Neues Organon oder Gedanken uͤber die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Jrrthum und Schein . durch J. H. Lambert. Zweyter Band . Leipzig, bey Johann Wendler , 1764 . Jnhalt des zweyten Bandes. Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Ge- danken und Dinge. Erstes Hauptstuͤck. Von der symbolischen Erkenntniß uͤberhaupt Seite 5 Zweytes Hauptstuͤck. Von der Sprache an sich betrachtet 44 Drittes Hauptstuͤck. Von der Sprache als Zeichen betrachtet 64 Viertes Hauptstuͤck. Von den Zeitwoͤrtern 86 Fuͤnftes Hauptstuͤck. Von den Nennwoͤrtern 102 Sechstes Hauptstuͤck. Von den unveraͤnderlichen Redetheilen 121 Siebentes Hauptstuͤck. Von der Wortforschung 148 Achtes Hauptstuͤck. Von der Wortfuͤgung 165 Neuntes Hauptstuͤck. Von der Art einer Sprache 190 Zehntes Hauptstuͤck. Von dem Hypothetischen der Sprache 201 Phaͤno- Jnhalt des zweyten Bandes. Phaͤnomenologie oder Lehre von dem Schein . Erstes Hauptstuͤck. Von den Arten des Scheins Seite 217 Zweytes Hauptstuͤck. Von dem sinnlichen Schein 237 Drittes Hauptstuͤck. Von dem psychologischen Schein 276 Viertes Hauptstuͤck. Von dem moralischen Schein 300 Fuͤnftes Hauptstuͤck. Von dem Wahrscheinlichen 318 Sechstes Hauptstuͤck. Von der Zeichnung des Scheins 421 Semiotik. Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge. A 2 Semiotik . Erstes Hauptstuͤck. Von der symbolischen Erkenntniß uͤberhaupt. §. 1. D ie genauere Betrachtung der Woͤrter und uͤberhaupt jeder Zeichen, wodurch wir Begriffe und Sachen vorstellen, macht sich einem Weltweisen, der das Wahre vom Falschen zu trennen sucht, aus vielen Gruͤnden nothwendig, und kann daher auch aus der Grundwissenschaft nicht weg- bleiben. Jede Sprache beut uns eine gewisse Anzahl Woͤrter an, mit deren mannichfaltigen Verbindung wir uns lebenslang beschaͤfftigen, theils um unsere Gedan- ken auszudruͤcken, theils um durch neue Verbindungen oder Combinationen der Woͤrter neue Wahrheiten zu suchen. Diese ziemlich bestimmte Anzahl der Woͤrter einer Sprache setzet unserer Erkenntniß, in Absicht auf ihre Ausdehnung, gewissermaßen Schranken, und giebt derselben eine ihr eigene Form oder Gestalt, welche al- lerdings in die Wahrheit selbst einen Einfluß hat, und in allewege die Untersuchung eines Weltweisen ver- A 3 dienet. I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen dienet. Es ist eine auch fuͤr Kenner des Alterthums schwere Arbeit, unsere dermaligen Sprachen in ihrem ersten Ursprunge aufzusuchen. Was uns aber theils die Natur der Sache, theils auch die Geschichte lehret, ist, daß es damit sehr gelegentlich zugegangen, daß die Sprachen jeder wissenschaftlichen Erkenntniß Jahrhun- derte vorgehen, und ihren Ursprung Unstudierten zu danken haben. Jn jeder Sprachlehre wird der Ge- brauch zu reden als ein Tyrann vorgestellet, der tausend Anomalien und Abweichungen von allgemeinen Regeln eingefuͤhret hat, und dessen Eigensinn sich Sprachlehrer und Weltweise bald unbedingt unterwer- fen muͤssen. Man stellet daher die Sprache als eine Democratie vor, wo jeder dazu beytragen kann, wo aber auch alles, gleichsam wie durch die Mehrheit der Stim- men, angenommen oder verworfen wird, ohne daß man sich immer um das Wahre oder Falsche, Richtige oder Unrichtige, Schickliche oder Ungereimte viel umsieht. §. 2. Es sieht demnach mit den Sprachen, von dieser Seite betrachtet, sehr mißlich aus. Sie sind al- lerdings nicht systematische Lehrgebaͤude, wobey alles nach allgemeinen und einfoͤrmigen Regeln waͤre aufge- fuͤhret worden. Man kann sich wohl etwan einen Be- griff einer einfachen und durchaus regelmaͤßigen Spra- che machen. Große Gelehrte haben daran gedacht, sie aber noch nicht gefunden. Man wuͤrde sie auch schwer- lich Unstudierten oder dem gemeinen Volke anvertrauen koͤnnen, weil man fruͤher, als man es gedenken sollte, den Gebrauch zu reden wiederum zum Tyrannen haben wuͤrde. Um desto weniger wird man sich ver- wundern, wenn die wirklichen Sprachen, welche Unstu- dierte zum Urheber haben, von einer solchen einfachen Sprache abweichen, und vielmehr ein Cahos, als etwas Regelmaͤßiges, vorstellen. §. 3. Erkenntniß uͤberhaupt. §. 3. Jndessen, wenn man die wirklichen Spra- chen naͤher betrachtet, so findet sich ungemein viel Meta- physisches und Allgemeines darinnen, |und dieses wird um desto bewundernswuͤrdiger, da man, wenn man auf den Ursprung der Sprachen und ihrer Urheber zuruͤcke geht, wenig oder nichts dergleichen vermuthen sollte, weil man dabey keine Verabredung voraussetzen kann. Man sollte daher gedenken, daß die ersten Ursachen der Sprache an sich schon in der menschlichen Natur sind, und es lohnet sich der Muͤhe, es aufzusuchen. Denn dadurch wird sich entscheiden lassen, was in den Spra- chen nothwendig, natuͤrlich und willkuͤhrlich ist. Ein Unterschied, welcher einem Weltweisen im gering- sten nicht gleichguͤltig seyn kann. §. 4. Das Dechiffriren, wobey wir bereits in der Dianoiologie bey Betrachtung der Hypothesen (§. 555. seqq. ) Erwaͤhnung gethan, zeigt uns ebenfalls, daß es moͤglich ist, eine mit Ziffern geschriebene Schrift zu le- sen, und den Schluͤssel dazu zu finden, und laͤßt vermu- then, daß es eben nicht durchaus unmoͤglich seyn wuͤr- de, ein Buch, das in einer ganz unbekannten Sprache geschrieben waͤre, ohne weitere Beyhuͤlfe uͤbersetzen zu koͤnnen. So giebt uns auch in denen Sprachen, die wir gelernet haben, oͤfters der Zusammenhang den wah- ren Verstand der Woͤrter, und nicht selten auch ihre Bedeutung, die wir bis dahin noch nicht wußten. Oh- ne das Regelmaͤßige in den Sprachen, wuͤrde uns von allen diesen wenig oder nichts moͤglich seyn. §. 5. Aus diesen Betrachtungen, die wir hier nur kurz anfuͤhren, erhellet so viel, daß in den Sprachen Re- geln sind; daß sie aber nicht unbedingt als allgemein angesehen werden koͤnnen, und solglich genauer muͤsse entschieden werden, wie ferne man darauf bauen koͤn- ne. Da wir hier die Sprache, und uͤberhaupt die symbolische Erkenntniß in so ferne betrachten werden, A 4 als I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen als sie einen Einfluß auf die Wahrheit hat; so werden wir uns vornehmlich bey dem Philosophischen, welches in der Sprache und andern Zeichen unserer Erkennt- niß ist, aufhalten, und das Grammatische nur in so weit mitnehmen, als es dazu dienet. §. 6. Das erste, so sich uns hier anbeut, ist die Un- tersuchung der Nothwendigkeit der symbolischen Er- kenntniß uͤberhaupt, und der Sprache besonders. Zu diesem Ende koͤnnen wir die bereits in der Alethiologie (§. 15. seqq. ) gemachte Anmerkung wiederholen, daß wir die klaren Begriffe, so wir durch die aͤus- sern Sinnen erlangen, wachend nicht in ihrer voͤlligen Klarheit erneuern koͤnnen, es sey denn durch die Erneuerung der Empfindung. Wir koͤnnen diesen Satz eben so unter die Postulata rechnen, wie wir (§. 163. Alethiol.) den Satz des Widerspruches unter dieselben gerechnet haben. Man versuche es naͤmlich, ob man wachend von Licht, Farben, Schall, und jeden andern Gegenstaͤnden der aͤußern Sinnen, ohne die Erneuerung der Em- pfindung, den klaren Begriff erneuern koͤnne. Es wird nicht angehen. Was in Ansehung der Figuren hierbey zu erinnern, haben wir bereits in der Alethiologie §. 17. angezeigt. Die Erneuerung ihrer Vorstellung ist moͤglich, weil die Bewegung in unserer Gewalt ist. Sie ist aber auch nur in so ferne moͤglich, als wir dem Unwisse der Figur, ich sage nicht in Ge- danken, sondern durch die Bewegung der Augen, Haͤn- de ꝛc. nachfahren koͤnnen, und folglich, so fern uns dieser Unwiß bekannt, oder die Bewegung angewoͤhnet ist. §. 7. Da wir demnach die klaren Begriffe durch die Wiederholung der Empfindung erneuern muͤssen, so bleiben sie uns ohne diese Wiederholung nur dunkel. Der Traum zeigt uns, daß sie klar werden koͤnnen, wenn es staͤrkere Empfindungen nicht hindern, und wenn Erkenntniß uͤberhaupt. wenn ihre Aufklaͤrung veranlaßt wird. Wir nehmen dieses hier schlechthin als eine Erfahrung an. Die Veranlassung kann auch im Wachen da seyn: allein die Aufklaͤrung geht nicht von statten. Und dieses wuͤrde uns, wenn wir keine Sprache noch Zeichen der Begriffe haͤtten, Zeichen zu gebrauchen noͤthigen. Wir wuͤrden immer Simulacra durch Gebaͤrden, Bewegung ꝛc. su- chen, um den Begriff, der dunkel in der Seele ist, und zu dessen Aufklaͤrung die Veranlassung da ist, aufzu- klaͤren, oder wenigstens uns selbst oder andern anzu- deuten. Das Aufklaͤren geht bey Zahlen, Figu- ren und Bewegung mehr oder weniger an; bey Far- ben, Geruch, Geschmack, Waͤrme ꝛc. wuͤrden wir es bey bloßen Zeichen muͤssen bewenden lassen, so oft die Em- pfindung selbst nicht koͤnnte erneuert werden. §. 8. Da die eigentlich klaren Begriffe nur bey den Empfindungen statt haben, so ist nothwendig, daß sol- che Zeichen ebenfalls von der Art seyn muͤssen, daß wir sie jedesmal und nach Belieben wieder empfinden koͤn- nen. Denn nicht nur wird dadurch der Begriff des Zeichens klar, sondern, weil staͤrkere Empfindungen die schwaͤchern unterdruͤcken, so koͤnnen wir auch ohne Muͤ- he die Aufmerksamkeit darauf richten, und das Zeichen erinnert uns an den Begriff, dessen wir uns zwar ohne Empfindung nicht klar bewußt sind, den wir aber, so bald die Empfindung erneuert wird, wieder erkennen koͤnnen. Dieses ist alles, was wir uns vorstellen, wenn wir, ohne die Empfindung zu erneuern, an den Be- griff roth, weiß, gruͤn ꝛc. oder an eine Terz, Quart, Quint, Octave ꝛc. oder an suͤß, bitter, sauer ꝛc. ge- denken. §. 9. Die Empfindungen, die am meisten in unse- rer Gewalt sind, sind die Bewegungen des Leibes, die Figuren oder Zeichnungen, und die artikulir- ten Toͤne. Wir gebrauchen sie auch wirklich alle drey A 5 zu I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen zu Zeichen der Gedanken, deren Empfindung wir nicht jedesmal erneuern koͤnnen. Die Gebaͤrden werden besonders bey Rednern als eine Belebung der Spra- che erfordert, und sind bey den Affecten sehr natuͤrlich. Taube und Stumme sind dazu eingeschraͤnkt, daß sie sich nicht wohl anders, als durch Deutungen mit den Haͤnden und Gebaͤrden, koͤnnen zu verstehen geben. Die Schriften der Chineser sind Figuren, wodurch sie ih- re Begriffe vorstellen. Die Hieroglyphen der Ae- gyptier waren ebenfalls solche. Jn der Astronomie, Chymie, Algeber, Musik, Choreographie ꝛc. kommen solche ebenfalls vor. Unsere Buchstaben sind Zei- chen artikulirter Toͤne, und daher die geschriebe- nen Woͤrter nur mittelbare Zeichen der Begriffe. Alle diese Zeichen sind vornehmlich fuͤr das Auge, und daher sind sie des Nachts oder im Dunkeln von weni- gem oder gar keinem Gebrauche. Jn dieser Absicht hat demnach der Schall und die Rede einen Vor- zug, der sie immer und nothwendig zum Zeichen unse- rer Begriffe machen wird. Denn nicht nur ist das Reden leicht, hurtig und vernehmlich, sondern es ist auch nicht an die Abwechselung der Tages- und Jahres- zeiten gebunden. §. 10. So lange die Sache, welche ein Zeichen vorstel- let, nicht gegenwaͤrtig ist, noch von uns empfunden wird, haben wir nur den Begriff des Zeichens klar, weil wir in der That keine andere unmittelbare Zeichen waͤh- len koͤnnen, als solche, die in Empfindungen bestehen. Denn waͤhleten wir Zeichen, die wir nicht immer wie- der empfinden koͤnnten, so wuͤrde der Begriff desselben in seiner Abwesenheit uns eben so dunkel bleiben, als der Begriff der ebenfalls abwesenden Sache, die das Zeichen vorstellet, und wir muͤßten ein neues Zeichen annehmen, welches wir empfinden koͤnnten. §. 11. Erkenntniß uͤberhaupt. §. 11. Bey der Empfindung des Zeichens ist das Bewußtseyn, daß es diese oder jene Sache, diesen oder jenen Begriff vorstelle, und dieses Bewußtseyn ist eben- falls nur dunkel, so lange wir die Sache nicht selbst empfinden. Diese Dunkelheit des Bewußtseyns der bedeuteten Sache hat ihre Stufen, welches daraus er- hellet, daß wir zuweilen Muͤhe haben, uns darauf zu besinnen, und es etwan auch vollends vergessen. Eben dieses hat auch hinwiederum bey den Zeichen statt, weil wir uns zuweilen auf ein Wort besinnen muͤssen, diesen oder jenen Begriff oder Sache zu benennen und aus- zudruͤcken. §. 12. Aus den bisherigen Betrachtungen erhellet nun, daß die symbolische Erkenntniß uns ein unentbehrliches Huͤlfsmittel zum Denken ist. Denn da wir, ohne die Empfindung der Sache zu er- neuern, den Begriff derselben wachend nicht aufklaͤren koͤnnen, wie es etwan im Traume geschieht; (§. 6.) so wuͤrden wir ohne die Zeichen der Begriffe, entweder von jeder gegenwaͤrtigen Empfindung hingerissen wer- den, und uns hoͤchstens nur der aͤhnlichen Empfindung dunkel bewußt seyn, oder von andern vormals gehabten Empfindungen nur ein dunkeles und fluͤchtiges Bewußt- seyn haben, welches uns aber wenig dienen wuͤrde, wenn wir es nicht an Zeichen binden koͤnnten, deren Empfin- dung wir erneuern, und die Aufmerksamkeit ganz dar- auf richten koͤnnten. §. 13. Daß wir ohne solche Zeichen anderen unsere Begriffe nicht mittheilen koͤnnen, ist an sich so klar, daß es keines Beweises bedarf. Es macht aber den zwey- ten Theil des Beweises von der Nothwendigkeit der Zeichen oder der symbolischen Erkenntniß aus. §. 14. Daß ferner die Rede dazu ein solches Mittel ist, welches wir immer und am leichtesten in un- serer Gewalt haben, erhellet aus der (§. 9.) angegebe- nen I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen nen Zergliederung der Mittel zu solchen Zeichen derge- stalt, daß, ungeachtet wir auch Bewegung und Figu- ren dazu gebrauchen koͤnnen, die Rede selbst dennoch unentbehrlich bleibt, und uns den Vorzug giebt, den Redende uͤber Taube und Stumme haben. §. 15. Bey so bewandten Sachen ist nicht zu zwei- feln, daß nicht die Natur des Menschen ganz dazu ein- gerichtet seyn sollte. Jn der That umgiebt uns die Luft, welche den Schall fortpflanzet, aller Orten, und so, daß wir ohne dieselbe nicht leben koͤnnten. Die mei- sten lernen von dem muͤndlichen Vortrage leichter, als wenn sie eben denselben lesen muͤßten, und viele koͤnnen, ohne laut zu lesen, mit dem Lesen nicht fortkommen. Der Schall ist ferner von der Art, daß man selten ge- noͤthigt ist, das Ohr nach demselben zu wenden, wie wir das Auge gegen die Sache richten muͤssen: und da die Graͤnzen des deutlichen Sehens innerhalb wenigen Zol- len enthalten sind, so koͤnnen wir den Schall in ungleich groͤßern Entfernungen vernehmlich hoͤren, und die Re- de durch merklich viele Stuffen verstaͤrken ꝛc. §. 16. Die Zeichen thun uns ferner den Dienst, daß dadurch alle unser Denken in eine unun- terbrochene Reihe von Empfindungen und klaren Vorstellungen verwandelt wird. Denn wir koͤnnen keine andere Zeichen gebrauchen, als solche, die empfunden werden koͤnnen (§. 10). So lange wir nun keine Zeichen empfinden, sind wir uns im Wachen jeder andern staͤrkern Empfindung bewußt. Demnach gehen uns Empfindungen nie ab. §. 17. Da wir ferner weder immer die Dinge em- pfinden, an welche wir denken, und viele Abstracta nicht empfunden werden koͤnnen, so fuͤllet die Empfindung der Zeichen die meisten Luͤcken in unserem Denken aus, und besonders ist unsere allgemeine oder abstracte Erkennt- Erkenntniß uͤberhaupt. Erkenntniß durchaus symbolisch, weil alles, was wir un- mittelbar empfinden koͤnnen, individual ist. §. 18. Hier koͤmmt uns nun das zu statten, was wir in der Alethiologie von der Vergleichung der Jn- tellectualwelt und Koͤrperwelt angemerkt haben. (§. 46. seqq. l. cit. ) Der Eindruck, den die Objecte der verschie- denen Sinnen und des Verstandes in uns machen, ist eigentlich die Grundlage zu unserer symbolischen Er- kenntniß. So gedenken wir hohe Gebaͤude, hohe Toͤ- ne, hohe rothe Farbe, hohe Gedanken, hohe Wuͤrden ꝛc. wegen gewisser Aehnlichkeiten des Eindruckes, den diese Dinge in uns machen, die von ganz verschiedenen Sin- nen herruͤhren. Die Folge, die wir daraus ziehen, ist diese, daß, wenn unter den articulirten Toͤnen eine solche Mannichfaltigkeit des Eindruckes waͤre, wie unter den Objecten jeder andern Sinnen; wenn ferner durchaus kenntliche Aehnlichkeiten unter diesen Eindruͤcken statt haͤtten, und wenn endlich jede Sache bey allen Menschen einerley staͤrkere Eindruͤcke machten, daß, sage ich, in solchen Umstaͤnden eine natuͤrliche Sprache gar wohl wuͤrde moͤglich seyn. Denn da wir gleichsam genoͤthigt sind, zu unsern Begriffen und Empfindungen Simula- cra zu suchen, (§. 7.) so ist klar, daß uns auch bey je- den gesehenen oder empfundenen Dingen, die denselben entsprechenden, oder wegen Aehnlichkeit des Eindruckes damit harmonirenden articulirten Toͤne, zu Zeichen die- nen wuͤrden. §. 19. So sind nun allerdings unsere Sprachen nicht beschaffen, und es waͤre zu weitlaͤuftig, zu untersuchen, welche Woͤrter und in welchen Sprachen sie eine merk- lichere Aehnlichkeit zu der bedeuteten Sache haben. Man muͤßte zu den allerersten Primitiuis oder Wurzel- woͤrtern zuruͤcke gehen, und ihre urspruͤngliche Bedeu- tung wissen, oder gar den Anlaß kennen, bey welchem sie das erstemal sind gebraucht worden, wenn man sehen I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen sehen wollte, ob der erste Eindruck des Wortes und der Sache etwas aͤhnliches habe. Verschiedene Jnterjectio- nen, z. E. ach! o! he! ey! ꝛc. weil sie Wirkungen, und daher natuͤrliche Zeichen von Affecten sind, schei- nen bey dieser Untersuchung sich zuerst anzubieten. §. 20. Wir koͤnnen daher die Woͤrter, und beson- ders die Wurzelwoͤrter der Sprachen, nicht wohl anders, als willkuͤhrliche Zeichen der Sachen und Begriffe ansehen, wenn wir ihre eigene Bedeutung nehmen. Hingegen haben sie als Metaphern, wobey naͤmlich die eigene Bedeutung schon vorausgesetzt wird, bereits mehr Aehnlichkeiten. Diese bestehen aber nicht in der Ver- gleichung des Eindruckes, den das Wort und die Sache macht, sondern in demjenigen, welchen die Dinge ma- chen, die man durch die Metapher benennt. Eben die- ses ist auch von den abgeleiteten und zusammengesetzten Woͤrtern zu verstehen, so fern naͤmlich die urspruͤngliche Bedeutung der Wurzelwoͤrter noch bekannt ist, und der Gebrauch zu reden keine Anomalie eingefuͤhrt hat. §. 21. Da wir von abwesenden oder auch an sich unempfindbaren Dingen, uns nur der Woͤrter oder Zei- chen klar, des dadurch vorgestellten Begriffes oder Sache nur dunkel bewußt sind; (§. 12.) so kann es gar wohl geschehen, daß wir in der That nichts als Woͤrter denken, und uns nur einbilden, daß ein realer, wahrer, richtiger Begriff dabey zum Grunde liege. Und die Faͤlle sind eben nicht gar selten, wo wir bey genauerer Untersuchung sinden, daß wir unmoͤgliches Zeug uns als wahr und moͤglich vorgestellt oder eingebildet haben. Denn das dunkle Bewußtseyn, daß die Woͤrter Be- griffe vorstellen, hat seine Stuffen, und es ist dabey sehr leicht, einen Begriff fuͤr den andern zu nehmen, weil wir uns derselben nur dunkel bewußt sind. Man nennt die Woͤrter und Saͤtze, welche etwas Falsches, Unmoͤgli- ches, Ungeraͤumtes ꝛc. vorstellen, leere Toͤne, und ein System Erkenntniß uͤberhaupt. System von solchen Woͤrtern und Saͤtzen, einen leeren Wortkram. Die Schulweisheit der Anhaͤnger des Aristoteles wird eines solchen Wortkrams beschuldiget, und man hat sich bisher Muͤhe gegeben, die Weltweis- heit davon zu reinigen. Uebrigens ist es sehr wohl moͤglich, unvermerkt in solchen Wortkram zu fallen, wenn man sich nicht die Muͤhe nimmt, die Begriffe, die die Woͤrter vorstellen, durch wirkliche Empfindung der Sache, neuerdings klar zu machen. Baco hat dieses eingesehen, weil er die Erfahrung und Versuche als ei- nen Probierstein der Bedeutung der Woͤrter und der Begriffe vorgeschlagen. Und dieses hat die Wirkung gehabt, daß unter allen Theilen der Weltweisheit die Naturlehre am meisten und am sichtbarsten von dem leeren Wortkram befreyt worden, und noch immer mehr daran gearbeitet wird. Man sehe auch Dianoiol. §. 585. §. 22. Man nennt die symbolische Erkenntniß auch figuͤrlich, und zwar vornehmlich in so fern die Zeichen, wodurch sie vorgestellt wird, sichtbar oder Figuren sind, wie z. E. die Schriften, Zahlen, Noten ꝛc. Uebri- gens ist das Wort figuͤrlich vieldeutig, und wird uͤber- haupt von den Metaphern oder verbluͤmten Aus- druͤcken gebraucht, besonders aber auch, so fern wir die abstracten Begriffe und die Dinge der Jntellectual- welt, wegen Aehnlichkeit des Eindruckes, uns unter sinn- lichen Bildern vorstellen, wovon wir in der Alethiologie §. 47. Beyspiele geben. Jn diesen letztern Faͤllen ist die symbolische Erkenntniß auf eine gedoppelte Art figuͤr- lich, weil man von der eigenen Bedeutung des Worts abgeht, und sich die Sache unter dem sinnlichen Bilde vorstellt. Auf diese Art haben wir in der Dianoiologie erwiesen, wie man die Lehre von den Schluͤssen durch- aus und im eigentlichsten Verstande figuͤrlich machen koͤnne, indem wir gezeigt haben, wie sie sich zeichnen lasse. §. 23. I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen §. 23. Die Zeichen der Begriffe und Dinge sind ferner im engeren Verstande wissenschaftlich, wenn sie nicht nur uͤberhaupt die Begriffe oder Dinge vorstel- len, sondern auch solche Verhaͤltnisse anzeigen, daß die Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zei- chen mit einander verwechselt werden koͤnnen. Da hierinn die letzte Vollkommenheit der Zeichen be- steht, so wollen wir uns dabey besonders aufhalten, und die bereits schon erfundenen Zeichen in dieser Absicht durchgehen, oder nach diesem Maaßstabe ihren Werth bestimmen. §. 24. Die Theorie der Sache auf die Theo- rie der Zeichen reduciren, will sagen, das dunkle Be- wußtseyn der Begriffe mit der anschauenden Erkennt- niß, mit der Empfindung und klaren Vorstellung der Zeichen verwechseln. Die Zeichen sind uns fuͤr jede Begriffe, die wir nicht immer durch wirkliche Empfin- dung aufklaͤren koͤnnen, ohnehin schlechterdings noth- wendig. Kann man sie demnach so waͤhlen und zu sol- cher Vollstaͤndigkeit bringen, daß die Theorie, Combi- nation, Verwandlung ꝛc. der Zeichen statt dessen dienen kann, was sonst mit den Begriffen selbst vorgenommen werden muͤßte; so ist dieses alles, was wir von Zeichen verlangen koͤnnen, weil es so viel ist, als wenn die Sa- che selbst vor Augen laͤge. §. 25. Die erste Art von Zeichen, die wir in dieser Absicht betrachten koͤnnen, sind die Noten in der Musik. Sie haben einen merklichen Grad der Voll- kommenheit, weil sie mit einem male die Hoͤhe des Tones und seine Dauer, und vermittelst einiger andern Zeichen auch die Art, wie er gespielt werden solle, des- gleichen auch in dem Generalbaß vermittelst einiger dar- uͤber gesetzten Zahlen, eine Harmonie oder Consonanz mehrerer Toͤne vorstellen. Der einige Mangel dabey ist, daß sie die Criteria der Harmonie nicht angeben, weil Erkenntniß uͤberhaupt. weil Dissonanzen, falsche Gaͤnge und Spruͤnge, eben so wie die wahren, gezeichnet werden koͤnnen. Man ist daher dabey genoͤthigt, nach den Regeln der Composi- tion das Gute und Harmonische zu waͤhlen. Die Noten selbst geben es nicht an. §. 26. Von der Choreographie des Feuillet laͤßt sich eben dieses sagen, doch mit dem Zusatze, daß, in- dem er bey Erfindung eines neuen Tanzes die Figur derselben zeichnet, die Zeichnung selbst mehr Geometri- sches hat, und durch die Groͤße, Zeit und Anzahl jeder Schritte mit dem Takte proportionirt werden muß. Diese Bedingung, nebst der, daß die Figur schließen, und nach Abspielung eines jeden Theils der Contredanse ein neuer Theil der Figur des Tanzes anfangen muß, schraͤnkt das Willkuͤhrliche dabey mehr ein, und die Zeich- nung selbst verraͤth die Fehler, und noͤthigt, sie zu ver- meiden. Die Englaͤnder haben Contredanses, wofuͤr sie zwar keine Zeichnung gebrauchen: aber weil dieselben aus einer gewissen Anzahl von Figuren besteht, deren jede eine gewisse Anzahl von Takten dauert, so koͤnnen sie durch bloße Combination dieser Figuren unzaͤhlig vielerley Abwechslungen und verschiedene Taͤnze fast oh- ne Muͤhe erfinden. Und da diese Figuren ihre Namen haben, z. E. Le pas, monter, tourner, la Chaine, le moulinet, Castof, le huit \&c. so lassen sich alle diese Taͤnze mit wenigen Worten schriftlich verfassen, und ohne Schwierigkeit begreifen und bewerkstelligen. Uebri- gens, da die Taͤnze selbst Figuren und Bewegungen sind, so ist auch die Zeichnung derselben in einem viel einfa- chern Verstande figuͤrlich, als die Zeichnung der Toͤne in der Musik vermittelst der Noten. §. 27. Man giebt ferner die Woͤrter Barbara, Ce- larent \&c. wodurch man in der Vernunftlehre die Structur der zulaͤßigen einfachen Schluͤsse vorstellt, als Meisterstuͤcke einer Zeichenkunst aus. Sie sind aber in Lamb. Orgenon II B. B der I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen der That nichts anders, als zum Behufe des Gedaͤcht- nisses abgekuͤrzte Ausdruͤcke, und zugleich Namen der einfachen Schlußarten, denen wir in der Dianoiologie noch sieben andere fuͤr die einfachsten Umwege beyge- fuͤgt haben, in welchen jeder Buchstabe bedeutend ist. Denn ungeacht in den Woͤrtern oder Namen dieser Um- wege im Schließen, Caspida, Serpide, Saccapa \&c. jede Sylbe und uͤberdieß noch jeder Buchstab eine Re- gel, und daher jeder dieser Namen zehen Regeln vor- stellt, so geben sie doch die Theorie der Schluͤsse nicht selbst, sondern nur die Folgen derselben an; weil man aus andern Gruͤnden ausmachen muß, welche Combi- nationen dieser Buchstaben zulaͤßige Schluͤsse geben, und welche hingegen muͤssen verworfen werden. Man hat auch fuͤr andere Faͤlle noch sehr viele dergleichen Versus memoriales, und vorzeiten wurden dadurch bald ganze Kalender vorgestellt. Wir wollen zum Bey- spiel aus dem Sacrobosco und Maurolyco folgende anfuͤhren, weil sie keiner andern Erlaͤuterung beduͤrfen, als daß der Anfangsbuchstab eines jeden Wortes den Sonntagsbuchstab des Julianischen Kalenders fuͤr jede 28 Jahre des Sonnenzirkels vorstellt. Fallitur Eua Dolo, Cibus Adae Gaudia Finit, Et Cum Botrus Adhuc Germinet, Eua Dolet. Christus Bella Gerit, Finitur Eo Duce Bellum Ad Grauidam Fit Dux, Cuncta Beauit Aue. Faͤngt man bey dem zweyten Worte des zweyten Verses an, so erhaͤlt man die Sonntagsbuchstaben fuͤr den Gre- gorianischen und verbesserten Kalender dieses jetztlaufen- den Jahrhunderts. §. 28. Namen, die mehr wissenschaftlich zusammen- gesetzt sind, sind die von den 32 Winden, welche die Schiffer gebrauchen. Es sind vier einfache Namen, S, O, N, W, fuͤr die vier Hauptgegenden. Mitten zwi- schen Erkenntniß uͤberhaupt. schen diese fallen vier andere, SO, SW, NO, NW, und dieß giebt schon acht. Zwischen diese fallen acht andere, SSO, OSO; SSW, WSW; NNO, ONO; NNW, WNW, und dieses giebt 16. Zwischen diese fallen 16 an- dere, welche von den acht ersten her benennt werden, SgO, SOgS, SOgO, OgS; SgW, SWgS, SWgW, WgS; NgO, NOgN, NOgO, OgN; NgW, SWgN, NWgW, WgN. Die zweyte Ordnung zeigt schlechthin die zwo Hauptgegenden an, zwischen welche die 4 entsprechende Winde fallen. Jn der dritten Ordnung wird den Na- men der zweyten die Hauptgegend vorgesetzt, gegen wel- che die dadurch angezeigten Winde von den Winden der zweyten Ordnung abweichen. Jn der vierten Ord- nung wird den Namen der beyden ersten Ordnungen die Hauptgegend angehaͤngt, gegen welche die dadurch be- nennten Winde von den Winden der ersten und zwey- ten Ordnung abweichen. Damit kommen sie nun in folgende Reihe: S, SgO, SSO, SOgS, SO, SOgO, OSO, OgS; O, OgN, ONO, NOgO, NO, NOgN, NNO, NgO; N, NgW, NNW, NWgN, NW, NWgW, WNW, WgN; W, WgS, WSW, SWgW, SW, SWgS, SSW, SgW. Zu diesen 32 Winden wuͤr- den leicht noch 32 andere, die zwischen dieselben fallen, benennt werden koͤnnen, wenn man die 16 Winde der drey ersten Ordnungen zum Grunde legt, und nur durch Beyfuͤgung der Woͤrter halb S, halb O, halb W, halb N, anzeigt, gegen welche Hauptgegend sie davon abweichen. Z. E. ShO, SSOhS, SSOhO, SOhS, SOhO ꝛc. diese Namen geben durch ihre Combination nicht nur die Gegend der Winde zu erkennen, sondern sind auch von der Art, daß man, vermittelst einiger sehr einfachen Re- geln, gar nicht noͤthig hat, das Gedaͤchtniß mit 32 oder gar 64 verschiedenen Namen zu beschweren, sondern ohne Muͤhe jeden Wind benennen, und hinwiederum aus dem Namen die Gegend desselben finden kann. B 2 Die I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen Die Moͤglichkeit jeder Combination dabey ist allgemein, welches bey den Namen der Schlußarten Barbara, Ce- larent \&c. nicht angeht, weil die meisten von den com- binirten Buchstaben A, E, I, O, nur unzulaͤßige Schluͤsse angeben. §. 29. Hingegen ist die Zeichnung der Schluͤsse, wie wir sie in der Dianoiologie angegeben, durchaus Charakteristisch, weil sie ganz auf der Vergleichung der Jntellectualwelt und Koͤrperwelt (§. 52. Alethiol.) beruht. Denn wir geben den allgemeinen Begriffen eine Ausdehnung, weil sie sich auf alle darunter gehoͤrende Indiuidua erstrecken. Jn dieser Absicht ließen sich Indiuidua durch Puncte, die Arten und Gattungen durch Linien vorstellen, die Linien der Arten unter die Linien ihrer hoͤhern Gattungen zeich- nen, und die Linien der nicht unter einander gehoͤrenden Begriffe außer oder neben einander setzen. Dieses gab die Zeichnung der vier Arten von Saͤtzen, und so- dann die Zeichnung jeder Schlußarten von selbst an, und das Wesentliche von dieser Zeichnungsart, welches dieselbe im strengsten Verstande wissenschaftlich macht, ist, daß sie die Unmoͤglichkeit unzulaͤßiger Schluͤsse an- giebt, weil dieselben nicht koͤnnen determinirt gezeichnet werden, und daß sie hingegen bey den zulaͤßigen Schluͤs- sen alle Schlußsaͤtze, die aus den Vordersaͤtzen gerade und umgekehrt gezogen werden koͤnnen, mit einem male vor Augen stellt. Man sehe Dianoiol. §. 196. seqq. Hier laͤßt sich demnach die Theorie der Sache mit der Theorie der Zeichen verwechseln (§. 23.), welches bey den vorhin angefuͤhrten Beyspielen der Noten, Taͤnze, Namen der Schlußarten und Winde (§. 25. seqq. ), nicht durchaus angeht, wenigstens so, wie sie noch der- malen sind. §. 30. Die chymischen und astronomischen Zeichen sind bloße Abkuͤrzungen, die man statt der Woͤrter ge- braucht. Erkenntniß uͤberhaupt. braucht. Jndessen laͤßt sich von einigen der Grund an- geben, warum sie vielmehr diese als eine andere Figur haben. Boerhave hat in seiner Chymie einige Aehn- lichkeit der Zeichen ☉, ☽, ☿, ♀, ♃ ♂, ♄, mit den da- durch bezeichneten Metallen aufgesucht. Die Astrono- men gebrauchen eben diese Zeichen fuͤr die Planeten, und finden nach Anleitung der Mythologie in ☿ den Caduceum des Merkurs, in ♀ den Spiegel der Venus, in ♂ den Spieß und Schild des Mars, in ♄ die Sense des Saturns, in ♃ den Donnerstral des Jupiter. Jn den Zeichen des Thierkreises ♈, ♉, ♊, ♋, ♌ ꝛc. sollen ebenfalls die Hoͤrner des Widders, der Kopf und die Hoͤrner des Stiers ꝛc. gezeichnet zu sehen seyn. Es sind aber alles dieses nur Anspielungen, die zur wissen- schaftlichen Kenntniß der Sternlehre wenig oder nichts beytragen. §. 31. Hingegen haben die Zeichen, die man uͤber die Grade, Minuten, Secunden ꝛc. setzt, im eigentlichsten Verstande etwas Wissenschaftliches, wenn man sie fuͤr Exponenten von Sexagesimalbruͤchen ansieht. Denn auf diese Art will z. E. der Bogen 13°, 15′, 35″, 46‴, ꝛc. eben so viel sagen, als die Reihe Oder: welche Zeichnungsart aus der Algeber entliehen, und durchaus wissenschaftlich ist, nachdem Newton die Theorie der Exponenten darinn eingefuͤhrt hat. §. 32. Jn den Rechten stellt man die Grade der Verwandschaft und Schwaͤgerschaft figuͤrlich vor, und daher sind auch die Stammtafeln, Sipschafibaͤume ꝛc. genommen. Die Namen der aufsteigenden, ab- B 3 stei- I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen steigenden, Collaterallinien, die Grade der Ver- wandschaft ꝛc. gruͤnden sich darauf, daß die Succession nur eine Dimension hat, und als Linear vorgestellt, und hingegen was zugleich ist, wie z. E. Zwillinge und uͤberhaupt Geschwister, neben einander gezeichnet wer- den koͤnnen. Da demnach diese figuͤrliche Vorstellung mit der Sache selbst eine durchgaͤngige Aehnlichkeit hat, so ist sie allerdings wissenschaftlich, und wird in den Rechten zum augenscheinlichen Demonstriren, und zur Abzaͤhlung der Grade der Verwandschaft und Schwaͤ- gerschaft wirklich gebraucht. §. 33. Die sogenannten Sinnbilder, Emblema- ta, und allem Ansehen nach auch die aͤgyptischen Hiero- glyphen, haben ebenfalls etwas von der Charakteristik. Sie dienen aber mehr, schlechthin die bedeutende Sache gleichsam poetisch vorzustellen, und es muß immer aus andern Gruͤnden erwiesen werden, wie weit sich die Al- lusion und Aehnlichkeit erstrecke. So malt man die Gerechtigkeit mit verbundenen Augen, mit der Wage und dem Schwert ꝛc. die Zeit mit der Sense und Stun- denglas ꝛc. weil diese Bilder eine Aehnlichkeit mit der dadurch vorgestellten Sache haben. Aber diese Aehn- lichkeit muß man voraus wissen. §. 34. Auf eine vollstaͤndigere Art ist das Zahlen- gebaͤude charakteristisch, wie wir es heut zu Tage ha- ben. Es ist allerdings nichts geringes, durch zehen Zif- fern, oder nach der Leibnizischen Dyadik, nur durch zwo Ziffern, alle moͤgliche Zahlen vorstellen zu koͤnnen, und jede Rechnungen damit zu macher, und zwar auf eine so mechanische Art, daß es wirklich auch durch Maschinen geschehen kann, dergleichen Pascal, Leibniz, Ludolf und andere erfunden. Das heißt im strengsten Ver- stande: die Theorie der Sache auf die Theorie der Zeichen reduciren, und man ist so sehr daran gewoͤhnt, daß man die Zahlen bald fuͤr nichts anders als Erkenntniß uͤberhaupt. als Zeichen ansieht, zumal da sie in der That auch nur Verhaͤltnißbegriffe sind. §. 35. Das vollkommenste Muster der Charakte- ristik aber ist die Algeber, und die dadurch veranlaßte Theile der Analysis der Mathematiker. Sie hat als Zeichenkunst ihre eigene Theorie, die man niemals weit genug wird treiben koͤnnen. Wird aber eine Auf- gabe aus andern Wissenschaften auf eine algebraische reducirt, so kann man von derselben ganz abstrahiren, und die Aufloͤsung der algebraischen Aufgabe ist zugleich auch die von der andern Aufgabe, welche man auf die algebraische reducirt hatte. §. 35 a . Da hier der Ort ist, die Algeber nicht als Algeber, sondern als Charakteristik zu betrachten, so se- tzen wir sie voraus, und merken daher an, daß diese Wissenschaft nur bestimmt, welche zusammenge- setzte Moͤglichkeiten aus allen moͤglichen Ver- bindungen der an sich unbedingten Postulaten der Groͤßenlehre entstehen, wie weit sie rei- chen, welche Verhaͤltnisse sie haben, und wie sie sich in einander verwandeln lassen. Daß die Postulata im Reiche der Wahrheiten uͤberhaupt all- gemeine und unbedingte Moͤglichkeiten angeben, haben wir in der Alethiologie (§. 246.) erwiesen. Solche sind nun in der Groͤßenlehre diejenigen, welche die Al- geber durch die Zeichen + und — ausdruͤckt. Die naͤchst daraus fließenden werden durch die Zeichen (·) und (:) und √ vorgestellt, und aus diesen begeben sich die Exponenten, und jede Wurzeln. Der Ausdruck √ ( a — b ) faͤngt schon an, Grenzen der Moͤglichkeit zu haben, weil, wenn b \> a, die Quadratwurzel, unmoͤglich und daher nur eingebildet ist. B 4 §. 36. I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen §. 36. Wir merken serner an, daß die Zeichen + — · : √, und die Stelle der Exponenten, an sich betrachtet, willkuͤhrlich sind, daß man aber dennoch, um einander verstaͤndlich zu bleiben, nicht mehr davon ab- geht. Hingegen in Ansehung der Zeichen, die man fuͤr die Groͤßen selbst gebraucht, ist mehr willkuͤhrliches. Man bedienet sich uͤberhaupt der Buchstaben, und hat auch mehrerer Deutlichkeit halben sich angewoͤhnet, die bekannten und unveraͤnderlichen Groͤßen durch die ersten Buchstaben a, b, c ꝛc. die unbekannten und veraͤnderli- chen aber durch die letzten Buchstaben x, y, z ꝛc. und die bloßen Verhaͤltnisse durch die mittlern Buchstaben m, n, p ꝛc. des Alphabets vorzustellen. Jndessen ist dieses so gar nothwendig nicht, und besonders werden die Verhaͤltnisse oͤfters fuͤglicher durch die Functionen von Zirkelboͤgen vorgestellet, zumal, nachdem die Jn- tegralrechnung gelehret hat, daß solche vorkommen koͤn- nen, wo von Figuren bald keine Rede ist, oder wo die Figuren selbst nur sinnliche Bilder der Groͤßen sind. §. 37. Der Grund, warum die Auswahl der Buch- staben, wodurch man die Groͤßen selbst vorstellet, will- kuͤhrlicher ist, liegt darinn, daß die Algeber nicht mit Zahlen, sondern mit Groͤßen umgeht, die man nach Belieben bestimmen kann, und daß bald jede Aufgabe mehr oder weniger gegebene und gesuchte Groͤßen mit einander vergleicht. Hingegen kommen die Postulata + — · : √ ꝛc. immer vor, weil man nicht anders, als nach diesen allgemeinen und unbedingten Moͤglichkeiten, diejenigen bestimmen kann, welche in der Aufgabe vor- kommen. §. 38. Die Algeber ist demnach nicht eine Zeichen- kunst der Groͤßen selbst, sondern nur ihrer Verwan- delungen und Verhaͤltnisse, und die Aufloͤsung je- der algebraischen Aufgabe giebt an, wie man die gege- benen Groͤßen addiren, multipliciren ꝛc. und uͤberhaupt ver- Erkenntniß uͤberhaupt. verwandeln solle, damit man eine Groͤße heraus bringe, die der gesuchten gleich ist. §. 39. Wir merken dieses an, weil daraus erhellet, daß Wolf allerdings Ursache hatte, zu der Leibnizi- schen allgemeinen Zeichenkunst noch eine Verbin- dungskunst der Zeichen zu fordern. Denn sollen wir die Vergleichung weiter ausdehnen, so wird die Zeichenkunst jeder einzelner Begriffe nur dem Zahlenge- baͤude, die Verbindungskunst der Zeichen aber der Al- geber gleichen. Dieses erhellet daraus, weil jeder Be- griff, eben so wie jede Zahl, etwas eigenes hat, dage- gen aber die Verbindungskunst der Zeichen auf die all- gemeinen Verhaͤltnisse der Begriffe, schlechthin als Begriffe betrachtet, geht, wie die Algeber die Groͤßen nur als Groͤßen betrachtet, und ihre Verhaͤltnisse be- stimmet. §. 40. Ohne aber auf diese Vergleichung zu sehen, so laͤßt sich sowohl die allgemeine Zeichenkunst, als die Verbindungskunst der Zeichen an sich betrachten. Er- stere sollte uns uͤberhaupt jedes Definitum durch seine Definition kenntlich machen. Diesen Vor- theil gewaͤhren uns die Woͤrter unserer Sprachen selten oder gar nicht. Wir werden aber dennoch im folgen- den untersuchen, wiefern sie dazu eingerichtet sind, und was daran noch mangelt. Hier merken wir nur an, daß man im Nachdenken und in Verbindung mehrerer Schluͤsse, zuweilen auf Definitionen verfaͤllt, deren De- finita bereits unter gewissen Namen bekannt sind. Die Woͤrter, wodurch die Definition ausgedruͤcket wird, ge- ben diese Namen nicht an. Sie sollten es aber thun, wenn unsere Sprachen weniger willkuͤhrlich und mehr charakteristisch waͤren. Denn dieses hieße die Theorie der Sache auf die Theorie der Zeichen reduciren. Neh- men wir nun noch hiezu, daß eigentlich zusammenge- setzte Begriffe muͤssen definirt werden, und daß diesel- B 5 ben I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen ben im Reiche der Wahrheiten als Praͤdicate vorkom- men, ehe sie als Subjecte vorkommen (§. 241. seq. Ale- thiol.); so ergiebt sich leicht, daß das erstangefuͤhrte Re- quisitum der Charakteristik durchaus nothwendig sey. Denn wenn man im strengsten Verstande a priori geht, so verfaͤllt man auf die Definition der zusammen- gesetzten Begriffe, ehe man auf ihre Namen verfaͤllt. (§. cit. ) Sollten nun die Zeichen statt der Sachen selbst seyn, so ist klar, daß diese Ordnung ebenfalls dabey vor- kommen muͤßte. Dieses Requisitum ist demnach der Leitfaden, wenn man eine solche Charakteristik erfin- den will. §. 41. Die Verbindungskunst der Zeichen be- zieht sich auf die allgemeinen Verhaͤltnisse der Begriffe, Saͤtze, und uͤberhaupt jeder Wahrheiten. Sie be- stimmt, welche zusammengesetzte Moͤglichkei- ten aus allen moͤglichen Verbindungen der an sich unbedingten Postulaten der Alethiologie entstehen, wie weit sie reichen, welche Ver- haͤltnisse sie haben, und wie sie sich in einander verwandeln lassen ꝛc. Was dieses sagen will, wer- den wir am fuͤglichsten durch Beyspiele, die wir in der Dianoiologie und Alethiologie bereits angefuͤhret haben, erlaͤutern koͤnnen. Denn daraus wird erhellen, daß es wirklich solche Verhaͤltnisse, Verwandelun- gen und bedingte Moͤglichkeiten gebe. Man rechne demnach uͤberhaupt hieher, was wir (§. 431—454. Dianoiol.) von der Reduction jeder Aufgabe auf eine pur logische, ausfuͤhrlich gesaget haben: Jnsbesondere aber die allgemeine Moͤglichkeit, jeden aus einfachen Schluͤssen bestehenden Beweis in eine ganz einfache Schlußkette von lauter Grundsaͤtzen zu verwandeln, (§. 309. Dianoiol.) die Jdentitaͤt der Vordersaͤtze zu einem identischen Schlußsatze (§. 356. l. cit. ), die Un- moͤglichkeit, aus einem Satze sein Gegentheil herzulei- ten Erkenntniß uͤberhaupt. ten (§. 370. l. cit. ), die Bedingungen, vom Theil auf das Ganze zu schließen (§. 383. seqq. loc. cit. ), die Be- dingungen, von den Folgen auf die Gruͤnde zu schlies- sen (§. 391—409. loc. cit. ), den Einfluß falscher Vor- dersaͤtze auf den Schlußsatz (§. 235. seqq. loc. cit. ), die Bedingungen und Formeln der naͤchsten Umwege im Schließen (§. 270. seqq. 289—300. l. cit. ), die allge- meine Moͤglichkeit, irrige Saͤtze auf Widerspruͤche zu bringen (§. 171—173. Alethiol.), den Anfang im Reiche der Wahrheiten (§. 236. Alethiol.), die Unmoͤglich- keit, alle Wahrheiten zugleich zu laͤugnen (§. 258. loc. cit. ) ꝛc. §. 42. Jn allen diesen Beyspielen wird die Wahr- heit theils uͤberhaupt, theils unter gewissen Bedingun- gen, schlechthin als Wahrheit betrachtet, und ihre Sym- ptomata bestimmt. Es ist nicht zu zweifeln, daß zu denselben nicht noch mehrere andere sollten koͤnnen ge- funden werden, und dahin dienet die angezogene Re- duction jeder Aufgabe auf eine pur logische, und hin- wiederum auch die Bestimmung der Anlaͤße, wobey je- de logische Aufgabe angewandt werden kann. §. 43. Wir haben ferner diese Beyspiele hier nur angefuͤhret, um zu zeigen, daß die Theorie der Wahr- heit an sich oder unter gewissen Bedingungen betrach- tet, Aufgaben enthalte, welche eine ihnen eigene Zeich- nung verdienen. Diejenige, die wir in der Dianoio- logie fuͤr die Saͤtze und Schluͤsse angegeben haben, ist kaum noch ein Anfang dazu, und wir haben sie in den angefuͤhrten Beyspielen nicht einmal gebraucht, sondern die Begriffe durch Buchstaben, die Bedingungen und Verhaͤltnisse aber durch Worte ausgedruͤcket. Statt dieser Worte haͤtten wir gar leicht andere Zei- chen einsuͤhren koͤnnen, die in der That mehr oder weni- ger wissenschaftlich wuͤrden gewesen seyn. Sie waͤren aber nur noch auf einzelne Theile anwendbar gewesen, und I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen und da etwas Allgemeines und durchaus Wissenschaft- liches dabey moͤglich bleibt, so haben wir uns bey sol- chen einzelnen Stuͤcken nicht aufhalten wollen. Denn da die Zeichen von der Art seyn muͤssen, daß ihre Theo- rie statt der Theorie der Sache selbst dienen soll, so ist unstreitig, daß man erst letztere vollstaͤndig vor sich ha- ben muͤsse, wenn man die Zeichen ganz dazu will einge- richtet haben. So weit waren wir aber an angefuͤhr- ten Orten noch nicht gekommen. Jndessen kann die fuͤr die Schluͤsse angegebene Zeichnung zur Probe der Moͤglichkeit dienen. §. 44. Außer den bisher angefuͤhrten Arten der Zei- chen (§. 25. seqq. ) haben wir in der Dichtkunst einige, wodurch die Form der Verse vorgestellet wird, z. E. die Hexameter wo das — eine lange, das ⏑ aber eine kurze Sylbe vorstellet. Diese Zeichen haben keine andere Theorie, als daß sie sich combiniren lassen, um dadurch alle moͤg- liche Versarten herauszubringen. Welche aber sich zu jeder Art von Gedichten schicken, muß aus andern Gruͤn- den bestimmt werden. Wir haben eben dieses von den Noten in der Musik angemerket (§. 25.). Man koͤnn- te statt dieser zwey Zeichen der kurzen und langen Syl- ben, wirklich Noten gebrauchen, wenn man zugleich auch auf die Abwechselung der Vocalen in den Worten se- hen wollte, weil dieselben eben so gut, als die Laͤnge der Sylben, etwas musikalisches haben, worauf allem Anse- hen nach der Ersinder der Namen ut, re, mi, fa ꝛc. ge- sehen. Es haben aber die lateinische, und besonders die griechische Sprache, mehr Abwechselungen in den Vocalen, und schicken sich daher zu dieser Art von Mu- sik ungleich besser, und uͤberhaupt koͤmmt es dabey mehr auf Erkenntniß uͤberhaupt. auf gluͤckliche Einfaͤlle des Dichters, als auf den Zwang des Aussuchens an. §. 45. Die Heraldik ist ebenfalls eine Art von Zeichenkunst, die aber bald durchaus auf willkuͤhrlichen Dingen beruhet. Jndessen hat sie ihre Regeln, nach denen die Figur des Wapens, die Metalle und Farben, die Theilung des Schildes, die Figuren und Zierrathen bestimmet werden. Man hat die meisten von diesen Dingen bedeutend gemacht, und daher die Wapen in Herrschafts-Praͤtensions-Wuͤrden-Geschlechts-Wa- pen ꝛc. unterschieden. Man kann sie uͤberhaupt als Zeichen der Verhaͤltnisse ansehen, in welchen der, so ein Wapen fuͤhret, seines Geschlechts, Standes, Ran- ges halben ꝛc. sich befindet, und in dieser Absicht ma- chen sie eine besondere Sprache aus. Es hat sie der eingefuͤhrte Gebrauch nothwendig gemacht, und in so ferne sind sie in vielen Stuͤcken ein Theil der Au- thentitaͤt. §. 46. Man hat ferner in den Landcharten eine Menge von Zeichen, wodurch, nebst der Lage der Oer- ter, auch vieles von ihrer Beschaffenheit vorgestellet wird. Diese Zeichen sind, ungefaͤhr wie die chymi- schen und astronomischen (§. 30.), nur Abkuͤrzungen, und in soferne nuͤtzlich, weil sie viel auf einen Anblick vor- stellen. Es ist nicht zu zweifeln, daß sie noch mehre- rer Vollkommenheit faͤhig waͤren, und vielleicht ließen sich Namen aussinnen, in welchen jeder Buchstab eine geographische Bedeutung haͤtte, ungefaͤhr wie wir in der Dianoiologie den naͤchsten Umwegen im Schließen die Namen Caspida, Serpide, ꝛc. gegeben haben, in welchen jeder Buchstab einen besondern Umstand oder Regel anzeigt. Wir koͤnnen eben dieses fuͤr die Bo- tanik anmerken. Es werden wissenschaftliche Zeichen und Namen jeder Kraͤuter und Gewaͤchse moͤglich seyn, so bald man die Unterscheidungsstuͤcke derselben auf eine geringe I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen geringe Anzahl und ihre Combinationen wird bringen koͤnnen, welches aber noch dermalen nicht so leicht anzu- gehen scheint. §. 47. Es giebt ferner noch eine Menge anderer Zeichen von sehr verschiedener Art und Absicht. Die natuͤrlichen sind mit der bedeuteten Sache mit ihren Ursachen, Wirkungen ꝛc. in einer gewissen Verbindung, wie z. E. der Rauch ein Zeichen von der Gegenwart des Feuers, die Abendroͤthe ein Zeichen des darauf fol- genden hellen Wetters ist. Die natuͤrlichen Zeichen sind allerdings einer Theorie faͤhig, wodurch ihre Ver- bindung mit der bedeuteten Sache bestimmt und erwie- sen werden sollte. Jn Ermangelung derselben aber muß wenigstens durch genaue Erfahrungen ausgemacht werden, ob sie immer zutreffen, oder nicht. Denn da sie deswegen Zeichen genennet werden, weil sie Anzeigen einer bereits geschehenen oder einer gegenwaͤrtigen oder Vorbothen einer kuͤnftigen Veraͤnderung in der Natur seyn sollen, so ist die Haupterforderniß dabey, daß man sich darauf muͤsse verlassen koͤnnen, und daß sie nicht truͤgen, wie die meisten Zeichen der bevorstehenden Wit- terung, die man von Alters her fuͤr solche ausgegeben hat, und statt deren man in der Naturlehre, so wie auch in Absicht auf die Krankheiten in der Arzneyge- lehrtheit, immer mehr bemuͤhet ist, zuverlaͤßigere aus- zufinden. §. 48. Unter die willkuͤhrlichen Zeichen gehoͤren die meisten Caͤrimonien, das Laͤuten der Glocken, die verabredeten Zeichen im Kriege, bey Solemnitaͤten ꝛc. das Anklopfen, das Winken, Drohen ꝛc. Diese alle sind mehr oder weniger willkuͤhrlich, je nachdem sie weniger oder mehr Aehnlichkeit mit der bedeuteten Sa- che haben. Besonders aber sind die Caͤrimonien einer Theorie faͤhig, wenn man das Unnuͤtze und Altfraͤnki- sche daraus wegschaffen, und sie uͤberhaupt so bestim- men Erkenntniß uͤberhaupt. men soll, daß sie die Hauptsache, die sie vorstellen, nicht verdraͤngen, sondern eher dazu behuͤlflich sind, daß die- se ihre aͤchte Form erhalte. Die verabredeten Zeichen aber sollen kenntlich und zuverlaͤßig seyn, weil die da- von abhaͤngende Unternehmung fehlschlagen kann, wenn sie nicht recht gewaͤhlt werden. §. 49. Da die Zeichen, welche im strengsten Ver- stande wissenschaftlich sind, von der Art seyn sollen, daß die Theorie der dadurch vorgestelleten Sache auf die Theorie der Zeichen sollen koͤnnen reducirt werden (§. 23.), so bleibt bey denselben ungleich weniger Will- kuͤhrliches, als bey jeden andern Arten, die etwan nur zur Abkuͤrzung gebraucht werden, oder wodurch man, wie bey den Ziffern oder verborgenen Schriften, ei- gentlich die Absicht hat, seine Gedanken zu verstecken. Wir haben demnach zu sehen, wie ferne bey den wissen- schaftlichen Zeichen etwas Willkuͤhrliches bleibe. §. 50. Zu diesem Ende koͤnnen wir dabey anfan- gen, daß wir die Zeichen, wodurch eine Sache vorge- stellet wird, von der Nachahmung und dem bloßen Bilde der Sache unterscheiden, so ferne naͤmlich diese Woͤrter etwas Aehnliches in ihrer Bedeutung haben, und in einigen Faͤllen mit einander verwechselt werden. Denn das Zeichen, die Nachahmung und das Bild, oder die Abbildung der Sache, stellen dieselbe vor, aber jedes auf eine besondere Art. Die Nachahmung hat unzaͤhlige Stufen, und erstrecket sich zuweilen auf Dinge von ganz verschiedener Art. Der Maler, der Tonkuͤnstler und der Dichter suchen das Licht durch den Schatten zu erhoͤhen, und darinn der Natur nachzuah- men, der Maler fast von Wort zu Wort, der Tonkuͤnst- ler durch seine Contrapunkte und gewaͤhlte Dissonan- zen, der Dichter durch das horazische: ex fumo dare lucem, oder wenn er, wie zuweilen Homer, zu schlafen scheint, um mit mehrerem Leben aufzuwachen, wie z. E. wenn, I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen wenn, nachdem Diomedes aus dem Treffen weg ist, Merion und die andern Subalternen sich matt weh- ren, damit Achilles sich zeigen, und ehe er schlaͤgt, den Trojanern den schon gefaßten Muth mit einem male fal- len machen koͤnne. §. 51. Die Abbildungen sind im engern Verstande, Abschriften des Originals, wie bey den Portraits und allen nach dem Leben gezeichneten Gemaͤlden. Oder wie bey den Tonkuͤnstlern, wenn sie den Gesang der Voͤgel und jeden andern Schall, so gut es mit Jnstru- menten moͤglich ist, oder in der Vocalmusik den Ton der Affecten vorstellen. Jm weitlaͤuftigern Verstande sind Abbildungen auch die Sinnbilder, und mit Wor- ten die Beschreibung jeder Eigenschaften der Sache, von abstracten Dingen aber die Metaphern und sinnlichen Bilder, die mit der Sache eine merkliche- re Aehnlichkeit haben. Diese letztern grenzen nun naͤ- her an die Zeichen, welche wir wissenschaftlich nennen, und von dem bloßen Unwisse der Abbildung, bis uͤber- haupt zu jeder Vorstellung der Sache oder ihres sinnli- chen Bildes gehen. Die Stufen der Aehnlichkeit sind nun folgende. §. 52. Einmal, wenn die Sache, so gezeichnet werden soll, selbst eine Figur, Bewegung, Rangordnung, Suc- ceßion ꝛc. ist, so hat man die Zeichnung nicht weit her- zuholen. Jn der Choreographie laͤßt sich die Figur des Tanzes durch Linien, die Groͤße eines jeden Schrittes durch numerirte Punkte, die Art des Schrittes durch einfache Zuͤge, welche die Stellung des Fußes, und uͤber- haupt des Leibes, anzeigen, an sich vorstellen, weil die Bewegung linear, und bey dem Tanze alles Figur ist. Die Succeßion ist ebenfalls linear, und daher wird in der Sprache jeder Buchstabe, in der Musik jede Note nach der andern gezeichnet, wie sie auf einander folgen. Die Ordnung der Toͤne, in Absicht auf ihre Hoͤhe und Tiefe, Erkenntniß uͤberhaupt. Tiefe, gab sehr natuͤrlich Anlaß, sich die Notenlinien als Stufen vorzustellen, und auf diese Art gebraucht die Tonkunst zwo Dimensionen, um figuͤrlich vorge- stellet zu werden. §. 53. Bey dem Zahlengebaͤude hatte man ebenfalls auf die Rangordnung zu sehen. Denn, nachdem man laͤngst schon gewoͤhnet war, nach der Abzaͤhlung an den Fingern, von 1 zu 10, 100, 1000 ꝛc. zu zaͤhlen, und da- bey immer wieder zu den 1, 2, 3 ꝛc. zuruͤck zu kehren, so kam die Erfindung des wissenschaftlichen Zahlengebaͤu- des darauf an, daß man die 1, 10, 100, 1000 ꝛc. vor einander setzete, und daher ihre Wuͤrde durch die Stel- le anzeigte. Man kann hieraus sehen, wie viel es dar- auf ankoͤmmt, daß uns die Vordersaͤtze zu einem nuͤtz- lichen Schlußsatze zugleich beyfallen. Denn diese Er- findung haͤtte ungleich aͤlter seyn koͤnnen, als sie wirklich ist, und man hat sich zu verwundern, daß sie nicht schon dem Pythagoras in Sinn gekommen. §. 54. Die Algeber hat in ihren Zeichen viel will- kuͤhrliches, und in so ferne sind sie in der That nur Ab- kuͤrzungen, welche machen, daß man die ganze Rech- nung leichter uͤbersehen kann, als wenn man Worte da- zu gebrauchen wollte. Die Deutlichkeit dabey fordert, daß man die Zeichen der Groͤßen von den Zeichen der Operationen verschieden annahm, und da man fuͤr die erstern mehrentheils Buchstaben gebraucht, so hat man fuͤr die letztern die Zeichen + — · : √ ange- nommen, welche mit der bedeuteten Sache wenig Aehn- lichkeit haben. Da also diese Zeichen weder Bilder der algebraischen Operationen noch ihrer Verhaͤltnisse sind, so geben sie auch die damit vorzunehmende Ver- wandelung einer Gleichung in eine andere nicht an, son- dern es wird eine Theorie dazu erfordert, welche zeigt, wie man diese Zeichen der Sache gemaͤß verwechseln solle, und welche zugleich auch den Erfolg jeder Verwech- Lamb. Organon II B. C selung I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen selung bestimmt. Dadurch erhaͤlt man so viel, daß die Theorie der Sache auf die Theorie der Zeichen reducirt wird, und daß man von der Sache abstrahiren kann, so bald man die Aufgabe auf ihre Gleichungen ge- bracht hat. Die Aufgabe wird dadurch local gemacht, und ihre Aufloͤsung koͤmmt nur auf die Veraͤnderung der Zeichen und der Stelle jedes Buchstabens an, weil derjenige, welcher die gesuchte Groͤße vorstellet, zuletzt auf der Seite des Gleichstriches = allein bleiben soll. Man kann sich die Rechnung unter dem Bilde des Ab- waͤgens vorstellen, und was auf beyden Seiten des Gleichstriches ist, als Gewichter in beyden Wagscha- len betrachten, und die Wage foll immer inne stehen. Z. E. die Aufgabe: Aus der Summe a, und Differenz b, zwoer Groͤßen x, y, jede dieser Groͤßen zu finden, will in diesem Stylo sagen: beyde Gewichte x und y waͤgen zusammen a Pfund, und x wiegt b Pfund mehr als y, oder wenn x auf der einen Wagschal liegt, so muß man auf der andern y und b legen, wenn die Wa- ge inne stehen soll. Diese beyden Bedingungen heißen nun algebraisch x + y = a x = y + b naͤmlich x und y waͤgen a. x wiegt y und b. Die letzte Gleichung zeigt, daß man in der ersten fuͤr x koͤnne y + b setzen, und damit erhaͤlt man 2 y + b = a. Die Wage naͤmlich steht wiederum inne, wenn man das kleinere Gewicht doppelt zu dem Unterschiede b legt, und in der andern Wagschal a liegen laͤßt. Nimmt man nun aus der ersten Wagschal b weg, so muß eben so viel aus der andern weggenommen werden, wenn anders die Wage inne stehen soll. Demnach 2 y = a — b Hier Erkenntniß uͤberhaupt. Hier hat man nun in der ersten Wagschal das kleine- re Gewicht doppelt, in der andern ein bekanntes Ge- wicht, demnach wird y die Haͤlfte desselben seyn, die- ses heißt y = a — b /2 So weitlaͤuftig aber raisonirt ein Algebraiste nicht. Denn da er weiß, daß in der Gleichung 2 y + b = a das y auf der einen Seite allein bleiben soll, so faͤngt er an, das b auf die andere Seite zu bringen, und die ersten Gruͤnde der Algeber geben ihm ein fuͤr allemal an, es muͤsse mit Verwechselung des Zeichens + in — geschehen. Demnach macht er ohne viel Besinnens 2 y = a — b Nun ist noch das 2 auf die andere Seite zu brin- gen, und da giebt die Algeber gleich an, es muͤsse zum Theiler gemacht werden. Demnach setzet er sogleich y = a — b /2 und damit ist die kleinere Zahl gefunden ꝛc. Alles die- ses ist local. §. 55. Es liegt demnach auch bey den algebraischen Gleichungen ein sinnliches Bild, naͤmlich das von der Wage, zum Grunde, weil man sich jede Gleichungen und ihre Verwandelungen unter diesem Bilde vorstel- len kann. Das Hauptwerk aber dabey ist, daß da- durch die schwersten Rechnungen auf bloße Verwechse- lungen des Ortes reducirt werden, und dieses macht, daß die ganze Einrichtung der Buchstabenrechnung me- chanisch wird, ungeachtet man bis dermalen noch nicht, wie fuͤr die Zahlenrechnungen, Maschinen dazu erfun- den hat. C 2 §. 56. I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen §. 56. Da man die Algeber besonders als ein Mu- ster zur allgemeinen Zeichenkunst, oder besser zu sagen, zur allgemeinen Verbindungskunst der Zeichen (§. 39.) angiebt, so koͤnnen wir noch anmerken, daß die Regel falsi die Erfindung der Algeber scheint veranlaßt zu ha- ben, oder wenigstens nothwendig haͤtte veranlassen koͤn- nen. Wir haben diese Regel in der Dianoiologie (§. 555.) als ein Beyspiel von Hypothesen angegeben, und (§. 558. l. cit. ) gezeigt, wie man uͤberhaupt die Hy- pothesen nach dem Muster der Regel falsi einrichten soll, und wie fern dieses angeht. Da nun die Algeber un- gleich weiter geht, als diese Regel, so laͤßt sich leicht der Schluß machen, was man von der allgemeinen Ver- bindungskunst der Zeichen in dieser Absicht zu erwarten habe. Man kann naͤmlich die Analogie machen: Wie sich die Regel falsi zur Algeber verhaͤlt, so verhaͤlt sich unsere dermalige Art mit Hypothesen umzugehen, zu ei- nem vierten Begriffe x , welcher der Anwendung der allgemeinen Verbindungskunst der Zeichen auf die Faͤl- le, wo wir sonst Hypothesen gebrauchen, entspricht. §. 57. Bey den wissenschaftlichen Zeichen geht im- mer eine gedoppelte Uebersetzung vor. Denn diese Zei- chen machen eine besondere Sprache aus, in welche je- der vorkommende Fall dadurch uͤbersetzet wird, daß man denselben zeichnet, oder durch Zeichen vorstellet, um das, so mit der Sache selbst haͤtte sollen vorgenommen wer- den, schlechthin nur mit den Zeichen vorzunehmen. Jst dieses geschehen, so geben die Zeichen den Erfolg an, und dieser muß sodann wiederum in die gemeine Spra- che uͤbersetzet werden. §. 58. Von diesen Uebersetzungen giebt sich die er- ste von selbst, wenn die Sache oder der vorkom- mende Fall durch solche Worte ausgedruͤcket wird, oder ausgedruͤcket werden kann, deren buchstaͤblicher Verstand die Zeichen, der meta- phorische Erkenntniß uͤberhaupt. phorische Verstand aber den Fall selbst vor- stellt. Diese Schicklichkeit findet sich in der Theorie der Saͤtze und Schluͤsse, und veranlaßte die bereits oben erwaͤhnte Zeichnung derselben (§. 29.). Sie wuͤrde sich auch bey der Algeber einfinden, wenn ihre Zeichen etwas mehr von den sinnlichen Bildern haͤtten, unter welchen sich ihre Aufgaben vorstellen lassen. Naͤmlich, die Uebersetzung derselben in die figuͤrliche Sprache, koͤnnte mit Worten geschehen, die von dem Bilde her- genommen sind, und so ließen sie sich von Wort zu Wort zeichnen. So aber fordern die willkuͤhrlichen Zeichen + — · : ꝛc. eine vorlaͤufige Theorie, die nicht von irgend einem Bilde, sondern unmittelbar von der Sache selbst hergenommen ist, und wodurch man aus- macht, wenn diese Zeichen, und welche mit einander verwechselt werden muͤssen. Man sieht hieraus zu- gleich, daß die Theorie ersetzen muß, was das Willkuͤhrliche der Zeichen zuruͤck laͤßt, und daß hingegen die Zeichen vollkommener sind, wenn sie das Kennzeichen ihrer Bedeutung mit sich fuͤhren, oder wenn die Beschreibung der Zei- chen, von Wort zu Wort genommen, die Be- schreibung der Sache figuͤrlich angiebt. §. 59. Die zweyte vorhin (§. 57.) erwaͤhnte Ueber- setzung geht den Ruͤckweg der ersten. Beyde muͤssen von gleichem Umfange seyn, wenn anders unsere gewoͤhn- liche Sprachen hiebey nicht zu unvollkommen sind. Denn so laͤßt man es unterbleiben, alle algebraische Formeln mit Worten auszudruͤcken, weil es bey vielen, wo nicht unmoͤglich, doch wenigstens so weitlaͤuftig waͤ- re, daß man es nie enden wuͤrde. Jndessen koͤnnen wir hier gelegentlich anmerken, daß man sich von der Ue- bersetzung algebraischer Formeln in die gemeine Spra- che, nicht immer durch ihre Weitlaͤuftigkeit oder schein- bare Unschicklichkeit muͤsse abschrecken lassen. Denn sie C 3 koͤnnen I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen koͤnnen oͤfters sehr in die Kuͤrze gezogen werden, wenn man sich umsieht, was die einzeln Theile und ihre Ver- bindung bedeuten. §. 60. Diese zweyte Uebersetzung geschieht entwe- der unmittelbar nach der Zeichnung, oder erst, nachdem mit den Zeichen die behoͤrige Verwandelung vorgenom- men worden. Ersteres findet sich bey der in der Dia- noiologie angegebenen Zeichnungsart der Schluͤsse. Denn da hat man nur die Vordersaͤtze, welches die ei- gentlichen, Data sind, zu zeichnen, und alle moͤgliche Schlußsaͤtze sind zugleich mit gezeichnet, ohne daß man, um sie herauszubringen, etwas an der Zeichnung zu veraͤndern noͤthig habe. Das letztere findet sich bey der algebraischen Zeichnungsart. Denn da muͤssen die Gleichungen, welche der Aufgabe Genuͤge thun, so ver- wandelt werden, daß das Gesuchte auf der einen Seite des Gleichstriches allein bleibe (§. 54.). So fern man aber eine algebraische Aufgabe durch Construction auf- loͤsen kann, so fern erhaͤlt man die unmittelbare Ueber- setzung ebenfalls. Z. E. die vorhin (§. cit. ) angefuͤhrte wird so construirt: Die kleinere Groͤße sey CD , die groͤßere DF , so ist die Summe CF. Traͤgt man nun DC in DE, so ist EF die Differenz. Demnach besteht die Summe CF aus der Differenz FE und der kleinern Groͤße doppelt ge- nommen. Man zieht demnach FE von CF ab, und den Ueberrest EC halbirt man, so erhaͤlt man die klei- nere Groͤße CD oder DE, welche zu der Differenz FE addirt, die groͤßere DF geben wird. Man sieht leicht, daß diese Art zu construiren so gut analytisch ist, als die algebraische Aufloͤsung. Man verrichtet hier von Wort zu Wort, was die Bedingungen der Aufgabe fordern, Erkenntniß uͤberhaupt. fordern, und nach geschehener Zeichnung nimmt man den Ruͤckweg, wie ihn die Zeichnung angiebt, um die Regel herauszubringen, wodurch die gesuchten zwo Groͤßen durch Rechnung oder durch die bisher in der Meßkunst uͤbliche Construction gefunden werden koͤnnen. §. 61. Beyde Uebersetzungen gruͤnden sich auf die Bedeutung der Zeichen. Diese ist nun ebenfalls wiederum von zweyerley Arten. Ein Zeichen bedeu- tet schlechthin die dadurch vorgestellte Sache, so fern es willkuͤhrlich ist, das will sagen, so fern es mit der Sache keine solche Aehnlichkeit hat, daß es ein sinnli- ches Bild derselben waͤre. So z. E. sind in der Alge- ber die Buchstaben, wodurch man die Groͤßen vorstel- let, imgleichen die Zeichen + — · : ꝛc. willkuͤhrlich, hin- gegen haben die Zeichen \> \< = schon mehr Aehn- lichkeit mit der dadurch vorgestellten Sache, ungeachtet sie noch nicht so weit geht, daß sie zu den vorhin (§. 58.) erwaͤhnten vollkommenen Zeichen gerechnet werden koͤnn- ten, welche nicht eine bloße Bedeutung haben, sondern gewissermaßen eine systematische Abbildung der Sa- che sind. §. 62. Jndessen ist diese Abbildung, so ferne Zei- chen Zeichen bleiben sollen, niemals so vollstaͤndig, daß nicht einige Unaͤhnlichkeit zuruͤcke bliebe. Denn ist die Sache, welche gezeichnet werden soll, wirklich eine Fi- gur, so laͤßt man aus der Zeichnung als uͤberfluͤßig weg, was an der Theorie nichts aͤndert. Dieses fordert die Kuͤrze der Zeichen, und die Vermeidung der Verwir- rung. Hievon giebt die Choreographie Beyspiele (§. 52.). Und uͤberhaupt kann man hieher rechnen, was die Mathematiker auf Figuren reduciren, und durch bloße Unwisse vorstellen. Jst aber die Sache, die ge- zeichnet werden soll, nicht eine Figur, so beruht die Aehnlichkeit zwischen den Zeichen und der Sache auf der Aehnlichkeit des Eindruckes, den beyde machen C 4 (§. 46. I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen (§. 46. Alethiol.), und die Vollkommenheit der Zeich- nung besteht in der durchgaͤngigen Allegorie zwischen den Zeichen und der Sache, und zwischen der Theorie von beyden (§. 23. 29.), weil beyde Theorien sollen ver- wechselt werden koͤnnen. §. 63. Die Zeichen sind ferner in einem hoͤhern Grade wissenschaftlich, wenn sie, nachdem die gegebenen oder bestimmenden Stuͤcke gezeichnet worden, das da- durch Bestimmte zugleich mit gezeichnet ist. So ist es ein Vorzug der Algeber, daß sie nicht nur antwortet, was gefragt wird, sondern wenn die Frage in der That mehrere Antworten leidet, so giebt sie mit einem mal alle an. Auf eine aͤhnliche Art bestimmt sie, wenn ein Umstand aus der Frage wegbleiben kann, oder wenn ein Datum uͤberfluͤßig ist, und so auch, wenn nicht ge- nug Data sind, und ebenfalls, wenn die Frage unmoͤg- lich ist, oder wo sie anfaͤngt, unmoͤglich zu werden. Die- ses alles bestimmt sich durch eine der Algeber eigene Theorie, welche nicht von den Zeichen, sondern von der Natur der Groͤßen hergenommen ist, weil die algebrai- schen Zeichen zuviel willkuͤhrlich sind, als daß sie diese Theorie unmittelbar angeben sollten (§. 58.). §. 64. Uebrigens ist fuͤr sich klar, daß, wenn die Zeichnung mehr angeben soll, als wirklich gezeichnet worden, dieses mehrere nur in Verhaͤltnissen bestehen koͤnne. Denn wenn das, was man zeichnen wollte, ge- zeichnet ist, so kommen keine neue Zeichen mehr hinzu. Hingegen da aus zweyen Verhaͤltnissen ein drittes an sich schon bestimmt seyn kann (§. 467. seq. Dianoiol.), so ist es auch moͤglich, daß die Zeichnung dieses dritte Verhaͤltniß angebe, ohne daß es besonders gezeichnet werden muͤsse. Und dieses soll bey wissenschaftlichen Zeichen von Rechts wegen seyn, weil ihre Theorie statt der Theorie der Sache soll dienen koͤnnen (§. 23.). §. 65. Erkenntniß uͤberhaupt. §. 65. Da demnach das, was die Zeichnung mehr angiebt als wirklich gezeichnet worden, in Verhaͤltnissen besteht, so erhellet zugleich hieraus, daß die Theorie der Zeichen eigentlich auch nur diese Verhaͤltnisse betrifft. Denn da die Aehnlichkeit zwischen den Zeichen und der Sache einmal ganz vollstaͤndig ist (§. 62.), so bleibt be- sonders bey den einfachen Zeichen immer etwas Will- kuͤhrliches, und ihre Auswahl muß durch die Theorie der Sache bestimmt werden, dergestalt, daß sich mit den einmal gewaͤhlten Zeichen solche Verbindungen vorneh- men lassen, die den entsprechenden Verhaͤltnissen der Sache und ihren Verbindungen entweder aͤhnlich sind, oder dieselben wenigstens bedeutungsweise vorstellen (§. 61.). Und dieses soll allgemein und reciprocirlich seyn (§. 23.). Denn auf diese Art sind die Zeichen ei- ner Theorie faͤhig. Da demnach diese Theorie erst an- faͤngt, nachdem die Zeichen schon gewaͤhlt sind, so be- trifft sie nur die Moͤglichkeiten und Bedingungen ihrer Verbindung, folglich auch nur die Verhaͤltnisse. §. 66. Die Algeber erlaͤutert dieses durch ihr Bey- spiel. Denn ihre Theorie, welche eigentlich die Ver- wandlung und Aufloͤsung der Gleichungen zum Gegen- stande hat, geht auf das Locale in der Versetzung der Zeichen (§. 54.). Jede Versetzung aber bringt eine andere Verhaͤltniß in den durch die Zeichen vorgestell- ten Groͤßen hervor. Auf eine aͤhnliche Art haben wir im dritten Hauptstuͤcke der Dianoiologie gewiesen, daß man Indiuidua durch Punkte, allgemeine Begriffe aber durch Linien vorstellen, und diese ganz, oder zum Theil, unter und neben einander zeichnen muͤsse, wenn man die vier Arten von Saͤtzen A, E, I, O , und daher auch je- de Schluͤsse zeichnen wolle. Hierauf beruht die ganze Theorie dieser Zeichnung, welche sodann bey den ge- zeichneten Vordersaͤtzen alle moͤgliche Schlußsaͤtze, das will sagen, alle Verhaͤltnisse der drey Hauptbegriffe der C 5 Schluß- I. Hauptstuͤck. Von der symbolischen Schlußrede ohne weiters angiebt, so fern naͤmlich diese Verhaͤltnisse nur darauf beruhen, ob diese Begriffe, und wie fern sie einander zukommen oder nicht. Denn auf andere Verhaͤltnisse erstrecket sich diese Theorie nicht. §. 67. Die Verhaͤltnisse, welche bey der Theorie der Sache in Betrachtung kommen, werden entweder durch wirkliche Zeichen, oder durch den Ort angezeigt, den die uͤbrigen Zeichen gegen einander haben. Denn dieses ist alles, worinn sich ein Unterschied finden kann. Beyde Arten kommen in der Algeber vor. Denn die Zeichen + und — gehen auf den Begriff des Ganzen und seiner Theile. Bey ersterm hat der Ort nichts zu sagen, weil a + b = b + a Bey dem Zeichen — aber laͤßt sich nicht ( a—b ) fuͤr ( b—a ) setzen, weil man dadurch addiren mit subtrahi- ren verwechseln wuͤrde. Eben so ist ab = ba , aber nicht a:b = b:a , es sey denn a = b. Die Exponen- ten werden durch den Ort angezeigt, vermuthlich nach Aehnlichkeit der Redensart; eine Groͤße zu einer Di- gnitaͤt oder Potenz erhoͤhen ꝛc. Jn der Zeichnung der Saͤtze und Schluͤsse werden ebenfalls die Verhaͤltnisse der Begriffe schlechthin durch den Ort angezeigt, und zwar fast nothwendig, weil wir in allen Sprachen ei- nen Begriff unter oder nicht unter den andern se- tzen. Jndessen ist der Ort nur relativ, und dieses macht, daß es nicht nothwendig ist, den directen und umge- kehrten Satz jeden besonders zu zeichnen. §. 68. Uebrigens ist fuͤr sich klar, daß wir hier von Zeichen reden, die eines Ortes faͤhig sind, und folglich aus Figuren bestehen. Denn außer diesen giebt es noch andere, denen man nur metaphorisch die von dem Orte hergenommenen Begriffe beylegt, wie z. E. die Toͤne, welche man ebenfalls als hoch oder tief be- trachtet. Erkenntniß uͤberhaupt. trachtet. Die Begriffe lang, kurz, werden bey Figu- ren und Toͤnen gebraucht, nur daß sie sich bey den Fi- guren auf die Ausdehnung, bey den Toͤnen aber auf die Dauer beziehen, in beyden Faͤllen aber nur eine Dimension, und daher etwas lineares haben. Eben dieses gilt auch von den Begriffen vor, nach, welche sowohl von der Ausdehnung als von der Dauer Ver- haͤltnisse vorstellen, und einen Rang und Ordnung an- zeigen, welche in Absicht auf die Zeichen bedeutend wer- den kann. §. 69. Daferne die Verhaͤltnisse in zu großer An- zahl waͤren, als daß man sie alle durch einfache Unter- schiede des Ortes oder der Zeit vorstellen koͤnnte, so muß man entweder besondere Zeichen dafuͤr annehmen, oder wenn sie sich trennen lassen, sie wirklich trennen, und die Sache theilsweise oder in jeden Absichten be- sonders betrachten. Auf diese Art haben wir in der Dianoiologie von den Begriffen nur die Ausdehnung und Subordination vorgenommen, weil diese beyden Stuͤcke zur Zeichnung der Saͤtze und Schluͤsse zurei- chend sind. Auf gleiche Art nimmt man in der Alge- ber nur die Groͤße und Grade der Dinge vor, und kann es thun, weil sich die mathematische Seite der Sachen besonders betrachten laͤßt, und von den uͤbrigen nur so viel fordert, als etwan noͤthig ist, zu Gleichun- gen zu gelangen. Zwey- II. Hauptstuͤck. Zweytes Hauptstuͤck. Von der Sprache an sich betrachtet. §. 70. N ach der allgemeinen Betrachtung der Zeichen uͤber- haupt, werden wir uns nun besonders zu der Sprache wenden, um ihre Structur naͤher kennen zu lernen. Wir haben in vorhergehendem Hauptstuͤcke gesehen, daß uns die symbolische Erkenntniß, und in dieser die Rede unentbehrlich ist (§. 12. 13. 14.), und daß die Sprache als das Behaͤltniß unserer Begriffe und Wahrheiten, aus vielen Gruͤnden die Untersuchung ei- nes Weltweisen verdiene (§. 1-4.) Man ist daher bereits schon auf zwo Wissenschaften gefallen, deren Er- findung von ungemeiner Wichtigkeit seyn wuͤrde, wenn sie so leicht waͤren. Die eine ist die Lehre einer all- gemeinen Sprache, welche so wohl im Reden als im Schreiben fuͤr sich verstaͤndlich waͤre, oder wenigstens ohne viele Muͤhe gelernt werden koͤnnte. Naͤmlich so, wie das Alphabet der Schluͤssel zum Lesen unserer der- maligen Sprachen ist, so wuͤrde diese gesuchte allgemeine Sprache hoͤchstens nur eines Schluͤssels beduͤrfen, um nicht nur lesbar, sondern auslegbar und verstaͤndlich zu werden. §. 71. Die andere Wissenschaft ist die allgemeine Sprachlehre, Gramatica uniuersalis, welche man ebenfalls noch erst sucht. Wir haben oben (§. 3.) an- gemerkt, daß in unsern Sprachen das Willkuͤhrliche, Natuͤrliche und Nothwendige mit einander ver- mengt ist. Die allgemeine Sprachlehre muͤßte nun vornehmlich das Natuͤrliche und Nothwendige in der Sprache zum Gegenstande nehmen, und das Will- kuͤhr- Von der Sprache an sich betrachtet. kuͤhrliche, so viel immer moͤglich ist, theils wegschaffen, theils mit dem Natuͤrlichen und Nothwendigen in en- gere Verbindung setzen. Die Classischen Schriftsteller haben in jeden gelehrten Sprachen viel hierinn gethan, ohne noch eine wissenschaftliche allgemeine Sprachlehre vor sich zu haben. Es kann auch eine Sprache nicht wohl zur gelehrten Sprache werden, es sey denn, daß sie nach dieser Theorie ausgebessert werde. Die Ver- dienste der Wolsischen Weltweisheit um die deutsche Sprache, sind in dieser Absicht bekannt, weil ungemein viele, theils alte, theils auch neue Woͤrter, dadurch eine bestimmte Bedeutung bekommen haben. §. 72. Wir gedenken nicht, die eine oder die andere dieser Wissenschaften bey unsern gegenwaͤrtigen Betrach- tungen zur Absicht zu machen, oder sie uns als einen Leitfaden, dem wir folgen koͤnnten, vorzusetzen, sondern werden nach den im vorhergehenden Hauptstuͤcke geleg- ten Gruͤnden, den Weg zu bestimmen suchen, den sie uns zu der Betrachtung der Sprache anbieten, ohne eben vorlaͤufig auszumachen, wohin, noch wie weit er fuͤhren werde. So weit wir aber kommen, wird sich jedesmal finden lassen, was theils zum Behufe dieser beyden Wissenschaften, theils auch uͤberhaupt zu jeden nuͤtzlichen Absichten dienen kann. Zu diesem Ende wer- den uns wirkliche und moͤgliche Sprachen gleich- guͤltig seyn, weil die Weglassung dieses Unterschiedes uns nicht einschraͤnkt, die Sprachen schlechthin zu neh- men, wie sie sind, oder uns statt aͤchter Gruͤnde, mit dem: es ist so, weil es so ist, zu begnuͤgen. Man kann noch beyfuͤgen, daß die allmaͤhliche Abaͤnderung der lebenden Sprachen noch viele Moͤglichkeiten zulaͤßt, die es gut ist, vorher zu wissen, und deren viele, nur weil man sie nicht weiß, auf Anlaͤße warten. Solche Moͤglichkeiten werden wir aufzusuchen bemuͤht seyn, und sie auch da anzeigen, wo die Mittel und Wege, sie brauch- II. Hauptstuͤck. brauchbar zu machen, noch dermalen etwas weiter zu- ruͤcke zu bleiben scheinen. Die Bestimmung jeder Man- nichfaltigkeiten, die uns die Sprache, als Sprache be- trachtet, anbeut, die damit verbundene Untersuchung, wozu jede dieser Mannichfaltigkeiten dienen kann, macht die Charakteristische Theorie der Sprache aus, die wir vornehmen werden. Wir haben dabey die Sprache als ein Datum, und koͤnnen sie durch jede Combinationen und Proben durchfuͤhren, um zu sehen, welcher Theorien und Verwandlungen sie, an sich be- trachtet, faͤhig ist, und welche Aehnlichkeiten sie mit den Theorien der Dinge hat, die sie bezeichnen kann, sie mag sie nun wirklich bezeichnen oder nicht. §. 73. Man wird sich daher nicht verwundern, wenn wir bey den ersten Elementen der Sprache anfan- gen, und nach der in der Dianoiologie (§. 517. seqq. ) gegebenen Anleitung, die einfachsten Moͤglichkeiten auf- suchen. Dieses sind die einfachen Laute, die wir durch Buchstaben vorstellen. Jhre Anzahl haͤngt von der Structur der Gliedmaßen der Sprache, der Lippen, Zaͤh- ne, Zungen, Gaumen und Kehle ab. Die Erfahrung lehrt uns, daß diejenigen Wendungen dieser Gliedmas- sen, die man nicht in der Kindheit zu einer Fertigkeit macht, uns im hoͤhern Alter, theils schwer, theils ganz unmoͤglich werden. Das Schibbolet der Juͤden, das th der Englaͤnder, das mst der Russen, sind verhaͤltniß- weise von dieser Art. Die Welschen haben Muͤhe zu aspiriren, und werden leicht Hengelland und Oland aussprechen, die Deutschen treffen das Franzoͤsische eu nach seinen beyden Aussprachen sehr selten, und verwech- seln es leicht mit i und e. Das Griechische y scheint ein Mittelton zwischen e und i gewesen zu seyn, dessen Aussprache die Lateiner mit e verwechselten; und da die Lateiner das Griechische φ durch ph und nicht durch f geben, so scheint auch, daß es ein Mittel zwischen ph und Von der Sprache an sich betrachtet. und f gewesen sey, so wie die Franzosen das Wort vive als vifve dergestalt aussprechen, daß das fv ein Mittel zwischen f und v ist. §. 74. Auf diese Art wird es schwer, die moͤgliche Anzahl der einfachen Buchstaben zu bestimmen. Wir wollen bey den Vocalen anfangen, und bemerken, daß sie nur stufenweise von einander verschieden sind, und daher wegen der Continuitaͤt dieser Stufen nicht wohl auf eine bestimmte Zahl gebracht werden koͤnnen, weil es ein feines Gehoͤr erfordert, die kleinern Unterschiede zu bemerken. Die groͤßern Unterschiede sind, so viel mir vorgekommen, folgende: 1. a , wie es die Deutschen in haben, Adam ꝛc. aussprechen. 2. oa , ein Mittelton zwischen o und a. 3. ae , wie in dem Wort Vers, maͤß, her. 4. ae , wie im Franzoͤsischen in fait , im Deutschen setz, Herr. 5. e , wie in geh, mehr, 6. e , wie in den letzten Sylben der Woͤrter sitzen, faire. 7. e , wie in einigen hollaͤndischen Oertern die erste Sylbe in siten , ein Mittelton zwischen e und i. 8. i , wie in dem Deutschen mir, hirt. 9. i , wie im Franzoͤsischen vif , im Deutschen vil. 10. u , wie im Franzoͤsischen pur. 11. u , wie in der Schweiz fuͤr, uͤber, fuͤllen. 12. u , wie outre, joug , Muse, Uhr. 13. u , wie gloire , ruhen, fuhr. 14. u , wie Stufe, murren, um. 15. o , das o chiuso der Jtaliener, ein Mittel zwi- schen u und o. 16. o , das o aperto der Jtaliener, ein klingendes o. 17. oe , wie in der Schweiz hoͤren, im Franzoͤsi- schen leur, feu. §. 75. II. Hauptstuͤck. §. 75. Diese unterschiedene Toͤne bemerkt man in einigen Sprachen durch Accente, oder auch durch Zu- sammensetzung mehrerer Vocalen. Da sie aber auf eine vernehmliche Art von einander verschieden und ein- fach sind, so sollte jeder seinen ihm eigenen Buchstaben haben. Es ist daher ein Mangel der Schriften, daß wir fuͤr diese 17 und vielleicht noch mehr auf eine ver- nehmliche Art von einander verschiedene Toͤne oder Selbstlaute nur die sechs Zeichen a, e, i, o, u, y , haben, und die griechische Sprache nur um das y reicher ist. §. 76. Haͤtten wir aber solche Zeichen fuͤr jede Toͤne der Selbstlaute, so wuͤrden sich auch die Doppellaute, Diphtongi, wo naͤmlich zween oder mehree Vocalen vernehmlich unterschieden werden, vollstaͤndig schreiben koͤnnen, indem man die Vocalen in der Ordnung, wie sie ausgesprochen werden, nach einander setzt. Z. E. Die erste Sylbe in dem Wort Kaiser, wuͤrde die Zeichen der Vocalen No. 3 und 9 haben, und die Woͤrter Mayn, Hayn, Stein ꝛc. eben so geschrieben werden. Der Doppellaut in Laͤufer waͤre No. 3 und 10, in haͤufen No. 4 und 10, in huy No. 14 und 9, in Brauch No. 1 und 12, ꝛc. Bey diesem Vorrathe von Zeichen wuͤrde die Ortographie gewinnen, und jede Sprache nach ihrer Aussprache geschrieben werden koͤnnen. §. 77. Die Mitlauter oder Consonanten theilen sich in einfache und zusammengesetzte. Von den erstern haben wir Zeichen fuͤr folgende dreyzehn: b, d, f, g, h, l, m, n, r, s, w, χ χ , zu welchen vielleicht noch das griechische φ als ein Mit- telton zwischen f und bh , und das englaͤndische th , wel- ches aus d, h, s , zusammengezischt wird, kommen koͤnnte. Ob aber die Gliedmaßen der Sprache nicht noch meh- rere Consonanten moͤglich seyn lassen, laͤßt sich nicht wohl anders entscheiden, als wenn man solche in ganz frem- Von der Sprache an sich betrachtet. fremden Sprachen findet. Wir bemerken hiebey nur eine Anomalie in den gewoͤhnlichen Buchstaben unserer Sprachen. Denn fuͤr dh, gh, dhs, gs, bh , nehmen wir einfache Zeichen t, k, z, x, p , und hingegen fuͤr die einfachen Mitlauter der Griechen χ χ φ, nehmen wir ch, sch, ph. Letzteres vermuthlich aus Mangel eige- ner Zeichen, ersteres als eine ganz willkuͤhrliche Abkuͤr- zung, die nach strengern Regeln entweder unterbleiben, oder auf jede andere zusammengeschlungene Consonan- ten, z. E. bl, br, bs, gl, gr, gs, st, spr, str ꝛc. ausgedehnt werden muͤßte. §. 78. Von diesen einfachen Consonanten kommen einige den Vocalen naͤher, und diese sind s, ch, sch, f, r , weil der Ton in der Aussprache, so lange man will, dar- auf ruhen kann, wie bey den Vocalen. Nach diesen haben die 3 Buchstaben l, m, n , noch etwas selbsttoͤnen- des, d und g sind stummer, b und w fordern eine voͤlli- ge Schließung der Lippen, und das h ist eine bloße Aspiration. Man koͤnnte sie demnach in halblaute, fluͤßige, halbstumme, stumme und aspirirende abtheilen. §. 79. Das Zusammenschlingen zweener oder meh- rerer Consonanten, um sie mit einem male auszuspre- chen, koͤmmt theils auf die von Jugend auf angewoͤhnte Biegsamkeit der Gliedmaßen der Sprache, theils auch darauf an, ob die Bewegung dieser Gliedmaßen bey der Aussprache eines Consonanten, naͤher an die Bewe- gung bey der Aussprache eines andern grenze. Das letztere macht nur die Aussprache mehr oder minder hart oder fließender, wie denn uͤberhaupt eine Sprache, die fuͤnf, sechs und etwa gar noch mehr Consonanten ohne eingemengten Vocal mit einem male und jeden vernehmlich auszusprechen vorgiebt, als eine haͤrtere Sprache angesehen wird, und von Fremden, die sich nicht von Jugend auf darinn geuͤbt haben, muͤhsam Lamb. Organon II B. D oder II. Hauptstuͤck. oder gar nicht ausgesprochen werden kann. Bey der Aussprache so vieler Consonanten scheint es auf das Verschlingen der zwischeneingeschobenen Vocalen anzu- kommen; eine Fertigkeit, zu welcher man sich in der Ju- gend gewoͤhnen muß, wenn sie von statten gehen soll. Die Verwandlung des Worts Landsknecht in Lans- quenet , die nachgeahmte Verwandlung des Hinkmar von Repkow in Enquemare de Repikove machen es begreiflich, wie die Griechen und Roͤmer die Namen der barbarischen Sprachen in griechisch und lateinisch lautende Namen verwandelt haben. Die vielen Ein- schaltungen des e in den deutschen Woͤrtern haben eben- falls beygetragen, die deutsche Sprache fließender zu machen als sie vorzeiten war. §. 80. Man kann es als durchgehends moͤglich an- sehen, jede zween Consonanten gerade und umgekehrt zusammen zu schlingen, und nebst einem vor oder nach- gehenden Vocal auszusprechen, und mit Einmengung der Halbvocalen f, s, ch, sch, r , dehnt sich diese Moͤg- lichkeit auf noch mehrere Consonanten aus. Nur kann man sich in hoͤherm Alter nicht mehr zu allen Combi- nationen gewoͤhnen, die man in der Kindheit und Ju- gend nicht erlernt hat. Wir binden uns aber hier an die nur von dem Alter und allmaͤhliger Verhaͤrtung der Gliedmaßen der Sprache abhaͤngende Unmoͤglich- keit nicht. Denn wenn man je wissenschaftliche Woͤrter sollte zu Stande bringen, worinn Buchsta- ben und Sylben und ihre Ordnung bedeutend waͤren, so wuͤrde diese bedingte Moͤglichkeit der Aussprache die geringste Hinderniß seyn. §. 81. Wir koͤnnen noch anmerken, daß man in den Sylben an, en, in, on, un, wie sie in den Woͤrtern écran, enfin, saison, aucun, und eben so in den Woͤr- tern aimant, faifant, champ, argent, gens, sein, sain, saint, ont, tond, uns, faim, parfum \&c. ausgesprochen werden, Von der Sprache an sich betrachtet. werden, als eine Art von Vocalen ansieht, und sie Voi- elles nazales nennt. Da auch diese Art auszusprechen die Mannichfaltigkeit in den Elementen der Sprache vergroͤßert, so kann sie da, wo man auf die vielfaͤltigste Verschiedenheit der einfachen Laute oder Toͤne sieht, ebenfalls mit in Betrachtung gezogen werden, zumal da sie bey allen den 17 verschiedenen Vocalen (§. 74.) moͤglich bleibt, weil sie nur in einer Abaͤnderung des Klanges oder in einer Modification desselben besteht. Es gebraucht dabey auch keine besondere Zeichen. Denn da die Modification bey allen einerley ist, so wuͤrde ein Accent oder ander gleichgeltendes Zeichen dieselbe an sich hinlaͤnglich von der reinen und hellern Aussprache eben derselben Vocalen unterscheiden. §. 82. Die Aspiration bey dem h , und eben so auch die Aussprache des r und s , hat mehrere Stuffen. Die Tuͤrken aspiriren aus voller Kehle, die Schweizer merk- lich stark, die Deutschen minder, die Franzosen und Welschen fast unmerklich. Das s wird von einigen mehr gelispelt, und viele stoßen an dem r dergestalt an, daß es einen von dem gewoͤhnlichen r verschiedenen Laut abgeben kann. Ueberhaupt lassen sich in dieser Absicht auch die Fehler der Zunge zu Moͤglichkeiten der Aus- sprache machen, weil eine biegsame Zunge sich, ehe sie erhaͤrtet, dazu gewoͤhnen kann. §. 83. Jndessen, wenn wir die Sachen so nehmen, wie sie sind, so finden wir hier die erste Grundlage zu dem, was man die Art einer Sprache, Genius lin- guae, nennt. Denn von allen moͤglichen Combinatio- nen der Buchstaben zu einer Sylbe nimmt jede wirkli- che Sprache nur eine gewisse Anzahl fuͤr sich, und wer nicht von Jugend auf sich an die Aussprache fremder Sprachen gewoͤhnt, dem wird es in dem Alter mehr oder minder unmoͤglich, und diese Unmoͤglichkeit dehnt sich auch auf die todten Sprachen aus, weil jede Nation D 2 diesel- II. Hauptstuͤck. dieselben nach ihrer Aussprache einrichtet. So hat ein Deutscher Muͤhe, einen Englaͤnder zu verstehen, wenn dieser Latein oder Griechisch redt, weil er diese Sprachen auf den Fuß des Englaͤndischen liest und ausspricht. Und ungeacht die Reuchlinische Aussprache derjenigen nahe koͤmmt, die die heutigen Griechen noch haben, und Erasmus aus Gruͤnden zu erweisen gesucht hat, wie die alten Griechen muͤssen ausgesprochen haben, so glauben doch die Englaͤnder, daß sie im Englischen alle die Toͤne und Mannichfaltigkeiten haben, welche die Griechen hatten, und daß niemand das Griechische genauer aus- spreche, als sie es thun. §. 84. Diese aus dem bloßen Nicht-uͤben herruͤh- rende Unmoͤglichkeit, jede zusammengeschlungene Mit- lauter auszusprechen, hat in Absicht auf die Art einer Sprache, Indoles oder Genius linguae, verschiedene Folgen. Die Woͤrter einer fremden Sprache, denen man in einer Sprache das Buͤrgerrecht giebt, werden so veraͤndert, daß sie sich aussprechen lassen. Man giebt ihnen andere Wendungen, und dieses geht zuweilen so weit, daß man Muͤhe hat, die Ableitung zu erkennen. Auch die Moͤglichkeit und die Art, zusammengesetzte Woͤrter zu bilden, haͤngt davon ab. Eine Sprache, in welcher ohne Bedenken fuͤnf, sechs und mehrere Mitlau- ter an einander stoßen duͤrfen, weil man an ihre Aus- sprache von Jugend auf schon gewoͤhnt ist, leidet eine viel unmittelbarere Zusammensetzung, als eine gelindere Sprache, die entweder Buchstaben weglassen, oder die haͤrtern mit weichern verwechseln, oder Vocalen einschal- ten muß, um dem zusammengesetzten Worte eine Fluͤßig- keit zu geben, die sich durch weniger biegsam gemachte Zungen aussprechen lasse. Die deutsche Sprache leidet eine solche unmittelbare Zusammensetzung, und geht dar- inn so weit, daß sie ehender mehr Consonanten als Selbstlauter einmengt, wie z. E. in den Woͤrtern: Erfin- Von der Sprache an sich betrachtet. Erfindungskunst, Kruͤmmungskreis, ꝛc. wo das s schlechterdings eingeschaltet ist, und statt dessen ein Grieche oder Lateiner einen Vocal wuͤrde gebraucht haben. §. 85. Wir wollen aber die Zusammensetzung der Buchstaben oder einfachen Selbstlauter und Mitlauter, in so fern einzelne Sylben daraus entstehen koͤnnen, in ihrer allgemeinsten Moͤglichkeit und an sich betrachten, und den Reichthum der Sprache an Sylben bestim- men. Zu diesem Ende nehmen wir nur die oben (§. 74.) von einander unterschiedene 17 einfache Selbst- laute, weil sich nicht wohl ausmachen laͤßt, wie viele Zwischenlaute, die etwan nur ein feineres Gehoͤr unter- scheidet, moͤglich bleiben. Wir halten uns auch nicht damit auf, daß einige dieser Selbstlaute in dieser oder jener Sprache als ein Doppellaut genommen werden. Denn dieses geschieht nur, weil man nicht eigene Buch- staben oder Zeichen dafuͤr hat. Aus gleichem Grunde verstehen wir durch Doppellaute nur diejenigen Laute, wo zween Vocalen einer nach dem andern, und jeder vernehmlich, in einer Sylbe ausgesprochen werden, der- gleichen in den Woͤrtern auch, die, ein, und im Jta- lienischen buon’ \&c. vorkommen. Die verschiedenen Combinationen sind nun folgende. §. 86. Erstlich, da jeder einfache Selbstlaut fuͤr sich ausgesprochen werden kann, so haben wir dadurch 17 Sylben, welche unter allen die einfachsten, und vielmehr nur Anfaͤnge zu Sylben als wirkliche Sylben sind. Jn- dessen kann jeder Selbstlaut fuͤr sich schon einen Begriff vorstellen, wie z. E. im Lateinischen das a und e Praͤ- positionen sind. §. 87. Die Anzahl der Doppellaute ist schon merk- lich groͤßer. Denn jeder der 17 Selbstlaute kann mit jedem andern zusammengenommen zum Doppellaute werden, und jeder dem andern vor und nachgehen. Auf D 3 diese II. Hauptstuͤck. diese Art bringen wir, die Verdopplung eines gleichen Selbsilautes mitgerechnet, 17 mal 17, oder 289 Doppel- laute heraus, welche ebenfalls wiederum, jeder einen Begriff, vorstellen koͤnnen, wie z. E. im Deutschen die Woͤrter au, je, ey, ja, ꝛc. sind. §. 88. Die Aussprache aller dieser Doppellaute setzt weiter nichts als die Aussprache aller Selbstlaute vor- aus, und man kann sich in der Jugend zu einer beson- dern Fertigkeit darinn gewoͤhnen. Das Aussprechen dreyer Selbstlauter in einer Sylbe ist allerdings an sich muͤhsamer, wenn man, ohne zwo Sylben daraus zu ma- chen, jeden vernehmlich aussprechen will. Die Welschen haben etwas dergleichen in den Worten gli uomini, wo sie das gliuo in eine Sylbe ziehen. Uebrigens wird bey der Aussprache solcher Triphtonge oder Dreylaute noch mehr als bey den Doppellauten erfordert, daß man es in der Jugend zur Fertigkeit bringe. Und da die Selbstlaute nur stufenweise von einander verschieden sind, so ist fuͤr sich klar, daß die Aussprache solcher Dreylaute leichter ist, wenn sie nach der Ordnung ihrer Stufen auf einander folgen. Die Anzahl solcher Drey- laute belaͤuft sich auf 17 mal 289 oder 4913, worunter aber die doppelt und dreyfach genommenen Selbstlaute mit begriffen sind. Denn ohne diese kommen nur 17 · 16 · 15 = 4080 heraus. Die Anzahl der Vier- laute ist noch 14 mal groͤßer, so daß, wenn man sie noch als moͤglich und aussprechbar ansehen will, uͤber die 60000 Laute herauskommen, die noch alle, und ohne Zuziehung eines Consonanten, in Form einer Sylbe aus- gesprochen werden, und Begriffe vorstellen koͤnnen. §. 88 a . Wenn wir aber Consonanten mitnehmen, und ebenfalls nur bey den (§. 77.) angezeigten 13 einfa- chen bleiben, so wird die Anzahl der moͤglichen Sylben noch ungleich groͤßer. Denn, um bey einem anzufan- gen, so kann jeder Consonant einem Selbstlaute, Dop- pellaute, Von der Sprache an sich betrachtet. pellaute, Dreylaute, sowohl vor als nachgehen. Dieses macht die erst angegebenen Zahlen 26 mal groͤßer. Dem- nach 26 mal 17 = 442 Sylben von einem Mitlaut und einem Selbstlaut. 16 mal so viel oder 7072 von einem Mitlaute und einem Doppellaute. 15 mal so viel oder 106080 von einem Mitlaute und einem Dreylaute. §. 89. Nehmen wir aber zween Consonanten, so haben wir 13 mal 13 oder 169 Combinationen, und die Selbstlaute, Doppellaute ꝛc. koͤnnen vor, oder zwischen, oder nach den beyden Consonanten stehen. Da dieses nun fuͤr jeden Selbstlaut, Doppellaut ꝛc. 3 mal 169 oder 507 Abwechslungen giebt, so muͤssen die im §. 87. gefundene Zahlen mit 507 multiplicirt werden, welches schon merklich groͤßere Zahlen geben wird. Und es ist fuͤr sich klar, daß noch ungleich groͤßere herauskommen werden, wenn man drey, vier und mehr Consonanten zu einer Sylbe nimmt. Wir setzen aber diese Rechnung hier nicht weiter fort, weil sie sonst genauer und mit meh- rern Unterschieden muͤßte vorgenommen, und die Wie- derholung eines gleichen Consonanten von den uͤbrigen Faͤllen, wo man verschiedene Consonanten nimmt, im- gleichen die Moͤglichkeiten der Stelle der Selbstlaute, Doppellaute ꝛc. von einander unterschieden werden, wel- ches aber hier um desto weniger nothwendig ist, weil die zum Grund gelegte Anzahl der 17 Selbstlaute, und 13 Mitlaute, nur hypothetisch angenommen ist, und folglich alle Zahlen noch zu klein seyn wuͤrden, so bald diese muͤßten noch um einige einfache Selbstlaute und Mitlaute vermehrt werden. §. 90. Die Sylben haben die Bedingung, daß sie mit einem male oder mit einer Oeffnung des Mundes muͤssen koͤnnen ausgesprochen werden, weil man sie eben deswegen Sylben nennt. Diese Bedingung schraͤnkt ihre moͤgliche Anzahl ein, doch so, daß es uns schwer oder gar unmoͤglich wird, die Grenzen dieser Moͤglich- D 4 keit II. Hauptstuͤck. keit zu bestimmen, weil man sich in der Jugend zu der Aussprache von Sylben gewoͤhnen kann, die aus sehr vielen Buchstaben zusammengesetzt sind. Die wirkli- chen Sprachen gehen hierinn Stufenweise, und die Deutsche und Slavonische haben zusammengesetztere Sylben, als die Lateinische und davon abstammenden Sprachen. Es laͤßt sich aber nicht wohl eroͤrtern, wo die Structur der Gliedmaßen der Sprache selbst an- faͤngt Schranken zu setzen, und es ist unstreitig eine Ue- bung hierinn, wie bey jeden uͤbrigen Leibesuͤbungen, z. E. bey dem Springen, Seiltanzen ꝛc. moͤglich, wo- durch man es bis zum Unglaublichen sollte bringen koͤn- nen. Solche Uebungen im Aussprechen wuͤrden auch leicht eingefuͤhrt werden, wenn erhebliche Gruͤnde eine Sprache, die sie ersordern wuͤrde, nothwendig machen sollten. §. 91. Hingegen hat die Zusammensetzung der Syl- ben keine Einschraͤnkung. Denn es koͤnnen in zwo auf einander folgenden Sylben eben so viel Consonan- ten an einander stoßen, als in zwey auf einander fol- genden Woͤrtern, weil man im Reden die Woͤrter wie Sylben zusammenhaͤngt. Man kann sich hievon ver- sichern, wenn man jemanden eine ganz fremde Sprache reden hoͤrt. Eine ganze Periode wird ein einiges Wort zu seyn scheinen. Man hat sie vorzeiten auch an ein- ander haͤngend geschrieben, bis man anfieng, die Woͤr- ter abzusetzen. Jm Deutschen gieng man weiter, und theilte auch die zusammengesetzten Woͤrter durch Strich- lein, indem man z. E. Hof-Rath, Lust-Haus ꝛc. schrieb, welches aber wiederum in Abgang koͤmmt. §. 92. Die Anzahl der Sylben, um ein Wort zu machen, ist ebenfalls unbestimmt, in so fern man nur die Moͤglichkeit betrachtet, ein Wort aus Sylben zu- sammen zu setzen. Hingegen so lange die Woͤrter nur willkuͤhrliche Zeichen der Dinge und Begriffe bleiben, wird Von der Sprache an sich betrachtet. wird man allerdings die Verba fesquipedalia, die naͤm- lich aus uͤberhaͤust vielen Sylben bestehen, und dennoch nicht mehr, als ein kuͤrzeres Wort bedeuten, fuͤr fehler- haft ansehen, so wie man es hingegen fuͤr eine Zierde einer Sprache haͤlt, wenn sie eben nicht durchaus ein- sylbige, sondern eine schickliche Abwechslung von laͤn- gern und kuͤrzern Woͤrtern hat. Sollten aber die Woͤr- ter wissenschaftliche Zeichen der Dinge und Begriffe werden koͤnnen, so wuͤrde sich die Frage von ihrer Laͤnge und Kuͤrze aus ganz andern Gruͤnden entscheiden muͤs- sen, und man wuͤrde, wie bey den algebraischen For- meln, das Einfachere dem Weitlaͤuftigern und Kuͤrzern vorziehen. §. 93. Aus dem bisher gesagten erhellet genugsam, wie viele Mannichfaltigkeiten aus der Combination und Permutation von 17 Selbstlauten und 13 Mitlauten, folglich in allem von 30 Buchstaben, in der Sprache entstehen koͤnnen, auch nur so fern sie geredet wird. Jm Schreiben kann diese Mannichsaltigkeit noch viel- fach groͤßer werden, weil man dabey die Wahl behaͤlt, wie viele verschiedene Zeichen man fuͤr jeden Buchstab nehmen, und folglich wie viele Alphabete man gebrau- chen will. Die Absichten, die man hiebey haben kann, sind vielerley. §. 94. Einmal, wenn jemand fuͤr sich ein ganz will- kuͤhrliches Alphabet waͤhlet, so geschieht dieses, um das, so er schreibt, zu verstecken, und das Alphabet oder uͤber- haupt das Register der Zeichen und ihrer Bedeutung heißt der Schluͤssel zu solchen Schriften. Die Wissen- schaft selbst, solche geheime Schriften zu erfinden, heißt die Cryptographie, Steganographie oder ge- heime Schreibkunst, und die Zeichen, deren man sich zu geheimen Schriften bedient, werden Ziffern genennt. Wenn der Schluͤssel zu der geheimen Schrift nach sehr einfachen Regeln gemacht ist, z. E. wenn man D 5 fuͤr II. Hauptstuͤck. fuͤr jeden Buchstab schlechthin ein Zeichen waͤhlt, so ist es wohl moͤglich, eine solche verborgene Schrift zu le- sen, ohne den Schluͤssel dazu von ihrem Urheber entleh- nen zu duͤrfen. Wie man es anzugreifen habe, wird in der Dechiffrirkunst gewiesen. Diese Wissenschaft ist schlechthin eine Anwendung einer viel allgemeinern analytischen Aufgabe, naͤmlich: Wenn eine nach Regeln gemachte Sache gegeben, die Regeln zu finden, nach denen sie gemacht worden, oder haͤtte koͤnnen gemacht werden. Wir ha- ben bereits in der Dianoiologie bey der Betrachtung der Hypothesen davon Erwaͤhnung gethan (§. 555. feqq. ). §. 95. Ferner kann man sich ein Alphabet und Zei- chen waͤhlen, um das, welches man schreiben will, am geschwindesten schreiben zu koͤnnen, so, daß man darinn dem Redenden gleich oder gar zuvorkomme. Die Wis- senschaft, die dieses lehrt, heißt die Tachygraphie. Sie giebt die Zeichen, die am einfachsten, am leichte- sten zu schreiben und an einander zu haͤngen sind, in- gleichen die schicklichsten Abkuͤrzungen der Woͤrter an, und richtet alles dieses so ein, daß man eben nicht mehr Zeit gebrauchen muͤsse, sich auf die Zeichen zu besinnen, als es gebrauchte, um mit der gewoͤhnlichen und von Jugend auf erlernten Schrift zu schreiben. §. 96. Man kann ferner auch auf die Schoͤnheit der Schriften sehen, nicht nur daß sie leslich seyn, sondern mit ihren Nebenzierrathen wohl in das Auge fallen. Hierinn scheint es die lateinische Schrift allen andern zuvor zu thun. Die Wissenschaft oder Kunst, schoͤn zu schreiben, heißt die Calligraphie. Sie soll angeben, wie die Buchstaben nach dem natuͤrlichen Zu- ge der Hand und Feder ungezwungen, symmetrisch, einfach, genugsam verschieden ꝛc. geschrieben werden koͤnnen. Diesen Bedingungen hat Hr. Prof. Spreng auch Von der Sprache an sich betrachtet auch in Ansehung der deutschen Cursivschrift meines Wissens am besten Genuͤge geleistet, weil er viele uͤbel in das Auge fallende Ecken und unnoͤthige Zuͤge schick- lich abgeruͤndet, und den Buchstaben des geschriebenen kleinern Alphabets eine solche Symmetrie gegeben, daß sie nur aus der Zusammensetzung weniger einfachen und nach dem Zuge der Feder eingerichteten Zuͤge be- stehen, und die meisten Buchstaben umgekehrt wieder- um Buchstaben vorstellen. §. 96 a . Jn so ferne die Buchstaben und uͤberhaupt jede geschriebene Zeichen der Woͤrter Figuren sind, so ferne ist es auch an sich moͤglich, daß sie als Figuren eine Bedeutung haben, welche wesentlich seyn, und sich auf die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Sache und das Zeichen macht, gruͤnden kann (§. 46. Alethiol.). Ob Leibniz Zeichen von dieser Art durch seine allgemeine Zeichenkunst verstanden habe, koͤnnen wir hier dahinge- stellt seyn lassen. Wir muͤssen aber anmerken, daß, da uns die Rede immer unentbehrlich bleiben wird (§. 14. 15.), auch die einfachsten Zeichen der Buchsta- ben und einfachen Laute von gleicher Nothwendigkeit bleiben werden, weil sie dazu dienen, daß wir die Rede vor Augen malen, und weil man außer dem Alphabet keinen kuͤrzern Schluͤssel zur Zeichnung der Rede wird finden koͤnnen. Die Woͤrter muͤssen demnach schon in der Rede bedeutend seyn, wenn sie es je in einem hoͤ- hern Grade sollen werden koͤnnen, und die Verschieden- heit der geschriebenen Alphabete mag hoͤchstens nur zu gewissen allgemeinen Absichten dienen. Wir werden unten Anlaß haben, diese Anmerkung genauer zu er- wegen. §. 97. Die Orthographie ist die Anweisung, die Woͤrter richtig zu schreiben. Sie wuͤrde auf einer ei- nigen Regel beruhen, daß man naͤmlich jeden Buchstab, den man in der deutlichen Ausspra- che II. Hauptstuͤck. che des Wortes hoͤrt, in eben der Ordnung schreiben muͤsse, wenn nicht der Gebrauch zu re- den und andere Hindernisse im Wege stuͤnden. Die erste ist, daß wir fuͤr die einfachen Selbstlaute nicht ge- nug, fuͤr einige Mitlaute uͤberfluͤßig Zeichen haben, und uͤberdieß noch Selbstlaute und Doppellaute, im- gleichen zusammengesetzte Mitlauter mit einfachen ver- wechseln (§. 75. seqq. ). Jn einigen Sprachen, und be- sonders in der Franzoͤsischen und Englaͤndischen, weicht man noch mehr ab, weil man weder alle Buchstaben, noch alle immer auf gleiche Art ausspricht, und daher ganz anders liest, als man schreibt. Die Jtaliener und Deutschen haben wenigstens einige Provinzen, deren Aussprache, in Ermangelung anderer Regeln, zum Mu- ster im Schreiben genommen wird, weil ihre Einwoh- ner auch die uͤbrigen Woͤrter nach dem Buchstaben aussprechen, so viel naͤmlich die vorhin angefuͤhrten Ab- weichungen in der Bezeichnung der Buchstaben zulas- sen. Jndessen ist dieses nicht so ausgemacht, daß nicht noch Unbestimmtes und Willkuͤhrliches zuruͤcke bliebe. Die Abwechslung in der Aussprache traͤgt auch vieles dazu bey, und scheint in ihrem ersten Anfange von ge- wissen Unbiegsamkeiten der Zunge herzuruͤhren, die bey jedem Menschen ihre besondere Stufen hat. So giebt es auch Neuerungen in der Aussprache, und in meh- rern andern Theilen der Sprache, die man unvermerkt nachahmt, weil sie das erstemal, und oͤfters aus Neben- umstaͤnden, das Gluͤck hatten, zu gefallen. §. 98. Die Ordnung im Schreiben fordert zwar, daß die Buchstaben und Woͤrter so auf einander folgen, wie im Reden. Es bleibt aber das willkuͤhr- lich dabey, daß man den Anfang vorn oder hinten, oben oder unten setzen kann. Daher schreiben die Chi- neser von hinten angefangen herunterwaͤrts, die He- braͤer von hinten angefangen vorwaͤrts, die Griechen, Latei- Von der Sprache an sich betrachtet. Lateiner, Deutschen ꝛc. von vorn hinterwaͤrts, oder von der linken zur rechten Hand. Diese Verschieden- heit in der Ordnung scheint anzuzeigen, daß mehrere Erfinder der Schriften gewesen sind. Jndessen, so fern man annehmen kann, daß es natuͤrlicher sey, mit der rechten Hand zu schreiben, wird auch die Ordnung der Europaͤer die natuͤrlichste und bequemste seyn, weil die Feder dabey nicht gestoßen, sondern gezogen wird. Wir wuͤrden es auch mit den Zahlen thun, wenn diese nicht von Arabern waͤren erfunden worden, welche die Hypothese, von hinten anzufangen, nach der Ordnung der Buchstaben in ihrer Sprache eingerichtet. Jn der Algeber haben wir uns aber nicht daran gebunden, son- dern weil a + b = b + a , und a. b = b. a ist, die Gleichungen und besonders die Ausdruͤcke a—b, a:b , nach der europaͤischen Ordnung eingerichtet. §. 99. Der Gebrauch der Accente ist sehr unbe- stimmt, und in verschiedenen Sprachen verschieden, weil man theils die Staͤrke, theils die Laͤnge eines Tones, und wie z. E. im Franzoͤsischen bey den è, é , die Aus- sprache des Vocals, und in andern Faͤllen schlechthin den Unterschied zweyer gleichgeschriebener Woͤrter oder einen wegbleibenden Buchstab anzeigt. Die Spra- chen waͤren mit immer gleich langen Sylben zu einfoͤr- mig, und dem Ohre gefallen die darinn eingefuͤhrten Abwechslungen. Es sind aber diese Abwechslungen nicht bloß der Harmonie zu gefallen eingefuͤhrt, sondern wir sind von Natur dazu gewoͤhnt, diejenigen Woͤrter und Sylben staͤrker, haͤrter, laͤnger ꝛc. auszusprechen, auf welche der Nachdruck der Rede faͤllt, und wor- auf der Zuhoͤrende vorzuͤglich Acht haben soll, und die- ses kann einen Einfluß auf den Verstand der Rede ha- ben. Z. E. 1. Jch hab es ihm gesagt: will sagen, nicht ein anderer. 2. Jch II. Hauptstuͤck. 2. Jch hab es ihm gesagt: zeigt an, es sey ge- schehen. 3. Jch hab es ihm gesagt: naͤmlich nicht einem andern. 4. Jch hab es ihm gesagt: das ist, nicht gedeutet, geschrieben ꝛc. Wir koͤnnen hiebey anmerken, daß in Versen dieser Nachdruck der Woͤrter mit den Stellen des Verses zusammentreffen soll, welche die Vers- art, die man gewaͤhlt hat, zu Stellen eines laͤngern oder staͤrkern Tons macht. Denn auf diese Art giebt der Vers den Nachdruck der Worte an, und harmonirt mit denselben. §. 100. Wenn die geschriebene Sprache durch- aus alles, was in der geredten Mannichfaltiges vor- koͤmmt, genau anzeigen soll, so wird man allerdings auch Zeichen gebrauchen muͤssen, welche jede Modification in der Laͤnge, Kuͤrze, Schaͤrfe, Nachdruck ꝛc. der Woͤr- ter und Sylben anzeigt, und besonders die staͤrkern Gra- de davon unterscheidet. Die Verschiedenheit des Al- phabets in gedruckten Schriften, welche besonders Bil- finger in seinen Dilucidationen gebraucht, um die Grade der Aufmerksamkeit dem Leser anzuzeigen, thun hiebey sehr gute Dienste, wo naͤmlich der Nachdruck auf ganze Woͤrter und Redensarten geht. Die Ausru- fungszeichen (!), welche einen Affect anzeigen, das NB , das Sela in den Psalmen, die dermalen in Aufnahm kommende — —, welche dem Leser eine Pause oder Ru- heplatz geben, noch mehr hinzuzudenken, als man mit Worten anzeigt, die .... bey einsmaligem Abbru- che oder Unterbrechung der Rede, wie in dem Virgil: Quos ego ‒ ‒ ‒ sed motos praestat componere fluctus. Die ungewoͤhnlichere Versetzung der Woͤrter, wie in vielen der besten poetischen Perioden, oder auch z. E. wie im Livius: Per ego te fili etc. Alles dieses sind Mittel, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erwecken und abzu- Von der Sprache an sich betrachtet. abzuaͤndern, und den Begriff von dem, was man sagen will, genauer und sicherer zu bilden. Es ist aber fuͤr sich klar, daß der Schreibende selbst wohl wissen muß, wo er diese Mittel zu gebrauchen hat, und ob er auf die in der That nachdruͤcklichere Woͤrter selbst aufmerksamer ist. Dieses ist vielleicht ein Grund mit, warum solche feinere Unterscheidungszeichen in der geschriebenen Re- de nicht durchgaͤngig eingesuͤhrt sind, und in Gedichten giebt es noch mehrere Schwierigkeiten, wenn man den Schwung der Gedanken, der Worte und des Ver- ses mit einander durchaus in Harmonie bringen soll. §. 101. Ungeacht man in den wirklichen Sprachen, in Ansehung der Accente, nicht leicht eine Neuerung vornimmt, so kann es doch zum Behufe der Fremden, die eine Sprache lernen wollen, geschehen, daß man in den Sprachlehren und Woͤrterbuͤchern dergleichen ein- fuͤhrt, um die Aussprache und ihre Modificationen an- zuzeigen. Um hierinn vollstaͤndig zu verfahren, muͤßte man durch schickliche Abaͤnderung in der Figur der Vo- calen a, e, i, o, u , die oben angezeigten 17 einfachen Vocalen kenntlich von einander unterscheiden, und hin- gegen koͤnnte man die Laͤnge und Kuͤrze der Sylben durch Accente oder durch die Zeichen — ⏑ (§. 44.) so uͤber die Vocale gesetzt wuͤrden, die Schaͤrfe der Syl- ben durch Accente anzeigen, die uͤber denjenigen Conso- nant gesetzt wuͤrden, auf welchen der Nachdruck des To- nes in der Aussprache faͤllt. Dieses einmal eingefuͤhr- te Mittel wuͤrde auch dienen, jede fremde Sprache ih- rer natuͤrlichen Aussprache gemaͤß zu schreiben. Viel- leicht verhuͤlfe es ebenfalls dazu, die Aussprache des Deutschen, welche in jeden Provinzen Deutschlandes verschieden ist, dergestalt zu zeichnen, daß man sich, we- nigstens im Lesen, auf eine einfoͤrmige Art darnach rich- ten koͤnnte. Die Aenderung der Vocale hat hiebey al- lerdings die groͤßte Schwierigkeit, weil man bald in al- len Sprachen dieselben mit Doppellauten verwechselt. Drittes III. Hauptstuͤck. Drittes Hauptstuͤck. Von der Sprache als Zeichen betrachtet. §. 102. W ir haben im vorhergehenden Hauptstuͤcke die Stru- ctur der Sprache an sich betrachtet, und ihre einfachsten Elemente nebst den allgemeinsten Moͤglich- keiten deren Zusammensetzung vorgezaͤhlt. Wir wer- den sie nun als Zeichen ansehen, und die sich dabey aͤußernden Moͤglichkeiten aufsuchen. §. 103. An einer Sylbe, so fern sie vernehmlich ausgesprochen wird, kann alles, was sich daran unter- scheiden laͤßt, bedeutend seyn, folglich 1. jeder Buchstab, 2. die Ordnung der Buchstaben, 3. die Modification oder Art der Aussprache, 4. die Sylbe im Ganzen, 5. ihre Verbindung und Ordnung mit andern Sylben. §. 104. Von diesen fuͤnf Stuͤcken kommen in den wirklichen Sprachen hoͤchstens nur die drey letzten vor. Denn die zwey ersten werden zum vierten gerechnet, weil man nur auf die ganzen Sylben, auf die Kuͤrze und Laͤnge derselben, und auf ihre Stelle in den zusammen- gesetzten Woͤrtern Acht hat. Es sind demnach in den wirklichen Sprachen die Buchstaben und ihre Ordnung nicht anders bedeutend, als in so fern sie die Sylben und Woͤrter von einander unterscheiden, und in dieser Absicht giebt es Faͤlle, wo man genau darauf Acht ha- ben muß. §. 105. Von der Sprache als Zeichen betrachtet. §. 105. Hingegen haben wir bereits einige wissen- schaftlichere Woͤrter, in welchen auch die beyden ersten Stuͤcke vorkommen, wo naͤmlich die Buchstaben bedeu- tend sind, und theils eine gewisse Ordnung haben, theils an sich schon eine Ordnung in der Sache anzeigen. Solche Woͤrter sind die Namen der Schlußarten Bar- bara, Celarent \&c. der Umwege im Schließen Caspi- da, Serpide \&c. (§. 27.) Wir haben auch bereits schon (§. 46.) angezeigt, daß noch mehrere dergleichen moͤglich waͤren, und besonders waͤre es zu wuͤnschen, daß man die Arten und Gattungen in den drey Reichen der Na- tur durch die Combination und Modification einer ge- ringen Anzahl kenntlicher Merkmale zureichend von einander unterscheiden koͤnnte. Denn so ließen sich Na- men derselben finden, deren Structur an sich schon die Sache kenntlich machen wuͤrde, und der Name selbst wuͤrde statt der Beschrelbung dienen. §. 106. Bey Erfindung solcher Namen ist es vor- nehmlich um den Schluͤssel zu thun, welcher naͤmlich die Bedeutung jeder Buchstaben, ihrer Ordnung, der Ordnung der Sylben ꝛc. angiebt, und so eingerichtet ist, oder noch so viel Willkuͤhrliches zuruͤcke lasse, daß der herausgebrachte Name ausgesprochen werden, oder selbst noch einen gewissen Wohlklang behalten koͤnne. Wir haben uns in der Dianoiologie nach diesen Re- geln gerichtet, um die Namen Caspida, Serpide \&c. herauszubringen, welche ein Beyspiel und nur noch ein kleiner Anfang solcher bedeutenden Namen sind. §. 107. Da ohne Vocal keine Sylbe ausgesprochen werden kann, so maßen sich die Vocalen und Diphton- gen in Erfindung bedeutender Namen ein gewisses Vorrecht an, so daß sie in denselben entweder gar nichts, oder solche Merkmale, Theile, Stuffen, Modificatio- nen, Verhaͤltnisse ꝛc. vorstellen muͤssen, die in allen Faͤl- len vorkommen. Lamb. Organon II B. E §. 108. III. Hauptstuͤck. §. 108. Die Ordnung der Buchstaben und Sylben stellt entweder an sich eine Ordnung in der Sache selbst vor, oder man giebt derselben willkuͤhrlich eine Bedeu- tung, indem man die Theile der Sache in einer gewis- sen Ordnung annimmt, und die Buchstaben jeder Syl- be zur naͤhern Charakterisirung des Theiles oder der Ei- genschaft, die sie vorstellt, dienen macht. §. 109. Wir merken dieses hier kurz an, um zu zei- gen, daß bey Erfindung durchaus bedeutender Namen die Sache darauf ankomme, daß man die Moͤglichkei- ten und Combination der Bedingungen und Theorie der Sache selbst, mit den Moͤglichkeiten und Combina- tion der Buchstaben und Sylben gegen einander halte, und jene auf diese vertheile, und daß es eben nicht durch- aus gleichguͤltig ist, wie diese Vertheilung geschehe. Es ist uͤberhaupt leichter, wo die Moͤglichkeiten und Ab- wechslungen in der Bezeichnung zahlreicher sind, als in der Sache. Denn da kann man nicht nur der Aus- sprache, sondern auch dem Wohlklange des Wortes freyer Genuͤge thun. §. 110. Hingegen wird es schwerer, wenn die Moͤg- lichkeiten in der Sache in groͤßerer Anzahl sind, als in der Bezeichnung. Da kann es allerdings ge- schehen, daß die Anzahl aller Buchstaben noch zu klein bleibt, daß zu viele Consonanten in eine Sylbe kom- men, und die Woͤrter, die man aus den Sylben zusam- mensetzen muͤßte, allzulang wuͤrden. Jn solchen Faͤl- len muß man, wie in der Algeber, auf Abkuͤrzungen denken, und daher Zeichen annehmen, die einen sehr zusammengesetzten Begriff nur deswegen bedeuten, weil man ihn an das Zeichen bindet, oder weil man dasselbe zum Zeichen des Begriffes macht. Dadurch werden aber neue Willkuͤhrlichkeiten eingefuͤhrt, und die Spra- che wird noch mehr zu einer Gedaͤchtnißsache. §. 111. Von der Sprache als Zeichen betrachtet. §. 111. Man ist ferner aus eben diesen Gruͤnden, und wegen der geringen Anzahl der Buchstaben, fast nothwendig daran gebunden, daß man vielmehr die Sylben als Buchstaben zur Grundlage der Bedeutung der zusammengesetzten Woͤrter macht. Jhre Anzahl ist an sich schon ungemein groß, und man kann sagen groͤßer, als daß sie nicht sollte dem Gedaͤchtniß zur Last werden, wenn jede Sylbe nur einen individualen Be- griff vorstellen sollte, der mit andern nichts gemein hat. Man versuche es, allen Pflanzen, Thieren und ihren Theilen, allen Arten des Steinreiches, allen Werkzeu- gen ꝛc. einsylbige Namen zu geben. Es wird ein Ver- zeichniß herauskommen, dessen Erlernung ungemein vie- le Zeit gebrauchen wird. §. 112. Jndessen ist es, an sich betrachtet, das na- tuͤrlichste, daß ein Begriff, der fuͤr sich gedacht werden kann, schlechthin nur durch eine Syl- be angedeutet werde. Denn eine Sylbe laͤßt sich fuͤr sich ebenfalls mit einem male aussprechen. Die Kuͤrze des Zeichens ist eine Vollkommenheit, und es bedarf ein Zeichen nicht mehr, als daß es das Bewußt- seyn der Sache errege. Aus diesem Grunde sind zu- sammengesetzte Woͤrter, in welchen nicht jede Sylbe ih- re eigene Bedeutung hat, Unvollkommenheiten einer Sprache. Man muß aber nicht alle Woͤrter von die- ser Art, die in den wirklichen Sprachen vorkommen, nach dieser strengen Regel, oder nach derselben allein beurtheilen. Von vielen Woͤrtern ist die Bedeutung der Sylben und der anfaͤngliche Anlaß zu ihrer Zusam- mensetzung verlohren, dessen Erkenntniß uns anzeigen wuͤrde, was das Wort in seiner ersten Bildung und in seinen Sylben und Fuͤgung derselben bedeutet habe. Bey andern Woͤrtern war der Anlaß zu der Zusam- mensetzung etwan ein Jrrthum, oder etwas von der be- sondern Gedenkensart ihres Urhebers, und dieses macht, E 2 daß III. Hauptstuͤck. daß es in den Sprachen Woͤrter giebt, deren buchstaͤb- liche Bedeutung mit der Sache nicht uͤberein koͤmmt, und folglich nur nach dem Sinn oder Gedenkensart ih- res Urhebers erklaͤrt werden muß, der Sache selbst aber kein Licht giebt. §. 113. Bey dem Ursprunge der wirklichen Spra- chen findet sich in Ansehung der erst gemachten Anmer- kungen noch verschiedenes, welches eine besondere Be- trachtung verdient. Sie sind allerdings nicht wissen- schaftlich erfunden worden, und die Geschichte, wie sie in der heil. Schrift vorgestellt wird, nennet den Ur- sprung der verschiedenen oder mehreren Sprachen, die in der Welt sind, eine Verwirrung, die dem Thurmbaue zu Babel ein Ende machte, und, als eine nothwendigere Wirkung, die Vertheilung der Menschen auf der Erdflaͤche hervorbrachte. §. 114. Jndessen, wie auch immer diese Verwir- rung ihren Einfluß in den Ursprung der Sprachen mag gehabt haben, so koͤnnen wir uͤberhaupt dennoch zum Behufe des Metaphysischen und Allgemeinen, so in den Sprachen ist, zum Grunde setzen, daß, ungeacht eine wissenschaftliche Sprache regelmaͤßiger waͤre, und allge- meinere Moͤglichkeiten haͤtte, als die wirklichen, diese letztern dennoch nicht so beschaffen sind, daß sie an sich nicht haͤtten entstehen koͤnnen. §. 115. Auf diese Art sieht man es z. E. als eine be- traͤchtliche Schwierigkeit fuͤr den Erfinder der Schrif- ten an, daß er in den Woͤrtern nicht nur die Sylben, sondern auch in diesen noch die Buchstaben unterschei- den, und dabey bemerken mußte, daß ihre Anzahl gar nicht groß sey, und auch nach dieser Bemerkung war es noch nicht so leicht, die einfachen Laute genau zu bemer- ken und auszulesen, und besonders die Vocalen von den Consonanten zu trennen. Jn der Chinesischen Schrift koͤmmt eine solche Anatomie der Rede gar nicht vor. Jn Von der Sprache als Zeichen betrachtet. Jn der Hebraͤischen bleiben die Vocalen entweder ganz weg, oder sie werden nur durch Punkte angezeigt, und in den abendlaͤndischen Sprachen scheinen noch die ver- schiedenen Stuffen und Mitteltoͤne zwischen den Haupt- vocalen nicht durch einen genugsamen Vorrath von Zei- chen angezeigt worden zu seyn, wenigstens sind sie es in den heutigen Sprachen nicht, weil wir fuͤr 17 und mehr verschiedene und einfache Selbstlaute nur 5, oder, das η und υ der Griechen mitgerechnet, nur 7 Zeichen haben. §. 116. Die Folge, die wir hieraus ziehen, ist, daß man um desto weniger noch von den ersten Urhebern einer Sprache fordern koͤnne, daß selbst diese schon die Buchstaben, und besonders die Consonanten sollten be- deutend gemacht haben, wie es bey durchaus bedeuten- den Woͤrtern seyn koͤnnte (§. 105.). Die Selbstlaute, Doppellaute und etwan noch die Halblaute ( Semiuo- cales §. 78.) litten eine Bedeutung, und haben sie auch wirklich in einigen Sprachen mehr oder weniger (§. 87.), weil sie fuͤr sich einen Ton geben oder ausgesprochen werden koͤnnen. §. 117. Ferner waren die Urheber der Sprachen gleichsam genoͤthigt, bey solchen Begriffen anzufangen, fuͤr welche man in einer wissenschaftlichen Sprache auf Abkuͤrzungen wuͤrde denken muͤssen (§. 110.). Denn da die abstracte Erkenntniß durchaus symbolisch ist (§. 17.), so ließ sichs dabey nicht anfangen, und die er- sten Dinge, die benennt werden mußten, konnten kei- ne andere, als solche seyn, deren wirkliche Empfindung sich mit der Empfindung des Lautes, wodurch man sie andeuten wollte, unmittelbar verbinden ließ, wenn an- ders die Sprache gemeinsam werden sollte. Hiezu hatten nun die Handlungen und Bewegungen des Lei- bes, und sodann die in der Natur und zunaͤchst um den Menschen vorhandenen Arten und Gattungen der E 3 Pflanzen III. Hauptstuͤck. Pflanzen und Thiere, und ihre Theile, das erste Recht, um desto mehr, weil diese Arten und Gattungen nach unveraͤnderlichen Gesetzen bleiben, und sich fortpflan- zen. Mose erzaͤhlt auch ausdruͤcklich, daß die Thiere auf diese Art von Adam benennt worden, doch so, daß seine Sprache nicht damit anfienge. §. 118. Die Handlungen oder Bewegungen des Lei- bes haben ferner noch ein desto unmittelbareres Recht, zuerst benennt zu werden, weil sie in Ermanglung der Sprache die einigen Zeichen der Begriffe seyn wuͤr- den, wie sie es denn auch bey Tauben und Stummen wirklich sind. Sie sind ferner von vielen Dingen, und besonders von Figuren und Bewegungen, nicht nur bloße Zeichen, sondern wirkliche Nachahmungen, wenn man sie dazu auswaͤhlt, und sie bleiben es auch, wenn die Sache selbst nicht mehr vor Augen ist (§. 7. 9.). Und man kann setzen, daß sie der Sprache natuͤrlicher Weise noch vorgehen, oder daß, ehe die Rede zur Bezeichnung der Begriffe gebraucht worden, die Bewegungen des Leibes dazu dienten. Bey der Sprache der Affecten scheinen Stimme, Minen, Geberden und Bewegung des Leibes und der Glieder zusammenzutreffen, weil staͤrtere Leidenschaften den ganzen Leib erschuͤttern. §. 119. Auf diese Art fangen die Sprachen eben so, wie unsere ganze Erkenntniß, bey den Sinnen und Empfindungen an. Die ersten Woͤrter sind einsylbig, und bezeichnen Handlungen und Bewegungen, und zwar als solche, die geschehen sind. Von dieser Art sind die hebraͤischen Wurzelwoͤrter, aus welchen die uͤbrigen gebildet werden. Jn den europaͤischen Spra- chen sind die einsylbigen Worter nicht so genau an Be- griffe von Handlungen gebunden. Sie sind aber al- lerdings von ihrem ersten Ursprunge weiter entfernt. §. 120. Die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Empfindung der Dinge und der artikulirten Toͤne ma- chen, Von der Sprache als Zeichen betrachtet. chen, scheint in die Benennung der Dinge einen gewis- sen Einfluß zu haben. Es giebt weichere, haͤrtere, an- nehmlichere, und anstoͤßigere Toͤne, die sich bey Em- psindung der Dinge, leichter darbieten, welche einen aͤhnlichen Eindruck in die Sinnen machen. Da indes- sen dieser Eindruck nicht bey allen Menschen gleich, noch gleich stark ist, so wird man auch diese Aehnlich- keit in den Sprachen nicht so durchgaͤngig antreffen, besonders wo der Ursprung des Wortes, oder der erste Anlaß dazu, nicht mehr bekannt ist. Selbst die Bieg- samkeit der Zunge, mehrere und haͤrtere Consonanten auszudruͤcken, mag viele Ausnahmen hierinn gemacht, und in verschiedenen Sprachen einerley Dinge mit ganz verschiedenen Namen belegt haben. Man sehe auch §. 18. 19. §. 121. Die Sprachen sind von der Algeber darinn verschieden, daß diese letztere Wissenschaft nur wenige Zeichen von bestaͤndiger und immer beybehaltener Be- deutung hat, da hingegen die Woͤrter der Sprachen ungefaͤhr wie die Zeichen der Zahlen, ihre Bedeutung behalten sollen, wenn man anders im Reden und Schreiben verstaͤndlich bleiben will. So unveraͤnder- lich sind zwar nun die wirklichen Sprachen nicht durch- aus, indessen aber aͤndern sie sich auch nicht so, daß man von einem Tag zum andern eine neue Sprache haͤtte. Es giebt immer eine gute Menge von Din- gen, die man nicht mit einander verwechseln kann, ohne den Jrrthum leicht zu erkennen, und deren Namen gleichsam die Grundlage und der Maaßstab von dem Fortdauernden und Festgesetzten in den Sprachen sind (§. 138. Alethiol.). Nach diesen muͤßten sich die uͤbri- gen Woͤrter richten, wenn eine neuaufkommende Spra- che im Beharrungsstande bleiben solle. Wir haben in der Dianoiologie und Alethiologie hin und wieder An- laͤße gehabt, diesen Unterschied des Bestaͤndigen und Ver- E 4 aͤnder- III. Hauptstuͤck. aͤnderlichen einer Sprache anzumerken, und werden es hier nicht wiederholen. Man wird aber ohne viele Muͤhe die Schicklichkeit finden, daß eben die Woͤrter, bey welchen eine neuentstehende Sprache anfangen muß, diejenigen sind, deren Bedeutung am unveraͤnderlichsten und zu- gleich am kenntlichsten ist. Man darf zu diesem Ende nur die vorhin (§. 117.) angezeigten Classen der- selben mit den im erstangezogenen §. 138. der Alethiolo- gie gegen einander halten. §. 122. Aus dieser Vergleichung wird auch mit er- hellen, daß die ersten Urheber einer Sprache unmittel- bar da anfangen, wohin man bey einer charakteristi- schen oder wissenschaftlichen Sprache erst nach sehr weit- laͤuftigen Zusammensetzungen einfacher Zeichen gelan- gen wuͤrde, weil man endlich doch auf Abkuͤrzungen denken muͤßte, wie man es in der Algeber thut (§. 110.). Denn ohne diese Abkuͤrzungen muͤßten in der charakte- ristischen Sprache, alle und jede Theile der Sache, ih- re Verbindung und Verhaͤltnisse gezeichnet werden. Dieses kann nun fuͤr einfache Figuren allerdings gesche- hen. Hingegen fuͤr die Dinge in der Natur wird es so leicht nicht angehen, weil ihre Grundtheilchen uns unempfindbar sind. Gienge es aber dennoch an, so wuͤrde unstreitig die Bezeichnung so weitlaͤuftig, daß man sie nicht zu Ende bringen wuͤrde. Denn sollte sie durchaus complet seyn, so wuͤrde sie uns die Anato- mie der Koͤrper, der Thiere und Pflanzen ꝛc. ganz uͤber- fluͤßig machen, weil sie uns die Lage, Groͤße, Kraft, Verbindung, Verhaͤltniß ꝛc. jeder kleinern und groͤßern Theile entwickelt vorstellen muͤßte. §. 123. Die Urheber der wirklichen Sprachen ver- fuhren aber ganz anders, und Natur und Nothwen- digkeit verhalf ihnen dazu. Sie fiengen bey dem Gan- zen an. Sie benennten jedes Thier, jede Pflanze, jeden Von der Sprache als Zeichen betrachtet. jeden kenntlichen Koͤrper, der ihnen vorkam, die Hand- lungen und kenntlichsten Arten der Veraͤnderungen, Modificationen und Verhaͤltnisse mit beliebigen Na- men, als eben so vielen abgekuͤrzten Zeichen, Vom Ganzen giengen sie zu den groͤßern, und von diesen zu den kleinern Theilen desselben. Sie ließen unbestimmt, wie weit man bey genauern Untersuchungen noch ge- hen koͤnne, und trieben z. E. die Benennung jeder Thei- le des menschlichen Leibes nicht bis auf anatomische Kleinigkeiten, und die microscopischen Entdeckungen waren zur Zeit der aufkommenden Sprachen noch weit außer dem Gesichtskreise der menschlichen Erkenntniß. §. 124. Man sieht hieraus, daß die Sprache sich mit der Erkenntniß erweitert, und immer ungefaͤhr von gleichem Umfange ist, und eben dieses erhellet auch aus der oben erwiesenen Nothwendigkeit der symbolischen Erkenntniß (§. 12.). §. 125. Den Urhebern der Sprache verhalf die Na- tur dazu, auf die erstbemeldte wirklich analytische Art zu verfahren, weil sie ihnen eine Menge von bereits schon vollendeten Ganzen vor Augen legte, die sie nicht erst aus unendlich vielen kleinen Theilen zusam- menzusetzen, sondern als schon zusammengesetzt, und in ihrer Art bestaͤndig, nur zu benennen hatten. Die Nothwendigkeit, dabey anzufangen, war ebeufalls da, weil die kleinsten Theile unempfindbar, ihre Anzahl zu groß, das Bewußtseyn, ohne Zeichen zu gebrauchen, zu verwirrt und zu fluͤchtig ist, und folglich immer et- was haͤtte mit Zeichen benennt werden muͤssen. Aber bey den kleinsten Theilen nicht anfangen koͤnnen, will sagen, genoͤthigt seyn, entweder von aller Bezeichnung zu abstrahiren, oder bey dem Ganzen und seinen groͤßern und kenntlichern Theilen anzufangen. Und dabey muͤs- sen wir es, sowohl in Ansehung der Zeichen als der E 5 Be- III. Hauptstuͤck. Begriffe, noch dermalen bewenden lassen (§. 33. Ale- thiol.). §. 126. Die Benennung der Dinge und Handlun- gen wuͤrde aber entweder zu weitlaͤuftig oder zu unvoll- staͤndig seyn, wenn nicht in den Sprachen ein gewisses Mittel waͤre getroffen worden. Denn da die Dinge sehr viele Abwechslungen und Verhaͤltnisse, die Hand- lungen sehr viele Modificationen und Bestimmungen haben, von welchen in jeden einzeln Faͤllen nur eine vor- koͤmmt, so haͤtte man entweder fuͤr jeden Fall besondere und eigene Woͤrter gebrauchen, oder in den Ausdruͤk- ken alle diese Veraͤnderungen und Unterschiede durch- aus weglassen muͤssen. Das Mittel, so man hierinn getroffen, macht die Sprachen gewissermaßen und noch in einem ziemlichen Grade wissenschaftlich. Denn sie sind so eingerichtet worden, daß wir sehr viele Veraͤn- derungen und Bestimmungen der Dinge auf die Woͤr- ter bringen koͤnnen, und dieses geschieht durch Ablei- ten, Zusammensetzen, Abaͤndern, Abwandlen, Vergleichen ꝛc. ( Deriuatio, Compofitio, Declinatio, Coniugatio, Comparatio \&c. ). Ferner geschieht es durch besondere Woͤrter, wodurch man die Umstaͤnde, Verhaͤltnisse, Verbindungen, Grade, Zusammenhang, Affecte ꝛc. anzeigt, dergleichen die Beywoͤrter, Zu- woͤrter, Vorwoͤrter, Bindwoͤrter, Zwischen- woͤrter ꝛc. ( Adiectiua, Aduerbia, Præpofitiones, Coniunctiones, Interiectiones \&c. ) sind, und welche, nebst einigen andern, uͤberhaupt Bestimmungswoͤr- ter, Particulae, genennt werden. Ueberdieß nehmen wir alle diese Woͤrter entweder in ihrer eigenen Be- deutung, oder wir gebrauchen sie in verbluͤmtem oder figuͤrlichem Verstande, wegen der Aehnlichkeit des Eindruckes der dadurch in beyden Faͤllen vorgestell- ten Dinge (§. 46. Alethlol.), und auch dadurch wird die Anzahl der Woͤrter vermindert. §. 127. Von der Sprache als Zeichen betrachtet. §. 127. Jn allem diesem findet sich ungemein viel Charakteristisches, doch so, daß der Gebrauch zu reden, und die sehr gelegentliche Entstehung und Veraͤnderung der wirklichen Sprachen eine gute Menge von Anoma- lien mit einmischt, und das Natuͤrliche mit dem Will- kuͤhrlichen verwechselt. Diese Anomalien wuͤrden sich nun leicht bestimmen lassen, wenn wir nebst den wirkli- chen Sprachen noch eine durchaus nach erwiesenen Re- geln eingerichtete Sprache haͤtten. Denn so kaͤme es schlechthin auf eine durchgaͤngige Vergleichung an. Jn Ermanglung einer solchen Sprache aber werden wir uns an die Gruͤnde zu halten suchen, und die Verglei- chung der wirklichen Sprachen unter einander mit zu Huͤlfe nehmen, weil ihre Unterschiede sehr viel Will- kuͤhrliches, und etwan auch das Bessere und Schlechtere angeben helfen. §. 128. Die oben (§. 23.) fuͤr wissenschaftliche Zei- chen gegebene Grundregel, daß naͤmlich die Theorie der Sache mit der Theorie der Zeichen solle koͤnnen verwechselt werden, mag uns auch hier dienen. Wir merken nur an, daß wir sie bey den Sprachen nicht so synthetisch gebrauchen koͤnnen, weil in den Sprachen die einfachsten Zeichen, oder die Wurzelwoͤrter, Primitiua, Radices, zusammengesetzte Ganze vorstellen. Da aber diese Ganze ihre Modifi- cationen, Veraͤnderungen und Verhaͤltnisse haben, so werden wir leicht sehen, daß ein Wort diesen Ab- aͤnderungen, so viel es seine Structur zulaͤßt, entsprechen solle. Auf diese Art laͤßt sich in der Sprache, von erstangefuͤhrter Regel die Haͤlfte erfuͤllen. Denn die Theorie der Woͤrter solle nach der Theorie der Sache ziemlicher maßen eingerichtet werden koͤnnen. Damit reichen wir aber noch nicht bis an die recipro- cirliche Verwechslung beyder Theorien, daß wir naͤm- lich jede nach den Regeln der Sprache moͤgliche Ver- bindung III. Hauptstuͤck. bindung der Woͤrter sogleich als eine an sich auch moͤg- liche Verbindung der Dinge, die sie vorstellen, ansehen koͤnnten, wie es in der Algeber geschieht. Es giebt zwar in den wirklichen Sprachen solche Faͤlle, wo die Woͤrter oder Redensarten sowohl grammatisch als an sich un- richtig sind, und dieses sind die, wo wir sagen, die Re- densart oder der Ausdruck habe keinen Ver- stand. Wir muͤssen aber mehrentheils auch die Bedeu- tung der Woͤrter mit zu Huͤlfe nehmen. Und eben die- ses thun wir auch in denen Faͤllen, wo der Sinn der Worte aus dem Zusammenhange muß bestimmt werden. §. 129. Da die Woͤrter als Zeichen betrachtet will- kuͤhrlich sind, so sind sie auch in so ferne eine bloße Ge- daͤchtnißsache, und ihre Anzahl solle dadurch vermindert werden, daß man ihre Ableitung und Zusammensetzung in allewege bedeutend mache. Eine Sprache ist daher auch vollkommener, je mehr sie Moͤg- lichkeiten enthaͤlt, aus ihren Wurzelwoͤrtern Woͤrter von jeder beliebigen Bedeutung zu- sammenzusetzen und abzuleiten, dergestalt, daß man aus der Structur des neuen Wortes seine Bedeutung verstehen koͤnne. Diesen Vor- zug hat die griechische und die deutsche Sprache. Hin- gegen bleibt die lateinische darinn zuruͤcke, und die Roͤ- mer borgten ihre neuen Woͤrter mehrentheils den Grie- chen ab, und der Gebrauch verboth ihnen, viele davon aus ihrer eigenen Sprache zusammenzusetzen, die gar wohl moͤglich und der Art ihrer Sprache nicht zuwider gewesen waͤren. Die Schullehrer maßten sich diese Freyheit an, aber mehrentheils ohne die Art der Spra- che zu kennen, und daher waren ihre philosophischen Kunstwoͤrter eher Misgeburten als aͤchtes Latein. Die deutsche Sprache, die bereits angefangen hat, zur gelehrten Sprache zu werden, scheint die Vollkommen- heit Von der Sprache als Zeichen betrachtet. heit der griechischen erreichen zu koͤnnen. Sie hat be- stimmte und bedeutende Woͤrter, und sehr viele Moͤg- lichkeiten der Zusammensetzung und Ableitung. Sie leidet haͤrtere Fuͤgungen der Mitlauter, und ist zu Me- taphern biegsam. Jn dieser Absicht verdient die deut- sche Sprache eine besondere Theorie, worinn naͤmlich die Bedeutung jeder Art der Zusammensetzung und Ablei- tung der Woͤrter festgesetzt, die Grenzen ihrer Moͤglich- keit aus der Art der Sprache bestimmt, und die Um- staͤnde und Redensarten, worinn ein neues Wort seinen bestimmten Verstand hat, und welche folglich statt der Definition dienen, angezeigt werden. Z. E. von dem Wort aͤcht, welches so viel als genuin, authentisch ꝛc. bedeutet, koͤmmt: aͤchtbar, aͤchtig, aͤchtlich, aͤcht- sam, unaͤcht, uraͤcht, ꝛc. Aechtheit, Aechtung, Aechtigung, Aechtigkeit, Aechtbarung, Aecht- barkeit, Aechting, Aechtniß, Aechtschaft, Aecht- thum, Aechter, Aechtiger ꝛc. aͤchten, aͤchtigen, beaͤchten, beaͤchtigen, beaͤchtbaren, veraͤch- ten ꝛc. Aechtssache, Aechtsfrage, Aechtsbtief ꝛc. nebst noch sehr vielen andern, die in besondern Faͤllen und Redensarten den ihnen eigenen Verstand und Nach- druck haben koͤnnen. Der Unterschied in der Bedeu- tung jeder dieser Woͤrter gruͤndet sich auf sehr allgemel- ne und metaphysische Verhaͤltnißbegriffe, welche durch die dem Wort: aͤcht, zugesetzte Sylben angedeutet werden. Und diese sollen in vorerwaͤhnter Theorie vor- kommen, von welcher die deutsche Sprache einen Reich- thum von bedeutenden, nachdruͤcklichen und genau be- stimmten Woͤrtern zu erwarten hat, weil die wenigsten Woͤrter durch alle Verwandlungen und Ableitungen, die sie theils ihrer Bildung, theils ihrer Bedeutung nach leiden, durchgefuͤhrt sind. §. 130. Man sieht ungefaͤhr hieraus, daß in den Sprachen mit einem Worte eine ganze Classe von Woͤr- tern III. Hauptstuͤck. tern zugleich gegeben ist, so bald man annehmen kann, daß der Gebrauch zu reden die Bedeutung der bereits eingefuͤhrten abgeleiteten Woͤrter nicht veraͤndert habe. Jndessen da es vieldeutige Woͤrter giebt, so ist es auch an sich moͤglich, die eigentliche und so zu reden buchstaͤb- liche Bedeutung eines Wortes wieder aufzuleben. Es koͤmmt darauf an, daß das Wort in solchen Redensar- ten wiederum gebraucht werde, in welchen es seine wahre Stelle und Nachdruck hat, und wo man klar sieht, daß kein anderes so gut dient. Die Zeit, einer Sprache diesen Schwung zu geben, und sie auf ihre einfachsten Regeln zu bringen, ist vornehmlich diejenige, wo sie an- faͤngt, zur gelehrten Sprache zu werden, und die Classi- schen Schriftsteller sowohl in Lehrbuͤchern als in Ge- dichten sind in jeden Sprachen im Besitz des Rechts und des Ansehens, welches hiezu erfordert wird. §. 131. Ungeacht ferner in jeden Sprachen die Syl- ben, die man zur Ableitung der Woͤrter gebraucht, eine gute Menge metaphysischer Verhaͤltnisse und Bestim- mungen angeben (§. 129.), so ist doch nicht zu vermu- then, daß in der erstrn Bildung der Sprachen alle ge- troffen worden, besonders da bald jede Sprache von den uͤbrigen hierinn abgeht. Die Griechen haben einige Participia, die im Deutschen mangeln, und durch Um- schreibungen muͤssen gegeben werden. Wodurch immer die Zeichnung der Gedanken verlaͤngert, und oͤfters der Nachdruck geschwaͤcht wird. So sind auch viele grie- chische und lateinische Endungen, denen im Deutschen nicht durchaus gleichbedeutende entsprechen. Wenn man demnach eine wissenschaftliche Sprache erfinden wollte, so muͤßte man diese Luͤcken ausfuͤllen, und jede Bedeutung, die ein Wort durch die Ableitung und Zu- sammensetzung erlangen kann, in Classen bringen, und selbst diese Classen vollstaͤndig abzaͤhlen. Uebrigens ist nicht zu zweifeln, daß nicht auch in den wirklichen Spra- Von der Sprache als Zeichen betrachtet. Sprachen neue Arten von Ableitungen sollten eingefuͤhrt werden koͤnnen. Wir merken zu diesem Ende an, daß die bereits uͤblichen Ableitungssylben, eine urspruͤngliche Bedeutung haben, die aber im Deutschen zum Theil, im Lateinischen fast durchaus verloren gegangen. Diese urspruͤngliche Bedeutung aber machte, daß die abgelei- teten Woͤrter nicht anders aussahen, als die zusam- mengesetzten, weil sie in der That auch zusammengesetzt waren. Z. E. die Schlußsylbe: er, bedeutete urspruͤng- lich eben so viel als Mann. Daher ist das Wort Krieger so viel als Kriegsmann. Die Sylbe bar heißt so viel als tragend, daher fruchtbar so viel als fruchttragend. Es ist demnach nur die Frage, in Ansehung anderer Woͤrter den Ruͤckweg zu nehmen, welche allgemeine metaphysische Bestimmungen und Verhaͤltnißbegriffe vorstellen, und aus denselben eine der alten deutschen Sprachart gemaͤße Ableitungssylbe zu machen. §. 132. Jn Ermanglung genugsamer Ableitungs- sylben, und auch um die Woͤrter nicht allzulang zu ma- chen, werden in den Sprachen eine Menge von Bey- woͤrtern und Zuwoͤrtern gebraucht, die man besonders schreibt, ohne sie mit dem Wort, zu dessen genauern Bestimmung sie dienen, zusammenzuhaͤngen. Solle aber dieser Unterschied auf seine wahre Gruͤnde gebracht werden, so muß man bey den Bestimmungen, Modifi- cationen und Verhaͤltnissen die trennbare von den untrennbaren unterscheiden, und zwar beydes sowohl in Ansehung der Sache selbst, als in Ansehung der Vorstellung und Erkenntniß derselben. Eine Sache mag Bestimmungen haben, die zwar nothwendig damit verbunden sind, die wir aber nicht immer gleich wissen. Solche Bestimmungen werden nun natuͤrlicher Weise dem Wort selbst nicht angehaͤngt, weil es sich nur wuͤr- de gebrauchen lassen, wo uns die Bestimmung bekannt ist. III. Hauptstuͤck. ist. Auf diese Art haben wir bey den Nennwoͤrtern und Zeitwoͤrtern nur die einzele und mehrere Zahl, ( singularis, pluralis, ) weil sichs, sobald mehrere sind, nicht immer wissen oder bestimmen laͤßt, wie viele? Auf eine aͤhnliche Art sehen wir bey den Zeitwoͤrtern nicht auf den Unterschied des Ortes, als in so fern sich den- selben die Ableitungstheilchen aus, vor, nach ꝛc. vor- setzen lassen, und in Ansehung der Zeit sehen wir nur uͤberhaupt auf das Vergangene, Gegenwaͤrtige und Kuͤnftige, die genauere Bestimmung der Zeit und Dauer aber zeigen wir, wo es noͤthig ist, durch beson- dere Woͤrter an. §. 133. Ungeacht nun hiebey in den wirklichen Sprachen viel Willkuͤhrliches bleibt, so koͤnnen wir doch die Grundregeln anfuͤhren, nach welchen eine durchaus wissenschaftliche Sprache eingerichtet seyn sollte. Wir rechnen daher zu den bereits vorhin angemerkten, noch folgende. Daß in den zusammengesetzten oder vielsylbigen Woͤrtern nicht nur jede Sylbe, sondern auch die Ordn n ng der Sylben, bedeu- tend seyn solle. Jeder Sylbe solle demnach ein Be- griff entsprechen, welcher fuͤr sich gedacht werden kann, und welcher sich mit andern wiederum verbinden laͤßt. Diese Regel mag vielleicht eine Ausnahm leiden, wenn naͤmlich die moͤgliche Anzahl der Sylben, so groß sie auch ist (§. 86. seqq. ), nicht groß genug waͤre, alles dadurch vorzustellen, was durch einzele Sylben vorge- stellt werden solle. §. 134. Um dieses aber genauer zu durchgehen, so merken wir aus dem vorhergehenden (§. 122.) an, daß wir in Benennung der Dinge da anfangen, wo man nach der synthetischen Charakteristik Abkuͤrzungen einfuͤhren und gebrauchen muͤßte, weil wir bereits schon vollendete Ganze vor uns haben, deren kleinste Theile und Structur uns unbekannt sind. Jn dieser Absicht koͤnnten Von der Sprache als Zeichen betrachtet. koͤnnten jede Arten der Pflanzen, Thiere ꝛc. als Ganze betrachtet, mit einzeln Sylben benennt werden. Jn die- sen Sylben wuͤrden gewisse Buchstaben bedeutend ge- macht, um daran die Classen und Arten, zu welchen jede einzele Art gehoͤrt, zu erkennen. Allein die Anzahl dieser einzeln Arten ist an sich merklich groß, und duͤrfte leicht die Anzahl jeder moͤglichen Sylben erschoͤpfen und uͤbertreffen. Da wir nun noch zu allen diesen Arten auch ihre Theile, und uͤberdieß noch unzaͤhlige Arten von Handlungen, Veraͤnderungen, Modificationen, Verhaͤlt- nissen ꝛc. zu benennen haben, so ist klar, daß die Anzahl der moͤglichen Sylben auf eine andere Art vertheilt, und bedeutend gemacht werden muͤsse. Und uͤberhaupt fordert die Kuͤrze der Zeichen, daß die einzeln Sylben haͤufig vorkommende, und vielfaͤltig verbindbare Be- griffe bedeuten. Denn so lassen sich durch bloßes Zu- sammenhaͤngen solcher Sylben zusammengesetzte und modificirte Begriffe vorstellen. Auf diese Art haben die Handlungen und Verhaͤltnisse ein vorzuͤglicheres und viel natuͤrlicheres Recht dazu, weil wir sie in Ermange- lung der Rede zu Zeichen der Begriffe machen wuͤr- den, und auch bey der Rede wirklich dazu machen (§. 118.). §. 135. Die Ordnung der Sylben kann ebenfalls bedeutend gemacht werden, und die wirklichen Sprachen bieten uns Spuren davon an. Die Rede hat nur eine Dimension und ist linear. Daher haben wir auch nur eine ganz einfache Ordnung, weil eine Sylbe einer an- dern schlechthin entweder vorgeht oder nachfolgt. Diese Ordnung hat man in den Sprachen nicht ganz gleich- guͤltig gelassen. Jm Deutschen sind Rathhaus und Hausrath, Bruchstein und Steinbruch, Holz- bau und Bauholz, ꝛc. solche Woͤrter, deren Verse- tzung die Bedeutung aͤndert. Auf gleiche Art werden die Ableitungstheilchen den Woͤrtern entweder vorgesetzt, Lamb. Organon II B. F oder III. Hauptstuͤck. oder angehaͤngt, zwischeneingeschoben oder ganz abge- sondert, und ihre Ordnung ist theils an sich, theils dem Sprachgebrauche nach, nicht gleichguͤltig. Wir sagen: igkeit, ichtheit, lichkeit, keitlich, barung, barlich, barkeit, barlichkeit, barschaft, schaftlich, thuͤm- lich, ꝛc. unver, verun, unab, unum, herab, her- unter, unzu, unent, verur, einver, ꝛc. Warum aber vielmehr diese als eine andere Ordnung und Ver- bindung der Ableitungstheilchen statt habe, muß in der vorhin (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutschen Sprache, und ihrer charakteristischen Einrichtung, unter- sucht werden. §. 136. Die Sprache saͤngt in Benennung der Dinge bey Empfindungen der aͤußerlichen Sinnen an, und sie benennt nicht so fast die Dinge selbst, als ihr Bild oder den Eindruck, den sie in die Sinne ma- chen. Dieser Weg ist von demjenigen nicht verschie- den, nach welchem wir von Jugend auf zu unserer Er- kenntniß gelangen, und er konnte auch von den ersten Urhebern der Sprachen nicht anders genommen wer- den. Die Folge, die wir hieraus ziehen, ist, daß man in der Zergliederung eines Wortes, welches einen nicht sinnlichen, sondern abstracten Begriff vorstellt, immer auf einen sinnlichen Begriff kommen wird, so oft naͤm- lich das Wort abgeleitet ist, oder eine Wortforschung zulaͤßt. §. 137. Die Hauptfrage aber, die hiebey vorkoͤmmt, ist diese: Ob die Koͤrperwelt, aus welcher wir die Woͤr- ter nehmen, von gleichem Umfange mit der Jntellectu- alwelt oder mit dem Reiche der abstracten Begriffe sey; so, daß wenn man alles Aehnliche und Verschie- dene in der Koͤrperwelt benennt hat, man durch bloße. Metaphern alle Begriffe der Jntellectualwelt, und uͤber- haupt alle abstracte Begriffe ausdruͤcken koͤnne? Denn waͤre dieses, so ist klar, daß man bey Erfindung einer wissen- Von der Sprache als Zeichen betrachtet. wissenschaftlichen und durchaus regelmaͤßigen Sprache sich schlechthin begnuͤgen koͤnnte, alle Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten der Koͤrperwelt zu benennen, und die Aehnlichkeit des Eindruckes sinnlicher und abstracter Dinge, die wir in der Alethiologie (§. 46. seqq. ) aus- fuͤhrlicher betrachtet haben, wuͤrde gebraucht werden koͤnnen, die Sprache auf jede abstracte und unempfind- bare Begriffe auszudehnen, es sey, daß man sie meta- phorisch machte, oder durch gewaͤhlte Ableitungstheil- chen die Verwandlung in der Bedeutung anzeigte. §. 138. Was wir hievon in den wirklichen Spra- chen antreffen, koͤmmt darauf an, daß sie gewisse Haupt- woͤrter ( Substantiua ) haben, welche zusammengenom- men eine ganz besondere Classe von Woͤrtern und ab- stracten Begriffen vorstellen, und zwar so, daß eine Sprache nicht zur gelehrten Sprache werden kann, oh- ne daß die Anzahl solcher Hauptwoͤrter betraͤchtlich ver- mehrt werde. Jm Deutschen unterscheiden sie sich durch die Endungen: heit, keit, niß, sal, schaft, thum, ung, ꝛc. wodurch sie haͤufig abgeleitet werden, z. E. Schoͤnheit, Moͤglichkeit, Hinderniß, Truͤbsal, Eigenschaft, Eigenthum, Aenderung, ꝛc. und zu diesen kommen noch unzaͤhlige, die von Zeitwoͤrtern hergenommen werden, z. E. das Schreiben, die Schrift, die Lehre, das Vermoͤgen, ꝛc. Diese Hauptwoͤrter werden schlechthin Abstracta genennt, weil sie in der That allgemeine und abgezogene Begriffe vorstellen, ohne welche eine Sprache nothwendig unge- lehrt bleibt. §. 139. Man sieht auch aus den angefuͤhrten Bey- spielen, daß diese Classe von Woͤrtern keine Substanzen oder fuͤr sich bestehende, sondern solche Dinge vorstel- len, die als fuͤr sich bestehend angesehen werden. Viele dieser Begriffe werden daher auch als Personen gemalt, F 2 z. E. III. Hauptstuͤck. z. E. die Weisheit, Klugheit, Gerechtigkeit, ꝛc. und in solchen Bildern ist bald alles bedeutend. §. 140. Diese abstracte Hauptwoͤrter haben ferner das besonders, daß sie sich nicht wohl anders, als durch Woͤrter von eben der Classe, definiren lassen. Denn die uͤbrigen Hauptwoͤrter der Sprache stellen Substanzen vor, welche in dieser Absicht so gut als heterogen sind. Die Vollkommenheit eines Menschen ist nicht der Mensch selbst, sondern etwas demselben Anhangendes, Zukommendes, ꝛc. §. 141. Wenn die Sprache keinen Mangel an sol- chen Hauptwoͤrtern hat, so lassen sie sich leichter defini- ren, weil sie einander fuͤglich subordinirt werden koͤnnen. Hingegen werden sie gewoͤhnlich vieldeutig, wenn man, aus Mangel mehrer solcher Woͤrter, genoͤthigt ist, den Umfang ihrer Bedeutung nach den Umstaͤnden einzu- richten. Und dieses ist um | desto eher moͤglich, weil sie abstracte Begriffe vorstellen, die oͤfters aus einer willkuͤhrlich zusammengenommenen Anzahl von Merk- malen bestehen. Man sehe, was wir in Ansehung der- selben in der Alethiologie (§. 139-158.) angemerkt haben. §. 142. Jn Ansehung der Beywoͤrter ( Adiectiua ) haben wir im Deutschen ebenfalls gewisse Endungen, die das Abstracte und Metaphysische darinn vorstellen, z. E. icht, ig, ley, lich, mal, sam, selig, bar, ꝛc. wie in den Woͤrtern: bergicht, verstaͤndig, vieler- ley, moͤglich, einmal, sattsam, feindselig, offen- bar, ꝛc. wohin auch jede Mittelwoͤrter ( Participia ) gerechnet werden koͤnnen. §. 143. Hingegen unterscheiden sich die Zeitwoͤrter ( Verba ), wenigstens in der deutschen Sprache, nicht durch besondere Endungen, woran man sehen koͤnnte, ob sie koͤrperliche Handlungen oder abstracte vorstellen, und die abstracten sind fast durchgehends von den koͤr- perlichen Von der Sprache als Zeichen betrachtet. perlichen entlehnt, z. E. verstehen, begreifen, fassen, einsehen, ꝛc. und eine Menge anderer, die sowohl bey der Koͤrperwelt, als bey der Jntellectualwelt vorkom- men. Dieses giebt den meisten Woͤrtern eine Vieldeu- tigkeit und theils unbestimmten Umfang der Bedeutung, und verursacht, daß mehrentheils aus dem Zusammen- hang der Rede der Verstand der Woͤrter muß be- stimmt werden. §. 144. Ungeacht uͤbrigens die Sprachen bey der Benennung empfindbare Dinge anfangen, so benennt man dabey eigentlich nicht so fast die Dinge selbst, als den Eindruck, den sie in die Sinnen machen, und die Dinge werden in dieser Absicht nur gebraucht, so fern sie bey jedem diesen Eindruck machen, weil man durch Vorzeigung derselben andern andeuten kann, was man durch das Wort versteht. Da nun dieses mit Dingen, so nicht unter die Sinnen fallen, nicht angeht, so wird es nothwendig, dieselben nach der Aehnlichkeit des Ein- druckes durch Metaphern anzuzeigen. Die Gewohn- heit macht sodann, daß man das Bewußtseyn, daß es Metaphern sind, nach und nach verliert, oder auf die urspruͤngliche Bedeutung gleichsam mit Vorsatze zuruͤcke sehen muß, um die Aehnlichkeit zu finden, welche die Metapher veranlaßte. F 3 Vier- IV. Hauptstuͤck. Viertes Hauptstuͤck. Von den Zeitwoͤrtern . §. 145. D ie Zeitwoͤrter, wodurch ein Thun oder Leiden ange- zeigt wird, gehen den uͤbrigen Gattungen von Woͤrtern aus verschiedenen Gruͤnden vor. Sie lassen sich nicht nur fuͤr sich gedenken, sondern sind auch zum Verstand einer Rede unentbehrlich. Man hat daher in den Sprachlehren die Regel, daß eine Redensart oder Phrasis wenigstens ein Zeitwort haben muͤsse, und daher scheinen sie im Lateinischen gleichsam vor andern auch Verba oder schlechthin Woͤrter, ge- nennt worden zu seyn. Die Aufgaben, auf ihre ein- fachste Form gebracht, fordern sie ebenfalls, (Dianoiol. §. 152.) und uͤberhaupt haben die Handlungen das naͤchste Recht, zuerst benennt zu werden (§. 118.). §. 146. Dieses ist nun in den wirklichen Sprachen auf eine sehr metaphysische Art geschehen, weil man, nebst dem Begriff der Handlung, noch eine Menge von Bestimmungen derselben mit einem Worte ausdruͤckt. Man unterscheidet das Thun von dem Leiden durch die thaͤtige und leidende Gattung, ( genus actiuum et passiuum ); die vergangene, gegenwaͤrtige und kuͤnftige Zeit der Handlung, durch die Tempora oder Zeiten; die Anzeige, das Gebieten, das Verbin- den und das Unbestimmte durch die Modos: Indi- catiuus, Imperatiuus, Coniunctiuus und Insinitiuus; die einzele oder mehrere Zahl der Thuenden oder Leiden- den, und endlich auch den Unterschied der Personen, durch die Woͤrter: ich, du, er; wir, ihr, sie, und dazu gewiedmeten Endungen. Die hebraͤische und grie- chische Von den Zeitwoͤrtern. chische Sprache gehen hierinn noch weiter, da die Grie- chen mehrere Zeiten, Zahlen, Arten und Gattungen, ( tempora, numeros, modos, genera, ) die Hebraͤer aber sieben Conjugationen haben, durch welche die Be- stimmungen und Verhaͤltnisse eines Zeitworts abgeaͤn- dert werden koͤnnen. §. 147. Bey allem diesem sind die Personen auf eine genau bestimmte Art getroffen. Wir zeigen sie im Deutschen theils durch die Endungen des Worts, theils durch die Woͤrter: ich, du, er, wir, ihr, sie, an; zu welchen noch die Woͤrter: es, man, kommen, welche die Person unbestimmt lassen; z. E. es verlautet, man sagt, ꝛc. §. 148. So haben wir auch in der Dianoiologie (§. 163.) angemerkt, daß die Arten ( Modi ) einen or- dentlichen Unterschied haben, und daß besonders die Fragen der Aufgaben durch den Infinitiuum, die Regeln, durch den Imperatiuum, die cathegorischen Saͤtze durch den Indicatiuum, die Bedingungen, Erfordernisse, ꝛc. durch den Coniunctiuum angezeigt werden, ungeacht allerdings in den Sprachen Moͤglichkeiten sind, davon, wenigstens dem Schein nach, abzuweichen. §. 149. Die nothwendige Anzahl der Zeiten, sind eigentlich nur drey, naͤmlich die gegenwaͤrtige, ver- gangene und kuͤnftige. Jndessen bleibt es moͤglich, bey jeder vergangenen und kuͤnftigen Zeit etwas vor- und nachgehends zu gedenken, und mit diesem Un- terschiede wuͤrden sieben Zeiten herauskommen. Man sieht aber leicht, daß noch ungleich mehrere Unterschiede und Verhaͤltnisse der Zeit angegeben werden koͤnnten, und besonders auch, daß man die Bestimmung der Zeit ganz weglassen koͤnne, wie es ungefaͤhr in den Aoristis der Griechen geschieht, statt deren wir uns im Deut- schen mit den Ausdruͤcken: vielleicht ist es nun ge- F 4 schehen, IV. Hauptstuͤck. schehen, nun solle es schon geschehen seyn ꝛc. aushelfen. §. 150. Die Abtheilung der Zeitwoͤrter in die thaͤ- tige und leidende Gattung ist nicht so genau getrof- fen, und auch nicht allgemein. Sie bezieht sich auf den Unterschied, ob man von dem rede, der etwas thut, oder von dem, so gethan wird, und daher betrifft sie auch nur die Zeitwoͤrter, die eine Veraͤnderung anzei- gen, welche sich sowohl von der Ursache als von der ver- aͤnderten Sache benennen laͤßt. Dieses wird auch nicht immer so genau genommen, weil man oͤfters die ent- fernten Ursachen mit den unmittelbaren vermengt, oder eine Handlung demjenigen zuschreibt, der sie nur veran- laßt, oder endlich die leidende Sache selbst als thaͤtig ansieht. Z. E. das Zimmer, das Essen, das Bett waͤrmen, sieht man als eine Handlung dessen an, der Feuer in den Ofen legt, das Essen auf das Feuer stellt, die Bettpfanne mit Glut oder warmem Wasser gefuͤllt in das Bett schiebt. Ein Stein faͤllt, nicht auf eine selbst thaͤtige, sondern leidende Art. Man sieht leicht, daß in solchen Faͤllen die Sprache Anlaß zu Jrrthuͤ- mern geben kann, nicht nur weil die Arten der Veraͤn- derungen darinn nicht genugfam unterschieden werden, sondern weil man aus Mangel genauerer Kenntniß die Sache dem Schein nach benennt. Z. E. die Sonne geht auf, sie laͤuft vom Morgen gegen Abend; ein Pferd zieht den Wagen, die Sonne zieht Wasser, der Thau faͤllt, ꝛc. Bey den Empfindungen verhal- ten wir uns oͤfters schlechthin leidend, und doch vermen- gen wir das Hoͤren mit dem Zuhoͤren, das Stehen mit Aufstehen, weil wir das Thaͤtige und Leidende in den Worten nicht unterscheiden. Die Griechen haben außer dem Actiuo und Passiuo noch das Verbum me- dium, und koͤnnen sich damit einigermaßen aushelfen, weil es in der That Faͤlle giebt, wo man die Wirkung ohne Von den Zeitwoͤrtern. ohne Ruͤcksicht auf das Thun und Leiden vorstellen, oder wo man unbestimmt lassen muß, ob die Sache, wovon die Rede ist, wirke oder leide. §. 151. So haben wir auch Zeitwoͤrter, die nicht eine Veraͤnderung, sondern eine Dauer, Zustand, Beharrungsstand anzeigen. Z. E. seyn, bleiben, harren, leben, liegen, stehen, ruhen, wohnen, sitzen, schlafen, ꝛc. wobey von Thun und Leiden wei- ter keine Rede ist, weil sie etwas Unthaͤtiges anzeigen. Sie werden daher in der Sprache auch nicht durch das Actiuum und Passiuum durchgefuͤhrt, sondern bleiben in dem einen oder dem andern, wie sie anfangs ge- waͤhlt worden, das ist, wie ihrem Urheber entweder das Thun oder das Leiden schicklicher geschienen. §. 152. Ferner ist bey allen diesen Zeitwoͤrtern schlechthin nur etwas Wirkliches. Und daher bleibt das Moͤgliche und das Nothwendige in so ferne zuruͤck, als man es durch die so genannten Huͤlfswoͤr- ter koͤnnen, moͤgen, muͤssen, sollen, heißen, doͤr- fen, anzeigt, welchen man noch wegen anderer Bestim- mungen die Huͤlfswoͤrter lassen, wollen, thun, pfle- gen ꝛc., und im Franzoͤsischen aimer, faire, paroitre, sembler, aller, venir ꝛc. beysuͤgt. §. 153. Diese Huͤlfswoͤrter bestimmen die Modifi- cationen und Verhaͤltnisse der Handlung, und das Zeit- wort wird denselben schlechthin im Infinitiuo beygesetzt. Z. E. Er kann schreiben, ich mag es wohl lei- den, man muß es sagen, er soll gehen, man heißt ihn schweigen, er darf sich unterstehen, man laͤßt es hingehen, man laͤßt wissen, er will sagen, er thut reden, man pflegt zu denken ꝛc., und im Franzoͤsischen, j’aime lire, il fait avertir, il paroit insinuer, il semble croire, il va écrirc, il vient dire ꝛc. F 5 §. 154. IV. Hauptstuͤck. §. 154. Wir haben zu diesen Huͤlfswoͤrtern die Woͤr- ter: seyn, haben, werden, nicht mitgerechnet, weil diese im Deutschen in einem ganz andern Verstande Huͤlfswoͤrter sind; indem wir sie schlechthin zu Bestim- mung der Zeit gebrauchen, weil wir im Deutschen nicht genug Endungen haben, um jede Zeiten anzuzeigen, wie die Lateiner im Actiuo , und die Griechen durchaus. Wir sagen daher: ich habe gesehen, ich hatte ge- sehen, ich werde sehen, ich wuͤrde sehen, ich werde gesehen, ich wuͤrde gesehen worden seyn ꝛc. Und alles dieses in einem sehr uneigentlichen und schlechthin angewoͤhnten Verstande. Hingegen gehen die vorhin erwaͤhnten Huͤlfswoͤrter durch alle Zeiten und Arten des Zeitworts durch, und behalten ihre Be- deutung. §. 155. Es waͤre an sich moͤglich, die Bedeutung dieser Huͤlfswoͤrter durch Ableitungstheilchen anzuzei- gen, um dadurch die Sprache kuͤrzer und nachdruͤckli- cher zu machen. Die Lateiner haben ihre Inchoatiua, Frequentatiua, Desideratiua, Deminutiua. Z. E. la- basco, lectito, lecturio, cantillo , ꝛc. So haben wir auch im Deutschen alten, aͤltern, aͤlteln, rechten, rechtigen, ꝛc. Ob sich aber ihre Anzahl durch neue und dem Sprachgebrauch gemaͤße Ableitungstheilchen vermehren lasse, ist eine andere Frage, die in der oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutschen Sprache vor- kommen solle, weil darinn die Bedeutung der Sylben, wodurch ein Wort von dem andern abgeleitet wird, vorkommen muß. Und hiezu finden sich allerdings Spuren in der Sprache, denen man nachgehen kann. §. 156. Die Verschiedenheit der Conjugationen oder Abwandlungsarten der Zeitwoͤrter, wie sie z. E. im Lateinischen und den daherruͤhrenden Sprachen vor- koͤmmt, scheint keinen metaphysischen Grund zu haben, ungeacht sie einen haben koͤnnte. Denn so koͤmmt es im Von den Zeitwoͤrtern. im Lateinischen auf die Endungen are, ere, ere, ire an. Diese sollten bedeutend seyn, und vielleicht waren sie es anfaͤnglich, und so waͤren sie, wie die meisten Ableitungs- theilchen der lateinischen Sprache, in Vergessenheit kom- men. Man wird auch schwerlich etwas a posteriori daruͤber bestimmen koͤnnen. Da sich aber ein und eben dasselbe Zeitwort nicht durch alle vier Conjugationen durchfuͤhren laͤßt, so ist klar, daß diese Endungen keine Modificationen einer und eben derselben Handlung ha- ben bedeuten koͤnnen. Sie muͤßten demnach nur ver- schiedene Arten von Handlungen angezeigt haben, und auch da laͤßt sich noch kein Grund finden, warum es nur viererley gewesen sind. §. 157. Wir merken dieses nur an, um zugleich mit zu zeigen, daß die Sprachen charakteristischer seyn koͤnn- ten, als sie wirklich sind, und wie viele Umstaͤnde man sich zu Nutze machen koͤnne, wenn man eine wirklich charakteristische Sprache erfinden wollte. Die vorhin erwaͤhnten Bestimmungen der Zeitwoͤrter durch Huͤlfs- woͤrter (§. 152.), durch Ableitungstheilchen (§. 155.), ihr Unterschied in Absicht auf die Veraͤnderung und Dauer (§. 151.), die Bemerkung der Verhaͤltniß der Veraͤnde- rung zur Ursache und Wirkung (§. 150.), wuͤrden da- bey mit in Betrachtung gezogen, und die Zeitwoͤrter al- so bezeichnet werden muͤssen, daß die Ableitungen dersel- ben, welche die Sache selbst nicht litte, schon durch die Structur des Wortes oder durch charakteristische Re- geln ausgeschlossen wuͤrden. Denn es ist fuͤr sich klar, daß, so weit dieses angienge, die Theorie der Zeichen statt der Theorie der Sache wuͤrde koͤnnen gebraucht werden, wie es bey wissenschaftlichen Zeichen seyn solle (§. 23.). §. 158. Wir koͤnnen noch anmerken, daß die vor- hin (§. 152.) angefuͤhrten Huͤlfswoͤrter nicht die einigen moͤgli- IV. Hauptstuͤck. moͤglichen sind. Jede Sprache hat ihre eigene, die durch den Gebrauch eingefuͤhrt worden, und die in al- len Sprachen ebenfalls seyn koͤnnten. Wir haben nur solche als Beyspiele angefuͤhrt, die im Franzoͤsischen und Deutschen einen Jnfinitivum zu sich nehmen, weil auf diese Art alle uͤbrigen Bestimmungen der Zeit, Zahl, Person ꝛc. auf das Huͤlfswort fallen. Man sieht aber leicht, daß bald alle Modificationen der Handlung, die Verhaͤltnisse des Redenden, der Antheil, den er an der Handlung nimmt, die Art, Kraft, Geschwindigkeit, Wiederholung, Gewohnheit, der Affect, die Grade der Heftigkeit, die Gewißheit, Moͤglichkeit, Nothwendig- keit, Wichtigkeit ꝛc. entweder durch Huͤlfswoͤrter oder durch Ableitungstheilchen ausgedruckt werden koͤnnten, statt deren wir in den wirklichen Sprachen mehren- theils nur Bestimmungswoͤrter gebrauchen (§. 126.). §. 159. Jm Deutschen haben wir nicht viele Ab- leitungstheilchen, die den Zeitwoͤrtern angehaͤngt wer- den. Hingegen haben wir desto mehrere denselben vorzusetzen, dergleichen die Sylben: ab, an, auf, aus, be, bey, ein, em, ent, er, fuͤr, ge, her, hin, miß, nach, in, por, ver, um, un, unter, vor, ur, weg, zer, zu, voll, dar, wider, fort, mit, ob, uͤber, durch, gegen, zwischen, ꝛc. sind, aus welchen sich noch mehrere zusammensetzen lassen. Der Grund davon ist, weil die letzten Sylben der Zeitwoͤr- ter zum Conjugiren, und folglich zur Bestimmung der Zeit, Zahl, Person, ꝛc. gewiedmet sind. Dieses macht, daß die Ableitungstheilchen eigentlich eingeschoben wer- den, wie z. E. in den Woͤrtern: vereinigen, offen- baren, raͤuchern, wandeln ꝛc., und unzaͤhligen an- dern, die sich von Nennwoͤrtern herleiten lassen. Man sieht uͤbrigens auch hieraus, daß in der Ordnung der Sylben mehr oder weniger Bedeutendes ist (§. 135.). §. 160. Von den Zeitwoͤrtern. §. 160. Diese Ableitungstheilchen dienen uͤber- haupt, die Zeitwoͤrter, denen sie beygefuͤgt, vorgesetzt oder eingeschoben werden, bestimmter, bedeutender und nachdruͤcklicher zu machen, weil sie dem Begriffe der Handlungen mehrere Bestimmungen geben. So fern sich aber dadurch das Wort nur da gebrauchen laͤßt, wo eben diese Bestimmungen wirklich vorkommen, so wird der Gebrauch desselben seltener und schwerer. Er- steres, weil seine Bedeutung durch die Zusammenset- zung individualer wird; letzteres aber, weil man sich da, wo das Wort gebraucht werden solle, vorerst versichern muß, ob es auf die erheblichen Umstaͤnde der Sache ge- nau passe? Jn der Fertigkeit dieser Auswahl der Woͤr- ter liegt ein großer Theil dessen, was man: einer Sprache maͤchtig seyn, heißt. §. 161. Die Ableitungstheilchen, wodurch ein Zeit- wort bestimmter wird, muͤssen daher auch wegbleiben, und mit andern verwechselt werden koͤnnen, damit sich das Wort nach jeden abgeaͤnderten Umstaͤnden richten lasse. Wir merken zu diesem Ende, und zugleich zum Behufe der oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deut- schen Sprache an, daß diese Sprache auch hierinn noch eines großen Wachsthums faͤhig ist. Sie hat noch ei- ne Menge abgeleiteter Zeitwoͤrter, deren Wurzelwoͤrter mehr aus Nachlaͤßigkeit als tuͤchtigen Gruͤnden in Ab- gang gekommen, und die man dermalen, da die deut- sche Sprache zur gelehrten Sprache wird, mit Vor- theil wiederum hervor suchen koͤnnte, nicht nur um die- se Wurzelwoͤrter selbsten, sondern mit denselben zugleich noch mehrere abgeleitete zu haben. Als Beyspiele wol- len wir nur die Woͤrter: erstaunen, bewahren, draͤngen, genesen, befremden, erhellen, erquik- ken, genuͤgen, gelingen ꝛc. anfuͤhren, von deren Wurzelwoͤrtern eine Menge anderer abgeleitet und in Aufnahme gebracht werden koͤnnen (§. 130.). §. 162. IV. Hauptstuͤck. §. 162. Da die Ableitungstheilchen Bestimmungen sind, die das Zeitwort bedeutender und individualer ma- chen, so muͤssen die Wurzelwoͤrter diese Bestimmungen nicht an sich schon enthalten, weil man sonst ohne Noth uͤberfluͤßig viele Wurzelwoͤrter haben wuͤrde. Beson- ders muͤssen aus dem Wurzelwort die veraͤnderlichen und trennbaren Bestimmungen wegbleiben, weil diese fuͤglicher durch Ableitungstheilchen gegeben werden. Wir merken dieses theils zum Behufe der charakteristi- schen Sprache, theils auch deswegen an, weil die Gra- de der Vollkommenheit der wirklichen Sprachen auch nach dieser Regel koͤnnen gepruͤft werden. Denn eine Sprache ist unstreitig desto vollkommener und charak- teristischer, je mehr und je mehrerley andere Woͤrter mit einem vorgegebenen Worte zugleich gegeben sind. Die- ses fordert, daß die Zeitwoͤrter, welche Wurzelwoͤrter sind, nur das Allgemeine einer Handlung, einer Veraͤn- derung, eines Zustandes ꝛc. vorstellen, und die besondern Bestimmungen durch Ableitungstheilchen, Huͤlfswoͤrter und Bestimmungswoͤrter ausgedruͤckt werden. §. 163. Dieß will nun nicht sagen, daß man, wo der Ausdruck zu weitlaͤuftig wuͤrde, nicht an Abkuͤrzun- gen denken, und folglich zusammengesetzte Handlungen, die an sich ein Ganzes ausmachen, durch ein eigenes Wurzelwort anzeigen, oder die Handlung von ihrer Ab- sicht, Ursach, Mittel, wesentlichsten Theile ꝛc. benennen solle. Die wirklichen Sprachen bieten uns hievon haͤu- fige Beyspiele an, und jede hat etwas besonderes, weil man sich bey Uebersetzungen aus einer Sprache in eine andere nicht selten genoͤthigt sieht, einzelne Woͤrter mit Umschreibungen zu vertauschen, und die Uebersetzung bald kuͤrzer bald weitlaͤuftiger zu machen, als die Ur- schrift ist. §. 164. Die hebraͤische Sprache ist nebst ihren ver- wandten Sprachen, vielleicht die einzige, deren Wurzel- woͤrter Von den Zeitwoͤrtern. woͤrter Zeitwoͤrter sind. Jm Deutschen scheint es sich, wenigstens dermalen, anders zu verhalten, weil der Ur- sprung dieser Sprache in alten und laͤngst abgelebten Sprachen fast ganz vergraben liegt. Wenn wir sie aber nehmen, so gut sie dermalen bekannt ist, so hat sie allerdings vielerley Mittel, Zeitwoͤrter zu bilden, weil sie dieselben von jeden andern Redetheilen herleiten, und auch hinwiederum diese aus Zeitwoͤrtern bilden kann. Diese Ableitung hat ihre Grundsaͤtze, die in der oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutschen Spra- che muͤssen entwickelt und brauchbar gemacht werden. Man hat sich bisher mehrentheils nur mit der Analo- gie begnuͤgt, und neue Woͤrter gebilliget, oder hingehen lassen, wenn man aͤhnlich abgeleitete gefunden. §. 165. Alle bisher angefuͤhrte Mittel, die Zeitwoͤr- ter durch bloße Abaͤnderung einiger Buchstaben und Sylben nach jeden Umstaͤnden bedeutend zu machen, sind an sich betrachtet, willkuͤhrlich. Die wirklichen Sprachen geben uns Beyspiele, daß die Abweichung da- von eben nicht nothwendig eine Zweydeutigkeit nach sich ziehe, wenn man, wie es die Hauptregel der Auslege- kunst erfordert, den Zusammenhang der Rede mit zu Huͤlfe nimmt. So z. E. hat legere im Lateinischen vier Bedeutungen, legeris ebenfalls. Man muß dem- nach aus dem Zusammenhang bestimmen, welche Be- deutung genommen werden solle. Jm Hebraͤischen wird die Zeit und die Zahl, im Deutschen die Zahl und Per- son verwechselt, und die Gewohnheit hat das Anstoͤßige dabey gehoben. Nur vor wenigen Jahren ward noch daruͤber gestritten, ob man im Franzoͤsischen Gott in der mehrern Zahl anreden, und sie in der Uebersetzung der Schrift gebrauchen duͤrfe oder solle? Nach diesen Beyspielen laͤßt sich als moͤglich gedenken, daß man alle Zeitwoͤrter schlechthin im Jnfinitivo gebrauchen koͤnnte, und so wuͤrde man in denen Faͤllen, wo Zweydeutigkei- ten IV. Hauptstuͤck. ten vorkommen, diese durch dienliche Bestimmungswoͤr- ter der Zeit und Person heben. §. 166. Wir fuͤhren dieses nur an, um die bloße Moͤglichkeit zu zeigen. Denn an sich betrachtet ist es besser, wenn die Zeitwoͤrter bestimmtere Bedeutungen haben, und fuͤr jede Bedeutung anders lauten. Die Kuͤrze der Zeichnung fordert sie, und die Auslegung der Rede wird dadurch erleichtert. Uebrigens ist an sich klar, daß bestimmtere Ausdruͤcke schwerer zu gebrauchen sind, und wenn man sie richtig gebrau- chen will, so muß man allerdings ihre Bedeutung ge- nauer kennen, die Sache genauer wissen, und beyde zu- sammenrichten. Da nun dieses nicht immer gleich leicht ist, so ist es das nuͤtzlichste, wenn die Sprache fuͤr jede Stuffen der Genauigkeit und Modificationen einge- richtet ist. Und hierinn hat die griechische Sprache, in Absicht auf die Zeitwoͤrter, einige Vorzuͤge (§. 149. 150.). §. 167. Die Mittelwoͤrter ( Participia ) haben in den Sprachen das besonders, daß man sie von andern Woͤr- tern, die sich von Zeitwoͤrtern ableiten lassen, unterschei- det, und aus denselben eine besondere Classe macht. Es ist fuͤr sich klar, daß dieser Unterschied von den ersten Sprachforschern getroffen worden, weil die Mittelwoͤr- ter nach sehr allgemeinen Regeln von den Zeitwoͤrtern abgeleitet werden koͤnnen, und nur fuͤr einige Faͤlle Ab- weichungen anzumerken waren. Es ist aber ihre An- zahl nicht in allen Sprachen gleich, und eben daher las- sen sich auch mehrere gedenken. Die griechische Spra- che ist damit am besten versehen, die lateinische hat weniger, und die deutsche noch weniger, wenn man naͤmlich nur die nimmt, die man in den Sprachlehren fuͤr Mittelwoͤrter angiebt. Denn eigentlich koͤmmt noch die Frage vor, was man Mittelwoͤrter heiße, und wiefern der Begriff davon allgemeiner gemacht werden Von den Zeitwoͤrtern. werden koͤnne? Mit den Zeitwoͤrtern haben sie weiter nichts gemein, als daß sie davon abgeleitet werden, und etwan noch die Bestimmung der Zeit behalten, wie z. E. amans, amatus, amaturus, amandus. Sodann sollen sie wie andere Beywoͤrter ( Adiectiua ) gebraucht werden koͤnnen, und daher nicht Redensarten, sondern einzelne Woͤrter seyn. Nach diesen Gruͤnden hat man im Deutschen nur zwo Arten von Mittelwoͤrtern zuge- lassen, dergleichen lobend, gelobt, sind. Die erste Art zeigt ein Thun an, die andere ein Leiden. Wiefern aber eine Bestimmung der Zeit dabey vorkomme, scheint nicht so leicht zu eroͤrtern zu seyn. Denn die erste Art stellt zuweilen auch nur eine bloße Moͤglichkeit, Ge- wohnheit, Fertigkeit, Faͤhigkeit ꝛc. vor. Z. E. ein to- bendes Wasser, ein blendendes Licht, ꝛc. und damit las- sen sich jede Zeiten verbinden. Die andere Art bindet sich auch nicht an die Zeit, wiewohl sie etwas anzeigt, das zu der Zeit, wovon die Rede ist, schon angefangen hat, und fortdauert, oder auch schon aufgehoͤrt hat. Z. E. die abgelesenen Worte, der angebothene Dienst, ein geschaͤtzter Freund, ꝛc. §. 168. Jndessen giebt es im Deutschen noch Spu- ren von andern Arten von Mittelwoͤrtern. Jn den Ti- tulaturen gebrauchen wir z. E. das: Hochzuehren- der Herr! und nach Aehnlichkeit auch: die beyzu- legende Sache, die anzustellende Reise ꝛc. Die- ses sind allerdings Mittelwoͤrter, die den lateinischen Participiis in dus aͤhnlich sind. Von zusammengesetz- tern Ausdruͤcken, die als Mittelwoͤrter angesehen wer- den koͤnnen, finden sich einige von folgenden Formeln: anzutreten habend, anzufangen gehabte, ge- liebt habend, geschrieben seyn sollend, ꝛc. Ob aber Mittelwoͤrter von dieser Art, zur Bereicherung der Sprache, allgemeiner gemacht, und in Aufnahme ge- bracht werden sollen, ist eine andere Frage. Es koͤmmt Lamb. Organon II B. G darauf IV. Hauptstuͤck. darauf an, ob sie deutsch genug klingen, und ob sie viel kuͤrzer und nachdruͤcklicher sind, als die Umschreibungen, die man dafuͤr gebraucht? §. 169. Vielleicht aber haben wir im Deutschen Mittelwoͤrter von einer ganz andern Art. Die Bedin- gung, daß sie so viel als Beywoͤrter seyn, oder statt der- selben dienen sollen, scheint viel Willkuͤhrliches an sich zu haben, und sie wird allgemeiner, wenn wir sie auch auf die Hauptwoͤrter und Zuwoͤrter ausdehnen. Auf diese Art wird zu einem Mittelwort erfordert, daß es von einem Zeitwort herkomme, und die Ableitungsart allgemein sey. Von diesen Bedingungen macht die er- stere, daß der Begriff eines Thuns oder Lassens in dem Mittelwort bleibt; die andere macht, daß die Mit- telwoͤrter nach einer allgemeinen Form gebildet, und zu- gleich mit der Abwandlung der Zeitwoͤrter erlernt wer- den koͤnnen. §. 170. Diese zwo Bedingungen haben nun etwas Allgemeines, und dem eigentlichsten Verstande des Na- mens Mittelwort, Participium, gemaͤßes. Wir wol- len nun einige Arten als Beyspiele anfuͤhren. Die er- ste ist, daß wir im Deutschen jeden Jufinitivum zum Hauptwort machen koͤnnen. So sagen wir: das Sit- zen, das Lesen, das Gehen, das Trinken, das Wohlseyn, ꝛc. Ferner benennen wir den, der etwas thut, ebenfalls von dem Zeitworte, welches die Hand- lung anzeigt, mit Verwandlung der letzten Sylbe en in er, welcher so viel als Mann bedeutet, oder in erin, wenn es weiblichen Geschlechts ist, z. E. der Liebhaber, der Richter, der Leser, der Hoͤrer, ꝛc. die Beherrscherin, Richterin, Vorsteherin ꝛc. Ungeacht nun noch nicht alle Woͤrter, die sich auf diese Art ableiten lassen, wirklich im Gebrauche sind, so wird es doch wenig nothwendige Ausnahmen geben, und sie haben in den behoͤrigen Redensarten einen ih- nen Von den Zeitwoͤrtern. nen eigenen Nachdruck. Einige davon sind angenom- mene Amtsnamen und Titel, und in so ferne bedeuten sie nicht mehr. Hingegen werden sie bedeutender, wo sie in ihrem eigentlichen Verstande vorkommen, z. E. die Vernunft ist eine Richterin in Zweifeln, eine Fuͤhrerin auf den Wegen der Wahrheit ꝛc. Es ist nicht zu zweifeln, daß die Endungen, ig, isch, z. E. in den Woͤrtern: stutzig, glaͤubig, eiferig, ꝛc. nei- disch, zaͤnkisch, kriegerisch, ꝛc. noch ungleich meh- rern, wo nicht allen Zeitwoͤrtern angehaͤngt werden koͤnn- ten. Sie scheinen aber mehr als den bloßen Begriff des Thuns und Lassens zu enthalten, und wuͤrden da- her den Begriff eines Mittelworts allgemeiner machen, als es noͤthig zu seyn scheint. Es gehoͤrt aber diese Untersuchung in die schon oͤfters erwaͤhnte Theorie der deutschen Sprache. Daher ist es genug, sie hier be- ruͤhrt zu haben. §. 171. Die Zeitwoͤrter sind bey dem Anfang der Sprachen, so wie jede andere Redetheile, von sinnlichen Dingen hergenommen worden, und haben sich nach Aehnlichkeit des Eindruckes der Vorstellungen, nach und nach auch auf Dinge der Jntellectualwelt erstreckt, indem man sie metaphorisch gemacht hat. Damit geht es nun in den lebenden Sprachen immer weiter. Denn eine Metapher hoͤrt gleichsam auf, eine Meta- pher zu seyn, so bald man sich von Jugend auf daran gewoͤhnt. So glaubt man z. E. in der Vernunftleh- re, Metaphysik, Moral ꝛc. jede Woͤrter nach ihrem ei- gentlichen Verstande zu definiren; es ist aber nur nach dem Verstande, den sie in jeder dieser Wissenschaften haben, wo sie fast alle schon metaphorisch sind, wenn man auf ihre urspruͤngliche und buchstaͤbliche Bedeu- tung zuruͤcke sieht. Es geschieht selten, daß man in ei- ner Sprache ganz neue Wurzelwoͤrter einfuͤhrt. Da man aber zu ganz neuen Sachen Woͤrter gebraucht, so G 2 nimmt IV. Hauptstuͤck. nimmt man entweder zusammengesetzte, oder man ge- braucht Metaphern dazu. Die Namen, die man in der Anatomie, in der Naturgeschichte ꝛc. im Deutschen eingefuͤhrt hat, und sie immer mehr in Aufnahme bringt, moͤgen als Beyspiele dienen. Es koͤmmt dabey viel darauf an, daß man den schicklichsten Namen waͤhle. Denn da wird oͤfters eine Metapher einem zusammen- gesetzten oder abgeleiteten Worte vorgezogen. Die Re- geln, dieses besonders in Absicht auf die Zeitwoͤrter im Deutschen zu bestimmen, wo die Moͤglichkeit ihrer Bil- dung gar mannichfaltig ist, gehoͤren ebenfalls in die der deutschen Sprache eigene Theorie. §. 172. Da man in den Sprachen sehr zusammen- gesetzte Handlungen und Zustaͤnde der Dinge, abkuͤr- zungsweise, durch einzelne Woͤrter benennt: so sind die- ses entweder Wurzelwoͤrter, und folglich ganz willkuͤhr- lich, oder sie haben ganz oder theilsweise bereits schon eine Bedeutung, welche entweder von einer aͤhnlichen Handlung, oder von der Ursache, Mittel, Werk- zeug, Absicht, Wirkung, Eindruck auf die Sinnen, Veraͤnderung ꝛc. hergenommen ist. Da nun dieses auf vielerley Arten angeht, so sieht man leicht, daß einerley Handlung verschiedene, und hinwie- derum verschiedene Handlungen einerley Benennungen haben koͤnnen. Das Zeitwort, nach seiner buchstaͤbli- chen Bedeutung, zeigt nicht alle Bestimmungen der Handlung an, und daher kann es leicht geschehen, daß man sich einige dieser Bestimmungen entwe- der gar nicht oder irrig vorstellt, und letzteres um desto leichter, je mehr man gewoͤhnt ist, alles individual zu denken, zumal, wenn man nicht weiß, oder sich nicht gleich besinnet, daß eine Sache auf mehrerley Ar- ten moͤglich ist. Die Geschicklichkeit unter mehrern solchen Zeitwoͤrtern, die, uͤberhaupt betrachtet, einerley Handlung vorstellen, dasjenige zu waͤhlen, welches einem solchen Von den Zeitwoͤrtern. solchen Misverstande am besten vorbeugt, gehoͤrt wie- derum zu dem, was man: einer Sprache maͤchtig seyn, nennt, und fordert, daß man auch die Sache selbst genug verstehe. §. 173. Wir haben ferner in den Sprachen Zeit- woͤrter, die zwar uͤberhaupt einerley Sache, aber zu- gleich auch die verschiedenen Stuffen derselben, nebst andern Modificationen vorstellen. Auf diese Art sind z. E. die Woͤrter: schleichen, gehen, schreiten, ei- len, laufen, rennen, von einander verschieden, welche bald keine andere Modificationen vorstellen, als solche, die mit dem verschiedenen Grade der Geschwindigkeit an sich verbunden sind, da hingegen die Woͤrter: flie- hen, entgehen, entfernen, nahen, naͤhern, wan- deln, wandern, reisen, kommen, ꝛc. schon einige Bestimmungen mehr haben. Solche Woͤrter haben nun einen ihnen eigenen Nachdruck, wenn sie richtig ge- braucht werden, und um sie richtig zu gebrauchen, muß man ihre Nebenbestimmungen und Stuffen genau ken- nen. Es ist aber auch schwerer, fest zu setzen, wo jede Stuffe anfaͤngt, zumal da solche oͤfters nur Verhaͤltniß- weise groͤßer oder kleiner sind. Man verwirrt auch die Sprache, wenn man solche Woͤrter ohne Grund verwechselt, und uͤberhaupt ruͤhrt eine solche Verwechs- lung auch mehrentheils nur daher, daß man den jedem Wort eigenen Nachdruck nicht genug kennt. Denn auf diese Art verwechselt man die Umstaͤnde der Sache mit derjenigen, die das unschicklich gebrauchte Wort vorstellt. §. 174. Ungeacht es nun einen Reichthum der Spra- che anzeigt, wenn sie Woͤrter fuͤr jede Stuffen und Mo- dificationen einer Handlung hat, so ist dieser Reichthum dennoch nur alsdann eine Vollkommenheit, wenn solche Woͤrter nicht, oder wenigstens nicht alle, Wurzelwoͤrter sind. Denn da es unzaͤhlige Handlungen giebt, die G 3 mehrere V. Hauptstuͤck. mehrere kenntliche Stuffen haben, so ist klar, daß, wenn eine Sprache Ableitungstheilchen hat, dieselben anzu- zeigen, die Anzahl der Wurzelwoͤrter dadurch vermin- dert, und hingegen die Anzahl der abgeleiteten Woͤrter vermehrt wird. Und dieses macht die Sprache charak- teristischer und wissenschaftlicher, wie wir es bereits oben (§. 152. 155. 158.) bey Betrachtung der Huͤlfswoͤrter an- gemerkt haben. Fuͤnftes Hauptstuͤck. Von den Nennwoͤrtern . §. 175. D ie andere Classe der Woͤrter, die wir in den Spra- chen haben, sind die Nennwoͤrter, wodurch man entweder die Dinge selbst, oder ihre Eigen- schaften und Bestimmungen benennt. Jm erstern Fall sind es Hauptwoͤrter ( Substantiua ), und diese stellen uͤberhaupt alles vor, was man als fuͤr sich beste- hend ansieht, folglich im eigentlichsten Verstande jede Substanzen, z. E. Berg, Haus, Mensch, Was- ser ꝛc. Man hat aber in den Sprachen Mittel gesun- den, Hauptwoͤrter einzufuͤhren, die gar nicht Substan- zen sind, und dieses sind die bereits oben (§. 138.) er- waͤhnten Abstracta, die eine ganz besondere Classe von Woͤrtern ausmachen, und vorzuͤglich dienen, eine Spra- che zur gelehrten Sprache zu machen. Um demnach beyde Gattungen von Hauptwoͤrtern auf einerley Kenn- zeichen zu bringen, und sie von jeden andern Woͤrtern zu unterscheiden, kann man anmerken, daß sich die Din- ge, die sie vorstellen, zaͤhlen lassen. Die Hauptwoͤr- ter sind demnach alle der Bestimmung des Zaͤhlens faͤhig, Von den Nennwoͤrtern. faͤhig, und hinwiederum wird, was sich zaͤhlen laͤßt, un- ter die Classe der Hauptwoͤrter gerechnet. §. 176. Dieses Merkmal der Hauptwoͤrter ist nicht charakteristisch, sondern durchaus metaphysisch, und da die Sprachen sehr ordentlich nach demselben eingerich- tet sind, so gehoͤrt dieser Umstand mit unter diejenigen, wo das Metaphysische in der Sprache zur Richtschnur gedient, und dem Willkuͤhrlichen und Verwirrten vor- gebogen hat. Die Hauptwoͤrter wuͤrden dadurch saͤmt- lich in eine Classe gebracht, und zu allgemeinen Wen- dungen gebogen, wodurch sie von den Zeitwoͤrtern und uͤbrigen Redetheilen unterschieden, und charakteristische Merkmale und Gestalten erhielten. §. 176 a . Die andere Gattung der Nennwoͤrter, sind die Beywoͤrter, Adiectina, und diese bezeichnen nur Eigenschaften, Modificationen, Bestimmungen ꝛc. der Dinge: z. E. ein schoͤnes Haus, ein hoher Berg, ein fremder Mensch, ein helles Wasser ꝛc. Sol- che Woͤrter sind nun ungefaͤhr, was in der Algeber die Coefficienten. Denn sie helfen den allgemeinern Be- griff des Hauptworts, dem sie beygefuͤgt werden, naͤher bestimmen. Das Charakteristische, so dabey vorkoͤmmt, besteht dariun, daß die Beywoͤrter die Anzahl der Hauptwoͤrter merklich vermindern. Denn so laͤßt man aus dem Begriff des Hauptwortes die gemeinsamen und zufaͤlligen Merkmale weg, und benennt diese durch eigene Beywoͤrter, welche man sodann zu jeden Hauptwoͤrtern hinzusetzen kann, die sie haben sollen. Die Hauptwoͤrter stellen dadurch die abstracten Be- griffe der Gattungen vor, und die Beywoͤrter geben die Bestimmungen der einzeln Arten, auf eine sehr ab- gekuͤrzte Art, weil man sonst statt derselben ganze Re- densarten und Umschreibungen gebrauchen muͤßte. Das will nun nicht sagen, daß nicht auch Indiuidua einen ihnen eigenen Namen haben koͤnnen. Denn da wir G 4 uͤber- V. Hauptstuͤck. uͤberhaupt die Woͤrter als Abkuͤrzungen weitlaͤuftiger Vorstellungen gebrauchen, so wird auch dazu, daß wir den einzeln Dingen Namen geben, weiter nichts erfor- dert, als daß es im Reden ost vorkomme. Auf diese Art haben in Staͤdten jede Gassen, Plaͤtze, Gegenden ꝛc. ihre eigene Namen, nomina propria. §. 177. Die Nennwoͤrter sind in den Sprachen nicht ohne Abaͤnderungen geblieben, wodurch man die besondern Umstaͤnde und Bestimmungen der dadurch vorgestellten Dinge ausdruͤckt. Jndessen haben sie un- gleich weniger, als die Zeitwoͤrter, weil die Dinge und ihre Eigenschaften nur theils als fuͤr sich, theils in gewissen Verhaͤltnissen betrachtet werden. Da man sie als fortdaurend ansieht, so faͤllt die Bestimmung der Zeit weg, welche sich bey dem Begriff der Hand- lungen immer mit einmengt. Aus gleichem Grunde bleibt auch die Bestimmung des Thuns und Leidens weg, weil man die Dinge gleichsam als im Behar- rungsstande betrachtet, und das, so man mit denselben vornimmt, in das Zeitwort und dessen Nebenbestim- mungen einschiebt. Hingegen bleibt die Zahl, und zwar um desto nothwendiger, weil sie das Unterschei- dungsstuͤck der Hauptwoͤrter ist (§. 176.), und seldst die Zeitwoͤrter die Bestimmung der Zahl daher ent- lehnen. §. 178. Es sind aber in den Sprachen die Casus oder Fallendungen bey den Nennwoͤrtern eingefuͤhrt worden, die, uͤberhaupt betrachtet, etwas Metaphysi- sches an sich haben, jedoch nicht so, daß nicht viel Will- kuͤhrliches zugleich mit unterliese. So viel sieht man wohl, daß diese Fallendungen die Dinge in gewissen Verhaͤltnissen vorstellen, und folglich diese Verhaͤltnisse anzeigen und unterscheiden sollten. Und dieses erhellet auch aus den Fragen: Wer? Wessen? Wem? Wen? ꝛc. auf welche man in den vier ersten Fallen- dungen Von den Nennwoͤrtern. dungen antwortet. Man kann aber nicht sagen, daß diese vier Fragen alle seyn sollten, die man machen kann, und der bekannte topische Vers: Quis? Quid? Ubi? Quibus auxiliis? Cur? Quomodo? Quando? nach welchem man eine jede Materie abhandeln oder gar erschoͤpfen zu koͤnnen glaubte, enthaͤlt schon mehrere, ohne die Fragen Cuius? Cui? mit inzubegreifen. Man kann demnach sagen, daß, so fern man auf jede dieser Fragen mit einem Nennwort antworten kann, die Nenn- woͤrter eben so viele Fallendungen haben koͤnnten. Und so wuͤrde die Fallendung an sich schon die Verhaͤltnisse bezeichnen, und eine vollstaͤndige Redensart wuͤrde aus Nennwoͤrtern von jeder Fallendung zusammengesetzt werden koͤnnen. §. 179. So charakteristisch sind aber die wirklichen Sprachen nicht, und selbst die Verhaͤltnisse der Dinge in Absicht auf die Zeit, den Ort, die Lage, Ursache, Wir- kung, Veraͤnderung ꝛc., sind auch nicht so leicht in Clas- sen zu bringen, daß sich die Anzahl der moͤglichen und nothwendigen Fallendungen aus Gruͤnden bestimmen ließe. Um so viel weniger konnte man es von den er- sten Urhebern der Sprachen sordern. §. 180. Es koͤnnten aber auch diese Unterschiede der Fallendungen ganz wegbleiben, und die Zweydeutigkeit, so etwan aus ihrer Vermengung entstehen koͤnnte, durch die Ordnung der Woͤrter oder durch andere sehr leichte Mittel gehoben werden. Diese Vermengung koͤmmt auch in den wirklichen Sprachen zum Theil vor. Jm Lateinischen hat z. E. Mensae viererley Bedeutungen, Cornu bleibt durch alle sechs Fallendungen der einzeln Zahl unveraͤndert. Jm Deutschen ist die sechste En- dung oder der Ablatiuus so gut als gar nicht vorhanden, und in der mehrern Zahl unterscheidet sich die erste G 5 Endung V. Hauptstuͤck. Endung von der vierten durchaus nicht. Es ist dem- nach weder das Metaphysische noch das Charakteristi- sche in den Fallendungen der Nennwoͤrter genau ge- troffen, und oͤfters gehen verschiedene Sprachen bey ei- nerley Redensarten von einander ab, daß sie ganz ande- re Endungen erfordern. Dieses macht, daß man bey jeder Sprache besonders erlernen muß, was ihre Zeit- woͤrter und Vorwoͤrter fuͤr Endungen erfordern. §. 181. Judessen hat die zweyte Fallendung oder Genitiuus das besonders, daß er von einem andern Hauptwort regiert oder erfordert wird, und diese Con- struction zeigt verschiedene Arten von Verhaͤltnissen an, deren Anzahl und Beschaffenheit sich nicht leicht be- stimmen laͤßt. Man sieht den Unterschied besonders in denen Faͤllen, wo sich die Construction umkehren laͤßt. So sind z. E. das Land des Koͤnigs und der Koͤnig des Landes, imgleichen die Lehre der Vollkommenheit und die Vollkommenheit der Lehre, ganz verschiedene Dinge, ungeacht nichts als die Ordnung der Construction in den Worten verschie- den ist. Zuweilen, und besonders im Hebraͤischen, wird das Wort, welches im Genitiuo ist, statt eines Bey- worts gebraucht, und auch in andern Sprachen geschieht es oͤfters mit einem gewissen Nachdruck, z. E. im Phae- dro mit Aenderung beyder Woͤrter, Gulaeque credens colli longitudinem, an statt collum longum, welches minder nachdruͤcklich gewesen waͤre. Es ist aber bey solchen Verwechslun- gen immer etwas Metaphorisches, und jeder Ausdruck seinem eigentlichen Sinn nach von den uͤbrigen verschie- den. Z. E. Man kann sagen: das Maaß der Laͤn- ge, das Laͤngenmaaß, die Laͤnge des Maaßes, das lange Maaß ꝛc., aber jeder dieser Ausdruͤcke hat etwas ihm eigenes. Ueberhaupt liegt in solchen Con- structionen Von den Nennwoͤrtern. structionen etwas Charakteristisches, und die Ordnung der Woͤrter nebst der Abaͤnderung der Fallendung, ist dabey bedeutend. Da aber jede Sprache hierinn et- was besonderes hat, so koͤnnen wir die Bestimmung der Verhaͤltnisse und des Metaphysischen, das in solchen Constructionen ist, in Absicht auf die deutsche Sprache besonders, in die schon oͤfters erwaͤhnte Theorie dersel- ben verweisen. Denn da diese Sprache sehr viel Re- gelmaͤßiges hat, und dermalen im Schwunge ist, zur gelehrten Sprache zu werden, so lohnt es sich allerdings der Muͤhe, alles anzuzeigen, was sie noch regelmaͤßiger und charakteristischer machen kann. Das Ziel, wel- ches man zwar schwerlich ganz erreichen wird, dem man aber dennoch noch naͤher kommen kann, ist die oben schon angegebene Grundregel fuͤr wissenschaftliche Zei- chen; daß naͤmlich ihre Theorie statt der Theo- rie der Sache solle dienen koͤnnen (§. 23.). Und dieses fordert, daß man mehr auf das Metaphysische als auf das Grammatische der Sprachen sehen muß, wenn ihre Theorie diese Absicht erreichen, oder die Spra- che zu derselben dienlich machen solle. §. 182. Was ferner die Sprachen in Abficht auf die Nennwoͤrter besonders haben, sind die Geschlech- ter, Genera , in welche die Hauptwoͤrter eingetheilt werden. Jn den meisten Sprachen sind deren drey, und man nennt sie das maͤnnliche, weibliche und unbestimmte Geschlecht, ( genus masculinum, femi- ninum, neutrum ). Diese Benennungen ruͤhren aber von den Sprachlehrern her. Denn man kann nicht sagen, ob die ersten Urheber der Sprachen an solche Unterschiede gedacht, oder sie sich zur Regel vorgesetzt haben, weil bald jede Sprache besondere Anomalien hat, die mit vieler Muͤhe erlernt werden. §. 183. Die Hauptwoͤrter selbst, auf die es doch ei- gentlich angesehen ist, haben auch nicht so viel Charakte- ristisches, V. Hauptstuͤck. ristisches, daß der Unterschied des Geschlechts dem Wort angemerkt werden koͤnnte, und die Sprachlehrer gebrau- chen nicht nur die Endungen dieser Woͤrter, sondern auch ihre Bedeutung, um die Regeln von dem Geschlechte der Hauptworter, so gut es sich thun laͤßt, zu bestim- men. Hingegen zeigt sich dieser Unterschied an den Beywoͤrtern und den Artikeln oder eigentlich so ge- nannten Geschlechtswoͤrtern, welche mehrentheils dreyfach sind, und nach dem Geschlechte des Haupt- worts gewaͤhlt werden muͤssen. Alles dieses ist sehr willkuͤhrlich. Denn waͤre der Unterschied der Geschlech- ter etwas nothwendiges fuͤr die Sprache, so forderte die Charakteristik, daß man es den Hauptwoͤrtern selbst an- sehen muͤßte, es seye, daß die Endungen oder andere Sylben dazu gewidmet waͤren, und in so ferne waͤre es uͤberfluͤßig, die Artikel und Beywoͤrter dazu zu gebrau- chen, um so mehr, da oͤfters die Hauptwoͤrter ganz allein vorkommen. §. 184. Es ist nicht zu zweifeln, daß man, statt des in den Sprachen wirklich vorkommenden Unterschieds der Geschlechter, ungleich schicklichere haͤtte waͤhlen koͤn- nen. Die Dinge, so man durch Hauptwoͤrter benennt, lassen sich unstreitig in unzaͤhlig viele Classen und Gat- tungen eintheilen, welche in ihren Namen durch Buch- staben, Sylben, Endungen, ꝛc. koͤnnten angezeigt wer- den, so wie im Deutschen die Abstracta dadurch noch ziemlicher maßen kenntlich gemacht werden (§. 138.). Bey den Namen der Arten von Thieren, Pflanzen, ꝛc. wuͤrde z. E. ein einiger Buchstab zureichen, um kenntlich zu machen, zu welchem Theile des Naturreiches jedes Hauptwort gehoͤre. Ein anderer Buchstab wuͤrde et- wan die Hauptclasse anzeigen, und in Absicht auf die Thiere, z. E. die kriechenden, vierfuͤßigen, Voͤgel, Fi- sche ꝛc. unterscheiden. Allein damit wuͤrde die Sprache bedeutender, als daß man sie einem ganzen Volke uͤber- lassen Von den Nennwoͤrtern. lassen koͤnnte, weil der Gebrauch zu reden, die Unwissen- heit in den Regeln und noch mehr andere Ursachen, bald wiederum Anomalien einfuͤhren wuͤrde. §. 185. Wir haben ungefaͤhr eben das von den De- clinationen oder Abaͤnderungen der Nennwoͤrter an- zumerken. Jhre Anzahl ist in verschiedenen Sprachen verschieden, und ein Hauptwort laͤßt sich nicht durch alle durchfuͤhren, so daß es in jeder eine besondere Bestim- mung in der Bedeutung erhielte, und auch die Woͤrter von einerley Abaͤnderung gehoͤren nicht unter einerley Classe oder Gattung der Dinge. Jndessen sordert die Charakteristik, daß eines oder das andere statt haben muͤßte, wenn die Sprache wissenschaftlich seyn sollte. Nun fehlt es zwar in den Sprachen an Mitteln nicht, aus einem Nennworte andere zu bilden, indem man die Endung abwechselt, und dadurch in der That auch das Nennwort in andere Declinationen bringt. Die- ses ist aber nicht allgemein, und das Metaphysische liegt nicht so fast in dem Unterschiede der Declinationen, als in den Endungen oder Ableitungstheilchen. So laufen z. E. im Lateinischen die Woͤrter: Despicientia, spe- ctrum, spectaculum, spectator, inspector, specimen, despicatio, despectio, exspectatio, suspicio, perspi- cuitas, adspectus, conspectus, despicatus, prospectus, respectus, species, nebst noch mehrern Beywoͤrtern, die alle von dem veralteten specio herkommen, durch alle fuͤnf Declinationen. Es macht aber nicht die Declina- tion, sondern die Ableitungstheilchen, und theils auch der Sprachgebrauch, daß jedes dieser Woͤrter eine be- sondere Bedeutung erhaͤlt. Die Sprachen bleiben dem- nach hierinn zuruͤcke. §. 186. Was man bey den Zeitwoͤrtern in Absicht auf die Zeit gethan hat, das ist in den Sprachen bey den Beywoͤrtern in Absicht auf die Grade geschehen. Und dieses hat allerdings etwas Metaphysisches. Denn die V. Hauptstuͤck. die Eigenschaften, zu deren Anzeige die Beywoͤrter ge- wiedmet sind, koͤnnen dem Grade nach verschieden seyn. Nun hat man es darinn eben nicht nach mathemati- scher Schaͤrfe genommen, und man konnte es von den Urhebern der Sprachen um desto weniger fordern, weil die Mathesis intensorum noch dermalen weit zuruͤcke bleibt. Jndessen ist die Sache dennoch so ausgefallen, daß sie sich noch ziemlich rechtfertigen laͤßt. §. 187. Denn in dem Positiuo wird die Eigenschaft gleichsam ohne Bestimmung des Grads angezeigt, z. E. schoͤn, vollkommen, weiß, hell, ꝛc. und wenn man etwas Vorzuͤglicheres oder Geringeres anzeigen will, so geschieht dieses durch besondere Zuwoͤrter oder Aduer- bia, z. E. gar schoͤn, sehr vollkommen, ungemein hell, ꝛc. ziemlich, maͤßig, wenig, schoͤn ꝛc. oder man vergleicht es mit aͤhnlichen und bekannten Dingen, z. E. so schoͤn als, so groß wie, eben so kraͤf- tig als, ꝛc. §. 188. Findet man keine genau passende Verglei- chung, so gebraucht man den Comparatiuum sowohl bejahend als verneinend, z. E. weißer als Schnee, viel heller als der Tag ꝛc. nicht so groß als ein Haus, lange nicht so tief als das Meer, ꝛc. §. 189. Endlich bemerkt man die aͤußersten Grade durch den Superlatiuum, mit Anzeige der verglichenen Dinge. Z. E. der groͤßte Monarch, der Gelehr- teste unter den Griechen, der Beredteste unter den Roͤmern, ꝛc. §. 190. Da man bey sehr vielen Eigenschaften Grade von mehrern Dimensionen findet, z. E. die Groͤße von der Staͤrke unterscheidet, so hat man bey dem Comparatiuo und Superlatiuo mehrentheils die Gradus intensitatis mitgenommen, und die Groͤße, Aus- dehnung, ꝛc. durch besondere Beywoͤrter angezeigt. So z. E. sagt man ein groͤßeres und ein helleres Licht, und Von den Nennwoͤrtern. und in so fern diese beyde Ausdruͤcke einander entgegen- gesetzt sind, wird durch den ersten die scheinbare oder auch die wahre Groͤße des leuchtenden Koͤrpers, durch den andern aber die Staͤrke seiner Klarheit verstanden. So scheinen Sonn und Mond gleich große Lichter, aber nicht gleich helle. Wo aber die verschiedenen Dimensio- nen nicht so gut bekannt sind, da werden sie auch in der Sprache gemeiniglich vermengt. Und so giebt es auch Dinge, die keine Vergleichung zulassen, wie z. E. eine Wahrheit ist nicht mehr wahr als eine andere, eine existirende Sache ist nicht existirender als eine andere. (§. 12. Alethiol.) So scheinen aus gleichem Grunde im Lateinischen die Beywoͤrter aqueus, vitreus, chry- stallinus, ligneus, ꝛc. ihrer Bedeutung und der Na- tur der Sache nach keinen Comparatiuum zuzulassen, weil sie keine Gradus intensitatis haben. Und es ist sehr natuͤrlich, daß Comparatiui und Superlatiui, die in der Sache selbst nicht vorkommen, an sich schon aus der Sprache wegbleiben. Hingegen koͤnnen auch ohne Grund einige wegbleiben, die die Sache selbst sehr wohl leiden wuͤrde, und auch hierinn hat die lateinische Spra- che eine gute Menge von Anomalien. §. 191. Man sieht aus diesen Betrachtungen, daß in den wirklichen Sprachen die Mittel, wodurch die Grade der Eigenschaften der Dinge angezeigt werden, noch ziemlich gut getroffen, und so weit es die gemeine Erkenntniß fordert, brauchbar sind. Oefters begnuͤgt man sich mit dem mehr oder minder, ohne eben zu bestimmen, um wie viel? Bey genauern Verglei- chungen koͤmmt es auf die schickliche Auswahl der Din- ge an, von welchen das Bekanntere in Absicht auf ge- wisse Eigenschaften zum Maaßstabe des Unbekanntern dienen solle. Ueberdieß sind die angefuͤhrten Verglei- chungsarten nur noch die kuͤrzern. Und die Sprachen haben Mittel genug, da, wo man es noͤthig findet, die Verglei- V. Hauptstuͤck. Vergleichung umstaͤndlicher anzustellen. Und wo sie nach aller Schaͤrfe genommen werden solle, da dienen Zahlen und mathematische Verhaͤltnisse. Die Verglei- chung wird wissenschaftlich, und entlehnt ihre Gruͤnde aus der Mathesi intensorum, welche Wissenschaft aber noch dermalen merklich zuruͤcke bleibt. §. 192. Außer den drey vorhin betrachteten Ver- gleichungsstuffen haben die Sprachen noch ein anderes und sehr allgemeines Mittel, unbekanntere oder auch gar nicht in die Sinne fallende Dinge durch bekanntere vorstellig zu machen, und das sind die Metaphern, welche vornehmlich bey Zeitwoͤrtern und Hauptwoͤrtern gebraucht werden. Auf diese Art druͤcken wir alles, was zur Jntellectualwelt gehoͤrt, durch Woͤrter aus, die nach ihrem buchstaͤblichen Verstande sinnliche Dinge vorstellen, und es ist auch nicht wohl moͤglich, die ab- stracten Begriffe anders als auf diese Art bey andern zu erwecken. Die Aehnlichkeit des Eindruckes der aͤußer- lichen und innern Empfindungen, die wir bereits in der Alethiologie (§. 46. seqq. ) betrachtet haben, ist der Grund zu dieser Vergleichung. Da es hiebey nicht so fast darauf ankoͤmmt, daß wir unsere Gedanken und Empfindungen fuͤr uns selbst an Worte binden, sondern daß wir Worte suchen muͤssen, sie auch bey andern zu erwecken, so koͤmmt es bey ganz neuen Empfindungen und abstracten Begriffen, auf Proben an, ob wir Me- taphern finden koͤnnen, sie auch andern vorstellig zu ma- chen. Geht es an, und ist die figuͤrliche Vorstellung zur Erweckung dieser Begriffe faͤhig, so ist auch die Metapher tuͤchtig, in die Sprache aufgenommen zu werden. Auf diese Art und durch solche Proben, haben die wirklichen Sprachen laͤngst schon den hiezu dienen- den Schwung genommen, und ihre Bereicherung wird augenscheinlicher und merklicher, wenn eine Sprache anfaͤngt Von den Nennwoͤrtern. anfaͤngt zur gelehrten Sprache zu werden, und classische Schriftsteller sich darinn anfangen hervor zu thun. §. 193. Da es hiebey viel auf die Anlaͤße ankoͤmmt, so ist auch leicht zu begreifen, daß jede Sprache hierinn einen ihr eigenen Schwung nimmt, und theils ganz an- dere Metaphern, theils auch bey einerley Metaphern einen verschiedenen Umfang annimmt. So hat z. E. das franzoͤsische Wort genie einen ungleich groͤßern Um- fang als das lateinische ingenium, von welchem es her- koͤmmt. Und uͤberhaupt muß eine Sprache, die aͤrmer an Worten ist, nothwendig mehr Metaphern haben, wenn sie alles, was eine reichere Sprache ausdruͤckt, ebenfalls ausdruͤcken will. §. 194. Wir finden ferner hierinn den Grund, wie es gar leicht moͤglich ist, daß Schriftsteller, theils in ei- nerley, theils auch in verschiedenen Sprachen, in den Worten ungemein verschieden, und einander ganz un- verstaͤndlich werden koͤnnen. Denn dieß geschieht im- mer, so oft sie einerley Woͤrtern und Metaphern un- gleiche Bedeutungen und ungleichen Umfang geben. Denn eine Metapher paßt eigentlich niemals durchaus und in allen Theilen auf die verglichene Sache, und oͤfters laͤßt sie sich zur Vorstellung ganz verschiedener Begriffe gebrauchen, je nachdem man andere Verglei- chungsstuͤcke ( Tertium comparationis ) waͤhlt. Auf gleiche Art lassen sich fuͤr einerley Begriffe ganz verschie- gene Metaphern gebrauchen. Man hat z. E. die New- tonische Fluxionalrechnung und die Leibnitzische Diffe- rentialrechnung, zumal da die Erfinder auch in der Zeichnung von einander abgiengen, anfangs fuͤr ganz verschiedene Dinge angesehen. Euclid im X ten Buche, die Clossisten und die heutigen Analysten sind gleichfalls in den Worten bald durchaus verschieden. Noch un- verstaͤndlicher aber wird man, wenn man fuͤr sich, und ohne die vorhin erwaͤhnte Probe anzustellen, ganze Lamb. Organon II B. H Syste- V. Hauptstuͤck. Systemen von neuen Metaphern errichtet, und eine von der andern herleitet, dergleichen z. E. in einigen mysti- schen Schriften vorkommen, die man ungelesen liegen laͤßt, weil man das ganze System der Sprache und Ge- danken in eine ganz neue Form bringen muͤßte, und nicht voraussieht, ob es sich allenfalls der Muͤhe lohnen wuͤrde. Bey einem System von abstracten Begriffen ist es uͤberhaupt sehr leicht, in einen Wortkram zu verfallen, der entweder in der That leer ist, oder wenig- stens andern als leer vorkommen kann. Denn da sind die Worte nicht unmittelbare Zeichen der Dinge, wie sie es in der Geometrie und Physik sind, sondern sie sind nur Zeichen der Begriffe, die man nicht anders als in Indiuiduis, und zwar mit unzaͤhligen Jndividualbe- stimmungen vermengt, aufweisen kann. Man wird in dem ersten Hauptstuͤcke der Dianoiologie und in dem dritten Hauptstuͤcke der Alethiologie hieher dienende Betrachtungen finden. §. 195. Uebrigens ist klar, daß wir hier nicht von Metaphern reden, wie sie etwan die Dichter gebrau- chen, um ihren Vorstellungen mehr Leben und Nach- druck zu geben, sondern von solchen, die man in Er- manglung eigener Namen gebrauchen muß, um ab- stracte und nicht in die Sinne fallende Begriffe vorstel- lig zu machen, und wo man folglich wissenschaftliche Begriffe damit zu benennen hat. Die Metaphysik, die Moral, die Vernunftlehre sind mit solchen Begriffen angefuͤllt, und sordern allerdings sorgfaͤltigere Definitio- nen, wodurch der Umfang solcher Begriffe genauer be- zeichnet wird, als es durch die bloße Etymologie der Namen wuͤrde geschehen koͤnnen. Da in diesem Um- fange oͤfters viel Willkuͤhrliches zuruͤckbleibt, so geschieht es auch, daß, wenn man sich einmal an ein gewisses System gewoͤhnt hat, man sich nicht so leicht an ein anderes, auch wenn es besser waͤre, gewoͤhnen kann. Daher Von den Nennwoͤrtern. Daher entstehen sehr natuͤrlich die heftigern Streitig- keiten fuͤr und wider eine neu aufkommende Secte in der Weltweisheit und Theologie, und großentheils auch die Abwechslungen in den Systemen dieser Wissenschaf- ten, und die Verdunklung der klarsten Saͤtze, wenn man sie in einen Kram von Worten willkuͤhrlichen Um- fanges und Bedeutung verwickelt. §. 196. Wir haben bereits oben (§. 123.) ange- merkt, daß die ersten Urheber der Sprachen, in Benen- nung der Dinge bey Ganzen anfiengen, und nicht wohl anders verfahren konnten. Die Dinge der Natur so- wohl am Himmel als auf der Erdflaͤche haben entwe- der fuͤr sich oder in ihrer Art etwas Fortdaurendes und nach den Gesetzen des Beharrungsstandes Eingerichte- tes. Und da hiebey die Worte nicht so fast mit den Begriffen, als mit den Sachen selbst verbunden wur- den, die jedesmal wiederum vorgelegt oder empfunden werden konnten, so war auch der Umfang in der Bedeu- tung ihrer Namen ein fuͤr allemal bezeichnet. Man- weiß, daß die Sache im Ganzen existirt, und daß folg- lich ihr Name ein wirkliches Ding, und daher auch den Begriff eines wirklichen Dinges vorstellt. Auf diese Art haben Sonne, Mond, Sterne, Wolken, Regen, Schnee, Berge, Thaͤler, Fluͤsse, die Arten der Thiere, Pflanzen, Metallen, die Gliedmaßen der Thiere, die Theile der Pflanzen, Werkzeuge, Hausrath ꝛc. ihre be- standigen Namen bekommen, welche gleichsam der Maaßstab von der allmaͤhligen Abaͤnderung der Spra- chen sind. §. 197. Bey solchen Namen ist es an sich betrach- tet gleichviel, ob es Wurzelwoͤrter oder abgeleitete Woͤr- ter sind. Denn da die Sache selbst immer vor Augen gelegt werden kann, so laͤßt sich auch der Begriff des Wortes unmittelbar mit der Sache verbinden, und bey sehr zusammengesetzten Ganzen, dergleichen die Thiere H 2 und V. Hauptstuͤck. und Pflanzen sind, wuͤrde ein abgeleiteter Name hoͤch- stens nur einige etwan mehr in die Sinne fallende Merkmale angeben. Man muß immer zur Anatomie, zu chymischen und andern Versuchen schreiten, wenn man alles, was solche Ganze enthalten, entdecken will. (§. 123.). §. 198. Wenn aber eine Sprache schon ihren Schwung genommen, und mit Woͤrtern versehen ist, so kommen darinn selten neue Wurzelwoͤrter auf, und es ist an sich natuͤrlicher, daß man neue und noch unbe- nennte Sachen durch abgeleitete, zusammengesetzte oder auch metaphorische Woͤrter benenne. Was in dieser Absicht fuͤr die Dinge, die von fremden Laͤndern herkom- men, wirklich geschieht, ist, daß man mit der Sache zu- gleich auch den Namen in die Sprache einsuͤhrt, den sie in ihrem Stammorte hat. §. 199. Jn Ansehung der Beywoͤrter giebt es in jeden Sprachen ebenfalls eine gute Menge, die ein fuͤr allemal ihre bestimmte Bedeutung haben. Dahin ge- hoͤren diejenigen, welche einfache Begriffe und Verhaͤlt- nisse vorstellen, und unmittelbare Gegenstaͤnde der Sinnen sind; die Namen der Farben, roth, gelb, weiß ꝛc. der Zahlen und Figuren ꝛc. und sehr viele, die von den Namen der Substanzen hergeleitet werden, z. E. hoͤl- zern, eisern, waͤssericht, ꝛc. Jndessen sind bey vielen von solchen Beywoͤrtern die Grenzen des Umfanges ihrer Bedeutung schwerer zu bestimmen, wo sie nur dem Grade nach von einander verschieden sind: So giebt es zwischen roth, gelb, gruͤn, blau, schwarz ꝛc. Mittel- stuffen, wo sich die eine dieser an sich sehr kenntlichen Farben in die andere verliert. Man sieht leicht, daß es hiebey um die eigentlichen Mittelstuffen zu thun ist, und daß die uͤbrigen durch Verhaͤltnisse bestimmt wer- den muͤssen, und eine Ausmessung fordern, wenn sie nach aller Schaͤrfe bestimmt werden sollen. §. 200. Von den Nennwoͤrtern. §. 200. Hingegen giebt es in den Sprachen Bey- woͤrter, welche nicht etwan einen einfachen Begriff, son- dern mehrere zusammengenommen vorstellen, ohne daß diese ein unumgaͤngliches Ganzes ausmachen, sondern sowohl in der Anzahl als in den Graden solche Abwechs- lungen haben, daß man bald jedesmal aus dem Zusam- menhang der Rede bestimmen muß, welchen Umfang sie darinn haben, und wie weit oder auf welche Theile der Sache sie sich erstrecken. So ist an einer guͤlde- nen Uhr oͤfters nur das Gehaͤuse von Gold, oder auch nur verguͤldet. Die meisten moralischen Eigenschaften sind von eben so unbestimmtem Umfange. Man un- tersuche, in wie vielerley Absichten eine Sache gut ge- nennt, oder was zum gelehrt seyn erfordert werde. Jn allen solchen Faͤllen, und wo es auf die Genauigkeit ankoͤmmt, kann mun nicht wohl bey dem Wort anfan- gen, sondern man verfaͤhrt besser, wenn man die einzel- nen Eigenschaften jede fuͤr sich betrachtet, und sie so zu- sammennimmt, daß man zeigen kann, es komme ein Ganzes heraus, welches als ein Ganzes be- trachtet zu werden verdiene. Dadurch wird das Willkuͤhrliche in dem Begriffe gehoben, oder wenigstens so vermindert, daß man zureichenden Grund findet, den Begriff und seinen Umfang gelten zu lassen. Denn so wird der Begriff nach der Sache, und das Wort nach dem Begriffe gerichtet, und folglich diese drey Stuͤcke in die erforderliche Uebereinstimmung gebracht. §. 201. Wir haben bereits oben (§. 138. seqq. ) An- laß gehabt, diejenigen Hauptwoͤrter zu betrachten, wel- che nicht Substanzen, sondern Abstracta vorstellen, und dabey angemerkt, daß diese Woͤrter eine ganz besondere Classe ausmachen, daß sie in einer gelehrten Sprache zahlreicher seyn muͤssen, und daß sie sich auf eine noch ziemlich charakteristische Art durch besondere Endungen unterscheiden. Jn der That stellen auch z. E. im Deut- H 3 schen V. Hauptstuͤck. schen die Endungen: heit, keit, niß, sal, schaft, thum, ung, ꝛc. abstracte metaphysische Begriffe und Verhaͤltnisse vor, wodurch der Begriff des abgeleiteten Hauptwortes durch den Begriff desjenigen Wortes be- stimmt wird, von welchem es abstammt, wiewohl es unter den bereits eingefuͤhrten Hauptwoͤrtern von dieser Art, auch solche giebt, wo der Gebrauch zu reden Ano- mallen verursacht hat. §. 202. Es ist schwer zu eroͤrtern, woher diese Classe von Hauptwoͤrtern in die Sprachen gekommen ist, zumal da die Sprachen dadurch einen Schwung be- kommen, der sie vom Sinnlichen zu dem Abstracten, Allgemeinen und Metaphysischen erhoͤht hat. Allem Ansehen nach hatte man angefangen, Handlungen und Eindruͤcke als Substanzen anzusehen, und ihnen so wie den Substanzen Namen zu geben. Allein der erste Schritt darinn scheint immer schwer gewesen zu seyn, so leicht er uns dermalen vorkommen mag, da wir solche Woͤrter in Menge haben, und an ihre Begriffe von Jugend auf unvermerkt gewoͤhnt werden. Man ist gleichsam genoͤthigt, sie durch Woͤrter von gleicher Classe zu definiren, und man kann auch nicht wohl anders, als vermittelst eben solcher Woͤrter, davon reden. Dieses mußte aber dem ersten Erfinder nothwendig die Schwierigkeit vermehren, das Eis zu brechen, und zu dieser ihm ganz neuen Welt von Begriffen zu gelangen. Und man koͤnnte so gar daher Anlaß nehmen zu ver- muthen, es moͤchten noch dermalen ganze Classen von Woͤrtern zuruͤcke bleiben, die unter sich ein besonderes System von Begriffen und Vorstellungsarten ausma- chen wuͤrden, zu welchem der Uebergang von unsern dermaligen Woͤrtern noch im Dunkeln verborgen liegt. Dem sey aber, wie ihm wolle, so haben die bereits vorhandenen abstracten Hauptwoͤrter in den Sprachen am meisten Charakteristisches. Es liegt bey den mei- sten, Von den Nennwoͤrtern. sten, wo nicht bey allen, immer ein anderer Begriff zum Grunde, von dem sie abgeleitet werden, und die Ablei- tungstheilchen stellen metaphysische Begriffe und Ver- haͤltnisse vor. §. 203. Die Umstaͤnde des Ortes sind sowohl bey den Zeitwoͤrtern als bey den Nennwoͤrtern in den wirk- lichen Sprachen gewissermaßen vergessen, oder wenig- stens nicht so mitgenommen worden, wie es in Anse- hung der Zeit, der Grade und anderer Verhaͤltnisse geschehen. Jndessen gehen doch Zeit und Ort mit einander so zu paaren, daß sie so gut als unzertrennlich sind. Es ist daher kaum zu zweifeln, daß Gruͤnde da seyn muͤssen, warum die Bestimmung des Ortes bey den Zeitwoͤrtern ungleich weiter zuruͤcke geblieben, als die Bestimmung der Zeit. Denn bey den Nennwoͤr- tern scheinen beyde wegbleiben zu koͤnnen, weil man so- wohl die Dinge als ihre Eigenschaften, als fortdaurend, und nicht als an Zeit und Ort gebunden, sich vorstellt, und folglich in den Sprachen gleichsam nur das Wesent- liche davon benennt. §. 204. Die Bestimmungen der Zeit waren an sich einfacher, weil die Zeit nur eine Dimension hat, und das Gegenwaͤrtige der Zeit nach, etwas abso- lutes ist. Hingegen hat der Ort oder die Bestimmung desselben nothwendig drey Dimensionen, wenn man ihn dem Raum nach nimmt. Und die vielerley Ge- genden machen, daß man dabey nicht wohl mehr als den Unterschied des Gegenwaͤrtigen und Abwesen- den mitnehmen koͤnnte, wenn man die Bestimmung des Orts, so wie die von der Zeit, den Zeitwoͤrtern selbst haͤtte anhaͤngig machen wollen, und dieser Unter- schied muͤßte sich vornehmlich auf den Redenden be- ziehen. Denn da die sogenannte Actio in distans schlechthin gelaͤugnet wird, so ist die Handlung immer H 4 an V. Hauptstuͤck. Von den Nennwoͤrtern. an gleichem Orte mit dem, der sie thut, und die Wir- kung da, wo die Ursache ist. §. 205. Was man in den Sprachen hiebey gethan hat, ist, daß man die Umstaͤnde des Ortes nicht durch die Endungen der Zeitwoͤrter, sondern durch Ab- leitungstheilchen anzeigt, die denselben koͤnnen vor- gesetzt werden, dergleichen im Deutschen die meisten von denen sind, die wir oben (§. 159.) angezeigt haben. Die naͤhern Bestimmungen, sowohl des Orts als der Zeit, und anderer Modificationen, hat man durch Zu- woͤrter ( Adverbia ) anzuzeigen gesucht. Endlich koͤmmt auch die Bestimmung des Ortes eigentlich nur den Dingen der Koͤrperwelt zu, und wird figuͤrlich, wenn sie auf die Jntellectualwelt angewandt werden solle. Hingegen sind auch Dinge der Jntellectualwelt einer Zeitfolge oder Succession faͤhig, und wir haben diesen Begriff am unmittelbarsten in dem Aufeinanderfolgen unserer Gedanken. Jn dieser Absicht erstreckt sich demnach die Bestimmung der Zeit weiter als die Be- stimmung des Ortes, ungeacht, wenn man letztere figuͤrlich nimmt, sie sich allerdings eben so weit erstre- cken kann. Sechstes Sechstes Hauptstuͤck. Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. §. 206. D ie bisher betrachteten zwo Hauptclassen der Sprachtheile begreifen uͤberhaupt diejenigen Woͤrter, deren Endungen nach gewissen allgemeinen Formeln abgeaͤndert werden, und nach diesen Abaͤnde- rungen bestimmtere Verhaͤltnisse, Modificationen und Umstaͤnde vorstellen. Die Nennwoͤrter besonders bezeichnen Dinge und ihre Eigenschaften, und stel- len diese gleichsam ihrem Wesen nach und als fortdau- rend vor. Das Beharren und die Veraͤnderun- gen sind hingegen auf die Zeitwoͤrter geschoben wor- den, weil sich allerdings dabey ein Thun und Leiden gedenken laͤßt. Wir haben diese zwo Hauptclassen der- gestalt betrachtet, daß wir anmerkten, welche Bestim- mungen in den wirklichen Sprachen in den Endungen und verschiedenen Ableitungstheilchen sind vorstellig ge- macht worden, und wie man eine gute Menge derselben durch besonders dazu gewiedmete Woͤrter anzudeuten noͤthig hat, wenn man jede Umstaͤnde genauer bestimmt ausdruͤcken will. §. 207. Es ist daher in den wirklichen Sprachen noch eine dritte Classe von Woͤrtern eingefuͤhrt worden, die man, weil man sie nicht abaͤndert, die unveraͤn- derlichen Redetheile, und uͤberhaupt die Parti- culn nennt. Diese Eigenschaft, daß sie nicht abgeaͤn- dert werden, macht sie uͤberhaupt und in jeden Spra- chen leicht kenntlich. Es haben sich auch die Sprach- H 5 lehrer VI. Hauptstuͤck. lehrer Muͤhe gegeben, sie alle aufzusuchen, und sie in Gattungen und Arten zu theilen, und dabey theils auf ihre Bedeutung und metaphysischen Unterschied, theils auch auf den bloß grammatischen Unterschied zu sehen. Nach dieser Eintheilung kamen vier allgemeine Classen oder Gattungen heraus, naͤmlich die Aduerbia, Prae- positiones, Coniunctiones und Interiectiones, oder die Zuwoͤrter, Vorwoͤrter, Bindwoͤrter und Zwischen- woͤrter. Man sahe naͤmlich daß einige, naͤmlich die Zuwoͤrter, zu naͤherer Bestimmung der Zeitwoͤrter; an- dere, naͤmlich die Vorwoͤrter, zur Bestimmung und naͤ- herer Modification der Nennwoͤrter; noch andere aber, naͤmlich die Bindwoͤrter, zum Zusammenhang und Ver- bindung der Rede; und endlich noch andere, naͤmlich die Zwischenwoͤrter, zur Anzeige des Affects des Re- denden dienten. Und so ward die Abtheilung getrof- fen, nachdem die Sprachen schon da waren, und als ein Datum angesehen werden konnten. §. 208. Da wir uns aber hier an den Unterschied der wirklichen und moͤglichen Sprachen nicht binden, sondern uͤberhaupt das Willkuͤhrliche, Natuͤrliche und Nothwendige in den Sprachen aufsuchen, so werden wir auch diese unveraͤnderlichen Redetheilchen nach all- gemeinern Gruͤnden betrachten, und das Metaphysische von dem Grammatischen zu unterscheiden suchen. §. 209. Wir fangen bey den Praͤpositionen an, und bemerken, daß man diese in den wirklichen Spra- chen allerdings besonders nehmen, und von den Zuwoͤr- tern unterscheiden mußte, nicht nur, weil sie etwan den Nennwoͤrtern vorgesetzt werden, sondern, weil sie ge- wisse Casus oder Fallendungen regieren. Die- ses macht, daß sie wegen der Syntax oder Regeln der Wortsuͤgung muͤssen bemerkt werden. Und man kann sagen, daß etwas Charakteristisches dabey seyn wuͤrde, wenn die Fallendungen der Nennwoͤrter fuͤr sich schon eine Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. eine Bedeutung haͤtten, aus welcher sich nebst der Be- deutung eines jeden Vorworts, diejenige Fallendung ein fuͤr allemal bestimmen ließe, die es erfordert. Ei- ne Vollkommenheit, die die Sprachen noch in meh- rern Stuͤcken haben sollten, um wissenschaftlich zu seyn. (§. 157.) §. 210. So ordentlich sind aber die wirklichen Spra- chen nicht, und sie zeigen hierinn mehr als eine Abwei- chung von dieser Vollkommenheit. Jhre Luͤcken in Ab- sicht auf die Bedeutung und Anzahl der Fallendungen, haben wir schon oben (§. 178. seqq. ) angezeigt, ohne noch auf ihre Verhaͤltniß zu den Vorwoͤrtern oder Praͤpositionen zu sehen. Diese Verhaͤltniß aber hat in den wirklichen Sprachen wenig oder gar nichts Meta- physisches. Denn wenn wir sie unter einander verglei- chen, so findet sich, daß einerley Vorwoͤrter in verschie- denen Sprachen verschiedene Fallendungen fordern, und daß in einigen Sprachen Vorwoͤrter wegbleiben, die man in den andern mitnimmt. So z. E. haben die Lateiner nur Vorwoͤrter fuͤr die vierte und sechste Fallendung, daferne man nicht einige Jnterjectionen, als: O Meliboee! Hei mihi! Vae misero! und ei- nige Nennwoͤrter, als: vi dicti, ꝛc. oder auch einige Aduerbia, als: ubi gentium, ꝛc. darunter rechnen will. Jm Deutschen geben wir propter ea, durch deswe- gen; cis, ultra montem, durch dießeits, jenseits des Berges; ante me, durch vor mit ꝛc. verbo, durch mit einem Wort; forma excellens, durch von ansehnlicher Gestalt ꝛc. Alles dieses macht, daß man in jeder Sprache besonders erlernen muß, wo Praͤpositionen noͤthig sind, und welche Fallendungen sie regieren. Es zeigt aber auch, daß das meiste dabey willkuͤhrlich ist. Und da die Fallendungen entweder fuͤr sich schon den Begriff der Praͤposition in sich schlies- sen koͤnnten, wie im Lateinischen oͤfters der Ablatiuus, oder VI. Hauptstuͤck. oder da, mit Beybehaltung der Praͤpositionen, densel- ben schlechthin die erste Fallendung zugegeben, und die uͤbrigen Fallendungen zu andern Bedeutungen gewied- met werden koͤnnten, so sieht man leicht, daß eine wis- senschaftliche Sprache hierinn von den wirklichen Spra- chen merklich verschieden seyn wuͤrde. §. 211. Da nun der Unterschied der Fallendungen in Ansehung der Vorwoͤrter durchaus willkuͤhrlich ist, so sind auch die Vorwoͤrter von den Zuwoͤrtern in die- ser Absicht nur auf eine willkuͤhrliche Art verschieden, und wenn sie dennoch haben seyn sollen, so entsteht ganz natuͤrlicher Weise die Frage, ob weder mehr noch min- der moͤglich waren, als die in den wirklichen Sprachen eingefuͤhrt sind? Wir koͤnnen zu diesem Ende anmer- ken, daß die Sprachen bey koͤrperlichen Dingen ange- fangen haben, und daß die Praͤpositionen Verhaͤltnis- se der Koͤrper oder Substanzen haben anzeigen sollen. Das sind nun allerdings Verhaͤltnisse der Zeit, des Orts oder der Lage, der Bewegung, der Ursache und Wirkung oder der Mittel und Absichten. Denn die Dinge und ihre Eigenschaften an sich be- trachtet, werden durch die Nennwoͤrter absolute ange- zeigt. Demnach bleiben nur noch die Verhaͤltnisse uͤbrig, in welchen sie gegen einander stehen, es sey daß sie der Zeit oder dem Orte nach, oder nach beyden zu- gleich, oder ihren Veraͤnderungen und Ursachen nach, betrachtet werden. §. 213. Jn diese Classen lassen sich auch die Vor- woͤrter der wirklichen Sprachen vertheilen, wiewohl die meisten wegen der Aehnlichkeit des Eindruckes vieldeu- tig sind. Denn da sich sowohl dem Raum als der Zeit nach eine Ordnung gedenken laͤßt, so ist sich nicht zu verwundern, wenn man die Vorwoͤrter: vor, nach, gegen, um, von, zu, bis, uͤber, in, aus, außer, bey, ꝛc. in beyderley Faͤllen gebraucht. Der Unter- schied Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. schied des Beharrens und der wirklichen Bewe- gung, wird großentheils durch die Zeitwoͤrter bemerkt, weil diese sich in diese zwo Classen theilen (§. 151.). Und die Ursachen und Gruͤnde werden durch die Vorwoͤrter: wegen, halben, laut, willen, kraft, durch, ꝛc. angezeigt. §. 214. Man kann zu diesen durch die Vorwoͤrter angezeigten Verhaͤltnissen noch verschiedene andere rech- nen, wobey die Vorwoͤrter weggeblieben sind. Hieher gehoͤren besonders diejenigen, die wir oben (§. 181.) be- trachtet haben, da naͤmlich zwey Hauptwoͤrter so mit einander verbunden werden, daß das eine die zweyte Fallendung des andern erfordert. Auf diese Art wer- den im Lateinischen in den Redensarten instar montis, virtutis ergo, die Woͤrter: instar, ergo, als Substan- tiua angesehen. So regieren auch die Comparatiui und Superlatiui besondere Casus, welche folglich zur Anzeige der dadurch vorgestellten Verhaͤltnisse gewied- met sind. Hingegen im Deutschen haben wir fuͤr den Comparatiuum keine eigene Fallendung; fuͤr den Su- perlatiuum die zweyte, oder mit Zusetzung der Vorwoͤr- ter aus, von, unter, die dritte Fallendung. Aus al- lem diesem erhellet, daß eben sowohl alle Vorwoͤrter aus den Sprachen haͤtten wegbleiben, oder deren noch meh- rere seyn koͤnnen, und daß sie gar nicht nothwendig an gewisse Fallendungen gebunden sind. §. 215. Der grammatische Unterschied der Vorwoͤr- ter, daß sie naͤmlich gewisse Casus regieren, hat dem- nach in den wirklichen Sprachen nichts Charakteristi- sches oder Wissenschaftliches, wie es an sich betrachtet seyn koͤnnte (§. 209.). Hingegen findet sich allerdings ein metaphysischer Unterschied zwischen denselben, in so ferne man auf ihre Bedeutung und die Arten der Ver- haͤltnisse sieht, die sie vorstellen (§. 207.). Und in die- ser Absicht lassen sie sich in Classen theilen. Da die erste VI. Hauptstuͤck. erste Grundlage der Sprachen immer die Koͤrperwelt ist, und die Verhaͤltnisse zwischen abstracten Begriffen und Dingen der Jntellectuglwelt nicht wohl anders, als durch ihre Aehnlichkeit mit den Dingen der Koͤrperwelt, koͤnnen angezeigt werden, so ist es sehr natuͤrlich, daß dieses auch in Ansehung der Vorwoͤrter statt gesunden. Wir haben vorhin (§. 213.) angemerkt, daß man fuͤr Zeit und Ort bald durchaus einerley Vorwoͤrter gebrau- che, und dieses geht nothwendig an, so oft in Ansehung des Ortes nur von einer Dimension die Rede ist. Man bindet sich auch in Ansehung der Zeit nicht so genau an diese oder jene Dimension des Ortes, sondern sagt z. E. vor einem Tag, nach einem Jahr, uͤber drey Wo- chen, um fuͤnf Uhr, außer dieser Zeit, gegen das Ende des Jahrs ꝛc. Wie man verschiedene von den Vor- woͤrtern zur Zeichnung der Toͤne in der Musik, der Saͤ- tze und Schluͤsse in der Vernunftlehre gebraucht, ha- ben wir bereits in dem ersten Hauptstuͤcke angemerkt. Alles koͤmmt darauf an, daß die Vergleichung richtig getroffen werde, weil auf diese Art die Sprachen kuͤr- zer, die Anzahl der Woͤrter geringer, und die Aehnlich- keit zwischen Dingen von ganz verschiedener Art ihren Zeichen anhaͤngig gemacht wird. Die abstracte Er- kenntniß wird auch allerdings leichter figuͤrlich gemacht, wo schon die Worte den Anlaß dazu geben, wie es in Ansehung der Noten und der Zeichnung der Schluͤsse geschehen. Und hierinn haben die Vorwoͤrter, welche die Verhaͤltnisse des Ortes anzeigen, etwas voraus. §. 216. Man hat ferner die meisten Vorwoͤrter in den wirklichen Sprachen zu Ableitungstheilchen von Zeit- woͤrtern gemacht, und besonders diejenigen, die die Ver- haͤltnisse des Ortes, der Zeit, und der Bewegung an- zeigen, und daraus sind neue Bedeutungen und Meta- phern entstanden, weil bey vielen dieser Zeitwoͤrter das Hauptwort wegbleibt, welches sonst bey dem Vorwort stehen Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. stehen muͤßte. So z. Z. sind im Deutschen die Woͤr- ter: anlaufen, innstehen, beyfallen, zusetzen, hinterlegen, vorgehen, durchdenken, fuͤrbitten, widerstreben, ausgehen, mitlaufen, aufzeich- nen, uͤberschicken, ꝛc. Der Unterschied der Redens- arten: etwas aufstellen, auf etwas stellen; ei- nem vorgehen, vor einem gehen; etwas an- stoßen, an etwas stoßen ꝛc. zeigt in Beyspielen, daß es nicht gleichguͤltig ist, ob ein Vorwort als Vor- wort oder als Ableitungstheilchen gebraucht werde, und daß folglich die Bedeutung der Vorwoͤrter dadurch viel- faͤltiger geworden, daß man sie zu Ableitungstheilchen gemacht hat. Denn dadurch wird ihre Bedeutung absoluter, weil sie aus Verhaͤltnißbegriffen der Dinge, zu Bestimmungsbegriffen der Handlun- gen werden. Man wird uͤbrigens aus dem §. 159. sehen, daß die Zeitwoͤrter noch andere Ableitungstheil- chen zu sich nehmen, die keine Vorwoͤrter sind, ungeacht es vielleicht einige seyn koͤnnten. Hingegen rechnet man im Lateinischen die Woͤrter: Aduer sus, circiter, juxta, prope, propter, secundum, secus, versus, versum, usque und clam, palam, procul, simul, lieber zu den Aduer- biis, als zu den Praͤpositionen, weil man eine ausgelas- sene Praͤposition darunter verstehen kann, die sich wirk- lich bey einigen Schriststellern ausgedruͤckt findet. Man sieht aber leicht, daß diese Anmerkung bloß grammatisch ist. Denn so koͤnnte prope nicht nur eine Praͤposition seyn, sondern sowohl den Ablatiuum, als den Accusati- uum und noch den Datiuum regieren, je nachdem ein Entfernen, oder Annaͤhern oder Bleiben dadurch ausgedruͤckt werden muͤßte, und diese Bedeutung waͤre der Art der Sprache, und zugleich auch der Natur der Fallendungen, so gut diese naͤmlich in den wirklichen Sprachen getroffen worden, gemaͤß (§. 178. 209.). §. 217. VI. Hauptstuͤck. §. 217. Wie es unter den Beywoͤrtern mehrere giebt, die der Natur der Sache nach keine Stuffen oder Grade haben (§. 190.), so ist sich nicht zu verwundern, wenn man auch Vorwoͤrter findet, die keine zulassen. Aber auch hierinn sind die wirklichen Sprachen nicht zum Muster zu nehmen, weil sie durch andere Mittel ersetzen, was sie in den Vorwoͤrtern selbst nicht anzei- gen. Jm Lateinischen findet sich das einige prope, aus welchem man propius und proxime bildet, und z. E. propius urbem, proxime Italiam, ꝛc. sagt, indessen aber dennoch die Praͤposition ad darunter verstehen kann. Warum man aber z. E. an statt potius propter, potis- simum propter, oder vel maxime propter, nicht kuͤrzer, propterius, propterrime, sagt, laͤßt sich nur daher lei- ten, weil die Urheber der lateinischen Sprache derselben diesen Schwung nicht gegeben haben. Solche Moͤg- lichkeiten wird man in den Sprachen bald fuͤr jede Vor- woͤrter finden, weil die Verhaͤltnisse, die sie vorstellen, unstreitig Grade haben, und dadurch naͤher bestimmt oder angezeigt werden koͤnnten. §. 218. Die Zwischenwoͤrter oder Jnterjectionen machen die andere Classe der unveraͤnderlichen Rede- theilchen der Sprachen aus. Sie haben etwas Meta- physisches, wodurch sie sich von den uͤbrigen Woͤrtern unterscheiden, weil sie den Affect oder uͤberhaupt den Gemuͤthszustand des Redenden ausdruͤcken. Man kann auch sagen, daß sie der Natur der Sache nach etwas Physisches haben, oder in der That Wirkungen der Af- fecten seyn sollten, und es in den wirklichen Sprachen zum Theil sind. Denn da bey heftigen Affecten der ganze Leib in Bewegung ist, so ist nicht zu zweifeln, daß nicht auch die Gliedmaßen der Sprache an dieser Be- wegung Antheil haben, und nach dem individualen Un- terschiede des Affectes auch individuale Unterschiede der Bewegung haben sollten. Die genauere Untersuchung dieses Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. dieses Unterschiedes gehoͤrt in die Phisiologie. Wir merken hier nur an, daß man schwerlich andere als ein- sylbige Toͤne oder Woͤrter herausbringen wird. Das Seufzen und Aechzen in der Traurigkeit, das Schluch- zen bey starkem Weinen, das Knirschen der Zaͤhne bey dem Zorn, gewisse Bewegungen der Zunge, Zaͤhne, Lippen ꝛc. bey ekelnden, bittern, sauren, widrigen Spei- sen, die Aehnlichkeit des Eindruckes anderer Empfin- dungen und Vorstellungen, die man, selbst in der Spra- che auch, bitter, herbe, sauer, widrig ꝛc. nennt; alles dieses mag zu Bestimmung der Toͤne und Sylben die- nen, welche in der Sprache Jnterjectionen genennt wer- den. Auf diese Art scheinen die Woͤrter ach! weh! pfuy! o! he! ju! hey! oi! huy! ey! st! ouai! ꝛc. theils natuͤrliche, theils etwan auch von den Thieren ab- gelernte Ausdruͤcke der Affecten zu seyn. Man hat aber in den Sprachen nebst diesen Jnterjectionen noch andere, die von abgeleiteter Bedeutung sind, z. E. im Deutschen: wohlan! wohlauf! getrost! lustig! leider! ꝛc. Und uͤberdieß gewisse Redensarten und Wendungen derselben, die eben dahin dienen, z. E. geliebt es Gott! erbarm es Gott! Gott befoh- len! so wahr ich lebe! so gewiß ich da bin! ꝛc. §. 219. Jn so ferne die Natur selbst die Jnterje- ctionen angiebt, werden sie in verschiedenen Sprachen nicht sehr verschieden seyn, als nur in so fern man sich von Jugend auf zu gewissen Beugungen der Gliedmas- sen der Sprache gewoͤhnt (§. 73.), oder auch von Na- tur dazu aufgelegter ist. Die uͤbrigen Unterschiede wer- den sich aus den oben schon (§. 18. 19.) angegebenen Gruͤnden beurtheilen lassen. Es ist auch fuͤr sich klar, daß die Affecten sich nicht bloß durch solche Juterjectio- nen ausdruͤcken, ungeacht diese in dem hoͤchsten Grade des Affectes bald ganz allein bleiben, oder wenn das Er- starren aufhoͤrt, den Anfang zur wiederkommenden Lamb. Organon II B. J Spra- VI. Hauptstuͤck. Sprache machen. Die mindern Grade der Affecte mischen sich in die ganze Rede und ihre Wendungen, und in den Ton der Aussprache, welche bloß durch die Veraͤnderung des Schwunges eine und eben die Re- densart, z. E. ich sollte das thun, bald zu einer bloßen Erzaͤhlung, bald zur Anzeige der Verwun- derung, der Jndignation, Entruͤstung, Verla- chung, Verspottung ꝛc. macht, und zu diesem Ende den Ton bald auf dem einen bald auf dem andern Worte ruhen laͤßt (§. 99.). Die Wendungen der Re- de, die von den Affecten herruͤhren, hat man in der Redekunst und Dichtkunst gesammelt, und sie in Wort- figuren und Sachfiguren eingetheilt, weil sie zum Pathetischen oder zum Leben der Rede viel beytragen. Man nennt sie Figuren oder Schemata, weil sie gewis- sermaßen Formeln sind, nach welchen Worte und Ge- danken eingerichtet werden, und dadurch eine Gestalt, Bildung und Wendung bekommen. Jn so ferne liegt auch etwas Charakteristisches darinn, welches aber mehr fuͤr die Begehrungskraͤfte als fuͤr die Erkenntniß- kraͤfte ist. Es ist noch dermalen nicht so vollstaͤndig, daß dabey die Theorie der Zeichen statt der Theorie der Sache sollte dienen koͤnnen (§. 23.). Man weiß naͤm- lich nur aus der Erfahrung, daß die rednerischen Figu- ren theils die Sprache der Leidenschaften sind, theils auch Leidenschaften erregen koͤnnen, und daher sind auch ihre Formeln nur aus der Erfahrung. So fern aber in der Construction der Worte und der Wendung der Gedanken gewisse Harmonie, Ordnung, Wiederholung, Abwechslung ꝛc. seyn kann, welche theils dem Ohr, theils dem Verstande gefaͤllt, so ferne kann auch das Charakteristische in diesen Figuren, und eben so auch in jeden rednerischen und dichterischen Perioden wissenschaft- licher werden. §. 220. Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. §. 220. Jn so ferne die Sprache als en Behaͤlt- niß der Wahrheiten, und als ein Mittel zu ihrer Ent- deckung angesehen wird, kommen die Zwischenwoͤrter wenig oder gar nicht in Betrachtung. Die Untersu- chung der Wahrheit fordert eine Stille des Gemuͤthes, welche bey Affecten nicht statt findet, und selbst die Lie- be zur Wahrheit muß in so weit gemaͤßigt seyn, daß man dabey die Moͤglichkeit zu irren nicht vergesse. Die Figuren der Redener bleiben dabey mit der Jnterje- ctionen weg, weil die Wahrheit fuͤr den, der sie sucht, ohne solche Nebenzierrathen am kenntlichsten und schoͤn- sten ist. Man wird daher in geometrischen Schriften, dergleichen die Euclidischen sind, von solchen Ausdruͤk- ken nichts finden, und Pythagoras und Archimedes, so sehr sie ihre Entdeckungen in der Meßkunst freueten, haben sie dessen uneracht in ihrer einfachen Gestalt nicht als etwas Erfreuliches, sondern als Wahrheit vorgetragen. Hingegen wird in andern Wissenschaf- ten sehr oft das, was an dem Vollstaͤndigen der Wahr- heit und an ihren Beweisen fehlt, durch rednerische Fi- guren, durch Affecten und Anathemata ersetzt. §. 221. Da die Jnterjectionen theils Wirkungen, theils Ausdruͤcke der Affecten sind, so haben sie unstrei- tig auch ihre Grade. Diese aber werden mehr in der Aussprache und den damit verbundenen Geberden als in den Worten angezeigt. Die Wiederholung der Jnterjection wird am natuͤrlichsten und gewoͤhnlichsten dazu gebraucht, weil sie theils die Staͤrke, theils das Anhalten des Affectes anzeigt, und auch groͤßtentheils eine Wirkung davon ist. Man hat daher in den wirk- lichen Sprachen keinen Comparatiuum oder Superla- tiuum fuͤr die Jnterjectionen, die nicht von abgeleiteter Bedeutung sind; hingegen kommen die denselben bey- gefuͤgten Beywoͤrter desto haͤufiger im Superlatiuo zu J 2 stehen, VI. Hauptstuͤck. stehen, weil man im Affect die Sachen zu uͤbertreiben gewohnt ist. §. 222. Es haben auch die Jnterjectionen, so fern sie Ausdruͤcke der Affecten sind, ihren Verstand fuͤr sich, und lassen sich daher auch ohne Zuziehung anderer Woͤrter gebrauchen. Daher regieren sie eigentlich auch keine Fallendung. Jndessen hat man doch zur Anrede die fuͤnfte Fallendung oder den Vocatiuum in die Spra- chen eingefuͤhrt, welcher aber von dem Nominatiuo mehrentheils nicht verschieden ist, und auch nicht noth- wendig verschieden seyn muß. Jn andern Faͤllen, und besonders bey den Jnterjectionen von abgeleiteter Be- deutung, ist entweder ein Zeitwort oder ein Vorwort da- bey, oder darunter verstanden, welches eine gewisse Fall- endung erfordert: z. E. Wohl mir! Heil mir! fort mit dem! ꝛc. anstatt: wohl seye mir ꝛc. §. 223. Die dritte Classe der unveraͤnderlichen Re- detheile, welche die Zuwoͤrter oder Aduerbia begreift, ist ungemein weitlaͤuftig, weil sie bald alles enthaͤlt, was bey den Zeitwoͤrtern und Nennwoͤrtern von Bestimmun- gen in den Sprachen zuruͤcke geblieben. Die Sprach- lehrer haben sich die Muͤhe gegeben, sie aus einander zu lesen, und ihrer Bedeutung und Gebrauche nach in besondere Classen oder Arten einzutheilen, deren Anzahl sich uͤber dreyßig belaͤuft, und wenn man specialer ge- hen will, noch leicht vergroͤßert werden kann. Wir ha- ben im vorhergehenden schon angemerkt, daß die Um- staͤnde des Ortes und der Zeit (§. 203. seqq. ), imglei- chen die genauere Bestimmung der Grade (§. 187.) in den wirklichen Sprachen durch Aduerbia ausgedruͤckt werden, und daß diese den Abgang genugsamer Ablei- tungstheilchen bey den Zeitwoͤrtern ersetzen (§. 158.). Dadurch erreicht nun wiederum die Sprache eine ge- wisse Kuͤrze und Geschmeidigkeit, und die Anzahl der Wurzelwoͤrter wird durch die Aduerbia eben so, wie durch Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. durch die Ableitungstheilchen, Huͤlfswoͤrer und Bey- woͤrter (§. 162. 176.) merklich vermindert, veil sie trenn- bare Bestimmungen anzeigen, die nan weglassen oder nach den Umstaͤnden waͤhlen kann. Man kann sie in dieser Absicht eben so, wie die Beyvoͤrter, mit den Coefficienten in der Algeber vergleichen (§. 176.). Der Unterschied ist nur, daß letztere sich auf die Haupt- woͤrter, die Aduerbia aber mehr auf die Zeitwoͤrter beziehen. §. 224. Die Zuwoͤrter, welche die Umstaͤnde der Zeit, des Ortes, die Grade, Zahl, Groͤße, Men- ge, Aehnlichkeit ꝛc. anzeigen, machen daher in den wirklichen Sprachen einen betraͤchtlichen Theil der gan- zen Classe aus. Zu diesen kommen sodann noch dieje- nigen, welche die Umstaͤnde des Redenden, seine Ge- denkensart, die Beschaffenheit der Rede ꝛc., und folg- lich ein Fragen, Bejahen, Verneinen, Zweifeln, Ermahnen, Betheuren, Rufen, Antworten ꝛc. anzeigen. Die groͤßte Anzahl aber machen diejenigen aus, welche die Beschaffenheit der Sache vorstellen, und mehrentheils von Nennwoͤrtern und Zeitwoͤrtern abgeleitet sind. So z. E. lassen sich im Deutschen bald alle Beywoͤrter als Aduerbia gebrauchen, indem man sie indeclinabel nimmt. Jhre Bedeutung wird aber dadurch gleichsam von dem Hauptwort los, und dem Zeitwort anhaͤngig gemacht. Der Unterschied der Re- densarten: etwas muͤhsames verrichten, und et- was muͤhsam verrichten, imgleichen eine deutli- che Schrift lesen, und eine Schrift deutlich le- sen ꝛc. macht es augenscheinlich, daß Beywoͤrter sich auf die Sache, Zuwoͤrter aber auf die Handlung bezie- hen, es sey denn, daß sie, ihrer eigenen Bedeutung nach, sich auch auf den Thuenden oder auf die Sache oder auf beydes beziehen. Z. E. Er hat mir er- wuͤnscht geantwortet, will sagen, wie ich es J 3 wuͤnschte. VI. Hauptstuͤck. wuͤnschte. Man muß die Sache wiederum gut machen, will sagen: die Sache wiederum in Gang bringen, zurecht machen, den Folgen steuren ꝛc. Ueberhaupt hat diese Aenderung der Be- deutung der Zuvoͤrter etwas ganz aͤhnliches mit der von den Vorwoͤrtern, wenn sie zu Ableitungstheilchen wer- den (§. 216.). §. 225. Ueberhaupt beziehen sich die Zuwoͤrter der Zeit und des Ortes, ( Aduerbia temporis et loci ) auf die Sache selbst, welche geschieht, oder von welcher die Rede ist, und sie sind großentheils nur Abkuͤrzungen weitlaͤuftigerer Bestimmungen, die man leicht findet, wenn man den Ort oder die Zeit benennt, und die Verhaͤltnisse durch Vorwoͤrter ausdruͤckt. So z. E. kann man anstatt hier, heute, rechts, bald, ꝛc. sa- gen: an diesem Ort, an diesem Tag, auf den heutigen Tag, zur rechten Hand, in weniger Zeit, ꝛc. §. 226. Hingegen koͤnnen sich die Zuwoͤrter, welche die Grade, Groͤße, Zahl, Menge, Aehnlichkeit ꝛc. an- zeigen, sowohl auf die Handlung, als auf die Sache be- ziehen, so fern naͤmlich Handlung und Sache der Gra- de, Wiederholung, Vergleichung ꝛc. faͤhig sind. Die meisten Zuwoͤrter, und besonders die, so von Beywoͤr- tern gebildet werden, haben an sich schon in den Spra- chen ihren Comparatiuum und Superlatiuum, und die bestimmtere Grade lassen sich durch eben die Mittel anzeigen, die wir oben in Ansehung der Beywoͤrter an- gemerkt haben (§. 187. seqq. ). §. 227. So ferne die Zuwoͤrter Bestimmungen der Zeitwoͤrter sind, so fern sind sie auch Mittelbegriffe, die mit jeden andern Sprachtheilen in Verbindung stehen. Daher sind sie auch groͤßtentheils von andern Woͤrtern abgeleitet, und selbst die, velche Wurzelwoͤrter sind, die- nen hinwiederum, andere Woͤrter daraus zu bilden. Wir Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. Wir machen diese Anmerkung besonders auch zum Be- hufe der deutschen Sprache und der allgemeinen Sprach- lehre uͤberhaupt. Denn da die deutsche Sprache sehr viele und sehr allgemeine Mittel zur Ableitung und Bildung neuer Woͤrter hat, so lohnt es sich der Muͤhe, in der oben schon oͤfters erwaͤhnten Theorie derselben die Sache so allgemein zu betrachten, daß die Verhaͤlt- nisse zwischen jeden Classen von Woͤrtern oder Rede- theilen bestimmt, und die Mittel aufgesucht werden, je- des Wort durch alle durchzufuͤhren, so viel es, theils die Sache selbst, theils auch die Art der Sprache zu- laͤßt. Diese letztere Bedingung faͤllt bey einer durch- aus wissenschaftlichen Sprache und der Theorie dersel- ben in so weit weg, als man dabey nicht auf Gewohn- heit und Herkommen zu sehen hat. §. 228. So z. E. geben die Vorwoͤrter sowohl an sich, als in so fern sie Ableitungstheilchen sind, eine gu- te Menge von Zuwoͤrtern, welche zu Bestimmung der Zeitwoͤrter dienen koͤnnen. Aus den Zeitwoͤrtern las- sen sich auf vielerley Arten Nennwoͤrter bilden, denen solche Zuwoͤrter, in die Form der Beywoͤrter verwan- delt, als Bestimmungen zugesetzt werden koͤnnen. Hin- wiederum lassen sich bald alle Beywoͤrter in Zuwoͤrter verwandeln, daher aus welchen Quellen jene hergeleitet werden, erlangt man diese zugleich mit, und dazu bieten sowohl Zeitwoͤrter als die Substantiua abstracta haͤufige Anlaͤße an. Man sieht leicht, daß hierinn in Absicht auf die Structur der Woͤrter viel Charakteristisches, und in Absicht auf die Art, wie sie mit der Verwand- lung ihre Bedeutung aͤndern, viel Metaphysisches liegt, wozu bey wirklichen Sprachen noch der Gebrauch koͤmmt, welcher zu dem Jndividualen und zugleich auch zu vielen Anomalien fuͤhrt, und hingegen bey einer wis- senschaftlichen Sprache nach Regeln bestimmt werden kann. J 4 §. 229. VI. Hauptstuͤck. §. 229. Die letzte Classe der unveraͤnderlichen Re- detheile begreift die Conjunctionen oder Bindwoͤrter. Ohne diese wuͤrde eine Rede aus lauter einzeln Saͤtzen bestehen, und ohne allen Zusammenhang seyn, oder wenigstens zu seyn scheinen. Und wenn auch solche Saͤtze in behoͤriger Ordnung auf einander folgten, so waͤre es immer der Einsicht des Lesers oder Zuhoͤrers uͤberlassen, ob er denselben finden wuͤrde, oder auch fin- den koͤnnte, weil in der That Vieldeutigkeiten dabey vorkommen koͤnnen. Z. E. Man nehme die zween Saͤtze: Jch bin nicht bey Cajo gewesen. Ti- tius ist bey mir gewesen; so seheint einer von dem andern unabhaͤngig, und jeder ein Stuͤck von zwo ganz verschiedenen Erzaͤhlungen zu seyn. Jndessen koͤnnen sie auf vielfache Art zusammenhaͤngen. Der erste kann ein Anlaß zum andern, der andere ein Grund des er- sten, oder eine Folge davon seyn ꝛc. Die Conjunctio- nen: denn, weil, aber, so ꝛc. geben solche Unterschie- de an, und breiten den Zusammenhang auf das vor- und nachgebende der Rede aus. Z. E. Jch war nicht bey Cajo, denn Titius war bey mir, will sagen: Titius hat mich verhindert, oder hat es unnoͤthig ge- macht. Eben so: Jch war nicht bey Cajo, aber Titius war bey mir, kann anzeigen, daß Titius er- setzt habe, was bey Cajo zu thun gewesen waͤre, und hier koͤnnen sehr speciale Verhaͤltnisse zum Grunde lie- gen, die sich jedesmal aus den Umstaͤnden und der gan- zen Rede vermittelst solcher Conjunctionen gleichsam von selbst angeben. §. 230. Man sieht aus diesem Beyspiele, daß die Bindwoͤrter nicht Kleinigkeiten, sondern Meisterstuͤcke der Sprache sind, weil sie auf eine sehr kurze Art einer Rede Verstand, Bestimmung und Zusammenhang ge- ben. Wir haben in der Dianoiologie (§. 300.) in ei- nem ausfuͤhrlichern Beyspiele gewiesen, wie durch die Bind- Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. Bindwoͤrter eine Formel von trockenen Saͤtzen in eine fließende Ordnung und Verbindung gebracht wird, wel- ches um desto mehr hieher gehoͤrt, weil darinn eine gu- te Menge von Conjunctionen vorkommen, und einen weitlaͤuftigen und verwickelten Umweg im Schließen in eine deutlichere Ordnung bringen. Ueberhaupt muß man, um sie richtig zu gebrauchen, ihre Bedeutung wohl wissen, und den Zusammenhang der Sache selbst sich deutlich vorstellen, damit die Conjunctionen, die man zu gebrauchen hat, richtig gewaͤhlt, und nicht et- wan durch unschickliche Auswahl derselben, der Ver- stand der Rede verwirrt werde, oder anders ausfalle, als er seyn solle. Denn allerdings geschieht dieses, es sey, daß man Gruͤnde mit Folgen, zusammengehoͤrende Begriffe mit einander zuwider laufenden, Anmerkun- gen mit Schluͤssen ꝛc. verwechsele, oder sie durch un- schickliche und ganz was anders bedeutende Bindwoͤrter vorstelle. Da ferner die Bindwoͤrter viele Saͤtze und Redensarten zusammenhaͤngen, so koͤnnen allerdings dadurch die Perioden der Rede sehr verlaͤngert werden, und man findet auch Schriften, worinn dieses ohne Nothwendigkeit geschieht. Vielleicht, um diesen Feh- ler zu vermeiden, haben andere Schriftsteller die aͤchte Schoͤnheit und Deutlichkeit der Rede in kurzen Saͤtzen gesucht, und daher bald alle Bindwoͤrter weggelassen, aber zugleich auch den Zusammenhang der Rede ent- kraͤftet, und oͤfters vieldeutig und raͤthselhaft gemacht. Noch andere haben, statt Bindwoͤrter zu gebrauchen, oder die Luͤcken des Zusammenhangs auszufuͤllen, schlechthin Striche — und Punkte .... eingefuͤhrt, die allerdings in gewissen Faͤllen ihren Nachdruck und Be- deutung haben, durch unschickliche Nachahmung aber leicht verkehrt und ohne Grund gebraucht werden. §. 231. Die Sprachlehrer haben sich auch in An- sehung der Conjunctionen Muͤhe gegeben, sie in gewisse J 5 Classen VI. Hauptstuͤck. Classen einzutheilen, und den Grund zu der Einthei- lung von ihrer Bedeutung hergenommen. Daher sind die verknuͤpfende, zuwiderlaufende, verursa- chende, ausschließende, entgegensetzende, be- dingende, fortsetzende, abzwackende, zugeben- de, folgernde, aufklaͤrende, ordnende ꝛc. Bind- woͤrter mit diesen besondern Namen benennt worden. Sie lassen sich aber noch in mehrern andern Absichten eintheilen, und besonders kommen hiebey die Grade vor, wie weit sie den Zusammenhang und Verbindung uͤber die Rede ausdehnen. Denn da giebt es solche, die bey einzeln Woͤrtern anfangen, und ebenfalls auch auf Saͤtze und ganze Perioden gehen. Dergleichen sind die Bindwoͤrter und, auch, imgleichen, eben- falls, oder, entweder, sowohl, als, ꝛc. Andere ge- hen nicht auf einzelne Woͤrter, sondern nur auf Saͤtze, und Perioden. Z. E. weil, demnach, so, denn, auf daß, damit, ferner, folglich, daher, obschon, daferne ꝛc. §. 232. Ferner lassen sie sich in Absicht auf die Structur der Rede eintheilen. Denn einige dienen zum Anfange, und diese fordern fast nothwendig ande- re zum Zusammenhaͤngen und Schließen. Z. E. auf: da, da nun, demnach, weil, wenn ꝛc. folgt: so; auf zwar folgt aber; auf obschon, obwohl ꝛc. folgt doch, dennoch, ꝛc. Andere koͤnnen zur Foͤrtsetzung gebraucht werden, dergleichen sind: denn, damit, auf daß, weil, naͤmlich ꝛc. Man sieht leicht, daß sich hiebey ganze Formeln von Redensarten und Pe- rioden gedenken lassen, dergleichen man auch wirklich in verschiedenen Anweisungen zur Redekunst vorge- schrieben findet. Sie dienen aber daselbst weiter nicht, als daß sie den Anfaͤngern die Mannichfaltigkeit in dem Schwunge der Perioden als bloße Moͤglichkeiten zei- gen, weil man nicht die Gedanken nach den Perioden richten, Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. richten, sondern diese sich nur in so ferne bekannt ma- chen muß, daß man sie, wo sie schicklich sind, ungesucht gebrauchen koͤnne. §. 233. Jn Ansehung des Charakteristischen sind die Conjunctionen entweder Wurzelwoͤrter oder abgelei- tet und zusammengesetzt. Und hierinn kommen die wirklichen Sprachen nicht uͤberein. Jm Deutschen schei- nen: und, auch, so, als, oder, wenn, wo, wie, aber, weder, noch, doch, sonst, ob, denn, weil, daß, da, nun, ꝛc. Wurzelwoͤrter zu seyn. Die Latei- ner haben noch die verneinende ne, nec, quin, ꝛc. die wir im Deutschen zusammensetzen, so wie sie hingegen das deutsche auch, durch etiam, quoque, ꝛc. geben. Die abgeleiteten oder zusammengesetzten Bindwoͤrter, besonders wenn sie von andern Redetheilen herkommen, aͤndern gewissermaßen ihre Bedeutung, und oͤfters sind es Abkuͤrzungen von Redensarten. Z. E. das Bind- wort daher, welches an sich eine Verhaͤltniß des Ortes anzeigt, wird metaphorisch und wegen Aehnlichkeit des Eindruckes auf die Gruͤnde und Schlußsolgen gezogen; als ein Bindwort aber ist es eine Abkuͤrzung der Re- densart: daher koͤmmt, daß ꝛc. Das Bindwort da- mit, welches auf Mittel und Absichten geht, behaͤlt noch etwas von dem Vorworte mit, aus welchem es abge- leitet ist. Das Bindwort deswegen oder derowe- gen, derohalben, hat wie im Lateinischen quapropter, propterea, fast ganz seine natuͤrliche und urspruͤngliche Bedeutung, weil propter, wegen, an sich auch eine Praepositio caussalis ist. (§. 213.). Man wird in den Bindwoͤrtern: ebenfalls, desgleichen, dazu, außer dem, ungeachtet, hingegen, folglich, demnach, obschon, nachdem, indessen, inzwischen, unter- weilen, mitlerweilen, ferner, weiter, uͤbrigens, zwar, ꝛc. aͤhliche Spuren der Ableitung und Abkuͤr- zung finden. §. 234. VI. Hauptstuͤck. §. 234. Die Bindwoͤrter sind uͤberhaupt in Absicht auf die Sprache eben das, was die Zeichen + — · : in der Algeber sind. Denn ungeacht diese Zeichen auch wirkliche Operationen vorstellen, wenn man auf das Practische sieht, so zeigen sie doch, theoretisch genommen, bloße Verhaͤltnisse, Verbindungen und Zusammenhang der Groͤßen an, auf welche sie sich beziehen. Beson- ders ist das Zeichen + eben das, was das Bindwoͤrtgen und, weil die Redensart: 4 und 5, algebraisch 4+5 gezeichnet wird. §. 235. Es giebt ferner in der Sprache eine Classe von Woͤrtern, die mit den Conjunctionen vieles gemein haben. Dahin rechnen wir die Pronomina relatiua oder beziehende Fuͤrwoͤrter: derselbe und wel- cher, und in gewissen Faͤllen auch die Artikel oder Ge- schlechtswoͤrter, der, und so auch dieser, solcher, ꝛc. Das Beziehende darinn hat etwas mit den Conjunctio- nen gemein, und nur das besonders, daß es vornehmlich auf die Hauptwoͤrter geht, statt deren man solche Fuͤr- woͤrter gebraucht, um sie nicht so oft zu wiederholen. Dieses Beziehende zeigt sich am deutlichsten, wenn eine neue Periode oder Redensart mit solchen Fuͤrwoͤrtern angefangen wird. Hingegen haben dieselben von den Conjunctionen das verschieden, daß sie sich wie die Bey- woͤrter, sowohl dem Geschlechte als den Fallendungen nach, abaͤndern lassen. §. 236. Sodann kommen unter den Zuwoͤrtern auch einige vor, die eine Beziehung auf das Vorherge- hende anzeigen. Dergleichen sind die Woͤrter: da- mals, alsdann, dort, dorthin, daselbst, ꝛc. womit auch ofters neue Saͤtze angefangen, und mit den vor- hergehenden zugleich verbunden werden, weil sie sich auf besondere Umstaͤnde beziehen. §. 237. Die Conjunctionen geben uͤberhaupt den Gesichtspunkt an, aus welchem ein Satz in Absicht auf die Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. die vorhergehenden und folgenden muß betrachtet wer- den, ob er ein Grund, Beweis, Folge, Erlaͤute- rung, Ausnahme, Hinderniß, Nebenumstand, Zusatz, Mittelglied zum Schlusse, Einwurf, Gegensatz, Fortsetzung, Anmerkung, Absicht, Endzweck, Bedingung, Trennung, Verknuͤ- pfung, Vergleichung, Zusammenfassung, Ein- raͤumung, Umstoßung oder Vereitelung des Einwurfs oder Hindernisses ꝛc. sey. Diese Ver- haͤltnißbegriffe des Zusammenhanges der Rede, werden durch die Bindwoͤrter groͤßtentheils als durch abge- kuͤrzte Ausdruͤcke angezeigt. Denn da wir sie hier durch Abstracta ausdruͤcken, so ist es auch moͤglich, den Begriff einer jeden Conjunction, wodurch Saͤtze ver- bunden werden, durch diese Abstracta anzuzeigen, oder sie durch Redensarten zu geben, worinn hoͤchstens nur die vorhin (§. 235.) erwaͤhnten Beziehungsfuͤrwoͤrter vorkommen. So haben die Mathematiker fuͤr ihre Saͤtze besondere Namen, die ihnen statt der Conjunctio- nen dienen, z. E. Erklaͤrung, Grundsatz, Forde- rung, Lehrsatz, Lehnsatz, Beweis, Zusatz, Er- fahrungssatz, Aufgabe, Aufloͤsung, Anmerkung. Diese Namen zeigen sowohl, was der Satz ist, als auch wozu er dient, woher er genommen ist, in welcher Verbindung er mit den vorhergehenden oder folgenden stehe, was zu seinem Behufe erfordert werde ꝛc. §. 238. Da ferner die Bindwoͤrter sich auf den Zusammenhang der Rede beziehen, so ist leicht zu be- greifen, daß sie uͤberhaupt auch der Rede eine andere Construction geben, wie wir es bereits schon (§. 231. 232.) zum Theil angemerkt haben. So z. E. sind: denn und weil, Bindwoͤrter, die den Grund anzei- gen, aber jedes fordert eine ihm eigene Construction und Ordnung der Woͤrter. Letzteres laͤßt zu, daß man den Grund vor oder nach dem Gegruͤndeten setzt; ersteres aber VI. Hauptstuͤck. aber setzt das Gegruͤndete voraus, und faͤngt eine neue Periode an. Die Bindwoͤrter: daß, auf daß, da- mit, wenn nur, ziehen fast immer einen Coniuncti- uum des Zeitwortes nach sich, auf welches sie sich be- ziehen, und diese Abwandlungsart der Zeitwoͤrter scheint den Conjunctionen zugefallen in den Sprachen zu seyn, welche nicht eine ausdruͤckliche Anzeige angeben, son- dern sich aufs ungewisse, unbestimmte, bedingte, ꝛc. be- ziehen. Der Unterschied der Ausdruͤcke: wenn die- ses ist, wenn dieses waͤre, ingleichem: ich weiß, daß es geschieht; ich will, wuͤnsche, hoffe, ꝛc. daß es geschehe, und mehrer anderer, zeigt das Ge- wissere des Indicatiui, und das Ungewissere des Con- iunctiui, einigermaßen an. Man sehe auch (§. 148.). Uebrigens da uͤberhaupt die Bindwoͤrter die schwerste Classe der Redetheile sind (§. 230.), und uͤberdieß in den Sprachen die Modi der Zeitwoͤrter nicht immer so genau genommen werden, so ist sich nicht zu verwun- dern, wenn in den wirklichen Sprachen Anomalien vor- kommen, die das Charakteristische, so bey den Conjun- ctionen seyn koͤnnte, mehr oder minder verwirren. §. 239. Die moͤgliche Anzahl der Bindwoͤrter sollte sich durch eine genaue Eintheilung und Abzaͤhlung der Verhaͤltnißbegriffe des Zusammenhangs der Rede be- stimmen lassen. Von diesen Verhaͤltnißbegriffen ha- ben wir bereits (§. 237.) eine gute Menge angefuͤhrt, die sich durch Abstracta ausdruͤcken lassen. Es giebt aber deren mehrere, zu welchen die Sprachen noch keine solche abstracte Hauptwoͤrter haben, und die folglich durch Redensarten muͤssen definirt werden. Z. E. das Bindwort uͤbrigens scheint von dieser Art zu seyn. Es zeigt theils etwas, das man noch nachholet, theils et- was, so gleichsam zum Ueberflusse noch beygefuͤgt wird, theils ein Zusammennehmen, theils ein Abstrahiren von ausgelassenen oder auch angefuͤhrten Betrachtungen an, und Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. und aͤndert diese Bedeutungen nach der Beschaffenheit der Sache, welche gemeiniglich, mit dem Begriffe des Bindworts verglichen, den Begriff des Zusammenhangs der Rede naͤher bestimmt, und individual macht. §. 240. Da die Bindwoͤrter durch Substantiua abstracta definirt werden, so laͤßt sich von denselben eben das anmerken, was wir oben von diesen abstracten Hauptwoͤrtern angemerkt haben (§. 138. seqq. 175. 201. 202.). Eine gelehrte Sprache muß derselben mehr haben, die groͤßere Mannichsaltigkeit und Anzahl von beyden Arten erleichtert die Mittel, sie zu definiren, und ihr Umfang hat etwas Unbestimmtes, welches sich nach den Faͤllen richtet, worinn sie gebraucht werden. Daß die Bindwoͤrter besonders zu einer gelehrten Sprache nothwendig sind, ist auch daraus klar, daß sie Begriffe des Zusammenhanges der Rede vorstellen, welcher in der gelehrten oder wissenschaftlichen Erkenntniß die Grundlage und der Ansang und das Ende ist. Die Bindwoͤrter gehoͤren demnach unter allen Sprachthei- len am unmittelbarsten zum Gebiete der Vernunft, und sind im eigentlichsten Verstande das Werk dieser Er- kenntnißkraft, sowohl in Absicht auf ihren Ursprung als in Absicht auf ihren richtigen Gebrauch. Denn da die uͤbrigen Woͤrter nur an sich vorstellen, was man sagen will, so breiten die Bindwoͤrter Licht und Ordnung auf den ganzen Zusammenhang der Rede aus, und zeigen, wie das, so man jedesmal sagt, zu dem Vorhergehenden und Folgenden diene, und wie alles zusammengehoͤre. Die Fragen: Was hat das hiebey zu thun: Wie schickt sich das hieher? Wie reimt es sich mit dem Vorhergehenden? zeigen ungesaͤhr die Faͤlle an, wo Bindwoͤrter und Zusammenhang gar nicht oder unschicklich gebraucht werden, und wo man die vorhin (§. 237.) angegebenen Begriffe verwechselt und uͤbel anwen VI. Hauptstuͤck. anwendet, oder wenigstens den Schein von diesen Feh- lern veranlaßt. §. 241. Das Gesetz der Einbildungskraft, vermoͤg dessen uns vorhin gehabte Vorstellungen bey Anlaß der gegenwaͤrtigen wieder in Sinn kommen, wenn diese ein Theil davon sind, oder auch nur etwas Aehnliches und Gemeinsames haben, kann uns allerdings oft verleiten, Dinge zusammenzubringen, die weiter keinen Zusam- menhang unter sich haben, als daß sie uns zugleich oder gelegentlich in Sinn kommen. Das franzoͤsische à pro- pos ist das Bindwoͤrtgen, oder, besser zu sagen, das Flickwort, welches einen so gelegentlichen Zusammen- hang oder vielmehr Unterbrechung und Wendung der Rede anzeigt, oder statt dessen wir durch gleichgeltende Redensarten die Zuhoͤrer oder Leser errinnern, daß das, so wir sagen wollen, weder einen logischen noch metaphysi- schen Zusammenhang mit dem vorhergehenden habe, son- dern uns nur bey Anlaß desselben in Sinn komme. Durch solche à propos ist es leicht moͤglich, daß in Unterredun- gen, wo man keinen vorgesetzten Gegenstand hat, un- vermerkt die ganze Welt durch die Musterung geht, und zuletzt gefragt wird, wo das Gespraͤch angefan- gen habe? §. 242. Hingegen wo man sich im Reden und Schreiben vorsetzt, den Gegenstand nicht aus dem Ge- sichte zu verlieren, da werden solche à propos seltener. Man abstrahirt von den gelegentlich beyfallenden Ge- danken, und waͤhlt und sucht diejenigen, die zum Zu- sammenhange gehoren. Die Mathematiker, die hier- inn am strengsten verfahren, haben ihre so genannten Scholia zu solchen Ruheplaͤtzen gemacht, wo sie die durch die Theorie der Sache veranlaßte Anmerkungen anbringen. Groͤßere Abweichungen von der Hauptsa- che werden Digressionen, und wenn sie fehlerhaft sind, wirkliche Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. wirkliche Ausschweifungen genennt, besonders wo der Leitfaden daruͤber ganz verloren geht. §. 243. Da sich die Conjunctionen nicht auf einzelne Begriffe von Dingen, Handlungen, Eigenschaften, ꝛc. sondern auf die Verbindung derselben und den Zusam- menhang der Rede erstrecken, und daher logische und metaphysische Verhaͤltnißbegriffe vorstellen, so wird ihre Bedeutung und Umfang auch schwerer und spaͤter er- lernt, und man muß sich den Zusammenhang der Ge- danken in allen Absichten und nach allen Modificatio- nen wohl bekannt gemacht haben, wenn man sie richtig gebrauchen und die Misbraͤuche bestimmen und aus- bessern will. Sie sind an sich schon ein Werk der Vernunst, und vor dem Gebrauche oder Reifigkeit die- ses Erkenntnißvermoͤgens werden sie hoͤchstens nur auf eine abgelernte Art gebraucht, und es ist gut, wenn es aus Buͤchern geschieht, worinn sie richtig und in ihrem wahren Nachdrucke vorkommen. Die strengste Me- thode der Mathematiker bindet sich an das Unbestimmte in den Conjunctionen nicht, sondern hat außer den vor- hin (§. 237.) schon erwaͤhnten Namen, noch andere Redensarten, wodurch das Beziehende der Conjun- ctionen, ohne Gefahr zu irren, richtiger erhalten wird. Das Citiren der §. §. und Saͤtze, die in den Beweisen gebraucht werden, leitet den Leser auf die bestimmteste Art dahin, wo er diese Saͤtze bewiesen, erklaͤrt, oder in ihrer wahren Gestalt vorgestellt findet. Die Ausdruͤcke: Vermoͤg der Bedingung, vermoͤg der Constru- ction, vermoͤg des Erwiesenen, welches der Bedingung zuwider, ꝛc. zeigen dem Leser ebenfalls, woher die Gewißheit des Beweises koͤmmt. Und die Schlußformeln: Welches zu erweisen war, wel- ches zu thun war, welches zu finden war, ꝛc. zeigen, daß der Beweis oder die Aufloͤsung nunmehr zu Ende sey. Dadurch werden viele Conjunctionen uͤber- Lamb. Organon II B. K fluͤßig, VI Hauptstuͤck. fluͤßig, die lange nicht so bestimmte Bedeutungen haͤt- ten, wenn man sie dafuͤr gebrauchen wollte, und uͤber- dieß wuͤrde man in Absicht auf das Beziehende mit den in der Sprache uͤblichen Conjunctionen nicht ganz ausreichen. §. 244. Da die Conjunctionen auf den Zusammen- hang der Rede gehen, so erstrecken sie sich oͤfters vor- waͤrts und nachwaͤrts durch viele Perioden durch. So z. E. kann das Bindwoͤrtgen daher, oder demnach, eine sehr lange Forge von einer ebenfalls sehr langen und ausfuͤhrlichen Betrachtung nach sich ziehen. Die Bedingungswoͤrer wenn, woferne, ꝛc. erstrecken sich ebenfalls auf alles, was die Bedingung begreift, und was vermoͤg derselben gesagt wird. Die Bindwoͤrter: denn, weil, ꝛc. dehnen sich auf den ganzen Zusam- menhang des Beweises und des Bewiesenen aus, und der Beweis, wenn er disjunctiv oder dilemmatisch ist, kann sich durch das: entweder, oder, in Aeste zer- theilen, die noch alle sich auf das erste denn beziehen. Und noch weitlaͤuftiger wird es, wo man Betrach- tungen, Gruͤnde, Beweggruͤnde ꝛc. aufhaͤufen, und durch die Coniunctiones ordinatiuas, erstlich, so- dann, ferner, wiederum, desgleichen auch, end- lich ꝛc. als zusammengehoͤrend vorstellen muß. Bey einem noch weitlaͤuftigern Zusammenhang reichen theils die Bindwoͤrter nicht mehr zu, theils ist es gut, wenn man, um die Verwirrung zu vermeiden, den Zusam- menhang und wie weit man jedesmal darinn gekom- men, durch ausdruͤcklich dazu dienende Anmerkungen anzeigt, dergleichen bey dem Uebergang von einem Theile zum andern die Transitionen sind, worinn man auch oͤfters alle vorhergehende einzele Stuͤcke kurz wie- derum zusammenfaßt, um das noch Ruͤckstaͤndige durch die Betrachtung des Ganzen deutlich vorzustellen. §. 245. Von den unveraͤnderlichen Redetheilen. §. 245. Man hat in den wirklichen Sprachen durch die Structur der Rede anzuzeigen gesucht, wie weit eine jede Conjunction sich vor und nachwaͤrts ausdehne, und dieses bey kuͤrzern Ausdehnungen noch zienlich erhalten. Bey laͤngern muß die Betrachtung der Sache selbst dieser charakteristischen Vorstellung des Zusammenhan- ges nachhelfen und seinen Umfang bestimmen. Die syn- tactische Regel, daß die Bindwoͤrter: und, auch, so- wohl: als, gleichwie: so auch, entweder: oder, weder: noch, zwar: aber, nicht: sondern, ob- schon: doch, ꝛc. so viel es die Sache leidet, in den Redensarten und Theilchen der Perioden eine achnliche Construction erfordern, findet sich in allen Sprachleh- ren. Daß diese Construction viel Charakteristisches habe, und in allgemeinen Formeln vorgestellt werden koͤnne, haben wir bereits oben (§. 232.) errinnert, und eben so auch (§. 238.) die Verhaͤltniß zwischen dem Coniunctiuo der Zeitwoͤrter und den Conjunctionen, die ihn nach sich ziehen, kuͤrzlich beruͤhrt, zugleich aber auch angemerkt, daß die wirklichen Sprachen hierinn noch charakteristischer seyn koͤnnten. K 2 Sieben- VII. Hauptstuͤck. Siebentes Hauptstuͤck. Von der Wortforschung . §. 247. B isher haben wir die einzelnen Redetheile nach ihren Hauptclassen betrachtet, und dabey das Willkuͤhr- liche von dem, was in der That Nothwendiges und Metaphysisches darinn ist, unterschieden, und zugleich auch mit angemerkt, was in verschiedenen Absichten zu mehrerer Vollkommenheit der Sprachen, und besonders auch der deutschen, als moͤglich zuruͤckbleibt. Wir werden nun die Verwandschaft der Woͤrter aus den ver- schiedenen Classen der Redetheile etwas naͤher betrach- ten, um die Moͤglichkeiten der Ableitung eines Wortes aus dem andern, und uͤberhaupt die Bildung neuer Woͤrter, genauer untersuchen. Und hiebey werden uns wirkliche und moͤgliche Sprachen aus den anfangs schon angezeigten Gruͤnden (§. 72.) großentheils gleich- guͤltig seyn. §. 248. Es ist nicht wohl anders moͤglich, als daß man bey Einfuͤhrung einer durchaus neuen Sprache Wurzelwoͤrter aus allen Classen der Redetheile anneh- me, um die Ableitung jeder uͤbrigen Woͤrter kuͤrzer und leichter zu machen, und der Sprache zugleich jede Voll- staͤndigkeit und die Moͤglichkeit der Vorstellung jeden Zusammenhanges zu geben. Die Vollstaͤndigkeit muß uͤber dieß nicht nur so weit reichen, daß man jeden Ge- danken nur etwan auf eine einzige Art vorstellen koͤnne, sondern dieses muß auf mehrere Arten moͤglich seyn, weil gleichgeltende Ausdruͤcke und Redensarten einander gleichsam zur Probe dienen, und das Wankende in der Bedeutung der Woͤrter dadurch großentheils und leich- ter Von der Wortforschung. ter vermieden wird, als wenn man in zweifelhaften Faͤllen immer die Sache selbst wieder vorzeigen muͤßte, wie es etwan bey dem Ursprung der Sprachen gesche- hen. Jn dieser Absicht ist demnach eine Sprache viel vollkommener, wenn sie Stoff genug hat, jede Ausdruͤ- cke und Redensarten auf mehrere Arten mit gleichgel- tenden zu verwechseln, (§. 136. Dianoiol.). Auch das Definiren der Woͤrter und Begriffe wird dadurch er- leichtert, und dieses ist besonders bey solchen Woͤrtern wichtig, deren Bedeutung, der Natur der Sache nach, von unbestimmtem Umfange ist, weil dieser an jedem Orte durch Zuziehung der bestimmenden Woͤrter festge- setzt werden kann, (§. 141.). §. 249. Jn dieser Absicht finden wir in den wirkli- chen Sprachen ganze Classen von Redetheilen, die auf eine schlechthin charakteristische Art Abkuͤrzungen weit- laͤuftigerer Ausdruͤcke sind, und zu deren Erklaͤrung und Bestimmung diese letztere koͤnnen gebraucht werden. Hieher gehoͤren uͤberhaupt die Mittelwoͤrter oder Participia, weil man statt derselben durch eine bloß grammatische Verwandlung immer eine gleichgeltende Redensart oder Umschreibung gebrauchen kann. Man ist auch zu dieser Umschreibung gleichsam genoͤthigt, wo man aus einer Sprache in eine andere uͤbersetzt, welche nicht alle Arten von Mittelwoͤrtern der ersten hat, wie z. E. aus dem Griechischen ins Lateinische oder Deutsche. Man wird eben so aus dem §. 237. sehen, daß sehr viele Bindwoͤrter nur abgekuͤrtzte Ausdruͤcke von Redens- arten sind, durch welche die Art des Zusammenhanges der Rede umstaͤndlicher oder umschreibungsweise ange- zeigt werden kann. §. 250. Die Zuwoͤrter oder Aduerbia sind eben- falls auf eine minder nothwendige Art Wurzelwoͤrter, weil sie fast alle von andern Redetheilen, z. E. von Vor- woͤrtern und Beywoͤrtern, abgeleitet werden koͤnnen, K 3 §. 224. VII. Hauptstuͤck. (§. 224. 225.). Hingegen scheinen viele Jnterjectionen um desto natuͤlicher und nothwendiger Wurzelwoͤrter zu seyn, weil sie natuͤrliche Wirkungen der Affecten sind (§. 218.). Aber noch ungleich nothwendiger scheinen die Vorwoͤrter unter die Wurzelwoͤrter zu gehoͤren. Denn sie druͤcken sehr einfache Verhaͤltnisse des Orts, der Zeit, der Lage, der Urseche und Wirkung aus (§. 212.), und die Begriffe dieser Verhaͤltnisse sind allerdings von den Begriffen der Handlungen und Dinge selbst, durchaus verschieden. Und da die urspruͤngliche Bedeutung der Vorwoͤrter Verhaͤltnisse der Koͤrperwelt vorstellen, de- ren Empfindung man immer wieder damit verbinden kann, so ist auch dieses ein Grund mit, warum sie aller- dings unter die ersten Woͤrter oder zu der Grundlage einer Sprache gehoͤren, weil sich bey dem ersten Ur- sprung der Sprachen keine andere Wurzelwoͤrter geden- ken lassen, als solche, deren Bedeutung durch Vorzei- gung der Sache selbst konnte bekannt gemacht werden. Denn die Bedeutung eines Wurzelwortes ist von der Bedeutung jeder andern Woͤrter unabhaͤngig, weil es eben dadurch ein Wurzelwort ist. Man kann noch mit anmerken, daß die Bedeutung der Vorwoͤrter sich auch dermalen noch nicht wohl anders als durch die Darstellung der Sache selbst kenntlich machen laͤßt. §. 251. Diese Bedingung, daß die Wurzelwoͤrter urspruͤnglich solche Dinge anzeigen muͤssen, die in die Sinnen fallen, schleußt die meisten Bindwoͤrter aus, und besonders diejenigen, welche abstractere Bestim- mungsbegriffe des Zusammenhangs der Rede vorstel- len. Wir haben daher bereits (§. 233.) angemerkt, daß solche Bindwoͤrter theils metaphorisch, theils abgeleitet, theils auch Abkuͤrzungen sind. So z. E. scheint im Deutschen das Bindwort wenn anfaͤnglich nur eine Bedingung der Zeit, nachgehends aber, wegen Aehn- lichkeit des Eindruckes, jede andere Bedingung ange- zeigt Von der Wortforschung. zeigt zu haben. Eben dieses laͤßt sich auch von dem Bindwort wo oder wofeme anmerken. Ob die Bindwoͤrter denn, daß, anfangs nur Geschlechtswoͤrter waren, bey schicklichen Anlaͤßen aber allgemeiner und zu Bindwoͤrtern gemacht worden, laͤßt sich nicht wohl eroͤrtern. Man findet Verwandlungen der Bedeutung in den Sprachen, die noch ungleich haͤrter sind, und die- se glaublich machen. Uebrigens laͤßt sich leicht erach- ten, daß die ersten Urheber der Sprachen sich anfangs mit der Moͤglichkeit, einzelne Saͤtze vorzustellen, begnuͤ- gen mußten, und erst nach und nach an ihre Verbin- dung gedenken konnten. Denn die Bindwoͤrter sind ohnehin ein Gegenstand und Werk der Vernunft und der abstracten Erkenntniß. Die Sprachen aber muß- ten nothwendig bey den Sinnen anfangen. Auf diese Art aber konnte z. E. das Bindwort und, welches un- streitig unter die ersten gehoͤrt, anfangs nicht wohl an- ders als zum Zusammenzaͤhlen einzelner Dinge, und et- wan als ein Flickwort zum Fortsetzen der Rede ge- braucht werden, ungeacht der Gebrauch desselben nun- mehr vielfacher und allgemeiner ist. §. 252. Am nothwendigsten aber mußten die Be- griffe der Handlungen und Substanzen und ihrer Ei- genschaften mit Wurzelwoͤrtern benennt werden, und besonders diejenigen, die oft als eben dieselben wieder vorkamen, weil eben dadurch auch der Anlaß, davon zu reden, oͤfterer wurde. Die Schicklichkeit, die die Na- tur selbst anboth, diese erste Grundlage der Sprache sehr unveraͤnderlich und kenntlich zu machen, haben wir bereits oben (§. 121.) angezeigt, und werden sie im Fol- genden besonders betrachten, weil die Woͤrter, deren Bedeutung durch die Natur der Sache selbst bestimmt und kenntlich ist, gleichsam zum Maaßstabe und Richt- schnur jeder uͤbrigen dienen. K 4 §. 253. VII. Hauptstuͤck. §. 253. Wir haben ferner ebensalls angemerkt (§. 126.), daß die Sprachen viel zu weitlaͤuftig gewor- den waͤren, wenn man nicht Mittel gefunden haͤtte, die Anzahl der Wurzelwoͤrter auf mehrerley Arten geringer zu machen, wodurch aus einem einzigen Wurzelwort ei- ne ganze Classe von Woͤrtern zugleich und auf eine fast bloß charakteristische Art gebildet werden kann (§. 130.). Zu diesen Mitteln gehoͤren die Zusammensetzung, die Ableitung, die Abaͤnderung und Abwandlung (§. 126.). Die Etymologie oder die Wortforschung ist derjenige Theil der Sprachlehre, worinn die Woͤrter auf diese Art betrachtet werden, ungeacht in den Sprachlehren der wirklichen Sprachen groͤßtentheils nur die Lehre von der Abaͤnderung und Abwandlung der Nennwoͤr- ter und Zeitwoͤrter und ihrer Anomalien vorkoͤmmt, und hingegen die Ausforschung der Wurzelwoͤrter und der Bedeutung jeder Ableitungsart den Criticis und Philologen uͤberlassen wird. §. 254. Die Ursache hievon ist, weil die Sprach- lehren fast alle nur fuͤr Anfaͤnger geschrieben werden, und uͤberdieß in den wirklichen Sprachen in der Ablei- tung der Woͤrter, sowohl der Form als der Bedeutung nach, das Metaphysische mit dem Willkuͤhrlichen gar zu sehr untermengt ist, und unstreitig viele Wurzelwoͤr- ter, nebst ihrer urspruͤnglichen Gestalt und Bedeutung, in Vergessenheit gekommen. Diese Verwirrung und Unvollstaͤndigkeit machen den wichtigern Theil der Ety- mologie bey den wirklichen Sprachen sehr schwer, und ihre Regeln von der Bestimmung der Bedeutung ab- geleiteter Woͤrter aus der Ableitungsart, in einem ge- wissen Grade unzuverlaͤßig, so daß man sie in vielen Faͤllen hoͤchstens nur als einen Anlaß zum Vermuthen ansehen kann, die aus der Ableitungsart bestimmte Be- deutung des Wortes moͤchte mit der wirklichen uͤber- einkommen, oder wenigstens zu ihrer Erfindung den Weg Von der Wortforschung. Weg bahnen. Wir haben einige Gruͤnde hievon be- reits oben (§. 112.) kurz angezeigt, und werden nun die verschiedenen Faͤlle, die in den wirklichen Sprachen vor- kommen, etwas naͤher betrachten, weil die Ursachen, die in die Bedeutung abgeleiteter Woͤrter einen Einfluß haben, nothwendig muͤssen unterschieden werden, damit man wisse, was einer jeden zuzuschreiben ist, und wie ferne man auf die Etymologie bauen koͤnne, zumal da dieser Theil der Sprachlehre in sehr ungleicher Ach- tung ist. §. 255. So viel ist uͤberhaupt unstreitig, daß die Etymologie der Woͤrter dem Gedaͤchtniß große Erleich- terung giebt, weil ohne dieselbe alle Woͤrter der Spra- che als von einander unabhaͤngig muͤßten angesehen werden. Dieses waͤre aber der Absicht und Vollkom- menheit der Sprache zuwider, weil die Anzahl der Wur- zelwoͤrter darinn so geringe, als moͤglich ist, seyn solle. Jn dieser Absicht waͤre demnach zu wuͤnschen, daß nicht nur die Wurzelwoͤrter einer Sprache, nebst ihrer ur- spruͤnglichen Bedeutung, durchaus bekannt waͤre, son- dern auch die daraus abgeleiteten und zusammengesetz- ten Woͤrter eine ihrer Ableitung und Zusammensetzung gemaͤße Bedeutung erhalten haͤtten. §. 256. An diesen beyden Stuͤcken aber fehlt in den wirklichen Sprachen viel. Denn einmal kann man nicht sagen, daß man in denselben alle Wurzel- woͤrter nebst ihrer urspruͤnglichen Bedeutung und Ge- stalt wuͤßte. Und daher entsteht die Aufgabe, wie man aus den noch vorhandenen abgeleiteten Woͤrtern die urspruͤngliche Gestalt und Bedeutung der Wurzel- woͤrter, daraus sie entstanden sind, finden solle? Jede Sprache hat hierinn etwas eigenes. Besonders aber laͤßt sich zum Behufe der deutschen Sprache anmerken, daß sie in Provinzen, wo man an ihre Ausbesserung noch wenig gedacht, und wo nicht die Einkehr fremder K 5 Voͤlker VII. Hauptstuͤck. Voͤlker zur Aenderung der Sprache beygetragen, die urspruͤngliche Bedeutung der Woͤrter unveraͤnderter ge- blieben. Ein Wort ist dadurch, daß es ein Provin- zialwort ist, von dem Buͤrgerrecht in der Sprache noch nicht unmittelbar ausgeschlossen, und wird dasselbe ver- dienen, wenn es uͤberhaupt deutsch klingend, vom Poͤ- belhaften frey, von bestimmter und eigener Bedeutung, und zu Ableitung noch mehrerer Woͤrter geschickt ist. Es wird noch um desto ehender taugen, wenn man be- reits abgeleitete Woͤrter davon in der Sprache hat, wo- von wir oben (§. 161.) Beyspiele angezeigt haben. §. 257. Ueberdieß kann ein Wurzelwort sowohl in seiner eigenen als in metaphorischer Bedeutung genom- men, zur Ableitung anderer Woͤrter dienen, und selbst die abgeleiteten Woͤrter koͤnnen in einer Sprache un- vermerkt durch mehrere Metaphern durchgefuͤhrt wer- den. Und damit geht es noch immer leichter, so oft diese Mittelstuffen auf die Natur der Sache gegruͤndet sind. Denn auf diese Art laͤßt sich etwan eine aus der andern wieder finden, wiewohl man auch dabey gleich- sam genoͤthigt ist, durch Beyspiele und Autoritaͤten zu beweifen, daß man sich nicht geirret habe. Hingegen wo das abgeleitete Wort sich nicht so fast auf die Sa- che selbst, als auf die Gedenkensart oder gar auf einen Jrrthum des Urhebers gruͤndet, da taugt die Etymolo- gie sehr wenig, weil man historische Nachrichten muß aufweisen koͤnnen, daß diese oder jene Gedenkensart, Vorurtheile, Jrrthuͤmer ꝛc. zu der Bedeutung des ab- geleiteten Wortes Anlaß gegeben. §. 258. Ferner koͤmmt es in einzeln Faͤllen und bey Auslegung einer Stelle eines Autors nicht nur darauf an, welche Bedeutung ein Wort zu seiner Zeit gehabt, sondern auch vornehmlich, mit welchem Begriffe es der Autor in der vorgegebenen Stelle verbunden habe? Hiezu hilft nun unstreitig viel, wenn man uͤberhaupt die Geden- Von der Wortforschung. Gedenkensart des Autors genauer kennt. Denn so wird der Zusammenhang der Rede ungleich bessere Dienste thun, als die Etymologie des Wortes, zumal wenn diese erst weit muß hergeholt werden. Am aller- wenigsten aber ist es nothwendig, auf die Etymologie zu sehen, wo der Autor seine Worte durch Erklaͤrungen bestimmt, oder, wie es in den mathematischen Wissen- schaften geschieht, die Sache selbst oder ihre Figur vor Augen legt. Jn Ermanglung dessen muß man aller- dings den Zusammenhang, die Etymologie und Paral- lelstellen zu Huͤlfe nehmen. §. 259. Ein abgeleitetes Wort, dessen in der Spra- che eingefuͤhrte Bedeutung sich auf einen Jrrthum gruͤndet, kann, an sich betrachtet, nicht wohl anders, als ein Wurzelwort angesehen werden, weil in Absicht auf diese Bedeutung der Gebrauch der Etymologie auf- hoͤrt, und der Grund der Bedeutung nicht etymologisch, sondern historisch ist. Hingegen koͤmmt der Gebrauch der Etymologie dennoch dabey vor, wenn man untersu- chen will, was das abgeleitete Wort, vermoͤg seiner Ableitung, haͤtte bedeuten koͤnnen. Denn koͤmmt ein Begriff heraus, der moͤglich und brauchbar ist, so ist es auch nicht unmoͤglich, diese Bedeutung durch behoͤrige Anwendung des Wortes wieder in Aufnahm zu brin- gen. Man sehe, was wir oben (§. 130.) hieruͤber an- gemerkt haben. §. 260. Der wesentlichste Nutzen der Etymologie und zugleich ihre Hauptabsicht, geht eigentlich dahin, daß das Charakteristische in den Sprachen, so viel moͤglich ist, bekannt gemacht, beybehalten und erweitert werde. Und dieses ist der oben (§. 23.) angegebenen Grundregel fuͤr wissenschaftliche Zeichen vollkommen gemaͤß. Die Theorie der Zeichen solle statt der Theorie der Sache dienen koͤnnen. Die- ses wird nun in einer Sprache desto besser erhalten, je einfoͤr- VII. Hauptstuͤck. einfoͤrmiger und allgemeiner die Regeln ihrer Etymo- logie sind. Die Bemuͤhungen der Sprachforscher sind demnach, in dieser Absicht betrachtet, nicht ohne Nut- zen, besonders wenn dabey das Metaphysische von dem Willkuͤhrlichen, Jrrigen und bloß Grammatischen unterschieden wird, und die Woͤrter in solchen Redens- arten angegeben werden, in welchen sie ihre urspruͤngli- che Bedeutung haben, und die ihnen statt der Defini- tion dienen koͤnnen. Die Beyfuͤgung der Redensar- ten, worinn sie stuffenweise metaphorisch werden, und sich dadurch von ihrem buchstaͤblichen Verstande ent- fernen, hilft ebenfalls den Schwung der Sprache und die Art bestimmen, wie sie zu Nebenbedeutungen bieg- sam ist. §. 261. Wenn ein Wort aus einer Sprache in eine andere aufgenommen oder eingefuͤhrt wird, so wird ge- woͤhnlich etwas daran geaͤndert, daß es seine anfaͤngli- che Gestalt und Aussprache nicht mehr behaͤlt. Dieses geschieht, wie wir es oben schon angemerkt haben (§. 84), theils der Aussprache halber, theils auch um das Wort der Art der Sprache gemaͤß klingen zu machen (§. 79.). So z. E. geben wir im Deutschen den la- teinischen Zeitwoͤrtern eine Endung, die allem Ansehen nach zur Abwandlung tauglicher geschienen, weil sie auch in einigen urspruͤnglich deutschen Woͤrtern vor- koͤmmt, dergleichen das Wort zieren oder auch schat- tiren zu seyn scheint, nach dessen Form die Woͤrter re- gieren, citiren ꝛc. abgewandelt werden. §. 262. Was wir aber hieruͤber in Ansehung der Etymologie anzumerken haben, ist, daß solche aus frem- den Sprachen entlehnte Woͤrter in derjenigen Spra- che, in welche sie aufgenommen werden, nicht wohl fuͤr anders als Wurzelwoͤrter angesehen werden koͤnnen. Denn wenn sie es auch in ihrer eigenen Sprache nicht sind, so ist doch die Ableitungsart allen denen, die diese Sprache Von der Wortforschung. Sprache nicht verstehen, unbekannt, und folglich traͤgt sie zu mehrerer Kenntniß der Bedeutung des Wortes, in Ansehung der meisten Leute, nichts bey. Wird aber seine Bedeutung durch den Gebrauch oder durch Erklaͤ- rungen bekannt, so ist es allerdings wohl moͤglich, an- dere Woͤrter daraus abzuleiten. So z. E. haben wir im Deutschen die Woͤrter Philosoph, philosophisch, philosophiren ꝛc. Man kann von dem ersten eine etymologische und eine historische Erlaͤuterung angeben, aber statt beyder thut die Erklaͤrung der Sache selbsten bessere Dienste, weil die Woͤrter diese nicht angeben. §. 263. Wenn in der Veraͤnderung, die ein Wort leidet, indem es aus einer Sprache in eine andere auf- genommen wird, entweder nichts Allgemeines noch Re- gelmaͤßiges vorkoͤmmt, oder wenn diese Regeln nicht bekannt sind, so ist der etymologische Beweis der Her- kunft desto unzuverlaͤßiger, je unaͤhnlicher ein solches Wort demjenigen ist, von welchem man es herleiten will, es sey denn, daß man den Beweis nicht bloß aus den Buchstaben und der allgemeinen Moͤglichkeit ihrer Verwechslung, oder aus einem aͤhnlichen Beyspiele, son- dern aus historischen Nachrichten hernehmen koͤnne. Ueberdieß hat man mit allem dem noch nicht mehr ge- wonnen, als daß man weiß, eine Sprache habe von ei- ner andern abgeborgt. Man gewinnt auch nur in de- nen Faͤllen mehr, wo die Sprache, aus welcher das Wort entlehnt ist, einen nuͤtzlichen und brauchbaren Grund seiner Bedeutung angiebt, das will sagen, wo sie die Seite beleuchtet, von welcher das Wort die Sache vorstellt. So z. E. hat man in den neuern Zeiten die Woͤrter Barometer, Thermometer ꝛc. aus dem Griechischen gebildet, und ihre Etymologi zeigt mehr oder minder ihre Bedeutung an. Aber auch diese wird durch die Vorzeigung der dadurch b e- nennten Jnstrumente oder durch ihre Definition und Be- VII. Hauptstuͤck. Beschreibung ungleich vollstaͤndiger, und den meisten kommen diese Namen nicht anders als Wurzelwoͤrter vor, weil sie den Begriff von der Sache haben, und um den Ursprung ihres Namens nicht sehr bekuͤmmert sind. Man ist auch uͤberhaupt mehr daran gewoͤhnt, sich nur alsdann an den Namen zu halten, wo man den Begriff nicht von der Sache selbst herholen kann. Und in dieser Absicht ist die Etymologie eine Huͤlfswissen- schaft, die man allerdings auch da, wo sie uͤberfluͤßig scheint, nicht versaͤumen muß, damit solche leichtere Faͤl- le den schwerern, wobey sie nothwendiger wird, gleich- sam zur Probe dienen koͤnnen. §. 264. Jndessen giebt die Etymologie nicht immer die Sache oder den Begriff ganz, sondern mehrentheils nur eine Seite oder einen Theil, und zuweilen auch nur etwas der Sache aͤhnliches, zuweilen auch etwas ganz irriges, und zur Sache nicht dienendes an. Man muß daher fast immer den Zusammenhang der Rede, Pa- rallelstellen, historische Nachrichten und die Umstaͤnde mit zu Huͤlfe nehmen, wenn man sehen will, welche von diesen Moͤglichkeiten in einem vorgegebenen Falle statt findet. So z. E. koͤmmt in dem Wort Baro- meter nur der Begriff der Schwere und des Mes- sens vor. Der Etymologie nach koͤnnte es folglich je- de Mittel, die Schwere zu bestimmen, und folglich eine Wage, Schnellwage, Weinprobe ꝛc. anzeigen. Und wenn man es nicht sonst wuͤßte, so wuͤrde man schwer- lich darauf verfallen, daß eigentlich nur das Gewicht der Luft dadurch bestimmt wird. Man wuͤrde eben so Muͤhe haben, aus der Etymologie des Worts Dicht- kunst, den Begriff des Sylbenmaaßes, und Verse, und noch viel weniger der Reimen herauszubringen. Und der Begriff der Geometrie ist ebenfalls viel hoͤ- her, als ihn die Etymologie des Griechischen angiebt. §. 265. Von der Wortforschung. §. 265. Man wird ohne Muͤhe den Grund dieser Unvollstaͤndigkeit in der Art finden, wie neue Woͤrter und neue Bedeutungen derselben in den Sprachen auf- kommen. Es geschieht selten, daß wir das Wesen der Dinge genau kennen, und noch seltener, daß abgeleitete oder zusammengesetzte Woͤrter gefunden wuͤrden, dassel- be genau auszudruͤcken. Daher begnuͤgen wir uns, so viel es die Sprache zulaͤßt, die Dinge mit Woͤrtern zu benennen, welche die Sache wenigstens von einer ge- wissen Seite vorstellen, oder sie nach Aehnlichkeiten be- nennen. Und es ist klar, daß, so lange die Sache selbst vorhanden und bekannt ist, das Etymologische in dem Namen eben nicht als das Huͤlfsmittel, sie zu erkennen, angesehen wird, und der Name eben so gut ein Wur- zelwort oder von ganz andern Dingen hergenommen seyn kann. So z. E. weiß man in der Mathematik, was der pythagorische Lehrsatz, der Nonius, , ein Orrery ꝛc. bedeuten, weil die Sache selbst erklaͤrt, be- schrieben oder vorgelegt wird. Die Worte aber geben davon nichts an. §. 266. Hingegen wird die Etymologie nothwen- diger, wenn bald nichts mehr als die Worte uͤbrig blei- ben, wie es in den abgelebten Sprachen geschieht. Fuͤr diese waͤre zu wuͤnschen, daß alle Ableitungen darinn be- deutend und richtig, und alle Stuffen, durch die jedes Wort metaphorisch geworden, bekannt, oder wenigstens nicht auf zufaͤllige Anlaͤße oder Jrrthuͤmer, sondern auf die Natur der Sache selbst gegruͤndet waͤren. Ein Wort, das sich durch mehrere Stuffen von seiner ersten Bedeutung oder auch von dem Begriffe seines Wurzel- wortes entfernt, wird in dieser entserntern Bedeutung gleichsam zu einem neuen Wurzelwort, weil man sich dabey der Aehnlichkeiten, durch die es sich entfernt hat, nicht mehr bewußt ist. Es wuͤrde demnach nicht wohl anders als eine schwuͤlstige, uͤbertriebene und unnatuͤr- liche VII. Hauptstuͤck. liche Metapher klingen, wenn man sich an den buch- staͤblichen Verstand halten, und nach demselben uͤberset- zen wollte. Man weiß, daß die buchstaͤblichen Ueber- setzungen aus den morgenlaͤndischen Sprachen auf diese Art, und fast uͤbertrieben metaphorisch klingen, und al- lem Ansehen nach wuͤrde viel davon wegfallen, wenn man in den Uebersetzungen| nicht die Worte, sondern die Gedanken der Morgenlaͤnder auszudruͤcken, durch- aus im Stande waͤre. Denn Metaphern, die zu Na- men der Dinge werden, hoͤren dadurch auf, Metaphern zu seyn, und in der Uebersetzung taugt der Name der Sache selbst, wenn einer vorhanden ist, besser, als die buchstaͤbliche Uebersetzung des Wortes. §. 267. Da die Etymologie die Sache selten ganz angiebt, sondern sie nur von einer gewissen Seite vor- stellt (§. 265.), so entsteht oͤfters auch die Frage, wie ferne sich die Luͤcke ausfuͤllen lasse, die dabey zuruͤcke bleibt? Dieses geht nun bey koͤrperlichen Dingen, die an sich ein Ganzes ausmachen, in so ferne leichter an, daß man wenigstens mit Zuziehung des Zusammen- hanges die Classe oder Gattung finden kann, worunter die Sache gehoͤret, z. E. ob es eine Pflanze, Thier, Werkzeug ꝛc. sey? Hingegen bey abstracten Begrif- fen, deren Umfang an sich mehrentheils unbestimmt und veraͤnderlich ist (§. 139. Alethiol.), wird auch der Gebrauch der Etymologie in so ferne unsicherer, als diese Begriffe uͤberhaupt schwerer zu bestimmen sind, und die Sache nicht im Ganzen und ohne eingemengte Nebenbegriffe vorgelegt werden kann, besonders auch, wenn nur eine Aehnlichkeit des Eindrucks zum Grunde liegt. Das Willkuͤhrliche in dem Umfang solcher Be- griffe kann sich oͤfters auf ganze Systemen ausdehnen, in welchen man noch Deutlichkeit und Wahrheit findet, so lange noch Leute sind, die den Umfang ihrer Begriffe darnach von Jugend auf abzirkeln und einrichten. Wer aber Von der Wortforschung. aber sich diese Muͤhe nicht nimmt, oder anderer Bestim- mungen solcher Begriffe gewohnt ist, der wird das gan- ze System sehr leicht, und oͤfters mehr als es verdiente, einer Verwirrung, Dunkelheit oder leeren Wortkrams beschuldigen (§. 194.). Die sogenannten Kunstwoͤrter, Termini technici, welche nicht durch Vorlegung der Sache, sondern hoͤchstens nur durch Worterklaͤrungen koͤnnen bestimmt werden, und deren die Schulphiloso- phie voll war, sind dieser Aenderung und den daraus entstehenden Folgen vorzuͤglich unterworfen. Man ge- braucht sie als Abkuͤrzungen statt der Definitionen, und in so ferne dienen sie dem, der sich daran gewoͤhnt hat. Jn Ansehung anderer werden sie oͤfters fuͤglicher und mit Vermeidung vieler Wortstreite weggelassen, und die Definitionen an deren statt gebraucht. Wir ma- chen hier diese Anmerkung, weil sie zugleich zeigt, daß die Etymologie diesen Schwierigkeiten wenig oder gar nicht abhilft, nachdem sie einmal da sind. Sie giebt nur einen Theil des Begriffes, oder auch nur einen aͤhnlichen Begriff, an, die Schwierigkeiten aber betref- fen den Begriff selbst und dessen Umfang. §. 268. Die Etymologie giebt an sich nur den buchstaͤblichen Verstand der abgeleiteten Worte, so fern er durch den Begriff des Wurzelwortes und der Ablei- tungstheilchen bestimmt werden kann. Der Gebrauch zu reden verursacht aber oͤfters, daß das abgeleitete Wort in seinem buchstaͤblichen Verstande nicht vor- koͤmmt, oder laͤngst schon in Abgang gekommen. Er- steres kann sich auf verschiedene Arten zutragen. Denn einmal ist es moͤglich, daß der, so das abgeleitete Wort zuerst aufgebracht hat, von dem Wurzelwort, oder von der Ableitungsart, oder endlich auch von der Sache, die er damit benennte, irrige Begriffe hatte. Jn allen die- sen Faͤllen bleibt die Etymologie ohne Gebrauch (§. 259.). Sodann ist es auch moͤglich, daß das abgeleitete Lamb. Organon II B. L Wort VII. Hauptstuͤck. Wort gleich anfangs in einem metaphorischen Verstan- de genommen, und folglich statt der Sache, die es dem Buchstaben nach haͤtte bedeuten sollen, eine aͤhnliche da- durch vorgestellt werde, welches um desto leichter gesche- hen kann, wenn selbst das Wurzelwort schon metapho- risch vorkoͤmmt, oder wenn die Aehnlichkeit des Ein- druckes, den beyde Sachen machen, an sich sehr natuͤr- lich ist (§. 257.). Jn allen diesen Faͤllen aber bleibt es dennoch immer moͤglich, den buchstaͤblichen Verstand des abgeleiteten Wortes wiederum in Aufnahm zu brin- gen (§. 130.). §. 269. Die Etymologie gruͤndet sich auf die Theo- rie der Zusammensetzungs-und Ableitungsart, und be- sonders der Bedeutung der Ableitungstheilchen und Ordnung, wie die Wurzelwoͤrter zusammengehaͤngt, oder mit den Ableitungstheilchen verbunden werden. Jede Sprache hat darinn etwas besonderes, welches von dem ersten Schwunge herruͤhrt, den sie in ihrer Bildung nimmt, und der zugleich den Grund zu der Aehnlichkeit oder Analogie legt, nach welcher man sich nachgehends in Bildung und Beurtheilung jeder neuen Woͤrter richtet. Da die Sprachen den Sprachlehren bisher noch immer vorgegangen sind, so ist sich auch nicht zu verwundern, wenn in den Sprachen selbst Ab- weichungen vorkommen, und die Regeln der Etymolo- gie nicht, so viel es sonst moͤglich waͤre, ohne Ausnah- men sind. Die Sprachlehrer muͤssen a posteriori ge- hen, und jede allgemeinere Aehnlichkeiten in der Spra- che als Regeln ansehen. Auf diese Art laͤßt sich auch die Bedeutung der Ableitungstheilchen groͤßtentheils nur a posteriori finden, und die Vieldeutigkeiten in den- selben aus einander lesen. Wir haben in den vorher- gehenden Hauptstuͤcken Anlaͤße gehabt, anzumerken, was in dieser Absicht zum Behufe der deutschen Spra- che besonders, zu thun bleibe, und wie das Metaphysi- sche, Von der Wortforschung. sche, so darinn sehr haͤufig vorkoͤmmt, den Grund zu einer ihr eigenen Theorie angeben koͤnne. §. 270. Die Ableitungstheilchen geben uͤberhaupt die Veraͤnderung in der Bedeutung an, die das Wur- zelwort durch die Ableitung erhaͤlt. Sie betreffen dem- nach gewisse allgemeine metaphysische Verhaͤltnißbe- griffe, die entweder bey jeden Dingen, oder wenigstens bey Dingen von einerley Art, vorkommen. Wir ha- ben oben (§. 131.) schon angemerkt, daß in den wirkli- chen Sprachen schwerlich alle getroffen worden, und bis die Metaphysik nicht an Begriffen vollstaͤndiger ist, wird sich nicht wohl an eine erweisbare Abzaͤhlung der- selben gedenken lassen, und noch schwerer wird es seyn, die noch mangelnden in den Sprachen einzufuͤhren. Wir wollen daher nur so viel davon anmerken, als die- nen kann, ihre Menge anzuzeigen, und daß allerdings mit einem Worte viele andere gegeben sind. §. 271. Das Wurzelwort sey ein Zeitwort, und stel- le folglich eine Handlung oder Veraͤnderung vor; so wird an sich schon dem Thun das Leiden entgegen gesetzt. Ferner kann die Handlung als angehangen, als bald vollendet, als durchaus vollendet, als oͤfters vorkommend, als wiederholt, als staͤrker oder schwaͤcher, als moͤglich, als nothwendig ꝛc. angesehen, und jede von diesen Bestimmungen durch Ableitungstheilchen angezeigt werden, die von dem Wurzelworte trennbar sind. Jede Verhaͤltnisse der Zeit und des Ortes (§. 213. 159.) geben ebenfalls sol- che Bestimmungen. Sodann kommen bey Veraͤnde- rungen und Handlungen die Ursache, Wirkung, Absicht, Mittel, Materie, der Thuende, das Gewirkte, die Aenderung der Verhaͤltnisse, Eigenschaften, Stuffen ꝛc. vor, welche durch Hauptwoͤrter angezeigt werden koͤnnen, die sich von dem L 2 Wur- VII. Hauptstuͤck. Wurzelworte oder von den davon abgeleiteten und naͤ- her bestimmten Zeitwoͤrtern bilden lassen. §. 272. Das Wurzelwort sey ein Hauptwort, und zeige folglich ein Ding an, so lassen sich davon die Handlungen benennen, die man damit vornehmen kann, und dieß giebt Zeitwoͤrter. Ferner giebt es Bey- woͤrter, in so ferne die Sache als andern anhaͤngig, oder als ein Bestimmungsstuͤck von andern angese- hen werden kann. Die Verwandlungen, die sie lei- der, die dadurch koͤnnen gewirkt werden, ihre Ursa- che ꝛc. lassen sich ebenfalls durch Ableitungstheilchen, und daraus gebildete Hauptwoͤrter ausdruͤcken. Wenn hingegen das Wurzelwort ein Beywort ist, und folg- lich eine Eigenschaft oder Verhaͤltniß anzeigt, so laͤßt sich auch hinwiederum die Sache daher benennen, de- ren es zukoͤmmt, die Handlungen, dadurch die Ei- genschaft gewirkt oder veraͤndert wird, die Ursache, wodurch dieses geschieht, und von jeden diesen Stuͤcken koͤnnen auch die verschiedenen Modificationen durch Ab- leitungstheilchen naͤher bestimmt werden. Ueberdieß laͤßt sich jedes Beywort in ein Zuwort verwandeln, und dadurch wird es zu einem Bestimmungsstuͤck von Handlungen gemacht (§. 224.). §. 273. Es ist klar, daß man auch hiebey wieder- um den Ruͤckweg nehmen, und aus einem Zuwort, wenn es ein Wurzelwort ist, ein Beywort machen kann. Wir haben dieses bereits schon (§. 228.) ange- merkt, und dabey zugleich auch errinnert, daß die Vor- woͤrter sowohl Ableitungstheilchen als Zuwoͤrter ange- ben koͤnnen. Da endlich die Bindwoͤrter sich durch Abstracta erklaͤren lassen (§. 237.), so ist gar kein Zwei- fel, daß diese Abstracta nicht unmittelbar von den Bindwoͤrtern sollten abgeleitet werden koͤnnen. Dieß will nun nicht sagen, daß alle die bisher angefuͤhrten Moͤglichkeiten in den wirklichen Sprachen vorkommen, oder Von der Wortforschung. oder daß es leicht waͤre, fuͤr dieselben ganz neue Ablei- tungstheilchen und Ableitungsarten einzufuͤhren. Die Luͤcken, so in dieser Absicht zuruͤcke bleiben, zeigen nur an, daß das Metaphysische in den Sprachen mit dem Charakteristischen viel allgemeiner und genauer koͤnnte verbunden seyn, als es wirklich ist, und daß der Erfin- der einer wissenschaftlichen Sprache hieruͤber eine aus- fuͤhrliche Zergliederung jeder Moͤglichkeiten und Clas- sen vornehmen muͤßte, damit die Theorie des Charak- teristischen statt der Theorie der Sache dienen moͤge. Denn die abgeleiteten Woͤrter sollen wissenschaftlich seyn, und ihre Bedeutung durch den Begriff des Wur- zelwortes und der Ableitungsart, als durch Data be- stimmt werden koͤnnen. Achtes Hauptstuͤck. Von der Wortfuͤgung . §. 274. W ir haben im obigen (§. 39.) schon angemerkt, daß zu der Zeichenkunst noch die Verbindungskunst der Zeichen erfordert werde. Von der erstern dieser Wissenschaften koͤnnen wir, in Absicht auf die Sprache, die Ortographie und Etymologie als Theile ansehen, weil darinn die Bildung und Zeichnung der Woͤrter abgehandelt wird. Da man aber damit noch nicht ausreicht, weil nicht jede Woͤrter mit jeden andern ver- bunden, einen Verstand geben, so haben die Sprach- lehrer sich auch um die Verbindung der Woͤrter einer Sprache umgesehen, und sie, so viel sichs thun ließe, in Regeln gebracht. Der Jnnbegriff dieser Regeln heißt die Wortfuͤgung oder Syntaxe , und macht daher L 3 aller- VIII. Hauptstuͤck. allerdings einen Theil der allgemeinen Verbindungs- kunst der Zeichen aus. §. 275. Die Wortfuͤgung beschaͤfftigt sich uͤberhaupt mit zweyen Stuͤcken. Einmal bestimmt sie die Ord- nung, in welcher die Woͤrter in einer Rede auf einander folgen sollen, und dieses geht sowohl auf die veraͤnderlichen als unveraͤnderlichen Redetheile. Sodann bestimmt sie in Absicht auf die veraͤnderlichen Redetheile, dergleichen die Zeitwoͤrter und Nennwoͤr- ter sind, wie diese in jeder Rede veraͤndert wer- den sollen. §. 276. Der haͤufige Unterschied, der sich hiebey in den wirklichen Sprachen aͤußert, und fuͤr jede eine ihr eigene Syntaxe fordert, zeigt uͤberhaupt das viele Will- kuͤhrliche in denselben an, weil bald jede Sprache eine besondere Ordnung und Construction ihrer Woͤr- ter und Redensarten hat. Da wir aber hier eben so- wohl auf das Moͤgliche als auf das Wirkliche in der Sprache sehen, so werden wir uns auch an den beson- deren Anomalien der wirklichen Sprachen nicht viel aufhalten, sondern vielmehr untersuchen, was die Syn- taxe seyn sollte, und seyn wuͤrde, wenn die Sprachen wissenschaftlicher waͤren. §. 277. Zu diesem Ende koͤnnen wir aus dem §. 23. wiederholen, daß die Theorie wissenschaftlicher Zeichen mit der Theorie der Sache selbst solle koͤnnen verwechselt werden. Von dieser Regel erfuͤllen die wirklichen Sprachen in so ferne die Haͤlfte, als wir Woͤrter und Redensarten haben, eine jede Wahr- heit, die wir denken oder empfinden, auf eine nette und bestimmte Art auszudruͤcken. Die Moͤglichkeit hierinn geht auch nicht viel weiter, als so fern wir Woͤrter ha- ben, weil wir in Ansehung anderer Zeichen noch zu viel zuruͤcke bleiben. Es giebt demnach, in Absicht auf die Wahr- Von der Wortfuͤgung. Wahrheit, und im strengsten Verstande, was Horaz den Dichtern anraͤth: Scribendi recte sapere est et principium et fons, Verbaque prouisam rem non inuita sequentur. Denn die symbolische Erkenntniß ist uns ein unentbehr- liches Huͤlfsmittel zum Denken (§. 12.). Und nette Be- griffe sind bey uns fast nothwendig mit dem Bewußt- seyn ihrer Namen verbunden. §. 278. Wieferne aber die andere Haͤlfte der erst angefuͤhrten Regel in Ansehung der Syntaxe erhalten werden koͤnne, ist eine ganz andere Frage. Sie wuͤr- de vollstaͤndig erhalten, wenn in jeden Redensarten das grammatisch richtige oder unrichtige, auch zugleich me- taphysisch richtig oder unrichtig waͤre (§. 128.). So aber sind die wirklichen Sprachen nicht durchaus be- schaffen. Denn ungeacht wir allerdings statt der Sa- chen die Worte klar gedenken, so koͤnnen wir es doch nicht schlechthin auf die Worte ankommen lassen, son- dern muͤssen immer das Bewußtseyn ihrer Bedeutung mit zu Huͤlfe nehmen. Und da dieses Bewußtseyn, wo die Sache nicht unmittelbar empfunden wird, nur dunkel ist, so ist es auch moͤglich, daß wir Woͤrter zu- sammenbringen, die in ihrer Verbindung gar nichts vorstellen (§. 21.). Um so viel noͤthiger und wichtiger waͤre es demnach, wenn man es den Worten ansehen koͤnnte, ob sie einen moͤglichen und richtigen Verstand geben. Hiezu aber wuͤrde erfordert, daß die Sprachen mehr Metaphysisches haͤtten, als sie wirklich haben, und dadurch wuͤrde von dem Willkuͤhrlichen in der Erwaͤhlung der Wurzelwoͤrter, ihrer Endungen und Ableitungstheilchen sehr viel wegfallen. §. 279. Denn so haben wir z. E. in Ansehung der Conjugationen und Declinationen, imgleichen auch in Ansehung der Fallendungen und Geschlechter der Haupt- woͤrter (§. 156. 185. 178. 182. seqq. ) angemerkt, daß sie L 4 aller- VIII. Hauptstuͤck. allerdings bedeutend seyn koͤnnten. Auf diese Art aber haͤtte man nicht mehr die Wahl, jede Sache durch je- des Wort vorzustellen, weil die Bildung des Wortes die Classe der Dinge und Handlungen bestimmen wuͤr- de, welche es bedeuten koͤnnte, und wodurch die syntacti- schen Regeln charakteristischer wuͤrden. Diese Erleich- terung der Syntaxe wuͤrde demnach die Etymologie, und uͤberhaupt die Benennung der Dinge, schwerer machen, ohne daß die Moͤglichkeit, zu irren, gehoben wuͤrde. §. 280. Jndessen haben die wirklichen Sprachen in ihrer Syntaxe noch vieles, das sich aus allgemeinen Gruͤnden bestimmen und rechtfertigen laͤßt. Die Schwierigkeit koͤmmt nur darauf an, es von dem Hy- pothetischen und Willkuͤhrlichen zu trennen und auszu- lesen. Das Charakteristische in vielen Ableitungsarten ist sehr allgemein (§. 249. seqq. ), und ungeacht es nur auf einzelne Woͤrter geht, so hat es dennoch auf ganze Redensarten einen Einfluß, theils, weil es sie bestimm- ter macht, theils auch, weil es abkuͤrzt und Umschreibun- gen erspart. §. 281. Vornehmlich aber gehoͤrt die oben (§. 145.) schon erwaͤhnte Regel hieher, daß naͤmlich eine Re- densart wenigstens ein Zeitwort haben muͤsse. Die Zeitwoͤrter sind naͤmlich vor allen andern Rede- theilen aus mit so vielen Nebenbestimmungen verbun- den, daß sie oͤfters auch ganz allein eine Redensart vor- stellen koͤnnen. Das: Veni, vidi, vici, des Caͤsars, mag zum Beyspiele dienen. Das Thun, die Art des Thuns, das Anzeigen, die Zeit, Zahl und Person, sind in jedem dieser drey Woͤrter zugleich bestimmt. Was uͤber jede dieser Arten von Bestimmungen anzumerken, haben wir in dem vierten Hauptstuͤcke umstaͤndlich an- gezeigt. Sie scheinen deswegen in den Zeitwoͤrtern selbst mitgenommen zu seyn, weil sie mehrentheils leicht sind, Von der Wortfuͤgung. sind, und eine Menge anderer Woͤrter dadurch erspart wird, und weil sie mit dem Begriffe des Thuns und Leidens an sich auch immer verbunden sind. §. 282. Die Zeitwoͤrter sind nicht wohl anders als anzeigens-und befehlsweise allein. Denn der Con- iunctiuus fordert entweder Bindwoͤrter, oder er bezieht sich auf das vorhergehende der Rede. Der Infiniti- uus koͤmmt zwar in der einfachsten Form der Aufgaben und Fragen vor (§. 148.), allein er ist gewoͤhnlich mit dem Namen der Sache, die zu thun vorgegeben oder gefragt wird, verbunden, weil die Aufgaben fast immer bestimmter sind, als der Begriff des Zeitworts. §. 283. Die unmittelbarsten Bestimmungswoͤrter, die sich den Zeitwoͤrtern zusetzen lassen, sind die Zuwoͤr- ter oder Aduerbia, weil diese die Art und Modification der Handlung, die das Zeitwort anzeigt, selbsten naͤher bestimmen. Z. E. geschwinde gehen, lange ver- weilen, viel lesen, oft denken ꝛc. Solche Bestim- mungen geben noch immer fuͤr sich verstaͤndliche Re- densarten, wenn das Zeitwort anzeigens-oder befehls- weise genommen wird. Die Moͤglichkeit, jede Zuwoͤr- ter mit jeden Zeitwoͤrtern zu verbinden, ist zwar aller- dings grammatisch allgemein. Sie ist es aber nicht metaphysisch, und wird in Jndividualfaͤllen auf be- stimmte Woͤrter eingeschraͤnkt, wo man naͤmlich die Sache mit ihrem eigentlichen Namen benennen muß. Es ist auch fuͤr sich klar, daß die Einschraͤnkung noch groͤßer wird, wenn man mehrere Zuwoͤrter mit einem oder auch mit mehrern Zeitwoͤrtern zusammen aufhaͤuft, oder eine zusammengesetzte Veraͤnderung mit zusam- mengesetzten Bestimmungen vorzustellen hat. §. 284. Die Jnterjectionen oder Zwischenwoͤrter ha- ben theils fuͤr sich schon einen Verstand, weil sie oͤfters ganz allein gebraucht werden (§. 219.), theils koͤnnen sie mit Nennwoͤrtern und Zeitwoͤrtern verbunden, naͤher L 5 anzeigen, VIII. Hauptstuͤck. anzeigen, worauf sie sich beziehen, ungeacht sie eben nicht nothwendig zum Zusammenhang der Rede gehoͤren, und unter allen Redetheilen davon am meisten unab- haͤngig sind, (§. 220.). Jndessen lassen sie sich in den wirklichen Sprachen auch mit einigen Conjunctionen verbinden, und ziehen in den Zeitwoͤrten den Coniun- ctiuum oder Optatiuum nach sich, wie z. E. Ach daß du die Himmel zerrissest, und fuͤhrest herab, ꝛc. Bey Untersuchung und Erfindung der Wahrheit, und daher bey dem wichtigern Gebrauch der Sprache aber sind sie entbehrlich, weil das Gemuͤth dabey ruhiger seyn solle (§. 220.). §. 285. Die Bindwoͤrter koͤnnen ebenfalls in den einfachsten Redensarten mit den Zeitwoͤrtern allein ge- braucht werden, und auf diese Art bilden sie die einfach- ste Form von zusammengesetzten Redensarten und Pe- rioden, die auch bleibt, wenn gleich eine Menge von an- dern Redetheilen mit eingeflochten wird. Wir haben dieser Form bereits oben (§. 232.) Erwaͤhnung gethan, und eben so auch (§. 238.) angemerkt, welchen Einfluß die Bindwoͤrter in den Sprachen auf die Form der Zeit- woͤrter haben. §. 286. Es waͤren aber die meisten Redensarten und Perioden noch lange nicht bestimmt genug, wenn nicht noch die Nennwoͤrter hinzukaͤmen. Denn die Zeitwoͤrter zeigen nur die Handlung oder Veraͤnderung an sich an, die Zuwoͤrter bestimmen ebenfalls nur ihre Modificationen. Dabey bleibt aber noch unausge- macht, wer die Handlung thut, worauf sie geht, und in Ansehung welcher Dinge und Verhaͤltnisse eine Veraͤn- derung dabey vorgeht. Um dieses anzuzeigen, werden Hauptwoͤrter, und wo es noͤthig ist, zu deren naͤhern Bestimmung noch Beywoͤrter erfordert. Diese beyden Classen von Redetheilen sind nun in den Sprachen nicht unveraͤnderlich. Sie koͤnnen durch die Fallendun- gen Von der Wortfuͤgung. gen durchgefuͤhrt, in der einzeln oder mehrern Zahl ge- nommen werden, und uͤberdieß unterscheiden sie sich den Declinationen und Geschlechtern nach, und wo sie in ge- wissen Verhaͤltnissen vorgestellt werden muͤssen, da neh- men sie noch Vorwoͤrter zu sich. §. 287. Wir haben das viele Willkuͤhrliche, das Unvollstaͤndige und Ungegruͤndete, so bey allem diesem in den wirklichen Sprachen vorkoͤmmt, bereits in dem fuͤnften Hauptstuͤcke umstaͤndlich durchgegangen. Und aus der Betrachtung desselben wird leicht erhellen, daß es einen merklichen Einfluß in die Regeln der Syntaxe habe, und dieselben weniger einfach seyn lasse, sondern mit sehr vielen Anomalien anfuͤlle, die nicht in dem Me- taphysischen sondern schlechthin in dem Willkuͤhrlichen der Sprachen ihren Grund haben, und folglich eben dadurch bloß grammatisch sind, weil man die wirklichen Sprachen nehmen muß, wie man sie findet. Wir wollen dieses nur in einigen sehr allgemeinen Beyspie- len anzeigen. §. 288. Einmal haben wir bereits (§. 182. seqq. ) angemerkt, daß der Unterschied der Geschlechter bey den Hauptwoͤrtern wenig metaphysisches hat, daß die Bil- dung der Hauptwoͤrter sie nicht angiebt, daß er schlecht- hin dient, die Abaͤnderung der Artikel und Beywoͤrter darnach zu richten, und daß statt der drey in den Sprachlehren benennten Geschlechter andere gewaͤhlt werden koͤnnten, die metaphysischer waͤren, und auf das Charakteristische der Sprachen einen nuͤtzlichern Einfluß haͤtten, daß endlich eben dieses auch von dem Unterschie- de der Declinationen gelte. Es ist offenbar, daß wenn die wirklichen Sprachen statt dieser Maͤngel die entge- gengesetzten Vollkommenheiten haͤtten, die Regeln der Syntaxe dabey ungleich einfoͤrmiger und einfacher wuͤr- den. Die Geschlechter wuͤrden nicht auf die Beywoͤr- ter geschoben, weil die Hauptwoͤrter sie an sich schon durch VIII. Hauptstuͤck. durch ihre Form oder Endungen angeben wuͤrden. Hin- gegen waͤren sie auf eine ganz andere Art bedeutend, und koͤnnten dienen, die Classe der Dinge kenntlich zu machen, worunter die Sache gehoͤrt, oder die Verhaͤlt- nisse anzuzeigen, in welchen sie gegen einander und ge- gen die Handlungen oder Veraͤnderungen stehen, welche durch die Zeitwoͤrter angegeben werden, zumal wenn diese selbst auch den Conjugationen nach in Classen ge- theilt waͤren, (§. 156.). §. 289. Mit dem Unterschiede der Fallendungen geht es in den wirklichen Srachen nicht viel besser. Sie sind nicht so vollstaͤndig abgezaͤhlt, als es seyn koͤnnte (§. 178. seqq. ), und auch ihre Verhaͤltnisse zu den Zeit- woͤrtern und Vorwoͤrtern koͤnnten ungleich metaphysi- scher und daher auch charakteristischer seyn. Was in Ansehung der Vorwoͤrter abgeht und unordentlich ist, haben wir oben (§. 209. seqq. ) schon angezeigt. Und in Ansehung der Zeitwoͤrter findet man es ebenfalls, wenn man aus einer Sprache in die andere uͤbersetzt, weil da mit einerley Zeitwoͤrtern ganz verschiedene Fall- endungen verbunden werden. §. 290. Der eigentlich so genannte Nennfall, Nominatiuus, scheint vor den uͤbrigen etwas voraus zu haben. Er bezieht sich auf die Frage: Wer? und diese laͤßt sich allerdings bey jeden Redensarten machen. Man hat in den Sprachen, die Faͤlle, wo er doppelt vorkoͤmmt, dadurch unterschieden, daß man die Zeitwoͤr- ter, die vor und nach sich einen Nominatiuum haben, mit besondern Namen benennt hat. Dergleichen sind im Lateinischen die Verba substantiua, die Passiua nun- cupandi, existimandi, cognoscendi, ꝛc. Jn der That scheint es auch die Sache selbst mit sich zu bringen, hin- gegen unterscheiden sich diese Woͤrter durch nichts cha- rakceristisches, und man muß sie theils aus der Bedeu- tung, theils aus dem Gebrauche kennen lernen. §. 291. Von der Wortfuͤgung. §. 291. Die uͤbrigen Fallendungen haben nicht so viel Metaphysisches. Jhre Verhaͤltniß zu den Zeit- woͤrtern ist nicht genau bestimmt, und selbst die Form der Zeitwoͤrter beut wenig Charakteristisches an, woraus die behoͤrige Fallendung koͤnnte erkannt werden. Man hat z. E. in den Sprachlehren die Verba immanentia, transitiua, intransitiua, reciproca, ꝛc. mehr der Bedeu- tung als der Form nach unterschieden, und angemerkt, wie sie sich in Absicht auf die Nennwoͤrter und ihre Fall- endungen verhalten, die sie erfordern. Denn ungeacht die meisten Actiua, welche in der That Passiua haben, transitiv sind, so machen sie doch keine besondere Conju- gation aus, durch die sie von den Neutris oder Intran- sitiuis (§. 151.) unterschieden werden. Eben so bleiben auch die Zeitwoͤrter ununterschieden, die eine Handlung vorstellen, welche nicht die Sache, sondern nur ihre Ver- haͤltnisse aͤndert, und wobey folglich nebst den Namen des Thuenden und der Sache, noch andere Namen von Personen oder Sachen vorkommen, oder wenigstens vorkommen koͤnnen, dergleichen die meisten Zeitwoͤrter sind, die einen doppelten Accusatiuum, oder Datiuum, oder einen Accusatiuum mit einem Datiuo, oder uͤber- haupt mehrere Casus obliquos zugleich zu sich nehmen. Man wird aber aus den vorhin schon angezogenen §. 178. und §. 209. sehen, daß uͤberhaupt hierinn viel Unvollstaͤndiges und Willkuͤhrliches in den Sprachen ist, und daß sie eben daher auch mehr und leichter aus dem Gebrauche als aus Regeln erlernt werden. §. 292. Sofern die Beywoͤrter den Hauptwoͤrtern als Bestimmungen zugesetzt werden, fordert allerdings die Natur der Sache und die Deutlichkeit, daß sie mit denselben in gleichen Fallendungen stehen, und in so ferne ist es besser, daß die Beywoͤrter nicht wie die Zu- woͤrter unveraͤnderlich geblieben sind, sondern eben so wie die Hauptwoͤrter declinirt werden. Dieses ist be- sonders VIII. Hauptstuͤck. sonders in den Sprachen nothwendig, wo man nicht daran gebunden ist, das Beywort dem Hauptworte, zu welchem es gehoͤrt, unmittelbar vorgehen oder folgen zu lassen, und uͤberdieß werden dadurch Zuwoͤrter und Bey- woͤrter leichter von einander unterschieden, weil auch ihre Bedeutung unterschieden ist (§. 224.). §. 293. Der Unterschied der einzeln oder mehrern Zahl, welcher sowohl in den Nennwoͤrtern als Zeitwoͤr- tern vorkoͤmmt, fordert auch eine Zusammenrichtung der veraͤnderlichen Redetheile. Die Beywoͤrter richten sich darinn schlechthin nach den Hauptwoͤrtern, denen sie als Bestimmungen beygefuͤgt werden, damit das Be- ziehende darinn auch dadurch noch kenntlicher werde. Hingegen richtet sich die Zahl des Zeitworts nach der Zahl des Hauptworts, welches den Thuenden oder Lei- denden vorstellt, und von dem eigentlich die Rede ist. Da der Unterschied der Zahl an sich leicht zu bestim- men ist, und uͤberdieß etwas Geometrisches hat, so ist es auch nur den Anomalien des Gebrauches zuzuschrei- ben, wenn die Zahl verwechselt wird (§. 165.). §. 294. Die Bestimmung der Zeit liegt schlechthin nur in den Zeitwoͤrtern, so fern man naͤmlich sich mit dem Unterschiede des Vergangenen, Gegenwaͤrtigen und Zukuͤnftigen begnuͤgt. Denn sonst laͤßt sie sich so- wohl durch Zuwoͤrter als auch durch ganze Redensar- ten genauer angeben. Jndessen gehen dabey verschie- dene Verwechslungen vor. Z. E. eine Erzaͤhlung von bereits geschehenen Dingen kann und sollte ganz in der vergangenen Zeit vorgestellt werden. Man findet sie aber oͤfters bey den Geschichtschreibern und besonders bey Rednern und Dichtern in der gegenwaͤrtigen Zeit vorgetragen, und zwar, um die Vorstellung davon leb- hafter zu machen. Der Vortrag allgemeiner Saͤtze und Wahrheiten, die nicht an die Zeit gebunden sind, sondern immer bleiben, ist auch in der gegenwaͤrtigen Zeit, Von der Wortfuͤgung. Zeit, und zwar weil in den meisten Sprachen die Aoristi mangeln. Jn Weißagungen und Verheißungen wird statt der kuͤnftigen Zeit ebenfalls oͤfters die gegenwaͤr- tige, und im Hebraͤischen auch selbst die vergangene gebraucht, theils um die Vorstellung lebhafter zu ma- chen, theils auch um die Gewißheit zu verstaͤrken. Jn allen diesen Verwechslungen muß der Zusammenhang der Rede und die Natur der Sache anzeigen, ob von vergangenen, gegenwaͤrtigen, fortdauernden oder kuͤnfti- gen Dingen die Rede ist. Und eben dieses solle sich auch finden, wenn in Redensarten, die durch Bindwoͤr- ter zusammengehaͤngt werden, die Abhaͤnglichkeit der Zeiten zu bestimmen ist, in welchen jede Zeitwoͤrter vor- kommen sollen. Da die Bestimmung oder Anzeige der Zeit uͤberhaupt etwas sehr metaphysisches hat, so lassen sich die Anomalien, welche der Gebrauch zu re- den, in den Sprachen eingefuͤhrt hat, in jeden beson- dern Faͤllen leicht beurtheilen. §. 295. Die Modi der Zeitwoͤrter haben einen metaphysischen Unterschied, den wir, wie oben (§. 148.) angemerkt worden, schon in der Dianoiologie angege- ben haben. Der Coniunctiuus, welchem die Grie- chen noch den Optatiuum beyfuͤgen, scheint die meiste Schwierigkeit zu haben, weil es bald in jeden Sprachen auf eine besondere Art von dem Ungewissen, Bedingten und von den Beywoͤrtern abhaͤngt, und oͤfters auch durch ausgelassene Zeitwoͤrter und andere Redetheile regiert wird. Wir haben hievon und von den dabey vorkommenden Anomalien in den wirklichen Sprachen, bey Betrachtung der Bindwoͤrter (§. 238.) und auch vorhin (§. 282.) Erwaͤhnung gethan, und muͤssen es hier dabey bewenden lassen, weil wir das, so jede Spra- che hierinn besonders hat, nicht mitnehmen koͤnnen. §. 296. Wir werden demnach kuͤrzlich die Ordnung betrachten, in welcher die Woͤrter in jeden Redensarten auf VIII. Hauptstuͤck. auf einander folgen sollen. Diese Ordnung ist nicht nur in jeden Sprachen mehr oder minder verschieden, sondern in einigen viel eingeschraͤnkter als in andern. Die Lateiner und Griechen lassen sich darinn mehr Frey- heit als die Franzosen und Deutschen. Und man strei- tet etwan daruͤber, welche Ordnung die beste sey? Was wir hieruͤber anmerken koͤnnen, koͤmmt darauf an. §. 297. Einmal hat die freye Wahl, uͤber die Ord- nung der Woͤrter zu disponiren, gewisse Vortheile, weil die Stelle, die jedes Wort in einer Redensart hat, eben so wenig durchaus gleichguͤltig ist, als die Ordnung, so die einzeln Redensarten in einer Rede unter sich haben. Es ist nicht immer gleichguͤltig, wo man anfange, be- sonders wenn man etwas mit Nachdruck, oder behut- sam, oder mit einer Parrhesie vorzutragen hat. Jn Reden und vornehmlich in Gedichten koͤmmt noch der Wohlklang, das Sylbenmaaß und uͤberhaupt der Schwung der Periode hinzu, welcher die Anord- nung der Woͤrter noch weniger gleichguͤltig seyn laͤßt, und fast nothwendig gewisse gar nicht prosaische Verse- tzung der Woͤrter und Redensarten forderte, weil die poetische Periode etwas viel abgerundeters hat (§. 100.). §. 298. Es ist ferner moͤglich, die Ordnung der Woͤrter bedeutend zu machen, und die wirklichen Spra- chen bieten uns einige Beyspiele davon an, wiewohl sie nur auf einzelne Woͤrter gehen. So z. E. im Deutschen ist der Ausdruck: dieses waͤre geschehen, eine An- zeige und Folge einer Bedingung; hingegen der Aus- druck: waͤre dieses geschehen, entweder eine Be- dingung oder eine Frage. Und auch der erstere dieser Ausdruͤcke kann eine Frage vorstellen, die aber mit ei- ner Verwunderung oder Befremdung verbunden ist. Eben so haben auch die Bindwoͤrter auf die Constru- ction und Ordnung der Woͤrter einigen Einfluß. Z. E. weil und denn sind Bindwoͤrter, die den Grund anzei- gen. Von der Wortfuͤgung. gen. Man sagt aber: weil es gewesen ist, und hin- gegen: denn es ist gewesen. Alles dieses aber sind noch sehr kleine Abaͤnderungen in der Wortordnung, und besonders ist die von dem letztern Beyspiele ganz will- kuͤhrlich, weil sie bloß grammatisch ist, und in dem Verstande der Rede nichts aͤndert. §. 299. Hingegen ist die Ordnung mehr metaphy- sisch, wo sie in der Sache selbst liegt, sie mag nun in ei- ner Folge oder in Stuffen bestehen. So z. E. ge- schieht es oft, daß man Beywoͤrter, oder Hauptwoͤrter, oder Zeitwoͤrter, oder auch Zuwoͤrter aufhaͤuft, weil sie zusammen gehoͤren, oder weil die uͤbrigen Theile der Rede oder Periode sich auf alle beziehen, und dabey ist es oͤfters nicht durchaus gleichguͤltig, in welcher Ord- nung sie auf einander folgen. Die Deutlichkeit, die Staͤrke des Nachdruckes, die Natur der Sache selbst bestimmen die Auswahl, die man zu treffen hat. Das veni, vidi, vici, ist nach der Natur der Sache, das abiit, excessit, euasit, erupit, nach den Stuffen. Man wird in den Schriften der Redner und Dichter leicht noch zusammengesetztere Beyspiele finden. §. 300. Man hat ferner die Regel eingefuͤhrt, daß der Verstand einer Redensart oder Periode durch dieselbe ganz durchlaufen und mit Schließung derselben erst vollstaͤndig bestimmt seyn solle. Nach dieser Regel werden z. E. im Deut- schen die Huͤlfswoͤrter von den dazu gehoͤrenden Zeit- woͤrtern, und selbst auch gewisse Ableitungstheilchen der Zeitwoͤrter von denselben so getrennt, daß das Zeitwort und zuweilen das dazu gehoͤrende Ableitungstheilchen fast immer den Schluß der Periode oder ihrer Glieder ausmacht. Und darinn ist man, besonders in den Canz- leyschriften, bis zur Ausschweifung gegangen, weil man durch Einschiebung aller Nebenbestimmungen die Laͤnge der Perioden auf ganze Seiten ausgedehnt, und die Lamb. Organon II B. M Zeit- VIII. Hauptstuͤck. Zeitwoͤrter so weit von ihrer natuͤrlichen Stelle hinweg geruͤckt, daß man am Ende errathen oder sich zuruͤck besinnen mußte, auf welche Hauptwoͤrter sie sich bezie- hen, zumal wenn man am Ende bald alle Zeitwoͤrter der ganzen Periode aufhaͤufte. §. 301. Die Ausdruͤcke oder Redensarten, welche man in andere einschiebt, sind entweder Umschreibun- gen, die man statt tuͤchtiger Beywoͤrter oder Mittelwoͤr- ter gebrauchen muß, oder sie dienen statt der Jnterje- ctionen, oder werden denselben angehaͤngt, oder es sind Fragen, oder andere Ausdruͤcke, einen Affect anzuzeigen oder zu erregen, oder auch Anmerkungen, die das Vor- hergehende oder das Folgende, oder den Zusammen- hang von beyden nachdruͤcklicher, aufmerkenswuͤrdiger, oder auch im Gegentheil weniger hart oder anstoͤßig machen, als es ohne solche Einschiebungen wuͤrde gewe- sen seyn. Man sieht uͤberhaupt hieraus, daß eine schickliche Vertheilung solcher eingeschobenen Ausdruͤcke einer Periode ihren wahren Schwung, Nachdruck und Schoͤnheit geben kann, und man rechnet auch die in dieser Absicht wohlgerathenen unter die feineren Ausbil- dungen schoͤner Reden und Gedichte, (§. 297.). Wir koͤnnen noch anmerken, daß auf diese Art neue und bis dahin noch nicht uͤbliche Wortordnungen entstehen und in Aufnahm gebracht werden koͤnnen. Es koͤmmt auf Faͤlle an, wo die bisher uͤblichen Wortordnun- gen, der Ordnung, in welcher der Gedanks der Periode bey den Lesern am nettesten gebil- det wird, nicht so gut Genuͤgen thun, als die neue, die man nach dem Gedanken selbst rich- tet. Erhaͤlt man dieses in einem hoͤhern Grade, so opfert der Leser, zumal wenn er das Willkuͤhrliche in der Sprache recht zu schaͤtzen weiß, der Nettigkeit des Gedankens das Ungewoͤhnliche in der Wortordnung auf. Die neue Periode findet Beyfall, und schickliche und Von der Wortfuͤgung. und unschickliche Nachahmungen tragen dazu bey, sie in Aufnahme zu bringen. Große Redner und Dichter, die zu classischen Schriftstellern werden, geben hierinn, wie bald in allen zur Ausbesserung der Sprache dienen- den Stuͤcken, und fast ohne es voraus zu sehen, die er- sten Proben. Sie wagen sie mit wahrscheinlicherm Be- wußtseyn, die Probe werde Beyfall finden, und aufge- nommen werden. Es ist nicht zu zweifeln, daß die deutsche Sprache auch in Ansehung der Wortordnung noch ungleich biegsamer koͤnne gemacht werden. Es koͤmmt auf Dichter an, die reich genug an Einfaͤllen sind, durch neue Wendungen der Gedanken das Nach- druͤckliche und Erhabene darinn recht auszubilden, und die dazu dienende Ordnung und Auswahl der Worte zu treffen. Man kann hiezu noch mitrechnen, was wir zu Ende des §. 100. angemerkt haben. §. 302. Wir haben noch den vollends metaphysi- schen Theil der Syntaxe oder Construction ganzer Re- densarten und Perioden zu betrachten. Die Grundre- gel dabey ist, daß die Redensart, so wie sie con- struirt wird, einen Verstand haben solle. Diese Regel muß man sich allerdings im Reden und Schrei- ben vorsetzen, und bey dem Lesen und Auslegen fremder Reden und Schriften wird sie ebenfalls und in so ferne gebraucht, daß man auch in zweifelhaftern und vieldeu- tigen Faͤllen dem Urheber, so oft nicht das Gegentheil kann bewiesen werden, denjenigen Sinn der Rede gel- ten laͤßt, der in Absicht auf das Wahre und Gute fuͤr ihn der vortheilhafteste ist, und diese Billigkeit auch da noch hat, wo er aus Mangel schicklicher Ausdruͤcke, oder bloß weil sie ihm nicht beyfielen, das was er wirklich hatte sagen wollen, mehr aus den Umstaͤnden und dem Zusammenhang, als aus den Worten zu schließen giebt. Wir haben diesen letztern Fall bereits in dem §. 145. M 2 der VIII. Hauptstuͤck. der Alethiologie als ein Beyspiel angefuͤhrt, und zugleich angezeigt, wo derselbe leichter und oͤfters vorkomme. §. 303. Zu dem Verstand einer Redensart traͤgt je- des Wort und selbst auch die Ordnung der Woͤrter, und ihr Zusammenhang mit dem Vorhergehenden und Fol- genden, und uͤberdieß noch der Accent in der Ausspra- che bey. Die Modification der Aussprache giebt dem Verstand der Rede naͤhere Bestimmungen. Sie zeigt auch in Reden, die uͤbrigens gleichguͤltig scheinen wuͤr- den, den Gemuͤthszustand des Redenden an, und lenkt die Aufmerksamkeit des Zuhoͤrers durch jede Stuffen auf die verlangten Gegenstaͤnde. Man sehe die hieruͤ- ber oben schon bey Anlaß der Accente (§. 99.) und der Jnterjectionen (§. 219.) gemachten Anmerkungen und Beyspiele. Da sich hiebey ein Unterschied zwischen dem muͤndlichen und geschriebenen Vortrage aͤußert, weil man im Schreiben nicht alle Modificationen der Aus- sprache durch Zeichen ausdruͤckt, so muß der Affect und uͤberhaupt der Ton, mit welchem die geschriebene Rede gelesen werden solle, durch andere Mittel ersetzt werden. Und diese sind theils die Ordnung der Worte, theils rednerische Figuren, theils Beywoͤrter, die den Affect und Ton der Rede bestimmen, theils auch uͤberhaupt die Seite, von welcher die Sache vorgestellt, und der Leser selbst vorbereitet wird. Von diesem allem kann in dem muͤndlichen Vortrage viel wegbleiben, und der Unterschied zeigt sich augenscheinlich in Reden, die ange- hoͤrt voller Leben, gelesen aber ganz kahl zu seyn schei- nen, weil der Redner das Lebhafte, das Einnehmende und Bewegliche nur im Vortrage, nicht aber in den Ausdruͤcken hat, oder die Mittel, den Ausdruck an sich zu beleben, nicht gebraucht. Man giebt hingegen die Rede der Juno beym Virgil Mene incepto desistere victam? Nec posse Italia Teucrorum auertere regem? Quippe vetor fatis. \&c. als Von der Wortfuͤgung. als ein Muster des Lebens in den Ausdruͤcken an, und man muͤßte den Charakter der Juno wenig kennen, um nicht unvermerkt gleichsam nachzumachen, was Flammato secum dea corde volutat. §. 304. Die drey andern Stuͤcke, naͤmlich die Be- deutung jeder Worte, ihre Ordnung und der Zusam- menhang der Redensart mit den vor und nachgehenden, helfen sowohl im muͤndlichen als im schriftlichen Vor- trage zur Bestimmung des Verstandes. Der muͤndli- che hat hierinn in so ferne einen Vorzug, als der Zuhoͤ- rer um Erlaͤuterung fragen kann, wo er irgend einen Anstand findet. Der schriftliche aber, daß man der Sache laͤnger nachdenken, und sowohl im Schreiben als im Lesen alles genauer erwaͤgen kann. Die Faͤlle, die hiebey vorkommen, sind, wo eine Redensart einen richti- gen oder einen ganz verkehrten oder gar keinen Ver- stand hat, oder wo sie wenigstens keinen zu haben scheint. Jn allen diesen Faͤllen wird der Zusammen- hang nur in so ferne mitgenommen, als der der Re- densart eigene Verstand dadurch eroͤrtert werden muß. Es sind aber auch noch Faͤlle, wo die Schwierigkeit auf die Bestimmung des Zusammenhanges ankoͤmmt. Diese haben wir bereits bey der Betrachtung der Bind- woͤrter (§. 229 ‒ 245.) und eben so auch das Bedeutende in der Wortordnung (§. 296. seqq. ) untersucht. Wir werden demnach hier noch die erstern Faͤlle betrachten. §. 305. Man kann nicht sagen, daß man eine Re- densart verstehe, so bald man jedes Wort derselben ver- steht. Denn da die Redensart die Woͤrter mit einan- der verbindet, so kann sie nur alsdann einen Verstand haben, wenn sich die Begriffe, die jedes Wort vorstellt, auf eben die Art mit einander verbinden lassen. So z. E. muͤssen die Beywoͤrter in der That Eigenschaften der Dinge anzeigen, die die Hauptwoͤrter anzeigen, de- nen sie beygesetzt werden. Eben so muͤssen die Zuwoͤr- M 3 ter VIII. Hauptstuͤck. ter wirkliche Bestimmungsbegriffe der Handlung ange- ben, die das Zeitwort anzeigt. Das Hauptwort, so die thuende Sache anzeigt, imgleichen das, so die gesche- hene Sache benennt, und eben so auch die, wodurch man die Verhaͤltnisse der Handlung und Dinge anzeigt, muͤssen gleichfalls weder verwechselt noch irrig gewaͤhlt werden, und uͤberhaupt muß auch alles, was in der Re- densart oder Periode beziehend ist, auch in den Be- griffen selbst beziehend seyn, und dem Sprachgebrauche gemaͤß ausgedruͤckt werden, damit man andern ver- staͤndlich bleibe. §. 306. Die schwerern Faͤlle, die aber hiebey vor- kommen koͤnnen, sind die, wo ein oder mehrere Woͤrter erst in der Redensart ihre bestimmtere Bedeutung be- kommen, oder darinn in einer ungewoͤhnlichern Bedeu- tung genommen werden. Damit geht es zwar noch im- mer leichte, wenn die Bedeutungen eines Wortes von einander ganz verschieden, und in der Sprache schon eingefuͤhrt sind. So z. E. wird man in den zween Ho- razischen Versen: Ergo aut adulta vitium propagine Altas maritat populos. ohne Muͤhe finden, daß darinn nicht von Lastern und Volkern, sondern von Weinreben und Papelbaͤumen die Rede ist, weil der Zweydeutigkeit der Woͤrter ungeacht, die Verbindung derselben nicht zweydeutig ist, sondern die Bedeutung der Woͤrter bestimmt. §. 307. Hingegen giebt es unzaͤhlige Faͤlle, wo vor- nehmlich nur der Umfang des Begriffes, den ein Wort vorstellt, in der Redensart eine besondere Bestimmung erhaͤlt, so daß man ohne eine mehrere Aufmerksamkeit leicht zu viel oder zu wenig mitnimmt. Wir werden hier nicht wiederholen, was wir bereits in der Alethiolo- gie (§. 139 ‒ 158.) und so auch oben (§. 138. seqq. 192. seqq. ) hieruͤber angemerkt haben, sondern die Redens- arten Von der Wortfuͤgung. arten in dieser Absicht mit den Algebraischen Glei- chungen vergleichen. Bey diesen ist die Bedingung, daß die Groͤßen auf beyden Seiten des Gleichstriches einander gleich seyn sollen, und durch diese Bedingung laͤßt sich eine Groͤße durch die uͤbrigen bestimmen. Nimmt man an, eine Redensart solle einen durchaus richtigen Verstand haben, so ist ebenfalls klar, daß diese Bedingung fordert, man muͤsse die Bedeutung jeder Woͤrter, ihren Umfang und Verbindung so gegen ein- ander proportioniren, daß die Redensart verstaͤndlich werde. Die hermeneutische Billigkeit (§. 302.) for- dert dieses auch bey Lesung und Auslegung der Schrif- ten anderer. Hiebey koͤmmt es nun in vielen Faͤllen auf den verschiedenen Grad des Witzes und Scharfsin- nigkeit und Gedult an. Es ist moͤglich, oͤfters aus den verworrensten Schriften noch einen ertraͤglichen Ver- stand heraus zu bringen, oder zu bestimmen, was der Autor von jeden Worten sich muͤsse fuͤr einen Begriff gemacht haben, dafern man der hermeneutischen Billig- keit gemaͤß, annehmen will, er habe mit einigem Be- wußtseyn geschrieben, und sich in der That doch etwas vorgestellt. Die Art, wie wir nach und nach zu dem Begriffe der Bedeutung der Woͤrter gelangen, beson- ders, wo die Sache nicht im Ganzen kann vorgelegt werden, und die Moͤglichkeit, daß jeder sich durch ganz individuale Reihen von Gedanken, den Weg zu neuen Metaphern baͤhnen kann, und endlich auch, die vielen Umstaͤnde, welche dazu beytragen, daß bald jeder die Dinge sich von besondern und individualen Seiten vor- stellt, alles| dieses macht die Beobachtung erstbemeldter Billigkeit nothwendiger, und theils durch Uebung, theils mit Beyhuͤlfe eines hoͤhern Grades der Scharfsinnig- keit, des Witzes und der Gedult, leichter, und benimmt zugleich das Vorurtheil, als wenn die Vorstellungsart, die man zur Lesung einer Schrift mitbringt, der Maaß- M 4 stab VIII. Hauptstuͤck. stab zur Auslegung und Beurtheilung derselben waͤre, oder die Dinge von keiner andern Seite betrachtet wer- den koͤnnten. §. 308. Die Anlaͤße, wobey man gleichsam genoͤ- thigt ist, den Umfang in der Bedeutung eines Wortes anders, als es gewoͤhnlich war, zu nehmen, sind dieje- nigen, wo man kein schicklicheres findet, es sey, daß man keines wisse, oder die Sprache selbst keines habe. Bey Uebersetzungen aus fremden Sprachen kommen solche Faͤlle leicht vor, weil jede Sprache auch darinn einen ihr eigenen Schwung hat, daß sie sich in dem Umfang der Bedeutung ihrer Woͤrter eben nicht nothwendig nach andern Sprachen richtet (§. 163.). Sodann kann es auch leicht geschehen, daß, wenn man an einer Sa- che neue Seiten aufdeckt, oder sie aus neuen Gesichts- punkten betrachtet, die daher entstehenden Begriffe mehr oder minder Merkmale enthalten, als die Woͤr- ter angeben, die man bis dahin dabey gebraucht hatte. So hatte Kepler die Woͤrter der Ptolomaͤischen Astro- nomie beybehalten, aber denselben neue Bedeutungen gegeben, welche man allerdings nicht so leicht mit den alten verwechselt, weil der Unterschied der Systemen bekannt ist, und die Sache in Figuren vor Augen liegt. Bey dem Aufbringen eines neuen Systems in der Me- taphysik und Moral, faͤllt dieses Mittel mehr oder min- der weg, und der neue Umfang der Begriffe, der oͤfters noch viel Willkuͤhrliches behaͤlt, kann nur durch Defi- nitionen angegeben werden, an welche eben nicht so gleich jeder sich zu gewoͤhnen verbunden erachtet (§. 195. 200.). §. 309. Ferner kann es auch geschehen, daß man sich begnuͤgt, nur uͤberhaupt die Classen anzuzeigen, wor- unter ein Begriff gehoͤrt, und worauf man das Augen- merk richtet, ohne eben durch eine Definition zu bestim- men, wie viel oder wie wenig man von der Bedeutung des Von der Wortfuͤgung. des Worts zu dem Begriffe nimmt. So z. E. haben wir im vorhergehenden immer das Grammatische dem Charakteristischen, und beydes dem Metaphysischen in den Sprachen entgegengesetzt, ohne weder diese Woͤrter zu definiren, noch an jedem Orte umstaͤndlich anzuzei- gen, wie weit sie sich anwenden lassen. Man wird aber aus dem Gebrauche dieser Woͤrter leicht finden, daß das Metaphysische auf die bedeuteten Sachen und ihre Natur und allgemeine Verhaͤltnisse geht, das Cha- rakteristische aber dasjenige in den Zeichen betrifft, was sich durch das Metaphysische bestimmen und auf Re- geln bringen laͤßt, und daß hingegen das Grammati- sche dasjenige begreift, was in den wirklichen Sprachen an statt charakteristisch zu seyn, bloß willkuͤhrlich, und weder in der Sache noch in den Zelchen gegruͤndet ist. Da aber diese Unterschiede durch viele Stuffen groͤßer oder kleiner seyn koͤnnen, so kommen im obigen auch Faͤlle vor, wo das Grammatische sehr nahe an das Charakteristische grenzt, und wo die Auswahl des Wor- tes schwerer waͤre, oder dem erstern etwas von dem letz- tern zugegeben werden konnte. §. 310. Wir koͤnnen noch anmerken, daß wir die Bedeutung der meisten Woͤrter unserer Muttersprache auf keine andere Art lernen, als aus dem Verstand der Redensarten, in welchen wir sie von Kindheit auf ler- nen. Jch sage, die meisten Woͤrter. Denn es ist klar, daß wir nicht bey ganzen Redensarten anfangen, sondern nothwendig eine gewisse Anzahl von Woͤrtern, jedes fuͤr sich muß erlernt werden. Diese fuͤr sich er- lernbare Woͤrter sind ungefaͤhr eben die, wobey die er- sten Urheber der Sprachen anfangen mußten. Sie stellen Dinge und Handlungen vor, die nicht nur unter die Sinnen fallen, sondern ein mit fremden Umstaͤn- den nicht untermengtes Ganzes ausmachen, die man den Kindern vorzeigen, und dadurch das Wort mit der M 5 Empfin- VIII. Hauptstuͤck. Empfindung der Sache verbinden kann. Hierauf fol- gen die Worter, die wegen der Aehnlichkeit des Ein- druckes, Eigenschaften von verschiedenen Dingen anzei- gen, z. E. gut, schoͤn, boͤse, ꝛc. und nach und nach ergeben sich auch stuffenweise die metaphorischen Be- deutungen, und mit diesen die Begriffe der Jntellectual- welt und der abstracten oder nicht unter die Sinnen fallenden Dinge. Da man diese nicht vorzeigen kann, oder da sie, wenn man sie vorzeigt, mit vielen Neben- umstaͤnden vermengt sind, so muͤssen sie fast nothwen- dig aus den Redensarten erlernt werden, in welchen sie vorkommen, und die Verhaͤltnisse zwischen solchen Be- griffen, ihre Verwandschaft, Aehnlichkeit, Entgegenset- zung, Verbindung, ihre gemeinsame und eigene Merk- male, ergeben sich vornehmlich auch aus dem Zusam- menhang der Rede. §. 311. Man kann sich von allem diesem noch mehr versichern, wenn man die Regeln betrachtet, die in der Vernunftlehre angegeben werden, um abstracte Be- griffe zu erklaͤren, oder, wie wir es in dem ersten Hauptstuͤcke der Dianoiologie genommen haben, ihren Umfang zu bestimmen. Denn da das Charakte- ristische und Etymologische in den wirklichen Sprachen hiezu viel zu unvollstaͤndig und unzuverlaͤßig ist, so muß man statt dessen, oder wenigstens nebst demselben (§. 260. 268.) die Faͤlle und Redensarten aufsuchen, in welchen das Wort vorkoͤmmt, und auf den Grund sehen, war- um es in denselben gebraucht wird, damit man die ge- meinsamen und eigenen Merkmale des Begriffes, und oͤfters auch die Vieldeutigkeit des Wortes dadurch fin- den, und kenntlich machen moͤge. §. 312. Da wir die hiebey vorkommenden Faͤlle und Regeln in dem ersten und neunten Hauptstuͤcke der Dianoiologie ausfuͤhrlich betrachtet haben, und hier vor- nehmlich nur auf das Charakteristische dabey sehen, so merken Von der Wortfuͤgung. merken wir an, daß es unter den vielen Redensarten, worinn ein Wort vorkoͤmmt, auch solche giebt, worinn seine Bedeutung mit den wenigsten fremden Umstaͤn- den untermengt ist, und folglich das Wesentliche in dem Begriffe und in seinem Umfange den Verstand der Redensart genauer bestimmt. Von dieser Art sind nun unstreitig, und nach aller Schaͤrfe genommen, die Definitionen. Sie haben aber eine Form, die in dem gemeinen Gebrauche der Sprache seltener vorkoͤmmt, wo die definirte Sache oͤfters in Casu obliquo, oder in der Form anderer Redensarten und Nebenbestimmun- gen verwickelt liegt. Von diesen haben wir einige in der Dianoiologie (§. 499. seqq. ) betrachtet, und das Charakteristische, so bey dem Zusetzen und Weglassen der Bestimmungsbegriffe vorkoͤmmt, mit dem Multi- pliciren in der Rechenkunst verglichen (§. 500. l. cit. ). Die Hauptfrage hiebey ist demnach allerdings diese: Wiefern man solche Redensarten, worinn ein Wort in dem genauen Umfange seiner Be- deutung vorkoͤmmt, durch eine bloß gramma- tische Verwandlung der Woͤrter, oder durch die wenigsten Substitutionen anderer Woͤrter in die Form einer Definition bringen koͤnne? Diese Frage laͤßt sich nicht allgemein aufloͤsen. Jn- dessen wo sich etwan Faͤlle anbieten, da lohnt es sich, zum Behufe des Charakteristischen in den Spra- chen, der Muͤhe, sie in dieser Absicht genauer zu be- trachten. §. 313. Was wir vorhin (§. 310.) in Ansehung der Muttersprache angemerkt haben, dehnt sich ebenfalls auf die Erlernung fremder Sprachen aus. Man faͤngt bey der Sprachlehre und Woͤrterbuͤchern an. Allein aus diesen kann man von den meisten Woͤrtern nur beylaͤufig den Umfang ihrer Bedeutung kennen lernen, so ferne naͤmlich in der Muttersprache Woͤrter von un- gefaͤhr VIII. Hauptstuͤck. gefaͤhr gleichem Umfange sind. Wer es nun dabey bewenden laͤßt, dem bleibt das meiste von dem, was der fremden Sprache eigen ist, und die feinern Unter- schiede in dem Gebrauche ihrer Woͤrter und Redensar- ten, fast nothwendig unbekannt. Man hat daher schon laͤngst angemerkt, daß man mit wenigern grammati- schen Regeln, aber desto mehrerer Lesung der classischen Schriftsteller, einer fremden Sprache ungleich besser Meister werde, als wenn man sich alle Regeln der Sprachlehre durchaus bekannt macht, und es dabey be- wenden laͤßt. Das will nun eben auch sagen, daß man das Feinere einer fremden Sprache nicht anders, als eben so, wie in der Muttersprache, aus dem Verstand der Redensarten und ihrem Zusammenhange erlernen muͤsse. Da findet man bey guten Schriftstellern jedes Wort an seinem Orte, und der Umfang in seiner Be- deutung ergiebt sich zugleich mit dem Verstande der Re- densart, und aus der Betrachtung der dadurch vorge- stellten Sache. Alles koͤmmt dabey darauf an, daß der Autor richtig gedacht, und sich nett ausgedruͤckt ha- be, und der Leser die Aufmerksamkeit und Faͤhigkeit be- sitze, ihm genau zu folgen. §. 314. Es giebt ferner auch Saͤtze und Redens- arten, die, fuͤr sich allein betrachtet, widersinnisch, an- stoͤßig oder gar ungereimt und irrig scheinen, es sey, daß der Autor derselben sich aus Sorglosigkeit, Nach- laͤßigkeit ꝛc. in den Ausdruͤcken versehen, oder daß er eine Absicht dabey habe, oder daß er in der That keine schicklichere Worte in der Sprache gefunden. Jm letz- ten Fall besonders wird er natuͤrlicher Weise entweder den Leser vorerrinnern, oder durch beygefuͤgte Erlaͤute- rungen naͤher anzeigen, wie er seine Worte will genom- men wissen, und falls er es auf den Zusammenhang ankommen laͤßt, so fordert allerdings die hermeneutische Billigkeit, daß man diesen mit zu Rathe ziehe, um das Anstoͤßi- Von der Wortfuͤgung. Anstoͤßige in den Worten zu heben, und ihren genauen Verstand zu bestimmen (§. 307.). Die Regel in den Rechten, daß man den genauen Sinn der Gesetze durch ihren Grund, warum sie von dem Gesetzgeber gegeben worden, bestimmen muͤsse, gruͤndet sich ebenfalls auf diese Billigkeit. So giebt es auch widersinnische Lehr- saͤtze, die durch die Erwaͤgung ihres Beweises aufhoͤren widersinnisch zu seyn. Denn es ist fuͤr sich klar, daß man sie nicht anders nehmen muß, als es der Beweis angiebt. Zuweilen klaͤrt auch ein Beyspiel einen all- gemeinen Satz eben dadurch auf, weil es die naͤhern Bestimmungen mit angiebt, die in dem allgemeinen Satze entweder gar nicht oder nur confus angezeigt wa- ren. Man wird in dem vierten Hauptstuͤcke der Ale- thiologie hin und wieder Beyspiele finden, die diese Be- trachtungen erlaͤutern. Denn da wir daselbst genau bestimmte Saͤtze vorzutragen hatten, so war es mehr nothwendig, ihren wahren Sinn aufzuklaͤren, und das Vieldeutige zu heben. Und dieses geschahe theils durch die Beweise, theils durch Beyspiele, und theils auch durch ausdruͤckliche Errinnerungen. Neun- IX. Hauptstuͤck. Neuntes Hauptstuͤck. Von der Art einer Sprache . §. 315. N ach der allgemeinen Betrachtung der Sprachthei- le, ihrer Etymologie und Syntaxe, wird in den Sprachlehren die Prosodie oder Tonmessung vorge- nommen, und darinn mehrentheils a posteriori eroͤr- tert, welche Sylben laͤnger oder kuͤrzer ausgesprochen werden, und welche Abwechslungen in den Versarten aus jeder wohl in das Ohr fallenden Verbindung lan- ger und kurzer Sylben entstehen. Wir halten uns aber hiebey nicht auf, da wir verschiedenes hieher und selbst auch zur Dichtkunst gehoͤriges bereits oben (§. 44. 99. 100. 101. 297. 303.) gelegentlich angemerkt haben, woraus sich der Ton der Sylben und Woͤrter uͤber- haupt, und auch in Absicht auf die Gedanken selbst, be- urtheilen laͤßt, und woraus man zugleich sehen kann, daß der bloße Unterschied der Sylben in lange und kur- ze viel zu einfach ist, als daß dadurch alle Modificatio- nen der Aussprache sollten koͤnnen angezeigt werden. Die Griechen und Lateiner hatten das besonders, daß die Aufhaͤufung der Mitlauter eine sonst an sich kurze Sylbe lang machen konnte, wovon ein feineres Gehoͤr, vermuthlicher aber eine angewoͤhnte Ungelenkigkeit der Gliedmaßen der Sprache, der Grund gewesen zu seyn scheint (§. 79. 84.). Denn da die Laͤnge und besonders die Schaͤrfe des Tons der Sylben und Woͤrter, mit dem mehr oder minder Nachdruͤcklichen und Aufmer- kenswuͤrdigen in den Gedanken, in Verhaͤltniß stehen solle, Von der Art einer Sprache. solle, und da aus diesem Grunde die Wiederholung ei- nes gleichen Wortes fehlerhaft ist, wenn nicht beyde- male der Nachdruck des Tons darauf faͤllt, so sieht man leicht, daß die Prosodie sich auf viel feinere Regeln gruͤnden muͤsse, zumal da das Ohr und die Zunge bieg- sam genug sind, sich darnach zu richten. Jn dieser Ab- sicht ist demnach eine Sprache vollkommener, in wel- cher mehr Auswahl bleibt, die Sylben, und besonders die einsylbigten Woͤrter, lang oder kurz zu machen, und diese Auswahl nach den Gedanken zu richten (§. 99. 100.). §. 316. Hiebey halten wir uns aber nicht laͤnger auf, sondern wenden uns zur Betrachtung des Unter- schieds der Sprachen. Diesen lernt man vornehm- lich bey dem Uebersetzen aus einer Sprache in die an- dere kennen, und das Allgemeine darinn wird durch die Woͤrter: Genius linguae, Indoles linguae, die beson- dere Art, der Schwung einer Sprache, ꝛc. oder durch die Redensarten: Es ist dem Genio linguae zuwider, die Art der Sprache bringt es so mit ꝛc. ungefaͤhr angezeigt. Es ist schwer, den genauen Umfang dieser Begriffe und Redensarten zu bestim- men, weil man dabey auf sehr viele und sehr verschiede- ne Stuͤcke zu sehen hat. Wir wollen Ausschließungs- weise gehen, und daher erstlich anmerken, daß die mei- sten besondern Ausnahmen, die man sowohl in der Ety- mologie als in der Syntaxe einer Sprache findet, nicht zu dem genio linguae gerechnet werden. So z. E. sagt man nicht, es sey dem Genio linguae latinae ge- maͤß, daß sie in ihren veraͤnderlichen Redetheilen sehr viel Unregelmaͤßiges habe. Denn alle diese Unrichtig- keiten sind mit der Sprache auf eine sehr zufaͤllige Art entstanden. §. 317. Man kann auch nicht das, was allen Spra- chen gemein ist, zu dem Genio einer Sprache rechnen, weil IX. Hauptstuͤck. weil dieses Wort ehender auf die besondern Wendun- gen geht, die einer Sprache eigen sind, und uͤberhaupt mehr das Metaphysische als das Charakteristische der Sprachen zu betreffen scheint. Jn dieser Absicht kann man dasjenige zu dem Genio einer Sprache rechnen, wodurch sie zu einer gewissen Art und Form der Er- kenntniß biegsamer ist, als zu andern. Sie kann z. E. maͤnnlicher, nachdruͤcklicher, bedeutender, bestimmter ꝛc. seyn, als eine andere, oder sie kann zur Dichtkunst, Be- redsamkeit, zu hoͤhern Wissenschaften ꝛc. besser als an- dere dienen, oder sie giebt die Aehnlichkeit, Verschie- denheit, wesentliche Merkmale der Dinge ꝛc. besser an, oder sie ist mehr fuͤr den Witz, Scharfsinnigkeit, Ver- nunft, oder mehr fuͤr die untern Erkenntnißkraͤfte ꝛc. Alles dieses sind Absichten, in denen sich die wirklichen Sprachen betrachten und beurtheilen lassen. Wir ha- ben gleich Anfangs (§. 1.) angemerkt, daß jede Sprache eine gewisse Anzahl von Woͤrtern hat, und daß unsere Erkenntniß dadurch eine gewisse Form oder Gestalt er- halte. Besonders ist die Anzahl der Wurzelwoͤrter ziemlich eingeschraͤnkt, und wird selten anders als mit Woͤrtern aus andern Sprachen vermehrt Die Mit- tel, aus den Wurzelwoͤrtern zusammengesetzte und abge- leitete zu bilden, und ihre Anzahl durch Metaphern zu vermehren, geben bald jeder Sprache einen besondern Schwung, und da sie die Dinge mehrentheils nur von einer gewissen Seite betrachtet, benennen (§. 265.), so decken sie auch nur diese Seite unmittelbarer auf, und veranlassen Umwege, die uͤbrigen Seiten der Dinge ebenfalls aufzudecken, wobey auch jede Sprache wieder- um einen ihr eigenen Schwung nimmt. §. 318. Wir koͤnnen ferner noch anmerken, daß es viel darauf ankoͤmmt, von welcher Art der Gelehrsam- keit die classischen Schriftsteller einer Sprache sind. Die Philosophen suchen vornehmlich das Bedeutende, das Von der Art einer Sprache. das Nachdruͤckliche, das Bestimmte in der Bedeutung der Woͤrter und Redensarten. Je gruͤndlicher sie den- ken, und je genauer sie gehen, desto mehr werden sie be- muͤht seyn, die Woͤrter an fixe Begriffe zu binden, und dabey zu erhalten. Und da sie mehr fuͤr den Verstand als fuͤr das Ohr und die Zunge arbeiten, so sind sie auch nicht so sehr bemuͤht, fuͤr das Fließende und den Wohl- klang der Sprache zu sorgen. Diese Sorgfalt neh- men hingegen die Dichter und Redner mehr auf sich. Und da diese mehr fuͤr die untern Erkenntnißkraͤfte ar- beiten, so ist ihnen auch an dem genauen Umfang der Bedeutung der Woͤrter nicht so viel gelegen. Sie trennen den Schein vom Wahren nicht so sorgfaͤltig, und vermengen die eigene Bedeutung der Woͤrter mit der metaphorischen, um die Sprache zu jeden Bildern biegsam zu machen. Dadurch faͤllt von dem Nachdruͤck- lichen in der Sprache viel weg, die Sprache wird wei- cher, fluͤßiger, und auch zum Theil kraftloser und weibi- scher. Man kann daher annehmen, daß ein gutes und aͤchtes Mittel getroffen wird, wo nicht nur die Sprache Woͤrter genug hergiebt, sondern wo Weltweise und Dich- ter zugleich an ihrer Ausbesserung arbeiten. Die Grie- chen hatten diesen Vortheil, von denen die Lateiner ei- nen guten Theil wissenschaftlicher Woͤrter borgen muß- ten. Die Englaͤnder arbeiten fuͤr die obern und un- tern Erkenntnißkraͤfte, und ihre Sprache ist dazu desto aufgelegter, weil sie Woͤrtern aus jeden andern Spra- chen das Buͤrgerrecht in der ihrigen geben koͤnnen. Die Deutsche koͤmmt der Griechischen bey, und waͤchst erst noch zu ihrer wahren Vollkommenheit, woran Welt- weise und Dichter arbeiten. Hingegen ist die italienische Sprache laͤngst schon einer allzugroßen Weichheit be- schuldigt worden. Sie hat auch fast nur Geschicht- schreibern, Rednern und Dichtern ihre Ausbesserung zu verdanken, weil ihre Weltweisen fast noch dermalen an Lamb. Organon II B. N den IX. Hauptstuͤck. den lateinischen Wortkram der Scholastik gebunden sind. Die franzoͤsische Sprache scheint ihre hoͤchste Periode, in Absicht auf das Bestimmte und Nachdruͤck- liche, erreicht zu haben, daferne sie nicht durch gruͤndli- che Philosophen darinn einen neuen Schwung bekoͤmmt. Da sie nicht so reich an Woͤrtern ist, so werden ihre Woͤrter desto vieldeutiger, und zugleich auch schwerer zu definiren. §. 319. Das bisher Angemerkte betrifft den Ge- nium einer Sprache, so ferne wir das Metaphysische darinn betrachten. Das Charakteristische hat immer auch mehr oder minder Antheil daran. Es scheint sich aber weiter auszudehnen, als der Begriff des Genius einer Sprache geht. Ob das Wort indoles oder die Art der Sprache von viel weiterm Umfange in der Bedeutung sey, und das Metaphysische und Charakte- ristische, so einer Sprache eigen ist, ganz begreife, koͤn- nen wir hier dahin gestellt seyn lassen, zumal da diese Woͤrter theils vieldeutig, theils von veraͤnderlichem Um- fange in der Bedeutung sind, und der damit verbunde- ne Begriff jedesmal aus dem Zusammenhange genauer bestimmt werden muß (§. 307.). Wir werden daher, ohne uns an das Wort zu binden, uns vielmehr an die Sache selbst halten, und stuͤckweise durchgehen, wie ei- ne Sprache einen besondern Schwung haben, und von andern Sprachen unterschieden seyn kann. Und hiezu koͤnnen wir kurz wieder anzeigen, was wir in den vor- hergehenden Hauptstuͤcken an jedem Orte besonders hier- uͤber angemerkt haben. §. 320. Die Grundregeln, die wir uns hiebey vor- setzen koͤnnen, lassen sich durch verschiedene bereits in dieser Absicht gebraͤuchliche Redensarten anzeigen. Die Lateiner verstunden unter dem Ausdrucke: barbare lo- qui, uͤberhaupt alles, was nicht gut oder aͤchtes La- tein war, und im Deutschen gebrauchen wir ebenfalls den Von der Art einer Sprache. den Ausdruck: undeutsch klingen, sowohl von ein- zeln Woͤrtern als von ganzen Redensarten. Wenn ein solches Wort oder Redensart nach den Regeln einer andern Sprache construirt ist, so benennt man diese Ab- weichung von der Sprachaͤhnlichkeit mit einem be- sondern Namen. Dergleichen sind die Hebraismi in dem Griechischen des neuen Testamentes, die Graecis- mi in vielen lateinischen Dichtern und andern Schrif- ten. Jm Deutschen kommen etwan Gallicismi vor, und bald ist keine Sprache, die nicht aus Nothwendig- keit oder Ungeschicklichkeit Woͤrter und Constructionen aus fremden Sprachen habe. Endlich, da die leben- den Sprachen sich allmaͤhlig aͤndern, so unterscheidet man auch alte Ausdruͤcke von neuen. Die Archaismi sind solche abgelebte Ausdruͤcke, und im Deutschen sa- gen wir etwan, es klinge altfraͤnkisch, altvaͤte- risch ꝛc. Eben so werden auch poͤbelhafte Ausdruͤcke von den feinern und gesittetern, und in weitlaͤuftigen Laͤndern die Provinzialwoͤrter, Idiomata und Dialecten von dem allgemeinern oder reinern Dialecte und Mund- art unterschieden. §. 321. Aus diesem vielfachen Unterschiede, den man unter den Woͤrtern einer Sprache macht, erhellet, daß man das Feinere, Regelmaͤßigere und Allge- meinere besonders herausnimmt, und dasselbe gleich- sam zum Maaßstabe und Probierstein von allem uͤbri- gen macht, daß diese Auswahl eine merklichere Har- monie habe, und daß, ungeacht bald jedermann an der Veraͤnderung und Erweiterung der Sprache Antheil hat, diese Harmonie dennoch dabey in so weit die Ober- hand behalte, daß die Anzahl der Ausnahmen in der Sprache geringer werde, und die Mehrheit der Stim- men in diesem demokratischen Reiche der Jntellectual- welt (§. 1.) da seyn muͤsse, ehe eine Neuerung geduldet oder zugelassen wird. N 2 §. 322. IX. Hauptstuͤck. §. 322. Dieses Allgemeine in einer Sprache faͤngt schon bey den ersten Bestandtheilen, das ist, bey den Buchstaben und Sylben an. Es geschieht selten, daß neue Buchstaben und neue Zusammensetzungen dersel- ben in einer Sprache aufgenommen werden, und bey aͤltern Leuten faͤllt die Aussprache derselben ins Unmoͤg- liche. Wir haben dieses schon oben (§. 73. 79. 83. 84. 90.) umstaͤndlicher und in mehrerley Absichten ange- merkt. Die wirklichen Sprachen gehen hierinn in so ferne von einander ab, daß sie zwar einige gemeinsame Laute von Buchstaben und Sylben haben, hingegen sich durch viele andere von einander so unterscheiden, daß man es den meisten Woͤrtern anhoͤren kann, ob sie Deutsch, Franzoͤsisch, Jtalienisch, Slavonisch, ꝛc. klin- gen, und dieses findet sich besonders auch bey den Na- men der Staͤdte, Familien ꝛc. ungeacht das Ohr hierinn eben nicht durchaus ein untruͤglicher Richter ist. Ue- brigens sind es vornehmlich die Endungen der Woͤrter, die die wirklichen Sprachen von einander unterscheiden, und mehrentheils in Ableitungstheilchen bestehen, und daher, da sie nicht in gar zu großer Anzahl sind, leicht mit einander koͤnnen verglichen werden. §. 323. Es sind aber die Ableitungstheilchen nicht nur in Ansehung der Buchstaben und des Klanges in verschiedenen Sprachen verschieden, sondern dieser Un- terschied erstreckt sich großentheils auch auf ihre Bedeu- tung, und deren Vieldeutigkeit. Man findet nicht fuͤr jedes Ableitungstheilchen einer Sprache ein gleichbe- deutendes in einer andern. Da sie indessen metaphy- sische Verhaͤltnißbegriffe und Bestimmungen vorstellen, so erhaͤlt dadurch jede Sprache, in so ferne sie von an- dern abgeht, einen ihr eigenen Schwung, und sie kann in einem Worte ausdruͤcken, was man in andern Spra- chen durch Umschreibungen oder durch Woͤrter geben muß, die einen ganz andern Ursprung haben, oder Wur- zelwoͤrter, Von der Art einer Sprache. zelwoͤrter, oder Metaphern sind. Die Art, die Ablei- tungstheilchen anzuhaͤngen, vorzusetzen oder einzuschie- ben, und die Ordnung, Woͤrter zusammenzusetzen, hat ebenfalls in jeder Sprache etwas besonders, welches dem Charakteristischen in derselben eine eigene Gestalt giebt (§. 135. 159.). §. 324. Der Schwung, den eine Sprache hierinn nimmt, macht einen Theil ihrer Art oder ihres Genius aus, und aͤußert sich in allgemeinern Aehnlichkeiten, nach denen man sich in Ableitung und Zusammenset- zung neuer Woͤrter richtet. Was dieser Aehnlichkeit zu einer gewissen Zeit zuwider ist, oder was selbst noch kein Beyspiel vor sich hat, das sieht man als dem Ge- nio der Sprache zuwider an. Da indessen in lebenden Sprachen neue Wortfuͤgungen entstehen, so bleibt auch hiebey zu untersuchen, warum einige in Aufnahm kom- men, andere aber nicht. §. 325. Um bey einem Beyspiele anzufangen, so ist es im Deutschen nicht ungewoͤhnlich, ein Hauptwort und ein Beywort zusammenzusetzen, wovon ersteres zur Bestimmung des andern dient. So sind die Woͤr- ter: kugelrund, himmelweit, steinhart, meilen- lang ꝛc. laͤngst schon in die Sprache aufgenommen. Und man sieht leicht, daß das Hauptwort vorgesetzt wird, weil es zur Vergleichung dient, und das ange- haͤngte Beywort eine Eigenschaft davon anzeigt, und durch alle Fallendungen abgewandelt wird. Diese Zu- sammensetzung ist eine bequeme Abkuͤrzung, da man sonst an statt kugelrund, muͤßte sagen: rund, wie eine Kugel. Ein Hauptwort kann auch nicht wohl anders als Vergleichungsweise zur naͤhern Bestimmung eines Beywortes dienen, und die bloße Zusammenset- zung zeigt auch an sich keine andere Bedeutung an, als daß ein Wort das andere naͤher bestimme, und unge- faͤhr das sey, was in der Algeber die Coefficienten sind. N 3 Dem- IX. Hauptstuͤck. Demnach bringt es die Natur der Sache und der Zeich- nung mit, daß das Hauptwort, so dem Beywort vor- gesetzt wird, dasselbe vergleichungsweise bestimme. Aus diesem Grunde aber scheint es dem Genio der Sprache zuwider, wenn man etwan Hauptwoͤrter mit solchen Beywoͤrtern zusammensetzt, die ein Vorwort fordern, und mittelst dieses Vorworts eine ordentliche Constru- ction haben, z. E. rußgeschwaͤrzt, anstatt: mit Ruß geschwaͤrzt, so auch gottgeliebt, an statt: von Gott geliebt. Dergleichen grammatische El- lipsen scheinen zu hart, und machen solche Woͤrter den Lesern anstoͤßig, da man hingegen diejenigen gelten laͤßt, wo das Beywort keines Vorwortes oder hoͤchstens nur einer gewissen Fallendung bedarf, wie z. E. in den Woͤrtern: gnadenreich, demuthsvoll, sorglos, fruchtbringend, ꝛc. Man kann aber auch bey sol- chen Woͤrtern ausgelassene Ellipsen gedenken, und an statt gnadenreich, den Ausdruck: reich an Gna- den, setzen. Und so scheint es, daß es nur auf den Mangel der Gewohnheit ankomme, wenn man Woͤr- ter von der erstern Art in der Sprache nicht gelten laͤßt. Denn durch die Gewohnheit sehen wir solche Woͤrter fast nicht anders als Wurzelwoͤrter an, deren Bedeu- tung sich aus der Ableitungsart entweder gar nicht oder wenigstens sehr muͤhsam erkennen laͤßt, weil wir nicht gewoͤhnt sind, im Reden die Begriffe erst durch Schluͤs- se mit den Woͤrtern zu verbinden, oder sie uns durch die Vorstellung und das Bewußtseyn der Etymologie und Ellipsen zu Sinne zu legen. §. 326. Das andere Beyspiel, so wir noch anfuͤh- ren wollen, nehmen wir von den Mittelwoͤrtern her, de- ren Gebrauch man im Deutschen allgemeiner und viel- faͤltiger zu machen gesucht hat, als er bis dahin gewe- sen war. Man kann aus Vergleichung der alten und neuen gelehrten Sprachen leicht sehen, daß die deut- sche Von der Art einer Sprache. sche in Ansehung der Mittelwoͤrter zuruͤcke bleibt. Be- sonders hat die griechische Sprache sowohl in Absicht auf ihre Anzahl als auf ihren Gebrauch viel voraus, und auch die lateinische, englaͤndische, franzoͤsische und italienische Sprache koͤnnen sich ihrer Mittelwoͤrter sreyer und vielfaͤltiger bedienen, als die deutsche sich der ihrigen bedient hatte. Man giebt daher einige aus diesen Sprachen entlehnte oder nachgeahmte Fuͤ- gungen der Mittelwoͤrter als gezwungen und undeutsch aus. Und daher entsteht billig die Frage: ob denn die deutsche Sprache von der Art sey, daß sie allein darinn solle zuruͤcke bleiben, oder wieferne sie wenigstens nach und nach eine zu jedem Gebrauche ihrer Mittel- woͤrter schickliche Wendung erhalten koͤnne? §. 327. Hiebey werden wir nicht wiederholen, was wir oben (§. 167. seqq. ) bereits ausfuͤhrlich von den Mittelwoͤrtern gesagt haben. Die deutsche Sprache hat nur zweyerley, daferne man den Begriff eines Mit- telwortes nicht allgemeiner machen will, und in so ferne scheint sie an sich schon in Absicht auf ihren Gebrauch eingeschraͤnkter. Man hat sie auch bisher nur als Be- stimmungswoͤrter von Hauptwoͤrtern und Zeitwoͤrtern, und zwar im ersten Fall wie Beywoͤrter, im andern aber wie Zuwoͤrter gebraucht, z. E. der eilende Wan- derer, die gewuͤnschte Stunde ꝛc. er gieng ei- lend, er lebt vergnuͤgt ꝛc. Jn solchen Redensar- ten bedienen sich die Dichter, wie in sehr vielen andern, der Freyheit, die Woͤrter mehr zu versetzen, als es in gemeiner und ungebundener Rede uͤblich ist (§. 301.), und in so ferne ist man auch bereits daran gewoͤhnt. §. 328. Sodann hat man auch den Gebrauch des Mittelworts der vergangenen Zeit weiter ausgedehnt, als das von der gegenwaͤrtigen Zeit. Man sagt z. E. dieses vorausgesetzt, laͤßt sich wohl gedenken, da es hingegen ungewoͤhnlicher klingen wuͤrde: dieses N 4 vor- IX. Hauptst. Von der Art einer Sprache. voraussetzend, koͤnnen wir ꝛc. Und noch unge- woͤhnlicher wuͤrde man das franzoͤsische voiant, qu’il arriva, je dis, ꝛc. durch: Sehend, daß er ankame, sagte ich ꝛc. oder durch: ihn ankommen sehend, sprach ich ꝛc. uͤbersetzen. Diese Ausdruͤcke sind aber auch nur ungewoͤhnlich, und das ist alles, was man da- wider sagen kann. Denn da sie in den uͤbrigen Spra- chen angehen, und auch im Deutschen gegeben werden koͤnnen, so scheint nichts als der Mangel der Gewohn- heit Schuld daran zu seyn, daß sie nicht anfangs bey Dichtern, sodann in lebhaftern und nachdruͤcklichern Stellen von Reden, und so unvermerkt endlich im ge- meinen Leben eingefuͤhrt werden. Und hierinn scheint bereits auf die oben (§. 301.) beschriebene Art ein nicht ungluͤcklicher Anfang gemacht worden zu seyn. Denn so trocken, wie wir erst die Beyspiele angefuͤhrt haben, wuͤrde es sich kaum der Muͤhe lohnen, solche Wortfuͤ- gungen zu gebrauchen. Es muͤssen immer Wendun- gen dabey seyn, die das minder gewoͤhnliche uͤber- sehen machen. Zehntes Zehntes Hauptstuͤck. Von dem Hypothetischen der Sprache. §. 329. D a die Woͤrter und ihre Verbindung Zeichen von unsern Begriffen und deren Verbindung sind, so daß wir durch das Bewußtseyn und Empfinden der Zeichen das Bewußtseyn der Begriffe erneuern, und dadurch die wiederholte Empfindung der Dinge selbst großentheils entbehrlich machen, so hat die Sprache un- streitig einen vielfachen und merklichen Einfluß in die Art und Gestalt unserer gesammten Erkenntniß. Wir haben in dem ersten Hauptstuͤcke hieruͤber bereits ver- schiedene allgemeinere Betrachtungen angestellt, die wir noch umstaͤndlicher aus einander zu setzen haben. Sie betreffen vornehmlich das Hypothetische in der Spra- che, und dieses ist durchaus allen Sprachen gemein. Daß ein Wort vielmehr diese als eine andere Sache bedeute, koͤmmt schlechthin darauf an, daß man es da- zu gewaͤhlt hat, und die letzten Gruͤnde, die man in den Sprachlehren geben kann, beziehen sich endlich schlecht- hin auf den Gebrauch zu reden, als welcher auch noch in den groͤßten Anomalien vorgewandt wird. §. 330. Es dehnt sich aber dieses Hypothetische nicht nur auf jede Woͤrter und jede Wortfuͤgungen, und folglich so weit als die Sprache aus, sondern so will- kuͤhrlich es auch an sich ist, so muß man fast durchaus dabey bleiben, wenn man nicht eine neue Sprache vor- bringen, noch andern unverstaͤndlich werden will, und es lassen sich ohne strengern Beweis einer Nothwendig- keit nicht wohl Aenderungen darinn vornehmen, unge- N 5 acht X. Hauptstuͤck. acht in lebenden Sprachen fast immer und unvermerkt kleine Veraͤnderungen vorgehen, ohne daß sich die Ver- anlassung dazu in jeden einzeln Faͤllen finden ließe, wenn man sich nicht mit allgemeinen Gruͤnden ihrer Moͤglichkeit begnuͤgen will. §. 331. Auf diese Art ist man bald durchaus genoͤ- thigt, sich dem Hypothetischen in der Sprache zu unter- werfen, und die Sprache zu nehmen, wie sie ist, oder wie sie uns uͤberliefert worden. Hiebey aber finden sich zwo nicht geringe Schwierigkeiten. Die erste ist die Weitlaͤuftigkeit der Sprache, besonders wenn sie in gros- sen Provinzen ausgebreitet, und an sich sehr reich an Worten und Metaphern ist. Jn dieser Absicht sollte jede Sprache ein Woͤrterbuch haben, darinn nicht nur alle Woͤrter, und jede Bedeutungen derselben, sondern auch alle etwas besonders an sich habende Redensarten befindlich waͤren. Solche Woͤrterbuͤcher aber finden sich noch nicht, und wenn man sie auch haͤtte, so wuͤrden sie, wegen der allmaͤhligen Abaͤnderungen der Spra- chen, nur fuͤr eine gewisse Zeit dienen. §. 332. Die andere Schwierigkeit ist noch betraͤcht- licher, und hat in die ersterwaͤhnte einen nicht geringen Einfluß. Es ist naͤmlich nicht genug, nur alle Woͤr- ter zu sammlen, sondern man muͤßte auch den genauen Umfang der Begriffe wissen, und festsetzen, den jedes Wort bedeutet. Dieses ist aber in den meisten Faͤllen, wo man die Sache nicht im Ganzen und ohne mitun- termengte fremde Umstaͤnde vorzeigen kann, eine gar nicht leichte Arbeit, besonders, wo der Umfang der Be- griffe noch an sich willkuͤhrlich, und bey verschiedenen Personen verschieden ist. Jn diesen Faͤllen reicht man mit Vorwendung des Gebrauchs zu reden nicht aus, weil derselbe nur Redensarten, nicht aber richtige Defi- nitionen angiebt. Die vielen Wortstreite, wobey man naͤmlich nur in den Worten verschieden, in der Sache Von dem Hypothetischen der Sprache. Sache aber eins ist, fließen aus dieser Quelle, und zei- gen die Schwierigkeit, davon wir hier reden, als in eben so vielen Beyspielen. §. 333. Diese zwo Schwierigkeiten machen, daß wenn man auch die Sprache nehmen wollte, wie sie ist, man es niemal ganz thun kann, theils weil es zu viel Muͤhe gebrauchte, sie sich ganz bekannt zu machen, theils weil man in streitigen Faͤllen nicht so leicht die Mehr- heit der Stimmen (§. 1.) einholen kann, und allerdings noch sehr viel Willkuͤhrliches darinn zuruͤcke bleibt. §. 334. Ungeacht aber das Hypothetische einer Spra- che nicht wohl von jemand durchaus erlernt werden kann, so laͤßt sich dennoch der Anfang und Fortgang darinn so ferne aufklaͤren, daß sich verschiedene brauch- bare Regeln daraus herleiten lassen, wodurch man in Stand gesetzt wird, das anfaͤnglich ganz verwirrt schei- nende Cahos immer mehr aus einander zu lesen. Die Sprache in ihrem vollstaͤndigen Gebrauche dient nicht so fast, einzelne Begriffe, sondern vielmehr den Zusam- menhang, die Vergleichung und Verbindung derselben andern mitzutheilen und vorstellig zu machen. Solle dieses angehen, so ist unstreitig, daß man sowohl in der Bedeutung jeder einzelnen Worte, als auch jeder Wortfuͤgung, eins seyn muͤsse. Und in diesen beyden Stuͤcken besteht das Hypothetische einer Sprache. Es wird jedesmal vorausgesetzt, und man thut dessen keine Erwaͤhnung, als bis der eine von den Unterredenden anfaͤngt, zu vermuthen, es muͤsse Mißverstand in den Worten und Ausdruͤcken versteckt liegen, vor dessen Auf- klaͤrung man nicht sehen koͤnne, ob man in der That nicht einerley Meynung sey. Die oben (§. 302. 307.) erwaͤhnte hermeneutische Billigkeit und die dafuͤr ange- gebenen Gruͤnde rathen dieses Verfahren um desto mehr an, weil es Streitigkeiten vermeidet und abkuͤrzt, und weil es ohnehin ehender zu entschuldigen ist, wenn man nur X. Hauptstuͤck. nur in den Worten von einander abgeht, als wenn man sogleich den andern eines Jrrthums in der Sache selbst zeihen wollte. §. 335. Man hat zur Vermeidung solcher Wort- streite laͤngst schon in den Vernunftlehren Regeln gege- ben, deren die vornehmste diese ist, daß man sich um die Bedeutung der Woͤrter umsehen muͤsse, ehe man sich in Unterredung und Streitigkeiten einlaͤßt, und daß dieses besonders in Ansehung derer Woͤrter zu thun sey, wel- che ehender als andere in ungleicher Bedeutung genom- men werden koͤnnten. Wir koͤnnen noch beyfuͤgen, daß diese vorlaͤufige Behutsamkeit um desto nothwendiger ist, je verschiedener die Secten und Lehrgebaͤude sind, denen die Unterredenden anhangen (Alethiol. §. 141.). Man sehe auch, was wir oben (§. 194.) hieruͤber ange- merkt haben. §. 336. Der Anstand, ob man in Ansehung der Bedeutung der Woͤrter einig sey, hat unstreitig seine Stuffen, nach welchen sich der ganze Vorrath derselben in gewisse Classen theilen laͤßt. Wir haben zu diesem Ende bereits in der Alethiologie (§. 138.) angezeigt, daß nicht nur die Woͤrter, welche einfache Begriffe vorstellen, sondern auch jede andere, wodurch die in der Natur vorhandenen Dinge, die an sich schon ein Ganzes sind, benennt werden, ihrer Bedeutung halber keine Schwierigkeit haben. Und eben so haben wir auch oben (§. 121.) angemerkt, daß die ersten Urheber der Sprachen nothwendig bey der Benennung solcher Din- ge und Handlungen anfangen mußten, die sie vorzeigen konnten. Denn um in der Bedeutung der ersten Woͤr- ter einig zu werden, mußten sie Wort und Sache zusam- men nehmen, und den Vorsatz, daß das Wort die Sa- che bedeuten solle, durch Geberden und Deutungen an- zeigen, die ohne allen Zweifel ihren Grund in der menschlichen Natur haben, und von dem andern dadurch verstan- Von dem Hypothetischen der Sprache. verstanden werden, weil er sie, um sich zu verstehen zu geben, ebenfalls wuͤrde gebraucht haben. Man wird in der Art, wie Kinder ihre Muttersprache lernen, bey genauerer Aufmerksamkeit, noch viel hieher dienendes finden, und wir koͤnnen besonders auch anmerken, daß die Sprache, so weit sie Kindern faßlich ist, am wenig- sten Anlaͤße zu Wortstreiten giebt, als welche vornehm- lich nur bey abstracten und nicht im Ganzen in die Sin- ne fallenden Dingen und Begriffen anfangen. §. 337. Bey allen denen Dingen, die im Ganzen und ohne Einmengung fremder Umstaͤnde fuͤr sich vor- gezeigt oder empfunden werden koͤnnen, laͤßt sich das Wort unmittelbar mit der Sache verbinden, und der Begriff entsteht ebenfalls aus der Empfindung der Sache. Da dieses bey Figuren auf die leichteste Art angeht, so ist sichs nicht zu verwundern, wenn man in der Geometrie von Wortstreiten bald gar nichts weiß, und warum jeder, der sich etwan aus Mangel der Er- lernung dieser Wissenschaft in Benennung der Figuren verstoͤßt, sehr leicht kann zurechtgewiesen werden. Die Naturlehre und Naturgeschichte koͤmmt durch die Be- muͤhung der Naturforscher diesem Grade der Vollkom- menheit immer naͤher, weil Erfahrungen, Beobachtun- gen, Versuche, Abbildungen und Modelle die Mittel sind, wodurch man die Namen mit der Sache verbin- den kann. Man sehe, was wir in der Dianoiologie (§. 698.) hieruͤber angemerkt haben. §. 338. Alle die Woͤrter, die, in ihrem eigentlichen Verstande genommen, ein in die Sinne fallendes Gan- zes vorstellen, machen, in Absicht auf das Hypothetische der Sprache, die erste Classe und zugleich die Grundlage zur Bestimmung der Bedeutung jeder uͤbrigen Woͤrter aus. Die zweyte und naͤchst darauf folgende Classe gruͤndet sich auf die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Dinge der Jntellectual- und Koͤrperwelt in die Seele machen, X. Hauptstuͤck. machen, und welche verursacht, daß zu Benennung von beyden einerley Woͤrter gebraucht werden, welche in ih- rem eigentlichen Verstande Dinge der Koͤrperwelt, in metaphorischem Verstande aber Dinge der Jntellectual- welt oder abstracte Begriffe vorstellen. Da man die Dinge der Jntellectualwelt nicht vorzeigen kann, so ist die Vergleichung derselben mit den Dingen der Koͤrper- welt das einzige Mittel, das Bewußtseyn und Vorstel- lung derselben bey andern zu erwecken, und diese Ver- gleichung ist desto ungezwungener, je groͤßer die Aehn- lichkeit des Eindruckes ist, und je mehr sich diese auf die menschliche Natur uͤberhaupt gruͤndet. Denn es ist unstreitig ein Mensch mehr dazu aufgelegt als ein an- derer, und der eine kann ganze weitlaͤuftige und genau passende Allegorien aussinnen, wovon ein anderer kaum den Anfang versteht, wenn man ihm nicht darinn nach- hilft. Wir haben die Art, wie solche Vergleichungen veranlaßt werden und vorgehen, und wie die Sprache bereits dazu eingerichtet ist, in der Alethiologie (§. 45. seqq. ) betrachtet. So ferne wir fuͤr Dinge von ganz verschiedener Art einerley Woͤrter gebrauchen, so muͤssen wir bey dem Gebrauch derselben immer vorauswissen, von welcher Art jedesmal die Rede ist, und dieses giebt mehrentheils der Zusammenhang an, es sey denn, daß die Allegorie so vollkommen gemacht werde, daß sie eben sowohl im natuͤrlichen als im verbluͤmten Verstan- de genommen werden koͤnne. Jn jeden andern Faͤllen aͤußern sich Unterbrechungen und Abweichungen von dem Bilde, oder von der Sache, die die Woͤrter im Fall einer Allegorie vorstellen wuͤrden. §. 339. Wegen der Aehnlichkeit des Eindruckes ge- ben wir Dingen einerley Namen, die Gegenstaͤnde ver- schiedener Sinnen sind, oder auch wohl gar nicht in die aͤußern Sinnen fallen, sondern unmittelbar zu dem ab- stractern Gedankenreiche gehoͤren. Es findet sich aber der Von dem Hypothetischen der Sprache. der Unterschied dabey, daß wir im letztern Fall fast im- mer genothigt sind, die Namen fuͤr abstracte Begriffe von sinnlichen Dingen und Bildern herzunehmen, im erstern aber dient es nur zu Abkuͤrzung der Sprache, und baͤhnt etwan den Weg, uns zu dem andern leichter zu gewoͤhnen. §. 340. Um dieses mehr ins Licht zu setzen, so mer- ken wir an, daß Gegenstaͤnde der aͤußern Sinnen, eben deswegen, weil sie koͤnnen empfunden und vorgezeigt werden, jedes fuͤr sich mit einem eigenen Namen belegt werden koͤnnen, und es ist eben nicht unumgaͤnglich nothwendig, den einen mit dem Namen des andern zu belegen. Jndessen ist es in den wirklichen Sprachen theils zufaͤlliger Weise, theils auch wegen Aehnlichkeit des Eindruckes geschehen. Jm erstern Fall ist es viel- mehr ein Fehler der Sprache, weil Dinge, die gar nichts gemein haben, schicklicher mit eigenen Woͤrtern benennt werden. Jm andern Fall mag die Aehnlichkeit des Eindruckes einen abstractern Begriff veranlassen, wel- chen das Wort, womit die Gegenstaͤnde benennt wer- den, in seiner allgemeinern oder transcendenten Bedeu- tung vorstellt. Auf diese Art gebrauchen wir die Woͤr- ter lang, kurz, welche eigentlich auf die Ausdehnung dem Raume nach gehen, bey der Zeit, und bald bey al- lem, was einer Dimension faͤhig ist. §. 341. Hingegen sind wir fast immer genoͤthigt, abstracte Begriffe durch Woͤrter anzuzeigen, die von sinnlichen Dingen hergenommen sind, und einen aͤhnli- chen Eindruck machen, weil wir solche Begriffe nicht vorzeigen koͤnnen. Jst aber einmal der Anfang zu sol- chen Benennungen gemacht, so ist es wohl moͤglich, sol- che Begriffe unter sich zu vergleichen, zusammenzusetzen, zu verbinden, ꝛc. und die dadurch veranlaßten oder her- ausgebrachten neuen Begriffe, mit neuen Namen zu be- legen, wenn es sich der Muͤhe lohnet (§. 200.). Man thut X. Hauptstuͤck. thut aber auch in solchen Faͤllen besser, auf die Aehn- lichkeit des Eindruckes zu sehen, und statt ganz neuer Woͤrter, abgeleitete, zusammengesetzte oder metaphori- sche zu nehmen. Wir merken nur an, daß solche Woͤr- ter schon anfangen, kuͤnstlicher zu werden, als daß wir sie noch zur zweyten Classe rechnen koͤnnten. Sie ma- chen auch die Grundlage der abstractern Wissenschaften aus, und wir koͤnnten sie mit dem bereits uͤblichen Na- men von Kunstwoͤrtern, Terminis technicis, benen- nen, daferne nicht dadurch uͤberhaupt alle nur in einzel- nen Kuͤnsten und Wissenschaften vorkommende Woͤrter verstanden wuͤrden. §. 342. Ueberhaupt koͤnnen bey allen bisher in die- ser Absicht betrachteten Classen von Woͤrtern Wortstreite vorkommen. Es findet sich aber ein merklicher Unter- schied dabey. Denn bey der ersten Classe (§. 338.) koͤnnen die Wortstreite unmittelbar durch Vorzeigung der Sache gehoben werden, und dieses Mittel ist in der Naturlehre, besonders aber und leichter noch in der Meßkunst, durchaus moͤglich. Da dadurch die Woͤrter mit der Sache selbst verbunden werden, so hat man sich oͤfters zu verwundern, wenn man theils Philologen fin- det, welche die Begriffe der Mathematiker nach der Etymologie bestimmen; theils auch bloße Metaphysi- ker antrift, die eben deswegen von mathematischen Din- gen sehr unrichtig denken, weil sie die Begriffe nicht von der Sache, sondern aus andern ganz abstracten und viel unbestimmtern Begriffen herleiten wollen. §. 343. Bey der zweyten Classe sind die Wortstreite schon ungleich haͤufiger und leichter. Sie begreift die- jenigen Woͤrter, welche von sinnlichen Dingen herge- nommen sind, in figuͤrlichem Verstande aber, wegen Aehnlichkeit des Eindruckes, abstracte und zur Jntelle- ctualwelt gehoͤrende Dinge vorstellen. Es liegt dabey immer eine Vergleichung zum Grunde, welche einen abstra- Von dem Hypothetischen der Sprache. abstracten Begriff unter einem sinnlichen Bilde vor- stellt. Und diese Vergleichung muß unmittelbar seyn, daferne das Wort zu der zweyten Classe solle koͤnnen gerechnet werden. Die Auseinandersetzung der Ver- gleichungsstuͤcke, so weit sie immer reichen moͤgen, klaͤrt solche Begriffe am besten und deutlichsten auf, und was in dem abstracten Begriffe willkuͤhrlich und wan- kend scheinen moͤchte, wird dadurch auf ein nettes Gan- zes gebracht, von welchem man um desto weniger Ursa- che hat, abzugehen, weil die Aehnlichkeit des Eindru- ckes, welche den abstracten Begriff bildet, dabey ganz zum Grunde liegt. Auf diese Art sind z. E. in der Er- findungskunst die Begriffe Ruͤckweg, Umweg, Abweg, Spur, Leitfaden, Luͤcke, Fragment, ꝛc. von sinnlichen Dingen hergenommen, und sehr brauch- bar und bestimmt, wenn man die Vergleichungsstuͤcke dabey entwickelt und die Allegorie fortsetzt. §. 344. Auf die erstbeschriebene Art zu verfahren, erhaͤlt man Klarheit und Deutlichkeit bey den abstra- cten Begriffen, weil jede Vergleichungsstuͤcke durch die Vergleichung mit einem sinnlichen Bilde auseinander- gesetzt werden. Die Moͤglichkeit, einander verstaͤndlich zu bleiben, gruͤndet sich darauf, daß andere die ihnen vorgezeigte Aehnlichkeit des Eindruckes ebenfalls em- pfinden koͤnnen, wenn sie von dem sinnlichen Bilde klare Begriffe haben. Diese Forderung richtet sich aller- dings nach den besondern Faͤhigkeiten einzelner Men- schen, und nach der Geschicklichkeit und Bemuͤhung, auch den Einfaͤltigsten verstaͤndlich zu bleiben. Dem- nach gilt auch hievon, was wir in der Dianoiologie von den menschlichen Faͤhigkeiten und Fertigkeiten uͤberhaupt angemerkt haben (§. 531. seqq. l. cit. ) §. 345. Hingegen bey der dritten Classe von Woͤr- tern, wobey die Vergleichung mit sinnlichen Bildern nicht unmittelbar ist, sondern welche durch andere eben- falls abstracte Woͤrter muͤssen definirt werden, faͤllt die Lamb. Organon II B. O Klar- X. Hauptstuͤck. Klarheit in der Vorstellung groͤßtentheils weg, und sie geben haͤufigern Anlaß zu Wortstreiten. Sie koͤnnen auch nicht so unmittelbar durch genau passende sinnliche Bilder aufgeklaͤrt werden, und der Beweis, daß der Umfang des dadurch vorgestellten Begriffes richtig bestimmt sey, und nichts Willkuͤhrliches babe, ist nicht immer so leicht. §. 346. Bey dieser dritten Classe haben wir gleich- sam nur Worte und Begriffe gegen einander zu halten, weil wir setzen, daß die Sache entweder nicht im Gan- zen oder auch gar nicht vorgezeigt werden koͤnne, son- dern schlechthin ideal sey, wohin uͤberhaupt alle allge- meinere Verhaͤltnißbegriffe koͤnnen gerechnet werden (Dianoiol. §. 476. seqq. ). Um nun die dabey vorfal- lenden Schwierigkeiten zu entwickeln, so werden wir die einzeln Faͤlle umstaͤndlicher auseinander setzen. Und da findet sich gleich anfangs der Unterschied, ob man den Begriff nach dem Wort einrichtet, oder ob man das Wort zu dem Begriffe waͤhlt? Von diesen zween Faͤllen koͤmmt der letztere gemeiniglich vor, wo jemand auf einen neuen Begriff verfaͤllt, der besonders benennt zu werden wuͤrdig scheint. Dieser Fall kann aber auch vorkommen, wo der Begriff nicht neu ist, sondern nur dem Nachsinnenden neu scheint, dabey aber bereits un- ter einem andern Namen bekannt seyn kann. Letzteres kann allerdings zu Wortstreiten Anlaß geben, wo man endlich findet, man habe unter verschiedenen Namen einerley Begriffe verstanden. Was aber vorzuͤglich hieruͤber anzumerken ist, koͤmmt auf die Auswahl des Namens an. Hiezu nimmt man nun nicht Wurzel- woͤrter, die noch gar nichts anders bedeuten, sondern entweder abgeleitete, oder zusammengesetzte oder meta- phorische Woͤrter, und da geschieht es selten, daß diese Woͤrter den vorhabenden Begriff genau ausdruͤcken, und andere koͤnnen mehr oder minder darunter verste- hen. Was nun der Erfinder des Begriffes hiebey zu thun hat, um Wortstreite zu vermeiden, ist, daß er durch eine Von dem Hypothetischen der Sprache. eine Definition den eigentlichen Umfang seines Begrif- fes bestimme, und dabey nicht nur die Moͤglichkeit des- selben erweise, sondern auch durch tuͤchtige Gruͤnde zeige, daß man nicht Ursache habe, diesen Umfang weder wei- ter noch enger zu nehmen, und daß der Begriff an sich ein nettes und erhebliches Ganzes vorstelle. Auf diese Art wird der Name in so ferne gleichguͤltig, daß die Leser sich an seiner buchstaͤblichen Bedeutung nicht so strenge auf- halten, wie es geschehen kann, wenn der Umfang des Be- griffes willkuͤhrlicher ist, oder wenigstens zu seyn scheint. §. 347. Der andere Fall, wo man naͤmlich den Be- griff nach dem Wort richtet, koͤmmt mehrentheils vor, wo man sich noch an keine Definition des Wortes ge- woͤhnt hat. Denn da entsteht der Begriff aus den Faͤllen und Redensarten, in welchen man das Wort gehoͤrt hat. Und in der gemeinen Erkenntniß, so ferne naͤmlich diese der wissenschaftlichen Erkenntniß entgegen- gesetzt ist, laͤßt man es bey dieser Art, zu den abstracten Begriffen zu gelangen, bewenden, (§. 310. seqq. und Dianoiol. §. 601.). Es ist fuͤr sich klar, daß nicht je- dem fuͤr jedes Wort einerley Faͤlle und Redensarten vorkommen, und daß folglich auch nichts leichters und nichts haͤufiger ist, als daß man in Absicht auf den Um- fang abstracter Begriffe uneins sey. Man wird hiebey eine der vornehmsten Quellen der Vorurtheile finden, die von der Auferziehung und Umstaͤnden jeder einzel- ner Menschen herruͤhren, und die sodann in ganze phi- losophische Systemen einen augenscheinlichen Einfluß haben. Die tiefer versteckte Wortstreite ruͤhren bey ganzen Systemen ebenfalls daher, daß man schon fuͤr die Woͤrter, welche, andere zu definiren, gebraucht wer- den, Begriffe von verschiedenem Umfange annimmt, und nicht selten die ersten Definitionen so einrichtet, da- mit man im Folgenden andere darauf bauen, und ge- wisse beliebte Saͤtze daraus herleiten koͤnne. O 2 §. 348. X. Hauptstuͤck. §. 348. Das Mittel, solche Wortstreite und bloß scheinbare Beweise zu vermeiden, ist nun eben das, so wir vorhin (§. 346.) angegeben haben. Man muß das Willkuͤhrliche in dem Umfang der Begriffe aufhe- ben, und eine Art von Nothwendigkeit dabey einfuͤhren, folglich jeden Begriff so bestimmen, daß er fuͤr sich ein nettes und vollstaͤndiges Ganzes vorstelle. Man sehe, was wir in dem dritten Hauptstuͤcke der Alethiologie (§. 135-158.) hieruͤber angemerkt haben. Man kann uͤberhaupt auch anrathen, in abstracten Wissenschaften die Anzahl der Kunstwoͤrter lieber zu vermindern als zu vermehren. Sie dienen auch meistens nur zur Abkuͤr- zung der Ausdruͤcke, und verwandeln diese Kuͤrze meh- rentheils in eine Dunkelheit und wenigstens scheinbaren Wortkram, weil nicht jeder sich die Muͤhe nimmt, sich alle die Woͤrter und ihre Definitionen so genau bekannt zu machen. So ist z. E. in der scholastischen Welt- weisheit viel Nuͤtzliches. Es liegt aber unter einem fast ungeheuern Wortkrame gleichsam begraben. §. 349. Wir haben ferner bereits schon in der Ale- thiologie (§. 156.) angemerkt, daß die Sprache lange nicht genug Woͤrter fuͤr jede Begriffe und ihre Modifi- cationen hat, und daß man daher gleichsam genoͤthigt ist, die Woͤrter der Sprache stuffenweise metaphorisch zu machen, bis sie bald vieldeutig werden, und einen unbestimmten Umfang in ihrer Bedeutung bekommen, der sich in jeden einzeln Faͤllen aus dem Zusammen- hange der Rede naͤher bestimmt, daferne es nicht un- mittelbarer durch eine Definition geschieht, wodurch man anzeigt, was man in einem vorgegebenen Falle durch dieses oder jenes Wort verstehe. Solche Defi- nitionen sind nun auf eine viel unmittelbarere Art Hypo- thesen, nicht in so ferne der Begriff willkuͤhrlich ist, sondern in so fern man ihn durch das Wort benennt, ungefaͤhr wie man in der Algeber die in die Rechnung gezogenen Groͤßen durch Buchstaben bezeichnet, schlecht- hin Von dem Hypothetischen der Sprache. hin um sie von einander zu unterscheiden und kurz vor- zustellen. Unterlaͤßt man aber solche Definitionen, so daß der genaue Verstand des Wortes aus dem Zusam- menhange bestimmt werden muß, so gilt hier, was wir bereits oben (§. 307-312.) angemerkt haben. §. 350. Laͤßt man aber einem Worte einen noch unbestimmten Umfang der Bedeutung, so gebraucht es allerdings einige Behutsamkeit, wenn man dasselbe zum Mittelgliede von Schluͤssen macht. Denn da koͤnnte leicht der Obersatz in einem ganz andern Umfange wahr seyn, als der Untersatz, und so haͤtte man in der Schluß- rede nicht drey, sondern vier wirklich verschiedene Glie- der, und der Schlußsatz koͤnnte ganz oder zum Theile falsch seyn, oder seine Glieder werden metaphorisch, und da muß seine Richtigkeit fuͤr sich gepruͤft werden. Auf diese Art lassen sich Allegorien fortsetzen, aber solche Schluͤsse sind nur die Veranlassung dazu. So z. E. wenn man den Verstand unter dem Bilde eines Lichtes vorstellt, so laͤßt sich allerdings viel von dem, was man von einem Lichte sagen kann, metaphorisch von dem Verstande sagen, und die Allegorie kann weit fortgesetzt werden. Der Untersatz in diesen Schluͤssen ist immer, daß der Verstand ein Licht sey, aber das Praͤdicat des Obersatzes wird im Schlußsatze metaphorisch, und muß gepruͤft werden, ob es als eine Metapher vom Verstan- de koͤnne gesagt werden. Denn da in solchen Schluͤs- sen fuͤnf Glieder sind, so dienen sie nur als Anlaͤsse zu Vermuthungen, die dessen uneracht oͤfters gluͤcklich aus- fallen. Es ist unstreitig, daß von den so genannten gluͤcklichen und unerwarteten Einfaͤllen viele auf diese Art veranlaßt werden. §. 351. Die ziemlich bestimmte und in Vergleichung der Menge von Begriffen geringe Anzahl der Woͤrter einer Sprache macht ferner das Definiren der Begriffe und Woͤrter in vielen Faͤllen schwer und großentheils unmoͤglich. Denn es koͤmmt immer darauf an, ob die O 3 Sprache X. H. Vom Hypothetischen der Sprache. Sprache Woͤrter habe, welche man zu der Definition gebrauchen muͤßte, und die den behoͤrigen Umfang in der Bedeutung haben. Trift dieses schicklich zu, so ist es sehr gelegentlich, weil man die Sprache nehmen muß, wie man sie findet. Findet man aber dergleichen, so sind dennoch solche Nominaldefinitionen oͤfters nichts anders als bloße Bestimmungen der Bedeutung des Wortes, und woferne dabey nicht die Sache selbst im Ganzen zum Grunde liegt, so sieht es damit noch miß- licher aus. Denn da entsteht der Begriff, den man mit dem Worte verbindet, aus den Re- densarten, in welchen das Wort gebraucht wird, und man richtet die Definition so ein, daß sie diesen Redensarten und Saͤtzen nicht zuwiderlaufe. Diese Saͤtze werden demnach bereits vorausgesetzt, weil sie der Grund sind, warum man die Definition vielmehr so als anders einrichtet. Leitet man sie demnach nachgehends aus der Definition her, so ist klar, daß dieses hoͤchstens nur in der Absicht geschehen koͤnne, um die Definition dadurch wie auf die Probe zu setzen, nicht aber um diese Saͤtze daraus zu beweisen, als welches ein logischer Circul waͤre. Von dieser Art ist z. E. der ontologische Satz: Modi possunt adesse et abesse salua rei essentia. Denn die darinn ange- zeigte Moͤglichkeit wird vorausgesetzt, wenn man die Begriffe des Wesens und der Modificationen defi- niren und die Definitionen beweisen will (Dianoiol. §. 23. 22.). Und uͤberhaupt will dieser Satz nicht mehr sagen, als daß wir den Sachen einerley Namen beybe- halten, ohne auf gewisse kleinere Veraͤnderungen zu se- hen, die sie leiden. Und dieses thun wir theils zur Ab- kuͤrzung der Sprache, theils zum Behufe des Gedaͤcht- nisses, theils auch weil die Veraͤnderungen uns nicht immer in die Sinnen fallen, und mehrentheils auch der Zeit nach durch unmerkliche Stuffen gehen. Phaͤno- Phaͤnomenologie oder Lehre von dem Schein . O 4 Phaͤnomenologie. Erstes Hauptstuͤck. Von den Arten des Scheins. §. 1. D ie menschliche Erkenntniß hat nicht nur das besonders, daß wir gleichsam genoͤ- thigt sind, unsere Begriffe an Woͤrter und Zeichen zu binden, durch deren Vor- stellung wir uns die dadurch angedeuteten Begriffe und Bilder der Dinge wieder zu Sinne bringen, so gut wir uns derselben errinnern koͤnnen: sondern die Art, wie wir nach und nach zu Begriffen und Vorstellungen ge- langen, bringt darinn noch eine andere Verwirrung her- vor, die uns die Versicherung von der Richtigkeit und Uebereinstimmung der Begriffe mit den Dingen selbst, in vielen Faͤllen und aus vielfaͤltigen Ursachen schwer macht. Wir haben naͤmlich nicht schlechthin das Wah- re dem Falschen entgegen zu setzen, sondern es findet sich in unserer Erkenntniß zwischen diesen beyden noch ein Mittelding, welches wir den Schein nennen, und dieser macht, daß wir uns die Dinge sehr oft unter ei- ner andern Gestalt vorstellen, und leichte das, was sie O 5 zu I. Hauptstuͤck. zu seyn scheinen, fuͤr das nehmen, was sie wirklich sind, oder hinwiederum dieses mit jenem verwechseln. Die Mittel, dieses Taͤuschwerk zu vermeiden, und durch den Schein zu dem Wahren durchzudringen, sind dem- nach einem Weltweisen, der durchaus das Wahre an sich zu erkennen sucht, um desto unentbehrlicher, je man- nigfaltiger die Quellen sind, woraus die Blendungen des Scheins fließen. Die Theorie des Scheins und seines Einflusses in die Richtigkeit und Unrichtigkeit der menschlichen Erkenntniß, macht demnach den Theil der Grundwissenschaft aus, den wir die Phaͤnomenologie nennen, und in diesem ersten Hauptstuͤcke den Begriff davon entwickeln werden. §. 2. Der Begriff des Scheins ist sowohl dem Wort als seinem ersten Ursprunge nach, von dem Auge oder von dem Sehen hergenommen, und stuffenweise auf die uͤbrigen Sinnen und auf die Einbildungskraft ausgedehnt, und dadurch zugleich allgemeiner, und theils auch vielfach geworden. Hingegen ist die Theorie des Scheins, so fern man naͤmlich etwas vollstaͤndiges ver- langt, bisher fast ganz bey dem Auge zuruͤcke geblie- ben. Jn der That beut auch das Auge vielsachern Stoff zum Schein an, seine Structur ist einfacher, und die Wege des Lichtes bekannter, und so war eine naͤhere Moͤglichkeit da, die Theorie des Sehens auf richtige und brauchbare Gruͤnde zu bringen, und damit die ma- thematischen Wissenschaften zu bereichern. Ueberdieß war die Optik oder Sehekunst den Astronomen, welche aus der scheinbaren Gestalt des Himmels auf die wahre Einrichtung des Weltbaues zu schließen hat- ten, viel zu unentbehrlich, als daß sie nicht die schwe- rern optischen Lehrsaͤtze laͤngst schon haͤtten aufsuchen und anwenden sollen. Jn den neuern Zeiten haben die Fernroͤhren und Vergroͤßerungsglaͤser neuen Stoff zur Erweiterung der optischen Wissenschaften gegeben, und Von den Arten des Scheins. und so hat es allerdings an Anlaͤßen, Fleiß und Be- muͤhung fuͤr diesen Theil der Phaͤnomenologie nicht ge- fehlt, so sehr auch die uͤbrigen zuruͤcke geblieben sind. §. 3. Es ist unnoͤthig, viele Faͤlle hier anzufuͤhren, wodurch der Unterschied des Scheins und der wahren Beschaffenheit der sichtbaren Dinge, in so fern sie ein Gegenstand des Sehens sind, gewiesen wird. Denn so weiß jedermann, daß einerley Dinge in groͤßerer Ent- fernung kleiner, undeutlicher und blasser scheinen; daß sie, von andern Seiten betrachtet, anders aussehen; daß ihre Farbe sich mit Abaͤnderung des auffallenden Lich- tes aͤndert; daß den Schiffenden die Ufer sich zu entfer- nen, oder zu naͤhern, und uͤberhaupt zu bewegen schei- nen; daß ein Circul, schief betrachtet, ablang, und hin- wiederum eine ablange Ovale, von gewissen Seiten be- trachtet, rund scheinen koͤnne ꝛc. Aus solchen und un- zaͤhligen andern taͤglich vorkommenden Faͤllen, weiß je- dermann, daß die scheinbare Gestalt und Ansehen der Dinge von ihrer wahren Gestalt muͤsse unterschieden werden, und daß man von jener auf diese nicht so schlecht- hin schließen koͤnne, weil es Faͤlle giebt, wo ganz ver- schiedene Dinge sich unsern Augen unter einerley Ge- stalt zeigen. Alles dieses ist nun in der Optik so weit entwickelt und auf Grundsaͤtze gebracht, daß man darinn von dem Schein der sichtbaren Dinge einen ausfuͤhrli- chen Begriff geben kann. Man weiß naͤmlich, daß alles, was man ansieht, sich auf dem Augennetze gleich- sam abmalet; daß dieses kleine Gemaͤlde eben so in das Auge faͤllt, als die Gegenstaͤnde selbst, und daß von dem Schein der Gegenstaͤnde gelte, was von diesem kleinen Gemaͤlde auf dem Augennetze kann gesagt wer- den, es mag nun die Figur, Groͤße, Entfernung, Lage, Farbe, Helligkeit, Ruhe oder Bewegung betreffen. Man hat daher in der Optik den Grundsatz angenom- men, daß Dinge einerley scheinen, so fern sie auf einer- ley I. Hauptstuͤck. ley Art in das Auge fallen. Und dieser Grundsatz, auf jede Sinnen ausgedehnt, wird so lauten: daß einerley Empfindung entstehe, wenn eben der Sinn einerley Eindruck leidet. §. 4. Die Optiker sind darinn noch weiter gegan- gen, und haben in der Perspective Mittel angegeben, den Schein der sichtbaren Dinge zu malen, oder wenig- stens ihre scheinbare Figur nach geometrischer Schaͤrfe so zu zeichnen, daß| sowohl die Gegenstaͤnde selbst, als die Zeichnung, aus den angegebenen Gesichtspunkten be- trachtet, einerley Bild auf dem Augennetze machen, oder auf einerley Art in das Auge fallen. Und da der Schein von dem Wahren oͤfters sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt seyn kann, so haben sie besonders in der Astronomie fuͤr den Schein eine eigene Sprache angenommen, und die Uebersetzung aus derselben in die wahre, und hinwiederum aus dieser in jene gewiesen. Und dieses macht in der That auch den Unterschied zwischen der sphaͤrischen und theorischen Astronomie aus. Wir merken dieses hier um desto mehr an, weil, wenn wir die Phaͤnomenologie als eine transcendente Optik ansehen, wir uns ebenfalls eine transcendente Perspective, und Sprache des Scheins gedenken, und folglich diese Begriffe zugleich mit dem Begriffe des Scheins bis zu ihrer wahren Allgemeinheit erweitern koͤnnen. Und in so ferne Dichter malen, so ferne wird auch ein Theil der Dichtkunst zu dieser transcendenten Perspective oder Malerkunst gerechnet werden koͤnnen. §. 5. Wenn wir den optischen Begriff des Scheins (§. 3.) auf jede Sinnen ausdehnen, so wird er uͤber- haupt in dem Eindrucke bestehen, den die empfunde- nen Dinge in den Sinnen machen. Dieser Eindruck wird in Absicht auf das Auge insbesondere das Bild der Sache genennt, und das Bewußtseyn, daß wir dieses Bild empfinden, giebt den klaren Begriff von dem Von den Arten des Scheins. dem Schein der gesehenen Sache. Jn Ansehung der uͤbrigen Sinnen haben wir, so viel mir bewußt ist, in der Sprache kein Wort, welches uͤberhaupt vorstellte, was das Wort Bild in Ansehung des Auges vorstellt, und vielleicht wuͤrde es zu hart seyn, wenn wir den Ein- druck oder klaren Begriff, den uns jede Sinnen durch die Empfindung ihrer Gegenstaͤnde geben, damit be- nennen, und z. E. das Bild der Waͤrme, des Schalles ꝛc. sagen wollten. Jndessen wuͤrde diese Benennung das ausdruͤcken, was uns diese Gegenstaͤn- de, der Empfindung nach, zu seyn scheinen. §. 6. Bey dem erst gegebenen Begriff des Scheins setzen wir voraus, daß die Empfindung durch eine wirk- lich außer uns sich befindende Sache verursacht werde, und in allen solchen Faͤllen steht der Begriff von dem, was diese Sache in der That ist, mit demjenigen, den sie durch die Empfindung in uns hervorbringt, in ei- ner gewissen Verhaͤltniß. Diese Verhaͤltniß wird durch die Lage der Sache und des Sinnes, wodurch die Sa- che empfunden wird, dergestalt bestimmt, daß sich von der Empfindung auf die Beschaffenheit der Sache, oder hinwiederum von dieser auf jene schließen laͤßt. Er- fahrung und Uebung hilft uns hierinn in vielen Faͤllen zu einer gewissen Fertigkeit, ungeacht die mathematische Genauigkeit bisher fast allein in der Optik hat erhalten werden koͤnnen, weil wir da Mittel haben, sowohl den Schein als das Wahre in mehrerley Absichten aus- zumessen. §. 7. Es ist aber erst angefuͤhrte Voraussetzung nicht allgemein, weil uns die Erfahrung Beyspiele von dem Gegentheil giebt. Naͤmlich die Begriffe, die wir sonst durch die Empfindung einer wirklich außer uns vorhandenen Sache erlangen, koͤnnen auch in uns er- weckt werden, ohne daß die Sache vorhanden sey, oder in die Sinnen wirke. So z. E. ist das Laͤuten in den I. Hauptstuͤck. den Ohren jedermann bekannt. Jm Schwindel scheint alles sich umzudrehen, und im Traume stellen wir uns Dinge eben so lebhaft vor, als wenn sie vor- handen waͤren. Die innere Waͤrme des Leibes mischt sich vielfaͤltig in das Urtheil, so wir, der Empfindung nach, von der aͤußern Waͤrme faͤllen, und die Thermo- meter haben uns gelehrt, daß einerley Temperatur der Luft uns kalt und warm vorkommen koͤnne. Ueber- haupt mengen sich die aus innerlichen Ursachen herruͤh- renden Bewegungen der Empfindungsnerven in die, so von den aͤußern Gegenstaͤnden herkommen, und erst an- gezogene Erfahrungen zeigen, daß jene auch ohne diese allein wirken, oder sie in der Wirkung uͤberwiegen koͤn- nen. Von dem, was in hitzigen Fiebern, im Deliri- ren ꝛc. vorgeht, ist hier unnoͤthig anzufuͤhren, weil solche Zufaͤlle sich bey gesundem Zustande der Sinnen nicht einfinden. §. 8. Jndessen zeigen uns diese Beobachtungen ei- ne besondere Art und Quelle des Scheins an, welcher sich, auch ohne von aͤußern Gegenstaͤnden veranlaßt zu werden, einfinden kann. Es kann daher Faͤlle geben, wo man in der That sich aus andern Gruͤnden, Kenn- zeichen und Versuchen versichern muß, ob ein solches Blendwerk vorgehe, oder die Sache wirklich sey? Bey unerwarteten und unmoͤglich scheinenden Faͤllen zwei- feln wir an der Wirklichkeit, und hinwiederum nach gar zu lebhaften Traͤumen stehen wir an, ob es nicht wirklich sey? §. 9. Aber auch dieser Unterschied ist von den Jdea- listen angefochten worden, als welche diese zweyte Art des Scheins schlechthin auf alles ausdehnen, was wir sonst wirklich außer uns zu seyn glauben. Sie machen zwischen dem, was wir wachend sehen, und dem, was wir im Traume sehen, keinen andern Unterschied, als den, so zwischen einer zusammenhaͤngenden und nicht zusam- Von den Arten des Scheins. zusammenhaͤngenden Einbildung statt hat, und sehen folglich die ganze Koͤrperwelt schlechthin als einen blos- sen Schein an. Wir merken hier nur beylaͤufig an, daß dieser idealische Schein etwas ganz besonderes haben muͤßte. Denn nimmt man die Koͤrperwelt als real an, so giebt sie lauter zusammenhaͤngende Wahr- heiten, weil keine Erfahrung der andern weder wider- spricht noch widersprechen kann. Hingegen werden wir im Folgenden umstaͤndlicher zeigen, daß jeder andere Schein, als real angenommen, nicht durchaus mit sich selbst besteht, und dadurch verraͤth, daß er nicht als real angenommen werden kann, sondern das Reale, oder was die Sache an sich ist, erst daraus geschlossen werden muß. §. 10. Wir haben bisher die Arten des Scheins uͤberhaupt angezeigt, die in Ansehung der Sinnen vor- kommen. Es dehnt sich aber der Schein auch bis in das Gnadenreich aus, und besonders bieten uns das Bewußtseyn, das Gedaͤchtniß und die Einbil- dungskraft, verschiedene Quellen des Scheins an, und die Leidenschaften tragen nicht wenig dazu bey, die Verwirrung zu vermehren, weil sie die Aufmerksam- keit auf besondere Seiten lenken, das Bewußtseyn hem- men oder verstaͤrken, und die Einbildungskraft zum Nachtheil der Vernunft und des Verstandes reger ma- chen, als es zur genauen und richtigen Erkenntniß und Pruͤfung der Wahrheit erfordert wuͤrde. §. 11. Das Bewußtseyn koͤmmt bereits schon bey den Empfindungen der aͤußern Sinnen vor. Einmal findet sich in jeder Empfindung ungemein viel Mannich- faltiges, weil sie individual, und daher durchaus be- stimmt ist. Allein, wir sind uns dieses Mannichfalti- gen niemals durchaus bewußt, und es bleiben in jeder Empfindung immer unbemerkte Stuͤcke. Daher kann es geschehen, daß bey Wiederholung der Empfindung uns I. Hauptstuͤck. uns andere Stuͤcke lebhafter vorkommen, und dieses kann uns veranlassen, eine und eben die Sache fuͤr zwo verschiedene Sachen anzusehen, oder hinwiederum zwo verschiedene Sachen fuͤr eine zu halten, oder eine fuͤr die andere zu nehmen. Es ist fuͤr sich klar, daß das Gedaͤchtniß dazu beytraͤgt, wenn wir uns der Em- pfindung, wie wir sie das erstemal hatten, nicht mehr ganz errinnern. §. 12. Sodann ist es moͤglich, daß eine Empfin- dung, wovon wir uns nicht aller Theile bewußt sind, nachgehends in uns auflebt, und uns auch einige von denen Stuͤcken zu Sinne bringt, deren wir uns bey der Empfindung selbst nicht bewußt waren, oder hinwieder- um andere wegbleiben, deren wir uns bey der Empfin- dung wohl bewußt waren. Der Begriff der Sache wird dadurch offenbar gleichsam verunstaltet, und die Urtheile, die wir bey der Empfindung uͤber die Sache faͤllten, wollen sich mit dem aufgelebten Begriffe der Sache nicht mehr durchaus reimen. Denn dieser Be- griff sowohl als der, den wir bey der Empfindung der Sache hatten, stellen sie von verschiedenen Seiten vor. Und wenn auch beyden Seiten weiter nichts fehlt, als daß sie die Sache nicht ganz vorstellen, so koͤnnen sie widersprechend scheinen, ohne daß sie es in der That sind. §. 13. Das erst betrachtete mehr oder mindere Be- wußtseyn der einzeln Theile einer Vorstellung, koͤmmt aber nicht nur bey den Empfindungen der aͤußern Sin- nen vor, sondern es dehnt sich uͤberhaupt auf das ganze Gedankenreich aus, und bringt darinn aͤhnliche Ver- wirrungen hervor. Vorzuͤglich aber aͤußern sich diese Folgen: 1. Bey Beurtheilung der Grade und des Werths der Dinge, wobey man noch keinen bestimm- ten Maaßstab hat, wie z. E. bey Beurtheilung der Schoͤnheit und Vollkommenheit einer Sache. Jn sol- chen Von den Arten des Scheins. chen Dingen sind wir leicht geneigt, die aͤußersten Gra- de, die wir kennen, fuͤr die zu nehmen, die an sich die aͤußersten sind, und wo die Sache gar zu sehr zusam- mengesetzt ist, da sind wir uns weder aller Theile, noch ihres Werthes bewußt, und die Summe koͤmmt uns bald groͤßer bald kleiner vor, je nachdem das Bewußt- seyn vollstaͤndiger ist, und je nachdem wir eine Sache zum Maaßstabe der Schaͤtzung annehmen. 2. Eben diese Veraͤnderlichkeit findet sich auch bey Beurtheilung der moralischen Gewißheit oder der wahrscheinlichen Beweise. Sie koͤnnen uns bald staͤrker bald schwaͤcher vorkommen, je nachdem wir sie uns lebhafter und aus- fuͤhrlicher vorstellen. 3. Bey Beurtheilung der Be- weggruͤnde, etwas zu wollen oder nicht zu wollen, kann sich ein solcher Wankelmuth ebenfalls einfinden, beson- ders wo die Folgen des Entschlusses noch erst wahr- scheinlich sind, und die Guten gegen die Schlimmern, oder die Folgen des Thuns gegen die Folgen des Unter- lassens muͤssen abgewogen werden. Da ist es schwer, sich jedesmal aller bewußt zu seyn, und die, deren man sich nicht bewußt ist, werden leicht als gar nicht mit un- terlaufend angesehen, wenigstens kann man sie nicht in die Rechnung ziehen. §. 14. Die Einbildungskraft giebt uns ebenfalls vielfache und sehr erhebliche Quellen des Scheins an. Einmal mengt sie sich bey den meisten Empfindungen so mit ein, daß wir Muͤhe haben, das aus der Empfin- dung entstehende Bild rein, das ist, ohne Einmischung von ehmals gehabten Vorstellungen und Schluͤssen, zu erhalten. Daher koͤmmt es, daß sehr oft als Erfah- rung ausgegeben wird, was sich nicht unmittelbar em- pfinden laͤßt, sondern aus der Empfindung erst geschlos- sen, oder von ganz fremden Bildern mit eingemengt wird. Man sehe, was wir in dem achten Hauptstuͤcke Lamb. Organon II B. P der I. Hauptstuͤck. der Dianoiologie von solchen Fehlern des Erschlei- chens angemerkt haben. §. 15. Sodann ist die Einbildungskraft die eigent- liche Quelle jeder Hirngespinster, Chimaͤren, lee- ren Traͤume und Einbildungen. Sie unterschei- det den von den Sinnen herruͤhrenden Schein von dem wahren nicht, sondern setzt die Bilder zusammen, so unvollstaͤndig sie auch seyn moͤgen, und laͤßt sie als rich- tig gelten, so lange sie keine Dissonanz bemerkt, und je- desmal scheinen die Bilder vollstaͤndig, weil die Luͤcken darinn, als etwas Leeres, nicht empfunden werden koͤn- nen. Daher sind die Ausschweifungen der Ein- bildungskraft und ihre Jllusionen und Blend- werke nicht selten, und es gebraucht viele Vernunft dazu, wenn man voraus bestimmen soll, wie weit man ihr koͤnne den Lauf lassen, und wo die Grenzlinie an- faͤngt, da man sie wieder zuruͤcke lenken muß, dafern man bey dem Wahren und Zulaͤßigen bleiben will. §. 16. Der Schein, so hiebey vorkoͤmmt, geht auf die Richtigkeit und Vollstaͤndigkeit der Begrif- fe, auf die Wahrheit der Saͤtze und Urtheile, und auf die Zulaͤßigkeit der Fragen (Dianoiolog. §. 430.). Diese Erfordernisse muͤssen in jedem Fall er- wiesen seyn. Wenn wir uns aber in Ermanglung ei- nes vollstaͤndigen Beweises, nur mit dem begnuͤgen, daß wir einen Theil der Gruͤnde wissen, und daß uns nichts dawider einfaͤllt, so ist auch nur noch der bloße Schein da, und die Frage, ob er mit der Wahrheit uͤbereinstimme, oder davon abweiche, ist noch unentschie- den. Wie sich aber dennoch nach diesem Schein un- ser Beyfall richte, haben wir in der Alethiologie (§. 179.) angezeigt, und (Dianoiol. §. 620. seq. ) umstaͤndlicher aufgeklaͤrt, wie eine Fertigkeit moͤglich sey, durch Em- pfinden der in dem taͤuschenden Schein vorkommenden Disso- Von den Arten des Scheins. Dissonanzen und Unvollstaͤndigkeiten denselben leichter von dem wahren zu unterscheiden. §. 17. Endlich sind die Leidenschaften vielfaͤltige Ur- sache, daß wir uns die Dinge anders vorstellen, als sie sind, und |folglich uns durch Blendwerk und Schein taͤuschen lassen. Einmal mengt sich das Angenehme und Unangenehme bey jeden Empfindungen mit ein, und lenkt die Aufmerksamkeit und das Bewußtseyn mehr auf die angenehmere oder verdruͤßlichere Seite der Sache, so daß wir von der andern abstrahiren, nicht darauf achten, und sie als gar nicht vorhanden ansehen. Und dieses geht nicht nur bey den Empfindungen, son- dern auch bey jeden Bildern der Einbildungskraft vor. Lust und Unwillen, Liebe und Haß, Verlangen und Furcht ꝛc. bestimmen, ohne daß wir darauf merken, die Seite der Sache, die wir sehen wollen, und stellen sie uns als die einige und wichtigere vor, und zwar gemei- niglich mit einer merklichen Vergroͤßerung jeder Theile und Umstaͤnde. Man muß die Vorzuͤge der Wahr- heit genau zu schaͤtzen wissen, wenn der Vorsatz, sie, wie sie an sich ist, zu finden, jede Affecten und ihre Blend- werke uͤberwiegen soll. Es giebt fast immer eine Seite, von welcher wir wuͤnschten, daß sie nicht waͤre, und diese muß man sich so gut als die angenehmere ge- fallen lassen, um den Werth und Unwerth der Sache genau zu wissen, weil man sich sonst zuletzt doch nur wuͤrde betrogen finden, wenn ein unerwarteter und noch viel widrigerer Erfolg die Augen oͤffnet. §. 18. Die Begriffe des Leichtern und Muͤhsa- mern haben mit den erst betrachteten Begriffen des Angenehmern und Unangenehmern eine solche Verbindung, daß diese bey jenen immer mehr oder min- der vorkommen. Sie bestimmen bey jedem Monschen von Kindheit auf den natuͤrlichen Hang zu gewissen Verrichtungen, Geschaͤfften und Arbeiten, und in Absicht P 2 auf I. Hauptstuͤck. auf die Erkenntniß bestimmen sie ebenfalls die Seite der Sache, die man lieber als andere betrachtet, und sich daher bekannter macht. Der Mangel der Anlaͤße, der Zwang der Auferziehung, und jede aus andern Quellen fließende Bestimmung der Lebensart eines Menschen, moͤgen hiebey viel aͤndern, aber auch nicht selten zeigt der Erfolg, daß man nicht mit dem Strome geschifft ist, das will sagen, dem natuͤrlichen Beruf nicht gefolgt, sondern die Naturgaben ihrer Bestimmung zu- wider gebraucht hat. Die Fertigkeiten, die wegen der natuͤrlichen Faͤhigkeiten auf einen hohen Grad haͤtten koͤnnen gebracht werden, unterbleiben aus Mangel der Uebung, weil diese auf andere Seiten gelenkt wird. Wie es aber immer damit vorgeht, so ist der Erfolg uͤberhaupt dieser, daß jeder Mensch durch Uebung und Gewohnheit nach und nach in einen gewissen Gesichts- punkt koͤmmt, aus welchem sich ihm eine besondere Sei- te der Dinge mehr als die uͤbrigen auf deckt, und das Hauptziel seiner Aufmerksamkeit wird. Die Luͤcken, die dabey in seiner Erkenntniß bleiben, lassen ebenfalls Unvollstaͤndigkeiten in seinen Urtheilen uͤber die Sachen, und zwar besonders in denen drey Absichten, die wir vorhin (§. 13.) bey Betrachtung des Bewußtseyns an- gezeigt haben. §. 19. Die hoͤhern Erkenntnißkraͤfte, der Verstand und die Vernunft, sollen uns eigentlich keine Quellen des Scheins geben, weil sie es sind, die durch jedes Blendwerk des Scheins durchdringen, und weil man in der That auch nur in so ferne Verstand und Ver- nunft hat, in so ferne man genau und richtig denkt und schließt. So ferne man aber hierinn zuruͤckbleibt, und unrichtige Begriffe und Schluͤsse fuͤr richtig ansieht, so ferne wird auch nur die Einbildungskraft und das Ge- daͤchtniß als der Grund solcher Fehler angegeben, weil sie uns nebst den Affecten verleiten, Vorstellungen und Schluͤsse Von den Arten des Scheins. Schluͤsse fuͤr richtig zu halten, die es bey genauerer Pruͤ- fung nicht sind. §. 20. Wir werden demnach die bisher angezeig- ten Quellen und Arten des Scheins so gegen einander halten, daß wir ihre Verhaͤltnisse und Unterschiede uͤber- haupt bestimmen, und jede Art, so viel es die Sprache zulaͤßt, mit behoͤrigen Namen von den uͤbrigen zu un- terscheiden suchen. Die aͤußern Sinnen geben uns die zwo Arten an, die wir oben (§. 5—8.) betrachtet haben. Beyde haben das gemein, daß in den Empfindungs- nerven eine Bewegung vorgeht, die uns das Bild ei- ner Sache in den Gedanken vorstellt. Hingegen un- terscheiden sie sich dadurch, daß diese Bewegung der Empfindungsnerven im ersten Fall durch eine wirklich außer uns vorhandene Sache verursacht wird, im an- dern Fall aber keine solche Sache in die Sinnen wirkt, sondern nur die Empfindungsnerven durch Fluͤsse, wie bey dem Ohrenlaͤuten, durch staͤrkere Bewegung der Lebensgeister, wie im Deliriren ꝛc. rege werden. Die- se letztere Art des Scheins koͤnnen wir fuͤglich den or- ganischen oder auch den pathologischen Schein nennen, weil in der That fast immer dabey ein kraͤnklicher oder demselben aͤhnlicher Zustand des Sinnes und der Empfindungsnerven vorkoͤmmt. Hingegen wird die erste Art, wo naͤmlich die Sache wirklich da ist, und den Eindruck in die Sinnen macht, am bequemsten der physische Schein genennt werden koͤnnen, weil der Eindruck in der That physisch ist, und der Begriff, den die Empfindung veranlaßt, die Sache nicht so fast, wie sie an sich ist, sondern nur, wie wir sie empfinden, vor- stellt. Es giebt Faͤlle, wo diese beyden Scheine zusam- mentreffen. So z. E. wenn die Saͤfte im Auge gelb oder truͤb sind, so kann man zwar etwan noch die Din- ge sehen, aber mit andern Farben, und undeutlicher. Eben so mischt sich die von der Galle herruͤhrende Bit- P 3 terkeit I. Hauptstuͤck. terkeit im Munde in den Geschmack der Speisen, die man kostet, und die innere Waͤrme des Leibes in die Empfindung der aͤußern. So ist es auch moͤglich, daß, wenn waͤhrendem Traum die Glocke laͤutet, oder ein ander Geraͤusch entsteht, die Empfindung desselben sich in den Traum einmengt. §. 21. Was die Jdealisten sich in Ansehung der Sinnen und der ganzen Koͤrperwelt fuͤr eine besondere Art des Scheins vorstellen, haben wir bereits (§. 9.) angezeigt, und denselben den idealistischen Schein ge- nennt. Da derselbe mit jeden anderen Arten des Scheins nichts gemein hat, sondern fuͤr sich zu betrachten ist, so wenden wir uns zu dem Gedankenreiche, und werden uͤberhaupt jede Bilder der Einbildungskraft, so fern sie naͤmlich in Ansehung der oben (§. 16.) angezeigten Er- fordernisse nicht gepruͤft noch gelaͤutert sind, unter dem Namen des psychologischen Scheins begreifen. Jns besondere aber sind sie unter dem Namen von Chimaͤren oder Hirngespinster begriffen, wenn nichts wahres noch reales dabey zum Grunde liegt, so daß demnach in dem psychologischen Scheine ein aͤhnlicher Unterschied anzutreffen, wie der, so zwischen dem phy- sischen und pathologischen in Ansehung der aͤußern Sinnen statt findet, weil Hirngespinster fast immer Wirkungen einer in so ferne kranken, schwachen oder ungebaͤndigten Einbildungskraft sind. §. 22. Den Schein, der von den Leidenschaften her- ruͤhrt, koͤnnen wir uͤberhaupt den moralischen Schein nennen, weil der Wille und die Affecten der Gegen- stand der Moral sind, und die Begriffe des Guten und Boͤsen immer dabey mit unterlaufen. Dieser Schein mengt sich in die vorhergehenden Arten so mit ein, daß die Leidenschaften den Gesichtspunkt und die Seiten der Sachen bestimmen, die wir uns ehender, leichter und Von den Arten des Scheins. und lebhafter als die uͤbrigen vorstellen, und von diesen mehr oder minder abstrahiren. §. 23. Die bisher angefuͤhrten Ursachen und Quel- len des Scheins finden sich noch alle in uns selbst. Sie gehoͤren demnach in so fern in eine Hauptclasse, und wir koͤnnen sie die subjectiven Quellen des Scheins nennen, um sie von zwoen andern Classen zu unterscheiden, welche theils von den Objecten, theils von ihren Verhaͤltnissen gegen die subjectiven Ursachen herkommen, und daher die objectiven und relativen Quellen oder Classen des Scheins genennt werden koͤnnen. Wir werden sie noch anzeigen, um die Ab- zaͤhlung vollstaͤndig zu machen. §. 24. Um wiederum bey den aͤußern Sinnen an- zufangen, so beut uns die Optik in Absicht auf das Au- ge verschiedene hieher dienende Lehrbegriffe an, die wir allgemeiner zu machen und auf jede Empfindungen aus- zudehnen haben. Man weiß naͤmlich, daß die schein- bare Gestalt oder das Bild der sichtbaren Dinge, 1. von der Lage der Sache, 2. von den Mitteln, wodurch das Licht geht, ehe es auf die Objecte, und von diesen in das Auge faͤllt, 3. von der Lage des Auges selbst ab- haͤngt. Die Beschaffenheit oder Art und Staͤrke des Lichtes, und die Reflexion desselben, tragen ebenfalls da- zu bey, daß das Bild eine andere Farbe und Klarheit erhaͤlt, und an einem andern Orte gesehen wird, als an dem, wo die Sache selbst ist. Aus allen diesen Ursa- chen sieht das Auge jedesmal nur eine Seite der Sa- che, und zwar in determinirter scheinbaren Figur und Groͤße. Der Ort des Auges wird an sich der Ge- sichtspunkt genennt, in Vergleichung mit der Sache aber sagt man, daß man sie von dieser oder jener Seite betrachte. Endlich haͤngt die Deutlichkeit des Bildes von der Entfernung der Sache und von P 4 den I. Hauptstuͤck. den Mitteln ab, wodurch das Licht davon in das Au- ge faͤllt. §. 25. Jn Absicht auf die uͤbrigen Sinnen haben wir aͤhnliche Umstaͤnde zu bemerken. Am aͤhnlichsten sind sie allerdings bey dem Gehoͤr, weil der Schall ebenfalls, wie das Licht, gerade geht, reflectirt wird, und durch Mauren und Waͤnde durchdringt. Die Lage des Ohrs hat ebenfalls einen Einfluß auf die Empfindung des Schalles, und man kann noch ziemlich erkennen, woher er koͤmmt, und von welcher individualen Art der Koͤrper er erregt wird. So hat in der Sprache jeder Buchstab, und sodann uͤberhaupt jede Menschenstimme etwas ihr eigenes, ohne Ruͤcksicht auf die Hoͤhe und Staͤrke des Tones. §. 26. Was nun aber in Absicht auf jede Sinnen an der Sache geaͤndert wird, und daher auch fast im- mer eine bemerkbare Aenderung in der Empfindung derselben hervorbringt, aͤndert den objectiven Schein der Sache. Entsteht aber in dem Schein eine Aenderung bey unveraͤnderter Sache und einerley subjectiven Quel- len des Scheins, so ruͤhrt sie von den geaͤnderten Ver- haͤltnissen, z. E. der Lage der Sache und des Sinnes her, und man kann es dieser Aenderung zuschreiben, wenn man es auch nicht voraus weiß. Wir fuͤhren die- ses hier nur an, um den Unterschied genauer zu bezeich- nen, den wir zwischen den objectiven und relativen Quel- len des Scheins zu machen haben. §. 27. Jn Ansehung des Gedankenreiches sind wir schon laͤngst daran gewoͤhnt, die Begriffe der Seiten und der Gesichtspunkte dabey zu gebrauchen, so wie wir etwan auch dem Verstande Augen geben, und den Begriff des Sehens auch auf abstracte Dinge aus- dehnen. Die Seiten sind nun hier die Verhaͤltnisse, in welchen eine vorgegebene Sache mit andern steht. Z. E. ein Geschaͤffte, ein Vorhaben von allen Seiten betrach- Von den Arten des Scheins. betrachten, will sagen, auf die Ursachen, Mittel, Hin- dernisse, Umstaͤnde, Schwierigkeiten, Folgen ꝛc. sehen, und alles durchgehen, was damit in Verbindung steht, davon abhaͤngt ꝛc. Jn so vielerley Absichten eine Sa- che betrachtet werden kann, so viele einzelne Gesichts- punkte hat sie auch. Und die Redensart, eine Sa- che naͤher betrachten, zeigt ebenfalls an, daß man zwischen dem Gesichtspunkt und der Sache sich einen Abstand gedenkt, welcher desto kleiner ist, je genauer und umstaͤndlicher die Sache in allen Theilen betrachtet wird. Umstaͤnde bemerken und anzeigen, die die Sa- che aufklaͤren und ihren Zusammenhang enthalten, heißt Licht und Ordnung uͤber dieselbe ausbreiten, oder die Sache ins Licht setzen. §. 28. Da demnach die Seiten der Sachen hier die Verhaͤltnisse sind, die sie zu andern Sachen hat, so ist klar, daß jeder einzelne Gesichtspunkt dieselbe auch nur vermittelst der dazu gehoͤrigen Verhaͤltnisse, und folglich weder durchaus, noch unmittelbar, wie sie an sich ist, kenntlich macht, und daher nur die scheinbare Gestalt derselben zeigt. So sagt man z. E. die Sa- che von dieser Seite betrachtet, koͤmmt mir so vor, daß ꝛc. Denn allerdings aͤndert sich die Ge- stalt, wenn man sie von andern Seiten betrachtet, und von einer Seite allein laͤßt sich nicht immer die Sache, wie sie an sich ist, vollstaͤndig erkennen. §. 29. Die Verhaͤltnisse zwischen der Sache, die man sich vorstellt, und demjenigen, der sie sich vorstellt, tragen ebenfalls viel zu dem Bilde oder Begriffe bey, den er sich davon macht. Der Unterschied, ob sie ihm neu, oder schon bekannt sey; ob er daran Antheil neh- me, oder ob sie ihm gleichguͤltig vorkomme; ob er in sol- chen Sachen schon Uebung habe, oder darinn noch un- erfahren sey; ob er mit voreingenommenem oder ruhi- gem Gemuͤthe sie betrachte ꝛc. alles dieses aͤndert an P 5 der I. Hauptstuͤck. der Sache nichts, weil sie ist, was sie ist. Hingegen hat es einen merklichen Einfluß auf den Begriff, den er sich davon macht, und die Seite, die er sich von der Sache vorstellt, erhaͤlt dadurch sehr individuale Bestim- mungen. §. 30. Wir haben oben (§. 16.) schon angemerkt, daß in dem Gedankenreiche der Schein auf die Rich- tigkeit der Begriffe, auf die Wahrheit der Urtheile, und auf die Zulaͤßigkeit der Fragen gehe. Von die- sen dreyen Arten hat man bereits schon die zweyte be- sonders herausgenommen, und das Wahrscheinli- che dem Wahren gewissermaßen entgegengesetzt, und fuͤr das erstere eine besondere Vernunftlehre zu haben verlangt. Da das Wahrscheinliche eine determinirte Art des Scheins ist, und zwar eine sehr speciale, so macht diese Vernunftlehre einen einzeln und sehr spe- cialen Theil der Phaͤnomenologie aus. Das Wahr- scheinliche besteht in einer unzureichenden Anzahl Ver- haͤltnisse eines Satzes zu andern wahren oder auch nur wahrscheinlichen Saͤtzen. Und diese Verhaͤltnisse zu- sammengenommen, machen die Seite aus, von wel- cher der Satz in einem gewissen Grade wahrscheinlich ist (§. 27.). Scheint er, von einer andern Seite be- trachtet, falsch zu seyn, so koͤmmt es auf eine Verglei- chung der Grade, oder der Gruͤnde und Gegengruͤnde an, ob die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlich- keit uͤberwiege? Auf eine aͤhnliche Art laͤßt sich die scheinbare Richtigkeit und Vollstaͤndigkeit der Begriffe, wie auch die scheinbare Zulaͤßigkeit der Fragen bestim- men, als deren Theorie mit zu dem erstbemeldten specia- len Theile der Phaͤnomenologie gehoͤrt. Das Gute kann, eben so wie das Wahre, mit dem Begriffe des Scheins verbunden werden, weil zwischen gut scheinen und gut seyn, ein aͤhnlicher Unterschied ist (§. 13.). §. 31. Von den Arten des Scheins. §. 31. Ungeacht wir bisher die verschiedenen Arten des Scheins jede besonders und einzeln betrachtet ha- ben, so finden sie sich doch in vorkommenden Faͤllen fast immer beysammen, daferne etwas reales dabey seyn soll. Der subjective Schein allein wuͤrde ein Traum, ein Hirngespinst, eine leere Einbildung seyn. Der ob- jective allein ist eine bloße Moͤglichkeit, und ohne ein denkendes Wesen wuͤrde ihm immer das fehlen, was ihn zum Schein macht. Beyde muͤssen nebst dem re- lativen beysammen seyn, wenn etwas reales zum Grun- de liegen solle. Es kommen aber auch die besondern Arten des subjectiven Scheins mehrentheils beysam- men vor. Denn bey den Empfindungen mengt sich die Einbildungskraft mit ein, und die Affecten bleiben selten ganz weg. Es sind wenige Theile der menschli- chen Erkenntniß, wobey man ganz gleichguͤltig bliebe, oder wo die Vorstellung des Wahren nicht durch Affe- cten truͤbe gemacht, oder wo nicht Muͤhe und Vorsatz erfordert wuͤrde, das Wahre zu suchen und anzuneh- men, wie man es findet. Sodann sind die Empfin- dungen die Grundlage zu jeden andern und auch zu den abstractesten Begriffen, und es mengt sich daher in diese fast immer etwas von dem Schein, den jene veranlassen, und die Muͤhe, sie ganz zu laͤutern und sich uͤber die Sinnen hinauszuschwingen, ohne noch etwas mit ankle- ben zu lassen, ist oͤsters theils schwer, theils fruchtlos. So stuffenweise wir demnach zu abstracten Begriffen gelangen, eben so stuffenweise muß auch der Schein vom Wahren getrennt werden, um letzteres rein zu ha- ben, und sicherer darauf zu bauen. Wir werden daher dieser Ordnung folgen, und jede Quelle des Scheins besonders vornehmen, um nachgehends deutlicher sehen zu koͤnnen, wie sie sich bey zusammengesetztern Vorstel- lungen vermischen, und denselben determinirte Gestalten geben. §. 32. I. Hauptst. Von den Arten des Scheins. §. 32. Da wir unsere Empfindungen und Begriffe an Woͤrter und Zeichen binden, und diese statt der Dinge selbst, und oͤfters auch statt der Begriffe gebrau- chen, wie letzteres in der Algeber geschieht, so laͤßt sich auch ein hermenevtischer und uͤberhaupt ein semio- tischer Schein gedenken. Ersterer bey Auslegung der Zeichen, Reden und Schriften anderer; letzterer aber in Ansehung des Gebrauchs der Zeichen uͤberhaupt. Allegorien, Metaphern, Mißverstand, Vieldeutigkeit, ꝛc. sind Quellen und Anlaͤße zu solchem Schein, die sich oͤfters in die suͤbtilsten Sophismata einmengen, und die etymologische Bedeutung der Woͤrter geht nicht selten von der durch den Gebrauch eingefuͤhrten ab. So schei- nen auch Streitende oͤfters in der Sache uneins zu seyn, da sie bey genauerer Untersuchung nur in den Worten von einander abgehen. §. 33. Um hier eine aͤhnliche Verwirrung zu ver- meiden, werden wir noch anmerken, daß wir den Schein uͤberhaupt betrachtet, von dem, was wir bloßen Schein nennen, unterscheiden muͤssen. Bey letzterm liegt nichts reales zum Grunde, oder wenigstens das Reale nicht, was sonst zum Grunde liegen koͤnnte. So z. E. kann ein bloßer Wiederglanz ein Licht zu seyn scheinen, und das Falsche den Schein des Wahren, das Boͤse den Schein des Guten haben. Hingegen bey dem Schein uͤberhaupt betrachtet, lassen wir hier un- ausgemacht, ob er nur Schein, oder mehr als bloßer Schein ist, weil dieses aus andern Gruͤnden in jedem Fall eroͤrtert werden muß. Zweytes Zweytes Hauptstuͤck. Von dem sinnlichen Schein. §. 34. D a unsere ganze Erkenntniß bey den Sinnen an- faͤngt, so werden wir der Ordnung der Natur fol- gen, wenn wir die Quellen des Scheins, die sie uns an- bieten, zuerst und besonders zu betrachten vornehmen, zumal, da bald alle Redensarten, die wir in Ansehung des Scheins gebrauchen, von dem Auge hergenommen sind. Wir haben in vorhergehendem Hauptstuͤcke den Schein, so von den Sinnen herruͤhrt, bereits in den physischen und den organischen oder pathologi- schen eingetheilt, und koͤnnen hier kuͤrzlich anmerken, daß letzterer durchaus subjectiv ist, bey dem erstern aber sowohl das subjective, als das objective und relative des Scheins vorkoͤmmt. §. 35. Die erste Frage, die sich hiebey anbeut, ist diese: Wie man in jeden besondern Faͤllen er- kennen koͤnne, ob das, so wir zu empfinden glauben, ein bloß organischer oder aber ein wirklich physischer Schein sey, das will sagen, ob es durch eine wirklich außer uns befindliche Sache gewirkt werde oder nicht? Jn Ansehung dieser Frage merken wir voraus an, daß die Jdealisten sie ungefaͤhr so abfassen muͤssen: Ob die Seele sich ohne aͤußere Ver- anlassung eine Empfindung zu haben einbilde, oder ob ihre Einbildung unvollstaͤndig und unzusammenhaͤngend waͤre, wenn sie sich nicht auch die aͤußere Veranlassung einbildete? Denn in der Sprache der Jdealisten ist al- les hypothetisch, was die Koͤrperwelt angeht, und unter der Bedingung, die Koͤrperwelt sey nur eingebildet, muͤssen II. Hauptstuͤck. muͤssen sie alles gelten lassen, was davon erwiesen wird, wenn man die Bedingung aͤndert, und sie als real an- nimmt, und statt der leeren Einbildung von realen Em- pfindungen und Vorstellungen redet. §. 36. Wir halten uns aber hier bey dieser idealisti- schen Sprache nicht auf, sondern nehmen die Frage, wie wir sie vorgetragen haben, um theils die Wege zu ihrer Aufloͤsung anzuzeigen, theils auch einzelne Faͤlle zu durchgehen, worinn ihre Eroͤrterung stuffenweise leichter oder schwerer ist. Da der organische Schein schlecht- hin subjectiv ist (§. 20. 23.) so gilt von demselben uͤber- haupt alles, was von dem subjectiven Schein kann ge- sagt werden. Er dehnt sich naͤmlich zugleich, und so lange die Ursache in uns fortwirkt, auf mehrere Objecte aus. So scheinen einem Gelbsuͤchtigen jede Dinge an- ders gefaͤrbt, dem Schwindelnden scheint alles sich um- zudrehen, und in verdruͤßlichen Stunden aͤrgert, was man sonst selbst befehlen oder zulassen wuͤrde. §. 37. Eine Hauptclasse des organischen Scheins sind die Traͤume. Sie werden zwar bey dem Aufwa- chen fast immer leicht als Traͤume erkennt, die wenigen Faͤlle ausgenommen, wo man es sich fast nicht ausre- den kann. Die meisten Traͤume haben an sich etwas Ungereimtes, und das sich in den Zusammenhang der Welt nicht schickt. Oefters findet man des Morgens die Sachen noch, wie sie vor dem Einschlasen waren, und versichert sich dadurch, daß die gefuͤrchtete oder ge- wuͤnschte Aenderung nicht in der Natur vorgegangen, fondern nur ertraͤumt gewesen sey. Zuweilen hat man auch im Traum selbst ein dunkles Bewußtseyn, daß man traͤume. Und die Versicherung, daß man kein Nachtwandler sey, und daß man nur eine Nacht ge- schlafen, macht bey dem Aufwachen alle Traͤume kennt- lich, wobey man haͤtte auf seyn oder viele Tage zubrin- gen muͤssen. Bey jeden Traͤumen finden sich Luͤcken, die Von dem sinnlichen Schein. die in der wirklichen Welt ausgefuͤllt waͤren, geschehene Dinge, die nicht geschehen sind, oder anders geschehen waͤren ꝛc. Und auch dieses macht die Traͤume als Traͤu- me erkennen, die wirklich erfuͤllt sind. So kann man z. E. traͤumen, man hoͤre einen Schuß, wenn in der That keiner geschieht, oder man sehe ein Feuer, wenn in der That Feuer ausbricht und das Zimmer helle macht ꝛc. Allein der Traum setzt die Geschichte ganz anders fort, als sie in der Natur vorgeht, oder als man sie wachend wuͤrde erfahren haben. Sieht man hinge- gen wachend unmoͤglichscheinende und unerwartete Din- ge, z. E. einen Menschen, den man schon laͤngst todt geglaubt hatte, so ist man im Zweifel, ob man sich irre, oder traͤume? Allein auch in sochen Faͤllen muß das Aufklaͤren des Zusammenhanges jeder Umstaͤnde bewei- sen, daß das Gesehene oder Empsundene ein Stuͤck der wirklichen Welt sey. Man fragt der Veranlassung nach, warum man anders geglaubt hatte, und findet Jrrung und Luͤcken darinn, hingegen Ordnung und Zu- sammenhang in dem, was nun die Sinnen zeigen. Jo- seph wuͤrde dem Jacob, wenn er ihn unversehens be- sucht haͤtte, seine Geschichte und den Betrug seiner Bruͤder erzaͤhlt, und ihr Gestaͤndniß durch jede kleine Umstaͤnde abgezwungen haben. §. 38. Was wir hier vom Traume angemerkt ha- ben, gilt auch vom Deliriren fuͤr den, der sich darinn befindet. Er redet und handelt, wie wenn er in einer andern Welt waͤre, und den Umstehenden faͤllt es leicht in die Augen, daß der Zusammenhang in den Hand- lungen und Reden mit der Vernunft anfange zu fehlen. Das Verdrehen der Augen und andere Gebaͤrden, die Kunst und List nicht leicht nachahmt, geben ebenfalls den kranken Zustand der Sinnen und des Gemuͤths zu erkennen. Jndessen muß man zuweilen auf alle diese Kennzeichen Acht haben, wenn man sich versichern will, ob II. Hauptstuͤck. ob jemand wirklich delirire, oder anfange das Concept zu verlieren, oder ob nur allzulebhafte Vorstellungen und Affecten ihm die Welt fuͤr kurze Zeit anders vorstellen, als sie ist. Die Frage, ob man bey Sinnen sey, giebt die Anlaͤße zu erkennen, wo einer des andern Reden und Thun nicht mehr begreift, und wo es dem einen oder dem andern an Einsicht zu fehlen anfaͤngt. Denn diese Frage laͤßt es noch uneroͤrtert, und es koͤmmt dar- auf an, ob man sich gegeneinander deutlicher erklaͤren koͤnne oder wolle, oder ob man es auf den Erfolg, auf Proben und Erfahrung muͤsse oder wolle ankommen lassen? §. 39. Das Auge hat weiter keine Zufaͤlle, als daß seine Saͤfte gefaͤrbt oder truͤbe werden, und daß man nur in gewisser Entfernung deutlich sieht. Ersteres ist auch bey geringem Bewußtseyn, wie die Objecte vorhin ausgesehen, leicht zu erkennen, besonders, wenn die Aen- derung der Saͤfte nicht unvermerkt, wie bey zunehmen- dem Alter, sondern schneller vergehen, wie bey der Gelb- sucht oder andern Zufaͤllen. Die Aenderung in der Farbe, Helligkeit und Deutlichkeit breitet sich auf alle Objecte aus, so daß man sicher genug schließen kann, daß weder das Licht noch die Objecte, sondern das Auge sich geaͤndert habe. Die Grenzen des deutlichen Sehens lassen sich ausmessen, und folglich kann die Aenderung, so darinn vorgeht, auf Zahl und Maaß gebracht wer- den. Und dermalen hat man Augenglaͤser, so die Ge- genstaͤnde in jeder Entfernung deutlich vorstellen. Uebri- gens machen die sogenannten Visionarii, die wachend Gesichte sehen, eine besondere Classe von Menschen aus, bey denen die Bilder der Einbildungskraft lebhaft ge- nug sind, die Eindruͤcke der aͤußern Sinnen zu verdun- keln, und sich an der Vorstellung von jenen zu verwei- len. Verschiedene Gespenstergeschichten haben etwas mit solchen Visionen gemein. §. 40. Von dem sinnlichen Schein. §. 40. Das Ohr ist ebenfalls wenigen Zufaͤllen un- terworfen, wenn man die Abwechslungen in dem schaͤr- fern und schwaͤchern Gehoͤre, und das Ohrenlaͤuten aus- nimmt. Letzters laͤßt sich leicht erkennen, und allenfalls kann man andere darum befragen. Und auf das, so man nur halb oder muͤhsam hoͤrt, hat man nicht viel zu achten, weil es unverstaͤndlich ist, und weil man dabey leicht uͤberhoͤrt. Demnach muß das Nachfragen die Sache aufklaͤren, oder wo es nicht angeht, thut man besser, nichts daraus zu schließen, als Verdacht zu schoͤ- pfen, oder uͤbelgehoͤrtes nachzusagen. §. 41. Hingegen hat das Gefuͤhl der Waͤrme das besonders, daß die Empfindung der innern Waͤrme des Leibes sich in die Empfindung der aͤußern mit einmengt, und folglich das Urtheil uͤber beyde, und besonders uͤber die letztere, unzuverlaͤßig macht. Da wir aber nun Thermometer haben, so laͤßt sich der Grad der aͤußern Waͤrme richtiger bestimmen, und der Grad der innern kann darnach beurtheilt werden. Der Grundsatz dazu ist, daß wir nicht den Grad der Waͤrme und Kaͤlte selbst, sondern nur den Grad der Erwaͤrmung und Erkaͤltung der Gliedmaßen empfinden. So scheint uns die Tem- peratur der Keller im Winter warm, im Sommer kalt zu seyn, weil wir im Winter weniger, im Sommer mehr Waͤrme mit in den Keller bringen, oder besser zu sagen, weil der innere Zufluß der Waͤrme gegen die Flaͤche des Leibes des Sommers geringer, des Winters groͤßer ist, als was in dem Keller weggeht. §. 42. Die Grade der Empfindlichkeit des Gefuͤhls uͤberhaupt richten sich nach der Feinheit, Auflebung und Ermuͤdung der Empfindungsnerven. Wer zu haͤrterer Arbeit gewoͤhnt ist, rohere Speisen genießt, Wein oder starkes Getraͤnke haͤufiger zu sich genommen, und hin- wiederum wem ein Glied entschlafen ist, ist unem- pfindlicher. So koͤnnen auch andere staͤrkere Empfin- Lamb. Organon II B. Q dungen II. Hauptstuͤck. dungen die schwaͤchern verdunkeln, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Auch die Affecten koͤnnen unempfind- lich machen, wie etwan in der Hitze des Treffens em- pfangene Wunden nicht geachtet werden. Alle diese Ursachen, die den Grad der Empfindlichkeit des Gefuͤhls aͤndern, werden durch die Vergleichung mit aͤhnlichen vorhingehabten Empfindungen, und dadurch, daß sie sich auf mehrere Objecte ausbreiten (§. 36.) entdeckt und beurtheilt. §. 43. Jn den meisten Faͤllen, wo wir Anstand ha- ben, ob wir wirkliche Dinge empfinden, oder ob wir die empfinden, die uns der Eindruck in die Sinnen da zu seyn glauben macht, ist es rathsam und thunlich, an- dere Sinnen zu Huͤlfe zu nehmen, und aus den Um- staͤnden und dem Zusammenhang der Dinge in der Welt hergenommene und dahin dienende Schluͤsse zu gebrauchen. Man glaubt z. E. eine Person dem An- sehen nach zu kennen, und versichert sich durch die Re- den, ob sie es ist oder nicht? Man glaubt in einem Glase Wasser zu sehen, der Geruch verraͤth, daß es ge- brannt ist. Man glaubt einen Freund zu sehen, man weiß aber gewisser, daß er abwesend ist, ꝛc. §. 44. Die bisherigen Betrachtungen leiten uns unvermerkt zu der Betrachtung des physischen Scheins, wo naͤmlich der Eindruck in die Sinnen in der That durch aͤußerliche Gegenstaͤnde verursacht wird. Dieser Schein hat unzaͤhlige Stuffen, wodurch er endlich an den organischen graͤnzt. Der Anfang dieser Stuffen ist, wo die Sache durchaus so ist, wie sie empfunden wird, und wobey folglich Wahrheit und Schein zusam- mentrifft. So z. E. scheint uns eine Kugel in jeden Umstaͤnden rund, wenn sie durchaus beleuchtet oder selbst licht ist. Von dieser Stuffe an gerechnet sind die uͤbri- gen, wobey die Sache von dem Schein verschieden ist, und wo sich in die Empfindung andere bloß von den Sinnen Von dem sinnlichen Schein. Sinnen und ihren Nerven herruͤhrende Vorstellungen mit einmengen, die das Bild der Sache aͤndern, und mehr hinzusetzen, oder die Empfindung derselben ganz verdunkeln, oder, wie bey dem durchaus organischen Schein, ganz allein sind. Wir haben diese Vermi- schung der beyden Arten des Scheins, so von den Sin- nen herruͤhrt, bereits schon (§. 20.) angemerkt. §. 45. Bey der Beurtheilung des physischen Scheins werden wir den vorhin schon (§. 3.) aus der Optik entliehenen und allgemeinen vorgetragenen Grund- satz gebrauchen: daß naͤmlich einerley Empfin- dung entstehe, wenn eben der Sinn einerley Eindruck leidet. Was dieses sagen will, muͤssen wir umstaͤndlicher anzeigen, und den Nachdruck eines jeden Wortes bestimmen. Einmal ist hier von Em- pfindungen und nicht von dem Bewußtseyn dessen, was sie in sich fassen, die Rede. Es giebt ungemein zusammengesetzte Empfindungen, wovon wir uns lange nicht aller einzelnen Theile bewußt sind, weil sich die Aufmerksamkeit nicht immer so weit ausbreitet, sondern fast immer vorzuͤglicher auf einige Theile als auf andere geht, und zuweilen ganz wegbleibt, oder durch die Ge- wohnheit unmerklich wird. Jndessen wirkt die Em- pfindung immer ganz in die Gliedmaßen und Ner- ven des Sinnes, und bringt das Bild der Sache theils klar, theils auch dunkel in die Gedanken. Der Unter- schied besteht darinn, daß wir uns des Klaren bewußt sind, und uns dessen leichter errinnern, da hingegen die dunkeln Theile des Bildes nachgehends in uns aufleben koͤnnen, und uns etwas neuer und fremder vorkommen, oder daß wir sie gar als eigene Einfaͤlle ansehen, weil wir uns nicht errinnern, daß sie Theile einer ehmaligen Empfindung waren (§. 12.). §. 46. Sodann merken wir an, daß wir in erstan- gefuͤhrtem Grundsatze unbestimmt lassen, ob der Ein- Q 2 druck II. Hauptstuͤck. druck von einerley, oder von verschiedenen Sachen her- komme, oder ob er nur durch die Bewegung der Ner- ven in dem Sinne selbst verursacht werde? Letzteres waͤre nur organischer Schein, von dem wir hier abstra- hiren. Ersteres aber zeigt an, daß wir aus der Jdenti- taͤt der Empfindung nicht so schlechthin auf die Jdenti- taͤt der Sache einen Schluß machen sollen, weil die Er- fahrung lehrt, daß verschiedene Sachen sich uns unter einerley Gestalt vorstellen koͤnnen, zumal wenn wir von der Empfindung nur das nehmen, was wir uns davon bewußt sind. §. 47. Ferner verstehen wir in angefuͤhrtem Grund- satz durch einerley Sinn, nicht nur dem Namen und der Art nach eben denselben. Denn es sind lange nicht alle Empfindungen mehrern Sinnen gemein, und die, so jedem Sinne eigen sind, koͤnnen an sich schon nicht von andern verstanden werden, so wenig man eine Far- be hoͤrt, den Schall sieht, ꝛc. Sondern wir nehmen hier die Jdentitaͤt des Sinnes viel strenger, und schlies- sen jede Aenderung aus, die in die Empfindung und ihre Grade einen Einfluß haben kann. So z. E. scheint ein Licht heller, wenn der Augenstern mehr offen ist. Es ist auch empfindlicher, wenn man aus dem Dunkeln ans Licht koͤmmt. Der Hunger wuͤrzt die Speisen, und wer gesalzen Wasser gekoͤstet hat, wird das nicht gesal- zene, so er es gleich darauf trinkt, suͤß finden. Auf sol- che Umstaͤnde hat man allerdings zu merken, wenn man Empfindungen beurtheilen und mit einander vergleichen will. Sie muͤssen beyde male einerley seyn, oder wenn sie verschieden sind, muß man den Unterschied mit in die Rechnung ziehen. Ueberdieß werden auch die Sin- nen durch zu lang anhaltenden Gebrauch stumpf, und die Empfindlichkeit der Nerven schwaͤcher. Man ge- woͤhnt sich an eine Helligkeit, die anfangs blendete, wenn man sie laͤnger anschaut, und sie scheint minder helle. Von dem sinnlichen Schein. helle. Die Gewohnheit nuͤtzt die Lebhaftigkeit jeder Em- findungen ab, und macht darauf unachtsam. §. 48. Auf diese Art genauer bestimmt dient ange- zogener Grundsatz zur Vergleichung der Empfindungen, besonders aber ihrer Grade. Denn da wir zwar mit den Sinnen die staͤrkern Unterschiede der Grade bemer- ken koͤnnen, so koͤnnen wir doch die Verhaͤltnisse dadurch nicht genau bestimmen, und der einzige Fall, wo es an- geht, ist, wenn die Grade gleich sind, und die Empfin- dung zugleich geschieht. So z. E. man sieht zwey Ob- jecte neben einander und gleich helle, so kann man aller- dings den Schluß machen, ihre Helligkeit sey nicht, oder wenigstens nicht merklich, verschieden, Man hoͤrt zween Toͤne auf einmal, so wird das Ohr auch geringe Unterschiede empfinden, und daher leicht urtheilen, ob sie einstimmig sind. §. 49. Sind aber die Empfindungen verschieden, so laͤßt sich allerdings der Schluß machen, es muͤsse ent- weder der Sinn oder der Eindruck oder beydes verschie- den seyn. Wenn nicht beydes ist, so richtet sich die Em- pfindung nach der Aenderung, so in dem Sinn, oder in dem Eindrucke ist. Und es muß aus andern Gruͤnden entschieden werden, woran es liege? Die Aenderung, so in dem Sinne vorgeht, breitet sich auf mehrere Ob- jecte aus, und laͤßt sich daher in vielen Faͤllen beurthei- len, wenn man bekannte Objecte zur Pruͤfung waͤhlt. Findet sich aber in dem Sinne keine Aenderung, so pro- portionirt sich die Empfindung nach dem Eindrucke. Und in diesen Faͤllen ist es gut, wenn man Mittel hat, durch Aenderung des Objectes, seiner Lage ꝛc. den Ein- druck in gegebener Verhaͤltniß staͤrker oder schwaͤcher zu machen, bis die Empfindung der Empfindung des an- dern Objectes, so man zum Maaßstabe annimmt, gleich wird. So z. E. wenn die Klarheit zweyer Objecte, die ungleich weiß sind, zu vergleichen ist, so kann man auf Q 3 das II. Hauptstuͤck. das Hellere das Licht schiefer fallen lassen oder es weiter entfernen, bis beyde Objecte gleich helle scheinen, wenn man sie auf einmal anschaut. Die Bestimmung, wie vielmal das Licht hat muͤssen schwaͤcher werden, giebt den Unterschied und die Verhaͤltniß der Weiße beyder Objecte an. Jndessen sind solche Vergleichungen, wo- bey wir es muͤssen auf das Urtheil der Sinnen ankom- men lassen, nicht immer genau, weil kleinere Unter- schiede den Sinnen unmerklich sind. Man hat daher allerdings auf Jnstrumente und andere Mittel zu den- ken, die Ausmessung genauer zu machen. Derglei- chen sind z. E. fuͤr das Gewicht die Wage, fuͤr die Waͤr- me das Thermometer, fuͤr die Ausdehnung Maaßstaͤbe, Zirkel, Winkelmesser, ꝛc. fuͤr die Zeit Uhren, ꝛc. §. 50. Ungeacht aber der bisher betrachtete Grund- satz nur zur Vergleichung der Empfindungen dient, so reichen wir doch damit am weitesten, weil wir es in vie- len Faͤllen dabey muͤssen bewenden lassen. Man hat schon laͤngst die Anmerkung gemacht, daß uns das in- nere Wesen der Koͤrper und ihrer Bestandtheile wegen ihrer Kleinheit, und weil wir keine Sinnen und auch dermalen noch keine Jnstrumente dazu haben, fast noth- wendig unbekannt bleibe, und daß wir uns mit dem Aeußerlichen begnuͤgen muͤssen, was davon in die Sin- nen faͤllt. Man setze sogar, daß uns von den Koͤrpern nur das bekannt bleibe, was sie der Empfindung nach zu seyn scheinen, so wird doch immer die Vergleichung dieser Empfindungen uns helfen, die Koͤrper zu erken- nen, sie von einander zu unterscheiden, aus dem einen Schein auf das Daseyn oder Wegseyn der andern und uͤberhaupt auf die Verhaͤltnisse zwischen den Koͤrpern zu schließen, und uns damit in Absicht auf ihren Gebrauch fortzuhelfen. §. 51. Sodann muͤssen wir, so lange wir die Gruͤn- de zu Beurthcilung dessen, was die Dinge an sich sind, noch Von dem sinnlichen Schein. noch nicht haben, fast nothwendig bey solchen Verglei- chungen der Empfindungen und des Scheins anfangen. So lange der Schein mit dem Wahren zusammentrift, geht es damit richtig. Hingegen wo der Schein an- faͤngt, von dem Wahren abzugehen, da zeigen sich nach und nach bey genauern Vergleichungen, Anomalien darinn, welche bey dem Wahren nicht seyn koͤnnen und folglich den Schein verrathen. Auf diese Art ist aus der anfaͤnglich bloß sphaͤrischen Astronomie die theori- sche erwachsen, worinn man den Weltbau ganz anders als nach dem Urtheil der Sinnen vorstellt. §. 52. Durch Bemerkung solcher Anomalien kann man allerdings endlich dahin gelangen, in den meisten Faͤllen den Schein als Schein zu erkennen, und wo nicht das Wahre zu entdecken, doch wenigstens zu schließen, daß es anders beschaffen seyn muͤsse. Was hiebey vorausgesetzt wird, ist, daß nur das Wahre mit sich selbst und mit jedem andern Wahren bestehe. Nimmt man daher einen in der That von dem Wahren verschiedenen Schein als durchaus wahr an, so ist die- ses ein Jrrthum, aus welchem es folglich immer moͤg- lich ist, Widerspruͤche herzuleiten (Alethiol. §. 171.). Hin- gegen bleiben solche Anomalien weg, so oft der Schein mit dem Wahren uͤbereintrifft, und hinwiederum wenn in der That keine Anomalien koͤnnen gefunden werden, so laͤßt sich richtig der Schluß machen, daß der Schein von dem Wahren nicht abgehe. Denn sonst waͤre es nothwendig moͤglich, Anomalien zu finden. Dieses will nun allerdings nicht sagen, als wenn sie sich von uns je- desmal sogleich finden ließen, und aus unserm nicht finden koͤnnen wir eben nicht so unbedingt auf das nicht seyn einen Schluß machen. Jnzwischen mag es unstreitig Faͤlle geben, und giebt auch solche, wo wir gleichsam interimsweise oder bis auf genauere Untersu- chung einen solchen Schluß gelten lassen, und von dem Q 4 Schein, II. Hauptstuͤck. Schein, wie von dem Wahren reden, bis sich etwan der Unterschied zeigt. Und dieses geht um desto mehr an, weil wir ohnehin oͤfters aus der Sprache des Wahren in die Sprache des Scheins uͤbersetzen muͤssen, wo wir uns, wie es in der Astronomie geschieht, im gemeinen Leben nach dem Schein richten wollen. §. 53. Wir haben ferner dem Schein Begriffe zu danken, die sich fuͤr sich gedenken lassen. So z. E. ha- ben wir den Begriff der Ausdehnung von dem Au- ge und dem Gefuͤhle, und wenn auch die scheinbare Ge- stalt der Figuren nie mit der wahren zusammentraͤfe, so wuͤrde dieses dennoch nicht hindern, Begriffe von Figu- ren uͤberhaupt zu haben, und die Geometrie daraus her- zuleiten, vermittelst deren wir aus der scheinbaren Ge- stalt und Figur der Dinge ihre wahre finden koͤnnen. Der geometrische Grundsatz, daß Figuren, die einander decken, gleich sind, ist von dem Schein unabhaͤngig, und fuͤhrt folglich unmittelbar zu dem Wahren. Wir koͤnnen eben dieses von der Dauer, von der Bewe- gung, und uͤberhaupt von den einfachen Begriffen und ihren Grundsaͤtzen anmerken, die wir in dem zwey- ten Hauptstuͤcke der Alethiologie, als die Grundlage zu dem Wahren in unserer Erkenntniß betrachtet haben. §. 54. Wenn in dem Schein eine Aende- rung vorgeht, so geht auch in der That eine Aenderung vor. Es bleibt aber noch unaus- gemacht, ob sie in dem Objecte, oder in dem Sinn oder in der Verhaͤltniß von beyden, oder in zwey oder in allen diesen drey Stuͤcken vor- gehe. Hingegen aber giebt die Aenderung im Schein das Relative von der wirklichen Aen- derung an. Wir haben diese drey Saͤtze hier zu- sammengenommen, weil sie gleichsam drey Theile eines Satzes sind. Der erste beweist sich dadurch, daß der Schein verursacht wird, und sich daher ohne die Aen- derung Von dem sinnlichen Schein. derung der Ursachen nicht aͤndert. Der zweyte Theil zaͤhlt die Ursachen des Scheins ab, weil der ganze Schein aus dem subjectiven, objectiven und relati- ven zusammengesetzt ist, und folglich die wirkliche Aen- derung entweder in dem Sinn, oder in dem Object, oder in ihrer Verhaͤltniß, oder in zwey oder in allen drey Stuͤcken vorgehen muß. Welches aber hievon statt habe, laͤßt sich aus der Aenderung des Scheins nicht schließen, weil dieser nur die Summe oder Dif- ferenz von den drey Ursachen angiebt. Wird aber die Summe vor und nach der Aenderung verglichen, so giebt der Unterschied das Relative in der Aende- rung an. §. 55. Wir wollen diesen Lehrsatz durch Beyspiele von der localen Bewegung erlaͤutern. Die Sonne scheint in 24 Stunden 360 Grade eines Circuls zu durchlaufen. Dieser Schein kann hervorgebracht wer- den, es sey, daß die Erde, oder die Sonne ruhe, oder beyde sich bewegen. Dreht sich die Erde und die Son- ne zugleich, so giebt der Schein nur die Summe oder Differenz der Bewegung an; die Summe, wenn die Richtung entgegengesetzt ist, die Differenz, wenn sie nach einerley Gegend geht. Und in beyden Faͤllen be- traͤgt es in 24 Stunden 360 Grade, ohne daß wir aus dem Schein noch schließen koͤnnten, was der Erde oder der Sonne davon besonders zuzuschreiben ist. Auf ei- ne aͤhnliche Art giebt das Copernicanische System nur die relative Bewegung der Erde um die Sonne an, und diese ist elliptisch, da hingegen die wahre cycloi- disch ist. Die Empfindung der Waͤrme giebt uns aͤhn- liche Beyspiele. Wir kommen in ein Zimmer, und finden es das erstemal waͤrmer als das andere. Jedes- mal urtheilen wir nach dem Unterschied der Waͤrme des Leibes und des Zimmers. Diesen Unterschied finden wir geaͤndert, und die Aenderung zeigt uns nur das Re- Q 5 lative II. Hauptstuͤck. lative an. Denn an sich konnte das erstemal das Zim- mer waͤrmer, oder der Leib kaͤlter gewesen seyn, als das andere mal, oder es kann beydes zugetroffen haben. So ist auch uͤberhaupt jede Empfindung schwaͤcher, es mag nun der Sinn stumpfer oder der Eindruck vom Object in der That schwaͤcher, oder beydes zugleich seyn. Die Aenderung in der Empfindung giebt nur das Relati- ve in der Sache an. Was demnach jede Ursache fuͤr sich beytraͤgt, muß aus andern Gruͤnden gefunden werden. §. 56. Hiezu dient nun der oben schon angefuͤhrte Satz, daß die Aenderung in dem subjectiven Theile des Scheins sich weiter ausbreite, und einen Isochronismum mit sich bringe, das will sagen, sich zugleich auf mehrere Objecte ausdehne. So ist man in der Astronomie nun schon daran ge- woͤhnt, jede Bewegung, die zugleich das ganze Firma- ment betreffen muͤßte, als viel natuͤrlicher der Erde zu- zuschreiben. Die taͤgliche Umwaͤlzung des Himmels, die jaͤhrlichen Anomalien der Planeten, die Aberration des Lichtes ꝛc. sind Beyspiele davon. Die Aenderung in dem scheinbaren Ort der Dinge, welche bloß von der geaͤnderten Stelle des Zuschauers herruͤhrt, wird die Parallaxe genennt. Und wenn wir diesen Begriff all- gemeiner machen wollen, so werden wir durch Parallaxe uͤberhaupt den subjectiven Theil des Scheins verstehen koͤnnen. Sie dehnt sich auf jede Dinge aus, die wir mit geaͤndertem Sinne empfinden, und besteht in dem Unterschied der Empfindung, so fern er von der Ver- aͤnderung des Sinnes und seiner Lage herruͤhrt. §. 57. Wenn diese Veraͤnderung des Sinnes und seiner Lage nicht an sich uns bekannt ist, so ist erster- waͤhnter Isochronismus in dem veraͤnderten Schein je- der Objecte, so wir mit dem Sinne empfinden, das ein- zige Mittel, denselben zu entdecken, ungeacht der Schluß nicht Von dem sinnlichen Schein. nicht unmittelbar und nach aller Schaͤrfe gemacht wer- den kann. Es ist aber an sich sehr unwahrscheinlich, daß alle Objecte zu gleicher Zeit und mit einem male einerley oder wenigstens aͤhnliche Veraͤnderungen sollten gehabt haben, ohne daß die Ursache davon anzugeben waͤre, wie es z. E. bey den Erdbeben, bey der taͤglichen und jaͤhrlichen Erleuchtung und Erwaͤrmung der Erd- flaͤche ꝛc. geschieht. Jndessen laͤßt sich dieser Schluß als eine Veranlassung ansehen, aus andern Gruͤnden zu untersuchen, ob nicht in dem Sinne oder in seiner Lage eine Veraͤnderung vorgegangen, welche die in dem Schein der Objecte beobachtete Veraͤnderung verursa- chen kann. Findet sich dieses, so ist die Sache durch- aus eroͤrtert. Sie ist es ebenfalls, wenn man von den Objecten aus andern Gruͤnden weiß, daß sie unveraͤn- dert geblieben, oder in ihren Veraͤnderungen bey der dermaligen Einrichtung der Natur eines solchen Iso- chronisini nicht faͤhig sind. §. 58. Der relative Theil des Scheins laͤßt sich an solchen Veraͤnderungen erkennen, die in dem Schein eines Objectes vorgehen, ohne daß weder das Object noch der Sinn eine Veraͤnderung erlitten, von welcher jene herruͤhren koͤnnten. Es koͤmmt derselbe demnach von der Lage der Sache und des Sinnes, besonders aber auch von den Ursachen her, die die Empfindung erwecken, oder ihre Modificationen aͤndern koͤnnen. Da solche Aenderungen stuffenweise verschieden seyn koͤnnen, so wird auch eine von solchen Stuffen gleich- sam zum Modell oder Maaßstabe der uͤbrigen genom- men. Wir wollen es durch Beyspiele erlaͤutern. Die Farbe der Koͤrper haͤngt von dem Lichte ab, welches sie beleuchtet. Des Nachts laͤßt sich Scharlack und Schwarz kaum unterscheiden. Bey dem Lampenlich- te scheint blau und gruͤn fast einerley Farbe zu haben. Eine gleiche Mauer an der Sonne oder am Schatten, ist II. Hauptstuͤck. ist nicht nur an Helligkeit, sondern an Weiße verschie- den. Es fragt sich demnach, bey welchem Lichte die Koͤrper ihre natuͤrliche Farbe zeigen? Die weiße Far- be des Lichtes wird dazu gewaͤhlt, und ungeacht noch ganz unbestimmt ist, wie sie weiß seyn soll, so wird sie dennoch bey Beurtheilung der wahren Farbe der Koͤr- per zum Grunde gelegt. Die scheinbare Figur der Koͤrper hat aͤhnliche Abwechslungen. Man muß jede Seite gerade vor sich anschauen, wenn man ihre na- tuͤrliche Gestalt sehen will, und auf diese werden jede Abwechslungen bezogen, welche sich aͤußern, wenn man sie schief anschaut. Jn Ansehung der Speisen bemer- ken wir aͤhnliche Abwechslungen, und wer die feinern Unterschiede verschiedener Weine empfinden will, muß darauf denken, die Zunge und den Gaumen nicht durch Kostung scharfer, bitterer oder anderer Speisen und Getraͤnke unempfindlich zu machen, oder dadurch die Empfindungen zu vermengen, und so auch den Wein nicht in Faͤsser gießen, worinn die Hefen und folg- lich der Erdgust von andern ganz verschiedenen Arten Weins ist. §. 59. Wenn die Ursachen des relativen Scheins bekannt sind, so kann man denselben voraus wissen, oder dessen Rechnung tragen. Widrigenfalls verfaͤllt man sehr leicht in den Fehler, daß man ihn als von der Sache selbst, oder von den Sinnen oder von beyden herruͤhrend ansieht. So z. E. sieht man das Licht der Sonne fuͤr gelber an, als es an sich ist, weil die Luft, durch die es geht, von den blauen Stralen desto mehr auffaͤngt, je groͤsser der Weg der Sonnenstralen durch die Luft, und je naͤher folglich die Sonne dem Horizont ist. Denn am Horizonte scheint sie nicht nur gelb, sondern roth, und der Wiederglanz dieser rothen Stra- len in den Wolken ist es, was die Morgen-und Abend- roͤthe ausmacht. Man wuͤrde unrichtig denken, wenn man Von dem sinnlichen Schein. man diese Abwechslung in der Farbe des Sonnenlich- tes der Sonne selbst oder dem Auge zuschreiben wollte. §. 60. Um den relativen Theil des Scheins der Dinge zu entdecken, ist es gut, die Umstaͤnde der Sa- che auf alle Arten abzuwechseln. Man schreibt diese Regel nicht nur fuͤr den Schein, sondern auch fuͤr die wahren Eigenschaften vor, wenn man das Wesentliche von dem Zufaͤlligen trennen will. So zeigen uns die Versuche in Luftleerem Raume, was in den Koͤrpern von dem Daseyn der Luft herruͤhrt, und folglich densel- ben nicht unmittelbar zugeeignet werden kann. Die Geometrie geht hierinn noch weiter. Denn indem sie uns lehrt, wie aus den in zween Staͤnden gemessenen Winkeln ein ganzes uͤbersehbares Feld in Grund gelegt werden kann, so will dieses eben so viel sagen, als aus der an zween Oertern observirten scheinbaren Lage der Gegenstaͤnde auf dem Felde ihre wahre Lage zu bestim- men. Denn die gemessenen Winkel geben an jedem Rande die scheinbare Lage an, da hingegen zu der wah- ren Lage nicht nur die Winkel, sondern auch die wahren Entfernungen gehoͤren. §. 61. Der objective Theil des Scheins der Din- ge laͤßt sich ebenfalls aus den Aenderungen der Sache selbst erkennen, wenn man diese aus andern Gruͤnden weiß, oder sie daraus schließen kann, daß der subjective und relative Theil des Scheins ungeaͤndert geblieben sind, oder keinen Einfluß in die bemerkte Aenderung des Scheins der Sache haben. Die Hauptfrage aber, die wir hiebey zu untersuchen haben, betrifft den Unter- schied dessen, was in den Koͤrpern wahr, real und Schein ist. Damit sind nun allerdings die Jdealisten am geschwindesten fertig, weil sie die ganze Koͤrperwelt als einen bloßen Schein ansehen. Sie reichen aber mit dieser kurzen Aufloͤsung der Frage nicht weit, weil sie bey ihrem allgemeinen Schein noch eben die Unter- schiede II. Hauptstuͤck. schiede zu machen haben, die wir zwischen dem Realen und dem Schein machen muͤssen, wenn wir Zusammen- hang und Ordnung von dem Unzusammenhaͤngenden und Verwirrten trennen wollen. §. 62. Wir werden in dieser Absicht die Begriffe, welche wir durch die Sinnen von den Koͤrpern haben, genauer betrachten. Die drey allgemeinsten sind die Ausdehnung, die Soliditaͤt und die Beweglich- keit. Der erste stellt uns den Raum, der zweyte die Ausfuͤllung des Raums mit etwas, das wir Dich- te oder Materie nennen koͤnnen, und der dritte die Moͤglichkeit, den Ort zu veraͤndern oder bewegt zu wer- den, vor. §. 63. Außer diesen drey Begriffen, welche sich auf alle Koͤrper ausdehnen, und worauf die Theorie ihrer Structur, ihrer Veraͤnderungen und ihres Mechanis- mus beruht, geben uns die Sinnen noch eine Menge von andern Begriffen, die nicht so allgemein sind. Da- hin rechnen wir die Begriffe der Farben, des Schalls, des Geruchs, des Geschmackes, der Haͤrtigkeit, Fluͤßigkeit, der Waͤrme und Raͤlte, des Schmer- zens ꝛc. Von diesen ist nun vornehmlich die Frage, ob es nur Bilder sind, unter welchen sich uns die Koͤr- per vorstellen, oder was davon den Koͤrpern selbst koͤn- ne zugeeignet werden? Wie ferne hierinn die Sprache des Wahren von der Sprache des Scheins abgehe, und wie ferne letztere ohne Nachtheil des Wahren ge- braucht und beybehalten werden koͤnne? §. 64. Um die Beantwortung dieser Fragen deut- licher zu machen, wollen wir den Begriff der Farben besonders vornehmen, und sehen, was die Versuche und die Anatomie des Auges uns hieruͤber angeben. Daß eine Mauer weiß scheine, dazu wird allerdings Licht erfordert, weil ohne Licht nichts sichtbar ist. Die Ca- mera obscura, mit welcher sich das Auge durchaus ver- gleichen Von dem sinnlichen Schein. gleichen laͤßt, zeigt uns, daß jede lichte und beleuchtete Objecte sich darinn abmalen, und ein gleiches Gemaͤlde findet sich auch auf dem Augennetze. Bis dahin kom- men folglich die von den Objecten in das Auge fallende Lichtstralen, so, daß wir eigentlich nicht die Objecte, son- dern dieses kleine Gemaͤlde oder den Eindruck der Licht- stralen empfinden. Demnach wird die weiße Farbe nicht so fast der Mauer, als den Lichtstralen, die sie zu- ruͤcke wirft, zugeschrieben werden koͤnnen, und der Mauer bleibt nichts, als daß sie eine Structur in ihren klein- sten Theilen habe, die das Licht, so wie es auffaͤllt, zu- ruͤck wirft, und nach genauern Versuchen nicht einmal alles. Die Lichtstralen bringen die Gesichtsnerven in Bewegung, und diese erweckt in uns den Begriff der Farbe der Mauer, oder eines jeden sichtbaren Gegen- standes. Ob die Lichtstralen an sich die Farbe haben, ist eine Frage, die nicht gemacht werden kann, weil sie die Objecte sichtbar machen, an sich aber nicht sichtbar sind. Wir koͤnnen demnach den Begriff der Farben weder den Objecten noch dem Lichte zueignen, sondern er gehoͤrt in das Gedankenreich, und wird durch die Structur der Objecte und die daherruͤhrenden Modi- ficationen der Lichtstralen nur veranlaßt. Wenn wir also sagen: die Mauer ist weiß, eine Rose ist roth ꝛc. so reden wir die Sprache des Scheins, und gebrauchen sie Abkuͤrzungsweise. Denn sonst muͤßten wir sagen: die Objecte werfen die Lichtstralen so zuruͤcke, daß uns z. E. die Mauer weiß, die Rose roth ꝛc. zu seyn scheint, oder die Begriffe dieser Farben in uns erregt werden. §. 65. Diese Betrachtung dehnt sich auf die uͤbri- gen vorhin (§. 63.) angefuͤhrten Begriffe aus. Jn Ansehung des Schalls ist sie noch offenbarer. Die Luft ist zur Fortpflanzung desselben nothwendig. Jn dem toͤnenden Koͤrper bemerkt man nur eine zitternde Be- wegung, welche Undulationen in der Luft hervorbringt, und II. Hauptstuͤck. und den Begriff des Schalles durch die Erschuͤtterung der Gehoͤrsnerven erregt. Wir sind auch um desto weniger gewoͤhnt, den Ton dem Koͤrper zuzueignen, weil er in Bewegung muß gesetzt werden, um einen Ton von sich zu geben. Bey den Empfindungen der uͤbrigen Sinnen findet sich ebenfalls, daß eine Bewe- gung dabey vorgehe, die von den empfundenen Obje- cten in den Empfindungsnerven verursacht wird, und den Begriff erregt, der jeder Empfindung eigen | ist. Wir merken noch an, daß diese Bewegung einen ge- wissen Grad der Staͤrke haben muͤsse, um den Begriff mit einem Bewußtseyn zu erwecken. §. 66. Obwohl demnach die (§. 63.) angefuͤhrten Begriffe uns die Koͤrper nur unter einem sinnlichen Bilde und dem Schein nach vorstellen, so ist dennoch dieser Schein real, so oft die Begriffe wirklich durch aͤußerliche Gegenstaͤnde erweckt werden, und daher nicht bloß subjectiv, sondern zugleich objectiv ist. Es setzt derselbe in den Koͤrpern eine zu jeder Art der Empfin- dung erforderliche Structur und mechanische Wirkung in die Empfindungsnerven voraus. Und so ferne wir diese Structur und den Mechanismum erklaͤren koͤn- nen, so ferne ist uns auch die wahre Sprache und die Uebersetzung aus derselben in die Sprache des Scheins bekannt. Widrigenfalls sind wir an die letztere gebun- den, und gebrauchen sie auch uͤberhaupt zur Abkuͤrzung der Ausdruͤcke, und weil uns die Koͤrper nach derselben am bekanntesten sind. §. 67. Daß aber die wahre physische Sprache sich auf die drey (§. 62.) angefuͤhrten Begriffe der Ausdeh- nung, Soliditaͤt und Beweglichkeit gruͤnde, erhellet aus der Allgemeinheit dieser Begriffe, weil wir ohne diesel- ben keinen Koͤrper gedenken koͤnnen. Man mag sich einen Koͤrper vorstellen, oder er mag wirklich existiren, so sind diese drey Begriffe wesentliche Stuͤcke davon. Hin- Von dem sinnlichen Schein. Hingegen faͤllt mit dem Licht die Farbe, mit der Luft der Schall und Geruch weg. Der Geschmack ist auch nicht bey allen, und die Waͤrme ebenfalls zufaͤllig ꝛc. Demnach sind alle diese Begriffe den Koͤrpern nicht wesentlich, sondern bloße Modificationen und Moͤglich- keiten. Auch die Veraͤnderungen in den Koͤrpern las- sen sich ohne die Begriffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweglichkeit nicht gedenken, und der Eindruck, den sie in die Sinnen machen, muß ebenfalls sich dar- aus begreiflich machen. Demnach beruht die wahre physische Sprache auch da noch auf diesen Begriffen, wo sie am naͤchsten an die Sprache des Scheins grenzt. Wir werden nun noch untersuchen, wie ferne wir in Ansehung der Empfindungen die wahre Sprache errei- chen koͤnnen. §. 68. Aus dem bisher gesagten erhellet, daß diese Sprache in der Erklaͤrung des Mechanismi bestehe, nach welchem die Objecte einen Eindruck in die Sin- nen machen, und sie dehnt sich auf jede Ausmessung der Grade aus, die dabey vorkommen, es sey, daß wir die Grade der Empfindung unmittelbar mit den Graden der wirkenden Ursache, oder wenigstens mit den Graden einer andern Wirkung vergleichen, die diese Ursache in dem Koͤrper selbst aͤußert, und die ausmeßbar ist. Je umstaͤndlicher und vollstaͤndiger wir alles dieses in Ab- sicht auf jede Sinnen und Empfindungen erreichen koͤn- nen, desto vollstaͤndiger und brauchbarer wird auch die wahre Sprache, und ihre Uebersetzung in die Sprache des Scheins. Wir wollen die bereits vorhandenen Beyspiele nach diesem Leitfaden durchgehen. §. 69. Hiebey hat nun das Auge betraͤchtliche Vor- zuͤge, weil die Wege des Lichtes und die Theorie des Sehens in der Optik bereits auf Gruͤnde gebracht sind. Man konnte am Rande des Schattens den Weg des Lichtes sehen, wie er gerade fortgeht, oder nach gewissen Lamb. Organon II B. R Ge- II. Hauptstuͤck. Gesetzen gebrochen oder reflectirt wird. Diese Gesetze sind nun ebenfalls so weit entdeckt, als sie zur Bestim- mung des Weges in jeden Faͤllen dienen, und dadurch ließe sich die Theorie des Bildes zu Stande bringen, welches sich von jeden sichtbaren und angeschauten Ob- jecten auf dem Augennetze abmalt. Die Groͤße und Figur desselben ist ausmeßbar, und das ganze Bild der Grund zur Theorie des optischen Scheins, weil sich un- ser Urtheil von dem Schein der sichtbaren Dinge ganz nach diesem Bilde richtet. Wo wir hierinn noch zu- ruͤcke bleiben, ist die genaue Ausmessung der Helligkeit und Farbe, weil wir beydes noch mit dem Auge schaͤtzen muͤssen. Es fehlt uns ein Jnstrument, welches die Grade der Helligkeit und Farbe ungefaͤhr so anzeigte, wie das Thermometer die Waͤrme, die Wage das Ge- wicht ꝛc. anzeigt. So dann bleiben wir in der Theorie von dem scheinbaren Orte der sichtbaren Dinge, und in der physischen Theorie der Materie des Lichtes und des Mechanismi seiner Fortpflanzung, Brechung und Zu- ruͤckprallung noch so weit zuruͤck, daß wir noch nicht alle Erscheinungen daraus erklaͤren und noch weniger unbe- kannte voraussehen koͤnnen. §. 70. Wie sich das Auge gleichsam selbst ausge- holfen hat, so hat es auch bey Erklaͤrung der uͤbrigen Sinnen, und besonders des Gehoͤrs, gute Dienste ge- than. Die zitternde Schwuͤnge gespannter Saiten sind sichtbar. Sie ließen sich in einigen Faͤllen abzaͤhlen, und mit der Laͤnge, Dicke und Spannung der Saiten, wie auch mit der Empfindung des Tones selbst verglei- chen. Dieses gab den Anfang zur Theorie der Toͤne und ihrer Harmonie und Dissonanz, welche man sodann auf Glocken, Pfeifen und andere toͤnende Koͤrper aus- zudehnen, und die Theorie der Undulation der Luft oder der Fortpflanzung des Schalles ebenfalls auf Gruͤnde zu bringen suchte. Hingegen beut uns das Ohr kein sicht- Von dem sinnlichen Schein. sichtbares Bild an, worauf solche Undulationen gleich- sam eingepraͤgt waͤren. Wir muͤssen es bey dem Hoͤ- ren bewenden lassen, und koͤnnen nur noch die Empfin- dung der Toͤne mit der Anzahl der undulirenden Schlaͤ- ge vergleichen, welche den Schall fortpflanzen. §. 71. Die Empfindung der Waͤrme wuͤrde noch dermalen sich selbst uͤberlassen seyn, wenn man nicht in den neuern Zeiten bemerkt haͤtte, daß die Waͤrme noch auf eine andere Art, naͤmlich durch die ausdehnende Kraft, kenntlich und der Ausmessung faͤhig ist. Nach- dem man aber dieses gefunden, so lassen sich die Grund- saͤtze vom Gleichgewichte und dem Beharrungsstande dabey anwenden, und selbst die Empfindung der Waͤr- me und Kaͤlte auf eine mathematische Theorie bringen. Das Sonnenlicht, welches zugleich empfindlich erwaͤrmt, und durch Glaͤser in beliebiger Verhaͤltniß staͤrker und schwaͤcher gemacht werden kann, giebt ebenfalls Versu- che an die Hand, wodurch die Theorie der Waͤrme sich erweitern laͤßt. §. 72. Dem Gefuͤhl haben wir die drey Grundbe- griffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweglich- keit zu danken, auf welchen die wahre physische Spra- che beruht. Mit diesen sind die Begriffe des festen, harten, weichen, zaͤhen, fluͤßigen ꝛc. in naher Ver- bindung, und lassen sich durch Theorie und Versuche nach ihren Graden und Modificationen sehr ausfuͤhr- lich entwickeln. Das Gefuͤhl ist unter allen Sinnen der unmittelbarste, und fuͤhrt daher an sich schon naͤher zu dem, was die Koͤrper sind. Denn das Auge sieht sie nur vermittelst des Lichtes, das Ohr bedarf der Luft, um das Hoͤrbare in ihrer zitternden Bewegung zu em- pfinden. Der Geruch empfindet nur die Ausfluͤsse, und der Geschmack nur die salzichten Theile. Demnach stellen uns diese vier Sinnen nur die Modificationen der Koͤrper vor. Hingegen haben wir den Begriff des R 2 etwas, II. Hauptstuͤck. etwas, welches das wesentliche der Koͤrper ausmacht, und sie von dem leeren Raume unterscheidet, dem Ge- fuͤhl zu verdanken, und koͤnnen die Theorie der Stru- ctur und des Mechanismus der Koͤrperwelt daher lei- ten, weil wir mit dem Begriffe der Ausdehnung die Geometrie, und mit den Begriffen der Soliditaͤt und Beweglichkeit die Phoronomie und Dynamik gleich- sam in unserer Gewalt haben. §. 73. Wir koͤnnen uns aber nicht die Rechnung machen, daß uns die Structur und der Mechanismus der Koͤrperwelt so bald werde durchaus bekannt wer- den. Es sind uns weder alle Materien bekannt noch alle empfindbar. Und auch bey den empfindbarn bleibt die Structur derselben in den kleinsten Theilen unsern Sinnen verborgen. Demnach wird es immer Faͤlle geben, wo wir an die Sprache des Scheins gebunden bleiben, so wie wir sie abkuͤrzungsweise auch da gebrau- chen, wo uns die wahre bekannt geworden. Der Schein dient uns immer, die Koͤrper von einander zu unterscheiden. Wir werden demnach nun untersuchen, wie er dazu gebraucht werden koͤnne. §. 74. Hiezu nehmen wir nun als einen Grundsatz an, daß die Jndividualien in dem Objecte, so ferne sie in die Sinnen einen Eindruck machen, auch in den Theilen dieses Eindruckes und den daher entstehenden Empfindungen und Be- griffen individual sind. Vermoͤg dieses Satzes beut jede Art der Koͤrper und auch jeder einzelne Koͤr- per den Sinnen etwas an, wodurch er von jeden andern unterschieden und erkennt werden kann. Es giebt aber allerdings Faͤlle, wo dieses Jndividuale muͤhsamer ent- deckt wird, und gleichsam aufgesucht werden muß, es sey, daß man die Sache auf Proben setze, oder mehrer Sinnen dazu gebrauche, oder Uebung dazu erforder werde, oder aus den Umstaͤnden und dem Zusammen hang Von dem sinnlichen Schein. hang der Dinge in der Natur Schluͤsse ziehen muͤsse, die den Anstand aufheben ꝛc. §. 75. So z. E. wenn man einen durchaus verguͤl- deten und einen wirklich guͤldenen Becher vor sich hat, so wird das Auge sie nicht unterscheiden. Hingegen kann das Ohr aus der Verschiedenheit des Klanges den Unterschied des Metalls bemerken, und zwar auf eine gedoppelte Art, wenn beyde von gleicher Figur und Groͤße sind. Unter eben dieser Bedingung wird sich auch ein Unterschied am Gewichte bemerken lassen. Die Chymie und Metallurgie geben eine Menge von Proben an, wodurch jede Mineralien und Metalle und ihre Grade gepruͤft werden koͤnnen, welche die Sinnen nicht zureichend beurtheilen wuͤrden. Jn der Astrono- mie hingegen hat man aus der Einrichtung des Welt- baues den Schluß gemacht, daß die Erscheinungen am Himmel, die nicht den 24stuͤndigen Umlauf mit den Sternen gemein haben, nicht zum Firmamente gehoͤren, sondern nur in der Luft sind. §. 76. Wir koͤnnen aus diesen Beyspielen sehen, daß die Wiederholung der Empfindung einer Sache in jeden Umstaͤnden und Abwechslungen, die genauere Kenntniß dieser Umstaͤnde und der Gesetze ihrer Ver- aͤnderungen dazu beytragen, dieselbe kenntlicher zu ma- chen, und sie von andern, die nur den Schein davon ha- ben, zu unterscheiden. So irren wir uns selten in An- sehung der Dinge, mit welchen wir taͤglich umgehen, oder die den Gegenstand unserer Lebensart und Be- schaͤfftigung ausmachen, und in unbekanntern Dingen sind wir gewoͤhnt, diejenigen zu fragen, die Uebung und Erfahrung darinn haben. Ein Juwelierer, der taͤglich Edelgesteine von jeden Arten unter Haͤnden hat, macht sich ihre Kennzeichen dergestalt bekannt, daß er sie nicht nur von einander, und die wahren von den falschen un- terscheiden, sondern auch die Grade ihrer Feinheit und R 3 Guͤte II. Hauptstuͤck. Guͤte schaͤtzen kann. Man ist eben so in allen Dingen, wo Verfaͤlschung und Betrug mit unterlaͤuft, auf feine- re Unterscheidungsstuͤcke des Wahren von dem Falschen bedacht, um sich nicht durch nachgeaͤften Schein blen- den zu lassen. Und dieses ist auch alles, was man fuͤr solche Faͤlle anrathen kann, wo man Betrug, Schaden und Verspottung zu befahren hat, wenn man den Schein von dem Wahren, und das Falsche von dem Aechten nicht zu unterscheiden weiß. Uebrigens giebt es auch Faͤlle, wo Kenner sich irren, und wo ihre Scharfsichtigkeit und Sorgfalt nicht ausreicht, den Be- trug zu bemerken, oder wo die Sache selbst die feinern Proben nicht zulaͤßt. Die Archimedische Probe, die Verfaͤlschung einer guͤldenen Krone durch den Unter- schied des Gewichts zu entdecken, ist bey einem solchen Anlasse erfunden worden. Die Krone sollte ganz blei- ben, allenfalls sie aͤcht befunden wuͤrde. §. 77. Ueberhaupt betrachtet, machen die gar zu große Aehnlichkeit zwoer verschiedener Sachen, und hinwiederum die gar zu große Veraͤnderung einer glei- chen Sache, die Faͤlle aus, wo uns der Schein am leichtesten taͤuscht, und zwar ohne Ruͤcksicht auf das, was der Mangel des behoͤrigen Bewußtseyns der Aufmerk- samkeit und Uebung dazu beytragen kann. Der erste Fall, wo naͤmlich die Aehnlichkeit taͤuscht, begreift zween specialere Faͤlle unter sich. Denn einmal koͤnnen zwey Indiuidua einander sehr aͤhnlich seyn, und uns verleiten, eines fuͤr das andere zu nehmen. Jn vielen Faͤllen hat dieses nichts zu sagen. So z. E. wenn man von je- mand Geld zuruͤckzufordern hat, und man sieht nur auf die Summe, so waͤre es unnoͤthig, und mehrentheils un- moͤglich, eben die Stuͤcke wiederzufordern, die man ausgeliehen. Hingegen vertauscht man solche Dinge, die ein Pretium affectionis haben, nicht gern gegen an- dere oder nachgemachte von gleicher Art. Man ist auch laͤngst Von dem sinnlichen Schein. laͤngst schon daran gewoͤhnt, die Sachen, so leicht ver- lohren gehen oder verwechselt werden koͤnnen, z. E. Hausgeraͤthe, Leinenzeug, Buͤcher ꝛc. zu bezeichnen, um sie auf die leichteste Art kenntlich zu machen, zumal wenn sie durch den Gebrauch abgenutzt, und daher ihre Jndividualkennzeichen taͤglich veraͤndert werden. §. 78. Sind aber nicht Indiuidua, sondern ein In- diuiduum mit der Art zu vergleichen, so koͤmmt es al- lerdings auf die Kennzeichen der Art an, und auf Pro- ben, die das Indiuiduum aushalten muß, dafern es zu der Art gehoͤren soll. Dieses ist schon mehr wissen- schaftlich. Man kann auch nicht sagen, daß uns weder jede Arten der Dinge, noch jede von ihren Kennzeichen bekannt sind, so sehr man sich in den neuern Zeiten hat angelegen seyn lassen, die Naturgeschichte vollstaͤndiger zu machen. Wer viel mit einer Art von Dingen um- geht, macht sich allerdings ihre Kennzeichen und Proben besser bekannt, und muß es thun, wenn das Jrren Schaden bringen wuͤrde. Die Kennzeichen und Pro- ben der Metalle, Mineralien, Kraͤuter, Steine, Krank- heiten ꝛc. sind in dieser Absicht wichtig, und noch immer mehrerer Vollstaͤndigkeit faͤhig. Wir merken hiebey an, daß es sehr schwer, und mehrentheils unmoͤglich ist, al- les Jndividuale, so in den Empfindungen liegt, mit Worten auszudruͤcken, und daher die oͤftere Wiederho- lung der Empfindung der Sachen in jeden Umstaͤn- den vor der Beschreibung derselben viel voraus hat (§. 76.). §. 79. Der andere Fall, wo naͤmlich eine Sache durch merkliche Veraͤnderungen nach und nach unkennt- lich wird, und daher als eine ganz verschiedene Sache vorkommen kann, findet sich auf vielerley Arten bey den meisten Dingen in der Natur. Was man dabey thun kann, ist, daß man die Veraͤnderungen und die Gesetze derselben stuffenweise bemerke. Diese Bemerkungen R 4 machen II. Hauptstuͤck. machen einen wesentlichen Theil der Naturgeschichte aus. Das Wachsthum der Pflanzen und Thiere, die Verwandlungen der Nahrung in jede Saͤfte, die Auf- loͤsung, Faͤulniß, Verwesung, Vermoderung ꝛc. jede chymische Processe der Natur und Kunst gehoͤren saͤmt- lich hieher. Und da solche Veraͤnderungen in den klein- sten Theilen vorgehen, so laͤßt sich der Mechanismus davon selten oder gar nie erklaͤren, daher muß man es fast nothwendig bey der Bemerkung der Jngredientien und der daraus erfolgenden scheinbaren Veraͤnderungen bewenden lassen. Dadurch erhalten wir statt der wis- senschaftlichen Erkenntniß, eine bloß historische, zumal wo die wirkenden Ursachen unempfindbar sind, und ihr Daseyn erst aus der erfolgten Veraͤnderung muß ge- schlossen werden, wie z. E. wenn ein Stuͤck Eisen durch die Laͤnge der Zeit magnetisch wird. §. 80. Die bisher (§. 77. seqq. ) betrachteten zween Faͤlle, sind die aͤußersten von sehr vielen andern, wo bey Vergleichung der Dinge Aehnlichkeiten und Ver- schiedenheiten zusammentreffen, und wo die Frage, ob sie einerley sind, oder zu einer gleichen Art gehoͤren, oder verschieden, oder von verschiedener Art sind, leichter ent- schieden wird. Die Vergleichung der Aehnlichkeiten hat schon laͤngsten zu der Eintheilung der Dinge in Ar- ten und stuffenweise hoͤhere Gattungen Anlaß gegeben. Wir werden hier nicht wiederholen, was wir in den zwey ersten Hauptstuͤcken der Dianoiologie hieruͤber an- gemerkt haben, wo von dem Unterschiede der Begriffe und ihren Eintheilungen die Rede war, in so ferne sie ohne Ruͤcksicht auf den Unterschied des Wahren und des Scheins, uͤberhaupt nur als Begriffe zu betrachten vorkamen. Hier aber, wo wir auf diesen Unterschied sehen, koͤnnen wir uͤberhaupt anmerken, daß wir die Eintheilung der koͤrperlichen Dinge in Arten und Gat- tungen, noch groͤßtentheils nur in der Sprache des Scheins Von dem sinnlichen Schein. Scheins haben, und uns statt der wahren Unterschie- de der Arten noch immer nur mit Kennzeichen be- gnuͤgen muͤssen, wenn wir sie mit Worten kenntlich ma- chen wollen. Denn der Anblick, und uͤberhaupt die Empfindungen, machen uns dieselbe durch ihre Bilder (§. 5.) auf eine ganz individuale Art (§. 74. 76.) be- kannt, und wir duͤrfen dabey weiter nichts, als mit die- sen Empfindungen die Namen verbinden. Sollen sie aber durch Worte kenntlich gemacht werden, so nehmen wir die in die Sinnen fallenden Theile, Figur ꝛc. da- durch sie am kenntlichsten sind, wie z. E. bey den Edel- gesteinen, die Figur, welche sie durch die Chrystallisation erhalten, bey den Kraͤutern die Anzahl, Figur und La- ge der Blaͤtter, Staubfaͤden ꝛc. ihrer Blumen. Solche Beschreibungen dienen aber nur, die Arten kenntlich zu machen, ohne uns von ihrem Wesen, Eigenschaften, Wirkungen, Verhaͤltnissen ꝛc. das geringste anzugeben, als welches durch Versuche gefunden werden muß, weil der Weg, es aus solchen Kennzeichen zu schließen, zu weit, und noch unbekannt, und vermuthlich auch nicht zureichend ist. §. 81. Jn so ferne die Begriffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweglichkeit, die Grundlage zu der wahren physischen Sprache sind, in so ferne dient auch alles, was wir von der scheinbaren Gestalt der Koͤrper mit diesen Eigenschaften derselben in Verbin- dung bringen koͤnnen, zu der Vergleichung und Ver- bindung der wahren Sprache und der Sprache des Scheins. Letztere muͤssen wir gebrauchen, wo uns die Koͤrper noch weiter nicht als nach den Empfindungen bekannt sind, und sich uns folglich nur noch durch den Schein kenntlich machen. Wir koͤnnen sie auch ge- brauchen, weil dieser Schein real, und an Gesetze ge- bunden ist, und weil das Jndividuale in den Koͤrpern auch den objectiven Schein derselben individual macht R 5 (§. 74.). II. Hauptstuͤck. (§. 74.). Was wir aber von ersterwaͤhnten dreyen Begriffen und ihren Modificationen und Verhaͤltnissen in die Sprache des Scheins mit einmengen, ist immer mehr oder minder von der wahren Sprache hergenom- men. So z. E. haben wir durch das Gefuͤhl einen Begriff von der Haͤrtigkeit eines Koͤrpers. Ver- gleichen wir damit die Begriffe der Ausdehnung, Soliditaͤt, Theile, Zusammensetzung, und der zusammenhaͤngenden oder druͤckenden Kraͤfte, so bringen wir endlich den Schluß heraus, daß der Koͤr- per dadurch hart sey, weil er durch aͤußerliche Gewalt in Stuͤcke getrennt werden muß, und weil ohne eine sol- che Gewalt seine Theile beysammen bleiben. Dadurch bestimmen wir zwar nur die Bedingungen, unter wel- chen ein Koͤrper durch das Gefuͤhl den Begriff der Haͤrtigkeit in uns erweckt. Dieser Begriff wird aber dadurch mit der Vorstellung der Sache selbst in Ver- bindung gebracht. Es ist uͤberhaupt mit den Begrif- fen, so uns die Empfindungen veranlassen, immer eine wirkliche Eigenschaft und Modification der Koͤrper selbst verbunden, die uns anzeigt, was die Sache an sich ist, so bald wir sie durch die Structur und den Mechanis- mus der Koͤrperwelt erklaͤren koͤnnen. §. 82. Nach den bisher angebrachten Betrachtun- gen wenden wir uns nun zu der Eroͤrterung der Frage, wo Schein und Wahres in Ansehung der Em- pfindungen zusammentreffe? Es versteht sich fuͤr sich, daß hier nicht von dem organischen, sondern rea- len physischen Schein die Rede ist. Diese Frage ha- ben wir durch die bereits angestellten bisherigen Unter- suchungen so weit eroͤrtert, daß wir die Begriffe der Farben, des Schalles, ꝛc. (§. 63.) schlechthin in das Gedankenreich verwiesen, und dabey angemerkt haben, daß sie, in so fern sie physischer Schein sind, oder uns die Koͤrper unter sinnlichen Bildern vorstellen, jedesmal durch Von dem sinnlichen Schein. durch wirkliche Eigenschaften und Modificationen der Koͤrper, und vermittelst eines dabey vorgehenden Me- chanismus veranlaßt oder in uns erweckt werden. Alle diese von den Sinnen herruͤhrende Begriffe haben das besonders, daß der Mechanismns, wodurch sie erweckt werden, selbst von uns nicht empfunden wird. Wir muͤssen ihn durch Schluͤsse, anatomische Observationen und Versuche herausbringen, und auch dieses ist uns bisher noch nicht durchaus gelungen. Es ist daher al- lerdings betrachtenswuͤrdig, daß diejenigen Theile der Structur und des Mechanismus in der Koͤrperwelt, die wir wegen der Feinheit nicht einzeln empfinden, und sie uns folglich nicht unter den Begriffen der Ausdeh- nung, Soliditaͤt und Beweglichkeit durch unmit- telbare Empfindungen vorstellen koͤnnen, uns unter Bil- dern empfindlich sind, die den Koͤrpern selbst nicht an- ders als ein Schein koͤnnen beygelegt werden. Hinge- gen wo die Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweg- lichkeit, wie bey großen und festen Koͤrpern, in die Sinnen faͤllt, da stellen wir uns diese Eigenschaften nicht unter fremden Bildern, sondern an sich vor, und empfinden sie auch als solche. Die Vergoͤßerungsglaͤ- ser helfen uns diese Betrachtung durch die Erfahrung bestaͤtigen, weil sie diese drey Begriffe auch da noch em- pfindbar machen, wo das bloße Auge hoͤchstens nur Far- ben sieht. Die Beobachtung der rothen Kuͤgelchen, die dem Blut die Farbe geben, und ihrer Bewegung, die desselben Umlauf augenscheinlich machen, mag hier zum Beyspiele dienen. §. 83. Ungeacht wir demnach das Wahre in den Empfindungen nur bey den Begriffen der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweglichkeit zu suchen haben, weil die uͤbrigen sinnlichen Begriffe (§. 63.) uns nur Schein zeigen, so kann man doch nicht sagen, daß diese drey Begriffe und ihre Modificationen ganz ohne Schein sind. II. Hauptstuͤck. sind. Denn die wahre Ausdehnung, Soliditaͤt und Bewegung ist von der empfundenen oder scheinba- ren fast immer verschieden. Jndessen giebt es Faͤlle, wo sie zusammentreffen, und die Bestimmung derselben macht demnach die Aufloͤsung der erst vorgelegten Frage (§. 82.) vollstaͤndig. Wir sind nicht gesonnen, dieselbe hier so vollstaͤndig vorzutragen, weil wir einen betraͤcht- lichen Theil der Optik ausschreiben muͤßten, sondern werden nur einige Beyspiele anfuͤhren. Die schein- bare Groͤße ist der flache oder auch der solide Winkel, den die Objecte im Auge machen. Man kann leicht zeigen, daß es moͤglich ist, einen gleichseitigen Triangel so anzuschauen, daß die scheinbare Groͤße jeder Seite ebenfalls gleich ist. Hier trifft demnach Wahrheit und Schein zusammen. Der Triangel ist und scheint gleich- seitig. Wiederum ein Koͤrper, der sich mit gleicher Ge- schwindigkeit in einem Circul bewegt, oder bewegt wird, in dessen Mittelpunkt oder Axe das Auge ist, wird auch eine scheinbare gleiche Geschwindigkeit haben. Jn An- sehung der Soliditaͤt ist das Gefuͤhl nicht empfindlich genug, die kleinern Unterschiede in der Haͤrtigkeit der Koͤrper zu bemerken, ungeacht es bey weichern die Gra- de noch ziemlich unterscheidet, und bey gleich weichen ebenfalls eine bemerkbare Gleichheit fuͤhlet. §. 84. Es geben uns aber uͤberhaupt die Sinnen die Grade der Empfindungen nicht genau an, und die kleinern Unterschiede zwischen denselben sind uns un- merkbar. Wir finden dieses in denen Faͤllen, wo wir das Urtheil des Sinnes durch Wiederholung der Em- pfindung oder durch andere Proben pruͤfen koͤnnen. So z. E. wenn auf dem Felde einerley Winkel mehrmalen gemessen wird, so findet sich fast immer ein kleiner Un- terschied. Zwo Farben koͤnnen uns gleich scheinen, wenn wir schon aus den Jngredientien offenbar wissen, daß sich ein kleiner Unterschied zeigen sollte. Zwo Hellig- keiten Von dem sinnlichen Schein. keiten scheinen uns gleich, wenn auch der Abstand des Lichtes uns versichert, daß sie um \{1}{30} oder noch merkli- chern Theil verschieden sind. Jn Ansehung der Toͤne zeigt uns die Laͤnge der Saiten ebenfalls, daß wir die kleinern Unterschiede nicht bemerken. Das Augen- maaß, die Schaͤtzung der Gleichheit zweyer Gewichter, zweener Grade der Waͤrme ꝛc. sind noch unzuverlaͤßi- ger, wenn wir Zirkel, Maaßstab, Wage und Thermo- meter zur Pruͤfung gebrauchen. Solche Schaͤtzungen koͤnnen zuweilen zutreffen. Denn wenn in der That eine Gleichheit da ist, so wuͤrde es Unachtsamkeit oder eine Veraͤnderung in dem Sinne anzeigen, wenn sie uns merklich ungleich vorkaͤme. Wird aber die Beob- achtung mehrmalen wiederholt, so faͤllt dieses zufaͤllige Uebereinstimmen weg. Und wo man es in der That muß auf das Urtheil der Sinnen ankommen lassen, da ist die Wiederholung deswegen dienlich, weil sich aus allen das Mittel nehmen laͤßt. Dieses wird, wofern man nicht vorsetzlich sorglos seyn oder fehlen will, zuver- laͤßiger, als jede einzelne Schaͤtzung, fuͤr sich betrach- tet, seyn. §. 85. Aus der erst angestellten Untersuchung und Aufloͤsung der (§. 82.) vorgelegten Frage erhellet, daß wir den physischen Schein in zwo ganz verschiedene Hauptclassen eintheilen koͤnnen, wenn wir ihn mit dem Wahren, das dabey zum Grunde liegt, vergleichen. Zu der ersten Classe gehoͤren die Begriffe der Farben, des Schalls, ꝛc. (§. 63.) welche uns die Dinge unter ganz fremden Bildern vorstellen, und wobey folglich der Schein von dem Wahren der Art nach verschieden ist, weil das, was wir uns unter diesen Begriffen vor- stellen, nicht in den Koͤrpern selbst ist, sondern nur durch die Structur und den Mechanismus derselben veran- laßt wird. Zu der andern Classe gehoͤren die drey Be- griffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweg- lichkeit II. Hauptstuͤck. lichkeit (§. 62.) mit ihren Bestimmungen, Modifica- tionen und Verhaͤltnissen. Jn Ansehung dieser Be- griffe ist der Schein von dem Wahren nicht der Art nach, sondern hoͤchstens nur den Graden nach ver- schieden, und daher geht auch die Sprache des Scheins von der wahren Sprache bey dieser zweyten Classe nicht in den Worten, sondern nur in dem Gebrauch der Worte ab. Z. E. Was uns ausgedehnt zu seyn scheint, ist auch in der That ausgedehnt; wo eine scheinbare Bewegung ist, da ist auch in der That eine Bewegung ꝛc. §. 86. Man sieht leicht, daß sich die Uebersetzung aus der Sprache des Scheins in die wahre, und hin- wiederum aus dieser in jene, nach dem erst angezeigten Unterschiede beyder Classen richten muß. So ferne die scheinbare Ausdehnung und Bewegung, daher auch die scheinbare Figur, Groͤße, Lage, Ort, Entfernung, ꝛc. mit der wahren, nach dem Urtheil des Auges muß vergli- chen werden, dafuͤr hat man in der Optik laͤngst schon Gruͤnde festgesetzt, sowohl um aus dem Wahren den Schein, als auch hinwiederum aus dem Schein das Wahre zu bestimmen. Wir haben schon oben (§. 69.) angemerkt, daß die Bestimmung des scheinbaren Orts der Dinge und ihrer Entfernung noch etwas zuruͤck- bleibe, und aus gleichen Gruͤnden ist auch die Bestim- mung der scheinbaren Woͤlbung des Himmels noch ei- ner vollstaͤndigern Theorie beduͤrftig. Uebrigens haben sich die Astronomen die optischen Lehrsaͤtze bisher noch am meisten zu Nutze gemacht, aus der scheinbaren Lage und Bewegung der Sterne die wahre zu finden, und hinwiederum aus dieser jene vorauszusagen. §. 87. Hingegen ist die Uebersetzung aus der Spra- che des Scheins in die wahre, und hinwiederum aus dieser in jene, in Ansehung der Begriffe der ersten Classe ganz anders beschaffen, und bleibt noch in den meisten Faͤllen weit zuruͤcke. Wir haben oben (§. 69. seqq. ) Von dem sinnlichen Schein. seqq. ) gesehen, wie ferne es uns hiebey noch dermalen gelungen, wenigstens Vergleichungen der Grade des Wahren mit den Graden des Scheins zu bestimmen, und etwas von dem Mechanismo, so bey den Empfin- dungen vorgeht, zu entdecken. So haben wir auch (§. 58.) bey der Betrachtung des relativen Theiles des Scheins angezeigt, in welchen Faͤllen derselbe etwas Absolutes oder Natuͤrliches hat, worauf die uͤbrigen Faͤlle, da der Schein durch die Umstaͤnde geaͤndert wird, bezogen werden muͤssen. Denn darauf hat man aller- dings Achtung zu geben, wenn man den Schein, den jeder Koͤrper nach jeden Arten der Empfindungen an sich hat, von den zufaͤlligen Aenderungen unterscheiden will, die nicht von dem Koͤrper selbst, sondern von mit- wirkenden Ursachen und Umstaͤnden herruͤhren. §. 88. Wir muͤssen noch anmerken, daß es in An- sehung der zweyten Classe leichter ist, die Sprache des Scheins und des Wahren zu vermengen, und dadurch Jrrthum und Verwirrung in unsere Erkenntniß zu bringen, als bey der ersten Classe. Denn bey der zwey- ten Classe kommen beyde Sprachen in den Worten uͤber- ein, weil die Begriffe der Ausdehnung, Soliditaͤt und Beweglichkeit nebst ihren Modificationen die Grundlage zu beyden sind. Hingegen so bald man ein- mal weiß, daß die Begriffe der Farben, des Schal- les, ꝛc. nur Bilder sind, unter welchen uns die Koͤrper ihre uns unempfindbare Structur und Mechanismus vorstellen, so weiß man ein fuͤr allemal, daß diese Bil- der schlechthin zu der Sprache des Scheins gehoͤren, welche hiebey von der wahren auch in den Worten ab- geht. Es ist aber bey der ersten Classe leichter, einen Schein mit dem andern zu verwechseln, weil eine Sache den Schein der andern haben kann (§. 74. seqq. ). §. 89. Da bey den Koͤrpern immer eine Eigenschaft, Modificatioͤn, ꝛc. zum Grunde liegt, welche durch die Empfin- II. Hauptstuͤck. Empfindung derselben solche Bilder in uns erregt, so koͤnnen wir diese Bilder gewissermaßen als Zeichen solcher Eigenschaften und Modificationen ansehen, die durch Gesetze der Natur mit denselben verbunden sind. Sie sind Zeichen, so fern wir uͤberhaupt jede Wirkung als ein Zeichen ihrer vorhandenen Ursache ansehen koͤn- nen. Und wir koͤnnen sie fuͤr nicht mehr als Zeichen ansehen, so bald wir ein fuͤr allemal wissen, daß sie nicht den Koͤrpern selbst zukommen, sondern durch die Stru- ctur und den Mechanismus derselben, vermittelst der Empfindung in uns erregt werden. Es ist uns auch diese Benennung nur deswegen ungewoͤhnter, weil uns diese Structur und Mechanismus nicht in die Sinnen faͤllt, und auch dermalen noch nicht durch Schluͤsse ge- nug entdeckt ist. So z. E. wissen wir nunmehr in An- sehung der Farben so viel, daß ein Koͤrper absolute weiß ist, wenn er die Lichtstralen in eben der Verhaͤlt- niß zuruͤcke wirft, in welcher sie auffallen, und je genau- er letzteres ist, desto mehr naͤhert sich die Farbe des Koͤr- pers dieser absoluten Weiße. Wir koͤnnen demnach vermoͤg dieses Satzes die weiße Farbe an jedem Koͤr- per, der sie hat, als ein Zeichen ansehen, daß die Stru- ctur seiner Theile zu einer solchen proportionirten Zu- ruͤckwerfung des Lichtes muͤsse eingerichtet seyn. Und sollte uns diese Structur kuͤnftig noch genauer und fuͤr jede Grade bekannt werden, so wuͤrde sich die Bedeu- tung des Zeichens eben so weit erstrecken. So sind wir schon gewoͤhnt, jede Helligkeit als ein Zeichen der Gegenwart eines Lichtes anzusehen, wenn wir auch das Licht selbst nicht sehen. §. 90. Wenn wir demnach die Sprache des Scheins gebrauchen, und z. E. sagen, ein Koͤrper sey weiß, roth, blau ꝛc. so legen wir der bezeichneten Sache den Na- men und Begriff des Zeichens, oder der wirkenden Ur- sache den Namen des dadurch veranlaßten Begriffes bey. Von dem sinnlichen Schein. bey. Und darinn besteht folglich der Jrrthum, den wir mit unterlaufen lassen, wenn wir die Sprache des Scheins fuͤr die wahre ansehen. Sehen wir sie aber als eine Aufhaͤufung von Metonymien und Metaphern an; so faͤllt dieser Jrrthum weg, weil wir in den Spra- chen solche Verwechslungen der Namen in Menge ha- ben. Und da ist es genug, daß wir sie als solche er- kennen. §. 91. Aus allem bisher gesagten erhellet, daß die Koͤrperwelt sich uns in allewege nur nach ihrem Schein zeigt. Denn auch die wenigen Faͤlle, wobey Wahrheit und Schein zusammentrifft (§. 83.), sind auch von der Art, daß wir diese Uebereinstimmung beweisen muͤssen. Man hat daher in der Astronomie laͤngst schon die Sorgfalt gehabt, die Beobachtungen und Erfahrungen in der Sprache des Scheins vorzutragen, um nicht das, so man wirklich erfahren oder beobachtet hat, mit den daraus gezogenen Schluͤssen zu vermengen. Diese Regel wird auch in der Versuchkunst vorgeschrieben, und sollte, wenn man genau gehen will, bey jeden Erfahrungen, Beobachtungen und Versuchen gebraucht werden. Jhre Ausuͤbung, und die Vorschriften dazu, machen einen be- traͤchtlichen Theil der transcendenten Perspective aus, wovon wir oben (§. 4.) den Begriff gegeben ha- ben. Hier haben wir sie nur noch in Absicht auf die Sinnen zu betrachten, und werden daher nach dem, so wir schon in dem achten Hauptstuͤcke der Dianoiologie angebracht haben, noch folgende Anmerkung daruͤber machen. §. 92. Einmal ist es bey denen (§. 85.) angefuͤhr- ten Begriffen der zweyten Classe leichter, die Erfahrun- gen, Beobachtungen und Versuche genau in der Spra- che des Scheins vorzutragen, weil die scheinbare Aus- dehnung und Bewegung nicht nur in die Augen faͤllt, sondern ausgemessen, und folglich nach aller Schaͤrfe Lamb. Organon II B. S bestimmt II. Hauptstuͤck. bestimmt werden kann. Damit darf man nur aufzeich- nen, was man wirklich ausmißt, und diß sind ordentlich Zeit und Winkel, weil die scheinbare Ausdehnung durch Winkel gemessen, und zur Bestimmung der schein- baren Bewegung, die Zeit mit in die Rechnung gezogen werden muß. Hievon geben bald alle Astronomische Observationen Beyspiele, und es war den Astronomen leichter, und fast das einzige, was sie thun konnten, sich mit Ausmessung der Zeit und Winkel zu beschaͤfftigen, und beydes so, wie sie es befunden, aufzuzeichnen. Man hat auch Ursach, das, so jemand aus seinen Beobachtun- gen schließt, dahingestellt seyn zu lassen, dafern er nicht diese angiebt, und ausfuͤhrlich zeigt, wie er die Schluͤsse daraus gezogen. Es ist leicht, Umstaͤnde zu vergessen, sich zu uͤberrechnen, sich im Schließen zu uͤbereilen ꝛc. §. 93. Bey den Begriffen der ersten Classe (§. 85.) geht es hingegen nicht so leicht an, die Beobachtungen von den Schluͤssen, so man daraus zieht, zu trennen, und in der Beschreibung der Beobachtungen nichts an- ders zu benennen, als was wir unmittelbar empfinden. Man wuͤrde oͤfters dadurch ohne Noth in eine fast laͤ- cherliche Weitlaͤuftigkeit fallen, wenn man statt des Na- mens der Dinge und ihrer Theile, die Figur, Farbe, scheinbare oder wahre Groͤße ꝛc. anzeigen wollte. Die- ses thut man nur in Ansehung ganz unbekannter Dinge. Und solche Beschreibungen sind mehrentheils so man- gelhaft, daß man die Sache daraus nicht erkennen wuͤr- de. Man ist daher laͤngst schon darauf verfallen, solche Beschreibungen durch Gemaͤhlde, Figuren, Modelle, ꝛc. abzukuͤrzen, und dadurch die Dinge denen kenntlicher zu machen, die sie selbst noch nicht gesehen haben. Bey be- kannten und taͤglich vor Augen schwebenden Dingen be- gnuͤgt man sich allerdings kuͤrzer mit dem Namen der Sache, und in zweifelhaftern Faͤllen, oder wo man sorg- faͤltiger seyn muß, sich zu versichern, ob es eben die Sache Von dem sinnlichen Schein. Sache sey, die man sich vorstellt, oder die den Namen hat, koͤmmt es auf die oben schon (§. 74. seqq. ) ange- gebenen Vorsichtigkeiten an, das, was man empfindet, von allem zu unterscheiden, was wir wegen Aehnlichkeit der Empfindung damit verwechseln koͤnnten. §. 94. Wir haben eine Menge Woͤrter in der Spra- che, wodurch wir gleichsam abkuͤrzungsweise sehr zusam- mengesetzte Dinge, Veraͤnderungen und Handlungen benennen koͤnnen. Jn einzelnen Faͤllen aber kann es geschehen, daß wir solche Dinge, Veraͤnderungen und Handlungen nicht ganz, sondern nur zum Theil sehen oder empfinden, und folglich den nicht empfundenen Theil durch Schluͤsse herausbringen muͤssen, es sey, daß wir dessen Daseyn aus dem wirklich Empfundenen oder aus andern Gruͤnden erweisen koͤnnen. Will man dem- nach hiebey sorgfaͤltig verfahren, so ist allerdings noth- wendig, das Empfundene einzeln und stuͤckweise anzu- zeigen, und sodann auch die Schluͤsse, wodurch man das uͤbrige bestimmt, aus einander zu setzen, besonders wo das, so man durch Schluͤsse bestimmt, ohne dieselbe mehrerley Bestimmungen leiden koͤnnte, wie z. E. die Absichten bey Handlungen, die Ursachen bey Veraͤnde- rungen, ꝛc. Es ist fuͤr sich klar, daß man oͤfters auch den Umfang von der Bedeutung der Woͤrter genauer bestimmen und angeben muͤsse, die man bey solchen Er- fahrungen und Beobachtungen gebraucht, damit nicht statt des Jrrthums, den man in der Sache vermeiden will, aus den Worten ein anderer entstehe. S 2 Drittes III. Hauptstuͤck. Drittes Hauptstuͤck. Von dem psychologischen Schein . §. 95. W ir sind in vorhergehendem Hauptstuͤcke bey dem unmittelbar von den aͤußern Sinnen herruͤhren- den Schein stehen geblieben, und haben denselben an sich betrachtet, ohne noch zu sehen, wieferne die dadurch veranlaßten Begriffe sich auch ihrem Schein nach in das abstractere Gedankenreich einmengen, oder wieferne selbst auch die aͤußern Sinnen Quellen und Ursachen des psychologischen Scheins sind, zu dessen Unter- suchung wir nun fortschreiten werden. Die Eroͤrterung dieser Frage wird um desto erheblicher, weil die von den Sinnen herruͤhrenden Begriffe die Grundlage und der Anfang zu unserer abstracten Erkenntniß sind. Und da ist allerdings zu vermuthen, daß sich der sinnliche Schein auch in diese einmenge, und darinn das Scheinbare mit dem Wahren vermische. Ueberdieß laͤuft bald in allem, was wir von Koͤrpern und der Koͤrperwelt reden, die Sprache des Scheins und die wahre Sprache durch einander, theils weil erstere zur Abkuͤrzung dient, theils weil wir letztere noch lange nicht durchaus wissen. Die Frage ist demnach, wieferne dessen uneracht wahre Verhaͤltnisse bestimmt werden koͤnnen, und wieferne selbst der Schein uns zu richtigen abstracten Begriffen fuͤhre? §. 96. Ueber diese Frage koͤnnen wir nun verschie- dene zu ihrer Aufloͤsung dienende Anmerkungen machen. Einmal macht uns der sinnliche Schein die Koͤrper kenntlich, und zwar desto genauer, je vollstaͤndiger er ist, (§. 74. Von dem psychologischen Schein. (§. 74. seqq. ). Besonders aber dienen uns die daher- ruͤhrenden Begriffe als natuͤrliche und genau passende Zeichen von Eigenschaften der Koͤrper, die nicht selbst in die Sinnen fallen, sondern erst durch Schluͤsse muͤs- sen gefunden werden (§. 89. 82.). Sodann wie sich uns auch immer die Koͤrper nach ihrem Schein zeigen, so findet sich der Begriff der Soliditaͤt, und daß es Dinge sind, mit dabey, und in Ansehung des Auges wuͤrde die Empfindung der Ausdehnung, Figur und Bewegung wegfallen, wenn die Koͤrper nicht durch Licht und Farben sichtbar waͤren. So ist auch bey je- den sichtbaren Handlungen Figur und Bewegung sichtbar. Und in so ferne mengt sich in das Scheinbare der Koͤrperwelt immer viel Wahres mit ein, welches ausgelesen und besonders betrachtet werden kann. §. 97. Wir machen ferner in vielen Faͤllen aus dem Schein, den uns die Koͤrper zeigen, ein Hauptwerk. Die Faͤrbe- und Malerkunst, die Musik und der feinere Theil der Kochkunst sind Proben davon. Jn dieser Absicht hat auch der Schein, als Schein betrachtet, sei- ne Grade, Verhaͤltnisse, Harmonien und Annehmlich- keiten. Ueberdieß sind die Theile des Scheins so mit einander verbunden, daß man, wenigstens mittelst der Erfahrung, von dem einen auf die andern schließen kann. Und wo wir das Reale oder Wahre bereits wissen, da giebt uns der Schein dasselbe und dessen Grade an, weil sich die scheinbaren Grade nach den wahren richten, so oft nichts organisches sich mit ein- mengt. Endlich koͤnnen wir auch in den meisten Faͤl- len aus der Aehnlichkeit des Scheins auf die Aehnlich- keit der Eigenschaften schließen, die den Schein in un- sern Sinnen veranlassen, so unbekannt uns ihre Stru- ctur und Mechanismus noch seyn mag; wiewohl wir diese Aehnlichkeit, ohne anderweitige Gruͤnde zu haben, S 3 nicht III. Hauptstuͤck. nicht wohl weiter ausdehnen koͤnnen, als die Empfin- dungen des Aehnlichen im Schein gehen. §. 98. Um nun zu der Betrachtung des psycholo- gischen Scheins den Weg zu bahnen, wollen wir an- merken, daß die Bewegung, die bey den Empfindungen in den Empfindungsnerven vorgeht, zwar bis in das Gehirn fortgepflanzt wird, aber auch in demselben, al- lem Ansehen nach, andere ungleich feinere Bewegungen und Empfindungen erregt. Jch sage, allem Ansehen nach. Denn diese Nerven und Fibern werden immer feiner, je naͤher sie dem Gehirne liegen, und in dem Ge- hirne selbst verlieren sie sich aus dem Gesichte. Die Bewegung geht dabey aber allerdings nicht verlohren, sondern scheint sich, wegen der Communication der an- liegenden Theile, auszubreiten, und dadurch in jedem Theile schwaͤcher zu werden. Das Bewußtseyn, daß wir nicht in den Gliedern sondern im Gehirne, und zwar in einem gewissen Punkt desselben, denken, dessen Ort wir, wie den Ort jeder innern Empfindung von Schmerz, Reissen, Druͤcken, ꝛc. gleichsam anzeigen zu koͤnnen glauben, macht glaublich, daß daselbst gleichsam die Werkstaͤtte der Seele ist, dahin sich jede von den Empfindungsnerven herruͤhrende Bewegungen concen- triren, und wo gleichsam die Zuͤgel sich vereinigen, wo- mit der Wille den Leib und jede Glieder in Bewegung setzt, und lenkt. Ein Fall, den man thut, und wodurch das Gehirn erschuͤttert wird, verursacht in demselben allerdings nur mechanische und koͤrperliche Veraͤnderun- gen. Daß man aber dadurch das Bewußtseyn und Gedaͤchtniß verlieren kann, lehren uns einige Erfahrun- gen. Und so giebt es bey vielen die Erfahrung auch, daß ein allzustarkes Nachsinnen Kopfweh oder Schmerz in dem Gehirne und dessen einzeln Theilen verursachen koͤnne; daß man nach dem Essen uͤberhaupt zum Nach- denken weniger aufgelegt ist, und starke. Getraͤnke an- fangs Von dem psychologischen Schein. fangs die hoͤhern, sodann die untern Erkenntnißkraͤfte, und endlich gar die Sinnen betaͤuben und fuͤr eine Zeit- lang unbrauchbar machen koͤnnen. Diese und mehrere dergleichen Erfahrungen zeigen, nicht nur, daß das Sy- stem der Gedanken von dem physischen Zustande des Gehirns abhaͤngt, sondern auch, daß die feinern Gedan- ken sich stuffenweise nach den feinern Fibern und Bewe- gungen in dem Gehirne richten, und mit denselben lei- den, so unbekannt uns dessen Structur und Mechanis- mus und die Gemeinschaft der Seele und des Leibes seyn mag. §. 99. So viel ist gewiß, daß wenn wir diese Structur und den Mechanismus des Gehirns durchaus wuͤßten, die Theorie davon uns in Absicht auf das Ge- dankenreich und den psychologischen Schein eben den Dienst thun wuͤrde, den uns die Anatomie des Auges in der Optik thut (§. 3. 4. 69.). Besonders wuͤrde sich die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Gegen- staͤnde verschiedener Sinnen und sogar auch die Dinge der Jntellectualwelt in uns machen, und wodurch wir zu abstractern und transcendenten Begriffen gelangen, und in der Sprache Metaphern einfuͤhren, ꝛc. daraus umstaͤndlicher entwickeln lassen. Wir haben sie in der Alethiologie und Semiotik, in Ermanglung dieser Theo- rie, schlechthin nur als eine Erfahrung angenommen, und den Gebrauch davon ebenfalls aus Beyspielen angezeigt. §. 100. Jndessen koͤnnen wir hier so viel annehmen, daß, wenn eine Empfindung durch die Bewegung der Nerven und Fibern bis in das Gehirn fortgepflanzt wird, und sich theils communicirt, theils gleichsam ge- gen den Sitz der Gedanken convergent wird, daß wir, sage ich, von jeden diesen Bewegungen Empfindungen haben, und zwar desto staͤrkere, je staͤrker sie an sich sind. Besonders aber macht die Communication der Bewe- gung, daß uns auch aͤhnliche vorhin gehabte Empfin- S 4 dungen III. Hauptstuͤck. dungen wiederum zu Sinne kommen, die theils durch directe oder auch durch communicirte Bewegungen wa- ren erregt worden. Die unvermerkte Einmengung fremder Bilder in die Empfindungen mag ebenfalls da- her entstehen, wenn das Bewußtseyn, daß sie fremd sind, und die behoͤrige Aufmerksamkeit, fehlt. So koͤn- nen auch die Fehler und Gebrechen der feinern Fibern einen Mangel und Verwirrung der daherruͤhrenden Empfindungen und Gedanken nach sich ziehen, und die Affecten, welche mit heftigern Bewegungen begleitet sind, das Bewußtseyn der feinern Empfindungen hem- men, welches bey ruhigerm Gemuͤthe statt hat. Man kann sich auch gedenken, daß bey Fortpflanzung der Bewegung jede folgende und feinere Fiber in Ruhe seyn sollte, daferne in den daraus entstehenden Empfin- dungen alles objectiv solle genommen werden koͤnnen. Was demnach von Bewegung schon wirklich da ist, wird zu dem subjectiven Theile dieser Empfindungen gerechnet werden muͤssen, der sich auf diese Art in den objectiven mit einmengt. §. 101. Wenn aber auch alles dieses kann zugege- ben werden, so ist es doch nur ein ungefaͤhrer Schatten- riß der wahren Sprache. Denn vollstaͤndig sollten wir jede Fiber benennen, ihre Communication mit den anliegenden bestimmen, und den klaren Begriff, den sie besonders erregt, und der ein Bild der Empfin- dung ist, anzeigen koͤnnen, um auf diese Art die Ver- bindung der wahren Sprache und der Sprache des Scheins vollstaͤndig zu machen. Aber in allem diesem bleiben wir noch durchaus zuruͤcke, weil die erst ange- stellten Betrachtungen kaum noch das Allgemeine da- von angeben. Wir werden uns daher von der Be- trachtung des Gehirns, der so genannten innern Sin- nen und ihres Mechanismus, zu den Gedanken selbst wenden, und das Gedankenreich nach Anleitung der Erfah- Von dem psychologischen Schein. Erfahrung, folglich statt der Ursachen, die Wirkungen betrachten. §. 102. Zu diesem Ende werden wir uns nach der Art und Weise umsehen, wie wir zu allgemeinen, ab- stracten und transcendenten Begriffen gelangen, und da wird sich leicht zeigen, daß die in der Semiotik (§. 12. seq. ) bereits angezeigte Nothwendigkeit der Spra- che und Zeichen, viel dazu beytrage. Denn die Spra- che wuͤrde unendlich weitlaͤuftig werden, wenn wir fuͤr jede Indiuidua, so uns die Koͤrperwelt darbeut, und fuͤr jede Theile, Modificationen und Veraͤnderungen dersel- ben, eigene Woͤrter und Zeichen haben muͤßten. Sol- che eigene Namen gebrauchen wir nur fuͤr die Indiui- dua, die wir aus besondern Gruͤnden von andern zu unterscheiden haben, dergleichen die Namen einzelner Personen, Staͤdte, Haͤuser, Fluͤsse ꝛc. sind. Um diese Weitlaͤuftigkeit abzukuͤrzen, waͤre es sehr natuͤrlich, daß sich die Urheber der Sprachen nach Aehnlichkeiten umsaͤhen, und aͤhnliche Dinge, Theile, Modificationen, Handlungen, Verhaͤltnisse ꝛc. mit einerley Namen be- nennten. So wuͤrden die Thiere, Pflanzen, Metalle, Steine ꝛc. nach ihrer Art benennt, ohne daß man sich an den Jndividualunterschieden und Varietaͤten aufhielte. So erhielten auch die aͤhnlichen Glieder und Theile verschiedener Arten von Thieren und Pflanzen einerley Namen, und die Namen der Handlungen und Verrichtungen sind auch großentheils von dem Begriffe der Art der Thiere unabhaͤngig, so oft sie naͤmlich bey allen oder auch bey mehrern eine Aehnlichkeit haben. Eben dieses laͤßt sich auch von den Namen der Veraͤn- derungen, Figur, Verhaͤltnisse, Gestalt, Farbe, Zahl ꝛc. anmerken. Die Bedeutung solcher Woͤrter wuͤrde un- vermerkt weiter ausgedehnt, weil es sehr natuͤrlich waͤre, neuempfundenen Dingen und ihren Theilen den Na- men von solchen zu geben, deren Empfindung aͤhnlichen S 5 Ein- III. Hauptstuͤck. Eindruck machen. Wir haben daher auch Woͤrter in der Sprache, die sich auf die Gegenstaͤnde mehrerer Sinnen erstrecken, dergleichen z. E. das Wort schoͤn ist, welches Farben, Figur, Gestalt, Ton, Musik, Ge- danken, Geist ꝛc. als ein Beywort zugesetzt wird, und in so ferne transcendent ist. §. 103. Hieruͤber koͤnnen wir anmerken, daß, wo Woͤrter von so weitlaͤustiger Ausdehnung zu definiren sind, es viel darauf ankomme, ob die Sprache mehr andere Woͤrter von gleicher Ausdehnung habe? Wo dieses nicht ist, da ist man gleichsam genoͤthigt, den Be- griff in Classen zu theilen, und jede besonders zu defini- ren. Sodann koͤnnen wir hier den Begriff der Va- rietaͤt allgemeiner machen, den man bisher in der Kraͤuterkunde gebraucht hat, um dadurch die Abwechs- lungen anzuzeigen, die bey einer gleichen Art von Pflan- zen vorkommen, dergleichen z. E. die Farben bey den Tulpen, Nelken ꝛc. sind. Dieser Begriff laͤßt sich eben- falls auf Handlungen ausdehnen, die von ihrer Absicht, Ursache, Wirkung ꝛc. her benennt, und daher, aller uͤbri- gen Unterschiede und Abaͤnderungen ungeacht, in eine Classe gesetzt werden. §. 104. Das Wahre in den Begriffen koͤmmt dar- auf an, daß sie moͤglich seyen, und ein fuͤr sich gedenkba- res Ganzes vorstellen. Dieses macht sie richtig und vollstaͤndig. Die Merkmale, die man zusammennimmt, muͤssen sich koͤnnen zusammennehmen lassen, und es muß keines wegbleiben, das zu den uͤbrigen mit gehoͤrt, damit keine Luͤcke in dem Begriff bleibe. Was hie- bey uͤbersehen oder aus der Acht gelassen wird, das macht den Begriff nur scheinbar, oder dem Schein nach richtig, und es ist ein bloßer Schein, so oft in dem Begriffe noch entweder unbemerkte Widerspruͤche oder unbemerkte Luͤcken sind, oder gar beydes vor- koͤmmt. Jst hingegen der Begriff an sich richtig, aber wir Von dem psychologischen Schein. wir sind weder durch Beweise noch andere Proben da- von versichert, so daß wir denselben nur annehmen, weil uns nichts dawider einfaͤllt, so ist es zwar an sich kein leerer Schein, aber wir koͤnnen ihn noch nicht als real erkennen. Ueberhaupt finden sich die Wider- spruͤche leichter in Begriffen, die wir aus andern ein- fachern oder einfacher scheinenden zusammensetzen. Hin- gegen, wenn wir Begriffe von wirklichen Dingen ab- strahiren, so ist es sehr leicht, Merkmale aus der Acht zu lassen, die wir haͤtten mitnehmen sollen, und dieses macht den abstrahirten Begriff unvollstaͤndig, oder es bleiben Luͤcken darinn, die sich nur dann entdecken, wo in vorkommenden Faͤllen die weggelassenen Merk- male oder ihre Folgen mehr in die Sinnen fallen. Wird aber ein Begriff nicht von wirklichen Dingen, sondern von andern Begriffen abstrahirt, so ist es auch moͤglich, die Widerspruͤche und Luͤcken von diesen ganz oder zum Theil in den abstrahirten Begriff zu nehmen. Die Luͤcken in einem Begriffe geben irrige verneinende Saͤtze, weil man die weggelassenen Merkmale von dem Begriffe ausschließt. Die Widerspruͤche aber fuͤh- ren auf Saͤtze, die einander ganz oder zum Theil auf- heben. §. 105. So ferne auch in dem Gedankenreiche der Schein vom Wahren abgeht, so ferne koͤnnen wir, um ihn zu entdecken, Vergleichungen anstellen, wie wir es im vorhergehenden Hauptstuͤcke, in Absicht auf den von den Sinnen herruͤhrenden Schein (§. 50. seqq. ), ange- geben haben. Wie hiezu apogogische Beweise dienen, haben wir in der Dianoiologie (§. 379.) angezeigt, und durch ein an sich offenbares Beyspiel erlaͤutert, wie wir bey der Vergleichung unserer Gedanken anfangen zu merken, daß etwas irriges mit unterlaufe, und solglich ihre Richtigkeit nur scheinbar war. Denn wenn wir Vorstellungen gegen einander halten, und koͤnnen sie nicht III. Hauptstuͤck. nicht zusammenreimen, so ist nothwendig entweder ein Widerspruch oder eine Luͤcke darinn, es sey, daß wir sie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen, oder Umstaͤnde und einschraͤnkende Bedingungen aus der Acht lassen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze neunte Hauptstuͤck der Dianoiologie nachsehen, wo wir von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und ihrer einzeln Theile in eine wissenschaftliche gehandelt haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß ist Schein und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr- rigen vermengt. §. 106. Ueberhaupt dehnt sich in dem Gedanken- reiche der bloße Schein so weit als der Jrrthum aus. Denn wer in einer Sache sich irret, dem scheint das Falsche wahr, oder das Wahre falsch zu seyn. Er stellt sich die Sache anders vor, oder bildet sie sich anders ein, als sie ist. Hingegen trifft auch nicht immer Wahres und Schein zusammen. Es giebt Wahrhei- ten, die uns der Verstand ganz anders einsehen lehrt, als die Einbildungskraft sie uns vorstellt. Die wah- ren Paradoxa oder widersinnigen Saͤtze sind von der Art. Sie scheinen anfangs nicht das zu seyn, was sie bey reiferer Ueberlegung wirklich sind. So giebt es auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich oder unmoͤglich vorkommen, weil wir sie uns ganz an- ders vorgestellt hatten. §. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abstra- cten Begriffe besteht darinn, daß wir sie und deren Theorie auf einzelne oder besondere Faͤlle anwenden koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen Art, Gattung, Classe ꝛc. wissen, duͤrfen wir nicht in je- dem Falle besonders wieder aufsuchen, oder es auf die Erfahrung ankommen lassen. Die Hauptfrage hiebey ist nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei- nem vorgegebenen besondern Falle vollstaͤndig vorkom- me? Von dem psychologischen Schein. me? oder ob er nur vorzukommen scheine, oder ob das Gegentheil vorzukommen scheine? Jst nun der vorge- gebene Fall sehr zusammengesetzt, mit vielen Nebenum- staͤnden verwickelt, so daß der darinn liegende allgemei- ne Begriff aus mehrern Theilen muß zusammengelesen werden: so ist klar, daß uns auch in jeden diesen Thei- len der Schein taͤuschen kann, und da kann oͤfters ein einziger Umstand, den man etwan uͤbersieht, die Sache ganz aͤndern. Am schwersten geht es hiebey, wo das Wesentliche von dem Begriffe nicht in die Sinnen faͤllt, wie z. E. die Absicht bey Handlungen, deren Mora- litaͤt man untersuchen will, die Aufrichtigkeit in sol- chen Faͤllen, wo man auf Treu und Glauben zu gehen hat. Diese Schwierigkeit aͤußert sich selbst auch bey Beurtheilung seiner eigenen Handlungen. Man hat laͤngst schon das menschliche Herz als ein betruͤglich Ding angegeben. Es ist schwer, sich selbst nicht zu heucheln, und seine Schwaͤche nicht staͤrker zu glauben, als sie wirklich ist. Man wird auch Muͤhe finden, so unpartheyisch gegen sich selbst zu seyn, bey einer Hand- lung genau zu bestimmen, was Temperament, Eigen- nutz, Ruhmbegierde, Hoffnung, Furcht, natuͤrliche Faͤ- higkeit und Leichtigkeit, Lust, Neid, Trotz ꝛc. dazu beyge- tragen haben, daß man sie gethan hat. Jn Ansehung vieler Affecten kann man sich Ruhe traͤumen, bloß, weil sie wie unter der Asche glimmen, und nur auf Anlaͤße warten. Und auf diese macht man sich nicht immer gefaßt. Die Liebe zur Wahrheit, und die Besorgniß des Selbstbetrugs, muß alle diese Schwierigkeiten uͤber- winden, weil dadurch aͤrgere Folgen vermieden werden (§. 17.). §. 108. Jn Ansehung der Moralitaͤt der Handlun- gen, hat man allerdings die Handlung an sich betrach- tet, von der Absicht des Handelnden zu unterscheiden. Die Handlung und ihre Folgen koͤnnen an sich gut seyn, ohne III. Hauptstuͤck. ohne daß sie auf des Thuenden Rechnung zu stehen komme, wenn naͤmlich seine Absicht nicht viel taugte. Da wir auch die Absicht nicht immer so genau noch so gewiß entdecken koͤnnen, so muͤssen und koͤnnen wir uns allerdings an der Betrachtung der Handlung und ihrer Folgen begnuͤgen, und sie, wo sie gut sind, geschehen lassen, und da Einhalt thun, wo es zu weit gehen, oder wo sich schlimmes mit einmengen wuͤrde. So ist es auch moͤglich, daß jemand bey einer Handlung oder Sache anfangs an keinen Misbrauch derselben denkt, oder diesen Gedanken so sehr in seinem Herzen versteckt, als wenn er nicht da waͤre, besonders wo die Aeußerung des Vorhabens, sie zu misbrauchen, die Sache wuͤrde ins Stecken gerathen machen. Jst sie aber geschehen, so faͤllt auch diese Besorgniß weg, und die Versuchung ist nun da, die Sache zu misbrauchen, im Truͤben zu fischen, zu des andern Nachtheil seinen Nutzen befoͤr- dern ꝛc. Da es schwer ist, solche Tuͤcke des Herzens vorauszusehen, so ist unstreitig das rathsamste, wo es geschehen kann, sich fuͤr jeden Borfall eine freye Dispo- sition zu menagiren, oder sich nur Schritt fuͤr Schritt einzulassen. Wer aber die Moͤglichkeit fuͤrs kuͤnftige auf eine einzige einschraͤnkt, der hat es allerdings sich selbst zuzuschreiben, wenn sie Umstaͤnde mit sich bringt, die sich, so gern er wollte, nicht mehr aͤndern lassen. §. 109. Die abstracten Begriffe sind in einzeln Faͤllen mit Nebenbestimmungen, Zufaͤlligkeiten und Varietaͤten vermengt, und zeigen sich daher auch unter sehr verschiedenen Gestalten, auch da, wo man sie kaum suchen wuͤrde. Hingegen an sich betrachtet, sollen sie ihrer Natur nach unveraͤnderlich seyn, und ein fuͤr allemal ihre wesentliche Merkmale behalten. Es ist zwar moͤglich, daß die Bedeutung des Wortes nach und nach metaphorisch, allgemeiner oder gar transcen- dent wird, dabey aber bleibt der anfaͤngliche Begriff dessen Von dem psychologischen Schein. dessen unerachtet, wie er war, und wenn er fuͤr sich be- trachtet, etwas ganzes, nettes und einer Theorie wuͤrdi- ges vorstellt, so bleibt die engere Bedeutung des Wor- tes dennoch, oder es erhaͤlt, mehrerer Deutlichkeit hal- ber, eine naͤhere Bestimmung. Man sehe, was wir in Ansehung dieser Faͤlle in der Dianoiologie (§. 50.) in der Alethiologie (§. 153. seqq. ), und in der Semiotik (§. 200. 348.) angemerkt haben. §. 110. Diese Unveraͤnderlichkeit allgemeiner und abstracter Begriffe will aber nicht sagen, daß auch un- sere Vorstellung derselben eben so unveraͤnderlich sey. Es ist allerdings moͤglich, daß wir sie bald so, bald an- ders nehmen, und etwan ihren Umfang und den Be- weis davon vergessen, oder ihre Anwendbarkeit auf be- sondere Faͤlle wechselsweise glauben und in Zweifel zie- hen, zumal wenn der Beweis aus vielen einzeln Thei- len besteht, deren man sich aller bewußt seyn muß, um seiner Vollstaͤndigkeit versichert zu seyn. Es kann die- ses besonders bey den sogenannten moralischen und hi- storischen Beweisen geschehen, wovon letztere auf Glaub- wuͤrdigkeiten, erstere auf den aus einem Satze gezoge- nen Folgen und Aushebung der Einwuͤrfe beruhen, und wo die Jnduction in beyden Faͤllen vollstaͤndig seyn muß. §. 111. Wenn uns daher ein allgemeiner Begriff anders vorkoͤmmt, so ist die Ursache des geaͤnderten Scheins subjectiv, und daher in uns selbst zu suchen, und zwar fehlt es theils an dem Bewußtseyn, und theils auch, wenn die Einbildungskraft fremdes Zeug mit einmengt, oder uns den Begriff in scheinba- ren Verhaͤltnissen mit andern vorstellt, die uns an dessen Richtigkeit zweifeln machen. Beydes kann auch vor- kommen, wenn wir die Sache nicht an sich, sondern nur vermittelst ihrer Verhaͤltnisse zu andern, folglich von gewissen Seiten betrachtet, uns vorstellen. Diese verschie- III. Hauptstuͤck. verschiedene Arten des psychologischen Scheins haben wir bereits in dem ersten Hauptstuͤcke angezeigt, und werden sie nun umstaͤndlicher betrachten. §. 112. Das Bewußtseyn hat uͤberhaupt den Er- folg, daß wir geneigt sind, aus dem Mangel des Be- wußtseyns auf das nicht seyn zu schließen, und daher die Begriffe, so wie wir sie uns jedesmal vorstellen, als vollstaͤndig anzusehen, ungeacht sie es nicht sind. Die- ses kann vorkommen, es sey, daß wir nur einige Be- stimmungen vergessen, oder daß wir sie in der That nie gewußt haben. Jn beyden Faͤllen bleibt in der Vor- stellung des Begriffes eine Luͤcke, und die Theorie da- von reicht nicht so weit als die Sache selbst. So wenn man zu dem Begriff eines Koͤrpers nur die Ausdeh- nung, zu dem Begriff der Unsterblichkeit der Seele nur die Jmmaterialitaͤt nimmt, so reicht man damit nicht aus, weil ein Koͤrper solid ist, und den Raum ausfuͤllt, und weil man zu dem nicht sterben, das nicht vernichtet werden, und das Bewußtseyn mitnehmen muß. §. 113. Noch leichter aber faͤllt man in diesen Feh- ler, bey der Abzaͤhlung der Arten, Glieder, Faͤlle ꝛc. die zu einer Gattung oder Classe gehoͤren. Wir haben die Schwierigkeiten, solche Abzaͤhlungen vollstaͤndig zu machen, und sie zu beweisen, in dem zweyten Haupt- stuͤcke der Dianoiologie angezeigt. Bey mehreren Ar- ten der Moͤglichkeit einer Sache, bey mehrern moͤgli- chen Absichten einer Handlung, Auslegungen einer Re- de ꝛc. scheint uns oͤfters die, so uns beyfaͤllt, so einleuch- tend, als wenn sie die einzige waͤre, so, daß wir uns nur nicht in Sinn kommen lassen, andere zu suchen. Bey Dingen, die wirklich geschehen sind, oder geschehen wer- den, hat von solchen Moͤglichkeiten allerdings jedesmal nur eine statt. Ob es aber eben die sey, die wir uns sogleich dabey vorstellen, das ist eine andere Frage, die durch genaueres Aufsuchen der Umstaͤnde eroͤrtert wer- den Von dem psychologischen Schein. den muß, und in gerichtlichen Faͤllen oͤfters nicht gerin- ge Weitlaͤuftigkeiten nach sich zieht. Daß uͤbrigens ein bloßer Schein so tief einwurzeln koͤnne, erhellet aus denen Faͤllen, wo sich jemand eine an sich irrige Sache nicht will ausreden oder aus dem Sinn bringen lassen. Zuweilen ist auch in der That etwas Patholo- gisches dabey, zumal wenn die Ungereimtheit in die Au- gen faͤllt, oder der Eigensinn aus Affecten entsteht, oder hypocondrische Verwirrungen der Einbildungskraft die Gedanken auf eine Seite hinreißen, bis der Anfall auf- hoͤrt. So ist man auch geneigt, einem Menschen, dem man aus Vorurtheil oder andern Gruͤnden nicht traut, alles was er thut, um sich das Zutrauen zu erwerben, auch wenn er es aufrichtig meynt, von der verkehrten Seite her und zur Vermehrung des Mistrauens aus- zulegen. Die Unterschiede der Scheinheiligkeit und wahren Froͤmmigkeit sind in vielen Faͤllen ebenfalls schwer zu erkennen. Denn da letztere nirgends ohne mit unterlaufende Fehler, Maͤngel, Versaͤumnisse ꝛc. ist, so koͤmmt es vielmal darauf an, ob man diese zum Be- weise, daß das uͤbrige nur Schein sey, gebrauchen, oder dessen uneracht, das Gute in seinem Werthe lassen will. Man sehe, was wir oben schon (§. 107.) uͤber die Be- urtheilung der Moralitaͤt der Handlungen angemerkt haben. Da uͤberhaupt kein Mensch weder durchaus fromm, noch durchaus gottlos und lasterhaft ist, so ist es allerdings Uebereilung und blinde Liebe oder blinder Haß, wenn man jemand auf diese Extremitaͤten setzt, und entweder alles oder gar nichts zutraut, ohne zu be- stimmen, was man ohne Bedenken thun oder lassen kann. Eine allgemeine Entscheidung waͤre allerdings kurz und bequem, sie geht aber bey der wirklichen Be- schaffenheit der Menschen so unbedingt nicht an. §. 114. Was man sich uͤberhaupt von einer Sache bewußt ist, koͤnnen wir eine Seite derselben nennen. Lamb. Organon II B. T Diese III. Hauptstuͤck. Diese ist oͤfters aus mehrern kleinern zusammengesetzt, deren jede entweder einzelne Theile oder einzelne Ver- haͤltnisse zu andern Sachen vorstellt. Der Mangel des Bewußtseyns der uͤbrigen Theile und Verhaͤltnisse wird von uns nicht immer empfunden, und dieses macht, daß wir die Eigenschaften, Einrichtungen und Veraͤn- derungen anderer Dinge, die damit verflochten sind, nicht genau noch vollstaͤndig beurtheilen koͤnnen, beson- ders wo die wirkenden Ursachen und Triebfedern ver- steckt sind, oder wie es bey Jntriguen geschieht, ver- steckt werden, so daß man, wenn man Gruͤnde hat, sich mit dem aͤußern Schein nicht zu begnuͤgen, oͤfters Muͤ- he findet, ganz hinter die Sache zu kommen, das Jnnere davon zu entdecken, zu finden, was die Sache an sich ist ꝛc. §. 115. Die erstgegebene Erklaͤrung der Seiten ei- ner Sache, ist von der Sache selbst hergenommen, und folglich objectiv. Hingegen liegt der Grund, warum wir uns nicht mehr oder minder davon vorstellen, groͤß- tentheils in uns selbst. Es koͤmmt auf den Grad der Aufmerksamkeit, der Scharfsinnigkeit und des Witzes, und auf den Vorrath von allgemeinen Saͤtzen an, die wir zur Entwicklung der Sache an- wenden muͤssen, um die bemerkten Theile mit einander zu vergleichen, ihre Verbindung und Zusammenhang zu entdecken, und die Luͤcken auszufuͤllen. Dieses, nebst den Umstaͤnden und Anlaͤßen, die man vor sich findet, die Sache naͤher zu betrachten, macht den psychologi- schen Theil des Gesichtspunkts aus, aus welchem sich uns die Sache vorstellt. Nimmt man noch den Zustand und die Fertigkeit der Sinnen, des Leibes und des Gemuͤths dazu, so laͤßt sichs bestimmen, wie viel oder wie wenig ein Mensch von einer vorgegebenen Sa- che uͤbersehen kann, weil man auf diese Art den Ge- sichtspunkt desselben, und seine Lage gegen die Sache voll- Von dem psychologischen Schein. vollstaͤndig bestimmt hat. Denn da muͤssen wir alles zusammennehmen, was in dem Menschen selbst ein Grund ist, warum er sich eine Sache vielmehr so, als anders vorstellt. Die genauere Einsicht in verschiedene Arten von Sachen, haͤngt von den natuͤrlichen Faͤhig- keiten, von den durch Uebung erlangten Fertigkeiten der Kraͤfte des Verstandes, und von der durch Erfahrung und Theorie erlangten Erkenntniß derselben ab. Und uͤberhaupt lernt man das Blendwerk des Scheins naͤ- her kennen, wenn man bey jedem Jrrthum, den man entdeckt, sorgfaͤltiger untersucht, woher er gekommen. Denn es laufen immer Saͤtze mit unter, die wahr ge- schienen haben, und je allgemeiner diese sind, auf desto mehrere Faͤlle breitet sich auch der Schein der Wahr- heit aus, den man eben deswegen, weil er leer ist, zu vermeiden hat. Von solcher Art Saͤtze sind die Vor- urtheile und vorgefaßten Meynungen, wodurch man am haͤufigsten zu Jrrthuͤmern verleitet wird, weil sie allem, was man aus denselben oder mittelst derselben schließt, den Schein der Wahrheit geben, und folglich mit den subjectiven Ursachen des sinnlichen Scheins viel gemein haben (§. 56.). §. 116. Ein hoͤherer Grad des psychologischen Scheins, so fern er nur Schein ist, wird spe s ios genennt. Man gebraucht diese Benennung vornehmlich, wenn jemand einer ganz oder zum Theil irrigen Meynung das Ansehen der Wahrheit zu geben sucht, und dazu viele scheinbare Argumente aufhaͤuft. Geschieht dieses wissentlich und mit dem Vorsatz, einem andern die ir- rige Meynung oder Aussage, nach welcher er seine Ent- schließungen richten wuͤrde, glaublich zu machen, so sagt man, daß er ihm einen blauen Dunst vor die Au- gen mache, oder ihn hinter das Licht fuͤhre, zu- mal wenn man mit den Worten noch Werke und An- stalten verbindet, den Fallstrick noch scheinbarer zu T 2 ver- III. Hauptstuͤck. verdecken. Eben dieses geht auch vor, wo nur ein Theil der Sache, oder die schoͤnere oder die haͤßlichere Seite derselben vorgezeigt, die andere aber verschwie- gen, hinterhalten oder bedeckt wird. Da in solchen Faͤllen immer Widerspruͤche und Luͤcken vorkommen, wovon erstere gehoben, letztere ausgefuͤllt werden muͤs- sen, wenn die Sache durchaus mit der Wahrheit beste- hen soll, so ist allerdings auch hier das Schritt fuͤr Schritt gehen (Alethiol. (§. 213. seqq. ), und zwar sowohl in Ansehung des Beyfalls als auch der Ent- schließung und Handlungen, das Mittel, die Sache ins Reine zu bringen, und dabey sicher zu verfahren, oder die rechte Form beyzubehalten, und zu fordern, daß sie beybehalten werde. Zumuthungen, wovon man weder den Zusammenhang mit dem vorgehenden, noch das Ziel, wohin sie fuͤhren sollen, vollstaͤndig einsieht, haben an sich schon immer das Ansehen, daß Einfalt, Unwissenheit, Misverstand oder Vorsatz sie veranlassen, und daher mehrere Aufklaͤrung dabey noͤthig sey, ehe man denselben zufolge mehr thut, als was man ohne Bedenken oder aus andern Gruͤnden, und oͤfters auch um die fernere Aufklaͤrung zu veranstalten, thun kann (§. 108.). §. 117. Bey Vernunftschluͤssen koͤnnen nicht nur die Vordersaͤtze, sondern auch die Form eine bloß scheinba- re Richtigkeit haben, und so kann auch hinwiederum die Form unrichtig zu seyn scheinen. Letzteres koͤmmt vor, wenn die Vordersaͤtze versetzt oder auch umgekehrt, oder durch gleichbedeutende Woͤrter und Redensarten aus- gedruckt werden. Ersteres aber findet statt, wenn das Wort, so das Mittelglied ausdruͤckt, eine unbemerkte Vieldeutigkeit hat, und in jedem der zween Vordersaͤtze eine andere Sache vorstellt. Die versteckteren Fehler in der Form der Schluͤsse und Beweise werden Sophis- mata genennt, und man findet ihre verschiedenen Arten in Von dem psychologischen Schein. in den Anweisungen zur Vernunftlehre angezeigt. Da- fern aber der Fehler nicht in den Worten liegt, so laͤßt sich mit Umkehrung und Verwandlung der Saͤtze jeder Schluß leicht in die rechte Form bringen, und dadurch wird der Fehler, so in der Form war, in die Materie gebracht, und oͤfters auch der Schlußsatz geaͤndert. §. 118. Jn Ansehung der Worte kann sich ebenfalls etwas bloß scheinbares in die Definitionen und Ange- bung der Ursachen und Gruͤnde einmengen. Eine De- finition soll den Umfang eines Begriffes entweder durch Angebung der wesentlichen Merkmale, oder der Ver- haͤltnisse zu andern Begriffen und Sachen bestimmen. Gebraucht man aber nur | grammatische Umschreibun- gen oder gleichbedeutende Woͤrter, so giebt man nur die Bedeutung des Worts auf eine grammatische Art an, und man weiß von der Sache selbst weder mehr noch minder, als nur, daß sie noch mit andern Woͤr- tern benennt werden kann. Auf eine aͤhnliche Art, wenn man die Urfache von der Wirkung her benennt, ohne sie auf eine andere und von der Wirkung unabhaͤngige Art kenntlich zu machen, so weiß man dadurch von der Ursache weder mehr noch minder, als man zuvor wußte. Denn daß die Wirkung eine Ursach habe, ist fuͤr sich klar, und eben so, daß die Ursach diejenige sey, die die Wirkung hervorbringt, daran ist kein Zweifel. Wenn man demnach auf die Frage, warum der Magnet das Eisen anziehe, nur so viel antwortet, daß er eine anzie- hende Kraft habe; so ist dieses nur ein Schluß, den man aus der Voraussetzung der Frage macht, nicht aber eine Angebung der Ursache. Denn diese Ange- bung sollte in einer aus andern Versuchen gefundenen Anzeige der wirkenden Materie, der Structur und des Mechanismus bestehen. Die Schulweisheit hatte vor- mals eine Menge solcher leeren Definitionen und An- gebungen von Ursachen und Gruͤnden. Es||sind auch T 3 nicht III. Hauptstuͤck. nicht alle so unmittelbar und einfach, und bey den ver- decktern geht man oͤfters wie in einem groͤßern Circul herum, ehe man findet, daß man wiederum da ist, wo man angefangen hat. Solche Arten von Circuln ha- ben wir bereits in der Dianoiologie (§. 680. seqq. ) be- trachtet, und koͤnnen ebenfalls das Scheinbare in der Zulaͤßigkeit der Fragen hier uͤbergehen, weil wir in der Dianoiologie (§. 425. seqq. ) umstaͤndlich untersucht haben, wieferne sich Jrrthum und Unvollstaͤndigkeit darinn befinden kann, welches, so lange es noch unbe- merkt ist, die Frage zulaͤßig scheinen macht (§. 106.). §. 119. Man setzt uͤberhaupt die Einbildungs- kraft dem Verstande, und zwar besonders dem so ge- nannten reinen Verstande, entgegen. Durch diesen versteht man subiectiue betrachtet, das Vermoͤgen der Seele, sich die Dinge durchaus deutlich vorzustellen, obiectiue aber die Begriffe, die zu dieser Deutlichkeit ge- bracht sind, und in so ferne sie dahin gebracht sind. Die Einbildungskraft laͤßt Schein und Wahres unge- trennt. Die Absonderung des Wahren von dem Schein, ist das Werk des Verstandes, und so fern es demselben darinn gelingt, so ferne wird er rein genennt. Man fragt hiebey, wie ferne es uns moͤglich sey, daß wir uns Wahrheiten ohne sinnliche Bil- der deutlich vorstellen koͤnnen? Wir wollen aber genauer untersuchen, was diese Frage eigentlich sagen will, und ob sie nicht muͤsse in andere aufgeloͤst, oder ob statt derselben nicht einige andere muͤssen gemacht werden? §. 120. Um bey den Gegenstaͤnden der aͤußern Sin- nen anzufangen, welche ohnehin der Einbildungskraft den ersten Stoff zu ihren Bildern geben, so haben wir in vorhergehendem Hauptstuͤcke aussuͤhrlich angezeigt, wie dabey das Wahre von dem Schein getrennt wer- den muͤsse, und wie sich der physische Schein in zwo Haupt- Von dem psychologischen Schein. Hauptclassen theile, daß bey der einen die Sprache des Scheins von der wahren Sprache nur in dem Gebrauch der Worte, bey der andern aber in den Worten selbst abgehe, die wahre Sprache aber einerley Worte behalte und gebrauche. Wir haben dabey angemerkt, daß die Bilder der Farben, des Schalls ꝛc. nicht die Sache selbst vorstellen, sondern gleichsam nur Zeichen davon sind (§. 89.), und daß hingegen die Bilder der Aus- dehnung, der Soliditaͤt und Beweglichkeit, die Sache selbst vorstellen, doch so, daß die Sprache des Scheins dabey optisch, die wahre aber geometrisch und mechanisch ist, und mit Beybehaltung der Worte eine in die andere uͤbersetzt werden kann. Jn dieser Absicht kann man allerdings sagen, daß die reine Ma- thematik und ihre Anwendung auf die Chronometrie und Mechanik, ein Werk des reinen Verstandes sey, weil dabey das Physische von dem Optischen durchaus getrennt werden kann. §. 121. So ferne die Begriffe der Ausdehnung, des Raums, der Zeit, und der Dauer, nur auf die Geome- trie, Mechanik und Chronometrie angewandt werden, hat es noch, so viel mir bewußt ist, keine erhebliche Schwierigkeiten gegeben. Hingegen hat man in der Metaphysik derselben desto mehrere finden wollen, und sie nicht anders zu heben gewußt, als dadurch, daß man diese Begriffe fuͤr bloße Bilder der Einbildungskraft angebe. Diese Schwierigkeiten liegen nicht in den Be- griffen selbst, als welche einfach sind, und eben des- wegen keine innere Widerspruͤche haben koͤnnen (Alethiol. §. 4.). Sie koͤnnen daher auch nur aus der Vergleichung dieser Begriffe mit andern Begriffen ent- stehen, und auch nur darinn haben sie sich geaͤußert. Dahin gehoͤren z. E. die Fragen: ob der Raum von den Koͤrpern unabhaͤngig sey, ob er fuͤr sich existire, ob er habe muͤssen erschaffen werden, ob er vor Erschaffung T 4 der III. Hauptstuͤck. der Welt gewesen sey, oder wenn der Raum nichts ist, ob die Koͤrper im nichts seyn koͤnnen ꝛc. Es ist hier der Ort nicht, die Voraussetzungen dieser Fragen zu untersuchen, oder die etwan in den Worten liegende Un- bestimmtheit und Vieldeutigkeit aus einander zu setzen. So viel ist fuͤr sich klar, daß von dem Begriffe des Raums, der an sich einfach ist, und daher durch innere Merkmale nicht definirt werden kaun, viele fremde Bil- der muͤssen getrennt werden, die die Einbildungskraft gar zu leicht damit verbindet. Locke in seinem Wer- le von dem menschlichen Verstande haͤlt sich bey diesen Untersuchungen weitlaͤuftig auf, und so wird man auch in dem ersten Hauptstuͤcke der Alethiologie (§. 43. 48. 49. 50.) hieher dienende Betrachtungen finden. Allem Ansehen nach traͤgt auch die Sprache dazu bey, daß, indem sie Raum und Zeit durch Substantiva ausdruͤckt, und alle Redensarten darnach einrich- tet, diese beyde Begriffe als koͤrperliche Substanzen ansehen macht. Dieses mag die Schwierigkeit, diese beyden an sich einfachen Begriffe rein zu denken, noch merklich vermehren. §. 122. Laͤßt man aber die Begriffe der Ausdeh- nung, Zeit, und Bewegung als wahre Begriffe gelten, so bleibt auch in dem Bilde davon viel, das mit zu der reinen Vorstellung gehoͤrt, und der reine Verstand kann davon nicht abstrahiren, weil es zur Sache selbst gehoͤrt. Jn Ansehung der meisten uͤbrigen Wahrheiten, und besonders der abstracten, muͤssen wir anmerken, daß, so ferne die sinnlichen Bilder sie nicht an sich vorstellen, der reine Verstand allerdings davon abstrahirt, und abstrahiren muß, daferne die Vorstellung ohne solche Bilder seyn soll. Dadurch aber erhalten wir nur so viel, daß wir das, so an der Sache ist, uns vermittelst der Woͤrter und anderer dafuͤr angenommenen Zeichen vorstellen muͤssen. So finden wir in den Zahlen nicht wohl Von dem psychologischen Schein. wohl anders einige Deutlichkeit, als in so weit wir sie durch Ziffern vorstellen. Jn dieser Absicht koͤnnen wir sagen, daß wir, vermittelst der Sprache und anderer Zeichen, unsere Erkenntniß uͤber die Bilder und Gren- zen der Einbildungskraft hinaus schwingen, wovon uns die Algeber ein vollkommeneres Beyspiel giebt. §. 123. Die Einbildungskraft hat in ihren Bildern immer etwas Jndividuales, so oft sie sich nicht bloß die Woͤrter, sondern die Sache vorstellt. Wir finden die- ses in den Traͤumen, wo sie gleichsam allein wirkt. Und wenn wir uns auch wachend eine Sache, z. E. ei- nen Triangel, Circul oder andere Figur vorstellen wol- len, so geben wir ihm sogleich einen Ort, Groͤße und Lage. Das heißt: wir stellen uns die Sache in Ge- danken gleichsam vor Augen. Bey abstracten Be- griffen giebt uns die Einbildungskraft ein Exempel, oder einzeln Fall, so klar oder dunkel wir uns auch des- sen moͤgen bewußt seyn. Demnach wenn wir das Ab- stracte rein denken wollen, so stellen wir uns eigentlich nur die Worte, und zwar mit dem Bewußtseyn vor, daß sie etwas Wahres und Allgemeines aus- druͤcken oder anzeigen, welches sich auf jede durch die Worte vorgestellte Faͤlle anwenden lasse. Und so ferne wir darinn richtig verfahren, so ferne thut uns die symbolische Erkenntniß eben den Dienst, den wir von dem reinen Verstand erwarten koͤnnten. §. 124. So bald wir einmal einen Vorrath von all- gemeinen Saͤtzen haben, sie moͤgen nun Grundsaͤtze, Forderungen oder Erfahrungssaͤtze seyn, so giebt uns die Lehre von den Schluͤssen die Moͤglichkeit an die Hand, aus der Berbindung solcher Saͤtze neue Schluß- saͤtze zu ziehen, und dadurch auf neue Verhaͤltnisse der Dinge zu kommen, die wir sodann als Begriffe ansehen, mit Namen benennen und die Theorie davon fortsetzen T 5 koͤnnen. III. Hauptstuͤck. koͤnnen. Es ist fuͤr sich klar, daß diese Saͤtze gemein- same Glieder haben muͤssen, um dadurch in Schlußre- den verbunden werden zu koͤnnen. Dieses aber voraus- gesetzt, so ist die ganze Operation gleichsam bloß mecha- nisch oder semiotisch, weil sich die Schlußreden in For- meln vorstellen lassen. Uebrigens geht man in der Al- geber hierinn weiter und sicherer, weil man, so bald eine Aufgabe in ihre Gleichungen gebracht ist, von der Be- deutung der Buchstaben ganz abstrahirt, und nur auf die Stelle und die Zeichen + — · : √ ꝛc. zu sehen hat, um die Aufloͤsung nach allgemeinen Regeln zu Ende zu bringen. Hingegen in der Rechenkunst muͤssen wir uns der Bedeutung der Ziffern, und in der Sprache der Bedeutung der Woͤrter bestaͤndig bewußt seyn, zumal wenn uns die durch die Woͤrter vorgestellte Begriffe andere Begriffe zu Sinne bringen sollen, die mit jenen in Verbindung stehen. §. 125. Auf die erst angezeigte Art koͤnnen wir durch Schluͤsse zu sehr allgemeinen und abstracten Begriffen und deren Verhaͤltnissen gelangen, und so gar uns et- wan darinn versteigen, das will sagen, auf abstracte Speculationen gerathen, die entweder gar nicht oder muͤhsam brauchbar gemacht werden koͤnnen. Zu die- sem Ende merken wir an, daß das Brauchbare immer wiederum zu dem Jndividualen zuruͤcke fuͤhren soll, weil der eigentliche Gebrauch eines Satzes in jedem Fall individual ist. Demnach gebraucht ein Satz, der sich von dem Jnvidualen zu weit entfernt, noch mehrere an- dere stuffenweise minder abstracte, auf welche er in ei- ner formlichen Theorie angewandt werden muß, damit man dadurch dem Jndividualen naͤher komme, und so wird nicht der abstracte Satz, sondern die daraus ge- fundene specialere in vorkommenden Faͤllen angewandt. §. 126. Aus den bisherigen Anmerkungen uͤber die (§. 119.) vorgelegte Frage erhellet nun so viel. 1. Daß es Von dem psychologischen Schein. es Faͤlle giebt, wo auch der reine Verstand die Bilder der Einbildungskraft beybehaͤlt. 2. Daß aber auch in diesen Faͤllen die symbolische Erkenntniß die Vorstellung erleichtere und deutlicher machen helfe. 3. Daß bey abstracten Begriffen die Einbildungkraft individuale Bestimmungen mit einmenge, von welchen der reine Verstand abstrahiren muß. 4. Daß dieses Abstraht- ren nicht wohl anders geschehe, als indem wir Begriffe und Urtheile durch Worte oder Zeichen ausdruͤcken, mit dem Bewußtseyn, daß sie allgemein, wahr und richtig seyn. 5. Daß man auf diese Art vermittelst des Ab- strahirens und der Schluͤsse die abstracte Erkenntniß weit uͤber die Einbildungskraft hinaufschwingen koͤnne, aber auch, um sie brauchbar zu machen, in der Anwen- dung solcher abstractern Erkenntniß sie dem Jndividua- len wiederum naͤher bringen muͤsse. Uebrigens haben wir bereits (§. 97.) angemerkt, daß auch der Schein uns allgemeine Saͤtze und Verhaͤltnisse anbiete, die sich auf eben so allgemeine Verhaͤltnisse in der Sache selbst gruͤnden. Jene koͤnnen ohne diese aus der Erfahrung gefunden werden, und so lange uns diese unbekannt sind, muͤssen wir uns mit jenen begnuͤgen, und koͤnnen es um so mehr thun, da der gemeine Gebrauch fast mehr die Sprache des Scheins als die wahre fordert (§. 66. 73.). Viertes IV. Hauptstuͤck. Viertes Hauptstuͤck. Von dem moralischen Schein . §. 127. D ie bisher betrachteten Arten und Quellen des Scheins wuͤrden die einzigen seyn, daferne wir in Absicht auf das Wahre und Jrrige gleichguͤltig blieben. So aber ist die menschliche Natur nicht beschaffen, und die Wahrheiten, wobey sich nicht Angenehmes oder Wi- driges, oder uͤberhaupt die Begriffe des Guten und Schlechten mit einmengen, sind sehr selten. Man hat die Geometrie, und die damit verbundenen Wissenschaf- ten, als solche angesehen, weil wir darinn die Sachen nehmen, wie sie sind, und weil die geometrischen Wahr- heiten mit den Begriffen des Gluͤckes und Ungluͤckes, der Furche und Hoffnung, ꝛc. keine unmittelbare Ver- bindung haben. Jndessen kann man doch nicht in Ab- rede seyn, daß sich nicht oͤfters Ruhmbegierde und an- dere Leidenschaften mit einmengen, und wie es bey so vielen gefehlten Quadraturen des Circuls geschehen, Uebereilung und fehlerhafte Schluͤsse veranlassen, die man bey ruhigerm Gemuͤthe gar leicht wuͤrde haben entdecken und vermeiden koͤnnen. Jn Ansehung jeder andern Wahrheiten, die uns naͤher angehen, oder wobey sich Lust und Unlust, Furcht und Hoffnung mit einmengen, bleiben wir lange nicht so gelassen, daß es uns gleichguͤltig waͤre, ob sie wahr oder nicht wahr sind, und die Faͤlle, wo man das Wahre nach dem Vortheil schaͤtzt, und nur glaubt, weil man wuͤnscht, oder nicht glaubt, weil man fuͤrchtet oder verabscheut, sind gar nicht selten. Man weiß, auf wie vielerley Arten Reli- gion und Sittenlehre theils ganz, theils stuͤckweise, ge- glaubt, verworfen, nach den Trieben des Herzens umge- aͤndert, Von dem moralischen Schein. aͤndert, oder in andere Formen gebracht werden, und wie schwer es dabey ist, nicht nur die Wahrheit, sondern auch den wahren Grad der Erheblichkeit eines jeden Satzes zu bestimmen, und bey der einmal festgesetzten Bestimmung zu bleiben. §. 128. Wir haben den Einfluß der Leidenschaften in die Veraͤnderungen des Scheins bereits in dem er- sten Hauptstuͤcke kuͤrzlich angezeigt, und den daher ruͤh- renden Schein moralisch genennt (§. 17. 18. 22.), theils um ihn durch ein eigenes Wort von dem physischen und psychologischen zu unterscheiden, theils auch, weil in der That der Wille, die Leidenschaften und die Begriffe des Guten und Boͤsen Gegenstaͤnde der Mo- ral sind. Wir werden aber, ohne uns bey dem Worte aufzuhalten, stuͤckweise anzeigen, was wir unter dem moralischen Schein verstehen, und wie weitlaͤuftig sich die Theorie desselben ausbreite. §. 129. Zu diesem Ende merken wir an, daß man in der Sittenlehre laͤngst schon das wahre Gute von dem Scheingut unterschieden hat, weil zwischen gut scheinen und gut seyn allerdings ein Unterschied ist. Wir haben die Theorie dieses Unterschiedes oben schon (§. 30.) als einen specialen Theil der Phaͤnomenologie angegeben. Es ist aber diese Theorie fast nichts anders, als eine Anwendung der Lehre des physischen und psy- chologischen Scheins auf das Gute. Wir haben da- her in vorgehendem Hauptstuͤcke einige Faͤlle davon als Beyspiele angefuͤhrt (§. 107. 108. 113. 116.), und werden hier nur die ersten Grundbegriffe dazu angeben, und die verschiedenen Arten des Scheinguten bestimmen. Wir merken demnach an, daß es bey Beurtheilung des Gu- ten auf eine Schlußrede ankomme. Der Unterfatz zeigt die Beschaffenheit der Sache an. Der Obersatz aber giebt an, daß eine Sache von solcher Beschaffen- heit gut sey. Jn Ansehung dieser Schlußrede koͤnnen nun IV. Hauptstuͤck. nun auf verschiedene Arten Luͤcken und Fehler vor- kommen. 1. Wenn die Sache die vorgegebene Be- schaffenheit gar nicht, oder nur zum Theil hat. 2. Wenn nebst dem, so wir davon wissen, noch andere Eigenschaf- ten dabey sind, die das daran bemerkte Gute wieder verderben, fruchtlos machen, oder uͤberwiegen. 3. Wenn Umstaͤnde mit unterlaufen, die das Gute unbrauchbar machen, oder schlimmeres mit einmengen. 4. Wenn es ganz oder zum Theil falsch ist, daß die vorgegebene Beschaffenheit der Sache, fuͤr sich betrachtet, gut sey. 5. Wenn das Gute daran nur in den naͤchsten Folgen gut, in den entferntern schlecht ist. 6. Wenn das Gute nicht erheblich genug ist, und statt dessen besseres gesucht und erlangt werden kann. Jn welcher von diesen Absich- ten wir uns nun in jedem Fall irren, so wird das Gute, so wir dabey zu seyn glauben, ein Scheingut genennt, es sey, daß es in der That schlecht ist, oder vom schlechten uͤberwogen wird, oder ein groͤßeres Gut verhindert, und zwar wiederum entweder fuͤr sich betrachtet, oder in vor- gegebenen Umstaͤnden, und so auch entweder in Absicht auf jede Folgen, oder nur in Absicht auf einige. §. 130. Sodann koͤnnen wir anmerken, daß das Gute in jeden einzelnen Faͤllen theils individuale Be- stimmungen erhaͤlt, auf die man mit zu sehen hat, theils mit individualen Umstaͤnden in den Zusammenhang der Welt verflochten wird, theils auch verhaͤltnißweise be- trachtet, und mit der Summe des Guten, das ein Mensch in seinen Lebensumstaͤnden erlangen und wirken kann, verglichen werden muß. Wir haben bereits in dem zweyten Hauptstuͤcke der Alethiologie (§. 105. seqq. ) die ersten Gruͤnde der Agathologie kurz angezeigt, und dabey besonders angemerkt, daß das Gute keine be- stmmte Einheit hat, sondern nach mehrern Dimensionen von 0 bis ins Unendliche geht. Und da die Anzahl und Vielfaͤltigkeit seiner Folgen in jeden Absichten muß bestimmt Von dem moralischen Schein. bestimmt werden, so ist man auch laͤngst schon gewoͤhnt, den Ausdruck zu gebrauchen, daß, um die Guͤte einer Sache oder Handlung vollstaͤndig zu bestimmen, man sie von allen Seiten betrachten, und das Gute und Schlechte dabey gegen einander abwaͤgen muͤsse. So viele Seiten man aus der Acht laͤßt oder uͤbersieht, so viele Luͤcken bleiben auch, und man laͤßt sich durch den Schein blenden oder irre machen, wenn man nur die schoͤnere oder hinwiederum nur die schlimmere Seite allein betrachtet. Man sehe, was wir oben (§. 13.) hieruͤber angemerkt haben. §. 131. Ueberhaupt koͤmmt es in vorgedachter Theo- rie (§. 129.) auf den Begriff des Guten und dessen Anwendung auf einzelne Faͤlle an (§. 107.). Hierinn geht aber der Begriff des Guten von dem Begriff des Wahren ab. Denn was an sich wahr ist, ist auch in jeden Umstaͤnden und fuͤr jede Menschen wahr, weil da hoͤchstens nur einzelne Bestimmungen hinzukommen, die aber dem an sich Wahren nicht widersprechen koͤnnen. Hingegen mag zwar das an sich Gute gut heißen, es koͤnnen sich aber in besondern Faͤllen Umstaͤnde mit ein- mengen, die alles wieder verderben, und wenn auch die- ses nicht ist, so geht der Wille auf das Bessere, und dieses hat in Absicht auf jedes Gute statt, weil das Gute keine absolute Einheit hat. Daher ist auch das Beste, das wir kennen oder dessen wir uns bewußt sind, noch nicht das beste Moͤgliche, und in so ferne kann auch hier das oben (§. 13. No. 1.) angemerkte Taͤuschwerk des Scheins vorkommen. Die Bestimmung der groͤßten Summe des Guten, das ein Mensch in seinem Leben erlangen und wirken kann, wenn man seine Kraͤfte, Na- turgaben und aͤußerliche Umstaͤnde mit der moͤglichen Dauer des Lebens vergleicht, fordert eine Theorie, an die sichs noch dermalen nicht gedenken laͤßt, weil die Aus- messung der Grade des Guten vorerst auf Gruͤnde ge- bracht IV. Hauptstuͤck. bracht werden muß. Die Agathologie und die Anwen- dung der Phaͤnomenologie auf dieselbe, bleibt demnach bis dahin nothwendig sehr unvollkommen. §. 132. Die bisherigen Anmerkungen (§. 129. seqq. ) gehen auf die Frage, wieferne in den Begriffen und Vorstellungen des Guten Wahres ist? Wir werden nun diese Frage umkehren, und umstaͤnd- licher untersuchen, wieferne die Vorstellung des Guten, und die damit verbundene Lust, und hinwiederum die Unlust an dem Nichtguten, in der Vorstellung und Erkenntniß des Wah- ren etwas aͤndern, und sie theils unrichtig ma- chen, theils auch nur auf eine gewisse Seite lenken? Hiebey gebrauchten wir nun die andere Helfte der oben (§. 98. seqq. ) angezeigten Theorie des Mecha- nismus, der in den Saͤften und Fibern des Gehirns vorgeht. Wir hatten sie daselbst nur in so ferne be- trachtet, als sie uns das Bewußtseyn jeder stuffenweise feinern Empfindungen erregen, indem sich die in den Empfindungsnerven verursachte Bewegung bis zu dem Sitz oder der Werkstaͤtte der Seele fortpflanzt. Von allen diesen Empfindungen ist nun keine gleich- guͤltig, sondern mit einem gewissen Grade von Ange- nehmem oder Widrigem verbunden, ungeacht wir uns mehrentheils nur der staͤrkern Grade, oder ihrer Ver- staͤrkung und Schwaͤchung bewußt sind. Besonders sind auch die staͤrkern Grade von Empfindungen, die sonst an sich nichts widriges haͤtten, mit der Empfin- dung des Schmerzens verbunden. Ein gar zu hel- les Licht blendet und verletzt. Ein zu starker Schall be- taͤubt und wird schmerzhaft. Selbst das Hauptweh kann von zu starkem und zu lange anhaltendem Nach- sinnen herkommen, und ist eine Anzeige, daß auch die mit dem Nachdenken verbundenen und harmonirenden Bewe- Von dem moralischen Schein. Bewegungen der Theile des Gehirnes bis zum Schmer- zen stark werden koͤnnen. §. 133. Es gehen aber solche Bewegungen nicht so schlechthin nur gegen den Sitz der Seele zu, sondern es finden sich andere, die sich von da wiederum ausbreiten. Man koͤnnte besonders von den widrigen Empfindun- gen gedenken, daß sie eine Art von Repercussion veran- lassen, die, wie es bey dem Schrecken, Entsetzen, Erstaunen, Verabscheuen, ꝛc. geschieht, den ganzen Leib starren oder erschuͤttern macht. Solche gleichsam divergirende Bewegungen verursachen, daß bey den Empfindungen nicht alles objectiv ist, sondern daß sich der innere Zustand der Seele oder die Gemuͤthsverfas- sung in die durch die Empfindungen verursachten Vor- stellungen und Gedanken mit einmengt, und in densel- ben manchen leeren Schein fuͤr wahr ansehen macht, weil er schlechthin subjectiv ist (§. 100. 31.). Es mag auch Faͤlle geben, wo man den Unterschied des bloß Ob- jectiven und des mit eingemengten Subjectiven in den Empfindungen und Gedanken bemerkt, und gewisser- maßen empfindet. Dieses kann naͤmlich geschehen, wo man bey staͤrkern Graden der Affecten sich selbst noch genug besitzt, um auf die dadurch veranlaßte Revolu- tion in den Gedanken Achtung zu geben, und sie so wie man sie alsdann hat, mit denen zu vergleichen, die man uͤber einerley Sachen ehemals bey ruhigem Gemuͤ- the oder auch bey entgegengesetzten Leidenschaf- ten hatte. Man wird viele von diesen letztern Gedan- ken gleichsam aufsuchen muͤssen, und den Grad ihrer Erheblichkeit merklich geaͤndert finden. Und wenn man sich gleich auch vorstellt, das Urtheil des Verstandes bey ruhigerm Gemuͤthe sey allerdings zuverlaͤßiger, so hat man doch Muͤhe, es so anzunehmen, und findet den Verstand, und, man kann auch sagen, die mit dessen Gebrauche sich bewegenden feinern Fibern des Gehirns, Lamb. Organon II B. U gleich- IV. Hauptstuͤck. gleichsam umnebelt, daß das Bewußtseyn davon schwaͤcher oder ganz verdunkelt ist. Dieses Umnebeln ist in solchen Faͤllen eine laͤngst eingefuͤhrte Metapher. Bey starken Getraͤnken scheint es dem buchstaͤblichen Verstande nach vorzukommen, und es ist kaum zu zwei- feln, daß es bey staͤrkern sinnlichen Leidenschaften nicht auch sey, weil sie ihre Wirkung auf die Gebaͤrden, Ge- sichtszuͤge und den ganzen Leib erstrecken. §. 134. Die von dem Willen abhaͤngenden Bewe- gungen des Leibes und jeder Theile ruͤhren urspruͤnglich ebenfalls aus dem Gehirne her, und sind daselbst mit den Bewegungen, die das Bewußtseyn der Empfindungen verursachen, ebenfalls in Verbindung. Die Leichtigkeit derselben, ihre Grade, die allmaͤhlich bis zum Schmer- zen gehende Ermuͤdung, die dadurch veranlaßte Begier- de nach der Ruhe, und selbst das Erquickende des Aus- ruhens, sind Proben davon. Da man auch des zu lange anhaltenden Nachdenkens muͤde werden kann, und Ruhe und Zerstreuung der Gedanken suchen muß, so scheint, daß auch der Gebrauch der Erkenntniß- kraͤfte darinn dem Gebrauche der Leibeskraͤfte aͤhnlich sey, daß sie sich ermuͤden, und bey beyden die staͤrkere Ermuͤdung durch den Schlaf muß ersetzt werden. §. 135. Alles dieses ist bey verschiedenen Menschen verschieden, und die individualen Bestimmungen, so sich bey denselben finden, machen von Kindheit auf die erste Anlage zu den Charaktern einzelner Menschen aus. Die Nahrung, die Lebensart und die Erziehung helfen diese erste Anlage vollends ausbilden, und sie in vielerley Ab- sichten und einzelnen Theilen besser oder schlechter ma- chen. Einige sind feinerer Empfindungen faͤhig, an- dere zu dem Gebrauche der untern, andere zu dem Ge- brauche der obern Erkenntnißkraͤfte mehr aufgelegt. Bey einigen scheint ein bestaͤndiger Nebel im Gehirne die feinern Empfindungen zu hemmen, und den Verstand und Von dem moralischen Schein. und die Vernunft unbrauchbarer zu machen. Bey ei- nigen macht die Empfindung der Verschiedenheiten, bey andern aber die Empfindung der Aehnlichkeiten der Dinge staͤrkern Eindruk. Bey einigen ist das Objective in den Empfindungen lauterer, bey andern aber mit dem Subjectiven (§. 100.) mehr untermengt. Solche Unterschiede finden sich ebenfalls in Ansehung der |Af- fecten, Triebe, und Kraͤften des Leibes. Wir werden aber den erst angegebenen Schattenriß der Theorie die- ser Unterschiede aus gleichem Grunde, wie oben (§. 101.) nicht weiter fortsetzen, weil sie noch viel zu weit zuruͤcke bleibt, sondern auch hier statt der wirkenden Ursachen in dem Leibe und dem Gehirne die Wirkungen betrach- ten, und ihren Einfluß in den Schein der Dinge untersuchen. §. 136. Das erste, das sich uns hiebey anbeut, ist der Unterschied, den wir zu machen haben, ob die Seele sich leidend oder thaͤtig verhalte. Ersteres ist, wenn sie die Emfindungen annimmt, und da mengt sich das Angenehme und das Widrige mit ein, es mag nun von dem Grade oder von der Art der Empfindung her- ruͤhren. Letzteres aber findet statt, wenn die Kraͤfte, die von dem Willen abhaͤngen, gebraucht werden, und da findet sich das Muͤhsamere und das Leichtere. Beydes aber ist hinwiederum mit dem Angenehmen und Widrigen verbunden. Den Einfluß, den diese gedoppelte Verbindung auf den Charakter eines jeden Menschen hat, haben wir bereits oben (§. 18.) ange- zeigt. Ueberhaupt betrachtet ist das Muͤhsame widrig, das Leichte aber angenehm. Und dieses findet vornehm- lich statt, wo jemand das Leichte und Muͤhsame zum Maaßstabe des Angenehmen und Widrigen macht, oder dieses schlechthin nur nach jenem schaͤtzt. Hingegen fin- det sich die Sache auch umgekehrt, daß man naͤmlich dem Angenehmen die Muͤhe aufopfert, und das Leichte U 2 fahren IV. Hauptstuͤck. fahren laͤßt, wenn es widrig ist. Man sieht leicht, daß hiebey das Angenehme und Widrige aus ganz andern Gruͤnden bestimmt wird, als in dem ersten Fall, wo man es nach den Graden der Leichtigkeit und der Muͤhe schaͤtzt. Der Unterschied, der in beyden Faͤllen in dem Charakter eines Menschen daraus entsteht, ist betraͤcht- lich. Denn wer die Muͤhe zum Maaßstabe seiner Entschließungen und zur Richtschnur seines Thuns macht, ist indolent, traͤge und unentschlossen, und gegen andere Beweggruͤnde gleichguͤltig: Jndolent, weil der Gebrauch der Leibes- oder Seelenkraͤfte ihn bald ermuͤ- det; traͤge, weil er sie eben deswegen nicht gern ge- braucht; unentschlossen, weil er ihren Gebrauch wegen der Ermuͤdung lieber aufschiebt. Das Gegentheil fin- det sich, wo andere Beweggruͤnde und Triebe staͤrker sind, und die Anstrengung der Kraͤfte nicht so leicht eine Ermuͤdung nach sich zieht. Bey solchen Charaktern ist mehr Muth, Unverdrossenheit und Hurtigkeit. Und wer die Muͤhe und Schwierigkeit gar nicht oder gleich- sam nur zuletzt in die Rechnung zieht, ist zu groͤßern Verrichtungen aufgelegt. Dieser Unterschied aͤußert sich in Absicht auf die Vorstellung der Dinge ebenfalls. Der Schein beut sich gleichsam von selbst an, dahinge- gen das Wahre erst daraus geschlossen und gesucht wer- den muß. Wer demnach in Absicht auf den Gebrauch der Erkenntnißkraͤfte indolent ist, der begnuͤgt sich mit dem Schein, und laͤßt sich leicht blenden, so oft es ihm Muͤhe macht, auf die Wahrheit zu kommen. §. 137. Was wir aber in Ansehung der Phaͤnome- nologie besonders hieruͤber anzumerken haben, ist, daß die einzelnen Theile dieser beyden Charakter fast immer bey einzelnen Menschen durch einander vermischt sind. Die Schwierigkeiten koͤnnen nicht immer uͤberwunden werden, und zu dem Leichten koͤnnen ebenfalls andere Beweggruͤnde mangeln. Auf diese Art giebt es in Absicht Von dem moralischen Schein. Absicht auf die Erkenntniß Seiten der Sachen, wo man sich mit dem Schein behilft, oder es dabey bewen- den laͤßt, andere, wo man auf das Wahre dringt, und noch andere, die man ganz unbemerkt laͤßt, es sey daß sie zu viele Muͤhe fordern wuͤrden, oder daß man sie ungern aufdeckt. Ueberhaupt macht man sich die Din- ge und ihre Seiten bekannter, die man sich lieber vor- stellt, und daraus entstehen in Absicht auf das Wah- re, besonders aber auch in Absicht auf das Gute, Luͤ- cken in der Erkenntniß, die nicht selten nachtheilig sind (§. 130. 18.). §. 138. Es bleibt aber dabey nicht bloß bey den Luͤcken, sondern die Affecten helfen sie oͤfters so ausfuͤl- len, daß die Vorstellung von der Sache selbst ganz ver- schieden wird. Auf diese Art stellt man sich eine Hand- lung, so man jemand thun sieht, ganz vor, wenn man gleich nur das Aeußerliche oder einen Theil davon ge- sehen, aus welchem sich weder unmittelbar auf das Ganze, noch auf die Absicht und den Grund derselben schließen laͤßt. Und dieses kann geschehen, ohne daß man sich eines Vorsatzes bewußt sey, die Sache besser oder schlimmer auszudeuten als sie wirklich ist. Denn die Affecten treiben, ohne daß man noͤthig habe, mit Ueberlegung einen Vorsatz zu fassen. Ueberdieß haben viele Sachen außer ihrem eigenen Namen noch andere, die sie von der bessern oder schlimmern Seite vorstellen, und da ist es ganz natuͤrlich, daß die Affecten unver- merkt die Auswahl des Namens bestimmen, und der eigene selten dazu gewaͤhlt wird. So werden auch ei- nem Menschen, der sich mit Bewußtseyn an die Gren- zen des Erlaubten hinauswagt, ohne sie zu uͤberschreiten, seine Handlungen von andern, die ohne Bedenken daruͤ- ber hinausschweifen, oder auch diese Grenzen viel enger setzen, auf eine ganz verschiedene Art ausgelegt werden. Letztere verdammen ihn, erstere aber messen ihn nach U 3 ihrer IV. Hauptstuͤck. ihrer Elle, weil sie eben nicht geneigt sind, ihn fuͤr besser anzusehen, als sie selbst sind. So verfaͤllt man auch leicht in die Uebereilung, bey physischem Uebel mo- ralisches zu suchen, Ungluͤcke als Strafen anzusehen, und zu Handlungen, die schlechthin physisch sind, Moralitaͤ- ten, die dabey nicht statt haben, hinzuzusetzen, besonders wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß haben, so man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe einen vielfachen Einfluß der Affecten finden. §. 139. Die Affecten sind uͤberhaupt eine subjective Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub- jectiven dieses gemein, daß sie die von ihnen herruͤh- rende Veraͤnderung in der Vorstellung der Dinge zu- gleich auf mehrere ausbreiten. Dieser Isochronisinus ist in vielen Faͤllen sehr merklich. Wer alles leicht ta- delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli- ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, sich jede Sache von der schlimmern Seite vorzustellen, oder es sieht sonst uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil sie mit einer uͤber- triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf seine Kraͤfte verbunden ist. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen Stunden sieht man die Dinge ganz anders an, als bey ruhigem Gemuͤthe. Es sollte aber allerdings, was man bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß- stab seyn, nach welchem das uͤbrige geschaͤtzt werden muß. Und dieses geht besonders auf den Grad der Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver- dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als sie an sich sind, vorgestellt werden koͤnnen. §. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorstel- lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und schwaͤchen das Bewußtseyn der uͤbrigen, und wo dieses nicht ganz geschieht, oder wo man andern Empfindun- gen Von dem moralischen Schein. gen und Gedanken Raum giebt, da giebt man bald nur auf die Aehnlichkeiten Achtung, die sie mit denen Bil- dern und Vorstellungen haben, die der Gegenstand des Affects sind. Daher ist auch die Sprache der Leiden- schaften voller Bilder, Vergleichungen und kuͤhner Me- taphern, woraus man oͤfters den herrschenden Affect in dem Charakter eines Menschen erkennen kann. Ge- meiniglich betrachtet man auch die sonst mit dem Affect nicht verbundenen Dinge lieber und fast allein von der Seite, welche mehr solcher Aehnlichkeiten anbeut, und nimmt die Metaphern, wodurch man sie benennt, un- vermerkt und oͤfters ohne Grund von dem Stoffe des Affectes her. Daß man bey den Cometen und Nord- lichtern Ruthen, Schwerter, Spieße, Kriegsheere ꝛc. getraͤumt hat, ist allerdings der Furcht zuzuschreiben, welche der Aberglaube, die Unwissenheit, und etwan auch das boͤse Gewissen erregten. §. 141. Die moralischen Wahrheiten, welche auf das Thun und Lassen gehen, schraͤnken einander ein, und man kann nicht eine zum Nachtheil der andern schlecht- hin und ohne die behoͤrige Einschraͤnkung behaupten oder einschaͤrfen. Jndessen geschieht dieses bey Affe- cten, als welche die denselben angemessene Wahrheit gleichsam als die einzige vorstellen, und die uͤbrigen ver- gessen machen. Dabey ist man sich der Grenzen des Erlaubten nicht mehr bewußt, und indem man sich ent- weder zu viel einschraͤnkt, oder zu weit ausschweift, zieht man sich Folgen zu, die man leicht haͤtte vermeiden koͤnnen, wenn man die Theorie richtig und vollstaͤndig beybehalten haͤtte. Wenn hiebey die die Affecten ein- schraͤnkenden Wahrheiten nur vergessen werden, so ist es bey geringern Graden der Affecten, und bey ruhigerm Gemuͤthe moͤglich, die Folgen dieses Vergessens zu be- merken, oder wenn sie von andern vorgestellt werden, der Errinnerung Gehoͤr zu geben, und den Affect zu U 4 maͤßi- IV. Hauptstuͤck. maͤßigen, oder in die aͤchten Schranken zu bringen. Jst aber die Sache so weit gekommen, daß man entweder nicht mehr nachlassen will, oder nicht mehr kann, so ist es sehr gewoͤhnlich, daß man wider die den Affect ein- schraͤnkende Wahrheit Zweifel aufsucht, und sie auch da zu finden glaubt, wo kaum ein Anschein war. Wir haben zu Anfang dieses Hauptstuͤckes (§. 127.) schon an- gemerkt, wie in der Religion und Sittenlehre aus sol- chen Gruͤnden willkuͤhrliche Aenderungen vorgenommen worden, und wie leicht das Herz sich zu einem Vertrag bequemt, einzelne Stuͤcke daraus gar nicht oder anders zu glauben. Eine richtige und vollstaͤndige Theorie von dem Einfluß des Temperaments auf die Religion, welche auf psychologischen und medicinischen Gruͤnden beruhen soll, ist in dieser Absicht von nicht geringer Wich- tigkeit. §. 142. Die Vorurtheile und vorgefaßten Mey- nungen sind gewoͤhnlich auch mit Affecten verbunden. Ein zu großes Zutrauen auf eigene Einsicht; eine uͤbertriebene Verehrung gegen die Einsicht eines an- dern Menschen; die Besorgniß, man moͤchte in Able- gung einer Meynung etwas von seinem Ansehen verlie- ren, zumal nachdem man sie zu dictatorisch behauptet; die Hoffnung, sich mit Behauptung einer seltsamen Meynung einen Namen zu machen ꝛc. sind gewoͤhnlich die verdeckteren Triebfedern, wodurch man bey Jrrthuͤ- mern bleibt, und gegen Wahrheiten Zweifel zu erregen sucht, so sehr man sich auch mit der Liebe zur Wahrheit schmeichelt, oder auch gar die, so anderer Meynung sind, eines Vorurtheils beschuldigt. Man hat ange- merkt, daß die Affecten gewoͤhnlich alsdann reger wer- den, wenn jemand entweder aus Unwissenheit seine Mey- nung nicht klar genug erweisen kann, oder wenn sie sich entweder gar nicht oder nur zum Theil beweisen laͤßt, und daß hingegen die groͤßten Geister die bescheidensten sind. Von dem moralischen Schein. sind. Jn der That wissen auch nur diese auf eine posi- tive Art, wie viele Muͤhe, Behutsamkeit und Erkennt- nißkraͤfte erfordert werden, die Wahrheit immer genau zu finden, und wie leicht man zuruͤcke bleibt. Eine Reihe zusammenhaͤngender Schluͤsse gleicht einer weit- laͤuftigen Rechnung, und man kann beyden das saluo errore calculi beyfuͤgen, weil doch das Uebersehen so leicht ist. §. 143. Da die Affecten uns die Dinge gewoͤhnlich nur von einer Seite vorstellen, und das Bewußtseyn der uͤbrigen verdunkeln, so ist es auch moͤglich, mit Aen- derung des Affects gleichsam andere Seiten der Sa- chen herauszukehren oder ins Licht zu bringen, oder sie mit ganz andern Augen anzusehen. Vermuthlich hat man aus diesem Grunde mit gewissen und oͤfters bloß theoretischen Wahrheiten, vermittelst willkuͤhrlicher Belohnungen und Strafen, Affecten ver- bunden, wogegen andere, welchen solche Wahrheiten eben nicht so einleuchtend vorkommen, die so genannte Freyheit zu philosophiren behaupten, um sich da- durch den Weg zu bahnen, ihre Meynungen vortragen zu duͤrfen. Cartesius schuͤtzte die Nothwendigkeit vor, auf seine eigene Meynung ein Mistrauen zu set- zen, oder vorerst an allem zu zweifeln, um dadurch de- sto unpartheyischer die Wahrheit zu suchen. Jn der That liegt auch in der gemeinen Erkenntniß Schein und Wahres und Jrriges durch einander gemengt, und es muß behutsam aus einander gelesen werden, wenn man Stuͤcke daraus in eine wissenschaftliche Erkenntniß verwandeln will (§. 105.). Dieß will aber allerdings noch nicht sagen, daß die Freyheit zu philosophiren nicht aͤußerst gemisbraucht werden koͤnne, weil jeder, dem entweder herrschende oder auch unter- druͤckte Leidenschaften die Sachen nur von einer und gewoͤhnlich irrigen und uͤbertriebenen Seite so vorstel- U 5 len, IV. Hauptstuͤck. len, als wenn sie richtig und die einzige, oder wenigstens die einzige erhebliche waͤre, sich einbildet, er werde durch die reine Liebe zur Wahrheit getrieben, seine Meynung an Tag zu geben, und sey daher berechtigt, sich mit der Freyheit zu philosophiren zu schuͤtzen. §. 144. Die Affecten haben uͤberhaupt das, daß sie auf gewisse Seiten der Sachen aufmerksamer machen, weil man sie sich lieber und lebhafter vorstellt, und in so fer- ne helfen sie diese Seiten auch umstaͤndlicher aufdecken. Da aber gemeiniglich alles dabey uͤbertrieben ist, so muß man das, so man gefunden oder zu finden ge- glaubt hat, entweder andern zu beurtheilen uͤbergeben, oder die Beurtheilung nebst der Untersuchung der Ur- sachen in ruhigern Stunden vornehmen, zumal weil man sodann die uͤbrigen Seiten der Sache, die man in dem Affecte nicht geachtet hatte, mit in Betrachtung ziehen kann. Es ist natuͤrlich, daß man dadurch Mit- tel findet, die Wiederkehr des Affects vorauszusehen und zu vermeiden, oder wenigstens dem Blendwerk des- selben auszuweichen. Hypocondristen, bey denen der Anfall noch nicht zu stark geworden, ist ebenfalls anzu- rathen, nach dieser Vorschrift zu verfahren, ihre Geden- kensart bey ruhigem Gemuͤthe zum Grunde zu legen, den Lauf der Gedanken bey dem Anfang des Anfalls durch Lesen, Unterreden, Schlafen ꝛc. abzubrechen, und zu diesen psychologischen Mitteln auch die physischen und medieinischen zu gebrauchen. §. 145. Die Gemuͤthsruhe ist diejenige Lage der Seele, wobey der von den Affecten herruͤhrende Schein der Dinge am meisten vermieden wird, und gleichsam von selbst wegbleibt, wobey wir den Empfindungen und Gedanken Raum geben, die Aufmerksamkeit auf jede Seite der Sache lenken, und die hoͤhern Erkennt- nißkraͤfte frey gebrauchen koͤnnen. Wir koͤnnen uns aber dessen uneracht auf keine voͤllige Gleichguͤltigkeit Rech- Von dem moralischen Schein. Rechnung machen, und auch unterdruͤckte Affecten wir- ken oͤfters gleichsam auf die Gedanken so zuruͤcke, daß sie sich vielmehr zu einem System als zu einem andern bequemen. Das Widrige und Angenehme mischt sich auch ohne heftigern Sturm der Affecten auf eine feine- re und unvermerktere Art in die Gedanken mit ein, und uͤbereilt oͤfters das Urtheil, so wir faͤllen, wenn es gleich noch mehrerer Pruͤfung beduͤrfte. Die Vorstellung, daß die Wahrheit immer Wahrheit bleibe, wir moͤgen sie gerne oder ungern haben, muß lebhaft bey uns eingepraͤgt seyn, und uns bey Untersu- chung der Dinge bestaͤndig im Sinne schweben, wenn wir Uebereilung vermeiden, Schritt fuͤr Schritt gehen, und uns jedesmal mit dem, was wir gewiß haben, be- gnuͤgen, und das noch nicht durchaus Erwiesene fuͤr nicht mehr als es ist, ansehen und ausgeben wollen. Wir koͤnnen hier beylaͤufig anmerken, daß man sich mit einer solchen Bescheidenheit bey Leuten, die auf ihre Fragen schlechthin ja oder nein haben wollen, das Ansehen ei- nes Gruͤblers oder auch eines Zweiflers zuziehen kann. Die meisten sind so sehr daran gewoͤhnt, alles individual und durchaus bestimmt zu denken, daß ein unentschei- dender Vortrag ihnen misfaͤllt, und daß sie statt dessen lieber irriges glauben wollen. Jndessen ist es der Na- tur des menschlichen Verstandes gar nicht zuwider, den Beyfall nicht etwan nur zu geben, oder zu versagen, sondern ihn auch aufzuschieben, wo die Gruͤnde nicht uͤberwiegend sind. §. 146. Die Gemuͤthsruhe hilft eigentlich nur, den moralischen Schein und das Uebereilte, Uebertriebene und Unvollstaͤndige darinn vermeiden, weil die uͤbrigen Arten des Scheins aus ihren eigenen Gruͤnden muͤssen untersucht werden. Jndessen breitet sich der Vortheil davon auch auf diese Arten aus, weil die Affecten den Verstand umnebeln, und zu genauern Untersuchungen unfaͤ- IV. Hauptstuͤck. unfaͤhig machen. Wer sich selbst so weit besitzt, daß er sich auch auf die unerwartetesten Faͤlle gefaßt macht, und sich daher von Verwunderung, Erstaunen, Schrecken ꝛc. nicht irre machen laͤßt, der bleibt aller- dings zum Beobachten, zu Entschließungen und Hand- lungen aufgelegt, wenn andere Verwirrung in dem Verstande, Unentschlossenheit und Verlegenheit im Wollen, und Zerschlagenheit in den Kraͤften empfinden. Horaz scheint dieses mit seinem Nil admirari anzuzei- gen, und in der That muß man sich, wenn man anders die Vortheile eines ruhigen Zuschauers erhalten will, nichts uͤbernehmen lassen, und auch zu dem Unerwarte- ten voraus gefaßt seyn. Man koͤmmt dadurch leichter auf das Wesentliche einer Sache, weil man die Neben- umstaͤnde, die dabey nichts zu sagen haben, und nur Folgen oder Zufaͤlligkeiten sind, ehender erkennen und weglassen kann. Ein von Natur ruhiges Gemuͤth und empfindlichere Sinnen helfen ungemein viel zu einer ausgedehntern und richtigern Erkenntniß. §. 147. Die Liebe und der Haß, so ferne sie auf Sachen und Personen gerichtet sind, haben in Absicht auf die Erkenntniß den Erfolg, daß man an dem Ge- liebten die schlechtere, an dem Gehaßten die bessere Sei- te nicht gern glaubt, und oͤfters wider die, so sie aufdek- ken, boͤse wird, und unglaͤubig bleibt. Lieben und ver- achten, und so auch hassen und verehren findet sich nicht wohl beysammen. Die Vorstellung, daß die Sachen sind, wie sie sind, so gern wir es an- ders haͤtten, muß dieses Blendwerk der Affecten uͤber- wiegen, zumal wenn man mitnimmt, daß die Erkennt- niß der Fehler an dem Geliebten zur Besserung dessel- ben gebraucht, die Erkenntniß des Guten an dem Ge- haßten zur Verminderung dieses an sich widrigen Affe- ctes angewandt, das Gute selbst auch oͤfters genutzt werden koͤnne. Es ist fuͤr sich klar, daß diese Betrach- tung Von dem moralischen Schein. tung ebenfalls auf die Selbstliebe angewandt werden muͤsse, wenn man im Ernst darauf denken will, das Gute, so man an sich liebt, durch Ausbesserung der Feh- ler zu vergroͤßern. §. 148. Wenn sich mit einem wahren oder irrigen Satze Affecten verbinden, so dehnen sich diese gemeinig- lich auch auf diejenigen Saͤtze aus, die man mit dem vorgegebenen Satze in Zusammenhang zu seyn glaubt, besonders aber auf die, von welchen derselbe abzuhaͤn- gen scheint. Daher koͤmmt es, daß man unvermerkt Liebe und Haß auf ganze Systemen ausbreitet, und zwar nicht selten mit einer merklichen Uebereilung. Der vorgegebene Satz sey A. Wer nun denselben gern fuͤr wahr haͤlt, oder wuͤnscht, daß er wahr sey, wird auch geneigter seyn, die Vordersaͤtze einzuraͤumen, aus wel- chen er als ein Schlußsatz folgt, und eben so wird er auch leichter zugeben, was vermittelst anderer Saͤtze B daraus geschlossen werden kann, oder wenn der Schluß- satz widrig ist, so wird er ehender den Satz B als den Satz A in Zweifel ziehen. Auf diese Art koͤnnen ei- nem einzigen Satze zu gefallen, andere angenommen und verworfen werden, und es koͤmmt unvermerkt zu einem System. Jst nun der Satz A jemand zuwider, so wird er ordentlich die Vordersaͤtze zu dessen Beweis in Zweifel ziehen, und die Saͤtze B behaupten, welche eine richtige oder scheinbare Deductionem ad absur- dum angeben. Jndessen ist mit dem bloßen Laͤugnen der Vordersaͤtze, woraus A geschlossen wird, A noch nicht umgestoßen, und mit dem Laͤugnen des Satzes A fallen auch nicht alle daraus gezogenen Folgen weg, weil diese aus andern Gruͤnden dennoch wahr seyn koͤnnen (Dianoiol. §. 243. seqq. ). Da die Theorie des Zu- sammenhanges der Saͤtze in der Vernunftlehre aus- fuͤhrlich entwickelt ist, so ist es desto unverantwortlicher, wenn man wegen einiger Saͤtze sich so gleich von den Affecten V. Hauptstuͤck. Affecten hinreißen laͤßt, ohne weitern Unterschied das ganze System zu verwerfen. Es hat inzwischen schon mehrere Systemen gegeben, die man gleichsam wech- selsweise verworfen und wieder hervorgezogen hat, und das Gefallen oder Nichtgefallen ist dabey nicht immer aus dem bloßen Begriffe des Wahren oder Nichtwahren entstanden. Denn diese Begriffe al- lein lassen dem Gemuͤthe noch die erforderliche Ruhe und Geduld zum sorgfaͤltigern Auseinanderlesen. Fuͤnftes Hauptstuͤck. Von dem Wahrscheinlichen . §. 149. W ir haben noch das Wahre und den Schein des Wahren mit der Gewißheit und ihren Graden zu vergleichen, und hiezu beut uns die Spra- che eine Menge von Ausdruͤcken an, deren wir uns da- bey bedienen, und die theils der Art nach, theils stuf- fenweise, in ihrer Bedeutung verschieden sind. Denn nebst dem, daß wir etwan sagen, daß eine Sache oder Aussage wahr, oder nicht wahr, gewiß oder un- gewiß sey, daß man sie noch nicht eroͤrtert habe, daß sie dahin gestellt bleibe ꝛc., so bedienen wir uns zu- weilen auch der Ausdruͤcke: vermuthlich, glaub- lich, ohne Zweifel, allem Ansehen nach, kaum zu zweifeln, es scheine wahr zu seyn, es sey wahrscheinlich, muthmaßlich ꝛc. Diese Ausdruͤk- ke haben saͤmtlich etwas gemeinsames, indem sie die Art und den Grad der Versicherung angeben, mit wel- cher wir uͤber eine Sache urtheilen oder denken. So z. E. sagen wir: ohne Zweifel, wenn uns nichts ein- zuwenden Von dem Wahrscheinlichen zuwenden beyfaͤllt. Wir gebrauchen den Ausdruck: allem Ansehen nach, wenn wir aus Betrachtung der Sache und ihrer Umstaͤnde, wie sie uns vorkom- men, das Urtheil zu faͤllen geneigt gemacht werden. Der Ausdruck glaublich geht auf den Beyfall, den wir einer Aussage geben, wenn wir auf die Vorstellung der Sache mit sehen. Vermuthlich bezieht sich schlechthin auf den Begriff, den wir uns von der Sa- che machen, zumal wenn sie kuͤnftig oder auch abwe- send ist. Wahrscheinlich aber geht mehr auf die Gruͤnde, die wir haben, daß ehender die Sache als das Gegentheil wahr oder wirklich sey oder seyn werde ꝛc. §. 150. Da man sich aber besonders im gemeinen Leben an die Unterschiede dieser Woͤrter so genau nicht bindet, so hat man auch statt aller den Begriff des Wahrscheinlichen allein herausgenommen, und mit der diesem Wort eigenen Vieldeutigkeit noch die eigene Bedeutung der uͤbrigen vermengt. Ueberdieß hat man dem Begriff der geometrischen Gewißheit den Begriff der moralischen Gewißheit bald an die Seite, bald entgegengesetzt, und im letzten Fall alles, was nicht nach geometrischer Schaͤrfe erwiesen werden konnte, schlechthin nur fuͤr wahrscheinlich ausgegeben, im ersten Fall aber behauptet, daß die moralische Ge- wißheit der geometrischen im geringsten nichts nachge- be, und nur der Art nach davon verschieden sey. Die einzelen Theile der moralischen Beweise, sofern diese den Demonstrationen entgegengesetzt wurden, hat man Argumente genennt, und sie in beweisende und an- zeigende, probantia et indicantia, unterschieden, ohne immer auf den Unterschied zu sehen, ob es Argumen- te fuͤr den Verstand oder Argumente fuͤr den Willen, Gruͤnde oder Beweggruͤnde sind. Alles dieses sind Umstaͤnde, wo wir uns nicht an die Worte, sondern an die Sache selbst halten muͤssen, wenn wir sie V. Hauptstuͤck. sie entwickeln, und Licht und Ordnung darinn finden wollen. Wir werden demnach die besondern Faͤlle durchgehen, wobey das Wort Wahrscheinlichkeit oder Probabilitaͤt gebraucht wird, und dabey sehen, was man in jedem Fall dadurch versteht. §. 151. Der erste Fall, der sich uns hiebey anbeut, und sich sehr weit erstreckt, begreift uͤberhaupt die Gluͤcksspiele, und mit diesen auch die Loose und Lotterien ꝛc. wobey man aus der Einrichtung des Spieles Regeln herleitet, den Grad der Hoffnung zu bestimmen, den die Spielenden haben, ein oder mehr- malen zu gewinnen. Dabey werden nun alle moͤgli- che Faͤlle abgezaͤhlt, und die, so dem Spielenden guͤn- stig sind, besonders genommen, und gegen die ganze Anzahl proportionirt. So wenn zwischen dreyen das Loos geworfen wird, ist die Hoffnung eines jeden ⅓, weil es jeden eben sowohl fallen kann, als den beyden uͤbrigen. Eben so, weil man annimmt, daß die eine Seite eines Wuͤrfels eben so leicht fallen kann, als jede der uͤbrigen, wird die Hoffnung dessen, der sie das erste mal werfen will, ⅙ geschaͤtzt, weil unter 6 Faͤllen nur einer ihm guͤnstig ist. Fragt man aber, ob unter 6 auf einander folgenden Wuͤrfen ihm einer guͤnstig seyn wer- de, so sagt man, es sey wahrscheinlich, daß ihm unter 6 Wuͤrfen einer treffe. Jn dieser Antwort liegt nun der Begriff des Wahrscheinlichen vollstaͤndig und absolut. Es ist nur die Frage, wieferne sich seine Merkmale herausbringen und mit Worten ausdruͤcken lassen? Einmal wird es dem Nothwendigen entge- gengesetzt, in so fern es sich auf die Sache selbst bezieht. Denn es bleibt moͤglich, daß unter den 6 Wuͤrfen ent- weder kein, oder mehr als ein Treffer sey, ja auch der Fall, wo alle 6 Wuͤrfe treffen, ist nicht unmoͤglich, weil jeder Wurf von dem andern unabhaͤngig ist. Aus glei- chem Grunde ist das Wahrscheinliche hier dem Gewis- Von dem Wahrscheinlichen. Gewissen entgegengesetzt, weil wir nicht voraus sehen koͤnnen, wie der Wuͤrfel bey jedem Wurfe fallen wird, und weil er in keinem der 6 Wuͤrfe nothwendig auf die vorhabende Zahl fallen muß, sondern jedesmal das Ge- gentheil moͤglich bleibt. Jndessen ist es so absolute der Natur der Sache gemaͤß, daß unter 6 Wuͤr- fen einer treffe, daß, wenn es geschieht, wir uns gar nicht daruͤber zu verwundern haben, da hingegen immer ein groͤßerer oder kleinerer Grad der Verwun- derung dabey ist, wenn es anders ausfaͤllt, und dieser Grad ist am groͤßten, wenn alle 6 Wuͤrfe treffen. Wir koͤnnen demnach sagen: das Wahrscheinliche bey den Gluͤcksspielen sey dasjenige, was wir der Natur der Sache nach erwarten koͤnnen, daß es geschehe, ungeacht das Gegentheil dadurch nicht unmoͤglich wird. Und zwar ist dieses der Begriff der absoluten Wahrscheinlichkeit. Denn da das Gegentheil moͤglich bleibt, und in den meisten Faͤl- len der Gluͤcksspiele stuffenweise unerwarteter wird, so wird auch jedem dieser Faͤlle vergleichungsweise ein Grad der Wahrscheinlichkeit beygelegt, der sich nach dem Grade der Moͤglichkeit richtet, und wenn der Fall vorkoͤmmt, in umgekehrter Verhaͤltniß der Er- wartung, und so auch der Verwunderung ist. §. 152. Die meisten Gluͤcksspiele sind von der Art, daß sich die Anzahl der moͤglichen Faͤlle aus der Natur und den Gesetzen des Spiels eroͤrtern laͤßt, und von Rechtswegen sollen auch die Bedingnisse dabey so ein- gerichtet seyn, daß entweder die Spielenden gleiche Hoff- nung zum Gewinn haben, oder daß, wenn die Hoffnung ungleich ist, die Einlage derselben proportionirt werde. Da man ferner bey solchen Bestimmungen eine glei- che Moͤglichkeit jeder Faͤlle setzt, so hat man auch auf die physischen Umstaͤnde zu sehen, die dieser Vor- aussetzung zuwider sind. Wie z. E. die Ungleichheit der Lamb. Organon II B. X Ecken V. Hauptstuͤck. Ecken und Seiten der Wuͤrfel, welche macht, daß sie leichter auf eine als auf die andere Seite fallen, die Ungleichheit des Gepraͤges bey Muͤnzen, die man auf- wirft ꝛc. Dieses vorausgesetzt, so ist die Theorie von Berechnung der Grade der Wahrscheinlichkeit bey den Gluͤcksspielen von Huygens, Moivre, Bernoulli und andern bereits auf Gruͤnde gebracht, und auf ein- zelne Faͤlle angewandt worden. Wir wollen aus der Bernoullischen Ars coniectandi einer einzigen Aufgabe Erwaͤhnung thun. Man kann naͤmlich fragen, wie ferne die bey den Gluͤcksspielen, Loosen ꝛc. angenomme- ne gleiche Moͤglichkeit aller Faͤlle in der wirkli- chen Welt statt haben koͤnne, ohne daß man dabey ein blindes Ungefaͤhr voraussetze, zumal da die Folgen der Gluͤcksspiele und Loose im geringsten nicht gleichguͤl- tig sind? Hieruͤber wollen wir folgendes anmerken. Einmal giebt es die Erfahrung, daß bey Gluͤcksspielen, Loosen und Loterien der Erfolg sich nach der Lehre der Wahrscheinlichkeit richtet, wenn man nicht einzelne Faͤl- le, sondern eine Menge derselben zusammen nimmt. Man nehme z. E. eine Ziehungsliste von einer Loterie, die aus 10000 oder 100000 Loosen besteht, und ver- theile die Numeros tausendweise, man wird bey jeden Tausenden eine ziemlich gleiche Anzahl von solchen fin- den, die etwas gezogen haben. Es versteht sich fuͤr sich, daß man dabey nicht auswaͤhlen, sondern jede Tausend nach einem gleichen Gesetze nehmen muͤsse. Eben so, wenn man eine gewisse Anzahl bezeichneter und unbe- zeichneter Zettel durch einander mengt, jedes herausge- zogene wiederum einlegt, und aufzeichnet, wie viele man von jeder Art gezogen, so wird die Verhaͤltniß zwi- schen beyden Arten gezogener Zettel, der Ver- haͤltniß der Eingelegten desto naͤher kommen, je laͤnger man zu ziehen fortfaͤhrt. Dieses ist nun, was Herr Bernoulli, mit Voraussetzung der glei- chen Von dem Wahrscheinlichen. chen Moͤglichkeit aller Faͤlle beweist, daß es geschehen muͤsse. Waͤren aber nicht alle Faͤlle gleich moͤglich, so muͤßte man der Ungleichheit Rechnung tragen, und da- mit wuͤrde die Anzahl der ausgezogenen Zettel der An- zahl der Eingelegten nicht mehr proportional seyn, son- dern sich auch nach dem Gesetze der ungleichen Moͤglich- keit richten. Solche Gesetze koͤnnen sich, ohne daß man gleich darauf achtet, aus bloß physischen Gruͤnden mit einmengen. Die gleiche Moͤglichkeit aber gruͤndet sich, auch bey der weisesten Einrichtung des Laufs der Din- ge in der Welt, auf die Menge einzelner Ursachen, die bey den Gluͤcksspielen, jede nach ihren eigenen Gesetzen so zusammentreffen, daß sie eben so leichte den einen Fall als den andern hervorbringen, und bey Fortsetzung des Spieles einander compensiren. Dadurch aber koͤmmt jeder Fall desto haͤufiger vor, je wahrscheinlicher er an sich ist. §. 153. Die Gluͤcksspiele haben das besonders, daß man aus ihrer Einrichtung die moͤglichen Faͤlle abzaͤh- len, und den Grad der Moͤglichkeit von jeden bestimmen kann. Auf diese Art wird die Wahrscheinlichkeit jeder Faͤlle a priori berechnet. Es erhellet aber aus erstge- sagtem, daß es auch a posteriori geschehen koͤnnte, wenn man das Spiel lange oder unendlich vielmale wieder- holte. Man hat aus diesem Grunde angefangen, die Lehre der Wahrscheinlichkeit auch in andern Faͤllen zu gebrauchen. Denn da die Natur nicht nur bey Gluͤcks- spielen, sondern in unzaͤhligen andern Dingen, nach sehr zusammengesetzten Gesetzen wirkt, so daß man aus der Erfahrung nur das Product von allen erkennen kann, so hat man diese Producte abgezaͤhlt, um dadurch den Grad eines jeden Gesetzes, und die Probabilitaͤt der Faͤlle, da es die Oberhand hat, zu finden. Dieses ist nun die zweyte allgemeine Art der Wahrscheinlichkeit, die wir umstaͤndlicher erlaͤutern werden. X 2 §. 154. V. Hauptstuͤck. §. 154. Man findet naͤmlich einen Satz, den die Erfahrung angiebt, davon sie aber auch zuweilen ab- weicht, und zwar ohne daß man die Umstaͤnde eroͤrtern kann, wenn das eine oder das andere geschieht. Jn- dessen zeichnet man beyderley Faͤlle, so wie sie vorkom- men, und ohne Auswahl auf, um aus der Summe von beyden zu bestimmen, wie sich die zutreffenden Faͤlle ge- gen die fehlenden verhalten. Diese Verhaͤltniß be- stimmt den Grad der Wahrscheinlichkeit des Satzes der Natur gemaͤß. Man weiß dadurch nicht nur, daß etliche A, B sind, sondern genauer, wie viele es sind, und wie viele es nicht sind. So z. E. hat man in großen Staͤdten die Anzahl der Lebenden zu den in jedem Jahre Sterbenden aus der vieljaͤhrigen Abzaͤhlung von beyden gefunden. §. 155. Bey solcher Abzaͤhlung der Faͤlle koͤmmt nun folgendes zu bemerken vor. Einmal sieht man, daß es um die Bestimmung des Grades der Particula- ritaͤt eines Satzes zu thun ist, wenn man nur die zween Begriffe A, B in Betrachtung zieht. Und dieses ist der einfachste Fall. Die Bedingungen, die dabey vor- ausgesetzt werden, sind: 1. Daß man bey den Begrif- fen A, B genau bleibe. 2. Daß man sie in einerley Umstaͤnden aufsuche, oder wo diese abwechseln, die Ob- servation so lange fortsetze, bis die Ungleichheit der Um- staͤnde einander compensire, und die aus der Summe gesundene Verhaͤltniß derer A, die B sind, zu denen, die es nicht sind, anfange bestaͤndig zu werden, oder nicht mehr merklich verschieden zu seyn. 3. Daß man unter diesen Bedingungen die Faͤlle A nehme, wie sie sich anbieten, ohne dabey auszuwaͤhlen, weil eine solche Aus- wahl einen Einfluß in die gesuchte Verhaͤltniß haben, und sie fehlerhaft machen koͤnnte. §. 156. Es bleibt aber selten bey so einfachen Be- obachtungen, sondern man nimmt zu den Begriffen A, B noch Von dem Wahrscheinlichen. noch mehr andere mit, oder theilt sie in Classen ein. So z. E. begnuͤgt man sich an der bloßen Anzahl aller jaͤhrlich Sterbenden nicht, sondern man sieht zugleich auf das Alter, auf die Art der Krankheit, auf den Monat des Jahrs, auf den Monat der Geburt ꝛc. Dadurch erhaͤlt man ungleich specialere Saͤtze, aus welchen sich sodann andere zusammen summiren lassen, die allgemei- ner oder unbestimmter sind. Da aber bey solchen spe- cialern Abtheilungen die Anzahl der Faͤlle fuͤr jede Clas- se vermindert wird, so muß die Observation laͤnger fort- gesetzt, oder haͤufiger angestellt werden. Denn die ge- suchten Verhaͤltnisse werden mit der Anzahl der Obser- vationen genauer. Es ist fuͤr sich klar, daß die vorhin fuͤr den einfachsten Fall angegebenen Bedingungen auch bey solchen specialern Faͤllen beobachtet werden muͤssen, um so mehr, weil man hier auf mehrere Umstaͤnde zu sehen hat. §. 157. Auf diese Art findet man nicht bloß unbe- stimmte Particularsaͤtze, sondern den Grad ihrer Parti- cularitaͤt, und oͤfters auch genaue Eintheilungen einer gewissen Art Faͤlle in einzelne Classen, so daß man die Anzahl der zu jeder Classe gehoͤrenden gegen einander proportioniren kann. Da ferner allgemein bejahende Saͤtze, wenn man sie umkehrt, particular werden, so laͤßt sich auch bey diesen der Grad der Particularitaͤt auf diese Art bestimmen. Was aber dieses in Absicht auf die Schluͤsse und ihre Zeichnung auf sich hat, ha- ben wir in der Dianoiologie (§. 179. 193.) angemerkt. Es ist nur zu bedauren, daß solche Abzaͤhlungen der Faͤlle sehr muͤhsam sind, und lange nicht bey allen Saͤt- zen vorgenommen werden koͤnnen. Jndessen geben be- sonders die nunmehr schon so haͤufig gesammleten me- teorologischen Observationen noch einen reichen Vor- rath zu solchen Saͤtzen an die Hand, wenn man sich die Muͤhe geben will, sie nach jeden Absichten in Classen zu X 3 bringen, V. Hauptstuͤck. bringen, und dadurch die Gesetze der Witterung zu be- stimmen. Man sehe auch Dianoiol. §. 584. seq. §. 158. Aus solchen specialern Verhaͤltnissen und Wahrscheinlichkeiten lassen sich sodann, besonders mit Zuziehung der|Grundsaͤtze vom Gleichgewichte, vom Beharrungsstande und den Schranken der Kraͤf- te der Natur, noch andere herleiten, die sich entweder nicht so unmittelbar oder gar nicht wuͤrden aus Beob- achtungen finden lassen. So z. E. wenn man annimmt, daß in einer großen Stadt oder Lande die Anzahl der Lebenden beynahe gleich bleibe, so ist es moͤglich, aus der durch Beobachtungen gefundenen Anzahl derer, die jaͤhrlich von jedem Alter sterben, die Anzahl derer zu bestimmen, die von jedem Alter leben, und daher auch den Grad der Sterblichkeit, und die Hoffnung zu leben, fuͤr jedes Alter zu finden. Eine Rechnung, die bey bil- liger Einrichtung der Leibrenten, Tontinen ꝛc. und fuͤr viele andere Faͤlle des buͤrgerlichen Lebens von betraͤcht- lichem Nutzen ist. §. 159. Es kommen aber auch Faͤlle vor, wo die Bestimmung der Grade der Wahrscheinlichkeit aus Betrachtung der Natur der Sache, eben so, wie bey den Gluͤcksspielen, vorgenommen werden kann. So z. E. wenn man mit dem Zirkel die Laͤnge einer Linie faßt, so wird man sie selten genau fassen. Der Grund ist, weil das Auge die beyden Enden der Linie nicht genau sieht. Man kann sich daher an jedem Ende einen kleinen Cir- cul gedenken, der sich der Schaͤrfe des Auges entzieht. Jn jeden Punkt dieser Circul ist es nun gleich moͤglich, den Fuß des Zirkels zu setzen. Denn da das Auge darinn nichts mehr unterscheidet, so bleibt keine Aus- wahl. Combinirt man nun jede Punkte in jedem der beyden Circul mit einander, so laͤßt sich berechnen, wie vielmal jede Oeffnung des Circuls vorkommen kann, und wie groß folglich der Grad der Wahrscheinlichkeit von Von dem Wahrscheinlichen. von jeder ist. Man wird in den cosmologischen Briefen uͤber die Einrichtung des Weltbaues aͤhnliche Betrachtungen uͤber die Vertheilung und Lage der Cometenbahnen um die Sonne, und hieher dienende Anmerkungen uͤber die dabey angebrachte Lehre der Wahrscheinlichkeit finden. §. 160. Wir haben bisher das Abzaͤhlen der Faͤlle, es mag nun a priori oder a posteriori gesche- hen, so genommen, daß man dabey alle Sorgfalt an- wendet, folglich wenn man sie aus der Erfahrung nimmt, dieselbe aufzeichnet, oder wenn man sie aus der Natur der Sache bestimmt, die Regeln der Combination und Permutation dabey gebraucht, und die Sache deutlich aus einander setzt. Lassen wir es aber in Ansehung der Erfahrungen schlechthin auf das Gedaͤchtniß ankom- men, so kann es unvermerkt geschehen, daß wir uns von der Oefternheit oder Seltenheit einer jeden Art von Faͤllen, und daher auch von dem Grade ihrer Wahr- scheinlichkeit einen Begriff machen, und diesen Grad et- wan wohl auch auf Zahlen setzen. So gebrauchen wir die Ausdruͤcke: unter tausend kaum einer, sehr wenige, die meisten, gar oft, selten, haͤufig ꝛc. wodurch wir den Particularsaͤtzen naͤhere Bestimmun- gen geben. Auf eine aͤhnliche Art, wenn uns die Ur- sachen bekannt sind, die zu jeder Classe von Faͤllen er- fordert werden, koͤnnen wir uns aus Betrachtung der- selben einen beylaͤufigen Begriff machen, ob die Faͤlle haͤufiger oder seltener vorkommen. Die Anzahl und Mannichfaltigkeit der Umstaͤnde und Ursachen, die zu- sammentreffen muͤssen, traͤgt zu dieser Bestimmung viel bey. So z. E. kann ich aus der Erfahrung wissen, daß Titius oft zu dem Cajo geht, wenn ich ihn naͤm- lich oft hingehen sehe. Weiß ich aber, daß er Geschaͤff- te halber oft zu ihm gehen muß, so ist mir die Erfah- rung dabey unnoͤthig, so bald ich weiß, daß keine dauer- X 4 hafte V. Hauptstuͤck. hafte Hindernisse, z. E. Krankheit, Abwesenheit ꝛc. ihn abhalten. Jn beyden Faͤllen aber kann das Bewußt- seyn des oͤftern Umganges zur Eroͤrterung anderer Fra- gen dienen. §. 161. Es kann ferner die wirkliche Abzaͤhlung der Faͤlle auch nur da gebraucht und vorgenommen werden, wo die durch einander laufenden Ursachen in ihren Ver- aͤnderungen etwas Bestaͤndiges und Bestimmtes haben. Denn sonst wuͤrde man zwischen den zu jeder Classe ge- hoͤrenden Faͤllen keine bestaͤndige oder bestimmte Ver- haͤltniß finden koͤnnen, wenn sich immer neue Ursachen aͤußerten, oder einige auf hoͤrten, ohne durch gleichgel- tende ersetzt zu werden, oder wenn sie nur fuͤr eine kurze Zeit dauern, wie es bey sehr vielen Verrichtungen eines Menschen geschieht. Jn solchen Faͤllen muß man demnach ganz andere Gruͤnde gebrauchen, und die in- dividualen Umstaͤnde mit in Betrachtung ziehen, wenn man wahrscheinlich oder vollends gewiß bestimmen will, was wirklich seyn wird. §. 162. Dieses leitet uns nun zu der dritten allge- meinen Art der Wahrscheinlichkeit. Wir koͤnnen uns naͤmlich von geschehenen Dingen unmittelbar versichern, daß sie geschehen sind, wenn wir sie entweder selbst ge- than, oder gesehen haben, oder wenn wir Folgen davon sehen, aus denen sie sich nothwendig schließen lassen. Sind aber die Folgen, die wir finden, unzureichend, das Geschehene daraus zu erkennen, so gelangen wir dadurch auch nur zu einem gewissen Grade der Wahr- scheinlichkeit. Wir reichen ebenfalls nicht weiter, wenn wir aus den Umstaͤnden, Anlaͤßen, Ursachen und Be- weggruͤnden schließen muͤssen, ob die Sache geschehen sey, oder geschehen werde, zumal wenn sie Hindernissen unterworfen seyn kann. Die Folgen sind unzuverlaͤßig, wenn sie saͤmtlich, oder jede fuͤr sich, von andern Ursa- chen herruͤhren koͤnnen. Jndessen je mehr und je ver- schiedener Von dem Wahrscheinlichen. schiedener solche Ursachen seyn muͤßten, desto unwahr- scheinlicher wird es, daß sie alle sollten zusammengetrof- fen haben, um Folgen nachzulassen, die saͤmtlich von ei- ner gleichen Sache hergeleitet werden koͤnnen. Hiebey helfen nun besonders die Jndividualien in den Folgen, daß man davon ruͤckwaͤrts auf die Ursache schließen kann. Widrigenfalls aber nimmt man die Ursache hypothetisch an, und leitet die Folgen daraus her. Diese Art zu schließen, ist aber nur eine Jnduction, wel- che demnach complet seyn muß, wenn sie statt eines Be- weises dienen soll. Denn so ist unstreitig, daß, wenn jede Folgen, die eine Ursache in vorgegebenen Umstaͤn- den nach sich ziehen muß, durchaus in der Erfahrung gefunden werden, der Schluß, daß sie von nichts anders herruͤhren koͤnnen, richtig gemacht werden kann (Dia- noiolog. §. 569. 595. Alethiol. §. 176.). Uebrigens ist zwischen den Folgen selbst allerdings der Unterschied zu machen, ob sie unmittelbar oder entfernter sind. Denn bey der Jnduction ist es an sich genug, wenn man die unmittelbaren Folgen complet hat, weil die entferntern von diesen herruͤhren, und weil man oͤfters viele entfern- tere zusammennehmen muß, um den Abgang einer un- mittelbaren zu ersetzen. Wir machen diese Anmerkung zum Behuf der Berechnung der Wahrscheinlichkeit bey solchen Jnductionen. Alle unmittelbare Folgen zusam- mengenommen, machen die Gewißheit aus, welche in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit als eine Ein- heit genommen wird, wovon die Grade der Wahr- scheinlichkeit Bruͤche sind (Alethiol. §. 76.). Jede un- mittelbare Folge giebt einen solchen Bruch, und man sieht leicht, daß die Bestimmung desselben auf die Be- stimmung des Theils ankoͤmmt, den die Folge von dem Ganzen ausmacht. Wie aber auch immer die Berech- nung hiebey angestellt werden muͤsse, so sieht man leicht, daß die Summe aller dieser Bruͤche nicht groͤßer als X 5 die V. Hauptstuͤck. die Einheit werden koͤnne, daß sie aber auch, wiewohl auf eine fehlerhafte Art, koͤnne groͤßer werden, wenn man naͤmlich ohne Unterschied die unmittelbaren und die entferntern Folgen zusammenrechnet, und sie nach einerley Einheit schaͤtzt, als wenn sie von einander un- abhaͤngig waͤren. Diese Vermengung, welche bey Red- nern, und uͤberhaupt bey den so genannten moralischen Beweisen, sehr oft vorkoͤmmt, ist ein Grund mit, war- um man sich bey Durchlesung solcher Beweise uͤberzeug- ter glaubt, als man in der That ist, und warum leicht wiederum Zweifel entstehen, wenn man das, so man er- wiesen glaubte, von andern Seiten betrachtet, und da- bey Luͤcken findet, die haͤtten ausgefuͤllt werden sollen, und etwan auch ausgefuͤllt werden koͤnnen. §. 163. Jst aber die Sache nicht geschehen, oder man weiß die Folgen davon nicht, sondern nur die vor- gehenden Umstaͤnde, Anlaͤße, Ursachen, Beweggruͤnde ꝛc. so laͤßt sich daraus mehrentheils nur wahrscheinlich er- weisen, ob sie geschehen sey, oder geschehen werde, oder nicht? Die Faͤlle, wo man es dabey zur Gewißheit bringt; sind diejenigen, wobey eine physische Noth- wendigkeit statt hat, oder wo der Lauf der Natur sich nach bestaͤndigen Gesetzen richtet, die man aus vorge- henden Erfahrungen gelernt hat. Auf diese Art be- rechnen die Astronomen die Finsternisse und andere Er- scheinungen am Firmamente voraus. So auch wenn man im menschlichen Leben die Auswahl unter mehrern Entschließungen dadurch auf eine einige einschraͤnkt, daß man die uͤbrigen unmoͤglich oder unthunlich macht, so laͤßt sichs leicht voraus sehen, daß geschehen werde, was geschehen muß, oder wobey keine Wahl mehr bleibt. Koͤmmt aber keine solche Nothwendigkeit vor, so ist auch das Gegentheil immer moͤglich, und wir koͤnnen aus den Umstaͤnden, Ursachen ꝛc. nur finden, was na- tuͤrlicher Weise, der Natur der Sache gemaͤß, oder Von dem Wahrscheinlichen. oder allem Ansehen nach, daraus erfolgen werde, ungeacht das Gegentheil nicht unmoͤglich ist (§. 149. 151.). Unter solchen Umstaͤnden dienen hiezu vorzuͤglich diejenigen, die man Anstalten oder Vorbereitungen nennt, zumal solche, die nicht vorgenommen oder vorge- kehrt werden, es sey denn, daß man sie wirklich ge- brauchen will oder gebrauchen muß. Denn da ist nur zu sehen, ob man die Anstalten nicht bloß zum Schein vornimmt, oder ob nicht neue sich aͤußernde Umstaͤnde und Hindernisse die wirkliche Ausfuͤhrung unnoͤthig oder unmoͤglich machen. Sieht man aber von den Anstal- ten nur einzelne Theile, die auch aus andern Gruͤnden vorgenommen werden koͤnnen, so ist fuͤr sich klar, daß man vorerst ausfinden muͤsse, ob es aus diesen Gruͤnden geschieht. Uebrigens gruͤndet sich der Begriff der An- stalten darauf, daß man zu gewissen Absichten gewisse Mittel entweder nothwendig, oder natuͤrlicher Weise, oder gewoͤhnlich gebraucht, oder Umstaͤnde veranlaßt werden muͤssen, ohne welche die Sache nicht vorgenom- men werden koͤnnte, oder der Natur und Gewohnheit nach nicht vorgenommen wird. Wer sie demnach als Anstalten ansehen will, dem muß diese Verhaͤltniß be- kannt seyn. §. 164. Die uͤbrigen Umstaͤnde, die, ohne eben Vor- bereitungen oder Anstalten zu seyn, der Sache natuͤrli- cher Weise vorgehen oder sie begleiten, koͤnnen gleichfalls zum Beweise gebraucht werden, daß die Sache geschehe oder geschehen werde. Zu diesem Ende muß man die Verhaͤltniß wissen, die zwischen denselben und der Sa- che ist, und wieferne sie den Erfolg der Sache natuͤrli- cher Weise nach sich ziehen, oder Zeichen davon sind. So sagt man z. E. daß sich alles zu einer gewis- sen Veraͤnderung anschicke, wenn man Anlaͤße, Ursachen und Beweggruͤnde dazu sieht, sie moͤgen nun gesucht oder veranstaltet seyn, oder sich auch nur unver- merkt V. Hauptstuͤck. merkt und gleichsam zufaͤlliger Weise zusammen einfin- den. Die Aufmerksamkeit auf solche Umstaͤnde und die Einsicht in den Zusammenhang ihrer Folgen, die groͤßtentheils aus der Erfahrung erlangt wird, macht einen betraͤchtlichen Theil der Kunst zu muthmaßen und das Kuͤnftige voraus zu vermuthen aus, die sich, in ihrem weitlaͤuftigsten Umfange genommen, auf jede an keine einfache und nothwendige Gesetze ge- bundene Veraͤnderungen in dem Lauf der Dinge er- streckt. Man muß dabey wissen, welche Umstaͤnde und Ursachen einer Veraͤnderung vorgehen muͤssen, ehe sie erfolgen kann, und welche dazu erfordert werden, damit sie wirklich erfolge, oder wenigstens ohne neue Hinder- nisse erfolgen koͤnne. Oefters lassen auch die Umstaͤnde, so weit sie sich entdecken, eine Luͤcke, die sich ohne die Voraussetzung, daß eine gewisse Sache vorgegangen sey, oder vorgehen muͤsse, nicht ausfuͤllen laͤßt. Die Betrachtungen, daß nichts durch einen Sprung geschieht; daß eine nicht verhinderte Ursache ihre Wirkung aͤußert; daß jede Veraͤnderung verursacht werde; daß die Menschen nach Trieben und Beweggruͤnden handeln ꝛc. werden bey solchen Untersuchungen haͤufig angewandt. §. 165. Wir werden nun von den physischen Folgen, die eigentlich Wirkungen und Veraͤnderungen sind, zu den logischen fortschreiten, welche allgemeiner sind, und jene als eine besondere Classe unter sich be- greifen, in so fern sie in Schlußreden vorgetragen wer- den. Hier betrachten wir demnach nicht die Sachen selbst, sondern die Begriffe und Saͤtze, die sie uns angeben, und dabey giebt es nun wiederum verschiedne Arten von Wahrscheinlichkeiten, wobey zu untersuchen vorkoͤmmt, worinn sie bestehen, und worinn sie von der Gewißheit abgehen. Die erste nehmen wir von der Frage her, wieferne ein Satz aus seinen Folgen bewie- Von dem Wahrscheinlichen. bewiesen werden koͤnne? Daß es uͤberhaupt be- trachtet bey jeden Saͤtzen angehe, haben wir in der Ale- thiologie erwiesen, wo wir (§. 175.) zeigten, daß ein Satz nothwendig wahr sey, so oft sich nichts widersprechendes daraus herleiten laͤßt. Wenn demnach jede Schlußsaͤtze, die man mit Zuziehung wah- rer Saͤtze und in richtiger Form aus einem Satze her- leiten kann, wahr befunden werden, so ist der Satz selbst ebenfalls wahr, und man ist dadurch von seiner Wahr- heit versichert, ohne daß man ihn aus Gruͤnden herzu- leiten oder zu beweisen noͤthig habe. Bey dieser Art zu beweisen wird der Satz selbst als eine Hypothese an- genommen, und mit Zuziehung wahrer Saͤtze Folgen daraus gezogen, von deren Wahrheit man sich aus an- dern Gruͤnden oder durch die Erfahrung versichert. Wir haben uns an angezogenem Orte begnuͤgt, die allgemei- ne Moͤglichkeit und Zulaͤßigkeit dieses Verfahrens zu beweisen, und uͤber die Anwendung desselben auf physi- sche Hypothesen einige Anmerkungen beygefuͤgt. Es koͤmmt aber nicht nur bey diesen Hypothesen, sondern vornehmlich auch bey den sogenannten moralischen Be- weisen sehr haͤufig vor. Daher ist hier eigentlich der Ort, dasselbe umstaͤndlicher aus einander zu setzen, um zu sehen, woran es fehle, wenn man dabey bey dem Wahrscheinlichen zuruͤcke bleibt, und nicht bis zur voͤlligen Gewißheit ausreicht. §. 166. Die Hauptschwierigkeit, die sich wider die Brauchbarkeit dieses Verfahrens aͤußert, ist naͤmlich die, daß es den Anschein hat, man koͤnne sich dadurch von der Wahrheit des Satzes nicht wohl anders, als durch eine unendliche Menge von Schluͤssen versichern, indem man alle moͤgliche Folgen aus dem Satze gleichsam muͤsse durch die Musterung gehen lassen. Bleibe man aber nur bey einer gewissen Anzahl stehen, so werde der Anstand in Ansehung der Richtigkeit der uͤbrigen nicht geho- V. Hauptstuͤck. gehoben, und man reiche folglich dadurch nur zu einem gewissen Grade der Wahrscheinlichkeit. Es ist aller- dings unstreitig, daß man in dieser Absicht sowohl bey physischen Hypothesen als auch in rednerischen und mo- ralischen Beweisen Schluͤsse auf Schluͤsse, oder Argu- mente auf Argumente haͤuft, und durch die Menge der- selben die Leser und Zuhoͤrer gleichsam uͤbertaͤubt. Die Lebhaftigkeit des Vortrages und die Erregung der Af- fecten mag auch viel dazu verhelfen, die Seele mit sol- chen Argumenten gleichsam auszufuͤllen, daß sie sich nicht so gleich auf die Luͤcken besinnt, die bey solchen Ar- gumenten noch zuruͤcke bleiben. Man findet aber etwan nachher jede einzelne Argumente zu schwach, ohne zu wissen, ob ihre Summe die voͤllige Gewißheit ausma- che. Endlich ist es auch an sich leichter, aus einem Satze Schluͤsse zu ziehen, als denselben aus Gruͤnden zu beweisen, und auf diese Art hat das Argumentiren und Consequenzen ziehen etwas Natuͤrliches und Leichtes, und es scheint gleichsam viel zu leicht zu seyn, als daß die dabey zuruͤckbleibenden Schwierigkeiten dadurch geho- ben werden koͤnnten. Wir wollen aber die verschiede- nen Arten solcher Argumente durchgehen. §. 167. Man habe demnach den Satz: A ist B, der durch seine Folgen solle bewiesen werden, und den wir in dieser Absicht die Hypothese nennen koͤnnen. Man mache ihn zum Untersatze in der ersten Figur, und mit Zuziehung wahrer Obersaͤtze: B ist C, D, E, F, ꝛc. folgere man die Schlußsaͤtze: A ist C, D, E, F, ꝛc. daraus, und diese seyen vermoͤg der Erfahrung oder aus andern Gruͤnden saͤmtlich wahr. Wir nehmen hiebey die Obersaͤtze saͤmtlich bejahend, weil die verneinenden mehrentheils nur terminos infinitos angeben, woraus fuͤr A nichts positives folgt. Unter dieser Vorausse- tzung lassen sich die Obersaͤtze saͤmtlich in einen copula- tiven Satz: B ist C, und D, und E, ꝛc. zusammenzie- hen. Von dem Wahrscheinlichen. hen. Die Begriffe C, D, E, F, ꝛc. sind eben so viele Merkmale von B, und lassen sich daher zusammenge- nommen als einen zusammengesetzten Begriff M anse- hen. Auf diese Art haben wir statt so vieler Schluß- reden eine einige B ist M. A ist B. A ist M. worinn nicht der Schlußsatz, sondern der Untersatz zu beweisen ist. Dieses geht nun nicht anders als mit Umkehrung des Obersatzes an. Denn so haben wir den Schluß M ist B. A ist M. A ist B. in welchem nun die Wahrheit des Schlußsatzes schlecht- hin von der Wahrheit des Obersatzes abhaͤngt. Man sieht demnach, daß man sich begnuͤgen kann, von den Begriffen oder Merkmalen C, D, E, F, ꝛc. so viele zu- sammen zu nehmen, bis der Satz: B ist M, allgemein umgekehrt werden kann, und daß es demnach nicht auf die Menge, sondern auf die Beschaffenheit der Begriffe C, D, E, F, ꝛc. ankoͤmmt, wenn man statt bloßer Wahrscheinlichkeiten eine Gewiß- heit herausbringen will. Jn der That kann oͤfters unter diesen Begriffen ein einiger zu der Gewißheit hin- reichend seyn, wenn er ein eigenes Merkmal von B ist. Das in der Dianoiologie wegen seiner Kuͤrze und Faß- lichkeit mehrmalen angefuͤhrte Beyspiel von der Run- dung der Erde mag auch hier zur Erlaͤuterung dienen. Denn nimmt man an, die Erde sey eine Kugel, so laͤßt sich die ganze mathematische Geographie und Hydro- graphie daraus herleiten, und die Erfahrung wird den Folgen nicht widersprechen. Allein mit allen diesen Fol- gen V. Hauptstuͤck. gen wuͤrde der angenommene Satz noch immer nur das Ansehen einer, wiewohl sehr großen Wahrscheinlichkeit gehabt haben. Damit aber begnuͤgten sich die Mathe- matiker nicht: sondern da eine Kugel sehr viele eigene Merkmale und Verhaͤltnisse hat, so suchten sie vornehm- lich diese durch die Erfahrung bekraͤftigt zu finden. Hie- zu gab nun der immer runde Schatten der Erde bey den Mondsfinsternissen den ersten Anlaß, und nachge- hends brachte man nicht nur ihre Groͤße, sondern in den neuern Zeiten auch ihre Sphaͤroiditaͤt heraus. Da jeder Begriff seine eigene Merkmale hat (Alethiol. §. 176.), so merken wir hier uͤberhaupt an, daß, wenn A, B ist, es immer an sich betrachtet moͤglich sey, auch die eigenen Merkmale des B in dem Begriffe oder Sache A zu finden. Es ist unstreitig, daß es noch viele Faͤlle giebt, wo man statt der Muͤhe, Argu- mente ohne Auswahl aufzuhaͤufen, und einen Satz da- durch nur wahrscheinlich zu machen, sich viel nuͤtzlicher die Muͤhe geben wuͤrde, solche eigene Merkmale aufzu- suchen, das will sagen, den Begriff B so weit zu entwi- ckeln, bis man auf Saͤtze koͤmmt, die sich allgemein um- kehren lassen. So weiß man z. E. daß die genauere Entwicklung der Theorie von den Centralkraͤften in der Mechanik den Astronomen Saͤtze angegeben hat, welche, mit ihren Erfahrungen und Observationen verglichen, uns die Gesetze der Bewegung jeder Weltkoͤrper um die Sonne bekannt, und die Berechnung des Laufs der Co- meten moͤglich und leicht gemacht haben. §. 168. Wir haben in erst angestellter Untersuchung die erste Figur der Schluͤsse gebraucht, und dabey muß der Satz, A ist B, welcher durch seine Folgen erwiesen oder wenigstens wahrscheinlich gemacht werden solle, bis dahin als eine Hypothese angesehen werden. Man ge- braucht aber auch oͤfters die zweyte Figur dazu, und zwar nicht in der Absicht, einen Schlußsatz zu ziehen, weil Von dem Wahrscheinlichen. weil dieser nebst einem der Vordersaͤtze verneinend seyn muͤßte: sondern die Saͤtze B ist C, D, E, F ꝛc. A ist ebenfalls C, D, E, F ꝛc. mit einander zu vergleichen, weil man durch diese Art des Vortrages fast unvermerkt geneigt wird, den Schluß zu machen, daß A muͤsse B seyn, zumal wenn uns dabey kein Merkmal einfaͤllt, welches nicht beyden Be- griffen zukomme, oder nur von dem einen bejaht, von dem anderen aber verneint werden muͤsse. Hiebey ist unstreitig, daß wenn A in der That B ist, uns kein sol- ches Merkmal beyfallen koͤnne, wenn wir anders die Begriffe A, B, nicht irrig denken. Ferner ist aus dem Vorhergehenden klar, daß der Schluß: A sey B, angehe, so oft unter den Praͤdicaten C, D, E, F ꝛc. solche vor- kommen, die einzeln oder zusammengenommen, eigene Merkmale von B sind. Denn so laͤßt sich der erste Satz umkehren, der Schluß wird in der ersten Figur, und der Schlußsatz wahr und richtig seyn. Den drit- ten Fall, wo naͤmlich C, D, E, F ꝛc. die ganze Summe von allen moͤglichen Praͤdicaten des B sind, beruͤhren wir hier nicht, weil solche Summen fuͤr uns viel zu weitlaͤuftig sind. Daferne wir aber den Begriff B in seine eigene und gemeinsame Merkmale dergestalt auf- loͤsen koͤnnen, daß sie zusammengenommen den Umfang desselben ausfuͤllen; so machen diese Merkmale zusam- men den Begriff M aus, und der Satz: B ist M, laͤßt sich, wie alle identische Saͤtze, schlechthin umkehren. Das einzige, was wir hier noch zum Behufe der Wahr- scheinlichkeit anmerken wollen, ist, daß wenn man auch, ohne Auswahl treffen zu koͤnnen, bey dieser Art zu schließen, eine sehr große Menge von Praͤdicaten C, D, E, F ꝛc. aufhaͤuft, die Vermuthung, es moͤchten doch einige oder mehrere darunter zusammengenommen dem Begriff B allein zukommen, und folglich der Satz: A ist B, Lamb. Organon II B. Y dadurch V. Hauptstuͤck. dadurch erwiesen seyn, groͤßer wird, und zwar um desto mehr, je verschiedener die Praͤdicate C, D, E, F ꝛc. sind, und je weniger es den Anschein hat, daß einige fuͤr sich schon aus den andern folgen. Diese Verschiedenheit muͤssen wir bey der Aufhaͤufung der Argumente an sich auch voraussetzen, weil ein Argument, das nur eine Folge von dem andern ist, zu der Vermehrung der Wahrscheinlichkeit nichts beytraͤgt, und uns folglich, so lange wir diese Abhaͤnglichkeit nicht wissen, durch einen falschen Schein blendet. §. 169. Wenn die Praͤdicate C, D, E, F ꝛc. nicht eigene Merkmale von B sind, so kommen sie noch irgend andern Subjecten zu. Kann man nun in Ansehung derselben die oben (§. 154. seqq. ) betrachtete Abzaͤhlung der Faͤlle, in welchen sie dem B zukommen, und in wel- chen sie ihm nicht zukommen, vornehmen, oder die Ver- haͤltniß zwischen beyden aus andern Gruͤnden finden, so laͤßt sich der Grad der Wahrscheinlichkeit, der aus den- selben erwaͤchst, berechnen. Wir wollen uns hier be- gnuͤgen, diese Berechnung auf die Theorie der Gluͤcks- spiele zu reduciren. Man stelle sich so viele Haufen Zettel vor als Argumente sind. Jn jedem Haufen sey die Anzahl der guͤltigen oder bezeichneten Zettel zu der Anzahl der nicht bezeichneten in eben der Verhaͤltniß, wie die Faͤlle, in welchen das Argument guͤltig ist, zu denen sind, in welchen es nicht guͤltig ist. Man setze nun, Cajus nehme blindhin von jedem Haufen einen Zettel, die Frage ist, wie wahrscheinlich es sey, daß unter diesen herausgenommenen Zetteln kein guͤltiger sey? So wahrscheinlich, oder so unwahrscheinlich wird es seyn, daß alle Argumente, so man zum Behuf des Satzes gefunden, ihn nicht beweisen. Die Theorie der Gluͤcksspiele giebt zu dieser Berechnung folgende Regel an. Man multiplicire die Anzahl der gesamm- ten Zettel eines jeden Haufens mit einander, und Von dem Wahrscheinlichen. und eben so multiplicire man auch die Anzahl der unguͤltigen oder nicht bezeichneten Zettel eines jeden Haufens mit einander: so wird, das letzte Product durch das erste dividirt, den Grad der Wahrscheinlichkeit angeben, daß die Argumente nicht beweisen. Und wird dieser Grad, welcher nothwendig ein Bruch ist, von 1 abgezogen; so bleibt der Grad der Wahr- scheinlichkeit uͤbrig, daß die Argumente be- weisen. §. 170. Es giebt aber auch Mittel, die Sache zur Gewißheit zu bringen, wenn gleich die Praͤdicate C, D, E, F ꝛc. nicht eigene Merkmale von B sind. Und dieß geschieht, wenn man die uͤbrigen Subjecte, denen sie zu- kommen, aufsucht, und in Classen bringt. Auf diese Art sieht man z. E. den Begriff C als eine Gattung an, unter welche die Art B nebst ihren Nebenarten P, Q, R, ꝛc. gehoͤren. Da nun A, C ist, so folgt, daß A ent- weder B oder P, oder Q oder R ꝛc. seyn muͤsse. Findet man nun, daß entweder der Begriff A an sich, oder auch nur seine Praͤdicate D, E, F, ꝛc. weder P noch Q, noch R ꝛc. sind, so ist der Schluß, daß A muͤsse B seyn, erwiesen, und nicht mehr bloß wahrscheinlich. Diese Art zu schließen geht nothwendig an, wenn A in der That B ist. Denn so ist B ein hoͤherer Begriff als A, und C ein hoͤherer Begriff als B. Wird nun C in die Arten B, P, Q, R ꝛc. vollstaͤndig und richtig eingetheilt, so wird A, weil es unter B gehoͤrt, unter den Arten P, Q, R ꝛc. nicht vorkommen, und daher auch Praͤdicate haben, die den Arten P, Q, R ꝛc. nicht zukommen. Daß aber die Praͤdicate D, E, F ꝛc. solche seyn, folgt aus der Bedingung, weil wir sie dem Praͤdicat C coor- dinirt angenommen haben. Uebrigens sieht man leicht, daß bey dieser Art zu schließen verschiedene von den zu- sammengesetztern Umwegen vorkommen, die wir zu Y 2 Ende V. Hauptstuͤck. Ende des fuͤnften Hauptstuͤckes der Dianoiologie (§. 310. seqq. ) betrachtet, und einige Beyspiele davon in For- meln vorgestellt haben. Jn gegenwaͤrtigem Falle wird die Formel geaͤndert, je nachdem man, um die Arten P, Q, R ꝛc. auszuschließen, entweder A, oder D, E, F ꝛc. gebraucht. Z. E. A ist C C ist entweder B, oder P, oder Q, oder R. A ist weder P, noch Q, noch R Folglich A ist B. A ist C, D, E, F. C ist entweder B, oder P, oder Q, oder R. aber D ist nicht P E ist nicht Q F ist nicht R. demnach: A ist B. §. 171. Aus dem bisher gesagten erhellet nun uͤber- haupt, daß bey den so genannten moralischen Beweisen oder Aufhaͤufungen von Argumenten immer eine Jn- duction vorkomme, die entweder nur unvollstaͤndig zu seyn scheint, oder es in der That ist. Denn dieses lassen solche Beweise uneroͤrtert, weil der Antheil, den jedes Argument an dem Beweise hat, dabey nicht bestimmt oder berechnet wird. Es kann daher gar leicht gesche- hen, daß der Satz dadurch nicht nur bewiesen, sondern gleichsam mehr als bewiesen ist; das will sagen, daß man einige Argumente haͤtte weglassen koͤnnen, wenn man darauf Achtung gehabt haͤtte, daß die uͤbrigen zum Beweise voͤllig ausreichen. So z. E. wenn in dem Fall des §. 168. unter den Praͤdicaten C, D, E, F ꝛc. ein ein- ziges vorkoͤmmt, welches ein eigenes Merkmal von B ist, so ist dieses zureichend, den Satz: A ist B, zu beweisen. Auf diese Art erkennen wir die meisten Dinge bey dem ersten Von dem Wahrscheinlichen. ersten Anblicke wieder, weil uns ihre eigene Merkmale sogleich in die Sinnen fallen, so schwer es uns auch oͤf- ters ist, diese Merkmale mit Worten zu benennen. Es ist auch nicht zu zweifeln, daß die, so viel mit wahr- scheinlichen Dingen umgehen, auf diese Art unvermerkt eine Fertigkeit erlangen, in ihren Vermuthungen auf die rechte Spur zu kommen. Sie kennen ihre Leute und die Sachen, mit denen sie umgehen, nebst ihren Verhaͤlt- nissen, bis aufs Jndividuale, und dieses giebt in einzel- nen Faͤllen immer die sichersten Unterscheidungszeichen. Und so kann die Vermuthung auf eine sehr natuͤrliche Art richtig seyn, ungeacht andere, die solche individuale Kenntniß nicht haben, und daher hoͤchstens nur sich mit allgemeinen Betrachtungen und Moͤglichkeiten begnuͤgen muͤssen, sie nur fuͤr wahrscheinlich und den Erfolg fuͤr gluͤcklich ansehen. §. 172. Bey Aufhaͤufung der Argumente macht im- mer der Beweis, daß die Jnduction dabey vollstaͤndig sey, das Beruhigende in der Gewißheit aus. Wir haben in der Alethiologie (§. 182.) erwiesen, daß jeder irrige Satz mit mehrern Wahrheiten in Harmonie gebracht werden kann, und daß sich mehrere wahre Saͤtze daraus herleiten lassen. Demnach ist es immer moͤglich, einem irrigen Satze durch Aufhaͤufung solcher Folgen und Argumente den Schein eines wahren Sa- tzes zu geben, und in so ferne haben die moralischen Be- weise fuͤr irrige und fuͤr wahre Saͤtze einerley Form. Von den einzelnen Argumenten beweist keines vollstaͤn- dig, und die Frage, ob sie zusammengenommen vollstaͤn- dig beweisen, bleibt uneroͤrtert, daferne man nicht er- weist, daß die Jnduction vollstaͤndig sey. Denn wenn sie es auch ist, aber man hat sich davon nicht versichert, so ist der Zweifel noch nicht ganz gehoben, und man glaubt nur mit einem verworrenen Bewußtseyn, indem man das Gewicht der Argumente mehr empfindet als Y 3 richtig V. Hauptstuͤck. richtig abwiegt. Dieses macht auch, daß man bey je- dem neuen Anstand sie immer wiederum zusammen neh- men muß, um ihr Gewicht aufs neue zu empfinden, und den Anstand dadurch zu uͤberwiegen. Cicero beschreibt uns einen solchen Wankelmuth in seinen Tusculani- schen Fragen, in Ansehung der Platonischen Argu- mente fuͤr die Unsterblichkeit der Seele, welcher um desto natuͤrlicher war, weil mit den Argumenten noch Furcht und Hoffnung sich vermengten. §. 173. Die verschiedenen Arten, in welche sich die Argumente eintheilen lassen, die man von der Sache und ihren Verhaͤltnissen hernimmt, richten sich nach den verschiedenen Arten der Jnductionen, und nach diesen muͤssen wir jene eintheilen, wenn wir die Vollstaͤndigkeit oder Unvollstaͤndigkeit bey ihrer Aufhaͤufung beurtheilen wollen. Wir wollen sie hier kuͤrzlich anzeigen: 1. Bey Koͤrpern und zusammengesetzten Sy- stemen derselben ihre einzelnen Theile, wel- che zusammengenommen das ganze Sy- stem oder den ganzen Koͤrper ausmachen. Hiebey kann man durch Jnduction die Fragen er- oͤrtern: ob das System vollzaͤhlig sey, um mit diesem oder jenem Namen benennt zu werden; ob eine vorgegebene Eigenschaft jeden einzelnen Thei- len zukomme, um den Satz allgemein machen zu koͤnnen; ob man alle Theile wisse oder habe, um den Begriff des Ganzen oder das Ganze selbst daraus zusammenzusetzen? 2. Bey zusammengesetzten Begriffen diejeni- gen einzelnen Merkmale, welche zusam- mengenommen den Umfang des Begrif- fes ausfuͤllen. Hier wird durch Jnduction er- oͤrtert, ob diese Merkmale in einem vorgegebenen Fall saͤmtlich votkommen, um daraus zu schließen, daß Von dem Wahrscheinlichen. daß auch der ganze Begriff dabey vorkomme. Man sehe hieruͤber §. 166. 167. 3. Bey einem Satze desselben naͤchste und von einander unabhaͤngige Folgen. Um sich aus der Wahrheit der Folgen von der Wahr- heit des Satzes zu versichern, welcher in dieser Absicht hypothetisch angenommen wird. Diesen Fall haben wir auf den vorhergehenden reducirt (§. 166.). 4. Bey einer Veraͤnderung ihre naͤchsten und von einander unabhaͤngigen Folgen. Um aus diesen zu schließen, daß jene vorgegangen sey. Man sehe hieruͤber §. 162. 5. Bey einer Wirkung ihre an sich moͤgli- chen Ursachen. Um mit Zuziehung der Um- staͤnde und ausschließungsweise die wirkliche zu finden. 6. Bey einer Handlung ihre moͤglichen Ab- sichten. Um mit Zuziehung der Umstaͤnde und ausschließungsweise die wirkliche zu finden. 7. Bey einer Gattung ihre Arten. Um in vorgegebenem Fall, wo eine Sache unter die Gat- tung gehoͤrt, mit Zuziehung der Praͤdicate der Sache und ausschließungsweise die Art zu finden. Man sehe hieruͤber §. 170. §. 174. Kann nun in einem vorgegebenen Fall auch nur eine von diesen Jnductionen complet gemacht, und auf den Fall angewandt werden, so wird der Satz da- bey entweder durchaus erwiesen, es mag nun der Be- weis collectiv oder disjunctiv seyn; oder man sieht we- nigstens deutlich, was zu dem voͤlligen Beweise noch ruͤckstaͤndig bleibt, und was man folglich, um ihn voll- staͤndig zu machen, noch aufzusuchen hat. Dabey ist nun alles und nach aller Schaͤrfe in logischer Form. Solchen nach aller Schaͤrfe der Gesetze des Denkens Y 4 aus V. Hauptstuͤck. aus einander gesetzten Beweisen, werden die Morali- schen entgegengesetzt. Diese Benennung koͤmmt ver- muthlich daher, weil die moralischen Beweise nebst den Argumenten fuͤr den Verstand, auch die Argumente fuͤr den Willen begreifen, und letztere ebenfalls gebraucht werden, wo man, was von menschlichen Entschließun- gen abhaͤngt, eroͤrtern, oder bey Untersuchung der Glaub- wuͤrdigkeit den Einfluß der Affecten in die Aussage be- stimmen soll. Hier betrachten wir sie nur noch, in so ferne sie Argumente fuͤr den Verstand angeben. Und dieses sind einzelne Stuͤcke von Jnductionen, welche man aufhaͤuft, ohne zu bestimmen, ob sie zum voͤlligen Beweise zureichend sind, sie moͤgen nun zureichend oder mehr als zureichend (§. 171.), oder unzureichend seyn. Die Versaͤumniß der Bestimmung ihrer Vollstaͤndig- keit, und daß sie weder uͤberfluͤßiges enthalten noch un- zureichend sind, ist es demnach, wodurch wir die mora- lischen Beweise von den logischen in Absicht auf den Verstand unterscheiden, weil letztere eben dadurch logisch genennt werden, daß sie diese genaue Vollstaͤn- digkeit deutlich an Tag geben. Diese Versaͤumniß, woher sie auch immer entstehe, macht nun, daß die mo- ralischen Beweise, so sehr man auch darinn Argumente zusammen aufhaͤuft, noch immer mehrerer zu beduͤrfen scheinen (§. 172.). Es geschieht daher sehr oft, daß man, anstatt auch nur eine von den vorhin angefuͤhrten Arten von Jnductionen complet zu machen (§. 173.), einzelne Stuͤcke von mehreren, so viel man ihrer finden kann, aufhaͤuft, und die Luͤcken durch einen dazu dienen- den Vortrag nicht ausfuͤllt, sondern bedeckt, indem man, statt des ausgelassenen zu erwaͤhnen, die Aufmerksam- keit des Lesers oder Zuhoͤrers mit neuen Argumenten, Harmonien, Uebereinstimmungen und Beantwortungen von Einwuͤrfen beschaͤfftigt. Und dieses laͤßt sich, wenn der Satz, den man beweisen will, in der That wahr ist, meister- Von dem Wahrscheinlichen. meisterlich thun. Denn mit Zuziehung richtiger Ober- saͤtze werden jede Folgen wahr seyn. Man wird jede in dem Praͤdicat gefundene Merkmale, wenn es beja- hend ist, auch in dem Subject finden, und wenn der Satz allgemein bejahend ist, so wird man auch das Subject von jeden Nebenarten des Praͤdicats aus- schließen koͤnnen ꝛc. Allein da bey allem diesem die Vollstaͤndigkeit solcher Jnductionen sehlt, oder versaͤumt wird, und da man die dem Praͤdicat eigene Merkmale unter den gemeinsamen vermengt oder gar weglaͤßt, so wird zwar der Leser oder Zuhoͤrer wider den Satz keine gegruͤndete Einwendungen machen koͤnnen, dagegen aber etwan bemerken, daß auf eine solche Art auch irrige Saͤtze glaublich gemacht werden koͤnnten. §. 175. Jndessen muß man allerdings sagen, daß man, um irrige Saͤtze glaublich zu machen, mit der Aufhaͤufung der Argumente ehender zuruͤcke bleibt, und nothwendig nicht so weit reichen kann, als wenn man einen an sich wahren Satz durch Argumente zu bestaͤti- gen vornimmt, weil das Vollstaͤndige in der Harmonie mit wahren Saͤtzen der Wahrheit eigen ist, und weil es immer moͤglich bleibt, aus irrigen Saͤtzen Wider- spruͤche herzuleiten, und Luͤcken darinn zu entdecken, die nicht anders als mit leeren Einbildungen ausgefuͤllt werden koͤnnen (Alethiol. §. 185. 171. 205.). Solche Dissonanzen koͤnnen, auch wenn man sie nicht sogleich deutlich anzeigen kann, dennoch oͤfters leicht empfunden werden (Dianoiol. §. 620. seqq. ). §. 176. Die Hauptfrage aber, die hier gemacht wer- den kann, und die uns wiederum von dem Wahrschein- lichen zur Gewißheit lenkt, ist diese: ob es bey dem Gebrauche einzelner Theile von verschiedenen Arten von Jnductionen, nicht Mittel giebt, den Beweis daraus vollstaͤndig zu machen, auch ohne daß man die Jnductionen vollstaͤn- Y 5 dig V. Hauptstuͤck. dig habe? oder wieferne die vorhandenen Thei- ie der einen Jnduction die Luͤcken der andern ausfuͤllen koͤnnen? Denn man sieht leicht, daß, so ferne dieses angeht, dadurch die Aufhaͤufung uͤberfluͤßi- ger Argumente erspart, und der Anstand uͤber ihre Voll- staͤndigkeit gehoben wird. Man sieht aber zugleich auch uͤberhaupt ein, daß zu dieser Absicht nicht jede Argu- mente dienen, und daß man auch hiebey wiederum mehr auf ihre Beschaffenheit als auf ihre Men- ge zu sehen habe. Wir wollen nun, um zu zeigen, daß diese Frage zuweilen angehe, ein Beyspiel anfuͤhren, woraus zugleich erhellen wird, welche Vortheile wir von richtigen Eintheilungen der Gattungen in Arten zu er- warten haͤtten, wenn sie in Menge vorraͤthig waͤren. §. 177. Es sey demnach, wie oben (§. 170.) C eine Gattung, B, P, Q, R ꝛc. ihre naͤchsten Arten. Jst nun die Eintheilung richtig gemacht, so hat jede Art, z. E. B nothwendig nur zweyerley Merkmale. Einmal alle, die die Gattung C hat, und diese finden sich in jeder der uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc. Sodann solche, die die Gattung C nicht hat, und diese finden sich auch noth- wendig in den Arten P, Q, R ꝛc. nicht. Dieses folgt aus der Voraussetzung, daß die Eintheilung richtig, und C die naͤchst hoͤhere Gattung von B, P, Q, R ꝛc. sey. als welche außer den Merkmalen des C keine haben sol- len, die mehr als einer dieser Arten zukaͤmen. Man habe nun den Satz: alle B sind D; so giebt es fol- gende Faͤlle: 1. Findet man, daß alle C ebenfalls D sind; so koͤmmt D nicht nur allen B, sondern auch allen P, Q, R ꝛc. zu. Denn in diesem Fall gehoͤrt D unter die ge- meinsamen Merkmale von diesen Arten. 2. Findet man aber, daß etliche C nicht D, hingegen alle B, D sind; so gehoͤrt D nothwendig nicht un- ter die Praͤdicate der uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc. weil Von dem Wahrscheinlichen. weil vermoͤg der Bedingung diese Arten kein an- der gemeinsames Merkmal, als solche haben, die allen C zukommen, welches man vermoͤg der Voraussetzung von D nicht sagen kann. 3. Findet man, daß alle B, D sind, hingegen auch nur ein einziges D unter eine der uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc. nicht gehoͤrt; so wird D allgemein und nothwendig von allen ausgeschlossen. Denn wenn D unter diesen Arten dem B nicht allein zu- kaͤme, so waͤre es ein gemeinsames Merkmal von allen, und daher ein Merkmal von der Gattung C. Dieses ist aber der Voraussetzung zuwider. Von diesen Faͤllen laufen die beyden letzten auf eines hinaus, weil man in beyden findet, daß D dem B allein, und mit Ausschluß der uͤbrigen Arten P, Q, R ꝛc. zu- komme. Man setze nun: alle A seyen C, und: alle A seyen D; so wird man, so oft einer der beyden letzten Faͤlle statt hat, den Schluß machen koͤnnen: alle A seyen B. Denn da gehoͤrt A unter die Gattung C, weil alle A, C sind. Es haben aber alle A das Praͤdicat D, welches den Arten P, Q, R ꝛc. nicht zukoͤmmt, oder der Art B allein zukoͤmmt. Demnach gehoͤrt A ganz unter die Art B, oder; alle A sind B. §. 178. Um nun zu zeigen, daß auf diese Art, um den letzten Satz zu beweisen, die Muͤhe erspart wird, von zwoen Jnductionen, davon hier einzelne Stuͤcke vor- kommen, die eine complet zu machen: so wollen wir die dabey gebrauchten Saͤtze zusammennehmen. Es sind folgende: Alle B sind C, D. Alle A sind C, D. C ist entweder B, oder P, oder Q, oder R ꝛc. Etliche D sind nicht P. Oder auch: Etliche C sind nicht D. Von V. Hauptstuͤck. Von diesen Saͤtzen wuͤrden die beyden ersten eine sehr unvollstaͤndige Jnduction geben. Und in Ansehung des dritten Satzes erspart man sich die Muͤhe, den Be- griff D von jeder der Arten P, Q, R ꝛc. | besonders zu verneinen, weil man vermittelst des ersten und eines der beyden letzten Saͤtze, ohne solche Jnduction findet, daß D dem B allein zukomme; und dieses ist genug, um so- dann den Schluß zu ziehen, daß alle A, B seyn. §. 179. Die Moͤglichkeit dieser betraͤchtlichen Ab- kuͤrzung, die uns statt der Wahrscheinlichkeit die Ge- wißheit giebt, gruͤndet sich schlechthin darauf, daß die Eintheilung der Gattung C in ihre naͤchsten Arten B, P, Q, R ꝛc. richtig gemacht sey. Diese Genauigkeit vorausgesetzt, erstreckt sich ebenfalls auf die in der Dia- noiologie angegebene Zeichnung, welche fuͤr gegenwaͤr- tigen Fall so ausfaͤllt: Man faͤngt naͤmlich bey der Gattung C an, und setzt ihre Arten B, P, Q, R ꝛc. unter dieselbe (Dianoiolog, §. 188.). So dann folgt aus den Saͤtzen: Alle B sind D Etliche C sind nicht D daß die Ausdehnung von D nicht kleiner als die von B, aber auch nicht groͤßer seyn koͤnne (§. 177. No. 2, und Dianoiol. §. 181.). Man macht sie demnach nicht nur gleich, fondern setzt D gerade uͤber B. Endlich aus dem Satze: Alle A sind D folgt, daß A unter D zu stehen komme, und wenigstens von nicht groͤßerer Ausdehnung sey (Dianoiol. §. 181.). Demnach wird A ganz unter D gesetzt. So sind nun die beyden andern Saͤtze: Alle Von dem Wahrscheinlichen. Alle B sind C. Alle A sind C. an sich schon gezeichnet, und die Zeichnung giebt außer dem Satze Alle A sind B welchen wir eigentlich finden wollten, noch eine Menge anderer an. Z. E. daß A weder P, noch Q, noch R ꝛc. sey, daß D ebenfalls davon ausgeschlossen werde, daß sowohl C, als D, als B dem A particular zukomme, und zwar C nothwendig nur particular, D und B we- nigstens particular ꝛc. Wir muͤssen aber noch anmer- ken, daß ungeacht in der Zeichnung D und B gleiche Ausdehnung haben, dieses nur in Absicht auf die Gat- tung C ist. Denn aus den Saͤtzen Etliche C sind nicht D, alle B sind D und aus der Natur der Eintheilung folgt nur, daß die- jenigen C nicht D sind, welche P, Q, R ꝛc. sind. Da- bey bleibt nun moͤglich, daß alle D C sind, aber es bleibt auch moͤglich, daß etliche D nicht C sind. Dieß ist der Grund, warum wir in der Zeichnung der Linie D d Punkte vorgesetzt haben (Dianoiol. §. 179.), weil es un- bestimmt bleibt, ob D nicht muͤsse vorwaͤrts verlaͤngert werden. Wir wollen ein Beyspiel aus der Geometrie, und zwar von den Kegelschnitten, anfuͤhren, weil ihre Eintheilung in Ellipfen, Parabeln und Hyperbeln ge- nau getroffen ist. Unter die Ellipsen rechnen wir die Circul mit, weil ein Circul die ruͤndeste oder absolute runde Ellipse ist. Man setze demnach C = Kegelschnitt. B = Ellipse. P = Parabel. Q = Hyperbel. A = Circul. D = in sich kehrende Linie, so V. Hauptstuͤck. so wird man die ganze Aufgabe und jede vorangefuͤhrte Saͤtze dabey anwenden koͤnnen. Die Punkte, so wir vor D gezeichnet, gelten, weil nicht alle in sich kehrende Linien Kegelschnitte sind. Hingegen wuͤrden sie weg- fallen, wenn wir dem D noch die Bestimmung: vom zweyten Grade, beygefuͤgt haͤtten. R und die an- gehaͤngten Punkte fallen weg, weil die Eintheilung nur drey Glieder hat, und die Linie C endet sich mit Q ꝛc. Uebrigens fuͤhren wir dieses Beyspiel nur in so ferne an, als es hier angewandt werden kann. Denn die Eintheilung der Kegelschnitte, die wir dabey angenom- men haben, ist nur in einer besondern Absicht, und noch nicht so genau, daß was nicht allen Arten zukoͤmmt, nur einer derselben zukomme. Denn so haben in an- dern Absichten betrachtet; Circul und Parabeln verschie- denes gemein, das den Ellipsen und Hyperbeln nicht zukoͤmmt, und hinwiederum laͤßt sich von beyden letztern verschiedenes sagen, das von beyden erstern nicht kann gesagt werden. §. 180. Wir haben den bisher (§. 177. seqq. ) be- trachteten Fall nur angefuͤhrt, um dadurch zu zeigen, daß die (§. 176.) vorgelegte Frage zuweilen angehe, und auch mit Ersparung der Argumente und Jnductionen eine Gewißheit erhalten werden koͤnne, und daß es, wenn die Argumente in der That zureichend oder gar im Ueberflusse vorhanden sind, oͤfters nur daran liege, daß man, an statt sie ohne Auswahl aufzuhaͤufen, sich bemuͤhe, sie von der Seite zu betrachten, von welcher sie einen vollstaͤndigen Beweis angeben, der auch als ein solcher in logischer Form koͤnne vorgetra- gen werden. Und dieses geht um desto ehender an, je mehr man sich die verschiedenen Wege und Umwege zu beweisen bekannt gemacht hat. Der hier ausfuͤhr- licher entwickelte beut uns in dieser Absicht Anlaͤße zu ver- Von dem Wahrscheinlichen. verschiedenen Anmerkungen an, die wir noch kuͤrzlich an- zeigen wollen. Einmal ist er ein Beyspiel zu der in der Dianoiologie (§. 444—467.) vorgetragenen Aufga- be, und zeigt zugleich, daß noch mehrere zuruͤckbleiben, wenn man da, wo die Argumente zureichend oder gar uͤberhaͤuft sind, das was ein jedes in Absicht auf den Beweis auf sich hat, logisch ausdruͤckt, und aus diesen Datis die Form des Beweises zu bestimmen sucht. Sodann geben besonders die zween letzten Faͤlle des §. 177. ein sehr all- gemeines Beyspiel zu der in der Dianoiologie (§. 394. seqq. ) vorgetragenen Frage, wieferne man von einigen auf alle schließen koͤnne? Welches wir hier um desto mehr anmerken, weil wir diesen Fall da- selbst nicht betrachtet haben. Ferner erhellet auch aus der (§. 179.) angegebenen Construction oder Zeichnung, was wir in der Dianoiologie (§. 194.) uͤberhaupt von derselben angemerkt haben, daß sie ungleich brauchba- ter seyn wuͤrde, wenn unsere Erkenntniß bestimmter waͤre. Denn so unbestimmt wir hier die Zeichnung lassen mußten, so stellte sie uns aus wenigern Datis jede Saͤtze mit einem male vor Augen, die sich aus den Da- tis (§. 178.) schließen lassen, und gab zugleich die Unbe- stimmtheit der gegebenen Stuͤcke an. Endlich wenn man setzt, daß man die (§. 178.) vorgetragenen Saͤtze aus einem einzeln Fall oder aus wirklich zum Beweise eines Satzes aufgehaͤuften Argumenten abstrahirt, und mit Weglassung der Materie die bloße logische Form beybehalten haͤtte, so wuͤrde sowohl die Zeichnung als die andere Aufloͤsung im eigentlichsten Verstande ein logischer Lehnsatz gewesen seyn (Dianoiol. §. 445.), so wie man in der angewandten Mathesi Lehrsaͤtze aus der reinen Mathesi gebraucht. Und diese letzte Anmer- kung ist von nicht geringer Erheblichkeit, weil sie in ei- nem einzeln Beyspiele zeigt, was wir fuͤr unzaͤhlige an- dere V. Hauptstuͤck. dere von der Vernunftlehre zu erwarten haͤtten, wenn darinn zu solchen Lehrsaͤtzen der Weg gebahnt waͤre. Man sehe hieruͤber (Dianoiol. §. 449. 455. 467.). §. 181. Die bisher betrachteten Arten von Argu- menten sind gleichsam positiv. Man nimmt dabey den Satz, den man beweisen will, als eine Praͤmisse an, und zeigt, daß jede Folgen, so man daraus herleitet, wahr sind, oder daß er mit andern Wahrheiten, mit welchen man ihn vergleicht, harmonire, oder denselben wenig- stens nicht widerspreche (§. 167. 168.). Da es aber bey der bloßen Aufhaͤufung solcher Argumente immer noch wenigstens scheinbare Maͤngel und Luͤcken giebt (§. 172. 174.), so kommen auch dabey gewoͤhnlich Zweifel zu heben, und Einwuͤrfe zu beantworten vor, die man theils gegen den Satz selbst, theils gegen die in den Ar- gumenten gebrauchte Saͤtze macht, theils auch von den Luͤcken hernimmt, die noch ausgefuͤllt werden muͤssen, und die theils in Anzeigen von Moͤglichkeiten bestehen, von denen man zeigen muß, daß sie in Ansehung des Satzes nicht statt haben. Der allgemeine Zweifel aber ist, daß die Argumente nicht vollstaͤndig zu beweisen scheinen. Und diesem kann nicht wohl anders begegnet werden, als daß man ihnen eine logische Gestalt gebe, und zeige, daß sie stricte und vollstaͤndig erweisen. §. 182. Wir koͤnnen die Lehre von den Einwuͤr- fen uͤberhaupt in folgende Saͤtze zusammenfassen. 1. Wenn ein Satz richtig bestimmt, und zureichend erwiesen ist, so koͤnnen die Einwuͤrfe hoͤchstens nur aus Misverstaͤndniß herruͤhren. Sie wer- den demnach vermieden, oder man beugt ihnen vor, wenn man den Beweis klar, ausfuͤhrlich und mit aller Evidenz aus einander setzt. Denn so wird, wer die Worte versteht, die Sache zugeben. Dieß ist der Fall geometrischer Saͤtze und Be- weise. Von dem Wahrscheinlichen. weise. Wer Einwuͤrfe dawider macht, hat die Schuld in sich zu suchen. Sie liegt nicht in der Sache. 2. Jst hingegen der Satz nicht richtig bestimmt, es sey, daß man darinn zu viel oder zu wenig sage, oder Vieldeutigkeit in den Worten liege: so muß man die Vieldeutigkeit heben, und die Einschraͤn- kungen und naͤhere Bestimmungen beyfuͤgen, es sey, daß man sie in den Satz selbst einschiebe, oder es nachhole. Wo dieses versaͤumt wird, da setzt man sich gegruͤndeten Einwuͤrfen bloß, und hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie gemacht werden, oder wenn man sie zuletzt selbst macht, und in der Beantwortung von dem anfaͤnglichen Vorgeben wiederum ganze Stuͤcke abbrechen muß, wodurch selbst auch die Nettigkeit des Vortrags verderbt wird. 3. Jst endlich der Satz richtig bestimmt, aber nicht vollstaͤndig oder nicht zureichend erwiesen, es sey, daß man einzelne Theile des Satzes unbewiesen gelassen, oder den Beweis nicht bis auf unbestrit- tene Gruͤnde entwickelt, oder in der Form der Schluͤsse und ihres Zusammenhanges gefehlt ha- be: so giebt es ebenfalls wiederum gegruͤndete Einwuͤrfe, deren Beantwortung man, ohne der Nettigkeit des Vortrags Abbruch zu thun, nicht fuͤglich nachholen kann, sondern denen man durch die genauere Entwicklung des Beweises viel na- tuͤrlicher begegnet. 4. Kann man, an statt einen directen Beweis zu fuͤhren, die Einwuͤrfe wider den Satz abzaͤhlen, und jeden besonders heben, so ist der Satz indi- recte, und in Form eines Polylemma erwiesen. §. 183. Bey der Aufhaͤusung der Argumente bleibt man aber auch hierinn zuruͤcke, oder man scheint wenig- Lamb. Organon II B. Z stens V. Hauptstuͤck. stens zuruͤcke zu bleiben, weil man zwar Gruͤnde an- bringt, und Einwuͤrfe beantwortet, aber dabey unaus- gemacht laͤßt, ob erstere zureichend, und letztere alle mit- genommen sind. Es kann beydes seyn, aber die Form des Vortrags giebt es nicht an. Denn sonst wuͤrde der Beweis, daß die Gruͤnde zureichend sind, die Beant- wortung der Einwuͤrfe uͤberfluͤßig machen, oder auch hinwiederum wuͤrden die Gruͤnde wegbleiben koͤnnen, wenn man bewiesen haͤtte, daß außer den beantworte- ten Einwuͤrfen keine andere gemacht werden koͤnnen. Wir haben uͤbrigens die vorigen vier Saͤtze (§. 182.) deswegen angefuͤhrt, weil sie ebenfalls zum Leitfaden dienen koͤnnen, wenn man ein Cahos von Argu- menten aus einander lesen, und sie in logische Form bringen will, um sodann beurtheilen zu koͤnnen, ob sich nicht ein netter und vollstaͤn- diger Beweis aus denselben herausbringen lasse? Denn dieses ist, wenn die Argumente in der That zureichend sind, an sich betrachtet, allemale moͤg- lich, und die Schwierigkeit liegt immer nur in der Art, wie man es anzugreifen habe. §. 184. Um nun wiederum zu der Betrachtung des Wahrscheinlichen zuruͤcke zu kehren, so merken wir an, daß die oben (§. 169.) angegebene Berechnung der Grade der Wahrscheinlichkeit eigentlich nur da angeht, wo jedes Argument von dem andern unabhaͤngig ist. Denn so traͤgt jedes fuͤr sich dazu bey, die Unwahrschein- lichkeit zu vermindern, dergestalt, daß, wenn ein einzi- ges gewiß ist, oder wenn man von einem einzigen weiß, daß es in einem vorgegebenen Fall zutreffe, die uͤbri- gen dadurch uͤberfluͤßig werden. Denn so ist die Fra- ge, ob Cajus aus mehreren Haufen Zetteln wenigstens einen guͤltigen ziehen werde, bald entschieden, wenn auch nur in einem dieser Haufen lauter guͤltige sind. Cajus Von dem Wahrscheinlichen. Cajus darf nur nach diesen greifen, um den Zweifel so gleich zu heben. §. 185. Hingegen ist es ganz anders, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schlußsatzes aus der Wahr- scheinlichkeit der Vordersaͤtze solle bestimmt werden. Denn da lassen sich die Vordersaͤtze nicht als einzelne und von einander unabhaͤngige Argumente ansehen, weil der Schlußsatz nothwendig von beyden zugleich ab- haͤngt; so daß der Schlußsatz nur alsdann zutrifft, wenn die Vordersaͤtze alle zutreffen. Dieses vorausge- setzt, so laͤßt sich die Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines Schlußsatzes auch von ganzen Schlußketten eben- falls auf die Theorie der Gluͤcksspiele reduciren. Wir wollen zu diesem Ende wiederum die Haufen Zettel neh- men, und zwar so viele als Vordersaͤtze in der Schluß- kette sind. Jn jedem Haufen sey die Anzahl der guͤlti- gen zu der Anzahl der unguͤltigen in eben der Verhaͤlt- niß, wie die Faͤlle, in welchen der Vordersatz zutrifft, zu denen, in welchen er nicht zutrifft. Man setze nun, Cajus nehme blindhin von jedem Haufen einen Zettel: so ist die Frage, wie wahrscheinlich es sey, daß unter den gezogenen Zetteln kein unguͤltiger vorkomme, oder daß alle guͤltig seyn? Diesen Grad der Wahrscheinlich- keit wird bey der vorgegebenen Schlußkette der Schluß- satz haben. Die Theorie der Gluͤcksspiele giebt zu die- ser Berechnung folgende Regel: Man multiplicire die Anzahl der gesammten Zettel eines jeden Haufens mit einander; und eben so multiplici- re man auch die Anzahl der guͤltigen Zettel ei- nes jeden Haufens mit einander: so wird das letzte Product durch das erste dividirt, den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schlußsat- zes angeben. Oder das erste Product stellt die An- zahl aller moͤglichen Faͤlle, das letztere aber die Anzahl Z 2 der- V. Hauptstuͤck. derjenigen vor, in welchen der Schlußsatz zutrifft, oder, welches einerley ist, alle Vordersaͤtze zugleich zutreffen. §. 186. Vergleicht man diese Berechnung mit der- jenigen, so wir (§. 169.) fuͤr Argumente, die von einan- der unabhaͤngig sind, gegeben haben: so wird man sie in vielen Stuͤcken aͤhnlich, in den uͤbrigen aber ganz entgegengesetzt finden, so daß, was dort die Wahrschein- lichkeit des Zutreffens vermehrte, sie hier vermindert, weil die Data und das Quaesitum ganz umgekehrt sind. Um so viel desto mehr hat man bey Bestimmung der Grade der Wahrscheinlichkeit auf den Unterschied zu sehen, ob die Argumente von einander abhaͤngen oder nicht. Und da bey Schlußketten jeder Vordersatz, der nur wahrscheinlich ist, die Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes vermindern hilft; so sieht man uͤberhaupt, daß es mit solchen Schlußketten eine mißliche Sache ist, wobey man mehrere eben nicht in einem groͤßern Grad wahrscheinliche Saͤtze gebraucht. §. 187. Wir wollen aber nicht so schlechthin bey die- ser Berechnung stehen bleiben, sondern die Gruͤnde, worauf sie beruht, etwas genauer betrachten. Und die- ses ist hier um desto nothwendiger, weil die Theorie von den wahrscheinlichen Schluͤssen und Schlußketten einen betraͤchtlichen Theil der Vernunftlehre des Wahr- scheinlichen ausmacht. Zu diesem Ende werden wir damit anfangen, daß wir sehen, was eigentlich ein wahrscheinlicher Satz ist, woher sie entstehen, und wie das Wahrscheinliche derselben sich von dem Wahren und von dem Gewissen unterscheide? Zu diesem Ende merken wir an, daß die oben (§. 154. seqq. ) betrachtete Abzaͤhlung der Faͤlle, so sehr man sie auch zur Bestimmung der Grade der Wahrscheinlichkeit gebrauchen kann, an sich selbst dennoch nicht bloß wahrscheinliche, son- dern wahre, gewisse und bestimmte Saͤtze an- gebe. Von dem Wahrscheinlichen. gebe. Denn diese Abzaͤhlung wird jedesmal an sich schon durch die Versicherung oder wenigstens durch die Vermuthung veranlaßt, daß einige A, B sind. Man nimmt sie auch sodann nur vor, um zu finden, wie viele es sind, und wie viele es hingegen nicht sind, oder we- nigstens um die Verhaͤltniß zwischen beyden Classen zu finden, es mag nun a priori oder a posteriori gesche- hen. Findet man nun, daß B allen A zukomme, so hat man einen Satz, von dessen Wahrheit und All- gemeinheit man versichert ist, und da ist vom Wahrscheinlichen keine Rede mehr. Eben dieses gilt auch, wenn man findet, daß kein A, B ist. Auf gleiche Art, wenn man findet, daß nur ein gewisser Theil von allen A, z. E. ¾ Theile das Praͤdicat B ha- ben; so hat man zween Saͤtze: ¾ A sind B. ¼ A ist nicht B. Diese Saͤtze lassen nun nichts mehr zu bestimmen uͤbrig, als nur, wenn man etwan diejenigen A, die B sind, von denen, die nicht B sind, durch andere Merkmale zu un- terscheiden und kenntlich zu machen suchen will. Wenn man aber auch dieses unterlaͤßt, so sind solche Saͤtze nicht mehr bloß wahrscheinlich, weil man gewiß weiß, daß nicht bloß etwan etliche, sondern ¾ von allen In- diuiduis, die A sind, das Praͤdicat B haben, und ¼ es nicht haben. Beyde Saͤtze sind particular, aber der Grad der Particularitaͤt ist dabey bestimmt. §. 188. Jn so fern solche Saͤtze particular sind, las- sen sie sich wie jede andere Particularsaͤtze in Schlußre- den gebrauchen, und man reicht damit nicht weiter, wenn man nicht auf den Grad der Particularitaͤt oder andere naͤhere Bestimmungen sehen will, dergleichen wir in der Dianoiologie (§. 235. seqq. ) einige ange- fuͤhrt haben. So kann auch der Grad der Particula- Z 3 ritaͤt V. Hauptstuͤck. ritaͤt Schlußreden zulaͤßig machen, die ohne denselben nicht angehen wuͤrden. Z. E. ¾ A sind B ⅔ A sind C folglich etliche C sind B. Dieser Schluß folgt, weil ¾ + ⅔\> 1 ist, und demnach wenigstens \frac {5}{12} A seyn muͤssen, welche B und C zugleich sind. §. 189. Man habe nun zween Saͤtze ¾ A sind B C ist A. so ist die Frage, welch ein Schluß daraus koͤnne gezo- gen werden, weil sie das gemeinsame Mittelglied A haben? Wir setzen hiebey voraus, beyde Saͤtze seyen wahr und bestimmt; naͤmlich in Ansehung des Ober- satzes sey man versichert, daß weder mehr noch minder als ¾ von den saͤmtlichen A, das Praͤdicat B haben; und in Ansehung des Untersatzes sey C ein Indiuiduum, und man wisse, daß es A ist. Weiß man nun nicht mehr als dieses, so bleibt es absolute uneroͤrtert, ob C unter die ¾ A gehoͤre, die B sind, oder unter die ¼ A, die nicht B sind? Denn waͤre dieses entschieden, so wuͤr- de der Schluß bald gemacht seyn, ob B dem C zukom- me, oder nicht? und die voͤllige Gewißheit waͤre wie- derum da. So aber, da wir setzen, man wisse von C weiter nichts als daß es A sey, koͤnnen wir den Schluß nicht weiter bestimmen, als: es sey vermuthlicher, daß B dem C zukomme, als aber, daß es ihm nicht zukom- me. Denn da unter 4 A immer 3 sind, so das Praͤ- dicat B haben, und da in Ansehung des C alle Aus- wahl wegbleibt; so ist es auch zmal, vermuthlicher, daß C unter den A sey, die B sind, als aber unter denen, die es nicht sind. Wenn man demnach den Schluß zieht, daß C, B sey, so ist dieser Schluß nicht voͤllig ge- wiß, Von dem Wahrscheinlichen. wiß, sondern es geht ihm ¼ an der Gewißheit ab, das will sagen, seine Wahrscheinlichkeit ist ¾. Dieses druͤcken wir nun folgendermaßen aus: C ist ¾ B. Um aber bey dieser Art, wahrscheinliche Saͤtze vorzu- stellen, eine Zweydeutigkeit zu vermeiden, so merken wir an, daß der zwischen das Bindwoͤrtgen ist und das Praͤdicat B gesetzte Bruch, nicht das Praͤdicat, sandern das Bindwoͤrtgen angehe. Denn wuͤrde man densel- ben als dem Praͤdicat beygefuͤgt ansehen, so wuͤrde er einen Theil seiner Merkmale desselben anzeigen, so wie er in dem Oberfatze ¾ A sind B einen Theil von den Indiuiduis, die A sind, anzeigt. Soll aber ein solcher Bruch den Grad der Wahr- scheinlichkeit des Satzes ausdruͤcken, so muß er dem Bindwoͤrtgen beygefuͤgt werden, es sey, daß man ihn vorsetze oder anhaͤnge. Und auf diese Art stellte er nicht nur den Grad, sondern auch den Be- griff der Wahrscheinlichkeit vor, weil die Be- griffe seyn und nicht seyn, keine Gradus intensitatis haben. Naͤmlich, entweder C ist B, oder ist nicht B. Dabey giebt es kein Mittel. Wenn wir demnach sagen: C ¾ ist B C ¼ ist nicht B. So zeigen die Bruͤche ¾, ¼, im eigentlichsten Verstan- de die Wahrscheinlichkeit der Saͤtze an. Wir geben dadurch dem ist ¾, dem ist nicht aber ¼, wie wenn wir beydes gegen einander abzuwaͤgen haͤtten. §. 190. Der hier gemachte Schluß ¾ A sind B C ist A folglich C ¾ ist B. Z 4 giebt V. Hauptstuͤck. giebt uns nicht nur den Begriff, sondern auch wenig- stens eine Quelle wahrscheinlicher Saͤtze an. Denn hier entsteht die Wahrscheinlichkeit aus der Verbin- dung einer absoluten Ungewißheit mit zween wahren bestimmten und gewissen Saͤtzen. Die Ungewißheit liegt darinn, ob das Mittelglied in beyden Vordersaͤt- zen einerley sey, oder ob C, weil es doch A ist, unter die A gehoͤre, die B sind, oder unter die, so nicht B sind? Dieses haben wir als ganz dahingestellt angenommen, und so bliebe, um den Schluß zu ziehen, kein anderer Grund, als daß ¾, und folglich der groͤßere Theil von allen A, B sind, demnach C wahrscheinlicher darunter gehoͤre, als nicht darunter gehoͤre. Wir haben ferner hiebey C als ein Indiuiduum angesehen. Stellt es aber eine Art oder Gattung vor, so wird zwar der Untersatz und so auch der Schlußsatz allgemein; aber der Grad der Wahrscheinlichkeit bleibt ungeaͤndert, so lange man in Ansehung des Untersatzes weiter nichts weiß, als daß alle C, A sind. Denn so bleibt es fuͤr jedes C dahin- gestellt, ob es unter die A gehoͤre, die B sind, oder un- ter die, so nicht B sind. Demnach ist der Schluß: ¾ A sind B. Alle C sind A. Alle C ¾ sind B. Und auf gleiche Art ¾ A sind B. Etliche C sind A. Etliche C ¾ sind B. Oder noch bestimmter ¾ A sind B. ⅔ C sind A. ⅔ C ¾ sind B. §. 191. Jn allen diesen Faͤllen zieht sich der Grad, so die Wahrscheinlichkeit bestimmt, aus dem Obersatz in Von dem Wahrscheinlichen. in den Schlußsatz. Wir werden nun den Fall umkeh- ren, und zeigen, wie er auch aus dem Untersatze sich darein ziehe? Es seyen M N P Q die Merkmale des Be- griffes B, die seinen Umfang ausfuͤllen, aber es bleibe unbestimmt, ob darunter ein eigenes Merkmal von B sey? Man habe nun die zween Saͤtze M N P Q ist B. C ist M N P so laͤßt sich wiederum der Schlußsatz C ist B nur wahrscheinlich ziehen, weil wir setzen, daß es dahin gestellt bleibe, ob C auch noch das Praͤdicat Q habe. Hier proportionirt sich nun der Grad der Wahrschein- lichkeit nach der Groͤße und Anzahl der Praͤdicate M N P, die man in C schon gefunden, zu der Groͤße und Anzahl derer, die noch sollen gefunden werden. Man setze z. E. M N P Q = A M N P = ⅔ A. So ist der Schluß Alle A sind B C ist ⅔ A folglich C ⅔ ist B. Und dieser Schluß bleibt, C mag nun allgemein oder particular seyn, oder einen bestimmten Grad der Par- ticularitaͤt haben. §. 192. Aus diesen beyden einfachern Arten von wahrscheinlichen Schluͤssen laͤßt sich nun leicht die dritte zusammensetzen. Sie wird so ausfallen: ¾ A sind B. C ist ⅔ A. folglich C ½ ist B. Denn hier wird die Wahrscheinlichkeit des einen Vor- dersatzes in Verhaͤltniß der Wahrscheinlichkeit des an- Z 5 dern V. Hauptstuͤck. dern vermindert. Man kann demnach fuͤr den Schluß- satz nur ⅔ von den ¾, das ist, nur \frac {2}{4} oder ½ nehmen. §. 193. Macht man in diesem Schlusse den Ober- satz verneinend, so koͤmmt ¼ A sind nicht B C ist ⅔ A folglich C ⅙ ist nicht B. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Schluß- satz verneinend sey ⅙, hingegen, daß er bejahend sey ½. Beyde Wahrscheinlichkeiten zusammen geben ⅙ + ½ = ⅔, welches die Wahrscheinlichkeit des Untersatzes ist. Und mehr bringt man so wohl der Rechnung als der Natur der Schluͤsse nach nicht heraus. Denn man kann in der ersten Figur der Schlußreden den Untersatz nicht verneinend setzen, weil, wenn er verneinend ist, es unbe- stimmt bleibt, wie der Schlußsatz aussehen werde. Demnach finden wir in denen Faͤllen, wo der Untersatz in die Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes einen Ein- fluß hat, nur denjenigen Theil der Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes, der sich aus der Form der Schlußrede und ihren Regeln bestimmen laͤßt. Man setze naͤmlich eine Anzahl Faͤlle, wo Vordersaͤtze vorkommen, die den beyden hier vorgetragenen der Art und den Graden nach aͤhnlich sind, so wird der Schlußsatz bey der Haͤlfte die- ser Faͤlle bejahend, bey einem ⅙ derselben verneinend seyn, und bey dem ⅓, der uͤbrig bleibt, ist es vollends unbestimmt, ob er ganz oder zum Theil bejahe oder verneine. §. 194. Man nenne das bejahende a, das vernei- nende e, das unbestimmte u: so wird in Absicht auf das Mittelglied der zusammengesetzteste Fall dieser seyn: Um Von dem Wahrscheinlichen. Um diese Formel, welche in Absicht auf die Zahlen nur ein einzelnes Beyspiel ist, zu erklaͤren und zu beweisen, merken wir an: 1. Jn dem Obersatze bedeutet , daß von allen Jndividuis, die A sind, oder von al- len A, ⅔ seyn, denen B gewiß zukomme, ¼, denen es nicht zukomme, und \frac {1}{12} von denen es unbe- stimmt bleibt, ob sie B seyn oder nicht. Auf diese Art sind gleichsam 3 Obersaͤtze in einen zusam- mengezogen, und da ist, so sieht man, daß in diesem Schlusse aller A Rechnung getragen werde. 2. Jn dem Untersatze stellt die Summe der Merkmale des B vor. Von ⅗ derselben weiß man, daß sie dem C zukommen, von den uͤbrigen ⅖ bleibt es noch unbestimmt. Der Theil, der 0 waͤre, kann hier nicht statt finden. Denn wenn auch nur ein Merkmal in B waͤre, von dem man wuͤßte, daß es nicht in C ist, so waͤre der Untersatz gewiß verneinend, und folglich der Schlußsatz durchaus unbestimmt. 3. Nun wird mit multiplicirt, und das Product in 3 Classen getheilt. Naͤmlich, was mit u behaftet ist, gehoͤrt in eine Classe, oder zu dem unbestimmten Theil des Schlußsatzes, das ae in die zweyte oder zu dem verneinenden Theile, das aa in die dritte, oder zu dem bejahenden Theile. 4. Der V. Hauptstuͤck. 4. Der Schlußsatz will demnach sagen, daß unter 20 Faͤllen, wo Schluͤsse von dieser Art und Graden unausgesucht vorkommen, 8 bejahen, 3 verneinen, 9 unbestimmt bleiben: oder aber in einem einzel- nen Fall habe man 8 Gruͤnde den Schlußsatz zu bejahen, 3 Gruͤnde ihn zu verneinen, 9 Gruͤnde nichts zu schließen oder es dahin gestellt zu lassen. §. 195. Man sieht leicht, daß in erst vorgelegter For- mel die Begriffe C und B aͤhnliche Bestimmungen ha- ben koͤnnen, wie das Mittelglied A. Sie kommen aber zugleich mit diesen Bestimmungen in den Schlußsatz, jedoch mit einigem Unterschiede, den wir fuͤr einfachere Faͤlle anzeigen wollen. Man habe den Schluß: Hier wird das ⅙ e + \frac {1}{12} u zusammengezogen in ¼ u ver- wandelt. Denn ⅙ e in dem Untersatze zeigt an, man wisse daß ⅙ C nicht B sind. Da nun in der ersten Figur aus einem verneinenden Untersatze nichts bestimmtes folgt, so ist der Schlußsatz fuͤr die ⅙ e so gut unbestimmt, als fuͤr die \frac {1}{12} u. Demnach zieht man beyde zusammen. §. 196. Hat man hingegen so folgt hier der Schlußsatz richtig, und B behaͤlt darinn die Bestimmung die es im Obersatze hatte. Denn der Obersatz will sagen: A habe ⅔ der Merkmale des B, von dem uͤbrigen ⅓ wisse man es nicht. Da nun auch C unter A gehoͤrt, so gilt diese Aussage von C ebenfalls. §. 197. Setzt man nun beyde Faͤlle zusammen, so ist der Schluß: Alle Von dem Wahrscheinlichen. Alle A sind (⅔ a + ⅓ u ) B (¾ a + ⅙ e + \frac {1}{12} u ) C sind A folglich (¾ a + ¼ u ) C sind (⅔ a + ⅓ u ) B. Dieser Schlußsatz will nun sagen: man wisse von ¾ C gewiß, daß sie ⅔ der Merkmale des B haben, ob sie aber auch den uͤbrigen ⅓ haben, bleibe dahingestellt; und so bleibe auch von dem uͤbrigen ¼ der C vollends unbe- stimmt, ob ihnen etwas von B zukomme oder nicht. Wir haben in diesen drey letzten Formeln (§. 195. seqq. ) das Mittelglied freygelassen, weil auf diese Art deutlicher erhellet, daß die Wahrscheinlichkeit sich nur von demsel- ben, und nicht von den beyden andern Gliedern der Vordersaͤtze in das Bindwoͤrtgen des Schlußsatzes zieht. Denn in der letzten Formel, welche von dieser Art die zusammengesetzteste ist, bleibt das Bindwoͤrtgen im Schlußsatze noch frey, und es ist darinn nur vom Ge- wissen und vollends Unbestimmten, vom Wahr- scheinlichen aber gar nicht die Rede. Und wenn auch ein Theil von dem u etwan einen Grad der Wahrschein- lichkeit haͤtte, den man besonders vorstellen wollte, so wuͤrde das Bindwoͤrtgen des Schlußsatzes dennoch frey bleiben, daferne man denselben nicht in etliche besondere Saͤtze zerfaͤllen wollte. Um dieses durch ein einziges Beyspiel zu erlaͤutern; so setze man den Schluß A ist (⅔ a + ⅓ a ¼) B (¾ a + ¼ a ½) C ist A folglich (¾ a + ¼ a ½) C ist (⅔ a + ⅓ a ¼) B wo wir in dem Obersatze durch ⅓ a ¼ B verstehen, daß man ¼ gr. der Gewißheit habe, von A zu vermuthen, daß ihm ⅓ der Merkmale des B zukomme; in dem Un- tersatze aber durch ¼ a ½ C anzeigen, man habe ½ gr. der Gewißheit, daß einem ¼ Theil der C das Praͤdicat A zukomme, so wird sich der Schlußsatz in folgende 4 Saͤtze zerfaͤllen lassen: ¾ C ist V. Hauptstuͤck. ¾ C ist ⅔ B. ¾ C ¼ ist ⅓ B. ¼ C ½ ist ⅔ B. ¼ C ⅛ ist ⅓ B. Diese Saͤtze waͤren ebenfalls aus 4 besondern Schluß- reden gefolgt, in welche sich die vorgegebene zerfaͤllen laͤßt. Naͤmlich Bey solchen zerfaͤllten Slußsaͤtzen aber vergißt man leicht, daß von einerley ¾ C, ¼ C, ⅔ B, ⅓ B die Rede ist. §. 198. Wenn man einen Satz hat, wo sowohl das Bindwoͤrtgen als die beyden Glieder keine Einheit sind, Z. E. \frac {4}{3} A ⅓ ist ⅜ B. so ist hier eigentlich nur der dem Bindwoͤrtgen beyge- fuͤgte Bruch, der so die Wahrscheinlichkeit bestimmt, und wo dieser wegbleibt, so stellt der Satz, so weit er reicht, einen wahren und gewissen Satz vor. Man setze nun, daß man weder von den uͤbrigen A noch von den uͤbrigen Merkmalen des B nichts bestimmtes wisse, so ist es an sich moͤglich, die dem A und B zugesetzte Bruͤ- che in das Bindwoͤrtgen zu ziehen. Der Satz naͤmlich giebt an, man wisse mit ⅓ Gewißheit, daß ⅘ von den Indiuiduis A, ⅜ von den Merkmalen des B haben. Fragt man nun, wie wahrscheinlich es sey, daß der ganze Begriff B allen A zukomme? so wird man leicht antworten, die Wahrscheinlichkeit sey = ⅘ · ⅓ · ⅜ = \frac {1}{10} . Demnach A \frac {1}{10} ist B. Und in diesen Satz kann uͤberhaupt betrachtet, der vor- gelegte ⅘ A Von dem Wahrscheinlichen. ⅘ A ⅓ ist ⅜ B verwandelt werden, wenn man die Bestimmungen, die derselbe mehr hat, will fahren lassen. Denn der Satz A \frac {1}{10} ist B mengt nun ohne Unterschied alle Indiuidua A, und alle Merkmale des B so durch einander, daß die ⅘ A, von denen man mit ⅓ Gewißheit wußte, daß sie ⅜ der Merk- male des B hatten, nunmehr mit denen vermengt sind, von denen man vollends nichts weiß; und eben so sind auf diese Art auch die ⅜ Merkmale des B mit den uͤbri- gen ⅝, von welchen man nichts wußte, vermengt, weil das \frac {1}{10} , womit das Bindwoͤrtgen darinn behaftet ist, uͤber den ganzen Satz eine gleichfoͤrmige Wahr- scheinlichkeit ausbreitet, die aus dem Satze ⅘ A ⅓ ist ⅜ B gar nicht folgt, sondern nur willkuͤhrlich angenom- men wird. Wir merken dieses hier an, um den Unter- schied dieses Willkuͤhrlichen von dem Nothwendigen an- zuzeigen, welches bey den Schluͤssen statt findet, wo die Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes aus dem Mittel- gliede der Vordersaͤtze entspringt. Denn diese breitet sich nothwendig gleichfoͤrmig uͤber den ganzen Schluß- satz aus (§. 190. 191.), es sey denn, daß die Ungleichfoͤr- migkeit sich schon in den Vordersaͤtzen finde, welches aber, wenn das Bindwoͤrtchen in denselben frey ist, auf die (§. 194. seqq. ) beschriebene Art kann vermieden werden. §. 199. Sind die Vordersaͤtze selbst nur wahrschein- lich, so ist die Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes das Product ihrer Wahrscheinlichkeit. Z. E. A ⅔ ist B. C ¾ ist A. C ½ ist B. Jst V. Hauptstuͤck. Jst aber das Mittelglied ebenfalls mit Bruͤchen behaf- tet, so wird die Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes auch dadurch geringer. Z. E. ⅚ A ⅔ ist B. C ¾ ist ⅘ A. C ⅓ ist B. Denn §. 200. Auf gleiche Art laͤßt sich die Wahrschein- lichkeit ganzer Schlußketten bestimmen, wenn man die Bruͤche, womit nicht nur die Bindwoͤrt- chen sondern auch die Mittelglieder behafter sind, mit einander multiplicirt. Z. E. A ist ⅔ B B ½ ist ¾ C ⅘ C ⅓ ist ½ D D ⅚ ist E ¾ E ½ ist F folglich A \frac {1}{96} ist F Man loͤse, um dieses zu beweisen, die Kette nur in ein- zelne Schluͤsse auf, so hat man §. 201. Jn solchen Schlußketten kann nur der letzte Satz verneinend seyn, weil die uͤbrigen den Schlußsatz durchaus unbestimmt machen wuͤrden. Wenn wir dem- nach fuͤr den letzten Satz ¾ E ½ ist F den darinn unbestimmt gelassenen ¼ als gewiß vernei- nend ansehen, so wird er ¼ E ist nicht F seyn, Von dem Wahrscheinlichen. seyn, und dieses macht den Schlußsatz A \frac {1}{144} ist nicht F. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Schlußsatz bejahe = \frac {1}{96} , daß er verneine = \frac {1}{144} , daß er un- bestimmt bleibe §. 202. Wir werden die groͤßern Verwicklungen, die sich bey der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit in Ansehung der ersten Figur der Schlußreden und der daraus zusammengezogenen Schlußketten gedenken las- sen, hier nicht beruͤhren, sondern begnuͤgen uns, die er- sten Gruͤnde dieser Berechnung angezeigt zu haben, ver- mittelst deren die Theorie davon leicht weiter ausgefuͤhrt werden kann. Jn Ansehung der uͤbrigen drey Figuren werden wir noch kuͤrzer seyn, und nur in einigen einfa- chern Faͤllen zeigen, daß sie in Absicht auf die Wahr- scheinlichkeit von der ersten Figur merklich abgehen. Darinn kommen zwar die Schlußarten jeder Figuren uͤberein, daß wenn in den Vordersaͤtzen nur das Bind- woͤrtgen mit einem Bruche behaftet ist, die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes nach der Regel geschehe, die wir (§. 199.) fuͤr die erste Figur gegeben haben. Z. E. fuͤr die Schlußart Camestus alle A ½ sind B kein C ⅔ ist B kein C ⅓ ist A Darapti alle A ¾ sind B alle A ⅘ sind C etliche C ⅗ sind B. \&c. §. 203. Fragt man hingegen, ob oder wie sich die Wahrscheinlichkeit von dem Mittelgliede in das Bind- Lamb. Organon II B. A a woͤrt- V. Hauptstuͤck. woͤrtgen des Schlußsatzes ziehe; so hat hierinn jede der drey uͤbrigen Figuren der Schlußarten etwas besonders. Jn der zweyten Figur ist das Mittelglied in beyden Vordersaͤtzen das Praͤdicat, und der eine Vordersatz muß verneinend seyn. Diesem zufolge aber kann dessel- ben Praͤdicat keinen Bruch haben, welcher die Anzahl der dem Subject nicht zukommenden Merkmale anzeigte. Denn der Satz wird schlechthin verneinend, wenn auch nur ein einziges Merkmal des Praͤdicats dem Subject nicht zukoͤmmt. Hingegen kann das Praͤdicat des be- jahenden Vordersatzes mit einem Bruche behaftet seyn, und dieser Bruch zieht sich in das Bindwoͤrtgen des Schlußsatzes. Z. E. alle A sind ¾ B kein C ist B kein C ¾ ist A. Denn die Gewißheit, daß A dem C nicht zukomme, waͤre vollstaͤndig oder = 1, wenn man wuͤßte, daß A alle Merkmale des B habe. Nun aber weiß man es nur von ¾ dieser Merkmale, und von dem uͤbrigen ¼ bleibt es dahin gestellt. Demnach weiß man auch nur mit ¾ Gewißheit, daß kein C, A sey; und so auch hin- wiederum kein A, C sey. §. 204. Jn der dritten Figur ist das Mittelglied in beyden Vordersaͤtzen das Subject, und der Schlußsatz wird particular. Sind nun die Subjecte beyder Vor- dersaͤtze mit Bruͤchen behaftet, so sind beyde zwar parti- cular, und in so ferne wuͤrde der Schlußsatz unbestimmt bleiben. Weil aber der Grad der Particularitaͤt bey beyden bestimmt ist, so giebt es Faͤlle, wo sich der Schlußsatz nicht nur etwan wahrscheinlich, sondern ge- wiß ziehen laͤßt. Einen solchen Fall haben wir bereits oben (§. 188.) angefuͤhrt. Denn wenn beyde Vorder- saͤtze bejahend sind, und die Summe der Bruͤche, mit denen Von dem Wahrscheinlichen. denen die Subjecte behaftet sind, ist groͤßer denn 1, so laͤßt sich der Schluß ziehen. Auf diese Art folgert man mit Gewißheit ¾ A sind B ⅔ A sind C etliche C sind B. §. 205. Jst aber diese Summe beyder Bruͤche klei- ner denn 1, z. E. ¼ A sind B ⅓ A sind C so faͤllt auch die Gewißheit aus dem Schlußsatze weg, wenn derselbe bejahend seyn solle. Setzen wir aber die Vordersaͤtze so bestimmt, daß ¾ A nicht B ⅔ A nicht C sind, so laͤßt sich ein verneinender Schluß ziehen. Denn aus den Saͤtzen ¾ A sind nicht B ⅓ A sind C folgt, daß etliche C nicht B sind. Und zwar wiederum, weil die Summe beyder Bruͤche ¾ + ⅓ groͤßer als 1 ist. Unter gleicher Bedingung wird man einen verneinenden Schlußsatz herausbringen, so oft die den beyden Sub- jecten zugesetzten Bruͤche ungleich sind. Z. E. man habe (⅗ a + ⅖ e ) A ist B (⅘ a + ⅕ e ) A ist C so folgt, daß etliche C nicht B seyn, und hinwiederum auch, daß etliche C, B seyn. Denn wenn man die ⅗ A, die B sind, saͤmtlich unter die ⅘ A rechnet, die C sind, so bleiben von diesen dennoch ⅕ uͤbrig, denen folglich B nicht zukoͤmmt. Demnach sind wenigstens diese C nicht B. So auch hinwiederum, wenn man die ⅖ A, die nicht B sind, saͤmtlich wollte unter die ⅘ A rechnen die C A a 2 sind; V. Hauptstuͤck. sind; so blieben hier noch ⅖ A uͤbrig, denen folglich, so- wohl C als B zukoͤmmt. Demnach kann man wenig- stens von diesen C sagen, daß sie B seyn. Man sieht hieraus, daß man bey den Schluͤssen der dritten Figur, wo beyde Subjecte der Vordersaͤtze mit Bruͤchen behaf- tet sind, vermittelst dieser Bruͤche einen Schluß ziehen kann, und daß man vorerst das Gewisse absondern muͤsse, ehe man das bloß Wahrscheinliche aufsucht. So Z. E. bey den Vordersaͤtzen nur ¾ A sind B nur ⅔ A sind C faͤngt man an beyde Bruͤche ¾ + ⅔ zu addiren, und da die Summe 1 \frac {5}{12} A groͤßer als 1 ist, so fallen diese \frac {5}{12} A von beyden Vordersaͤtzen weg, weil man von denselben gewiß weiß, daß ihnen sowohl B als C zukomme. Auf diese Art bleiben nun ⅓ A sind B ¼ A sind C. Hier zieht man nun ¼ von ⅓ ab, der Ueberrest \frac {1}{12} A giebt diejenigen A an, von denen man gewiß weiß, daß sie nur B, aber nicht C sind. So aber bleiben nur ¼ A sind B ¼ A sind C und von der ganzen Summe aller A bleiben ebenfalls nur 1 — \frac {5}{12} — \frac {1}{12} oder die Haͤlfte. Und von dieser ist es nun unbestimmt, wie viele einzelne A darunter B und C zugleich oder keines von beyden, oder nur C, oder nur B sind. §. 206. Auf gleiche Art laͤßt sich aus den Vorder- saͤtzen nur ¼ A sind B nur ⅓ A sind C finden, daß \frac {5}{12} A sowohl B als C sind, und hingegen \frac {1}{12} A Von dem Wahrscheinlichen. \frac {1}{12} A nur C aber nicht B sind, und daß es von der Haͤlfte der saͤmtlichen unbestimmt bleibe, wiefern ihnen B und C zugleich, oder keines, oder nur B oder nur C zukomme. §. 207. Jn diesen beyden Beyspielen (§. 206. 207.) bleibt demnach noch die Haͤlfte der saͤmtlichen A so weit uneroͤrtert, daß man nur weiß, ein ¼ A oder die Haͤlfte dieser Haͤlfte sey B, und ein ander ¼ A oder eine andere Haͤlfte eben dieser Haͤlfte sey C. Wenn wir demnach die ganze Haͤlfte D nennen, so haben wir die zween Saͤtze ½ D ist B. ½ D ist C. Von diesen laͤßt sich nun jeder gleich umkehren, weil der Bruch, mit dem das Subject behaftet ist, und der bey der Umkehrung wegfaͤllt, bey beyden gleich ist. Auf diese Art erlangen wir zween Schluͤsse der ersten Figur wo nun beyde Schlußsaͤtze ½ Gewißheit haben. Der Grund, warum wir bey der Umkehrung der Saͤtze ½ D ist B ½ D ist C den dem Subject beygefuͤgten Bruch weggelassen und schlechthin etliche B sind D etliche C sind D gesetzt haben, ist, weil wir hier D, wenn es ein Subject ist, als die Summe von allen Indiuiduis, die D sind; hingegen wenn es ein Praͤdicat ist, als ein Praͤdicat, das ist, als ein Merkmal oder Eigenschaft des Subjects an- sehen, dessen Praͤdicat es ist. A a 3 §. 208. V. Hauptstuͤck. §. 208. Da wir in solchen Vordersaͤtzen den Grad der Particularitaͤt als bestimmt ansehen, so koͤnnen im- mer die bejahenden Theile genommen werden. Es seyn demnach m A sind B n A sind C wo m und n zween Bruͤche vorstellen, und n der groͤßere ist: so werden erstlich (n — m) A diejenigen A seyn, welchen nur eines der Praͤdicate, naͤmlich C, zukoͤmmt. Daher hat man mit Gewißheit, etliche C sind nicht B. Ferner wenn die Summe n + m groͤßer als 1 ist; so wird (1 — n — m ) A diejenigen A vorstellen, denen so- wohl B als C zukoͤmmt, und in diesem Fall hat man mit Gewißheit etliche C sind B etliche B sind C. Jst aber die Summe kleiner als 1, so wird ( m + n — 1) A diejenigen A angeben, die weder B noch C sind. Jn diesem Fall hat man nur die zween sehr unbestimmten Saͤtze etliche nicht B sind nicht C etliche nicht C sind nicht B welche hoͤchstens nur anzeigen, daß B und C keine solche Begriffe oder Praͤdicate sind, die nothwendig beyde al- len moͤglichen Subjecten zukommen muͤßten. Laͤßt man nun die gewiß bestimmten Faͤlle, sowohl von der ganzen Summe als von beyden Vordersaͤtzen weg, so bleiben die unbestimmten, woraus Von dem Wahrscheinlichen. woraus in beyden Faͤllen folgt etliche B ½ sind C. etliche C ½ sind B. Die dritte Figur beut demnach immer zugleich gewisse und ½ gewisse Schlußsaͤtze an, wenn beyde Mittelglieder mit einem Bruche behaftet sind, der den Grad ihrer Particularitaͤt bestimmt. §. 209. Jn Ansehung der vierten Figur sind die drey Schlußarten Baralip, Calentes, Dibatis nur umge- kehrte Schlußarten der ersten Figur, und die Wahr- scheinlichkeit zieht sich aus den Mittelgliedern eben so in das Bindwoͤrtgen des Schlußsatzes. Hingegen bey den uͤbrigen beyden Schlußarten Fesapo, Fresison, kann das Mittelglied in dem Obersatze keinen Bruch haben (§. 203.). Hat es aber in dem Untersatze einen Bruch, so wird Fesapo in Fresison verwandelt, und in beyden faͤllt die Wahrscheinlichkeit des Schlußsatzes ganz weg, weil er gewiß ist. §. 210. Was wir bisher in Absicht auf alle Schluß- figuren vorausgesetzt haben, ist, daß in jedem Satze das Subject entweder alle oder etliche Indiuidua zusammen- fasse, die unter dem Begriffe des Subjects enthalten sind; und daß hingegen das Praͤdicat nicht Indiuidua sondern den Begriff selbst vorstellen. Diesem nach soll- ten die Praͤdicate lauter Adiectiua, die Subjecte aber laͤuter Substantiua seyn. So einfoͤrmig aber sind die Sprachen nicht. Jndessen wenn solche Faͤlle in der dritten und vierten Figur vorkommen, wo naͤmlich das Praͤdicat des Untersatzes im Schlußsatze zum Subject wird, so faͤllt dieser Unterschied zwischen Praͤdicaten und Subjecten in die Sinnen. Denn im Praͤdicat laͤßt man die Adiectiua wie sie sind, hingegen im Subject fuͤgt man ihnen den Begriff Ding als eine metaphysi- sche Einheit bey, besonders wenn der Satz particular ist, A a 4 oder V. Hauptstuͤck. oder man tractirt das Adiectiuum in Form eines Sub- stantiui. Eben dieses findet sich auch bey der Umkeh- rung der Saͤtze. Die Folge, die wir hieraus ziehen, ist, daß in der dritten und vierten Figur das Praͤdicat des Untersatzes keinen Bruch haben koͤnnen, wenn der Schlußsatz solle koͤnnen gezogen werden. Denn dieser Bruch wuͤrde im Untersatze einen Theil von Merkma- len, im Schlußsatze aber einen Theil von Indiuiduis vorstellen, und so haͤtte die Schlußrede vier verschiede- ne Glieder, welches nicht angeht. Man setze z. E. in Darapti alle A sind B. alle A sind ¾ C. so wuͤrde folgen: Etliche ¾ C sind B. Das will sa- gen: Etliche Dinge, welche ¾ von den Merkmalen des C haben, sind B. Dieser Schluß ist aber von dem Schluß: Etliche C sind B, verschieden. Und der Schluß: ¾ C sind B, geht gar nicht an, weil sichs von ¾ der Merkmale des C auf ¾ von den darunter gehoͤ- renden Indiuiduis nicht schließen laͤßt. §. 211. Aus gleichem Grunde kann auch ein Satz, dessen Praͤdicat mit einem Bruche behaftet ist, nicht umgekehrt werden, und ohnehin auch nicht verneinend seyn (§. 203.). Jst aber das Subject mit einem Bru- che behaftet, so faͤllt bey der Umkehrung der Bruch weg. So wird z. E. aus dem Satze ⅔ A sind B der Satz etliche B sind A. Denn ⅔ A sind etliche A, und zum Umkehren ist es genug, daß B etlichen A zukomme. Haͤtte man aber setzen wollen etliche B sind ¾ A so waͤre der Verstand des Satzes geaͤndert worden, weil es auf diese Art schiene, als wuͤßte man nur noch von ¾ der Von dem Wahrscheinlichen. der Merkmale des A, daß sie einigen B zukommen, da man es doch von dem ganzen Begriffe A weiß. Wir machen hier diese Anmerkung von der Umkehrung der Saͤtze, weil man dieselbe gebraucht, wo Schluͤsse aus einer Figur in eine andere gebracht werden. Uebrigens wenn bey einem Satze das Bindwoͤrtgen einen Bruch hat, so bleibt derselbe auch bey dem Bindwoͤrtgen des umgekehrten Satzes, weil die Wahrscheinlichkeit, die sich auf den ganzen Satz ausbreitet, bey der Umkehrung nicht veraͤndert wird. §. 212. Die Grade der Wahrscheinlichkeit, die man fuͤr das Bejahen und fuͤr das Verneinen der Schluß- saͤtze herausbringt, machen zusammengenommen, nicht immer ein Ganzes, weil oͤfters noch ein betraͤchtlicher Theil unbestimmt bleibt, wie wir es in dem (§. 200. 201.) angebrachten Beyspiel der Schlußketten sehen. Man hat demnach allerdings dieses unbestimmten Theils Rechnung zu tragen, wenn man aus dem Grade der Wahrscheinlichkeit auf den Grad der Unwahrscheinlich- keit schließen will. Wir wollen die einfachern Faͤlle, wie sich eine Unbestimmtheit in das Bindwoͤrtgen zie- hen kann, noch kuͤrzlich anzeigen. §. 213. Man habe demnach ¼ A sind B. alle C sind A. Weiß man hier nur, daß ¾ A, B sind, ohne zu wissen, ob die uͤbrigen es sind oder nicht; so ist der Schlußsatz alle C ¼ sind B nur fuͤr die positive Wahrscheinlichkeit, und es folgt nicht daraus, daß kein C ¾ nicht B sey, sondern die Wahr- scheinlichkeit des Verneinens bleibt ganz unbestimmt. Daher zeigt die gefundene Wahrscheinlichkeit des Be- jahens auch nur den Theil an, den wir gewiß wissen. Demnach ist der Schlußsatz A a 5 §. 214. V. Hauptstuͤck. §. 214. Weiß man aber, daß die uͤbrigen ¾ A nicht B sind, so wird der Schluß so aussehen (§. 194.) (¼ a + ¾ e ) A sind B alle C sind A alle C (¼ a + ¾ e ) sind B. Hier ist nun nichts unbestimmtes mehr in dem Schluß- satze. Man bejaht ihn mit ¼ Gewißheit, und verneint ihn mit ¾ Gewißheit. §. 215. Man habe nun alle A sind B alle C sind ⅔ A so ist hier der uͤbrige ⅓ A nothwendig unbestimmt. Denn wuͤßte man, daß in diesem ⅓ A ein einzig Merk- mal dem C nicht zukaͤme, so wuͤrde der Untersatz vernei- nend, und folglich der Schlußsatz durchaus unbestimmt seyn. Demnach ist der Schlußsatz §. 216. Diese drey einfacheren Faͤlle sind in der all- gemeinern Formel des §. 194. bereits enthalten. Wir haben sie hier besonders angefuͤhrt, um anzuzeigen, wie sich aus dem Mittelgliede eines jeden Satzes Wahr- scheinlichkeit, Unwahrscheinlichkeit und Unbestimmtheit in das Bindwoͤrtgen des Schlußsatzes ziehe. Der zu- sammengesetzteste Fall ist nun fuͤr die erste Figur fol- gender: (⅔ a + ¼ e + \frac {1}{12} u ) A (⅖ a + ⅓ e + \frac {4}{15} u ) sind (¼ a + ¾ u ) B. (¾ a + ¼ u ) C (⅔ a + ⅓ u ) sind (⅚ a + ⅙ u ) A. folglich (¾ a + ¼ u ) C ( \frac {7}{36} a + \frac {29}{162} e + \frac {203}{324} u ) sind (¼ a + ¾ u ) B. Wobey wir anmerken 1. Jn den Praͤdicaten koͤmmt kein e vor, und zwar im Praͤdicate des Untersatzes nicht, weil es den- selben Von dem Wahrscheinlichen. selben verneinend, und folglich den Schlußsatz durchaus unbestimmt machen wuͤrde. Jm Praͤ- dicate des Obersatzes nicht, weil es die Bruͤche, womit dieses Praͤdicat behaftet ist, wuͤrde weg- fallen machen, und B in nicht B verwandelt wuͤrde. 2. Aus gleichem Grunde bleiben die e bey dem Sub- jecte und dem Bindwoͤrtgen des Untersatzes weg. Denn kaͤme es darinn vor, so wuͤrde der davon abhaͤngende Theil des Schlußsatzes unbestimmt. Demnach kann es sogleich im Untersatze zu den u gerechnet werden. Doch kann es Faͤlle geben, wo man aus andern Gruͤnden das e bey dem Sub- jecte des Untersatzes nicht zu u rechnet. 3. Die den beyden aͤußersten Gliedern C, B beyge- setzten Bruͤche bleiben ihnen auch in dem Schluß- satze (§. 195. 196.). 4. Die Bruͤche des Bindwoͤrtgens im Schlußsatze aber, werden durch die Multiplication der Bruͤ- che beyder Mittelglieder und beyder Bindwoͤrtgen der Vordersaͤtze folgendermaßen gefunden. Um die Rechnung abzukuͤrzen, lasse man alle u weg, so hat man noch die Factores Hiebey ist nun zu merken, daß a mit a multipli- cirt, eben so wie e mit e multiplicirt bejahe, hingegen a mit e oder e mit a multiplicirt vernei- ne. Auf diese Art wird das Product Endlich ziehe man die Summe dieser beyden Bruͤche \frac {7}{36} + \frac {29}{162} = \frac {121}{324} von 1 ab, so bleibt \frac {203}{324} fuͤr die u. Demnach ist der dem Bindwoͤrt- gen des Schlußsatzes beygefuͤgte Bruch 5. Der V. Hauptstuͤck. 5. Der Schlußsatz geht nun schlechthin auf die Fra- ge, ob man von ¾ C sagen koͤnne, daß sie ¼ der Merkmale des B haben? Die Antwort, so der Schlußsatz angiebt, ist; die Wahrscheinlichkeit, diese Frage zu bejahen, sey \frac {7}{36} , sie zu verneinen \frac {29}{162} , sie dahingestellt seyn zu lassen \frac {203}{324} . §. 217. Wir werden nun noch einige Betrachtun- gen beyfuͤgen, wie man in besondern Faͤllen die Luͤcken, so wahrscheinliche Schluͤsse lassen, ausfuͤllen, und daher den Schlußsatz zur Gewißheit bringen koͤnne, und wie es zugehe, daß man statt dessen sehr leicht bestimmtere Saͤtze in bloß wahrscheinliche verwandle, und sich da- durch den Weg zur Gewißheit schwerer mache. Ein- mal wird aus Saͤtzen von der Art, alle A sind ¾ B sehr leicht und gleichsam unvermerkt, alle A ¾ sind B gemacht, und dadurch die Merkmale des B, von denen man gewiß wußte, daß sie auch in A sind, mit denen vermengt, von welchen es unbestimmt ist, ob sie in A sind oder nicht. Man schließt, z. E. A hat die mei- sten Merkmale des B, demnach ist es wahrscheinlich B. Behaͤlt man nun hier den ersten Satz; so koͤnnen Schluͤsse von dieser Art vorkommen alle A sind ¾ B alle C sind A alle C sind ¾ B. Hier ist nun klar, daß, um den Schlußsatz, alle C sind B oder kein C ist B bestimmt zu machen, es darum zu thun sey, daß man sehe, ob die Merkmale des B, die man in A noch nicht gefunden, sich in C finden lassen, weil dieses oͤfters leich- ter ist. Findet man dieselben, so ist der Schlußsatz alle Von dem Wahrscheinlichen. alle C sind B durchaus bestimmt und gewiß. Findet man aber, daß auch nur eines dieser Merkmale in C nicht ist; so ist der Schlußsatz kein C ist B wiederum bestimmt und gewiß. Da gewoͤhnlich C mehr Merkmale als A hat, so ist es im letzten Fall auch leichter und moͤglicher, von C als von A zu bewei- sen, daß ein Merkmal des B ihm nicht zukomme. §. 218. Noch leichter und haͤufiger aber werden Saͤtze von der Art (¾ a + ¼ e ) A sind B (¾ a + ¼ u ) A sind B ¾ A sind B in wahrscheinliche von der Art alle A (¾ a + ¼ e ) sind B alle A (¾ a + ¼ u ) sind B alle A ¾ sind B verwandelt. Man schließt z. E. 1. Die meisten A sind B, demnach ist A wahrschein- lich B. 2. Einige A sind nicht B, demnach kann man von diesem oder jenem A nur wahrscheinlich sagen, daß es B sey. Aber auf beyde Arten entfernt man sich von der Ge- wißheit und von den Mitteln, sie ganz zu erhalten. Denn bleibt man bey den ersten Saͤtzen, so kommen oͤfters Schluͤsse von der Art vor alle B sind C (¾ a + ¼ u ) A sind B folglich (¾ a + ¼ u ) A sind C. Nun kann es oͤfters leichter seyn, daß man in den uͤbri- gen ¼ A, das Praͤdicat C, als aber das Praͤdicat B finde. Und ist dieses, so ist der Schluß: alle A sind C, richtig. §. 219. V. Hauptstuͤck. §. 219. Vornehmlich aber wird bey den Saͤtzen (¾ a + ¼ e ) A sind B. versaͤumt, die Kennzeichen aufzusuchen, woran sich diejenigen A, die B sind, von denen, die es nicht sind, unterscheiden lassen. Bey dieser Ver- saͤumniß aber kann man sodann nicht anders, als nach folgender Art Schluͤsse machen, dergleichen sich leicht anbieten: (¾ a + ¼ e ) A sind B alle C sind A alle C (¾ a + ¼ e ) sind B. Wobey der Schlußsatz schlechthin wahrscheinlich bleibt. Die Lehre von der Gewißheit uͤberhaupt, und beson- ders von der Gewißheit der Sinnen, giebt uns hie- von ein sehr allgemeines und wichtiges Beyspiel, weil man aus dem, daß uns die Sinnen zuweilen zum Jr- ren verleiten, den Schluß macht, daß die durch die Sin- nen erlangte und uͤberhaupt die ganze historische Er- kenntniß nur wahrscheinlich sey. Die Zweifler gien- gen noch weiter, und verwandelten das Wahrschein- liche vollends ins Ungewisse. Cartesius scheint die- ses Versehen eingesehen zu haben, weil es ihn veran- laßte, ein Criterium veritatis zu suchen. §. 220. Wenn die Wahrscheinlichkeit und Unbe- stimmtheit eines Satzes aus den Mittelgliedern der Vordersaͤtze herruͤhrt, aus welchen man denselben gefol- gert (§. 213. seqq. ), so ist es wiederum besser, die Vor- dersaͤtze beyzubehalten. Man habe z. E. ¾ A sind B. alle C sind ⅔ A. alle C ½ sind B. So bieten sich, um den Schlußsatz vollends gewiß zu machen, verschiedene Wege an. Einmal kann man se- hen, ob die uͤbrigen ¼ A auch B sind, und ob C die uͤbri- gen Von dem Wahrscheinlichen. gen ⅓ der Merkmale des A habe? Wird beydes be- jaht, so laͤßt sich der Schluß ziehen. Findet man un- ter den ⅔ A, von welchen man weiß, daß sie Praͤdicate von C sind, eigene Merkmale des A, so ist die Jndu- ction fuͤr den Untersatz uͤberfluͤßig, und sie wird es auch in Ansehung des Obersatzes, wenn man in A eigene Merkmale des B findet. Letzteres geht nun nicht an, wenn nur ¾ A das Praͤdicat B haben, die uͤbrigen ¼ A es nicht haben. Jn diesem Fall theilt sich der Begriff A in Arten, deren jede ihre eigene Merkmale hat, die man aufsuchen, und mit dem Begriffe C vergleichen kann. Endlich, da solche Schluͤsse als Veranlassungen angesehen werden koͤnnen, die Begriffe C, B unmittel- bar mit einander zu vergleichen, so kann man auch die eigenen Merkmale des B aufsuchen, und sodann sehen, ob sie dem C zukommen oder nicht? §. 221. Da wir in der Dianoiologie (§. 229. seqq. ) den Unterschied der vier Schlußsiguren in Absicht auf ihren Gebrauch umstaͤndlich angegeben und erwiesen haben, so ist nicht zu zweifeln, daß dieser Unterschied sich nicht auch auf wahrscheinliche Schluͤsse erstrecke, und die Vergleichung desselben mit dem vorhin (§. 203. seqq. ) in Absicht auf das Mittelglied angemerkten Un- terschiede, zu mehreren specialern und brauchbaren Be- griffen und Saͤtzen Anlaß gebe, die uns die Arten, wie wir in besondern Faͤllen zu wahrscheinlichen Saͤtzen ge- langen, kenntlicher machen, und eben so auch naͤher be- stimmen, wie sich die Gruͤnde zum Bejahen von den Gruͤnden zum Verneinen unterscheiden, und aus wel- chen Quellen beyde herfließen. Wir halten uns aber hier bey dieser an sich sehr weitlaͤuftigen Untersuchung nicht auf, sondern werden nur einige dahin dienende all- gemeinere Betrachtungen anfuͤhren. §. 222. Die erste ist diese: Daß ein bloß wahr- scheinlicher Satz weder ein Grundsatz, noch ein aus Gruͤn- V. Hauptstuͤck. Gruͤnden oder Erfahrung bereits erwiesener Satz sey, obwohl er, wenn er an sich wahr ist, in die eine oder andere dieser Classen kann gebracht werden. Der Un- terschied, der sich hiebey findet, ist wohl zu bemerken. Denn scheint uns ein Satz nur wahrscheinlich, der doch an sich oder im Reiche der Wahrheiten ein Grund- satz ist, so liegt der Fehler nur darinn, daß wir von den Worten nicht deutliche Begriffe haben, oder nicht ge- nug verstehen, was die Worte sagen wollen. Denn eben das macht ihn zum Grundsatze, daß man ihn nur verstehen darf, um ihn ohne fernern Beweis zuzugeben. Scheint uns hingegen ein Lehrsatz nur wahrscheinlich, so ist es, weil wir dessen Beweis nicht vollstaͤndig einse- hen, oder nicht wissen, daß er vollstaͤndig ist. Wir moͤ- gen uns aber einen Satz als wahrscheinlich oder als unwahrscheinlich vorstellen, so ist diese Vorstel- lung immer mit einem deutlichen oder confusen Be- wußtseyn eines noch unzureichenden Beweises verbun- den, es mag nun dieser aus einer Schlußkette, oder in Aufhaͤufung einzelner Schluͤsse, oder aus Jnductio- nen, copulativen oder disjunctiven Schlußreden ꝛc. be- stehen. §. 223. Da wir die eigentlich so genannten Gruͤn- de in der ersten Figur der Schlußreden vortragen, so besteht bey einem nur wahrscheinlichen Schlußsatze das Unzureichende des Grundes in einem oder mehrern von folgenden Stuͤcken: 1. Wenn wir von der Aklge- meinheit des Obersatzes nicht versichert sind, oder ver- mittelst der 3ten Figur Exempla in contrarium finden. Ersteres macht den Schlußsatz unzuverlaͤßig, letzteres giebt Gruͤnde oder Vermuthungen fuͤr das Gegentheil. 2. Wenn wir von der Allgemeinheit des Untersatzes nicht versichert sind. Dieses macht auch die Allgemein- heit des Schlußsatzes ungewiß. 3. Wenn wir nicht versichert sind, ob das Praͤdicat dem Subject des Unter- satzes Von dem Wahrscheinlichen. satzes ganz zukomme, oder ob das Subject alle Merk- male des Praͤdicats habe. Dieses macht den Schluß- satz, so weit wir es wissen, wahrscheinlich, so weit wir es nicht wissen, oder das Gegentheil finden, unbestimmt. 4. Haben wir eben diesen Anstand in Ansehung des Obersatzes; wenn wir denselben bejahend nehmen, so faͤllt der Zweifel auch ganz auf den Schlußsatz, weil, wenn das Subject auch nur ein Merkmal des Praͤdi- cats nicht hat, dadurch der Obersatz, und mit demselben der Schlußsatz, verneinend wird. §. 224. Dieses sind nun die vier unmittelbaren Quellen, aus welchen das Unzureichende der Gruͤnde fließt, wenn wir sie in der ersten Figur vortragen. Je- de hat auf den Schlußsatz einen besondern Einfluß. Es geschieht aber oͤfters, daß wir die Vordersaͤtze als noch eines Beweises beduͤrftig ansehen, ohne so gleich zu wissen, an welchem von den ersterwaͤhnten 4 Stuͤcken es ihnen fehle (§. 217. seqq. ). Werden sie ebenfalls durch Schluͤsse der ersten Figur erwiesen, so sieht man leicht, daß diese 4 Quellen wiederum vorkommen, und einen entferntern Einfluß in den Schlußsatz haben koͤnnen. §. 224 a. Wir gebrauchen die zweyte Figur, um die Verschiedenheit der Begriffe und Dinge zu bewei- sen. Der Zweifel an der Allgemeinheit des Obersatzes geht auf die Guͤltigkeit des Schlußsatzes, so wie hin- gegen der Anstand uͤber die Allgemeinheit des Untersat- zes sich auf die Allgemeinheit des Schlußsatzes er- streckt. Steht man an, ob das Subject des bejahen- den Vordersatzes alle Merkmale des Praͤdicats habe, so wird der Schlußsatz, so weit man es gewiß weiß, wahrscheinlich, so weit man es nicht weiß, unbestimmt. Steht man hingegen an, ob der verneinende Vordersatz wirklich verneine, so wird auch die Guͤltigkeit des Ver- neinens im Schlußsatze zweifelhaft, und oͤfters koͤmmt hiebey der oben (§. 168.) betrachtete Fall vor. Lamb. Organon II B. B b §. 225. V. Hauptstuͤck. §. 225. Die dritte Figur giebt Beyspiele zu beson- dern Arten und Ausnahmen. Dabey hat nun die Par- ticularitaͤt der Vordersaͤtze nichts zu sagen. Sie koͤn- nen, ohne der Gewißheit des Schlußsatzes Abbruch zu thun, unter einer von folgenden Bedingungen beyde zu- gleich particular seyn. 1. Wenn man weiß, daß in den Subjecten beyder Vordersaͤtze von einerley Indiuiduis die Rede ist. 2. Wenn man weiß, daß jeder Vorder- satz von den meisten Indiuiduis des Subjects wahr ist. 3. Wenn man weiß, daß der Grad der Particularitaͤt beyder Vordersaͤtze verschieden ist (§. 204. seqq. ) und (Dianoiol. §. 236.). Der Zweifel, ob der Untersatz bejahe, geht auf die Guͤltigkeit des Schlußsatzes, so wie hingegen der Zweifel uͤber das Bejahen oder Ver- neinen des Obersatzes sich auf das Bejahen oder Ver- neinen des Schlußsatzes erstreckt. §. 226. Jn Ansehung der vierten Figur, welche zum Reciprociren gebraucht wird, kann der Anstand uͤber die Allgemeinheit des Obersatzes die Schlußarten Baralip und Fesapo in Dibatis verwandeln; bey den uͤbrigen Schlußarten Calentes und Fresison aber, wird dadurch die Guͤltigkeit des Schlußsatzes zweifelhaft. Steht man |hingegen an, ob der Untersatz allgemein sey, so verwandelt sich Fesapo in Fresison, hingegen wird in den Schlußarten Baralip, Calentes, Dibatis die Guͤltigkeit des Schlußsatzes wankend. Der Anstand uͤber das Bejahen des Obersatzes kann Baralip und Di- batis in Fesapo verwandeln, bey Calentes aber die Guͤl- tigkeit des Schlußsatzes zweifelhaft machen; so wie hingegen der Anstand uͤber das Verneinen des Ober- satzes Fesapo in Baralip umkehren, und Fresison zwei- felhaft machen kann. Steht man an, ob der Untersatz bejahe, so kann aus Baralip Calentes werden, in Diba- tis, Fesapo und Fresison wird der Schlußsatz wankend. Hinwiederum kann Calentes sich in Baralip verwan- deln, Von dem Wahrscheinlichen. deln, wenn das Verneinen des Untersatzes zweifelhaft wird. §. 227. Der Unterschied, den wir (§. 223. seqq. ) zwischen den Graden der Allgemeinheit und dem An- stand uͤber das Bejahen oder Verneinen gemacht ha- ben, besteht darinn, daß wir die Frage von der Allge- meinheit eines Satzes aus dem Subjecte, hingegen die Frage von dem Bejahen oder Verneinen aus dem Praͤ- dicate entscheiden. Man habe z. E. ¾ A sind ⅔ B. so zeigt ¾ A nicht nur die Particularitaͤt, sondern auch dessen Grad an. Hingegen will ⅔ B sagen, daß man nur noch von ⅔ der Merkmale des B wisse, ob sie den ¾ A zukomme, von den uͤbrigen ⅓ B bleibe es dahinge- stellt. Fehlte es aber an einem einzigen, so wuͤrde der Satz verneinend. Demnach wird die Frage von dem Bejahen oder Verneinen des Satzes aus dem Praͤdi- cat eroͤrtert. Es muß dem Subject ganz zukommen. Dieses macht, daß bey verneinenden Saͤtzen der Bruch von dem Praͤdicat wegbleibt. Denn A ist nicht ¼ B will sagen A ist nicht B. Steht man aber an, ob ein Satz verneine, so wird der Grad des Anstandes dem Bindwoͤrtgen beyge- fuͤgt. Z. E. A ¼ ist nicht B. oder man zieht den Bruch von 1 ab, und fuͤgt den Ue- berrest dem Praͤdicat in Form eines bejahenden Satzes bey. Z. E. A ist ¾ B. Denn der Grund des Zweifels ruͤhrt immer daher, daß A Merkmale von B habe, und daß man vermuthen koͤnne, es habe sie alle. Was aber noch an der Gewiß- B b 2 heit V. Hauptstuͤck. heit dieses Vermuthens abgeht, wird zu dem Unbe- stimmten gerechnet. §. 228. Will man Saͤtze von der Art ¾ A ½ ist ⅘ B durch Multiplicirung der Bruͤche in alle A \frac {3}{10} sind B verwandeln, und dadurch das Gewisse mit dem Unbe- stimmten vermengen, so breitet sich die Wahrscheinlich- keit dieses letzten Satzes nicht gleichfoͤrmig uͤber den ganzen Satz aus (§. 198.). Und man sieht leicht, daß Vordersaͤtze von dieser Art ebenfalls eine vermischte Wahrscheinlichkeit in den Schlußsatz bringen, und die einzeln Quellen, woraus diese Wahrscheinlichkeit fließt, daruͤber verlohren gehen. Man wird ebenfalls leicht finden, daß die meisten Saͤtze, die uns ohne deutliches Bewußtseyn der Gruͤnde, wahrscheinlich vorkommen, eine solche vermischte oder verwirrte Wahrscheinlichkeit haben, und daß man die einzeln Quellen, daraus sie zu- sammenfleußt, hervorsuchen muͤsse, wenn man die Luͤk- ken und das Unvollstaͤndige in den Gruͤnden deutlich einsehen und sie vollstaͤndig machen will. §. 229. Was wir bisher uͤber die Argumente und ihre Wahrscheinlichkeit gesagt haben, geht noch immer auf den Verstand. Die Argumente fuͤr den Wil- len haben damit, in so fern ihre Wahrheit und Wahr- scheinlichkeit beurtheilt werden muß, sehr vieles gemein. Hingegen machen sie, so fern sie auf den Willen gehen, eine besondere Classe aus. Der Wille geht auf das wahre oder scheinbare Gute, oder da das Gute keine bestimmte Einheit hat, wie das Wahre, so kann man richtiger und genauer sagen, daß der Wille auf das Wahre oder scheinbare Bessere gehe. Hiebey haben wir nun den Unterschied zwischen dem Wahren und Scheinbaren bereits in vorhergehendem Hauptstuͤcke be- trachtet. Von dem Wahrscheinlichen. trachtet. Wir halten uns demnach hier dabey nicht auf: sondern merken nur an, daß, da man fuͤr und wi- der einen Satz nicht zugleich wahre Gruͤnde haben kann, so fern er ein Object des Verstan- des ist, es hingegen fuͤr und wider denselben wahre Gruͤnde geben koͤnne, so fern man ihn als ein Object des Willens betrachtet. Naͤm- lich, so fern man fuͤr und wider die Wahrheit eines Satzes Gruͤnde hat, so ist derselbe nur noch wahrschein- lich, an sich aber nothwendig entweder wahr oder falsch. Beyde Arten von Gruͤnden sind oder scheinen wenig- stens noch unvollstaͤndig, und welche von beyden einer Vollstaͤndigkeit faͤhig sind, so bleibt in den andern noth- wendig Unvollstaͤndigkeit zuruͤcke. Jst aber der Satz ein Object des Willens, so kann es wahre Gruͤnde fuͤr und wider denselben geben. Denn so fern darinn dem Willen etwas als gut vorgestellt wird, so bleibt beson- ders in einzeln Faͤllen die Frage: ob es das Bessere oder das Beste sey? Dieses zieht nun eine Betrach- tung der Folgen, und die Vergleichung des Gewaͤhlten oder Vorgeschlagenen mit dem, was man statt dessen waͤhlen oder vorschlagen koͤnnte, nach sich. Bey allem diesem aber kann in Absicht auf den Verstand Schein, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Jrrthum, Ungewißheit und Unbestimmtheit vorkommen. Daher sind die Ar- gumente fuͤr den Willen auch allerdings Argumente fuͤr den Verstand. Und die Beweise, so man daruͤber fuͤhrt oder daraus zusammensetzt, sind die eigentlich oder dem Buchstaben nach so genannten moralischen Bewei- se, deren Begriff aber, wenn man das Wort metapho- risch macht, ungleich ausgedehnter wird (§. 174.). §. 230. Die Argumente fuͤr den Willen werden eigentlich da gebraucht, wo man untersucht, ob man sich zu etwas entschließen solle, oder auch, wo man andere dazu bereden will. Sie muͤssen demnach gewiß oder B b 3 wahr- V. Hauptstuͤck. wahrscheinlich zeigen, daß der Entschluß besser als jeder andere sey, den man statt dessen in vorgegebenen Um- staͤnden nehmen koͤnnte. Da das Allgemeine hievon in die Agathologie gehoͤrt, das Besondere aber aus den jedesmal vorkommenden Umstaͤnden hergenommen wer- den muß; so halten wir uns dabey nicht auf, weil wir hier nicht das Gute, sondern das Wahre, zum Ge- genstand haben. Jndessen mußten wir den Begriff der Argumente fuͤr den Willen hier uͤberhaupt anzei- gen, weil er uns zu der Betrachtung der Argumente von dem Willen, oder der von dem Willen her- genommenen Argumente dient. Diese kommen nun bey Beurtheilung geschehener oder kuͤnftiger Din- ge, welche von menschlichen Entschließungen abhaͤngen, imgleichen auch bey der Beurtheilung der Aufrichtig- keit und Glaubwuͤrdigkeit der Zeugen haͤufig vor, und beruhen auf der Kenntniß der Gedenkensart, Kraͤfte, des Verstandes und Willens, Gemuͤths- beschaffenheit, Umstaͤnde und Verhaͤltnisse der- jenigen Personen, von welchen gefragt wird, ob sie eine vorgegebene Sache gethan haben, oder thun werden, oder die Wahrheit sagen, oder aufrichtig handeln ꝛc. Hiebey werden nun die Begriffe der Nothwendig- keit, Moͤglichkeit, Unmoͤglichkeit ꝛc. auf eine drey- fache Art genommen. 1. Metaphysisch, was naͤmlich an sich nothwendig, moͤglich, unmoͤglich ist. 2. Phy- sisch, was es in der gegenwaͤrtigen Welt nach den Ge- setzen ihrer Einrichtung und Veraͤnderungen ist. 3. Mo- ralisch, was es nach den Gesetzen und Kraͤften des Wil- lens, und bey bestimmten Graden und Vollkommenhei- ten oder Unvollkommenheiten desselben ist. Man sieht leicht, daß die von dem Willen hergenommene Argu- mente vornehmlich auf das gehen, was man mora- lisch moͤglich, unmoͤglich, nothwendig nennt, und daß man dabey den Vorsatz von dem Versehen, Un- Von dem Wahrscheinlichen. Unachtsamkeit und Nachlaͤßigkeit zu unterschei- den habe. Das moralisch Unmoͤgliche ist der Geden- kensart und Gemuͤthsverfassung eines Menschen zuwi- der, und so fern ein Mensch sich Regeln vorschreibt, oder auch sich daran gewoͤhnt, die er mit Wissen nicht uͤbertritt, so fern wird das vorsetzliche Uebertreten dersel- ben fuͤr moralisch unmoͤglich angesehen, weil er sich eine Art von Nothwendigkeit auferlegt, nach densel- ben zu handeln, auch wo das Gegentheil moͤglich bleibt. Was nun solche Regeln unbestimmt lassen, wird zu dem moralisch Moͤglichen gerechnet. Uebrigens werden die Woͤrter, moralisch moͤglich, unmoͤg- lich, nothwendig, metaphorisch genommen, und da- her der Begriff derselben, so wie der Begriff der mo- ralischen Beweise, viel weiter ausgedehnt. Auf die- se Art wird sogar in Gluͤcksspielen ein Fall, der kaum \frac {1}{1000} oder \frac {1}{10000} Wahrscheinlichkeit hat, moralisch unmoͤglich genennt. §. 231. Die von dem goͤttlichen Willen, und uͤberhaupt von den goͤttlichen Vollkommenheiten hergenommene Argumente, machen hiebey eine beson- dere Classe aus, und verdienen in vielen Absichten eine genauere Untersuchung. Man macht dabey, was wirk- lich geschieht, zu goͤttlichen Absichten, und die Ursachen, so die Veraͤnderungen hervorbringen, zu Mitteln. Jn Ansehung ersterer wird zwischen dem positiven Wol- len und dem bloßen Zulassen ein Unterschied ge- macht. Gott will, was wirklich und gut ist, er laͤßt die Schranken des Wirklichen und die daherruͤhrenden Maͤngel, wegen des Wirklichen und Guten zu. So lange man hiebey a posteriori geht, und folglich die all- gemeinern Gesetze der Dinge und Veraͤnderungen in der Welt aus der Erfahrung kennen lernt, so lange hat die Vergleichung derselben keine Schwierigkeiten. Wir koͤnnen noch beyfuͤgen, daß, wenn wir die goͤttlichen B b 4 Voll- V. Hauptstuͤck. Vollkommenheiten aus der Welt, und folglich den Schoͤ- pfer aus seinem Werke wollen kennen lernen, es auf diese Art geschehen muͤsse. So gewoͤhnen wir uns an eine gedoppelte Sprache. Die erste stellt uns die Din- ge der Welt, ihre Veraͤnderungen, Verbindungen und Verhaͤltnisse nebst den Gesetzen, so, wie sie die Erfah- rung angiebt, mit eigenen Worten vor. Wir reden darinn von Ursachen, Kraͤften und Wirkungen. Die andere Sprache macht aus den Wirkungen Absichten, aus den Ursachen Mittel, aus den Gesetzen Vorschrif- ten des goͤttlichen Willens, die den goͤttlichen Vollkom- menheiten gemaͤß sind, und die ganze Schoͤpfung vom Anfange an durch alle Zeiten durch, wird darinn ein Abdruck und fortdauernde Wirkung aller goͤttlichen Vollkommenheiten zusammengenommen, genennt. Die Uebersetzung aus der ersten dieser Sprachen in die letz- tere, ist immer moͤglich und leicht, so weit erstere reicht und richtig ist. Jn so ferne aber dient diese Ueberset- zung eigentlich nur zur Erbauung. Es koͤnnte aber diese Erbauung noch ungleich groͤßer und ausgedehnter und zugleich noch mit wichtigen Vortheilen begleitet werden, wenn wir die zweyte dieser Sprachen zum Grunde legen, sie in ein richtiges System bringen, und was wir daraus finden, in die erstere uͤbersetzen koͤnn- ten. Das will sagen: Die Theologie oder die Lehre von den Absichten der Dinge in der Welt, sollte ihre allgemeinen Gruͤnde aus der Theo- rie der goͤttlichen Vollkommenheiten herneh- men, und uns nicht nur die Allgemeinheit der Gesetze der Natur beweisen, sondern auch zur Erfindung derselben dienen. So weit ist aber diese Wissenschaft noch nicht gebracht, und in dem, was wir davon haben, auch so strenge nicht a priori erwie- sen, daß die daraus entliehene Gruͤnde nicht immer noch der Erfahrung, als einer Probe beduͤrften, wodurch die Von dem Wahrscheinlichen. die Besorgniß, es moͤchten andere Gruͤnde Ausnahmen und Aenderungen an unseren teleologischen Schluͤssen machen, gehoben wird. §. 232. Der allgemeinste Anstand, der in Ansehung der teleologischen Gruͤnde vorkoͤmmt, und als ein Zwei- fel wider dieselben gebraucht wird, ist die Besorgniß, daß wir von Gott viel zu menschlich denken. Wer diesen Anstand hat, nimmt die vorgemeldte zweyte Sprache nur als eine Hypothese an, und zweifelt, ob sie weiter, als die Erfahrung reicht, gebraucht werden koͤn- ne? Jn so ferne wird er teleologische Schluͤsse hoͤchstens nur als eine Veranlassung ansehen, Erfahrungen auf- zusuchen, die uns vielleicht ohne solche Schluͤsse nicht beygefallen waͤren. Hieruͤber merken wir nun an, daß beyde Sprachen einerley Sache benennen, und daher gleichsam nur in der Benennung verschieden seyn sol- len. Naͤmlich, die physische Sprache gebraucht die ei- genen Namen, die teleologische aber solche, die die Ver- haͤltniß der Dinge gegen Gott zugleich mit den Dingen benennen. Man fange nun bey der Erfahrung an, um sich zur Uebersetzung aus einer Sprache in die an- dere den Weg zu bahnen, und die Gruͤnde zu dieser Ue- bersetzung zu bestimmen: so entsteht die Frage, ob man aus Erfahrungen andere Erfahrungen herleiten koͤnne? Dieses ist nun allerdings moͤglich, und die Physik giebt uns haͤufig Beyspiele davon. Nun sage ich, daß diese Moͤglichkeit bey dem Gebrauche der teleologischen Spra- che nicht wegfalle, wenn sie auf erstbemeldte Art einge- richtet ist. Denn so benennt sie einerley Dinge, wie die physische Sprache, nur daß sie Namen gebraucht, die eine Verhaͤltniß der Dinge zu den goͤttlichen Voll- kommenheiten mit anzeigen. Diese Verhaͤltniß aber verwandelt hoͤchstens nur das ist, so die physische Spra- che gebraucht, in ein muß seyn, weil die goͤttlichen Vollkommenheiten das fordern, was die Erfahrung B b 5 lehrt, V. Hauptstuͤck. lehrt, daß es sey. Um ein Beyspiel anzufuͤhren, wel- ches in der Teleologie und Physik sehr weit reicht, so gebraucht man in der Physik den Satz: Was be- staͤndig gewesen ist, faͤhrt fort zu seyn, und wie ferne, als einen Grundsatz von dem Beharrungs- stande der Dinge und Gesetze der Natur. Die Te- leologie macht diesen Satz aus dem Begriffe der Un- veraͤnderlichkeit Gottes in den Vorschriften seines Wil- lens nothwendig. Nun kann man beweisen, daß, wo ein Beharrungsstand seyn soll, dasjenige dabey vorkom- men muͤsse, was man in der hoͤhern Geometrie ein ma- ximum und ein minimum heißt. Denn die Kraͤfte, die an dem Beharrungsstande etwas aͤndern koͤnnen, muͤssen nicht nur im Gleichgewichte, und folglich das Uebergewicht = 0 seyn, sondern auch das Differentiale des Uebergewichtes muß = 0 seyn. Letzteres aber giebt ein maximum oder ein minimum. Auf eine aͤhnliche Art werden die Abwechslungen, die in dem Behar- rungsstande vorkommen, durch maxima und minima innert bestimmten Schranken erhalten, wie es z. E. in Ansehung der Witterung geschieht. Die Teleologie sucht die Bedingungen des Beharrungsstandes aus den Fol- gen, die die besten seyn sollen, und daraus leitet sie allerdings auch maxima und minima her. Zu dem koͤmmt noch, daß Groͤßen, die veraͤnderlich angenom- men werden koͤnnen, oder bey deren Bestimmung eine Auswahl bleibt, die elegantesten und schicklichsten Eigen- schaften da haben, wo sie ein maximum oder ein mini- mum werden. So z. E. hat Herr Professor Koͤnig dem Herrn von Reaumur auf des letztern Ansuchen er- wiesen, daß man bey den Bienencellen nicht nur die sechseckige Figur, so die laͤnglichten Seiten machen, son- dern auch die Pyramidalfigur des Bodens bestimmen kann, wenn man annimmt, daß die Bienen, um eine gleiche Menge Honigs zu fassen, am wenigsten Wachs gebrau- Von dem Wahrscheinlichen. gebrauchen, und folglich ihre Sparsamkeit darinn zum maximo wird. Setzt man aber die Rechnung weiter fort, so ergiebt sichs, daß von allen 9 Flaͤchen jede zwo aneinanderstoßende einerley Neigungswinkel gegen ein- ander haben, und folglich die Bienen einerley Mecha- nismum gebrauchen, sowohl den prismatischen als den pyramidischen Theil ihrer Cellen mit der groͤßten Spar- samkeit zu bauen. Eine Schicklichkeit, die man um desto weniger erwarten konnte, weil bey mehrern Ab- sichten fast immer eine der andern Abbruch thut. Wir koͤnnen uͤbrigens in Ansehung des Beharrungsstan- des noch anmerken, daß eine entwickelte Theorie dessel- ben zu der Teleologie und deren Brauchbarkeit nicht wenig dient, besonders wenn darinn die Bedingungen eroͤrtert werden, unter welchen ein Beharrungsstand moͤglich ist. Denn dieses giebt umgekehrte Saͤtze, die sich sodann auf die Welt anwenden lassen, und zugleich Aufhaͤufungen von Argumenten ersparen (§. 168.). §. 233. Die historische Gewißheit beruht großen- theils auf der Glaubwuͤrdigkeit der Nachrichten, die wir davon haben. Denn was wir von den Veraͤnde- rungen in der Welt selbst sehen oder empfinden, oder aus ihren Folgen und Ursachen schließen koͤnnen, macht einen geringen Theil der Geschichte aus. Die Beur- theilung der Richtigkeit und Zuverlaͤßigkeit einer Nach- richt beruht aber 1. theils auf der Untersuchung der Sa- che selbst, so ferne sie erzaͤhlt wird. Sie soll nichts wi- dersprechendes enthalten, und so auch nichts das meta- physisch oder physisch unmoͤglich ist. 2. Theils auf der Vergleichung der Nachricht mit den Umstaͤnden, die sie voraussetzt, und mit den Folgen, die die Sache, falls sie wahr ist, haben muß. 3. Auf der Untersuchung der Glaubwuͤrdigkeit des Zeugen, Aussagers oder Nachsagers, ob er die Wahrheit sagen koͤnne, und ob er sie sagen wolle? Die Aufmerksamkeit, das Ge- V. Hauptstuͤck. Gedaͤchtniß und die durch Uebung erlangte Kenntniß von Sachen gleicher Art sind Erfordernisse, ohne die ein Zeuge, auch wenn er die Wahrheit sagen will, der- selben leicht verfehlt, zumal wenn auch Affecten sich mit einmengen, deren Einfluß in die Erkenntniß der Wahr- heit wir in vorhergehendem Hauptstuͤcke umstaͤndlicher betrachtet haben. Es ist auch hinwiederum fuͤr sich klar, daß wenn es dem Zeugen am Willen fehlt, die Wahr- heit zu sagen, der Grund davon ebenfalls in wahren oder irrigen Vorstellungen liege, wodurch Affecten ihm den Willen anders lenken, und durch eine groͤßere Hef- tigkeit in der Erzaͤhlung die Erzaͤhlung an sich schon da- durch verdaͤchtig machen, daß sie, wo nicht ganz falsch, doch verstellt und uͤbertrieben sey. §. 234. Jndessen muß es dem Zeugen weder an der Erkenntniß noch am Willen fehlen, wenn seine Glaubwuͤrdigkeit = 1, oder vollstaͤndig seyn solle. Das erstere entscheidet sich aus der Vergleichung der Nach- richt oder der Erzaͤhlung mit der Faͤhigkeit des Erzaͤh- lenden, und dabey muß die Erzaͤhlung stuͤckweise be- trachtet werden, wenn sie aus mehrern besteht. Sodann muß man untersuchen, ob der Zeuge nicht mehr sagt, als er wirklich hat sehen oder empfinden koͤnnen? Dieß geschieht 1. wenn er Schluͤsse aus den Empfindungen mit in die Erzaͤhlung mengt. 2. Wenn er den empfun- denen Sachen Namen giebt, die mehr in sich begreifen, als man empfinden kann, z. E. bey Handlungen die Ab- sicht und Moralitaͤt. Jm ersten Fall muß man die Schluͤsse weglassen, im andern Fall aber statt der in der Erzaͤhlung gebrauchten Woͤrter solche dafuͤr nehmen, die nicht mehr angeben, als der Erzaͤhlende wirklich hat empfinden koͤnnen. 3. Wenn der Erzaͤhlende statt des Scheins, den die Empfindung darbeut, das erzaͤhlt, was er dabey fuͤr das Wahre und Reale ansieht. Da muß man seine Sprache ebenfalls wiederum in die Sprache des Von dem Wahrscheinlichen. des Scheins uͤbersetzen. So weit man es in diesen dreyen Stuͤcken bringen kann, so weit wird auch die Er- zaͤhlung das Empfundene eigentlicher und einfacher vor- stellen. Koͤmmt die Erzaͤhlung dadurch nun so heraus, daß die Empfindung nicht nur moͤglich ist, sondern daß wir klar einsehen, wir wuͤrden die Sache ebenfalls so empfunden haben, wenn wir an des Erzaͤhlenden Stelle gewesen waͤren, so koͤnnen wir von ihm in Absicht auf die Erkenntniß oder das Wissen nicht mehr fordern; und hinwiederum verraͤth es sich durch eine solche Zer- gliederung sehr oft, wenn es dem Erzaͤhlenden am Wil- len fehlt, zu sagen, was er empfunden hat. Denn die Affecten mischen das Empfindbare und das Nichtem- pfindbare fast immer durch einander, und bey Erdich- tungen giebt man darauf ebenfalls nicht so sorgfaͤltig Achtung. §. 235. Die Glaubwuͤrdigkeit eines Menschen kann sowohl in Absicht auf den Verstand als in Absicht auf den Willen eingetheilt werden. 1. Die Glaubwuͤrdigkeit uͤberhaupt, so fern sie gleichsam persoͤnlich ist, proportionirt sich nach den Graden der Erkenntnißkraͤfte, und der Ge- wissenhaftigkeit. Erstere machen das Jrren sel- tener, je groͤßer und geuͤbter sie sind; letztere aber macht die Luͤgen und Unwahrheiten seltener, und zuweilen moralisch unmoͤglich; so wie es hingegen Leute giebt, die aus Scherz, Muthwillen, Affe- cten ꝛc. sich zum Luͤgen gewoͤhnen, und das Gute, Nuͤtzliche ꝛc. zum Maaßstab des Wahren machen. 2. Die Glaubwuͤrdigkeit in einer gewissen Art von Sachen. Diese kann durch Mangel der dazu noͤthigen Erkenntniß, durch Vorurtheile und Affecten, die sich dabey mit einmengen, merk- lich vermindert werden, und in soferne der allge- meinen oder persoͤnlichen Glaubwuͤrdigkeit Abbruch thun. V. Hauptstuͤck. thun. So wie hingegen die durch Uebung er- langte Erkenntniß in einer gewissen Art Sachen, sie in Ansehung derselben vermehren kann. 3. Die Glaubwuͤrdigkeit in einem besondern Fall. Hier muß man noch zu beyden erstern Bestimmungsstuͤcken noch die Jndividualien mit- nehmen, die der Fall selbst und seine Verhaͤltniß zu dem Erzaͤhlenden anbeut, sowohl in Absicht auf die Moͤglichkeit, sich den Fall richtig vorzustellen, als in Absicht auf die Beweggruͤnde, ihn aufrichtig oder verstellt zu erzaͤhlen. §. 236. Die beyden ersten von diesen drey Arten der Glaubwuͤrdigkeit, auch wenn ihre Grade bey einem Menschen bestimmt waͤren, wuͤrden nur eine vermischte Wahrscheinlichkeit geben, weil sie aus einer Summe von einzelnen Glaubwuͤrdigkeiten bestehen, deren jede einen verschiedenen Grad hat. Sie sind demnach ei- gentlich nur das Mittel aus allen, und wenn man es dabey wollte bewenden lassen, so wuͤrde jede auf bloßen Nachrichten beruhende historische Erkenntniß nur einen sehr mittelmaͤßigen Grad der Wahrscheinlichkeit haben. Wir haben das Fehlerhafte von solchen Vermengungen bereits oben (§. 219.) angezeigt. Nun sucht man zwar solche geringer scheinende Grade der Wahrscheinlichkeit durch die Aufhaͤufung einzelner Zeugen zu vermehren, und man kann allerdings nicht in Abrede seyn, daß wenn auch solche Aufhaͤufung ohne Auswahl geschieht, jeder von dem andern unabhaͤngige Zeuge als ein beson- deres und von den uͤbrigen unabhaͤngiges Argument koͤnne angesehen werden, wenn sie naͤmlich in der Aus- sage uͤbereinstimmen, und so ferne sie uͤbereinstimmen. Wir wollen aber die Berechnungsart vollstaͤndiger an- geben. §. 237. Man setze zween Zeugen, die einerley aus- sagen. Des ersten Glaubwuͤrdigkeit sey so beschaffen, daß Von dem Wahrscheinlichen. daß er gegen 10 Wahrheiten 3 Unwahrheiten und 1 Luͤge sagt: das ist, daß man ihm in 10 Faͤllen glauben, in 3 Faͤllen nicht glauben, und in einem Fall das Gegen- theil glauben muͤsse, wenn man die Wahrheit treffen will. Dieses druͤcken wir nun so aus 10 a + 3 u + 1 e. Eben so sey die Glaubwuͤrdigkeit des andern 12 a + 5 u + 2 e. Werden nun diese Faͤlle mit einander multiplicirt, so ist das Product 120 aa + 86 au + 15 uu + 11 eu + 2 ee + 32 ae. Aus diesem Product wird 32 ae weggelassen, weil es un- moͤglich ist, dem einen Zeugen die Aussage und dem an- dern das Gegentheil zugleich zu glauben. Ferner wird 120 aa + 86 au zusammengezogen, und 206 a daraus gemacht. Denn ungeacht man in den 86 Faͤllen dem einen Zeugen nicht glaubt, so glaubt man doch dem an- dern. Auf gleiche Art zieht man 2 ee + 11 eu zusam- men, und macht 13 e daraus. Denn bey den 11 eu faͤllt der Glaube auf das Gegentheil der Aussage. Demnach haben wir 206 a + 15 u + 13 e fuͤr die Glaubwuͤrdigkeit eines Zeugen, der so viel gilt, als beyde erstere zusammengenommen. Koͤmmt noch ein dritter Zeuge dazu, so wird seine Glaubwuͤrdigkeit mit der erstgefundenen auf eben die Art multiplicirt, um die von einem Zeugen zu finden, der so viel gilt als alle drey zusammengenommen. Die allgemeine Formel ist diese: 1. Zeuge, Ma + Nu + Pe. 2. Zeuge, ma + nu + pe. Beyde, (Mm + Mn + mN) a + Nn. u + (Pp + Pn + pN) e. Jst V. Hauptstuͤck. Jst des einen Zeugen Glaubwuͤrdigkeit vollstaͤndig, so ist n = p = o, demnach fallen im Product alle Glieder, u, e, weg, welches anzeigt, daß die uͤbrigen Zeugen seine Glaubwuͤrdigkeit, weder vermehren noch vermindern, weil alle uͤbrigbleibende Faͤlle a sind. Hingegen wo keines Zeugen Glaubwuͤrdigkeit vollstaͤndig ist, da koͤmmt in der Summe von allen noch immer u und e vor, und folglich auch nur Wahrscheinlichkeit fuͤr die Aussage. §. 238 Sind die Zeugen in der Aussage nicht ein- stimmig, so sagen sie entweder ganz verschiedene Sachen oder das Gegentheil, weil die Aussage immer positiv seyn, und die Sache nicht dahin gestellt lassen solle. Sa- gen sie ganz verschiedene Sachen, so koͤmmt keine Be- rechnung der Summe ihrer Glaubwuͤrdigkeit vor. Hin- gegen koͤmmt sie vor, wenn einige das Gegentheil sagen. Jn diesem Fall verwandelt man nur ihre Glaubwuͤrdig- keit in die Glaubwuͤrdigkeit des Gegentheils, und so wird, um bey vorigem Beyspiel zu bleiben, wenn der zweyte Zeuge das Gegentheil aussagt, 12 a + 5 u + 2 e in 2 a + 5 u + 12 e verwandelt. Nimmt man nun den ersten Zeugen 10 a + 3 u + e dazu, so ist die Summe der Glaubwuͤrdigkeiten 76 a + 15 u + 53 e, welche von der vorigen merklich verschieden ist. Jst der Zeuge, so das Gegentheil sagt, vollstaͤndig glaub- wuͤrdig, so wird in der allgemeinen Formel M=N=o, und so bleiben in dem Product nur die Faͤlle e, so daß folglich die Glaubwuͤrdigkeit jeder anderer Zeugen dem- selben keinen Abbruch thut. Es ist auch an sich unmoͤg- lich, daß von zween Zeugen, die beyde eine vollstaͤndige Glaub- Von dem Wahrscheinlichen. Glaubwuͤrdigkeit haben, der eine das Gegentheil der Aussage des andern sagen sollte. Setzt man diesen Fall, so wird in der Formel M=N=n=p=o, und demnach in dem Product alle Glieder = o . Das will nun sagen, es komme kein solcher Fall vor. §. 239. Wir koͤnnen hier beylaͤuftig anmerken, daß erstgegebene Formel auch bey Argumenten gebraucht werden koͤnnen, die von einander unabhaͤngig sind, und einen gleichen Satz wahrscheinlich machen. Jst ein solches Argument 12 a + 5 u + 2 e, so will dieses sagen: es beweise in 12 Faͤllen den Satz, in 5 Faͤllen beweise es nichts oder lasse den Satz dahin- gestellt, in 2 Faͤllen stoße es den Satz um, oder beweise das Gegentheil, oder mache ihn verneinend. Bringt man durch wahrscheinliche Schluͤsse Saͤtze von dieser Art (§. 194.) alle A ( \frac {12}{19} a + \frac {5}{19} u + \frac {2}{19} e ) sind B heraus, so stellen die Bruͤche, womit das Bindwoͤrtgen behaftet ist, die Glaubwuͤrdigkeit des Satzes, und folg- lich das Gewicht des Arguments vor. Uebrigens wird man die hier angegebene Berechnungsart von derjeni- gen merklich verschieden finden, die in der Bernoulli- schen Arte coniectandi pag. 220. seq. vorkoͤmmt. Herr Bernoulli nimmt daselbst zweyerley Argumente an, naͤmlich solche, die theils beweisen, theils nicht beweisen: und sodann solche, die theils beweisen, theils das Gegen- theil beweisen. Erstere nennt er reine, die andern aber vermischte Argumente. Diesen fuͤgt er noch die dritte Art bey, die naͤmlich theils nicht beweisen, theils das Gegentheil beweisen, welche er aber nicht mit in die Rechnung gezogen, sondern nur angegeben hat. Diese drey Arten von Argumenten haben wir hier in eine all- gemeine Art zusammengezogen. Denn aus der Formel Lamb. Organon II B. C c Ma V. Hauptstuͤck. Ma + Nu + Pe kann man 1. Ma + Nu 2. Ma + Pe 3. Nu + Pe machen, wenn man P oder P oder M = o setzte. Jn dieser Absicht ist die hier angegebene Berechnungsart allgemeiner, als die Bernoullische, weil sie mit einem male alle seine besondern Faͤlle vorstellt. Sie giebt aber auch ein anderes Product, und dieses sollte nicht seyn, wenn beyde richtig waͤren. Wir werden die Ber- noullische nicht hersetzen, sondern nur anmerken, daß, wenn man in seiner Formel ( pag. 221.) eines von den Argumenten, die zum Theil nichts, zum Theil das Gegentheil beweisen, als vollstaͤndig annimmt, oder setzt, es beweise das Gegentheil vollstaͤndig, und demnach q oder t = o setzt, diese Formel sich in verwandelt, da sie doch = o werden sollte, weil in die- sem Fall alle bejahende Argumente, deren Summe diese Formel vorstellt, ganz entkraͤftet werden. Man wird den Grund, warum die Formel dieses anders angiebt pag. 221. darinn finden, daß Herr Bernoulli die Faͤlle, in welchen die reinen Argumente fuͤr sich betrachtet be- weisen, als guͤltig ansieht, die damit combinirten Faͤlle der vermischten Argumente moͤgen das Gegentheil beweisen oder nicht. Wir haben aber (§. 237.) die Faͤlle ae ganz weggelassen, weil sie unmoͤglich sind, und dieses macht das Product in der hier angegebenen Rech- nung von dem Product der Bernoullischen verschieden. §. 240 Von dem Wahrscheinlichen. §. 240. Diese ganze Berechnungsart geht aber nur auf das Allgemeine von der Glaubwuͤrdigkeit der Zeu- gen, und der Summe ihrer Glaubwuͤrdigkeiten, wenn mehrere sind. Denn es wird darinn alles ohne Aus- wahl vermengt. Man muß daher, wenn man in be- sondern Faͤllen nicht bey allgemeinen und verworrenen Wahrscheinlichkeiten stehen bleiben will, die Moͤglichkeit, daß jeder Zeuge zuweilen irren oder luͤgen koͤnne, nicht so ohne Auswahl und ohne Ruͤcksicht auf den vorgegebe- nen Fall zum Grunde setzen, und noch weniger die Moͤg- lichkeiten bey dem einen Zeugen ohne naͤhere Verglei- chung und Auswahl mit den Moͤglichkeiten bey den andern Zeugen verbinden, weil man auf diese Art nicht uͤber einen oͤfters sehr mittelmaͤßigen Grad der Wahrscheinlichkeit hinausreichen wuͤrde, zumal wo die Aussagen widersprechend sind (§. 238.). Denn in einzel- nen Faͤllen ist es gar wohl moͤglich, daß ein Zeuge gerade dasjenige ersetze, was noch an der Glaubwuͤrdigkeit des andern mangelte, und so kann die Gewißheit bey zween Zeugen vollstaͤndig wer- den, da hingegen, wenn man sie nicht genauer mit ein- ander vergleicht, auch bey mehrern Zeugen noch immer scheinbare Zweifel zuruͤcke bleiben wuͤrden. §. 241. Die oben schon (§. 234.) angegebene Zer- gliederung der Zeugnisse oder Aussagen, besonders wenn diese theils in den Worten, theils in den einzelnen Thei- len, von einander verschieden sind, mag hiebey, so ferne sie jedesmal angeht oder genugsame Data vorraͤthig sind, sehr gute Dienste thun. Denn laͤßt man bey jeder Aussage weg, was nicht hat empfunden werden koͤnnen, und uͤbersetzt man das uͤbrige in die Sprache des Scheins; so laͤßt sich, was man heraus bringt, in Anse- hung jeder Aussage mit dem Gesichtspunkt vergleichen, aus welchem jeder Zeuge die Sache gesehen oder em- pfunden hat. Und auf diese Art werden oͤfters auch C c 2 wider V. Hauptstuͤck. widersprechend scheinende Aussagen mit einander ver- glichen und zusammengereimt werden koͤnnen, wobey denn der Anstand, ob es den Aussagern am Willen fehle, fast nothwendig verschwindet. §. 242. Kommen aber die Aussagen in den Wor- ten uͤberein, und sie sind uͤbrigens von einander unab- haͤngig, so ist es wohl moͤglich, daß sie in gewissen Faͤl- len nur den Schein der Sache angeben, zumal wenn sich die Sache nur nach dem Schein zeigt. Man for- dert aber auch von den genauesten Beobachtern selbst nichts anders, und in so ferne kann auch von den Zeu- gen nicht mehr gefordert werden, weil man das Wahre durch Schluͤsse herausbringen, und diese von der Em- pfindung selbst unterscheiden solle (§. 91.). §. 243. So fern man aber die Zuverlaͤßigkeit der Aussage aus den Graden der Glaubwuͤrdigkeit schaͤtzen muß, so ist allerdings darauf zu sehen, ob man das Ansehen des einen Aussagers durch das Anse- hen des andern ergaͤnzen koͤnne. Dazu wird nun nothwendig erfordert, daß es nicht beyden in einerley Stuͤcken fehle, wie z. E. wenn keiner die Kenntniß hat, die zu Beurtheilung und richtiger Benennung der em- pfundenen Sache erfordert wird, oder wenn beyde aus einerley oder auch verschiedenen Gruͤnden in Ansehung des Willens verdaͤchtig sind. Sind aber die Aussagen von Wort zu Wort oder wenigstens im Grunde einer- ley, so ist auch oͤfters die Aussage des Verstaͤndigern ein Beweis, daß der Einfaͤltigere nicht geirret oder eines fuͤr das andere genommen habe; so wie hingegen die Aufrichtigkeit des Einfaͤltigern den Zweifel heben kann, daß der Verstaͤndigere sich keinen Betrug vorgesetzt habe. §. 244. Die Hauptfrage aber, die hier zu untersu- chen vorkoͤmmt, betrifft die historische Gewißheit uͤberhaupt, ob sie jemals vollstaͤndig oder = 1 werden konne? Hieruͤber merken wir vorerst an, daß unsere eigene Von dem Wahrscheinlichen. eigene Existenz auch mit unter diese Frage gehoͤrt, weil die historische Erkenntniß eigentlich auf existirende Din- ge geht. Wir machen aber unsere Existenz zum Maaßstabe der Gewißheit, wenn wir Z. E. sagen: so gewiß ich da bin, (Alethiol. §. 72. 110.). Und diesen Maaßstab gebrauchen wir auch vornehmlich nur bey historischen Wahrheiten, wo es schlechthin auf un- sere Glaubwuͤrdigkeit ankoͤmmt. Denn in der Geome- trie und andern a priori erweisbaren Wissenschaften wird der Beyfall durch Demonstrationen erhalten, so wie wir da, wo wir die Sache selbst empfinden, den Beyfall nicht mehr auf der Glaubwuͤrdigkeit des Er- zaͤhlenden, sondern auf der Empfindung beruhen lassen. Naͤmlich bey Demonstrationen glauben wir, weil wir uns die Sache vorstellen; bey Empfindun- gen, weil wir uns der Empfindung bewußt sind; bey Nachrichten, sie moͤgen nun beweisbar seyn oder hi- storisch, weil wir den Erzaͤhlenden fuͤr glaubwuͤrdig ansehen. §. 245. Wir koͤnnen ferner die ganze Reihe unserer Gedanken mit unter die historische Erkenntniß rechnen, und dabey haben wir den Grundsatz: Wenn wir etwas denken, so ist es gewiß, daß wir es den- ken. Und diese Gewißheit geht mit der von unserer Existenz durchaus zu paaren. §. 246. Jn Ansehung der Empfindungen haben wir bereits im zweyten Hauptstuͤcke das, was in densel- ben Schein ist, und besonders den organischen und pa- thologischen Schein von dem realen getrennt, und die specialern Mittel angegeben, Empfindungen als Em- pfindungen zu erkennen, und das Wahre darinn zu ent- decken, und uns davon zu versichern. Denn hiebey muß man die Gewißheit in specialen Faͤllen aufsuchen. Die Zweifel, die man macht, daß sie niemals = 1 werde, gruͤnden sich nur auf Saͤtze, worinn man jede Stuffen C c 3 des V. Hauptstuͤck. des Gewissen mit dem Ungewissen vermengt hat (§. 219.). Wir koͤnnen die geographischen Nachrichten zum Bey- spiele nehmen. Sie sind unstreitig nicht alle von glei- cher Zuverlaͤßigkeit, und es mengt sich salsches und fa- belhaftes mit ein. Nun wird sich wohl niemand in Sinn kommen lassen, diese so verschiedenen Grade der Gewißheit durch einander zu mengen, und daher jeder einzelnen Nachricht nicht mehr als den mittlern Grad der Wahrscheinlichkeit zu geben. Wir fuͤhren dieses Beyspiel an, weil es da gar zu offenbar ist, daß man sich, in Ansehung der Zuverlaͤßigkeit einzelner Nachrichten, um specialere Gruͤnde und Kenn- zeichen umsehen muͤsse. §. 247. Wir finden uns in Ansehung der aͤußern Sinnen uͤberhaupt in gleichem Falle. Es ist unstreitig, daß jede Arten von Schein sich dabey zuweilen mehr oder minder einmengen, und die Koͤrperwelt sich uns durchaus nur nach dem Schein zeigt (§. 91.). Wollte man aber alle Empfindungen in eine Classe setzen, und die besondern Grade der Zuverlaͤßigkeit einer jeden durch einander mengen, um alle nach dem mittlern Grad zu schaͤtzen; so wuͤrde man jeder einzelnen Empfindung einen sehr mittelmaͤßigen Grad der Wahrscheinlichkeit geben, und die Nachrichten davon wuͤrden noch einen geringern bekommen. Jndessen verfaͤhrt man dennoch auf diese Art, wenn man die Frage von der Zuverlaͤßig- keit dieser oder jener Empfindung unterstuͤtzt. Die Ein- wuͤrfe sind immer: daß die Sinnen zuweilen be- truͤgen, man koͤnnte sich uͤbersehen haben, es koͤnnte an der Aufmerksamkeit, am Gedaͤcht- niß ꝛc. gefehlt haben ꝛc. Allein, Einwuͤrfe von die- ser Art machen, will nicht mehr sagen, als den mittlern Grad der Wahrscheinlichkeit ohne Unterschied auf jede einzelne Empfindung ausbreiten. Die Gewißheit bey Empfindungen ist individual, und man kann die Von dem Wahrscheinlichen. die Faͤlle, wo sie vollstaͤndig statt hat, nicht durch dieje- nigen in Zweifel ziehen, wo sich Jrrthum einmengte, sondern sie muß in jedem Fall fuͤr sich, und waͤhrend dem er sich zutraͤgt, untersucht und eroͤrtert werden, weil man nachgehends nicht alle Jndividualien vor sich ha- ben kann. So z. E. wenn ein Astronome oder ein Na- turforscher Beobachtungen oder Versuche anstellt, so muß die Gewißheit, daß er richtig dabey verfahren und jede Umstaͤnde mit Bewußtseyn bemerkt habe, waͤh- render Beobachtung oder waͤhrendes Versuches erlangt werden. Daß dieses, zumal bey einfachern Observatio- nen und Versuchen, moͤglich und haͤufig geschehen sey, das beweist die Astronomie durch die Mittel die sie hat, die Veraͤnderungen am Firmamente vorauszusagen, und die Physik erweist es theils durch aͤhnliche Mittel, theils auch dadurch, daß viele von ihren Versuchen wieder an- gestellt und dadurch gleichsam auf die Probe gesetzt wer- den koͤnnen. Und da dient der oben (§. 232.) zum Be- huf der Theologie angefuͤhrte Grundsatz: Was be- staͤndig gewesen ist, faͤhrt fort zu seyn, und wie- ferne, der sich bey Beurtheilung der Gewißheit einzel- ner Empfindungen und deren Pruͤfung haͤufig anwen- den laͤßt. §. 248. So serne es demnach Faͤlle giebt, wo wir bey eigenen Empfindungen zu einer voͤlligen Gewißheit gelangen koͤnnen: so ferne koͤnnen wir die Moͤglichkeit davon auch andern zutrauen, und zwar desto mehr und allgemeiner, je sorgfaͤltiger und geuͤbter sie sind, mit Be- wußtseyn zu empfinden, und das Empfundene richtig zu benennen. Kommen demnach solche Faͤlle vor, wo je- mand ohne vorsetzliche Unachtsamkeit sich nicht hat irren koͤnnen, so wird die Glaubwuͤrdigkeit seiner Nachricht schlechthin auf den Willen reducirt. Und damit hat es in Sachen, die wir allenfalls sogleich selbst erfahren oder von mehrern Nachricht einziehen koͤnnen, wenigen C c 4 Anstand. V. Hauptstuͤck. Anstand. Es kann zwar vorkommen, daß wir die Nach- richt anders verstehen, als sie der Aussager will verstan- den wissen. Dieses gehoͤrt aber zur Auslegekunst, als welche Mittel angiebt, dem Misverstand vorzubeugen. Ueberhaupt aber hat es in Absicht auf den Willen die Bewandniß, daß, wer anders redet, als er denkt, Gruͤn- de oder Beweggruͤnde dazu haben muß, theils weil es natuͤrlich ist, das, was man denkt, zu sagen, theils weil es jedem Menschen daran gelegen seyn soll, sich nicht durch Unwahrheiten in Gefahr zu setzen, in wahren Aussagen, und wo er es wuͤnschte, nicht mehr Glauben zu finden. §. 249. Nach den bisherigen Betrachtungen wer- den wir nun umstaͤndlicher entwickeln koͤnnen, wie vie- lerley man durch die moralische Gewißheit und moralische Beweise verstehe. Man setzt erstere der geometrischen Gewißheit, letztere aber den geo- metrischen Demonstrationen entgegen, und da koͤnnen wir anmerken, daß hiebey das Wort geome- trisch sich nicht auf den Stoff, sondern auf die Form und den Zusammenhang der Demonstration be- ziehe, weil es außer der Geometrie noch andere Wissen- schaften giebt, die eben solcher Gewißheit und Demon- strationen faͤhig sind (Dianoiol. §. 657. 658. 662. 663. Alethiol. §. 128.). Wir werden unter dieser Bedin- gung das Wort geometrisch beybehalten, und so koͤn- nen wir verneinensweise jede Gewißheit moralisch nennen, die nicht geometrisch ist, oder nicht aus geo- metrischen Demonstrationen erwaͤchst. Man sieht leicht, daß dieser terminus infinitus mehrere Arten in sich begreifen koͤnne, und diese haben wir hier auf- zusuchen. §. 250. Zu diesem Ende kehren wir zu der bereits (§. 244.) gemachten Anmerkung zuruͤcke, daß wir naͤm- lich außer den Demonstrationen noch die Empfin- dungen Von dem Wahrscheinlichen. dungen und Nachrichten zu Mitteln haben, eine Erkenntniß zu erlangen. Die Empfindungen ge- ben uns unmittelbar eine historische Erkenntniß, und man ist ebenfalls schon daran gewoͤhnt, die dabey vor- kommende Gewißheit moralisch zu nennen, und zwar wiederum, weil sie von einer andern Art als die geo- metrische ist. Jn Ansehung der Nachrichten, wodurch wir jede Erkenntniß verstehen, die wir nur glauben, weil wir sie von andern haben, sind wir in so ferne von ihrer Wahrheit gewiß, so fern wir wissen, daß die davon gewiß sind, von welchen wir sie haben. §. 251. Die geometrische Gewißheit, wenn sie an- ders ganz rein, und ohne Einmengung der andern Ar- ten seyn soll, koͤmmt eigentlich nur bey Wissenschaften vor, die im strengsten Verstande a priori sind, und bey einfachen oder fuͤr sich gedenkbaren Begriffen anfangen. Man sehe hieruͤber die vorhin (§. 249.) aus der Dia- noiologie und Alethiologie angezogenen Stellen. Hin- gegen kann sie bedingnißweise auch da vorkommen, wo die uͤbrigen Arten der Gewißheit mit eingemengt wer- den, und zwar, da nur in so fern die Form der geome- trischen Demonstrationen dabey anwendbar ist. Denn da geht sie auf die Nothwendigkeit und Richtigkeit der Folgen. Beyspiele hievon kommen in der angewand- ten Mathesi und Physik haͤufig vor. §. 252. Hingegen erstreckt sich die Gewißheit, so uns die Erfahrung giebt, unmittelbar auf das, so wir selbst a posteriori erlernen, und folglich auf die Begrif- fe, die wir nicht fuͤr sich denken koͤnnen, wie die einfa- chen Begriffe (Dianoiol. §. 656. seq. ). Die Natur- geschichte, und Experlmentalphysik bieten uns Beyspiele davon an. Die Begriffe und Saͤtze, so uns die Em- pfindungen unmittelbar angeben, sind individual. Sie werden durch Jnductionen allgemein, und die Moͤglich- keit, solche Jnductionen complet zu machen, oder von ei- C c 5 nigen V. Hauptstuͤck. nigen auf ganze Arten zu schließen, koͤmmt vor, so fern man den (§. 232. 247.) angefuͤhrten Grundsatz vom Be- harrungsstande anwenden kann. So fern man auf diese Art allgemeine Begriffe und Saͤtze findet, laͤßt sich die geometrische Methode dabey anwenden, weil allgemeine Begriffe und Saͤtze zu Schluͤssen erfordert werden. §. 253. Jn Ansehung der Handlungen geben uns die Sinnen nur das Physische davon zu erkennen. Wenn wir demnach ihre Moralitaͤt betrachten, und sie von da her benennen wollen: so muß die Absicht, welche eigentlich die Moralitaͤt ausmacht, und nicht in die Sinnen faͤllt, auf eine andere Art gefunden werden. Nun sollen wir bey unsern eigenen Handlungen uns we- nigstens derjenigen Absicht bewußt seyn, die wir uns dabey klar oder deutlich vorstellen. Und diese geht or- dentlich auf das, wozu wir die Handlung als ein Mit- tel gebrauchen, sie mag nun das Mittel seyn oder nicht. Ob aber die Absicht immer der erste Anlaß und An- trieb zur Handlung sey, ist eine andere Frage, weil es verborgenere Triebfedern zu Handlungen giebt. Bey den Handlungen anderer ist die Bestimmung der Ab- sichten schwerer. Sie laͤßt sich weder aus dem Sicht- baren der Handlung, noch aus dem Erfolge so schlecht- hin bestimmen, und von denen, die eine Handlung be- gehen, koͤnnen wir die Absicht, die sie dabey hatten, so ferne wissen, als sie selbst sich dieselbe klar vorstellten, und sie uns aufrichtig entdecken (§. 107. 108. 113.). Jn- dessen giebt es allerdings Faͤlle, wo sich bey Handlun- gen die Absichten leicht abzaͤhlen lassen, und wo man folglich mit Zuziehung der uͤbrigen Umstaͤnde auf die wahre oder wirkliche schließen kann, besonders wenn man nur auf die naͤchste oder unmittelbare Absicht sieht. Denn diese ist oͤfters auf die einzige moͤgliche einge- schraͤnkt. Man sieht leicht, daß die Gewißheit und die Grade Von dem Wahrscheinlichen. Grade derselben, die bey solchen Untersuchungen gefun- den werden, in einem ungleich engern Verstande mo- ralisch genennt werden koͤnnen. Die Gewißheit hie- bey ist a posteriori, und eben dadurch von der geome- trischen verschieden, demnach schon in diesem Verstande moralisch (§. 249.). Sie ist es aber auch, weil sie auf die Moralitaͤt der Handlungen, auf die Bestimmung und Versicherung derselben geht. §. 254. Die Bestimmung der Ursachen von Ver- aͤnderungen in der Welt, wo uns die unmittelbare Em- pfindung nur die letzteren angiebt, imgleichen die Be- stimmung der Folgen der Veraͤnderungen, die sich nicht so unmittelbar in ihren Verbindungen empfinden las- sen, geben noch eine Art der moralischen Gewißheit und ihrer Grade, welche aus der Gewißheit der Empfindun- gen und Schluͤsse zusammengesetzt ist, und wobey die Vordersaͤtze der Schluͤsse, und besonders die Obersaͤtze, selbst aus der Erfahrung muͤssen hergenommen werden (§. 252.). Wir haben die Art, wie wir dabey theils zu Wahrscheinlichkeiten, theils zur Gewißheit gelangen, bereits oben (§. 162. seqq. ) beschrieben, und fuͤhren sie hier nur an, um die Abzaͤhlung vollstaͤndiger zu machen. §. 255. Bey den vier bisher erwaͤhnten Arten der Gewißheit (§. 251. seqq. ) haben wir noch immer vor- ausgesetzt, daß, wenn wir den Stoff dazu auch nicht aus den ihnen eigenen Quellen haben, dennoch die Ge- wißheit oder Wahrscheinlichkeit selbst daher ruͤhre. Was dieses sagen will, wollen wir durch Beyspiele er- laͤutern. So ist es z. E. moͤglich, einen geometrischen Satz durch die Erfahrung zu finden, und seine Allge- meinheit durch Jnduction zu beweisen. Auf diese Art hat Fermat viele merkwuͤrdige Eigenschaften der Zah- len gefunden, und Harriot brachte eben so seine Re- gel von der Anzahl wahrer und falscher Wurzeln einer alge- V. Hauptstuͤck. algebraischen Gleichung a posteriori und gleichsam wie durch die Erfahrung heraus. Ungeacht nun solche Saͤtze gewiß sind, so ist die Gewißheit doch nicht geo- metrisch, weil diese einen Beweis a priori, oder einen eigentlich geometrischen Beweis fordert. Wieder- um, wer den Euclid liest, und von der Wahrheit sei- ner Saͤtze uͤberzeugt wird, der glaubt sie mit geometri- scher Gewißheit, nicht, weil Euclid sie ihm angiebt, sondern weil er nach desselben Anleitung sich die Sache selbst vorstellt. Die Samaritaner machten einen aͤhnlichen Unterschied, wenn sie Joh. 4, 42. sagten: Wir glauben nun fort nicht mehr um deiner Rede willen; wir haben selber gehoͤrt und erkennt. Denn was man selbst sieht und hoͤrt, darf man eben nicht mehr bloß auf eines andern Aussage hin glauben, weil man unmittelbarere Gruͤnde hat. Wir gelan- gen eben so a posteriori zu unsern Begriffen, weil un- sere Erkenntniß bey den Sinnen anfaͤngt. Dieß will aber nicht sagen, daß sich unter diesen Begriffen nicht solche finden sollten, die, nachdem wir sie einmal haben, sodann fuͤr sich gedenkbar sind (Dianoiol. §. 657.). Dieses aber macht, daß wir z. E. die Geometrie als ei- ne Wissenschaft ansehen, die im strengsten Verstande a priori ist, weil ihre Grundbegriffe einfach, und fuͤr sich gedenkbar sind. §. 256. Wir machen diese Anmerkungen, weil die fuͤnfte Art der Gewißheit, die wir nun betrachten wer- den, immer mit einer der vorhin erwaͤhnten vier Arten verbunden ist. Sie geht naͤmlich auf jede Erkenntniß, von deren Wahrheit wir nicht anders versichert sind, als so fern wir wissen, daß andere davon versichert sind, oder die wir schlechthin nur aus Nachrichten haben. Sie beruht demnach auf der Glaubwuͤrdigkeit an- derer, und soll sie = 1 oder vollstaͤndig seyn, so muͤs- sen wir mit vollstaͤndiger Gewißheit wissen, daß sie sich nicht Von dem Wahrscheinlichen. nicht irren, und daß sie uns das, worinn sie nicht irren, wirklich sagen, oder daß sie sich in dem, was sie uns sa- gen, nicht irren. Dieses nicht irren setzt nun alle- mal eine von den vorhergehenden Arten der Gewißheit bey demjenigen voraus, auf dessen Wort hin wir die Aussage glauben sollen. Er muß die Sache ent- weder durch Demonstrationen, oder durch unmit- telbare Empfindungen, oder durch beyde zusam- mengenommen, gewiß wissen. Und wir muͤssen ver- sichert seyn, daß er sie auf eine von diesen Arten weiß, und uns nicht etwas anders sage. §. 257. Hiebey ist nun fuͤr sich klar, daß, so oft wir selbst auf eben die Art zur unmittelbaren Gewißheit gelangen koͤnnen, wie der dazu gelangt ist, von dem wir die Nachricht haben, wir der Gewißheit, die schlechthin auf desselben Glaubwuͤrdigkeit beruht, eben nicht noth- wendig beduͤrfen, weil diese nur mittelbar ist. So sind wir z. E. berechtigt, von der Allgemeinheit ei- nes jeden Satzes einen Beweis zu fordern. Denn der, so uns einen solchen Satz vorgiebt, muß sich selbst durch Gruͤnde von dessen Allgemeinheit versichern, weil Em- pfindungen individual sind. So koͤnnen wir auch jede Empfindung, die sich erneuern laͤßt, wiederholen, um uns von der Wahrheit der Aussage, worinn von solchen Empfindungen die Rede ist, unmittelbar selbst zu ver- sichern. Auf eine aͤhnliche Art ist es uns oft auch moͤg- lich, von dem, was vorgegangen seyn soll, die Gruͤnde und Folgen aufzusuchen, und uns aus diesen von der Wahrheit der Nachricht zu versichern (Dianoiol. §. 562. 563.). Hingegen wenn uns jemand sagt, daß er die- ses oder jenes denke, so wissen wir zwar, daß er es denkt, alldieweil er es sagt, daß er es aber als wahr denke oder es selbst glaube, zumal wenn es uns unglaublich vorkoͤmmt, davon koͤnnen wir keine so unmittelbare Ver- sicherung haben, und oͤfters giebt es Muͤhe, davon ge- wiß V. Hauptstuͤck. wiß zu werden. Wir haben bereits oben (§. 107. 108. 113.) uͤber den Selbstbetrug, die Aufrichtigkeit und das Mistrauen Anmerkungen gemacht, die ebenfalls hieher dienen koͤnnen. §. 258. Jn die bisher erwaͤhnten Classen laͤßt sich unsere ganze Erkenntniß in Absicht auf die Gewißheit und ihre Grade eintheilen. Denn sie beruht entweder auf unmittelbaren Empfindungen, oder auf De- monstrationen, oder auf Nachrichten, oder sie fleußt aus zwoen oder allen drey dieser Quellen zusam- men. Und wenn eine Erkenntniß aus mehr als einer dieser Quellen, und zwar aus jeder besonders, kann her- geleitet werden, so dient eine der andern zur Probe. Die Rangordnung ist folgende: 1. Wo Demonstratio- nen statt haben koͤnnen, da gehen diese vor, weil diesel- ben gleichsam nichts weiter als ein denkendes Wesen, und in so ferne, weder Sinnen noch Beyfall anderer fordern. Jndessen da man sich, zumal bey weitlaͤufti- gern Schluͤssen, und wo man auf viele Bedingungen und Umstaͤnde zugleich zu sehen hat, leicht uͤbersehen, und daß Bewußtseyn, daß man auf alles Acht habe, verlieren oder muͤde werden kann; so nimmt man die Erfahrung zu Huͤlfe, um sich von der Richtigkeit des Herausgebrachten zu versichern, oder man legt den Fall anderen in solchen Dingen Geuͤbten vor, um von ihnen zu vernehmen, ob sie einerley Facit herausbringen. Zu- weilen geht es aber auch an, daß man das Gefundene noch auf eine andere Art herauszubringen sucht, oder nachsieht, ob sich die einzeln und an sich offenbaren Faͤl- le daraus herleiten lassen? 2. Die eigenen Empfin- dungen, Erfahrungen und Versuche gehen an sich den Nachrichten vor, hingegen werden sie in Sachen, wo Demonstrationen moͤglich sind, den De- monstrationen nachgesetzt. Sie haben demnach ei- gentlich nur da den Rang, wo es nicht um allgemeine Moͤglich- Von dem Wahrscheinlichen. Moͤglichkeiten oder um einfache und fuͤr sich gedenkbare Begriffe, sondern um die individualen Bestimmungen der gegenwaͤrtigen Welt zu thun ist, und wo man sich folglich auf die Sinnen berufen muß. Jndessen ge- schieht es auch, daß man Erfahrungen, so man gehabt hat, andern vorlegt, um sie zu wiederholen, und sie da- durch zu bekraͤftigen, besonders wo man den Einfluß der Jndividualien des subjectiven Scheins zu besorgen hat, z. E. ob man scharf genug sehe, genugsame Ach- tung habe ꝛc. Da hinwiederum Erfahrungen durch Schluͤsse koͤnnen zusammengehaͤngt werden, da man aus einigen andere voraus bestimmen kann, und da sich ebenfalls Saͤtze, die man durch Demonstrationen oder a priori gefunden, bey Erfahrungen anwenden lassen; so fließen diese Quellen oͤfters zusammen, und dienen einander zur Probe. 3. Die Nachrichten haben, an sich betrachtet, den letzten Rang. Denn wo man mit den beyden ersten Arten ausreicht, da dienen sie nur zur Probe oder auch als ein Anlaß. Jndessen machen sie immer den groͤßten Theil unserer Erkenntniß, und den historischen fast ganz aus (§. 233.). Wir koͤnnen auch im weitlaͤuftigsten Verstande unter dem Begriff der Nachrichten, so wie wir ihn hier nehmen, die ganze Summe der Erkenntniß anderer Menschen verstehen, so fern es uns naͤmlich moͤglich ist, sie durch Nachfra- gen und Lesen zu unserer Erkenntniß zu machen. Da es uns auch nicht moͤglich ist, alles, was wir von an- dern erfahren, und was davon aus den beyden ersten Quellen hergeleitet werden, folglich zu einer unmittelba- ren Gewißheit gebracht werden koͤnnte, wirklich daraus herzuleiten, und zu einer solchen Gewißheit zu bringen; so bedienen wir uns der Vergleichungen, um jedes Stuͤck durch die uͤbrigen zu pruͤfen, die Widerspruͤche wegzuschaffen, und einzelne Theile, mit unsern eigenen Erfahrungen und aus Beweisen gefundenen Saͤtzen in Zusam- V. Hauptstuͤck. Zusammenhang zu bringen, und hiezu finden wir in wohlgeschriebenen Buͤchern zubereiteten Stoff, der es uns unnoͤthig macht, das in dieser Absicht bereits erfun- dene, nochmals zu erfinden. §. 259. Die Rangordnung, so wir hier den ver- schiedenen Quellen unserer Erkenntniß gegeben haben, gruͤndet sich darauf, daß zu der einen mehr erfordert wird als zu der andern. Die Demonstrationen for- dern gleichsam nur ein denkendes Wesen, weil sie auf Begriffe gehen, die einfach und fuͤr sich gedenkbar sind. Die Erfahrungen fordern nicht nur ein denkendes Wesen, sondern auch Sinnen, weil sie auf das Jndivi- duale gehen. Die Nachrichten setzen beydes bey andern und zugleich bey uns voraus, weil sie uns das, was andere erkennen, mittheilen. Hingegen hat die Schwierigkeit, aus diesen Quellen Erkenntniß zu erlan- gen, eine andere Ordnung. Was man erfragen kann, erfaͤhrt man am kuͤrzesten. Das Selbsterfahren hat mehrentheils groͤßere Muͤhe und Umwege, indessen ist es ebenfalls kurz, weil man sich mit der Antwort be- gnuͤgt, die die befragte Natur giebt, wenn sie nicht an sich schon vernehmlich genug redet (Dianoiol. §. 599.). Hingegen fordern die Demonstrationen Verstand und Vernunft, und einen hoͤhern Grad von Aufmerk- samkeit, wozu sich die wenigsten aufgelegt finden. Die Gewißheit in Ansehung dieser drey Quellen unserer Er- kenntniß, ist nicht an sich, sondern nur in der Art ver- schieden, wie sie erlangt wird. Denn an sich ist sie immer das Bewußtseyn, daß das, so wir erkennen, wahr sey. Sie hat demnach bey irrigen Saͤtzen, so ferne sie irrig sind, durchaus nicht statt, und in dieser Absicht sind jede Mittel, das Jrrige zu vermeiden, zu- gleich auch Mittel, zur Gewißheit zu gelangen. §. 260. Jnsbesondere kann bey den Demonstratio- nen etwas an der Gewißheit abgehen, wenn sie theils an Von dem Wahrscheinlichen. an sich unvollstaͤndig oder unausfuͤhrlich sind, theils wenn wir sie uns nicht durchaus mit dem behoͤrigen Bewußtseyn vorstellen. Das Rechnen kann uns hier zum deutlichsten Beyspiel dienen. Man setze sich z. E. vor, zwo Zahlen mit einander zu multipliciren. Hier muß man bey jeder einzeln Ziffer, die man schreibt, sich bewußt seyn, daß es diejenige sey, die man schreiben soll, um ohne fernere Probe versichert zu seyn, daß man das rechte Product herausbringe. Auf so viele einzel- ne Stuͤcke man dabey Achtung zu geben hat, so muß man in Ansehung eines jeden sich bewußt seyn, daß man darauf Acht habe. Was hiebey fehlt, das fehlt zu- gleich an der Gewißheit von der Richtigkeit des Pro- ductes. Das behoͤrige Bewußtseyn, von dem wir hier reden, ist eben so, wie die Gewißheit, die es her- vorbringt, eine absolute Einheit, und wird nie groͤßer. Hingegen kann es kleiner seyn, wo naͤmlich Unacht- samkeit, Ermuͤdung der Aufmerksamkeit, und von andern Empfindungen und Gedanken herruͤhrende Zer- streuung derselben, verursachen, daß man nicht dar- auf allein oder nicht vollstaͤndig Achtung giebt. Diese absolute Aufmerksamkeit, deren gradus intensitatis oder Staͤrke = 1 ist, muß auf jede Theile der Demon- stration gehen, und bis man sie durchgedacht hat, mit gleicher Staͤrke fortdauern. Dieß ist nun besonders bey verwickeltern Demonstrationen nicht jedermanns Ding, weil die erst angefuͤhrten Hindernisse sich bey den meisten Menschen leichter und fruͤher einfinden, und daher aus bloß subjectiven Gruͤnden verursachen, daß das Bindwoͤrtgen in dem Schlußsatze mit einem Bruche behaftet wird (§. 189.). §. 261. Hier waͤre nun allerdings zu wuͤnschen, daß wir einen Maaßstab haͤtten, woran sich diese Einheit des vollstaͤndigen Bewußtseyns, und dessen Theile erken- nen und ausmessen ließen. Denn allem Ansehen nach Lamb. Organon II B. D d ist V. Hauptstuͤck. ist der Mangel desselben ein Grund mit, warum sich in unsere Erkenntniß Jrriges und Ungewißscheinendes ein- schleicht, und warum man die Gewißheit als eine sehr mißliche Sache ansieht, weil man gar zu leicht in den oben schon (§. 219. 247.) angemerkten Fehler faͤllt, und das Gewisse mit dem Ungewissen vermengt. An sol- chen Faͤllen, wo diese Einheit wirklich statt hat, ist eben kein Mangel. Die Schwierigkeit liegt nur darinn, daß wir es in jedem einzeln Fall auf das Empfinden selbst muͤssen ankommen lassen, weil die Gewißheit in- dividual ist (§. 247.). Denn sie ist an Person und Zeit und Materie gebunden. §. 262. So fern wir in Vorstellungen und Empfin- dungen, die weitlaͤuftiger sind, die Gewißheit durchaus erhalten wollen, so hat dieselbe drey Dimensionen. 1. Die Staͤrke des Bewußtseyns, und diese muß durch- aus = 1 seyn. 2. Die Ausdehnung desselben, und dieses muß sich auf jede Theile erstrecken, um Wider- spruͤche und Luͤcken zu vermeiden. 3. Die Dauer; und da muß die Staͤrke fortwaͤhren, bis alle Theile durchgedacht sind. Von diesen dreyen Dimensionen gehoͤrt die erste und dritte schlechthin zu dem subjectiven Theile der Gewißheit, weil auch die Hindernisse (§. 260.) subjectiv sind. Hingegen geht die zweyte oder die Aus- dehnung der Aufmerksamkeit auf die Sache selbst, so fern die Vorstellung wahr und vollstaͤndig seyn soll. Wir haben sie daher in der Alethiologie (§. 204—221.) besonders betrachtet. §. 263. Wir koͤnnen nun auf die oben (§. 249.) vor- gelegte Frage, was moralische Gewißheit sey, folgendes antworten: 1. So fern man sie der geometrischen, die aus De- monstrationen herruͤhrt (§. cit. ), entgegensetzt, so ist sie dem Ursprung nach davon verschieden, weil sie Von dem Wahrscheinlichen. sie aus Empfindungen und Nachrichten erwaͤchst, oder dabey vorkoͤmmt (§. 250.). 2. Dieses hindert aber nicht, daß die Gewißheit nicht auch sollte bey Empfindungen und Nach- richten = 1, oder vollstaͤndig seyn koͤnnen (§. 246. 247. 258.). Jn so ferne ist sie demnach nur der Art nach von der geometrischen verschieden (§. 259. 260.). 3. Ferner ist die geometrische Gewißheit mit der De- monstration nicht so verbunden, daß sie nicht auch aus subjectiven Ursachen und Hindernissen sollte wegbleiben koͤnnen (§. 260.). 4. Sieht man aber auf die Form des Vortrages, so haben die Demonstrationen in Wissenschaften, die im strengsten Verstande a priori sind, alle Schaͤrfe, Ordnung und Vollstaͤndigkeit, und sind darinn von einer bloßen Aufhaͤufung von Argu- menten wesentlich verschieden. 5. Sieht man bey solchen Argumenten nicht darauf, ob ihre Summe ein Ganzes ausmache, so kann daraus, wenn sie in der That zureichend sind, ei- ne Art von Gewißheit entstehen, die aber von den drey vorhin erwaͤhnten Arten darinn verschieden ist, daß sie einer logischen Entwicklung und Ord- nung der Gruͤnde bedarf, ohne welche sie von dem bloß Wahrscheinlichen nicht unterschieden werden kann (§. 171. 172. 174. 180. 183. 240.). §. 264. Wenn es daher nur um Namen zu thun ist, diese Arten der Gewißheit zu unterscheiden, so kann man die, so aus Demonstrationen a priori er- waͤchst, geometrisch, die, so aus Empfindungen ent- steht, physisch, die, so bey Nachrichten vorkoͤmmt, historisch; alle drey Arten aber logisch nennen, weil die Gewißheit dabey ohne die logische Form, nur tumultuarisch seyn wuͤrde. Diesen Namen aber D d 2 koͤnnen V. Hauptstuͤck. koͤnnen wir fuͤglicher derjenigen Gewißheit geben, die bey Argumenten statt haben kann, wenn diese an sich zwar zureichend sind, aber ohne Auswahl aufgehaͤuft werden. Die moralische Gewißheit mag nach die- ser Aussonderung der uͤbrigen Arten, da vorkommen, wo die Gruͤnde und Argumente fuͤr den Willen oder von dem Willen hergenommen sind (§. 229. 230.). §. 265. Diese verschiedenen Arten der Gewißheit kommen nun nicht immer einzeln, sondern mehrentheils vermischt vor, und oͤfters laͤßt sich eine in die andere verwandeln, wie es aus den vorhin (§. 255.) angefuͤhr- ten Beyspielen erhellet. Da es besonders um die tu- multuarische Gewißheit sehr mißlich aussieht, so ha- ben wir uns in diesem ganzen Hauptstuͤcke angelegen seyn lassen, zu zeigen, wie sie durch eine schickliche Aus- wahl und Vergleichung der Argumente ins Reine ge- bracht werden koͤnne, und eine logische Gestalt bekom- me. Sodann ist es fuͤr sich klar, daß, wo die histo- rische Gewißheit in eine physische, und auch diese in eine geometrische verwandelt werden kann, man da- bey allerdings gewinne (§. 258.). Dieß ist auch der Grund, warum die Mathematiker in der angewandten Mathesi, wo sie Erfahrungen und Nachrichten gebrau- chen, sich die Muͤhe geben, alle Saͤtze, die aus bloß geometrischen Gruͤnden a priori erweisbar sind, in Form von Lehnsaͤtzen vorzutragen, und daß auf glei- che Art auch mehrere logische Lehnsaͤtze zu wuͤnschen waͤren (§. 180.), weil man auf diese Art alle allgemeine und im strengsten Verstande a priori erweisbare Ver- haͤltnisse der Wahrheiten von Erfahrung und Nachrich- ten unabhaͤngig, und zugleich allgemeiner anwendbar machen wuͤrde. Da ferner das, so man a priori er- weisen kann, auf einfachen und fuͤr sich gedenkbaren Begriffen beruht, so hat man die Vorstellung der Sa- che und ihre Erneuerung immer in seiner Gewalt. Hinge- Von dem Wahrscheinlichen. Hingegen muß man sich bey der physischen Gewißheit, der Empfindungen errinnern, und kann sie im Fall des Vergessens nicht immer so leicht wiederum erneuern. Daß die historische oder aus Nachrichten erlangte Ge- wißheit noch leichter verlohren gehen koͤnne, ist fuͤr sich klar, es sey, daß das Ansehen des Aussagers vergessen oder wankend wird, oder daß man im Nachsagen die Aussage nicht so genau beybehaͤlt, oder von dem Bey- behalten keine so zuverlaͤßige Gruͤnde geben kann. Um desto mehr hat man demnach auf die Verwandlung der Gewißheiten in dauerhaftere und unmittelbarere zu sehen. Sechstes Hauptstuͤck. Von der Zeichnung des Scheins. §. 266. D ie Phaͤnomenologie beschaͤfftigt sich uͤberhaupt da- mit, daß sie bestimme, was in jeder Art des Scheins real und wahr ist, und zu diesem Ende entwik- kelt sie die besondern Ursachen und Umstaͤnde, die einen Schein hervorbringen und veraͤndern, damit man aus dem Schein auf das Reale und Wahre schließen koͤnne. Wir haben bereits in dem ersten Hauptstuͤcke (§. 2. seqq. ) angemerkt, daß die Optiker uns laͤngst schon ei- nen Lehrbegriff des sichtbaren Scheins gegeben, und die Phaͤnomenologie in ihrem allgemeinsten Umfange eine transcendente Optik genennt werden koͤnne, so fern sie uͤberhaupt aus dem Wahren den Schein, und hin- wiederum aus dem Schein das Wahre bestimmt. Die- ses thut die Optik in Absicht auf das Auge. Sie geht D d 3 aber VI. Hauptstuͤck. aber noch weiter, und giebt in der Perspective Mittel an, den Schein der sichtbaren Dinge zu malen, oder ih- re scheinbare Gestalt so zu zeichnen, daß die Zeichnung eben so in das Auge falle, als die Gegenstaͤnde selbst, wenn beyde aus dem dazu gewaͤhlten Gesichtspunkt be- trachtet werden. Wir haben diesen Begriff der Per- spective bereits (§. 4.) allgemeiner genommen, und den- selben auf die ganze Phaͤnomenologie ausgedehnt, und werden nun umstaͤndlicher bestimmen, was diese tran- scendente Perspective, in diesem weitlaͤuftigen Um- fange genommen, fuͤr besondere Arten und Theile be- greift, und in dieser Absicht werden wir den Be- griff der optischen Perspective stuffenweise allgemeiner machen. §. 267. Wir merken demnach an, daß die perspe- ctivische Zeichnung des Scheins jedesmal auf einen Gesichtspunkt eingeschraͤnkt ist. Hierinn ist nun die Bildhauer-Modellir- und Poßirkunst allgemei- ner, weil das Bild oder das Modell die abgebildete oder modellirte Sache in jeden Gesichtspunkten eben so vorstellen soll, wie sich in demselben die Sache selbst zeigt, und uͤberdieß nicht nur dem Auge, sondern auch dem Gefuͤhl einerley Schein zeigen muß. Wir mer- ken hiebey an, daß man in solcher Nachahmung ei- gentlich nur auf die koͤrperliche Gestalt sieht, so fern sie sichtbar und fuͤhlbar ist, und daß hingegen diese Ge- stalt der Groͤße nach von dem Original verschieden seyn koͤnne, wenn nur jede Theile in der Lage und Propor- tion dem Original aͤhnlich bleiben. §. 268. Noch weiter aber geht man in solchen Nach- ahmungen, wenn man selbst auch den Stoff eines Koͤrpers durch Kunst nachzumachen sucht, wie z. E. bey nachgemachten Perlen, Edelgesteinen, Metallen, Mine- ralien, Arzneyen, Speisen, Getraͤnken ꝛc. wobey, wie wir bereits oben (§. 76.) bey der Betrachtung dieser Art Von der Zeichnung des Scheins. Art des Scheins angemerkt haben, oͤfters kuͤnstlichere Proben angestellt werden muͤssen, wenn man sich durch das Blendwerk nicht will betriegen noch taͤuschen lassen. §. 269. Das Theater beut uns ferner einen be- traͤchtlichen Theil der allgemeinen Perspective an, weil es in allen Absichten desto vollkommener ist, je genauer jede Theile die Sache selbst vor Augen zu stellen schei- nen. Da die Einschraͤnkung auf eine sehr kurze Zeit, und maͤßig geraͤumigen Ort diese Nachahmung dessen, was in der Welt vorgeht, eben nicht durchaus moͤglich macht; so ist die Frage, was der Zuschauer sehen, oder was er nur erzaͤhlungsweise vernehmen soll, in Absicht auf die Schauspiele, von nicht geringer Erheblichkeit, wenn man wenigstens das gar zu Unna- tuͤrliche in der Vorstellung vermeiden will. Denn bey kleinern Abweichungen von dem Natuͤrlichen im Schein ist es gar wohl moͤglich, die Aufmerksamkeit des Zu- schauers staͤrker auf die Hauptsache zu lenken, daß er das uͤbrige nicht achtet, oder es entschuldigt. Die Strei- tigkeiten, die in dieser Absicht uͤber den Cid des Cor- neille sind gefuͤhrt worden, sind bekannt, und moͤgen einem Kunstrichter Stoff geben, die hier vorgelegte Fra- ge aus ihren wahren Gruͤnden zu eroͤrtern, wie ferne man, ohne wider das Natuͤrliche merklich zu verstos- sen, in Schauspielen dem Zuschauer mehr als eine bloße Unterredung vorstellen koͤnne? §. 270. Wir koͤnnen ferner jede Nachahmung der Geberden und Reden anderer Menschen, und noch viel- mehr jede Verstellung, als einzelne Stuͤcke der tran- scendenten Perspective ansehen, weil bey Verstellungen der Schein einer ganz andern Gemuͤthsverfassung, Ab- sicht, Vorsatzes, Charakters ꝛc. gezeigt wird, als wirklich in dem Menschen ist, der sich verstellt, dieser Schein mag nun in Geberden, Worten oder Handlungen, oder in allen zugleich bestehen. Die geschickte und unge- D d 4 zwungene VI. Hauptstuͤck. zwungene Nachahmung der Geberden gehoͤrt mit unter die Vollkommenheiten des Schauspieles, und wird auch einem Redner, als ein Mittel, den Vortrag zu beleben, zur Zierde gerechnet. Hingegen gehoͤrt die Frage von der Zulaͤßigkeit der Verstellung in die Sittenlehre, und wird darinn billig verworfen, wenn sie zum Nachtheil anderer gebraucht wird. §. 271. Das Gedankenreich beut uns ebenfalls Stoff zu einem betraͤchtlichen Theile der transcendenten Perspective an. Es geschieht nicht selten, daß wir uns die Sachen nach demjenigen Gesichtspunkt vorstellen muͤssen, aus welchem sie andere betrachten, es sey, daß wir uns in Gedanken an ihre Stelle setzen, oder daß wir wenigstens von ihrer Vorstellungsart uns einen Begriff machen muͤssen. Letzteres geschieht, wenn wir sehen oder wenigstens uns einbilden, daß wir nicht glei- cher Meynung mit ihnen sind, oder wenn ihr Verfahren mit unserer Gedenkensart nicht uͤbereinkoͤmmt. Erste- res aber thun wir, um uns die Umstaͤnde, worinn an- dere sich befinden, lebhafter und vollstaͤndiger vorzustel- len, und sie mit ihrem Betragen und Entschließungen zu vergleichen, oder auch dahin dienende Anschlaͤge zu geben. Die Redensarten: Jch sehe nun schon, wie Cajus sich die Sache vorstellt; wenn ich an seiner Stelle waͤre, so ꝛc. Wer Titium kennt, wird sich nicht verwundern, daß ꝛc. und mehrere dergleichen, geben die Faͤlle zu erkennen, wo die hier er- waͤhnte Perspective vorkoͤmmt, und zugleich auch, daß sie von sehr haͤufigem Gebrauche ist, besonders, wo man jemand seinen Jrrthum und den Ursprung dessel- ben aufklaͤren, ihn zurechte weisen, ihm Anschlaͤge ge- ben, oder auch sein Betragen nach der Billigkeit beur- theilen will. §. 272. Das Zuruͤckdenken und Ueberlegen unserer eigenen sowohl dermaligen als auch ehmals gehabten Gedan- Von der Zeichnung des Scheins. Gedanken gehoͤrt ebenfalls hieher, und kann uns zu aͤhn- lichen Absichten dienen, weil dadurch Leichtsinnigkeit, Unbedachtsamkeit, Jrrthum und Uebereilung vermieden werden kann, und weil wir uns ohne ein solches Zuruͤck- denken von jedem Blendwerke des Scheins wuͤrden hin- reißen lassen. Wir stellen uns dadurch mit Bewußt- seyn in den Gesichtspunkt, in welchem wir uns ohnehin befinden. Dieses Bewußtseyn aber macht uns zugleich, daß wir in Stand gesetzt werden, das bloß Scheinbare in unsern Vorstellungen von dem Wahren zu unter- scheiden, und die Seite, von welcher wir uns die Sache vorstellen, schlechthin als eine Seite, nicht aber als die ganze Sache anzusehen. §. 273. Das allgemeinste Mittel aber, sowohl die Sachen als ihren Schein und die Begriffe zu bezeich- nen, giebt uns die Sprache an, wenn wir naͤmlich das, was uns die Sache, aus jedem Gesichtspunkt be- trachtet, zu seyn scheint, und so auch, was sie an sich ist, mit Worten beschreiben. Wir haben bereits im zwey- ten Hauptstuͤcke (§. 91. seqq. ) angemerkt, daß es bey Erfahrungen, Beobachtungen und Versuchen nothwen- dig sey, den physischen Schein zu beschreiben, damit man das Wahre sodann durch Schluͤsse herausbringen, und dadurch das Geschlossene von dem Beobachteten genau unterscheiden koͤnne. Die verschiedenen Faͤlle, die sich dabey eraͤugnen, haben wir ebendaselbst bereits ange- fuͤhrt. Werden uns aber Erfahrungen von andern er- zaͤhlt, und dabey der Schein mit dem Wahren, oder mit dem, was ihnen wahr zu seyn vorkam, vermengt, so koͤmmt ebenfalls auch die Frage vor, wie ferne wir aus der Erzaͤhlung den Schein, so wie er bey der Er- fahrung war, wieder heraus bringen koͤnnen? Laͤßt sich dieses thun, so sind wir auch besser im Stande, zu be- urtheilen, ob das Wahre richtig daraus geschlossen wor- den. Man sehe, was wir in vorhergehendem Haupt- D d 5 stuͤcke VI. Hauptstuͤck. stuͤcke, in Absicht auf die Untersuchung und Vergleichung der Aussagen und Zeugnisse, hieruͤber angemerkt haben (§. 234. 241.). §. 274. Die Dichtkunst beschaͤfftigt sich vornehm- lich, uns die Dinge nach ihrem Schein vorzumalen, und durch ihre Vorstellungen diejenigen Eindruͤcke voll- staͤndig hervorzubringen, die die Empfindung der Sache selbst in uns machen wuͤrde, wenn wir sie aus dem Ge- sichtspunkt saͤhen, aus welchem sie der Dichter vorstellt, und in den er uns gleichsam in Gedanken versetzt. Die Vollstaͤndigkeit dieses Eindruckes macht, daß der Dich- ter sich mit den eigenen Namen der Dinge nicht so schlechthin begnuͤgen kann, sondern der Beschreibung derselben einen lebhaftern Schwung geben muß, damit die Seite, von welcher er die Sache vorstellt, ganz auf- gedeckt uns vorgelegt werde. Solche Gemaͤlde unter- scheiden sich stuffenweise von den Beschreibungen, die ein Redner von eben der Sache geben wuͤrde, und die an sich schon mehr enthalten muß, als eine bloß histori- sche Nachricht oder Erzaͤhlung, oder eine wissenschaftli- che Beschreibung und Zergliederung der Sache. Letz- tere geht auf das Wahre, und gebraucht die eigenen Namen und Kunstwoͤrter, um alles genau zu benennen, und den Schein als Schein, das Wahre als wahr an- zuzeigen. Die historische Erzaͤhlung, so fern wir sie der wissenschaftlichen entgegensetzen, laͤßt Wahres und Schein ungetrennt, und beschreibt beydes, ohne viele Kunstwoͤrter mit einzumengen, und ohne Absicht oder unpartheyisch. Ein Redner aber richtet seine Beschrei- bung der Absicht der Rede gemaͤß ein, damit sie zur Erleuchtung, Beredung und Bewegung der Affecten diene, weil er um den Eindruck besorgt seyn muß, den jede Theile seiner Rede auf den Zuhoͤrer machen sollen. Die Vermeidung des Uebertriebenen schraͤnkt den Red- ner so ein, daß in der Rede alles ungesucht und unge- zwungen Von der Zeichnung des Scheins. zwungen auf einander folge, und der Affect, in den die Zuhoͤrer kommen sollen, muß selbst auch bey dem Red- ner erst aus der Rede entstehen, so oft naͤmlich nicht schon der Anlaß der Rede dem Zuhoͤrer so bekannt ist, daß diesem der Affect nicht unerwartet vorkoͤmmt. So gemessen aber verfaͤhrt der Dichter nicht, weil das Ge- dicht eine Frucht seines Enthusiasmus oder Begeiste- rung ist. Er malt die Seite der Sache, die er sich in dem angenommenen Gesichtspunkt schon ganz vorstellt, mit allen Eindruͤcken, die sie bey ihm auf die Erkennt- niß und Begehrungskraͤfte macht, und bey den Lesern machen solle. §. 275. Jn Ansehung dieses Verfahrens der Red- ner und Dichter ist nun leicht anzumerken, daß sie ge- wissermaßen das Gegentheil dessen thun, was der Welt- weise sich vorsetzt, der wissenschaftliche Erkenntniß sucht. Beyde erstere erstrecken ihr Gebiet nicht uͤber die gemei- ne Erkenntniß und auch nicht uͤber ihre Form. Der Redner traͤgt nicht foͤrmliche Demonstrationen, sondern Argumente vor, und diese haͤuft er auf, ohne daruͤber Rechnung zu tragen, ob ihre Summe ein Ganzes aus- mache. Selbst auch Demonstrationen verwandelt er in solche Argumente, um ihnen die wissenschaftliche Form zu benehmen, und daher ist die Gewißheit, die er sucht, diejenige, so wir in vorhergehendem Hauptstuͤcke tumul- tuarisch genennt haben (§. 264.). Der Dichter faßt seine Argumente noch ungleich kuͤrzer. Denn wer sollte ihm nicht glauben, da ihn die bloße Vorstellung der Sache schon ganz dahinreißt und in Affect setzt? Der moralische Schein, von dem wir in dem vierten Haupt- stuͤcke gezeigt haben, daß er ganz subjectiv ist, und bey Untersuchung der Wahrheit vermieden werden muß, ist gleichsam das Hauptwerk des Dichters, und sein En- thusiasmus ist der daselbst (§. 145. seq. ) angepriesenen Gemuͤthsruhe ganz entgegengesetzt. Da demnach Red- ner VI. Hauptstuͤck. ner und Dichter, so fern sie solche sind, das Wahre und das Wahrhaftgute so genau nicht abwaͤgen, so haben sie allerdings den Stoff zu ihrem Vortrage von dem Weltweisen zu borgen, um ihn so einzukleiden, daß er auch denen faßlich werde, die weder Muße noch Faͤhig- keit haben, dem Weltweisen in seinen genauern und tiefsinnigern Untersuchungen zu folgen, und die sich durch Affecten lenken lassen, wohin ihr Wille, aus Mangel der behoͤrigen Deutlichkeit der Vorstellungen, nicht rei- chen mag. Eine rednerische oder poetische Vorstellung mag so einnehmend scheinen, als es immer seyn mag, so geht derselben immer der wesentlichste Vorzug ab, wenn sie auf Jrrthum gegruͤndet ist. Sie bleibt unbrauch- bar oder man gebraucht sie mit Nachtheil. Die Seite der Sache, die der Dichter vorstellt, muß wirklich eine Seite derselben seyn, oder wenigstens seyn koͤnnen, und die Bilder, die er gebraucht, um sie lebhafter auszuma- len, muͤssen sich wirklich dazu koͤnnen gebrauchen lassen, wenn anders der Leser am Verstand und Willen gebes- sert werden soll. §. 276. Jns besondere wird die oben (§. 141.) ge- machte Anmerkung, daß die moralischen Wahrheiten einander einschraͤnken, und die daraus gezogenen Folgen von den Rednern und mehr noch von den Dichtern bey- seite gesetzt, als welche gewoͤhnlich auf eine von solchen Wahrheiten zum Nachtheil der uͤbrigen dringen, da- durch sie sollte eingeschraͤnkt werden. Daher kann es kommen, daß, wer sich von dem in moralischen Reden und Gedichten herrschenden Affecten leicht einnehmen laͤßt, nach und nach von ganz entgegengesetzten Affecten hingerissen wird, ohne daß er das Ebenmaaß zwischen allen bestimmen, und sich nach diesem richten koͤnnte. Man kann aber dieses den Rednern und Dichtern um so weniger zur Last legen, da die genauere Bestimmung von den Schranken der Wichtigkeit jeder moralischen Wahr- Von der Zeichnung des Scheins. Wahrheit ihres Thuns nicht ist, und da selbst die Aga- thologie, die wissenschaftlich und ein Werk des Weltwei- sen seyn sollte, die oben (§. 131.) dazu erforderte Voll- kommenheit noch lange nicht erreicht hat. §. 277. Man hat aber in Ansehung der vorhin (§. 275.) angefuͤhrten Betrachtungen allerdings den Unterschied zu machen, ob der Dichter selbst redet, oder ob er andere redend einfuͤhrt. Jm ersten Fall wird al- ler Eindruck, den das Gedicht macht, auf des Dichters Rechnung gesetzt, so fern naͤmlich der Leser nicht, ohne Verschuldung des Dichters, eigenes mit einmengt. Jm andern Fall hat der Dichter allerdings die Freyheit, je- den an sich moͤglichen Charakter vorzustellen, wie es in dramatischen Stuͤcken und Epopeen haͤufig geschieht. Jedoch schraͤnkt ihn die Moral auch so fern ein, daß er bey Vorstellung schlechter Charakter vermeide, daß sie nicht die Wirkung von schlechten Beyspielen haben, son- dern bey dem Leser Widerwillen und Abneigung erwe- cken, und hingegen Zweifel wider die Wahrheit und kraͤftige oder gegebene Aergernisse vermieden werden. §. 278. Da der Dichter, so fern er selbst redet, die Seite der Sache, die er sich in dem angenommenen Gesichtspunkt vorstellt, mit allen Eindruͤcken vormalt, die sie auf seine Erkenntniß und Begehrungskraͤfte ma- chen; so macht in seinem Gemaͤlde der subjective Theil des Scheins einen betraͤchtlichen Theil desselben aus, und das individuale in der Gedenkens- und Gemuͤths- art des Dichters mengt sich durchaus mit ein. Man kann daher leicht den Schluß machen, daß das Erhab- nere in den Gedanken, das Feinere in den Bildern der Einbildungskraft, und das Edlere in den Affecten bey dem Dichter selbst seyn muß, wenn es zu dem Gemaͤl- de ungesuchten und ungezwungenen Stoff geben, und selbst auch die Sache und ihre Seite bestimmen soll, die VI. Hauptstuͤck. die der Dichter seines Enthusiasmus werth achtet, oder die denselben bey ihm erweckt. Dieses macht, daß wenn auch ein Dichter sich das wahrhafte Edle, Erhabene und Feinere von dem Weltweisen bestimmen laͤßt, derselbe dennoch von Natur ein Geschicke haben muß, durch die Vorstellung desselben in den Enthusiasmus zu kommen, ohne welchen sein Gedicht von einer bloß historischen Nachricht nicht viel verschieden seyn wuͤrde. Die wah- re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus dem Schwung der Gedanken, sondern vornehmlich auch aus den Gedanken selbst bestimmt. §. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter vor, es sey daß er sie nur beschreibt, oder sie redend einfuͤhrt, oder beydes zugleich thut, so muß er sie eben- falls mit dem Eindrucke vorstellen, den sie auf sein Ge- muͤth machen, wenn anders die Vorstellung wirklich poetisch und nicht eine bloß historische Nachricht seyn soll. Soll nun hiebey die Einschraͤnkung der Moral (§. 277.) seinem Enthusiasmus keinen Einhalt thun, so ist fuͤr sich klar, daß die Gemuͤthsverfassung des Dich- ters von Natur schon dazu muͤsse eingerichtet seyn, das Liebens- und Verabscheuenswuͤrdige eines jeden Charak- ters in das Gemaͤlde desselben mit einfließen zu lassen. Dieses macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re- dend einfuͤhrt, einen gedoppelten Gesichtspunkt, und oͤfters auch einen vielfachen zu seinem Gemaͤlde hat. Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingefuͤhrte Person die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen Gesichtspunkte, aus welchen die Personen, mit denen sie redet, eben die Dinge ansehen. Und endlich der Ge- sichtspunkt, aus welchem der Dichter selbst die ganze Scene betrachten, und welcher zugleich auch der Ge- sichtspunkt seiner Leser werden soll. Dieser letztere Gesichtspunkt unterscheidet das Werk des Dichters, so fern Von der Zeichnung des Scheins. fern er Dichter ist, von einer historischen Erzaͤhlung, als welche die Sache an sich und ohne besonders gewaͤhlten Gesichtspunkt beschreiben, und daher den subjectiven Theil des Scheins ganz weglassen solle (§. 274. 278.). §. 280. Die Gemaͤlde des Dichters koͤnnen an sich schon erheblich genug seyn, die Aufmerksamkeit des Le- sers zu beschaͤfftigen. Es giebt aber besonders in dra- matischen Stuͤcken und Epopeen solche Stellen, wo der Leser Gemaͤlde erwartet, und der Dichter selbst muß sol- che Stellen veranlassen, um sich der staͤrkern und anhal- tenden Aufmerksamkeit des Lesers desto mehr zu versi- chern. Solche Gemaͤlde sind in Absicht auf den Leser von zweyerley Arten. Denn entweder sieht er den Jnn- halt uͤberhaupt betrachtet voraus, und da will er ihn nur von dem Dichter geschildert wissen, und dieses for- dert einen hoͤhern Grad des Enthusiasmus, wie z. E. wenn Contraste oder Excesse von Affecten zu malen sind: oder der Leser sieht den Jnnhalt nicht voraus, wie z. E. wenn durch neue Vorfaͤlle die Gesichtspunkte der Per- sonen geaͤndert werden, die der Dichter vorstellt, und da will der Leser die Eindruͤcke wissen, die die geaͤnderten Umstaͤnde auf jede machen, und welchen Einfluß sie auf den noch ungewissen Ausgang haben koͤnnen, oder wie ferne sie denselben noch ungewisser machen. Die Sei- ten, von welchen die eingefuͤhrten Personen die Sache ansehen, sind objectiue verschieden, so oft einige Theile von Verhaͤltnissen der Sache der einen Person bekannt, der andern verborgen sind, subjectiuc aber, so fern auch bey einerley Theilen und Verhaͤltnissen der Sache jede Person das Jndividuale ihrer Gedenkens- und Ge- muͤthsart und Gesinnungen mit der Vorstellung solcher Theile und Verhaͤltnisse verbindet. Beyde Verschie- denheiten und die durch neue Vorfaͤlle veranlaßten Ab- aͤnderungen darinn, geben der Sache in Absicht auf die Leser VI. Hauptstuͤck. Leser eine Mannigfaltigkeit und Verwicklung, die seine Aufmerksamkeit in allewege beschaͤfftigt. §. 281. Der Dichter kann sich, ohne seinen Enthu- siasmus zu schwaͤchen, und in dem Gedichte matter zu werden, nicht so genau nach der Gedenkensart der Leser richten, es sey denn, daß sein Enthusiasmus durch diese mit veranlaßt werde. Sein Thun ist, das Gemuͤth des Lesers wie ein Strom mit fortzureißen. Hingegen ist der Redner ungleich mehr daran gebunden, seinen Vor- trag auf die Gedenkensart der Zuhoͤrer zu gruͤnden, und diese auch nur in so ferne zu aͤndern, als er seinen Vor- trag nicht darauf gruͤnden kann. Dieses macht aller- dings, daß er sich den Gesichtspunkt vorstellen muß, aus welchem seine Zuhoͤrer den Vortrag ansehen wuͤr- den, wenn er ihn schlechthin sagte, damit er die densel- ben noch unbekannte Seiten und Verhaͤltnisse der Sache aufdecken, und sie so vorzeigen koͤnne, daß sie in dem Gemuͤthe der Zuhoͤrer den behoͤrigen Eindruck machen. §. 282. Dieses koͤmmt nun selbst im gemeinen Le- ben, so fern man die Menschen nehmen muß, wie sie sind, sowohl in Absicht auf die Reden, als auf die Ent- schluͤsse und Handlungen, ebenfalls vor. Je genauer man den Gesichtspunkt kennt, aus welchem andere sich die Sachen vorstellen, desto leichter ist es auch, ihre Ge- danken, Entschluͤsse und Handlungen gleichsam voraus zu bestimmen, und zu finden, wieferne sie hinderlich oder befoͤrderlich seyn werden, wenn man ihnen seine Absich- ten entdeckt, oder ihnen auch nur einzelne Stuͤcke davon sehen laͤßt. Wie man solche Kenntniß der Gesichts- punkte anderer Menschen gebrauchen koͤnne, auch ihnen hinwiederum nuͤtzlich zu seyn, haben wir bereits oben (§. 271.) angezeigt, und fuͤhren es hier nur an, weil beydes mit einander verbunden seyn solle. §. 283. Von der Zeichnung des Scheins. §. 283. Die Aussicht in die Zukunft macht ebenfalls ein Theil der transcendenten Perspective aus, und ist desto er- heblicher, weil die Beweggruͤnde fuͤr den Willen, wenn man die reinen und edlen Triebe der Dankbarkeit ausnimmt, durchaus von dem Zukuͤnftigen hergenommen sind. Was zur Bestimmung und Voraussehen der kuͤnftigen Umstaͤnde und Veraͤnderungen erfordert werde, haben wir bereits in vorhergehendem Hauptstuͤcke (§. 164.) angezeigt. Die per- spectivische Vorzeichnung des Zukuͤnftigen setzt die Gewiß- heit desselben voraus, und gemeiniglich gebraucht man sie, wenn man sich oder andere zu Entschluͤssen bereden will, de- ren Ausfuͤhrung eine Reihe von Folgen nach sich zieht, die etwas Angenehmes, Anlockendes, Vortheilhaftes ꝛc. an sich haben. Das Allgemeine dabey aber, das sich nicht nach ein- zelnen Umstaͤnden richtet, sondern auf das Leben uͤberhaupt geht, besteht in jeden Beweggruͤnden und Vorstellungen, wodurch die Gemuͤthsruhe (§. 146.) versichert, und erwie- sen wird, daß die Zufriedenheit und die daherruͤhrende Stille und Gluͤckseeligkeit nicht in aͤußern Umstaͤnden, son- dern in der Seele ihren Sitz habe. Ein Stoff, der Dichter schon oft beschaͤfftigt hat, und noch mehr beschaͤfftigen kann, zumal wenn diese Zufriedenheit nicht mit einer stoischen Un- empfindlichkeit und Gleichguͤltigkeit vermengt werden soll (§. 141. 278.). Uebrigens giebt die mit Hoffnung und Be- sorgniß vermengte Aussicht in die Zukunft dem Dichter in dramatischen Stuͤcken ruͤhrende Scenen an die Hand, es sey daß der Leser den Ausgang voraus wisse, und ihm folglich das Gemaͤlde nur wegen eigener Schoͤnheit gefalle, oder daß er selbst noch in der Ungewißheit des Ausganges gelassen werde, und indem er sich fuͤr die redende Person interessirt, gleichsam Trost und Besorgniß mit derselben theile. §. 284. Sofern die Musik dienen kann, Affecten zu erre- gen, oder sie auszudruͤcken, oder auch nur die Poesie zu bele- ben, laͤßt sie sich ebenfalls hieher rechnen, wiewohl es uͤber- haupt schwer zu bestimmen ist, wieferne die Musik Gedan- ken und Empfindungen bezeichnet, oder statt einer Spra- che dient. Die Redekunst, und mehr noch die Poesie hat in dem Schwunge der Perioden und Abwechslung des Syl- benmaaßes etwas Musikalisches, oder eine Harmonie, die dem Ohr gefaͤllt, und den Vortrag einnehmender macht. Aus gleichem Grunde mag auch der Gesang viel dazu Lamb. Organon II B. E e bey- VI. Hauptstuͤck. beytragen, den Nachdruck der Worte lebhafter zu machen, wenn der Affect die Melodie angiebt. Daß auch die bloße Jnstrumentalmusik Affecten und Bewegungen des Leibes er- regen koͤnne, lehrt die Erfahrung. Der Klang der Feldmu- sik muß allerdings von dem Angenehmen einer Serenate, und auch diese von dem zum Tanzen aufmunternden Tone, in Ansehung der Jnstrumente und Melodien verschieden seyn. Die Bestimmung der feinern Unterschiede jeder Jnstrumen- te, Melodien und Toͤne und ihrer Wirkungen auf das Ge- muͤth mag demnach viel dazu beytragen, den Nachdruck der Worte in der Vocalmusik durch die behoͤrige Auswahl des Tones und der Singweise zu erhoͤhen, zumal wenn noch die besondern Modificationen der Stimme, welche haͤrter, weicher, aufgereimter, klaͤglich, wehmuͤthig ꝛc. seyn kann, und die selbst ein Redner ohne Ruͤcksicht auf die Musik muß abzuaͤndern und dem Jnhalt der Rede gemaͤß zu gebrauchen wissen, mit in Betrachtung gezogen werden. Daß von al- lem diesem vieles unter die Vollkommenheiten des Thea- ters gehoͤre, ist aus dem oben davon gesagten (§. 269. seq. ) fuͤr sich klar. §. 285. Bisher haben wir nun die besondern Theile der transcendenten Perspective angezeigt. Aus ihrer Vergleichung erhellet allerdings, daß sie merklich von einander verschie- den sind, und jeder einen sehr ausgedehnten Umfang hat. Sie unterscheiden sich vornehmlich in demjenigen, was zur Vorstellung der Sache gewaͤhlt wird, und welches in Ge- maͤlden, Modellen, Bildern, Nachahmungen, Handlungen, Geberden, Gedanken, Worten, Toͤnen ꝛc. besteht, und theils mit der vorgestellten Sache von einerley, theils auch von verschiedener Art ist. Was wir aber bey allen voraus se- tzen, ist, daß dadurch nur der Schein der Sache vorgestellt werde, denn auch nur in so ferne gehoͤren diese Theile zur transcendenten Perspective. Bey dieser Voraussetzung aber machen wir zwischen dem leeren und realen Schein keinen Unterschied, weil beyde gezeichnet werden koͤnnen, so wie sich die optischen Perspective und Malerkunst an diesen Un- terschied ebenfalls nicht kehrt, und ein Maler jede Spiele der Einbildungskraft, Visionen, ertraͤumte Bilder ꝛc. so fern sie sich zeichnen lassen, wo es die Absicht erfordert, vormalet, und der Dichter aus derselben ebenfalls Stoff zu seinen Gemaͤlden nimmt, wo er sie gebrauchen kann. §. 286. Von der Zeichnung des Scheins. §. 286. Da wir ferners hier nur das Allgemeine des Scheins betrachten, so koͤnnen wir uns auch nicht mit der besondern Theorie jeder dieser Theile aufhalten, als welche Stoff zu eben so vielen besondern Wissenschaften und Kuͤn- sten geben, und auch theils wirklich schon dazu gemacht sind. Wir haben in den vorhergehenden Hauptstuͤcken aus- fuͤhrlicher angezeigt, was von jeden Arten des Scheins zu bemerken ist, und wieferne sie von dem Wahren abgehen. Da die Perspective uͤberhaupt aus dem Wahren den Schein zeichnet und vorstellt, so findet sich in den angefuͤhrten Hauptstuͤcken gesammleter Stoff dazu. Wir werden daher nur einige Stuͤcke als Beyspiele anfuͤhren. §. 287. Der psychologische leere Schein findet statt, wo die Seite nicht an der Sache ist, die man sich an derselben zu seyn vorstellt. Der reale hingegen, wo die Seite, die man sich vorstellt, oder deren Bild man sich wenigstens vorstellt, an der Sache ist. Da nun beyde Arten einen Eindruck auf das Gemuͤth und den Willen machen koͤnnen, so werden die oben (§. 271. 282.) betrachtete zween Faͤlle von Wichtigkeit, weil man sich in dem Umgange mit andern Menschen nach dem zu richten hat, was ihnen die Sachen zu seyn scheinen. §. 288. Das Leere im Schein besteht mehrentheils in dem subjectiven Theile desselben, den die Einbildungskraft, die Vorurtheile und Affecten mit in den objectiven ein- mengen, und der folglich aus der besondern Gedenkens- und Gemuͤthsart eines Menschen geschlossen werden muß. Weiß man nun, was die Sache im Grunde ist, und zu- gleich wie jemand sich dieselbe vorstellt, so laͤßt sich aus dem Unterschiede vieles von den subjectiven Quellen des Scheins schließen, und durch mehrere dergleichen Erfah- rungen gelangt man zu dem Allgemeinen in solchen Quel- len, die sich wegen des Isochronismus, der dabey statt hat, auf mehrere Dinge ausbreiten, und daher den Gesichts- punkt und die Seiten der Sachen naͤher bestimmen, wel- che er sich vorstellt (§. 19. 136. 137.). Ende des zweyten Bandes. E e 2 Einige Einige Druckfehler. Dianoiol. §. 5. lin. 4. von hinten lise: linsenfoͤrmig an statt leistenfoͤrmig. §. 77. lin. 1. von unten: Cosmologie anstatt Chronologie. §. 101. lin. 2. von unten: Semiotic anstatt Semistic. §. 122. lin. 9: unausgedehnt anstatt ausgedehnt. §. 132. lin. 26. lise: zum theil, oder zum theil nicht. §. 235. lin. 5. von hinten, lise: Kein E ist B. §. 245. lin. 16. lise: umgeaͤndert anstatt ungeaͤndert. §. 276. lin. 15. lise: so ist A nicht B. §. 461. lin. 1. lise: nicht nur nicht, anstatt nicht nur. §. 540. lin. 9. lise: unzureichend anstatt zureichend. §. 577. lin. 4. lise: und so vernehmlich. §. 655. lin. 1. lise: nicht einfach. Semiotik. §. 4. lin. 2. lise: §. 568. anstatt §. 555. §. 6. lin. 22 und 25 lise: Umriß anstatt Unwiß. §. 21. p. 15. lin. 16. lise: 598. anstatt 585. §. 41. lin. 15. lise: 444—467. anstatt 431—454. —— lin. 21. lise: 322. anstatt 309. —— lin. 22. lise: 369. anstatt 356. — p. 27. lin. 1. lise: 383. anstatt 370. ——— lin. 2. lise: 396. anstatt 383. ——— lin. 4. lise: 404—422. anstatt 391—409. ——— lin. 5. lise: 248. anstatt 235. ——— lin. 7. lise: 280. seqq. 302—313. anstatt 270. seqq. 289—300. §. 56. lin. 8. lise: 568. anstatt 555. —— lin. 9. lise: 571. anstatt 558. §. 64. lin. 7. lise: 480. anstatt 467. §. 73. lin. 3. lise: 530. anstatt 517. §. 94. p. 58. lin. 12. lise: 568. anstatt 555. §. 145. lin. 12. lise: 156. anstatt 152. §. 148. lin. 2. lise: 168. anstatt 163. §. 230. lin. 5. lise: 313. anstatt 300. §. 248. p. 149. lin. 7. lise: 139. anstatt 136. Phaͤnomenol. §. 202. lise: Camestres anstatt Camestus. §. 206. lin. 5. lise: so wohl nicht B als nicht C. §. 208. lin. 13. lise: ( m+n—1 ). —— lin. 18. lise: ( l—m—n ). §. 231. lin. 42. lise: Teleologie anstatt Theologie. §. 239. p. 402. lise: P oder N oder M. §. 247. lin. 5. von hinten, lise: Teleologie.