Problematische Naturen . Problematische Naturen. Roman von F. Spielhagen. Dritter Band. Berlin. Verlag von Otto Janke. 1861. Erstes Kapitel. Am nächsten Tage hatte sich der Himmel wieder aufgeklärt. Die Morgensonne war in dichtem Nebel verhüllt gewesen, aber einige Stunden später zerriß sie den grauen Schleier und goß ihr goldenes Licht verschwenderisch auf die regengetränkte Erde. In dem Schloßgarten war es so paradiesisch frisch und duftig, wie am ersten Schöpfungstage. Die Blumen hoben die Köpfe wieder und wenn noch hier und da Tropfen an den bunten Kelchen hingen, so glichen sie jetzt in dem funkelnden Sonnenschein hellen Freudenthränen; die Vögel jubelirten in den dichten Laubkronen der Bäume, und das kleine Gewürm, das so ruhig in den Ritzen, unter den Blättern, unter den Steinen auf Sonnenschein gewartet hatte, regte sich wieder in seiner ganzen geschäftigen Emsigkeit. Und um die grauen Mauern des Schlosses, die jetzt im rosigen Licht gebadet waren, schossen eilige F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 1 Schwalben und auf den Dächern, in den Dachrinnen, in den Stuckornamenten setzten die zanksüchtigen Spatzen die unterbrochenen Streitigkeiten wieder fort. In dem großen Saal, wo an den Wänden die Porträts der Grenwitzer Barone und Baronessen hingen in langer Reihe von dem halb fabelhaften Sven von Grenwitz bis hinab auf die Bilder der Großtante Grenwitz „wie sie als achtzehnjähriges Mädchen gewesen war,“ und Oskar's „der mit dem Wodan stürzte,“ und Harald's, „dem es besser gewesen wäre, er hätte sich am Sarge seines Vaters todt geweint“ — tanzten die Staubatome, welche aus den alten Prunkmeubeln mit den verblichenen Damastüberzügen aufstiegen in den schrägen Lichtsäulen, die durch die drei hohen Bogen¬ fenster fielen. Unten im Wohnzimmer nahmen der Baron und die Baronin ein frugales Frühstück ein. Sie sahen reisefertig aus und Anna-Maria hatte sogar schon einen Hut mit weit vorspringenden Flügeln, wie sie in den zwanziger Jahren Mode gewesen waren, auf dem Kopfe. Denn der große Reisewagen hielt schon vor der Thür. Die vier schwerfälligen Braunen we¬ delten sich bedächtig mit den langen Schweifen die Fliegen ab, und der schweigsame Kutscher klatschte regelmäßig alle fünf Minuten mit der Peitsche, aus purer Gewohnheit und nicht etwa, um die Reiselustigen zur Eile zu ermahnen, was dem seiner Herrschaft schuldigen Respect ebenso sehr widersprochen hätte, als seinem phlegmatischen Naturell. „Ich wußte es ja schon vorher,“ sagte die Ba¬ ronin, ihrem Gemal ein Glas halb voll Moselwein schenkend — „trink das, lieber Grenwitz, es wird Dich zu der langen Fahrt stärken — ich wußte es ja vor¬ her. Er schlägt unsre freundliche Einladung aus, weil er sich nicht ganz wohl fühle! lächerlich!“ „Er sieht wirklich, seitdem wir in Barnewitz waren, recht angegriffen aus, liebe Anna-Maria,“ sagte der alte Baron, „und dann ist es auch wol nicht ganz in der Ordnung, daß wir ihn auffordern mitzufahren in dem Augenblicke, wo der Wagen schon vor der Thüre steht. Wir hätten das auch wol früher thun müssen.“ „Ich begreife Dich nicht, lieber Grenwitz,“ sagte die Baronin; „Du thust doch gerade, als ob Herr Stein unsers Gleichen wäre! Da ist es gar kein Wunder, wenn der junge Mensch sich vor Hochmuth nicht zu lassen weiß. Zu einer Fahrt in die Nach¬ barschaft ihn eine Woche vorher auffordern! Das fehlte noch! Haben wir doch selbst über die Helgolän¬ der Reise noch nicht einmal mit ihm gesprochen!“ „Ich hätte es längst gethan, wenn Du nur einen 1* bestimmten Entschluß hinsichtlich seiner fassen könntest;“ sagte der alte Herr, sich hinter dem Ohre krauend. „Ich habe jetzt meinen Entschluß gefaßt,“ sagte die Baronin gereizt: „in diesem Augenblick gefaßt. Wenn er uns nicht einmal auf einer dreitägigen Fahrt in die Nachbarschaft begleiten will, wenn es ihm zu umständlich ist, bei unseren Bekannten, die ihm alle mit der größten Herablassung entgegengekommen sind, mit uns einen Abschiedsbesuch zu machen, so zeigt er ja deutlich, daß er gar nicht Abschied zu nehmen ge¬ denkt, und so mag er denn auch bleiben, wo er will.“ „Aber liebe Anna-Maria,“ sagte der Baron, „das ist doch am Ende nicht ganz dasselbe, und dann, wo soll er unterdessen bleiben? und wie sollen wir mit den beiden Knaben allein fertig werden?“ „Ich sage Dir ja, lieber Grenwitz,“ entgegnete die Baronin, „es ist mir ganz gleich, wo er bleibt, ganz gleich. Er geht ja im Allgemeinen so gern seine eigenen Wege, so mag er es auch in diesem Fall. Er kann eine Fußreise durch die Insel machen, oder seinen Freund Oldenburg besuchen, oder schlimmsten Falls hier bleiben, obgleich sein Hierbleiben allerdings Umstände machen würde. Uns ist er auf der Reise, die so schon kostspielig genug ist, eine ganz überflüssige Last. Er wird sich wie gewöhnlich nur um Bruno bekümmern, die Sorge um Malte gütigst uns selbst überlassen. Bleibt er hier, so muß Bruno schon noth¬ gedrungen sich mehr an Malte anschließen, und da es sich während dieser Zeit doch nur um eine Aufsicht der Knaben handelt, so übergebe ich die unserm Jo¬ hann eben so gern und lieber noch als Herrn Stein. Ja, wir können auf der Rückreise, wenn wir Helene noch bei uns haben, nicht einmal alle in einem Wagen fortkommen. Nein, nein! er bleibt hier; ich bin jetzt mit mir darüber ganz im Reinen — vollkommen im Reinen.“ „Ich weiß nicht —“ sagte der alte Herr verdrießlich. „Aber ich weiß es,“ sagte die Baronin aufstehend; „das pflegte Dir ja sonst genug zu sein, lieber Gren¬ witz. Komm, es ist die höchste Zeit, das wir auf¬ brechen, wenn wir zu Mittag noch beim Grafen Grieben sein wollen. Da kommt Malte. Bist Du auch warm angezogen, lieber Junge? Wo steckt denn der Bruno?“ „Oben beim Doctor. Er will nicht mit, wenn der Doctor zu Hause bleibt.“ „Siehst Du, lieber Grenwitz, da haben wir's, eine vortreffliche Erziehung, in der That! Sogleich gehe hinauf, Malte! Bruno soll sich sofort fertig machen, hörst Du: sofort!“ „Ich werde mich wohl hüten,“ erwiederte Malte, „das magst Du ihm selber sagen.“ „Das werde ich,“ sagte die Baronin und zog die Schelle. „Ich lasse Herrn Doctor Stein bitten,“ sagte sie zu dem eintretenden Bedienten, „auf einen Augenblick zu mir zu kommen.“ Der Bediente verschwand, die Baronin ging mit schnellen Schritten in dem Gemache auf und ab. „Nur um Himmelswillen keine Scene, liebe Anna- Maria,“ sagte der alte Herr, der ebenfalls aufge¬ standen war, ängstlich. Die Baronin antwortete nicht, denn in diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und hereintraten Oswald und Bruno, Bruno mit düsterem, trotzigen Gesicht und die Spuren eben geweinter Thränen in dem dunklen Auge, aber vollkommen reisefertig, den mit Wachsleinen überzogenen Strohhut in der Hand. „Sie befehlen, gnädige Frau?“ sagte Oswald, sich vor der Baronin verbeugend. Die Baronin war durch diese unerwartete Lösung der schwierigen Frage ein wenig aus der Fassung gebracht. „Ich hörte, Bruno weigere sich, uns zu beglei¬ ten,“ sagte sie, „und da wollte ich —“ „Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ unterbrach sie Oswald, „von einer Weigerung Bruno's, einem aus¬ drücklichen Wunsche Ihrerseits nachzukommen, kann wohl selbstverständlich nicht die Rede sein. Bruno hätte mir gern Gesellschaft geleistet, das ist Alles. Es bedurfte natürlich nur eines Wortes, ihn daran zu erinnern, daß er meinethalben nicht die Rücksichten aus den Augen setzen dürfe, die er gegen Sie und den Herrn Baron zu nehmen hat.“ „Nun, das dachte ich mir doch gleich,“ sagte die Baronin, die im Innern sehr froh war, der „Scene“ mit Oswald, vor dem sie, ohne es sich selbst gestehen zu wollen, eine sie demüthigende aber unüberwindliche Scheu empfand, überhoben zu sein. „Es wird ihn nicht gereuen, sich unseren Wünschen accommodirt zu haben. Das Wetter ist herrlich und wir werden, denke ich, recht vergnügt sein. Wie Schade ist es, lieber Herr Doctor, daß Sie nicht auch von der Partie sein können! Nun, wir hoffen, Sie bei unserer Rückkehr, die in zwei bis drei Tagen erfolgen wird, wieder in vollem Wohlsein zu treffen. — Ah, Made¬ moiselle! ist Alles bereit? Nun, dann laß uns auf¬ brechen, lieber Grenwitz. Adieu, lieber Herr Doctor! Adieu, mademoiselle, n'oubliez pas ce que je vous ai dit ! — Ah, Herr Timm! wahrhaftig, ich hätte Sie beinahe vergessen —“ „Eben so schmeichelhaft, wie natürlich,“ sagte Herr Timm! der mit der Reißfeder hinter dem Ohr und etwas stark derangirter Toilette soeben erschienen war, um sich den Herrschaften zu empfehlen, und jetzt der Baronin in den Wagen half. „ Bon voyage ! grüßen Sie den alten Grafen Grieben bestens von mir! famoser alter Herr, der einen capitalen Rhein¬ wein führt. All right ! Hotte, hü!“ — und Herr Timm versetzte dem ihm zunächst befindlichen Pferde einen derben Schlag mit der flachen Hand, und warf dann den Insassen des Wagens, der sich jetzt in Be¬ wegung setzte, eine Kußhand zu. „Gott sei Dank,“ sagte er, als die Kutsche in dem Thor verschwunden war, und rieb sich vergnügt die Hände. „Nun sind wir doch einmal unter uns Mädchen! Was fangen wir nun vor Entzücken an? Qu'en dites-vous, Monsieur le Docteur? qu'en dites-vous, Mademoiselle? “ „Ich habe ein paar Briefe zu schreiben, und werde mich deshalb auf mein Zimmer begeben; sagte Os¬ wald, in das Haus gehend. „So wollen wir eine französische Lection im Gar¬ ten nehmen, kleine Marguerite;“ sagte Herr Timm, den Arm der jungen Dame ohne Umstände in den seinen legend. „Ich nicht habe die Zeit,“ sagte die hübsche Fran¬ zösin, und versuchte ihren Arm loszumachen. „Dummes Zeug!“ sagte Albert, wenn Du nicht jetzt hast die Zeit, wo die alte Vogelscheuche fort ist, wann wollen Sie Zeit haben! Kommen Sie! Venez ! komm, Du kleiner Zieraffe! Wir haben schon so schöne Fortschritte gemacht in der Conjugation von aimer: J'aime, tu aimes — nous aimons —“ Und Albert zog die sich nicht allzusehr sträubende Marguerite in den Garten, und wer sich für dies ro¬ mantische Paar interessirte, konnte es bis zum Mittag daselbst Arm in Arm umherschweifen sehen, und die Beobachtung machen, daß es den verschiedenen Bos¬ kets und den dichteren Baumgängen entschieden den Vorzug vor den offenen Plätzen gab, was bei der großen Hitze des Tages am Ende auch ganz natür¬ lich war. Es war am Nachmittage und Oswald saß wieder an seinem Schreibtische, den er nur, um mit Albert und Marguerite ein kurzes und von seiner Seite sehr schweigsames Mittagsmahl einzunehmen, verlassen hatte, als ihm ein Billet gebracht wurde. Oswald war, seitdem er auf Grenwitz lebte, so wenig gewohnt, dergleichen zu empfangen, daß er den Bedienten, der es ihm einhändigte, ganz erstaunt fragte: von wem? „Von Baron Oldenburg,“ erwiederte dieser; „des Barons Wagen hält vor der Thür.“ Oswald erbrach das Billet und las: „Lieber Freund! Wenn Sie die lehrbegierige Brut loswerden können und sonst nichts Besseres zu thun haben, wollen Sie nicht einem einsamen Hypochonder auf ein paar Stunden Gesellschaft leisten und sich bei der Gelegenheit überzeugen, wie gut unserm Heide¬ blümchen die Versetzung in das fremde Erdreich be¬ kommt? Mein Kutscher ist der Ueberbringer dieses. Er hat den Auftrag, mit Ihnen oder auf Ihnen zurück¬ zukommen. Also — wählen Sie! Ihr Oldenburg.“ Oswald schwankte, was er thun sollte. Mit dem Sonnenschein war die Sehnsucht nach Melitta mächtig in seinem Herzen erwacht. Er konnte es nicht be¬ greifen, daß er drei volle Tage hatte vorübergehen lassen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sie zu sehen. Und dennoch, trotzdem er wußte, daß die Wolke, die sich an dem Ballabend zwischen sie und ihn gelagert hatte, längst verschwunden war, trotzdem er ihr sein Unrecht tausend und tausendmal im Herzen abgebeten hatte, scheute er sich, den ersten Schritt zur Versöhnung zu thun. — Wer kennte nicht die Wider¬ sprüche, in die sich ein junges Herz so leicht verirrt, wenn Stolz und Liebe sich in ihm streiten! und Oswald's stolzes Herz sollte noch manchen Schlag thun, bis es die Liebe lernte, die echte Liebe, von der es in jener wunderbar schönen und tiefsinnigen Stelle der Schrift heißt, daß sie nicht hoffärtig ist und sich nicht erbittern läßt und Alles duldet und Alles glaubt. Die wahre Liebe lebt nur in Herzen, die viel erfah¬ ren und viel erduldet haben, wie an den Bäumen, die der herbstliche Wind schon ihres sommerlichen Blätterschmuckes zu berauben anfängt, die süßesten und köstlichsten Früchte hängen. Oswald nahm einen Briefbogen, um dem Baron zu schreiben, daß er seiner Einladung nicht Folge leisten könne, und schon im nächsten Augenblick hatte er seinen Hut ergriffen und eilte hinab. Derselbe elegante Holsteiner, in welchem er mit dem Baron von Barnewitz zurückgekommen war, hielt mit den zwei feurigen Rappen bespannt vor dem Portale. Der Kutscher, ein hübscher Mann mit einem ungeheuren Barte, lächelte ihm, in Erinnerung des neulich erhal¬ tenen schweren Trinkgeldes, freundlich zu. Als er einstieg, rief Albert über die Gartenmauer: „Können Sie mich nicht mitnehmen, Monsieur le docteur ?“ „Nicht wohl!“ sagte Oswald. „Nun, dann fahren Sie allein!“ rief Albert, „zum Teufel“, setzte er hinzu, als der Wagen davon rollte. „Du hast recht, Marguerite“, sagte er zu der kleinen Französin, die jetzt aus dem Gebüsch, in welchem sie sich vor Oswald versteckt hatte, hervorkam: „Der Doctor ist wirklich ein fat , wie Du sagst, und ich werde nächstens auch anfangen, ihn zu hassen.“ Unterdessen rollte der Gegenstand dieses in Herrn Timm's anspruchslosem Gemüth aufsteigenden Hasses durch das kleinere Thor dem Feldweg zu, der um den Wall herum in den Buchwald führte, welcher sich von hier bis an den Strand zog, und den man passiren mußte, wenn man von Grenwitz nach Cona, dem Stammgut der Oldenburger, wollte. Es war eine köstliche Fahrt in den hohen, kühlen Büchenhallen, wo durch die dichten grünen Baumkronen der blaue Him¬ mel leuchtete, und links, wenn zwischen den mächtigen Stämmen das Unterholz weniger üppig wucherte, von Zeit zu Zeit das blaue Meer herüberblitzte, im An¬ fang selten und nur auf Augenblicke, dann, je näher sie dem Saum des Waldes kamen, öfter und länger, bis es plötzlich bei dem Ausgang aus dem Walde da lag, blau und unermeßlich, blitzend im prächtigen Sonnenschein. Der Weg führte auf der Höhe des Ufers hin, manchmal sich so dem Rande nähernd, daß man das Branden der Wogen zwischen den großen Steinen des Strandes deutlich vernahm, dann wieder auf wei¬ tere Entfernung zurückweichend. Rechts schweifte das Auge über ungeheure Kornbreiten, die den Rücken des Plateaus bedeckten. Die langen kräftigen Halme bogen sich unter der Last der Aehren, und wehten hinüber und herüber vor dem lauen Wind, der von dem Meere her über sie dahinfuhr. Hier und da flatterte eine Lerche, deren Nest allzudicht am Wege war, empor und stieg singend in den blauen Himmel. Dann senkte sich der Weg in ein muldenförmiges Thal, durch das ein ziemlich bedeutender Bach, der Abfluß des Faschwitzer Moores, dem Meere zueilte. An dem Bach entlang und bis hart an's Meer lag ein Dorf, das meistens von Fischern bewohnt wurde, die dem Baron Grenwitz zinspflichtig waren. Der Wagen mußte das Dorf passiren, das mit seinen klei¬ nen sauberen Häuschen und den kleinen mit Muscheln eingefaßten Gärtchen vor den Thüren einen freund¬ lichen Eindruck machte. Vor der Thür eines der grö¬ ßeren Häuser, das sich durch ein Schild, auf welchem ein Schiff mit vollen Segeln durch grasgrüne schaum¬ gekrönte Wogen fuhr, als Wirthshaus ankündigte, hielt ein Reiter auf einem wundervollen braunen Voll¬ blutpferde. Er trug einen langen Ueberrock, und Os¬ wald konnte das Gesicht nicht sehen, da der Reiter sich eben niederbeugte, ein Glas Branntwein entgegen¬ zunehmen, das eine blauäugige, blonde Schifferdirn mit einem allerliebsten Stumpfnäschen ihm präsentirte. „Das Pferd ist unter Brüdern seine zweihundert Louisd'or werth,“ sagte der Kutscher, welcher ein Kenner war. „Wer ist der Herr?“ fragte Oswald. „Weiß nicht; ich konnte sein Gesicht nicht sehen.“ Hinter dem Fischerdorfe stieg der Weg ziemlich schnell zu einer bedeutenderen Höhe, als von welcher er auf jener Seite herabgesunken war. Auch nahm die Landschaft hier einen anderen Charakter an. Das Terrain war weniger eben; statt des gelben nickenden Kornes bedeckte braunes Haidekraut den Boden, der hier und da auf große Strecken eine mit kleinen und großen Steinen und ödem, nur spärliche Gräser trei¬ bendem Sande bedeckte Wüste war. Auch die Luft schien weniger warm, und man hörte, da sich der Weg näher am Rande des hohen steilen Ufers hinzog, deutlicher das Brausen des Meeres. Ein Seeadler zog hoch oben in der blauen Luft seine Kreise, einige¬ mal schwebte sein blauer Schatten über den sonne¬ beschienenen, steinigen Weg. „Ist es noch weit bis Cona?“ fragte Oswald. „Der Hof liegt dort hinaus,“ sagte der Kut¬ scher, mit dem Peitschenstiel rechts über die Haide deutend; „Sie können ihn von hier aus nicht sehen. Ich fahre den Herrn Doctor nach dem Schweizer¬ häuschen.“ „Und wo liegt das?“ „Gerade vor uns, in den Tannen.“ Ein Wäldchen von hohen Tannen krönte den höch¬ sten Punkt des Ufers, zu dem jetzt der Weg, der immer steiler und steiniger wurde, ziemlich rasch hin¬ aufführte. Als Oswald sich, um die zurückgelegte Strecke zu überschauen, im Wagen umwandte, erblickte er in der Entfernung von vier bis fünfhundert Schrit¬ ten den Reiter, der vorhin vor dem Wirthshause ge¬ halten hatte. Er ritt mit derselben Geschwindigkeit, in welcher der Wagen fuhr, und als dieser zufällig hielt, weil eine Schnalle an dem Riemenzeug auf¬ gegangen war, hielt er ebenfalls sein Pferd an, so lange bis das Fuhrwerk sich wieder in Bewegung setzte. Oswald, dem dies Benehmen aufgefallen war, bat den Kutscher nach einigen Minuten abermals zu halten. Er wandte sich um: der Reiter hielt ebenfalls. Er ließ dies Manöver noch ein paar Mal wiederholen, stets mit demselben Erfolg. „Das ist doch sonderbar,“ sagte Oswald. „Ja,“ sagte der Kutscher; „ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat.“ In diesem Augenblick verließ der Reiter den Weg und trabte quer über die Haide nach der Richtung fort, in welcher, wie der Kutscher sagte, hinter dem Kamm des Plateaus, der Gutshof von Cona lag. Der Wagen hatte jetzt die Tannen erreicht, die so dicht standen, daß man vom Meere nichts mehr sehen und nur noch sein Brausen hören konnte, das sich mit dem Wehen des Windes in den hohen Bäu¬ men vermischte. Dann blitzte es bei einer Wendung des Weges wieder auf und vor, ihnen, auf einem freien, nach dem Meere zu offenen Platze lag ein aus Holz im Schweizerstyl aufgeführtes Haus, Oldenburg's Sommerwohnung. Zweites Kapitel . Als der Wagen auf dem von hohen Bäumen um¬ ragten und mit braunen Nadeln wie mit einem Tep¬ pich überdeckten Platze vor der Thür hielt, erschien Oldenburg oben auf der Gallerie, welche die zwei Stockwerke trennte und sich um das ganze Haus zog, und grüßte freundlich hinab. Im nächsten Augenblick war er an der Thür und schüttelte Oswald mit Herz¬ lichkeit die Hand. „Also doch!“ sagte er; „ich fürchtete schon, es wäre Ihnen ergangen, wie den meisten Leuten, die, wenn sie einmal mit mir zusammen gewesen sind, für alle Ewigkeit genug haben.“ „Ich weiß nicht, Herr Baron, ob Sie sich den meisten Leuten so zeigen, wie Sie sich mir gezeigt haben,“ sagte Oswald; „wäre dies der Fall, so habe ich für mein Theil nicht den Geschmack der meisten Leute.“ „Wahrlich, ein Selam in optima forma !“ sagte F. Spielhagen, Problematische Naturen. III. 2 Oldenburg lachend; „ein paar alte graubärtige Söhne Mohammed's könnten es nicht besser. Es fehlt blos noch, daß wir zum Schluß unsre eignen Fingerspitzen küssen! Aber kommen Sie in's Haus, da können wir die Sache noch bequemer haben.“ Sie traten auf einen kleinen Flur, von welchem man auf einer niedrigen breiten Treppe in das obere Stockwerk auf ein Entr é e gelangte, das von oben Licht empfing. Aus diesem gingen sie in ein weites, ziem¬ lich hohes Gemach, zwischen dessen zwei Fenstern eine Glasthür auf die breite Gallerie führte, die eine un¬ beschränkte Aussicht auf das Meer gewährte, und ob¬ gleich noch ziemlich dreißig Fuß zwischen dem Hause und dem scharf abfallenden Rande des Ufers lagen, unmittelbar über der Brandung, welche tief unten zwischen den Rollsteinen und auf den Kieseln des Strandes murmelte, zu hängen schien. Der Blick von diesem erhabenen Standpunkte auf das blaue, unermeßliche Meer und auf das hohe weiße Kreideufer, das sich nach links in einem weiten Halb¬ mond hinziehend, zuletzt in einem Vorgebirge endigte, welches der Buchwald von Grenwitz krönte, war so unbeschreiblich großartig, daß Oswald einen lauten Ruf der Bewunderung nicht unterdrücken konnte. „Nicht wahr?“ sagte Oldenburg, sich neben Os¬ wald auf die Brüstung der Gallerie lehnend, „es war ein gescheidter Einfall meines würdigen Großvaters, an diesem Punkte, nebenbei einem der höchsten der ganzen Insel, ein Haus zu bauen. Ich habe den alten Mann mit seinem langen eisgrauen Barte noch gekannt, und sehe ihn im Geiste noch hier auf dieser Gallerie sitzen und, wie der König von Thule, mit seinen verlöschenden Augen auf das heilige Meer schauen, das er verehrte, wie ein Enkel seine alte Großmutter ehrt, und liebte, wie ein Jüngling die Geliebte seiner Seele liebt. Ich wollte, er hätte mir außer seiner Figur auch seine unermeßliche Fähigkeit, für Naturschönheit schwärmen zu können, vererbt. Leider bin ich in der letzten Beziehung in demselben Grade zu kurz gekommen, wie in der ersten zu lang.“ „Ist das Ihr Ernst?“ sagte Oswald. „Wahrhaftig,“ sagte Oldenburg, „und ich habe mich auf meinen Reisen oft genug deshalb geschämt, und meine ästhetische Verstocktheit, die mich auf den schönsten Punkten, wo Andre vor Vergnügen Purzel¬ bäume schlugen oder sentimentale Thränen weinten, geradezu nichts empfinden ließ, verwünscht. Vergebens, daß ich, wie die englischen Misses an meiner Seite: beautifully , very fine indeed ! seufzte, vergebens, daß ich Tag und Nacht die herrlichsten Naturschilde¬ 2* rungen von Byron und Lamartine las, bis ich sie auswendig wußte — es half Alles nichts. Ich brachte es nicht weiter, wie der arme Werther, als ihm die ewige Natur wie ein lackirtes Bild erschien; und ein paar Bettelbuben, die sich auf dem Sande des Stran¬ des balgten, und ein armer Fellah, der sein Wasser¬ rad drehte, waren mir interessanter, als der Golf von Neapel und der Nil. Ich habe nur an Menschen und Menschentreiben meine Freude — von der Natur verstehe ich ein für alle Mal nichts.“ „Aber warum verbannen Sie sich denn in diese Einsamkeit? warum wohnen Sie, da Sie es doch haben können, anstatt hier an diesem nordischen Strande, nicht lieber an dem Boulevard des Capu¬ cines , oder in London auf dem Pall-Mall?“ „Aus demselben Grunde, aus welchem man den Falken, bevor man ihn auf die Gazellenjagd nimmt, vierundzwanzig Stunden fasten läßt — um meinen Hunger nach meiner Lieblingsnahrung zu schärfen. Wenn ich hier ein paar Wochen gehaust habe, sind meine Sinne wieder frisch und empfänglich, und das Schauspiel des Menschentreibens hat wieder seinen alten Reiz für mich.“ „Und wie lange gedenken Sie diesmal hier zu bleiben?“ „Ich weiß noch nicht. Meine Solitude, — so taufte nämlich mein Großvater diesen seinen Lieblings¬ ort — gefällt mir diesmal besser, als sonst wohl. Ich habe in den letzten Jahren ein etwas buntes Leben geführt und so viel Adamskinder der verschie¬ densten Racen und Culturzustände durcheinander ge¬ sehen, daß zuletzt einer genau so aussah, wie der an¬ dere, ein Beweis, daß meine Sinne vollkommen abge¬ stumpft waren und eine längere Hungercur nöthig ist. Daß ich nicht ganz verhungere, dafür sollen Sie und die Czika sorgen.“ „Und wo ist denn unser kleiner Findling?“ „Irgendwo auf der Haide, wo sie sich in den blühenden Ginster legt und in den Himmel starrt, oder am Strande, wo sie zwischen den Felsblöcken umherklettert und vor Vergnügen in die Hände klatscht, wenn eine Welle ihre nackten Füße benetzt. Bis zu Schuhen hat sie es nämlich noch nicht gebracht, das heißt: ich habe sie noch nicht dazu bringen können. Ich lasse ihr überhaupt absolute Freiheit, seitdem sie mir gleich am zweiten Tage, als ich sie bei dem schauder¬ haften Wetter nicht herauslassen wollte, sehr energisch er¬ klärte: Czika stirbt, wenn Czika nicht in den Regen darf.“ „Sehnt sie sich denn nicht nach ihrer Mutter zurück?“ „Glauben Sie wirklich, das das braune Weib, das ich übrigens nur ganz flüchtig gesehen habe, des Kin¬ des Mutter ist?“ „Unbedingt. Die Aehnlichkeit zwischen Ezika und der braunen Gräfin ist unverkennbar.“ „Von wem habe ich doch diesen Ausdruck schon gehört?“ sagte Oldenburg nachdenklich, „von Ihnen neulich, ohne Zweifel; aber er kam mir gleich so be¬ kannt vor. Stammt die Bezeichnung von Ihnen?“ „Nein, von Frau von Berkow,“ sagte Oswald, den Blick fest auf Oldenburg richtend. „So, so,“ sagte der Baron. Es war das erste Mal, daß Melitte's Namen unter den beiden Männern Erwähnung geschah, und es war bezeichnend genug, daß sofort eine Pause in dem Gespräche eintrat. „Bei welcher Gelegenheit hat denn Frau von Berkow die Bekanntschaft der Zigeunerin gemacht?“ fragte der Baron nach einiger Zeit. Oswald erzählte in kurzen Zügen die Geschichte von der braunen Gräfin, so wie sie ihm Melitta mit¬ getheilt hatte. Oldenburg lächelte. „Ja, ja,“ sagte er, „jetzt er¬ innere ich mich. Frau von Berkow hat mir die Anecdote schon vor ein paar Jahren erzählt. Die Geschichte ist allerliebst, besonders für den, welcher sich für Frau von Berkow interessirt, weil sie für den liebenswürdigen, aus Muthwillen, Schalkheit und Gutmüthigkeit wunderbar gemischten Charakter dieser Dame unendlich bezeichnend ist.“ Der Baron sagte das einfach und so ruhig, als hätte es niemals eine Zeit gegeben, wo er für ein Lächeln „dieser Dame“ sein Leben auf's Spiel gesetzt haben würde. „Aber wollen wir nicht hineingehen,“ fuhr er fort, „ich sehe, Hermann, mein Rabe und Factotum, hat einen Tisch mit allerlei Appetitlichem gar zierlich ge¬ deckt, und dort kommt auch Thusnelda, seine Ge¬ mahlin und meine Amme, um uns feierlich zum Ves¬ perbrod zu laden.“ Eine alte, sehr würdig aussehende Frau von statt¬ lichem Umfange erschien in der Glasthüre, machte einen tiefen Knix und sagte: „Herr Baron, es ist angerichtet.“ „Schön,“ sagte Oldenburg; „hast Du die Czika nicht gesehen?“ „Ich dachte, sie wäre beim Herrn Baron,“ ant¬ wortete die Matrone, ängstlich umherblickend. „Nein. Bring sie doch herauf, wenn sie unter¬ dessen kommen sollte. Du kannst Dich einmal nach ihr umsehen. Kommen Sie, Doctor, ich hoffe, der weite Weg hat Sie hungrig, zum mindesten durstig gemacht; Thusnelda hat für beide Fälle gesorgt.“ Oswald schaute sich, während sie an dem mit Er¬ frischungen aller Art reichlich besetzten Tische Platz nahmen, in dem Zimmer um. Der weite Raum wurde durch einen großen Schreibtisch von Eichenholz und durch Stühle und Sophas von mancherlei For¬ men, die den Platz häufig zu verändern schienen, wesentlich verringert. An den Wänden standen Eichenschränke mit Büchern angefüllt. Bücher lagen auf den Tischen, den Sophas, den Stühlen, Bücher lagen auf dem Boden. Einige schöne Büsten nach der Antike, und ein paar große Kupferstiche waren der einzige Schmuck des im übrigen offenbar auf Eleganz nicht den mindesten Anspruch machenden Zimmers; zwischen zwei der Schränke, wo ein Kupfer¬ stich hingehörte, war eine grünseidne Gardine, die ent¬ weder ein ungeschickt angebrachtes Fenster oder ein Bild verdeckte, welches der Besitzer aus diesem oder jenem Grunde dem Blicke neugieriger Besucher nicht ausgesetzt wünschte. Sodann wurde seine Aufmerksamkeit wieder von dem Baron selbst in Anspruch genommen, der ihm heute in einem langen, gelben, leinenen Rock, welcher seiner langen, hagern Figur gar seltsam stand, ein ganz Anderer zu sein schien. Mehr aber noch, als der veränderte Anzug war es der veränderte Aus¬ druck des Gesichtes, der Oswald auffiel. Der höhnische Zug um den Mund, den selbst der dichte Bart nicht ganz verdecken konnte, die scharfen kleinen Fältchen auf der hohen Stirn, um die Augen und die Nasen¬ flügel — Alles war von einem freundlichen Lächeln ausgelöscht, das den grauen, sonst so stechenden Augen einen Ausdruck von Milde und Gutmüthigkeit gab, den Oswald, so weit er auch von seinem Vorurtheil gegen den Baron zurückgekommen war, niemals für möglich gehalten haben würde. Ja, der Gedanke, daß ein Weib diesen seltsamen Mann von ganzem Herzen lieben könnte, schien ihm nicht mehr so wunderlich, wie auf dem Balle in Barnewitz. Er dachte an das Blatt in Melitta's Album, er dachte an seine eigenen Worte: Dieser Mann wird niemals glücklich sein, weil er niemals wird glücklich sein wollen, und an Melitta's Antwort: „Darum ist dieser Mann aus meinem Leben losgelöst, wie sein Bild aus diesem Album,“ und er sagte sich jetzt: er hätte glücklich sein können, wenn er gewollt hätte; warum wollte er es nicht? was trennte diese Beiden? wer von ihnen sprach das Wort, das sie — wie es scheint — auf ewig trennte? Diese Gedanken erweckten heute in Oswald nicht mehr jene wilde Eifersucht, die sein Herz an dem Tage, wo er dem Baron zuerst im Walde begegnete, und hernach auf dem Balle in Barnewitz, zerfleischt hatte — aber das geheimnißvolle Dunkel, welches über diesen Vorgängen lag, das er nicht lüften konnte und, was schlimmer war, nicht einmal zu lüften wagte, erfüllte seine Seele mit jener Trauer und jenem Mit¬ leid, das wir mit uns selbst empfinden, wenn wir da in unserer Andacht gestört werden, wo wir so gern aus vollem, überströmendem Herzen anbeten möchten. Oswald suchte dieser trüben Stimmung Herr zu werden; es war ihm, als ob des Barons scharfe Augen lesen könnten, was in seiner Seele vorging. Indessen schien dieser vollkommen unbefangen und ganz von dem Thema ihres Gesprächs in Anspruch genommen, das, wie erklärlich, sich hauptsächlich um Czika und die braune Gräfin drehte. Beide Männer versuchten ihren Scharf¬ sinn vergeblich an der Lösung der vielen Räthsel dieser wunderbaren Angelegenheit. Was hatte die braune Gräfin bestimmt, ihr Kind, an welchem sie doch mit großer Liebe zu hängen schien, so ohne Weiteres fremden Männern zu überlassen? Woher nahm sie zu dieser Entsagung den Muth in dem Augenblicke, wo sie durch die brutalen Scherze der jungen Edelleute (der Reitknecht des jungen Graf Grieben hatte Oldenburg's Kutscher die Sache erzählt) und durch den, allerdings blos scherz¬ haft gemeinten, Raub der Kleinen so außer sich ge¬ bracht war? Hatte sie das Kind Oswald, oder dem Baron, oder hatte sie es Beiden geschenkt? oder hatte sie es ihnen nicht geschenkt, sondern verkauft, und hatte sie nur den Zahlungstermin einen Monat hinaus¬ geschoben, in der Hoffnung, daß die beiden Männer, oder auch einer von ihnen, das schöne Kind während dieser Zeit lieb gewinnen und demnach gern einen größeren Preis zahlen würde? „Meine größte Furcht,“ sagte Oldenburg, „ist, daß die braune Gräfin der noch nicht einmal abge¬ schlossene Handel gereut und sie mir das Kind wieder raubt, oder auch die Czika selbst der Sehnsucht nach ihrem Wanderleben nicht widerstehen kann und eines schönen Morgens verschwunden ist. Ich gestehe, daß es ein harter Schlag für mich sein würde. Ihre Prophezeihung, daß ich in der süßen Dirn einen Schatz gefunden habe, köstlicher als Alladin's Wunder¬ lampe, scheint in Erfüllung zu gehen. Ich sage mit dem weisen Nathan: ich bliebe, oder richtiger: ich wäre des Mädchens Vater doch so gern! ich möchte so gern dieser bis jetzt stummen Seele eine Sprache entlocken, und in dieser Sprache meinen eigenen Ge¬ danken veredelt und verschönert wieder hören! ich möchte sie an mich ketten mit allen Banden, durch die ein Vater an seine Tochter, eine Tochter an ihren Vater gefesselt sein kann — versteht sich, um sie nach¬ träglich alle diese Bande zerreißen und sich dem ersten besten Gelbschnabel in die Arme werfen zu sehen, dessen Rock um einen Grad besser sitzt, als die seiner Nachbarn. Aber bis dahin möchte ich wenigstens, daß sie mein wäre! Ich stehe jetzt in den Jahren, wo man sich, wenn man nicht zufällig ein Swift ist, der bekanntlich die Kinder hätte fressen mögen, aber nicht aus Liebe — nach Kindern sehnt, wie ein müder Wanderer nach einem Stab, die erschlaffenden Glieder zu stützen. Wenn wir fühlen, daß wir den höchsten Punkt auf unserem Lebenswege erreicht haben und es nun unaufhaltsam bergab geht, und das Land unserer Jugend hinter dem Kamm des Hügels allgemach ver¬ schwindet, da möchten wir fröhliche Kinderstimmen von drüben ertönen hören, die uns unsere eigene selige Jugendzeit wieder in die Erinnerung rufen. Sie werden mich fragen, weshalb ich denn dieser spie߬ bürgerlichen Tendenz nicht nachgebe und heirathe? oder Sie werden mich das auch nicht fragen, denn Sie werden sich selber sagen, daß für Jemand, der sich die zehn besten Jahre seines Lebens in allerlei liai¬ sons dangereuses und innocentes — unausgesetzt bewegt hat, das Heirathen eine moralische Unmöglich¬ keit ist. Ich will keine Frau, die so blasirt wäre, nicht von mir hören zu wollen: ich liebe Dich! und wie kann ich das, ohne mir selbst lächerlich vorzu¬ kommen, zu ihr sagen, wenn ich es schon so und so vielen anderen in allen mir bekannten Sprachen ge¬ sagt habe? Nein, nein! mit solchen Gesinnungen mag man Türke werden und sich einen Harem anschaffen, aber für die monogamische Ehe im höchsten, reinsten Sinne, wo sie eine wunderbare Alchymie ist, die aus den Zweien Eines macht, für diese Ehe, die auch ich heilig halte, ist man wahrlich zu schlecht.“ „Und doch,“ sagte Oswald, „liegt in der wahren Liebe eine reinigende und heiligende Macht, vor der alle Zweifel an uns selbst verschwinden, wie der Nebel vor den Strahlen der Sonne. Die wahre Liebe wischt, wie der echte Haß „von der Tafel der Erinnerung weg alle thörichten Geschichten“ und macht uns mit einem Schlage aus wüsten Barbaren zu zartfühlenden, feinsinnigen Hellenen. Die rohe Kraft, die vorher sich nur bethätigen wollte, gleichviel ob sie schaffte oder zerstörte, nimmt jetzt Form an, und wo sie früher einen Siva schuf, dessen glühender Blick alle Creatur verzehrt, schafft sie jetzt einen olympischen Zeus, der Alles, was ist, mit Vateraugen segnet.“ „Sehr schön gesagt,“ erwiederte der Baron, „wollen Sie nicht diese Liebfrauenmilch versuchen, der Wein macht seinem Namen Ehre — sehr schön gesagt, auch wol wahr — nur nicht für problematische Naturen.“ „Was nennen Sie problematische Naturen?“ „Es ist ein Goethe'scher Ausdruck und kommt in einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat. Es giebt problematische Naturen, sagt Goethe — ich glaube in Dichtung und Wahrheit — die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug thut. Daraus, fügt er hinzu, entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt. — Es ist ein grausiges Wort, denn es spricht in olympischer Ruhe das Todesurtheil über eine, besonders in unseren Tagen, weit verbreitete Gattung guter Menschen und schlechter Musikanten. — Da ist Czika!“ „Wo?“ „Hinter Ihnen.“ Oswald wandte sich um. In der offenen Thür, die auf den Balcon führte, stand das schöne Kind, vom rothen Licht der untergehenden Sonne umflossen. Ihr üppiges, blauschwarzes Haar fiel von beiden Seiten über die seine Stirn auf die Schultern, die aus einer blauen türkischen Blouse hervorragten, welche mit einem dünnen, rothseidenen Shawl um die schlanke Hüfte gegürtet war. Türkische Beinkleider reichten bis zu den nackten Füßen. Als sie einen Fremden in dem Zimmer erblickte, hatte sie sich leise, wie sie ge¬ kommen war, wieder wegstehlen wollen, bis der Aus¬ ruf des Barons sie bannte und Oswald sich umge¬ wandt hatte. Bei seinem Erblicken flog ein freudiges Lächeln über ihr ernstes, dunkles Gesicht, und die braunen Gazellenaugen schauten beinahe zärtlich zu ihm empor, als er jetzt, eine ihrer Hände in der seinen haltend und mit der andern ihr das üppige Haar schlichtend, vor ihr stand. „Czika kennt Dich,“ sagte sie; „Du bist sehr gut. Du hast die Armen lieb, die Armen haben Dich lieb.“ „Eine Liebeserklärung!“ sagte Oldenburg, der am Tische sitzen geblieben war, lachend, „die wie vielste, Doctor. in den letzten acht Tagen! Doctor, Sie sind ein gefährlicher Mensch und ich werde mich genöthigt sehen, Ihnen mein Haus zu verbieten.“ „Warum bist Du nicht immer hier?“ sagte Czika, ihre großen Augen von dem Baron wieder zu Oswald wendend. „Czika will mit Dir an dem großen Wasser sitzen, Czika will Dir Blumen auf der Haide pflücken. Warum bist Du nicht immer hier?“ „Er kann nicht immer hier sein, Czika,“ sagte der Baron, „aber er wird recht oft herkommen. Nicht wahr, Doctor?“ Die Thür nach dem Vorsaal wurde geöffnet und Madame Müller, oder Thusnelda, wie sie der Baron nannte, schaute herein. „Ich kann sie nicht — ah! da ist sie ja. Wo bist Du denn gewesen, mein Herzenspüppchen? komm, ich will Dich ein wenig zurecht machen. Wie Du wieder aussiehst — ganz voll Haidekraut, wie ge¬ wöhnlich; was sollen die Herren von uns denken...“ So sprach die Matrone, das Kind mit sanfter Ge¬ walt an der Hand aus dem Zimmer führend. „Sie müssen wissen, daß eine große Liebe zwischen den Beiden besteht,“ sagte der Baron. „Meine alte Amme hat viel blühende Kinder gehabt, die alle früh¬ zeitig gestorben sind. Anderer Frauen Herz wird durch solches Unglück oft verhärtet, aber Thusnelda's Herz ist weich geblieben, und jetzt liebt sie die Czika, als wäre sie ihr Erstgeborenes. Das ist nun aber gerade, als wenn eine Taube einen Falken ausgebrütet hätte. Czika's Tendenzen zu einem möglichst ungebundenen Dasein bringen die arme alte Dame alle Tage zehn¬ mal in die größte Noth und Verzweiflung. Und dann ist noch ein Umstand. Thusnelda ist gut kirchen¬ fromm — und Czika hat — horribile dictu — gar keine Religion — es müßte denn irgend ein geheim¬ nißvoller Sterndienst sein, die sie begeht, wenn sie sich des Nachts von ihrem Lager stiehlt und auf der Höhe des Strandes im Mondenscheine tanzt, wie Thusnelda es mit Grausen und Schaudern gesehen zu haben schwört. Uebrigens glaube ich Thusnelda in diesem Falle. Ich habe wenigstens schon früher die Beobachtung gemacht, daß, wenn die Zigeuner Gegenstände der Anbetung haben, es Sonne, Mond und Sterne sind.“ „Haben Sie auf Ihren Reisen nicht öfter Ge¬ legenheit gehabt, mit diesem interessanten Volke in nähere Berührung zu kommen?“ „O ja,“ sagte der Baron, „sogar in sehr nahe Berührung; besonders einmal — in Ungarn — vor zwölf Jahren etwa.“ Der Baron schwieg, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es in mehren Absätzen langsam aus, die Augen auf die Tischdecke geheftet, wie Jemand dessen Gedanken von einer Erinnerung ganz in An¬ spruch genommen sind. „Nun“, sagte Oswald, „wie war das?“ „Was?“ sagte der Baron, wie aus einem Traum erwachend; „ja so, Sie wollen wissen, was ich in Ungarn mit den Zigeunern zu thun hatte.“ F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 3 „Ich vermuthe, es steckt dahinter eine romantische Geschichte.“ „Allerdings“, sagte der Baron; „ich selbst stand damals noch in den Jahren, wo jeder Mensch, er müßte denn zufällig ein geborner Stockfisch sein, ein lebendiges Stück Romantik ist. Ich schwärmte für Eichendorff's mondscheindurchleuchtete Zaubernächte, für Brunnen und Wälderrauschen, und vor allem schwärmte ich für schlanke Mägdelein mit und ohne Guitarre am blauen Bande. Meine ganze Weltanschauung war in einem emi¬ nenten Grade romantisch, vor allem meine Moral. Das ganze Leben hatte für mich nicht mehr Bedeu¬ tung, als ein Schattenspiel an der Wand, und das einzige Reelle, was ich gelten ließ, war die souve¬ räne Ironie. Mit einem Worte: ich war ein char¬ manter Kerl, und wenn man mich an den ersten besten Galgen gehangen hätte, so wäre das nur „mir zur gerechten Straff, anderen aber zum abscheulichen Exempul“ gewesen. — Ich hatte damals das Studiren in Bonn und Heidelberg gerade herzlich satt. Ich hatte in tausend Büchern vergeblich nach der Lösung des Räthsels ge¬ sucht, über dem sich schon so viel bessere Köpfe als ich den Kopf zerbrochen haben, und wollte es nun einmal auf andere Weise anfangen. Ich schrieb an meinen Vormund und drückte ihm meinen Wunsch aus, ein paar Jahre zu reisen. Der Vormund bil¬ ligte diesen Plan höchlichst, wie er denn Alles billigte, was mein Spatzenkopf ausheckte — nur um mich los zu werden — schickte mir Wechsel und Empfehlungs¬ briefe, und ich begab mich auf die Wanderschaft. Ich reiste durch Süddeutschland, die Schweiz, Oberitalien. Wenn Sie aber einen auch nur oberflächlichen Bericht dieser Reise von mir verlangten, so käme ich in die größte Verlegenheit. Ich weiß von den Gegenden noch gerade so viel, wie von Landschaften, die man im Traume sieht. Zuletzt war ich in Ungarn. Der Zufall, der überhaupt mein Reisemarschall war, hatte mich dort hingeführt. Ich war in Wien mit einem jungen ungarischen Edelmann bekannt geworden, dessen Vater am Fuße des Tetragebirges reich begütert war. Er hatte mich eingeladen, mit ihm zu kommen; ich war dieser Einladung gefolgt. Wir führten ein sehr idyllisches Leben, dessen Hauptingredienzien Würfel, Wein und Weiber waren. Herr von Kryvan hatte ein paar sehr schöne Schwestern, in die ich mich der Reihe nach verliebte. Sodann begeisterte ich mich für die französische Gesellschafterin der alten Frau von Kryvan, die eben frisch von Paris gekommen war, 3* und die jungen Ungarinen durch die Grazie ihrer Ma¬ niren, ihr Conservationstalent und ihren Geschmack in Sachen der Toilette beschämte. Als ich einst, voll von dem Bilde dieser Huld¬ göttin, die ich nebenbei einige Jahre darauf in Paris unter wesentlich andern Verhältnissen wieder traf — für den Augenblick glaubte ich an die Echtheit ihrer Perlen und ihrer Tugend — als ich einst, sage ich, träumend in dem Walde umherlief, der sich von Kry¬ van weit in das Gebirge hinauf erstreckte, führte mich mein Reisemarschall auf eine Lichtung im Walde, die sich eine Zigeunerbande zu ihrem temporären Wohn¬ ort erwählt hatte. Kleine Hütten aus Lehm und Reisig in sehr archaistischem Stile aufgeführt, eine Feuerstelle, an der ein altes Mütterchen einen Mar¬ der briet, Thierfelle und Lumpen an den Zweigen der Bäume zum Trocknen aufgehängt — das war das Bild, das sich meinen erstaunten Blicken darbot. Die ganze Bande war abwesend, mit Ausnahme besagter alter Hexe, einiger ganz kleiner Kinder, die sich in paradiesischer Nacktheit im Sande wälzten, und eines Zigeunermädchens von fünfzehn Jahren etwa —“ Der Baron schenkte sich ein Glas voll und trank es mit einem Zuge aus. „Von fünfzehn Jahren etwa — vielleicht war sie auch älter — es ist das Alter von Zigeunermädchen schwer zu bestimmen. Sie war schlank, und geschmei¬ dig, wie ein Reh, und ihre dunklen Augen leuchteten in einem so magisch sinnlich-übersinnlichen Feuer, daß mich ein Schauder des Entzückens packte, als ich tief und tiefer hineinschaute, während sie unter allerlei wunderlichen Manipulationen mir aus der flachen Hand mein Schicksal verkündete. Mein Schicksal war in ihren Augen viel deutlicher zu lesen, als in meiner Hand. Ich war entzückt, berauscht, außer mir; die Welt war für mich versunken. — Sie erinnern sich, daß ich damals Zwanzig Jahre und Romantiker vom reinsten Wasser war — und daß ein Zigeuner sein, sich von Mardern nähren und sich in den Augen eines Zigeunermädchens sonnen, der Weisheit letzter Schluß und das höchste Ziel menschlichen Strebens sei, war für mich über allen Zweifel erhaben. Ich blieb bei den Zigeunern — ich weiß nicht, wie viel Tage. Meine Freunde im Schlosse glaubten, die Wölfe hätten mich zerrissen. — Da eines Abends — die Sonne war schon hinter die Bergwand gesunken, die unsern La¬ gerplatz nach Norden schirmte — die Bande war noch nicht von ihrem Streifzuge zurück — ich saß mit der Zingarella am Fuß einer alten Eiche und war selig in meiner jungen Liebe — da — „Ich glaube gar, wir bekommen noch Besuch“ — unterbrach sich der Baron; „war das nicht eine fremde Stimme?“ „Ich hoffe nicht,“ sagte Oswald. Die Thür wurde geöffnet, der alte Herrmann schaute herein und sagte: „Herr von Cloten wünscht seine Aufwartung zu machen, Herr Baron; sind Sie zu Hause?“ „Bewahre,“ sagte der Baron; „aber freilich, ich kann ihn nicht gut abweisen; er kommt um mich — hm, hm!“ „Lassen Sie sich durch mich in der Ausübung Ihrer Gastfreundschaft nicht stören,“ sagte Oswald, aufstehend. „Bleiben Sie! bleiben Sie!“ sagte der Baron; „er wird sich hoffentlich nicht lange aufhalten. Er kommt in einer gewissen Angelegenheit, in welcher er meinen Rath haben will. Das ist Alles. Führe ihn herauf, Hermann!“ Einen Augenblick darauf trat Herr von Cloten ein. Er war in Reitfrack und Stulpenstiefel und schien einen weiten Ritt gemacht zu haben. Wenigstens sah er sehr erhitzt aus. Oswald's Anwesenheit schien ihn zu ärgern, oder verlegen zu machen; wenigstens be¬ grüßte er ihn mit auffallender Förmlichkeit, nachdem er dem Baron die Hand geschüttelt hatte. „Sehr warm heute,“ näselte er, auf einem Stuhl, den ihm der Baron anbot, am Tische Platz nehmend; „Robin trieft von Schweiß; habe Ihrem Reitknecht ge¬ sagt, ihn mit Stroh abzureiben. Conservirt die Pferde merkwürdig. Angenehmer Wein, — Liebfrauenmilch? — famoser Wein — hatten neulich auch welchen in Barne¬ witz — nicht halb so gut. Apropos Barnewitz — gut bekommen, Baron? War etwas vor der Zeit fortge¬ fahren — Hitze wirklich abominabel“ — „Wollen Sie nicht ablegen, Cloten?“ „Danke, danke! Will gleich wieder fort; wollte nur einmal, weil gerade in der Nähe — war auf Grenwitz — Alles ausgeflogen dort — vorsprechen, zu sehen, wie es steht.“ „Aber Sie werden doch ein paar Minuten Zeit haben.“ „Keinen Augenblick — auf Ehre,“ sagte Herr von Cloten, sein Glas leerend und aufstehend, „spreche morgen vielleicht wieder vor. Adieu, Baron.“ Von Cloten verbeugte sich wiederum sehr förmlich vor Oswald und schritt, von dem Baron begleitet, nach der Thür. „Bitte, bitte, derangiren Sie sich nicht;“ sagte Cloten. „Ich will mir nur Ihren Robin einmal ansehen,“ sagte der Baron, und dann zu Oswald: „entschuldigen Sie mich für ein paar Augenblicke, Herr Doctor.“ Oswald war allein; das auffallend kühle Benehmen des jungen Edelmanns hatte, wie sehr er denselben auch verachten zu dürfen glaubte, doch seinen leicht verletzlichen Stolz beleidigt. Er ging erregt in dem Gemache auf und ab. Sein Adelshaß hatte wieder neue Nahrung bekommen; auch Oldenburg's Benehmen schien ihm während Cloten's Visite weniger herzlich gewesen zu sein. „Ich sage es ja,“ murmelte er durch die Zähne, „wo zwei zusammen sind, ist der Kastengeist mitten unter ihnen und sie fließen zusammen wie Quecksilber.“ Sein Blick haftete auf dem grünseidenen Vorhang zwischen den beiden Bücherschränken, der seine Auf¬ merksamkeit schon vorhin erregt hatte. „Welches ist denn dies verschleierte Bild? irgend ein wollüstiger Correggio vermuthlich; auf jeden Fall ein Beitrag zur intimeren Kenntniß dieses wunder¬ lichen Mannes. Sie entschuldigen meine Neugierde, Monsieur le Baron! “ Oswald zog mit einem Ruck der seidenen Schnur den Vorhang zurück; und der Jüngling zu Sais, als er den Schleier von dem heiligen Bilde der Isis hob, kann kaum erschütterter gewesen sein, wie es Oswald war, als er anstatt eines farbetrunkenen italienischen Gemäldes in einer Nische eine Büste aus keuschem weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem Haarschmuck und ein wenig idealisirt, nichts war, als ein sprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war ihr reiches, welliges Haar, das war ihre schöne zarte Stirn, die feine gerade Nase, das waren die weichen, selbst noch im Marmor thaufrischen Lippen! Ehe sich Oswald von seinem Erstaunen, der Ge¬ liebten sich so plötzlich gegenüber zu sehen, nur so weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer. „Entschuldigen Sie meine Indiscretion,“ sagte Oswald, sich schnell fassend; „aber wer heißt Sie auch, verschleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬ stellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬ währen.“ „Sie haben Recht,“ sagte der Baron, ohne eine Spur von Verwirrung; dieser grüne Schleier ist, wie andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬ bei ist es sehr thöricht, die Copie zu verschleiern, da Jedermann das Original unverschleiert sehen kann, wenn er sich die Mühe giebt, nach Palermo zu reisen, und sich eine Erlaubniß verschafft, die Villa Serra di Falco besuchen zu dürfen.“ „In der That!“ sagte Oswald, den die unver¬ wüstliche Ruhe, mit welcher ihm der Baron dies Märchen aufzuheften suchte, ein wenig ärgerte: „also bei Palermo? ich war schon versucht, das Original weniger weit zu suchen.“ „Sie meinen im Berliner Museum?“ sagte der Baron; „es existirt dort allerdings eine Muse, die mit diesem Bilde große Aehnlichkeit hat, aber der Unter¬ schied ist doch, wenn sie genauer vergleichen, sehr bedeutend.“ „Allerdings,“ sagte Oswald; „die Nase ist an jenem Bilde energischer; auch ist die Haltung des Kopfes eine andere, und überhaupt die Aehnlichkeit mit Frau von Berkow, die an dieser Büste so frappant ist, weniger auffallend.“ „Finden Sie?“ sagte der Baron, aufstehend und vor das Bild tretend. „Wahrhaftig, Sie haben Recht. Es ist wirklich eine flüchtige Aehnlichkeit zwischen diesem Bilde und Frau von Berkow. Nun, das macht mir das Bild nicht schlechter, denn ich ge¬ stehe, daß es wenige Damen auf der Welt giebt, an die ich mich so gern erinnern ließe, als an diese, ebenso liebenswürdige wie geistreiche Frau.“ Der Baron zog den Vorhang wieder über das Bild, als wünschte er, jetzt das Gespräch darüber ab¬ zubrechen. „Kommen Sie, Doctor,“ sagte er, „setzen Sie sich wieder und thun Sie, als ob Cloten, dieser geist¬ reichste Jüngling, nicht hier gewesen wäre.“ „Ich glaube, es ist die höchste Zeit, daß ich auf¬ breche,“ sagte Oswald; „die Sonne ist im Untergehen — ich möchte gerade heute nicht spät nach Hause kommen.“ „Wie Sie wollen,“ sagte der Baron; „man soll den kommenden Gast willkommen heißen und den da¬ voneilenden nicht halten. Ich habe große Lust, Sie eine Strecke zu begleiten. Sind Sie Reiter? „Ein wenig.“ „So wollen wir reiten, wenn es Ihnen recht ist. Ich nehme einen meiner Leute mit. Entschul¬ digen Sie mich für einen Augenblick. Ich will nur ein wenig Toilette machen und die nöthigen Be¬ fehle geben.“ „Sie sitzen gut zu Pferde, Doctor,“ sagte der Baron, als sie eine Viertelstunde später auf der Höhe des Strandes langsam dahinritten. „Es ist wirklich merkwürdig, welch wunderbares Talent Sie in diesen Dingen zeigen. Ich glaube, es giebt keine körperliche Geschicklichkeit, in der Sie es nicht in kurzer Zeit zur Meisterschaft bringen könnten.“ „Es ist das um so merkwürdiger,“ sagte Oswald, „weil ich doch eigentlich in Folge meiner plebejischen Geburt und Erziehung gar keine Ansprüche auf diese aristokratischen Vorzüge machen kann.“ „Schade, daß ich nicht Cloten bin,“ sagte der Baron.“ „Weshalb?“ „Weil ich dann die Ironie in Ihren Worten nicht im Entferntesten ahnen, im Gegentheil durch Ihre rührende Bescheidenheit von der an Haß grenzen¬ den Abneigung gegen Sie zurückkommen würde.“ „Ist Herr von Cloten so gegen mich gesinnt?“ „Denken Sie denn, daß es einem Dandy lieb ist, wenn ein Anderer sich ihm im Pistolenschießen, Tanzen, Courmachen u. s. w., kurz in Allem überlegen zeigt, was der größte Stolz seiner kleinen Seele ist? Weiber und weibische Männer verzeihen dergleichen nie. Ich habe mich an dem Abend in Barnewitz königlich über die Gesichter amüsirt, die, natürlich hinter Ihrem Rücken, von einigen dieser geistreichen Jünglinge ge¬ schnitten wurden, und mir leider den billigen Spaß gemacht, durch allerlei kleine Teufeleien diese Püppchen noch mehr in Harnisch zu bringen.“ „Warum leider? ich versichere Sie, daß mir an der guten oder schlechten Meinung dieser Herren sehr wenig gelegen ist.“ „Ohne Zweifel; aber Sie sind, so lange Sie in dieser Gegend bleiben, genöthigt, mit diesen Leuten zu verkehren, und es ist eine Regel der allergewöhnlichsten Klugheit, daß man seinen Mitreisenden nicht geflissent¬ lich auf die Hühneraugen tritt. — Wer zum Teufel kommt denn da querfeldein von Cona her?“ Dieser Ausruf des Barons galt dem geheimni߬ vollen Reiter, welchen Oswald bei seiner Ankunft be¬ merkt hatte, und der jetzt wieder quer über die Haide herantrabte, und ungefähr vierhundert Schritte vor ihnen auf den Weg gelangte. Oswald erzählte dem Baron, was ihm mit dem Reiter begegnet war. „Das müssen wir doch untersuchen,“ sagte der Baron; „lassen Sie uns einmal Trab reiten.“ Sie hatten kaum ein paar Schritte zurückgelegt, als der Reiter vor ihnen, wie auf Verabredung, sein Pferd ebenfalls in Trab setzte. Es schien, als ob er sich einige Male verstohlen umschaute; doch war dies bei dem Dämmerlichte, das jetzt herrschte, nicht mehr deutlich zu erkennen. „Versuchen wir es einmal mit Galopp“, sagte Os¬ wald; „ich sehe, der Geheimnißvolle macht es gerade so, wie heute Nachmittag.“ Sie befanden sich jetzt auf der weiten ebenen Fläche, die, sich allmälig zum Fischerdorfe senkend, dem stei¬ nigen und weniger ebenen Terrain des Vorgebirges, auf welchem Oldenburg's Villa lag, folgte. Der Boden war nur mit einer dünnen Erdschichte, in welchem spärliches Haidekraut wuchs, überkleideter Fels und erdröhnte vom Hufschlag der Pferde, die jetzt wacker ausgriffen. Der Geheimnißvolle war, so wie sein Ohr den schnelleren Hufschlag vernahm, dem Beispiel gefolgt und galoppirte jetzt, immer in derselben Entfernung, vor seinen Verfolgern her. „ Stern chase is a long chase ,“ sagte Oldenburg, dem die Sache großes Vergnügen zu machen schien. „Der Bursche ist übrigens ausgezeichnet beritten. Se¬ hen Sie nur, wie das Thier den Boden kaum mit den Hufen zu berühren scheint. Weißt Du nicht, Karl, wer es sein kann?“ „Nein, Herr,“ sagte der Reitknecht, der jetzt in einer Linie mit den beiden Herren ritt; „es kann Niemand aus unserer Gegend sein, sonst müßten wir ihn schon geholt haben.“ „Karl schmeichelt sich nämlich mit dem Gedanken, daß er die besten und schnellsten Pferde weit und breit unter seinem Commando hat,“ bemerkte der Baron. „Er hält es auch nicht lange mehr aus, Herr!“ sagte Karl. „Das müssen wir abwarten,“ meinte der Baron. „Sollen wir nicht, um dem Dinge ein Ende zu machen, die Pferde einmal laufen lassen?“ sagte Os¬ wald nach einigen Minuten; „es muß sich dann ja zeigen, ob wir ihn einholen können, oder nicht.“ „Meinetwegen,“ sagte Oldenburg, „ en avant !“ Die drei Reiter ließen ihren Pferden die Zügel. Die edlen Thiere, wie entzückt über die ihnen ge¬ währte Freiheit, und als wüßten sie, daß ihr Ruf als beste Renner der ganzen Gegend heute auf dem Spiele stand, stürmten mit gewaltiger Geschwindigkeit dahin, zuerst Brust an Brust, bis Oldenburg's Rappe die Spitze nahm und behauptete, so oft auch eins der beiden andern Pferde ihm den Rang streitig zu machen suchte. Der Geheimnißvolle hatte, als seine Verfolger ihre Pferde in Carriere setzten, sie bis auf zweihundert Schritt herankommen lassen. Schon glaubten sie die Jagd ihrem Ende nahe und der Reitknecht seine und seiner Pferde Ehre gerettet, als plötzlich der Mann vor ihnen seinem Renner die Sporen gab und seinen Kopf tief hinab bis fast auf die Mähne des Thieres beugend mit einer Schnelligkeit dahinschoß, die bald die Unmöglichkeit ihn einzuholen selbst dem wüthenden Reitknecht klar machte. „Ich glaube, es ist der Teufel selber,“ sagte er durch die Zähne. Oldenburg lachte; „ich glaube es auch,“ rief er; „wir wollen die Sache aufgeben.“ Es dauerte einige Zeit, bis die aufgeregten Pferde sich beruhigen konnten. Der Geheimnißvolle stürmte mit unverminderter Geschwindigkeit weiter und war schon nach wenigen Minuten in dem Hohlwege, der nach dem Fischerdorfe hinunterführte, verschwunden. Eine, halbe Stunde später langten sie vor dem Thore von Grenwitz an. Oswald stieg ab und über¬ gab die Zügel seines Pferdes dem Reitknecht, um dem Baron die Hand zu schütteln. „Wenn Sie sich nicht allzusehr gelangweilt haben,“ sagte dieser, „so wollen wir das Experiment in den nächsten Tagen wiederholen. Leben Sie wohl!“ Oswald gelangte auf seine Stube, ohne auf dem stillen Hofe, in dem stillen Hause auch nur einem Menschen begegnet zu sein. Als er sich in das offene Fenster lehnte und in den schon vom Abenddunkel er¬ füllten Garten hinabsah, bemerkte er zwei Gestalten, die flüsternd und tosend in den Gängen auf- und ab¬ schritten. Es waren Albert und Marguerite. Sie hatten offenbar die schöne Gelegenheit, in der Con¬ jugation von aimer weiter zu kommen, nicht unbenutzt verstreichen lassen. F. Spielhagen, Problematische Naturen. III. 4 Drittes Kapitel. „Mein Herr! Nach allen Seiten gleichmäßig zu reüssiren gelingt Keinem, selbst nicht dem vom Glück am meisten begünstigten Ritter. Werden Sie es da¬ her begreiflich finden, wenn Jemand, der mit einigem Staunen die Fortschritte beobachtet hat, die Sie in der Gunst einer gewissen Dame machten, das Ge¬ heimniß des Zaubers Ihrer Persönlichkeit kennen zu lernen und zu dem Zwecke Ihre nähere Bekannt¬ schaft zu machen wünscht? Und würden Sie wol, um ihm dies Vergnügen zu gewähren, die Güte haben heute Abend 11 Uhr einen Spaziergang aus dem kleinen Thore von Grenwitz zu machen? Sie würden vierhundert Schritte von demselben auf dem Feldwege nach Berkow einen Wagen treffen, in den Sie nur zu steigen brauchten, um an den Ort des Rendezvous zu gelangen. Dort sollen Sie Alles finden, was zur Anknüpfung eines intimeren Verhältnisses unter Gent¬ lemen nöthig ist. Es ist wol nicht besonders nothwendig, Sie daran zu erinnern, daß diese delicate Angelegenheit in Ge¬ heimniß gehüllt bleiben muß. Der Lenker des Wa¬ gens wird aus der Antwort „ Moi “ auf seinen Anruf: „ qui vive ?“ hören, daß Sie der Rechte sind. Au revoir , Monsieur !“ So lautete der Inhalt eines expressen Briefes, den der Postbote aus dem nächsten Städtchen am Abend des folgenden Tages Oswald brachte. Er las das sonderbare Schreiben mehrmals, bevor er sich von seinem Erstaunen erholen konnte. Wer war der „Jemand“, der seine nähere Bekanntschaft zu machen wünschte? wer die Dame, um die es sich handelte? War das Geheimniß der Waldkapelle ent¬ weiht worden? hatte Jemand die Scene in der Fenster¬ nische auf dem Balle in Barnewitz belauscht? Konnte Herr von Cloten der Herausforderer sein? Das auf¬ fallend kühle Benehmen dieses jungen Edelmannes bei der zufälligen Begegnung gestern schien dafür zu sprechen. Oder war diese Begegnung nicht zufällig, und stand der geheimnißvolle Reiter damit in Ver¬ bindung? war es nur ein Spion Cloten's? Aber war die Unterredung zwischen Herrn von Barnewitz 4* und dem Baron, bei welcher Oswald ein so unfrei¬ williger Zeuge gewesen war, nicht Beweis genug, daß Cloten nach einer ganz anderen Seite hin in Anspruch genommen und mit seinen eigenen Angelegenheiten vollauf beschäftigt war? Oswald ließ die Reihe der jungen Edelleute, deren Bekanntschaft er auf dem Balle gemacht hatte, an seinem Geiste vorübergehen, und sein Verdacht blieb schließlich auf dem jungen Grafen Grieben haften, jenem langen, blonden Jüngling, der so komische An¬ strengungen machte, den starken Geist zu spielen und sich die Gunst der übermüthigen Emilie zu erwerben, und in beiden Bemühungen so unglücklich gewesen war. Er konnte am ersten der Erfinder der Phrase von dem „vom Glück begünstigten Ritter“ sein. Was sollte er thun? Sollte er sich der vielleicht nichts weniger als edlen Rache der jungen Edelleute aus¬ setzen? sollte er in einen Kampf gehen, in welchem er die Wahl der Waffen, der Zeugen, des Ortes, kurz Alles seinem Gegner zu überlassen gezwungen war? Konnte es ihm ein billig denkender Mann verargen, wenn er die Herausforderung eines Namenlosen unbeachtet ließ? Aber hatte er es denn mit billig denkenden Män¬ nern zu thun? hatte er nicht die Erfahrung gemacht, bewies nicht Alles, was er sah und hörte, daß in diesen bevorzugten Kreisen subjectives Belieben für Recht galt und die frivolste Laune des Augenblicks die Richtschnur des Handelns war? Fand sich dieser Zug nicht selbst bei denen, welche Geist und Charakter so hoch über den gewöhnlichen Troß ihrer Standes¬ genossen erhob: bei Oldenburg und Melitta? Und würde ihm ein Ablehnen der Herausforderung nicht als Feigheit, nicht als ein Mangel jenes feinen Ehrgefühls ausgelegt werden, auf welches sich der Adel so viel zu Gute thut? Nein, nein; er mußte den Fehdehandschuh auf¬ nehmen, wie verächtlich auch die Hand sein mochte, die ihm denselben aus dem Dunkel heraus vor die Füße geschleudert hatte. Er mußte den Junkern zeigen, daß er sich nicht fürchtete, allein, ohne Freunde, waffen¬ los ihrer Rache gegenüber zu treten. Sein Blut kochte. Er ging erregt im Zimmer auf und ab. „Nur zu, nur zu!“ murmelte er durch die Zähne; „ich wollte, sie stellten sich mir gegenüber, einer nach dem andern, mein Haß würde mir die Kraft geben, sie Alle niederzuschmettern. Es ist ganz recht so, ganz recht! Was habe ich hier zu thun unter diesen Wölfen? Zerrissen werden oder zerreißen — das hätte ich mir von vornherein sagen können. Oswald fühlte, wie aus dem tiefsten Grunde seiner Seele, in den sein Auge noch nie gedrungen war, es aufstieg mit dämonischer Gewalt. Eine wilde Leiden¬ schaft, ein heißer Durst nach Rache, ein wahnsinniges Verlangen, zu zerstören, zu vernichten, erfaßte ihn; der ganze fanatische Haß gegen den Adel, den er als Knabe empfunden, wenn er seinem Vater in dem Garten hinter der Stadtmauer die Pistolen lud, mit denen jener auf die Asse schoß, die eben so viele Her¬ zen von Adligen bedeuteten; wenn er auf der Schul¬ bank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier las, oder auf seiner Stube die thränenreiche Geschichte der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen! Hier in diesem Schlosse, vielleicht in denselben Zim¬ mern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adliger Grausamkeit verblutet; hier hatte die arme unglück¬ liche, schöne Marie mit tausend heißen Thränen die Thorheit bezahlt, den Worten des adligen Verführers geglaubt zu haben. Sie war als Opfer gefallen, denn sie war ein schwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen, Thränen, die kein Erbarmen fanden. Diese Thränen waren noch nicht gesühnt. Wie? wenn er als Rächer für sie aufstände, wenn er diese Thränen eines Bür¬ germädchens sühnte in dem Blut eines Adligen? . . . Solche Gedanken wirbelten durch Oswald's Ge¬ hirn, während er für den Fall eines schlimmen Aus¬ gangs — den er übrigens sonderbarer Weise kaum für möglich hielt, so schnell hatte er sich in die Rolle eines Rächers gefunden — einige flüchtige Vorberei¬ tungen traf, das heißt, die Briefe, von denen er nicht wünschte, daß sie jemals in fremde Hände fielen, ver¬ brannte und überhaupt etwas Ordnung in seine Pa¬ piere brachte; schließlich auch ein paar Zeilen an Pro¬ fessor Berger schrieb, die er aber hernach wieder zer¬ riß und in den Ofen warf. „ Tant de bruit pour une omelette ,“ sagte er; „das Lumpenvolk ist nicht werth, daß man seinethal¬ so viel Umstände macht.“ Mit Ungeduld erwartete er die bezeichnete Stunde. Es schlug zehn auf der Schloßuhr. Er hörte, daß die Leute zu Bette gingen, auch aus Albert's Zimmer schimmerte Licht in den dunklen Garten hinab. Es schlug halb elf. Oswald machte sorgfältig Toilette, nahm eine Rose aus einem Blumenstrauß, den er sich heute im Garten gepflückt hatte, und steckte sie ins Knopfloch. Dann ging er leise aus seinem Zimmer die enge Treppe, auf welcher Marie in jener stürmischen Herbst¬ nacht sich aus dem Schloß gestohlen hatte, hinab in den Garten, durch den Garten nach dem Gitterthor, welches neben dem Schloß auf den Hof führte und von dem man nur noch ein paar Schritte zu dem kleinen Thor hatte, vor welchem ihn der Wagen er¬ warten sollte. Der nächtliche Himmel war mit Wolkendunst be¬ deckt, durch welchen nur spärliche Sterne leuchteten; es war so finster, daß Oswald, bis sich sein Auge an das Dunkel gewöhnt hatte, den so bekannten Weg mit Vorsicht gehen mußte, um nicht rechts oder links in den Graben zu gerathen. Plötzlich tauchte ein großer Gegenstand aus dem Dunkel vor ihm auf, und in demselben Augenblick rief eine tiefe, rauhe Stimme: qui vive ! „ Moi “, antwortete Oswald. Er sah die deutlichen Umrisse einer langen Gestalt, die ihm die Thür des Wagens öffnete und den Schlag herabließ. Sobald er eingestiegen war, wurde die Thür hin¬ ter ihm geschlossen und sofort zogen auch die Pferde an; er konnte nicht erkennen, ob die Gestalt neben dem Kutscher Platz genommen hatte, oder der Kutscher selbst war. Kutscher und Pferde mußten den Weg sehr genau kennen, oder in dunkler Nacht so gut sehen können, wie am hellen Tage; denn der Wagen bewegte sich mit einer Schnelligkeit, gegen die selbst ein ungedul¬ diger Liebender nichts hätte einwenden können. Der Weg war gut, und wenn auch hie oder da ein Stein im Geleise lag, so hing der Wagen in so vortreff¬ lichen Federn, daß man den dadurch verursachten Stoß kaum spürte. Oswald lehnte sich in die schwellenden Kissen. Der weiche Sammet schien einen feinen Wohlgeruch auszuströmen, der den engen Raum erfüllte, wie das Boudoir einer hübschen Frau. Ja, es war Oswald, als ob es dasselbe Parfüm sei, das Melitta zu führen gewohnt war. Und plötzlich war es ihm, als säße Melitta neben ihm, als berühre ihre warme weiche Hand seine Hand, als fühlte er das Wehen ihres Athems an seiner Stirn, als legten sich ihre Lippen leicht wie ein Hauch auf seinen Mund. Und vor diesem wonnigen Traum versank die Wirklichkeit in nichts. Oswald vergaß, was er vor¬ hatte; er dachte nicht daran, was seiner harrte; er wußte nicht mehr, wo er war — und nur sie, sie allein erfüllte seine ganze Seele. Wie eine Sturm¬ fluth von Seligkeit überkam ihn die Erinnerung an ihren Liebreiz, ihre Güte, ihre holde Rede und ihren süßen Kuß. Mit wunderbarer Klarheit zogen die köst¬ lichen Bilder der einzig wonnigen Stunden, die er an ihrer Seite, zu ihren Füßen verlebt hatte, durch seine Erinnerung, von jener ersten Begegnung auf dem Rasenplatze hinter dem Schlosse von Grenwitz bis zu dem Augenblick, wo sie, mit Thränen in den lieben Augen, sich von ihm wandte in jener Nacht unseligen Angedenkens, wo der Dämon der Eifersucht die scharfen Krallen in sein zuckendes Herz schlug. „Vergieb mir, Melitta; vergieb mir!“ stöhnte er, seinen Kopf in die Kissen drückend. Da plötzlich hielt der Wagen. Die Thür wurde aufgerissen; die lange Gestalt, die ihm den Schlag herabgelassen hatte, half ihm aussteigen, reichte ihm die Hand, führte ihn einige Stufen hinauf zu einer hohen Fensterthür, durch deren rothe Vorhänge ein mattes Licht schimmerte. Die Thür that sich auf, und Oswald sah sich in dem Gartensaal von Melit¬ ta's Schloß und Melitta schlang ihre Arme um seinen Hals und Melitta's Stimme flüsterte: „ver¬ gieb mir, Oswald! vergieb mir! „Du Grausamer!“ sagte Melitta, als der erste wilde Sturm des Entzückens mit seinen Thränen¬ schauern der Wonne vorübergebraust war; „wie hast Du nur so viele Tage Dein Herz vor mir verschlie¬ ßen können, und wußtest doch, daß ich da draußen stand und um Einlaß bettelte! Aber ich will Dich nicht schelten. Du bist ja hier und nun ist Alles wieder gut.“ Sie legte ihren Kopf an seine Brust und schaute durch Thränen lächelnd zu ihm empor: „nicht wahr, lieb Herz, nun ist Alles wieder gut? nun ist Melitta wieder, was sie Dir vorher war, was sie Dir ewig sein wird trotz aller hübschen sechzehnjährigen Mäd¬ chen, sie mögen Emilie heißen oder —“ „Melitta!“ „Oder Melitta! denn es giebt nur eine Melitta und wenn tausend so hießen und diese eine bin ich. Und daß Du diesen wichtigen Umstand vergessen konn¬ test, welche Umstände hast Du mir dadurch bereitet, mir und dem armen alten Baumann! Ich will von mir nichts sagen, denn Leid will Freud und Freud will Leid haben, und wenn man rechtschaffen liebt, kommt es auf ein paar Thränen, ein paar durch¬ wachte Nächte, ein paar angefangene und wieder zer¬ rissene Briefe mehr oder weniger nicht an; aber der arme Baumann! Denke Dir nur! ich war am ersten Tage ganz ruhig, denn ich dachte: er wird schon kom¬ men, und Dich fußfällig um Verzeihung bitten; als Du aber nicht kamst, nicht am zweiten, nicht am drit¬ ten Tage, da sank mir der Muth und ich mag wohl recht trostlos ausgesehen haben, denn wie ich hier, den Kopf aufgestützt saß, fühlte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und als ich aufschaue, steht der gute alte Baumann da und sagt: „soll ich einmal nachsehen, wo er so lange bleibt?“ — „Ach ja, lieber Baumann“, sagte ich. Da ging die treue Seele, ohne weiter ein Wort zu sagen fort, und kam erst spät am Abend wieder. „Hat Er ihn gesehen?“ — „Zu Be¬ fehl; er ist wohl und munter; ich bin mit ihm in die Wette geritten.“ „So war der alte Baumann der geheimnißvolle Reiter?“ „Natürlich und er lachte in seiner stillen Weise, wie er erzählte, daß Ihr ihn gejagt hättet, als wollte er sagen: diese Kinder! dachten, sie könnten mich über¬ holen auf dem Brownlock!“ „Das war der Brownlock, von dem mir Bruno schon so viel vorgeschwärmt hat; ja freilich! nun er¬ klärt sich Alles!“ „Nicht wahr? nun erklärt sich auch, weshalb sich Baumann hinsetzte und nach meinem Dictat den Brief schrieb. Der Alte wollte nicht und sagte: ein Duell ist kein Kinderspiel und das heißt den Scherz zu weit treiben; aber ich lachte und weinte, bis er es doch that und heute Morgen noch einmal auf den Brownlock stieg und in die Stadt ritt, und heute Abend nach Grenwitz fuhr.“ „Und wenn ich nun der Herausforderung nicht ge¬ folgt wäre?“ „Das deutete auch Baumann an und ich antwor¬ tete ihm: schäme Er sich, Baumann, so etwas zu sagen.“ Oswald lachte: „Natürlich! wir müssen uns jedes Mal schämen, so oft wir etwas sagen oder thun, was nicht in die Welt paßt, wie sie sich in Euren Köpfen malt.“ Melitta antwortete nicht und Oswald sah, daß ein Schatten über ihr Gesicht flog. Er ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und sagte, ihre herabhängende Hand ergreifend: „Habe ich Dich beleidigt, Melitta?“ „Nein“, sagte sie; „aber diese Bemerkung hättest Du vor acht Tagen nicht gemacht. „Wie meinst Du das?“ „Komm, steh auf! laß uns ein wenig in den Gar¬ ten gehen. Es ist so schwül in den Zimmern: mich verlangt nach der kühlen Nachluft.“ Sie gingen hinab in den Garten und wanderten Arm in Arm zwischen den Beeten, bis sie zu der nie¬ drigen Erdterrasse gelangten, wo Oswald, als er an jenem Sonntag Nachmittag den Besuch auf Berkow machte, Melitta getroffen hatte. Sie setzten sich unter den Tannenbaum, der seine Aeste schützend über sie breitete, auf eine der Bänke. Die Nacht war laut¬ los still; die Bäume standen unbeweglich, wie in tie¬ fem Schlaf; würziger Blumenduft erfüllte die warme thaulose Luft; Glühwürmchen irrten wie leuchtende Sterne durch das Dunkel. „Du hast mir auf meine Frage noch immer nicht geantwortet, Melitta?“ sagte Oswald, „was haben denn die letzten acht Tage an mir verändert? bin ich nicht mehr derselbe, der ich war, nur daß die bittere Reue, Dir weh gethan zu haben, meine Liebe zu Dir nur noch tiefer und inniger gemacht hat?“ Melitta antwortete nicht; plötzlich sagte sie, schnell und leise: „Bist Du seit dem Sonntag in Barnewitz oft mit ihm zusammengewesen?“ „Mit wem, Melitta?“ „Nun mit — mit Baron Oldenburg. Gott sei Dank, nun ist es endlich heraus! Es ist recht kindisch und thöricht, daß ich mich bis jetzt stets gesträubt habe, Oldenburgs zu erwähnen, und Dir zu sagen, welches meine Beziehungen zu dem Manne waren, und doch fühlte ich, daß Du ein Recht hattest, es zu wissen, und daß ich die Pflicht habe, von meiner Ver¬ gangenheit, wo sie Dir dunkel scheinen muß, den Schleier zu heben. Dies Gefühl wurde zuletzt, be¬ sonders, als ich seit gestern wußte, daß Du mit dem Baron auf einem intimen Fuße standest, so stark, daß ich Dich um jeden Preis hier zu haben wünschte, und da verfiel ich denn auf den kindisch dummen Einfall.“ „Ich habe nicht, wie Du sagst, das Recht zu einer solchen Neugier, Melitta;“ antwortete Oswald. Für die Liebe, die Du mir gewährst, muß ich dankbar sein und bin ich dankbar, wie für eine holde Gnade des Himmels. Ja, ich gestehe, es gab eine Zeit, wo meine Liebe noch den Zweifel kannte, aber da war sie noch nicht die echte Liebe. Jetzt ist es mir undenkbar, ich könnte je aufhören Dich zu lieben, und Deine Liebe könnte jemals aufhören. Ja, es ist mir, als ob diese Liebe, wie sie ewig sein wird, auch schon von Ewigkeit gewesen wäre. Ob Du schon früher geliebt hast, ich weiß es nicht; es ist möglich, aber ich verstehe es nicht und würde es nicht verstehen, wenn Du es mich auch ausdrücklich versichertest.“ „Und ich versichre Dich,“ sagte Melitta, sich zärt¬ an den Geliebten schmiegend; „ich habe nie geliebt. bis ich Dich sah; denn, was ich früher Liebe nannte, war nur die unbefriedigte Sehnsucht nach einem Ideal, das ich im tiefsten Herzen trug, das sich mir niemals zeigen wollte, und das, jemals zu finden, ich schon seit Jahren die Hoffnung aufgegeben hatte.“ „Und Du glaubst, ich sei dies verkörperte Ideal? Arme Melitta! wie bald wirst Du aus diesem Traum erwachen! Erwache, Melitta! erwache — noch ist es Zeit!“ „Nein, Oswald, es ist zu spät. Es giebt eine Liebe, die stark ist wie der Tod, und aus ihr giebt es kein Erwachen. Nein! kein Erwachen! Ich fühle es, ich weiß es. Und wenn Du Dein Antlitz von mir wendetest, und wenn Du mich von Dir stießest — Dir gegenüber habe ich keinen gekränkten Stolz, keine verletzte Eitelkeit — nur Liebe, unergründliche, unermeßliche, unerschöpfliche Liebe. Bis jetzt wußte ich nur, daß ich lieben könne; wie sehr ich lieben könne, hast Du mich erst gelehrt. . . . „Und nun kann ich auch ruhig über die Zeit sprechen, in der ich Dich noch nicht kannte — denn jenes Leben war nur ein Scheinleben — und Alles, was ich fühlte und dachte, war nur ein unbestimmtes Träumen ohne Zusammenhang und Sinn. Jetzt weiß ich es, jetzt, wo ich in dem Sonnenstrahl Deiner Liebe die Augen aufschlug und nun das Leben so durchsichtig klar vor mir liegt, daß mir die dichte Nacht, die uns umgiebt, heller däucht, wie sonst der lichteste Tag, und die dunkelsten Räthsel meines Her¬ zens gelöst sind. Jetzt kann ich von der Melitta der früheren Zeit sprechen, wie von einem fremden We¬ sen, für dessen Thun und Lassen ich mich nicht ver¬ antwortlich fühle; jetzt kann und will ich Dir erzäh¬ len, was es für eine Bewandniß mit dem Bilde in meinem Album hat, dem losgelösten Blatt, dessen Vor¬ handensein Dich damals so erschreckte, liebes Herz. Ja, ja, ich hab es wol bemerkt — Du entfärbtest Dich und konntest nicht fassen, wie ich Dich um Dein Urtheil über den Mann befragen konnte, den Du für meinen Geliebten halten mußtest. Und doch war das Oldenburg nie, oder es müßte in der Liebe tau¬ send Grade geben, von denen der niedrigste von dem höchsten so weit entfernt ist, wie die Erde von dem Himmel. „Ich kannte Oldenburg schon von meiner frühesten Kindheit an. Salchow, das Gut meines Vaters, grenzt an Cona, wo Du gestern warst. Meine Tante, die nach dem frühen Tode meiner Mutter meine Er¬ ziehung leitete, und Oldenburg's Mutter waren sehr gute Freundinnen und kamen fast täglich zusammen. F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 5 Natürlich auch wir Kinder. Oldenburg war ein paar Jahre älter als ich, aber da die Mädchen den Knaben stets in der Entwickelung voraus sind, so wurde der Unterschied des Alters von uns nicht empfunden, wir spielten und arbeiteten zusammen, und hielten gute Kameradschaft — für gewöhnlich; denn es kam auch manchmal zu heftigem Wortwechsel und Zank und Thränen. Ich gab selten Veranlassung dazu, denn ich war wenig rechthaberisch und stets zu Concessionen bereit, aber Adalbert war über die Maßen empfind¬ lich, störrisch und eigenwillig. Die Doppelnatur seines Wesens, die er später auszugleichen sich be¬ mühte und vor weniger Scharfsichtigen auch meistens zu verbergen wußte, lag damals offen zu Tage. Es war unmöglich, sich nicht für ihn zu interessiren, aber ich glaube, es gab Niemanden, der ihn wirklich liebte. Er fühlte das, und dies Gefühl, welches er wie eine geheime Wunde stets mit sich herumtrug, machte ihn schon sehr früh zu einem Hypochonder und Menschen feind. Was half es ihm, daß Jedermann seine emi¬ nenten Gaben bewunderte, daß Niemand an seinem Muth, seiner Wahrheitsliebe zweifelte! sein störrisches, eigensinniges Wesen stieß Alle zurück, verletzte Alle; ja selbst seine lange, unschöne Gestalt und seine täp¬ pischen, linkischen Bewegungen trugen dazu bei, die Herzen der Menschen von ihm zu wenden. Wenigstens war es so bei mir, da ich mich von Jugend auf zu allem, was schön und anmuthig war, unwiderstehlich hingezogen fühlte, und einen wahren Abscheu vor dem Häßlichen und Formlosen hatte. Ich konnte mich nicht überwinden, Adalbert zu lieben, obgleich er mit großer, aber freilich stets hinter Schroffheit und Kälte sorg¬ sam versteckter Zärtlichkeit an mir hing und manch¬ mal, wenn seine Leidenschaftlichkeit über die künstliche Ruhe, die er zur Schau trug, siegte, mir in den herbsten, bittersten Ausdrücken meine Lieblosigkeit, meinen Leichtsinn, meinen Wankelmuth vorwarf. Dies Verhältniß blieb, bis Adalbert mit sechzehn Jahren das Gymnasium bezog, denn er hatte es bei seinem Vormunde — seine Mutter war jetzt auch ge¬ storben — durchgesetzt, daß er studiren durste. Er kam nur noch selten und immer nur auf wenige Tage nach Cona. Dann war ich zwei Jahre lang in Pen¬ sion. So kam es, daß wir uns, bis er nach Heidel¬ berg ging, nur im Vorübergehen sahen. Als er von der Universität und seiner ersten größeren Reise zu¬ rückkehrte, war ich schon zwei Jahre verheirathet ge¬ wesen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er einen Be¬ such auf Berkow machte. Unser Wiedersehen war 5* eigenthümlich genug. Er schien den ganzen, so verän¬ derten Zustand nur als ein fait accompli hinzu¬ nehmen, dem man sich beugt, weil man muß. Er belästigte mich nicht mit Fragen; er verlangte keine vertrauliche Mittheilung, auf die der einzige Freund meiner Kinder- und Mädchenjahre doch wohl An¬ spruch hatte. Er machte mir auch keine Vorwürfe; er sagte mir nicht, daß er mich geliebt, daß er auf meine Hand gehofft hatte, obgleich ich nachher erfuhr, daß dies doch der Fall gewesen, und daß er, als ihn die Nachricht von meiner Verheirathung in Heidel¬ berg traf, fast in Raserei gefallen war und wochen¬ lang, monatelang an einer unbesieglichen Schwermuth gekrankt hatte. Er suchte sich durch eigene Beobach¬ tung ein möglichst klares Bild meines jetzigen Ver¬ hältnisses zu verschaffen. Ich sah, daß ihm nichts entging, daß keine meiner Aeußerungen von ihm un¬ berücksichtigt, keine meiner Mienen von ihm unbeobach¬ tet blieb. Dieses Bewußtsein, unter der Controle eines so scharfsichtigen Auges zu stehen, war nichts weniger als behaglich, zumal wenn, wie in diesem Falle, so Vieles hätte anders sein können, anders sein müssen. Es trat bald wieder dasselbe Verhält¬ niß ein, welches früher zwischen uns geherrscht hatte, nur daß die heftigen Scenen wegblieben, die damals durch seine Leidenschaft gelegentlich herbeigeführt wur¬ den. Wie er mir früher alle hübschen Muscheln, Steine und Blumen, die er am Strande, zwischen den Klippen, auf den Wiesen gefunden hatte, zutrug, so theilte er mir jetzt alles mit, was er Interessantes auf den vielen Feldern des Wissens, auf denen sich sein unersättlicher und unermüdlicher Geist umhertrieb, entdecken konnte: bald ein schönes Gedicht, bald eine tiefsinnige Sentenz, — und er empfand es jetzt nicht weniger schmerzlich, daß ich mit den geistigen Schätzen nicht haushälterischer umging, als mit den Blumen, die ich vertrocknen ließ, und den Steinen und Muscheln, die ich wegwarf. Ich wußte, daß ich keinen treueren Freund hatte, als ihn, und er, daß sich in das Ge¬ fühl, welches ich für ihn empfand, auch nicht die min¬ deste Liebe mischte; um so uneigennütziger war seine Freundschaft, und um so unverantwortlicher die Lau¬ nenhaftigkeit, mit der ich ihn behandelte. Seine Freundschaft sollte bald eine traurige Ge¬ legenheit finden, sich zu bethätigen. Die Schwermuth, in die Carlo kurz nach Julius Geburt gefallen war, nahm einen immer krankhafteren Charakter an. Aus¬ brüche einer unberechenbaren Laune, die Vorboten der letzten fürchterlichen Katastrophe, wurden immer häu¬ figer. Er wollte jetzt Niemand um sich haben, als Adalbert, was um so auffallender war, als er, der Lebemann, den tiefsinnigen, melancholischen, und um so viel jüngeren Baron — den Jüngling von Sais nannte er ihn — früher stets verlacht, verspottet und eigentlich wohl gehaßt hatte. Jetzt begleitete er ihn auf Tritt und Schritt, jetzt war Oldenburg's Stimme die einzige, welche die finstern Dämonen, die um sein Haupt die Flügel schlugen, auf Augenblicke wenigstens verscheuchen konnte. Und die Aufopferung, mit der Oldenburg sich diesem Liebesdienst unterzog, ist nicht hoch genug anzuerkennen und ich müßte sie ihm, so lange ich lebe, danken. Dann kam die Katastrophe. Oldenburg stand mir in diesen schweren Tagen treu zur Seite; oder genauer: er nahm alle Last und Ver¬ antwortung so ganz auf sich und leitete Alles mit solcher Energie und Umsicht, daß ich nur immer Ja zu sagen hatte. Carlo war in eine Anstalt im südlichen Deutsch¬ land gebracht und ich war allein hier auf Berkow, mich ganz der Erziehung meines Julius, der damals fünf Jahre alt war, und dem ich auf Oldenburg's Rath schon jetzt in Bemperlein einen Freund und Lehrer gegeben hatte, widmend. Oldenburg kam jetzt seltener als früher, aber doch noch immer sehr häufig, wie mir schien. Ich glaubte zu bemerken, daß sich ein Ton von Zärtlichkeit in die Freundschaft mischte, die ich einzig von ihm wünschte und erwartete; und kaum hatte ich diese Bemerkung gemacht, als ich mich schon berechtigt glaubte, ihn, so schonend wie möglich freilich, auf die allzugroße Häufigkeit seiner Besuche aufmerksam zu machen. Es war dies vielleicht ent¬ setzlich undankbar von mir; aber uns Frauen wird es auch entsetzlich schwer, gegen den dankbar zu sein, den wir nicht lieben. „Den nächsten Tag schon war Oldenburg abgereist; Niemand wußte wohin. Dann wollte ihn ein halbes Jahr später Einer in London gesehen haben; ein An¬ derer sah ihn ein Jahr darauf in Paris. Er war bald hier, bald dort, ruhelos umhergetrieben von seinem wilden Herzen und seinem unersättlichen Wissensdurst. So waren vier Jahre verflossen, die in meinen Verhältnissen sehr wenig geändert hatten. Oldenburg's gedachte ich selten und immer wie eines Verstorbenen. Da — es ist nun drei Jahre her — ließ ich mich von meinem Vetter und meiner Cousine bereden, sie auf der Reise nach Italien zu begleiten. Als wir eines Abends im Mondenschein das Coliseum besuchten, stand plötzlich Oldenburg vor uns. „Endlich!“ sagte er leise, indem er mir die Hand drückte. Er wollte uns ganz zufällig getroffen haben; hernach gestand er mir, daß er in Paris, ich weiß nicht durch wen? unsern Reiseplan erfahren, uns schon von München aus verfolgt und immer verfehlt habe, bis es ihm endlich hier gelang, uns einzuholen. Ich muß ge¬ stehen, daß ich mich über dies Zusammentreffen auf¬ richtig freute und es mit einiger Genugthuung em¬ pfand, daß es kein zufälliges war. Es vereinigte sich Alles, um Oldenburg bei mir einen guten Empfang zu bereiten. Man schließt sich auf Reisen selbst an Fremde leicht an: wie sollte uns der Freund unserer Jugend, wenn wir ihn plötzlich in fernen Landen treffen, nicht willkommen sein? Oldenburg hatte Ita¬ lien schon mehrmals bereist und kannte jeden Meister von jedem Altargemälde in jeder Klosterkirche Seine lehrreiche Unterhaltung stach gegen das banale Ge¬ schwätz meiner Verwandten gar sehr zu seinem Vor¬ theile ab, und dazu kam, daß Oldenburg durch die vielfache Berührung mit der feinsten Gesellschaft jetzt die schroffen und rauhen Seiten seines Wesens be¬ deutend abgeschliffen hatte. Sein Auftreten war, wie Du es jetzt siehst, das heißt, bei aller bis an Nach¬ lässigkeit streifenden Ungezwungenheit, doch im schönsten Sinne des Wortes aristokratisch. Mit einem Worte: er machte jetzt einen Eindruck auf mich, den ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es war nicht Liebe, was ich für ihn empfand, aber es war doch auch mehr als die kühle Freundschaft, welche ich ihm bis jetzt entgegengebracht hatte. Aber seltsam, in dem¬ selben Maße, in welchem ich die geheime Antipathie, die ich schon von meinen Kinderjahren her gegen ihn hatte, einer beinahe herzlichen Zuneigung weichen fühlte, wurde sein Benehmen gegen mich schroffer und kälter. Er richtete seine Unterhaltung, wenn wir beisammen waren, fast ausschließlich an meine Cousine und be¬ handelte mich wie ein verzogenes Kind, dem man den Willen thut, nur damit es nicht anfängt zu weinen. Das verletzte meine Eitelkeit und dieser verletzten Eitel¬ keit und der Eifersucht, die ich gegen meine Cousine empfand, zu Liebe, legte ich es ernstlich darauf an, mir Oldenburg's Zuneigung, die ich durch eine mir unbekannte Ursache verloren zu haben glaubte, wieder zu gewinnen. Das bewirkte alsbald eine völlige Um¬ wandlung in Oldenburg's Betragen. Er überschüttete mich jetzt mit Aufmerksamkeiten, er schien Hortense vollkommen vergessen zu haben, und sobald wir allein waren, zeigte er eine Leidenschaft, die mich zuerst in Verwunderung und dann in Schrecken setzte. Dabei wußte er jeder eigentlichen Erklärung sorgfältig aus¬ zuweichen und mich stets in Zweifel zu erhalten, ob dies nur eine seiner tollen Launen war, die er ge¬ legentlich annimmt und ablegt, wie ein Kleid, oder der Ausdruck einer wirklichen tiefgewurzelten Neigung. Es war unmöglich, Oldenburg in dieser Zeit nicht zu bewundern. Sein Genius zeigte sich glänzender, wie je zuvor; die Fülle von Geist, die er verschwenderisch entfaltete, war in der That außerordentlich. Er war die Seele jeder Gesellschaft; man riß sich förmlich um ihn, und da er französisch, englisch, italienisch und ich weiß nicht, wie viel Sprachen außerdem, so gut wie deutsch spricht, so schien jede Nation ihn als einen der ihrigen ansehen zu dürfen und zu wollen. Wenn er nun mich zur Königin jedes Festes machte, wenn er Alle zwang, mir zu huldigen, wenn er alle Schätze seines reichen Geistes mir entfaltete, um sie mir zu Füßen zu legen, so ist es wol natürlich, daß ich da¬ gegen nicht gleichgültig bleiben konnte, daß ich mir eine kurze Zeit lang einbildete, ihn zu lieben. Ohne ihn geradezu aufzumuntern, ließ ich ihn doch gewähren, wenn er mich in Augenblicken, wo wir allein waren, mit dem vertraulichen Du unserer Kinderjahre an¬ redete, wenn er in Gesellschaft mir jene Aufmerksam¬ keiten erwies, die man sonst nur von einem erklärten Liebhaber entgegenzunehmen gewohnt ist.” „Still, Melitta, mir war, als hörte ich Jemand im Garten.” „Ich hörte nichts.“ „Sind wir hier auch vor jeder Störung sicher?“ „Vollkommen. Indessen, laß uns in's Haus zurück¬ kehren; mir däucht, der Nachtthau beginnt zu fallen.“ Sie erhoben sich und gingen Arm in Arm nach der Treppe, die von der Terrasse in den Garten führte. Als sie die letzte Stufe hinabstiegen, stand plötzlich ein Mann vor ihnen. Das Zusammentreffen war für Oswald und Melitta so unerwartet, daß sie unwillkürlich zurückzuckten. Indessen war an ein Aus¬ weichen nicht mehr zu denken, und überdies hatte Herr Bemperlein — denn Niemand anderes war es — sie schon erkannt, denn die Sterne leuchteten jetzt in voller Pracht, und aus den Fenstern des Gartensaales fiel ein Lichtschimmer den Gang hinab, gerade in die Ge¬ sichter der Beiden. „Mein Gott, gnädige Frau, wie kommen Sie hier¬ her?“ rief Herr Bemperlein. „Ich gebe die Frage zurück,“ sagte Melitta, und dann zu Oswald, dessen Arm sie nicht losgelassen hatte, leise: „Sei ruhig, Herz; er verräth uns nicht.“ „Es ist doch Julius kein Unglück zugestoßen? Sprechen Sie, lieber Bemperlein, ich habe keine Ge¬ heimnisse vor — Oswald.“ Herr Bemperlein ergriff Oswald's Hand und drückte sie, als wollte er sagen: ich weiß jetzt Alles, rechnet auf mich. „Nein,“ sagte er; „Julius ist wohl und munter, aber ich bekam heute einen Brief von Dr. Birkenhain, dem zufolge es mit dem Befinden Herrn von Berkow's so schlecht steht, daß man täglich sein Ende erwartet. Seltsamer Weise ist er bei vollkommener Besinnung und verlangt dringend nach Ihnen. Dr. Birkenhain hielt es für seine Pflicht, Ihnen diesen Wunsch eines Sterbenden mitzutheilen. Jedenfalls wird dies der Inhalt des eingelegten Briefes an Sie sein. Ich habe ihn selbst gebracht, damit Sie sofort über meine Dienste verfügen könnten, im Falle Sie sich zu einer Reise entschließen sollten. Der Wagen, in welchem ich gekommen bin, wird jetzt wol schon vor dem Hause halten; ich hatte den kürzeren Weg durch den Garten vorgezogen.“ Die Drei waren in den Gartensaal getreten. Me¬ litta hatte Oswald's Arm losgelassen und sich der Lampe genähert, den Brief zu lesen, welchen Bem¬ perlein ihr überbracht hatte. Oswald sah, daß sie sehr blaß geworden war, und daß ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte. Bemperlein stand, den Blick von Melitta auf Oswald, von Oswald auf Melitta wendend, da, wie Jemand, der, aus einem schweren Schlaf erwachend, sich noch nicht von der Wirklichkeit dessen, was er vor seinen Augen sieht, überzeugen kann. Melitta hatte den Brief gelesen: „Da, Oswald,“ sagte sie, „lies und sage, was soll ich thun.“ Oswald durchflog das Schreiben, welches, wie Bemperlein schon gesagt hatte, Melitta auffor¬ derte, sich sofort auf den Weg zu machen, falls sie den sterbenden Gatten noch einmal zu sprechen wünsche. „Du mußt reisen, Melitta, ohne Frage,“ sagte Oswald, den Brief wieder zusammenfaltend. „Du würdest es Dir nie vergeben können, wolltest Du jetzt diese Pflicht nicht erfüllen.“ Melitta warf sich stürmisch in die Arme ihres Ge¬ liebten: „Es war von vornherein mein Wille zu reisen; ich wollte ihn nur von Dir bestätigt hören,“ sagte sie. „Ich reise noch in dieser Nacht, noch in dieser Stunde. — Wollen Sie mich begleiten, lieber Bem¬ perlein?“ „Ich bin in dieser Absicht hierher gekommen, gnä¬ dige Frau,“ sagte Herr Bemperlein, „und habe den Reiseplan schon entworfen. Wenn wir in einer Stunde etwa aufbrechen, sind wir noch vor Sonnenaufgang an der Fähre. Drüben nehmen wir Extrapost bis P., von da Eisenbahn. So sind wir übermorgen Nacht spätestens an Ort und Stelle.“ „Sie guter, treuer Freund,“ sagte Melitta, Bem¬ perlein's beide Hände in die ihren nehmend und herz¬ lich drückend. „Bitte, bitte, gnädige Frau!“ rief Herr Bemper¬ lein, „ganz im Gegentheil, wollte sagen, nur meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.“ „Ich will mich sogleich zur Reise fertig machen,“ sagte Melitta, ein Licht ergreifend. „Bleibe ruhig hier, Oswald. Wenn Jemand von den Leuten Dich sehen sollte, bist Du mit Bemperlein gekommen; es wird Dich aber Niemand sehen.“ Melitta hatte das Zimmer verlassen. Bald hörte man in dem eben noch so stillen Hause das Geräusch von eiligen Schritten, von Thüren, die hastig auf- und wieder zugemacht wurden, von dumpfen Stimmen, die ängstlich durcheinander sprachen. Von den beiden Männern wagte in den ersten Minuten keiner das Schweigen zu brechen. Beide fühlten das Wunderliche der Situation, in die sie so urplötzlich gerathen waren; vor allem Bemperlein, der sich innerlich noch immer nicht von seinem tiefen Er¬ staunen erholen konnte. Melitta stand in seinen Augen so unerreichbar hoch da, daß er schlechterdings nicht zu begreifen vermochte, wie es irgend einem Sterblichen gelingen könnte, sich zu dieser Höhe zu erheben, und auf der andern Seite war er seit vielen Jahren so daran gewöhnt, Alles, was sie that, für gut und recht und unverbesserlich zu halten, daß er von dieser Regel selbst jetzt eine Ausnahme zu machen nicht den Muth hatte. „Wir sehen uns auf eine gar seltsame Weise wie¬ der, Herr Bemperlein,“ sagte Oswald endlich. „Ja wohl, ja wohl!“ sagte Herr Bemper¬ lein. „Mein Kommen war weder erwartet, noch er¬ wünscht, ich begreife das vollkommen — die arme gnädige Frau! aber welchen Muth sie hat, welche Schnelligkeit des Entschlusses! ich habe es ja immer gesagt: sie ist aus besserem Stoffe, als wir an¬ deren Menschenkinder. Ein wahres Glück, daß Dr. Birkenhain den gescheidten Einfall hatte, nicht direct an sie zu schreiben. So kann ich, wenn auch nicht viel, doch etwas wenigstens zu ihrer Unterstützung thun.“ „Sie Glücklicher!“ sagte Oswald. „Sie dürfen für sie wirken und schaffen; und ich kann nichts thun, nichts als ihr eine glückliche Reise wünschen und so¬ dann die Hände müßig in den Schooß legen.“ „Ich bedaure Sie von ganzem Herzen, wahr¬ hastig,“ sagte Herr Bemperlein. „Es ist eine schwere Aufgabe, die Ihnen zugemuthet wird; aber wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Wir werden fleißig schreiben — Sie sollen von jedem Schritte, den wir thun, Nachricht erhalten. Und dann hoffe ich, daß unsere Reise nicht lange dauert, und vor allem, daß Herr von Berkow schon gestorben ist, wenn wir in N. angekommen.“ „Das hoffen Sie? und doch scheinen Sie diese Reise für nothwendig zu halten?“ „Gewiß,“ sagte Herr Bemperlein. „Es giebt ge¬ wisse traurige Pflichten, die man erfüllen muß, nicht der Welt wegen, die uns nicht schelten könnte und schelten würde, wollten wir sie unerfüllt lassen; nicht des Andern wegen, dem unsere Opferfreudigkeit zugute kommt, und den wir vielleicht weder lieben noch achten, sondern um der Achtung willen, die wir vor uns selber haben. Doch was demonstrire ich Ihnen noch lange vor, was Sie so gut und noch besser wissen wie ich. Sie haben ja auch zu dieser Reise gerathen, obgleich Sie doch am meisten dabei verlieren. Es muß eine schauerliche Empfindung sein, so plötzlich aus allen seinen Himmeln gerissen zu werden. Seltsam! seltsam! je länger ich über dies Alles nachdenke, desto begreiflicher wird es mir. Ja, ja — daß Sie die herrliche Frau lieben, das ist ja so natürlich, so — ich möchte sagen: logisch — das Gegentheil würde baarer Unsinn sein: Es muß sie Jeder lieben, und um so mehr lieben, je edler sein Herz, je empfäng¬ licher seine Seele für das Gute und Schöne ist. Ihr Herz ist edel, Ihre Seele klingt harmonisch mit allem Schönen zusammen; so müssen Sie auch diese schönste und beste Frau von ganzem Herzen, von ganzer Seele lieben. Und auf der anderen Seite: ist sie nicht frei? wenn auch nicht vor den Menschen, so doch vor dem Richter, der in's Verborgene sieht? hat sie ihren Gemahl jemals geliebt? konnte sie ihn lieben, dem sie verkauft wurde um schnödes Geld — verkauft von dem eigenen Vater, als sie noch viel zu jung und unschuldig war, das Bubenstück auch nur zu ahnen, geschweige denn zu durchschauen? O! mein Blut kocht, wenn ich daran denke! nein, nein! sie durfte Sie lieben, sie mußte Sie lieben, sie, deren Herz ganz Liebe und Güte ist. Ich freue mich, daß es so ge¬ kommen ist, ich wünsche Ihnen Glück von ganzem Herzen. Ich bin ein einfacher, unbedeutender Mensch und würde im Gefühl dieser meiner Unbedeutenheit nimmer den Blick zu solcher Höhe zu erheben wagen; aber, wenn ich einen Andern kühn und stolz auf dieser Höhe wandeln sehe, so erfüllt das meine Brust mit F. Spielhagen, Problematische Naturen. III. 6 Bewunderung, die von Neid frei, ganz frei ist, und noch einmal: ich wünsche Ihnen Heil und Segen von ganzem Herzen!“ Herr Bemperlein ergriff Oswald's beide Hände und drückte sie mit Lebhaftigkeit. Die Augen standen ihm voll Thränen; er war innerlichst erschüttert. „Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen,“ sagte Oswald gerührt. „Das Urtheil eines Mannes, den ich so tief achte, ist mir tausendmal mehr werth, als das Urtheil der dummen, blinden Welt. Die Welt wird unsere Liebe verketzern und verdammen, aber die Welt weiß nichts von Gerechtigkeit.“ „Nein,“ sagte Herr Bemperlein, „und dennoch ist sie unsere Richterin, deren Ausspruch wir uns fügen müssen, wir mögen wollen oder nicht. Und dieser Gedanke ist es, welcher für meine Augen einen tiefen Schatten auf das sonnige Bild einer so reinen, un¬ eigennützigen Liebe wirft. Doch ich will Ihr Herz, das in diesem Augenblicke schon schwer genug ist, nicht noch schwerer machen. Dem Starken und Muthigen hilft das Glück. Sie sind ja stark und muthig, und sind es doppelt und dreifach, weil Sie lieben. Es soll ja der Glaube Berge versetzen können. Was dem Glauben gelingt, kann der Liebe nicht un¬ möglich sein. Doch still, da kommt die gnädige Frau.“ Die Thür wurde geöffnet und Melitta erschien im Reiseanzug. Der alte Baumann war bei ihr. „Ich bin bereit, lieber Bemperlein,“ sagte sie zu diesem, und dann, sich in Oswald's Arme werfend: „Leb wohl, liebes Herz! leb wohl!“ 6* Viertes Kapitel. Die Baronin Grenwitz war aus mehr denn einem Grunde fest entschlossen, Oswald auf der projectirten Badereise nach Helgoland nicht mitzunehmen, und sie hatte während der dreitägigen Visitentour vielfach bei sich überlegt, wie sie, ohne sich selbst doch gar zu viel zu vergeben, diesen Entschluß ausführen könnte. Wie erfreut war sie deshalb, als Oswald bei ihrer Zu¬ rückkunft (es war den Tag nach Melitta's Abreise) ihre leiseste Anspielung, ob es ihm nicht lieber wäre, diese Zeit ganz zu seiner Erholung zu verwenden, be¬ gierig ergriff; als er erklärte, während dieser Zeit nicht einmal auf dem Schlosse bleiben, sondern eine Reise, vielleicht durch die Insel, die er noch nicht kannte, vielleicht nach der Residenz zu seinen Freun¬ den machen zu wollen. Anna-Maria freute sich so sehr über dieses ganz unerwartete Entgegenkommen, daß sie nicht einmal über die Motive, die Oswald dazu bestimmt haben mochten, nachdachte, eben so we¬ nig wie über sein düsteres zerstreutes Wesen, und über die Gleichgültigkeit, mit der er den Vorbereitun¬ gen zur Reise zusah und schließlich am Tage der Ab¬ reise von Allen, selbst von Bruno Abschied nahm. Vielleicht ärgerte er sich, daß man ihn nicht mitnahm, vielleicht wußte er nicht, wo er bleiben sollte. Gleich¬ viel, wenn er nur nicht auf dem Schlosse blieb, wenn er nur, wie er es wirklich that, in demselben Augen¬ blicke, wo die Familienkutsche, bespannt mit den vier schwerfälligen, von dem schweigsamen Kutscher gelenk¬ ten Braunen langsam und würdevoll zu dem Haupt¬ thor hinausfuhr, den leichten Ränzel auf dem Rücken durch das andere Thor in die weite Welt hinein¬ wanderte. Aber Herr Albert Timm durfte bleiben! Er machte nicht so lächerliche Ansprüche, wie der hochmüthige Oswald; er war mit Allem zufrieden! und dann konnte er in der Einsamkeit des Schlosses so unge¬ stört arbeiten und die schleunige Vollendung der Flur¬ karten war von so großer Wichtigkeit! Mademoiselle war angewiesen, es Herrn Timm an nichts fehlen zu lassen. Daß es vielleicht nicht ganz schicklich sei, ein junges Mädchen von zwanzig Jahren und einen jun¬ gen Mann von sechsundzwanzig unter der Aufsicht einiger Dienstleute, über welche das junge Mädchen das Commando führte, auf einem einsamen Schlosse zurückzulassen, war sonderbarer Weise der so überaus strengen Baronin gar nicht in den Sinn gekommen. Die tugendhafte Frau würde die Nase gerümpft, würde es unverantwortlich, unverzeihlich gefunden haben, wenn sie gehört hätte, daß der junge Graf Grieben mit Fräulein von Breesen fünf Minuten nur in einem Zimmer allein gewesen sei, aber der Geometer Albert Timm und ihre Wirthschafterin Marguerite Roger — du lieber Himmel! sich um das Schicksal solcher Leute auch noch den Kopf zu zerbrechen — das ist offenbar zu viel verlangt! Und Marguerite hatte nicht einmal Eltern, denen man vielleicht verantwort¬ lich gewesen wäre — sie hatte gar keine Verwandten — wie kann man für Jemand verantwortlich sein, der ganz allein in der Welt dasteht! Man hatte Frau Pastor Jäger gebeten, sich von Zeit zu Zeit zu über¬ zeugen, daß den Befehlen der Baronin strenge Folge geleistet würde — Frau Pastor Jäger war eine vor¬ treffliche Frau, die kleine Marguerite stand also unter vortrefflicher Aufsicht. Die kleine Marguerite stand unter so vortrefflicher Aufsicht, daß Albert die weise Fürsorge, welche die Baronin getroffen hatte, nicht genug loben konnte. „Ich wollte, sie kämen nicht wieder,“ sagte er zu der hübschen Genferin, während sie Arm in Arm im Garten umherspazierten; ich wollte, sie kippten zwischen Helgoland und der Düne, wo es am tiefsten ist, mit dem Boote um, und wir könnten hier, wie jetzt, herr¬ lich und in Freuden leben bis an unser seliges Ende. Was meinst Du, kleine Marguerite, möchtest Du wohl Frau Rittergutsbesitzerin Timm von Grenwitz auf Grenwitz sein? Das wäre doch famos! Dann wollte ich Dir Wagen und Pferde halten, ja, und auch eine Wirthschafterin, die Du eben so quälen könntest, wie Du jetzt gequält wirst.“ „Ich bin schon zufrieden mit Wenigem, wenn ich es nur kann theilen mit Sie.“ „Sehr edel gedacht, aber besser ist besser, und übrigens heißt es in diesem Falle, nicht Sie, sondern Ihnen, oder vielmehr Dir, denn bei uns zu Lande nennen sich Leute die sich lieben „Du,“ besonders wenn sie die respectable Absicht haben, sich gelegent¬ lich zu heirathen.“ „Und Sie mich wirklich wollen 'eirathen? Ach, ich es kann glauben kaum! Was will ein Mann, comme vous , dem die ganze Welt ist offen, 'eirathen ein armes Mädchen, die nicht einmal ist 'übsch.“ „Das ist meine Sache. Und nebenbei bist Du jedenfalls 'übscher und reicher, als ich. Dreihundert Thaler —“ „Dreihundert fünfundzwanzig Thaler,“ sagte Ma¬ demoiselle Marguerite eifrig. „Desto besser — das ist immer schon etwas für den Anfang. Wenn ich mein baares Vermögen dazu rechne,“ — Herr Timm griff in die Tasche und brachte einige Münzen zum Vorschein — „haben wir dreihundert fünfundzwanzig Thaler, siebenzehn Silber¬ groschen und acht Pfennige. Das ist ein ganzes Capital.“ „Wir uns dafür werden kaufen ein kleines Haus.“ „Versteht sich.“ „Ich werde geben Unterricht im Französischen.“ „Natürlich.“ „Und Du wirst sein fleißig und arbeiten.“ „ Comme un forçat — o, es wird ein scharmantes Leben werden,“ und Herr Timm faßte die kleine Französin um die Taille und walzte mit ihr in der Laube, in welcher sie sich befanden, umher. „Ich nun muß hinein, den Leuten zu geben Ves¬ perbrot;“ sagte Marguerite, sich losmachend. „So lauf, Du kleiner Grasaff; aber komm bald wieder,“ sagte Herr Timm. Herr Timm sah, der Enteilenden nach. „Dummes kleines Frauenzimmer,“ sagte er; „glaubt wahrhaftig, ich werde sie heirathen. Das fehlte auch noch — für dreihundert Thaler, die ich früher an ein paar Aben¬ den verspielt habe! Es ist wirklich großartig, was sich diese Mädchen nicht alles einbilden! Und dabei ist diese gar nicht so dumm, wie sie aussieht und scheint trotz ihres fürchterlichen Deutsch ihren Goethe gründ¬ lich studirt zu haben: „thut keinem Dieb nur nichts zu Lieb, als mit dem Ring am Finger —“ hm, hm! ich werde ihr wahrhaftig einen Ring kaufen müssen. Die dreihundert Thaler wären freilich so übel nicht. Diese verdammten Gläubiger! nicht einmal in diesem Winkel lassen sie einen ungeschoren“ . . . Herr Timm faßte in die Brusttasche und holte einige Briefe von verdächtigem Ansehen hervor, die er, nachdem er sich in die Ecke einer Bank gesetzt, einen nach dem andern, entfaltete und eifrig studirte. Sein sonst so lustiges Gesicht verdüsterte sich dabei zusehends. „Verdammt,“ murmelte er, „die Kerle werden wirklich unverschämt. Wenn ich den brum¬ menden Bären doch nur so ein paar hundert Thaler in den Rachen werfen könnte, so schwiegen sie doch für eine Weile wenigstens.“ „Hm, hm! die dreihundert Thaler, welche die kleine Marguerite im Sparkassenbuche hat, kämen mir wirklich gelegen. Es wäre am Ende nur zu ihrem Vortheil, wenn ich sie darum ärmer machte. Denn daß ich mein Versprechen, sie zu 'eirathen, ohne die dringendste Noth nicht halten werde, liegt doch für jeden Verständigen auf der Hand. Fühle ich mich nun ihr gegenüber nicht blos moralisch, sondern auch anderweitig verpflichtet, so hat sie immerhin eine Chance mehr. Ich kann ihr ja vor¬ schwindeln, ich könne das Geld besser anlegen oder der¬ gleichen. Wenn die dummen Dinger verliebt sind, glauben sie ja Alles, was man ihnen aufbindet. Und kann sie das Geld besser anlegen, als wenn sie sich damit einen charmanten Kerl von Mann erkauft, der sie im andern Falle nicht 'eirathen würde? Me her¬ culem! ich fühle mich ordentlich gehoben durch den Gedanken, auf diese Weise der Wohlthäter des Mäd¬ chens zu werden. Ich will die Kleine doch gleich ein¬ mal in's Gebet nehmen. Weigert sie sich, so werde ich sie freilich ihrer Klugheit wegen achten müssen, aber mit unserer Liebe ist es aus!“ Albert erhob sich und ging, die Hände auf dem Rücken, wie es seine Gewohnheit war, wenn sein scharfsinniger Kopf an der Lösung eines Problems arbeitete, langsam nach dem Schlosse. Marguerite schaltete noch in der Küchenregion; Albert verfügte sich auf sein Zimmer, um noch einige Minuten unge¬ stört über seine Aufgabe nachzudenken. Er beugte sich über die Karte, die auf dem großen Reißbrett aufgespannt war, und an der er seit der Abreise der Familie, d. h. seit beinahe acht Tagen nicht das Mindeste gearbeitet hatte. „Wenn das so fort geht, wird sich Anna-Maria über meine Fortschritte wundern,“ murmelte er; „es ist wirklich überraschend, welch' ein ausgebildetes Ta¬ lent zur Faulheit, oder höflicher ausgedrückt: zum dolce far niente in mir steckt. Es giebt offenbar im Leben verwunschene Lazzaronis, wie es verwunschene Prinzen in Märchen giebt; und ich bin augenscheinlich so ein, in die Jammergestalt eines im Schweiße seines Angesichts sein Brod essenden Geometers verwunsche¬ ner Sohn des sonnegetränkten Neapels. Aber wie kommt es denn eigentlich, daß ich seit einer Woche so ganz meiner natürlichen Tendenz folge? Die kleine Marguerite ist doch nicht allein daran schuld? rich¬ tig — jetzt besinne ich mich — ich brauche eine Karte aus der Registratur und ließ mir schon vor acht Tagen den Schlüssel dazu geben. Die muß ich mir wenigstens holen, sonst — bei meiner heißen Liebe zur kleinen Marguerite! — bleibt diese angefangene Karte ein Fragment in Ewigkeit.“ Albert ging in die Registratur, ein großes Gemach in dem Erdgeschoß des alten Schlosses, dessen Wände von oben bis unten mit Repositorien voller ganz oder halb vergilbter Acten und Schriftstücke der verschie¬ densten Art, von denen gar manches für einen fleißigen Alterthümler von hohem Interesse gewesen sein würde, bedeckt waren. Während er in einem dieser Reposi¬ torien nach der alten Flurkarte kramte, fiel ihm ein kleines Bündel Briefe in die Hände, das er wol, wie schon einige andere ähnliche, in das Versteck, aus welchem er sie unversehens hervorgeholt hatte, zurück¬ geschleudert haben würde, wenn nicht die Aufschrift: „An den Baron Harald von Grenwitz, Hochgeboren auf Grenwitz,“ seine Neugierde erregt hätte. Da eine übertriebene Discretion durchaus nicht zu den hervor¬ stechenden Eigenschaften des Herrn Timm gehörte, so löste er ohne weiteres den rothen Faden, mit welchem die Briefe zusammengebunden waren, und begann die¬ selben einen nach dem andern zu lesen — eine Be¬ schäftigung, die ihn so ausnehmend interessirte, daß er alles Andere darüber vergaß und selbst das Rollen eines Wagens überhörte, der vor dem Portale still hielt und dessen höchst unerwartete Ankunft eine nicht geringe Sensation in dem Schlosse hervorrief. Fünftes Kapitel. Während der acht Tage, die seit der Abreise der Familie verflossen waren, hatte Oswald in der Ein¬ samkeit eines Fischerdorfes, Namens Sassitz, nicht weit von Berkow und Grenwitz, von allem Verkehr mit der Welt abgeschlossen, gelebt. Wie er nach Sas¬ sitz gekommen war, wußte er selbst kaum. Seit ihm Melitta so plötzlich geraubt war, hatte ihn eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegen Alles er¬ griffen, was nicht in irgend einer Beziehung zu ihr stand, die jetzt seine ganze Seele erfüllte. In dieser Apathie hatte er sich selbst von Bruno ohne Schmerz getrennt. Auf die Wünsche der Baronin ging er um so bereitwilliger ein, als er sich in seiner augenblick¬ lichen Stimmung nach Einsamkeit sehnte, wie ein Kranker nach Ruhe. So sagte er denn zu Allem: Ja, und als er den Wagen, welcher die Familie davon führte, sich in Bewegung setzen sah, fiel es ihm wie eine schwere Last vom Herzen. Er wünschte den Zu¬ rückbleibenden, Herrn Timm und Mademoiselle, flüch¬ tig Lebewohl und wanderte, einen leichten Ränzel, der noch aus seiner Studentenzeit stammte, auf dem Rücken, zum andern Thore hinaus, wie der Held eines Mär¬ chens, ohne eine Ahnung davon zu haben, wohin er seine Schritte lenken sollte, und wo er heute Nacht sein Haupt zur Ruhe legen würde. Die Sonne brannte heiß; Oswald fiel es ein, daß es im Walde frisch und kühl sein müsse. So bog er denn rechts vom Wege ab und bald rauschten über ihm die Tannen des Forstes, der halb zu Gren¬ witz und halb zu Berkow gehörte. Das Rauschen der hohen Bäume lullte ihn in süße Träume. Träumend wanderte er weiter, bis er plötzlich auf die Lichtung heraustrat, wo in dem Schutze der vielhundertjährigen, breitastigen Buche Melitta's Kapelle lag. Die Thür des Häuschens war verschlossen, die grünen Jalousien vor den Fenstern warm herunter¬ gelassen, die Treppe und die Veranda waren sorgsam gefegt, wie es die strenge Ordnungsliebe des alten Baumann, der jetzt das Regiment in Berkow führte, erheischte. Oswald setzte sich auf die Stufen der Treppe und stützte den Kopf in die Hand. So saß er in Nachdenken versunken, während in den Zweigen der Buche über ihm ein Waldvöglein sein eintöniges Lied mit dem stets gleichen melancholischen Refrain ertönen ließ... Wie einsam er sich fühlte — wie einsam und wie verlassen! Dem Kinde gleich, das auf weitem öden Moore den Weg zum Hause der lieben Eltern verloren hat. Hier an dieser selben Stelle hatte er in der Nacht vor der Gesellschaft in Barnewitz mit Melitta gesessen — sie hatte den Kopf an seine Brust gelehnt gehabt und süßeste, köstlichste Worte der Liebe hatte ihr holder Mund geflüstert. Jetzt war es still, so still um ihn her, daß er das Klopfen seines eigenen Herzens hörte. Sehnsüchtige Gedanken an die Entfernte glitten durch seine Seele, wie Vögel, die den Süden suchen, durch den weiten Himmelsraum . . . Ein Sonnenstrahl, der heiß und stechend durch das Laubdach auf ihn fiel, mahnte ihn, daß es Zeit sei, aufzubrechen. Eile hatte er freilich nicht. Es war noch früh am Nachmittage, und irgend einen, gleichviel welchen Ort, wo er sein Quartier für die Nacht aufschlagen konnte, mußte er immer noch er¬ reichen. So schlenderte er durch den Wald auf einem Wege hin, den er noch nicht betreten hatte und der ihn, ehe er sich's versah, an den Strand des Meeres führte. Nun wanderte er am Strande fort, bald auf der Höhe des Ufers, wenn die See, wie es häufig geschah, unmittelbar den Fuß der Kreidefelsen bespülte, bald auf dem festen körnigen Sande des schmalen Vorstrandes. Hier und da hatte einer der kurzen wasserreichen Bäche, die aus dem Innern der Insel dem Meere zueilen, das Ufer durchbrochen und eine Schlucht gehöhlt, die jedesmal mit einer fast südlich üppigen Vegetation bedeckt war. Aber mit Ausnahme dieser wenigen grünen Oasen zeigte sich dem Auge nichts als kahler Fels, nackter Sand, das eintönige blaue Meer, auf dem hier und da ein weißes Segel schwamm, und der eintönige blaue Himmel, an dem hier und da eine weiße Sommerwolke unbeweglich stand. Und zu diesem eintönigen Bilde die einförmige Musik der brandenden Wellen und dann und wann der gelle Schrei der Möve oder das melancholische Pfeifen der kleinen Strandläufer... Die Monotonie dieser Linien, dieser Farben, dieser Töne wäre für ein glückliches, lebensfrohes Gemüth unerträglich gewesen, aber sie paßte wunderbar zu Oswald's Seelenzustand. Es giebt Stunden, wo wir Regenwetter oder eine öde Landschaft wie Freunde willkommen heißen, auf deren Gesichtern schon die Theilnahme, die sie an unserm Schmerze nehmen, ausgeprägt ist; Stunden, wo uns Sonnenschein und Vogelsang und das muntere Plätschern des geschwätzi¬ gen Baches wie eine Beleidigung erscheinen. Oswald's Schwermuth harmonirte mit dieser tief ernsten Natur, die von Glück und Freude nichts zu wissen schien, desto mehr aber von dem Jammer und der Qual des Lebens. Klang der gelle Schrei, das schrille Pfeifen der Meeresvögel nicht wie Klaggesang? war es nicht, als ob das Meer in den Wellen, die sich in monoto¬ nen Cadenzen unaufhörlich am Strande brachen, das verworrene Räthsel der Existenz wie im halben Wahn¬ sinn vor sich hinmurmelte? ... Und sein eigenes Leben kam ihm so ziel- und zwecklos vor, wie dies sein Umherirren zwischen den Uferklippen. Glich es nicht seinem Fußtritte auf dem harten Sande, wo die nächste Welle schon die leichte Spur gänzlich verwischte? Wa¬ rum geboren werden, Anderen und sich selbst Schmer¬ zen und Sorgen ohne Zahl bereiten, wenn Alles doch zu nichts führt? wenn die Vergangenheit sich hinter uns aufthürmt wie das steile unersteigliche Ufer, die Zukunft uns angähnt wie das öde wüste Meer, und die Gegenwart ein schmaler Streifen Sand ist, den die unbarmherzig glühende Sonne nur deshalb so grell zu erleuchten scheint, um ihn in seiner ganzen trostlos dürftigen Nacktheit zu zeigen?... Und wenn wirklich einmal das Glück uns zu lächeln scheint, so scheint F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 7 es auch eben nur, so ist es eben nur eine trügerische Spiegelung, die eine schadenfrohe Fee aus dem un¬ wohnlichen tückischen Meere aufsteigen läßt, damit sie in dem Augenblicke versinkt, wo wir das palmenge¬ schmückte, palastumsäumte Ufer zu berühren glauben . . . Ein Dörfchen, dem sich Oswald mit raschen Schrit¬ ten näherte, lag in dem innersten Winkel einer tiefen, von hohen Kreidefelsen bis auf einen schmalen Aus¬ gang nach dem Meere zu rings umschlossenen Bucht, wo das Wasser so still und glatt war wie in einem Gartenteich. Einige der Hütten lagen hart am Strande, andere waren an den Ufern eines Baches, der sich an dieser Stelle in's Meer ergoß, in der tiefen breiten Schlucht, die er sich gewühlt hatte, erbaut. Vor den Thüren waren kleine mit Muscheln eingefaßte Gärt¬ chen; auf den mit weißem Sande ausgefüllten Gängen zwischen den Häusern hingen Netze zum Trocknen an langen Stangen; ein paar rothhaarige Buben waren eifrigst mit Antheeren eines umgestülpten Bootes be¬ schäftigt; vor einer der größeren Hütten saßen ein paar Frauen, Netze flickend. Oswald näherte sich den Frauen, die, als sie sei¬ nen Schritt vernahmen, neugierig von ihrer Arbeit aufsahen, und fragte, sie begrüßend, ob es ihm ver¬ stattet sei, sich hier etwas auszuruhen, und ob er einen Trunk Wasser und ein Stück Brod haben könne? „Stine,“ sagte die ältere von den drei Frauen, eine Matrone von stattlichem Umfang und mit einem überaus gutmüthigen, wettergebräunten Gesicht, zu einem der beiden jungen Mädchen an ihrer Seite: „steh auf und laß den Herren sitzen. Siehst Du nicht, daß er zum Umfallen müde ist? Geh ins Haus und bring, was wir haben. Setzen Se sich, junger Herr. Se sind gewiß auch ein Maler?“ „Warum meinen Sie das?“ fragte Oswald, den angebotenen Platz annehmend. „Nu, ein vernünftiger Mensch klettert nicht bei der Hitze am Strande herum; das können nur Leute, die hier (sie deutete dabei mit dem Zeigefinger auf die Stirn) nicht ganz richtig sind. Nu, nicht für ungut, Herr Maler. Ich hab schon einen von Ihren Ka¬ meraden bei mir wohnen gehabt, der zwei Wochen hier geblieben ist; und wenn Se eben so ein ordent¬ licher, ehrlicher Mensch sind, so können Se auch bei Mutter Karsten wohnen; aber die Wände dürfen Se nicht vollkritzeln, das sag' ich Ihnen gleich im Voraus.“ Oswald mußte lächeln, als er so ohne Umstände zu einem auf einer Studienreise begriffenen Land¬ 7* schafter gemacht wurde. Wie? wenn er sich die harm¬ lose Rolle, die ihm aufgenöthigt wurde, gefallen ließ? Es war ihm so gleichgültig, wo er blieb — Alles, was er wollte, war Einsamkeit — und konnte er eine tiefere Einsamkeit finden, wie hier in dieser stillen Bucht unter diesen gutmüthigen, kindlichen Menschen, die nichts dagegen haben würden, wenn er halbe Tage lang zwischen den Felsen des Strandes umherirrte? Und dann war er doch hier in der Nähe von Ber¬ kow, von dem er sich nicht allzu weit entfernen durfte, da er mit Melitta verabredet hatte, daß, im Falle sich ihre Abwesenheit in die Länge zöge, der alte Baumann, der in Berkow zurückgeblieben war, die Correspondenz zwischen ihnen vermitteln sollte. „So wollen Sie mich ein paar Tage hier behal¬ ten? fragte er. „Ja, aber die Wände dürfen Se nicht voll¬ kritzeln“, sagte Mutter Karsten. „Das verspreche ich,“ sagte Oswald lächelnd. „Dann können Se bleiben, so lange Se wollen. Das ist recht, Stine, rück den Tisch näher an den Herrn, und, hörst Du, hol auch von dem alten Cog¬ nac, den der Claus Jochen aus England mitgebracht hat, das bloße Wasser thut nicht gut bei der unver¬ nünftigen Hitze Oswald war beinahe schon acht Tage in Sassitz und er bereute es keinen Augenblick, der Einladung Mutter Karsten's gefolgt zu sein. Er stand in sehr großer Gunst bei Mutter Karsten. Er hatte auch nicht ein Strichelchen auf die weißgetünchten Wände der kleinen Kammer, die er bewohnte, gezeichnet; er hatte stets ein freundliches Wort für Jeden, selbst für den steinalten, halb blödsinnigen Vater von Mutter Karsten, der den ganzen Tag in seinem Lehnstuhle in der Sonne saß und unverwandt auf das Meer hin¬ ausstarrte, wenn ihm nicht, was freilich oft geschah, die alten noch immer scharfen Augen vor Müdigkeit zufielen. Mutter Karsten erklärte, daß Oswald ein eben so „ordentlicher, ehrlicher“ Mensch sei, wie sein Vorgänger, daß es aber bei ihm hier (mit der be¬ zeichnenden Bewegung des Fingers nach der Stirn) noch weniger richtig sei, als bei jenem. Was Mutter Karsten zu diesem Ausspruch veranlaßte, war der allerdings verdächtige Umstand, daß der junge Mensch, welcher doch nun einmal verrückt genug war, eine in ihren Augen so überflüssige Hantierung zu treiben, nicht nur nicht die wieder übertünchten Wände seiner Schlafkammer mit Kohlenskizzen von Schiffen unter vollem Segel, einsamen Klippen, über denen Möven flatterten und originellen Matrosengesichtern bedeckte, wie sein Vorgänger weiland, sondern überhaupt gar nicht zeichnete und malte, sondern den lieben langen Tag nichts that, als am Strande umherlaufen, oder auf einem der kleinen Ruderboote mutterseelenallein so weit aufs Meer hinausfahren, daß man ihn vom Strande aus kaum noch sehen konnte. Wie und wo¬ mit er sich auf diesen stundenlangen Spaziergängen und Fahrten die Zeit vertrieb, war Mutter Karsten ein unergründliches Räthsel, würde selbst dann für sie noch immer ein Räthsel gewesen sein, wenn sie ge¬ sehen hätte, daß Oswald, sobald er sich allein wußte, einen Brief, den ihm vor ein paar Tagen ein alter, sonderbar aussehender Mann gebracht hatte, aus der Tasche nahm und ihn wieder und immer wieder stu¬ dirte, als ob er ihn nicht schon längst Buchstab für Buchstab und Zeichen für Zeichen auswendig gewußt hätte. Der sonderbar aussehende alte Mann, der „so ein hochbeiniges, langhalsiges Pferd ritt, wie sie der Claus Jochen in England gesehen hatte“, war näm¬ lich Niemand anders gewesen als der alte Baumann auf dem Brownlock. Oswald hatte ihm gleich am nächsten Tage nach seiner Ankunft in Sassitz mitge¬ theilt, daß er sich entschlossen habe, bis auf Weiteres hier zu bleiben (auch nach Grenwitz hatte er dieselbe Botschaft geschickt, mit der Bitte, ihm etwa ankom¬ mende Briefe nachzusenden), und einen Tag später konnte die treue Seele schon einen Brief der vielge¬ liebten Herrin in Oswald's Hände legen. Es waren wenige Worte nur, auf der Reise, in einer Stadt Mitteldeutschlands, kurz vor dem Schlafengehen in einem Hotel geschrieben — wenige Worte, verwirrt und traurig, aber süß und köstlich, wie Küsse von ge¬ liebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung . . . Er hatte Baumann seine Antwort mitgegeben und erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine durch¬ aus freudige war. Es ist die Klage aller auf das Ideale gerichteten Geister, daß nichts auf Erden reinlich sei, und daß, so oft wir auch versuchen, in lichtere Regionen aufzu¬ steigen, uns ein peinlicher Erdenrest zu tragen bleibt, der uns sehr bald wieder auf das Niveau des ewig Gestrigen herabzieht. Das hatte Oswald nun schon so oft in seinem Leben erfahren; es hatte ihn schon so viel Freuden vergällt, so viel gute Menschen und schlechte Musi¬ kanten verleidet, es drohte jetzt auch seiner Liebe ver¬ derblich zu werden. Erst hatte er an sich selbst die schlimme Entdeckung machen müssen, wie tief verbor¬ gen der Verrath in einem Herzen lauert, das sich bis in seine geheimsten Tiefen ganz von Liebe erfüllt glaubt. Zwar hatte er sich über die Scene in der Fensternische auf dem Balle in Barnewitz mit der Entschuldigung zu trösten gesucht: ich war außer mir; ich wußte nicht was ich that; aber kann Eifersucht eine Entschuldigung für Treulosigkeit sein? Und dann: war diese Eifersucht denn nun wenigstens todt? war sie nicht, als er Melitta's Bild in dem Zimmer des Barons hinter dem Vorhang entdeckte, in hellen Flammen aufgeschlagen? Hatte er nicht der Erzäh¬ lung Melitta's mit athemloser Spannung gelauscht, immer fürchtend, daß jetzt — jetzt ein Umstand er¬ wähnt werden möchte, der seinen Verdacht, daß sie den merkwürdigen Mann dennoch — vielleicht ohne es selbst zu wissen — geliebt habe, bestätigen würde? hatte sie nicht gesagt; ich glaubte ihn zu lieben? — — und nun gerade in dem Augenblicke, wo die Er¬ zählung bis zu der Katastrophe gekommen war, die Alles und auch die Feindschaft, die jetzt offenbar zwischen ihr und dem Baron herrschte, erkären mußte — wird ihr eine Botschaft gebracht, so sonderbarer, so unheimlicher Art, so ganz geeignet, Oswald's ohne dies schon verstörtes Gemüth ganz und gar zu ver¬ wirren! Nicht genug, daß ihm in Baron Oldenburg ein Nebenbuhler, den zu verachten unmöglich war, in Fleisch und Blut gegenüberstand — hier kommt ein Gemal, das Gespenst eines Gemals, aus einer sieben Jahre langen Wahnsinnsnacht emporgetaucht und winkt sie zu sich an sein Sterbebett — sie, seine Ge¬ liebte, seine Melitta — — Oswald fühlte, daß er selbst wahnsinnig werden würde, wollte er diesen Ge¬ danken zu Ende denken. Er hatte es so ganz und gar vergessen, daß Melitta jemals vermält gewesen war, daß sie jemals in den Armen eines andern Mannes, gleichviel, ob sie ihn geliebt — und um so gräßlicher, wenn sie ihn nicht geliebt — geruht, daß sie jemals die Liebkosungen eines andern Mannes ent¬ gegengenommen hatte — — er zerknitterte den Brief Melitta's, er hätte laut aufschreien mögen vor wil¬ dem Schmerz, er hätte sein Haupt an den Fels¬ blöcken zerschellen mögen . . . Warum dieses Gift in den köstlichen Trank seiner Liebe? warum mußte das leuchtende Gewand seines Engels in dem Schmutz des Lebens schleifen? warum mußte die duftige Blüthe vom schnöden Wurm benagt werden? — und wäre sie denn nur jetzt wenigstens frei — aber sie ist es nicht — selbst dann nicht, wenn jenes Gespenst aus der Nacht des Wahnsinns in die Nacht des Todes sinkt. Sie ist die Mutter ihres Kindes — seines Kindes, und diese Rücksicht, die sie jetzt für einen Augenblick vergessen hat, wird in den Vordergrund treten und mich wird sie aufgeben — aufgeben müssen. Und wozu soll es auch führen? so lange dies heim¬ liche Verhältniß dauert, das ein tückischer Zufall sei¬ nes Geheimnisses berauben kann, steht ihr guter Ruf auf eines Scheermessers Schneide — und kann aus diesem Verhältnisse jemals ein anderes werden? kann ich, der Freiheitsschwärmer, jemals daran denken, die Aristokratin zu heirathen? daran denken, mich in die Gesellschaft der verhaßten Menschen zu drängen, die den Parvenü stets über die Achsel ansehen würden? nie! nie! Lieber leben, wie diese armen Fischer, die täglich mit Gefahr des Lebens selbst dem grausamen Meer den kärglichen Unterhalt abringen müssen ... So irrte Oswald's Geist in einem Labyrinth von schmerzlichen Zweifeln ruhelos umher, wie er selbst zwischen den Uferklippen auf dem öden Strande ruhe¬ los umherirrte, und wer weiß, zu welchem verderb¬ lichen Ausgang dies beständige Brüten über demsel¬ ben qualvollen Räthsel geführt haben würde, wenn nicht ein Ereigniß eingetreten wäre, das ihn sehr gegen seine Vermuthung und seinen Wunsch, zwang, in die Gesellschaft, die er jetzt so gründlich haßte, zu¬ rückzukehren. Sechstes Kapitel. Als er nämlich an einem der folgenden Tage gegen Abend nach einer Abwesenheit von mehren Stunden sich wieder dem Dorfe näherte, sah er vor der Thür von Mutter Karsten's Wohnung einen mit zwei Pferden bespannten Wagen halten. Dies war etwas so ganz Außerordentliches in dem von allem Verkehr abge¬ schnittenen Sassitz, daß Oswald sich wol denken konnte, es müsse auch etwas ganz Besonderes sich unterdessen ereignet haben. Um den Wagen und an die Thür des Häuschens drängten sich Frauen und Kinder und die paar Männer, die nicht mit auf dem Fischfang waren. Sie wollten wissen, ob der alte Steffen, Mut¬ ter Karsten's Vater, diesmal wirklich sterben müsse, oder ob es dem jungen Doctor, nach dem Mutter Karsten vor einigen Stunden die rasche Stina geschickt hatte, gelingen werde, ihn noch einmal von seinem bösen Stickhusten zu curiren. So erzählten sie Oswald mit verstörten Mienen und gegen die Gewohnheit redselig, als er fragend unter sie trat. Denn Vater Steffen war der Patriarch des Dorfes, von Allen geehrt, auch von Oswald, der auf diese Nachricht hin, ohne sein Incognito zu be¬ denken, in das Haus und die Wohnstube eilte. Der silberhaarige Greis saß in seinem Lehnstuhl, matt und bleich, aber, wie es schien, der Gefahr entrissen — Dank der rechtzeitigen Hülfe des Doctor Braun, der so eben vor den Danksagungen der tief gerührten Mutter Karsten, ihrer Töchter und eines halben Dutzend anderer Frauen nach der Thür retirirte. „Gut, daß Sie kommen,“ rief er dem eintretenden Oswald entgegen; „ich habe einen Auftrag an Sie; wollen Sie mir erlauben, daß ich mich desselben, da meine Zeit kurz gemessen ist, sogleich entledige?“ Der Doctor ergriff Oswald ohne Umstände unter dem Arm, ihn mit sich fort zum Hause hinaus ziehend. „Entschuldigen Sie mein Ungestüm,“ sagte er, als sie, Arm in Arm, am Strande hinschritten; „aber einmal trafen Sie mich in voller Flucht vor den Dank¬ sagungen der guten Leute, und zweitens betrachte ich Sie, trotzdem wir uns leider bis jetzt nur einmal gesehen, als einen alten Bekannten, denn ich habe mich, seitdem wir uns vor ein paar Wochen in der Hütte von Mutter Clausen so zufällig begegneten, in Gedanken sehr viel mit Ihnen beschäftigt. Aber nun zu meinem Auftrag! Sie wissen jedenfalls noch nicht, daß die Familie Grenwitz von der großen Badereise, auf die ich sie vor ein paar Tagen geschickt hatte, wohlbehalten wieder zurück ist?“ „Nein!“ sagte Oswald mit nicht geringer Ver¬ wunderung. „Wie sollten Sie auch in diesem von aller mensch¬ lichen Cultur abgeschnittenen Dorfe der Ichthyophagen! Genug, die Familie ist wieder da. Der Baron (so erzählt die glaubwürdige Anna-Maria) hatte in Ham¬ burg einen fürchterlichen Fieberanfall. Der herbei¬ gerufene Arzt erklärte es für Wahnsinn, unter diesen Umständen die Reise über's Meer anzutreten und rieth zur Umkehr. Sein Rath wurde von Anna-Maria, die von vornherein gegen die Reise war, höchlichst ge¬ billigt — bref ! sie packten sich sammt und sonders, und Fräulein Helene dazu, die sie aus der Pension abholten, in die große Familienkutsche und sind wieder hier seit gestern Abend. Es wurde natürlich sofort nach mir geschickt. Ich bin heute Nachmittag dort gewesen, und da ich zufälliger Weise erwähnte, ich müsse noch nach Sassitz, bat mich die Baronin, die von Ihrem hiesigen Aufenthalte unterrichtet war, Ihnen zu sagen, daß man sich in Grenwitz ganz ausnehmend freuen würde, Sie möglichst bald wieder innerhalb des Schloßwalles zu sehen. Ich erwiederte, wie mir die Ausführung dieses Auftrages zu ganz besonderem Vergnügen gereiche und daß ich Ihnen zur Rückfahrt meinen Wagen und meine Gesellschaft anbieten würde — was ich denn, hochachtungsvoll und ergebenst, hiermit gethan haben will.“ So sprach Doctor Braun, freundlich und lebhaft, wie es seine Gewohnheit war, die grauen Augen mit den braunen, leuchtenden Sternen forschend auf Os¬ wald heftend. „Ich komme Ihnen recht ungelegen, gestehen Sie es nur!“ setzte er hinzu. „Durchaus nicht!“ erwiederte Oswald, „das heißt, ich weiß, wie Achill, als man ihm die Brisäis raubte, den Boten von seiner Botschaft wol zu unterscheiden.“ „Und wer ist die schöne Brisäis, die ich Ihnen entführe?“ fragte der Doctor. „Die Einsamkeit,“ erwiederte Oswald. „Nun, daraus mache ich mir kein großes Ge¬ wissen,“ sagte der Andere lachend; „die Einsamkeit ist wie der Duft einer Giftpflanze, süß aber betäubend und mit der Zeit geradezu verderblich, selbst für die stärksten Constitutionen. Wollen Sie meinem Rathe folgen? lassen Sie die schöne Brisäis Einsamkeit in Gottes Namen ziehen, zu wem sie will; setzen Sie sich zu mir in den Wagen und kutschiren Sie mit mir nach Grenwitz, wo Sie überdies ein Mädchen finden sollen, bei dessen Erblicken Sie ausrufen werden: Hier ist mehr denn Brisäis!“ „Fräulein Helene?“ „Fräulein Helene, auch ein griechischer Name, und der einen besseren Klang hat, wie der andere. Aber die Sonne, oder vielmehr Helios, senkt seinen Wagen und meine Pferde werden ungeduldig. Sie kommen doch mit?“ „Ohne Zweifel,“ sagte Oswald Eine Viertelstunde später rollte der Wagen mit den beiden jungen Männern bereits auf der Höhe des Ufers nach Grenwitz zu, das nur eine Stunde Weges entfernt war. Oswald hatte Mutter Karsten hoch und theuer versprechen müssen, bald wieder nach Sassitz zu kommen, und überhaupt zeigte die große Herzlich¬ keit, mit der sich beim Abschied Alt und Jung um ihn drängte und ihm ihr „Adjes, Herr Maler,“ nach¬ rief, daß er sich während seines kurzen Aufenthaltes, ohne es darauf anzulegen, die Gunst des harmlosen Völkchens in einem hohen Grade erworben hatte. Der Abend war wunderschön. Der rothe Sonnen¬ ball hing am Horizonte und goß einen Zauberschimmer über die öde Küstenlandschaft. In dem hohen Haide¬ kraut rechts und links vom Wege zirpten die Cicaden; Schwalben schossen hoch oben in der überaus klaren, weichen Luft. Oswald fühlte sich zum ersten Male seit langer Zeit beinahe heiter, und er mußte im Stillen dem klugen Manne an seiner Seite recht ge¬ ben, daß man die Freuden der Einsamkeit doch zu theuer erkaufe. „Wie leid thut es mir,“ sagte er, „daß wir un¬ serem Vorsatz, uns häufiger zu sehen, so wenig treu geblieben sind.“ „L’homme propose et Dien dispose,“ erwiederte Doctor Braun. „Wir wollen es in Zukunft besser zu machen versuchen. Sie bleiben ja, wie ich höre, noch lange in dieser Gegend, und ich werde auch wol meinen Plan, nach Grünwald überzusiedeln, noch so bald nicht ausführen können.“ „Sie wollen nach Grünwald?“ „Vorläufig wenigstens. Ich concurrire hier mit einem trefflichen Manne, der jedenfalls ein viel ge¬ wiegterer Praktiker ist, wie ich Gelbschnabel, trotzdem aber durch mich in den Schatten gestellt wird, weil ich das Glück gehabt habe, ein paar gute Kuren zu machen, wie sie's nennen, und weil die Leute immer nach dem Neuen laufen, auch wenn es nicht das Bessere ist. Zwei Aerzte aber trägt die Gegend nicht, und mein College ist alt und hat eine zahlreiche Familie zu ernähren; ich bin jung und vorläufig nur verlobt, folglich werde ich ihm den Platz räumen.“ „Das ist sehr edel.“ „So scheint es, aber scheint auch nur. Ich gieße das reine Wasser nur fort, weil ich noch reineres in Aussicht habe. Mein Schwiegervater ist einer der bedeutendsten Aerzte in Grünwald. Die Hälfte seiner Praxis ist mir, wenn er sich zur Ruhe setzt, wozu er sich noch immer nicht entschließen kann, gewiß, und da meine Braut eine Grünwalderin ist, jedes Fischlein sich aber in seinem Teich am wohlsten fühlt, ich über¬ dies die Gesellschaft der Cyklopen und Ichthyophagen, mit denen ich hier verkehren muß, herzlich satt habe, so — sehen Sie, daß mein Edelmuth die Grenzen des Erlaubten noch keineswegs überschreitet.“ „Ist es zu indiscret nach dem Namen Ihrer Fräulein Braut zu fragen?“ „Bewahre: Sophie Robran.“ „Ich hatte während meines Aufenthaltes in Grün¬ wald öfter das Vergnügen, mit Fräulein Robran in Gesellschaft zusammenzutreffen. Mein würdiger Freund, F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 8 der Professor Berger nennt sie den einzigen Schwan in einer gewaltigen Heerde von Gänsen.“ „So waren Sie längere Zeit in Grünwald?“ „Ich komme eben von dort her, nachdem ich ein halbes Jahr in den schattig-stillen Straßen der trefflichen Stadt ein äußerst idyllisches Leben geführt, und unter Berger's Auspicien meine Examina absol¬ virt hatte.“ „Aber — Sie werden jetzt mit größerem Recht über meine Indiscretion klagen — was be¬ stimmte Sie, wenn Sie diese Brücke der Lahmen und Blinden hinter sich haben, der Wirksamkeit in einem größeren Kreise, für die Sie doch offenbar vorzüglich befähigt sind, das Stillleben eines Hauslehrers in einer adligen Familie vorzuziehen, wo es Ihnen ge¬ radezu unmöglich wird, Ihre Kräfte frei zu entfalten?“ „Was mich dazu bestimmte?“ antwortete Oswald, „ich weiß es selbst kaum. Einmal wohl der gründ¬ liche Abscheu vor dem, was die Menschen mit jenem, für ein planetarisches Gemüth so äußerst bedenklichen Ausdruck: eine feste Anstellung, bezeichnen; sodann der Einfluß Berger's, der mir dringend rieth, mich nicht vor der Zeit zu binden, sondern noch ein paar Jahre in der Welt herumzusinbadisiren, wozu ich jetzt, wenn meinen Zöglingen die Flügel erst noch ein wenig ge¬ wachsen sein werden, sogar contractlich verpflichtet bin.“ „Wissen Sie, daß ich fürchte, oder vielmehr hoffe, Sie werden nicht im Stande sein, diesem Rath Ihres wunderlichen Freundes bis zum Ende zu folgen?“ „Weshalb?“ „Weil — Sie erlauben, daß ich ganz offen bin — weil Sie sich hier in einer schiefen Stellung befinden, die über kurz oder lang unleidlich für Sie werden muß. Eine solche Stellung ist nur gut für Je¬ mand, der, weil er nicht auf eignen Füßen stehen kann, gezwungen ist, sich an Andere anzulehnen; der von Jugend auf gewohnt ist, seinen Willen, seine Meinung dem Willen und der Meinung Anderer unterzuordnen, oder besser noch, der überhaupt gar keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung hat. Von dem Allen ist bei Ihnen das Gegentheil der Fall. Sie sind viel zu bedeutend für diese unbedeutenden Menschen. Sie ärgern sich über diese Menschen, und vice versa . Das ist einmal nicht anders, wo so heterogene Ele¬ mente eine Verbindung eingehen sollen. Sie halten die Baronin für das, was sie ist, für eine dünkel¬ hafte, adelsstolze, trotz ihrer Belesenheit bornirte, eng¬ herzige, geizige Person, die Baronin hält Sie für das, was Sie nicht sind: für einen unendlich in sich ver¬ liebten, hochmüthigen Narren. Sie leben in einem Hause, Sie essen an einem Tisch, und haben doch so 8 * wenig Berührungspunkte, als ob Sie durch eine Welt getrennt wären; Sie bleiben bei einander, weil Keiner aus diesem oder jenem Grunde das Wort der Trennung sprechen will, bis ein Augenblick kommt, der den Einen und den Andern gebieterisch zur Entschei¬ dung drängt. Habe ich nicht recht?“ „Ich kann es nicht in Abrede stellen.“ „Sehen Sie. Und die Sache wird, glaube ich, jetzt noch schlimmer werden.“ „Warum jetzt.“ „Bis jetzt hatten Sie in diesem Narrenhause nur ein edles Geschöpf, das Sie lieben und bemitleiden konnten: den köstlichen Bruno; jetzt, wenn Sie zu¬ rückkehren, werden Sie noch einen zweiten Clienten, oder vielmehr eine zweite Clientin finden. Ich fürchte, das arme Kind ist, um die erste Rolle in einer Familientragödie zu übernehmen, aus der Idylle ihres Hamburger Pensionats hierher nach Grenwitz ge¬ schleppt worden. Ich fürchte, es steht eine schwere Gewitterwolke über dem schönen Haupt des unglück¬ lichen Mädchens. Sie werden, wie ich Sie kenne, versuchen wollen, den Schlag abzuwenden, und un¬ tröstlich sein, daß Sie es nicht vermögen. Sie blicken mich mit großen Augen fragend an, und ich sehe, daß Sie von den Geheimnissen der Familie, in der Sie schon seit einem Vierteljahre leben, noch so gut wie nichts wissen. Die Sache ist die: Anna-Maria lebt in beständiger Furcht vor dem Tode des alten Barons, weil, wenn der Baron stirbt, sie nicht nur einen alten Gemahl, sondern auch die angenehme Aussicht verliert, sich aus dem Ueberschuß der Revenüen nach und nach ein bedeutendes Vermögen zurücklegen zu können. Deshalb ist ihr Malte lange nicht so wichtig. Den¬ noch fürchtet sie auch für den, da bei seinem Tod das Majorat ganz aus dieser Linie heraus an eine noch jüngere fallen würde, die durch Felix von Grenwitz, einen Ex-Lieutenant und notorischen Rou é , repräsentirt wird. Und nun kommt die Teufelei: um, wenn auch der Baron und selbst Malte vor der Zeit sterben sollten, doch immer noch, so zu sagen, die Hand im Spiele zu haben, hat Anna-Maria eine Heirath zwischen Fräulein Helene und dem ausgezeichneten Vetter Felix projectirt. Das arme Kind weiß nichts von diesem interessanten Plan, desto mehr aber, fürchte ich, der ausgezeichnete Felix, der in wenigen Tagen nach Gren¬ witz kommen wird, um fern von dem aufregenden städtischen Treiben in der Stille des Landlebens ganz seiner angegriffenen Gesundheit zu leben, wie die Baronin sagt. Mit einem Worte: es ist die alltäg¬ liche Mis è re von Soll und Haben, das ganz gemeine Brimborium, durch welches ein unschuldiges Püppchen geknetet und zugerichtet wird, und Ihnen wird das Glück zu Theil werden, diesem erhebenden Schauspiel als unbefangener Beobachter beiwohnen zu dürfen.“ „Das wird nimmermehr geschehen,“ rief Oswald. „Sie wollen also Ihre Stelle aufgeben?“ „Ich muß es wohl, — oder —“ eine Sturmfluth von Leidenschaft brauste durch Oswald's Seele. Er dachte an die unglückliche Marie, die jetzt oft mit auf der Brust gefaltenen Händen wie eine schmerzensreiche Heilige durch seine Träume glitt, er dachte an Me¬ litta, die verkauft worden war von ihrem eigenen Vater! Jetzt sollte sich das Bubenstück wiederholen — vor seinen Augen — „Nimmermehr, nimmermehr!“ rief er. „Sie wollen also Ihre Stelle aufgeben? „Nein; wenigstens nicht, bevor ich, so oder so, die Ausführung dieses schurkischen Planes vereitelt habe; bevor ich gethan habe, was ich konnte, ihn zu vereiteln!“ „Aber was werden Sie thun können? Lieber Freund, die Großmuth ist eine Tugend, der wir genau auf die Finger sehen müssen, damit sie uns nicht die Hel¬ denkrone, von der wir träumen, in eine klingende Schellenkappe verwandelt. Denken Sie an den edlen Junker aus der Mancha, und wie sein ritterlicher Leib geschunden und geprügelt wurde für die Wallun¬ gen seines guten Herzens! — Und dann: wissen Sie denn, ob die Andromeda, deren Perseus Sie werden wollen, überhaupt befreit sein will? Ich kenne den Baron Felix nicht — vielleicht ist er besser, als sein Ruf; ich habe nicht drei Worte mit Fräulein Helene gesprochen — vielleicht ist sie keineswegs so lieb und gut, wie sie schön ist.“ „Sie ist es, sie ist es, verlassen Sie sich darauf;“ rief Oswald eifrig. „Gut, daß Sie noch nicht dreißig Jahre alt sind;“ sagte der Doctor lachend. „Weshalb?“ „Sie wissen, was den Schwärmern, nach Goethe's Ausspruch, in dem bezeichneten Lebensalter zukommt? der Tod — an demselben Kreuze, welches sie bis dahin keuchend durch das Leben schleppten. — Aber da sind wir schon nahe am Thor. Wollen Sie mir erlauben, daß ich Sie hier absetze? Ich habe noch einen Besuch im Dorfe zu machen und dieser Weg führt direct hin, während ich über den Schloßhof einen langen Umweg machen muß. Uebermorgen komme ich wieder nach Grenwitz. Hoffentlich geht Ihr Puls dann ruhiger. Ich sagte Ihnen ja gleich: Die Ein¬ samkeit ist reines Gift für Ihre Natur. Adieu!“ Siebentes Kapitel . Es war ein köstlicher Anblick, den der Schloßhof von Grenwitz in dem Augenblick gewährte, als ihn Oswald durch das finstere Thor betrat, ein Anblick, wol geeignet, ein schmerzlich zuckendes Herz zur Ruhe zu wiegen. Während die höchsten Kuppen der ge¬ waltigen Linden, die auf das Portal des Schlosses zuführten, und die Zinne des Thurmes noch vom rothen Abendlichte angestrahlt waren, lag schon tiefer Schatten unter den Bäumen, neben dem Walle, über dem langen Grase, das überall zwischen den Steinen des Pflasters emporwuchs. Aus den Kronen der Lin¬ den, die mit weißem Blüthenschnee überdeckt waren, strömte ein süßer Duft, der die ganze Atmosphäre erfüllte. Rings umher war es so still, daß man deutlich das geschäftige Summen der Insecten ver¬ nahm; auf dem Rand des Brunnens mit der kopf¬ losen Najade saß ein Vöglein und sang der unter¬ gehenden Sonne nach; hoch oben in der rosigen Luft schossen noch immer einzelne Schwalben, als könnten sie sich heute, wo es doch gar so wunderschön sei, gar nicht entschließen, zur Erde zurückzukehren. Langsam, fast zögernd, schritt Oswald dem Schlosse zu. Er fühlte tief den Zauber dieser Abendstunde und wußte, daß das erste Menschenwort denselben zerstören würde. Aber er begegnete Niemandem. Der ganze Hof war wie ausgestorben. Er stieg die Wendeltreppe hinauf und ging durch die langen Corridore, die von seinem Fußtrit wiederhallten, auf sein Zimmer. Die Fenster waren geöffnet, und der Lehnstuhl in der Nische hatte den rechten Platz, auf dem Tische vor dem Sopha stand eine Vase, angefüllt mit frischen Blumen, der Kopf des Apollo von Belvedere hatte sich eine schmale Krone von Epheu gefallen lassen müssen. Es war aufgeräumt in dem Zimmer, aber so, wie es nur von Jemand geschehen kann, der die Eigenheiten des Be¬ wohners ganz genau kennt. Offenbar hatte hier Bru¬ no's Hand gewaltet. Oswald fühlte sich durch das stumme und doch so beredte Willkommen auf das angenehmste berührt. Es war wie eine warme Hand, die freundlich die seine drückte, wie ein Hauch, der liebevoll seinen Namen flüsterte. Der Sturm in seiner Seele, welchen die Worte des Doctors erregt hatten, war vorübergebraust, und an die Stelle des wilden Zornes eine schwermuths¬ volle Trauer getreten, daß die Menschen dieser herr¬ lichen Erde nicht werth seien und in ihres Sinnes Thorheit sich, gegen das Geschick, Schmerzen und Qualen ohne Zahl bereiteten ... Oswald hatte, den Kopf in die Hand gestützt, am Fenster gesessen. Da war es ihm, als hörte er von dem Rasenplatze an der anderen Seite des Schlosses her Stimmen erschallen. Er erinnerte sich, daß es wol an der Zeit sei, die Gesellschaft aufzusuchen und zu begrüßen. Er kleidete sich um, nahm eine Nelke aus dem Blumenstrauß und ging hinunter. Als er die Thür des Wohnzimmers öffnete, aus welchem die Fensterthür nach dem Rasenplatz führte, hörte er die Stimmen deutlicher, und als er ein paar Schritte in das leere Zimmer hinein gethan hatte, sah er auch schon einen Theil der Gesellschaft, die auf dem Rasen mit dem Lieblingsspiel der Baronin, dem Reifenspiel, eifrigst beschäftigt war. Er näherte sich leise der Thür und blieb auf demselben Platze stehen, von welchem aus Melitta an jenem Nach¬ mittage ihn zum ersten Male erblickt hatte, als er Arm in Arm mit Bruno unter den Bäumen hervortrat. Die Gesellschaft bestand aus dem Baron und der Baronin, Mademoiselle Marguerite und Herrn Timm, Malte und Bruno und einer jungen Dame, die Os¬ wald den Rücken zugewandt hatte, so daß er nur die schlanke, leichte Gestalt, deren reizende Formen ein einfaches weißes Gewand gar anmuthig hervortreten ließ, und das üppig dichte, leicht gekräuselte, blau¬ schwarze Haar bemerken konnte, welches in der Mitte gescheitelt und hinten in vielen Zöpfen zusammen¬ gesteckt, die Linien des wundervoll schön geformten Kopfes in weichen Umrissen nachzeichnete. Oswald's Blicke waren, wie von einem Zauber, an diese jugendliche Gestalt gefesselt, die, ohne den Platz zu verlassen, beinahe regungslos dastand, und nur in regelmäßigen Zwischenräumen die Arme hob, um den Reif aufzufangen, den Bruno, ihr Nachbar, mit nie fehlender Sicherheit stets so schlenderte, daß er in einem Halbbogen unmittelbar auf ihren Stock her¬ abschwebte, oder den eben aufgefangenen Reif weiter zu schicken an Malte, der ihn jedes zweite Mal fallen ließ und sich bitter beklagte, Helene werfe so schlecht, und Helene thue es ihm nur zum Aerger, und es müsse ein Anderer an Helenen's Stelle treten. „So komm hierher, Helene,“ sagte die Baronin, „Du wirfst auch wirklich sehr schlecht.“ Mutter und Tochter tauschten mit den Plätzen, und Oswald konnte jetzt Helene voll in's Antlitz sehen ... Es war eins der Gesichter, die man nie wieder vergißt, wenn man einmal mit fühlenden Augen hin¬ eingeschaut, an die sich noch der Greis über ein halbes Jahrhundert weg mit wehmüthiger Freude erinnert, wie er sich an einen warmen Sommerabend erinnert, als er — ein kleiner Schulknabe — mit den Brüdern im Garten spielte und aus der Laube das Lachen der großen Mädchen klang; eins der Gesichter, die uns, wenn wir noch so traurig sind, anlächeln, wie ein Sonnenblick an einem düstern Herbsttage, die, wenn es in unserm Herzen noch so öde ist, uns wieder an Poesie und Alles, was schön und göttlich ist, glauben machen. Oswald stand in Bewunderung verloren, wie man vor einem wunderherrlichen Gemälde anbetend stehen bleibt. Es war nicht das liebliche Oval des reizenden Gesichtes; es waren nicht die großen, dunkeln, träu¬ merischen Augen, die aus den langen schwarzen Wim¬ pern mit einem so zauberischen Lichte leuchteten; es waren nicht die vollen rosigen Lippen, die so freundlich lächeln konnten; es war nicht das dunkle Incarnat des sammetweichen Teints — es war eben Alles in Allem. Wer kann die Sonnenstrahlen fangen? wer die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die Schönheit zergliedern? Oswald versuchte es auch nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im Leben gesehen habe, nie wieder sehen werde, und es war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬ sucht, nun endlich gefunden sei... Oswald wollte die Gesellschaft begrüßen, aber es war, als ob sein Fuß an den Boden gefesselt wäre. Eine ihm unerklärliche Angst ergriff ihn, ein banges Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geschehen müsse, als werde in diesem Augenblick von geheimen Mächten des Schicksals über das Wohl und Wehe seines Lebens entschieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort, in die tiefste Einsamkeit... Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreise aus¬ geschieden war und sich dem Hause näherte. Er raffte sich gewaltsam empor und trat durch die Fensterthür dem Kommenden entgegen. Sein Erscheinen wurde natürlich sofort bemerkt und ein allgemeines: ah, Herr Stein! sieh da, Herr Doctor! bewillkommnete ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬ armt hatte, ehe er an Jene herantreten und sie be¬ grüßen konnte. „Das ist ja charmant, Herr Doctor;“ sagte die Baronin mit ihrem gnädigsten Lächeln. „Wir waren schon untröstlich bei dem Gedanken, Sie noch wochen¬ lang entbehren zu müssen und nun sind Sie schon wieder in unsrer Mitte. Was sagen Sie denn, daß wir so bald wieder umkehren mußten! Der arme Grenwitz, er ist recht krank gewesen! Geh hinein, lieber Grenwitz; es ist wirklich schon recht kühl draußen. Wir wollen Alle hineingehen — Und unser kleiner Kreis hat sich unterdessen vergrößert. Wo ist denn Helene — Hélène, venez ici, ma chère ! Lassen Sie mich Ihnen meine Tochter Helene vorstellen; ich habe ihr Hoffnung gemacht, daß Sie die Güte haben wollen, ihr zu helfen, die vielen, vielen Lücken in ihren Kenntnissen etwas auszufüllen, denn Sie glau¬ ben nicht, welch eine Stümperei eine solche Pensio¬ nats-Erziehung in wissenschaftlicher Hinsicht ist! Nicht wahr, Sie werden die Kleine in die Zahl Ihrer Schüler aufnehmen? — Mademoiselle, n'avez vous pas vu mon fichu? ah — le voilà, merci bien! et dites donc, qu'on allume la lampe ! Ich denke, wir bleiben Alle etwas im Salon beisammen.“ „Ohne Zweifel,“ sagte Herr Timm, der gegen seine Gewohnheit bis jetzt sehr still gewesen war; „saure Wochen, frohe Feste, Tages Arbeit und Abends eine gemüthliche Bowle, wie der alte Geheimrath sagt. Das soll keine Anspielung sein, gnädige Frau, bei Leibe nicht!“ „Aber es wäre Ihnen doch nicht unlieb, wenn ich es für eine Anspielung nähme,“ sagte die Ba¬ ronin, die heute Abend entschlossen schien, Alles zu bezaubern. „Ich müßte lügen, wollte ich das Gegentheil be¬ haupten,“ sagte Herr Timm, die Hand aufs Herz legend; „und Sie wissen, gnädige Frau, daß mir alle Lüge in den Tod verhaßt ist.“ „ Eh bien !“ sagte die Baronin, „und Sie sollen die Ingredienzien selbst bestimmen; wollen Sie sich darüber mit Mademoiselle in Einvernehmen setzen?“ „Famos,“ sagte Herr Timm, „gnädige Frau, ich muß Ihnen die Hand küssen;“ und nachdem er den Worten die That hatte folgen lassen, zog er die kleine Französin bei Seite, ihr das Recept zu einer „famo¬ sen Bowle“ mitzutheilen. Man war vielleicht eine Stunde plaudernd im Salon beisammen gewesen, Herr Timm hatte einige komische Lieder eigener Composition am Clavier recht hübsch vorgetragen, einige komische Scenen, in denen er zu gleicher Zeit als zwei oder drei verschiedene Personen auftrat und mit zwei oder drei verschiedenen Stim¬ men redete, aufgeführt, — kurz, er hatte Alles, was in seinen Kräften stand, gethan, um die nach den ersten zehn Minuten ziemlich einsylbige Gesellschaft zu unterhalten, und trotz alledem die von ihm selbst ge¬ braute Bowle auch ziemlich allein ausgetrunken — als die Baronin zum Aufbruch mahnte. Herr Timm erbat sich als einzigen Ehrensold für seine künstlerischen Bemühungen am heutigen Abend die Erlaubniß, den Damen vom Hause die Hand küssen zu dürfen, eine Erlaubniß, die ihm von der Baronin mit gnädiger Bereitwilligkeit, von Fräulein Helene aber nicht zugestanden wurde, die kurz und trocken, und die schönen Brauen ein wenig zusammenziehend, bemerkte, der Künstler müsse seinen Lohn in sich selbst tragen. Herr Timm wollte dagegen Einwendungen erheben, aber Oswald schnitt die weiteren Auseinan¬ dersetzungen ab, indem er „gute Nacht“ wünschte und mit Bruno (Malte hatte sich schon früher entfernt) das Zimmer verließ und so Herrn Timm, der in demselben Theile des Schlosses wohnte, zwang, sich ebenfalls zu empfehlen. Ueberhaupt hatte Oswald seinen neuen Freund heute Abend nicht gerade freund¬ lich behandelt und es gehörte die ganze Gutmüthigkeit und Anspruchslosigkeit dieses Letzteren dazu, sich da¬ durch in keiner Weise stören zu lassen, und in seinem übermüthigen Geschwätz fortzufahren, bis sie sich, vor ihren Thüren angekommen, trennten. „Gott sei Dank!“ sagte Oswald, als er sich mit Bruno in seinem Zimmer allein sah; „endlich sind wir den lästigen Schwätzer los. Und ich habe dich noch gar nicht um Verzeihung bitten können, daß ich neulich beim Abschied so kalt und gleichgültig war, Dir noch nicht danken können, daß Du brüderlich Alles ver¬ gessen hast — mir ein so freundliches Willkommen be¬ reitet hast. Nicht wahr, diese Blumen sind von Dir?“ „Ja — “ „Und der Epheukranz dort um die Stirn des Apollo ist von Dir? „Ja —“ „Und Du hast den Lehnstuhl an die rechte Stelle gerückt?“ „Ja —“ „Du lieber, lieber Junge! komm, wir wollen uns Beide hineinsetzen, und nun sollst Du mir von Dei¬ nen Irrfahrten erzählen, von den Städten, die Du gesehen, von den Kyklopen, die Du geblendet, von den Leiden, die Du erduldet hast in Deiner lieben Seele F. Spielhagen, Problematische Naturen. III .9 — Alles, der Ordnung gemäß, weißt Du, wie Po¬ lyphem seine Schaafe melkt.‟ Oswald hatte sich in den Stuhl geworfen und Bruno zu sich gezogen. So saßen sie; und der Knabe schmiegte sich innig an seinen einzigen Freund, und fing an zu erzählen, erst mit satyrischer Laune die Hinfahrt schildernd, wie bald der Baron und bald Malte nicht hatten rückwärts fahren können, wie zu¬ letzt Beide auf dem Bock gesessen hatten, und der Postillon im Wagen — und wie er, Bruno, vergnügt gewesen sei, als immer neue Städte und Dörfer vor seinen Blicken auftauchten, und nun zuletzt das große Hamburg. Dann nahm seine Erzählung einen andern Ton an. Er schilderte mit allem Ernste den Eindruck, welchen die Stadt auf ihn gemacht hatte, die großen stattlichen Häuser, das Gedränge in den Straßen, das Treiben im Hafen, die vielen Schiffe, das Alster¬ bassin, in welchem sich die großen Lichter spiegelten, und welche zauberische Wirkung das herrorbringe, wenn man langsam am Rande hinspaziere, und wie er einmal beinahe ins Wasser gefallen wäre, wenn ihn Helene nicht gehalten hätte. Und nun nachdem Helenens Namen erst einmal genannt war, tauchte er immer wieder auf, wie ein leuchtender Stern aus treibenden Wolken: wie Helene geweint habe, als sie von Hamburg abreisten, wie sie auf das Wort ihrer Mutter: „es scheint Dir recht viele Freude zumachen, zu Deinen Eltern zurückzukehren,” die Thränen ge¬ trocknet, aber auch auf der ganzen Reise kaum einmal wieder gelächelt habe. Denn sie sei sehr stolz, aber auch sehr, sehr gut gegen Alle, die sie lieb habe, zum Beispiel gegen ihren Vater, und auch gegen ihn (Bruno), obgleich er durchaus nicht behaupten wolle, daß sie ihn lieb habe — so arrogant sei er durchaus nicht — aber so viel sei gewiß, daß sie eines Abends, als es schon sehr spät war und er, von dem vielem Fahren müde, die Augen nicht mehr aufhalten, vor all dem Rütteln und Schütteln aber nicht zum Schlafen kommen konnte, es sich ruhig gefallen ließ, als sein Kopf in der Schlaftrunkenheit auf ihre Schulter sank, und dort wol eine halbe Stunde liegen blieb. Das werde er ihr nie vergessen und wenn er einmal Ge¬ legenheit haben sollte, ihr einen Dienst zu leisten, dann wünsche er nur, daß es dabei um Hals und Kragen gehe, sonst hätte es doch keine rechte Art. So sprach der Knabe und seine Worte fielen dicht wie Feuerfunken aus einem Gebäude, das in hellen Flammen steht und seine Wangen glühten. Oswald bemerkte wol, daß das schöne Mädchen einen großen 9 * Eindruck auf den wilden Knaben gemacht hatte, aber wie groß, wie allmächtig dieser Eindruck war, welche Revolution in dieser frühreifen, übermächtigen Natur eine erste, wie ein Lavastrom hereinbrechende Liebe hervorgebracht hatte — das ahnte er nicht. Er scherzte über seines Lieblings feurigen Enthusiasmus, um so witziger und feiner, als er denselben in nicht geringem Grade theilte, und Bruno, der sich von Oswald Alles gefallen ließ, lachte mit und lächelnd und scherzend sagten sie sich gute Nacht. Bruno ging in seine Kammer, Oswald setzte sich wieder in den Lehnstuhl . . . Auf dem Tisch vor dem Sopha brannte die Lampe, aber so dunkel, daß man das Flimmern des Mondes, der eben über die Buchen des Walles heraufstieg, wol in der Stube bemerkte; ein einzelner Stern in der Nähe der Mondsichel schimmerte aus dem tiefen Blau des nächtlichen Himmels. Durch das offene Fenster strömte die weiche balsamische Nachtluft — es war so still, daß man die fallenden Thautropfen deutlich hörte. Und jetzt, während Oswald saß und lauschte, klangen, wie die Töne einer Aeolsharfe, auf einem Fügel mit kunstgeübter Hand angeschlagene Ac¬ corde zu ihm herüber, erst leise, leise als fürchtete man die Nacht aus dem Schlafe zu wecken, dann ganz allmälig lauter. Die Accorde flossen zusammen zu der Melodie eines Liedes, und bald begann eine weiche Altstimme das Lied zu der Melodie zu singen... Oswald konnte die Worte nicht vernehmen, aber sie schienen sanft und traurig zu sein, wie die Melodie, deren einfache rührende Klage wunderbar zum Herzen sprach . . . Diese Musik zu dieser Stunde würde Oswald entzückt haben, auch wenn er nicht hätte ahnen können, wer die Sängerin war. Jetzt aber, wo er wußte, daß es Niemand sein konnte, als das schöne Mädchen, vor dem sich heute Abend, wie vor einer überirdischen Erscheinung, seine Seele anbetend geneigt hatte, bei dessen Anblick es über ihn gekommen war, wie die Offenbarung einer höheren Welt — klangen die tief¬ sten Seiten seines Herzens mit, und wie der Gläu¬ bige, was in ihm wogt und drängt, in ein Gebet zu gießen versucht, so fühlte Oswald den Drang, in Worten auszusprechen, was seine Seele so mächtig erregte. Er erhob sich wie trunken, aus dem Sitz am Fenster; er schritt an den Tisch und schrieb kaum wissend, was er schrieb: Nie, seit der wunderbaren heil'gen Stunde, Die Milton's hoher Genius besang, Als von des ersten Menschen reinem Munde Das erste süße Wort der Liebe klang, Und alle Vöglein sangen's in der Runde, Und jedes Blümlein aus der Knospe sprang — Nie ist ein Weib auf Erden je erschienen, Denn, so wie Dir, die Engel sichtbar dienen. O, Du bist lieb! lieb, wie der Gott der Träume, Der uns Vergessenheit der Schmerzen bringt, So hold, wie Mondschein, der durch Blüthenbäume In unser lauschig dunkles Zimmer dringt — Süß, wie Dein Sang, der durch die stillen Räume In tiefer Nacht zu mir herüberklingt — Du bist so schön, daß man wie sie Dich nannte, Für die der Krieg um Troja einst entbrannte. Geheimnißvolle hehre Macht des Schönen! Als unser Heiland bist Du uns gesandt. Du sollst uns wieder mit uns selbst versöhnen, Die wir zu stürmisch durch die Welt gerannt; Und wie mit seiner Harfe goldnen Tönen, Isai's Sohn des Saulus Weh gebannt, So wird aus Deinen liebetiefen Augen Manch' düstrer Blick sich Licht und Hoffnung saugen. Aus Deinen holden Augen! wo sie strahlen In ihrer dunklen, märchenhaften Pracht, Da sind vergessen alle Erdenqualen, Da wird es hell in tiefster Leidensnacht, Wo sie erglänzen, wird in kummerfahlen, Gesenkten Stirnen Leben neu entfacht — In müden Pilgern, die in allen Landen Die blaue Blume suchten und nicht fanden. O Blume, Mädchen! nie leg ab die Krone, Die jetzt auf Deinem jungen Haupte ruht, Gieb nimmer Raum dem frevelhaften Hohne, Daß, was so engelschön, nicht engelgut! Wie heute stets, in heil'ger Unschuld, wohne, In aller guten Geister treuer Hut, Auf daß getrost in trüber Erdenferne Verirrte Wandrer folgen Deinem Sterne ... Oswald trat wieder ans Fenster; der Mond und der Stern waren von einer schweren Wetterwolke be¬ deckt, die hinter ihnen her über den Wall heraufge¬ zogen war; der Gesang war verstummt, lauter rauschte der Nachtwind in den Bäumen . . . Er schloß das Fenster und suchte sein Lager auf. Es umfing ihn ein schwerer Schlaf, durch den be¬ ängstigende Träume zogen. Bald befand er sich in Feuersgefahr, bald sollte er von wilden Thieren zer¬ rissen werden, bald überfiel ihn jene Angst, deren un¬ sägliches Grausen nicht von dieser Welt zu stammen scheint; aber stets, in dem Augenblicke der höchsten Noth, trat ihm ein Engel zur Seite, und streckte schützend seine Hand über ihn, und dieser Engel trug die Züge — Melitta's. Achtes Kapitel. Als Oswald am nächsten Morgen unter den Pa¬ pieren auf seinem Schreibtisch kramte, fiel ihm ein Briefchen in die Hände, das er gestern Abend über¬ sehen hatte. Er erkannte sogleich die Handschrift, welche mit ihren bald kühnen und großartigen, bald kritzlich verworrenen Zügen so problematisch war, wie der Charakter des Schreibers. Das Billet war von Oldenburg und lautete: So eben erhalte ich eine Nachricht, die mich nöthigt, sofort eine größere Reise anzutreten, von der ich nicht zu bestimmen vermag, wie lange sie dauern wird. Unter acht Tagen schwerlich. Ich schreibe diesen Brief, um ihn auf Grenwitz abzugeben, im Falle ich Sie nicht persönlich sprechen sollte, was mir sehr leid thun würde, da ich Ihnen Vieles zu sagen hätte. Unsere Czika nehme ich mit, da mir die So¬ litüde während meiner Abwesenheit kein sicherer Auf¬ enthalt für das Kind scheint. Bis zu dem Termin, den uns die Zigeunerin gestellt hat, bin ich jedenfalls zurück. Bis dahin leben Sie wohl! In großer Eile und noch größerer Freundschaft A. v. O. Oswald fühlte sich durch diesen Brief eigenthüm¬ lich berührt, denn er ahnte mit jener Divinationsgabe, die in Herzensangelegenheiten eine so große Rolle spielt, irgend einen Zusammenhang zwischen dieser plötzlichen Abreise Oldenburg's und der Abreise Me¬ litta's. War es, daß er in der letzten Zeit wiederum so viel über das Verhältniß der Beiden, das ihm durch Melitta's in der Mitte abgebrochene Erzählung in einem ganz neuen Lichte erschienen und doch noch lange nicht hinreichend aufgehellt war, nachgedacht hatte; war es nur der Umstand, daß der Brief Ol¬ denburg's so dunkel gehalten war — genug, Oswald empfand es als eine Art Beleidigung, daß er nach dieser Seite hin fort und fort auf Räthsel stieß. Er nahm sich vor, noch heute nach Berkow hinüberzugehen und bei'm alten Baumann anzufragen, ob ein Brief Melitta's für ihn da sei. Dann nahmen seine Gedanken eine andere Rich¬ tung, als sein Auge auf die Verse fiel, die er gestern Abend geschrieben hatte. Er mußte lächeln, als er sie jetzt durchlas. „Da hat Dir Deine leidige Phan¬ tasie wieder einmal einen rechten Streich gespielt;“ sprach er bei sich. „Es braucht Dir nur Jemand von einem hübschen Mädchen zu erzählen, das einen Andern, als Deine Hoheit, heirathen soll, und Du ge¬ räthst in einen Paroxysmus des Mitleidens mit dem jungen Mädchen und in einen Paroxysmus des Hasses gegen den jungen Mann. Und hernach brauchst Du das Mädchen nur selber zu sehen und zu finden, daß sie große dunkle leuchtende Augen hat und überhaupt interessanter aussieht, als die Backfische im Allgemeinen, und ein Knabe braucht Dir nur eine halbe Stunde von besagtem Backfisch vorzuschwärmen, so fühlst Du Dich gemüßigt, so überschwängliche Verse zu schreiben wie diese hier, die ich in das Feuer des Ofens stecken würde, wenn wir uns nicht unglücklicherweise in den Hundstagen befänden.“ Indessen Oswald stellte das Autodafé nicht an, obgleich die Flamme eines Lichtes dieselben Dienste gethan haben würde, wie das Feuer im Ofen, sondern legte das Blatt sehr sorgfältig in sein Pult — ver¬ muthlich, es zur Erinnerung an eine schwache Stunde aufzubewahren, da er sonst ziemlich frei von der Affenliebe war, welche junge angehende Dichter für die Kinder ihres Geistes zu empfinden pflegen. Der Morgen grüßte so freundlich aus dem thau¬ frischen Garten herauf, daß Oswald dem Verlangen, ein wenig zwischen den blumenreichen Beeten und in den schattigen Laubgängen umherzuschlendern, nicht widerstehen konnte. Ueberdies war es noch sehr früh — noch beinahe zwei Stunden Zeit — die Knaben schliefen noch. Oswald eilte hinab und suchte seinen Lieblings¬ platz auf, den mächtigen Wall, der Schloß und Garten und Hof umfaßte und auf welchem es sich unter den Buchen und Nußbäumen gar anmuthig promenirte, besonders am Morgen, wenn die rothen Sonnen¬ strahlen durch die wehenden Zweige blitzten und die halbwilden Enten noch lustiger als sonst auf dem grün überwachsenen Graben ihr Wesen trieben. Oswald schlenderte langsam dahin, die reizenden Einzelheiten des wonnigen Morgens mit allen Sinnen genießend, heute um so mehr, als die Lieblichkeit, die sanfte Schönheit, die ihn hier rings umher anlächelte, gar seltsam mit der öden Monotonie der Meeresküste, die er in der letzten Zeit beständig vor Augen gehabt hatte, contrastirte. Heute Morgen war es ihm bei¬ nahe unbegreiflich, wie er sich von seiner düstern Laune so ganz habe beherrschen lassen können. Der Doctor hatte Recht: die Einsamkeit ist ein süßes be¬ rauschendes und zuletzt tödliches Gift. Ich muß den Doctor öfter zu Rathe ziehen. Ein klarer Kopf, der die Dinge und Menschen und Verhältnisse stets in dem rechten Lichte sieht. Aber in Betreff der zwischen Fräulein Helene und ihrem Vetter projectirten Hei¬ rath irrt er sich doch. Erstens ist sie noch viel zu jung, zweitens ist sie viel zu schön und drittens will ich es nicht. Hören Sie, Madame la Baronesse : ich will es nicht! Sie werden Ihr sauberes Project nicht ausführen, wenn Sie auch noch so sehr mit ihren großen herrschsüchtigen Augen rollen und sich zu Ihrer ganzen stattlichen Höhe emporrichten. Es war ein Glück, daß Oswald diese Worte nicht pathetisch in den stillen Garten hineindeclamirte, son¬ dern nur leise durch die Zähne murmelte, denn wie er eben um eine Ecke des Walles bog, die durch ein dichtes weit vorspringendes Gebüsch noch schärfer ge¬ macht wurde, fand er sich plötzlich Fräulein Helene, die von der andern Seite kam, gegenüber. Dies Zu¬ sammentreffen war für beide Theile so überraschend, daß das junge Mädchen nur mit Mühe einen leisen Schrei unterdrückte, und Oswald, sehr gegen seine Gewohnheit, geradezu verlegen wurde und nicht wußte, ob er die junge Dame anreden, oder grüßend stumm vorübergehen solle. Aus diesem Zweifel wurde er durch Fräulein He¬ lene befreit, die es vielleicht ganz begreiflich fand, daß der junge Hauslehrer, von dessen Unterhaltungsgabe sie gestern Abend keine besonders große Meinung be¬ kommen hatte, nicht die Geistesgegenwart habe, aus dem Stegreife eine Conversation zu beginnen; und deshalb glaubte, daß eine harmlose Bemerkung ihrer¬ seits über den schönen Morgen das für die Situation Passendste sein dürfte. „Der schöne Morgen hat Sie auch herausgelockt, wie ich sehe.“ „Ja, mein Fräulein. Der Morgen ist in der That sehr schön.“ „Köstlich. Haben Sie immer so herrliches Wetter in der letzten Zeit gehabt?“ „Immer; das heißt, einige Regentage ausge¬ nommen.“ „Wenn man den Himmel so blau sieht, sollte man schlechtes Wetter für ein Märchen halten, meinen Sie nicht auch?“ „Gewiß.“ Fräulein Helene mochte glauben, daß diese geist¬ reiche Unterhaltung nun lange genug gedauert habe, und da sie zufällig an einer Stelle angelangt waren, wo eine schmale Treppe von dem Wall hinab in den Garten führte, so hielt sie es in ihrem und ihres einsilbigen Begleiters Interesse für gerathen, diese Gelegenheit, die Scene abzubrechen, nicht unbenutzt zu lassen. „Haben Sie eine Ahnung, welche Zeit wir haben?“ „Halb sieben.“ „Schon? Da muß ich eilen, in's Schloß zurück¬ zukommen, ehe Mama meine Abwesenheit bemerkt.“ Fräulein Helene nickte vornehm mit dem Kopfe, stieg leicht die Treppe hinab und ging langsam zwischen den Blumenbeeten dem Hause zu. „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde,“ sagte Oswald bei sich, als er der jugendlich schlanken Ge¬ stalt nachschaute, „glücklich habe ich sie also durch meine meteorologischen Bemerkungen nicht gemacht; und ihre Eile in's Schloß zu gelangen war weniger groß, als die von mir fortzukommen. Jedenfalls scheint sie noch Zeit genug zu haben, sich ein reizendes Bouquet zu pflücken. Ohne Zweifel für mich. Ich habe augenscheinlich eine vollständige Eroberung ge¬ macht. Wie sie mich mit ihren wunderbaren Augen, so mitleidig halb und halb verächtlich, anblickte, als wollte sie sagen: ich thue Dir wol einen großen Ge¬ fallen, wenn ich Dich mit Deiner Blödigkeit allein lasse! Sie ist stolz, sagt Bruno; gewiß, aber wie köstlich steht ihr dieser Stolz; wie kann ein Mädchen mit diesem Gesicht, diesen Augen, diesem Haar anders als stolz sein. Es ist die Atmosphäre, in die sie so nothwendig gehört, wie ein Adler in die höchsten Lüfte. Der Adler ist auch stolz und kein Mensch nimmt es ihm übel. . . . Wie schön das Mädchen ist! eine prächtige Schönheit, die das helle Sonnenlicht nicht zu scheuen braucht, die nur noch schöner zu werden scheint, je köstlicher der Rahmen ist, der sie umgiebt. Eine unheimliche Schönheit, die uns fesselt und er¬ starren macht, wie die der tödtlich schönen Meduse. Dies Mädchen eine Blume? wo waren meine Augen gestern? sie ist kein lyrisches Gedicht voll Vogelsang und Sonnenschein, sie ist eine schwermüthige Ballade, in der Schwerter klirren und Herzen verbluten, wäh¬ rend oben aus dem Thurme ein weißes Tüchlein weht. — Und halt! jetzt weiß ich's: es ist das leib¬ haftige Gottseibeiunsgesicht der Grenwitzer, wie Albert vortrefflich sagt — Zug für Zug! es ist das Gesicht Harald's in's Weibliche übersetzt, dieselben dämonischen Augen, derselbe berauschend sinnliche Zug in den vollen, fast zu vollen Lippen, dieselbe Kraft in dem üppig dichten blauschwarzen Haar, das sich über der breiten, festen Stirn aufträufelt! — Vortreffliche Frau Mama! Sie irren sich sehr, wenn Sie glauben, daß diese Stirn sich so gutwillig unter ihre Beschlüsse beugen wird; ausgezeichneter Baron Felix, Sie müssen Ihrem Namen wahrhaftig Ehre machen, wenn Sie in diesem Falle reüssiren wollen! Der Morgen ist in der That köst¬ lich, und man sollte wirklich, wenn man den Himmel so blau sieht, schlechtes Wetter für ein Märchen halten Oswald hatte sich in der letzten Zeit so ausschlie߬ lich mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß es ihm jetzt ein Bedürfniß schien, sich zur Abwechse¬ lung einmal auch um die anderer Leute zu bekümmern. Die Baronin war erstaunt über das Interesse, mit welchem er heute bei Tisch, und mehr noch in einer längeren Unterredung, die sie nach der Mahlzeit hatten, auf ihre Gedanken einging und verschiedene von ihr aufgeworfene Fragen betreffs des Unterrichts erörterte: ob es nicht bei der großen Hitze zweckmäßiger sei, die Lectionen um sieben, statt wie bisher um acht zu be¬ ginnen? ob man die Nachmittagsstunden nicht lieber ganz ausfallen lassen wolle? ob die Bücher, aus wel¬ chen Helene bis jetzt Geschichte und Literatur studirt habe, für sie noch brauchbar seien? ob zwei Lectionen wöchentlich für Helenen's Fortbildung hinreichten? und ob er den Morgen oder den Abend für die geeignetere Zeit halte? Auch der alte Baron war auf das Angenehmste überrascht, als er heute an Oswald einen aufmerk¬ samen Zuhörer der langen Geschichte seiner kleinen Leiden fand. Er hatte Oswald, der ihn stets mit vieler Höflichkeit behandelt hatte, im Herzen immer für einen braven und liebenswürdigen jungen Mann gehalten, trotz des entschiedenen Widerspruchs seiner Anna-Maria und der mindestens zweifelhaften Zu¬ stimmung des Pastors Jäger; und er war ordentlich froh, daß er dieser Gesinnung heute, wo auch die Ba¬ ronin sie zu theilen schien, endlich einmal einen Aus¬ druck geben konnte. Ueberhaupt schien die Reise einen sehr günstigen Einfluß auf die Baronin gehabt zu haben. Mademoiselle Marguerite, der man in dieser Beziehung wol ein Urtheil zutrauen durfte, behauptete gegen Albert, „sie ist verändert totalement , sie hat mich nicht gescholten ein einziges Mal den ganzen Tag;“ worauf der sinnige Albert erwiederte: „ja, ich finde selbst, der alte Drache ist heute beinahe genie߬ bar.“ Mit einem Worte, es herrschte heute ein so gutes Einvernehmen, wie noch nie in der Gesellschaft auf Schloß Grenwitz. Jeder schien die Gründe, die er hatte, mit Diesem oder Jenem weniger zufrieden zu sein, vergessen oder doch in den Hintergrund ge¬ schoben zu haben. Die Motive, die dabei maßgebend F. Spielhagen, Problematische Naturen. III. 10 waren, mochten allerdings für die Einzelnen sehr ver¬ schieden sein; da aber das Resultat für Alle angenehm war, so nahm man bereitwilligst für baare Münze, was der Andere dafür bot — natürlich, um sich das Recht zuzusprechen, Jenem mit derselben Münze zu bezahlen. Oswald hatte die Begegnung mit Fräulein Helene am Morgen nicht vergessen und sich des Eindrucks, den er dabei auf die stolze, junge Dame gemacht haben mußte, wol bewußt, sah er es nicht ungern, daß ihm im Laufe des Tages mehr als eine Gelegenheit wurde, seine natürlichen Vorzüge geltend zu machen. Bei Tische um eine Erzählung dessen, was ihm während der Abwesenheit der Familie begegnet war, gebeten, gab er eine Schilderung seines einsamen Lebens in Sassitz, wobei er sich eine halb humoristische und halb sentimentale Rolle zutheilte, natürlich ohne das ro¬ mantische Dunkel, welches über seinem dortigen Auf¬ enthalte lag, im mindesten zu lüften. Die derbe Mutter Karsten wurde zu einem Heldenweib, ihr rothhaarigen Töchter Stine und Line zu schönen Wassernixen und der alte halb blödsinnige Vater Steffen zu einem weisen Merlin; die Kreidefelsen der Küste wuchsen in's Ungeheure und die Brandung donnerte zwischen den Klippen des Strandes mit wahrhaft Ossianischer Majestät. Die Gesellschaft, obgleich sie die Ueber¬ treibungen wol herausfühlte, horchte mit athemloser Spannung, und Oswald empfand es als den schönsten Lohn seiner phantastischen Improvisation, daß die großen, glänzenden Augen Helene's während seines Vertrages mit einem Ausdruck halb der Verwunde¬ rung und halb des Zweifels unverwandt auf ihn ge¬ richtet waren. Er war so ganz die Seele der Gesellschaft ge¬ worden, daß man es ihm ernstlich übel zu nehmen schien, als er gleich nach der Abendmahlzeit erklärte, den verabredeten Spaziergang durch den Buchenwald nach dem Strande nicht mitmachen zu können, da morgen Posttag sei und er einige sehr wichtige Briefe zu schreiben habe. Wenn Oswald die bekannte Regel, sich in dem Augenblicke aus einer Gesellschaft zurück¬ zuziehen, wo man sich ihr unentbehrlich gemacht hat, durch diese Weigerung befolgen wollte, so konnte er mit der beabsichtigten Wirkung vollkommen zufrieden sein. Fräulein Helene wenigstens ließ sich herab, ihn direct zum Bleiben aufzufordern, und wandte sich, als er bei seinem Vorhaben beharrte, so kurz von ihm weg, daß ihr Unmuth nur zu ersichtlich war. Indessen Oswald hatte diesmal andere und bessere Gründe, die ihn nicht zu bleiben bestimmten. Der 10* funkelnde Stern, der soeben über seinem Horizonte aufgegangen war, hatte ihn nicht so verblendet, daß er das Gestirn, welches nun schon so lange mit nim¬ mer verlöschendem, stets gleichem, treuem, lieblichem Licht auf ihn herabblickte, darüber vergessen hätte. Er hatte schon gestern in Sassitz mit Bestimmtheit auf einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Bau¬ mann noch am Abend, nachdem er mit dem Doctor weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt haben würde. Wohl hatte er Mutter Karsten gesagt, daß er nach Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der alte Baumann einen Brief Melitta's, der so leicht in andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch hatte Oswald eine große Sehnsucht nach dem längst erwarteten Brief! So stahl er sich denn, gleich nachdem die Gesell¬ schaft den Schloßhof verlassen hatte, durch den Gar¬ ten nach dem großen Thor, aus dem man fast un¬ mittelbar in den Tannenwald zwischen Grenwitz und Berkow gelangte. Es dunkelte schon unter den hohen Bäumen mit den weit überhangenden Aesten. Das von der Hitze des Tages durchwärmte Holz strömte jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem weiten Revier herrschte eine fast unheimliche Stille. Und jetzt in dieser feierlichen Abendstunde, in die¬ sem hehren Waldestempel überkam die Erinnerung an Melitta Oswald's Herz mit aller Macht. Ihre hohe, und bei aller lieblichen Fülle so jungfräuliche Gestalt, ihr reiches, braunes Haar, das in so weichen Wellen von dem Scheitel zum Nacken herabfloß, ihre dunkeln zärtlichen Augen; ihre reizende Schalkhaftig¬ keit, ihr liebliches neckisches Wesen — und ach! vor allem ihre unendliche Güte und Liebe — wie deutlich ihr Bild vor seiner Seele stand! wie heiß er sich ge¬ lobte, der Lieben, Guten, Holden nie, auch nur in Gedanken untreu zu werden, und komme, was da wolle, ihre Liebe mit unendlicher Liebe zu er¬ wiedern. Da ertönte Hufschlag durch den stillen Wald und bald tauchte aus dem Halbdunkel ein Reiter auf, der in raschem Trabe daherkam. Oswald durchfuhr ein freudiger Schrecken, als er in dem Reiter den alten Baumann auf dem Brownlock erkannte. „Einen Brief? Haben Sie einen Brief?“ rief er mit einer Heftigkeit, die Brownlock einen Schritt zur Seite springen machte. „Ruhig, Brownlock, ruhig,“ sagte der Alte, dem Pferde den schlanken Hals hätschelnd; „guten Abend, junger Herr! Ich habe Sie schon in Sassitz gesucht, allwo ich erfahren, daß Sie sich am gestrigen Tage zurück nach Grenwitz begeben. Nun wollte ich so eben dorthin reiten —“ „Aber, wenn Sie mich nicht selbst getroffen hätten? und unter welchem Vorwande wollten Sie sich bei mir einführen lassen? Doch gleichviel — wo ist der Brief?“ „Hier!“ sagte der Alte, der unterdessen vom Pferde gestiegen war, ein nicht unbedeutendes Packet aus der tiefen Tasche seines langen Ueberrockes holend. „Geben Sie!“ „Nur Geduld, junger Herr! Ich habe an Alles gedacht. Dies Packet ist, wie Sie sehen, wohl zuge¬ bunden und versiegelt, und trägt die Aufschrift: Hier¬ bei die bewußten Bücher mit bestem Dank zurück. Die andern wird Ihnen Baumann zustellen, sobald ich sie durchgelesen habe — und die Unterschrift: Ihr ergebenster B. — das kann ja wohl so gut Bemper¬ lein als Baumann heißen, nicht wahr?“ Der alte Baumann hatte, während er sprach, die Schnur um das Packet gelöst und aus einem der drei Bücher, die es enthielt, einen Brief genommen, den Oswald hastig erbrach und gegen das Licht hielt, um ihn zu lesen. Aber das Dunkel unter den hohen Bäumen war bereits zu dicht; er vermochte nur noch die Ueberschrift: liebstes Herz, mit Mühe zu entziffern. „Ich kann nichts mehr sehen,“ sagte er traurig. „Wären Sie in Sassitz geblieben, wie Sie neu¬ lich wollten, oder hätten Sie gestern nur dem alten Baumann ein Wort zukommen lassen, so wären Sie noch bei guter Tageszeit in Besitz dieses Briefes von meiner gnädigen Frau gewesen.“ Oswald fühlte wohl den Vorwurf, der in diesen sehr ruhig gesprochenen Worten lag und es wurde ihm nicht schwer, dem treuen Diener und Freunde Melitta's sein Unrecht einzugestehen. „Verzeihen Sie mir,“ sagte er, daß ich Ihnen die zweifache Mühe gemacht habe, ich habe meine Unbe¬ sonnenheit den ganzen Tag hindurch schon verwünscht und ich bin schwer genug dafür bestraft, denn hier halte ich den theuren Brief in den Händen, und kann doch nicht erfahren, wie es ihr, wie es Frau von Berkow geht, ob sie wohl ist, ob sie glücklich in N. angekommen ist, und tausenderlei, was ich Alles wissen möchte und was ohne Zweifel hier steht“ — und er versuchte noch einmal den Brief zu lesen. „Nu, nu!“ sagte der alte Baumann; „wegen meiner haben Sie nun schon keine Sorge nicht; so eine Meile oder zwei mehr oder weniger, darauf kommt es mir und dem Brownlock nicht eben an. Und was die Nachrichten betrifft, die Sie zu haben wünschen, so weiß ich davon auch eine oder die andere mitzutheilen, sintemalen Herr Bemperlein mir einen Schreibebrief übersandt hat, in welchem die Reise und was sich bei der Ankunft zugetragen, Alles ausführ¬ lich berichtet ist. Der alte Mann hatte den Zügel über den Arm gehängt und ging neben Oswald her, der seine Schritte beeilte, um möglichst bald nach Grenwitz und auf sein Zimmer zu kommen. „Die gnädige Frau — Gott behüte sie,“ sagte der Alte, „ist mit Herrn Bemperlein nach Verlauf von drei Tagen glücklich an Ort und Stelle ange¬ kommen. Herr Bemperlein hat sich sogleich mit Dr. Birkenhain in Vernehmen gesetzt und erkundet, daß Herr von Berkow noch lebe, auch noch immer seiner Be¬ sinnung mächtig, aber zu schwach sei, um den Besuch der gnädigen Frau entgegenzunehmen. Das hat nun so gedauert bis zum Tage vor dem Abgang des Briefes, allwo die gnädige Frau in Begleitung des Herrn Bemperlein und des Herrn —“ Der Alte unterbrach sich und hustete. „Nun, wessen?“ fragte Oswald, dessen Verdacht in Betreff des Barons Oldenburg wieder erwachte. „Nun, des Herrn Doctors natürlich, wessen sonst,“ sagte der Alte; „ja, was wollte ich doch gleich sagen, Sie haben mich durch Ihre Frage ganz aus dem Text gebracht — richtig: also in Begleitung des Herrn Bemperlein und — hm, hm! des Herrn Doc¬ tors auf wenige Minuten nur bei dem Baron von Berkow gewesen sind. Er hat sie gleich erkannt, aber der gnädige Herr soll sich so verändert haben, daß er der gnädigen Frau, wie sie selbst gesagt hat, wie ein vollkommen fremder unglücklicher Mann erschienen ist. Gesprochen hat er nur ein paar Worte, von denen aber nur das eine: Engel, zu verstehen gewesen ist. Dann sind sie wieder fortgegangen, und alsbald hat der gnädige Herr wieder die Besinnung verloren und angefangen zu phantasiren, und der Doctor meinte, das werde wol nun bis zu seinem Ende so fortgehen, — welches denn der Herr Gott in seiner Gnade recht bald möge eintreten lassen, damit der arme Mann von seiner Qual befreit ist und die arme gnädige Frau endlich einmal wieder frei aufathmen kann!“ „Amen;“ sagte Oswald. „Denn sehen Sie, junger Herr,“ fuhr der Alte fort, „die gnädige Frau hat nicht viel Freude gehabt ihr liebes Leben lang, und das thut mir weh, denn ich habe sie lieb, als wäre sie mein eigenes Kind, ja, und wol noch lieber. Denn ich habe freilich selbst nie welche gehabt, aber ich sehe doch, wie es andere Väter mit ihren Kindern machen, und daß sie sich nicht schämen, nicht blos wie kein Vater, sondern nicht einmal wie ein Christenmensch an ihren Kindern zu handeln. Und der Vater von der gnädigen Frau — nun, er war mein gnädiger Herr, und ich habe unter ihm die Campagne mit¬ gemacht, und von den Todten soll man nichts Uebles reden — aber zu Ihnen darf ich es schon sagen, weil Sie uns doch nun nicht mehr fremd sind — ja, das war ein böser Herr, oder auch eigentlich nicht böse, aber wild und leichtsinnig, wie der jüngste Offi¬ zier in seinem Regiment. Je toller ein Streich war, desto lieber war es ihm; na, und tolle Streiche und schlechte Streiche, die sehen sich manchmal zum Ver¬ wechseln ähnlich. So dachte er sich nicht Böses da¬ bei, wenn er, noch als Verheirateter, den Frauenzim¬ mern gerade so nachstellte, wie er es sonst gethan, aber der armen gnädigen Frau, welche eine gar gute, liebe Dame war, brach darüber das Herz, und sie starb, als ihr einziges Kind erst zwei Jahre alt war. Da gab es nun eigentlich Niemand, der für das arme Ding sorgte, als den alten Baumann. Ich hab's herumgetragen und habe mit ihm gespielt, und hernach, als es größer wurde, habe ich mit ihm schreiben und lesen gelernt, was ich damals noch nicht konnte, und ein bischen französisch und was noch sonst in meinen alten Kopf hineinwollte. Und hernach habe ich sie reiten gelehrt, daß ihr nun wol so leicht keine darin gleichkommt; und so bin ich wieder mit ihr jung ge¬ wesen und hab' mich nie nach Kindern gesehnt, denn sie war ja mein liebes, herziges Kind, obgleich ich nur ein armer unwissender Reitersmann und sie ein fürnehmes, hochadliges Fräulein war. Und ich habe manchmal so in meinem Sinn gedacht: ob sie es nicht besser im Leben gehabt hätte, wenn sie wirklich mein Kind gewesen wäre. Denn vornehm sein und reich sein, das ist Alles recht gut, aber ich meine doch, wen Gott lieb hat, den läßt er arm geboren werden. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mein eigen Fleisch und Blut um schnöden Mammon zu verkaufen; ich hätte nie vor meinem Kinde auf den Knien gele¬ gen und geflennt: dein Vater ist ehrlos, wenn Du nicht den und den heiratest, von dem ich wol weiß, daß Du ihn nicht liebst, der aber so viel Geld hat, daß er all meine Schulden bezahlen kann und doch noch genug für euch Beide behält. Und es stand gar nicht einmal so schlimm mit Herrn von Barnewitz. Was er im Spiel verloren hatte, konnte er auch im Spiel wieder gewinnen, und hat's auch hernach zum Theil wieder gewonnen, so daß er später, wenn er zu viel getrunken, oft zu mir gesagt hat: hätte ich ge¬ wußt, Baumann, daß ich noch solch Glück im Pharao haben würde, da hätte der — es war ein häßliches Wort und ein ordentlicher Mensch bringt es nicht gern über die Lippen, — da hätte ich Herrn von Berkow auch was anders gegeben, als meine Tochter. Mein einziger Trost ist nur, daß ers nicht lange mehr treibt, und dann kann sie ja noch immer einen andern heiraten. Nun, der gnädige Herr trieb es selbst nicht lange mehr, aber doch noch lange genug, daß er das Unglück, welches er angerichtet hatte, mit seinen leiblichen Augen sehen konnte. Da hätte er gern sein Leben drum gegeben, um ungeschehen zu machen, was geschehen war; aber wer sich mit dem Teufel einläßt, darf sich nicht wundern, wenn der liebe Gott nichts von ihm wissen will. So war die schöne junge Frau eine Witwe und war es doch auch wieder nicht. Reichthum hatte sie nun, die Hülle und Fülle; aber mir däucht, sie wäre doch glücklicher gewesen, wenn sie unter einem Strohdach mit einem braven Mann gelebt hatte, als so mutterseelenallein in dem großen, öden Hause. Nun war freilich der Julius da, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein Kind ist noch immer keine Familie. Sehen Sie, junger Herr, das hat mein altes Herz oft bluten machen, und wenn ich die liebe gnädige Frau so des Abends allein durch den einsamen Garten wandeln sah, da habe ich oft den lieben Gott gebeten, er solle den armen Herrn von Berkow in Gnaden zu sich nehmen, und verstatten, daß die arme gnädige Frau doch einmal in ihrem Leben glücklich wird, wie es doch andere Frauen sind, die nicht werth sind, daß sie ihr die Schuhriemen lösen. Reich braucht der Mann nicht zu sein, denn sie hat, wenns doch ja Reichthum sein soll, genug für Beide, — aber Kopf und Herz muß er auf dem rechten Fleck haben und lieb muß er sie haben, mehr wie seinen Augapfel. Und wenn ich einen solchen Mann wüßte, und ihr einen solchen Mann verschaffen könnte, und ich sähe sie nun glück¬ lich an der Seite dieses Mannes, da wollte ich auch beten: nun, Herr, lasse Deinen Diener in Frieden fahren. — Aber da sind wir ja schon am Thore. Nun, wohlschlafende Nacht, junger Herr! Wenn Sie morgen früh vielleicht eine Antwort auf den Brief von der gnädigen Frau fertig haben, so will ich einen Büchsenschuß weiter in den Wald hinein zwischen fünf und sechs darauf warten. Die gnädige Frau würde sich doch freuen, wenn Sie recht bald schrieben.“ „Ich werde pünktlich um fünf dort sein,“ sagte Oswald. „Na, auf eine halbe Stunde kommt es schon nicht an,“ sagte der alte Baumann, sein Pferd besteigend. „Die Post geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich wünsche nochmals wohlschlafende Nacht.“ Der alte Mann faßte salutirend an seine Mütze, lenkte den Brownlock herum und trabte durch die Tannen zurück nach Berkow. Oswald eilte auf seine Stube, ohne Jemand zu begegnen, da die Gesellschaft von ihrem Spaziergang noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete er den Brief und durchflog ihn mit athemloser Hast, um ihn dann langsam wieder und wieder zu lesen, wie man Briefe liest, von denen jedes einzelne Wort uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen. Als er sich spät am Abend hinsetzte, die Antwort zu schreiben, ertönte derselbe Gesang, der ihn gestern Abend in so überschwängliche Begeisterung versetzt hatte; heute aber schloß er das Fenster, denn er fühlte, daß seine Bewunderung für das schöne Mäd¬ chen doch im Grunde ein Verrath an seiner Liebe zu Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menschen¬ weise, die anklagende Stimme seines Gewissens mög¬ lichst zu überhören versuchte. Neuntes Kapitel . Leider sollte ihm jeder folgende Tag Gelegenheit geben, sich in dieser schlimmen Kunst zu üben. Gleich am nächsten Morgen, als er von seinem Gang in den Wald, wo Baumann an der bezeichneten Stelle seiner harrte und den Brief entgegennahm, zurückkehrte, konnte er es sich nicht versagen, noch ein wenig in dem Garten zu promeniren. Er wollte eigentlich nur einige Minuten bleiben, nur eben ein¬ mal auf dem Wall die Runde um den Garten machen; aber er hatte die Promenade nun schon zweimal vom großen Thor bis wieder zum großen Thor gemacht — und begann sie eben zum dritten Male, denn der Morgen war allerdings köstlich und, wenn ihn seine Augen nicht täuschten, so schimmerte durch die Büsche und Bäume auf der andern Seite ein helles Ge¬ wand. Ohne Zweifel eines der Mädchen aus dem Dorfe, die im Garten arbeiteten. Wie erstaunt war er deshalb, als er bald darauf in der ihm Begeg¬ nenden Fräulein Helene erkannte. An ein Ausweichen war nicht zu denken. Es führten von dem Wall nur sehr wenige schmale Treppen in den Garten hinab. So blieb ihm freilich nichts übrig, als, die Hände auf dem Rücken, und die Vögel, die über ihm durch die Zweige flatterten und die Enten unten auf dem Graben mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtend, langsam weiter zu schlendern, und ein ganz klein wenig überrascht zu sein, Fräulein Helene genau um dieselbe Zeit und an derselben Stelle, wie gestern, zu begegnen. Fräulein Helene erwiederte seinen Gruß mit jener vornehmen Ruhe, die dem etwas düstern Charakter ihrer Schönheit so gut stand, obgleich sie für ein Mädchen von diesem jugendlichen Alter fast zu kalt und vornehm schien. Vielleicht wäre ihr Gruß nicht ganz so förmlich gewesen, wenn Oswald selbst nicht jede Spur einer freudigen Regung geflissentlich unter¬ drückt hätte. Eine kurze, nichts weniger als geistreiche Unterhaltung über das Wetter, ein paar gleichgültige Fragen Oswald's über den Spaziergang von gestern Abend und ein paar kurze Antworten Helene's folgten. Darauf abermalige höflich kühle Begrüßung von beiden Seiten. Fräulein Helene setzte ihren Spaziergang fort, Oswald hatte seine Promenade, die er „regel¬ mäßig zwischen sechs und sieben auf dem Walle mache“ — eine Angabe, die mit der Wahrheit nicht besonders genau übereinstimmte — beendet und begab sich auf sein Zimmer. „Schade, daß diese prächtige Schönheit doch nur die Hülle einer ziemlich alltäglichen Psyche zu sein scheint,“ sprach er bei sich. „Was Professor Berger wohl sagen würde, wenn er seine liebliche Knospe jetzt zu einer dunkelrothen Rose entfaltet sähe? ob er wieder einen Sonettenkranz flechten und auf das üppige Haar drücken würde? Guter Berger, war es ein Stück des guten oder des bösen Engels, die sich ewig in Deiner großen Seele bekämpfen, daß Du mich hierher in's Lager unserer Feinde schicktest? Ich sollte Dir viel ruhmreiche Trophäen zurückbringen, Scalps erschlagener Irokesen, die wir in unserem Wigwam aufhängen wollten, um unsere Freude daran zu haben — wie würdest Du erstaunen, wenn Du hörtest, wie oft schon Dein Unkas nur mit genauer Noth dem Scalpirtwerden entgangen ist! Aber das eine Versprechen will ich halten: ich werde mich nicht in diese frühbesungene Schönheit verlieben — nein, und wenn sie eben so geistreich wäre, wie sie schön ist.“ Als Oswald zur Mittagstafel nach unten kam, wurde er auf's angenehmste durch die Gegenwart des F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 11 Doctoe Braun überrascht, der vor einigen Minuten gekommen war und die Einladung der Baronin, zu Mittage auf dem Schlosse zu bleiben, angenommen hatte. Der Doctor erwies sich in dem größeren Kreise als ein eben so bequem geselliger, fein gebildeter Mann, wie ihn Oswald bis dahin gekannt hatte; ja, Oswald hatte jetzt noch mehr Gelegenheit, die aus¬ gezeichnete Unterhaltungsgabe und die sichere Haltung des jungen Arztes zu bewundern. Und was noch mehr für Doctor Braun einnehmen mußte, und ihm auch wirklich Aller, wenigstens aller Verständigen, Herzen gewann, war, daß er sich seiner Vorzüge ent¬ weder wirklich nicht bewußt war, oder wenigstens nicht bewußt zu sein schien. Nichts lag ihm ferner als ein Geltenmachen seiner Person; im Gegentheil, er hatte seine Freude daran, wenn er Andere zur Entwickelung ihrer Ansichten bringen konnte: und so war er ein nicht minder geduldiger und guter Zu¬ hörer, als gewandter Sprecher — zwei Tugenden, die sich so selten zusammen finden. Oswald sah mit einigem Erstaunen, daß, wenn der Doctor irgend Jemand in der Gesellschaft aus¬ zeichnete, es nur Fräulein Helene sein konnte, und mit nicht minder großer Verwunderung, daß die junge Dame dem Doctor gegenüber offenbar einen Theil ihrer vornehmen Kälte ablegte. Sie hatten schon vor Tische zusammen musicirt, eine Sonate à quatre mains gespielt; sodann hatte Helene einige Lieder ge¬ sungen, die ihr der Doctor begleitete. Bei Tische saßen sie nebeneinander und unterhielten sich lebhaft über die verschiedenen Style in der Musik, wobei der Doctor eine sehr detaillirte Kenntniß des General¬ basses und Fräulein Helene zum mindesten ein leb¬ haftes Verständniß für musikalische Dinge entwickelte; und als er sich gleich nach Tisch empfahl, bedauerte sie seine Eile so lebhaft, bat ihn so dringend, ihr die versprochenen Noten recht bald zu schicken — nein, lieber selbst zu bringen, damit sie dieselben gleich zu¬ sammen durchgehen könnten, daß der Doctor, wenn er es darauf angelegt hatte, einen möglichst günstigen Eindruck auf die junge Dame zu machen, mit seinem Erfolge ganz wohl zufrieden sein durfte. „Sie sind nicht musikalisch?“ fragte er Oswald, dem er noch für ein paar Minuten, bis die Pferde angeschirrt wurden, auf sein Zimmer gefolgt war. „Nein, und die Eintracht süßer Töne lockt mich so wenig, daß ich gestern Abend, als Fräulein Helene die Barcarole sang, von der Sie so entzückt waren, sogar das Fenster schloß.“ 11 * „Das ist in der That merkwürdig. Ich erinnere mich nicht, eine so weiche, so — ich möchte sagen — mystische Altstimme gehört zu haben.“ „Sollte die Schönheit der Sängerin nicht die Reinheit des Urtheils in etwas trüben?“ „Nein, ich versichere Sie, daß ich ganz objectiv urtheile; obgleich ich gern zugebe, daß eine so dämo¬ nische Schönheit mehr in das Reich der Träume, als in die reale Welt zu gehören scheint.“ Der Doctor hatte sich in Oswald's Lehnstuhl ge¬ setzt und blies den Rauch der Cigarre, die er sich eben angezündet, in blauen Wolken durch das offene Fenster. „Es ist eine Schönheit,“ sagte er, die einen Maler zur Verzweiflung bringen könnte, weil sie sich gerade in ihrer duftigsten Blüthe durch Linien und Farben gar nicht mehr ausdrücken, sondern sich nur in Musik übersetzen läßt. Ich wollte Beethoven hätte sie gesehen, oder Robert Schumann; und dann sollten Sie die geisterhafte, dämonische Composition hören, zu welcher diese Erscheinung die Beiden begeistert hätte.“ „Aber, wer von uns Beiden ist denn nun der Schwärmer?“ fragte Oswald lächelnd; „Sie oder ich?“ „Sie,“ sagte der Doctor, denn der höchste Grad der Extase ist tiefes Schweigen. Wer noch Worte für seine Begeisterung findet, hat die Zügel noch in der Hand. Und dann kann ich ein schönes Mädchen¬ bild sehen, und auch dafür schwärmen, ohne daß mir, wie Sie sehen, die Cigarre auch nur einen Grad weniger gut schmeckte. Sie aber sind im Stande darüber Essen und Trinken und Alles zu vergessen mir sich, Hals über Kopf, in die Charybdis Ihrer Begeisterung zu stürzen, ohne auch nur daran zu denken, ob Sie im Stande sein werden, jemals wie¬ der zum rosigen Lichte aufzutauchen.“ „Wissen Sie das so gewiß?“ „Ganz gewiß; ich habe Ihnen in der letzten Zeit ein eingehendes Studium gewidmet, und gefunden, daß Sie eines der vortrefflichsten Exemplare einer in unseren Tagen ziemlich weit verbreiteten Species ge¬ neris humani sind, Nachkommen des weiland vom Teufel geholten Doctor Faustus, Faustuli posthumi , so zu sagen, die den langen Docentenbart abge¬ schnitten, auch nicht im romantischen Rittercostüm, sondern einfach im modernen Frack einherspazieren; im Uebrigen aber auf gut faustisch von Begierde zu Genuß taumeln, und im Genuß nach Begierde ver¬ schmachten. „Problematische Naturen, nennt sie der Baron Oldenburg,“ bemerkte Oswald. „Eine sehr gute Bezeichnung,“ sagte der Doctor. „Freilich der Baron muß es wissen, der ist selbst von der Brüderschaft und ich vermuthe, daß er einen ziem¬ lich hohen Grad einnimmt. Wenigstens nach Allem, was ich von ihm höre, denn gesprochen habe ich ihn nie, und nur einmal flüchtig gesehen.“ „Der Baron ist ein räthselhafter Charakter, über den es sehr schwer hält, sich ein richtiges Urtheil zu bilden.“ „Wäre er sonst eine problematische Natur? Ich höre, Sie sind ein specieller Freund des Barons, einer von den wenigen, die er, wie es heißt, auf Er¬ den hat. Und gerade deshalb spreche ich offen. Ich kann es nicht billigen, daß ein Mann von den emi¬ nenten Gaben des Barons sein Leben in Müßiggang verdämmert — in einem geschäftigen Müßiggang, der schwerste Vorwurf, der meiner Meinung nach einen Mann in unserer Zeit treffen kann, wo es wahrlich so viel, so viel zu thun giebt.“ „Was kann der arme Baron dafür, daß ihm der Speck und das Brod des Alltagsleben nicht schmeckt?“ „Glauben Sie denn, daß es mir schmeckt?“ sagte Doctor Braun, und seine Wangen rötheten sich und seine Augen leuchteten; „glauben Sie, daß der herr¬ liche Gott Apollo, als er die Rinder des Admet wei¬ dete und im Schatten der Eiche das schnöde Sklaven¬ mahl verzehrte, sich nicht zurücksehnte nach der Am¬ brosia und dem Nektar auf den goldenen Tischen im Hause des Zeus? Dennoch trug er sein Loos und duldete das Verhängniß, wie der noch viel herrlichere Jesus von Nazareth das seinige. Und ich muß ge¬ stehen, mir erschien es immer als eine grobe Incon¬ sequenz, daß des Menschen Sohn von allen, zum we¬ nigsten von den stärksten menschlichen Banden los und ledig dargestellt wird. Sollte er den Leidenskelch wirk¬ lich bis auf den letzten bittersten Tropfen leeren, mußte er durch die stille Nacht auf dem Oelberge die Stimmen eines angebeteten Weibes, geliebter Kin¬ der zu hören glauben, die ängstlich nach dem Gatten, dem Vater riefen. Denn menschlich allem Mensch¬ lichen ergeben sein, und dennoch die himmliche Ab¬ kunft nicht vergessen und dennoch bis an den Tod mit den reißenden Wölfen der Tyrannei und Lüge kämpfen und das schwere Kreuz des ganz Gemeinen und ewig Gestrigen, das auf uns lastet, bis nach Golgatha tragen — das erscheint mir als das eigentliche Loos des Menschensohns!“ Der Doctor war aufgesprungen; er ging ein paar Mal mit raschen Schritten in dem Gemache auf und ab, dann blieb er vor Oswald stehen, streckte ihm mit herzgewinnender Freundlichkeit die Hand entgegen und sagte: „Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie durch dies oder jenes Wort, das vielleicht weniger überlegt war, gekränkt haben sollte. Aber ich gerathe jedes¬ mal in Aufregung, wenn ich eine hohe Intelligenz feiern, oder in einer falschen Richtung thätig sehe. Das erste ist die Sünde gegen den heiligen Geist, die un¬ serer Sünden größte ist, die zweite ist nicht ganz so groß, aber kommt jener fast gleich. Von jener spreche ich Sie los, dieser erkläre ich Sie für schuldig. Sie wissen, wie ich über Ihre Stellung hier schon neulich dachte; jetzt, nachdem ich Sie zum ersten Male in dem Kreise selbst gesehen habe, finde ich das Verhältniß noch viel bedenklicher. Geben Sie es auf, ehe es zu spät ist! Es mag eine entsetzliche Indiscretion sein, daß ich mir erlaube, so zu Ihnen zu sprechen; aber Sie wissen, wir Aerzte haben einmal das Recht, in¬ discret zu sein. Sind Sie mir bös?“ „Ich wäre der lächerlichste Narr, wenn ich so schwach sein könnte,“ antwortete Oswald. „Im Ge¬ gentheil, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir eine Theilnahme zeigen, die ich sogar nicht verdient zu haben mir bewußt bin. Aber ich glaube, Sie sehen die Dinge ein wenig zu schwarz —“ „Blos zu schwarz?“ sagte der Doctor lachend; „ich sehe sie weder grau noch schwarz, ich sehe sie gar nicht; ich bin blind, stockblind auf beiden Augen. Adieu, mon cher , adieu. Wenn sie sich über kurz oder lang nicht mehr so kerngesund fühlen sollten, wie zu dieser Stunde — so schicken Sie nur zu mir! Sie sollen sehen, daß ich nicht blos ein Arzt für die Gesunden bin, sondern auch für die Kranken.“ Mit diesen Worten eilte der Doctor zur Thür hin¬ aus, und einen Augenblick später hörte Oswald das Knirschen der Räder seines Wagens auf dem Kies vor dem Portale. Zehntes Kapitel. Es ist bekanntlich das Schicksal fast jeden guten Raths, daß er entweder zu spät kommt, oder in dem Augenblick, wo er gegeben wird, ausgeführt werden müßte, und nur leider aus diesem oder jenem Grunde nicht ausgeführt werden kann. So war es auch in diesem Fall. Der Rath des Doctors war vortreff¬ lich; das sah selbst Oswald ein, um so mehr als er noch vor ganz kurzer Zeit über seine schiefe und ganz unhaltbare Situation in dieser hochadligen Familie nicht viel anders gedacht hatte, als der Doctor. Aber einen Ausweg aus diesem Labyrinth vermochte er nicht zu entdecken; wenigstens nicht für den Augen¬ blick. Daß er in der letzten Zeit über seine Liebe zu Melitta alles Andere vergessen und an eine Verän¬ derung, die ihn sofort von der Geliebten entfernen mußte, am wenigsten gedacht, ja die Möglichkeit einer solchen als das größte Unglück angesehen hatte, war so natürlich. Und anch jetzt, wo durch Melitta's Reise und durch den wahrscheinlichen Tod des Herrn von Berkow die Gegenwart und die Zukunft gleich dunkel und verworren schien, konnte er sich unmöglich über einen Punkt entscheiden, der für Melitta nicht weniger wichtig war, als für ihn selbst. Und dann, ganz abgesehen von seinem Verhältniß zu Melitta, hatte er so gar keinen ostensibeln Grund, die Stel¬ lung, zu der er sich auf mehre Jahre verpflichtet hatte, aufzugeben, daß er einen Bruch hätte gewalt¬ sam herbeiführen müssen. Ein solcher Staatsstreich aber würde zu jeder Zeit für Oswald's Hamlet-Natur etwas Peinliches und Widerliches gehabt haben, und jetzt, wo die Baronin, gegen die er sich doch in einem solchen Falle wenden mußte, sich offenbar bemühte, mit ihm, ebenso wie mit aller Welt, in Frieden und Freundschaft zu leben, fehlte es ihm sogar an dem Allerwichtigsten, an einem Gegner, welcher den von ihm hingeschleuderten Fehdehandschuh hätte aufnehmen können und mögen. Ueberdies hatte er noch ganz kürzlich der Baronin den Gang des Unterrichts der Knaben bis zu der Zeit, wo er mit ihnen die projectirte große Reise durch Deutschland, England, Frankreich, vielleicht auch Ita¬ lien antreten würde, ausführlich geschildert, mit einem warmen Interesse, das, wenn es seine Absicht war die Ausführung dieses Planes einem Andern zu über¬ lassen, mindestens unerkärlich schien. Auch auf den Wunsch der Baronin, mit Fräulein Helene die durch ihren Fortgang von der Pension unterbrochenen Stu¬ dien wieder aufzunehmen, war er bereitwilligst einge¬ gangen; und morgen schon sollten diese Lectionen, an denen auch die lernlustige Baronin manchmal theilzu¬ nehmen versprach, ihren Anfang nehmen. Und, abgesehen von dem Allen, so hätte er ja doch, ging er von Grenwitz fort, auch Bruno verlassen müssen, Bruno, den er so brüderlich liebte, dessen glänzende Fähigkeiten zu entwickeln, ihm eine so köst¬ liche Aufgabe däuchte, den in die Wissenschaft und hernach in das Leben einzuführen, bisher einer seiner liebsten Wünsche gewesen war! Die kurze Reise schien, wie auf Alle, so auch auf Bruno, einen sehr wohlthätigen Einfluß gehabt zu haben. Er hatte viel von seinem trotzig düstern Wesen abgelegt; er suchte jetzt die Gesellschaft, die er früher im Verein mit Oswald gemieden hatte, auf und gab auch Oswald gute Worte, an Spaziergängen und andern gemeinsamen Vergnügungen Theil zu nehmen. Er ahnte nicht, daß Oswald ihm durchaus kein großes Opfer brachte, wenn er diesen Bitten nachgab, ja daß dieser sich nur zum Schein bitten ließ, um vor sich selbst die Inconsequenz, deren er sich in dieser Be¬ ziehung schuldig machte, zu beschönigen. Bruno, von Oswald mit seinem Interesse an Dingen und Perso¬ nen, die ihm sonst gleichgültig oder verhaßt gewesen waren, geneckt, sagte, er wisse nicht, was mit einem Male über ihn gekommen sei; ihm sei zu Muthe, wie einem Vogel, der, aus seinem Käfig entflogen, die Freiheit wieder erlangt habe, wie einer Blume, wenn nach Sturm und Regen die Sonne wieder scheine. Und wirklich, Bruno war ausgelassen wie ein Vogel und in dieser seiner Heiterkeit, schön wie eine Blume, die eben dem Lichte den vollen Kelch erschließt. Es war unmöglich, den herrlichen Knaben nicht zu be¬ wundern: seine Freundlichkeit war eben so hinreißend liebenswürdig, wie sein Trotz abstoßend und oft ge¬ radezu beleidigend war. Alle waren miteinander dar¬ über einig, daß eine merkwürdige Veränderung mit Bruno vorgegangen sei; was aber diese Veränderung hervorgebracht hatte, — das wußte, das ahnte Keiner. Dennoch hätte der Grund derselben einem scharf¬ sichtigen Beobachter nicht entgehen können, und würde auch wol Oswald nicht entgangen sein, wenn er mit seinen eigenen Herzensangelegenheiten nicht so vollauf beschäftigt gewesen wäre. Schon die Unterhaltung mit Bruno am ersten Abend hätte ihm einen Aufschluß geben müssen. Wie Helene's Name dort wieder und immer wiederkehrte, so ließ sich jetzt Alles, was der Knabe sagte und that, schließlich auf Helene zurück¬ beziehen, obgleich er allerdings, dem Vogel gleich, der durch Hin- und Herflattern den Verfolger von seinem Nest fortzulocken sucht, sorgfältig darauf bedacht war, Andere vorzuschieben und sich für Helene gerade am wenigsten zu interessiren schien. Denn nicht nur die Schande, auch die Liebe wird heimlich geboren und in Heimlichkeit gepflegt und genährt, zumal wenn das Herz, das sie gebar, jung und unschuldig ist, so un¬ schuldig, daß es kaum weiß, wie ihm geschah, und nur das Eine fühlt, daß ein Gott es berührt hat. Was ist nur mit dem Knaben, fragten sich die Andern, wenn sie sahen, wie seine dunkeln Augen leuchteten, wie stolz und kühn seine Haltung, wie elastisch sein Schritt war; wenn sie seine Stimme hörten, die bald so weich war, wie lauer Abendwind, bald in der Auf¬ regung des Spiels, oder wenn sonst etwas seine Ener¬ gie herausforderte, klar und scharf und machtvoll wie Trommetenton. Und wenn es wirklich manchmal schien, als ob Bruno nur seiner schönen Cousine zu Liebe dem Ein¬ siedlerleben entsagt habe, so konnte dies um so we¬ niger auffallen, als Alle mehr oder weniger seit der Reise sich verändert hatten, und Alle mehr oder we¬ niger dem neu aufgegangenen glänzenden Stern hul¬ digten. Oder weshalb war die Baronin jetzt ganz Freundlichkeit und Güte? Weshalb erschien sie bei Tisch jetzt stets mit einem lächelnden Gesicht und be¬ mühte sich, die Unterhaltung während der Mahlzeit nicht in's Stocken gerathen zu lassen? weshalb ließ der Baron, zum großen Aerger des schweigsamen Kutschers, sobald nur der Wunsch ausgesprochen war, diesen oder jenen weiter gelegenen Punkt zu besuchen, die schwerfälligen Braunen anspannen — während so etwas vor der Reise geradezu ein Ereigniß hätte ge¬ nannt werden müssen? weshalb hatte Herr Timm jetzt zum ersten Male seinen Frack aus der Ecke des melancholischen Koffers hervorgesucht und mit dem Frack, wie es schien, eine etwas weniger nachlässige Haltung und eine etwas weniger burschikose Sprache? weshalb klang der Ton von Mademoiselle Margueri¬ te's Stimme jetzt etwas weniger scharf, wie sonst? und weshalb hatte sie sich gerade jetzt darauf besonnen, daß sie ein paar recht hübsche seidene Schleifen besitze, die schon seit Jahren in ihrer Commode müßig ge¬ legen hatten? weshalb gab sich jetzt selbst Malte beim Reifenspiel Mühe, die Spielregeln zu beobachten und den ihm zugeschleuderten Reifen womöglich aufzu¬ fangen? Ob Fräulein Helene wußte, daß sie die Ursache aller dieser großen und kleinen Veränderungen war? Es war sehr schwer, zu sagen, ob Fräulein Helene etwas bemerkt hatte oder nicht; ja, ob sie sich über etwas freute oder nicht, ob sie heiter war oder nicht; ob Jemand in der Gesellschaft für sie vorhanden war, oder nicht. Ihre stolze ruhige Miene veränderte sich sehr selten, und das lächeln, zu dem sie sich gelegent¬ lich herabließ, war, obgleich außerordentlich reizend, doch so flüchtig, daß man nicht wol den Antheil, den ihr Herz etwa dabei hatte, bestimmen konnte. Sie war gegen ihre Eltern ganz die gehorsame, aufmerk¬ same Tochter, gegen ihren Bruder die ältere Schwe¬ ster, die, wenn sie die Schwächen des Bruders schonen soll, auch ihrerseits respectirt zu werden wünscht; gegen Mademoiselle Marguerite ganz die freundliche Herrin, die sich in jedem Augenblicke des Unterschiedes der Stellung bewußt bleibt; gegen Oswald und Albert ganz die vornehme junge Dame, welche von der Pen¬ sion her noch sehr gut weiß, wie tief die Verbeugung vor Herren in niedrigeren Lebensstellungen sein muß und nur für Bruno schien sie eine herzlichere Zu¬ neigung zu haben, nur ihm gegenüber ließ sie ein wenig von der ruhig vornehmen Haltung nach, die sie im Uebrigen so wenig ablegen zu können schien, wie die dunkle Farbe ihres reichen Haares, oder den tiefen Glanz ihrer großen grauschwarzen Augen. Aber wenn selbst die Baronin sich gegen ihren Gemahl über Helene's fast allzuschroffes Wesen be¬ klagte, wenn sie die Bemerkung machte, die lange Ab¬ wesenheit scheine denn doch Helene ihrer Familie etwas entfremdet zu haben, so war dies freilich nur zu wahr, aber die Schuld daran traf weniger die junge Dame, als die Baronin selbst. Sie war es gewesen, auf deren Wunsch Helene so lange Jahre fern von ihrem elterlichen Hause gewesen war; sie hatte dem schwachen Gemahl, wenn er sich nach der geliebten Tochter sehnte, auseinandergesetzt, wie vortheilhaft für die Tournüre und für die Bildung einer jungen Dame es sei, wenn sie so früh wie möglich in die strenge Schule eines Musterpensionats komme und so lange wie möglich dort bleibe; sie hatte schon vorher, wenn die Kleine sich liebevoll an sie schmiegen wollte, nur eine kalte Miene und ein paar kühle französische Redensarten für sie gehabt, bis das Kind, größer geworden, die Hoffnungslosigkeit des Versuchs, einen Weg zum Mut¬ terherzen zu finden, einsah und sie fortan mit Lieb¬ kosungen, die nicht erwiedert wurden, verschonte. Die F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 12 arme Kleine mußte das Unrecht, kein Knabe zu sein und nichts zur Sicherung des Majorats in der Fa¬ milie thun zu können, schwer büßen, und sie hätte wol noch lange, von der Mutter halb vergessen, in der Verbannung leben können, wenn diese nicht endlich auf den Gedanken gekommen wäre, ob Helene durch eine Heirath mit ihrem Cousin Felix, dem Majorats¬ erben der Grenwitz'schen Güter nach Malte's Tode, nicht doch vielleicht mittelbar zur Erhaltung der Herr¬ schaft beitragen könne. Daß dieser Gedanke sich würde ausführen lassen, daran zweifelte die energische Frau nicht. Felix hatte nicht nur das Project höchlichst gebilligt, sondern schon alle Schritte gethan, die ihm die Baronin als nothwendige Präliminarien zum ab¬ zuschließenden Heirathscontract bezeichnete. Er hatte seinen Abschied genommen; er hatte die Garnisons¬ stadt, den Schauplatz seiner Heldenthaten, verlassen und sich auf seine Güter begeben, vermuthlich um sich die Stellen anzusehen, wo einst die schönen Waldungen standen, die er erbarmungslos hatte umhauen lassen, um die dringendsten Gläubiger zu befriedigen. Baron Felix hatte die Gewohnheit, Jedem, der ihm Geld lieh, Alles zu versprechen, was man verlangte — warum sollte er nicht der Baronin versprechen, ihre Tochter zu heirathen, wenn sie sich anheischig machte, seine Schulden, die drückendsten wenigstens, zu bezahlen und ihm zu helfen, die in Grund und Boden gewirth¬ schafteten Güter wieder nutzbar zu machen? Von dieser Seite sah die Baronin also nicht das kleinste Hinderniß der Ausführung ihres Projects. Von Sei¬ ten Helene's erwartete sie eben so wenig einen ernst¬ lichen Widerstand, oder genauer, hatte sie bis zu diesem Augenblick einen solchen nicht erwartet. Sie hatte vergessen, daß sie ihre Tochter drei Jahre lang nicht gesehen, daß drei Jahre viel zu ändern ver¬ mögen und unter anderm auch aus einem trotzigen, aber doch aus Furcht und Gewohnheit gehorsamen vierzehnjährigen Mädchen eine siebenzehnjährige stolze junge Dame machen können, die unterdessen verlernt hat, vor ihrer Mutter zu zittern und unter Leitung einer strengen, aber hochherzigen Erzieherin viel zu selbständig geworden ist, um ihren Willen so ohne Weiteres dem eines Anderen, er sei auch, wer er sei, unterzuordnen. Dies erkannte die Baronin fast auf den ersten Blick, als sie im Empfangssaale der Pension ihre Tochter zur Thür hereintreten sah. An der Tournüre der jungen Dame, die ohne Hast, aber auch nicht zu langsam, auf die Mutter zuschritt, ihr die dargebotene Hand küßte und dann einen Schritt zurücktretend, wie 12* weiterer Befehle gewärtig, in ruhiger Haltung stehen blieb, war sicher nichts auszusetzen; aber die großen Augen blickten so stolz und gelassen, und die Worte fielen so gemessen von den ausdrucksvollen Lippen, daß die Mutter fühlte, bei dieser ihrer Tochter, die ihr so fremd erschien, könne sie auf kindlichen Ge¬ horsam, auf einen Gehorsam aus Liebe, mit Sicher¬ heit nicht rechnen. Das große Project, welches sie so ganz fertig im Kopf trug, erschien ihr plötzlich in sehr ungewissem Lichte, und die ersten Worte, die sie nach dieser Begegnung zu ihrem Gemahl sprach, waren: „Ich glaube, lieber Grenwitz, wir werden in der Heirathsangelegenheit recht vorsichtig zu Werke gehen müssen. Du würdest mich verpflichten, wenn Du mir die Sache vollkommen überließest. Eine ungeschickte Einleitung, ja nur eine Andeutung zur unrechten Zeit könnte leicht Alles verderben;“ — eine Aufforderung, welcher der gute alte Mann um so lieber nachkam, als selbst sein felsenfester Glaube an die Unfehlbarkeit seiner Anna-Maria nicht im Stande gewesen war, die Bedenken, welche er gegen das Heirathsproject hatte, gänzlich zu beseitigen. Die Baronin sah ein, daß im Falle Cousin Felix vor Helene's Augen keine Gnade finden sollte — und dieser Fall war zum mindesten nicht unmöglich — durch Einschüchterung, durch Gewaltmaßregeln nichts ausgerichtet werden könnte, und daß Güte nicht nur der sicherste, sondern auch der einzige Weg sei. So war sie denn gütig, nach ihren Begriffen äußerst gütig gegen die schöne Tochter, und damit die Andern nicht merkten, worauf dies Alles hinausging, oder auch nur um in der Uebung zu bleiben, war sie es gegen diese auch. Seltsamerweise indessen schien gerade die, für welche diese Gnadensonne leuchtete, am wenigsten da¬ durch erwärmt zu werden. Helene veränderte ihre ruhig abgemessene Haltung, ihr höflig kühles Wesen auch nicht im Mindesten: die von der Baronin stets so gerühmte Pension hatte in der Erziehung Fräulein Helene's offenbar ein Meisterstück geliefert. Und dennoch war dieses junge Herz, das so kalt, so unzugänglich schien, warmer Gefühle wol fähig. Sie hatte, als sie von ihren Freundinnen und der hoch verehrten Lehrerin Abschied nahm, heiße Thränen geweint, die sie freilich, als die Mutter eine Bemerkung darüber machte, sofort trocknete; sie erwies dem Vater manche Aufmerksamkeiten, auf welche die bloße Höflich¬ keit nie verfällt; sie konnte ein armes Kind nicht blos beschenken, sondern auch an die Hand nehmen und freundlich mit ihm sprechen. Ihre Freundinnen, deren sie allerdings immer nur sehr wenige besaß, hatten niemals Ursache gehabt, über Lieblosigkeit von Seiten Helene's zu klagen; und die Briefe, die sie von Gren¬ witz aus nach Hamburg schrieb, waren der Beweis, daß sie wenigstens gegen die, welche sie liebte, weder kalt noch verschlossen war. So schrieb sie unter anderem an Mary Burton, eine junge schöne Engländerin, die sie von allen Freundinnen am meisten liebte und die einen großen Einfluß auf sie ausgeübt hatte. „Doch das sind tempi passati , meine gute Mary? ich muß nun lernen mich an der Musik zu ergötzen, ohne sie zusammen mit Dir zu hören, und eine Ge¬ sellschaft erträglich zu finden, in der ich nicht Deinen holden Augen begegne. Bist jetzt freilich fehlst Du mir überall, und auch die andern; bis jetzt halte ich es nur für eine Möglichkeit, auch ohne euch froh sein zu können. Glaube indessen nicht, daß man mir hier unfreundlich begegnet! im Gegentheil, ich muß geste¬ hen, daß mir die Meinigen über all mein Erwarten liebenswürdig entgegen gekommen sind. Von meinem Vater hatte ich es freilich nie anders erwartet, aber — Du hast ja die Briefe meiner Mama gelesen! Du meintest ja, sie glichen sich wie eine Schneeflocke der anderen — auch sie ist viel weniger streng, als ich sie von früher her kannte und als sie in ihren Briefen erscheint. Sie läßt mir alle nur möglichen Freiheiten; ich kann — was wir uns in der Pension immer als das Höchste dachten — thun und lassen, was ich will. Meine Zimmer liegen im Erdgeschoß des alten Schlosses, dicht über dem Garten, in welchen aus meinem Sa¬ lon eine Thür mit ein paar Stufen hinabführt. So lebe ich ganz ungestört, obgleich ich mit wenigen Schritten über die Corridore in die Wohnzimmer ge¬ langen kann. Du weißt, ich fürchtete schon, hier nicht meiner großen Leidenschaft, des Abends spät, wenn Alles rings um mich her still ist, zu musiciren, folgen zu können. So bin ich dieser Sorge vollkommen überhoben, und ich habe auch schon jeden Abend von dieser Freiheit den ausgedehntesten Gebrauch gemacht. Ich störe ja Niemanden, es müßten denn einige Her¬ ren sein, die ebenfalls in diesem Theile des Schlosses irgendwo über mir hausen, glücklicherweise zur Kate¬ gorie derer gehören, die man in eurer aufrichtigen Sprache so glücklich mit dem Ausdruck Nobody be¬ zeichnet. Es sind nämlich der Hauslehrer, ein ge¬ wisser Herr Stein, und ein Geometer, der für Papa arbeitet, und den aristokratischen Namen Timm führt. Sie können Beide für hübsche Männer gelten, oder, um ganz aufrichtig zu sein, ich vermuthe fast, daß Du den Herrn Stein handsome and very gentle¬ manlike indeed finden würdest; aber Du brauchst deshalb nicht zu glauben, daß sie, oder einer von ihnen, einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hätten. Ich habe eine Antipathie gegen Leute in dergleichen untergeordneten Stellungen, wie etwa gegen Kattun¬ kleider oder böhmische Diamanten. Das mag recht gut sein für Bürgermädchen und Gouvernanten, aber für uns paßt es nicht. Ich sehe die Herren des Mittags, des Abends — im Uebrigen exestiren sie nicht für mich. Herrn Stein begegne ich außerdem noch jeden Morgen früh im Garten, denn die Vögel singen hier so dicht unter meinen Fenstern, daß man aufstehen muß, man mag wollen oder nicht. Ich wäre diesen Begegnungen gern überhoben, aber was läßt sich thun? Ich kann dem armen Menschen, der her¬ nach von sieben bis elf den Knaben Unterricht er¬ theilt, nicht wohl verbieten, die einzige freie Morgen¬ stunde, die er hat, zu benutzen, und wenn ich selbst später ginge, so käme ich wieder um den schönsten Genuß; also: ich muß es mir gefallen lassen — non son' rose senza spine! Uebrigens ist dieser Stein, trotzdem er nur ein böhmischer Diamant ist, so fein geschliffen, daß ihn ein weniger geübtes Auge leicht mit einem echten verwechseln könnte. Er hat, was man bei Leuten aus den unteren Ständen so selten findet, viel Haltung und Selbstbeherrschung. Er hat eine Weise, mit der ruhigsten Miene von der Welt, Jemandem, er sei, wer er sei, eine Schmeichelei oder eine Malice zu sagen, die wirklich in Erstaunen setzt. So sagte er gestern, als wir uns zum dritten Male zur selben Zeit und an demselben Orte auf dem Walle begegneten und dasselbe Gespräch über das Wetter geführt hatten, ob wir nicht in Zukunft bis eine Veränderung des Wetters einträte, ganz ein¬ fach weiter nichts, als: „wie gestern“; sagen wollten? Wir wären denn doch nicht ganz stumm an einander vorübergegangen, was für Hausgenossen immer etwas Peinliches habe, und dabei wären doch die Kosten der Conversation beinahe bis auf Null reducirt, eine Erspar¬ niß, die selbst für den Geistreichsten — hierbei eine halb ironische Verbeugung — nicht ganz unbedeutend sei. — Das war doch ziemlich stark; aber wie gesagt, er bringt dergleichen mit so ruhigem Lächeln vor, daß man niemals weiß, ob er es im Scherz oder im Ernst sagt. Auch scheinen Alle, selbst Mama, einen ziem¬ lichen Respect vor ihm zu haben. Zwischen Bruno und ihm existirt ein ganz eigenthümliches Verhältniß, gar nicht wie zwischen Lehrer und Schüler, sondern wie zwischen zwei Freunden, die innigst verbrüdert sind, etwa wie Orest und Pylades; und wirklich, es ist ein reizender Anblick, wenn man sie Arm in Arm zusammen durch den Garten schlendern sieht. Diese rührende Freundschaft hindert indessen Bruno nicht, sich bei jeder Gelegenheit als mein Ritter zu geriren. Der Junge sieht mir wahrlich an den Augen ab, was ich will und wünsche; oder vielmehr er ahnt und weiß es, ohne daß er mich nur anzusehen brauchte. Es ist mir manchmal ordentlich unheimlich dabei. Wenn ich auf dem Spaziergange denke, Du könntest auch wohl ohne Tuch gehen, sagt Bruno sicher: soll ich Dir das Tuch ein wenig tragen, Helene? Bei Tisch, wo er neben mir sitzt, reicht er mir nur, was ich gern habe, anderes läßt er vorübergehen und sagt: daß ißt Du doch nicht, Helene! Er ist ein zu lieber Junge, ob¬ gleich eigentlich dieser Name nicht mehr recht auf ihn paßt, denn er wird nächstens sechszehn Jahr, und ist groß und stark und schön, wie ein junger Achill. Ich glaube, er würde für mich durchs Feuer gehen; ins Wasser wenigstens ist er gestern schon für mich ge¬ sprungen. Wir gingen des Abends auf dem Wall spazieren und ein plötzlicher Windstoß warf meinen run¬ den Strohhut — Du kennst ihn ja — in den Graben. Mein armer Hut! rief ich. — Willst Du ihn wieder haben? fragte Bruno. — Ei natürlich, sagte ich, — aber nur im Scherz, denn ich weiß, daß der Graben sehr tief ist und an dieser Stelle war er noch dazu wohl zwanzig Schritt breit, und der Hut schwamm mitten drauf. Aber Bruno war mit zwei Sprüngen den Wall hinab und ins Wasser hinein. Ich war wirklich erschrocken und ich glaube, ich stieß sogar einen leichten Schrei aus. — Beruhigen Sie sich, sagte Herr Stein — außerdem war glücklicherweise Niemand zugegen — Bruno schwimmt wie ein Neu¬ foundländer, und selbst wenn er nicht wieder heraus¬ käme, so ist er ritterlich im Dienste der Damen ge¬ storben. Das ist immer ein Trost. — Glücklicher¬ weise kam Bruno nach ein oder zwei ängstlichen Mi¬ nuten wieder ans Land geschwommen, und Herr Stein half ihm beim Heraussteigen, dann gingen sie beide lachend von dannen und ließen mich mit dem nassen Hut in der Hand — ein rührendes Bild — ganz allein stehen. — Uebrigens scheint mir Herr Stein doch übel genommen zu haben, daß ich seinen Liebling in diese Gefahr brachte. Wenigstens ist er heute Morgen nicht auf der Promenade erschienen, bei Tische sehr einsilbig gewesen und hat die Literaturstunde, die er mir wöchentlich zweimal giebt, absagen lassen, „weil er Kopfschmerz habe“, was ihn freilich, wie ich von meiner Stube aus beobachten kann, nicht hindert, in der glühenden Nachmittagssonne draußen im Garten mit unbedecktem Haupt eine halbe Stunde lang, die Arme untereinander geschlagen, auf einem Fleck zu stehen und in das Wasserbecken eines Brunnens zu starren, von dem eine hochgeschürzte Najade lächelnd auf ihn herabschaut — es ist ein wunderlicher Heiliger Die junge Dame mochte in diesem Briefe, der jedenfalls von ihren geheimsten Gedanken mehr ent¬ hüllte, als sie selbst wol wußte, durchaus der Wahr¬ heit haben die Ehre geben wollen und derselben auch überall so ziemlich nahe gekommen sein; aber in Hin¬ sicht des Grundes zu Oswald's zerstreutem und düsterm Wesen an diesem leuchtenden Sommertage irrte sie sich doch. Elftes Kapitel . Es war an dem Abend desselben Tages, an wel¬ chem Helene von ihrem Schreibtische aus Oswald am Brunnen der Najade beobachtete, daß in einem Zimmer des Hotels Bellevue in dem Kurort N., be¬ rühmt durch Dr. Birkenhain's große Heilanstalt für Geisteskranke, zwei Personen, eine Dame und ein Herr, in der Nähe der geöffneten Balkonthür saßen. Es dämmerte bereits; Kurgäste kamen bestäubt von ihrer Nachmittags-Promenade zurück, von Zeit zu Zeit rollte eine elegante Kutsche vorüber, in welcher, vornehm in die schwellenden Kissen gedrückt, schön ge¬ schmückte Frauen saßen. Dann wurde es stiller auf der Straße; drüben über den Gärten schimmerte der Abendstern aus dem safranfarbenen Himmel. Die Dame in der Thür des Balkons hatte die Augen auf den Stern gerichtet, der Herr, der tiefer im Zimmer saß, die seinen auf das Antlitz der Dame. Die Bei¬ den hatten seit einer halben Stunde kaum ein Wort gesprochen: jetzt stand der Herr auf, trat nahe an den Stuhl der Dame heran und sagte leise: „Ich will fort, Melitta!“ „Wann kommen Sie morgen wieder?“ „Ich komme morgen nicht wieder; ich will fort von N., heute Abend noch.“ „Aber Sie wollten doch so lange hier bleiben, als irgend möglich, das heißt: bis die Zusammenkunft mit der braunen Gräfin Ihre Abreise nothwendig macht.“ „Ich wollte es, aber es kann nichts nützen. Ich habe noch heute ausführlich mit Birkenhain gesprochen; er hält es für unmöglich, daß Carlo noch einmal vor seinem Ende zum vollen Bewußtsein erwacht. Und gesetzt auch, er thäte es, was hat er davon, daß ich zugegen bin? Kam ich doch neulich noch zur rechten Zeit; und was wollte er von mir? nichts — mich fragen; ob das Testament sicher verwahrt ist; das war Alles.“ „Aber Carlo könnte ja doch seinen Willen ändern—“ „Nein. Als er damals das Testament in meiner und des alten Baumann Gegenwart aufsetzte, war er, obgleich schon krank und hinfällig, doch noch bei vollem Verstande; er hat Sie zur Universalerbin ein¬ gesetzt, mit Fug und Recht. Er wußte, daß er Ihnen wenigstens dieses Zeichen seiner Reue schuldig war. Er wollte damit sagen: ich bin nicht ganz so schlecht als Du gedacht hast; ich sehe wenigstens ein, daß ich Dich unglücklich gemacht habe, und würde das Ge¬ schehene ungeschehen machen, wenn ich nur könnte.“ „Brechen wir ab von diesem Thema!“ sagte Me¬ litta, aufstehend und sich für einen Augenblick auf das Geländer des Balkons lehnend, um in die schon dunkelnde Straße hinabzublicken. Dann trat sie wie¬ der in das Zimmer zurück und sagte: „Reisen Sie direct nach Cona zurück?“ „Nein, ich will die Zeit, die mir noch bleibt, zu einer Rheinreise benutzen; vielleicht komme ich wieder über N.“ „So lassen Sie mir die Czika bis dahin; es soll ein Pfand sein, daß Sie hierher zurückkommen.“ „Wünschen Sie es, Melitta?“ „Sie sind wieder einmal sehr gut gegen mich ge¬ wesen.“ „Also bloße Dankbarkeit?“ „Und — Freundschaft.“ „Leben Sie wohl, Melitta!“ „Reisen Sie glücklich, Oldenburg!“ Der Baron ging mit langsamen Schritten nach der Thür; dort angelangt, blieb er stehen, dann kam er noch einmal zurück und sagte: „Haben Sie immer geglaubt, daß ich Ihr Freund sei, Melitta?“ „Ja.“ „Haben Sie je geglaubt, daß ich Sie liebe?“ Melitta schwieg. „Nie? zu keiner Zeit?“ fragte der Baron mit dumpfer Stimme. „Lassen Sie das Vergangene vergangen sein!“ „Nein, Melitta, lassen Sie uns davon sprechen. Ich finde eine Gelegenheit wie diese vielleicht nicht zum zweiten Mal im Leben, wieder; nein, nie! Denn das alte gute Verhältniß zwischen uns ist todt, seit¬ dem ich unsinnig genug war, Ihnen zu zeigen, daß ich Sie liebte — und über diesen Schlund, der da zwischen uns aufklaffte, giebt es keine Brücke. Für den Augenblick hat uns die Noth zusammengeführt; sobald ich aus diesem Zimmer gehe, sind wir uns wieder Fremde. Melitta, um unserer alten Freund¬ schaft willen, bei der Erinnerung an die gemeinsam verlebte selige Jugendzeit, sagen Sie mir, haben Sie nie geglaubt, daß ich Sie liebte?“ „Ich weiß es nicht —“ „Das ist hart,“ sagte der Baron leise; „das ist hart.“ Er ließ sich auf einen Stuhl sinken, stützte den Arm auf die Lehne und verbarg sein Gesicht in der Hand. Er stand wieder auf, ging, die Arme über der Brust kreuzend, mit langen Schritten in dem Gemache auf und ab und sprach, als ob er mit sich selbst redete: „Was beklagen sich denn die Menschen, die lieben und wieder geliebt werden, wenn sie, so oder so, um ihre Hoffnungen betrogen wurden? oder die, welche lieben, und wenn ihre Leidenschaft auch nicht erwiedert wird, doch wenigstens den Trost haben, daß man ihren Kummer ehrt, daß man Mitleid mit ihren Qualen hat? Nein — lieben, lieben, wie nur ein Erdensohn lieben kann, mit allen Kräften seiner Seele, mit jedem Blutstropfen in seinen Adern, und dann erfahren — nicht, daß man uns nicht wieder liebt — pah, was ist das! — nein, erfahren, daß man uns für einen Lügner hält, für einen Spaßmacher, einen Schäker — ha, ha, ha! das ist das Wahre! das ist ein Labsal, wie es Teufel armen Gefolterten glühend in den lechzenden Mund träufeln“ . . . „Und wenn ich nicht an Ihre Liebe glaube, wer ist denn Schuld daran? wer hatte die Scene im Garten der Villa Serra di Falco arrangirt? ich oder Sie?“ F.Spielhagen , Problematische Naturen. III . 13 „Wie?“ sagte der Baron stehen bleibend; „sind Sie wirklich ein solcher Neuling in der Liebe, daß ich Ihnen in allem Ernst die Erklärung zu dieser Farce geben muß? Glauben Sie wirklich, daß ich — dem doch sonst so leicht nichts entgeht — Sie nicht schon längst hinter den Myrthengebüschen bemerkt hatte, ehe ich zu Hortense's Füßen sank, und die Sonne, obgleich sie untergegangen war, und den Mond, ob¬ gleich er nicht schien und die Sterne, die es besser wu߬ ten, zu Zeugen meiner heißen Liebe anrief? das hätten Sie auch nur einen Augenblick für Ernst gehalten?“ „Was war es denn?“ „Eine Allegorie. Ich wollte Ihnen zeigen: sieh! dies bleibt mir übrig, wenn Du meine Liebe ver¬ schmähst! Du zwingst mich, der ich immerdar vor einer Heiligen anbeten möchte, in den Armen einer Buhlerin Vergessenheit zu suchen. Melitta, Melitta; gestehe es! Du wußtest recht gut, daß dies eine Farce war; aber es war Dir bequem, sie für Ernst zu nehmen. Du wolltest von mir befreit sein, selbst um den Preis — eines Mißverständnisses!“ „Und wenn dies mein Wille gewesen wäre, — und ich will annehmen, es war mein Wille — ist es nicht des Mannes Pflicht, den Willen einer Frau, noch dazu einer Frau, die er liebt, zu ehren?“ „Habe ich es nicht gethan? bin ich nicht noch in derselben Nacht auf ein Wort, ja auf einen Wink hin, abgereist, bin ich nicht drei lange Jahre wie Ahasver ruhelos durch alle Lande geirrt, und habe ich, als ich dann endlich zurückkehrte — zurückkehrte, weil mir eine Ahnung sagte, daß Dir ein Unglück be¬ vorstände — nicht jede Gelegenheit mit Dir zusam¬ menzutreffen, sorgfältig vermieden? war es mein Wille, daß ich Dich auf dem Balle in Barnewitz traf? ist es mein Wunsch gewesen, der uns hier zu¬ sammenführte? Nein, Melitta, Du kannst nicht über mich klagen. Ich habe meine Liebe zu Dir lange, lange Jahre — denn ich liebe Dich, seitdem ich den¬ ken kann, seitdem ich weiß, daß Nachtigallengesang und Sonnenschein und Wogenrauschen köstlich sind — tief versteckt im Herzen getragen; und wenn ich einen Augenblick thöricht genug war, die Hoffnungslosigkeit dieser Leidenschaft zu vergessen, so habe ich diese Thor¬ heit schwer genug gebüßt. Wußte ich doch schon als Knabe, daß Du Dein Pferd und Deinen Hund lieber hattest, als mich; und doch bezwang ich den schwer verletzten Stolz, und doch demüthigte ich mich wieder und immer wieder vor Dir; ich, der ich nie in meinem Leben eine Bitte über die Lippen bringen konnte!“ Der Baron setzte seine ruhelose Wanderung durch 13 * das Zimmer wieder eine Zeit lang schweigend fort, dann blieb er abermals vor Melitta stehen, und sagte: „Ich habe mich noch tiefer gedemüthigt. Ich habe gesehen, daß das Weib, nach der sich meine Seele sehnt, wie der Gekreuzigte nach einem Labetrunk, von einem andern geliebt wird; habe gesehen, daß sie diesen Andern wieder liebt mit jener Liebe, um die ich Gott auf meinen Knieen tausend und tausendmal mit heißen Thränen gebeten habe — und habe nicht mit der Wimper gezuckt; ich habe der Schlange Eifer¬ sucht den Kopf zertreten — ja, und mehr! ich habe redlich versucht, diesen Glücklichen nicht zu hassen, ich bin ihm entgegengekommen mit Gruß und Handschlag, ich habe mir sein Vertrauen, seine Liebe zu erwerben gesucht, nicht um zum Verräther an ihm und an Dir zu werden, sondern weil ich fühlte, daß mir Dein Glück theurer war, als Alles, und daß der, welchen Du liebtest, auch von mir geliebt werden oder von meiner Hand sterben müsse.“ „Sie sind fürchterlich, Oldenburg!“ rief Melitta, sich halb vom Stuhle erhebend; „soll denn nicht der geheimste Winkel meines Herzens vor Ihnen verbor¬ gen bleiben?“ „Ich bin nicht fürchterlich,“ sagte der Baron; „ich bin nur unbequem; das ist das Recht des Freundes. Glaube nicht, daß ich mich auf krummem Wege in Dein Geheimniß gestohlen habe! Ich habe nur die Augen nicht geschlossen, das ist Alles. Oder glaubst Du, man lerne nicht zuletzt die leiseste Regung in einem Gesicht verstehen, das man stets im Wachen und ach, wie oft im Traume! vor sich sieht? Und dann, wenn man die Hoffnung, je geliebt zu werden, aufgegeben hat, so will man wenigstens die Ueberzeu¬ gung haben, daß derjenige, welchem dieses Glück zu Theil wird, auch kein Unwürdiger ist.“ „Oldenburg!“ „Er ist kein Unwürdiger, aber — ich bin Dein Freund, Melitta! er ist Deiner auch nicht würdig, noch nicht würdig. Er hat viele große und schöne Eigenschaften, ich weiß es wol; aber sein Charakter ist noch nicht im dreimal heiligen Feuer des Unglücks gestählt, und so weiß er auch das Glück noch nicht zu schätzen. Er hat eine unendliche Empfänglichkeit für Alles, was schön und anmuthig ist, und deshalb betet er Dich an; aber, weil er seiner Natur nach eben für Alles empfänglich ist, wird es ihm unendlich schwer, nicht über dem Anmuthigeren und Schöneren das Schöne und Anmuthige zu vergessen; das heißt: treu zu sein. Er ist ein Dichter, und eines Dichters Liebe ist das Ideal. Er wird das köstlichste Gefäß verächtlich bei Seite schieben, weil sein feines Auge doch irgendwo einen Flecken daran bemerkt hat; er wird Alles, was ihm die Erde bietet, gierig ergreifen und verächtlich wieder fortwerfen, weil es eben irdisch, weil es, und wäre es noch so himmlisch, doch immer mit einem Erdenrest behaftet ist.“ „Sie sagen mir nichts, Oldenburg, was ich mir nicht schon hundert und tausendmal selbst gesagt hätte.“ „Ich weiß es. Die Beurtheilung solcher Naturen kann Ihnen nicht schwer werden, denn auch Sie sind diesem Dämon unterthan. Aber Sie sind ein Weib, und über euch hat der Dämon nicht, wie über uns, unbedingte Gewalt. Ihr, und wenn ihr euch auch noch so sehr sträubt, laßt euch zuletzt doch in der Liebe Fesseln schlagen und seid stolz auf diese Fesseln; der Mann, und wenn er im Anfang noch so sehr mit dem neuen Schmucke prunkt, schleudert ihn zuletzt doch von sich. Und so wird es geschehen.“ „Nein, nein!“ „Ja, Melitta; es wird geschehen und — jetzt weiß ich auch, welches dieses Unglück ist, das ich über Deinem theuren Haupte wie eine finstere Wetterwolke schweben sah. Glaube es mir, der Schlag wird über kurz oder lang auf Dich niederschmettern, und wenn Du dann zerschmettert am Boden liegst und nicht mehr leben magst und doch nicht sterben kannst — dann, Melitta, dann vielleicht wirst Du die Qualen begreifen, die ich erduldet; dann wirst Du mir im Herzen das Unrecht abbitten, das Du mir gethan! Wollte Gott, Du kämest nie zu dieser Erkenntniß! Der Preis ist ungeheuer! aber, aber — Du wirst ihn doch bezahlen müssen. Leb wohl, Melitta! ver¬ zeihe, daß ich Dir weh gethan habe; es wird nicht wieder geschehen; es ist das erste, und es ist das letzte Mal, daß ich so zu Dir geredet. Leb wohl, Melitta! — Melitta, hast Du kein freundliches Wort zum Ab¬ schied für mich?“ Melitta hatte das Gesicht in die Hände gedrückt; bei der Dämmerung, die in dem Gemache herrschte, waren nur noch eben die Umrisse ihrer Gestalt zu er¬ kennen.– Sie wollte, oder konnte nicht antworten. Der Baron hielt seine beiden Hände über das schöne gebeugte Haupt. „Gott segne Dich, Melitta!“ sagte er, und die Stimme des stolzen, harten Mannes klang weich und mild wie eines Vaters Stimme. Als Melitta die Thür sich hinter dem Baron schließen hörte, sprang sie von dem Stuhle auf, und that rasch einige Schritte, als wollte sie ihn zurück¬ rufen. Aber mitten im Zimmer blieb sie wieder stehen. „Nein, nein!“ murmelte sie, „es ist besser so, ich darf ihm keinen Schimmer von Hoffnung lassen.“ Sie ging langsam wieder zu ihrem Stuhl zurück. Sie setzte sich wieder, sie bedeckte wieder das Gesicht mit den Händen. Und nun brachen die lange zurück¬ gehaltenen Thränen in Strömen aus ihren Augen. „Ich weiß es ja, daß es so kommen wird;“ murmelte sie; „aber weshalb den kurzen Traum des Glücks so grausam stören!“ Zwölftes Kapitel. Der Postbote, welcher am Abend den Brief Hele¬ ne's nach der Stadt trug, war am Morgen desselben Tages schon einmal dagewesen. Er hatte Oswald ein Schreiben aus Grünwald von einem seiner dorti¬ gen Bekannten gebracht, der auch zu gleicher Zeit einer von den Wenigen war, mit denen Professor Berger in einem intimeren Verhältnisse stand. Der Bekannte, ein Docent an der Universität, schrieb Os¬ wald, daß er ihm die schleunige Nachricht von einem Ereignisse schuldig zu sein glaube, das seit gestern Nachmittag die ganze Stadt in die größte Bestürzung versetzt habe. Professor Berger sei ganz plötzlich, zum wenigsten ohne daß irgend Jemand eine Ahnung von seiner Krankheit gehabt habe, wahnsinnig geworden. Er sei um vier Uhr, wie gewöhnlich, in seine Vorle¬ sung über Logik gekommen, habe angefangen zu doci¬ ren, scharfsinnig, geistreich, wie immer. Dann hätte seine Rede begonnen, verworren und immer verwor¬ rener zu werden, so daß ein Student nach dem an¬ dern die Feder niedergelegt und den Nachbar voll Verwunderung und Schrecken angestarrt habe. „Wissen Sie, meine Heren, habe Berger gerufen, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier hob, der das große Geheimniß barg, — das große Geheim¬ niß, welches der Schlüssel sein sollte zu den verwor¬ renen Räthseln des Lebens? Sehen Sie, meine Her¬ ren, hier nehme ich meinen Kopf auseinander, die eine Hälfte in diese, die andere in jene Hand — was erblicken Sie in dem Kopfe des berühmten Professor Berger, zu dessen Füßen Sie sitzen, seinen weisen Worten zu lauschen, und sie mit abscheulich kritzelnden Federn in Ihre langweiligen Hefte zu schreiben? was erblicken Sie? — genau dasselbe, was der Jüngling von Sais erblickte, als er den Schleier von der Wahrheit hob: Nichts! absolut gar nichts, nichts für sich, nichts an sich, an und für sich: nichts! und daß dieses hohle, öde Nichts des Pudels Kern sei, daß all unser bestes Streben nichts sei, wir unser Herz¬ blut an nichts und wieder nichts setzen, sehen Sie, meine Herren, das hat den Jüngling von Sais toll gemacht, das hat mich verrückt gemacht, und wird auch Sie um den Verstand bringen, wenn Sie irgend¬ welchen aus Ihren Spatzenköpfen zu verlieren haben. Und nun, meine Herren, machen Sie Ihre dummen Hefte zu, damit das abscheuliche Kritzeln endlich ein¬ mal aufhört und stimmen Sie mit mir in das tief¬ sinnige und erhebende Lied ein: „O, da sitzt ne Flieg' an der Wand!“ Berger habe darauf mit lauter Stimme und das Katheder mit den Fäusten bearbeitend ange¬ fangen, zu singen, sei dann in dem Auditorium an den Wänden entlang gelaufen, nach imaginären Fliegen haschend, habe dann jedesmal die Hand geöffnet, hin¬ eingeschaut, und triumphirend gerufen: Nichts meine Herren, sehen Sie, nichts und wieder nichts! Der Bekannte schloß den Brief mit der Mitthei¬ lung, daß Professor Berger sogleich am folgenden Tage auf den Rath seiner Aerzte nach R. in die be¬ rühmte Heilanstalt des Dr. Birkenhain transportirt sei; er habe Alles gutwillig mit sich geschehen lassen, nachdem man ihm vorgeredet: man wolle ihm das große Ur-Nichts zeigen . . . Oswald war durch den Inhalt dieses Briefes tief erschüttert. Er hatte in Berger seinen Freund und Lehrer geliebt und geehrt; er hatte sich des wunder¬ lichen Mannes Liebe in hohem Grade erworben; er hatte tiefere Blicke, als wol irgend Jemand sonst, in diesen unendlich reichen Geist gethan. Wie oft hatte er dem Außerordentlichen mit entzücktem Schweigen zugehört, wenn dieser von einem scharfsinnigen und genau formulirten Satze ausgehend, plötzlich aus dem Gebiete der Logik in eine Welt gerieth, die sich ihm nur durch eine höhere Intuition erschließen konnte, und nun Traum an Traum und Gesicht an Gesicht reihte, so phantastisch, so märchenhaft, aber auch so himmlisch schön und rein, daß Oswald alles Andere darüber vergaß und leibhaftig in dieser Fata Morgana umherzuwandeln glaubte, bis der Magier mit einem Worte höhnenden Schmerzes und wilder Verzweiflung die köstliche Spiegelung versinken ließ! Und nun war dieser reiche edle Geist zerstört! und diese hohe In¬ telligenz in des Wahnsiuns öde Nacht gesunken!... Oswald erschien dies so ungeheuer, so unfaßbar, daß ihm war, als sei die Welt aus den Fugen gegangen; als müsse jetzt, nachdem diese erhabene Säule gestürzt, Alles in grause Trümmer zerfallen. Wenn dies ge¬ schehen konnte, was war dann noch unmöglich? Dann war ja auch wol Freundschaft ein Märchen und Liebe eine Fabel — dann mochte ja auch wol etwas mehr hinter dem Zufall zu suchen sein, der ihm heute Morgen den augenblicklichen Aufenthaltsort Oldenburg's ver¬ rieth. — Als Oswald nämlich einen Blick auf die Aufschriften der Briefe warf, welche der Postbote aus seiner Tasche genommen hatte und durch die Hand laufen ließ, um den für Oswald bestimmten heraus¬ zusuchen, fiel ihm einer auf, auf welchem die Adresse offenbar von Oldenburg's höchst eigenthümlicher und schwer mit einer andern zu verwechselnder Handschrift war. Der Brief war an des Barons Verwalter in Cona adressirt. Weshalb sollte der Baron nicht an seinen Verwalter schreiben dürfen? Aber Oswald erfuhr auch zugleich durch den Poststempel den Ort, von welchem aus dieser Brief abgesandt war; und dieser Ort war derselbe, wohin man Berger geschickt hatte, derselbe, wo Herr von Berkow seit sieben Jah¬ ren — und wo Melitta seit vierzehn Tagen war, das heißt, zwei Tage länger, als die geheimnißvolle Reise Oldenburg's gedauert hatte! In dem ausführlichen Briefe Melitta's, den Oswald vor einigen Tagen durch Baumann erhielt, hatte sie des Barons Anwesenheit mit keinem Worte erwähnt; Baumann selbst aber mußte durch Bemperlein davon unterrichtet gewesen sein, denn er war in Verlegenheit gerathen, als er die Personen nannte, die bei dem Besuche, welchen Melitta ihrem sterbenden Gemahl machte, zugegen ge¬ wesen waren. Warum dieses geheimnißvolle Wesen bei einem Manne, der die Geradheit und Offenheit selbst schien? war er dazu beauftragt, oder hatte er, der die Verhältnisse seiner Herrin so genau kannte, seine besondern, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu verheimlichen? Dies waren die schlimmen Gedanken, die durch Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittags¬ sonnenschein barhaupt an dem Brunnen der Najade stand und bewegungslos in das Wasser starrte, wäh¬ rend Fräulein Helene an ihrem Schreibtisch Betrach¬ tungen darüber anstellte, ob sie selbst vielleicht die Ursache dieser Verstimmung sei. Ehe sie indessen dar¬ über zu einem Resultat gekommen war, klopfte es an ihre Thür. Das junge Mädchen schloß sofort ihre Schreibmappe und schien ganz in Lamartine's Voyage en Orient vertieft, als sich auf ihr Herein! die Thür öffnete und die Baronin in's Zimmer trat. „Störe ich Dich, liebe Helene?“ „Durchaus nicht, liebe Mama!“ sagte das junge Mädchen aufstehend und ihrer Mutter entgegengehend. „Du bliebst heut so außergewöhnlich lange auf Deinem Zimmer, daß ich doch sehen wollte, was Dich denn so sehr fesselte. Lamartine's Voyage ? nun, ein recht hübsches Buch, aber ein wenig überspannt, wie mir scheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man eine etwas andere Ansicht von dem Leben, und so auch von den Büchern und den Menschen. Aber ich freue mich, daß Du nicht müßig bist, daß Du das Talent hast, Dich zweckmäßig zu beschäftigen. Ich fürchtete schon, die Monotonie unsers Lebens hier würde doch gar zu sehr von dem muntern Treiben in der Pension abstechen, und Du würdest diesen Unter¬ schied schmerzlich empfinden. Wir können Dir hier so wenig bieten! das war immer mein Refrain, wenn der gute Vater darauf drang, Dich endlich einmal aus der Pension zu nehmen.“ „Aber ich versichere Dich, liebe Mama, Du hast Dir ganz unnöthige Sorge meinethalben gemacht,“ sagte Fräulein Helene, die dargebotene Hand der Mut¬ ter an die Lippe ziehend; „ich fühle mich hier sehr glücklich, und wie wäre das auch anders möglich! Bin ich nicht im elterlichen Hause, wo mir Alle mit Liebe oder doch mit Freundlichkeit entgegenkommen? habe ich nicht Alles, was ich nur wünschen kann? Ich wäre wahrlich sehr, sehr undankbar, könnte ich das auch nur einen Augenblick vergessen.“ „Du bist ein gutes, verständiges Kind,“ sagte die Baronin, ihre schöne Tochter auf die Stirn küssend, „ich werde noch recht viel Freude an Dir erleben. Das ist meine sichere Hoffnung, wie es mein tägliches Gebet ist. Ach, meine liebe Tochter, glaube mir, ich bedarf gar sehr dieses Trostes, wenn ich nicht den vielen Sorgen, die auf mich einstürmen, unterliegen soll.“ Die Baronin hatte sich auf ein kleines Sopha gesetzt; sie schien sehr erregt und trocknete sich mit dem Taschentuche die nassen Augen. „Was hast Du, liebe Mama?“ sagte Fräulein Helene mit wirklicher Theilnahme; „ich bin nur ein einfältiges unerfahrenes Mädchen, aber wenn Du Ver¬ trauen zu mir haben kannst, theile Dich mir mit. Wenn ich Dir auch nicht rathen und helfen kann, so vermag ich doch vielleicht Dich zu trösten, und das würde mir eine unendliche Freude bereiten.“ „Liebes Kind,“ sagte die Baronin, „Du bist so lange — komm, setze Dich hier zu mir und laß uns einmal recht vertraulich mit einander reden — Du bist so lange vom elterlichen Hause entfernt gewesen und warst noch so jung, als Du es verließest, daß Du nothwendigerweise von unsern Verhältnissen so gut wie gänzlich ununterrichtet bist. Du glaubst, wir seien reich, sehr reich; aber es ist beinahe das Gegen¬ theil der Fall, für uns Frauen wenigstens. Das ganze große Vermögen fällt nach des Vaters Tode — den der allmächtige Gott in seiner Gnade noch recht lange verhüten möge — an Deinen Bruder. Mir bleibt, außer einer sehr geringen Wittwepension, nichts — und Du, mein armes Kind, gehst gänzlich leer aus.“ „Aber, Mama, ich hörte doch immer, daß Stan¬ tow und Bärwalde dem Vater gehörten, und daß er darüber ganz frei verfügen könne?“ „Du irrst, mein Kind; die beiden Güter gehören nicht dem Vater. Sie werden ihm vielleicht einst ge¬ hören, wenn sich der eigentliche Erbe bis zu einer gewissen Zeit nicht meldet. Ich kann über diesen Punkt nicht ausführlich sein, liebes Kind, weil ich dabei gewisse Verhältnisse Deines Onkels Harald be¬ rühren müßte, über die man mit einem jungen Mäd¬ chen lieber nicht spricht. Genug, auf die Güter können wir mit Bestimmtheit nicht rechnen. Alles, was uns bleibt, sind einige Tausend Thaler, die Dein Vater und ich bis jetzt von unserer Rente haben erübrigen können.“ „Liebe Mama, mache Dir meinethalben keine Sorge,“ sagte Fräulein Helene; „ich bin in Hamburg nicht verwöhnt, und der Luxus, mit dem mich hier Deine Güte umgeben hat, ist mir etwas ganz Neues. Ich werde auch mit Wenigem zufrieden und glücklich sein können — und dann, der gute Vater ist ja jetzt, Gott sei Dank, wieder so munter und rüstig, hat sich von dem Fieberanfall in Hamburg so auffallend schnell F. Spielhagen, Problematische Naturen. III. 14 erholt, daß wir uns seiner Liebe und Fürsorge gewiß noch recht lange werden erfreuen können.“ „Das gebe Gott!“ sagte die Baronin; „aber ich fürchte, wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Der Vater ist keineswegs so rüstig, wie Du glaubst. Er kränkelt fortwährend, obgleich er es uns so wenig wie möglich merken läßt. Der Hamburger Arzt schilderte mir des Vaters Zustand als sehr be¬ denklich. Sollte er uns entrissen werden, dann wür¬ dest Du leider Gelegenheit erhalten, die Stichhaltigkeit Deiner Grundsätze zu erproben. Aber, mein Kind, Du kennst das Leben nicht. Es läßt sich leicht von Armuth sprechen, wenn man sie nur von Hörensagen kennt. Ich kenne sie aus Erfahrung; ich war ein armes Mädchen, als mich Dein Vater heirathete; ich weiß, was es heißt, ein Kleid wenden und wieder wenden, weil man kein Geld hat, ein neues zu kaufen; ich weiß, welchen tausendfachen Demüthigungen ein armes Mädchen von Adel ausgesetzt ist.“ „Es wird anders und besser kommen, als Du denkst, theuerste Mama. Ich weiß nicht, ist es meine Jugend oder ist es der schöne leuchtende Sommertag — ich kann unsere Lage nicht in dem trüben Lichte sehen. Ich werde —“ „Mich mit einem reichen und würdigen Mann ver¬ heirathen?“ sagte die Baronin mit einem Lächeln, das ihr sehr sonderbar stand. „Aber Mama —“ Ich weiß es wohl, daß Du etwas Anderes sagen wolltest, meine Tochter. Es ist ein Scherz von mir, aus dem hoffentlich ein recht erfreulicher Ernst wird. Du stehst in den Jahren, wo es einem jungen Mäd¬ chen wohl erlaubt ist, in Zucht und Ehren einem solchen Gedanken in ihrem Herzen Raum zu geben. Wohl ihr, wenn sie ihre Wahl auf einen Würdigen lenkt, besser noch, wenn sie dieselbe ihren Eltern über¬ läßt, die nur ihr Glück wollen und durch die reiche Erfahrung eines langen Lebens in diesem Bemühen unterstützt werden.“ „Aber Mama, dahin hat's doch noch lange Zeit.“ „Sehr wahrscheinlich, mein Kind; indessen man kann nicht wissen, was der Himmel über Dich be¬ schlossen hat. Ihm muß man in diesen, wie freilich auch in den andern Dingen des Lebens Alles an¬ heimstellen. — Aber, wer ist nur der Mann, welcher dort so lange unbeweglich am Baume steht; ich habe meine Lorgnette in meinem Zimmer gelassen.“ „Es ist Herr Stein, Mama; er steht dort schon seit einer halben Stunde mindestens; ich glaube, er ist festgewachsen.“ 14 * „Ein wunderlicher Mensch, dieser Stein; sagte die Baronin. Er hat für mich geradezu etwas Unheim¬ liches. Es ist schlechterdings unmöglich, aus ihm klug zu werden. Wie gefällt er denn Dir, liebe Helene?“ „Aber, Mama, ich habe wirklich noch nicht darüber nachgedacht: und bei solchen Leuten kann eigentlich doch von Gefallen oder Misfallen kaum die Rede sein. Ich dächte, sie wären sich alle gleich oder wenigstens sind die Unterschiede so gering, daß man sie nicht wohl bemerken kann; — der Eine heißt Stein, der Andere Timm — das ist doch im Grunde Alles.“ „Du hast recht, liebe Tochter,“ sagte die Baronin. „Diese Leute sind Statisten, man sieht sie nur, wenn die handelnden Personen einmal abgetreten sind. Glücklicherweise kann ich Dir in allernächster Zukunft eine andere und bessere Gesellschaft versprechen.“ „Und die wäre?“ „Dein Cousin Felix. Ich erhielt soeben einen Brief von ihm — der Postbote ist noch draußen in der Küche, Du kannst ihm einen Brief mitgeben, wenn Du vielleicht ein paar Zeilen nach Hamburg schreiben willst — er meldet uns seinen Besuch auf morgen oder übermorgen an. Aber war das nicht Deines Vaters Stimme? Adieu, liebes Kind; mache Dich zurecht, wir wollen etwas früher essen und dann noch eine Visite bei Plüggens machen.“ Die Baronin küßte ihre Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Fräulein Helene holte eilig den auf die Seite geschobenen Brief wieder hervor, um noch dazu zu schreiben: „Mama, die mich soeben verläßt, ist doch wirklich sehr gut und freundlich zu mir. Sie spricht mit einer Offenheit, die mich in Erstaunen setzt, von unsern Verhältnissen. Sie kün¬ digte mir einen Besuch an: Cousin Felix (der Lieute¬ nant). Es wird wohl durch ihn etwas mehr Leben nach Grenwitz kommen, denn auf Herrn Stein scheint man nicht mehr rechnen zu können. Er steht noch immer am Brunnen. Adieu, dearest, dearest Mary! “ . . . Dreizehntes Kapitel. Wer sich für Albert Timm specieller interessirte, konnte bemerken, daß diesem Herrn in den letzten Tagen irgend etwas Besonderes zugestoßen sein mußte. Zwar ließen sich der schwarze Frack, den er jetzt be¬ ständig trug, die größere Sorgfalt, die er auf seine Toilette verwandte, und andere mit seinem äußeren Menschen geschehene Veränderungen füglich durch die Anwesenheit Fräulein Helene's und die gehobenere Stimmung, welche durch dieselbe in die Gesellschaft auf Schloß Grenwitz gekommen war, erklären, aber wie sollte man den Ernst deuten, der jetzt häufig auf seiner weißen Stirn und in seinen hellen blauen Augen lag? wie die Schweigsamkeit, zu der er, der sonst keine Minute still sein konnte, sich oft auf Stunden verurtheilte? wie vor allen Dingen den rast¬ losen Fleiß, mit welchem er jetzt halbe Tage lang über sein Reißbrett gebeugt stand und zeichnete und tuschte? Allerdings hatte Herr Timm während der kurzen Abwesenheit der Familie nur den harmlosen Freuden eines angenehmen ländlichen Aufenthaltes ge¬ lebt bis zu dem Augenblicke, wo er, von einer plötz¬ lichen Anwandlung von Fleiß ergriffen, in die Re¬ gistratur ging, die alten Flurkarten zu holen, und bei dieser Gelegenheit ein kleines, mit einem rothseidenen Faden zusammengebundenes Packet Briefe fand, in deren Lectüre er durch das Rollen des Wagens, wel¬ cher die Familie Grenwitz so unverhofft zurückbrachte, gestört wurde. Indessen, es war ganz gegen Albert's Natur, über ein dolce far niente , dem er sich län¬ gere oder kürzere Zeit hingegeben, Reue zu empfin¬ den; und überdies arbeitete er so schnell und gewandt, daß es ihm ein Kleines war, auch größere Versäum¬ nisse in sehr kurzer Zeit nachzuholen. Die Flurkarten also, weder die neuen noch die alten, waren es sicher nicht, über denen er sich den Kopf zerbrach. Davon würde man sich überzeugt haben, wenn man an dem Nachmittage einen Blick in sein Zimmer, das er, sehr gegen seine Gewohnheit, hinter sich abgeschlossen, ge¬ worfen hätte. Herr Timm saß auf dem kleinen Sopha in seiner Stube, ein Bein untergeschlagen, den Kopf in die Hand gestützt, und aus seiner Cigarre mächtige Wolken blasend, offenbar in tiefes Nachdenken ver¬ loren. Neben ihm auf dem Sopha lagen die Briefe, die er in dem Repositorium der Registratur gefunden. Es waren ihrer nicht viele, alle von derselben zier¬ lichen Hand auf ziemlich graues Papier geschrieben, wie man es noch vor einigen Jahrzehnten ganz all¬ gemein selbst zu Briefen benutzte. Die Briefe mußten wohl dieses Alter haben, denn die Tinte war ganz vergilbt und konnte so einigermaßen das Datum er¬ setzen, das in sämmtlichen Briefen fehlte. „Es muß sich etwas mit diesen Briefen anfangen lassen“, sagte Albert, leise mit seinem besten Freunde und einzigen Vertrauten, seinem eigenen lieben Selbst, redend, „ich weiß nur nicht gleich was. Wenn es mir gelänge, die Antworten dazu zu finden, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein so schlauer Kopf, wie der meine, dem großen Geheimniß nicht bis in seine verborgenste Höhle nachspürte. Auf der richtigen Spur, deute ich, bin ich schon jetzt. Daß Mutter und Kind gestorben sein sollten, ist so un¬ wahrscheinlich wie möglich. Die Marie war allem Anschein nach ein wahres Kernmädel und das bischen Jammer und Kummer wird ihr das Herz schon nicht gebrochen haben. Das Kind aber aus dieser wilden Ehe hat sich jedenfalls des legitimen Vorrechts aller illegitimen Sprößlinge, weniger hoch, als wohlgeboren zu sein, zu erfreuen gehabt. Die Mutter also, oder das Kind, oder Beide leben noch. Leben Sie aber — und ich wünsche und hoffe es — so wissen sie ent¬ weder nichts von dem kostbaren Codicill zum Testa¬ mente des seligen Bruder Liederlich, oder sie sind da¬ von unterrichtet. In dem letzteren Fall, der nicht sehr wahrscheinlich ist, — denn vor einer so fetten gebratenen Taube den Mund zu verschließen, über¬ stiege doch Alles, was ich von menschlicher Dumm¬ heit bis jetzt gehört und gesehen habe, und das will sehr viel sagen, — müßte man sie zu bestimmen suchen, von ihrem guten Rechte Gebrauch zu machen; in dem ersten Fall, dem bei weitem wahrscheinlicheren, müßte man ihrer erbarmungswürdigen Unwissenheit freundlichst zu Hülfe kommen; in jedem Falle — und da liegt der Hase im Pfeffer — müßte man erst wissen, wo sie denn überhaupt zur Zeit sich befinden. Daß sie sich in allzugroßer Nähe einen Zufluchtsort gesucht haben sollten, ist nicht anzunehmen. Denn einmal würde sie Harald, der jedenfalls keine Mittel unbenutzt ließ und das Geld nicht schonte, nach der Flucht gefunden haben, zweitens pflegen die Leute bei solchen Gelegenheiten so weit zu laufen, als es irgend möglich ist, und drittens scheint dieser Monsieur d'Estein ein viel zu schlauer Fuchs gewesen zu sein, um sich vor dem Löwen, der ihm auf der Fährte war, nicht sicher mit seinem Täubchen zu verstecken. Ueber¬ haupt ist dieser Monsieur eine sehr irrationale Größe, die sich in meiner Rechnung als ein äußerst störender Factor erweist. Wenn er nicht bald nachher gestor¬ ben ist, so hat er jedenfalls noch viel Unsinn ange¬ richtet, vielleicht sogar die kleine Marie geheiratet, das Kind adoptirt und die Beiden zurück nach Frankreich, oder nach Amerika oder sonst wohin, wo für mich die Welt mit Brettern zugenagelt ist, geführt, und mir so den ganzen Spaß verdorben. Das wäre schändlich, denn die Geschichte könnte wirklich über alle Begriffe spaßhaft werden. Ich möchte wohl die Gesichter von den Beiden sehen, wenn ich vor sie träte und sagte: meine armen Schelme, was gebt Ihr mir, wenn ich euch zu einem hübschen Vermögen von einigen hun¬ derttausend Thälerchen verhelfe? oder auch — und das wäre nicht minder bequem, ja vielleicht ein gut Theil bequemer — wenn ich mich eines schönen Nach¬ mittags bei der guten Anna-Maria introducirte und sagte: Entschuldigen Sie meine Gnädigste, wenn ich störe; aber ich habe — unter den Papieren meines Vaters, der, wie Sie wissen, mit Ihrem verstorbenen Vetter Harald in Geschäftsverbindung stand, gewisse Papiere aufgefunden, die mich in den Stand gesetzt haben, die rechtmäßigen Besitzer von Stantow und Bärwalde mit ziemlicher Gewißheit angeben zu kön¬ nen. Mein Rechtlichkeitsgefühl und die specielle Ver¬ ehrung, die ich für Sie und Ihr Fräulein Tochter empfinde, liegen sich nun sehr bedeutend in den Haa¬ ren. Das erstere befiehlt mir, von meiner Entdeckung den pflichtschuldigen Gebrauch zu machen, die letztere heißt mich, die Sache zu vertuschen. Wie wär' es, hochverehrte Frau, wenn sie meiner vollkommen un¬ eigennützigen Verehrung mit einigen tausend Thalern, die ich, auf Ehre, sehr nothwendig brauche, zu Hülfe kämen?“ Dieser Gedanke schien für Herrn Timm etwas Begeisterndes zu haben. Er sprang vom Sopha auf, und ging mit raschen Schritten, lebhaft gesticulirend, in seinem Gemache auf und ab. „Das könnte eine wahre Schatzgrube für mich werden“, murmelte er; „ich wollte das stolze Weib ängstigen, daß ihre großen grauen Augen noch einmal so groß würden; ich wollte ihr Daumschrauben ansetzen und jedesmal, wenn ich Geld brauchte, die Schraube etwas fester anziehen. Sie würde Alles und Jedes thun, ehe sie es auf einen Proceß ankommen ließe. Dann wäre ich so ein Stück von Herr im Hause: dann könnte ich die Nar¬ renmaske fallen lassen und mich einmal in meiner wahren Gestalt zeigen. Dann könnte ich bestimmen, wen Fräulein Helene heiraten soll, ja könnte sie selber heiraten, wenn ich wollte, und jedenfalls der Ankunft meines guten Freundes Felix, die mir die gute Anna- Maria eben in allem Vertrauen mittheilte, mit aller Ruhe entgegen sehen. Zwar bin ich auch so nicht be¬ sonders unruhig darüber, denn Freund Felix war der würdige Schüler seines Meisters und schlug die Volte nicht schlechter als ich, und wenn ihn sein alter Adel nicht geschützt hätte, so wäre es ihm wahrscheinlich nicht besser ergangen. So freilich kam der Fähndrich Baron Felix von Grenwitz mit einer Warnung davon und der Fähndrich Albert Timm mußte springen. Ich bin doch neugierig auf unser Wiedersehen. Vielleicht kennt er mich nicht mehr; vielleicht wird er versuchen, den unbequemen Gast möglichst bald aus dem Hause und sich aus den Augen zu schaffen. Ha, wie sollte sich das Blatt wenden, wenn diese verdammten Briefe nicht so frauenzimmermäßig gerade über die wichtigsten Punkte flüchtig weghuschten!“ Albert setzte sich wieder auf das Sopha und begann die Briefe, obgleich er sie jetzt schon so ziemlich aus¬ wendig wußte, noch einmal der Reihe nach — er hatte sie sorgfältig numerirt — zu lesen. Nr. 1. Mein Herr! Ich kenne Sie nicht und wenn Sie derselbe sind, der sich vor einigen Wochen im Thiergarten so unaufgefordert in die Unterhaltung mischte, die ich mit meinem Begleiter führte und sich von dem letzteren eine so derbe Zurechtweisung zuzog; derselbe, der mich jetzt allabendlich, wenn ich aus dem Geschäft nach Hause gehe, verfolgt — so werden Sie es begreiflich finden, daß ich sehr wenig Lust verspüre, Sie kennen zu lernen. Ich bitte, verschonen Sie mich mit Ihren Zudringlichkeiten, zu welchen ich vor allem auch Ihre Briefe rechne. Ich würde diesen, wie die andern, unbeantwortet gelassen haben, wenn ich nicht fürchtete, durch fortgesetztes Schweigen Ihre Kühnheit zu begünstigen. Sollte es wirklich Männer geben, welche der directen Bitte einer Frau, und noch dazu einer unbeschützten und schutzlosen Frau, wider¬ stehen können? Marie Montbert. Nr. 2. Mein Herr! Sie scheinen allerdings die Wege zu kennen, durch die man sich die Verzeihung einer Frau, die man beleidigt hat, gewinnt. — Welches auch die Motive waren, von denen sie bei Ihrer Handlung geleitet wurden, — Sie haben viel Thrä¬ nen getrocknet. Sie haben eine ganze Familie von der Verzweiflung gerettet. Ich selbst konnte nichts mehr für meine armen Landsleute thun — als nur Gott bitten, ihnen einen Retter zu senden. Er hat Sie ge¬ sandt. Beweisen Sie sich dieser Gnade würdig! Be¬ denken Sie, daß, wer Lohn begehrt, seinen Lohn dahin hat, und lassen Sie nicht Ihre Linke wissen, was Ihre Rechte that. Ihre ergebene Dienerin Marie Montbert. Nr. 3. Was wissen Sie von dem Schicksale meines Vaters? um Gotteswillen, mein Herr, spielen Sie nicht mit dem Herzen eines Kindes! Sie wollen von einem Obrist der großen Armee, in dessen Regiment er den Feldzug nach Rußland mitmachte, ganz genaue Einzelheiten über ihn während der Campagne und die näheren Umstände bei seinem Tode kurz vor dem Uebergang über die Beresina erfahren haben. Es klingt das Alles so unwahrscheinlich — und doch, woher könnten Sie es wissen, wenn nicht aus sicherer Quelle? — auch der Name des Obristen, wie ich aus Briefen meines Vaters an meine Mutter ersehe, stimmt, Ich weiß nicht, was ich glauben soll — aber weshalb mir diese Mittheilungen, die, ich gestehe es, von unendlichem Werth für mich sind, nicht in meiner Wohnung — ich will sagen: in der Wohnung der guten Frau, die bei mir seit langen Jahren Mutter¬ stelle vertritt, machen? Weshalb dieses geheimnißvolle Rendezvous? Weshalb ein Kind, das Nachricht von dem Tode seines Vaters erwartet, zwingen, einen Schritt zu thun, den dieser Vater, wenn er lebte, niemals billigen würde? Ich werde nicht umsonst an Ihr Herz appelliren; ich weiß, daß es der Großmuth fähig ist. Meine Wohnung ist Marienstraße 21. Wenn Sie die drei engen Treppen nicht scheuen, so werde ich Morgen Sonntag, zwischen 10 und 12 Uhr zu Ihrem Empfang bereit sein. Ihre ergebenste Dienerin Marie Montbert. Nr. 4. Sie bestehen auf dem Rendezvous, das, wie Sie sagen, durchaus kein geheimnißvolles sei, denn es fände auf offener Straße, an einem der belebtesten Punkte der Stadt und zu einer Zeit, wo die Straßen noch von Fußgängern schwärmten, statt. Sie wollen mir die Gründe, die Sie bestimmen, meinen Wunsch, „so schmerzlich es Ihnen auch sei,“ nicht zu erfüllen, selbst sagen, und Sie schwören mir, ich werde diese Gründe, wenn ich sie erfahren, billigen. Sind Sie dessen so gewiß? — Aber freilich, Sie sind der Ge¬ ber — ich die Empfängerin — ich muß mich wol Ihren Wünschen fügen; daß Sie mich täuschen wollten, will ich, kann ich nicht denken. Sie sind einmal so großmüthig gegen Arme und Hülflose gewesen, Sie können das andere Mal gegen ein armes, hülfloses Mädchen nicht so ungroßmüthig sein. M. M. Nr. 5. Herr Baron! Nochmals meinen innigsten, herzlichsten Dank! Dank auch für die Zartheit, mit welcher Sie Alles eingeleitet hatten! Wie bitter Un¬ recht habe ich Ihnen gethan? Aber konnte ich ahnen, daß Sie mich mit dem Herrn Obristen von St. Cyr selbst bekannt machen würden? daß ich aus dem Munde dieses Veteranen in meiner geliebten Muttersprache den Heldentod meines Vaters sollte erzählen hören? Sie wollten nicht, daß der Obrist die Tochter eines Helden, den letzten Sproß einer einst reich begüterten, angesehenen Familie in so dürftigen Verhältnissen fände; Sie wollten mir die Verlegenheit ersparen, den Grafen von St. Cyr und den Baron von Grenwitz in einer Dachkammer zu empfangen. Sie zogen es vor, mich als Erzieherin in einer Ihnen nahe verwandten Fa¬ milie vorzustellen — und es war am Ende recht und billig, daß ich in Ihrer Gesellschaft den kranken und von der Reise angegriffenen alten Herrn in seinem Hotel aufsuchte. Nochmals vielen, vielen Dank! auch dafür, daß Sie auf dem langen Rückwege vom Hotel bis zu meiner Wohnung den frischen Schmerz durch ein Schweigen ehrten, das Ihnen bei Ihrem lebhaften Naturell gewiß nicht leicht geworden ist. Wodurch habe ich denn nur das Interesse, welches Sie an meinem Schicksal nehmen, verdient? Ich bin doch wahrlich recht unartig und unfreundlich gegen Sie ge¬ wesen! Sie fragten mich zuletzt, ob ich jetzt glaube, daß Sie es gut mit mir meinen? Dieser Brief mag Ihnen darauf Antwort geben. Sie verlassen morgen die Stadt — reisen Sie glücklich, und lassen Sie sich durch die beifolgende kleine Arbeit — ich habe sie in dieser Nacht gefertigt — manchmal erinnern an Ihre dankbare Marie Montbert. „Nun ist das Püppchen geknetet und zugerichtet,“ sagte Albert, der mit einem gar seltsamen und un¬ heimlichen Eifer — wie ein Beschwörer, der die Re¬ cepte eines Nebenbuhlers in der schwarzen Kunst stu¬ dirt — die schon mehrmals gelesenen Briefe wieder las. „Dieser Harald — das muß man ihm lassen — war der richtige Rattenfänger. Ich möchte nur wissen, was für eine Sorte von Obrist das gewesen sein mag, der dem dummen Dinge das Märchen von der Be¬ F. Spielhagen, Problematische Naturen. III . 15 resina aufband. Vielleicht der Teufel Oberster, jeden¬ falls einer seiner Helfershelfer — die Sache muß dem braven Harald ein schmähliches Geld gekostet haben. Indessen, es wurde zweckmäßig verthan, denn in Nr. 6 hat er schon sehr bedeutende Progressen gemacht. Nr. 6. Kaum kann ich zu mir selbst kommen! Sie wieder hier! und hier um meinetwillen! hier, weil die Sehnsucht nach mir Ihnen keine Ruhe ließ! Mein Gott, mein Gott! wohin soll dies führen! Sie sind ein reicher Edelmann — ich bin ein blutarmes Mädchen, das, mögen meine Ahnen gewesen sein, wer sie wollten — mit seiner Hände Arbeit sich das täg¬ liche Brod verdient. Meine Vernunft sagt mir, daß aus dem Allen für mich nur Unglück über Unglück erfolgen kann, daß ich Sie fliehen — ich weiß nicht, was ich Ihnen gestern gesagt, was ich Ihnen ver¬ sprochen habe — geben Sie mir mein Wort zurück! Ich kann Sie heute — ich darf Sie nie, nie wieder sehen. Ich beschwöre Sie, reisen Sie wieder ab. Sie müssen es, wenn Sie mich wirklich lieben. Leben Sie wohl viel tausendmal! Ihre Marie. „Was so ein acht Tage Abwesenheit nicht Alles bewirken können,“ sagte Albert, sich die Cigarre, die ihm in dem Eifer des Lesens ausgegangen war, wieder anzündend, „Ihre Marie!“ ausgezeichnet! wie sich der biedere Harald wol in's Fäustchen gelacht haben mag, als er diese thränenreiche Epistel — denn hier sind noch die Spuren davon — las. Aber weiter! Nr. 7. Nehmen Sie den köstlichen Schmuck, den heute ein unbekannter Mann für mich abgegeben hat, wieder. Womit habe ich es verdient, daß Sie so niedrig von mir denken? Daß ich Sie liebe, liebe, trotzdem meine Vernunft mir deshalb die entsetzlichsten Vorwürfe macht, Sie wissen es; ich habe es nicht länger vor Ihnen verbergen können, verbergen wollen; aber weshalb mir nicht wenigstens den Trost lassen, daß diese meine Liebe rein von jedem unedlen Neben¬ gedanken ist! Diese kostbaren Rubinen, dieses rothe Gold — es brennt in meiner Hand wie glühende Kohlen — lassen Sie mich, wie Sie mich fanden! Wenn das arme, schmucklose Mädchen Ihre Liebe ge¬ winnen konnte, so sehen Sie ja selbst, daß Armuth und Dürftigkeit sich recht gut mit Liebe verträgt. M. M. „Sehr hübsch gesagt,“ äußerte Albert, diesen Brief zu den andern legend; „aber doch sehr dumm! Ar¬ muth und Liebe vertragen sich gerade so gut, wie 15* Wasser und Feuer. Ich möchte die feurige Liebe kennen, die nicht ausginge, wenn ihr ein Eimer Ar¬ muth über den Kopf geschüttet wird! Pah, das muß ich besser wissen! Ich glaube, ich wäre albern genug, die kleine Marguerite zu heirathen, wenn ich ein Mann in Amt und Würden mit vom Staat garantirter guter Beköstigung wäre, aber da ich nichts weiter bin als ein armer Teufel mit einem famosen Appetit und wahren Patent-Magen, so wäre es doch reiner Selbst¬ mord, wollte ich die schon knapp genug zugemessene tägliche Ration noch mit einem Andern theilen. Liebe! Unsinn! Liebe ist höchstens ein ganz wünschenswerthes Dessert zum Diner des Lebens. Ein gutes Diner ohne Dessert — bon ! ein Diner mit Dessert — noch besser, aber ein Dessert ohne Diner! — nun, für Frauen¬ zimmer mag auch das genügen; aber mit meiner Con¬ stitution verträgt es sich nicht. Ob die gute Marie, wenn sie noch lebt, wie ich sehr stark hoffe, jetzt nicht doch manchmal beklagt, daß sie die kostbaren Rubinen und das rothe Gold anderen jungen Damen, die es weniger verdienten, zugewandt hat? Im nächsten Brief wird die tugendhafte kleine Person sogar ganz übermüthig. Nr. 8. Sieh, sieh, mein Lieber; also auch eifer¬ süchtig können Sie sein! wer hätte dem Baron Ha¬ rald von Grenwitz solche bürgerliche Schwächen zu¬ getraut! Ich soll eine andere Wohnung beziehen; weshalb? Damit ich im Winter nicht vor Frost und im Sommer vor Hitze umkomme; nicht alle Tage ein paar Mal Gefahr laufe, mir auf den engen, steilen Treppen den Hals zu brechen? bewahre! nur weil die Madame Schwarz, bei der ich wohne, dem gnädigen Herrn nicht gefällt, und weil der gnädige Herr in Erfahrung gebracht hat, daß ein junger Franzose, ein Monsieur d'Estein, mit mir auf demselben Flure wohnt, daß ich mit besagtem Monsieur auf einem sehr ver¬ trauten Fuße stehe, ja mit demselben, selbst des Abends spät, Arm in Arm, auf der Straße gesehen worden bin! Entsetzlich! Aber, im Ernst, theuerster Harald, Sie haben wahrlich keine Ursache, sich zu beklagen. Die Madame Schwarz ist eine sehr ehrbare, ausge¬ zeichnete Frau, der ich unsäglich viel verdanke und die, so lange ich denken kann, eine Mutter für mich gewesen ist; und was Monsieur d'Estein anbetrifft, so wird Ihre Eifersucht sich wol wieder schlafen legen, wenn ich Ihnen sage, daß es derselbe kleine, ältliche Herr ist, an dessen Arm Sie mich zum ersten Mal im Thiergarten sahen. Monsieur d'Estein könnte den Jahren nach mein Vater sein, wie er denn auch der Freund meines Paters war. Er stammt wie wir aus einer Familie französischer Réfügiés und wäre wol schon längst in das geliebte Land seiner Väter zurück¬ gekehrt, da er hier gar keine Verwandte, ja nicht ein¬ mal Freunde hat, wenn er nicht fürchten müßte, dort, wo alle Welt die Sprache spricht, in der er hier Un¬ terricht ertheilt, Hungers zu sterben. Er ist sehr wunderlich, aber das bravste Herz von der Welt. Er würde für mich durch's Feuer gehen und au déses – poir sein, wenn er nur die leiseste Ahnung von un¬ serem Verhältnisse hätte. — Dies Alles würde ich Ihnen schon gestern Abend gesagt haben; aber ich wollte einmal sehen, ob Sie auch Widerspruch ver¬ tragen könnten. Sind Sie jetzt zufrieden? Au revoir , Monsieur le Baron ! Votre très-méchante Marie M . „Dies ist die einzige Notiz über diesen Monsieur d'Estein,“ sagte Albert, den Brief auf den Schooß sinken lassend und nachdenkliche Wolken aus seiner Cigarre blasend; „ohne Zweifel derselbe, welcher in der Erzählung der Alten als Schacherjude wieder auf¬ tritt, um das Terrain vorläufig zu recognosciren, und hernach die Entführung der bedrängten Unschuld be¬ werkstelligt. Ich fürchte, es sind hier einige Briefe verloren gegangen, denn als der nächstfolgende ge¬ schrieben wurde, waren die Affairen schon sehr weit gediehen. Nr. 9. Soeben erhalte ich den — was soll ich es verschweigen! — längst erwarteten Brief Ihrer Frau Tante. Sie schreibt mir mit zitternder, aber doch leserlicher Hand, daß sie das Lebensglück ihres geliebten Großneffen höher stelle, als die Ruhe der wenigen Tage, die sie noch zu leben habe; ja daß sie sich freue, eine so dringende Veranlassung zu haben, nach dem Stammsitz ihrer Väter, dem Orte ihrer Ge¬ burt, wo sie denn nun auch zu sterben gedenke, eine Reise, die letzte vor der großen Reise, anzutreten. Sie werde am 13. von St. abreisen, und bereits vor mir in Grenwitz angekommen sein, „da Sie ein tête-à-tête mit meinem wilden Neffen so sehr fürchten, liebes Kind“ “ . . . Ich wie nicht sagen, unaus¬ sprechlich mich so viel Güte und Liebe rührt! wie dankbar ich der herrlichen alten Dame bin, wie ich mich freue, ihr die welken, lieben Hände zu küssen! Ja, Harald, wenn sie, die Greisin, die Aelteste Deines ritterlichen Geschlechts mich Deiner würdig gefunden hat, wenn sie unsere Liebe segnet, dann will ich mit tausend Freuden die Deine sein. Nur Eines schmerzt mich, daß ich mich bei Nacht und Nebel wie ein Dieb von hier, von der Frau, die ich wie eine Mutter liebe, von dem Manne, der mir Vater und Bruder gewesen ist, fortschleichen soll. Und doch — es geht nicht anders. Du hast recht: sie würden mir den Abschied nur noch schwerer machen; sie würden das Ganze ein romantisches Abenteuer schelten. Sie kennen Dich ja nicht, Sie wissen ja nicht, wie treu und gut Du bist. Aber Lebewohl darf ich ihnen doch wenigstens schriftlich sagen! ihnen in ein paar Worten für alle Güte und Liebe danken und sie über den Schmerz, den ich ihnen jetzt bereiten muß, auf eine fröhliche Zukunft vertrösten. Ach, wäre diese Zukunft doch erst Gegenwart! Ihr neuer Kammerdiener, der mir übrigens viel weniger ge¬ fällt, als der alte mit dem treuen, ehrlichen Gesicht, meldete mir gestern Abend, daß alle Vorbereitungen auf übermorgen früh getroffen seien. Es ist mir lieb, daß ich in Ihrer Equipage und in Begleitung Ihrer Leute fahren soll; der Gedanke einer so weiten Reise hat so viel weniger Peinliches für mich. Auf bal¬ diges, köstliches Wiedersehen, Du Vielgeliebter! M. M. „Nun ist das Vögelchen in's Garn gegangen,“ sagte Albert, diesen Brief, den letzten, zu den andern legend, und alle wieder sorgfältig mit dem rothseidenen Bande zusammenbindend; „das Uebrige könnte man sich zur Noth denken, wenn man es nicht aus der langen Geschichte der alten Hexe, der guten Freundin meines ausgezeichneten Freundes Stein, wüßte. Ich glaube, die Alte könnte noch mehr erzählen, wenn sie wollte. Ich muß mir Ihre Gunst zu erwerben suchen und mir freien Zutritt in ihre Salons verschaffen. Sollte sie nicht noch Manches aus dem Nachlasse von Fräulein Unschuld in ihrem Besitz haben, das zu weiteren Entdeckungen führen könnte? Die Kleine hat jedenfalls bei der eiligen nächtlichen Flucht ihre Kisten und Kasten nicht zu sorgfältig ausgekramt, und die Alte eine gute Nachlese an Bändern, Strümpfen, Schuhen und warum nicht auch Briefen? gehalten. Das Alles mag in sicherer Ruhe in der großen, höl¬ zernen Lade, auf der ich mir an jenem Nachmittage die Rippen wund gelegen habe, seiner Auferstehung entgegensehen. Das ist ein Gedanke!“ Albert war aufgesprungen und hatte sich vor den Spiegel gestellt, wahrscheinlich um zu sehen, wie sich ein so geistreicher Kopf denn eigentlich ausnehme. „Das ist ein Gedanke,“ und er warf seinem Spie¬ gelbilde eine Kußhand zu, welche dieses in Anbetracht der Vortrefflichkeit des Originals freundlich erwiederte — „ein ganz famoser Gedanke, den ich ausführen muß, es koste, was es wolle. Vielleicht war der Schacherjude ein wirklicher rechter Israeliter und Ab¬ gesandter des Monsieur d'Estein; vielleicht hat er der Kleinen nur einen Brief überbracht, in welchem der Plan der Flucht entworfen war, und dieser Brief fände sich, und mit dem Briefe in der Hand könnte man der Flüchtigen auf die Spur kommen.“ Herr Timm hielt plötzlich in seinem Monologe inne und sein Gesicht verdüsterte sich: „Verdammt,“ murmelte er, „nun fehlt es wieder am Besten, an dem nervus rerum , an der Wünschelruthe, mit der ich den Schatz heben könnte. Offenbar werde ich zur Erreichung meines Zweckes einige Reisen machen müssen, zum mindesten in die Residenz, um Marien¬ straße Nr. 21 drei Treppen hoch im Hofe gewisse Erkundigungen anzustellen; aber Reisen kosten Geld und mein actives Vermögen besteht jetzt aus fünf Silbergroschen, von denen einer, glaube ich, nicht ein¬ mal echt ist. Ich muß eine Zwangsanleihe bei der kleinen Marguerite machen. Es geht wahrlich nicht anders. Ich wollte es ja auch neulich schon, als plötzlich die interessante Familie wieder einrückte und unserm idyllischen Leben ein Ende machte. Freilich diese verdammten Karten müssen erst fertig; sonst läßt mich Anna-Maria nicht aus ihren Klauen. Ich muß schon in den sauren Apfel beißen.“ Und Herr Timm zündete sich eine frische Cigarre an, entriegelte die Thür, beugte sich über sein Rei߬ brett, und zeichnete mit einem Eifer, als ob er in der Welt keine andere Pläne kenne, als die, mit wel¬ cher sich ein tüchtiger Geometer von Berufswegen ab¬ geben muß. Ende des dritten Bandes. Druck von F. Hoffschläger in Berlin.