rath, ohne die materiellen Voraussetzungen zu berühren, unter wel- chen der Bevollmächtigte zur Abgabe seiner Stimme befugt sei. Das Reich ist weder berechtigt noch verpflichtet zu prüfen, ob die Instruktion dem Staatsrecht des Einzelstaates gemäß ertheilt oder dem politischen Interesse desselben entsprechend sei. Ganz unrichtig aber ist das argumentum a contrario, daß, weil das Reich über die materiellen Erfordernisse einer rechtsgültigen Instruktion keine Vorschriften aufstellt und sich überhaupt um dieselben nicht be- kümmert, es den Einzelstaaten untersagt sei, für die Instruktions- Ertheilung materielle Bedingungen aufzustellen und insbesondere eine Mitwirkung der Landtage anzuordnen Dies ist die Beweisführung Seydel ’s Comment. S. 97. 270. Vgl. auch Hänel Studien I. S. 219. . Die Reichsverfas- §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. sung normirt lediglich die Abstimmung im Bundesrathe, aber mit keinem Worte die Instruktionsertheilung, welche res interna jedes einzelnen Staates ist. Sie enthält daher auch weder ausdrücklich noch stillschweigend den Grundsatz, daß die Ertheilung der In- struktion an die Bevollmächtigten ausschließlich den Landesherren, beziehentlich den Staatsregierungen zustehen müsse. Die ganze Frage hat übrigens, abgesehen von der Aufhebung von Individualrechten von Bundesgliedern, ein lediglich theoreti- sches Interesse. Praktisch dürfte es wohl nicht leicht sich ereignen, daß ein Staat ein Gesetz erließe, welches dem Landtage eine Mitwirkung bei der Instruktion der Bevollmächtigten einräumte. Denn abgesehen davon, daß die Landesherren kaum geneigt sein werden, ein so wichtiges Regierungsrecht aufzuopfern, würde das Gesetz keine andere Wirkung haben, als daß der Staat sein Stimm- recht im Bundesrathe in allen Fällen einbüßen würde, in denen es unthunlich ist, den Landtag vorher zu befragen, oder in denen die Regierung dem Votum des Landtages nicht beipflichten könnte. Der Bevollmächtigte des Staates wäre dann nicht instruirt und die Stimme desselben würde bei der Beschlußfassung des Bundes- rathes einfach nicht gezählt werden. Ein solches Gesetz würde nicht den Einfluß des Landtages des Einzelstaates auf die Wil- lensentschlüsse des Reiches erhöhen, sondern den Einfluß des Ein- zelstaates auf die Bundesraths-Beschlüsse überhaupt vernichten; der gegen die Regierung geführte Streich träfe den Staat . Auch ist nicht zu verkennen, daß auch aus anderen politischen Gründen ein solches Gesetz verwerflich wäre, da das Volk in seiner Gesammtheit durch den Reichstag eine Vertretung erhalten hat, neben welcher die Volksvertretungen der einzelnen Staaten zurück- treten müssen. Anders verhält es sich bei der Aufopferung von Sonderrech- ten oder der Uebernahme besonderer Lasten und Beschränkungen, überhaupt bei Beschlüssen des Bundesrathes, welche nur „mit Zu- stimmung“ eines einzelnen Staates gefaßt werden können. Da hier eine positive Erklärung des betreffenden Staates erforderlich ist, kann der Beschluß des Bundesrathes nicht rechtswirksam ge- faßt werden, so lange der Bevollmächtigte nicht in der Lage ist, die zustimmende Erklärung abzugeben. Eine landesgesetzliche Vor- schrift, daß die Regierung ohne Genehmigung des Landtages nicht 16* §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. befugt sei, ihren Bevollmächtigten im Bundesrathe zu instruiren, der Aufhebung von Sonderrechten zuzustimmen, würde daher von praktischem Erfolge sein und eine Erschwerung der reichsgesetzlichen Aufhebung der Sonderrechte bilden Vgl. oben S. 120 fg. . 4) Die Ausübung der den Einzelstaaten zustehenden Rechte im Bundesstaate bedarf noch nach einer anderen Richtung einer näheren juristischen Bestimmung. Die Bundesraths-Mitglieder sind „Vertreter“ der Einzelstaaten, „Bevollmächtigte“ derselben. In der rechtswissenschaftlichen Literatur herrschte bis in die neuere Zeit eine verwirrende Identifizirung von Vollmacht und Mandat oder Auftrag. Erst seit verhältnißmäßig kurzer Zeit ist auf dem Gebiete des Civilrechts, namentlich des Handelsrechts, der Gegen- satz beider Begriffe scharf festgestellt worden. Die Vollmacht oder Vertretung bezieht sich auf das Verhältniß zu Dritten, auf die Fähigkeit des Stellvertreters, Willenserklärungen mit rechtlicher Wirkung für den Principal abzugeben; der Auftrag betrifft die innere Seite, das Rechtsverhältniß des Mandatars zum Auftrag- geber; die Uebernahme des Auftrags begründet die Pflicht des Beauftragten, für den Auftraggeber und seinem Willen gemäß Rechtsgeschäfte zu erledigen. In der Stellung der Bundesraths-Bevollmächtigten sind eben- falls diese beiden Rechtsbeziehungen zu unterscheiden. Dem Reiche und den übrigen Bundesgliedern gegenüber kommt die Vollmacht und nur sie allein in Betracht; gegenüber dem Heimathsstaate der Auftrag. Die Vertretungsbefugniß oder Vollmacht ist lediglich die formelle Ermächtigung, daß der Bevollmächtigte die Stimme des Staates im Bundesrath führen soll, ohne darüber Auskunft zu geben, wie er sie abgeben soll; der Auftrag kann nicht blos dahin gehen, wie der Bevollmächtigte stimmen soll, sondern auch, daß er nicht stimmen, sich der Abstimmung enthalten soll. Es ergeben sich aus dieser Unterscheidung folgende Rechtssätze: a ) Der Bundesrath hat das Recht und die Pflicht, die Voll- macht oder Legitimation seiner Mitglieder zu prüfen v. Pözl S. 112 Note 1. v. Rönne S. 149. . Diese Prüfung erstreckt sich in der Regel nur darauf, daß in einer for- mell ordnungsmäßigen Urkunde die Vertretung des Staates im §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. Bundesrathe und die Führung der Stimmen Demjenigen über- tragen worden ist, welcher sich als Bevollmächtigter des Staates gerirt. Sie kann aber auch darauf sich erstrecken, ob die Voll- macht von dem befugten Vertreter des Staates ausgestellt ist. Falls in einem Bundesstaate etwa mehrere Prätendenten um den Thron streiten oder wenn ein Usurpator desselben sich bemächtigt hat, so kann der Bundesrath die sich meldenden Vertreter dieses Staates entweder sämmtlich zurückweisen wegen nicht gehörig er- folgter Legitimation oder einen von ihnen zulassen und dadurch implicite den Vollmachtsgeber desselben als den zur Vertretung des Staates befugten Landesherrn anerkennen Siehe unten §. 29. . Der Reichskanzler als der Vorsitzende des Bundesrathes und Minister des Kaisers prüft die Vollmacht der Bundesrathsmitglie- der, soweit diese Prüfung nicht materielle Rechtsfragen, sondern nur die formelle Legitimation betrifft, und bringt die Ernennungen der Bundesraths-Bevollmächtigten durch das Reichsgesetzblatt zur öffentlichen Kenntniß. b ) Der Bundesrath hat weder die Pflicht noch das Recht, den Auftrag oder die Instruktion seiner Mitglieder zu prü- fen Thudichum Verf.-R. S. 102. Seydel S. 97. Westerkamp S. 98. v. Mohl S. 253. . Er hat nicht darüber zu wachen, daß die Bevollmächtigten ihrer Instruktion gemäß stimmen und es hat auf die Wirkung der Abstimmung gar keinen Einfluß, falls sich etwa herausstellen sollte, daß ein Bevollmächtigter ohne Instruktion oder gar gegen die ihm ertheilte Instruktion gestimmt habe Dadurch wird natürlich nicht ausgeschlossen, daß der Bundesrath nicht aus einem solchen Vorgange Veranlassung nehmen könnte, den gefaßten Be- schluß aus freien Stücken wieder aufzuheben, wofern dies nicht aus andern Gründen unmöglich ist. v. Rönne S. 149. 150. v. Mohl S. 254. . Die Abstimmnng ist ein Formal-Akt , dessen rechtsverbindliche Kraft theils auf der Voll- macht theils auf der geschäftsordnungs mäßigen Behandlung der Angelegenheit beruht, dessen Rechtswirksamkeit aber von den Motiven der Abstimmung gelöst und ihnen gegenüber selbstständig ist. Die Instruktion erscheint lediglich als ein Motiv für die Abstim- mung und es ist daher für die Rechtswirksamkeit der letzteren un- §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. erheblich, ob die Abstimmung, so wie sie erfolgt ist, wirklich durch die erhaltene Instruktion gerechtfertigt erscheint oder nicht Dies gilt auch von der im Bundesrath erklärten Zustimmung zur Auf- hebung von Sonderrechten. Siehe oben S. 119—121. . 5) Der Antheil der einzelnen Staaten an der, dem Bundes- rathe zugewiesenen Thätigkeit erstreckt sich gleichmäßig für alle Staaten auf die gesammte, dem Bundesrath zustehende Kompetenz. Auch wenn ein Beschluß des Bundesrathes, sei es über eine Ge- setzesvorlage, sei es über eine Einrichtung oder eine Verwaltungs- maaßregel, thatsächlich nur einen Theil des Bundesgebietes oder der Bundesglieder betrifft, so ist doch die Gesammtheit aller Staaten berechtigt, an der Beschlußfassung Theil zu nehmen. Denn es handelt sich auch bei solchen Angelegenheiten um das Interesse des Reiches als eines Ganzen, nicht um das zufällig gemeinsame Interesse einiger Bundesglieder. Dieses Princip erleidet jedoch eine Modifikation in Folge der, den Süddeutschen Staaten zugestandenen Reservatrechte. Insoweit das Reich von der Ausübung einzelner Hoheitsrechte in den Süd- deutschen Staaten ausgeschlossen ist, sind auch die Süddeutschen Staaten von der Theilnahme an dieser Ausübung ausgeschlossen. Die Beschränkung der Reichsgewalt einzelnen Mitgliedern gegen- über hat ihr Correlat in der Beschränkung des Antheils dieser Mitglieder an der Reichsgewalt. Die R.-V. gibt diesem Gedanken in Art. 7 Abs. 4. einen Ausdruck durch die Bestimmung: „Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur der- jenigen Bundesstaaten gezählt, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist Vgl. hierüber Thudichum in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 23. .“ Die Beschränkung des Stimmrechts tritt nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung nur ein bei denjenigen Angelegen- heiten, welche nach der Verfassung nicht gemeinschaftlich sind; dagegen nicht bei Bundesraths-Beschlüssen, welche sich thatsächlich nur auf einen Theil des Bundesgebietes oder der Bundes-Mit- glieder beschränken, oder welche sich auf Reichsgesetze beziehen, welche nicht für das ganze Bundesgebiet erlassen worden sind Vgl. Staatsmin. Delbrück im II. Außerordentl. Reichstage 1870. . §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. Ausgeschlossen ist demgemäß das Stimmrecht Bayerns, Württembergs und Badens in allen , die Branntwein- und Bier- steuer betreffenden Angelegenheiten (R.-V. Art. 35. 38.), das Stimmrecht Bayerns und Württembergs in denjenigen Angelegen- heiten, welche die Verwaltung der Reichs-Post- und Telegraphen- Anstalt betreffen (R. V. Art. 52), das Stimmrechts Bayerns in Angelegenheiten, welche die Beaufsichtigung und Gesetzgebung des Reiches über die Heimaths- und Niederlassungsverhältnisse angehen (R.-V. Art 4 Nro 1), und welche zu den, dem Reiche in den Art. 42—46 Abs. 1 der R.-V. eingeräumten Hoheitsrechten hin- sichtlich des Eisenbahnwesens gehören. Nichtausgeschlossen ist das Stimmrecht Hamburgs und Bremens in Zoll- und Steuer-Angelegenheiten; denn abgesehen davon, daß Gebietstheile des Hamburger Staates in das Zoll- Gebiet eingeschlossen sind, entrichten diese Staaten an Stelle der indirekten Steuern Aversa an das Reich Staatsmin. Delbrück a. a. O. S. 123. und haben nach Art. 35 der R.-V. die Autonomie über das gesammte Zollwesen und die in diesem Artikel aufgeführten Steuern verloren. Ebensowenig ist das Stimmrecht Bayerns in Angelegenheiten der Heeresver- waltung ausgeschlossen, da der vom Reiche aufgestellte Militär- Etat auch die, für das Bayerische Contingent zu verwendenden Geldbeträge, wenngleich in einer Gesammtsumme, festsetzt und für die Verwendung dieser Geldsumme die Ansätze des Reichsetats zur Richtschnur dienen Staatsmin. Delbrück a. a. O. S. 122. , und weil auch im Uebrigen Bayern ver- pflichtet ist, in Bezug auf Organisation, Formation, Ausbildung und Gebühren und hinsichtlich der Mobilmachung volle Ueberein- stimmung mit den für das Bundesheer bestehenden Normen her- zustellen Bayer. Bündniß-Vertrag III. §. 5 sub III. Abs. 2. (R.-G.-Bl. 1871 S. 20.) . Stenogr. Ber. S. 125. — Völlig unrichtig ist die von Seydel Comment. S. 105 aus Art. 7 Abs. 4 gezogene Folgerung: „Wo daher die Gemeinsam- keit der Angelegenheit für das einzelne Bundesglied aufhört, hört auch der Bundesrath auf Organ für Wahrnehmung der Interessen dieses Bundesgliedes zu sein.“ Nicht die Gemeinsamkeit des Interesses, sondern die verfassungs- mäßige Kompetenz des Reiches ist maßgebend. §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. III. Dadurch, daß in dem Bundesrathe die einzelnen deut- schen Staaten als Individuen zur Geltung kommen und die Bun- desraths-Mitglieder die Stellung von bevollmächtigten Geschäfts- trägern der Regierungen der Bundesstaaten haben, ergibt sich, daß der Bundesrath den Gliedern des Reiches sehr wesentliche Dienste als Communikations-Mittel zu leisten vermag. Die deutschen Regierungen müssen unter einander in fortwähren- dem Meinungs-Austausche stehen; sie müssen über alle Fragen des Staatslebens, welche in die Kompetenz der Reichsgewalt ein- schlagen oder Gesammt-Interessen des Reiches berühren, ihre An- sichten und Absichten sich gegenseitig mittheilen. Nur dadurch kann es verhütet werden, daß einzelne Staaten oder Staatengruppen eine Sonderpolitik treiben, daß Meinungsdifferenzen zu Conflikten ausarten, daß unter den Regierungen Mißtrauen und Verdächti- gungen aufkommen und daß der Zwang der Majoritäten-Tyrannei an die Stelle aufrichtiger Verständigung und freudigen Zusam- menwirkens tritt. In dieser Beziehung ist der Bundesrath, was die ehemalige Bundesversammlung hätte sein sollen, ein zweck- mäßiger Ersatz für eine unübersehbare Menge von Cirkular- depeschen und identischen Noten, welche jede Bundesregierung an alle übrigen in jeder schwebenden Angelegenheit richten müßte. Das Bundesraths-Mitglied ist das Sprachrohr, durch welches jede Regierung gleichzeitig zu allen übrigen spricht und zugleich das Hörrohr, durch welches sie die Erklärungen aller übrigen ver- nimmt Hierauf beruht es, daß, obwohl rechtlich der Bevollmächtigte nach der, von seiner Regierung ihm ertheilten Instruktion zu stimmen hat, thatsäch- lich er durch seine Berichte die Entschließungen seiner Regierung beeinflussen kann, so daß er mehr seine Regierung instruirt, als er von ihr instruirt wird. . In einer speziellen Richtung hat diese Fähigkeit des Bundes- rathes, den Regierungen als Communikations-Mittel zu dienen, eine Verwerthung und verfassungsmäßige Regelung gefunden, durch die Bildung des Bundesraths-Ausschusses für die aus- wärtigen Angelegenheiten . Dieser Ausschuß ist geschaffen worden durch den Bayerischen Vertrag v. 23 Nov. 1870 Art. II §. 6, und sollte nach demselben aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg unter dem Vorsitze Bayerns bestehen. Bei der Re- §. 28. Die Staatenrechte im Bundesrathe. daktion der Reichsverfassung wurde er aber verstärkt durch zwei, vom Bundesrathe alljährlich zu wählende Bevollmächtigte anderer Bundesstaaten In den Motiven ( I. Sess. 1871 Drucks. 4) wird darüber bemerkt, daß diese Bestimmung auf den Wunsch mehrerer Bundesstaaten unter voller Zustimmung der beiden Kontrahenten des Vertrages vom 23. November ge- troffen worden sei. . Dieser Ausschuß ist durchaus verschieden von den übrigen, durch die Norddeutsche Bundesverfassung bereits vorgesehenen Bun- desraths-Ausschüssen und entspricht einer ganz anderen Funktion des Bundesrathes wie die letzteren, obwohl er im Art. 8 der R.-V. neben denselben Platz gefunden hat. In allen, den übrigen Aus- schüssen zugewiesenen Funktionen erscheint der Bundesrath durchweg als ein Willensorgan des Reiches , als ein Theil des Regierungs- Apparates des Reiches; in dem Ausschusse für die auswärtigen Angelegenheiten dagegen als ein Communikations-Mittel der Einzel- staaten . Dieser Ausschuß hat Nichts zu thun mit der Instruirung der diplomatischen Geschäftsträger, mit dem Abschluß internationaler Verträge, mit der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten; er kann nicht Namens des Reiches wollen oder handeln, beschließen oder verfügen oder Beschlüsse des Bundesrathes in auswärtigen Angelegenheiten vorbereiten. Er ist nur dazu da, um Mittheilun- gen über die auswärtigen Beziehungen des Reiches zu empfangen und die Ansichten der Einzel-Regierungen über diese Mittheilun- gen auszutauschen; er dient lediglich zur Information der Bun- desregierungen über den Stand der auswärtigen Politik und zur Discussion dieser Politik, ihrer Zielpunkte und Wege Staatsmin. Delbrück im Nordd. Reichst. 1870. II. Aufl. Session. Sten. Ber. S. 140. . Daraus erklärt es sich, daß in diesem Ausschusse und zwar nur in diesem, Preußen nicht vertreten ist, da eine Informirung des Kaisers über den Stand der auswärtigen Politik, deren oberste Leitung ihm selbst zusteht, widersinnig wäre Es ist im Nordd. Reichstage bei der Diskussion über den Bayerischen Vertrag von dem Abgeordneten Lasker die Frage angeregt worden, ob der Vorsitzende dieses Ausschusses berechtigt sei, ihn außerhalb Berlins zusam- mentreten zu lassen. Darauf erwiederte Staatsminister Delbrück , er glaube daß aus der Verf. selbst unzweifelhaft folge, daß der Ausschuß einer Körper- schaft, deren Berufung dem Präsidium zusteht, nur an dem Orte tagen kann, . §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. Dieser Ausschuß bildet aber keineswegs ein Hinderniß, daß nicht auch dem Plenum des Bundesrathes unmittelbar Mittheilun- gen über die auswärtigen Angelegenheiten des Reiches gemacht werden, wie dies bereits vor Bildung dieses Ausschusses wieder- holt geschehen ist Vgl. z. B. Protokolle des Bundesrathes von 1871 §. 52. 93. 121. . §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. Ein völlig anderes Bild gewährt die Institution des Bundes- rathes, wenn man denselben als Ganzes betrachtet. Das Recht des Einzelstaates consumirt sich durch die im Bundesrath erfolgte Abstimmung; nur bis zu diesem Moment erscheint die Individua- lität des einzelnen Staates als maaßgebend Nicht im Widerspruch hiermit steht die Bestimmung des Art. 9 der R.-V., daß jedes Mitglied des Bundesrathes das Recht hat, im Reichstage die Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn dieselben von der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden sind. Denn überall, wo zu einem Willensact des Reiches die Zustimmung des Reichstages erfor- derlich ist, hat die Beschlußfassung des Bundesrathes über die zu machende Vorlage nur die Bedeutung eines präparatorischen Actes. . Sobald der Bun- desrath einen Beschluß gefaßt hat oder sofern er in irgend einer Beziehung als Einheit, als Gesammtheit rechtlich in Betracht kommt, ist er ein Willens- und Handlungs-Organ des Reiches, übt er die souveräne, über den Einzstaaten stehende Reichsgewalt aus. Ein Bundesraths-Beschluß entsteht zwar durch die Willens-Entschlüsse der einzelnen Staaten, aber er ist nicht eine übereinstimmende Willenserklärung der letzteren oder der Majorität derselben, son- wo die Körperschaft selbst tagt. (Stenogr. Ber. a. a. O. S. 141.) „Unzwei- felhaft“ dürfte dies wohl nicht sein. Dagegen ergiebt sich aus der thatsäch- lichen Bedeutung dieses Ausschusses, daß er an keinem Orte Informationen über die auswärtige Politik des Reiches erhalten kann, als da, wo der Reichs- kanzler in der Lage und Willens ist, ihm dieselbe zu geben und daß ebenso wenig eine Diskussion dieser Politik in Abwesenheit des Reichskanzlers auf denselben Eindruck zu machen im Stande ist. Daß aber gerade nur Berlin der Versammlungsort dieses Ausschusses sein könne, läßt sich schwerlich behaup- ten. Was hätte z. B. im Wege gestanden, wenn ein solcher Ausschuß schon vor dem Ausbruch des französ. Krieges bestanden hätte, denselben nach Ems einzuberufen oder später nach Versailles? Im Allgemeinen besteht aber auch für den Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten die im §. 20 der Ge- schäfts-Ordnung des Bundesrathes ausgesprochene Regel, daß die Bundes- raths-Ausschüsse sich „am Sitze des Bundesrathes“ versammeln. §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. dern er ist die Willenserklärung eines selbstständigen, öffentlich rechtlichen Subjekts, welchem die staatliche Herrschaft über die Ein- zelstaaten zusteht, das aber durch die Gesammtheit der letzteren gebildet wird. Es mag hier nochmals daran erinnert werden, was oben S. 388 fg. bereits ausgeführt worden ist, daß dem Bundesrath nicht die Souveränetät zusteht, daß er nicht Subjekt der Reichsgewalt ist Das Verhältniß ist dasselbe wie bei privatrechtlichen Korporationen das Verhältniß der Beschlüsse der General-Versammlung zu den Abstimmungen und anderen Willensbethätigungen der einzelnen Mitglieder. . Er ist nur ein Organ, dessen sich dieses Subjekt zur Aus- übung gewisser Funktionen bedient. Sowie in diesem ideellen Subjekt die Personen der Mitglieder, aus denen es gebildet ist, als Individuen verschwinden, so erscheint auch der Bundesrath als Einheit, sobald er an der Ausübung der Reichsgewalt und an der Durchführung der dem Reiche obliegenden Aufgaben Antheil nimmt. Man kann daher auch nicht behaupten, die Souveränetät des Reiches sei zwischen Bundesrath und Kaiser getheilt. Die souveräne Gewalt ist untheilbar und weder dem Bundesrath noch dem Kaiser steht ein Theil derselben zu; sie gehört vielmehr ganz und vollständig der Gesammtheit der deutschen Staaten. Aber die Funktionen der Staatsthätigkeit, die Leistung der staatlichen Arbeit im Reich, die Handhabung der souveränen Gewalt auf verschiedenen Gebieten des staatlichen Lebens sind an mehrere Organe vertheilt und von dem Zusammenwirken derselben abhän- gig gemacht. Die Art dieser Vertheilung beruht oft mehr auf politischen Gründen und Zweckmäßigkeits-Erwägungen als auf juri- stischen Principien und logischen Consequenzen. Mit einer Defini- tion des Bundesrathes den Wirkungskreis desselben so zu bestim- men, daß Alles was ihm obliegt, eingeschlossen, und alles Andere ausgeschlossen ist, erweist sich als unmöglich. Wohl aber kann man die Stellung des Bundesrathes im Or- ganismus des Reiches näher bestimmen, namentlich im Gegensatz zu der Stellung des Kaisers. Schon aus den dem Kaiser zugewiesenen Funktionen ergibt sich, was für den Bundesrath übrig bleibt. Dem Kaiser steht zu: §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. die Vertretung nach Außen, die Führung der Regierungsgeschäfte, die Verwaltung der Machtmittel (Oberbefehl). Daraus folgt, daß der Schwerpunkt der dem Bundesrath zugewiesenen Thätigkeit in der Aufstellung der Rechtsregeln und der allgemeinen Verwaltungs- normen ruht. Der Bundesrath ist das Gesetzgebungs- organ des Reiches; seine Thätigkeit übt er aus theils unter Mitwirkung des Reichstages (Gesetze), theils selbstständig (Ver- ordnungen). Hierauf ist er aber allerdings nicht beschränkt, es steht ihm vielmehr bei den wichtigsten Verwaltungsgeschäften und Regie- rungshandlungen eine Mitwirkung zu. Der Bundesrath ist daher nicht blos Gesetzgebungs-Organ, sondern auch Verwaltungs- Organ des Reiches. In einzelnen Fällen ist er auch berufen, für die Aufrechthaltung der Rechts-Ordnung im Reiche mit- zuwirken. Aber es besteht zwischen diesen Aufgaben des Bundes- rathes eine große Verschiedenheit. Daß der Bundesrath die Ge- setze und Verordnungen beschließt, ist die Regel ; sollen für das Reich gültige Rechtsnormen ohne Beschlußfassung des Bundes- rathes zu Stande kommen, z. B. durch Allerh. Erlaß des Kaisers, so muß dies durch ein Gesetz besonders bestimmt sein. Da- gegen daß der Bundesrath eine Mitwirkung an den eigentlichen Regierungsgeschäften hat, ist die Ausnahme; die Mitwirkung des Bundesrathes und die daraus resultirende Beschränkung des Kaisers, beziehentlich des Reichskanzlers, erstreckt sich nur soweit, als sie durch gesetzliche Bestimmung angeordnet ist. Dadurch recht- fertigt sich die principielle Charakterisirung des Bundesrathes als des für die Gesetzgebung bestimmten Organs des Reiches Vgl. auch v. Martitz S. 52 fg. v. Gerber Grundzüge S. 248. Thudichum S. 107. . Wenn man die Stellung, welche der Kaiser im Reich ein- nimmt, vergleichen kann mit der Stellung des Vorstandes einer (privatrechtlichen) Korporation, so lassen sich die Funktionen des Bundesrathes vergleichen mit den Funktionen der Generalversamm- lung und des von ihr eingesetzten Ausschusses, des sogen. Ver- waltungsrathes. Der Bundesrath ist die Versammlung sämmtlicher Mitglieder des Reiches, resp. deren Bevollmächtigten, entspricht also dem Begriff der Generalversammlung; und wie regelmäßig §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. der letzteren die Beschlußfassung zusteht über alle Statuten-Aende- rungen, über den Wirthschaftsplan und die Rechnungslegung, und über alle wichtigen Unternehmungen und Geschäfte, so erstreckt sich auch die Kompetenz des Bundesrathes auf die Gesetzgebung, auf die Finanzwirthschaft des Reichs und auf wichtige Verwaltungs- akte, sowie auf den Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Man darf aber dieser Vergleichung des Bundesrathes mit der General-Ver- sammlung einer Korporation keine größere Bedeutung beilegen, als sie beansprucht, nämlich eines Mittels zur allgemeinen Charakte- risirung der staatsrechtlichen Stellung des Bundesrathes im Reich. I. Der Bundesrath als Organ der Gesetzgebung . Die Reichsverfassung weist diese Funktion dem Bundesrathe zu theils im Art. 5 theils im Art. 7. In dem zuerst erwähnten Artikel wird der allgemeine Grundsatz ausgesprochen: „Die Reichs- gesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrath und den Reichs- tag“; es werden demnach hier die Requisite eines Reichsgesetzes im formellen Wortsinne aufgeführt. Der Art. 7 dagegen behan- delt das Recht des Bundesrathes zur Gesetzgebung im materiellen Sinne, d. h. zur Aufstellung allgemeiner Normen, und er unter- scheidet demgemäß zwischen Gesetzen (im formellen Sinne) und Verordnungen. Er stellt 3 Kategorien von Gegenständen auf, welche der Beschlußfassung des Bundesrathes unterliegen, von denen die ersten beiden vollständig, die dritte wenigstens zum Theil die Aufstellung von Rechtssätzen berühren. Nach dem Art. 7 beschließt der Bundesrath: 1) über die dem Reichstage zu machenden Vorla- gen und die von demselben gefaßten Beschlüsse . Diese Kategorie fällt mit der Gesetzgebung im formellen Sinne zusammen, da zu einem „Gesetz“ die Uebereinstimmung von Bun- desrath und Reichstag gehört Diese Bestimmung reicht aber noch etwas weiter als die Gesetzgebung, indem auch die, dem Reichstage vorzulegenden Rechnungen, Berichte und dgl. der Beschlußfassung des Bundesraths unterliegen. Seydel S. 101. . 2) über die zur Ausführung der Reichsgesetze er- forderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen . §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. Hierdurch wird dem Bundesrathe die sogenannte Verord- nungs-Gewalt übertragen; d. h. er hat die Befugniß und Obliegenheit, die Verwaltungs-Verordnungen zur Ausführung der Reichsgesetze zu erlassen Thudichum in v. Holtzendorffs Jahrb. I. S. 22 Note 1 Seydel Commentar S. 102 und in Hirth’s Annalen 1874 S. 1143 fg. . Andere als Ausführungs-Verordnungen, Verordnungen mit interimistischer Gesetzeskraft oder Noth-Verordnun- gen kennt die Reichsverfassung nicht Ueber Elsaß-Lothringen siehe unten §. 54. . Die „allgemeinen“ Verwal- tungsvorschriften und Einrichtungen stehen im Gegensatz zu den „Verfügungen“ im einzelnen Falle, d. h. zu der Erledigung spezieller Verwaltungs- oder Regierungs-Geschäfte, welche Sache des Kaisers und der Reichsbehörden ist. Derartige Verfügungen werden aber auch Verordnungen genannt , namentlich wenn sie vom Kaiser selbst vollzogen werden. Der begriffliche Gegensatz beruht darin, daß die allgemeine, d. h. eigentliche, Verordnung die Aufstellung einer Regel, die Verfügung die Erledigung eines staatlichen Geschäftes ist, z. B. die Einberufung und Schließung der Sitzungen des Bundesrathes und Reichstages. Der Grundsatz, daß Administrativ-Verordnungen vom Bun- desrathe zu erlassen sind, gestattet aber Ausnahmen v. Rönne S. 159 freilich kehrt das Verhältniß gradezu um und be- ruft sich dafür (Note 7) ganz naiv auf Art. 7 Nr. 2 der R.-V. . Der Art. 7 fügt daher der Nro. 2 die Clausel zu: „ sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist .“ Dieses Andere kann darin bestehen: a ) daß die Zustimmung des Reichstages vorbehalten, also ein Reichsgesetz erforderlich ist; b ) daß dem Kaiser der Erlaß der Ausführungsverordnung übertragen wird; c ) daß der Reichskanzler oder eine andere Reichsbe- hörde die erforderlichen Vorschriften erlassen soll; d ) daß die Einzelstaaten die zur Ausführung der Reichs- gesetze nothwendigen Anordnungen zu treffen haben. Im Allgemeinen hat die Reichsgesetzgebung an dem Grund- satz festgehalten, daß Ausführungs-Verordnungen und überhaupt allgemeine Regeln für die Verwaltung vom Bundesrathe zu er- §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. lassen sind; dessen ungeachtet enthält die Reichsgesetzgebung für jede der 4 angegebenen Abweichungen von der Regel des Art. 7 Ziff. 2 nicht wenige Anwendungsfälle, welche in ihrem sachlichen Zusammenhange bei der Darstellung der einzelnen Verwaltungs- zweige zur Erörterung gelangen werden. II. Der Bundesrath als Organ der Verwaltung . Der Bundesrath ist nicht in dem Sinne eine Verwaltungs- behörde des Reiches, daß er selbstständig Verfügungen erlassen und ihre Ausführung unmittelbar erzwingen könnte. Die thatsächliche Durchführung aller Verwaltungsmaaßregeln des Reiches ist viel- mehr Sache des Kaisers und der von ihm ernannten Behörden. Eine materielle Betheiligung des Bundesrathes an der Führung der Verwaltung des Reiches findet aber statt entweder in der Form, daß für einen Verwaltungsact der Weg der Gesetzgebung vorgeschrieben ist, z. B. zur Aufnahme einer Anleihe, oder in der Art, daß der Kaiser zu einer von ihm vorzunehmenden Regierungs- handlung der Zustimmung des Bundesrathes bedarf, oder sie einem Beschluß des Bundesrathes gemäß vornehmen muß. Die Fälle, in denen dem Bundesrathe in dieser Art ein An- theil an der Verwaltung eingeräumt ist, können durch jedes neue Gesetz von Jahr zu Jahr sich vermehren oder verändern. Eine prinzipielle, aus dem Wesen des Bundesrathes logisch abzuleitende Abgränzung derselben, giebt es nicht. Andererseits braucht man sich aber nicht darauf zu beschränken, einen bloßen Katalog dieser Fälle, wie er sich aus dem Wort- und Sachregister des Reichs- gesetzblattes ergiebt, zusammenzustellen; sondern es ist eine Grup- pirung der dem Bundesrathe zugewiesenen Verwaltungs-Funktionen nach allgemeineren Gesichtspunkten möglich. 1) Die weitreichendste Bedeutung hat in dieser Richtung die in der R.-V. Art. 7 unter Z. 3 enthaltene Bestimmung. Den beiden bereits erwähnten Kategorien von Gegenständen, welche der Beschlußfassung des Bundesrathes unterliegen, wird als dritte hin- zugefügt: Der Bundesrath beschließt über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der vorstehend erwähnten Vorschriften oder Einrichtungen hervortreten . Der Sinn dieser Bestimmung ist wegen der sehr schlechten §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. Fassung derselben schwer zu ermitteln. In den beiden ersten Kate- gorien des Art. 7 ist das Object des Beschlusses angegeben, die an den Reichstag zu bringende Vorlage oder die Genehmigung oder Verwerfung des vom Reichstage gefaßten Beschlusses und die zu erlassende Administrativ-Verordnung; bei der dritten Kategorie ist das Motiv oder die Veranlassung des Beschlusses hervorge- hoben. Denn der Bundesrath beschließt nicht die Mängel, welche hervortreten, sondern er faßt einen Beschluß wegen der Mängel, welche hervortreten. Auch die Abstellung dieser Mängel So umschreibt z. B. Riedel S. 24 diese Verfassungs-Bestimmung. ist nicht der Inhalt, sondern der Zweck seines Beschlusses. Werden die Mängel hervorgerufen durch ein Reichsgesetz selbst, indem sich bei richtiger Anwendung desselben zeigt, daß es auf die thatsächlich bestehenden Lebensverhältnisse nicht paßt, so kann nicht anders abgeholfen werden als durch eine Abänderung des Gesetzes, zu welcher die Genehmigung des Reichstages erforderlich ist. In- halt des Bundesrathsbeschlußes ist demnach in diesem Falle eine dem Reichstage zu machende Vorlage und ein solcher Beschluß fällt mithin unter die erste Kategorie des Art. 7. Wenn die Mängel aber hervorgerufen werden durch die zur Ausführung des Gesetzes erlassenen Verordnungen oder durch das Fehlen derselben, beziehentlich durch ihre Unvollständigkeit oder Undeutlichkeit, so kann der Bundesrath Administrativ-Verordnungen erlassen oder sie ändern, ergänzen, verbessern. Ein derartiger Beschluß fällt unter die zweite Kategorie des Art. 7. Soll die unter Ziffer 3 aufgeführte Kategorie nicht völlig überflüssig und nichtssagend sein, so müssen dem Bundesrathe noch weitergehende Befugnisse zustehen, als die durch Z. 1 und Z. 2 bereits gegebenen; er muß aus Anlaß von Mängeln noch andere Beschlüsse zu fassen berechtigt sein, als Gesetzesvorlagen und Aus- führungs-Verordnungen. Von welcher Art diese Beschlüsse sein können, ergiebt sich nicht aus dem Wortlaut des Art. 7, wohl aber aus seiner Entstehungs- geschichte. In der Verfassung des Norddeutschen Bundes fehlt ein ent- sprechender Artikel. Dagegen gewährt diese Verfassung dem Bun- desrath in Beziehung auf Zölle und Verbrauchssteuern eine eigen- §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. thümliche Stellung im Verwaltungs-Organismus, welche sich histo- risch erklärt. In dem alten Zollverein waren alle dabei betheiligten Staaten von einander unabhängig und souverän und es verstand sich daher von selbst, daß die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Ab- gaben ihnen zustand. Bei dem Interesse, welches jeder einzelne Staat daran hatte, daß diese Verwaltung überall den Zollvereins- verträgen entsprechend und übereinstimmend geführt wurde, traf man die Einrichtung, die Zoll- und Steuerbehörden der Vereins- staaten durch Bevollmächtigte controliren zu lassen. Wurden von diesen Bevollmächtigten Anzeigen erstattet über unrichtige Anwen- dung oder über Mängel, welche bei der Ausführung der Zoll- vereinsverträge hervortraten, so wurde die Angelegenheit, falls sie nicht durch eine Entscheidung der Centralbehörde des betreffenden Staates erledigt wurde, auf den Zollvereins-Conferenzen erörtert und eine gleichmäßige Handhabung des Tarifs oder eine überein- stimmende Einrichtung vereinbart. Ein solcher Beschluß der Zoll- vereins-Conferenz hatte, grade wie ein Beschluß des Frankfurter Bundestages, den Charakter einer völkerrechtlichen Vertragsschlie- ßung. Da sich aus der Natur des Zollvereins das Erforderniß der Einstimmigkeit für die Beschlüsse der Zollconferenz ergab, so war eine präcise Abgränzung ihrer Competenz kein Bedürfniß. Man begnügte sich daher, der Versammlung der Konferenz-Bevoll- mächtigten zuzuweisen: „Die Verhandlung über alle Beschwer- den und Mängel welche in Beziehung auf die Ausführung des Grundvertrages . . . . . wahrgenommen … worden sind Zollvereinsv. vom 16. Mai 1865 Art. 34 sub a. . Auch bei Gründung des Norddeutschen Bundes blieb die im Zollverein ausgebildete Verwaltungs-Organisation im Wesentlichen unverändert; abgesehen davon, daß die zur Controle der Zoll- und Steuerbehörden der einzelnen Staaten dienenden Bevollmäch- tigten vom Präsidium ernannt wurden. Dem Bundesrathe wurde daher im Art. 37 zugewiesen unter Z. 1 die Mitwirkung bei dem Erlaß von Zoll- und Steuergesetzen und dem Abschlusse von Handelsverträgen, unter Z. 2 der Erlaß von Administrativ-Ver- ordnungen, und unter Z. 3. die Beschlußfassung: Laband , Reichsstaatsrecht. I. 17 §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. „über Mängel, welche bei der Ausführung der gemein- schaftlichen Gesetzgebung (Art. 35) hervortreten“ also mit ausdrücklicher, durch die Anführung des Art. 35 bewirkter Beschränkung auf die Zoll- und Steuergesetze und im Anschluß an die Fassung des Art. 34 des Zollvereins-Vertrages von 1865. Auch der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 Art. 8 §. 12 wiederholt dieselbe Bestimmung und in der Reichsverfassung ist nur eine redactionelle Aenderung eingetreten. Der Zoll-Bundes- rath war gleichsam der Erbe der Zollconferenz, nur befreit von dem Drucke des Unanimitätsprinzips Schlußprotokoll v. 8. Juli 1867 Nr. 9 zu Art. 8 §. 12 des Zollver- eins-Vertrages: „Die Functionen, welche durch die im §. 1 des gegenwärtigen Protokolls bezeichneten Bestimmungen, Abreden und Vereinbarungen der Ge- neral-Conferenz übertragen sind, gehen auf den Bundesrath des Zollvereins über.“ . Art. 36 Abs. 2 der Reichsverfassung verleiht dem Kaiser das Recht und die Pflicht, die Einhaltung des gesetzlichen Ver- fahrens Seitens der Landesbehörden durch Reichsbeamte, welche er den Zoll- und Steuerämtern und den Directivbehörden beiordnet, zu überwachen. Abs. 3 fügt hinzu: „Die von diesen Beamten über Mängel bei der Ausführung der gemeinschaftlichen Gesetzgebung (Art. 35) gemachten An- zeigen werden dem Bundesrathe zur Beschlußnahme vor- gelegt.“ Das Verhältniß zwischen Kaiser und Bundesrath ist daher hier nicht zweifelhaft. Der Kaiser hat hinsichtlich der Ueberwachung der Einzelstaaten das formelle Recht der Ernennung und Beiord- nung der Reichszollcontroleure und Bevollmächtigten. Die materielle Entscheidung aber über die von ihnen erstatteten Anzeigen und die Sicherung gleichmäßiger Auslegung und Handhabung der Zoll- und Steuergesetze ist dem Bundesrath zugewiesen. Er ist in dieser Hinsicht an die Stelle der alten Zollvereins-Conferenz getreten, nur daß seine Beschlüsse nicht mehr den Charakter des völkerrecht- lichen Vertrages, sondern den der Entscheidung einer obersten Behörde haben. Der Bundesrath ist in Zoll- und Steuersachen eine Central-Verwaltungsbehörde des Reiches, die über den Selbstverwaltungs-Behörden der Einzelstaaten stehende Control- behörde, welche wie ein höchster Verwaltungsgerichtshof dafür §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. Sorge trägt, daß die den Einzelstaaten überlassene Selbstverwal- tung in Zoll- und Steuersachen nicht zu ungleichartiger Auslegung und Handhabung der Reichsgesetze führt. Dem Kaiser bezieh. den von ihm ernannten Reichsbeamten, insbesondere dem Reichskanzler, liegt es dann wieder ob, die Befolgung der vom Bundesrath ge- troffenen Entscheidungen Seitens der Landesbehörden zu veranlassen und zu überwachen. Bei der Redaction der Reichsverfassung, welche bei den Ver- handlungen in Versailles mit den süddeutschen Staaten vereinbart worden ist, wurde im Anschluß an die im Zollvereins-Vertrage enthaltene Bestimmung der Art. 7 über die der Beschlußfassung des Bundesrathes unterliegenden Angelegenheiten festgestellt, der in der jetzigen Redaction wiederkehrt. Schon vor dem Abschluß der Verträge mit den Süddeutschen Staaten hatte sich im Nordd. Bunde die Praxis Eingang verschafft, daß Zweifel über die Anwendung von Reichsgesetzen und Bedenken, welche bei Handhabung derselben entstanden, dem Bundesrathe zur Beschlußfassung vorgelegt wurden. Bei der Generaldebatte über diese Verträge im Reichstage von 1870 konnte daher Staats- minister von Delbrück nicht ohne Grund von der neuen For- mulirung des Art. 7 sagen II. Außerord. Sess. 1870. Stenogr. Ber. S. 68. , daß „sie eine ins Gewicht fallende materielle Bedeutung nicht habe.“ Er fügte hinzu: „Es wurde Werth gelegt auf diese Zusammenfassung, um an einem Ort klar zu stellen die eigentlichen Zuständig- keiten des Bundesraths, deren Ergründung aus der Bun- desverfassung selbst nicht ohne ein gewisses Studium mög- lich war. Eine materielle Aenderung des Bestehenden ist damit kaum herbeigeführt.“ Wenn nach dieser Aussage demnach thatsächlich die Befugnisse des Bundesrathes durch Art. 7. Ziffer 3 der Reichsverfassung nicht wesentlich erweitert worden sind, so ist es doch unzweifelhaft, daß sie dadurch erst ein staatsrechtliches Fundament erhalten haben, welches nach der Nordd. Bundesverfassung nur in Bezug auf Zoll- und Steuer-Angelegenheiten vorhanden war. Die Tragweite dieser Bestimmung zeigt sich namentlich in dem Verhältniß des Bundesrathes zum Kaiser und seinem Minister, 17* §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. dem Reichskanzler. Nach Art. 17 der Reichsverfassung steht dem Kaiser die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze zu. Nach dem Ursprunge des Art 7. in dem Zollvereinsvertrage und dem Art. 37 der Norddeutschen Bundesverfassung kann es nun keinem Zweifel unterliegen, daß Art. 7 Ziff. 3 sich zu Art. 17 gerade ebenso verhält, wie der 3. Absatz des Art. 36 zu dem zweiten Absatz desselben Artikels; d. h. dieselbe Abgränzung der Kompetenz, welche für Zoll- und Steuersachen, in Art. 36 erfolgt ist, ist durch Art. 7 Ziff. 3 und 17 auf alle der Reichsgesetzgebung unterliegenden Gegenstände ausgedehnt worden Im Wesentlichen besteht dasselbe Verhältniß auch zwischen Art. 7 Ziff. 1 und Art. 16. Der Bundesrath beschließt, welche Vorlagen dem Reichstage zu machen sind; der Kaiser läßt dieselben nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundesrathes an den Reichstag bringen. . Dem Kaiser liegt es daher ob, die zur Controle der Einzel- staaten etwa erforderlichen und durch Reichsgesetze vorgesehenen Beamten zu ernennen, namentlich aber gehen vom Kaiser d. h. von dem von ihm ernannten Reichskanzler oder den Ressortbehör- den des Reiches die Verfügungen aus, welche zur Durchfüh- rung der vom Bundesrathe getroffenen Entscheidungen erforderlich sind. Der Bundesrath dagegen fällt die materielle Entscheidung über die Auslegung oder Handhabung der Reichsgesetze oder über eine allgemeine Einrichtung behufs Abhülfe der Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze hervorgetreten sind Sehr richtig äußerte sich der Abg. Lasker im Reichstag 1870. II. auß. Sess. Stenogr. Ber. S. 122: „Den zweiten Theil, welcher die Abhilfe der Mängel dem Bundesrathe überweist, verstehe ich dahin, daß die thatsäch- liche Exekution allein durch das Bundeskanzler-Amt vermittelt wird, daß der Bundesrath irgend welche Mängel als vorhanden konstatirt und Abhilfe be- schließt und daß diese dann durch die Beamten des Bundeskanzlers oder durch das Bundeskanzler-Amt unter der Leitung des Bundeskanzlers erfolgen muß. Ich glaube die Bestimmungen der Verfassung nicht mißzuverstehen und in dieser Einschränkung begrüße ich sie als eine vortheilhafte Organisation.“ Westerkamp S. 157 findet das Verhältniß des Bundesrathes und des Kaisers „nicht völlig klar;“ freilich, wenn seine Darstellung desselben richtig wäre, so wäre es völlig unklar. . Es steht diese, dem Bundesrath zugewiesene Kompetenz im engsten Zusammenhange mit der ihm übertragenen Gesetzgebungs- Funktion und die Beschlußfassung über Mängel, d. h. über die richtige Handhabung der Reichsgesetze und über Abhülfe der her- §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. vorgetretenen Uebelstände fließt in unmerklichen Abstufungen und Uebergängen an der einen Grenzlinie mit dem Erlaß allgemeiner Verwaltungsverordnungen, an der anderen mit der Fällung eines verwaltungsgerichtlichen Urtheils zusammen. Daraus ergeben sich aber auch zugleich die Schranken, welche der durch Art 7 Ziff. 3 begründeten Kompetenz des Bundesrathes gesetzt sind. Dem Bundesrath steht keine Entscheidung zu in allen denjeni- gen Angelegenheiten, die durch Reichsgesetz einer Reichsbehörde überwiesen sind. Dazu gehören vor Allem die eigentlichen Rechts- streitigkeiten, welche eine richterliche Entscheidung d. h. eine lediglich durch Rechtssätze bestimmte Beurtheilung erfordern, also insbesondere die, der Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Heimaths- amts, des Reichs-Eisenbahnamts, nach §. 5 Ziff. 4 des Ges. v. 27. Juni 1873 (Rg.-Bl. S. 165) u. s. w. unterliegenden Streit- fälle. Ebenso aber auch diejenigen Angelegenheiten, deren Erledi- gung zum Ressort der Reichs-Verwaltungsämter gehört. Es ist ferner die durch Art. 7 Ziff. 3 für den Bundesrath begründete Kompetenz ausgeschlossen, soweit die Reichsverfassung selbst eine Ausnahme macht, was namentlich durch Art. 63 Abs. 3. hinsicht- lich der Militär-Angelegenheiten zu Gunsten des Kaisers geschehen ist. Andererseits findet die Kompetenz des Bundesrathes eine Schranke an dem Selbstverwaltungsrecht der Einzelstaaten. Der Bundesrath bildet keine Instanz über den Centralbehörden der Einzelstaaten, so daß an ihn im Wege der Beschwerde oder des Rekurses der einzelne Fall zur definitiven Entscheidung gezogen werden könnte Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 484. . Der Bundesrath kann keine von den Behörden der Einzelstaaten getroffene Entscheidung cassiren, nicht auf Ver- urtheilung oder Freisprechung erkennen, den Behörden der Einzel- staaten keine Anweisung ertheilen; der Bundesrath kann nur darüber einen Ausspruch thun, welchen Inhalt die allgemeine Pflicht aller Bundesstaaten, die Reichsgesetze zu beobachten, in Ansehung des speziellen, den Gegenstand des Beschlusses bildenden Punkt hat. 2) Ein ähnliches Verhältniß zwischen Bundesrath und Kaiser wie es durch Art. 7 Abs. 3. und Art. 17 und durch Art. 36 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3. normirt ist, besteht auch hinsichtlich der Er- nennung gewisser Reichsbeamten . Die Ernennung selbst §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. erfolgt in allen Fällen vom Kaiser R.-V. Art. 18.; formell kann der Bundesrath niemals einen Beamten anstellen. Aber materiell steht ihm für gewisse Beamten-Kategorien eine Entscheidung zu, indem er entweder die Beamten geradezu wählt, so daß der Kaiser auf die bloße Form der Ernennung der vom Bundesrath gewähl- ten Individuen beschränkt ist, oder indem der Kaiser die Beamten „nach Vernehmung“ des Bundesrathes oder eines Ausschusses dessel- ben anstellt. Das Letztere ist vorgeschrieben im Art. 36 der R.-V., wonach der Kaiser die zur Controlle der Zoll- und Steuerbehörden bestimmten Reichsbeamten nach Vernehmung des Ausschusses des Bundesrathes für Zoll- und Steuerwesen den Bundesbehörden beiordnet, und im Art. 56, welcher bestimmt, daß der Kaiser die Konsuln nach Vernehmung des Ausschusses für Handel und Ver- kehr anstellt. Ein Wahlrecht oder Vorschlagsrecht hat der Bundesrath hin- sichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes Ges. v. 4. Juli 1868 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 433.) , des Oberhandels- gerichts Ges. v. 12. Juni 1869 §. 3 (B.-G.-Bl. S. 201.) , des Bundesamtes für das Heimathswesen Ges. v. 6. Juni 1870 §. 42 (B.-G.-Bl. S. 368.) , der Dis- ciplinarkammern und des Disciplinarhofes Ges. v. 31. März 1873 §. 39 (R.-G.-Bl. S. 68.) , der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds Ges. v. 23. Mai 1873 §. 11 (R.-G.-Bl. S. 120.) und des Reichsbank-Direktoriums Bankges. v. 14. März 1875 §. 27 Abs. 3 (R.-G.-Bl. S. 184.) . 3) Auch bei gewissen Regierungsacten, welche eine hervor- ragende politische Bedeutung entweder ihrer Natur nach immer haben oder doch unter Umständen haben können, ist die Entschlie- ßung des Kaisers gebunden. Ihm steht es zwar zu, den Regie- rungsact selbst und formell ohne Mitwirkung des Bundesrathes zu vollziehen; aber er ist dazu nur befugt, nachdem er die Zu- stimmung des Bundesrathes eingeholt hat. Bei Ausübung der Vertretungsbefugniß für das Reich bedarf der Kaiser dieser Zustimmung: a ) zur Erklärung des Krieges, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. R.-V. Art. 11 Abs. 1. b ) zum Abschluß von Verträgen mit fremden Staaten, insoweit §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. sie sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 der R.-V. in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören. R.-V. Art. 11 Abs. 2. Auf dem Gebiete der inneren Politik bedarf der Kaiser eines zustimmenden Beschlusses des Bundesrathes a ) zur Vollstreckung der Execution gegen Bundesglieder. R.-V. Art. 19. b ) zur Auflösung des Reichstages während der Legislatur- Periode. R.-V. Art. 24. 4) Eine besondere Stellung nimmt der Bundesrath ein bei allen die Finanzwirthschaft des Reiches betreffenden An- gelegenheiten. Hier sind ihm zum Theil Funktionen beigelegt, welche auf anderen Gebieten der Kaiser oder der Reichskanzler ausüben oder welche nach anderen Verfassungen die Landtage den geschäftsführenden Regierungs-Behörden gegenüber wahrnehmen, während nach der Reichsverfassung Bundesrath und Reichstag gleich- mäßig daran Antheil nehmen. Die Feststellung des Reichshaushalts-Etats in der, dem Reichs- tage vorzulegenden Gestalt, sowie die Beschlußfassung über die von dem Reichstage vorgenommenen Abänderungen, ferner die Geneh- migung einer Anleihe sowie der Uebernahme einer Garantie zu Lasten des Reiches steht dem Bundesrathe zu, weil der Weg der Gesetzgebung vorgeschrieben ist. Der Bundesrath hat aber über- dies die Abrechnungen der Einzelstaaten über die von ihnen für Rechnung des Reiches erhobenen Zölle und Abgaben zu prüfen und den von der Kasse jedes Bundesstaates der Reichskasse schuldigen Be- trag festzustellen (Art. 39). Der Bundesrath ist auch in dieser Hin- sicht an die Stelle der ehemaligen Generalzollconferenz getreten Zollv.-Vertr. v. 16. Mai 1865 Art. 34 sub b ). . Ferner ist der Reichskanzler verpflichtet über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches dem Bundesrathe zur Entlastung jährlich Rechnung zu legen. (Art. 72.) In Durchführung des Princips, daß die Finanz-Angelegenheiten des Reiches zur Kompe- tenz des Bundesrathes gehören hat das Ges. v. 19. Juni 1868 §. 4 (B.-Bl. S. 339) bestimmt, daß 3 Mitglieder des Bundes- rathes zur Bundesschulden-Kommission gehören und in §. 7 die- selben Verpflichtungen der Bundesschulden-Kommission dem Bun- §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. desrathe gegenüber auferlegt, welche der preußischen Staatsschulden- Kommission dem preuß. Landtage gegenüber obliegen. Der Bun- desrath ernennt ferner drei Mitglieder des Reichsbank-Kuratoriums. Ges. v. 14. März 1875 §. 25 (Rg.-Bl. S. 184). Es ist schon erwähnt worden, daß zufolge Ges. vom 4 Juli 1868 §. 2 (B.-Bl. S. 433) die zum Rechnungshof des deutschen Reiches neu hinzutretenden Mitglieder vom Bundesrathe gewählt werden. Ebenso hat der Bundesrath die Mitglieder der „Ver- waltung des Reichs-Invalidenfonds“ zu wählen. Ges. v. 23. Mai 1873 §. 11 (Rg.-Bl. S. 120). Ferner kann der Kaiser über den Reichskriegsschatz nur unter vorgängig oder nachträglich einzuholender Zustimmung des Bundes- rathes verfügen; seine Anordnungen über Verwaltung des Reichs- kriegsschatzes unterliegen der Zustimmung des Bundesrathes und die Reichsschulden-Kommission hat jährlich dem Bundesrathe über den Bestand des Reichskriegsschatzes Bericht zu erstatten. Ges. v. 11. Nov. 1871 §. 1. 3. (Rg.-Bl. S. 403 Dasselbe gilt von dem Bericht über die Verwaltung des Reichs-Inva- lidenfonds. Ges. v. 23. Mai 1873 §. 14 (R.-G. Bl. S. 121.) . Auch die vom Reichskanzler zu erlassenden Verfügungen über die Ausprägung von Goldmünzen sind an die Zustimmung des Bundesrathes geknüpft. Ges. v. 4. Dezbr. 1871 §. 6 Abs. 2. (R.-Bl. S. 405). Das Bankgesetz vom 14. März 1875 §. 36. 40. 41. 44. 47 legt dem Bundesrath eine höchst umfassende Zuständigkeit bei. Einnahmen aus der Veräußerung entbehrlich werdender Fe- stungs-Grundstücke oder anderer im Besitz der Reichsverwaltung befindlicher Grundstücke dürfen nur unter Genehmigung des Bun- desrathes verausgabt werden. Ges. v. 8. Juli 1872 Art. IV. (Rg.-Bl. S. 290) und Ges. v. 25. Mai 1873 §. 11 (Rg.-Bl. S. 115). Andererseits sind dem Bundesrath hinsichtlich der Vergütung von Kriegsleistungen weitgehende Befugnisse eingeräumt durch das Ges. v. 13. Juni 1873 (Rg.-Bl. S. 129 Die Bekanntmachung v. 19. Juni 1871 §. 10 (R.-G.-Bl. S. 258) über die Inhaberpapiere mit Prämien ermächtigte das Reichskanzler-Amt zum Er- laß von Ergänzungs-Vorschriften, „nach Anhörung des Ausschusses für Rech- nungswesen.“ . Daß in Finanz-Angelegenheiten dem Bundesrath eine so aus- §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. gedehnte Kompetenz zugewiesen wird, erklärt sich daraus, daß die Regierung des Reiches auf Kosten aller Bundesstaaten geführt wird und in ihrem finanziellen Resultat jeden Einzelstaat mittelst der von ihm zu zahlenden Matrikularbeiträge berührt. Deshalb sind der Kaiser und der von ihm ernannte Reichskanzler in der Freiheit der Geschäftsführung, welche ihnen im Uebrigen gelassen ist, gerade in finanzieller Beziehung beschränkt und an die Con- trole und Zustimmung des Bundesrathes — und wie unten näher ausgeführt werden wird, des Reichtages — gebunden. 5) Neben den vorstehend erörterten 4 Kategorien von Ver- waltungsbefugnissen des Bundesrathes, die sich auf bestimmte all- gemeinere Gesichtspunkte zurückführen lassen, enthalten die Reichs- gesetze noch eine Anzahl von speziellen Punkten, über welche dem Bundesrath die Beschlußfassung zugewiesen ist, ohne daß man aus denselben ein einheitliches Princip für die Kompetenzbestimmung des Bundesrathes abstrahiren kann. So unterliegt z. B. der Be- schlußfassung des Bundesrathes die Abgränzung der elsaß- lothringen’schen Wahlkreise für den deutschen Reichstag Ges. v. 25. Juni 1873 §. 6 (R.-G.-Bl. S. 162.) ; die Bezirke der Disciplinarkammern werden vom Kaiser im Einver- nehmen mit dem Bundesrathe abgegrenzt Ges. v. 31. März 1873 §. 88 (R.-G.-Bl. S. 77.) ; die Jurisdictions- bezirke der einzelnen Consuln werden vom Reichskanzler nach Ver- nehmung des Bundesraths-Ausschusses für Handel und Verkehr bestimmt Ges. v. 8. Nov. 1867 §. 23 (B.-G.-Bl. S. 141.) . Ferner steht die Aufhebung bestehender Zollausschlüsse dem Bundesrath zu Zollv.-Vertrag v. 8. Juli 1867 Art. 6. . Zu erwähnen ist ferner die Bestimmung in Art. 46 der R.-V. Die Zustimmung des Bundesrathsausschusses für das Landheer und die Festungen ist auch erforderlich zu einer Abweichung von dem vorgeschriebenen Vertheilungsmaaßstaabe des Rekrutenbedarfs Reichs-Militär-Gesetz v. 2. Mai 1874 §. 9 (R.-G.-Bl. S. 47.) . Dergleichen Bestimmungen werden im speziellen Theil bei der Darstellung der einzelnen Verwaltungszweige Erwähnung finden Daß nach §. 4 des Ges. v. 4. Mai 1874 (R.-G.-Bl. S. 44) zur Wie- dererwerbung der Staats-Angehörigkeit die Genehmigung des Bundesrathes erforderlich ist, wurde bereits oben S. 175 erörtert. . §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. III. Der Bundesrath als Organ der Rechtspflege . Die Funktionen, welche dem Bundesrath behufs Aufrechthal- tung der Rechts-Ordnung zugewiesen sind, haben zum Theil schon Erwähnung gefunden. Es sind folgende: 1. Die dem Bundesrathe in Art. 7 Abs. 3 übertragene Be- schlußfassung über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichs- gesetze hervortreten, schließt in gewissem Grade eine Verwaltungs- Jurisdiktion in sich, indem der Beschluß ein Urtheil darüber ent- halten kann, ob eine Bestimmung eines Reichsgesetzes oder einer Bundesraths-Verordnung richtig oder falsch ausgelegt resp. ange- wendet worden ist. Gewöhnlich hat ein solcher Beschluß aber nicht die formelle Kraft einer Entscheidung. Die Angelegenheit, welche Veranlassung zu dem Beschluß gegeben, kann längst definitiv er- ledigt sein oder aus Gründen, welche mit der vom Bundesrath beschlossenen Gesetzes-Auslegung in keinem Zusammenhange stehen, ihre Erledigung finden. Auch erfolgt dieselbe formell der Regel nach durch die competenten Behörden des Einzelstaates oder, so weit das Reich die Verwaltung selbst führt, durch die Central- Verwaltungsbehörden des Reiches. Der Beschluß des Bundes- rathes dient den obersten Verwaltungsbehörden eben nur als Richtschnur Ein anschauliches Beispiel liefert folgender Vorgang: In der Bundes- raths-Sitzung vom 27. Febr. 1871 (Protok. §. 48) theilte der Vorsitzende mit, daß zwischen dem Bundeskanzler-Amt einerseits und dem Senat zu Bremen andererseits eine Meinungsverschiedenheit darüber obwaltet, ob eine in Bremen erlassene, das Betreten von Privathäusern durch Hausirer verbietende Verord- nung mit der Reichs-Gewerbe-Ordnung im Widerspruch stehe oder nicht. Auf seinen Antrag wurde beschlossen, den IV. Ausschuß mit der Berichterstattung zu beauftragen. Auf den Bericht des Ausschusses beschloß der Bundesrath am 12. Nov. 1871 (Protok. §. 553), daß die Verordn. mit den Absichten, welche zur Fest- stellung des Titels 3 der Gew.-Ordn. in seiner jetzigen Fassung geführt haben, nicht im Einklange stehe. Der Bevollmächtigte für Bremen erklärte darauf, daß der Senat die Verordn. wieder aufheben werde. . In einzelnen Fällen steht dem Bundesrath oder Bundesraths- Ausschüssen aber eine formell wirksame, verwaltungsgerichtliche Entscheidung zu. So bestimmt das Ges. v. 30. Mai 1873 Art. IV Abs. 2 §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. (R.-G.-Bl. S. 124) in Beziehung auf das Recht der Festungsstädte, die für den öffentlichen Verkehr nothwendige Erweiterung der Thore und Thorbrücken, soweit ein fortifikatorisches Interesse nicht ent- gegensteht, auf Kosten des Reiches zu verlangen: „Die Entscheidung darüber, ob und welche Erweiterungen im Interesse des Verkehrs nothwendig und fortifikatorisch zulässig sind, wird in letzter Instanz durch die vereinigten Ausschüsse des Bnudesraths für Handel und Verkehr und für das Landheer und die Festungen getroffen.“ Hinsichtlich der Zuerkennung von Pensionen weist das Reichs- Beamtengesetz vom 31. Mai 1873 §. 39, 51, 52, 68 dem Bundes- rath eine Beschlußfassung zu, welche ebenfalls hierher gerechnet werden kann. Insbesondere aber bestimmt §. 66 des erwähnten Gesetzes, daß die definitive Entscheidung über die zwangsweise Ver- setzung eines Reichsbeamten in den Ruhestand bei denjenigen Be- amten, welche keine kaiserliche Bestallung erhalten, vom Bundes- rathe , bei denjenigen, welche eine kaiserlich Bestallung erhalten, vom Kaiser im Einvernehmen mit dem Bundesrathe er- folgt Materiell entscheidet also auch hier der Bundesrath. Daß der Form nach der Kaiser entscheidet ist unerläßlich wegen des von ihm unterzeichneten Anstellungs-Patentes. . Bis zum Erlaß des Reichsbeamten-Gesetzes hatte der Bun- desrath über die Berufskonsuln eine Zuständigkeit als Disziplinar- hof Ges. v. 8. Nov. 1867 §. 8 (B.-G.-Bl. S. 139.) . 2. Auch der nach Art. 19 der R.-V. dem Bundesrath zustehende Beschluß, daß gegen ein Bundesglied die Execution vollstreckt wer- den soll, involvirt eine richterliche Sentenz, indem er ein Urtheil darüber enthält, daß das Bundesglied seine verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllt hat Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 485. 486. . Es kann die Bundes-Execution nicht anders als ein Act der Administrativ-Justiz aufgefaßt werden, die dem Reich gegen die Einzelstaaten als nothwendiges Correlat der den Einzelstaaten gewährten, umfassenden Selbstverwaltung zusteht. 3. Gemäß Art. 77 der R.-V. bildet der Bundesrath die oberste Rekurs-Instanz, wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justiz- §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. verweigerung eintritt Der Artikel ist wörtlich gleichlautend mit dem Art. 29 der Wiener Schlußakte, mit der alleinigen Abänderung, daß statt „Bundesversammlung“ Bundesrath gesetzt worden ist. In die Verfassung des Nordd. Bundes wurde er auf Antrag des Abg. Wiggers aufgenommen. Vgl. Sten. Ber. des ver- fassungber. Reichstages 1867 S. 672. Ueber den Art. 29 cit. sind zu verglei- chen Klüber Oeff. R. §. 169. Zöpfl I. §. 156. Zachariä II. §. 281. . Ueber eine Beschwerde dieser Art hat der Bundesrath lediglich nach Rechts grundsätzen zu entscheiden und zwar ist ihm im Art. 77 zur Pflicht gemacht, „die Beschwerde nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bun- desstaates zu beurtheilen“ Es steht dabei dem Bundesrathe frei, sich das Gutachten eines obersten Gerichtshofes oder anderer Sachverständigen ertheilen zu lassen. . Desgleichen ist die Würdigung der Frage, ob die in der Beschwerde vorgebrachten Thatsachen erwiesen sind, eine richterliche. Mit dem vom Bundesrathe gefällten Ur- theile, daß der Fall verweigerter oder gehemmter Rechtspflege vorliege, verbindet sich dann die weitere Funktion, bei der Bun- desregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, „die gerichtliche Hülfe zu bewirken .“ 4. Nach Art. 76 Abs. 1 der R.-V. ist der Bundesrath berufen, „Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern die- selben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, auf Anrufen des einen Theiles zu erledigen.“ Er ist in den von diesem Artikel berührten Fällen an die Stelle der Austrägal-Instanz des ehemaligen Bundes ge- treten. Wenngleich dem Bundesrath keinerlei Vorschriften gegeben sind über die Art der Erledigung staatsrechtlicher Streitigkeiten unter den Bundesgliedern und sein Bestreben naturgemäß auf Her- beiführung eines Vergleiches gerichtet sein wird, so ist doch das äußerste und definitive Mittel der Erledigung ein Richterspruch, der zwangsweise vollstreckt werden kann. Der Art. 76 Abs. 1 ist so weit gefaßt, daß er es dem Bundesrath überläßt, ob er den Richterspruch, falls ein gütlicher Vergleich nicht gelingt, selbst fällen will oder ob er ein Gerichtscollegium, eine Juristen-Fakultät oder andere Sachverständige mit der Fällung des Urtheils betrauen will Vgl. die Erklärung des Bundescommiss. v. Savigny im Verfas- sungber. Reichstag v. 1867 S. 664 und die Bemerkungen des Abg. Dr. Za- chariä ebendas. S. 670. Vgl. ferner Thudichum S. 110. . Aber auch wenn der Bundesrath den letzteren Weg wählt, §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. bildet er die eigentliche Instanz; das Collegium, welchem er die Entscheidung der Streitfrage aufträgt, hat keine eigene Competenz, sondern erstattet nur ein sachverständiges Gutachten, welches nur dadurch bindende Kraft und rechtliche Bedeutung erlangt, daß es der Bundesrath bestätigt. Aus der Natur der Sache ergiebt sich, daß es den streitenden Staaten unbenommen ist, durch Compromiß oder durch irgend eine Form der Austräge ihren Zwist zu entscheiden. Der Art. 76 will nicht dem Bundesrath eine ausschließende richterliche Kompetenz bei Streitigkeiten unter den deutschen Staaten beilegen, sondern er will nur ein Mittel gewähren, um den Landfrieden für alle Fälle aufrecht halten zu können. Da der Krieg unter den im Reiche staatlich verbundenen Gliedern absolut ausgeschlossen ist, so muß eine Instanz vorhanden sein, welche Streitigkeiten zu erledigen vermag, wenn alle sonst zulässigen Mittel einer friedlichen Ent- scheidung erschöpft sind. Deshalb ist die Kompetenz des Bundes- rathes dann nicht begründet, wenn keiner der streitenden Staaten seine Einmischung anruft. Ueber das Verfahren, welches der Bundesrath einzuschlagen hat, wenn derselbe angerufen wird, hat weder die Gesetzgebung noch die Praxis bisher Regeln aufgestellt. Es steht aber nichts im Wege und würde sich aus praktischen Gründen wohl empfehlen, diejenigen Vorschriften zur Anwendung zu bringen, welche zu Zeiten des deutschen Bundes für das Bundes-Austrägal-Verfahren bestanden haben Vgl. über das Bundes-Austrägal-Verfahren Klüber §. 172 ff. Zöpfl I. §. 159 ff. Zachariä II. §. 267. 270 fg., woselbst auch die Literatur an- gegeben ist. . Auch in dem, in der Wiener Schlußacte Art. 30 vorgesehenen Falle, daß Forderungen von Privatpersonen deshalb nicht befrie- digt werden können, weil die Verpflichtung, denselben Genüge zu leisten, zwischen mehreren Bundesgliedern zweifelhaft oder bestritten ist Das Nähere bei Klüber §. 176. Zöpfl I. §. 157. Zacharia II. §. 273. , wird der Bundesrath regelmäßig entweder wegen Art. 76 Abs. 1 oder wegen Art 77 zur Erledigung der Streitfrage com- petent sein Es ist allerdings zuzugeben, daß Fälle denkbar sind, welche weder , soweit nicht in Folge des Gesetzes vom 6. Juni §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. 1870 §. 37 ff. das Reichsamt für das Heimathswesen zur Ent- scheidung berufen oder etwa die Kompetenz des Reichs-Oberhandels- gerichts begründet ist. 5. An der äußersten Grenze einer richterlichen oder quasirich- terlichen Thätigkeit steht endlich die durch Art. 76 Abs. 2 dem Bundesrath zugewiesene Aufgabe. „Verfassungsstreitigkeiten Nicht jede Behauptung, daß ein Gesetzgebungs- oder Verwaltungs-Akt einer Bundesregierung verfassungs widrig sei, begründet eine Verfassungs- Streitigkeit . Mit Recht ist in dem Protokoll des Bundesrathes 1874 §. 94 (S. 70) hervorgehoben, „daß die von einer Korporation (im con- creten Falle: der Magistrat der Stadt Rostock) aufgestellte Behauptung, daß ein von den verfassungsmäßigen Faktoren der Landesgesetzgebung vereinbartes Gesetz der Landesverfassung nicht entspreche, eine Verfassungsstreitigkeit im Sinne des Art. 76 Abs. 2 überhaupt nicht begründe.“ in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, hat auf Anrufen eines Theiles der Bundesrath gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen.“ Nach diesem Artikel ist die Berechtigung des Bundesrathes zur Einmischung in die Verfassungsstreitigkeit in einem Einzelstaat davon abhängig gemacht, daß einer der streitenden Theile ihn anruft. Es ist aber zweifellos, daß, wenn die Verfassungsstreitig- keit dahin führen sollte, daß die Regierung des Bundesstaates ihre Bundespflichten nicht erfüllt, insbesondere wenn sie verhindert wird, die Matrikularbeiträge zu entrichten oder für die Handhabung der Reichsgesetze Sorge zu tragen, der Bundesrath aus eigenem Ent- schluß auf Grund des Art. 19 einschreiten kann. Ferner ist das Reich, also zunächst der Bundesrath als dessen Organ, auch ohne Anrufen der streitenden Theile zu einem Einschreiten nicht nur berechtigt, sondern sogar genöthigt, wenn in einem Bundesstaat der Thron selbst unter mehreren Prätendenten streitig ist; weil die Mitgliedschaft dieses Staates durch das Oberhaupt desselben aus- geübt wird, der Landesherr daher der Anerkennung als Bundes- Mitglied bedarf und das Reich formelle Gewißheit haben muß, wer der berechtigte Monarch des Bundesstaates ist. unter Art. 76 Abs. 1 noch unter Art. 77 fallen; derartige Fälle werden aber gewiß in der Praxis höchst selten vorkommen. §. 29. Der Bundesrath als Organ des Reiches. In allen Fällen aber, in denen die Verfassungsstreitigkeit das Verhältniß des Einzelstaates zum Reich nicht berührt, sondern eine innere Angelegenheit des ersteren bleibt, ist das Reich nur competent, wenn es angerufen wird. So lange das Staatsrecht Der Art. 76 sagt „Verfassung“; es braucht dies aber nicht gerade die „Verfassungs-Urkunde“ oder das Verfassungs-Gesetz zu sein. des betref- fenden Bundesgliedes selbst die Mittel zu einer rechtlichen Lösung des Streites bietet, ist die Intervention des Reiches ausgeschlossen. Ebenso wenn die streitenden Theile auf Schiedsrichter sich einigen. Das Reich tritt nur subsidiär zur Lösung des Conflictes ein. Zunächst ist es nun Sache des Bundesrathes, den gütlichen Aus- gleich zu versuchen. In den Verhältnissen ist es gegeben, daß der Bundesrath seinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben im Stande ist; in sehr viel geringerem Grade auf die Landesver- tretung. Doch ist die Bedeutung der Thatsache, daß der Bundes- rath entweder vollständig oder wenigstens bis zu einer gewissen Linie auf der Seite der Regierung steht, auch für die von der Landesvertretung einzunehmende Haltung nicht zu unterschätzen. Wenn der Versuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, so hat der Bundesrath im Einverständniß mit dem Reichstage, also im Wege der Reichsgesetzgebung die Streitigkeit zu erledigen. Daraus, daß die Form der Gesetzgebung vorgeschrieben ist, folgt keines- wegs, daß die Entscheidung nicht materiell die Bedeutung eines Richterspruches habe. Es muß im Gegentheil als ein ideelles Postulat eines solchen Gesetzes aufgestellt werden, daß es das be- stehende Recht declarirt. Denn es handelt sich um „Erledigung von Verfassungsstreitigkeiten“ d. h. von Rechtsstreitigkeiten und die Organe des Reiches treten nur dann in Function, wenn nicht verfassungsmäßig eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitig- keiten bestimmt ist, sie haben also offenbar eine Aufgabe, wie sie einer solchen Behörde obliegt, d. h. eine richterliche. Es lassen sich auch wohl Fälle von Verfassungsstreitigkeiten denken, in denen das Recht so zweifellos ist, daß Bundesrath und Reichstag über- einstimmend es zur Geltung bringen. Der „Weg der Gesetzgebung“ gestattet aber ganz anderen Mo- tiven als juristischen und ganz anderen Erwägungen als richter- lichen einen sehr erheblichen Einfluß Vgl. v. Martitz Betrachtungen ꝛc. S. 29 fg. . Bundesrath und Reichs- §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. tag haben andere Aufgaben im Reich zu erfüllen, als Recht zu sprechen und sind deshalb auch in einer Weise eingerichtet, die am wenigsten auf die Bedürfnisse der Rechtspflege berechnet ist. Die Bundesraths-Mitglieder stimmen nach Instruktionen, die Reichstags-Mitglieder unter dem Einfluß politischer Anschauungen und Tendenzen. Wenn zwei solche Körperschaften, von denen keine ihrer allgemeinen Anlage nach geeignet ist, die Rolle eines Gerichts- hofes zu übernehmen, sich zu einem übereinstimmenden Votum vereinigen müssen, um die Entscheidung eines Rechtsstreites zu finden, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese Entscheidung lediglich nach Rechtsgrundsätzen erfolgen werde, keine sehr große. Die Reichsverfassung verlangt auch nicht, daß diese Entschei- dung eine, der Sache nach, richterliche sein müsse. Die „Erledigung“ der Verfassungsstreitigkeit kann auch er- folgen durch Veränderung der Verfassung oder durch Außerkraft- setzung des bestehenden Verfassungsrechts für den einzelnen Fall. Die im Art. 2 der R.-V. den Reichsgesetzen beigelegte Wirkung, daß sie den Landesgesetzen vorgehen, kömmt auch einem auf Grund des Art. 76 Abs. 2 erlassenen Reichsgesetze zu, welches das bis- herige Staatsrecht eines Bundesgliedes modifizirt. Es ist dies in zweifacher Beziehung bemerkenswerth. Erstens ergiebt sich auch hieraus, daß nicht der einzelne Bundesstaat auf dem seiner Autonomie überlassenen Gebiete souverän ist, sondern daß über ihm die Reichsgewalt als die wirklich höchste, souveräne Gewalt steht. Zweitens zeigt sich an der hier erörterten Function der Reichsorgane, sowie überhaupt an der Gesammtheit der dem Bundesrathe zugewiesenen Thätigkeit, daß Gesetzgebung, Verwal- tung und Rechtspflege nicht von einander scharf abgegränzte Ge- biete haben, sondern daß sie lediglich Formen sind, in welchen die eine und untheilbare, der einheitlichen Persönlichkeit des Staa- tes entsprechende, Staatsgewalt zur Erscheinung kommt und wirk- sam wird. §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. Die hier in Betracht kommenden Rechtssätze sind theils in der Verfassung selbst enthalten, theils in der Geschäfts-Ord- nung für den Bundesrath des Deutschen Reiches formulirt. Dieselbe ist in der Sitzung des Bundesrathes vom 27. Febr. 1871 §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. beschlossen worden Gedruckt 1871 in der Königl. Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei zu Ber- lin. 18 Seiten. . Gesetzliche Kraft kömmt derselben nicht zu; sie ist daher auch im Reichsgesetzblatt nicht verkündet worden und sie unterliegt der Abänderung und Ergänzung durch Bundesraths- Beschluß. I. Der Bundesrath ist keine ständige Versammlung, wie es der Bundestag in Frankfurt a. M. war oder wie es dem Begriff eines Reichsministeriums entsprechen würde, sondern er tritt nur zeitweise auf Berufung zusammen. 1. Die Berufung des Bundesrathes und ebenso die Er- öffnung, Vertagung und Schließung desselben steht dem Kaiser zu. R.-V. Art. 12. Der Bundesrath kann sich demgemäß nicht aus eigener Initiative versammeln und ein Beschluß, welchen derselbe etwa fassen würde vor seiner Eröffnung oder nach seiner Vertagung oder Schließung durch den Kaiser, wäre verfassungs- widrig und deshalb nichtig. 2. Im Allgemeinen ist es in die freie Entschließung des Kai- sers gestellt, ob er den Bundesrath berufen will oder nicht; hier- von giebt es aber zwei Ausnahmen, indem eine Berufung des Bundesrathes erfolgen muß, a) wenn der Reichstag einberufen wird. R.-V. Art. 13. So lange der Reichstag versammelt ist, muß auch der Bundesrath einberufen sein, da der Bundesrath über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die vom Reichstage gefaßten Beschlüsse zu beschließen hat. Es kann aber der Bundesrath allein ohne den Reichstag, einberufen werden, was namentlich wegen der Vorberei- tung der dem Reichstage zu machenden Vorlagen erforderlich ist. b) wenn ein Drittel der Stimmenzahl des Bundesrathes die Berufung verlangt. R.-V. Art. 14. Da der Bundesrath 58 Stimmen zählt, 19 Stimmen also nicht vollständig ein Drittel ausmachen, so müssen, wenn der Kaiser nicht kraft eigener Befug- niß den Bundesrath einberufen will, 20 Stimmen zu dem Ver- langen auf Berufung sich vereinigen. 3. Da der Reichstag und mithin auch der Bundesrath all- jährlich berufen werden müssen (R.-V. Art. 13), so unterscheidet man ordentliche und außerordentliche Sitzungsperioden des Bun- Laband , Reichsstaatsrecht. I. 18 §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. desrathes. Die ersteren sind diejenigen, welche mit den ordent- lichen Sitzungsperioden des Reichstages zusammenfallen, unbescha- det der Abweichung, daß sie früher eröffnet und später geschlossen werden können. Außerordentliche Sessionen sind alle übrigen Fälle, in denen der Bundesrath berufen wird. Eine staatsrecht- liche Bedeutung hat die Unterscheidung nicht. Zwischen den ver- schiedenen Sessionen des Bundesrathes besteht das sogen. Prinzip der Kontinuität ; d. h. Angelegenheiten, welche in einer Sitzungs-Periode nicht völlig erledigt sind, werden in einer fol- genden Sitzungs-Periode an dem Punkte, bis zu welchem sie ge- diehen sind, fortgeführt. Es ist nicht erforderlich, daß sie den geschäftsordnungsmäßigen Weg der Behandlung nochmals von Anfang an durchmachen. II. Der Vorsitz im Bundesrathe und die Lei- tung der Geschäfte steht dem Reichskanzler zu, wel- cher vom Kaiser zu ernennen ist . R.-V. Art. 15 Abs. 1. 1) Der Vorsitz im Bundesrathe ist ein von der Prä- sidialstellung des Königs von Preußen abgeleitetes Recht. Dem Präsidium Preußens im Bunde entspricht das Präsidium des stimmführenden Bevollmächtigten Preußens im Bundesrathe. Die Reichsverfassung giebt diesem Verhältniß keinen unmittelbaren und bestimmten Ausdruck; denn sie knüpft den Vorsitz im Bundes- rathe nicht an die Eigenschaft, Preußischer Bevollmächtigter zu sein, sondern an die Eigenschaft, Reichskanzler zu sein. Sachlich besteht aber kein Unterschied, da der Reichskanzler immer zugleich Preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrathe sein muß; denn der Kaiser als solcher kann keine Bundesraths-Mitglieder ernen- nen, sondern nur der König von Preußen Siehe oben S. 234. , der Reichskanzler aber muß zu Folge Art. 15 Mitglied des Bundesrathes sein und zwar ein vom Kaiser ernanntes, woraus sich von selbst ergiebt, daß der Reichskanzler immer zu den vom Kaiser als König von Preußen ernannten Bevollmächtigten gehören muß, oder mit an- deren Worten, daß der Reichskanzler immer zugleich auch der (stimmführende) Bevollmächtigte des Preußischen Staates ist Vgl. auch unten §. 33. . In der alsbald zu erwähnenden Bestimmung des Bayer. Schluß- §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. protokolls über die Stellvertretung im Vorsitz hat das juristische Wesen des Verhältnisses einen concreten Ausdruck gefunden. 2) Der Reichskanzler kann sich durch jedes andere Mitglied des Bundesrathes vermöge schriftlicher Substitution vertreten lassen. R.-V. Art. 15 Abs. 2. Es ist hierzu weder die Genehmigung des Kaisers erforder- lich, noch ist eine bestimmte Rangordnung unter den Staaten oder unter den Bevollmächtigten, in Bezug auf das Vicepräsidium ver- fassungsmäßig vorgeschrieben. Das Bayr. Schlußprotok. vom 23. Nov. 1870 Ziff. IX. bestimmt aber: „Der Königl. preuß. Bevollmächtigte erkannte es als ein Recht der Bayerischen Regierung an, daß ihr Vertreter im Falle der Verhinderung Preußens den Vorsitz im Bundesrathe führe.“ Hier ist zuvörderst ausgesprochen, daß der Vorsitz im Bun- desrathe nicht auf dem Amte des Reichskanzlers ruht, sondern ein Recht „Preußens“ ist, so wie das Vicepräsidium ein Recht Bayerns ist. Demgemäß tritt der Anspruch Bayerns auf den stellvertretenden Vorsitz nicht ein im Falle der Verhinderung des Reichskanzlers; sondern im Falle der Verhinderung Preußens In der Bundesraths-Sitzung vom 18. Dezember 1874, in welcher nur ein einziger Preußischer Bevollmächtigter, der Staats-Minister Delbrück anwesend war, trat derselbe während der Sitzung wegen anderweiter Dienst- geschäfte den Vorsitz an den Bayerischen Staats-Minister v. Pfretzschner ab. Protok. 1874 §. 563. . Der Reichskanzler kann daher einen anderen Preußischen Be- vollmächtigten sich substituiren, aber nicht mit Uebergehung Bayerns den Bevollmächtigten eines anderen Staates. Sodann aber ergiebt sich, daß das Recht Bayerns lediglich auf einer Zusicherung Preußens beruht, welchen Gebrauch der Reichskanzler als Preuß. Bevollmächtigter von seiner Substitutions- befugniß machen werde, während der verfassungsrechtliche Grund- satz selbst, daß der Reichskanzler sich durch jedes andere Mitglied des Bundesrathes vertreten lassen könne, unverändert fortbesteht. Demnach kann der Reichskanzler mit Uebergehung der übrigen Preußischen Bevollmächtigten den Bayerischen sich substituiren und falls die Bayerischen Bevollmächtigten nicht anwesend oder verhindert sind, den Bevollmächtigten jedes anderen Staates. 18* §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. Endlich ist festzuhalten, daß die Krone Bayern nicht das Vice- präsidium des Bundes , sondern der Bayerische Bevollmächtigte den stellvertretenden Vorsitz im Bundesrathe zu beanspru- chen hat. 3) Die Leitung der Geschäfte , welche nach dem Art. 15 der R.-V. dem Reichskanzler zusteht, ist in der Geschäftsordnung des Bundesrathes näher spezialisirt. Demnach hat der Reichs- kanzler die Sitzungen anzuberaumen und zu eröffnen Gesch.-Ordn. §. 1. 4. . An ihn gelangen die Mittheilungen des Reichstages, die Anträge der ein- zelnen Bundesstaaten und alle sonstigen an den Bundesrath gerich- teten Eingaben Gesch.-Ordn. §. 7. 8. . „Der Reichskanzler kann Eingaben, die un- zweifelhaft nicht zum Geschäftskreise des Bundesrathes gehören, sofort selbst in geeigneter Weise erledigen und Beschwerden, aus denen nicht erhellt, daß der gesetzliche Instanzenzug erschöpft ist, zur Zeit zurückweisen“ Gesch.-Ordn. §. 8 Abs. 2. . Die in dieser Weise nicht erledigten Angelegenheiten werden vom Reichskanzler entweder auf die Tages-Ordnung der nächsten Sitzung gebracht oder, wenn sie sich auf eine, bereits einem Aus- schuß überwiesene Vorlage beziehen, diesem Ausschuß vorgelegt, wovon dem Bundesrath in der nächsten Sitzung Anzeige gemacht wird Gesch.-Ordn. §. 7. 8 Abs. 1 u. 3. Die auf Grund des §. 66 al. 2 des Reichsbeamten-Gesetzes eingehenden Rekurse werden von dem Vorsitzenden ohne Vortrag im Plenum, unmittelbar dem Ausschuß für Justizwesen über- wiesen. Protok. 1874 §. 116 (S. 82.) . Der Reichskanzler hat die zur Ausführung der Beschlüsse des Bundesrathes erforderlichen Verfügungen zu treffen Gesch.-Ordn. §. 15. . III. Ueber die Sitzungen des Bundesrathes und die Ord- nung des Geschäftsganges bestehen folgende Regeln. 1) Die Bevollmächtigten werden schriftlich zu den Sitzungen eingeladen. Die Einladungen werden vorbehaltlich ganz dringender Fälle am Tage vor der Sitzung den Mitgliedern des Bundes- rathes zugestellt Gesch.-Ordn. §. 1. . 2) Außer der Adresse und der Zeit der Sitzung sind in der Einladung, soweit als möglich , die Gegenstände der Berathung §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. anzugeben. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß Gegenstände zur Berathung kommen, welche in der, in der Einladung enthaltenen Tages-Ordnung nicht aufgeführt sind. Ausgenommen ist jedoch die Wahl für einen Ausschuß; sie darf nur vorgenommen werden, wenn sie in der Einladung ausdrücklich angekündigt ist Gesch.-Ordn. ebenda. Auch für andere Wahlen, z. B. der Mitglieder der Reichsschulden-Kommission u. dgl., wird in der Regel vorher der Tag, an welchem sie vorgenommen werden sollen, festgesetzt. . 3) Jeder Bevollmächtigte, welcher im Bundesrathe eine Stimme führt, ist befugt einen andern Bevollmächtigten sich zu substituiren. Dem Reichskanzler wird von jeder Substitution unverzüglich Mit- theilung gemacht. Die Substitution bleibt, wenn der Bevollmäch- tigte, welcher sie ertheilt hat, stirbt, so lange in Kraft, bis der Vollmachtgeber (Landesherr, Senat) des Verstorbenen wegen Füh- rung der Stimme eine andere Verfügung getroffen hat Gesch.-Ordn. §. 2. . 4) Die Eröffnung der Sitzung durch den Reichskanzler kann erfolgen, sobald die bestimmte Stunde geschlagen hat Gesch.-Ordn. §. 4. . 5) Die Ordnung der Sitze richtet sich nach der Reihenfolge, in welcher die Bundesstaaten im Art. 6 der R.-V. aufgeführt sind. In derselben Ordnung erfolgt die Abstimmung. Wenn ein Be- vollmächtigter die Stimmen mehrerer Bundesstaaten führt, so hat derselbe sie einzeln an der, jedem Staate zukommenden Stelle ab- zugeben Gesch.-Ordn. §. 5. . 6) Den Anfang der Sitzung macht die Feststellung des Pro- tokolls der letzten Sitzung. Hierauf folgen die vom Reichskanzler und den einzelnen Bevollmächtigten Namens ihrer Regierungen zu machenden Mittheilungen und einzubringenden Anträge; sodann die Vornahme der weiter auf die Tagesordnung gesetzten oder sonst, dem Antrage des Reichskanzlers gemäß zu verhandelnden Gegenstände und endlich findet Verabredung über die nächste Sitzung und vorläufige Anzeige der Gegenstände statt, welche darin vor- kommen dürften Gesch.-Ordn. §. 11. 12. 13. . 7) Ueber jede Sitzung wird ein Protokoll aufgenommen. Dasselbe muß enthalten: §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. a) die Namen der anwesenden Bevollmächtigten und des Pro- tokollführers b) die Gegenstände der Berathung c) die gestellten Anträge und d) die gefaßten Beschlüsse Gesch.-Ordn. §. 14 Abs. 1. . Protokollführer ist ein Beamter, welchen der Bundesrath auf Vorschlag des Reichskanzlers wählt. Wird der Vorschlag des Reichskanzlers vom Bundesrath nicht angenommen, so erfolgt ein neuer Vorschlag Gesch.-Ordn. §. 14 Abs. 2. . Ein Bericht, welcher die Gegenstände der Verhandlung und den wesentlichen Inhalt der Beschlüsse kurz zusammenfaßt, wird unmittelbar nach jeder Sitzung des Bundesrathes durch den Reichs- Anzeiger zur allgemeinen Kenntniß gebracht Gesch.-Ordn. §. 23 Abs. 1. Protok. 1872 §. 424. . Außerdem ist eine, in größern Zeitabschnitten erfolgende, für die Oeffentlichkeit bestimmte Ausgabe der Bundesraths-Verhandlun- gen, welche den Inhalt der Protokolle und der Drucksachen, soweit sich dieselben zur Veröffentlichung eignen, enthält, in Aussicht ge- nommen. Die Veranstaltung dieser Ausgabe soll durch das Reichs- kanzleramt im Einvernehmen mit dem Ausschusse für die Geschäfts- ordnung erfolgen. Nicht für die Oeffentlichkeit bestimmte Abdrücke der Protokolle, werden für den Gebrauch der Reichs- und Landesbehörden angefer- tigt. Sie sind in Paragraphen abgetheilt, welche immer durch ein Jahr fortlaufende Nummern haben. Sie führen den Titel: Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrathes des Deutschen Reiches. Session . . . . Berlin. Geh. Ober-Hof- buchdruckerei. Fol. Dazu gehört eine Sammlung der Anträge, Motive, Berichte, und anderen Anlagen, welche in derselben Ausstattung wie die Protokolle erscheint unter dem Titel: Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesrathes des Deutschen Reiches. Session . . . . Berlin. Geh. Ober.-Hofbuch- druckerei. Fol. Die auf Elsaß-Lothringen bezüglichen Verhandlungen werden §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. besonders gesammelt und gedruckt mit besonderer Zählung der Bundesraths-Sitzungen und der Paragraphen der Protokolle. 8) Der Beschlußnahme des Bundesrathes unterliegt zunächst die geschäftliche Behandlung des Gegenstandes. Dieselbe kann in dreifacher Art erfolgen Gesch.-Ordn. §. 12. : a) der Bundesrath entscheidet sich dafür, über die Sache selbst sofort oder nach einer zu bestimmenden Frist zu berathen und zu beschließen. b) Der Bundesrath verweist die Angelegenheit an einen der ständigen Ausschüsse. In diesem Falle kann der Bundes- rath gleichzeitig die Form, in welcher der Ausschuß Bericht zu erstatten hat, bezeichnen Protok. 1872 §. 87. Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 5. . c) Der Bundesrath beschließt, die Angelegenheit einem beson- ders zu wählenden (außerordentlichen) Ausschuß zu über- weisen. Alsdann ist gleichzeitig darüber Beschluß zu fassen, aus wie vielen Mitgliedern dieser Ausschuß bestehen soll. Wenn wegen Mangels an Instruktion die Aussetzung einer Abstimmung beantragt wird, so entscheidet der Bundesrath über diesen Antrag, eventuell über den Tag, an welchem die ausgesetzte Abstimmung erfolgen soll. IV. Ueber die Beschlußfassung des Bundesrathes gilt im Allgemeinen die Regel R.-V. Art. 5. , daß dieselbe mit einfacher Mehr- heit erfolgt und daß bei der Stimmengleichheit die Präsidial- stimme entscheidet, d. h. daß dasjenige Votum zum Beschluß er- hoben ist, , für welches die 17 Stimmen Preußens sich erklärt haben v. Mohl S. 236 nimmt an, daß wenn an einer Beschlußfassung gar kein preußischer Bevollmächtigter Theil nimmt, so daß Bayern den Vorsitz in Vertretung führte, die Bayrischen Stimmen im Falle der Stimmengleichheit den Ausschlag geben. Dies ist zweifellos unrichtig. Denn das Schlußprotok. Z. IX spricht nur von dem Vorsitz im Bundesrathe, nicht von einer stellvertretenden Ausübung anderer Präsidialrechte. Die „Präsidialstimme“ ist nicht identisch mit der Stimme des Vorsitzenden im Bundes rathe , sondern mit der Stimme des Bundes präsidiums d. i. Preußens. Vgl. S. 234 u. 276. . Bei der Berechnung der Majorität kommen nur die wirklich abgegebenen Stimmen in Betracht. Es werden daher nicht §. 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrathes. gezählt die Stimmen der Staaten, welche im einzelnen Falle nicht stimmberechtigt sind, wenn über eine Angelegenheit zu beschließen ist, welche nach den Bestimmungen der Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, und ferner diejenigen Stimmen, welche nicht vertreten oder nicht instruirt sind. Von dem Grundsatz, daß die einfache Stimmenmehrheit ent- scheidet, gibt es aber zwei Ausnahmen Art. 78 Abs. 2 bildet keine Ausnahme von den Regeln über die Be- schlußfassung des Bundesrathes. Die Zustimmung des einzelnen Bundesstaa- tes zur Aufhebung eines ihm zustehenden Sonderrechts ist ein neben dem Bundesrathsbeschluß stehendes (materielles) Erforderniß. Anderer Ansicht v. Mohl S. 236. : 1) Veränderungen der Verfassung sind abgelehnt, wenn sie 14 Stimmen gegen sich haben. Art. 78 Abs. 1. Die Vorfrage, ob der Gesetzesvorschlag eine Veränderung der Verfas- sung enthält oder nicht, wird durch diese Vorschrift nicht berührt; denn diese Vorfrage betrifft nicht eine Abänderung, sondern eine Auslegung der Verfassung. Sie wird daher durch einfache Mehr- heit entschieden Anderer Ansicht Seydel S. 104. 105. . 2) In einer Anzahl von Fällen genügt die Mehrheit der Stimmen nur dann zur Fassung eines Beschlusses, wenn in dieser Mehrheit die Präsidialstimme, d. h. die Stimme Preußens ent- halten ist. In diesen Fällen besteht nicht, wie man gewöhnlich sagt So z. B. v. Martitz Betrachtungen S. 42. Hiersemenzel I. S. 39 Note 6. Riedel S. 28. 97. v. Rönne S. 154. , ein Veto des Kaisers gegenüber einem Bundesrathsbeschluß; sondern es liegt die Annahme eines Vorschlages von Seiten des Bundesrathes überhaupt nicht vor Vgl. Meyer Grundzüge S. 69 Erörterungen S. 51. Westerkamp S. 95. . Trotzdem sich die Mehrheit für den Vorschlag erklärt hat, ist der Vorschlag von dem Bundesrath verworfen worden, weil die Annahme desselben an die zweifache Voraussetzung gebunden ist, daß die Mehrheit der Stimmen sich dafür erklärt und daß in dieser Mehrheit die Preußischen Stimmen enthalten sind Correct ist die Fassung des §. 3 der Gesch.-Ordn. des Bundesrathes. . Dieses zweifache Erforderniß ist durch die Ver- fassung aufgestellt in folgenden Fällen R.-V. Art. 7 Abs. 3. : §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. a) bei Beschlüssen über Gesetzes-Vorschläge , welche Aenderungen in den bestehenden Einrichtungen des Militärwesens und der Kriegsmarine herbeiführen R.-V. Art. 5 Abs. 2. Vgl. Gesch.-Ordn. §. 3 Ziffer 1. . b) bei Beschlüssen über Gesetzes-Vorschläge , welche Aenderungen in dem Zollwesen, oder in der Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Brannt- weins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Er- zeugnissen dargestellten Zuckers und Syrups herbeiführen R.-V. Art. 5 Abs. 2. Art. 35. . c) bei Beschlüssen über die Abänderung von Verwal- tungs-Vorschriften und Einrichtungen , welche zur Aus- führung der unter b aufgeführten Zoll- und Steuergesetze sowie derjenigen Reichsgesetze bestehen, welche den gegenseitigen Schutz der in den einzelnen Bundesstaaten erhobenen Verbrauchsabgaben gegen Hinterziehungen oder die in den Zollausschlüssen zur Siche- rung der gemeinsammen Zollgrenze erforderlichen Maaßregeln be- treffen R.-V. Art. 37 verglichen mit Art. 35. . d) Endlich kann man noch hierher rechnen die Beschlußfassung über die Auflösung des Reichstages während der Dauer der Legislatur-Periode R.-V. Art. 24. . Die Geschäfts-Ordn. des Bundesrathes Art. 3. Ziff. 3. stellt diesen Fall hierher Ebenso Thudichum V.-R. S. 104. Riedel S. 28. v. Rönne S. 151. v. Mohl S. 237. ; die Reichsverfassung führt ihn im Art. 5 nicht auf. Im praktischen Erfolge ist dies gleichgültig; für die theoretische Betrachtung besteht aber allerdings der Unterschied, daß zu der Auflösung des Reichstages die Zu- stimmung des Kaisers als eines vom Bundesrath verschie- denen , selbstständigen Organs des Reiches erforderlich ist, bei der Beschlußfassung über die in Art. 5. 35 und 37 aufgeführten Gegenstände die Stimme des Präsidiums d. h. die Stimme Preußens im Bundesrathe den Ausschlag gibt, wenn sie sich für die Aufrechthaltung der bestehenden Einrichtungen ausspricht. §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. I. Die Bundesraths-Ausschüsse sind Kommissionen des Bun- desrathes zur Vorbereitung der Bundesrathsbeschlüsse. Der Regel §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. nach sind die Ausschüsse nicht competent, Angelegenheiten definitiv zu erledigen oder Administrativ-Verordnungen zu erlassen, sondern ihre Hauptaufgabe besteht in der Bericht-Erstattung an das Ple- num; ausnahmsweise ist aber einzelnen Ausschüssen die selbststän- dige Erledigung gewisser Sachen übertragen. Wenn der Vergleich des Bundesrathes mit einem Reichs- Ministerium oben S. 233 als gänzlich unpassend bezeichnet werden mußte, so ist die Charakterisirung der Bundesraths-Ausschüsse, als versähen dieselben Funktionen von Ministerien So z. B. v. Martitz S. 66. Hauser S. 71. Auerbach S. 64. , noch um Vieles irriger und ungerechtfertigter, obwohl sie durch eine gelegentliche Bemerkung des Fürsten Bismarck in der Sitzung des Reichstages v. 16. April 1869 scheinbar bestätigt wird. Denn sie sind keine Behörden , am wenigsten solche, denen die Oberleitung der laufen- den Verwaltung obliegt. — Die Ausschüsse stehen vielmehr im All- gemeinen zu dem Bundesrath in einem ähnlichen Verhältniß wie die Kommissionen des Reichstages zu dem Plenum desselben Richtig Westerkamp S. 159. Vgl. auch Twesten im Verfass. Reichstag 1867. Stenogr. Berichte S. 355 und Minister Delbrück in der Reichstagssitzung vom 29. Mai 1873. Stenogr. Ber. S. 899. Die vollstän- digste Begriffs-Verwirrung spricht sich in der Beschreibung aus, welche v. Rönne S. 152 von den Bundesraths-Ausschüssen zum Besten giebt. Er sagt: „die Ausschüsse des Bundesrathes haben im Wesentlichen nur berathende oder rein geschäftliche (!?) Funktionen; es wird ihre Thätigkeit wenn der Gegenstand der Berathung zur Kompetenz des Bundesrathes gehört, von die- sem, sonst (?) aber von dem Kaiser vorgeschrieben (!). In allen übrigen (?) Beziehungen sind die Mitglieder der Ausschüsse nur sachverständige Ver- trauensmänner (!).“ Abgesehen davon, daß nicht abzusehen ist, wo der Gegen- satz zu „geschäftlichen“ Funktionen zu suchen ist, haben daher nach v. Rönne die Ausschüsse des Bundesrathes auch über solche Gegenstände zu berathen, die gar nicht zur Kompetenz des Bundesrathes gehören und zwar soll ihnen diese Thätigkeit vom Kaiser vorgeschrieben werden. Und neben diesen beiden Kreisen von Gegenständen, die entweder zur Kompetenz des Bundesrathes ge- hören oder nicht, kennt v. Rönne noch „übrige Beziehungen,“ in denen die Mitglieder der Ausschüsse angeblich sachverständige Vertrauensmänner sind. Wessen Vertrauen sie in diesen „Beziehungen“ auf sich vereinigen, hütet sich v. Rönne zu sagen; „sachverständig“ aber brauchen die Mitglieder des Aus- schusses so wenig zu sein, daß sie gerade bei technischen Fragen bei ihren Be- rathungen Sachverständige zuzuziehen pflegen. . Die Ausschüsse werden entweder für eine einzelne Angelegen- heit besonders niedergesetzt und heißen alsdann außerordent- §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. liche Zu dieser Klasse gehören auch der Ausschuß für die Verfassung und der Ausschuß für die Geschäfts-Ordnung, welche 1871 „für die gegenwärtige Session“ gebildet wurden Protok. 1871 §. 6; dann aber in jeder Session er- neuert wurden. Vgl. z. B. Protok. 1874 §. 15. 1875 §. 179 (S. 155). , oder sie bestehen für gewisse Kategorien von Geschäften als dauernde , ständige, ordentliche Fürst Bismarck im verf. Reichstage 26. März 1867. (Sten. Ber. S. 355): „Was den Ausdruck „ dauernd “ anbelangt, so ist derselbe dahin gemeint gewesen, daß dies nicht Ausschüsse sein sollen, die Einmal ad hoc zu einem bestimmten Zweck gewählt werden, sondern solche Ausschüsse, welche stets existiren sollen. Ob sie immer versammelt sein sollen, ob sie auch dann in Thätigkeit sein sollen, wenn der Bundesrath nicht versammelt ist, hängt von den Beschlüssen des Bundesrathes ab und von der Bedürfnißfrage.“ . Unter den letzteren ist der Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten durchaus anomal und eigenthümlich, da derselbe wie bereits oben ausge- führt worden ist, lediglich zur Information der Bundesregierungen über den Stand der auswärtigen Politik dient. Wenn von die- sem Ausschuß hier zunächst abgesehen wird, so lassen sich über die dauernden Ausschüsse folgende allgemeine Rechtssätze auf- stellen. 1) Die Ausschüsse werden gebildet „aus der Mitte“ des Bun- desrathes R.-V. Art. 8 Abs. 1. d. h. es kann Niemand Mitglied eines Ausschusses sein, welcher nicht Bevollmächtigter zum Bundesrath ist. 2) Die Zusammensetzung der Ausschüsse erfolgt bei Beginn jeder Session des Bundesrathes; beziehentlich alljährlich, wenn außerordentliche Bundesraths-Sitzungen nicht stattfinden. Nach der Gesch.-Ordn. des Bundesraths §. 17 erfolgt die Erneuerung der Ausschüsse nur bei dem Beginn jeder ordentlichen Session des Bundesrathes, also von Jahr zu Jahr. Die ausscheidenden Mit- glieder sind wieder wählbar R.-V. Art. 8 Abs. 2. . 3) In jedem dauernden Ausschusse müssen mindestens 5 Staaten vertreten sein und unter diesen muß sich „das Präsidium“ oder richtiger ausgedrückt Preußen befinden. Nach einem Bundes- rathsbeschluß von 1871 Protokoll §. 21. und der Geschäftsordnung des B.-R. §. 16 ist die Zahl von 5 Mitgliedern aber nur für den Ausschuß für das Seewesen beibehalten worden; alle übrigen Ausschüsse §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. bestehen aus 7 Mitgliedern Von dem 8. Ausschuß wird hier abgesehen. Auch die Ausschüsse für die Verfassung und für die Geschäftsordn. bestehen aus sieben Mitgliedern. . Neben den Mitgliedern können auch Stellvertreter ernannt werden. 4) Innerhalb der Ausschüsse führt jeder Staat nur Eine Stimme. R.-V. Art. 8. Wenn jedoch mehrere Ausschüsse zu ge- meinschaftlicher Berathung zusammentreten, so hat jedes Mitglied eine Stimme Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 1. . 5) Die Zusammensetzung der Ausschüsse erfolgt durch Wahl des Bundesrathes, abgesehen von den Ausschüssen für das Land- heer und die Festungen und für das Seewesen, für welche beson- dere Regeln gelten. Der Art. 8 der R.-V. sagt: „die Mitglieder der anderen Ausschüsse werden von dem Bundesrathe gewählt.“ Da unter „Mitgliedern des Ausschusses“ unmöglich „Mitglieder des Bundes“ verstanden werden können, sondern diejenigen Bun- desraths-Bevollmächtigten, welche den Ausschuß bilden sollen, so ergiebt sich nach dem Wortlaute der Verf., daß der Bundesrath diejenigen Personen zu wählen hat, welche den Ausschuß bilden sollen, wobei er nur die Vorschrift beachten muß, daß in jedem Ausschuß Preußen und noch mindestens 4 andere Staaten ver- treten sind. Wenn demnach ein Staat mehrere Bundesraths-Be- vollmächtigte ernannt hat, so ist nach dem Wortlaut des Art. 8. durch die Wahl des Bundesrathes zu bestimmen, welcher von die- sen Bevollmächtigten in einen gewissen Ausschuß eintreten solle. In der Geschäfts-Ordnung des Bundesrathes ist das Verfahren aber abgeändert worden. Es ist der Grundsatz daselbst anerkannt, daß die in einem Ausschusse vertretenen Staaten die Mitglieder des Ausschusses aus ihren Bevollmächtigten oder den für die letz- teren ernannten Stellvertretern ernennen Gesch.-Ordn. §. 17 Abs. 3. . Daraus ergiebt sich, daß in Beziehung auf die preußischen Bevollmächtigten jede Wahl des Bundesrathes ganz wegfällt; der König von Preußen (das Präsidium) ernennt aus den preuß. Bevollmächtigten für jeden Ausschuß seinen Vertreter. Dasselbe gilt von Bayern hinsichtlich seines Vertreters in dem Ausschusse für das Landheer und die Festungen. In Betreff der übrigen Mitglieder findet die Wahl des Bundesrathes in der Art statt, daß sie auf die Bundesstaaten §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. gerichtet ist, welche bei dem Ausschusse durch Mitglieder oder Stell- vertreter betheiligt sein sollen Die Wahl der Ausschuß-Mitglieder erfolgt also gewissermaßen indirect; der Bundesrath wählt den Staat und die Regierung des gewählten Staates designirt aus der Zahl ihrer Bevollmächtigten ihren Vertreter im Ausschuß. . Die Wahl erfolgt durch geheime Abstimmung. Es ist für die Wahlen keine Ausnahme gemacht hinsichtlich der Anzahl der Stimmen, welche jeder Staat im Bundesrathe führt; ebenso- wenig hinsichtlich des Verfassungs-Grundsatzes, daß diese Stimmen nur einheitlich abgegeben werden können. Da nun bei einer geheimen Ahstimmung dies nicht zu constatiren wäre, wenn jeder Bevollmächtigte eines mit mehreren Stimmen ausgestatteten Staates an der Wahl Theil nehmen würde, so folgt, daß für diejenigen Staaten, welche mehrere Stimmen haben, nur der „stimmführende“ Bevollmächtigte Stimmzettel abzugeben hat, und zwar so viele, als dem Staate Simmen zukommen Ob dieses Verfahren in der That bei den im Bundesrath stattfinden- den Wahlen beobachtet wird, ist aus der Gesch.-Ordn. nicht mit Bestimmtheit zu entnehmen; ebenso wenig aus den Protokollen des Bundesraths. . Für die Wahl gilt principiell das Erforderniß der absoluten Stimmen-Mehrheit; ergiebt sich dieselbe bei der ersten Abstimmung nicht, so findet eine zweite Wahl statt, bei welcher die relative Stimmen-Mehrheit und im Falle der Stimmengleichheit, soweit nöthig, das Loos entscheidet Gesch.-Ordn. §. 17 Abs. 2. Protok. 1872 §. 87. . 6) Den Vorsitz in den dauernden Ausschüssen (immer den achten ausgenommen) führt der Bevollmächtigte Preußens Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 2. . Die Mitglieder der Ausschüsse versammeln sich auf Einladung des Vor- sitzenden zur Erledigung ihrer Geschäfte am Sitze des Bundesrathes Gesch.-Ordn. §. 20 Abs. 2. . Die Wahl der Referenten erfolgt auf Vorschlag des Vorsitzenden mittelst Vereinbarung, oder in Ermangelung einer solchen durch Abstimmung des Ausschusses Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 3. . 7) Die Geschäfte der Ausschüsse bestehen hauptsächlich in der Abfassung der Berichte an den Bundesrath. Ob der Bericht münd- lich oder schriftlich erstattet werden soll, ist von dem Ausschusse selbst zu bestimmen, sofern nicht der Bundesrath bei Ueberweisung §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. der Sache die Form der Berichterstattung bereits vorgeschrieben hatte Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 5. . Den Ausschüssen werden die zu ihren Arbeiten nöthigen Be- amten zur Verfügung gestellt R.-V. Art. 8 Abs. 4. . Auch sind die Mitglieder des Ausschusses befugt, bei den Berathungen desselben sich der Hülfe geeigneter Beamten, (Regierungs-Kommissare, Dezernenten der Ministerien, und anderer Sachverständigen) zu bedienen; die letz- teren dürfen aber nicht selbstständig die Stimme ihres Staates führen, sondern haben nur die Aufgabe, Auskunft zu ertheilen. Solche, von den Ausschuß-Mitgliedern zu ihrer Hülfe zugezogene Beamte, sowie stellvertretende Bevollmächtigte, können auch Theil nehmen an den Berathungen des Bundesrathes über diejenigen Gegenstände, bei deren Berathung im Ausschusse sie mitgewirkt haben Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 6 §. 19. In den Protokollen des Bundes- rathes wird die Theilnahme solcher Beamter oder Stellvertreter jedesmal registrirt. . Die definitive Erledigung durch den Ausschuß selbst ist, ab- gesehen von den durch Reichsgesetze einem Ausschuß zugewiesenen Geschäften, der Regel nach ausgeschlossen. Es gilt dies ausnahms- los hinsichtlich der Beschlüsse des Reichstages und der Anträge einer Bundesregierung. Nur „Eingaben“ an den Bundesrath, die nach Inhalt und Form zum Vortrag im Plenum nicht geeignet erscheinen, kann der Ausschuß einfach zu den Akten geben Gesch.-Ordn. §. 18 Abs. 4. . 8) Die dauernden Ausschüsse können auch dann in Thätigkeit treten, wenn der Bundesrath nicht versammelt ist, also in der Zwischenzeit zwischen den Sessionen des Bundesrathes F. Bismarck im Verfassungber. Reichst. Stenogr. Ber. S. 356. . Die Aus- schuß-Mitglieder werden alsdann von dem Vorsitzenden des Aus- schusses nach Berlin einberufen. Wenn in der Zwischenzeit von dem Ausschuß schriftliche Berichte festgestellt werden, so bleiben dieselben nicht bis zur Eröffnung der Bundesrathssitzung liegen, sondern sie werden sofort gedruckt und vertheilt Gesch.-Ordn. §. 20. . II. Neben diesen allgemeinen Regeln gelten für die einzelnen dauernden Ausschüsse noch folgende, besondere Vorschriften: §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. 1. Der Ausschuß für das Landheer und die Fe- stungen . (7 Mitglieder.) Ein Mitglied desselben ernennt Bayern, die übrigen der Kaiser R.-B. Art. 8 Abs. 2. . Durch die Württembergische Militär-Konvention Art. 15 Abs. 2 und durch die Sächsische Militär-Konvention Art. 2 ist den beiden Königreichen die Zusicherung ertheilt worden, „jederzeit in dem Ausschusse vertreten zu sein.“ Das Ernennungsrecht hat daher der Kaiser auch hinsichtlich des Württembergischen und Sächsischen Mitgliedes R.-V. a. a. O. Bayern hat einen ständigen Sitz; „ die übrigen Mitglieder . . . . werden vom Kaiser ernannt.“ , nur die Ausübung dieses Rechtes ist beschränkt. Thatsächlich erfolgt jedoch diese Ausübung in der Art, daß der Kaiser die Staaten bezeichnet, diesen die Ernennung der Bevollmächtigten überlassend Protok. 1871 §. 32: „der Vorsitzende brachte ferner zur Kenntniß, daß durch Erlaß des Kaisers für die diesjährige Session des Bundesrathes ernannt sind zu Mitgliedern und zwar: 1. des Aussch. des Bundesr. f. das Landh. u. die Festungen, in welchem Preußen und Bayern auf Grund der Verf. vertreten sind: Königreich Sachsen, Württemberg, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen- Koburg, Anhalt. 2. des Aussch. des B. für das Seewesen, in welchem Preußen auf Grund der Verf. vertreten ist: Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Lübeck, Bremen.“ Vgl. Protok. 1874 §. 5. 1875 §. 177. . Die Selbstständigkeit der Militär- Verwaltung des Württembergischen und Sächsischen Armeecorps würde übrigens auch ohne besondere Zusicherung eine Vertretung dieser beiden Staaten in dem Ausschusse als geboten erscheinen lassen. Neben der Bericht-Erstattung an den Bundesrath in allen, das Militärwesen und die Festungen angehenden Angelegenheiten liegt diesem Ausschuß die Vermittelung der laufenden dienstlichen Beziehungen zwischen der Königl. Preußischen Militär-Verwaltung und den Bundesstaaten mit selbstständiger Militär-Verwaltung ob R.-V. Art. 63 Abs. 5. Sächs. u. Württemb. Milit.-Convent. a. a. O. Abweichend davon bestimmt das Bayer. Verfassungsbündniß III. §. 5 Z. III. Abs. 6: Zur steten gegenseitigen Information in den durch diese Vereinbarung geschaffenen militärischen Beziehungen erhalten die Militär-Bevoll- mächtigten in Berlin und München über die einschlägigen Anordnungen entsprechende Mittheilung durch die resp. Kriegsministerien. . §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. Die durch das Ges. v. 2. Mai 1874 §. 9 diesem Ausschuß zugewiesene Beschlußfassung über Abweichungen von dem gesetzlichen Maßstabe der Vertheilung des Rekrutenbedarfs, sowie die ihm in Gemeinschaft mit dem vierten Ausschuß zustehende Entscheidung über die Erweiterung von Festungs-Thoren ꝛc. nach dem Ges. v. 30. Mai 1873 Art. IV sind bereits oben erwähnt worden. 2. Der Ausschuß für das Seewesen . (5 Mit- glieder.) Die Mitglieder desselben werden vom Kaiser ernannt R.-V. Art. 8 Abs. 2. und zwar ebenfalls in der Art, daß der Kaiser die Staaten be- zeichnet, welche in diesem Ausschuß vertreten sein sollen Siehe S. 287 Note 3. . Zu den Geschäften, welche diesem Ausschusse obliegen gehört nach §. 9 des Ges. vom 9. Nov. 1867 die Vertheilung der für die Kriegs- marine erforderlichen Rekruten auf die einzelnen Bundesstaaten. Der Ausdruck „für das Seewesen“ läßt eine Mißdeutung zu, indem er auch die Handelsmarine mit umfaßt. Es ist aber zwei- fellos, daß dieser Ausschuß für die Kriegs -Marine bestimmt ist, was schon daraus sich ergiebt, daß nach der Terminologie der Nordd. Bundesverfassung seine Mitglieder von dem „Bundesfeld- herrn“ ernannt werden. Die Angelegenheiten der Handesmarine gehören im Allgemeinen zu dem Geschäftskreis des vierten Aus- schusses, was nicht ausschließt, daß bei den zahlreichen Berührungs- punkten zwischen der Kriegs- und Handels-Marine beide Ausschüsse vereinigt berathen Vgl. Fürst Bismarck im verfassungber. Reichstag. Stenogr. Ber. S. 355. . 3. Der Ausschuß für Zoll- und Steuerwesen . (7 Mitglieder, 1 Stellvertreter.) Diesem Ausschuß ist durch die Reichsverf. Art. 36 eine Mit- wirkung bei der Ernennung der Reichsbeamten zur Controlle der Zoll- und Steuerverwaltung zugewiesen. Im Zusammenhange damit steht die Bestimmung der Gesch.-Ordn. §. 21 Abs. 1, daß der Ausschuß von dem Reichskanzler in fortlaufender Kenntniß von den Berichten dieser Reichsbeamten gehalten und über die Aenderungen in dem Personal dieser Beamten vernommen wird. Der Ausschuß hat aber eine noch weiterreichende Kompetenz. §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. Es ist oben näher dargelegt worden, welche Stellung der Bundes- rath nach Art. 36 Abs. 3 bei der Verwaltung der Zölle und Ver- brauchssteuern einnimmt. Die Wahrnehmung dieser Funktion ist, wenn der Bundesrath nicht versammelt ist, in dringenden Fällen dem dritten Ausschuß im Einvernehmen mit dem vierten unter Vorbehalt der Genehmigung des Plenums übertragen. Die Gesch.- Ordn. §. 21 Abs. 2 bestimmt: „Er (der dritte Ausschuß) ist, wenn der Bundesrath nicht versammelt ist, befugt, über die zur Aus- führung der im Art. 35 der Bundesverf. bezeichneten Gesetze die- nenden Verwaltungs-Vorschriften und Einrichtungen in dringlichen Fällen und nach Einvernehmen mit dem Ausschuß für Handel und Verkehr Beschluß zu fassen. Er hat solche Beschlüsse dem Bundesrathe bei dessen nächstem Zusammentreten zur nachträglichen Genehmigung vorzulegen.“ 4. Der Ausschuß für Handel und Verkehr . (7 Mit- glieder 1 Stellvertreter.) Das Zusammenwirken dieses Ausschusses mit dem ersten, zweiten und dritten hat bereits Erwähnung gefunden; ebenso oben S. 265 seine Theilnahme an der Abgränzung der Jurisdictions- Bezirke der Konsuln. Nach Art. 56 Abs. 1 der R.-V. stellt der Kaiser die Konsuln nach Vernehmung dieses Ausschusses an Siehe oben Seite 262. . 5. Der Ausschuß für Eisenbahnen, Post und Telegraphen . (7 Mitglieder.) Wenn auf Grund des Art. 46 der R.-V. bei eintretenden Nothständen der Kaiser einen niedrigeren Spezialtarif für den Eisenbahn-Transport von Lebensmitteln anordnet, so ist der Tarif auf Vorschlag dieses Ausschusses festzustellen R.-V. Art. 46 Abs. 1. . 6. Der Ausschuß für Justizwesen . (7 Mitglieder, 1 Stellvertreter.) 7. Der Ausschuß für Rechnungswesen . (7 Mit- glieder, 1 Stellvertreter.) Diesem Ausschuß liegt in Bezug auf das Finanzwesen des Reiches eine sehr bedeutende Thätigkeit ob. Die Reichsverfassung selbst hat im Art. 39 ihm eine Controle hinsichtlich der finanziellen Resultate der Zoll- und Steuerverwal- Laband , Reichsstaatsrecht. I. 19 §. 31. Die Bundesraths-Ausschüsse. tung zugewiesen, indem die Quartal- und Jahres-Abschlüsse in übersichtlichen Zusammenstellungen von den Directivbehörden der Bundesstaaten ihm einzusenden sind, worauf er von drei zu drei Monaten den von der Kasse jedes Bundesstaates der Reichskasse schuldigen Betrag vorläufig festsetzt, von dieser Feststellung den Bundesrath (durch Vermittelung des Reichskanzlers) Gesch.-Ordn. §. 22 Ziff. 2. und die Bundesstaaten in Kenntniß setzt und dem Bundesrathe Bericht abstattet. In dieser Beziehung ist der Ausschuß an die Stelle des ehemaligen Centralbureaus des Zollvereins getreten. Art. 39 der R.-V. zeigt durch seine ganze Fassung seinen Ursprung aus dem Art. 29 des Zollvereins-Vertrages v. 16. Mai 1865. Ueberdies aber ist dieser Ausschuß gewissermaßen die Budget- Kommission des Bundesrathes. Sowohl der Entwurf des Reichs- haushalts-Etats als auch die Jahresrechnung über die Verwendung der Einnahmen des Reiches werden ihm vom Reichskanzler vor- gelegt, von ihm geprüft und zur Beschlußnahme des Bundesrathes vorbereitet Gesch.-Ordn. §. 22 Z. 1. . Bei der Prüfung des Etats-Entwurfes haben aber die bei den einzelnen Etatstiteln betheiligten anderen Ausschüsse mitzuwirken; der 7. Ausschuß vertritt den Bedürfnissen der Ver- waltungszweige gegenüber im Allgemeinen die spezifisch finanziellen Gesichtspunkte. Damit im Zusammenhange steht die Aufgabe dieses Aus- schusses, sich von dem Kassen- und Rechnungswesen des Reiches in Kenntniß zu erhalten Gesch.-Ordn. §. 22 Z. 3. Vgl. unten den Abschnitt vom Finanzwesen . Ferner sind die 3 aus der Mitte des Bundesrathes zu ent- nehmenden Mitglieder der Bundesschulden-Kommission der jedes- malige Vorsitzende und zwei Mitglieder dieses Ausschusses Ges. vom 19. Juni 1868 §. 4. (B.-G.-Bl. S. 339.) . 8. Der Ausschuß für die auswärtigen Angele- genheiten . Bei diesem allein ist die Anzahl der Mitglieder durch die Verfassung Art. 8 Abs. 3 festbestimmt; er besteht aus den Bevoll- mächtigten Bayerns, Sachsens und Württembergs und zweier vom Bundesrath zu wählenden Staaten. In dieser Art wenigstens wird nach der Gesch.-Ordn. die Vorschrift der Verf., daß die Be- §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. vollmächtigten zu wählen sind, ausgeführt. In Bezug auf die Zusammensetzung unterscheidet sich dieser Ausschuß von den übrigen ferner dadurch, daß die Verfassung selbst die Wahl der beiden Mitglieder alljährlich, nicht bei jeder Session des Bundesrathes in Aussicht nimmt Vgl. oben S. 283. . Ueber die ihm zugewiesenen Funktionen siehe S. 249. 9. Der Ausschuß für Elsaß-Lothringen . (7 Mit- glieder, 2 Stellvertreter.) Die Einrichtung dieses Ausschusses beruht auf einem Bundes- raths-Beschluß vom 27. Mai 1871 Protok. 1871 §. 272. Die Wahl von 2 Stellvertretern wurde erst etwas später beschlossen. Protok. 1871 §. 307. . Die Thätigkeit, welche dem- selben obliegt, ist eine sehr vielseitige, da dem Reichslande gegen- über der Bundesrath bei weitem umfassendere Regierungs-Funk- tionen wahrzunehmen hat, wie gegenüber den Bundesstaaten Vgl. unten den Abschnitt über das Reichsland. . Der Ausschuß für Elsaß-Lothringen unterscheidet sich von allen übrigen Bundesraths-Ausschüssen dadurch ganz spezifisch, daß er nicht für ein sachlich abgegrenztes Ressort, sondern für ein räum- lich begränztes Gebiet bestellt ist. Alle Zweige der staatlichen Ordnung und der Verwaltung können den Gegenstand seiner Be- rathung und Beschlußfassung bilden. Aus diesem Grunde aber kömmt es grade bei diesem Ausschuß besonders häufig vor, daß er mit einem der übrigen Ausschüsse, zu deren Ressort die betref- fende Angelegenheit in sachlicher Beziehung gehört, vereinigt beräth und beschließt. Dritter Abschnitt . Die Reichsbehörden und Reichsbeamten. A. Die Reichsbehörden Eine Uebersicht über dieselben gewährt das im Reichskanzler-Amt be- arbeitete „Handbuch des Deutschen Reiches für 1874.“ Berlin v. Decker. . §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. I. Dem bundesstaatlichen Charakter des Reiches und dem oben dargelegten Verhältniß der Einzelstaaten zum Reich entsprechend, 19* §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. ist im Allgemeinen die Durchführung der staatlichen Aufgaben und die Besorgung der einzelnen staatlichen Geschäfte der Selbst- verwaltung der Einzelstaaten überlassen, das Reich da- gegen auf die Aufstellung der Normen für diese Verwaltung und auf ihre Kontrole beschränkt. Daraus ergiebt sich, daß das Reich einen viel geringeren Apparat von Behörden und Aemtern bedarf, als Einzelstaaten von ähnlicher Größe ihn bei dem heutigen Um- fange und der Vielgestaltigkeit der staatlichen Geschäfte nöthig haben; daß man aber andererseits einen sehr großen Theil der Behörden und Beamten der Einzelstaaten in demselben Sinne als mittelbare Reichsbehörden und Reichsbeamte bezeichnen kann, wie man die Behörden und Beamten der Gemeinden, der Kreise oder anderer Selbstverwaltungs-Körper innerhalb der Einzelstaaten mittelbare Staatsbehörden und Staatsbeamte nennt. Sowie der „Deutsche Staat“ im vollen Sinne des Wortes und im vollen Umfange seiner Aufgaben nur durch Reich und Einzelstaat zu- sammen verwirklicht wird (siehe oben S. 83 fg.), so werden auch die zur Durchführung dieser Aufgaben dienenden Geschäfte nur durch das Zusammenwirken von Reichs- und Landesbehörden er- ledigt und die letzteren bilden einen sehr großen Bestandtheil des kunstvollen Apparates von Behörden, mittelst dessen das Reich seine Lebensfunktionen ausübt. Aber grade so wie es für die staatsrechtliche Bestimmung des Verhältnisses von Reich und Ein- zelstaat wesentlich ist, beide in ihrem Gegensatz zu einander auf- zufassen, als von einander unabhängige Subjecte verschiedener Hoheitsrechte, so ist es auch für die Darstellung der Behörden- Organisation geboten, die Reichsbehörden im Gegensatz zu den Landesbehörden zu nehmen und nur diejenigen Aemter darunter zu verstehen, welche unmittelbar dem Reiche angehören und diejenigen staatlichen Geschäfte des Reiches erledigen, welche nicht der Selbstverwaltung der Einzelstaaten übertragen oder überlas- sen sind. Der Kreis der dem Reiche obliegenden staatlichen Geschäfte hat sich seit der Gründung des Norddeutschen Bundes fortwährend vermehrt und demgemäß ist die Zahl der zu ihrer Erledigung be- stimmten Aemter von Jahr zu Jahr gewachsen. Nach der Verfassung, wie sie bei Gründung des Norddeutschen Bundes festgestellt wurde, stand dem Reiche außer der Aufsicht §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. über die Selbstverwaltung der Einzelstaaten eine eigene Verwaltung nur zu hinsichtlich der Post- und Telegraphie, und auf Grund der Art. 11 und 56 die Möglichkeit, eine eigene Verwaltung der aus- wärtigen Angelegenheiten und des Konsulatswesens einzurichten. Mit der Ausübung der dem Reiche zustehenden Gesetzgebungsbe- fugniß, mit der Ausdehnung der Reichsfinanzwirthschaft, mit dem Erwerb von Elsaß-Lothringen, mit der Herstellung einheitlicher Einrichtungen haben sich auch zahlreiche laufende Geschäfte, die das Reich unmittelbar besorgen muß, herausgebildet und in Folge davon hat sich der Behörden-Organismus des Reiches mehr und mehr verzweigt. Zu einem prinzipiellen Abschluß ist diese Ent- wicklung noch nicht gelangt; sie trägt, wie alles Historisch-Entstan- dene den Charakter des Zufälligen, des Willkührlichen und Ver- änderlichen. II. Ein Staatsamt ist ein durch das öffentliche Recht be- gränzter Kreis von staatlichen Geschäften Vgl. Pözl in Bluntschli und Brater’s Staatswörterb. I. S. 204 ff. Artikel „Amt.“ v. Seybold Das Institut der Aemter. München 1854 und dazu Zöpfl in den Heidelberger Jahrbüchern 1854 S. 760 fg. . Ein Staatsamt ist niemals ein Rechtssubject und hat niemals Befugnisse irgend welcher Art; es ist vielmehr stets eine objective Institution, ein Inbegriff von Geschäften . Da aber staatliche Geschäfte nur durchgeführt werden können durch Ausübung der dem Staate zustehenden Hoheitsrechte Unter Staatsamt versteht man zwar oft auch einen Kreis von Ge- schäften rein wirthschaftlichen Inhalts, z. B. behufs der Verwaltung von Forsten, Domänen, Bergwerken, Fabriken, Eisenbahnen u. s. w., welche dem Fiskus gehören. Der staatliche Charakter kömmt bei diesen Aemtern nur dann in Betracht, wenn sie zugleich die Handhabung der Polizei, der öffentlichen Wohlfahrtspflege mit einschließen. Sonst sind diese Aemter streng genommen nicht staatliche, sondern fiskalische und rücksichtlich des Wir- kungskreises nicht unterschieden von der Verwaltung von Forsten, Bergwerken, Eisenbahnen u. s. w., welche Privatpersonen gehören. Man nennt ja auch allgemein Personen, welche zur Führung von wirthschaftlichen Geschäften von Privatleuten dauernd angestellt sind, Beamte . Vgl. Bluntschli Allgemeines Staatsr. II. S. 121 (4. Aufl.) , so enthält der Auftrag zur Führung staatlicher Geschäfte zugleich immer auch eine Delegation derjenigen Hoheitsrechte des Staates, welche zur Führung der Geschäfte er- forderlich sind. Wer daher ein obrigkeitliches Staatsamt führt, §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. der übt immer zugleich die Staatsgewalt aus; aber nicht als ein subjectives, ihm persönlich zustehendes Recht, sondern lediglich als Correlat der ihm obliegenden Geschäfte. Die Delegation der Staatsgewalt oder einzelner, in derselben enthaltenen Machtbefug- nisse kann niemals getrennt gedacht werden von der Pflicht, die- jenigen Geschäfte zu führen, welche den Wirkungskreis eines Amtes bilden. Es gehört demnach zu einem Amte nicht nur ein Kreis von staatlichen Geschäften, sondern auch ein entsprechender Kreis von öffentlich-rechtlichen Befugnissen (Hoheitsrechten), eine Amts- gewalt. Man kann deshalb das Amt selbst personifiziren und als das dauernde Subject von staatlichen Hoheitsrechten und staatlichen Pflichten sich denken, im Gegensatz zu dem Beamten, dem das Amt zeitweilig übertragen ist. In diesem Sinne nennt man das Amt eine Behörde . Auch der Ausdruck Behörde bedeutet nicht eine Person (Beamten), sondern eine Institution; aber im Gegensatz zum Amt nicht einen Kreis von Geschäften, sondern das ideelle Subject derjenigen Rechte und Pflichten, welche mit der Führung der, zu einem Amte geeinigten Geschäfte verknüpft sind. Allein auch die Behörde ist niemals selbstständig berechtig- tes Subject, sondern nur der Staat selbst ist das wirkliche Rechtssub- ject aller Hoheitsrechte. Die Staatsgewalt ist nicht getheilt unter die Behörden, so daß jeder der letzteren ein, ihrer Kompe- tenz entsprechender Antheil an der Staatsgewalt zustünde, sondern die Behörden sind nur Apparate des Staates, mittelst deren er seine Staatsgewalt ausübt. Das Verhältniß der Behörden zum Staat ist auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts genau dasselbe wie das Verhältniß der einzelnen Staatskassen (sogen. fiskalischen Stationen) zum Fiskus auf dem Gebiet des Privatrechts. Daß man die einzelnen fiskalischen Stationen äußerlich und rechnungs- mäßig wie selbstständige juristische Personen behandelt, beruht lediglich auf technischen Gründen der Zweckmäßigkeit; sie werden dadurch nicht zu wirklichen juristischen Personen des Privatrechts. Ebenso beruht die formelle Behandlung der Behörden als wären sie Inhaber von staatlichen Hoheitsrechten nur auf Gründen tech- nischer Art, auf Rücksichten der Zweckmäßigkeit. Sie fungiren äußer- lich so, als wären sie Subjecte von Befugnissen, welche in der Staatsgewalt enthalten sind; in Wirklichkeit sind sie aber nicht §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. berechtigte Subjecte, sondern nur der Staat selbst ist das alleinige Subject der gesammten und ungetheilten Staatsgewalt. Amtsge- walt ist Nichts anderes als Staatsgewalt. Es folgt hieraus, daß niemals eine Behörde dem Staate gegenüber ein subjectives Recht hat. Dadurch ist der begriffliche Gegensatz zwischen einer Staatsbehörde und einem Selbstverwaltungs-Körper, oder dem Inhaber eines patrimonialen (feudalen) Hoheitsrechts gegeben. Nur den Unterthanen gegenüber erscheint die Behörde als Subject von Hoheitsrechten, indem sie gewissermassen die concrete Mani- festation des Staates darstellt und mit dem Staate selbst identisch wird. Im Verhältniß zum Staate dagegen hat die Behörde nur etwa die Bedeutung wie ein Rad oder eine Schraube an einer Maschinerie. Es kann daher der Staat nach freiem Ermessen den Geschäfts- kreis einer Behörde verändern, erweitern oder verengern, auf eine andere Behörde übertragen u. s. w. und dadurch die öffentlich- rechtlichen Befugnisse, welche eine Behörde bis dahin ausgeübt hat, ihr ganz oder theilweise entziehen, ohne daß die Behörde ein Widerspruchsrecht dagegen hat. Wenn ein gewisser Kreis von Geschäften einer Behörde abgenommen und einer anderen über- tragen wird, so finden darauf in keiner Beziehung die Grund- sätze von der Succession in Rechte Anwendung, weder von der Universal-Succession noch von der Singular-Succession, denn es hat ein Uebergang subjectiver Rechte überhaupt nicht stattgefunden. Wenn Jemand, sei es eine Privatperson oder eine andere Staats- behörde unbefugter Weise oder mit Ueberschreitung ihrer Kompetenz in den Geschäftskreis einer Behörde eingreift, so ist dies nicht die Verletzung eines subjectiven Rechts dieser Behörde oder ihrer Mitglieder, sondern eine Verletzung der objectiven Rechts-Ordnung. Es kann weder durch Privat-Transactionen unter den betheiligten Behörden oder Beamten eine derartige Störung der objectiven Grundsätze über die planmäßige Vertheilung der staatlichen Ge- schäfte gesühnt oder legalisirt werden, noch hat andererseits die Behörde oder der Beamte wegen eines Eingriffes in die Kompe- tenz einen subjectiven Anspruch auf eine Genugthuung irgend wel- cher Art. III. Auf Grund dieser allgemeinen Sätze über das Wesen §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. der Staatsämter und Staatsbehörden läßt sich nun der juristische Begriff der Reichsbehörden und ihre staatsrechtliche Stellung im Verfassungsbau des Reiches bestimmen Die bisherige Literatur des Reichsstaatsrechts bietet hierfür Nichts. In der überwiegenden Mehrzahl aller hierher gehörenden Werke wird diese Lehre völlig übergangen. Die kurze Darstellung in Thudichum ’s Verfas- sungsr. des Nordd. Bundes S. 219 ist durch die inzwischen erfolgte Fortbil- dung des Reichsrechts antiquirt. Die dürftigen Bemerkungen bei v. Rönne S. 181 ff. sind völlig unbrauchbar; eine staatsrechtliche Erörterung des Be- hörden-Organismus fehlt bei ihm gänzlich. v. Held Verf. des Deutschen Reiches S. 168 ff. beschränkt sich auf eine politische Kritik und vermag auch hier in der Reichsverfassung fast Nichts als ein widerspruchsvolles Chaos zu erblicken. . 1) Reichsbehörden sind diejenigen Behörden, welche Geschäfte des Reiches führen und ihre Autorität unmittelbar von der Reichsgewalt ableiten. Dadurch ist das unterscheidende Merkmal zwischen Reichs- und Landesbehörden gegeben. Nicht entscheidend ist der Umstand, ob die Mitglieder der Behörde Reichsbeamte im Sinne des Reichsbeamten-Gesetzes vom 31. März 1873 sind oder nicht. Der Begriff der Reichsbeamten wie ihn dieses Gesetz aufstellt, reicht zum Theil viel weiter Siehe unten §. 37. , zum Theil giebt es Reichsbehörden, deren Mitglieder nicht Reichsbeamte sind z. B. Die Reichsschulden-Kommission, das Kuratorium der Reichs- bank u. a. . Der Regel nach sind aber die Mitglieder der Reichsbe- hörden zugleich Reichsbeamte. Ebenso wenig ist der Umstand entscheidend, ob die Mitglieder der Behörden vom Kaiser oder in dessen Auftrage ernannt werden oder nicht. Denn es ist völlig zulässig, daß der Bundesrath oder Reichstag Mitglieder der Behörden ernennt Nicht blos sie zur Ernennung dem Kaiser vorschlägt. Auch hier bieten die Reichsschulden-Kommission und das Bank-Kuratorium Beispiele; ferner die Reichstags-Beamten u. a. oder daß die Einzelstaaten befugt sind, Reichsbehörden zu besetzen z. B. die unteren Aemter der Post- und Telegraphen-Verwaltung. . Die Regel ist aber auch hier, daß der Kaiser die Reichsämter be- setzt und diese Regel ist verfassungsmäßig anerkannt durch den §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. Satz des Art. 18 der R.-V. „der Kaiser ernennt die Reichsbeam- ten“ Man darf aber Reichsbeamte und Reichsbehörden nicht völlig identi- fiziren. (Siehe unten § 37). . Begrifflich unerheblich ist es ferner, daß die Thätigkeit der Be- hörden durch Gesetze und Verordnungen des Reiches geregelt wird. Denn auch die Landesbehörden haben die Reichsgesetze zu handhaben und können in ihrer amtlichen Thätigkeit durch die vom Reiche er- gangenen Vorschriften ebenso vollständig wie die Reichsbehörden ge- bunden sein; während andererseits das Reichs-Oberhandelsgericht neben dem Reichsrecht auch die partikulären Prozeß-Ordnungen und Civilrechts-Gesetze der einzelnen Staaten zur Geltung bringt. Im Allgemeinen gilt aber der Grundsatz, daß die Thätigkeit der Reichs- behörden nicht durch die Autonomie der Einzelstaaten geregelt wird, wohl aber die Landesbehörden derselben unterworfen sind. Endlich ist es von Wichtigkeit festzuhalten, daß Reichsbehörden und Landesbehörden nicht in der Art Gegensätze sind, daß nicht eine Behörde beides zugleich sein kann. Freilich nicht hinsichtlich desselben Geschäfts; ein Geschäft kann immer nur entweder ein Geschäft des Reiches oder ein Geschäft des einzelnen Staates, nicht beides zugleich sein. Aber es besteht kein Hinderniß, daß nicht einer Behörde eines Einzelstaates neben dem ihr übertragenen Kreise von Staatsgeschäften auch noch ein Kreis von Reichsgeschäften zu- wiesen wird und ihr die dazu erforderliche Reichsgewalt delegirt wird. Besonders häufig tritt der Fall bei preuß. Staatsbehörden ein, daß sie gleichzeitig Reichsbehörden sind Die Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Deutschen Reichs, die Hauptverwaltung der Staatsschulden als Reichsschulden-Verwaltung, die Generalstaatskasse als Reichshauptkasse, das General-Auditoriat als Marine- Justizbehörde, das Appellationsgericht in Stettin als Ober-Konsulargericht u. s. w. . Dagegen ist für den Unterschied zwischen Reichsbehörden und Landesbehörden entscheidend das Recht der Einzelstaaten auf Selbst- verwaltung. Soweit dem Einzelstaate nach der Verfassung und den Gesetzen des Reiches die Verwaltung als eigenes Recht zusteht, ist die Führung dieser Verwaltung ein Geschäft des Einzelstaates, nicht des Reiches, und die Ausstattung einer Behörde mit der zur Führung dieser Geschäfte erforderlichen Amtsgewalt hat ihre Quelle in der Staatsgewalt des Einzelstaates. Deshalb sind die §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. Gerichte, welche das Reichsstrafgesetzbuch, das Reichshandelsgesetz- buch u. s. w. anwenden, die Zollbehörden mit Ausnahme der kaiserlichen Zollämter in Hamburg und Bremen, die Eichungsämter, Strandämter, Heimathsämter u. s. w. Landesbehörden. Aus demselben Grunde sind alle Militär-Verwaltungs-Behör- den nicht Reichsbehörden, sondern Landesbehörden, und zwar nicht nur in Bayern, sondern im ganzen Reiche. Denn die Reichsverf. überträgt zwar den Oberbefehl auf den Kaiser, stattet das Reich mit der uneingeschränkten Befugniß zur Militärgesetzgebung aus und macht die gesammten Kosten des Militärwesens zu einem Theile der Reichsfinanzwirthschaft; aber sie entzieht den einzelnen Staaten weder die sogen. Militärhoheit noch die eigene Militär- Verwaltung. Soweit durch Militär-Konventionen die Deutschen Staaten auf diese Rechte verzichtet haben, ist die Ausübung der- selben auf Preußen übergegangen; das preußische Kriegsmini- sterium ist aber ebenso wenig eine Reichsbehörde wie das württem- bergische und das sächsische In dem „Verzeichniß der Reichsbehörden“ im R.-G-Bl. 1874 S. 136 werden diese 3 Kriegsministerien zwar als oberste Reichsbehörden bezeichnet und ebenso werden hier die übrigen Militärbehörden aufgeführt. Dieses Ver- zeichniß bezieht sich aber auf das Reichsbeamten-Gesetz und es ist deshalb der Ausdruck Reichsbehörde in demjenigen Sinne genommen, welcher der in dem cit. Gesetz gegebenen Definition von Reichs beamten entspricht. und von diesen Landesbehörden ist das Bayerische Kriegsministerium nur durch die größere Selbst- ständigkeit und Unabhängigkeit dem Reiche gegenüber, aber nicht hinsichtlich des Rechtsgrundes seiner Amtsgewalt, verschieden. Nur in Bezug auf das preußische Kreigsministerium ist dies in soweit einzuschränken, daß dasselbe in einigen Beziehungen zugleich als Reichsbehörde fungirt, indem es zur Ausübung der dem Reiche zustehenden obersten Leitung und Kontrole in Angelegenheiten der Heeresverwaltung dient. 2) Da ein Reichsamt ein durch Rechtsvorschriften begränzter Kreis von Geschäften des Reiches ist, so ergiebt sich hieraus auch das Verhältniß der Reichsbehörden zu den übrigen Organen des Reiches. Der Geschäftsführer des Reiches ist der Kaiser. Daraus folgt, daß alle Inhaber von Reichsämtern Gehülfen des Kaisers sind, da sie Geschäfte besorgen, welche ideell dem Kaiser obliegen. §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, als ob es in das will- kürliche Belieben des Kaisers gestellt wäre, die Geschäfte unter die Reichsbehörden zu vertheilen, oder nach Lust und Laune Ge- schäfte untergeordneter Art bald selbst zu erledigen bald sie Reichs- behörden zu überlassen. Die Reichsbehörden sind vielmehr von Rechtswegen dem Kaiser beigeordnet, damit er sich ihrer bei der Führung der Reichsgeschäfte bediene, so daß er die Geschäfte nicht anders als durch die vermittelnde Thätigkeit der Behörden führen kann und darf. Es ist ferner der Kreis derjenigen Geschäfte, welche die einzelnen Behörden zu erledigen haben, durch Rechts- Vorschriften abgegrenzt, so daß ihre Kompetenz-Bestimmung ein Theil der staatlichen Rechtsordnung ist, welche der Kaiser einseitig nicht ändern kann. Auch empfangen die Behörden die Anweisung, nach welchen Gesichtspunkten sie die zu ihrem Ressort gehörenden Geschäfte zu erledigen haben, zum größten Theil durch die Ge- setze des Reiches, und auch in den, nicht gesetzlich normirten Be- ziehungen nicht von dem persönlichen (privaten) Willen des Kaisers, sondern von dem in staatsrechtlichen Formen erklärten, (staatlichen) Willen desselben. Aber die Behörden haben kein subjectives Recht darauf, daß ihnen die Erledigung und Führung von Geschäften des Reiches zustehe; ein solches Recht hat nur der Kaiser, welchem nach der R.-V. Art. 17 „die Ueberwachung der Ausführung der Reichsge- setze“ zusteht. Dem Bundesrath und dem Reichstage gegenüber erscheint der Inbegriff aller Befugnisse, welche sämmtlichen Reichs- behörden zustehen, als ein Antheil des Kaisers an dem Verfassungs- leben des Reiches. Wenn andererseits in einem Reichsgesetze die Erledigung staatlicher Geschäfte oder der Erlaß von Anordnungen dem Kaiser zugeschrieben wird, so bedeutet dies die Erledigung dieser Geschäfte durch die Reichsbehörden , mit Ausschluß nicht nur der Einzelstaaten, sondern auch des Bundesrathes und des Reichstages. In dieser Art sind alle den Reichsbehörden zustehenden Be- fugnisse enthalten und umschlossen von dem einheitlichen Rechte des Kaisers, der kaiserlichen Prärogative, und das Recht des Kaisers zur Geschäftsführung für das Reich kömmt anders nicht zur Erscheinung und Wirkung als in der Differenzirung durch §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. die amtliche Thätigkeit der verschiedenen Reichsbehörden Vgl. über die Stellung der Staatsdiener zum Monarchen im monar- chischen Einheitsstaat Gönner Vom Staatsdienst S. 30 ff. v. Gerber Grundzüge S. 227 fg. (Beilage II. ) Die dagegen von Schulze in Aegidi’s Zeitschrift für Deutsches Staatsr. I. S. 445 erhobenen Einwendungen scheinen mir nicht stichhaltig zu sein. . Mit Recht werden daher alle Reichsbehörden als Kaiserliche Behörden bezeichnet. Diesem Grundsatz ist es vollkommen entsprechend, daß der Regel nach alle Reichsbeamten vom Kaiser ernannt und entlassen werden. Durch die Ernennung ertheilt der Kaiser den Auftrag, diejenigen Geschäfte zu führen, welche zu dem gesetzlich bestimmten Wirkungskreise des verliehenen Amtes gehören; und selbst, wenn der Kaiser durch ein Vorschlagsrecht des Bundesrathes hinsichtlich der Auswahl der Personen, welche zu einem Reichsamt berufen werden sollen, beschränkt ist, so geht doch formell der öffentlich rechtliche Auftrag in der Regel von ihm aus. Insbesondere aber kömmt die rechtliche Stellung der Reichs- beamten als Gehülfen des Kaisers dadurch zur Geltung, daß die wichtigsten derselben, und zwar gerade diejenigen, deren Geschäfts- führung am wenigsten durch Gesetze normirt ist, folglich am meisten vom freien Ermessen bestimmt wird, durch Kaiserliche Verfügung einstweilig in den Ruhestand versetzt werden können Reichsbeamtengesetz §. 25. . 3) Die Stellung der Reichsbehörden zum Kaiser ist aber un- geachtet des im Vorstehenden entwickelten Satzes nicht dieselbe wie die Stellung der Landesbehörden zum Landesherrn. Es ist oben hervorgehoben worden, daß zu einem Amt außer einem Kreise von Geschäften auch ein Kreis staatlicher Machtbefugnisse gehört; daß in der Ertheilung eines Amtes neben dem Auftrage zur Er- ledigung der Geschäfte auch eine Delegation von Hoheitsrechten enthalten ist, daß in jedem Amt die Staatsgewalt sich manifestirt. In der Monarchie ist der Monarch der alleinige Träger der Staats- gewalt; von ihm geht daher nicht nur der Auftrag zur Geschäfts- führung sondern auch die Delegation der Staatsgewalt aus. Nach der Reichsverfassung steht die Reichsgewalt nicht dem Kaiser zu, sondern der Gesammtheit der Deutschen Staaten (resp. deren Lan- desherren). Die Delegation der Amtsgewalt der Reichsbehörden §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. ist daher nicht einfach auf den Kaiser zurückzuführen wie die Er- theilung des Amtsauftrages; sondern auf das ideelle Subjekt der Reichsgewalt. Die Amtsgewalt der Reichsbehörden ist nicht kaiser- liche Gewalt, sondern Reichsgewalt. Während in den monarchischen Staaten landesherrliche Gewalt und Staatsgewalt dasselbe ist, ist der Kaiser Mitglied und Organ des Reiches, aber nicht Souverän desselben. Im Einklange mit dieser theoretischen Unterscheidung steht der Rechtssatz, daß alle Verordnungen des Bundesrathes , welche derselbe innerhalb seiner Zuständigkeit beschließt, von den Reichsbehörden befolgt und ausgeführt werden müssen, ohne daß der Kaiser die Befolgung derselben zu genehmigen braucht oder auch nur zur Ertheilung dieser Genehmigung ermächtigt wäre. Dies gilt auch in dem Falle, daß der Bundesrath seinen Beschluß gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Kaisers gefaßt hat. Im monarchischen Einheitsstaat kann es keine für die Behörden maßgebenden Vorschriften geben, welche nicht wenigstens formell und in letzter Quelle auf dem Willen und der Sanction des Landesherrn beruhen; im Reiche werden solche Vorschriften fort- während von einem Organe, welches dem Kaiser gegenüber völlig unabhängig ist und seine Beschlüsse im Widerspruch mit dem Willen des Kaisers fassen kann, aufgestellt und sind für den Wir- kungskreis und die Machtbefugnisse der Behörden mitbestimmend. Daher sind die Reichsbehörden nicht schlechthin kaiserliche Behörden. IV. Das im Art 18 der R.-V. dem Kaiser zuertheilte Recht, die Reichsbeamten zu ernennen und erforderlichen Falles zu ent- lassen, schließt keineswegs eine Befugniß des Kaisers ein, Reichs- ämter zu errichten oder aufzuheben. Die Frage, wer befugt ist, eine Aenderung des Aemter-Organismus anzuordnen, ist nicht mit einem einzigen Satze zu beantworten, sondern erfordert folgende Unterscheidungen. Zunächst ist es zweifellos, daß das Finanzrecht von Einfluß auf die Befugniß zur Schaffung neuer Aemter ist. Schon bei der Berathung des Bundeshaushalts-Gesetzes für 1868 faßte der Reichs- tag die Resolution, daß die Errichtung neuer Behörden oder Be- amtenstellen, sowie die Erhöhung von Beamtengehalten nicht ohne vorgängige Bewilligung des Reichstages dnrch den Staatshaushalts- §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. Etat oder durch ein besonderes Kreditgesetz erfolgen dürfe Stenogr. Ber. 1867 S. 118 fg. Vgl. Thudichum S. 220. . Die Reichsregierung hat sich dieser Auffassung angeschlossen; in der Praxis ist sie befolgt worden und der Gesetz-Entwurf über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches v. 29. Okt. 1874 hat dieselbe gesetzlich sanctioniren wollen, indem §. 8 die Bestimmung enthält Drucksachen des Reichstages II. Sess. 1874 Nr. 9. : „Gehalt und andere ständige Dienstemolumente dürfen nur auf Grund des Etats oder eines sonstigen Gesetzes verliehen werden.“ Aus diesem Princip ergeben sich zwei Rechtssätze. 1) Der Kaiser ist nicht befugt, und ebensowenig der Bundes- rath, ohne Genehmigung des Reichstages neue Reichsämter mit Fonds zu dotiren. 2) Die Genehmigung des Reichstages zur Errichtung neuer oder zur Erweiterung bestehender Reichsämter braucht nicht in einem besonderen Gesetz ausgesprochen zu werden, sondern das Etatsgesetz eines Jahres kann die dauernde gesetzliche Grundlage für die Organisation und Dotirung einer Reichsbehörde sein Dies ist vielfach der Fall, z. B. hinsichtlich des Reichskanzler-Amtes, der Admiralität u. s. w. . Mit diesen zwei Sätzen ist die Frage aber nur gestreift, nicht erschöpfend gelöst. Es bleibt daneben noch die Möglichkeit zur Schaffung unbesoldeter Aemter, zur Aufhebung be- stehender Aemter, zur Veränderung des Wirkungskreises und der Geschäftsvertheilung der Behörden; überhaupt zu allen Ver- änderungen des Behörden-Systems, welche keine Etats-Ueberschrei- tungen verursachen. Als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Fragen muß man den Grundsatz anerkennen, daß jede Behörde sowohl für den ihr oblie- genden Geschäftskreis als für die ihr delegirte Staatsgewalt eine ge- setzliche Bestimmung zur Grundlage bedarf. Das Gesetz kann diese Grundlage aber in zweifacher Weise darbieten. Entweder unmittelbar, indem es die Errichtung einer bestimmten Behörde von fest normirter Organisation und Wirksamkeit anordnet, oder mittelbar, indem es der Reichsregierung Aufgaben zuweist, zu deren Durchführung die Errich- tung von Aemtern erforderlich ist. Auf spezieller gesetzlicher Anordnung §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. beruhen z. B. das Oberhandelsgericht, das Bundesamt für das Heimathwesen, die entscheidenden Disciplinarbehörden, die Ver- waltung des Invalidenfonds u. s. w.; auf einer mittelbaren gesetz- lichen Grundlage die Reichs-Zoll-Kontrolbehörden, die Post- und Telegraphen-Behörden, die Bankstellen, die Gesandtschaften, Kon- sulate u. s. w. Ist nun in einem Gesetze die Errichtung einer oder mehrerer bestimmter Behörden angeordnet, so daß unmittelbar durch Ver- fügung die Bildung derselben erfolgen kann, so gehört es zu der Machtvollkommenheit des Kaisers Vorausgesetzt, daß die erforderlichen Geldmittel durch den Etat oder ein besonderes sogen. „Kredit-Gesetz“ bewilligt sind. , die Behörden in das Leben zu rufen, da es sich in diesem Falle lediglich um die Aus- führung eines Verwaltungsgeschäftes handelt. Wenn dagegen nur mittelbar durch Reichsgesetze die Bildung von Behörden ange- ordnet ist, insofern die letzteren zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlich sind, so tritt die Regel in Art 7 Ziff. 2 der R.-V. ein, daß der Bundesrath beschließt, „über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen “. Die Errichtung von Behörden gehört zu den zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen Einrichtun- gen. Die Verfügung des Kaisers, welche eine solche Behörde in das Leben ruft, setzt daher außer der mittelbaren Grundlage, welche das Gesetz gibt, die unmittelbare Grundlage eines Bundes- raths-Beschlusses (Ausführungs-Verordnung) voraus So kann z. B. der Kaiser außer den gesetzlich angeordneten Discipli- narkammern, auch noch andere „im Einvernehmen mit dem Bundesrath“ er- richten. Ges. vom 31. März 1873 §. 87. Ferner bestimmt der Bundesrath die Plätze, an denen Reichsbank-Hauptstellen zu errichten sind. Bankges. vom 14. März 1875 §. 36 u. s. w. . Da die Regel des Art 7 Ziff. 2 aber nur eintritt, „sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist“, so ergiebt sich, daß die Befugniß des Bundesrathes ausgeschlossen sein und daß dem Kaiser das Recht, Reichsämter — innerhalb der durch das Finanzrecht gezogenen Schranken — zu errichten, zwar zustehen kann , daß dies aber eine besondere gesetzliche Bestimmung erfordert. Eine solche ist z. B. enthalten im Art 53 der R.-V. hinsichtlich der Marine, ferner in Art. 48 Abs. 2 verbunden mit §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. Art. 50 Abs. 2 hinsichtlich der Post- und Telegraphen-Behörden, im Art 11 hinsichtlich der Beglaubigung von Gesandten; ferner wohl auch in dem Gesetz wegen Errichtung eines R.-Eisenbahn- Amtes v. 27. Juni 1873 hinsichtlich der Ernennung von Reichs- Eisenbahn-Kommissaren u. a. Dieselben Grundsätze müssen auch hinsichtlich der Aufhebung von Aemtern gelten. Behörden, welche unmittelbar auf gesetzlicher Anordnung beruhen, können nur auf Grund eines Gesetzes aufge- hoben werden. Wenn die Errichtung einer Behörde auf Grund eines Bundesraths-Beschlusses erfolgt ist, so erfordert auch die Wieder-Aufhebung derselben einen Bundesraths-Beschluß. Soweit endlich dem Kaiser die Organisation und administrative Einrichtung eines Verwaltungszweiges übertragen ist, steht demselben auch die Befugniß zu, Behörden aufzuheben Dies ist z. B. hinsichtlich einiger Oberpost-Direktionen, Telegraphen- Direktionen, Marine-Behörden u. s. w. geschehen. . V. Für die Gliederung des Behördensystems des Reiches ist das Prinzip der Centralisation in der strengsten Art durchgeführt. Die Reichsverfassung sanctionirt dieses Prinzip zwar nicht direct, aber dennoch in zwingender Weise. Nach dem Art. 17 bedürfen nämlich alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers , wel- cher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Da nun der Kaiser für sämmtliche Geschäftszweige des Reiches die oberste Spitze bildet und für alle Anordnungen und Verfügungen desselben die Gegenzeichnung des Reichskanzlers erforderlich ist, so ergiebt sich, daß der Reichskanzler der einzige und alleinige Minister des Kai- sers ist, und daß es kein Ressort der Reichsverwaltung geben kann, dessen oberster Chef nicht der Reichskanzler wäre. Der Reichs- kanzler hat unter allen Beamten des Reiches keinen Collegen, sondern nur Gehülfen. Unter den Arten der Reichsbeamten, die man unterscheiden kann, bildet der Reichskanzler eine Art für sich, ausgezeichnet durch das Merkmal der sogenannten politischen Ver- antwortlichkeit, d. h. der obersten, selbstständigen Entscheidung, so lange ihn der Kaiser an der Spitze der Geschäfte beläßt. Die Reichsgeschäfte sind nach sachlichen Rücksichten zu Reichs- ämtern gruppirt und Reichsbehörden überwiesen, von denen zwar §. 32. Begriff und System der Reichsbehörden. jede wieder einen Vorstand (Präsident, Director, Staatssekretär) hat, die aber sämmtlich dem Reichskanzler untergeordnet sind. Unter diesen Reichsämtern oder Reichsbehörden lassen sich aber zwei, von einander sehr verschiedene Arten unterscheiden, nämlich Behörden für die Verwaltung und Behörden für die Rechtsprechung. Den Gegensatz zwischen diesen beiden Arten von Behörden in Beziehung auf den Behörden-Organismus kann man dahin formu- liren, daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rücksichtlich der Verwaltungsbehörden einen positiven, rücksichtlich der recht- sprechenden Behörden einen negativen Inhalt hat. Bei den ersteren erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichs- kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und An- ordnungen. Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell selbst entscheiden und bestimmen, was geschehen soll. Die Reichs- behörden sind gewissermaßen nur seine Bureaus und haben eine Selbstständigkeit des Dezernates nur insoweit, als der Reichskanzler sie ihnen gestattet. Bei den rechtsprechenden Behörden erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, daß die Thätigkeit derselben nicht gestört und gehindert wird, daß insbe- sondere Einwirkungen der Verwaltungsbehörden nicht in rechts- widriger Weise sich geltend machen; dagegen nicht auf den Inhalt der Entscheidungen, für welche ausschließlich das geltende Recht maaßgebend ist. Daher kann der Reichskanzler in die Geschäfte dieser Behörden materiell nicht eingreifen oder statt ihrer selbst entscheiden. Seine Verantwortlichkeit geht dahin, daß diese Be- hörden im Stande sind, ihre Funktionen in verfassungsmäßiger Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie sie dieselben ausüben. Für die Beschlußfassung dieser Behörden gilt demgemäß auch das Kollegialsystem. Hinsichtlich ihres geschäftlichen Wirkungs- kreises sind daher die rechtsprechenden Reichsbehörden dem Reichs- kanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs- kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugnisse, welche nach den Grundsätzen des deutschen Landesstaatsrechts dem Justizminister den Landesgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufsicht über die Justiz verwaltung , die Aufstellung des Etats, die Ge- genzeichnung der kaiserlichen Anstellungs- und Entlassungs-Dekrete für die Mitglieder. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 20 §. 33. Der Reichskanzler. Zwischen den verwaltenden und den rechtsprechenden Behörden giebt es aber noch eine Mittelstufe, die von einer Anzahl von Finanzbehörden gebildet wird, welche zwar unter der oberen Lei- tung des Reichskanzlers stehen, für die Gesetzmäßigkeit ihrer Amts- handlungen aber selbstständig und unbedingt verantwortlich sind. Sonach zerfallen die Reichsbehörden in Beziehung auf ihre Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit in 4 Klassen: 1. Der Reichskanzler. 2. Verwaltungsbehörden. 3. Selbstständige Finanzbehörden. 4. Richterliche Behörden. §. 33. Der Reichskanzler. Die juristische Definition der Stellung, welche der Reichs- kanzler einnimmt, bietet ganz ähnliche Schwierigkeiten dar, wie die juristische Begriffsbestimmung von Kaiser und Bundesrath, denn der Reichskanzler vereinigt in seiner Person so verschieden- artige Amtsbefugnisse und Amtspflichten, daß es unmöglich er- scheint, eine der herkömmlichen staatsrechtlichen Kategorien aufzu- finden, unter welche er vollkommen paßt. Die Schwierigkeiten sind aber ganz in derselben Weise zu lösen, wie dies hinsichtlich des Kaisers und des Bundesrathes geschehen ist. Der Reichs- kanzler vereinigt in sich eine Doppelstellung; er ist theils das Organ, durch welches der König von Preußen seine Mitglied- schaftsrechte im Reiche ausübt, theils der oberste Reichs-Beamte, der kaiserliche Reichsminister. Nur wenn man beide Stellungen auseinanderhält, verschwindet das scheinbar Widerspruchsvolle und gewinnt namentlich auch die verwickelte Lehre von der Verant- wortlichkeit des Reichskanzlers Die Darstellung dieser Lehre bei v. Rönne S. 181 ff. kann als ein unübertroffenes Muster von Verworrenheit gelten. Klarheit. I. Der Reichskanzler als Bevollmächtigter des Königs von Preußen . 1. Durch den Art. 15 der R.-V. ist die rechtliche Nothwen- digkeit gegeben, daß der Reichskanzler Preußischer Bevollmäch- tigter im Bundesrathe ist. Zwar läßt der Wortlaut auf den §. 33. Der Reichskanzler. ersten Blick die Deutung zu, daß der Kaiser auch einen Bevoll- mächtigten eines andern Staates zum Reichskanzler ernennen und ihm den Vorsitz im Bundesrathe und die Leitung der Geschäfte übertragen kann; bei näherer Erwägung erweist sich diese Deutung aber als rechtlich unmöglich, ganz abgesehen von den thatsäch- lichen Gründen, welche es als völlig unzulässig erscheinen lassen, daß der Reichskanzler nicht zugleich Preußischer Bevollmächtigter sei. Denn jedes Bundesmitglied kann jederzeit seine Bevollmächtigten aus dem Buudesrathe abberufen, den Reichskanzler aber ernennt der Kaiser und kann nur der Kaiser entlassen. Wäre es nun möglich, daß der Kaiser den Bevollmächtigten eines anderen Staates zum Reichskanzler ernennt, so könnte sich der Fall ereignen, daß dieser Staat die Ernennung zum Bundesraths-Mitglied zurücknimmt, der Kaiser dagegen die Entlassung dem Reichskanzler nicht ertheilt; es würde alsdann der Reichskanzler nicht zugleich Mitglied des Bundesrathes sein, was nach Art. 15 der Verfassung unzuläs- sig ist. Der Reichskanzler führt demnach mit rechtlicher Nothwen- digkeit im Bundesrathe die Präsidialstimme Preußens als Bevoll- mächtigter des Königs. Vgl. oben S. 274. 2. Die Bundesraths-Mitglieder sind keine Reichsbeamten und haben in keiner Hinsicht die Rechten und Pflichten derselben; eben- sowenig hat das einzelne Mitglied des Bundesrathes in irgend einer Beziehung die Funktionen einer Reichsbehörde. Dies gilt vollständig auch vom Reichskanzler. Weder als Mitglied des Bun- desrathes noch als Vorsitzender desselben ist der Reichskanzler Reichsbeamter und wenn er im Bundesrathe die Präsidial-Befug- nisse ausübt, handelt er nicht als Reichsbehörde, sondern als Be- vollmächtigter des Königs von Preußen. Er ist daher an die In- structionen gebunden, welche ihm der König von Preußen ertheilt und diesem gegenüber verantwortlich dafür, daß er seiner Instruc- tion gemäß gehandelt hat Vgl. die Aeußerungen des Fürsten Bismark im Verfassungberathenden Reichstage von 1867 Stenogr. Ber. S. 376 und bes. 393; ferner im Nordd. Reichstage von 1869 am 16. April S. 401 ff. (Siehe oben S. 234 Note 2). . Von einer Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegen den Bundesrath und Reichstag für die Art und Weise, wie er die Präsidialstimme führt oder die übrigen Preußischen Rechte im Bundesrathe handhabt, kann daher ebenso 20* §. 33. Der Reichskanzler. wenig die Rede sein, wie von einer derartigen Verantwortlichkeit des Bevollmächtigten irgend eines andern Bundesgliedes. 3. Die Bevollmächtigten der einzelnen Staaten brauchen nicht nothwendig auch Beamte derselben zu sein; ebenso ist es nicht nothwendig, daß der Reichskanzler Preußischer Beamter, insbeson- dere Preußischer Staatsminister ist. Man kann im Gegentheil behaupten, daß die wachsende Geschäftslast des Reichskanzlers — als Reichsminister — es immer mehr verbieten wird, daß er zu- gleich in Wirklichkeit Chef eines preußischen Ministeriums ist. Staatsrechtlich ist es auch keineswegs erforderlich, daß der Reichskanzler zugleich Preußischer Minister der Auswärtigen An- gelegenheiten ist; denn nachdem die gesammte Leitung der aus- wärtigen Angelegenheiten auf das Reich übergegangen ist, bedarf der Preußische Staat eines Ministers der auswärtigen Angelegen- heiten gar nicht mehr. Diese Stelle ist neben der des Reichs- kanzlers eine fast bloß nominelle Das Preuß. Ministerium der auswärt. Angel. hat nur noch die Be- ziehungen Preußens zu den anderen Bundes staaten wahrzunehmen und die Aufsicht über die Preuß. Gesandten an den Deutschen Höfen zu führen. , welche aus dem Behördenor- ganismus des Preußischen Staates jeden Augenblick gestrichen werden und dadurch ihre Scheinexistenz verlieren kann, so daß es unmöglich sein würde, daß der Reichskanzler zugleich Preußi- scher Minister des Auswärtigen wäre. Thatsächliche , poli- tische Gründe zwingender Natur machen es aber nothwendig, daß der Reichskanzler, gerade weil er der stimmführende Bundesraths- Bevollmächtigte Preußens ist, an den Berathungen des Preußischen Staatsministeriums Antheil zu nehmen befugt ist, daß ihm der Ehrenvorsitz bei diesen Berathungen zusteht, und daß nicht nur der Deutsche Kaiser und der König von Preußen, sondern auch der kaiserliche Reichsminister und der erste, leitende preußische Staatsminister identisch sind. Hiernach beantwortet sich die Frage, nach der Verantwortlich- keit des Reichskanzlers gegenüber dem Preußischen Landtage. Sollte einmal der Fall eintreten, daß der Reichskanzler nicht zu- gleich Preuß. Staatsminister ist, daß er vielmehr seine Instruk- tionen vom Preußischen Staatsministerium einfach zugeschickt erhält, so würden die Grundsätze von der parlamentarischen Minister- Verantwortlichkeit auf ihn ganz und gar unanwendbar sein; seine §. 33. Der Reichskanzler. Verantwortlichkeit bestände vielmehr nur dem Preußischen Staats- ministerium gegenüber und wäre darauf beschränkt, daß er seinen Instruktionen gemäß gestimmt habe. Ist aber der Reichskanzler selbst Preußischer Staatsminister und nimmt er folglich selbst Antheil an der Feststellung der Vorschriften, wie sich die Preu- ßischen Bevollmächtigten im Bundesrathe zu verhalten haben, so ist er nach Maaßgabe des Preußischen Staatsrechts hierfür ebenso verantwortlich, wie dies oben ganz allgemein hinsichtlich der In- struktions-Ertheilung für die Regierungen aller Bundesstaaten entwickelt worden ist. Dagegen kann von einer Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für seine Thätigkeit als Reichs minister dem Preuß. Landtage gegenüber in keiner Art die Rede sein; als solcher führt er nicht preußische Staatsgeschäfte, sondern Reichs- geschäfte. II. Der Reichskanzler als Reichsminister des Kaisers . Während der Reichskanzler im Bundesrathe preu- ßischer Bevollmächtigter ist, ist der Reichskanzler außerhalb des Bundesrathes Reichsbehörde und zwar ist er, wie bereits ausgeführt worden ist, der einzige verantwortliche Minister des Reiches. Die Ministerialbefugnisse im Reiche sind nun aber wegen des bundesstaatlichen Charakters desselben nicht ganz dieselben wie im Einheitsstaate. Das allgemeine Grundprinzip läßt sich dahin bestimmen, daß der Reichskanzler als der Minister und Gehülfe des Kaisers alle diejenigen Geschäfte auszuführen hat, welche die Prärogative des Kaisers bilden. Die Funktionen des Reichskanzlers sind demnach auf folgende Kategorien zurückzu- führen: 1) Da der Kaiser der Vertreter des Deutschen Reiches ist, so ist der Reichskanzler auswärtigen Staaten und überhaupt allen Dritten gegenüber , mit denen das Reich in Rechts- verhältnissen steht oder mit denen es in ein Rechtsverhältniß treten will, legitimirt, die Rechte des Reiches wahrzunehmen, Ver- handlungen zu führen, Verträge zu vereinbaren, Leistungen ent- gegenzunehmen und zu gewähren. Der Reichskanzler bedarf hierzu regelmäßig keiner Spezial-Vollmacht, wenngleich es nicht ausge- schlossen ist, daß der Kaiser ihm bei besonders wichtigen Verhand- §. 33. Der Reichskanzler. lungen eine solche ertheilt. Soll dagegen nicht der Reichskanzler, sondern irgend ein anderer Bevollmächtigter das Reich (den Kai- ser) Dritten gegenüber vertreten, so ist dazu regelmäßig eine be- sondere Vollmacht erforderlich, welche entweder der Kaiser selbst unter Contrasignatur des Reichskanzlers ertheilt oder welche der Reichskanzler kraft seiner General-Vollmacht ausstellt (Substitu- tionsvollmacht). Ausgenommen sind nur diejenigen Geschäfte, welche zu dem gesetzlichen oder herkömmlichen Geschäfts- kreise der, dem Reichskanzler unterstellten Reichsbehörden (Gesandt- schaften, Konsulate, Verwaltungsbehörden, Finanzbehörden) gehö- ren; für diese Geschäfte haben die ressortmäßigen Behörden die Vollmacht, sie in rechtswirksamer Weise für das Reich abzuschlie- ßen und es liegt in der Anstellung eines Reichsbeamten zugleich die Ertheilung der Vollmacht, das Reich innerhalb seiner Amts- befugnisse zu vertreten. So wie aber die Verwaltungsbehörden des Reiches dem Reichskanzler als ihrem Chef untergeordnet sind, so ist auch ihre Vollmacht zur Vertretung des Reiches von der General-Vollmacht des Reichskanzlers abgezweigt und ihr gleichsam untergeordnet. Dies Alles gilt nicht nur von internationalen Verträgen und Verträgen staatsrechtlichen Inhaltes sondern auch von den vermö- gensrechtlichen Geschäften des Reichsfiskus. 2) Da der Kaiser die Thätigkeit der übrigen Organe des Reiches im Gange zu erhalten und zu reguliren hat, so liegen dem Reichskanzler die hierzu erforderlichen Geschäfte ob. Er hat die erforderlichen Veranstaltungen zu treffen, damit der Bundes- rath und der Reichstag, wenn sie einberufen sind, ihre Sitzungen halten können; er hat die Verfügungen zu erlassen, welche zur Ausführung der Beschlüsse des Bundesrathes erforderlich sind Gesch.-Ordn. des Bundesrathes §. 15. , er prüft die Legitimation der Bevollmächtigten oben S. 245. ; er über- mittelt die von dem Bundesrathe beschlossenen Vorlagen dem Reichstage Es folgt dies daraus, daß diese Vorlagen „im Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht werden.“ R.-V. Art. 16. ; ebenso werden die Beschlüsse des Reichstages, In- terpellationen, Erledigungen von Reichstags-Mandaten dem Reichs- §. 33. Der Reichskanzler. kanzler angezeigt Gesch.-Ordn. des Reichstages §. 30. 63. 66. und es liegt dem Reichskanzler ob, sie zur Kenntniß des Bundesrathes zu bringen resp. dem Kaiser über die Beschlüsse des Bundesrathes und des Reichstages Vortrag zu halten. 3) Soweit die eigene Verwaltung des Reiches sich erstreckt, ist der Reichskanzler als Gehülfe und Vertreter des Kaisers der oberste Chef und Leiter. In dieser Beziehung ist seine Stellung völlig entsprechend der Stellung eines Ministers im Einzelstaate Es gehört hierher der Erlaß von Administrativ-Verordnungen, soweit derselbe durch die Verfassung oder Reichsgesetze dem Kaiser oder dem Reichs- kanzler direct übertragen ist; der Erlaß von Instruktionen an die Behörden; die Vorbereitung der vom Kaiser zu vollziehenden Ernennungen und Entlassungen von Reichsbeamten; die definitive Entscheidung auf Beschwerden über Unter- behörden des Reiches; die Verfügung auf Berichte der Behörden; die Vorbe- reitung der Gesetzesvorlagen und Etats-Entwürfe u. s. w. . Jedoch ist er nicht auf ein einzelnes Ressort beschränkt; er hat nicht gleichberechtigte Collegen neben sich, mit denen er sich in die Geschäfte theilt, sondern seine Kompetenz hat denselben Umfang wie die Verwaltungskompetenz des Reiches. 4) Soweit das Recht der Einzelstaaten auf Selbstverwaltung reicht, liegt dem Kaiser die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze ob (R.-V. Art. 17) und ebenmäßig dem Reichs- kanzler die hiezu erforderliche Thätigkeit. Beschwerden und An- zeigen über Verletzungen der Reichsgesetze in den einzelnen Staa- ten sind demnach an den Reichskanzler zu richten; er hat die er- forderlichen thatsächlichen Feststellungen zu machen und die Ver- fügungen an die Regierungen zu erlassen. Insoweit der Bundes- rath nach Art. 7 Z. 3 in solchen Fällen zur Beschlußfassung kom- petent ist, hat der Reichskanzler an den Bundesrath eine Vorlage gelangen zu lassen und für die Ausführung und Befolgung des vom Bundesrathe gefaßten Beschlusses Sorge zu tragen Siehe oben S. 259 fg. . 5) Endlich ist der Reichskanzler der verantwortliche leitende Minister für Elsaß-Lothingen, da durch das Gesetz vom 9. Juni 1871 die Ausübung der Staatsgewalt im Reichslande dem Kaiser übertragen ist. Im §. 4 des angef. Gesetzes ist ausdrücklich an- geordnet, daß alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers in Ausübung dieser Staatsgewalt zu ihrer Gültigkeit der Gegen- §. 33. Der Reichskanzler. zeichnung des Reichskanzlers bedürfen, der dadurch die Verant- wortlichkeit übernimmt. 6) Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, von welcher Art. 17 der R.-V. spricht, bezieht sich selbstverständlich nur auf seine Thätigkeit als Reichsminister, nicht als BundesrathsBevoll- mächtigter. Diese Verantwortlichkeit ist nicht zu einem Rechtsin- stitut gestaltet; es fehlt an Anordnungen, worauf sie sich erstreckt, wer befugt ist, sie geltend zu machen, welches Verfahren dabei einzuhalten ist, welche Wirkungen mit ihr verknüpft sind. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers ist daher nur ein politisches Prinzip, das seiner Verwirklichung durch Rechtssätze noch harrt, welches aber doch als solches nicht ganz wirkungslos ist, sondern die sogenannte politische oder moralische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers begründet. Die praktische Folge derselben besteht im Wesentlichen darin, daß der Reichskanzler sich der politischen Nothwendigkeit nicht entziehen kann, auf Angriffe gegen seine Geschäftsführung im Bundesrath und Reichstag Rede zu stehen. Für die Beantwortung der Frage nach dem Umfange dieser Ver- antwortlichkeit sind nun die vorstehenden Erörterungen von Belang und es ergiebt sich daraus der Unterschied zwischen der Verant- wortlichkeit des Reichskanzlers und der Verantwortlichkeit des Ministers eines Einzelstaates. Die Verantwortlichkeit reicht so weit wie die Kompetenz. Auf dem Gebiete der eigenen Verwal- tung des Reiches ist daher der Reichskanzler verantwortlich dafür, daß die gesammte amtliche Thätigkeit der Reichsbehörden den Gesetzen des Reiches gemäß geschieht und von den einheitlichen Grundgedanken der äußeren und inneren Politik, welche das Reich verfolgt, durchdrungen ist. Dagegen auf dem Gebiete der Selbst- verwaltung der Einzelstaaten ist der Reichskanzler nur dafür ver- antwortlich, daß die dem Reiche zustehende Ueberwachung wirksam gehandhabt wird Vgl. die Rede des Fürsten Bismarck in der Reichstags-Sitzung vom 1. Dezember 1874. Stenogr. Ber. S. 421. . Die Amtsthätigkeit der Landesbe- hörden innerhalb des den Einzelstaaten überlassenen Selbstverwal- tungs-Bereiches hat der Reichskanzler nicht zu vertreten; hier kommen vielmehr die Grundsätze des Landesstaatsrechts über die §. 34. Die Reichsverwaltungs-Behörden. Verantwortlichkeit der Minister für ihre Geschäftsführung zur An- wendung Dieselbe besteht neben der Ueberwachung Seitens des Reiches fort, jedoch mit der selbstverständlichen Modification, daß ein Verfahren einer Bun- desregierung, welches vom Reich als im Einklang stehend mit den Reichsge- setzen anerkannt worden ist, von den Organen des Einzelstaates nicht als Verletzung der Reichsgesetze erklärt werden kann. . §. 34. Die Reichsverwaltungs-Behörden. Die Verwaltungsgeschäfte des Reiches sind in folgender Art zu Aemtern gruppirt und besonderen Behörden übertragen. I. Das Reichskanzler-Amt . Durch den Allerhöchsten Präsidial-Erlaß v. 12. August 1867 (B.-G.-Bl. S. 29) ist unter dem Namen „Bundeskanzler-Amt“ eine Behörde errichtet worden „für die dem Bundeskanzler obliegende Verwaltung und Beaufsichtigung der, durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes zu Gegenständen der Bundesverwaltung gewordenen, beziehungsweise unter die Aufsicht des Bundes-Präsidiums gestellten Angelegenheiten, sowie für die dem Bundeskanzler zustehende Bearbeitung der übrigen Bundes-Angelegen- heiten.“ Durch das Etatsgesetz für 1868 wurden die Geldmittel für diese Behörde bewilligt und in den Etatsgesetzen der folgenden Jahre die Bewilligungen im Verhältniß der fortschreitenden Ver- größerung dieser Behörde erhöht. An Stelle der ursprünglichen Bezeichnung wurde durch Allerh. Erlaß v. 12. Mai 1871 (R.-G.- Bl. S. 102) der Name „Reichskanzler-Amt“ gesetzt. Dem Allerh. Erl. v. 12. August 1867 gemäß war der Ge- schäfts-Umfang des Bundeskanzler-Amtes ein ganz umfassender und erstreckte sich auf alle Obliegenheiten, welche dem Bundeskanzler zugewiesen waren. Dieselben werden in diesem Erlaß ganz richtig in 3 Kategorien getheilt: a ) die Verwaltung der Angelegenheiten, welche zu Gegenstän- den der Bundesverwaltung geworden waren; ( un- mittelbare Bundesverwaltung) §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. b ) Die Beaufsichtigung der Selbstverwaltung der Einzelstaaten. c ) Die Bearbeitung der übrigen Regierungsgeschäfte , insbesondere die Vorbereitung von Gesetzentwürfen, der ge- schäftliche Verkehr mit dem Bundesrath und Reichstag, die Wahrnehmung der handelspolitischen Interessen bei Ver- handlungen mit auswärtigen Staaten über Handels- Zoll- Schiffahrts-Verträge, Aufstellung des Bundeshaushaltsetats und Führung der Bundes-Finanzwirthschaft u. s. w. Ausgenommen von dem Geschäftskreis des Bundeskanzler- Amtes waren die Auswärtigen Angelegenheiten, weil dieselben zur Zeit der Errichtung des Bundeskanzler-Amtes einen Zweig der Preußischen Staatsverwaltung bildeten; nur das Bundes-Konsu- latswesen wurde dem Bundeskanzler-Amt zugewiesen, von der Kompetenz desselben aber wieder getrennt, als das Reich die Aus- wärtigen Angelegenheiten vollständig in eigene Verwaltung über- nahm. Ausgenommen waren ferner die Marine-Angelegenheiten, weil nach der Verf. des Nordd. Bundes Art. 53 die Verwaltung der- selben und der Oberbefehl über die Kriegsmarine nicht dem Bun- des-Präsidium, sondern dem Könige von Preußen zugewiesen war. Dasselbe gilt von dem Oberbefehl über das Heer und von der Ober-Aufsicht über die Verwaltung desselben. (Art. 63 fg.) Endlich waren selbstverständlich ausgenommen von dem Ge- schäftskreise des Bundeskanzler-Amtes alle diejenigen Angelegen- heiten, welche durch besondere Gesetze oder Verordnungen anderen Behörden zugewiesen wurden. Diese Grundsätze sind noch jetzt maaßgebend für die Kompe- tenz des Reichskanzler-Amtes und für sein Verhältniß zu den anderen obersten Reichsbehörden. Sieht man von der Verwaltung des Konsulatswesens ab, welche nur vorübergehend dem Bundeskanzler-Amt übertragen war, so gab es für die eigene Verwaltung des Reiches ursprünglich nnr 2 Ressorts, Post und Telegraphie. Durch den Allerh. Erlaß vom 18. Dezemb. 1867 (B.-G.-Bl. S. 328) wurden daher zwei besondere Abtheilungen ( I und II ) des Bundeskanzler-Amtes für diese Geschäfte unter den Bezeichnungen „General-Postamt“ und „General-Direktion der Telegraphen“ gebildet; die übrigen Ge- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. schäfte, welche das Bundeskanzler-Amt zu versehen hat, wurden unter dem Namen „Central-Abtheilung“ zusammengefaßt. In Folge der Erwerbung des Reichslandes und der dem Reichskanzler durch das Ges. v. 9. Juni 1871 zugewiesenen Leitung der Landesverwaltung wurde eine neue ( III ) Abtheilung für Elsaß- Lothringen gebildet und endlich seit dem 1. Januar 1875 nach vorgängiger Genehmigung im Reichshaushalts-Etat eine IV Ab- theilung unter der Bezeichnung „Reichsjustiz-Amt“ errichtet. An der Spitze des Reichskanzler-Amts steht ein Präsident, welcher als der ständige Vertreter des Reichskanzlers anzusehen ist; an der Spitze jeder Abtheilung ein Direktor. Obgleich diese ver- schiedenen Abtheilungen des Reichskanzler-Amtes im Wesentlichen getrennte Geschäfts-Sphären haben, so haben sie doch keineswegs den staatsrechtlichen Charakter verschiedener Behörden, die gegen einander selbstständig wären. Bei vielen Angelegenheiten ist ein Zusammenwirken der verschiedenen Abtheilungen unerläßlich und bei allen ist es dem Ermessen des Präsidenten überlassen, welchem Dezernat er dieselben zuweisen will. Die Geschäftsvertheilung unter die Abtheilungen des Reichskanzler-Amtes hat keinen staats- rechtlichen , sondern einen technischen Charakter; die Abtheilungen sind nicht anzusehen wie verschiedene Ministerien, sondern wie Abtheilungen desselben Ministeriums. Juristisch gelten alle Verfügungen des Reichskanzler-Amtes als Verfügungen des Reichs- kanzlers und werden auch der Regel nach mit dieser Firma ge- zeichnet; der Präsident des Reichskanzler-Amtes, die Direktoren und die ein eigenes Dezernat führenden Räthe sind immer nur „Vertreter“ des Reichskanzlers. 1. Die Central-Abtheilung . Der generelle Umfang des Geschäfts-Auftrages, den der Erl. vom 12. August 1867 für das Bundeskanzler-Amt festsetzte, ist der Central-Abtheilung desselben verblieben und es ressortiren von derselben deshalb auch alle Reichsbehörden, die nicht ausdrücklich ausgenommen sind. Zu den Geschäften der Central-Abtheilung gehört demnach: die Aufsicht über die Selbstverwaltung der Einzelstaaten; die Ver- mittelung des geschäftlichen Verkehrs zwischen Bundesrath, Reichs- tag und Reichskanzler; die Aufstellung des Etats-Entwurfs und die Ausführung des gesetzlich festgestellten Etats, sowie die ge- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. sammte Finanzwirthschaft und Vermögensverwaltung des Reiches; die Bearbeitung der handelspolitischen Angelegenheiten; die Aus- führung und die Controle der Ausführung der Reichsgesetze über Maaß, Gewicht, Münzwesen, Papiergeld, Banken; die Kontrole der Erhebung der Zölle und Verbrauchssteuern, sowie die Abrech- nung mit den Einzelstaaten Vgl. den Allerh. Erl. v. 16. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 9). , die Bearbeitung der Personalien für die von der Central-Abtheilung ressortirenden Behörden und in gleichem Umfange das Pensionswesen. Eine vollständige Auf- zählung der Competenz läßt sich aber nicht geben, da die Central- Abtheilung subsidiär alle Geschäfte zu erledigen hat, welche nicht einem anderen Reichsamt zugewiesen sind. Diejenigen Verwaltungs-Behörden, welche von der Central- Abtheilung ressortiren, sind folgende: a ) Die Reichshauptkasse . Die Wahrnehmung der Cen- tral-Kassengeschäfte des Norddeutschen Bundes wurde auf Grund einer, mit der Preuß. Regierung getroffenen Vereinbarung der Königl. Preuß. General-Staatskasse in Berlin übertragen, welche in Bundes-Angelegenheiten den amtlichen Verkehr unter der Be- nennung „Generalkasse des Norddeutschen Bundes“ führte Bekanntm. vom 21. Januar 1868 (B.-G.-Bl. S. 1). . Diese Bezeichnung wurde seit dem 1. Juni 1871 durch die Benennung „Reichshauptkasse“ ersetzt Bekanntm. vom 1. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 126). . Ueber die Abrechnungen zwischen der Reichshauptkasse und den Landeskassen der Bundesstaaten sind unter dem 13. Januar 1872 vom Reichskanzler im Einverständniß mit dem Ausschusse des Bundesrathes für Rechnungswesen Bestimmungen erlassen worden Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1489 ff. . b ) Die Verwaltung des Reichskriegsschatzes . Dieselbe ist durch das Ges. vom 11. Nov. 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 403) dem Reichskanzler übertragen, welcher dieselbe nach den darüber mit Zustimmung des Bundesrathes ergehenden Anordnungen des Kaisers unter Kontrole der Reichsschulden-Kommission zu führen hat. Diese Anordnungen sind getroffen worden in der Verordn. v. 22. Januar 1874 (R.-G.-Bl. S. 9). Die Bestände, Ausgaben §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. und Einnahmen des Reichskriegsschatzes werden verwaltet von der Rendantur des Reichskriegsschatzes, deren Beamte der Reichs- kanzler ernennt und über welche ein vom Reichskanzler bestellter Kurator die Aufsicht führt Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 2 u. 3. . Ohne besondere Anweisung des Reichskanzlers darf bei dem Reichskriegsschatze nichts verausgabt oder vereinnahmt werden Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 6 Abs. 1. . c ) Das Statistische Amt Vgl. über die Statistik des Deutschen Reiches die trefflichen Abhand- lungen von Meitzen in v. Holtzendorffs Jahrb. des Deutschen Reiches I. S. 527 ff. II. S. 277—317 und bes. III. S. 375—412 . Die Entstehungsgeschichte desselben knüpft an das, seit dem Jahr 1834 in Thätigkeit gewesene „Central-Bureau“ des Zollvereins an, welchem von der I. Gene- ralzollconferenz im Jahre 1836 die Zusammenstellung einer Statistik des Handelsverkehrs im Zollvereine übertragen wurde Hauptprotok. §. 19. . Da weder die Einrichtungen noch die Leistungen dieses Centralbureaus den gesteigerten Ansprüchen an die Statistik genügten, so trat auf Anord- nung des Zollbundesrathes v. 2 Juni 1869 im Jan. 1870 eine Kom- mission zusammen, welche Vorschläge über die weitere Ausbildung der Zollvereins-Statistik machen sollte. Während der Berathungen dieser Kommission erweiterte und modifizirte sich die derselben gestellte Aufgabe durch die Gründung des Deutschen Reiches. Auf Grund der von der Kommission erstatteten Gutachten Vgl. Hirth ’s Annalen 1870 S. 21 ff. u. namentlich 1872 S. 69 ff. und eines die Vorschläge der Kommission befürwortenden Berichtes der Bundes- raths-Ausschüsse für Zoll- und Steuerwesen und für Handel und Verkehr v. 14. Nov. 1871 Drucksachen des Bundesrathes 1871 Nr. 170. beschloß der Bundesrath, daß ein zugleich das Centralbureau ersetzendes statistisches Centralorgan für das Deutsche Reich zur technischen und wissenschaftlichen Ver- arbeitung des einlaufenden Materials und zur Begutachtung stati- stischer Fragen ins Leben gerufen werde Protokolle 1871 §. 643 Z. X. (S. 304.) . Mit dem Entwurf eines Nachtrags-Etats-Gesetzes f. 1872 wurde dem Reichstage eine „Denkschrift betreffend den Etat für das statistische Amt“ vorgelegt, in welcher die von diesem Amte §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. zu erfüllenden Aufgaben näher dargelegt werden Drucksachen d. Deutschen Reichstages 1872 Nr. 8. Ein Auszug daraus auch in Hirth’s Annalen 1872 S. 1547 ff. . Nach dem der Reichstag diese Vorschläge genehmigt hatte und durch das Nachtrags-Etatsgesetzes v. 20. Juni 1872 Kap. 1. Tit. 6.) die erforderlichen Geldmittel fortdauernd bewilligt worden waren R-G.-Bl. 1872 S. 206. , trat das statistische Amt am 21. Juli 1872 in Thätigkeit. Die Geschäfts-Instruktion, deren Erlaß durch einen Beschluß des Bundesrathes v. 9. März 1872 (Protok. §. 57) dem Reichs- kanzler übertragen worden war, ist vom 23. Juni 1872 Vgl. Meitzen im Jahrb. des Deutschen Reichs III. S. 380. . Die Aufgaben des Statist. Amtes sind darnach von doppelter Art; erstens die Sammlung, Prüfung und wissenschaftliche Bearbeitung des für die Reichsstatistik zu liefernden Materials und geeignetenfalls die Veröffentlichung der Ergebnisse; zweitens hat das statistische Amt auf Anordnung des Reichskanzleramtes statistische Nachweisungen aufzustellen und über statistische Fragen Gutachten zu erstatten. Es ist zur Vereinfachung des Geschäftsverfahrens dem Statist. Amte der unmittelbare Verkehr mit den statistischen Central- behörden der Bundesstaaten und insofern dergleichen nicht bestehen, mit den Landesbehörden, von denen es direkte Einsendungen er- hält, gestattet. Nur zur Erledigung von Anständen, welche durch direkte Correspondenz nicht ausgeglichen werden können, ist die Ver- mittlung des Reichskanzleramtes nachzusuchen Vgl. Bundesraths-Protok. 1873 §. 215. . Das Statistische Amt besteht zur Zeit aus einem Direktor und zwei ständigen Mitgliedern, sowie den erforderlichen Bureau- beamten. d ) Die Normal-Eichungs-Kommission . Die gesetz- liche Grundlage dieser Behörde bildet Art. 18 der Maaß- und Gewichts-Ordnung v. 17. Aug. 1868 (B.G.Bl. S. 476). In Aus- führung dieses Gesetzes wurde die in Rede stehende Reichsbehörde am 16. Februar 1869 errichtet Bekanntm. des Bundeskanzlers. B.-G.-Bl. 1869 S. 46. und derselben am 21. Juli 1869 vom Reichskanzler eine Instruktion ertheilt v. Rönne S. 194. Nach einer daselbst Note 2 befindlichen Notiz ist dieselbe im Preuß . Min.-Bl. der inneren Verw. 1869 S. 171 abgedruckt. . Die gesetzlichen §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Aufgaben der N.-E.-K. sind nach dem cit. Art. 18 folgende. Ihr liegt ob: Die Aufsicht darüber, daß im gesammten Reichsgebiet mit Ausnahme Bayern’s. das Eichungswesen nach übereinstimmenden Regeln und dem Interesse des Verkehrs entsprechend gehandhabt werde; die Anfertigung und Verabfolgung der Normale (§. 9 des Gesetzes) und soweit nöthig auch der Eichungsnormale (§. 15 eod. ) an die Eichungsstellen der Bundesstaaten; der Erlaß der näheren Vorschriften über Material, Ge- stalt, Bezeichnung und sonstige Beschaffenheit der Maaße und Gewichte, Waagen, Meßwerzeuge; der Erlaß von Anordnungen über das bei der Eichung und Stempelung zu beobachtende Verfahren, der Taxen für die von den Eichungsstellen zu erhebenden Gebühren und über alle die technische Seite des Eichungswesens be- treffenden Gegenstände Die von der Normal-Eich.-Komm. erlassenen Verordnungen werden im Reichsgesetzbl. und im Centralbl. für das Deutsche Reich veröffentlicht. Die neue Redaktion der Eichgebühren-Taxe ist vom 24. Dezember 1874. (Central- blatt 1875 S. 94 ff.) . Die von der Normal-Eich.-Kommission erlassenen Anordnun- gen werden nicht mit der Firma des Reichskanzlers gezeichnet, sondern unter ihrem eigenen Namen erlassen. Die Eichungsbehörden der Bundesstaaaten sind Landesbehör- den; die N.-E-K. steht aber mit den oberen Eichungsbehörden der Staaten in direktem Geschäftsverkehr und kann innerhalb ihrer Kompetenz sie mit Anweisung versehen; den Verkehr mit den ein- zelnen (unteren) Eichungsstellen vermitteln die Landesbehörden. Nur in Elsaß-Lothringen besteht ein etwas abweichendes Ver- hältniß; indem die „ Eichungs-Inspektion in Straßburg “ in Beziehung auf die technische Geschäftsführung der Normal- Eichungs-Kommission, im Uebrigen dem Oberpräsidenten, unmittel- bar untergeordnet ist R.-G. vom 19. Dez. 1874 §. 7. (R.-G.-Bl. 1875 S. 3.) . Für Bayern ist der Wirkungskreis der N.-E.-K. formell ganz ausgeschlossen; es ist für diesen Bundesstaat eine besondere N.-E.-K. in Bestand erhalten. Die bayerische N.-E.-K. muß aber §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. „die von ihr anzuwendenden Normale von der N.-E.-K. des Deut- schen Reiches beziehen; die Vorschriften über Material, Gestalt, Be- zeichnung und sonstige Beschaffenheit der Maaße und Gewichte, über die Bedingungen der Stempelfähigkeit der Waagen, über die Einrichtung der sonstigen Meßwerkzeuge, sowie über die Zulassung anderweiter Geräthschaften zur Eichung und Stempelung gleich- förmig mit denen der N.-E-.K. des Reiches erlassen, und das bei der Eichung und Stempelung zu beobachtende Verfahren, sowie die von Seiten der Eichungsstellen inne zu haltenden Fehlergren- zen gleichmäßig bestimmen“ R.-G. v. 22. Nov. 1871 §. 3. (R.-G.-Bl. S. 397). . Die Normal-Eichungs-Kommission des Reiches besteht nur aus dem Direktor, einem ständigen Hülfsbeamten, und dem Bureau- und Kanzleipersonal. Außerdem aber werden der Kommission vom Reichskanzler auf Vorschlag des Direktors Mitglieder beigeordnet, welche immer auf 5 Jahre ernannt werden und ihr Amt als un- besoldetes Ehrenamt führen Nach dem „Handbuch f. das Deutsche Reich“ von 1874 S. 50 sind 9 Beigeordnete ernannt. . Sie treten nur bei besonderen Anlässen mit dem Direktor zu gemeinsamer Berathung zusammen und bilden alsdann mit ihm die sog. „Plenar-Versammlung“. Die erwähnte Instruktion vom 21. Juli 1869 bestimmt die zur Bera- thung und Beschlußfassung der Plenar-Versammlung gehörenden Gegenstände und die Geschäfts-Ordnung derselben v. Rönne a. a. O. S. 194. . e ) Das Zoll- und Steuer-Rechnungs-Bureau . Die Abrechnung über die erhobenen Zoll- und Steuerbeträge unter den einzelnen Staaten besorgte das Centralbureau des Zoll- Vereins. Seit der im Jahre 1872 erfolgten Aufhebung dieses Bureau’s hat das preußische Finanzministerium, Abtheilung für die Verwaltung der indirekten Steuern, die Zoll- und Steuer-Rech- nungsarbeiten des Reiches übernommen und läßt sie durch das erwähnte Bureau ausführen. In Beziehung auf diese Arbeiten fungirt das Preußische Finanzministerium sonach als Reichsbehörde und wird von der principiellen Unterordnung aller verwaltenden Reichsbehörden unter den Reichskanzler mit betroffen. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. f ) Reichs-Bevollmächtigte und Stationskon- troleure für die Kontrole der Zölle und Verbrauchs- steuern . Dieselben sind an die Stelle der ehemaligen Zollvereins-Be- vollmächtigten und Kontroleure getreten. Ueber ihre Aufgaben und Befugnisse sind noch jetzt maaßgebend die im Art. 20 des Zoll- Vereins-Vertrages enthaltenen Bestimmungen Vgl. darüber meine Darstellung des Reichsfinanzrechts in Hirth ’s Annalen 1873 S. 474 ff.; sowie v. Aufseß ebendas. S. 299 ff. u. 1874 S. 99. . Die Reichsbe- vollmächtigten sind den Direktivbehörden der einzelnen Staaten beigeordnet; sie haben sich eine vollständige Kenntnißnahme von der Art und Weise, wie die Geschäfte der Zoll- und Steuerver- waltung von den Landesbehörden geführt werden, zu verschaffen und Fehler und Mängel, welche dabei zu Tage treten, zu moniren Bevollmächtigte sind bestellt in Königsberg, Stettin, Breslau, Magde- burg, Altona, Hannover, Cöln, München, Dresden, Carlsruhe, Darmstadt, Schwerin und Straßburg. . Die Stations-Kontroleure sind den Zoll- oder Steuerämtern bei- geordnet; sie sind den Bevollmächtigten dienstlich untergeben und empfangen von ihnen amtliche Auftäge Verzeichnisse der Reichs-Kontrol-Beamten enthält das Centralblatt des Deutschen Reiches 1873 S. 29 fg. u. 1875 S. 337 ff. In demselben Blatte werden auch alle Veränderungen im Personal und den Amtsbezirken bekannt gemacht. . Ueber die Kaiserl. Hauptzollämter in Hamburg u. Bremen vgl. Hirth’s Annalen 1873 S. 471 Note 2. g ) Der Reichskommissarius für das Auswande- rungswesen in Hamburg . Die Vorkommnisse auf dem Auswandererschiffe „Leibnitz“ gaben im Jahre 1868 dem Bundesrathe Veranlassung, die dem Reiche nach R.-V. Art. 4 Ziff. 1 a. E. zustehende Beaufsichtigung der Bestimmungen über die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern zu verwirklichen. Die Verordnungen der einzelnen Re- gierungen, zu deren Staatsgebieten die Auswanderungshäfen ge- hören, wurden unter Einverständniß des Bundesrathes revidirt und es wurde ein Reichskommissarius ernannt, welcher die Aus- führung dieser Verordnungen zu beaufsichtigen hatte. In den ersten Jahren wurden die Kosten des Amtes aus dem Dispositionsfonds Laband , Reichsstaatsrecht. I. 21 §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. bestritten; durch das Reichsetatsgesetz für 1874 vom 5. Juli 1873 wurden sie als fortdauernde Ausgabe bewilligt. (Kapit 1. Tit. 10.) R.-G.-Bl. 1873 S. 304. . Der Reichskommissarius hat seinen Wohnsitz in Hamburg; seine Thätigkeit erstreckt sich aber auch auf Bremen und Stettin und die anderen Auswanderungshäfen. Die Handhabung der das Auswanderungswesen betreffenden Vorschriften ist zunächst Sache der Landesbehörden; der Reichskommissarius hat aber in ganz ähnlicher Art wie die Reichszollbevollmächtigten sich zunächst über alle Anordnnungen und Maaßregeln in vollständiger Kenntniß zu erhalten, dann eine fortwährende Kontrole zu üben über die Art und Weise, wie die Verordnungen ausgeführt werden, Revi- sionen der in Expedition begriffenen Auswanderungsschiffe vorzu- nehmen, ferner, sobald er hinsichtlich des Raumes, der Sorge für die Gesundheit, der Vorräthe an Nahrungsmitteln, Arzneimitteln u. s. w. Mängel bemerkt, den zuständigen Behörden Anzeige zu machen und auf Abhülfe zu dringen, endlich wenn eine solche Ab- hülfe nicht erfolgt, seinerseits dem Reichskanzler zu berichten Vgl. die Erkl. des Bundesraths-Kommissar Geh. R. Michaelis in der Sitzung des Reichstages v. 9. Juni 1873. (Sten. Ber. S. 1015.) Ein Bericht über die Thätigkeit des Reichskommissars von 1869 bis 1874 ist ab- gedruckt in Hirth’s Annalen 1875 S. 1107 ff. . h ) Inspektoren für die Steuermanns- und Schif- ferprüfungen . Die Gewerbe-Ordnung v. 21. Juni 1869 §. 31 (B.G.-Bl. S. 253) hat den Bundesrath ermächtigt, die Vorschriften über den Nachweis der Befähigung für Seeschiffer, Seesteuerleute und Lootsen zu erlassen. Diese Vorschriften sind ergangen durch die Verordnung des Bundesrathes vom 25. Sept. 1869 (B.G.-Bl. S. 660 fg.). In dem §. 21 derselben ist der Erlaß von Anord- nungen über das Prüfungsverfahren und über die Zusammensetzung der Prüfungskommissionen vorbehalten worden und dieser Vorbe- halt hat durch die Bekanntmachung v. 30. Mai 1870 (B.G.-Bl. S. 314 ff.) seine Erledigung gefunden Vgl. über die Vorverhandlungen Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrb. des D. R. I. S. 365 ff. . Nach den Anordnun- gen über die Prüfung der Seeschiffer und Seeleute für große §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Fahrt §. 23 und über die Prüfung der Seeschiffer für kleine Fahrt §. 20 (B.G.-Bl. 1870 S. 320. 325) bestellt der Reichskanzler nach Anhörung des Bundesraths-Ausschusses für Handel und Verkehr die erforderliche Anzahl von Inspektoren, welche darauf zu achten haben, daß die in Bezug auf die Prüfungen erlassenen Vorschriften befolgt und daß überall gleichmäßige Anforderungen an die Prüf- linge gestellt werden. Die Prüfungskommissionen selbst werden von den Landesregierungen bestellt; die Reichs-Inspektoren sind aber befugt, den Prüfungen und den Verhandlungen der Prüfungs- kommissionen beizuwohnen und von den schriftlichen Prüfungs- Arbeiten Einsicht zu nehmen, bei der mündlichen Prüfung einzelne Materien zu bezeichnen, aus welchen den Prüflingen Fragen vor- zulegen sind, sowie gegen die Entscheidung der Prüfungskommission Einspruch zu erheben, falls diese den bestehenden Vorschriften zuwider einem Prüflinge das Prädikat „bestanden“ oder „mit Auszeichnung bestanden“ statt des Prädikats „nicht bestanden“ zu ertheilen be- absichtigt. Gelingt es in einem solchen Falle nicht, eine Verstän- digung herbeizuführen, so hat der Inspektor sofort dem Reichs- kanzler Bericht zu erstatten, welcher demnächst in der Sache end- gültig entscheidet. Zur Zeit bestehen drei Inspektionsbezirke, nämlich für die in der Provinz Hannover, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg und Bremen, für die in Schleswig-Holstein, Lübeck und Hamburg, und für die in den Provinzen Preußen und Pommern abzuhal- tenden Prüfungen Handbuch des Deutschen Reiches 1874 S. 37. . i ) Inspektoren für das Schiffsvermessungs- wesen . Die auf Grund des Art. 54 der R.-V. vom Bundesrathe erlassene Schiffsvermessungs-Ordnung v. 5. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 270 ff.) Vgl. darüber Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrb. III. S. 313 ff. hat zwar den Einzelstaaten die Bestellung sowohl der Vermessungsbehörden als der Revisionsbehörden übertragen, dem Reichskanzler aber die Aufsicht über das Schiffs-Vermessungs- wesen zugewiesen (§. 21). Der Reichskanzler übt dieselbe aus durch Inspektoren, welche er nach Anhörung der Bundesraths-Ausschüsse für das Seewesen 21* §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. und für Handel und Verkehr bestellt. Die Inspektoren sind befugt, der Aufnahme der Messungen beizuwohnen, die Richtigkeit der Maaße zu prüfen, von den Aufzeichnungen und Berechnungen der Vermessungs- und Revisions-Behörden Einsicht zu nehmen und auf vorgefundene Mängel aufmerksam zu machen. Es sind zwei Inspektions-Bezirke gebildet worden, von denen der eine die Ostseehäfen, der andere die Nordseehäfen umfaßt Centralbl. des Deutschen Reiches 1873 S. 35. . k ) Kommissionen für einmalige Aufgaben . Aus der generellen Natur der der Central-Abtheilung des Reichskanzleramts zustehenden Kompetenz ergiebt sich, daß von ihr der Regel nach auch diejenigen Kommissionen ressortiren, welche zur Erledigung einzelner Aufgaben Seitens des Reiches eingesetzt werden und denen der Charakter organischer Reichsbehörden ab- geht. Solche Kommissionen sind schon wiederholt niedergesetzt worden; so z. B. die Reichskommission für die Wiener Weltaus- stellung, die Cholera-Kommission, Kommission für Medizinalstatistik, für Forst-Statistik, für das Apotheker-Wesen, die Kommissionen für die Ausarbeitung der großen Justizgesetze, für die Weltaus- stellung in Philadelphia u. s. w. Eine dauernd errichtete, aber nicht ständig arbeitende, sondern nur von Zeit zu Zeit zusammentretende Kommission ist die Reichs- Schulkommission , welche die Klassifizirung und die Kon- trole der zur Ausstellung der Qualifikationszeugnisse für die Be- rechtigung zum einjährigen Militärdienste befugten höheren Lehr- anstalten auszuüben hat Beschluß des Bundesrathes vom 21. Dez. 1868 (Protok. §. 337). Die Kosten der Kommission wurden bis 1873 aus dem Dispositionsfonds des Reichskanzlers bestritten; das Etatsgesetz für 1874 hat dieselben unter den fortdauernden Ausgaben angesetzt. (Kapitel 1 Titel 11). . Die Kommission besteht aus 6 Mit- gliedern Bundesrathsbeschluß v. 31. Januar 1875 (Protok. §. 68.) , Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg ernennen je ein Mitglied; ein Mitglied wird alternirend von Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen und Mecklenburg-Schwerin in der angegebenen Reihenfolge jedesmal auf zwei Jahre ernannt; ein Mitglied wird alternirend von den übrigen Bundesstaaten und zwar nach der Reihenfolge im Art. 6 der Verf. jedesmal auf zwei Jahre ernannt Bundesrathsbeschl. vom 19. Februar 1875 (Protok. §. 143). . §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. 2) Die I. Abtheilung oder das General-Postamt Allerh. Präsidialerlaß vom 18. Dez. 1867. B.-G.-Bl. S. 328. Vgl. Fischer in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 428 ff. . Dieselbe steht unter der Leitung des General-Post-Direktors und zerfällt nach der Allerh. Ordre v. 16. Nov. 1872 in zwei Geschäfts-Abtheilungen, nämlich: Die technische Abtheilung, welcher das Instruktions-Bureau, das Auslandsbureau, das Kontrol-Bureau der Postanweisungen, das Kurs-Bureau, das Post-Zeug-Amt und das Bureau für Post- Statistik zugewiesen sind; und Die Abtheilung für das Etats- und Kassenwesen , zu welcher das Rechnungs-Bureau, das Personal-Bureau, das Bau-Bureau, das Post-Abrechnungs-Bureau mit dem Auslande und das Post-Zeitungsamt gehören. Da nach dem Art. 48 der R.-V. das Postwesen für das gesammte Gebiet des Deutschen Reiches als einheitliche Staats- Anstalt verwaltet wird, so steht auch das Postwesen in Elsaß-Loth- ringen unter dem General-Postamt, nicht unter der Abtheilung für Els.-Lothr. Die amtlichen Befugnisse des General-Postamts ergeben sich aus dem Art. 50 der R.-V., da diejenigen Rechte, welche in diesem Artikel dem Kaiser zugeschrieben werden, durch die geschäftliche Wirksamkeit des General-Postamtes ausgeübt wer- den Dem General-Post-Amt steht außerdem die Verwaltung der Kaiser- Wilhelm-Stiftung zu. Ges. v. 20. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 210.) Allerh. Erl. vom 29. August 1872 (R.-G.-Bl. S. 373 fg.) . Hinsichtlich Bayerns und Württembergs erstreckt sich die Kom- petenz des General-Postamtes, da diesen Staaten die selbstständige Verwaltung ihrer Postanstalten durch Art. 52 der R.-V. gewähr- leistet ist, nur auf die Wahrnehmung der Geschäfte, welche sich auf die Gesetzgebung und auf das Verhältniß zu anderen Post- verwaltungen beziehen. Von dem General-Postamt ressortiren: a ) Die Ober-Post-Direktionen . Dieselben sind die mittleren Behörden; sie sind dem General-Postamt untergeordnet und führen ihrerseits die Aufsicht über die Lokal-Postanstalten. Die Grundlage für die Abgrenzung ihrer Bezirke bildet für Preußen die Eintheilung des Staates in Regierungsbezirke; mit Gründung des Norddeutschen Bundes sind aber durch Allerh. Erlaße zahl- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. reiche Abänderungen der Ober-Postdirektions-Bezirke vorgenommen worden Dieselben sind im Bundes- resp. Reichsgesetzblatt veröffentlicht. . Zur Zeit bestehen in dem Gebiete der Reichs-Postver- waltung 37 Ober-Postdirektionen Arnsberg, Berlin, Braunschweig, Bremen, Breslau, Carlsruhe, Cassel, Coblenz, Cöln, Cöslin, Constanz, Danzig, Darmstadt, Dresden, Düsseldorf, Er- furt, Frankfurt a. M., Frankfurt a. O., Gumbinnen, Halle, Hamburg, Hannover, Kiel, Königsberg i. Pr., Leipzig, Liegnitz, Magdeburg, Metz, Münster, Olden- burg, Oppeln, Posen, Potsdam, Schwerin, Stettin, Straßburg, Trier. . Außerdem sind dem Gene- ral-Postamt unmittelbar untergeordnet das Ober-Postamt in Lübeck und das Deutsche Reichs-Postamt in Constantinopel. b ) Von den Ober-Postdirektionen ressortiren die Postanstal- ten , welche nach dem Umfange ihres Geschäftsbetriebs in Post- ämter, Postverwaltungen und Post-Expeditionen zerfallen Verzeichnisse derselben enthalten das Centralblatt für das D. R.; das Handbuch für das Deutsche Reich und das Posthandbuch . Auch werden in dem zuerst genannten Blatte Quartal-Uebersichten über die im Deutschen Postgebiete eingerichteten u. aufgehobenen Postanstalten veröffentlicht. . Ueber- dies sind an kleinen Orten, an denen der Dienstbetrieb ein sehr einfacher ist, Post-Agenturen eingerichtet worden, deren Ver- waltung von Ortseinwohnern gegen geringe Entschädigung als Nebengeschäft übernommen wird Vgl. die Instruktion für Postagenturen vom 1. Mai 1871 im Post- Amtsblatt 1871 S. 52 ff. 3) Die II. Abtheilung oder die General-Direk- tion der Telegraphen . Die Bestimmungen der Art. 48—50 der R.-V. beziehen sich gleichmäßig auf das Post- und Telegraphenwesen, ebenso umfaßt das in Art. 52 anerkannte Sonderrecht Bayerns und Württembergs die Telegraphen-Verwaltung mit, so daß die Kompetenz dieser Abtheilung im Allgemeinen derjenigen des General-Postamtes analog ist. Der General-Direktion der Telegraphen sind unmittelbar untergeordnet a ) Die Telegraphen-Direktionen . Die Bezirke der- selben sind nicht abgegrenzt im Anschluß an die Grenzen der Staaten und Regierungsbezirke, wie dies im allgemeinen für die Abgränzung der Bezirke der Ober-Postdirektionen als Princip und Ausgangspunkt gilt, sondern maaßgebend sind die großen Haupt- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Eisenbahnen-Linien, da denselben die wichtigsten Telegraphen-Linien und deren Verzweigungen folgen. Die Bezirke der Telegraphen- Direktionen sind demnach nicht nur meistens bedeutend größer als die der Ober-Postdirektionen, sondern auch viel unabhängiger von den politischen Grenzen. Zur Zeit bestehen in dem Gebiet der Reichs-Telegraphen-Verwaltung 12 Telegraphen-Direktionen Berlin, Breslau, Carlsruhe, Cöln, Dresden, Frankfurt a. M., Halle, Hamburg, Hannover, Königsberg, Stettin, Straßburg. . b ) Den Telegraphen-Direktionen sind wieder untergeordnet die Telegraphen-Stationen , welche je nach ihrem Geschäfts- umfange in 3 Klassen zerfallen. In der Regel hat der Vorsteher einer Station 1. Klasse den Titel Telegraphen-Inspektor, der Vorsteher einer Station 2. Klasse den Titel Telegraphen-Sekretär, der Vorsteher einer Station 3. Klasse den Titel Obertelegraphist. An kleinen Orten mit unbedeutendem Depeschenverkehr sind die Telegraphenstationen sehr häufig mit Postanstalten kombinirt; auch können Privat-Personen d. h. Personen, die weder Beamte der Post- noch der Telegraphenverwaltung sind, zur Besorgung der Geschäfte einer Telegraphenstation engagirt werden. 4) Die III. Abtheilung oder Abtheilung für El- saß-Lothringen bearbeitet alle dem Reichskanzler zugewiesenen Geschäfte der Lan- des verwaltung von Elsaß-Lothringen. Sie bildet unter der Leitung und Verantwortlichkeit des Reichskanzlers das Ministerium für die Verwaltung des Reichslandes mit der oben bereits her- vorgehobenen Modifikation, daß die Abtheilungen des Reichskanz- leramtes in keiner Hinsicht als völlig gesonderte Behörden an- zusehen sind, sondern bei zahlreichen Geschäften zusammenwirken. Abgesehen von der Betheiligung der Central-Abtheilung bei allen Angelegenheiten von allgemeinerem politischen, handelspoli- tischen oder finanziellen Interesse, gehört das Dezernat in den Angelegenheiten des Post- Telegraphen- und Justizwesens Elsaß- Lothringen zu dem Geschäftskreis der I. II. und IV. Abtheilung. Dagegen ist andererseits der III. Abtheilung überwiesen die Lei- tung der Verwaltung der Reichs-Eisenbahnen. Von dieser Abthei- lung ressortiren: a ) Der Oberpräsident von Elsaß-Lothringen in Straß- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. burg. Die amtlichen Befugnisse desselben sind im Allgemeinen durch das Gesetz vom 30. Dez. 1871 über die Einrichtung der Verwaltung von Elsaß-Lothringen geregelt Gesetzblatt für Elsaß-Lothr. 1872 S. 49 ff. . Nach §. 4 und 5 dieses Gesetzes steht der Ober-Präsident unmittelbar unter dem Reichskanzler, dessen Bureau für die elsaß-lothringischen Verwaltungsgeschäfte aber die III. Abtheilung des Reichskanzleramtes ist. Der Ober-Präsident ist die oberste Verwaltungsbehörde in Elsaß-Lothringen; er führt die Aufsicht über die Behörden der Landesverwaltung, sowie über die zu denselben gehörigen und denselben unterstellten Beamten. Außer denjenigen Geschäften, welche nach §. 6 des citirten Gesetzes oder durch An- ordnungen der speziellen Gesetze, welche über einzelne Vewaltungs- Zweige ergangen sind, der unmittelbaren Verwaltung und Ent- scheidung des Oberpräsidenten überwiesen sind, hat derselbe für die gleichmäßige Ausführung der Gesetze und Verordnungen, sowie der Anordnungen des Reichskanzlers zu sorgen und darüber zu wachen, daß die Verwaltung regelmäßig und nach übereinstimmen- den Grundsätzen gehandhabt werde. b ) Die Kaiserliche General-Direktion der Eisen- bahnen in Elsaß-Lothringen . Dieselbe ist errichtet wor- den auf Grund des Allerh. Erl. v. 9. Dezemb. 1871 R.-G.-Bl. 1871 S. 480. Gesetzbl. für Elsatz-Lothr. 1872 S. 4. , in wel- chem angeordnet ist, daß diese Behörde vom Reichskanzleramte unmittelbar ressortiren soll und daß ihre Aufgabe in dem voll- ständigen Ausbau, der Verwaltung und dem Betriebe der Reichs- Eisenbahnen in E.-L. besteht. Durch die Uebereinkunft v. 11. Juni 1872 R.-G.-Bl. S. 330 ff. ist dieser Behörde auch die Verwaltung und der Betrieb der Wilhelm-Luxemburg-Eisenbahnen übertragen worden. Für die spezielle Leitung dieses Betriebes bestellt die General-Direktion einen Beamten in Luxemburg, welcher befugt ist, sie in allen den Betrieb der Bahnen betreffenden Angelegenheiten zu vertreten Uebereinkunft vom 11. Juni 1872 §. 4. . 5) Das Reichs-Justiz-Amt . ( IV. Abtheilung.) In dem Entwurfe eines Etatsgesetzes für 1875 wurde die Errichtung einer Abtheilung des Reichskanzleramtes für das Justiz- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. wesen in Aussicht genommen und dieser Vorschlag in einer Denk- schrift begründet Dieselbe ist gedruckt in der Anlage I. S. 19 zum Reichs-Haushalts- Etat für 1875. , welche den Wirkungskreis der neu zu errichtenden Abtheilung angab. Nachdem der Reichstag dieser Erweiterung des Reichskanzleramtes seine Zustimmung ertheilt hatte Die Verhandlungen darüber stehen in den Stenogr. Berichten 1874/75 Bd. I. S. 418 ff. und in dem Etats-Gesetz vom 27. Dezember 1874 die erforderlichen Geldmittel bewilligt worden waren, trat im Jahre 1875 die neue Abtheilung in Thätigkeit. Ihre Aufgaben beziehen sich theils auf das ganze Reich theils auf die Angelegenheiten von Elsaß-Lothringen. Für das Reich liegt der Justiz-Abtheilung ob die Vorberei- tung der in das Gebiet der Rechtspflege einschlagenden Gesetzent- würfe, womit zugleich die Vertretung derselben in den Bundes- raths-Ausschüssen, sowie in Verbindung mit den Bundesraths-Be- vollmächtigten im Reichstage, verknüpft ist. Auch die nicht in das Gebiet der Rechts-Pflege einschlagenden Gesetzentwürfe hat das Reichs-Justizamt zu begutachten, soweit eine Prüfung derselben vom juridischen Standpunkte aus geboten erscheint. Ferner hat diese Behörde die Ausführungsbestimmungen zu den Justizgesetzen zu bearbeiten und die Ausführung der Reichsjustizgesetze Seitens der Einzelstaaten zu überwachen. Von eigentlichen Verwaltungsgeschäften ist dem Reichs-Justiz- amt zugewiesen die Bearbeitung der Angelegenheiten, welche das Reichs-Oberhandels-Gericht, den Disciplinarhof und die Discipli- narkammern betreffen. Für Elsaß-Lothringen hat das Reichs-Justizamt diejenigen Geschäfte zu erledigen, welche gewöhnlich dem Justizministerium obliegen. Die Geschäfte, welche lediglich die Justizverwaltung be- treffen, gehören demnach ausschließlich zu dem Dezernat dieser Abtheilung, während diejenigen Angelegenheiten, welche zugleich das Finanzwesen oder die allgemeine Landesverwaltung berühren, also die Justiz-, Etats- und Kassensachen, die Ablösung der ver- käuflichen Stellen im Justizdienst, die Gerichts-Organisation, Kom- petenzstreitigkeiten zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden und Gesetzentwürfe, gemeinschaftlich von dem Reichs-Justizamt und der ( III. ) Abtheilung für Elsaß-Lothringen zu bearbeiten sind. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Von dieser Abtheilung ressortiren demnach in Beziehung auf die Justiz- Verwaltung das Appellationsgericht und die General-Prokuratur zu Colmar und die diesen Behör- den untergeordneten elsaß-lothringischen Justizbehörden. II. Das Auswärtige Amt . In der ersten Zeit nach Gründung des Norddeutschen Bun- des wurden die auswärtigen Angelegenheiten desselben von dem Preußischen Ministerium versehen. Nachdem aber das Preußische Abgeordneten-Haus bei der Berathung des Preußischen Staats- haushalts-Etats für 1868 und wiederholt im folgenden Jahre beschlossen hatte, die Regierung aufzufordern, dafür Sorge zu tragen, daß das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, die Gesandtschaften und Consulate auf den Etat des Norddeutschen Bundes übernommen werden, und nachdem der Reichstag des Norddeutschen Bundes am 17. Juni 1868 einen übereinstimmen- den Beschluß gefaßt hatte Die näheren Angaben bei v. Rönne S. 57 Note 3. , stimmte auch der Bundesrath dieser Maaßregel zu und es wurden in den Bundes-Haushalts-Etat für 1870 die Kosten aufgenommen Vgl. die Verhandlungen darüber in den Stenogr. Ber. des Reichsta- ges 1869 I. S. 505—519. . Seit dem 1. Januar 1870 ist demnach das bisherige Preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in eine unmittelbare Bundesbehörde umgewan- delt worden. Es wurde nicht mit dem Reichskanzler-Amt ver- bunden, sondern steht unter dem Namen „Auswärtiges Amt des Deutschen Reiches“ selbstständig neben dem Reichskanzler-Amt; es ist der verantwortlichen Leitung des Reichskanzlers unterstellt, hat aber einen besonderen Präsidenten vom Range eines Ministers, welcher den Titel Staats-Sekretär führt. Für die Geschäfts-Vertheilung und die dienstlichen Funktionen des Auswärtigen Amtes sind seinem Ursprunge entsprechend die Vorschriften maaßgebend geblieben, welche für das Preuß. Mini- sterium der auswärtigen Angelegenheiten erlassen worden sind Die Grundlage bildet die Preuß. Verordn. vom 27 Oktober 1810 (Preuß. Ges. S. 1810 S. 21.) Vgl. v. Rönne S. 198 und derselbe Preuß. Staatsr. II. 1 S. 135 ff. und I. 2 S. 810. . Danach zerfällt das Auswärtige Amt in 2 Abtheilungen. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Die erste Abtheilung , welche unmittelbar von dem Staats-Sekretär geleitet wird, bearbeitet die Angelegenheiten der höheren Politik, die kirchlichen Angelegenheiten, die Generalien, Personalien, alle das Cäremoniell betreffenden Fragen, den Verkehr mit den Gesandtschaften anderer Staaten, die Etats- und Kassen- Sachen. Die zweite Abtheilung , an deren Spitze ein Direktor steht, bearbeitet die Angelegenheiten des Handels und Verkehrs, das Konsulatswesen, die staatsrechtlichen und civilrechtlichen Ge- schäfte, die Privatangelegenheiten der Deutschen im Auslande, die Gegenstände, welche das Justiz-, Polizei- und Postwesen, die Aus- wanderung, die Schiffs-Angelegenheiten, die Grenzsachen und Ausgleichungen mit fremden Staaten betreffen Ich entnehme diese Aufzählung der Geschäfte, welche den beiden Ab- theilungen obliegen, dem Handbuch für das Deutsche Reich 1874 S. 51. . Von dem auswärtigen Amte ressortiren: 1) Die Gesandtschaften des Deutschen Reiches im Auslande Die Preußischen Gesandtschaften an den Deutschen Höfen sind dem Preußischen Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten unterstellt. . Dem Range nach zerfallen die Vorsteher der diplomatischen Missionen in Botschafter, Gesandte, Minister-Resi- denten und Geschäftsträger. Wenn der Fall eintritt, daß auf Grund des Schlußprotok. vom 23. November 1870 Z. VII (R.-G.-Bl. 1871 S. 24) die Bayerischen Gesandten zur Vertretung der Reichsgesandten bevoll- mächtigt werden, so sind sie verpflichtet, den vom Auswärtigen Amte erhaltenen Instruktionen Folge zu leisten und demselben für ihre amtliche Thätigkeit Rede zu stehen; den Charakter von Reichsbeamten erhalten sie aber durch die Vertretungsvollmacht nicht, da sie nicht eine Anstellung im Reichsdienste haben, sondern nur interimistisch die Wahrnehmung von Geschäften des Reichs übernehmen. Sie sind daher nicht der Disciplinar-Gewalt des Reichs unterworfen und ihre Verantwortlichkeit kann nur durch Vermittlung der Königl. Bayerischen Regierung geltend gemacht werden. 2) Die Reichskonsulate Vgl. Reitz Das Deutsche Consularwesen im Dezemberheft 1871 der . Die Organisation derselben, sowie die Amtsrechte und Pflichten der Reichskonsuln sind ge- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. regelt durch das Gesetz vom 8. November 1867 (B.-G.-Bl. 1867). Nach diesem Gesetz besteht die allgemeine Aufgabe der Reichskon- suln darin, das Interesse des Reiches, namentlich in Bezug auf Handel, Verkehr und Schifffahrt thunlichst zu schützen und zu fördern und die Beobachtung der Staatsverträge zu überwachen. Sie haben ferner den Angehörigen des Reiches und anderer be- freundeter Staaten in ihren Angelegenheiten Rath und Beistand zu gewähren. Die ihnen obliegenden amtlichen Pflichten sind im Einzelnen aufgeführt in den §§. 12—38 des erwähnten Gesetzes, welches durch das Gesetz vom 4. Mai 1870 betreffend die Ehe- schließung und die Beurkundung des Personenstandes von Reichs- angehörigen im Auslande B.-G.-Bl. 1870 S. 599. Aufrecht erhalten und zum Theil erweitert durch das R.-G. vom 6. Februar 1875 §. 85. und durch die Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 4 R.-G.-Bl. 1872 S. 409. ergänzt worden ist. Eine aus- führliche Dienst-Instruktion für die Reichskonsuln hat der Reichs- kanzler am 6. Juni 1871 erlassen Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1871 S. 607 ff. , ferner eine besondere In- struktion über die Gewährung des Schutzes im Türkischen Reiche mit Einschluß von Aegypten, Rumänien und Serbien, sowie in China und Japan am 1. Mai 1872 Gedruckt in Hirth’s Annalen 1872 S. 1263 ff. . Außerdem bestimmt sich der Geschäftskreis der Reichskonsuln durch den Inhalt der vom Reiche abgeschlossenen Consular-Verträge Vgl. Reitz in Hirth’s Annalen 1872 S. 1281 ff. . Die Konsuln sind entweder Wahlkonsuln , welche ihr Amt als unbesoldetes Ehrenamt verwalten und deren Anstellung jederzeit ohne Entschädigung widerruflich ist Konsulatsgesetz §. 9. 10. Es sollen vorzugsweise dazu Kaufleute ernannt werden, welchen das Reichsindigenat zusteht. , oder Berufs- konsuln , welche besoldete Reichsbeamte sind Konsulatsgesetz §. 7—8. . Alle Reichs- konsuln erhalten eine Kaiserliche Bestallung Verordn. vom 23. November 1874 §. 2. R.-G.-Bl. S. 135. . Zeitschrift: Im Neuen Reich. Derselbe in Hirth’s Annalen 1874 S. 70 fg. Lammers in v. Holtzendorffs Jahrb. I. S. 239 ff. II. S. 127. III. S. 290. Döhl Das Consularwesen des Deutschen Reiches. Bremen 1873. Hänel und Lesse . Gesetzgeb. des Deutschen Reiches über Konsularwesen und See- schifffahrt. Berlin 1875. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Die Reichskonsulate sind entweder Generalkonsulate oder Kon- sulate oder Vizekonsulate. In einer Anzahl von Bezirken sind einem Generalkonsulate mehrere Konsulate und Vizekonsulate, oder auch einem Konsulate Vizekonsulate untergeordnet, so daß die Ober- leitung und Ueberwachung der zu ihrem Sprengel gehörigen Kon- sulate und Vizekonsulate dem Generalkonsul resp. Konsul zusteht Instrukt. vom 6. Juni 1871 §. 2. Beispiele dafür sind die General- konsulate in Livorno, Neapel, Triest, Pest, Riga, Alexandrien, Jerusalem, New-York u. s. w., die Konsulate in Dünkirchen, Marseille, Amsterdam, Rotterdam, Gothenburg u. s. w. Eine Uebersicht gewährt das Verzeichniß der Konsulate im Handbuch des Deutschen Reiches. . Ueberdies haben die Reichs-Gesandtschaften, falls im Lande der Residenz des Consuls eine solche besteht, die Aufsicht über die Geschäftsführung zu handhaben. Berichte allgemeinen Inhalts haben die Konsuln daher in der Regel, wenn im Lande ihrer Residenz ein Kaiserl. Gesandter beglaubigt ist, durch dessen Hand zu senden und ebenso haben diejenigen Consuln und Vicekonsuln, welche einem Generalconsul unterstehen, ihre Berichte allgemeinen Inhaltes durch die Hand des Generalkonsuls gehen zu lassen. Den Konsuln ist es gestattet nach zuvor eingeholter Geneh- migung des Reichskanzlers in ihrem Amtsbezirke Konsular- Agenten zu bestellen. Dieselben sind aber keine selbstständigen Organe des Reiches, sie haben vielmehr nur die Bestimmung, dem Consul bei Ausübung seiner Funktionen zur Hand zu gehen Konsulargesetz §. 11. . Sie handeln daher stets nur im Auftrage des Konsuls und unter dessen Verantwortlichkeit und es können ihnen nur solche Amts- handlungen übertragen werden, welche keine obrigkeitlichen Befugnisse voraussetzen Instrukt. zu §. 11 cit. Döhl a. a. O. S. 46. . 3. Wissenschaftliche Institute des Reiches im Aus- lande, insbesondere die archäologischen Anstalten in Rom und in Athen Die Anstalt in Athen ist eine Zweiganstalt der in Rom. Vgl. Etat für das Auswärtige Amt für 1875 S. 38. . III. Die Admiralität . Die Verfassung des Nordd. Bundes Art. 53 bestimmte, daß die Bundes-Kriegsmarine eine einheitliche ist und daß der zur Instruktion vom 6. Juli 1871 §. 3. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Gründung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zusam- menhängenden Anstalten erforderliche Aufwand aus der Bundes- kasse bestritten wird; sie stellte aber die Kriegsmarine nicht unter den Oberbefehl und die Verwaltung des Präsidiums, sondern sie enthielt die Anordnung, daß die Bundeskriegsmarine unter Preu- ßischem Oberbefehl steht und daß die Organisation und Zusam- mensetzung derselben Seiner Majestät dem Könige von Preußen obliegt, welcher die Offiziere und Beamten der Marine ernennt. In Folge dieser Verfassungs-Bestimmungen wurden seit Gründung des Nordd. Bundes die für die Kriegs-Marine erforder- lichen Ausgaben zwar in den Etat des Bundes aufgenommen; es wurden aber weder für den Oberbefehl noch für die Verwaltung der Marine Bundesbehörden errichtet, sondern die dafür bestehen- den Preußischen Behörden blieben in Wirksamkeit. Für Preu- ßen waren zur Zeit der Gründung des Nordd. Bundes in dieser Beziehung die Anordnungen des Allerh. Erl. v. 16. April 1861 Preuß. Ges. S. 1861 S. 205. und des vom Könige vollzogenen Regulatives v. 30. April 1861 Preuß. Min.-Bl. d. inneren Verw. 1861 S. 153. Die Darstellung bei v. Rönne Pr. Staatsr. II. 1 S. 144 und die Mittheilung in Hirth’ s Annalen 1870 S. 188 fg. sind im Wesentlichen Auszüge aus diesem Re- gulativ. maaßgebend. Nach dem Erl. v. 16. April 1861 bestanden für die Marine-Angelegenheiten zwei gesonderte Behörden, die eine für den Oberbefehl, unter der Bezeichnung: Oberkommando der Marine , die andere für die Verwaltung unter dem Namen: Marine-Ministerium . Das erwähnte Regulativ ordnete das gegenseitige Verhältniß der beiden Behörden. Der Oberbefehls- haber der Marine hatte dieselbe Stellung wie ein kommandirender General; er stand unter dem unmittelbaren Befehl des Königs; er war zugleich General-Inspekteur der Marine; ihm waren unter eigener Verantwortlichkeit alle im activen Dienste befindlichen ma- ritimen Streitkräfte direct untergeordnet; er hatte dem Marine- Minister gegenüber dieselbe Stellung wie ein kommandirender General dem Kriegsministerium gegenüber. Der Marine-Minister war der Chef der Marine-Verwaltung und hatte als solcher die- selben Pflichten und Rechte, welche dem Kriegsminister als Chef der Armee-Verwaltung überwiesen sind. Einige Anstalten ressor- §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. tirten gemeinschaftlich von dem Oberkommando und dem Ministe- rium. Das Marine-Ministerium war durch Allerh. Erl. v. 16. April 1861 dem damaligen Kriegs-Minister v. Roon neben seinem bisherigen Ressort übertragen. Unter seiner Oberaufsicht und Ver- antwortlichkeit leitete die Geschäfte des Marine-Ministeriums ein „Präses“, welcher die Rechte und Pflichten eines Departements- Direktors im Kriegs-Ministerium hatte. Diese Organisation bestand unverändert bis zum Jahre 1871 fort. Nachdem aber die Stelle des Oberbefehlshabers der Marine erledigt war und durch eine Königl. Ordre v. 29. Juli 1870 in- terimistisch die Funktionen des Oberkommando’s dem Marine- Ministerium übertragen worden waren, erging am 15. Juni 1871 ein Allerh. Erlaß, welcher bestimmte, daß das Oberkommando der Marine als gesonderte Behörde aufgehoben bleibt und seine Funk- tionen auf das Marine-Ministerium übergehen. Gleichzeitig wurde das Regulativ v. 30. April 1861, welches das Nebeneinander- Bestehen zweier Marine-Behörden voraussetzt, durch ein neues, auf die vereinfachte Organisation passendes Regulativ ersetzt. Dieser Allerh. Erl. ist gerichtet an den Reichskanzler und an den (Preu- ßischen) Marine-Minister, ist von diesen beiden gegengezeichnet, und ist sowohl im Reichsgesetzblatt (S. 272) als auch in der Preuß. Gesetzsammlung veröffentlicht. Es war dies auch erforderlich, denn er betraf die Organisation einer Preußischen Behörde, deren Kosten aber im Reichshaushalts-Etat normirt waren und welche in der Reichsverfassung wenigstens z. Th. ihre gesetzliche Grund- lage hatte. Da die Verbindung der Stellung des Preußischen Kriegsministers und der des Preuß. Marineministers fortdauerte, so wurde auch der Präses als unmittelbarer Leiter der Geschäfte des Marine-Ministeriums beibehalten. Nach dem Regulativ v. 15. Juni 1871 Z. 3 ist derselbe in allen Beziehungen der stetige Ver- treter des Ministers, ihm ist das gesammte Personal des Marine- Ministeriums untergeben, sowie sämmtliche Personen und Behörden der Marine-Verwaltung. „Derselbe ist mitverantwortlich für eine geregelte, einheitliche und sachgemäße Behandlung der Geschäfte der gesammten Marine-Verwaltung. Er entscheidet nnd unterzeichnet selbstständig in allen den Angelegenheiten, in denen der Minister sich die Entscheidung nicht vorbehalten hat.“ Von einer Oberaufsicht und Oberleitung des Reichskanzlers §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. und einer Verantwortlichkeit desselben ist weder in dem Erl. v. 15. Juni 1871 noch in dem Regulativ die Rede; die Verantwortlich- keit des Reichskanzlers bestand aber jedenfalls für die Beobachtung des durch Reichsgesetz festgestellten Etats. Die Reorganisation der obersten Marinebehörde, welche durch den Allerh. Erl. v. 1871 angeordnet worden war, kam in dem Reichshaushalts-Etat für 1872 zur Erscheinung Insbesondere durch die Erhöhung der im Titel 1 aufgeführten Aus- gaben für das Ministerium, indem die Zahl der Räthe und Geh. Sekretäre vermehrt wurde, und durch eine entsprechende Verminderung der im Titel 8 unter a. enthaltenen Positionen für das Militär-Personal. Haupt-Etat für 1872 Anlage V S. 16. 36. und erhielt durch die Bewilligung des Etats Seitens des Reichstages dessen Zustimmung. War schon nach der Verf. des Nordd. Bundes die völlige Trennung der Marine-Verwaltung von der Verwaltung des Bun- des und ihre vollständige Uebertragung auf eine Preußische Behörde anomal, so war diese Einrichtung nach der Redaktion der Reichs- verfassung vom 16. April 1871 gradezu verfassungswidrig. Denn der Art. 53 derselben kennt keinen Preußischen Oberbefehl und keine Verwaltungsbefugnisse des Königs von Preußen mehr, son- dern spricht lediglich vom Kaiser. Der Kaiser aber hat nur einen verantwortlichen Minister und das ist der Reichskanzler. Dieser Mißstand wurde beseitigt durch den Allerh. Erlaß v. 1. Januar 1872, der lediglich an den Reichskanzler gerichtet, von ihm gegen- gezeichnet und nur durch das Reichsgesetzblatt (1872 S. 5) ver- öffentlich worden ist. Nach diesem Erlaß soll die durch das Regu- lativ v. 15. Juni 1871 geschaffene, einheitliche, obere Marinebe- hörde fortdauern, aber fortan den Namen „Kaiserliche Admiralität“ führen und einen Chef zum Vorstande erhalten, welcher die Ver- waltung unter der Verantwortlichkeit des Reichskanz- lers und den Oberbefehl nach den Anordnungen des Kaisers zu führen hat. Seit diesem Erlaß ist die Admiralität eine Reichsbehörde , welche neben dem Reichskanzler-Amte und dem Auswärtigen Amte, beiden coordinirt, unter dem Reichskanzler steht und welche ebenso, wie die beiden anderen großen Centralbehörden des Reiches einen Chef von Rang und Stellung eines (Preußischen) Staatsministers §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. hat. Für die Einrichtung und den Geschäftskreis der Admiralität ist das Regulat. v. 15. Juni 1871 noch in Geltung. Der Chef der Admiralität vereinigt in seiner Person die Dienstbefugnisse des Oberkommando’s und die Rechte und Pflichten des Verwaltungschefs. Behufs der Kontrole über die Ausführung der Kaiserl. Befehle und der reglementar. Ministerial- vorschriften werden die Theile der Marine regelmäßigen Inspizi- rungen unterworfen, die entweder im Namen des Kaisers durch den General-Inspekteur der Marine, oder im Auftrage des Marineministers durch einen älteren Seeoffizier wahrzunehmen sind. Der General-Inspekteur hat über das Resultat der Inspizirungen dem Kaiser direct zu berichten Die näheren Bestimmungen enthält das Regulat. vom 15. Juni 1871 Ziff. 7. . Außerdem kann der Chef der Admiralität zur Lösung schwieriger Fragen organisatorischer und technischer Natur einen Admiralitätsrath berufen und diesem die Fragen zur Begutachtung vorlegen. Den Vorsitz des Admira- litätsrathes führt der Chef; der General-Inspekteur ist ständiges Mitglied; außerdem besteht derselbe aus den vom Chef bezeich- neten Mitgliedern der Admiralität und anderen, von ihm dazu berufenen Seeoffizieren, Beamten und Technikern. Der doppelte Ursprung und Geschäftskreis der Admiralität zeigt sich sowohl in ihrer Einrichtung als in den von ihr ressorti- renden Behörden. Die der Admiralität obliegenden Geschäfte sind in Dezernate eingetheilt, von denen die militärischen zu einer Abtheilung und die technischen ebenfalls zu einer Abtheilung (De- partement) zusamengefaßt sind. An der Spitze der militärischen Abtheilung steht unter dem Chef der Admiralität der „Chef des Stabes,“ an der Spitze des technischen Departements ein „Direktor der Admiralität.“ Außer- dem gehören zum Geschäftskreise der Admiralität noch eine Anzahl von „Allgemeinen Dezernaten“ Für Bauwesen; für Etats- und Kassen-Angelegenheiten; für Garnison- Verwaltung ꝛc.; für Servis, Reisekosten und Tagegelder; für Justiz-Angele- genheiten; für Rechnungs-Revision. Ueber das Dezernat für Rechnungs-Re- vision, welches bis zum 1. Okt. 1872 zu den Geschäften der Marine-Intendan- tur gehörte, vgl. den Allerh. Erl. vom 18. Juni 1872. R.-G.-Bl. S. 361. und das „Hydrographische Bu- reau.“ Laband , Reichsstaatsrecht. I. 22 §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Für die von der Admiralität ressortirenden Behörden ist das Prinzip entscheidend, daß die gesammte Marine in 2 Flottensta- tionen getheilt ist, welche man den Divisionen eines Armeecorps vergleichen kann. Die eine ist die der Ostsee mit dem Reichskriegsha- fen Kiel, die andere ist die der Nordsee mit dem Reichskriegshafen Wilhelmshaven. Die maritime Grenze zwischen den beiden Bezir- ken bildet das Breiten-Parallel von Skagen. Zu beiden Flotten- stationen gehören sowohl Kommando-Behörden als auch Verwal- tungs-Behörden nebst Schiffswerften, Bildungs- und wissenschaft- lichen Anstalten. Diesem allgemeinen Organisations-Prinzip gemäß gliedern sich die, von der Admiralität ressortirenden Behörden in folgen- der Art Die folgenden Angaben entnehme ich dem Handbuch dns Deutschen Reiches 1874 S. 98 ff. . 1. Kommando-Behörden . a) Die beiden Marine-Stations-Kommandos zu Kiel und Wilhelmshaven, an deren Spitze als Marine-Stations- Chef je ein See-Offizier mit den Befugnissen eines Divi- sions-Kommandeurs der Armee steht. Dieselben versehen die Funktionen eines militärischen Befehlshabers aller zur Station gehörenden Personen, Befestigungen, Schiffe und Fahrzeuge, sowie eines Inspekteurs der technischen und Bildungs-Institute. b) Die beiden Matrosen-Divisionen in Kiel und in Wilhelmshaven. Zu jeder derselben gehören 4 Abtheilungen; der Kommandeur hat im Allgemeinen die Rechte und Pflichten eines Regiments-Kommandeurs, der Abtheilungsführer die eines Bataillons-Kommandeurs. c) Die beiden Werft-Divisionen in Kiel und in Wil- helmshaven. Sie bestehen aus einer Maschinisten-Abthei- lung und einer Handwerker-Abtheilung; bezüglich des Kom- mandeurs und der Abtheilungsführer gilt das bei den Matrosen-Divisionen Gesagte. d) Die Schiffsjungen-Abtheilung zu Friedrichsort. Sie hat den Zweck, Matrosen und Unteroffiziere heranzubilden; §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines deta- chirten Bataillons-Kommandeurs. e) Das Seebataillon , mit dem Stabe und 4 Kompagnien in Kiel, 2 Kompagnien in Wilhelmshaven. Dasselbe ist vorzugsweise für den Wacht- und Garnisondienst in den Marine-Etablissements und an Bord der Kriegsschiffe be- stimmt. Der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines Regiments-Kommandeurs. Attachirt ist die Stabswache , welche den Polizei- dienst auf den Werften zu versehen hat. f) Die See-Artillerie-Abtheilung , mit dem Stabe und 2 Kompagnien in Friedrichsort, 1 Komp. in Wilhelms- haven, zur Vertheidigung der Hafen- und Küstenbefesti- gungen und zur Ausführung artilleristischer Arbeiten. Der Kommandeur hat die Rechte und Pflichten eines Regiments- Kommandeurs. g) Die Kommandantur zu Kiel. Von derselben ressortirt der Garnisondienst, die Garnison-Polizei, die Aufsicht über die Garnison- und Lazareth-Anstalten und die Handhabung der Gerichtsbarkeit über die Garnison. 2. Verwaltungs-Behörden . a) Die beiden Marine-Stations-Intendanturen zu Kiel und zu Wilhelmshaven. Ihre Einrichtung beruht auf dem Allerh. Erlaß v. 18. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 361); sie sind seit dem 1. Okt. 1872 an die Stelle der ehemal. Preuß. Marine-In- tendantur getreten. Jede Intendantur zerfällt in zwei Abtheilungen, von denen die erste das Kassenwesen der Schiffe und Marine- theile, die Gehalts- und Löhnungs-Kompetenzen, das Proviant- wesen und Bekleidungswesen, die zweite die Garnison-Verwal- tungen, die ökonomische Verwaltung der Lazarethe und Bildungs- Anstalten, die Garnison-Bausachen, die Servis- und Naturalquar- tier-Angelegenheiten zu bearbeiten hat. b) Die drei Werften zu Danzig, Kiel und Wilhelmshaven. Dieselben sind der Admiralität unmittelbar untergeordnet. Ihr Geschäftskreis umfaßt Schiffbau, Maschinenbau, Hafenbau, Aus- rüstung, Armirung, sowie alle Verwaltungs-Angelegenheiten der Werft. An der Spitze jeder Werft steht ein See-Offizier als Ober-Werft-Direktor. Unter ihm fungiren für die einzelnen 22* §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Geschäftszweige als Referenten und Vorsteher je 6 Werft-Direk- toren Der Ausrüstungs-Direktor (See-Offizier), der Artillerie-Direktor, der Schiffbau-Direktor, der Maschinenbau-Direktor, der Hafenbau-Direktor, der Verwaltungs-Direktor. , denen die Ingenieure zugeordnet sind. c) Die beiden Marine-Artillerie-Depots zu Kiel und zu Wilhelmshaven. 3. Wissenschaftliche Anstalten . a) Die Marine-Akademie zu Kiel hat die Aufgabe, den See-Offizieren Gelegenheit zu einer höheren wissenschaftlichen Ausbildung in den Berufsfächern zu geben. b) Die Marine-Schule zu Kiel. Dieselbe bildet die Ka- detten zur See-Kadetten-Prüfung und die in der ersten See-Offi- ziers-Prüfung bestandenen Unter-Lieutenants zur See zur „See- Offizier-Berufs-Prüfung“ vor. c) Das Hydrographische Büreau der Kaiserlichen Ad- miralität Ueber Einrichtung und Geschäfts-Umfang desselben giebt der Hauptetat der Kaiserlichen Marine für 1875 S. 24 u. S. 30 den erforderlichen Aufschluß. Von ihm ressortirt das Observatorium zu Wilhelmshaven. . d) Die Deutsche Seewarte in Hamburg Vgl. Drucksachen des Reichstages II. Session 1874 Nr. 57. . Unter diesem Namen bestand seit 1868 in Hamburg eine Privat-Anstalt, welche sich die Erforschung der meteorologischen und physikalischen Verhältnisse des Meeres zur Aufgabe gestellt hatte und für die Handelsmarine ungefähr dasselbe leistete, was das „hydrographische Büreau“ der Admiralität für die Kriegsmarine zu thun bestimmt war. Seit dem Jahre 1870 sind diesem Institute Jahreszuschüsse aus Reichsmitteln gewährt worden, um seine Er- haltung zu sichern. Da dieses Institut jedoch den Bedürfnissen nicht zu genügen vermochte, was durch eine im Jahre 1873 auf Veranlassung des Reichskanzler-Amtes zusammenberufene Kommis- sion nautischer und meteorologischer Sachverständiger bestätigt wurde, so beschloß die Reichsregierung, dasselbe in eine Reichs-Anstalt umzuwandeln und legte zu diesem Zwecke dem Reichstage am 18. Nov. 1874 einen besonderen Gesetz-Entwurf vor. In dem Gesetz v. 9. Januar 1875 §. 1 (R.-G.-Bl. S. 11) wird die Aufgabe dieser Anstalt dahin bestimmt: „Die Kenntniß §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. der Naturverhältnisse des Meeres, soweit diese für die Schifffahrt von Interesse sind, sowie die Kenntniß der Witterungserscheinungen an den Deutschen Küsten zu fördern und zur Sicherung und Er- leichterung des Schifffahrtsverkehrs zu verwerthen.“ Im Uebrigen soll der Geschäftskreis der Seewarte, ihre Einrichtung und Ver- waltung im Einvernehmen mit dem Bundesrathe durch Kaiserliche Verordnung festgestellt werden. (§. 4.) Es ist aber im §. 2 des Gesetzes ausdrücklich angeordnet, daß die Seewarte zum Ressort der Kaiserlichen Admiralität gehört. Untergeordnet sind ihr die an geeigneten Küstenplätzen errich- teten Beobachtungs- und Signalstellen . IV. Das Reichs-Eisenbahn-Amt . Durch das Gesetz v. 27. Juni 1873 (R.-G.-Al. S. 164) ist unter diesem Namen eine Reichsbehörde in Berlin eingerichtet worden, welche im §. 1 des Gesetzes als „eine selbstständige Cen- tralbehörde“ bezeichnet wird und über welche §. 3 eod. bestimmt, daß sie ihre Geschäfte unter Verantwortlichkeit und nach den An- weisungen des Reichskanzlers führt. Durch diese Bestimmungen ist dem Reichs-Eisenbahn-Amt eine Stelle nicht innerhalb des Reichskanzler-Amts gegeben worden, wie dem Reichs-Justiz-Amt, sondern neben demselben, wie dem Auswärtigen Amte und der Admiralität. Die Behörde besteht aus einem Vorsitzenden, welcher nach der im Gesetz vom 30. Juni 1873 gegebenen Klassifikation der Reichs- beamten (R.-G.-Bl. S. 169) den Direktoren im Reichskanzleramt gleichgestellt ist, und der erforderlichen Anzahl von Räthen. Außerdem können im Falle des Bedürfnisses Reichs-Eisenbahn- Kommissare bestellt werden, welche vom Reichs-Eisenbahn-Amte ihre Instructionen empfangen. Ihre Absendung ist für den Fall vorbehalten, daß die dem Reiche zustehende Aufsicht an Ort und Stelle gehandhabt werden soll. Der Vorsitzende und die Mitglieder des Reichs-Eisenbahn-Amtes, sowie die Kommissare werden vom Kaiser ernannt, die Ernennung der Subaltern- und Unterbeamten ist dem Reichskanzler übertragen. (§. 2 Abs. 1 des cit. Ges.) Das Reichs-Eisenbahn-Amt hat die Aufgabe, die in den Art. 41—47 der R.-V. dem Reiche zugeschriebenen Befugnisse hinsicht- lich des Eisenbahnwesens zu handhaben. Das Verhältniß des §. 34. Der Reichs-Verwaltungsbehörden. Reichs-Eisenbahn-Amtes zum Bundesrath ist dasselbe, welches zwischen anderen Verwaltungsbehörden des Reiches, z. B. dem Generalpostamt, und dem Bundesamt besteht. An der dem Bun- desrath nach Art. 7 der Reichs-Verfassung zustehenden Kompetenz, allgemeine Anordnungen zu erlassen, ist durch die Errichtung des Reichs-Eisenbahn-Amtes Nichts geändert worden; das Reichs-Eisen- bahn-Amt verwaltet vielmehr als selbstständige Behörde nur solche Geschäfte, welche, falls das Reichs-Eisenbahn-Amt nicht existiren würde, der Central-Abtheilung des Reichskanzler-Amtes kraft ihres universellen und subsidiären Geschäftsauftrages obliegen würden. In Folge des im Art. 46 Abs. 2 der Reichs-Verfassung be- gründeten Sonderrechts Bayern’s ergiebt sich, daß die Thätigkeit des Reichs-Eisenbahn-Amtes Bayern gegenüber im Wesentlichen aus- geschlossen ist. Nur soweit die Art. 41. 46 Abs. 3 und 47 der Reichs-Verfassung Veranlassung zu einem Einschreiten des Reichs- Eisenbahn-Amtes oder zu einer Vorbereitung oder Begutachtung von Gesetz-Entwürfen geben sollten, würde die Kompetenz des Reichs-Eisenbahn-Amtes auch auf Bayern sich erstrecken. Da die im Art. 41 und 46 Abs. 3 erwähnten Befugnisse des Reiches nur im Wege der Gesetzgebung ausgeübt werden können, so erstreckt sich die Verwaltungscompetenz (Oberaufsicht) des Reiches nur auf folgende Punkte: Aufstellung einheitlicher Normen für die Anlage und Ausrüstung im Interesse des Verkehrs und der Sicherheit, Erlaß eines Bau-Reglements, Betriebs-Reglements, Bahnpolizei-Reglements (Art. 42. 43); Controle der Fahrpläne für den Personen- und Güterverkehr (Art. 44); das Tarifwesen (Art. 45. 46); Leistungen für militärische Zwecke. (Art. 47) Nach dem „vorläufigen Entwurf eines Eisenbahn-Gesetzes“ vom April 1875 Art. 2 u. 3 soll die gesammte unmittelbare Aufsicht über das Ei- senbahnwesen dem Reiche übertragen werden und den Landesregierungen nur ein engbegränzter Kreis einzelner Befugnisse überlassen bleiben. . In allen diesen Beziehungen können allgemeine Verordnungen nur vom Bundesrathe erlassen werden; dem Reichs-Eisenbahn-Amt aber liegt es ob, die allgemeine, dem Reiche nach Art. 4 der Reichs-Verfassung zustehende Aufsicht über das Eisenbahn-Wesen wahrzunehmen und auf Abstellung der hervortretenden Mängel und Mißstände hinzuwirken, sodann aber namentlich: „für die Aus- führung der in der Reichsverfassung enthaltenen Bestimmungen, §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. sowie der sonstigen auf das Eisenbahn-Wesen bezüglichen Gesetze und verfassungsmäßigen Vorschriften — (zu denen die verfassungs- mäßigen Bundesraths-Verordnungen gehören) — Sorge zu tra- gen“ R.-G. vom 27. Juli 1873 §. 4 Z. 2. . Zu diesem Zwecke ist das Reichs-Eisenbahn-Amt befugt, innerhalb seiner Zuständigkeit über alle Einrichtungen und Maaß- regeln von den Eisenbahn-Verwaltungen Auskunft zu fordern. Die souveräne Reichsgewalt in Eisenbahn-Angelegenheiten wird auf 3 verschiedenen Wegen zur Geltung gebracht, je nach- dem sich eine Verfügung des Reichs-Eisenbahn-Amtes gegen die Verwaltung von Reichs-Eisenbahnen, von Staats-Eisenbahnen oder von Privat-Eisenbahnen richtet. Am einfachsten gestaltet sich die Sache den Reichseisenbahnen gegenüber, da die Verwaltung derselben in letzter Instanz dem Reichskanzler zusteht Die Verwaltung der Reichs-Eisenbahnen ist, wie oben S. 328 bereits erwähnt worden, dem Reichskanzleramte, Abtheilung für Elsaß-Lothringen, unterstellt. ; derselbe bringt daher die Verfügungen des Reichs-Eisenbahn-Amtes unmit- telbar zum Vollzuge, indem er die ihm untergeordneten Verwal- tungsbehörden mit der erforderlichen Anweisung versieht. Den Privatbahnen gegenüber ist das Reichs-Eisenbahn- Amt ausgestattet worden mit allen denjenigen Befugnissen, welche den Aufsichtsbehörden der betreffenden Bundesstaaten nach Maaß- gabe der einzelnen Partikularrechte zustehen. Jedoch kann das Reichs-Eisenbahn-Amt keine direkten Zwangsmaaßregeln verfügen, sondern es muß sich an die Eisenbahn-Aufsichtsbehörden der Ein- zelstaaten wenden, welche nach §. 5 Z. 1 des Gesetzes v. 27. Juni 1873 gehalten sind, den deshalb an sie ergehenden Requi- sitionen zu entsprechen. Endlich den Staats-Eisenbahn-Verwaltungen gegen- über hat das Reich keine anderen Mittel als ihm überhaupt gegen die Regierungen der Einzelstaaten zustehen; nämlich einen Beschluß des Bundesraths nach Art. 7 Nro. 3 oder eine Verfügung des Kaisers auf Grund des Art. 17 der Reichs-Verfassung und äußersten Falles die Vollstreckung der Exekution nach Art. 19 der Reichs- Verfassung. Ueber den Recurs gegen Verfügungen des Reichs-Eisenbahn- Amtes siehe unten §. 36. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. V. Die Reichsbank-Behörden Vgl. Bamberger Materialien zum Bankges. In Hirth’s Annalen 1875 S. 835 ff. Sonnemann Bemerkungen zum Reichs-Bankges. Ebenda S. 1027 ff. . Die auf Grund des Reichsgesetzes vom 14. März 1875 (R.G.-Bl. S. 177) errichtete Reichsbank Da die Errichtung der Reichsbank im Wesentlichen eine Umwandlung der Preußischen Bank in eine Reichsbank war, so trägt die Reichsbank hin- sichtlich ihrer Organisation sehr deutlich den Stempel dieses Ursprungs und viele Bestimmungen des Reichsbankgesetzes lehnen sich eng an die Preuß. Bank-Ordnung vom 5. Oktober 1846 an. Vgl. über dieselbe v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 146 ff. ist eine von dem Fis- kus des Reiches verschiedene, ihm gegenüber selbstständige juri- stische Person privatrechtlichen Charakters Bankgesetz §. 12. . Die ihr zugewiesene Aufgabe, „den Geldumlauf im gesammten Reichs- gebiete zu regeln, die Zahlungs-Ausgleichungen zu erleichtern und für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals zu sorgen“, greift aber zugleich ein in die dem Reiche obliegende öffentlich rechtliche Pflicht zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes“ (Einl. zur R.-V.) Dasselbe gilt von dem ihr übertragenen Rechte zur Ausgabe von Banknoten. Das Reich steht demgemäß in einem doppelten Verhältniß zur Reichsbank, in einem privatrechtlichen und einem öffentlich rechtlichen. Das privatrechtliche Verhältniß beruht da- rauf, daß der Reichsfiskus Mitglied der, den Namen Reichs- bank führenden, juristischen Person ist, an dem Reingewinn der- selben einen Antheil hat und zur Vertretung und Geschäftsführung für diese juristische Person befugt ist. Das öffentlich rechtliche Verhältniß kann man im Anschluß an die ältere staatsrechtliche Ausdrucksweise als Bankhoheit bezeichnen; es besteht in der staatlichen Aufsicht über den Wirkungskreis und die Tendenzen der Bank, in der Wahrnehmung der volkswirthschaftlichen, handels- politischen, finanziellen Interessen des Reiches der Reichsbank ge- genüber. Der Gegensatz dieser beiden Verhältnisse läßt sich auch in der Art ausdrücken, daß in der ersten Beziehung das Reich innerhalb der juristischen Person, welche Reichsbank heißt, eine rechtliche Stellung hat, in der zweiten Beziehung über dieser privatrechtlichen Person steht. Das Reich hat innerhalb der Reichsbank Rechte desselben Charakters, wie sie der Direktor oder §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Vorstand irgend einer Aktiengesellschaft ebenfalls hat; über die Reichsbank aber übt das Reich als Person des öffentlichen Rechts Hoheitsrechte aus, wie sie ihm auch Privat-Banken gegenüber zustehen Ueber die dem Reichskanzler zustehende staatliche Aufsicht über die Privatbanken, welche Noten ausgeben, enthält das Bankgesetz §. 48 ff. die erforderlichen Bestimmungen. . Diesem doppelten Verhältniß des Reiches zur Reichsbank entspricht es, daß zwei verschiedene Reichsbank-Behörden bestehen, von denen die eine das Hoheitsrecht des Reiches, die Aufsicht über die Reichsbank, die andere das privatrechtliche Mitgliedschafts- recht des Reiches, die Leitung der Reichsbank, wahrzunehmen hat. Die begriffliche Verschiedenheit beider Behörden und der ihnen obliegenden Funktionen wird nur dadurch thatsächlich etwas verdunkelt, daß dieselbe Person, nämlich der Reichskanzler, an der Spitze beider steht. 1. Das Bank-Kuratorium Ueber das ehemalige Preuß. Bank-Kuratorium vgl. die Königl. Ver- ordnung vom 3. November 1817 (Preuß. Ges.-Samml. S. 295) §§. 5—8 und die Cab.-Ordre vom 11. April 1846 (Preuß. Ges.-Samml. S. 153). . Dies ist die Behörde zur Handhabung des staatlichen Hoheits- rechtes. Mit der Führung der Bankgeschäfte und der Vertretung der Reichsbank hat sie Nichts zu thun; ihr liegt vielmehr ob „die dem Reiche zustehende Aufsicht über die Reichs-Bank auszuüben“ Bankgesetz §. 25 Abs. 1. . Den Vorsitz dieser Behörde führt der Reichskanzler. Sie besteht außerdem aus vier Mitgliedern, von denen eines der Kaiser ernennt, die drei anderen der Bundesrath wählt. Das Kurato- rium ist keine ständig arbeitende Behörde; es versammelt sich viel- mehr nur vierteljährlich einmal und empfängt in diesen Versamm- lungen einen Bericht über den Zustand der Bank und alle darauf Bezug habenden Gegenstände und es wird ihm eine allgemeine Rechenschaft von allen Operationen und Geschäftseinrichtungen der Bank ertheilt Bankgesetz §. 25 Abs. 2. . Von einer Beschlußfassung des Bank-Kuratoriums schweigt das Gesetz vollständig. Anordnungen, welche für die Leitung der Reichsbank verbindliche Kraft hätten, kann das Bank-Kuratorium als solches nicht treffen; wohl aber kann der Reichskanzler als §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Direktor der Reichsbank Ansichten oder Wünsche, welche bei einer Sitzung des Kuratoriums geäußert worden sind, ohne Weiteres zur Geltung bringen — wenn er will . Dagegen ist nicht zu bezweifeln, daß das Bank-Kuratorium, wenn es hinsichtlich der Geschäftsleitung der Reichsbank Mängel oder Unzuträglichkeiten oder gar Gesetzeswidrigkeiten bemerkt, da- rüber dem Bundesrath einen Bericht erstatten und dadurch ein Einschreiten des Bundesrathes nach Art. 7 der R.-V hervorrufen kann. Hierzu bedarf es aber allerdings eines förmlichen Beschlusses des Bank-Kuratoriums gar nicht. Die vom Bundesrath gewähl- ten Mitglieder können die Bemerkungen, zu welchen ihnen der Bericht über den Zustand und die Operationen der Reichsbank etwa Veranlassung giebt, der Regierung des Staates, den sie im Bundesrathe vertreten, mittheilen und es steht dann nach Art. 7 Abs. 2 der R.-V. jedem Bundesgliede frei, Vorschläge dem Bun- desrathe zu machen. Der praktische Zweck des Bank-Kuratoriums ist jedenfalls vorzugsweise darin zu sehen, den Regierungen der Einzelstaaten einen Einblick in die Geschäftslage und Einrichtungen der Bank zu ermöglichen. 2. Das Bank-Direktorium Vgl. die Preuß. Bank-Ordnung vom 5. Oktober 1846 §§. 55 ff. . Die Reichsbank ist organisirt nach der allgemeinen Schablone, nach welcher die Verfassung fast aller Korporationen und insbe- sondere aller Aktien-Vereine gebildet ist. Die Organe der juristischen Person sind einerseits die Gene- ral-Versammlung der Mitglieder und ein von derselben ge- bildeter, mit der Wahrnehmung ihrer Rechte betrauter Ausschuß, der gewöhnlich Aufsichtsrath oder Verwaltungsrath heißt, für die Kontrole, Beschlußfassung über allgemeine Einrichtungen, Anordnungen wichtiger Maßregeln, Statutenänderungen u. dgl. und andererseits der Vorstand oder Direktor für Vertretung und Geschäftsführung. Bei der Reichsbank ist diese Organisation in der Art durchgeführt, daß die Eigenthümer der Bank-Antheile (Aktionäre) die Generalversammlung bilden und aus ihrer Mitte den Centralausschuß (Aufsichtsrath) wählen Bankges. §§. 30—34. Bankstatut v. 21. Mai 1875 §. 16 ff. (R.-G.-Bl. S. 206). Von dem Central-Ausschuß werden wieder zum Zweck der fortlau- , daß das §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. Reich dagegen die Funktionen des Vorstandes oder Direktors ausübt und zwar unter dem Namen „Bank-Direktorium“. Das Bank-Direktorium ist demnach keine Behörde mit öffentlich rechtlicher Amtsgewalt , sondern eine Vertetung des Reichsfiskus; dadurch aber unterschieden von allen anderen fiskalischen Behörden oder Stationen, daß der Reichsfiskus durch sie nicht unmittelbar als Person des Privatrechtes dem Publikum gegenüber vertreten, resp. berechtigt und verpflichtet wird, sondern daß der Reichsfiskus nur als Mitglied und Vorstand einer ande- ren privatrechtlichen Person, nämlich der Bank, auftritt. Das Bank-Direktorium ist demnach der Reichs-Bank gegenüber Ver- treter des Reichsfiskus und befugt, alle Rechte auszuüben, welche dem Reichsfiskus als Mitglied der Reichsbank zustehen; dagegen dem Publikum gegenüber ist das Bank-Direktorium Ver- treter der Reichsbank . „Das Reichsbank-Direktorium ist die verwaltende und ausführende, sowie die, die Reichsbank nach außen vertretende Behörde“ Bankgesetz §. 27 Abs. 1. . Das Direktorium besteht aus einem Präsidenten und Mit- gliedern, welche auf den Vorschlag des Bundesrathes vom Kaiser auf Lebenszeit ernannt werden. Es faßt seine Beschlüsse zwar nach Stimmenmehrheit, ist aber keine unabhängige, collegialische Behörde, sondern „es hat bei seiner Verwaltung überall den Vorschriften und Weisungen des Reichskanzlers Folge zu leisten Bankgesetz §. 27 Abs. 2. “. Der eigentliche Direktor der Reichsbank ist der Reichskanzler; das Bank-Direktorium ist nur sein Bureau, sein Hülfspersonal, dessen er sich in seiner Eigenschaft als Bank-Direktor bedient Der Reichskanzler ist an die Stelle des ehemaligen „Chefs der Preuß. Bank“, nämlich des Preuß. Handels-Ministers, getreten. Vgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 149 Note 3. . „Die dem Reiche zustehende Leitung der Bank wird vom Reichskanzler , und unter diesem von dem Reichsbank- Direktorium ausgeübt Bankgesetz §. 26 Abs. 1. “. „Der Reichskanzler leitet die gesammte Bankverwaltung innerhalb der Bestimmungen des Bankgesetzes fenden speciellen Kontrole drei Deputirte und ebensoviele Stellvertreter gewählt. Bankgesetz §. 34. Bankstatut §. 24. §. 34. Die Reichs-Verwaltungsbehörden. und Bankstatutes. Er erläßt die Geschäftsanweisungen für das Reichsbank-Direktorium und für die Zweiganstalten, sowie die Dienstinstruktionen für die Beamten der Bank, und verfügt die erforderlichen Abänderungen der bestehendeu Geschäftsanweisungen und Dienstinstruktionen“ Bankgesetz §. 26 Abs. 2. . Es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß die staats- rechtliche und politische Verantwortlichkeit für die gesammte Leitung der Reichsbank nicht dem Reichsbank-Direktorium, sondern dem Reichskanzler obliegt. In Behinderungsfällen des Reichskanzlers wird die Leitung durch einen vom Kaiser hierfür ernannten Stellvertreter wahrge- nommen. — Die Substitutions-Befugniß des Reichskanzlers ist sonach ausgeschlossen. Den Beamten der Reichsbank sind die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten beigelegt Bankgesetz §. 28 Abs. 1. ; streng genommen sind sie aber nicht Beamte des Reiches, sondern Beamte der vom Reich ver- schiedenen juristischen Person, welche Reichsbank heißt. Man könnte nur den vieldeutigen Namen der „mittelbaren“ Reichsbeamten auf sie anwenden, wegen der Rechte des Reiches an der Reichsbank. In finanzieller Hinsicht tritt das wahre juristische Verhältniß klar hervor, indem die Besoldungen, Pensionen und sonstigen Dienstbe- züge, sowie die Pensionen und Unterstützungen für ihre Hinter- bliebenen nicht von der Reichskasse, sondern von der Reichsbank getragen werden Bankgesetz §. 28 Abs. 2. Jedoch ist ebendaselbst bestimmt, daß der Besoldungs- und Pensionsetat des Reichsbank-Direktoriums jährlich durch den Reichshaushalts-Etat, der der übrigen Beamten jährlich vom Kaiser im Ein- vernehmen mit dem Bundesrath auf den Antrag des Reichskanzlers festge- setzt wird. . Von dem Bank-Direktorium ressortiren die Zweig-Nieder- lassungen der Reichsbank, welche nach Größe und Bedeutung ihres Geschäfts-Umfanges in 3 Klassen zerfallen: a) Reichsbank-Hauptstellen . Sie sind an, vom Bun- desrathe zu bestimmenden, größeren Plätzen zu errichten und stehen unter Leitung eines aus wenigstens 2 Mitgliedern bestehenden Vorstandes und unter Aufsicht eines vom Kaiser ernannten Bank- Kommissarius. Sie sind dadurch ausgezeichnet, daß in Nachbil- §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. dung des Centralausschusses und der Bankdeputirten bei ihnen Bezirksausschüsse gebildet und Beigeordnete ernannt werden Bankgesetz §. 36. Bankstatut §. 27—29. Auch hier lieferte die Preuß. Bank-Ordnung von 1846 §§. 104—111 das Vorbild. . d) Reichsbank-Stellen . Dieselben sind dem Bank- Direktorium unmittelbar untergeordnet und werden auf Anordnung des Reichskanzlers errichtet Bankgesetz §. 37. . c) Reichsbank-Kommanditen oder Agenturen . Sie sind einer andern Zweig-Niederlassung der Bank unterge- ordnet. Ihre Errichtung steht dem Bank-Direktorium zu Bankgesetz a. a. O. . §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. I. Die Reichsschulden-Verwaltung . Der Preußischen „Hauptverwaltung der Staatsschulden“ ist die Wahrnehmung der mit der Verwaltung der Reichsschulden verbundenen Geschäfte unter der angegebenen Benennung über- tragen, jedoch mit der Maaßgabe, daß „die obere Leitung dem Reichskanzler zusteht.“ Es ist diese Anordnung zuerst getroffen worden durch das Gesetz vom 19. Juni 1868 über die Verwaltung der auf Grund des Gesetzes vom 9. Nov. 1867 aufzunehmenden Bundes-Anleihe §§. 1 und 2 (B.-G.-Bl. S. 339); sie ist dann hinsichtlich aller späteren Anleihen Insbesondere auch in dem Gesetz vom 27. Januar 1875 (R.-G.-Bl. S. 18). Die früheren Anleihen des Nordd. Bundes sind getilgt. und Emissionen von Schatz- scheinen wiederholt worden. Auch die Ausfertigung der Reichs- kassenscheine ist dieser Behörde übertragen durch das Ges. v. 30. Apil 1874 §. 6. (R.-G.-Bl. S. 41.) Auf die amtliche Thätigkeit und staatsrechtliche Stellung der Reichsschulden-Verwaltung findet das Preuß. Gesetz vom 24. Februar 1850 (Preuß. Ges.-Samml. S. 57) Anwendung. Durch den §. 6 dieses Gesetzes ist festgesetzt, daß die Hauptverwaltung der Staatsschulden für eine Reihe der wichtigsten, ihr obliegenden Geschäfte „ unbedingt verantwortlich “ ist; in allen übrigen Beziehungen aber ist es ihr zur Pflicht gemacht, den Anordnungen und Anweisungen des Finanzministers Folge zu leisten Vgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 1 S. 449 ff. . Der §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. Direktor und die Mitglieder der Hauptverwaltung der Staats- schulden müssen vor Antritt ihres Amtes in öffentlicher Sitzung des Obertribunals einen Eid schwören, daß sie sich von Erfüllung ihrer Pflichten und der ihnen mit eigener Verantwortlichkeit über- tragenen Obliegenheiten durch keine Anweisungen oder Verord- nungen irgend einer Art abhalten lassen wollen Preuß. Gesetz vom 24. Februar 1850 §. 9. (Ges.-Samml. S. 59.) . Für die Reichsschulden-Verwaltung ist an die Stelle des Preuß. Finanzministers der Reichskanzler getreten; es ist aber der Kreis der im §. 6 cit. aufgeführten Geschäfte noch darauf erstreckt worden, daß eine Konvertirung der Schuldverschreibungen nur auf Grund eines Gesetzes, und nachdem die etwa erforderlichen Mittel bewilligt sind, vorgenommen werden darf Gesetz vom 19. Juni 1868 §. 1. . Der Direktor und die Mitglieder der Hauptverwaltung der Staatsschulden haben zu Protokoll zu erklären, daß sie den von ihnen nach §. 9 des Preuß. Gesetzes geleisteten Eid auch für die Verwaltung der Reichsschulden als maaßgebend anerkennnen Gesetz vom 19. Juni 1868 §. 3 Durch die im Vorstehenden erwähnten gesetzlichen Bestim- mungen ist einerseits die Reichsschulden-Verwaltung hinsichtlich des ihr obliegenden Geschäftskreises mit einer Unabhängigkeit dem Reichskanzler gegenüber ausgestattet, welche anderen Verwaltungs- behörden nicht zukommt, indem sie Anordnungen des Reichskanz- lers, welche mit den gesetzlichen Vorschriften nicht in Einklang stehen, keine Folge leisten darf; andererseits ist die Verantwort- lichkeit des Reichskanzlers ausgeschlossen, soweit die eigene, unbe- dingte Verantwortlichkeit der Reichsschulden-Verwaltung reicht. Die Stellung dieser Finanzbehörde zum Reichskanzler ist daher verschieden sowohl von der Stellung der Verwaltungsbehörden als von der Stellung der richterlichen Behörden. Auf die Geschäfts- führung der ersteren hat der Reichskanzler vollen und entscheiden- den Einfluß, sie sind staatsrechtlich lediglich seine Büreaus; auf die Geschäftsführung der letzteren hat der Reichskanzler materiell gar keinen Einfluß, sie entscheiden ganz selbstständig nach Maaß- gabe der Gesetze. Die Reichsschulden-Verwaltung dagegen steht unter der „oberen Leitung“ des Reichskanzlers und kann daher von ihm Anweisungen erhalten, welche von ihr befolgt werden §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. müssen; aber die Reichsschulden-Verwaltung hat das Recht und die Pflicht, selbstständig und unabhängig zu prüfen, ob die Anordnung des Reichskanzlers in Uebereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften sich befindet. Man kann daher auch nicht sagen, daß die Reichsschulden- Verwaltung vom Reichskanzler-Amt ressortirt ; da sie hinsicht- lich ihrer amtlichen Thätigkeit von demselben nicht abhängig ist. Nur die Kosten, welche für die Verwaltung der Reichsschulden an Preußen zu vergüten sind, werden im Etats-Gesetz bisher bei dem Etat des Reichskanzler-Amtes angesetzt, die Zahlungen aus diesem Etats-Fonds werden vom Reichskanzler-Amt angewiesen und kommen bei diesem Fonds zur Verrechnung In dem Handb. für das Deutsche Reich für 1874, welches im Reichs- kanzler-Amt bearbeitet worden ist, wird die Reichs-Schulden-Verwaltung unter dem Ressort der Central-Abtheilung des Reichskanzler-Amtes aufgeführt; ebenso z. B. das Heimathsamt, der Disziplinarhof und die Disziplinarkam- mern u. s. w. Es beruht dies aber nur darauf, daß in diesem Handbuch die Behörden nicht nach irgend einem staatsrechtlichen Gesichtspunkte gruppirt sind, sondern wie es scheint in allgemeiner Anlehnung an das Etatsgesetz unsyste- matisch anfgeführt werden. . II. Die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds . In dem Gesetz vom 23. Mai 1873 (R.-G.-Bl. S. 117), durch welches die Gründung des Invalidenfonds im Betrage von 187 Millionen Thalern erfolgt ist, wird zur Verwaltung desselben die Errichtung einer Behörde angeordnet (§. 11), „welche von der allgemeinen Finanzverwaltung abgesondert und selbstständig sein, jedoch der oberen Leitung des Reichskanzlers insoweit unterliegen soll, als dies mit der ihr nach §. 12 dieses Gesetzes beigelegten Unabhängigkeit vereinbar ist.“ Der hier erwähnte §. 12 erklärt, daß der Vorsitzende und die Mitglieder der Verwaltung des Reichs- Invalidenfonds für die gesetzmäßige Anlage, Verrechnung und Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds unbedingt verant- wortlich sind, und er fordert von ihnen vor Antrit ihres Amtes die Ableistung eines besonderen Eides, der in öffentlicher Sitzung des Reichs-Oberhandelsgerichts zu schwören ist, „daß sie sich von Erfüllung dieser ihnen mit eigener Verantwortlichkeit obliegenden Pflichten durch keine Anweisung oder Verordnungen irgend einer Art abhalten lassen wollen .“ §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. Das Gesetz v. 23. Mai 1873 schließt sich demnach vollkommen an die Grundsätze an, welche das Preuß. Gesetz v. 23. Februar 1850 sanktionirt hat, und der Verwaltung des Reichs-Inva- lidenfonds ist eine durchaus ähnliche Stellung wie der Reichs- Schuldenverwaltung gegeben worden. Die „obere Leitung“ des Reichskanzlers ermächtigt denselben, verbindliche Anordnungen und Verfügungen zu erlassen, welche die Verwaltung des Reichs-In- validen-Fonds befolgen muß Fälle dieser Art ergeben sich aus §. 5 u. 8 des Gesetzes vom 23. Mai 1873 selbst; ferner aus §. 10 Abs. 2; §. 11. 12. 13. 14 Abs. 3 des Regula- tivs vom 11. Juni 1874. (R.-G.-Bl. S. 104.) ; aber die „unbedingte Verant- wortlichkeit“ der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds ermäch- tigt und verpflichtet dieselbe, zunächst unabhängig und selbstständig zu prüfen, ob die vom Reichskanzler ertheilte Anordnung mit den für die Anlage, Verrechnung und Verwaltung des Reichs-Invali- den-Fonds gegebenen gesetzlichen Bestimmungen vereinbar ist. Nur wenn diese Frage bejahend entschieden wird, ist die Anordnung des Reichskanzlers von der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds zur Ausführung zu bringen. Es ergiebt sich hieraus zugleich, daß der Reichskanzler für die Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds die Verantwortlichkeit nur in demselben Umfange trägt wie hin- sichtlich der Verwaltung der Reichsschulden. Im Einklang mit dieser Unabhängigkeit der Verwaltung des Reichs-Invaliden-Fonds steht die Regel, daß für die Beschlüsse dieser Behörde das Collegialsystem gilt, d. h. daß sie nach Stim- menmehrheit gefaßt werden und der Vorsitzende nur im Falle der Stimmengleichheit den Ausschlag giebt Gesetz §. 11 Abs. 2. Vgl. Regulativ §. 4. . Der Vorsitzende wird vom Kaiser auf Lebenszeit ernannt. Sein Amt ist ein besoldetes Berufsamt und es ist ihm die Ueber- nahme von Nebenämtern oder mit Remunerationen verbundenen Nebenbeschäftigungen untersagt. Die Mitglieder werden vom Bun- desrath jedesmal auf 3 Jahre gewählt; es sind Bundesraths-Mit- glieder, welche das Amt als besoldetes Nebenamt verwalten Vgl. Etat für 1874 Anlage XIV. , für 1875 Anlage X. . Die Ernennung des Bureaupersonals ist dem Vorsitzenden über- tragen. Die Geschäfts-Instruktion, welche nach §. 11 des Gesetzes §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. vom Reichskanzler im Einvernehmen mit dem Bundesrath zu er- lassen und im Reichsgesetzblatt zu veröffentlichen war, ist am 11. Juli 1874 ergangen. (R.-G.-Bl. S. 104 ff.) Die Selbstständigkeit dieser Behörde dem Reichskanzler-Amte gegenüber ist auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß über die im Etatsgesetz für die Verwaltung des Invalidenfonds bewilligten Beträge dem Vorsitzenden die Verfügung nach Maßgabe des Spe- zialetats zusteht Regul. vom 11. Juni 1874 §. 10. ; d. h. daß er alle aus diesem Fonds zu lei- stenden Zahlungen anweist und daß eine besondere Kassenführung und Verrechnung dieses Fonds stattfindet, welche der Reichs-Haupt- kasse obliegt „Derselben wird alljährlich über den Verwaltungskostenfonds ein auf Grund des Reichshaushalts-Etats und seiner Unterlagen aufgestellter, vom Kaiser vollzogener Spezialetat als Grundlage für die Buchführung und Rech- nungslegung zugefertigt.“ Regul. a. a. O. . Außer dem Reichs-Invalidenfonds verwaltet diese Behörde, im Wesentlichen nach gleichen Grundsätzen und Formen: den Reichs-Festungs-Baufonds Ges. vom 30. Mai 1873 Art. III. (R.-G.-Bl. S. 123). den Fonds zur Errichtung des Reichstags-Gebäudes Ges. vom 8. Juli 1873 §. 1 Abs. 2. (R.-G.-Bl. S. 217. 218). . Zur Ausführung der ihr obliegenden Geschäfte bedient sich die in Rede stehende Behörde der Rendantur des Reichs- Invalidenfonds , bestehend aus dem Rendanten und dem Buchhalter. Die Obliegenheiten der Rendantur sind durch eine Geschäfts-Anweisung geregelt, welche die Verwaltung des R.-J.-F.’s unter vorheriger Zustimmung des Reichskanzlers zu erlassen ermäch- tigt worden ist Regulat. §. 8. . Im Uebrigen ist die Verwaltung des R.-J.-F’s. durch das R.-G. vom 23. Mai 1873 angewiesen, theils die Vermittelung der Reichs-Hauptkasse theils die Vermittelung von Bank- häusern , welche der Reichskanzler im Einvernehmen mit dem Bundesrath bezeichnet, in Anspruch zu nehmen Ges. vom 23. Mai 1873 §. 5 §. 7. Die vom Reichskanzler ursprüng- lich bezeichneten Bankhäuser sind die Preuß. Bank (Reichsbank), die Seehand- lung und die Königl. Bayer. Bank in Nürnberg. — Bundesraths-Protokoll 1873 §. 620. — Vgl. Wagner in v. Holtzendorffs Jahrb. III. S. 139 fg. . Laband , Reichsstaatsrecht. I. 23 §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. III. Die Reichsschuldenkommission . Auch diese Behörde ist eine vollkommene Nachbildung der Preußischen Staats-Schulden-Kommission Vgl. das Preuß. Gesetz vom 24. Februar 1850 §. 1. . In den Behörden- Organismus des Reiches ist sie eingeführt worden durch das Ge- setz vom 19. Juni 1868. Sie besteht aus drei Mitgliedern des Bundesrathes und zwar aus dem jedesmaligen Vorsitzenden und zwei Mitgliedern des Ausschusses für das Rechnungswesen, aus drei Mitgliedern des Reichstages und aus dem Chefpräsidenten des Rechnungshofes Ges. vom 19. Juni 1868 §. 4. . Der Bundesrath wählt die von ihm zu deputirenden Mitglieder von Session zu Session, was darauf beruht, daß die Ausschüsse des Bundesrathes für jede Session neu gebildet werden; die aus dem Reichstage zu ernennenden Mitglieder der Kommission werden — entsprechend der Legislatur-Periode des Reichstages — auf drei Jahre gewählt Ges. vom 19. Juni 1868 §. 5. Bgl. Preuß. Gesetz vom 24. Februar 1850 §. 11. . Wie sich aus der Zusammensetzung der Kommission bereits entnehmen läßt, ist dieselbe völlig unabhängig und selbstständig und keiner Reichsbehörde in irgend einer Beziehung untergeordnet. Nur dem Bundesrath und dem Reichstage gegenüber hat die Kommission amtliche Pflichten und Verantwortlichkeit Ges. vom 19. Juni 1868 §. 7 verglichen mit dem Preuß. Gesetz vom 24. Februar 1850 §. 1. . Für die Beschlüsse der Kommission gilt deshalb auch das Collegialsystem, d. h. Beschlußfassung nach Stimmen-Mehrheit; zur Beschlußfähig- keit ist die Anwesenheit von wenigstens 5 Mitgliedern erforderlich; den Vorsitz führt der Vorsitzende des Bundesraths-Ausschusses für Rechnungswesen oder bei dessen Behinderung ein anderes, dem Bundesrathe angehöriges Mitglied der Kommission Ges. vom 19. Juni 1868 §. 6. . Der Reichs-Schuldenkommission liegt ob die Aufsicht: 1) über die Reichs-Schulden-Verwaltung Ges. vom 19. Juni 1868 §. 1 u. 4 vergl. mit dem Preuß. Gesetz vom 24. Febr. 1850 §. 1 Abs. 2 u. §. 14. Es sind jedoch später noch mehrere andere hinzugefügt worden. Protokoll des Bundesr. 1874 §. 467. 495. §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. 2) über die Verwaltung des Reichs-Kriegsschatzes Ges. vom 11. Nov. 1871 §. 3. Verordn. vom 22. Jan. 1874 §. 15. 3) über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds Ges. vom 23. Mai 1873 §. 13. , ein- schließlich des Reichs-Festungsbaufonds und des Fonds für den Bau des Reichstagsgebäudes Ges. vom 30. Mai 1873 Art. III. u. Ges. vom 8. Juli 1873 §. 1. 4) über die An- und Ausfertigung, Einziehung und Vernich- tung der Reichsbank-Noten Bankges. vom 14. März 1875 §. 16. Zu diesem Zwecke tritt der Kommission ein vom Kaiser ernanntes Mitglied hinzu. und Reichskassenscheine Ges. vom 30. April 1874 §. 7. . Außer der fortwährenden Kontrole über die angeführten Verwaltungen und den einzelnen, zum Zwecke dieser Kontrole der Reichs-Schuldenkommission obliegenden Funktionen z. B. ihrer Theilnahme bei der Außerkurssetzung und Wiederinkurs- setzung der für den Invalidenfonds erworbenen Schuldverschreibungen. Gesetz vom 23. Mai 1873 §. 4. , hat diese Kommission vorzüglich die Aufgabe, alljährlich bei dem regelmä- ßigen Zusammentritt des Reichstages über ihre Thätigkeit, sowie über die Ergebnisse der unter ihre Aufsicht gestellten Verwaltun- gen in dem verflossenen Jahre einen Bericht zu erstatten Preuß. Ges. vom 24. Februar 1850 §. 15. Ges. vom 11. Nov. 1871 §. 3 Abs. 3. Ges. vom 23. Mai 1873 §. 14. Vgl. den Abschnitt über den Reichstag. . IV. Der Rechnungshof des Deutschen Reiches Vgl. Laband Finanzrecht des Deutschen Reichs Kap. IV Abschn. 3 (in Hirth’s Annalen 1873 S. 552 ff. . Durch das Gesetz vom 4. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 433) wurde die Kontrole der Staatsrechnungen des Nordd. Bundes für die Jahre 1867—1869 der Preußischen Oberrechnungs- kammer unter der Benennung „Rechnungshof des Norddeutschen Bundes“ übertragen, indem zu diesem Zwecke eine dem Bedürf- niß entsprechende Vermehrung ihrer Mitglieder in der Art vor- gesehen wurde, daß die neu hinzutretenden Mitglieder vom Bun- desrathe gewählt und vom Bundespräsidium angestellt werden. Das preußische Recht über die Revision der Rechnungen wurde auf den Bund übertragen. Zu Folge §. 3 des erwähnten Gesetzes führt die Ober-Rechnungskammer die ihr obliegende Kontrole des 23* §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. Bundeshaushalts nach Maaßgabe derjenigen Vorschriften, welche für ihre Wirksamkeit als Preußische Rechnungs-Revisionsbehörde gegenwärtig (1868) gelten. „Dieselben Rechte und Pflichten, welche ihr in dieser letzteren Eigenschaft den Preußischen Behör- den und Beamten gegenüber beigelegt sind, stehen ihr in ihrer Eigenschaft als Rechnungshof des Norddeutschen Bundes den Bun- desbehörden und Beamten gegenüber zu.“ Der Bundeskanzler erläßt im Einvernehmen mit dem Bundesrathe eine Instruktion für die Oberrechnungskammer als Rechnungshof des Nordd. Bun- des (§. 5 des cit. Gesetzes). Die Bestimmungen des Gesetzes vom 4. Juli 1868 sind dann von Jahr zu Jahr wiederholt und erstreckt worden Gesetze v. 11. März 1870, 28. Oktober 1871, 5. Juli 1872, 22. Juni 1873, 11. Februar 1875. ; unter Ver- änderung der Benennung in „Rechnungshof des Deutschen Reiches.“ Nachdem jedoch in Preußen ein Gesetz vom 27. März 1872 über die Ober-Rechnungskammer erlassen worden ist Preuß. Ges.-Samml. 1872 S. 278 ff. , sind die Bestimmungen dieses Gesetzes an die Stelle der älteren, im §. 3 des Gesetzes vom 4. Juli 1868 aufgeführten Vorschriften getre- ten Reichsges. vom 11. Februar 1875 (R.-G.-Bl. S. 61). . Eine in Uebereinstimmung mit diesen gesetzlichen Bestimmun- gen stehende Instruktion ist am 5. März 1875 vom Reichskanzler erlassen worden Abgedruckt im Centralblatt für das Deutsche Reich 1875 S. 157 ff. Durch dieselbe ist die ältere Instruktion für den Rechnungshof des Nordd. Bundes vom 28. Mai 1869 aufgehoben worden. (§. 40.) . Die staatsrechtliche Stellung des Rechnungshofes im Behörden- Organismus des Reiches bestimmt sich demnach nach Analogie der im Preuß. Gesetz vom 27. März 1872 enthaltenen Anord- nungen. §. 1 desselben bezeichnet die Oberrechnungskammer als eine dem Könige unmittelbar untergeordnete, den Ministern gegen- über selbstständige Behörde. Demgemäß steht der Rechnungshof nicht unter der „oberen Leitung“ des Reichskanzlers; er ist ihm gegenüber vielmehr völlig unabhängig und nur dem Kaiser un- mittelbar untergeben. Für die Prüfung der dem Reichstage vorzulegenden allgemeinen Rechnungen und die von dem Rechnungshof aufzustellenden Bemer- §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. kungen über dieselben trägt der Rechnungshof nach §. 18 a. a. O. „die selbstständige, unbedingte Verantwortlichkeit,“ wodurch die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für die vom dem Rechnungs- hof geführten Geschäfte ausgeschlossen ist. Der Rechnungshof hat demnach dem Reichskanzler und den übrigen Reichsbehörden gegenüber eine ebenso unabhängige Stel- lung wie ein oberster Gerichtshof. Dieselbe ist dadurch gesichert, daß die Mitglieder des Rech- nungshofes in Beziehung auf die Versetzung in ein anderes Amt, über die einstweilige und über die zwangsweise Versetzung in den Ruhestand, über Disciplinarbestrafung und über vorläufige Dienst- enthebung von den Vorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes vom 31. März 1873 ausgenommen Reichsbeamten-Gesetz §. 158. und den richterlichen Beamten gleichgestellt sind Preuß. Gesetz vom 27. März 1872 §. 5. . Auch in finanzieller Hinsicht ist der Rechnungshof von den Verwaltungsbehörden vollständig emancipirt, indem dem Präsiden- ten des Rechnungshofes die Verwaltung der Gelder, Grundstücke, Gebäude, Inventarienstücke und Materialien, welche für den Dienst des Rechnungshofes bestimmt sind, desgleichen die Vertretung des Fiskus bei den auf diese Vermögensverwaltung bezüglichen Ver- trägen und Prozessen übertragen ist Instrukt. vom 5. März 1875 §. 18 (Centralbl. S. 160). . Für die Amtsthätigkeit des Rechnungshofes gilt das Colle- gial-System. Der Vorsitzende giebt nur bei gleicher Theilung der Stimmen den Ausschlag. Zwar wird die Revision und Prü- fung der einzelnen Rechnungen durch allgemeine Feststellungen auf die Beamten möglichst gleichmäßig und dauernd vertheilt, und zwar dergestalt, daß die Geschäftskreise der einzelnen Departe- mentsräthe nach den verschiedenen Verwaltungszweigen und die- jenigen der einzelnen Revisionsbeamten nach Bezirken oder nach Materien abgegrenzt werden, und daß der Regel nach kein Re- visionsbeamter in zwei verschiedenen Bureau’s beschäftigt und der Uebergang der Beamten von einem Geschäftskreise zu einem an- deren möglichst vermieden wird Instrukt. §. 3. . Für alle wichtigeren Angele- heiten ist aber die kollegialische Berathung und Beschlußfassung §. 35. Die selbstständigen Reichs-Finanzbehörden. angeordnet theils durch das Preuß. Gesetz vom 27. März 1872 §. 8 Nämlich bei Berichten an den Kaiser, an Bundesrath und Reichstag, bei Aufstellung oder Abänderung allgemeiner Grundsätze oder Instruktionen und bei der Abgabe von Gutachten über Anordnungen der obersten Verwal- tungsbehörden. theils durch die Instruktion vom 5. März 1875 §. 8 Unter 5 Nummern von sehr weitreichender Fassung sind hier die Fälle gruppirt. Zur Ergänzung kömmt außerdem noch §. 15 der Instruktion in Betracht. . Es finden daher regelmäßige Sitzungen des Kollegiums statt, bei denen die Mitglieder zu erscheinen verpflichtet sind. Die Ab- stimmungen erfolgen in der durch das Dienstalter bestimmten Reihenfolge, so daß zuerst der jüngste Rath und zuletzt der Vor- sitzende seine Stimme abgiebt. Ueber die Stellung der Fragen sowie über das Ergebniß der Abstimmung entscheidet im Falle einer Meinungsverschiedenheit das Kollegium. Bei getheilten Stimmen bleibt es der Minderheit oder den einzelnen Mitgliedern derselben überlassen, ihr abweichendes Votum schriftlich zu begrün- den und den betreffenden Akten beizufügen Instruktion §. 7. . Der Präsident ist berechtigt, die Ausführung eines Beschlusses des Kollegiums einst- weilen zu beanstanden, muß jedoch in einem solchen Falle binnen 14 Tagen, vom Tage der ersten Beschlußfassung an gerechnet, die Angelegenheit zur nochmaligen Berathung und Abstimmung brin- gen und die Mitglieder des Kollegiums hiervon spätestens drei Tage vor der diesfälligen Sitzung in Kenntniß setzen. Bei dem durch die zweite Abstimmung festgestellten Beschlusse behält es sein Bewenden Instruktion §. 16. . Der Geschäftskreis des Rechnungshofes erstreckt sich auf die Prüfung und Feststellung der Rechnungen 1) über den gesammten Haushalt des Deutschen Reiches Vgl. die oben S. 356 Note 1 citirten Gesetze und die Erörterungen in meiner Darstellung des Finanzrechts a. a. O. S. 553 fg. 2) über den Zugang und Abgang von Reichs-Eigenthum und 3) über die Reichsschulden-Verwaltung R.-G. vom 4. Juli. 1868 §. 1 (B.-G.-Bl. S. 433). Preuß. Ges. von 27. März 1872 §. 1 u. §. 10. 4) über die Verausgabung und bestimmungsmäßige Verwen- §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. dung der den einzelnen Regierungen aus der französischen Kriegskosten-Entschädigung zu gewährenden Beträge für gemeinsame Kriegs-Ausgaben R.-G. vom 8. Juli 1872 Art. V. letzter Abs. (R.-G.-Bl. S. 291). . 5) über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds (mit Ein- schluß des Festungsbaufonds und des Fonds für das Reichstags-Gebäude) R.-G. vom 23. Mai 1873 §. 14 (R.-G.-Bl. S. 122). Instrukt. vom 11. Juni 1874 §. 15. 16 (R.-G.-Bl. S. 107). . 6) über die Verwaltung des Reichskriegsschatzes Verordn. vom 22. Januar 1874 §. 16 (R.-G.-Bl. S. 12). . 7) über die Verwaltung der Reichsbank R.-G. vom 14. März 1875 §. 29 (R.-G.-Bl. S. 185). . 8) über den gesammten Landeshaushalt von Elsaß-Lothrin- gen Gesetze für Els,-Lothr. vom 30. Dezember 1871 §. 20 (G.-Bl. 1872 S. 55) u. vom 6. Oktober 1873 (G.-Bl. S. 261) R.-G. vom 11. Febr. 1875 (R.-G.-B. S. 61). , so wie die Revision über die Rechnungen der De- positen-Verwaltung in Elsaß-Lothringen Els.-Lothr.-Gesetz vom 4. November 1872 §. 3 (G.-Bl. S. 766). . Die Erörterung der verschiedenen Richtungen, in welchen der Rechnungshof diese Prüfungen vorzunehmen hat, der Mittel, welche ihm zur Durchführung der ihm obliegenden Kontrole zu Gebote stehen, und der staatsrechtlichen Bedeutung der von ihm gefaßten Beschlüsse wird in der speziellen Darstellung des Finanzrechtes ihren Platz finden. §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Das wesentliche Merkmal der richterlichen Behörden ist nicht in der gesicherten Stellung ihrer Mitglieder gegen Entlassung, Versetzung in den Ruhestand, Versetzung in eine andere Stelle, disciplinarische Maaßregelung u. s. w. zu sehen, sondern in der Unabhängigkeit ihrer Entscheidungen von Anordnungen der vor- gesetzten Behörden, insbesondere des Reichskanzlers, in dem Rechte und der Pflicht, die Entscheidungen lediglich nach eigener sachlicher Würdigung und rechtlicher Ueberzeugung zu geben, und folgeweise in dem Ausschluß jeder Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für den Inhalt dieser Entscheidungen Siehe oben S. 305. . Die unabhängigere Stellung §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. der richterlichen Beamten ist nur ein Mittel, um die unabhängige Amtsthätigkeit der rechtsprechenden Behörden zu garantiren; aber sie ist keineswegs wesentlich und unerläßlich; es giebt zahlreiche, zur Rechtsprechung berufene Behörden, welche nicht aus richterlichen Beamten bestehen. Die rechtsprechenden Behörden sind ebensowenig auf das Gebiet der eigentlichen Justiz beschränkt; es lassen sich vielmehr drei Kategorien derselben unterscheiden: Justizgerichte, Disciplinargerichte, Verwaltungsgerichte. A. Reichsjustizgerichte . I. Das Reichs-Oberhandelsgericht Vgl. Lesse in der Zeitschr. für das gesammte Handelsr. Bd. XIV. S. 59 ff. Endemann in Busch’s Archiv für Theorie u. Praxis des Han- delsr. Bd. 17 S. XLVII ff. Nissen in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 496 ff. II. S. 261 ff. Sachs ebendas. III. S. 341 fg. und bes. Goldschmidt Handbuch des Handelsrechts. I. Bd. 2. Aufl. §. 20 S. 147—155. . Als durch das im Jahre 1869 dem Reichstage vorgelegte Gesetz die deutsche Wechsel-Ordnung und das deutsche Handels- Gesetzbuch zu Bundesgesetzen erklärt und dadurch vor partikulari- stischen Abänderungen mittelst der Landesgesetzgebung geschützt wer- den sollten, erwies sich die Einsetzung eines gemeinsamen obersten Gerichtshofes für Wechsel- und Handelssachen als nothwendig, „um der Gefahr einer abweichenden Entwickelung des einheitlichen Rechts durch die Praxis und Judikatur vorzubeugen Reichstagsverhandl. 1869. Anlagen S. 250. Vgl. auch die Erklärung des Bundesraths-Bevollmächtigten Pape im Reichstag am 10. April 1869. Stenogr. Berichte I. S. 285 fg. “. Auf Antrag der Königl. Sächsischen Regierung wurde daher die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für den Norddeutschen Bund in Aussicht genommen, welcher in Handels- und Wechsel- sachen an die Stelle der obersten Gerichtshöfe der einzelnen Staa- ten treten sollte Ueber die Vorgeschichte dieses Antrages vgl. Goldschmidt a. a. O. S. 147. 148 und Behrend in seiner Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen III. S. 200 ff. — Der im Auftrage der Sächsi- schen Regierung von dem Ober-Appellationsrath Tauchnitz ausgearbei- tete Gesetz-Entwurf wurde nebst Motiven am 23. Februar 1869 dem Bundes- rath vorgelegt. Der Justiz-Ausschuß empfahl mittelst Berichtes vom 22. März 1869 dessen Annahme und der Bundesrath trat diesem Antrage bei. Nachdem . Eine alsbaldige Verwirklichung fand dieser §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Entschluß durch das Bundesgesetz vom 12. Juni 1869 (B.-G.-Bl. S. 201), welches die Errichtung dieses Gerichshofes in Leipzig anordnete und über die Organisation und Kompetenz desselben die erforderlichen Anordnungen traf. Durch V. v. 22. Juni 1870 (B.-G.-Bl. S. 418) wurde der Beginn seiner Wirk- samkeit auf den 5. August 1870 festgesetzt. Bei dem Hinzutritt der Süddeutschen Staaten wurde das Gesetz auf Süddeutschland ausgedehnt; auf Bayern durch Ges. vom 22. April 1871 §. 5 (R.-G.-Bl. S. 89). Seit dem 2. Sept. 1871 führt der Gerichtshof den Namen „Reichs-Oberhandelsgericht“ und zwar auf Grund der im R.-Ges. v. 16. April 1871 §. 2 Abs. 2 enthaltenen Bestimmung Der Plenarbeschl. vom 2. September 1871 ist mitgetheilt in den Ent- scheidungen des Oberhandelsger. II. S. 448. . Dieser Gerichtshof erkennt nicht Namens der einzelnen obersten Landes- gerichte, an deren Stelle er getreten ist, beziehentlich Namens der einzelnen Landesherren, aus deren Staaten die Rechtssachen an ihn devolvirt sind, sondern durch ihn kömmt die Gerichtsgewalt des Reiches zur Ausübung Des Landesherren findet in der Urtheils-Ausfertigung keine Erwäh- nung statt. Die Urtheils-Ausfertigungen werden mit der Ueberschrift versehen: „Im Namen des Deutschen Reiches.“ Sofern nach den Landesgesetzen die Vollstreckungsklausel im Namen des Landesherrn ertheilt wird, wird statt des Landesherrn gleichfalls das Deutsche Reich bezeichnet, z. B. „Im Namen des Deutschen Reiches sofort vollstreckbar.“ Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 13. 14. (Centralblatt 1874 S. 277). Vgl. auch Goldschmidt a. a. O. S. 152. . Die einzelnen Staaten haben demge- mäß auch kein Präsentations- oder Mitbesetzungsrecht, sondern die Präsidenten und Mitglieder werden auf Vorschlag des Bundes- rathes vom Kaiser ernannt Ges. vom 12. Juni 1869 §. 3. und sind Reichsbeamte ebenda §. 5. . Der Gerichtshof kann auf Grund eines Beschlusses des Bun- desrathes in mehrere Senate getheilt werden ebenda §. 8 Abs. 1. . Gegenwärtig ist auch der Reichstag dem Gesetzentwurf mit einigen Abänderungen zugestimmt hatte (die Verhandlungen darüber finden sich in den Stenogr. Berichten des Reichstages von 1869 I. S. 285 ff. II. S. 784 ff., 983 ff.), sanctionirte ihn der Bundesrath mit Zweidrittel-Majorität, was von Erheblichkeit war wegen der durch dieses Gesetz bewirkten Kompetenz-Erweiterung. §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. derselbe in drei Senategetheilt Bis zum 31. August 1871 bestand der Gerichtshof aus einem Senat; vom 1. September 1871 bis zum 31. August 1874 aus zwei Senaten. Vgl. Entscheidungen II. S. 449 u. XII. S. 441. Bundesraths-Protok. 1874 §. 336. , deren Vorsitz dem Präsidenten, dem ersten und dem zweiten Vicepräsidenten zusteht, vorbehaltlich der Befugniß des Präsidenten, den Vorsitz in einzelnen Sitzungen des zweiten oder dritten Senats zu übernehmen Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 4. Außerdem wird für die Zeit der Gerichtsferien (1. Juli bis 1. September) zur Bearbeitung der Feriensachen ein sogenannter Feriensenat gebildet. Regulativ §. 30. . Jedes Mitglied muß einem Senat als ständiges Mitglied angehören und jeder Senat einschließlich des Vorsitzenden aus mindestens 7 Mitgliedern bestehen Regulativ §. 5. Vgl. Gesetz §. 8 Abs. 3. . Zur Fassung gültiger Beschlüsse ist die Theilnahme von mindestens sieben Mitgliedern, einschließlich des Vorsitzenden erforderlich Die Anzahl ist daher keine geschlossene, fest bestimmte, sondern nur die Minimalzahl ist festgesetzt. . Die Beschlußfassung erfolgt nach Majorität, ohne daß der Vorsitzende einen Stich-Entscheid hat; die Zahl der Mit- glieder, welche bei der Fassung eines Beschlußes eine entscheidende Stimme führen, muß daher in allen Fällen eine ungerade sein Gesetz vom 12. Juni 1869 §. 7. Auch im Falle einer Meinungsver- schiedenheit über die Stellung der Fragen oder über das Ergebniß der Ab- stimmung entscheidet der Gerichtshof. Regulativ §. 22. . Die Zusammensetzung der Senate erfolgt durch den Präsiden- ten, mindestens auf die Dauer eines Gerichtsjahres; ebenso die Bezeichnung der Mitglieder, denen für die Verhinderungsfälle die Vertretung obliegt ebenda §. 8 Abs. 2. . Auch die Vertheilung der Sachen unter die Senate ist vorläufig für jeden einzelnen Fall dem Präsidenten übertragen Regulativ §. 6. . Jeder Senat bearbeitet die ihm zugetheilten Sachen selbststän- dig Regulativ §. 7. . In einer Reihe von Fällen ist aber eine Entscheidung des Plenums erforderlich. Insbesondere muß, wenn die Ansicht eines Senates über eine Rechtsfrage von einer früheren Ansicht desselben Senats oder eines anderen Senats oder des Plenums abweicht, diese Rechtsfrage vor der Sachentscheidung vor das Ple- §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. num gebracht werden, dessen Ansicht für die Entscheidung der Sache, welche zu der Plenarberathung Veranlassung gegeben hat, maaßgebend ist Ges. §. 9. . Ferner ist ein Plenarbeschluß erforderlich in Disciplinarsachen oder bei der unfreiwilligen Versetzung eines Mit- gliedes in den Ruhestand Ges. §. 23. 24. 25 Abs. 4. . Ueberdies sind in dem Geschäfts- Regulativ §. 8 auf Grund der im Gesetz v. 12. Juni 1869 §. 11 ertheilten Ermächtigung eine Reihe von Angelegenheiten vor das Plenum verwiesen. Ueber die Plenar-Entscheidungen wird ein be- sonderes Präjudizien-Buch in drei gleichlautenden, zum Gebrauche der drei Senate bestimmmten Exemplaren geführt Auch jeder Senat führt ein Präjudizienbuch, in welches die von ihm getroffenen wichtigeren Entscheidungen eingetragen werden. Die in das Prä- judizienbuch eines Senats eingetragenen Entscheidungen sind in den beiden anderen Senaten durch deren Vorsitzende zum Vortrag zu bringen und in eine besondere Abtheilung der Präjudizienbücher dieser Senate abschriftlich zu über- tragen. Regulativ §. 9. . Durch diese Anordnungen soll trotz der Theilung des Gerichts- hofes in drei Senate die Einheitlichkeit desselben und die Gleich- artigkeit seiner Rechtsprechung gesichert werden. Dem Gerichtshof ist die Abfassung seines Geschäfts-Regula- tivs übertragen; dasselbe bedarf jedoch der Bestätigung des Bun- desrathes Gesetz vom 12. Juni 1869 §. 11. Das Geschäftsregulativ v. 11. Mai 1871 ist abgedruckt in den Entscheidungen des O.-H.-G. II. S. 7 ff., das neue Regulativ vom 9. Juli 1874 im Centralblatt des Deutschen Reiches S. 275 ff. und in Hirth ’s Annalen 1874 S. 1537 ff. . Die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichtes ist wäh- rend seines Bestehens fortwährend erweitert worden. Sie umfaßt gegenwärtig folgende Rechtsangelegenheiten: 1) bürgerliche Rechtsstreitigkeiten über Handelssachen Gesetz vom 12. Juni 1869 §. 1. So lange es an einer gemeinsamen Reichs-Prozeß-Ordnung fehlt, erstreckt sich die Kompetenz des Reichsgerichts in Handelssachen in jedem Rechtsgebiet so weit, als nach der Gerichtsverfassung und dem Rechtsmittelsystem desselben das oberste Landesgericht zuständig sein würde. Gesetz §. 12. Vgl. dazu Endemann a. a. O. S. LXXXV. u. Goldschmidt a. a. O. S. 152. 153. . Zu den Handelssachen gehören: a ) Die im §. 13 des Gesetzes vom 12. Juni 1869 aufgeführ- §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. ten Rechtssachen; jedoch mit der Erweiterung, daß, wenn nach den Landesgesetzen die Klage noch in anderen als den in diesem Paragraphen bezeichneten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vor das Handelsgericht erster Instanz gewiesen ist, auch diese Sachen im Sinne des Gesetzes v. 12. Juni 1869 als Handelssachen anzu- sehen sind. b ) Der ursprüngliche Begriff der Handelssachen ist erweitert worden durch das Ges. v. 11. Juni 1870 Art. 174 u. Art. 208 B.-G.-Bl. S. 376. 378. , indem Kommanditgesellschaften auf Aktien und Aktiengesellschaften, auch dann, wenn der Gegenstand des Unternehmens nicht in Han- delsgeschäften besteht, als „Handelsgesellschaften gelten“; das soll heißen: dem Handelsrecht und insbesondere „den in Betreff der Kaufleute gegebenen Bestimmungen unterworfen sind.“ (H.-G.-B. Art. 5.) c ) Durch das Gesetz über Markenschutz v. 30. Nov. 1874 §. 19 (R.-G.-Bl. S. 146) ist bestimmt worden, daß alle bürger- liche Rechtsstreitigkeiten, in welchen durch die Klage ein Anspruch auf Grund dieses Gesetzes erhoben wird, im Sinne der Reichs- und Landesgesetze als Handelssachen gelten. d ) Das Bankgesetz v. 14. März 1875 §. 50 (R.-G.-Bl. S. 193) erklärt den Rechtsstreit über die Entziehung der Befug- niß einer Privatbank zur Ausgabe von Noten für eine Handels- sache im Sinne der Reichs- und Landesgesetze. 2) Entschädigungs-Ansprüche gegen den Reichsfiskus auf Grund des Gesetzes v. 1. Juni 1870 über die Aufhebung der Abgaben von der Flößerei werden in letzter Instanz von dem R.-O.-H.-G. entschieden R.-G. vom 1. Juni 1870 §. 2 Abs. 3 (B.-G.-Bl. S. 313). . 3) Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, welche nach dem Reichsgesetz über das Urheberrecht v. 11 Juni 1870 zu beurtheilen sind R.-G. vom 11. Juni 1870 §. 32 (B.-G.-Bl. S. 346). . 4) Die Entscheidung letzter Instanz in allen vor den Kon- sulargerichten verhandelten Rechtssachen, sowohl bürgerlichen als strafrechtlichen R.-G. v. 22. April 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 88). Siehe unten S. 366 fg. . 5) Entschädigungs-Ansprüche wegen der bei dem Betriebe von §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Eisenbahnen, Bergwerken u. s. w. herbeigeführten Töd- tungen und Körperverletzungen R.-G. vom 7. Juni 1871 §. 10 (R.-G.-Bl. S. 209). . 6) Das Reichsbeamten -Gesetz v. 31. Mai 1873 hat die Zuständigkeit der R.-O.-H.-G. in letzter Instanz begründet bei Rechtsstreitigkeiten: a ) über vermögensrechtliche Ansprüche der Reichs-Beamten aus ihrem Dienstverhältniß, insbesondere auf Besoldung, Wartegeld oder Pension, sowie über die den Hinterbliebenen der Reichs-Be- amten gesetzlich gewährten Rechts-Ansprüche auf Bewilligungen Ges. vom 31. März 1873 §. 149 ff. (R.-G.-Bl. S. 88). . b ) über vermögensrechtliche Ansprüche gegen Reichsbeamte wegen Defekten und wegen Ueberschreitung ihrer amtlichen Befug- nisse oder pflichtwidriger Unterlassung von Amtshandlungen Ges. vom 31. März 1873 §. 153. 154 (R.-G.-Bl. S. 89). . 7) Die Strandungs-Ordnung v. 17 Mai 1873 §. 44 (R.-G.- Bl. S. 82) hat die Bestimmungen des Ges. v. 12. Juni 1869 ausgedehnt auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten, welche auf die Ber- gung außer dem Falle der Seenoth sich beziehen. 8) Als Disciplinar-Behörde entscheidet das Reichs-Oberhan- delsgericht theils über die eigenen Mitglieder auf Grund des Ges. v. 12. Juni 1869 §. 23—26, theils gegen die Rechtsanwalte und Advokaten, welche in den bei demselben anhängigen Rechts- sachen thätig sind, auf Grund des Reichsges. v. 29. März 1873. (R.-G.-Bl. S. 60) Zu dem letzteren Gesetz ist zu vergleichen Kanngießer Recht der Deutschen Reichsbeamten S. 270 ff. . 9) Endlich ist das R.-O.-H.-G. als oberster Gerichtshof für Elsaß-Lothringen an die Stelle des Kassationshofes zu Paris getreten Ges. vom 14. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 315). . In dieser Eigenschaft ist es nicht im stren- gen Sinne Reichs gericht, sondern ebenso wie alle Gerichte der unteren Instanzen in Elsaß-Lothringen Landes gericht Vgl. unten den Abschnitt über das Reichsland. §. 54. ; jedoch ist im Reichsland das Reich zugleich Subjekt der Landesstaats- gewalt. Seine Kompetenz bestimmt sich nach den in Elsaß-Loth- ringen für den obersten Gerichtshof geltenden Gesetzen, also vor- läufig nach dem franz. Recht Ges. vom 14. Juni 1871 §. 2. . §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. In formeller Hinsicht gilt die Vorschrift, daß das R.-O.-H.-G. alle Urtheile auf Grund des Ges. v. 14. Juni 1871 unter der Bezeichnung: „Das Reichs-Oberhandelsgericht als oberster Gerichts- hof für Elsaß und Lothringen“ erläßt Regulativ vom 9. Juli 1874 §. 35. (Centralblatt S. 281.) . II. Die Reichs-Konsular-Gerichte . 1) Den Reichskonsuln steht eine volle Gerichtsbarkeit sowohl in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten als in Strafsachen mit Einschluß der Polizei-Jurisdiktion zu, wenn sie in Ländern residiren, in welchen ihnen durch Herkommen oder durch Staatsverträge die Ausübung der Gerichtsbarkeit gestattet ist Konsulatsgesetz vom 8. November 1867 §. 22 Abs. 1. Diese Länder sind die Türkei nebst den ihrer Oberhoheit unterworfenen Ländern, vgl. jedoch für Egypten das R.-G. vom 30. März 1874 (R.-G.-Bl. S. 23); ferner Persien , (Vertrag vom 11. Juni 1873 Art 13 R.-G.-Bl. S. 358); China, Siam, Japan (Vertr. v. 20. Febr. 1869 B.-G.-Bl. 1870 S. 1). . Die Ausübung der Konsulargerichtsbarkeit steht jedoch nur denjenigen Konsuln zu, denen sie vom Reichskanzler unter Anwei- sung eines Jurisdiktionsbezirkes speziell übertragen wird Allgem. Dienst-Instruktion für die Konsuln vom 6. Juni 1871 zu §§. 22—24 in Hirth’s Annalen 1871 S. 630. . Die Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Konsuln werden von dem Reichs- kanzler nach Vernehmung des Bundesraths-Ausschusses für Han- del und Verkehr bestimmt Konsulatsgesetz §. 23. Vgl. Reichsgesetzbl. 1871 S. 373. 374. . Unterworfen sind der Konsulargerichtsbarkeit alle in den Kon- sular-Jurisdiktionsbezirken wohnenden oder sich aufhaltenden Reichs- angehörigen und Schutzgenossen Konsulatsgesetz §. 22 Abs. 2. Für politische Verbrechen und Vergehen welche innerhalb des Deutschen Reiches oder in Beziehung auf dasselbe verübt sind, besteht jedoch die spezielle Zuständigkeit des Preuß. Staatsgerichtshofes. Preuß. Gesetz vom 25. April 1853 (Gesetz-Samml. S. 162). Preuß. Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 29. Juni 1865 §. 45 (B.-G.-Bl. 1867 S. 153). Reichskonsulargesetz a. a. O. Ueber den Begriff der Schutzge- nossen vgl. Beschluß des Reichs-Oberhandelsgerichts vom 2. Febr. 1875. Entscheidungen Bd. XVI. S. 17 ff. Auch abgedruckt im Centralblatt 1875 S. 283 ff. . Für die Ausübung der Konsular-Gerichtsbarkeit ist bis zum Erlasse eines Reichsgesetzes das Preußische Gesetz über die Gerichtsbarkeit der Konsuln v. 29. Juni 1865 für maaßgebend §. 26. Die richterlichen Reichsbehörden. erklärt, demselben also die Kraft eines Reichsgesetzes beigelegt worden Es ist abgedruckt im B.-G.-Bl. 1867 S. 144 ff. Zu diesem Gesetze ist eine Instruktion des Ministers der auswärt. Angel. und des Justiz-Mini- sters am 6. November 1865 ergangen, welche noch jetzt von Bedeutung ist. Sie ist gedruckt im Preuß. Just.-Minist.-Bl. 1865 S. 235 ff. u. bei Döhl Konsularwesen S. 194 ff. , jedoch sind die den preußischen Ministern und Gesand- ten übertragenen Befugnisse auf den Reichskanzler übergegangen Konsulatsgesetz §. 24. . Die Konsulargerichtsbarkeit wird von dem Vorsteher eines Konsulates ausgeübt; in Ermangelung eines Konsuls von dem Kanzler der Gesandtschaft, falls eine solche in dem Jurisdiktions- bezirk besteht Preuß. Gesetz vom 29. Juni 1865 §§. 3. 5. . Auf die mit Gerichtsbarkeit versehenen Kon- suln und Gesandtschaftskanzler sind die für die richterlichen Beam- ten bestehenden Vorschriften über Befähigung, Ernennung, Dauer der Anstellung, Amtsverlust, Dienstentlassung, Versetzung in den Ruhestand und Amtssuspension nicht anwendbar ebenda §. 6. . Die Gerichtsbarkeit wird ausgeübt entweder von dem Kon- sul allein, oder von dem Konsulargericht. Dasselbe besteht aus dem Konsul als Vorsitzenden und zwei Beisitzern, welche der Kon- sul am Anfang jedes Jahres für die Dauer desselben aus den achtbaren Gerichtseingesessenen oder in Ermangelung solcher aus sonstigen achtbaren Einwohnern seines Bezirkes ernennt. Für die Beisitzer sind zugleich Stellvertreter zu ernennen. Die Beisitzer und deren Vertreter werden vor dem Antritt ihres Amtes auf unpar- teiische und gewissenhafte Erfüllung ihrer Amtspflichten beeidigt. Den Beisitzern steht unbeschränktes Stimmrecht zu ebenda §. 8—12. . Der Konsul hat die Personen zu bestimmen und in ein Ver- zeichniß einzutragen, welche in den zu seiner Gerichtsbarkeit ge- hörigen Sachen die Funktionen der Rechtsanwalte auszuüben haben ebenda §. 15. . Sowohl für die materielle Entscheidung als für das Verfahren sind in Ermangelung von Reichsgesetzen die in dem Geltungsge- biete des Preuß. Allg. Landrechts erlassenen Preußischen Rechts- vorschriften zur Anwendung zu bringen Konsulats gesetz §. 24 Abs. 2. Darnach beginnt die verbindliche . §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Auch hinsichtlich der Gerichtskosten ist der dem Preuß. Ges. v. 29. Juni 1865 angehängte Tarif vom 24. Okt. 1865 durch das Reichsges. v. 1. Juli 1872 §. 8 (R.-G.-Bl. S. 426) in Kraft erhalten worden. Für alle zur Zuständigkeit der Konsuln gehörigen Rechtssachen, sowohl Civilsachen als Criminalsachen, wird die Gerichtsbarkeit der zweiten Instanz von dem Appellationsgericht in Stet- tin ausgeübt Preuß. Gesetz §. 23. 50. Ausgenommen sind nur Schwurgerichts- Sachen in dem Falle, wenn ein inländisches Schwurgericht competent ist. Ebenda §. 43. , welches seit Gründung des Reiches als Reichs- Oberkonsulargericht fungirt. Die Entscheidung dritter Instanz, soweit eine solche nach den in Betracht kommenden Prozeß-Vor- schriften zulässig ist, hat das Reichsges. v. 22 April 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 88) von dem Preuß. Obertribunal auf das Reichs- Oberhandelsgericht übertragen. 2) Auch in denjenigen Staaten, in denen eine Konsular-Ju- risdiktion nicht besteht, können die Reichskonsuln einzelne ge- richtliche Handlungen vornehmen und zwar nach folgenden Regeln: a ) Allen Reichskonsulaten liegen die Amtsfunktionen der Seemanns-Aemter ob Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872 §. 4. Hierher gehört namentlich die von dem Seemanns-Amt zu treffende „vorläufige Ent- scheidung“ von Rechtsstreitigkeiten zwischen Schiffsleuten und Schiffer §. 105. (R.-G.-Bl. S. 409 und 431). ; es sind ihnen ferner Untersuchungen und Bescheinigungen richterlichen Charakters übertragen in dem Han- delsgesetzbuch Art. 499 bei dem Verkauf eines Schiffes und Art. 686 bei der Ausstellung eines Bodmereibriefes, und in dem Ges. v. 25. Okt. 1867 §. 16 (R.-G.-B. S. 38) in Betreff der Aus- stellung interimistischer Schiffs-Certifikate Vgl. Konsulatsgesetz §. 37. ; endlich sind sie er- mächtigt Verklarungen aufzunehmen Konsulatsgesetz §. 36. In Deutschland sind hierzu nur die Gerichte zuständig. Handelsgesetzbuch Art. 492. . Kraft der Reichsgesetze in den Konsular-Jurisdiktionsbezirken nach Ablauf von 6 Monaten, von dem Tage gerechnet, an welchem dieselben durch das R.-G.-Bl. verkündet worden sind. Preuß. Gesetz vom 29. Juni 1865 §. 16. 17. 20. 35. 36. In Handelssachen kommt jedoch vor dem Preuß. Partikularrecht zu- nächst das in den Konsulatsbezirken geltende Handelsgewohnheitsrecht zur An- wendung. Handelsgesetzbuch Art. 1. Preuß. Gesetz §. 16. §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. b ) Einzelnen Reichs-Konsuln kann vom Reichskanzler die Befugniß zur Abhörung von Zeugen und zur Abnahme von Eiden beigelegt werden, mit der Wirkung, daß die von diesen Konsuln aufgenommenen Verhandlungen den Verhandlungen der zuständigen inländischen Behörden gleichstehen Konsulatsgesetz §. 20. . III. Die Marine-Strafgerichte . Die zur Kaiserlichen Marine gehörenden Militärpersonen, so- wohl die Personen des Soldatenstandes als die Beamten, sind der Strafgerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte entzogen und der- jenigen der militärischen Marinegerichte unterworfen. Da die Marine der Staatsgewalt der Bundesglieder, auch der Preußens, völlig entzogen ist, Verwaltung, Oberbefehl, Ernennung aller Offi- ziere und Beamten dem Kaiser zusteht, und alle in Marine-Ange- legenheiten zur Ausübung gelangenden Hoheitsrechte auch Bethäti- gungen der Reichsgewalt sind, so ergiebt sich, daß die Marine- Gerichte im staatsrechtlichen Sinne Reichsstrafgerichte sind. Die Gerichtsbarkeit wird ausgeübt von der Kommandatur in Kiel und von den Stationschefs der beiden Marinestationen der Ostsee und Nordsee in Kiel und Wilhelmshaven unter Zuziehung eines Stations-Auditeurs, ferner von den Kommandanten der in Dienst gestellten Schiffe unter Zuziehung des Geschwader-Auditeurs, sowie von der Kaiserlichen Admiralität, in welcher ein besonderes Dezernat (J.) für Militär-Justizgeschäfte besteht. Als oberster Marine-Gerichtshof fungirt das Königl. Preuß. General-Audito- riat in Berlin. B. Reichs-Disciplinar-Gerichte . Dieselben sind keine ständigen Behörden; sie treten nur zu- sammen im Falle des Bedürfnisses. Die Mitglieder versehen ihr Amt als ein unbesoldetes Nebenamt; erhalten jedoch, wenn sie an dem Orte, an welchem das Gericht zusammentritt, nicht wohnhaft sind, Reisegelder und Diäten. Aus dem §. 93 des Reichsbeamten- Gesetzes v. 31. März 1873 ergiebt sich, daß zu Mitgliedern der entscheidenden Disciplinarbehörden nur Beamte im Reichs- oder Staatsdienst ernannt werden können, indem daselbst angeordnet Laband , Reichsstaatsrecht. I. 24 §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. ist, daß die Mitglieder der Disciplinargerichte das ihnen über- tragene Nebenamt so lange innehaben, wie das „zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleidete Reichs- oder Staatsamt“ Bei den zu Mitgliedern des Disciplinarhofes ernannten Mitgliedern des Bundesrathes ist unter dem „von ihnen bekleideten Staatsamt“ die Be- vollmächtigung zum Bundesrathe zu verstehen. . Dadurch ist der, der richterlichen Stellung entsprechende Cha- rakter der Inamovibilität für die Mitglieder der Disciplinargerichte insoweit gewahrt, als dies bei einem Nebenamte thunlich ist. Die Mitglieder werden vom Bundesrath gewählt, vom Kaiser ernannt und für die Erfüllung der Obliegenheiten ihres Amtes ver- pflichtet Gesetz vom 31. März 1873 §. 93. . Die Geschäfts-Ordnung der Disciplinarbehörden wird durch ein vom Disciplinarhof zu entwerfendes und vom Bundesrath zu bestätigendes Regulativ normirt cit. Gesetz §. 92. . Dasselbe ist ohne Datum veröffentlicht im Centralblatt f. d. Deutsche Reich v. 19. Dezember 1873 S. 390 ff. Die prozeßualischen Grundsätze des Disciplinar- verfahrens sind in dem Reichs-Beamten-Gesetz §. 80 ff. besonders §. 94 ff., festgestellt. Als Reichs-Disciplinar-Gerichte fungiren folgende Behörden. I. Disciplinar-Untergerichte . 1) Die Disciplinarkammern . Die Errichtung von Disciplinarkammern ist durch §. 87 des citirten Gesetzes angeordnet an folgenden Orten: Potsdam, Frank- furt a. O., Königsberg, Danzig, Stettin, Köslin, Bromberg, Posen, Magdeburg, Erfurt, Breslau, Liegnitz, Oppeln, Münster, Arnsberg, Düsseldorf, Köln, Trier, Darmstadt, Frankfurt a. M., Kassel, Hannover, Schleswig, Leipzig, Karlsruhe, Schwerin, Lübeck und Bremen Das Verzeichniß der Mitglieder sämmtlicher Disciplinar-Kammern ist veröffentlicht im Centralblatt 1873 S. 238 ff. . Es ist aber dem kaiser das Recht vorbehalten, im Einver- nehmen mit dem Bundesrath auch an anderen Orten Disciplinar- kammern zu errichten. In Ausübung dieses Rechtes sind Disci- plinar-Kammern in Stuttgart und Straßburg errichtet worden Die Kaiserliche Verordnung vom 7. Januar 1874 wegen Errichtung . §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Den einzelnen Disciplinarkammern sind bestimmte Jurisdik- tions-Bezirke zugewiesen, welche vom Kaiser im Einvernehmen mit dem Bundesrathe abgegrenzt werden. (§. 88 Abs. 1.) Die Feststellung dieser Bezirke ist erfolgt durch die Verordnung v. 11. Juli 1873. (R.-G.-Bl. S. 293.) Zuständig ist diejenige Kammer, in deren Bezirk der Angeschuldigte zur Zeit der Einleitung des förmlichen Disciplinarverfahrens seinen dienstlichen Wohnsitz hat. (§. 88 Abs. 2) Das „förmliche Disciplinar-Verfahren“ ist der auf Entfernung aus dem Amte gerichtete Disciplinar- Prozeß . Die Einleitung desselben geschieht durch Verfügung der obersten Reichsbehörde. Reichsbeamten-Gesetz §. 84. . Für Reichsbeamte, welche ihren dienstlichen Wohnsitz im Aus- lande haben, ist die Disciplinarkammer in Potsdam zuständig; ausgenommen sind die Beamten der Reichs-Eisenbahn-Verwaltung, für welche die Disciplinarkammer in Straßburg competent ist Gesetz vom 5. November 1874 (R.-G.-Bl. S. 128.) Es sind dies namentlich die im Großh. Luxemburg stationirten Eisenbahnbeamten und die Stationsbeamten in Basel. . Ist die Zuständigkeit verschiedener Disciplinarkammern strei- tig, so entscheidet der Disciplinarhof über dieselbe. Ebenso wird, wenn eine Disciplinarkammer rekusirt wird, vom Disciplinarhof eine andere an deren Stelle ernannt Reichsbeamtengesetz §. 90. . Hinsichtlich der Personen erstreckt sich die Zuständigkeit der Disciplinarkammern auf alle Reichsbeamte im Sinne des Gesetzes v. 31. März 1873 §. 1, welche nicht durch eine besondere gesetz- liche Vorschrift davon ausgenommen sind. Jede Disciplinarkammer besteht aus sieben Mitgliedern, von denen der Präsident und wenigstens drei andere Mitglieder in richterlicher Stellung in einem Bundesstaate sein müssen. Die Verhandlung und Entscheidung in den einzelnen Disciplinarsachen erfolgt aber durch fünf Mitglieder. Der Vorsitzende und wenig- stens zwei Beisitzer müssen zu den richterlichen Mitgliedern gehören cit. Gesetz §. 89. Die Zahl der in der Sitzung mitwirkenden Mitglie- . der Kammer in Straßburg mit dem Bezirk Elsaß-Lothringen ist im Reichs- Gesetzblatt von 1874 S. 3 publicirt. Die Kaiserl. Verordnung wegen Errich- tung der Kammer in Stuttgart ist nicht publizirt worden; die Kammer in Stuttgart wird aber in der Verordn. vom 11. Juli 1873 über die Abgrenzung der Bezirke der Disciplinarkammern mit aufgeführt und die Ernennung ihrer Mitglieder ist veröffentlicht im Centralblatt 1873 S. 389. 24* §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Ueber die Reihenfolge, in welcher die richterlichen Mitglieder berufen werden, enthält das Regulativ §. 4 genaue Vorschriften. Die Reihenfolge bestimmt sich nach dem Dienstalter, so daß die älteren Mitglieder vor den jüngeren zur Theilnahme berufen sind Die übrigen Vorschriften des §. 4 beziehen sich auf die Vertretung richterlicher Mitglieder, wenn sie verhindert oder an Stelle des verhinderten Präsidenten zur Uebernahme des Vorsitzes berufen sind. . Die nicht richterlichen Mitglieder beruft der Präsident für die einzelnen Sitzungen thunlichst aus dem Verwaltungszweige, welchem der Angeschuldigte angehört Regulativ §. 5 Abs. 2. . Bei Entscheidungen und Beschlüssen, welche auf Grund einer mündlichen Verhandlung erlassen werden, dürfen nur Mitglieder mitwirken, vor welchen die mündliche Ver- handlung stattgefunden hat Regulativ §. 6. . Der Präsident führt in allen Sitzungen den Vorsitz; ernennt den Dezernenten oder Referenten und nach Befinden einen Kor- referenten; ihm liegt die Leitung und Beaufsichtigung des ganzen Geschäftsganges ob; er zeichnet die Konzepte aller Verfügungen, vollzieht alle Reinschriften und dekretirt in allen, das Kollegium als solches betreffenden Angelegenheiten Regulativ §. 9. 13. 18. . Alle Beschlüsse und Entscheidungen werden nach Stimmen- Mehrheit gefaßt Die Stimme des Präsidenten giebt bei Stimmengleichheit den Aus- schlag; bei mündlichen Verhandlungen und Entscheidungen kann dieser Fall nicht vorkommen (Gesetz §. 89), wohl aber bei anderen Beschlüssen. (Regulativ §. 2. 7. 9 Abs. 4.) ; im Falle einer Meinungs-Verschiedenheit über die Stellung der Fragen oder über das Ergebniß der Abstimmung entscheidet das Kollegium. Die Ausfertigungen der Entscheidungen sind mit der Ueberschrift zu versehen: „Im Namen des Deutschen Reiches Regulativ §. 15. . 2) Die Militär-Disciplinar-Kommissionen Vgl. die Motive zu dem Gesetz-Entwurf vom 8. April 1872. Drucks. des Reichstages 1872 Bd. I. Nr. 9 S. 47 ff. Die Darstellung bei Kann- gießer Recht der Reichsbeamten S. 214 lehnt sich eng an die Motive an. . In Betreff der Militärbeamten, welche ausschließlich unter der ist eine fest geschlossene und darf einschließlich des Vorsitzenden nicht mehr als fünf betragen. Vgl. Regulativ §. 3. §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Militärbefehlshabern stehen, tritt an die Stelle der Disciplinar- kammer die Disciplinarkommission. (Gesetz vom 31. März 1873 §. 121.) Die Kompetenz derselben ergiebt sich aus folgenden Sätzen: Die Kompetenz ist ausgeschlossen hinsichtlich aller Per- sonen des Soldatens tandes (Ges. §. 157), über welche die mili- tärischen Vorgesetzten die Disciplinar-Strafgewalt ausüben gemäß der Disciplinar-Strafordnung für das deutsche Heer vom 31. Okto- ber 1872 und der Disciplinar-Strafordnung für die Kaiserliche Marine vom 23. November 1872. Ferner hinsichtlich der richter- lichen Militär- Justizbeamten , Auditeure, (Ges. §. 158), hin- sichtlich deren die Vorschriften der Landesgesetze Anwendung finden In Betreff der Auditeure der unter Preußischer Verwaltung ste- henden Kontingente und der Marine-Auditeure finden die Vorschriften des Preuß. Gesetzes vom 7. Mai 1851 über die Dienstvergehen der Richter (Ges.- Sammlung S. 218), insbesondere §. 70. 72 Anwendung. Darnach ist das General-Auditoriat das zuständige Disciplinar-Gericht für die Auditeure, das Ober-Tribunal das zuständige Disciplinar-Gericht für die Mitglieder des Ge- neral-Auditoriats. Vgl. auch Militär-Strafgerichts-Ordn. §. 86 ff. (B.-G.-Bl. 1867 S. 248.) Ausführliche Mittheilungen aus den Motiven des Reichsbe- amtengesetzes bei Kanngießer S. 245 ff. . Sodann hinsichtlich derjenigen Beamten des Militärs und der Marine, welche sich in einem doppelten Unterordnungs-Ver- hältniß, einerseits zu einem Militär-Befehlshaber, andererseits zu einer ihnen vorgesetzten Verwaltungsbehörde befinden. Dieselben stehen „bei Verletzung der Dienst-Vorschriften, welche die Grund- lage ihrer Amtswirksamkeit bilden,“ unter der Disciplinar-Gewalt der vorgesetzten Verwaltungsbehörde; hinsichtlich aller übrigen zur Disciplinar-Bestrafung geeigneten Handlungen ist der vorgesetzte Militär-Befehlshaber zuständig Motive a. a. O. S. 48. Daselbst wird hinzugefügt: „Wo die Gren- zen dieser beiden Subordinations-Verhältnisse zweifelhaft sein sollten, müssen bei Ausübung der Disciplinarstrafgewalt die für diese Beamten ertheilten be- sonderen Dienstvorschriften und Instruktionen berücksichtigt werden.“ . Wenn gegen solche Militär- oder Marine-Beamte im Wege des Disciplinarverfahrens auf Amts- Entsetzung erkannt werden soll, so ist die Disciplinar- Kammer zuständig und es finden alle, in dem Gesetz vom 31. März 1873 gegebenen Vorschriften über die Zusammensetzung der Disciplinar- Kammern volle Anwendung Motive a. a. O. Kanngießer S. 215. . Hinsichtlich derjenigen Militär- §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Beamten, welche ausschließlich unter Militär-Befehlshabern stehen, treten hinsichtlich aller Strafen, welche nicht in Entlassung bestehen, die Vorschriften der Militär- (resp. Marine-) Disciplinar- Straf-Ordnungen ein. (Gesetz §. 123) Vgl. Militär-Disciplinar-Ordnung §§. 32. 33. Marine-Disciplinar- Ordnung §§. 16. 17 und 32. 33. . Es bleiben mithin für die Kompetenz der Disciplinar-Kom- missionen lediglich die Fälle übrig, in welchen es sich um die dis- ciplinarische Amtsentsetzuug eines Militär- oder Marine-Beamten handelt, welcher ausschließlich unter Militärbefehlshabern steht Im Bundesgesetzblatt von 1867 S. 289 unter Z. 1 findet sich ein Verzeichniß derjenigen Militär -Beamten, welche in einem doppelten Unterordnungsverhältniß stehen; dabei ist die Bemerkung hinzugefügt, „daß alle anderen Militärbeamten nur ihren vorgesetzten Militär-Befehlshabern untergeordnet sind.“ Das letztere ist also die Regel. Bei der Marine findet das umgekehrte Verhältniß statt. Regelmäßig stehen alle Marine -Beamten in einem doppelten Unterordnungs-Verhältniß; es kann aber auch das Gegentheil vorkommen, z. B. ein Marinedepot-Beamter der Disciplin des Intendanten entzogen und derjenigen eines Seeoffiziers unterstellt werden. Vgl. Motive a. a. O. S. 48. 49. . Die Disciplinarkommissionen werden gebildet: für jedes Armee-Korps am Garnisonorte des General-Kom- mando’s, für jede der beiden Flottenstationen an dem Stationsort. Jede Disciplinar-Kommission für das Heer besteht aus einem Obersten als Vorsitzenden und sechs anderen Mitgliedern, von denen 3 zu den Stabs-Offizieren, Hauptleuten oder Rittmeistern, die übrigen zu den oberen Beamten der Militär-Verwaltung gehören müssen. Jede Disciplinar-Kommission für die Marine besteht aus einem Kapitän zur See als Vorsitzenden und sechs anderen Mit- gliedern, von denen 3 zu den Stabs-Offizieren der Marine oder zu den Kapitän-Lieutenants, die übrigen zu den oberen Beamten der Marine-Verwaltung gehören müssen Gesetz §. 121 Abs. 2. 3. . Die Mitglieder der Kommission werden von der obersten Reichs- behörde ernannt ebendas. Abs. 3. Darunter ist zu verstehen gemäß der Verordn. vom 23. November 1874 (R.-G.-Bl. S. 136) die Kaiserl. Admiralität und das preußische, sächsische, württembergische Kriegsministerium. . Der kommandirende General des Armeekorps, beziehungsweise §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. der Chef der Kaiserl. Admiralität verfügt die Einleitung der Unter- suchung und ernennt den Voruntersuchungs-Beamten; die Verrich- tungen der Staatsanwaltschaft werden von dem Korps-Auditeur, beziehungsweise dem Marine-Stations-Auditeur wahrgenommen Gesetz §. 120. 122. . Im Uebrigen finden die Vorschriften, welche für die Disciplinar- Kammern gegeben sind, analoge Anwendung Der Ausdruck „Disciplinar-Behörde“ umfaßt beide Arten. . II. Oberste Disziplinar-Gerichte . 1. Der Disciplinarhof . Derselbe entscheidet in zweiter und letzter Instanz in allen denjenigen Disciplinar-Prozessen, welche in erster Instanz vor die Disciplinar-Kammern oder vor die Militär-Disciplinar-Kommis- sionen gehören Gesetz §. 121 Abs. 1 setzt nur in erster Instanz an Stelle der Dis- ciplinar-Kammern die Kommissionen; die allgemeine, im §. 86 enthaltene Vor- schrift über die zweite Instanz bleibt unberührt. . Auch der Disciplinarhof ist keine ständige Behörde; er tritt im Falle des Bedürfnisses am Sitze des Reichs-Oberhandelsgerichts zusammen Gesetz §. 87 Abs. 3. . Er besteht aus elf Mitgliedern. Unter denselben müssen wenigstens vier zu den Bevollmächtigten zum Bundesrathe, der Präsident und wenigstens fünf zu den Mitgliedern des Reichs- Oberhandelsgerichts gehören Gesetz §. 91 Abs. 1. Die Bundesraths-Mitglieder nehmen ihre Stelle im Disciplinarhof gleich nach dem Präsidenten oder dessen Vertreter, also vor den übrigen Mitgliedern ein und rangiren unter einander nach der Reihen- folge, welche für sie im Bundesrathe besteht. Zur Vertretung des Präsidenten ist aber der Vice-Präsident des Reichs-Oberhandelsgerichts, eventuell das äl- teste, dem Disciplinarhofe angehörende Mitglied des Reichs-Oberhandelsgerichts berufen. Regulativ §. 23 Nr. 4. . Ueber die Ernennung derselben gelten dieselben Regeln wie bei den Disziplinarkammern. (§. 93.) In den einzelnen Disciplinarsachen erfolgt die mündliche Ver- handlung und Entscheidung durch 7 Mitglieder. Der Vorsitzende und wenigstens drei Beisitzer müssen zu den richterlichen Mitglie- dern gehören Gesetz §. 91 Abs. 2. Die Zahl ist eine geschlossene. Vgl. Regulativ §. 23 Nr. 2. . Soweit sich hieraus nicht Abänderungen ergeben, §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. gelten für den Geschäftsgang beim Disciplinarhof dieselben Vor- schriften, welche für die Disciplinarkammern erlassen sind. 2. Das Reichs-Oberhandelsgericht und Das Bundesamt für das Heimathwesen entscheiden in erster und letzter Instanz über ihre Mitglieder Hinsichtlich der übrigen Beamten dieser Behörden ist die Kompetenz der Disciplinarkammern und des Disciplinarhofes nicht beschränkt. in denjenigen Fällen, in welchen nach den §§. 23—26 des Gesetzes vom 12. Juni 1869 Amtsverlust, Suspension vom Amte oder unfreiwillige Versetzung in den Ruhestand zulässig ist Gesetz vom 12. Juni 1869 a. a. O. Gesetz vom 6. Juni 1870 §. 43. Gesetz vom 31. März 1873 §. 158. Die Mitglieder und Beamten des Rech- nungshofes unterliegen der Disciplinar-Gewalt des Reiches oder einer Reichsbehörde überhaupt gar nicht, sondern derjenigen Preußens , welche durch das Obertribunal für den Präsidenten und die Mitglieder, durch die Ober-Rechnungskammer für die übrigen Beamten ausgeübt wird. Preuß. Gesetz vom 27. März 1872 §. 5 u. §. 6. (Preuß. Ges.-Samml. S. 278.) Nur übt hinsichtlich der vom Reiche angestellten Mitglieder der Reichskanzler die im §. 5 cit. dem Preuß. Staatsministerium und Justizminister zugewie- sene Zuständigkeit aus. Vgl. Kanngießer a. a. O. S. 249. . Das Reichs-Oberhandelsgericht ist außerdem gegen die Rechtsanwalte und Advokaten, welche in den bei demselben anhängigen Rechts- sachen thätig sind, mit denjenigen Disciplinarbefugnissen ausge- stattet, welche dem obersten Gerichtshofe des Bundesstaates, an dessen Stelle das Reichs-Oberhandelsgericht getreten ist, unter gleichen Umständen zustehen würden Die näheren Anordnungen enthält das Gesetz vvm 29. März 1873. (R.-G.-Bl. S. 60. 61.) . Ueber das Preuß. General-Auditoriat als Disciplinarhof für die Auditeure der Kaiserl. Marine siehe oben S. 373 Note 1. C. Reichs-Verwaltungsgerichte . Hierher gehören diejenigen Behörden des Reiches, welche über die Anwendung und Auslegung von Verwaltungsgesetzen Urtheile von rechtlicher Wirksamkeit abgeben und hinsichtlich dieser Thätigkeit der oberen Leitung des Reichskanzlers oder einer anderen Verwal- tungsbehörde nicht unterworfen sind, sondern ihre Entscheidungen nach unabhängiger individueller Rechtsüberzeugung fällen. Hiermit ist von selbst auch die eigene Verantwortlichkeit dieser Behörden für ihre amtliche Wirksamkeit und der Ausschluß der Verantwort- §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. lichkeit des Reichskanzlers gegeben. Es scheiden daher aus diesem Begriffe aus, sowohl die oberen Verwaltungsbehörden, welche zwar ebenfalls thatsächlich über die Anwendung und Auslegung von Verwaltungsvorschriften fortwährend zu entscheiden haben, jedoch den Anordnungen des Reichskanzlers Folge zu leisten verpflichtet sind, als auch der Bundesrath selbst, der vielfach die Funktionen eines obersten Verwaltungsgerichtshofes des Reiches ausübt Siehe oben S. 266 fg. u. Laband in Hirth’s Annalen 1873 S. 484 ff. , dessen Mitglieder aber nach den ihnen ertheilten Instruktionen stimmen müssen. An einem Reichs-Verwaltungsgerichte von genereller Zu- ständigkeit fehlt es; die bisher errichteten Behörden zur Entschei- dung der hierher gehörenden Rechtsfragen sind Specialgerichte von eng umgränzter Kompetenz. Es sind folgende: I. Das Bundesamt für das Heimathwesen . Dasselbe ist errichtet durch das Bundesgesetz über den Unter- stützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 §. 42 ff. (B.-G.-Bl. S. 368.) Es ist eine ständige und kollegiale Behörde, welche ihren Sitz in Berlin hat. Sie besteht aus einem Vorsitzenden und mindestens vier Mitgliedern; der Vorsitzende sowohl als auch mindestens die die Hälfte der Mitglieder muß die Qualifikation zum höheren Richteramte im Staate ihrer Angehörigkeit besitzen §. 42 cit. Der Ausdruck des Gesetzes: „im Staate ihrer Angehörig- keit“ ist ein redactioneller Mißgriff, indem er bei wörtlicher Interpretation den Sinn ergiebt, daß das einzelne Mitglied des Bundesamtes in demjenigen Staate die Qualifikation zum höheren Richteramte besitzen muß, zu welchem es nach dem Gesetz vom 1. Juni 1870 staatsangehörig ist. Der Sinn ist aber der, daß der Beamte, welcher Mitglied des Bundesamtes werden soll, in dem- jenigen Staat, aus dessen Dienst er in den Reichsdienst berufen wird, die Qualifikation zum höheren Richteramte haben muß. Denn nach dem Art 3 der R.-V. und dem Gesetz vom 1. Juni 1870 ist nicht die Staats-Angehörig- keit, sondern die Reichsangehörigkeit für die Qualifikation zum Staatsdienst in den Bundesstaaten von Belang. Der §. 42 des cit. Gesetzes will sicherlich keine andere Bestimmung aufstellen als der §. 89 des Reichsbeamtengesetzes in Betreff der Disciplinarbehörden, wo es heißt: „Der Präsident und wenig- stens 3 andere Mitglieder müssen in richterlicher Stellung in einem Bundes- staate sein.“ . Der Vor- sitzende und die Mitglieder werden auf Vorschlag des Bundesrathes vom Kaiser auf Lebenszeit ernannt und sind den Mitgliedern des §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. Reichs-Oberhandelsgerichtes in Beziehung auf Versetzung in ein anderes Amt, die einstweilige und die zwangsweise Versetzung in den Ruhestand, Disziplinar-Bestrafung und vorläufige Die ist-Ent- hebung gleichstellt §. 43 cit. Gesetz vom 31. März 1873 §. 158. . Jedoch kann das Amt als Mitglied dieser Behörde als ein Nebena mt verliehen werden. Dasselbe unterscheidet sich aber von der, ebenfalls als Nebenamt zu ertheilenden Mitgliedschaft eines Disciplinargerichts dadurch, daß es nicht erlischt, wenn der In- haber aus dem zur Zeit seiner Ernennung von ihm bekleideten Hauptamt ausscheidet, sondern daß es auf Lebenszeit ertheilt wird Da aber das Bundesamt in Berlin seinen Sitz hat, so geht die Mitgliedschaft verloren, wenn ein Mitglied ein Amt annimmt, mit welchem ein außerhalb Berlins gelegener dienstlicher Wohnsitz verbunden ist. Vgl. Protokoll des Bundesraths 1875 §. 73. . In allen Fällen, gleichviel ob das Amt als ein volles oder als ein Nebenamt übertragen wird, ist es ein besoldetes Nach dem Reichs-Etat für 1875 ist die Stelle des Präsidenten und die eines Mitgliedes voll besoldet; die drei anderen Stellen werden als Ne- benämter verwaltet und sind mit 1,500 Mark jährlich dotirt. Anlage I. zum Etat S. 10. 11. Ebenso nach dem Etat für 1876. Anlage I. S. 12. . Die Kompetenz des Bundesamtes für das Heimathwesen er- gibt sich aus §. 41 und §. 52 des Gesetzes vom 6. Juni 1870. Das Bundesamt entscheidet nach §. 41 in letzter Instanz in Strei- tigkeiten zwischen verschiedenen Armenverbänden über die öffentliche Unterstützung Hülfsbedürftiger, sofern die streitenden Armenver- bände verschiedenen Bundesstaaten angehören. Soweit jedoch die Organisation oder örtliche Abgrenzung der einzelnen Armen- verbände Gegenstand des Streites ist, bewendet es endgültig bei der Entscheidung der höchsten landesgesetzlichen Instanz. Da das Gesetz vom 6. Juni 1870 in Bayern und in Elsaß-Lothringen nicht eingeführt ist, so ergiebt sich, daß die Kompetenz des Bun- desamtes für das Heimathwesen für diese Gebiete ausgeschlos- sen ist. Nach §. 52 cit. ist es ferner den Einzelstaaten überlassen, im Wege der Landesgesetzgebung zu bestimmen, daß die Entscheidung letzter Instanz in Streitigkeiten zwischen Armenverbänden dessel- ben Staates über die Pflicht zur Unterstützung Hülfsbedürf- §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. tiger dem Bundesamt übertragen werde. Von dieser Ermächtigung haben Gebrauch gemacht: Preußen, Hessen, Sachsen-Weimar- Eisenach, Braunschweig, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt, beide Schwarzburg, Reuß j. L., Lippe, Lübeck und Lauen- burg Handbuch des Deutschen Reiches für 1874 S. 37. . Sowohl die materiellen Rechtsgrundsätze als das zu beobach- tende Prozeßverfahren sind durch das Gesetz vom 6. Juni 1870 geregelt Vgl. Eger in Gruchot’s Beiträgen zur Erläuterung des Deutschen Rechts. Bd 19 (Neue Folge Bd. 4) S. 87 ff. ; der Geschäftsgang ist durch ein Regulativ geordnet, welches das Bundesamt selbst zu entwerfen und dem Bundesrathe zur Bestätigung einzureichen hatte Gesetz §. 45. Das Regulativ ist vom 6. Januar 1873 datirt und im Centralblatt für das Deutsche Reich 1873 S. 4 ff. gedruckt. . Eine gültige Entscheidung des Bundesamtes erfordert die An- wesenheit von mindestens drei Mitgliedern, von denen mindestens Eines die richterliche Qualifikation haben muß. Die Zahl ist so- nach keine geschlossene; in allen Fällen aber muß die Zahl der Mitglieder, welche bei der Fassung eines Beschlusses eine entschei- dende Stimme führen, eine ungerade sein Gesetz §. 44. „Ist die Zahl der bei der Erledigung einer Sache mit- wirkenden Mitgliedern eine gerade, so führt dasjenige Mitglied, welches zuletzt ernannt ist, und bei gleichem Dienstalter dasjenige, welches der Geburt nach das jüngere ist, nur eine berathende Stimme.“ . Die Entscheidung des Bundesamtes erfolgt gebührenfrei in öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung der Par- teien Gesetz §. 50 Abs. 1. . Die Vorschriften über den Geschäftsgang, die Leitung des Verfahrens, die Fragestellung und Abstimmung, Protokollführung, die Geschäftscontrolen u. s. w., welche das erwähnte Regulativ aufstellt, entsprechen den für collegialische Gerichtsbehörden üblichen Anordnungen. Die endgültigen Entscheidungen werden „Im Namen des Deutschen Reichs“ erlassen Regulativ §. 9. . Die wichtigeren derselben werden im Centralblatt für das deutsche Reich veröffentlicht Eine Sammlung der Entscheidungen des Bundesamtes , herausgegeben von Wohlers , erscheint seit 1873 in Berlin (Vahlen). . §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. II. Das verstärkte Reichs-Eisenbahn-Amt . Das Gesetz vom 27. Juni 1873 §. 5 Z. 4 (R.-G.-Bl. S. 165) hat folgende Bestimmung: „Wird gegen eine von dem Reichs-Eisenbahn-Amte verfügte Maßregel Gegenvorstellung erhoben auf Grund der Behauptung, daß jene Maßregel in den Gesetzen und rechtsgültigen Vorschriften nicht begründet sei, so hat das durch Zuziehung von richterlichen Beamten zu verstärkende Reichs-Eisenbahn-Amt über die Gegen- vorstellung immer selbstständig und unter eigener Verant- wortlichkeit in kollegialer Berathung und Beschlußfassung zu befinden.“ Die Gegenvorstellung kann erhoben werden entweder von der Kaiserl. Verwaltung der Reichs-Eisenbahnen (resp. dem Reichs- kanzler-Amt als der vorgesetzten Behörde derselben), oder von der Verwaltung einer Staats-Eisenbahn (resp. derjenigen Bundesre- gierung, von welcher dieselbe ressortirt), oder von der Verwaltung einer Privat-Eisenbahn. Sie ist gerichtet gegen eine vom Reichs- Eisenbahnamt verfügte Anordnung; die Entscheidung betrifft aber niemals die Frage der Zweckmäßigkeit oder irgend eine Frage tech- nischer Natur, sondern lediglich die Rechtsfrage , ob die vom Reichs-Eisenbahn-Amt erlassene Verfügung in den Gesetzen und rechtsgültigen Vorschriften begründet sei. Die Entscheidung hat demnach immer den Charakter eines verwaltungs-gerichtlichen Ur- theils und das verstärkte Reichs-Eisenbahn-Amt hat bei Fällung dieses Urtheils die Stellung eines Gerichtshofes. Ueber den kol- legialischen Geschäftsgang und die dem Präsidenten zustehenden Befugnisse hat der Bundesrath auf Grund des Gesetzes vom 27. Juni 1873 ein Regulativ erlassen Dasselbe ist vom 5. Januar 1874. Abgedruckt im Centralblatt S. 27 ff. , welches die sehr lückenhaften Anordnungen des Gesetzes ergänzt. Die Einleitung des Verfahrens steht dem Reichskanzler zu. Bei demselben ist die „Gegenvorstellung“ d. h. die Beschwerde über die Rechtswidrigkeit einer Verfügung des Reichs-Eisenbahn- Amtes zu erheben und der Reichskanzler überweist die Sache an das verstärkte Reichs-Eisenbahn-Amt Regulativ §. 1. . Ebenso wird der endgültig §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. gefaßte Beschluß in formeller Ausfertigung dem Reichskanzler zur weiteren Veranlassung überreicht Regulativ §. 9. . Thatsächliche Erhebungen, welche zur Klarstellung des Sach- verhältnisses zuvörderst erforderlich scheinen, werden von dem Präsidenten angeordnet Regulativ §. 2. . Für die kollegiale Berathung und Be- schlußfassung ernennt der Präsident einen Referenten und Correfe- renten, von denen einer aus den hinzugezogenen richterlichen Be- amten gewählt werden muß. Die Berichte sind schriftlich zu er- statten. Nach Eingang derselben beraumt der Präsident eine Si- tzung an, zu welcher sämmtliche Mitglieder des Reichs-Eisenbahn- Amtes und die zur Verstärkung desselben zugezogenen richterlichen Beamten einzuladen sind. Zur Beschlußfähigkeit gehört die An- wesenheit von mindestens drei Mitgliedern des Reichs-Eisenbahn- Amtes (einschließlich des Präsidenten) und zweier richterlicher Be- amter. Ist einer der letzteren verhindert, so tritt sein Stellver- treter für ihn ein, der ein für allemal ernannt wird Regulativ §. 3. 4. . Der Präsident leitet die Verhandlungen; stellt die Fragen und sammelt die Stimmen. Ueber eine Meinungsverschiedenheit in Betreff der Fragestellung oder über das Ergebniß der Abstimmung entscheidet das Kollegium nach Stimmenmehrheit. Die Stimme des Präsi- denten giebt bei Stimmengleichheit den Ausschlag. Der von dem Kollegium endgültig gefaßte Beschluß ist mit den Gründen von sämmtlichen Mitgliedern in der Urschrift zu vollziehen; die Aus- fertigung ist von dem Präsidenten zu unterschreiben Regulativ §. 5. 7. . Die beiden richterlichen Beamten und deren Stellvertreter werden vom Kaiser ernannt Centralblatt 1874 S. 74. . Sie verwalten ihr Amt als unbe- soldetes Nebenamt, erhalten aber für die Theilnahme an den Sitzungen Reisekosten und Diäten Vgl. Etat für 1875 Anl. VI Ausgabe Titel 3 Pos. 1. Etat für 1876 Kapitel 65 Titel 7. . III. Die Reichs-Rayonkommission . Nach dem Gesetze vom 21. Dezember 1871 über die Beschrän- kungen des Grundeigenthums in der Umgebung von Festungen §. 36. Die richterlichen Reichsbehörden. (R.-G.-Bl. S. 459) ist innerhalb sämmtlicher Rayons zur Vornahme baulicher Veränderungen, zu allen, die Terrain-Oberfläche modifi- zirenden Anlagen, Aufstapelungen u. s. w. nach näherer Vorschrift der §§. 13—25 die vor dem Beginn der Ausführung einzuholende Genehmigung der Festungs-Kommandantur erforderlich Die näheren Vorschriften über das Gesuch und über die von der Kom- mandantur auszufertigende Genehmigung sind in dem cit. Gesetz §§. 26—28 gegeben. . „Gegen die Entscheidung der Kommandantur, wie gegen alle Anordnungen derselben, ist in Rayon-Angelegenheiten binnen einer vierwöchentlichen Präklusivfrist von der Zustellung ab, der Rekurs zulässig. Die Entscheidung auf den Rekurs erfolgt endgültig durch die Reichs-Rayonkommission“ §. 29 Abs. 1 des cit. Ges. . Außer dieser Entscheidung in der Rekurs-Instanz ist die Rayonkommission, auch ohne daß es eines Rekurses bedarf, zustän- dig, die Projekte größerer Anlagen (Chausseen, Deiche, Eisenbahnen u. s. w.), welche in den Rayons der Festungen und festen Plätze ausgeführt werden sollen, zu prüfen und in Gemeinschaft mit der betreffenden Centralverwaltungsbehörde definitiv festzustellen §. 30 a. a. O. . Die Reichs-Rayonkommission ist eine ständige Militärkommis- sion; sie wird vom Kaiser berufen und alle Bundesstaaten, in deren Gebieten Festungen liegen, müssen in derselben vertreten sein §. 31 a. a. O. Da die Kommission eine Militär -Kommission ist, so geht die Vertretung derjenigen Staaten, welche ihre gesammte Militär-Ver- waltung auf Preußen übertragen haben, dadurch auf Preußen mit über. Des- halb sind Baden (Rastatt) und Hessen (Mainz) nicht in der Rayonkommission vertreten, sondern nur Preußen, Bayern, Württemberg und Sachsen. Die Mitglieder derselben sind in dem Handbuch des Deutschen Reiches für 1874 S. 50 aufgeführt. . B. Die Reichsbeamten Frh. v. Zedlitz-Neukirch Die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten. Gesetz vom 31. März 1873. Berlin 1874. Kanngießer Das Recht der Deutschen Reichsbeamten. Gesetz vom 31. März 1873. Berlin 1874. . §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. I. Das Gesetz vom 31. März 1873 gibt keine Definition des Begriffes „Beamter“, sondern setzt denselben voraus; es bestimmt §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. im §. 1 lediglich, welche Beamte als Reichsbeamte anzusehen seien. Es muß daher zunächst dieser allgemeinere Begriff, über den weder in der Literatur Uebereinstimmung besteht, noch der Sprach- gebrauch Sicherheit gewährt, festgestellt werden. Die Bildung des Wortes weist auf den Begriff des „Amtes“ zurück über denselben oben S. 293 fg. und es er- scheint als sehr naheliegend, denjenigen dem ein Staatsamt über- tragen ist, einen Staatsbeamten In der Literatur ist diese Begriffsbestimmung sehr üblich; vgl; z. B. Leist Staatsr. §. 99 Maurenbrecher Grundsätze des heutigen Deutschen Staatsr. §. 159 (S. 278). Zöpfl Bd. II. §. 513 Ziff. III. (S. 772) v. Pözl in Bluntschli und Braters Staatswörterbuch IX S. 686. Grotefend §. 668 Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 315 u. v. a. , und dem entsprechend denjeni- gen, dem ein Reichsamt übertragen ist, einen Reichsbeamten zu nennen. Dies ist aber nur in einer Beziehung zutreffend, inso- fern nämlich die Anstellung eines Beamten nicht anders erfolgen kann, als zu dem Zwecke der Uebertragung eines Amtes und in der Regel die Ernennung zum Beamten und die Uebertragung eines Geschäftskreises gleichzeitig erfolgen. Es ist richtig, daß die Ablegung einer Staatsprüfung Nie- manden zum Beamten macht, sondern nur die Qualifikation ver- schafft, um gewisse Aemter erlangen zu können; daß ebenso wenig die Verleihung eines Beamten-Titels die Eigenschaft als Beamter begründet; daß endlich der Bezug eines dauernden Einkommens aus Staatsmitteln, z. B. einer Pension oder Rente, nicht genügend ist, um Jemanden als Beamten erscheinen zu lassen So definirt z. B. das Königl. Sächs. Staatsdienerges. v. 7. März 1835 §. 1 als Staatsdiener „alle, welche aus der Staatskasse einen bestimmten jährlichen Gehalt beziehen.“ Vgl. Maurenbrecher a. a. O. Weiß Staatsr. S. 795. . Aber es kann Jemand sehr wohl Beamter bleiben , ohne daß er ein Amt verwaltet, indem er zur Disposition gestellt, vom Amte sus- pendirt oder beurlaubt ist. Es ist auch möglich, daß Jemand zum Beamten ernannt wird, die Uebertragung eines bestimm- ten Amtes aber noch vorbehalten bleibt. Es ist somit die Mög- lichkeit nicht ausgeschlossen, daß es Beamte ohne Amt gibt. Noch weniger aber decken sich der Begriff des Amtes und derjenige des Beamten in der Richtung, daß jeder, welcher ein Staatsamt übernimmt, dadurch zum Staatsbeamten würde. Der Begriff des Amtes ist weiter als der des Beamten; es gibt Be- §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. hörden, deren Mitglieder nicht Beamte zu sein brauchen. Ein Schwurgericht ist zweifellos eine Behörde und die Funktionen eines Geschworenen sind ein Amt, aber ein Geschworener ist dessen un- geachtet kein Beamter. Es gehört vielmehr zum Begriff eines Staats-Beamten außer der Uebernahme eines Staats-Amtes noch ein zweites Begriffs-Moment, nämlich der Eintritt in ein Dienstverhältniß zum Staate. Eine ausdrückliche Anerkennung hat diese Begriffs-Verschie- denheit in der Reichsgesetzgebung gefunden und zwar im Straf- Gesetzbuch. §. 359. „Unter Beamten im Sinne dieses Strafgesetzes sind zu verstehen alle im Dienste des Reiches oder in unmittel- barem Dienste eines Bundesstaates, auf Lebenszeit, auf Zeit oder nur vorläufig angestellte Personen, ohne Unterschied, ob sie einen Diensteid geleistet haben oder nicht, ingleichen Notare, nicht aber Advokaten und Anwalte.“ Dagegen lautet §. 31 Abs. 2: „Unter öffentlichen Aem- tern im Sinne dieses Strafgesetzes sind die Advokatur, die An- waltschaft ünd das Notariat, sowie der Geschworenen- und Schöf- fendienst mitbegriffen.“ Das Strafgesetzbuch gibt an diesen beiden Stellen allerdings keine allgemein gültigen Begriffsbestimmungen, sondern erklärt nur „Beamte“ und „Aemter“ im Sinne dieses Strafge- setzes ; aber es constatirt doch, daß diese Begriffe von verschiede- nem Umfange sind. Im Einklange hiermit steht, daß die mit Uebernahme eines Amtes verbundenen Pflichten nicht identisch sind mit den Pflichten eines Beamten. Das Strafgesetzbuch behandelt im 28. Abschnitt (§. 331 ff.) die Verbrechen und Vergehen, „ im Amte “. Es spricht im §. 333 von der Verleitung eines Mitgliedes der be- waffneten Macht zu einer Verletzung einer Amts- oder Dienst- pflicht, im §. 334 von Amtsverletzungen der Schiedsrichter, Ge- schworenen und Schöffen, im §. 337 und 338 von Geistlichen und anderen Religionsdienern, im §. 352 und 356 von Advokaten, Anwalten und anderen Rechtsbeiständen. Alle diese Personen-Klassen sind keine Staats-Beamten, aber sie haben ein Amt und können deßhalb Verbrechen und Vergehen „im Amte“ verüben. Dagegen sprechen die Disciplinargesetze §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. stets nur von Dienstvergehen der Beamten , so auch §. 72 des Reichs-Beamtengesetzes, und dasselbe Gesetz erklärt im §. 119, daß die Vorschriften der §§. 84—118 auch in Ansehung der einst- weilig in den Ruhestand versetzten Beamten gelten. Ein Dienst- vergehen kann daher auch derjenige begehen, welcher kein Amt hat, wofern er nur Beamter ist, d. h. im Staatsdienste steht. Da es sonach Beamte gibt, welche kein Amt verwalten, und andererseits Verwalter von öffentlichen Aemtern, welche nicht Beamte sind, so folgt, daß nicht das Amt für den Begriff des Beamten ausschlaggebend ist. Charakteristisch ist vielmehr das Dienstverhältniß. Hiermit ist der Begriff eines Staatsbeamten aber noch nicht genügend bestimmt, weil nicht jedes Dienstverhältniß zum Staate die Beamten-Eigenschaft begründet, sondern ein besonders gearte- tes Dienstverhältniß erforderlich ist. Die Pflicht zur Leistung von Diensten kann nämlich auf einem dreifachen Rechtsgrunde be- ruhen. Sie kann nach Analogie der Dienstmiethe des Privatrechts durch einen Vertrag begründet werden, bei welchem die Contra- henten gleichberechtigt und unabhängig einander gegenüber stehen. In diesem Falle besteht keine Unterordnung desjenigen, der die Dienste leistet, gegen denjenigen, dem sie geleistet werden; es wird kein weitergehendes Recht unter den Contrahenten begründet als der Anspruch auf Erfüllung der versprochenen Dienstleistung und der Gegenanspruch auf den dafür zugesicherten Lohn. Auch der Staat kann Dienstverträge dieser Art abschließen, z. B. mit Bau- Unternehmern, welche die Herstellung von Festungswerken, Eisen- bahnen, Wegen u. s. w. übernehmen, mit Lithographen, welche den Druck von Staatspapiergeld besorgen u. s. w. Der Inhalt eines solchen Vertrages braucht nicht mit Nothwendigkeit privatrecht- lich zu sein; auch die Besorgung von obrigkeitlichen Geschäften kann gegen Entgeld in der Art der privatrechtlichen Dienstmiethe über- tragen werden, z. B. die Erhebung von Abgaben oder Gebühren für die Staatskasse u. dgl., obwohl aus Gründen der Politik nur höchst selten die Führung von obrigkeitlichen Geschäften im Wege des Contrakts übertragen werden wird. Wer ein Dienstverhältniß der angegebenen Art Die Art der Dienste ist nicht entscheidend; dieselben Dienste, welche mit dem Laband , Reichsstaatsrecht. I. 25 §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. Staate eingeht, so daß er dem letzteren als gleichberechtigter Con- trahent gegenüber steht, wird kein Staatsbeamter. Die Pflicht zur Leistung von Diensten kann ferner beruhen auf einem Gewalts-Verhältniß, welches nicht durch den freien Willens-Entschluß der Betheiligten begründet ist, sondern ohne denselben besteht. Auf dem Gebiete des Privatrechts liefert die väterliche Gewalt und das in derselben enthaltene Recht des Vaters auf häusliche oder gewerbliche Dienstleistungen der Hauskinder das deutlichste Beispiel. In ähnlicher Art begründet die Hoheit des Staates über seine Angehörigen das Recht des Staates auf Dienste und die Pflicht der Angehörigen, dieselben zu leisten. Die Erfüllung dieser Unterthanen- oder Bürger-Pflichten erzeugt aber ebenfalls nicht das Beamten-Verhältniß. Wer dem Staate Dienste leistet als Soldat durch Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht, als Geschworener oder Schöffe durch Erfüllung der Gerichtspflicht, durch Uebernahme von Vormundschaften, als Mitglied von Steuer- Einschätzungskommissionen u. dgl. ist kein Beamter, trotzdem er einen Kreis staatlicher, ja sogar obrigkeitlicher, Geschäfte versieht, also ein Amt hat, und dem Staate dient. Der Grund ist nicht darin zu sehen, daß er sein Amt nicht dauernd verwaltet, sondern darin, daß seine Dienstpflicht nichts Anderes ist als die Unter- thanenpflicht und in derselben enthalten ist. Es giebt nun aber eine dritte Klasse von Dienstverhältnissen, bei welchen die beiden charakteristischen Momente der eben erörter- ten Klassen verbunden sind, d. h. welche einerseits durch freie Willens-Uebereinstimmung, also durch Vertrag begründet wer- den, andererseits aber ihrem Inhalte nach ein Gewalts-Verhält- niß sind. Die Geschichte des Privatrechts liefert hiefür ein klassisches Beispiel durch die Vassallität. Die Commendation des mittelalter- fest angestellte Beamte leisten, kann der Staat in anderen Fällen durch einen Arbeits-Vertrag sich verschaffen; der angestellte Baumeister und der nicht an- gestellte Bau-Unternehmer, der Syndikus einer Behörde, der Mitglied derselben ist, und der Rechts-Anwalt, der von ihr zur Durchführung eines fiskalischen Rechtsanspruchs engagirt ist, der Kanzlei-Beamte und der zur Aushülfe hin- zugezogene Schreiber u. s. w. unterscheiden sich nicht von einander durch die Art ihrer Dienste, sondern durch die Art des rechtlichen Verhältnisses zum Staate, welches sie zur Leistung der Dienste verpflichtet. §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. lichen Rechtes war ein Vertrag, aber kein Vertrag des Obligatio- nenrechts; zwischen Senior und Vassall, dem Lehnsherrn und Lehnsmann bestand ein Gewaltsverhältniß, welches ethischer Natur war, auf besonderer Treue und Ergebenheit beruhte, eine beson- dere Dienstpflicht begründete. Die Commendation erzeugte kein (obligatorisches) Contractsverhältniß, sondern ein Verhältniß der Ueber- und Unterordnung, eine potestas. Eine Verletzung der Dienstpflicht des Lehnsmannes war nicht die Nichterfüllung einer Obligation, sondern ein Vergehen, eine Felonie; die Rechte des Lehnsherrn waren keine Forderungs-Rechte, sondern Hoheitsrechte. Seine Gegenleistungen bestanden wesentlich in der Pflicht zum Schutze. Die Gewährung eines beneficium war ursprünglich nicht wesentlich, wenngleich von jeher üblich. Der Inhalt des Verhältnisses wird nicht durch gegenseitiges dare facere praestare oportere, sondern durch mundeburdium (defensio) und fides gebildet. Von derselben Art ist das Dienstverhältniß des Staats- beamten zum Staate, nur daß es nicht privatrechtlicher, son- dern öffentlich rechtlicher Natur ist v. Gerber Grundzüge §. 36 Note 1 weist zwar auf diese Analogie hin; im Uebrigen ist aber seine Auffassung des juristischen Verhältnisses eine von der hier vorgetragenen sehr abweichende. . Es setzt voraus die Begründung durch einen Vertrag , d. h. durch einen speziellen Consens für jeden einzelnen Fall. Der Staat muß den Willen erklären, die individuell bestimmte Person in seinen Dienst zu nehmen, und der Beamte muß einwilligen, in diesen Dienst zu treten. Aber dieser Vertrag ist kein Contract des Obligationen- rechts, sondern er begründet ein Gewaltsverhältniß des Staates, eine besondere Gehorsams-Treue- und Dienstpflicht des Beamten, andererseits eine Pflicht des Staates zum Schutze und zur Ge- währung des zugesicherten Diensteinkommens. Wesentlich ist auch hier die Verpflichtung des Staates, den Beamten in Ausübung seiner Dienstpflicht zu schützen; die Gewährung eines Diensteinkommens ist die Regel, aber ist nicht wesentlich. Eine Verletzung der Dienstpflicht Seitens des Beamten ist kein Contractsbruch, sondern ein Vergehen (Disciplinarvergehen) entsprechend der Felonie des Lehnsmanns. Die Erfüllung der Beamtenpflichten ist nicht Contracts-Er- 25* §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. füllung, sondern Erfüllung der übernommenen Treue und Gehor- samspflicht Die richtige Auffassung des Beamten-Verhältnisses finde ich in der neueren staatsrechtlichen Literatur bei Schmitthenner Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsr. Gießen 1845 S. 509. Er sagt: „Das or- ganische Verhältniß des Staatsdienstes wird, wo nicht Jemand ein Amt durch Geburt erwirbt, durch Vertrag eingegangen. Der Staatsdienst ist nicht, wie etwa der gemeine Militärdienst, eine Pflicht, welche der Regent durch Befehl und Gesetz auferlegen kann. — Wenn Manche, wie z. B. Hegel (Rechtsphilos. §. 75. 294) sich hiergegen erklären, so beruht dies einfach auf dem Irrthum, daß sie den Vertrag im Allgemeinen mit einer bloßen Art desselben, dem Ver- trag des abstracten Vermögensrechts, namentlich dem obligatorischen gleich- setzen. Es ist freilich kein Obligationsverhältniß, sondern ein besonderes öffent- liches, folglich ein organisches Subjectionsverhältniß, welches durch den Staats- dienstvertrag gegründet wird, wie schon daraus hervorgeht, daß der Staat nicht ein bloßes Klagerecht, sondern das Recht zu Befehl und Zwang erhält.“ Auch Welcker in seinem Staatslexikon Bd. 12 S. 300 im Art. „Staats- dienst“ hat eine sehr ähnliche Auffassung; jedoch bezeichnet er das Rechtsver- hältniß des Beamten zum Staat als ein „gemischtes“, nämlich theils privat- rechtliches theils öffentlichrechtliches, was ich für unrichtig halte. . Mithin unterscheidet sich der Dienst des Beamten dadurch von dem Dienst des Unterthanen, daß der letztere ihn leisten muß, ohne daß er sich durch seinen freien Willensentschluß dazu ver- pflichtet hat, und dadurch von dem Dienst desjenigen, den der Staat gemiethet hat, daß der letztere dem Staate als gleichberech- tigter Contrahent gegenüber steht. Die, durch diesen doppelten Gegensatz bestimmte Art des Dienstverhältnisses liefert das ent- scheidende, wesentliche Kriterium des juristischen Begriffes des Beamten. Ist diese Definition richtig, so folgt zugleich daraus, daß eine Reihe von anderen Kriterien, welche in der Literatur öfters als begriffsbestimmend angegeben werden, nicht von Erheblichkeit ist. Nicht entscheidend ist der Anspruch auf Gehalt In der älteren Literatur wird durchweg hierauf das entscheidende Gewicht gelegt; aber auch die neuesten Darstellungen gehen fast ausnahmslos von der Anschauung aus, daß eine Besoldung nicht blos ein Naturale, sondern ein Essentiale des Beamten-Verhältnisses sei. Vgl. z. B. Schulze a. a. O. I. S. 336. — Richtig Bluntschli Allgemeines Staatsr. S. 125. ; es gibt auch unbesoldete Staatsbeamte z. B. Wahlkonsuln, sogen. Hono- rar-Professoren u. s. w. Das Reichsbeamtengesetz erwähnt im Art. 16 Abs. 2 und §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. Art. 21 Abs. 2 ausdrücklich die Wahlkonsuln als eine Art der Reichsbeamten; desgleichen sind die im auswärtigen Dienste des Reiches unentgeldlich beschäftigten Attach é s Reichsbeamte. An- dererseits sind z. B. die Mitglieder der Reichs-Schulkommission, obgleich sie aus Reichsmitteln eine Remuneration erhalten, nicht Reichsbeamte. Ebensowenig entscheidend ist die Dauer der Amts-Ueber- tragung. Es kömmt sehr häufig vor, daß einem Beamten ein amtlicher Wirkungskreis auf ganz kurze Zeit übertragen wird, daß ein Amt überhaupt nur vorübergehend besteht oder nur interimi- stisch von einer gewissen Person verwaltet wird. Die Beamten- qualität der letzteren bleibt davon ganz unberührt Sehr verbreitet ist in der neueren Staatsrechts-Theorie die Behaup- tung, daß die dauernde Uebertragung eines Amtes für den Begriff des Beamten wesentlich sei . Vgl. z. B. Zachariä II. §. 133. 134. v. Gerber S. 109. Die Dauer ist nicht einmal für den Begriff des Amtes wesentlich; es können vorübergehende Bedürfnisse des Staates vorübergehende Geschäfte erzeugen, zu deren Erledigung zeitweilig Aemter eingerichtet werden. Wenn man aber auch zugeben will, daß das Wort „Amt“ nur einen dauernd ab- gegränzten staatlichen Geschäftskreis bezeichnet, so ist es doch eine offenkun- dige Begriffs-Verwechslung, wenn man für den Staatsdiener die dauernde Uebertragung eines bestimmten Amtes erfordert. Alsdann wären der Regie- rungsrath, welcher interimistisch als Hülfsarbeiter in das Ministerium berufen wird, oder der Assessor, welcher mit der Vertretung eines in den Reichstag gewählten Landrathes beauftragt wird, keine Beamten. Das Staatsdiener- Verhältniß kann ein dauerndes, lebenslängliches sein; ebenso kann das Amt ein dauerndes sein; ohne daß der Schluß daraus gerechtfertigt wäre, daß die Uebertragung eines bestimmten Amtes an einen bestimmten Staatsdiener eine dauernde sein müsse. Allein es ist auch nicht einmal zuzugeben, daß das Staatsdiener-Verhältniß seiner Natur nach nothwendig ein dauerndes sei. Vgl. Maurenbrecher §. 160. Grotefend §. 668. Zöpfl II. §. 516. Das Staatsrecht aller Deutschen Staaten und insbesondere auch das Reichsbe- amtengesetz §. 32 kennt Beamte, welche auf Probe, Kündigung oder Wie- derruf angestellt sind und im §. 38 sogar „Beamte, welche für ein seiner Natur nach vorübergehendes Geschäft angenommen werden.“ Vgl. auch Strafgesetz- buch §. 359. . Auch das ist unerheblich, ob die Geschäfte, welche einem Be- amten obliegen, obrigkeitlicher Natur oder technischer Art sind. Eine feste Grenze zwischen beiden Arten ist sehr schwer zu ziehen, da bei sehr vielen Aemtern technische und obrigkeitliche Geschäfte mit einander verbunden sind. Die ganze Unterscheidung, auf welche in §. 37. Der Begriff des Reichsbeamten. allen Darstellungen des Staatsrechts ein großes Gewicht gelegt wird, ist aber gänzlich unpraktisch . Die im Staatsdienste angestellten Personen, welche die Domänen und Forsten, die Eisen- bahnen und Bergwerke, die Magazine und industriellen Etablisse- ments des Staates verwalten, welche an den Universitäten und Gymnasien Unterricht ertheilen, oder welche als Gesandte den diplomatischen Dienst leisten, sind nicht weniger als Staatsbeamte zu erachten, wie Polizeibeamte und Richter Richtig Zöpfl II. §. 513 Note 3. Das Reichsbeamtengesetz macht keinen Unterschied zwischen Beamten mit obrigkeitlichen Funktionen und solchen mit technischen oder wirthschaftlichen Funktionen. Die bei der Ver- waltung der Reichs-Eisenbahnen oder der Reichsbank, bei der Seewarte in Hamburg oder dem Archäolog. Institut in Rom angestellten Personen sind Reichsbeamte, so gut wie die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts oder des Reichskanzleramts. . Sodann macht es für den Beamten-Begriff keinen Unterschied, ob die Dienste höherer oder niederer Art sind, d. h. ob sie ver- bunden sind mit einer Dekretur, mit der Fällung von Entscheidun- gen und dem Erlaß von Verfügungen, oder ob sie lediglich in der Ausführung von dienstlichen Befehlen bestehen. Von Wichtig- keit kann dies sein für die Klassifizirung der Beamten und für das Maaß von Rechten, melches dem Beamten zukömmt; denn es ist selbstverständlich, daß keineswegs alle Beamte dieselbe recht- liche Stellung dem Staate gegenüber haben. Aber für den Be- griff der Staatsbeamten ist es unerheblich, von welcher Gattung die Geschäfte sind, welche der Staat verlangt. Auch die Boten, Heizer, Portiers und Kastellane in den Dienstgebäuden des Staa- tes sind Staatsbeamte, wenngleich sie als Unterbeamte „eine be- sondere Klasse derselben bilden“, wofern sie nur „angestellt sind“, d. h. nicht in einem privatrechtlichen Miethsverhältniß zum Fiskus stehen Die Thatsache, daß das Unterpersonal der Behörden sehr häufig nur nach Art der Dienstboten gemiethet wird, sowie daß die Rechte, welche die Staatsdienergesetze der Einzelstaaten den Staatsbeamten zusichern, meistens nur den höheren Beamten eingeräumt wurden, hatte die Wirkung, daß man in der Literatur sich vielfach abmühte, zwischen den „eigentlichen“ Staatsbe- amten und dem Hülfspersonal einen begrifflichen Gegensatz aufzustellen. Vgl. namentlich Heffter Beiträge S. 113 ff. Ferner Marquardsen in Rot- teck’s Staatslexicon 3. Aufl. I. S. 483. Bluntschli II. S. 122. Pözl in Bluntschli und Braters Staatswörterbuch IX. S. 687. Zachariä §. 133 . §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. Für das Reichsrecht ist es durch das durch Verord. v. 30. Juni 1873 publizirte Verzeichniß der Reichsbeamten (R.-G.-Bl. S. 169 fg.) unzweifelhaft, daß auch die Unterbeamten zu den Reichsbeamten gehören. Endlich ist zu erwähnen, daß der Staatsbeamte in der Wahr- nehmung seiner Amtsgeschäfte nicht nothwendig seinen wesent- lichen oder gar ausschließlichen Lebensberuf zu haben braucht. Der Gesichtspunkt, daß der Beamte sich regelmäßig dem Staats- dienst berufsmäßig widmet, daß er in der Erfüllung seiner dienst- lichen Pflichten seine Lebensaufgabe erblickt, daß das Beamtenrecht demgemäß ein Berufs- und Standesrecht ist, hat politisch seine hohe Berechtigung und vielseitige Bedeutung und ist auch juristisch in mehrfacher Hinsicht von Wichtigkeit Im politischen Kampfe gegen das absolutistische System des persönlichen Regiments, welches in den Beamten nur fürstliche Civil- und Militär-Bediente erblickte, ist die Anerkennung dieses Grundsatzes errungen worden. Nachdem er in der Literatur schon öfters angedeutet worden war, insbesondere auch in der verdienstlichen Abhandlung Heffter ’s in seinen Beiträgen zum Deutschen Staatsrecht S. 106 ff., fand er eine glänzende und höchst fesselnd geschriebene Darlegung in der trefflichen Schrift von Perthes Der Staatsdienst in Preu- ßen. (Hamburg 1838), insbesondere S. 44 ff. Diese mehr politisch als juri- stisch gehaltene Monographie war von nachhaltigem Einfluß auf die spätere Literatur. Seitdem kehrt der Satz immer und immer wieder in allen Erör- terungen über den Staatsdienst; auch in solchen, die streng juristisch gehalten sind, wie z. B. bei v. Gerber §. 36. Mit übermäßigem Pathos ist dieser Grundsatz betont und als der eigentliche Kernpunkt des ganzen Beamtenbegrif- fes ausgegeben worden von Lorenz Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 207 ff., dem hierin Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 315. 323 ff. sich anschließt. Für das Staatsrecht aber ist zur Zeit nichts dringender nöthig als die Erkenntniß, daß sich eine juristische Deduktion nicht ersetzen läßt durch historisch-politische, ethische und sociale „Betrachtungen.“ . Aber wenn es sich ( II. S. 19). Schulze I. S. 315. v. Gerber S. 110 Note 11. Mau- renbrecher §. 160 sagt: „Sie sind durchaus als Staatsdiener nicht zu be- trachten, obgleich sie dem Namen nach und der Formen ihrer Anstellung wegen häufig als solche passiren.“ (!) Dem bureaukratischen Dünkel mochte es nicht behagen, daß der Herr Rath und der Bote unter dieselbe juristische Begriffs- Kategorie gehören sollten. Aber es ist schon oben S. 385 Note 1 hervorgehoben, daß nicht die Art der Dienste, sondern die Art des Dienstverhältnisses (der Anstellung) für die Eigenschaft eines Beamten entscheidend ist. Das Reichs- beamtengesetz unterscheidet zwischen oberen und unteren Reichsbeamten nicht und die Motive vom 8. April 1872 (Drucksachen des Reichstages von 1872 Nr. 9 S. 30. 31) erklären sich ausdrücklich gegen eine solche Unter- scheidung. §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. darum handelt, einen rechtswissenschaftlichen, für juristische Deduk- tionen brauchbaren Begriff aufzustellen, so ist es ein Gebot der Logik, die wesentlichen Momente scharf auszuscheiden von Allem, was für den Begriff kein essentiale ist. Für den Begriff des Beamten ist es nun keineswegs wesentlich, daß der dem Beamten übertragene Geschäftskreis einen so großen Umfang hat, daß er die Leistungskraft des Beamten absorbirt, seine Thätigkeit ausfüllt, den ausschließlichen oder wesentlichen Beruf desselben bildet. Ein Staaatsamt kann sehr wohl eine Nebenb eschäftigung des Beam- ten bilden. Für das Reichsrecht ist auch hier jeder Zweifel ausgeschlossen durch das Reichsbeamtengesetz §. 38, welches ausdrücklich Reichs- beamte erwähnt, „deren Zeit und Kräfte durch die ihnen über- tragenen Geschäfte nur nebenbei in Anspruch genommen werden.“ Wenngleich das Reichsbeamten-Gesetz den Begriff des Beam- ten nicht definirt, so ergiebt sich doch aus den im Vorstehenden angeführten Bestimmungen desselben, daß zu den wesentlichen Momenten dieses Begriffes nicht gehören: eine Besoldung, die dauernde Uebertragung eines Amtes, Handhabung obrigkeitlicher Hoheits-Rechte, Selbstständigkeit der Verfügung oder Entschei- dung, Ausfüllung des Lebensberufes durch die Bekleidung des Amtes — also gerade diejenigen Momente, welche regelmäßig als die erheblichen und wesentlichen angeführt werden. Das öffent- lichrechtliche Dienstverhältniß bleibt vielmehr als das allein wesent- liche Begriffs-Moment übrig. Dasselbe bedarf indeß noch einer näheren jnristischen Bestim- mung. Es ist bereits hervorgehoben worden, daß dasselbe weder auf einer obligatorischen Verpflichtung noch auf einer Unterthänig- keit beruht. Hiermit ist der Gegensatz gegen die bisher in der Literatur herrschenden Theorien gegeben. In der älteren Zeit dachte man ausschließlich an ein Dienstverhältniß nach Art des Privatrechtes Ueber die verschiedenen Ansichten vgl. Gönner S. 13 ff. Heffter a. a. O. S. 128 ff. Zachariä Staatsrecht II. §. 135. Daselbst S. 15 ff. ist die sehr reiche Literatur angegeben. . Man begann, im Einklang mit den politischen Zuständen, wie sie bis zum vorigen Jahrhundert herrschend waren, mit der Auffassung des Rechtsverhältnisses als Prekarium Als Vertreter dieser Ansicht werden vorzugsweise citirt Lud. Hugo . ß. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. Die Einsicht aber, daß der Beamte ein Recht auf Belohnung haben müsse, führte dahin, eine Dienstmiethe anzunehmen z. B. Strube Rechtl. Bedenken Th. III. Nr. 144 S. 510. Dieselbe Auffassung findet sich noch in einem Erk. des Appellat.-Gerichts zu Leipzig vom 3. September 1863. Wochenbl. für merkw. Rechtsfälle von 1864 S. 81 ff. . Bald fand man auch dies unpassend und unwürdig, weil der Staats- dienst nicht zu den operae illiberales zu zählen sei, und ging zum Mandat über z. B. Harprecht Consil. respons. 93 Nr. 77. Ebenso noch das Erk. des Preuß. Obertribunals vom 17. März 1865. Entscheidungen Bd. 52 S. 321 ff. . Da auch dies als durchaus unzutreffend sich erwies, nahm man seine Zuflucht zu der nichtssagenden Formel des Innominat-Contracts und man kam schließlich dazu, einen eigenthümlichen, besonders gearteten „ Staatsdienst-Ver- trag “ aufzustellen Am eingehendsten, unter Widerlegung der anderen Ansichten, Seuffert Vom Verhältniß des Staats und der Diener des Staates (Würzburg 1793) S. 16 fg. und v. der Becke Von Staatsämtern und Staatsdienern (Heilbronn 1797) S. 36 ff. Ferner Leist Staatsr. §. 100. Jordan Lehrbuch §. 72 II. (Vgl die bei Grotefend §. 669 Note 2 mitgetheilte Stelle daraus.) Klüber Oeffentl. Recht §. 492 S. 720. Auch Buddeus in Weiske’s Rechtslexik. I. S. 744 hält noch an der Annahme eines privatrechtlichen Staatsdienstvertra- ges fest; ebenso Feuerbach Lehrb. des peinl. R §. 477. Schwankend und unbestimmt Mittermaier in Ersch und Gruber’s Encyclop. Art. „Amt.“ . Einen Wendepunkt bildet die geistreiche Schrift von Gönner „Der Staatsdienst aus dem Gesichtspunkte des Rechts und der National-Oekonomie betrachtet“ (1808). Er widerlegt die privat- rechtliche Auffassung des Staatsdienstverhältnisses in allen ihren Färbungen in energischer Weise und stützt das Dienstverhältniß auf die Staatsgewalt, auf die Unterthanenpflicht Gönner a. a. O. S. 27. „Jede Arbeit für den Staat, welche der Unterthan leistet, ist Staatsdienst.“ S. 49 ff. „Die Leistung der Staatsdienste haftet auf der vereinigten Kraft der Unterthanen.“ „Dienste stehen wie die Steuern unter den Regeln der Finanzwissenschaft.“ S. 56 ff. und bes. 83 ff. „Staatsdienste sind eine Staatslast; sie werden von den Einzelnen nach Maß- gabe ihrer Kräfte, Talente und Kenntnisse gefordert.“ . Diese Ansicht de statu region. Germ. c. III. §. 34 Myler ab Ehrenbach Hypar- cholog . cap. III. §. 32. Böhmer Exercit. ad Pandectas p. 767 fg. und derselbe in der Dissert. de iure princip. circa dimiss. ministr. Halae 1716 cap. II. §. 16, wo die älteren Vertreter angeführt sind. §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. wurde seitdem die vorwiegende. Die Dienstpflicht des Staatsbe- amten wurde als potenzirte Unterthanen-Pflicht erklärt und dem Staat das Recht beigelegt, die Unterthanen zum Eintritt in den Staatsdienst zu zwingen Der Beamte schließe keinen Vertrag mit dem Staate, sondern erfülle seine Pflicht. Eine Ausnahme sei nur vorhanden, wenn ein Ausländer zu einem Staatsdienst berufen werde; hier werde ein Vertrag geschlossen. Gönner S. 93 ff. . Heffter a. a. O. S. 126 nimmt ein solches Recht des Staates im Princip an, stellt aber einige auf Billigkeitsgründen beruhende Einschränkungen seiner Ausübung auf Derselbe faßt dann das durch Ausübung dieses Zwangsrecht entstehende Rechtsverhältniß wieder ganz privatrechtlich auf, als eine Obligation quasi ex contractu, nach Analogie der Tutel, so daß der Staat dem Beamten leisten solle quod ex bona fide dare facere oportet. S. 130 ff. Consequenter Weise müßte dies doch auch für den Beamten gelten und so gelangt man wieder völlig in die privatrechtliche Contractslehre. Da auch schon Seuffert a. a. O. S. 9 ff., die Pflicht jedes Unterthanen zum Staatsdienste behauptet und dem- gemäß annimmt, daß Jeder, den der Staat in seinen Dienst beruft, den „An- stellungsvertrag“ abschließen muß , so ist diese Ansicht von der Heffters nicht wesentlich verschieden. Zwangsvertrag oder Quasivertrag ist bloßer Wortstreit. . Perthes a. a. O. S. 52 fg., bes. S. 55, führt diese Ansicht noch prinzipieller durch und sieht nur in dem Andrange zum Staatsdienst einen Grund, statt den Unwilligen zu zwingen, lieber den sich freiwillig Meldenden zu nehmen. Völlig auf dem- selben Standpunkte steht Dahlmann Politik (3. Aufl.) S. 271 ff. (§. 251—255) und in der neuesten Literatur klingt diese Theorie noch fort, indem die Anstellung des Staatsbeamten fast allgemein als ein einseitiger Akt des Staates angesehen wird Zachariä II. S. 30 (§. 136) will das Zwangsrecht des Staates als Regel nicht anerkennen, wohl aber im Falle eines Nothstandes nach den Grundsätzen des ius eminens . Im Prinzip gesteht er also doch das Zwangs- recht dem Staate zu und beschränkt nur dessen Ausübung. . Diese Theorie beruht einfach darauf, daß man sich keinen anderen Vertrag denken konnte als einen obligatorischen, und daß man daher eine Dienstpflicht, welche nicht als contraktliche aufgefaßt werden kann, nur als Unterthanenpflicht zu construiren vermochte. Ihr liegt ferner eine Verwechslung zu Grunde zwischen der Begründung des Staats- diener-Verhältnisses und der Verleihung eines Amtes. Ein Amt kann auch auferlegt werden ohne Begründung des Staatsdiener-Verhältnis- ses, als staatsbürgerliche Last, als Reihedienst. Die Pflicht, Vormund- §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. schaften zu führen, Geschworener oder Schöffe zu sein, Aemter der Selbstverwaltung zu übernehmen u. s. w. sind Beispiele, die jede weitere Erörterung überflüssig machen. Sie zeigen deutlich, daß es neben der contractlichen privatrechtlichen Dienstverpflichtung gegen den Staat noch zwei Arten des Dienstverhältnisses zum Staate giebt, die Uebernahme eines Staatsamtes auf Grund der Staats-Unterthänigkeit und die Uebernahme eines Staatsamtes auf Grund des Eintrittes in den Staatsdienst. Die erstere ist das Gegentheil des Staatsbeamten-Verhältnisses, sie erfolgt unfreiwillig d. h. ohne Nothwendigkeit der Zustimmung, die letztere freiwillig, d. h. auf Grund eines Consenses. Beide Arten haben Manches mit einander gemein: die Delegation der Staatsgewalt auf den Inhaber des Amtes, soweit die Zuständigkeit des letzteren reicht; die Verantwortlichkeit für die gesetzmäßige Handhabung der Amts- gewalt; die Pflicht zum amtlichen Gehorsam gegen rechtmäßige Verfügungen der vorgesetzten Behörde; der Schutz bei Ausübung der amtlichen Geschäfte gegen Angriffe, Beleidigungen, Wider- stand; die Anwendbarkeit der strafgesetzlichen Vorschriften über Verbrechen und Vergehen im Amte. Aber das rechtliche Verhältniß zwischen dem Staate und dem Inhaber des Amtes ist in den beiden Fällen ein verschiedenes. Es zeigt sich dies schon darin, daß der Staatsdiener in einem Rechtsverhältniß zum Staate auch dann steht, wenn er thatsächlich kein Amt verwaltet; derjenige dagegen, welcher staatliche Geschäfte in Erfüllung seiner Unterthanenpflicht führt, die mit dieser Ge- schäftsführung verbundenen Rechte und Pflichten nur so lange hat, als er das Amt bekleidet. Das Dienstverhältniß des Staatsbeamten beruht auf einem Vertrage, durch welchen, ganz ähnlich wie bei der alten Commendation, der Beamte sich dem Staate „hingibt“, eine besondere Dienst- pflicht und Treue übernimmt, eine besondere Ergebenheit und einen besonderen Gehorsam angelobt, und durch welchen der Staat dieses Versprechen sowie das ihm angebotene besondere Ge- waltsverhältniß annimmt und dem Beamten dafür Schutz und gewöhnlich auch Lebens-Unterhalt zusichert. Von der lehnrechtlichen Commendation und anderen analogen Verträgen des Privatrechts unterscheidet sich der Eintritt in den Staatsdienst aber durch Bestimmung und Zweck der versprochenen §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. Dienste. Der Staatsbeamte verspricht Dienste nicht im Privat- Interesse irgend eines Herrn und zur Förderung der individuellen Vortheile desselben, sondern er gelobt seine Dienste zur Förderung und Durchführung staatlicher Aufgaben, zum Wohle des allge- meinen Besten. Nicht ohne Grund beginnt das Preuß. Allgem. Landr. Thl. II. Tit. 10 §. 1 die Regelung des Staatsdienerrechts mit dem Satze: „Militär- und Civilbediente sind vorzüglich bestimmt, die Sicherheit, die gute Ordnung und den Wohlstand des Staates unterhalten und befördern zu helfen.“ Aber nicht nur objektiv oder passiv sind sie hierzu bestimmt, sondern sie haben sich selbst durch eigenen Entschluß dazu be- stimmt. Sie haben sich dem Staate freiwillig angeboten, ihm zur Förderung seines Wohlstandes zu helfen. Die Dienste derselben empfangen daher nach Inhalt und Umfang ihre Regelung durch das Interesse und durch die Rechts-Ordnung des Staates, nicht durch contractmäßige Fixirung und andererseits nicht durch indi- viduelles Belieben und persönliche Willkühr. Für Zwecke, die der Staat nicht als die seinigen anerkennt, für Geschäfte, die in der Gesetzgebung und Einrichtung des Staates keine Rechtfertigung finden, für Dienste, die außer Zusammenhang mit der Förderung des öffentlichen Wohles stehen, hat der Staatsbeamte sich nicht verpflichtet; noch viel weniger für Handlungen oder Zwecke, die der Staat untersagt oder ausschließt. Hierin liegt das Princip, um die Grenzen bestimmen zu können, wie weit der dienstliche Gehorsam des Beamten reicht; hierin liegt zugleich die Vermitt- lung der beiden Sätze, daß die Dienstpflicht des Beamten eine unbestimmte, ungemessene, seine ganze Persönlichkeit erfassende ist, und daß er dennoch nicht verbunden ist, irgend welche andere Dienste als „amtliche“ zu leisten. Durch diese Zweckbestimmung der an- gelobten Dienste gehört der Staatsbeamten-Vertrag dem öffentlichen Recht an; wegen ihr ist er der Beurtheilung nach staatsrechtlichen Gesichtspunkten unterworfen und sie allein unterscheidet das Rechts- verhältniß der Staatsbeamten von dem der technischen und wirth- schaftlichen Beamten der juristischen und physischen Privat-Per- sonen. III. Wenn man die vorstehende Begriffsbestimmung auf die Reichsbeamten anwendet, so ergibt sich, daß nicht Jeder, welcher §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. ein Reichsamt bekleidet, Reichsbeamter ist. Es scheiden vielmehr aus der Zahl der Reichsbeamten aus, weil ein Dienstverhältniß zum Reich nicht begründet ist: 1) Die vom Reichstage und Bundesrathe gewählten Mitglieder der Reichsschuldenkommission Siehe oben S. 354. . 2) Die vom Bundesrathe erwählten Mitglieder der Verwal- tung des Reichs-Invalidenfonds Siehe oben S. 352. Vgl. Kanngießer S. 19. . 3) Die vom Bundesrathe erwählten Mitglieder des Bank- kuratoriums Siehe oben S. 354. . 4) Die Mitglieder der Preußischen Behörden, welche zugleich Reichsgeschäfte führen, (mit Ausnahme des Rechnungshofes), also des Preuß. Finanzministeriums als Zoll- und Steuer-Rechnungsbureau. Siehe S. 320. , der General-Staatskasse als Reichs-Hauptkasse. Siehe S. 316. , der Hauptverwaltung der Staatsschulden als Reichs-Schulden-Verwaltung. Siehe S. 349. , des Appellationsgerichtes zu Stettin als Ober-Konsulargericht. Siehe S. 368. , des General-Auditoriats als oberstes Marinegericht. Siehe S. 369. . 5) Die Bayerischen Gesandten, welche zur Vertretung von Reichsgesandten bevollmächtigt werden. Siehe oben S. 331. 6) Die Mitglieder der Reichs-Schulkommission Siehe oben S. 324. . 7) Die Mitglieder der Reichs-Rayonkommission Siehe oben S. 381. fg. . 8) Diejenigen Mitglieder der Normal-Eichungskommission, welche derselben zur Bildung der sogen. Plenar-Versammlung beitreten Siehe oben S. 320. . III. Das Reichsgesetz vom 31. März 1873 §. 1. Dieses Gesetz ist zuerst 1869, dann 1870, dann 1872, endlich 1873 dem Reichstage vorgelegt worden. Vgl. über die Schicksale des Gesetzentwurfs Kanngießer a. a. O. S. 3 ff. Die Berathung, in welcher der Wortlaut des Gesetzes im Wesentlichen festgestellt wurde, ist die des Jahres 1872. Die von der Regierung ausgearbeiteten Motive finden sich in den Drucksachen des Deutschen Reichstages 1872 Bd. I. Nr. 9. bestimmt: „Reichs-Beamter im Sinne dieses Gesetzes ist jeder Be- §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. amte, welcher entweder vom Kaiser angestellt oder nach Vorschrift der Reichsverfassung den Anordnungen des Kaisers Folge zu leisten verpflichtet ist“ Diese Definition ist wörtlich entnommen dem Gesetz vom 2. Juni 1869 über die Kautionen der Bundesbeamten §. 1 (B.-G.-Bl. S. 161); nur daß hier selbstverständlich statt „Kaiser“ „Bundespräsidium“ stand. . Es gibt sonach zwei Klassen von Reichs-Beamten im Sinne dieses Gesetzes. 1. Die erste Klasse bilden die vom Kaiser oder in seinem Auftrage kraft Delegation angestellten Beamten des Reiches. Da der Art. 18 der Reichsverf. bestimmt: „Der Kaiser ernennt die Reichsbeamten“, so ist die Begriffs-Bestimmung dieser Klasse nichts- sagend. Es kann zwar — wie soeben ausgeführt worden ist — Reich sbehörden geben, welche der Kaiser nicht oder nicht aus- schließlich besetzt; aber nach dem Art. 18 versteht es sich für die Reich sbeamte n von selbst, daß sie vom Kaiser oder in dessen Namen kraft kaiserlicher Ermächtigung ernannt sind. Die erste Kate- gorie des §. cit. sagt weiter Nichts als: Reichsbeamter im Sinne dieses Gesetzes ist jeder Beamte, welcher Reichsbeamter ist. Eine praktische Bedeutung erlangt die Definition des §. 1 lediglich wegen der Hinzufügung der zweiten Kategorie. 2. Die zweite Klasse umfaßt Personen, welche nicht Reichs- beamte, sondern Beamte der Einzelstaaten sind, trotzdem aber nach Vorschrift der Reichsverfassung den Anordnungen des Kaisers Folge zu leisten verpflichtet sind. Der §. 1 will sagen: Dieses Gesetz findet Anwendung nicht nur auf die Reichsbeamten, sondern auch auf diejenigen Beamten der Einzelstaaten, welche u. s. w. Durch die Gesetze vom 2. Juni 1869 und vom 31. März 1873 sind die praktischen Uebelstände zum Theil beseitigt worden, welche sich aus den Anordnungen der Reichsverf. über die Anstellung der Beamten der Post- nnd Telegraphen-Verwaltung und über das Heerwesen ergeben mußten. Die im Art 50. Abs. 5 der R.-V. aufgeführten Post- und Telegraphen-Beamten werden nicht vom Kaiser, sondern von den Landesherren ernannt, soweit nicht besondere Conventionen eine Ausnahme begründen. Sie sind mithin Landesbeamte Es ist dies vom Präsidenten des Reichskanzler-Amtes ausdrücklich an- erkannt worden bei der Berathung des Beamten-Gesetzes im Reichstage von 1868 . Ebenso ist die Militär-Ver- §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. waltung und die Ernennung der Militärbeamten den Einzelstaaten überlassen, soweit nicht besondere Conventionen ein Anderes be- stimmen. (Art. 66.) Trotzdem sind diese Beamten dem Reichs- beamten-Gesetz unterworfen, wofern sie „nach Vorschrift der Reichs- verfassung den Anordnungen des Kaisers Folge zu leisten ver- pflichtet sind.“ Durch diese Klausel werden ausgenommen die Post- und Telegraphenbeamten in Bayern und Württemberg und die Militärbeamten in Bayern, wegen der diesen Staaten verfassungs- mäßig eingeräumten Sonderrechte hinsichtlich der Post- und Tele- graphen-Verwaltung und resp. Heeresverwaltung. Der Art. 50 der Reichs-Verfassung enthält ausdrücklich die Bestimmung, daß sämmtliche Beamte der Post- und Telegra- phenverwaltung verpflichtet sind, den Kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten. Dagegen findet sich eine ähnliche Bestimmung hinsichtlich der Militärbeamten in der Reichs-Verfassung nicht. Der Art. 63 überträgt dem Kaiser in Krieg und Frieden den „Befehl“ über die gesammte Landmacht des Reiches und Art. 64 verpflichtet alle „Deutschen Truppen“ den Befehlen des Kaisers unbedingte Folge zu leisten. Der militärische Oberbefehl ist aber nicht identisch mit der Leitung der Verwaltung des Heerwesens. Dessen ungeachtet ist es zweifellos, daß die Gesetze vom 2. Juni 1869 und 31. März 1873 auf die Militärbeamten (ausgenommen die bayerischen) Anwendung finden Vgl. die Motive von 1872 S. 30. Das R.-G. vom 31. März 1873 §. 120 ff. erwähnt sie ausdrücklich; ebenso das Verz. der Reichsbeamten vom 30. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 169); vgl. ferner die Verordn. v. 5. Juli 1871 (R.-G.-Bl. S. 308) u. s. w. . Unter die Anordnungen des Reichsbeamtengesetzes gehören (Stenogr. Ber. S. 556). Ferner in einem Erlaß des Preuß. Ministers des Innern vom 9. Juli 1869 (Min.-Bl. für die Preuß. innere Verwaltung 1869 S. 161.) In demselben Sinne hat das Preuß. Kammergericht entschieden durch Urtheil vom 1. November 1869 (in demselben Minist.-Blatt 1870 S. 52). Nach Erlaß des Reichsbeamten-Gesetzes ist derselbe Satz mit seinen Con- sequenzen festgehalten worden von dem Kaiserl. Disciplinarhofe in der Entscheidung vom 2. April 1874 (Centralbl. für das Deutsche Reich 1874 S. 145 fg.) Der II. Senat des Reichs-Oberhandelsger. hat zwar in dem Urth. vom 5. März 1874 (Entscheidungen Bd. 13 S. 29 ff.) ausgeführt, daß mit dem Tage der Gesetzeskraft des Gesetzes vom 31. März 1873 die nicht vom Kaiser ernannten Postbeamten Reichsbeamte wurden; aber es ist hier die Einschränkung hinzuzufügen: „im Sinne dieses Gesetzes.“ §. 37. Der Begriff der Reichsbeamten. dagegen nicht diejenigen Beamten der Einzelstaaten, welche zwar die Reichsgesetze und Bundesrathsbeschlüsse handhaben und deren Amtsführung der Oberaufsicht des Reiches unterliegt, welche aber in keinem dienstlichen Unterordnungs-Verhältniß zu den oberen Reichsbehörden und somit zum Kaiser stehen, also beispielsweise die Beamten der Zollverwaltung, der Eisenbahn-Verwaltung, der Seemanns-Aemter u. s. w. Die Motive a. a. O. sagen: Es handelt sich (im §. 1) nur um dieje- nigen Beamten, welche in einem vom Reiche unmittelbar geleiteten Verwaltungs- zweige thätig sind. . Die Verordnung vom 29. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 303) bezeichnet in der Ueberschrift die Reichsbeamten, deren Anstellung vom Kaiser ausgeht, als unmittelbare ebenso schon die Verordn. vom 3. Dez. 1867 (B.-G.-Bl. S. 327.) ; der Allerh. Erlaß vom 3. August 1871 (R.-G.-Bl. S. 318) als kaiserliche . Im Gegensatz hierzu ergiebt sich für die Beamten der zweiten, im §. 1 des Reichsbeamten-Gesetzes aufgeführten Kategorie die Bezeichnung: „mittelbare Reichsbeamte“ Man könnte auch sagen: „landesherrliche Reichsbeamte.“ , welche für dieselben üblich gewor- den ist Vgl. das oben citirte Erk. des Disciplinarhofes im Centralbl. 1874 S. 145. . Die mittelbaren Reichsbeamten sind daher wohl zu unterschei- den von denjenigen Beamten der Einzelstaaten, welche in einem Verwaltungszweige thätig sind, hinsichtlich dessen das Reich auf die Gesetzgebung und Oberaufsicht beschränkt ist Die Bezeichnung „mittelbare Reichsbeamte“ wäre an und für sich auch auf diese Beamten anwendbar. Vgl. oben S. 292. . 3) Durch besondere gesetzliche Anordnungen sind die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten beigelegt worden: a ) den Reichstags-Beamten. Gesetz vom 31. März 1873 §. 156. b ) den Beamten der Reichsbank. Gesetz vom 14. März 1875 §. 28. 4) Zu den Reichsbeamten gehören begrifflich auch die Elsaß- Lothringischen Landes-Beamten. Das Gesetz vom 31. März 1873 ist auf die Rechtsverhältnisse der elsaß-lothringischen Lan- desbeamten, welche ein Diensteinkommen aus der Landeskasse §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. beziehen, sowie der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen ausgedehnt worden durch das Gesetz vom 23 Dezember 1873 Gesetzbl. für Els.-Lothr. S. 479. Ausgenommen von der Geltung desselben sind die Lehrer an der Universität Straßburg und Mitglieder geist- licher Kongregationen, welche Stellen im Staatsdienste oder in öffentlichen Lehranstalten versehen. Gesetz vom 23. Dezember 1873 Art. IX. . Die Unterscheidung zwischen Reichsbeamten und elsaß-lothringischen Landesbeamten ist nur in finanzieller Hinsicht von rechtlicher Be- deutung. Vgl. hierüber unten §§ 54. 55. 5) Auf Personen des Soldatenstandes findet das Reichsgesetz vom 31. März 1873 keine Anwendung, ausgenommen die in den §§. 134—148 enthaltenen Bestimmungen über Defekte Reichsges. vom 31. März 1873 §. 157. Siehe unten §. 41. . Obwohl Offiziere dem allgemeinen Begriff eines Staatsbeamten sich unter- ordnen, so ist es doch in der militärischen Disciplin und der Or- ganisation des Heeres begründet, daß das dienstliche Verhältniß der Offiziere und Unteroffiziere anderen Regeln unterworfen ist, wie dasjenige der Civil- und Militärbeamten. §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. I. Die herrschende Theorie führt die Begründung des Staats- diener-Verhältnisses auf einen einseitigen Akt des Staats zu- rück. Gönner, Heffter, Perthes, Dahlmann an den oben angegebenen Orten haben in consequenter Durchführung ihrer Ansicht, daß die Uebernahme eines Amtes eine Pflicht sei, die Anstellung eines Beamten als Ausfluß der staatlichen Herrschaft angesehen Perthes a. a. O. S. 55: „Nicht auf einem Vertrage ruht die Ue- bernahme des Amtes, denn die Pflicht hört nicht auf Pflicht zu sein, wenn der, welchem sie obliegt, mit Freuden erfüllt .... So ist auch der vom Lan- desherrn Auserlesene verpflichtet das Amt zu übernehmen, auf seine Einwilli- gung kömmt es hier so wenig, wie bei der Entrichtung der Steuern oder Er- füllung sonstiger Unterthanenpflichten an.“ . Aber auch diejenigen Juristen, welche prinzipiell das Zwangsrecht des Staates zum Eintritt in den Staatsdienst ver- werfen, halten daran fest, daß die Anstellung eines Beamten kein Vertrag, sondern ein einseitiger Willensakt des Staates sei. Das Laband , Reichsstaatsrecht. I. 26 §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. Anstellungsdecret, sagt man, habe den juristischen Charakter eines Privilegiums , einer lex specialis So Zöpfl Staatsr. II. §. 515. Zachariä II. §. 135 (S. 27.) v. Gerber §. 37. Bluntschli Allgem. Staatsr. II. S. 124 (der jedoch den Ausdruck Specialgesetz deshalb vermieden wissen will, weil die Anstel- lung in der Regel nicht durch den gesetzgebenden Körper erfolgt). Pözl im Staatswörterbuch Bd. IX S. 688 und Bayr. Verfassungsr. §. 199 Note 2 (S. 495). v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 §. 328. Vgl. ferner Mau- renbrecher §. 161. Grotefend §. 673. Schulze Preuß. Staatsr. I. §. 99. Selbst Schmitthenner , der die Anstellung richtig als einen Ver- trag des öffentlichen Rechts auffaßt, legt dessenungeachtet S. 506 dem Anstel- lungsdekret „den Charakter einer lex specialis bei.“ . Allein, wenn man auch davon absehen will, daß bei den An- stellungs-Dekreten die Form der Gesetzgebung nicht Anwendung findet, so ist doch nicht zu verkennen, daß auch materiell die An- stellung von Staatsbeamten kein Act der Gesetzgebung, sondern ein Rechtsgeschäft ist. Der Landesherr, welcher die für den Staatsdienst erforder- lichen Arbeitskräfte durch Anstellung von Beamten anschafft, er- ledigt dadurch staatliche Verwaltungs-Geschäfte, aber er stellt nicht für jeden einzelnen Fall eine besondere Rechtsnorm auf. Wie fast alle Verwaltungsgeschäfte werden auch die Anstellungen in der Form der Verfügung erledigt; aber eine solche Verfügung ist keine Ver- ordnung im technischen Sinne. Man verkehrt doch wahrlich den materiellen Begriff des Gesetzes einer scholastischen Formel zu Liebe in sein Gegentheil, wenn man annimmt, daß die Millionen von Anstellungsdekreten der Beamten ebenso viele Spezialgesetze seien. Man kömmt mit dieser Formel aber überhaupt nur aus bei den Staatsbeamten, da nur der Staat Gesetze erlassen kann, während doch die Anstellung von Staatsbeamten und die Anstellung von Privatbeamten unter eine gemeinsame Begriffs-Kategorie fallen. Die Anstellung eines Eisenbahn-Beamten an einer Privatbahn ist ein Rechtsgeschäft, an einer Staatsbahn soll sie ein Gesetzgebungs- Akt sein! Der königl. Förster soll durch lex specialis sein Amt haben, der Förster des Standesherrn durch Vertrag! Den Beamten der Städte und Landgemeinden schreibt man die Eigenschaft mit- telbarer Staatsbeamten zu und in jedem Falle sind sie öffentliche Beamte. Haben nun auch die Gemeinden die Befugniß, Spezial- gesetze zu erlassen und machen sie von derselben bei der Ernennung §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. der Communalbeamten Gebrauch oder schließen sie bei Anstellung ihrer Beamten Rechtsgeschäfte mit denselben ab? Da unzweifel- haft das Letztere der Fall ist, so paßt die Theorie von der lex specialis auf die mittelbaren Staatsbeamten gewiß nicht. Man beruft sich für diese Theorie darauf, daß bei der An- stellung eines Staatsbeamten der Regel nach kein Raum für freie Vereinbarung der Contrahenten sei; Obliegenheiten und Pflichten des Amtes einerseits und die Rechte des Beamten auf Gehalt und Pension, auf Titel und Rang u. s. w. andererseits stünden durch objective Regeln fest und können nicht durch spezielle Verabredungen verändert werden; es werde also kein Vertrag geschlossen, sondern ein ideell bereits geschaffenes Amt werde dem Beamten verliehen Gönner S. 84. 87. Heffter a. a. O. S. 129. 130: „Das Amt … wird nicht erst durch einen Vertrag, eine conventio geschaffen, es ist schon vorhanden und wird nur jedesmal durch einen Regierungsakt bei einer neuen Anstellung für ein bestimmtes Individuum ins Leben gerufen.“ Vgl. ferner L. Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 239 ff. . Hier ist zunächst zu entgegnen, was bereits oben ausgeführt wurde, daß die Uebertragung eines Amtes etwas Anderes ist als die Anstellung Jemandes im Staatsdienst; und daß es ferner doch Beamte giebt, mit welchen die ihnen zuzugestehenden Rechte in jedem einzelnen Falle wenigstens theilweise vereinbart werden. Insbesondere aber ist es für die rechtliche Natur des Anstellungs- Aktes ganz unerheblich, welcher Spielraum der freien Willens- Einigung über den Inhalt des Rechtsverhältnisses gegeben ist. Wer einen Brief der Post zur Beförderung übergiebt, schließt doch sicherlich einen Vertrag mit derselben ab und doch ist der Inhalt dieses Vertrages nach allen Beziehungen unabänderlich festgestellt. Nur darauf kommt es für den Begriff des Vertrages an, daß der freie übereinstimmende Wille der Contrahenten zum Abschluß des Rechtsgeschäftes erforderlich sei; der Inhalt des dadurch be- gründeten Rechtsverhältnisses kann stereotyp und unabänderlich feststehen Wenn Bluntschli a. a. O. S. 124 Note 5 behauptet, „daß die An- frage, ob jemand ein Amt annehmen würde und die Zusage desselben noch keinen Vertrag bewirkt,“ so darf man wohl fragen, warum nicht, da doch sonst Offerte und Annahme das Zustandekommen eines Vertrages bewirken. . Grade gegen die Theorie von der lex specialis spricht es aber, 26* § 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. daß bei der Anstellung jedes einzelnen Beamten besondere und eigenthümliche Grundsätze nicht aufgestellt werden dürfen, daß viel- mehr Rechte und Pflichten des Beamten objectiv feststehen und für ihre Beurtheilung aus dem Anstellungs-Decret regelmäßig Nichts, aus den allgemeinen Staatsgesetzen Alles zu entnehmen ist. Ein gewöhnlicher Vertrag des Obligationenrechts ist die An- stellung eines Staatsbeamten allerdings nicht; das daraus hervor- gehende Rechtsverhältniß ist kein privatrechtliches, contraktliches; aber dessen ungeachtet beruht der Eintritt eines Beamten und die Aufnahme desselben in den Staatsdienst auf dem von beiden Seiten, in rechtsverbindlicher Form erklärten Consense , ist also ein zweiseitiges Rechtsgeschäft, d. h. ein Vertrag v. Gerber §. 37 Note 1 hebt trotz seiner Behauptung, daß die An- stellung „in die Classe der Privilegien gehört,“ ganz richtig hervor, daß die Bedeutung, welche der Vertrag bei der Begründung des Staatsdienstverhält- nisses hat, derjenigen ähnlich ist, welche dem Vertrage bei der Eingehung einer Ehe zukömmt. Der Inhalt des ehelichen Verhältnisses ist kein vertragsmäßig normirter, aber dessen ungeachtet bleibt doch die Eheschließung ein Vertrag. . Eine Analogie zu diesem staatsrechtlichen Vertrage liefert die oben §. 17 dargestellte Verleihung der Staats-Angehörigkeit. Beide begründen ein Unterordnungs- und Gewalts-Verhältniß, nur daß das letztere bei dem Anstellungs-Vertrage einen viel intensiveren Inhalt hat. Das Anstellungs-Dekret entspricht der Aufnahme- oder Naturalisations-Urkunde und hat für die Perfektion des Ge- schäftes ganz dieselbe Bedeutung wie diese. II. Ueber die Anstellung der unmittelbaren Reichsbeamten gelten folgende Rechtsregeln. 1. Befugt im Namen des Reiches Beamte anzustellen, ist der Kaiser als der Geschäftsführer des Reiches. R.-V. Art. 18. Er ist wie bei allen Regierungsgeschäften hierbei an die Beobachtung der Reichsgesetze gebunden; er kann daher den Anstellungsvertrag nicht unter willkührlichen Bedingungen abschließen, er kann den Reichsbeamten keine größeren Rechte zugestehen und andererseits ihnen keine ungünstigere Stellung anweisen, als mit den Reichs- gesetzen vereinbar ist. Der Anstellungs-Vertrag selbst kann nur vom Kaiser oder in dessen Auftrag abgeschlossen werden; dies schließt aber nicht aus, daß nicht der Bundesrath ein Vorschlags- §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. recht habe oder wegen der Anstellung gewisser Beamten vorher gehört werden muß Siehe oben S. 262. . So wie der Kaiser hinsichtlich aller Regierungsgeschäfte die Befugniß hat, dieselben den gesetzlich errichteten Behörden zu dele- giren, so kann auch die Anstellung von Reichsbeamten durch Dele- gation Reichsbehörden übertragen sein Ein Verbot oder eine Beschränkung dieser Delegationsbefugniß ist im Art. 18 der R.-V. nicht enthalten. . Der Reichskanzler als der kaiserliche Minister ist auch für diese Geschäfte zuständig, so- weit nicht entweder der Kaiser dieselben zu eigener Entscheidung sich vorbehalten hat oder durch spezielle Vorschrift eine andere Reichsbehörde mit ihnen beauftragt ist. Durch die Verordnung vom 23. Nov. 1874 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 135) ist bestimmt, daß eine Kaiserliche Bestallung er- halten: a ) Die Mitglieder der höheren Reichsbehörden Das Verzeichniß derselben steht im R.-G.-Bl. 1874 S. 136 ff. , sowie die- jenigen Reichsbeamten, welche nach ihrer dienstlichen Stellung den- selben vorgehen oder gleichstehen; b ) die Konsuln — sowohl Berufskonsuln als Wahlkonsuln. Dagegen werden nach §. 3 a. a. O. die Anstellungs-Urkunden der übrigen Reichsbeamten im Namen des Kaisers vom Reichs- kanzler oder von den durch denselben dazu ermächtigten Behör- den ertheilt. Der Reichskanzler hat sonach in dieser Hinsicht eine generelle Substitutions-Vollmacht. Soweit durch Reichsgesetz oder vertragsmäßig Dies bezieht sich nur auf die sogen. mittelbaren Reichsbeamten (Mili- tär- Post- Telegraphen-Beamte). eine abweichende Bestimmung getroffen ist, bleibt dieselbe selbstverständlich in Kraft. (§. 4.) Die Reichsgesetze ent- halten mehrfach Anordnungen, welche theils dem Reichskanzler theils den Chefs von Behörden die Ernennung gewisser Beamter übertragen Beispiele : Das Gesetz vom 12. Juui 1869 §. 4 überträgt beim R.-O.-H.-G. die Ernennung der Sekretäre dem Reichskanzler, die Ernen- nung der übrigen Subaltern- und Unterbeamten dem Präsiden- ten des Gerichtshofes. Das Gesetz vom 23. März 1873 §. 11 Abs. 2 über- trägt dem Vorsitzenden der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds die Ernen- nung des Bureaupersonals (also mit Einschluß der Sekretäre). Dage- . §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. 2. Bezüglich der Person des Anzustellenden gilt als ein all- gemeiner Grundsatz nur die Vorschrift des Strafgesetzbuches, daß die Verurtheilung zur Zuchthausstrafe die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter von Rechtswegen zur Folge hat (§. 31) und daß die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, während der im Urtheil bestimmten Zeit die Unfähigkeit bewirkt, öffentliche Aemter zu erlangen. (§. 34.) Die Unfähigkeit, ein öffentliches Amt zu erlangen, schließt aber die Unfähigkeit, im Staatsdienst angestellt zu werden, in sich; weil diese Anstellung eben nur zu dem Zwecke erfolgen darf, daß der Angestellte ein öffentliches Amt bekleide. Im Uebrigen ist die Befähigung, im Reichsdienst angestellt zu werden, an besondere Voraussetzungen nicht gebunden; insbe- sondere ist weder Reichsangehörigkeit, noch Großjährigkeit noch Freiheit von der väterlichen Gewalt erforderlich Vgl. Kanngießer S. 24. Auch männliches Geschlecht ist reichsge- setzlich nicht erforderlich; der Anstellung von Frauen und Mädchen im Post- und Telegraphendienst steht kein rechtliches Hinderniß entgegen. Das Verzeich- niß der Reichsbeamten im R.-G.-Bl. 1874 S. 179 erwähnt vielmehr ausdrück- lich die „Telegraphen-Gehülfinnen“ im Großherzogth. Baden. . Dagegen ist für die Uebertragung einzelner Aemter eine spe- zielle Qualifikation erforderlich, nämlich für die Berufskonsuln (Ges. v. 8. Nov. 1867 §. 7), für die Mitglieder des Oberhandels- gerichts (Ges. v. 12. Juni 1869 §. 6), des Bundesamtes für das Heimathswesen (Ges. v. 6. Juni 1870 §. 42), der Disciplinar- Behörden (Reichsbeamtenges. §. 89, 91, 121), der zur Verstär- kung des Reichs-Eisenbahn-Amtes hinzu zu ziehenden Beamten (Ges. gen das Gesetz vom 27. Juni 1873 §. 2 überträgt die Ernennung der Sub- altern- und Unterbeamten bei dem Reichs-Eisenbahn-Amt dem Reichs- kanzler . — Ein Prinzip scheint also nicht zu bestehen, da bei den drei an- gegebenen Behörden drei verschiedene Anordnungen erlassen worden sind. — Bei der Ober-Rechnungskammer ernennt der Präsident alle Beamten mit Aus- nahme der Mitglieder. (Preuß. Gesetz vom 27. März 1872 §. 6 Abs. 1. Ges.-Samml. S. 279.) Dies findet auch auf den Rechnungshof des Reiches Anwendung. Instrukt. vom 5. März 1875 §. 17. Centralbl. S. 160. — Bisweilen ist dem Reichskanzler die Ernennung von Reichsbeamten übertragen, jedoch nach Anhörung von Bundesraths-Ausschüssen; so z. B. hin- sichtlich der Inspectoren für die Steuermanns- und Schifferprüfungen (B.-G.-Bl. 1870 S. 320. 325) und der Inspektoren für das Schiffsvermessungswesen. (Verordn. vom 5. Juli 1872 §. 21. R.-G.-Bl. S. 277). §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. v. 27. Juni 1873 §. 5 Nro. 4) und für die richterlichen Militär- resp. Marine-Justizbeamten (Ges. v. 2. Mai 1874 §. 7.) 3. Die Form, in welcher der Anstellungs-Vertrag geschlossen wird, bestimmt sich durch §. 4 des Beamtengesetzes. „Jeder Reichs- beamte erhält bei seiner Anstellung eine Anstellungs-Ur- kunde .“ Dadurch ist der mündliche Abschluß des Rechtsgeschäfts ausgeschlossen. Die Anstellungs-Urkunde heißt „Bestallung“ Verordn. vom 31. März 1873. R.-G.-Bl. S. 135. . Soweit einer Behörde die Ernennungs-Befugniß delegirt ist, ist eine schriftliche Eröffnung dieser Behörde an den Beamten genü- gend Motive S. 31. . Die Ausstellung einer schriftlichen Erklärung des Beamten über seinen Eintritt in den Reichsdienst findet nicht Statt. Der Vertrag wird vielmehr abgeschlossen durch die Aushändigung der Anstellungs-Urkunde, d. h. durch die vorbehaltslose Annahme der- selben Seitens des Beamten. Correspondenzen über den Eintritt in den Reichsdienst und über die Bedingungen desselben, welche zwischen dem anzustellenden Beamten und der zuständigen Reichs- behörde stattgefunden haben, sind lediglich Vorverhandlungen und begründen niemals einen rechtlichen Anspruch weder für die Reichs- regierung auf Uebernahme des Amtes noch für den Beamten auf Anstellung. Erst mit der Ausstellung und der Annahme der Be- stallung wird der Vertrag perfekt. 4. Die Wirkungen des Vertrages beginnen im Allgemeinen mit dem Moment der Perfektion des Vertrages; also mit dem Empfange des Anstellungs-Dekretes Die herrschende Ansicht, welche in der Anstellungs-Urkunde eine lex specialis erblickt, läßt die Wirkungen mit dem Datum des Decrets beginnen. Vgl. z. B. Zachariä II. S. 33 und v. Gerber S. 117. Wie sollen aber für den Beamten Pflichten erwachsen, so lange er von seiner Anstellung noch Nichts weiß? Man hilft sich damit, daß man die Pflichten später entstehen läßt, als die Rechte des Beamten! Vgl. Pözl im Staatswörterbuch IX. S. 692. . Von diesem Zeitpunkte an entsteht für den Beamten die Pflicht zum dienstlichen Gehorsam, zur Befolgung der Disciplinar-Vorschriften, die Be- schränkung hinsichtlich der Uebernahme anderer Aemter u. s. w. und ebenso die Befugniß zur Führung des Amtstitels und der übrigen mit der Beamtenstellung verbundenen Vorrechte, z. B. der Steuer- Bevorzugungen. Hiervon giebt es aber 2 Ausnahmen: §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. a ) Der Anspruch auf ein Dienst-Einkommen beginnt in Er- mangelung besonderer Festsetzungen mit dem Tage des Amts- Antritts , falls mit dem übertragenen Amte ein Diensteinkommen verbunden ist. Reichsges. §. 4 Es kann demnach in der Bestallung der Zeitpunkt, von dem an das Gehalt zu zahlen ist, hinausgeschoben oder auf einen schon vergangenen Tag, z. B. den Anfang des Vierteljahres oder Monats, zurückdatirt werden. Ent- hält die Bestallung darüber Nichts, so entscheidet der Tag, an dem die Amts- geschäfte thatsächlich übernommen worden sind. Unter Umständen — wenn z. B. der Beamte sogleich um Urlaub bittet — kann dies erheblich später sein, als der Beginn der Beamten-Eigenschaft. . b ) Für die Berechnung der Dienstzeit behufs Feststellung der Pension kömmt weder das Datum der Bestallung noch der Tag der Aushändigung derselben in Betracht; es bestehen vielmehr spe- zielle Bestimmungen in den §§. 45 ff. Vgl. darüber unten §. 42. 5. Die Ableistung eines Dienst-Eides ist zur Perfektion des Anstellungs-Vertrages nicht erforderlich, wohl aber zur Ueber- nahme eines Reichsamtes In den Motiven S. 31 wird richtig hervorgehoben, daß die Eigen- schaft eines Beamten als Reichsbeamter nicht durch die vorherige Ableistung des Eides bedingt wird. Gewöhnlich wird die Anstellung und die Uebernahme eines Amtes nicht genügend unterschieden. . „Vor dem Dienst-Antritt ist jeder Reichs-Beamte auf die Erfüllung aller Obliegenheiten des ihm übertragenen Amtes eidlich zu verpflichten.“ (§. 3 des Reichsges.) Die Möglichkeit, daß ein Beamter auch schon vor Ableistung des Eides im Reichsdienste Verwendung findet, ist nicht ausge- schlossen; sie wird im §. 45 Abs. 2 des Reichsgesetzes ausdrücklich erwähnt. Die Verwendung eines nicht vereideten Beamten zur Erledigung amtlicher Geschäfte ist aber ordnungswidrig und bewirkt, soweit es sich um richterliche Geschäfte handelt, nach einem allgemein anerkannten Prozeß-Grundsatze die Nichtigkeit des Ver- fahrens Vgl. Zachariä a. a. O. II. S. 34. . Wenn ein Beamter vor seiner Vereidigung bereits ein Amt verwaltet, so ist seine Verantwortlichkeit ganz dieselbe, als hätte er den Diensteid abgeleistet. Ausdrücklich ist dies in Beziehung auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Verbrechen und Ver- gehen im Amte durch das Strafgesetzb. §. 359 anerkannt „Unter Beamten im Sinne dieses Strafgesetzes sind zu verstehen alle . §. 38. Die Anstellung der Reichsbeamten. Die allgemeine Formel des Diensteides der unmittelbaren Reichsbeamten ist durch Verordn. v. 29. Juni 1871 (R.-G.-Bl. 1871 S. 303) festgestellt worden. Sie lautet: Ich N. N. schwöre zu Gott dem Allmächtigen und Allwis- senden, daß, nachdem ich zum Beamten des Deutschen Reichs bestellt worden bin, ich in dieser meiner Eigenschaft Seiner Majestät dem Deutschen Kaiser treu und gehorsam sein, die Reichsverfassung und die Gesetze des Reiches be- obachten und alle mir vermöge meines Amtes obliegenden Pflichten nach meinem besten Wissen und Gewissen genau erfüllen will, so wahr mir Gott helfe u. s. w. Durch spezielle gesetzliche Vorschriften sind aber andere Eides- formeln angeordnet für die Konsuln Gesetz vom 8. November 1867 §. 4. (B.-G.-Bl. S. 138). und für den Vorsitzenden und die Mitglieder der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds Gesetz vom 23. Mai 1873 §. 12 (R.-G.-Bl. S. 121). Siehe oben S. 351. Ueber die Mitglieder der Reichsschulden-Verwaltung siehe oben S. 349 fg. . Hinsichtlich der mittelbaren Reichsbeamten bestimmt Art. 50 der Reichs-Verfassung, daß in den Diensteid der Post- und Telegraphen-Verwaltung die Verpflichtung aufzunehmen ist, „den Kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten.“ Durch einen Bundes- raths-Beschluß ist dieselbe Formel auch für die anderen mittelbaren Reichsbeamten (Militärbeamte) angeordnet worden Er wird — ohne Angabe des Datums — erwähnt in den Motiven zum Reichsbeamten-Gesetz S. 31. . 6. Die öffentliche Bekanntmachung der Ernennung von Reichs- beamten oder der Uebertragung eines Reichsamtes ist gesetzlich nicht vorgeschrieben; dieselbe findet aber in jedem Falle Statt. Für die Begründung des Dienstverhältnisses ist die Bekanntmachung un- wesentlich; hinsichtlich der Uebertragung eines Amtes muß dieselbe aber für erforderlich erachtet werden, wofern mit dem Amte obrig- keitliche Befugnisse oder eine Vertretungsbefugniß zum Abschluß von Rechtsgeschäften verbunden ist, um den Beamten Dritten gegen- über zu legitimiren. Ueber die Form der Bekanntmachung fehlt es sowohl an gesetzlichen Vorschriften als an festen Grundsätzen der Praxis. Manche Ernennungen wurden bis incl. 1872 durch ...... Personen, ohne Unterschied, ob sie einen Diensteid geleistet haben oder nicht.“ §. 39. Die Amts-Kaution. das Reichsgesetzblatt bekannt gemacht Wäre die Theorie richtig, daß jede Anstellung eines Beamten eine lex specialis sei, so würde sie, da Art. 2 der R.-V. keine Ausnahme kennt, nur durch Verkündigung im Reichsgesetzblatte und zwar erst von dem in diesem Art. angegebenen Termine an verbindliche Kraft erlangen. Auch hieran erweist sich die Unrichtigkeit der Theorie. , nämlich außer der des Reichskanzlers die der Konsuln, der Zollbevollmächtigten und Kon- troleure, der Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bun- desamts für das Heimathwesen. Seit der Schöpfung des Central- blattes des Deutschen Reiches (1873) dient dasselbe zur Publikation von Ernennungen; außerdem werden Personal-Veränderungen im Reichs-Anzeiger und in den von den einzelnen Ressort-Verwaltungen herausgegebenen Amtsblättern zur öffentlichen Kenntniß gebracht. §. 39. Die Amts-Kaution. Schon vor Erlaß des Reichsbeamten-Gesetzes ist durch ein Bundesgesetz vom 2. Juni 1869 (B.-G.-Bl. S. 161 ff.), welches bei der Reichsgründung auf Süddeutschland ausgedehnt und durch Gesetz vom 11. Dezember 1871 (Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen S. 386) in Elsaß-Lothringen eingeführt worden ist, das Kautions- wesen der unmittelbaren und mittelbaren Reichsbeamten geregelt worden. Die Grundsätze, welche dieses Gesetz und die zur Aus- führung desselben ergangenen Verordnungen aufstellen, sind fol- gende: I. Nothwendigkeit der Kautionsbestellung . „Beamte, welchen die Verwaltung einer dem Reiche gehörigen Kasse oder eines dem Reiche gehörigen Magazins, oder die An- nahme, die Aufbewahrung oder der Transport von, dem Reiche gehörigen oder ihm anvertrauten Geldern oder geldwerthen Ge- genständen obliegt, haben dem Reiche für ihr Dienstverhältniß Kaution zu leisten“ Durch Kaiserl. Verordn., welche im Einvernehmen mit dem Bundes- rathe zu erlassen ist, sollen die Klassen der Beamten, welche Kaution zu stellen haben, und die Beträge der Kautionen bestimmt werden. (Ges. §. 3.) Zur Ausführung dieses Gesetzes sind folgende Kaiserl. Verordnungen er- gangen: a ) vom 29. Juni 1869 (G.-Bl. S. 285) über die Beamten der Post- und Telegraphenverwaltung und des Eichungswesens. Dieselbe ist abgeän- . (§. 2 des Gesetzes.) §. 39. Die Amts-Kaution. Der Grund für die Kautionsleistung ist nicht die Anstellung im Staatsdienst, sondern die mit dieser Anstellung gleichzeitig übertragene Vermögens-Verwaltung oder Aufbewahrung, also ein mit der Anstellung im Staatsdienst verbundenes Accidens. Es ist daher falsch und vielfach irreführend, von einer Kautions- pflicht der Reichsbeamten oder gewisser Klassen derselben zu reden So z. B. Thudichum S. 233. v. Rönne Verfassungsr. des Deut- schen Reiches S. 203. Der Ausdruck „Kautionspflicht“ oder auch „Kautions- pflichtigkeit“ entspricht zwar der allgemeinen, vulgären Redeweise; um so mehr ist es aber geboten, das juristische Wesen des Verhältnisses fest im Auge zu behalten. Die Reichsgesetze sprechen nicht nur von „kautionspflichtigen Beam- ten,“ sondern auch häufig von „kautionspflichtigen Aemtern“ (!) und im Ges. vom 2. Juni 1869 begegnet man sogar einem „kautionspflichtigen Bundes- Dienstverhältniß“ (!!) z. B. §. 9. 13. . Die Leistung einer Kaution ist nicht die Erfüllung einer Beamtenpflicht, sondern eine Vorbedingung zur Erlangung eines gewissen Amtes und mithin zur Anstellung behufs Uebernahme dieses Amtes. Ein Beamter, welcher die vorgeschriebene Kaution nicht erlegt, begeht keine Pflichtverletzung, sondern er erfüllt eine Bedingung , unter welcher seine Anstellung geschehen ist, nicht. Nicht aus der Uebertragung eines Amtes ergiebt sich die Pflicht, Kaution zu bestellen, sondern vor der Uebertragung gewisser Aemter ist die Kautionsleistung erforderlich. Die Regeln über die Kautionen gehören nicht zur Lehre von den Pflichten der Beamten, sondern von der Anstellung der Beamten. Dieser Gesichtspunkt ist für die rechtliche Beurtheilung des ganzen Verhältnisses von großer Bedeutung. Zunächst wird der- selbe durch folgende Sätze bestätigt: 1) „Die Bestellung der Amtskaution ist vor der Einfüh- rung des Beamten in das kautionspflichtige Amt zu bewirken.“ (§. 7 Abs. 1.) dert und ergänzt worden durch Verordn. v. 14. Juli 1871 (R.-G.-Bl. S. 316) und durch Verordn. vom 12. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 298). b ) vom 5. Juli 1871 (R.-G.-Bl. S. 308) über die Beamten der Militär- und Marine-Verwaltung. c ) vom 27. Februar 1872 (R.-G.-Bl. S. 59) über die Beamten der Reichs- Eisenbahn-Verwaltung. d ) vom 6. Juli 1874 (R.-G.-Bl. S. 109) über die bei dem Auswärtigen Amte, der Verwaltung des Invalidenfonds und im Bureau des Reichs- tags angestellten Beamten. §. 39. Die Amts-Kaution. Es kann jedoch ausnahmsweise durch die vorgesetzte Dienst- behörde dem Beamten gestattet werden, die Beschaffung der Kau- tion durch Ansammlung von Gehaltsabzügen zu bewirken. Die nähere Bestimmung der Fälle, in denen dies stattfinden darf und der Art, wie die Ansammlung zu erfolgen hat, ist einer kaiser- lichen, im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlassenden Verordnung vorbehalten Die Verordn. v. 29. Juni 1869 Art. 4 (B.-G.-Bl. S. 287) ge- stattet bei den Unterbeamten und kontraktl. Dienern der Post- und Tele- graphen-Verwaltung die Ansammlung der Kaution durch Gehalts-Ab- züge im Betrage von 1 bis 3 Thlr. monatlich nach Ermessen der vorge- setzten Dienstbehörde . Außerdem ermächtigt die V. vom 14. Juli 1871 Art. 2 (R.-G.-Bl. S. 316) das General-Postamt „solchen Beam- ten, welche in Folge der eingetretenen Veränderung in den Personalverhält- nissen und im Dienstbetriebe der Postverwaltung eine mit Kautionspflicht, be- ziehentlich mit höherer Kautionspflicht verbundene Dienststellung erhalten und die für diese Stellung erforderliche Kaution auf einmal zu beschaffen außer Stande sind, die nachträgliche Beschaffung der Kaution durch Ansammlung von angemessenen Gehaltsabzügen zu gestatten.“ Durch die Verordn. vom 12. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 298) sind dann generell das General-Post- amt sowie die General-Direktion der Telegraphen ermächtigt worden, die nachträgliche Ansammlung von Kautionen durch Gehalts-Abzüge von min- destens 50 Thlr. jährlich ausnahmsweise zu gestatten; jedoch findet dies keine Anwendung auf Beamte, welche an der Verwaltung einer Ober-Postkasse oder Ober-Telegraphen-Kasse theilnehmen oder die Vorsteherstelle eines Postamtes bekleiden. Für die Beamten der Militär- und Marine-Verwaltung ist durch V. vom 5. Juli 1871 Art. 3 (R.-G.-Bl. S. 313) angeordnet, daß die vorgesetzte Dienstbehörde die successive Ansammlung von Kau- tionen gestatten darf durch Gehaltsabzüge, welche bei Unterbeamten (und kon- traktlichen Dienern) nicht weniger als 1—3 Thlr. monatlich, bei anderen Be- amten nicht weniger als 50 Thlr. jährlich betragen. Diese Bestimmungen finden aber keine Anwendung auf Beamte in Rendanten- oder in Vorstands- stellungen, sowie auf solche Beamte, deren Kaution den einjährigen Betrag ihres Diensteinkommens übersteigt. Außerdem hat die V. v. 14. Januar 1873 (R.-G.-Bl. S. 37) verfügt, daß Feldbeamten der Militär-Verwaltung von dem vorgesetzten Feldintendanten unter dessen eigener Verantwortlichkeit die nachträgl. Ansammlung der Kaution durch Gehaltsabzüge von mindestens 50 Thlr. jährlich gestattet werden darf. In Beziehung auf die bei der Verwaltung der Reichseisenbah- nen angestellten Beamten bestimmt die Verordn. vom 27. Februar 1872 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 60), „daß denjenigen Beamten, welche die Hälfte ihres pensions- fähigen Jahresgehalts oder diätarischen Jahreseinkommens oder einen geringe- . §. 39. Die Amts-Kaution. 2) Wenn ein Reichsbeamter zu der Zeit, zu welcher für die Erlangung gewisser Aemter die Bestellung einer gewissen Kaution vorgeschrieben wird, bereits ein von diesen Vorschriften berührtes Amt bekleidet, für welches es der Kautionsleistung nach den bis dahin geltenden Vorschriften entweder überhaupt nicht, oder nur in einer geringeren Höhe oder in einer andern als der nunmehr vorgeschriebenen Art bedurfte, so kann er wider seinen Willen nicht angehalten werden, eine Kaution zu stellen oder die gestellte Kau- tion zu erhöhen, beziehungsweise durch eine den nachträglich er- lassenen Vorschriften entsprechende Kaution zu ersetzen R.-G. vom 2. Juni 1869 §. 16. . Auch dieser Rechtssatz beruht darauf, daß die Erlegung einer Kaution keine Pflicht ist, die aus der Amtsführung erwächst, sondern eine Bedingung für die Erlangung eines Amtes. Falls einem solchen Beamten aber eine Gehalts-Erhöhung zu Theil wird, so kann der Mehrbetrag des Gehaltes ganz oder zum Theil zur Ansammlung der Kaution verwendet werden. Die näheren Bestimmungen darüber sind durch Verordnung zu erlassen Die Verordnung vom 14. Dezember 1872 Art. 1 (R.-G.-Bl. S. 434) ordnet an, daß Kautionserhöhungen, zu welchen Beamte lediglich in Folge einer mit Beförderung nicht verbundenen Gehaltserhöhung verpflichtet sind, durch Ansammlung angemessener Gehaltsabzüge aufgebracht werden, deren Höhe die vorgesetzte Dienstbehörde bestimmt. — Im Art. 3 dieser Verordn. wird Art. 4 der V. vom 5. Juli 1871 ausdrücklich aufgehoben; aber auch Art. 5 der V. vom 29. Juni 1869 und §. 4 der V. vom 27. Febr. 1872 sind ebenfalls aufgehoben. . 3) Es ist durchaus gleichgültig, ob die Kaution von dem Be- amten selbst bestellt wird, oder ob sie ein Anderer für ihn leistet, ren Betrag als Kaution zu bestellen haben, von der Generaldirektion der Reichs-Eisenbahnen gestattet werden kann, die Kaution nachträglich durch Ansammlung von Gehaltsabzügen aufzubringen, welche nicht weniger als 1 Thlr monatlich betragen.“ Die Verodn. vom. 6. Juli 1874 Art. 3 (R.-G.-Bl. S. 110) läßt die Gestattung einer nachträglichen Kautions-Ansammlung zu bei dem Buchhalter und Kassendiener bei der Legationskasse und bei dem Buchhalter und Kassen- diener bei der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds (aber nicht bei dem Rendanten), so daß die Gehaltsabzüge bei den Buchhaltern mindestens 50 Thlr. jährlich, bei den Kassendienern mindestens 1—3 Thlr. monatlich betragen. Die Erlaubniß ist von dem Auswärt. Amte, beziehentlich der Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds zu ertheilen. §. 39. Die Amts-Kaution. wofern nur dem Reiche an der Kaution dieselben Rechte zugesichert werden, welche ihm an einer durch den Beamten selbst gestellten Kaution zugestanden haben würden R.-G. vom 2. Juni 1869 §. 4. . Im Zusammenhange hiermit steht der Satz, daß wenn „ein kautionspflichtiger Reichsbeamter gleichzeitig ein kautionspflichtiges Amt im Dienste eines Bundesstaates bekleidet“, die dem Bundes- staate bestellte Kaution mit Zustimmung der zuständigen Behörde des Bundesstaates und nach vorgängiger Vereinbarung darüber, wie viel von dem Gesammtbetrage der Kaution auf jedes der beiden Aemter zu rechnen ist, zugleich für die Verwaltung des Reichs- amtes haftbar erklärt werden kann R.-G. §. 9. Einige hierauf bezügliche Preußische Ministerial-Verfü- gungen sind abgedruckt bei Kanngießer S. 277. . Auch braucht ein Beamter, welcher gleichzeitig mehrere Reichs- ämter verwaltet, nur einmal Kaution zu leisten und zwar in dem Betrage, daß er den Anforderungen desjenigen von ihm bekleide- ten Reichsamtes genügt, für welches der höchste Kautionssatz vor- geschrieben ist R.-G. § 8. . 4) Endlich ist zu erwähnen, daß die Leistung einer Kaution nicht bloß den Reichsbeamten obliegt, sondern auch den kon- traktlichen Dienern , falls ihnen die Aufbewahrung oder der Transport von Geldern oder geldwerthen Sachen des Reiches über- tragen ist Vgl. z. B. die Verordn. vom 29. Juni 1869 Art. 4 und Verordn. v. 5. Juli 1871 Art. 3. ; woraus ebenfalls sich ergiebt, daß die Kautionsbe- stellung keine im Beamtenverhältniß begründete Pflicht ist. II. Rechtliche Natur der Kautionsbestellung . Die Bestellung einer Kaution ist entweder ein Nebenvertrag privatrechtlichen Inhaltes, welcher mit dem Anstellungsvertrage des Beamten verbunden resp. von ihm bei der Uebernahme eines Amtes abgeschlossen wird, oder ein selbstständiger Vertrag, den ein Dritter mit dem Reiche abschließt, um die Anstellung eines Beam- ten zu ermöglichen. Da die Kaution nur durch Faustpfand bestellt werden kann (§. 5 Abs. 2 des Ges.), so charakterisirt sich dieser Vertrag als ein Unterpfands-Vertrag ( contract. pigneraticius ). Im Einzelnen gelten darüber folgende Regeln: §. 39. Die Amts-Kaution. 1) Object des Faustpfandes dürfen nur sein auf den Inha- ber lautende Obligationen über Schulden des Reiches oder eines einzelnen Bundesstaates, welche zu ihrem Nennwerthe angerechnet werden Ges. §. 5 Abs. 1. Es kann jedoch die Einzahlung von baarem Gelde zum Ankauf eines Werthpapieres gestattet werden, so daß der Staat (z. B. die Ober-Postkasse oder Telegraphenkasse) den Einkauf vermittelt. Vgl. In- struktion vom 16. Juni 1869 über die Kautionen der Postbeamten §. 9. (Kanngießer S. 286). . Dem Kautionsbesteller werden die Zinsscheine für einen 4 Jahre nicht übersteigenden Zeitraum belassen, beziehungsweise nach Ablauf dieses Zeitraums oder nach Ausreichung neuer Zins- scheine verabfolgt Gesetz §. 6 Abs. 3. . 2) Die Form des Pfandvertrages richtet sich nach Vorschrift der Landesgesetze; in der Regel bedarf es daher einer schriftlichen Erklärung nicht, sondern es genügt die Uebergabe der zu hinter- legenden Werthpapiere. Wenn aber die Kautionsbestellung nicht von dem Beamten selbst, sondern von einem Dritten erfolgt, so wird die Ausstellung einer besonderen Kautions-Verschreibung er- fordert Vgl. die citirte Instruktion vom 16. Juni 1869 (und die gleichlautende für die Telegraphen-Beamten vom 28. Juli 1869) §. 7. Es ist zugleich ein Formular für diese Verschreibungen beigefügt. . Wenn der Besteller der Kaution minderjährig ist oder unter väterlicher Gewalt steht oder in ehel. Gütergemein- schaft lebt, so bedarf es zur Abschließung des Vertrages der Zu- stimmung des Vormunds, Vaters oder der Ehefrau Die Behörden haben auch diese Genehmigungen sich in schriftlicher Form ertheilen zu lassen. . Der Kautionsvertrag wird erst völlig abgeschlossen, wenn die zuständige Behörde die hinterlegten Papiere geprüft und als ge- nügend und ordnungsmäßig befunden hat. Erst jetzt ist die Ueber- gabe derselben durch die Empfangnahme Seitens der Reichsbehörde rechtlich vollendet. Ueber den Empfang dieser Papiere ertheilt die Behörde dem Besteller der Kaution eine Bescheinigung. So- bald der Empfangsschein über die Niederlegung ertheilt ist, ist das Faustpfandrecht an den niedergelegten Werthpapieren mit voller rechtlicher Wirkung erworben Gesetz §. 6 Abs. 2. . 3) „Die Amtskaution haftet dem Reiche für alle von §. 39. Die Amts-Kaution. dem Beamten aus seiner Amtsführung zu vertretenden Schäden und Mängel an Kapital und Zinsen, sowie an gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten der Ermittelung des Schadens Gesetz §. 10. .“ Dem Beamten gegenüber hat das Reich an der Kaution alle diejenigen Rechte, welche an dem Orte, wo der Beamte innerhalb des Reichsgebietes seinen dienstlichen Wohnsitz hat oder zuletzt ge- habt hat, kraft der dort geltenden Landesgesetzgebung der Landes- regierung an den Amtskautionen ihrer Beamten beigelegt sind Gesetz vom 2. Juni 1869 §. 12 Abs. 1 und v. 31. März 1873 §. 20. . Liegt der betreffende Ort im Auslande, so sind diejenigen Bestim- mungen maaßgebend, welche in Anwendung gekommen wären, wenn der Beamte seinen dienstlichen Wohnsitz in Berlin gehabt hätte Gesetz vom 2. Juni 1869 §. 12 Abs. 2. Diese specielle Bestimmung ist durch die allgemeine Vorschrift im Gesetz vom 31. März 1873 §. 19 nicht aufgehoben. . Dritten Personen gegenüber, welche an den hinterlegten In- haber-Papieren ein früher gegründetes Eigenthum, Pfandrecht oder sonstiges dingliches Recht behaupten, kommen die Vorschriften im Handelsgesetzbuch Art. 306 Abs. 2 Art. 307 zur Anwen- dung, da hinsichtlich des redlichen Erwerbs von Inhaber-Papieren diese Regeln auch dann gelten, wenn sie nicht von einem Kauf- mann in dessen Handelsbetrieb verpfändet werden H.-G.-B. Art. 307 enthält eine Rechtsregel des allgem. bürgerlichen Rechts, nicht blos des Handelsrechts. Vgl. Goldschmidt Zeitschrift für Handelsr. IX. S. 57. 58. Anschütz u. v. Völderndorff Komment. zum H.-G.-B. III. S. 161. v. Hahn Komment. II. S. 151 (2. Aufl.). . Im Falle des Konkurses des Kautionsbestellers ist das Reich nicht verpflichtet, die verpfändeten Werthpapiere in die Konkurs- masse einzuliefern Gesetz vom 2. Juni 1869 §. 11 Abs. 2. . 4) Die Geltendmachung des Pfandrechts erfolgt, wenn eine Forderung, für welche die Kaution haftet, zur Execution steht Gleichviel ob auf Grund eines rechtskräftigen Erkenntnisses oder eines vollstreckbaren, administrativen Beschlusses. Vgl. Gesetz vom 31. März 1873 §. 139. 143. 144. , in der Art, daß die vorgesetzte Dienstbehörde des Beam- ten die Werthpapiere bis zur Höhe der Forderung an einer inner- §. 39. Die Amts-Kaution. halb des Bundesgebietes belegenen, von ihr zu bestimmenden Börse außergerichtlich verkaufen läßt. Der Kautionsbesteller ist in solchem Falle zur Ausantwortung der ihm belassenen noch nicht fälligen Zinsscheine verpflichtet, event. zur Erlegung des Geld- werthes derselben Gesetz §. 11 Abs. 1. Für die Beitreibung dieses Betrages kommen die Regeln zur Anwendung, welche für die exekutivische Beitreibung öffentlicher Abgaben gelten. . Die vorgesetzte Dienstbehörde ist jedoch, falls sie es vorziehen sollte, nicht gehindert, das Pfandrecht in den gewöhnlichen Formen des Civilrechts, insbesondere also durch gerichtlichen, exekutivischen Verkauf der Werthpapiere geltend zu machen. Dagegen ist sie nicht be- rechtigt zu einem außergerichtlichen Verkauf außerhalb einer Börse z. B. unmittelbar an einen Banquier in dem Geschäftslokale desselben. 5) Das Reich ist verpflichtet , die empfangenen Kau- tionen aufzubewahren . Die oberste Ressortbehörde bestimmt diejenigen Kassen, welchen die Aufbewahrung, beziehungsweise An- sammlung der Kautionen obliegt Gesetz §. 6 Abs. 1. Denselben Behörden, denen die Aufbewahrung der Werthpapiere obliegt, ist auch die Ansammlung der Kautionen durch Ge- halts-Abzüge übertragen. Verordn. vom 29. Juni 1869 Art. 6. Verordn. vom 5. Juli 1871 Art. 7. Verordn. vom 27. Febr. 1872 Art. 5. Verordn. vom 6. Juli 1874 Art. 5. . Das Reich haftet für sorg- fältige custodia nach den vom Faustpfand-Vertrage geltenden Re- geln. Der Kasse, welcher die Aufbewahrung übertragen ist, liegt auch die Einziehung der neuen Zinsscheine ob, dagegen nicht die Verpflichtung, die Ausloosung der niedergelegten Werthpapiere zu überwachen Gesetz §. 6 Abs. 3. . Nachtheile, welche dem Eigenthümer der Kau- tion daraus erwachsen, daß er die erfolgte Verloosung oder Kün- digung des Papiers nicht rechtzeitig zur Kenntniß bringt, sind von dem Reich nicht zu vertreten Vgl. über das im Falle der Verloosung zu beobachtende Verfahren die Instrukt. vom 16/28. Juli 1869 §. 11. (Kanngießer S. 287). . 6) Wird das Dienstverhältniß, für welches die Kaution ge- leistet worden ist, beendet, so ist das Reich verpflichtet, die Kau- tion dem Kautionsbesteller oder dessen Erben oder dessen Rechts- nachfolger zurückzugeben Gesetz. § 13. . Die Rückgabe setzt voraus: Laband , Reichsstaatsrecht. I. 27 §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. a ) Die amtliche Feststellung, daß aus dem Dienstverhältniß Ersatz für Schäden und Kosten nicht mehr zu leisten ist In dieser Hinsicht bestimmen die erwähnten Instruktionen §. 21, daß bei den Rendanten, Buchhaltern und Hülfs-Buchhaltern der Ober-Postkassen gewartet werden muß, bis von dem Rechnungshof die Decharge über die Jahres- Rechnung für dasjenige Jahr ertheilt worden ist, in welchem die betreffenden Beamten aus dem Dienste geschieden sind. Bei den übrigen Beamten, Unter- beamten und kontraktl. Dienern ist zu warten, bis seit Vornahme der letzten dienstlichen Handlung des Beamten ein Jahr und ein Monat verstrichen ist. Hinsichtlich der Vorsteher der Post-Anstalten und Telegraphen-Stationen, welche zugleich Führer der Hauptkassen bei denselben sind, muß nach Ablauf der dreizehnmonatlichen Frist event. noch das Ergebniß der Rechnungs-Revision in Bezug auf dasjenige Jahr abgewartet werden, in welchem der betreffende Beamte aus dem Dienste getreten ist. . b ) Die Aushändigung des quittirten Empfangsscheines. Ist derselbe verloren, so ist das gerichtliche Amortisationsverfahren einzuleiten und an Stelle des Empfangsscheines das Amortisations- Dokument einzureichen. Von der Beibringung desselben kann jedoch nach Ermessen der vorgesetzten Dienstbehörde abgesehen werden und es ist alsdann von dem Kautionsbesteller eine Urkunde auszustellen, in welcher er versichert, daß er den Empfangsschein weder zedirt noch verpfändet habe, daß derselbe ihm vielmehr ab- handen gekommen sei, und in welcher er den Schein für kraftlos und alle Ansprüche aus demselben für erloschen erkärt. c ) wenn die Kaution einem Andern, als dem Besteller zurück- gegeben werden soll, die Beifügung der Urkunden, aus denen sich der Uebergang des Forderungsrechtes auf Restitution der Kaution ergibt, also des Erbes-Legitimations-Attestes, der Cessions-Ur- kunde u. dgl. §. 40. Die Pflichten und Beschränkungen der Reichsbeamten. Aus dem Anstellungsvertrage ergeben sich für den Beamten drei Pflichten, die Pflicht zur Verwaltung des übertragenen Amtes, die Pflicht zur Treue und zum gesetzmäßigen Gehorsam gegen die vorgesetzte Behörde, und die Pflicht eines achtungswürdigen Ver- haltens. Außerdem sind mit der Beamtenstellung einige Beschrän- kungen der Handlungsfreiheit verbunden. §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. I. Die Pflicht zur Amtsführung . „Jeder Reichsbeamte hat die Verpflichtung, das ihm über- tragene Amt der Verfassung und den Gesetzen entsprechend gewis- senhaft wahrzunehmen“. R.-G. §. 10. Die Pflicht zur Amtsführung ist eine Pflicht zur Arbeits- leistung. Dieselbe ist nicht fixirt, sondern bestimmt sich quantitativ nach dem wechselnden Geschäfts-Umfange des Amtes, qualitativ durch die dem Beamten obliegende Treuverpflichtung, welche von ihm die Aufwendung des größten Fleißes, der größten Sorgfalt, die Anspannung aller Kräfte erfordert. Die Pflicht kann, abgesehen von unvollkommener Erfüllung durch langsame oder schlechte Erledigung der Amtsgeschäfte, theils durch die Weigerung einzelne, zum amtlichen Geschäfts-Kreise gehörige Geschäfte zu erledigen, theils durch generelle Nichterledi- gung der Geschäfte (Verlassen des Amtes) verletzt werden. 1) Von der Vornahme einzelner amtlicher Geschäfte kann der Beamte auf seinen Antrag von der vorgesetzten Dienstbehörde dispensirt werden. Die, den Vorstehern der einzelnen Be- hörden zugewiesene Funktion der Geschäftsvertheilung schließt die Befugniß in sich, Beamten einzelne Geschäfte, die ihnen speziell zugewiesen sind oder nach dem allgemeinen, für die Geschäftsver- theilung erlassenen Anordnungen zufallen, abzunehmen Vgl. z. B. die Instrukt. für den Rechnungshof vom 5. März 1875 §. 14 Nr. 2 (Centralbl. S. 159). . Ein Recht auf Dispensation ist für die Beamten in dem Falle anzunehmen, wenn das von ihnen zu erledigende Geschäft ihr eigenes Privat-Interesse oder dasjenige ihrer Angehörigen be- rührt. Für die Richter ist es ein gemeinrechtlich anerkannter, unbezweifelter Grundsatz, daß sie von der Ausübung des Richter- amtes kraft Gesetzes in allen solchen Sachen ausgeschlossen sind Vgl. Entwurf der Civilprozeß-Ordn. §. 41. Entw. der Strafprozeß- Ordnung §. 16. . Die analoge Anwendung des gleichen Grundsatzes auf andere Beamte, denen in Verwaltungssachen ein Verfügungs- oder Ent- scheidungsrecht zusteht, erscheint ebensowohl durch das Interesse des Staates als durch das des Beamten, der nicht unnöthiger Weise in eine Kollision gebracht werden soll, geboten. 27* §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. 2) Zum zeitweisen Verlassen des Amtes bedarf der Beamte eines Urlaubs . „Die Vorschriften über den Urlaub der Reichs- beamten und deren Stellvertretung werden vom Kaiser erlassen.“ (§. 14 Abs. 1 des R.-G.) Die hier vorbehaltene Verordnung ist am 2. Nov. 1874 er- gangen. (R.-G.-Bl. S. 129.) Dieselbe stellt folgende Grund- sätze auf: Die Anträge auf Urlaubsbewilligung sind unter Angabe der Veranlassung und des Zweckes der unmittelbar vorge- setzten Behörde oder dem unmittelbar vorgesetzten Beamten einzu- reichen. Diese Behörde ist aber nicht nothwendig zur Ertheilung des Urlaubs zuständig; vielmehr bestimmt der Reichskanzler die Stellen, welche zur Ertheilung von Urlaub berechtigt sind, sowie die Zeiträume, für welche von denselben Urlaub gewährt werden darf Specielle, durch die Verordn. vom 2. Nov. 1874 §. 8 in Geltung er- haltene Bestimmungen über Urlaubs-Bewilligungen sind getroffen in dem Re- gulativ für das Bundesamt für das Heimathswesen vom 6. Januar 1873 §. 3 (Centralbl. S. 5); in dem Regulat. für die Disciplinarbehörden vom 12. Dez. 1873 §. 8 (Centralbl. S. 391); in dem Regulativ für das Oberhandelsgericht vom 9. Juli 1874 §. 30. 31 (Centralbl. S. 280); vgl. auch das Regulat. für den Rechnungshof vom 5. März 1875 §. 17 (Centralbl. S. 160); in der In- strukt. für die Konsuln vom 6. Juni 1871 zu §. 6. (Hirth’s Annalen 1871 S. 613.) Ferner in dem Reglement über die Serviskompetenz der Truppen im Frieden vom 20. Februar 1868 §§. 48—61 und in der Beilage 3 zu dem Reglement vom 9. Dezember 1873 hinsichtlich des Marine-Zahlmeister-Per- sonals. . Wird ein Urlaub zur Wiederherstellung der Gesund- heit nachgesucht, so ist dem Antrage eine ärztliche Bescheinigung beizufügen; die Beibringung dieser Bescheinigung kann aber von der Stelle, welcher die Entscheidung über den Antrag zusteht, aus- nahmsweise erlassen werden. Die Stelle, welche den Urlaub ertheilt, hat für die Vertre- tung des beurlaubten Beamten Sorge zu tragen und zugleich fest- zusetzen, in wie weit die dem Beurlaubten zur Bestreitung von Dienstaufwandskosten (nicht zu verwechseln mit dem Diensteinkom- men) bewilligten Bezüge dem Vertreter zu überweisen sind. Der beurlaubte Beamte hat dafür zu sorgen, daß ihm wäh- rend der Abwesenheit von seinem Wohnort Verfügungen der vor- gesetzten Behörden zugestellt werden können. Die Urlaubsbewilli- §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. gung kann jederzeit zurückgenommen werden, wenn das dienstliche Interesse es erheischt. Für Militär- und Marine-Beamte erlischt jede Urlaubsbewilligung, wenn die Kriegsbereitschaft oder die Mo- bilmachung der bewaffneten Macht oder einer Abtheilung der- selben angeordnet wird, mit der Bekanntmachung dieser An- ordnung. In Krankheitsfällen findet ein Abzug vom Gehalte nicht statt; die Stellvertretungskosten fallen der Reichskasse zur Last Reichsbeamtengesetz §. 14 Abs. 2. . Das- selbe gilt, wenn der Urlaub 1½ Monate oder weniger beträgt. Bei einem Urlaub von mehr als 1½ bis 6 Monaten (außer in Krankheitsfällen) findet für den anderthalb Monate übersteigenden Zeitraum ein Abzug von dem Diensteinkommen des Beurlaubten im Betrage der Hälfte desselben statt; bei fernerem Urlaub wird das ganze Diensteinkommen einbehalten Verordn. vom 2. Nov. 1874 §. 6 Abs. 1. . Bei Berechnung der Abzüge für Theile von Monaten werden die letzteren stets zu 30 Tagen angenommen. Von diesen Regeln darf nur mit Genehmigung der obersten Reichsbehörde eine Abweichung bewilligt werden ebendas. Abs. 2. Dies gilt auch von den mittelbaren Reichsbeamten, da dieselben ihren Gehalt auf Reichskosten beziehen. . Ein Beamter, welcher sich ohne den vorschriftsmäßigen Urlaub von seinem Amte entfernt hält, oder den ertheilten Urlaub über- schreitet, ist, wenn ihm nicht besondere Entschuldigungsgründe zur Seite stehen, für die Zeit der unerlaubten Entfernung seines (vol- len) Diensteinkommens verlustig Reichsbeamtengesetz §. 14 Abs. 3. . Die Reichsbeamten haben das Recht, ohne Nachsuchung von Urlaub ihr Amt zu verlassen, um in den Reichstag einzutreten. Reichsverf. Art. 21 Abs. 1. In diesem Falle findet ein Abzug vom Gehalte nicht statt; die Stellvertretungskosten fallen der Reichs- kasse zur Last Reichsbeamtenges. §. 14 Abs. 2. . Wird ein Beamter zum Verlassen seines Amtes dadurch ge- nöthigt, daß er zur persönlichen Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht berufen wird, z. B. als Geschworener, Landwehr-Offizier, Zeuge u. dgl., so bedarf er zwar keines Urlaubs, ist aber §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. verpflichtet, seinem unmittelbaren Vorgesetzten davon Anzeige zu machen. II. Die Pflicht zur Treue und zum Gehorsam . Da diese Pflicht einen vorzugsweise ethischen Charakter hat, so wird das eidliche Gelöbniß ihrer Erfüllung erfordert und da- durch eine moralische Garantie ihrer Erfüllung gesucht. Rechtlich läßt sich ihr Inhalt nicht erschöpfend darstellen und ihre volle Er- füllung nicht wirksam erzwingen; nur offenkundige Verletzungen derselben können eine Ahndung finden. Für die rechtliche Beur- theilung dieser Pflicht lassen sich folgende Sätze aufstellen. 1. In der Pflicht zur Treue ist die Pflicht zur Verschwie- genheit enthalten. §. 11 des Reichsgesetzes bestimmt: „Ueber die vermöge seines Amtes ihm bekannt gewordenen Angelegen- heiten, deren Geheimhaltung ihrer Natur nach erforderlich oder von seinem Vorgesetzten vorgeschrieben ist, hat der Beamte Ver- schwiegenheit zu beobachten, auch nachdem das Dienstverhältniß aufgelöst ist.“ Im Zusammenhange hiemit stehen die im §. 12 a. a. O. enthaltenen Vorschriften, daß ein Reichsbeamter, bevor er als Sachverständiger ein außergerichtliches Gutachten abgiebt, dazu die Genehmigung seiner vorgesetzten Behörde einholen muß, und daß er, auch wenn er nicht mehr im Dienste ist, ein Zeugniß in Betreff derjenigen Thatsachen, auf welche die Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit sich bezieht, insoweit zu verweigern verpflichtet ist, als er nicht dieser Verpflichtung in dem einzelnen Falle durch die vorgesetzte oder zuletzt vorgesetzt gewesene Dienst-Behörde ent- bunden ist. 2. Die Pflicht zum Gehorsam findet in der oben entwickelten rechtlichen Natur des Staatsdienst-Vertrages ebensowohl ihre Be- gründung als ihre Beschränkung. Das systematische, oder wenn man den Ausdruck vorzieht, das organische Zusammenwirken der Behörden, die Einheit und Ordnung in der Verrichtung der staat- lichen Geschäfte, die Leitung der Regierung durch den Kaiser und den von ihm ernannten Reichskanzler und die anderen Chefs der Ressort-Verwaltungen könnten ohne die Pflicht aller Reichs- beamten, den vorgesetzten Behörden oder Beamten gehorsam zu sein, nicht bestehen. Durch den Staatsdienstvertrag wird für den Staat nicht ein Forderungsrecht, sondern eine Gewalt begründet §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. und der Beamte verpflichtet sich nicht blos Arbeit zu leisten, son- dern zu gehorchen. Aber die Verpflichtung des Beamten ist beschränkt auf die Erfüllung amtlicher Geschäfte; er dient nicht dem Vorgesetz- ten , sondern mit diesem gemeinsam dem Staate ; er tritt in den Staatsdienst ein, um ein staatliches Amt zu übernehmen; welche Geschäfte aber einem Amte zufallen, normirt der Staat. Der Beamte ist daher nicht verpflichtet, Geschäfte auszuführen, welche entweder thatsächlich oder aus Rechtsgründen keine amtlichen sind oder sein können Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 375 ff. . Der §. 10 des Reichsbeamten-Gesetzes beschränkt demgemäß die Verpflichtung des Beamten dahin, daß er das ihm übertragene Amt der Verfassung und den Gesetzen entsprechend gewissenhaft wahrnehme. Geringe Schwierigkeiten macht die Einschränkung, daß der Beamte solchen Anordnungen der vorgesetzten Behörde nicht nach- zukommen braucht, welche thatsächlich nicht amtliche Geschäfte zum Inhalte haben; z. B. Anforderungen eines höheren Beamten an Unterbeamte zur Leistung von häuslichen Diensten, oder Anord- nungen, die in das Privatleben des Beamten eingreifen, z. B. eine gewisse Zeitung zu halten oder nicht zu halten oder die Kirche zu besuchen u. dgl. Die Nichtbefolgung solcher Vorschriften ist keine Verletzung der Dienstpflicht; ebenso wenig ist aber dem Be- amten ihre freiwillige Befolgung verwehrt oder für ihn mit Rechts- nachtheilen verbunden. Bei weitem wichtiger und schwieriger ist die juristische Fixi- rung der anderen Einschränkung, daß der Beamte Anordnungen der vorgesetzten Behörde nicht zu befolgen verbunden ist, welche zwar ihrem Inhalte nach Amtsgeschäfte betreffen, welche aber aus Rechtsgründen ihm nicht aufgetragen werden dürfen . Geschäfte, zu deren Vornahme eine Behörde nach den bestehenden Rechtsvor- schriften nicht befugt ist oder die ihr ausdrücklich untersagt sind, können keine Amtsgeschäfte sein , da das Amt seinem Begriffe nach ein vom Staate zugewiesener und begränzter Inbe- griff von Geschäften ist. Die Befolgung solcher Befehle ist daher für den Beamten keine res merae facultatis. Denn wenn er die mit seinem Amte verbundene Amtsgewalt zur Durchführung rechts- §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. widriger Befehle gebraucht, so treten die Rechtsfolgen gegen ihn ein, welche sich aus dem im §. 13 des Beamtengesetzes ausge- sprochenen Grundsatze ergeben: „Jeder Reichsbeamte ist für die Gesetzmäßigkeit seiner amtlichen Handlungen verantwortlich.“ (Siehe unten §. 41.) Wenn andererseits der Beamte gesetzmäßige Befehle nicht be- folgt, weil er sie für gesetzwidrig hält, so begeht er eine Verletzung der Dienstpflicht, ein Dienstvergehen, und kann überdies eine straf- rechtliche oder privatrechtliche Verantwortlichkeit wegen der Unter- lassung auf sich laden. Die Prüfung der Gesetzmäßigkeit aller dienstlichen Anordnungen muß daher von jedem Beamten und zwar aufeigene Gefahr vorgenommen werden. Darum ist es von Wichtigkeit festzustellen, worauf sich diese Prüfung zu erstrecken hat In der neueren Staatsrechts-Literatur begegnet man öfters der Lehre, daß der Beamte, welchem ein gesetzwidriger Befehl ertheilt worden ist, bei der Oberbehörde zu remonstriren verpflichtet sei, wenn aber seine Vorstellung fruchtlos bleibe, dann den Befehl ausführen müsse. So namentlich Gönner S. 202 („mit bescheidener Freimüthigkeit“). Bluntschli Allgem. Staatsr. II. S. 138. v. Mohl Württemb. Staatsr. I. S. 775. 780. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 428. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 326 ff. v. Gerber S. 113. Diese Theorie, obwohl sie in manche kleinstaatliche Verfassungen sich ein- geschlichen hat, ist keine Lösung der Frage, sondern eine praktisch werthlose Umgehung derselben. Ein rechtswidriger und an sich nichtiger Befehl kann dadurch nicht Rechtswirksamkeit erlangen, daß er zweimal ertheilt wird; ein Beamter, dem die Befolgung eines Befehles untersagt ist, kann nicht dadurch, daß er dies der Oberbehörde gegenüber ausgesprochen hat, nunmehr zur Aus- führung dieses Befehles verpflichtet und befugt werden. Würde die Theorie wirklich Geltung haben, so könnte sich jeder Beamte durch eine zum Schein vorgebrachte Remonstration decken, oder es könnte die vorgesetzte Behörde ihrem Befehl gleich eine Klausel beifügen, welche der Unterbehörde andeutet, daß Remonstrationen fruchtlos sein würden. Uebrigens würde es aber wol keine Behörde für angemessen erachten, mit den Unterbehörden sich in einen fortwährenden Meinungs-Austausch darüber einzulassen, ob und aus welchen Gründen ihre Entscheidungen dem Recht und den Gesetzen gemäß sind. Das Reichsbeamten-Gesetz schließt die Anwendung jener Theorie sicherlich aus, denn es legt dem Beamten weder eine Pflicht zu solchen Vorstellungen an die vorgesetzte Behörde auf, noch macht der §. 13 eine Ausnahme für den Fall, daß der Beamte dergleichen Remonstrationen erhoben hat. Die Lösung der Frage ist nicht darin zu suchen, daß man dem Beamten . Würde man dieselbe auf die Frage §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. ausdehnen, ob die vorgesetzte Behörde die bestehenden Rechtsvor- schriften materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, so würde man das System der Behörden-Organisation und die Unterord- nung der niederen Behörden unter die oberen nicht nur zerstören, sondern geradezu auf den Kopf stellen. Die untere Behörde und der niedriger gestellte Beamte hätte das Recht und die Pflicht, die Entscheidungen und Verfügungen der oberen Behörde und des vorgesetzten Beamten einer Ueberprüfung zu unterziehen und es würde demnach nicht das Reichs-Oberhandelsgericht, sondern der Kreisgerichts-Executor, nicht das Finanzministerium oder die Ober- zolldirektion sondern der Zolleinnehmer in Wahrheit die letzte In- stanz sein. In allen Fällen, in welchen die höhere Instanz eine andere Rechtsansicht wie die niedere festhält, müßte sie auch die Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen Instanz übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienste verweigert. Ein solches System ist keineswegs undenkbar oder unerhört: es bestand wenigstens theilweise im Mittelalter, wo ein Urtheil der unteren Instanz nur angefochten werden konnte durch die sogen. Urtheilsschelte d. h. durch eine Klage gegen den Richter und die Urtheilsfinder wegen Rechtsverletzung oder Amtsmiß- brauchs bei dem höheren Richter, und wo der letztere sein Erkennt- niß selbst zur Vollstreckung brachte. Das unbedingte und unbe- schränkte Prüfungsrecht bringt eben die unbedingte und unbe- schränkte Verantwortlichkeit als Correlat mit sich. In dem heutigen Staate dagegen wird in den verschiedenen, einander übergeordneten oder auch nebengeordneten Behörden die einheitliche Staatsgewalt thätig; die Behörden sind durchweg auf ein Zusammenwirken angewiesen und es ist daher eine Vollziehung der staatlichen Geschäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Be- amte Entscheidungen, Verfügungen und Requisitionen befolgt, ohne die materielle Richtigkeit und Rechtmäßigkeit seinerseits nochmals zu prüfen und ohne von dem Ausfall dieser Prüfung es abhängig zu machen, ob er seine Mitwirkung leisten oder versagen will. Die Prüfungspflicht des Beamten erstreckt sich vielmehr ledig- eine Zwischenverhandlung mit dem Vorgesetzten auferlegt, also gewissermaaßen statt eines prompten, einen schleppenden Gehorsam von ihm verlangt, sondern dadurch, daß man fest bestimmt, wieweit sich die eigene, selbstständige Verant- wortlichkeit des Beamten erstreckt. §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. lich auf die formelle Rechtmäßigkeit der ihm ertheilten Vorschriften und zerlegt sich in 3 Fragen: Ist die befehlende Behörde compe- tent, den Befehl zu erlassen? Ist der beauftragte Beamte compe- tent, die ihm aufgetragene Handlung vorzunehmen? Ist der Be- fehl in der vorschriftsmäßigen Form ertheilt worden? 1) Der letzte dieser drei Punkte ist praktisch gewöhnlich von untergeordneter Wichtigkeit und giebt zu Zweifeln selten Anlaß. In der Theorie und Gesetzgebung besteht, wenn die Frage über- haupt berührt wird, kaum eine Meinungs-Verschiedenheit darüber, daß Befehle oder Verfügungen, welche nicht in vorschriftsmäßiger amtlicher Form ertheilt werden, keine verbindliche Kraft haben Einige Verfassungen, welche diesen Rechtssatz enthalten, stellt Zachariä II. §. 137 Note 14 zusammen. Vgl. ferner Bluntschli a. a. O. II. S. 137. v. Mohl a. a. O. v. Pözl Bayr. Verfassungsr. S. 510. Schulze a. a. O. S. 327. . Es ist jedoch fest zu halten, daß eine allgemeine Regel über die Form amtlicher Verfügungen nicht besteht, daß vielmehr in zahl- reichen Fällen mündliche Anordnungen des Vorgesetzten an die ihm untergebenen Beamten völlig zulässig sind Für alle schriftlichen Verfügungen ist die Unterschrift des zur Vertre- tung der Behörde legitimirten Beamten erforderlich; für Erkenntnisse die Be- obachtung der für die Urtheils-Ausfertigungen vorgeschriebenen Formen; für Verfügungen des Kaisers die Gegenzeichnung des Reichskanzlers. . 2) Der Beamte hat selbstständig und mit eigener Verantwort- lichkeit zu prüfen, ob die ihm zustehende Amtsgewalt ihn ermächtigt, die ihm aufgetragene Handlung vorzunehmen. Wenn die Vor- nahme der aufgetragenen Handlung nicht zum Geschäftskreise des beauftragten Beamten gehört oder ihm nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften untersagt ist, so ist er weder berechtigt noch ver- pflichtet, dem Befehl Folge zu leisten. Diese Prüfung erstreckt sich aber auch nur auf die formelle Seite, d. h. nicht darauf, ob durch die ihm aufgetragene Handlung materiell das geltende Recht verwirklicht oder verletzt wird, sondern ob er zur Vornahme der- artiger Handlungen überhaupt befugt ist, sowohl mit Rücksicht auf die territoriale Begrenzung seiner Amtsgewalt als auch mit Rück- sicht auf die sachliche Begrenzung derselben. Ein Erkenntniß des Preuß. Obertribunals v. 17. Nov. 1871 hat den richtigen Grundsatz aufgestellt, daß ein vollstrecken- §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. der Beamter nur dann in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes sich befand, „wenn demselben sowohl in örtlicher als in sachlicher Beziehung die Zuständigkeit beigewohnt habe, daß er also im All- gemeinen befugt gewesen sei, Vollstreckungshandlungen der frag- lichen Art am betreffenden Orte vorzunehmen.“ Der Rechtssatz beruht darauf, daß der vorgesetzte Beamte nicht im Stande ist, die gesetzlich festgestellte Kompetenz der ihm untergebenen Beamten zu erweitern und deshalb demselben auch keine dienstlichen Befehle mit verbindlicher Kraft zu ertheilen ver- mag, welche außerhalb des Umfanges dieser gesetzlichen Zuständig- keit fallen Wenn durch Instruktionen oder andere dienstliche Anordnungen einer vorgesetzten Behörde der Geschäftskreis eines Beamten begränzt ist, so kann er durch Anordnungen der vorgesetzten Behörde, so weit deren Zuständigkeit reicht, erweitert oder verändert werden und soweit sind daher auch dienstliche Befehle verbindlich. . Die Pflicht zu prüfen, ob ein Beamter zur Vor- nahme solcher Handlungen, wie die ihm aufgetragene, im Allge- meinen befugt sei, muthet demselben auch keine Entscheidung zu, welche seine geistigen Kräfte übersteigt, da im Allgemeinen jeder Beamte seine formelle (abstracte) Zuständigkeit kennen muß. In allen Fällen aber, in denen eine Behörde gesetzlich berufen ist, über die Zuständigkeit einer Behörde oder eines Beamten eine Entscheidung zu fällen, namentlich also in denjenigen Fällen, in welchen ein Justiz-Gerichtshof oder ein Verwaltungsgericht über die hinsichtlich der Zuständigkeit bestehenden Rechtsvorschriften mit formeller Wirksamkeit zu urtheilen berufen ist, schafft ein ergan- genes Urtheil formelle Gewißheit und schließt für den beauftragten Beamten ebensowohl das Recht zu selbstständiger Prüfung als die Verantworlichkeit für die Vollziehung des ihm ertheilten Befehls aus Vgl. das Erk. des Preuß. Obertribunals vom 1. Juni 1872 bei Oppenhoff a. a. O. Note 16. Mit der Pflicht eines Beamten, Befehlen der vorgesetzten Behörde nachzukommen, hat die Pflicht einer Behörde, den Requisitionen anderer Behörden zu genügen, eine unverkennbare Analogie; zur Unterstützung der hier entwickelten Rechtssätze können daher die §§. 37 u. 38 des Ges. über Gewährung der Rechtshülfe (B.-G.-Bl. 1869 S. 313) in Bezug genommen werden, wonach das requirirte Gericht zu prüfen hat, ob es zur Vornahme der beantragten Handlung kompetent sei, und eine rechtliche Entscheidung dieser Frage von den Gerichten des Staates, welchem . Oppenhoff Strafgesetzb. §. 113 Note 12. §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. 3) Die selbstständige Prüfung des beauftragten Beamten er- streckt sich endlich darauf, ob die Stelle, welche ihm den Befehl ertheilt hat, dazu kompetent war. Dieser Rechtssatz beruht darauf, daß Behörden und Beamte durch ihre Verfügungen nicht im Stande sind, ihre eigene Kompetenz zn erweitern und daß deshalb Anord- nungen, welche außerhalb dieser Kompetenz liegen, rechtlich nicht als amtliche gelten können. Die Pflicht der Beamten, den Ver- fügungen der ihnen vorgesetzten Behörden Folge zu leisten, wird in vielen Gesetzen darauf beschränkt, daß die Behörde den Befehl innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit erlassen hat Vgl. die von Zachariä a. a. O. angegebenen Gesetze. , und auch in der Literatur wird diese Schranke öfters erwähnt. Soweit aber ein Beamter, einem Befehle nachzukommen, nicht verpflichtet ist, handelt er auf eigene Gefahr, wenn er ihm dennoch nachkömmt; man darf daher nicht blos negativ von einer Beschränkung der Gehorsamspflicht reden, sondern der Beamte trägt positiv die Ver- antwortlichkeit, daß der von ihm zur Ausführung gebrachte Befehl ihm von der zuständigen Behörde ertheilt worden ist. Auch hier handelt es sich aber nur um die Prüfung der for- mellen oder abstrakten Zuständigkeit. Ein Erk. des Preuß. Ober- Tribunals v. 19. Januar 1872 führt aus Vgl. Goltdammer ’s Archiv Bd. XX. S. 94. Kanngießer S. 48. : „In dem Merkmal der Rechtmäßigkeit ist das Postulat ent- halten, daß der Befehl um dessen Vollstreckung es sich handelt, an den untergeordneten Beamten von der örtlich und sachlich zu- ständigen Behörde erlassen, daß Behörde oder Beamter, von dem er ausgegangen, bei dessen Erlaß im Allgemeinen ( in abstracto ) innerhalb des Kreises ihrer Befugnisse sich gehalten. Ob dies der Fall sei, hat der untergebene Beamte zu prüfen; dagegen hat er nicht zu untersuchen, ob die vorgesetzte Behörde im einzelnen Fall von ihren Amtsbefugnissen einen angemessenen Gebrauch gemacht.“ Ebenso gilt hier das oben Bemerkte, wenn eine richterliche Instanz zur rechtlichen Entscheidung der Zuständigkeit vorhanden ist Uebereinstimmend hiermit verordnet das Rechtshülfe-Gesetz §. 1, . das ersuchte Gericht angehört, im geordneten Instanzenzuge herbeigeführt werden kann. §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. III. Die Pflicht eines achtungswürdigen Verhaltens . Das Dienstverhältniß, welches zwischen dem Staat und dem Beamten besteht, begründet für den Staat ein rechtliches Interesse, daß der Beamte auch abgesehen von seiner amtlichen Thätigkeit sich so beträgt, wie es Ehre und Sitte erfordern. Der Beamte, welcher Hoheitsrechte des Staates handhabt und mit einer Ver- tretungsbefugniß für den Staat ausgestattet ist, darf nicht einen Lebenswandel führen, der ihn um Ansehen und Achtung bringt. Denn das Volk kann die abstracte Unterscheidung zwischen dem Beamten als Vertreter des Staates und dem Beamten als Privat- person nicht festhalten; es erblickt in dem Beamten den einheit- lichen Menschen; es zollt ihm in seiner staatlichen Stellung keine Achtung, wenn er dieselbe in seinem Privatleben verloren hat, und es geht von der natürlichen Voraussetzung aus, daß der Be- amte für seine amtlichen Geschäfte keine größere sittliche Festigkeit, keinen höheren Grad von Ernst, Fleiß und Gewissenhaftigkeit auf- wendet, als er in seinem außeramtlichen Lebenswandel bethätigt. Deshalb leidet der Staat selbst darunter, wenn seine Beamten sich nicht achtungswürdig führen, abgesehen von der Gefahr, daß ein Beamter von unehrenhaftem oder unsittlichem Betragen auch vor Amtsvergehen weniger Scheu haben könnte. Der Staat verlangt daher von seinen Beamten mit Recht, daß sie nicht nur in ihrer amtlichen Thätigkeit sondern in ihrem gesammten Lebenswandel den Anforderungen der Ehre und Sitte genügen und der Beamte übernimmt durch den Eintritt in den Staatsdienst die Pflicht, diesem Verlangen zu entsprechen. Das Reichsbeamten-Gesetz §. 10 bestimmt demgemäß: „Jeder Reichsbeamte hat die Verpflichtung, . . . . durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, die sein Beruf erfordert, sich würdig zu zeigen.“ Es ergiebt sich hieraus, daß ein Beamter trotz tadelloser Erfüllung der amtlichen Obliegenheiten durch sein außeramtliches Verhalten seine Dienstpflicht verletzen kann In der staatsrechtlichen Literatur ist eine andere Begründung herkömm- . daß das ersuchte Gericht die Rechtshülfe selbst dann nicht verweigern darf, wenn es die Zuständigkeit des ersuchenden Gerichts nicht für begründet hält. Dagegen wird das ersuchte Gericht prüfen müssen, ob die requirirende Behörde überhaupt ein Gericht ist, ob die verlangte Handlung eine Prozeßhandlung ist u. s. w. §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. Auch hier ist aber festzuhalten, daß es sich nicht um die Nicht- erfüllung einer obligatorischen (contractlichen) Pflicht, sondern um die Verletzung eines Treu- und Gewaltsverhältnisses handelt. Der Staatsbeamte verletzt durch unehrenhaftes Betragen seine Dienstpflicht in ähnlicher Art wie ehemals der Vassall durch ehr- lose Verbrechen, die nicht gegen den Lehnsherrn gerichtet waren (Quasifelonie), seine Lehnstreue und seine Lehnspflicht verletzte. IV. Die Beschränkungen der Reichs-Beamten . Zu unterscheiden von den aus dem Anstellungs-Vertrage sich ergebenden Pflichten, deren Erfüllung dem Reichsbeamten ob- liegt, sind mit der Stellung eines Reichsbeamten einige Beschrän- kungen des letzteren verknüpft, welche zur Sicherung voller Pflicht- erfüllung oder zur Verhütung von Kollisionen zwischen verschiedenen Pflichten ihm auferlegt sind. Außer der bereits erwähnten Vor- schrift, daß ein Reichsbeamter, bevor er als Sachverständiger ein lich. Man geht davon aus, daß der Staatsdienst ein Lebensberuf ist, die Staatsbeamten zusammen einen „Ehrenstand“ bilden und daß deshalb jeder Beamte neben seiner Dienstpflicht noch eine „Standespflicht“ habe, welche er durch seinen außeramtlichen Wandel nicht verletzen dürfe. Vgl. Perthes S. 44 fg. L. Stein Verwaltungslehre I. 1 S. 235 fg. (2. Aufl.) Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 323. Kanngießer S. 49. Diese Auffassung ist nicht zutreffend. Aus ihr würde nicht ein Recht des Staates zum disciplinarischen Einschreiten gegen Beamte wegen ihres außer- amtlichen Verhaltens, sondern ein Recht der Berufsgenossen auf Bestra- fung oder Ausschließung von der Standesgemeinschaft folgen. Sodann aber ist die Annahme, daß der Beamtenstand ein besonderer Ehrenstand sei, nicht juristisch durchführbar, da alle anständigen Berufsarten rechtlich gleiche Ehre haben. Warum sollte der vom Staate angestellte Eisenbahn-Beamte oder Bankbuchhalter einen ehrenvolleren Stand haben als der von einer Privat-Ge- sellschaft angestellte Eisenbahn- oder Bankbeamte? Der Rechtssatz gilt aber auch gar nicht nur für Staatsbeamte; er gilt auch für Beamte der Privatge- sellschaften, die ebenfalls durch unsittlichen Lebenswandel ihre Dienstpflicht verletzen; ja jeder Handlungsgehülfe kann vom Prinzipal entlassen werden, wenn er sich einem unsittlichen Lebenswandel ergiebt (Handelsgesetzb. Art. 64 Nr. 6); das Gleiche gilt von gewerblichen Gesellen und Gehülfen, Lehrlingen und Fabrikarbeitern (Gewerbe-Ordn. §. 111. 120. 127), sowie von Dienstboten. Es handelt sich demnach nicht um einen besonderen Rechtssatz, der nur für den Stand der Staatsdiener gilt, sondern um die Anwendung eines allgemei- nen Rechtsprinzips , welches nur dadurch modifizirt wird, daß der Staat seinen Beamten nicht als gleichberechtigte Partei, sondern als Herr gegen- über steht. §. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten. außergerichtliches Gutachten abgiebt, dazu die Genehmigung seiner vorgesetzten Behörde einzuholen hat, sind folgende Bestimmungen hier zu erwähnen: 1) Jeder Reichsbeamte bedarf zur Annahme von Geschenken oder Belohnungen in Bezug auf sein Amt der Genehmigung der obersten Reichsbehörde. Ges. §. 15 Abs. 2. 2) Die vom Kaiser angestellten Beamten dürfen Titel, Ehrenzeichen, Geschenke, Gehalts-Bezüge oder Remunerationen von andern Regenten oder Regierungen nur mit Genehmigung des Kaisers annehmen. Ges. §. 15 Abs. 1. Unter dem vom Kaiser angestellten Beamten sind auch die in seinem Auftrage angestellten, also alle unmittelbaren Reichs- beamten zu verstehen, so daß die in Rede stehende Bestimmung einen rechtlichen Unterschied zwischen unmittelbaren und mittelbaren Reichsbeamten begründet. Die letzteren bedürfen zur Annahme von Titeln und Ehrenzeichen, sowie von Geschenken oder Remune- rationen, welche ihnen nicht mit Bezug auf ihr Amt gegeben wer- den, von anderen Regenten oder Regierungen der Genehmigung des Kaisers nicht; in wiefern sie die Erlaubniß ihres Landesherrn dazu bedürfen, bestimmt sich nach den darüber bestehenden landes- gesetzlichen Vorschriften, welche durch die Anordnung des §. 15 des Reichsgesetzes nicht berührt werden Vgl. die Motive zum Entwurf dieses Gesetzes S. 32. . Die unmittelbaren Reichsbeamten dürfen auch von ihrem eigenen Landesherrn Titel, Ehrenzeichen u. s. w. nur mit Genehmigung des Kaisers an- nehmen. 3) Mit Ausnahme der Wahl-Konsuln und der einstweilen in in den Ruhestand versetzten Beamten darf „kein Reichsbeamter ohne vorgängige Genehmigung der obersten Reichsbehörde ein Neben- amt oder eine mit fortlaufender Remuneration verbundene Neben- beschäftigung übernehmen oder ein Gewerbe betreiben Berufskonsuln dürfen keine kaufmännischen Geschäfte betreiben. Ges. vom 8. November 1867 §. 8 Abs. 5 (B.-G.-Bl. S. 139.) Dem Vor- sitzenden der Verwaltung des Invalidenfonds dürfen Neben- ämter oder mit Remunerationen verbundene Nebenbeschäftigungen weder über- tragen noch von ihm übernommen werden. Ges. vom 23. Mai 1873 §. 11 (R.-G.-Bl. S. 120) Das Gleiche gilt von dem Präsidenten und den Mitgliedern des Rechnungshofes. Preuß. Gesetz vom 27. März 1872 §. 4. Vgl. ferner . Dieselbe §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Genehmigung ist zu dem Eintritt eines Reichsbeamten in den Vorstand, Verwaltungs- oder Aufsichtsrath einer jeden auf Erwerb gerichteten Gesellschaft erforderlich Daß die Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften auch hierunter fallen, ist nicht zweifelhaft. Ein Antrag, sie auszunehmen, wurde vom Reichs- tage abgelehnt. (Stenogr. Berichte 1872 S. 904.) ; sie darf jedoch nicht er- theilt werden, sofern die Stelle mittelbar oder unmittelbar mit einer Remuneration verbunden ist. Die ertheilte Genehmigung ist jederzeit widerruflich.“ Ges. §. 16 Auszüge aus den Verhandlungen des Reichstages, welche dieser Fest- stellung des Paragraphen vorausgingen, giebt Kanngießer S. 73 ff. . 4) Für Militärbeamte finden überdies Anwendung die in §§. 40. 41. 43. 47. des Militärgesetzes v. 2. Mai 1874 getroffenen Be- stimmungen; für Reichsbankbeamte die Vorschrift im §. 28 des Ges. v. 14. März 1875, daß sie Antheilscheine der Reichsbank nicht besitzen dürfen. §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Die Verletzung der den Beamten obliegenden Pflichten kann Rechtsfolgen dreifacher Art herbeiführen, nämlich strafrechtliche, privatrechtliche und disciplinarische. Die letzteren sind die eigent- lich staatsrechtlichen Folgen der Pflichtverletzung; sie beruhen auf der staatlichen Natur des Beamten-Verhältnisses und haben keine anderweitigen Voraussetzungen, als die Verletzung der durch den Staatsdienst begründeten Pflichten. Dagegen treten die privatrechtlichen Folgen nur ein, wenn mit der Pflichtverletzung noch eine Vermögensbeschädigung verbunden ist und die strafrecht- lichen Folgen treten ebenfalls nicht wegen jeder Art von Pflicht- verletzung ein, sondern nur wegen solcher, welche zugleich den Thatbestand eines strafbaren Delictes bilden. Andererseits treten die disciplinarischen Folgen einer Pflichtverletzung nur bei eigent- lichen Beamten ein, während die strafrechtliche und privatrechtliche Verantwortlichkeit auch Platz greifen kann bei Verletzungen der Amtspflicht Seitens solcher Personen, die ein Amt haben ohne Staatsdiener (Beamte) zu sein. (Siehe oben S. 384). Die drei Arten Gesetz vom 27. Juni 1873 §. 2 Abs. 3, wonach Personen, welche bei der Ver- waltung einer Deutschen Eisenbahn betheiligt sind, keinerlei Thätigkeit bei dem Reichs-Eisenbahn-Amt oder als Reichs-Eisenbahn-Kommissare ausüben können. §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. von Rechtsfolgen schließen sich einander nicht gegenseitig aus, sie stehen nicht in alternativer Konkurrenz, sondern sie können gleichzeitig neben einander eintreten, wofern in dem pflichtwidrigen Verhalten des Beamten die Voraussetzungen für alle 3 Arten von Rechts- folgen enthalten sind. I. Die strafrechtlichen Folgen . Welche Pflichtverletzungen eines Beamten eine öffentliche Strafe nach sich ziehen, läßt sich nicht aus dem Begriff des Staats- amtes logisch herleiten oder a priori construiren Vgl. auch Schütze Lehrbuch des Deutschen Strafrechts S. 522 und derselbe in v. Holtzend. Rechtslexikon I. S. 62 (2. Aufl.) . Es ist dies vielmehr nur nach den positiven Bestimmungen des Strafgesetzes festzustellen und Gründe der Gesetzgebungspolitik allein entscheiden darüber, welche Handlungen oder Unterlassungen eines Beamten als so schwere Verletzungen der Rechtsordnung oder als so ge- fährliche Bedrohungen der öffentlichen Wohlfahrt erscheinen, daß der Staat mit den Mitteln des Strafrechtes sich gegen sie wen- den muß. Es versteht sich nach dem Grundsatz nulla poena sine lege von selbst, daß eine öffentliche Bestrafung eines Beamten nur dann eintreten kann, wenn seine Handlung den Voraussetzungen einer bestimmten Strafandrohung entspricht; daß dagegen die fri- volste Verletzung der Amtspflicht und das unwürdigste Verhalten eines Beamten keine strafrechtliche Ahndung finden kann, wenn der Thatbestand eines speziellen Delicts dadurch nicht gegeben ist. Dadurch unterscheidet sich in höchst charakteristischer Art die öffent- liche Bestrafung von der disciplinarischen. Es giebt kein (crimi- nelles) Verbrechen oder Vergehen der Amtspflicht-Verletzung; son- dern es giebt nur einzelne, bestimmt normirte Verletzungen der Amtspflicht, welche nicht blos das zwischen dem Staat und dem Beamten bestehende Dienstverhältniß, sondern die allgemeine staat- liche Ordnung, das gesellschaftliche Zusammenleben im Staate stören und deshalb mit öffentlicher Strafe bedroht sind. Im Ge- gensatz dazu giebt es kein System der Disciplinar-Vergehen, keine durch festbestimmte Thatbestände charakterisirte Arten von Discipli- nar-Vergehen, sondern nur ein einziges, generelles, nämlich die Verletzung der Amtspflicht, und nur graduell verschieden kann die Laband , Reichsstaatsrecht. I. 28 §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Schwere der Verletzung sein und dem entsprechend die Größe der Disciplinarstrafe abgestuft werden. Die criminell strafbaren Verletzungen der Amtspflicht zer- fallen aber wieder in zwei Klassen Vgl. Dollman im Bluntschli-Brater’schen Staatswörterb. I. S. 219. Ueber die systematische Stellung der Amtsvergehen ist zu vgl. Alois Zucker Skizze zu einer Monographie der Amtsverbrechen. Prag 1870. — Für die staatsrechtliche Seite dieser Lehre enthält die Schrift Nichts. . Sie können nämlich ent- weder bestehen in Handlungen, welche an sich und allgemein straf- bar sind, welche aber mit einer größeren Strafe bedroht sind, falls ein Beamter sie verübt, so daß der Umstand, daß ein Beamter der Thäter ist, einen Qualifikationsgrund, einen erschwerenden Umstand, bildet. Oder sie können in Handlungen bestehen, welche nur dann strafbar sind, wenn ein Beamter sie verübt, oder welche thatsächlich nur von Beamten verübt werden können, so daß es zum wesentlichen Thatbe- stand des Delicts gehört, daß ein Beamter Thäter ist. Die ersteren nennt man uneigentliche, die letzteren eigentliche Amtsdelicte Die Grenzlinie zwischen beiden ist aber eine schwankende und es hängt vielfach von subjectiven Auffassungen ab, ob ein Delict zu der einen oder an- deren Klasse gezählt wird, da man jede Qualification eines verbreche- rischen Thatbestandes auch als besondere Verbrechens- Art bezeichnen und be- handeln kann. Vgl. Rüdorff Kommentar zum St.-G.-B. S. 450. Meves in v. Holtzend. Handb. des Strafrechts III. S. 946. Ferner Schütze a. a. O. Berner Lehrbuch des Deutschen Strafrechts S. 548 ff. . 1. Die uneigentlichen Amtsdelicte . Die Unmöglichkeit, durch eine logische Begriffsbestimmung die Grenze der Amtsdelicte zu bestimmen, tritt bei den uneigentlichen Amtsdelicten am deutlichsten hervor; denn bei jeder strafbaren Handlung ohne Ausnahme kann der Umstand, daß ein Staatsbe- amter sie verübt hat, für den Richter ein Strafausmessungsmoment, und mithin auch ein Erschwerungsgrund sein. Der Gesetzgeber wird es daher bei vielen, ja bei den meisten Kategorien von straf- baren Handlungen dem Ermessen des Richters überlassen können, in wie weit dem Umstande, daß ein Staatsbeamter der Thäter ist, für die Würdigung der subjektiven Schuld Gewicht beizulegen sei. Nur wenn der Gesetzgeber für diesen Fall eine erheblich schwerere Strafe androhen will, als sie sonst auf die strafbare Handlung gesetzt ist, insbesondere die Nebenstrafe der Unfähigkeit zur Be- kleidung öffentlicher Aemter, oder wenn er auf den Richter einen §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Zwang ausüben will, die Beamtenqualität des Thäters unbedingt mit in Betracht zu ziehen, wird er neben die allgemeine Strafbestim- mung über eine gewisse Handlung noch eine spezielle Strafbestim- mung für den Fall setzen, daß ein Beamter sie verübt. Dadurch entsteht neben dem allgemeinen Delict ein Amtsdelict von iden- tischem oder ähnlichem Thatbestand aber mit höherer Strafdrohung. Es ergiebt sich hieraus, daß die uneigentlichen Amtsdelicte durch ihren objektiven Thatbestand keinerlei Beziehung zum Staats- recht haben; in dieser Hinsicht vielmehr die strafrechtlichen Gesichts- punkte ausschließlich und vollständig zur Anwendung gelangen. Nur der subjektive Thatbestand, die Thäterschaft eines Beamten, verleiht diesen Delikten eine staatsrechtliche Bedeutung. Die im Reichsstrafgesetzbuch formulirten uneigentlichen Amtsdelicte lassen sich nach folgenden Gesichtspunkten gruppiren: a ) Handlungen strafbarer Natur werden dadurch besonders qualifizirt und in höherem Grade strafbar, daß ein Beamter sie gegen Personen oder Sachen verübt, welche demselben in Folge seines Amtes zur Fürsorge oder Obhut anvertraut sind. Dies ist das übereinstimmende und charakteristische Merkmal des größten Theiles der uneigentlichen Amtsdelicte. Solche besondere, schwerere Strafdrohungen sind gerichtet: α) gegen einen Beamten, der mit Personen, gegen welche er eine Untersuchung zu führen hat oder welche seiner Obhut anvertraut sind, unzüchtige Handlungen vor- nimmt; sowie gegen einen Beamten, welcher in Gefängnissen oder öffentlichen … Anstalten beschäftigt oder angestellt ist, wenn er mit den in das Gefängniß oder in die Anstalt aufgenommenen Personen unzüchtige Handlungen vornimmt. §. 174 Z. 2. und 3 Vgl. auch §. 181 Abs. 2. ; β) gegen einen Beamten, welcher einen Gefangenen, dessen Beaufsichtigung, Begleitung oder Bewachung ihm anver- traut ist, schuldbarer Weise entweichen läßt oder dessen Befreiung bewirkt oder befördert. §. 347 verglichen mit §. 121. γ) gegen einen Beamten, welcher eine ihm amtlich anver- traute oder zugängliche Urkunde vorsätzlich vernichtet, bei 28* §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Seite schafft, beschädigt oder verfälscht. §. 348 Abs. 2. 349. vergl. mit §. 133. δ) gegen einen Beamten, welcher Gelder oder andere Sachen, die er in amtlicher Eigenschaft empfangen oder in Gewahrsam hat, unterschägt. §. 350 vrgl. mit §. 246. ε) gegen einen Postbeamten, welcher die der Post anver- trauten Briefe oder Packete in anderen, als den im Gesetze vorgesehenen Fällen eröffnet oder unterdrückt ꝛc. §. 354 vrgl. mit §. 299. ζ) gegen einen Telegraphenbeamten, welcher die einer Tele- graphen-Anstaltanvertrauten Depeschen verfälscht oder rechtswidrig eröffnet, unterdrückt, mittheilt ꝛc. §. 355. vrgl. mit §. 299. η) gegen einen Advokaten, welcher bei den ihm vermöge seiner amtlichen Eigenschaft anvertrauten An- gelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rath oder Beistand pflichtwidrig dient. §. 356. vrgl. mit §. 266. b ) Einige andere strafbare Handlungen, die auf Anwendung physischer Gewalt beruhen, werden deshalb an einem Beamten härter bestraft, als an anderen Personen, weil die ihm anver- traute Amtsgewalt ihm die Begehung der That erleichtert und weil die auf den Widerstand gegen Beamte, die sich in recht- mäßiger Ausübung ihres Amtes befinden, gesetzte Strafe den Widerstand gegen Mißbrauch der Amtsgewalt erschwert und gefährlich macht. Der hiedurch gegebene Anreiz zur Verübung der That soll durch die Verschärfung der Strafandrohung wieder ausgeglichen werden. Die hierher gehörenden Fälle sind Körper- verletzung, Freiheitsberaubung und Hausfriedensbruch. §. 340. 341. 342 verglichen mit §. 223 fg., §. 239 und §. 123. c ) Endlich wird für gewisse Handlungen, falls sie von Be- amten verübt werden, der Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter oder gewisser Aemter als Nebenstrafe angedroht, nämlich für die Theilnahme an verbotenen Verbindungen §. 128. Abs. 2. §. 129 Abs. 2., ferner gegen Eisenbahn- und Telegra- phen-Beamte, welche durch Vernachlässigung der ihnen obliegenden Pflichten den Transport auf einer Eisenbahn in Gefahr setzen oder die Benutzung der Telegraphen-Anstalt verhindern oder stören §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. §. 316 Abs. 2. §. 318 Abs. 2. §. 319., endlich in den im §. 358 auf- geführten Fällen, soweit dieselben zu den uneigentlichen Amsdelicten gehören. 2. Die eigentlichen Amtsdelicte . Die hierher gehörenden Verbrechen und Vergehen haben nicht nur durch ihren subjektiven, sondern auch durch ihren objektiven Thatbestand eine staatsrechtliche Bedeutung. Es sind Principien des Staatsrechts oder der Politik, welche in ihnen enthalten sind und welche eine rechtliche Anerkennung und rechtlichen Schutz da- durch eben empfangen, daß Handlungen, die mit ihnen im Wider- spruch stehen, mit Strafe bedroht sind. Man kann aus den ein- zelnen Vorschriften des Strafgesetzes durch Abstraction diese Grund- sätze gewinnen, welche logisch im Vergleich zu den strafrechtlichen Bestimmungen das prius sind, da die letzteren nur zu ihrem Schutze gegeben sind. Im Anschluß an die von Binding gewählte Aus- drucksweise kann man sagen, die Normen , welche den Strafbe- stimmungen über die eigentlichen Amtsdelicte zu Grunde liegen, sind staats rechtlichen Inhaltes. Eine Aufsuchung und Formuli- rung dieser Normen ist aber rechtlich nicht von erheblichem Werth. Denn solche Normen sind in ihrer Allgemeinheit keine Rechtssätze , weder staatsrechtliche noch strafrechtliche Insbesondere sind sie auch keine „Rechtssätze des ungesetzten Rechts“ oder „durch konkludente Handlungen erklärte Rechtssätze“ — wie Binding Die Normen I. S. 66 fg. annimmt. . Nur in soweit, als einzelne, bestimmte Arten ihrer Verletzung zum That- bestand eines Delictes erklärt worden sind, erlangen diese allge- meineren Principien rechtliche Bedeutung; der ganze übrige Inhalt hat nur den Charakter eines moralischen oder politischen Princips, eines Gesetzgebungs- Motives . Solche Principien, welche an sich nicht zu Rechtssätzen erklärt sind, aber speziellen Rechts- Vorschriften zur gemeinsamen Grundlage dienen, sind folgende: 1) Kein Beamter soll aus dem ihm anvertrauten Amt rechts- widrigen Gewinn ziehen. Darum ist mit Strafe bedroht die Annahme von Geschenken für amtliche Handlungen (§. 331), die Passiv-Bestechung (§. 332. 334), die Erhebung übermäßiger Gebühren oder Abgaben oder die Rückbehaltung ungerechtfertigter Abzüge (§. 352. 353). 2) Kein Beamter soll die ihm übertragene Amtsgewalt miß- §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. brauchen. Unter der Amtsgewalt ist hier aber nicht nur die Exe- kutivgewalt verstanden, sondern auch die amtliche Funktion der richterlichen Beamten, durch Urtheile formelles Recht zu schaffen, und die amtliche Funktion Beamter, durch Notariats-Akte, Rechts- verhältnisse zu begründen oder zu bekunden oder rechtlich erhebliche Thatsachen festzustellen. Darum ist mit Strafe bedroht die widerrechtliche Nöthigung Jemandes zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung durch Mißbrauch der Amtsgewalt oder durch Androhung eines bestimmten Mißbrauchs (§. 339); die Erpressung von Geständnißen in einer Untersuchung durch Anwendung von Zwangsmitteln (§. 343); die widerrechtliche Eröffnung einer Untersuchung (§. 344) oder die widerrechtliche Vollstreckung von Strafen, von denen der Beamte weiß, daß sie überhaupt nicht oder nicht der Art oder dem Maaße nach vollstreckt werden dürfen (§. 345); ebenso ein Beginnen, welches darauf abzielt, Jemanden rechtswidrig der gesetzlichen Strafe zu entziehen oder eine erkannte Strafe nicht dem Gesetz gemäß zum Vollzuge zu bringen (§. 346). Ferner aber die vorsätzliche Beugung des Rechts zu Gunsten oder zum Nachtheil einer Partei Seitens eines Beamten oder Schiedsrichters bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache (§. 336) und die vorsätzliche falsche Beurkundung einer rechtlich erheblichen Thatsache, wenn die Be- urkundung Seitens eines Beamten, welcher zur Aufnahme öffent- licher Urkunden befugt ist, innerhalb seiner Zuständigkeit erfolgt. §. 348. Hierher kann man auch die Fälle der §§. 337. 338. 351 stellen. 3) Kein Beamter soll die Gehorsamspflicht der ihm unterge- benen Beamten mißbrauchen. Deshalb ist mit Strafe bedroht ein Amtsvorgesetzter, welcher diesen Grundsatz positiv dadurch verletzt, daß er seine Untergebenen zu einer strafbaren Handlung im Amte vorsätzlich verleitet oder zu verleiten unternimmt; ebenso ein Beamter, der ihn negativ d. h. durch Unterlassungen verletzt, indem er eine solche strafbare Handlung seiner Untergebenen wissentlich geschehen läßt oder durch Nichtausübung der ihm übertragenen Aufsicht oder Kontrole ermög- licht. §. 357 Ueber das Verhältniß dieses Paragraphen zu §. 48 (Anstiftung) vgl. Meves a. a. O. S. 1012. . §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. II. Die privatrechtlichen Folgen . Ein Beamter kann durch Pflichtverletzungen eine Verbind- lichkeit zum Schadens-Ersatz auf sich laden; aber nicht jede Pflicht- verletzung hat diese Folge. Vor allem muß die Pflichtverletzung des Beamten eine Vermögens-Beschädigung eines Anderen herbei- geführt haben, weil es sonst an der wesentlichen Voraussetzung der Schadens-Ersatzpflicht mangelt Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausführungen III. S. 372. ; überdies aber begründet nicht jedes pflichtwidrige Verhalten eines Beamten, durch welches eine Vermögensbeschädigung entstanden ist, in allen Fällen eine Ersatz-Verbindlichkeit, sondern nur diejenigen welche den im Civil- recht aufgestellten Voraussetzungen der Schadens-Ersatzpflicht ent- spricht. Bei der rechtlichen Beurtheilung dieser Frage, sind nun zwei Fälle oder Rechtsbeziehungen zu unterscheiden; der Beamte kann durch sein Verschulden in Führung der amtlichen Geschäfte den Fiskus selbst beschädigen oder einen Dritten . Mit Dritten steht der Beamte als solcher in keinerlei Rechtsverhältniß; es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn er durch ein Ver- sehen einen Dritten beschädigt, nur die Grundsätze von der außer- kontractlichen Entschädigungspflicht zur Anwendung kommen können. Zu dem Staate, der ihn angestellt, steht der Beamte da- gegen in einem Dienstverhältniß; die sorgfältige Führung der Amtsgeschäfte gehört zu den, durch den Anstellungsvertrag über- nommenen Pflichten; ein Versehen in der Amtsführung könnte daher, soweit es die Vermögens-Verwaltung des Staates angeht, als contractliche culpa, nach Analogie der vom Mandat oder der Dienstmiethe geltenden Regeln aufgefaßt werden. Indeß hier zeigt sich die praktische Consequenz des oben näher ausgeführten Grundsatzes, daß die Anstellung eines Beamten kein privatrecht- licher Contract und das dadurch begründete Verhältniß kein obli- gatorisches ist. Auch darf man nicht zu der Hypothese seine Zu- flucht nehmen, daß neben der staatsrechtlichen Anstellung durch die Zuweisung eines mit Vermögensverwaltung verbundenen Amtes ein Mandat oder Quasi-Mandat ertheilt werde und daß demge- gemäß der Beamte theils in einem öffentlichrechtlichen theils in einem kontractlichen Verhältniß zum Staate stehe. Die Uebertra- §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. gung einer Vermögensverwaltung oder gewisser, auf das Staats- Vermögen Einfluß habender Geschäfte ist kein Nebenvertrag , sondern die unmittelbare Rechtsfolge der Anstellung behufs Ueber- nahme eines gewissen Amtes Der entgegengesetzten Ansicht würde derselbe Irrthum zu Grunde liegen, wie der älteren Theorie über die ehel. Gütergemeinschaft, welche neben der Eheschließung noch den Abschluß einer societas omnium bonorum unter den Ehegatten fingirte. . Nur ist allerdings zuzugeben, daß ein Mandatsverhältniß im einzelnen Falle durch besondere Willenserklärung zwischen dem Staat und einem Beamten begründet werden kann ; daß z. B. ein Beamter, der den Auftrag übernommen hat, für den Staat ein Grundstück oder ein Kriegsschiff oder Materialien anzuschaffen, oder den Bau von Gebäuden, Brücken, Wegen u. dgl. zu leiten, oder mit einer anderen Verwaltung eine Abrechnung vorzunehmen, unter Umständen zum Fiskus in dem Rechtsverhältniß eines Man- datars stehen kann. Daraus allein aber, daß zu einem amtlichen Geschäftskreise auch Geschäfte von vermögensrechtlicher Bedeutung gehören, ergiebt sich noch kein privatrechtliches Verhältniß zwischen dem Staat und dem Beamten. Hieraus folgt, daß auch dem Fiskus gegenüber die Pflicht des Beamten zum Schadensersatz für Versehen in der Amtsführung im privatrechtlichen Sinne eine außerkontractliche ist und mithin unter denselben Grundsätzen steht, wie die Schadens- ersatzpflicht gegen Dritte. Dies wird auch anerkannt im Preuß. Allg. Ldr. II. 10 §. 90, woselbst die Haftung des Beamten gegen den Staat und die Haftung desselben „gegen einzelne Privatper- sonen“ ganz gleichgestellt werden. Eine Ausnahme von den allgemeinen Regeln macht nur die Haf- tung der Beamten für sogenannte Defekte, für welche in dem Reichs- beamten-Gesetz Spezialbestimmungen erlassen sind. Es ist demnach zu unterscheiden zwischen der Schadensersatzpflicht für Verschuldung im Allgemeinen und der Haftung für Defecte insbesondere. 1. Schadensersatz-Pflicht der Beamten im All- gemeinen . Das Reichsbeamtengesetz hat darüber nur zwei Bestimmungen, nämlich im §. 13 den allgemeinen Grundsatz, daßjeder Beamte für die Gesetzmäßigkeit seiner amtlichen Handlun- §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. gen verantwortlich ist , und im §. 154 Vorschriften über die Zuständigkeit der Gerichte und über das Verfahren in Rechtsstrei- tigkeiten über Vermögensansprüche gegen Reichsbeamte. a ) Der im §. 13 ausgesprochene Satz schneidet dem Beamten bei Ansprüchen, welche gegen ihn wegen gesetzwidriger Hand- lungen und Unterlassungen erhoben werden, den Einwand ab, daß er die Handlung oder Unterlassung auf Befehl des dienstlichen Vorgesetzten begangen habe. Die Tragweite dieses Satzes ist bereits oben S. 424 fg. erörtert worden. So weit die Gehorsamspflicht des untergebenen Beamten reicht, ist er auch vor der civilrechtlichen Verantwortlicheit für die ihm befohlenen Handlungen gedeckt; so- weit er nicht zum Gehorsam verpflichtet ist, handelt er auf eigene Verantwortlichkeit. Der Reichs-Beamte, welcher auf Grund eines ihm ertheilten, dienstlichen Befehls eine amtliche Handlung vor- nimmt oder unterläßt, haftet demnach, wie oben ausgeführt wor- den ist, für die formelle Gesetzmäßigkeit seines Verhaltens. Der dienstliche Befehl befreit ihn von dieser Haftung nicht. Der §. 13 erkennt außerdem aber positiv an, ganz abgesehen davon, ob der Beamte auf Grund eines Befehls oder aus eigener Initiative gehandelt hat, daß eine Ungesetzmäßigkeit eines Beamten stets von ihm vertreten werden muß, gleichviel ob der Beamte mit dem Bewußtsein der Ungesetzmäßigkeit ( dolo ) gehan- delt hat oder sich darüber im Irrthum befand. Ein Irrthum über die Ungesetzmäßigkeit seines amtlichen Verhaltens ist stets ein unentschuldbarer und gilt als ein von ihm zu vertretendes Versehen. Dies findet seine volle Bestätigung durch die Fassung des §. 154, welcher die Erhebung von Vermögens-Ansprüchen gegen Reichsbeamte „wegen Ueberschreitung ihrer amtlichen Befugnisse oder pflichtwidriger Unterlassung von Amtshandlungen“ als zu- lässig voraussetzt. b ) Die Pflichtwidrigkeit des Beamten braucht aber nicht noth- wendig eine Gesetzwidrigkeit zu sein; sie kann auch in einer Ver- letzung der ihm obliegenden Sorgfalt bestehen, insbesondere in einem technischen Fehler z. B. Unachtsamkeit bei der Aufbewahrung von Urkunden oder Akten oder bei dem Verschluß der Amtslokale, technische Fehler bei Bauten, beim Betriebe der Eisenbahn, Post oder Telegraphie u. drgl. . In wie weit der Beamte für §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. solche Versehen haftet, hat das Reichsgesetz nicht bestimmt. Es entscheiden daher die Grundsätze der Partikularrechte, welche für die Beurtheilung der Schadensersatzpflicht zur Anwendung kom- men Dies sind die Gesetze des Ortes, an welchem die pflichtwidrige Hand- lung vorgenommen worden ist oder die pflichtwidrig unterlassene Handlung hätte vorgenommen werden müssen ( statuta loci delicti commissi ). . Ueberall haftet der Beamte für dolus und culpa lata; in wie weit er auch für mäßiges und geringes Versehen einsteht, ist in den einzelnen Partikularrechten sehr verschieden bestimmt Diese Frage kann als eine rein privatrechtliche hier unerörtert bleiben. Vgl. Preuß. Landr . II. 10 §. 88 ff. und dazu Förster Preuß. Privatr. II. §. 154 Sächs. Gesetzb . §. 1506. 1507 u. dazu Siebenhaar, Pösch- mann Comm. II. S. 385. Code civ. Art. 1382. 1383. Für das sogen. gemeine Recht Pfeiffer Prakt. Ausführungen Bd. II. S. 363 ff. Schlayer Zeitschr. für Civilrecht und Prozeß N.-F. Bd. 13 S. 120 ff. Buddeus in Weiske’s Rechtslex. I. S. 229 ff. und Windscheid Pandekten II. §. 470, woselbst weitere Literatur-Angaben. Ferner Zöpfl Staatsr. II. §. 519. . Hat der Beamte auf Befehl seines Vorgesetzten oder in genauer Befolgung der ihm ertheilten Instruktion gehandelt, so trifft die Verantwortlichkeit nicht ihn, sondern denjenigen Beamten, welcher den Befehl oder die Instruktion ertheilt hat; denn der Beamte muß diesem Befehle, wofern er kein gesetzwidriger ist, gehorchen; er ist daher in diesem Falle niemals in culpa . c ) Ebenso wenig hat das Reichsgesetz Bestimmungen darüber getroffen, ob der Beamte nur den positiven Schaden ( damnum emergens ) oder das volle Interesse zu ersetzen hat; ob er nur für die unmittelbaren oder auch für die mittelbaren Folgen seiner Handlung oder Unterlassung einstehen muß; ob und in wie weit er durch ein concurrirendes Versehen des Beschädigten befreit wird; wann die Klage auf Schadensersatz verjährt; ob der Beamte nur subsidiär oder direct haftet; ob Mitglieder collegialischer Be- hörden solidarisch oder pra rata haften u. s. w. In allen diesen Beziehungen kommen daher ebenfalls die Grundsätze des Civil- rechts zur Anwendung Dagegen sind unanwendbar die Vorschriften über Erhebung des Kom- petenzconflictes, also namentlich die Vorschriften des Preuß. Gesetzes vom 13. Februar 1854. ; so daß die Haftbarkeit der Reichsbeam- ten in den verschiedenen Rechtsgebieten sehr ungleich ist. d ) Das Reichsgesetz bestimmt im §. 154, daß bei vermögens- §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. rechtlichen Ansprüchen gegen Reichs-Beamte, sowohl dasjenige Ge- richt zuständig ist, in dessen Bezirk der Beamte zur Zeit der Ver- letzung seiner Amtspflicht seinen Wohnsitz hatte, als dasjenige, in dessen Bezirk derselbe zur Zeit der Erhebung der Klage seinen Wohnsitz hat. Es normirt ferner die Zulässigkeit der Rechtsmittel; eine Bestimmung, welche nur bis zur Einführung der Reichs-Civil- prozeß-Ordnung Bedeutung hat. Endlich erklärt es in letzter In- stanz das Reichs-Oberhandels-Gericht für zuständig. Alle diese Bestimmungen des §. 154 sind aber nur gegeben für Rechtsstreitigkeiten über Vermögens-Ansprüche gegen Reichs- beamte „wegen Ueberschreitung ihrer amtlichen Befugnisse oder pflichtwidriger Unterlassung von Amtshandlungen.“ Nach diesem Wortlaut treten demnach die Regeln des §. 154 und namentlich die Zuständigkeit des Oberhandelsgerichts nur ein, wenn die Klage gestützt ist entweder auf eine gesetzwidrige Handlung (Kompetenz-Ueberschreitung) oder auf eine pflicht- widrige Unterlassung ; dagegen wird der Fall nicht mit eingeschlossen, wenn der Beamte innerhalb seiner amtlichen Be- fugnisse, also ohne Verletzung des Gesetzes aber mit Verletzung der erforderlichen Sorgfalt gehandelt hat Wird z. B. gegen einen Reichseisenbahn-Beamten auf Schadensersatz geklagt, weil er ein vorgeschriebenes Signal überhaupt nicht gegeben hat, so ist der §. 154 anwendbar; wird aber die Klage darauf gegründet, daß er ein unrichtiges Signal gegeben hat, so ist der §. 154 nicht anwendbar, denn es liegt weder eine Ueberschreitung der amtlichen Befugnisse noch eine Unterlassung von Amtshandlungen vor. Im ersten Falle wäre demnach das R.-O.-H.-G. zuständig; im zweiten Falle nicht. Ob dies wirklich die Ab- sicht des Gesetzgebers gewesen ist, muß dahin gestellt bleiben. . 2. Ersatz-Pflicht für Defekte . Für diesen speziellen Theil der Lehre von der Ersatzpflicht ist durch die §§. 134 bis 148 des Reichsbeamten-Gesetzes, im engsten Anschluß an die Preuß. Verordnung vom 24. Januar 1844 (Ges.- Samml. S. 52), hinsichtlich der Reichsbeamten gemeines Recht ge- schaffen und insbesondere ein eigenthümliches Verfahren zur Fest- stellung und Beitreibung des Ersatzes für Defekte eingeführt worden. a ) Der Begriff der Defekte ist gesetzlich nicht definirt; aber in der Praxis des Verwaltungsrechts festgestellt. Man versteht §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. darunter den Fall, daß der thatsächliche Bestand einer Kasse oder eines Magazins geringer ist als der rechnungsmäßige Sollbestand. Der Begriff des Defektes ist daher weiter als der der Unterschla- gung; er umfaßt auch das Manco, welches durch Sorglosigkeit des Beamten, welchem die Obhut über die Kasse oder das Ma- gazin obliegt, entstanden ist. Andererseits fällt aber nicht darunter der Fall, wenn der Beamte aus der Kasse oder dem Magazin Ausgaben gemacht hat, welche nicht hätten gemacht werden sollen, oder wenn er sie an einen nicht gehörig legitimirten Empfänger gemacht hat u. dergl., wofern nur die Zahlung oder Verausga- bung rechnungsmäßig erfolgt und mit Belägen nachgewiesen ist Erk. des Preuß. Gerichtshofes zur Entscheid. der Kom- petenz-Konflikte v. 25. Oktober 1856 (Just.-Min.-Bl. S. 54). Kann- gießer S. 231. . Keinen Unterschied macht es, ob der Defekt Reichsvermögen be- trifft oder Privatvermögen, welches von einer Reichsbehörde ver- waltet wird Reichsbeamtenges. §. 134. , oder welches vermöge besonderer amtlicher Anord- nung in den Gewahrsam eines Reichsbeamten gekommen ist ebendas. §. 136. . b ) Die Feststellung der Defekte ist zunächst von derjenigen Behörde zu bewirken, zu deren Geschäftskreise die unmittelbare Aufsicht über die Kasse oder das Magazin gehört. Diese Fest- stellung erstreckt sich zugleich darauf, ob ein Reichsbeamter und event. welcher Beamte für den Defekt zu haften hat und wie hoch bei einem Defekt an Materialien die zu erstattende Summe in Gelde zu berechnen ist §. 134. 135 des Gesetzes. . Die Behörde hat einen motivirten Beschluß über den Betrag des Defektes, den zum Ersatz verpflichteten Beamten und den Grund seiner Verpflichtung abzufassen. Sind alle diese Punkte hinsichtlich eines Theiles des Defektes klar, während hinsichtlich eines anderen Theiles noch weitere Ermittelungen erforderlich sind, so kann der Beschluß zunächst über den Theil abgefaßt werden unter Vorbehalt weiterer Beschlüsse. Der Beschluß ist vollstreckbar, falls die Behörde die Eigenschaft einer höheren Reichsbehörde hat; in allen anderen Fällen bedarf der Beschluß der Prüfung und Genehmigung der vorgesetzten höheren Reichsbehörde. Von dem §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Beschlusse ist der obersten Reichsbehörde unverzüglich Kenntniß zu geben und es bleibt derselben in allen Fällen unbenommen, einzuschreiten und den Beschluß selbst abzufassen oder zu berich- tigen §. 137—139 a. a. O. . c ) Der Beschluß kann auf die unmittelbare Verpflichtung zum Ersatz des Defekts gerichtet werden gegen jeden Beamten, welcher der Unterschlagung als Thäter oder Theilnehmer nach der Ueberzeugung der Reichsbehörde überführt ist; ferner, sofern der Defekt nach der Ueberzeugung der Reichsbehörde durch grobes Versehen entstanden ist, gegen diejenigen Beamten, welchen die Kasse u. s. w. zur Verwaltung übergeben war, auf Höhe des ganzen Defektes, und gegen jeden anderen Beamten, der an der Einnahme oder Ausgabe, der Erhebung, der Abliefe- rung oder dem Transport von Kassengeldern oder anderen Gegen- ständen vermöge seiner dienstlichen Stellung theilzunehmen hatte, auf Höhe des in seinen Gewahrsam gekommenen Betrages §. 141 a. a. O. . Trifft aber den Beamten ein nur mäßiges oder geringes Versehen, so ist er zwar von der Pflicht zum Ersatz nicht frei, falls er nach den civilrechtlichen Bestimmungen dafür haftet; aber es muß der Weg des gewöhnlichen Prozesses beschritten werden. Ebenso ist das Defekten-Verfahren unzulässig gegen die Erben des Beamten oder gegen Dritte, welche in Folge des Defektes bereichert sind. Dagegen macht es keinen Unterschied, ob der Beamte noch im aktiven Dienste oder bereits pensionirt ist. d ) Der von der zuständigen Behörde abgefaßte Beschluß ist vollstreckbar . In dem Beschlusse ist zugleich zu bestimmen, welche Vollstreckungs- oder Sicherheitsmaaßregeln behufs des Er- satzes des Defekts zu ergreifen sind. Entscheidend dafür sind die Gesetze des Bundesstaates, in welchem diese Maaßregeln erfolgen §. 140 a. a. O. . Verbleibt der zum Ersatz verpflichtete Beamte in der Verwaltung des Amtes, so ist die Kaution desselben zunächst nicht in Angriff zu nehmen, sondern er hat anderweite Sicherheit zu leisten, wi- drigenfalls die Exekution in sein übriges Vermögen vollstreckt wird §. 142 a. a. O. . §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Die Verwaltungsbehörde ersucht die zuständigen Gerichte, Vollstreckungsbeamten oder Hypothekenbehörden um Vollstreckung. Dieselben haben der Requisition schleunig, ohne vorgängiges Zah- lungsmandat zu genügen, falls kein Anstand obwaltet; auf eine Beurtheilung der Rechtmäßigkeit des Beschlusses einzugehen, sind sie nicht befugt §. 143 a. a. O. . Ist der Reichsbeamte im Konkurse oder neh- men andere Gläubiger Vermögensobjekte desselben in Anspruch, aus denen das Reich Ersatz des Defektes zu erlangen sucht, so hat das Reich dasselbe Vorzugsrecht, welches nach dem an dem dienstlichen Wohnort des Beamten geltenden Rechte dem Staate am Vermögen der Staatsbeamten zusteht §. 20 Nr. 2 a. a. O. . e ) Dem Beamten, welcher durch Beschluß zur Erstattung des Defectes für verpflichtet erklärt wird, steht sowohl hinsichtlich des Betrages als hinsichtlich der Ersatzverbindlichkeit außer der Be- schwerde im Instanzenzug der Rechtsweg zu. Für die Anstellung der Klage besteht eine Präclusivfrist von einem Jahre, die mit dem Tage beginnt, an welchem der Beschluß dem Beamten bekannt gemacht ist, oder falls der Beamte an seinem Wohnorte nicht zu treffen ist, an welchem der Beschluß abgefaßt ist. Ueber die Wahrheit der thatsächlichen Behauptungen der Parteien hat das Gericht nach seiner freien aus dem Inbegriff der Verhandlungen und Beweise geschöpften Ueberzeugung zu ent- scheiden; jedoch bleiben die Vorschriften der Landesgesetze über den Beweis durch Eid, sowie über die Beweiskraft öffentlicher Urkunden unberührt §. 144 a. a. O. Ueber die Bertheilung der Beweislast entscheiden die allgemeinen Rechtsgrundsätze; daß der Beamte die Kläger-Rolle übernehmen muß, ändert in dieser Beziehung nichts. . Auf Antrag des Beamten hat das Ge- richt darüber Beschluß zu fassen, ob die Zwangsvollstreckung fort- zusetzen oder einstweilen einzustellen sei. Die Einstellung erfolgt, wenn die Fortsetzung der Zwangsvollstreckung für den Beamten einen schwer ersetzlichen Nachtheil zur Folge haben würde; jedoch sind in diesem Falle auf Antrag der Reichsbehörde vom Gericht die erforderlichen Sicherheitsmaaßregeln herbeizuführen §. 145 a. a. O. . Der Reichsfiskus wird in dem Rechtsstreit vertreten durch §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. die höhere Reichsbehörde, welche den Defektbeschluß abgefaßt oder für vollstreckbar erklärt hat; eventuell durch die oberste Reichsbe- hörde. Ohne Rücksicht auf die Beschwerdesumme kann der Rechts- streit bis in die dritte Instanz verfolgt werden; dieselbe wird vom Reichs-Oberhandelsgericht gebildet §. 152. 153 a. a. O. . f ) Wenn eine nahe und dringende Gefahr vorhanden ist, daß ein Beamter, gegen welchen die Zwangsvollstreckung zulässig ist, sich auf flüchtigen Fuß setzen oder sein Vermögen der Verwendung zum Ersatz des Defekts entziehen werde, so kann die unmittelbar vorgesetzte Behörde, auch wenn sie nicht die Eigenschaft einer hö- heren Reichsbehörde hat, oder der unmittelbar vorgesetzte Beamte das abzugsfähige Gehalt und nöthigenfalls das übrige bewegliche Vermögen des Beamten vorläufig in Beschlag nehmen. Der vor- gesetzten höheren Reichsbehörde ist ungesäumt Anzeige davon zu machen und deren Genehmigung einzuholen §. 146 a. a. O. . Auf Antrag des von der Beschlagnahme betroffenen Beamten hat das Gericht, in dessen Bezirk die Beschlagnahme stattgefunden hat, anzuordnen, daß binnen einer zu bestimmenden Frist der ordnungsmäßige Defekt-Beschluß beizubringen sei. Wird dieser Anordnung nicht Folge geleistet, so ist auf weiteren Antrag des Beamten die Beschlagnahme sofort aufzuheben. Erfolgt der De- fektbeschluß rechtzeitig, so kann das Gericht des Beschlagnahme- Ortes den Arrest nicht aufheben, sondern es bleibt alsdann dem Beamten überlassen, den Rechtsstreit nach Vorschrift des §. 144, also bei dem ordentlichen Richter des Reichsfiskus, zu erheben §. 147 a. a. O. . g ) Für das Defekten-Verfahren im Verwaltungswege werden Gebühren und Stempel nicht berechnet §. 148 a. a. O. . h ) Die Vorschriften des Reichs-Beamten-Gesetzes über das Defekten-Verfahren (§§. 134—148) finden auch auf Personen des Soldatenstandes Anwendung §. 157 a. a. O. . III. Die disciplinarischen Folgen . In der Disciplinar-Bestrafung der Beamten wegen Verletzung ihrer Dienstpflicht kömmt die juristische Natur des Beamten-Ver- §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. hältnisses am reinsten zum Ausdruck. Wenn man von der oben dargelegten Auffassung des Anstellungs-Vertrages ausgeht, so er- giebt sich von selbst der Rechtsgrund, der Inhalt und Umfang und der Zweck der Disciplinargewalt. In der staatsrechtlichen und strafrechtlichen Literatur und in zahlreichen von ihr beeinfluß- ten Gesetzen wird die Disciplinar-Bestrafung in Zusammenhang gebracht mit der öffentlichen Strafgewalt und es ergeben sich als- dann große Schwierigkeiten hinsichtlich der Bestimmung des gegen- seitigen Verhältnisses derselben. Das Disciplinarrecht erscheint nach der herrschenden Auffas- sung als ein Spezial -Strafrecht für Beamte; Disciplinar-Ver- gehen sind eine Klasse von Amts-Vergehen; Disciplinar-Strafen treten als Ergänzung zu dem System der öffentlichen Strafen hinzu; das Disciplinar-Verfahren erscheint als eine Abart des Straf-Prozesses Von Einfluß auf die Doctrin wurde insbesondere ein Aufsatz von Heffter im Neuen Arch. des Kriminalrechts Bd. 13 (1832) S. 48 ff., wo- selbst Disciplinarvergehen und Vergehen im Amt völlig vermengt sind. Ganz ähnlich Buddeus in Weiske’s Rechtslexikon I. S. 220 fg. Ferner Mitter- maier zu Feuerbach’s Lehrb. §. 477 Note I. u. IV. (14. Aufl. S. 749 ff.) Berner Lehrb. S. 548 behandelt die Disciplinarvergehen als leichtere, mit Kriminalstrafe verschonte Amtsvergehen. Schütze Lehrb. S. 522 u. in v. Holtzendorff’s Rechtslexikon I. S. 62 (2. Aufl.) erklärt ausdrücklich, daß sich Amtsdelicte und Disciplinarvergehen nicht begrifflich oder grundsätzlich unetrscheiden. Auf demselben Standpunkte steht auch Meves in v. Holtzend . Handb. des Strafrechts III. S. 939 fg. Vgl. ferner Bülau im Bluntschli- Brater’schen Staatslex. Bd. III. S. 140 und v. Pölz ebendas. Bd. IX. S. 696 ff., welche zwar die thatsächlichen Unterschiede zwischen Disciplinargewalt und Strafgewalt richtig charakterisiren, beide aber als im Wesentlichen gleich- artig ansehen. . Von diesem Gesichtspunkte aus macht die alte Regel ne bis in idem große Schwierigkeiten; denn man kann nur in der gezwungensten Weise es erklären, daß ein Beamter wegen derselben strafbaren Handlung sowohl kriminell als auch dis- ciplinarisch verfolgt und bestraft werden kann. Nicht minder schwie- rig ist es, sich mit der Lehre von der Strafverjährung abzufinden und die Thatsache zu erklären, daß die Verjährung der Strafverfol- gung nicht nothwendig die Disciplinar-Bestrafung ausschließt. Völlig unmöglich aber erscheint es, zwischen den kriminellen Amtsvergehen und den Disciplinar-Vergehen eine Gränzlinie aufzustellen; beide §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. können die öffentliche Ordnung verletzen, beide können gegen die Wohlfahrt und Sicherheit des Staates gerichtet sein, beide können mit Vorsatz oder aus Fahrlässigkeit begangen werden; die Schwere des Vergehens unterscheidet sie nicht, denn es giebt geringfügige Amtsvergehen, welche mit öffentlicher Strafe bedroht sind; für den Thatbestand der Amtsvergehen und für den Thatbestand der Dienst- vergehen giebt es keinen logischen Gegensatz, der beide Begriffe von einander zu scheiden vermag. Die Verfolgung der strafbaren Hand- lungen ist eine Pflicht des Staates, welcher sich die dazu bestellten Be- hörden nicht entziehen dürfen; die Handhabung der Disciplin ist in das Ermessen der Behörden gestellt; sie können Nachsicht üben und Pflichtverletzungen hingehen lassen; Disciplinarvergehen können demnach keine Unterart der Kriminalvergehen sein. Alle diese Schwierigkeiten sind die Folgen des falschen Aus- gangspunktes, den man wählt. Trotzdem zwischen dem Kriminal- recht und dem Disciplinarrecht äußerlich eine große Aehnlichkeit besteht, in dem beide durch das Mittel der Strafe verwirklicht werden, darf man den Begriff des Disciplinarrechts nicht im Ge- gensatz und in der Vergleichung zum Strafrecht, sondern zum Privatrecht suchen. Er fällt zusammen mit dem Gegensatz der obligatorischen Vertragsverhältnisse und der Gewaltsverhältnisse. In contractlichen Verhältnissen hat jeder Theil gegen den andern eine Klage auf Erfüllung oder auf Ersatz des Interesse wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung. Jedes dolose oder culpose Verhalten eines Kontrahenten, durch welches er die ordnungsmäßige oder vertragsmäßige Leistung vereitelt, begründet für den andern Kontrahenten eine Klage auf das Interesse. Bei den Dienstverhältnissen oder Gewaltverhältnissen dagegen tritt an die Stelle der Forderung der Befehl und an die Stelle der Klage der Zwang. Die Disciplinargewalt ist das Recht zur Ausübung dieses Zwanges. Es bestand im Mittelalter gegen Lehnsmannen und gegen Ministerialen; es bestand bis in die neuere Zeit gegen Leibeigene und gegen Dienstboten; es besteht noch jetzt in dem Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrherren, in dem Recht des Schiffsführers gegen die Mannschaft, im Heere und in der Marine. Hierin liegt auch das Wesen der Discipli- nargewalt des Staates gegen seine Beamte; es ist das Mittel, Laband , Reichsstaatsrecht. I. 29 §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. um die Erfüllung der Dienstpflicht zu erzwingen. Der Staat be- darf hierzu keiner Klage vor den Gerichten, denn er steht seinen Beamten nicht als gleichberechtigte Partei, sondern als Dienstherr gegenüber. Die privatrechtliche Klage würde ihm auch nichts nützen, denn der Schaden, der ihm durch Nichterfüllung oder nicht ordnungsmäßige Erfüllung erwächst, ist nur selten in Geld zu schätzen und durch Leistung des pekuniären Interesses auszugleichen. Andererseits ist der Staat auf seine Disciplinargewalt beschränkt; er hat keine privatrechtliche Klage gegen seine Beamten auf Erfül- lung der Dienstpflicht; es giebt keine Exekution, durch welche die- selben zur Leistung ihrer amtlichen Dienste angehalten werden können Von diesen Grundsätzen besteht in Deutschland lediglich in Mecklen- burg eine Ausnahme, welche durch die feudalen (patrimonialen) Elemente, die sich in der Verfassung dieses Staates erhalten haben, begründet ist. In zahl- reichen Fällen können nach Mecklenburgischem Recht die Obrigkeiten zur Er- füllung ihrer amtlichen Pflichten durch ein, in den Formen des Civilprozesses sich bewegendes gerichtliches Verfahren angehalten werden, welches auf Klage eines Fiskals eingeleitet wird. Das Gericht entscheidet wie unter gleichstehenden Parteien in contraktlichen Verhältnissen. So weit das fiskalische gerichtliche Prozeßverfahren stattfindet, ist aber das Disciplinarverfahren gegen die Beamten ausgeschlossen und es wird daher durch diese Ausnahme die juristische Natur des Disciplinarverfahrens und sein Verhältniß zum Klagerecht des Privatrechts recht deutlich bestätigt. Vgl. darüber Trotsche Mecklenb. Civilpr. Bd. II. S. 225 ff. (1868) und besonders die Motive zur Reichs-Civilprozeß-Ordn. von 1874 S. 487. In der Literatur findet sich ein Anklang an die richtige juristische Begriffsbestimmung der Disciplinargewalt bei Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 401 ff. . Also nicht statt der Ahndung von Verbrechen und Vergehen durch die Strafjustiz tritt die Disciplinarstrafe ein, sondern sie steht an Stelle der Kontraktsklage auf Leistung. Die Regel ne bis in idem wird nicht dadurch verletzt, daß die Disciplinargewalt neben der öffentlichen Bestrafung geltend gemacht wird, sondern sie würde dadurch verletzt werden, wenn der Staat neben der Handhabung des Disciplinarzwanges noch eine vermögensrechtliche Contractsklage auf Erfüllung der Amtspflichten hätte. Die Straf- mittel der Disciplin bewegen sich in dem Rahmen der durch das Dienstverhältniß begründeten Gewalt und haben nichts gemein mit dem System der öffentlichen Strafen; nur zufällig gehört die §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Geldstrafe beiden an. Die Verjährung der Strafverfolgung be- rührt sich nicht mit dem Disciplinarzwang zur Pflichterfüllung. Ferner ist der Thatbestand der sogenannten Disciplinarvergehen kein strafrechtlicher; es giebt kein erschöpfendes System und keine spezifisch verschiedenen Arten der Disciplinarvergehen; man kann keinen Katalog derselben aufstellen, wie ein Strafgesetzbuch die Verbrechen und Vergehen mit abschließender Vollständigkeit aufzu- zählen vermag, wenngleich man oft Versuche gemacht hat, derglei- chen aufzustellen, so wenig wie es ein System von privatrechtlichen Vertrags-Verletzungen und gesetzlich zu normirende Thatbestände der letzteren gibt. Jede schuldbare Nichterfüllung der Dienstpflicht ist ein Disciplinar-Vergehen, oder besser gesagt, ist geeignet, eine Reaktion des Dienstherrn vermittelst seiner Disciplinargewalt her- vorzurufen. Nur zufällig kann eine und dieselbe That gleichzeitig unter das Strafgesetz fallen und eine Verletzung der Dienstpflicht enthalten. Endlich ist die Ausübung des Disciplinarzwanges ein Recht, keine juristische Pflicht des Staates, wie die Geltendmachung einer Forderung ein Recht, aber keine Pflicht des Gläubigers ist Heffter a. a. O. S. 177 nennt die Disciplinargewalt „ein Privat- recht des Staates , dem sich der Diener bei Eingehung des Dienstverhält- nisses stillschweigend unterwirft, kein allgemeines Recht der ganzen Staatsge- meinde, wie das Strafrecht.“ . Von diesen Gesichtspunkten aus lassen sich die Vorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes über die Disciplinar-Vergehen in einen inneren wissenschaftlichen Zusammenhang bringen. 1) Der Begriff wird in §. 72 des Gesetzes dahin formu- lirt: „Ein Reichsbeamter, welcher die ihm obliegenden Pflichten (§. 10) verletzt, begeht ein Dienstvergehen und hat die Disciplinar- Bestrafung verwirkt.“ Diese Definition ist zwar nicht schön for- mulirt, aber richtig. Dienstvergehen ist Verletzung der Dienstpflicht. Aus dem Umfang der Dienstpflicht läßt sich daher entnehmen, welche Handlungen oder Unterlassungen den Thatbestand eines Dienstvergehens bilden können; entsprechend den 3 Pflichten, welche aus dem Anstellungsvertrage hervorgehen, kann man die Dienst- vergehen klassifiziren. a) Verletzungen der Pflicht zur Amtsführung . Hierhin gehört die schuldbare Weigerung, Geschäfte zu erledigen; 29* §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Unfleiß, Sorglosigkeit, Saumseligkeit u. dgl. in der Führung der Amtsgeschäfte; insbesondere Verlassen des Amtes ohne Urlaub oder Ueberschreiten des Urlaubs ohne entschuldigende Gründe. b) Verletzungen der Pflicht zur Treue und zum Gehorsam . Hierunter fallen Widerspänstigkeit und Ungehorsam gegen amtliche Befehle welche, innerhalb der Zuständigkeit der vorge- setzten Behörde ertheilt sind; Verletzung der Amtsverschwiegenheit; Veruntreuung von Geldern und Materialien. Ebenso kann hierher ein Verhalten des Beamten in seinem Amte fallen, welches darauf ab- zielt, den von der Reichsregierung angestellten Erfolg gewisser Maaß- regeln zu vereiteln und die Pläne und Absichten der Regierung durch bewußtes Entgegenwirken oder durch Lässigkeit in der Ausführung der Anordnungen zu durchkreuzen. Zweifellos kann aber die Ausübung des Wahlrechtes oder die Thätigkeit als Land- tags- oder Reichstags-Mitglied, bei welcher sich der Beamte aus- schließlich nach seiner subjektiven Ueberzeugung zu bestimmen hat, niemals als schuldbare Verletzung der Treue erachtet und discipli- narisch bestraft werden. c) Verletzungen der Pflicht eines achtungswürdi- gen Verhaltens . Hierhin gehört jedes Benehmen des Beam- ten, sowohl in seinem Amte als außerhalb desselben, welches der Sitte und Ehre widerspricht und geeignet ist, ihn in der allge- meinen Achtung herabzusetzen, gleichviel ob die Handlung zugleich unter die Strafgesetze fällt oder nicht. Es kann eine Handlung strafbar sein und dennoch kein Disciplinarvergehen, z. B. fahr- lässige Brandstiftung durch Wegwerfen eines Zündhölzchens, fahr- lässige Körperverletzung oder Tödtung bei einer Jagd u. dgl.; es kann andererseits eine Handlung oder Unterlassung ein schweres Dienstvergehen sein, ohne nach Strafrecht verfolgbar zu sein, z. B. Trunkenheit, leichtsinniges Schuldenmachen, Hazardspiel u. dgl., wenn dadurch öffentliches Aergerniß gegeben und das allgemeine Sittlichkeits-Gefühl verletzt wird. d) Hierzu kommen noch Verletzungen der den Beamten aufer- legten Beschränkungen durch unbefugte Annahme von Remu- nerationen, Orden, Nebenämtern, durch Betrieb eines Gewerbes u. dgl. 2) Die Disciplinarstrafen sind keine öffentlichen Strafen; sie bewegen sich in dem Rahmen des durch die Anstellung begrün- §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. deten Dienstverhältnisses. Sie bestehen entweder in Ordnungs- strafen oder in Entfernung aus dem Amte. (§. 73) Mit Rücksicht hierauf unterscheidet man gewöhnlich die niedere oder blos correktive und die höhere oder reinigende Disciplinargewalt. So Heffter a. a. O. S. 75. Buddeus Rechtslexikon I. S. 223, Schaper in von Holtzendorff’s Rechtslex. I. S. 389. Auch die Motive zu §. §. 72 bis 124 des R.Beamtengesetzes unterscheiden die „korrektive“ und die „epurirende„ Disciplin vermittelst Strafen, „die außerhalb des Gebietes der Kriminalität liegen“. . a) Die Ordnungsstrafen (§. 74) sind in aufsteigender Reihenfolge Warnung, Verweis und Geldstrafe. Warnung und Verweis sind zu unterscheiden von Ermahnungen, Zurechtweisungen oder Rügen, welche der Vorgesetzte gegen den untergebenen Be- amten kraft der ihm zustehenden Geschäftsleitung und Oberaufsicht ausspricht In der Literatur werden Ermahnungen und Verwarnungen öfters gar nicht unterschieden, z. B. Heffter a. a. O. S. 73. 79. Buddeus a. a. S. 224. Vgl. dagegen Kanngießer S. 157. . Warnung und Verweis unterscheiden sich hiervon dadurch, daß sie dem Unterbeamten gegenüber eine von ihm be- gangene Verletzung der Dienstpflicht constatiren und sich als Folge dieser Verletzung, als Reaktion dagegen, kundgeben; während bei der kraft der Oberaufsicht ertheilten Ermahnung oder Rüge grade die formelle Constatirung des Dienstvergehens dem Unterbeamten erlassen wird. Für Geldstrafen ist ein Maximum gesetzt, welches bei besolde- ten Beamten in dem Betrage des einmonatlichen Dienstein- kommens , bei unbesoldeten Beamten im Betrage von 30 Thlr. besteht Da der Regel nach die Reichsbeamten besoldet sind, so ist durch das Maximum auch die Geldstrafe in rechtliche Beziehung zu dem durch die An- stellung begründeten Rechtsverhälnisse gesetzt. . Geldstrafe kann mit Verweis verbunden werden. b) Die Entfernung aus dem Amte (§. 75) ist entweder Strafversetzung oder Dienstentlassung Eine scholastisch-canonistische Darstellung der Arten der Amtsentsetzung bei Heffter a. a. O. S. 53 ff. Buddeus S. 225. Vgl. ferner Bülau im Staatswörterb. III. S. 141. 142 und v. Pözl ebendas. IX. S. 713 ff. . Die Strafversetzung erfolgt durch Uebertragung eines anderen Amtes von gleichem §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Range Degradation ist demnach ausgeschlossen. Vgl. Motive S. 42. , aber mit Verminderung des Dienst-Einkommens um höchstens ein Fünftel. Indeß kann der Beamte in ein Amt von gleichem Diensteinkommen versetzt und ihm statt der Verminderung des Gehaltes eine Geldstrafe auferlegt werden, welche ein Drittel des Diensteinkommens eines Jahres nicht übersteigt. Die Bestim- mung des Amtes, in welches der Beamte versetzt werden soll, liegt nicht der entscheidenden Disciplinar-Behörde ob, sondern die oberste Reichsbehörde hat die Strafversetzung in Ausführung zu bringen. Die Dienstentlassung hat den Verlust des Titels und Pensions-Anspruchs zur Folge. Wenn das Amtsverhältniß vor Beendigung des Disciplinar-Verfahrens bereits aufgehört hat, so wird statt auf Dienstentlassung auf Verlust von Titel und Pen- sions-Anspruch erkannt, falls nicht der Beamte freiwillig darauf verzichtet. Wenn besondere Umstände eine mildere Beurtheilung zulassen, so kann die Disciplinar-Behörde in ihrer Entscheidung festsetzen, daß dem Angeschuldigten ein Theil des gesetzlichen Pen- sions-Betrages auf Lebenszeit oder auf gewisse Jahre zu belassen sei. Diese Grundsätze können auch den einstweilig in den Ruhe- stand versetzten Beamten gegenüber zur Anwendung kommen. (§. 119.) 3) Aus der juristischen Natur der Disciplinar-Gewalt als Folge des Dienstverhältnisses ergiebt sich ferner, daß dieselbe mit der Lösung des Dienstverhältnisses ihr Ende findet und kein weitergehendes Strafübel als die völlige Aufhebung des Dienstver- hältnisses dem Beamten zugefügt werden kann. Demnach muß die Einstellung des Disciplinar-Verfahrens erfolgen, sobald der Ange- schuldigte seine Entlassung aus dem Reichsdienste mit Verzicht auf Titel, Gehalt und Pensionsanspruch nachsucht, vorausgesetzt, daß er seine amtlichen Geschäfte bereits erledigt und über eine ihm etwa anvertraute Verwaltung von Reichsvermögen vollständige Rechnung gelegt hat. Die Verhängung einer Ordnungsstrafe ist in diesem Falle ebensowenig zulässig, wie die Entlassung aus dem Dienste durch Erkenntniß. Die Kosten des eingestellten Verfahrens fallen dem Angeschuldigten zur Last. (§. 75 und §. 100.) 4) Auch in Betreff der Strafausmessung kömmt in §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Betracht, daß die Disciplinarstrafe nicht die öffentliche Strafe er- gänzen oder vertreten, sondern die Erfüllung der Dienstpflicht sichern und deren Verletzung ahnden soll. Deshalb ist die Strafe mit besonderer Rücksicht auf die gesammte Führung des An- geschuldigten zu ermessen. (§. 76.) Denn sowie sich die Erfüllung der Dienstpflicht nicht aus einer Anzahl einzelner Handlungen zusammensetzt, sondern das gesammte Leben des Beamten umschließt, so ist auch die Handlung, durch welche die Dienstpflicht verletzt wird, nicht als vereinzelte That, sondern im Zusammenhang mit dem allgemeinen dienstlichen Verhalten zu beurtheilen. 5) Ueber das Verhältniß des Disciplinar-Ver- fahrens zu dem öffentlichen Strafverfahren gelten folgende Regeln. Begrifflich besteht zwischen ihnen gar kein innerer Zusammenhang; beide sind in ihren Voraussetzungen, Zwecken und Wirkungen von einander ganz unabhängig und es ist daher ebensowohl möglich, daß das eine Verfahren eintritt ohne das andere nach sich zu ziehen, als daß beide mit einander cumulirt werden Beachtenswerthe, wenngleich das wahre Verhältniß nicht völlig treffende Bemerkungen darüber finden sich in den Vorarbeiten zum Preuß. Strafgesetzb.; nämlich in dem Promemoria v. 13. Oktob. 1847 v. Madihn, v. Ammon und Grimm . Auszüge daraus bei Beseler Kommentar zum Preuß. St.-G.-B. S. 547. Vgl. ferner Goltdammer Materialien I. S. 137 ff. II. S. 667. Auch Binding in seiner Besprechung des Oesterr. Entwurfes eines Strafgesetzes von 1874 (in Grünhut’s Zeitschrift für. d. Privat- und öffentl. R. der Gegenw. Bd. II. S. 684) erklärt den Grundsatz für richtig, daß eine Disciplinarstrafe nicht eine Strafe im Rechtssinne sei. . Aus Zweckmäßigkeits-Rücksichten ist es aber ausge- schlossen, daß beide Verfahren gleichzeitig neben einander statt- finden. Es liegt sowohl in dem Interesse des Beamten als in dem der Strafjustiz, daß nicht dieselbe Handlung zum Gegenstand einer doppelten Untersuchung gemacht wird; abgesehen davon, daß die strafrichterliche Entscheidung jedes Disciplinar-Verfahren über- flüssig machen kann. Es ist demnach im §. 77 des R.-G. ange- ordnet worden, daß im Laufe einer gerichtlichen Untersuchung ge- gen den Angeschuldigten ein Disciplinarverfahren wegen der nämlichen Thatsachen nicht eingeleitet werden darf, und daß das Disciplinarverfahren, wenn im Laufe desselben wegen der nämlichen Thatsachen eine gerichtliche Untersuchung gegen den Angeschuldigten §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. eröffnet wird, bis zur Beendigung des gerichtlichen Verfahrens ausgesetzt werden muß Vgl. Motive S. 43. . Führt das Strafverfahren zu einer Verurtheilung des Ange- schuldigten, so bleibt in denjenigen Fällen für ein nachfolgendes Disciplinar-Verfahren kein Raum, in welchen die Verurtheilung den Verlust des Amtes nach sich zieht (Strafgesetzb. §. 33. 35.) oder direkt den Verlust des Amtes ausspricht. Hat die Verur- theilung dagegen den Verlust des Amtes nicht zur Folge gehabt, so bleibt es dem freien Ermessen der zuständigen Behörde über- lassen, ob außerdem noch das Disciplinarverfahren einzuleiten oder fortzusetzen sei (§. 78 Abs. 2). Es besteht durchaus kein Hinder- niß, daß der Beamte nicht neben der kriminellen Bestrafung noch disciplinarisch wegen derselben Handlung oder Unterlassung be- straft wird. Führt das Strafverfahren zu einer Freisprechung, so besteht ebenfalls kein Hinderniß, ein Disciplinarverfahren einzuleiten. Nur würde es dem oben angeführten Wesen desselben völlig wider- sprechen, wenn es dazu verwendet werden sollte, um eine kriminelle Strafe nachzuholen oder zu ersetzen, welche der Strafrichter zu ver- hängen abgelehnt hat. Niemals kann daher das Disciplinarver- fahren eine nochmalige Feststellung und Prüfung der Frage be- zwecken, ob die Handlung des Beamten dem gesetzlichen Thatbe- stande eines Verbrechens oder Vergehens entspricht und deshalb strafbar sei. Das Disciplinar-Verfahren kann vielmehr nur da- rauf gerichtet sein, ob die Handlungsweise des Beamten — gleich- viel, wie sie dem Strafrecht gegenüber zu beurtheilen ist — eine Verletzung seiner Dienstpflicht sei (§. 78 Abs. 1). Trotz Frei- sprechung vor dem Strafrichter kann der Beamte wegen derselben Handlung mit der schwersten Disciplinar-Strafe, der Dienstent- lassung, belegt werden Wenn z. B. ein Beamter im Amtslokale oder auf öffentlicher Straße in vollständiger Trunkenheit ein Vergehen verübt, aber wegen mangelnder Zu- rechnungsfähigkeit freigesprochen worden ist. . 6) Das Verhältniß der Disciplinar-Bestrafung zu der privatrechtlichen Ersatzpflicht ergiebt sich aus den oben entwickelten Grundsätzen. Die Disciplinargewalt schließt jede §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. Klage des Staates gegen den Beamten auf Leistung der Dienst- pflichten oder auf Leistung des Interesse wegen Nichterfüllung oder nicht ordentlicher Erfüllung der Dienstpflichten aus. Dagegen bleibt von ihr unberührt die Pflicht des Beamten zum Schadens- ersatz wegen pflichtwidriger Handlungen oder Unterlassungen. Diese Schadens-Ersatzpflicht ist, wie oben S. 439 fg. dargethan, auch dem Fiskus gegenüber eine außerkontraktliche und hat Nichts zu thun mit den aus dem Anstellungs-Vertrage hervorgehenden Pflich- ten. Durch das Disciplinar-Verfahren wird daher weder die Klage auf Schadens-Ersatz vor den Civilgerichten noch das Defektenver- fahren berührt; die Ersatzpflicht wird durch die Disciplinarstrafe nicht ausgeschlossen, sie kann aber auch nicht von der Disciplinar- behörde rechtskräftig festgestellt werden. (RG. §. 79.) 7) Die Kompetenz zur Verhängung von Disciplinar- strafen ist nach der Größe der Strafe verschieden bestimmt. a) Warnungen und Verweise kann jeder Dienst- vorgesetzte den ihm untergeordneten Reichsbeamten ertheilen (§. 80). b) Geldstrafen können verhängt werden von der ober- sten Reichsbehörde gegen alle Reichsbeamten bis zum höchsten zu- lässigen Betrage; von den derselben unmittelbar untergeordneten Behörden und Vorstehern von Behörden bis zum Betrage von 10 Thlr.; von den den letzteren untergeordneten Behörden und Vorstehern von Behörden bis zum Betrage von 3 Thlr. (§. 81.) c) Entfernung aus dem Amte kann nur durch ein Erkenntniß der entscheidenden Disciplinarbehörden, Disciplinar- kammern und Disciplinarhof, ausgesprochen werden. (§. 84.) 8) Das Verfahren Ueber die früher in dieser Beziehung herrschenden Rechts-Ansichten vgl. Heffter a. a. O. S. 181 fg. ist ebenfalls verschieden, je nach- dem nur eine Ordnungsstrafe verhängt oder die Entfernung aus dem Amte betrieben wird. a) Für Ordnungsstrafen gelten die Formen der Verwaltungsgeschäfte , d. h. sie werden durch Ver- fügung verhängt. Die Verfügung ist mit Gründen versehen entweder schriftlich auszufertigen, oder zu Protokoll zu erklären. Vor der Verhängung einer Ordnungsstrafe ist dem Beamten Ge- legenheit zu geben, sich über die ihm zur Last gelegte Verletzung §. 41. Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzung. seiner amtlichen Pflichten zu verantworten „Ist eine Geldstrafe für den Fall der Nichterledigung einer spe- ciellen dienstlichen Verfügung binnen einer bestimmten Frist angedroht, so kann nach Ablauf der Frist die Geldstrafe ohne Weiteres festgestellt werden“. (§. 82 Abs. 3.) . Gegen die Ver- hangung von Ordnungsstrafen findet nur Beschwerde im Instanzen- zuge statt. (§. 82. 83.) b) Die Entfernung aus dem Amte setzt ein contra- diktorisches, nach den Formen des accusatorischen Strafprozesses normirtes Verfahren voraus, welches aus einer schriftlichen Vor- untersuchung und einer mündlichen Verhandlung besteht. Die oberste Reichsbehörde verfügt die Einleitung, ernennt den unter- suchungsführenden Beamten und diejenigen Beamten, welche die Verrichtungen der Staatsanwaltschaft wahrzunehmen haben. (§. 84. 85) Da das Disciplinarverfahren zwar dem Strafverfahren nachgebildet , aber keine Abart desselben ist und niemals zu einer öffentlichen Strafe führen kann, so ist die Verhaftung, vorläufige Festnahme oder Vorführung des An- geschuldigten unzulässig. (§. 94 Abs. 2.) . Nach Beendigung der Voruntersuchung werden die Akten an die oberste Reichsbehörde eingesandt, nachdem dem Angeschul- digten der Inhalt der erhobenen Beweismittel mitgetheilt worden ist. Die oberste Reichsbehörde kann mit Rücksicht auf den Aus- fall der Voruntersuchung das Verfahren einstellen und geeigneten Falles eine Ordnungsstrafe verhängen oder die Verweisung der Sache vor die Disciplinarkammer beschließen. Im letzteren Falle ist von dem Beamten der Staats-Anwaltschaft eine Anschuldigungs- schrift anzufertigen, welche dem Angeschuldigten abschriftlich mit- zutheilen ist. Der Angeschuldigte kann sich des Beistandes eines Advokaten oder Rechtsanwalts bedienen. Ueber die mündliche Ver- handlung gelten die gewöhnlichen Vorschriften des Strafprozesses. Sie ist öffentlich ; aus besondern Gründen kann durch Be- schluß der Disciplinarkammer die Oeffentlichkeit ausgeschlossen oder auf bestimmte Personen beschränkt werden. Sowohl der Staats- anwaltschaft als dem Angeschuldigten steht gegen das Erkenntniß der Disciplinarkammer die Berufung an den Disciplinarhof offen, welche binnen einer vierwöchentlichen Frist anzumelden ist. (§. §. 94 bis 117.) 9) Der Kaiser hat das Recht, die von den Disciplinarbe- §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. hörden verhängten Strafen zu erlassen oder zu mildern. (§. 118.) Durch diesen Satz wird das Begnadigungsrecht des Kaisers nicht nur auch in Beziehung auf die mittelbaren Reichsbeamten aner- kannt, sondern zugleich das Begnadigungsrecht der betreffenden Landesherren, welche die mittelbaren Reichsbeamten angestellt haben, ausgeschlossen Ob für die Württembergischen Militärbeamten durch Art. 5 der Militair-Convention v. 21/25. Nov. 1870 eine Ausnahme begründet ist, oder ob das daselbst erwähnte Begnadigungsrecht des Königs sich hinsichtlich der Militairbeamten auf strafrechtliche Erkenntnisse beschränkt, ist zweifelhaft. . 10) Für das Disciplinar-Verfahren werden weder Gebühren noch Stempel, sondern nur baare Auslagen in Ansatz gebracht. Die durch das förmliche Disciplinar-Verfahren entstehenden baaren Auslagen Die Tagegelder und Reisekosten der zu Sitzungen der entscheidenden Disciplinarbehörde reisenden Mitglieder sind nicht hierzu zu rechnen. Kann- gießer S. 219. (Zeugengebühren u. dgl.) hat der Angeschuldigte, wenn er verurtheilt wird, ganz oder theilweise zu erstatten. Ueber die Erstattungspflicht entscheidet das Disciplinar-Erkenntniß (§. 124). Zur Dekung der Kosten kann derjenige Theil des Gehalts oder Wartegeldes verwendet werden, welcher nach Vorschrift der §.§. 128. 132 innebehalten wird. 11) Ueber die Specialvorschriften, welche hinsichtlich der Marine- und Militärbeamten erlassen sind, vgl. oben S. 372 ff. 12) Auf die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bundesamts für das Heimathswesen, des Rechnungshofes des deutschen Reiches und auf richterliche Militär-Justizbeamte finden die Vorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes über Disciplinarbe- strafung keine Anwendung. R.-G. §. 158 Abs. 1. §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. Aus dem Anstellungs-Vertrage erlangt der Beamte das Recht auf Schutz in Ausübung seiner dienstlichen Thätigkeit, ferner auf Ersatz der von ihm gemachten Auslagen und Verwendungen bei Besorgung der Amtsgeschäfte, endlich der Regel nach (aber nicht nothwendig) auf Gewährung des Lebens-Unterhaltes durch den Staat. Auch die Befugniß, die dem Amte entsprechenden Titel zu führen, kann allenfalls hieher gezählt werden. §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. In allen diesen Beziehungen erweist sich das Staatsdienst- Verhältniß vollkommen gleichartig mit anderen Gewalt- und Dienst- Verhältnissen und namentlich liegt die Analogie mit der Vassalität in ihrer ursprünglichen Form vor Augen, welche ebenfalls wesent- lich die Verpflichtung des Herrn zum Schutz und regelmäßig , aber nicht nothwendig, zur Gewährung des Unterhaltes (in der Form des Beneficium) begründete. Dagegen ist die weitverbreitete Lehre Vgl. u. A. Seuffert Verhältn. des Staates §. 64. S. 115. Gönner S. 219 ff. Leist Staatsr. §. 101. S. 314. Perthes S. 110 ff. Pözl im Staatswörterb. IX. S. 701. Zachariä II. §. 139 S. 51. Grotefend §. 690. (S. 713.) Bluntschli Allg. Staatsr. (4. Aufl.) II. S. 132. 133. Auch Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 334. (woselbst die Amtsbefugnisse den „eigenen“ Rechten der Beamten zwar gegenüber gestellt, aber doch als Rechte der Beamten behandelt werden.) , daß der Beamte ein Recht auf das Amt oder auf die mit dem Amt verbundene Gewalt und auf die Ausübung obrigkeitlicher Befugnisse habe, völlig un- richtig. Die obrigkeitlichen Rechte, welche der Beamte handhabt, sind nicht seine Rechte, sondern Rechte des Staates ; mit ihrer Handhabung bethätigt er nicht ein ihm zustehendes Recht, sondern er erfüllt eine ihm obliegende Pflicht; er ist nicht das Subjekt dieser Rechte, sondern das Instrument, vermittelst dessen der Staat dieselben ausübt Vgl. oben S. 293 ff. . I. Das Recht auf Schutz . Da der heutige Staat seiner wesentlichen Aufgabe gemäß alle seine Angehörigen vor rechtswidrigen Angriffen schützt, so bedarf es keines hierauf gerichteten speciellen Rechtes der Beamten. So weit aber der Staat von seinen Beamten staatliche Dienste erfor- dert, ist er verbunden, sie in Ausübung dieser Dienste zu schützen. Hieraus ergiebt sich ein besonderer Schutz, der mit der dienstlichen Stellung des Beamten im engsten Zusammenhange steht und sich von dem allgemeinen Schutz aller Staatsangehörigen (siehe oben S. 150 fg.) unterscheidet. Es ist zwar nicht zu verkennen, daß der Staat durch Gewährung dieses Schutzes nicht blos den Beamten, sondern zugleich sich selbst schützt und daß man deßhalb wohl berechtigt ist, alle Angriffe gegen die Beamten in Beziehung §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. auf die Ausübung ihres Amtes als Angriffe gegen die Staats- gewalt selbst aufzufassen. Allein nicht blos der Staat, sondern auch der Beamte für seine Person , der amtliche Hand- lungen vorzunehmen verpflichtet ist, wird das Objekt des Angriffes und folgeweise das Objekt des Schutzes. Der Staat befriedigt diesen Anspruch des Beamten, in Aus- übung seines Amtes geschützt zu werden, vermittelst der Strafge- walt, indem er Verletzungen des Beamten in Beziehung auf sein Amt unter Strafdrohungen stellt. Hieher gehören folgende Be- stimmungen: Mit Strafe ist bedroht im §. 113 des R.-St.-G.-B’s., wer einen Beamten, welcher zur Vollstreckung von Gesetzen, von Befehlen und Anordnungen der Verwaltungsbehörden oder von Urtheilen und Verfügungen der Gerichte berufen ist, in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt Widerstand leistet Vgl. John in v. Holtzendorff’s Handb. des Strafrechts Bd. III. S. 115 ff. Hiller Die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung. Würzb. 1873. . Vgl. Zollgesetz v. 1. Juli 1869 §. 161. (BG. Bl. S. 363). 2) „Wer es unternimmt, durch Gewalt oder Drohung eine Behörde oder einen Beamten zur Vornahme oder Unterlassung einer Amtshandlung zu nöthigen, wird mit Gefängniß bestraft.“ R.-St.-G.-B. §. 114 Vgl. Heinze in Goldtammer’s Archiv Bd. XVII. S. 738 ff. John a. a. O. S. 125 ff. . 3) Die Beleidigung eines Beamten in Beziehung auf seinen Beruf ist zwar im Reichsgesetzb. nicht mehr wie im Preuß. St.- G.-B. §. 102 zu einem besonderen Delict gemacht und mit einer höheren Strafe bedroht wie die Beleidigung überhaupt. Wohl aber kann der Umstand, daß ein Beamter in Beziehung auf sein Amt beleidigt worden ist, als Strafzumessungsgrund in Betracht kommen Oppenhoff Kommentar Note 1 zu §. 196. . Außerdem hat aber das R.-St.-G.-B. §. 196 bestimmt, daß, wenn die Beleidigung gegen eine Behörde oder einen Beamten, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder in Beziehung auf ihren Beruf, begangen ist, außer den unmittel- bar Betheiligten auch deren amtliche Vorgesetzte das Recht haben, den Strafantrag zu stellen. §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. II. Der Anspruch auf Ersatz der Auslagen und Verwendungen . Nach den Grundsätzen der modernen staatlichen Finanzwirth- schaft kömmt der Beamte der Regel nach nicht in die Lage, aus eigenen Mitteln Auslagen für den Staat zu machen; vielmehr sind für die finanziellen Bedürfnisse der einzelnen Verwaltungs- stellen durch den Etat Fonds ausgeworfen, welche von den dafür eingerichteten Klassen verwaltet werden und auf welche alle, zur Bestreitung von Amtsbedürfnissen erforderlichen Zahlungen anzu- weisen sind. Trotzdem giebt es gewisse Bezüge der Beamten, welche rechtlich durchaus verschieden sind von dem Gehalte, indem sie nicht eine Rente für den Lebens-Unterhalt des Beamten, sondern ein Aequivalent für Auslagen und Verwendungen desselben in Ausübung seines Amtes sind. Sie kommen daher weder bei der Versetzung in ein anderes Amt, noch bei der einstweiligen Ver- setzung in den Ruhestand, noch bei der Pensionirung in Anrech- nung Vgl. auch Pfeiffer Prakt. Ausführ. Bd. V. S. 263 fg. . Thatsächlich können die Beträge, welche dem Beamten ersetzt werden, zwar die von ihm wirklich gemachten baaren Aus- lagen überschreiten und deshalb können derartige Bezüge einen Theil des Diensteinkommens bilden, der thatsächlich eine Gehalts- Erhöhung darstellt: im Rechtssinne aber sind sie nicht Einnahmen des Beamten, sondern lediglich Ersatz von Auslagen. Hierhin ge- hören folgende Arten: 1) Pauschsummen für Bureaubedürfnisse, Portokosten und andere im Dienste zu machende Ausgaben. Durch den Reichs- Etat werden diejenigen Fälle, in denen Pauschquanta bezahlt werden, sowie die Beträge derselben festgestellt. 2) Repräsentations-Gelder . Mit gewissen Aemtern ist die Pflicht verbunden, einen Aufwand zu treiben, der nicht in dem Interesse des Beamten, sondern vorzugsweise in dem des Staates liegt. So wie die Hofhaltung nicht nur ein persönliches Bedürfniß des Landesherrn, sondern ein politisches Bedürfniß des Staates befriedigt, so ist auch die Haushaltung gewisser Beamter nicht blos auf die Befriedigung ihrer persönlichen Lebensbedürfnisse gerichtet, sondern zugleich durch Bedürfnisse der amtlichen Stellung beeinflußt. Deshalb wird solchen Beamten abgesondert von ihrem §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. Gehalte ein Betrag zur Bestreitung dieser, durch die Repräsen- tationspflicht gebotenen Mehrausgaben zugewiesen. Für die Reichs- beamten sind die Fälle, in denen Repräsentations-Kosten zu er- setzen sind, sowie die Höhe der Beträge durch den Reichsetat fest- gestellt. 3) Tagegelder und Fuhrkosten bei dienstlicher Beschäfti- gung der Beamten außerhalb ihres Wohnorts und Umzugs- kosten im Falle ihrer Versetzung. Die Höhe der Beträge, welche zur Vergütung dieser Kosten zu entrichten sind, wird durch eine, im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlassende Verordnung des Kaisers geregelt. Reichsbeamtenges. §. 18. Zur Ausführung dieser Bestimmung sind folgende Verordnungen ergangen: a) Die Verordnung v. 21. Juni 1875 (R.-G.-Bl. S. 249). Dieselbe unterscheidet hinsichtlich der Höhe der Tage- gelder 7 Klassen von Reichsbeamten. (§. 1.) Erfordert eine Dienstreise einen außergewöhnlichen Kostenaufwand, so kann der Tagegeldersatz von der obersten Reichsbehörde angemessen er- höht werden. (§. 2.) Andererseits erhalten etatsmäßig angestellte Beamte, welche vorübergehend außerhalb ihres Wohnorts bei einer Behörde beschäftigt werden, nur für den ersten Monat dieser Beschäftigung die vollen Tagegelder neben ihrer etatsmäßigen Besoldung. Für die fernere Zeit, sowie bei der Verwendung nicht etatsmäßig angestellter Beamten werden die Beträge der zu ge- währenden Tagegelder von der vorgesetzten Behörde bestimmt. (§. 3.) Für die Dauer der Hin- und Rückreise sind in jedem Falle die vollen Tagegelder zu zahlen. Hinsichtlich der Fuhrkosten wird unterschieden, ob die Dienstreisen auf Eisenbahnen oder Dampfschiffen gemacht werden können oder nicht. Hiernach und nach dem Range der Beamten bestimmt sich die für das Kilometer zu zahlende Vergütung. (§. 4—7.) Beamte, welche zum Zweck von Reisen innerhalb ihres Amtsbezirks eine Pauschsumme für Tagegelder oder Fuhrkosten oder Unterhaltung von Fuhrwerk oder Pferden beziehen, können Tagegelder oder Fuhrkosten nach Maßgabe dieser Verordnung nur liquidiren, wenn sie Dienstgeschäfte außerhalb ihres Amtsbezirkes ausgeführt haben. (§. 8.) Für die Umzugskosten ist maaßgebend theils der Rang des Beamten theils die Entfernung. Die Kosten bestehen theils §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. in allgemeinen Kosten der Domizil-Verlegung theils in Trans- portkosten. Bei Berechnung der Entfernung wird die kürzeste, fahrbare Straßen-Verbindung zu Grunde gelegt; bei Bestimmung des Ranges die Stellung, aus welcher — nicht in welche — der Beamte versetzt wird. Beamte ohne Familie erhalten nur die Hälfte der regulären Vergütung. Ist mit der Versetzung eine Einkom- mensverbesserung verbunden, so kömmt die Hälfte des Jahresbe- trages derselben von der Vergütungssumme in Abzug. Außer diesen Umzugskosten wird dem Beamten der Mieths- zins vergütet, welchen er für die Wohnung an seinem bisherigen Aufenthaltsorte für die Zeit von dem Verlassen des letzteren bis zu dem Zeitpunkt hat aufwenden müssen, mit welchem die Auf- lösung des Miethsverhältnisses möglich wurde; längstens jedoch für einen neunmonatlichen Zeitraum. Hat der Beamte im eigenen Hause gewohnt, so kann demselben eine Entschädigung höchstens bis zum halbjährigen Betrage des ortsüblichen Miethswerthes der von ihm benutzten Wohnung gewährt werden. Eine Vergütung für Umzugskosten findet nicht statt, wenn die Versetzung lediglich auf den Antrag des Beamten erfolgte. Die nicht etatsmäßig angestellten Beamten erhalten bei Versetzungen nur persönliche Fuhrkosten und Tagegelder. Personen, welche, ohne vorher im Reichsdienst gestanden zu haben, in denselben übernommen werden, kann eine durch die oberste Reichsbehörde festzusetzende Vergütung für Umzugskosten gewährt werden, welche den für Reichsbeamte bestehenden Satz nicht übersteigen soll. (§§. 10—18.) b) Die Verordnung v. 5. Juli 1875 (R.-G.-Bl. S. 253) enthält spezielle Bestimmungen über die Höhe der Tagegelder, Fuhrkosten und Umzugskosten, welche den Beamten der Reichs- Eisenbahnverwaltung und der Postverwaltung zu vergüten sind. Mit Rücksicht auf die diesen Beamten zu gewährende freie Fahrt und Gepäckbeförderung und die in ihrem Berufe selbst liegende Veranlassung zu häufigen Dienstreisen sind die Entschädigungs- sätze theils niedriger bemessen theils ist gar keine Entschädigung zu ertheilen. 4) Unter dem Namen Funktionszulagen erhalten nach Maaßgabe des Etats mehrere Reichsbeamte Geldbeträge, welche theils Pauchsummen für Bureaukosten u. dgl. Auslagen theils §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. Vergütungen für besondere Mühewaltungen sind, denen sich der Beamte neben den eigentlichen Geschäften seines Amtes unterzieht. Denselben Charakter haben die sogenannten Remunerationen . Von dem Gehalt unterscheiden sie sich dadurch, daß sie eine Ver- gütung für aufgewendete Arbeit sind. Ferner erhalten Beamte, denen eine Kassen-Verwaltung obliegt, Mancogelder zum Er- satz für kleine Verluste, für welche ihnen Vertretung obliegt. End- lich werden in gewissen Fällen den Beamten sogen. Lokalzulagen gewährt; sie sind ein Ersatz dafür, daß der Beamte ein noth- wendiges Domizil hat, mithin den Theuerungsverhältnissen des Ortes, wo sein dienstlicher Wohnsitz ist, sich nicht entziehen kann. III. Der Anspruch auf Lebens-Unterhalt . 1) Da die Beamten gewöhnlich ihre ganze Lebensthätigkeit dem Dienste widmen, daher neben dem Staatsdienst keinen Erwerbsberuf haben können, so übernimmt der Staat regelmäßig die Ver- pflichtung, sie standesmäßig zu unterhalten . Für den Begriff des Staatsdiener-Verhältnisses ist dies zwar nicht wesent- lich, es giebt auch unbesoldete Staats- und Reichsbeamte; die überwiegende Mehrzahl der Reichsbeamten, sowie der Staatsbe- amten, erhält jedoch eine Besoldung. Es bedarf gegenwärtig keiner Ausführung mehr, daß die Besoldung keine Lohnzahlung ist, wie sie der Dienstmiethe entspricht; die Besoldung ist vielmehr eine mit der Verwaltung eines Amtes verbundene Rente , mittelst deren der Staat den Beamten alimentirt Vgl. v. Gerber Grundzüge §. 36 Note 11. Bluntschli II. S. 134. Schulze Preuß. Staatsr. I. S. 336. Förster Preuß. Privatr. II. §. 141. Note 66. . Die Höhe dieser Rente bestimmt sich nicht nach dem Maaße oder der Schwierigkeit der Arbeit und ist nicht nach dem Umfange der Geschäfte wechselnd, sondern sie bestimmt sich theils nach der socialen Stellung, welche der Träger eines Amtes einnimmt, theils nach dem Gesichtspunkt, ob das Amt den Lebensberuf desselben erfüllt oder ein sogenanntes Nebenamt ist, welches noch für eine andere Erwerbsthätigkeit neben sich Raum läßt. Mit der blos negativen Bemerkung aber, daß die Besoldung keine Lohnzahlung sei, wird der juristische Charakter derselben ebensowenig bestimmt, wie mit der Angabe, daß sie auf einem öffentlich rechtlichen Titel beruhe; vielmehr ist charakteristisch Laband , Reichsstaatsrecht. I. 30 §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. für sie, daß sie eine standesgemäße Alimentirung des Beamten ist In der früheren Literatur ist statt dessen der Gesichtspunkt herrschend, daß die Besoldung eine Entschädigung dafür sei, daß derjenige Staatsbürger, der ein Amt verwaltet, dem Staate mehr Dienste leistet, als er bei gleicher Vertheilung der erforderlichen Dienste auf alle Staatsbürger zu leisten haben würde. So namentlich Gönner S. 101 ff. . Aus dieser juristischen Natur der Rente ergeben sich folgende Rechtssätze, die bei jeder anderen Auffassung nicht als Consequenzen, sondern als Singularitäten erscheinen In fast allen Darstellungen des Staatsrechts lassen die Erörterungen über die Besoldungen der Beamten feste rechtliche Gesichtspunkte und principielle Construction vermissen. Man vgl. z. B. Zöpfl II. §. 517. Zachariä II. §. 139. Grotefend §. 691. fg. v. Mohl Württemb. Staatsr. II. §. 163 S. 114 ff. v. Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 §. 336 S. 450 ff. Eine übersicht- liche Darstellung der Rechtsvorschriften in den einzelnen deutschen Staaten giebt Pözl im Staatswörterb. Bd IX. S. 702 ff. . a) Die Forderung ist nicht bedingt durch wirkliche Leistung der amtlichen Dienste. Die Besoldung ist dem Beamten auch dann zu zahlen, wenn er durch Krankheit oder durch Mitgliedschaft im Reichstage an der Wahrnehmung des Dienstes verhindert ist Reichsges. §. 14 Abs. 2. Vgl. Förster a. a. O. oder bei kürzerem Urlaub V. v. 2. Nov. 1874. (R.-G.-Bl. S. 129) Siehe oben S. 421. . Bei pflichtwidrigem Verlassen des Amtes ohne Urlaub ist der Beamte aber für die Zeit der uner- laubten Entfernung des Diensteinkommens verlustig Reichsges. §. 14 Abs. 3. Auch privatrechtliche Alimenten-Ansprüche fallen bekanntlich wegen Pflichtverletzungen fort. Vgl. Windscheid Pandekten II. §. 475 Note 8. . Die For- derung besteht ferner wenn auch in gemindertem Betrage fort, wenn der Beamte einstweilig oder definitiv in den Ruhestand versetzt wird. (Siehe unten S. 470 fg.) b) Die Gehaltsbezüge sind dem Beamten im Voraus zu be- zahlen, wie dies dem Wesen der Alimentation entspricht Vgl. Preuß. Allg. Landr. I. 16 §. 61. . Die Bezahlung erfolgt der Regel nach monatlich im Voraus; dem Bundesrath ist es aber überlassen, diejenigen Beamten zu bestimmen, an welche die Gehaltszahlung vierteljährlich stattfinden soll Reichsges. §. 5 Abs. 1. Die Bundesraths-Verordnung ist am 5. Juli 1873 ergangen. Centralbl. 1873 S. 211. . c) Wenn der Beamte bei Beginn des Monats im Dienste §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. war, so ist der Besoldungs-Anspruch für den ganzen Monat er- worben. (Sterbemonat) Vgl. Reichsges. §. 7. 27. 55. 60. 69. 128. . d) Die Besoldung der Beamten kann von Gläubigern dersel- ben nicht völlig mit Beschlag belegt werden. Daß sie theilweise als Befriedigungsobjekt in Anspruch genommen werden kann, be- ruht darauf, daß sie dem Beamten mehr als nothdürftigen, daß sie ihm standesgemäßen Unterhalt gewährt. Soweit sie zu dem nothdürftigen Unterhalt erforderlich, ist sie überhaupt kein Exe- kutions-Objekt. Das Reichsgesetz §. 19 hat vorläufig die Bestim- mungen der Landesgesetze über die Beschlagnahme der Besoldungen der Staatsbeamten auf die Reichsbeamten ausgedehnt Vgl. die Motive S. 34. ; die Reichs-Civilprozeß-Ordnung wird auch in dieser Beziehung gemeines Recht schaffen Entw. der Civilpr.-Ordn. §. 696 Nro. 8. . d) Im engsten Zusammenhange mit diesem Satz steht die Rechtsregel, daß die Reichsbeamten den auf die Zahlung von Diensteinkünften, Wartegeldern oder Pensionen ihnen zustehenden Anspruch mit rechtlicher Wirkung nur in soweit cediren, verpfänden oder sonst übertragen können, als diese Diensteinkünfte der Be- schlagnahme unterliegen Reichsges. §. 6 Abs. 1. . Denn soweit die Besoldung zur „Noth- durft“ des Beamten gehört, ist sie unübertragbar Vgl. Pr. Allg. L.-R. I. 19 §. 22. Förster a. a. O. §. 99. S. 630. Die gewöhnliche Angabe der Lehrbücher, daß der Anspruch auf die Besoldung unübertragbar sei, weil er ein „höchst persönlicher“ sei, ist keine Erklärung oder Begründung, sondern eine Tautologie, ein idem per idem und überdies unrichtig. . Soweit die Gehaltsforderung übertragbar bleibt, ist zur Siche- rung der Reichskasse, welche das Gehalt auszuzahlen hat, vorge- schrieben, daß die Benachrichtigung an die Kasse durch eine der- selben auszuhändigende öffentliche Urkunde erfolgen muß Reichsges. §. 6 Abs. 2. Aus den Verhandlungen des Reichstages hier- über giebt Kanngießer S. 235 ausführliche Excerpte. . 2) Das Recht auf den Bezug der Besoldung beginnt mit dem, in dem Anstellungsvertrage vereinbarten Tage; ist ein solcher nicht festgesetzt, mit dem Tage des Amtsantritts R.-G. §. 4. . Wenn in dem Reichshaushalts-Etat Gehalts-Erhöhungen vorgesehen werden, so 30* §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. begründet dies für die betreffenden Beamten keinen rechtlichen Anspruch auf den erhöhten Gehalt, sondern nur für die Reichs- regierung die Ermächtigung, Gehaltserhöhungen zu bewilligen. Der Beamte erlangt dem Reichsfiskus gegenüber einen Rechtsanspruch auf Gehaltszulagen erst mit dem Tage dieser Bewilligung R.-G. ebendas. . Das Gleiche gilt aber auch in dem Falle, wenn die Regierung die Ge- haltszulage bewilligt hat, ohne nach dem Etat dazu ermächtigt zu sein. Der Reichsregierung bleibt es dann überlassen, dem Bun- desrath und Reichstage gegenüber ihr Verhalten zu rechtfertigen; die Rechte des Beamten werden durch eine etwaige Meinungs- Verschiedenheit zwischen den Organen des Reiches über Etats-An- gelegenheiten nicht berührt Vgl. Laband Das Budgetrecht. Berlin 1871 S. 33 fg. Dem Bundesrath und Reichstag gegenüber kann die Reichsregierung dadurch ihre Befugnisse überschreiten; vgl. oben S. 301 fg. Dem Beamten gegenüber hat sie kraft der ihr zustehenden Geschäftsführung und Vertretung den Reichsfiskus ver- pflichtet. Anderer Ansicht ist Ernst Meier Abschluß von Staatsverträgen. 1874 S. 53 fg. . 3) Das Diensteinkommen der Reichsbeamten setzt sich aus zwei Bestandtheilen zusammen, einem festen und einem veränder- lichen. a) Der feste Bestandtheil, die eigentliche Besoldung richtet sich nach der dienstlichen Stellung der Beamten und unter den Beam- ten gleicher Stellung nach dem Dienstalter, insofern sie derartig in Klassen abgetheilt sind, daß die jüngsten Beamten derselben Kate- gorie weniger, die ältesten mehr als den Durchschnitts-Gehalt beziehen. b) Der veränderliche Bestandtheil ist der Wohnungsgeld- zuschuß , über dessen Bewilligung und Abmessung das Gesetz vom 30. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 166 fg.) Vorschriften erlassen hat. Die Bedingungen für den Anspruch auf diesen Zuschuß be- bestehen darin, daß die Reichsbeamten ihren dienstlichen Wohn- sitz in Deutschland haben, daß sie eine etatsmäßige Stelle be- kleiden, und daß sie eine Besoldung aus der Reichskasse beziehen. (§. 1.) Ausgeschlossen sind demnach alle Gesandten, diplomat. Agenten, Konsuln und andere Reichsbeamte, welche im Auslande ihren dienstlichen Wohnsitz haben, weil in den Besoldungen und den Repräsentationsgeldern, welche denselben gewährt werden, auf §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. die besonderen Preisverhältnisse ihrer Aufenthaltsorte bereits Rück- sicht genommen ist. Ferner sind alle diejenigen Reichsbeamten ausgenommen, denen gegenüber das Reich die Pflicht, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, nicht trägt. Hierhin gehören sowohl die unbesoldeten Beamten als auch die nur kommissarisch beschäf- tigten Hülfsarbeiter, welche keine „etatsmäßige Stelle“ haben, son- dern „Remunerationen“ beziehen. Endlich sind durch die ausdrück- liche Anordnung des §. 9 des Reichsgesetzes die Beamten der Reichs-Eisenbahnverwaltung ausgenommen und zwar aus demselben Grunde, wie diejenigen Beamten, welche ihren dienstlichen Wohn- sitz außerhalb des Bundesgebietes haben Motive S. 12. (Drucks. des Reichstages von 1873 Bd. III. Nro. 125.) . Die Höhe des Wohnungsgeld-Zuschusses bestimmt sich theils nach dem, mit einem Amte verbundenen Range — nicht nach dem einem Beamten etwa persönlich beigelegten höheren Range — theils nach den Wohnungspreisen der Orte, in welchen die Behörden ihren Sitz haben. In der ersten Beziehung sind die Reichsbeamten in 5 Klassen (Direktoren der obersten Behörden, vortragende Räthe der obersten Behörden, Mitglieder der übrigen Behörden, Subalternbeamte, Unterbeamte) und die Wohnorte ebenfalls in 5 Klassen getheilt, über welchen noch Berlin als eine Klasse für sich steht. Beamte, welche mehr als eine Stelle bekleiden, erhalten den Woh- nungsgeldzuschuß nur für diejenige Stelle, welche auf den höchsten Satz Anspruch giebt. (§. 5.) Wird die Besoldung eines Beamten theils aus Reichsmitteln theils aus Staatsmitteln bezahlt, so er- hält der Beamte auch nur diejenige Quote des tarifmäßigen Woh- nungsgeldes, welche dem auf die Reichskasse übernommenen Be- soldungstheile entspricht. (§. 6.) Falls der Beamte eine Dienst- wohnung inne hat oder eine besonders bewilligte Miethsentschädi- gung bezieht, so fällt der Wohnungsgeldzuschuß fort. (§. 7.) Der Wohnungsgeldzuschuß gilt in rechtlicher Beziehung als ein Bestandtheil der Besoldung; er unterscheidet sich von dem festen Betrage derselben nur in drei Punkten. Bei einer Versetzung tritt an die Stelle des Satzes, der dem bisherigen Wohnort entspricht, der dem neuen Wohnorte entsprechende; wenn sich der Betrag desselben dadurch vermindert, hat der Beamte keinen Entschädi- §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. gungs-Anspruch. Ferner bleibt bei Berechnung der Umzugskosten- Vergütungen der Wohnungsgeldzuschuß außer Ansatz; d. h. es gilt nicht als abzugsfähige Einkommensverbesserung, wenn mit der Stelle, in welche ein Beamter versetzt wird, ein höheres Wohnungs- geld verbunden ist. Endlich wird bei Bemessung des Wartegeldes und der Pension nicht derjenige Betrag des Wohnungsgeldzuschusses in Ansatz gebracht, den der Beamte thatsächlich zuletzt gehabt hat, son- dern der Durchschnittssatz der 5 Servisklassen Berlin bleibt demnach bei der Berechnung des Durchschnitts außer Ansatz. . (Ges. §. 4 und 8.) Derselbe Betrag wird in Anschlag zu bringen sein bei Be- rechnung der Höhe der etwa zu leistenden Amtskaution Für Preußen ist jedoch entschieden, daß der Wohnungsgeldzuschuß hier- bei ganz außer Ansatz bleibt. Kanngießer S. 32 Nr. 4. . c) Ausnahmsweise können zu dem Diensteinkommen auch noch Einnahmen von unbestimmter, wechselnder Höhe treten, z. B. Ge- bühren, Erträge von Grundstücken, Tantiemen u. dgl. Vgl. Reichsbeamtenges. §. 42 Nr. 2. u. 3. . 4) Der Anspruch auf das Diensteinkomm en hört nicht auf, wenn das Reich dem Beamten die Verwaltung des Amtes entzieht. Denn, wie bereits oben ausgeführt, ist das Staatsdienerverhältniß nicht gleichbedeutend mit der Führung eines Amtes und die letztere nicht die wesentliche Voraussetzung für den Anspruch des Beamten auf Lebens-Unterhalt. Auch der einstweilig in den Ruhestand versetzte Beamte hat demnach diesen Anspruch; indeß ermäßigt sich der Regel nach die Höhe desselben Es beruht dies darauf, daß die einstweilig in den Ruhestand versetzten Beamten von der Beschränkung befreit sind, Nebenämter zu übernehmen oder Gewerbe zu betreiben. Reichsbeamtenges. §. 16. Abs. 3. . Der Betrag des Dienst- Einkommens, welcher den einstweilig in den Ruhestand versetzten Beamten zu zahlen ist, heißt das Wartegeld . Dasselbe beträgt drei Viertheile des Gehalts mit Hinzurechnung des Wohnungsgeldzuschusses. Ges. v. 30. Juni 1873 §. 8. , jedoch nicht weniger als 150 Thlr. und nicht mehr als 3000 Thlr. jährlich Reichsbeamtenges. §. 26. . Das Wartegeld steht im Uebrigen vollkommen unter den vom Diensteinkommen über- haupt stehenden Regeln Reichsbeamtenges. §. 27. 31. . Das Recht auf den Bezug des Warte- §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. geldes ruht , wenn und so lange der Beamte in Folge einer Wiederanstellung oder Beschäftigung im Reichs- oder im Staats- dienste ein Diensteinkommen bezieht, insoweit als der Betrag dieses neuen Diensteinkommens unter Hinzurechnung des Wartegeldes dem Betrage des von dem Beamten vor der einstweiligen Ver- setzung in den Ruhestand bezogenen Diensteinkommens übersteigt Reichsges. §. 30. Jedoch findet bei vorübergehender Beschäftigung gegen Tagegelder oder Remunerationen für die ersten 6 Monate keine Ver- kürzung des Wartegeldes statt. . Das Recht auf das Wartegeld erlischt , wenn der Beamte im Reichs- dienste ein Amt wieder erhält, mit welchem ein dem früher von ihm bezogenen Diensteinkommen mindestens gleiches Diensteinkom- men verbunden ist, oder wenn der Beamte entlassen wird. Außer- dem wird der Beamte des Wartegeldes verlustig, wenn er die Reichs-Angehörigkeit verliert oder ohne Genehmigung des Reichs- kanzlers seinen Wohnsitz außerhalb des Bundesgebietes nimmt Reichsges. §. 29. . 5) Der Anspruch auf Lebens-Unterhalt erlischt nicht mit dem Staatsdienst-Verhältniß selbst, wenn die Beendigung desselben ohne Schuld des Beamten herbeigeführt wird. Da dem Beamten andere Erwerbsquellen der Regel nach verschlossen sind, er daher in der Regel für sein Alter ein Kapital nicht ersparen kann, so dauert die Pflicht des Staates zur Gewährung des Lebensunter- haltes fort, wenngleich der Beamte wegen Dienstunfähigkeit dauernd in den Ruhestand versetzt wird. Der Betrag ist auch hier ver- mindert und führt die Bezeichnung: Pension . Bedingung ist, daß der Beamte eine Dienstzeit von wenigstens 10 Jahren zurückgelegt hat ebendas. §. 34. oder daß er bei Ausübung des Dienstes oder aus Veran- lassung desselben ohne eigene Verschuldung dienstunfähig geworden ist ebendas. §. 36. . Beamte, welche keine in den Besoldungs-Etats aufgeführte Stelle bekleiden oder welche nur ein Nebenamt bekleiden ausgenommen, wenn eine etatsmäßige Stelle als Nebenamt blei- bend verliehen ist. Reichsges. §. 44. oder ausdrücklich nur für eine bestimmte Zeit oder für ein seiner Na- tur nach vorübergehendes Geschäft angenommen werden, haben keinen gesetzlichen Anspruch auf Pension. Auch wenn es an §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. den Bedingungen des Pensions-Anspruches fehlt, kann dem Beamten bei vorhandener Bedürftigkeit durch Beschluß des Bundesrathes eine Pension entweder auf bestimmte Zeit oder lebenslänglich be- willigt werden ebendas. §. 39. . Die Pension beträgt nach vollendetem 10. Dienst- jahre 20/80 eben so viel in dem im §. 36 cit. erwähnten Falle. und steigt von da ab mit jedem weiter zurückgeleg- ten Dienstjahre um 1/80 des Diensteinkommens; der höchste Betrag aber ist ¾ dieses Einkommens Reichsges. §. 41. . Das Diensteinkommen ist das zuletzt von dem Beamten be- zogene beziehentl. das zur Zeit der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand bezogene Reichsges. §. 42 letzter Abs. ; jedoch nur das wirkliche Einkommen, nicht die Summen, welche für Repräsentations- oder Dienstaufwands-Kosten vergütet werden, ebensowenig Ortszulagen und Remunerationen Die näheren Bestimmungen enthält das Reichsges. §. 42. 44. vgl. dazu Kanngießer S. 131 ff. . Ueber die Berechnung der Dienstzeit sind in den §§. 45—52 des Beamtengesetzes eine Reihe von detaillirten Vorschriften ge- geben. Sie beginnt der Regel nach mit dem Tage der ersten eidlichen Verpflichtung für den Reichsdienst; es wird ihr aber bis- weilen ein Zeitraum hinzugerechnet, während dessen der Beamte nicht im Reichsdienst thätig war z. B. im Dienst eines Bundesstaates oder im aktiven Militärdienst; vgl. §. 46. 47. Fakultativ in den Fällen des §. 52. , theils wird eine Zeit doppelt oder sonst in höherem Betrage angerechnet z. B. Feldzüge, Aufenthalt in schädlichem Klima; vgl. §. 49. 51. , theils bleibt ein Theil außer Ansatz z. B. Dienst vor Beginn des 18. Lebensjahres, Kriegsgefangenschaft oder Festungs-Arrest; nach Vorschrift der §.§. 48. 50. . Das Recht auf die Pension ruht, wenn ein Pensionär die Reichsangehörigkeit verliert, bis zu etwaiger Wiedererlangung der- selben, und wenn ein Pensionär in den Reichsdienst oder in den Staatsdienst eines Bundesgliedes wieder eintritt, insoweit der Be- trag seines neuen Diensteinkommens unter Hinzurechnung der Pen- sion den Betrag des von ihm vor der Pensionirung bezogenen Diensteinkommens übersteigt Reichsges. §. 57—60. . §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. Für die Mitglieder des Oberhandelsgerichts kommen hinsicht- lich der Pension an Stelle der Vorschriften des Beamtengesetzes die speziellen Bestimmungen im §. 25 des Ges. v. 12. Juni 1869 zur Anwendung. 6) Endlich erstreckt sich die Pflicht des Reiches zum Unter- halte seiner Beamten theilweise auch auf die Hinterbliebenen der- selben, welche nicht im Augenblicke des Todes des Beamten in eine hilflose Lage versetzt werden sollen. Unter den Hinterbliebenen sind nicht die Erben zu verstehen, sondern Verwandte, für welche der Beamte der muthmaßliche Ernährer war. Ein gesetzliches Recht auf die zu gewährenden Leistungen haben nur die Wittwe und eheliche Nachkommen ; es kann jedoch mit Genehmigung der obersten Reichsbehörde in Ermangelung dieser Angehörigen die Leistung auch dann gewährt werden, wenn der Verstorbene Eltern, Geschwister, Geschwisterkinder oder Pflegekinder, deren Ernährer er war, in Bedürftigkeit hinterläßt, oder wenn der Nachlaß nicht ausreicht, um die Kosten der letzten Krankheit und der Beerdigung zu decken Reichsges. §. 8. 31. 69 Abs. 2. . Die vorgesetzte Dienstbehörde bestimmt, an wen die Zahlung zu leisten ist. Da auch diese Leistungen den rechtlichen Charakter der Alimente oder der Unterstützung haben, so sind sie der Beschlagnahme nicht unterworfen. In Betreff der Höhe der- selben sind drei Fälle zu unterscheiden. a) War der Beamte zur Zeit seines Todes im Dienste, d. h. mit der Wahrnehmung einer etatsmäßigen Stelle betraut, so er- halten die Hinterbliebenen für das auf den Sterbemonat folgende Vierteljahr noch die volle Besoldung des Verstorbenen; das sogen. Gnadenquartal R.-G. §. 7. Es kann jedoch vertragsmäßig dem Beamten resp. seinen Hinterbliebenen vor Eintritt in den Reichsdienst ein weitergehendes Recht zu- gesichert sein. . Als Besoldung ist nur das wirk- liche Diensteinkommen, nicht Vergütung für baare Auslagen an- zusehen. Während derselben Zeit ist die hinterbliebene Familie noch im Genusse der von dem verstorbenen Beamten bewohnten Dienst- wohnung zu belassen; hinterläßt der Beamte keine Familie, so haben die Erben eine vom Todestage an zu rechnende dreißig- tägige Frist zur Räumung der Dienstwohnung. Arbeits- und §. 42. Die Rechte der Reichsbeamten. Sessionszimmer, sowie sonstige für den amtlichen Gebrauch be- stimmte Lokalitäten müssen sofort geräumt werden R.-G. §. 9. . b) Wenn der Beamte zur Zeit des Todes einstweilig in den Ruhestand versetzt war, so erhalten die Hinterbliebenen das Gnaden- quartal von dem Wartegeld R.-G. § 31. . c) War der Beamte bei seinem Tode pensionirt, so wird den Hinterbliebenen die Pension noch für den auf den Sterbemonat folgenden Monat gezahlt R.-G. §. 69. An wen die Zahlung erfolgt, bestimmt die oberste Reichs- behörde, nicht die vorgesetzte Dienstbehörde, wie bei dem Gnadenquartal, weil pensionirte Beamte keine vorgesetzte Dienstbehörde haben. . IV. Persönliche Ehrenrechte . 1) Die Reichsbeamten haben das Recht auf die Führung des, ihrer Dienststellung entsprechenden oder ihnen besonders beigelegten Titels ; die unmittelbaren Reichsbeamten auch auf die Bezeich- nung als „kaiserliche“ Erl. v. 3. Aug. 1871 Nr. 1. (R.-G-Bl. S. 318.) . Gehört zu ihrer Stellung eine Amtskleidung, so haben sie die Befugniß, resp. die Verpflichtung, soweit dies im dienstlichen In- teresse vorgeschrieben ist, dieselbe zu tragen. Das unbefugte Tragen einer Uniform, sowie die unbefugte Annahme eines Titels sind Uebertretungen und nach §. 360 Nr. 8 des R.-St.-G.-B’s. strafbar. Auch ist im Reichsbeamtenges. der Titel dadurch als ein subjectives Recht des Beamten anerkannt, daß es im §. 100 einen „Verzicht“ auf den Titel erfordert und daß nach §. 75 Nr. 2 die Dienstentlassung im Disciplinarverfahren den „Verlust“ des Titels von Rechtswegen zur Folge hat. Titel und Uniform der Reichsbeamten werden durch kaiserliche Verordnung bestimmt. Reichsbeamtenges. §. 17. 2) Das eben citirte Gesetz erwähnt auch den Rang . In dieser Beziehung ist aber wohl zu unterscheiden zwischen dem Rang der Behörden und dem persönlichen Rang der Beamten. Der Rang einer Behörde ist der Ausdruck der Stellung der- selben im Behörden-Organismus, das Verhältniß der Unterord- nung oder Gleichordnung zu anderen Behörden. Der Rang der §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche. Behörden ist in amtlicher Beziehung auch maßgebend für den Dienst- rang der Beamten, welche Subalterne, Mitglieder oder Direktoren dieser Behörden sind und rechtlich von Erheblichkeit für die Höhe der Diäten, Fuhrkosten, Umzugskosten und Wohnungsgeldzuschüsse. Davon begrifflich verschieden ist der persönliche Rang der Beamten. Obwohl durch das Amt der Regel nach ein bestimmter Personal-Rang begründet wird, so kann doch theils ein Amt zur Verwaltung übertragen werden, ohne daß zugleich Titel und Rang verliehen wird, und es kann andererseits ein höherer Rang einem Beamten beigelegt werden, als an und für sich mit seinem Amte verknüpft ist. Der Rang ist streng genommen kein Recht, welches eine Ausübung gestattet, sondern so wie Alter, Geschlecht und Stand eine Eigenschaft, die möglicher Weise die Voraussetzung für Rechte ist. Für das Reichsrecht ist dies nicht der Fall; der persönliche Rang begründet keinerlei Rechte und es ist überhaupt zweifelhaft, ob das Reichsrecht eine andere Klassifizirung der Reichsbeamten als nach dem Range der von ihnen bekleideten Stellen kennt Byzantinische Einrichtungen, die sich im Preußischen und anderen Staaten conservirt haben, sind nicht ganz ohne Einfluß geblieben. Nach der Verordn. v. 7. Febr. 1817 (Ges.-Samml. S. 61) zerfallen die Preuß. Beamten in eine große Zahl von „Klassen“. Vgl. von Rönne Preuß. Staatsr. II. 1. S. 442 fg. und Kanngießer S. 79. 80. Das Reichsrecht kennt nun zwar keine solche „Klassen“, trotzdem bestimmt ein kaiserl. Erl. vom 1. April 1871 (R.-G.-Bl. S. 103), daß die Posträthe und die Ober-Posträthe der vierten Rathsklasse angehören, die Oberposträthe jedoch vor den Posträthen rangiren sollen. Ein Allerh. Erl. v. 27. Dez. 1871 (R.-G.-Bl. S. 7) ferner verleiht den Telegraphen- Direktoren „den Rang der Ober-Regierungsräthe und Ober-Forstmeister“. Ober- Regierungsräthe und Ober-Forstmeister gibt es aber im Behörden-Organismus des Reiches gar nicht, abgesehen von Els.-Lothr. . §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche. Ueber vermögensrechtliche Ansprüche der Reichsbeamten aus ihrem Dienstverhältniß findet der Rechtsweg statt Reichsges. §. 149. . Wegen dieses Rechtssatzes wird sehr häufig das Staatsdiener- Verhältniß als ein gemischtes, d. h. theils öffentlich rechtliches theils privatrechtliches bezeichnet Vgl. z. B. Heffter S. 131. Pfeiffer Prakt. Ausf. III. S. 352 ff. Welcker Staatslexikon Bd. 12 S. 300. Zöpfl II. §. 514 (S. 776) Zachariä II. §. 135 v. Gerber Grundz. §. 36 Note 11. v. Pözl . Es beruht dies auf einer §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche. Verwechslung von klagbaren Ansprüchen mit civilrechtlichen Vgl. Förster a. a. O. (§. 141 Note 66). . Wenn man aber auch der erwähnten Auffassung beistimmt, so ist damit ein positiver Rechtssatz nicht gewonnen. Denn es ist sicher, daß der vermögensrechtliche Anspruch der Beamten sich nicht nach den Regeln irgend eines, im Privatrecht normirten contractlichen oder quasicontractlichen Rechtsverhältnisses beurtheilen läßt; daß er vielmehr seinen Rechtsgrund in dem öffentlich rechtlichen, durch den Anstellungsvertrag begründeten Rechtsverhältniß hat und aus ihm seinen Inhalt empfängt. Die Frage reduzirt sich im letzten Grunde auf einen Schulstreit über die richtige Definition des Gegensatzes von öffentlichem Recht und Privatrecht und ist praktisch nicht von Belang. Andererseits haben manche Deutsche Partikularrechte für die Geltendmachung der vermögensrechtlichen Ansprüche der Staats- diener den Rechtsweg ausgeschlossen, weil das Rechtsverhältniß kein privatrechtliches sei. Auch dies ist nicht schlüssig; denn aus öffentlich rechtlichen Verhältnissen können subjektive Rechte hervor- gehen, welche im Wege des Prozesses geltend gemacht und geschützt werden können. Daß der Staat gegen den Beamten keine Klage auf Erfüllung der Dienstpflicht hat, ist kein Grund, dem Beamten die Klage gegen den Staat auf Erfüllung seiner pekuniären Ver- pflichtungen zu versagen. Denn der Staat hat zum Ersatz seiner Klage die Disciplinargewalt, der Beamte nicht Auch bei privatrechtlichen Gewaltverhältnissen kann der Untergebene den Anspruch auf Alimentirung im Wege der Klage geltend machen, so die Ehe- frau und die Kinder, ebenso im älteren Recht der Lehensmann seine Ansprüche auf das Beneficium u. s. w. . Ueber die prozeßualische Geltendmachung der vermögensrecht- lichen Ansprüche hat das Reichsgesetz folgende Regeln aufgestellt. 1) Im §. 149 werden hervorgehoben die Ansprüche auf Be- soldung, Wartegeld oder Pension und die gesetzlich gewährten An- sprüche der Hinterbliebenen auf Bewilligungen. Diese Aufzählung ist aber nicht ausschließend, sondern nur exemplifikativ, wie deut- lich aus dem Worte „insbesondere“ hervorgeht. Es ist daher der Rechtsweg auch zulässig über die Ansprüche auf Diäten, Fuhr- im Staatswörterb. IX. S. 689 und Verf.-R. §. 198 Nr. 3. (S. 494). Schulze I. S. 316 u. v. a. §. 43. Die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche. kosten und Umzugskosten, sowie über zugesicherte Repräsentations- gelder, Ortszulagen und andere Dienstemolumente. Ebenso über die Zulässigkeit von Gehaltsabzügen. (§. 14.) Dagegen ist eine Cog- nition der Gerichte ausgeschlossen in allen Fällen, in denen es von der Entschließung der obersten Reichsbehörden oder des Bundes- rathes abhängig gemacht ist, ob einem Reichsbeamten oder seinen Hinterbliebenen etwas bewilligt resp. in Abzug gebracht werden soll oder nicht; also in den Fällen der §§. 8. 37. 39. 52. 68 Abs. 2 Auch die Bestimmung im letzten Absatz des §. 75 kömmt hier in Be- tracht. 128 Abs. 2. des Beamtengesetzes, und der §§. 5. Abs. 2 und 6 Abs. 2 der V. v. 2. Nov. 1874. 2) Bevor eine Klage zulässig ist, muß zunächst feststehen, daß die Reichsregierung die Ansprüche des Beamten nicht anerkennen will, d. h, es muß die Entscheidung der obersten Reichsbehörde eingeholt werden, da die Verfügungen der unteren Instanzen nicht die definitive Weigerung der Reichsregierung enthalten, den Ansprüchen des Beamten gerecht zu werden. (§. 150.) 3) Für die Anstellung der Klage besteht eine präklusivische, d. h. den Verlust des Klagerechts bewirkende, Frist von 6 Monaten, welche von dem Tage an zu berechnen ist, an welchem dem Be- theiligten die Entscheidung der obersten Reichsbehörde bekannt ge- macht worden ist. (§. 150.) 4) Der Reichsfiskus wird vertreten durch die höhere (d. h. mittlere) Reichsbehörde, unter welcher der Reichsbeamte steht oder gestanden hat, oder falls er direkt unter der obersten Reichsbe- hörde steht oder gestanden hat, durch die oberste Reichsbehörde. §. 151 Abs. 1. 5) Die Klage ist bei demjenigen Gerichte anzubringen, in dessen Bezirke die betreffende Behörde ihren Sitz hat; in letzter Instanz entscheidet an Stelle des nach den Landesgesetzen zustän- digen obersten Gerichtshofes das Reichs-Oberhandelsgericht. §. 151 Abs. 2. 152 Abs. 2. 6) Bis zum Erlaß einer gemeinen Civil-Prozeß-Ordnung sind Bestimmungen über die Rechtsmittel getroffen, welche ohne Rücksicht auf die Größe des Streitgegenstandes die Verfolgung des Pro- zesses durch drei Instanzen ermöglichen. §. 152 Abs. 1. §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. 7) Die in dem Gewaltsverhältniß des Reiches gegen den Beamten begründeten Befugnisse in Beziehung auf einstweilige oder definitive Versetzung in den Ruhestand, Suspension, Versetzung in ein anderes Amt, Dienstentlassung, Verhängung von Ordnungs- strafen u. s. w. unterliegen der richterlichen Beurtheilung nicht; es sind vielmehr die von der zuständigen Verwaltungs- oder Disciplinarbehörde hierüber ergangenen Entscheidungen für die Be- urtheilung der vor dem Gerichte geltend gemachten vermögens- rechtlichen Ansprüche maßgebend §. 155. §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. Aus der begrifflichen Unterscheidung zwischen dem, durch den Anstellungsvertrag begründeten Dienstverhältniß und der Führung eines Amtes ergiebt sich, daß die Verwaltung eines bestimmten Amtes weder zu den Rechten des Beamten gehört noch für die Fortdauer des Staatsdienerverhältnisses wesentlich ist. Die herr- schende Theorie, welche das Wesen der Anstellung in der Ver- leihung eines Amtes sieht, führt zu dem Resultate, daß in allen Fällen, in welchem einem Beamten das Amt entzogen wird, zu- gleich das Staatsdiener-Verhältniß sein Ende findet. Die selbst- verständliche Folge davon wäre, daß auch der Anspruch des Be- amten auf Gehalt aufhört; da nun unbezweifelt der Beamte kein Recht auf das Amt hat, der Staat vielmehr jederzeit ihm die amtlichen Geschäfte entziehen kann, so müßte sich consequenter Weise der Schluß ergeben, daß dem Beamten gleichzeitig mit dem Amte auch die Besoldung genommen werden kann. Dieses praktische Resultat aber widerspricht zu sehr dem wirklich bestehenden Rechte. Man hilft sich deshalb in der Theorie mit der Annahme, entweder daß aus Billigkeits-Rücksichten der Beamte zu entschädigen sei oder daß die „privatrechtliche Seite“ des Verhältnisses fortdauere, wäh- rend die staatsrechtliche erlösche. Eine Aufhebung des Staatsdienst-Verhältnisses wird der herrschenden Theorie zufolge dadurch herbeigeführt, daß das Amt, welches ein Staatsdiener bisher bekleidet hat, ganz beseitigt wird Leist §. 102 Nr. 8. Heffter a. a. O. S. 136 Maurenbrecher §. 163 Nr. 2. . Konsequenter Weise müßte sie aber bei jeder Versetzung in ein §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. anderes Amt eine Aufhebung des bisherigen Verhältnisses und die gleichzeitige Neubegründung eines anderen, also ein Analogon zur Novation, annehmen. Hinsichtlich der einstweiligen Versetzung in den Ruhestand endlich ist vom Standpunkte dieser Theorie aus jede juristische Erklärung unmöglich, da hier offenbar Rechte und Pflichten der Beamten fortdauern, trotzdem die Führung eines Amtes aufhört; man begnügt sich daher mit einigen politischen Erwägungen de lege ferenda oder mit dem einfachen Hinweise auf die positiven Bestimmungen der Staatsdiener-Gesetze Zachariä II. §. 143—145. v. Mohl II. §. 164 fg. v. Pözl §. 205. Schulze I. 102. Fast ohne Ausnahme werden in allen Darstel- lungen des Staatsdiener-Rechts die Versetzung in den Ruhestand und die Sus- pension als Beendigungs- Arten des Staatsdiener-Verhältnisses behandelt, wodurch sie unter einen ganz unrichtigen Gesichtspunkt gebracht werden. . Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Führung eines Amtes nur der Zweck ist, zu welchem Beamte angestellt werden und daß die aus der Anstellung selbst hervorgehenden Rechte und Pflichten unabhängig davon, daß der Beamte ein bestimmtes Amt thatsächlich führt, fortbestehen können. Sowie aber die Regierung gehindert ist, Beamte anzustellen, namentlich besoldete, die sie nicht bedarf oder für welche etatsmäßige Stellen nicht bestehen, so ist sie auch beschränkt darin, angestellten Beamten die Führung der Amtsgeschäfte abzunehmen. Nicht rechtliche, sondern politische, namentlich finanzielle Gründe Vgl. auch v. Gerber Grundz. §. 38. sind es, auf denen diese Beschrän- kungen beruhen. Die Rücksicht auf das Interesse des Beamten selbst, auf die Wahrung seiner Unabhängigkeit, auf die Sicherung seiner Lebensstellung kömmt dabei wohl wesentlich mit in Betracht; aber das Recht des Staates seinen Beamten die ihnen übertra- genen Aemter zu entziehen, ist nicht durch das ihm gegenüberstehende subjektive Recht des Beamten beschränkt, sondern durch den eigenen Willen des Staates, durch eine auf politischen Erwägungen be- ruhende, gesetzlich ausgesprochene Selbstbeschränkung des Staates, welche für die Regierung allerdings maaßgebend und bindend ist wie jeder gesetzlich erklärte Staatswille. Von diesem Gesichtspunkte aus ergiebt sich eine Unterscheidung zwischen den rechtlichen Schranken, welche der Disposition der Re- gierung über die Beamten aus Gründen des öffentlichen Rechtes §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. gezogen sind, und den thatsächlichen Schranken, welche durch die auf dem Anstellungsvertrage beruhenden Rechte des Beamten gegeben sind. Diese thatsächlichen Schranken bestehen nun darin, daß die Regierung dem Beamten, falls sie ihm das Amt abnimmt, das ihm gebührende Diensteinkommen fortgewähren muß und daß sie seine Ehre nicht durch eine Degradation antasten darf; die rechtlichen Schranken dagegen bestimmen die gesetzlichen Voraus- setzungen , unter denen der Regierung es gestattet oder geboten ist, einem Beamten die Führung eines Amtes zu entziehen. Es sind in dieser Beziehung folgende Fälle zu unterscheiden. I. Versetzung in ein anderes Amt . 1) Jeder Reichsbeamte muß sich die Versetzung in ein anderes Amt gefallen lassen, wenn dasselbe von nicht geringerem Range und etatsmäßigem Diensteinkommen ist. R.-G. §. 23. Die Um- zugskosten sind dem Beamten zu vergüten, falls nicht die Ver- setzung auf seinen eigenen Antrag erfolgt ist. Unter dem Range ist der dienstliche Rang des Amtes zu verstehen; der sogen. persönliche Rang ist auch hier rechtlich uner- heblich und der Beamte ist nicht genöthigt, in eine niedrigere Stelle einzutreten, wenngleich ihm zugesichert wird, daß er persönlich auch fortan zu den Räthen der oder jener „Klasse“ gehören soll. Unter dem Diensteinkommen ist, wie oben ausgeführt wurde, die Entschädigung für besondere Dienstunkosten nicht mit begriffen und ebenso wenig kommt es in Betracht, ob dem Beamten durch die Versetzung die Gelegenheit zur Verwaltung von Nebenämtern ent- zogen wird. 2) Die Regierung ist berechtigt, die Versetzung zu verfügen, „wenn es das dienstliche Bedürfniß erfordert“, d. h. sie ist hierin unbeschränkt, da sie allein über die Bedürfnisse des Dienstes zu entscheiden hat. 3) Das Recht der Reichsregierung ist auch den mittelbaren Beamten gegenüber ohne Einschränkung anerkannt; sie haben da- her kein Recht des Widerspruchs, wenn sie in das Gebiet eines anderen Bundesstaates versetzt werden. Zu unterscheiden davon ist das Verhältniß des Reiches zur Regierung des Einzelstaates. Der Staat, aus dessen Gebiet der Beamte versetzt wird, hat kein Wider- spruchsrecht, daß ihm der Beamte durch Versetzung nicht entzogen werde; dagegen kann die Versetzung nicht in ein solches Amt er- §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. folgen, dessen Besetzung dem Einzelstaat, nicht dem Reich zusteht, ohne Zustimmung des Einzelstaats. 4) Die Mitglieder des Reichs-Oberhandelsgerichts, des Bundes- Amts für das Heimathswesen und des Rechnungshofes und richter- liche Militär-Justizbeamte können nicht ohne ihre Zustimmung in ein anderes Amt versetzt werden Reichsbeamtenges. §. 158. Ges. v. 12. Juni 1869 §. 23. Ges. v. 6. Juni 1870 §. 43. Pr. Ges. vom 27. März 1872 §. 5 (über die Ober-Rechnungs- kammer). . 5) Ueber die Voraussetzungen und Wirkungen der Straf- versetzung vrgl. oben S. 453 fg. II. Einstweilige Versetzung in den Ruhestand. (Stellung zur Disposition) . 1) Die Reichsregierung ist befugt a) jeden Reichsbeamten einstweilig in den Ruhestand zu versetzen, wenn das von ihm verwaltete Amt in Folge einer Um- bildung der Reichsbehörden aufhört. R.-G. §. 24. Soweit zu einer solchen Umbildung ein Gesetz erforderlich ist, bildet der Erlaß desselben daher eine Voraussetzung für die Stel- lung zur Disposition. b) Jederzeit, auch ohne daß die erwähnte Voraussetzung ge- geben ist, können durch kaiserliche Verfügung gewisse Beamte einst- weilig in den Ruhestand versetzt werden, „bei denen eine fort- dauernde Uebereinstimmung in principiellen Ansichten mit der leiten- den Autorität nothwendig ist“ So sagen die Motive zum Beamtengesetz. S. 35. . Nach dem §. 25 des Gesetzes sind es folgende: Der Reichskanzler; Der Präsident des Reichskanzler-Amts, der Chef der Ad- miralität, der Staatssekretär im Auswärtigen Amte; Die Direktoren und Abtheilungschefs im Reichskanzleramte und in den einzelnen Abtheilungen desselben, sowie im Auswärtigen Amte und in den Ministerien, die vor- tragenden Räthe und etatsmäßigen Hülfsarbeiter im AuswärtigenAmte; Die Militär- und Marine-Intendanten; Die diplomatischen Agenten einschließlich der Konsuln. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 31 §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. Außerdem der Vorsitzende des Reichs-Eisenbahn-Amtes. (Ges. v. 27. Juni 1873 §. 2 Abs. 2.) 2) Die einstweilig in den Ruhestand versetzten Beamten haben folgende Rechte: a) sie behalten die persönlichen Ehrenrechte. b) sie beziehen das gesetzliche Wartegeld. c) sie erhalten, falls sie ihren dienstlichen Wohnsitz im Aus- lande haben, die Entschädigung für die Kosten des Umzugs nach dem innerhalb des Reiches von ihnen gewählten Wohn- orte (R.-G. §. 40) und ebenso, falls sie wieder ein Amt er- halten, die Umzugskosten wie im Falle einer Versetzung (R.-G. §. 28). 3) Hinsichtlich der Pflichten entscheidet das Princip, daß alle Pflichten und Beschränkungen der Reichsbeamten auch für die einstweilig in den Ruhestand versetzten fortdauern, welche nicht ledig- lich auf der Führung eines Amtes (dem aktiven Dienst) beruhen. Im Einzelnen ergeben sich hieraus folgende Consequenzen: a) Die Pflicht zur Amtsführung ist suspendirt, aber nicht aufgehoben. Die einstweilig in den Ruhestand versetzten Beamten sind darum verpflichtet, ein ihrer Berufsbildung entspre- chendes Reichsamt unter denselben Voraussetzungen zu übernehmen, unter denen ein im aktiven Dienst stehender Reichsbeamter die Versetzung in ein anderes Amt sich gefallen lassen muß, widrigen- falls sie des Wartegeldes verlustig sind R.-G. §. 28. . Hierauf beruht die weitere Pflicht dieser Beamten, die Reichs- angehörigkeit und den Wohnsitz im Bundesgebiete beizubehalten. Wollen sie ihren Wohnsitz außerhalb des Bundesgebietes nehmen, so bedürfen sie dazu der Genehmigung des Reichskanzlers, also gleichsam eines Urlaubs . Die Verletzung dieser Pflicht zieht, entsprechend dem Verlassen des Amtes ohne Urlaub oder mit Ueberschreitung desselben, den Verlust des Gehaltes (Wartegeldes) nach sich R.-G. §. 29 Nro. 2. und 3. und kann möglicher Weise Veranlassung zu discipli- narischem Einschreiten geben. b) Die Pflicht zur Treue dauert unverändert fort und demgemäß die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit . Die in den §§. 11 und 12 des Reichsbeamtengesetzes enthaltenen Vorschrif- §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. ten finden daher auf die zur Disposition gestellten Reichsbeamten volle Anwendung. c) Die Pflicht eines achtungswürdigen Verhaltens besteht ebenfalls unvermindert fort. R.-G. §. 10. d) In Ansehung der Beschränkungen , denen Reichsbe- amte unterliegen, gelten die in §. 15 Abs. 1. des Gesetzes aufge- stellten Vorschriften über die Annahme von Titeln, Ehrenzeichen, Geschenken u. s. w. auch für die einstweilig in den Ruhestand ver- setzten Reichsbeamten; dagegen ist die Vorschrift des §. 15 Abs. 2 auf sie unanwendbar, weil dieselbe die actuelle Verwaltung eines „Amtes“ voraussetzt. Von der Beschränkung hinsichtlich der Ueber- nahme von Nebenämtern oder remunerirten Nebenbeschäftigungen oder des Betriebes eines Gewerbes sind die einstweilig in den Ruhestand versetzten Beamten durch die ausdrückliche Anordnung des §. 16 Abs. 3 befreit. e) Die Verletzung der Dienstpflichten kann auch für die zur Disposition gestellten Reichsbeamten disciplinarische Folgen haben. Allein da sie ein Amt nicht verwalten, so sind sie auch der Discipli- nargewalt einer vorgesetzten Dienstbehörde nicht unter- worfen; wohl aber kann das förmliche Disciplinar-Verfahren vor den entscheidenden Disciplinarbehörden gegen sie eingeleitet werden. Für die Zuständigkeit ist der letzte dienstliche Wohnsitz der Be- amten entscheidend R.-G. §. 119. . 4) Da die einstweilige Versetzung in den Ruhestand das Be- amtenverhältniß nicht löst, so kömmt bei Berechnung der Dienst- zeit die Zeit mit in Anrechnung, während welcher ein Beamter zur Disposition gestellt war R.-G. §. 46. Nro. 1. , und die Vorschriften über Sus- pension, Dienstentlassung, Pensionirung und Dienstentsetzung sind auch auf die einstweilig in den Ruhestand versetzten Beamten an- wendbar Vgl. R.-G. §. 42 letzter Abs. §. 119. §. 132. . 5) Auf die im §. 158 des Reichsbeamtengesetzes aufgeführten Beamten finden die Bestimmungen über die einstweilige Versetzung in den Ruhestand keine Anwendung. III. Vorläufige Dienstenthebung . (Suspension.) 1) Hinsichtlich der Zulässigkeit derselben sind drei Fälle 31* §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. zu unterscheiden, indem die Suspension vom Amte theils von Rechts- wegen eintritt, theils im ordentlichen Wege verfügt werden kann , theils mit beschränkten Wirkungen außerordentlicher Weise statthaben kann. a) Kraft des Gesetzes tritt die Suspension vom Amte ein: α) wenn im gerichtlichen Strafverfahren die Verhaftung des Reichsbeamten beschlossen worden ist. Sie dauert bis zum Ablauf des zehnten Tages nach Wiederaufhebung des Verhaftungs- Beschlusses §. 125 Nro. 1. §. 126. Zur Rechtfertigung der zehntägigen Frist sagen die Motive S. 49: „Der in ein Strafverfahren verwickelte Beamte kann, ohne daß das Ansehen des Amtes leidet, nicht unmittelbar aus der Unter- suchungs- oder Strafhaft in sein Amt zurücktreten. Die Frist dient dann auch dazu, Zeit zu einer Entschließung zu lassen, ob nicht das Disciplinarverfahren einzuleiten und die Suspension zu verfügen ist.“ . β) wenn gegen den Beamten ein noch nicht rechtskräftig ge- wordenes gerichtliches Urtheil erlassen ist, welches den Verlust des Amtes kraft des Gesetzes nach sich zieht §. 125 Nro. 1. Vgl. den folgenden §. . Die Suspension dauert so lange, bis entweder das Urtheil seine Rechtskraft erlangt oder bis zum Ablauf des zehnten Tages nach eingetretener Rechtskraft desjenigen Urtheils höherer Instanz, durch welches der angeschul- digte Beamte zu einer anderen Strafe als der bezeichneten ver- urtheilt wird; falls aber das rechtskräftige Urtheil auf Freiheits- strafe lautet, bis das Urtheil vollstreckt ist §. 126 Abs. 1. u. 2. . γ) wenn im Disciplinar-Verfahren eine noch nicht rechts- kräftige Entscheidung ergangen ist, welche auf Dienstentlassung lautet. Die Suspension dauert bis die in der Disciplinarsache ergangene Entscheidung die Rechtskraft erlangt §. 125 Nro. 2. §. 126 Abs. 3. . δ) Gegen die Mitglieder des Oberhandelsgerichtes und des Bundesamtes für das Heimathwesen tritt von Rechtswegen die vorläufige Dienstenthebung nur ein, wenn die Untersuchungshaft gegen sie verhängt wird Ges. v. 12. Juni 1869 §. 24 Abs. 2. v. 6. Juni 1870 §. 43. . Hinsichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes kommen die Vorschriften des Preuß. Ges. v. 27. März 1872, hinsichtlich der §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. richterlichen Militär-Justiz-Beamten die Vorschriften der betreffenden Particularrechte in Anwendung Reichsbeamtenges. §. 158. . b) Durch Verfügung der obersten Reichsbehörde kann ein Beamter vorläufig des Dienstes enthoben werden, wenn gegen ihn ein gerichtliches Verfahren eingeleitet oder die Einleitung eines förmlichen Disciplinar-Verfahrens (§. 84) verfügt wird. Auch im Laufe des einen oder anderen Verfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung kann diese Verfügung noch getroffen werden R.-G. §. 127. . Gegen ein Mitglied des Oberhandelsgerichtes kann, falls eine Untersuchung gegen dasselbe eingeleitet wird, das Oberhandels- Gericht mittelst Plenarbeschlusses die Suspension vom Amte für die Dauer der Untersuchung aussprechen Ges. v. 12. Juni 1869 §. 24 Abs. 1. . Für die Mitglieder des Bundesamtes für das Heimathwesen steht dieselbe Befugniß dem Plenum des Bundesamtes zu Ges. v. 6. Juni 1870 §. 43. . c) Wenn Gefahr im Verzuge ist , kann einem Beamten auch von solchen Vorgesetzten, die seine Suspension zu verfügen nicht ermächtigt sind, die Ausübung der Amtsverrichtungen vor- läufig untersagt werden. Es ist aber darüber sofort an die oberste Reichsbehörde zu berichten, von deren Entscheidung und Maßnahme es abhängt, ob sich die Untersagung der Amtsverrichtungen in eine ordentliche Suspension verwandelt oder ob sie hinwegfällt R.-G. §. 131. . 2) Die Wirkungen der vorläufigen Dienstenthebung sind folgende: a) Die Pflicht des Beamten zur Führung der Amtsgeschäfte wird nicht nur suspendirt, sondern gleichzeitig ihm auch die mit dieser Pflicht verbundene Handhabung der Staatsgewalt und Ver- tretungsbefugniß (die Amtsgewalt) entzogen, so daß die von ihm dennoch vorgenommenen Dienstgeschäfte rechtlich nicht als Amts- handlungen anzusehen sind. Ob zugleich der Thatbestand eines straf- baren Mißbrauchs der Amtsgewalt oder eines anderen Verbrechens oder Vergehens vorliegt, ist nur nach Lage des einzelnen Falles zu beurtheilen. b) Der Anspruch des Beamten auf Gehalt wird durch die §. 44. Versetzung, Stellung zur Disposition, Suspension. vorläufige Dienstenthebung nicht berührt Vgl. Pfeiffer Prakt. Ausführungen III. S. 360 ff. 518 fg. , wohl aber findet eine theilweise Innebehaltung des Gehaltes statt vom Ablauf des Monats ab, in welchem die Suspension verfügt ist R.-G. §. 128 Abs. 1. Wenn der Gehalt vierteljährlich vorausbezahlt ist, so kann eine theilweise Wiedereinziehung nicht stattfinden; denn das Gesetz spricht nur vom „Innebehalten“ des Gehaltes. Es ist eine Beschlagnahme oder Retention des Gehaltes zur Deckung der Kosten oder Geldstrafen angeordnet, welche voraussetzt, daß der Gehalt noch nicht ausgezahlt ist. Anderer Ansicht Kanngießer S. 223 Nro. 2. . Die Innebehaltung betrifft in der Regel die Hälfte des wirklichen Diensteinkommens d. h. ohne die für Dienstunkosten bestimmten Beträge; in Fällen der Noth des Beamten kann die oberste Reichsbehörde die Inne- behaltung des Diensteinkommens auf den vierten Theil beschränken §. 128 Abs. 1. u. 2. . Den einstweilen in den Ruhestand versetzten Beamten wird ein Viertel des Wartegelds inne behalten, wenn im Disciplinarver- fahren eine noch nicht rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, welche auf Dienstentlassung lautet R.-G. §. 132. . Wird ein Mitglied des Oberhandelsgerichts oder des Bundes- amtes für das Heimathwesen vom Amte suspendirt, so wird das Recht auf den Genuß des vollen Gehalts während der Dauer der Suspension nicht berührt Ges. v. 12. Juni 1868 §. 24 Abs. 3. Ges. v. 6. Juni 1870 §. 43. . Die Gehaltskürzung tritt ferner nicht ein, wenn die Voll- streckung eines auf Freiheitsstrafe lautenden Urtheils ohne Schuld des Verurtheilten aufgehalten oder unterbrochen wird, für die Zeit des Aufenthalts oder der Unterbrechung; ebenso für die zehntägige Frist nach Aufhebung der Haft resp. nach der Verurtheilung, wenn nicht vor Ablauf derselben die Suspension vom Amte im Wege des Disciplinarverfahrens beschlossen wird R:-G. §. 126 Abs. 2. . Auch die vorläufige Untersagung der Ausübung von Amts- Verrichtungen bewirkt keine Innebehaltung des Diensteinkommens R.-G. §. 131 Abs. 2. . c) Im Uebrigen dauern die Rechte und Pflichten des Beamten während der Zeit seiner vorläufigen Dienstenthebung unverändert fort Er darf sich daher auch nicht eigenmächtig von seinem Amtssitze ent- . §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. 3) Die Suspension vom Amte hört auf entweder mit der Entfernung des Beamten aus dem Amte oder mit dem Wieder-Eintritt desselben in die Amtsgeschäfte; im letzteren Falle ist jedoch zu unterscheiden, ob der Beamte gänzlich frei gesprochen worden ist, oder ob die entscheidende Disciplinarbehörde ihn mit einer Ordnungsstrafe belegt hat. a) wenn der Beamte freigesprochen worden ist, so muß ihm der innebehaltene Theil des Gehaltes vollständig nachgezahlt werden R.-G. §. 130 Abs. 1. . b) wenn der Beamte mit einer Ordnungsstrafe belegt wird, so ist ihm der innebehaltene Theil insoweit auszuzahlen, als der- selbe nicht zur Deckung der ihn treffenden Untersuchungskosten und der Ordnungsstrafe erforderlich ist. Für Stellvertretungskosten findet ein Abzug nicht statt R.-G. §. 130 Abs. 2. . c) wenn der Beamte aus dem Amte entfernt wird, so ist der innebehaltene Theil des Gehaltes zu den Stellvertretungskosten und der Rest zu den Untersuchungskosten des Disciplinarverfahrens zu verwenden R.-G. §. 128 Abs. 4. Zu den Stellvertretungskosten ist der Beamte nicht verpflichtet, einen weiteren Beitrag zu leisten, für die Kosten des Disciplinar- Verfahrens haftet er dagegen mit seinem Vermögen. §. 124 Abs. 2. . Dem Beamten ist auf Verlangen ein Nachweis über die Verwendung zu machen; jedoch kann er Erinnerungen dagegen im Rechtswege nicht geltend machen, sondern nur im Wege der Beschwerde. Der durch die erwähnten Kosten nicht aufge- brauchte Theil des zurückbehaltenen Einkommens wird dem Be- amten nachgezahlt R.-G. §. 129. . §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. Die Beendigungsarten zerfallen ihrer praktischen Bedeutung nach in zwei Klassen, indem entweder mit der Aufhebung des Dienst- verhältnisses alle durch dasselbe begründeten Rechte des Beamten, sowohl die Ehrenrechte als die Vermögensrechte, aufhören, oder Titel und Rang und Anspruch auf Lebensunterhalt (Pension) fort- dauern. fernen. Vgl. die Entsch. des Appellat.-Gerichts zu Leipzig im Wochenbl. f. merkw. Rechtsf. von 1864 S. 81 fg. §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. I. Ohne Anspruch auf Pension und Amtstitel wird das Dienstverhältniß beendigt: 1) Auf Antrag des Beamten , welcher seine Entlassung fordert. Dieselbe kann demselben nicht verweigert werden. Obwohl das Reichsgesetz diesen Grundsatz nicht ausdrücklich ausspricht, so beruht er nicht nur auf einer allgemeinen Rechtsüberzeugung Vgl. Pözl im Staatswörterb. Bd. IX. S. 713. Zachariä II §. 142 S. 63 ff. Schulze I. S. 346 fg. , einem wirklichen gemeinen Gewohnheitsrecht, sondern er ergiebt sich aus der Natur des Beamten-Verhältnisses Nur diejenigen Juristen, welche in der Uebernahme eines Staatsamtes lediglich die Erfüllung einer Unterthanenpflicht finden, erklären die Niederle- gung des Amtes für unstatthaft, z. B. Gönner S. 258. Auch in diesem Punkte zeigt sich aber der Gegensatz zwischen der Erfüllung von Unter- thanenpflichten durch Uebernahme eines Amtes und dem freiwilligen Eintritt in das Staatsdiener-Verhältniß. . Dasselbe er- fordert von dem Beamten nicht bestimmt begränzte Leistungen, sondern die Hingabe seiner ganzen Persönlichkeit an den Staat zur Förderung des Staatswohls, Treue, Opferwilligkeit, Berufs- freudigkeit; es kann daher Niemand gezwungen in einem solchen Dienst gehalten werden. Aber das Recht des Beamten, das Dienst- verhältniß jeder Zeit aufzulösen, wird auch noch dadurch begründet, daß es das Correlat zu der Disciplinargewalt des Staates ist. Staat und Beamter stehen einander nicht wie gleichberechtigte Parteien, sondern wie Herr und Diener gegenüber; der Staat hat sein Hoheitsrecht, seine Disciplinargewalt, um den Diener zu zwingen; der Beamte hat den Schutz seiner Freiheit und Persön- lichkeit in dem Recht, den Dienst zu kündigen und sich dem dadurch begründeten Zwange zu entziehen. Ohne dieses Recht wäre der Staatsdienst Sclaverei. Wenn ein Beamter von diesem Rechte Gebrauch macht, so hat er bis zur Ertheilung der Entlassung noch alle Rechte und Pflichten des Beamten und er hat daher die Amtsgeschäfte noch bis zu diesem Zeitpunkte zu führen. Die Entlassung der Reichs- beamten verfügt der Kaiser, beziehentl. die von ihm dazu ermächtigte Reichsbehörde Reichsverf. Art. 18 Abs. 1. . Hinsichtlich der mittelbaren Reichsbeamten kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß sie ihre Entlassung von dem Staate (Landesherrn) zu erhalten haben, der sie angestellt hat. §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. 2) Der Staat hat dagegen der Regel nach nicht das Recht, das Dienstverhältniß einseitig zu lösen. Zahlreiche praktische Gründe sprechen gegen dieses Recht Es bedarf keiner Wiederholung derselben, da die Frage für das Reichs- recht entschieden ist. In älterer Zeit ist sie Gegenstand der vielseitigsten Er- örterungen geworden. Eine Uebersicht der Literatur und der in derselben auf- gestellten Ansichten giebt Zachariä II. §. 143 ff; kürzer auch Schulze I. S. 349. Vgl. ferner Welcker’s Artikel „Staatsdienst“ in seinem Staats- lexikon und L. v. Stein Verwaltungslehre I. 1. S. 241 fg. 246. . Juristisch ist die Folge- rung nicht begründet, daß, weil der Beamte jederzeit aus dem Dienste zu scheiden berechtigt ist, auch der Staat befugt sein müsse, ihn jederzeit zu entlassen; denn durch den Anstellungsvertrag ent- stehen durchaus ungleiche Rechte und Pflichten für Staat und Beamten. Der Staat hat im Wesentlichen keine andere Leistung als die Zahlung des Gehaltes zu gewähren, der Beamte setzt seine Persönlichkeit und in der Mehrzahl der Fälle seine ganze Lebens- thätigkeit ein; das Interesse des Staates ist überdies gewahrt durch das Recht, einseitig das Dienstverhältniß im Wege des Disciplinarverfahrens aufzuheben. Das Reichsbeamten-Gesetz hat daher im §. 2 die Bestimmung getroffen, daß die Reichsbeamten als auf Lebenszeit angestellt gelten, soweit die Anstellung der Reichsbeamten nicht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt des Widerrufs oder der Kündigung erfolgt Auch bei den Beamten der Einzelstaaten spricht eine Rechtsvermuthung für die Lebenslänglichkeit der Anstellung, vgl. Pfeiffer Prakt. Ausf. Bd. V. S. 259 Nro. 9. . Von diesem Vorbehalt wird nach einer aus der Preußischen Verwaltungspraxis Regierungs-Instrukt. v. 23. Oktob. 1817 §. 12. Vgl. von Rönne Preuß. Staatsr. II. 1 S. 410. (§. 330 IV. ) herübergenommenen Regel Gebrauch gemacht bei denjenigen Unterbeamten, deren Dienst keine Ausbildung er- fordert, sondern größtentheils nur mechanisch ist Stenogr. Berichte des Reichstags 1872. I. S. 133. 134. . Außerdem giebt es einige Kategorien von Beamten im Ressort des Auswärtigen Amtes, der Marine- und Militär-Verwaltung, der Post- und Tele- graphen-Verwaltung und der Verwaltung der Reichseisenbahnen, welche auf Probe, Kündigung oder Widerruf angestellt werden Der Reichskanzler hat dem Reichstage 1872 das Verzeichniß dieser Beamten vorgelegt. Drucksachen des Reichstages Nro. 144. . §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. Die Entlassung von Beamten, welche unter einem solchen Vorbehalte angestellt sind, erfolgt durch diejenige Behörde, welche die Anstellung verfügt hat; in Ansehung der mittelbaren Reichsbe- amten also durch die Landesbehörde Reichsges. §. 32. . 3) Von Rechtswegen hört das Dienstverhältniß auf durch ein rechtskräftiges richterliches Erkenntniß, wenn durch dasselbe der Beamte zu einer Zuchthausstrafe verurtheilt wird R.-St.-G.-B. §. 31. oder wenn ihm die bürgerlichen Ehrenrechte oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter aberkannt werden R.-St.-G.-B. §§. 33. 35. 36. 358. Vgl. 319. , oder wenn auf den Ver- lust der von dem Verurtheilten bekleideten öffentlichen Aemter er- kannt wird R.-St.-G.-B. §§. 81. 83. 84. 87—91. 94. 95. . Strengere Vorschriften bestehen für die Mitglieder des Reichs- Oberhandelsgerichts und des Bundesamtes für das Heimathswesen. Ihr Dienstverhältniß hört auf durch rechtskräftige Verurtheilung zum Amtsverluste, zu einer entehrenden Strafe, zu einer nicht entehrenden Freiheitsstrafe von längerer als ein- jähriger Dauer oder wegen eines entehrenden Ver- brechens oder Vergehens zu einer Strafe. Entsteht Zweifel darüber, ober einer der angeführten Fälle vorliege, so wird hier- über im Plenum des Oberhandelsgerichts, beziehentlich des Bun- desamtes, entschieden Ges. v. 12. Juni 1869 §. 23. Ges. v. 6. Juni 1870. §. 43. . 4) Dienstentlassung im Disciplinarverfahren R.-G. §. 75. Nro. 2. Vgl. oben S. 454. . II. Mit Anspruch auf Pension und Amtstitel wird das Beamten-Verhältniß beendigt durch Versetzung des Beamten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit . Sowohl der Beamte als der Staat sind berechtigt im Falle der Dienstunfähigkeit des Beamten die Versetzung desselben in den Ruhestand zu verlangen und es sind demgemäß zwei Fälle zu unter- scheiden: 1) Pensionirung auf Antrag des Beamten . a) Jeder Reichsbeamte, welcher sein Diensteinkommen aus der Reichskasse bezieht, ist berechtigt seine Pensionirung zu §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. verlangen, wenn er nach einer Dienstzeit von wenigstens zehn Jahren in Folge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zu der Erfüllung seiner Amtspflichten dauernd unfähig wird R.-G. §. 34. . Dasselbe Recht haben auch die unter dem Vorbehalte des Widerrufs angestellten Beamten, wenn sie eine etatsmäßige Stelle bekleiden; ist die von ihnen bekleidete Stelle in den Besoldungs- Etats nicht aufgeführt, so haben sie zwar keinen gesetzlichen An- spruch auf Pension, es kann ihnen aber bei ihrer Versetzung in den Ruhestand eine Pension bewilligt werden R.-G. §. 37. . b ) Jeder Reichsbeamte ist auch schon vor Ablauf einer zehn- jährigen Dienstzeit berechtigt, seine Pensionirung zu verlangen, wenn die Dienstunfähigkeit die Folge einer Krankheit, Verwundung oder sonstigen Beschädigung ist, welche der Beamte bei Ausübung des Dienstes oder aus Veranlassung desselben ohne eigene Ver- schuldung sich zugezogen hat R.-G. § 36. . Wenn außer diesem Falle die Dienstunfähigkeit vor Vollen- dung des zehnten Dienstjahres eintritt, so hat der Beamte zwar keinen gesetzlichen Anspruch auf Pension ausgenommen die Mitglieder des Oberhandelsgerichts. Ges. v. 12. Juni 1869. §. 25. Reichsbeamtenges. §. 158 Abs. 2. ; bei vorhandener Be- dürftigkeit kann ihm aber durch Beschluß des Bundesrathes eine Pension auf bestimmte Zeit oder lebenslänglich bewilligt werden R.-G. §. 39. . c ) Der Reichskanzler, der Präsident des Reichskanzler-Amtes, der Chef der Kaiserlichen Admiralität und der Staatssekretär im Auswärtigen Amte können auch ohne eingetretene Dienst- unfähigkeit ihre Entlassung fordern und haben einen Anspruch auf die gesetzliche Pension, wenn sie mindestens zwei Jahre das betreffende Amt bekleidet haben R.-G. §. 35. Der Mindestbetrag der Pension beträgt ein Viertel des etatsmäßigen Gehalts; im Uebrigen kommen die allgemeinen Vorschriften über die Pension zur Anwendung. . d ) Der Beamte, welcher seine Pensionirung nachsucht, muß den Beweis seiner Dienstunfähigkeit und, soweit es erforderlich, den Beweis, daß die Dienstunfähigkeit in Folge des Dienstes ein- §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. getreten ist (§. 36), erbringen. Es ist jedoch im Allgemeinen ge- nügend, wenn die unmittelbar vorgesetzte Dienstbehörde des seine Pensionirung nachsuchenden Beamten die Erklärung abgiebt, daß sie nach pflichtmäßigem Ermessen den Beamten für unfähig halte, seine Amtspflichten ferner zu erfüllen. Diese Erklärung ist aber für die Behörde, welche über die Versetzung in den Ruhestand zu entscheiden hat, nicht bindend; die letztere Behörde kann theils andere Beweismittel erfordern, theils die beigebrachten Beweismittel der vorgesetzten Dienstbehörde entgegen für ausreichend erachten R.-G. §. 53. . e ) Ueber das Verlangen des Beamten, pensionirt zu werden, findet ein Verfahren im Rechtswege nicht statt. Die oberste Reichs- behörde hat vielmehr zu entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkte dem Antrage stattzugeben ist, sowie ob und welche Pension dem Beamten zusteht. Bei denjenigen Beamten, welche eine Kaiserliche Bestallung erhalten haben, ist die Genehmigung der Kaisers zur Versetzung in den Ruhestand erforderlich R.-G. §. 54. . Die Entscheidung der obersten Verwaltungsbehörde ist, wenn der Beamte seinen Anspruch auf Pension vor Gericht verfolgt, für die Beurtheilung dieses Anspruchs maßgebend R.-G. §. 155. . 2. Pensionirung auf Verlangen der Reichsre- gierung . a ) Ohne eingetretene Dienstunfähigkeit können jederzeit ent- lassen werden der Reichskanzler, der Präsident des Reichskanzler- Amtes, der Chef der Kaiserlichen Admiralität und der Staats- Sekretär im Auswärtigen Amte. Sie haben den Anspruch auf Pension, wenn sie mindestens zwei Jahre das betreffende Amt be- kleidet haben R.-G. §. 35. . b ) Jeder Reichsbeamte kann von dem Zeitpunkte ab, mit welchem die Pensionsberechtigung für ihn eingetreten ist, wider seinen Willen pensionirt werden, wenn er durch Blindheit, Taub- heit oder ein sonstiges Gebrechen oder wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zu der Erfüllung seiner Amts- pflichten dauernd unfähig ist R.-G. §. 61. . Das Verlangen der Regierung §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. ist dem Beamten, resp. einem demselben hierzu besonders zu be- stellenden Kurator, von der vorgesetzten Dienstbehörde unter An- gabe der Gründe und des zu gewährenden Pensionsbetrages mit- zutheilen. Erhebt der Beamte innerhalb sechs Wochen keine Ein- wendung, so wird ebenso verfahren, als hätte der Beamte seine Pensionirung beantragt; er erhält jedoch den vollen Gehalt noch bis zum Ablauf desjenigen Vierteljahres, welches auf den Monat folgt, in dem ihm die Verfügung über die erfolgte Versetzung in den Ruhestand mitgetheilt ist R.-G. §. 63. . Erhebt der Beamte jedoch Widerspruch, so findet ein ver- waltungsgerichtliches Verfahren mit Ausschluß des Rechtsweges R.-G. §. 155. statt. Die oberste Reichsbehörde hat zu beschließen, ob dasselbe eintreten soll, und den Beamten zu ernennen, welchem die Instruk- tion der Sache obliegt. Der letztere hat die streitigen Thatsachen zu erörtern und die Zeugen und Sachverständigen zu vernehmen. Zu den Verhandlungen ist ein vereideter Protokollführer zuzuziehen. Der Beamte, welcher in den Ruhestand versetzt werden soll, oder dessen Kurator, kann den Verhandlungen beiwohnen und zum Schluß seine Erklärung abgeben und seinen Antrag stellen. Die geschlossenen Akten werden der obersten Reichsbehörde eingereicht, welche eine Vervollständigung der Ermittelungen anordnen kann R.-G. §. 64. 65. Abs. 1. . Die Entscheidung erfolgt in Betreff derjenigen Beamten, welche eine Kaiserliche Bestallung erhalten haben, vom Kaiser im Einvernehmen mit dem Bundesrathe; in Betreff der übrigen Be- amten von der obersten Reichsbehörde, gegen deren Entscheidung aber dem Beamten binnen einer Frist von vier Wochen nach dem Empfang derselben der Rekurs an den Bundesrath zusteht R.-G. §. 66. Die oberste Reichsbehörde kann jedoch des Rekursrechtes ungeachtet, dem Beamten die weitere Amtsverwaltung untersagen, nicht aber den Gehalt ihm verkürzen. . Die Zahlung des vollen Gehaltes dauert bis zum Ablauf des Vierteljahres das auf den Monat folgt, in welchem dem in Ruhestand versetzten Beamten die Entscheidung des Kaisers oder der obersten Reichsbehörde zugestellt worden ist R.-G. §. 67. Also nicht das Datum der Entscheidung, sondern das der Insinuation ist maßgebend. . §. 45. Die Beendigung des Dienstverhältnisses. Die baaren Auslagen für die durch die Schuld des zu pen- sionirenden Beamten veranlaßten erfolglosen Ermittelungen fallen demselben zur Last; andere Kosten werden für das Verfahren nicht in Ansatz gebracht R.-G. §. 65 Abs. 2. . c ) Vor dem Zeitpunkte, mit welchem die Pensionsberechtigung eintreten würde, kann ein dienstunfähig gewordener Reichsbeamter nach denselben Vorschriften unfreiwillig in den Ruhestand versetzt werden, wenn ihm diejenige Pension bewilligt wird, welche ihm bei Erreichung des vorgedachten Zeitpunktes zustehen würde. Hierzu ist aber eine mit Zustimmung des Bundesrathes zu erlassende Verfügung der Reichsbehörde erforderlich R.-G. §. 68 Abs. 2. . Wird dem Beamten diese Pension nicht gewährt, so kann er gegen seinen Willen nur unter Beobachtung derjenigen Formen, welche für das förmliche Disciplinar-Verfahren vorgeschrieben sind, in den Ruhestand versetzt werden R.-G. §. 68 Abs. 1. Die Disciplinarbehörde hat in diesem Falle über den Betrag der zu gewährenden Pension zu entscheiden. §. 75 letzter Abs. . d ) Die Vorschriften des Reichsbeamtengesetzes über die un- freiwillige Versetzung in den Ruhestand finden keine Anwendung auf die im §. 158 dieses Gesetzes aufgeführten Reichsbeamten. Statt ihrer gelten die Bestimmungen des Preuß. Ges. v. 7. Mai 1851 §. 56—63 B.-G.-Bl. v. 1869 S. 209. (Anlage zum Ges. v. 12. Juni 1869.) . Sie weichen darin ab, daß der Beschluß über die Versetzung in den Ruhestand, sowohl was die Einleitung des Verfahrens als die Entscheidung nach Feststellung des Thatbestan- des anlangt, nicht von der obersten Verwaltungsbehörde resp. dem Bundesrathe, sondern von dem Plenum des Oberhandelsgerichts und des Bundesamtes für das Heimathwesen hinsichtlich der Mit- glieder dieser Behörden, des Preuß. Obertribunals hinsichtlich der Mitglieder des Rechnungshofes Preuß. Ges. v. 27. März 1872 §. 5. und General-Auditoriats Preuß. Ges. v. 7. Mai 1851 §. 75. , und vom Preuß. General-Auditoriat hinsichtlich der Marine-Auditeure und der Auditeure der unter Preußischer Verwaltung stehenden Kontigente Preuß Ges. v. 7. Mai 1851 a. a. O zu fassen ist. §. 46. Einfluß des Beamten-Verhältnisses auf and. rechtl. Verhältnisse. §. 46. Einfluß des Beamten-Verhältnisses auf andere rechtliche Verhältnisse. Das Staatsdiener-Verhältniß kann rechtliche Erheblichkeit in mehrfachen Beziehungen haben, welche nicht mit dem Anstellungs- Vertrage und den durch denselben begründeten Rechten und Pflich- ten in nothwendigem, logischem Zusammenhang stehen. Es können nämlich für Beamte Rechtsregeln aufgestellt sein, welche das zwi- schen dem Staate und dem Beamten bestehende Rechtsverhältniß nicht zum Objekt haben, sondern nur zum Motiv; sei es, daß sie die Anwendbarkeit allgemeiner Rechtssätze auf Beamte ausschließen, weil durch dieselben die volle Erfüllung der Beamtenpflichten beinträchtigt werden könnte, sei es, daß sie spezielle Rechtssätze aufstellen, für deren Anwendung die Beamten-Eigenschaft Voraussetzung ist, um den thatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, welche bei Gelegenheit der Amtsführung entstehen können. Die hier in Be- tracht kommenden Rechtssätze betreffen theils den Gerichtsstand der Beamten, theils Befreiungen derselben von allgemeinen staatsbür- gerlichen Lasten, theils Beschränkungen oder Begünstigungen der- selben in privatrechtlichen Verhältnissen. Hinsichtlich des Gerichtsstandes besteht die Nothwendigkeit, für den Fall, daß der Beamte im Auslande seinen Amtssitz hat, die Zuständigkeit eines inländischen Gerichtes anzuordnen, und es kann ferner im Inlande für den Beamten ein dienstlicher Wohnsitz ( domicilium necessarium ) mit der Wirkung bestehen, daß derselbe einen allgemeinen Gerichtsstand begründet, selbst wenn der Beamte thatsächlich seinen Wohnsitz in einem andern Gerichtssprengel, etwa in einem Nachbarorte seines Amtssitzes hat. In Betreff der Befreiungen von allgemeinen Lasten kommen in Betracht Begünstigungen oder Befreiungen rücksichtlich der Be- steuerung, der Verpflichtung zur Uebernahme von Vormundschaften, von Gemeindeämtern, des Geschworenen-Dienstes. In privatrechtlichen Verhältnissen betreffen die für Beamte ge- gebenen Spezialvorschriften Beschränkungen der Zwangsvollstreckung und der Arrestlegung auf das Diensteinkommen, die Aufhebung von Mieths-Verträgen im Falle der Versetzung, die Mitwirkung einer Staatsbehörde bei der Siegelung des Nachlasses eines Staatsbe- amten, die Nothwendigkeit von Eheconsensen, die Vorrechte des §. 46. Der Einfluß des Beamten-Verhältnisses. Fiskus bei vermögensrechtlichen Ansprüchen gegen den Beamten in und außerhalb des Concurses. In allen diesen Beziehungen hat das Reichsbeamten-Gesetz §. 19 den Grundsatz aufgestellt, daß, sofern nicht durch Reichsge- setz Bestimmung getroffen ist, die aktiven und die aus dem Dienst geschiedenen Reichsbeamten nach denselben Rechtsvorschriften zu beurtheilen sind, welche an ihren Wohnorten für die aktiven, be- ziehungsweise aus dem Dienste geschiedenen Staatsbeamten gelten. In den verschiedenen Rechtsgebieten Deutschlands sind demnach die rechtl. Verhältnisse der Reichsbeamten verschieden normirt; dagegen sind Reichsbeamte und Landesbeamte in jedem einzelnen Rechtsge- biet gleichgestellt. „Für diejenigen Reichsbeamten, deren Wohnort außerhalb der Bundesstaaten sich befindet, kommen hinsichtlich dieser Rechts- verhältnisse vor Deutschen Behörden die gesetzlichen Bestimmungen ihres Heimathsstaates und in Ermangelung eines solchen, die Vorschriften des Preußischen Rechts zur Anwendung“ Reichsges. §. 19 Abs. 1. . Unter dem Heimathsstaat ist derjenige Deutsche Staat zu verstehen, in welchem der Reichsbeamte die Staatsangehörigkeit hat. Unter der „Ermangelung eines Heimathsstaates“ ist daher gemeint „in Ermangelung der Reichsangehörigkeit“; so daß nicht etwa das Recht des Heimathsstaates eines im Reichsdienst angestellten Aus- länders Anwendung finden darf, was nach der Wortfassung des §. 19 allerdings bei buchstäblicher Interpretation nicht ausgeschlossen ist. Für den anderen Fall, der wohl öfter vorkommen mag Siehe oben S. 137. , daß ein Reichsbeamter in mehreren Deutschen Staaten staats- angehörig ist, hat das Gesetz keine Bestimmung getroffen, welches Staates Gesetzgebung alsdann maaßgebend ist, und ebenso wenig, was unter den „Vorschriften des Preußischen Rechts“ zu verstehen ist, wenn in den verschiedenen Rechtsgebieten Preußens verschiedene Vorschriften gelten Nach Analogie des §. 12 des Kautionsges. v. 2. Juni 1869 und des §. 21 des Beamtengesetzes ist in diesem Falle unter dem Preußischen Recht wohl das in Berlin geltende Recht zu verstehen. Warum man sich bei § 19 nicht an die bessere Fassung des §. 12 des Kautionsgesetzes angeschlossen hat, ist nicht erfindlich. . auf andere rechtliche Verhältnisse. Hinsichtlich des Gerichtsstandes derjenigen Reichs- beamten, deren dienstlicher Wohnsitz sich im Auslande befindet, hat das Reichs-Beamtengesetz §. 21 Wiederholt im Entw. der Civilprozeß-Ordn. §. 16. folgende Anordnungen ge- troffen: Sie behalten den ordentlichen persönlichen Gerichtsstand, welchen sie in ihrem Heimathsstaate hatten Wenn demnach Jemand in den diplomatischen Dienst des Reiches ein- tritt, und sogleich im Auslande verwendet wird, so behält er, wie lange er auch außerhalb des Reiches seinen dienstlichen Wohnsitz hat, immer denjenigen Gerichtsstand bei, welchen er in seinem Heimathsstaat vor seinem Eintritt in den Reichsdienst hatte. Ein Gerichtsstand in Berlin wird für ihn nicht da- durch begründet. . In Ermange- lung eines solchen Gerichtsstandes ist ihr ordentlicher persönlicher Gerichtsstand in der Hauptstadt des Heimathsstaates begründet Diese Bestimmung kann zu sonderbaren Consequenzen führen. Ein Sachse, welcher seinen Wohnsitz in Hamburg oder Stettin seit langer Zeit ge- habt hat, wird als Berufskonsul in das Ausland geschickt. Sein Heimaths- staat ist Sachsen, seinen ordentlichen persönlichen Gerichtsstand hatte er dem- nach nicht in seinem Heimathsstaat; mithin wird für ihn durch seine Ueber- siedlung in den ausländischen Wohnort sein bisheriger Gerichtsstand von Ham- burg oder Stettin nach Dresden übertragen! . Hat der Reichsbeamte keinen Heimathsstaat d. h. mangelt ihm die Reichsangehörigkeit, so ist sein Gerichtsstand vor dem Stadtgericht zu Berlin begründet. Ausgenommen von diesen Bestimmungen sind die Wahlkonsuln , welche an dem Orte ihres Wohnsitzes ihren ordentlichen Gerichtsstand haben. Befindet sich der dienstliche Wohnsitz des Reichsbeamten in einem Lande, in welchem Reichs- Konsular-Gerichtsbarkeit besteht, so kann der Beamte zugleich dieser Gerichtsbarkeit nach Maßgabe des Gesetzes vom 8. Nov. 1867 unterliegen R.-G. §. 22. . In Betreff der Militärbeamten sind die Vorschriften der Landesgesetze durch die im Reichsmilitärgesetz v. 2. Mai 1874 §. 39 ff. getroffenen Anordnungen theils aufgehoben theils aus- drücklich in Kraft erhalten z. B. in den §§. 45. 46. 48. Hinsichtlich des Eheconsenses ist im §. 40 des citirten Gesetzes angeordnet, daß die Militärpersonen des Friedensstandes zu ihrer Verheirathung der Genehmigung ihrer Vorgesetzten be- dürfen; im Reichsgesetz über die Eheschließung v. 6. Febr. 1875 Laband , Reichsstaatsrecht. I. 32 § 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. §. 38 sind die Vorschriften, welche die Ehe der Militärper- sonen , der Landesbeamten und der Ausländer von einer Erlaubniß abhängig machen, in Kraft erhalten worden. Für die Civil-Beamten des Reiches ist demnach ein Consens nicht erfor- derlich Hinschius Kommentar zu diesem Gesetz S. 131 Note 88. Ganz zweifellos ist diese Auslegung übrigens nicht. Man könnte auch argumentiren: Die Reichsbeamten unterliegen nach §. 19 des Beamtengesetzes den Rechtsvor- schriften, welche an ihrem Domizil für die Landesbeamten bestehen, folglich auch den nach §. 38 des Ges. v. 6. Febr. 1875 in Kraft erhaltenen Vorschriften über die Nothwendigkeit eines Eheconsenses. Aus den Motiven zu diesem Ge- setz (Drucks. des Reichstages 1874/75 III. Nro. 153 S. 33 zu §. 37 des Entw.) ergiebt sich aber deutlich, daß durch den Ausdruck „Landesbeamte“ die Reichs- beamten ausgeschlossen werden sollten. . Eine weitere Ausgleichung der gegenwärtig noch bestehenden Verschiedenheiten wird durch die allgemeine Civilprozeß- Entw. der Civilpr.-Ordn. v. 1874 §. 664 Nro. 6 und 7. §. 682. 696. 736. 757. und Konkurs-Ordnung Entw. der Konk.-Ordn. v. 1875 §. 54 Nro. 5. bewirkt werden. Im Übrigen ist die Thatsache, daß die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten in einzelnen Beziehungen durch die Landesgesetze normirt werden, ebenso eine Folge des bundesstaatlichen Charakters des Reiches, wie die gegenüberstehende Thatsache, daß die Rechtsverhältnisse der Landesbeamten in zahlreichen Punkten durch Reichsgesetze geregelt sind. Vierter Abschnitt . Der Reichstag. §. 47. Allgemeine Charakteristik. Die Institution des Reichstages des Deutschen Reiches bietet staatsrechtlich keine Schwierigkeiten dar wie Kaiserthum und Bun- desrath, da sie keine neue und der Reichsverfassung eigenthümliche Einrichtung ist, sondern dem im constitutionellen Staatsrecht längst wissenschaftlich erörterten Begriff der sogenannten Volksvertretung entspricht. In politischer Beziehung nimmt das Deutsche Reich zwar unter allen großen Staaten auch in dieser Hinsicht eine be- sondere Stellung ein, weil hier das Einkammersystem mit einem §. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. allgemeinen, fast unbeschränkten Wahlrecht verbunden und dem Reichstage eine höchst ausgedehnte Kompetenz eingeräumt ist; so daß die Forderungen der demokratischen Partei in der Deutschen Reichsverfassung in ungewöhnlichem Grade befriedigt worden sind. Für die staatsrechtliche Construktion des Reichstages als eines Organs des Reiches und für die rein juristische Bestimmung der ihm obliegenden Funktionen ist dies aber nicht von erheblicher Be- deutung. Seinem Begriff und Wesen und seiner Stellung im Verfassungsbau des Reiches nach unterscheidet sich der Reichstag nicht von anderen Volksvertretungen, Parlamenten, Kammern, Landtagen Daß der Reichstag keine eigenartige Schöpfung ist, zeigt sich äußerlich schon darin, daß der ihn betreffende Abschnitt der Reichsverfassung die Origi- nalität vermissen läßt, welche die übrigen Abschnitte derselben in so hohem Grade auszeichnet. Alle Artikel dieses Abschnittes sind Artikeln der Preuß. Verf.-Urkunde v. 31. Januar 1850 nachgebildet, z. Th. ihnen wörtlich ent- nommen, wie folgende Zusammenstellung zeigt. Reichsverf. Preuß. Verf. 21 78 Abs. 2. 3. 22 Abs. 1. 79 — Abs. 2. Preßges. v. 12. Mai 1851 §. 38. 23 (81 Abs. 3.) 24 73 25 51 26 52 27 78 Abs. 1. 28 80 29 83 30 84 Abs. 1. 31 84 Abs. 2—4. 32 (85) Hinsichtlich dieses Theils des Reichsrechts kömmt daher dem Preuß. Staats- recht für die historische und dogmatische Erörterung eine erhöhte Bedeutung zu. . Eine besondere Untersuchung erfordert allein die Frage, welchen Einfluß der bundesstaatliche Charakter des Reiches auf die Institution des Reichstages ausübt. Es wäre an und für sich möglich gewesen, das für die Bildung des Bundesrathes maaß- gebende Princip auf den Reichstag insofern anzuwenden, daß die Bevölkerungen der Einzelstaaten Abgeordnete wählen, welche im Reichstage zwar zu einem einheitlichen Collegium sich vereinigen, 32* §. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. welche aber nicht das Deutsche Volk als Gesammtheit, sondern das Volk der einzelnen Staaten, in denen sie gewählt sind, zu vertreten haben. Auf diesem Gedanken beruhte der in dem Oesterreichischen Reformprojekt von 1863 enthaltene Vorschlag einer sogenannten Delegirten-Versammlung. Schon damals hob der Bericht des Preußischen Staatsministeriums v. 15. Sept. 1863 hervor, daß eine solche Versammlung „auf die Vertretung von Partikular- Interessen, nicht von Deutschen Interessen hingewiesen ist“ und „daß das Spiel und Widerspiel dynastischer und partikularistischer Interessen sein Gegengewicht und sein Correctiv in einer wahren, aus direkter Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden National-Vertretung finden muß“ Hahn Zwei Jahre Preuß.-deutsch. Politik S. 60. . Derselbe Gesichtspunkt wurde bei den Preußischen Reform- Vorschlägen von 1866 entschieden betont und festgehalten und er hat in der Norddeutschen Bundesverfassung einen klaren und un- zweideutigen Ausdruck im Art. 29 gefunden: „Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des ge- sammten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.“ Bei der Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen Reiche wurde dieser Charakter des Reichstages zwar beibehalten und der Art. 29 deshalb unverändert gelassen, es wurde aber zu Art. 28 der Zusatz beigefügt: Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Bunde gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur der- jenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist. Diese Bestimmung war analog der im Art. 7 Abs. 4. vom Bundesrath getroffenen Anordnung. Während die letztere aber mit dem Wesen des Bundesrathes, der aus Vertretern der ein- zelnen Bundesglieder besteht, vollkommen übereinstimmt Ganz und gar verkannt wird dieser Unterschied von Westerkamp S. 108. 109. Note. , stand Art. 28 Abs. 2 im schärfsten Widerspruch mit dem Wesen des Reichstages, dessen Mitglieder nach Art. 29 nicht Vertreter der Bevölkerungen einzelner Staaten, sondern des gesammten Volkes §. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. sind Dies wurde sehr richtig hervorgehoben vom Abg. Freih. von Hover- beck und dem Abg. Hirsch im Nordd. Reichstage von 1870. II. Sess. Stenogr. Ber. S. 123. 124. . Da die logische Inconsequenz auch praktische Uebelstände mit sich brachte, so wurde bereits durch das Reichsgesetz vom 24. Febr. 1873 (R.-G.-Bl. S. 45.) diese, den 2. Absatz des Art. 28 bildende, Verfassungsbestimmung wieder beseitigt Seydel Kommentar S. 139—142 verwerthete Art. 28 Abs. 2 zur Be- gründung der Theorie, daß die Abgeordneten Vertreter der Bevölkerung des Staates sind, in dem sie gewählt wurden, und glaubte Art 29 für eine „poli- tische Phrase“ erklären zu dürfen. Durch die Aufhebung des Art. 28 Abs. 2 ist dieser Deduction der Boden entzogen worden. . In dem Reichstage hat somit die dem Deutschen Reiche an- gehörende Bevölkerung als Gesammtheit eine einheitliche Vertre- tung gefunden. Mitgliedschaftsrechte der einzelnen Bun- desglieder kommen in keiner Beziehung mittelst des Reichstages zur Ausübung, sondern der Reichstag ist ausschließlich ein Organ des Reiches als einer über den Einzelstaaten stehenden staatlichen Ordnung. Demgemäß ist es auch keineswegs inconsequent, daß Elsaß-Lothringen nicht im Bundesrathe, wohl aber im Reichstage vertreten ist. Im Bundesrathe kann es nicht vertreten sein, weil es nicht Mitglied des Bundes ist; zum Reichstage muß es Abgeordnete zu wählen berechtigt sein, weil die Bevölkerung von Elsaß-Lothringen staatsrechtlich ein Theil des Deutschen Volkes ist. Dem Wesen des Reichstages als einer Vertretung des gesamm- ten Deutschen Volkes entsprechend ist die Bestimmung des Wahl- gesetzes vom 31. Mai 1869 §. 1. (B.-G.-Bl. S. 145): „Wähler für den Deutschen Reichstag ist jeder Deutsche — — — — in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohnsitz hat.“ Wären die in Preußen, Sachsen, Bayern gewählten Reichs- tags-Abgeordneten Vertreter der Angehörigen dieser Staaten, so könnten landesfremde Reichsangehörige an den Wahlen keinen Antheil nehmen Seydel S. 142 setzt sich über die Bestimmung des §. 1 mit der Bemerkung hinweg, daß sie „eine aus praktischen Gründen sehr wohl zu rechtfertigende Anomalie enthält.“ ; ist der Reichstags-Abgeordnete aber ein Ver- treter des gesammten Deutschen Volkes, so genügt die Reichs-An- gehörigkeit zur Begründung des Wahlrechts und es kann dasselbe §. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. ausgeübt werden, wo immer der Reichs-Angehörige im Deutschen Reichsgebiete seinen Wohnsitz hat. Nur in einer Beziehung erweist sich der bundesstaatliche Charakter des Reiches auch hinsichtlich des Reichstages als wirk- sam und zwar in Bezug auf die Abgränzung der Wahlkreise. Das Princip, daß der Reichstag eine Vertretung des gesammten Volkes ist, würde bei consequenter Durchführung die Wirkung äußern, daß die Wahlkreise ohne Rücksicht auf die Gränzen der Einzel- staaten ausschließlich nach der Einwohnerzahl und nach örtlichen Verhältnissen abgegränzt würden. Diese Consequenz ist jedoch nicht gezogen worden. Nach dem Wahlgesetz v. 31. Mai 1869 §. 5 werden die Abgeordneten gewählt „in jedem Bundesstaate.“ Kein Wahlkreis umfaßt Gebiete verschiedener Staaten. In einem Bun- desstaate, dessen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird trotzdem Ein Abgeordneter gewählt. Der Grundsatz, daß jeder Wahlkreis einen räumlich zusammenhängenden, möglichst abgerunde- ten Bezirk bilden solle, erleidet eine Ausnahme hinsichtlich der Enclaven. In dem Wahlgesetz, dem dazu erlassenen Reglement v. 28. Mai 1870 Anlage C. (B.-G.-Bl. S. 289) und dem Art. 20 der R.-V. wird ein Katalog aufgestellt, wie viele Abgeordnete auf die einzelnen Staaten kommen. Hiernach kommt, wäh- rend in subjektiver Beziehung die Staat sangehörigkeit der Wähler für die Wahlberechtigung juristisch unerheblich ist, in räumlicher Beziehung die Staatsangehörigkeit des Gebietes in Betracht und da thatsächlich die überwiegende Masse der Bevölkerung eines Ge- bietes die Staatsangehörigkeit des letzteren theilt, so ist in Rücksicht auf die Bildung der Wahlkörper die Gliederung des „gesammten“ Deutschen Volkes in Bevölkerungen der Einzelstaaten keineswegs ganz wirkungslos. II. Von den Mitgliedern des Reichstages wird im Art. 29 derselbe Ausdruck gebraucht wie im Art. 6 von den Mitgliedern des Bundesrathes, sie sind „Vertreter.“ Während aber die Bun- desrathsmitglieder grade darum, weil sie Vertreter der Bundes- glieder sind, an ihre Aufträge und Instruktionen sich halten müssen, sind die Mitglieder des Reichstages als Vertreter des „gesammten Volkes“ an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Die praktische Tendenz dieser Bestimmung ist zwar nur die, den Ge- danken auszuschließen, daß der einzelne Reichstags-Abgeordnete §. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. ein Bevollmächtigter oder Mandatar desjenigen Wahlkörpers sei, dem er seine Berufung in den Reichstag verdankt; für die theore- tische Betrachtung ergiebt sich aber dieser Satz lediglich als eine logische Consequenz eines viel tiefer liegenden, allgemeinen Princips. Ebenso wenig wie die Reichstagsmitglieder an Aufträge und Instruktionen der einzelnen Wahlkörper gebunden sind, ebensowenig sind sie an Aufträge und Instruktionen des „gesammten Volkes“ gebunden; sie sind überhaupt keine Vertreter in dem Sinne, wie dieser Ausdruck im Art 6 von den Bundesraths-Mitgliedern und wie er in der Rechtswissenschaft technisch gebraucht wird; sie haben keine Vollmacht und keinen Auftrag und zwar deshalb nicht, weil es an einem Rechtssubjekt fehlt, welches ihnen Vollmacht oder Auftrag ertheilen könnte. Die einzelnen Staaten sind Rechts- subjekte, deshalb können sie im Bundesrath durch Vertreter ihre Rechte und ihren Willen geltend machen. Das gesammte Deutsche Volk hat keine vom Deutschen Reiche verschiedene und ihm gegen- über selbstständige Persönlichkeit, ist kein Rechtssubjekt und hat juristisch keinen Willen; es ist daher außer Stande, eine Vollmacht oder einen Auftrag zu ertheilen und Rechte oder Willensacte durch Vertreter auszuüben. Eine positive juristische Bedeutung hat die Be- zeichnung der Reichstagsmitglieder als Vertreter des gesammten Volkes daher nicht; im juristischen Sinne sind die Reichstagsmit- glieder Niemandes Vertreter; ihre Befugnisse sind nicht von einem anderen Rechtssubjekt abgeleitete; es giebt keinen einzigen Punkt in der ganzen Rechtsstellung der Reichstagsmitglieder, der von den Rechtsgrundsätzen über Stellvertretung, Vollmacht oder Man- dat beherrscht würde. Der Sinn der Redewendung, daß die Mit- glieder des Reichstages Vertreter des gesammten Volkes sind, ist vielmehr ausschließlich ein politischer. Der Ausdruck will sagen: Der Reichstag ist dasjenige Organ, durch welches der Antheil der Reichsangehörigen an den Willensentschlüssen und der Lebensthätig- keit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiser und Bundesrath hat das Reich noch ein drittes Organ, durch welches jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf die Politik des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, in- dem er nach den Regeln des Wahlgesetzes bei der Zusammen- setzung dieses Organes persönlich mitzuwirken befugt ist. Mit dieser Befugniß ist sein Recht aber erschöpft, mag er von ihr bei §. 47. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. der anberaumten Wahl Gebrauch gemacht haben oder nicht. Nur bei der Bildung des Reichstages hat das Volk, d. h. die Ge- sammtsumme aller einzelnen wahlberechtigten Reichsangehörigen eine rechtliche Mitwirkung am staatlichen Leben des Reiches; es ist bei jeder Wahl nur ein einmaliger Akt, durch welchen der Reichsangehörige sein politisches Recht bethätigt. Als unjuristisch muß dagegen die Auffassung bezeichnet werden, daß das Volk durch den Reichstag als seine Vertretung fortlaufend einen Antheil an den Staatsgeschäften des Reiches ausübt. Sowie die Wahl erfolgt ist, hört jeder Antheil, jede Mitwirkung, jeder rechtlich relevante Einfluß des „gesammten Volkes“, d. h. aller einzelnen Reichsangehörigen auf die Willensentschlüsse des Reiches auf. Der Reichstag ist innerhalb seiner Zuständigkeit ebenso selbstständig be- rechtigt wie der Kaiser; er ist in keinem anderen Sinne Vertreter des gesammten Volkes als so, wie auch der Kaiser es ist. Nur die Berufung erfolgt in verschiedener Weise; die Berufung zum Kaiserthum ist allen menschlichen Willens-Entschlüssen entzogen, die Berufung zum Reichstage erfolgt durch Willenshandlungen aller einzelnen (wahlberechtigten) Reichsangehörigen. Die philosophisch- historisch-politische Betrachtung mag sich daran halten, daß das „Volksethos“, „der lebendig wirkende Nationalgeist,“ „das sitt- liche Bewußtsein des Volkes“ durch den Reichstag zum Ausdruck kommen; die juristische Bestimmung des Wesens des Reichstages darf nicht durch die irreführende Bezeichnung Volksvertretung be- einflußt werden, sondern man muß festhalten, daß der Reichstag nur in dem Sinne und nur deshalb eine Volksvertretung heißt, weil jeder einzelne Reichsangehörige, der den Erfordernissen des Wahlgesetzes genügt, an der Bildung dieses Organes des Reiches sich zu betheiligen vermag. Oder mit anderen Worten: eine Volks- vertretung ist der Reichstag nicht mit Rücksicht auf seine Rechte und Pflichten, sondern nur mit Rücksicht auf seine Bildung und Zusammensetzung. Hieraus ergiebt sich, daß die Reichstags-Abge- ordneten an Instruktionen und Aufträge nicht gebunden sind, daß sie weder ihren Wählern noch dem Vorstande einer Partei oder Fraction rechtlich Rechenschaft schuldig sind für die Ausübung ihrer öffentlichen Befugnisse und deshalb auch nicht zur Verant- wortung darüber gezogen werden können, ferner daß ihnen die Mitgliedschaft im Reichstage von ihren Wählern nicht ent- §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. zogen werden darf, daß sie gegen ihre Wähler keine Ansprüche auf Ersatz von Kosten und Auslagen haben u. s. w. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. In Uebereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen des constitutionellen Staatsrechts ist der Reichstag ein Organ des Reiches, welchem zwar eine sehr wesentliche und wichtige Mitwir- kung bei den Willenshandlungen des Reiches zusteht, welches aber regelmäßig nicht befugt ist, diese Handlungen selbst vorzunehmen, die Staatsgewalt des Reiches zu handhaben, das Reich zu ver- treten. Die staatsrechtlichen Befugnisse des Reichstages bestehen demnach nicht darin, daß ein Theil der dem Reiche zustehenden Staatsgewalt von dem Reichstage ausgeübt oder die Machtvollkom- menheit des Reiches durch ihn beschränkt wird; sondern Kaiser und Bundesrath sind bei der gesammten Regierung des Reiches theils an die Zustimmung theils an die Controle des Reichstages gebunden. Es läßt sich die dem Reichstage zustehende Kompetenz grade aus diesem Grunde nicht in eine Anzahl einzelner, bestimmter Befugnisse auflösen; alle Kataloge vgl. z. B. Thudichum S. 212 fg. v. Rönne S. 170 fg. Riedel S. 35 fg. v. Pözl S. 126 fg. der Rechte, welche dem Reichs- tage zustehen, geben ein ungenaues und schiefes Bild seiner staats- rechtlichen und politischen Stellung; seine Theilnahme am Leben des Reiches durchdringt dieses Leben in allen Beziehungen und nach allen Richtungen. Keine Aufgabe, welche das Reich als der souveräne Deutsche Staat zu erfüllen hat, kein Gebiet des natio- nalen Gesammtlebens, auf welches die Fürsorge des Reiches sich erstreckt, bleibt von der Theilnahme und Mitwirkung des Reichs- tages ausgenommen. Materiell reicht die Zuständigkeit des Reichstages genau ebensoweit wie die Zuständigkeit des Reiches . Die Frage nach der Kompetenz des Reichstages ist vielmehr zurückzuführen auf die Untersuchung, welche Formen für die Willensthätigkeit des Reiches vorgeschrieben sind, um dem Reichs- tage die Mitwirkung und Theilnahme an dieser Willensthätigkeit zu sichern. Soweit die Fassung eines rechtlich verbindlichen Ent- schlusses, die Ausübung eines staatlichen Hoheitsrechts an eine Form gebunden ist, welche die Zustimmung und Mitwirkung des Reichstages in sich schließt, soweit ist der Reichstag an dieser §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Willens-Entscheidung und an diesem Hoheitsrechte mitbetheiligt. Diese Formen geben die Gränzlinien an, durch welche diejenigen Acte der Reichsgewalt, zu deren Gültigkeit die Zustimmung des Reichstages erforderlich ist, von denen getrennt werden, welche dieser Zustimmung nicht bedürfen. In dieser Beziehung kommen folgende Punkte in Betracht: I. Der Cardinalsatz, welcher für die staatsrechtliche Stellung des Reichstages das eigentliche Fundament bildet, ist der, daß zu einem Reichsgesetz ein Reichstagsbeschluß erforderlich ist. R.-V. Art. 5. Keine Rechtssatzung erlangt gesetzliche Gültigkeit, wenn sie nicht der Reichstag genehmigt hat, es sei denn, daß sie eine bloße Ausführungsbestimmung eines Gesetzes ist. (R.-V. Art. 7 Ziff. 2.) Durch diesen Grundsatz ist der Regierung des Reiches jede Abänderung des bestehenden Rechtszustandes, jede Maßregel, welche die Herstellung eines neuen Rechtssatzes erfordert, jede Auf- hebung gesetzlich begründeter Einrichtungen ohne die Zustimmung des Reichstages unmöglich gemacht. Die Wirkung dieses Prin- cips erstreckt sich gleichmäßig auf alle Gebiete der staatlichen Thätigkeit, Rechtspflege, Wohlfahrtspflege, Schutz gegen das Aus- land, Finanzwesen. Die Gesetzgebung ist nicht ein Theil der Staatsgewalt sondern eine Form , in welcher sie sich äußert; es giebt keine legislative Gewalt, sondern nur eine Bethätigung der Staatsgewalt in legislativer Form Die nähere Darstellung der Lehre von der Gesetzgebung wird im II. Bande folgen. . Die Zustimmung des Reichstages zu Gesetzen kann nicht nur erfolgen, wenn die letzteren vom Bundesrathe vorgeschlagen sind, sondern der Reichstag kann auch seinerseits Gesetze vorschlagen; er hat das sogenannte Recht der Initiative. R.-V. Art. 23. II. Die Form des Gesetzes ist nicht nur anwendbar bei der Aufstellung von Rechtsnormen, sondern auch bei der Beschlußfas- sung über Verwaltungsgeschäfte im umfassendsten Sinne dieses Ausdrucks. Soll der Reichstag eine positive Mitwirkung an der Erledigung dieser Geschäfte, resp. an der Entscheidung, ob und wie sie vorgenommen werden sollen, erhalten, so wird dieses Re- sultat dadurch erreicht, daß der Weg der Gesetzgebung vor- geschrieben wird. Dies ist in folgenden Fällen geschehen: 1) Der Reichshaushalts-Etat wird durch ein Gesetz festgestellt. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. R.-V. Art. 69. Dadurch hat der Reichstag nicht nur Gelegenheit, die Finanzwirthschaft des Reiches mit zu beherrschen, und in Aus- sicht genommene Regierungshandlungen oder Einrichtungen durch Be- willigung oder Versagung der dazu erforderlichen Geldmittel zu ge- nehmigen oder zu verhindern, sondern auch die gesammte Verwaltung, die Organisation und Thätigkeit aller Behörden und alle hervortre- tenden Bedürfnisse bei der Berathung über die einzelnen Ansätze des Etats seiner Controle und Kritik zu unterziehen. Die Vorschrift, daß der Reichshaushalts-Etat mit Genehmigung des Reichstages fest- gestellt werden soll, ermöglicht dem Reichstage indirekt eine Ein- wirkung auf alle diejenigen Akte der Reichsregierung, für welche an sich die Form des Gesetzes nicht vorgeschrieben ist. Das Nähere wird bei der Lehre vom Finanzrecht dargestellt werden. 2) Die Aufnahme einer Anleihe, sowie die Uebernahme einer Garantie zu Lasten des Reiches kann nur erfolgen „im Wege der Reichsgesetzgebung.“ R.-V. Art. 73. 3) Das Gesetz vom 4. Dez. 1871 §. 8 (R.-G.-Bl. S. 414) bestimmte: „Die Verwendung der von Frankreich gezahlten Kriegs- entschädigung wird durch Reichsgesetz geregelt.“ In Folge dessen sind die Gesetze v. 15. Juni und 8. Juli 1872 ergangen. Das letztere reservirt 1 ½ Milliarden und ordnet im Art. VI. (R.-G.-Bl. S. 292) an, daß über diesen Betrag „im Wege der Reichsgesetz- gebung Bestimmung getroffen wird,“ und enthält im Art. VII. (R.-G.-Bl. S. 292) die Bestimmung, daß über die dem ehemaligen Norddeutschen Bunde in Gemäßheit dieses Gesetzes zufallende Ein- nahme „im Wege des Reichsgesetzes“ verfügt wird. In einer Reihe von Gesetzen ist auf Grund dieser Bestimmun- gen dann sowohl die Verwendung des reservirten Restbetrages von 1 ½ Milliarden Ges. v. 29. März, 23. Mai, 30. Mai, 12. Juni, 18. Juni und 8. Juli 1873. Ges. v. 25. Januar, 9. Februar, 10. Februar 1875. , als die Verwendung und Vertheilung des auf den Norddeutschen Bund entfallenden Antheils Ges. v. 2. Juli 1873 (R.-G.-Bl. S. 185.) Ges. v. 23. Febr. 1874 §. 4. Ges. v. 16. Febr. 1875. geregelt oder ge- setzliche Anordnung vorbehalten worden Ges. v. 2. Juli 1873 Art. 2 §. 4. 5. Ges. v. 10. Febr. 1875 §. 2 u. v- 16. Febr. 1875 §. 3. . Diese ganze Gesetz- gebung ist ihrem Inhalte nach theils eine Auseinandersetzung der an der Kriegskosten-Entschädigung betheiligten Interessenten, ( iu- §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. dicium communi dividundo ), theils ein Complex von Verfügungen, welche die Finanzwirthschaft des Reiches betreffen. Die Form des Gesetzes hatte lediglich den Zweck, dem Reichstage hierbei die Mit- wirkung zu sichern. Der eben besprochene Fall, in welchem ein großartiges Ver- waltungsgeschäft in der Form des Gesetzes erledigt worden ist, hat aber nur die Bedeutung eines Beispiels. Es ist bis jetzt der bedeutendste und wichtigste Fall seit der Gründung des Norddeutschen Bundes, in welchem die Form des Gesetzes in dieser Art Anwen- dung gefunden hat. Principiell besteht kein Hinderniß, jede denk- bare Verwaltungsmaßregel im Wege der Reichsgesetzgebung anzu- ordnen, wenn sie von solcher Wichtigkeit ist, daß es angemessen erscheint, den Reichstag an derselben zu betheiligen So schreibt z. B. auch das Ges. v. 23. Mai 1873 §. 15 für die Ver- wendung der etwa entbehrlich werdenden Aktivbestände des Reichs-Invaliden- fonds eine Bestimmung „durch Reichsgesetz“ vor. . 4) Verfassungsstreitigkeiten in den Einzelstaaten sind nach Art. 76 Abs. 2 der R.-V. unter den daselbst aufgeführten Voraus- setzungen „im Wege der Reichsgesetzgebung“ d. h. unter Mitwir- kung des Reichstages zur Erledigung zu bringen. Vrgl. hierüber oben §. 29 S. 270 fg. III. Neben der Form des Gesetzes steht als fast ebenso weit- reichend die Form der Genehmigung . Wo die Genehmigung des Reichstages gesetzlich erfordert wird, ist demselben politisch kein geringeres Mitwirkungsrecht zugestanden als bei der Gesetz- gebung. Allein staatsrechtlich besteht zwischen den beiden Formen ein sehr erheblicher Unterschied. Für ein Gesetz ist die Zustim- mung des Reichstages begriffliche Voraussetzung ; fehlt es an derselben, so ist das Gesetz nicht etwa blos unter Verletzung des öffentlichen Rechtes zu Stande gekommen, sondern es ist überhaupt gar kein Gesetz. Ein ohne Zustimmung des Reichstages erlassenes Reichsgesetz ist eine contradictio in adjecto. In dem Gesetz er- scheinen der Wille des Bundesrathes und der Wille des Reichs- tages nicht getrennt; es enthält nicht zwei Willenserklärungen von identischem Inhalt; sondern das Gesetz nimmt die übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüsse von Bundesrath und Reichstag in sich auf, es verbindet sie zu einem einheitlichen Akt, zu einer Willenserklärung der einen einheitlichen Reichsgewalt. Im Gegensatz hierzu ist die §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Genehmigung des Reichstages alsdann vorgeschrieben, wenn es sich um Regierungsacte handelt, zu deren Vornahme formell der Bundesrath oder der Kaiser, resp. die Reichsbehörden, befugt sind, die ihrem Wesen nach auch ohne die Zustimmung des Reichs- tages vorgenommen werden könnten, deren Vornahme aber den dazu befugten Organen ohne diese Zustimmung untersagt ist. Wer- den diese Handlungen dessen ungeachtet vorgenommen, so sind sie keineswegs nichtig. Wären sie es, so könnten sie auch durch nach- trägliche Genehmigung des Reichstages nicht wirksam werden; so wenig wie ein „Gesetz,“ das etwa nach seiner eigenen Angabe ohne Zustimmung des Reichstages erlassen wäre, dadurch gültig werden könnte, daß der Reichstag nachträglich durch eine Resolution sich mit ihm einverstanden erklärt. Vielmehr bedürfen diese Handlungen zu ihrer formellen Rechtsbeständigkeit nicht der Zustimmung des Reichstages. In sehr zahlreichen Fällen kann die Zustimmung des Reichstages gar nicht der Regierungshandlung vorausgehen , sondern nur ihr nachfolgen. Die staatsrechtliche Bedeutung der Vorschrift, daß zu einer Handlung der Regierung die Genehmigung des Reichstages er- forderlich ist, kann nach Lage des Falles sehr verschieden sein. Es kommt dabei im Wesentlichen auf den Inhalt der Verfügung an; namentlich aber darauf, ob die Zustimmung des Reichs- tages im Voraus ertheilt war oder nachträglich einzuholen ist. War dieselbe schon vorher ertheilt, so wird die Regierungshand- lung unbedingt und definitiv wirksam. Wenn die Genehmigung des Reichstages nachträglich noch einzuholen ist, so erfolgt die Re- gierungshandlung unter dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vorbehalt dieser Genehmigung. Wird dieselbe ertheilt, so er- ledigt sich dieser Vorbehalt — und die Regierungshandlung wird in derselben Art wirksam, als wäre sie unbedingt vorgenommen worden. Wenn dagegen die Genehmigung versagt wird, so ist die Bedingung nicht eingetreten, und die von der Regierung unter dieser Bedingung abgegebenen Willenserklärungen erlangen ent- weder keine Wirksamkeit oder verlieren, wenn sie interimistisch wirksam waren, durch die Versagung der Genehmigung (also ex nunc ) ihre Wirksamkeit Man nennt sehr häufig, auch in Gesetzen, die vorhergehende Zustimmung „Ermächtigung“, die nachfolgende „Ratihabition“. Die Analogie mit dem Man- . In beiden Fällen aber, mag die Zustimmung §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. des Reichstages vorausgehen oder nachfolgen, steht dieselbe selbst- ständig und unabhängig neben der Willenserklärung der Regie- rung; sie bildet nicht, wie bei dem Gesetz, einen integrirenden Be- standtheil des staatlichen Willensactes, sondern eine Willenserklä- rung für sich. Bei dem Gesetze erklärt der Staat seinen Willen in einer Form, welche die Willenserklärungen seiner Organe mit einander verschmilzt; im Falle der Genehmigung einer Regierungs- handlung durch den Reichstag werden die Willenserklärungen der Organe formell getrennt erhalten. Dadurch wird der praktische Zweck erreicht, daß Dritten gegenüber das Reich seinen Willen durch seine zur Vertretung befugten Regierungsorgane erklären kann und daß die ganze Frage, ob die Genehmigung des Reichstages ertheilt worden ist, ob sie überhaupt erforderlich ist, ob sie unter Einschrän- kungen oder unter Gegenzugeständnissen der Regierung zu erlangen ist u. s. w. eine gleichsam innere Angelegenheit der Organe des Reiches bleibt. Man muß es der traditionellen Darstellung des constitutio- nellen Staatsrechts zum Vorwurf machen, daß sie bei Erörterung der Kompetenz der Volksvertretung neben der Gesetzgebung die Form der Genehmigung ganz außer Betracht läßt Es beruht dies offenbar darauf, daß in politischer Beziehung beide Formen beinahe gleichwerthig erscheinen. , und zwar umsomehr als der Bereich der Anwendung dieser Form ein sehr bedeutender ist. Für das Reichsstaatsrecht gehören hierher folgende Fälle: 1) „Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4. in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluß die Zustim- mung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Ge- nehmigung des Reichstages erforderlich.“ R.-V. Art. 11 Abs. 3. dat und der Ratihabition des Civilrechts liegt auch ziemlich nahe; dennoch muß man sich hüten, diese Begriffe des Civilrechts hier einzumengen. Die Re- gierung handelt niemals als Mandatar oder negotiorum gestor des Reichs- tages sondern nur für das Reich. Die Regierung und der Reichstag sind nicht zwei, einander selbstständig gegenüber stehende Rechtssubjecte wie Man- datar und Mandant oder wie Geschäftsführer und Prinzipal, sondern sie sind zwei Organe derselben einheitlichen und untheilbaren juristischen Person, des Reiches. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Ein völkerrechtlicher Vertrag wird, selbst wenn er die Rechts- ordnung und die gesetzlich begründeten Einrichtungen des Reiches berührt und verändert, nicht in der Form des Gesetzes, sondern in der Form der Uebereinkunft verkündet und durch diese Verkün- digung verbindlich. Zum Abschluß von Verträgen mit fremden Staaten ist der Kaiser berechtigt; er ertheilt die Vollmacht zur Verhandlung des Vertrages und zur Ratificirung desselben. Es könnte demnach die Abschließung eines völkerrechtlichen Vertrages zur Umgehung der Form des Gesetzes verwendet werden, indem man eine Abänderung der Rechtsordnung, für welche vor- aussichtlich die Einwilligung des Reichstages nicht zu erlangen ist, zum Inhalt eines Vertrages mit irgend einem fremden Staate macht. Gäbe es für die Mitwirkung des Reichstages bei der Auf- stellung von Rechtssätzen keine andere Form als die des Gesetzes und will man völkerrechtliche Verträge nicht in diese Form zwängen, so hätte die Regierung es in der Hand, die Mitwirkung des Reichs- tages an der Feststellung und Abänderung der Rechtsordnung illusorisch zu machen. Hier tritt als eine der Reichsgesetzgebung gleichsam parallele Form die „Genehmigung“ des Reichstages ein. Der Vertrag braucht nicht in ein Gesetz verwandelt zu werden, sondern er bleibt, was er seinem Ursprung und Wesen nach ist; und dennoch verbleibt dem Reichstage derselbe Antheil, den ihm die Form des Gesetzes zutheilt. Da Alles, was Gegenstand der Gesetzgebung sein kann, möglicher Weise auch zum Gegenstande eines internationalen Vertrages gemacht werden kann, so erstreckt sich ideell das Erforderniß der Genehmigung des Reichstages grade soweit wie das Erforderniß der Zustimmung des Reichstages zu einem Gesetze, wenngleich thatsächlich natürlich die Form des Ge- setzes viel ausgedehntere Anwendung findet wie die Form des „genehmigten Staatsvertrages“ Die Lehre vom Abschluß von Staatsverträgen wird im II. Bande ein- gehender erörtert werden. . Erforderlich ist die Genehmigung des Reichstages bei allen Verträgen über Gegenstände, welche in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören Die Hinzufügung der Worte „nach Art 4“ im Art. 11 der R.-V. enthält keine Einschränkung und ist überflüssig. Denn der Art. 4 gränzt nicht, die Gesetzgebung gegen die Verwaltungs-Verordnung, die Kompetenz des Reichs- tages gegen die Kompetenz des Kaisers und Bundesraths, sondern die Kom- . §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. 2) Eine vielfache Anwendung findet die Form der Genehmi- gung statt des Gesetzes in Finanz-Angelegenheiten. Zwar fehlt in der Reichsverfassung eine Bestimmung, wie sie Art. 104 Abs. 1 der Preuß.-Verf.-Urk. enthält: „Zu Etats-Ueberscheitungen ist die nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich,“ durch welche für diese Genehmigung ein völliges Parallelgebiet zu der Fest- stellung des jährlichen Etats in der Form der Gesetzgebung ge- schaffen wird. Dadurch, daß diese Form nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt wird, sie ist aber keineswegs ausgeschlossen. In der Praxis des Reichsrechts hat in der That neben der Form eines Nachtrags-Etats-Gesetzes, durch welches der gesetzlich festge- stellte Etat ergänzt oder verändert wird, die Form der „Genehmi- gung“ der Etats-Ueberschreitungen unter Uebereinstimmung der Regierung und des Reichstages seit 1872 Anwendung gefunden Vgl. über diesen Punkt die Verhandlungen im Reichstage am 23. Juni 1873. Stenogr. Ber. S. 1344 ff. und der im Jahr 1873 und später wiederholt vorgelegte Gesetz- entwurf über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches beabsichtigte, diese Praxis zu sanctioniren, indem er im §. 6 vorschrieb, daß in der, dem Bundesrathe und dem Reichs- tage vorzulegenden Uebersicht die Etats-Ueberschreitungen und die außeretatsmäßigen Ausgaben „behufs deren nachträglicher Ge- nehmigung“ besonders nachzuweisen sind. Auch das Gesetz v. 30. Mai 1873 über den Festungsbau Art. VII. (R.-G.-Bl. S. 125) bestimmt, daß eine Nachweisung der Ueberschreitung solcher Etats und der außeretatsmäßigen Ein- nahmen und Ausgaben jedesmal spätestens in dem auf das Etats- jahr folgenden zweiten Jahre dem Bundesrathe und dem Reichs- tage „zur nachträglichen Genehmigung“ vorzulegen ist. Eine ähn- liche Bestimmung enthält das Gesetz über das Verwaltungs-Ver- mögen des Reiches vom 25. Mai 1873 §. 10 u. §. 11 (R.-G.-Bl. S. 15) Vgl. auch Ges. v. 8. Juli 1872 Art. IV. (R.-G.-Bl. S. 290) und den Gesetzentw. über die Verwaltung der Einnahmen u. Ausgaben des Reiches §. 2. und §. 3. hinsichtlich der Einnahmen aus der Veräußerung von Gegenständen, welche sich im Besitz der Reichsverwaltung befinden. petenz des Reiches gegen die der Einzelstaaten ab. Es giebt keinen Bereich der Reichsgesetzgebung als den nach Art 4, der jedoch nach Art. 78 selbst wieder veränderlich ist. Vgl. auch v. Mohl Reichsstaatsr. S. 335 Note 1. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Aber nicht nur bei Abweichungen vom Etat, sondern auch bei anderen Verwaltungs-Angelegenheiten von finanzieller Bedeu- tung ist dieselbe Form zur Anwendung gelangt. So erfordert z. B. das Bankgesetz v. 14. März 1875 §. 41 (R.-G.-Bl. S. 189) zur Verlängerung des Privilegiums der Reichsbank über den 1. Januar 1891 hinaus, d. h. zur Unterlassung der Kündi- gung , die „Zustimmung“ des Reichstages. Auch das Ges. v. 5. Juni 1869 über die Aufhebung der Portofreiheiten §. 13 Abs. 2 (B.-G.Bl. S. 143) überließ die Bestimmungen über die Be- rechnung und Verwendung der dadurch erwachsenden Postüber- schüsse der „Verständigung“ im Bundesrathe „unter Zustimmung des Reichstages“, es wurde also die Form der Gesetzgebung für nicht erforderlich erklärt, wohl aber die Uebereinstimmung von Bundesrath und Reichstag In ganz ähnlicher Art bestimmt das Gesetz v. 8. Juli 1872 Art. V. (R.-G.Bl. S. 291): „Die Feststellung der von den betheiligten Staaten . . . . liquidirten Beträge erfolgt durch den Bundesrath und den Reichstag.“ Vgl. dazu den Bericht der Reichstags-Kommission in den Stenogr. Berichten 1874/5 Anlagen S. 845 ff. (Aktenstück Nro. 89.) Der Reichstag beschloß (Stenogr. Ber. S. 1189), die liquidirten Beträge „festzustellen“; ein Gesetz darüber ist nicht ergangen. . 3) Ein ferneres Gebiet für die Anwendung der „Genehmigung“ liefern die Verordnungen, welche mit interimistischer Gesetzeskraft erlassen werden. Die Reichsverfassung selbst kennt zwar keine so- genannten Nothstands-Verordnungen nach Analogie des Art. 63 der Preuß. Verf.-Urk., welcher die Klausel enthält, „daß dieselben den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen sind.“ Wohl aber hat das Ges. v. 25. Juni 1873 über die Einführung der Reichsverf. in Elsaß-Lothringen §. 8 (R.-G.-Bl. S. 162) dem Kaiser das Recht beigelegt, unter Zu- stimmung des Bundesrathes, während der Reichstag nicht ver- sammelt ist, Verordnungen mit gesetzlicher Kraft zu erlassen, und hinsichtlich derselben die Anordnung getroffen, daß sie dem Reichs- tage bei dessen nächstem Zusammentritt zur Genehmigung vorzulegen sind . Sie treten außer Kraft, sobald die Geneh- migung versagt wird Die Genehmigung muß pure ertheilt werden. Genehmigung einer solchen Verordnung unter Abänderung derselben gilt als Verwerfung verbunden mit der Aufstellung eines neuen Gesetz-Entwurfes. Es ergiebt sich dies aus . Es findet also bei diesen Verordnungen Laband , Reichsstaatsrecht. I. 33 §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. durch die Ertheilung der Genehmigung formell keine Verwandlung in Gesetze statt; sie werden namentlich nicht nochmals als Gesetze publizirt; sie bleiben Verordnungen, die der Kaiser mit Zustim- mung des Bundesrathes erlassen hat. Formell ganz getrennt von ihnen steht die Resolution des Reichstages, welche die Genehmigung ausspricht; durch den Reichskanzler wird im Gesetzblatt für Elsaß- Lothringen lediglich bekannt gemacht, daß die Genehmigung ertheit worden ist Vgl. Verordn. v. 17. Sept. 1874 über die Geschäftssprache der Gerichte (Gesetzbl. f. E.-L. S. 31) und dazu die Bekanntmachung vom 15. November 1874 (ebendas. S. 52.) Verordn. v. 5. März 1875 (Gesetzbl. S. 61.) und dazu die Bekanntmachung vom 10. Novemb. 1875 (ebendas. S. 188). . Anderseits sind sie nur erlassen unter dem Vor- behalt der Genehmigung; die Versagung derselben entzieht ihnen analog dem Eintritt einer ex nunc wirkenden Resolutivbedingung die Gesetzeskraft. In einzelnen Fällen ist auch für die Reichsgesetzgebung eine ähnliche Anordnung getroffen. So ermächtigt z. B. das Brau- steuer-Gesetz v. 31. Mai 1872 §. 1. den Bundesrath „vorbehaltlich der nachträglichen Genehmigung des Reichstages“ den gewöhnlichen Steuersatz von 1 Thlr. 10 Sgr. von Malzsurrogaten für einzelne Stoffe nach Maßgabe ihres Brauwerthes zu ermäßigen. 4) Ein besonders deutliches Beispiel für den Unterschied zwi- schen der Form des Gesetzes und der der Genehmigung des Reichs- tages liefert ferner das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869. Im §. 15 ist dem Bundesrath der Erlaß des Wahlreglements über- tragen; dasselbe ist eine Ausführungs-Verordnung zum Wahlge- setz. Auch die Abänderung desselben kann daher in der Form der Verordnung erfolgen. Aber §. 15 Abs. 2 des Wahlgesetzes bestimmt, daß das Wahlreglement nur unter Zustimmung des Reichstages abgeändert werden kann. Das heißt nicht, daß die Abänderung durch ein Reichsgesetz erfolgen müsse, eine Bundesraths-Verordn. ist vielmehr ausreichend, und auch die eigent- lich angemessene correcte Form. Jedoch darf der Bundesrath eine solche Verordnung nur erlassen, nachdem der Reichstag zu dem Inhalt derselben seine Genehmigung ertheilt hat. Dagegen ent- hält §. 6 des Wahlgesetzes die Anordnung, daß ein Reichsge- dem formalen Charakter der Genehmigung. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichs- tages v. 1874/5 S. 123 fg. 139. 141. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. setz die Abgrenzung der Wahlkreise bestimmen wird und bis dahin die gegenwärtigen Wahlkreise beizubehalten sind. Jede Verände- rung derselben erfordert daher nicht nur eine mit Genehmigung des Reichstages erlassene Bundesraths-Verordnung, sondern ein förmliches Gesetz Vgl. das Ges. v. 20. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 144) über die Wahl- kreise Beuthen und Kattowitz. . 5) Endlich ist hier noch zu erwähnen, daß die von dem Kaiser (R.-V. Art. 12) zu verfügende Vertagung des Reichstages der „Zu- stimmung“ des letzteren bedarf, wenn sie die Frist von 30 Tagen übersteigt oder während derselben Session wiederholt wird. R.-V. Art. 26 Die in Art. 31 der R.-V. erwähnte Genehmigung des Reichstages zur strafrichterlichen Verfolgung oder Verhaftung eines Mitgliedes hat einen an- deren rechtlichen Charakter; vgl. darüber unten §. 52. . IV. Eine andere Reihe von Befugnissen des Reichstages läßt sich unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte zusammenfassen, daß sie dem Reichstage eine Controle der gesammten Reichsverwaltung ermöglichen. Abgesehen von der Berathung des Etats, welche in- direct diesem Zwecke dient, sind es folgende staatsrechtliche Formen, in denen der Reichstag die Controle über die Regierung des Reiches übt und durch welche ihm die Ausübung dieser Funktion gesichert wird. 1) Art. 72 der R.-V. bestimmt, daß über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches durch den Reichskanzler dem Bundes- rathe und dem Reichstage zur Entlastung jährlich Rechnung zu legen ist. Bei der Darstellung des Finanzrechtes wird dieser wichtige Verfassungs-Grundsatz im Einzelnen erörtert werden; hier genügt es, im Allgemeinen die Stellung zu charakterisiren, welche durch denselben dem Reichstage den übrigen Reichsorganen gegen- über gewährt wird. Sowohl die vorläufige „Uebersicht sämmtlicher Einnahmen und Ausgaben“, als die definitive, nach erfolgter Prü- fung durch den Rechnungshof vorzulegende „Allgemeine Rechnung“ erweisen sich, wie jede Rechnungslegung, als eine Berichter- stattung und zwar als ein Bericht der Reichsregierung über die gesammte Verwaltung in finanzieller Beziehung. Dieser Be- richt hat einerseits den Zweck, dem Reichstag den Nachweis zu erbringen, daß die Verwaltung den bestehenden Vorschriften und 33* §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. dem Reichshaushalts-Etat gemäß geführt worden ist, resp. die thatsächlichen Gründe darzulegen, aus denen Abweichungen von dem Etatsgesetz sich ergeben haben, andererseits die Beweisstücke und die kalkulatorische Feststellung darüber zu liefern, daß die Ein- nahmen und Ausgaben des Reiches in der angegebenen Höhe wirklich stattgefunden haben; also vulgär ausgedrückt: die Gesetz- lichkeit und Ehrlichkeit der Verwaltung darzulegen Eine Ergänzung findet dieser Bericht durch eine Angabe der im Laufe des Jahrs stattgehabten Veränderungen im Grundbesitz des Reiches. Ges. v. 25. Mai 1873 §. 12. (R.-G.-Bl. S. 116.) . Der Reichs- tag hat das Recht und die Pflicht, diesen Bericht zu prüfen und, wenn er keine Ausstellungen gegen denselben zu erheben hat, der Regierung das Anerkenntniß gesetzmäßiger, ehrlicher und ordent- licher Verwaltung auszusprechen, indem er ihr „Entlastung ertheilt“. Reichstag und Bundesrath ertheilen dieses Anerkenntniß nicht gemeinschaftlich und ebenso wenig wird die Uebereinstimmung beider Organe durch einen einheitlichen Akt erklärt, sondern jedes der- selben giebt seine Erklärung selbstständig und für sich ab, beide dem Reichskanzler gegenüber als dem verantwortlichen Chef der Verwaltungsbehörden Entsprechend der regelmäßigen Rechnungslegung über die jährliche Verwaltung ist die einmalige Rechnungslegung über die Kriegskosten und deren Ersatz, sowie über die Verwendung der Kriegskosten-Entschädigung. Der Reichs- kanzler war durch das Ges. v. 2. Juli 1873 §. 4 (R.-G.-Bl. S. 186) ver- pflichtet worden, dem Reichstag hierüber „bei der nächsten ordentlichen Zu- sammenkunft Rechenschaft zu geben .“ Ebenso durch das Ges. v. 27. Ja- nuar 1875 §. 5 über die Anleihe für die Marine und Telegraphenverwaltung. (R.-G.-Bl. S. 19.) . 2) Im engsten Zusammenhange hiermit stehen Berichte finanziellen Inhalts, welche dem Reichstage über diejenigen Ver- mögensmassen des Reiches zu erstatten sind, welche nicht durch die regelmäßige Etatswirthschaft verbraucht werden, nicht gleichsam durch die Reichskasse während des Verwaltungsjahres blos durchlaufen und daher auch nicht durch die allgemeinen Jahresrechnungen nach- gewiesen werden. Diese Berichterstattung liegt ob der Reichs- schuldenkommission, welche nach dem Vorbild der Preußischen Staats- schuldenkommission durch das Ges. v. 19. Juni 1868 (R.-G.-Bl. S. 339) gebildet worden ist und zu welcher der Reichstag immer auf 3 Jahre drei Mitglieder zu wählen hat. Dem Reichstage §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. (u. Bundesrathe) gegenüber hat die Reichsschuldenkommission die- selben Pflichten, welche die Preuß. Staatsschuldenkommission nach dem Gesetz v. 24. Febr. 1850 dem Preuß. Landtage gegenüber hat Ges. v. 19. Juni 1868 §. 7 (B.-G.-Bl. S. 340.) Vgl. oben S. 354. . Demnach findet der §. 15 dieses Preußischen Gesetzes ana- loge Anwendung, wonach die Schuldenkommission dem Reichstage bei dem jährlichen regelmäßigen Zusammentritt Bericht zu erstatten hat über ihre Thätigkeit, sowie über die Ergebnisse der unter ihre Aufsicht gestellten Verwaltung des Schuldenwesens in dem ver- flossenen Jahre. Außer dem Berichte über die Reichsschulden hat die Reichs- schuldenkommission dem Reichstage jährlich Berichte zu erstatten über den Bestand des Reichs-Kriegsschatzes Ges. v. 11. Nov. 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 404.) , über die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds Ges. v. 23. Mai 1873 §. 14 (R.-G.-Bl. S. 121.) , über die Verwaltung des Reichs-Festungs-Baufonds G e s. v. 30. Mai 1873 Art. III. (R.-G.-Bl. S. 124.) und des Fonds für Errichtung des Reichstagsgebäudes Ges. v. 8. Juli 1873 §. 1 Abs. 2. (R.-G.-Bl. S. 218.) . Die Stellung des Reichstages diesen Berichten gegenüber und die ihm über dieselbe zustehende Beschlußfassung ist eine doppelte. Die Verwaltung der bezeichneten Vermögensmassen selbst ist nicht Sache der Reichsschuldenkommission, die eigentliche Verwaltung steht besonderen, dafür eingesetzten Behörden zu; die Reichsschulden- kommission ist vielmehr nur eine gemischte Kommission des Bundes- rathes und Reichstages zur Controlirung dieser Behörden und zur Vorprüfung der von denselben gelegten Rechnungen und Nachweise. Die Entlastung dieser Behörden kann nicht die Reichsschulden- kommission ertheilen, sondern nur Bundesrath und Reichstag selbst; die Kommission kann lediglich über den Ausfall ihrer Prüfung be- richten und falls sich dabei keine Erinnerungen ergeben haben, die Ertheilung der Entlastung beantragen. Der Reichstag hat demnach eine doppelte Entscheidung abzugeben, einerseits darüber, ob die Reichsschuldenkommission durch Erstattung ihres Berichts ihre ge- setzliche Pflicht ordnungsmäßig erfüllt hat, und andererseits auf Grund dieses Berichtes darüber, ob die betreffende Finanzbehörde §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. die ihr obliegende Verwaltung ordnungsmäßig geführt und darüber ordnungsmäßig Rechnung gelegt hat. Wenn der Reichstag beide Fragen bejahend entscheidet, so geschieht dies in der Form Vgl. z. B. Stenogr. Berichte 1873 S. 1190. , daß er erstens erklärt: daß die Reichsschuldenkommission durch Ueberreichung des . . . . Berichtes der Bestimmung des Gesetzes vom . . . . Genüge gethan habe Diese Erklärung kann aber vom Reichstage auch stillschweigend abgegeben werden, indem gegen den Bericht keine Ausstellung erhoben und dem darin enthaltenen Antrage gemäß die Entlastung ausgesprochen wird. Vgl. Stenogr. Berichte 1874/5 S. 1190. und daß er ferner beschließt: der Reichsschulden-Verwaltung (Verwaltung des Reichskriegs- schatzes, Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds) für die im Berichte erörterten Rechnungen Entlastung zu ertheilen. Der rechtliche Charakter dieser Beschlüsse ist derselbe, wie bei der Ertheilung der Entlastung auf Grund der Jahres-Rechnung. Bundesrath und Reichstag stehen auch hier der Finanzverwaltung und der Reichsschuldenkommission völlig gleichberechtigt und mit denselben Funktionen gegenüber und geben das Anerkenntniß ordent- licher und gesetzmäßiger Verwaltung getrennt und unabhängig von einander ab. 3) Das Mittel der Berichterstattung, um dem Reichstag eine Kontrole der Verwaltung zu ermöglichen und zu sichern, ist nicht auf die Finanz-Angelegenheiten beschränkt. Es kann bei allen größeren Verwaltungsoperationen Anwendung finden und die Re- gierung kann sich aus politischen Rücksichten dieser Berichterstattung in der Regel kaum entziehen, wenn der Reichstag sie verlangt. Eine staatsrechtliche Pflicht der Regierung zur Erstattung von periodischen Berichten besteht aber nur, wenn dieselbe durch eine besondere Gesetzes-Bestimmung ausdrücklich vorgeschrieben ist. Dies ist z. B. geschehen durch das Gesetz über die Vereinigung von Elsaß-Lothringen v. 9. Juni 1871 §. 3 Abs. 3, wonach dem Reichstage bis zur Einführung der R.-V. über die erlassenen Ge- setze und allgemeinen Anordnungen und über den Fortgang der Verwaltung jährlich Mittheilung zu machen war; ferner durch das Ges. v. 4. Dez. 1871 §. 11 Abs. 3 (R.-G.Bl. S. 406) über die §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Einziehung der bisherigen Münzen, und durch das Militärgesetz §. 37 über die Ergebnisse des Ergänzungsgeschäfts. (R.-G.-Bl. 1874 S. 55.) Ueberdies hat der Reichstag in der Session von 1872 den Wunsch ausgedrückt, daß der Bundesrath ihm regel- mäßig Mittheilungen mache über die von demselben gefaßten Ent- schließungen auf die von dem Reichstage beschlossenen Gesetzent- würfe und Anträge. Der Bundesrath hat beschlossen, diesem Wunsche zu entsprechen Vgl. das Schreiben des Reichskanzlers v. 14. März 1873. Stenogr. Berichte 1873. Anlagen Nro. 14. S. 60. . Auch diese „Uebersichten der Ent- schließungen des Bundesrathes“ sind periodische Berichte. Ferner wird die für den Rechnungshof erlassene Instruktion dem Reichstage bei dessen nächsten Zusammentritt „mitgetheilt“ Ges. v. 4. Juli 1868 §. 5 (B.-G.-Bl. S. 434.) . Auch wenn der Kaiser auf Grund des Art. 68 der R.-V. einen Theil des Bundesgebietes in Kriegszustand erklärt, ist nach §. 17 des Preuß. Ges. v. 4. Juli 1851, welches bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes für diesen Fall Geltung hat, dem Reichstage sofort, beziehungsweise bei seinem nächsten Zusammentreten Rechen- schaft zu geben. Die Rechenschaft giebt dem Reichstage Gelegenheit zu erklären, ob er die Verhängung des Kriegszustandes für gerechtfertigt erachte oder nicht, ohne daß freilich von diesem Urtheil staatsrechtliche Folgen abhängen Anderer Ansicht in Bezug auf das Preußische Recht v. Rönne Preuß. Staatsr. I. §. 101 S. 219 ff. . 4) Außer den Berichten, welche dem Reichstage von den Reichsbehörden zu erstatten sind, ist demselben ein Mittel der Kontrole der Reichsverwaltung durch den Art. 23 der R.-V. ge- geben, indem er befugt ist, an ihn gerichtete Petitionen dem Bun- desrathe resp. Reichskanzler zu überweisen Man spricht deshalb sehr häufig von einem „Petitionsrecht“, welches allen Deutschen auf Grund ihrer Reichsangehörigkeit zustehe; z. B. Thu- dichum S. 523. G. Meyer Grundzüge S. 116. v. Rönne S. 171. Seydel S. 151. Riedel S. 48 und besonders v. Mohl in der Tüb. Zeitschr. f. Staatswissensch. 1875 Bd. 31 S. 99 ff. Allein abgesehen, daß das „Recht zu petitioniren“ ein „natürliches“ Recht von ähnlichem Inhalte ist wie das Recht, Briefe zu schreiben oder Lieder zu singen, ist der Reichstag nach Art. 23 keineswegs darauf beschränkt, Petitionen von Reichsangehörigen ent- . Es liegt in dieser §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Ueberweisung zugleich ein Urtheil über die Berechtigung der vorgelegten Bitte und, wenn diese Bitte thatsächlich auf die Dar- legung von Handlungen oder Unterlassungen der Reichsbehörden gestüzt ist, eine vom Reichstage gefällte Kritik über das Verfahren der letzteren. Daher gewährt der Art. 23 ein constitutionelles Recht des Reichstages, Verletzungen der Gesetze Seitens der Reichs- verwaltung oder der Staatsbehörden auf dem den Einzelstaaten überlassenen Gebiete der Selbstverwaltung zu rügen und thatsäch- liche Uebelstände oder Mängel, welche Abhülfe erfordern, in amt- licher Weise zu erörtern. Den staatsrechtlichen Inhalt des „Peti- tionsrechts“ bildet nicht die Befugniß der Einzelnen, sich an den Reichstag mit einer Bitte zu wenden, sondern die Befugniß des Reichstages zur Ueberweisung der an ihn gerichteten Petitionen an die Regierungsorgane des Reiches. Wenngleich der vom Reichs- tage gefaßte Beschluß weder unmittelbar Abhülfe schaffen kann, noch für die anderen Organe des Reiches und die Verwaltungs- behörden der Staaten formell bindend ist, so verleiht doch das im Art. 23 der R.-V. anerkannte Recht dem Reichstage gewissermaßen die Stellung eines öffentlichrechtlichen Rügegerichts den Verwal- tungsbehörden gegenüber. V. Die eigentlich staatsrechtlichen Befugnisse des Reichstages in Bezug auf die Lebensthätigkeit des Reiches sind durch die im Vorstehenden aufgezählten Rechte erschöpft. Hinzuzufügen bleibt nur noch, daß die Ausübung dieser Befugnisse des Reichstages den anderen Reichsorganen gegenüber dadurch gesichert ist, daß dem Reichstage die Regelung seiner eigenen, internen Angelegen- heiten zusteht. Nach Art. 27 der R.-V. hat der Reichstag die Befugniß: 1) die Legitimation seiner Mitglieder zu prüfen und darüber zu entscheiden. gegenzunehmen. Auch Ausländer sind durch Nichts gehindert, bei dem Reichs- tag Petitionen einzureichen, und der Reichstag ist nach Art. 23 befugt, auch sie dem Bundesrathe oder Reichskanzler zu überweisen. Das Recht beim Deutschen Reichstage zu petitioniren, wäre daher, wenn überhaupt ein Recht, kein Recht der Deutschen Reichsbürger, sondern aller „Weltbürger.“ Nur von einem Rechte des Reichstags in dem im Text entwickelten Sinne kann man sprechen, wenn man nicht „Recht“ jede Thätigkeit nennen will, welche nicht verboten ist. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. 2) durch eine Geschäfts-Ordnung seinen Geschäftsgang und seine Disciplin zu regeln. 3) seinen Präsidenten, seine Vicepräsidenten und Schriftführer zu wählen. 4) Hierzu kömmt noch das im Ges. v. 31. März 1873 §. 156 (R.-G.-Bl. S. 90) anerkannte Recht, daß der Reichstags-Präsident die Reichstags-Beamten anstellt und die vorgesetzte Behörde der- selben bildet. VI. In der staatsrechtlichen Literatur werden fast allgemein den Volksvertretungen noch einige andere Rechte zugeschrieben, welche bei näherer Betrachtung keine Rechte sind, weil sie keinen rechtlichen Inhalt und keine rechtliche Wirkung haben. Auch in den meisten Darstellungen des Reichsrechts haben solche Pseudo- rechte des Reichstages einen Platz gefunden Vgl. zu dem Folgenden die Verhandlungen des verfassungberathenden Reichstages v. 29. März 1867. Stenogr. Ber. S. 443 ff. . Es sind nament- lich folgende zwei: 1) Das Recht, Interpellationen an die Reichsregierung zu richten Thudichum S. 213 fg. Riedel S. 36 unter 6 c . v. Rönne S. 172. v. Mohl S. 336. Meyer Erörterungen S. 50. . Wäre die Regierung verpflichtet, eine Antwort zu er- theilen, wäre also der Reichstag befugt, durch solenne Fragestellung die Regierung zur Ertheilung einer Auskunft, zur Ablegung einer Rechenschaft zu zwingen, so wäre das Interpellationsrecht in der That ein Recht von weitreichender staatsrechtlicher Bedeutung Viele Verfassungen haben ein solches Recht anerkannt, insbesondere auch die Preußische Art. 81 Abs. 3 in Beziehung auf Beschwerden, welche beim Landtage eingehen. . Allein da unzweifelhaft die Reichsregierung diese Verpflichtung nicht hat, so ist das Interpellationsrecht des Reichstages, oder richtiger der Reichstagsmitglieder, weiter nichts als die allgemeine, recht vielen Menschen zukommende Fähigkeit, an die Regierung Fragen zu stellen, welche dieselbe ja nach ihrem Belieben einer Ant- wort würdigen oder unbeantwortet lassen kann Seydel S. 152, der dieses Sachverhältniß richtig erkennt, nennt das „Recht der Interpellation“ ein „natürliches“. . Politisch mag eine im Reichstage gestellte Interpellation von der höchsten Wichtig- keit sein; staatsrechtlich ist sie vollständig wirkungslos und ohne alle Bedeutung. §. 48. Die Zuständigkeit des Reichstages. Man könnte vielleicht darauf Gewicht legen, daß in der Ge- schäfts-Ordnung des Reichstages §. 30. 31. die Behandlung der Interpellationen geregelt ist und dadurch die Stellung von Inter- pellationen ein juristisch bestimmtes Institut des öffentlichen Rechts geworden sei. Eine solche Auffassung würde aber auf einer un- richtigen Würdigung der Geschäftsordnung beruhen. Im Laufe jeder Verhandlung des Reichstages kann jedes Reichstagsmitglied über jeden, mit dem Gegenstande der Verhand- lung in Zusammenhang stehenden Punkt Fragen an den Reichs- kanzler oder den Präsidenten des Reichskanzler-Amts oder einen Regierungskommissar richten, ohne daß es irgend welcher Förmlich- keiten bedarf und ohne daß die §§. 30. 31 der Gesch.-Ordn. An- wendung finden. Von dieser Befugniß ist in unzähligen Fällen Ge- brauch gemacht worden. Eine Interpellation unterscheidet sich von einer solchen Anfrage aber dadurch, daß sie einen Gegenstand betrifft, der nicht anderweitig zur Verhandlung steht, daß sie einen besonderen Punkt der Tagesordnung bildet. Es kann nun nicht jedem einzelnen Mitgliede des Reichstages frei stehen, beliebige Gegenstände zur Sprache zu bringen und die Zeit und Arbeitskraft des Reichstages in Anspruch zu nehmen. Eine Garantie gegen willkührliche und unangemessene Interpellationen und einen Schutz der Geschäfts- Oekonomie hat der Reichstag deshalb durch die Bestimmung gesucht, daß die Interpellation von 30 Mitgliedern unterzeichnet sein und dem Präsidenten des Reichstages bestimmt formulirt überreicht werden muß; sowie, daß eine Besprechung des Gegenstandes nur dann stattfindet, wenn mindestens 50 Mitglieder darauf antragen. Die Geschäfts-Ordnung begründet demnach kein Recht des Reichs- tages oder der Reichstagsmitglieder, was sie ja überhaupt nicht vermag, sondern sie legt den Mitgliedern des Reichstages eine Schranke auf, die Zeit des Reichstages durch Fragen an die Regierung zu verbrauchen und die Erledigung der dem Reichstage obliegenden Geschäfte zu verzögern. Diese, im Interesse der Ge- schäfsordnung gezogenen Beschränkungen geben aber der Stellung von Interpellationen an den Reichskanzler keinen positiven Rechts- Inhalt. Ueberdies ist noch hervorzuheben, daß niemals vom Reichstage als solchem, sondern immer nur von einem oder mehreren einzelnen Reichstags-Abgeordneten interpellirt wird. Die Stellung eines Antrages bei Gelegenheit einer Interpellation ist in der §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Gesch.-Ordn. §. 31 ausdrücklich für unzulässig erklärt, folglich kann auch keine Beschlußfassung stattfinden. Niemals übt daher der Reichstag, auch wenn sich an die Interpellation eine Besprechung anschließt, eine staatsrechtliche Funktion aus. 2) Von dem Recht, Adressen an den Kaiser zu richten Riedel S. 36 unter 6 d . v. Rönne S. 173. v. Mohl S. 336. Meyer Erörter. S. 50. , gilt im Wesentlichen dasselbe. Es besteht keine Pflicht des Kaisers, auf die Adresse eine Antwort zu ertheilen oder sie überhaupt auch nur entgegen zu nehmen Nach der Preuß. Verf . Art. 81 Abs. 1 hat jede Kammer für sich das Recht , Adressen an den König zu richten. Diesem Recht entspricht dann allerdings die Pflicht des Königs, Adressen eines der beiden Häuser entgegen zu nehmen. . So groß die politische Bedeutung einer Adresse des Reichstages unter Umständen sein kann, eine staatsrechtliche kömmt ihr niemals zu Deshalb ist auch nicht einzusehen, warum es dem Reichstage nicht ge- stattet sei, an den Bundesrath Adressen zu erlassen, wie Seydel S. 151. 152 meint. Vgl. auch v. Held S. 125. Es ist dies nur nicht üblich. . Jede Versammlung, wel- cher nicht durch positive Rechtsvorschrift die Erörterung politischer Angelegenheiten untersagt ist, kann ebensogut wie der Reichstag Adressen an den Kaiser verfassen. Eine staatsrechtliche Funk- tion wird durch den Erlaß einer Adresse nicht ausgeübt Mit demselben Grunde könnte man von einem Rechte des Reichstages reden, ein Hoch auf den Kaiser auszubringen oder ihm zum Geburtstage Glück- wünsche auszudrücken, oder dem Reichstags-Präsidenten für die Leitung der Geschäfte zu danken u. s. w. und daran ändert auch der Umstand Nichts, daß die Gesch.-Ordn. §. 64. 65. die geschäftliche Behandlung eines Antrages auf Erlaß einer Adresse geregelt hat. §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. „Der Reichstag geht aus allgemeinen und direk- ten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor.“ R.-V. Art. 20 Abs. 1. In diesem Verfassungssatz sind die wichtigsten Grundprincipien für die Zusammensetzung des Reichstages enthalten. Die näheren Anordnungen sind durch das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869 §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. (B.-G.-Bl. S. 145) gegeben Dieses Gesetz beruht im Wesentlichen auf dem Reichswahlgesetz vom 12. April 1849, welches in dem Bündniß v. 18. Aug. 1866 als Grundlage für die Wahlen zum verfassunggebenden Reichstage vereinbart war. Auf dem- selben beruhen zunächst die Wahlgesetze der Staaten, welche sich zur Gründung des Nordd. Bundes vereinigt hatten. Siehe oben S. 20 fg. Der Art. 20 der Verf. des Nordd. Bundes erhielt diese verschiedenen Gesetze in Geltung bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes, welches nunmehr an die Stelle derselben ge- treten ist. . Dasselbe ist in Folge der Bündniß- Verträge mit den süddeutschen Staaten in den Gebieten derselben als Reichsgesetz eingeführt Mit Baden und Hessen vereinbarte Verfassung Art. 80. I. Nro. 13. Württemb. Vertr. Art. 2 Nro. 6. Bayer. Vertrag III. §. 8. Vgl. Reichsges. v. 16. April 1871 §. 2. (R.-G.-Bl. S. 63.) Im §. 1 u. §. 4 des Wahlge- setzes ist in Folge dessen statt „jeder Norddeutsche“ „jeder Deutsche“ zu ver- stehen. und durch den Abs. 2 des Art. 20 der R.-V. hinsichtlich der Zahl der in den süddeutschen Staaten zu wählenden Abgeordneten ergänzt worden. In der, dem Reichs- gesetz v. 16. April 1871 entsprechenden Fassung ist sodann das Wahlgesetz gleichzeitig mit der Reichsverfassung selbst durch das Ges. v. 25. Juni 1873 §. 6 (R.-G.-Bl. S. 162) in Elsaß-Loth- ringen eingeführt worden und daselbst am 1. Januar 1874 in Kraft getreten, indem dasselbe Einführungsgesetz §. 13 die Zahl der in Elsaß-Lothringen zu wählenden Allgeordneten auf 15 fest- setzte. Auf Grund der im §. 15 des Wahlgesetzes ertheilten Ermächti- gung hat der Bundesrath das Wahlreglement v. 28. Mai 1870 (B.-G.-Bl. S. 275) erlassen. Die durch den Hinzutritt der süddeutschen Staaten und Elsaß-Lothringens erforderlichen Nach- träge sind ergangen am 27. Febr. 1871 (R.-G.-Bl. S. 35) und 1. Dez. 1873 (R.-G.-Bl. S. 374 Außerdem eine redactionelle Abänderung, welche durch eine Verände- rung der Verwaltungs-Organisation in Lübeck erforderlich wurde, vom 24. Ja- nuar 1872. (R.-G.Bl. S. 38.) . Da die Prüfung der Wahlen dem Reichstage zusteht, so enthalten die Reichstagsverhandlungen ein sehr umfangreiches Material für die Auslegung und Anwen- dung des Wahlgesetzes und Wahlreglements, welches in Bezug auf die Casuistik einen ähnlichen Werth hat, wie Entscheidungen eines obersten Gerichtshofes, wenngleich der Reichstag bei seinen §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Beschlüssen nicht ausschließlich durch juristische Erwägungen geleitet wird Eine gute Bearbeitung dieses Materials enthält die Schrift von Rob. von Mohl . Kritische Bemerkungen über die Wahlen zum Deutschen Reichs- tage. Tübingen 1874. (Abdruck aus der Zeitschr. für die ges. Staatswissen- schaft Bd. 30.) . I. Das active Wahlrecht . Wähler für den Reichstag ist jeder Deutsche, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr zurückge- legt hat Wahlges. §. 1. . Da das Gesetz unzweifelhaft v. Mohl Reichsstaatsr. S. 342. nur Männer für wahlberechtigt erklären wollte, so ergiebt sich, daß das Wahlrecht an drei Voraussetzungen geknüpft ist, Reichsangehörigkeit, Alter von mindestens 25 Jahren und männliches Geschlecht. Andere Voraus- setzungen, welche zugleich Beschränkungen des Wahlrechts sein würden, kennt das Reichsrecht nicht. Jedoch fällt in gewissen Fällen die Ausübung des Wahlrechts fort, theils in der Art, daß die Berechtigung zum wählen ruht, d. h. quoad ius fortdauert, theils in der Art, daß sie zeitweilig ganz aufgehoben (suspendirt) ist. 1) Die Berechtigung zum Wählen ist quoad ius vorhanden, ihre Ausübung aber ruht: a ) für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine so lange, als dieselben sich bei der Fahne befinden Wahlges. §. 2. . Unter den Personen des Soldatenstandes sind zu verstehen „die zum aktiven Heere gehörigen Militärpersonen, mit Ausnahme der Mili- tärbeamten Militärges. v. 2. Mai 1874 §. 49. Welche Personen zum aktiven Heere gehören, definirt dasselbe Gesetz im §. 38. .“ b ) für Personen, welche sich zur Zeit der Wahl nicht in einem Wahlbezirke aufhalten, in welchem sie ihren Wohnsitz haben. Nur wenn eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke getheilt ist, genügt es, wenn der Wähler in einem derselben zur Zeit der Wahl seinen Wohnsitz hat Wahlges. §. 7. „Wer das Wahlrecht in einem Wahlbezirke ausüben will, muß in demselben oder, im Falle eine Gemeinde in mehrere Wahlbezirke getheilt ist, in einem derselben zur Zeit der Wahl seinen Wohnsitz haben. — Jeder darf nur an Einem Orte wählen.“ Wahlbezirk ist nicht identisch mit Wahlkreis, sondern mit Abstimmungsbezirk. Siehe unten. . Eine bestimmte Dauer des Wohnsitzes wird nicht §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. erfordert; andererseits genügt bloßer Aufenthalt nicht um die Aus- übung des Wahlrechts zu begründen, auch wenn er von längerer Dauer ist. c ) für Personen, welche nicht in die Wahllisten aufgenommen sind Wahlges. §. 8 Abs. 2. „Nur diejenigen sind zur Theilnahme an der Wahl berechtigt, welche in die Liste aufgenommen sind.“ Vrgl. unten. . 2) Von der Berechtigung zum Wählen sind nicht blos quoad exercitium, sondern quaod ius ausgeschlossen folgende 4 Kategorien Wahlges. §. 3. . a ) „Personen, welche unter Vormundschaft oder Kuratel stehen“, also, da Minderjährige ohnehin nicht wahlberechtigt sind, gerichtlich erklärte Verschwender, Geisteskranke und Gebrechliche, welche unter Kuratel gestellt sind. Unter welchen Voraussetzungen dies eintritt, bestimmt sich nach den Partikularrechten. b ) „Personen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallit- zustand gerichtlich eröffnet worden ist und zwar während der Dauer des Konkurs- oder Fallit-Verfahrens.“ Da der Ausschluß der Wahlberechtigung abhängig ist von der Dauer des Verfahrens, so ergiebt sich, daß die Wahlberechtigung wieder auflebt nicht blos in dem Falle, daß der Konkurs durch Befriedigung der Gläubiger oder durch Akkord beendigt wird, sondern auch dann, wenn das Verfahren wegen gänzlichen Mangels einer Aktiv-Masse eingestellt wird oder das vorhandene Aktiv-Vermögen vollständig zur Ver- theilung gebracht ist Unter Umständen ist der Gemeinschuldner, der gar keine Aktiva besitzt, in dieser Hinsicht daher besser daran, wie derjenige, dessen Gläubiger fast volle Befriedigung erhalten, jedoch erst nach Beendigung einer langwierigen Liqui- dation. Gegen die Bestimmung überhaupt spricht sich v. Mohl a. a. O. S. 20 aus. . Auch eine Verurtheilung wegen Banke- rutts ändert hieran Nichts, wenn durch dieselbe nicht zugleich die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, was jedoch in den Fällen des §. 283 des R.-St.-G.-B.’s nicht zulässig ist. c ) „Personen, welche eine Armen-Unterstützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln beziehen, oder im letzten der Wahl vorher- gegangenen Jahre bezogen haben Ueber die Bedenken, zu welchen diese Fassung Veranlassung giebt, und über die Zweifel, welche Mittel als öffentliche auzusehen seien, vrgl. v. Mohl a. a. O. und Reichsstaatsr. S. 346 fg. Darüber, daß die Gewährung unent- .“ §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. d ) „Personen, denen in Folge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist, für die Zeit der Entziehung, sofern sie nicht in diese Rechte wieder einge- setzt sind.“ Vgl. Reichsstrafgesetzbuch §. 34 Nr. 4. Von dieser Bestimmung ist aber hinsichtlich der Zeitdauer eine Ausnahme gemacht, wenn der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte wegen politischer Vergehen oder Verbrechen ent- zogen ist. Alsdann tritt die Berechtigung zum Wählen wieder ein, sobald die außerdem erkannte Strafe vollstreckt oder durch Be- gnadigung erlassen ist Wahlges. §. 3 Z. 4 Abs. 2. . Für das Verständniß der Gründe, aus denen diese Ausnahme hinzugefügt worden ist, kömmt die That- sache in Betracht, daß das Wahlgesetz vor dem Strafgesetzbuch erlassen worden ist und sonach noch auf die älteren Landes-Straf- gesetzbücher sich bezieht. Nach vielen derselben zogen gewisse Strafen, insbesondere die Zuchthausstrafe, mit Nothwendigkeit den Verlust der staatsbürgerlichen Rechte nach sich und bei schweren Fällen des Hochverraths und Landesverrathes, der Majestätsbeleidigung, der Verbrechen in Beziehung auf die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte u. s. w. mußte auf Zuchthausstrafe erkannt werden, theils unbedingt, theils wenn nicht mildernde Umstände angenommen wurden Dies galt namentlich auch vom Preuß. Strafgesetzbuch; vgl. z. B. §§. 63 ff. 74 ff. 78. 82. 83. 91 Abs. 2 u. s. w. . Derartige Bestimmungen der Strafgesetze ließen es angemessen erscheinen hinsichtlich des Wahlrechts eine Ausnahme zu machen, wofern das Verbrechen oder Vergehen nicht aus einer ehrlosen Gesinnung, sondern aus politischen Beweggründen ent- sprungen ist. Da eine Aufzählung derjenigen Verbrechen oder Vergehen, bei denen diese Ausnahme Platz greifen sollte, schon wegen der Mannigfaltigkeit der herrschenden Strafgesetzbücher nicht möglich war, so bezeichnete man sie allgemein als „politische Vergehen oder Verbrechen.“ Das ist nun allerdings kein festbestimmter Rechts- begriff und weder die älteren Gesetze noch das Reichsstrafgesetzbuch bezeichnen bestimmte Delicte oder Kategorien derselben als politische. Nach dem objektiven Thatbestande des Delicts läßt sich dieser Begriff geldlichen Schulunterrichts keine Armenunterstützung sei, vgl. Stenogr. Ber. 1874 I. Sess. S. 276. §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. auch gar nicht bestimmen, sondern nur nach dem Motive des Thä- ters. Ein sehr großer Theil, vielleicht die Mehrzahl, aller Verbre- chensarten kann aus politischen Beweggründen verübt werden und andererseits brauchen die „gegen den Staat“ gerichteten Verbrechen, wie Hochverrath und Landesverrath u. s. w., durchaus nicht immer politisch zu sein, da sie auch aus höchst egoistischen und ehrlosen Motiven begangen werden können. Da nun die Motive der ver- brecherischen That nicht durch rechtskräftiges Erkenntniß festgestellt werden, so fehlt es an einem juristischen Kriterium dafür, ob eine Verurtheilung wegen eines politischen Verbrechens oder Ver- gehens stattgefunden hat. Die Handhabung der in Rede stehenden Bestimmung des Wahlgesetzes müßte daher in der Praxis große Schwierigkeiten machen, wenn nicht das Reichsstrafgesetzbuch ihr den größten Theil ihrer praktischen Wichtigkeit indirekt entzogen hätte. Nach dem R.-St.-G.-B. zieht niemals irgend eine Strafe , auch die Zuchthausstrafe nicht, den Verlust der bürgerlichen Ehren- rechte nach sich, sondern es muß auf diese accessorische Strafe immer besonders erkannt werden. Neben der Gefängnißstrafe kann dies nur in den im §. 32 angeführten beiden Fällen geschehen. Neben der Zuchthausstrafe kann zwar immer auf den Verlust der bürger- lichen Ehrenrechte erkannt werden, in allen Fällen aber, wo das Gesetz die Wahl zwischen Zuchthaus oder Festungshaft gestattet, darf auf Zuchthaus nur dann erkannt werden, wenn festgestellt wird, daß die strafbar befundene Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung entsprungen ist R.-St.-G.-B. §. 20. . Da nun politische Verbrechen und Vergehen grade darin ihr charakteristisches Wesen haben, daß sie nicht aus einer ehrlosen Gesinnung entspringen, und der Richter, selbst in den Fällen, in denen er auf Zuchthaus erkennen muß, weil Fe- stungshaft nicht alternativ angedroht ist, nicht genöthigt ist, zu- gleich die bürgerl. Ehrenrechte abzuerkennen Ausgenommen bei Verurtheilungen wegen Meineids (R.-St.-G.-B. §. 161) und der schweren Fälle der Kuppelei des §. 181, die hier nicht in Betracht kommen können. , so sichert diese Be- stimmungen des R.-St.-G.-Buchs im Wesentlichen das Resultat, daß bei allen politischen Verbrechen und Vergehen der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt gar nicht durch richterliches Er- kenntniß verhängt wird, und daß andererseits in den Fällen, in §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. welchen auf diese Strafe erkannt wird, regelmäßig von dem Straf- richter festgestellt sein muß, daß die That aus ehrloser Gesinnung entsprungen sei, also nicht als ein politisches Verbrechen oder Ver- gehen qualifizirt werden könne. Für die mit der Aufstellung der Wählerlisten betrauten Be- hörden ergiebt sich hieraus die einfache Regel, aus den Listen alle Personen fortzulassen, welchen durch rechtskräftiges Erkennt- niß die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, ohne auf eine Untersuchung darüber einzugehen, ob die Verurtheilung wegen eines „politischen“ Verbrechens oder Vergehens erfolgt sei. Zu demselben Resultat führt auch die Erwägung, daß §. 34 des R.-St.-G.-B.’s ohne zwischen politischen und gemeinen Ver- brechen oder Vergehen einen Unterschied zu machen, an die Aber- kennung der bürgerlichen Ehrenrechte die Wirkung knüpft, daß während der im Urtheile bestimmten Zeit die Unfähig- keit, in öffentlichen Angelegenheiten zu stimmen, zu wählen oder gewählt zu werden, eintritt, und daß das Reichsstrafgesetzbuch als das jüngere Reichsgesetz dem Wahlgesetz vorgeht. Indeß läßt sich hier das Bedenken erheben, ob nicht die Anordnung im §. 13 des Wahlgesetzes als lex specialis von der Modificirung durch das Strafgesetzbuch als lex generalis ausgenommen sei; ein Bedenken, welches durch das Einführungs-Gesetz zum Strafgesetzbuch §. 2 sich nicht erledigt. Der praktische Schwerpunkt der Bestimmung des Wahlgesetzes liegt aber allerdings nicht in dem aktiven Wahlrecht, sondern in der davon abhängigen Wählbarkeit. Ueber dieselbe hat der Reichs- tag zu entscheiden, da ihm die Prüfung der Legitimation seiner Mitglieder zusteht. Hierbei ist er formell an juristische Gründe nicht gebunden; er kann vielmehr der Erwägung Raum geben, ob der von einer großen Wählerzahl ernannte Abgeordnete nicht zu- zulassen sei, wenngleich ein rechtskräftiges Erkenntniß demselben die Ehrenrechte abgesprochen hat, und er kann in dieser Erwägung den Begriff der politischen Verbrechen und Vergehen so verstehen und dehnen, wie es der einzelne Fall etwa erfordert. II. Die Wählbarkeit . Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, welcher einem zum Bunde gehörigen Staate seit mindestens einem Jahre angehört hat Wahlges. §. 4. . Da Laband , Reichsstaatsrecht. I. 34 §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. nicht die Ausübung der Funktionen eines Abgeordneten, sondern die Wählbarkeit in Frage steht, so ergiebt sich, daß die ein- jährige Frist von dem Tage des Wahlactes an zu berechnen ist, nicht von dem Tage des Zusammentritts des Reichstages oder gar der Wahlprüfung an, und daß die Wahl Jemandes, der zur Zeit derselben den Bedingungen des §. 4 des Wahlgesetzes nicht entsprochen hat, nachträglich durch Ablauf der einjährigen Frist nicht gültig wird. Erforderlich ist nur die Reichsangehörigkeit, nicht Aufenthalt oder Wohnsitz im Bundesgebiet. Außer dem Erforderniß einjähriger Reichs-Angehörigkeit hat die Wählbarkeit ganz dieselben Voraussetzungen wie das Wahlrecht. Hier wird es daher von praktischer Wichtigkeit, ob Jemand (nach §. 3 des Wahlges.) von der Berechtigung zum Wählen ausge- schlossen ist, oder ob diese Berechtigung nur ruht oder nicht aus- geübt werden kann Dieser Unterschied wird übersehen von Thudichum S. 152. . Die im §. 3 aufgeführten Klassen von Personen sind nicht wählbar, da sie nicht wahlberechtigt sind; wohl aber die Personen des stehenden Heeres sowie die zur Zeit der Wahl von ihrem Wohnsitz abwesenden oder in den Listen über- gangenen Wahlberechtigten. Eine Beschränkung der Ausübung der Funktionen eines Reichs- tags-Mitgliedes und mithin eine indirekte Beschränkung der Wähl- barkeit ist durch die Bestimmung des Art. 9 der R.-V., daß Nie- mand gleichzeitig Mitglied des Bundesrathes und des Reichstages sein kann, gegeben. Zwar ist die Wahl eines Bundesraths-Mit- gliedes zum Abgeordneten an sich gültig, der Gewählte kann sie aber nur annehmen, wenn er aus dem Bundesrathe ausscheidet; auch der Reichskanzler ist wählbar, kann die Wahl aber nur an- nehmen, wenn er sein Amt niederlegt, da der Reichskanzler noth- wendig Mitglied des Bundesrathes sein muß. Für nicht wählbar muß man dagegen die Landesherren der Deutschen Staaten erachten, da sie die Vollmachtsgeber der Bundesraths-Mitglieder sind; abgesehen von dem in der allgemeinen constitutionellen Theorie begründeten Bedenken, ob die Deutschen Landesherren als Träger der souveränen Reichsgewalt zugleich Mitglieder des Reichstages sein können Eine kurze Erörterung der Frage, ob der Deutsche Kaiser wählbar sei, findet sich in den Stenogr. Berichten des Reichstages 1874/75 S. 579. Da . §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. III. Die Zahl der Mitglieder des Reichstages bestimmt sich durch den Grundsatz, daß in jedem Bundesstaate auf je 100,000 Seelen der Bevölkerungszahl Ein Abgeordneter gewählt wird. Diese principielle Regel erleidet aber folgende Modifikationen: 1) Da niemals ein Wahlkreis Gebiete verschiedener Staaten umfaßt Siehe oben S. 502. , so wird in einem Bundesstaate, dessen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, Ein Abgeordneter gewählt. Aus demselben Grunde wird ein Ueberschuß von mindestens 50,000 Seelen der Gesammtbevölkerung eines Bundesstaates vollen 100,000 Seelen gleichgerechnet, während ein Ueberschuß von weniger als 50,000 Seelen unberücksichtigt bleibt Wahlges. §. 5 Abs. 1. . 2) In den zum ehemaligen Norddeutschen Bunde gehörigen Staaten bleibt bis auf weitere gesetzliche Anordnung für die Zahl der Abgeordneten diejenige Bevölkerungszahl maaßgebend, welche den Wahlen zum verfassungsgebenden Reichstage zu Grunde gelegen hat. Wahlges. §. 5. Abs. 1. In Folge dieser Bestimmung ist für jeden Staat die in dem- selben zu wählende Zahl von Abgeordneten fixirt, d. h. nicht von dem Resultate der periodischen Volkszählungen abhängig. Für die Staaten des Norddeutschen Bundes enthält §. 5 Abs. 2 des Wahlgesetzes das Register der auf sie kommenden Zahlen Nämlich Preußen 235, Sachsen 23, Hessen 3, Mecklenburg-Schwerin 6, Sachsen-Weimar 3, Mecklenburg-Strelitz 1, Oldenburg 3, Braunschweig 3, Sach- sen-Meiningen 2, Sachsen-Altenburg 1, Sachsen-Koburg-Gotha 2, Anhalt 2, Schwarzburg-Rudolstadt 1, Schwarzburg-Sondershausen 1, Waldeck 1, Reuß ä. L. 1, Reuß j. L. 1, Schaumburg-Lippe 1, Lippe 1, Lauenburg 1, Lübeck 1, Bremen 1, Hamburg 3. ; die Gesammt-Summe der Abgeordneten betrug im Norddeutschen Bunde 297. 3) Diesen im Norddeutschen Bunde zur Geltung gelangten Grundsätzen entsprechend ist auch für die Süddeutschen Staaten der Kaiser zugleich König von Preußen ist, ergiebt sich die Verneinung der Frage. Es ist dies nicht ganz ohne praktische Wichtigkeit; denn wenn es auch höchst unwahrscheinlich ist, daß jemals ein Wahlkreis den Kaiser oder einen Landesherrn wählen wird, so können doch eine Anzahl von Stimmzettel für ihn abgegeben werden und es kann von Bedeutung für das Wahlresultat wer- den, ob diese Stimmzettel als ungültig zu erklären oder bei der Berech- nung der absoluten Majorität mit in Ansatz zu bringen sind. 34* §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. und Elsaß-Lothringen die Zahl der in diesen Gebieten zu wählenden Abgeordneten fixirt worden; für die süddeutschen Staaten im Art. 20 Abs. 2 der R.-V. auf zusammen 85 Es werden in Bayern 48, in Württemberg 17, in Baden 14, in Hessen südlich des Main 6 Abgeordnete gewählt. , für Elsaß-Lothringen in dem R.-G. v. 25. Juni 1873 §. 3 auf 15. Demnach beträgt die Gesammtzahl der Reichstags-Abgeordne- ten 397 Die mißlungene Fassung des Art. 20 Abs. 2, welcher nur die Zahlen der in den süddeutschen Staaten zu wählenden Abgeordneten anführt und trotzdem hinzufügt: „und beträgt demnach die Gesammtzahl der Abgeordneten 382“ und seine thatsächliche Unrichtigkeit seit der Ausdehnung der R.-V. auf Elsaß-Lothringen ist von mir schon bei anderer Gelegenheit hervorgehoben worden. Hirth’s Annalen 1874 S. 1512 Note 1. . 4) In der Reichsverfassung selbst ist das Princip, nach welchem sich die Gesammtzahl der Abgeordneten und ihre Vertheilung auf die Einzelstaaten ergiebt, nicht sanktionirt worden; es ist formell kein Verfassungsrecht, sondern einfaches Gesetzesrecht und kann daher ohne die erschwerenden Vorschriften des Art. 78 Abs. 1 verändert werden. Das Wahlgesetz selbst macht im §. 5. Abs. 3 den Vor- behalt, daß eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten in Folge der steigenden Bevölkerung durch das Gesetz bestimmt wird. Diese Befugniß ist selbstverständlich und bedurfte keines Vorbehaltes; es sollte dadurch nur hervorgehoben werden, daß die Vermehrung der Bevölkerung nicht ipso iure , also ohne Gesetz, eine Steigerung der in den Einzelstaaten zu wählenden Abgeordneten mit sich bringt. Aber nicht nur eine Vermehrung, sondern auch eine Herabsetzung oder anderweitige Vertheilung der Anzahl der Abgeordneten kann durch ein (einfaches) Reichsgesetz angeordnet werden. Hieran hat sich auch durch den Art. 20 Abs. 2 der Reichsverfassung, der ledig- lich eine Ergänzung des §. 15 Abs. 2 des Wahlgesetzes ist, Nichts geändert; denn derselbe enthält ausdrücklich die Klausel: „ Bis zu der gesetzlichen Regelung , welche im §. 5 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 vorbehalten ist“ Einen ähnlichen Vorbehalt enthält das Ges. v. 25. Juni 1873 §. 3 hinsichtlich der auf Elsaß-Lothringen kommenden Anzahl. , erklärt sonach für seine Abänderung die Voraussetzungen der Verfassungs- Aenderung für nicht erforderlich. 5) Die auf die einzelnen Staaten entfallenden Zahlen von §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Abgeordneten bilden nicht den Gegenstand von Sonderrechten ( iura singularia ); sie sind vielmehr lediglich das Ergebniß der Anwendung eines allgemeinen Princips Noch viel weniger passen sie unter den Begriff der iura singulorum im eigentl. Sinne, wie er oben S. 121 fg. entwickelt worden ist. . Zu einer Aufhebung oder Veränderung dieses Princips ist daher nicht die individuelle Zustimmung der einzelnen Staaten erforderlich, auch nicht der im Art. 20 Abs. 2 aufgeführten vier süddeutschen Staaten. R.-V. Art. 78 Abs. 2 ist hierauf nicht anwendbar Vgl. Laband in Hirth’s Annalen 1874 S. 1512. . Dagegen ist in dem Princip der Gleichberechtigung aller Mitglieder des Reiches der Satz ent- halten, daß nicht einem oder einigen Staaten ohne ihre Zustim- mung diejenige Anzahl von Abgeordneten geschmälert werden kann, welche sich für sie aus der gleichmäßigen Anwendung des allgemeinen Princips ergiebt Siehe oben S. 112 und Hirth’s Annalen 1874 S. 1514 fg. . IV. Die Wahlkreise . „Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen Wahlkreise gewählt“ Wahlges. §. 6 Abs. 1. . Für die Bildung der Wahlkreise gilt der Grundsatz, daß sie räumlich abgegrenzt und thunlichst abgerundet sein müssen Wahlges. §. 6 Abs. 3. , d. h. jeder Wahlkreis bildet einen geographischen Bezirk, in welchem alle , in demselben wohnenden Wahlberechtigten zu einer Wählerschaft verbunden sind ohne Unter- schied des Standes oder der socialen Klasse Die Veranlassung zu der scharfen Hervorhebung dieses Grundsatzes bot das in Mecklenburg bei den ersten Reichstagswahlen eingeschlagene Verfahren, die Wahlkörperschaften nach Domanium, Rittergütern und Städten zu bilden. Staatsminister Delbrück bemerkte im Reichstage am 13. Dez. 1869, daß durch die in Rede stehende Anordnung des Wahlgesetzes der Wiederholung dieses Verfahrens vorgebeugt werden sollte. Stenogr. Berichte 1869 S. 41. . Die räumliche Abgeschlossenheit und Abrundung der Wahlkreise erleidet eine Aus- nahme nur durch die Rücksicht auf die Gebietshoheit der Einzel- staaten in Ansehung der Enclaven. (Siehe oben S. 502.) „Ein Reichsgesetz wird die Abgrenzung der Wahlkreise bestim- men“ Wahlges. §. 6 Abs. 4. . Bis dahin sind die Wahlkreise so beizubehalten, wie sie beim Erlaß des Wahlgesetzes waren, mit Ausnahme derjenigen, welche damals nicht örtlich abgegrenzt und zu einem räumlich zu- §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. sammenhängenden Bezirke abgerundet waren. Die letzteren mußten bis zu den nächsten allgemeinen Wahlen der Vorschrift des §. 6 Abs. 3 gemäß gebildet werden. Durch diese Anordnungen sind folgende Rechtssätze gegeben: Diejenige Abgrenzung der Wahlkreise, welche bei den ersten Reichstagswahlen im Nordd. Bunde durch Verordnungen der Landes-Regierungen getroffen wurde, vorbe- haltlich der Berichtigung derjenigen Kreise, welche nicht räumlich zusammenhängende Bezirke bildeten, ist reichsgesetzlich aufrecht er- halten und zu einer dauernden Einrichtung gemacht worden. Die- selbe kann weder durch den Beschluß des Bundesrathes oder durch kaiserliche Verordnung noch durch Gesetze oder Verordnungen der Einzelstaaten abgeändert werden. Jede Abänderung der Wahl- kreise erfordert vielmehr ein Reichsgesetz. Ein Verzeichniß der Wahlkreise, welches den Bestimmungen des §. 6 des Wahlgesetzes entspricht, ist als Anlage C dem Wahl- reglement vom 28. Mai 1870 beigegeben und im Bundesgesetzbl. 1870 S. 289 ff. publizirt worden. Eine Abänderung hat dasselbe dadurch erfahren, daß der ehemalige landräthl. Kreis Beuthen, welcher den 5. u. 6. Wahlkreis des Reg.-Bez. Oppeln umfaßte, in vier landräthliche Kreise getheilt worden ist, von denen nunmehr zwei (Beuthen und Tarnowitz) den 5. und zwei (Kattowitz und Zabrze) den 6. Wahlkreis bilden Ges. v. 20. Juni 1873. R.-G.-Bl. S. 144. . Nach der Gründung des Deutschen Reiches wurde durch Be- schluß des Bundesrathes vom 27. Febr. 1871 das Verzeichniß der Reichstags-Wahlkreise durch Feststellung der süddeutschen er- gänzt und dies im R.-G.-Bl. 1871 S. 35 fg. publizirt. Die Kompe- tenz des Bundesrathes zu diesem Beschluß gründet sich auf §. 15 des Wahlgesetzes. In Bayern war aber durch den Vertrag vom 23. Nov. 1870 III. §. 2 die Abgrenzung der Wahlkreise der Lan- des-Regierung überlassen, so daß das Nachtrags-Verzeichniß vom 27. Febr. 1871 hinsichtlich Bayern’s nur die von der Bayerischen Regierung getroffenen Bestimmungen aufgenommen hat. Die Abgrenzung der Wahlkreise in Elsaß-Lothringen wurde durch das Gesetz von 25. Juni 1873 §. 6 Abs. 2 dem Bundes- rathe übertragen und ist durch Beschluß vom 1. Dezember 1873 (R.-G.-Bl. S. 373) erfolgt. §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. V. Die Wahlbezirke . Jeder Wahlkreis wird zum Zweck der Stimmabgabe in kleinere Bezirke getheilt, welche ebenfalls räumlich abgegrenzt sein müssen Wahlges. §. 6. Abs. 2 u. 3. . Die Abgrenzung dieser Bezirke ist den Behörden der Einzelstaaten überlassen Wahlreglem. §. 6. . Die hierzu nach Maaßgabe der Aemter-Organisation der einzelnen Staaten zustän- digen Behörden führt das als Anlage D dem Wahlreglement bei- gefügte Verzeichniß auf R.-G.-Bl. 1870. S. 306 fg. Es sind regelmäßig für das Land die Kreis behörden (Landrath, Kreisamt), in Bayern die Bezirksämter, in Würt- temberg der Oberamtmann, in Baden die Bezirksräthe; bisweilen auch die Gemeinde- oder Ortsbehörden (z. B. in Sachsen, Mecklenburg-Schwerin, Sach- sen-Weimar, Braunschweig); für die Städte regelmäßig die Magistrate. . Wenngleich die Abgrenzung unter Be- rücksichtigung der lokalen Verhältnisse nach dem Ermessen der kompetenten Behörden vorzunehmen und erforderlichen Falles ab- zuändern ist, so sind doch bestimmte Grundsätze vorgeschrieben, nach welchen die Behörden verfahren müssen. Als Regel gilt der Satz, daß jede Ortschaft (Ortsgemeinde) einen Wahlbezirk für sich bildet Wahlges. §. 6 Abs. 2. Wahlreglem. §. 7 Abs. 1. . Diese Regel erleidet aber nach 2 Richtungen hin Ausnahmen. Große Ortschaften können in mehrere Wahlbezirke getheilt wer- den, und da kein Wahlbezirk mehr als 3500 Seelen nach der letzten allgemeinen Volkszählung enthalten darf, so ist eine Theilung großer Ortschaften vielfach nothwendig Wahlreglem. §. 7 Abs. 3. . Die Er- streckung eines Wahlbezirks über die Grenzen der Ortschaft hinaus ist gestattet für einzelne bewohnte Besitzungen und kleine Ort- schaften; eine Minimalgröße der Einwohnerzahl eines Wahlbezirks ist jedoch nicht vorgeschrieben. Ueberdies können solche Ortschaften, in welchen Personen, die zur Bildung des Wahlvorstandes geeignet sind, sich nicht in genügender Anzahl vorfinden, mit benachbarten Ortschaften zu einem Wahlbezirke vereinigt werden Wahlreglem. §. 7 Abs. 2. . VI. Das Wahlverfahren . 1) Die Anordnung der Wahlen und die Festsetzung des Tages, an welchem sie vorzunehmen sind, erfolgt durch kaiserliche Verordnung Wahlges. §. 14. Wahlreglem. §. 9 Abs. 1. . Ist die Legislatur-Periode abgelaufen, so ergiebt §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. sich eine indirecte Begränzung der Frist, binnen welcher die Vor- nahme der Wahlen angeordnet werden muß, aus der Vorschrift des Art. 13 der R.-V., daß die Berufung des Reichstages alljährlich stattfindet. Ist aber der Reichstag aufgelöst worden, so müssen die Neuwahlen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen statt- finden R.-V. Art. 25. Der Ausdruck: „die Wähler müssen versammelt wer- den“, den dieser Artikel gebraucht, ist kein glücklicher. Er stammt aus dem Art. 51 der Preuß. Verf.-Urk. Nach dem Preuß. Wahlverfahren werden aller- dings die Wähler in den einzelnen Urwahlbezirken versammelt, nach dem Reichs- Wahlgesetz bringt Jeder einzeln seinen Stimmzettel zur Wahlurne. . Die Wahlen sind nach dem Art. 20 der R.-V. allgemeine , das heißt, sie sind der Regel nach im ganzen Bundesgebiete an demselben Tage vorzunehmen Wahlges. §. 14. Eine einmalige Ausnahme fand bei den ersten Reichs- tagswahlen in Elsaß-Lothringen statt. Denn da die Reichsverf. und das Wahl- gesetz dort erst am 1. Jan. 1874 in Kraft traten, so mußte mindestens noch die im §. 8 des Wahlgesetzes vorgeschriebene Frist von 4 Wochen abgewartet werden. Während im übrigen Reichsgebiet die Wahlen am 10. Januar 1874 stattfanden, mußten daher die Wahlen im Reichslande auf den 1. Februar 1874 gelegt werden. R.-G.-Bl. 1873 S. 372. 380. Der Fall könnte als Präcedenz dienen, falls einmal durch außerordentliche Ereignisse wie feindliche Occupation, Aufruhr oder drgl. zur Zeit der allgemeinen Wahlen in einem Theil des Bun- desgebietes die regelrechte und freie Vornahme von Wahlen unmöglich sein sollte. . Von diesem Grundsatz sind, ab- gesehen von der Nothwendigkeit einer engeren Wahl, welche ledig- lich als Fortsetzung der Wahlhandlung zu betrachten ist, nur fol- gende Fälle ausgenommen a ) wenn der Gewählte ablehnt, b ) wenn der Reichstag die Wahl für ungültig erklärt, c ) wenn ein Abgeordneter während des Laufes der Legisla- turperiode aus dem Reichstage ausscheidet. In diesen Fällen finden partielle Wahlen (Ersatzwahlen) in den betreffenden Wahlkreisen statt. Dieselben werden nicht vom Kaiser oder dem Reichskanzler, sondern von der zuständigen Lan- desbehörde d. sind in Preußen die Bezirks-Regierungen, resp. Landdrosteien, ebenso in Bayern die Kreis-Regierungen, Kammer des Innern, und in Els.-Lothringen die Bezirkspräsidenten, in den übrigen Staaten die Central-Behörde (Ministe- rium des Innern, Staatsministerium, Senat.) Wahlreglem. Anlage D. anberaumt und zwar sind sie von derselben sofort zu veranlassen Wahlreglement §. 34. . §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Das Gesetz kennt nur Fälle, in denen einzelne Wahlkreise an einem besonderen Tage eine Wahl vorzunehmen haben, dagegen gestattet es nicht, daß in einzelnen Wahlbezirken innerhalb eines Wahlkreises die Wahlhandlung an einem anderen Tage vorge- nommen werde, als an demjenigen, welcher für den ganzen Wahl- kreis festgesetzt ist. Wenn daher die Wahl in einem Wahlbezirke nicht vorgenommen werden kann, weil z. B. der Wahlort oder das Wahllokal an dem betreffenden Tage unzugänglich ist oder weil weder der Wahlvorsteher noch dessen Stellvertreter sich ein- findet u. drgl., so kann die Abstimmung in diesem Bezirke nicht rechtswirksam nachgeholt werden Dem Reichstage bleibt aber die Möglichkeit, wenn ein erheblicher Theil aller Wahlberechtigten durch Elementar-Ereignisse an der Ausübung der Wahl gehindert war, die Wahl des ganzen Kreises als vereitelt zu erklären und das Wahlresultat zu kassiren. Vgl. über solche Fälle die Stenogr. Berichte v. 1871 S. 27 fg. 389 ff. von 1874/75 S. 564 ff. und von Mohl , kritische Be- merkungen S. 42 fg. . 2) Eine nothwendige Vorbereitung der Wahl besteht in der Anfertigung der Wählerlisten . Für jeden Wahlbezirk ist eine besondere Wählerliste anzulegen, in welche die zum Wählen Be- rechtigten nach Zu- und Vornamen, Alter, Gewerbe und Wohnort eingetragen werden Wahlges. §. 8 Abs. 1. Das Formular dafür enthält die Anlage A des Wahlreglements. (B.-G.-Bl. 1870 S. 283.) . Da der Regel nach jede Gemeinde einen Wahlbezirk bildet, so wird gewöhnlich in jeder Gemeinde nur eine Liste anzufertigen sein. Ist die Gemeinde in mehrere Bezirke ge- theilt, so erfolgt die Aufstellung der Wählerlisten nach den einzel- nen Bezirken, so daß für jeden Bezirk eine besondere Liste gefer- tigt wird Wahlreglem. §. 1 Abs. 2. . Besteht der Wahlbezirk aus mehreren Ortskommunen, selbstständigen Gutsbezirken u. s. w., so wird zunächst für jeden Kommunal- oder Gutsbezirk die Liste besonders angelegt und die Wählerliste des Wahlbezirkes dadurch gebildet, daß die Wahlvor- steher die Wählerlisten der einzelnen zu dem Bezirke gehörigen Gemeinden zusammenheften Wahlreglem. §. 5 Abs. 2. . Die Pflicht, die Wählerlisten anzulegen, liegt dem Gemeinde- Vorstande (Ortsvorstande, Inhaber eines selbstständigen Guts- bezirks, Magistrat u. s. w.) ob. Die Liste ist in zwei gleichlau- §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. tenden Exemplaren aufzustellen uud in derselben sind die Wahl- berechtigten in alphabetischer Ordnung zu verzeichnen. In den Städten aber ist es gestattet, die Wähler zunächst nach den Straßen und Häusern zu gruppiren und nur innerhalb jedes Hauses die Wähler alphabetisch zu ordnen Wahlreglem. §. 1 Abs. 1. . Spätestens 4 Wochen vor dem zur Wahl bestimmten Tage sind diese Listen zu Jedermanns Einsicht auszulegen und zwar während eines Zeitraumes von mindestens 8 Tagen Wahlgesetz §. 8. Abs. 2. Wahlreglem. §. 2 Abs. 1. . Der Tag, an welchem die Auslegung der Wählerlisten beginnt, wird von der Staatsbehörde festgesetzt Zuständig ist durchweg das Ministerium des Innern oder die entspre- chende Centralbehörde; in Elsaß-Lothringen der Oberpräsident. Anlage D zum Wahlreglement. ; der Gemeinde-Vorstand aber ist verpflichtet, noch vor dem Anfange der Auslegung diesen Termin unter Angabe des Lokals, in welchem die Auslegung stattfindet, und unter Hinweis auf die Befugniß, Reclamationen zu erheben, in ortsüblicher Weise bekannt zu machen. Auf der Wählerliste selbst muß der Gemeinde-Vorstand bescheinigen, daß und wie lange die Auslegung geschehen und daß die vorgeschriebenen Bekannt- machungen erfolgt sind Wahlregl. §. 2 Abs. 2. 3. — Das Formular in B.-G.-Bl. 1870 S. 284. . Jeder, der die Liste für unrichtig oder unvollständig hält, kann die Berichtigung oder Ergänzung derselben beantragen Wahlges. §. 8. Wahlreglem. §. 3. . Der Antrag kann gerichtet sein entweder auf Streichung von ein- getragenen Personen, welche in dem betreffenden Wahlbezirke zur Ausübung des Wahlrechts nicht befugt sind, oder auf nachträgliche Eintragung von Wahlberechtigten Von Correcturen der Liste in Bezug auf die Angabe der Vornamen, des Alters oder Gewerbes u. dgl. kann hier abgesehen werden. . Activ legitimirt zur Stellung derartiger Anträge ist Jeder, auch derjenige, der in dem Wahlbezirk nicht mit zu stimmen befugt ist, ja der überhaupt kein Wahlrecht hat. Auch Weiber, Kinder, Nichtdeutsche können Anträge auf Berichtigung der Wahlliste stellen Mit Unrecht beschränkt Thudichum S. 140 diese Befugniß auf die Bundesangehörigen. . Denn es handelt sich hier nicht um die Geltendmachung eines §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. subjectiven Rechts, sondern um eine Mitwirkung bei Erfüllung der, den Ortsvorständen obliegenden Pflicht, die Wählerlisten so correct wie möglich herzustellen. Selbst wenn ein Wahlberechtigter, der in der Liste übergangen ist, ausdrücklich erklärt, daß er in dieselbe nicht aufgenommen werden wolle, so kann doch von jedem Anderen seine Aufnahme verlangt werden. Es steht somit Wahlvereinen oder einzelnen, für die Wahlen sich interessirenden Personen frei, die Listen einer umfassenden Revision zu unterwerfen und alle da- bei entdeckten Unrichtigkeiten und Unvollständigkeiten zur Anzeige zu bringen. Der Antrag ist binnen 8 Tagen nach dem Beginn der vor- schriftsmäßig bekannt gemachten Auslegung der Listen zu stellen. Später erhobene Reclamationen brauchen nicht berücksichtigt zu werden. Die Anträge sind bei dem mit der Anfertigung der Liste betrauten Gemeindevorstand zu stellen, dem es freisteht, dafür einen Kommissar zu ernennen oder eine Kommission niederzusetzen. Die Anträge müssen schriftlich eingereicht Daß sie eine Namens-Unterschrift haben, kann nicht als erforderlich erachtet werden, da die Befugniß zur Stellung solcher Anträge an keine Vor- aussetzung gebunden ist, es sonach unerheblich ist, von wem der Antrag aus- geht. oder zu Protokoll erklärt werden und soweit sie sich auf Behauptungen stützen, welche nicht notorisch (ortskundig) sind, mit den erforderlichen Beweismitteln versehen sein. Wird die Erinnerung sofort für begründet erachtet, so erfolgt ohne Weiteres die Berichtigung der Liste. Ist eine Prüfung er- forderlich, so erfolgt eine Entscheidung über den Antrag durch die zuständige Behörde Welche Behörde dies ist, ergiebt sich aus der Anlage D zum Wahl- reglement. In den ländlichen Bezirken ist es regelmäßig die Kreisbehörde (Landrath, Amtmann, Kreisdirector, Bezirksamt), in den städtischen der Magi- strat; in den Stadtkreisen in Elsaß-Lothringen der Bezirkspräsident. . Ein contradictorisches Verfahren ist in keinem Falle vorgeschrieben; jedoch ist es nicht ausgeschlossen, den- jenigen dessen Streichung beantragt worden ist, sofern es thunlich ist, zu Gehör zu verstatten. Die Entscheidung ist durch Vermitt- lung des Gemeindevorstandes den Betheiligten bekannt zu machen Wahlreglem. §. 3 Abs. 3. . Unter den Betheiligten sind wohl die Reclamanten und die auf §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Grund der Reclamation nachträglich in die Listen aufgenommenen oder aus denselben gestrichenen Personen zu verstehen. Eine Rechts- wirkung ist an die Unterlassung der Benachrichtigung übrigens nicht geknüpft. Gegen die Entscheidung der zuständigen Behörde giebt es kein Rechtsmittel. Die Entscheidung über alle Reclamationen muß inner- halb drei Wochen, vom Beginn der Auslegung der Wählerliste an gerechnet, erfolgen Wahlreglem. §. 3. Es enthält dieser § eine authentische Interpretation der Vorschrift in §. 8 des Wahlgesetzes, daß Einsprachen „innerhalb der näch- sten 14 Tage zu erledigen sind“, nämlich nach Ablauf der achttägigen Frist für die Auslegung der Listen. . Die Gründe der Streichungen und Nach- träge sind in beiden Exemplaren der Wahlliste am Rande unter Angabe des Datums kurz zu vermerken und die Belegstücke, auf Grund deren die Berichtigung erfolgt ist, sind dem Haupt-Exem- plare beizuheften. Am 22ten Tage nach dem Beginne der Auslegung wird die Wählerliste mittelst Unterschrift des Gemeinde-Vorstandes abge- schlossen und auf dem zweiten Exemplar die völlige Uebereinstim- mung desselben mit dem Haupt-Exemplare bescheinigt. Nach dem Abschluß der Wählerliste ist jede spätere Aufnahme von Wäh- lern in dieselbe untersagt Wahlreglement §. 4. . Es ist sonach die Berücksichtigung von Reclamationen, welche nach Ablauf der achttägigen Frist ein- gehen, sowie die nachträgliche Ergänzung der Wahlliste von Amts- wegen gesetzlich nicht verboten, wofern die Hinzufügung der Wahl- berechtigten nur bis zum 22ten Tage nach Beginn der Auslegung erfolgt Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Thudichum S. 140. . Berichtigungen der Liste durch Streichungen Wenn z. B. Jemand, der in die Liste eingetragen ist, vor der Wahl in Koncurs geräth oder die staatsbürgerl. Rechte verliert. stehen, selbst wenn sie nach Abschluß der Wählerliste erfolgen, nicht im Widerspruch mit dem Wortlaut des Wahlreglements (§. 4 Abs. 3); sie müssen aber überhaupt außer dem Falle rechtzeitiger Recla- mation für höchst bedenklich erachtet werden, da sonst der Zweck der Auslegung der Listen völlig vereitelt werden könnte. Von den beiden Exemplaren der Wählerliste hat der Gemeinde- vorstand das Hauptexemplar sorgfältig aufzubewahren, das zweite §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Exemplar dem Wahlvorsteher Behufs Benutzung bei der Wahl zuzustellen Wahlreglem. §. 5 Abs. 1. . Vor jeder Wahl ist die Aufstellung und Auslegung der Liste zu wiederholen; ausgenommen sind nur einzelne Neuwahlen (Er- satzwahlen), welche innerhalb eines Jahres nach der letzten allge- meinen Wahl stattfinden Wahlges. §. 8 Abs. 2. Wahlreglem. §. 34 Abs. 3. . Die Kontrole über die ordnungsmäßige Aufstellung, Aus- legung und Berichtigung der Wählerlisten steht denjenigen Behör- den zu, welche die allgemeine Aufsicht über die Gemeindevorstände und Ortsvorstände führen. 3. Zur Vorbereitung der Wahlhandlung gehört außer der Feststellung der Wählerlisten noch die Bestimmung des Lokals und die Ernennung eines Wahlvorstehers und eines Stell- vertreters desselben für jeden Wahlbezirk Wahlreglem. §. 8 Abs. 1. . Es liegt dies der zuständigen Behörde ob, über welche die Anlage D zum Wahl- reglement für die Einzelstaaten Auskunft giebt Es sind meistens die Kreisbehörden und für die Städte die Magistrate; doch ist vielfach die Bestimmung des Wahllokals den Ortsbehörden oder den Wahlvorstehern selbst übertragen. . Mindestens 8 Tage vor dem Wahltermin ist die Abgrenzung der Wahlbezirke, ferner für jeden Wahlbezirk das Wahllokal, der Wahlvorsteher und Stellvertreter, und die Bestimmung, daß die Wahlhandlung um 10 Uhr Vormittags beginnt und um 6 Uhr Nachmittags ge- schlossen wird, durch die zu amtlichen Publikationen dienenden Blätter zu veröffentlichen und von den Gemeindevorständen in ortsüblicher Weise bekannt zu machen Wahlreglem. §. 8 Abs. 2. . Mindestens zwei Tage vor dem Wahltermin ernennt der Wahl- vorsteher aus der Zahl der Wähler seines Bezirkes einen Proto- tokollführer und 3 bis 6 Beisitzer, indem er sie einladet, beim Be- ginn der Wahlhandlung im Wahllokal zur Bildung des Wahl- vorstandes zu erscheinen Wahlreglem. §. 10. . Ihre Funktion ist ein unentgeltliches Ehrenamt. Wahlvorsteher, Beisitzer und Protokollführer dürfen kein unmittelbares Staatsamt bekleiden Wahlgesetz §. 9 Abs. 2. . Der Wahlvorstand §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. wird in der Art konstituirt, daß der Wahlvorsteher bei Eröffnung der Wahlhandlung den Protokollführer und die Beisitzer mittelst Handschlags an Eidesstatt verpflichtet Wahlregl. §. 12. . Der Wahlvorstand nimmt an einem Tische Platz, der so aufgestellt wird, daß derselbe von allen Seiten zugänglich ist. Auf diesen Tisch wird ein verdecktes Gefäß (Wahlurne) zum Hineinlegen der Stimmzettel gestellt. Vor dem Beginn der Abstimmung hat sich der Wahlvorstand davon zu überzeugen, daß dasselbe leer ist Wahlreglem. §. 11. . Zu keiner Zeit der Wahlhand- lung dürfen weniger als drei Mitglieder des Wahlvorstandes ge- genwärtig sein. Der Wahlvorstand und der Protokollführer dürfen sich während der Wahlhandlung nicht gleichzeitig entfernen Wahlregl. §. 12 Abs. 2. 3. . 4) Die Stimmabgabe erfolgt durch Stimmzettel, welche in die Wahlurne niedergelegt werden. Die Reichsverfassung Art. 20 schreibt „geheime Abstimmung“ vor Die Annahme v. Mohl’ s Krit. Bemerk. S. 69, daß die Reichsverfass. die Abstimmung des einzelnen Wählers nicht als eine geheime bezeichnet, be- ruht wohl auf einem Versehen. ; eine Reihe von Bestim- mungen, welche Wahlgesetz und Wahlreglement enthalten, haben den Zweck, die Durchführung dieses Verfassungs-Prinzips zu sichern und gleichzeitig der damit leicht verbundenen Gefahr von Fäl- schungen und Betrug vorzubeugen Diese Bestimmungen sind meistens dem französischen décret réglemen- taire vom 2. Febr. 1852 wörtlich entnommen. v. Mohl a. a. O. . Die erheblichsten sind fol- gende Das in der Verfassung sanctionirte Prinzip hat aber noch vielfach an- dere Consequenzen; insbesondere ist jede obrigkeitliche, namentlich zeugeneidliche Vernehmung von Wählern, wie sie gewählt haben, unzulässig. Vgl. auch Stenogr. Berichte 1874. I. Sess. S. 724 fg. : a ) Das Wahlrecht muß in Person ausgeübt werden. Abwe- sende können weder durch Stellvertreter, noch in irgend einer an- dern Art an der Wahl theilnehmen Wahlges. §. 10. Wahlregl. §. 14. . Der Wähler tritt an den Wahltisch und giebt seinen Namen, beziehungsweise seine Wohnung an. Erst wenn der Protokollführer den Namen des Wählers in der Wählerliste aufgefunden hat, wird derselbe zur Ausübung des Wahlrechts zugelassen. Der Protokollführer vermerkt neben dem §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Namen des Wählers in der Wählerliste in einer hiezu bestimmten Rubrik derselben durch ein Zeichen, daß das Wahlrecht ausgeübt worden sei, theils um die Anzahl der abgegebenen Stimmen fest- zustellen, theils um einer wiederholten Ausübung des Wahlrechts Seitens desselben Wählers vorzubeugen Wahlreglem. §. 15. 16. . b ) Der Wähler giebt seinen Stimmzettel dem Wahlvorsteher oder dessen Stellvertreter, welcher denselben uneröffnet in die Wahl- urne legt. Die Stimmzettel müssen von weißem Papier sein; sie dürfen mit keinem äußeren Kennzeichen versehen sein; sie dürfen nicht im Wahllokale geschrieben werden, sondern sind außerhalb des Wahllokals mit dem Namen des Kandidaten, welchem der Wähler seine Stimme geben will, handschriftlich oder im Wege der Vervielfältigung zu versehen Gedruckte Stimmzettel brauchen nicht den Namen des Druckers zu tragen. Reichspreßgesetz §. 6 Abs. 2; ja sie dürfen es nicht wegen Wahlreglem . §. 19 Nr. 4. ; sie dürfen keine Unterschrift tragen; sie müssen derart zusammengefaltet sein, daß der auf ihnen verzeichnete Name verdeckt ist Wahlgesetz §. 10. 11. Wahlregl. §. 15 Abs. 3. Ueber casuistische Streitfragen vgl. v. Mohl a. a. O. S. 78 fg. u. Stenogr. Ber. 1874/75 S. 1178 ff. . c ) Der Wahlvorsteher hat Stimmzettel, welche hiergegen ver- stoßen, zurückzuweisen und darauf zu achten, daß nicht statt eines mehrere Stimmzettel abgegeben werden Wahlreglem. §. 15 Abs. 4. . Wenn über die Zu- lassung eines Stimmzettels Zweifel entstehen oder zwischen dem Wahlvorsteher und dem Wähler eine Meinungs-Verschiedenheit herrscht, so kann der Wahlvorstand darüber durch Beschluß eine Entscheidung treffen Wahlreglem. §. 13 Abs. 2. Diese Vorschrift verpflichtet den Wahlvor- steher zwar nicht, einen Beschluß des Wahlvorstandes herbeizuführen, aber sie gestattet dieses Verfahren und es wird durch dasselbe der von v. Mohl a. a. O. S. 82 erörterte Uebelstand vermieden, daß ein Stimmzettel vom Vorsteher zuerst als fehlerhaft zurückgewiesen, dann aber doch auf das Verlangen des Wählers in die Urne gelegt und schließlich bei der Stimmenzählung vom Wahl- vorstand als ungültig erklärt wird. . d ) Um 6 Uhr Nachmittags wird die Wahl geschlossen. Es geschieht dies durch eine Erklärung des Wahlvorstehers. Nachdem §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. dieselbe erfolgt ist, dürfen keine Stimmzettel mehr angenommen werden. Der Wahlvorstand stellt hierauf das Resultat der Stimm- abgabe fest. Zunächst erfolgt eine Zählung der uneröffneten Stimm- zettel und der Wähler, welche zu Folge der in der Wählerliste gemachten Bemerkungen ihr Stimmrecht ausgeübt haben; falls sich trotz wiederholter Zählung eine Verschiedenheit ergiebt, so ist dies nebst dem etwa zur Aufklärung Dienlichen im Protokolle an- zugeben Wahlregl. §. 17. . Ein Beisitzer entfaltet die Stimmzettel, der Vorsteher liest dieselben laut vor, ein anderer bewahrt die Stimmzettel bis zum Ende der Wahlhandlung auf; der Protokollführer nimmt den Namen jedes Kandidaten in das Protokoll auf und vermerkt neben demselben jede dem Kandidaten zufallende Stimme; in gleicher Weise führt ein Beisitzer eine Gegenliste Wahlregl. §. 18. . Ungültig sind Stimm- zettel, welche nicht von weißem Papier oder welche mit einem äußeren Kennzeichen versehen sind; welche keinen oder keinen lesbaren Namen enthalten; aus welchen die Person des Gewählten nicht unzweifelhaft zu erkennen ist; auf welchen mehr als Ein Name oder der Name einer nicht wählbaren Person verzeichnet ist Wegen Angabe des Druckers siehe oben S. 543 Note 2. ; welche einen Protest oder Vorbehalt enthalten Wahlreglem. §. 19 und dazu v. Mohl a. a. O. S. 78 fg. . Bei Feststellung des Wahlresultats kommen ungültige Stimmen nicht in Anrechnung. Wird über die Gültigkeit von Stimmzetteln ein Beschluß des Wahlvorstandes gefaßt Dieser Beschluß wird mit Stimmen-Mehrheit gefaßt und ist, vorbe- haltlich der Prüfung des Reichstages, unanfechtbar. Wahlgesetz §. 13 Abs. 1. , so wird dies im Pro- tokoll mit kurzer Angabe der Gründe bemerkt und die Stimmzettel werden, mit fortlaufenden Nummern versehen, dem Protokoll bei- geheftet. Alle übrigen Stimmzettel werden, in Papier eingeschlagen und versiegelt, vom Wahlvorsteher so lange aufbewahrt, bis der Reichstag die Wahl definitiv für gültig erklärt hat Wahlreglem. §. 20. 21. Wahlges. §. 13 Abs. 2. . Das über §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. die Wahlhandlung aufgenommene Protokoll Das Formular dazu liefert Anlage B des Wahlreglem. B.-G.-Bl. 1870 S. 285 fg. ist von dem Wahl- vorsteher, den Beisitzern und dem Protokollführer zu unterschreiben; ebenso die Wählerliste und die Gegenliste Wahlregl. §. 16; 18 Abs. 2; 22. . 5) Die Feststellung des Wahlresultats erfolgt in einer öffentlichen Verhandlung für den ganzen Wahlkreis. Zu diesem Behufe wird von der zuständigen Behörde Vgl. Anlage D zum Wahlreglem. In Preußen und Bayern die Be- zirksregierungen (resp. Landdrosteien), in den andern Staaten das Ministerium des Innern oder Staatsministerium, in Elsaß-Lothringen der Bezirkspräsident. für jeden Wahl- kreis ein Wahlkommissär ernannt und dies öffentlich bekannt ge- macht. An denselben haben die Wahlvorsteher die Wahlprotokolle mit sämmtlichen zugehörigen Schriftstücken ungesäumt einzureichen, jedenfalls so frühzeitig, daß sie spätestens im Laufe des 3. Tages nach dem Wahltermin in dessen Hände gelangen Wahlregl. §. 25. . Der Termin zur Ermittlung des Wahlergebnisses ist der 4. Tag nach dem Wahltermine. Der Wahlkommissär beruft zu demselben in ein von ihm zu bestimmendes Lokal mindestens 6 und höchstens 12 Wähler aus dem Wahlkreise. Dieselben dürfen ein unmittelbares Staatsamt nicht bekleiden. Außerdem ist ein Protokollführer, der ebenfalls Wähler sein muß, zuzuziehen. Bei- sitzer und Protokollführer werden mittelst Handschlags an Eides- statt verpflichtet Wahlregl. §. 26. . Aus den Protokollen, welche aus den einzelnen Abstimmungs- bezirken eingegangen sind, werden die Resultate der Wahlen zu- sammengestellt Die in den einzelnen Wahlbezirken getroffenen Entscheidungen über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Stimmzetteln können von dem Wahl- kommissarius und seinen Beisitzern nicht abgeändert werden. Siehe S. 544 Note 5. Vgl. Stenogr. Berichte 1874. I. Sess. S. 699 ff u. 1874/5. S. 1154 fg. . Aus dem darüber aufzunehmenden Protokoll muß die Zahl der Wähler, der gültigen und der ungültigen Stim- men und die Zahl der auf die einzelnen Kandidaten gefallenen Stimmen für jeden einzelnen Wahlbezirk ersichtlich sein. Auch sind diejenigen Bedenken zu erwähnen, zu denen die Wahlen in einzelnen Bezirken etwa Veranlassung gegeben haben. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 35 §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Das Ergebniß wird verkündet, und durch die zu amtlichen Publikationen dienenden Blätter bekannt gemacht Wahlregl. §. 27. . Die Wahl erfolgt durch absolute Stimmenmehrheit aller in einem Wahlkreise abgegebenen Stimmen Wahlges. §. 12. . Hat sich dieselbe auf einen Candidaten vereinigt, so wird derselbe als gewählt proklamirt Wahlregl. §. 28 Abs. 1. . 6) Engere Wahl . Wenn eine absolute Stimmenmehrheit sich nicht ergeben hat, so findet unter den beiden Candidaten, welche die meisten Stimmen erhalten haben, eine engere Wahl statt Wahlges. §. 12 Abs. 1. Wenn mehrere Kandidaten gleich viele Stim- men haben, so entscheidet das Loos, welches durch die Hand des Wahlkom- missars gezogen wird, darüber, welche beiden Kandidaten auf die engere Wahl zu bringen sind. Wahlregl. §. 30 Abs. 1. . Der Termin für dieselbe wird von dem Wahlkommissar festgesetzt und darf nicht länger hinausgeschoben werden als höchstens 14 Tage nach der Ermittlung des Ergebnisses der ersten Wahl (also 18 Tage nach dem ersten Wahltermine) Wahlregl. §. 29. . Die engere Wahl ist lediglich als Fortsetzung der ersten, resultatlos gebliebenen Wahl anzusehen; es bedarf daher nicht der Wiederholung der zur Vorbereitung der Wahl dienenden Maaßregeln. Wahlbezirke, Wahllokale, Wahlvorsteher bleiben unverändert; dieselben Wähler- listen werden angewendet; eine wiederholte Auslage und Berich- tigung derselben findet nicht statt Wahlregl. §. 31. Jedoch ist eine Verlegung der Wahllokale und Er- setzung der Wahlvorsteher, wenn sie nach dem Ermessen der zuständigen Behörde geboten erscheint, gestattet. . Alle Stimmen, welche bei der engeren Wahl auf andere Kandidaten fallen als auf die beiden, unter denen zu wählen ist, sind ungültig. Es ist in der wegen Vornahme der engeren Wahl zu erlassenden Bekanntmachung ausdrücklich darauf hinzuweisen Wahlregl. §. 30 Abs. 2. . Tritt bei der engeren Wahl Stimmengleichheit ein, so ent- scheidet das Loos, welches durch die Hand des Wahlkommissars gezogen wird Wahlges. §. 12 Abs. 2. Wahlregl. §. 32. . §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. 7) Von dem Resultat der Wahl ist der Gewählte durch den Wahlkommissar in Kenntniß zu setzen und zugleich aufzufordern: a ) über die Annahme der Wahl sich zu erklären, b ) nachzuweisen, daß er nach Maaßgabe des Gesetzes wähl- bar sei. Dem Gewählten steht eine Deliberationsfrist von 8 Tagen zu, welche von der Zustellung der Benachrichtigung an läuft. Der Nachweis der Wählbarkeit ist für den Erwerb der Reichstags- Mitgliedschaft nicht wesentlich; derselbe kann, wenn die Wählbar- keit bestritten werden sollte, noch nachträglich geführt werden. Da- gegen muß die Erklärung der Annahme eine ausdrückliche sein; das Ausbleiben einer Erklärung bis zum Ablauf der Frist gilt als Ablehnung Dem Reichstage bleibt es aber allerdings unbenommen, eine verspätete Annahme-Erklärung noch als wirksam anzusehen. . Die Annahme muß ferner eine uneingeschränkte sein; Annahme unter Protest oder Vorbehalt gilt ebenfalls als Ablehnung Wahlregl. §. 33. . Im Falle der Ablehnung oder Ungültigkeits-Erklärung der Wahl ist von der zuständigen Behörde sofort eine neue Wahl zu veranlassen Wahlregl. §. 34. . 8) Die gesammten Kosten des Wahlverfahrens werden von den Gemeinden getragen. Ausgenommen sind allein die Kosten für die Druckformulare zu den Wahlprotokollen der Wahlbezirke und die Kosten für die Ermittlung des Wahlergebnisses in den Wahlkreisen, welche den Bundesstaaten zur Last fallen Wahlgesetz §. 16. . VII. Vorschriften zur Sicherung der Ausübung des Wahlrechts . Unter diesen Gesichtspunkt fallen eine Anzahl von Rechtssätzen, welche in verschiedenen Gesetzen aufgestellt worden sind. Für ihre allgemeine Beurtheilung und Auffassung ist es von Wichtigkeit, daß sie weit weniger dem Zwecke dienen, das subjective Recht des einzelnen Wahlberechtigten zu schützen, obwohl auch dies theilweise mit in Betracht kommt, als vielmehr eine Sicherheit dafür zu ge- währen, daß der Reichstag als ein für das Reich so wesentliches Organ den für seine Zusammensetzung aufgestellten Verfassungs- 35* §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Prinzipien gemäß auch wirklich gebildet werde. Das durch die in Rede stehenden Vorschriften zu schützende Object ist demnach in erster Reihe nicht die Wahlberechtigung des Einzelnen, sondern die verfassungsmäßige Organisation des Reiches, das allgemeine Wahlrecht als Bestandtheil derselben, als objective Institution des Verfassungsrechts. Hierher gehören folgende Sätze: 1) „Die Wahlberechtigten haben das Recht, zum Betrieb der den Reichstag betreffenden Wahl-Angelegenheiten Vereine zu bilden und in geschlossenen Räumen unbewaffnet öffentliche Ver- sammlungen zu veranstalten“ Wahlges. §. 17 Abs. 1. . Das hier begründete „Recht der Wahlberechtigten“ ist, juristisch ausgedrückt, die durch Reichs- gesetz erfolgte theilweise Aufhebung der landesgesetzlichen Beschrän- kungen der natürlichen Fähigkeit, Vereine zu bilden und Versamm- lungen zu veranstalten. Nicht diese Fähigkeit ist eine Schöpfung des Rechts, sondern ihre Beschränkung Wo es gar keine Rechtssätze über Vereine und Versammlungen giebt, ist das sogen. Vereins- und Versammlungsrecht am vollständigsten und unbeschränktesten, weil es eben seinem Inhalte nach überhaupt kein Recht ist. . Den Einzelstaaten ist es demnach durch Reichsgesetz verboten, in Bezug auf Vereine und Versammlungen, welche zum Betrieb der Reichstags-Wahlangele- genheiten gebildet und veranstaltet werden, diese natürliche Hand- lungsfähigkeit der Wahlberechtigten zu beschränken Im Übrigen sind diese Beschränkungen und die auf Verle tzungen der- selben gesetzten Strafen aufrecht erhalten. Einf.-Ges. zum St.-G.-B. §. 2 Abs. 2. Die Uebertretung solcher Beschränkungen wird hier „Mißbrauch des Vereins- und Versammlungsrechts“ genannt. Ebenso Einf.-Ges. für Els.-Lothr. vom 30. Aug. 1871 Art. II. Abs. 2. . Abgesehen davon, daß diese Beschränkungen nur für Vereine und für öffentliche Versammlungen, welche in geschlossenen Räumen und unbe- waffnet veranstaltet werden, beseitigt worden sind, spricht das Reichsgesetz nur von Wahlberechtigten, so daß also z. B. Personen, welche das 25. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, und Personen weiblichen Geschlechts, sowie Nicht-Reichsangehörige, wenn dieselben an Wahlvereinen und Wahlversammlungen Theil nehmen, den ge- wöhnlichen Vorschriften der Partikularrechte über Vereine und öffentliche Versammlungen unterliegen. §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Außerdem hat das Reichsgesetz ausdrücklich in Kraft erhalten die Bestimmungen der Landesgesetze über die Anzeige der Ver- sammlungen und Vereine, sowie über die Überwachung der- selben Wahlges. §. 17 Abs. 2. . 2) Sowohl die Wahlhandlung und die Ermittelung des Wahl- ergebnisses in den Wahlbezirken als die Feststellung des Wahl- resultates für die Wahlkreise sind öffentlich Wahlges. §. 9 Abs. 1. Wahlreglem. § 26 Abs. 3. . Es wird da- durch die Ordnungsmäßigkeit und Redlichkeit des Verfahrens unter die Controle der Wahlberechtigten gestellt. Andererseits wird die Ordnung und Ruhe der Wahlhandlung dadurch gesichert, daß während derselben im Wahllokal weder Diskussionen stattfinden, noch Ansprachen gehalten, noch Beschlüsse gefaßt werden dürfen, außer den durch die Leitung des Wahlgeschäfts bedingten Dis- kussionen und Beschlüssen des Wahlvorstandes. 3) Unberechtigten Einwirkungen der Regierung auf die Stim- menabgabe und Feststellung des Wahlergebnisses und der Mög- lichkeit eines Verdachtes, daß dergleichen vorgekommen sei, ist durch die Vorschrift vorgebeugt, daß die Funktion der Vorsteher, Bei- sitzer und Protokollführer bei der Wahlhandlung in den Wahlbe- zirken und der Beisitzer bei der Ermittelung des Wahlergebnisses in den Wahlkreisen ein unentgeltliches Ehrenamt ist und nur von Personen ausgeübt werden kann, welche kein unmittelbares Staats- amt bekleiden Wahlges. §. 9 Abs. 2. Wahlreglem. §. 10. 26. . 4) Das Reichs-Strafgesetzbuch hat die freie und ordnungs- mäßige Vornahme der Wahlen durch vier spezielle Strafsatzungen geschützt. a ) Wer einen Deutschen durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer strafbaren Handlung verhindert, in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte zu wählen oder zu stimmen, wird mit Gefängniß nicht unter 6 Monaten oder mit Festungshaft bis zu 5 Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar. §. 107 Vgl. Drenkmann in Goltdammer’s Arch. Bd. 17 S. 168 ff. John in v. Holtzendorff’s Handb. des D. Strafr. III. S. 83 ff. . b ) Ein Beamter unterliegt dieser Bestrafung selbst dann, wenn er die im §. 107 verbotene Handlung ohne Gewalt oder §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Drohung, aber durch Mißbrauch seiner Amtsgewalt oder Andro- hung eines bestimmten Mißbrauchs derselben begangen hat Vrgl. hiezu Oppenhoff St.-G.-B. Note 9 zu §. 339 und Meves in v. Holtzendorff’s Handb. III. S. 973 ff. und oben S. 438. . §. 339, Abs. 3. c ) Wer ein unrichtiges Ergebniß der Wahlhandlung vorsätz- lich herbeiführt, wird, wenn er mit der Sammlung von Wahl- zetteln oder mit der Führung der Beurkundungsverhandlung be- auftragt ist, mit Gefängniß von 1 Woche bis zu 3 Jahren bestraft; wenn er nicht mit der Sammlung der Zettel oder einer anderen Verrichtung bei dem Wahlgeschäfte beauftragt ist, so tritt Gefäng- nißstrafe bis zu zwei Jahren ein. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. §. 108 Vergl. v. Mohl krit. Bemerk. S. 57 fg. Drenkmann a. a. O. John a. a. O. S. 87 ff. . d ) Wer in einer öffentlichen Angelegenheit ein Wahlrecht kauft oder verkauft Die civilrechtlichen Begriffe des Kaufs und Verkaufs kommen hier nicht zur Anwendung. Drenkmann a. a. O. S. 178. John S. 89. Oppen- hoff Strafgesetzb. Note 3 zu §. 109 und insbesondere Schwarze Kommen- tar zum St.-G.-B. zu §. 109. , wird mit Gefängniß von einem Monat bis zu zwei Jahren bestraft; auch kann auf Verlust der bürger- lichen Ehrenrechte erkannt werden. §. 109 Vgl. v. Mohl a. a. O. S. 61 fg. . Alle nicht unter diese 4 Kategorien fallende Handlungen, welche eine Beeinflußung der Wähler bezwecken, sind, sofern sie nicht gegen die allgemeinen Strafgesetze verstoßen, erlaubt Dahin gehört namentlich die Verbreitung von Lügen; die Erregung phantastischer Hoffnungen; die Versicherung, daß die Wahl eines bestimmten Kandidaten Gott wohlgefällig sei, die eines anderen Krankheiten und Mißernte u. dergl. Unglücksfälle als Strafen Gottes herbeiführen werde; Bedrohung mit Verlust der Kundschaft oder mit Dienstentlassung oder mit Kündigung von Pachtverträgen u. drgl. Alles dies mag man tadeln und beklagen, man muß es aber als Consequenz des allgemeinen Wahlrechts mit hinnehmen. Andere zu beeinflussen und sich von ihnen beeinflussen zu lassen, ist ein „unantastbares Menschenrecht“, welches freilich in den Katalogen der „natürlichen Rechte“ oder „Grundrechte“ gewöhnlich übergangen wird. . Die Freiheit der Wahlbeeinflußung ist das Correlat des allgemeinen, directen Wahlrechts und ohne sie ist die Erzielung einer absoluten Stimmenmehrheit der Wähler eines Kreises kaum zu erwarten. §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. Moralisch mögen die Mittel, welche zur Beeinflußung der Wähler verwendet werden, oft recht verwerflich sein; rechtlich ist ein Mittel nur unstatthaft, wenn es gesetzlich verboten ist. Die Praxis des Reichstages bei Prüfung der Wahlen ist auch im Wesentlichen von dem Grundsatz ausgegangen, daß solche Beeinflußungen von Wah- len, welche nicht gegen Strafgesetze verstoßen, für die Gültigkeit der Wahl ohne Belang sind Eingehende Details bei v. Mohl a. a. O. S. 49 ff. Vergl. auch Bamberger in v. Holtzend. Jahrb. I. S. 160 ff. Sehr empfindlich hat sich aber der Reichstag wiederholt in dem Falle gezeigt, wenn ein Gensdarm die, jedem andern Menschen freistehende Befugniß, Stimmzettel zu vertheilen, aus- geübt hat. Vgl. z. B. Stenogr. Berichte 1874 I. Sess. S. 689 ff. 187⅘ S. 870 ff. . 5) Endlich ist hierher zu zählen die Bestimmung des Art. 21, Abs. 1 der Reichsverf.: „Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag“. Diese Bestimmung stellt das allge- meine Wahlrecht in der Richtung sicher, daß der durch dasselbe zum Mitglied des Reichstages Berufene nicht durch die ihm dienst- lich vorgesetzte Behörde gehindert werden darf, die ihm übertragene Function auszuüben. Die Bestimmung enthält keinen anderen Satz, als daß der Beamte, welcher seinen Dienst verläßt, um der auf ihn gefallenen Wahl Folge zu leisten, keine unbefugte und schuldbare Verletzung der Dienstpflichten verübt und daß er keiner Erlaubniß seiner vorgesetzten Behörde zum Eintritt in den Reichstag bedarf. Dagegen enthält dieser Artikel gar nichts über anderweitige Rechtsfolgen, welche sich für den Beamten an den Eintritt in den Reichstag knüpfen können, namentlich keine Ent- scheidung der Frage, ob ein Abzug vom Gehalte stattfindet oder dem Beamten die Stellvertretungskosten zur Last fallen Der verfassungsber. Reichstag von 1867 hat einen Antrag, die Befrei- ung der Beamten von den Stellvertretungskosten auszusprechen, verworfen. Stenogr. Berichte S. 711. Daraus folgt nicht, daß die einzelnen Regierungen den Beamten Gehalts-Abzüge machen oder von ihnen die Stellvertretungskosten einziehen müssen oder auch nur dürfen, wie Hiersemenzel I. S. 84. Thu- dichum S. 155. Auerbach S. 112 annehmen; sondern die Frage ist in jedem einzelnen Staat und für jede Kategorie von Beamten nach dem parti- kulären Staats- und Verwaltungsrechte zu entscheiden. Vgl. v. Martitz Be- trachtungen S. 82 Note 77. Meyer , Grundz. S. 100. Riedel S. 112. v. Rönne S. 165 Note c. Seydel S. 145. v. Mohl S. 352. In Preußen werden die Stellvertretungskosten für die aus Staatsfonds be- . Für §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. die Reichsbeamten ist diese Entscheidung aber durch das Reichsges. v. 31. März 1873 §. 14, Abs. 2 (Rg.-Bl. S. 63) dahin getrof- fen, daß ein Abzug vom Gehalte nicht stattfindet und die Stellver- tretungskosten der Reichskasse zur Last fallen. Vgl. S. 421. Zu Zweifeln hat der Ausdruck „Beamte“ in Art. 21, Abs. 1 Anlaß gegeben. Aus den Verhandlungen des zur Vereinbarung der Verfassung berufenen Reichstages ist Nichts dafür zu entneh- men, welchen Sinn man an dieser Stelle mit dem Worte „Beamte“ verbunden hat; ebenso wenig giebt die Reichsverfassung ander- wärts eine Definition dieses Ausdruckes. Sicher ist nur, daß er außer den Reichsbeamten jedenfalls auch die Beamten der Einzel- staaten mit umfaßt. Es wird daher nach der Behördenverfassung und dem öffentlichen Rechte der einzelnen Staaten zu entscheiden sein, wer als Beamter derselben anzusehen ist v. Pözl S. 125 Note 3 sagt: „Bedienstete von Privatpersonen oder von Privatgesellschaften können weder im Hinblick auf den Wortlaut noch auf die ratio legis unter diesen Artikel subsumirt werden.“ Riedel S. 112 meint dagegen: Der Ausdruck Beamte muß hier im weitesten Sinne genommen werden. Hiersemenzel S. 84 und v. Rönne S. 164 Note b ) verstehen unter Beamten auch die „mittelbaren Staatsbeamten“; Thudichum S. 154 behauptet dagegen, daß Gemeinde- und Kirchenbeamte keine Befreiung von der Pflicht der Urlaubs-Einholung genießen. Die entgegengesetzte Ansicht verthei- digt Seydel S. 144. 145. v. Mohl Reichsstaatsr. S. 351 ist sogar ge- neigt, auch auf die Angestellten von Privat-Eisenbahnen und Dampfschifffahrts- Linien (soll wohl heißen: Gesellschaften) den Art. 21 anzuwenden. — Aus der Zusammenstellung des Abs. 1 und des Abs. 2 des Art. 21 in einem und dem- selben Artikel läßt sich vielleicht folgern, daß der Ausdruck „Beamte“ auf die „im Reichs- oder Staatsdienste“ Angestellten zu beschränken ist, da Abs. 2 von diesen handelt. . VIII. Die Wahlprüfungen . „Der Reichstag prüft die Legitimation seiner Mitglieder und entscheidet darüber“. R.-V. Art. 27. Die Entscheidung erfolgt ohne Mitwirkung und Betheiligung des Bundesrathes oder des Reichskanzlers und sie ist definitiv; es giebt kein Mittel, wenn der Reichstag einmal eine Wahl für gültig oder für ungültig erklärt hat, diese Entscheidung anzufechten, weder innerhalb noch außerhalb des Reichstages. Daß soldeten Beamten, welche in den Reichstag eintreten, auf Grund des Staats- minist.-Beschlusses v. 4. Oktober 1867 (v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 786) bis auf Weiteres aus Staatsmitteln bestritten. In Bayern werden eben- falls keine Abzüge für Stellvertretungskosten gemacht. Riedel a. a. O. §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. die Entscheidung materiell den Charakter eines Urtheils hat, also nach Grundsätzen des Rechts und der Billigkeit, nicht nach dem politischen Partei-Interesse, erfolgen sollte, bedarf keiner Ausfüh- rung; die Gründe für die Abstimmung der einzelnen Reichstags- Mitglieder sind aber nicht controllirbar. Um dem Reichstage die Prüfung der Wahlen zu ermöglichen, sind von dem Wahlkommissar sämmtliche Wahlakten, sowohl über die Wahlen in den Bezirken als über die Zusammenstellung der Ergebnisse im Wahlkreise, der Staatsbehörde einzureichen und alle diese Akten werden durch Vermittelung der Central-Verwaltungs- behörde der Einzelstaaten dem Reichstage vorgelegt Wahlreglem. §. 35 und dazu Anlage D. . Über das Verfahren hat die Geschäftsordnung des Reichstages §§. 3—6 die erforderlichen Bestimmungen getroffen Eine eingehende Darstellung und kritische Beleuchtung dieses Verfahrens giebt v. Mohl krit. Bemerkungen ꝛc. S. 85 fg. Eine Abänderung ist bereits im Reichstage von 1874/75 beantragt worden. Vgl. Stenogr. Berichte. An- lagen II. Nr. 215. (S. 1275). . Nach denselben zerfällt dasselbe in die Vorprüfung und in die Entscheidung. 1) Die Vorprüfung geschieht in den Abtheilungen. Der Reichstag wird durch das Loos in sieben Abtheilungen gleicher Mitgliederzahl getheilt, welche sich ihren Vorsitzenden und Schrift- führer wählen und ohne Rücksicht auf die Zahl der anwesenden Mitglieder beschlußfähig sind Gesch.-O. §. 2. . Jeder Abtheilung wird eine mög- lichst gleiche Anzahl der einzelnen Wahlverhandlungen durch das Loos zugetheilt. Die Entscheidung erfolgt auf den Bericht der Abtheilung durch das Plenum des Reichstages. 2) Eine Entscheidung des Plenums muß erfolgen a ) wenn die Abtheilung ein erhebliches Bedenken findet, b ) wenn eine Wahlanfechtung (Protest) vorliegt Über die Frage, ob zur Anfechtung einer Wahl jeder oder nur ein dem betreffendem Wahlkreise angehöriger Wähler legitimirt sei, enthält die Gesch.- Ordn. keine Bestimmung. Eine Erörterung darüber enthalten die Stenogr. Berichte 1874 I. Sess. S. 721 ff., zu einer Entscheidung aber ist der Reichstag nicht gelangt. , c ) wenn ein Reichstags-Mitglied Einsprache erhebt. Für die Wahlanfechtungen und Einsprachen besteht eine prä- §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. clusivische Frist von 10 Tagen, welche von der Eröffnung des Reichstages, — bei Nachwahlen, die während einer Session statt- finden, von der Feststellung des Wahlergebnisses an, — läuft. Später eingehende Proteste und Einsprachen bleiben unberück- sichtigt Gesch.-Ordn. §. 4. . Die Entscheidung kann auf Gültigkeitserklärung, Ungültigkeits- erklärung oder Beanstandung gehen und im letzteren Falle können die erforderlichen thatsächlichen Feststellungen durch Vermittelung des Reichskanzlers erhoben werden. Wenn keiner der 3 angegebenen Fälle vorliegt, bedarf es einer Entscheidung des Plenums nicht. Solche Wahlen werden nach der Vorprüfung durch die Abtheilung vom Präsidenten nachrichtlich zur Kenntniß des Hauses gebracht, und wenn bis dahin die für Anfechtungen gegebene Frist von 10 Tagen noch nicht verflossen ist, einstweilen als gültig betrachtet; nach Ablauf dieser Frist sind sie definitiv gültig Gesch.-Ordn. §. 5. . 3) Bis zur Ungültigkeits-Erklärung einer Wahl hat der Ge- wählte Sitz und Stimme im Reichstage Nur dürfen Mitglieder, deren Wahl beaustandet wird, natürlich nicht an der Abstimmung über die Gültigkeit ihrer eigenen Wahl Theil nehmen, wohl aber alle ihnen nöthig scheinenden Aufklärungen geben. Gesch.-Ordn. §. 6. . Ein bestimmter Termin, bis zu welchem die Vorprüfung der Wahlen oder die Definitiv- Entscheidung über dieselben erfolgt sein müsse, ist nicht vorge- schrieben. IX. Erlöschen der Mitgliedschaft . Die Reichstags-Mitgliedschaft hört auf: 1) durch Ablauf der Legislatur-Periode, welche drei Jahre dauert. R.V. Art. 24 Die Frist beginnt mit dem Tage der allgemeinen Wahlen. Soll die Legislatur-Periode im einzelnen Falle verlängert werden, so ist dazu ein Gesetz erforderlich, welches den für Verfassungs-Aenderungen aufgestellten Erforder- nissen genügt. Vgl. das Ges. v. 21. Juli 1870. B.-G.-Bl. S. 498. . 2) durch Auflösung des Reichstages während der Legislatur- Periode. R.-V. Art. 24. 3) durch freiwilliges Ausscheiden eines Mitgliedes. (Sogen. Mandats-Niederlegung) Vrgl. Wahlreglem. §. 34 Abs. 2; hier wird die Zulässigkeit des Aus- . §. 49. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. 4) Wenn ein Mitglied des Reichstages ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaate ein besoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienste in ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden ist, so verliert es Sitz und Stimme in dem Reichstage und kann seine Stelle in demselben nur durch neue Wahl wieder erlangen. R.-V. Art. 21 Abs. 2 Da diese Verfassungsbestimmung dem Art. 78 Abs. 3 der Preuß. Verf.- Urk. entnommen ist, so kann in Betreff der Casuistik die staatsrechtl. Praxis Preußens Verwerthung finden. Ueber dieselbe stellt ein reichhaltiges Material zusammen v. Rönne Preuß. Staatsr. § 118. (3. Aufl. I. 2. S. 394 fg.) . Die Entschei- dung der Frage, ob in einem gegebenen Falle eine dieser Vor- aussetzungen thatsächlich vorliegt oder nicht, gehört zur Prüfung der Legitimation der Reichstags-Mitglieder und steht deßhalb dem Reichstage allein zu. 5) Die Reichsverfassung kennt keinen Fall, in welchem einem Mitgliede Sitz und Stimme im Reichstage zur Strafe entzogen werden kann. Weder durch strafrichterliches Erkenntniß kann der Verlust der Mitgliedschaft verhängt werden, noch ist der Reichstag befugt, wegen dauernder Nichttheilnahme an den Geschäften des Reichstages oder wegen unehrenhaften Verhaltens ein Mitglied auszuschließen Vrgl. über diese Frage die Stenogr. Berichte 1868. S. 296. 454 ff. Thudichum S. 197. 198. . Dagegen kann man die Frage erheben, ob nicht ein Mitglied des Reichstages, welches die Wählbarkeit einbüßt, dadurch von selbst Sitz und Stimme im Reichstage verliert Dafür erklären sich auch, wenngleich ohne Begründung, v. Pözl S. 126, v. Rönne S. 167, Schwarze Commentar zum St.-G.-B. S. 104. . Die Beantwortung der Frage kann zweifelhaft sein, weil die Beding- ungen, um Mitglied des Reichstages zu werden , nicht dieselben zu sein brauchen, wie die Bedingungen, um es zu bleiben . Allein aus der Natur der Sache darf man wohl unbedenklich die Bejahung der Frage herleiten. Es ergiebt sich dies zunächst für den Fall, daß ein Reichstags-Mitglied auswandert und mithin scheidens, die auf einem allgemeinen Gewohnheitsrecht beruht, implicite aner- kannt. Die Niederlegung des Mandats muß ausdrücklich erklärt werden; aus der Thatsache, daß ein Mitglied ohne Entschuldigung und ohne sogen. Ur- laub sich fortgesetzt von den Reichstags-Geschäften fern hält, kann der Verzicht auf die Mitgliedschaft nicht gefolgert werden. §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages. aufhört, Angehöriger des deutschen Reiches zu sein. Wer nicht zum deutschen Volke gehört, kann auch nicht „Vertreter“ desselben sein. Wenn man aber anerkennt, daß der Wegfall einer Vor- aussetzung der Wählbarkeit, nämlich der Verlust der Reichsange- hörigkeit, den Verlust der Reichstagsmitgliedschaft nach sich zieht, so muß man consequenter Weise dieselbe Wirkung auch dann an- nehmen, wenn einer der 4 im Wahlges. §. 3 erwähnten Fälle eintritt, durch welche Wahlrecht und Wählbarkeit zeitweise ausge- schlossen werden. Ausdrücklich durch Gesetz entschieden ist dies für den Fall, daß einem Reichstags-Mitgliede die bürgerlichen Ehren- rechte aberkannt werden. Denn nach §. 33 des R.-St.-G.-B’s. ist hiermit der dauernde Verlust der aus öffentlichen Wahlen für den Verurtheilten hervorgegangenen Rechte verbunden. Ebenso muß man aber annehmen, daß ein Mitglied des Reichstages Sitz und Stimme in demselben verliert, wenn über sein Vermögen der Konkurs eröffnet wird oder wenn er eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln bezieht. Die Entscheidung im einzelnen Falle würde, da es sich auch hier um die Legitimation der Mitglieder handelt, dem Reichstage selbst zustehen. §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages. 1) Der Reichstag darf sich nicht versammeln und seine Thätigkeit beginnen , ohne vom Kaiser berufen und ohne vom Kaiser persönlich oder durch einen von ihm dazu beauftragten Stellvertreter eröffnet zu sein. R.-V. Art. 12 Vrgl. oben S. 273 die Ausführungen über den gleichen Rechtssatz hin- sichtlich des Bundesrathes. . Nach dem Art. 13 der R.-V. „findet die Berufung des Reichs- tages alljährlich statt“; es muß also der Reichstag in jedem Jahre mindestens einmal einberufen werden. Die Befugniß des Kaisers, den Reichstag mehrmals in einem Jahre einzuberufen, ist in der Verfassung zwar nicht ausdrücklich anerkannt, abgesehen von dem Falle einer Auflösung des Reichstages (R.-V. Art. 25); sie beruht aber auf einem allgemeinen, unzweifelhaften Gewohnheitsrecht und ist unbestritten Im Jahre 1870 wurde der Reichstag dreimal einberufen durch Verordn. v. 6. Febr., 15. Juli und 12. November; im Jahre 1871 zweimal durch Ver- . Man unterscheidet demnach beim Reichstage, §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages. wie beim Bundesrathe, ordentliche und außerordentliche Sitzungs- perioden. 2) Der Reichstag darf nicht gegen den Willen des Kaisers versammelt bleiben und seine Thätigkeit fortsetzen . Dem Kaiser steht es vielmehr zu, den Reichstag zu vertagen und zu schließen . R.-V. Art. 12. Dieses Recht ist jedoch in so weit eingeschränkt, daß ohne Zustimmung des Reichstages die Vertagung desselben die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden darf. R.-V. Art. 26. Über den rechtlichen Unterschied der Vertagung und Schließung enthält die Reichsverfassung zwar Nichts; nach dem feststehenden parlamentarischen Sprachgebrauch und der constitutionellen Praxis besteht derselbe aber darin, daß die Vertagung die Continuität der Reichstagsgeschäfte nicht unterbricht, wohl aber die Schließung Vrgl. darüber v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 122 ( I. 2 S. 405. ff.) . Im Falle einer Vertagung bedarf es daher keiner wiederholten Einberufung und Eröffnung, keiner neuen Constituirung des Reichs- tages, keiner neuen Einbringung der unerledigt gebliebenen Vor- lagen und Anträge. Die Geschäfte werden vielmehr während der Vertagungsfrist nur suspendirt, bei dem Wiederzusammentritt des Reichstages daher an dem Punkte aufgenommen und fortgesetzt, an welchem sie liegen geblieben sind. Im Falle der Schließung tritt dagegen das Prinzip der Dis- continuität ein; die neue Sitzung ist keine Fortsetzung der vorher- gehenden; alle in der letzteren nicht zum Abschluß gekommenen Reichstagsgeschäfte müssen von Anfang an wieder begonnen werden. Daher können auch Reichstags-Kommissionen nach Schluß der Sitzungsperiode ihre vorberathende Thätigkeit nicht fortsetzen. Ob- wohl dieser Satz reichsgesetzlich nicht direct ausgesprochen ist, so steht er doch in so unbezweifelter Geltung Die Gesch.-Ordn. §. 67 scheint ihn bestätigen zu wollen, indem sie be- stimmt, daß Gesetzes-Vorlagen, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der Sitzungs-Periode, in welcher sie eingebracht und noch nicht zur Beschlußnahme gediehen sind, für erledigt (!?) zu erachten sind. , daß eine Abweichung von demselben nur auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes zu- lässig erscheint. Eine solche Ausnahme ist durch das Gesetz v. ordn. v. 26. Febr. und 5. Oktober; im Jahre 1874 ebenfalls zweimal durch Verordn. v. 20. Januar und v. 20. Oktober. §. 50. Bedingungen der Thätigkeit des Reichstages. 23. Dezember 1874 (Rg.-Bl. S. 194. 195.) gemacht worden. Die vom Reichstage zur Vorberathung der Entwürfe eines Gerichts- verfassungsgesetzes, einer Strafproceß-Ordnung und einer Civil- proceß-Ordnung eingesetzte Kommission wurde ermächtigt, ihre Ver- handlungen nach dem Schlusse der Session des Reichstages bis zum Beginn der nächsten ordentlichen Session desselben fortzu- setzen, und im §. 4 desselben Gesetzes wurde bestimmt, daß der Reichstag in einer der folgenden Sessionen der gegenwärtigen Le- gislaturperiode in die weitere Berathung der genannten Gesetz- entwürfe eintritt. Es sind also hier in Bezug auf die geschäftliche Behandlung dieser Vorlagen ausnahmsweise die mit der Schließung des Reichstages verbundenen Wirkungen auf das Maaß zurückgeführt worden, welches sonst denen der Vertagung des Reichstages zukömmt. 3) Der Reichstag darf ohne Genehmigung des Kaisers sich nicht trennen oder seine Thätigkeit unterbrechen . Das Recht der Vertagung und Schließung steht ausschließlich dem Kaiser zu. Nur im nicht technischen Sinne wird der Ausdruck „Vertagung“ auch angewendet, wenn der Reichstag eine einzelne Sitzung vor völliger Erledigung der Tagesordnung abbricht oder die nächste Sitzung um einige Tage hinausschiebt Gesch.-Ordn. §. 34. „Der Präsident eröffnet und schließt die Sitzung; er verkündet Tag und Stunde der nächsten Sitzung.“ . 4) Der Reichstag kann vor Ablauf der Legislatur-Periode aufgelöst werden. Die Auflösung erfolgt durch eine kaiserliche Verordnung, welche nur auf Grund eines vom Bundesrathe unter Zustimmung des Kaisers gefaßten Beschlusses erlassen werden kann R.-V. Art. 24. Vrgl. die Eingangsformel zur Verordn. v. 29. Nov. 1873. (RG.-Bl. S. 371). . Wird der Reichstag aufgelöst, so müssen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auflösung die Neuwahlen stattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach der Auflösung muß der Reichstag versammelt werden R.-V. Art. 25. . Die Wirkung der Auflösung besteht darin, daß dadurch die sogenannten Reichstagsmandate erlöschen, d. h. daß die durch die Wahl erfolgte Berufung zum Reichstags-Mitgliede ein Ende findet. Die Auf- lösung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichstag nicht ver- sammelt ist. Ist derselbe versammelt, so hat die Auflösung ipso §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. iure und mit Nothwendigkeit die Schließung desselben zur Folge; denn es giebt von dem Moment der Auflösung an keine Reichs- tagsmitglieder mehr, bis durch die Neuwahlen wieder solche er- nannt werden. Es folgt hieraus zugleich, daß der einmal aufge- löste Reichstag nicht nochmals einberufen werden kann Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Thudichum S. 165. 166. Gegen denselben erklärt sich auch Seydel S. 153. . §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. Die Reichsverfassung hat über die Art und Weise, wie der Reichstag seine Geschäfte zu erledigen habe, nur 2 Bestimmungen getroffen, die eine im Art. 22 über die Öffentlichkeit der Verhand- lungen, die andere im Art. 28 über die Beschlußfassung. Im Übrigen ist durch den Art. 27 ausgesprochen, daß der Reichstag seinen Geschäftsgang und seine Disciplin durch eine Geschäfts- Ordnung regelt und seinen Präsidenten, seine Vicepräsidenten und Schriftführer erwählt. Die formelle Ordnung der Geschäftsbe- handlung unterliegt daher im Wesentlichen der statutarischen Fest- stellung des Reichstages. Daraus folgt einerseits, daß weder der Bundesrath noch die Reichsregierung ein Mitwirkungs- und Ein- spruchsrecht bei Feststellung der Geschäftsordnung haben, sondern das Belieben des Reichstages allein entscheidet; andererseits, daß die Geschäftsordnung nur die Mitglieder des Reichstages selbst verpflichtet und unter ihnen statutarisches Recht erzeugt, aber keine Rechtssätze sanctioniren kann, denen über den Kreis der Reichstagsgenossen hinaus in irgend einer Beziehung Kraft und Wirkung zukäme. Namentlich darf man die Geschäfts-Ordnung nicht parallelisiren mit einer Verordnung des Kaisers oder Bun- desrathes Dies thut ausdrücklich v. Mohl krit. Bemerkungen ꝛc. S. 12. ; bei der letzteren handelt es sich um eine Bethätigung der Reichsgewalt, um die Ausübung eines staatlichen Hoheitsrechts, die einem Organe des Reiches delegirt ist; bei der Feststellung der Geschäftsordnung des Reichstages um eine statutarische Regelung der internen Angelegenheiten dieses Organes. Es folgt ferner daraus, daß die Geschäftsordnung immer nur für denjenigen Reichstag bindend ist, der sie sich gegeben hat und nur so lange, als sie der Majorität desselben behagt. Die Ein- führung, Abänderung und Ergänzung der Geschäfts-Ordnung ist §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. aber an die allgemeinen Bedingungen geknüpft, welche der Art. 28 der R.-V. für alle Beschlüsse des Reichstags aufstellt. Hat der Reichstag also einmal eine Geschäfts-Ordnung angenommen, so ist sie für ihn als Gesammtheit und für jedes einzelne Mitglied so lange bindend, bis ein ordnungsmäßig gefaßter Beschluß sie ab- ändert. Da die vom Reichstage des Norddeutschen Bundes an- genommene Geschäfts-Ordnung vom 12. Juni 1868 sich als zweck- mäßig erwiesen hat, so ist sie von den folgenden Reichstagen immer wieder angenommen worden und bis auf geringfügige und untergeordnete Punkte unverändert geblieben Unter den Ergänzungen und Abänderungen, welche dieselbe erfahren hat, sind hervorzuheben die Beschlüsse vom 9. April 1874 über die Art der Abstimmung und Zählung (Gesch.-O. §. 52. 52 a ). Stenogr. Ber. 1874 S. 680 ff. und vom 11. Nov. 1874 (Stenogr. Ber. 1874/75 S. 98). . Man darf daher annehmen, da die parlamentarische Praxis ebenso wenig wie die gerichtliche und Verwaltungs-Praxis geneigt ist, hergebrachte und als brauchbar bewährte Übungen ohne dringenden Grund zu verlassen und zu verändern, daß mindestens die Grundlinien der jetzigen Geschäfts-Ordnung eine dauerndere Bedeutung für das Recht des Reiches haben, als ihnen theoretisch nach der Art des Zustandekommens der Geschäftsordnung zugeschrieben werden kann Abdrücke der Geschäfts-Ordnung des Reichstages finden sich in Hirth ’s Annalen 1868. I. T. 913 ff., in desselben Parlaments-Almanach 1869 S. 256 fg. und in v. Holtzendorff ’s Jahrb. I. S. 87 ff. (1871). . Im Einzelnen gilt über die Geschäftsformen des Reichstages Folgendes: 1) Die Verhandlungen des Reichstages sind öf- fentlich . R.-V. Art. 22 Abs. 1. Die Öffentlichkeit und die durch dieselbe vermittelte, fortwährende Wechselwirkung zwischen dem Reichstage und der öffentlichen Meinung gehört zum Wesen aller parlamentarischen Thätigkeit. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen des Reichstages ist aber wieder doppelter Art: a ) Dem Publikum ist gestattet, bei den Sitzungen des Reichs- tages zugegen zu sein. Die Handhabung der Polizei im Sitzungs- Gebäude und in den Zuhörer-Räumen steht dem Präsidenten zu; er kann Personen, welche von der Tribüne Zeichen des Beifalls oder Mißfallens geben oder sonst die Ordnung oder den Anstand verletzen, entfernen lassen und, wenn eine störende Unruhe auf §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. der Tribüne entsteht, anordnen, daß Alle, die sich zur Zeit darauf befinden, die Tribüne räumen Gesch.-Ordn. §§. 59—61. . b ) „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verant- wortlichkeit frei“. R.-V. Art. 22 Abs. 2. Reichsstr.-Ges.-B. §. 12. Im Falle einer Anklage ist vom Richter festzustellen, ob ein Bericht „wahrheitsgetreu“ ist; auszugsweise Berichte über die Verhand- lungen können in so tendenziöser Art verfaßt sein, daß sie, ob- gleich sie Nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage ge- sprochen oder geschehen ist, dennoch den Sinn der gethanen Aeußerungen durch Herausreißen aus dem Zusammenhange fälschen und deshalb als wahrheitsgetreu nicht zu erachten sind. Noch viel weniger kann die Mittheilung einer einzelnen Rede, eines zur Verlesung gekommenen Aktenstückes oder eines Satzes aus einer Rede als ein „Bericht über Verhandlungen“ erachtet werden Vergl. die Präjudikate des Preuß. Obertribunals über den entsprechen- den §. 38 des Pr. Preßgesetzes v. 12. Mai 1851 bei Hiersemenzel I. S. 85 ff. Ferner Oppenhoff , R.-Strafgesetzbuch Note 6 und 7 zu §. 12. . Der Satz der Verfassung schließt nicht nur eine gerichtliche Verfolgung, sondern „jede Verantwortlichkeit“ aus, mithin auch eine disciplinarische, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt ist. Er bezieht sich ferner auf jede Art von Berichten, also insbesondere auch auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Versammlungen erstattet werden. Seine wichtigste Anwendung aber findet er in Ansehung der durch die Presse verbreiteten Berichte. Nach vielen Verfassungen ist es dem Landtage überlassen, durch einen Beschluß die Oeffentlichkeit auszuschließen; so z. B. auch durch die Preuß. Verf.-Urk. Art. 79. Die Reichsverfassung hat eine solche Bestimmung nicht. Die Geschäfts-Ordnung §. 33 sucht dies zwar nachzuholen, indem dieser Paragraph fast wörtlich dem Art. 79 der Preuß. Verf.-Urk. entnommen ist; gegenüber der bestimmten Vorschrift des Art. 22 der R.-V. aber ist diese Bestimmung der Geschäfts-Ordnung rechtsunwirksam. Es steht zwar nichts ent- gegen, daß sich die Reichstags-Mitglieder zu einer (Privat-) Be- sprechung unter Ausschluß der Oeffentlichkeit versammeln, der staats- rechtliche Charakter einer Reichstags-Verhandlung kömmt Laband , Reichsstaatsrecht. I. 36 §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. einer solchen Besprechung aber nicht zu Vrgl. Hiersemenzel S. 85. Seydel S. 146. Wenn Seydel aber glaubt, daß ein in geheimer Sitzung gefaßter Beschluß deshalb nicht als nichtig anzusehen sei, weil Art. 22 diese Folge nicht ausdrücklich aus- spreche, vielmehr eine lex imperfecta sei, so ist dies unrichtig. Ein in gehei- mer Sitzung von Reichstags-Mitgliedern gefaßter Beschluß ist überhaupt kein „Reichstags-Beschluß“ im Sinne der Verfassung, sondern ein Beschluß von Privatpersonen. Auch Hiersemenzel geht nicht weit genug, wenn er aus dem Art. 22 nur folgert, daß ein in geheimer Schluß -Berathung gefaßter Plenar-Beschluß des Reichstags ungültig sein würde. Denn Art. 22 schreibt die Oeffentlichkeit nicht blos für die Beschlußfassung, sondern allgemein für die Verhandlungen des Reichstages vor. Eine unter Ausschluß der Oeffentlichkeit abgehaltene Besprechung ist nur eine Verhandlung von Reichs- tags-Mitgliedern, aber keine Verhandlung des Reichstags im Sinne der Ver- fassung. Die entgegengesetzte Ansicht vertreten Thudichum S. 192, Riedel S. 112. v. Rönne S. 176. v. Pözl S. 132. Auf die nach Art. 27 dem Reichstage zustehende Autonomie kann aber der §. 27 der Gesch.-Ordn. nicht gestützt werden, weil autonomische Festsetzungen Verfassungssätze nicht aufheben können. . Auch aus der Fassung des Art 22 Abs. 2, welcher von Berichten über Verhandlungen „in den öffentlichen Sitzungen“ des Reichstages spricht, läßt sich nicht das argumentum e contrario herleiten, daß es auch „nicht öffentliche Sitzungen des Reichstages“ gebe. Denn theils bilden den Gegensatz zu den „öffentlichen Sitzungen des Reichstages“ die „nicht öffentlichen Sitzungen der Reichstags-Kommissionen und Ab- theilungen“ Vgl. auch v. Mohl Zeitschr. f. Staatswissensch. Bd. 31 S. 61. , theils ist die Fassung des Abs. 2 dem Preuß. Preß- gesetz vom 12. Mai 1851 §. 38 entnommen und es ist bereits hervorgehoben worden, daß in Preußen allerdings auch nicht öffent- liche Sitzungen der beiden Häuser des Landtages zulässig sind. Abs. 1 u. Abs. 2 des Art. 22 würden miteinander in directem Widerspruch stehen, wenn Abs. 2 auch nicht öffentliche Sitzungen des Reichstages als zulässig voraussetzen würde. 2) Ueber die Beschlußfassung des Reichstages enthält Art. 28 der R.-V. zwei Rechtssätze: a ) „Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmenmehr- heit“. Dadurch ist der Stichentscheid des Präsidenten ausge- schlossen; im Falle der Stimmengleichheit ist der Antrag abge- lehnt Gesch.-Ordn. §. 48 a. E. Auf Wahlen, die der Reichstag vorzunehmen . §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. b ) „Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich.“ Die „gesetzliche Anzahl“ ist, gleichviel ob Sitze erledigt sind oder nicht, 397 Siehe oben S. 531 fg. . Beschlußfähig ist der Reichstag daher nur, wenn mindestens 199 Mitglieder anwesend sind. Die Anwesenheit einer so großen Anzahl von Mitgliedern braucht aber nicht bei jeder Beschlußfassung constatirt zu werden; die Beschlußfähigkeit wird in allen Fällen präsumirt, in denen nicht durch Auszählung oder namentliche Abstimmung das Gegentheil festgestellt wird. Nur zur Beschlußfassung, nicht zu Verhandlungen des Reichstages ist die Anwesenheit einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern erforderlich. Debatten können daher fortgesetzt werden, selbst wenn die Beschluß- Unfähigkeit des Hauses constatirt ist Vrgl. v. Mohl Zeitschr. f. Staatswissensch. Bd. 31. S. 94 fg. . 3) „Dem Reichstag steht es zu, seinen Präsidenten, seine Vicepräsidenten und Schriftführer zu wählen .“ R.-V. Art. 27. Dieselben führen die Gesammtbezeichnung „Vor- stand des Reichstages.“ Beim Eintritt einer neuen Legislatur- Periode übernimmt zunächst interimistisch das älteste Mitglied den Vorsitz, es wird sodann ein Beschluß des Reichstages gefaßt Hierzu ist demnach die Anwesenheit einer beschlußfähigen Anzahl er- forderlich, zur Wahl selbst dagegen nicht. Gesch.-Ordn. §. 7. Denn man kann eine Wahl doch kaum als einen „Beschluß“ bezeichnen. Die Praxis des Reichs- tages hat sich aber dafür entschieden, nur solche Wahlen für gültig zu erachten, bei welcher eine beschlußfähige Anzahl von Stimmen abgegeben worden ist. Vrgl. namentlich Stenogr. Ber. 1874/75 I. S. 14. , an welchem folgenden Tage die Wahlen erfolgen sollen. Die Wahl der Präsidenten und von zwei Vicepräsidenten erfolgt das erste Mal auf 4 Wochen, dann aber für die übrige Dauer der Session. Sie geschieht unter Namens-Aufruf durch Stimmzettel nach ab- soluter Majorität. In den folgenden Sessionen einer Legislatur-Periode setzen die Präsidenten der vorangegangenen Session ihre Functionen bis hat, finden diese Bestimmungen keine Anwendung. Sie können nach relativer Stimmenmehrheit erfolgen, z. B. die Wahl der Schriftführer, und bei Stim- mengleichheit entscheidet das Loos. Gesch.-Ordn. §. 7. 8. Für die Wahl der Mitglieder der Reichsschulden-Komm. ist absolute Stimmenmehrheit vorgeschrie- ben im Ges. v. 19. Juni 1868 §. 5 (B.-G.-Bl. S. 340). 36* §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. zur vollendeten Wahl des Präsidenten fort und die Präsidenten- wahlen erfolgen sofort für die ganze Dauer der Session Gesch.-Ordn. §. 1. 7—9. . Die Constituirung des Reichstags und das Ergebniß der Vorstands- Wahlen wird durch den Präsidenten dem Kaiser angezeigt Gesch.-Ordn. §. 10. . Der Präsident und in seiner Vertretung die Vicepräsidenten nach der Reihenfolge ihrer Erwählung haben die Verhandlungen zu leiten, die Ordnung zu handhaben und den Reichstag nach Außen zu vertreten. Der Präsident befördert die Vorlagen des Bundesrathes und die Anträge der Mitglieder zum Druck und zur Vertheilung, er stellt die gefaßten Beschlüsse zusammen, er ver- kündigt die Tages-Ordnung für die nächste Plenarsitzung, er er- öffnet und schließt die Sitzung und verkündet Tag und Stunde der nächsten Sitzung; er vollzieht das Protokoll Gesch.-Ordn. §. 11. 15. 17. Abs. 4. 32. 34. 38. . Der Präsident handhabt die Rede-Ordnung Dieselbe kann natürlich in keiner Weise den Satz der Reichsverf. Art. 9 beschränken oder modifiziren, daß jedes Mitglied des Bundesrathes im Reichs- tage auf Verlangen jederzeit gehört werden muß. , führt die Redner- liste, ertheilt das Wort, er ist befugt, den Redner auf den Gegen- stand der Verhandlung zurückzuweisen, und zur Ordnung zu rufen Gesch.-Ordn. §. 39 ff. Sehr ausführliche Erörterungen darüber bei v. Mohl a. a. O. S. 64—80, woselbst eine förmliche Theorie des „Rechts zu sprechen“ entwickelt ist. . Gegen den Ordnungsruf kann das Mitglied jedoch schriftlich Ein- sprache thun, worauf der Reichstag in der nächstfolgenden Sitzung darüber ohne Discussion entscheidet, ob der Ordnungsruf gerecht- fertigt ist Gesch.-Ordn. §. 57. . Vor der Abstimmung stellt der Präsident die Fragen; jedoch kann das Wort darüber begehrt werden und im Falle eines Wider- spruchs gegen die vom Präsidenten formulirte Fragestellung be- schließt der Reichstag darüber; unmittelbar vor der Abstimmung läßt der Präsident die Frage verlesen, stellt im Verein mit den Schriftführern das Ergebniß der Abstimmung fest und verkündet dasselbe Gesch.-O. §. 48. 51—56. . Den Verkehr zwischen dem Reichstage und dem Reichskanzler §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. vermittelt der Präsident; soll eine Adresse dem Kaiser durch eine Deputation überreicht werden, so ist der Präsident der alleinige Wortführer der Deputation Gesch.-Ordn. § 63. 65—66. . Der Präsident hat endlich über die Annahme und Entlassung des für den Reichstag erforderlichen Verwaltungs- und Dienstper- sonals zu beschließen Gesch.-Ordn. §. 12. . Die Anstellung desselben erfolgt nicht auf seinen Antrag durch den Kaiser oder den Reichskanzler, sondern sie erfolgt durch den Reichstags-Präsidenten selbst, welcher zugleich die vorgesetzte Behörde ist Gesetz v. 31. März 1873 §. 156. (Rg.-Bl. S. 90.) . Auch über die im Etat ausgeworfene Summe für die Ausgaben zur Deckung der Bedürfnisse des Reichs- tages steht dem Präsidenten die Verfügung zu und er ernennt für die Dauer seiner Amtsführung zwei Reichstags-Mitglieder zu „Quästoren“ für das Kassen- und Rechnungswesen Gesch.-Ordn. §. 12. 14. . 4) Die Behandlung aller dem Reichstage gemachten Vorlagen des Bundesrathes und derjenigen von Mitgliedern gestellten An- träge Alle von Reichstags-Mitgliedern ausgehenden Anträge müssen von min- destens 15 Mitgliedern unterzeichnet sein. Gesch.-Ordn. §. 20 Abs. 1. , welche Gesetzesentwürfe enthalten, besteht der Regel nach in drei, durch feste Fristen von einander getrennten, und in ihrer Bedeutung verschiedenen Berathungen. a ) Die erste Berathung erfolgt frühestens am dritten Tage, nachdem der Gesetzesentwurf gedruckt und in die Hände der Mit- glieder gekommen ist Eine Abkürzung dieser Frist kann nur dann beschlossen werden, wenn ihr nicht 15 anwesende Mitglieder widersprechen. Gesch.-Ordn. §. 19. . Bei Anträgen, welche von Mitgliedern ausgehen, wird die erste Berathung damit eröffnet, daß der Antrag- steller das Wort zur Begründung erhält. Die erste Berathung ist auf eine allgemeine Erörterung der Grundsätze des Entwurfs beschränkt. Der Beschluß des Reichstages ist lediglich darauf ge- richtet, ob eine Kommission mit der Vorberathung des Entwurfs oder einzelner Theile desselben zu betrauen ist oder nicht Gesch.-Ordn. §. 16. 20. . Mate- rielle Beschlüsse über den Inhalt der Vorlage können in diesem Stadium nicht gefaßt werden. Daher darf auch nicht die Ueber- weisung an eine Kommission, mit dem Auftrage, den Gesetzentwurf §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. in einer bestimmten Richtung zu amendiren oder zu ergänzen, be- schlossen werden Vrgl. hierzu die sehr eingehenden Debatten des Reichstages v. 18. Nov. 1874 Stenogr. Berichte 1874/75 I. S. 220—233. . b ) Die zweite Berathung erfolgt frühestens am zweiten Tage nach dem Abschlusse der ersten, und wenn eine Kommission eingesetzt ist, am zweiten Tage, nachdem die Kommissions-Anträge gedruckt und in die Hände der Mitglieder gekommen sind. Mit Stimmenmehrheit kann der Reichstag aber eine Abkürzung dieser Frist, insbesondere auch die Vornahme der ersten und zweiten Berathung in derselben Sitzung beschließen; indeß muß dieser Beschluß an einem früheren Tage als an dem der Berathung ge- faßt werden Gesch.-Ordn. §. 19. . Die Discussion betrifft die einzelnen Artikel und die zu den- selben gestellten Abänderungs-Vorschläge. Die letzteren bedürfen keiner Unterstützung; sie können in der Zwischenzeit und im Laufe der Verhandlung eingebracht werden. Die Abstimmung erfolgt über die einzelnen Artikel und Amen- dements. Nach dem Schlusse der zweiten Berathung stellt der Präsident mit Zuziehung der Schriftführer die gefaßten Beschlüsse zusammen. Wird der Entwurf in allen seinen Theilen abgelehnt, so findet eine weitere Berathung nicht statt Gesch.-Ordn. §. 17. . c ) Die dritte Berathung hat die eben erwähnte Zusammen- stellung zur Grundlage und findet statt frühestens am zweiten Tage nach der Vertheilung derselben, oder, wenn keine abändern- den Beschlüsse gefaßt worden sind, nach dem Abschlusse der zweiten Berathung Eine Abkürzung dieser Frist kann ebenfalls nur dann beschlossen werden, wenn ihr nicht 15 anwesende Mitglieder widersprechen. Gesch.-O. §. 19. . Die Discussion betrifft zunächst die allgemeinen Grundsätze des Entwurfs (Generaldebatte), sodann die einzelnen Artikel (Spe- zialdebatte). Abänderungs-Vorschläge dürfen eingebracht werden; sie bedürfen aber der Unterstützung von 30 Mitgliedern. Die Abstimmung erfolgt über die einzelnen Artikel und Amen- dements. Nach Beendigung der Berathung wird über die Annahme oder Ablehnung des Gesetzesentwurfs im Ganzen abgestimmt. Wenn §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. in dritter Berathung Verbesserungs-Anträge angenommen worden sind, so ist die Schlußabstimmung auszusetzen, bis das Büreau die Beschlüsse zusammengestellt hat Gesch.-O. §. 18. . 5) Eine einfachere Behandlung finden Anträge von Mitglie- dern, welche keine Gesetzesentwürfe enthalten Ueber Petitionen vgl. v. Mohl a. a. O. S. 99 ff. . Bei denselben ge- nügt einmalige Berathung und Abstimmung; Abänderungsvorschläge bedürfen der Unterstützung von 30 Mitgliedern. Über den Zeit- punkt, in welchem die Berathung stattfinden kann, gilt zwar im Allgemeinen dieselbe Regel wie bei Gesetzentwürfen, jedoch kann über einen derartigen Antrag, und zwar auch ohne daß er gedruckt vorliegt, in derselben Sitzung, in welcher er eingebracht ist, unter Zustimmung des Antragstellers die Berathung und Abstimmung stattfinden, wenn kein Mitglied widerspricht Gesch.-O. §. 21. . Auf Anträge des Bundesrathes, welche keine Gesetzesentwürfe enthalten, kann dieses, im §. 21 der G.-O. normirte, Verfahren nur mit Zustimmung des Bundesrathes angewendet werden Gesch.-O. §. 23. . 6) Über die Behandlung von Interpellationen und Adressen siehe oben S. 522 Vgl. Gesch.-Ordn. §§. 30. 31 und §. 64. . 7) Abtheilungen und Kommissionen . Die vom Reichstage zu behandelnden Angelegenheiten können zur Vorbe- reitung der Plenarberathung und Beschlußfassung Ausschüssen über- wiesen werden. Von denselben giebt es zwei, von einander sehr verschiedene Arten. a ) Abtheilungen . Der Reichstag zerfällt in sieben Ab- theilungen von möglichst gleicher Mitgliederzahl. Dieselben werden durch das Loos gebildet; es gehört daher jedes Mitglied einer Abtheilung und nur einer an. Eine Neubildung der Abtheilungen findet nur statt, wenn der Reichstag auf einen durch 50 Unter- schriften unterstützten Antrag dies beschließt. Die Abtheilungen sind ohne Rücksicht auf die Zahl der anwesenden Mitglieder be- schlußfähig Gesch.-Ordn. §. 2. . §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. Den Abtheilungen liegt ob die Vorprüfung der Wahlen Gesch.-Ordn. §. 3. Siehe oben S. 553. und die Wahl von Kommissionsmitgliedern Gesch.-Ordn. §. 24. Abs. 3. . b ) Kommissionen . Dieselben werden gewählt . Es können daher einzelne Mitglieder mehreren Kommissionen ange- hören, andere gar keiner. Die Wahl erfolgt — wenigstens schein- bar — durch die Abtheilungen, indem jede derselben die gleiche Zahl von Kommissions-Mitgliedern durch Stimmzettel nach abso- luter Mehrheit der anwesenden Mitglieder erwählt Gesch.-O. §. 24. Abs. 3. . In Wirk- lichkeit ist dies eine leere Form, da die Wahl der Mitglieder der Kommissionen von den Vorständen der Fractionen vereinbart wird S. darüber v. Mohl in der Zeitschr. f. Staatswissensch. Bd. 31 S. 57 ff. . Die Kommissionen können entweder für eine einzelne Angelegen- heit oder für ganze Gruppen von Geschäften gewählt werden Der §. 24 erwähnt 6 solche Gruppen; es ist aber weder erforderlich, daß stets diese 6 Kommissionen gebildet werden, noch ist es unzulässig, für ein- zelne unter diese Kategorie fallende Gegenstände besondere Kommissionen ein- zusetzen. . Die Aufgabe der Kommission ist die Vorberathung des ihr über- wiesenen Gegenstandes und die Berichterstattung an das Plenum. Der Bericht kann mündlich oder schriftlich erstattet werden; schrift- liche Berichte werden gedruckt und an die Mitglieder vertheilt. Der Reichstag kann in jedem Falle einen schriftlichen Bericht ver- langen Gesch.-Ordn. §. 25. . Die Kommissionen sind nur dann beschlußfähig, wenn min- destens die Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Für das Publikum sind die Sitzungen der Kommissionen nicht öffentlich Auch der §. 12 des R.-St.-G.-B.’s findet auf Kommissions-Verhand- lungen keine Anwendung. Oppenhoff Note 5 zu diesem §. ; die Reichs- tagsmitglieder sind aber befugt, auch wenn sie einer Kommission nicht angehören, den Sitzungen derselben beizuwohnen. Eine Ausschließung der Oeffentlichkeit der Kommissions-Verhandlungen für Reichstags-Mitglieder kann nur der Reichstag beschließen Gesch.-Ordn. §. 25 Abs. 5. Vgl. v. Mohl a. a. O. S. 60 fg. . Die Mitglieder des Bundesrathes und Kommissare desselben können den Abtheilungen und Kommissionen mit berathender Stimme bei- §. 51. Formelle Ordnung der Reichstags-Geschäfte. wohnen. Dem Reichskanzler wird daher auch von dem Zusam- mentritt der Kommissionen und von dem Gegenstande der Ver- handlungen Kenntniß gegeben Gesch.-Ordn. §. 27. . Abtheilungen und Kommissionen constituiren sich selbstständig, wählen ihre Vorsitzenden und Schriftführer und deren Stellver- treter und regeln ihre Tagesordnung selbst. Für die Abtheilungen kann auch der Präsident Sitzungen anberaumen Gesch.-Ordn. §. 2. 25. 28. Ueber sog. „ freie Kommissionen“ vergl. v. Mohl a. a. O. S. 56. . 8) Protokolle . Auch von diesen giebt es zwei verschiedene Arten: a ) Die offiziellen Sitzungsprotokolle Gesch.-Ordn §§. 35—38. . Das Protokoll jeder Sitzung liegt während der nächsten Sitzung zur Einsicht aus und wird, wenn dagegen bis zum Schluß der Sitzung kein Ein- spruch erhoben ist, als genehmigt erachtet. Wird aber Einspruch erhoben, welcher sich durch die Erklärung der darüber zu hörenden Schriftführer nicht heben läßt, so entscheidet der Reichstag darüber Von einem Einspruch gegen die Richtigkeit des Protokolls ist wohl zu unterscheiden ein Einspruch gegen die (materielle) Richtigkeit einer im Protokoll richtig wiedergegebenen Erklärung. Vgl. Stenogr. Berichte 1874. 1. Sess S. 113. . Wird der Einspruch für begründet erachtet, so muß noch während der Sitzung eine neue Fassung der betreffenden Stelle vorgelegt werden. Das Protokoll muß enthalten die gefaßten Beschlüsse in wörtlicher Anführung; die Interpellationen in wörtlicher Fassung nebst der Be- merkung, ob sie beantwortet sind; die amtlichen Anzeigen des Präsidenten. Das Protokoll wird von dem Präsidenten und zwei Schrift- führern vollzogen und im Archiv des Reichstages aufbewahrt. Durch den Druck werden diese Protokolle nicht veröffentlicht. Sie allein haben den Charakter öffentlicher Urkunden über die Reichstags- Beschlüsse. b ) Die Stenographischen Berichte über die Verhand- lungen. Die Ueberwachung der Revision derselben liegt den Schrift- führern ob Gesch.-Ordn. §. 13. . Sie enthalten einen vollständigen Bericht der ge- §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. sammten Verhandlungen und einen Abdruck der, den Verhandlungen zu Grunde liegenden schriftlichen Vorlagen, Anträge und Berichte unter der Bezeichnung „Anlagen“. Jedes Mitglied ist außerdem befugt, bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abstimmungen seine von dem Mehrheitsbeschlusse abweichende Abstimmung kurz motivirt schriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme in die stenographischen Berichte, ohne vorgängige Verlesung in dem Reichstage, zu verlangen Gesch.-Ordn. §. 56. Beispiele: Stenogr. Berichte 1874 I. Session. S. 110 und 111. . Die stenographischen Berichte werden gedruckt und erscheinen nach Legislatur-Perioden und Ses- sionen und in chronologischer Reihenfolge der Sitzungen geordnet im Buchhandel Von dem verfassunggebenden Reichstage von 1867 an im Verlage der Buchdruckerei der „Norddeutschen Allgem. Zeitung“ in Berlin. Eine offizielle Autorität kömmt den Stenogr. Berichten nicht zu. Thudichum S. 196. . §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige Ausübung der ihnen obliegenden Funktionen zu sichern, ist der gemeinsame Zweck einer Reihe von Rechtsvorschriften. In der Literatur faßt man dieselben gewöhnlich unter dem Gesichtspunkte auf, daß es sich hierbei um persönliche Rechte der Reichs- tagsmitglieder handle Vrgl. z. B. v. Pözl S. 129. v. Rönne S. 174. Westerkamp S. 109. Vgl. ferner Zöpfl II. §. 386 fg. . Dies ist indeß unrichtig. Alle diese Vorschriften begründen keine subjectiven Berechtigungen; sie sind vielmehr ihrem Inhalte nach Rechtssätze des Strafrechts und des Prozesses, welche auf politischen und staatsrechtlichen Motiven beruhen. Es sind objective Spezial-Rechtssätze, nicht durch Privileg begründete subjective Rechte, welche bestimmten Individuen zustehen. Die Mitgliedschaft im Reichstage ist zwar die Voraussetzung für die Anwendung dieser Rechtsvorschriften, aber die Anwendung derselben hängt nicht von dem Willen des Mitgliedes ab Man könnte mit demselben Grunde aus jeder Vorschrift der Prozeß- Ordnungen und des Strafrechts subjective Rechte für alle diejenigen herleiten, welche einmal in die Lage kommen, daß diese Vorschrift auf sie Anwendung findet. . Es ist dies für die allgemeine theoretische Auf- §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. fassung dieser Rechtssätze von Bedeutung. Die Grundsätze vom Erwerb und Verlust der subjectiven Rechte finden keine Anwendung; kein Reichstags-Mitglied kann wirksam darauf verzichten oder sie abtreten; es giebt keine Klage zu ihrer Geltendmachung u. s. w. Dagegen unterliegen sie den Regeln von den objectiven Rechts- sätzen; insbesondere können sie durch ein verfassungsmäßig zustande gekommenes Gesetz jederzeit verändert oder aufgehoben werden, ohne daß die einzelnen Mitglieder des Reichstages, welche davon betroffen werden, ihre Zustimmung zu ertheilen brauchten oder Anspruch auf Entschädigung hätten. Die Tendenz aller dieser Vorschriften ist auch in ihrem Endziel nicht, den Mitgliedern des Reichstages eine Rechtswohlthat zu erweisen, sondern die ungestörte Thätigkeit eines für das Verfassungsleben des Reiches so wichtigen Organes, wie es der Reichstag ist, zu sichern Dies wird auch ganz richtig hervorgehoben von v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 436 fg. (3. Aufl.) ; nur kommt das Mittel, durch welches dieses Ziel erreicht wird, unter Umständen den einzelnen Reichstags-Mitgliedern zu statten. Die hierher gehörenden Vorschriften sind folgende: 1) „Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disciplinarisch ver- folgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden“. R.-V. Art. 30 Eine Zusammenstellung der Literatur über die strafrechtliche Unverfolg- barkeit der Parlamentsmitglieder wegen ihrer berufsmäßigen Aeußerungen findet sich bei v. Rönne Preuß. Staatsr. §. 129 Rote 1. (3. Aufl. I. 2. S. 428). Vgl. ferner v. Bar die Redefreiheit der Mitglieder der gesetzgebenden Ver- sammlungen. Lpz. 1868 und Schulze Preuß. Staatsr. II. S. 165 ff. . Es ist dies ein allgemeiner Grundsatz des Strafrechts; er kehrt daher auch in Anwendung auf die Mitglieder der Landtage der Einzelstaaten im R.-Strafgesetzb. §. 11 wieder. Er läßt aus- drücklich die geschäftsordnungsmäßige Disciplin innerhalb des Reichs- tages (Ordnungsruf) zu. Wenn der Wortlaut des Artikels unter- sagt, ein Reichstags-Mitglied gerichtlich oder disciplinarisch oder „ sonst “ zur Verantwortung zu ziehen, so ist dies nur von einem obrigkeitlichen Ziehen zur Verantwortung zu verstehen, weil nur dieses einen rechtlichen Charakter hat Im Gegensatz dazu steht eine politische Verantwortung, welche von . §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. 2) „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet wer- den, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird.“ R.-V. Art. 31 Abs. 1. Dies ist eine Regel des Strafprozesses. Die Genehmigung des Reichstages ist eine strafprozeßualische Voraussetzung oder Be- dingung, ohne welche die Behörden eine strafgerichtliche Untersuchung nicht eröffnen resp. die Verhaftung nicht vornehmen dürfen Dasselbe gilt von der im §. 197 des R.-St.-G.-B. geforderten „Ermäch- tigung“, welche der Reichstag, wenn eine Beleidigung gegen ihn begangen worden ist, zur strafrechtlichen Verfolgung derselben zu ertheilen hat. . Diese Bedingung besteht nur „während der Sitzungsperiode“; d. h. vom Momente der Eröffnung bis zum Momente der Schließung des Reichstages. Wird der Reichstag vertagt, so währt die Sitzungs- periode noch fort; die Regel des Art. 31 Abs. 1 besteht daher auch während der Vertagungsfrist. Auf die Festnahme eines Reichstags-Mitgliedes zum Zwecke der Vollstreckung einer rechtskräftig erkannten Freiheitsstrafe kann die Vorschrift des Art. 31 Abs. 1 seinem Wortlaute nach keine Anwendung finden. Ein rechtskräftiges Erkenntniß ist keine „mit Strafe bedrohte Handlung“ eines Reichstags-Mitgliedes; die Zu- sammenstellung der „Verhaftung“ mit dem „Ziehen zur Unter- suchung“ deutet darauf hin, daß der Artikel nur von der Unter- suchungshaft redet, und namentlich kann die Ausnahme, welche sich gleichmäßig auf das Ziehen zur Untersuchung und die Verhaftung erstreckt, nämlich der Fall der Ergreifung, „bei Ausübung der That “ oder im Laufe des nächstfolgenden Tages nur von der Unter- suchungshaft nicht von der Strafvollstreckung verstanden werden. Sodann wird dies auch durch die Analogie der im Abs. 3 desselben Artikels enthaltenen Vorschrift bestätigt, wo nur von einer Unterbre- chung der Untersuchungshaft, nicht der Strafvollstreckung die Rede ist. Dasselbe Resultat ergiebt auch die Entstehungsgeschichte dieses dem Reichstags-Mitgliede von Fraktionen, Wahlcomitees, Wählerversammlungen, politischen Vereinen, Organen der Presse u. s. w. etwa gefordert wird. Eine solche Forderung kann rechtlich nicht erzwungen werden, ist rechtlich aber auch nicht untersagt. Siehe oben S. 504. Ausgeschlossen ist dagegen durch Art. 30 eine gerichtliche Verfolgung im Wege des Eivilprozesses wegen Leistung von Schadens-Ersatzes. §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. Artikels. In dem verfassungsberathenden Reichstage wurde zu Art. 28 des Entw. ein Zusatz-Artikel von zwei verschiedenen Seiten beantragt; der Abgeordnete Ausfeld wünschte die Aufnahme eines dem §. 117 der Reichsverf. v. 28. März 1849 entsprechenden Zusatzes, der Abgeordnete Lette empfahl die Anlehnung an die Fassung des Art. 84 der Preuß. Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850. Die letztere Formulirung wurde angenommen, nachdem der Abg. Lette die zwischen beiden Fassungen bestehenden Unterschiede her- vorgehoben hatte. (Stenogr. Ber. des verfassungg. Reichstages 1867 S. 468.) In Betreff der hier in Betracht kommenden Frage besteht aber zwischen beiden Fassungen kein Unterschied. Die Reichsverfassung von 1849 §. 117 untersagt nur die Verhaftung wegen „strafrechtlicher Anschuldigung“ und die Verhandlungen der Preuß. Rationalversammlung von 1848 über den jetzigen Artikel 84 lassen keinen Zweifel, daß der Ausdruck verhaftet, in diesem Art. auf die Strafvollstreckung sich nicht erstreckt; auch ist niemals in Preußen in der staatsrechtlichen Praxis die entgegengesetzte Be- hauptung auch nur erhoben worden Vrgl. v. Rönne Preuß. Staatsr. I. 2. S. 436—439 und den treff- lichen Bericht des Abg. Harnier in der Sitzung des Reichstages v. 16. Dez. 1874. Stenogr. Bericht S. 725 ff. . Bei der Vereinbarung der Reichsverfassung wurde daher von keiner Seite daran gedacht, den Reichstags-Mitgliedern ein Privi- legium in Beziehung auf die Verbüßung rechtskräftig erkannter Strafen zu ertheilen Auch das Berliner Kammergericht hat durch Beschluß v. 18. Novemb. 1874 die richtige Ansicht zur Geltung gebracht, als es sich um die Vollstreckung einer rechtskräftig erkannten Gefängnißstrafe gegen ein Reichstags-Mitglied, Namens Majunke, handelte. In der dieserhalb geführten Verhandlung des Reichstages ist außer der angeführten Berichterstattung von Harnier nament- lich die vorzügliche Auseinandersetzung von Gneist (Stenogr. Berichte S. 750 ff.) zu beachten. Auch der Reichstag selbst erkannte die richtige Ansicht dadurch indirect an, daß er unter Ablehnung aller andern Anträge eine Resolution annahm, nach welcher „behufs Aufrechthaltung der Würde des Reichstages“ (!?) es nothwendig sei, im Wege der Deklaration resp. Abänderung der Verfassung die Möglichkeit auszuschließen, daß ein Abgeordneter während der Dauer der Sitzungsperiode ohne Genehmigung des Reichstages verhaftet werde. Der Bundesrath beschloß, dieser Resolution eine Folge nicht zu geben. Reichs-An- zeiger v. 8. Nov. 1875. Ein in der Sitzungs-Periode von 1875/76 eingebrachter Antrag auf Abänderung des Art. 31 der R.-V. wurde vom Reichstage am 9. Dez. 1875 verworfen. Stenogr. Ber. S. 471 ff. . §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. 3) „Die gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung eines Reichstags-Mitgliedes wegen Schulden erforderlich.“ R.-V. Art. 31 Abs. 2. Dieser Satz enthält eine Regel des Civilprozesses Vrgl. den Entw. der R.-Civilproc.-Ordn. §. 731. . Nach dem R.-G. vom 29. Mai 1868 §. 1 (B.-G.-Bl. S. 237) ist der Personalarrest als Executionsmittel in bürgerlichen Rechts- sachen nur insoweit für unstatthaft erklärt, als dadurch die Zahlung einer Geldsumme oder die Leistung einer Quantität vertretbarer Sachen oder Werthpapiere erzwungen werden soll. Vorschriften der partikulären Prozeßordnungen, welche den Personal-Arrest zu- lassen als Exekutionsmittel, um die Leistung unvertretbarer (indi- viduell bestimmter) Sachen oder von Handlungen zu erzwingen, bestehen noch fort. Ferner hat das erwähnte Reichsgesetz §. 2 ausdrücklich aufrecht erhalten die gesetzlichen Vorschriften, welche den Personalarrest gestatten, um die Einleitung oder Fortsetzung des Prozeßverfahrens oder die gefährdete Exekution in das Ver- mögen des Schuldners zu sichern (Sicherungsarrest). Alle diese partikulären Prozeßregeln werden durch Art. 31 Abs. 2 der R.-V. modificirt. 4) „Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuchungs- oder Civil- haft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.“ R.-V. Art. 31 Abs. 3. Durch diese Vorschrift wird dem Reichstage die Befug- niß gegeben, die Unterbrechung eines Strafverfahrens, sowie einer Untersuchungs- oder Civilhaft zu verlangen Ueber die Unterbrechung der Civilhaft vgl. die übereinstimmende An- ordnung im Entw. der R.-Civilpr.-Ordn. §. 732 Nr. 1. . Auf eine Straf- vollstreckung kann der Artikel nicht bezogen werden, weil dieselbe erst nach Beendigung des Strafverfahrens eintritt, nicht mehr zum Strafverfahren selbst gehört und weil die ausdrückliche Her- vorhebung „jeder Untersuchungs- oder Civilhaft“ es unzweifelhaft macht, daß die „Strafhaft“ dieser Regel nicht mit unterworfen werden sollte Dies ist auch durch eine constante Praxis des Reichstages anerkannt, welche z. B. in den Sitzungen vom 12. März 1874 (Stenogr. Ber. S. 305 ff.) und v. 21. Nov. 1874 (Stenogr. Ber. 1874/75 S. 244 ff.) bestätigt wurde und welche sich an die feststehende Auslegung, die der mit Art. 31 Abs. 3 über- einstimmende Art. 84 Abs. 4 der Preuß. Verf.-Urk. im Preußischen Landtage gefunden hat, anlehnt. . Die Unterbrechung des Strafverfahrens u. s. w. §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedschaft. tritt nicht ipso jure ein und kein Gericht ist verpflichtet, eine gegen ein Reichstags-Mitglied schwebende Untersuchung bis nach der Schließung der Sitzungsperiode von Amts wegen auszusetzen; sondern es muß der Reichstag aus eigener Initiative von dem Recht des Art. 31 Abs. 3 Gebrauch machen und die Unterbrechung des Strafverfahrens „verlangen.“ Die Erfüllung dieses Verlangens erfolgt durch die Vermittelung des Reichskanzlers. 5) Wer ein Mitglied des Reichstages durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer strafbaren Handlung verhindert, sich an den Ort der Versammlung zu begeben oder zu stimmen, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Festungshaft von gleicher Dauer bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Festungshaft bis zu zwei Jahren ein Vgl. hierzu John in v. Holtzendorff’s Handbuch des Strafr. III. S. 81 fg. R.-St.-G.-B. §. 106. Vgl. R.-V. Art. 74. Diese Strafe tritt auch dann ein, wenn die Handlung von einem Beamten, wenn auch ohne Gewalt oder Drohung, aber durch Mißbrauch seiner Amtsgewalt oder Androhung eines bestimmten Mißbrauchs derselben begangen ist. R.-St.-G.-B. §. 339 Abs. 2. §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedschaft. „Die Mitglieder des Reichstags dürfen als solche keine Be- soldung oder Entschädigung beziehen.“ R.-V. Art 32. Die Mit- gliedschaft im Reichstag soll nach diesem Verfassungs-Grundsatz den Charakter einer ehrenamtlichen Funktion haben; die mit Ueber- nahme desselben verbundenen pekuniären Opfer und Lasten sollen den einzelnen Mitgliedern zufallen. Der Art. 32 ist aber eine lex imperfecta Vgl. v. Martitz Betrachtungen S. 77. 78. ; er droht keine Rechtsnachtheile demjenigen an, welcher als Mitglied des Reichstages eine Besoldung oder Ent- schädigung annimmt, oder welcher einem Mitgliede des Reichstages eine Vergütung gewährt. Weder ist der Verlust der Reichstags- Mitgliedschaft oder eine andere staatsrechtliche Folge an die Ver- letzung des Art. 32 geknüpft, noch hat das Strafgesetzbuch aus dieser Verletzung den Thatbestand einer strafbaren Handlung ge- macht Durch Nichts begründet ist die Behauptung Thudichum ’s S. 209, . Wenn daher Mitglieder einer politischen Partei, ein §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedschaft. Verein, eine einzelne Person u. s. w. einem Mitgliede des Reichs- tages in der juristischen Form einer Schenkung oder irgend eines anderen Rechtsgeschäfts eine Vermögenszuwendung als Entgelt für die Thätigkeit desselben im Reichstage machen und das Reichs- tagsmitglied diese Vermögenszuwendung annimmt, so knüpfen sich an diesen Vorgang weitere Rechtsfolgen nicht an als die in dem Civilrecht begründeten Sehr treffend sagte in dieser Beziehung Fürst Bismarck im ver- fassungsgeb. Reichstage (Stenogr. Ber. S. 727), „daß die Regierungen ohne eine strafgesetzliche Unterlage nur denen etwas verbieten können, denen sie über- haupt zu befehlen haben.“ Nur hinsichtlich der Beamten ist diese Erklärung wie Hiersemenzel I. S. 102 sagt, „nicht eindeutig.“ . Dessen ungeachtet ist die Vorschrift des Art. 32 keine wirkungs- lose. Aus ihr ergeben sich vielmehr folgende Rechtssätze: 1) Ein civilrechtlicher Vertrag, durch welchen einem Reichstags- Mitgliede eine Besoldung oder Entschädigung für seine Thätigkeit im Reichstage versprochen oder zugesichert wird, ist rechts- unwirksam und klaglos. Dasselbe gilt von testamentarischen An- ordnungen oder von Stiftungen zu dem Zwecke, um Reichstags- Mitgliedern als solchen Besoldungen oder Entschädigungen zu ge- währen. 2) Die Regierungen der Einzelstaaten sind nicht befugt, aus Staatsmitteln den in ihren Gebieten gewählten Reichstagsmitgliedern eine Besoldung oder Entschädigung zu gewähren. Denn hierzu könnte die Regierung nur ermächtigt werden entweder dauernd durch ein specielles Landesgesetz oder für eine einzelne Wirthschafts- daß ein Abgeordneter, welcher eine ihm angebotene Besoldung oder Entschä- digung nicht zurückgewiesen hat, als auf sein Mandat verzichtend ange- sehen werden müsse. Ein stillschweigender Verzicht auf das Mandat existirt überhaupt nicht, (siehe oben S. 554 Note 5) und überdies widerstreitet diese Fiction der wahren Sachlage durchaus. Ein solcher Abgeordneter will erst recht sein Mandat behalten und er will zugleich, was er freilich nicht soll, eine Besoldung dafür erhalten. Noch weiter verirrt sich v. Mohl Reichsstaatsr. S. 369, welcher Annahme und Anerbieten von Entschädigungen oder Besol- dungen für strafbar hält und die §§. 332. 333 des R.-St.-G.-B.’s darauf an- wenden will. Denn diese Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches handeln, ganz abgesehen von allen anderen, ihre Anwendbarkeit ausschließenden Gründen, nur von Beamten, und zwar von Bestechung derselben, Reichstags-Mitglieder sind aber keine Beamte und die Zahlung von Entschädigungen oder Diäten ist keine Bestechung. §. 53. Die Unentgeltlichkeit der Reichstags-Mitgliedschaft. periode durch das Etatsgesetz. In beiden Fällen aber wäre die landesgesetzliche Bestimmung wegen des Art. 2 der R.-V. ungültig, da ihr die Anordnung des Art. 32 der Reichsverfassung vorgehen würde. 3) Die Hauptwirkung des Art. 32 besteht darin, daß die Reichsregierung nicht befugt ist, aus Reichsmitteln den Mitgliedern des Reichstages eine Besoldung oder Entschädigung zu zahlen und daß, so lange der Art. 32 nicht in verfassungsmäßiger Form auf- gehoben ist, keine Geldmittel dafür in den Reichs-Haushalts-Etat aufgenommen werden dürfen. Man hat es indeß für vereinbar mit diesem Grundsatz erachtet, den Reichstagsmitgliedern während der Sitzungsperioden, sowie acht Tage vor Beginn und nach Schluß derselben, freie Fahrt auf den Staats- und Privat-Eisenbahnen zu gewähren und den letzteren dafür eine Entschädigung aus Reichs- mitteln zu zahlen, für welche die erforderliche Summe im Reichs- Haushalts-Etat angesetzt ist Nachtrag zum Etat für 1874. Ges. vom 18. Febr. 1874. (R.-G.-Bl. S. 15. 16) und Etat für 1875. Fortdauernde Ausgaben. Kapitel 3. (R.-G.- Bl. 1874 S. 175.) Etat für 1876 Kap. 10 a. Mit einer Buchstaben-Interpretation des Art. 32 läßt sich dies in Einklang bringen; mit dem Sinne und der ge- setzgeberischen Tendenz desselben nicht. So gut wie auf den Eisenbahnen freie Fahrt könnte man den Abgeordneten auf Reichskosten auch in Berlin selbst Fuhrwerke zur unentgeltlichen Benutzung zur Verfügung stellen; sodann aber auch Hotels zur unentgeltlichen Wohnung und Verpflegung, Eintrittskarten in die Theater u. s. w. Alles dieses wäre weder Besoldung noch Entschädigung im buchstäblichen Sinne. Soll aber die Diätenlosigkeit der Abgeordneten, wie dies bei Feststellung dieses Artikels die bestimmt ausgesprochene Absicht war, ein Correctiv des allgemeinen gleichen Wahlrechts sein, so darf die Reichsregie- rung den Abgeordneten die Kosten, welche ihnen aus der Mitgliedschaft im Reichstage erwachsen, nicht abnehmen, weder durch Geld noch durch Verschaffung von Natural-Leistungen, wenn nicht die beabsichtigte Wirkung dieser Verfassungs- bestimmung vereitelt werden soll. Bei den Berathungen im Reichstage am 13. Febr. 1874 (Stenogr. Ber. S. 60 fg.) wurde von dem Staatsminister Delbrück darauf Gewicht gelegt, daß die Eisenbahnen feste Aversional-Ent- schädigungen erhalten, gleichviel ob und in welchem Umfange die einzelnen Mit- glieder des Reichstages von der Fahrkarte Gebrauch machen, dadurch seien die Zahlungen „von den Personen der Herren vollständig losgelöst.“ Dieser Um- stand ändert aber Nichts an der Thatsache, daß die Reichskasse Kosten trägt für „Mitglieder des Reichstages als solche“, welche dieselben sonst aus eigenen Mitteln bestreiten müßten. . Laband , Reichsstaatsrecht. I. 37 §. 54. Bundesglied und Reichsland. Sechstes Kapitel. Die Sonderstellung Elsaß-Lothringens im Reich Aus der Elsaß-Lothringen betreffenden Literatur sind nur wenige Schrif- ten zu nennen, welche das staatsrechtl . Verhältniß des Reichslands er- örtern. Hervorzuheben sind in dieser Beziehung: Löning Die Verwaltung des General-Gouvernements im Elsaß. Straßb. 1874 S. 178—265 und Mit- scher Elsaß-Lothringen unter deutscher Verwaltung (in den Preuß. Jahr- büchern Bd. XXXIII. S. 269 ff. 388 ff. 552 ff. XXXIV. S. 1 ff. Auch im Separat-Abdruck erschienen Berlin 1874). Die Aufsätze von Lehfeldt über die Verwaltungs-Einrichtungen von Elsaß und Lothringen in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 557 ff. II. S. 455 ff. berühren staatsrechtliche Fragen nicht. Die Materialien (Entwurf, Motive, Kommissionsberichte, Reichstags-Verhand- lungen) zu dem Vereinigungs-Gesetz vom 9. Juni 1871 sind abgedruckt in Hirth’s Annalen Bd. IV. 1871 S. 845—958. . §. 54. Bundesglied und Reichsland. Eine eigenartige Stellung im Verfassungsbau des Reiches nimmt Elsaß-Lothringen ein, deren juristische Betrachtung nicht nur zur Vervollständigung der Darstellung des Reichsstaatsrechts erforderlich, sondern zum Verständniß der Reichsverfassung über- haupt von wesentlichem Nutzen ist. Der Bundesstaat ist, wie oben ausgeführt wurde, eine öffent- lich rechtliche juristische Person, deren Mitglieder Staaten sind; er setzt voraus eine doppelte Staatsgewalt über Land und Volk, den mit Selbstverwaltung und Autonomie ausgestatteten Einzel- staat und über demselben den souveränen Gesammtstaat. Die Verfassung des Deutschen Reiches kennt demnach keine Bestand- theile des Reiches, welche der Central-Gewalt unmittelbar unter- worfen sind oder — was dasselbe bedeutet — welche lediglich als Objecte der Reichsgewalt in Betracht kommen, sondern sie setzt durchweg voraus, daß zwischen den einzelnen Territorien resp. ihren Bevölkerungen und der Reichsgewalt eine Staatsgewalt steht und daß diese Einzelstaaten, in welche Gebiet und Bevölkerung des Reiches gegliedert sind, als Mitglieder des Reiches, als Rechts- subjecte oder Personen Antheil an dem Reiche haben. Nach dem Art. 1 der R.-V. besteht das Bundesgebiet aus den in diesem Artikel genannten Staaten ; Artikel 3 der R.-V. und das §. 54. Bundesglied und Reichsland. Ges. v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit setzen voraus, daß jeder Reichs- angehörige Angehöriger eines Bundesstaates ist; nach Art. 6 ff. besteht der Bundesrath aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes ; Art. 19 spricht von der zwangsweisen Anhaltung der Bundesglieder zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Bundespflichten . Art. 36 überläßt jedem Bundesstaate die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern, soweit derselbe sie bisher ausgeübt hat; nach dem Wortlaut des Art. 42 „ verpflichten sich die Bundes-Regierungen “, die deutschen Eisenbahnen im Interesse des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten zu lassen. Art. 51 normirt die zeitweise Vertheilung der Postüberschüsse unter die einzelnen Staaten . Art. 54 erwähnt die Kauffahrteischiffe, Seehäfen und Wasserstraßen aller Bundesstaaten . Nach Art. 58 sind die Kosten und Lasten des gesammten Kriegswesens des Reichs von allen Bundesstaaten gleichmäßig zu tragen; nach Art. 62 u. 70 sind die Beiträge zu den Ausgaben des Reiches von den einzelnen Staaten des Bundes zu entrichten. Alle diese Anordnungen und noch zahlreiche andere Z. B. Art. 33. 35. 38. 39. 41. 56. 59. 66. 67. 76. 77. 78. Abs. 2. beruhen auf der völlig selbstverständlichen Voraussetzung, daß das Reich lediglich aus Staaten besteht. Die Einführung der Reichs-Verfassung in Elsaß-Lothringen, nicht blos dem Buchstaben, sondern dem Wesen nach, war daher nicht denkbar und nicht möglich, wenn nicht auch hier eine von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt aufgerichtet wurde, d. h. wenn nicht entweder das Gebiet einem oder mehreren deutschen Staaten zugetheilt oder ein besonderer Staat aus demselben ge- macht wurde. Beides ist aus zwingenden Gründen der Politik nicht geschehen Vgl. den Kommissionsbericht des Reichstages v. 16. Mai 1871. Druck- sachen I. Sess. 1871 Nr. 133. S. 3 fg. ; die von Frankreich abgetretenen Gebiete wurden vielmehr als sogen. Reichsland Der Ausdruck „Reichsland“, „unmittelbares Reichsland“ wird offiziell zuerst gebraucht in den Motiven zum Entwurf des Vereinigungs-Gesetzes. Drucksachen I. Session 1871, Nr. 61. S. 6. Vgl. auch Mitscher a. a. O. S. 272. Daß man über den staatsrechtlichen Begriff eines Reichslandes sich mit dem deutschen Reiche ver- 37* §. 54. Bundesglied und Reichsland. einigt. Dessen ungeachtet ist die Verfassung des deutschen Reiches mit wenigen, durch die thatsächliche Erweiterung des Reiches noth- wendig gewesenen Ergänzungen durch das Reichsges. v. 25. Juni 1873 in Elsaß-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt worden und es ist dadurch ein Rechtszustand geschaffen worden, welcher für Theorie und Praxis bedeutende Schwierigkeiten darbietet. Mit Leichtigkeit würden dieselben zwar beseitigt werden, wenn man zu der Fiction seine Zuflucht nehmen könnte, daß Elsaß- Lothringen ein Staat geworden sei, wie die anderen deutschen Gliedstaaten. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte diese Lösung wegen ihrer Einfachheit vielleicht Beifall finden. Da das Reichs- land thatsächlich in vielen Beziehungen ganz analog behandelt wird wie die Gliedstaaten, so kann in der Praxis der tiefe Gegensatz, welcher zwischen Gliedstaat und Reichsland besteht, sehr leicht über- sehen oder als nicht erheblich erachtet werden, und für die Theorie steht auf der Annahme der erwähnten Fiktion ein so hoher Preis in der durch sie gewonnenen Einheitlichkeit der Grundprinzipien des Verfassungsrechts für das gesammte Reichsgebiet, daß es ver- lockend ist, sich ihrer zu bedienen. Eine Fiktion kann aber hier so wenig wie auf anderen Gebieten die wirklich vorhandenen Un- gleichheiten wegschaffen, sie kann Praxis und Theorie nicht auf- klären, sondern nur verwirren, und sie ist in keinem Falle eine Lösung, sondern höchstens eine Umgehung der Schwierigkeiten. Elsaß-Lothringen ist weder dem Reiche noch dem Auslande gegenüber ein selbstständig berechtigtes Subjekt von Hoheitsrechten, von staatlichen Befugnissen und Pflichten, folglich kein Staat, sondern es ist ein Bestandtheil, ein Verwaltungsdistrikt des Reiches. Man braucht sich nur vorzustellen, daß sämmtliche deutsche Staa- ten zu Reichsländern erklärt und in dieselbe rechtliche Stellung gebracht würden, in welcher sich Elsaß-Lothringen befindet, um sofort einzusehen, daß dadurch die Verfassung des Reiches völlig verändert wäre und daß kein Abschnitt derselben in seinem wahren und ursprünglichen Sinne anwendbar bliebe. Der Gegensatz zwischen dem Reichslande und nicht vollkommmen klar war, ist vielfach offen bekannt worden, am unumwun- densten von dem Berichterstatter des Reichstages, Abg. Lamey am 20. Mai 1871. (Stenogr. Berichte 1871. I. Sess. S. 833.) §. 54. Bundesglied und Reichsland. den Gliedstaaten des Reiches fällt vollständig zu- sammen mit dem begrifflichen Gegensatze zwischen dem dezentralisirten Einheitsstaate und dem Bun- desstaate . Würden alle deutschen Staatsgebiete zu Reichsland erklärt, so wäre Deutschland kein Bundesstaat mehr und die Staats- gebiete wären einfach Provinzen des Reichs, auch wenn Gesetz- gebung und Verwaltung noch weniger centralisirt wären wie ge- genwärtig; bleibt in den deutschen Einzel-Staaten dagegen eine selbstständige, nicht in der Reichsgewalt wurzelnde Landeshoheit und Staatsgewalt bestehen, so wird auch der bundesstaatliche Cha- rakter des Reiches bewahrt, wenngleich die Kompetenz der Reichs- gewalt auf Kosten der Selbstverwaltung und Autonomie der Ein- zelstaaten erweitert werden sollte. Das Maaß der Dezentralisation kann in dem Einheitsstaat und in dem Bundesstaat genau dasselbe, ja es kann in dem ersteren bedeutend größer sein; die aus dem Begriffe sich ergebenden Gegensätze zwischen Einheitsstaat und Bundesstaat bleiben bestehen. Die Vergleichung zwischen dem Verhältniß Elsaß-Lothringens zum Reiche und dem Verhältniß der Gliedstaaten zum Reiche ist daher deshalb so lehrreich und von so weitreichender staatsrecht- licher Bedeutung, weil sie dazu dient, den Begriff des Bundes- staates nach der Seite des dezentralisirten Einheitsstaates hin ab- zugrenzen, während bisher die Theorie sich ausschließlich mit der Abgrenzung des Bundesstaates gegen den Staatenbund beschäf- tigt hat. Diese Gegenüberstellung enthält zugleich die Widerlegung eines Einwandes, den man gegen die von uns durchgeführte Theorie, daß im Bundesstaate die Souveränetät nicht zwischen Centralge- walt und Einzelstaat getheilt ist, sondern der Centralgewalt un- getheilt zusteht, erheben könnte, nämlich daß dadurch der Gegensatz zwischen Bundesstaat und Einheitsstaat begrifflich aufgehoben werde. Die Widerlegung dieses Einwandes wäre überaus erschwert, wenn sie rein theoretisch sein müßte; durch die Stellung von Elsaß- Lothringen im Reich können nun aber die logischen Schlußfolge- rungen zugleich als praktisch verwirklichte Rechtssätze dargelegt werden. Besonders beachtenswerth ist dabei der Umstand, daß diese Gegensätze zwischen dem Bundesstaat und dem dezentralisirten Einheitsstaat sich mit der unbezwinglichen Kraft, welche in der §. 54. Bundesglied und Reichsland. Natur der Dinge liegt, durchgesetzt und verwirklicht haben, ob- gleich die bisherige Theorie des Staatsrechts und der Politik sie nicht formulirt und die positive Gesetzgebung des Reiches sie nir- gends mit Bewußtsein anerkannt hat. Das Reich hat im Gegen- theil seine Verfassung und die Mehrzahl seiner Gesetze in Elsaß- Lothringen eingeführt, als wäre der Unterschied zwischen Bundes- glied und Reichsland thatsächlich ohne Bedeutung. Die staatliche Stellung des Reichslandes unterscheidet sich von der staatsrechtlichen Stellung der Gliedstaaten des Reiches in folgenden Beziehungen. I. Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen ist ihrem Wesen nach von durchaus anderer Natur als die Staatsgewalt in den deutschen Bundesstaaten. Die letztere, welche wir der Kürze wegen Landeshoheit nennen, ist ihrem Grund und Ursprunge nach völlig unabhängig von der Reichsgewalt. Sie wurzelt nicht in der Souveränetät des Reiches und ist nicht von ihr abgeleitet; sie ist vielmehr älter als die Reichsgewalt. Nicht das Reich hat die Einzelstaaten constituirt, sondern die Einzelstaaten haben durch den Act der Reichsgründung die Reichsgewalt in das Leben gerufen; das Reich hat nicht den Landesherren und freien Städten einen Kreis von Hoheitsrechten delegirt, sondern die Einzelstaaten haben durch den Eintritt in das Reich ihre Souveränetät auf die Ge- sammtheit übertragen und ihre Landeshoheit in dem durch die Reichsverfassung begrenzten Umfang zurückbehalten. In allen diesen Beziehungen gilt vom Reichsland das Gegen- theil. Dasselbe war vor seiner Vereinigung mit dem Reiche kein staatliches Subject, sondern ein Gebietstheil des französischen Staa- tes. Durch den Präliminar-Frieden vom 26. Febr. 1871 Art. 1 „verzichtet Frankreich zu Gunsten des Deutschen Reiches auf alle seine Rechte und Ansprüche auf diejenigen Gebiete, welche östlich von der nachstehend verzeichneten Grenze belegen sind“. — — „Das Deutsche Reich wird diese Gebiete für immer mit vollem Souveränetäts- und Eigenthumsrechte besitzen“. Hierdurch wurde die volle Souveränetät über diese Gebiete im völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Sinne auf das Reich über- tragen Der Zeitpunkt, an welchem die Souveränetät überging, ist der 2. März . Es gab kein dem Reich gegenüber selbstständiges und §. 54. Bundesglied und Reichsland. unabhängiges Subject, welchem die Landes-Hoheit über Elsaß- Lothringen als eigenes Recht zustand, sondern das Reichsland war lediglich Object der Reichsgewalt, welches zur unbeschränkten Ver- fügung des letzteren stand. Es wäre nun allerdings möglich gewesen, daß das Reich vor der Aufnahme Elsaß-Lothringens in den Reichsverband oder gleich- zeitig mit derselben, das Reichsland zu einem Staate constituirt, ihm eine öffentlich rechtliche Persönlichkeit beigelegt hätte. Dies ist aber nicht geschehen. Das Reich hat vielmehr seine Hoheitsrechte uneingeschränkt und ungeschmälert behalten. Bei der Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem Reiche waren Regierung und Reichs- tag darüber völlig einverstanden, daß das Reichsland den recht- lichen Charakter eines Staates nicht erhalten solte Motive zum Vereinigungs-Gesetz sub I: „Das von Frankreich ab- getretene Gebiet ist nicht bestimmt einen mit eigner Staatshoheit bekleideten Bundesstaat zu bilden; die Landeshoheit über dasselbe ruht im Reiche.“ Ferner Kommissionsbericht des Reichstags S. 3 fg. u. S. 16. Staatsmini- ster Delbrück in der Reichstagssitzung vom 20. Mai 1871. (Stenogr. Ber. S. 826): „Die formellen Schwierigkeiten, die in der Stellung eines Landes liegen, welches nicht Theil eines Bundesstaates und welches auch selbst kein Bundesstaat ist — diese formellen Schwierigkeiten, die ich nicht ver- kenne, können an sich unmöglich davon abhalten, dem Lande eine solche Stel- lung zu geben, wenn man der Ueberzeugung ist, diese Stellung ist an sich richtig.“ Vgl. ferner die Aeußerungen der Reichstags-Mitglieder v. Treitschke, Wagener, Lasker in derselben Sitzung des Reichstags. (Stenogr. Berichte 1871. I. Sess. S. 815. 819. 828.) Auch Fürst Bismarck erklärte in der Com- mission des Reichstages: „Der Begriff eines Reichslandes sei mit dem eines selbstständigen Staatswesens nicht congruent.“ (Zweiter Bericht v. 1. Juni 1871. Drucksachen Nr. 169. S. 6.) In der Literatur des Deutschen Reichsrechts vertritt nur Seydel Comment. S. 31 die Ansicht, daß das Reichsland ein Staat sei. Da er davon ausgeht, daß das Deutsche Reich kein Gesammt- staat, sondern eine Verbindung von Staaten sei, so war es für ihn ein Gebot der Logik, auch das Reichsland als Staat aufzufassen. . Das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 §. 3 Abs. 1 verfügt: „Die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser aus.“ Dies ist eine Delegation; es ist die Bestimmung desjenigen Organes, dessen sich das Reich behufs Ausübung seiner Staatsgewalt be- dient. Der Kaiser ist nicht Landesherr von Elsaß-Lothringen wie 1871, der Tag der Ratisikation des Präliminar-Friedens. Vgl. Löning a. a. O. S. 182 fg. §. 54. Bundesglied und Reichsland. er Landesherr von Preußen und von Lauenburg ist Eine Folge dieses Uuterschiedes ist die, daß Beleidigungen eines Mit- gliedes des Preußischen Königshauses, welche von Nicht-Preußen in Elsaß- Lothringen verübt werden, nicht nach §§. 96. 97 des R.-St.-G.-B.’s, sondern nach §. 185 ff. zu beurtheilen sind. Vgl. das Urtheil des R.-Oberhan- dels-Gerichts als Kassationshofes für E.-L. vom 15. Mai 1874 in Puchelt ’s Zeitschrift f. französ. Civilrecht Bd. V. S. 128 fg. ; Elsaß- Lothringen steht nicht in Personal-Union mit diesen beiden Staaten. Der Kaiser ist nicht als Vertreter Elsaß-Lothringens Mitglied des Reiches, sondern er ist als Vertreter des Reiches Verwalter der staatlichen Hoheitsrechte über Elsaß-Lothringen. Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen wurzelt in der Reichsgewalt, ist der Ausfluß der letzteren, welche ihr Fundament in dem Friedensvertrage mit Frankreich hat; sie bildet nicht den Gegenstand eines dem Reich selbstständig gegenüber stehenden, von ihm unabhängigen Rechtes eines Landesherrn Löning a. a. O. S. 185. Mitscher a. a. O. S. 273. . Elsaß-Lothringen ist demnach keine Mo- narchie Auch nicht „eine Art Monarchie“, wie Mitscher S. 279 sagt und einige Mitglieder des Reichstages bei der Berathung des Vereinigungs-Gesetzes anzunehmen schienen, so namentlich v. Treitschke und Römer . Mit diesem Ausdrucke sollte wohl nur der Gegensatz gegen die republikanische Verfassungs- form angedeutet werden. , denn es hat keinen persönlichen Landesherrn, und es ist ebensowenig eine Republik, denn die Gesammtheit der Elsaß- Lothringer ist nicht das Subject der Staatsgewalt. Es ist Bestand- theil oder Provinz des Reiches. Das Subjekt der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen ist das Reich, d. h. die Gesammtheit der zum Reich vereinigten Staaten in ihrer begrifflichen Einheit, in ihrer staatlichen Persönlichkeit Vgl. auch Meyer Erörterungen S. 49; aber nicht, wie Seydel S. 31. 93 annimmt, die deutschen Souveräne als socii. Derselbe begriffliche Gegensatz wie zwischen Bundesgliedern und Reichsland besteht in dem Staats- recht der Nordamerikanischen Union zwischen Staaten und Territorien. Vrgl. darüber Rüttimann Nordamer. Bundesstaatsr. II. 2. S. 236 fg. . Deshalb sind neben dem Kaiser auch die übrigen Organe des Reiches an der Ausübung der Staatsgewalt mit betheiligt. Schon das Gesetz vom 9. Juni 1871 §. 3 band den Kaiser bei Ausübung der Gesetzgebung an die Zustimmung des Bundesrathes und schrieb vor, daß dem Reichstage über die erlassenen Gesetze und allge- meinen Anordnungen und über den Fortgang der Verwaltung §. 54. Bundesglied und Reichsland. jährlich Mittheilung gemacht werde, und seit Einführung der Reichs- verfassung hat auch der Reichstag seinen Antheil an der Gesetzge- bung erhalten Ges. v. 9. Juni 1871 §. 3. Abs. 4. Ges. v. 25. Juni 1873 §. 8. . Der Bundesrath bearbeitet die Landes-Angelegenheiten von Elsaß-Lothringen und hat einen eigenen ständigen Ausschuß dafür eingesetzt. Der Reichskanzler ist der verantwortliche Chef der gesammten Verwaltung; das Reichs-Oberhandelsgericht ist der oberste Gerichtshof für das Reichsland; der Etat des Landes wird vom Reiche festgestellt und seine Durchführung vom Rechnungshofe des Reiches controlirt. Es fehlt demnach im Reichslande nicht nur an einem Landes- herrn, sondern auch an einem selbstständigen, vom Organismus des Reichs getrennten Regierungs-Apparate, wie ihn die Einzel- staaten besitzen und bedürfen. Wenn das für Elsaß-Lothringen bestehende Behörden-System auch in seinen Verzweigungen auf das Reichsland beschränkt ist, in seinen Spitzen mündet es überall in die Institutionen des Reiches ein und es erweist sich als ein nur weiter ausgebildeter und reicher gegliederter Bestandtheil derselben. Die Unterscheidung zwischen Reichsgewalt und Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen ist aber dessenungeachtet nicht gegenstandslos, sie hat nur einen anderen staatsrechtlichen Sinn, wie im übrigen Reich. Die Staats gewalt in Elsaß-Lothringen bedeutet den In- begriff derjenigen obrigkeitlichen Hoheitsrechte, welche im übrigen Reichsgebiet nicht dem Reiche, sondern den Einzelstaaten zustehen, im Gegensatz zu denjenigen staatsrechtlichen Befugnissen, welche nach der Reichsverfassung der Centralgewalt zustehen. Objektiv fällt die Unterscheidung zwischen Reichsgewalt und Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen vollständig zusammen mit der verfassungsmäßi- gen Kompetenz-Abgränzung zwischen Reich und Einzelstaat; sub- jectiv aber stehen beide Klassen von obrigkeitlichen Befugnissen im Reichslande demselben Berechtigten, nicht wie im übrigen Reichsgebiete zwei verschiedeneu Berechtigten zu. II. In allen internationalen Beziehungen erscheint das Reichsland nicht als Staat, sondern als Bestandtheil des Reiches. Das Reichsland kann keine Gesandte oder diplomatische Geschäfts- träger empfangen noch entsenden und es kann keine internationalen §. 54. Bundesglied und Reichsland. Verträge schließen, weder mit einem auswärtigen Staate noch mit einem Staate des Reiches. Das Reich allein kann für das Ge- biet des Reichslandes , aber stets nur im eigenen Namen, Staatsverträge schließen Beispiele sind der Vertrag mit Luxemburg v. 3. Juli 1872 über die Auslieferung flüchtiger Verbrecher. (G.-Bl. S. 565); die Vereinbarung mit Oesterreich-Ungarn über die Verpflegung erkrankter und die Uebernahme aus- gewiesener Landesangehöriger v. 29. April 1874 (G.-Bl. S. 13); das Protok. v. 7. Okt. 1874 über die Festsetzung der Diöcesangrenzen zwischen Deutschland und Frankreich (G.-Bl. S. 33). . Der Regierung des Reichslandes steht es nur zu, mit den Verwaltungen anderer Staaten Vereinbarungen zu treffen über Verwaltungsgegenstände, z. B. den Bau und die Unterhaltung von Brücken über den Rhein, die Anlage von Straßen, Kanälen, Eisenbahnen, u. dgl. Hierhin gehört z. B. eine Vereinbarung mit Preußen über die Revision der zwischen Saarbrücken und Elsaß-Lothringen cirkulirenden Schiffe. , wie dies auch sonst inner- halb desselben Staates unter verschiedenen Ressortverwaltungen oder unter benachbarten Kreis- und Provinzialverbänden häufig vorkommt Von Bedeutung wird in dieser Beziehung die finanzielle Selbstständig- keit des Reichslandes. Vgl. unten §. 55. S. 606. . Soweit dadurch Rechte begründet oder Pflichten übernommen werden, handeln die zum Abschluß solcher Vereinbarungen compe- tenten Behörden Elsaß-Lothringens in Vertretung des Reiches und wenn die Verabredungen mit Verwaltungsstellen auswärtiger Staaten getroffen werden, so erhalten sie ihren völkerrechtlichen Schutz lediglich durch das Reich. III. Eine Selbstverwaltung in dem Sinne, wie sie die Einzelstaaten nach den oben S. 95 ff. gegebenen Ausführungen haben, hat das Reichsland nicht und kann das Reichsland nicht haben. Denn diese Selbstverwaltung ist ein Recht der Einzelstaaten gegenüber dem Reiche. Die Beamten, welche die Selbstverwal- tung in den Einzelstaaten des Reiches handhaben, führen nicht Geschäfte des Reiches, sondern Geschäfte ihres Staates; sie sind für die Gesetzmäßigkeit ihrer Verwaltung ihrem Staate verantwort- lich; sie unterliegen zwar der Oberaufsicht des Reiches durch Ver- mittelung ihrer Staatsgewalt, aber sie haben nicht in einem Beamten des Reiches ihren Ressortchef. Im Reichsland dagegen kann die Verwaltung zwar decentralisirt sein in demselben §. 54. Bundesglied und Reichsland. Maße, wie im übrigen Reiche; den obersten Behörden im Reichs- lande kann ein ganz ebenso weiter Wirkungskreis mit selbstständiger definitiver Entscheidung zugewiesen sein, wie er den Regierungen der Einzelstaaten zusteht; aber diese decentralisirte Verwaltung ist und bleibt Reichsverwaltung, nicht Selbstverwaltung. Das Reich führt nicht nur die Oberaufsicht über diese Verwaltung, sondern die Verwaltung selbst. Dem Kaiser steht in Elsaß-Lothringen die gesammte Verwaltung ganz in derselben Weise zu, wie ihm im übrigen Reichsgebiete die Verwaltung in denjenigen Angelegenheiten zusteht, in denen die Selbstverwaltung der Einzelstaaten ausge- schlossen ist. Er ernennt die Beamten der Landesverwaltung. Der Reichskanzler als Minister des Kaisers ist der Chef der gesamm- ten Verwaltung, auch auf den Gebieten, welche in den Gliedstaaten nicht zur Verwaltungs-Kompetenz des Reiches gehören Ges. v. 9. Juni 1871 §. 4. — Der Oberpräsident von Elsaß-Lothringen steht unter dem Reichskanzler. Ges. v. 30. Dezbr. 1871 §. 4 (G.-Bl. f. E.-L. 1872 S. 51.) — Der Reichskanzler ist die oberste Forstbehörde. Gesetz vom 30. Dez. 1871 §. 1. (G.-Bl. f. E.-L. 1872 S. 57.) — Die Universität Straßburg steht unter der oberen Leitung und Aufsicht des Reichskanzlers. Ges. v. 28. April 1872 §. 3. (G.-Bl. S. 166.) — Der Reichskanzler ist die oberste Bergbehörde. Ges. v. 16. Dez. 1873 §. 167. (G.-Bl. S. 426.) . Es giebt für diese Verwaltung keine gesonderte, reichsländische Verantwort- lichkeit, sondern sie fällt vollständig zusammen mit der allgemeinen, im Art. 17 der R.-V. begründeten Verantwortlichkeit des Reichs- kanzlers Der §. 4 des Ges. v. 9. Juni 1871 ist wörtlich dem Art. 17 der R.-V. entnommen, nur mit Hinweglassung der Vorschrift, daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers „im Namen des Reiches erlassen werden.“ . Dessen ungeachtet ist die Unterscheidung von Reichsverwaltung und Landesverwaltung auch für Elsaß-Lothringen nicht bedeutungs- los. Sie äußert sich in einer sehr praktischen Beziehung in der Finanzwirthschaft. Die Selbstverwaltung der Einzelstaaten ist nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine Last derselben, indem sie die Kosten aus der Landeskasse bestreiten müssen. Auf das Reichsland ist dieser Grundsatz analog angewendet worden, indem es in finanzieller Hinsicht vollkommen wie ein Gliedstaat des Reiches behandelt wird und deshalb die Kosten aller derjenigen Verwal- tungszweige, welche nach der Reichsverfassung von den Einzelstaaten zu tragen sind, aus Landesmitteln bestreiten muß. Theoretisch §. 54. Bundesglied und Reichsland. aber bedeutet die Unterscheidung zwischen Reichsverwaltung und Landesverwaltung das Maaß der Decentralisation der Verwaltung. Es wird dies sofort anschaulich, wenn man sich denkt, daß das Reich noch andere reichsländische Gebiete hätte, welche es in der- selben Weise wie Elsaß-Lothringen verwalten würde. Alsdann wären die Zweige der Reichsv erwaltung für das ganze Gebiet des Reiches centralisirt und nur nach Ressorts vertheilt, die Zweige der Landesv erwaltung dagegen für jedes einzelne Reichs- land gesondert und nach dem Provinzials ystem gegliedert, wie dies noch bis in den Anfang dieses Jahrhunderts theilweise in der Preußischen Monarchie der Fall war Vgl. oben S. 291 über den Unterschied, welcher zwischen dem Geschäfts- kreis des Bundesraths-Ausschusses für E.-L. und den Geschäftskreisen der übri- gen Ausschüsse besteht. . Der Umstand allein, daß das Reich nur ein einziges Reichsland hat, verhüllt die Thatsache, daß die Landesverwaltung von Elsaß-Lothringen decentralisirte Reichsverwaltung, daß sie nicht Staatsverwaltung eines Bundes- gliedes, sondern Provinzialverwaltung des Reiches ist Das Ges. v. 30. Dez. 1871 über die Einrichtung der Verwaltung (G.- Bl. 1872 S. 49) spricht im §. 5 ganz richtig von „Behörden der Landesver- waltung“; d. h. es sind Reichs behörden zum Zwecke der Landesv erwal- tung. . IV. Ganz ähnliche Grundsätze gelten hinsichtlich der Gesetz- gebung . Eine Autonomie in dem Sinne von Selbstgesetz- gebungs- Recht , wie sie den Einzelstaaten zusteht, hat das Reichs- land nicht und es ist unmöglich, ihm dieselbe zu verleihen, so lange es eben Reichsland ist. Elsaß-Lothringen giebt sich seine Gesetze nicht selbst, sondern es empfängt sie von dem Reiche. Das Ver- einigungsgesetz vom 9. Junt 1871 §. 3 Abs. 4 erklärt dies mit größter Bestimmtheit: „Nach Einführung der Reichsverfassung Bis zu diesem Zeitpunkt war die Gesetzgebung dem Kaiser delegirt, welcher bei Ausübung dieses Rechtes an die Zustimmung des Bundesrathes gebunden war. Ges. v. 9. Juni 1871 §. 3. Abs. 2. steht bis zu anderweitiger Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetzgebung auch in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten dem Reiche zu.“ Es ist nicht nothwendig, daß die Gesetzgebung für Elsaß- §. 54. Bundesglied und Reichsland. Lothringen an die Formen gebunden ist, welche nach der Reichs- verfassung für die Reichsgesetzgebung bestehen. Der Reichstag und selbst der Bundesrath könnten von der Theilnahme daran ausge- schlossen und eine Vertretung der elsaß-lothringischen Bevölkerung könnte zur Theilnahme daran berufen sein; immerhin aber bliebe das Reich oder der Kaiser als Stellvertreter und im Namen des Reiches Gesetzgeber d. h. Subjekt des Gesetzgebungsrechts. Es kann mit anderen Worten auch die Reichsgesetzgebung für die besonderen Angelegenheiten des Reichslandes decentralisirt sein. Durch das Gesetz v. 3. Juli 1871 §. 1 (G.-Bl. S. 2) ist angeordnet, daß die für Elsaß-Lothringen erlassenen Gesetze und Kaiserlichen Verordnungen ihre verbindliche Kraft durch ihre Ver- kündigung in einem Gesetzblatt erhalten, welches den Titel „Ge- setzblatt für Elsaß-Lothringen“ führt. So lange der Art. 2 der R.-V. im Reichslande keine Geltung hatte, war die Publikation der Ge- setze in dem Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen die einzige Art, wie Gesetze des Reiches im Reichsland verkündigt werden konnten. Es ist dadurch ein äußeres Kriterium geschaffen, welches die für das Reich und die für das Reichsland erlassenen Gesetze von ein- ander scheidet. Seit Einführung der Reichsverfassung erhalten die vom Reiche erlassenen Gesetze, ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung im Reichsgesetzblatte auch in Elsaß-Lothringen. Es werden aber auch jetzt noch im Reichsgesetzblatt nur diejenigen Reichsgesetze publizirt, welche „nach Maßgabe des Inhalts der Reichsverfassung“ (Art. 2 der R.-V.) erlassen werden; dagegen nicht diejenigen Gesetze, welche in den „der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten“ auf Grund des Ges. v. 9. Juni 1872 für Elsaß-Lothringen erlassen werden. Die letzteren werden im Gesetzbl. für Elsaß-Lothringen publizirt. Man unterscheidet daher anch jetzt noch in Elsaß-Lothringen Gesetze, welche innerhalb der verfassungsmäßigen Kompetenz des Reiches, und Gesetze, welche außerhalb dieser Kompetenz erlassen werden und nennt die letzteren, mit einem nicht ganz zutreffenden Ausdrucke: Landesgesetze . Das Gesetz vom 25. Juni 1873, betreffend die Einführung der Verf. des Deutschen Reiches in Elsaß-Lothringen, selbst be- stimmt in §. 4 Abs. 1: „Die in Art. 35 der Verf. erwähnte Besteuerung des in- §. 54. Bundesglied und Reichsland. ländischen Bieres bleibt der inneren Gesetzgebung bis auf Weiteres vorbehalten.“ Was „innere Gesetzgebung“ bedeutet, ist zwar nicht gesagt, in jedem Fall soll der Ausdruck aber einen Gegensatz zur Reichs- gesetzgebung bezeichnen. Dasselbe Gesetz ermächtigt im §. 8 den Kaiser, unter Zustimmung des Bundesrathes, während der Reichs- tag nicht versammelt ist, Vorordnungen mit interimistischer, gesetz- licher Kraft zu erlassen, welche nichts bestimmen dürfen, was der Verfassung oder den in Elsaß-Lothringen geltenden Reichsg esetzen zuwider ist. Der Ausdruck „Reichsgesetz“ steht hier im Gegensatz zu den für Elsaß-Lothringen erlassenen Partikular-Gesetzen, also zu der „inneren Gesetzgebung“ des §. 4. Der Allerhöchste Erlaß v. 29. Oktob. 1874 (G.-Bl. S. 37) verfügt die Einrichtung eines Landes-Ausschusses für Elsaß-Loth- ringen, „um die Verwaltung bei der Vorbereitung der Landes- gesetze durch die Erfahrung und Sachkunde von Männern be- rathen zu sehen, welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger aus- gezeichnet sind.“ Diesem Ausschusse sind Entwürfe von Gesetzen für Elsaß-Lothringen über solche Angelegenheiten, welche der Reichs- gesetzgebung durch die Verfassung nicht vorbehalten sind, einschließ- lich des Landeshaushalts-Etats, vorzulegen. Auch gegenwärtig ist daher für Elsaß-Lothringen die innere oder Landesg esetzgebung von der Reichsgesetzgebung zu unterschei- den Es ist hier nur die Rede von der Gesetzgebungs-Gewalt; das Verhält- niß der Reichsgesetze zu den Landesgesetzen in Elsaß-Lothringen bietet noch zu anderen Fragen Anlaß, über welche unten das Kapitel von der Gesetzgebung des Reiches zu vergleichen ist. und bei fortschreitender Verschmelzung des Reichslandes mit Deutschland wird es gewiß möglich sein, bei dieser Landesge- setzgebung an Stelle des Reichstages eine Vertretung der Bevölke- rung des Reichslandes zur Mitwirkung zu berufen. Aber auch dann wird diese Landesgesetzgebung, wenn Elsaß-Lothringen Reichs- land bleibt, keine Autonomie in dem oben S. 108 entwickelten Sinne, sondern — wie gegenwärtig — eine Provinzial-Gesetzgebung des Reiches sein. Zu dem elsaß-lothringischen Provinzialrecht gehört ferner der gesammte, bei der Erwerbung des Landes vorhanden gewesene Be- §. 54. Bundesglied und Reichsland. stand an Rechtssätzen, soweit derselbe nicht entweder durch die Trennung des Landes von Frankreich und die Einverleibung in Deutschland thatsächlich unanwendbar geworden oder durch die vom Reich (Kaiser) erlassenen Landes- oder Reichsgesetze rechtlich aufgehoben oder verändert worden ist. Dies gilt nicht blos hin- sichtlich des Privatrechts und Prozesses, sondern in demselben Um- fange auch von dem Verwaltungsrecht und überhaupt von den Vor- schriften, welche den Inhalt, die Ausübung und die Gränzen der Staatsgewalt betreffen Vrgl. Löning a. a. O. S. 189 fg. Mitscher a. a. O. S. 277. Eine ausdrückliche gesetzliche Anerkennung, daß französ. Gesetze, welche die Befugnisse der Ministerien regeln, in Elsaß-Lothringen „in Geltung stehen“, enthält das Ges. v. 30. Dez. 1871 §. 6 letzter Absatz. (G.-Bl. 1872 S. 52.) . V. Der Gegensatz zwischen dem Reichslande und den Einzel- staaten, welche Mitglieder des Reiches sind, zeigt sich in höchst prägnanter Weise darin, daß Elsaß-Lothringen keine Mitglied- schaftsrechte hat. Die Aufgaben, welche das Reich zu erfüllen hat, nämlich das Bundesgebiet und das innerhalb desselben gültige Recht zu schützen und die Wohlfahrt des Deutschen Volkes zu pflegen, erfüllt es auch für Elsaß-Lothringen; das Reichsland nimmt an dem staatlichen Leben des Deutschen Reiches materiell einen uneingeschränkten Antheil, aber formell nicht als Bundesglied son- dern wie eine Provinz. Die Mitgliedschaftsrechte kommen vorzugs- weise zur Geltung und Ausübung im Bundesrathe und es giebt deshalb keinen Mitgliedstaat, der nicht im Bundesrathe eine Stimme hätte. Das Reichsland dagegen führt im Bundesrath keine Stimme. Bei der Vereinigung Elsaß-Lothringens mit dem Reiche hatte die Regierung die Absicht, Elsaß-Lothringen in irgend einer Art einen Antheil am Bundesrathe zu gewähren Vgl. die Motive zum Vereinigungs-Gesetz unter II. und den Kom- missionsbericht des Reichstags zu Abs. 3 des §. 2. Ferner erklärte Fürst von Bismarck in der Reichstagssitzung v. 3. Juni 1871, es sei sein Wunsch, daß die verbündeten Regierungen im Bundesrathe Elsäßer Mitglieder mit consultativem Votum zulassen. (Stenogr. Ber. S. 1001.) . Diese Absicht ist aber unausgeführt geblieben und wird mit Nothwendigkeit so lange unausgeführt bleiben müssen, als Elsaß-Lothringen Reichs- land bleibt. Zwar ist laut Bekanntmachung v. 14. Mai 1875 R.-G.-Bl. S. 219. der Kaiserliche Ober-Präsident von Elsaß-Lothringen vom Könige §. 54. Bundesglied und Reichsland. von Preußen zum Bundesraths-Bevollmächtigten ernannt worden und es ist dadurch eine neue Gewähr gegeben worden, daß es bei den Verhandlungen und Beschlüssen des Bundesrathes weder an genauer Kenntniß der Verhältnisse des Reichslandes noch an einer wirksamen Geltendmachung seiner Interessen fehle; man darf aber staatsrechtlich diese Thatsache nicht in der Art auffassen, als hätte Preußen von den ihm zustehenden 17 Stimmen eine an das Reichs- land abgetreten, deren Instruktion vom Kaiser als solchem d. h. im Gegensatz zum Könige von Preußen ausgehe. Denn nach der Reichsverfassung Art. 6 müssen die den einzelnen Staaten zustehen- den Stimmen einheitlich abgegeben werden. Es ist daher verfas- sungsmäßig unmöglich, daß im Bundesrath jemals die 17 Stimmen Preußens sich in 16 preußische und eine elsaß-lothringische zer- legen. Logisch unmöglich ist es aber, daß man für Elsaß-Loth- ringen eine oder einige neue Stimmen im Bundesrath errichtet und die Führung derselben dem Kaiser als solchem zuweist. Denn der Kaiser als solcher ist ein Organ des Reiches; das Reich kann aber sich selbst gegenüber keinerlei Mitgliedschaftsrechte ausüben, sowenig wie irgend eine andere juristische Person ihr eigenes Mit- glied sein kann. VI. Ebensowenig wie das Reichsland Mitgliedschaftsrechte hat, ebensowenig hat es auch Sonderrechte Der Beschluß des Bundesrathes v. 19. Febr. 1875 giebt jedoch Elsaß- Lothringen einen Antheil an der Zusammensetzung der Reichsschulkommission. Siehe oben S. 324. Es ist dies bis jetzt der einzige Fall, in welchem das Reichsland in nicht finanziellen Angelegenheiten wie ein Gliedstaat behandelt wird; er beruht nicht auf einem staatsrechtlichen Prinzip, sondern ist eine Anomalie. . Dagegen ist es nicht ausgeschlossen, daß für das Reichsland Ausnahmen von reichsverfassungsmäßigen Grundsätzen bestehen, durch welche es thatsächlich in dieselbe Lage versetzt wird, wie sie für einzelne Bundesstaaten durch die ihnen zustehenden Sonderrechte begründet wird. Dies ist in der That der Fall. Das Ges. v. 25. Juni 1873 §. 4 schließt Elsaß-Lothringen von der Biersteuer-Gemein- schaft aus und §. 5 desselben Gesetzes gestattet bis auf Weiteres die Forterhebung des Octroi in Elsaß-Lothringen. Durch diese An- ordnungen ist das Reichsland aber nicht in diejenige staatsrechtliche Stellung in Betreff der Biersteuer versetzt worden, in welcher sich §. 54. Bundesglied und Reichsland. die drei süddeutschen Staaten, oder Hamburg und Bremen befinden, sondern etwa in diejenige, in welcher die Preußischen Zollausschlüsse oder die thüringischen Bezirke Ostheim und Königsberg sind Auch in finanzieller Beziehung macht sich dieser Unterschied geltend. Vgl. meine Abhandlung über das Finanzrecht des Deutschen Reichs in Hirth ’s Annalen 1873 S. 512. Seine praktische Bedeutung hat er indessen eingebüßt, seitdem die Matrikularbeiträge nach der ortsanwesenden Bevölkerung vertheilt werden. Vgl. §. 55 S. 610. , d. h. die besonderen für Elsaß-Lothringen geltenden Bestimmungen bilden nicht den Inhalt eines subjektiven Rechts, sondern sie sind lediglich besondere Rechts sätze . Staatsrechtlich äußert sich dieser Unterschied darin, daß, wenn die Sonderstellung von Elsaß- Lothringen durch ein Reichsgesetz aufgehoben wird, die Vorschrift des Art. 78 Abs. 2 der R.-V., wonach „die Zustimmung des be- rechtigten Bundesstaates“ erforderlich ist, keine Anwendung finden kann Ursprünglich war das Reichsland auch von der Branntweinsteuer-Ge- meinschaft ausgenommen. Das Ges. v. 16. Mai 1873 (Gesetzbl. f. Els.-Lothr. S. 67) hat diese Sonderstellung beseitigt. . VII. Dem Mangel an subjectiven Rechten entspricht es, daß das Reichsland dem Reiche gegenüber auch keine subjektiven Pflich- ten hat. Es trägt zwar in demselben Maaße wie die übrigen Theile des Reiches die militärischen und finanziellen Lasten, welche zur Durchführung der dem Reiche obliegenden Aufgaben dienen; aber es trägt diese Lasten nicht in der staatsrechtlichen Form wie ein Glied eines Bundesstaates, sondern wie ein Landestheil eines Einheitsstaates Ueber die Matrikularbeiträge siehe unten §. 55. . Es zeigt sich dies praktisch in der Unanwendbarkeit des Art. 19 der R.-V.; eine Execution gegen das Reichsland ist unmöglich und undenkbar; es wäre dies eine Execution des Reiches gegen sich selbst. Nur Bundesglieder, welche dem Reiche gegenüber eine selbstständige staatliche Existenz, eine eigene Persönlichkeit haben, können zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Bundespflichten im Wege der Execution angehalten werden, nicht aber das Reichs- land, welches sich schon in seinem normalen Rechtszustand in der- jenigen Lage befindet, in die ein Bundesglied erst gebracht werden würde, wenn die Execution bis zu ihrem äußersten Grade gegen dasselbe zum Vollzuge käme. Laband , Reichsstaatsrecht. I. 38 §. 54. Bundesglied und Reichsland. VIII. Wenn es richtig ist, daß das Reichsland kein Staat ist, so ergiebt sich als nothwendige Folge, daß es auch keine elsaß- lothringische Staats angehörigkeit giebt. Der begriffliche Unter- schied zwischen Staats-Bürgerrecht und Reichs-Bürgerrecht, der für alle Deutsche Staaten oben §. 13 fg. durchgeführt worden ist, hat für das Reichsland keinen Raum; die Elsaß-Lothringer sind Deutsche in derselben Art, wie die Pommern oder Brandenburger Preußen sind. Diesem Satze scheint es zu widersprechen, daß das Reichsge- setz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staats- angehörigkeit vom 1. Juni 1870 durch Ges. v. 8. Januar 1873 in Elsaß-Lothringen eingeführt worden ist, da nach §. 1 dieses Gesetzes die Bundesangehörigkeit durch die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate erworben wird und mit deren Verlust er- lischt. Die Einführung dieses Gesetzes in Elsaß-Lothringen hat aber materiell nur die Folge, daß dieselben Thatsachen , welche in den Bundesstaaten den Erwerb oder Verlust der Staatsange- hörigkeit und in untrennbarem Zusammenhange damit den der Reichsangehörigkeit begründen, in Elsaß-Lothringen unmittelbar den Erwerb oder Verlust der Reichsangehörigkeit bewirken, und daß formell die Behörden des Reichslandes dasselbe Verfahren beobachten, wie im übrigen Reichsgebiet die Behörden der Einzel- staaten Nach dem im Bezirke Unter-Elsaß im Gebrauche befindlichen Formular für die Entlassungs-Urkunde, wird dem Auswanderer „die Entlassung aus der Landesangehörigkeit von Els.-Lothr. ertheilt“; nach dem Formular für die Naturalisation: „die Naturalisation als Landesangehöriger von Els.-Lothr.“ In den Formularen für die Benachrichtigungsschreiben an das Bezirks-Com- mando heißt es dagegen, daß die Entlassung aus der elaß-lothringischen Staats - angehörigkeit ertheilt, resp. N.N. in den elsaß-lothringischen Staatsver- band aufgenommen worden sei. . Dagegen giebt es kein vom Reichsbürgerrecht verschiedenes Staatsbürgerrecht von Elsaß-Lothringen mit eigenem Inhalt und spezifischen Rechtswirkungen. Wir haben oben im §. 16 für die Bundesstaaten als die spezifischen Rechtswirkungen des Staats- bürgerrechts im Einzelstaate vier nachgewiesen. 1) Die Gehorsamspflicht gegen die Einzelstaats- Gewalt . Da in Elsaß-Lothringen die Staatsgewalt mit der §. 54. Bundesglied und Reichsland. Reichsgewalt zusammenfällt, eine von der Reichsgewalt verschiedene Einzelstaatsgewalt nicht existirt, so giebt es auch neben der in der Reichsangehörigkeit begründeten Gehorsamspflicht gegen das Reich keine davon begrifflich oder thatsächlich zu unterscheidende Gehor- samspflicht gegen eine partikuläre Staatsgewalt. 2) Der Anspruch auf Schutz im Auslande . Den- selben kann Elsaß-Lothringen, da es keine internationale Existenz hat, auch nicht in dem sehr begränzten Maaße geben, in welchem dies den Gliedstaaten des Deutschen Reiches noch möglich ist; vielmehr ist das Reich allein im Stande für die Angehörigen von Elsaß-Lothringen einzutreten, so daß auch hier die Landesange- hörigkeit von Elsaß-Lothringen vollkommen in der Reichsangehörig- keit aufgeht. 3) Das Wohnrecht im Staatsgebiete . Dasselbe ist, wie oben S. 158 ff. dargethan worden ist, durch das Freizügig- keitsges. v. 1. Nov. 1867, welches auch in Elsaß-Lothringen Gel- tung erlangt hat, vollständig von dem Wohnrecht im Reichs- gebiete absorbirt worden. 4) Die Ausübung der politischen Rechte, insbe- sondere des Wahlrechts . An diesem Punkte vor Allem zeigt sich, wie oben S. 161 dargelegt worden ist, die Fortdauer des Staatsbürgerrechts in den Einzelstaaten; Wahlrecht und Wählbar- keit zu den innerhalb der einzelnen Staaten bestehenden politischen Vertretungen bilden den eigenthümlichen Inhalt desselben. Eine durch unmittelbare Wahlen gebildete Landesvertretung von Elsaß- Lothringen giebt es zur Zeit noch nicht; wohl aber Bezirksvertre- tungen, Kreisvertretungen und Gemeinderäthe. Bei diesen Wahlen könnte ein elsaß-lothringisches Staatsbürgerrecht im Gegensatz zu der Reichsangehörigkeit zur Geltung kommen, wenn ein solches existirte. Das Gesetz v. 24. Januar 1873 §. 3 u. §. 6 bestimmt aber in dieser Beziehung: „Wähler ist jeder Deutsche , welcher das 25. Lebens- „jahr zurückgelegt hat und sich im Vollbesitz der staatsbürger- „lichen Rechte befindet, in der Gemeinde, wo er seinen „Wohnsitz hat Entsprechend ist die Wählbarkeit bestimmt. „Wählbar ist jeder Wähler, welcher in dem Bezirke beziehungsweise Kreise seinen Wohnsitz hat, sowie jeder Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat und sich im Vollbesitz .“ 38* §. 54. Bundesglied und Reichsland. Also nicht die Landesangehörigkeit, sondern die Reichsange- hörigkeit ist entscheidend. Jeder Deutsche, gleichviel welchem Ein- zelstaat er angehört, ist zur Ausübung des Wahlrechts in Elsaß- Lothringen befugt, wofern er nur im Reichslande wohnt. Es ist demnach für das Reichsland formell zwar das Reichsgesetz vom 1. Juni 1870 eingeführt, materiell aber gerade das entgegenge- setzte, in Nordamerika geltende Princip verwirklicht worden, wo- nach das Bundesbürgerrecht das primäre Recht und das Staats- bürgerrecht im Einzelstaat die Folge und Wirkung desselben ist, d. h. der Bundesbürger ist befugt in demjenigen Staate, in welchem er wohnt, das Wahlrecht und die sonst etwa bestehenden staats- bürgerlichen Rechte auszuüben S. oben S. 135. Rüttimann Nordamerikan. Bundesstaatsr. I. §. 94. . Es ergiebt sich hieraus, daß das elsaß-lothringische Staats- bürgerrecht im Gegensatz zur Reichsangehörigkeit oder zum Reichs- bürgerrecht genommen, ein völlig inhaltsloses Recht ohne Rechts- wirkungen wäre; ein solches Recht zu fingiren, widerspricht aber allen Regeln einer vernunftmäßigen juristischen Construktion. Zu demselben Resultate führt auch eine andere Erwägung. Als Elsaß-Lothringen im Frankfurter Frieden an Deutschland abgetreten wurde, gab es unzweifelhaft keinen Elsaß-Lothringen’schen Staat und keine Elsaß-Lothringen’schen Staatsbürger. Die Bewohner dieser Gebiete waren bis zum Frieden Franzosen und wurden durch den Frieden, der die Souveränität über Land und Leute an das Deutsche Reich abtrat, Deutsche , soweit sie nicht von der ihnen vorbe- haltenen Auswanderungsfreiheit (sogen. Option) Gebrauch machten. Durch den Frieden selbst wurde unzweifelhaft ein elsaß-lothringischer Staat nicht gebildet und ebensowenig durch das Vereinigungsgesetz v. 9. Juni 1871. Die Zusatzconvention zum Frankfurter Frieden vom 11. Dez. 1871 unterscheidet an sämmtlichen, die Nationalität betreffenden Artikeln zwischen der Deutschen und der französischen Nationali- tät; die im Art. 2. im deutschen Text erwähnten „Angehörigen der abgetretenen Gebietstheile“ werden im französischen Text be- zeichnet als »individus originaires des territoires cédés« also nicht dem Staatsverbande nach, sondern der Abstammung oder der staatsbürgerlichen Rechte befindet, sofern er im Bezirke beziehungsweise Kreise eine direkte Steuer zahlt.“ §. 54. Bundesglied und Reichsland. Herkunft nach angehörig An der Mehrzahl der Stellen spricht auch der deutsche Text von „Per- sonen, welche aus den abgetretenen Landestheilen herstammen“. Z. B. Art. 2 Abs. 3. Art. 4. Art. 10. Schlußprotok. Ziff. 1. ; im Art. 6 a. E. ist ausdrücklich die Rede von „Angehörigen der abgetretenen Gebiete, welche deutsche Unterthanen geworden sind“ Französ. Text: individus originaires des territeires cédés qui seront devenus sujets allemands. Aehnlich Art. 15. . Die Angehörigen des Reichs- landes waren sonach zunächst unmittelbare Unterthanen des Reiches, nicht wie die Angehörigen der anderen Staaten Unterthanen des Heimathsstaates und mit und durch diesen Reichsunterthanen. Erst durch die Einführung des Ges. v. 1. Juni 1870 in Elsaß-Lothr. durch Ges. v. 8. Januar 1873 hat die Annahme einer Staats- angehörigkeit im Gegensatz zur Reichsangehörigkeit in Elsaß-Lothr. eine scheinbare gesetzliche Rechtfertigung gewonnen. Dieses Gesetz erklärt aber im §. 3, daß durch die Geburt eheliche Kinder eines Deutschen die Staatsangehörigkeit des Vaters, uneheliche Kinder einer Deutschen die Staatsangehörigkeit der Mutter erwerben ; es verleiht also Niemandem, der zur Zeit des Erlasses dieses Ge- setzes bereits geboren war, eine Staatsangehörigkeit, die er nicht bis dahin schon hatte. Ebenso setzen die §§. 4 u. 5 voraus, daß der Vater, welcher ein uneheliches Kind legitimirt, oder der Mann, welcher sich verheirathet, eine Staatsangehörigkeit bereits hat. Keine Bestimmung des Gesetzes aber sagt, daß alle Personen, welche bereits vor Einführung desselben von Bewohnern Elsaß- Lothringens erzeugt oder legitimirt worden sind, resp. einen Be- wohner des Reichslandes geheirathet haben, die elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit erhalten . Die §§. 3 bis 5 sind daher in Elsaß-Lothringen überhaupt nur anwendbar, abgesehen von den in Elsaß-Lothringen eingewanderten Angehörigen der übrigen Bundes- staaten, wenn man „Staatsangehörigkeit“ durch Reichsangehörig- keit ersetzt. Deutsche, Reichsangehörige, sind die Einwohner des Reichslandes durch den Versailler oder Frankfurter Frieden gewor- den, nicht durch irgend einen der im Gesetz v. 1. Juni 1870 auf- geführten Erwerbsgründe und diese deutsche Reichsangehörigkeit übertragen sie gemäß §. 3—5 des erwähnten Gesetzes auf Kin- der und Ehefrauen. Es könnte daher von einem Erwerbe der elsaß-lothringischen Staatsa ngehörigkeit nach Maaßgabe des Ges. §. 54. Bundesglied und Reichsland. v. 1. Juni 1870 nur die Rede sein, bei denjenigen Personen, denen dieselbe durch Aufnahme, Naturalisation oder Anstellung verliehen worden ist. Hiernach würde nur ein höchst unbedeutender Bruchtheil der elsaß-lothringenschen Bevölkerung die spezielle Staatsangehörigkeit neben der Reichsangehörigkeit haben, und es würde überdies der Sinn des Gesetzes v. 2. Juni 1870 völlig entstellt werden. Denn die in demselben anerkannten Erwerbsgründe der Staatsangehörig- keit würden nicht, wie es die Absicht des Gesetzes ist, die gleiche Rechtswirkung haben, sondern die familienrechtlichen Erwerbsgründe hätten eine völlig andere Wirkung wie die Aufnahme und Natu- ralisation. Auch in dem Ges. v. 1. Juni 1870 ist demnach die Angehörigkeit von Elsaß-Lothringen nicht als Staatsangehörigkeit aufzufassen, sondern ganz so wie es das Ges. v. 24. Januar 1873 hinsichtlich des Wahlrechts gethan hat, als Reichsangehörigkeit, verbunden mit dem Wohnsitz im Reichslande. Die Reichsange- hörigkeit geht aber nach den Vorschriften dieses Gesetzes nicht ver- loren durch Verlegung des Wohnsitzes in einen andern Bundes- staat oder durch Aufenthalt im Auslande, wenn er nicht zehn Jahre lang ununterbrochen fortdauert. Es kann daher Jemand, welcher in Elsaß-Lothringen die Reichsangehörigkeit erworben hat und dann seinen Wohnsitz außerhalb des Reichslandes nimmt, Reichsangehöriger sein, ohne einem Deutschen Staate anzugehören, wodurch das dem Ges. v. 1 Juni 1870 zu Grunde liegende Princip erheblich modifizirt wird. Es zeigt sich an diesem Gesetze grade wie an der Reichsverfassung, daß ein Gesetz, welches Staaten voraus- setzt und für sie berechnet ist, nicht kurzweg in einem Reichslande eingeführt werden kann, ohne daß sich juristische Unterschiede und Inconsequenzen ergeben. Der Begriff eines Angehörigen von Elsaß-Lothringen ist aber noch in anderen Beziehungen als nur hinsichtlich des Staats- bürgerrechts von Wichtigkeit. Die französische Gesetzgebung knüpft an die Eigenschaft eines Franzosen zahlreiche Rechts- folgen und diese Gesetzgebung hat zum Theil im Reichslande ihre Geltung behalten. Es entsteht daher die Frage, was im Reichs- lande in denjenigen Fällen, in denen das französische Recht la qualité de Français erfordert, an Stelle der letzteren zu setzen ist. §. 54. Bundesglied und Reichsland. Für die Entscheidung dieser Frage kommen folgende Erwägungen in Betracht. Nach der im Art. 7 und Art. 8 des Code civ. festgehaltenen Unterscheidung zwischen droits civils und droits politiques steht jeder Franzose im Genuß der droits civils, dagegen sind die droits politiques abhängig: »de la qualité de citoyen , laquelle ne s’acquiert et ne se conserve, que conformément à la loi constitutionelle«. Nicht jeder Franzose ist zugleich citoyen; es ist demgemäß »Français« nicht „Staatsbürger“, sondern „Inlän- der“ zu übersetzen. Die Vorschriften des Code civ. über Erwerb und Verlust der Eigenschaft eines Franzosen (Elsaß-Lothringers) haben bis zur Einführung des Reichsgesetzes vom 1. Juni 1870 im Reichsland in partikulärer Geltung gestanden; der Erwerb und Verlust der Eigenschaft eines citoyen dagegen ist durch die fran- zösischen Verfassungs-Gesetze normirt, welche bereits durch den Friedensschluß mit Deutschland und die Abtretung des reichslän- dischen Gebietes ihre Anwendbarkeit verloren haben. Ein Nicht- Franzose kann niemals die droits politiques ausüben, denn er kann niemals citoyen sein; wohl aber kann er die droits civils wie ein Franzose ausüben, wenn er mit Erlaubniß des Staates seinen Wohnsitz in Frankreich hat und sich daselbst aufhält. Code civ. Art. 13. Das französische Recht setzt aber allerdings voraus, daß jeder Franzose auch Unterthan des französischen Staates ist; wer einem andern Staatsverbande beitritt, verliert nicht blos die Eigenschaft eines französischen citoyen, sondern auch die Eigenschaft eines Français. Code civ. Art. 17 Demgemäß hat die französ. Praxis stets angenommen, daß, wenn ein Theil des französischen Gebietes an einen andern Staat abgetreten wird, die Bewohner des abgetretenen Gebietes die Eigenschaft von Franzosen verlieren, wenn sie ihren Wohnsitz in dem abgetretenen Gebiete beibehalten. Vgl. Dalloz et Vergé , Code civ. annoté. Nr. 97 ff zu Art. 17. ( Vol. I. p. 65.) Ferner Löning a. a. O. S. 197, woselbst zahlreiche Literatur-Nachweisungen ge- geben sind. . Auch für das Reichsland ist demgemäß die Eigenschaft eines Inländers davon abhängig, daß man ein Unterthan der im Reichs- lande bestehenden Staatsgewalt ist. Daraus folgt aber keines- wegs, daß es eine besondere elsaß-lothringische Staatsgewalt geben müsse. Das Subject der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen ist §. 54. Bundesglied und Reichsland. vielmehr das Deutsche Reich. Voraussetzung für die Eigenschaft eines Inländers in Elsaß-Lothringen ist sonach nicht ein von der Reichs-Angehörigkeit verschiedenes Unterthanen-Verhältniß, sondern nur, daß man Unterthan des Deutschen Reiches ist. Andererseits ist der Ausdruck »Français«, wo er sich in fran- zösischen Gesetzen findet, für das Reichsland nicht wiederzugeben mit „jeder Deutsche“. Denn die französischen Gesetze sind für das Reichsland im Verhältniß zu dem für ganz Deutschland geltenden Recht Partikulargesetze und deshalb sind für die von diesem Par- tikularrecht normirten Rechtssätze die Begriffe „Inland“ und „In- länder“ nach dem Geltungsbereich dieses Partikularrechts zu be- stimmen. Dem Geltungsbereich eines Rechts sind aber diejenigen Personen unterworfen, welche in dem Gebiet desselben ihren Wohn- sitz haben. Hieraus folgt, daß wo in französischen Gesetzen die Rede ist von »Français«, darunter für Elsaß-Lothringen diejenigen Deutschen zu verstehen sind, welche im Reichslande woh- nen . Durch Einführung des Art. 3 der Reichsverf. in Els.-Lothr. ist nun zwar im Wesentlichen die völlige Gleichstellung aller Deutschen hinsichtlich der droits civils im Reichslande hergestellt und dadurch die Unterscheidung von elsaß-lothringischen Inländern und anderen Deutschen in den wichtigsten Beziehungen gegenstands- los geworden. Immerhin aber stehen doch noch gesetzliche Bestimmungen in Kraft, die keineswegs auf alle Deutschen, sondern nur auf elsaß- lothringische Angehörige Anwendung finden. Die Angehörigkeit bezieht sich in diesen Fällen nicht auf einen Staatsverband , sondern auf ein Rechtsgebiet . Auch innerhalb eines Einheits-Staates kann es bekanntlich mehrere Rechtsgebiete geben und die Angehörigkeit zu einem dieser Rechtsgebiete von rechtlicher Erheblichkeit sein. Elsaß-Lothringen verhält sich zum Deutschen Reich in dieser Hinsicht ganz ebenso wie die Rheinprovinz zum Preußischen Staate und gerade wie in der Rheinprovinz Français zu übersetzen ist mit „Rheinpreuße“, d. h. ein in der Rheinprovinz wohnender Preuße, ohne daß es deshalb eine „rheinpreußische Staatsangehörigkeit“ giebt, so ist im Reichsland Fran- çais auszulegen als „ein in Elsaß-Lothringen wohnender Deutscher“. Anwendungsfälle bieten folgende Gesetze: Code civ . Art 14: L’étranger, même non résidant en §. 54. Bundesglied und Reichsland. France, pourra être cité devant les tribunaux français pour l’exé- cution des obligations par lui contractées en France avec un Français ; il pourra être traduit devant les tribunaux de France pour les obligations par lui contractées en pays etranger en- vers des Français Ueber die Frage, vor welchem Gericht ein Ausländer, der in Frank- reich weder Domizil noch Aufenthalt ( résidence ) hat, zu belangen ist, vgl. Dalloz et Vergé a. a. O. zu Art. 14 Note 108—115. ( Vol I. p. 54.) . Der Art. 3 der R.-V. ändert an der Geltung dieser Be- stimmung, soweit sie den Gerichtsstand von Nichtdeutschen be- trifft, Nichts. Ein Angehöriger eines Deutschen Bundesstaates, der nicht in Elsaß-Lothringen wohnt, kann auf Grund des Art. 14 nicht im Reichsland belangt werden, denn er ist kein »étranger«; er kann aber ebenso wenig auf Grund des Art. 14 gegen einen Ausländer eine Klage vor einem elsaß-lothringischen Gerichte an- stellen; denn der Art. 14 stellt die positive Bedingung auf, daß der Ausländer die Verbindlichkeit gegen einen Inländer ( Français ), d. h. also im Reichslande gegen einen Elsaß-Lothringer übernom- men hat Ein Erk. des Kaiserl. Appell-Hofes zu Colmar vom 5. Novbr. 1874 (Puchelt, Zeitschr. Bd. V. S. 717) nimmt an, daß alle Deutschen auf Grund des Art. 14 Ausländer im Reichslande belangen können, und hat die Klage eines Handlungshauses in Mannheim gegen ein Handlungshaus in Lüne- ville bei dem Handelsgericht in Straßburg für zulässig erachtet. Mit demselben Rechte könnte ein Deutscher, der in Leipzig oder Bremen wohnt und in London mit einem Engländer ein Geschäft abgeschlossen hat, den Engländer vor die elsäss.-lothr. Gerichte ziehen. Es beruht dies auf einer unrichtigen Auslegung des Art. 3 der R.-V. Dagegen hat der Königl. Appellhof zu Köln ganz richtig stets festgehalten, daß das im Art. 14 gewährte Recht nicht jedem Preußen , sondern nur dem Rheinpreußen zustehe. Vgl. die Entschei- dungen v. 17. Nov. 1842, 27. Januar 1843, 29. April 1844 und besonders v. 29. März 1853. (Archiv f. das Civil- und Criminalrecht der preuß. Rhein- prov. Bd. XXXIV. 1. 83. XXXV. 1. 62. XXXVII. 2. A. 52. XLVIII. 1. 187). Die Anwendung des Art. 14 gegen Angehörige der Deutschen Bundesstaaten war in Rheinpreußen bereits durch Ges. v. 2. Mai 1823 (G.-S. S. 106) §. 1 und 7 unter der Bedingung der Reciprocität ausgeschlossen worden; es bestand daher thatsächlich daselbst derselbe Rechtszustand wie er durch den Art. 3 der R.V. in Elsaß-Lothringen hergestellt ist. . Jeder in Elsaß-Lothringen wohnende Deutsche ist berechtigt, den Gerichtsstand auf Grund des Art. 14 in Anspruch zu nehmen; keineswegs ist es erforderlich, daß er nach den Regeln des Gesetzes vom 1. Juni 1870 die „elsaß-lothringische Staatsan- §. 54. Bundesglied und Reichsland. gehörigkeit“ erworben habe. Eine solche Auslegung würde unter den im Reichslande wohnenden Reichsangehörigen eine Rechtsun- gleichheit bewirken, welche ebensowohl mit dem Sinne des Art. 14 als mit dem Ges. v. 1. Juni 1870 in Widerspruch stehen würde. Das französische Gesetz vom 27. Juni 1866 hat dem Art. 5 des Code d’instruction criminelle eine Fassung gegeben, wonach der Abs. 2 desselben lautet: Tout Français qui, hors du territoire de France, s’est rendu coupable d’un fait qualifié délit par la loi française peut être poursuivi et jugé en France, si le fait est puni par la législation du pays où il a été commis. Dieses Gesetz ist in Geltung geblieben Herr Landgerichtsrath Mitscher in Straßburg hatte die Güte, mich auf dieses Gesetz aufmerksam zu machen. , soweit das Einf.- Gesetz zum Reichsstrafgesetzbuch das partikuläre Landesstrafrecht bestehen gelassen hat Vgl. Heinze Verhältn. des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht S. 45. Uebrigens hat das R.-St.-G.-B. §. 4 Ziff. 3 denselben Rechtsgrund- satz aufgestellt. . Es begründet nicht nur einen Gerichts- stand, sondern außerdem die Anwendung des elsaß-lothringischen (französischen) Strafgesetzes auf alle in den Bereich des Landes- strafrechts fallende Vergehen, welche ein Angehöriger von Elsaß- Lothringen außerhalb des Reichslandes verübt hat, wofern die That nach dem Recht des Ortes überhaupt strafbar war. Derselbe Grundsatz ist für weitaus die meisten und wichtigsten Materien, für welche das Landesstrafrecht in Geltung erhalten wor- den ist, in dem erwähnten Gesetz vom 27. Juni 1866 sogar auch auf alle Uebertretungen ausgedehnt worden Vgl. R.-St.-G.-B. §. 6. : Tout Français , qui s’est rendu coupable de délits et contraventions en matière forestière, rurale, de pêche, de douanes ou de contributions indirectes, sur le territoire de l’un des Etats limitrophes peut être poursuivi et jugé en France d’après la loi française, si cet État autorise la poursuite de ses régni- coles pour les mêmes faits commis en France. Daß in diesen Gesetzesstellen tout Français nicht zu ersetzen ist durch „jeder Deutsche“, ist so selbstverständlich, daß es keiner Ausführung bedarf; würde man aber an Stelle von tout Français §. 54. Bundesglied und Reichsland. setzen: „Jeder Staatsangehörige von Elsaß-Lothringen“, statt: „Jeder in Elsaß-Lothringen wohnende Deutsche“, so käme man zu dem sonderbaren Resultate, daß wenn zwei Deutsche, welche ihren Wohnsitz im Reichsland haben, von denen aber nur einer die elsaß- lothringische Staatsangehörigkeit nach den Vorschriften des Gesetzes v. 1. Juni 1870 erworben hat, in Baden, der Pfalz oder Luxem- burg ein Vergehen oder eine Uebertretung gegen die Forstgesetze gemeinsam verübt haben, der Eine von dem elsässischen Gericht nach den strengen Vorschriften des französischen Forstgesetzes be- straft werden könnte, der Andere nicht. Endlich ist noch ein vom Reich erlassenes Gesetz zu erwähnen, in welchem der Ausdruck „Angehörige von Elsaß-Lothringen“ vor- kömmt, aber ebenfalls ohne alle Beziehung auf die Staats -An- gehörigkeit. Nach dem Ges. v. 23. Januar 1872 §. 2 Ges.-Bl. f. Els.-Lothr. S. 85. findet das Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste „auf die vor dem 1. Januar 1851 geborenen Angehörigen von Elsaß-Lothringen“ keine Anwendung; ebenso wenig das Landsturmgesetz v. 12. Febr. 1875 gemäß der im §. 9 desselben enthaltenen Anordnung R.-G.-Bl. S. 64. Vgl. Stenogr. Berichte des Reichstages. II. Sess. 1874/75. S. 956. . Dieses Gesetz ertheilt diese Begünstigung aber nur denjenigen Per- sonen, welche bereits damals Elsaß-Lothringen angehörten Ob zur Zeit der Abtretung des Reichslandes oder zur Zeit des Erlasses jenes Gesetzes kann zweifelhaft sein. Eine Buchstaben-Interpretation des Ge- setzes würde zu der letzteren Ansicht führen; sachliche Gründe sprechen aber dafür, unter den Angehörigen v. Els.-Lothr. diejenigen Reichsangehörigen zu verstehen, welche zur Zeit der Abtretung des Reichslandes in demselben ihren Wohnsitz hatten und französische Unterthanen waren. . Weder wird von Deutschen, welche nach Elsaß-Lothringen über- wandern und sich dort eine Aufnahme-Urkunde ertheilen lassen, diese Begünstigung erworben, noch geht sie denjenigen Personen, denen sie nach dem Gesetz zusteht, durch Ueberwanderung in einen deutschen Staat und Erwerbung des Staatsbürgerrechts in dem- selben verloren Ebenso wenig Zusammenhang mit einer elsaß-lothringischen Staats- angehörigkeit hat die Anordnung im Ges. v. 24. Januar 1873 §. 3. c , daß das Wahlrecht und die Wählharkeit ruht: „für Elsaß-Lothringer, welche sich für die französ. Nationalität erklärt haben, aber nicht ausgewandert sind“. Es ist §. 54. Bundesglied und Reichsland. IX. Der Gegensatz zwischen dem Reichslande und den Einzel- staaten tritt mit großer Deutlichkeit in Beziehung auf die Ge- bietshoheit entgegen; hier ist er ganz unverkennbar. Eine Gebietshoheit an den von Frankreich abgetretenen Ländern, welche von der dem Reiche zustehenden Gebietshoheit in ähnlicher Art unterschieden werden könnte, wie die Gebietshoheit der Einzelstaa- ten an ihren Staatsgebieten, giebt es nicht. Das Reich hat die rechtliche Befugniß, das Reichsland in mehrere, ganz getrennte Verwaltungsbezirke zu zerlegen; Theile desselben an benachbarte Bundesstaaten oder an einen auswärtigen Staat abzutreten oder auszutauschen; es einem Deutschen Gliedstaat einzuverleiben; und überhaupt an dem Reichslande nicht nur diejenigen Hoheitsrechte, welche nach der Reichsverfassung zur Kompetenz des Reiches gehören, sondern in vollem Umfange alle Hoheitsrechte, welche in der Souveränetät enthalten sind, auszuüben Dahin gehört auch das Expropriationsrecht. Vgl. z. B. Ges. v. 2. Febr. 1872 über die Kriegergrabstätten §. 4. (G.-Bl. f. Els.-Lothr. S. 124.) Ueber den Umfang, in welchem das Reich in den Gebieten der Einzelstaaten das Ent- eignungsrecht hat, vgl. oben §. 22. . Die Bezeichnung Elsaß-Lothringen’s als eines unmittelbaren Reichslandes hebt grade diesen Unterschied von der rechtlichen Stellung der übrigen Theile des Bundesgebietes hervor Vgl. auch Mitscher a. a. O. S. 275. . Wäre Elsaß-Lothringen nicht das einzige Reichsland, wäre es namentlich nicht in der ganzen Länge seiner Binnengränze eingeschlossen von Gebieten, die einer Landes- hoheit unterliegen, so würde noch deutlicher zu Tage treten, daß Elsaß-Lothringen nicht das Staats-Gebiet eines Bundesgliedes, sondern eine Provinz, ein Verwaltungsdistrikt des Reiches ist, in- dem alsdann aus Zweckmäßigkeits-Gründen vielleicht Theile des Reichslandes mit angränzenden Gebieten zu Verwaltungsdistrikten verbunden werden würden. §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. Während in den angegebenen Beziehungen zwischen dem Reichs- land und den Einzelstaaten ein tiefgehender Gegensatz besteht, wird das Reichsland in finanzieller Hinsicht den Einzelstaaten voll- dies eine Strafe für eine politische Demonstration, denn eine Option ohne Aus- wanderung ist ohne Rechtswirkung. Vgl. Mitscher a. a. O. Bd. 34 S. 34. §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. kommen gleich behandelt Vgl. meine Erörterungen hierüber in Hirth’s Annalen 1873 S. 562 ff. Daselbst bin ich jedoch noch der herrschenden Theorie vom Bundesstaate, welche das Wesen derselben in einer Theilung der Staatsgewalt findet, gefolgt. Gerade bei der Finanzwirthschaft tritt die Unrichtigkeit dieser Theorie am we- nigsten zu Tage, weil die Souveränetät keine wesentliche Voraussetzung für eine eigene Finanzwirthschaft ist. . Es beruht dies darauf, daß es sich in den hier in Betracht kommenden Beziehungen nicht um staat- liche Hoheits rechte und staatliche Aufgaben, sondern um ver- mögensrechtliche Ansprüche und Leistungen handelt. Jeder Staat ist zwar nothwendig auch vermögensrechtliches Subject, aber nicht umgekehrt jeder öffentlich rechtliche Verband mit selbstständi- ger privatrechtlicher Persönlichkeit ein Wesen staatlicher Natur. Grade weil jede Provinz, jeder Bezirk eben so gut wie der Staat ein selbstständiges Vermögenssubject sein kann, ist es möglich, das Reichsland in allen die Finanzwirthschaft betreffenden Angelegen- heiten vollkommen wie ein Bundesglied zu behandeln Vgl. Löning a. a. O. S. 187. . Es wird demgemäß die Landeskasse von dem Reichsfis- kus unterschieden und ebenso das Landesvermögen von dem im Reichslande befindlichen Reichsvermögen Die elsaß-lothringischen Eisenbahnen sind Reichseigenthum; da- gegen ermächtigt das Ges. v. 11. Nov. 1872 (G.-Bl. S. 773) den Reichskanzler die Tabackfabrik in Straßburg für Rechnung der Landesver- waltung zu veräußern. . Das Reichs-Ges. v. 25. Mai 1873 über die Rechts-Verhältnisse der zum dienstlichen Gebrauch einer Reichsverwaltung bestimmten Gegenstände ist durch Ges. v. 8. Dezember 1873 (G.-Bl. S. 387) im Reichslande ein- geführt worden und dadurch nicht nur hinsichtlich des Finanzver- mögens, sondern auch hinsichtlich des Verwaltungsvermögens das Reichsland in völlig dieselbe Lage gebracht worden, in welcher die Bundesstaaten in dieser Beziehung sich befinden. Dem activen Landes-Vermögen entsprechend giebt es auch Landes-Schulden Ges. v. 10. Juni 1872 über die Entschädigung der Inhaber verkäuf- licher Stellen im Justizdienste. (G.-Bl. S. 171 fg.). §. 20: „Die Entschä- digung wird in Obligationen gegeben, welche auf die Landeskasse von Elsaß- Lothringen gestellt sind.“ Löning a. a. O. S. 188. , welche einerseits von Schulden der Bezirke oder Kreise, andererseits von Schulden des Reiches verschieden sind. Das Subject dieser §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. Schulden ist die Landeskasse (der Landesfiskus) von Elsaß-Lothrin- gen, das Reichsland als vermögensrechtliches Rechtssubject. Diese Trennung der Finanzwirthschaft Elsaß-Lothringens von der Finanz-Wirthschaft des Reiches äußert ihre Wirkungen nach vielen Seiten hin und erweckt bisweilen den Anschein, als wenn Elsaß-Lothringen nicht Reichsland, sondern ein wirklicher Staat wäre. Es kommen hier folgende Punkte in Betracht: I. Staatsverträge , welche das Reich mit Rücksicht auf Elsaß-Lothringen schließt, und welche Gegenstände betreffen, welche nicht zu der reichsverfassunsmäßigen Kompetenz der Centralver- waltung gehören, werden in ihren finanziellen Wirkungen so be- handelt, als wären sie von Elsaß-Lothringen contrahirt worden. Staatsrechtlich und völkerrechtlich sind sie Verträge des Reiches Siehe oben S. 586. , vermögensrechtlich werden sie wie Verträge der elsaß-lothringischen Landeskasse behandelt. Das wichtigste Beispiel ist die mit Frank- reich am 11. Dez. 1871 zu Frankfurt a. M. geschlossene Zusatz- konvention zum Friedensvertrage. Dieselbe regelt im Art. 2 die Pflicht zur Zahlung von Pensionen, im Art. 5 die Auszahlung von Gerichtskosten, sowie die Einziehung von Geldstrafen und Kosten, im Art. 8 die Auslieferung von Urkunden, Registern, Schriftstücken u. s. w., im Art. 13 die Erfüllung von Kontrakten, welche die französische Regierung mit Bau-Unternehmern u. s. w. geschlossen hatte Einen Fall dieser Art betrifft das Urtheil des Landgerichts Mülhausen v. 20. Nov. 1872 in Puchelt ’s Zeitschrift f. Französ. Civilr. IV. S. 189 ff. Ueber die Frage, in wie weit durch die Abtretung Elsaß-Lothringens Forde- rungen und Schulden der französ. Staatskasse auf die els.-lothr. Landeskasse übergegangen sind, ist zu vgl. Löning a. a. O. S. 232 ff. , im Art. 14 die Uebernahme der Kosten für Anlage und Erhaltung der Kanäle u. s. w. In derselben Weise sind die mit Baden getroffenen Verabredungen wegen des Baues und der Erhaltung von Brücken über den Rhein und die Besol- dung des Aufsichts-Personals, die mit Preußen geschlossene Ver- einbarung wegen der Unterhaltungskosten der gemeinschaftlichen Saar-Kanalstrecke von Saargemünd bis Güdingen, die Verträge, welche die Rheinschifffahrt, insbesondere die Kosten der Rhein- schifffahrts-Central-Kommission betreffen, in Beziehung auf die §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. Person der Contrahenten Verträge des Reiches, in Beziehung auf die pekuniären Wirkungen Verträge der Landeskasse Das Gleiche gilt von der mit der Stadt Lauterburg getroffenen Fest- setzung wegen Unterhaltung der dortigen Rheinfähre, sowie von dem zwischen der Landeskasse und der Aktien-Gesellschaft für Boden- und Kommunal-Credit zu Straßburg bestehenden Rechtsverhältniß. Wenn das Ges. v. 7. Dez. 1873 (G.-Bl. S. 393) den zwischen der Staatsregierung und der Stadt Ensisheim am 5. Januar 1870 abgeschlossenen Vertrag über den Austausch von Grundstücken der Stadt Ensisheim und des Staats genehmigt, so ist auch hier in vermögensrechtl. Beziehung an die Stelle des (französischen) Staats der elsaß-lothringische Landesfiskus getreten. . II. Die Landesverwaltung wird auf Kosten der Landes- kasse geführt und in dieser Beziehung ganz scharf von der Reichs- verwaltung getrennt. Demgemäß hat das Reich in Elsaß-Lothringen keine andere Einnahme-Quellen als diejenigen, welche es auch in den übrigen Theilen des Reiches hat, abgesehen von den im Finanz- vermögen des Reiches stehenden Eisenbahnen, und andererseits werden aus der Landeskasse alle diejenigen Ausgaben bestritten, welche auch den Einzelstaaten wegen der ihnen zustehenden Selbst- verwaltung zur Last fallen Da die Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern im Reichsland größere Kosten verursacht als die Reichskasse dafür erstattet, so ist der Mehr- betrag aus der Landeskasse zu zahlen. Man ist auf den Gedanken gekommen, dies damit abzuwälzen, daß der Art. 36 der R.-V. auf Elsaß-Lothringen nicht passe. Derselbe sagt: „Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Ver- brauchssteuern bleibt jedem Bunde sstaate, soweit derselbe sie bis- her ausgeübt hat , innerhalb seines Gebietes überlassen.“ Das Reichs- land, sagt man, sei kein Bundesstaat und in keinem Falle habe dasselbe vor der Einverleibung in das Reich die Zollverwaltung ausgeübt. Der Art. 36 der R.-V. paßt allerdings ebensowenig auf das Reichsland, wie die meisten anderen Artikel der R.-V., aber die Landeskasse von Elsaß-Lothringen hat in demselben Umfange die Kosten der Provinzial-Verwaltung zu tragen, wie die Bundesstaaten die Kosten der staatlichen Selbstverwaltung, und Art. 36 der R.-V. weist dem Bereich der letzteren die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern zu. . Dieser Grundsatz wird auch hinsichtlich derjenigen Behörden durchgeführt, welche gleichzeitig Geschäfte der Centralverwaltung des Reichs und der Landesverwaltung des Reichslandes führen und es zahlt daher einerseits die Landeskasse einen Beitrag zu den Kosten des Reichskanzler-Amts, Oberhandelsgerichts, Rechnungs- hofes, und anderseits die Reichskasse einen Beitrag zu den Kosten §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. der Bezirks-Hauptkasse zu Straßburg für die Besorgung der Ge- schäfte als Korps-Zahlungsstelle des 15. Armee-Korps Vgl. Etat für Elsaß-Lothringen für 1876. Anlage XII. Einnahme. Titel 2. . Die finanzielle Trennung der Reichsverwaltung und Landes- verwaltung kömmt in sehr erheblicher Weise in dem Unterschiede zwischen Reichsbeamten und elsaß-lothringischen Landesbe- amten zur Geltung. Nach der Definition der Reichsbeamten im §. 1 des Ges. v. 31. März 1873 ist jeder Beamte, welcher vom Kaiser angestellt ist, ein Reichsbeamter; diese Begriffsbestimmung umfaßt daher auch die zum Zwecke der Landesverwaltung des Reichslandes angestellten Beamten. Im staatsrechtlichen Sinne sind auch in der That diese Beamte Reichsbeamte, denn das Reich ist ihr Dienstherr. Das Reichsgesetz v. 31. März 1873 findet demgemäß zufolge Ges. v. 23. Dezbr. 1873 unveränderte Anwen- dung auf die Rechtsverhältnisse der elsaß-lothringischen Landesbe- amten: nur ist es ergänzt worden durch einige Anordnungen, deren Hinzufügung fast durchweg dadurch veranlaßt worden ist, daß die Provinzial-Verwaltung von Elsaß-Lothringen viele Verwaltungs- zweige umfaßt, welche der Central-Verwaltung des Reiches fehlen. In finanzieller Beziehung aber besteht der wichtige Unterschied, daß alle zum Zweck der Landesverwaltung angestellten Beamten An- sprüche auf Gehalt, Pension, Wartegelder, Ersatz von Reisekosten und Diäten u. s. w. nicht gegen die Reichskasse, sondern gegen die Landeskasse haben, und ebenso für Defekte und Schadensersatz der letzteren haften. Dem entsprechend haben sie auch der Landeskasse, nicht der Reichskasse, Kaution zu leisten Ges. v. 15. Okt. 1873. G.-Bl. S. 273. . Abgesehen von den Lehrern und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, auf deren Rechtsverhältnisse die Bestimmungen dieses Gesetzes ebenfalls An- wendung finden, ergiebt sich demnach für die elsaß-lothring. Landes- beamten folgende Begriffsbestimmung: Elsaß-lothringische Landes- beamte sind diejenigen Reichsbeamten , welche ein Dienstein- kommen aus der Landeskasse beziehen. Sie beziehen nicht deßhalb ihr Diensteinkommen aus der Landeskasse, weil sie keine Reichsbeamten sind, sondern sie sind eine Unterart der Reichsbe- amten. Würde aus irgend einem Grunde die Trennung der Finanzwirthschaft des Reiches von der Finanzwirthschaft des Reichs- §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. landes verschwinden, so würde auch ohne Weiteres der Unterschied zwischen den elsaß-lothringischen Landesbeamten und den Reichs- beamten in Wegfall kommen. Die für Elsaß-Lothringen erlassenen Gesetze brauchen regel- mäßig für den reichsländischen Fiskus die Bezeichnung „Landes- kasse“; an einzelnen Stellen wird jedoch auch der Ausdruck „Staat“ gebraucht; z. B. im Ges. 30. Dezemb. 1871 §. 19 Abs. 2 G.-Bl. 1872 S. 55: „In die Bezirkshauptkasse fließen sämmtliche dem Staate zukommende Einnahmen des Bezirks.“ Der Grund ist hier offenbar ein stylistischer. Man wollte nicht sagen: In die Bezirkshauptkasse fließen sämmtliche der Landeshauptkasse zukommende Einnahmen. und in dem Ges. v. 15. Oktob. 1873 über die Amts-Kautionen. Man darf hieraus nicht schließen, daß die Reichsgesetzgebung Elsaß- Lothringen als Staat anerkannt habe; denn es handelt sich an diesen Stellen nicht um den Staat als Subjekt von obrigkeitlichen Hoheitsrechten, sondern um den Staat als Subjekt von Ver- mögensrechten, d. h. als Fiskus. III. Auch die Kosten der Provinzial-Gesetzgebung , welche mit der den Einzelstaaten zustehenden Autonomie correspon- dirt, werden aus der Landeskasse getragen, nämlich die Her- stellungskosten für das Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen und die durch den Landes-Ausschuß verursachten Ausgaben Etat für 1876. Ausgaben. Kapit. 4 Tit. 4. und Kapit. 13 Tit. 3. . Es ist ferner die Feststellung des Landeshaushalts-Etats selbst ein Gegenstand dieser Gesetzgebung. Der Etat von Elsaß- Lothringen ist kein Bestandtheil des Reichs-Etats; er wird dem Landes-Ausschuß zur Berathung vorgelegt, durch ein beson- deres Gesetz festgestellt und im Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen verkündet. IV. Obwohl das Reichsland, da es nicht Bundesglied ist, weder Mit gliedschaftsrechte , noch Sonderrechte , noch Pflichten dem Reiche gegenüber hat, so wird doch in allen ver- mögensrechtlichen Beziehungen die Landeskasse von Elsaß-Lothringen ganz ebenso behandelt, als wäre sie der Fiskus eines Bundes- gliedes. Den Mitgliedschaftsrechten entsprechend hat sie den auf das Reichsland entfallenden Antheil an den Reichskassenscheinen erhalten Vgl. Ges. v. 25. Dez. 1874. §. 4. (G.-Bl. S. 58.) ; den Sonderrechten entsprechend zahlt die Landeskasse Laband , Reichsstaatsrecht. I. 39 §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. das Aversum für die Brausteuer; den Bundespflichten entsprechend entrichtet sie an die Reichskasse die Matrikularbeiträge. V. Endlich kömmt in finanzieller Hinsicht auch die Ange- hörigkeit zu Elsaß-Lothringen in Betracht und zwar in doppelter Hinsicht. 1) Gewisse Lasten und Rechte werden nach dem Verhältniß der Bevölkerung auf die einzelnen Bundesglieder vertheilt; die Bevölkerung des Reichslandes ist demnach maßgebend für die Höhe der Matrikularbeiträge und des Biersteuer-Aversums und ebenso für die Höhe des auf Elsaß-Lothringen entfallenden Betrages an Reichs-Kassenscheinen. Seitdem die Vertheilung der Matri- kularbeiträge nicht mehr nach der ortsanwesenden staatsangehörigen Bevölkerung, sondern nach der faktischen Bevölkerung erfolgt Vgl. Bundes raths-Protokoll 1874 §. 179. , bedeutet die Angehörigkeit zu Elsaß-Lothringen in dieser Hinsicht nicht ein staatsrechtliches Verhältniß, sondern lediglich die That- sache des Aufenthalts im Reichsland Bei den Volkszählungen wird allerdings auch die staatsangehörige Be- völkerung gezählt und auch für Elsaß-Lothringen ist bei der Volkszählung am 1. Dez. 1875 diese Ermittelung vorgenommen worden. Dieselbe ist aber völlig unzuverlässig und werthlos. Denn die Beantwortung der Frage, welchem Staate man angehört, setzt juristische Kenntnisse voraus, die nur ein verschwin- dend kleiner Theil der Personen, welche darüber Auskunft geben sollen, oder der Zähler, welche diese Auskunft fordern, besitzt. Die mit der Controle der Zählung beauftragten Behörden sind aber nur in sehr seltenen Fällen im Stande, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Angabe in den Zählkarten zu prüfen. Uebrigens legt die Regierung selbst auf die juristisch richtige Beant- wortung dieser Frage offenbar kein Gewicht, denn in der Instruktion für die Zähler, welche der Oberpräsident für die Volkszählung in Elsaß-Lothringen am 26. Sept. 1875 erlassen hat, ist im §. 8 angeordnet, daß alle Landes- beamten als Elsaß-Lothringer einzutragen sind, während es doch unzweifelhaft ist, daß der Angehörige eines Deutschen Staates durch seine An- stellung in der elsaß-lothringischen Landesverwaltung keine Aenderung seiner Staatsangehörigkeit erfährt. . 2) Das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz ist im Reichs- lande nicht eingeführt worden; vielmehr ist der im §. 7 des Frei- zügigkeits-Gesetzes in Bezug genommene Gotha’er Vertrag vom 15. Juli 1851, als Beilage zu dem Einführungsges. v. 8. Januar 1873 im Gesetzbl. f. Els.-Lothr. 1873 S. 5 verkündet worden. Im Verhältniß zwischen Elsaß-Lothringen einerseits und Bayern §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. und den zum Gebiet des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz gehörenden Staaten andererseits entscheiden daher die Bestimmungen dieses Vertrages Dasselbe gilt von der Eisenacher Konvention vom 11. Juli 1853. Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 16. Januar 1874. (G.-Bl. S. 1.) Auch Oesterreich gegenüber kommen dieselben Grundsätze zur Anwendung. Be- kanntm. v. 29. April 1874. (G.-Bl. S. 13.) . Der Wortlaut desselben setzt Staaten und Staats-Angehörige (Unterthanen) voraus, da er ja von lauter souveränen Staaten vereinbart worden ist. An diesem Wortlaute sind bei der Einführung in Els.-Lothr. Veränderungen nicht vor- genommen worden. Indeß ist für die Pflicht zur Uebernahme Hülfsbedürftiger die Unterthanen-Eigenschaft der letztern nicht wesentlich; auch der Aufenthalt und selbst die Geburt kann nach §. 2 des Vertrags die Uebernahme-Pflicht begründen. Ueber- dies aber schließt die Gotha’er Uebereinkunft selbstverständlich nicht aus, daß auch solche Individuen übernommen werden müssen, welche nicht Staatsunterthanen sind, wofern im Uebrigen durch die Gesetze des Landes eine Pflicht zur Unterstützung derselben begründet ist. In der Verwaltungs-Praxis kömmt dieser Punkt fast ausschließlich in Betracht und es ist demnach die Pflicht zur Uebernahme eines hülfsbedürftigen Individuum thatsächlich nicht davon abhängig, ob dasselbe in Elsaß-Lothringen Staatsbürger- recht hat, sondern ob es daselbst einen sogenannten Unterstützungs- Wohnsitz hat. Gleichviel aber, in welchem Umfange man die Pflicht zur Uebernahme anerkennen will, jedenfalls hat sie einen wesentlich vermögensrechtlichen Inhalt und so wie es innerhalb eines Staates mehrere Landarmen-Verbände geben kann, so kann auch das Reichs- land oder jeder Bezirk desselben den andern deutschen Staaten gegenüber wie ein Landarmen-Verband behandelt werden, ohne daß daraus irgend ein Schluß auf die staatsrechtliche Natur des Reichslandes gezogen werden darf. Die Gleichstellung der elsaß-lothringischen Landeskasse mit dem Fiskus der einzelnen Staaten begründet keineswegs eine Ausnahme von der allgemeinen rechtlichen Stellung des Reichslandes, denn sie betrifft nur die vermögensrechtliche Seite der Finanzwirthschaft, dagegen nicht die finanziellen Hoheitsrechte. In Elsaß-Lothringen §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. kann keine Steuer eingeführt oder aufgehoben werden als auf Grund eines vom Reiche erlassenen Gesetzes; es kann der Be- völkerung keine Leistung auferlegt oder erlassen, es kann keine Einnahmequelle und kein Rechtsgrund für Ausgaben geschaffen werden ohne einen Willensakt des Reiches oder der Organe des- selben. Das Reich muß, wenn es erforderlich ist, zu Ausgaben der Landesverwaltung Zuschüsse geben, wie dies z. B. hinsichtlich der Universität Straßburg geschehen ist, und das Reich ist an- dererseits rechtlich befugt, Ueberschüsse der Landesverwaltung der Reichskasse zu überweisen. Die Finanzwirthschaft Elsaß-Lothringens ist nicht die selbstständige Finanzwirthschaft eines Gliedstaates, son- dern es ist die abgesonderte Provinzial-Finanzwirthschaft des Reiches. Die Lösung des hohen politischen Problems, die deutschen Völker und Länder dergestalt zu einigen, daß die Gesammtheit Lebensfähigkeit und Kraft gewinne und die einzelnen Theile dabei doch ihre individuelle Besonderheit nicht verlieren und die in ihrer Eigenartigkeit begründeten Interessen Berücksichtigung und Pflege finden können, war in zwei verschiedenen staatsrechtlichen Formen möglich; in der des Bundesstaates und der des dezentralisirten Einheitsstaates. Die Annahme der Reichsverfassung hat die erste Form, die Erklärung Elsaß-Lothringens zum Reichslande die zweite Form verwirklicht. Obgleich die Reichsverf. im Reichslande ein- geführt worden ist, so bildet doch die Existenz des Reichslandes geradezu den Gegensatz zu dem Prinzip der Reichsverfassung. Ob das deutsche Reich diesen Dualismus auf die Dauer ver- tragen wird, oder ob das Reichsland im Laufe der Zeit sich zu einem Staate umwandeln wird, der den andern Gliedstaaten des Reiches gleichartig ist und auf den die Reichsverfassung nicht nur dem Klang der Worte, sondern der Sache nach angewendet werden kann, oder ob endlich die Stellung des Reichslandes bereits als der Vorbote einer neuen Verfassungsform des deutschen Reiches anzusehen ist, zu welcher sich die jetzt bestehende bundesstaatliche Form fortentwickeln wird, das sind Fragen, welche nicht in den Kreis des Staatsrechts fallen. Bemerkenswerth ist aber die That- sache, daß dieselben ruhmreichen Ereignisse, welche die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche ermöglichten und die Wiederaufrichtung des deutschen Staates zum Abschluß brachten, zugleich diesem deutschen Reich durch das Reichsland ein Element §. 55. Der Landesfiskus von Elsaß-Lothringen. zuführten, welches den staatsrechtlichen Gegensatz der Reichsver- fassung darstellt und vielleicht bestimmt ist, den Ausgangspunkt zu einer allmählichen Umgestaltung dieser Reichsverfassung selbst zu bilden. Nachträge . zu §. 11 S. 109 ff. Der hier entwickelte begriffliche Unter- schied zwischen Mitgliedschaftsrechten und Sonderrechten und der Grundsatz daß die letzteren nicht durch Majoritäts-Beschlüsse ohne Zustimmung des Berechtigten aufgehoben werden können, hat eine erneute Anerkennung gefunden in dem Urth. des Reichs-Ober- handelsgerichts v. 12. Febr. 1875. Entscheidungen Bd. XVII. S. 131 ff. bes. 147. 148. zu §. 17. S. 168 ff. Nach dem Reichsges. v. 1. Juli 1870 erlangt ein Ausländer, welcher im Reichsdienst angestellt wird und seinen dienstlichen Wohnsitz im Auslande hat, durch die Anstellung selbst die Reichsangehörigkeit nicht (siehe oben S. 171); aber er konnte dieselbe auch nicht auf seinen Antrag durch Verleihung er- langen, da den Einzelstaaten die Naturalisation von Ausländern nach §. 8 des erwähnten Gesetzes nur gestattet ist, wenn diese sich in dem Gebiete des Staates niederlassen. Dieser Grundsatz des §. 8 hat eine Abänderung erfahren durch das Reichsgesetz v. 20. Dez . 1875 (R.-G.-Bl. S. 342). Dasselbe ermächtigt nicht nur, sondern verpflichtet die Bundesstaaten, Ausländern, welche im Reichsdienste angestellt sind und ihren dienstlichen Wohnsitz im Auslande haben, wenn sie die Verleihung der Staatsangehörigkeit nachsuchen, die Naturalisations-Urkunde zu ertheilen. Dieser Grund- satz ist aber beschränkt auf diejenigen Reichsbeamten, welche ein Diensteinkommen aus der Reichskasse beziehen; so daß also nament- lich die Wahlkonsuln (vrgl. S. 332) dieses Rechtes nicht theilhaf- tig sind. zu §. 29 S. 250 ff. Den hier dargelegten Rechtssatz, daß der Bundesrath regelmäßig , d. h. wenn nicht reichsgesetzlich etwas Anderes bestimmt ist, zum Erlaß von Ausführungs-Verordnungen Nachträge. zu den Reichsgesetzen befugt und verpflichtet ist, vertheidigt auch Seydel in Hirth’s Annalen 1876 S. 11 fg. zu §. 34 S. 316. Die Geschäfte der Reichshauptkasse sind vom 1. Januar 1876 ab der Preuß. General-Staatskasse entzogen und auf Grund des §. 22 des Bankgesetzes v. 14. März 1875, nach welchem die Reichsbank verpflichtet ist, ohne Entgelt für Rech- nung des Reiches Zahlungen anzunehmen und bis auf Höhe des Reichsguthabens zu leisten, und auf Grund des §. 11 des Statutes der Reichsbank v. 21. Mai 1875 (R.-G-.Bl. S. 205) der Reichs- bank-Hauptkasse zu Berlin übertragen. Für diese Geschäftsführung bleibt die bisherige Bezeichnung „Reichshauptkasse“ bestehen. Be- kanntmachung des Reichskanzlers v. 29. Dez . 1875. Centralblatt S. 821. zu §. 34 S. 318 ff. Auf Grund des Reichshaushalts-Gesetzes für 1876. Ausgabe Kapit. 7 Tit. 1 ist bei der Normal-Eichungs- kommission eine Stelle für einen zweiten wissenschaftlich gebilde- ten Hülfsarbeiter errichtet worden. Vrgl. die Erläuterung in den Anlagen zum Etat I S. 17. zu §. 34 S. 320. Für das Zoll- und Steuer-Rechnungs- Bureau des Reichskanzler-Amtes sind seit 1874 zwei Beamte an- gestellt, welche ausschließlich für das Bureau thätig sind, während die Stellen des Bureau-Vorstehers und Buchhalters von Beamten des Preuß. Finanzministeriums als Nebenämter versehen werden. Erläuterungen zum Etat für 1874 Anlage I S. 9. Vrgl. Etat für 1876 Anlage I S. 10. 11. zu §. 34 S. 320. Durch das Reichshaushalts-Gesetz für 1876 Ausgabe Kapit. 8 (R.-G.-Bl. S. 330) sind die Geldmittel für die Errichtung eines Gesundheitsamtes bewilligt worden. Eine Denkschrift , welche in der Anlage I zum Etat für 1876 S. 41 abgedruckt ist, giebt über die beabsichtigte Einrichtung dieser Behörde Aufschluß. Darnach „soll dieselbe dem Reichskanzler-Amte unmittelbar untergeordnet sein und einen lediglich berathenden Karakter tragen.“ Verwaltungsgeschäfte hat diese Behörde nicht zu erledigen, sie soll vielmehr eine technische Unterstützung des Reichskanzleramtes sein bei der Ausübung des nach Art. 4 Ziff. 15 Nachträge. der R.-V. dem Reiche zugewiesenen Rechtes der Beaufsichtigung und Gesetzgebung in Angelegenheiten der Medicinal- und Veteri- närpolizei. Zu diesem Zwecke sollen die Mitglieder des Gesund- heitsamtes von den hierfür in den einzelnen Bundesstaaten bestehen- den Einrichtungen Kenntniß nehmen, die Wirkungen der im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege ergriffenen Maßnahmen beobachten und in geeigneten Fällen den Staats- und den Gemeindebehörden Auskunft ertheilen, sowie eine genügende medizinische Statistik für Deutschland herstellen. Auch sollen sie die Entwickelung der Medizinal-Gesetzgebung in außerdeutschen Ländern verfolgen. Das Gesundheitsamt hat im Behörden-Organismus des Reiches seinen Platz neben dem Statistischen Amt und der Normal-Eichungskom- mission und dem entsprechend sind auch die Rang- und Besol- dungs-Verhältnisse des Directors, der Mitglieder und Subaltern- Beamten normirt. zu §. 34 S. 325 ff. Durch die Kaiserl. Verordnung vom 22. Dez . 1875 (R.-G.-Bl. S. 379), welche ihrem Inhalte nach und soweit sie das Finanzwesen des Reiches berührt, durch das Reichshaushaltsgesetz für 1876 die Genehmigung des Bundesrathes und Reichstags erhalten hat, ist die Stellung der Post- und Tele- graphen-Verwaltung im Behördensystem des Reiches wesentlich ver- ändert worden. Beide Verwaltungen sind seit dem 1. Januar 1876 aus dem Ressort des Reichskanzler-Amtes ausgeschieden, dessen bisherige I. und II. Abtheilung mithin aufgehoben sind. Dagegen sind beide Verwaltungen einer Centralbehörde unterstellt, deren Leitung dem General-Postmeister unter der Verantwortlich- keit des Reichskanzlers übertragen ist Ueber die Gründe, aus denen die Vereinigung der beiden Verwaltungen erfolgt ist, giebt eine Denkschrift Auskunft, welche dem Etats-Gesetzentwurf f. 1876 Anlage XIII. S. 35 fg. beigefügt ist. Der Hauptgrund ist das un- günstige finanzielle Ergebniß der Reichs-Telegraphen-Verwaltung. Die Denk- schrift ist auch im Deutschen Postarchiv 1875 Nr. 17 S. 509 ff. abgedruckt. . (§. 1.) Der General- Postmeister hat demgemäß die Befugnisse einer „obersten“ Reichs- behörde (§. 2.) und hat nicht mehr seine Stellung innerhalb des Reichskanzler-Amtes, sondern die oberste Post-Behörde steht ebenso wie Auswärtiges Amt, Admiralität und Eisenbahnamt neben dem Reichskanzler-Amt. Diese Central-Behörde zerfällt in zwei Abthei- Nachträge. lungen, von denen die eine unter der Bezeichnung „ General- Postamt “ die Angelegenheiten der Postverwaltung, die andere unter dem Namen „ General-Telegraphenamt “ die Ange- legenheiten der Telegraphen-Verwaltung bearbeitet. (§. 3.) An der Spitze jeder der beiden Abtheilungen steht ein Direktor. Durch die Vereinigung der beiden Verwaltungen ist das Neben- einander-Bestehen von Ober-Post-Direktionen und Telegraphen- Direktionen beseitigt; die Mittelbehörden für beide Verwaltungs- zweige führen die Bezeichnung als Oberpost-Direktionen und sind in Angelegenheiten der Postverwaltung dem General- Postamt, in Angelegenheiten der Telegraphenverwaltung dem Ge- neral-Telegraphenamt zunächst untergeordnet. (§. 4.) In Anbe- tracht des dadurch gewachsenen Geschäftsumfanges sind einige neue Oberpost-Direktionen errichtet, beziehentlich wieder errichtet worden, nämlich in Minden und Bromberg (Erl. v. 15. Okt. 1875 R.-G.-Bl. S. 388) und Aachen (Erl. v. 22. Nov. 1875 ebendas. S. 389 Diese 3 Behörden treten demnach den S. 326 Note 2 aufgeführten Be- hörden zu, während die S. 327 Note 1 erwähnten Behörden seit dem 1. Jan. 1876 in Wegfall gekommen sind. Auch ist die besondere Stellung, welche bis- her das Oberpostamt in Lübeck hatte, beseitigt worden. . Der Ortsbetrieb des Post- und Telegraphendienstes wird von Postämtern wahrgenommen, welche je nach der Bedeutung des Dienstes als Postämter I. II. oder III. Klasse bezeichnet werden. Wo die Verhältnisse solches erfordern, können sie auch getrennt unter der Bezeichnung Postamt und Telegraphenamt fungiren Vgl. die erwähnte Denkschrift. . zu §. 34 S. 340. Die im Ges. v. 9. Januar 1875 §. 4 vor- behaltene Kaiserl. Verordnung über die Seewarte ist, nachdem der Reichstag die zu ihrer Durchführung erforderlichen Geldmittel im Etatsgesetz für 1876 Ausgabe Kapit. 47 bewilligt hat Der Entwurf der Verordnung ist dem Reichstage mit dem Etat selbst vorgelegt worden. Anlage V. S. 91. , am 26. Dezember 1875 (R.-G.-Bl. S. 385) ergangen. Darnach steht an der Spitze des Institutes ein Direktor ; die Geschäfte werden in vier Abtheilungen bearbeitet, von denen jede einen Vorstand hat. Die Vertheilung der Geschäfte ist lediglich nach wissenschaft- lichen Gesichtspunkten geregelt. Der ersten Abtheilung liegt im Allgemeinen die Sammlung von Beobachtungen über die physi- Nachträge. kalischen Verhältnisse des Meeres, über die meteorologischen Erschei- nungen, die Anschaffung der wichtigeren Schriften und Karten u. dgl. ob; der zweiten Abtheilung ist insbesondere die literarische Thätig- keit des Institus zugewiesen; die dritte hat die Bearbeitung des Sturmwarnungswesens; die vierte endlich hat es ausschließlich mit der Prüfung der Chronometer zu thun. Von der Seewarte ressortiren die Agenturen , welche den Verkehr zwischen der Seewarte und den Schiffern und Rhedern zu vermitteln, und die Interessen der Seewarte wahrzunehmen haben. Sie zerfallen in Agenturen I. und II. Ranges Nach dem Etat für 1876 (Anlage V. S. 15) sind in Aussicht genommen 3 Agenturen I. Ranges in Neufahrwasser, Swinemünde und Bremerhafen und 12 Agenturen II. Ranges. . Ferner ressortiren von der Seewarte die an geeigneten Punk- ten der Deutschen Küste nach Bedarf zu errichtenden Beobach- tungs - und Signalstationen , von denen jene den meteorolo- gischen Zwecken der Seewarte, diese dem Sturmwarnungs-Wesen dienen Nach dem Etat für 1876 a. a. O. sollen 4 Normal-Beobachtungs-Sta- tionen und 42 Signalstationen errichtet werden. . Der Erlaß der zur Ausführung dieser Verordnung erforder- lichen Instruktionen ist der Kaiserl. Admiralität übertragen. (§. 6.) zu §. 34 S. 341 ff. Der Geschäftskreis des Reichseisen- bahn-Amtes hat eine Erweiterung erfahren durch Art. 10 des Reichsges. v. 20. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 321.) zu §. 34 S. 348. 349. Das Verzeichniß der v. 1. Jan. 1876 ab errichteten Reichsbank-Hauptstellen und Reichsbank- Stellen ist durch Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 17. Dez. 1875 veröffentlicht worden. Centralblatt S. 802. zu §. 36 S. 366. Ueber die Einschränkung der Gerichts- barkeit der Deutschen Konsuln in Egypten ist auf Grund des Ges. v. 30. März 1874 die Verordn. v. 23. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 381 fg.) ergangen. zu §. 38 S. 405. Die Beamten der Reichsbank , soweit sie nicht nach §§. 27 und 36 des Bankges. vom Kaiser zu ernennen 39* Nachträge. sind, werden von dem Reichskanzler oder auf Grund der von dem letzteren ertheilten Ermächtigung von dem Präsidenten des Reichs- bank-Direktoriums angestellt. Verordn. v. 19. Dez. 1875 §. 1. (R.-G.-Bl. S. 378.) zu §. 39 S. 410 fg. Ueber die Kautionsleistung der Reichsbank-Beamten sind die erforderlichen Vorschriften er- gangen durch die Verordn. v. 23. Dez. 1875. (R.-G.-Bl. S. 380. 381.) zu §. 42 S. 466 Note 7. Eine Ausdehnung des Kreises der Beamten, deren Gehälter vierteljährlich zahlbar sind, ist durch einen am 27. Dez. 1875 veröffentlichten Beschluß des Bundesrathes er- folgt. Eentralblatt S. 819. zu §. 45 S. 491. Die reichsgesetzlichen Vorschriften über die Pensionsverhältnisse der Reichsbeamten sind auf die Reichsbank- beamten durch die Verordn. v. 23. Dez. 1875 §. 1 (R.-G.-Bl. S. 380) ausgedehnt worden. Berichtignngen . S. 25 Note 4 ist anstatt „1866“ zu lesen „1867“. S. 96 Note 〃 〃 „der Niederlande“ zu lesen „den Niederlanden“. S. 209 Z. 2 〃 〃 „8 Abs. 1“ 〃 〃 „8 Abs. 2“. S. 251 Z. 6 〃 〃 „S. 388“ 〃 〃 „S. 88“. S. 267 Z. 11 〃 〃 „31. Mai“ 〃 〃 „31. März“. S. 342 Z. 3 〃 〃 „Bundesamt“ 〃 〃 „Bundesrath“. S, 397 Z. 22 〃 〃 „ III “ 〃 〃 „ IV “.