Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt. Briefe zu Befoͤrderung der Humanitaͤt. Herausgegeben von J. G. Herder . Achte Sammlung . Riga, 1796. bei Johann Friedrich Hartknoch . Inhalt der achten Sammlung . Br. 91. Sechstes Fragment . Wie- derauflebung der Alten. Was den mittleren Zeiten gefehlt und die Erweckung der Alten mit sich gebracht habe? Regel und Richt- maas. Warum die Galanterie der mittleren Zeiten in Liebe, Ehre und Andacht ein falscher Geschmack sei? Wozu durch Er- weckung der Alten der Grund geleget worden? S. 1. - 92. Einwendungen gegen die geglaubte Wirkung der alten Schriftsteller zu Erweckung des Genie, zu Laͤu- terung des Geschmacks, zu Mit- theilung einer guten Denkart. Wie wenig echte Kenner des Al- terthums es gebe. S. 15. Br. 93. Beantwortung der Einwendungen. Was die Alten thun sollen und nicht thun wollen. Nachschrift. S. 24. - 94. Was die Jugend an den Alten zu lernen habe, Composition und die Regel des Anstaͤndigen. S. 34. - 95. Siebentes Fragment . Schrift und Buchdruckerei. Was die Einfuͤhrung der Schrift auf die Poesie der Griechen und der le- bendige Vortrag auf ihre Prose gewirket. Andre Gestalt der Schriftstellerei bei den Roͤmern als bei uns. Mangel der Buͤ- chermaterialien in den mittleren Zeiten. Was die Erfindung des Papiers bewirket? Was die Buch- druckerei gegeben und genommen habe? S. 41. - 96. Fortsetzung. Warnungen und Rath- schlaͤge. Ein Bund der Guten gegen den Misbrauch der Buch- druckerei und Kupferstecherkunst. S. 56. Br. 97. Achtes Fragment . Reforma- tion, Handel und Wissenschaf- ten. Große Veraͤnderungen durch dieselbe. Scheidung der Voͤlker. Neue Gestalt der Poesie in den protestantischen Laͤndern. Wa- rum es keine persoͤnliche Helden- gedichte mehr gebe? Neugegeb- ner Umriß des Lobes und Ta- dels. S. 63. - 98. Unterschied der Poesie aus Re- flexion und der reinen Fabel- poesie an Englischen Dichtern gezeiget. Chaucer , Spen - ser , Shakespeare , Milton , Cowley , Waller , Pope , Young , Thomson . Ihre Verdienste und Charaktere. S. 78. - 99. Von der einkleidenden Prose der Englaͤnder. Ursprung derselben, ihrer Wochenschriften und Ro- mane. Ursprung ihrer humoristi- schen Charaktere und Schreib- art. Addison , Swift , Fiel - ding , Richardson , Sterne . Ob die Griechen den Roman ge- kannt haben? S. 98. Br. 100. Uebergang zu Deutschen Werken des Geschmacks. S. 107. - 101. Warum wir so lange zuruͤckblie- ben? und so viel nachahmten? Lob der Nachahmung. Ihr ho- hes Ziel. S. 109. - 102. Ob der Deutsche Charakterlos sei? Charakter der Deutschen von den aͤltesten Zeiten her in Tha- ten und Schriften, selbst in ih- ren Fehlern. Dieser Charakter in ihren Dichtern gezeiget. Bro - ckes , Hagedorn , Haller , u. f. — Kleist , Leßing und Gleim . Klopstock , Uz und andre lyrische Dichter. Wie - land und Geßner . S. 118. - 103. Einwendungen gegen die gut- muͤthige Lehrhaftigkeit der Deut- schen. S. 133. - 104. Ob die Poesie der Deutschen Formlos sei? Vorzug unsrer Sprache in Annaͤherung zur Form der Alten. Ramler , Klop - stock , Gerstenberg , Goͤtz , Leßing u. a. — Goethe . — Ob jede fremde Form fuͤr uns sei? Probe an der Italiaͤnischen Oper, und der Englischen Ko- moͤdie. Zachariaͤ . S. 136. Br. 105. Ob man den Deutschen Mangel an Kritik zuzuschreiben habe? Charakter der Kritik der Deut- schen. Leibnitz , A. G. Baum - garten . Wernike . Bodmer und Breitinger . Haller und die wissenschaftliche Kritik, die er eingeleitet. Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften. Litera- turbriefe. Mangel weiterer Nach- richten. S. 147. - 106. Auch zur Kritik ist Genius noͤthig. Zerrissene Faͤden zwi- schen uns und den Bemuͤhungen andrer Nationen. Ob die Deut- sche Poesie eine Kinderpoesie sei? Gut, wenn sie es waͤre. Was von der politischen Poesie zu halten? S. 162. - 107. Neuntes Fragment . Resul- tat der Vergleichung der Poesie verschiedener Voͤlker alter und neuer Zeit. Die Poesie ist ein Proteus unter den Nationen. Nichtiger Rangstreit zwischen den Alten und Neuern. Schwie- rigkeit der Vergleichung. Daß jede Nation ihre Dichter werth halten muͤsse. Was die Deut- schen von den Ihrigen zu lernen haben. Verschiedene Methoden der Classification der Dichter. Fortgang im großen Gange der Zeiten und Voͤlker. S. 172. 91. Sechstes Fragment . Wiederauflebung der Alten . W as der Poesie des Mittelalters fehlte, war nicht Stoff und Inhalt, nicht guter Wille und Endzweck; es fehlte ihr nicht an Idealen, auf welche sie hinarbeitete und sich bemuͤhte; aber Geschmack , innere Norm und Regel fehlte ihr. Keine aͤußere Form des Sonnets, Madrigals Achte Samml. A oder der Stanze, der Reim am wenigsten, keine Scholastik, selbst die Arabische Phi- losophie nicht, sie mochte aus Spanien, Afrika oder Palaͤstina kommen, konnte ihr diese Regel gewaͤhren; nur Ein Mittel war dazu, die Wiedererweckung der Alten . Immer hatten diese, auch in den dun- kelsten Jahrhunderten einige Liebhaber, so- gar Nachahmer gefunden, ob man von ihnen gleich nur Wenige kannte und diese Wenigen in einer finstern Luft durch einen haͤßlichen Nebel ansah. Bekanntlich war Petrarka Einer der Ersten, der sich durch unablaͤßigen Fleiß eine fast classische Denk- art angebildet hatte, ohne welche er seine liebliche Vulgarpoësie schwerlich haͤtte erschaffen moͤgen. Ihm folgten mehrere Liebhaber und Bewunderer der Alten, bis nach einer langen Morgenroͤthe endlich hel- ler Tag anbrach. Von Orient aus kamen die vertriebenen griechischen Musen nach Italien; mit einem wunderbaren Enthu- siasmus fuͤr die Sprache, die Werke und Wissenschaften der Griechen wurden sie aufgenommen und Alles belebte sich neu. Laß es seyn, das fortan, insonderheit im naͤchsten Jahrhundert, die Landessprache keine Dichter bekam, wie Dante und Petrarca gewesen waren; beide, inson- derheit der letzte, hatte in seiner Art die Bluͤthe hinweggebrochen; so daß kein Nach- ahmer ihn uͤbertreffen konnte . Dafuͤr aber oͤffnete sich eine Aussicht, die zehn- tausend Petrarchisten nicht haͤtten eroͤfnen moͤgen. Poliziano , Pico , Bembo , Castiglione , Casa , und so viel andre Geschichtschreiber, Dichter, Philosophen und Philologen schrieben nicht nur clas- sisch Latein; sondern einige derselben dach - A 2 ten auch classisch, und erwaͤgten die Werke der Alten. Die Strozza , San - nazar , Fracastor , Vida , und so viele, viele andre schrieben nicht etwa nur ele- gante lateinische Verse; man las, man uͤbersetzte die Alten; Machiavell u. a. dachten ihnen maͤnnlich nach. Kuͤnstler er- schienen, die im Geschmack der Griechen und Roͤmer verzierten, baueten, bildeten, mahlten; das himmlische Genie Raphael erschien, von einer Griechischen Muse mit einem Engel erzeuget Da erklang ein Lied im hoͤheren Tone; es fing wirklich eine neue Denkart, mit einer neuen Zeit an: denn auch die Buchdruckerkunst war erfunden, eine neue Welt war entdeckt, die Reformation entstand. U. f. Es hieße klein und eingeschraͤnkt den- ken, wenn man diese neue Gedankenform blos nach dem beurtheilte, was sie damals hervorgebracht hat, nicht nach dem leben- digen Samen, der in ihr zu kuͤnftigen Her- vorbringungen dalag. Sei es, daß die ersten Nachahmungen der Alten zu skla- visch waren, daß die erste Kritik sich zu sehr an Worte hielt und daruͤber oft den Geist nicht erreichte. Sei es, daß kein lateinischer Dichter dieses gluͤcklichen Jahr- hunders Einem alten Dichter gleich kaͤme; was schadets? Die ersten gedruckten Aus- gaben alter Autoren waren auch die voll- kommensten nicht; indessen kamen sie weit umher und machten die Grundlage nicht nur zu bessern Auflagen, sondern auch zu vielen, vielen neuen Gedanken. Ohne Wiedererweckung der Alten waͤre keine neue Philosophie und Beredsamkeit, keine Kritik, Kunst und Dichtkunst entstanden; Europa saͤße noch in der Daͤmmerung und labte sich an abentheuerlichen Ritterromanen. Das Licht der Alten ists, das die Schat- ten verjagt und die Daͤmmerung aufgeklaͤrt hat; mit ihnen haben wir empfangen, was allein den Geschmack sichert, Verhaͤlt - niß , Regel , Richtmaas , Form der Gestalten im weiten Reiche der Na - tur und Kunst , ja der gesammten Menschheit . Warum z. B. ist die bloße Galan - terie der Liebe ein falscher, mithin auch ein unpoetischer Geschmack? Weil sie etwas Unwahres in sich haͤlt, das der reinen Sprache des Herzens und Geistes , wie es die Poesie seyn soll, unwerth ist. Jene Galanterie giebt Dingen einen Werth, den sie unsrer eignen Ueberzeugung nach nicht haben; sie mahlt Schoͤnheit und Liebe mit falschen Reizen, und vergisset daruͤber der herzergreifenden Wahrheit. Aus Man- gel des Gefuͤhls uͤbertreibt sie; sie spielt mit Bildern, und Wendungen, mit Witz und Worten. — — Echte Poesie also und eine falsche Galanterie sind unvereinbar. Moͤge ein verdorbner Geschmack der Zeit, moͤge die Mode sie dafuͤr erkennen; der Zeitgeschmack geht voruͤber, die Mode wird laͤcherlich; und spaͤterhin macht die falsche Schminke das schoͤne Gesicht sogar haͤß - lich . — Warum ist die uͤbertriebne Ritter - wuͤrde ein falscher Geschmack? Weil sie als bloßes Ritual Herz- und Seelenlos, steif und laͤcherlich ist. Feierlichkeiten wird ein Werth gegeben, den sie nicht haben; Misverhaͤltnisse werden mit einem Schaum- golde uͤberdeckt; Geistlose Haͤrte wird als ein Ideal der Maͤnnlichkeit gepriesen. Die Zeit kommt und streicht mit rauher Hand das Schaumgold hinweg; sie ruͤckt die Staͤnde anders und sofort ist jene Misge- stalt unter einem eisernen Harnisch sicht- bar. Alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verstand, Zweck, Ebenmaas, Guͤte des Herzens fehlt, kein Klang einer himmlischen Muse werden. — Warum ist jene uͤbertriebene An - dacht , jenes Haschen nach dem Unendli- chen, das Calculiren der Gottheit in un- nennbaren Gefuͤhlen ein falscher Geschmack? Weil sie eine Uebervernunft sind, die weder in Sprache noch Kunst einen Aus- druck findet. Das Unermeßliche hat kein Maas; das Unendliche hat keinen Aus- druck. Je laͤnger Du also an diesen Tie- fen schwindelst, desto mehr verwirret sich deine Zunge, wie sich dein Haupt verwirrte; du sagst nichts, wenn du etwas Unaus- sprechliches sagen wolltest. — Schwieg nicht jener Entzuͤckte von dem, was er im dritten Himmel gesehen hatte? Alle wahre Gottbegeisterte schwiegen vom Unaussprech- lichen, und sagten was sie in der Sprache der Menschen, zumal in den Grenzen einer Kunst sagen konnten. Der Aus- druck, der der Religion geziemt, ist nicht Schwaͤrmerei, sondern Einfalt und Wahr- heit. Ist Alles, was uns Umriß lehret, was unsrer Natur die ihr angemeßne Schran- ken zeigt, und sie auf wirklichen Begriff, auf Wahrheit der Empfindung zuruͤckfuͤhret, ein goͤttliches Geschenk; wie sehr thut die- ses, recht verstanden und angewandt, die Poesie , die Kritik , die Philosophie und Denkart der Alten . Diese z. B. weiß nichts von jener Hoͤf - lichkeit eines uͤbertreibenden, falschen Witzes, der Galanterie und Courtoisie seyn soll; am Hofe der griechischen und roͤmi- schen Musen hatte diese Kunst keinen Werth. Sie weiß nichts von jenem leeren Pomp , der dem Heiden und Gott den Menschen auszieht; die heroische Poesie der Alten ist menschlich. Wozu endlich ward von den kluͤgsten Voͤlkern die Mythologie , wo nicht erfunden, so wenigstens an den schoͤn- sten Stellen gebraucht? Dem was keine Gestalt hat, eine fuͤr uns lehrreiche und angenehme Gestalt zu geben, den Abglanz der blendenden Sonne im Spiegel des Meers oder in den Farben des Regenbo- gens zu zeigen. Uns sind im Grunde alle Einkleidungen, wo und wenn sie erfunden wurden, gleich; wir wollen sie zwar nicht unzeitig vermischen, aber alle mit Verstand gebrauchen. Aristoteles , Horaz , und Quintilian sind uns nicht etwa uͤber die Mythologie der Griechen allein; uͤber die Mythologie jeder Nation und Reli - gion sind ihre Grundsaͤtze Gesetz und Regel. Alles also was den Geschmack der Alten unter uns befoͤrdert, sei uns werth, Aus- gaben, Uebersetzungen, Commentare, Nach- ahmungen; unter diesen Nachahmungen auch die neuere lateinische Poesie zu nennen, scheue ich mich nicht. Sie war immer ein Zeichen, daß man die Alten kannte und liebte, daß man uͤber neuere Gegenstaͤnde im Sinne der Alten dachte, daß man ihr Richtmaas an diese neuen Gegenstaͤnde zu legen wagte. Sie hat viel Gutes gewirket. Latein sagte man, was man in der Landessprache nicht sagen konnte oder dorfte; nachahmend sprach man gleich- sam den Alten nach, und sagte ihnen seine Lection auf ; man freuete sich, daß man sie aus ihnen gelernt und unge- faͤhrdet aufsagen konnte. Ueber die Vor- urtheile seiner Zeit, seines Ordens, Volks und Standes hob mancher sich, ohne daß ers wußte, auf Schwingen irgend eines alten Dichters empor; oder wenn er hiezu nicht Kraft gnug hatte, kam er doch nach- ahmend dem Geschmack und bessern Ver- staͤndniß des Dichters, in dessen Weise er schrieb, naͤher und ward, auch nachlallend, mit ihm vertrauter . Endlich schloß sich durch die neuere lateinische Poesie eine Gesellschaft zusammen, von der vorher noch keine Zeit gewußt hatte; in Italien, Spanien, Portugall, Frankreich, den bri- tannischen Inseln, den nordischen Koͤnig- reichen, in Liefland, Pohlen, Preussen, Ungarn, in Deutschland, Holland u. f. hat man lateinisch nicht nur versificiret, sondern hie und da gewiß auch gedichtet. Italien, Frankreich, Deutschland, Pohlen, vor allen Holland hat Maͤnner gehabt, die mit dem Latein wie mit ihrer Mutter- sprache umzugehen wußten und in ihm Ge- dichte gaben, die in jeder Landessprache Aufmerksamkeit gebieten wuͤrden. Selbst die vortreflichen, die der Sprache und Poe- sie ihrer Nation eine bessere Gestalt gaben, hatten diese meistens im Lateinischen zuerst versucht, wie ausser den Italiaͤnern die Beispiele Miltons , Cowleys , Gro - tius , Heinsius , Opitz u. f. zeigen. Fast alle Reformatoren Erasmus , Lu - ther , Zwingli , Melanchthon , Ca - merarius , Beza u. f. waren Liebhaber der Alten, Liebhaber der Griechischen und Lateinischen Dichtkunst. Die gebildetsten Staatsmaͤnner, wie Thomas Morus , de Thou , Hopital u. f. Botschafter, Paͤpste, Cardinaͤle waren lateinische Dich- ter. Ein Helikon vereinigte sie und weckte Stimmen vom Aetna bis zum Hekla, vom Ausfluß des Tago bis zur Weichsel und der Duͤna. Ich will mich nicht auf den Gemein- platz einlassen, daß alle echte Kritik und Philosophie der Neueren nur eine palingene- sirte Pflanze der Alten sei: denn woher hatten neben den Weltbekannten Commen- tatoren, Erasmus , Grotius , Hein - sius , Boileau , Gravina , der edle Shaftesburi und die wenigen sonst, die ins Herz der Kritik drangen, ihre Weis- heit? als von den Alten. Eine Spani - sche , Deutsche , Irlaͤndische Kritik giebt es nicht; aber eine Griechische und Roͤmische Kritik giebt es. Mit ihr faͤngt die Cultur aller Europaͤischen Landessprachen in Poesie und Prose , ja durchaus das Bestreben nach einem bessern Geschmack in ganz Europa an; den Beweis hievon liefert die Geschichte. 92. E s thut mir leid, daß ich Ihrem Frag- ment einige Einwendungen entgegensetzen muß; wozu aber waͤre die Heuchelei auch im Lobe des Geschmacks der Alten noͤthig? Zuerst giebt ihr Fragment es selbst zu, daß auch vor der sogenannten Erwek- kung der Alten in jedem Fach große Maͤn- ner, Denker und Dichter gelebt haben; und eben so wenig wird bezweifelt werden koͤnnen, daß seit dieser Entdeckung große Maͤnner gelebt und geschrieben haben, die von den Alten wenig oder nichts wußten. Ich darf von den ersten nur Dante , von den letzten nur Shakespeare anfuͤhren; wie viel andre moͤchten zu nennen seyn! Die groͤßten Erfindungen sind in den Zei- ten gemacht, die wir barbarische , rohe Zeiten nennen; vielleicht haben in ihnen auch die groͤßesten Maͤnner gelebet. Da- mals standen die Koͤpfe noch nicht so dicht an einander; jeder hatte zum eignen Den- ken freien Raum; um sie war Daͤmmerung; desto munterer aber wirkten sie, und dorf- ten in der Mittagssonne der Alten eben noch nicht erblinden. Wie Ein Roger Baco vor hundert Commentatoren des Aristoteles gilt: so giebt es romantische Gedichte der mittleren, selbst der neueren Zeit, bei denen man den Geschmack der Alten gern vergißt und in ihnen wie im Feenreich lustwandelt. Ich erinnere Sie an so manche Romane, die uns der Graf Treßan und seine Gehuͤlfen gegeben, ja seit seit Wiederauflebung der Wissenschaften an die groͤßesten Lichter aller cultivirten Nationen. Woher nahmen Ariost und die ihm vorgingen, woher Spenser , Shakespeare und zwar in seinen ruͤh- rendsten Stuͤcken Form und Inhalt? Nicht aus den Alten, sondern aus der Denk - art des Volks und seinem Ge - schmack in ihren und den mittleren Zeiten . Glauben Sie, daß Shakespe - are , auch wenn er die Alten mehr ge- kannt haͤtte, als er sie kannte, ihnen aͤngst- licher nachgegangen waͤre? Wie leicht konnte er sie kennen lernen, da schon so manche in Englischen Uebersetzungen neben ihm exsistirten! Er ließ diese den Ben Jonson studiren und hielt sich an das Maͤhrchen, an die Novelle der mittleren Zeit, aus denen er seine dramatische Schoͤpfung her- vorrief. Seitdem haben die Britten den Achte Samml. B Aeschylus , Sophokles , Euripides gelesen, commentirt, uͤbersetzt und emen- diret; aus dem Allen aber ist kein zweiter Shakespeare worden. Zweitens . Zu viele Proben haben es erwiesen, daß die Alten kennen und nachahmen, uns ihnen noch nicht gleich stelle, da ihre gelehrtesten Kenner oft die ungluͤcklichsten Schoͤpfer gewesen. Wie ging es dem Trissino mit seinem befrei- ten Italien? dem Gravina und Maffei mit ihren Drama's im Geschmack der Al- ten? Die gelehrten Kenner der Alten, Casa , Bembo u. f. uͤberstiegen den Pe - trarka nicht; den Chiabrera , Redi , Filicaja , Lemene vermochte ihre Kaͤnnt- niß der Alten und ihre Gelehrsamkeit sogar vor dem boͤsen Geschmack ihrer Zeit nicht zu sichern. Unter den Englaͤndern war Cow - ley mit den Alten sehr bekannt; er schrieb und dichtete selbst lateinisch; seine prosai- schen Aufsaͤtze sind mit der Bescheidenheit und Wuͤrde eines Roͤmers geschrieben; und welches sonderbare Phantom bildete sich dieser gelehrte Dichter an Pindar ein! In wie boͤsem Geschmack erschuf er jene Oden - gattung , die seinen Landsleuten wirklich ein Verderb des Geschmacks ward! — Also hilft auch hier das Alter fuͤr Thorheit nicht; jeder Neuere behaͤlt seine natuͤrliche Groͤße, falls er in seinem Studiumauch den Griechischen und Roͤmischen Helikon auf ein- ander thuͤrmte und sich droben hinauf stellte. Drittens . Nun kann ich zwar gegen die schoͤne lateinische Schreibart vieler Neueren in Poesie und Prose nichts ein- wenden und finde in ihnen fuͤr mich ein großes Vergnuͤgen; fuͤr sich selbst aber was thaten diese Schriftsteller mehr, als daß sie ihre Pflicht erfuͤllten? Muß Jeder , der B 2 in einer Sprache schreibt, in ihr gut zu schreiben suchen: so waͤre es ja dreifache Schande, die Sprache, in welcher jene Roͤmer schrieben, schlecht zu behandeln. Wer in ihr nicht schreiben kann, wie er soll, schreibe, wenn ers vermeiden kann, in ihr gar nicht; hat er in ihr leidlich oder gut geschrieben, so ists ihm nicht mehr Lob, als Jedem andern, der in seiner Sprache gut spricht, oder einem Floͤten- spieler, der seine Floͤte gut spielet. — Wenn Schriftsteller durch eine sogenannte schoͤne Schreibart , die bei keinem Vernuͤnfti- gen von einer guten Denkart getrennet werden kann, wenn vor Allen lateinische Schoͤnschreiber sich von einer guten Denk - art durch diese Sprache freigesprochen glauben; wo sind wir denn mit der Regel der Alten? Dieser scriptor denkt an Worte; an Sachen und Gruͤnde wenig. Uebersetzt sein Latein in eine gemeine Sprache; und ihr findet die trivialsten Dinge in einem Ton gesagt, vor dem die demuͤthige Lan- dessprache beinah verstummet. Dort ging das gelehrte Kind in einem Gaͤngelwagen oder vielmehr der Gaͤngelwagen ( ambitus verborum ) ging statt des gelehrten Kin- des und nahm es mit; dem rund - viereck- ten Vehikul entnommen, wie erbaͤrmlich ist seine Gestalt, wie schwach und duͤrftig! Und doch machte man so oft die Erfah- rung, daß unter allen literarisch - Stolzen es fast keine stolzeren, als die Latein- schreiber gebe. Sie sind die alten Ba - rone , deren Diplom ruͤckwaͤrts uͤber das Christenthum, deren Unsterblichkeit vor- waͤrts uͤber den juͤngsten Tag der Landes- sprache hinausreicht. Sie schreiben nicht fuͤr ihre Nation in der sogenannten Vul- gar- oder Poͤbelsprache; sondern fuͤr Welt und Nachwelt in der einzig - unver - gaͤnglichen Goͤttersprache. Wie wohl wird dem Leser in der Geschichte der Lite- ratur, wenn nach zu Grabe getragenen Schoppen (Scioppiorum) die Periode der eigentlichen Wissenschaften (Scien- zen) anfaͤngt, in welcher man sich nicht mehr uͤber Worte und Autoritaͤten Schop - pisch zankte. — — Endlich . Wahre Kenner der Alten hat es immer nur wenige gegeben! Die Kritik der Sylben und Worte ist eine un- entbehrliche, nuͤtzliche Kunst; sie erfodert Genie, Tact, und vor andern viel Kaͤnnt- nisse, Fleiß und Uebung; daß sie aber die Kaͤnntniß der Alten noch nicht sei, von der das Fragment eine Palingenesie der Dinge herzuleiten scheinet, dies ist wohl Sonnenklar. Kritiker, wie Ruhnken an Hemsterhuis schildert, sind selten; auch von denen, die die Alten mit Geist lesen, waͤhlt Jeder sich gern seinen Alten, den er uͤber Alle hinaussetzt, nach welchem er dann, auch mit Fehlern und Schwaͤchen, seine Denkart praͤget. Eine Reihe von Beispielen waͤre anzufuͤhren, aus welchen erhellen wuͤrde, wie selten wir in den Al- ten sie selbst , wie noch seltner wir in ihnen ihr Hoͤchstes , das der Griechen- und Roͤmerwelt, ihre Re - gel des Geschmacks im Wahren , Guten und Schoͤnen studiren. Am oͤftersten schauen wir sie wie Narcisse an, denken daran, was Wir uͤber Sie zu sagen haben, und bewundern unsre Gestalt in dem fluͤssigen Spiegel der alten heiligen Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen, verlieren manche durch sie den gesunden Brauch ihrer eignen Glieder. 93. I hre Einwendungen koͤnnte ich mit Spruͤch- woͤrtern beantworten, z. B. Rom ist nicht in Einem Jahr gebaut . Je schwe - rer die Kunst , desto mehr Pfuscher . Je organisirter der Koͤrper , desto boͤser seine Faͤulung u. dgl. Ich will aber mit Gruͤnden antworten; in der Hauptsache sind wir Eins. Daß zu allen Zeiten und unter allen Voͤlkern Talente ans Licht kommen, ist eine Erfahrung, die eben ja jeder Bemuͤ- hung um Ausbildung der Talente zum Grunde liegt . Nicht in Athen und Rom allein wurden daͤmonische , goͤtt - liche Maͤnner gebohren; sie bedorften auch von dorther keiner Beurkundung, daß sie solche waren. Die Gabe der Muse ist eine angebohrne Himmelsgabe, die kaum mit Muͤhe vergraben werden kann. Großer Leidenschaften und Vorstellungen faͤhig, sehen Einige nichts als diese Bilder, sprechen in Leidenschaft, laben sich in Toͤnen des Wohl- lauts und fuͤhlen sich geschaffen, die Ge- muͤther andrer mit dem, was sie erfreuet und anregt, auch zu erfreuen und anzu- regen. Wenn Poesie noch nicht erfunden waͤre, wuͤrden solche Menschen sie erfin- den, und erfinden sie taͤglich. Aber wie sehr Talente dieser Art unter dem Druck einer schlechten Sprache und einer sinnlosen Mitwelt leiden, zeigt eben ja die Geschichte sowohl der rohen , als der mittleren dunkeln Zeiten . Giebt es eine Kunst der Sprache; was vermag ohne Werkzeuge der Kuͤnstler? Ueberdem, wie schwer wirds eben dem feurigsten Kopf, sich innerhalb der Gren- zen zu halten, in denen das Wahre , Gute und Schoͤne Eins ist und eben auf diese, die Einzige Weise, in Form und Inhalt, dadurch was man sagt, und wie man es sagt, ewig zu werden. Ihm also sowohl als denen fuͤr die er arbeitet, ist Lehre noͤthig, eine Disciplin , die uns fuͤr andre, andre fuͤr uns zubereite, beide vor Ausschweifungen sichre, und dem ar- beitenden Genius leere Versuche, von denen er mit Reue zuruͤckkommen muͤßte, erspare. Oft ist das Genie ein Edelstein, der tief im Schacht liegt, in einer harten Rinde begraben; die Rinde muß gesprengt, der Edelstein von der Hand des Kuͤnstlers bearbeitet werden u. f. — Wem gab nun die Natur das eigentliche Kunstta - lent in groͤßerm Maaße, als den Grie- chen? Auf der ganzen Erde keinem Volke wie ihnen. Gleichsam vom Instinct gelei- tet erfanden sie jeder Gestalt und Wissen- schaft Maas , Ziel und Umriß . Nicht nur das zu Viele, das Ungehoͤrige sonder- ten sie ab, sondern auch dem Bleibenden, der Gestalt selbst, gaben sie Fuͤlle , Le - ben und Anmuth . Wollen aber Griechen und Roͤmer, so- fern sie Griechen und Roͤmer sind, hiemit eine Monarchie errichten? wollen sie Na- tionalcharaktere unterdruͤcken, lebende Spra- che verdraͤngen, oder verschlimmern? Nichts von Allem! Aufmunterung , Ord - nung , Verbesserung ist ihr einziger Zweck; man darf also von ihnen nicht mehr fodern, als sie zu leisten vermoͤgen. Sie wollen Kraͤfte wecken, aber nicht ge- ben; sie sind Vorbilder, keine Schoͤpfer. Da indessen im Reich der Gedanken von Aufmunterung , zumal durch thaͤtige Vorbilder, von Ordnung und Erzie - hung viel abhangt: so ist die Herrschaft, die jeder Verstaͤndige den Alten freiwillig einraͤumt, zwar keine Monarchie, aber ein Rath der Besseren zum Besten. Lassen Sie also die wuͤrdigsten Schrif- ten zuweilen von den unwuͤrdigsten Haͤn- den behandelt werden, was schadets? Geht nicht auch das Gold durch die Haͤnde nie- driger Bearbeiter und Sammler? verlohr der Diamant dadurch, daß ihn die Duͤrf- tigkeit selbst aufgrub? Wenn unter dem Text eines alten Autors sich in den Noten oft uͤber Nichts ein schreckliches Gezaͤnk erhebt: so lasset uns vom blutigen Spiel dieser Gladiatoren, die sich zu Ehren des Verstorbenen neben seinem Grabe wuͤrgen, hinwegsehn und sie fuͤr das halten, was sie sind, Sklaven. Die Worte des Autors werden uns werther, wenn wir uns uͤber die Wasser der Suͤndfluth, die unten den Text uͤberschwemmet hat, zum Gipfel em- porheben und da den friedlichen Oelzweig finden. — Da endlich der Geist, den wir aus den Schriften der Alten ziehn sollen, ge - sunder Verstand und ein gesundes Herz , die wahre Philosophie und Richtung des Lebens , bona Mens und Humanitaͤt ist: so ist die Einfuͤhrung dieser Gottheiten fuͤr uns und unsre Nach- kommen ein Werk von fortdauren - der , wachsender Wirkung . Zuerst mußten diese Schriften gefunden, verviel- faͤltiget, erklaͤrt, erlaͤutert, von Fehlern gereinigt, verstanden werden, ehe ihr besse- rer, ihr weiserer Gebrauch in jeder An- wendung ein Hauptzweck werden konnte. Hie und da ist er es schon geworden; er wirds noch mehr werden. Die Zeit der Solipsorum geht zu Ende; zu Einem ge- meinen Besten arbeiten wir Alle . Nachschrift . Jener Amerikaner glaubte, daß in jedem Brief ein Geist eingeschlossen sei; ich wollte, daß ich diesem Briefe einen Geist einschlies- sen koͤnnte, den Geist der Alten. Hoͤren Sie daruͤber einen apokryphischen Schrift- steller. „Gerade, als ob unser Lernen blos ein Erinnern waͤre, weiset man uns immer auf die Denkmahle der Alten, den Geist blos durch das Gedaͤchtniß zu bil- den. Wir wissen selbst nicht recht, was wir in den Griechen und Roͤmern bis zur Abgoͤtterei bewundern.“ „Gleich einem Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, nachdem er sich aber beschauet hat, von Stundan davongeht und vergisset, wie er gestaltet war, eben so gehen wir mit den Alten um. Gar anders sitzt ein Mahler zu sei- nem eignen Bilde.“ „Da ich blos dem Geist der Alten nach- spuͤre: so geht mich das Schulmeistergesicht nichts an, womit die ** ihren Autor Lesern und Zuhoͤrern vereckeln. Ich will sehr zufrieden seyn, wenn ich mein Grie- chisch nur ungefaͤhr so verstehe, wie Ueber- bringer dieses seine Muttersprache. Wer die Alten ohne die Natur zu kennen stu- dirt, lieset Noten ohne Text, und an Pe - trons Ausgabe in groß Quart uͤber ein klein Fragment sich wenigstens zu einem Doctor. Wer kein Fell uͤberm Auge hat, fuͤr den hat Homer keine Decke. Wer aber den hellen Tag noch nie gesehen, an dem werden weder Didymus noch Eu - stathius Wunder thun. — — Der Zorn benimmt mir alle Ueberlegung, wenn ich daran daran gedenke, wie solch eine edle Gabe Gottes, als die Wissenschaften sind, ver- wuͤstet, von starken Geistern zerrissen, von faulen Moͤnchen zertreten werden, und wie es moͤglich, daß junge Leute in die alte Fee , Gelehrsamkeit, ohne Zaͤhne und Haare (etwa falsche) verliebt seyn koͤnnen.“ So spricht ein Eifrer fuͤr den guten Gebrauch der Alten; und wie viel mehr koͤnnte man davon sagen! Aber wie Je- mand ist, so thut er ; wie wir selbst denken, so nutzen wir die Alten. Achte Samml. C 94. D ie Nachschrift Ihres Briefes hat mir eine alte Wunde aufgerissen, die ziemlich verharscht war, naͤmlich, wie wir, inson- derheit mit unsrer Jugend , die Alten lesen? „Das Salz der Gelehrsamkeit, sagt Ihr Apokryphus ist ein gut Ding; wenn aber das Salz tumm wird, womit soll man salzen?“ — Bloße Gelehrsamkeit zer- streuet und ermuͤdet; alles macht sie zu nack- tem, vielleicht unnoͤthigem Wissen von Wor- ten, Stellen und Gebraͤuchen; sie wirft die Seele hin und her. Das Gemuͤth der Jugend will gesammlet , will auf den Kern gerichtet, will fuͤrs Leben gebildet und gestaͤrkt seyn. Ich begreife selbst, was fuͤr eine schwere Aufgabe es ist, so viele, so mannichfaltige Schriftsteller der Griechen und Roͤmer, Dichter, Redner, Geschichtschreiber und Philosophen mit unsrer Jugend nutzbar zu lesen; der Grundsatz indessen, nach wel- chem sie gelesen werden muͤssen, ist außer Zweifel. Es ist der Sinn der Alten selbst, das Gefuͤhl vom Wahren , Gu - ten und Schoͤnen , diese alle zu Einem System verbunden, in Eine Gestalt geordnet. Man nenne diese Gestalt das Anstaͤndige , das sich Geziemende , honestum, decorum, , oder wie man wolle; sie ist ein unterscheidender Zug der Composition und Denkart der Alten in ihren besten Schriftstellern und wuͤrdigsten Maͤnnern, auf welchen C 2 das Auge der Jugend sich vorzuͤglich hef- ten muͤßte. In der Composition der Alten naͤm- lich hat Alles Zweck, Plan und Ordnung. Nichts stehet am unrechten Ort, nichts ist muͤßig und unschicklich dahin geworfen; und im Ganzen herrscht, wo es irgend seyn kann, lebendige Darstellung und Handlung. Die griechische Sprache z. B. ist von der Bildung der Worte an bis zum Bau ihrer Sylbenmaaße und Perioden ein Muster des Wohlklanges, der Zusammenfuͤgung, der Bedeutsamkeit und Grazie des Aus- drucks; die lateinische Sprache eifert ihr nach. Wie in Statuen und Gebaͤuden die Kunst der Alten Einfalt und Wuͤrde , Bedeutung und Anmuth zu vereini- gen wußte; so vereinigen es die Meister- werke ihrer Sprache. Wer in Homer und Pindar , in Herodot , Plato , Cicero , Livius und Horaz diese Schicklichkeit und Congruenz der Theile zur Eurythmie des Ganzen weder zu finden, noch anschaulich zu machen weiß, der ist des Geistes, in dem sie arbeiteten und dachten, nicht inne geworden. In wenige Werke der Neueren hat sich dieser organische Geist ergossen; wo er erscheint, macht er ein Werk seiner Natur nach unsterblich. Ein- falt also und Wuͤrde, Bedeutsamkeit und Wohlordnung haben wir von den Alten zu lernen, um unsrer Denkart und Spra- che im Kleinsten und Groͤßesten eine solche Gestalt zu geben. Aber das Anstaͤndige der Alten er- strecket sich weiter, indem Charaktere , Sitten , Grundsaͤtze und Meinungen nicht etwa nur zu schildern, sondern darzu- stellen und zu verknuͤpfen der Zweck ihrer erlesensten Werke war. Die Tugend ist ein , ein Anstaͤndiges und Vortref - liches , das mit Liebe gesucht werden will und nur durch unablaͤßige Uebung erlangt wird. Ihre besten Schriftsteller jeglicher Art zeigen darauf als auf das Zuͤnglein der Waage menschlicher Handlungen und den edelsten Kampfpreis des menschlichen Lebens. Licht und Schatten stellen sie dar; sie contrastiren und gruppiren Gestalten, Sinnesarten und Meinungen ohne jene neuere uͤberspannende Heuchelei, die im Grunde jede Anwendung verwirret und zuletzt die ganze Sittlichkeit aufhebt. Ha- ben wir das Gefuͤhl des Anstaͤndigen, des Großen, Schoͤnen, Anmuthigen und Edlen verlohren, was haͤlt uns zuruͤck, daß wir nicht aͤrger als Thiere wer- den? Veraͤchtlicher sind wir gewiß. Dies Gefuͤhl moralischer Schicklichkeit, Wuͤrde und Grazie durch Lesung der Alten in in uns zu wecken und zu erhalten, ist um so noͤthiger, da in der gegenwaͤrtigen Welt eine Convenienz in niedertraͤchtigen, frechen Meinungen, die fuͤr Grundsaͤtze gelten, und im offenen Gebrauch sind, dasselbe ganz zu ersticken drohen. Daß sich zwi- schen uns und Jenen einige aͤußere Um- staͤnde veraͤndert haben, und sowohl der Heroismus als der Patriotismus eine andre Gestalt gewonnen, darf jenem Gefuͤhl, dem Charakter der Mensch - heit , nicht schaden. Wir koͤnnen edlere Heroë seyn, als Achill , schoͤnere Pa- trioten als Horatius Cocles . Hier also liegt meines Erachtens die Regel ; sie ist eine logische, poetische, ethische Regel. Barbaren kennen sie nicht; losgebundene Willkuͤhr verachtet sie, zer- streuende Gelehrsamkeit geht voruͤber. Wer sie fand, wer in seiner Jugend nach ihr gebildet wurde, der kann sie nicht verges- sen; sie hat sich seinem Gemuͤth einge- druͤckt, als das Herz seines Herzens, als die Seele seiner Seele. Id facere laus est, quod decet, non quod licet. Quod decet honestum est et quod honestum est decet. 95. Siebendes Fragment . Schrift und Buchdruckerei . A ls bei den Griechen die Schrift noch nicht, oder wenig im Gebrauch war, er- klang die Sprache als ein lebendiges Wort ; die Stimme des Dichters und sei- nes Saͤngers war eine Aufbewahrerinn aller menschlichen Empfindungen und Ge- danken. Daher die Gestalt der aͤltesten Poesie in ihrem Reichthum an Bildern und Toͤnen, in ihrer Naturpracht und Na- turschoͤnheit; aber auch in ihrer Wandel- barkeit, ihrer Ungewißheit, ihren Fehlern und Maͤngeln. Mit Einfuͤhrung der Schrift ging der groͤßeste Theil dieses alten Worts zu Grabe; nur Weniges von ihm ward auf- behalten und allmaͤhlich geregelt. Mit Ein- fuͤhrung der Schrift kam Prose auf, Ge - schichte und Beredsamkeit wurden ausgebildet; und wenn sich jetzt die Poesie neben ihnen hervorthun wollte, so lief sie Gefahr, stolz, aufgeblasen, und wo sie vom lebendigen Vortrage ganz entfernt war, unverstaͤndlich und schwindelnd zu werden. Eben nur der lebendige Vortrag hatte sie ehmahls im Kreise einer schoͤ - nen Anschaulichkeit erhalten; auf dem Theater, (die Choͤre ausgenommen,) erhielt er sie noch lange in diesem gluͤcklichen Kreise. Da indessen bei einem so lebhaften Volk, wie die Griechen waren, auch das Geschriebene zum lebendigen Vortrage geschrieben war, indem Herodot z. B. einige Buͤcher seiner Geschichte zu Olympia wie ein Gedicht vorlas, und in den grie- chischen Republiken die oͤffentliche Bered - samkeit jeder Art des Vortrages, selbst der Philosophie den Ton angab: so mußte nothwendig auch in Schriften der Grie- chen sich lange Zeit jene alte, wenn ich so sagen darf, poetische Weise erhalten: zu schreiben als ob man spraͤche . Schreibend trug man vor ; man schrieb gleichsam laut und oͤffentlich , als ob zu jedem Buch ein Vorleser , wie sein Genius gehoͤrte. Ohne Zweifel ist dieses die Ursache, warum in der Prose der griechische Periode so kuͤnstlich und schoͤn, wie in keiner an- dern Sprache ausgebildet worden; der offne Mund der Griechen, die Poesie die ihm vorging und der oͤffentliche Redevortrag , der den Rhapsodieen der Poesie folgte, hatten ihn geformet. Bei den Roͤmern nicht anders: denn auch bei ihnen herrschte die Beredsam - keit , und der oͤffentliche Vortrag . Ihre Gedichte lasen sie oͤffentlich vor; aus Persius , Juvenal , Plinius u. a. wissen wir, mit welcher Sorgfalt, mit wel- chem Aufwande von Kunst, zuletzt von Ziererei und Thorheit. Bei Griechen und Roͤmern war das Buͤcherwesen anders wie bei uns be- stellt. Man las viel weniger: große Bi- bliotheken waren selten und die Buͤcher- materialien kostbar. Man schrieb also auch weniger. In Rom schrieb nicht jeder Sklave und Buͤrger; sondern nur die zur Gelehr- samkeit oder zu Geschaͤften Erzogene; Men- schen von gutem Ton, Feldherren, Staats- maͤnner, Kaiser. Man hielt das Schrei- ben fuͤr etwas Edles, und aufs beste zu schreiben fuͤr einen Ruhm, der laͤnger als ein Triumph waͤhrte. Man nahm sich daher im Schreiben eine bestimmte Bahn; Zeitgenossen und Freunde theileten sich in dieses oder jenes Feld der Bearbeitung, und wie die Roͤmi- sche Sprache imperatorisch gebot, so liebte sie auch in der Schreibart die Kuͤrze, die Bestimmtheit. Oft kehrte man den Styl um und loͤschte aus; man glaͤttete und zierte wie die Schreibtafel, so auch die Gedanken. Der muͤhsamere Weg, wie man damals zu Buͤchern kommen konnte, machte Buͤ- cher auch werther; bei einem hoͤheren Be- grif von dem, was sie enthielten, wandte man auch mehr Fleiß auf das, was sie enthalten sollten. Welchen Werth legte Horaz auf seine wenigen Schriften! lange polirt ließ er Ein kleines Buch nach dem andern erscheinen, das bei uns wie ein Tropfe in den Ocean fließen wuͤrde. Hoͤchst ausgearbeitet sind Virgils Werke; und dennoch war ihm die Aeneis nicht ausge- arbeitet gnug. Er wollte, daß sie ihn nicht uͤberlebte. So sorgfaͤltig hervorgetrieben sind fast alle Schriften, insonderheit die Gedichte der Roͤmer. Mit drei kleinen Buͤchern seiner Elegieen wollte Properz vor der Proserpina erscheinen; in sie alle Schoͤnheiten der griechischen Elegie gebracht zu haben, diese Ehre war der Zweck sei- nes Lebens. Setzet ihn, setzet Horaz und wen ihr wollet, in unsre Buͤcherrei - chen Zeiten ; schwerlich haͤtten sie mit so viel Zuversicht, mit so umfassendem, tief- dringendem Fleiße gedichtet. Bis zu Boë - thius und Ausonius hin ist fast jedes kleinste Roͤmische Werk ein Mosaik , ein gearbeitetes Fresko - oder Miniatur - gemaͤhlde . Jedermann ist bekannt, daß in den mittleren Zeiten die Barbarei eines Theils auch vom Mangel an Buͤchern und Schreibmaterialien herkam. Wie man- che schoͤne Schrift der Alten ward von den Moͤnchen unwiderbringlich verloͤscht, da- mit sie auf das dadurch gewonnene Perga- ment ihre Chorgesaͤnge und Homilien schrei- ben konnten. Heil dem Erfinder des Lum - penpapiers ; wo er begraben liege, Heil ihm! Mehr als alle Monarchen der Erde hat er fuͤr unsre Literatur gethan, de- ren ganzer Betrieb von Lumpen ausgeht und so oft in Maculatur endet! Wie der Sonnenschein die Fliegen, so hat Er Schriftsteller geweckt und die Sosien be- reichert. Denn man bemerke. Eben in dem Jahrhunderte, in dem das Lumpenpapier in Gebrauch kam, traten auch jene laͤnge- ren Romane hervor, die vorher Jahr- hunderte lang kurze Volksmaͤhrchen oder Lieder und Fabeln gewesen waren. Wie ent- fernt z. B. hatte Karl der grosse vom Erzbischof Turpin , Koͤnig Artus von Gottfried von Monmouth , Wolf - Dietrich von Eschilbach und jeder an- dre Romanheld von seinem Chronik- oder Romanschreiber gelebet! Keiner von diesen Schreibern erfand die Fabel, die er in die Buͤchersprache brachte; sie war laͤngst im Munde der Saͤnger oder des Volks ge- wesen und in ihm vielfach veraͤndert wor- den. Jetzt nahm sie der Genius der Un- sterb- sterblichkeit auf: denn das Lumpenpapier war erfunden. Allgemach lernte man le- sen, da man sonst den Saͤnger und Fabel- erzaͤhler nur hatte hoͤren koͤnnen. So vermehrten sich Chroniken, Romane, allmaͤlich auch Abschriften der Alten. Waͤre die Erfindung des Lumpenpapiers fruͤher gekommen, wie viel weniger waͤre unter- gegangen! wie viel Schaͤtzbares haͤtten wir ihr zu danken! Und noch sind wir ihr so- wohl durch Ueberschreibung aus aͤlteren Pergamenten, als durch die von ihr veran- laßte Umarbeitungen alter Sagen und sonst, Viel schuldig. Was indessen ehemals das Aegyptische Schilf ( ) gethan hatte, daß es naͤm- lich die Griechischen Rhapsoden allmaͤlich verstummen machte und statt ihrer leben- digen Gesaͤnge Buͤcher ( ) in die Hand gab; das thaten mit der Zeit auch Achte Samml. D die Baumwoll - und Lumpenschrif - ten . Provenzalen und Trobadoren, Fabel- und Minnesinger schwiegen allmaͤlich: denn man saß und las. Je mehr sich Schrif- ten vermehrten, desto mehr verminderten sich ganz eigenthuͤmliche, freie Gedanken; endlich ward der menschliche Geist ganz in Lumpen gekleidet. Auf diese ward geschrie- ben, was man lesen und nicht lesen wollte; mochte es am Ende sich selbst lesen! — Nun trat die Buchdruckerei hin- zu, und gab beschriebenen Lumpen Fluͤ- gel. In alle Welt fliegen sie; mit jedem Jahr, mit jeder Tagesstunde vom ersten erwachenden Morgenstral an wachsen die- ser literarischen Fama die Schwingen, bis an den Rand der Erde. Jenes Orakel: „wenn Menschen schweigen, so werden die Steine schreien,“ ist erfuͤllt; woruͤber Menschenstimmen schweigen, dar- uͤber sprechen und schreien gegossene Buch- staben, merkantilische Hefte. Nach so vielen andern eine Lobrede der Buchdruckerei zu halten, waͤre ein sehr unnoͤthiges Werk; wir wissen alle, was wir an ihr haben. Nur durch sie, erst durch sie ist zusammenhangende und ver- glichene Erfahrung des menschlichen Ge- schlechts, Kritik, Geschichte, und eine Welt der Wissenschaften worden. Aber auch was wir an ihr nicht ha- ben, ist zu bemerken: was sie naͤmlich nicht geben kann, ja worinn sie stoͤret. Eignen Geist naͤmlich kann sie nicht geben; lebhaf- teren, tieferen Genuß an der Quelle des Wahren, Guten und Schoͤnen mag sie durch die unzaͤhlbare Concurrenz fremder Gedanken hier befoͤrdern, dort aber auch hindern. D 2 Mit der Buchdruckerei naͤmlich kam Alles an den Tag; die Gedanken aller Nationen, alter und neuer, flossen in ein- ander. Wer die Stimmen zu sondern und Jede zu rechter Zeit zu hoͤren wußte, fuͤr den war dies große Odeum sehr lehrreich; andre ergriff die Buͤcherwuth; sie wurden verwirrte Buchstabenmaͤnner und zuletzt selbst in Person gedruckte Buchstaben . Von Anbeginn ist dies nicht also ge- wesen. Urspruͤnglich dachte der Mensch, er handelte und genoß, er sprach und hoͤrte. Wenn er schreiben konnte, schrieb er, nur aber was zu schreiben war; nicht ward er selbst, ohne zu sehen und zu hoͤren, ein schreibender Buchstab; jetzt — — — Ist dessen die menschliche Natur faͤhig? kann sie es ertragen? verwirren sich in diesem gedruckten Babel nicht alle Gedan- ken? Und wenn dir jetzt taͤglich nur zehn Tages- und Zeitschriften zufliegen und in jedem nur fuͤnf Stimmen zutoͤnen; wo hast du am Ende deinen Kopf? wo behaͤltst du Zeit zu eignem Nachdenken und zu Ge- schaͤften? Offenbar hats unsre gedruckte Lite- ratur darauf angelegt, den armen mensch- lichen Geist voͤllig zu verwirren, und ihm alle Nuͤchternheit, Kraft und Zeit zu einer stillen und edlen Selbstbildung zu rauben. Selbst in der Gesellschaft sind die mensch- lichen Stimmen verhallet; Romane spre- chen und Journale. Diderot hat irgendwo die Frage an sich gethan, die wohl jeder thut, wenn er aufs Land oder auf eine Reise gehet: „welche Buͤcher er als Freunde mit sich nehmen moͤchte?“ Wie im Leben so hat auch im Lesen der Mann von Herz nur wenige gepruͤfte Freunde; und bei eigner Composition bleibet er gern allein. Wuͤrden Homer und Sophokles , Horaz , Dante und Petrarca , wuͤr- den Shakespeare und Milton ihre Werke im Kreise unsrer Buͤcher- und Lese- welt gemacht haben? Schwerlich. Denn unverkennbar ists, daß jemehr durch die Buchdruckerei die Werke aller Nationen allen gemein wurden, der ruhige Gang eigenthuͤmlicher Composition großen- theils aufgehoͤrt hat. Wer fuͤrs Publicum schreibt, schreibt selten mehr ganz fuͤr sich als den innersten Richter; daher Pascal und Roußeau unter so vielen Autoren so wenige Menschen fanden. Wird nun das Publikum gar wie ein blinder Maulesel gelenkt, und schmeichelt der Schriftsteller der Zunft, die es aͤffet und leitet: „wie bist du vom Himmel gefallen, du schoͤner Morgenstern?“ moͤchte man so- dann jedem Schriftsteller sagen, der aus Noth oder Feigheit dem haͤßlichen Goͤtzen, Modegeschmack , dienet. „Schreibe!“ sprach jene Stimme und der Prophet antwortete: fuͤr wen? Die Stimme sprach: „schreibe fuͤr die Todten! fuͤr die, die du in der Vorwelt lieb hast.“ — „Werden sie mich lesen?“ — „Ja: denn sie kommen zuruͤck, als Nachwelt.“ — 96. „ , ! „Enthalte dich, dul- de!“ Sind wir denn mit der Literatur aller Welt vermaͤhlet? Ist kein Riegel zu finden, der uns gegen das Andringen schwarzer Buchstaben schuͤtze? kein Seil zu finden, das uns am Mastbaum halte, indem wir mitten durch den Gesang Derer, die da wissen, was war , ist und seyn wird , gerade hin durchfahren? Gehoͤrt fremden Meinungen unser Geschmack und Verstand, unser Wille und Gewissen ? Ge- hoͤren den Seele-Verkaͤufern unsere Seelen? Wahr ists. Mit der Buchdruckerei hat sich im Reich der Gedanken Vieles geaͤn- dert, und es kann wohl seyn, daß wenn die Wissenschaften durch sie steigen, der Geschmack sich durch sie verwirren, Genie, und Sitten endlich vielleicht gar zu Grunde gehen muͤßten, wenn sich nicht ein huͤlf- reicher Genius des menschlichen Geschlechts annaͤhme. Lassen Sie uns aber an die- sem huͤlfreichen Genius nicht zweifeln. Ehe Buchdruckerei da war, ging jede Europaͤische Nation in einem engeren Be- zirk von Ideen umher; ihr Charakter war vielleicht vester. Durch Reisen und Lesen ist allem Boͤsen und Guten fremder Na- tionen die Thuͤr geoͤfnet, und wenn es sich durch den Namen Geschmack , „ neuer , fremder Geschmack “ Aufmerksamkeit erwerben kann, so hat es ohne weitere Ueberlegung die Menge fuͤr sich. Welchen Thorheiten haben wir nicht nachgeahmt? welchen werden wir noch nachahmen! Nicht etwa nur im Spanischen, Englischen, Fran- zoͤsischen, Griechischen, Ebraͤischen, selbst im Arabischen, Tatarischen, Sinesischen Geschmack haben wir Deutsche gesungen und gedichtet. Die Sprache aller Wissen- schaften, Bilder und Ausdruͤcke der ver- schiedensten Voͤlker sind in unsre Poesie, in jeden Vortrag, der das Volk angehen soll, geflossen, so daß von jener Tonhal- tenden, gleichmuͤthigen Denk- und Schreib- art, in welche Griechen und Roͤmer das We- sen der Schreibart setzten, wenige einen Be- griff zu haben scheinen. Aus allen Voͤlkern wird fuͤr alle Voͤlker, aus allen Sprachen fuͤr alle Sprachen geschrieben; die subtilste Abstraction und die niedrigste Popularitaͤt, finden in demselben Buch, oft auf dersel- ben Seite neben einander Raum. Wenn wir das Richtmaas, das Emanuel John - son an einige Englische, von ihm ge- nannte metaphysische Dichter ange- legt hat, an jede Production unsrer Spra- che anlegen wollten, wo stuͤnden Wir ? Vor der Buchdruckerei war es moͤglich, diese und jene Schrift vor diesen und jenen Augen zu verbergen; kaum ist dieses jetzt mehr moͤglich. Alles lieset Alles, es moͤge von ihm verstanden werden, oder nicht; nach der verbotnen Speise luͤstet man am meisten. Und da die Thorheit Derer, die dies zu fruͤhe, zu viele, zu vermischte Le- sen auf die unvorsichtigste Art befoͤrdern, mit dem Eigennutz, dem Stolz, der Eitel- keit, dem Erwerb andrer im vestesten und schaͤdlichsten Bunde stehet; so kann nur Eine Macht in der Welt diesen Unfug hemmen. Es ist bessere Erziehung , die ihre Zoͤglinge nicht erst durch Schaden klug werden laͤßt; und ein stiller Bund aller Guten unter einander, nichts Un- wuͤrdiges zu verbreiten, oder zu loben. Moͤge Gift mischen, wer da will, und das am feinsten gemischte Gift die lautesten Ausrufer finden; von uns sei der Giftmi- scher, so wie der Ausrufer verachtet. Mit der Verwirrung des Geschmacks und dem Despotismus fabricirender Schriftstellerei ists so weit gekommen, daß da das Schlechteste ohn alles Erroͤthen auf die un- verschaͤmteste Weise gelobt werden darf, dieser unverschaͤmte Despotismus sich selbst seinen Fall bereitet. Er muß sich selbst einen Widerstand erwecken, der ihn ein- schraͤnke und bezaͤume; oder wir gehen durch unsre Licenz zu Grunde: denn da durch die Buchdruckerei die Kritik selbst feil geworden ist; so hat sie auch bei den Niedrigsten ihr Ansehen verlohren. Ihre Fascen gelten so wenig mehr als ihr Lorbeer. Ich komme zuruͤck auf meinen Bund der Freunde. Wie die Buchdruckerei, so wird die Kupferstecherkunst gemißbraucht; jene hat den Geschmack in Werken des Geistes, diese in Werken der Kunst bei- nahe zu Grunde gerichtet. Nur Ein Mittel ist gegen sie wirksam, entschlossene aͤußerste Verachtung. Niemand kaufe ein Buch, das schlechter Kupferstiche wegen da ist; niemand besudle mit diesen Ver- derberinnen des Geschmacks seine Waͤnde: denn so wie durch schlechte Buͤcher gute verhindert werden, so wird durch schlechte Kupferstiche die wahre Kunst getoͤdtet. Aegyptische Schwarzkuͤnstler wol- len wir die heissen, die diese beiden großen Erfindungen unsrer Nation zu einem niedrigen Erwerb entweihet ha- ben, und Schwarzkuͤnstlerknechte diejenigen, die ihnen zu ihrer schaͤnd- lichen Fabrikwaare artistisch oder litera- risch helfen. 97. Achtes Fragment . Reformation , Handel und Wis - senschaften . G roßen Begebenheiten sind immer Revo- lutionen des Geschmacks gefolget. Ohne in die Geschichte der Griechen und Roͤmer, der Moͤnchs- und Ritterzeiten zuruͤck gehen zu duͤrfen, sehen wir dies insonderheit in den Jahrhunderten, die der Reformation vorangingen und ihr folgten. Europa ward allgemach ruhiger. Staͤdte, Handel, Gewerbe, mit ihnen auch einige Kuͤnste fingen an zu bluͤhen; nach und nach verfeinte sich der Geschmack mit ihnen. Dante , Petrarca , Boccaz erschienen; es erwachten die Alten in ihren Graͤbern. Constantinopel ward erobert; die Griechen flohen nach Italien; und es entstand ein Enthusiasmus ohne Seinesgleichen. Die schoͤnen Kuͤnste und die Literatur der Alten war, wiefern es die Zeit gestattete und angab, auf ihrem hoͤchsten Gipfel. Die Entdeckung fremder Welttheile, ein veraͤnderter Zustand der Finanzen, des Krieges, der Staͤnde folgte; die Buch- druckerei kam in Gang; ihr folgten neue, zumal Naturwissenschaften; dies Alles laͤu- tete der Poesie der mittleren Zeiten voͤllig zu Grabe. Die Entdeckung fremder Welt- theile mochten spaͤterhin Camoens , Er - cilla cilla u. a. singen; der Gegenstand war groß und neu; Wunder der Natur, unge- sehene Dinge wurden beschrieben; in Wis- senschaften kam ein neues Universum zum Anblick; und doch thaten die Gesaͤnge von ihnen bei weitem nicht die Wirkung, die einst vielleicht ein kleiner Fabelgesang ge- than hatte. In dem Verhaͤltniß, als hie und da der Reichthum, die Pracht und Freigebigkeit alter großer Familien sank, erlosch auch der Glanz ihrer alten Thaten; mit ihren Hofhaltungen gingen auch ihre Lobgesaͤnge hinunter. — Die Reformation endlich und die Phi- losophie, die ihr folgte, schuffen der Poesie voͤllig eine andre Zeit. Jahrhunderte lang hatte man Klagen angestimmt uͤber den verderbten Zustand der Clerisei und aller Staͤnde; die Zeit war gekommen, da die Erbitterung aufs hoͤchste stieg, und nicht Achte Samml. E minder in Versen als in Prose ihre schar- fen Pfeile abschoß. Eine Menge Satyren dieses Inhalts, zum Theil voll Geist und Herz, erschienen; Schade, daß sie sich mit der Zeit selbst uͤberlebt haben: denn dau- rende Gesaͤnge konnten sie nicht bleiben. Die Reformation selbst ist weniger eines heroischen Lob- als eines philosophischen Lehrgedichts faͤhig; die Verdienste der Re- formatoren zeigen sich wuͤrdiger in ihren Lebensbeschreibungen und eignen Schriften als in Heldengesaͤngen und Oden. Ueber- haupt verjagte das neue Licht und die zu- gleich mit ihm aufkommende Streittheolo- gie aller christlichen Partheien in Europa sowohl die Schatten des Aberglaubens, als manche schoͤne Einkleidungen, die fuͤr die Einfalt der mittleren Zeiten sehr weise ersonnen waren. Hier beginnet nun eine große Schei- dung der Voͤlker. Nationen, die ihrem alten Lehrsystem zugethan blieben, hielten auch an ihrer alten Dichterweise, z. B. Italiaͤner, Spanier und andre Katholische Voͤlker. Je fruͤher sie zum guten Geschmack gelangt waren, je vielseitiger er sich bei ihnen eingewurzelt hatte, je groͤßere Vor- bilder sie besaßen: desto vester hingen sie an ihren Stanzen und Reimen. Italien ließ sich seinen Dante und Petrarka ; Spanien seinen Lope , Garcilasso u. f. nicht nehmen; auch hat sich seitdem das Aeußere ihrer Poesie voͤllig erhalten, ob- gleich deßwegen, wie man oft glaubt, der Geist dieser Nationen seitdem nicht still- stand. Die alten Formen duͤnkten ihnen gut; und sie gossen darein, wenn der Ge- nius sie antrieb, neue Gedanken. E 2 In der protestantischen Welt dagegen kam eine neue Poesie auf. Nicht etwa nur Gegenstaͤnde der Religion wurden durch das Medium der neuen Aufklaͤrung gesehen, sondern die gesammte Vorwelt ward durch eben dieses Medium betrachtet. In Spanien und Italien haͤtten Shake - speare , Milton , Buttler u. f. nicht schreiben koͤnnen, wie sie schrieben; eine Freimuͤthigkeit im Denken, die ein Vor- bote der Philosophie war, hatte sich in den protestantischen Laͤndern uͤber Manches schon verbreitet; andern Gegenstaͤnden nahte sie sich nach eben der Regel. Unvermerkt also nahm die Poesie der neuen Glaubens- Verwandten eine philosophische Huͤlle um sich, die der Sinnlichkeit vielleicht schadete, dem menschlichen Geist aber nothwendig war. Ein Italiaͤner z. B. wird in den meisten Oden der Englaͤnder durchaus nichts lyrisches finden, da ihnen, seinem Ohr und Auge nach, Wohlklang, Fortleitung und Bestandheit der Bilder, Zusammen- hang der Empfindung, kurz Melodie und Harmonie fehlet. W. Jones zergliedert hinter seinem Commentar uͤber die Poesie der Morgenlaͤnder den Anfang von Mil - ton's Paradiese und kann in ihm nach morgenlaͤndischer Weise nichts poëtisches finden. Vielen Deutschen Dichtern wuͤrde es nicht besser ergehen: denn offenbar sind die meisten nur durch Reflexion Dich- ter. In den aͤltern Zeiten, in denen man sich der Natur freier hingab, diese in sich stehen und auf sich unbefangen wirken ließ, oder sie, so gut mans vermochte, zur Kunst umschuf, war und blieb man ein Natur - faͤnger , der auf gleichgestimmte Gemuͤ- ther seine Wirkung nicht verfehlte. In mancher alten Englischen Ballade ist viel- leicht mehr freier Wohlklang und poëtischer Geist, als in Young und Pope mit ein- ander. Durch Reflexion sind diese Poëten; eine denkende ist die Brittische Muse. Seit der Reformation und dem hell- aufgegangnen Licht der Wissenschaften ge- langen also keine persoͤnlichen Hel - dengedichte mehr, mit dem Wunder- baren der alten Zeit bekleidet. Ariost konnte die Maͤhrchen, die man ehemals geglaubt hatte, seinen Italiaͤnern zierlich in Stanzen kleiden; ihm und ihnen waren sie Zeitkuͤrzende Maͤhrchen, die niemand glauben sollte. Uns kann Wieland die Geschichte Huons mit allem Zauber der Feenwelt darstellen; in seinem Maͤhrchen ist Oberon eine so wahre Person wie Huon und Karl der große . Wenn aber Tasso eine fuͤr wahr gehaltne Reli- gion mit in seine Dichtung mischte: so stehen beide schon nicht auf Einem Grunde; selbst dem Katholischen Glauben nach wird er in diesen zwischen Wahrheit und Trug gemischten Scenen eine schwaͤchere Wir- kung hervorbringen, als die ein reines Maͤhrchen hervorbraͤchte. Protestanten wer- den den Milton wie einen Bramante und Michael Angelo bewundern; schwer- lich aber sein Gedicht mit so ungestoͤrtem Glauben lesen, wie sie ein reines Maͤhr- chen lesen wuͤrden; das Religions-System schadet seinem Gedichte. — Historische Epopeen haben daher in der neueren Zeit fast keine Wirkung gethan, weil ihnen als Gedichten durchaus der Glaube fehlet. Das Zeitalter der Elisabeth, ob sie gleich selbst eine Dichterinn war und Schmeicheleien sehr liebte, ward nur in Sonnetten be- sungen, oder in Allegorieen; Cromwell und die Wiederherstellung Karls II. nur in Oden gepriesen. Auch mit groͤße- ren Talenten als Chapelain hatte, waͤre seine Jeanne d' Arc so wenig die blei- bende National-Heldinn einer Epopee ge- worden, als wenig es Voltaire 's Hein- rich der vierte worden ist. Nur in Stel- len kann seine Henriade etwa als ein phi- losophisches Lehrgedicht gelten: der Streit zwischen Dichtung und Geschichte ist und bleibt in ihr widrig. Auch kein Held der Deutschen hat hinter Ottnitt , Diet - rich von Bern , dem Koͤnige Giebich und dem Zwergenkoͤnige Laurin den Epi- schen Lorbeer erlangen moͤgen, weder Hein - rich der Befreier Deutschlands, noch Ma - ximilian , Gustav Adolph u. f. Durch eine aufrichtige Beschreibung ihrer Thaten werden sie mehr geehrt, als durch eine mit Wahrheit gemischte Fabel, der am Ende Niemand glaubet. Wir sind aus dieser Daͤmmerung hinaus, und wollen durchaus Maͤhrchen als Maͤhrchen, Geschichte als Geschichte lesen. Ein Theil der platoni- schen Gesetzgebung in Ansehung der Dich- ter ist also ohne Hinaustreibung derselben blos und allein durch die linde Hand der Zeit bewirkt worden; eine verwirrte Mi- schung der Fabel und Wahrheit widerstehet unserm Gedankenkreise. Was vom Lobe gesagt ist, gilt auch vom Tadel ; die echte Muse hasset auch in ihm alles zu Bittere, geschweige die Verlaͤumdung. Warum fallen persoͤnliche Satyren sobald in Vergessenheit oder Ver- achtung? Ihrer Ungerechtigkeit und Ueber- treibung, kurz des unedlen Gemuͤths we- gen, das der Begeistrung einer Muse nicht werth war. Es giebt z. B. kaum ein witzigeres, ein lehrreicheres Gedicht gegen die Schwaͤrmerei, als Butlers Hudi - bras ist; auch hat es zur damaligen Zeit seinen Zweck mehr erreicht, als wenn der Dichter auf den koͤniglichen Maͤrty - rer das froͤmmste Heldengedicht geschrieben haͤtte; wer indessen wird es jetzt ohne eini- gen Ueberdruß, wenigstens ohne den Wunsch lesen, daß sein Verfasser die Gabe der Muse, die er besaß, edler angewandt haͤt- te? — Swift , vielleicht der strengste Ver - standesmann , den England unter seine Schriftsteller zaͤhlet, der unbestochenste Rich- ter in Sachen des Geschmacks und der Schreibart, gab sich von boͤsen Zeitverbin- dungen gelockt, ins Feld der Satyre; — wer aber ist, der von Anfange bis zu Ende seines Lebens ihn deßwegen nicht bitter beklaget? So treffend seine Streiche, so vernuͤnftig seine Raserei in Einkleidungen und Gleichnissen seyn mag, wie anders sind seine Saͤtze und Spruͤche, wo er reine Vernunft redet! Alles, was die Eng- laͤnder Humour nennen, ist Uebertrei- bung; ein verzeihlicher Fehler der Natur, der hie und da zur Schoͤnheit werden kann, nur aber zu einer National- und Zeit- schoͤnheit. Die Alten kannten das Rei- zende eines kleinen Eigensinnes auch; sie waren aber weit entfernt, die ganze Ge- stalt eines Menschen als Unform diesem Einen Zuge aufzuopfern. Nur dahin ist Humour zu sparen, wohin er gehoͤret; und die gemeine humoristische Poesie hat das Ungluͤck, daß sie sich mit der Stunde selbst uͤberlebet. Was vom Lobe und Tadel gilt, gilt auch von der sogenannten poetischen Beschreibung . Alle Poesie ist von der Zeit abgedankt oder wird von ihr abge- dankt werden, die durch Bilder und Gleich- nisse die Sache selbst, die durch Farben und Zierrath das Bild verdunkelt. So manche poetische Landbeschreibung der Englaͤnder steht da, daß sie uns mit sehen- den Augen blind mache; so manche andre, daß wir bei Umschreibungen bekann - ter Gegenstaͤnde oder Begriffe gar nichts denken sollen. Die meisten meta - physischen Gedichte aller Nationen hat ein neues System der Folgezeit sanft in Vergessenheit gebracht; die Dichtkunst vollends, die unter dem Vorwande, neue Erfindungen zu schildern, und das Woͤr- terbuch neuer Kuͤnste und Handwerke poë- tisch zu ergaͤnzen sich anmaaßt, sie gehoͤrt voͤllig unter die unfreien Kuͤnste. Der Muse sind bessere Schilderungen angewiesen, als die, worinn sie der Handwerker selbst durch eine schlichte Erzaͤhlung bei Vorzei- gung der Instrumente uͤbertreffen moͤchte. Endlich das Unmoralische des Dich- ters. Hier hat die Zeit gewaltsam den Vorhang aufgezogen und in ihrem stren- gen Gericht keiner falschen Grazie gescho- net. Wo sind die — — —? Wo sind sie? Wer will, wer mag sie lesen? Und nicht auf unzuͤchtige Dichter allein geht dies Ur- theil des Rhadamanthus, sondern auch auf jeden widernatuͤrlichen, wahre Ver- haͤltnisse des Lebens zerstoͤrenden Dichter. Wie manches Beispiel haben wir auch hier- uͤber schon erlebet! Dies Licht, diesen Tag haben Reformation, Philosophie und der unbestechliche Zeuge in uns, das reine Menschengefuͤhl verbreitet. 98. D er Unterschied, den das Fragment zwi- schen Poesie aus Reflexion und (wie soll ich sie nennen?) der reinen Fabel - poesie macht, ist mir aus der Geschichte der Zeiten, auf die das Fragment weiset, ganz erklaͤrlich worden. So lange naͤmlich der Dichter nichts seyn wollte, als Min - strel , ein Saͤnger, der uns die Begeben- heit selbst phantastisch vors Auge bringt und solche mit seiner Harfe fast unmerk- lich begleitet, so lange ladet der gleichsam blinde Saͤnger uns zum unmittelbaren Anschauen derselben ein. Nicht auf sich will er die Blicke ziehen, weder auf sein graues Haar, noch auf sein Gewand, noch auf den Schmuck seiner Harfe; er selbst ist in der Vision der Welt gegenwaͤrtig, die er uns ins Gemuͤth ruft. Dies war der Ton aller Romanzen- und Fabelsaͤnger der mittleren Zeit, und (um bei der Englischen Geschichte zu blei- ben, aus der das Fragment Beispiele ho- let) es war noch der Ton Gottfried Chaucers , Edmund Spensers und ihres Gleichen. Der erste in seinen Can- terbury-Tales erzaͤhlt voͤllig noch als ein Troubadour ; er hat eine Reihe ergoͤz- zender Maͤhrchen zu seinem Zweck der Zeit- kuͤrzung und Lehre, charakteristisch fuͤr alle Staͤnde und Personen, die er erzaͤhlend einfuͤhrt, geordnet; Er selbst erscheint nicht eher, als bis an ihn zu erzaͤhlen die Reihe kommt, da er denn seinem Charakter nach als ein Dritter auftritt. So Spenser , obgleich Er schon weit kuͤnstlicher singet, indem er die Gestalten seiner Welt schon emblematisch ordnet. Der Fehler, den man ihm zur Last gelegt hat, Warton on Spenser's Fairy-Queen u. a. Wenn wir den gelehrten Fleiß betrachten, den die Englaͤnder auf ihre alten Dichter z. B. Warton auf Spenser , Tyrwhit auf Chaucer , Percy auf die Balladen, und so viele, viele der belesensten Maͤnner auf ih- ren Shakespeare und ihr altes Theater gewandt haben; und sodann Uns betrachten — was sagen wir? daß jedes seiner Buͤcher ein fuͤr sich bestehendes Ganze sei, ist ja eben die Natur und der Zweck seiner Erzaͤhlung; uͤbrigens hat er seine Ritter- und Feengestalten viel vorsichtiger, als Ariost geordnet. — — Zur Zur Zeit der Reformation verschwand mit der Welt solcher Gesaͤnge, der Ritter- und Feenwelt, auch die Art ihrer Dar - stellung ; die Dichter waren nicht mehr einfache Saͤnger fremder Begebenheiten, sondern gelehrte Maͤnner , die uns das Gebaͤude ihres eignen Kopfs zur Schau bringen wollten, indem sie dasselbe wohl durchdacht niederschrieben, damit wirs lesen. Dies giebt allem eine andre Art und Gestalt. Lassen Sie mich zu dem Zweck einige Englische Dichter Partheilos durchgehn. Von Shakespeare fangen wir an. Er stehet zwischen der alten und neuen Dichtkunst, als ein Inbegriff beider da. Die Ritter und Feenwelt, die ganze Eng- lische Geschichte, und so manch anderes interessantes Maͤhrchen lag vor ihm auf- geschlagen; er braucht, erzaͤhlt, handelt Achte Samml. F sie ab, stellet sie dar mit aller Lieblichkeit eines alten Novellen- und Fabeldichters. Seine Ritter und Helden, seine Koͤnige und Staͤnde treten in der ganzen Pracht ihrer und seiner Zeit vor, die in so man- chen Gesinnungen, und dem ganzen Ver- haͤltniß der Staͤnde gegen einander uns jetzt wie eine aus den Graͤbern erstehende Welt vorkommt. Wie oft muͤssen wir uͤber die wundersame Einfalt und Befangenheit jener Zeiten laͤcheln! In dem Allen ist er ein darstellender Minstrel , der Personen, Auftritte, Zeiten giebt, wie sie sich ihm gaben, und zu seinem Zweck dienten. Nun aber wenn er in diesen Scenen der alten Welt uns die Tiefen des menschlichen Her- zens eroͤfnet, und im wunderbarsten, jedoch durchaus charakteristischen Ausdruck eine Philosophie vortraͤgt, die alle Staͤnde und Verhaͤltnisse, alle Charaktere und Situa- tionen der Menschheit beleuchtet, so milde beleuchtet, daß allenthalben das Licht aus ihnen selbst zuruͤckzustrahlen scheinet: da ist er nicht nur ein Dichter der neuern Zeit, sondern ein Spiegel fuͤr theatralische Dichter aller Zeiten. Laßt dem alten gu- ten W. Shakespeare alles was ihm und seinen Zeiten gehoͤrt; gebt uns aber mit seiner unendlichen Bescheidenheit, die nir- gend in Person repraͤsentirt, in welchen Gestalten es sei, so viel innere Charakte- ristik, so viel tiefe und schneidende Wahr- heit, als Er aus seiner alten Welt uns darbrachte. Mit Milton faͤngt sich die neuere Englische Dichtkunst an; mich duͤnkt, er zeige die Summe dessen, was Reflexion in der Dichtkunst zu leisten vermoͤge. Der ungluͤckliche blinde Mann war in Zei- ten gefallen, in uͤble Zeiten F 2 fall'n on evil days, On evil days though fall'n and evil tongues, In darkness and with dangers com- pass'd round, And solitude; yet not alone — Er rief seine Urania vom Himmel, die ihn im naͤchtlichen Schlummer oder am fruͤhen Morgen besuchte und seinen Gesang beherrschte. Dem gelehrten, starkmuͤthi- gen Mann stand bei einer großen Kaͤnnt- niß der alten und Italiaͤnischen Dichter auch eine Welt voll Sachen, insonderheit aber seine Sprache dergestalt zu Gebot, daß er bei seinem erwaͤhlten Thema, an wel- chem Er sich etwas sehr Großes dachte, in jedem Wort und Laut, in jeder Zusammen- stellung und Verknuͤpfung der Worte sich eine eigene alt - neue classische Sprache nach Mustern der Alten als Philosoph und Meister ausschuf. Sein großes Gedicht sollte kein Maͤhrchen der alten Zeit, son- dern in Form der Erzaͤhlung ein heiliges Gedicht uͤber Himmel und Hoͤlle, uͤber Paradies, Unschuld und Suͤnde, mithin eine Aussicht uͤber unser ganzes Geschlecht werden. Nicht wollte er etwa blos Zeit- kuͤrzend vergnuͤgen, sondern belehrend er- bauen, und seine Encyklopaͤdie von Wahr- heiten in einer heiligen Sprache veststellend verewigen. Daher waͤhlte er weder Chau - cers Reime, noch Spensers Stanzen; den praͤchtigen Jambus waͤhlte er, der in manchem Englischen Psalm und alten Volksgesange wie zur Trompete ertoͤnt, auch in Shakespear's tragischen Stuͤk- ken auf der Buͤhne viel Wirkung gethan hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie Shakespear leicht und fliessend; sondern, dem Inhalt seines Gedichts und seinem Geist angemessen, wie in heroischem Schritt, obwohl abwechselnd und mannigfaltig, den- noch eintoͤnig, praͤchtig und edel. Weder Young , noch Thomson , weder Glo - ver noch Akenside haben ihn hierinn erreichet. Jede Cadenz, jedes Bild und Gleichniß, jede ungewohnte Redart ist von dem blinden Mann sorgfaͤltig ausgedacht und an ihre Stelle geordnet. Vielleicht giebts keinen Englischen Dichter, der die viel- und einsylbigen Woͤrter dieser fast einsylbigen Sprache angenehmer zu wech- seln und die barbarische Dissonanz seiner Zeiten — the barbarous dissonance of Bacchus and his revelers kunstvoller von sich zu treiben gewußt haͤtte, als Milton. Und wie in seinen beiden Paradiesen ward er in seinem Ly - cidas und Comus , in seinem Allegro und Penseroso , selbst im Samson und andern Gedichtarten in Ansehung der Spra- che und Anordnung der Gedanken, inson- derheit in seinem musikalischen Versbau, ein von seiner Nation noch unerreichtes Muster. So lange die Englische Sprache lebt, wird Milton der Anfuͤhrer ihres Chorgesangs in Jamben, der erzaͤh- lenden Naturbeschreibung in eben diesem Sylbenmaaße, und im Ausdruck des Affects jener monodischen Klage bleiben, die seine Nation nach ihm so viel- fach gebraucht hat. In jeder Zeile des Gesanges ist Er der Vater eines poë- tischen Numerus und Rhythmus, den der blinde Barde mit Ueberlegung erfand und seiner unharmonischen Sprache mit sehr harmonischem Ohr gleichsam aufzwang. Neben Milton lebte Cowley , ein gleichfalls gelehrter, von ihm aber sehr verschiedener Dichter. Geuͤbt in der Spra- che der Roͤmer, durchdrungen von der Schoͤnheit der Natur, deren Pflanzen und Baͤume er mit liebendem Fleiß besang; noch mehr durchdrungen von der prakti- schen Philosophie der Alten (wovon seine schoͤnen Versuche in Versen und Prose zei- gen,) hatte er dennoch das Ungluͤck, mit seiner sogenannten Pindarischen Ode ein glaͤnzend boͤses Beispiel aufzustellen, dem man nur zu oft nachgefolgt ist. Pindar naͤmlich in seiner Ode ist nie trunken; jedes Bild, jede mythologische Geschichte, ja jeder Spruch in ihm stehet umschrieben da, und der ganze Gang des Gesanges ist weise geordnet. Der boͤse Geschmack, der zu Cowley 's Zeiten, insonderheit an Hofe herrschte, verfuͤhrte ihn, sowohl in seinen Anakreontischen als Pindarischen Oden statt des Ausdrucks der Empfindung Pfeile des Witzes zu werfen, und hiezu Versart und Reim anzuwenden. Unter seinen witzigen sind oft auch große Ge- danken, ja verschiedne Oden waͤren ohne diese gesuchte Manier Muster schoͤner Phantasieen : denn es ist in ihnen viele Wissenschaft und viel Scharfsinn. Die Ode Cowley 's ist nachher von andern, Mason , Grey , Akinside u. f. sittsa- mer, wohl auch gelehrter gemacht worden; ich zweifle aber, ob auch harmonischer im Sinne der Alten. Sie ist und bleibt ein gothisches Gebaͤude, unzusammenhaͤngend und unuͤbersehbar in ihren Theilen, uͤber- trieben in Bildern, mit Zierrath uͤberla- den, in der Abwechslung des Rhythmus ungleich und unharmonisch. Seitdem sich gar die Laune oder Satyre derselben be- dient hat, mißgoͤnnet man ihr den Name Ode ganz; Brittisches Capriccio sollte sie heissen. — Cowley war also selbst im Fehlerhaften ein Dichter aus Reflexion , oft nur ein witziger Dichter; demohnge- achtet aber ist er ein guter Gesellschafter, von dem man angenehm lernet. Mit Cowley lebte Waller , und gab einer andern Manier den Namen, die den franzoͤsischen Artigkeiten nahe kommt; aber warum ist sie nur artig? Galanterie ist eine Modeschoͤnheit; sie aͤndert sich mit den Zeiten. Auch sind von Waller fast nur noch die Stuͤcke beliebt, die Empfindung verrathen. Von Prior , Littleton und wer auf eben dem Wege ging, gilt das- selbe. Die fashionable Poetry der Eng- laͤnder hat sich in Ausdruͤcken und Wen- dungen dergestalt wiederholet, daß man nicht nur bei jedem Reim den folgenden, sondern oft auch bei der ersten Zeile des Stuͤcks die letzte zuvor weiß. Mit dem verderbten Hofe Karls II. ging die Herrschaft des spielenden Witzes zu Ende; die brittische Muse ward, was sie Anfangs gewesen war, eine denkende Muse. Ich uͤbergehe die Beitraͤge Den - hams , Roskommons , Dorset , Garths , zu Gruͤndung eines bessern Ge- schmacks; Dryden voran, Pope nach ihm zeigten, worinn die Poesie der Neue- ren am natuͤrlichsten bestehe, naͤmlich in versificirtem gesundem Verstande . Beide Dichter, (mit ihnen Gay , Par - nell , Prior u. a.) haben fast alle Ein- kleidungen versucht, deren ihre Sprache faͤhig war; sie konntens aber nicht weiter bringen, als gesunden Verstand in nach- geahmten, hie und da selbst erfundnen Einfassungen zu reimen . Pope brachte es darinn aufs hoͤchste. In seiner unsang- baren Sprache hat er in Englischer Ma- nier das gethan, was Metastasio in einer Sprache, die ganz Gesang ist, auf eine ungleich angenehmere Weise that; er brachte naͤmlich alle schoͤne Sentenzen, philosophische Grundsaͤtze und Lebensregeln aufs kuͤrzeste und zierlichste in Reime und wird darinn schwerlich uͤbertroffen werden. Zehn Dichter hatten ihm hierinn vorgear- beitet; er kam zu rechter Zeit und brach die Blume. Bolingbrocke , Shaftes - buri , King und Leibnitz gaben ihm zu seinem Essai on Man Philosophie in die Hand; er reimte ihre Systeme so gut er konnte und hat sie fast durchgehends vor- treflich gereimet. Auch Charaktere reimte er meistens in Gegensaͤtzen, scharf und schneidend, insonderheit wo der Affect ihm die Feder schaͤrfte; also daß Pope 's Ge- dichte fuͤr eine gereimte Bluͤthensammlung aller Moral, auch vieler Weltkaͤnntniß und Weltklugheit dienen koͤnnen. Hoͤher hin- aus aber reichte sein Genius nicht. Von Horaz liebenswuͤrdiger Satyre, geschwei- ge von seiner praktischen Welt- und Le- bensweisheit hatte Pope 's Gemuͤthsart keinen Begriff; und man muß durchaus Englaͤnder seyn, um in seinem Homer den alten oder gar den bessern Homer zu finden. Die von ihm den Roͤmern nach- geahmten Stuͤcke zeigen den fuͤrchterlichen Unterschied, der zwischen ihrer und unsrer, wenigstens ihrer und Pope 's Poesie war. Ihre Muse geht im natuͤrlichen Gange der Sprache edeldenkend melodisch einher; die Popische Muse geht Zwangvoll und ge- brechlich, oft sogar unedel daher, uͤber- und uͤber bedeckt mit einem Geklingel von Reimen. Noch zwei vorzuͤgliche Dichter folgen auf Pope , Young und Thomson . Je- ner, der durchaus ein Original seyn wollte, wetteiferte in seinen Nachtgedanken mit Shakespear , Milton , Pope und allen Lehrdichtern der Welt, in seinen Satyren mit Swift , (den er sehr unwerth behan- delt,) mit Pope und allen Satyrendich- tern, in seinen Trauerspielen mit Sha - kespeare , Otway u. f. Ein kuͤhner Versuch, original zu seyn, mit welchem er aber doch am Ende nichts als Ser- mons, Predigten zu Stande brachte, er mochte sie Nachtgedanken, oder Oden, Satyren oder Trauerspiele uͤberschreiben. Seine hoͤchste und liebste Figur in den Nachtgedanken heißt Parenthyrsus , ( Uebertreibung ) die zwar allenthalben die witzigsten Tiraden, Eine aus der An- dern hervortreibt und unsaͤglich viel schoͤne Sachen saget, am Ende aber doch nichts thut, als den menschlichen Verstand uͤber seine natuͤrliche Hoͤhe schrauben. Mich wundert, daß man Young je fuͤr einen tiefsinnigen Dichter gehalten hat; ein aͤußerst witziger, parenthyrsisch- beredter, nach Ori- ginalitaͤt aufstrebender Dichter ist er auf allen Seiten. Reich an Gedanken und Bil- dern, wußte er in ihnen weder Ziel noch Maas; wie er auf Popes scherzhaften Rath in Thomas von Aquino die Eng- lische Theologie studirte, so wuͤrde er diese allenfalls auch im Koran studirt haben. Wenige Dichter sind daher mit so viel Vor- sichtigkeit, wie Er, zu lesen; in seinen Nachtgedanken, wie der Name sagt, ist er als ein Denker zu pruͤfen und jede Co - quetterie des Witzes fuͤr das zu halten, was sie ist, wenn sie auch die heiligsten Sachen betraͤfe. Thomson , wie unser Geßner und Kleist , ein liebenswuͤrdiger Name. Er- funden hatte er seine Gedichtart nicht, ob sein Verehrer Aikin ihm gleich diesen Ruhm zuschreibt; in Milton u. a. lag sie, vielleicht in einem Keime, der kuͤnftig einer noch schoͤneren Entwickelung faͤhig ist, laͤngst da. Thomson aber hat den Keim uͤberlegend erzogen; dessen gebuͤhret ihm die Ehre. Zu gut wußte er selbst, daß Jahrszeiten sich in Worten und ein- foͤrmigen Jamben nicht mahlen lassen; er behandelt also sein Thema, wie er die Freiheit , die Burg der Traͤgheit und andre Gegenstaͤnde behandelte, phi- losophisch. Schildernde Lehrgedichte sind seine Jahreszeiten: denn mit Empfindung zur Lehre muß eine Gegend geschildert wer- den, wenn sie als Poesie in die Seele des Hoͤrenden wirken soll; eine Kunst, die alle Nach- Nachahmer Thomsons nicht eben verstan- den haben moͤgen. Er verstand sie, und so wird aus dem, was ich beigebracht habe, ziemlich klar, daß die Poesie der Englaͤnder von Miltons Zeiten an eine reflecti - rende Poesie gewesen. Die Italiaͤnische singet; die franzoͤsische Prosa - Poesie rai- sonnirt und erzaͤhlet, die Englische in ihrer aͤußerst unmusikalischen Sprache denket . Achte Samml. G 99. D as wahre Feld der Englischen Poesie haben Sie nicht beruͤhret; es ist die ein - kleidende Prose . Sobald Chaucers Reime und die alten Balladen abgekommen waren, man auch merkte, daß Spen - sers Stanzen dieser Sprache eben so schwer als langweilig werden muͤßten, suchte man nach dem Beispiel Frankreichs die leichteste Auskunft, Prose . Auch hier gab den Englaͤndern ein Eng- laͤnder, Shakespeare Art und Weise. Er hatte Charaktere und Leidenschaften so tief aus dem Grunde geschildert, die ver- schiedenen Staͤnde, Alter, Geschlechter und Situationen der Menschen so wesentlich und energisch gezeichnet, daß ihm der Wech- sel des Ortes und der Zeit, Griechenland, Rom, Sicilien und Boͤhmen durchaus keine Hindernisse in den Weg legten, und er mit der leichtesten Hand dort und hier hervorgerufen hatte, was er wollte. In jedem seiner dramatischen Stuͤcke lag also nicht nur ein Roman, sondern auch ein in seiner Art aufs vollkommenste nicht et- wa beschriebener sondern dargestellter phi - losophischer Roman fertig, in dem die tiefsten Quellen des Anmuthigen, Ruͤh- renden, wie andern Theils des Laͤcherlichen, Ergetzlichen geoͤfnet und angewandt waren. Sobald also jene alten Ritter- und Lie- besgeschichten, von denen zuletzt Philipp Sidney 's Arkadia sehr beruͤhmt war, einer neueren Denkart Platz machten: so G 2 konnte man in England kaum andre als Romane in Shakespear 's Manier , d. i. Philosophische Romane erwarten. Der Weg zu ihnen war freilich ein be- schwerlicher Weg; er ging durch Politik und Geschichte. Da England das erste Land in Europa war, in welchem der dritte Stand uͤber Angelegenheiten des Reichs mitsprechen dorfte und von den Zei- ten der Elisabeth an es ein so bewerbsa- mer Handelsstaat geworden war: so gin- gen die eigenthuͤmlichen Sitten seiner Ein- wohner natuͤrlicher Weise freier aus einander . Nicht alles war und blieb blos Koͤnig, Baron, Ritter, Priester, Moͤnch, Sklave. Jeder Stand zeichnete sich in seinen Sitten ungestoͤrt aus, und dorfte nicht eben, um der Verachtung zu entgehen, Sitten und Sprache seiner hoͤ- hern Mitstaͤnde nachahmen; kurz, er dorfte sich auch in seinem humour zeigen . Ohne Zweifel ist dies der Grund, warum die Englaͤnder diese Eigenschaft so eifrig zu einem Zuge ihres Nationalcharakters gemacht haben; ihr humour naͤmlich war ein Sohn der Freimuͤthigkeit und eines eignen Betragens in allen Staͤnden. Witz, Eigensinn, gute und boͤse Laune, tolle Einfaͤlle u. f. haben andre Nationen wie sie, oft besser als sie; nur keine Na- tion, (ehemals vielleicht die Hollaͤnder und einige Deutsche Reichsstaͤdte ausgenom- men,) glaubte sie so offenbar aͤussern zu muͤssen, weil jede andre Nation das Ge- setz der Gleichstellung mit andern zu hoch hielt. Wie aber der Italiaͤner seinen Ca- pricci, der Franzose seiner Gaskonade freien Lauf laͤßt, so gab der Englaͤnder seinem traͤgeren humour nach; ein großes Feld fuͤr Komoͤdien und Romane — Wie die Parlamente in England das oͤffentliche Reden in Gang brachten: so die oͤffentlichen Blaͤtter das Schreiben uͤber Meinungen und Charaktere. Zeitungen und Pamphlets , Wochenblaͤtter und Monatschriften hatten Einkleidungen und Schreibart dem Englischen Roman gleichsam zugebildet, daher es kein Wun- der ist, daß der Franzoͤsische, Spanische und Italiaͤnische Roman eine ganz andre Straße nahm. Insonderheit ist der Engli- sche Roman den Triumvirn der Englischen Prose, Swift , Addison und Steele den groͤßesten Dank schuldig Der erste schrieb seine Sprache in der hoͤchsten Ge- nauigkeit (Proprietaͤt,) die er in einer Men- ge von Einkleidungen zu erhalten wußte. Sein Roman der Menschenfeindschaft, Gul - liver , ist vielleicht vom menschenfreund- lichsten, aber kranken, tiefverwundeten und seines Geschlechts uͤberdruͤßigen Denker ge- schrieben. Der gluͤckliche Addison war von einer froheren Gemuͤthsart. Er und sein Gehuͤlfe, Steele , besaßen eben die goldne Mittelmaͤßigkeit , die zu guten Prose-Schriftstellern gehoͤret. Als Maͤn- ner von Geschmack und von Weltkenntniß hatten sie das Richtmaas in sich, fuͤr die Menge zu schreiben, in keine Materie zu tief zu dringen und zu rechter Zeit ein Ende zu finden. Sie haben der Englischen Prose Curs gemacht und ihr das Mittelmaas gegeben, uͤber und unter welchem man nicht schreibet. Nun konnten also nach und nach (viele andre Vorarbeiten ungerechnet) die drei gluͤcklichen Romanhelden auftreten, Fiel - ding , Richardson , Sterne , die zu ihrer Zeit Epoche machten. So verschie- den ihre Manier ist, so wenig schließen sie andre gluͤckliche Formen aus, wie Smol - lets , Goldsmiths , Cumberlands und in andern Nationen andre schaͤtzbare Originale zeigen. Keine Gattung der Poe- sie ist von weiterem Umfange, als der Ro- man; unter allen ist er auch der verschie - densten Bearbeitung faͤhig: denn er enthaͤlt oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Kuͤnste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten — in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessiret, Leiden- schaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was moͤglich und denkbar ist, ja das Unmoͤgliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht wer- den, sobald es unsern Verstand oder un- ser Herz interessiret. Die groͤßesten Dispa- raten laͤßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose. Man sagt zwar, daß in ihren besten Zeiten die Griechen und Roͤmer den Ro- man nicht gekannt haben; dem scheint aber nicht also. Homers Gedichte selbst sind Romane in ihrer Art; Herodot schrieb seine Geschichte, so wahr sie seyn mag, als einen Roman; als einen Roman hoͤr- ten sie die Griechen. So schrieb Xeno - phon die Cyropaͤdie und das Gastmahl; so Plato mehrere seiner Gespraͤche; und was sind Lucians wunderbare Reisen? Wie jeder andern haben also auch der ro- mantischen Einkleidung die Griechen Ziel und Maas gegeben. Daß mit der Zeit der Roman einen groͤßeren Umfang, eine reichere Mannichfaltigkeit bekommen, ist natuͤrlich. Seitdem hat sich das Rad der Zeiten so oft umgewaͤlzt und mit neuen Begebenheiten auch neue Gestalten der Dinge zum Anschauen gebracht; wir sind mit so vielen Weltgegenden und Nationen bekannt worden, von denen die Griechen nicht wußten; durch das Zusammentreffen der Voͤlker haben sich ihre Vorstellungen an einander so abgerieben, und uͤberhaupt ist uns der Menschen Thun und Lassen selbst so sehr zum Roman worden, daß wir ja die Geschichte selbst beinah nicht anders als einen philosophischen Roman zu lesen wuͤnschen. Waͤre sie immer auch nur so lehrreich vorgetragen, als Fieldings , Richardsons , Sterne 's Romane! — Viel denkende Dichter hat also England in Poesie und Prose hervorgebracht, und die Nation ist auf sie unermeßlich stolz; die Dichter selbst aber starben meistens eines elenden, wohl gar des Hungertodes. 100. D er poetische Himmel Britanniens hat mich erschreckt. Wo sind unsre Shake - speare , unsre Swifts , Addisons , Fieldings , Sterne ? Wo ist jene Menge von Edlen, die vorangingen oder wenigstens mit am Werk waren, die Philipp Sid - ney , Walter Raleigh , Baco , Ros - common , Dorset , Algernon Sid - ney , Shaftesburi , Halifax , Som - mers , Bolingbrocke , Littleton , Wal - pole u. f.? Wir wachten auf, da es allent- halben Mittag war und bei einigen Natio- nen sich gar schon die Sonne neigte. Kurz, wir kamen zu spaͤt . Und weil wir so spaͤt kamen, ahmten wir nach : denn wir fanden viel Vortref- liches nachzuahmen. Franzosen, Spaniern, Italiaͤnern, Britten, selbst Hollaͤndern ahm- ten wir nach; und wußten nie recht, wozu und weßwegen? Unser verdiente Opitz war mehr Uebersetzer, als Dichter. In Weck - herlin u. a. ist der groͤßeste Theil fremdes Gut. So sind wir fortgeschritten; und wer ahmt uns nach? Wenn in Italien die Muse singend conversirt, wenn sie in Frank- reich artig erzaͤhlt und vernuͤnftelt, wenn sie in Spanien ritterlich imaginirt, in Eng- land scharf- oder tiefsinnig denket; was thut sie in Deutschland? Sie ahmt nach . Nachahmung waͤre also ihr Charakter, eben weil sie zu spaͤt kam. Die Originalfor- men waren alle verbraucht und vergeben. 101. S o uͤbel stehet's nicht mit der Deutschen Muse, wie Sie fuͤrchten. Es ist vielleicht der Hauptfehler unsrer Nation, daß sie aus zu großer Gefaͤlligkeit gegen Fremde sich selbst nicht kennet und achtet. Wahr ists, wir kamen spaͤt; desto juͤn - ger aber sind wir. Wir haben noch viel zu thun, indeß andre ruhn, weil sie das Ihrige geleistet haben. Und waren wir in jenen Zeiten muͤßig? Nichts weniger; durch andre, vielleicht wichtigere Geschaͤfte wurden wir von einer Bahn zuruͤckgehalten, die uns immer noch blieb. Fuͤr ganz Europa standen wir da- mahls vor den Riß, sowohl gegen Roms Despotie, als gegen eindringende Hunnen und Tataren. Daß Europa nicht zum Kalmuckenlande oder zur Tuͤrkei ward, haben Deutsche verhindert; Raum zu dem friedlichen Garten, den die Musen lieben, haben sie mit ihrem Blut erfochten. Unsre Sprache ist im Besitz aͤlterer Poesie, als deren sich Spanier, Italiaͤner, Franzosen und Britten ruͤhmen koͤnnen; S. Schilte rs thesaur. A. d. H. einzig nur unsre Verfassung war Schuld, daß wir Jahrhunderte lang dies Feld un- gebauet ließen. Wir zogen nach Italien, und sonst in der Welt umher; haben aber doch, selbst in diesen fuͤrchterlichen Zeiten, fuͤr ganz Europa manches Nuͤtzliche erfun- den. Endlich, da die Reformation aus unsrer Mitte hervorbrach, und uns nach vielem andern Ungemach mit dem dreissig- jaͤhrigen Kriege eine fast allgemeine Ver- wuͤstung und die so gefaͤhrliche Bekannt- schaft mit fremden Nationen auf den Hals zog; — muͤssen wir, wenn wir die Ge- schichte Deutschlands durchgehn, uns nicht wundern, daß noch so viel ward, als ge- worden ist? Denn nun reiseten die Fuͤrsten, die Edeln. Sie staunten das Ausland an, und sprachen, lasen, schrieben fremde Spra- chen. Und unsre gutherzigen Dichter freue- ten sich jeder neuen Sonne, die aufging, fanden sich geehrt, wenn sie Gesaͤnge auch nur zueignen durften, ohne daß sie ge- lesen wurden. In Siebenbuͤrgen dichtete der gute Opitz , Weckherlin in Eng- land und Frankreich, Flemming am Caspischen Meer Deutsche Gedichte; nie- mand dankte es ihnen, daß sie es thaten. Und wer verdankte es dem Andreas Gryphius , dem von Lohenstein , daß sie unter ihrer Buͤrde buͤrgerlicher Geschaͤfte fuͤr Sprache und Poesie das thaten, was sie gethan haben? Dank also auch dem guten von Logau , daß er in den wilden Zeiten des dreissig- jaͤhrigen Krieges seine dreitausend Sinn- und andre Gedichte aufschrieb, ob er gleich ein Deutscher Baron war. Dank einem Dietrich von dem Werder , daß er den Tasso uͤbersetzte, und gleichwohl Hof- marschall seyn konnte, ja gar ein Regi- ment commandirte. Dank — o wie tief haben wir Deutsche anfangen, aus wel- cher druͤckenden Barbarei uns hervorarbei- ten muͤssen, die uns noch allenthalben so- gar als Ehre, als Vorzug, als Stam- mes- und Nationalruhm anklebt! „Wel- cher cher Mann von Ahnen wird ein Poete, ein Savant, ein Philosophe seyn wollen, wenn er auch ein Tasso , ein Baco , ein Shaftesburi werden koͤnnte?“ — Solon und Alexander , Caͤsar und Augustus , so viele Fuͤrsten und Edle in Italien, Spanien, Frankreich, England dachten anders. „Weil wir also spaͤt kamen, so ahm- ten wir freilich viel nach: denn wir fan- den viel Vortrefliches nachzuahmen.“ Dies war Natur der Sache, nichts mehr und nichts minder; wer zuletzt kommt, thaͤte sehr unrecht, wenn er nicht nachahmte. So folg- ten die Roͤmer den Griechen, den Roͤmern die Moͤnche, Moͤnchen und Arabern die Pro- venzalen, den Provenzalen mittel- oder un- mittelbar alle gebildete Nationen Europa's; warum sollten diesen nicht die Deutschen folgen? Alle Kunst ist Nachahmung; nur Achte Samml. H durch Nachahmung ist der Mensch zur Kunst gelanget; nur durch sie ist er Mensch worden . Waͤre also auch Nachahmung der Charakter unsrer Nation, und wir ahmten nur mit Besonnenheit nach: so gereichte dieses Wort uns zur Ehre. Wenn wir von allen Voͤlkern ihr Bestes uns eigen machten: so waͤren wir unter ihnen das, was der Mensch gegen alle die Neben - und Mitgeschoͤpfe ist, von denen er Kuͤnste gelernt hat . Er kam zuletzt, sah Jedem seine Art ab, und uͤbertrift oder regiert sie alle. Zu diesem Zweck haben wir ein vor- trefliches Mittel in unsrer Gewalt, unsre Sprache ; sie kann uns das seyn, was dem Kunst-nachahmenden Menschen die Hand ist. Man ruͤhmt den Sklavoni- schen Sprachen nach, daß sie zur Nachbil- dung fremder Idiome in jeder Wendung, in jedem Uebergange geschickt seyn; die deutsche Sprache hat diese Faͤhigkeit vor allen Toͤchtern der lateinischen, selbst vor der Englischen Sprache. Alle diese sind von Zwitternatur; aus ihren engeren oder weiteren Schranken koͤnnen sie nicht hin- aus, um sich einer fremden Sprache nur einigermaassen zu bequemen. Vor allen ist die Franzoͤsische Sprache die gebunden- ste, die gleichsam gar nicht uͤbersetzen, gar nicht nachbilden kann; eine ewig Unge - treue , muß sie alles nur auf ihre , d. i. auf eine sehr mangelhafte Weise sagen. Die Deutsche Sprache, unvermischt mit andern, auf ihrer eignen Wurzel bluͤhend und eine Stiefschwester der vollkommen- sten, der griechischen Sprache, hat eine unglaubliche Gelenkigkeit, sich dem Aus- drucke, den Wendungen, dem Geist, selbst den Sylbenmaaßen fremder Nationen, so- H 2 gar Griechen und Roͤmern anzuschliessen und zu fuͤgen. Unter der Bearbeitung jedes eigenthuͤmlichen Geistes wird sie gleichsam eine neue, ihm eigne Sprache. Mithin halte ichs nicht nur fuͤr keine Schande, wenn man uns Nachahmung vorwirft; vielmehr vermehrt es den Reich- thum unsrer Gedanken und Wendungen, unsrer Vorstellungs- und Sprachweisen, wenn wir, wie keine andre Nation thun kann, die Gestalt fremder Idiome mit uͤberlegendem Verstande und weiser Hand nachbilden. Moͤge Hagedorn dem Ho - raz , dem Pope , Chaulieu und vielen andern, die er nicht verschwiegen, moͤge Gleim dem Anakreon und wenn man will, auch dem Aesop , Phaͤdrus , Tyr - taͤus , Moncrif , Bernard u. f. nach- geahmt haben; ahmten sie als Maͤnner nach, also daß ihre Nachbildung in unsrer Sprache ein Werk war, um so besser; so haben sie ihre Nation mit vortreflichen Denkweisen mehrerer Geister und Voͤlker bereichert. Einem reichen Dichter unsrer Sprache hat man nachgerechnet, daß er in Homers , Pindars , Xenophons , Lucians , Ariosts , Cervantes , Po - pe , Fieldings , Sterne , sogar des Koͤniges Davids und der Sultanin Sche - herazade Art und Manier Psalmen und Maͤhrchen, Helden- und Lehrgedichte, Epi- sche Gesaͤnge und Romane geschrieben, ge- dichtet und gesungen habe. Desto besser! Um so reicher sind wir durch ihn worden. Die Ananas, die tausend feine Gewuͤrze in ihrem Geschmack vereint, traͤgt nicht umsonst eine Krone. 102. U nd waͤre es denn wahr, daß die Deut- schen so ganz Charakterlos nachahmen? Das mindeste Gefuͤhl des Genius unsrer Sprache und unsrer Schriften zeigt etwas anders von den uraͤltesten Zeiten her. Leset Otfried , leset das alte Siegs- lied unter Ludwig; der gutmuͤthige und biedre Charakter der Nation ist schon durchaus kennbar. Er ists in den lateini- schen Schriftstellern der mittleren Zeiten, wie in unsern altdeutschen Spruͤchwoͤrtern, Apophthegmen und Reimen. Allenthalben findet ihr Altdeutschen Witz und Verstand in den kuͤrzesten ungekuͤn- stelten Worten. Wer am Charakter der Deutschen Nation zweifelt, darf irgend nur ein Woͤrter- oder Spruͤchwoͤrterbuch, Agrikola , Frank , Zinkgraͤf , Leh - mann , oder eine Sammlung von Geschich- ten, Lehrspruͤchen, Liedern, Fabeln und Erzaͤhlungen durchgehen. In Trimberg , Kaisersberg , Brandt , Luther , Rol - lenhagen , Opitz , Logau , Dach , Tscherning u. f. spricht dieser Ver - stand - und Lehrreiche Genius auf allen Seiten. Vergleicht unsre Deutsche Minnesinger mit den Provenzalen. Nicht nur von Seiten der Sitte gewinnen die unsern, sondern oft auch in Ruͤcksicht der innigen Empfindung. In Suͤden, wenn ihr wollt, ist mehr Lustigkeit und Frech- heit; hier mehr Liebe und Ehre, Beschei- denheit und Tugend, Verstand und Herz. Rechtliche Ehrlichkeit also, Richtigkeit in Gedanken, Staͤrke im Willen und Aus- druck, dabei Gutmuͤthigkeit, Bereitschaft zu helfen und zu dienen; dies ist die Gemuͤthsart unsres Volks, die es auch im Nachahmen, selbst im ungeschickten Nachahmen des Fremden nie verlaͤugnen konnte. Denn woher fiel das Nachahmen der Deutschen oft so ungeschickt aus? Weil sie es allenthalben zu ehrlich meinten, so wurden sie oft getaͤuscht und betrogen. Die ganze Nachahmungssucht der Deut- schen ruͤhrt von ihrer Gutmuͤthigkeit her. Sie dachten zu bescheiden von sich, und wollten immer lernen, auch wo sie allenfalls lehren konnten. Der uͤble Ge- schmack, in den sie sich zu Hofmanns - waldau und Lohensteins , zu Talan - ders , Weise und Menantes Zeiten stuͤrzten, ruͤhrte von ihrer gutmuͤthigen Ge- faͤlligkeit gegen die sogenannten Leute von Welt , gegen ihre Großen und Hofleute her, die in diesem uͤbeln Ge- schmack das Paradies fanden. Bessers , Koͤnigs , Heraͤus , Neukirchs Canzlei- poesieen gingen auf eben diesem plattge- tretenen Hofwege ins Verderben. Sobald aber der Deutsche Verstand wieder zu Kraͤften kommen konnte, zeigte sich sogleich unsere Gemuͤthsart wieder; Ueberlegung, Biederkeit und Herz. Wel- che kindliche Gutmuͤthigkeit herrscht z. B. in Brockes Schriften! Wie ein Liebha- ber an der Geliebten haͤngt er an einer Blume, an einer Frucht, an einem Gar- tenbeet, einem Thautropfen! Mit uͤber- stroͤmender Wortfuͤlle mahlt er seinen Ge- genstand voll Liebe und Bewunderung, um ja keine andre als gutmuͤthige Em- pfindungen zu erregen. Gegen Cowleys Beschreibung von Pflanzen und Blumen werden wir unsern Brockes nicht tauschen. Die Poesie der Niedersachsen ging auf eben dem Wege fort. Hagedorn ist ihr schoͤner classischer Gipfel. Lege man mir Waller , Denham , Gay , Roscom - mon , Dorset und noch eine Reihe sol- cher Helden zusammen; Hagedorn bleibt mir. Wir haben in ihm die Bluͤthe von hundert lehrreichen, angenehmen, mora- lischen, froͤhlichen Dichtern. Ihm gegenuͤber steht Haller , der eine Alpen-Last der Gelehrsamkeit auf sich trug. Was von Haller mit Pope ver- glichen werden kann, ist uͤber Pope ; was aus Pope 's lebendiger Welt an seinen Satyren und Charakteren in seinem Reim- geklingel dasteht, wuͤrde Haller redlicher aufgestellt haben. Bewahre uns die Muse vor Dichtern, bei denen Verstand ohne Herz, oder Herz ohne Verstand ist. Zwei Popische Gedichte wuͤnschte ich indessen meinem Vaterlande wohl eigen, seinen Versuch uͤber den Menschen und uͤber die Kritik . Ich habe nicht den mindesten Zweifel, daß wir beide besser, als Pope sie schrieb, zu ihrer Zeit bekom- men werden. Unsres Hallers Gedichte sind ein Richtmaas der Sitten, so wie der Wissenschaft und Gedenkart. Man kann von ihnen und den Werken mehrerer Deutscher Dichter sagen, daß kein falscher Gedanke (Religionsvorstellungen etwa aus- genommen) in ihnen sei; welches man von wenig auslaͤndischen Dichtern sagen moͤchte. Wie Hallers Ode auf die Ewigkeit ist, erscheint nichts Aehnliches in Pope . Und noch hatte Haller außer seinen großen Verdiensten um mehrere Wissen- schaften ein Gluͤck, dessen sich der Englaͤn- der nicht ruͤhmen konnte, er ward wie Opitz der Vater eines besseren Geschmacks in Deutschland, da Pope nichts anders als Drydens und mehrerer Vorgaͤnger feinerer Nachgaͤnger war. — Ohne Zweifel erwarten Sie nicht, daß ich jede gutmuͤthige Bemuͤhung der Deut- schen nach Jahren durchgehen soll, wie sie z. B. den Verstand und Witz ihrer Lan- desleute bald belustigten , bald erwei - terten , oder dazu hieher und dorther bei - trugen . Jeder that was er thun konnte; und Gellerts , Cramers , der beiden Schlegels , Rabners , u. a. guter Wille wird dabei gewiß aufwiegen koͤnnen, was die Richer , la Motte , und J. B. Roußeau , oder die King 's, Philipp 's u. f. auswaͤrts geleistet haben. In ihrer Lage sind mir die Namen Lange und Pyra werther, als hundert schreibselige Namen spaͤterer Zeiten. Kleist kommt; und wer verkennete an ihm sein Deutsches Herz, seinen edeln Charakter? Als Kuͤnstler der Poesie, dazu in mancherlei Arten, moͤchte ich lieber Thomson seyn, Thomson insonderheit seit er Italien gesehen hatte; aber als Mensch und Dichter gilt es keine Frage. Kleists Herz lebt in seinen Gedichten, in seinem Fruͤhlinge , in mehreren seiner Oden , in seinem Geburts - und Gra - besliede , in seiner Sehnsucht nach Ruhe , in Cißides und Paches . Nach seinem Seneka wollen wir ihn nicht messen; aber den edlen Geist, das patrio- tisch-menschliche Gemuͤth, das mitten un- ter Kriegesscenen in diese kleinen Gedichte wie in ein Asylum floh und jetzt darinn, wie in einer zerstuͤckten Urne sein ewiges Denkmal findet, wollen wir werth halten und lieben. Ihm fuͤge ich Leßing und Gleim bei. Des Ersten Genius lebt in jeder Zeile seiner Schriften, zumal in seinem Nathan ; und in Gleims Schriften schlaͤget gewiß ein Herz vom wahresten Deutschen Charakter. Zu seinen Kriegs- liedern war Leßing der Vorredner; in seinen Fabeln, Liedern, und mehreren sei- ner Gedichte verbinden sich Muth und Treue, Freundesgefuͤhl, Einfalt und Staͤrke. Klopstocks Ode an Gleim ist ein Bild des Dichters und seiner Gedichte. Man ist gewohnt, Klopstock den Deut- schen Milton zu nennen; ich wollte, daß beide nie zusammen genannt wuͤrden, und wohl gar daß Klopstock den Milton nie gekannt haben moͤchte. Beide Dichter haben heilige Gedichte geschrieben; ihre Muse aber ist nicht dieselbe. Wie Moses und Christus , wie das alte und neue Testament stehen sie einander gegenuͤber. Miltons Gedicht ein auf alten Saͤulen ruhendes durchdachtes Gebaͤude; Klop - stocks Gedicht ein Zaubergemaͤhlde, das in den zartesten Menschenempfindungen und Menschenscenen von Gethsemane aus uͤber Erd' und Himmel schwebet. Die Muse Miltons ist eine maͤnnliche Muse, wie sein Jambus; die Muse Klopstocks eine zaͤrtere Muse, die in Erzaͤhlungen, Elegieen und Hymnen unsre ganze Seele, den Mit- telpunkt ihrer Welt durchstroͤmet. In An- sehung der Sprache hat Klopstock auf seine Nation mehr gewirkt, als Milton vielleicht auf die Seinige wirken konnte; wie er denn auch ungleich vielseitiger als der Britte uͤber dieselbe gedacht hat. Eine seiner Oden im Geschmack des Horaz ist nach dem Richtmaas der Alten mehr werth, als saͤmmtliche hochaufgethuͤrmte Brittische Odengebaͤude. — Daß Klopstock zu sei- nem Hermann einen Gluck fand, daß er durch seine Gesaͤnge ihn und andre seines Geistes zu dieser Gattung einfacher Musik weckte, gehoͤret mit zu den gluͤckli- chen Begegnissen seines Lebens; dem blin- den Barden in Britannien ward mit sei- nem Lycidas und Samson dies Gluͤck nicht. Wenn uͤberhaupt die Muse der Ton- kunst in der Einfalt und Wuͤrde, die ihr gebuͤhret, zu uns zuruͤckzukehren wuͤrdigte; wessen Worte wuͤrden sie freundlicher her- nieder zaubern, als Klopstocks ? — Wollten wir die goldnen philosophischen Oden unsres Uz gegen die Oden des Cow - ley ; Hagedorn gegen Waller ; Cro - negks bessere Gedichte gegen Prior ; Witthof (in seiner ersten Ausgabe) gegen Aken - Akenside ; Gerstenberg selbst gegen Otway und Waller vertauschen? Ich bleibe bei meinen Landesleuten; bei weni- germ Glanze der Kunst ist in ihnen mehr Gemuͤth , mehr wahre Empfindung . In allen Liedern, die von unsrer Jugend gesungen werden, so verschieden der Ge- nius der Dichter sei, in Claudius , Hoͤlty , Stolberg , Jakobi , Voß , Schiller ist der Charakter unsrer Nation, Gemuͤth , kennbar. — Selbst die Art, wie sich die Deutschen fremder Erscheinungen angenommen haben, zeigt die Herzlichkeit ihres Charakters. Wo ist dem Milton und Oßian waͤr- mer gehuldigt worden, als in Deutschland? Stand in England jemand auf, der sich des Galischen Saͤngers angenommen haͤtte, wie Denis ? den er beseelt haͤtte, wie z. B. Kosegarten und mehrere unserer Achte Samml. I Landsleute? Nehmet eine ausgewaͤhlte Sammlung Deutscher Lieder und stellet sie der besten Englischen entgegen; an inne- rem Werthe, wohin wird die Waage sin- ken? Ihre Gesaͤnge der Empfindung sind meistens Schottische Lieder. Gern nenne ich noch zusammen Wie - land und Geßner . Den ersten hat man sehr unzeitig mit Voltaire verglichen, mit Voltaire, der bei dem hellesten Kopf und der schlauesten Gewandtheit doch nur ein witziger Satyr war, und zwar im Grunde nur in Einer Manier des Witzes, die er tausendfach zu veraͤndern und nach dem Geschmack seines Zeitalters, ja wo moͤg- lich jeder Person in demselben zu modifici- ren wußte. Die Muse unsres Landsman- nes ist ein reinerer Genius, der in jeder Gestalt, die er annimmt, gewiß einen edleren Zweck hatte, als uns blos witzig zu amusiren. Ein echter Juͤnger jener alten gaya ciencia, ob er uns nach Delphi oder Tarent , nach Sicilien oder Sa - lerno , ins Faß des Diogenes oder an die Tafelrunde , nach Bagdad oder ins Feenland geleite. Der Geist der So- kratischen Schule verließ ihn selten: denn seine oft mißverstandene Philosophie ist am Ende doch Weisheit des Lebens . Warum ist Geßner von allen Natio- nen, die ihn kennen lernten, mit Liebe empfangen worden? Er ist bei der feinsten Kunst Einfalt , Natur und Wahr - heit . In Darstellung einer reinen Huma- nitaͤt sollte ihn selbst das Sylbenmaas nicht binden; wie auf einem Faden, der in der Luft schwebt, laͤßet er sich in seiner poëtischen Prose oder prosaischen Poesie jetzt auf bluͤhende Fluren hinab, jetzt schwin- get er sich in die goldnen Wolken der I 2 Abend- und Morgenroͤthe, bleibet aber im- mer in unserm blauen Horizont gesellig, froh und gluͤcklich. Mit Kindern ward er ein Kind, mit den ersten Menschen Einer der ersten Schuldlosen Menschen, liebend mit den Liebenden und selbst geliebt von der ganzen Natur, die ihm in seiner Un- schuld ihren Schleier wegzog. Gerade der einfachste Dichter, dessen ganze Manier Verbergung der Kunst war, ist unser be- ruͤhmtester Dichter worden, und hat man- che Auslaͤnder mit dem suͤßen Wahne ge- taͤuscht, als sei alle unsre Poesie reine Humanitaͤt , Einfalt , Liebe und Wahrheit . 103. B ei der gutmuͤthigen Lehrhaftigkeit, die Sie den Deutschen zuschreiben, vergessen Sie, daß Form das Wesen der Poesie ist; und wer begreift schwerer, was Form sei, wer kann sich in sie minder fuͤgen, geschweige sich dieselbe an- und zubilden, als ein Deutscher? Unser Leben, unsre ganze Verfassung ist ja Unform. Ihr gelehrter Opitz uͤbersetzte aus allen Sprachen; aber wie schwer! wie einfoͤr- mig! Lesen Sie seine Antigone , seine Trojanerinnen , seinen Apoll und Daphne , (eine Italiaͤnische Oper,) seine Sonnette und Sinngedichte; wie schwer, und einfoͤrmig! Zweitens. Kritik muß die Poesie als Kunst ausbilden; was ist aber Kritik bei den Deutschen? Eine verpachtete Bude, eine verachtete Laͤsterschule. Was ist vom Geschmack einer Nation zu halten, die auf ihren Richterstuͤhlen des Geschmacks Na- menlose feile Lictoren verehret? Was ist von ihrer Gutmuͤthigkeit zu halten, wenn sie falsch Maas und Gewicht des Urtheils oͤffentlich duldet? Endlich scheinets, daß die Deutsche Poesie auf die von Ihnen angezeigte Weise eine Kinderpoesie sei und seyn werde. Sie unterhaͤlt uns mit schoͤnen Bildern und Abstractionen; oder zaubert uns in ein Arkadien voll Unschuld, Liebe und Ein- falt, das nirgend ist, als in der Phan- tasie der Dichter. Es ist also leicht zu begreifen, daß Maͤnner von Geschaͤften und reell-denkende Menschen sich mit Fantastereien solcher Art wenig abgeben werden. Sie sind Spielwerke der Weiber und Kinder, uͤberhaupt aber eccentrischer, muͤßiger Menschen. 104. F orm ist Vieles bei der Kunst; aber nicht Alles. Die schoͤnsten Formen des Alter- thums belebet ein Geist, ein großer Ge- danke, der die Form zur Form macht, und sich in ihr wie in seinem Koͤrper offen- baret. Nehmt diese Seele hinweg; und die Form ist eine Larve. Vollends poëtische Form ist vom Ge- danken und von der Empfindung dergestalt abhaͤngig, daß ohne diese sie wie ein schoͤn- gezimmerter Block dastehet: denn Poesie wirkt durch Rede . Rede aber enthaͤlt nicht nur, sondern sie ist eine Folge von Gedanken . Ohne diese ist das schoͤnste Sonnet ein Klinggedicht; nichts weiter. Soll ich waͤhlen, Gedanken ohne Form, oder Form ohne Gedanken: so waͤhle ich das Erste. Die Form kann meine Seele ihnen leicht geben. Und waͤren die Deutschen denn von jeher so Formlos gewesen? Bei den Min- nesingern finde ich dies nicht; bei Reineke dem Fuchs noch minder. Ihre alten Lie- der, Spruͤche und Erzaͤhlungen haben eine so gedrungene, oft so geistige Form, daß es schwer seyn wuͤrde, ein Wort hinzuzu- thun oder hinwegzunehmen. Opitzens Manier ist freilich einfoͤrmig; Dank ihm aber fuͤr diese Einfoͤrmigkeit, die zum Zweck hatte, uns bei der Skansion der Syl- benmaaße vestzuhalten. Haͤtte er sich wie seine Vorgaͤnger an der bloßen Decla - mation gereimter Verse begnuͤgt: so waͤre er freilich abwechselnder worden; er haͤtte uns aber auch auf den Irrweg aller der Nationen gefuͤhrt, die bis auf den heuti- gen Tag noch keine echte Quantitaͤt der Sylben haben. Unsre Sprache gebietet gleichsam Form, mehr als irgend eine andre; die Franzoͤsische, die Englische Spra- che sind, mit ihr verglichen, in der Poesie Formlos: denn nur Willkuͤhr und Ueber- einkunft hat bei ihnen hier diese Art des Reims, dort jene Regel des Geschmacks festgestellt, die der Sprache selbst nach un- bestimmt waren. Unsre Sprache strebt der schwersten, zugleich aber auch der schoͤnsten und bestimmtesten Form nach, der Form der Alten . Zuerst versuchten wir dieses lyrisch; wer ist, der eine Ode Uz , Klopstocks , Ramlers Formlos nennen doͤrfte? Der letzgenannte Dichter hat in dem, was Form der Sprache ist, in Oden, Liedern, Can- taten, Idyllen und Sinngedichten so viel geleistet, und an den beliebtesten Formen eigner und fremder Werke so oft gebessert, daß des Boileau Feile gegen die seinige ein stumpfes Werkzeug scheinet. Klop - stocks kleinste Ode, Gerstenbergs klein- stes Gedicht ist eine lebendige Form; und wer hat uns mehrere, und angenehmere Formen gegeben, als unser Goͤtz ? den man den vielfoͤrmigen nennen koͤnnte. Auf jedem Huͤgel des Helikons suchte seine Muse die zartesten Blumen, und band sie auf die vielfachste zierlichste Weise in Kraͤnze und Straͤuschen. Sanft ruhe die Asche dieses waͤhrend seines Lebens unbe- kannt gebliebenen Dichters! mit jedem Fruͤhlinge bluͤhe fortan sein Andenken auf. Sind Kleists saͤmmtliche kleine Ge- dichte ohne Form? Sind Wielands Er- zaͤhlungen, vom leichtesten Maͤhrchen bis zu seinem Agathon und Oberon hinauf Formlos? Leßings Stuͤcke vom Epi- gramm und Liede bis zu seiner Minna und Emilie , Philotas und Nathan , jede Fabel und Parabel, ja ich moͤchte sagen, jedes Urtheil und Fragment dieses scharfsinnigen Weisen hat Form und ist Form, auch wo er vielleicht irret, auch wo er nur lernte. Ein andrer Dichter hat sich der Form der Alten auf einem neuen Wege genahet. Durch eine Theilnahmlose genaue Schil- derung der Sichtbarkeit und durch eine thaͤtige Darstellung seiner Charaktere, Goe - the . Sein Berlichingen ist ein Deut- sches Stuͤck, groß und unregelmaͤßig wie das Deutsche Reich ist; aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung. In jedem sei- ner spaͤteren Stuͤcke hat er eine einzelne gewaͤhlte Form im leichtesten Umriß zu ih- rer Art vollendet. So sein Clavigo, seine Stella, sein Egmont, Tasso und jene schoͤne Griechische Form, Iphigenia in Tauris. In ihr hat er wie Sophokles den Euri- pides uͤberwunden. Auch aus dem Reich der Unformen rief er Formen hervor, wie sein Faust, sein Kophtha; auch andre Ge- dichtarten sind nach Form der Alten gluͤck- lich von ihm bearbeitet worden. Wer nach diesen und andern Productionen auch in Uebersetzungen aus fremden Sprachen die Poesie der Deutschen Formlos nen- nen will, der zeige mir unter Italiaͤnern, Spaniern, Franzosen und Englaͤndern bes- sere Formen. Wenn an mehrere ihrer Dichter das Richtmaas gelegt wuͤrde, das Leßing in einigen Stuͤcken an Corneille und Voltaire legte; wo bliebe Form und Umriß? Bei dem Allen aber komme ich auf den Anfang meines Briefes zuruͤck: Form ist nicht Alles in der Dichtkunst; auch muß man einer Nation Formen nicht aufdrin- gen, die ihr durchaus fremd sind. Was in der Welt schadete es uns, wenn wir keine Italiaͤnische Oper oder keine Engli- sche Komoͤdie haͤtten? Diese mit allen ihren humoristischen Launen und Charakteren ist bei uns in der Natur nicht da; und ich sehe kein Uebel darinn, daß sie fehle; auch ist die ganze Wirthschaft dieser Komoͤdie keine Deutsche Haushaltung. Wer ver- baͤnde uns also fremde Caricaturen anzu- staunen, und aus ihnen ein erzwungenes Vergnuͤgen zu schoͤpfen? So die kleine Italiaͤnische Oper; sie will in Italien ge- sungen und gespielt seyn. Wo sie dies nicht werden kann, was ist natuͤrlicher, als daß, Trotz der besten Musik, ein frem- des Volk, an ihrem fremden oft unbe- deutenden Inhalt, an Raͤnken, und Scher- zen, die bei ihm nicht in Gebrauch sind, keinen Geschmack findet? Der angenehme Muͤßiggang, das dolce far niente, bei dem man sich oͤffentlich auch an Possen, als an Kunststuͤcken vergnuͤgt und die Zeit hintaͤndelt, ist unter unserm haͤrtern Him- mel nicht zu Hause. Wer aus einem muͤh- seligen Leben ins Schauspiel tritt, will sich nicht blos an der Form als an einem Kunststuͤck freuen, sondern durch etwas Innigeres geweckt seyn. Viele Kunstpro- ducte fremder Nationen sind Kinder der Ueppigkeit und eines Verderbens der Sit- ten, von dem gluͤcklicher Weise manche Provinz unsrer arbeitseligen Nation noch nicht weiß; sollen wir ihr diese Producte mit den Ursachen wuͤnschen, die sie erzeug- ten? und den Geschmack an ihnen ver- breiten? Fuͤhret einen gesunden jungen Mann, ein gesundes keusches Maͤdchen, in die Kammer des abgelebten Luͤstlings oder der feilen Unzucht; werden sie, denen ein besserer Trieb im Herzen schlaͤgt, oder sich in leisen Wuͤnschen reget, an den fre- chen Reizungsmitteln dieser Ausgearteten und Abgestorbenen Vergnuͤgen finden? oder sie mit Entzuͤcken ansehn? Schonet der Unschuld unsrer Nation, wenn ihr sie auch eine dumme Unschuld nennen solltet; beim belohnenden Gefuͤhl ihrer Gesundheit will sie gern mancher luͤsternen Form entbehren. Jedes Volk hat seinen Kreis des Wohl- anstaͤndigen in sittlichen Begriffen und Gefuͤhlen, aus welchem es keine erjagte Licenz eines fremden Volks reißen muß. Daß uͤbrigens die feine Komoͤdie bei uns manche Schwierigkeiten findet, ist un- laͤngbar, aber auch sehr erklaͤrlich. Erziehet die die Nation, und sie wird auch an feine- ren Zuͤgen der Sittlichkeit Geschmack fin- den. Da jetzt Alles sich lesend vergnuͤ- gen will, meistens aber das Schlechtste lie- set; waͤren nicht hundert Mittel da, diese Lesereien aufs Bessere zu leiten? Bedienet Euch nur einiger dieser Mittel, und das Verderben ist noch abwendbar. Sehr un- deutsch waͤre es, wenn bei uns die Mo - ralitaͤt ein verspotteter Name wuͤrde; der alten Sitte nach gehoͤrt sie mit zu un- serm Charakter und kann uns durch nichts ersetzt werden. Uns fehlet Witz und leichte Natur, uns fehlt ein schoͤner Himmel, die Unmoralitaͤten nur einigermaassen lustig und leidlich zu machen; Deutsche Ueppig- keit war daher von jeher grob, weil sie in unser Klima, in unsre Lebensart und uͤberhaupt zum Deutschen Charakter nicht gehoͤret. Achte Samml. K Lassen Sie mich diesen Brief noch mit dem Andenken eines froͤhlichen Dichters schliessen, der uns unvergessen seyn sollte, Zachariaͤ . Seine comischen Epopeen, seine lyrischen und musicalischen Gedichte enthalten in einer leichten Form so viel Schoͤnes, und bei einer gluͤcklichen Na- tur ein so geselliges Leben , daß ich sie statt mancher neueren Ziererei jungen Leuten in die Hand wuͤnschte. Und nun zur Kritik der Deutschen. 105. M angel an Kritik sollte die Krankheit nicht seyn, an der der Deutsche litte; unsre Langsamkeit, unsre ruhige Ueberlegung macht uns, daͤchte ich, zu gebohrnen Kunst- richtern. Gesunder Verstand war von jeher das Lob, nach welchem der Deutsche strebte. Hundert Spruͤchwoͤrter und Redarten uns- rer Sprache zeigen, daß wir auch im gemei- nen Leben es auf ein Richtmaas der Sit- ten treu und ehrlich anlegten. Und wir hatten Muth, unser Urtheil zu sagen. Die Reformation, die von K 2 Deutschland ausging, war eine laut- und scharfgesagte Kritik uͤber eine Menge da- mals geltenden Unfugs. So lange diese Streitigkeiten dauerten, uͤbten wir Kritik Angrifs- und Vertheidigungsweise; andre Nationen folgten uns nach. Und zwar thaten wir dies, (wenige vielleicht noͤthige Faͤlle ausgenommen) mit einer Bescheidenheit, in der uns andre Na- tionen eben nicht nachfolgten. Unter allen Reformatoren der Philosophie z. B. war Leibnitz der bescheidenste Reformator. Alle Systeme der Alten, glaubte er, ließen sich vereinigen, weil in Jedem Etwas Wahres und Vorzuͤgliches sei; eine solche friedliche Vereinigung war von Jugend auf der Lieblingsplan unsres Weisen. Mit unuͤberwindlicher Gelassenheit stellete er seine Meinungen mit den Meinungen Des - Cartes , Shaftesburi , Locke , Newton 's zusammen; vor so partheiischen Ohren der letzte Streit gefuͤhrt ward, blieb seine Kritik dennoch eben so vest als be- scheiden. Ich bewundere die Geduld, die er sich zu Vereinigung der Kirchen in Be- antwortung theologischer Zweifel nahm; er antwortete Jedem, wie Ers fassen und ertragen konnte. Mit Leibnitz starb dieser Geist philo- sophischer, friedlicher Kritik nicht aus; auch Wolf und seine Schuͤler erwiesen ihn selbst gegen ihre bittersten Feinde. Allen Freunden der Leibnitzischen Denkart ist eine gesunde Kritik heilig, weil sie sich in der Mathematik an Genauigkeit der Begriffe und des Ausdrucks gewoͤhnt ha- ben und keine menschliche Wissenschaft ver- achten. Der friedliche Alexander Gott - lieb Baumgarten ward mit seiner sel- tenen fast aͤngstlichen Praͤcision, ohne daß ers wußte und wollte, der Vater einer Schule aͤchter Kritik, auch der schoͤnen Wissenschaften und Kuͤnste in Deutschland. Lambert und Kant haben ihre Archi- tektonik und Kritik an seinen Lehrbuͤchern geschaͤrfet. — Wie nun? und dennoch haͤtte Ihr Vorwurf Grund, daß eben in diesem Felde, der Region des Geschmacks und Vortra- ges in Deutschland eine partheiische Kritik mit falschem Maas und Gewicht handle? Sie klagen die Gutmuͤthigkeit unsrer Na- tion an, die sich Alles gefallen lasse, Alles ertrage und dulde. — Mich duͤnkt, die Geschichte der Zeit gebe hieruͤber einige Auskunft. Als Opitz , Logau , Tscherning u. f. im bessern Geschmack zu schreiben anfingen, warfen sie sich nicht zu Richtern jedes fremden Geschmacks auf; ihre Werke waren Kritik; die Anweisungen, die Opitz und seine Nachfolger gaben, betrafen mei- stens nur Sprache und Verskunst. Und sie haben hierinn auf eine fried- liche Art viel geleistet. Wenn ich Schot - tels , Stielers , Frisch , Boͤdikers , Wachters , Haltaus u. a. stille Ver- dienste um unsre Sprache mit den hefti- gen und Nutzlosen Streitigkeiten unwissen- der Schriftsteller in den folgenden Zeiten vergleiche: so sehe ich dort fleißige Ameisen und Bienen zusammentragen, hier laute Wespen schwirren und stechen. Es ist wahr, man lobte sich damals etwas zu viel unter einander; die Glieder der Frucht- bringenden Gesellschaft, des Blumen- und Schwanen-Ordens u. f. munterten sich einander durch gegenseitiges, oft zu reiches Lob auf. War dies indessen nicht sehr ver- zeihlich? Nach so langen Truͤbsalen theo- logischer Streitigkeiten und des dreissig- jaͤhrigen Krieges freueten sich diese alten Kinder, daß sie auch eine Sprache haͤtten, in der sie schreiben und reimen koͤnnten; und ist nicht viel, viel Gutes durch die Mitglieder dieser Gesellschaften bewirkt worden? Wie viele schreiben denn jetzt in Prose, wie Zinkgraͤf , Opitz , Hars - doͤrfer , Rist , Lohenstein u. a. schrie- ben? — Lasset uns doch die guten Bemuͤ- hungen unsrer Vorfahren nicht verkennen! auch uͤber uns wird man einst als uͤber Vorfahren richten. Es ist schon bemerkt worden, daß an der franzoͤsischen Sprachenmengerei und an dem Italiaͤnisch-falschen Geschmack, der im Anfange unsres jetzt abgehenden Jahrhunderts einriß, eigentlich die Deut - schen Hoͤfe Schuld waren. Ihnen be- quemten sich die Schriftsteller; und auch Leibnitz , der zu Fortbildung der Deut- schen Sprache so vortrefliche Grundsaͤtze nicht nur hatte, sondern auch bei der Aka- demie in Gang bringen wollte, auch Er schrieb ein Deutsch, das seiner Zeit gemaͤß war. Noch mehr frohnten Christian Thomasius , Tenzel u. a diesem Ge- schmack, der damals fuͤr Artigkeit galt; daher Thomasius die gesunde Kritik, die er an die Rechtswissenschaft, und an- dre Scienzen wandte, auf den Geschmack nicht anwenden konnte. Canitz , als Hof- mann, gab nur durch seine Gedichte, de- ren wenigste leider zu uns gekommen sind, ein besseres Muster. Der Erste, der mit scharfen Pfeilen auf den Lohensteinischen Geschmack losging, war meines Wissens Wernike , ein Preuße. In England und Frankreich an einen bes- sern Geschmack gewoͤhnt, wollte er sowohl durch seine Sinngedichte, (Ueberschriften) als durch die Anmerkungen, mit denen er sie begleitete, diesen auch den Deutschen zu kosten geben. Nicht mit vielem Erfolg: denn seine Ueberschriften waren hart, und die Anmerkungen doch nur Spoͤttereien. Sollte man an Jene, die Ueberschriften naͤmlich, das Maas der Griechen und Roͤ- mer legen, wie viel Ueberwitz, wie man- cher falsche, erzwungene Zierrath muͤßte hinweggethan werden, auf welchen er doch, wie die verschiedenen Ausgaben derselben zeigen, selbst den muͤhsamsten Fleiß gewen- det. Also war auch sein Geschmack bei weitem nicht rein und vollendet. Die Hofverse dauerten fort, bis fern von Hoͤfen in seinem Garten Brockes die Natur und eben so fern von Hoͤfen Bodmer und Breitinger Sitten mahl- ten. Immer bleibt Deutschland diesen Re- formatoren des Geschmacks, so wie den Hamburgischen Patrioten Dank schul- dig; sie thaten, was sie zu ihrer Zeit thun konnten. Breitingers Dichtkunst und Abhandlungen zeigen durchaus einen Ken- ner der Alten, der seinen Geschmack an ihnen bewaͤhrt hat; auch Bodmers Be- muͤhungen aus neueren sowohl auslaͤndi- schen, als unsrer alten Deutschen Sprache uns einen groͤßeren Reichthum an Gedan- ken, Bildern, Fabeln, Einkleidungen und Ausdruͤcken als Kunstrichter und Dich- ter zuzufuͤhren, haben ihren Zweck nicht verfehlet. Er hat viel aufgeregt, und sich fast uͤber Vermoͤgen bemuͤhet, indem er bis in sein greises Alter wie der frischeste Juͤngling an jedem neuen Product unsrer Sprache Theil nahm. Warum aber mußte diese Kritik, die doch Philosophie ist, und ein besserer Ge- schmack am Schoͤnen und Guten durch einen unwuͤrdigen Federkrieg eingefuͤhrt werden? That nicht auch Gottsched was er thun konnte? Die Weisesten in diesem Streit, Haller und Hagedorn , schwie- gen. Der Erste hat auch als Prosaist so viel Verdienst um den bessern Geschmack im Vortrage der Wissenschaften, daß ihm auch die Deutsche Kritik vielleicht den Er- sten Kranz reichet. Mitten unter stuͤrmi- schen Faktionen brachte er ein schmales Blatt Deutscher Kritik unter den Schutz einer Societaͤt der Wissenschaften selbst und gruͤndete ihm dadurch nicht nur Unpartheilichkeit, Billigkeit und Gleich- muth, sondern auch Theilnahme am Fort- gange des menschlichen Geistes in allen Weltgegenden und Sprachen. Seitdem sind die Goͤttingischen gelehrten An - zeigen nicht nur Annalen , sondern auch Befoͤrderinnen und, ohne ein Tribunal zu seyn, consularische Fasten und Huͤlfsquellen der Wissenschaft worden, zu denen man, wenn manche einseitige Kritik verstummt ist, wie durch Lybische Wuͤsten zum stillen Kaͤnntnißgebenden Ora- kel der Wissenschaft reiset, und dabei im- mer noch Hallers und seiner Nachfolger Namen segnet. Die Trommete war erklungen; es war bestimmt, daß der bessere Geschmack der Deutschen im Schlachtgetuͤmmel empfan- gen und gebohren werden sollte. Wo zwei streiten, gewinnet der Dritte. Nikolai schrieb seine Briefe uͤber den Zustand der schoͤnen Wissenschaften in Deutschland, mit Uebersicht der Fehler von beiden Seiten: denn schon hatten waͤhrend dieses langen Streits mehrere Schrifsteller von Genie das, woruͤber man stritt, durch die That entschieden. Leßing war Einer von ihnen. Seine mancherlei Vorzuͤge an Kaͤnntnissen, Geschmack und Schreibart gaben ihm ohne sein Wollen das natuͤrliche und erworbene Recht, durch ein Weniges, der Anfang zu Vielem zu seyn, das wohl nicht sein Plan war. Durch Nicolai , Mendel - sohn und Ihn fing die Bibliothek der schoͤnen Wissenschaften , durch Ihn , Mendelsohn und Nicolai fingen die Literaturbriefe an; unstreitig mit einem Urtheil von feinerer Bestimmtheit, in einem groͤßeren Umfang von Ideen und einer schaͤrferen Unpartheilichkeit als jene Par- theien geaͤußert hatten. Der Bibliothek nahm sich, nachdem ihre Urheber vom Werk abtraten, ein Schriftsteller an, der als Dramatischer und Lyrischer Dichter unsrer Nation werth geworden ist, Weiße . Winkelmann , Hagedorn , Heyne , Garve u. a. machten sie, eine Reihe von Jahren hindurch, (in den neuesten Jahren kenne ich sie nicht) zu einer Leiterin des guten Geschmacks, die uns zugleich das Merkwuͤrdigste fremder Nationen bekannt machte. Die Literaturbriefe, zu welchem nach Leßings Entfernung Abbt beitrat, thaten dadurch einen merklichen Schritt weiter, daß sie bei strengem Tadel selbst oft eigene bessere Ideen entwickelten und in der gewaͤhlten Form einer Privatcorre- spondenz keine Orakel der Welt seyn woll- ten. Leßing insonderheit war ein bescheid- ner, gegen andre, auch wo er es nicht seyn dorfte, ein nachgebender Mann und Mendelsohn , wenn ihn die Juͤnger der zehnten neueren Philosophie als Philoso- phen ganz zum Kinde werden gemacht ha- ben, wird in der philosophischen Kritik Deutschlands lange noch als ein schaͤtzba- rer, verdienter Name gelten . Was nach diesen Zeiten geschehen sei, weiß ich nicht; da ich außer einem kleinen Blatt gewoͤhnlich kein kritisches Deutsches Journal lese. Vernommen habe ich, daß man seitdem alles umfasset und dazu aus allen Ecken Kunstrichter versammelt habe; wie sie gerichtet haben, wie sie richten und richten werden, ist mir voͤllig fremde. Zu beklagen waͤre es freilich, wenn auf die- sem Wege alle Kritik in Deutschland Ge- wicht und Glauben verlohren haͤtte, wel- ches ich aber weder hoffe noch glaube. Laß es seyn, daß zuweilen unbaͤrtge Juͤng- linge, denen, von denen sie gelernt hat- ten, das Kinn rasiren, um doch auch an ihnen beruͤhmt zu werden; jeder honette Mann, der da sieht, wie mit seinem Nach- bar gehandelt wird und wer also handelt, wird wird sich allmaͤhlich aus diesen anonymi- schen Becken-Stuben zuruͤckziehen, und so thut auch hier die Zeit ihr Werk; sie uͤbt eine scharfe Kritik an der Kritik der Zeiten. Wir, meine Freunde, die wir nicht zu Dictatoren der sinkenden Republik we- gen bestellet sind, wollen von uns selbst, von den Alten, von unsern Freunden und Feinden und von Jedem lernen, der Gruͤn- de giebt und mit offnem Visier redet. Achte Samml. L 106. A uch die Kritik ist ohne Genius nichts. Nur ein Genie kann das Andre beurthei- len und lehren. Nur der, der selbst Kaͤnnt- nisse hat und Kraͤfte zeigt, kann Kraͤfte wecken und Kaͤnntnisse befoͤrdern. Seit geraumer Zeit, wie unbekannt sind wir z. B. mit den schaͤtzbarsten Pro- dukten des Auslandes selbst im Felde der Kritik geblieben! Leßing uͤbersetzte War - tons Versuch uͤber Pope ; der zweite Theil, im Jahr 1782 erschienen, ist uns auch nicht im Auszuge bekannt worden. Eschenburg gab in seinem Britti - schen Museum ein paar Abhandlungen aus Wartons Geschichte der Eng - lischen Dichtkunst; einen Auszug des gan- zen Werks, so wie andrer nuͤtzlichen Werke uͤber diesen Gegenstand, konnte er nicht ge- ben: denn sein Museum selbst verschloß sich. Blankenburg gab den Anfang von Johnsons Lebensbeschreibungen der Eng- lischen Dichter, ein Werk voll Kritik, lehr- reich auch fuͤr uns Deutsche, obgleich nichts weniger als unpartheilich; die Fort- setzung unterblieb. Eschenburg gab uns Browns Buch uͤber die Verbindung der Poesie und Mu- sik; Browns wichtigeres Werk uͤber die Sitten , das bereits im Jahr 1757. her- auskam und als ein schreckender Spiegel viel Aufsehen erregte, ist noch nicht uͤber- setzt worden. L 2 So viel interessante Aufsaͤtze aus Hen - ry 's, aus Littletons Geschichte, manche auch fuͤr uns merkwuͤrdige Abhandlung aus den Societaͤten der Alterthumsforscher, imgleichen von Dublin , Edinburg , Manchester , den Transactionen u. f. sind da, als ob sie fuͤr uns nicht waͤren. Auch mit Georg Forster wie viel ist uns in diesem Betracht gestorben! Ein boͤser Genius scheint sein Spiel zu ha- ben, indem er (und wogegen?) den Faden zu zerreissen sucht, der uns mit den Ge- danken andrer Nationen verknuͤpfet. Wir sollen auf unserm eignen Grunde meta- physiciren, oder uns damit bemuͤhen, wo- mit sich andre laͤngst bemuͤhet haben. Hierhin sollte die Kritik wirken! uns ins Universum saͤmmtlicher gebildeten Na- tionen versetzen, und auf unserm einsamen Gange von ihnen uns Licht und Huͤlfe zufoͤrdern. Ueberhaupt glaube ich, daß dem Charakter unsrer Nation nach die Kritik durchaus belehrend, foͤrdernd, gut- muͤthig, human seyn muͤßte; nur auf diesem Wege kann sie etwas und wuͤrde gewiß viel erreichen. Unsrer gelehrten Re- publik mangelt aͤußere Aufmunterung und Achtung; wollte sie sich zum Spott der Unwissenden, und zur allgemeinen Verach- tung machen, indem sie sich selbst verspot- tet, wuͤrget und auffrißt? Gnug von der Kritik. Sie aͤusserten den merkwuͤrdigen Gedanken, daß die Poe- sie der Deutschen eine Kinderpoësie sei; ich hoffe, sie soll es bleiben. So ihr (im guten Verstande) nicht werdet wie die Kinder : so ist weder Tempe noch Elysium fuͤr euch. Vor allen Dingen verschonen Sie die Poesie mit Staatsmaͤnnern, die uͤber sie richten; das Reich der Poesie ist nicht die Staatswelt. Wenn Sophokles seinen Oedipus mit der Scene des flehenden Volks eroͤf- net; die Pest wuͤthet; ein geheimes Ver- brechen ruht auf dem Vaterlande; Juͤng- linge und Greise jammern: so ist diese Situation ganz menschlich. Ob Oedipus oder Lajus regiere, kuͤmmert mich nicht; daß aber um Eines Verbrechers willen das ganze Volk leide, diese Scene eroͤfnet ein Trauerspiel wuͤrdig. Wenn Aristophanes Scenen der Menschheit darstellt, weßwegen Friede ge- macht werden muͤsse : so ist dies ein Ge- genstand der Muse. Ob aber Kreon der Wurstmacher, oder Kreon der Riemen- schneider das Volk lenke; diese politische Wichtigkeit ist der poetischen Muse sehr gleichguͤltig. Nichts verunreinigt den heiligen Quell mehr, als politischer Partheigeist; er macht die Muse zur Luͤgnerin, partheiisch, uͤber- treibend, am jetzigen Augenblick als an einer Ewigkeit hangend, und ihm damit die Ewigkeit ertheilend. Die Tochter des Him- mels wird unter den Haͤnden der Politik eine kurzsichtige, leidenschaftliche Verlaͤum- derin, ein Kind der Erde. Die politische Poesie der Englaͤnder sei davon ein Bei- spiel. Warum hat Butler den Ruhm nicht erlangt, den sein Hudibras so sehr verdienet? Das Witzreiche Gedicht ist fuͤr ein bloßes Gespoͤtt zu lang, fuͤr die darinn enthaltene Lehre und Warnung zu sehr mit Zeit-Anspielungen uͤberhaͤuft, zu politisch . Jenes gewaltige Vernunft - Genie , Swift , was hat ihn fuͤr den groͤßesten Theil der Nachwelt unbrauchbar gemacht? Die politischen Umstaͤnde, aus welchen er sein Gespinnst zog, und in wel- che er seine koͤstlichen Gedanken webte. Die Politik der damaligen Zeit ist ein Traum worden; es macht uns Muͤhe, je- den seiner tiefen bleibenden Gedanken von einem verlebten Traume zu sondern. Wer lieset jetzt Churchills Gedichte? und wer wird Peter Pindar mit reinem Vergnuͤgen lesen, wenn unsere Zeit vor- bei ist? Beklagen wird man so viel ver- schwendete goldne Talente. Mit Unwillen hoͤre ichs also, wenn man unsrer Nation einen Swift wuͤn- schet, einen Bedaurens- und Hochachtungs- wuͤrdigen Mann, der nur durch Misfaͤlle ward, was er geworden ist, und vom Gluͤck begleitet ein Genius der Gerechtig- keit und der Klugheit geworden waͤre. Und ein Swift in Deutschland? — Hinweg also Politik aus dem Gebiet der Musen! und verwuͤnscht sei jede After- Muse, die der Politik froͤhnet. Treue und Glauben, Unschuld der Sitten, Biederkeit und Einfalt — das seyn unsre Kastaliden! alles andre ist vergaͤngliche Thorheit. Zur Italiaͤnischen acutezza, zur Spanischen grandezza, zur Franzoͤsischen legereté, zum Brittischen high-spirit wird sich der Deut- sche nie hinauf schwingen; was er aber ist und von jeher gewesen, davon ist seine eigne Geschichte eine durch Jahrhunderte erprobte Stimme der Wahrheit. Was alle Dichter singen, wohin sie wider Wil- len streben, was ihnen am meisten gluͤckt, was bei denen, die sie lesen und hoͤren, die groͤßeste Wirkung hervorbringt, das ist Charakter der Nation, wenn er auch als eine unbehauene Statue noch im Mar- morblock dalaͤge. Dies ist Vernunft , reine Humanitaͤt , Einfalt , Treue und Wahrheit . Wohl uns, daß uns dies sittliche Gefuͤhl ward, daß dieser Cha- rakter gleichsam von unsrer Sprache un- abtrennlich ist, ja daß uns nichts gelingen will, wenn wir aus ihm schreiten. Lehr- geld in erzwungenen Nachaͤffungen haben wir gnug gegeben. Mit diesem Charakter wieviel koͤnnen wir entbehren! Wenn andre Nationen sich im Geschmack hie und dorthin verirrten, so wird unsre Regel feststehn, die im Mannichfaltigsten die wahreste Einfalt sucht und uns die Poesie seyn laͤßt, was sie seyn soll, ein Spiegel der Na- tur und Sitten, Humanitaͤt im gefaͤl- ligsten reinsten Gewande, Philosophie des Lebens. Dies war einst Orpheus und Apollo's Kunst. 107. Neuntes Fragment . Resultat der Vergleichung der Poesie verschie- dener Voͤlker alter und neuer Zeit. D ie Poesie ist ein Proteus unter den Voͤlkern; sie verwandelt ihre Gestalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Accent der Voͤlker. Wie Nationen wandern, wie sich die Sprachen mischen und aͤndern, wie neue Gegenstaͤnde die Menschen ruͤhren, wie ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre Uebungen ein andres Ziel nehmen, wie in der Zusammensetzung der Bilder und Be- griffe, neue Vorbilder auf sie wirken, selbst wie die Zunge, dies kleine Glied, sich anders beweget und das Ohr sich an an- dre Toͤne gewoͤhnt: so veraͤndert sich die Dichtkunst nicht nur bei verschiedenen Na- tionen, sondern auch bei demselben Volke. Die Poesie zu Homers Zeiten war bei den Griechen ein andres Ding als zu Longins Zeiten, selbst dem Begriff nach. Ganz ein andres wars, was sich der Roͤ- mer und der Moͤnch, der Araber und der Kreuzritter, oder was nach wiedergefun- denen Alten der Gelehrte, und in ver- schiednen Zeitaltern verschiedner Nationen der Dichter und das Volk sich an Poesie denken. Der Name selbst ist ein abge- zogner, so vielfassender Begriff, daß wenn ihm nicht einzelne Faͤlle deutlich unterge- legt werden, er wie ein Trugbild in den Wolken verschwindet. Sehr leer war da- her der Streit uͤber den Vorzug der Alten oder der Neuern , bei welchem man sich wenig Bestimmtes dachte. Er ward noch leerer dadurch, daß man keinen oder einen falschen Maasstab der Vergleichung annahm: denn was sollte hier uͤber den Rang entscheiden? Die Kunst der Poesie, als Object ? wie viel feine Bestimmungen gehoͤrten dazu, das Hoͤchste der Vollkommenheit in jeder Art und Gattung nach Ort und Zeit, nach Zweck und Mitteln auszufinden, und auf jedes Verglichene unpartheiisch anzuwen- den! Oder sollte die Kunst des Dichters nach dem Subject betrachtet werden, wie viel Dieser vor Jenem gluͤckliche Gaben der Natur, eine guͤnstigere Lage der Um- staͤnde, mehreren Fleiß in Nutzung dessen, was vor ihm gewesen war, und um ihn lag, ein edleres Ziel, einen weiseren Ge- brauch seiner Kraͤfte dies Ziel zu erreichen zu seinem Eigenthum machte; welch ein andres Meer der Vergleichung! So man- chen Maasstab der Dichter Einer Na- tion oder verschiedener Voͤlker man auf- gestellt hat, so manche vergebliche Arbeit hat man uͤbernommen. Jeder schaͤtzt und ordnet sie nach seinen Lieblingsbegriffen, nach der Art, wie Er sie kennen lernte, nach der Wirkung, die Der und Jener auf ihn machte. Der gebildete Mensch traͤgt, wie sein Ideal der Vollkommenheit, so auch seinen Maasstab diese zu erreichen in sich, den er nicht gern mit einem fremden vertauschet. Keiner Nation doͤrfen wirs also ver- argen, wenn sie vor allen andern ihre Dichter liebt und sie gegen fremde nicht hingeben moͤchte; sie sind ja ihre Dichter. In ihrer Sprache haben sie gedacht, im Kreise ihrer Gegenstaͤnde imaginirt; sie fuͤhlten die Beduͤrfnisse der Nation, in welcher sie erzogen wurden, und kamen diesen zu Huͤlfe. Warum sollte die Nation also nicht auch mit ihnen fuͤhlen, da Ein Band der Sprache, Gedanken, Be- duͤrfnisse und Empfindungen sie vest an einander knuͤpfet. Italiaͤner, Franzosen und Englaͤnder schaͤtzen ihre Dichter, oft mit ungerechter Verachtung andrer Voͤlker partheiisch hoch; der einzige Deutsche hat sich verfuͤhren lassen, das Verdienst fremder Voͤlker, in- sonderheit der Englaͤnder und Franzosen, unmaͤßig zu uͤbertreiben und daruͤber sich selbst zu vernachlaͤßigen. Zwar einem Young , (denn von Shakespeare , Mil - ton , Thomson , Fielding , Goldsmith , Sterne ist hier nicht die Rede) goͤnne ich seine vielleicht etwas uͤberspannte Ver- ehrung bei uns gern, da er durch Eberts Uebersetzung eingefuͤhrt ward; eine Ueber- setzung, die nicht nur alles Verdienst eines Originals hat, sondern auch die Uebertrei- bungen ihres Englischen Originals durch den Bau einer harmonischen Prose und durch die reichen moralischen Anmerkungen aus andern Nationen gleichsam zurecht fuͤ- get und mildert. Sonst aber wird es den Deutschen immer den Vorwurf einer unent- schlossenen Lauigkeit zuziehn, daß die rein- sten Dichter ihrer Sprache in Schulen und bei Erziehung der Jugend uͤberhaupt so vergessen und hintangesetzt werden, wie keine benachbarte Nation es thut. Wo- durch durch soll sich unser Geschmack, unsre Schreibart bilden? wodurch unsre Spra- che bestimmen und regeln, als durch die besten Schriftsteller unsrer Nation? Ja wo- durch sollen wir Patriotismus und Liebe zu unserm Vaterlande erlangen, als durch seine Sprache, durch die vortreflichsten Ge- danken und Empfindungen, die in ihr aus- gedruͤckt, die wie ein Schatz in sie gelegt sind. Gewiß irrten wir nicht nach einem Jahrtausend, in dem unsre Sprache ge- schrieben ist, in manchen Wortfuͤgungen noch jetzt zweifelnd umher, wenn wir von Jugend auf unsre besten Schriftsteller kenn- ten und sie uns zu Fuͤhrern waͤhlten. Indessen soll keine Liebe zu unsrer Na- tion uns hindern, allenthalben das Gute zu erkennen, das nur im großen Gange der Zeiten und Voͤlker fort - schreitend bewirkt werden konnte. Je- Achte Samml. M ner Sultan freuete sich uͤber die vielen Religionen, die in seinem Reich, jede auf ihre Weise Gott verehrten; es kam ihm wie eine schoͤne, bunte Aue vor, auf der mancherlei Blumen bluͤhten. So ists mit der Poesie der Voͤlker und Zeiten auf un- serm Erdrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie der Inbegriff der Fehler und Voll- kommenheiten einer Nation, ein Spiegel ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Hoͤch- sten, nach welchem sie strebte (oratio sen- sitiva animi perfecta.) Diese Gemaͤhlde, (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche Ideale) gegen einander zu stel- len, giebt ein lehrreiches Vergnuͤgen. In dieser Galerie verschiedner Denkarten, An- strebungen und Wuͤnsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem taͤuschenden Trostlosen Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte. In die- ser sehen wir selten mehr von einem Volke, als wie es sich regieren und toͤdten ließ; in jener lernen wir, wie es dachte, was es wuͤnschte und wollte, wie es sich er- freute, und von seinen Lehrern oder von seinen Neigungen gefuͤhrt ward Freilich aber mangeln uns noch viel Huͤlfsmittel zu dieser Uebersicht in die Seelen der Voͤl- ker. Griechen und Roͤmer beiseite gesetzt, hangen uͤber dem Mittelalter, aus wel- chem bei uns Europaͤern doch Alles hervor- ging, noch dunkle Wolken. Meinhards schwacher Versuch uͤber die Italiaͤ - nischen Dichter ist nicht einmal bis auf Taßo forgesetzt, geschweige Etwas aͤhn- liches bei andern Nationen ausgefuͤhrt worden. Ein Versuch uͤber die Spa - nischen Dichter ist mit dem gelehrten Kenner dieser Literatur, dem Herausgeber des Velasquez , Diez , gestorben. M 2 Auf drei Wegen kann man sich eine Uebersicht dieses Blumen- und Fruchtrei- chen Feldes menschlicher Gedanken verschaf- fen, und jeder ist betreten worden. Eschenburgs beliebte Beispielsamm- lung waͤhlet, seiner Theorie gemaͤß, den Weg der Gattungen und Arten ; fuͤr Juͤnglinge ein lehrreicher Weg bei einem geschickten Fuͤhrer: denn oft kann ihn Ein Name, der sehr verschiedene Dinge be- zeichnet, ganz irre leiten. Homers , Vir - gils , Ariosts , Miltons , Klopstocks Werke tragen Einen Namen der Epopee, und sind doch selbst nach dem Kunstbegriff, der in den Werken liegt, geschweige nach dem Geist, der sie beseelet, ganz verschie- dene Productionen. Sophokles , Cor - neille und Shakespeare haben als Trauerspieldichter nur den Namen gemein; der Genius ihrer Darstellungen ist ganz verschieden. So bei allen Gattungen der Dichtkunst, bis zum Epigramm hinun- ter. — Andre haben die Dichter nach Empfin - dungen geordnet, da denn insonderheit Schiller S. die Horen, November December 1795. Januar 1796. viel Feines und Vortrefliches gesagt hat. Allein, wie sehr laufen die Empfindungen in einander! welcher Dich- ter bleibt Einer Empfindungsart dergestalt treu, daß sie seinen Charakter, zumal in verschiednen Werken bezeichnen koͤnnte? Oft ruͤhret er ein Saitenspiel von vielen, ja von allen Toͤnen, die sich eben durch Disharmonieen heben. Die Welt der Em- pfindungen ist ein Geister- oft ein Atomen- reich; nur die Hand des Schoͤpfers ver- mag daraus Gestalten zu ordnen. Die Dritte, wenn ich so sagen darf, Naturmethode ist, jede Blume an ihrem Ort zu lassen, und dort ganz wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. Das demuͤthig- ste Genie hasset Rangordnung und Verglei- chung. Es will lieber der Erste im Dorf seyn, als der Zweite nach Caͤsar. Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Ge- wuͤrzblume; jedes bluͤhet an seiner Stelle in Gottes Ordnung. Man hat die Dichtkunst subjectiv und objectiv , nach den Gegenstaͤnden, die sie schildert, und nach den Empfindungen, mit denen sie Gegenstaͤnde darstellt, geord- net; ein wahrhafter und nuͤtzlicher Gesichts- punkt, der auch zu Charakterisirung ein- zelner Dichter z. B. Homers und Oßi - ans , Thomsons und Kleists u. a. der rechte scheinet. Homer naͤmlich erzaͤhlt die Geschichten seiner Vorwelt ohne merk- liche besondre Theilnehmung; Oßian sin- get sie aus seinem verwundeten Herzen, aus seiner traurig-froͤhlichen Erinnerung. Thomson schildert Jahrszeiten, wie die Natur sie giebt; Kleist singet seinen Fruͤh- ling, mit oft einbrechenden Gedanken an sich und seine Freunde als eine Rhapsodie von Ansichten mit Empfindungen beseelet. Indessen auch dieser Unterschied bezeichnet Dichter und Zeiten der Dichtkunst sehr leise: denn auch Homer nimmt Theil an seinen Gegenstaͤnden, als Grieche, als Er- zaͤhler, wie in den mittleren Zeiten die Balladensaͤnger und Fabliers, wie in neue- ren Zeiten Ariost und Spenser , Cer - vantes und Wieland . Ein Mehreres zu thun waͤre außer seinem Beruf gewe- sen und haͤtte seine Erzaͤhlung gestoͤret. In Anordnung und Bezeichnung seiner Gestalten aber singt auch Homer auf die hoͤchste Weise menschlich; wo es uns nicht also scheinet, liegt der Unterschied an der Denkart der Zeiten und ist sehr erklaͤrbar. Ich getraue mich, in den Griechen jede reine menschliche Gesinnung, vielleicht im schoͤnsten Maas und Ausdruck, aufzufin- den; nur alles an Ort und Stelle. Ari - stoteles Poëtik hat Fabel , Charak - tere , Leidenschaften , Gesinnungen unuͤbertreflich geordnet. Zu allen Zeiten war der Mensch der- selbe; nur er aͤußerte sich jedesmal nach der Verfassung, in der er lebte. Sehr mannichfaltig ist die Poesie der Griechen und Roͤmer! in ihren Wuͤnschen und Kla- gen, in ihren Beschreibungen voll Lust und Freude. So die Poesie der Moͤnche, der Araber, der Neueren. Den großen Unterschied, der zwischen dem Morgen- und Abendlande, zwischen Griechen und uns eintrat, hat keine neue Kategorie, sondern die Vermischung der Voͤlker, der Religionen und Sprachen, endlich der Fortgang der Sitten, der Erfindungen, der Kaͤnntniße und Erfahrungen, bewirket; ein Unterschied, der schwerlich mit Einem Wort auszudruͤcken seyn moͤchte. Wenn ich bei einigen Neuern das Wort Dich - ter aus Reflexion gebrauchte, so war auch dies unvollkommen: denn ein Dichter aus bloßer Reflexion ist eigentlich kein Dichter. Der Poesie Grund und Boden ist Einbildungskraft und Gemuͤth , das Land der Seelen . Ein Ideal der Gluͤckseligkeit, der Schoͤnheit und Wuͤrde, das in deinem Herzen schlummert, wecket sie auf durch Worte und Charaktere; sie ist der Sprache, der Sinne und des Ge- muͤths vollkommenster Ausdruck. Kein Dichter kann dem Gesetz entgehen, das in ihr liegt; er zeigt, was er hat und nicht habe. Auch kann man in ihr Ohr und Auge nicht sondern. Die Poesie ist keine bloße Malerei oder Statuistik, die Gemaͤhlde wie sie sind, ohne Absicht darstellen koͤnnte; sie ist Rede und hat Absicht . Auf den innern Sinn wirket sie, nicht auf das aͤußere Kuͤnstlerauge; und zu jenem innern Sinn gehoͤrt bei einem gebildeten oder zu bildenden Menschen Gemuͤth , morali - sche Natur , mithin bei dem Dichter vernuͤnftige und humane Absicht . Die Rede hat etwas Unendliches in sich; sie macht tiefe Eindruͤcke, die ja eben die Poesie durch ihre harmonische Kunst verstaͤrket. Nie kann also der Dichter blos ein Mahler seyn wollen. Er ist Kuͤnstler vermoͤge der eindringenden Rede, die das Object, das sie mahlt, oder darstellt, auf einen geistigen , moralischen , gleich- sam unendlichen Grund, ins Gemuͤth , in die Seele mahlet. Sollte also nicht auch bei dieser, wie bei allen Reihen fortgesetzter Naturwir- kungen ein Fortgang unumgaͤnglich seyn? Ich zweifle daran, (den Fortgang recht verstanden,) gar nicht. In Sprache und Sitten werden Wir nie Griechen und Roͤ- mer werden; wir wollen es auch nicht seyn. Ob aber der Geist der Poesie durch alle Schwingungen und Eccentricitaͤten, in denen er sich bisher Nationen und Zei- tenweise periodisch bemuͤhet hat, nicht dahin strebe, immer mehr und mehr, so wie jede Grobheit des Gefuͤhls, so auch jeden fal- schen Schmuck abzuwerfen und den Mittel- punkt aller menschlichen Bemuͤhungen zu suchen, naͤmlich die echte , ganze , mo - ralische Natur des Menschen , Phi - losophie des Lebens ? dieses wird mir durch Vergleichung der Zeiten sehr glaub- haft. Auch in Zeiten des groͤßesten Unge- schmacks koͤnnen wir uns nach der großen Regel der Natur sagen: tendimus in Ar- cadiam, tendimus! Nach dem Lande der Einfalt, der Wahrheit und Sitten geht unser Weg.