Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament von Dr. Friedrich Schleiermacher . Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Dr . Friedrich Lücke. Berlin , bei G. Reimer . 1838 . Friedrich Schleiermacher's literarischer Nachlaß . Zur Theologie . Zweiter Band . Berlin , bei G. Reimer . 1838 . Friedrich Schleiermacher's saͤmmtliche Werke . Erste Abtheilung. Zur Theologie . Siebenter Band . Berlin , bei G. Reimer . 1838 . Vorrede des Herausgebers . B ei der Herausgabe dieses Werkes halte ich mich vor allem verpflichtet, von den Quellen, aus denen ich geschoͤpft, und der Methode, die ich bei der Composition des Ganzen befolgt habe, Rechenschaft zu geben. Die Quellen sind erstlich Schleiermachers eigene handschriftliche Concepte, zweitens mehrere in verschiede- nen Jahren nachgeschriebene Hefte seiner Vorlesungen. Die in den Akademischen Reden und Abhandlungen (Saͤmmtliche Werke, zur Philosophie Bd. 3. S. 344 ff.) gedruckten drei Abhandlungen uͤber den Begriff der Hermeneutik , und uͤber den Begriff und die Eintheilung der philologischen Kritik kann ich nur in sofern hieher rechnen, als sie mich bestimmt haben, die betreffenden Un- tersuchungen in dieser Darstellung abzukuͤrzen. Was die eigenen handschriftlichen Concepte Schleier- machers betrifft, so ist nur die Hermeneutik so gluͤcklich ge- wesen, mit einer gewissen Ausfuͤhrlichkeit und Sorgfalt darin behandelt zu werden. Über die Kritik haben sich leider nur sechs bis sieben Blaͤtter aus verschiedenen Zeiten vor- gefunden, wiederholte Anfaͤnge, zum Theil nur in kurzen Saͤtzen und Notizen, eilig und fluͤchtig geschrieben. Es ist ein Ungluͤck, daß die Kritik immer nur am Schluß der Vor- lesungen vorgetragen werden konnte. Man merkt die na- tuͤrliche Ungeduld, die zum schriftlichen Concipiren nicht mehr Zeit und Lust hat. Desto mehr muß man in den nachge- schriebenen Vortraͤgen die Virtuositaͤt bewundern, womit Schleiermacher auch ohne Schrift ein ganzes System von Begriffen und Materialien in seinem Geiste zur vollen Klar- heit und Ordnung eines zweckvollen Vortrags zu verarbeiten vermochte. Die hermeneutischen Concepte zeigen in ihrer chronolo- gischen Reihefolge den Gang seiner Studien. Das erste vom Jahre 1805, etwa drei Bogen, mit der Überschrift, Zur Hermeneutik , enthaͤlt recht eigentlich die ersten Studien, lauter kurze, fast gnomenartige Saͤtze, wahrschein- lich waͤhrend des Studiums von Ernestis institutio inter- pretis, und Morus acroases academicae super hermeneu- tica N . T . entstanden. Am Rande steht auf den fuͤnf er- sten Seiten, wahrscheinlich im J. 1809 beigeschrieben, eine Art von Directorium oder Vertheilung der Saͤtze in die einzelnen Theile des daruͤber gehaltenen systematischen Vor- trags. Das zweite Concept, ich weiß nicht wann geschrie- ben, drei Bogen stark, hat die Aufschrift, Hermeneutik , erster Entwurf . Hiernach scheint Schleiermacher seine Vortraͤge bis zum Jahre 1819 gehalten zu haben. In die- sem Jahre aber verfaßte er einen zweiten vollstaͤndigeren, ausgearbeiteteren Entwurf, ganz nach Art seiner Darstellung des theologischen Studiums in der zweiten Auflage. Eigen dabei ist die Stunden- und Wochenbezeichnung der darnach gehaltenen Vortraͤge. Allein auch hier ist ihm am Ende die Geduld des Aufschreibens ausgegangen. Das Concept bricht mit einigen allgemeinen Saͤtzen uͤber die sogenante technische Interpretation ab, und es scheint, daß Schleier- macher in diesem Theile seiner Vortraͤge wieder auf seinen ersten Entwurf zuruͤckzugehen pflegte. Vergleicht man die Vorlesungen vom Winter 1828/29, und die letzten vom J. 1832 auf 1833, so sieht man, wie der muͤndliche Vor- trag sich je laͤnger je mehr auch von diesem Concept wieder frei und unabhaͤngig machte, andere Anordnungen, neue Entwicklungen versuchte. Hierauf beziehen sich die meist nur kurz andeutenden Randbemerkungen, die aber je naͤher dem Schluß desto seltener zuletzt wieder ganz verschwinden. Ist nun selbst das letzte Concept kein vollstaͤndiges Dokument von der Gestalt, welche die Wissenschaft in dem Geiste Schleiermachers am Ende gewonnen hatte, so war, um jene so vollkommen als moͤglich darzustellen, nothwendig, die zweite Art der Quellen, die nachgeschriebenen Vorlesungen, zu Huͤlfe zu nehmen. Nach den vorliegenden Nachschriften zu urtheilen muß es nicht leicht gewesen sein, bei Schleiermacher ein gutes vollstaͤndiges Heft zu schreiben. Wer woͤrtlich nachschreiben wollte, mußte eine eben so schnelle Feder, als ein sicheres Ohr haben. Verhoͤrtes und daraus entstandene Verwirrun- gen sind mir hie und da in den besten Heften vorgekommen. Schleiermachers Vortrag war aber uͤberwiegend so eingerich- tet, daß er mehr zu einer freien Auffassung und Nachbildung, als zu einem woͤrtlichen Nachschreiben veranlaßte. Solche freie- ren Nachschriften muͤssen sehr ungleich geworden sein, je nach- dem der Eine mehr auf die Resultate ausgewesen, der An- dere mehr auch die dialektische Methode des Findens und lauten Denkens nachzubilden sich bemuͤhet hat; ja selbst in * einer und derselben Nachschrift wird bald die Genesis, bald die Feststellung der Resultate concipirt worden sein, nach der verschiedenen Disposition und Fertigkeit des Hoͤrenden. Ich habe Nachschriften beiderlei Art benutzt, zu gegen- seitiger Ergaͤnzung und Berichtigung. Von den im Winter 1826,27 gehaltenen Vorlesungen habe ich zwei Nachschriften zur Hand gehabt; die eine von Herrn Prediger J. Braune in Wietstock bei Zossen, die andere von Herrn A. Boͤtticher, beide, wiewohl nicht uͤberall woͤrtlich uͤbereinstimmend, doch genaue, vollstaͤndige Nachschriften. Von den Vortraͤgen im Winter 1828/29 habe ich nur eine Nachschrift erhalten, ver- faßt von Herrn Spangenberg. Von den im Winter 1832,33 gehaltenen Vorlesungen, den letzten, bin ich so gluͤcklich ge- wesen drei Nachschriften benutzen zu koͤnnen. Auf diese kam mir natuͤrlich am meisten an. Aber leider ist darunter nur eine, die von Herrn F. Calow, woͤrtlich genau und vollstaͤn- dig, auch bis auf weniges vollkommen lesbar. Die zweite, von Herrn Candidat Leonhard Kalb in Frankfurt am Main, ist theils mehr eine freie Conception, theils fehlt sowohl in der Hermeneutik als in der Kritik der Schluß. Die dritte endlich von dem Herrn Consistorialrath Dr . Hencke in Wol- fenbuͤttel ist im Anfang nur ein sehr kurzer Auszug, und, wo sie vollstaͤndig wird, mehr freie, als woͤrtliche Nachschrift. Meine Aufgabe war, aus diesen Quellen eine eben so authentische als vollstaͤndige Darstellung der Schleier- macherschen Hermeneutik und Kritik zu geben. Die Basis des Authentischen war mir fuͤr die Hermeneutik in Schleier- machers eignen Concepten gegeben, vorzugsweise im dritten. Dieses habe ich also, sammt allen Marginalien, vollstaͤndig und genau abdrucken lassen, und, was sich besonders in den zuletzt ge- haltenen Vorlesungen als dazu gehoͤrige Erlaͤuterung und Ergaͤn- zung vorfand, gehoͤrigen Ortes eingeschaltet. Auch aus fruͤheren Vorlesungen habe ich was irgend der Erhaltung werth und in den Zusammenhang fuͤgsam schien aufgenommen. Ich glaube nichts Wesentliches uͤbersehen und durch das Aufge- nommene den Ton und Gang des handschriftlich Authenti- schen nicht gestoͤrt zu haben. Allein in solcher Auswahl hat das subjective Urtheil wohl sein Recht, aber auch seine Ge- fahr, und ich stehe nicht dafuͤr, daß nicht ein Anderer an- ders und besser gewaͤhlt und componirt haben wuͤrde. Ich haͤtte gewuͤnscht, diese Methode durchweg befolgen zu koͤnnen, allein die Quellen haben es nicht gestattet. Wo das handschriftlich Authentische ausging oder mangelhaft wurde, mußte der zusammenhaͤngende muͤndliche Vortrag, versteht sich vorzugsweise der zuletztgehaltene, eintreten. Die Kritik konnte deßhalb fast nur aus nachgeschriebenen Heften genommen werden. Auch in der Hermeneutik habe ich an einigen Stellen außer dem handschriftlichen Concept den muͤndlichen Vortrag daruͤber, wenn dieser mir zu ab- weichend und in den Abweichungen Neues und Bedeutendes darzubieten schien, vollstaͤndig abdrucken lassen S. 91 ff. und 148 ff. . Daraus sind freilich Wiederholungen entstanden. Allein das ungleich groͤßere Übel schien mir, irgend etwas, was von Schleier- macher Anregendes und Foͤrderndes gesagt worden ist, ver- loren gehen zu lassen. Reine, leere Wiederholung wird man nicht finden, sondern mehr die eigenthuͤmliche Virtuo- sitaͤt des reichen Geistes, versuchsweise denselben Gegenstand unter verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten, und dar- zustellen, um der Wahrheit von allen Seiten beizukommen. Eben deßhalb habe ich auch uͤberall, wo mir die genetische, dialektische Methode zur Charakteristik wesentlich zu gehoͤren schien, ganze Abschnitte woͤrtlich genau und vollstaͤndig mit- getheilt. Selbst die natuͤrliche Nachlaͤssigkeit des muͤndlichen Vortrages, seinen Gespraͤchston, seine Kuͤrze, wie seine Um- schweife habe ich unversehrt erhalten zu muͤssen geglaubt. Nur da, wo ich fuͤr den Leser Hemmungen und Dunkelhei- ten fuͤrchtete, habe ich Verbesserungen gewagt, aber so viel ich weiß keine, von der ich nicht glauben koͤnnte, daß sie Schleiermacher selbst gebilligt haben wuͤrde. Schwieriger fast, als alles andere, ist mir geworden, Schleiermachers eigenthuͤmliche Orthographie und Inter- punction durchweg zu beobachten. So weit seine eigenen handschriftlichen Concepte reichen, habe ich dieselbe, so wi- dersprechend sie zum Theil der meinigen ist und so wenig streng durchgefuͤhrt sie mir erschien, festzuhalten gesucht, ein- gedenk dessen, was Herr Prediger Jonas in der Vorrede zu den in der Berliner Akademie vorgetragenen Reden und Abhandlungen daruͤber gesagt hat. Allein in den handschrift- lichen Vorlesungen, wo mir in den Heften allerlei Arten der Rechtschreibung und Interpunction vor die Augen kamen, die meinige aber desto mehr wieder in den Sinn, kann ich nicht dafuͤr stehen, daß ich nicht inconsequent die meinige eingemischt habe. So viel uͤber meine Arbeit und Methode, das Werk meines seligen Freundes so authentisch und vollstaͤndig als moͤglich darzustellen. Ich werde mich fuͤr meine Muͤhe reichlich belohnt halten, wenn die Leser uͤber dem Werke selbst den Herausgeber und seine Noth zu vergessen im Stande sind. Man wird es nicht fuͤr ungeziemend halten, wenn ich, mir selbst zu einer Art von Lohn, am Schluß versuche, auf die eigenthuͤmliche Stellung und Bedeutung dieses Werkes in der Wissenschaft aufmerksam zu machen. Schon der Name Schleiermachers laͤßt eine eigenthuͤm- liche, neue Behandlung erwarten. Es war ihm uͤberall un- moͤglich, nur an dem bisherigen Gewebe fortzuweben; er fing gern uͤberall von Neuem an, und hatte und gebrauchte alles auf eigenthuͤmliche Weise. Er hat auch auf diesem Gebiete die fruͤ- heren Arbeiten nicht vornehm verschmaͤhet. Litterarische No- tizen waren freilich seine Sache nicht, aber uͤberall zeigt er Kenntniß und sorgsame Beachtung und Aneignung des fruͤ- her Geleisteten. Er geht von Ernestis institutio interpretis , als der ihm zunaͤchst liegenden fruͤheren Epoche auf diesem Gebiete, aus, und benutzt auch was nach Ernesti dafuͤr gethan ist, aber es wird unter seinen Haͤnden ein neues Gebilde aus frischem Geiste, und er legt es auf eine neue Epoche an. War Ernesti derjenige, der die Observationen auf diesem Gebiete zunaͤchst ordnete und laͤuterte, und die Auslegung des N. T. auf ihre allgemeineren philologischen Principien zuruͤckfuͤhrte, so erscheint Schleiermacher auf dem entgegen- gesetzten Endpunkte der Ernestischen Periode als der Begruͤn- der einer wahren systematischen Construction von innen heraus. Ernesti und Beck haben die Hermeneutik und Kritik des N. T. vereinigt vorgetragen, aber mehr zufaͤllig und ohne Einsicht in den Grund und Grad ihrer Zusammenge- hoͤrigkeit und Verschiedenheit. Nachher haben Keil und An- dere die Hermeneutik von der Kritik getrennt behandelt, und dadurch Raum gewonnen fuͤr eine vollstaͤndigere Entwicklung der hermeneutischen Operationen. Schleiermacher hat beide Disciplinen in seinem Vortrage wieder vereinigt, aber in- dem er jede von ihrem Begriffe aus besonders, und zugleich in ihrer steten gegenseitigen Beziehung construirt, gewaͤhrt er eine deutliche Einsicht in das richtige Verhaͤltniß beider zu einander in dem hoͤheren Begriff der Philologie. Es ist laͤngst uͤblich, die neutestamentliche Hermeneutik und Kritik von der alttestamentlichen getrennt zu behandeln. In der Idee der heiligen Schrift bilden sie allerdings ein Ganzes. Aber sie haben weit mehr Paralleles, als Zusam- mengewachsenes, und wenn man doch vom Standpunkte der allgemeinen Philologie beide nur als technische Anwendungen der allgemeinen Hermeneutik und Kritik auf ein zwiefaches besonderes Litteraturgebiet ansehen darf, so sind die Stoffe zum Theil zu verschieden, als daß eine zusammenfassende or- ganische Behandlung beider moͤglich und ersprießlich seyn koͤnnte. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Ent- wicklung der biblischen Hermeneutik und Kritik als theologi- scher Wissenschaft vorzugsweise von dem Neuen Testamente ausgeht, weil hier der Hauptsitz der theologischen Probleme und Schwierigkeiten ist fuͤr die richtige Anwendung der all- gemeinen hermeneutischen und kritischen Gesetze. Schleier- macher wuͤrde, selbst wenn er auf dem alttestamentlichen Gebiete mehr zu Hause gewesen waͤre, doch aus wissenschaft- lichem Interesse seinen Vortrag auf das neutestamentliche beschraͤnkt haben. Je mehr man eben durch seine Dar- stellung in die hermeneutischen und kritischen Eigenthuͤmlich- keiten und Besonderheiten dieses Gebietes eingefuͤhrt wird, und begreifen lernt, daß gerade in der Durchbildung oder Hineinbildung der allgemeinen Regeln in den besonderen Stoff die wahre Kraft der wissenschaftlichen Construction besteht, desto mehr rechtfertigt sich sein Verfahren in diesem Stuͤcke. Seit Ernesti, ja seit Hugo Grotius ist immer entschie- dener behauptet und anerkannt worden, daß der wissenschaft- liche Ausgangspunkt in der neutest. Hermeneutik und Kritik nicht das theologische Moment sei, sondern das allgemeine philologische, daß jenes nicht als Aufhebung, sondern nur als Modification und naͤhere Bestimmung von diesem durch den be- sonderen Stoff, so wie die besonderen Beziehungen und Zweck- verhaͤltnisse des N. T. angesehen werden duͤrfe. Wer dieses natuͤrliche Verhaͤltniß umkehrt, zerstoͤrt die wissenschaftliche Grundlage, verbauet sich den Weg, und kommt auf falsche Theorieen, auf die alte der allegorischen und dogmatischen Aus- legung, und auf die neue von tieferem und flacherem Schrift- sinn, oder, wenn er sich am Ende heraushilft, und in die gluͤcklichere Bahn der analytischen Regression von der Er- scheinung der theologischen Interpretation zu ihren wissen- schaftlichen Principien einlenkt, verliert er die Zeit mit jenen unnuͤtzen Fragen, wovon man sonst die theologischen Schulen wiederhallen hoͤrte, ob denn die heilige Schrift wirklich gram- matisch und historisch auszulegen sei oder nicht, und derglei- chen mehr, was sich von selbst versteht. Schleiermacher hat allen diesen Irrungen und Verwir- rungen wenigstens auf dem wissenschaftlichen Gebiete dadurch hoffentlich auf immer ein Ende gemacht, daß er ohne Weite- res von der allgemeinen Hermeneutik und Kritik ausgeht, ihre Grundsaͤtze und allgemeinen Regeln aus den einfachsten Begriffen und den allgemeinsten Erfahrungen construirt, so- dann zeigt, wie und warum sich dazu die neutestamentliche Hermeneutik und Kritik nur als spezielle Methodenlehre fuͤr die Anwendung jener allgemeinen Grundsaͤtze verhalten koͤnne, endlich aber diese Methodenlehre so durchfuͤhrt, daß nir- gends eine theologische Hemmung mehr entsteht und das theologische und philologische Moment wahrhaft organisch zu- sammenwachsen. Er hat dadurch zunaͤchst den Theologen einen großen Dienst geleistet, und diese werden sich auch vorzugsweise sein Werk zueignen. Allein die classischen wie die orientalischen Philologen haben gleichen Anspruch, und auch wohl gleiche Pflicht, von ihm zu lernen, wie man es anzufangen habe, um die allgemeinen Grundsaͤtze und Regeln der Auslegung und Kritik auf ein bestimmtes litterarisches Gebiet mit wissenschaftlicher Methode in Anwendung zu brin- gen. Vielleicht hat es selbst fuͤr die Philologen im engeren Sinn einen Vortheil, daß Schleiermacher gerade an dem neu- testamentlichen Gebiete die Methode anschaulich gemacht hat, weil nicht leicht ein anderes ein so abgeschlossenes Ganzes bildet, und doch mit allen andern in mehr und weniger ge- genseitiger Beruͤhrung steht, so voll eigenthuͤmlicher Erschei- nungen und Probleme ist, und dabei mitten in der Anoma- lie so viel Regelmaͤßigkeit hat. So eignet es sich gerade am meisten dazu, alle irgend wesentlichen hermeneutischen und kritischen Operationen in ihren Schwierigkeiten und mannig- faltigen Verwicklungen zur Sprache zu bringen. Wer den Zusammenhang und die Gruͤnde der exegetischen Operationen auf diesem Gebiete theoretisch versteht, wird keine große Muͤhe haben, auf dem regelmaͤßigeren classischen Gebiete sich methodisch zurecht zu finden. Betrachten wir nun die systematische Construction selbst, so scheint mir das Hauptverdienst Schleiermachers zuerst dieß zu sein, daß er mit Ausscheidung alles Fremdartigen beide Disciplinen auf ihren bestimmten Begriff zuruͤckgefuͤhrt hat, ohne diesen zu isoliren und aus seinem natuͤrlichen Zusam- menhange mit allen uͤbrigen philologischen Momenten her- auszureißen. Die Construction der Grundbegriffe, die Ent- wicklung der hermeneutischen Kunst aus ihren allgemeinsten Anfaͤngen und Ursachen im Leben und Wesen des Geistes, die Feststellung der Unterschiede und Stufen des Verstehens die Eroͤrterung der Aufgaben und Operationen aus den in den Gesetzen der Sprache und des Denkens liegenden Gruͤn- den, endlich die dialektische Scheidung und Wiederverknuͤpfung der verschiedenen Momente in ihren feinsten Modificatio- nen, — das alles ist wahrhaft musterhaft. Wenn auch in der weiteren Ausbildung der Wissenschaft sich manches anders und richtiger stellen und gestalten mag und wird, — Schleier- macher selbst macht auch nur den Anspruch des energischen Anfangs und Anstoßes zum Besseren, — das unvergaͤngliche Verdienst wird ihm bleiben, die Wissenschaft auf ihre wah- ren Grundlagen und Grundformen zuruͤckgefuͤhrt zu haben. Wenn man in der neueren Zeit von Constructionen solcher Wissenschaften hoͤrt, welche ihrem wesentlichen Theile nach auf dem Gebiet der Praxis und der Erfahrung liegen, so kann man leicht im Voraus bange werden, daß man seine Zeit verderben muͤsse mit unnuͤtzen Gespinnsten von Oben herab und im leeren Raum. Diese Furcht ist bei Schleier- macher ohne Grund. Meister in der speculativen Construction wußte er auch recht gut, wo ihr Ort nicht ist, und wie er auf dem hermeneutischen und kritischen Gebiete sich selbst viel- fach versucht und einen großen Reichthum von Erfahrungen ge- sammelt hatte, uͤberall ein Feind des Mechanischen und Geist- losen, so hat er auch in der Construction der Regeln und ** Gesetze der Auslegung und Kritik mit meisterhafter Kunst verstanden, das Allgemeine in dem Besonderen, den Begriff in den Erscheinungen und Erfahrungen, die Theorie in der Praxis nachzuweisen, und diese wiederum an jener zu be- waͤhren, und darnach zu erweitern und zu ordnen. Daraus er- klaͤrt sich, daß seine Darstellung eben so reich ist an neuen feinen Observationen uͤber die kuͤnstlerische Praxis im Ein- zelnsten, an den brauchbarsten Rathschlaͤgen fuͤr Lernende, wie an theoretischen Constructionen fuͤr die Meister und an sicheren Orientirungen auf dem Gebiete des Allgemeinen. So macht sein Werk bei aller natuͤrlichen Unvollkommenheit in der Form, und bei allem Offenhalten und Freistellen neuer weiterer Entwicklungen doch den befriedigenden Eindruck ei- nes im gewissen Grade vollendeten Ganzen. Schleiermacher hat in der Großartigkeit und Bescheidenheit seines Geistes nirgends und niemahls gewollt und gehofft, daß man bei ihm stehen bleiben solle und werde, im Gegentheil, der war ihm immer der Liebste, der uͤber ihn hinaus Besseres und Vollkommneres zu geben versuchte und vermochte. Aber die Mit- und Nachwelt waͤre undankbar und ungerecht gegen ihn, wenn sie nicht in seinen Werken uͤberall das energisch Anregende, Schoͤpferische, und in sofern Epochemachende anerkennen und benutzen wollte. Dieß Lob und Verdienst nehme ich auch fuͤr dieses Werk meines verklaͤrten Freundes in Anspruch. Die Kenner und Meister in der Kunst moͤgen richten! Goͤttingen den 10. Juni 1838. Dr . Friedrich Luͤcke . Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Hermeneutik u. Kritik. 1 Allgemeine Einleitung Kurz zusammengefaßt aus einigen Randbemerkungen Schleiermachers zu seinem Heft v. J. 1828, und mehreren nachgeschriebenen Vorlesungen aus verschiedenen Jahren. . 1. H ermeneutik und Kritik, beide philologische Disciplinen, beide Kunstlehren, gehoͤren zusammen, weil die Ausuͤbung einer jeden die andere voraussetzt. Jene ist im allgemeinen die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche, richtig zu ver- stehen, diese die Kunst, die Ächtheit der Schriften und Schrift- stellen richtig zu beurtheilen und aus genuͤgenden Zeugnissen und Datis zu constatiren. Da die Kritik die Gewichtigkeit der Zeug- nisse in ihrem Verhaͤltniß zum bezweifelten Schriftwerke oder zur bezweifelten Schriftstelle nur erkennen kann nach gehoͤrigem richtigen Verstaͤndniß der letzteren, so setzt ihre Ausuͤbung die Hermeneutik voraus. Wiederum, da die Auslegung in der Er- mittelung des Sinnes nur sicher gehen kann, wenn die Ächtheit der Schrift oder Schriftstelle vorausgesetzt werden kann, so setzt auch die Ausuͤbung der Hermeneutik die Kritik voraus. Die Hermeneutik wird billig vorangestellt, weil sie auch da noͤthig ist, wo die Kritik fast gar nicht Statt findet, uͤberhaupt weil Kritik aufhoͤren soll ausgeuͤbt zu werden, Hermeneutik aber nicht. 1 * 2. Wie Hermeneutik und Kritik zusammengehoͤren, so beide mit der Grammatik. Alle drei haben schon als philologische Dis- ciplinen zusammengestellt Fr. A. Wolf und Ast , jener als philo- logische Vorbereitungswissenschaften, dieser als Anhang zur Philo- logie. Beide aber fassen sie zu speciell, nur in Beziehung auf die beiden klassischen Sprachen des Alterthums. Das Verhaͤltniß dieser drei Disciplinen ist vielmehr ein allezeit guͤltiges, sie stehen in bedingender Wechselbeziehung auch da, wo die Sprache noch nicht ausgestorben ist und noch der litterarischen Geschichte entbehrt. Wegen ihrer Wechselbeziehung auf einander ist allerdings der An- fang jeder einzelnen schwer, wie denn auch die Kinder die drei Disciplinen zusammenlernen im lebendigen Sprachverkehr. Her- meneutik und Kritik sind nur mit Huͤlfe der Grammatik ausfuͤhr- bar und beruhen auf derselben. Aber die Grammatik ist wieder nur mittelst jener beiden aufzustellen, wenn sie nicht den schlech- testen Sprachgebrauch mit dem klassischen und allgemeine Sprach- regeln mit individuellen Spracheigenthuͤmlichkeiten vermischen will. Die vollkommene Loͤsung dieser dreifachen Aufgabe ist nur in Ver- bindung mit einander approximativ moͤglich in einem philologischen Zeitalter, durch vollkommene Philologen. Hermeneutik . Einleitung . 1. D ie Hermeneutik als Kunst des Verstehens existirt noch nicht allgemein , sondern nur mehrere spe - zielle Hermeneutiken . 1. Nur Kunst des Verstehens , nicht auch der Darle - gung des Verstaͤndnisses Anmerk . d. Herausg .: Gegen die herrschende Definition seit Ernesti Instit. interpret. N. T. ed. Ammon p. 7 et 8.: Est autem interpretatio facultas docendi , quae cujusque orationi sententia subjecta sit, seu, ef- ficiendi, ut alter cogitet eadem cum scriptore quoque. — Interpre- tatio igitur omnis duabus rebus continetur, sententiarum (idearum) ver- bis subjectarum intellectu, earumque idonea explicatione . Unde in bono interprete esse debet, subtilitas intelligendi et subtilitas explicandi. Fruͤher fuͤgte J. Jac. Rambach institutiones hermen. sacrae. p. 2. noch ein drittes hinzu das sapienter applicare, was die Neuern leider wieder hervorheben. . Dieß waͤre nur ein specieller Theil von der Kunst zu reden und zu schreiben, der nur von den allgemeinen Principien abhaͤngen koͤnnte. Hermeneutik Aus der Vorlesung v. 1826 . Zum Unterschiede von Schleier- macher's handschriftlichem Nachlasse sind die aus den Collegienheften ge- nommenen Ergaͤnzungen und Erlaͤuterungen mit vollen Zeilen gedruckt. kann nach der bekannten Etymologie als wissen- schaftlich noch nicht genau fixirter Name sein: a ) die Kunst seine Gedanken richtig vorzutragen, b ) die Kunst die Rede eines an- dern einem dritten richtig mitzutheilen, c ) die Kunst die Rede eines andern richtig zu verstehen. Der wissenschaftliche Begriff bezieht sich auf das dritte, als das mittlere zwischen dem ersten und zweiten. 2. Aber auch nicht nur schwieriger Stellen in fremder Sprache. Bekanntschaft mit dem Gegenstande und der Sprache wird vielmehr vorausgesetzt. Ist beides, so werden Stellen nur schwierig, weil man auch die leichteren nicht verstanden hat. Nur ein kunstmaͤßiges Verstehen begleitet stetig die Rede und die Schrift. 3. Man hat gewoͤhnlich geglaubt wegen der allgemeinen Principien sich auf den gesunden Menschenverstand verlassen zu koͤnnen. Aber dann kann man sich auch wegen des beson- deren auf das gesunde Gefuͤhl verlassen Anmerk . d. Herausg . In den zuletzt im Winter 1832 auf 1833. gehaltenen Vorlesungen uͤber die Hermeneutik suchte Schleiermacher den Begriff und die Nothwendigkeit der allgemeinen Hermeneutik auf dialektische Weise zu gewinnen durch Kritik der auf das klassische Gebiet beschraͤnkten, einander zum Theil gegenuͤberstehenden Ansichten von F. A. Wolf, in der Darstellung der Alterthumswissenschaft in d. Museum der Alterthumswissenschaft. Bd. 1. S. 1-145. und Fr. Ast, in dem Grund- riß der Philologie, Landshut. 1808. 8. Da aber alles, was er hier daruͤber sagt, viel ausgearbeiteter zu lesen ist, in den beyden Akademischen Abhandlungen uͤber den Be - griff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolf 's An - deutungen und Ast 's Lehrbuch (in den Reden und Abhandlun- gen der Koͤnigl. Akademie der Wissenschaften, saͤmmtliche Werke, dritte Abtheil. Zur Philosophie. Dritter Band. S. 344-380.), so haben wir uns bis auf einige wenige Ausnahmen billig enthalten, den unvollkommenen muͤndlichen Vortrag aus den nachgeschriebenen Heften hier aufzunehmen. . 2. Es ist schwer der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweisen. 1. Eine Zeitlang ist sie allerdings als Anhang der Logik behandelt worden, aber als man alles angewandte in der Lo- gik aufgab mußte dieß auch aufhoͤren. Der Philosoph an sich hat keine Neigung, diese Theorie aufzustellen, weil er selten verstehen will, selbst aber glaubt nothwendig verstanden zu werden. 2. Die Philologie ist auch etwas positives durch unsere Geschichte geworden. Daher ihre Behandlungsweise der Her- meneutik auch nur Aggregat von Observationen ist. Zusatz Randbemerk. v. J. 1828. . Spezielle Hermeneutik sowohl der Gattung als der Sprache nach ist immer nur Aggregat von Observa- tionen und genuͤgt keiner wissenschafftlichen Forderung. Das Verstehen erst ohne Besinnung (der Regeln) treiben und nur in einzelnen Faͤllen zu Regeln seine Zuflucht nehmen, ist auch ein ungleichmaͤßiges Verfahren. Man muß diese beiden Stand- punkte, wenn man keinen aufgeben kann, mit einander verbin- den. Dieß geschieht durch eine doppelte Erfahrung. 1) Auch wo wir am kunstlosesten verfahren zu koͤnnen glauben, entstehen oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Loͤsungsgruͤnde doch im fruͤheren liegen muͤssen. Also sind wir uͤberall aufgefordert auf das zu achten, was Loͤsungsgrund werden kann. 2) Wenn wir uͤberall kunstmaͤßig verfahren, so kommen wir doch am Ende zu einer bewußtlosen Anwendung der Regeln, ohne daß wir das kunstmaͤßige verlassen haͤtten. 3. Da Kunst zu reden und zu verstehen (correspon- dirend) einander gegenuͤberstehen, reden aber nur die aͤußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammen- hange mit der Kunst zu denken und also philosophisch. Jedoch so, daß die Auslegungskunst von der Composition abhaͤngig ist und sie voraussetzt. Der Parallelismus aber be- steht darin, daß wo das Reden ohne Kunst ist bedarf es zum Verstehen auch keiner. 4. Das Reden ist die Vermittlung fuͤr die Gemein- schaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklaͤrt sich die Zu- sammengehoͤrigkeit von Rhetorik und Hermeneutik und ihr gemeinsames Verhaͤltniß zur Dialektik. 1. Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens fuͤr den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende noͤthig findet den Gedanken sich selbst zu fixiren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des ur- spruͤnglichen, und wird hernach auch Auslegung noͤthig. 2. Die Zusammengehoͤrigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen. 3. Die Abhaͤngigkeit beider von der Dialektik besteht darin, daß alles Werden des Wissens von beiden (Reden und Ver- stehen) abhaͤngig ist. Zusatz Randbem. v. J. 1828. . Allgemeine Hermeneutik gehoͤrt so wie mit Kri- tik so auch mit Grammatik Anmerk . d. Herausg .: Seitdem Schl. diesen Gegenstand in beson- derer Beziehung auf Wolf's Abhandlung eroͤrterte, gebrauchte er statt Rhetorik Grammatik. Dieß erklaͤrt sich daraus, daß er Grammatik im hoͤheren Sinn nahm als kuͤnstlerische Behandlung der Sprache uͤberhaupt, so daß er auch die rhetorische Composition darunter begriff. S. Abhdl. uͤber den Begriff der Hermeneutik. S. 357 ff. zusammen. Aber da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhal- ten desselben giebt ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht, so sind auch alle drei mit der Dialektik genau zu verbinden. Die Anmerk . d. Herausg .: Aus der Vorles. v. 1832. Von jetzt an wird das Datum der Vorlesung nur dann bemerkt werden, wenn es nicht diese letzte ist. Zusammengehoͤrigkeit der Hermeneutik und Grammatik beruhet darauf, daß jede Rede nur unter der Voraussetzung des Verstaͤnd- nisses der Sprache gefaßt wird. — Beide haben es mit der Sprache zu thun. Dieß fuͤhrt auf die Einheit von Sprechen und Denken, die Sprache ist die Art und Weise des Gedankens wirk- lich zu sein. Denn es giebt keinen Gedanken ohne Rede. Das Aussprechen der Worte bezieht sich bloß auf die Gegenwart eines andern, und ist insofern zufaͤllig. Aber niemand kann denken ohne Worte. Ohne Worte ist der Gedanke noch nicht fertig und klar. Da nun die Hermeneutik zum Verstehen des Denk- inhalts fuͤhren soll, der Denkinhalt aber nur wirklich ist durch die Sprache, so beruht die Hermeneutik auf der Grammatik, als der Kenntniß der Sprache. Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mittheilung durch die Sprache, welche eben die Ver- mittlung fuͤr die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dieß keine andere Tendenz als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen. So ergiebt sich das gemeinsame Verhaͤltniß der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens. — Jede Rede kann ferner nur verstanden werden durch die Kenntniß des geschichtlichen Gesammt- lebens, wozu sie gehoͤrt, oder durch die Kenntniß der sie angehen- den Geschichte. Die Wissenschaft der Geschichte aber ist die Ethik. Nun aber hat auch die Sprache ihre Naturseite; die Differenzen des menschlichen Geistes sind auch bedingt durch das Physische des Menschen und des Erdkoͤrpers. Und so wurzelt die Herme- neutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik. Ethik aber und Physik fuͤhren wieder zuruͤck auf die Dialektik, als die Wissenschaft von der Einheit des Wissens. 5. Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Den- ken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Thatsache im Denkenden. 1. Jede Rede setzt voraus eine gegebene Sprache. Man kann dieß zwar auch umkehren, nicht nur fuͤr die absolut erste Rede, sondern auch fuͤr den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden; aber die Mittheilung setzt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache also eine ge- wisse Kenntniß derselben voraus. Wenn zwischen die unmit- telbare Rede und die Mittheilung etwas tritt, also die Kunst der Rede anfaͤngt: so beruht dieß theils auf der Besorgniß, es moͤchte dem hoͤrenden etwas in unserm Sprachgebrauch fremd sein. 2. Jede Rede beruht auf einem fruͤheren Denken. Man kann dieses auch umkehren, aber in Bezug auf die Mitthei- lung bleibt es wahr, denn die Kunst des Verstehens geht nur bei fortgeschrittenem Denken an. 3. Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigenthuͤmliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalitaͤt der Sprache. Dann aber ist er auch ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Thatsache von diesem im Zusammenhange mit den uͤbrigen. Der Einzelne ist in seinem Denken durch die (gemeinsame) Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben. Ein ande- rer neuer Gedanke koͤnnte nicht mitgetheilt werden, wenn nicht auf schon in der Sprache bestehende Beziehungen bezogen. Dieß beruht darauf, daß das Denken ein inneres Sprechen ist. Dar- aus erhellt aber auch positiv, daß die Sprache das Fortschreiten des Einzelnen im Denken bedingt. Denn die Sprache ist nicht nur ein Complexus einzelner Vorstellungen, sondern auch ein System von der Verwandtschaft der Vorstellungen. Denn durch die Form der Woͤrter sind sie in Verbindung gebracht. Jedes zu- sammengesetzte Wort ist eine Verwandtschaft, wobei jede Vor- und Endsylbe eine eigenthuͤmliche Bedeutung (Modification) hat. Aber das System der Modificationen ist in jeder Sprache ein an- deres. Objectiviren wir uns die Sprache, so finden wir, daß alle Akte des Redens nur eine Art sind, wie die Sprache in ihrer eigen- thuͤmlichen Natur zum Vorschein kommt, und jeder Einzelne nur ein Ort ist, in dem die Sprache erscheint, wie wir denn bei bedeutenden Schriftstellern unsere Aufmerksamkeit auf ihre Sprache richten und bei ihnen eine Verschiedenheit des Styles sehen. — Eben so ist jede Rede immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben, dem sie angehoͤrt, d. h. da jede Rede nur als Lebensmo- ment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmo- mente erkennbar ist, und dieß nur aus der Gesammtheit seiner Umgebungen, wodurch seine Entwicklung und sein Fortbestehen bestimmt werden, so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine Nationalitaͤt und sein Zeitalter. 6. Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente, (des grammatischen und psychologischen). 1. Die Rede ist auch als Thatsache des Geistes nicht ver- standen, wenn sie nicht als Sprachbezeichnung verstanden ist, weil die Angeborenheit der Sprache den Geist modificirt. 2. Sie ist auch als Modification der Sprache nicht verstan- den wenn sie nicht als Thatsache des Geistes verstanden ist, weil in diesem der Grund von allem Einflusse des Einzelnen auf die Sprache liegt, welche selbst durch das Reden wird. 7. Beide stehen einander voͤllig gleich und mit Unrecht wuͤrde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die hoͤhere nennen. 1. Die psychologische ist die hoͤhere, wenn man die Sprache nur als das Mittel betrachtet, wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mittheilt; die grammatische ist dann bloß Hin- wegraͤumung der vorlaͤufigen Schwierigkeiten. 2. Die grammatische ist die hoͤhere, wenn man die Sprache in sofern betrachtet, als sie das Denken aller Einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort fuͤr die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart. Als- dann wird die psychologische voͤllig untergeordnet wie das Da- sein des einzelnen Menschen uͤberhaupt. 3. Aus dieser Duplicitaͤt folgt von selbst die vollkommene Gleichheit. Wir finden in Beziehung auf die Kritik den Sprachgebrauch der hoͤheren und niederen Kritik. Findet dieser Unterschied auch auf dem hermeneutischen Gebiete statt? Aber welche von den beiden Seiten sollte subordinirt sein? Das Geschaͤft die Rede in Be- ziehung auf die Sprache zu verstehen, kann gewissermaßen mechani- sirt, also auf einen Calculus zuruͤckgefuͤhrt werden. Denn sind Schwierigkeiten da, so kann man diese als unbekannte Groͤßen ansehen. Die Sache wird mathematisch, ist also mechanisirt, da ich sie auf einen Calculus gebracht habe. Sollte dieß als mecha- nische Kunst die niedere Interpretation sein, und jene Seite aus der Anschauung der lebenden Wesen, weil sich die Individualitaͤten nicht in eine Zahl bringen lassen, die hoͤhere? Da aber von der grammatischen Seite der Einzelne als Ort erscheint, wo sich die Sprache lebendig zeigt, so scheint das Psychologische untergeordnet; sein Denken ist durch die Sprache bedingt und er durch sein Denken. Die Aufgabe seine Rede zu verstehen schließt also beides in sich, aber das Verstehen der Sprache erscheint als uͤbergeordnet. Be- trachtet man nun aber die Sprache als aus den jedesmaligen Ak- ten des Sprechens entstanden, so kann auch sie, da auf Individuel- les zuruͤckgehend, nicht dem Calcuͤl unterworfen werden; sie ist selbst ein Individuum gegen andere und das Verstehen der Sprache unter dem eigenthuͤmlichen Geiste des Redenden eine Kunst, wie jene andere Seite, also keine mechanische, also beide Seiten einander gleich. — Allein diese Gleichheit ist wieder zu beschraͤn- ken in der einzelnen Aufgabe. Beide Seiten sind in jeder ein- zelnen Aufgabe nicht gleich, weder in Beziehung darauf, was in jeder geleistet, noch auch was gefordert wird. Es giebt Schriften, bei denen die eine Seite, das eine Interesse uͤberwiegend ist, und andere, wo umgekehrt. Bei einer Schrift wird die eine Seite der Aufgabe sehr vollstaͤndig geloͤs't werden koͤnnen, die andere gar nicht. Man findet z. B. ein Fragment von einem unbekann- ten Verfasser. So kann man wohl aus der Sprache das Zeitalter und die Localitaͤt der Schrift erkennen. Aber erst wenn man durch die Sprache eine Sicherheit uͤber den Verfasser hat, kann die andere Aufgabe, die psychologische, beginnen. 8. Die absolute Loͤsung der Aufgabe ist die, wenn jede Seite fuͤr sich so behandelt wird, daß die Behandlung der andern keine Änderung im Resultat hervorbringt, oder, wenn jede Seite fuͤr sich behandelt die andere voͤllig ersetzt, die aber eben so weit auch fuͤr sich behandelt werden muß. 1. Nothwendig ist diese Duplicitaͤt, wenn auch jede Seite die andere ersetzt wegen §. 6. 2. Vollkommen ist aber jede nur dann, wenn sie die andere uͤberfluͤssig macht und Beitrag giebt, um sie zu construiren, weil ja die Sprache nur erlernt werden kann dadurch daß Re- den verstanden werden, und der innere Zusammenhang des Menschen nebst der Art wie ihn das aͤußere aufregt nur ver- standen werden kann durch seine Reden. 9. Das Auslegen ist Kunst. 1. Jede Seite fuͤr sich. Denn uͤberall ist Construction eines endlichen bestimmten aus dem unendlichen unbestimmten. Die Sprache ist ein unendliches, weil jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die uͤbrigen. Ebenso aber auch die psychologische Seite. Denn jede Anschauung eines Individuellen ist unendlich. Und die Einwirkungen auf den Menschen von au- ßen sind auch ein bis ins unendlich ferne allmaͤhlich abnehmendes. Eine solche Construction kann nicht durch Regeln gegeben wer- den welche die Sicherheit ihrer Anwendung in sich truͤgen. 2. Sollte die grammatische Seite fuͤr sich allein vollendet werden, so muͤßte eine vollkommene Kenntniß der Sprache gegeben sein, im andern Falle eine vollstaͤndige Kenntniß des Menschen. Da beides nie gegeben sein kann, so muß man von einem zum andern uͤbergehen, und wie dieß geschehen soll daruͤber lassen sich keine Regeln geben. Das volle Geschaͤft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrach- ten, aber nicht, als ob die Ausfuͤhrung in einem Kunstwerk en- digte, sondern so daß die Thaͤtigkeit nur den Charakter der Kunst an sich traͤgt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d. i. nicht mechanisirt werden kann. 10. Die gluͤckliche Ausuͤbung der Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschen- kenntniß. 1. Unter dem ersten verstehen wir nicht etwa die Leichtigkeit fremde Sprachen zu lernen, der Unterschied zwischen Mutter- sprache und fremder kommt hier vorlaͤufig nicht in Betracht, — sondern das Gegenwaͤrtighaben der Sprache, der Sinn fuͤr die Analogie und die Differenz u. s. w. Man koͤnnte meinen auf diese Weise muͤßten Rhetorik (Grammatik) und Hermeneutik immer zusammen sein. Allein wie die Hermeneutik noch ein anderes Talent erfordert, so auch ihrerseits die Rhetorik (Gram- matik) eins und nicht beide dasselbe. Das Sprachtalent aller- dings ist gemeinsam, allein die hermeneutische Richtung bildet es doch anders aus als die rhetorische (grammatische). 2. Die Menschenkenntniß ist hier vorzuͤglich die von dem subjectiven Element in der Combination der Gedanken. Eben so wenig ist deßhalb Hermeneutik und kuͤnstlerische Menschendar- stellung immer zusammen. Aber eine große Menge hermeneuti- scher Fehler sind in dem Mangel dieses Talents (der kuͤnstleri- schen Menschendarstellung) oder seiner Anwendung gegruͤndet. 3. Insofern nun diese Talente (bis auf einen gewissen Punct) allgemeine Naturgaben sind ist auch die Hermeneutik ein allge- meines Geschaͤft. Insofern es einem an der einen Seite fehlt ist er auch lahm, und die andere kann ihm nur dienen um richtig zu waͤhlen was ihm andere in jener geben. Zusaz Randbemerk. v. 1828. . Das uͤberwiegende Talent ist nicht nur der schwereren Faͤlle wegen erforderlich, sondern auch um nirgends bei dem unmittelbaren Zweck (des einzelnen Talents) allein stehen zu bleiben, vielmehr uͤberall das Ziel der beiden Haupt- richtungen zu verfolgen, vergl. §. 8. u. 9. Das zur hermeneut. Kunst nothwendige Talent ist ein zwiefaches, welche Zwiefachheit wir bis jetzt noch nicht in einem Begriff zusammenfassen koͤnnen. Wenn wir jede Sprache in ihrer ei- genthuͤmlichen Einzelheit vollkommen nachconstruiren und den Einzelnen aus der Sprache, wie die Sprache aus dem Ein- zelnen verstehen koͤnnten, so waͤre das Talent wohl auf eins zu bringen. Da aber die Sprachforschung und die Auffas- sung des Individuellen das noch nicht vermoͤgen, so muͤssen wir noch zwei Talente annehmen, als verschieden. — Das Sprach- talent ist nun wieder ein zwiefaches. Der Verkehr der Menschen geht von der Muttersprache aus, kann sich aber auch auf eine andere erstrecken. Darin liegt die Duplicitaͤt des Sprachtalents. Das comparative Auffassen der Sprachen in ihren Differenzen, das ex- tensive Sprachtalent, ist verschieden von dem Eindringen in das Innere der Sprache in Beziehung auf das Denken, dem intensi- ven Sprachtalent. Dieß ist das Talent des eigentlichen Sprach- forschers. Beide sind nothwendig, aber fast nie vereinigt in ei- nem und demselben Subject, sie muͤssen sich also in verschiedenen gegenseitig ergaͤnzen. Das Talent der Menschenkenntniß zerfaͤllt auch wieder in zwei. Viele Menschen koͤnnen die Einzelheiten Anderer leicht comparativ in ihren Verschiedenheiten auffassen. Dieß (extensive) Talent kann die Handlungsweise Anderer leicht nach -, ja auch vor construiren. Aber ein anderes Talent ist das Verstehen der eigenthuͤmlichen Bedeutung eines Menschen und sei- ner Eigenthuͤmlichkeiten im Verhaͤltniß zum Begriff des Menschen. Hermeneutik u. Kritik. 2 Dieß (das intensive Talent) geht in die Tiefe. Beide sind nothwendig, aber selten verbunden, muͤssen sich also gegenseitig ergaͤnzen. 11. Nicht alles Reden ist gleich sehr Gegenstand der Auslegekunst. Einige Reden haben fuͤr dieselbe einen Null- werth, andere einen absoluten; das meiste liegt zwischen die- sen beiden Punkten. 1. Einen Nullwerth hat was weder Interesse hat als That noch Bedeutung fuͤr die Sprache. Es wird geredet, weil die Sprache sich nur in der Continuitaͤt der Wiederholung erhaͤlt. Was aber nur schon vorhanden gewesenes wiederholt ist an sich nichts. Wettergespraͤche. Allein dieß Null ist nicht das absolute Nichts sondern nur ein Minimum. Denn es entwickelt sich an demsel- ben das Bedeutende. Das Minimum ist die gemeine Rede im Geschaͤftlichen und in dem gewoͤhnlichen Gespraͤch im gemeinen Leben. 2. Auf jeder Seite giebt es ein Maximum, auf der gram- matischen nemlich, was am meisten produktiv ist und am wenig- sten wiederholend, das klassische . Auf der psychologischen Seite was am meisten eigenthuͤmlich ist und am wenigsten gemein, das originelle . Absolut ist aber nur die Identitaͤt von beiden, das genialische oder urbildliche fuͤr die Sprache in der Ge- dankenproduktion. 3. Das klassische aber muß nicht voruͤbergehend sein sondern die folgenden Produktionen bestimmen. Eben so das originelle. Aber auch das absolute (Maximum) darf nicht frei davon sein, bestimmt worden zu sein durch fruͤheres und allgemeineres. Zusaz Randanmerk. v. 1828. : Dazwischenliegendes zwischen dem Minimum und Maximum naͤhert sich an eins von beiden; a) an das gemeine die relative Inhaltsnichtigkeit und die anmuthige Darstellung, b) an das geniale, die Klassicitaͤt in der Sprache, die aber nicht originell zu sein braucht, und die Originalitaͤt in der Ver- knuͤpfung (der Gedanken), die aber nicht klassisch zu sein braucht. Cicero ist klassisch, aber nicht originell; der deutsche Hamann originell, aber nicht klassisch. — Sind beide Seiten des her- meneutischen Verfahrens uͤberall gleichmaͤßig anzuwenden? Ha- ben wir einen klassischen Schriftsteller ohne Originalitaͤt, so kann das psychologische Verfahren ohne Reiz sein, auch nicht gefordert werden; sondern seine Spracheigenthuͤmlichkeit muß al- lein beobachtet werden. Ein nicht klassischer Schriftsteller gebraucht mehr und minder kuͤhne Combinationen in der Sprache, und hier muß von der psychologischen Seite auf das Verstehen der Aus- druͤcke eingegangen werden, nicht aber von der Sprechseite aus. 12. Wenn beide Seiten (der Interpretation, die grammatische und psychologische) uͤberall anzuwenden sind, so sind sie es doch immer in verschiedenem Verhaͤltniß. 1. Das folgt schon daraus, daß das grammatisch unbedeu- tende nicht auch psychologisch unbedeutend zu sein braucht und umgekehrt, sich also auch nicht aus jedem unbedeutenden das bedeutende gleichmaͤßig nach beiden Seiten entwickelt. 2. Das Minimum von psychologischer Interpretation wird angewendet bei vorherrschender Objectivitaͤt des Gegenstandes. (Dahin gehoͤrt) reine Geschichte, vornehmlich im Einzelnen, denn die ganze Ansicht ist immer subjectiv affizirt. Epos. Ge- schaͤftliche Verhandlungen, welche ja Geschichte werden wollen. Didaktisches von strenger Form auf jedem Gebiete. Hier uͤber- all ist das subjective nicht als Auslegungsmoment anzuwenden, sondern es wird Resultat der Auslegung. Das Minimum von grammatischer beim Maximum von psychologischer Auslegung in Briefen, nemlich eigentlichen. Übergang des Didaktischen und Historischen in diesen. Lyrik. Polemik. Zusaz Randanmerk. v. 1832. Die hermeneutischen Regeln muͤssen mehr Men- 2* thode sein, wie Schwierigkeiten zuvorzukommen, als Observa- tionen, um solche aufzuloͤsen. Die hermeneutischen Leistungen gluͤcklicher Arbeiter (im Ein- zelnen) muͤssen betrachtet werden. Aber das theoretische Ver- fahren geht nicht auf die Einzelheiten ein, sondern betrachtet die Auffindung der Identitaͤt der Sprache mit dem Den- ken. — Den Schwierigkeiten im Nachconstruiren der Rede und des Gedankenganges vorzubeugen , ist die Aufgabe der Her- meneutik. Aber so in dieser Allgemeinheit ist die Aufgabe nicht zu loͤsen. Denn die Produktionen einer fremden Sprache sind fuͤr uns immer fragmentarisch. Verschieden ist nun zwar bei den verschiedenen Sprachen der Umfang des vor uns liegenden. Aber die Totalproduktion der Sprache fehlt uns mehr und minder, z. B. im griechischen und hebraͤischen. Es liegt uns keine Sprache ganz vor, selbst nicht die eigene Muttersprache. Daher muͤssen wir die Saͤze der hermeneutischen Theorie so construiren, daß sie nicht einzelne Schwierigkeiten loͤsen, sondern fortschreitende Anweisungen zum Verfahren seien, und immer nur mit der Aufgabe im Allge- meinen zu thun haben. Die Schwierigkeiten werden dann als Ausnahmen angesehen und beduͤrfen eines andern Verfahrens. Wir fragen dabei nur nach den Ergaͤnzungen des Mangels, aus dem die Schwierigkeiten entstehen, nicht nach dem (allgemeinen) Typus. Dieß wird in beiden Richtungen (der grammatischen und psychologischen) gleich sein. 13. Es giebt keine andere Mannigfaltigkeit in der Auslegungsmethode, als das Obige (12.). 1. Beispielsweise die wunderliche Ansicht, aus dem Streit uͤber die historische Auslegung des N. T. entstanden, als ob es mehrere Arten der Interpretation gaͤbe. Die Behauptung der historischen Interpretation ist nur die richtige Behauptung vom Zusammenhange der neutestam. Schriftsteller mit ihrem Zeit- alter. (Verfaͤnglicher Ausdruck Zeitbegriffe ). Aber sie wird falsch, wenn sie die neue begriffsbildende Kraft des Christen- thums leugnen und alles aus dem schon vorhandenen erklaͤren will. Die Ableugnung der historischen Interpretation ist richtig wenn sie sich nur dieser Einseitigkeit widersezt, und falsch wenn sie allgemein sein will. Die ganze Sache kommt aber dann auf das Verhaͤltniß der grammatischen und psychologischen Interpretation hinaus, denn die neuen Begriffe gingen aus der eigenthuͤmlichen Gemuͤthserregung hervor. 2. Eben so wenig (entsteht eine Mannigfaltigkeit), wenn man historische Interpretation von der Beruͤcksichtigung von Begebenheiten versteht. Denn das ist sogar etwas vor der In- terpretation hergehendes, weil dadurch nur das Verhaͤltniß zwi- schen dem Redner und urspruͤnglichen Hoͤrer wiederhergestellt wird, was also immer vorher sollte berichtigt sein. 3. Die allegorische Interpretation . Nicht Inter- pretation der Allegorie, wo der uneigentliche Sinn der einzige ist ohne Unterschied ob wahres zum Grunde liegt, wie in der Parabel vom Saͤemann, oder Fiction, wie in der vom reichen Manne. Sondern welche, wo der eigentliche Sinn in den un- mittelbaren Zusammenhang faͤllt, doch neben demselben noch ei- nen uneigentlichen annimmt. Man kann sie nicht mit dem all- gemeinen Grundsaz abfertigen, daß jede Rede nur Einen Sinn haben koͤnne, so wie man ihn gewoͤhnlich grammatisch nimmt. Denn jede Anspielung ist ein zweiter Sinn, wer sie nicht mit auffaßt kann den Zusammenhang ganz verfolgen, es fehlt ihm aber doch ein in die Rede gelegter Sinn. Dagegen wer eine Anspielung findet, welche nicht hineingelegt ist, hat immer die Rede nicht richtig ausgelegt. Die Anspielung ist dieses, wenn in die Hauptgedankenreihe eine von den begleitenden Vorstel- lungen verflochten wird, von der man glaubt sie koͤnne in dem andern eben so leicht erregt werden. Aber die begleitenden Vorstellungen sind nicht nur einzelne und kleine, sondern wie die ganze Welt ideal in dem Menschen gesezt ist, so wird sie auch immer wenn gleich als dunkles Schattenbild wirklich ge- dacht. Nun giebt es einen Parallelismus der verschiedenen Reihen im Großen und Kleinen, also kann einem bei jedem etwas aus einer andern einfallen: Parallelismus des physischen und ethischen, des musikalischen und malerischen u. s. w. Die Aufmerksamkeit darf aber hierauf nur gerichtet werden, wenn uneigentliche Ausdruͤcke dazu Anzeichen geben. Daß es auch ohne solche Anzeichen besonders beim Homer und bei der Bi- bel geschehen ist, beruhet auf einem besonderen Grunde. Dieser ist bei Homer und beim A. T. die Einzigkeit jenes (des Ho- mer) als allgemeinen Bildungsbuches, des A. T. als Litteratur uͤberhaupt, aus welchem alles mußte genommen werden. Da- zu noch bei beiden der mythische Gehalt der auf der einen Seite in gnomische Philosophie, auf der anderen in Geschichte ausgeht. Fuͤr den Mythus giebt es aber keine technische In- terpretation weil er nicht von einem Einzelnen herruͤhren kann, und das Schwanken des gemeinen Verstaͤndnisses zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Sinn macht hier die Duplicitaͤt am scheinbarsten. — Mit dem N. T. hat es freilich eine an- dere Bewandniß, und bei diesem erklaͤrt sich das Verfahren aus zwei Gruͤnden. Einmal aus seinem Zusammenhange mit dem Alten, bei dem diese Erklaͤrungsart hergebracht war und also auf die anfangende gelehrte Auslegung uͤbergetragen wurde. Dann aus der hier noch mehr als beim A. T. ausgebildeten Vor- stellung den heiligen Geist als Verfasser anzusehen. Der hei- lige Geist kann nicht gedacht werden als ein zeitlich wechselndes einzelnes Bewußtsein. Daher auch hier die Neigung in jedem alles zu finden. Allgemeine Wahrheiten oder einzelne bestimmte Vorschriften befriedigen diese von selbst, aber das am meisten vereinzelte und an sich unbedeutende reizt sie. 4. Hier dringt sich uns nun beilaͤufig die Frage auf, ob die heiligen Buͤcher des heiligen Geistes wegen anders muͤßten be- handelt werden? Dogmatische Entscheidung uͤber die Inspira- tion duͤrfen wir nicht erwarten weil diese ja selbst auf der Auslegung ruhen muß. Wir muͤssen erstlich einen Unter- schied zwischen Reden und Schreiben der Apostel nicht statuiren. Denn die kuͤnftige Kirche mußte auf die erste gebauet werden. Eben deshalb aber auch zweitens nicht glauben, daß bei den Schriften die ganze Christenheit unmittelbarer Gegenstand ge- wesen. Denn sie sind ja alle an bestimmte Menschen gerichtet und konnten auch in Zukunft nicht richtig verstanden werden, wenn sie von diesen nicht waren richtig verstanden worden. Diese konnten aber nichts anderes als das bestimmte Einzelne darin suchen wollen, weil sich fuͤr sie die Totalitaͤt aus der Menge der Einzelheiten ergeben mußte. Also muͤssen wir sie eben so auslegen und deshalb annehmen, daß wenn auch die Verfasser todte Werkzeuge gewesen waͤren der heiligen Geist durch sie doch nur koͤnne geredet haben, so wie sie selbst wuͤr- den geredet haben. 5. Die schlimmste Abweichung nach dieser Seite hin ist die kabbalistische Auslegung, die sich mit dem Bestreben in jedem alles zu finden an die einzelnen Elemente und ihre Zeichen wendet. — Man sieht, was irgend seinem Bestreben nach noch mit Recht Auslegung genannt werden kann, darin giebt es keine andere Mannigfaltigkeit, als die aus den verschiedenen Verhaͤltnissen der beiden von uns aufgestellten Seiten. Zusaz Randanmerk. v. 1828. Dogmatische und allegorische Interpretation ha- ben als Jagd auf inhaltreiches und bedeutsames den gemein- samen Grund, daß die Ausbeute so reich als moͤglich sein soll fuͤr die christliche Lehre, und daß in den heiligen Buͤchern nichts voruͤbergehend und geringfuͤgig sein soll. Von diesem Puncte aus kommt man auf die Inspiration. Bei der großen Mannigfaltigkeit von Vorstellungsarten daruͤber ist das beste, erst zu versuchen auf was fuͤr Folgerungen die strengste Vorstellung fuͤhrt. Also Wirksamkeit des heil. Geistes vom Entstehen der Gedanken bis auf den Akt des Schreibens erstreckt. Diese hilft uns nichts mehr wegen der Varianten. Diese waren aber gewiß vorhanden schon vor Sammlung der Schrift. Hier wird also schon Kritik erfordert. Aber auch die ersten Leser der apostolischen Briefe haͤtten muͤssen von dem Gedanken an die Verfasser und von Anwendung ihrer Kenntniß derselben abstrahiren und waͤren mithin in die tiefste Verwirrung versunken. Fragt man nun noch dazu, weshalb entstand nicht die Schrift ganz wunderbarer Weise ohne Men- schen anzuwenden, so muß man sagen, der goͤttliche Geist kann diese Methode (nemlich durch Menschen) nur gewaͤhlt haben, wenn er wollte, daß alles sollte auf die angegebenen Verfasser zuruͤckgefuͤhrt werden. Darum kann auch dieß nur die richtige Auslegung sein. Von der grammatischen Seite gilt dasselbe. Dann aber muß auch alles Einzelne rein menschlich behandelt werden und die Wirksamkeit bleibt nur der innerliche Impuls. — Andere Vorstellungen, welche einiges einzelne z. B. Bewahrung vor Irrthuͤmern dem Geiste zuschreiben das uͤbrige aber nicht, sind unhaltbar. Dabei muͤßte der Fortgang als gehemmt ge- dacht werden, das richtige an die Stelle tretende aber wieder dem Verfasser zufallend. Ob der Inspiration wegen alles sich auf die ganze Kirche beziehen muß? Nein. Die unmittelba- ren Empfaͤnger haͤtten dann immer unrichtig auslegen muͤssen, und viel richtiger haͤtte dann der heilige Geist gehandelt, wenn die heiligen Schriften keine Gelegenheitsschriften gewesen waͤren. Also grammatisch und psychologisch bleibt alles bei den allge- meinen Regeln. In wie fern sich aber weiter eine Special- hermeneutik der heiligen Schrift ergiebt, das kann erst spaͤter untersucht werden. In der Vorlesung von 1832 wird dieser Punkt gleich hier eroͤr- tert und die Grenze zwischen der allgemeinen und speciellen Her- meneutik uͤberhaupt genauer bestimmt, mit besonderer Anwendung auf das N. T. Im Auszuge mitgetheilt. . Schl. sagt: Gehen wir auf die hermeneutische Aufgabe in ihrer Urspruͤnglichkeit zuruͤck, nemlich die Rede als Denkakt in einer gegebenen Sprache, so kommen wir auf den Saz: in dem Maaße in welchem das Denken eins ist giebt es auch eine Identitaͤt der Sprachen. Dieß Gebiet muß die allge- meinen Regeln der Sprache enthalten. Sobald es aber eine Be- sonderheit des Denkens durch die Sprache giebt, entsteht ein spe- cielles hermeneutisches Gebiet. Bei der genaueren Bestimmung der Grenzen zwischen dem allgemeinen und speciellen fragt sich zuerst auf der grammatischen Seite: wie weit sich von der Sprache aus die Rede als Eins (als Einheit) verfolgen lasse? Die Rede muß ein Saz sein. Dadurch ist erst etwas im Gebiet der Sprache Eins. Der Saz aber ist das Aufeinanderbeziehen von Haupt- und Zeitwort, ὄνομα und ῥῆμα. So weit sich das Ver - stehen der Rede aus der Natur des Sazes uͤberhaupt ergiebt , so weit geht die allgemeine Hermeneutik gewiß . Allein, obwohl die Natur des Sazes als Denkakt in allen Spra- chen dieselbe ist, so ist doch die Behandlung des Sazes in den verschiedenen Sprachen verschieden. Je groͤßer nun in den Sprachen die Verschiedenheit in der Behandlung des Sazes ist, desto mehr beschraͤnkt sich das Gebiet der allgemeinen Hermeneutik, desto mehr Differenzen kommen in das Gebiet der allgemeinen Her- meneutik. Eben so auf der psychologischen Seite. In dem Maaße als das menschliche Leben ein und dasselbe ist unterliegt jede Rede als Lebensakt des Einzelnen den allgemeinen hermeneutischen Re- geln. In dem Maaße aber als das menschliche Leben sich indi- vidualisirt ist auch jeder Lebensakt und somit auch jeder Sprech- akt, worin jener sich darstellt, bei Andern anderswie beschaffen und anderswie mit seinen uͤbrigen Lebensmomenten zusammen- haͤngend. Hier tritt das Gebiet des Speciellen ein. Wenn wir nun voraussetzen, daß alle Differenzen der menschlichen Natur in ihren Lebensfunktionen sich auch in der Sprache darstellen, so folgt auch, daß die Constitution des Sazes mit der Constitution des Lebensaktes zusammenhaͤngt. Dieß gilt sowohl fuͤr das All- gemeine, als fuͤr das Besondere: Das Verhaͤltniß des Allgemei- nen und Speciellen aber ist ein mannigfach abgestuftes. Denn die Ungleichheit und Mannigfaltigkeit in der Behandlung des Sazes kann wieder bei verschiedenen Sprachfamilien gleich sein so daß Gruppirungen entstehen. So kann es wieder fuͤr jede Sprach- familie eine gemeinsame Hermeneutik geben. Ferner erkennen wir verschiedene Arten die Sprache zu behandeln fuͤr verschiedene Denk- akte. So koͤnnen in derselben Sprache sprachliche Differenzen entstehen z. B. in der Prosa und Poesie. Diese Differenzen koͤnnen aber wiederum in verschiedenen Sprachen dieselben sein. Bei der Prosa will ich die strenge Bestimmung des Seins auf das Denken, die Poesie ist aber das Denken in seinem freien Spiel. So habe ich auf dieser Seite weit mehr Psychologisches, waͤhrend in der Prosa das Subject mehr zuruͤcktritt. Hier entwickeln sich zwei verschiedene Gebiete des Speciellen, das eine, welches sich auf die Verschiedenheit in der Construction der Sprache, das an- dere, welches sich auf die Verschiedenheit des Denkaktes bezieht. — Was diese letztere betrifft, so verhaͤlt sich das Allgemeine und Be- sondere bei der Auslegung eines einzelnen Schriftstellers auf fol- gende Weise. Sofern die Denkakte des Einzelnen in allem auf gleiche Weise die ganze Lebensbestimmtheit oder Lebensfunktion des Einzelnen ausdruͤcken, werden auch die Gesetze der psychologischen Interpretation dieselben sein. Sobald ich mir aber eine Ungleichheit denke und nicht in dem Denkakte selbst den Schluͤssel finde, son- dern dabei noch auf Anderes Ruͤcksicht nehmen muß, geht das Gebiet des Speciellen an. So ist freilich das Gebiet des Allge- meinen nicht sehr groß. Darum hat die Hermeneutik auch immer bei dem Speciellen angefangen und ist dabei stehen geblieben. Gehen wir nun davon aus daß die Rede ein Lebensmoment ist, so muß ich den ganzen Zusammenhang aufsuchen und fragen, wie ist das Individuum bewogen, die Rede aufzustellen (Anlaß), und auf wel- chen folgenden Moment ist die Rede gerichtet gewesen, (Zweck). Da die Rede ein Mannigfaltiges ist, so kann sie obwohl bei dem- selben Anlaß und Zweck dennoch ein Verschiedenes sein. Wir muͤs- sen sie also zerlegen und sagen, das Allgemeine geht nur so weit als die Gesetze des Fortschreitens im Denken dieselben sind, wo wir Differenzen finden, da geht das Specielle an. Bei einer di- daktischen Auseinandersetzung z. B. und einer lyrischen Dichtung sind trotz dem, daß beide Aneinanderreihungen von Gedanken sind, die Gesetze des Fortschreitens verschieden. So sind in Beziehung auf sie auch die hermeneutischen Regeln verschieden und wir sind im Gebiete der speciellen Hermeneutik. Die Frage nun, ob und inwiefern die neutest. Hermeneutik eine specielle sei wird so beantwortet. Von der sprachlichen Seite scheint sie keine specielle zu sein, denn diese ist zunaͤchst auf die grie- chische Sprache zu beziehen, von der psychologischen Seite aber erscheint das N. T. nicht als Eins, sondern es ist zu unterscheiden zwischen didaktischen und historischen Schriften. Dieß sind verschiedene Gattun- gen, die allerdings verschiedene hermeneutische Regeln fordern. Aber daraus entsteht noch keine specielle Hermeneutik. Gleichwohl ist die neutestam. Hermeneutik eine specielle, aber nur in Beziehung auf das zusammengesetzte Sprachgebiet oder den hebraisirenden Sprach- charakter. Die neutest. Schriftsteller waren nicht gewohnt in der griechischen Sprache zu denken, wenigstens nicht uͤber religioͤse Ge- genstaͤnde. Diese Beschraͤnkung gilt dem Lukas, der ein geborener Grieche gewesen sein kann. Aber selbst die Griechen waren auf dem Gebiete des Hebraismus Christen geworden. Nun giebt es in jeder Sprache eine Menge von Verschiedenheiten, oͤrtlich, ver- schiedene Dialekte im weitesten Sinne, zeitlich, verschiedene Sprach- perioden. In jeder ist die Sprache eine andere. Dieß erfordert specielle Regeln, die sich auf die specielle Grammatik verschiedener Zeitraͤume und Orte beziehen. Doch dieß ist noch allgemeiner an- wendbar. Denn wenn in einem Volke eine geistige Entwickelung vorgeht, so entsteht auch eine neue Sprachentwickelung. Wie nun jedes neue geistige Princip sprachbildend wird, so auch der christ- liche Geist. Aber daraus entsteht sonst keine specielle Hermeneutik. Beginnt ein Volk zu philosophiren, so zeigt es eine große Sprach- entwickelung, aber es bedarf keiner speciellen Hermeneutik. Der neue christliche Geist aber tritt im N. T. hervor in einer Sprach- mischung, in der das hebraͤische der Stamm ist, worin das neue zunaͤchst gedacht worden ist, das griechische aber aufgepfropft. Deßhalb ist die neutestam. Hermeneutik als eine specielle zu be- handeln. Da die Sprachmischung eine Ausnahme, ein nicht na- turgemaͤßer Zustand ist, so geht auch die neutest. Hermeneutik als eine specielle nicht auf regelmaͤßige Weise aus der allgemeinen hervor. — Überhaupt begruͤndet weder die natuͤrliche Verschieden- heit der Sprachen eine positive specielle Hermeneutik, denn diese Verschiedenheit gehoͤrt der Grammatik an, welche von der Her- meneutik vorausgesezt und eben nur angewendet wird, noch der Unterschied zwischen Prosa und Poesie in einer und derselben Sprache und in verschiedenen, denn auch die Kenntniß dieser Verschiedenheit wird in der hermeneutischen Theorie vorausgesezt. Eben so wenig wird durch die psychologischen Verschiedenheiten, sofern sie sich auf eine gleichmaͤßige Weise im relativen Gegen- satze zwischen dem Allgemeinen und Speciellen ergeben, eine spe- cielle Hermeneutik, als solche nothwendig. 14. Der Unterschied zwischen dem kunstmaͤßigen und kunstlosen in der Auslegung beruhet weder auf dem von ein- heimisch und fremd, noch auf dem von Rede und Schrift, sondern immer darauf, daß man einiges genau verstehen will und anderes nicht. 1. Wenn es nur auslaͤndische und alte Schrift waͤre, die der Kunst beduͤrfte, so muͤßten die urspruͤnglichen Leser ihrer nicht bedurft haben und die Kunst beruhete also auf dem Un- terschiede zwischen diesen und uns. Dieser Unterschied muß aber durch Sprach- und Geschichtkenntniß erst aus dem Wege geraͤumt werden; erst nach erfolgter Gleichsetzung geht die Auslegung an. Der Unterschied zwischen auslaͤndisch alter Schrift und einheimisch gleichzeitiger liegt also nur darin, daß jene Operation des Gleichseins nicht ganz vorhergehen kann, sondern sie wird erst mit dem Auslegen und waͤhrend desselben vollendet, und dieß ist beim Auslegen immer zu beruͤcksichtigen. 2. Es ist auch nicht bloß die Schrift. Sonst muͤßte die Kunst nur nothwendig werden durch den Unterschied zwischen Schrift und Rede, d. h. durch das Fehlen der lebendigen Stimme und durch den Mangel anderweitiger persoͤnlicher Einwirkungen. Die lezten aber beduͤrfen selbst wieder der Auslegung und diese bleibt immer unsicher. Die lebendige Stimme erleichtert freilich das Verstaͤndniß sehr, aber der Schreibende muß darauf Ruͤck- sicht nehmen (daß er nicht spricht). Thut er dieß, so muͤßte die Auslegungskunst dann auch uͤberfluͤssig sein, welches doch nicht der Fall ist. Also beruhet ihre Nothwendigkeit auch wo er jenes nicht gethan nicht bloß auf diesem Unterschiede. Zusaz Aus der Randbem. und der Vorlesung v. J. 1828. . Daß sich aber die Kunst der Auslegung aller- dings mehr auf Schrift als Rede bezieht, kommt daher weil der muͤndlichen Rede in der Regel vieles zu Huͤlfe kommt wo- durch ein unmittelbares Verstaͤndniß gegeben wird, was der Schrift abgeht, und weil man — besonders von den verein - zelten Regeln , die man ohnehin nicht im Gedaͤchtniß fest- haͤlt, bei der voruͤbergehenden Rede keinen Gebrauch machen kann. 3. Wenn nun Rede und Schrift sich so verhalten, so bleibt kein anderer Unterschied als der bezeichnete uͤbrig, und es folgt daß auch die kunstgerechte Auslegung kein anderes Ziel hat, als welches wir beim Anhoͤren jeder gemeinen Rede haben. 15. Die laxere Praxis in der Kunst geht davon aus, daß sich das Verstehen von selbst ergiebt und druͤckt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden . 1. Ihre Voraussetzung beruht darauf, daß sie sich vornehm- lich mit dem unbedeutenden abgiebt oder wenigstens nur um eines gewissen Interesse willen verstehen will und sich daher leicht auszufuͤhrende Grenzen sezt. 2. Auch sie muß indeß in schwierigen Faͤllen zur Kunst ihre Zuflucht nehmen, und so ist die Hermeneutik aus der kunst- losen Praxis entstanden. Weil sie auch nur die schwierigen Faͤlle vor Augen hatte, so wurde sie ein Aggregat von Obser- vationen und aus demselben Grunde immer gleich Specialher- meneutik, weil sich die schwierigen Faͤlle auf einem besonderen Gebiet leichter ausmitteln lassen. So ist die theologische und juristische entstanden und die Philologen haben auch nur spe- zielle Zwecke vor Augen gehabt. 3. Der Grund dieser Ansicht ist die Identitaͤt der Sprache und der Combinationsweise in Redenden und Hoͤrenden. 16. Die strengere Praxis geht davon aus daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden. 1. Beruhend darauf, daß sie es mit dem Verstehen genau nimmt und die Rede von beiden Seiten betrachtet ganz darein aufgehen soll. Zusaz . Es ist eine Grunderfahrung, daß man zwischen dem kunstlosen und dem kuͤnstlerischen im Verstehen keinen Un- terschied bemerkt vor dem Eintreten eines Mißverstaͤndnisses. 2. Sie geht also von der Differenz der Sprache und der Combinationsweise aus, die aber freilich (14.) auf der Identitaͤt ruhen muß und nur das geringere ist, welches der kunstlosen Praxis entgeht. 17. Das zu Vermeidende ist ein zwiefaches, das qualitative Mißverstehen des Inhalts, und das Mißver- stehen des Tons oder das quantitative . Zusaz . Die Aufgabe laͤßt sich auch negativ so be- stimmen, materielles (qualitatives) und formelles (quantita- tives) Mißverstaͤndniß zu vermeiden. 1. Objectiv betrachtet, ist das qualitative die Verwechselung des Ortes eines Theiles der Rede in der Sprache mit dem eines andern, wie z. E. Verwechselung der Bedeutung eines Wortes mit der eines andern. Subjectiv ist das qualitative Mißverstaͤndniß die Verwechselung der Beziehungen eines Aus- drucks, so daß man demselben eine andere Beziehung giebt, als der Redende ihm in seinem Kreise gegeben hat Hier ist aus der Vorlesung der deutlichere Ausdruck des Gedankens gleich mit aufgenommen. . 2. Das quantitative Mißverstehen bezieht sich subjectiv auf die Entwicklungskraft eines Theils der Rede, den Werth (Nach- druck), den ihm der Redende beilegt, — analog objectiv, auf die Stelle, die ein Redetheil in der Gradation einnimmt, z. B. der Superlativ. 3. Aus dem quantitativen, welches gewoͤhnlich minder be- achtet wird, entwickelt sich immer das qualitative. 4. Alle Aufgaben sind in diesem negativen Ausdrucke ent- halten. Allein ihrer Negativitaͤt wegen koͤnnen wir aus ihnen die Regeln nicht entwickeln, sondern muͤssen von einem positi- ven ausgehen aber uns bestaͤndig an diesem negativen orien- tiren. 5. Es ist auch noch positiver und activer Mißverstand zu unterscheiden. Letzterer ist das Einlegen, welches aber die Folge eigenes Befangenseins ist, in Beziehung worauf also nichts be- stimmtes geschehen kann sofern es nicht als Maximum erscheint, wobei ganz falsche Voraussetzungen zum Grunde liegen. Das Aus der Vorles. v. 1826. Mißverstehen ist entweder Folge der Übereilung oder der Befangenheit. Jene ist ein einzelner Moment. Diese ist ein Fehler, der tiefer steckt. Es ist die einseitige Vorliebe fuͤr das was dem einzelnen Ideenkreise nahe liegt und das Abstoßen des- sen was außer demselben liegt. So erklaͤrt man hinein oder heraus was nicht im Schriftsteller liegt. 18. Die Kunst kann ihre Regeln nur aus einer po- sitiven Formel entwickeln und diese ist das geschichtliche und divinatorische ( profetische ) objective und sub - jective Nachconstruiren der gegebenen Rede . 1. Objectiv geschichtlich heißt einsehen wie sich die Rede in der Gesammtheit der Sprache und das in ihr einge- schlossene Wissen als ein Erzeugniß der Sprache verhaͤlt. Ob - jectiv divinatorisch heißt ahnden wie die Rede selbst ein Entwickelungspunkt fuͤr die Sprache werden wird. Ohne beides ist qualitativer und quantitativer Mißverstand nicht zu vermeiden. 2. Subjectiv geschichtlich heißt wissen wie die Rede als Thatsache im Gemuͤth gegeben ist, subjectiv divinatorisch heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter in dem Redenden und auf ihn fortwirken werden. Ohne beides eben so Mißverstand unvermeidlich. 3. Die Aufgabe ist auch so auszudruͤcken, die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß dessen haben, was in ihm ist, so muͤssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen was ihm unbewußt bleiben kann außer sofern er selbst reflektirend sein eigen r Leser wird. Auf der objectiven Seite hat er auch hier kein andern Data als wir. 4. Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche, weil es ein unendliches der Vergangenheit und Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehen wollen. Daher ist auch diese Kunst ebenfalls einer Begeisterung faͤhig wie jede andere. In dem Maaße als eine Schrift diese Begeisterung nicht erregt ist sie unbedeutend. — Wie weit man aber und auf welche Seite vorzuͤglich man mit der Annaͤherung gehen will, das muß jedenfalls praktisch entschieden werden, und gehoͤrt hoͤch- stens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine. 19. Vor der Anwendung der Kunst muß hergehen, daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem Urheber gleichstellt. 1. Auf der objectiven Seite also durch Kenntniß der Sprache wie er sie hatte, welches also noch bestimmter ist, als sich den urspruͤnglichern Lesern gleichstellen, welche selbst sich ihm erst gleichstellen muͤssen. Auf der subjectiven in der Kenntniß seines inneren und aͤußeren Lebens. 2. Beides kann aber erst vollkommen durch die Auslegung selbst gewonnen werden. Denn nur aus den Schriften eines je- den kann man seinen Sprachschaz kennen lernen und eben so seinen Charakter und seine Umstaͤnde. 20. Der Sprachschaz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze aus welchem seine Schriften als das Einzelne muͤssen verstanden werden und jenes wieder aus ihm. 1. Überall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen dessen Theil es ist verstanden werden kann und umgekehrt. Und je- des Wissen ist nur wissenschaftlich wenn es so gebildet ist. 2. In dem genannten liegt die Gleichsezung mit dem Ver- fasser, und es folgt also erstlich, daß wir um so besser geruͤstet sind zum Auslegen je vollkommener wir jenes inne haben, zwei- tens aber auch, daß kein auszulegendes auf einmal verstanden werden kann, sondern jedes Lesen sezt uns erst, indem es jene Vorkenntnisse bereichert, zum besseren Verstehen in Stand. Nur beim unbedeutenden begnuͤgen wir uns mit dem auf ein- mal verstandenen. 21. Wenn die Kenntniß des bestimmten Sprachschazes erst waͤhrend des Auslegens durch lexikalische Huͤlfe und durch einzelne Bemerkung zusammengerafft werden soll, kann keine selbstaͤndige Auslegung entstehen. 1. Nur die unmittelbare Überlieferung aus dem wirklichen Leben der Sprache giebt eine von der Auslegung mehr unab- haͤngige Quelle fuͤr die Kenntniß des Sprachschazes. Der- Hermeneutik u. Kritik. 3 gleichen haben wir bei der griechischen und lateinischen Sprache nur unvollkommen. Daher die ersten lexikalischen Arbeiten von solchen herruͤhren, welche die ganze Litteratur zum Behufe der Sprachkenntniß durchgearbeitet hatten. Deßhalb aber beduͤrfen diese Arbeiten auch bestaͤndiger Berichtigung durch die Ausle- gung selbst, und jede kunstmaͤßige Auslegung muß dazu ihrer- seits beitragen. 2. Unter bestimmtem Sprachschaz verstehe ich Dialekt, Pe- riode und Sprachgebiet einer besonderen Gattung, letzteres aus- gehend von dem Unterschiede zwischen Poesie und Prosa. 3. Der Anfaͤnger muß die ersten Schritte an der Hand je- ner Huͤlfsmittel thun, aber selbstthaͤtige Interpretation kann nur auf verhaͤltnißmaͤßiger selbstthaͤtiger Erwerbung jener Vor- kenntnisse ruhen. Denn alle Bestimmungen uͤber die Sprache in Woͤrterbuͤchern und Observationen gehn doch von besonderer und oftmals unsicherer Auslegung aus. 4. In dem neutestam. Gebiet kann man besonders sagen, daß die Unsicherheit und Willkuͤhrlichkeit der Auslegung groͤßten- theils auf diesem Mangel beruht. Denn aus einzelnen Observa- tionen lassen sich immer entgegengesezte Analogien entwickeln. — Der Weg zum neutest. Sprachschaze geht aber vom klassischen Alterthume aus durch die makedonische Graͤcitaͤt, die juͤdischen Profanschriftsteller Josephus und Philo, die deuterokanonischen Schriften und die LXX, als die staͤrkste Annaͤherung zum he- braͤischen. Was Aus der Vorles. v. J. 1826. die gegenwaͤrtige Art des akademischen Studiums der neutest. Exegese betrifft, so fehlt es dabei an einer genuͤgenden Vorbereitung. Gewoͤhnlich kommt man unmittelbar von der klassischphilologischen Gymnasialbildung zur kunstmaͤßigen Ausle- gung des N. T. Das ist eine unguͤnstige Lage. Doch wollen wir deßhalb nicht in den Wunsch einstimmen, daß zum Behuf der theologischen Bildung die jezige gelehrte Schulbildung geaͤn- dert und mit den kuͤnftigen Theologen auf Gymnasien statt der Klassiker die Kirchenvaͤter gelesen werden moͤchten, weil Sprache und Ideenkreis der ersteren zu ungleich waͤren. Das wuͤrde schlechte Fruͤchte bringen. Es waͤre schlimm, wenn die Theologen bloß patristisch gelehrt waͤren. Unsere allgemeine Bildung ist schon zu sehr durch das klassische Alterthum bestimmt, so daß eine verderb- liche Differenz zwischen der Bildung der Theologen und den An- dern eintreten muͤßte. Man kann es mit der Sache des Chri- stenthums sehr redlich meinen, sehr christlich gesinnt sein ohne den Zusammenhang mit dem heidnischen Alterthume abbrechen zu wollen. Die Periode, in der die gebildetsten Kirchenvaͤter schrieben, war doch die des Verfalls. Diese kann aber nicht aus sich selbst verstanden werden, sondern nur durch Vergleichung mit dem vor- angegangenen Culminationspunkt der Litteratur. Kommt jemand mit rechter Liebe zu den christlichen Denkmaͤlern, um so mehr wird er sie nun verstehen aus der mitgebrachten Kenntniß des klassischen Alterthums, und um so weniger wird er dann von dem nichtchristlichen Inhalt der Klassiker Nachtheil erfahren. Der unvermeidliche Mangel aber an gehoͤriger Vorbereitung zum akademischen Studium der neutest. Exegese ließe sich corrigiren durch voraufgehenden vollstaͤndigen Unterricht in der neutest. Grammatik, und biblischen Archaͤologie, Einleitung u. s. w. Al- lein das wuͤrde theils zu weit fuͤhren, theils immer schon wieder Exegese voraussezen. So bleibt nichts uͤbrig, als den akademi- schen Vortrag der Exegese genetisch einzurichten, so daß unter Anleitung zum richtigen, selbststaͤndigen Gebrauch der vorhandenen Huͤlfsmittel, woraus die neutest. Sprache, die biblische Archaͤo- logie u. s. w. zu lernen ist, in jedem gegebenen Falle die herme- neutischen Regeln in ihrer rechten Anwendung zum Bewußtsein gebracht werden; die rechte Sicherheit aber entsteht nur, wenn der Lernende mit dem Vortrage des Lehrers die eigene Übung verbindet. Aber diese muß nothwendig vom leichteren zum schwe- reren fortschreiten mit verstaͤndiger Benuzung der dargebotenen Huͤlfsmittel. 3* 22. Wenn die noͤthigen Geschichtskenntnisse nur aus Prolegomenen genommen werden, so kann keine selbstaͤndige Auslegung entstehen. 1. Solche Prolegomena sind nebst den kritischen Huͤlfen die Pflicht eines jeden Herausgebers, der eine Mittelsperson sein will. Sie koͤnnen aber selbst nur ruhen auf einer Kennt- niß des ganzen einer Schrift angehoͤrigen Litteraturkreises, und alles dessen was in spaͤteren Gebieten uͤber den Verfasser einer Schrift vorkommt. Also sind sie selbst von der Auslegung ab- haͤngig. Sie werden zugleich fuͤr den berechnet, dem die ur- spuͤngliche Erwerbung in keinem Verhaͤltniß staͤnde zu seinem Zwecke. Der genaue Ausleger muß aber allmaͤhlig alles aus den Quellen selbst schoͤpfen, und eben darum kann sein Ge- schaͤft nur vom leichteren zum schwereren in dieser Hinsicht fortschreiten. Am schaͤdlichsten aber wird die Abhaͤngigkeit wenn man in die Prolegomenen solche Notizen hineinbringt die nur aus dem auszulegenden Werke selbst koͤnnen geschoͤpft werden. 2. In Bezug auf das N. Testam. hat man aus diesen Vorkenntnissen eine eigene Disciplin gemacht, die Einleitung. Diese ist kein eigentlicher organischer Bestandtheil der theolo- gischen Wissenschaft, aber praktisch ist es zweckmaͤßig, theils fuͤr den Anfaͤnger, theils fuͤr den Meister, weil es nun leichter ist alle hieher gehoͤrigen Untersuchungen auf einen Punkt zusam- menzubringen. Aber der Ausleger muß immer auch wieder bei- tragen, um diese Masse von Resultaten zu vermehren und zu berichtigen. Zusaz . Aus der verschiedenen Art diese Vorkenntnisse frag- mentarisch anzulegen und zu benuzen bilden sich verschiedene aber auch einseitige Schulen der Interpretation, die leicht als Manier tadelhaft werden. 23. Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deßhalb eine cursorische Lesung um einen Überblick des Ganzen zu erhalten der genaueren Auslegung vorangehen. 1. Dieß scheint ein Cirkel, allein zu diesem vorlaͤufigen Verstehen reicht diejenige Kenntniß des Einzelnen hin, welche aus der allgemeinen Kenntniß der Sprache hervorgeht. 2. Inhaltsverzeichnisse, die der Autor selbst giebt, sind zu trocken um den Zweck auch auf der Seite der technischen In- terpretation zu erreichen, und bei Übersichten wie Herausgeber sie auch den Prolegomenen beizufuͤgen pflegen kommt man in die Gewalt ihrer Interpretation. 3. Die Absicht ist die leitenden Ideen zu finden nach wel- chen die andern muͤssen abgemessen werden, und eben so auf der technischen Seite den Hauptgang zu finden, woraus das Einzelne leichter gefunden werden kann. Unentbehrlich sowol auf der technischen als grammatischen Seite, welches aus den verschiedenen Arten des Mißverstandes leicht ist nachzuweisen. 4. Beim unbedeutenden kann man es eher unterlassen und beim schwierigen scheint es weniger zu helfen, ist aber desto unentbehrlicher. Dieses wenig helfen der allgemeinen Übersicht ist sogar ein charakteristisches Merkmal schwerer Schriftsteller. Zusaz . Allgemeine methodologische Regel: a ) Anfang mit allgemeiner Übersicht; b ) Gleichzeitiges Begriffensein in beiden Richtungen, der grammatischen und psychologischen; c ) Nur, wenn beide genau zusammentreffen in einer einzelnen Stelle, kann man weiter gehen; d ) Nothwendigkeit des Zuruͤckgehens, wenn sie nicht zusammenstimmen, bis man den Fehler im Cal- cul gefunden hat. Soll nun das Auslegen im Einzelnen angehn, so muͤssen zwar in der Ausuͤbung beide Seiten der Interpretation immer zusammen verbunden werden aber in der Theorie muͤssen wir trennen, und von jeder besonders handeln, bei jeder aber dar- nach trachten es so weit zu bringen, daß uns die andere ent- behrlich werde, oder vielmehr daß ihr Resultat in der ersten mit erscheine. Die grammatische Interpretation geht voran. Den Vortrag vom Jahre 1832. uͤber §. 14-23. faßt Schleier- macher selbst in der Kuͤrze so zusammen: Vor dem Anfange des hermeneutischen Verfahrens muß man wissen, in welchem Verhaͤltniß man beide Seiten anzuwenden hat (s. §. 12.) Dann muß man zwischen sich und dem Autor dasselbe Verhaͤltniß herstellen wie zwischen ihm und seiner ur- spruͤnglichen Addresse. Also Kenntniß des ganzen Lebenskreises und des Verhaͤltnisses beider Theile dazu. Ist dieß nicht voll- staͤndig geschehen, so entstehen Schwierigkeiten die wir vermeiden wollen. Commentare sagen dieses voraus und wollen sie loͤsen. Wer sie gebraucht ergiebt sich einer Auctoritaͤt und erhaͤlt sich das selbstaͤndige Verstehen nur wenn er diese Auctoritaͤt wieder seinem eigenen Urtheile unterwirft. — Ist die Rede an mich unmittel- bar gerichtet, so muß auch vorausgesetzt werden, daß der Redende mich so denkt, wie ich mir bewußt bin zu sein. Da aber schon das gemeine Gespraͤch oft zeigt, daß sich dieß nicht so verhaͤlt, so muͤssen wir skeptisch verfahren. Der Kanon ist: Die Bestaͤtigung des Verstaͤndnisses, welches sich am Anfange ergiebt, ist vom fol- genden zu erwarten. Daraus folgt, daß man den Anfang nicht eher versteht als am Ende, also auch, daß man den Anfang noch haben muß am Ende, und dieß heißt bei jedem uͤber das gewoͤhn- liche Maaß des Gedaͤchtnisses hinausgehenden Complexus, daß die Rede muß Schrift werden In der Vorlesung wird dieß dadurch deutlicher, daß man sieht, wie die hermeneutische Aufgabe von der muͤndlichen Rede, dem Gespraͤch, — als dem urspruͤnglichen Orte des Verstehens — zum Verstehen der Schrift hinuͤbergefuͤhrt wird. . Der Kanon gewinnt nun diese Gestalt: Um das erste genau zu verstehen muß man schon das Ganze aufgenommen haben. Natuͤrlich nicht in sofern es der Gesammtheit der Einzelheiten gleich ist, sondern als Skelett, Grundriß, wie man es fassen kann mit Übergehung des Einzelnen. Diesen nemlichen Kanon erhalten wir, wenn wir von der Fassung ausgehen den Proceß des Autors nachzubilden. Denn bei jedem groͤßeren Complexus hat dieser auch das Ganze eher gesehn, als er zum Einzelnen fortgeschritten In der Vorlesung wird dieser Kanon in seiner Anwendung naͤher so be- stimmt, daß das vorgaͤngige Verstehen des Ganzen um so nothwendiger ist, je mehr der gegebene Complexus von Gedanken einen selbstaͤndigen Zusammenhang hat. Der Kanon des vollkommenen Verstehens wird dann so gefaßt: Vollkommenes Verstehen giebt es nur durch das Ganze, dieses aber ist vermittelt durch das vollkommene Verstaͤndniß des Einzelnen. . Um nun in moͤglichst ununterbrochenen Gang zu kommen, muͤssen wir das was dadurch vermieden werden soll naͤher be- trachten, nemlich das Mißverstehen. Ein Saz kann quantitativ mißverstanden werden, wenn das Ganze nicht naͤher (richtig) auf- gefaßt ist, z. B. wenn ich fuͤr Hauptgedanken nehme, was nur Nebengedanke ist, — qualitativ, wenn z. E. Ironie fuͤr Ernst ge- nommen wird und umgekehrt. Saz als Einheit ist auch das kleinste fuͤr das Verstehen und Mißverstehen. Mißverstand ist Verwech- selung des einen Ortes in dem Sprachwerth eines Wortes oder einer Form mit dem andern. Der Gegensaz zwischen qualita- tivem und quantitativem geht genau genommen durch alles in der Sprache durch, auch der Begriff Gott ist demselben unter- worfen (man vergleiche den polytheistischen und den christlichen), die formellen wie die materiellen Sprachelemente. Die Genesis des Mißverstandes ist zwiefach, durch (bewußtes) Nichtverstehen oder unmittelbar . An dem ersten ist eine Schuld des Verfassers eher moͤglich, (Abweichung vom gewoͤhn- lichen Sprachgebrauch oder Gebrauch ohne Analogie) das andere ist wahrscheinlich immer eigene Schuld des Auslegers (§. 17.). Wir koͤnnen die ganze Aufgabe auch auf diese negative Weise ausdruͤcken: — auf jedem Punkt das Mißverstehen zu vermeiden. Denn beim bloßen Nichtverstehen kann niemand stehn bleiben, also muß das voͤllige Verstehen herauskommen, wenn jene Auf- gabe richtig geloͤs't ist. Soll nun nachdem die Aufgabe gefaßt und die Vorbedin- gungen erfuͤllt sind, das Geschaͤft beginnen, so ist zwischen beiden Seiten der Interpretation eine Prioritaͤt zu bestimmen. Diese faͤllt auf die grammatische Seite theils weil diese am meisten be- arbeitet ist, theils weil man dabei am leichtesten auf eine vorhan- dene Voruͤbung rechnen kann. Erster Theil . Die grammatische Auslegung . 1. E rster Kanon: Alles was noch einer naͤheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus dem dem Verfasser und seinem urspruͤnglichen Publikum ge- meinsamen Sprachgebiet bestimmt werden. 1. Alles bedarf naͤherer Bestimmung und erhaͤlt sie erst im Zusammenhange. Jeder Theil der Rede, materieller sowol als formeller, ist an sich unbestimmt. Bei einem jeden Worte iso- lirt denken wir uns nur einen gewissen Cyclus von Gebrauchs- weisen. Eben so bei jeder Sprachform. 2. Einige nennen das was man sich bei dem Worte an und fuͤr sich denkt die Bedeutung , das aber was man sich dabei denkt in einem gegebenen Zusammenhang den Sinn . Andere sagen, ein Wort hat nur eine Bedeutung keinen Sinn, ein Saz an und fuͤr sich hat einen Sinn aber noch keinen Verstand, sondern den hat nur eine voͤllig geschlossene Rede. Nun koͤnnte man freilich sagen auch diese wuͤrde noch vollstaͤn- diger verstanden im Zusammenhange mit ihrer angehoͤrigen Welt; allein das geht aus dem Gebiete der Interpretation her- aus. — Die leztere Terminologie ist insofern freilich vorzuziehen als ein Saz eine untheilbare Einheit ist und als solche ist auch der Sinn eine Einheit, das Wechselbestimmtsein von Subject und Praͤdicat durch einander. Aber recht sprachgemaͤß ist auch diese nicht, denn Sinn im Vergleich mit Verstand ist ganz dasselbe wie Bedeutung. Das wahre ist daß das Übergehen vom unbestimmteren in das bestimmte bei jedem Auslegungsgeschaͤft eine unendliche Aufgabe ist. — Wo ein einzelner Saz ein abgeschlossenes Ganze fuͤr sich allein ausmacht, da scheint der Unterschied zwischen Sinn und Verstand zu verschwinden, wie bei Epigramm und Gnome. Diese soll aber erst bestimmt werden durch die Association des Lesers, jeder soll sie machen zu was er kann. Jenes ist bestimmt durch die Beziehung auf eine einzelne Sache. Zerlegt man eine Rede in ihre einzelnen Theile, so ist jeder etwas unbestimmtes. Also jeder einzelne Saz aus allem Zusammenhang gerissen muß ein unbestimmtes sein. — Aber es giebt Faͤlle, wo bloß einzelne Saͤze gegeben sind ohne Zusammenhang, z. B. ein Spruͤchwort (eine Gnome) hat sein Wesen eben darin, daß es ein einzelner Saz ist. Eben so abgeschlossen ist das Epigramm. Nach jenem Kanon waͤre dieß also eine unverstaͤndliche, schlechte Gattung. Das Epigramm ist ein schlechthin Einzelnes, als Über- schrift; die Gnome aber ein Allgemeines, obgleich sehr oft in der einzelnen Form des Beispiels ausgesprochen. Das Epigramm verlangt eine Geschichte, in deren Zusammenhang es entstanden und woraus es auch erst verstaͤndlich ist. Ist die Kenntniß der Begebenheiten und Personen, woraus es hervorgegangen ist, ver- loren gegangen, so ist das Epigramm ein Raͤthsel, d. h. es ist nicht mehr aus seinem Zusammenhang zu loͤsen. Die Gnomen sind Saͤze von haͤufigem und verschiedenem Gebrauch. Der Kreis ihrer Anwendung und Wirksamkeit ist unbestimmt. Erst in einem bestimmten Falle gebraucht wird der Gnomensaz bestimmt. Er entsteht in bestimmtem Zusammenhang, aber auf den großen Kreis seiner Anwendung bezogen wird er unbestimmt. So sind also Gnomen und Epigramme keine Widerlegung unseres allge- meinen Kanons. 3. Das Gebiet des Verfassers selbst ist das seiner Zeit, sei- ner Bildung und das seines Geschaͤfts — auch seiner Mund- art, wo und sofern diese Differenz in der gebildeten Rede vor- kommt. Aber es wird nicht in jeder Rede ganz sein, sondern nur nach Maaßgabe der Leser. Wie erfahren wir aber was fuͤr Leser sich der Verfasser gedacht? Nur durch den allge- meinen Überblick uͤber die ganze Schrift. Aber diese Bestim- mung des gemeinsamen Gebietes ist nur Anfang und sie muß waͤhrend der Auslegung fortgesetzt werden und ist erst mit ihr zugleich vollendet. 4. Es kommen von diesem Kanon mancherlei scheinbare Ausnahmen vor: a ) Archaismen liegen außer dem un- mittelbaren Sprachgebiet des Verfassers, also eben so seiner Leser. Sie kommen vor um die Vergangenheit mit zu verge- genwaͤrtigen, im Schreiben mehr als im Reden, in der Poesie mehr als in der Prosa. b ) Technische Ausdruͤcke selbst in den populaͤrsten Gattungen, wie z. B. in gerichtlichen und berathenden Reden, letzteres auch wenn nicht alle Zuhoͤrer es verstehen. Dieß fuͤhrt auf die Bemerkung, daß ein Verfasser auch nicht immer sein ganzes Publikum im Auge hat, sondern auch dieses schwankt. Daher auch eben diese Regel eine Kunst- regel ist deren gluͤckliche Anwendung auf einem richtigen Ge- fuͤhle beruht. Wir wollen den Saz, keine Regel ohne Ausnahme nicht lieben, denn dann ist die Regel meist zu eng oder zu weit oder zu unbestimmt gefaßt. Aber doch finden wir, daß sich Schriftsteller oft Ausdruͤcke bedienen, welche dem Sprachgebiete ihrer Leser nicht angehoͤren. Dieß kommt aber daher, daß diese Gemeinschaftlichkeit etwas un- bestimmtes ist von engeren und weiteren Grenzen. Es giebt z. E. Archaismen. Wenn der Schriftsteller zu solchen Ausdruͤ- cken einen bestimmten Grund hat und der veraltete Ausdruck aus dem Zusammenhang klar werden muß, begeht der Schrift- steller keinen Fehler. Es giebt ferner technische Ausdruͤcke. Auf dem speciellen Gebiete unvermeidlich; der Leser muß sich mit ih- nen bekannt machen. Werden aber technische Ausdruͤcke auf einem anderen Gebiet gebraucht, ohne besondere starke Motife, so wird der Schriftsteller nicht ganz verstanden. Deßhalb kann Fr. Rich- ter wegen der haͤufigen Ausdruͤcke aus speciellen Gebieten nicht auf Klassicitaͤt Anspruch machen. Zur Veraͤnderlichkeit der Sprache in der Zeit gehoͤrt die Aufnahme neuer Ausdruͤcke. Diese ent- stehen im fortschreitenden Zusammenhange des Denkens und Aussprechens. So lange die Sprache lebt werden neue Ausdruͤcke gemacht. Dieß hat aber seine Schranken. Neue Stammwoͤrter koͤnnen nicht aufgebracht werden; nur in Ableitungen und Zu- sammensetzungen sind neue Woͤrter denkbar. Die Nothwendigkeit derselben entsteht sobald ein neues Gedankengebiet gewonnen wird. Wollte ich in diesem Falle nicht Neues in der eigenen Sprache bilden, so muͤßte ich mich in einer fremden Sprache, in der jenes Gebiet schon behandelt ist, ausdruͤcken. Sobald uns entgeht, daß der Verfasser etwas neues sprachliches gebildet hat, so verstehen wir ihn nicht vollkommen in Beziehung auf die Sprache; es kommt etwas nicht in unser Bewußtsein, was in dem Bewußtsein des Verfassers war. Dasselbe gilt von ganzen Phrasen. Und es muß deßhalb wohl bei allen Werken in Acht genommen werden, welche die ersten ihrer Gattung waren. Jede Schrift, welche in die Anfaͤnge eines neuen Gedankengebietes faͤllt hat die Praͤsumtion fuͤr sich, daß sie neue Ausdruͤcke enthalte. Es ist nicht zu ver- langen, daß das Neue eines Schriftstellers in der Schrift immer gleich sichtbar ist; es kann gerade das fuͤr uns verloren gegangen sein, worin das Neue zuerst bemerkbar hervortrat. So bei Plato von dem man weiß, daß er neue Ausdruͤcke producirte zum Behuf neuer philosophischer Ideen. Ein großer Theil seiner Sprachproduktionen ging nachher in alle Schulen uͤber. So er- scheint uns vieles bekannt, was vielleicht er zuerst in die Sprache gebracht hat. Bei Plato beruht die Schriftsprache auf dem muͤnd- lichen Gespraͤch, wo die Kunstausdruͤcke zuerst vorgekommen sein koͤnnen, was uns nun entgeht, da Plato in seinen Schriften vor- aussetzen konnte, das Neue, was er gebraucht, sei seinen Lesern aus seinem Gespraͤch nicht unbekannt. So entsteht in Betreff des Neuen Schwierigkeit und Unsicherheit in der Auslegung. — Oft ist Schuld am Mißverstande, wenn schon vorhandenen Aus- druͤcken eine besondere Bedeutung beigelegt wird. Da faͤllt die Schuld meist auf den Verfasser, den wir dunkel nennen, wenn er gangbaren Bezeichnungen einen eigenthuͤmlichen Werth beilegt, ohne daß dieser bestimmt aus dem Zusammenhang entwickelt werden kann Gelegentlich bemerkt hier Schleiermacher: Betrachten wir das gewohnte Verfahren dieses Neubildens, so haben wir Ursache die Ausleger unserer Litteratur zu bedauern, denn die Willkuͤhr dabei ist so groß, daß weder die logischen noch musikalischen Gesetze beobachtet werden. So entstehen Sprachverderbnisse, welche die Sprache verwirren und die Auslegung zweifelhaft machen. Wir koͤnnen dagegen nichts weiter thun, als daß schlechte neue Sprachbildungen nicht aufgenommen und verbreitet werden. . — Die neugebildeten Woͤrter sind aber eben so wenig als die technischen Ausnahmen, da sie aus dem gemeinsamen Sprachgebiete genommen und verstanden werden muͤssen. In Beziehung aber auf die Archaismen und Neologismen in der Sprache gilt, daß man sich mit der Geschichte der Sprache in ihren verschiedenen Perioden bekannt macht. Bei Homer und den Tragikern z. B. muß gefragt werden, ob die Verschiedenheit ihrer Sprache in der Gattung oder Sprache selbst oder in beiden liegt. Homers Sprache trat in den Alexandrinern wieder hervor. Da kann man fragen, hat das Epos so lange geruht und trat dann wieder hervor, oder sind die Werke der Alexandriner nur Nachahmungen Homers? Je nachdem diese Frage verschieden be- antwortet wuͤrde, muͤßte ein verschiedenes hermeneutisches Ver- fahren entstehen. — Ein richtiger Totalblick muß immer zum Grunde liegen, wenn das Einzelne soll richtig verstanden werden. 5. In dem Ausdruck, daß wir uns des Sprachgebiets muͤssen im Gegensaz gegen die uͤbrigen organischen Theile der Rede bewußt werden, liegt auch jenes, daß wir den Verfasser besser verstehen als er selbst, denn in ihm ist vieles dieser Art unbewußt was in uns ein bewußtes werden muß, theils schon im Allgemeinen bei der ersten Übersicht theils im Einzelnen sobald Schwierig- keiten entstehen. 6. Das Auslegen kann nach der allgemeinen Übersicht oft lange ruhig fortgehn ohne eigentlich kunstlos zu sein, weil doch alles an das allgemeine Bild gehalten wird. Sobald aber eine Schwierigkeit im Einzelnen entsteht, entsteht auch der Zweifel, ob die Schuld am Verfasser liegt oder an uns. Das erste darf man nur nach dem Maaß voraussezen als er sich schon in der Übersicht sorglos und ungenau oder auch talentlos und verworren gezeigt hat. Bei uns kann sie doppelte Ursach haben entweder ein fruͤheres unbemerkt gebliebenes Mißver- staͤndniß oder eine unzureichende Sprachkunde, so daß uns die rechte Gebrauchsweise des Wortes nicht einfaͤllt. Von dem er- sten wird erst spaͤterhin die Rede sein koͤnnen wegen des Zu- sammenhangs mit der Lehre von den Parallelstellen. Hier also zunaͤchst von dem andern. 7. Die Woͤrterbuͤcher welche die natuͤrlichen Ergaͤnzungs- mittel sind sehen die verschiedenen Gebrauchsweisen als Aggre- gat eines mannigfaltigen lose verbundenen an. Auch das Be- streben die Bedeutung auf urspruͤngliche Einheit zuruͤckzufuͤhren ist nicht durchgefuͤhrt weil sonst ein Woͤrterbuch real nach dem System der Begriffe muͤßte geordnet sein, welches unmoͤglich ist. Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen ist dann in eine Reihe von Gegensaͤzen zu zerlegen. Die erste ist die der ei - gentlichen und uneigentlichen . Dieser Gegensaz ver- schwindet aber bei naͤherer Betrachtung. In Gleichnissen sind zwei parallele Gedankenreihen. Das Wort steht in der seini- gen und es soll damit nur gerechnet werden. Also behaͤlt es seine Bedeutung. In Metaphern ist dieß nur angedeutet und oft nur Ein Merkmal des Begriffs herausgenommen, z. E. coma arborum, das Laub, aber coma bleibt Haar. Koͤnig der Thiere = Loͤwe. Der Loͤwe regiert nicht, aber Koͤnig heißt deswegen nicht ein nach dem Recht des Staͤrkeren zerreißender. Solch ein einzelner Gebrauch giebt keine Bedeutung und ha- bituell kann nur die ganze Phrasis werden. Man fuͤhrt diesen Gegensaz zulezt darauf zuruͤck, daß alle geistigen Bedeutungen nicht urspruͤnglich waͤren, also bildlicher Gebrauch sinnlicher Woͤrter. Dieß ist aber eine Untersuchung welche jenseits des hermeneu- tischen Gebiets liegt. Denn wenn ϑεὸς von ϑέω (Plato Gratyl . 397.) oder ϑεὶς ( Herodt. 2, 52.) abgeleitet wird, so gehoͤrt dieß zur Urgeschichte der Sprache mit der die Ausle- gung nichts zu thun hat. Es kommt darauf an ob die geisti- gen Vorstellungen uͤberhaupt einer zweiten Entwicklung ange- hoͤren, die erst nach Abschließung der Sprache kann stattgefun- den haben, und das wird wohl niemand wahrscheinlich machen koͤnnen. Unleugbar giebt es geistige Woͤrter welche zugleich leib- liches andeuten, aber hier waltet auch der Parallelismus, weil beide, wie sie fuͤr uns da sind, in der Idee des Lebens Eins sind. Eben dieß gilt fuͤr den Gebrauch derselben Woͤrter im Gebiet des Raumes und dem der Zeit. Beide sind wesentlich Eins, weil wir nur Raum durch Zeit bestimmen koͤnnen und umgekehrt. Gestalt und Bewegung lassen sich auf einander reduciren und kriechende Pflanze ist daher kein bildlicher Aus- druck. Nicht besser ist es mit dem Gegensaz zwischen urspruͤng- licher und abgeleiteter Bedeutung. Hostis Fremder, hernach Feind. Anfaͤnglich waren alle Fremde Feinde. Hernach sah man die Moͤglichkeit mit Auslaͤndern Freund zu sein, und der Instinkt entschied dafuͤr daß man bei dem Worte mehr an die Gesinnungstrennung dachte, als an die Raumtrennung und so konnten zulezt auch einheimische Feinde hostes heißen, vielleicht aber doch nur weil sie verbannt zugleich waren. Gegensaz zwischen allgemeiner Bedeutung und besonderer , jene im ver- mischten Verkehr, diese in einem bestimmten Gebiet. Oft we- sentlich dasselbe oft elliptisch, wie Fuß fuͤr Fußlaͤnge und Fuß in der Metrik fuͤr Schritt oder Fußvorwaͤrts. Oft auch weil jede Kunst ein niederes Gebiet durch Mißverstaͤndniß der unge- bildeten Masse. Oft auch sind es entstellte und bis zum Schein des einheimischen umgebildete fremde Woͤrter. So wird es mit allen andern Gegensaͤzen auch gehen. 8. Die urspruͤngliche Aufgabe auch fuͤr die Woͤrterbuͤcher, die aber rein fuͤr den Ausleger da sind, ist die die wahre voll - kommene Einheit des Wortes zu finden . Das einzelne Vorkommen des Wortes an einer gegebenen Stelle gehoͤrt frei- lich der unendlich unbestimmten Mannigfaltigkeit und zu dieser giebt es zu jener Einheit keinen andern Übergang als eine bestimmte Vielheit unter welcher sie befaßt ist, und eine solche wieder muß nothwendig in Gegensaͤze aufgehn. Allein im ein- zelnen Vorkommen ist das Wort nicht isolirt; es geht in seiner Bestimmtheit nicht aus sich selbst hervor, sondern aus seinen Umgebungen, und wir duͤrfen nur die urspruͤngliche Einheit des Wortes mit diesen zusammenbringen um jedesmal das rechte zu finden. Die vollkommene Einheit des Wortes aber waͤre seine Erklaͤrung und die ist eben so wenig als die vollkommene Er- klaͤrung der Gegenstaͤnde vorhanden. In den todten Sprachen nicht, weil wir ihre ganze Entwicklung noch nicht durchschaut haben, in den lebenden nicht, weil sie wirklich noch fortgeht. 9. Wenn bei vorhandener Einheit eine Mannigfaltigkeit der Gebrauchsweise moͤglich sein soll, so muß schon in der Ein- heit eine Mannigfaltigkeit sein, mehrere Hauptpunkte auf eine in gewissen Graͤnzen verschiebbare Weise verbunden. Dieß muß der Sprachsinn aufsuchen, wo wir unsicher werden, be- dienen wir uns des Woͤrterbuches als Huͤlfsmittel um uns am gemeinsamen Schaz der Sprachkenntniß zu orientiren. Die verschiedenen dort vorkommenden Faͤlle sollen nur ein verstaͤndi- ger Auszug sein, man muß sich die Punkte durch Übergaͤnge verbinden um gleichsam die ganze Kurve vor sich zu haben und den gesuchten Ort bestimmen zu koͤnnen. Ist das Verstaͤndniß eines Sazes aus seiner Umgebung gehemmt, so muͤssen wir uns nach den allgemeinen und besonderen Huͤlfs- mitteln umsehen. Jene sind Lexika und deren Ergaͤnzung die Syntax, diese Commentarien uͤber die vorliegende Schrift oder ganze Gattungen derselben. Der Gebrauch des Woͤrterbuches tritt ein, wenn es zum richtigen Verstehen an einer vollstaͤn- digen Einsicht des Sprachwerthes fehlt. Bei dem richtigen Ge- brauch desselben kommt es darauf an, daß die Behandlung der Sprachelemente die richtige, ja ob sie die meinige sei. Ist sie die meinige nicht, so muß ich mich in die des Lexikons hineindenken, weil ich sonst sein Urtheil uͤber den einzelnen Fall nicht abschaͤzen kann. Dieß fuͤhrt auf die Theorie der Woͤrterbuͤcher. Ein Woͤr- terbuch soll den ganzen Sprachschaz, die einzelnen Elemente des- selben und deren Werth zur Darstellung bringen. Es giebt nun zwei verschiedene Arten der Abfassung eines Woͤrterbuches, die alphabetische und die etymologische. Bei der etymologischen Art liegt die Idee zum Grunde, die einzelnen Elemente nicht in ihrer Einzelheit, sondern in Gruppen zu sammeln in Beziehung auf die Sprachgeseze der Ableitung. Sonst koͤnnte man sie auch nach den Begriffen classificiren, wie Pollux wollte. Die etymologische Art giebt aber offenbar ein deutlicheres Bild der Sprache, da sie die Ausdruͤcke auf einen Punkt zuruͤckfuͤhrt. Die alphabetische hat einen ganz aͤußerlichen Bestimmungsgrund, die Bequemlichkeit der Gebrauchenden. Der wissenschaftliche Gebrauch beider Arten ist der, daß man in dem alphabetischen Lexikon das Wort und die Andeutung seines Stammes sucht, diesen aber nachher im etymologischen aufsucht, wo die ganze Sippschaft angegeben ist. — Die Aufgabe des Lexikographen ist die Einheit der Bedeutungen eines Wortes in seinem mannigfaltigen Vorkommen aufzufinden und gruppenweise Ähnliches und Unaͤhnliches zusammenzustellen. Bei diesen Gruppirungen muß das Verfahren der Entgegen - sezung mit dem des Übergehns in einander verbunden werden, wie bei jeder richtigen Naturproduktanschauung. Die Ent - gegensezung der Bedeutungen gehoͤrt mehr der sprachlichen, das Nachweisen der Übergaͤnge mehr der hermeneutischen Aufgabe an. Die gewoͤhnlichste Entgegensezung ist die der eigent- lichen und uneigentlichen Bedeutung. Fuͤr die Aufgabe des Auf- findens der Einheit muß man bei diesem Gegensaze bei der ei- gentlichen Bedeutung stehen bleiben. Denn die uneigentliche ent- steht außerhalb des Kreises der Elemente des Wortes. Aber wie kam man dazu, eine Anwendung von einem Worte außer seinem Hermeneutik u. Kritik. 4 Kreise zu machen? Der Gegensaz scheint keine Realitaͤt zu ha- ben und die Einheit des Wortes aufzuheben. Die Einheit ist aber nicht als absolut zu betrachten, sondern als Zusammenfassung ver- schiedener Elemente, und der Gebrauch richtet sich je nach dem ver- schiedenen Hereintreten derselben. Das ganze Verhaͤltniß der eigent- lichen und uneigentlichen Bedeutungen beruhet auf dem der Ana- logie und der Parallelisirung der Dinge. Verkenne ich bei der Auslegung das Bildliche, Emphatische einer Bezeichnung, so ent- steht ein quantitatives Mißverstaͤndniß. Nun hat freilich die lexi- kalische Zusammenstellung der verschiedenen Gebrauchsweisen ihre Bequemlichkeit. Aber zum Verstaͤndniß einer Schrift gelangt man nicht, ohne zur Einheit gelangt zu seyn, denn diese hat immer den Schriftsteller beherrscht, wenn er sich auch keine Rechenschaft davon zu geben vermochte. Ist aber die Einheit eine zusammen- gesezte, so findet man sie auch nur, wenn man alle Gebrauchs- weisen zusammenfaßt. Das Verfahren der Entgegensezung ist fuͤr die hermeneutische Aufgabe nur ein Zwischenverstehen, aber als solches dient es dazu, die urspruͤngliche Combination zu er- kennen, von der die andern Gebrauchsweisen als Modificationen anzusehen sind. — In der Entgegensezung des urspruͤnglichen und abgeleiteten in den Bedeutungen kann wahres und falsches sein. Im strengen Sinn ist in der Sprache die einfache Wurzel das urspruͤngliche und die Beugungen sind abgeleitet. Dieß liegt aber in den Sprachelementen. In den Bedeutungen eines und desselben Wortes ist die Einheit im urspruͤnglichen zu suchen, die abgeleiteten sind nur weitere Gebrauchsweisen. Dieß ist wahr, aber kein Gegensaz. Unwahr aber ist das Verfahren der Entge- gensezung, wenn alle Bedeutungen urspruͤngliche sein sollen, welche zuerst in der Sprache gefunden werden, die auf den geschichtlichen Anfang fuͤhren, so daß das Wort eine Geschichte erhaͤlt. Das aber ist nur richtig, wenn wir uͤberall in den verschiedenen Vorkom- menheiten der Worte die urspruͤnglichen, aͤltesten von den spaͤter abgeleiteten sondern koͤnnten. Nun ist aber auch ein Kanon auf- gestellt, der fuͤr die Hermeneutik wichtig ist, daß man nemlich die sinnlichen und geistigen Bedeutungen entgegensezt und jene die urspruͤnglichen, diese die abgeleiteten nennt. Allein dieser Kanon ist so gestellt unrichtig und wuͤrde zu gaͤnzlichem Mißverstehen hin- fuͤhren, sofern die Rede ein Produkt des menschlichen Denkver- moͤgens ist. S. oben S. 47. Kein Wort, das in der Sprache gewachsen ist, hat solche Entgegensezungen, sondern jedes ist gleich eine Combination einer Mannigfaltigkeit von Beziehungen und Übergaͤngen. Es giebt in der lebendigen Rede und Schrift kein Wort, von dem man sagen koͤnnte, es koͤnne als eine reine Einheit dargestellt werden. Nur willkuͤhrlich gemachte Ausdruͤcke, die in der Sprache nicht gewachsen sind, haben keine verschiedene Gebrauchs- weise. So die technischen. Die lebendige, natuͤrlich wachsende Sprache geht von Wahrnehmungen aus und fixirt sie. Darin liegt der Stoff zur Verschiedenheit der Gebrauchsweisen, weil in der Wahrnehmung immer mehrere Beziehungen sind. Wenn man nun sagen wollte, es gebe keine urspruͤngliche Bezeichnung des geistigen, diese sei immer abgeleitet, so waͤre dieß eine materiali- stische Ansicht von der Sprache. Versteht man unter sinnlichem, was durch die aͤußere Wahrnehmung entsteht und unter geistigem, was durch die innere, so ist dieß einseitig, denn alle urspruͤngliche Wahrnehmung ist eine innere. Aber wohl ist nichts abstraktes urspruͤnglich in der Sprache, sondern das concrete . Wenn ein einzelner Ausdruck in einem Saze durch die un- mittelbare Verbindung, worin er erscheint, nicht klar ist, so kann dieß seinen Grund darin haben, daß der Ausdruck dem Hoͤrer oder Leser nicht in der Totalitaͤt seines Sprachwerthes bekannt ist. Dann tritt als ergaͤnzendes Verfahren der Gebrauch der Huͤlfs- mittel ein, welche das Lexikon darbietet. Man muß sich der Ein- heit des Sprachwerthes bemaͤchtigen um die Mannigfaltigkeit der Gebrauchsweisen zu bekommen. Dieß kann nun nie vollkommen gelingen, wenn man den Gebrauch durch Gegensaͤze fixirt. Daher muͤssen die Gegensaͤze, die das Lexikon macht, aufgehoben und das Wort in seiner Einheit als ein nach verschiedenen Seiten hin Wandelbares angesehen werden. 4* Es entsteht die Frage, in wiefern in der Geschichte der Sprache ein wesentliches Moment fuͤr die Hermeneutik liegt? Sagen wir, wir haben große Zeitraͤume vor uns, in denen eine Sprache gelebt hat und koͤnnen von jedem Punkte aus ruͤck- waͤrts gehen, nur nicht bis zu den Anfaͤngen, — denn die sind uns nirgends in der Zeit gegeben, — und vergleichen wir die Ge- brauchsweisen eines Wortes bei den fruͤhesten und spaͤtesten, — haben jene nun mit lebendigem Bewußtsein das Wort gebrau- chend alle Bedeutungen, die wir im spaͤteren Gebrauch finden, mit gedacht? Dieß moͤchte wohl niemand weder bejahen noch beweisen koͤnnen. Sondern in einer Sprache, die viele Gene- rationen dominirt, muͤssen nothwendig Kenntnisse erwachsen, die den fruͤhesten gar nicht im Bewußtsein sein konnten. Diese wir- ken unvermeidlich auf die Sprache. Da aber ganz neue Elemente in der bereits vorhandenen Sprache nicht entstehen koͤnnen, so entstehen neue Gebrauchsweisen, die in dem Bewußtsein der fruͤhe- ren nicht gewesen. So das Wort βασιλ03B5;ὺς bei den Griechen. — Wollen wir nun genau verstehen, so muͤssen wir wissen, mit wel- chem Grade von Lebendigkeit der Redende seine Ausdruͤcke her- vorgebracht und was sie in dieser Innerlichkeit betrachtet fuͤr ihn wirklich beschlossen halten. Denn nur auf die Weise finden wir den Proceß seines Denkens. Obwohl nun dieß auf die psycho- logische Seite zu gehoͤren scheint, so muß es doch hierher gezo- gen werden, da es vor allem darauf ankommt zu wissen, welcher Sprachgehalt dem gegenwaͤrtig gewesen ist, der das Wort ge- braucht, ob ein neuer oder alter Gebrauch. Beides ist verschieden. Denn ein Ausdruck dessen ich mir als eines neuen bewußt bin, der hat einen Accent, eine Emphasis, einen Farbeton ganz anderer Art, als dessen ich mich als eines abgegriffenen Zeichens bediene. Dazu ge- hoͤrt die Kenntniß der ganzen Sprache und ihrer Geschichte und das Verhaͤltniß des Schriftstellers zu derselben. Aber wer ver- moͤchte diese Aufgabe ganz zu loͤsen wagen! Indeß man muß auch in einem gegebenen Moment die Aufgabe nie ganz loͤsen wollen, sondern in den meisten Faͤllen immer nur etwas. Aber gerade da, wo wir nicht die volle Gruͤndlichkeit erstreben, uͤberse- hen wir leicht, was wir nicht uͤbersehen sollten. Wo nicht das Maximum von Anstrengung ist, ist auch weniger Sicherheit und mehr Schwierigkeit. Indeß giebt es Faͤlle, wo es uns eben nur auf einzelnes ankommt, und wir gleichsam auf die volle Leben- digkeit des Bewußtseins verzichten, indem wir uns auf einzelne Punkte concentriren. In solchen Faͤllen der Selbstbeschraͤnkung ist aber die Vorsicht nothwendig, daß wir nicht uͤbersehen, was wichtig ist, weil wir sonst in Schwierigkeiten gerathen. Wo wir aber das vollkommene Verstehen suchen, da ist nothwendig den ganzen Sprachschaz im Bewußtsein zu haben. Zu dieser Voll- kommenheit des Verstehens gehoͤrt auch, daß wir eine vorlaͤufige Übersicht des Ganzen nehmen. Allein dieser vorlaͤufige hermeneu- tische Proceß ist nicht in allen Faͤllen moͤglich und nothwendig. Je mehr wir, z. B. beim Zeitungslesen, nicht die Erzaͤhlungs- weise selbst betrachten, sondern nur auf das erzaͤhlte Factum aus- gehen, also eigentlich auf das, was uͤber die Hermeneutik hinaus- liegt, desto weniger beduͤrfen wir jenes vorlaͤufigen Prozesses. 10. Es hat dieselbe Bewandniß mit dem formellen Ele- ment; die Regeln der Grammatik stehen eben so wie die Be- deutungen beim Woͤrterbuch. Daher auch die Grammatik bei Partikeln Woͤrterbuch wird. Das formelle ist noch schwieriger. 11. Der Gebrauch beider Huͤlfsmittel (Lexikon und Gram- matik) ist wieder der Gebrauch eines Schriftstellers und also gelten alle Regeln auch wieder davon nebenbei. Beide um- fassen auch nur einen gewissen Zeitraum von Sprachkenntniß und gehen auch gewoͤhnlich von einem bestimmten Gesichtspunkt aus. Die ganze Benuzung beider durch einen wissenschaft- lichen Menschen muß auch wieder zu ihrer Berichtigung und Bereicherung dienen durch das besserverstehen; also muß auch jeder (besondere hermeneutische) Fall etwas dazu beitragen. Zum vollkommenen Verstehen haben alle Sprachelemente gleichen Werth, die formellen, wie die materiellen. Jene druͤcken die Ver- bindungen aus. Lernt man die materiellen aus dem Lexikon, so die formellen aus der Grammatik, namentlich der Syntax. Es gilt aber von diesen formellen Elementen (Partikeln) was von den materiellen, nemlich, daß jedes von ihnen eine Einheit ist, aber auch diese ist nicht durch Entgegensezung, sondern unter der Form des allmaͤhlichen Überganges zu erkennen. Nur ist man in der Grammatik mehr an das etymologische Verfahren gewiesen, weil hier die Formen in bestimmter Verwandtschaft aufgefuͤhrt stehen. 2. Anwendung des ersten Kanons auf das Neue Te- stament. 1. Soll die Specialhermeneutik des N. T. wissenschaftlich construirt werden, so muß bei jedem Punkt (der allgemeinen Hermeneutik) betrachtet werden was in Bezug auf einen be- stimmten Gegenstand dadurch von selbst gesezt wird oder aus- geschlossen Hier ist, was an diesem Orte weiter uͤber die Bedingungen der Spe- cialhermeneutik uͤberhaupt gesagt ist, ausgelassen, weil alles hierher ge- hoͤrige schon in der Einleitung S. 24 ff. vollstaͤndiger und deutlicher eroͤrtert ist. . — 2. Die neutestam. Sprache muß unter die Totalitaͤt der griechischen subsumirt werden. Die Buͤcher selbst sind nicht uͤbersezt, nicht einmal Matthaͤus und der Brief an die He- braͤer. Aber auch die Verfasser haben nicht geradehin hebraͤisch gedacht und nur griechisch geschrieben oder schreiben lassen. Denn sie konnten unter ihren Lesern uͤberall bessere Übersetzer voraussezen. Sondern sie haben wie jeder Verstaͤndige (im Einzelnen wenigstens, denn die erste niemals ausgefuͤhrte Con- ception gehoͤrt nicht hieher) in der Sprache auch gedacht in der sie geschrieben. 3. Die neutestam. Sprache gehoͤrt aber in die Periode des Verfalls. Diese kann man schon von Alexander an rechnen. Einige Schriftsteller dieser Periode naͤhern sich dem guten Zeit- alter oder suchen es herzustellen. Unsere neutest. Verfasser aber nehmen ihre Sprache mehr aus dem Gebiet des gemei- nen Lebens, und haben diese Tendenz nicht. Aber auch jene sind zuzuziehen wo sie sich im Charakter ihrer Zeit ruhig gehen lassen. Daher richtige Analogien aus Polybius und Josephus. Bemerkte Analogien aus attischen Schriftstellern, wie Thucy- dides, Xenophon, haben einen negativen Nuzen und es ist eine gute Übung sie zu vergleichen. Nemlich man denkt sich oft die verschiedenen Gebiete zu abgeschlossen und meint, einiges koͤnne im klassischen nicht vorkommen, sondern nur im helle- nistischen und makedonischen, und dieß wird so berichtigt. 4. Der Einfluß des aramaͤischen ist nur zu bestimmen aus der allgemeinen Anschauung von der Art sich eine fremde Sprache anzueignen. Volksthuͤmlichkeit und Neigung zum all- gemeinen Verkehr sind uͤberall auch im Gebiet der Sprache bei einander. Haͤufig verschwindet die lezte als Minimum. Wo zu sehr die lezte uͤberwiegt, da ist gewiß die Volksthuͤm- lichkeit im Verfall. Die Fertigkeit aber sich viele Sprachen kunstgemaͤß anzueignen, indem an dem allgemeinen Bilde der Sprache die Muttersprache und die fremde verglichen werden, ist ein Talent. Dieses Talent ist unter den Juden niemals bedeutend gewesen. Jene Leichtigkeit aber, welche jezt bis zum Verschwinden der Muttersprache gediehen ist, war schon damals bei ihnen vorhanden. Aber auf dem Wege des gemeinen Ver- kehrs ohne Grammatik und Litteratur schleichen sich bei der Aneignung Fehler ein, welche bei wissenschaftlich gebildeten sich nicht finden, und dieß ist der Unterschied zwischen dem N. T. und Philo und Josephus. Diese Fehler sind in unserem Falle zwiefach. Einmal aus dem Contrast des Reichthums und der Armuth an formellen Elementen entsteht daß die neutestam. Schriftsteller den griechischen Reichthum nicht so zu gebrauchen wissen. Dann indem bei der Aneignung die fremden Woͤrter auf Woͤrter in der Muttersprache reducirt werden entsteht leicht eine Taͤuschung, daß welche sich in mehrerem entsprochen ha- ben sich auch uͤberall entsprechen werden, und aus dieser Vor- aussezung dann im Schreiben falscher Gebrauch. In beiden Punkten stimmt nun die LXX. mit dem neuen Testam. sehr uͤberein und ist also fast das reichste Erklaͤrungsmittel. Aber als Quelle der neutest. Sprache sie anzusehen, aus der sich diese selbst gebildet haͤtte, ist zuviel. Einmal hatten die neutest. Schriftsteller, wie sie sehr verschieden sind in dem Grade der Aneignung des griechischen und in dem Beschraͤnktsein durch die angefuͤhrten Maͤngel, auch einen sehr verschiedenen Zusam- menhang mit der LXX. Dann laͤßt sich auch fuͤr alle eine andere Quelle nemlich der gemeine gesellige Verkehr nachweisen. 5. Ein anderes ist die Untersuchung, wie weit wegen des religioͤsen Inhalts das N. Test. noch besonders von der LXX. abhaͤngt. Hier kommen besonders die juͤngeren Schrif- ten, die Apokryphen, in Betracht, und so hat die Beant- wortung dieser Frage den groͤßten Einfluß auf die ganze Ansicht der christlichen Theologie, nemlich auf die Principien der Interpretation sofern diese selbst der Dogmatik zum Grunde liegt. — Die neutestam. Schriftsteller fuͤhren fuͤr ihre religioͤsen Begriffe keine neuen Woͤrter ein, und reden also aus dem Sprach- gebrauch des griechischen A. T. und der Apokryphen. Es fragt sich also, haben sie demohnerachtet andere religioͤse Vorstellungen und also andere Gebrauchsweisen der Woͤrter? oder haben sie auch nur dieselben Gebrauchsweisen? Im lezteren Falle waͤre nichts neues in der christlichen Theologie und also, da alles re- ligioͤse was nicht bloß momentan ist sich in der Reflexion fixirt, auch nichts in der christlichen Religion. Die Frage aber laͤßt sich unmittelbar hermeneutisch nicht entscheiden und zeigt sich also als eine Sache der Gesinnung. Jeder beschuldigt dabei den andern daß er seine Principien aus vorgefaßten Meinungen geschoͤpft habe; denn richtige Meinung uͤber die Bibel kann es nur geben durch die Interpretation. Es liegt freilich ein Loͤ- sungsgrund im hermeneutischen Verfahren. Nemlich eines Theils muͤßte eine durchgreifende Parallelle des N. T. und der LXX. doch zeigen, ob Gebrauchsweisen in dem einen vorkom- men, die dem andern ganz fremd sind. Allein da bliebe immer die Ausflucht uͤbrig, das Sprachgebiet sei groͤßer als diese Überreste. Zu Huͤlfe muͤßte also kommen auf der andern Seite die Aussage des Gefuͤhls daruͤber ob das N. T. fuͤr sich er- scheint als eine Entwicklung neuer Vorstellungen. Diese Aus- sage kann aber nur Credit bekommen durch eine allgemeine philologische und philosophische Bildung. Nur wer beweis't, daß er aͤhnliche Untersuchungen mit Erfolg auch anderwaͤrts gefuͤhrt habe und daß er sich nicht gegen seine eigene Einsicht bestechen lasse, kann hier leitend werden. 6. Wenn es nun einen nach unsrer Ansicht freilich nur unter- geordneten anomalen Einfluß der hebraͤischen Abstammung auf die neutest. Sprache giebt, so fragt sich wieviel Ruͤcksicht darauf bei der Interpretation zu nehmen sei. Es giebt hier zwei einseitige Maximen. Die eine ist, sich mit dem einen Sprachelement allein zu begnuͤgen bis Schwierigkeiten eintreten und dann diese aus dem andern zu loͤsen. Dadurch wird aber das erste Verfahren kunstlos und gar nicht geeignet das zweite daran zu knuͤpfen. Auch kann man dann eben so leicht versuchen aus dem andern Moment zu erklaͤren was seinen eigentlichen Erklaͤrungsgrund ganz anderswo hat, und man ist uͤberhaupt mit der Kenntniß des andern wie- der nur auf einzelne Observationen verwiesen. Sondern nach unsrer vorlaͤufigen Regel daß die Kunst von Anfang an eintreten muß, soll man sich eine allgemeine Anschauung vom Verhaͤltniß beider Momente abstrahirt vor allen einzelnen Schwierigkeiten zu bilden suchen durch vorlaͤufiges Lesen und durch Vergleichung mit LXX. , Philo, Josephus, Diodor, Polybius. Unleugbar aber ist, daß der Einfluß des hebraͤischen bei den eigentlich religioͤsen Terminis vorzuͤglich groß ist. Denn im urspruͤnglich hellenischen — vorzuͤglich so weit es den neutest. Schriftstellern bekannt war, — fand das neu zu entwickelnde religioͤse (nicht nur) keinen Anknuͤpfungspunkt sondern auch das aͤhnliche wurde durch die Verbindung mit dem Polytheis- mus abgestoßen. 7. Es ist daher die Vermischung des anomalen in dem man- nigfaltigsten Verhaͤltniß vorhanden und bei jedem einzelnen Schriftsteller wiederum verschieden. Die Hauptregel bleibt also immer, sich fuͤr jedes Wort aus dem griechischen Woͤrterbuche und aus dem hellenistischen, und fuͤr jede Form aus der griechi- schen Grammatik und aus der comparativ hellenistischen ein Ganzes zu bilden und nur in Bezug auf dieses den Kanon anzuwenden. — Rath an den Anfaͤnger das doppelte Woͤrter- buch oft auch da wo man keinen Anstoß findet zu Rathe zu ziehen, um alle kunstlose Gewoͤhnung im voraus abzuhalten. Eine Sprache kann nur in dem Maaße einer Specialhermeneutik beduͤrfen, als sie noch keine Grammatik hat. Ist die Grammatik einer Sprache schon kunstgemaͤß bearbeitet, so ist auch von dieser Seite keine Specialhermeneutik noͤthig, die allgemeinen Regeln werden dann nur angewendet nach der Natur der grammatischen Zusammenstellung. Sprachen, in denen das Verhaͤltniß der Ele- mente des Sazes regelmaͤßig und wesentlich dieselben sind, beduͤr- fen im Verhaͤltniß zu einander auch keiner speciellen Hermeneutik. Findet aber das Gegentheil statt, so muß wie eine specielle Gram- matik so auch eine specielle Hermeneutik stattfinden. Die neutest. Sprache ist allerdings zunaͤchst die griechische. Diese ist nun eine Sprache, deren Grammatik kunstgemaͤß bearbeitet ist. Aber die neutestam. Sprache steht dazu in einem ganz besonderen Verhaͤlt- niß. Um dieß Verhaͤltniß uͤberhaupt richtig zu bestimmen, muͤssen wir zwei Hauptperioden der griechischen Sprache, die der Bluͤthe und die des Verfalls, unterscheiden. Das N. T. faͤllt in die zweite, wo die Mannigfaltigkeit der Dialekte, die in der ersten Periode auch auf dem Gebiete der kunstmaͤßigen Rede charakteristisch war, verschwunden ist. Außerdem tritt in der griechischen Sprache der Gegensaz zwischen Prosa und Poesie sehr bestimmt herausge- arbeitet hervor. Das N. T. gehoͤrt ganz auf das Gebiet der Prosa, aber nicht in der kuͤnstlerischen, wissenschaftlichen Form, sondern mehr der des gemeinen Lebens (συνήϑεια). Dieß ver- dient Beachtung. Überall wo die Grammatik behandelt wird, sieht man mehr auf die kuͤnstlerische, ausgearbeitete Form der Rede. Was im gemeinen Leben vorkommt, wird weniger beach- tet. Nur zuweilen wird bei grammatischer Behandlung der Schrift- steller gesagt, wenn ein Ausdruck vorkommt, der mehr ins gemeine Leben gehoͤrt. Zu einer Gesammtanschauung der Sprache des gemeinen Lebens aber kommt es nicht. Dieß ist ein Mangel der Grammatik, der hermeneutisch wichtig ist. Je oͤfter Veranlassung zum Abweichen vom schriftstellerischen Sprachgebrauch vorhanden ist, desto mehr werden besondere Regeln der Grammatik veran- laßt, denn jedes regelmaͤßige Verstehen hoͤrt auf, und Mißver- staͤndnisse entstehen, wenn in der Sprache des gemeinen Lebens Combinationen und Formen vorkommen, die in der Grammatik nicht bedacht sind. Bei den neutestam. Schriftstellern ist aber außerdem zu beruͤcksichtigen, daß sie ein gemischtes Sprachgebiet haben, wo vieles vorkommt, was gar nicht in der grammatischen Behandlung einer Sprache, wie sie rein fuͤr sich ist, beruͤcksichtigt werden kann. Denkt man sich das Hebraisiren des N. T. so, als waͤren die neutest. Schriftsteller gewohnt gewesen, in irgend einem semitischen Dialekt zu denken, und ihr griechisch waͤre eben nur Übersezung, und zwar so daß sie der Sprache, in welche sie uͤbersezten, unkundig, und ihnen theils unbewußt gewesen, daß sie nur uͤbersezten, wenn sie schrieben, so ist diese Vorstellung nicht auf alle Weise richtig. Es ist moͤglich, daß viele mehr grie- chisch als aramaͤisch gesprochen. Aber das griechisch, welches sie sprachen, war schon ein Gemisch. Diejenigen, welche bestaͤndig in solchen Gegenden sprachen, wo diese Mischsprache herrschte, versirten auch in ihrem Denken darin. So ist die neutestamen- tische Sprache keine momentane Produktion der Schriftsteller selbst, sondern dieß Sprachgebiet war ihnen schon gegeben. Hier eroͤffnet sich eine weitere historische Betrachtung. Nach der Zeit des N. T., als das Christenthum sich im roͤmischen Reiche immer mehr verbreitete, besonders in dem griechisch redenden Theile, und nun christliche Schriftsteller und Redner auftraten, welche zunaͤchst in der gewoͤhnlichen griechischen Sprache erzogen und davon her- gekommen waren, mußten diese doch in gewissem Grade die Mischung und Abweichung der neutest. Sprache aufnehmen. Denn das neue Testam. ging in das gemeine christliche Leben uͤber, und durch seinen haͤufigen Gebrauch verloren die abweichen- den Formen seiner Sprache das Fremde, je mehr religioͤs ge- sprochen und geschrieben wurde. Dieß war gerade da der Fall, als das oͤffentliche Leben zerfallen war. So ist zu erwarten, daß wir in der Graͤcitaͤt der griechischen Kirche Analogien der neutest. finden. Und zwar finden wir eine Abstufung darin von zwei entgegengesez- ten Punkten aus. Erstlich, je mehr sich die christlichen Grund- ideen aus der heiligen Schrift in dieser Sprache fixirt hatten und leitende Principien wurden fuͤr die Gedankenconstruction, desto mehr Einfluß gewannen die Formen und Abweichungen der neu- testamentlichen Sprache und wurden aufgenommen, weil unzer- trennlich von jenen Ideen. Zweitens, je mehr in der Christenheit solche Lehrer und Schriftsteller zum Vorschein kamen, welche in der urspruͤnglichen Graͤcitaͤt geboren und erzogen und von der alten Graͤcitaͤt genaͤhrt waren, desto mehr wurde von diesen die neutestam. Mischung und Unregelmaͤßigkeit abgestreift und die Darstellung der christlichen Grundidien in reiner Graͤcitaͤt ange- strebt. Allein die neutest. Graͤcitaͤt ist in der griechischen Kirche nie ganz uͤberwunden und verschwunden. Und so hat das neu- testamentliche Sprachgebiet einen viel groͤßeren Umfang, als man gewoͤhnlich glaubt. Um zur genaueren Einsicht in den Charakter der neutestam. Sprache zu gelangen, muß man auf den Proceß der Bilinguitaͤt, oder auf die Art und Weise, zwei Sprachen zu haben, zuruͤck- gehen. Dieser Proceß ist ein zwiefacher. Wir gelangen zum Besiz einer alten Sprache auf kuͤnstlerischem Wege, so daß wir die Grammatik eher als die Sprache bekommen. Wir lernen die alte Sprache nicht im lebendigen Gebrauch. Unser Gebrauch ist zunaͤchst das Lesen, nicht die eigene Gedankenproduktion in der fremden Sprache, Auf diesem Wege kann es geschehen, daß man die fremde Sprache in ihrer eigenthuͤmlichen Lebendigkeit erfaßt. Will man aber den Versuch machen, die Sprache selbst zu ge- brauchen, so wird, weil man in der Muttersprache gewohnt ist zu denken, zunaͤchst eine Übersezung entstehen. Dabei ist ein Un- terschied, ob man im unmittelbaren Leben den Versuch macht, oder ob man sich in ein vergangenes Leben zuruͤckversezt. Dieß leztere findet statt bei dem Gebrauch der klassischen Sprache. Da- her die Rede gewoͤhnlich nur in Reminiscenzen besteht aus dem alterthuͤmlichen Gedankenkreise. Gebraucht man dagegen die fremde Sprache im unmittelbaren Leben in unsrem Gedankenkreise, so wird immer Analoges entstehen von dem was die neutest. Sprache zeigt. Es werden Germanismen entstehen. Nimmt man diese bei dem Corrigiren weg, so ist das nur ein zweiter Akt; das Denken bleibt immer wenn auch nur dunkel deutsch. — Die neutest. Sprache gehoͤrt nun zu jenem zweiten Fall, wo die fremde Sprache nicht wissenschaftlich und schulgemaͤß gelernt wird, und der Einfluß und die Reminiscenzen aus der Muttersprache nicht zu vermeiden sind. So muͤssen wir also bei der Auslegung des N. T. immer die beiden Sprachen, die griechische und he- braͤische, im Sinn haben. Die neutest. Sprachmischung war un- ter den Juden schon vor der Abfassung des N. T. vorhanden, selbst schon schriftlich. Um das ganze Verhaͤltniß, wie diese Sprach- mischung entstanden ist, vor Augen zu haben, muß man folgen- des bedenken. Das juͤdische Volk wohnte in jener Periode nur zum Theil in Palaͤstina. Aber auch Palaͤstina war nicht allein vom juͤdischen Volke bewohnt, sondern es gab auch Gegenden, wo ein bedeutender Theil der Einwohner von anderer Abstam- mung war. So nicht nur in Samarien, wo von fruͤherher Mi- schung stattfand, sondern auch in Galilaͤa und Peraͤa. Im lez- teren Landstrich gab es Staͤdte mit griechischem Namen, also griechischer Colonisation. Eben so in Galilaͤa, und hier gab es daneben noch Vermischung mit phoͤnizischen Einwohnern. Fuͤr alle, die nicht juͤdischer Abkunft waren, war das griechische die herrschende Sprache. Sollte also Verkehr stattfinden, so mußten die Einwohner im gewissen Grade sich auch das griechische aneig- nen, wenn auch nur fuͤr den taͤglichen Geschaͤftsverkehr. Palaͤstina war ferner in dieser Zeit zum Theil roͤmische Provinz, hatte roͤ- mische Besazungen und Beamte. Diese konnten sich ihrer latei- nischen Muttersprache nicht bedienen; wo lateinisch geredet wer- den mußte, hatte man Dolmetscher. Im gewoͤhnlichen Verkehr sprachen auch die Roͤmer griechisch, aber ein latinisirtes. So ent- stand in Beziehung auf gerichtliche, administrative und militaͤrische Gegenstaͤnde latinisirend griechische Ausdrucksweise und es mischten sich griechische und lateinische Elemente mit hebraͤischen. Daher die Moͤglichkeit, auch im N. T. Latinismen zu finden. Ferner in Judaͤa, vorzuͤglich in und bei Jerusalem hatten sich oft auswaͤr- tige Juden niedergelassen, um bei unabhaͤngigen Vermoͤgensum- staͤnden das fruͤher entbehrte Heiligthum zu genießen. Diese (Hel- lenisten) brachten die griechische Sprache mit. Es waren von solchen in Jerusalem Synagogen gestiftet, wo das Gesez in grie- chischer Sprache vorgelesen wurde. Aber dieß griechisch war auch gefaͤrbt durch das hebraͤische. Die im Auslande lebenden Juden konnten das griechische gar nicht entbehren. Denn dieß war die Vermittlung zwischen den verschiedenen Sprachen der verschiedenen Theile der Einwohner. Also ganz abgesehen vom N. T. gab es eine eigenthuͤmliche durch den aramaͤischen Charakter modificirte griechische Sprache, auch mit Latinismen und Idiotismen aus andern Sprachen mannigfach durchzogen. Wo finden wir nun Huͤlfe fuͤr das Verstaͤndniß des N. T.? Zuerst fragen wir, wo ist außer dem N. T. der Siz des der neu- testamentlichen Sprache analogen? Um den aramaͤischen Genius des neutest. Idioms zu finden, muͤssen wir die aramaͤische Sprache in Betracht ziehen. Geben wir etwas nach, so koͤnnen wir sa- gen, derjenige Dialekt, der damals in jenen Gegenden gesprochen wurde und von dem die Verfaͤlschung des griechischen ausging, war zwar nicht mehr das alttestam. hebraͤische, aber doch so ver- wandt damit, daß fuͤr den Einfluß auf das griechische dieß ein unbedeutender Unterschied ist. Ohne in die Lesung des A. T. in der Ursprache eingeweiht zu sein, ist es unmoͤglich, die Hebraismen richtig zu erkennen. Unmittelbar aber in das neutest. Sprachge- biet gehoͤrt die alexandrinische Übersezung des A. T. Hier ist eine Fuͤlle von Hebraismen zu erwarten, weil, wenn jemand Werke aus der Muttersprache in eine andere ihm fremde uͤber- sezt, er schwerlich alle Spuren der Ursprache verwischen kann, be- sonders wenn er die Verpflichtung der Treue hat, die durch die Heiligkeit des A. T. besonders bedingt war. Hier ist ein Sprach- gebiet, womit verglichen das neutest. als ein reineres anzusehen ist. Demnaͤchst gehoͤren hierher die Apokryphen des A. T., welche urspruͤnglich griechisch verfaßt sind, aber im hebraͤischen Sinn und Geist, die geschichtlichen wie die gnomischen. Diese gehoͤren nach ihrer ganzen Structur, selbst in einzelnen Ausdruͤcken und Formen dem alttestam. Typus. Ferner die originell griechischen Schriften geborener Juden, wie des Josephus und Philo, ohne besondere Beziehung auf das A. T. Diese lernten das griechische theils aus der Schule theils aus dem Gebrauch im Leben; daher in ihren Schriften ein Kampf zwischen dem rein griechischen aus der Schule und dem gemein griechischen des gemeinen Lebens mit hebraisirenden Bestandtheilen. Auch abgesehen von dieser aramaͤi- schen Mischung, gehoͤrt das griechische des N. T. seiner Zeit nach der makedonischen Sprachperiode an, die von dem klassischen Cha- rakter verschieden ist. Es faͤllt aber unmittelbar in die Zeit der roͤmischen Herrschaft. In Schriften aus dieser Zeit sind also dem obigen zu Folge Latinismen zu erwarten in gerichtlichen, admini- strativen, militaͤrischen Ausdruͤcken. Allein in dem allen sind wir noch nicht sicher zu allem was im N. T. vorkommt bestimmte Analogien zu finden. Es entsteht die Frage, war das Christenthum etwas neues oder nicht? Ein Theil unsrer Theologen will das Christenthum als natuͤrlich aus dem Judenthum entstanden, nur als Modification desselben angesehen wissen. Allein die herrschende Stimme nimmt es als etwas neues, sei es unter der Form goͤtt- licher Offenbarung oder anderswie. Sofern es nun aber im weiteren oder engeren Sinne etwas neues ist, muͤssen sich im N. T. Schwierigkeiten in Bezug auf die Sprache ergeben koͤnnen, welche auf dem bisher bezeichneten Sprachgebiete, wo das neue noch nicht war, nicht geloͤs't werden koͤnnen. Jede geistige Revo- lution ist sprachbildend, denn es entstehen Gedanken und reale Verhaͤltnisse, welche eben als neue durch die Sprache, wie sie war, nicht bezeichnet werden koͤnnen. Sie wuͤrden freilich gar nicht ausgedruͤckt werden koͤnnen, wenn in der bisherigen Sprache keine Anknuͤpfungspunkte laͤgen. Aber ohne Kenntniß des neuen wuͤr- den wir doch die Sprache in dieser Ruͤcksicht nicht verstehen. Die Unpartheilichkeit des Auslegers fordert, daß er nicht voreilig die Frage entscheidet, sondern erst durch das Studium des N. T. selbst in dieser Hinsicht. Dabei ist denn auch Ruͤcksicht zu neh- men auf die, welche das Christenthum nicht als etwas neues an- sehen wollen. Einige von ihnen wollen Analogien ganz in den apokryphischen Schriften finden, andere suchen in den Produkten des aͤgyptischen Judenthums, wie es mit mancherlei Notizen aus der griechischen Weisheit ausgestattet sei, vornehmlich aus der griechischen Philosophie der spaͤteren Zeit, der neuplatonischen, alle wesentlichen Analogien fuͤr den neutest. Sprachgebrauch. Dieß muß beruͤcksichtigt werden, und so haben wir gruͤndlichst zu pruͤ- fen, ob die neutest. Ausdruͤcke als Gedanken und Thatsachen in den Gemuͤthern der neutest. Schriftsteller sich vollstaͤndig erklaͤren lassen aus den Elementen jener Sprachgebiete. Diese Untersu- chung muß immer im Gange bleiben und das ganze Gebiet so lange durchforscht werden, bis die Differenzen ausgeglichen sind und eine allgemeine Überzeugung sich gebildet hat. Aber davon sind wir leider noch sehr fern. Wenn das ganze Gebiet des Hebraismus aus den griechi- schen Übersezungen des A. T., den Apokryphen, aus Philo und Josephus vollstaͤndig erkannt werden koͤnnte, so koͤnnte man auch bei dem N. T. der hebraͤischen Sprachkenntniß entbehren, weil man dann den ganzen Einfluß schon erkannt haͤtte. Allein dieß ist nicht der Fall, weil die neutestam. Schriftsteller uͤberwiegend von der Sprache des gemeinen Lebens herkommen. Die Ver- gleichung mit jenen Schriften wird also unzureichend sein und man bedarf der unmittelbaren Kenntniß des hebraͤischen Sprach- genius im A. T., um in jedem gegebenen Fall zu merken, ob und in wiefern etwas Hebraismus ist. Da man nicht voraussezen kann, daß das Studium des N. T. erst nach vollstaͤndiger Bekanntschaft mit den Vorbedingungen anfaͤngt, so beduͤrfen wir der Huͤlfsmittel, um uns den ganzen Sprachgebrauch vollkommen gegenwaͤrtig zu erhalten. So lange in der griechischen Kirche die neutest. Sprache fortlebte, bedurfte man derselben nicht in dem Grade, wie in der neueren Zeit. Seit das Studium des N. T. aus dem Schlafe des Mittelalters erwachte, war man auf solche Huͤlfsmittel bedacht. Das naͤchste nun ist das Lexikon. Die Duplicitaͤt der neutest. Sprache veranlaßt ein dop- peltes lexikalisches Verfahren, weil eben das Etymologische hier ein anderes ist. Wenn wir den Sprachwerth eines Wortes im Zeitalter der griechischen Sprache, wozu das N. T. gehoͤrt, haben, so sind wir dadurch noch gar nicht in den Stand gesezt, die volle Einheit des Wortes zu finden, sondern wir muͤssen zuvor unter- suchen, was es denn repraͤsentirt habe bei denen welche hebraͤisch zu denken gewohnt waren. So kommen wir auf die Analogie in der hebraͤischen Sprache. Da finden wir nun aber, daß dasselbe hebraͤische Wort nicht immer demselben griechischen entspricht und umgekehrt. Dieß Verhaͤltniß laͤßt sich aber erst aus eigentlichen Übersezungen ausmitteln und daher sind die Woͤrterbuͤcher der LXX. unentbehrlich fuͤr das Studium der neutest. Sprache. Die beste Form derselben finden wir in der Trommschen Concordanz, wodurch man in den Stand gesezt wird, den ganzen Repraͤsenta- tionswerth eines griechischen Wortes im Hebraͤischen zu uͤbersehen. Der Schleusnersche thesaurus ist nicht so bequem. Aber man muß auch den ganzen Repraͤsentationswerth der hebraͤischen Worte denen ein griechisches entspricht uͤbersehen koͤnnen. Dazu muß man die hebraͤischen Lexika zu Huͤlfe nehmen. Diese Übersicht Hermeneutik u. Kritik. 5 koͤnnte dadurch erleichert werden, daß den Woͤrterbuͤchern der LXX. ein hebraͤischer Inder hinzugefuͤgt wuͤrde, worin von jedem hebraͤi- schen Worte angegeben waͤre, unter welchem griechischen es zu finden sei. Schwieriger ist das Verfahren bei den formellen Elementen der Sprache, den Verbindungswoͤrtern, den Partikeln. Waͤhrend die griechische Sprache sehr reich daran ist, ist die hebraͤische aus- gezeichnet arm. Diese ersezt manches durch Formationen und Beugungen der Woͤrter, die dem griechischen fremd sind. Denkt man sich nun, daß Menschen, die hebraͤisch zu denken gewohnt sind, auf ganz kunstlose Weise aus der bloßen Umgangssprache sich sol- len griechische Rede angewoͤhnen, so wird sich sehr natuͤrlich die hebraͤische Partikelarmuth in das griechische uͤbersezen, weil sie ein Wort immer auf dieselbe Weise zu uͤbersezen geneigt sein werden. Aus der geringen Anzahl von Partikeln in diesem Idiom folgt, daß sie sehr mannigfaltig, also in einem weit groͤßeren Umfange gebraucht sind, als sie in der urspruͤnglichen griechischen Rede haben. Ferner, die hebraͤische Sprache hat keinen eigentlichen Perioden- bau; sie versirt in einfachen Saͤzen und stellt dieselben nur pa- rallel neben einander und gegeneinander uͤber. So ist also kein Überfluß von Conjunctionen zu erwarten. Werden nun griechische Partikeln in diesem Idiom gebraucht, so werden sie eine Unbe- stimmtheit bekommen, welche dem aͤcht griechischen Gebrauch fremd ist. Das naͤher bestimmende uͤberlaͤßt der Redende dem Hoͤrenden aus dem Zusammenhange zu erkennen. Die Lexika reichen nicht hin dieß Verhaͤltniß zu erkennen, sondern man muß auf das na- tuͤrliche Verhaͤltniß des Hoͤrers zum Sprechenden zuruͤckgehen und daraus den Zusammenhang der Saͤze naͤher zu bestimmen suchen. Aber es giebt noch ein anderes Beduͤrfniß besonderer lexika- lischer Huͤlfsmittel fuͤr das N. T. Indem sich nemlich das Chri- stenthum in die griechische Sprache hineinbegab, mußte es in der- selben sprachbildend werden. So mußten neue ungewohnte Ge- brauchsweisen entstehen. Zwar stellten die Apostel die neutest. Thatsachen als Erfuͤllung alttest. Weissagungen dar, und so koͤnnte man glauben, das Christenthum sei eben nichts neues, sondern im A. T. schon gegeben. Allein vergleicht man den ganzen Com- plexus der christlichen Vorstellungen mit dem A. T., so zeigt sich das Gegentheil: der Unterschied faͤllt in die Augen. Dazu kommt, daß die Juden spaͤterer Zeit das A. T. ganz anders anwenden als die Apostel, so daß die Voraussezung der Identitaͤt des Chri- stenthums mit dem A. T. auch von dieser Seite unstatthaft ist. Ist aber das Christenthum etwas neues, so muß es sich auch im griechischen seine eigene Sprache aus den vorgefundenen Elementen gebildet haben, die sich aus dem Totalzusammenhang der christ- lichen Gespraͤchsfuͤhrung und des christlichen Lebens ergab. Dar- um sind neutest. Lexika, welche die Eigenthuͤmlichkeit der neutest. Sprache vollkommen darstellen, unentbehrliche Huͤlfsmittel. Man muß aber wegen der großen Schwierigkeit, die diese Lexikographie hat, an die vorhandenen nicht zu große Anforderungen machen. Eine eigenthuͤmliche Schwierigkeit liegt im Folgenden: Verfolgen wir die Geschichte der Kirche, so sehen wir, wie sich bald in der griechischen Kirche eine eigenthuͤmliche theologische, besonders dogmatische Kunstsprache bildete. Parallel damit bildete sich in der abendlaͤndischen Kirche eine lateinische theologische Kunstsprache, aber unter Streitigkeiten mit der griechischen Kirche, die zum Theil wenigstens auf der Differenz der Sprache beruhte. Unsere deutschtheologische Sprache ist nach der lateinischen gebildet. Wo- fern wir nun aber keine andere Auctoritaͤt anerkennen als das N. T., entsteht natuͤrlich das Bestreben, unsere theologische Sprache mit der neutest. zu vergleichen. Nun macht niemand leicht ein neutest. Lexikon ohne von dem christlich kirchlichen In- teresse auszugehen. Aus diesem Interesse entsteht leicht die Ten- denz eine bestimmte Auffassung der Glaubenslehre durch das N. T. zu bestaͤtigen. Daraus gehen falsche Auslegungen hervor, spaͤtere Vorstellungen und Begriffe werden in das N. T. hineingetragen, um so mehr, je mehr die Stellen einzeln genommen werden als entsprechende Beweisstellen. Nimmt man nun dazu, daß bei den herrschenden Differenzen der eine mit einem neutest. Ausdruck diese, 5* der andere jene Vorstellung verbindet, so entstehen daraus bewußt und unbewußt Stoͤrungen des lexikalischen Verfahrens, daß man bei dem Gebrauch der neutest. Lexika sehr auf seiner Hut sein muß, von dem Interesse des Verfassers nicht verleitet zu werden. Überall aber gilt nach dem Princip des Protestantismus fuͤr je- den, der sich als Theolog mit der Erklaͤrung des N. T. beschaͤf- tigt, daß er moͤglichst unbefangen und frei von aller doctrinellen Auctoritaͤt an das Werk geht und uͤberall selbst zu sehen und zu untersuchen bestrebt ist. Aber ohne alle theologische Voraussezung muß man die sprachbildende Kraft des Christenthums, sofern es ein individuelles Ganzes ist, einraͤumen, so daß es im N. T. Sprach- formen geben muß, die weder aus dem griechischen noch hebraͤischen abzuleiten sind. Gelaͤnge es diese in den urspruͤnglichen christ- lichen Denkmaͤlern aufzufinden und gehoͤrig zusammenzustellen, so waͤre dieß der sprachliche Schluͤssel zum Verstehen des Christen- thums sofern es sprachbildend geworden ist. Wir haben bei der Werthbestimmung des neutest. Lexikons darnach zu sehen, ob und wieweit es diese Aufgabe zu loͤsen versucht hat. Es laͤßt sich da- bei ein zwiefaches Verfahren denken, wovon keins an sich unrich- tig ist. Ein Philolog koͤnnte wie er alle griechischen Sprachge- biete durchforschen muß so auch die Sprache des N. T. vorneh- men. Als Philolog aber hat er nur die eigenthuͤmlichen Wortbe- deutungen des N. T. aufzufuͤhren, nicht aber die Eigenthuͤmlich- keit des Christenthums kennen zu lernen, sondern nur was aus dieser Eigenthuͤmlichkeit entstanden ist in die Einheit der Sprache aufzuloͤsen, wie es darin Analoges hat. Ihm erscheint die neutest. Sprache als die technische des Christenthums, wie z. B. die tech- nische philosophische Sprache. Ein anderes Verfahren ist das theologische im engeren Sinn. Wenn der Theolog auch sonst rein lexikalisch verfaͤhrt, er wird immer die Richtung haben, das Ei- genthuͤmliche des Christenthums selbst zur Anschauung zu bringen. Eine Zusammenstellung aller verschiedenen Elemente, worin sich die Sprachbildung des Christenthums manifestirt, wuͤrde eine Skiagraphie sein zu einer neutest. Dogmatik und Moral. Denn dieß sind die beiden Systeme der eigenthuͤmlichen Begriffsbildung und soweit auch Sprachbildung des Christenthums. Die lexika- lische Zusammenstellung solcher Begriffe und Ausdruͤcke, z. B. πίστις, διϰαιοσύνη, ist verschieden von der Begriffszusammen- stellung in der biblischen Dogmatik und Moral. Denn waͤhrend diese auf die gebildeten Formeln und Saͤze geht ihrem Inhalte nach, bezieht sich die lexikalische auf die einzelnen Saztheile und die Saͤze in rein sprachlicher Hinsicht. Dabei ist der Kanon zu beobachten, daß man wo es sich um eine eigenthuͤmliche Gebrauchs- weise handelt alles was ein Wort eigenthuͤmlich gilt zusammen- faßt, um es zu solchem Verstehen zu bringen, wobei die Eigenthuͤm- lichkeit der neutest. Sprache auch im Einzelnen scharf begriffen wird. Der jezige Zustand der lexikalischen Huͤlfsmittel laͤßt in dieser Hinsicht viel zu wuͤnschen uͤbrig, so daß man mit ihnen zu keinen sicheren hermeneutischen Resultaten gelangen kann. Aber eben deßhalb schließe man nicht zu bald ab; man beachte jedes Gefuͤhl von Unsicherheit und Bedenken, was aus der nicht voͤlligen Übereinstimmung der einzelnen Ausleger entsteht. So wird man wenigstens die Schwierigkeiten nicht vermehren, welche entstehen, wenn man etwas feststellt ohne ein vollstaͤndiges Ver- stehen aller Elemente. 3. Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muß bestimmt werden nach seinem Zusammensein mit denen die es umgeben. 1. Der erste Kanon (1.) ist mehr ausschließend. Dieser zweite scheint bestimmend zu sein, ein Sprung, der gerechtfer- tigt werden muß, oder vielmehr es ist kein Sprung. Denn erstlich, man kommt von dem ersten Kanon auf den zweiten, insofern jedes einzelne Wort ein bestimmtes Sprachgebiet hat. Denn was man in diesem nicht glaubt erwarten zu koͤnnen, zieht man auch bei der Erklaͤrung nicht zu. Eben so aber ge- hoͤrt mehr oder weniger die ganze Schrift zum Zusammenhang und zur Umgebung jeder einzelnen Stelle. Zweitens, eben so kommt man von dem zweiten Kanon zu dem ersten. Denn wenn die unmittelbare Verbindung von Subject, Praͤ- dicat und Beiwoͤrtern zum Verstehen nicht genuͤgt, muß man zu aͤhnlichen Stellen Zuflucht nehmen, und dann unter guͤn- stigen Umstaͤnden eben sowol außerhalb des Werkes, als außerhalb des Schriftstellers, aber immer nur innerhalb dessel- ben Sprachgebietes. 2. Darum ist auch der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Kanon mehr scheinbar als wahr, daß jener aus- schließend ist und dieser bestimmend, sondern in allem einzelnen ist dieser auch nur ausschließend. Jedes Beiwort schließt nur manche Gebrauchsweisen aus und nur aus der Totalitaͤt aller Ausschließungen entsteht die Bestimmung. Indem nun dieser Kanon in seinem weiteren Umfange auch die ganze Theorie der Parallelen enthaͤlt, so ist in beiden zusammen die ganze grammatische Interpretation beschlossen. 3. Es ist nun hier zu handeln von Bestimmung des for- mellen und materiellen Elements, beides aus dem unmittelbaren Zusammenhang und aus Parallelen auf qualitatives sowohl als quantitatives Verstehen gerichtet. Man kann jeden von diesen Gegensaͤzen zum Haupteintheilungsgrund machen und das eine wie das andere wird immer etwas fuͤr sich haben. Aber am natuͤrlichsten ist doch das erste, weil es eine durch das ganze Geschaͤft hindurch gehende constante doppelte Richtung ist. 4. Die Erweiterung des Kanons welche im zu Huͤlfe neh- men der Parallelstellen liegt ist nur scheinbar, und der Ge- brauch der Parallelen wird durch den Kanon begrenzt. Denn nur das ist eine parallele Stelle, welche in Beziehung auf die vorgefundene Schwierigkeit als identisch mit dem Saze selbst also in der Einheit des Zusammenhanges kann gedacht werden. 5. Sind nun die beiden Elemente Haupttheile, so ist zweck- maͤßig von Bestimmung des formellen Elements anzufangen, weil sich unser Verstehen des Einzelnen an das vorlaͤufige des Ganzen anschließt und der Saz nur durch das formelle Element als Einheit herausgehoben wird. 4. Bei der Bestimmung des formellen Elementes un- terscheiden wir das Saͤze verbindende und das die Elemente des Sazes verbindende. Es kommt dabei an auf die Art der Verbindung, auf den Grad derselben und auf den Umfang des verbundenen. 1. Hiebei muß aber auf den einfachen Saz zuruͤckgegangen werden. Denn die Verbindung einzelner Saͤze in der Periode und die Verbindung der Perioden unter sich ist vollkommen gleichartig, wogegen sich die Verbindung der Glieder des ein- fachen Sazes bestimmt unterscheidet. Zum ersteren gehoͤrt die Conjunction mit ihrem Regimen, und was deren Stelle ver- tritt, zum andern eben so die Praͤposition. 2. Es giebt wie uͤberall so auch in der Rede nur zwei Arten von Verbindungen, die organische und die mechanische, d. h. innere Verschmelzung und aͤußere Aneinanderreihung. Der Gegensaz ist aber nicht streng, sondern die eine scheint oft in die andere uͤberzugehen. Eine Causal- oder Adversativpar- tikel scheint oft nur anreihend zu sein; dann hat sie ihren ei- gentlichen Gehalt verloren oder abundirt. Oft aber auch scheint eine anreihende innerlich verbindend zu werden und dann ist sie gesteigert oder emphatisch geworden. Auf diese Art geht dann die qualitative Differenz (in der Art der Verbindung) in die quantitative (in dem Grade der Verbindung) uͤber; allein dieß ist oft nur Schein und man muß doch immer auf die urspruͤng- liche Bedeutung zuruͤckgehen. Oft auch entsteht der Schein nur wenn man sich den Umfang oder den Gegenstand der Ver- knuͤpfung nicht richtig denkt. Also darf niemals uͤber das eine Moment der Verbindung entschieden werden ohne alle andern Fragen mit in Betrachtung zu ziehen. 3. Die organische Verbindung kann zwar fester und loser sein, aber man darf nie vermuthen daß die verbindende Parti- kel ganz ihre Bedeutung verloren habe. Man vermuthet dieß, wenn das unmittelbar verbindende nicht zusammenzugehoͤren scheint. Aber erstlich der lezte Saz vor der Partikel kann Zu- saz sein und die Verbindung auf den ruͤckwaͤrts liegenden Haupt- saz gehen. Ebenso kann der erste Saz nach der Verbindung Vorrede sein und die Verbindung auf den folgenden Hauptge- danken gehen. Zwar sollten dergleichen Nebensaͤze in Zwischen- saͤze verwandelt werden um das Gebiet einer jeden Verknuͤpfung anschaulich zu machen. Allein jede Schreibart vertraͤgt derglei- chen nur in gewissen und sehr verschiedenem Maaß, und je leichter, ungebundener die Schreibart desto mehr muß darin der Verfasser auf den Leser rechnen. Zweitens, es kann aber auch die Verknuͤpfung oft nicht einmal auf den lezten Hauptgedan- ken gehn, sondern auf eine ganze Reihe, weil auch ganze Ab- schnitte nicht anders verbunden werden koͤnnen. In bestimm- ter gegliederten Schriften geschieht es, daß man beim Übergang das Resultat eines Abschnittes wiederholt und die Verbindung wol in einen ganzen Saz verwandelt der zugleich den Haupt- inhalt des folgenden Abschnittes enthaͤlt; und schwerfaͤllige For- men vertragen darin bestimmte Anknuͤpfungen und Wiederho- lungen, wiewol auch das nicht uͤbertrieben werden darf. Aber in leichteren Formen muß der Leser selbst achten und darum ist allgemeine Übersicht vor dem einzelnen Verstehen doppelt noth- wendig. Es giebt auch subjective Verbindungen nemlich wodurch der Grund angegeben wird, warum das vorhergehende gesagt wor- den. Unterscheiden sich nun solche Verbindungen in der Form nicht von den objectiven, so glaubt man leicht dieß sei Verrin- gerung der Bedeutung der verknuͤpfenden Partikel, ein bloßer Übergang. 4. Daß die bloße Anknuͤpfung auch kann gleichsam empha- tisch gesteigert werden geht schon daraus hervor, daß alle un- sere organisch verknuͤpfenden Partikeln urspruͤnglich nur Raum- und Zeitpartikeln sind. Also koͤnnen auch die jezigen bloß an- knuͤpfenden noch einzeln gesteigert werden. Der Kanon dazu geht daraus hervor, daß bloße Anknuͤpfung im Ganzen nicht vorausgesezt werden darf. Sie herrscht vor in Beschreibungen und Erzaͤhlungen, aber auch da nicht rein, weil der Schreibende sonst bloßes Organ waͤre. Wo also dieß nicht stattfindet, da kann sie nur untergeordnet sein, d. h. in organische Verknuͤ- pfung eingefaßt oder aus derselben gefolgert oder sie vorbereitend. Wo aber keine organische Verknuͤpfung außerdem vorhanden ist, da muß sie in der bloß anreihenden latitiren. Die Aus der Vorles. v. 1826. allgemeine Formel fuͤr die schwierigeren Faͤlle der Sazver- bindung ist diese: Werden Saͤze von ungleichem Gehalte verbun- den, so ist die Verbindung keine unmittelbare und man muß auf einen Saz von gleichem Gehalt zuruͤckgehen. 5. Anwendung auf das Neue Testament. 1. Da wenn auch in der (fremden) Sprache der Schrift gedacht wird was man schreibt, doch das Entwerfen, oft in der Muttersprache geschieht, und schon im ersten Entwurf die Ge- dankenverbindung liegt, so ist bei den neutestam. Schriftstellern dem obigen zufolge besonders an Vermischung des griechischen und hebraͤischen zu denken. 2. Diese Vermischung ist um so mehr von großem Einfluß als beide Sprachen in den Verbindungsformen sehr verschieden sind. Den Reichthum der griechischen Sprache in dieser Hin- sicht konnten sich die neutest. Schriftsteller auf dem ungelehrten Wege nicht aneignen, da man auf diesem Wege hierauf am wenigsten achtet und durch fluͤchtiges Hoͤren sich den Werth der Verbindungsformen weniger aneignet. Dieser Mangel macht denn auch zaghaft im Gebrauch der wirklich schon bekannten. Griechische Zeichen die in mehreren Faͤllen einem hebraͤischen ent- sprachen, wurden dann um so leichter fuͤr gleichbedeutend gehalten. 3. Es ist daher nothwendig aus den griechischen Bedeutun- gen eines Zeichens und den ihnen entsprechenden hebraͤischen Ein Ganzes zu bilden und daraus eben so wie vorgeschrieben zu urtheilen. 4. Die leichtere Schreibart erlaubt den freiesten Spielraum im Gebrauch dieses Elements (des verknuͤpfenden) weil die Saͤze selbst am wenigsten kuͤnstlich verschlungen werden. 5. Große Verschiedenheit der neutestam. Schriftsteller in dieser Hinsicht. Paulus z. B. bauet am meisten griechisch, Jo- hannes am wenigsten. 6. Vorzuͤglich wichtig bei der Unvollkommenheit der Huͤlfs- mittel ist das Achtgeben auch da wo sich keine Schwierigkeit findet, sonst bekommt man nie einen Tact fuͤr das was man sich erlauben darf. Daher auch hier so haͤufig gefehlt wird. 6. Die Loͤsung der Aufgabe das sazverbindende Ele- ment zu bestimmen geschieht durch allgemeine Mitwirkung. 1. Im Zuruͤckgehen auf den allgemeinen Inhalt wirken zu- naͤchst die Hauptideen, in der Betrachtung der unmittelbar verbundenen Saͤze ihre Subjecte und Praͤdicate, also das ma- terielle Element. 2. In der allernaͤchsten Umgebung wirkt das combinirte formelle Element nemlich das Regimen erlaͤutert die Partikel und umgekehrt. 3. Im folgenden hat man noch zu sehen auf coordinirte oder subordinirte Verbindungsformeln. 4. Die Anwendung muß der richtige Sinn machen: die lezte Bestimmung muß doch immer von dem unbefangenen Nachconstruiren ausgehen. 7. Unverbundene Saͤze koͤnnen nur vorkommen, wenn ein Saz sei es nun nach Causalverknuͤpfung oder nach An- einanderreihung als Eins mit dem vorigen gesezt wird. 1. Das erste nemlich wenn ein Saz unmittelbar aus dem vorigen herausgenommen wird, so daß der Hauptpunkt schon in jenem enthalten war, das zweite ist der Fall wenn genau coordinirtes neben einander gestellt wird. Beide Faͤlle sind nicht selten. Zusaz Aus der Vorles. v. 1826. Die Bestimmung der unverbundenen Saͤze in einer zusammenhaͤngenden Gedankenreihe geschieht mit gehoͤriger Modification wegen des fehlenden formellen Verbindungszeichens nach Kanon 6. Die neueren Sprachen haben unverbundene Saͤze weit haͤu- figer als die alten. Wir schreiben fuͤr das Auge, die Alten schrie- ben fuͤr das Ohr. Hier mußte also das unverbundene viel selte- ner vorkommen und die Verbindungspartikeln haͤufiger. 2. Alle Beiwoͤrter koͤnnen bis zu einer enklitischen Unbedeu- tendheit in gewissen Faͤllen sinken und dann ist die dadurch an- gedeutete Verbindung die loseste. 3. Bei Mangel an kritischem Bewußtsein kann von dem Schriftsteller selbst die Verbindung unbestimmt gedacht sein. 4. Bei den neutestam. Schriftstellern kommt alles zusam- men, die Lockerheit der Perioden zu erzeugen sowol in den di- daktischen Schriften wo die Causalverbindung, als in den hi- storischen wo die erzaͤhlende Verknuͤpfung herrscht, nemlich schlechte Gewoͤhnung und Gebrauch aus Unkenntniß. Daher beides so schwierig. Man weiß oft nicht wieweit eine didak- tische Reihe geht, oft nicht wie weit ein historisches Ganzes. Nur Paulus und Johannes ragen hervor, jener im didaktischen, dieser im historischen. Das Interesse genauer zu bestimmen als der Verfasser selbst gethan haͤngt von dem dogmatischen In- teresse ab und von dem der historischen Kritik. Daher alles dog- matisch sowie kritisch schwierige von der Interpretation abhaͤngt. Da Aus der Vorles. v. 1826. die Interpunktion bei den Alten nicht urspruͤnglich war, so muͤssen wir sie in den Schriften des Alterthums immer ganz wegdenken, sonst geht man bei dem, der sie als Ausleger gemacht hat, in die Schule und wird von ihm abhaͤngig und befangen. Ohnehin schwanken die Systeme der Interpunktion und sind un- vollkommen, die alten wie die neuen. Man gewoͤhne sich also rein aus dem inneren Verhaͤltnisse die Verbindung der Saͤze zu bestimmen. 8. Bei der Verbindung im Saz ist das schwierigste die Praͤposition und das unmittelbare Abhaͤngigkeitsverhaͤltniß. 1. Es ist dabei gleich ob der Saz aus Subject und Praͤ- dicat oder auch zugleich der Copula besteht. Die unmittelbare Verbindung beider ist nie zu verkennen, und auch ihre unmittel- baren Erweiterungen durch Adjectiva und Adverbien concresci- ren durch die Form zu Einem ganzen mit ihnen. Die Praͤ- position aber knuͤpft naͤhere Bestimmungen des Verbi, nemlich seiner Richtung, seines Gegenstandes u. s. w., an dasselbe an. Der Genitiv, der Status constructus u. s. w. ist naͤhere Be- stimmung des Subjects. Der Sinn der Praͤposition wird leicht durch Subject und Object bestimmt. Da tritt aber die Ent- scheidung durch das materielle Element ein. In Aus der Vorles. v. 1826. Beziehung auf die materiellen Elemente des einfachen Sa- zes entsteht die Frage, ob derselbe zweigliedrig ist (Subject und Praͤdicat) oder dreigliedrig (wo die Copula dazukommt). Die er- stere Ansicht ist die dynamische, die zweite die atomistische, weil man glaubt die Verbindung sei wieder etwas sich neben die Theile hinstellendes. Auffallend, daß diese leztere Ansicht noch so allge- mein herrschend ist. Wenn man von dieser Seite auf die Frage wie es z. B. mit dem Saze steht, der Baum bluͤht, antwortet er sei eigentlich dreigliedrig, nemlich so, der Baum ist bluͤhend, so ist das der Sprache gar nicht gemaͤß, es wuͤrde folgen, daß es nur ein einziges Verbum gebe, das Verbum sein. Dieß ist aber offenbar falsch. Das urspruͤngliche in den Sprachen selbst ist die dynamische Ansicht vom Saze. 2. Im N.T. ist hier das hebraͤisirende eben so vorherr- schend, wie in der Verbindung der Saͤze und man muß immer die dem griechischen correspondirende hebraͤische Form im Sinne haben. 9. Es giebt Faͤlle wo man die Schwierigkeit eben sowol auf das materielle als formelle Element zuruͤckfuͤh- ren kann. Zum Beispiel die hiphilische Bedeutung der Verba und aͤhn- liches kann angesehen werden als Beugung (formelles Element) und als eigenes Wort (materielles Element), und dies gilt von allen abgeleiteten Formen des Zeitwortes, so daß der Ge- gensaz auch nicht rein ist sondern durch Übergang. In sol- chen Faͤllen muß man sehen, durch welche Behandlung man ein reineres und reicheres Ganzes erhaͤlt, aus welchem man construiren kann. 10. Subject und Praͤdicat bestimmen sich gegenseitig jedoch nicht vollstaͤndig. Die genaueste gegenseitige Bestimmung ist die Phrase die im technischen den engsten und festesten Kreis hat. Der entgegen- gesezte Punkt ist auf der einen Seite der Einfall, wo einem Subject ein seltenes Praͤdicat beigelegt wird außerhalb des ge- woͤhnlichen Kreises, und auf der andern Seite die Gnome welche auch keine naͤheren Bestimmungsmittel hat, aber eben deßhalb an sich unbestimmt bleibt und durch die jedesmalige Anwendung bestimmt wird. 11. Beide, Subject und Praͤdicat, werden an sich und also auch gegenseitig naͤher bestimmt durch ihre Beiwoͤrter. 1. Adjectiva und Adverbien deuten auf eine bestimmte Rich- tung und scheiden mehreres aus. Auch die Verknuͤpfungen durch Praͤpositionen sind noch naͤhere Bestimmungen des Verbi wie man daraus sieht daß die Praͤposition von selbst auch Be- standtheil des Verbi wird. 2. Jedoch ist dieß nicht hinreichend, sondern das recht po- sitive Element kann nur gegeben werden dadurch daß man in der Nachconstruction der ganzen Gedankenreihe begriffen ist. 12. Fuͤr das N. Testament ist die Aufgabe von großer Wichtigkeit und Schwierigkeit wegen der neuen und einzigen Begriffe. 13. Wenn die unmittelbare Bestimmung nicht aus- reicht muß die mittelbare eintreten durch Identitaͤt und Ge- gensaz. Ähnlichkeit und Unterschied sind hierauf zuruͤckzufuͤhren. 14. Gegensaz ist uͤberall, aber in der dialektischen Com- position am meisten. In Beziehung auf das N. Testam. kommt hier besonders Paulus in Betracht. 15. Die Regeln fuͤr die Auffindung sind dieselben fuͤr das identische und entgegengesezte. 1. Denn es giebt kein Urtheil uͤber das entgegengesezte als in Bezug auf eine hoͤhere Identitaͤt, und eben so erkennt man die Identitaͤt nur an einem gemeinschaftlichen Gegensaz. 2. Gleichmaͤßig kommt es bei beiden an auf die Gewißheit daß wir das Verhaͤltniß zweier Saͤze so stellen wie der Ver- fasser es selbst gestellt hat. 16. Ein Saz in welchem ohne Unterbrechung noch dasselbe Subject herrscht oder dasselbe Praͤdicat ist noch als zum unmittelbaren Zusammenhange gehoͤrig zu betrachten (Identitaͤt). 17. Wenn das nach einer Unterbrechung Wiederkeh- rende zum Hauptzusammenhang der Rede gehoͤrt, das Unter- brechende aber nicht, so hat die Identitaͤt die groͤßte Wahr- scheinlichkeit. 18. Wenn das Wiederkehrende Nebengedanke ist und das Unterbrechende Hauptgedanke, so kann man von der Identitaͤt nur uͤberzeugt sein nach Maaßgabe der Gleichheit im Zusammenhange und der Identitaͤt des Typus in der Wendung des Gedankens selbst. 19. In Absicht der Hauptgedanken kann man uͤber eine Schrift selbst hinausgehen auf die desselben Verfassers, welche sich als Eins mit jener ansehn lassen, und so auch auf Schriften Anderer, welche sich anschließen durch die Iden- titaͤt der Schule und der Ansicht. 20. In Bezug auf den Nebengedanken kommt es bei Beobachtung von §. 18. mehr auf die Identitaͤt des Sprach- gebietes und der Schreibart an als auf Person und Ansicht. In wiefern Nebengedanken erklaͤrt werden koͤnnen aus andern Stellen, wo derselbe Hauptgedanke ist? Qualitativ aber nicht quantitativ. 21. Je mehr man bei der Aufsuchung (15.) sich auf Andere verlaͤßt, desto mehr muß man im Stande sein ihr Urtheil zu controlliren. 22. In der Anwendung auf das N. Testament stehn einander entgegen die philologische Ansicht, welche jede Schrift jedes Schriftstellers isolirt, und die dogmatische, welche das N. T. als Ein Werk Eines Schriftstellers ansieht. 23. Beide naͤhern sich wenn man bedenkt, daß in Ab- sicht des religioͤsen Inhalts die Identitaͤt der Schule und in Absicht der Nebengedanken die Identitaͤt des Sprachgebietes eintritt. 24. Falsch bleibt aus der dogmatischen Ansicht der Kanon: Man muͤsse nur im hoͤchsten Nothfall bildlichen Gebrauch annehmen Dieß ist zu verstehen aus: Ernesti Instit. interpret. ed. Ammon. p . 114. 115. Vulgare est praeceptum, quod jubet non facile (oder non sine evidenti causa aut necessitate ) discedere a proprietate significationis . Dieser Kanon geht von einer be- stimmten Persoͤnlichkeit des heiligen Geistes als Schriftstel- lers aus. 25. Die philologische Ansicht bleibt hinter ihrem ei- genen Princip zuruͤck wenn sie die gemeinsame Abhaͤngigkeit neben der individuellen Bildung verwirft. 26. Die dogmatische geht uͤber ihr Beduͤrfniß hin- aus wenn sie neben der Abhaͤngigkeit die individuelle Bil- dung verwirft, und zerstoͤrt so sich selbst. Sie zerstoͤrt sich nemlich selbst, weil sie dann dem heiligen Geist den unleugbaren Wechsel der Stimmungen und Modifi- cationen der Ansicht zuschreiben muß. Zusaz Aus der Vorles. v. 1826. . Dieß waͤre auch in Widerspruch mit der Paulinischen Theorie von dem Verhaͤltniß des Einen und selbigen Geistes zu den verschiedenen Gaben in den einzelnen Gemeindegliedern 1. Kor. 12. 27. Es bleibt noch die Frage, welche von beiden uͤber die andere gestellt werden soll, und diese muß die philologische Ansicht selbst zu Gunsten der Abhaͤngigkeit ent- scheiden. Theils ist die Individualitaͤt der neutestam. Schriftsteller erst Produkt ihres Verhaͤltnisses zu Christo, theils was die von Na- tur individuelleren betrifft, Paulus und Johannes, so hat der eine sich ganz umgewendet so daß er doch besser aus andern neutestam. Schriftstellern zu erklaͤren waͤre als aus eigenen vor- christlichen Schriften; der andere ist offenbar jung zu Christo gekommen und hat erst als Christ seine Eigenthuͤmlichkeit entfaltet. 28. Wenn die philologische Ansicht dieß verkennt, vernichtet sie das Christenthum. Denn wenn die Abhaͤngigkeit von Christo Null ist gegen die persoͤnliche Eigenthuͤmlichkeit und die vaterlaͤndischen Maͤngel so ist Christus selbst Null. 29. Wenn die dogmatische den Kanon von der Ana- logie des Glaubens uͤber diese Grenzen ausdehnt vernichtet sie die Schrift. Denn ein locus communis aus den deutlichen Schriftstellen kann nicht zur Erklaͤrung der dunkeln gebraucht werden ohne daß die Schrift aus dogmatischem Bewußtsein erklaͤrt wird, welches ihre Auctoritaͤt vernichtet und also gegen die Principien der dogmatischen Ansicht selbst streitet. Denn die Aufstellung solcher loci communes ist eine dogmatische Operation, wobei außer der bezweifelten Eigenthuͤmlichkeit der Person auch von der doch unbezweifelten Besonderheit der Veranlassung abstrahirt werden muß. Jede Stelle ist ein Ineinander von Gemeinsamem und Be- sonderem und kann also nicht aus dem Gemeinsamen allein richtig erklaͤrt werden. Das Gemeinsame ist auch nicht eher richtig aufzustellen bis alle Stellen erklaͤrt sind, und der schwan- kende Gegensaz von klaren und dunklen Stellen laͤßt sich dar- auf zuruͤckfuͤhren, daß urspruͤnglich nur Eine klar ist Schleierm. meint nemlich nach der Vorlesung von 1826, wenn man . Hermeneutik u. Kritik. 6 Als Aus der Vorles. v. 1826. Zusammengehoͤrigkeit und Harmonie der Gedanken des N. T. ist die Analogie des Glaubens allerdings ein wahrer Begriff. 30. Die Analogie des Glaubens kann also nur aus der richtigen Auslegung hervorgehen, und der Kanon kann als ein wahrhaft hermeneutischer nur heißen: Es ist irgend- wo falsch erklaͤrt wenn aus allen zusammengehoͤrigen Stellen nichts gemeinsames uͤbereinstimmend hervorgeht. Man kann also nur sagen, die Wahrscheinlichkeit der unrich- tigen Erklaͤrung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein der Ausmittlung eines solchen gemeinsamen sich widersezt. 31. Die Einheit und Differenz des N. Testam. kann verglichen werden mit der Einheit und Differenz der Sokra- tischen Schule. Auch Aus der Vorles. v. 1826. Sokrates der Meister schreibt nichts selbst. Seine An- sichten sind nur in den Schriften seiner Schuͤler uͤberliefert. Diese gestalteten sich zwar nach seinem Tode eigenthuͤmlich, aber die Sokratische Grundfarbe blieb allen. Niemand bezweifelt die Identitaͤt und die Eigenthuͤmlichkeit der Sokratiker. Eben so das Verhaͤltniß der Juͤnger zu Christo. Aber die Verwandtschaft ist in den neutest. Schriftstellern groͤßer, als unter den Sokratikern, weil die Kraft der Einheit, die von Christo ausging, an sich groͤßer war, und selbst bei denjenigen Aposteln, die eine bedeu- tende Eigenthuͤmlichkeit hatten, wie bei Paulus, so maͤchtig, daß sie sich in ihrem Lehren ausschließlich auf Christus beriefen. Selbst daß z. B. Paulus als Heidenbekehrer in einem andern und wei- teren Kreise wirkte, als Christus, schwaͤchte das Übergewicht der dasjenige klar nenne, was einen bestimmten Sinn gebe, so sei in jedem gegebenen schwierigen Zusammenhange fuͤr die allmaͤhlige Genesis des Verstehens urspruͤnglich nur Eins klar. Einheit, die von Christus ausging, wesentlich nicht. Denn, wenn auch die Idee der Heidenbekehrung vorzugsweise durch Paulus erst recht klar unter den Aposteln wurde, so war sich doch Pau- lus dabei keiner andern Kraft als der Christi bewußt, und wenn die Idee nicht in der Lehre Jesu gelegen haͤtte, wuͤrden die an- dern Apostel ihn gar nicht als Christen anerkannt haben, ge- schweige als Apostel. Bei den Sokratikern finden wir dagegen, daß sie sich oft mit Gegenstaͤnden beschaͤftigten, die Sokrates nie beruͤhrte, und da trat eben ihre Eigenthuͤmlichkeit und Differenz freier hervor. 32. Die philologische Erklaͤrung muß dem zusammen- stellenden Gebrauch des N. T. vorangehen. Ohne Aus der Vorles. v. 1826. das leztere (die dogmatische Auslegung) ist die theolo- gische Aufgabe nicht vollstaͤndig geloͤs't, aber ohne die voraufge- hende philologische Erklaͤrung, die jeden Gedanken und Ausdruck aus seinem Zusammenhange zu verstehen sucht, kann man dabei kein gutes Gewissen haben. 33. Die Grundsaͤze des Parallelismus sind fuͤr beide verschieden wegen der Moͤglichkeit des gleichen Inhalts bei ganz verschiedenem Sprachgebrauch. 34. Wesentlich ist gaͤnzliche Scheidung des Verfahrens (des philologischen und dogmatischen) und der Ausleger muß ein bestimmtes Bewußtsein daruͤber haben in welchem er ist. 35. Wenn die Auslegung unter vorausgesezter Sprach- kenntniß eben so betrieben werden muß, wie die durch welche die Sprachkenntniß zu Stande kommt, so muß durch den Ge- brauch der Parallelstellen in dem Kreise eines Wortes ein bestimmtes Sprachgebiet abgesteckt werden. 6* Eigentlich muß alles in den Lexicis unter bestimmten Bedeu- tungen als Auctoritaͤt angefuͤhrte eine Sammlung von Parallel- stellen sein. Die Aus der Vorles. v. 1826. Sprachkenntniß entsteht durch hermeneutische Operationen. Das erste ist moͤglich vollstaͤndige Indices uͤber die einzelnen Schriftsteller, also — Gebrauch der Parallelen. Daraus erhalten wir denn Indices fuͤr die Sprache, fuͤr bestimmte Gebiete, fuͤr das philosophische, rhetorische, mathematische Gebiete u. s. w. Hier- bei kommt vorzuͤglich darauf an, diejenigen Ausdruͤcke welche am meisten in Hauptstellen vorkommen, die solennen Ausdruͤcke jedes Gegenstandes und ihr Verfließen in den allgemeinen Sprachge- brauch im Zusammenhange darzustellen. So entsteht das wahre Woͤrterbuch aus beiden Operationen; es muß fuͤr jedes Wort den Hauptsitz angeben und von da aus die Verbreitung des Gebrauchs in Anwendung auf verwandte Gebiete darstellen, so viel moͤglich historisch, chronologisch. Wie nun dabei nothwendig ist der Ge- brauch der Parallelen, oft im weitesten Sinne, so daß man auf verwandte Sprachen, auf die Stammsprache vergleichend uͤber- geht, so ist auch die Auslegung immer an den Gebrauch der Pa- rallelen im engeren und weiteren Sinne gewiesen. Die Sprach- kenntniß, die die Auslegung voraussezt, ist immer noch unvoll- kommen. Sie reicht nur aus, die kunstmaͤßige Auslegung zu be- ginnen. Aber eben deshalb muß die kuͤnstlerische grammatische Auslegung wieder zuruͤckwirken auf die Erweiterung und Vollen- dung der Sprachkenntniß. 36. Hiedurch (35.) wird die alte Regel, wenn sich noch Spuren in der Schrift selbst finden, die Erklaͤrungs- mittel nicht außerhalb derselben zu suchen, gar sehr beschraͤnkt. 1. Denn wenn nun doch Worte in gleicher Bedeutung außerhalb vorkommen, so wuͤrde man solche Stellen doch ins Woͤrterbuch aufnehmen. Der Unterschied zwischen leichteren und schwereren Stellen kann nicht dagegen angefuͤhrt werden, aber freilich ist er es von dem man bei jener Regel ausgegan- gen ist. 2. Bei Hauptgedanken besonders wuͤrde sie im N. T. sehr beschraͤnkt dadurch daß die religioͤse Umwandlung nicht alles betroffen hat, sondern manche Vorstellungen blieben wie die Zeitgenossen sie hatten, theils auch daß Vorstellungen der Zeit angefuͤhrt werden im Gegensaz gegen die christlichen. 3. Bei Nebengedanken ist offenbar daß einem neutestam. Schriftsteller die andern nicht naͤher verwandt sind als andere nicht neutestam., welche Gedankenkreis, Bildungsstufe und Sprachgebiet mit ihm gemein haben. 4. Noch weniger ist die Regel bei dem N. T. werth, wenn man unter heil. Schrift auch das alte Testament mit versteht. Denn dieß enthaͤlt in Absicht der Hauptgedanken manches ir- rige, was schon dem ganzen neutest. Zeitalter fremd geworden, und in Absicht der Nebengedanken gehoͤrt es einer Zeit an von der nur wenig in das Bewußtsein der damaligen uͤberge- gangen war. 37. Da der Sinn nicht in den einzelnen Elementen sondern nur in ihrem Zusammensein ist, so sind die naͤchsten Parallelen die, welche dasselbe Zusammensein darbieten. Es ist immer eine Art Willkuͤhr, ein Wort fuͤr das dunklere zu erklaͤren, denn es kann eben so gut das andere sein, z. E. Joh. 7, 39., wo man sich vergeblich bemuͤhen wuͤrde, wenn man aufs Gerathewohl wollte unter den verschiedenen Bedeu- tungen von πνεῦμα ἅγιον herumsuchen, sondern die rechte Parallele ist Apostelgesch. 19, 2., und man kann wirklich sagen die Schwierigkeit liegt in dem εἶναι, welches hier nicht streng zu nehmen ist, sondern heißt, in der Erscheinung vorhanden, mit- getheilt sein. 38. Auf das quantitative Verstehen ist uͤberall eben so zu achten wie auf das qualitative. Also nicht erst damit anzufangen bei schweren Stellen son- dern bei leichten, im formellen und materiellen Sprachelement, in Woͤrtern und ganzen Saͤzen. 39. Das Minimum des quantitativen ist das Abun- diren, das Maximum die Emphase. 1. Das Abundiren besteht darin wenn ein Theil nichts bei- traͤgt zum Ganzen. Doch findet dieses niemals schlechthin statt. Die Emphase besteht darin: einmal wenn das Wort in dem groͤßten Umfang zu nehmen ist, in welchem es gewoͤhnlich nicht vorkommt, dann auch wenn alle Nebenvorstellungen welche es erregen kann mit beabsichtigt sind. Das Lezte ist etwas un- endliches. 2. Da nun die Endpunkte nicht eigentlich gegeben sind, so geht man aus von einem Durchschnitt, als dem gewoͤhnlichen, was darunter ist naͤhert sich dem Abundiren, was daruͤber der Emphase. 40. Alles mehr oder weniger abundirende da es doch einen Grund haben muß, muß entweder aus Ruͤcksicht auf das musikalische der Sprache oder aus einer mechanischen Attraction entstanden sein, und eins von beiden muß man nachweisen koͤnnen wenn man etwas als abundirendes an- sehn will. 1. Mechanische Attraction kann nur stattfinden wenn die Verbindung zweier Redetheile Formel und Phrase geworden ist. 2. Aus musikalischer Ruͤcksicht kann etwas abundirendes nur stehen in solchen Gattungen, wo dieses Element mehr her- vortritt und an solchen Stellen wo das logische mehr zuruͤck- tritt, welches lezte der Fall ist wenn die Form des Gegensazes ganz fehlt. 3. Abundiren koͤnnen auf diese Art Theile des Subjects oder Praͤdicats, wenn es in eine Mehrheit zerfaͤllt ist. Ferner Ne- benbestimmungen des einen oder andern, wenn sie keinen be- stimmten Gegensaz gegenuͤber haben. 41. Was emphatisch sein soll muß sich durch die be- tontere Stellung und andere Hinweisungen zu erkennen geben. 1. Über das gewoͤhnliche Maaß der Bedeutsamkeit kann ei- ner nicht bewußtlos hinausgehen; es muß auch bemerkt sein wollen, da der emphatische Gebrauch eines Wortes immer eine Abkuͤrzung ist, etwas in ein Wort hineinzulegen was sonst da- neben stehen koͤnnte. Kann also das erste nicht mit gehoͤriger Deutlichkeit geschehen, so waͤhlt doch jeder das andere. 2. Es muß immer ein anderer Redetheil da sein, in Bezie- hung auf welchen einer emphatisch ist und dieß muß sich durch die Zusammenstellung deutlich machen lassen. 42. Die Maxime so viel als moͤglich tautologisch zu nehmen ist eben so falsch als die soviel als moͤglich em- phatisch zu nehmen. 1. Die erstgenannte ist die neuere. Man glaubt sie im N. T. durch die vorherrschende Form des Parallelismus und durch die groͤßtentheils geringere logische Strenge hinreichend gerechtfertigt; aber mit Unrecht, und man muß nach den oben gestellten Saͤzen davon wieder zuruͤckkommen. Besonders glaubt man sich durch jeden leichten Schein von Synonymen gerecht- fertigt. 2. Die leztgenannte ist die aͤltere, zusammenhangend mit der Ansicht daß der heil. Geist Auctor sei, und daß der nichts ver- geblich thun werde, daher kein Abundiren, keine Tautologie und zunaͤchst also alles verwandte emphatisch, dann aber auch alles uͤberhaupt, denn an jedem Worte ist etwas zu viel, wenn es nicht ganz an jeder Stelle erschoͤpft ist. Allein da den ur- spruͤnglichen Hoͤrern und Lesern die Person des Schriftstellers nie verschwand, und sie Rede und Schrift nur nach den ge- woͤhnlichen Voraussezungen beurtheilen konnten, auch die Aus- flucht, daß der heilige Geist die ganze inspirationsglaͤubige Chri- stenheit, welche ihn nur nach der aufgestellten Maxime beur- theilen darf, im Auge gehabt, nichts hilft, indem diese Chri- stenheit nur durch das richtige Verstaͤndniß, welches sich den ersten Christen mittheilte, entstehen konnte, so ist diese Maxime schlechthin verwerflich. 3. Indem nun die Wahrheit in der Mitte liegt, laͤßt sich keine andere Regel der Beurtheilung angeben, als daß man beide Abweichungen immer im Auge habe, und sich frage, welche mit der wenigsten Unnatur koͤnnte angewendet werden. Be- sonders kommt hier zur Sprache das Urgiren bildlicher Aus- druͤcke, indem emphatisch betrachtet jede Metapher ein Compen- dium eines Gleichnisses ist, und ebenso kann man auch ein Gleichniß selbst emphatisiren. Auch dieß muß lediglich nach den aufgestellten Regeln beurtheilt werden, ob das was man noch in einem Gleichniß will auch in demselben Gebiet liegt, worin das Gleichniß spielt. Denn sonst bekommt man doch nur An- wendungen und Einlegungen. Auf der andern Seite muß man aber auch bedenken wie nahe die Metapher der Phrasis liege. Denn in demselben Maaß ist keine Emphasis zu erwar- ten. Am meisten dominirt die Emphasis im streng dialektischen Vortrage und im wizigen. 43. Das Maaß in welchem abundirendes oder em- phatisches vorauszusezen ist haͤngt nicht nur von der Gat- tung der Rede ab, sondern auch von der Entwicklungsstufe des Gegenstandes. Wenn ein Gegenstand fuͤr das Gebiet der Vorstellung schon gehoͤrig bearbeitet ist, dann kann man von dem mittleren Durch- schnitt ausgehen, und es haͤngt nur von der Redegattung ab, wann oder wo man mehr Emphase oder Abundanz zu erwar- ten hat. Ist aber der Gegenstand noch neu und die Sprache fuͤr denselben noch nicht gebildet, so entsteht eine Unsicherheit ob die gewaͤhlten Elemente auch den Zweck erreichen, und wo diese sich im einzelnen auf etwas bestimmtes gruͤndet, da ent- steht denn eine Neigung das nicht genug gesicherte durch einen andern Ausdruck zu sichern. Dieß ist die Entstehung der Haͤu- fung, welche dann bald fuͤr Tautologie genommen wird bald fuͤr Emphasis. Das Wahre aber ist, man muß sie nicht als Einerlei aber auch nicht als entgegengestellt, sondern als Eins ansehn und aus ihnen zusammengenommen die Vorstellung ent- wickeln. Im N. T. ist dieß der Fall bei Paulus am wenigsten weil seine Terminologie auf einer Masse muͤndlicher Unterwei- sung beruhte, in Johannes am meisten. Aus der falschen Em- phase ist hernach entstanden daß man alle einzelnen Ausdruͤcke, Erneuerung, Erleuchtung, Wiedergeburt, in das dogmatische Be- griffssystem aufgenommen hat woraus ein verwirrender unwis- senschaftlicher Überfluß entstanden ist. Aus der falschen Tauto- logie ist entstanden daß man den Ausdruͤcken das Minimum von Gehalt zugemessen und also den Begriff selbst aufgegeben hat. 44. Das quantitative Verstehen der Saͤze fuͤhrt sich zuruͤck auf das der Elemente und das der Verbindungsweisen. 1. Saͤze haben ein Verhaͤltniß unter sich und eins zur Ein- heit der Rede. Im lezten kommt alles an auf den Gegensaz von Haupt - und Nebengedanken , im ersten alles auf den Gegensaz von coordinirt und subordinirt . Alles ist Hauptgedanke was um sein selbst willen gesagt ist, alles Nebengedanke was nur zur Erlaͤuterung gesagt wird, wenn gleich lezterer oft weit ausfuͤhrlicher sein kann, als ersterer. Hauptgedanken zu erkennen an den darin vorkommenden Be- griffen. Da Nebengedanken Abundanz sind und im Ideal des streng wissenschaftlichen Vortrags keinen Plaz finden, so ist das Verhaͤltniß von Haupt- und Nebengedanken ebenso zu beur- theilen, wie das von Abundanz und Emphase. 2. Ob Saͤze coordinirt oder subordinirt sind, das muß aus den Partikeln und Verbindungsweisen hervorgehn; aber der Inhalt ist ergaͤnzend. Je mehr in einer Sprache und Rede- gattung die Verbindungsformeln bestimmt sind, um desto we- niger braucht man erst nach dem Inhalt der Saͤze zu fragen, und umgekehrt je klarer der Zusammenhang ist, desto weniger kommt auf eine Anomalie im Gebrauch der Verbindungsformeln an. 3. In losen Formen aber wie die neutestam. uͤberhaupt sind ist es schwierig, Haupt- und Nebengedanke aus dem Sprachgebiet zu unterscheiden, weil dieser Gegensaz selbst nicht stark gespannt ist sondern beim leichten Wechsel der Materie eins in das andere uͤbergeht. Dann muß das andere zu Huͤlfe kommen, und indem man das Verhaͤltniß eines Sazes zu ei- nem andern erkennt muß man vermittelst desselben auch das zum Ganzen finden. Zusaz : Hieraus ist auch die unrichtige Klassification dog- matischer Stellen zu erklaͤren, welche eigentlich auf der Maxime beruht, daß in den neutest. Schriften alles dogmatische gleich muͤsse Hauptgedanke werden. Diese Maxime ist aber unhaltbar. Schlußbemerkung . Die zulezt behandelten Gegenstaͤnde haben uns am meisten auf die technische Interpretation hingewiesen. Nicht als ob die Maxime daß eigentlich jede Seite fuͤr sich hinreichen muͤsse an sich unrecht waͤre; aber sie sezt eine so vollkommene Sprachkenntniß voraus, wie ohne vollendete Auslegung nicht moͤglich ist. Da nun wenn Sprachkenntniß mangelt ich zwar die Sprach- kenntniß Anderer zu Huͤlfe nehmen muß, aber diese selbst nur mit einer mangelhaften Sprachkenntniß benuzen kann: so muß in jedem solchen Falle die technische Auslegung Ergaͤnzung sein. Und eben so umgekehrt kann ich die Kenntniß Anderer vom Ver- fasser nur mittelst meiner mangelhaften Kenntniß von ihnen selbst benuzen, also muß mir die grammatische Auslegung zur Ergaͤn- zung dienen. [Schleiermacher bemerkt selbst am Rande seines Heftes, daß er im Jahre 1828 von §. 4. an den Vortrag geaͤndert, indem er das materielle Element vorangenommen habe. Noch bedeutender ist die Veraͤnderung schon von §. 3. an im Jahre 1832. Die Randanmerkungen geben aber weder fuͤr den Vortrag vom Jahre 1828, noch vom Jahre 1832 ein zusammen- hangendes deutliches Compendium oder auch nur Directorium. Die Ver- gleichung der nachgeschriebenen Hefte zeigt, daß der muͤndliche Vortrag seit 1828 immer unabhaͤngiger von dem handschriftlichen Entwurf bald ab- kuͤrzte und ausließ, bald erweiterte und neues aufnahm in immer anderer Ordnung. Unter diesen Umstaͤnden war es unmoͤglich, die bisher befolgte Methode der Composition beizubehalten. Um nichts wesentliches und bedeu- tendes zu verlieren, schien es rathsam, zuerst den Vortrag, wie Schleiermacher ihn 1819 concipirt hatte, vollstaͤndig mitzutheilen mit hie und da einge- schalteten Erlaͤuterungen und Eroͤrterungen aus der Vorlesung vom Jahre 1826, dann aber aus den nachgeschriebenen Heften den lezten, vollendetsten Vortrag vom Jahre 1832. in einem so viel moͤglich vollstaͤndigen Auszuge folgen zu lassen, was jezt geschieht.] Wenn wir uns nach geschehener Anwendung des ersten Ka- nons auf das N. T. (§. 1. und 2.) in der grammatischen In- terpretation weiter orientiren, so ist der guͤnstigste Fall der, daß wir nach gehoͤriger Vorbereitung, wozu die Übersicht des Gan- zen zu rechnen ist, bei fortschreitender Lesung im Einzelnen die einzelnen Elemente eines Sazes aus seinen Umgebungen un- mittelbar so bestimmen koͤnnen, daß kein Zweifel ist, daß wir den Saz so aufgefaßt haben, wie der Verfasser ihn gedacht hat. Ist dieß aber nicht der Fall, dann muͤssen wir uns den ganzen Sprachwerth der in einem Saze verbundenen Elemente zu ver- gegenwaͤrtigen suchen. Dazu bedienen wir uns des Lexikons. Man muß sich aber den Sprachwerth aller Elemente des Sazes vergegenwaͤrtigen und nicht bloß des einen, wobei man anstoͤßt, weil es oft vorkommen kann, daß wir nur an dem einen an- stoßen aus Unkenntniß eines andern Elements. Darum muß man alle untersuchen. Das hat freilich seine Ausnahmen, wenn man nemlich aus fruͤherem Gebrauch und anderweitiger Übung in der Sprache das sichere Gefuͤhl gewonnen hat, daß einem eben nur das eine Element unbekannt ist. Aber man pruͤfe sich dabei sorgfaͤltig, um nicht in eine Verlegenheit zu ge- rathen, die durch ein genaueres Verfahren leicht zu vermeiden gewesen waͤre. Haben wir uns nun alle Sprachwerthe gehoͤrig vergegen- waͤrtigt, so kommt es darauf an, den Localwerth jedes Wortes im Zusammenhang der Rede richtig zu bestimmen. Dabei aber ist eine Grenze aufzusuchen. Diese liegt nun darin, daß das Einswerden vom Haupt- und Zeitwort der Saz ist, wobei je- nes Subject dieses Praͤdicat ist, die sich gegenseitig bestimmen. Die Grenze erweitert sich, wenn wir uns den Saz in einer gewissen Gleichmaͤßigkeit erweitert denken, so daß jedes Element noch ein bestimmendes bei sich hat. So haben wir Elemente, wodurch wir der Aufgabe naͤher treten koͤnnen. Nemlich nicht nur wird das Hauptwort durch das Zeitwort bestimmt, sondern auch durch das ihm beigelegte, oder der Einfluß, den das Zeitwort auf das Hauptwort ausuͤbt, erhaͤlt durch das dem Hauptworte beigelegte eine bestimmtere Richtung. Allein dieß findet so nur statt bei einfachen Saͤzen. Oft ist aber Ein Subject fuͤr mehrere Zeitwoͤrter. Dann sind alle Zeitwoͤrter bestimmend, und muͤs- sen sich in demselben Sinne auf das Hauptwort beziehen, wenn nicht am Tage liegt, daß mit den verschiedenen Sprachwerthen gespielt ist. Aber nicht allein von der ganzen Reihe der Zeit- woͤrter geht die Bestimmung aus, sondern von allen den Zeit- und Hauptwoͤrtern zugegebenen Beiwoͤrtern zugleich. Hier ent- steht nun die Frage, woran erkennen wir, daß ein seinem Lo- calwerthe nach streitiges Element anders gemeint ist an der ei- nen Stelle, mit der wir zu thun haben, als an einer andern? — Dieß ist verschieden je nach dem Complexus der Gedanken. Ist der Inhalt einer Gedankenreihe durch eine Überschrift vor- aus angegeben, so kann man schließen, der darin bezeichnete Be- griff sei der Hauptbegriff, und man hat alle Ursache zu ver- muthen, daß das denselben bezeichnende Wort uͤberall in dem- selben Sinne vorkommen werde, selbst in dem Falle, daß der Begriff getheilt werden kann. Denn die Bezeichnung wuͤrde immer die des Ganzen bleiben, und es waͤre unlogisch, wenn ohne daß es ausdruͤcklich bemerkt wird der Ausdruck in einem partiellen Sinne gebraucht wuͤrde. Haben wir also durch Über- schrift oder vorlaͤufige Lesung eine Übersicht des Ganzen, so koͤnnen wir die Grenze bestimmen, worin die Hauptgedanken und die ausdruͤckenden Sprachelemente in einerlei Sinn vorkommen muͤssen. Eine solche Übersicht kann nemlich nicht gewonnen werden ohne daß bemerkt wird, ob ein Ausdruck an verschiedenen Stellen in verschiedenen Dignitaͤten vorkommt. Allein dieser Ka- non der Identitaͤt gilt nur fuͤr die Ausdruͤcke, welche wesent- liche Glieder der Rede sind. Denn bei unwesentlichen ist nichts, was den Redenden haͤtte hindern koͤnnen, einen Ausdruck an verschiedenen Stellen verschieden zu gebrauchen, wenn nur in Über- einstimmung mit dem allgemeinen Sprachwerthe. Dieß ist je- doch nur ein relativer Gegensaz. Denn was in dem Complexus der Gedanken an sich unwesentlich scheint kann in der Ent- wicklung desselben an seiner Stelle wesentlich sein. Wir muͤssen also einen andern Gegensaz suchen. Sobald sich ein Complexus von Gedanken in geordneter Rede uͤber die allergroͤßte Kuͤrze erhebt, so erhalten wir nicht nur einen Unterschied zwischen Haupt- und Nebengedanken sammt den zu beiden gehoͤrigen Sprachelementen, sondern auch einen Gegensaz zwischen solchen Sprachelementen und Gedanken, die Theile des Ganzen sind, und solchen, die eigentlich gar keine Theile desselben sind, sondern nur Darstellungsmittel. Wenn z. B. in einer zusammenhaͤngenden Rede ein Gedanke durch eine Vergleichung klar und anschaulich gemacht wird, so ist die Ver- gleichung nur Darstellungsmittel und dem Gegenstande eigentlich fremd und kommt nur herein, um als fremdes einem Theile des Ganzen mehr Bestimmtheit und Klarheit zu geben. Dieß kann oft etwas Vereinzeltes sein, oft aber sich auch durch die ganze Darstellung hindurchziehen. Hier haben wir einen wirk- lichen inneren Unterschied in der Rede, kein bloßes mehr und weniger. Bei solchen bildlichen, vergleichungsweise gebrauchten Ausdruͤcken haben wir im Verhaͤltniß zu der Construction des Ganzen aus seinen wesentlichen Elementen gar keine Indication, denn Vergleichung, Bildliches, kann bald so bald so gewendet werden. — Wie verhaͤlt sich nun der Kanon von dem Finden des Lo- calwerthes zu dem ersten Kanon (1.)? Dieser ist nur negativ, ausschließend oder verhindernd, daß die Bestimmung des Local- werthes in einem dem Verfasser und den Lesern nicht gemein- samen Sprachgebiet gesucht werde. Das allgemeine Sprachge- biet aber ist in der jedesmaligen Rede oder Schrift naͤher be- stimmt, und auf diese naͤhere Bestimmtheit im Zusammenhange bezieht sich unser zweiter Kanon (3.) und ist deshalb der positive. Es fragt sich nun nach dem Umfange, der Ausdehnung die- ses positiven Kanons. Sobald man uͤber die Schranke des einfachen und zusammensezten Sazes hinausgehet, um den lo- calen Wortwerth zu bestimmen, so tritt der Gebrauch der Pa- rallelstellen ein. Zunaͤchst sind dieß Stellen derselben Schrift, in welcher der Ausdruck auf aͤhnliche Weise gebraucht ist. Aber nur wenn die Bedingungen zur Bestimmung des Localwerthes in beiden Stellen dieselben sind und der erste Kanon nicht uͤberschritten wird, die Parallele also in demselben Sprachgebiet liegt, ist die Parallele ein erklaͤrendes Huͤlfsmittel. Unter dieser Voraussezung kann ich auch Parallelen aus andern Schriften desselben Verfassers, ja aus Schriften anderer Verfasser nehmen. Eine andere Erweiterung des Kanons tritt ein, wenn der Schriftsteller selbst einen Saz in demselben Complexus von Ge- danken durch einen Gegensaz erlaͤutert. Je leichter dieser zu fassen ist, je unzweideutiger, desto erlaͤuternder. Solche Gegen- saͤze sind oft wirksamer zur hermeneutischen Bestimmung, als Analogien, da der Gegensaz weit schlagender ist als die Ana- logie und die bloße Differenz. Wir sind dann im Gebiete des Gegenstandes selbst; indem wir das eine sezen und ein anderes ausschließen, bestimmen und verstehen wir jenes durch dieses schaͤr- fer und genauer. Darin liegt also ein wichtiges hermeneu- tisches Huͤlfsmittel. Kann Gegensaz und Analogie in demsel- ben Sprachgebiet und in gleichem oder aͤhnlichem Gedankencom- plexus verbunden werden, so ist die Erlaͤuterung noch bedeu- tender. Dieß hermeneutische Huͤlfsmittel gilt aber zunaͤchst nur in Beziehung auf Ausdruͤcke, die im Zusammenhang des Ganzen ihren wesentlichen Ort haben, die zu Theilen des Gegenstandes gehoͤren. Tritt aber der Fall ein, daß Dunkelheiten entstehen, wenn der Schriftsteller durch Dinge außerhalb seines Gegenstan- des diesen erklaͤren will, so bleibt nur uͤbrig, daß ich suche wo von dem an einer fraglichen Stelle nur gelegentlich beruͤhrten ex professo die Rede ist, oder wo dasselbe auf analoge Weise gebraucht wird. Man muß dann aber das Verhaͤltniß zwischen dem was hier und was dort erlaͤutert ist genauer bestimmen. Verfolgen wir den aufgestellten Kanon weiter, so muͤssen wir, um organisch zu verfahren, in Beziehung auf die Elemente einer Rede, die streitig sein koͤnnen, zuvoͤrderst Haupt - und Neben - gedanken und bloße Darstellungsmittel unterschei - den . Koͤnnten wir diese Klassification uͤberall auf gleiche Weise festhalten, so haͤtten wir auch uͤberall einen sicheren Anknuͤpfungs- punkt fuͤr unser vorlaͤufiges Verfahren, wodurch wir eine all- gemeine Übersicht gewonnen haben. Allein hier tritt ein Unter- schied ein. Je logischer eine Rede ist, desto mehr tritt darin der Gegensaz von Haupt- und Nebengedanken hervor, und desto mehr ergiebt sich die Gliederung schon aus einer allgemeinen Übersicht. Gehen wir nun damit an das vollstaͤndige Verstehen, so kann da- bei der Fall haͤufig eintreten, daß es rathsam ist, die Schwie- rigkeiten in den Nebengedanken vorerst liegen zu lassen und sich vor allem des Hauptgedankens zu bemaͤchtigen und von diesem aus das Verstaͤndniß der Nebengedanken zu construiren. Wo diese logische Analyse statt finden kann, da ist das herme- neutische Verstaͤndniß leicht. Allein das ist nicht immer der Fall. Wir haben hermeneutische Aufgaben, wo von jener Operation kein Gebrauch gemacht werden kann. Am meisten entzieht sich der logischen Analyse die lyrische Poesie. In dieser herrscht eine so freie Gedankenbewegung, daß es schwer haͤlt zu bestimmen, was Haupt- und Nebengedanke und bloßes Darstellungsmittel ist. Dieß hat seinen lezten Grund darin, daß in der lyrischen Poesie, wo es darauf ankommt, die Bewegung des unmittel- baren Selbstbewußtseins auszudruͤcken, der Gedanke selbst ei- gentlich nur Darstellungsmittel ist. Sind aber alle Gedanken nur Darstellungsmittel, so verschwindet der relative Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken. Ebenso verschwindet die- ser Gegensaz nur auf entgegengesezte Weise da, wo alle Ge- danken Hauptgedanken sind, d. i. in der streng wissenschaftlich systematischen Darstellung. Hier ist Ein Gedanke die unmittel- bare Form des Ganzen, und alles Einzelne integrirender Theil desselben. So haben wir die beiden Endpunkte fuͤr unseren Kanon, wo er den geringsten Werth zu haben scheint. Aber sie sind am meisten geeignet, die Anwendbarkeit der Theorie von den entgegengesezten Punkten aus deutlich zu machen. Die hermeneutische Aufgabe ist bei der lyrischen Poesie be- sonders schwierig. Der lyrische Dichter ist in vollkommen freier Gedankenbewegung, der Leser aber nicht immer lyrischer Leser, und in dem Grade unvermoͤgend aus seinem eigenen Bewußt- sein das lyrische Gedicht nachzuconstruiren. Der aufgestellte her- meneutische Kanon beruht auf der Voraussezung eines gebun- denen Gedankenganges, ist also insofern nicht unmittelbar an- wendbar auf die lyrische Poesie, weil hier die Ungebundenheit herrscht. Wie ist nun zu verfahren? Die vorlaͤufige Übersicht eines lyrischen Produkts giebt uns zwar keinen Unterschied von Haupt- und Nebengedanken, aber sie hebt doch manches her- vor, was uns gewiß wird. Dieß ist aber zunaͤchst das was als Negation des gebundenen Gedankenganges erscheint, d. h. was sich als Sprung und als Wendepunkt darstellt. Dieß fuͤhrt aber wieder auf das Gebundene zuruͤck, wovon auch die freieste Gedankenbewegung sich nicht ganz frei machen kann. Die orga- nische Form im lyrischen Saze ist wesentliche dieselbe, ebenso die Art und Weise ihrer Verknuͤpfung, wie in der gebundenen Dar- stellung. Nur ist die Verknuͤpfung loser behandelt. Die Sprach- elemente sind dieselben, nur in verschiedenen Verhaͤltnissen. Weil aber die logische Entgegensezung und Unterordnung fehlen, so ist am besten nach empfangenem Eindruck des Ganzen sogleich ins Einzelne zu gehen. Dieß gilt aber nur von der sprachlichen Seite, nicht der psychologischen. Anders bei der systematisch wis- senschaftlichen Darstellung. Hier steht alles im Verhaͤltniß der Subordination oder Coordination der einzelnen Theile des Gan- zen. Von diesem Verhaͤltnisse bekommen wir durch die Übersicht einen allgemeinen Eindruck und dann kommt es nur darauf an das Verhaͤltniß der Sub- und Coordination im Einzelnen ge- nauer zu bestimmen. Das hat aber keine Schwierigkeit weiter, wenn wir nur die Structur der Schrift wie sie der Verfasser im Sinne hatte richtig fassen. Aber freilich eben hierin kann eine Schwierigkeit liegen. Revolutionen auf dem Gebiete der Natur- wissenschaft und der Ethik haben neue Systeme hervorgebracht und alte verworfen. Kommt man nun von der Darstellung ei- nes fruͤheren wissenschaftlichen Systems, nachdem man dieses ge- faßt hat, ploͤzlich und ohne Überlegung zu einem andern, neuen, so muß man nach geschehener Sprachconstruction so verfahren, daß man das Einzelne noch unbestimmt laͤßt bis man das Ganze gefaßt hat. Wollte man gleich Einzelnes im neuen System mit Einzelnem im vorhergehenden vergleichen, so wuͤrde man mißver- stehen, denn das Verhaͤltniß des Einzelnen ist in jedem Ganzen ein anderes. Giebt es Übergaͤnge, Beruͤhrungspunkte zwischen dem alten und neuen, so ist das Verfahren leichter, aber es bleibt doch wesentlich dasselbe, denn die Veraͤnderung beruht auf That- sachen, die entweder ganz neu sind oder ganz neue Verhaͤltnisse zeigen. Damit werden, wenn das Neue auch anfangs in der bis- herigen Sprache mitgetheilt wird, neue Ausdruͤcke hervorgebracht. Die Aufgabe besteht immer wesentlich darin, die hermeneutische Construction mit Einem Schlage hervorzubringen und das Ganze zusammenzuschauen. Hermeneutik u. Kritik. 7 Zwischen den besagten beiden End- und Grenzpunkten, von denen wir den ersteren allgemeiner als Poesie den zweiten als Prosa bezeichnen koͤnnen, liegen alle verschiedenen Arten der Com- position und die dadurch bestimmten Modificationen des hermeneu- tischen Verfahrens. Der allgemeine hermeneutische Unterschied zwi- schen Poesie und Prosa ist der, daß dort das Einzelne als solches seinen besonderen Werth haben will, hier das Einzelne nur im Ganzen, in Beziehung auf den Hauptgedanken. Von den da- zwischen liegenden Arten der Composition grenzt unter den poe- tischen die dramatische am meisten an die Prosa und in ihr will alles als Eins und so gewissermaßen auf einmal verstanden wer- den. Die eigentliche Mitte bildet von der poetischen Seite die epische Poesie. Hier ist immer ein Zusammenwirken mehrerer, aber jeder ist da in seiner Einzelheit. Da haben wir das Gebiet des Hauptgedankens, so wie sich derselbe aber im Einzelnen darstellt entsteht das Gebiet der Nebengedanken, aber um diese herum ist ein allgemeines poetisches Leben und da sind im engeren Sinn die Gedanken Darstellungsmittel. Ebenso giebt es in der Prosa eine Form, welche der lyrischen Poesie am naͤchsten liegt, die episto- larische. Hier ist das freie Aneinanderreihen der Gedanken, die kein Band weiter haben als das Selbstbewußtsein des Subjects, das bald so bald so erregt wird. Ihr eigentliches Gebiet ist in dem Verhaͤltniß gegenseitiger Bekanntschaft. Wo das nicht ist, oder nur fingirt, da geht der Brief aus seinem Gebiet heraus. Die historische Darstellung bildet wieder die Mitte von der Prosa aus. Hier sind die Hauptgedanken Theile der Darstellung, die dem Factum was dargestellt werden soll wesentlich sind. Saͤze welche sich waͤhrend jenes dargestellt wird darbieten sind Neben- gedanken und Darstellungsmittel. Das didaktische kann sich dem strengsystematischen naͤhern, aber wenn die Darstellung rhetorisch wird laͤßt es eine Fuͤlle von Nebengedanken und Darstellungs- mitteln zu. Die Frage aber auf die es hier zunaͤchst ankam war die, wie weit, wo solche Unterschiede und Abstufungen stattfinden, das her- meneutische Verfahren nach dem aufgestellten Kanon verschieden sein muß. Hier tritt nun nach dem bisherigen folgende Regel ein: Von allem was mit zu dem Hauptgedanken eines Gedan- kencomplexus gehoͤrt, ist vorauszusezen, daß es in derselben Be- deutung gebraucht wird so lange derselbe Zusammenhang fortbe- steht. Dieß gilt aber nicht von dem was nur Darstellungsmittel ist. Dieß kann in verschiedenen Stellen verschiedenen Localwerth haben. Parenthesen heben den Zusammenhang und seine Identi- taͤt nicht auf. Sie sind eben nur Unterbrechungen, nach denen sich der noch nicht geschlossene Zusammenhang wieder herstellt. Weshalb auch bei den Alten Anfang und Ende der Parenthesen sich gleichsam verlieren und unmerklich sind. Nur da, wo ein von dem Verfasser beabsichtigter wirklicher Schluß ist, ist der Zusammenhang geloͤs't und damit das Gebiet begrenzt, in welchem die Bestimmung eines unbestimmten Ausdrucks zunaͤchst zu suchen ist. Liegt aber in dem so geschlossenen Zusammen- hang keine hinreichende Indication fuͤr die Bestimmung eines fraglichen Localwerthes, so kann man, wenn sich irgendwo an- ders, wenn auch bei einem andern Schriftsteller, aber in dem- selben Sprachgebiete derselbe Gedankencomplexus findet, diesen als Ergaͤnzung gebrauchen. Bei dem Gebrauch solcher Ergaͤn- zungen oder Erklaͤrungsmittel ist aber sorgfaͤltig der Grad der Verwandtschaft zu beruͤcksichtigen, denn darnach richtet sich das groͤßere oder geringere Recht und die groͤßere oder geringere Si- cherheit des Gebrauchs. Liegt die Schwierigkeit nicht in dem Hauptgedanken, sondern in dem Nebengedanken, so muß die Be- stimmung des Localwerthes des Ausdrucks da gesucht werden, wo der Nebengedanke als Hauptgedanke erscheint, aber um sicher zu sein nicht an einer einzelnen Stelle, sondern an mehreren. Diese Regel hat ihren Grund darin, daß, je mehr ein Ausdruck Neben- gedanke ist, desto weniger vorauszusezen ist, daß er in seiner gan- zen Bestimmtheit genommen ist. Dieß hat einen psychologischen Grund. Bei dem Verfassen einer Schrift ist der Schriftsteller von Vorstellungen begleitet, die sich ihm neben dem Hauptgedan- 7* ken mehr oder weniger stark aufdraͤngen. Diese Begleitung von Vorstellungen ist durch die Eigenthuͤmlichkeit des Schriftstellers bedingt und so haͤngt davon auch ab, wie Nebengedanken in den Zusammenhang hineinkommen. Je mehr diese Eigenthuͤmlich- keit bekannt ist, desto leichter wird es aus dem bekannten Ge- sammtwerthe eines Ausdrucks den Localwerth desselben als Neben- gedanke auszumitteln. Es kann ein Schriftsteller wohl seine Hauptgedanken klar und bestimmt geben, aber mit den Nebenge- danken ist er nicht genau, weil die begleitenden Vorstellungen in seinem gewoͤhnlichen Leben zu keiner vollen Bestimmtheit gelan- gen, sondern Andeutungen bleiben; so kann und will er auch dem Ausdruck keine groͤßere Bestimmtheit geben, als die Vorstellung hat. Bei manchen Schriftstellern stehen die Nebengedanken in ei- ner objectiven Verwandtschaft mit dem Hauptgedanken. So bei denen, die logisch zu verfahren gewohnt sind. Überhaupt je lo- gischer jemand denkt und schreibt, desto mehr treten die Neben- gedanken zuruͤck. Je unlogischer aber, desto leichter kann das fremdartigste, fernste, wenn nur einige Analogie stattfindet, erwar- tet werden. Man wird also bei den logischen Schriftstellern ge- noͤthigt, die Nebengedanken in Beziehung auf die Hauptgedanken genauer zu fassen, waͤhrend man bei den andern, je fremdartiger die Nebengedanken sind, desto weniger Ursach hat, es damit ge- nau zu nehmen. Aus dem allen aber folgt, daß hier die herme- neutische Operation auf die psychologische Seite hinuͤbergreift. — Hat die Art wie ein Sprachelement in einem Nebengedanken ge- braucht wird, etwas constantes, wovon das Maximum die solen- nen Ausdruͤcke sind, so ist um so weniger Schwierigkeit und um so mehr Sicherheit. Je weniger ein Gegenstand schon in der allgemeinen Vorstellung fixirt ist, desto weniger sind solenne Aus- druͤcke zu erwarten. Dabei aber ist zu beachten, je allgemeiner ein solenner Ausdruck geworden ist, desto mehr verliert er an In- teresse, desto leichter geht man daruͤber hinweg. So veralten solenne Formeln und verlieren den Werth. Versirt ein Schrift- steller in solchen veralteten solennen Formeln, so wird er altmo- disch. Hier tritt also ein verschiedener Werth hervor und in Be- ziehung darauf folgende Regel: Je haͤufiger in gewissen Combi- nationen ein Nebengedanke und sein Ausdruck vorkommt, desto groͤßer ist die Sicherheit und Leichtigkeit des Verstaͤndnisses; je mehr aber diese waͤchst, nimmt der Werth der Ausdruͤcke ab. Des- halb ist eine richtige Abschaͤzung des jedesmaligen Werthes noth- wendig. — Die obengegebene Regel fuͤr die Auffindung der Local- werthe der Nebengedanken, nemlich zu vergleichen, wo dieselben als Hauptgedanken vorkommen, wo sie ihren eigentlichen Ort ha- ben, ist nur da anwendbar, wo die Nebengedanken in einer ge- wissen Klarheit und leicht hervortreten, nicht aber da, wo sie an der Grenze des klaren Bewußtseins stehen und ins Verworrene hineinstreifen. In diesem lezteren Falle ist ein indirectes Verfah- ren nothwendig. Man muß nemlich fragen, in welcher Richtung hat wohl der beigebrachte Nebengedanke zur Wirkung des Ganzen beitragen koͤnnen? Hat man das gefunden so kann man die obige Regel anwenden und sagen, aus dem oder jenem paralle- len Complexus heraus hat der Verfasser den Nebengedanken mit seinem Ausdruck herausgenommen und in dem bestimmten Sinn gebraucht. Dieß fuͤhrt zu einer genaueren Betrachtung der fuͤr die her- meneutische Operation so wichtigen Verwandtschaftsverhaͤltnisse der Begriffe und ihrer Bezeichnungen. Wir unterscheiden die sprach- liche und die logische Verwandtschaft. Die erstere ist zwiefacher Art einmal die zwischen Stammwoͤrtern und abgeleiteten, sodann die Collateralverwandtschaft zwischen den abgeleiteten Woͤrtern desselbigen Stammes. Ist der Stamm sicher und die Ablei- tungsform bekannt, so ist das Verfahren das eines Calcuͤls; denn wir haben im Stamm das allen Gemeinsame, die Einheit, und in den Ableitungsformen das Gesez der Differenzen. Laͤßt sich der Stamm zu einer gegebenen Sippschaft nicht finden, es sind aber abgeleitete Woͤrter eines anderen Stammwortes gege- ben, dessen Sprachgebrauch ich dem fraglichen aͤhnlich weiß, so kann ich auch diese als erlaͤuternde Verwandtschaft gebrauchen. Allerdings scheint das ein bestimmtes Verhaͤltniß vorauszusezen. Finde ich fuͤr den Gebrauch eines Stammwortes in dem Sprach- gebiet wo es zu suchen ist keine Analogie, und ist das Stamm- wort nicht gebraucht wie sein Abgeleitetes, so ist in Beziehung auf die Differenz der Zeit ein Archaismus anzunehmen, in Be- ziehung auf den Ort ein Provinzialismus oder Idiotismus. Viel weiter ist der Gebrauch der Collateralverwandtschaft. Bei den logischen Verwandtschaften muͤssen wir zuruͤckgehen auf den Gegensaz zwischen allgemeinen und besonderen Vorstellun- gen. Woͤrter die Begriffe bezeichnen, welche von demselben hoͤ- heren Begriffe abgeleitet und einander coordinirt sind, sind ver- wandt. Das sezt eine Bildungsform der Vorstellungen durch Entgegensezung aus einem Gemeinsamen voraus. So entsteht, wenn auf das zum Grunde liegende Princip der Entgegensezung zuruͤckgegangen wird, die Erklaͤrung aus Entgegengeseztem. Wenn ein Ausdruck, den ich nur als allgemeine Vorstellung zu halten weiß wo er steht, mir dunkel ist, d. h. nicht auf alle ihm coor- dinirten, mit ihm aus Einem hoͤheren Begriffe abgeleiteten fuͤhrt, so kann ich nur zum Verstaͤndniß gelangen, wenn ich alle Vor- stellungen, die durch Theilung und Entgegensezung entstanden sind, vor Augen habe, denn damit habe ich dann das Getheilte selbst. Der Complexus aller Theile wird das Getheilte selbst und die vollstaͤndige Formel fuͤr die Grundeintheilung enthalten muͤs- sen. Damit kommt man aber oft in Verlegenheit. Fehlt die Er- klaͤrung eines allgemeinen Ausdrucks, so ist das dasselbe, als wenn es eine hermeneutische Aufgabe fuͤr einzelne Faͤlle waͤre. — Man ist z. B. uͤber die bestimmte Grenze zwischen Animalischem und Vegetabilischem noch nicht einig. Kommt nun in einem Schrift- steller das Wort Thier vor eben in der Grenzregion zwischen Thie- rischem und Vegetabilischem, so ist der Ausdruck ohne eine be- stimmte allgemeine Erklaͤrung dunkel. Fehlt diese Erklaͤrung und ich soll sie suchen, so kann ich sie nur finden, wenn ich alles was den Ausdruck erschoͤpft in einem logischen Complexus vor mir habe. Daraus aber ergiebt sich, daß sich nicht alles aus dem Entgegengesezten leisten laͤßt, so bald nemlich, wie in dem an- gegebenen Falle die Grenze, das Prinzip des Gegensazes, nicht vollkommen bestimmt ist. Dies fuͤhrt darauf, ob nicht auch eine andere Verwandtschaft Statt finde, als die durch Gegensaz? Al- lerdings! Es giebt Verwandtschaften, welche durch Differenzen (Unterschiede) bestimmt sind, die keine Gegensaͤze sind, keine aus- schließenden. Besteht z. B. kein reiner Gegensaz zwischen Thier und Pflanze, und muͤssen wir sagen, beide seien Formen des Lebens durch unmittelbaren Übergang verbunden, so werden wir wohl eine Menge Differenzen wahrnehmen, die zwar auf bestimmte Gegen- saͤze fuͤhren, aber rein quantitative. So giebt es Gebiete wo der qualitative Gegensaz unter den Vorstellungen dominirt, und solche wo die Übergaͤnge (quantitative Differenzen). Auf dem Farben- gebiete z. B. haben wir wol gewisse Gegensaͤze, aber sie werden von dem Übergange beherrscht; wenn wir auch bestimmte Aus- druͤcke haben fuͤr das, was in die Mitte faͤllt, es giebt immer Far- ben, die an der Grenze dem einen und dem andern Gebiete zuge- schrieben werden koͤnnen. Je unmittelbarer der Übergang ist, desto groͤßer ist die Verwandtschaft. Diese Art der Verwandt- schaft ist schwerer zu behandeln, als die, welche durch reinen Ge- gensaz entsteht. Es kommt nemlich dabei in Betracht, daß, wie es eine verschiedene Art zu sehen giebt, so auch eine Verschieden- heit der Vorstellung von einem und demselben Object. Wo eine solche Verschiedenheit stattfindet, da muß sie bei der Erklaͤrung eines Ausdrucks aus der Verwandtschaft immer beruͤcksichtigt wer- den. Dieß haͤngt mit unserem Princip zusammen, daß alles Ein- zelne nur aus dem Ganzen zu verstehen ist. Alle Vorstellungen die in einem Complexus durch Gegensaͤze verbunden sind bilden ein Ganzes; aber ebenso jeder Complexus von Übergaͤngen. Soll dabei Einzelnes aus der Verbindung mit einem andern Schrift- steller erklaͤrt werden, so muß zuvor Gewißheit sein, daß der an- dere dieselbe Art zu sehen, dieselbe Art des Vorstellens habe. Betrachten wir in dieser Hinsicht die verschiedenen Charaktere der Sprachelemente, so werden wir, die Sache im Großen ange- sehen, finden, daß das Hauptwort die Region ist, worin der Ge- gensaz dominirt, das Zeitwort die Region, worin die Übergaͤnge. Denn das Hauptwort schließt alle mir vorkommenden bestimmten Formen des Seins, die Natur oder die Kunst mag sie hervor- gebracht haben, in sich. Jene sind aber der beiweitem groͤßte Theil dieser Region. Die Verba Thaͤtigkeiten bezeichnend haben schon dadurch ihre Richtung auf die Übergaͤnge, also auf Diffe- renzen die keine Gegensaͤze sind. Hier nur im Allgemeinen die Regel, daß viel groͤßere Vorsicht noͤthig ist bei Erklaͤrung eines Wortes aus bloßer Differenz, als aus reiner Entgegensezung, denn hier haben wir es mit objectiv bestimmtem zu thun, womit zusammenhaͤngt, daß die Bezeichnung des Entgegengesezten in der Sprache viel fester steht. Aber die obige Beziehung der verschiedenen Regionen des Haupt- und Zeitworts gilt nur im Großen, denn wir finden, daß bald Zeitwoͤrter von Hauptwoͤrtern, bald diese von jenen abgeleitet werden. Sind nun dieß die beiden Hauptrichtun- gen in der Entwicklung des Vorstellungsvermoͤgens, so folgt, daß die Auslegung sicherer ist, wo die Sprache in ihrer Hauptform die Vorstellung rein erschoͤpft; dann wird die Sprache selbst die Indication auf das eine und andere sein; je nachdem sie aber schwankt, muß auch die Auslegung schwanken. Im Hebraͤischen z. B., wo allgemein die Voraussezung gilt, daß alle Stammwoͤr- ter Zeitwoͤrter seien und alle Nomina abgeleitet, wird die Ausle- gung eben wegen dieser einfachen Richtung der Sprache in diesem Stuͤcke ungemein erleichtert. Wo aber beide Richtungen in der Sprachbildung sind, da fehlt auch die bestimmte Indication in der Sprache selbst, und muß ein großer Reichthum von Erklaͤ- rungsmitteln gegeben sein, um sicher verfahren zu koͤnnen. Hat man nun alle Ausdruͤcke beisammen, die zusammen ein Ganzes bilden, die aber durch Modificationen, welche sich immer auf einen gewissen Gegensaz bringen lassen, verschieden sind, kann man sie dann auf eine gewisse Weise ordnen und den Werth derselben zu einander bestimmen, und kann man dann auch sagen, in dem Sprachgebiete in welchem man zu thun hat, kommen alle Aus- druͤcke vor und der Schriftsteller gebraucht sie alle, so kann man den Localwerth aus dem Schriftsteller selbst bestimmen. Ist aber die Schreibweise anderer Art, so ist der Kreis der in der Schrift selbst gegebenen Erklaͤrungsmomente enger und man muß daruͤber hinausgehen. Was nun die Gedanken betrifft, welche in einem gegebenen Complexus nur Darstellungsmittel sind, so ist zuerst alles ins Auge zu fassen, was im Allgemeinen durch den Ausdruck Ver - gleichung bezeichnet wird. Darin liegt, daß eine Vorstellung aus einem andern Gebiete gebraucht wird, um eine in dem be- stimmten Complexus liegende ins Licht zu stellen. So ist sie dem Complexus an sich fremd, nicht um ihrer selbst willen da, sondern nur in Beziehung auf das Verglichene. Dieß kann man aufs engste und weiteste denken. Jede durchgefuͤhrte Allegorie ist ein solches Darstellungsmittel, obwohl sie selbst wieder ein ganzer Complexus von Vorstellungen ist. Es gehoͤrt dahin aber alles, was wir Pa- rallele, Gleichniß nennen, ja weiter noch alles Erlaͤuternde, also auch das Beispiel, sofern es als Einzelnes nicht fuͤr sich ist, son- dern nur zur Erlaͤuterung des Allgemeinen. Wiederum kann bei den Historikern das Allgemeine, eine Maxime, Darstellungsmittel sein, wodurch angegeben wird, aus welchem bestimmten Ge- sichtspunkt das Einzelne was erzaͤhlt wird zu betrachten sei. Wollte man solche Maximen zur Charakteristik des Historikers zusammenstellen, so wuͤrde man Unrecht thun. Das engste von solchen Darstellungsmitteln ist der bildliche Ausdruck, wo der Inhalt des Sprachelements ein fremdes ist, wenn wir es im unmittelbaren Sprachwerth nehmen. Aber haͤu- fig will der Redende gar nicht einmal, daß ein solcher Ausdruck in seinem eigentlichen Sprachwerth gedacht werde. Es fixiren sich dergleichen Ausdruͤcke oft in der Sprache, so daß ihr eigent- licher Werth gar nicht mehr mit gedacht wird. Dieß ist der ganze Umfang der Darstellungsmittel, der all- gemeine Typus ist die Vergleichung, die beiden Endpunkte die ausgefuͤhrte Allegorie und der einfache bildliche Ausdruck. Ist nun ein solcher Ausdruck im Zusammenhange nicht un- mittelbar klar, sondern vieldeutig, so entsteht eine hermeneutische Aufgabe, wobei wir mehrere Faͤlle zu unterscheiden haben. Was zuerst den Fall betrifft, wo bei solchen bildlichen Ausdruͤcken ihr eigentlicher Sprachwerth nicht mitgedacht werden soll, so ergiebt sich wol unmittelbar, daß der obige Kanon zur Bestimmung der Nebengedanken (nemlich aus den Stellen, wo die- selben als Hauptgedanken erscheinen) hier nicht angewendet wer- den kann. Denn, wenn der eigentliche Sprachwerth nicht mitge- dacht werden soll, so kann ich den bildlichen aus diesem nicht er- klaͤren. Nun aber giebt es solenne bildliche Ausdruͤcke. Gewisse Gegenstaͤnde haben gewisse Complexe von bildlichen Ausdruͤcken, durch welche dieselben in gewisser Beziehung dargestellt werden. Diese streifen an die eigentlichen Ausdruͤcke an, sind aber von ih- rem eigenthuͤmlichen Sprachwerth so entfernt, daß sie von hier aus in ihrem Verhaͤltnisse zu dem, was sie erlaͤutern sollen, nicht verstanden werden koͤnnen. Man spricht z. B. bei einem Ge- maͤlde vom Tone, was aus der Musik, von Motifen, was aus der Poesie genommen ist, und das ist wechselseitig. Wo nun solche Ver- wandtschaft eintritt, da liegt der Erklaͤrungsgrund im Identischen, wie eben dieß die Ursach ist. Aber das ist gerade das Gebiet, wo die hermeneutische Operation am schwersten ist. Musik, Malerei, Poesie sind als Kuͤnste verwandt. Rede ich in der Poesie von Farbe, in der Malerei vom Ton, so ist der Ausdruck fuͤr die ver- schiedenen Kuͤnste derselbe. Aber der Sprachgebrauch hat sich an- ders gestellt, fuͤr ihn ist der Ton nur Element der Musik, nicht der Malerei. Es mußte also der Ausdruck erst eine Erweiterung erfahren, ehe er auf ein fremdes Gebiet uͤbertragen werden konnte. Es moͤgen solche Ausdruͤcke oft gebraucht werden, ohne daß der Gedanke recht zur Klarheit gekommen. Aber wo solche Übertra- gungen stattfinden, muß die Vergleichung auf einer Verwandt- schaft beruhen, einer nachweislichen, denn sonst waͤren die bildlichen Ausdruͤcke voͤllig willkuͤhrlich und wir koͤnnten sie nicht verstehen. Um von hier aus das ganze Gebiet uͤbersehen zu koͤnnen, unterschei- den wir zwei Punkte. Erstlich, es giebt unter verschiedenen Com- plexen von Vorstellungen so genaue Verwandtschaften, daß das eine sich von selbst darbietet, um als Darstellungsmittel fuͤr das andere zu dienen. Zweitens aber es giebt Vergleichungen, die auf den ersten Anblick willkuͤhrlich erscheinen, also nur auf zufaͤlligen Beziehungen, nicht wesentlicher Verwandtschaft beruhen. Diese lezte Art wird nie so allgemeine Guͤltigkeit erlangen, aber unbedingt verwerflich ist sie nicht. Nur Übermaaß werde vermieden! Kommt diese Art spar- sam vor und wird dann dem Leser erleichtert, so macht sie Ef- fekt und die Rede wird praͤgnant. Es kann aber oft vorkommen, daß wir eine Vergleichung, die auf innerer Verwandtschaft be- ruht, fuͤr eine von der entgegengesezten Art halten, weil die in- nere Verwandtschaft uns nicht bekannt ist. So entstehen herme- neutische Verwirrungen, die auf falscher Schaͤzung beruhen. Da tritt die Nothwendigkeit des psychologischen Elements ein. Man muß den Schriftsteller, die Art und Weise seines Verfahrens, seiner Gedankenproduktion kennen, um zu wissen, ob er gern oder un- gern willkuͤhrliches gebraucht. Im lezteren Falle wird man immer innere Verwandtschaft als Grund der Vergleichung voraussezen. Bei willkuͤhrlichen Vergleichungen, die solenn werden koͤnnen, muß doch auch irgend ein Gemeinsames, worauf die Zusammenstellung beruht, vorausgesezt werden; es wird, wenn auch keine innere Verwandtschaft, so doch eine Parallele vorhanden sein, die indeß ein Zufaͤlliges betreffen kann. Die Hauptaufgabe ist, den Ver- gleichungspunkt zu finden und so die Vergleichung selbst zu con- struiren. Je nachdem was aus einem Complexus von Vorstellun- gen zur Erlaͤuterung gebraucht wird, fern oder nahe liegt, ist die Aufgabe schwer oder leicht. Es kommt darauf an mit dem ei- gentlichen Gehalte eines bildlichen Ausdrucks so weit bekannt zu sein, daß sich das punctum saliens der Vergleichung daraus er- giebt. Die gewoͤhnlichen lexikalischen Huͤlfsmittel reichen da nicht aus. Die Lexika koͤnnen den bildlichen Gebrauch der einzelnen Sprachelemente nur nachweisen bei technischen und solchen so- lennen Ausdruͤcken, welche auf gewisse Weise in den Sprachge- brauch uͤbergegangen sind. Man muß sich zu den Huͤlfsmitteln wenden, wo man den Gegenstand selbst in seinem ganzen Zu- sammenhange erlaͤutert findet: daraus muß man die Kenntniß desselben so ergaͤnzen, daß der Vergleichungspunkt uns nicht entgehen kann. Überhaupt reicht zum Verstehen der Ausdruͤcke, die bloß Darstellungsmittel sind, die Sprachkenntniß allein nicht aus, sondern nur in Verbindung mit den reichsten Realkenntnis- sen. Wir unterscheiden die beiden Faͤlle: Je mehr eine Verglei- chung, auf innerer Verwandtschaft beruhend, sich den solennen Aus- druͤcken naͤhert, die in der Sprache eingewurzelt sind, desto leichter ist das Verstehen. Je mehr aber das Gegentheil, je mehr will- kuͤhrliche Zusammenstellung, desto schwieriger. Aber auch die will- kuͤhrlichen Zusammenstellungen muͤssen, wenn sie Wahrheit haben sollen, auf einer objectiven Analogie beruhen, und sich darauf zu- ruͤckfuͤhren lassen. Man unterscheide dabei, ob eine solche Ver- gleichung gebraucht wird, um den Zusammenhang zu constituiren oder bloß als Verzierung. Der erstere Fall ist offenbar der schwieri- gere, zumal wenn die Analogie versteckt ist, wie z. B. bei Hamann. Die solennen Vergleichungen beruhen auf Parallelen, die in der Construction des Denkens, wie sie in die Sprache uͤbergegan- gen ist, gegeben sind. Eine der gewoͤhnlichsten, die beinahe schon in den eigentlichen Sprachgebrauch uͤbergegangen ist, ist die Pa- rallele zwischen Raum und Zeit. Hier ist die Reduction natuͤrlich und leicht. Bedeutender ist, daß materielle Veraͤnderungen, Ver- haͤltnisse durch geistige erlaͤutert werden und umgekehrt. Überwie- gend ist das leztere. Daran haͤngt sich leicht die Meinung, daß in der Sprache eigentlich keine geistigen Ausdruͤcke vorhanden gewesen. Dieß kann freilich so allgemein nicht zugegeben wer- den, aber fuͤr eine gewisse Bildungsstufe ist's unumgaͤnglich, daß Geistiges durch Sinnliches vergleichungsweise erlaͤutert wird. Das umgekehrte ist seltener, aber z. B. Klopstock hat auf ausgezeich- nete Weise Gebrauch davon gemacht. Solche Parallelen aber be- ruhen auf dem feststehenden Grundparallelismus zwischen dem Gebiete der Ethik und dem Gebiet der Physik. Hierauf gehen am Ende alle eigentlichen Vergleichungen wenn auch oft auf un- tergeordnete Weise zuruͤck. Dieß ist ihr allgemeiner Grund. Aber sie werden besonders bestimmt durch die Denkweise des Zeitalters, der Nation und der besonderen Region, wozu der Schriftsteller ge- hoͤrt, endlich durch die Verschiedenheit der individuellen Ansicht. In diese muß man sich daher versezen, um eine gegebene Ver- gleichung zu verstehen. So viel uͤber unseren hermeneutischen Kanon in Beziehung auf das materielle Sprachelement. Wenden wir nun dieß auf das N. Testam. an, so kann das besondere, was dabei zu bemerken ist, nur bestimmt werden durch die besondere Gattung, wozu die neutest. Schriftsteller gehoͤren und durch die Stufe, auf der dieselben in ihrer Gattung stehen. Wir haben im N. T. wesentlich mit zwei Hauptformen zu thun, der historischen und didaktischen. Leztere entweder in der Form brieflicher Mittheilung oder in der freien muͤndlichen Rede (die Reden Jesu und der Apostel). Die Apokalypse liegt außer dieser Eintheilung und ist besonders zu betrachten. Die briefliche Form gestattet die freiesten Combinationen und Übergaͤnge von einem zum andern. Somit enthaͤlt sie keine so vollkommenen Gliederungen, wie andere Formen. Allerdings sind die neutest. Schriftsteller in dieser Beziehung sehr ungleich. Der Brief an die Hebraͤer hat nur sehr untergeordnet den Charakter eines Briefes, er stellt sich, obwohl er den Briefcharakter nie ganz verlaͤßt, mehr als eine Rede dar, daher er auch eine bestimmtere Gliederung hat. Ähnliches gilt von dem Briefe an die Roͤmer. — Hier ist nun leicht zu bestimmen, wie weit die Identitaͤt des Zu- sammenhanges geht. Selbst in den Briefen, die Briefe im engeren Sinne sind, ist der Gedankengang oft sehr bestimmt, wenn die Apostel sich den Gedankengang ihrer Leser bestimmt vorstellten. Oft aber schrieben sie auch mit der Freiheit des vertraulichen Verkehrs. Dann ist schwerer zu bestimmen, ob eine naͤhere oder entferntere Stelle in demselben Briefe zu demselben Zusammenhange gehoͤrt. Denn haben wir auch vielleicht einen bestimmten Endpunkt eines Zu- sammenhanges, so gestattet die Briefform doch nach kurzer Unter brechung einen Ruͤckgang zu jenem, der gar nicht ausfuͤhrlich und bestimmt bezeichnet zu sein braucht. Der Fall tritt leicht ein, daß eine Stelle in Form einer Anspielung Ruͤckgang zum Vorigen ist. Das muß nun genau nachgewiesen werden. Denn wenn ich nach einer Stelle, in welcher sich ein dunkler Ausdruck findet, getrennt davon eine Stelle finde, worin derselbe Ausdruck vorkommt, ich habe aber aus der allgemeinen Übersicht das Bewußtsein, daß diese Stelle eine ganz andere sei, so darf ich auch den Ausdruck hier nicht gebrauchen zur Erklaͤrung dort. Habe ich hingegen aus der allgemeinen Übersicht die Erinnerung, der Schriftsteller sei noch in demselben Zusammenhange begriffen, so kann ich auch alles in ihm vorkommende zur Erklaͤrung gebrauchen. Ja selbst wenn der Zusammenhang abgebrochen ist und es folgt ein Anderes, dann aber eine Stelle, in der zwar das mannigfaltigste denselben Ausdruck umgiebt aber mit dem Vorigen uͤbereinstimmend, so kann ich den Ausdruck zur Erklaͤrung gebrauchen. Die Erinnerung aus der allgemeinen Übersicht schließt die nachmalige Pruͤfung nicht aus, ob der Gedankengang derselbe bleibe. Vor allem aber kehre man sich nicht an die bestehende Kapiteleintheilung, sie fuͤhrt leicht irre. Da man sich aber des Eindrucks nicht immer erweh- ren kann, den die Abtheilung macht, daß man nemlich ein An- deres erwartet, so sind zum unmittelbaren Gebrauch die Aus- gaben besser, die jene Kapiteleintheilung nicht haben. Was die historischen Schriften betrifft, so ist hier ein ganz eigener Grund, weshalb die Identitaͤt des Zusammenhanges so schwierig ist zu bestimmen, nemlich der, daß bei den meisten uͤber- wiegend wahrscheinlich ist, daß sie Zusammenstellungen von fruͤher einzeln oder in andern Verbindungen vorhanden gewesenen Frag- menten seien. Das gilt am meisten von den Schriften des Mat- thaͤus und Lukas, weniger von Markus, aber gar nicht auf die- selbe Weise von dem Evangelium des Johannes. So ensteht bei jenen die Besorgniß, daß zusammengehoͤrige historische Mo- mente getrennt sind an verschiedenen Stellen, und wiederum daß verschiedene Elemente zusammengestellt sind. Da ist dann moͤg- lich, daß eine Stelle, die wir zur Erklaͤrung einer andern gebrau- chen, gar nicht von demselben Referenten herruͤhrt, also auch aus einem ganz andern Sprachgebiete. Selbst Theile desselben Zu- sammenhangs koͤnnen aus verschiedenen Schriftstellern entnommen sein. Matth. 13. z. B. folgen hintereinander mehrere Gleichnisse uͤber die βασιλεία τ. ϑεοῦ, von denen jedes etwas anderes von dem Gegenstande hervorhebt. Wahrscheinlich sind diese Gleichnisse zu verschiedenen Zeiten vorgetragen und hier nur zusammen- gestellt. Hier ist nun zwar der Hauptbegriff, als feststehender, derselbe, aber untergeordnete Begriffe, die zu dem Hauptbegriff in keiner festen Beziehung stehen, koͤnnten in verschiedenen Gleich- nissen verschieden gebraucht sein. Dieß ist genau zu untersuchen, und dabei uͤberhaupt große Vorsicht noͤthig. Stellen, die nicht erweislich demselben unmittelbaren Complexus, demselben historischen Fragment angehoͤren, muͤssen vorsichtig als Stellen verwandter Schriftsteller, die denselben Gegenstand behandeln, betrachtet wer- den. Dieser Kanon entscheidet die streitige Frage uͤber die Com- position der Evangelien nicht, aber unter den gegebenen Umstaͤn- den ist er nothwendige Sicherheitsmaßregel, die vor falschen Re- sultaten bewahrt. Wenn die Stellen wirklich demselben Verfasser angehoͤren, werden sich auch davon Indicien genug darbieten. Nicht alles in den historischen Schriften ist historisch, manches didaktisch. Dabei entsteht die Frage, ob dieß in historischen und brieflichen Schriften verschieden sei. Der Unterschied kann nicht groß sein. Denn die muͤndliche Rede, wie sie in den neutest. Schriften vorkommt, hat dieselbe Freiheit, wie der Brief. Was die Parallelen im eigentlichen Sinn betrifft, so entsteht die Frage, wiefern in dieser Beziehung das N. T. Ein Ganzes ist und wie sich die verschiedenen Schriftsteller zu einander ver- halten? Dieß fuͤhrt auf die Frage uͤber die Inspiration. Aus dem oben gesagten aber folgt, daß auch das was bestimmt als inspirirt hervortritt auf die hermeneutische Operation von keinem wesentlichen Einfluß ist. Aber das ist hier die Frage, wie sich die Einheit und die Differenz des N. T. zu einander verhalten? Jede Sammlung, Verbindung mehrere Schriften sezt Identisches voraus. Diese Identitaͤt koͤnnte zunaͤchst die des Verfassers sein. Betreffen dann die einzelnen Schriften verschiedene Gegenstaͤnde, so haben sie keine engere Verwandtschaft weiter, als daß sie von einem und dem- selben Verfasser sind. Die Zusammenstellung ist dann nur eine aͤußer- liche, und die hermeneutische Aufgabe bloß auf das Eigenthuͤmliche des Sprachausdrucks des Verfassers gerichtet. Werden Schriften Eines Verfassers uͤber denselben Gegenstand gesammelt, so fragt sich, ob die Verwandschaft so groß ist, daß wir die verschiedenen Schriften ebenso zur Erklaͤrung anwenden koͤnnen, als waͤre alles Eine Schrift? Die Frage ist nur beschraͤnkt zu bejahen. Jeder ist in seinen Vorstellungen der Veraͤnderung unterworfen. Ist ein Gegen- saz zwischen Fruͤherem und Spaͤterem im Bewußtsein des Schrift- stellers selbst, so muß der Schriftsteller Rechenschaft davon geben und die hermeneutische Operation ist dann nicht schwer. Ist aber die Veraͤnderung auf relativ unbewußte Weise vor sich gegangen, so fehlt es an Indikationen. Kennen wir in diesem Falle die Ab- fassungszeit der einzelnen Schriften und die Entwicklungsgeschichte des Verfassers, so ist nicht schwierig zu sondern was zu der einen oder andern Periode seines Gedankenzustandes gehoͤrt. Im ent- gegengesezten Falle aber ist das Vorkommen desselben Ausdrucks in derselben Verbindung kein Beweis der Identitaͤt des Lokal- werthes, denn die Beziehungen aͤndern sich mit den Vorstellun- gen. Wir muͤssen also zuvor versichert sein, daß die Vorstellungen dieselben sind. So kommen wir wieder auf den allgemeinen Ka- non zuruͤck, daß das Einzelne nur aus dem Ganzen zu erklaͤren sei. Hier tritt nun wieder das Huͤlfsmittel der vorlaͤufigen Über- sicht ein. Daraus laͤßt sich ein Urtheil gewinnen, ob der Ver- fasser sich in seinen Vorstellungen gleichgeblieben. Darnach rich- tet sich denn das Verstaͤndniß des Einzelnen. Aber freilich erst nach vollendetem Verstaͤndniß des Einzelnen kann ich mit voller Sicherheit sagen, die Vorstellung sei dieselbe geblieben. Darin liegt eine Schwierigkeit, die nur approximativ geloͤst werden kann, indem man was man gewonnen hat nur provisorisch an- nimmt und noch nicht voͤllig feststellt. Der Fall solcher Sammlungen von Schriften und Reden desselben Verfassers ist mehrmal im N. T. Wie aber, wenn Schriften verschiedener Verfasser uͤber den- selben Gegenstand zusammengestellt werden, was fuͤr einen Werth haben diese fuͤr einander? Es giebt Faͤlle, wo Schriften von Verfassern entgegengesezter Meinung, die sich auf einander beziehen, also Streitschriften, zu- sammengestellt werden. Dieß eigenthuͤmliche Verhaͤltniß ist nach dem zu behandeln, was uͤber das Verfahren der Entgegensetzung gesagt ist. Aber selbst in diesem Falle ist immer etwas Identisches, Gemeinsames. Man streitet nicht, wenn nicht Gemeinsames vor- ausgesezt wird. Dieß ergiebt sich aus der Übersicht, woraus man auch sieht, wo der Streit Mißverstaͤndniß ist, wo die Strei- tenden uneinig scheinen, nicht aber sind. Fuͤr dieß Gemeinsame kann der eine aus dem andern erklaͤrt werden, wie das Entgegen- gesezte aus der Form des Gegensazes. Werden Schriften verschiedener Verfasser uͤber denselben Ge- genstand zusammengestellt, die nichts von einander gewußt haben, so ist auch ungewiß was unter ihnen Differentes ist, und so kann es auch sein, daß selbst die Bezeichnung der Hauptvorstellungen nicht denselben Werth hat. Um hieruͤber gewiß zu werden, muß man sich die Hauptbegriffe, also die Hauptwoͤrter und die Zeitwoͤr- ter, welche in der Darstellung wesentliche Momente sind, und die verschiedenen Nebenbestimmungen, mit denen diese Momente bei dem einen oder andern vorkommen, herausziehen und zusammen- stellen. Daraus muß sich denn ergeben, wiefern die Hauptgedan- ken und ihre Bezeichnungen dieselben sind. Ohne solche Analyse Hermeneutik u. Kritik. 8 sich auf Vergleichung einzelner Stellen einzulassen, wuͤrde nur Un- gefaͤhres geben. Dieser Fall ist der des N. Testaments. Die neutestamentischen Schriftsteller haben wenig von einander gewußt. Nimmt man 2. Petri 3, 15 und 16. und etwa Gal. 2, 11 ff. aus, so ist kein Fall, wo der eine sich auf den andern bezogen haͤtte. Auch wis- sen wir sonst wenig von der Kenntniß, die sie von einander ge- habt haben. Da ist nun große Vorsicht noͤthig und deshalb die vorherbezeichnete vorgaͤngige Analyse unerlaͤßlich, also eine vollstaͤndige Zusammenstellung der Ausdruͤcke saͤmmtlicher christlichen Vorstellungen im N. T. in ihren verschiedenen Formen, sowol der wesentlichen Subject- und Praͤdicatwoͤrter, als der wesent- lichen Nebenbestimmungen. Nur so kann man sehen, ob der Cyklus von Gebrauchsweisen bei verschiedenen Schriftstellern und in ver- schiedenen Schriften derselbe ist oder nicht. Darnach bestimmt sich auch der Gebrauch der Parallelstellen. Unbedachtes Verfahren ist hier um so gefaͤhrlicher da wir alle vor der wissenschaftlichen Behandlung schon Kenntniß des N. T. haben, aber aus dem gemeinsamen kirchlichen Leben, aus Überse- zungen, aus dem anwendenden Gebrauch der Stellen außer ih- rem Zusammenhange leicht Vorstellungen mitbringen, die an dem wahren Verstaͤndniß hindern. Diese Schwierigkeiten fielen weg, wenn wir das N. T. als etwas ganz Neues anfingen auszule- gen. Das geht nun freilich nicht. Aber um so mehr muß man darnach streben, so vorsichtig und unbefangen als moͤglich zu Werke zu gehen, und in jedem einzelnen Falle genau zusehen, wie es mit der Verwandschaft paralleler Stellen steht. Die neu- testam. Schriftsteller schließen in dieser Beziehung viele Differen- zen in sich; sie gebrauchen Ausdruͤcke in sehr verschiedenem Local- werthe, und andere die auf gewisse Gebrauchsweisen beschraͤnkt sind. Ohne hier die Totalitaͤt im Auge zu haben, werden wir Irrthuͤmer nicht vermeiden. Will man sich den allgemeinen Kanon in specielle Regeln aufloͤsen, so stoͤßt man auf die bedeutende Schwierigkeit, daß das Urtheil uͤber die Identitaͤt der Verfasser neutestam. Schriften oft sehr schwankt. So wird die Auslegung des Briefes an die He- braͤer verschieden sein, je nachdem man ihn fuͤr einen Brief des Paulus haͤlt oder nicht. Ebenso schwankt das Urtheil, ob die drei Johanneischen Briefe von Einem Verfasser sind oder nicht, und bei den Petrinischen ist derselbe Fall. Eine eigenthuͤmliche Schwierigkeit haftet uͤbrigens an den didaktischen Stellen, (Reden) in den historischen Schriften, denn hier tritt ein combinirtes Verfahren ein. Der guͤnstige Fall fuͤr die Auslegung, daß nemlich Praͤdicat und Subject einander bestimmen, tritt im N. T. oft nicht ein. So ist um so nothwendiger, sich bei der Lesung des N. T. alle Hauptgedanken in jeder Schrift und in den Schriften jedes Ver- fassers so zu vergegenwaͤrtigen, daß auch sogleich bei der Ausle- gung alles Ähnliche vor uns liegt. Allerdings muͤssen wir davon ausgehn, daß durch das ganze N. T. eine gewisse Identitaͤt der Lehren und Überzeugungen hin- durchgeht. Das Christenthum waͤre sonst kein mit sich selbst Über- einstimmendes. Allein die christliche Sprachbildung konnte doch nur allmaͤhlich zu Stande kommen. Und wie dieselben Gegenstaͤnde von den Verschiedenen verschieden verstanden werden konnten, so kann es vorkommen und kommt vor im N. T. daß dasselbe Wort von dem einen Schriftsteller so von dem andern anders gebraucht wird, ja derselbe Schriftsteller konnte seine Schreibart aͤndern. Ein merkwuͤrdiges Beispiel der Differenz in diesem Stuͤcke ist der Widerspruch zwischen Roͤm. 3, 28. und Jakob. 2, 20. Jakobus verband die beiden Begriffe διϰαιοσύνη und ἔϱγα, Paulus aber nicht, ohne daß jener die πίστις gaͤnzlich ausgeschlossen haͤtte. Der Widerspruch ist der zwischen dem gaͤnzlichen und nicht gaͤnzlichen Ausschließen. Entweder diesen Widerspruch muͤssen wir anneh- men, oder sagen, beide haben demselben Worte einen ganz ver- schiedenen Localwerth gegeben. Aber aus dem allen ergiebt sich die Nothwendigkeit, nicht bei den Worten stehen zu bleiben, son- 8* dern im Aufsuchen der Hauptgedanken und ihrer Verbindungen fortzufahren und das Verhaͤltniß zwischen den Ausdrucksweisen des einen und des andern Schriftstellers genau zu construiren Alles bisherige von S. 91. an, ist Erlaͤuterung der Saͤze von §. 10 an. S. 77 ff. . Was die Bestimmung des formellen Elements Von hier an vergl. §. 4 ff. S. 71 ff. be- trifft, so muß man dabei wieder zuruͤckgehen auf den Saz, als Verbindung von Haupt- und Zeitwort. Die einfachste Form des- selben ist die, daß das Hauptwort im Nominativ steht und das Zeitwort sich demselben anschließt. Je nachdem nun das Zeitwort personell oder temporell verschieden bestimmt ist, ist auch das Ver- haͤltniß zum Hauptwort und somit der Gehalt des Sazes ver- schieden. Dieß ist kein abgesondertes Sprachelement, sondern die allgemeine Bedingung in der Sprache, unter der die naͤhere Be- stimmtheit des Sazes allein moͤglich ist. Besteht der Saz aus mehreren Elementen, so werden da- durch die Glieder desselben unter einander verbunden, ohne daß der Saz aufhoͤrte ein einfacher zu sein. Wird dem Hauptworte etwas beigefuͤgt, wodurch ein Verhaͤltniß zu andern bezeichnet werden soll, so tritt die Praͤposition ein, oder fehlt sie die Struc- tur der andern Hauptworte. Beides kann aber auch zusammen sein. So lange wir aber eine organische Verbindung zwischen einem Hauptworte und einem Zeitworte haben, moͤgen sie auch noch so viel bestimmt sein, bleibt der Saz einfach Vergl. §. 8. S. 76 ff. . Die Verbindung der Saͤze unter einander kann eine an - reihende und eine organische sein Vergl. §. 4. S. 71 ff. . Werden zwei Saͤze organisch verbunden so daß Ein Ganzes entsteht und man bei dem einen gleich das Bewußtsein bekommt, daß er nur ein Theil des Ganzen ist, so entsteht die Periode, deren Hauptform die von Vorder- und Nachsaz ist. Die aneinandergereihten Saͤze ste- hen im Verhaͤltniß der Coordination. Wenn auch der eine Saz eine laͤngere Periode ist und der andere ein einfacher Saz, sie sind doch nur coordinirte Theile eines Ganzen. Die Sprachen sind in dieser Hinsicht verschieden. Es giebt solche, die gar kei- nes Periodenbaus faͤhig sind, oder in denen die Faͤhigkeit dazu ein Minimum ist, und wiederum solche, die dazu im groͤßeren Maaße faͤhig sind u. s. w. Daß aber der Gegensaz zwischen or- ganischer (periodischer) und anreihender Verknuͤpfung nur ein re- lativer ist, erhellt daraus, daß wenn z. B. eine sehr zusammenhaͤn- gende Periode aus dem Lateinischen in eine Sprache uͤbertragen werden soll, welche eine solche Faͤhigkeit nicht hat, nichts uͤbrig bleibt, als was dort organisch verbunden ist moͤglichst sachgemaͤß in so kleine Ganze zu zerlegen, als jene Sprache gestattet. Die Periode hat auf die Weise ihre organische Einheit verloren, aber es ist bis auf einen gewissen Grad moͤglich zu erreichen, daß die Leser dasselbe Verhaͤltniß der Theile, wie es in der organischen Periode gewollt war, zu denken im Stande sind. Waͤre der Ge- gensaz absolut, so waͤre dieß undenkbar. Es muͤßten sonst ganz verschiedene Weltverhaͤltnisse existiren. Sind wir uns aber bei aller Differenz der Sprachen doch der Identitaͤt unserer Weltver- haͤltnisse und Denkgeseze bewußt, so kann auch nicht die bloße Aneinanderreihung in der Sprache die organische Verknuͤpfung als absoluten Gegensaz ausschließen. Ja wir haben diesen rela- tiven Gegensaz in einer und derselben Sprache. Was der Eine in großen organischen Perioden darstellt, zerfaͤllt der Andere gern, er reihet lieber aneinander. Soll als moͤglich gedacht werden, daß eine bloß aneinander- reihende Form dieselbe Wirkung hervorbringt, wie die organisch verbindende, so muͤssen wir annehmen, daß die einzelnen verbin- denden Sprachelemente bisweilen auch bloß aneinanderreihenden Werth bekommen. Beide Bewegungen correspondiren einander in der Sprache, so daß die eine nicht ohne die andere zu denken ist. Allerdings ist ein bedeutender Unterschied zwischen Sprachen von geringer und großer Capacitaͤt. Aber wie die beiden entge- gengesezten Bewegungen in der Natur der Sprache liegen, so muͤssen sie auch beide in allen Sprachen vorkommen, auch in de- nen von großer Capacitaͤt. Der Werthunterschied zwischen beiden Verbindungsarten ist allerdings ein qualitativer. Die bloß anreihende macht keine or- ganische Einheit, aber die organischverbindende keine neue, sie macht nur etwas zum Theil eines andern. Dieß schließt einan- der aus, also findet ein qualitativer Werthunterschied statt. Beide Verbindungsarten koͤnnen aber einander repraͤsentiren. Stellt ein anknuͤpfendes Element eine organische Verbindung dar, so entsteht eine Emphasis. Dieß ist dann eine quantitative Verschiedenheit. Dieselbe findet statt, wenn ein organischverknuͤpfendes Element nur anreihend gebraucht, also sein Werth vermindert wird. Daß man bloß anreihende mit organischverbindenden Sprach- elementen nicht verwechselt, bewirkt schon die elementarische Sprach- kenntniß. Aber daruͤber kann Ungewißheit entstehen, ob ein Ele- ment, wovon man weiß daß es seiner Natur nach organisch ver- bindend ist, in einer Stelle nur anreihend steht. Um diese Unge- wißheit zu heben, ja zu vermeiden, muß man dem inneren Zu- sammenhange der Gedanken genau folgen, und ebendaraus das Verstaͤndniß der Folge eines neuen Sazes entnehmen Vergl. §. 8. S. 74. . Sehen wir auf die Sprachelemente, welche die Elemente innerhalb des einzelnen Sazes verbinden, so koͤnnen auch hier Un- gewißheiten und Verschiedenheiten im Verstehen eintreten. Die Sprachen unterscheiden sich in dieser Hinsicht sehr. Die einen sind reich an Flexionen der Hauptwoͤrter, andere haben gar keine und druͤcken die Beziehungen des einen zum andern durch besondere Sprachelemente aus, andere endlich haben zwar solche Flexionen aber eine gewisse Armuth darin. Eine Sprache, die bloß die Genitivflexion hat, leistet damit schon viel, weil alle gewissermaßen unmittelbaren Verbindungen dadurch ausgedruͤckt werden koͤnnen. Aber in allen andern Faͤllen muß sie zu andern Sprachelementen Zuflucht nehmen. Aber auch Sprachen mit dem groͤßten Reichthum an Flexionen haben keinen gaͤnzlichen Mangel an besonderen Sprachelementen, welche die Verbindungen inner- halb desselben Sazes bezeichnen. Wo beides zusammentrifft ist auch beides immer zusammenzufassen, die Praͤposition von ihrem Casus nicht zu trennen. In manchen Sprachen hat dieß geson- derte Element (Praͤposition), je nachdem die eine oder andere Flexion damit verbunden ist, verschiedene Bedeutungen. Es ist nicht genug, diese zu wissen. So lange die Einheit derselben nicht gefunden ist, erscheint die Differenz willkuͤhrlich, und das Verstaͤndniß ist noch nicht vollendet. Unsere Huͤlfsmittel sind in dieser Hinsicht noch weit zuruͤck. Ebenso ist es mit den Sprachelementen, wodurch Saͤze mit einander verbunden werden. In manchen Sprachen hat das Zeit- wort eine Flexion, um das Verhaͤltniß eines Sazes zu einem an- dern auszudruͤcken (Conjunctiv), und eine primitive Form, welche die Praͤsumtion fuͤr sich hat, daß der Saz ein unabhaͤngiger ist. Sind jene Formen ( modi ) reich, so kann die Sprache in demsel- ben Maaße die Partikeln entbehren. Ist eine Sprache auch an diesen arm, so ist sie uͤberhaupt wenig faͤhig, große Combinationen von Saͤzen zu ertragen. Wo besondere verbindende Sprachele- mente (Conjunctionen) und modi zusammentreten, muß auch beides zusammengenommen werden. Doch hat jedes seine Einheit fuͤr sich, wie die Praͤposition und die Casus. Aber eben hier liegt fuͤr die Auslegung oft große Schwierigkeit, nemlich darin, daß die Einheit der Sprachelemente nicht unmittelbar zur Anschauung kommt. Bei den formellen Elementen ist dieß schwieriger, als bei den materiellen. Die Differenzen in den verschiedenen Sprachen machen die genauen Übertragungen oft sehr schwierig. Die Si- cherheit, daß man richtig verstanden und die Verbindung gemacht hat, die der Verfasser wollte, kann oft erst spaͤter kommen, wenn man den Zusammenhang des Ganzen gefaßt hat. Das wichtigste Huͤlfsmittel ist also auch hier die vorhergehende Übersicht. Dieß gewaͤhrt um so groͤßere Sicherheit, je mehr die Gedankenverbin- dung organisch ist. Die Verbindung ist aber um so mehr orga- nisch, je mehr der Gedankengang logisch oder dialektisch ist. In Beschreibungen und Erzaͤhlungen dagegen herrscht die Aneinander- reihung vor. Je mehr das freie Spiel der Gedanken dominirt, desto groͤßer wird die Ungewißheit der Verbindung, ja es kommen Faͤlle vor, wo vollkommene Sicherheit unmoͤglich ist. Die Aneinanderreihung kann zufaͤllig sein und zwischen ganz zufaͤlligen Saͤzen, die uͤbrigens wieder in sich selbst organische Verknuͤpfungen haben koͤnnen. So wenn ein Saz durch Beispiele erlaͤutert werden soll und Beispiel an Beispiel sich anreihet. In dem Totalzusammenhange hat die bloß anreihende Verbindung un- tergeordneten Werth. Kommt dann innerhalb dieser lezteren die or- ganische vor, so hat diese fuͤr den Totalzusammenhang ein Mini- mum von Einfluß. Es ist oft sehr schwierig, den Umfang und das Verhaͤltniß der Verbindungen richtig zu bestimmen. Gesezt auch, eine Rede bestehe aus moͤglichst einfachen Saͤzen, so werden diese fuͤr den Totalzusammenhang ungleichen Werth haben, die einen Hauptge- danken, die andern Nebengedanken sein. Ist nun ein formelles Element der Verbindung vorhanden, so fragt sich, ob es aneinan- derreihend oder organisch verknuͤpfend ist, ob einzelne Saͤze oder groͤßere Abschnitte verbindend? Das muß unterschieden werden. Verwechselung bringt Verwirrung und Mißverstaͤndniß. Hier trifft die Bestimmung des materiellen (in Beziehung auf den In- halt) und formellen Elements in dem Geschaͤft der allgemeinen Übersicht zusammen. Weiß man aus dieser Übersicht, daß Neben- gedanken vorkommen, so weiß man auch, daß das formelle Ele- ment Verbindung der einzelnen Saͤze ausdruͤckt; finden sich aber Hauptgedanken einander coordinirt, so weiß man auch, daß ein- Abschnitte mit einander verbunden werden. In den Verbindungen selbst treten folgende innere Differen- zen hervor. Die verbundenen Saͤze koͤnnen gleich sein oder un- gleich, d. h. sich gleichmaͤßig auf ein Gemeinschaftliches beziehen oder nicht. Sowohl als auch bezeichnet das Verhaͤltniß der Gleichheit, Nicht nur sondern auch Steigerung. Oft uͤber- laͤßt der Schriftsteller einfach aneinanderreihend dem Leser die naͤhere Bestimmung des Verhaͤltnisses. Sieht man alsdann, daß der Verfasser will, daß das Verhaͤltniß auf die eine oder andere Weise gefaßt werden soll, so bekommen die einzelnen Sprachele- mente einen emphatischen Werth. Dafuͤr aber muß dann in der Rede eine besondere Hindeutung sein. Es kann aber auch um- gekehrt eine Steigerung gebraucht werden, ohne daß eine wirklich da ist. — Aber auch der Fall kann eintreten, daß der Schrift- steller zwei Sachen fuͤr den Zusammenhang der Rede ganz auf gleiche Weise vortraͤgt, er denkt aber eine Steigerung, von der er meint, sie werde dem Leser von selbst einfallen. Dieß ist dann die subjective Verbindung, die nur in der Gedankenthaͤtigkeit liegt, waͤhrend die objective sich auf ein Sachverhaͤltniß bezieht. Da keine Sprachelemente vorhanden sind, um diese Verschiedenheit be- sonders zu bezeichnen, so entstehen Schwierigkeiten und die Ge- fahr der Verwechselung. Dem organisch verbindenden Sprachelemente eigenthuͤmlich ist die Duplicitaͤt des positiven und negativen Zusammenhangs. Je- ner stellt sich am allgemeinsten dar im Causalverhaͤltniß, dieser im Verhaͤltniß des Gegensazes. Beide, von entgegengeseztem Werthe, koͤnnen und duͤrfen nicht verwechselt werden. Aber jedes fuͤr sich kann subjectiv und objectiv sein. Subjectiv nemlich, wenn der Redner z. B. in der Causalform angiebt, warum er das Vorige gesagt oder gerade so ausgedruͤckt habe. Fuͤr den Unterschied des subjectiven und objectiven Causalverhaͤltnisses giebt es keine ver- schiedenen Sprachelemente. Oft freilich laͤßt sich beides gleich un- terscheiden, oft aber ist auch Verwechselung leicht. Die organische Verbindung kann so lose sein, daß sie am Ende in die bloße Aneinanderreihung uͤbergeht, in welchem Falle die Sprachelemente in der Anwendung verringerten Werth bekom- men. Man darf nicht sagen, die Elemente haͤtten beiderlei Werth. Das hieße die Sprache so verwirren, daß jede richtige Gedanken- stellung aufhoͤrt. Nur das darf man sagen, daß weil beide Arten der Verbindung nicht streng entgegengesezt sind Übergaͤnge stattfinden. Aber eben hieraus, aus der verschiedenen Auffassung des formellen Elements, entstehen weit mehr Schwierigkeiten, als aus der verschiedenen Auffassung des materiellen. Die wahre Huͤlfe liegt auch hier in der Übersicht des Gesammtzusammenhan- ges, in welchem materielles und formelles Element einander be- stimmen. Wir finden fast uͤberall wenn gleich nach den verschiede- nen Sprachen in verschiedenen Verhaͤltnissen unverbundene Saͤze Vergl. §. 7. . Die unverbundenen Saͤze koͤnnen entweder Neues anfangen oder nicht. Im ersteren Falle hilft man sich durch Abschnitte, Überschriften, die materiell den Inhalt, formell die Abtheilung bezeichnen. Im zweiten Falle kann die Unverbundenheit darin ihren Grund haben, daß der vorige Saz sich zu den folgen- den verhaͤlt wie Ankuͤndigung und Übersicht. Dieß kann ange- deutet werden durch Formeln, wie folgender Maßen und der- gleichen. — Das Unverbundene, was nichts Neues ist, kann an- gereihet oder organisch verknuͤpft gedacht werden. Oft ist dieß leicht zu entscheiden, wenn die materiellen Elemente die Indikation geben. Aber in dem Maaße, in welchem der Werth aus dem materiellen Elemente, welches dann das dominirende ist, nicht er- faßt werden kann, ist die Auslegung schwierig. Hier greift nun die grammatische Auslegung in die psychologische uͤber. Es kommt auf die Art, die Gattung der Composition an. Jede Gattung hat darin ihre eigenen Regeln, und in derselben Gattung sind wieder individuelle Differenzen, indem der Eine mehr der objecti- ven Verbindung folgt, der Andere mehr die subjective zulaͤßt. Die subjectiven Verbindungen laufen darauf hinaus, daß der Schrift- steller seine Gedankenreihe vor dem Leser mehr entstehen laͤßt. Aber eben dieß gestattet die eine Gattung der Rede mehr die an- dere weniger, die eine verlangt es, die andere stoͤßt es ab. Aber in allen Gattungen ist immer ein freier Spielraum fuͤr die Ei- genthuͤmlichkeit des Schriftstellers. Ebenso haͤngt es von der Sprache und dem Sprachgebrauch des Schriftstellers ab, wie haͤu- fig und in welcher Art er nur anreihet oder organisch objectiv oder subjectiv verknuͤpft. Von der Seite beruht das ganze Ver- fahren auf der richtigen Auffassung der formellen Sprachelemente, wie diese den Totalzusammenhang bestimmen. Die Anwendung des Gesagten auf das N. T. Vergl. §. 5. betreffend, so geht aus dem Bisherigen hervor, daß dabei alles darauf an- kommt, die Einheit des jedesmaligen Ganzen richtig zu fassen. In dieser Beziehung sind wir mit dem N. T. in einer sehr uͤblen Lage. Von den historischen Schriften ist es gar sehr zwei- felhaft, ob sie wirklich ein Ganzes sind und wahre Einheit haben. Sie sind groͤßtentheils aus Schriften zusammengesezt, welche fruͤ- her Ganze gewesen. Waͤre dieß nun ausgemacht und waͤren die Grenzen der fruͤher fuͤr sich bestandenen Theile bestimmt, so waͤre die Sache leichter abgemacht. Dieß ist aber nicht so. Man muß also davon ausgehen, daß je einfacher die geschichtliche Darstellung ist, desto mehr herrscht darin das chronikenartige Aneinanderreihen. In diesem Aneinanderreihen unterscheiden wir aber ein zwiefaches Moment, einmal das Aneinanderreihen der einzelnen Erzaͤhlungen, sodann in diesen das Aneinanderreihen der einzelnen Begebenhei- ten. Sollen zum Behuf der Auslegung die Grenzen der kleine- ren Ganzen, woraus unsere drei ersten Evangelien wahrscheinlich zusammengesezt sind, genauer bestimmt werden, so entsteht die Schwierigkeit, daß diese Aufgabe nicht geloͤst werden kann vor der Auslegung, sondern nur mittelst derselben. Die verschiedenen Physiognomien jener beiden Momente der Aneinanderreihung in den Evangelien muͤssen hermeneutisch erforscht werden. Dabei wird aber haͤufig gefehlt, daß man zufruͤh abschließend sagt, findet sich eine gewisse Formel (des Anfangs und Schlusses) wiederkehrend bei manchen Erzaͤhlungen, so ist dieß ein Zeichen, daß ein neues hi- storisches Ganzes beginnt. Diese Voreiligkeit versperrt den Weg zur Wahrheit. Man muß erst das Verhaͤltniß des Einzelnen zum Ganzen vollstaͤndig erkannt, das Ganze analysirt, und alle mate- riellen Vorkommenheiten gepruͤft haben, ehe man zu einem sicheren Resultate gelangen kann. Sind unsere drei ersten Evangelien historische Zusammensezun- gen der bezeichneten Art, so erklaͤrt sich, wie es kommt, daß das Zeit- maaß darin fast gar nicht angegeben ist. Werden einzelne Erzaͤh- lungen von Andern, als Augenzeugen, aneinandergereiht, so kann das Zeitverhaͤltniß, wenn es nicht besonders angegeben ist, dem Leser nicht klar werden. Waͤren die Verfasser der Evangelien Augenzeugen gewesen, so wuͤrden sie auch das Zeitverhaͤltniß der einzelnen an- einandergereiheten Erzaͤhlungen haben hervortreten lassen. Ebenso ist es mit dem Localverhaͤltniß. Auch dieß ist in den drei ersten Evangelien dunkel. Um so schwieriger wird es, eine richtige An- sicht von dem Verhaͤltniß des Einzelnen in ihnen zum Ganzen zu gewinnen. Anders im Evangelium des Johannes. Hierin ist auch keine fortlaufende Geschichtserzaͤhlung, aber man ist dabei nie in solcher Verlegenheit. Wenn der Evangelist auch das Zeit- verhaͤltniß nicht immer unmittelbar angiebt, so sind doch die Gren- zen der einzelnen Erzaͤhlungen, sowohl was die Zeit als den Ort betrifft, angedeutet, wenigstens mittelbar. Bei den didaktischen Theilen des N. T. haben wir ge- nauer zu unterscheiden zwischen den didaktischen Stellen in den Evangelien und der Apostelgeschichte und den eigentlich didaktischen Schriften, den Briefen. Jene sind offenbar anders zu behandeln als diese. Diese sind jede ein Ganzes fuͤr sich, von jenen ist's zweifelhaft, sie koͤnnen Zusammenstellungen von Gnomen, von einzelnen abgerissenen Ausspruͤchen sein. Da findet denn also nur Aneinanderreihung statt, sofern in einem zusammenhaͤngenden Flusse der Rede nicht so verschiedene Gedanken zusammentreten koͤnnen. Nimmt man dieß nicht an, sondern eine verborgene or- ganische Verknuͤpfung, so entsteht ein ganz anderes Verfahren und Verschiedenheit der Meinung uͤber das Verhaͤltniß des einen zum andern ist unvermeidlich. Ebenso kann zweifelhaft sein, ob eine didaktische Stelle in den Evangelien nur Auszug ist aus einem groͤßeren Ganzen. Dieß kommt besonders bei dem Evangelium des Johannes in Betracht, worin Dialogen vorkommen, von de- nen man sagen muß, daß sie fuͤr das urspruͤnglich gehaltene Ge- spraͤch zu kurz und in ihren Resultaten zu wenig befriedigend sind. Das Gespraͤch mit Nikodemus z. B. ist gewiß nur ein Auszug aus dem wirklich gehaltenen, woraus nur gewisse Hauptpunkte hervorgehoben sind. In solchen Faͤllen wird die Auslegung sehr schwierig, weil man nicht weiß, was unmittelbar zusammengehoͤrt und welches die Mittelgedanken sind, also die einzelnen Elemente und ihre Verbindung nicht leicht mit Sicherheit abschaͤzen kann. Unter anderer Voraussezung waͤre die Auslegung eine ganz an- dere. Dasselbe gilt mit groͤßter Wahrscheinlichkeit von vielen nicht dialogischen Reden Christi, daß sie nur Auszuͤge sind. Je nach- dem man nun Auszuͤge annimmt oder Zusammenstellung ur- spruͤnglich nicht zusammengehoͤriger Theile, ist das hermeneutische Verfahren sehr verschieden. Suche ich hier bloß nach dem Schluͤs- sel zur bloßen Aneinanderreihung, so ist dort die Aufgabe, die Fu- gen der Zusammensezung, die Momente der urspruͤnglichen orga- nischen Verbindung des Ganzen ausfindig zu machen. Aber hier findet wieder ein Kreis statt. Die Interpretation wird durch die eine oder andere Voraussezung bestimmt, diese umgekehrt wieder durch jene. Die Aufgabe kann nur approximativ geloͤst werden durch Übersicht des gesammten Inhalts, wobei wieder die gegen- seitige Bedingung des materiellen und formellen Elements in Be- tracht kommt. Bei den eigentlich didaktischen Schriften, den Briefen, ist zu unterscheiden, ob sie mehr oder weniger eigentliche Briefform ha- ben und welche. Es ist ein anderes Briefe zu schreiben in Bezie- hung auf schon vorhandene und bestimmte Verhaͤltnisse, und ein an deres, in Beziehung auf erst zu stiftende (der Brief an die Roͤmer), oder an ein noch unbestimmtes Publicum (Brief an die Hebraͤer). Zur ersten Rubrik gehoͤren die meisten neutestamentlichen und sind in sofern eigentliche Briefe. Ein anderer bedeutender Unterschied liegt in der Composition selbst. Wenn die Anwendung der allge- meinen Regeln uͤber die Verbindung um so schwieriger ist, je we- niger die Verbindung die eines organischen Ganzen ist, so ist die Auslegung der Briefe des N. T. in dieser Hinsicht immer schwie- rig, weil die Briefform an und fuͤr sich gar nicht zum Organi- schen neigt. Nur da ist Ausnahme zu erwarten, wo eine be- stimmte Aufgabe zu loͤsen ist, in welchem Falle der freie Erguß, der dem Briefe eigen ist, beschraͤnkt wird. Daher in einigen Paulinischen Briefen selbst kein geringer Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Theile. In jenem ist durch die Verhaͤltnisse ein bestimmtes postulirt, eine bestimmte Aufgabe zu loͤsen. Nach Verhaͤltniß von Zeit und Raum folgt dann im zweiten Theile ein freierer Erguß. Oft sind diese Theile bestimmt unterschieden, oft nicht. Im Allgemeinen aber ist das hermeneutische Verfahren in jedem ein anderes. Im ersten Theile herrscht die organische Ver- knuͤpfung, im zweiten die freiere Aneinanderreihung und das Unverbundene. In eigentlichen Briefen von freiem Erguß, wo also nur an- einandergereiht wird, ist die hermeneutische Behandlung der ver- bindenden Sprachelemente um so schwieriger, je weniger wir von demselben Briefsteller haben. Je mehr wir von ihm haben, desto eher laͤßt sich eine bestimmte Vorstellung gewinnen von seiner ganzen Art und Weise zu denken und Gedanken zu verbinden, worin dann der hermeneutische Schluͤssel liegt. Beispiele der Schwierigkeit in diesem Stuͤcke sind die 2 Petr. Briefe. Eine Hauptschwierigkeit macht in diesem Theile der Ausle- gung die eigenthuͤmliche Zusammensezung der neutest. Sprache aus zwei Sprachen von ganz verschiedener Natur. Die griechische reich an formellen Sprachelementen, an substantiellen oder Par- tikeln und an accidentiellen oder Beugungen; die hebraͤische arm an Partikeln, hat einen gewissen Reichthum an Beugungen, aber dieser Reichthum ist so verschiedener Art, daß er in der grie- chischen Sprache nicht aufgeht und im Gebrauch derselben haͤufig Verwirrung hervorbringt. Dieß nicht in einander aufgehen beider Sprachen ist der Grund, daß die neutestam. Schriftsteller sich in einer ganz freiwilligen unnoͤthigen Armuth bewegen. Insbesondere macht die Armuth des hebraͤischen an Partikeln, daß sie von der periodischen Schreibart, die dem griechischen eigenthuͤmlich ist, so wenig Gebrauch machen. Sie zerfaͤllen in mehrere unabhaͤngige Saͤze, was periodisch verbunden auch klarer sein wuͤrde. Dazu kommt, daß weil die Rede aͤußerlich griechisch ist man auch mehr periodische Verbindung erwartet. Dieß hemmt das Verstehen. Finden wir Saͤze getrennt die wie sie gemeint sind jeder Schrift- steller verbunden haben wuͤrde, so glauben wir, sie muͤßten auch gerade so verstanden werden, was aber leicht taͤuschen kann. Nur Paulus und der Verfasser des Briefes an die Hebraͤer haben sich den eigenthuͤmlichen Ausdruck und das Periodische der griechischen Sprache mehr angeeignet. In andern Schriften, z. B. in den Briefen des Petrus und Jakobus, ist der Mangel an Ord- nung, Zusammenhang und Übergang der Gedanken gewiß nicht bloß aus dem Briefstyl, sondern auch aus der Sprachmischung, der Unkenntniß der Sprache zu erklaͤren. Man darf sich nicht daruͤber wundern, daß eben aus der Sprache fuͤr die Auslegung des N. T. große Schwierigkeiten ent- stehen, wohl aber daruͤber, daß nach der Wiederherstellung der Wissenschaften das N. Testam. so lange Gegenstand der Herme- neutik gewesen und man doch die Schwierigkeiten, die es hat, im Ganzen erst so spaͤt klar erkannt und zu uͤberwinden angefangen hat. Wie kam dieß? Man betrachtete das N. T. ganz anders als andere Schriften. Darin lag zweierlei, erstlich man betrach- tete die einzelnen Schriften desselben nicht genug jede fuͤr sich, zweitens man legte dem Einzelnen einen Werth und eine Ver- staͤndlichkeit bei außer seinem Zusammenhange. Beides, das Ganze zu isoliren und das Einzelne als Ganzes anzusehen, ging von dem dogmatischen Interesse aus. Abgesehen von der In- spiration dachte man sich das N. T. wenigstens als corpus do- ctrinae, als Kanon. Das dogmatische Interesse aber, wo es vorherrscht, verleitet dazu, unaufmerksam uͤber alles wegzueilen was nicht eben das dogmatische Interesse erregt. Es handelt sich dabei meist nur um einzelne schwierige und streitige Saͤze, die aus dem Zusammenhange genommen durch analoge ebenfalls aus ihrem Zusammenhange gerissene erlaͤutert werden. Es leuchtet ein, daß ein solches Verfahren der reine Gegensaz des kunstmaͤßi- gen ist. Das Zusammenstellen der Parallelen nur aus dem bestimm- ten Beduͤrfniß einer einzelnen Stelle laͤßt das ganze Verwandt- schaftsverhaͤltniß ignoriren; man sieht nur nach dem einzelnen Ausdruck, wo die Verwandtschaft gar kein Maaß hat, und so ent- stehen leicht Fehlgriffe. — Nur von der Abnahme des dogmati- schen Interesses war Heil zu erwarten. Und dieß ist das Gute, welches gewisse Zeiten, wenn auch nur per accidens hervorge- bracht haben. Das heilsame Abnehmen des dogmatischen Interesses soll nicht zum (dogmatischen) Indifferentismus fuͤhren, sondern nur die Polemik ausschließen, welche auf schnelle Entschließung dringend die hermeneutische Operation in Gefahr bringt sich zu uͤbereilen, und es zu keiner ruhigen historischen, kritischen Forschung kommen laͤßt. Großes Verdienst haben in dieser Hinsicht zuerst die Socinianer, nachher besonders die Remonstranten. Beide wa- ren freilich auch in der Polemik begriffen, aber namentlich unter den Remonstranten waren ausgezeichnete Maͤnner, die mit einem gewissen unabhaͤngigen philologischen Sinne die Richtung hatten das Biblische von den auf leidenschaftlichem Wege entstandenen Auslegungen zu reinigen, wodurch die Exegese der Remonstranten einen mehr eigentlich hermeneutischen Charakter bekam. Wie ist es jezt? Auf der einen Seite faͤngt alles an sich zu wiederholen was ehedem den richtigen hermeneutischen Gang gehemmt hat. Aber auf der andern Seite sind bedeutende Fort- schritte gemacht in der Reinigung der hermeneutischen Maximen. Besonders ist zweierlei hervorzuheben, einmal, daß man nach einer klaren Anschauung und Einsicht von dem Einzelnen in der Sprache strebt, sondern daß man die hermeneutische Operation mit der historischen Kritik in genauere Verbindung zu bringen sucht. Großes Verdienst hat, was das erste betrifft, Winers Gram- matik. Indem sie die verschiedenen formellen Elemente, die sub- stantiellen und die Flexionen, auf eine einfache Anschauung zu- ruͤckbringt, so daß eine Einheit gewonnen wird, zerstoͤrt sie eine Menge falscher Ansichten uͤber einzelne Gebrauchsweisen. Nur waͤre zu wuͤnschen, daß die Auffindung des Einzelnen immer mehr noch erleichtert wuͤrde. Beachtungswerth ist das Bestreben der neueren Zeit die Sprach- charaktere der einzelnen neutest. Schriftsteller zu bestimmen. Auf einem reichen litterarischen Gebiete ist solche Charakteristik moͤglich. Aber wenn man im N. T. von einem Schriftsteller kaum drei Bogen im Druck hat, wird die Arbeit leicht mikroskopisch, und das vertragen wenige Augen lange. Auch versieht man es dabei wol darin, daß man dem gewoͤhnlichen, aufs Gerathewol ent- standenen Text folgt. Bei unzuverlaͤssigem Text aber kann das minutioͤse Unterscheiden eben so verderblich werden als das Un- tereinanderwerfen. Kehren wir nun zu unserer Aufgabe zuruͤck, so haben wir nach dem Obigen im Allgemeinen vorauszusezen, daß die Mi- schung der verschiedenen formellen Sprachelemente je nach dem Talent und der Übung der neutestam. Schriftsteller verschieden ist. Wir fragen nun nach einem allgemeinen Kennzeichen, Maaß- stabe, diese Verschiedenheit zu bestimmen. Dieser liegt darin, daß waͤhrend in dem griechischen Sprachelement die periodische Ver- knuͤpfung vorherrscht, im aramaͤischen das Abgebrochene. Daraus ergiebt sich die Regel: Je mehr wir in einem neutest. Schrift- steller Periodisches finden, desto mehr ist zu glauben, daß er sich das griechische so angeeignet, daß er darin auch zu denken ver- mochte. Wuͤrde er sonst periodisch uͤbertragen haben, was er nicht periodisch gedacht? Je periodischer aber ein Schriftsteller ist, desto mehr muͤssen wir bei dem formellen Sprachelement auf das 9 griechische zuruͤckgehen. Je mehr das Gegentheil, desto mehr ha- ben wir auf das hebraͤische Element zuruͤckzugehen. Aber diese allgemeine Regel ist auch wieder zu begrenzen, und zwar nach zwei Seiten. Es giebt in allen Sprachen, so auch in der grie- chischen gewisse Sprachweisen, die sich im gemeinen Leben bilden. Dergleichen werden nun aber im neutest. Idiom sich in Palaͤstina nach der Analogie des Hebraͤischen gebildet haben. Auch bei einem Schriftsteller wie Paulus, der sonst des Griechischen maͤchtig ist, sind solche Sprachweisen dennoch aus dem Hebraͤischen zu er- klaͤren. Dieß ist die Begrenzung auf der einen Seite. Auf der andern Seite wird auch ein vom Hebraͤischen mehr gebundener neutest. Schriftsteller z. B. fuͤr die hebr. Verbindungspartikel ד nicht uͤberall ϰαί gebrauchen. Es giebt solche Extreme. Aber in Allgemeinen ist anzunehmen, daß von dem griechischen Parti- kelreichthum immer vieles in das Ohr der griechischredenden Juden eingegangen ist, und so im neutest. Idiom fuͤr das hebraͤische ד verschiedene griechische Partikeln in Gebrauch gekommen sind. Al- lein, da doch immer die vollkommene Kenntniß des Griechischen fehlte, so waren bei der Übertragung des Hebraͤischen ins Griechi- sche Unrichtigkeiten, Verwirrungen kaum zu vermeiden. Daher eine besondere neutest. Grammatik ein wesentliches hermeneutisches Beduͤrfniß ist. Dabei ist, wie oben gezeigt, das ganze Sprach- gebiet des juͤdischen Hellenismus zu beruͤcksichtigen. Die Haupt- sache bleibt aber bei dem formellen Sprachelement immer die neu- testam. Analogie selbst. Ist nun, um diese richtig zu bestimmen, noͤthig die neutestam. Schriftsteller in dieser Hinsicht zu klassifi- ziren, so muß man dabei von den oben angegebenen Punkten ausgehen. Durch Mangel an Periodenbau charakterisiren sich die uͤber- wiegend hebraisirenden Schriftsteller. Aber es giebt da Abstufun- gen. Man bemerkt in dieser Klasse ein Fortschreiten der Ge- danken nach Art des Hebraͤischen in einfacher Aneinanderreihung oder in gar keiner (Asyndeton), nach andern Gesezen, als im Griechischen. Ferner zeigt sich auch ein gewisses Bestreben, große Massen von Saͤzen in eine organische Verbindung zu brin- gen, die aber noch keine eigentliche periodische wird. Wir finden hier- von selbst bei Paulus eine Spur, nemlich in dem zu einem wahren Periodenbau nicht gedeihenden Gebrauch der Relativen, die er oft in einander schachtelt ohne periodische Verknuͤpfung. Aus seiner Lebendigkeit erklaͤrt sich das nicht. Sondern seine Gelaͤufigkeit im Griechischen muß nicht so groß gewesen sein, um wenn er nach Periodenbau strebte immer die rechte Form zu finden. Doch ist dieß nicht ganz so schlimm, wie man meint. Manche Schwierig- keit ist erst hineingebracht durch die in der recepta gemachte In- terpunktion. Man hat sich diese ganz wegzudenken, selbst die von Lachmann gemachte, um ganz frei und unabhaͤngig zu sein. — Ganz anders als bei Paulus ist das verfehlte Streben nach Pe- riodenbau bei den uͤberwiegend hebraisirenden Schriftstellern. Hier ist es nur ein versuchter Übergang, der deutlich zeigt, daß ihnen zwar die Differenz der beiden Sprachen wohl zum Bewußtsein gekommen war, so daß sie das bloße Aneinanderreihen vermeiden wollten, aber auch daß sie das Wesen des Periodenbaues uͤber- haupt noch nicht gefaßt hatten. Hier liegt fuͤr die Auslegung ein großes Hinderniß, in Betreff der Interpunktion, weil schwer zu bestimmen ist, was und wie der Schriftsteller hat verbinden wol- len. So entsteht der Schein einer Verworrenheit. Aber diese hat man nicht dem Denkvermoͤgen des Schriftstellers zuzuschreiben, sondern wegen der fremden Sprache, worin er schreibt, muß man billigerweise voraussezen, daß sein Gedankenzustand besser ist, als sein Ausdruck. Die Voraussezung einer fruͤheren Zeit, daß weil die Schrift vom heiligen Geiste ausgegangen sei keine Unvollkommenheit in der neutest. Schreibart angenommen werden duͤrfe, hat wie sie selbst falsch ist auch zu falschen Maximen gefuͤhrt, die leider oft noch jezt vorkommen und Einfluß haben. Diese falschen Maximen treten besonders in zwei Punkten hervor, einmal in Beziehung auf das Qualitative, das Verhaͤltniß des Eigentlichen zu dem Uneigentlichen, Bildlichen, sodann in Beziehung auf das Quan- 9* titative, das Verhaͤltniß des Emphatischen zu dem Unbedeuten- den, Tautologischen, Abundirenden. Von unserm Principe aus kommen wir auf solche Maximen nicht; aber durch ihre Geltung haben sie ein Recht auf genauere Untersuchung erlangt. Die erste Maxime, voͤllig allgemein alle Sprachelemente um- fassend, materielle und formelle , lautet so, daß im N. T. niemals ein uneigentlicher Gebrauch zuzulassen sei, so lange es ir- gend moͤglich sei, die eigentlichen geltend zu machen. Von selbst sind ausgeschlossen solche Stellen, wo der uneigentliche Gebrauch bestimmt indicirt ist, also z. B. in allen augenscheinlich metapho- rischen und parabolischen Stellen. Es werden die Faͤlle gedacht, wo das Eigentliche und Uneigentliche gleich denkbar ist. Da soll denn jedesmal der eigentliche Gebrauch vorgezogen werden. Es beruht dieß auf der Voraussezung, daß die neutest. Schriftsteller in jedem Falle, wo eigentlicher und uneigentlicher Gebrauch moͤg- lich war, immer den ersten gewaͤhlt haben. Auf diese ϰυϱιολεξία legten die Alten schon einen großen Werth. Aber die Nothwen- digkeit der ϰυϱιολεξία ist nicht uͤberall gleich. Sie ist nothwendig z. B. bei Schließung einer Übereinkunft, wo es auf die moͤglich groͤßte Bestimmtheit im Ausdruck ankommt. Aber mit welchem Rechte verlangt man die ϰυϱιολεξία von den neutest. Schriftstel- lern? Einmal geht man davon aus, daß man von dem Un- eigentlichen doch nur dann Gebrauch mache, wenn der eigentliche Ausdruck in der Sprache nicht sowol fehle, als nicht gegenwaͤrtig sei. In der Inspiration der heil. Schrift liege aber die Allgegen- waͤrtigkeit der Sprache, d. h. die stete Gegenwaͤrtigkeit des richti- gen und eigentlichen Ausdrucks bei den heil. Schriftstellern, also Unfehlbarkeit in dieser Hinsicht. Sodann aber sagt man auch, die neutest. Schriften seien gerade eben so bestimmt, eine genaue Darstellung der goͤttlichen Wahrheit zu geben, wie ein Contract bestimmt sei, die Verbindlichkeit beider Theile genau anzugeben, und so muͤsse bei beiden dieselbe Regel gelten; daher seien lauter eigentliche Ausdruͤcke nothwendig, wenn nicht die Schrift ihrem Zwecke nur unvollkommen entsprechen solle. — Man kann dieß im gewissen Sinne auch ohne jene Theorie zugeben. Allein wir muͤs- sen doch bestimmte Grenzen aufstellen; wir werden sagen muͤssen, in sofern und in solchen Stellen, wo es auf Darstellung solcher Wahrheiten ankomme, werde jene Regel gelten. Allein gerade bei der eigenthuͤmlichen Beschaffenheit des N. T. laͤßt sich dasselbe so gut wie auf nichts reduciren. Betrachten wir z. B. die Art, wie in den Paulinischen Briefen die Woͤrter δίϰαιος, δι ϰ αιοσύνη und διϰαιοῦσϑαι gebraucht werden, so sehen wir, daß sie eigenthuͤmliche Vorstellungen von dem Verhaͤltnisse des Men- schen zu Gott, wie es im Christenthume entstanden ist, bezeich- nen; zugleich finden wir, daß sie eine polemische Beziehung ha- ben auf den alttestam. Gebrauch. — Wenn im Christenthume das Verhaͤltniß des Menschen zu Gott auf eine eigenthuͤmliche Weise gefaßt wird, wie sollte dieß ausgedruͤckt werden? Wenn es streng ϰυϱίως geschehen sollte, mußten fuͤr die neuen Vorstel- lungen neue Woͤrter erfunden werden. Das ging nicht. Sie konnten also nur auf indirectem Wege dargestellt werden, d. h. es mußten schon vorhandene Ausdruͤcke genommen, aber anders gewendet, potenzirt werden. Der Apostel modificirte die Nebenbe- ziehungen, aͤnderte die naͤheren Bestimmungen jener Ausdruͤcke, und verwandelte auf die Weise den Grundgedanken derselben. Fuͤr je- den juͤdischen Leser war das ein uneigentlicher Gebrauch der Aus- druͤcke, er mußte sagen, der Apostel gebraucht διϰαιοσύνη in einem anderen Sinne, als wir. So findet sich also gerade in der Dar- stellung der Hauptwahrheiten der uneigentliche Gebrauch. Wird jene Maxime wie gewoͤhnlich, angewendet, so wird die richtige Auslegung verfehlt und viel Übles angerichtet. Der dogmatische Werth im N. und A. T. ist offenbar verschieden. Vieles was sich auf das politische und theokratische Verhaͤltniß im alten Bunde bezog, mußte, wenn es im N. T. wieder aufgenommen wurde, gaͤnzlich modifizirt werden. — Ferner ist gegen jene Maxime zu bemerken, daß die neutestam. Schrift nicht die urspruͤngliche Lehre ist, sondern die muͤndliche zur Basis hat. So entstehen zweierlei Moͤglichkeiten. Entweder ist das Schriftliche Erlaͤuterung, weitere Ausfuͤhrung oder Einschaͤrfung schon bekannter Wahrheiten. In beiden Faͤllen braucht die ϰυϱιολεξία nicht so bestimmt zu herr- schen, wie in der ersten, urspruͤnglichen Mittheilung. So hat also die Maxime fuͤr das N. T. gar keinen Werth und Grund; sondern die Frage, ob etwas eigentlich oder uneigentlich gebraucht sei, kann im N. T. nur eben so wie bei jedem andern Schriftstel- ler aus dem Zusammenhange erklaͤrt werden. Die Inspiration kann dem Obigen zu Folge diesen allein richtigen Grundsaz nicht aufheben. Die andere Maxime bezieht sich auf die Differenz des quan- titativen Werthes der Ausdruͤcke. Es giebt, wie schon die aͤltesten Sprachforscher und Logiker gesagt haben, Ausdruͤcke, die ein mehr und minder zulassen. Es ist hier nicht die Rede von Zeit- und Eigenschaftswoͤrtern, welche die Differenz des Grades involviren, sondern von den quantitativen Differenzen der Localwerthe, die durch den Zusammenhang bestimmt werden. Die Sprache hat neben dem logischen Werth der Worte auch einen musikalischen, das ist das Rhythmische und Euphonische. Wenn in einer Pe- riode des Rhythmus wegen etwas hinzugefuͤgt wird, so hat dieß natuͤrlich nicht denselben logischen Werth, wie anderes, was im Gedankenzusammenhang nothwendig ist, es naͤhert sich in logischer Hinsicht dem Abundirenden. Eben so ist es mit dem Euphoni- schen, in Beziehung auf einzelne Laute. Der einzelne Laut an sich ist kein Übellaut, aber er kann im Zusammensein mit ande- ren ein solcher werden. Finde ich in einem Saze einen Ausdruck, bei dem mir sogleich ein andrer synonymer einfaͤllt, so entsteht die Frage, warum hat der Schriftsteller gerade diesen vorgezogen? Giebt nun der Zusammenhang an, daß gerade dieser Ausdruck nothwendig war, so hat derselbe hier seinen hoͤchsten Werth, weil die Differenz des anderen, synonymen, mit eingeschlossen ist. In diesem Falle hat der Ausdruck einen besonderen Nachdruck, er ist emphatisch . Hat aber der Schriftsteller den Ausdruck nur gewaͤhlt aus rhythmischen oder euphonischem Interesse, so hat der- selbe einen geringeren Werth, d. h. einen unbestimmten allgemei- nen, weil die Differenz des synonymen nicht eingeschlossen ist, und es logisch gleichviel ist, ob der eine oder andere Ausdruck steht, dieß ist denn das Gegentheil des Emphatischen. Dieser Gegensaz ist gegeben und durch die Duplicitaͤt der Sprache be- dingt. Manche Arten des Styles erfordern mehr musikalisches als andere. Aber auch in der strengsten Gattung der Rede wird der musikalische Einfluß nicht ganz fehlen. Man hat nun im N. T. die Maxime aufgestellt, alles so emphatisch als moͤglich zu verste- hen. Warum? Weil die neutest. Buͤcher keinen andern Zweck und Charakter haͤtten, als die reine goͤttliche Wahrheit vollkommen dar- zustellen. Allein das N. T. enthaͤlt offenbar Stellen, in denen das rhetorische, andere, in denen das musikalische Element keinen unbedeutenden Spielraum hat. Also ist jene Maxime falsch. Man kann nicht sagen, daß das Emphatische dem N. T. eigen- thuͤmlich sei. Es findet sich auch außerdem. Es giebt in jeder Composition Differenzen, die auf das eine oder andere hinweisen, das Emphatische oder Abundirende. Der Punkt, von dem man hier auszugehen hat, ist die Identitaͤt zwischen Denken und Re- den. Aber diese Identitaͤt gestattet einen sehr freien Spielraum. Zu einem und demselben Gedanken kann ein groͤßeres oder gerin- geres Sprachmaterial consumirt werden. Freilich muͤssen, genau genommen, wo mehr Worte sind, auch mehr Gedanken sein, weil jedes Wort ein Ausdruck ist. Allein wir koͤnnen uns Faͤlle den- ken, in welchen in einem beschraͤnkteren Sprachmaterial alles ge- dacht werden muß, was nur durch ein groͤßeres ausgedruͤckt wer- den zu koͤnnen scheint. Ist bei dem geringeren Material durch den Zusammenhang moͤglich gemacht, daß der Leser das Fehlende hinzudenkt, so wird dasselbe erreicht, als wenn ein groͤßeres ge- braucht waͤre. So lassen sich in verschiedenen Faͤllen verschiedene Methoden denken, d. h. Faͤlle, wo der Kanon des Emphatischen anwendbar ist, und wo er es nicht ist. Im N. T. haben die aͤlteren Ausleger die oben bezeichnete Maxime gehabt, so viel als moͤglich emphatisch zu nehmen, die neueren dagegen, so wenig als moͤglich. Beide Maximen sind aber offenbar nur Ausdruck ent- gegengesezter Einseitigkeiten und taugen in sofern beide nicht. Es genuͤgt auf die Paulinischen Briefe zu verweisen, worin oft rhetorische Stellen, besonders Schlußstellen von Abschnitten vor- kommen, in denen eine gewisse Sprachfuͤlle vorherrscht, und man- che Woͤrter fast tautologisch sind. Hier ist also das Gegentheil des Emphatischen. Aber wir finden auch bei Paulus ὀξύμωϱα, und was damit verwandt ist, ein gewisses Spiel mit den Bedeutun- gen desselben Ausdrucks. Solche Stellen haben auch einen be- stimmten rhythmischen Charakter, aber das ist untergeordnet, und so entsteht die Aufforderung, die Ausdruͤcke genau zu nehmen. Wendet man den Kanon jener Stellen auf diese an, oder umge- kehrt, so verfehlt man den Sinn des Schriftstellers. Sieht man nun im Gegentheil von dieser Art von Stellen, wo die Gedan- ken nicht in fortschreitender Entwickelung sind, — denn auch die ὀξύμωϱα sind nur Ruhepunkte inmitten der Rede, — auf solche, wo eine bestimmte Gedankenentwickelung fortschreitet, so finden wir auch hier einen entgegengesezten Charakter. Nemlich im He- braͤischen finden wir an der Stelle des Periodischen, so wie des Unterschiedes zwischen Prosa und Poesie, einen bestimmten Typus, oder Parallelismus, worin ein gewisses Wiegen des Gedankens liegt, so daß in einer gewissen Arsis und Thesis derselbe Gedanke mit geringer Modification ausgedruͤckt wird. Die dialektische Dif- ferenz verschwindet, die Saͤze haben ein verschiedenes Colorit, aber keinesweges den Charakter dialektischer Schaͤrfe. Wo wir diesen Typus im N. T. finden, im Gnomischen namentlich und im Hymnischen , da herrscht der hebraͤische Sprachcharakter, und es waͤre unrecht, da die Differenzen bestimmt zu unterscheiden. Da- gegen darf auf dialektisch fortschreitende Saͤze nicht dieser Kanon angewendet werden, sondern der entgegengesezte. Beide Regeln haben im N. T. ihr Gebiet der Anwendung, man muß jedes gehoͤrig unterscheiden. Die quantitative Differenz findet im N. T. auch ganz besonders in den formellen Sprachelementen Statt, namentlich in dem Ge- brauch der Partikeln. Adversative Partikeln werden in nicht ent- gegengesezten Saͤzen gebraucht, organisch verknuͤpfende bloß an- reihend u. dergl. Eben so umgekehrt. Ist im ersteren Falle der Werth der Partikeln verringert, so wird er im anderen Falle ver- mehrt. Im N. T. beruht dieß zum Theil auf dem Mangel an Aneignung des griechischen und dem Einfluß des hebraͤischen Denkens. Die Aufgabe ist, die verschiedenen Faͤlle gehoͤrig zu unterscheiden. Einseitiger Gebrauch der einen und anderen Maxime wuͤrde zur hoͤchsten Verwirrung fuͤhren. Die neutest. Spezialher- meneutik hat bei der Anwendung der allgemeinen Regeln nur das Eigenthuͤmliche zu beruͤcksichtigen, was in dem Verhaͤltniß des Griechischen zum Hebraischen im N. T. seinen Grund hat. Von der richtigen Betrachtung der bezeichneten Maximen haͤngt der richtige Gebrauch der Huͤlfsmittel zur Auslegung des N. T. ab. Nicht nur Commentarien, auch Lexika, Grammatiken, sind wohl nach jenen einseitigen Maximen gearbeitet, und dann natuͤr- lich mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Bei dem eigenen Ver- fahren gilt der Kanon: Sobald nicht nothwendig auf das hebraͤi- sche und auf das eigenthuͤmlich christliche Element in der neutest. Sprachbildung Ruͤcksicht zu nehmen ist, hat man sich bloß an die allgemeinen hermeneutischen Regeln zu halten. Dabei ist denn auf die Art der Composition und den Charakter des Schriftstellers in der besonderen Art der Composition zu sehen, ob der Schrift- steller kunstlos verfaͤhrt oder nicht, ob er sich an die Sprache des gemeinen Lebens haͤlt. Man mache nur, was das N. T. betrifft, keinen scharfen Unterschied zwischen historischen und didaktischen Schriften, denn es giebt keine historischen Buͤcher, in denen gar nichts didaktisches waͤre. Dieß fuͤhrt die ganze Frage auf den Gegenstand der Darstel- lung zuruͤck. Man fragt, giebt es im N. T. gewisse Gegenstaͤnde oder Complexe von Begriffen, worauf die eine oder andere Maxime ausschließlich anzuwenden ist? Wenn wir eben von der verschie- denen Beschaffenheit der einzelnen Stellen gesprochen haben, wo die eine oder andere Maxime vorzugsweise anwendbar ist, so fragt sich, ob die verschiedene Beschaffenheit der Stellen mit der Ver- schiedenheit der Gegenstaͤnde coincidirt? — Wo Begriffsentwicke- lung im N. T. ist, werden dogmatische oder moralische Gegen- staͤnde der Inhalt sein. Denn hierauf bezieht sich ja das N. T. vorzugsweise. Nicht ist, wenn auch etwas rhetorisches vorkommt, dieß außer jenem Kreise, sondern es kann, wenn ein Begriff mit dialektischer Schaͤrfe entwickelt ist, eine Stelle mit rhetorischer Fuͤlle folgen. Es ist also die Form das Hauptbestimmende in Beziehung auf die Anwendung einer Maxime. Die falsche An- wendung beruht zum Theil auf der Tendenz, die religioͤsen Vor- stellungen, so wie sie sich spaͤter entwickelt haben, im N. T. zu finden. Es liegt in der Idee des Kanons der heil. Schrift, daß man in den theologischen Verhandlungen auf das N. T. zuruͤck- geht. Aber eben so natuͤrlich ist, daß daraus in den theologischen Ver- handlungen differente Gebrauchsweisen neutestam. Ausdruͤcke ent- stehen, je nachdem die Entwickelung weiterschreitet und different ist. Der Sprachgebrauch, der im Leben gilt, uͤbt auf den Exe- geten eine unwillkuͤhrliche Gewalt aus. Man denkt die neutest. Vorstellungen mit den jedesmaligen theologischen Verhandlungen im Zusammenhange. Daraus aber entstehen erkuͤnstelte Auslegun- gen, wodurch man die dicta probantia im Sinne der jedesmali- gen theologischen Verhandlungen rechtfertigen will. Es muß daher als Regel aufgestellt werden, bei dem exegetischen Verfahren den jedes- maligen theologischen Sprachgebrauch als nichtexistirend anzusehen. Dagegen schuͤzt am besten die oben beruͤhrte Methode, alle Aus- druͤcke des N. T., welche in einer bestimmten Beziehung noͤthig sind und den Kern der kanonischen Dignitaͤt bilden, in allen Verbindungen, in denen sie im N. T. vorkommen, zusammen- zustellen. Es ist hier die sprachbildende Kraft des Christenthums im N. T. in Betracht zu ziehen. Der christliche Sprachgebrauch ist auf dem juͤdischen gleichsam gelagert. Die neutest. Schriftsteller konnten in der Bildung christlicher Ausdruͤcke auf dem Grunde des juͤdischen Sprachgebrauchs ein doppeltes Verfahren beobachten, entweder bei der vorhandenen juͤdischen Gebrauchsweise stehen blei- ben und damit das Neue verbinden, oder den fruͤheren juͤdischen Gebrauchsweisen neue entgegenstellen. Das erste Verfahren ist das historische, wo die Anknuͤpfung, das andere das dialektische, wo das Entgegensezen dominirt. Das Charakteristische liegt hier nicht in der Person des Schreibenden oder Sprechenden. Jeder konnte nach den Umstaͤnden bald das eine bald das andere Verfahren beobachten. Die Verschiedenheit des Verfahrens giebt sich in der Form des Vorkommens zu erkennen. Der Ausleger hat darauf zu achten. So wird der juͤdische Ausdruck διϰαιο- σύνη in der Bergpredigt in der ersten Art gebraucht, anknuͤpfend, in den Paulinischen Briefen aber dialektisch, polemisch. In der juͤdischen Froͤmmigkeit hatte das Opfer eine große Bedeutung. Christliche Ansicht aber ist, daß alle Opfer durch Christus aufge- hoben sind. Diese konnte nun dargestellt werden, entweder indem man anknuͤpfend den Begriff des Opfers erweiterte, oder indem man denselben negirte und sagte, es bestehe jezt ein Verhaͤltniß zwischen Gott und den Menschen, worin das Opfer seinen Ein- fluß verloren habe. Im N. T. ist das erstere Verfahren domini- rend, das andere nur Resultat desselben. — Stellt man nun die Hauptbegriffe, worauf es hier ankommt, in allen Beziehun- gen zusammen, so muß man auch erkennen koͤnnen, wie das N. T. jede Vorstellung nach der einen oder andern Methode ge- braucht. Am Ende beruht Alles auf einer Synthese alles ver- schiedenen Vorkommens. Eine Hauptschwierigkeit bei der Ausle- gung des N. T. macht auch in dieser Hinsicht immer, daß die historische Kritik noch nicht vollendet ist und noch so sehr viel streitiges enthaͤlt. Bei den didaktischen Schriften hat dieß weniger zu bedeu- ten. Im Ganzen haben sie denselben Sprachgebrauch. Auf die persoͤnliche Identitaͤt der Verfasser kommt weniger an, und selbst die Zeitdifferenz hat keinen großen Einfluß, da sie hoͤchstens um eine Generation unterschieden sind, worin keine bedeutenden Fort- schritte oder Veraͤnderungen Statt finden konnten. Nur Paulus hat sein eigenes Gebiet, aber bei ihm ist die Masse groß genug, um alle noͤthigen Analogien zu finden; die andern bilden ein Gan- zes ohne besondere hermeneutische Wichtigkeit in ihrer Differenz. Und ihr Sprachgebrauch stand unter dem Einflusse des Paulus, weil dieser zuerst hellenische Gemeinden bildete, also auch zuerst den griechischen Sprachgebrauch in der Lehre fixirte. Er hielt dabei die Verbindung mit der Muttergemeinde in Jerusalem so fest, daß den andern Aposteln dadurch moͤglich wurde, seine Weise anzunehmen. Groͤßere Schwierigkeit machen die historischen Schriftsteller wegen der Streitigkeit und Unsicherheit ihrer Entstehungsweise und ihrer Einheit. Das Verstehen des quantitativen ist nur sicher, wenn die kritische Aufgabe zuvor geloͤst ist. Allein die Auslegung soll gerade daruͤber mit entscheiden, was der Kritik nach unsicher und streitig ist, da die aͤußeren Zeugnisse fehlen. Hierauf muß das hermeneutische Verfahren Ruͤcksicht nehmen, und deßhalb in der Bestimmung der Resultate sehr vorsichtig sein. Die Ausle- gung hat dabei auf zweierlei zu sehen, erstlich auf das Ver- haͤltniß der einzelnen Erzaͤhlungen, sodann auf das Verhaͤltniß der einzelnen didaktischen Elemente. Was das leztere betrifft, nemlich die Reden, so bemerkt man, daß sie den bestimmten Ver- haͤltnissen nicht entsprechen, sofern sie entweder zu kurz sind, oder in laͤngeren oder zu langen das Einzelne darin oft nicht genug zusammenhaͤngt, um eine Einheit zu bilden. Entweder nun ist eine solche Rede nur Auszug aus der wirklich gehaltenen, aber doch ein Ganzes, oder kein Ganzes, sondern von dem Referenten aus verschiedenen zusammengetragen. Hierauf hat die Auslegung zu achten und bei jeder Verknuͤpfung hermeneutisch zu untersuchen, ob sie urspruͤnglich sei, oder willkuͤhrlich Saz an Saz, Reihe an Reihe geknuͤpft. Hier kommt alles auf genaue Beobachtung der verknuͤpfenden Elemente an. — Was das Verhaͤltniß der histo- rischen Elemente betrifft, so ist offenbar, daß wir nur Einzelnes haben, kein continuirliches Ganzes, weil sonst das ganze Leben Christi sehr zusammenschrumpfen wuͤrde. Es ist nun zu unter- scheiden, ob ein genauer Zusammenhang ist zwischen dem Einzel- nen oder nicht, und zu untersuchen, ob die Zusammenhangs- losigkeit bemerkt ist oder nicht. Im Evangelium ist bemerkt, wo eine Luͤcke oder ein Zusammenhang ist, wo das Continuum anhebt und aufhoͤrt. In den drei ersten Evangelien ist dieß nicht der Fall. Da ist denn auf die Beschaffenheit der verbindenden For- meln zu achten. Aber der Werth derselben, ob gleich oder ver- schieden, laͤßt sich nur durch Vergleichung ermitteln. Man muß dabei davon ausgehen, wo die Erzaͤhlung Bestimmtes ergiebt und darnach die streitigen Stellen beurtheilen. So kommt die Herme- neutik der historischen Kritik zu Huͤlfe. Diese sollte freilich zuvor vollendet sein, dann waͤre das Verfahren ein rein hermeneutisches. Sie koͤnnte es auch, wenn die aͤußeren Zeugnisse hinreichten uͤber die Entstehung und urspruͤngliche Beschaffenheit der Schriften. Aber da dieß nicht der Fall ist, muß das hermeneutische und kri- tische Verfahren verbunden werden zu gegenseitiger Vollendung. Aber eben hierin zeigt sich, daß das grammatische und psycholo- gische Element der Auslegung unzertrennlich sind. Freilich ist oben behauptet worden, jede Seite muͤsse fuͤr sich so betrieben und vollbracht werden koͤnnen, daß die andere uͤber- fluͤssig werde. Dieß ist auch in der That das wahre Ziel, das Ideal. Die Probe, daß die Aufgabe voͤllig geloͤst ist, ist aller- dings die, daß das eine Verfahren dasselbe ergiebt, was das an- dere. Allein in der Wirklichkeit finden oft große Differenzen in dieser Hinsicht Statt. Wir koͤnnen uns denken, daß wir eine Schrift in sprachlicher Hinsicht so verstehen, daß wir daran ein Maaß fuͤr die psychologische Eigenthuͤmlichkeit des Schriftstellers haben. Allein das sezt voraus, daß alle Schwierigkeiten auf je- ner Seite geloͤst oder keine vorhanden sind. Eben so wenn ich die psychologische Eigenthuͤmlichkeit eines Schriftstellers genau weiß, kann ich auch die sprachliche Seite ohne Schwierigkeit verstehen, wie- wohl dieß schwieriger ist und doch immer die Kenntniß des Sprach- lichen voraussezt. Aber genauer betrachtet sezt auch die sprachliche Seite ihrerseits die psychologische voraus. Es ist unmoͤglich, beide Seiten nicht immer zu verbinden, man muͤßte sonst den Zusam- menhang zwischen Sprache und Denken aufgeben und sich des fortgesezten Lesens ganz enthalten. Die sprachliche Aufgabe laͤßt sich, wenn man einzelnes rein lexikalisch oder grammatisch verfaͤhrt, bis auf einen gewissen Punkt isoliren. Allein sobald man an das Verstehen eines Ganzen geht, an ein zusammenhaͤngendes Lesen, ist die Isolirung der sprachlichen Seite unmoͤglich. Die gramma- tische Auslegung getrennt zu vollfuͤhren, ist eine bloße Fiction. Bei dem Briefe an die Roͤmer kann man als anerkannt an- sehen, daß die psychologische Auslegung ihr Werk noch nicht voll- bracht hat. Es giebt noch viele Stellen, deren Zusammenhang streitig ist. Haben wir durch Zusammenstellung der Hauptele- mente des Briefes in allem ihren Vorkommen den Gesammtwerth jedes Ausdrucks und seine Differenzen bestimmt, dann kann entschieden werden, ob z. B. manche schwierige Fragen von dem Apostel selbst gestellt oder ihm fremd sind. Im ersteren Falle muͤßte der Localwerth der darin vorkommenden Ausdruͤcke mit allen anderen Stellen uͤbereinstimmen, im anderen Falle ver- schieden sein, so daß die Fragen als Einwuͤrfe der Gegner er- scheinen. Bei dieser Untersuchung ergaͤnzen sich die grammatische und psychologische Seite gegenseitig. Wir machen einen relativen Gegensaz zwischen leichteren und schwereren Gedankenverbindungen. Die subjective Schwierigkeit kann so weit gehen, daß man sagt, ich kann mir nicht denken, daß einer so combinirt. Bis die Unmoͤglichkeit einer andern Com- bination nachgewiesen ist, ist man nicht zufrieden. Ist dann aber die grammatische Auslegung vollendet und sicher, so wird man dadurch genoͤthigt anzunehmen, daß es eine solche Combination giebt. So bestimmt die grammatische Auslegung die psychologi- sche. Aber eben so kann der Fall eines grammatischen Raͤthsels eintreten, so daß Jemand sagt, ich kann nicht glauben, daß ein Wort den Werth hat, den es doch zu haben scheint, bis die Unmoͤg- lichkeit nachgewiesen ist, einen anderen Werth zu finden. Hie ent- scheidet denn die psychologische Construction und noͤthigt, wenn sie voll- endet und sicher ist, zur Anerkennung des bezweifelten Localwerthes. Zweiter Theil Dieser Theil ist in dem handschriftlichen Nachlasse weniger ausgearbeitet, als der erste. Namentlich fehlt darin die bestimmte Anwendung der all- gemeinen hermeneutischen Grundsaͤze auf das N. T. Es scheint auch hier das gerathenste, zuerst den von Schl. zulezt concipirten Vortrag voll- staͤndig mitzutheilen und darauf die Vorlesung v. J. 1832. im Auszuge, mit Benuzung der von Schl. zu seinem Hefte gemachten Randanmerkun- gen, folgen zu lassen. . Die psychologische Schl. nennt in seinem handschriftlichen Nachlasse diesen Theil die tech - nische Interpretation , obwohl er in der Einleitung die andere Seite der Auslegung regelmaͤßig die psychologische genannt hat. In seiner Vorlesung vom J. 1832. aber nennt er diesen Theil den psycho - logischen , unterscheidet aber in demselben eine doppelte Aufgabe, die rein psychologische und die technische . Damit stimmt die Rand- anmerkung vom J. 1832. zusammen. Dieser Eintheilung und Bezeich- nung haben wir um so mehr Grund hier zu folgen, da sie nicht nur der lezteren Auffassung Schleiermachers, sondern auch, wie die Entwickelung zeigen wird, einer wirklich tieferen Begruͤndung und reicheren Ausfuͤhrung dieser Seite der Hermeneutik angehoͤrt. Auslegung. 1. D er gemeinsame Anfang fuͤr diese Seite der Auslegung und die grammatische ist die allgemeine Übersicht, welche die Einheit des Werkes und die Hauptzuͤge der Com- position auffaßt. Aber die Einheit des Werkes, das Thema, wird hier angesehen als das den Schreibenden bewegende Princip, und die Grundzuͤge der Composition als seine in jener Bewegung sich offenbarende eigenthuͤmliche Natur. Die Einheit des Werkes ist in der grammatischen Auslegung die Construction des Sprachgebietes und die Grundzuͤge der Com- position sind dort Constructionen der Verknuͤpfungsweise. Hier ist die Einheit der Gegenstand, das, wovon der Verf. zur Mitthei- lung in Bewegung gesezt wird. Die objectiven Differenzen, z. B. ob die Behandlung populaͤr oder scientifisch ist, sind schon mit darunter begriffen. Aber der Verf. ordnet sich nun den Ge- genstand nach seiner eigenthuͤmlichen Weise, die sich in seiner Anordnung abspiegelt. Eben so, da jeder immer Nebenvorstel- lungen hat, und auch diese durch seine Eigenthuͤmlichkeit be- stimmt werden, so erkennt man die Eigenthuͤmlichkeit aus der Ausschließung verwandter und der Aufnahme fremder. Indem ich den Verf. so erkenne, erkenne ich ihn, wie er in der Sprache mit arbeitet: denn er bringt theils Neues hervor in ihr, da jede noch nicht gemachte Verbindung eines Subjects mit einem Praͤdicat etwas neues ist, theils erhaͤlt er das, was er wiederholt und fortpflanzt. Eben so, indem ich das Sprach- gebiet kenne, erkenne ich die Sprache, wie der Verf. ihr Pro- duct ist und unter ihrer Potenz steht. Beides ist also dasselbe, nur von einer andern Seite angesehn. 2. Das lezte Ziel der psychologischen (technischen) Aus- legung ist auch nichts anderes, als der entwickelte Anfang, nemlich das Ganze der That in seinen Theilen und in jedem Theile wieder den Stoff als das Bewegende und die Form als die durch den Stoff bewegte Natur anzuschauen. Denn wenn ich alles Einzelne durchschauet habe, so ist nichts weiter zu verstehen uͤbrig. Es ist auch an sich offenbar, daß der relative Gegensaz vom Verstehen des Einzelnen und dem Verstehen des Ganzen vermittelt wird dadurch daß jeder Theil dieselbe Behandlung zulaͤßt wie das Ganze. Aber das Ziel ist nur erreicht in der Continuitaͤt. Wenn auch manches allein grammatisch zu verstehen ist, so ist es doch nicht in seiner Nothwendigkeit zu verstehen, die man nur inne wird, wenn man die Genesis nie aus den Augen verliert. 3. Das ganze Ziel ist zu bezeichnen als vollkommenes Verstehen des Styls. Gewohnt sind wir unter Styl nur die Behandlung der Sprache zu verstehen. Allein Gedanke und Sprache gehen uͤberall ineinander uͤber, und die eigenthuͤmliche Art den Gegenstand aufzufassen geht in die Anordnung und somit auch in die Sprachbehandlung uͤber. Da der Mensch immer in einer Mannigfaltigkeit von Vor- stellungen ist, so ist jedes entstanden aus Aufnahme und Aus- schließen. Ist aber dieses oder sonst etwas nicht aus der per- soͤnlichen Eigenthuͤmlichkeit hervorgegangen, sondern angelernt oder angewoͤhnt, oder auf den Effekt gearbeitet, so ist das Manier und manierirt ist immer schlechter Styl. 4. Jenes Ziel ist nur durch Annaͤherung zu erreichen. Wir sind ohnerachtet aller Fortschritte noch weit davon ent- fernt. Der Streit uͤber Homer waͤre sonst nicht moͤglich. Über die drei Tragiker. Unvollkommenheit ihrer Unterscheidung. Individuelle Anschauung ist nicht nur niemals erschoͤpft, son- dern auch immer der Berichtigung faͤhig. Man sieht dieß auch daraus, daß die beste Probe ohnstreitig die Nachahmung ist. Da aber diese so selten gelingt, und die hoͤhere Kritik noch immer Verwechselungen ausgesezt ist, so muͤssen wir noch ziem- lich weit von dem Ziele entfernt sein. 5. Vor dem Anfang der psychologischen (technischen) Auslegung muß gegeben sein die Art, wie dem Verfasser der Gegenstand und wie ihm die Sprache gegeben war, und was man anderweitig von seiner eigenthuͤmlichen Art und Weise wissen kann. 10 Zu dem ersten ist mitzurechnen der Zustand, worin sich die bestimmte Gattung der das Werk angehoͤrt vor seiner Zeit be- fand; zu dem zweiten was auf diesem bestimmten und naͤchst- angrenzenden Gebiete uͤblich war. Also ein genaues Verstaͤnd- niß dieser Art ohne Kenntniß der gleichzeitigen verwandten Litteratur und dessen was dem Verf. als fruͤheres Muster des Styls gegeben war. Ein solches zusammenhaͤngendes Studium kann in Beziehung auf diese Seite der Auslegung durch nichts ersezt werden. Das dritte ist zwar sehr muͤhsam, aber da es nicht leicht anders als aus der dritten Hand, also mit Urtheil vermischt ist, welches erst durch aͤhnliche Auslegung geschaͤzt werden kann, so muß man es entbehren koͤnnen. Lebensbeschreibungen der Verfasser sind urspruͤnglich wol aus dieser Absicht ihren Werken beigefuͤgt worden, allein gewoͤhnlich wird diese Beziehung uͤber- sehen. Auf das Nothwendigste von den beiden andern Punkten sollen allerdings zweckmaͤßige Prolegomena aufmerksam machen. Aus diesen Vorkenntnissen entsteht bei der ersten Übersicht des Werkes eine vorlaͤufige Vorstellung davon worin das Eigen- thuͤmliche vorzuͤglich zu suchen sei. 6. Fuͤr das ganze Geschaͤft giebt es vom ersten An- fang an zwei Methoden, die divinatorische und die compa- rative, welche aber wie sie auf einander zuruͤckweisen auch nicht duͤrfen von einander getrennt werden. Die divinatorische ist die, welche indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das individuelle unmittelbar aufzufassen sucht. Die comparative sezt erst den zu verste- henden als ein allgemeines, und findet dann das Eigenthuͤm- liche, indem mit andern unter demselben allgemeinen befaßten verglichen wird. Jenes ist die weibliche Staͤrke in der Men- schenkenntniß, dieses die maͤnnliche. Beide weisen auf einander zuruͤck, denn die erste beruht zu- naͤchst darauf, daß jeder Mensch außer dem daß er selbst ein eigenthuͤmlicher ist eine Empfaͤnglichkeit fuͤr alle andere hat. Allein dieses selbst scheint nur darauf zu beruhen, daß jeder von jedem ein Minimum in sich traͤgt, und die Divination wird sonach aufgeregt durch Vergleichung mit sich selbst. Wie aber kommt die comparative dazu, den Gegenstand unter ein allgemeines zu sezen? Offenbar entweder wieder durch Com- paration, und dann ginge es ins unendliche zuruͤck, oder durch Divination. Beide duͤrfen nicht von einander getrennt werden. Denn die Divination erhaͤlt ihre Sicherheit erst durch die bestaͤtigende Vergleichung, weil sie ohne diese immer fantastisch sein kann. Die comparative aber gewaͤhrt keine Einheit. Das Allgemeine und Besondere muͤssen einander durchdringen und dieß geschieht immer nur durch die Divination. 7. Die Idee des Werkes welche als der der Ausfuͤh- rung zum Grunde liegende Wille sich zuerst ergeben muß, ist nur aus den beiden Momenten, dem Stoffe und dem Wir- kungskreise zusammen zu verstehen. Der Stoff allein bedingt keine Art der Ausfuͤhrung. Er ist zwar in der Regel leicht genug, auszumitteln auch wenn er nicht geradezu angegeben wird, dafuͤr aber kann er auch angegeben zu einer falschen Ansicht verleiten. — Was man hingegen Zweck des Werkes in einer engeren Hinsicht nennen kann, das liegt auf der andern Seite, ist oft etwas ganz aͤußeres und hat nur auf einzelne Stellen einen beschraͤnkten Einfluß, der doch noch gewoͤhnlich aus dem Charakter Einiger fuͤr die das Werk bestimmt ist erklaͤrt werden kann. Weiß man aber fuͤr wen der Gegenstand bearbeitet werden, und was die Bearbei- tung in ihm bewirken soll: so ist dadurch zugleich die Ausfuͤh- rung bedingt und man weiß alles was man noͤthig hat. 10* Die Aus der Vorlesung v. J. 1832. Aufgabe der psychologischen Auslegung fuͤr sich betrach- tet ist im Allgemeinen die, jeden gegebenen Gedankencomplexus als Lebensmoment eines bestimmten Menschen aufzufassen. Was haben wir fuͤr Mittel, diese Aufgabe zu loͤsen? Wir muͤssen auf das Verhaͤltniß eines Sprechenden und Hoͤ- renden zuruͤckgehen. Ist Denken und Gedankenverbindung in bei- den ein und dasselbe, so ergiebt sich bei Gleichheit der Sprache das Verstehen von selbst. Wenn aber das Denken in beiden wesentlich verschieden ist, ergiebt es sich nicht von selbst auch bei Gleichheit der Sprache. Nehmen wir beide Faͤlle absolut, so verschwindet die Aufgabe, denn im ersteren Falle entsteht sie gar nicht, weil sie mit der Aufloͤsung rein zusammenfaͤllt, im zweiten Falle ist sie, wie es scheint, unaufloͤsbar. Allein in dieser Schaͤrfe oder Absolutheit ist der Gegensaz gar nicht vorhanden. Denn in jedem Falle ist immer eine gewisse Differenz des Denkens vor- handen zwischen dem Sprechenden und Hoͤrenden, aber keine un- aufloͤsliche. Selbst im gewoͤhnlichen Leben, wenn ich bei voll- kommener Gleichheit und Durchsichtigkeit der Sprache die Rede eines anderen hoͤre und mir die Aufgabe stelle, sie zu verstehen, seze ich eine Differenz zwischen ihm und mir. Aber in jedem Ver- stehenwollen eines andern liegt schon die Voraussezung, daß die Differenz aufloͤsbar ist. Die Aufgabe ist, in die Beschaffenheit und Gruͤnde der Differenzen zwischen dem Redenden und Ver- stehenden genauer einzugehen. Dieß ist schwierig. Zuvor aber muͤssen wir noch auf eine andere Differenz auf- merksam machen, nemlich auf den Unterschied zwischen dem un- bestimmten, fließenden Gedankengange und dem abgeschlossenen Gedankencomplexus. Dort ist wie im Flusse ein Unendliches, ein unbestimmtes Übergehen von einem Gedanken zum andern, ohne nothwendige Verbindung. Hier, in der geschlossenen Rede, ist ein bestimmter Zweck, auf den sich alles bezieht, ein Gedanke bestimmt den andern mit Nothwendigkeit, und ist das Ziel erreicht, so hat die Reihe ein Ende. Im ersten Falle ist das Individuelle, rein Psychologische vorherrschend, in dem zweiten das Bewußt- sein eines bestimmten Fortschreitens nach einem Ziel, das Resultat ein vorbedachtes, methodisches, technisches. Darnach zerfaͤllt die hermeneutische Aufgabe auf dieser Seite in die rein psycholo - gische und in die technische . Jeder Mensch ist bisweilen wenn auch nur innerlich in einem solchen Vorstellungszustande, den wir, auf den eigentlichen Lebens- gehalt gesehen, fuͤr Null rechnen. Nehmen solche Zustaͤnde uͤber- hand, so wird dadurch der reale Lebensgehalt des Subjects ver- ringert. Man nennt einen solchen zerstreuet, er ist, sagt man, in Gedanken, d. h. in solchen die sich eigentlich auf Null redu- ciren. So lange ein solcher Zustand ein innerlicher ist, ist er natuͤrlich kein Gegenstand fuͤr unsere Theorie. Allein wie steht es um unser, gewoͤhnliches Umgangsgespraͤch? Wenn dasselbe nicht irgend ein Geschaͤft ist, so daß ein bestimmter Gegenstand eroͤrtert wird und somit eine Tendenz entsteht, werden eben nur Vorstel- lungen ausgetauscht, oft ohne unmittelbare Beziehung, so daß was der eine sagt keinen nothwendigen Einfluß hat auf die Ge- dankenentstehung in dem andern, man spricht mehr neben , als zu einander. Aber selbst ein so freies, loses Gespraͤch ist schon Gegenstand der Auslegung und gerade in Beziehung auf un- sere Aufgabe ein sehr intricates. Je mehr einer aus sich selbst redet, und der Grund seiner Combinationen rein in ihm selbst liegt, desto mehr entsteht die Frage, wie derselbe wol dazu ge- kommen sei. Es kommt vor, daß man zu wissen meint, wie der andere wol auf das, was man zu ihm sagt, antworten werde. Es ist etwas bedeutendes, wenn Jemand die Fertigkeit hat, die Succession der Vorstellungen eines Andern als Thatsache seiner Individualitaͤt zu verstehen. Litterarisch betrachtet hat dieß frei- lich keinen Werth, weil das rein freie Gedankenspiel nicht leicht litterarisch wird. Allein analog ist auf dem litterarischen Gebiete der rein freundschaftliche Brief. Solche Briefe von bedeutenden Maͤnnern machen keinen kleinen Theil unserer Litteratur aus. Als Thatsachen ihres Gemuͤthes in persoͤnlichen Verhaͤltnissen ha- ben sie großen Einfluß auf das Verstehen ihrer uͤbrigen littera- rischen Produkte. Es gehoͤren hieher die freien Gedankenpro- duktionen von groͤßerem objectiven Gehalt, z. B. in Reisebeschrei- bungen und dergl. ohne Kunstform, in Briefen. Diese koͤnnen auf gleiche Weise als Thatsache des Gemuͤthes der Reisenden und Beschreibenden aufgefaßt werden. Denken wir uns zwei zusam- menreisende, die ihre Auffassungen wieder geben. Diese Auffassungen werden verschieden sein. Kennen wir die objective Beschaffen- heit der Sache, so wird die Differenz dadurch recht deutlich fuͤr uns. Oft aber lernen wir erst den Gegenstand aus verschiedenen Beschreibungen kennen, dann ist's schwer, das Objective und Sub- jective darin zu unterscheiden. — Ferner gehoͤren hieher Be- schreibungen des Geschehenen in Memoiren, Tagebuͤchern und dergl., worin das kunstlose Wiedergeben der eigenen Auffassung herrscht. Da koͤnnen sich Urtheil und objective Wahrnehmung sehr vermischen, so daß die Unterscheidung der objectiven und sub- jectiven Elemente schwierig wird. Es ist dann die Aufgabe, das Wiedergeben der Auffassung als Thatsache im Gemuͤth des Verfassers zu betrachten. Ganz anders, wenn die Combination unter der Potenz eines bestimmten Zieles steht. Da ist zwischen den einzelnen Elemen- ten ein anderes Band des Fortschreitens, eine constante Groͤße, ein bestimmtes Verhaͤltniß jedes Punktes zu dem vorgesezten Ziele in Vergleichung mit jedem vorhergehenden. Je nachdem das Ziel ein anderes ist, ist auch die Art und Weise der Combination ver- schieden. Hier ist Methode der Combination und kuͤnstlerische Pro- duktion. Dem kunstlosen Memorienschreiber auf jener Seite z. B. steht auf dieser Seite der kuͤnstliche Geschichtschreiber gegenuͤber. Das hermeneutische Verfahren ist hier natuͤrlich ein anderes, als dort. Ich darf an den Memorienschreiber nicht die Anspruͤche machen, wie an den Geschichtschreiber. Es giebt keine Gattung der Mittheilung durch Rede, in der diese Differenz nicht waͤre. Überall, auch auf dem Gebiete der Wissenschaft, giebt es ein freies Spiel der Gedanken, welches der kuͤnstlerischen Produktion in gewissem Grade vorbereitend vorausgeht. Sehr mit Unrecht wuͤrde man jenes freie Spiel aus dem litteraͤrischen Gebiete verbannen. Die Geschichtforschung z. B. kaͤme zu kurz ohne die kunstlosen Denkwuͤrdigkeitenschreiber. Ja dieß gilt selbst auf dem Gebiete der Wissenschaft im engeren Sinne. In einem philosophischen Kunstwerke kann ich, je strenger wissen- schaftlich es ist, desto weniger die Genesis der Gedanken des Verf. erkennen. Diese ist versteckt. Was an der Spize des Systems steht, hat der Verf. nicht unmittelbar gefunden, sondern ist das Produkt einer großen Menge von Gedankenreihen. Um ein sol- ches Werk in seiner Genesis als Thatsache des Gemuͤths seines Verf. zu verstehen, muß etwas anderes gegeben sein, ein Werk freierer Mittheilung. Ohne das kann die Aufgabe nur durch eine Menge von Analogien geloͤst werden. So ist es schwer, den Aristoteles aus seinen Werken psychologisch kennen zu lernen, weil ein Werk des freien Gedankenspiels von ihm fehlt. Plato ist in dieser Hin- sicht schon leichter zu erkennen, weil seine Werke die Form der freien Darstellung haben. Diese ist freilich nur Maske, aber man sieht leichter hindurch, als bei Aristoteles. Dasselbe gilt sogar von der Mathematik. Die Elementen des Euklid hat man lange als ein Lehrbuch der Geometrie angesehen, bis andere gesagt haben, sein Zweck sei die Einschließung der regelmaͤßigen Koͤrper in der Kugel zu demonstriren, er gehe dabei von den Elementen aus, schreite aber so fort, daß er jenen Punkt immer im Auge habe. Über diese subjective Seite des Euklid wuͤrde nur moͤglich sein zu entscheiden, wenn wir von ihm ein Werk der andern Art haͤtten. Die Verschiedenheit der Gedankenerzeugung ist nicht bloß bedingt durch den Gegenstand und die Individualitaͤt des Redenden, son- dern auch durch die Verschiedenheit der Kunstformen. Pindar hat z. B. den Argonautenzug besungen, dieß ist ganz etwas anders, als die epischen Gedichte uͤber denselben Stoff. Ja Pindar selbst rde denselben ganz anders episch dargestellt haben, als er ihn lyrisch dargestellt hat. Die Auslegung hat also zu achten auf die Geseze der verschiedenen Arten der Produktion unter dem Be- griffe des Kunstwerks. Sonst verfehlt sie die verschiedenen Cha- raktere und Interessen. Der relative Gegensaz des rein Psychologischen und Technischen ist bestimmter so zu fassen, daß das erste sich mehr auf das Ent- stehen der Gedanken aus der Gesammtheit der Lebensmomente des Individuums bezieht, das zweite mehr ein Zuruͤckfuͤhren ist auf ein bestimmtes Denken und Darstellenwollen, woraus sich Reihen entwickeln. Am naͤchsten kommen sich beide Seiten, wenn ein Darstellenwollen, ein Entschluß nur festgehalten und die ge- legentliche Wirksamkeit abgewartet wird. Aber in ihrem Unter- schiede ist das technische das Verstehen der Meditation und das der Composition, das psychologische das Verstehen der Einfaͤlle, unter welchen auch die Grundgedanken mit zu begreifen sind, aus welchen sich ganze Reihen entwickeln, und das Verstehen der Nebengedanken. Zur psychologischen Interpretation gehoͤren zwei Momente. Sie wird desto leichter und sicherer, je mehr Analogie zwischen der Combinationsweise des Verfassers und der des Auslegers, und je genauer die Kenntniß von dem Vorstellungsmaterial des Verfasser ist. Beide Momente koͤnnen sich auf gewisse Weise gegen- seitig ergaͤnzen. Je genauer ich das Vorstellungsmaterial des Andern kenne, desto leichter werde ich die Differenz zwischen seiner und meiner Denkweise uͤberwinden und umgekehrt. Wenn ich mir die eine Bedingung vollkommen erfuͤllt denke, muß die an- dere dadurch zugleich erfuͤllt werden. Betrachten wir nun eben so die technische Seite in ihrer Allgemeinheit, so muͤssen wir von der Voraussezung ausgehen, daß sich irgend ein Denkzustand, eine Gedankenreihe aus einer Lebensthaͤtigkeit entwickelt. Sofern eine Gedankenreihe aus einer Lebensthaͤtigkeit entsteht, ist sie in ihrem Anfange schon implicite voͤllig gesezt, d. h. die ganze Reihe ist nur Entwicklung jenes Entstehungsmoments; die einzelnen Theile der Reihe sind schon durch die That bestimmt, wodurch die Gedankenbewegung ent- steht, und verstehe ich diese, dann verstehe ich auch jene. Dann faͤllt aber alles heraus, was in der Eigenthuͤmlichkeit des Denkenden keinen Grund hat; ich finde nur was sich aus der freien That selbst entwickelt hat. Da tritt nothwendig das Tech- nische ein. Denn sobald Jemand mit freiem Entschluß, freier That etwas zum Bewußtsein bringen will oder Bewußtes dar- stellen, was hier gleichviel ist, so ist er gleich genoͤthigt, eine Me- thode zu befolgen. Aber diese wird verschieden sein, je nachdem er sich in seiner Selbstbestimmung fragt, wie komme ich dazu, den Gegenstand gruͤndlich zu durchforschen, oder, wie bringe ich das Durchdachte in einer gewissen Richtung und fuͤr gewisse Men- schen zur Darstellung? Jenes ist die Methode der Meditation , dieses die Methode der Composition . Beide sind immer zweier- lei, und nicht bloß in einzelnen Beispielen, sondern in jedem Fall, wo der Begriff der Composition involvirt ist, zu unterscheiden. Die Meditation kann den Entschluß bisweilen nur auf eine ru- hende Weise, festhalten, so daß er nur gelegentlich wirksam ist, und dann wird gewiß die Composition, die Verknuͤpfung des Ein- zelnen zu einem Ganzen, als ein zweiter Akt postulirt. Dieser Fall ist aber im Grunde immer da. Denn auch wenn im ersten Entschluß die Form schon mitgegeben ist (man denke sich, daß Jemand den Entschluß faßt, ein Gedicht von bestimmter Art zu machen) und diese schon sehr viel Ausschließung und positive Be- standtheile enthaͤlt, wird doch im Componiren einzelnes so entste- hen, das es provisorisch muß zur Seite gelegt werden. So ist also die volle hermeneut. Aufgabe eben die, beide Akte in ihrer Verschiedenheit zu verstehen. Diese Unterscheidung zwischen Meditation und Composi- tion kann zweifelhaft machen, ob bei der weiteren Betrach- tung die Haupteintheilung in die psychologische und technische Seite der Aufgabe festzuhalten sei, oder die Unterabtheilung in der Ordnung der Composition betrachtet werden soll. Also in diesem Falle zuerst Auffindung des Entschlusses, d. i. der Einheit und eigentlichen Richtung des Werkes (psychologisch); als- dann Verstaͤndniß der Composition als der objectiven Realisi- rung von jenem; dann Meditation als genetische Realisirung des- selben (beides technisch); dann Nebengedanken als fortwaͤhrende Einwirkung des Gesammtlebens, worin der Verfasser sich befindet. Betrachten wir nemlich die Rede als ein abgeschlossenes Gan- zes, und erklaͤren sie aus ihrem Anfangspunke, so ist damit zu- gleich der Endpunkt gegeben. Der Anfangspunkt ist nur aus dem Leben des Einzelnen zu begreifen, also psychologisch. Allein wir sehen zugleich, wie der Redende dadurch gebunden sein Werk so oder so vollendete. So kommen wir auf die technische Seite. Da sind denn Composition und Meditation zu betrachten. Diese aber lagen schon implicite in dem Anfangspunkte. So kehrt die Aufgabe wieder zur psychologischen Seite zuruͤck. Und so scheint es, als koͤnnten beide Seiten, die psychologische und technische, ver- einigt werden. Indeß dieß geht nicht. Jede Seite bildet in An- sehung der Regeln ein Ganzes. Das Wesen des Unterschiedes zwischen beiden Seiten liegt darin, daß auf der rein psychologischen Seite der Mensch frei ist und wir also auf seine Verhaͤltnisse als Principien seiner Selbstbestimmung zuruͤckgehen muͤssen, waͤhrend auf der andern, der technischen Seite, sowohl in dem Moment der Meditation als der Composition die Macht der Form ist, die den Auctor beherrscht. Hier liegt im Conceptionsentschluß schon die Form mit. Sofern diese etwas schon bestehendes ist, ist klar, daß der Autor eben so Organ der Form ist, als Typus des gei- stigen Gesammtlebens, wie wir ihn auf der grammatischen Seite als Organ der Sprache ansehen. Dieß aͤndert sich auch nicht wesentlich, selbst wenn wir auf den Erfinder einer Form stoßen. Da fragen wir, wie kam der Verfasser dazu eine neue Form, Gattung zu erfinden? Wir unterscheiden ein negatives und ein positives Moment. Jenes ist das, daß der Keim eines Gedankencomplexus die vorhandenen Formen abstoͤßt wegen Mangels an innerer Zusammenstimmung. Da muß denn entweder der Stoff aufgegeben oder eine neue Form gesucht wer- den. Wird nun diese gesucht, so tritt das positive Moment ein. Absolut neu ist keine neuerfundene Form. Sie existirt schon ir- gendwo, nur nicht gerade an dem Punkt, wo der Verf. sie her- vorbringen will. Sie liegt entweder auf einem andern Kunstge- biete. Indem der Verf. sie auf das seinige heruͤberzieht, so erscheint er bei aller Neuheit doch als Nachahmer der schon vor- handenen. Oder die Form ist schon im Leben vorhanden, nur noch nicht in der Kunst gebraucht. So nahm das alte Drama als es entstand seine Form aus dem im Leben uͤberall vorhandenen Gespraͤch, so wie der fruͤhere Typus fuͤr die Kunstform des Epos die Erzaͤhlung ist. Selbst der Chor in den Dramen findet seinen Typus in dem Zusammentreffen des Einzelnen mit dem Volke. Wir muͤssen also sagen, selbst der Erfinder neuer Formen der Darstellung ist nicht rein frei in seinem Entschlusse; es steht zwar in seiner Macht, ob die Form eine stehende Kunstform wer- den soll oder nicht, aber er ist auch bei der Bildung der neuen in der Gewalt der Analoga, die schon vorhanden sind. Indem wir nun den Hauptunterschied der psychologischen und technischen Seite festhalten, fangen wir natuͤrlich bei dem Ver- staͤndniß des Impulses im Individuum an und gehen zum Fort- wirken des Gesammtlebens auf die Entwicklung des Ganzen uͤber, wobei wir, was dabei von Composition erwaͤhnt werden muß, als aus dem litterarischen Leben schon bekannt voraussezen koͤnnen. Die psychologische Aufgabe insbesondere. Die Aufgabe enthaͤlt ein Zwiefaches, was in Beziehung auf die Totalitaͤt des Werkes sehr verschieden, aber in Beziehung auf dessen elementarische Produktion sehr aͤhnlich ist. Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere die einzelnen Theile desselben aus dem Leben des Autors zu be- greifen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt, dieses das in einem Werke am meisten zufaͤllige. Beides aber ist aus der persoͤnlichen Eigenthuͤmlichkeit des Verfasser zu verstehen. Die erste Aufgabe also ist, die Einheit des Werkes als That- sache in dem Leben seines Verfassers. Es fragt sich, wie ist der Verf. zu dem Gedanken gekommen, woraus das Ganze sich ent- wickelt, d. h. welche Beziehung hat es zu seinem ganzen Leben und wie verhaͤlt sich der Entstehungsmoment in Verbindung mit allen andern Lebensmomenten des Verfassers? — Man koͤnnte glauben, die Aufgabe sei schon durch die Über- schrift geloͤst. Aber dies ist Taͤuschung. Denn die Überschrift ist nichts wesentliches fuͤr die Hermeneutik und hat im Alterthum fast immer gefehlt. In den Werken des Alterthums ist sie meist spaͤtern Ursprungs; ist auch oft ganz zufaͤllig ohne Bedeutung fuͤr die Einheit des Werkes, z. B. die Überschrift Ilias . Bei der Loͤsung der Aufgabe muß man von folgendem Ge- gensaze ausgehen. Auf der einen Seite, je mehr ein Werk der Form nach in den Beruf seines Verf. gehoͤrt, desto mehr versteht sich die Genesis im Allgemeinen von selbst. Da bliebe nun die Frage, wie der Verf. eben zu dem bestimmten Beruf gekommen. Allein dieß hat in Beziehung auf das einzelne Werk, welches vor- liegt, gar kein Interesse. Der entgegengesezte Fall ist der, daß die Aufgabe in dem Maaße schwer ist, in welchem die Thaͤtigkeit, woraus ein Werk hervorgeht, in dem Leben des Verf. zufaͤllig erscheint. In diesem Falle muͤßte, um die Aufgabe loͤsen zu koͤn- nen, das ganze Leben des Verfassers vorliegen. Wir unterscheiden hier die Frage, unter welchen Um - staͤnden ist der Verfasser zu seinem Entschluß gekom - men , von der , was bedeutet dieser in ihm , oder was hat er fuͤr einen bestimmten Werth in Beziehung auf die Totalitaͤt seines Lebens ? — Die erste Frage bezieht sich auf das Äußerliche und fuͤhrt auch nur zur Erklaͤrung des Äußerlichen. Ja es liegt darin et- was, was leicht vom rechten Wege abfuͤhrt. Es giebt in der Entstehung eines schriftstellerischen Entschlusses immer Zufaͤlligkei- ten. Dasselbe, was einmal im Gemuͤth und Leben angelegt ist, kann auch unter ganz andern Umstaͤnden zu Stande kommen. Man geraͤth, wenn man hier sucht und zusammenstellt, leicht in Anekdotenkraͤmerei. Denkt man sich einen fruchtbaren Schriftsteller und stellt sich seine Werke zusammen, so wird die richtige Betrachtung darauf ausgehen, eine gewisse Nothwendigkeit in denselben nachzuweisen, den inneren Fortschritt in der Zeitfolge, wie der Verf. unter den gegebenen Zeitverhaͤltnissen angefangen, wie er gestiegen, seine Hoͤhe erreicht habe, dann wieder gesunken sei. Ohne eine solche An- schauung der Zeitfolge in den Werken versteht man keinen Schrift- steller. Auch ist allerdings wichtig, wenn in einem Werke Anspie- lungen auf Zeitverhaͤltnisse u. s. w. vorkommen, dieselben aus den Zeitverhaͤltnissen zu verstehen. Aber die aͤußeren Umstaͤnde geben an sich nie eine genuͤgende Erklaͤrung des Entschlusses. Im Allgemeinen laͤßt sich in Beziehung hierauf folgende Re- gel feststellen: Je mehr ein Werk aus dem inneren Wesen des Schriftstellers hervorgegangen ist, desto unbedeutender sind fuͤr die hermeneutische Aufgabe die aͤußeren Umstaͤnde, ist hingegen der Verf. durch Äußeres zu dem Werke gedraͤngt worden, desto nothwendiger ist, die aͤußeren Veranlassungen zu kennen. Viel wichtiger ist die zweite Frage, was bedeutet der wahre, innere Keim des Werkes, der Entschluß im Leben des Verfassers? Nur bei eigentlichen Kunstwerken geht die Frage auf in der nach dem Verhaͤltnisse zwischen Stoff und Form. Die hermeneu- tische Aufgabe hat aber auf dieser Seite ein ungleich groͤßeres Gebiet. Man denke sich den Fall, daß mehrere derselben histori- schen Stoff bearbeiten und darstellen, wie verschieden werden sie darstellen? Der eine schreibt eine Chronik, der andere giebt eine pragmatisch zusammenhaͤngende Geschichte. Der eine hat vorzugs- weise eine kritische Tendenz, der andere will die ethischen Motive der Begebenheiten zur Anschauung bringen. Ohne Kenntniß der besonderen Tendenz, des besonderen Zweckes, versteht man die Construction des Werkes nicht. Aber die Tendenz, der Zweck eines Werkes kann sehr ver- schieden aufgefaßt werden. Diese Verschiedenheit wird durch die hermeneutischen Regeln nicht nothwendig gleich aufgehoben; jeder wird sich derselben auf seine Weise, nach seinem Standpunkte bedienen. Nun giebt es freilich Faͤlle, wo der Verf. seine eigenste Ten- denz kund giebt. Doch ist's auch damit eigen. Liest man, die bezeichnete Tendenz im Sinne, fort, und es kommen Stellen vor ohne eine Spur jener Tendenz, so wird man zweifeln, ob der Verf. wirklich die Tendenz gehabt. So wird die Loͤsung der Auf- gabe sehr erschwert. Das schwierigste aber ist, wenn man Werke vor sich hat, welche in das geschaͤftliche Leben eingreifen. Da kann es Faͤlle geben, wo die Tendenz absichtlich verborgen ist. Hat man genaue Kenntniß von der Sinnes- und Denkweise, so wie von den Verhaͤltnissen des Verf., und findet unter seinen Werken ein bestimmtes Verhaͤltniß statt, so ist die Loͤsung da- durch erleichtert. Aber es giebt Faͤlle, wo die Frage nach der Tendenz des Verfassers gar nicht zu beantworten ist. Steht die Frage an der Spize des ganzen hermeneutischen Verfahrens, so ist dasselbe allerdings gefaͤhrdet selbst von der grammatischen Seite, wenn jene nicht beantwortet werden kann. Es giebt solche Werke, die hermeneutische Raͤthsel bleiben, wo es uns an allem fehlt, um jene Frage zu beantworten. Aber es giebt etwas, wodurch das Übel verringert werden kann. Es findet, wie gleich anfangs gesagt ist, zwischen der Einheit des Ganzen und den einzelnen Theilen eines Werkes eine Gegenseitigkeit statt, so daß die Aufgabe auf zwiefache Weise gestellt werden konnte, nemlich, die Einheit des Ganzen aus den einzelnen Theilen und den Werth der ein- zelnen Theile aus der Einheit des Ganzen zu verstehen. Ist die Einheit des Ganzen unbekannt, so kann ich auch die einzelnen Theile nicht daraus verstehen, ich muß dann den andern Weg einschlagen, von dem moͤglichst vollkommenen Verstehen des Ein- zelnen aus die Einheit des Ganzen zu erkennen. Allein jenes ist selbst sehr schwierig, daher kein sicherer Weg zur Loͤsung der Auf- gabe. Nur wird dadurch das Raͤthselhafte auf gewisse Weise be- schraͤnkt. Die Hauptsache aber ist die Methode, nach welcher das Ganze und seine Einheit aus dem Einzelnen zu verstehen ist. Dieß geschieht vermittelst der Composition, aber, um nicht beide Seiten der Interpretation, die psychologische und technische zu verwirren, nur so daß davon nur so viel vorausgesezt wird, als davon schon an dieser Stelle der Auslegung verstanden werden kann. Geht nach Analogie eines Kunstwerks alles Einzelne in der Einheit des Stoffes und der Form auf, so ist indem ich dieß erkannt habe die Aufgabe geloͤst. Wenn dagegen das Einzelne nicht alles in der Einheit des Stoffes und der Form aufgeht, und zwar so, daß das uͤbrigbleibende eine gemeinsame Beziehung hat, so liegt eben hierin die verborgene Einheit, der heimliche Zweck des Verfassers. Diesen mit Sicherheit zu erkennen, hat natuͤrlich große Schwierigkeit. Man kann sich dieß anschaulich machen an der Hypothese von der antichristlichen Tendenz des Werkes von Gibbon. Jeder solche Zweck stoͤrt die natuͤrliche Un- befangenheit des Schriftstellers in der Composition. Daher ist eine heimliche Absicht in Werken, die rein auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft liegen, nicht so zu erwarten, wie in Wer- ken, welche dem Geschaͤftsleben angehoͤren. Kommt so etwas in Werken der Kunst und Wissenschaft vor, so wird dadurch der kuͤnstliche und wissenschaftliche Werth bedeutend verringert. Das Geschaͤftsleben ist fuͤr die litteraͤrische Produktion ein sehr be- schraͤnktes Gebiet. Aber es giebt nicht selten Collisionen zwischen der rein wissenschaftlichen und kuͤnstlerischen Richtung auf der einen Seite und der Richtung auf die Lebensgestaltung auf der andern Seite. Da kann das Diplomatische eindringen. Dieß ge- schieht vornehmlich in Zeiten und Zustaͤnden, wo auf dem Ge- biete der Kunst und Wissenschaft Partheiungen sind, die ins Leben eingreifen, oder wo das Staatsleben mit dem wissenschaft- lichen und kuͤnstlerischen in Opposition ist. Also ist eine vollstaͤn- dige Kenntniß der Lebensverhaͤltnisse und Zustaͤnde des Verfassers nothwendig, um zu wissen, ob man dergleichen geheime Absichten in seinen Werken zu suchen hat oder nicht. Die Praͤliminarien zu dem Studium eines Werkes muͤssen andeuten, ob in demselben eine solche Einheit vorauszusezen sei, in der das Ganze aus dem Einzelnen und umgekehrt zu erklaͤren ist. Aber damit ist die eigentliche Tendenz nur im Allgemeinen gegeben. Die Aufgabe aber ist dann dieselbe durch alle Einzel- heiten des Werks zu verfolgen. Gehen wir zur Loͤsung dieser Aufgabe auf den Keimentschluß des Verf. genau ein, so entsteht zuerst die Frage, was fuͤr ein quantitativer Theil seines Lebens ein solcher sei. Der Keimentschluß kann in dem Verf. selbst einen dreifachen Werth haben. Das Maximum des Werthes haben wir in dem eigentlichen Lebenswerk, wenn jener Entschluß ein das ganze Leben ausfuͤllender ist. Das Minimum davon ist in dem Gelegenheits- werke, welches mit keinem Theile des Berufs im Zusammenhang steht, sondern rein zufaͤllig ist. Dazwischen liegt ein drittes, Stu- dien, als auch gewoͤhnlich von Gelegenheit ausgehende Voruͤbung auf ein Werk. Jede solche Produktion ist nicht das Werk selbst, noch ein Theil desselben, gehoͤrt aber auch nicht ins Gelegentliche, weil es in Beziehung auf jenes Werk steht. Dieß sind die drei quantitativen Abstufungen im Keimentschluß, und es ist leicht einzusehen, daß sie fuͤr die hermeneutische Operation von großer Wichtigkeit sind. Ist das hermeneutische Verfahren ohne Kennt- niß und richtige Ansicht von dem verschiedenen Werth des Keim- entschlusses, woraus eine Schrift hervorgeht, so sind Mißverstaͤnd- nisse unvermeidlich. Man kann ein Stuͤckwerk nicht auslegen, wie ein eigentliches Lebenswerk. Dort z. B. sind Ungleichheiten in der Behandlung zu erwarten. Je organisirter ein Werk ist, so daß jedes mit dem Ganzen und der Grundeinheit genau zusam- menhaͤngt, um so weniger werden Ungleichheiten bemerkbar sein. Das hermeneutische Verfahren muß dort ein anderes sein, als hier. Wie gelangen wir nun dazu, zu bestimmen, ob ein Werk das eine oder andere sei? Wir muͤssen die Gesammtthaͤtigkeit des Ver- fassers kennen. Denken wir uns, daß ein und derselbe Schrift- steller ein eigentliches Werk und auch Studien zu dem Werke ge- macht habe, jenes aber sei verloren gegangen, und nur diese noch vorhanden. Weiß ich das nicht, so wird man uͤber den Verfasser schwerlich ein richtiges Urtheil gewinnen. Man wird sagen, das Werk sei unvollkommen, einseitig gearbeitet. Das ist aber ein falsches Urtheil und das Verstehen der Schrift als Thatsache wird dadurch wesentlich alterirt. Oder ein Anderer wird urthei- len, es sei durchaus keine Harmonie in jener Produktion und man koͤnne daraus schließen, der Verf. habe kein gleiches Interesse an der Bearbeitung der ganzen Gattung gezeigt, nur einzelne Theile bearbeitet. Dieß Urtheil waͤre aber eben so falsch. Das eine wie das andere ist der hermeneutischen Behandlung nachtheilig, beide beruhen aber auf der Unkenntniß von der Gesammtthaͤtigkeit des Verfassers. Nehmen wir den Gegensaz zwischen Werken und ge- legentlichen Produktionen, so ist klar, daß in jenen der Verfasser sich weit klarer aussprechen muß als in diesen. Diese beruhen nemlich auf einfachen Impulsen und sind fuͤr sich bestehende Ele- mente. Es ist in ihnen eine gewisse Selbstverlaͤugnung und die Thaͤtigkeit des Verf. bestimmt sich mehr durch sein Verhaͤltniß zu dem, von dem der Impuls ausgegangen. Er muß sich auch rich- ten nach dem Geschmack des Kreises, in welchem seine Produktion entstanden ist. Die Materie wird ihre Erklaͤrung finden aus einem bestimmten Kreise des Gesammtlebens, auf den es sich bezieht, nicht aus dem Verfasser selbst. Was eine Gelegenheitsschrift ist, haͤtte auch koͤnnen ein Werk werden, aber dann waͤre es ein ganz anderes geworden. Es giebt ein Beispiel von hohem Kunstwerthe, an dem jener Unterschied schwer zu erkennen ist, das sind die Pindarischen Oden. Auf der einen Seite erscheinen sie als Ge- legenheitsstuͤcke, auf der andern sind sie vollendete Kunstwerke, und so erscheint was das entgegengesezteste schien hier in gegensei- tiger Durchdringung. Das Raͤthsel loͤst sich, wenn man sagt, der Dichter habe jene Gelegenheitsstuͤcke zu seinem Beruf gemacht, d. h. der Dichter will eben in diesem bestimmten Lebenskreise, worauf das Gedicht sich bezieht, sich manifestiren, und so noͤthigt er das Gelegenheitswerk als solches auch Kunstwerk zu werden. 11 Solche Erscheinung ist selten, aber fuͤr die Hermeneutik muß sie in ihrem quantitativen Werthe richtig geschaͤzt werden. Nehmen wir beide Differenzen die der Gelegenheitsschrift und des Werkes zusammen, und gehen davon aus, daß jedes Werk eine Ein- heit haben koͤnne, die hoͤher ist als die reine Beziehung von Stoff auf Form, so ist das Gelingen der hermeneutischen Aufgabe ganz davon abhaͤngig, daß diese richtig gefunden werde. Beide Arten haben verschiedenen Werth nach der Verschiedenheit des Werthes des Schriftstellers. Bei einem unbedeutenden kuͤmmert man sich nicht darum, was er mit dem Werke gewollt. Worin liegt aber der Unterschied zwischen einem wichtigen und unwichtigen Schrift- steller? Der leztere ist ein solcher, bei dem es am wenigsten dar- auf ankommt, sein Werk als Thatsache seines Lebens zu verste- hen, wo vielmehr diese Seite ganz gegen die grammatische ver- schwindet. Es giebt, wie oben gesagt, Faͤlle, wo der Schrift- steller die Einheit seines Werkes zu verbergen sucht. In einem sol- chen Falle werden am meisten solche Theile sein, die durch die gegenseitige Beziehung von Stoff und Form nicht verstanden wer- den koͤnnen. Vergleichen wir nun dieß mit der zulezt bemerkten Differenz und fragen was zu jenem Maximum und Minimum gehoͤrt? Denken wir es gebe in einem Werke nichts Einzelnes, was nicht aus der Beziehung von Stoff und Form zu verstehen sei, so wuͤrde dieß das vollkommenste Kunstwerk im gewissen Sinne sein, aber weil nur Kunstwerk als Werk des Einzelnen sehr unvollkommen. Ließe es sich nemlich ganz begreifen aus der Be- ziehung von Stoff und Form, so wuͤrde, wenn die Form gege- ben waͤre, die ganze Thaͤtigkeit des Verfassers sich darauf bezie- hen, daß er den Stoff gewaͤhlt und die dazu gehoͤrige Form. Dieß kann nun so nicht vorkommen, weil es nicht so absolut bestimmte Formen giebt, daß, wenn der Stoff gegeben ist, sich alles von selbst versteht. Aber je mehr Stoff und Form bestimmt sind, desto weniger wird Individuelles, Eigenthuͤmliches vorkom- men. Sollen wir uns denken, daß ein Werk einen gewissen Grad von Vollkommenheit habe ohne allen Einfluß der Eigenthuͤmlich- keit seines Verfassers, so muͤßte das Gebiet, wozu es gehoͤrt, mechanisirt sein. In feststehenden Formen naͤhert man sich sol- chem mechanisirten Gebiete. Je bestimmter die Geseze einer Form sind, desto leerer ist die Produktion von Eigenthuͤmlichkeit. So steht das individuelle Leben dem Mechanisirten gegenuͤber. Aber das Verhaͤltniß ist in den Schriften verschieden. Rein tritt das Individuelle nie zuruͤck. Hier kommen wir aber in Verlegenheit in Beziehung auf das, was sich in der Theorie der Kunst geltend gemacht hat. Denke man sich den Fall der alten Tragoͤdie. Hier ist die Form auf eine gewisse Weise und in einem bestimmten Grade bestimmt. Haben mehrere Dichter denselben Stoff neben einander zu bearbei- ten, so werden ihre Dispositionen sehr aͤhnlich sein. Je groͤßer die Differenz ist, desto mehr wird auf der einen oder andern Seite groͤßere oder geringere Unvollkommenheit sein. Welches ist nun aber der Grund der Verschiedenheit? Indem wir das Ganze auf einen Willensakt der Verfasser zuruͤckfuͤhren, fragt sich, was hat der eine und der andere gewollt? Die Beziehungen von Stoff und Form sind dabei nur aͤußerlich. Wollte man sagen, der eine oder andere habe dabei einen bestimmten politischen oder moralischen Zweck gehabt, so wuͤrde die Kunsttheorie einwenden, dadurch sei der reine Charakter des Kunstwerks verlezt, ein Kunstwerk muͤsse keinen bestimmten Zweck haben. Ist diese Theorie richtig, so wuͤrde man nur sagen duͤrfen, es koͤnne eine bestimmte Richtung zum Grunde liegen, aber kein bestimmter Zweck. Dieß gilt aber nur sofern als das auszulegende Werk ein reines Kunstwerk ist, denn da bleibt nichts uͤbrig, es geht alles in Stoff und Form auf. Soll der Werth einer Schrift der eines reinen Kunstwerks sein, so darf auch nichts anderes in den Keimentschluß gesezt werden, als die reine Selbstmanifestation in der gegenseitigen Correspon- denz von Form und Inhalt. So entsteht aber die Frage fuͤr die Hermeneutik, ob ein Werk als Kunstwerk angesehen sein wolle oder nicht? Wird dieß nun durch die Form bestimmt oder nicht? Hat sich in einem bestimmten Sprach- und Nationalgebiete die 11* Kunst auf eine gewisse Weise gestaltet, dann muß sich an der Form sicher unterscheiden lassen, ob ein Werk so wolle behandelt sein oder nicht. Aber wo ist dieß jemals so vollkommen bestimmt gewesen? Denkt man es aber auch aufs vollkommenste, im zu- sammenhaͤngenden Leben werden die Faͤlle nicht ausbleiben, wo die eigentliche Kunstform zu besonderen Zwecken gemißbraucht ist. Doch laͤßt sich das leicht erkennen. Der Kuͤnstler hat vielleicht seinen eigentlichen Zweck verborgen, aber das Kunstwerk wird Einzelheiten enthalten und zwar nicht zerstreuet und nicht Neben- sachen, die ein Ganzes bilden und die wahre Tendenz ausmachen. Allein hier kommen wir auf ein großes Gebiet, welches in dieser Beziehung im gewissen Sinne zweideutig ist. Nemlich uͤberall, auf allen Gebieten auch außer dem eigentlichen Kunstgebiet findet sich eine gewisse Tendenz zur Kunst, wodurch die Frage zweideu- tig wird und die Antwort schwierig. So hat die Geschichtschrei- bung einen rein wissenschaftlichen Ursprung, aber eine große An- naͤherung an das Kunstgebiet. Niemand aber erzaͤhlt Begeben- heiten ohne seine Art und Weise die Sache anzusehen und zu beurtheilen. Dieß ist nicht sein Zweck, sondern das Unvermeid- liche; in dem Grade aber, in welchem es das ist, ist es bewußt- los und in sofern ohne Einfluß auf die Composition. Ganz an- ders, wenn Jemand die Geschichtschreibung als Mittel gebraucht, um gewisse Principien und Maximen zu empfehlen oder zuruͤck- zuhalten. Das ist ein bestimmter Zweck, der nicht in dem natuͤr- lichen Verhaͤltniß von Stoff und Form liegt. Je mehr aber ein besonderer Zweck der Darstellung so obwaltet, daß er sich verbergen muß, um so mehr ist die Form fuͤr sich als Kunstgebiet zu be- trachten. So giebt es also nicht bloß einen Gegensaz zwischen Praxis und Kunst, sondern auch zwischen Wissenschaft und Kunst. Die wissenschaftliche Darstellung hat auch ihren Zweck in sich sel- ber, aber er ist ein anderer, als die Selbstmanifestation in der Kunst, nemlich die Mittheilung von etwas Objectivem, von Erkennt- niß. In dem Grade in welchem sich die wissenschaftliche Dar- stellung der Kunstform naͤhert, entsteht auch eine andere Compo- sition. Je mehr ein wissenschaftlicher Gegenstand jene Annaͤhe- rung vertraͤgt, desto mehr entsteht bei der Auslegung die Frage, ob der Schriftsteller eine solche Annaͤherung gewollt habe. Hat er sie urspruͤnglich gewollt, so wird sie sich in der ganzen Com- position darlegen. Was aber den verborgenen Zweck betrifft, so ist ein solcher in der rein wissenschaftlichen Mittheilung weniger denkbar, als da, wo eine Annaͤherung zur Kunstform statt fin- det. In diesem Falle liegt der besondere Zweck nicht so am Tage und will aufgesucht werden. Nun giebt es schon gewisse Kunst- maaße an und fuͤr sich in der schriftlichen Darstellung. Ein mehr und weniger davon hat Einfluß auf die ganze Composition. Die- selben Gedanken erfordern eine andere Darstellung, wenn die Schrift auch wohlgefaͤllig sein soll in kuͤnstlerischer Hinsicht, als wenn bloß der Zweck der objectiven Darstellung obwaltet. Ver- fehlt man diese Differenz, so kann man das Verfahren des Schrift- stellers nicht gehoͤrig reconstruiren. Aber wiewohl das Extreme sind, die rein kuͤnstlerische Darstellung fuͤr sich und das Erreichen eines positiven Zweckes, so gehoͤrt doch selbst zu dem lezteren eine gewisse kuͤnstlerische wohlgefaͤllige Behandlung der Sprache, weil sonst die Leser abgestoßen werden. Es kommt nur darauf an, den Grad des kuͤnstlerischen Elements zu bestimmen. Alles was in einem gewissen Umfange Mittheilung durch die Rede ist, ist Gegenstand der Auslegungskunst, und es liegt dieß entweder in einem bestimmten Geschaͤftskreise oder hat Analogie mit der Wissenschaft oder mit der Kunst. Diese sind nun unmoͤg- lich einander schroff entgegengesezt. Selbst das was im Geschaͤfts- kreise versirt, kann eine kunstgemaͤße Darstellung haben. Es giebt da Gemeinschaftliches und Übergaͤnge. Aber man kann sich be- stimmte Gesichtspunkte stellen und unterscheiden, ob ein Werk mehr aus dem einen oder dem andern aufzufassen sei. Gewisse Complexus von Gedanken, die Gegenstand der Aus- legung werden, haben eine Einheit, die in der Beziehung zwi- schen Gegenstand und Form liegen. Das ist die objective Ein- heit in allen drei Gebieten. Man kann dabei noch unterscheiden die objective, sofern sie rein im Stoff liegt, und die technische, in Beziehung auf die Form. Die eine muß durch die andere ver- standen werden. Außerdem hat jeder Gedankencomplexus eine Einheit, die uͤber jene hinausliegt, die subjective, die Willens- meinung des Verfassers, wodurch Stoff und Form zusammenkom- men. In jedem Werke, das im Kunstgebiet liegt, ist keine andere Einheit vorauszusezen, als die Selbstmanifestation. Da wie ge- sagt die rein kuͤnstlerische Produktion durch jede anderweitige Rich- tung alterirt wird, so entsteht die Aufgabe dieß zu finden, wenn es vorhanden ist. Im Allgemeinen fragt sich, wie sind in den verschiedenen Arten und Gebieten der Composition die subjectiven Nebenzwecke oder untergeordneten Einheiten zu finden? Man darf einen solchen Nebenzweck niemals unmittelbar voraussezen, es muͤßte denn schon aus der Schrift selbst eine Ahnung davon ent- stehen. Es ist oben der Fall gesezt worden, daß bei Werken auf dem Gebiete der Kunst eine bestehende Kunstform so dominire, daß die Differenz zwischen mehreren, die denselben Stoff kuͤnstle- risch darstellen, sehr gering werde. Allein dieß war nur eine Fiction, um zu zeigen, wie die objective Einheit so dominiren koͤnne, daß die subjective Selbstmanifestation nicht genug heraus- treten koͤnne. Sezen wir nun aber, daß ein Zustand der Kunst sich jener dominirenden Macht des Objectiven naͤhere, dabei aber in den Subjecten ein maͤchtiger Drang zur Selbstmanifestation vorhanden sei, so werden in diesem Falle neue Formen gesucht werden. Es entsteht ein Antagonismus zwischen dem Beherrscht- werden des Kuͤnstlers durch die Form und dem Produciren desselben in der Form. Denken wir uns, daß dabei ein Neben- zweck sei, so wird dieser eine gewisse Gewalt ausuͤben gegen jenes Herrschen der Form. Und eben daran wird man die Selbstmani- festation des Verfassers erkennen. Alles, was nicht durch die Darlegung des Stoffes bestimmt ist, giebt uns ein Bild von dem Verfasser in seiner Art zu denken. Eben so, wenn mehrere den- selben Gegenstand behandeln mit derselben Tendenz, und es fin- den sich Elemente, worin sich jene gemeinsame Tendenz nicht zeigt, so erkennt man hierin die Verschiedenheit und Eigenthuͤmlichkeit in den Willen der Verfasser. Selbst in jedem wissenschaftlichen Werke wird es Elemente geben, an welchen sich das Maaß von dem Willen des Verfassers in der Darstellung nehmen laͤßt. Hat der Wissenschaftliche den Zweck durch seine Darstellung Wohlge- fallen zu erregen, so ergiebt sich aus dem Zusammenstellen der rein didaktischen Form mit den nicht dazu wesentlich gehoͤrenden Elementen die urspruͤngliche Willensmeinung des Verfassers. Der besondere Nebenzweck kann verborgen sein oder nicht. Im lezte- ren Falle z. B. wird eine wissenschaftliche Schrift offenbar pole- misch sein. Auf dem reinen Kunstgebiete ist es nothwendig, den Nebenzweck zu verbergen, auf dem Gebiete des Geschaͤftslebens nur moͤglich. Dort ist das Verbergen mit der Willensmeinung gleich mitgesezt, und wird sich also auch in der Darstellung im Einzelnen zu erkennen geben. Wenn das Verbergen dagegen nur moͤglich ist, so gehoͤrt viel Aufmerksamkeit waͤhrend der hermeneu- tischen Operation dazu, das Verborgene zu finden, man muͤßte denn durch genaue Kenntniß des Schriftstellers und seiner Lage im Voraus eine Ahnung davon haben. Dabei kommt es aber an auf das richtige Auffassen der Haupt- und Nebengedanken. Die Hauptgedanken haͤngen mit dem Ineinandergehen des Stoffes und der Form genau zusammen, die Nebengedanken nicht. Das Verhaͤltniß ist aber sehr verschieden, die Bestimmtheit desselben gehoͤrt wesentlich zur Einheit des Werkes und bestimmt den Cha- rakter desselben. Um zur Einheit davon zu gelangen, muß man sich das Verhaͤltniß in seinen Extremen denken. Auf der quan- titativen Seite des Verhaͤltnisses kann der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken verschwinden, wenn die Nebenge- danken entweder ausgeschlossen sind oder einen verhaͤltnißmaͤßig gleichen Raum einnehmen. Ist der Gegensaz aufgehoben, so wird das Werk mehr eine freie Gedankencombination sein, ein freies Spiel. Dominirt dagegen der Gegensaz, so wird die Einheit des Werkes bestimmter, hoͤher sein. Im andern Falle tritt die Selbstmanifestation des Verfassers schaͤrfer hervor. Im Allgemei- nen koͤnnen wir folgendes feststellen: Wo bestimmte Form ist, da do- minirt jener Gegensaz, und umgekehrt, wo der Gegensaz nicht domi- nirt, da ist Formlosigkeit oder die Form ein Minimum. Damit ist das qualitative Verhaͤltniß bezeichnet. Ist der Gegensaz durch einen Entschluß aufgehoben, so ist das nichts anderes, als sich auf un- bestimmte Weise einer freien Produktion hingeben von dem Punkte an, wo der Entschluß ist. Eine solche Aktion waͤre Null, wenn nicht ein bestimmender Punkt da waͤre, ein Anknuͤpfungspunkt. Man kann sich dieß anschaulich machen an der freien Produktion in der Conversation; da ist der Anknuͤpfungspunkt wenigstens das Zu- sammensein. Das Analogon davon auf dem Schriftgebiete ist die Correspondenz, ein durch die Form auseinander getretener Dialog. Hier ist der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken gar nicht in der urspruͤnglichen Volition der Schreibenden. Gegenuͤber stehen alle Produktionen, in denen jener Gegensaz dominirt. Hier tritt nun fuͤr die hermeneutische Theorie wieder die Frage ein nach dem Verhaͤltniß des Psychologischen und Technischen. Gehen wir von dem Keimentschluß aus, um die Einheit eines Werkes als Thatsache im Leben seines Verfassers zu begrei- fen, so ist die Entwicklung des Keimes abgesehen von dem freien Gedankenspiel Gegenstand der technischen Interpretation, in der wir Meditation und Composition unterschieden haben. Denke man sich den Fall eines freien sich gehen lassens in Gedanken, die einem anderen mitgetheilt werden, so muͤssen wir, um den Anknuͤpfungspunkt zu finden, das Verhaͤltniß zwischen beiden, dem Verfasser und Leser, kennen. Da entsteht nun gleich der Unterschied zwischen dem, was sich aus diesem Verhaͤltniß von selbst entwickelt, und dem, was von Außen zu dem Schriftsteller kommt. Diesen Unterschied muß man auffassen, aber er kann in diesem Falle ein Minimum sein. Eben so laͤßt sich gar nicht be- haupten, daß z. B. ein Brief keine Form, keine Composition habe. Da tritt auch der Unterschied zwischen Meditation und Compo- sition hervor, sofern doch der Brief einen Gedankeninhalt hat. Das Alles freilich im verjuͤngten Maaßstabe. Der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken gestaltet sich immer aus der Noth- wendigkeit der Form, wenn er auch nicht von Anfang an gewollt ist. Dieß ist das Naͤchste, wovon alle weitere hermeneutische Ope- ration auf dieser Seite abhaͤngt. Die Form sei, welche sie wolle, von dem Augenblicke an, wo der Entschluß zu einer Form ent- standen ist, ist der Verfasser Organ der Form, freier oder gebun- dener, je nachdem die Form selbst mehr frei oder gebunden ist. Die Einheit selbst kann in dem Keimentschluß staͤrker und schwaͤcher gedacht sein. Die schwaͤchste ist wenn der Entschluß nur lautet, sich in der Gedankenmittheilung gehen zu lassen. Hierin ist der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken ganz auf- gehoben. Am staͤrksten und fuͤr die Auslegung am fruchtbarsten ist sie, wenn sie am meisten fuͤr den Verfasser bindend ist und auf eine bestimmte Form sich bezieht. Zwischen diesen beiden End- punkten liegt die ganze bewegliche Reihe von einzelnen Momenten. Anwendung des bisher Eroͤrterten auf das N. T. Die Loͤsung der rein psychologischen Aufgabe hat gerade im N. T. bedeutende Schwierigkeiten. Wir haben im N. T. abge- sehn von der Apokalypse zwei Formen, die historische und epi - stolische . Von den historischen Schriften tragen vier denselben Namen, Evangelien. Diese Überschriften koͤnnen nicht als Aus- druck des Keimentschlusses der Verfasser angesehen werden, denn sie sind nicht gleichzeitig mit den Schriftstellern entstanden, und enthalten gewissermaßen schon einen hermeneutischen Ausspruch, der aber als problematisch zu betrachten ist. — Alle vier be- handeln denselben Gegenstand, das Leben Jesu Christi, und zwar in historischer Form. Allein wollte man nun sagen, jeder habe wollen eine Biographie Christi schreiben, so waͤre das schon zu viel gesagt. — Weiter bemerkt man in mehreren so viel Iden- tisches, daß man dieß nicht als accidentiell ansehen kann, sondern nur erklaͤren kann aus zum Grunde liegenden gemeinsamen Er- zaͤhlungen, von denen aber der eine dieß, der andere jenes ge- nommen oder ausgelassen habe und wieder mehrere eben dasselbe. — So entstehen verschiedene Vorstellungen uͤber den Keimentschluß und die urspruͤngliche Einheit. Je nachdem sie in Beziehung auf ihre Materialien bloß als Sammler, Zusammensteller, oder als eigentliche Schriftsteller angesehen werden, sind die Erscheinungen der Gleich- heit und Verschiedenheit in ihren Darstellungen auch verschieden zu erklaͤren. Aber wie soll man das entscheiden? Bei so bedeutender Übereinstimmung kann das richtige Verfahren nicht das sein, bei je- dem einzelnen fuͤr sich aus einer allgemeinen Übersicht die urspruͤng- liche Einheit zu suchen, sondern nur, wenn man sie eben so wohl zusammen als einzeln behandelt, kann man zu einem sichern Re- sultat gelangen. Die Aufgabe, bei diesen Buͤchern die urspruͤng- liche Einheit zu finden, ist von einem andern Gesichtspunkte aus angesehen eine Aufgabe der historischen Kritik. Allein nicht nur bedingen einander uͤberhaupt Hermeneutik und Kritik, sondern es tritt hier der Fall ein, daß die Frage der historischen Kritik nach dem Ursprung unsrer Evangelisten erst hervorgegangen ist aus der genaue- ren hermeneutischen Operation. Aber wir koͤnnen uns die herme- neutische Operation erleichtern, wenn wir aus der historischen Kritik als Thatsache voraussezen die beiden Hauptmeinungen, die eine, daß die Evangelien selbststaͤndige Produktionen Einzelner seien, die andere, wonach sie Zusammenstellungen von vorher schon bekannten und verbreiteten Erzaͤhlungen aus dem Leben Jesu sein sollen, und nun fragen, wie in dem einen oder dem andern Falle die Buͤcher aussehen muͤssen? — Aber davon abgesehen, stellen wir uns die Frage rein hermeneutisch, die eigentliche Einheit der Buͤcher zu finden, so haben wir zunaͤchst vor uns die erzaͤhlende Form. Be- ziehen wir nun zuerst Stoff und Form auf einander, so finden wir, der gemeinschaftliche Stoff ist das Leben Jesu von seinem oͤffentlichen Auftreten an bis zu seinem Verschwinden von der Erde. Aber da tritt nun gleich eine Verschiedenheit ein, indem einige Evangelisten bis auf den Anfang des Lebens Jesu uͤberhaupt zuruͤck- gehen, andere nicht. Diese Ungleichmaͤßigkeit bei demselben Stoff und derselben Form laͤßt vermuthen, daß jene Vorgeschichten bei Matthaͤus und Lukas nicht zur urspruͤnglichen Einheit von Stoff und Form gehoͤren. Verfahren wir nun vergleichungsweise, und wen- den dabei eben festgestellten Kanon an, daß wenn ein Verfasser einen besonderen Zweck außer der Behandlung eines bestimmten Stoffes in einer bestimmten Form habe, dieser Zweck aus den Elementen seines Werkes klar werden muͤsse, die auf jene Weise nicht zu verstehen seien, so wird man, wenn wir voraussezen, das Wesentliche des Evangeliums sei in beiden Arten dasselbe, fragen muͤssen, ob sich aus dem, was die einen aus der Jugendgeschichte Jesu mittheilen, ein besonderer Zweck der Darstellung erkennen lasse? Aus dem Wunderbaren darin darf man nicht schließen, jene haͤtten den besonderen Zweck gehabt, Christum als wunder- bare Person darzustellen. Denn auch bei den andern ist das Wunderbare hinlaͤnglich vorhanden. Das Einfachste ist zu sagen, die andern haben von der Kindheitsgeschichte keine Kunde gehabt; die Gesellschaft, von der alle Nachrichten uͤber Jesus ausgehen mußten, habe sich erst mit seinem oͤffentlichen Auftreten um ihn gesammelt; da beginne also erst der Stoff, der historisch behandelt werden koͤnne; die, welche daruͤber in ihren Evangelien hinaus- gingen, hatten Gelegenheit mehr zu erfahren, die andern Evange- listen nicht. Sagt man, die andern haͤtten die Gelegenheit zwar auch haben koͤnnen, aber verschmaͤhet, so stellt sich das hermeneu- tische Verhaͤltniß ganz anders. Jenes Verschmaͤhen koͤnnte dann seinen Grund darin haben, daß die Absicht war, nur das oͤffent- liche Leben Christi zu beschreiben, in sofern darin allein Grund zur Stiftung des Christenthums gelegen habe. Die andern Evan- gelisten dagegen wollten alles geben, was sie von Christo in Er- fahrung bringen konnten. So entsteht schon eine verschiedene Ein- heit der einen und andern Classe. Die strengere hat alles aus- geschlossen, was nicht zum oͤffentlichen Leben Jesu gehoͤrt. Ge- schah dieß mit Wissen des anderweitigen Stoffes, so ist diese strengere Einheit eine positive. Die Einheit wuͤrde eine sehr laxe sein, wenn ohne eine bestimmte innere Schaͤzung nur nach ganz aͤußeren Bestimmungsgruͤnden der beschraͤnkten Zeit, des be- schraͤnkten Raumes aus dem vorhandenen Stoffe ausgelassen und aufgenommen waͤre. Bei der strengeren Art koͤnnte der Fall sein, daß sie die Kindheitsgeschichte nicht aufgenommen, weil das ein Punkt gewesen, von dem man nicht gleichmaͤßig fortschreiten koͤnne, sofern von der Zwischenzeit nichts bekannt sei, oder auch deßhalb nicht, weil die Aufnahme die Darstellung des wichtigeren Theiles, des oͤffentlichen Lebens, beschraͤnkt haben wuͤrde. Dies leztere waͤre eine mehr technische Ruͤcksicht, weil das gleichmaͤßige Fortschreiten und das Erschoͤpfen des Stoffes in der Form zu dem Kunstmaͤßigen der historischen Darstellung gehoͤrt. Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit unseren Evangelien? Vergleichen wir Johannes und Markus, welche keine Kind- heitsgeschichte haben, miteinander, so zeigt sich eine große Ver- schiedenheit. In Markus bloß Aneinanderreihung einzelner Zuͤge, welche jeder rein um sein selbst willen erzaͤhlt werden, und ganz gleiches Verhaͤltniß zum Ganzen haben. In dem Joh. Evange- lium dagegen ein fortschreitender Zusammenhang, eine organische Verknuͤpfung So war also in beiden der Entschluß schon ur- spruͤnglich verschieden. Bei Johannes ist wegen des Organischen eine technische Richtung zu vermuthen, bei Markus nicht. So scheint also die Abweisung des Fruͤheren bei Johannes darauf zu beruhen, daß es nach seiner Ansicht nicht zu dem bestimmten Zwecke gehoͤrte, Christum als Stifter der christlichen Kirche darzustellen. Wir finden, daß er selbst in dem Zeitraume des oͤffentlichen Lebens das ausließ, was mit jenem bestimmten Zwecke in keinem bestimmten Zusammenhang stand. Von Markus koͤnnen wir dieß nicht sagen, weil er eine Menge Zuͤge und Nebenumstaͤnde erzaͤhlt, die mit einem solchen bestimm- ten Zwecke nicht zusammenhaͤngen, und sich uͤberhaupt sein Ver- fahren nicht auf eine bestimmte Weise fassen laͤßt. So haben wir also keine Ursache, den Markus von der Analogie mit den beiden andern Evangelisten, Matthaͤus und Lukas, auszuschlie- ßen. Johannes muß, da er Gelegenheit haben mußte, jenes Fruͤhere zu erfahren, schon wegen seines genauen Verhaͤltnisses zur Mutter Jesu, bestimmte Gruͤnde gehabt haben, es auszu- lassen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen duͤrfen, daß ihn an der Aufnahme des Fruͤheren entweder Mangel an Notiz oder an Raum hinderte. Betrachten wir die streitige Frage von einer andern Seite, nemlich, wie eine historische Produktion, die wir Biographie nen- nen, sich gestalten muͤsse. Es ist nicht moͤglich, eine Continuitaͤt von Zeiterfuͤllun- gen darzustellen. Waͤre es moͤglich, so koͤnnte es nur unter der Form der strengen Chronik geschehen, denn da theilt sich die Zeit in fortlaufende Abschnitte. Abstrahirt man davon und sezt in den biographischen Inhalt eine Differenz zwischen dem, was eben wegen seines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was nicht, so werden Luͤcken entstehen. Eine solche Produktion wuͤrde dann als Aggregat von Einzelheiten anzusehen sein. Der Idee der Lebensbeschreibung liegt die Continuitaͤt zum Grunde, weil das Leben Eins ist. Wiewol nun die Continuitaͤt nicht unmit- telbar darstellbar ist, sondern nur in der Form des Einzelnen, das sich sondert, so darf doch die Beziehung des Einzelnen auf die Continuitaͤt nicht fehlen. Diese Beziehung liegt nicht in der Identitaͤt des Subjects, sondern im Zeitverlauf. Es muͤssen also die Einzelheiten der Zeit nach so gestellt werden, daß der Leser die Continuitaͤt erkennen kann. Bloße Zusammenstellungen von Einzelheiten ohne jene Continuitaͤt sind nur Materialien, Elemente zur Biographie. Daraus laͤßt sich auch unmittelbar keine Bio- graphie bilden; es bleibt, selbst wenn man das Einzelne der Zeit nach stellt und mit Verbindungsformeln versieht, ein bloßes Aggregat, dem der innere Zusammenhang im Zeitverlauf fehlt. Was nun unsere Evangelien betrifft, so zerfaͤllt jedes in zwei in dieser Beziehung ganz verschiedene Theile; der eine Theil, die Beschreibung der oͤffentlichen Wirksamkeit, besteht aus lauter mehr und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzaͤhlungen, wogegen der zweite Theil, die Leidensgeschichte, uͤberwiegend als ein Conti- nuum erscheint. Hier war die Continuitaͤt kaum zu vermeiden. Vergleichen wir nun unsere Evangelien in Beziehung auf den ersten Theil, so zeigt sich eine bedeutende Verschiedenheit unter ihnen. Die drei ersten reihen nur Einzelnes aneinander, ohne bestimmtes Zeitverhaͤltniß; man sieht das Zeitbild, wie das Ein- zelne verlaufen ist, hat den Verfassern nicht vorgeschwebt. Bei Johannes dagegen finden wir wenigstens aͤußerlich was eine Con- tinuitaͤt voraussezt. Die Differenz zwischen dem ersten und zwei- ten Theile ist zwar auch in ihm, aber seine Leidensgeschichte ist weniger ununterbrochen, als bei den drei ersten, sie hat offenbar Luͤcken. Dagegen ist der erste Theil bei ihm ein Continuum. Wir bekommen in seiner Darstellung ein Zeitbild mit festen Punkten. Noch mehr, es liegt der Darstellung offenbar die Idee der Bio- graphie zum Grunde. Nichts Einzelnes wird nur um sein selbst willen erzaͤhlt, sondern als Theil eines Ganzen. Christus als Einzelner erscheint hier als eine oͤffentliche Person in Verhaͤltniß zum Nationalleben, und dieß ist die Einheit, die freilich mannig- faltig differenzirt ist. Dieser Gesichtspunkt ist uͤberall festzuhal- ten. Wir sehen das Verhaͤltniß Christi zur Volksmasse und zu den Auctoritaͤten wie es sich entwickelt, wie Volk und Auctoritaͤten in Beziehung auf Christus in Gegensaz miteinander treten, und das Ende als Katastrophe, als Peripetie, als Resultat jener Span- nungen erscheint. Waͤhrend also bei Johannes die biographische Idee zum Grunde liegt und sich darauf die Einheit des Ganzen bezieht, finden wir bei den andern Evangelisten nur ein Aggregat von Einzelheiten, so daß wir die biographische Idee bei ihnen negiren muͤssen. Bei diesen entsteht nun die Frage, nach wel- chem Gesichtspunkte sie die Sammlung von Einzelheiten gemacht haben? Haͤtten wir eine genaue Kenntniß von dem Leben dersel- ben, von ihrem Vorstellungsmaterial, von der Masse der Einzel- heiten, die jedem zu Gebote standen, u. s. w., so koͤnnten wir bestimmen, nach welchem Gesichtspunkte die Zusammenstellung quan- titativ und qualitativ gemacht sei. Allein eben hier wird die Loͤ- sung der hermeneutischen Aufgabe wieder durch die historische Kri- tik bedingt und umgekehrt. Je nachdem man der einen oder der andern Hypothese der historischen Kritik uͤber den Ursprung des synoptischen Verhaͤltnisses folgt, wird die hermeneutische Loͤsung auch verschieden sein, aber ehe ich nicht alles Einzelne verstanden habe, darf ich auch auf das Ganze keinen sicheren Schluß machen. Was den Johannes in seinem Verhaͤltniß zu den drei ersten Evangelien betrifft, so ist das, was er mit diesen gemein hat, ganz anderer Art als die identischen Stellen der Synoptiker. Das sezt aber die Frage uͤber die Zeit und den Ort der Abfassung in Beziehung auf die Genesis der Traditionen voraus. Ist dieß nun unentschieden, so darf man nicht gleich Folgerungen machen. Da Johannes von einer biographischen Idee ausging, so konnte er die vorhandenen einzelnen Erzaͤhlungen nicht so gebrauchen. Man darf nicht schließen, daß Joh., wenn er solche Materialien gehabt, sie habe nehmen muͤssen. Die entgegenstehende Ansicht, daß er die drei ersten Evangelien habe ergaͤnzen wollen, ist eben so ungegruͤndet und unsicher. Die Frage also nach der Einheit des Werkes rein hermeneutisch bei jedem besonders loͤsen zu wollen, ist die erste Grundlage, der nur die der historischen Kritik voran- gehen muß. Bei der Apostelgeschichte sind die Fragen und Operationen wesentlich dieselben. Die Hauptfrage ist, ob sie mehr dem Joh. Evangelium oder mehr den synoptischen analog ist? Was nun die didaktischen Schriften betrifft, so gestattet ihre epistolarische Form die Annahme eines gaͤnzlichen Gehenlas- sens, also den geringsten Grad der Einheit und Bestimmtheit, so daß kein Gegensaz ist zwischen Haupt- und Nebengedanken. Ver- einzelt man die Gedanken, so erscheinen sie alle als Nebengedanken, und es waͤre nur auszumitteln, wie sie gerade jezt und so und so entstanden sind. Allein die Briefform gestattet an sich auch die Moͤglichkeit der Annaͤherung an die strenge Form und Einheit; z. B. in dem eigentlichen Geschaͤftsbrief. Bei den didaktischen Briefen ist eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Ein- heit denkbar. Das Minimum waͤre der Entschluß des freien sich gehen lassens. Aber auf der andern Seite kann der Lehrbrief sich der strengen didaktischen und rhetorischen Form sehr naͤhern. Man denke sich die Aufgabe, Andern uͤber einen bestimmten Gegenstand bestimmte Erkenntnisse mitzutheilen. Da waͤre denn eine objective Einheit und jener Zweck kann in der Briefform sehr gut erreicht werden. — Weiter entsteht nun die Frage nach dem Unterschiede zwischen der allgemeinen didaktischen Form und der besondern brief- lichen; — ob und in wiefern es ein anderes ist, brieflich einen oder mehrere zu belehren, oder aber in einer unbestimmt an das Publicum ergehenden Schrift? Der Unterschied kann sehr gering sein, wenn die Briefform Fiction ist, z. B. bei Eulerts Briefen an eine Prinzessin. Aber ein anderes ist, wenn Erkenntnisse mit- getheilt werden in einer Briefform, welche durch ein bestimmtes persoͤnliches Verhaͤltniß zwischen Schreiber und Empfaͤnger be- dingt ist. Da ist die Briefform etwas Wahres, ein wirkliches Lebensmoment der Gemeinschaft zwischen jenen Personen. Gehen wir von dem entgegengesezten Punkte aus, dem Ent- schluß, sich rein gehen zu lassen, so ist dabei die Ruͤcksicht auf die, fuͤr welche man schreibt, ein beschraͤnkendes Princip. Das freie Spiel wird gehemmt, beschraͤnkt, wenn es auf etwas kommt, was fuͤr die, an die ich schreibe, nicht passend erscheint. Allein das Bild derer, an die man schreibt, kann in der Seele des Schrei- benden so lebendig sein, daß ihm nichts einfaͤllt, als was in jenem Kreise liegt und schicklich ist. In diesem Falle ist die Beziehung auf Andere ein bestimmendes , ja leitendes Princip. Denken wir uns, Jemand habe den Entschluß gefaßt, sich in freier Mittheilung an Mehrere gehn zu lassen, so ist dieser Wille in einem bestimmten Moment entstanden. War der Schreiber in einem vollkommen ruhigen Zustande, so bedarf es eines Anstoßes, um einen solchen Willensakt hervorzubringen. Das braucht nur eine lebendige Erinnerung zu sein, oder eine aͤußerlich guͤnstige Gele- genheit fuͤr die Mittheilung. Identifizirt sich nun der Zustand, worin der Schreibende sich befindet, mit diesem Willensakte, so liegt auch in diesem Zustande der Bestimmungsgrund fuͤr die Richtung seiner Mittheilungen. Was ihm lebendig gegenwaͤrtig war, das liegt nun als der entwickelnde Keim im Willensakte, und veraͤndert sich nichts bedeutend und erfolgt der Akt des Schreibens in moͤglichster Schnelligkeit, so ist dieser das Ausein- anderlegen jenes Moments. Sagen wir aber, daß eine bedeu- tende Veraͤnderung im Zustande des Schreibenden vorgeht, so werden Elemente aus dieser Veraͤnderung in die Schrift kommen, ohne daß der Schreibende vielleicht diese Veraͤnderung erwaͤhnt. Der Wille ist alterirt und uͤbertraͤgt sich auf den gegenwaͤrtigen Zustand und laͤßt den vorigen fallen. Denken wir uns, daß verschiedene Zustaͤnde in dem Akte des Schreibers groͤßere Zeitraͤume ausfuͤllen, so werden sich die darauf bezuͤglichen Massen sondern, besonders fuͤr den Leser. Eben deßwegen wird der Schreibende selbst diese als verschiedene Absaͤze sondern, und bemerkt er dabei die Zeitdifferenz, so ist eine solche Mittheilung eine briefliche. Sie ist Wirkung der veraͤnderten Zustaͤnde und Mittheilung derselben. Die briefliche Form bleibt, nur ist die Einheit eine andere gewor- den; ja sie kann bei aller Erweiterung der Gedanken in ihrer Wahrheit bleiben, auch wenn sie den aͤußeren Umfang eines Bu- ches erhaͤlt. Fragen wir nun in Beziehung auf den didaktischen Inhalt der neutestam. Briefe, ob die briefliche Mittheilung des Didakti- schen den Umfang eines Buches erhalten koͤnne ? Nein! denn man kann im Didaktischen nicht Gedankenreihen von verschiedenem Inhalt als Eins hinstellen, sondern entweder ist die Analogie mit einem didaktischen Buche da, und dann ist die Wahrheit der Brief- form aufgehoben, oder die Wahrheit der brieflichen Form ist da, dann aber kann das Werk auch nur einen geringeren Umfang haben. Der der Briefform eigenthuͤmliche Umfang aber wird dadurch bestimmt, daß es fuͤr den, der liest, ein fortlaufender Akt sein soll. Geht der Brief daruͤber hinaus, so hoͤrt auch die Briefform in der That auf. Kann ein Werk nicht in einem Striche fort- gelesen werden, so ist Grund zur Theilung da, mit der Theilung aber ist die Wahrheit der Briefform aufgehoben, und wir haben ein Buch in aͤußerer Briefform. Hier giebt es Übergaͤnge, die sich in der Erscheinung ziemlich genau fixiren lassen. Hermeneutik u. Kritik. 12 Nun aber haben wir noch zu beachten, daß die Briefform, wenn sie nicht rein subjectiv ist, eine bestimmte Annaͤherung an das Rhetorische haben kann. Das Didaktische will Erkennntnisse mittheilen, das Rhetorische einen Entschluß hervorrufen, sofern er in Handlungen uͤbergeht. Wenn nun Jemand einen solchen Entschluß hervorrufen will, so wird sich die Mittheilung auf Bestimmtes im Leben beziehen, und da kann eben so große Strenge statt finden, wie in der oͤffentlichen Rede, wo man den zu bewegenden vor sich hat. Dadurch wird aber das sich gehen lassen durchaus negirt, indem hier die Nothwendigkeit gesezt ist, den Entschluß hervorzubringen, der fuͤr den Empfaͤnger mit der Ausfuͤhrung ein Akt sein kann, indem alle Theile zusammenwirken. Wollte eine solche Rede sich so ausdehnen, daß die ersten Anfaͤnge sollten aus der Erinnerung verschwunden sein, bevor man sie zu Ende gelesen, so brauchte sie gar nicht geschrieben zu werden. Es sind hier also bestimmte Graͤnzen gesteckt, und alles ist zuruͤckzuhalten, was zur Er- reichung des Zweckes nicht mitwirken kann. Hier haben wir Extreme, aber zwischen diesen Extremen giebt es mannigfaltige Übergaͤnge. Wie finden wir nun in einem gegebenen Falle die Einheit? Wo in einem Briefe nur Didaktisches oder Rhetorisches ist, da wird die Einheit nicht verfehlt werden koͤnnen. Wo aber eine solche didaktische oder rhetorische Einheit ganz fehlt, da ist Acht zu haben, wie die Einheitlosigkeit oder die verringerte Einheit durch die gegenseitigen Verhaͤltnisse zwischen Briefsteller und Briefempfaͤn- ger modificirt ist. Was sich von dieser Form an das letztere, die verringerte Einheit, anschließt, ist die schwierigere Seite der Aufgabe, was sich an das erstere, die Einheitlosigkeit, anschließt, die leichtere. In dem ersteren ist die Duplicitaͤt des Didaktischen und Rhetorischen. Wird eine versteckte Absicht durch einzelne zerstreuete Punkte in der freien Mittheilung der Art wahrscheinlich, so ist eher ein rhetorischer Zweck, als ein didaktischer zu vermuthen. Im Didaktischen wohl nur dann, wenn die Absicht des Belehrens bei den zu belehrenden auf directem Wege nicht erreicht werden kann, sondern indirect und unvermerkt. Viel leichter aber kann es geschehen, daß ein rhetorischer Zweck sich verbirgt, besonders in der brieflichen Mittheilung. In der muͤndlichen Rede viel weniger, weil in dieser der Erfolg momentan ist. Die briefliche Mittheilung ist nicht so bestimmend wie die muͤndliche Rede; der Empfaͤnger des Briefes hat Zeit, auf die Art, wie er bestimmt sei, zuruͤckzugehen, was bei der muͤndlichen Rede der Hoͤrer nicht kann. Die Absicht muß sich also um so mehr verbergen, je ver- schiedener die beiderseitigen Interessen sind. Im N. T. ist der Fall eigentlich nicht zu denken, daß der didaktische und rhetorische Zweck sich so zu verbergen noͤthig gehabt. Es ist den Verhaͤltnissen entsprechend, daß die Schreibenden be- lehren und die Lesenden belehrt sein wollen. Auch im Falle eines rhetorischen Zweckes ist an ein Verbergen desselben nicht gut zu denken, da zwischen den Interessen der Schreibenden und Empfangenden kein Widerspruch ist, beider Verhaͤltnisse auf glei- chem Interesse beruhen. Selbst, wenn ein neutest. Schriftsteller einmal ein eigentliches Privatinteresse haben sollte, ist niemals ein Verbergenwollen natuͤrlich. Von diesen Schwierigkeiten fern, ist im N. T. die Aufgabe nur die, von jeder Schrift zu bestimmen, ob sie mehr didaktisch oder rhetorisch sei, ob sie also eine stren- gere Einheit habe, oder mehr auf dem Gebiete der freien Mitthei- lung liege. Die Entscheidung daruͤber geht aus der allgemeinen Übersicht hervor. Man kann sich denken, daß eine bestimmte di- daktische oder rhetorische Einheit eigentlich das Motif ist, aber daß sich so die Lust und Faͤhigkeit zur Mittheilung noch nicht er- schoͤpft hat, daß eine Einheit unbestimmter Art hinzukoͤmmt, oder daß ein Brief mit einem bestimmten Zwecke anfaͤngt, und wenn dieser erreicht ist, als freie Mittheilung fortdauert. Es kann auch der umgekehrte Fall eintreten, daß eine freie Mittheilung in einen bestimmteren Zweck und strengere Einheit uͤbergeht. So kann also beides ineinander uͤbergehen. Geht man nun mit dem Voraus- bewußtsein einer solchen Verschiedenheit an einen Brief, so fragt sich, woran das eine oder andere zu erkennen sei? Die bestimmte Einheit ist zu erkennen an der Zusammenstellung einzelner Ele- 12* mente, an der Gleichartigkeit ihres Inhalts zu einer bestimmten Richtung, dagegen an dem einzelnen Hervortreten, der losen Ver- knuͤpfung der Bestandtheile in ihrer Ungleichartigkeit die unbe- stimmte. Überragt nun eins von beiden, so wird sich auch ein bestimmter Wendepunkt zeigen, und um dieß zu entdecken, dazu dient die allgemeine Übersicht. Wir haben im N. T. keine Ur- sache, bei den Briefen eine rhetorische Einheit anzunehmen. Denn in dieser Zeit der Entwickelung kam es nicht gleich darauf an, einen bestimmten Entschluß hervorzubringen. Allerdings muͤssen wir etwas dem verwandtes, nemlich eine bestimmte Handlungsweise hervorzubringen, als bestimmten Zweck ansehen. Aber dadurch wird die Schrift nur eine praktisch didaktische. So haben wir die zwei Richtungen, die strengere, didaktische und die durch aͤußere Veranlassung hervorgerufene freie Mittheilung. Daruͤber kann nicht leicht Streit sein. Indessen fordert doch die Sache noch eine genauere Betrachtung der neutestam. Verhaͤltnisse. Im Allgemeinen ist das Verhaͤltniß zwischen den Verfassern und Empfaͤngern der neutest. Briefe seiner Natur nach ein didaktisches. So laͤßt sich erwarten, daß auch die freie Mittheilung einen di- daktischen Charakter haben werde. Daraus folgt aber nicht, daß ein bestimmter Zweck vorwaltet. Man hat dieß haͤufig verwechselt und die freie Mittheilung nicht genug als Ergebniß der natuͤrli- chen Verhaͤltnisse, die aber didaktischer Art waren, beurtheilt. Stellt man die Sache so, daß zu unterscheiden sei, wo ein be- stimmter didaktischer Zweck sei oder die freie Mittheilung didakti- scher Art, so wird man nicht leicht in einem einzelnen Falle un- sicher bleiben koͤnnen. Im Allgemeinen muͤssen wir die neutest. Briefe darnach eintheilen, wonach denn fuͤr jede Classe spezielle Regeln eintreten und ein besonderes Verfahren. Aber gerade bei diesen Briefen findet die Moͤglichkeit einer doppelten Richtung sehr leicht statt. Es findet ein bestimmter Lehrzweck statt und dieser bildet die vorwaltende Einheit des Ganzen, aber ehe der Brief zu Ende ist, tritt die freie Mittheilung ein mit didaktischem Charakter, oder auch umgekehrt. Dieß ist im N. T. wirklich der Fall, und zwar nicht als Ausnahme. Da wechseln denn auch die Regeln der Auslegung, je nachdem das eine oder das andere eintritt. Bei der Formbestimmung der rein freien Mittheilung gingen wir davon aus, daß der Gegensaz zwischen Haupt- und Neben- gedanken darin nicht wirksam sei, — nicht als wenn jene Form die- sen Gegensaz gar nicht zulasse, sondern weil er fuͤr diese Schrift- art nicht constitutiv ist. Da giebt es also durchaus keinen Faden, den man verfolgen koͤnnte. Damit wird aber unsere Aufgabe, die Einheit zu finden, Null; es wird damit eben nur gesagt, daß eine wirkliche Einheit gar nicht vorhanden sei. Construiren wir uns den urspruͤnglichen Willensakt, so ist er im Schreibenden die Erfuͤllung eines Moments, der ihn schon in einem bestimmten Zustande findet. Es tritt der Impuls zur Mittheilung in ein von anderwaͤrts her erfuͤlltes Gemuͤth ein und nun hat der Im- puls doch eine Richtung, nemlich an die und die Personen. So ist also die unbestimmte freie Mittheilung keine unbeschraͤnkte Li- cenz, sondern vernuͤnftiger Weise muß alles Einzelne begriffen wer- den koͤnnen, wenn der Zustand des Schreibenden, und von der Be- schaffenheit derer, an welche die Mittheilung gerichtet ist, ein Bild gegeben ist. Was damit nicht zusammenhaͤngt, ist aus dem bestimmten Entschlusse nicht entstanden, und so ergiebt sich eine bestimmte Begraͤnzung, doch in derselben eine Duplicitaͤt, so daß entweder alle Elemente der Mittheilung sich rein aus dem Zu- stande des Schreibenden begreifen lassen, und dabei der Unter- schied, ob sie diesem oder jenem zugedacht war, ein Minimum ist, oder umgekehrt so, daß im Moment des Impulses von außen der Zustand des Schreibenden mehr und weniger indifferent ist. Im ersteren Falle ist der Schreibende zugleich der Gegenstand und alles zu begreifen aus seinen Verhaͤltnissen, im anderen Falle ist der, an den geschrieben wird, der Gegenstand und alles zu ver- stehen aus der Kenntniß, die man von diesem hat. Zwischen diesen Extremen laͤßt sich eine Indifferenz denken, ein Wechsel solcher Momente, in welchen der Schreibende sich und seinen momentanen Zustand manifestirt, — und solcher, wo er aufgeht in das Bewußtsein, das er von dem Zustande Anderer hat. Je mehr die eine oder andere Einseitigkeit dominirt, ist der Zusammenhang leichter zu begreifen, je mehr die Indifferenz, desto schwieriger, und es ist da jedes Ein- zelne fuͤr sich zu erklaͤren. Vergleichen wir nun die Aufgabe in ihren verschiedenen Gestalten, so finden wir, daß dieselbe in dem Grade leichter wird, in welchem eine Schrift sich der strengeren didakti- schen Form naͤhert und umgekehrt. Bei der strengeren didakti- schen Form bringen wir aus der allgemeinen Übersicht zur Loͤsung der Aufgabe die Kenntniß von der didaktischen Richtung und dem Zustande, in welchem sich der zwischen dem Schreiben- den und seinen Lesern gemeinsame Lebenskreis in dieser Bezie- hung befand, mit. Im andern Falle dagegen muͤssen wir die Kennt- niß sowohl von dem Zustande, in welchem sich der Schreibende befand, als von dem, in welchem er seine Leser wußte, voraus haben. Aber diese Verhaͤltnisse koͤnnen wir meist erst aus den Briefen selbst im Einzelnen kennen lernen, da wir sie voraus haben sollten. So ist die Operation sehr zusammengesezt. Da, wo die Aufgabe leichter ist, ist die Schwierigkeit nicht urspruͤnglich, sondern ent- steht groͤßtentheils daraus, daß man sich bei dem Anfang der her- meneutischen Operation nicht in den richtigen Standpunkt ver- sezte. Was die neutest. Schriftsteller in ihren Briefen lehren woll- ten, wissen wir im Allgemeinen. Im theoretischen Gebiet konn- ten sie auch, wenn sie an die einen schrieben nichts anderes thun, als wenn sie an die andern schrieben. Nur konnten sie in je- dem Falle anderes bestreiten und nach Beschaffenheit derer, an die sie schrieben, eine andere Methode waͤhlen. In dieser Bezie- hung stellen wir uns auf den richtigen Standpunkt, wenn wir von nichts ausgehen, als von dem, was den neutest. Schriftstel- lern selbst gegeben war. Wird dieser Standpunkt nicht erfaßt, so ist dieß oft Ursache, daß der didaktische Zweck falsch aufgefaßt wird. Uns nemlich ist die fernere Entwicklung des Christenthums gege- ben und wir pflegen sie als aus dem Apostolischen abgeleitet zu betrachten. Nehmen wir indeß an, sie sei schon in den apostoli- schen Schriften enthalten, so giebt das eine ganz falsche Ansicht. Dieß waͤre aber nicht so leicht moͤglich, wenn nicht bei der Auf- gabe, die spaͤtere Lehre in Übereinstimmung mit der biblischen darzustellen, manche neutest. Stelle aus dem Zusammenhang ge- rissen worden waͤre. Davor muß man sich huͤten, man muß bei der hermeneutischen Operation alles andere vergessen, und nur davon ausgehen, was in der urspruͤnglichen Aufgabe der Apostel lag. So vermeidet man diese Gefahr. Aber eine andere entsteht, wenn nun das, was den Aposteln gegeben war, bestimmt werden soll. Nemlich, wenn das Christenthum entstanden waͤre in einem Lebensgebiet, welches mit der Religion uͤberhaupt keinen Zusammen- hang haͤtte, so waͤre dieser Gesichtspunkt nicht nothwendig. In diesem Falle koͤnnte es in der Mittheilung der Apostel kein religioͤses Ele- ment geben, welches nicht die christliche Idee selbst ausspraͤche. So ist's aber nicht. Wir muͤssen unterscheiden das, was den Aposteln von Christus gegeben war, und das, was ihnen vor Christus gegeben war, was erst in jenes hineingearbeitet und dadurch modifizirt werden mußte. Beides hat nicht denselben Werth, bei- des kommt aber vor und zwar ohne Unterschied, wer auch die gewesen sein moͤgen, an welche die Apostel schrieben. Überall hatten diese auch jenes ihnen fruͤher gegebene mit jenen gemein, und es lag also in ihrem gewoͤhnlichen Lebenskreise, das fruͤhere religioͤse Element in das Christliche zu verwandeln. Ist nun die didaktische Einheit so zusammengesezt, daß nicht nur Christliches in eigenthuͤmlicher Form mitzutheilen war, sondern auch Christli- ches in Beziehung auf fruͤher Vorhandenes und dieses in Bezie- hung auf das Christenthum, so ist diese Aufgabe schwieriger, als wenn diese Duplicitaͤt nicht waͤre. Loͤst man dieß im Allgemei- nen auf und bringt es unter die Formel, es koͤnne niemals, was einer fruͤheren Lebensweise angehoͤre, rein um sein selbst willen in die didaktische Mittheilung eingehen, sondern nur in Beziehung auf das was als rein Christliches vorzutragen war, so wird man sich nicht leicht durch diese Duplicitaͤt in der Erkenntniß der Einheit irren lassen, weil die Duplicitaͤt aufgehoben und das untergeordnete Element auf das Hauptelement reducirt ist. Tritt aber jene Du- plicitaͤt als die Hauptform ein, so sind beide Theile besonders zu ermitteln. Doch ist nicht voraus zu sezen, daß sie immer so ge- schieden sein werden, daß sie auch voͤllig zu trennen waͤren, son- dern eben das Bewußtsein, daß der Stoff nicht den ganzen Im- puls erfuͤllen werde, wird schon mitwirken und Elemente der freien Mittheilung hineinbringen, so daß das Ganze zusammen- gesezt, und nur die Strenge der eigentlichen Einheit verringert wird. Freilich muß man gleich von vorn herein beides sondernd auseinanderhalten. Das Hereintreten einer andern Einheit in die Hauptent- wicklung ist das, was man Digression nennt. Es giebt For- men, welche dergleichen gar nicht zulassen, aber auch andere, als epistolarische Formen, worin Digressionen vorkommen. In jeder Form sind sie nach ihrer Art und Weise zu beurtheilen. In der Briefform koͤnnen sie nicht anders erklaͤrt werden, als so, daß von dem Zweiten, welches eine andere Einheit hat, als das Erste, nemlich die ganz unbestimmte, etwas in das Erste tritt. Man darf sich aber dadurch bei der allgemeinen Übersicht nicht irre machen lassen, nach dem bestimmten Gegenstande zu fragen, denn wenn er wieder angeknuͤpft wird, so ist klar, daß der Hauptge- danke nicht aus dem Auge gelassen ist. Dieß gehoͤrt nun eigent- lich zur richtigen Composition, es muß indessen hier erwaͤhnt wer- den, weil die Aufgabe, die Einheit zu finden, hier geloͤst werden soll, dabei aber erwaͤhnt werden muß, wie stoͤrend die Digression sei. Bleiben wir nun bei der freien Form des Briefes stehen, so haben wir oben ein Doppeltes aufgestellt. Der Schreibende kann aus seinem Zustande herausschreiben oder aus dem Bilde, welches er von dem Zustande Anderer hat; nur muß es ihn nicht auf einen einzelnen Gegenstand fixiren, sonst entsteht die andere Form. Schreibt Jemand aus seinem eigenen Zustande heraus und zwar so, daß er von sich und seinem Verhaͤltnisse spricht, so ist dieß der einfachste Fall und niemand kann es dann ver- kennen. Der Briefschreiber kann von anderwaͤrts her affizirt sein, aber ist dieß bloß Theilnahme, ohne daß die eigene Persoͤnlichkeit afficirt wird, und kommen nur Gedanken hervor, die durch das Mitgefuͤhl bestimmt sind, so ist doch das Ganze aus dem Zustande des Schreibenden hervorgegangen. Es kann in diesem Falle scheinen, als spraͤche er aus dem Zustande des Empfaͤngers, aber es waͤre falsch, wenn man bei der Auslegung diesem Scheine folgen wollte. Es ist, wenn mir nichts weiteres gegeben ist, gleich moͤglich, das Rechte wie das Falsche zu finden, es sind oft nur leise Andeutungen, worauf die Entscheidung beruht. Ein Anderes ist, wenn man eine genaue Kenntniß des Lebenskreises des Schrei- benden und Empfangenden hat. Da kann nie Zweifel entstehen, ob Jemand von anderswoher aufgeregt ist, oder nur aus sei- nem eigenen Zustande heraus geschrieben hat. Doch entscheidet oft nur der staͤrkere oder schwaͤchere Ton. Im N. T. liegt die groͤßte Schwierigkeit der Auslegung nach dieser Seite eben darin, daß die Notizen uͤber Verfasser und Empfaͤnger fehlen, und erst aus den Briefen selbst geschoͤpft wer- den muͤssen. Solche Aufgaben nennen die Mathematiker unbe- stimmte, wenn nemlich, um eine unbekannte Groͤße zu finden, nicht bekannte genug vorhanden sind und die Loͤsung durch Sup- position geschehen muß. Im N. T. giebt es Briefe, wo die Indicationen ziemlich deutlich sind. So die Briefe an die Korin- thier. So wie man bei der ersten Übersicht dieser Briefe die In- dicationen findet, lassen sich die Hauptpunkte fuͤr die Interpre- tation fixiren und eben so die Art und Weise, die Einheit festzu- stellen. Der erste Brief an die Korinthier z. B. ist didaktisch, hat aber keine objective Einheit. Diese liegt nur in der Gesammtheit der Notizen, die wir aus ihm bekommen. Der Apostel konnte nicht umhin, die Thatsachen selbst darzustellen, durch welche er in Bewegung gesezt worden. Daraus folgt freilich nicht, daß der Brief ein einfacher Gegenstand der Auslegung ist. Paulus konnte auch von andern Seiten her erregt sein und so durch Digressio- nen manches hineingekommen sein, was durch die Korinthier nicht angeregt wurde. Dieß wird indeß einen andern Ton und Cha- rakter haben, der neben dem uͤbrigen nicht schwer zu unterschei- den ist, und doch kann man schwanken, ob der Zustand eines Frem- den oder der Korinthier dieß oder jenes erregt hat, wenn der Apostel die betreffende Thatsache nicht erwaͤhnt. In den neutest. Briefen finden wir eigenthuͤmliche Differenzen. Einige sind an bestimmte Gemeinden gerichtet, andere an einzelne Personen, fer- ner giebt es solche, die eine unbekannte, und andere, die eine unbestimmte Bestimmung haben. Zu der ersteren Art gehoͤren, wie die Kritik lehrt, die Briefe an die Hebraͤer und an die Ephe- sier, zu der lezteren Art der erste Joh. Brief. In andern katho- lischen Briefen werden zwar bestimmte Landschaften genannt, aber die Christen sind nicht als Einheit genannt, sondern unbestimmt, als in der Zerstreuung lebende. Wo nun die Addresse unbestimmt ist, ergiebt sich von selbst, was die Einheit eines solchen Briefes sein kann. Zwar kann jeder Brief eine didaktische Einheit haben, aber, wenn diese nicht darin ist, dann kann der Verfasser nicht aus einem bestimmten Bilde von denen, an die der Brief gerichtet ist, reden, weil diese keine Einheit haben und er nicht weiß, wo- hin der Brief kommen wird. Da schreibt er also von allgemei- nen Voraussezungen aus, oder von seinen eigenen Zustaͤnden. Anders ist es, wenn uns die Addresse eines Briefes unbekannt ist, denn deswegen braucht sie fuͤr den Verfasser nicht unbestimmt gewesen zu sein. Da ist also das eine wie das andere moͤglich. Die Geschichte der Auslegung des N. T. zeigt, wie schwer es sei, von solchen Voraussezungen aus, wo so viele Notizen fehlen, welche nur durch Conjectur gefunden werden koͤnnen, zu interpretiren. Wie lange hat man geglaubt, es beziehe sich man- ches Apostolische auf das Gnostische und sei daraus zu erklaͤren, bis man spaͤterhin fand, daß damahls der Gnosticismus noch nicht so weit ausgebildet war. Das ist eine hinreichende War- nung, mit groͤßter Vorsicht zu Werke zu gehen, wenn man feh- lende Kenntnisse durch Hypothesen ersezen will. Jene falsche Vor- aussezung war sehr natuͤrlich. Die Kenntniß der Umstaͤnde war nicht gegeben, man war also an die aͤlteste Geschichte des Chri- stenthums gewiesen, und da hatte man zwei Methoden, einmal, von dem Ältesten, der Apostelgeschichte aus, die ihr folgende große Luͤcke in der Geschichte zu construiren, oder aus der spaͤteren zusammen- haͤngenden Geschichte auf die Luͤcke zuruͤckzuschließen. Das Erste ist nicht hinreichend, denn es kann vieles schon in der Zeit gegeben sein, wo die Apostelgeschichte geschrieben wurde, und sogar in der Zeit, die sie beschreibt, was in ihr nicht erwaͤhnt ist. So war der Con- jectur ein freies Feld geoͤffnet. Daß man also von dem Spaͤteren und Bestimmteren aus die Conjectur begann, ist natuͤrlich, und da glaubte man, der Gnosticismus muͤsse in jener Zeit schon gewe- sen sein und erklaͤrte daraus. Das war aber eben unrichtig. Eben so leicht kann es kommen, daß wollte man sich nur an das in der Apostelgeschichte Erzaͤhlte halten, man nicht ausreicht. Aber man muß sich huͤten, gleich Bestimmtes zu geben. — Kommt man in der allgemeinen Übersicht eines Briefes gleich auf schwierige Stellen und es zeigt sich uͤberall das Verhaͤltniß, daß der Verfasser von einer Vorstellung aus schreibt, die er von denen hat, an die er schreibt, so kommt es darauf an, den rechten Punkt herauszufinden, worauf die Vorstellung sich bezieht. Aber man huͤte sich vor Taͤuschung. Ist eine didaktische Einheit in einem solchen Briefe, so ist das Auffinden derselben viel leichter. Ist dieß nicht der Fall, so entsteht die Frage, wie die betreffenden Stellen zu behandeln seien unter der Voraussezung, daß jedes sich auf dasselbe oder jedes sich auf anderes beziehe. Dabei ist das Verhaͤltniß der verschiedenen Stellen ins Auge zu fassen und auf die Composition selbst einzugehen. Da sind denn Stellen, wo ich nicht eher ein Urtheil uͤber die Einheit habe, bis ich mir die bestimmte Gliederung, wie sie mit dem Bewußtsein des Ver- fassers geworden ist, anschaulich gemacht habe. Je mehr die Briefe freie Mittheilungen sind, desto schwieriger ist es, weil da einwirkt was sich gerade lebendig darstellt, ohne daß eine praͤ- meditirte Ordnung Statt findet. — Gedenken wir, daß die normale Dignitaͤt fuͤr die christliche Lehre in ihrer weiteren Ent- wicklung uͤberwiegend auf den apostolischen Briefen beruht, und finden wir die Erklaͤrung derselben schwierig, so ist das nieder- schlagend. Ohne boͤsen Willen, ohne falsche Absicht kann von den einzelnen Stellen ein sehr verschiedener Gebrauch gemacht werden. Dabei ist das ein guͤnstiger Umstand, daß es Briefe giebt, welche eine didaktische Einheit haben. In diesen liegt das Fundament fuͤr die weitere hermeneutische Operation. Dahin ge- hoͤren die Briefe an die Roͤmer, Galater, Hebraͤer. Freilich hal- ten auch diese die didaktische Einheit nicht rein bestimmt fest, son- dern haben auch Theile, die in freier Ergießung entstanden sind, sie haben Digressionen. Aber die didaktische Einheit des Ganzen ist deutlich ausgesprochen. Sieht man nun die normale Dignitaͤt des N. T., das am Ende nur eine Sammlung ist, als Eins an, so muß man von jenen Briefen als Basis ausgehen, und danach die andern schaͤzen. Eine sichere Schaͤzung giebt es nicht. Je mehr man aber erst aus der Schrift selbst die obwaltenden Verhaͤltnisse kennen lernen muß, desto weniger ist eine unbestrittene Loͤsung der Aufgabe zu gewinnen moͤglich. Sind verschiedene Voraus- sezungen moͤglich, so ist nur zu entscheiden nach der groͤßeren Über- einstimmung des Einzelnen mit dieser oder jener Einheit. Die Aufstellung von Regeln ist da zu Ende und es beginnt das Reich des Taktes, der aus dem eigenthuͤmlichen Talent der analytischen Combination hervorgeht. Es gilt da nur die Regel, bei jedem einzelnen Fortschritt auch in Beziehung auf die Elemente, die mit der Hauptfrage nicht zusammengehoͤren, die verschiedenen moͤglichen Ansichten im Auge zu haben. Kehren wir nun zum Allgemeinen zuruͤck, so kommen wir in Folge der festgestellten Ordnung, indem wir die mehr psycholo- gische Seite der technischen voranschicken wollen, auf die Elemente, welche eigentlich das Technische voraussezen, aber doch nicht aus dem Technischen verstanden werden koͤnnen. Die erste Aufgabe war, denjenigen Impuls, der dem ganzen Akt des Schreibens zum Grunde liegt, richtig als Thatsache im Schreibenden zu verstehen. Wir sagten aber, es geben mehr und weniger Elemente, die mit dem Impuls nicht unmittelbar zusam- menhaͤngen. Was unmittelbar mit ihm zusammenhaͤngt, ist durch Meditation zu erklaͤren, also durch ein bestimmtes Bewußtsein, und bekommt durch die Composition seine angemessene Stelle. Jede Schrift hat aber auch immer Elemente, welche wir als Ne- bengedanken unterscheiden, und diese sind auch nur verstaͤndlich als Thatsachen in dem Vorstellungsproceß des Schreibenden, aber sofern er unabhaͤngig ist von dem urspruͤnglichen Impulse. Wie sind nun diese Elemente zu verstehen? — Betrachten wir ein Gespraͤch, so ist dieß zunaͤchst ein ganz freier Zustand, dem gar keine bestimmte objective Absicht, son- dern nur der sich wechselseitig erregende Austausch der Gedanken zum Grunde liegt. Doch fixirt sich das Gespraͤch leicht auf etwas und das wird sogar von beiden Theilen angestrebt. So entsteht eine gemeinsame Gedankenentwickelung und eine bestimmte Beziehung der Äußerungen des einen auf den andern, und was daraus hervor- geht, darauf haben wir hier nicht zu sehen. Allein nun gestattet das Gespraͤch auch Abspruͤnge. Da entsteht die Frage, wie ist der Sprechende dazu gekommen? Die Aufgabe ist, die Genesis solcher Abspruͤnge zu erkennen. Es wird ziemlich allgemein sein, daß man solche Abspruͤnge im Voraus ahnet — freilich nur bei genauerer Bekanntschaft mit der unwillkuͤhrlichen Combinationsweise des Andern. Je groͤßer diese Bekanntschaft ist, desto leichter ist, die Nebengedanken zu errathen, die Genesis des Abspringenden zu erkennen. Geben wir uns davon genauere Rechenschaft, so sieht man wol, die allgemeinen, mehr logischen Combinationsgeseze, wodurch die wesentlichen Theile einer Rede bestimmt werden, haben nichts damit zu thun. Wir muͤssen auf das Psychologische zuruͤckgehen und zu erklaͤren suchen, wodurch eben die freie oder vielmehr unwillkuͤhrliche Combinations- weise bestimmt wird. Dabei muͤssen wir die eigene Selbstbeobach- tung zum Grunde legen. Diese Analogie macht allein moͤglich, sich solche Aufgabe zu stellen, die Genesis der Nebengedanken zu erkennen. Das Natuͤrlichste ist hier, sich in dem Zustand der Me- ditation zu denken, und zwar in der Art, daß eine gewisse Nei- gung zur Zerstreuung der Gedanken als Hemmung vorhanden ist. Es ist kein Denkenwollen gemeint, sondern ein nicht im Vor- stellen Gebundenseinwollen, was in jedem Moment uͤberwun- den sein muß. Das ist bei Jedem verschieden, aber in Jedem kommt es vor. Wenn wir die Neigung zur Zerstreuung nicht uͤberwinden, so muß in bestaͤndiger Veraͤnderung des Ganges der Vorstellungen die Meditation aufhoͤren. Geht die veraͤnderte Vor- stellungsweise von einem bestimmten Punkte aus, so entsteht nur eine andere Meditation. Es ist aber hier die Rede von jenem freien Spiele der Vorstellungen, wobei unser Wille passiv ist, das geistige Sein aber doch in Thaͤtigkeit. Je freier wir uns so ge- hen lassen, desto mehr hat der Zustand Analogie mit dem Traͤu- men, und das ist das rein Unverstaͤndliche, eben weil es keinem Gesez des Zusammenhanges folgt und so nur zufaͤllig erscheint. Um nun fuͤr dieß ganze Gebiet des Unverstaͤndlichen eine Ver- mittlung zu finden, muͤssen wir auf den Zustand der Meditation zuruͤckgehen und fragen, wie sich derselbe zu unsrem Gesammt- sein verhalte? Hier ist zweierlei zu unterscheiden. Jeder Vorstellungszustand ist an und fuͤr sich ein Moment und somit voruͤbergehend. Aber auf der andern Seite laͤßt ein jeder solcher Zustand etwas Blei- bendes zuruͤck, sezt etwas ab, und darauf beruht die Wiederhol- barkeit des urspruͤnglichen Moments. Waͤre dieß nicht, so ver- schwaͤnde jede Vorstellung im Moment selbst und unser Gesammt- sein ginge in dem jedesmaligen Moment auf. Im Zustande der Meditation verschwindet das Momentane, wir behalten was in einem Moment geworden im andern, und daher ist das Ganze zugleich Ein Akt, und diese Zusammengehoͤrigkeit, die im fortgehen- den Entschlusse liegt, uͤberwindet das momentane Verschwinden und soll es eigentlich vollkommen uͤberwinden. Nun giebt es noch einen andern, der Meditation analogen Zustand, das ist der der Beobachtung, wo die Produktivitaͤt die Form der Receptivitaͤt annimmt. Da ist ganz dasselbe, es wechseln die Gegenstaͤnde, sie verschwinden, aber die gewonnenen Vorstellungen bleiben und sollen nicht vergessen werden. Der Willensakt fesselt sie und ver- aͤndert ihre Natur des momentanen Verschwindens. Jenes Zuruͤck- gebliebene wird wiederholbar, wenn jener bestimmte Willensakt statt findet, allerdings in verschiedenem Grade in Beziehung auf die Zeit und den Gegenstand. Fragen wir nun, wie verhalten wir uns denn zu diesem Zuruͤckgebliebenen? Wir haben es und haben es auch nicht. Das leztere, wenn wir es vergleichen mit dem, was jeden Moment unmittelbar erfuͤllt, das erstere, sofern es wiederholt werden kann ohne urspruͤnglich wieder erzeugt zu werden. Es wird aus der ersten Genesis reproducirt. Aber diese Reproduktion haͤngt an einem bestimmten Willensakt, wenn sie auf dem Gebiete der Meditation eintritt oder unmittelbar zur Be- obachtung in Verhaͤltniß steht. Doch kann die Reproduktion auch ohne Willensakt erfolgen. In diesem Falle koͤnnen wir uns selten bestimmte Rechenschaft geben, aber beobachten wir uns im Zu- stande des Zerstreuetseinwollens, so kann da alles, was eintritt und die Meditation unterbricht, nur solche Reproduktion von schon empfangenen Vorstellungen sein. Wir haben also zu unterschei- den eine Reihe von Vorstellungen, welche den jedesmaligen Mo- ment wirklich erfuͤllt und von unserm Willensakt abhaͤngt, also Meditation oder Beobachtung, im weiteren Sinne; sodann aber eine Masse von Vorstellungen, die wir haben ohne eigentlich Herr davon zu sein, die also unsrem Willensakt nicht unterworfen sind. Betrachten wir das Zerstreuende im Zustande der Meditation, so ist es das Seinwollen solcher zerstreuenden Vorstellungen, also die Richtung auf unser gesammtes Sein, dem das bestimmte Sein- wollen eines Moments gegenuͤber tritt. Nur aus unsrem Ge- sammtsein kann ein solcher Akt begriffen werden. Sind wir im Zustande der Mittheilung, also der Meditation und Äußerung zugleich, so wird dieselbe Neigung zur Zerstreuung hier auch sein, denn es theilt sich derselbe Willensakt in die zwei Momente, das bestimmte Denken und die Mittheilung. Haben wir aber in der eigentlichen Meditation ohne Mittheilung die Zerstreuung uͤberwunden, so wird es nicht dieselbe sein, welche in dem zwei- ten Akt, der Darstellung, wieder vorkommt, aber es wird auch immer eine sein. Denken wir uns in der Mittheilung solche Ele- mente, die aus dem dominirenden Willensakte nicht zu erklaͤren sind, so bleibt nur das uͤbrig, daß sie aus einem freien Spiele herruͤhren. Wenn nun aber solche Vorstellungen in die Mitthei- lung aufgenommen werden, so geschieht dieß doch durch einen Willensakt. Denkt man sich nemlich Jemand, der in strenger Meditation begriffen gewesen ist, so daß er sich seines Gegenstan- des ganz bemaͤchtigt hat, wie er nun die Ordnung feststellt, in der er seine Meditation mittheilen will, also die Composition con- cipirt, ist diese nun zu Stande gekommen, und er ist in dersel- ben eben so streng gewesen, wie in der Meditation, und es ist nichts in seiner Mittheilung, was sich nicht aus seinem urspruͤng- lichen Willensakte aufs bestimmteste erklaͤren ließe, er ist also in der ϰυϱιολεξία geblieben; uͤbersieht er dann seine Composition, — dann lassen sich zwei Faͤlle denken. — Entweder er ist damit zufrie- den, daß er sich streng an den Gegenstand gehalten hat, oder es wird ihm dieses duͤrftig erscheinen. Dieß letztere Urtheil beruht auf einer Differenz in dem, was den Inhalt des freien Spiels ausmacht, denn waͤre nichts darin gewesen, was nicht in einer Beziehung zur bestimmten Meditation gestanden, so brauchte er sich nicht zu tadeln, daß er es von der Hand gewiesen. Es muß der Willensakt eine gewisse Anziehungskraft gehabt haben, so daß er es nicht so leicht wird haben fallen lassen. Wo dagegen die Strenge gelobt wird, da ist eine Differenz in dem urspruͤngli- chen Willensakt selbst, es muß eins oder das andere mit in seinem Vorsaz gewesen sein, aber die bestimmte Form der Mittheilung hat das eine abgewiesen und das andere zugelassen oder gefordert. Wo wir dergleichen finden, da koͤnnen wir eine solche Beschaffen- heit des freien Spieles voraussezen, wie des gesammten Vorstel- lungsbesizstandes, daß darin Elemente gewesen, die mit dem Ge- genstande haben in Verbindung treten koͤnnen. Von der andern Seite ist solche in dem urspruͤnglichen Willensakt bewußte Zer- streuung eine positive Anregung des freien Spiels der Vorstellun- gen, um alles Verwandte mit hineinzuziehen. So wie wir die verschiedenen Elemente unterscheiden, was allerdings nur moͤglich ist nachdem wir die erste Aufgabe geloͤst haben, (denn habe ich die Einheit nicht gefunden, so kann ich auch die wesentlichen und zufaͤlligen Elemente nicht unterscheiden,) und es entsteht die Auf- gabe, ihr Entstehen zu begreifen, so beruht diese auf der Kennt- niß des geheimen Vorstellungsbestandes, und dann auf der Art und Weise, wie wir von uns und unsrer Composition auf den Verfasser und die seinige zu schließen vermoͤgen. Haben wir von dem Verfasser eine vollstaͤndige Kenntniß, so daß wir ihn kennen, wie uns selbst, so haben wir einen ganz anderen Maaß- stab, als wenn wir jene Kenntniß nicht haben; in jenem Falle koͤnnen wir uns die Aufgabe stellen, zu wissen, nicht nur, was fuͤr Nebengedanken dem Verfasser eingefallen, sondern auch, was ihm nicht eingefallen, und was, und warum er etwas zuruͤckge- wiesen hat. Wir koͤnnen dieß erkennen aus einer zwischen ihm und uns aufgestellten Analogie, wozu wir in unsrer Kenntniß von ihm die Elemente haben. Je mehr wir von einem Schriftsteller solche Produktionen haben, die ihrem wesentlichen Inhalte nach ein solches sich gehen lassen sind, desto leichter kommen wir zu jener Kenntniß von ihm. Doch kommt dabei zunaͤchst in Betracht das Bewußtsein des Schriftstel- lers in Beziehung auf die, an die er zu schreiben hat. Laͤge in einem Briefe etwas, was außer jenem bestimmten Kreise ist, so waͤre das aus Irrthum oder Unbedachtsamkeit geschehen. Dann kommt der momen- tane Zustand, das momentane Verhaͤltniß des Schriftstellers in Anschlag. Denn jeder, hat er unter verschiedenen Umstaͤnden die- selben Gegenstaͤnde zu behandeln, wird vielleicht dieselben Haupt- gedanken haben, aber die Nebengedanken werden sehr verschieden sein. Da tritt wohl der Fall ein, daß man erst aus den sich ein- mischenden Gedanken die Ahndung von dem Zustande bekommt, in welchem sich der Schreibende befindet. Hier ist vieles, was Hermeneutik u. Kritik. 13 aber außer der Moͤglichkeit aufzustellender Regeln liegt. Im Allge- meinen gilt, je mehr jemand in Beziehung auf die vorstellende Thaͤtigkeit sich und andere beobachtet hat, desto mehr hat er auch hermeneutisches Talent fuͤr diese Seite. Je schwieriger die herme- neutische Aufgabe ist, desto mehr fordert ihre Loͤsung gemeinsame Arbeit; je mehr die nothwendigen Bedingungen fehlen, desto mehr individuelle Richtungen muͤssen sich vereinigen, um die Aufgabe zu loͤsen. Was das N. T. betrifft, so ist in den historischen Schriften, so wie sie vor uns liegen, fast gar keine Gelegenheit zu solchen Einmischungen von Nebengedanken der Schriftsteller. In den drei ersten Evangelien tritt der Schriftsteller fast gar nicht hervor, nur daß es keine Erzaͤhlung giebt, der nicht ein Urtheil des Schrift- stellers beigemischt waͤre in der ganzen Art der Darstellung und Verbindung. Rechnet man das Urtheil als Gedanke des Schrift- stellers, so fragt sich nur, ist das Urtheil das des Evangelisten oder eines fruͤheren, dessen Erzaͤhlung sammt dem Urtheile hier aufgenommen ist. Bei Johannes tritt der Schriftsteller selbst haͤu- figer hervor aus bekannten Ursachen. Er giebt Nachweisungen, stellt seine eigenen Eindruͤcke dar. Allein dieß alles gehoͤrt zum Wesen der Sache. In den historischen Schriften lassen sich nur wenige Stellen auf die hier besprochene besondere hermeneutische Aufgabe beziehen, und das sind fast nur Anfuͤhrungen aus dem A. T. Wir behandeln aber diesen Punkt besser gleich auch in Beziehung auf die didaktischen Schriften. Wir fragen, was haben die neutestam. Schriftsteller mit denen, an die sie schrei- ben, fuͤr ein gemeinsames Vorstellungsgebiet, welches von dem Gegenstande, der behandelt wird, noch verschieden ist? Der Haupt- punkt ist die Kenntniß des A. T. Dieß mußte bei den neutest. Schriftstellern natuͤrlicher Weise eine gewisse Allgegenwaͤrtigkeit haben, so daß also im Akt des Schreibens eine Richtung darauf eintreten mußte. Hier haben wir den natuͤrlichsten Raum fuͤr die Nebengedanken eines neutest. Schriftstellers. Der Beruf der Apo- stel war von der Art, daß alle anderen Interessen in den Hinter- grund traten. Aber von der andern Seite bestanden die Gemein- den, an die sie schrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen hatten sie aus ihrem fruͤheren Leben manches, besonders das A. T. gemeinsam, mit diesen aber gar keinen gemeinschaftlichen Vor- stellungskreis. So konnte aus dem heidnischen Leben nicht leicht etwas als Nebengedanke in den neutest. Schriften hervortreten. In ihrem Verhaͤltniß zu den Heidenchristen war der Anknuͤpfungs- punkt nur das Christenthum, der Gegenstand des Schreibens. Indessen standen die Heiden, die Christen wurden, wol schon fruͤ- her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch das A. T. Als Christen traten sie dadurch, daß in den Versamm- lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen werden konnte, noch mehr in den Juͤdischen Lebenskreis ein. So gab auch in neutest. Schriften, welche fuͤr Heidenchristen be- stimmt waren, das A. T. vorzugsweise den Stoff her zu Neben- gedanken. Erklaͤren wir nun die Nebengedanken in den freien Mittheilungen aus dem gemeinsamen alttestam. Vorstellungskreise, so kommen wir damit wieder auf ein sehr streitiges Gebiet. Wie verschieden nemlich sind von jeher die gelegentlichen Anfuͤhrungen aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der Gebrauch, den die neutest. Schriftsteller von alttestam. Stellen machen, sei auch der eigentliche Sinn der lezteren, so erhaͤlt man ein ganz anderes Resultat, als wenn man sagt, eben deßhalb, weil es außer dem unmittelbaren Gegenstande der Schrift so wenig Gemeinschaftliches zwischen den Schriftstellern und Lesern gab, sei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver- schiedener Gebrauch gemacht worden. Es ist die Aufgabe, die angefuͤhrte Stelle als Thatsache im Gemuͤth des Schreibenden zu verstehen. War es dem Schriftsteller unmoͤglich, die Stelle an- ders als in ihrem urspruͤnglichen Sinne zu verstehen, so ist dieß eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift- steller habe die Stelle auch anders gebrauchen koͤnnen, so entste- hen noch ganz andere Moͤglichkeiten. Es kann der Fall eintreten, daß dieselbe alttest. Stelle von verschiedenen neutestam. Schrift- 13* stellern auf dieselbe Weise als Nebengedanke gebraucht wird, aber nach verschiedenen Auslegungen. Es giebt diesem so nahe- liegende Faͤlle, daß man sie darunter subsumiren kann. Voraus- gesezt also, solche alttest. Anfuͤhrungen oder Anspielungen seien das bedeutendste Material fuͤr die Nebengedanken in didaktischen Schrif- ten, um in diesem Falle sicher zu erkennen, wie es dabei im Ge- muͤthe des Schreibenden zugegangen sei, muß man sich eine all- gemeine Übersicht von allen Faͤllen solcher Art verschaffen. Giebt diese solche Resultate, wie die eben eingefuͤhrten, oder erscheint das Resultat einer großen quantitativen Differenz, so daß an einer Stelle auf das alttest. Citat mehr Nachdruck gelegt ist, wenn gleich es Nebengedanke ist, als an einer andern, wo das Citat mehr rein zufaͤllig erscheint, so muͤssen wir sagen, daß es eine allge- meine Regel dafuͤr gar nicht gebe und daß es nicht allgemeine Richtung der neutest. Schriftsteller sei, den Sinn solcher Stellen festzustellen. Denn wo sie eine alttest. Schriftstelle auf eine nach- druckslose Weise einfuͤhren, da ist durchaus nicht daran zu denken. Betrachten wir die Sache mehr im Zusammenhange mit der bisherigen Untersuchung, so wird es gleich sehr wahrscheinlich wer- den, daß da, wo es einen sehr geringen aber zu gleicher Zeit sehr allgemein verbreiteten litteraͤrischen Besiz giebt, der das Gemein- schaftliche zwischen dem Schriftsteller und seinen Lesern ist, da es auch natuͤrlich sei, daß davon auf die mannigfaltigste Weise Ge- brauch gemacht werde. Es gilt bei den Griechen von Homer, was bei den Juden vom A. T. Auch von Homer wurde ein sehr mannigfaltiger Gebrauch gemacht, man deutete ihn wie das A. T. allegorisch. Die Analogie ist unverkennbar. Man kann sich die Sache im Allgemeinen so denken. Es hat im Gespraͤch einen besonderen Reiz, wenn zwei Leute in was immer fuͤr Ver- handlungen auf einen Kreis kommen, der ihnen gemeinsam ist und gleich bekannt, so daß sie daraus anfuͤhren, wo sich die Ge- legenheit darbietet. Eine Schrift der Art nimmt den Charakter eines Gespraͤchs an, denn Nebengedanken sind immer nur aus einem dem Schreibenden und den Lesern gemeinsamen Gebiet genommen, und zwar aus einem solchen, von dem der Schrift- steller voraussezen kann, daß es seinen Lesern eben so leicht ge- genwaͤrtig gemacht werden kann, als es ihm ist. Fremden Le- sern werden freilich solche Nebengedanken oft raͤthselhaft erscheinen. Wenn sie dieß auch den urspruͤnglichen Lesern waͤren, muͤßten wir freilich den Verfasser tadeln, denn anstatt daß die Nebenge- danken neuen Reiz erregen, die Aufmerksamkeit spannen sollen, haͤtte er in diesem Falle durch Schwierigkeiten, die er den Lesern macht, diese gehemmt und im aufmerksamen Lesen des Folgenden gestoͤrt. Aber dieß ist nicht vorauszusezen. Wenn es sich findet, so liegt es gewoͤhnlich darin, daß es so wenig vermittelnde Punkte zwischen vertraulicher Mittheilung, und dem, was an das ganze Publikum gerichtet ist, in unsrer Litteratur giebt. Vorauszusezen ist immer, daß die Nebengedanken foͤrdernd, nicht hemmend ein- treten. — Vergleichen wir dieß mit dem oben uͤber die Natur der Digression Gesagten, so koͤnnen wir die einfache allgemeine Formel aufstellen: Jede Schrift ist zweierlei, auf der einen Seite Gespraͤch, auf der andern Mittheilung einer bestimmten, absichtlich gewollten Gedankenreihe. Denken wir das leztere ohne das erstere, dieß als Null, so gehoͤrt dazu auch dieß, daß der Schriftsteller durch die ihm gegenuͤberstehenden Vorstellungen der Leser gar nicht bestimmt ist. Denken wir dieses, so muͤssen wir sagen, so etwas sei keine eigentliche Schrift, denn da haͤtte der Verfasser nur fuͤr sich geschrieben. So wie man sich aber eine bestimmte Schrift als Mittheilung denkt, ist diese auch durch die Vorstellungen von denen, an welche die Schrift gerichtet ist, bestimmt. Alles, was in dieser Art in einer Schrift einen dialogischen Charakter traͤgt, ist nur aus dem Gemeinschaftlichen zwischen dem Schriftsteller und seinen Lesern zu erklaͤren. Ist der Leserkreis ein sehr bestimm- ter, desto mehr kann aus dem Gemeinschaftlichen vorkommen und desto groͤßer ist dann auch in der Schrift die Neigung zu der Form der vertraulichen Mittheilung. Wenn in den didaktischen Schriften des N. T. die Richtung auf weit spaͤtere Geschlechter waͤre, was eigentlich das Normale darin sein wuͤrde, so wuͤrde sie eine solche Richtung aus ihrem Gebiete heraus geleitet haben; allein die That zeigt, daß sie in dem mit ihren Lesern gemein- schaftlichen Gebiete geblieben sind. Doch werden wir dabei auf einen sehr beschraͤnkten Kreis zuruͤckgefuͤhrt. Denn gegen das Gebiet des vorherrschenden christlichen Lebens trat bei den neutest. Schriftstellern alles andere zuruͤck. So bleiben nur die wenigen Wechselfaͤlle in diesem Gebiete selbst zuruͤck. Nemlich in der freien Mittheilung kann einer mehr ausgehen von dem, was ihn gerade bewegt, oder von den Vorstellungen, die er von denen hat an die er schreibt. Dominirt die eine Seite, so tritt die andere im Ein- zelnen dazwischen. Dieser Wechsel ist nicht leicht so zusammen- gesezt, wie im zweiten Briefe an die Korinthier; eben deswegen ist dieser Brief fuͤr die Auslegung so schwierig. Es haben daher manche gesagt, der Brief habe gar keine Einheit, Paulus habe ihn unter den Zerstreuungen der Reise geschrieben. Allein solche Hypothesen sind, wenn sie nicht ein bestimmtes Fundament ha- ben, ein hermeneutischer Bankerutt; sie zeigen, daß man den Faden verloren hat. Die Schwierigkeit liegt indessen nur darin, daß die beiden oben bezeichneten Richtungen auf eine eigenthuͤm- liche Weise in dem Briefe ineinander gehen. Auf der einen Seite bewegen den Apostel die Vorfaͤlle in Korinth; dazu gehoͤrt aber, was mit seiner Person in Korinth vorging, und dieß macht eine besondere Schwierigkeit. Denn spricht jemand bewegt uͤber sich selbst, so meint man Grund zu haben zu glauben, er selbst sei irgendwie betroffen. Dann kommen Elemente der andern Art dazwischen. Nur wenn man bedenkt, wie Paulus sich selbst und sein ganzes Leben schildert als lebhaftes Bewegtsein von allem, was in der christlichen Kirche vorging, findet man den Schluͤssel zu vielem, was sonst nicht deutlich ist. Es giebt ferner in den Paul. Briefen viel Polemisches. Gewoͤhnlich sucht man die Ge- genstaͤnde seiner Polemik nur da, wohin er gerade schreibt. Allein das ist nicht nothwendig. Es kann ihn auch anderes be- wegt haben. Bei voller Aufmerksamkeit kann man in dem Tone seiner Polemik wol erkennen, wenn der Gegenstand derselben da liegt, wohin er schreibt, und wenn er bewegt war durch etwas, was in andern Regionen der apostolischen Kirche vorging und wovon in der Gemeinde, an die er schrieb, nichts uͤberwiegendes war. In diesem Stuͤcke haben die Ausleger oft sehr geirrt. Aber solche Irrthuͤmer entstehen sehr leicht, wenn man auf so wenige Huͤlfsmittel beschraͤnkt ist. Da sucht man leicht alles aus der auszulegenden Schrift selbst zu erklaͤren. Daher, wie klein auch der Umfang des N. T. ist und wie sorgfaͤltig bearbeitet, es doch gerade bei diesem noch sehr an festen ausgemachten Punkten fehlt. Hierauf influirt die schon erwaͤhnte uͤble Gewohnheit, neutest. Stellen zum dogmatischen Gebrauch außer ihrem Zusammenhange zu betrachten. So entsteht leicht die Richtung, den Sinn der Stellen universell zu nehmen. Liest man sie dann wieder im Zusammenhange, so will man auch ohne Ruͤcksicht auf die Um- gebung und das besondere Verhaͤltniß, worin sie stehen, den allgemeinen Sinn hineinbringen. Der Irrthum ist dann um so groͤßer, wenn der Gedanke im Zusammenhange ein Nebengedanke ist, als dictum probans aber genommen schon den Charakter eines Hauptgedankens bekommen hat. Man stellt dann seine Dignitaͤt zu hoch und verkehrt so das ganze urspruͤngliche Ver- haͤltniß der Saͤze. Man soll sich nun freilich bei der Auslegung solcher Vorurtheile und Befangenheiten enthalten, allein das Übel scheint unvermeidlich, weil man die Praxis, neutest. Stellen außer dem Zusammenhange zu betrachten, nicht abschaffen kann. Aber dieß ist ein Grund, warum die Exegese doch immer noch so lang- sam fortschreitet. Dazu kommt die unvollkommene Beschaffenheit der exeget. Huͤlfsmittel gerade in Hinsicht auf das Verhaͤltniß zwischen den Schriftstellern und ihren urspruͤnglichen Lesern. Diese sind immer erst Produkte der Exegese und nicht selten einer fal- schen. So wird man befangen, wenn man sie gebraucht. Man darf sie daher nur mit großer Vorsicht und Pruͤfung gebrauchen. Die Aufgabe, von allen Gedanken, die als Nebengedanken anzusehen sind, die eigentliche Tendenz zu erkennen, ist sehr schwer. Allein sie wird wesentlich erleichtert durch die Loͤsung der noch vor uns liegenden hermeneutischen Aufgabe. Haben wir nemlich eine deutliche Vorstellung von der Meditation und Composition des Schriftstellers, so ergiebt sich leicht ein sicheres Urtheil uͤber das was außerhalb der Meditation und Composition liegt. Außer- halb beider liegen die Elemente die nur Darstellungsmittel sind, z. B. bildlicher Ausdruck, Gleichniß u. s. w. Denn wenn jemand bei dem Keimentschluß noch so sehr ins Spezielle geht und die Ordnung bestimmt, in der er seine Gedanken mittheilen will, jene Darstellungsmittel wird er doch nicht schon fertig finden; sie finden sich erst bei der Darstellung selber ein, liegen also außer der Composition. Schwieriger ist es bei der Meditation; aber im gewissen Sinne gilt jenes doch auch von dieser. Sie ist das be- stimmte Fortruͤcken des Entschlusses zur Mittheilung, aber dasjenige, welches mit dem Akt des Schreibens noch nicht in dem Zusam- menhange steht, daß alle Nebengedanken schon in dieser Reihe laͤgen. Ja alles, was Nebengedanke ist, liegt außer derselben. Freilich kann man nicht sagen, daß alle Nebengedanken dem Schrift- steller erst im Schreiben einfielen und gar mit solcher Lebhaftigkeit, daß er sie annehmen muͤßte und nicht zuruͤckweisen koͤnnte. Er kann sie fruͤher gehabt haben, und sie wiederholen sich in ihm im Moment des Schreibens. Aber auch dann liegen sie außerhalb der Meditation. Aus der Bestimmung, mit der sich die Neben- gedanken von dem, was aus dem Willensakt hervorgegangen ist, unterscheiden, muß sich auch der eigentliche Werth derselben er- kennen lassen. Die technische Aufgabe insbesondere. Hier ist zu betrachten, wie die Schrift aus dem lebendigen Keimentschluß nach Inhalt und Form hervorgeht, wie dieselbe als Ganzes die weitere Entwickelung des Entschlusses ist. Vergl. S. 148-155. Alle Elemente der Schrift, welche als abhaͤngig davon betrachtet wer- den koͤnnen, sind Gegenstand der technischen Auslegung. Diese unterscheidet sich von der grammatischen so, daß waͤhrend auf der grammatischen Seite der Einzelne der Ort ist, in welchem die Sprache lebendig wird, auf der technischen Seite von der Sprache unmittelbar nicht die Rede ist. Allein, was wir als Ent- wicklung von dem ersten Keime aus betrachten, muß doch Sprache geworden sein. Hier ist die Sprache die lebendige That des Einzelnen, sein Wille hat das Einzelne darin producirt, durch die Gewalt der psy- chologischen Thatsache kommt eine Zusammenstellung von Elementen, die noch nicht zusammengewesen sind, zu Stande. Es entstehen durch die Gewalt, die der Einzelne in der Sprache ausuͤbt, Erweiterungen und Contractionen der Sprachelemente nach der logischen Seite hin. Betrachten wir die Entstehung der Composition, so ist es hier freilich anders. Hier sind die allgemeinen Geseze der Ord- nung im Denken anzuwenden. Zuvor aber muß ich den Schrift- steller doch auch in seiner Meditation verstehen. Dieß ist aber eine Aufgabe, deren Gegenstand beinahe unsichtbar ist und nur auf Conjectur zu beruhen scheint. Wir koͤnnen wol leicht sagen, die hier vorhandenen Gedanken gehoͤren zur Sache, man muß nur sehen, wie sie geordnet sind. Aber schwierig ist es, zu sagen, was und wie der Verfasser uͤber diesen oder jenen Gegenstand gedacht habe, denn jeder Gegenstand laͤßt sich auf verschiedene Weise verfolgen. Hier sind wir auf dem unsichtbaren Gebiete der Meditation, wo es auch darauf ankommt zu wissen, was der Schriftsteller auch verworfen hat, obgleich es aus dem Grund- gedanken hervorging. Jede Schrift hat ihre eigenthuͤmliche gene- tische Reihe und urspruͤnglich ist darin die Ordnung, in der die einzelnen Gedanken gedacht sind. Aber in der Mittheilung kann sie vielleicht eine andere sein. Hier kommen wir auf den Unter- schied zwischen Meditation und Composition. Daß der Unterschied zwischen beiden veraͤnderlich ist, das hat seinen Grund in dem ersten Willensakt. Dieser kann als Moment betrachtet mehr und weniger in sich schließen. Er kann eine solche Leben- digkeit haben, daß das Ganze in seinen Hauptzuͤgen im Bewußt- sein schon damit gegeben ist. Je mehr dieß ist, desto geringer ist der Unterschied zwischen Meditation und Composition; je weniger jener Willensakt diesen Charakter hat, desto groͤßer ist der Unter- schied. Es scheint aber als wenn der Unterschied uͤberhaupt nur auf gewisse Formen sich bezoͤge. Denn was hat z. B. im Histo- rischen die Meditation zu thun? Etymologisch deutet der Aus- druck auf innere Gedankenentwickelung. Wo also, wie im Histo- rischen, der Inhalt aͤußere Wahrnehmung ist, scheint die Medi- tation gar keinen Gegenstand zu haben. Allein dieß ist eben nur scheinbar. Wiewohl der Unterschied zwischen Meditation und Com- position auf den verschiedenen Gebieten verschieden ist, so ist die Meditation doch nirgends Null, auch im Historischen nicht. Gehen wir zuruͤck auf den Impuls, so sehen wir, es kann kein Willens- akt als unter der Form eines Gedankens gegeben sein. Ein Im- puls, der nicht im Subject selbst als Gedanke gegeben ist, ist kein Willensakt, ist bloß Moment des Instinkts. Nun koͤnnen wir aber im Begriff des Gedankens folgendes unterscheiden: So- fern das Einzelne darin dominirt, hat er die Richtung Bild zu sein, sofern aber das Allgemeine, Formel. Das eine wie das andere ist einseitig. Das Hoͤchste ist das Ineinandersein von bei- dem. Allein der Gegensaz muß urspruͤnglich in jedem Willensakt sein. Es fragt sich aber, ist er durch den Gegenstand bestimmt worden, oder davon unabhaͤngig? Das leztere. Je mehr der urspruͤngliche Willensakt als Bild gegeben ist, desto mehr traͤgt er das Einzelne gleichsam im verjuͤngten Maaßstabe mit in sich, desto weniger aber von der Composition; seine ganze Entwicklung ist gleichsam das Äußerliche zu dem was in jenem Keim innerlich geschauet ist. Je mehr aber der urspruͤngliche Willensakt Formel ist, desto weniger traͤgt er das Einzelne in sich, desto mehr dann auch schon die Composition. So sind die beiden Akte schon im ersten Moment selbst gesezt. Sehen wir nun auf die verschiedenen Richtungen, welche die Gedankenentwicklung haben kann, so finden wir eine Dupli- citaͤt darin, daß, wenn im Impuls die Richtung auf das Bild ist, dann je mehr die Gedankenentwicklung objectiv ist, desto mehr das im ersten Keim Gesezte das Einzelne ist, das als Gedanke hervortritt, je mehr aber die Gedankenentwicklung subjectiv ist, desto mehr das im Keime liegende der Ton ist und die verschie- denen Modificationen des Tones, in denen sich das Ganze bewegt. In dem Falle aber, daß der Impuls mehr Formel ist, traͤgt er mehr die Verhaͤltnisse in sich, und eben weil diese durch die An- ordnung zur Darstellung kommen, enthaͤlt er auch mehr die Keime der Composition, als die des einzelnen Inhalts. Aber beides muß sich gegenseitig suchen, so daß wir aus der Composition das Einzelne des Inhalts erkennen, und, indem sich das Einzelne mehr entwickelt, wird, wenn es vollstaͤndig gegeben ist, auch die Composition mitgegeben sein. — Aber wie stimmt dieß mit der Unterscheidung zwischen Meditation und Composition? Dabei war das Grundprincip, daß wir erst von dem Impuls aus das Ein- zelne erfassen, und dann die richtige Stellung, nach der alles, was derselben nicht entspricht, ausgeschieden ist. Ist es aber moͤg- lich, daß der erste Impuls die Composition mehr in sich traͤgt, so muͤßte da auch der umgekehrte Weg eingeschlagen werden. Wie ist dieß? Wenn wir einen allgemeinen aber realen Begriff haben, so finden wir darin immer schon mit Leichtigkeit die An- deutung auf weitere Theilung. Aber wenn wir sagen wollten, durch die bloße Theilung gelangten wir zu allem Einzelnen, so waͤre das unwahr, wir wuͤrden nur einen Typus finden. So koͤnnen wir uns wol eine innere Entwicklung der Composition von der allgemeinen Formel des Ganzen aus denken, aber das Einzelne kann dadurch auf keine Weise gefunden werden. Sehen wir vorerst ab von der subjectiven Richtung im ersten Impuls, welche ein spezifisches Talent voraussezt, und halten uns an das Allgemeinere, Verbreitetere, so koͤnnen wir einen quantitativen Un- terschied wahrnehmen zwischen der Thaͤtigkeit, wodurch der ur- spruͤngliche Keim seinem Inhalte nach sich naͤher ertwickelt, und der, wodurch der Inhalt seine Form bekommt. Nehmen wir dann das Subjective als untergeordnet wieder auf, so koͤnnen wir sagen, es giebt in der ersten Entwicklung des Einzelnen, die wir Meditation nennen, ein Fortschreiten, welches mehr an der Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fortschreiten, welches mehr unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erste immer gleich die Form bestimmen, und es wird da ein Wechsel sein zwi- schen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein- zelne wird im Zusammenhange nur mit seiner Stelle gefunden. Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des Einzelnen hat, fuͤr sich gefunden, wo dann mannigfaltige Zusam- menstellungen moͤglich sind. Das Ganze wird ein Anderes sein, wenn es auf die eine oder andere Weise verstanden wird, also mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein- zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver- stehen koͤnnen, wenn wir die Genesis verstehen. Daher die uner- laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenstand der Herme- neutik sein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verstehen. Sobald man sich mehr an das eine oder andere haͤlt, wird die Loͤsung der Aufgabe unvollkommen sein. Es wird freilich bei dieser Aufgabe Jeder durch sich selbst eine vorherrschende Richtung auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darstellung der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unsre eigenen ver- stehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abstoßung sein. Daher wird die Art der hermeneutischen Operation sich nach der eigenen Gedankenentwicklung bestimmen. Es giebt viele, die sich, wenn sie lesen, aus der Form nichts machen und nur auf den Inhalt sehen. Dabei ist ein unordentliches Verfahren moͤglich. Denke ich den Inhalt von der Form gesondert, so kann ich uͤberall anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten ansehe. Manche Arten von Darstellungen ertragen das eher, als andere. Es giebt aber auch Leser, die es uͤberwiegend auf die Form an- legen. Dabei ist denn gewoͤhnlich im Hinterhalt, daß man denkt, sich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu koͤnnen in dem Maaße, in welchem man das Ganze noͤthig hat. Aber in der That sobald bei dem Verstehenwollen die Richtung auf unsere eigenen Gedanken vorherrscht, entsteht die eine oder die andere Einseitigkeit und das wahre volle Verstehen wird unmoͤglich. In dem Grade also in welchem man vollkommen verstehen will, soll man sich von der Beziehung des Auszulegenden auf eigene Gedanken losmachen, weil diese Beziehung eben gar nicht die Ab- sicht hat zu verstehen, sondern zu gebrauchen als Mittel was in den Gedanken des Andern zu den eigenen in Verhaͤltniß steht. Jedes muß aus seinen Gedanken verstanden und ausgelegt wer- den. Lohnt sich das der Muͤhe nicht, so hat auch die Loͤsung der hermeneutischen Aufgabe keinen Werth. Die Beziehung der Gedanken eines Andern auf die eigenen liegt sofern sie hermeneutischer Art ist ganz auf der Seite der grammatischen Interpretation. Hier ist sie nothwendig, denn in der grammatischen Interpretation liegt die Beziehung zwischen den Gedanken eines Andern und den meinigen als Ort der Sprache. Wenn aber eben die Aufgabe ist, die Gedanken eines Andern als seine Produktion vollkommen zu verstehen, muͤssen wir uns von uns selber los machen. Um aber in diesem Sinne die hermeneutische Aufgabe zu loͤsen, muß man vor Allem das Verhaͤltniß zwischen der Medi- tation und Composition des Schriftstellers zu erkennen suchen. Wir fangen an mit der allgemeinen Übersicht. Aber wie koͤnnen wir daraus den innern Proceß des Schriftstellers verstehen? Durch Beobachtung. Diese aber hat ihren Halt in der Selbstbeobach- tung. Man muß selbst in der Meditation und Composition ver- sirt sein, um die eines Andern verstehen zu koͤnnen. Von dieser Seite ist in der Voruͤbung auf hoͤhere Studien in der litterari- schen Gymnastik das eigene Componiren so wesentlich. Nach diesen Voraussezungen fragt sich nun, wie kann ich aus dem zweiten Akt, der Composition, der in der Schrift vor mir liegt, er- kennen, wie sich in dem Verfasser dieser Akt entwickelt hat, wie er zu Inhalt und Form seiner Schrift gekommen ist? Dieß scheint sehr schwierig. — Je mehr in einer Schrift Form und Inhalt in einander aufgehen, um so geringer ist der Unterschied zwischen Meditation und Composition. Dieß wird noch deutlicher, wenn wir das Entgegengesezte denken, also einen Entschluß, der noch nicht mit voller Lebhaftigkeit des Bewußtseins auch den einzelnen Inhalt in sich schließt. In diesem Falle wird der einzelne Inhalt erst durch die Fortwirkung der Elemente des Entschlusses, er ent- wickelt sich weiter, indem er sich wiederholt. Nun ist aber oben gesagr worden, es gebe eine Form, die wir als die der groͤßten Passivitaͤt ansehen, wo man die Entwicklung des im Entschluß Liegenden den Umstaͤnden uͤberlaͤßt. Da entstehen Gedanken, die dem Entschlusse angehoͤren, oder gelegentliche und im Zusammen- hang mit der Gedankenentwicklung, zu der wir von andern Sei- ten aufgefordert werden. Da tritt aber die Differenz ein, daß diejenigen Gedanken, welche in dem urspruͤnglichen Impuls ge- legen haben, sich leichter in die bestimmte Form bringen lassen, diejenigen aber, welche mehr Gelegentliches an sich haben, schwie- riger, und das werden solche sein, welche in der Form nur als Ausschweifung erscheinen koͤnnen, wegen des fremden Elements, das ihrer Genesis anklebt. Diese Elemente werden sich leicht un- terscheiden lassen, so wie man die Hauptgedanken und die wesent- lichste Gliederung desselben erkannt hat und festhaͤlt, welches bei- des sich aus der Übersicht ergeben muß. Aber hiebei ist gleich auch auf den Unterschied der Form Ruͤcksicht zu nehmen, weil in dem Auffassen des ersten Akts und dem Zusammenfassen der Elemente durch die Form eine große Verschiedenheit eintritt. Der wesentliche Unterschied ist der zwi- schen Prosa und Poesie. Was die Poesie betrifft, so zeigt sich darin leicht was wesentlich der Meditation und was wesentlich der Composition angehoͤrt, denn es liegt hier voͤllig auseinander. Den- ken wir uns ein Gedicht von etwas groͤßerem Umfange, so ist gar nicht anzunehmen, daß es im ersten Willensakt vollstaͤndig vorbedacht ist. Die Gedanken sind in dem ersten Willensakte nur punktirt. Sie muͤssen bei der Composition umgeworfen werden. Darum ist eben die Composition nicht der Zeit nach, sondern nur der unmittelbaren Beziehung nach Ein Akt. In der Prosa ist solch ein bestimmter Unterschied nicht. Da gehen wir davon aus, daß gleich im ersten Akt Inhalt und Form gegeben sind. Die Form ist aber hier die der ungebundenen Rede. Somit ist kein wesentliches Hinderniß, daß nicht die einzelnen Theile des Gan- zen, wie sie zuerst gedacht sind, so auch ausgefuͤhrt werden. Nu- merus und Wohlklang stehen mit der Form in der Prosa in gar keiner so engen Verbindung wie in der Poesie das Versmaaß. Also das scharfe Auseinandertreten der Resultate der Meditation und Composition ist der erste Unterschied, sobald wir einen irgend groͤßeren Umfang von Poesie annehmen, wo das Einzelne sich sondert. Aber schon in dem Epigramm, als der kleinsten poeti- schen Form, muͤssen wir dasselbe anerkennen. Das Epigramm beruht immer auf Gegebenem. Denken wir uns aber in dieser Beziehung das Entstehen des Epigrammes, so haͤngt demselben nicht gleich die poetische Form an. Ist es der Fall, so sind nur die an sich verschiedenen Elemente naͤher aneinandergeruͤckt. In der modernen Form des Epigramms ist die Spize die Haupt- sache. Diese aber ist eben die Beziehung auf das Gegebene in moͤglichster Schaͤrfe. Sie entsteht wie ein Bliz im Moment, ist ein Einfall, in dem das Versmaaß noch nicht ist. Dieses ist ein zweiter Akt. So treten also auch hier beide Akte bestimmt aus- einander. Gehen wir nun von der Poesie auf die Prosa uͤber, so ist auch an dieser, je mehr sie sich der Poesie naͤhert, desto mehr ein Auseinandertreten der beiden Akte bemerkbar. Dieß ist der Fall, wenn in der Prosa auf das Musikalische in der Sprache ein be- sonderer Werth gelegt wird. Da kann der Gedanke mit seinem Ausdrucke nicht zugleich entstehen. Dieser mit seinem musikalischen Werth entsteht erst durch die Stelle, die er einnimmt, und diese ergiebt sich erst aus der Composition. Hier erkennen wir eine Art von Stufenleiter. Fragen wir nun, in welchem Gebiete das Auseinandertreten der beiden Akte ein Minimum ist und fuͤr das hermeneutische Interesse verschwindet, so ist das der Vortrag der am meisten rein wissenschaftlich ist. Da ist das Musikalische dem Logischen ganz untergeordnet. Je mehr die Composition die Ge- danken ohne alles andere Interesse anschließt, desto mehr ist sie urspruͤnglich Eins mit ihnen, also auch der Unterschied zwischen ihm und der Meditation Null. Dieser Unterschied kann nicht darin bestehen, daß man sollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit- folge die einzelnen Gedanken des Schriftstellers entstanden sind. Dieß ist durch die Composition selbst ein so verschwindendes, daß nur einzelne wenige Faͤlle sind, wo daruͤber etwas auszumitteln ist. Wenn dieß also nicht gemeint sein kann, sondern nur der Unter- schied, der in Beziehung auf die fruͤher vorhandenen Elemente durch die Composition entsteht, so ist davon auf dem wissenschaft- lichen Gebiete das Wenigste zu erwarten, weil auf demselben die Ausdruͤcke nicht alterirt werden koͤnnen ohne die Gedanken selbst zu alteriren. Dieß ist indeß nur die eine Seite des hermeneutischen In- teresses. Die andere Seite fuͤhrt auf ganz andere Differenzen. Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben, der Gegenstand sei welcher er wolle, so werden wir darin niemals den Gegenstand erschoͤpft nennen. Vielmehr werden jedem, der im Lesen in einem wirklichen Aneignungsprocesse begriffen ist, Ge- danken einfallen, die in dasselbe Gebiet gehoͤren, aber dort sich nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedruͤckten in Widerspruch stehen. Da ist denn das Interesse zu wissen, ob der Schriftsteller dieselben gar nicht gehabt, oder wissentlich ausgelassen. Zum vollen Verstehen gehoͤrt offenbar beides zu wissen, sowol was ich vermisse, als was ich im Schriftsteller mit meinen Ge- danken uͤber den Gegenstand in Widerspruch finde. Nimmt der Schriftsteller Ruͤcksicht darauf, dann muß auf den Grund der Differenz zuruͤckgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung darauf, so ist es problematisch, aber es entsteht die Aufgabe, eben dieß wo moͤglich auszumitteln. Da ist denn das Interesse, die Meditation des Schriftstellers so vollstaͤndig wie moͤglich an und fuͤr sich uͤbersehen zu koͤnnen, auch in Beziehung auf das, was in die Composition nicht aufgenommen ist. Es ist moͤglich, daß die Gedanken die ich vermisse dem Verfasser vorgeschwebt, er aber Gruͤnde gehabt hat, sie nicht aufzunehmen, noch auch Beziehung darauf zu nehmen. Das kann im ersten Willensakte liegen, z. B. wenn er nicht polemisch sein wollte. Doch ist es wichtig zu wissen, ob jene Gedanken dem Verfasser vorgeschwebt haben oder nicht. Denn darnach gewinnt sein Gedankencomplexus eine andere Be- deutung. Im lezteren Falle wird der Werth desselben verringert, im ersten Falle das Interesse, in die Gruͤnde seines Verfahrens genauer einzugehen, erhoͤhet. Diese Aufgabe aber ist eben so schwierig, als interessant. Das Interesse aber ist hier wieder ver- schieden, jedoch in umgekehrter Richtung. Je mehr der ganze Gedankencomplexus dem Inhalte nach gebunden ist, um so groͤßer ist das Interesse von dieser Seite, je weniger um so geringer. Ist der Gedankencomplexus nur eben ein Aggregat von Einzeln- heiten, so verschwindet das Interesse, und die Frage, was der Verfasser noch außerdem gedacht habe, liegt ganz außer der her- meneutischen Aufgabe. — In den synoptischen Evangelien fehlt z. B. die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus. Als naͤchste Veranlassung zur lezten Katastrophe, wie sie Johannes darstellt, ist sie von gro- ßer Bedeutung. Denken wir uns, daß die drei ersten Evangelien eine Lebensbeschreibung Christi haben geben wollen, so ist die Frage, wie sie dazu gekommen sind, sie auszulassen, oder ob sie dieselbige nicht gekannt haben? Allein da sie offenbar mehr nur Aneinanderreihungen einzelner Erzaͤhlungen sind, so verliert jene Frage das hermeneutische Interesse und behaͤlt nur das kritische, nemlich ob und wie die Erzaͤhlung so wenig allgemein geworden, daß sie in die gemeinschaftliche Quelle nicht gekommen ist. So sieht man, wie das Interesse an einem gebundenen Ganzen ein ganz anderes ist, als an einem ungebundenen. Fassen wir nun das Bisherige zusammen, so haben wir zwiefaches Interesse, die Meditation eines Schriftstellers in ihrer Totalitaͤt, abgesondert davon, was in die Composition eingegangen ist, kennen zu lernen, nemlich auf der einen Seite, wie seine Dar- Hermeneutik u. Kritik. 14 stellungsweise durch die Composition modificirt ist, auf der andern Seite, wie der ganze Proceß, der sich vom ersten Willensakt ent- wickelt, sich zur Totalitaͤt des Gegenstandes verhaͤlt. Dieses dop- pelte Interesse kann in den verschiedenen Arten der Composition in sehr verschiedenem Grade statt finden, aber es giebt keine Form, in der es gar keinen Werth haͤtte, die Meditation des Schrift- stellers in ihrer Totalitaͤt zu kennen. Selbst das historische Ge- biet ist davon nicht ausgenommen, wiewohl der Ausdruck Medi- tation hier nicht im engsten Sinne gebraucht werden kann. Wir fragen auch hier nach dem Entstehen der Erinnerungen eines Schriftstellers von seinem Gegenstande, nach seinem Ausgehen auf Notizen von demselben und seinem Entschluß. Allein die Loͤsung der bezeichneten Aufgabe ist auf eigenthuͤm- liche Weise bedingt. In vielen Faͤllen gehoͤrt viel dazu, damit nur die Aufgabe entsteht. Dann frage ich, wie sich die Medita- tion des Verfassers zur Totalitaͤt seines Gegenstandes verhaͤlt, so muß ich zuvor diese Gesammtheit kennen. Nehme ich ein Buch zum ersten Unterricht uͤber einen Gegenstand, so kann jene Frage noch nicht entstehen; sie entsteht erst, wenn ich in der Kenntniß des Gegenstandes bis auf einen gewissen Punkt gekommen bin. Was das N. T. betrifft, so befinden wir uns gleich von Anfang des exegetischen Studiums in dem Fall, daß wir eine gewisse Kenntniß des Gegenstandes und eine allgemeine Übersicht des Inhalts mitbringen. Allein eben dieß fuͤhrt leicht irre, und muß also geregelt werden. Es entsteht sogleich die Frage, wie hat der neutest. Schrift- steller wohl gedacht uͤber die Gegenstaͤnde, welche bei uns eine besondere Stelle in der christlichen Lehre einnehmen, und aus welchem Ganzen sind die einzelnen Gedanken genommen? Stel- len wir die Frage in Beziehung auf den spaͤteren Zustand der christlichen Lehre, so alteriren wir den ganzen hermeneutischen Proceß und sind auf falschem Wege. Die didaktischen Schriften sind mehr und weniger fragmen- tarisch. Es dringt sich dabei die Aufgabe auf, das Ganze zu finden. Ohne dieß ist kein wahres Verstehen moͤglich. Wir brin- gen nun freilich bei der einzelnen didaktischen Schrift keinen In- halt mit, aber doch die Vorstellung und die Beziehung auf einen solchen. Wollen wir nun in Folge davon sagen, der Schriftsteller koͤnne dieß oder jenes nicht gedacht haben, sonst haͤtte er es mit- getheilt, so wuͤrde dieß, wenn es mit Grund gesezt sein soll, vor- aussezen, daß man die Aufgabe gaͤnzlich geloͤst habe. Dieß aber ist doch nicht wahr. Außerdem muͤßte man dabei voraussezen, der Gegenstand habe sollen in der Schrift erschoͤpft werden. Die Auf- gabe kann wahrhaft nur geloͤst werden in dem Grade, als man im Besiz alles dessen ist, was in der Meditation des Verfassers haͤtte sein koͤnnen, wozu aber gehoͤrt, daß man den Zustand des Gegenstandes zur Zeit des Schriftstellers mit einer gewissen Ge- nauigkeit kennen muͤßte. Wie ist es aber mit den Bedingungen dazu im N. T.? Man kann diese Sache auf verschiedene Weise ansehen. Sehen wir das N. T. als Eine Aufgabe an, so wissen wir, daß es keine anderweitigen Schriften und Notizen uͤber den Zustand des Gegenstandes aus derselben Zeit giebt. Wir sind also auf das N. T. selbst gewiesen. Nehmen wir hingegen die neutest. Buͤcher einzeln, so ist die Gesammtheit aller ein Mittel, wodurch die Loͤsung der Aufgabe fuͤr das einzelne Buch erleich- tert wird. Die Aufgabe ist dann unter der Form zu loͤsen, das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, und nur in dem Maaße, in welchem das Ganze zum Verstehen des Einzelnen gegeben ist, kann die Aufgabe gluͤcklich geloͤst werden. Nun ist wahr, die Aufgabe die Meditation zu verstehen ist abhaͤngig von dem Verstehen der Composition. Allein wir haben jene mit Grund vorangestellt, weil wir nur durch die Kenntniß der ganzen Meditation die Composition genetisch verstehen. Das Entgegengesezte tritt nur ein in Beziehung auf die Nebengedan- ken, denn diese entstehen erst in der Composition. Haben wir Grund anzunehmen, daß nicht der ganze wesentliche Inhalt im Moment der Meditation war, ehe der Schriftsteller an die Com- position ging, so ist das Werk ein unvollkommenes. Dieß schließt 14* aber die Anerkennung einer jeden Stufe der Unvollkommenheit in sich. Sehen wir auf die Verschiedenheit des Inhalts und fragen, wiefern koͤnnen wir fuͤr die verschiedenen Gattungen wenigstens gewisse Regeln und Cautelen feststellen, um die Aufgabe richtig zu loͤsen, so kommt es auf die beiden Punkte an, zu wissen, ob und wiefern die Meditation in der Composition ein Anderes ge- worden ist, und ob und wieviel in der Meditation gewesen, was in der Composition nicht ist. Hier werden wir damit anfan- gen, zu fragen, in wiefern in der Meditation im psychischen Zu- stande des Verfassers eine gewisse Gebundenheit statt fand? Diese ist verschieden, aber in sofern immer vorhanden, als im urspruͤnglichen Impulse Inhalt und Form gewissermaaßen gegeben sind. Der Inhalt ist durch die Form in seiner Einheit und Fuͤlle bestimmt. Ist die Form mitbestimmt, so hat sie auch ihre Geseze, und zwei Personen, die denselben philosophischen Gegenstand be- handeln, so daß der Eine in rein didaktischer, der Andere in dia- logischer Form es thut, sind beide im gebundenen Zustande, schon durch die Differenz von einander. Je fester und lebendiger die Form dem urspruͤnglichen Impulse eingepraͤgt ist, um so weniger werden solche Elemente sich entwickeln, die zwar dem Inhalte angehoͤren, aber in die Form nicht eingehen. Der dialogische Vor- trag wird Elemente aufnehmen, die der andere, rein didaktische nicht aufnehmen kann. Ist die Form mit einer gewissen Leben- digkeit der Impulse eingepraͤgt, so koͤnnen auch nicht entsprechende Gedanken dem Schreibenden gar nicht einfallen. Fallen sie ihm ein, so daß er sie eliminiren muß, so hat er nicht den hoͤchsten Grad der Vollkommenheit erreicht. Dieß aber ist eben die hoͤchste Gebundenheit durch den Impuls. Faͤllt aber dem Schriftsteller nicht ein, was wesentlich zum Inhalt gehoͤrt, so ist das eine Un- vollkommenheit, die daher kommt, weil dem urspruͤnglichen Impuls der Gegenstand nicht mit voller Lebhaftigkeit eingepraͤgt, der Ver- fasser des Gegenstandes nicht voͤllig maͤchtig ist. Wie ist nun da zu urtheilen? Der Ausleger muß eigene Erfahrungen haben uͤber den innern Hergang der Gedankenentwicklung. Diese, gleich- sam als Fond, muß der Ausleger mitbringen, und vergleichend die Differenzen auf diesem Gebiete zu erkennen suchen. Betrachten wir von hieraus den Zustand der Meditation fuͤr sich, so kann derselbe entweder dem urspruͤnglichen Impulse voll- kommen entsprechen, wo denn Gegenstand und Form vollkommen geeinigt sind in sofern dieß in dem urspruͤnglichen Impulse ge- sezt war, oder er kann sich zu diesem auf eine unvollkommene Weise verhalten. Sobald sich dieß durch Maͤngel kund thut, ist es auch leicht wahrnehmbar. Man bemerkt z. B. leicht die Duͤrf- tigkeit einer Schrift auf verschiedene Weise in verschiedenen For- men. Denkt man sich die didaktische Form, und der Autor ist da uͤberall vom Spalten seines urspruͤnglichen Schemas ausge- gangen, so ist die entstehende Trockenheit ein Zeichen von Duͤrf- tigkeit. Der Theil seines urspruͤnglichen Impulses, der den In- halt repraͤsentirt, hat nicht das rechte Leben gehabt. Ist der Ver- fasser dagegen von der Behandlung der bloßen Form ausgegan- gen, so entsteht eine Chrie, eine Composition, wo die Form so dominirend ist, daß nichts hinein kann, als was durch fortgesezte Untereintheilung entsteht. Es ist dieß der groͤßte Mechanismus, der mit dem Mangel an lebendiger, innerer Produktivitaͤt zusam- menhaͤngt. Finden wir dagegen eine Menge von Elementen in der Composition, welche ihr eigentlich fremd sind, so ist das eine Üppigkeit in der Meditation, die aber keine Vollkommenheit ist, weil sie die Form zerstoͤrt. Es ist dieß ein Zeichen, daß im ur- spruͤnglichen Impuls die Form nicht lebendig genug gewesen ist, sonst waͤre dem Verfasser das alles nicht eingefallen, oder er haͤtte es, wenn es ihm eingefallen waͤre, abgewiesen. Sehen wir auf solche Arten der Mittheilung, die mehr von der Wahrnehmung ausgehen, so hat die geschichtliche Darstellung einen solchen Reichthum der Mannigfaltigkeit in der Art und Weise der Composition selbst, daß wir den urspruͤnglichen Impuls als sehr verschieden ansehen muͤssen. Bei dem Einen kann die geschichtliche Darstellung sich gestalten als eine Reihe von Bildern, bei dem Andern als eine Reihe von Causalverhaͤltnissen. Jedes giebt einen ganz verschiedenen Inhalt. Die eine Darstellung hebt hervor, was die andere vernachlaͤssigt, die eine hat mehr den Cha- rakter des Calculs, die andere mehr einen pitoresken Charakter. Je nachdem nun das eine oder andere im urspruͤnglichen Im- puls gedacht war, ist die Erfindung und Meditation eine ganz andere. Eine Erfindung ist nemlich auch auf diesem Gebiete, in der Art die Elemente zu verbinden, dieses oder jenes gel- tend zu machen. Es sind da ganz verschiedene Verfahrungs- weisen, die nicht einander unterzuordnen sind. — Schreibt je- mand die Geschichte in einer Reihe von Bildern, diese haben aber nicht den rechten Charakter der Bilder, der Leser ist nicht im Stande sie nachzubilden, so folgt, daß der Verfasser nicht Herr seiner Form gewesen ist. Das ist auf diesem Gebiete die Duͤrftigkeit. Betrachten wir die Form des Gespraͤchs. Nur in dem Grade, in welchem man das zu taxiren versteht, kann man den Verfas- ser in seiner Meditation verfolgen, und ein Bild davon bekom- men, ob er die Elemente muͤhsam zusammengesucht habe, oder ob er von einer Fuͤlle innerer Produktion gedraͤngt worden, so daß er habe abweisen muͤssen, ferner ob das Einzelne mit dem urspruͤnglichen Impuls in Übereinstimmung ist, oder ob in der Gedankenentwicklung Fremdes ist. Finden wir eine Gedankenent- wicklung reich, aber nie aus den Grenzen der Form hinausgehend, auch ohne daß fremdartige Elemente damit verwachsen waͤren, da gehen Meditation und Composition ineinander auf, und dieß ist die Vollkommenheit auf diesem Gebiete. Die Duͤrftigkeit ist hier die fortgesezte Operation der logischen Spaltung. Da ist das Ganze nur Darstellung des Mechanismus der Meditation. Zwi- schen diesen ist nun das Meiste, was Gegenstand der hermeneuti- schen Operation sein kann. Soll man die Meditation verfol- gen und taxiren koͤnnen, so muͤßte man alle verschiedene For- men kennen, denn nur dann kann man die Erfindung des Kuͤnstlers recht ins Auge fassen und nacherfinden. Betrachten wir das taͤgliche Leben, so finden wir hier in Beziehung auf das Gespraͤch nicht selten Virtuositaͤten, die sich selten in Schriften zeigen. Da ahnet man nicht selten, was der Andere sagen will, d. h. man construirt seine Gedankenentwicklung, — noch ehe man das Resultat hat. Dieß beruht auf genauer Kenntniß der Eigen- thuͤmlichkeit des Andern im Verfahren des Denkens. Diese zu erreichen liegt im Wesen der hermeneutischen Aufgabe. Doch kann man nur auf indirecte Weise dazu gelangen. Dabei ist natuͤrlich ein Unterschied, wenn man einen Schriftsteller in der Gesammt- heit seines Lebens als geschichtliche Person kennt, oder die Pro- dukte lebender Schriftsteller in ihrem bekannten Kreise hat. Hier ist es leichter, weil wir die gehoͤrige Basis außerhalb haben. Wo diese aber fehlt, ist es schwieriger. Bei den Werken des Alter- thums ist die Kenntniß der Individualitaͤt der Schriftsteller im- mer nur in einem beschraͤnkten Grade gegeben. Aber hier ist ein großer Unterschied zwischen denen, die sich ins Alterthum einge- lebt haben, und die es nicht haben. Jenen ist der Typus der Gedankenentwicklung klar, wenn auch nicht die Personalitaͤt, und darnach ist man im Stande Analoges zu leisten. Denkt man sich einen Schriftsteller mit einer großen Menge von Produkten, hat man einen Theil derselben recht durchstudirt und sich angeeignet, so gewinnt man eine solche Kenntniß seiner Eigenthuͤmlichkeit, als lebte man mit ihm. So wie die innere Einheit einer Schrift klar ist, ist es auch nicht schwer, die Meditation nachzuconstruiren. Ein großer Theil der kritischen Aufgabe besteht darin, zu un- terscheiden was einem Schriftsteller angehoͤrt und was ihm faͤlsch- lich zugeschrieben wird. Da kommt es darauf an, die Meditation des Schriftstellers nachzuconstruiren. Der Takt, auf dem eine Menge kritischer Operationen beruhen, bildet sich auf die Weise. — Vergleichen wir z. B. die dem Plato untergeschobenen Dialoge mit den echten, so haben jene ungeachtet der dialogischen Form den Charakter der Trockenheit, den Mangel an eigener Produk- tivitaͤt und die bloße Richtung auf das logische Spalten, wovon sich in Platos Werken keine Spur findet. Hier ist also die Auf- fassung des Charakters der Produktion der erste Anstoß zu kriti- schen Untersuchungen. Betrachten wir nun das, was in der Mitte zwischen der Medi- tation und Composition liegt und bald zu dem einen bald dem andern gezogen werden kann, so ist dieß das Gebiet der Nebengedan- ken. Hat der Schriftsteller sie so wie sie entstanden sind auch als solche erkannt, denen er eine bestimmte Stelle anweisen konnte, so gehoͤren sie zur Meditation. Ist dieß nicht der Fall, so gehoͤ- ren sie zur Composition. Wir koͤnnen hier zwei Extreme unter- scheiden. Das eine ist, daß der Schriftsteller im Bewußtsein, die Totalitaͤt aller Elemente zu besizen, in der Composition war, daß ihm dann die Nebengedanken gekommen sind, als das Nieder- schreiben schon vollendet war. In diesem Falle erscheinen die Nebengedanken als eingeschoben. Das andere Extrem ist, daß in der Einleitung des Processes der Meditation der Schriftsteller sich schon die Licenz gesezt hat, nicht bloß in der strengen Ent- wicklung des urspruͤnglichen Impulses zu bleiben, sondern das freie Gedankenspiel eintreten zu lassen. In diesem Falle sagen wir auf's bestimmteste, daß die Nebengedanken zum Proceß der Meditation gehoͤren. Von hieraus koͤnnen wir den ganzen Pro- ceß der Meditation unter zwei verschiedene Formeln bringen, von denen die eine ist, daß wir den Schriftsteller in strenger Richtung denken in Beziehung auf seinen Impuls, gegen alles andere aber in abweisender Thaͤtigkeit, die andere Formel aber, daß wir den Schriftsteller in combinatorischer Thaͤtigkeit darauf gerichtet denken, anderes in seinen Gedankengang einzumischen. Je nachdem eins oder das andere ist, ist der Charakter des Schriftstellers verschieden. Es ist nicht moͤglich von der hermeneutischen Aufgabe aus den Gegenstand allein zu betrachten. Der Gegenstand muß einmal im Gesammtgebiet des litterarischen Volkslebens und des Zeital- ters betrachtet werden, sodann im Gebiet der Art und Weise der Composition und endlich im Gesammtgebiet der Eigenthuͤmlichkei- ten des einzelnen Schriftstellers. Das ist das comparative Ver- fahren. Es laͤßt sich auch das umgekehrte heuristische anwenden. Nach diesem kommen wir zur Kenntniß des litterarischen Gebietes eben dadurch, daß wir die hermeneutische Operation an Vielen vollzogen haben. Das erste Verfahren beruht auf persoͤnlichen Verhaͤltnissen zwischen Lesern und Schriftstellern. Findet ein per- soͤnliches Verhaͤltniß der inneren Verwandschaft zwischen Leser und Schriftsteller statt, z. B. bei einem Lieblingsschriftsteller, so wird man natuͤrlich das comparative Verfahren einschlagen. So hat Jeder in Beziehung auf jeden Schriftsteller sein eigenes Verfah- ren. Es waͤre unrecht, wenn man sich in einen Schrifsteller leicht hineinfindet, anzuhalten und sich jene Kenntniß erst ver- schaffen zu wollen, die man auf heuristischem Wege erst erwirbt. Gehen wir nun zum lezten Punkt, zur Betrachtung der Composition selbst uͤber, so sezen wir dabei voraus, der Schrift- steller habe den inneren Impuls, der das ganze Werk dominirt, in sich zur vollstaͤndigen Entwicklung gebracht, er habe alle Ele- mente zu der Schrift in sich und beginne nun die Composition. Allein daß sich dieß nicht immer vollkommen so verhaͤlt, dessen ist sich jeder bewußt bei allem, was im Gebiet des taͤglichen Le- bens liegt. Hat man einen Brief zu schreiben, so scheidet man nicht Impuls, Entwicklung und Composition, man zieht eine Menge von Übergaͤngen in Eins zusammen. Je mehr aber ein Werk als kunstmaͤßiges erscheint, muß man von jener Vor- aussezung ausgehen. Wie viel in der Composition erst entstan- den sei, das gehoͤrt auch in die Untersuchung, sofern es gilt, das Ganze nachzuconstruiren. Sucht man nun unter jener Voraus- sezung die Schrift nachzuconstruiren, so hat dieß einen verschiede- nen Sinn. Es giebt nemlich keinen Gedanken ohne Wort, aber es giebt Gedanken in verschiedenen Graden der Bekleidung, wir koͤnnen einen Gedanken haben ohne seinen passendsten Ausdruck auch schon zu haben. In Beziehung auf Ausdruck beginnt das Fertigwerden der Elemente erst mit der Composition selbst. Man kann diese nur verstehen, wenn sich vollstaͤndig uͤbersehen laͤßt das Verhaͤltniß des Inhalts, den die Form gestaltet, oder den man der Form geben will. Darnach richtet sich der Reichthum und die Fuͤlle. So sind also die beiden Punkte zu betrachten, die Stellung, die jedes Einzelnen bekommt und die Ausfuͤllung der Form durch den Inhalt, und sodann der Ausdruck, der im Zusammensein der Elemente definitive mit bestimmt ist. Die Aufgabe hat fuͤr die Exegese des N. T. besondere Wich- tigkeit. Ist das Verstaͤndniß der Meditation vollendet, also die Gesammtheit aller zur Schrift gehoͤrenden Elemente gegeben, so ist das Verstaͤnd- niß der Composition, als Thatsache im Verfasser, d. h. der An- ordnung mit ihren Motiven uͤbrig. Denken wir uns nun hier verschiedene Moͤglichkeiten, wie eine und dieselbe Masse von Ein- zelheiten geordnet werden kann, wie daraus dann ganz verschie- dene Resultate hervorgehen, die Anordnung also mit dem Werthe zusammenhaͤngt, den der Verfasser auf dieses oder jenes legt, so daß eins hervortritt, anderes zuruͤck, so sieht man wohl, wieviel im N. T. bei dem eigenen Gebrauch, den man von demselben macht, darauf ankommt, die Anordnung in diesem Sinne zu verstehen. In vielen Faͤllen kann diese Aufgabe als sich von selbst ver- stehend erscheinen. Allein da im N. T. so oft einzelne Stellen aus dem Zusammenhange heraus genommen werden, so bekommt die Aufgabe in vielen Faͤllen ganz besondere Wichtigkeit. Ist nem- lich eine Stelle einmal außer dem Zusammenhange gebraucht worden, so hat sie dadurch einen bestimmten Werth fuͤr alle, welche sie nicht erst im Zusammenhange pruͤfen, bekommen. Es kann so ein Mißverstaͤndniß entstehen, welches fortwirkt, weil man in der Gewalt der ersten Art und Weise ist, wie der Werth außer dem Zusammenhange angenommen worden ist. Es giebt Beispiele genug, wo eine Stelle des N. T. gebraucht worden ist, als waͤre sie ein nothwendiger Gedanke einer Schrift, waͤhrend derselbe fuͤr den Schriftsteller keinen besonderen Werth ge- habt, und es ihm bis auf einen gewissen Punkt gleichguͤltig ge- wesen, ob er ihn so oder anders ausdruͤckte. Daraus sind viele Irrthuͤmer entstanden, besonders in der Zeit, wo sich die kirchl. Dogmatik fixirte. Die Procedur dauert auf diesem Gebiete noch fort. Aber es kommt darauf an, an die Stelle des falschen Ver- fahrens das richtige zu sezen, auf die Gedanken der Schriftsteller im Zusammenhange zuruͤckzugehen, und nicht einzelne Saͤze an- zufuͤhren. Es gilt dieß besonders bei den didaktischen Schriften, aber die historischen enthalten auch eine Menge didaktischer Stellen, z. B. die Reden. Allein davon abgesehen, ist die Sache auch bei den historischen Schriften von nicht geringer Bedeutung. Denn nur vermoͤge eines richtigen Verstaͤndnisses der Anordnung kann man erkennen, wie die evangelischen Verfasser gegen einander zu stel- len sind. Wir unterscheiden nun in den Evangelien, was die Anord- nung betrifft, drei Formen der einzelnen Elemente. Entweder es sind uͤberwiegend Reden Jesu, oder Handlungen, wobei was ge- redet ein Minimum ist, oder endlich Combinationen von bei- den, wo die Rede die Spize der Thatsache ist. Giebt es nun unter den Schriften, die denselben Gegenstand verhandeln, solche, die dasjenige aneinander reihen was aͤhnlicher Art ist, so haben diese den Charakter der Lebensbeschreibung gar nicht, denn in der Zeitfolge des wirklichen Lebens stellen sich die Sachen gar nicht nach der Ähnlichkeit. Da muͤssen wir also ein anderes Princip der Anordnung suchen. Finden wir, daß gar kein Gesez obwal- tet, so entstehen andere Differenzen. Sind die Elemente nach Zeitbestimmungen auf einander bezogen, so ist die biographische Tendenz vorherrschend und die scheinbare Unordnung waͤre durch die chronologische Beziehung aufgehoben. Fehlt aber selbst ein solches Gegengewicht, so waltet das Ohngefaͤhr und da ist dann natuͤrlich von Composition am wenigsten die Rede. Sind die Begebenheiten des einen oder andern Typus durch Zeitbestimmung verknuͤpft, aber nur an einzelnen Punkten, so daß eine Menge von Begebenheiten zwischen denselben uͤbergangen sind, so ist die Frage, nach welchem Prinzip der Verfasser aufgenommen und uͤbergangen hat. Da ist nun moͤglich, daß er gar kein Princip hatte, er hat uͤbergangen, was er nicht wußte, und was er wußte hat er in der Ordnung dargestellt, in der er es wußte. Daraus folgt, daß wir sagen muͤssen, wenn einer so wenig Zusammen- hangendes weiß, wie weiß er denn die Zeitbestimmungen, da diese doch nur vermittelt sind durch das, was er ausgelassen? Da koͤnnen also die gegebenen Zeitbestimmungen nur wenig gel- ten, und so kommt man auf den Fall zuruͤck, daß wir ein Aggre- gat von Einzelheiten haben ohne bestimmte Absicht geschrieben. Sehen wir Elemente von verschiedenem Typus zusammengestellt, und auf einander bezogen, es liegt aber Bestimmtes zum Grunde, das durch die Beziehung auf einander zur Anschauung kommen soll, da ist eine wirkliche historische Composition. Der Verfasser hat uͤbergangen, was ihm fuͤr die Anschauung, die er wollte her- vortreten lassen, nicht wesentlich erschien, wobei das Volumen auch eingewirkt haben mag. So geht also die Aufgabe der historischen Kritik der Evangelien auf das hermeneutische Verstehen der Com- position zuruͤck, und je reiner die hermeneutische Aufgabe geloͤst wird, desto sicherer wird die Basis fuͤr die historische Kritik. Darum bin ich auch immer gegen die ausschließend synoptische Behand- lung der drei ersten Evangelien gewesen. Denn faͤngt man da- mit an, so gewinnt man keinen Eindruck der einzelnen Schriften im Ganzen und damit auch keinen sicheren Grund fuͤr das kri- tische Verfahren. Nur wenn die Aufgabe die eines Lebens Jesu ist, ist das synoptische Verfahren gut und nothwendig, denn da kommt es auf Ermittelung der einzelnen Thatsache und ihres Zu- sammenhanges aus den verschiedenen Relationen an. Sind aber die Fragen zu loͤsen, ob der eine Evangelist den andern vor Augen gehabt, und ob die Evangelien auf dieselbe Weise zu Stande ge- kommen sind, oder wie sich die drei ersten Evangelien zum vierten verhalten, da ist nothwendig, die Composition jedes einzelnen Wer- kes vollstaͤndig aufzufassen. Bei diesem Verfahren wird Johannes nicht leicht als Ergaͤnzung der drei ersten erscheinen, entweder um die hoͤheren Beziehungen der Begebenheiten, oder was jene von einzelnen Thatsachen ausgelassen haben nachzubringen. Nur wenn man den Johannes mit den drei ersten vergleicht, kann man von einer solchen Tendenz sprechen. Man sieht also wie bedeutend die Aufgabe ist, die Composition der Evangelien jedes fuͤr sich zu erforschen. Es fragt sich nun, lassen sich gewisse Regeln aufstellen, wo- nach die Aufgabe mit einer gewissen Sicherheit geloͤst werden kann? Leider fehlt es hier fast an allem, was man in andern Faͤl- len zur Loͤsung der Aufgabe mitbringen kann. Bei den histori- schen Schriften ist das wichtigste, zu wissen, wie der Verfasser zu den Begebenheiten gestanden, die er erzaͤhlt. Zwei von den Evangelisten tragen denselben Namen, welche Augenzeugen auch getragen haben. Und doch hat man bezweifelt, ob diese Namen dieselben Personen tragen. In Beziehung auf Johannes ist der Zweifel nicht fortgesezt worden, bei Matthaͤus aber bisjezt geblie- ben. Von den beiden andern weiß man nicht, wie sie zu den Begebenheiten gestanden haben. Nun entsteht aber die zweite Frage, wenn die Schriftsteller nicht selbst Augenzeugen waren, wie sie da zu den Quellen ge- standen haben, welche sie benuzt? Zuvor aber muß ausgemacht werden, ob wir aus den Schriften selbst mit Sicherheit erkennen koͤnnen, ob ihre Verfasser Augenzeugen waren oder nicht. Wenn wir in den drei ersten Evangelien die Gleichheit in den einzelnen Evangelien betrachten, die aber auf ungleiche Weise da ist, so erscheint die Aufgabe sehr zusammengesezt und schwer zu loͤsen. Sehen wir aber von dieser besonderen Schwierigkeit ab, so stellt sich die Frage so: koͤnnen wir aus der Beschaffenheit der Elemente schließen, ob der Verfasser Augenzeuge war oder nicht? Betrachten wir das Leben Jesu als Einheit, so werden nur sehr wenige Personen sein, ja eigentlich wohl Niemand, der als Augenzeuge des Ganzen gedacht werden kann. Nur im oͤffentli- chen Leben Jesu sind bestimmte Personen, welche als gaͤnzliche Augenzeugen betrachtet werden koͤnnen. Zwar wissen wir dieß nur aus den evangelischen Schriften selbst, doch werden jene Personen durch spaͤtere Schriften als Begleiter Jesu beglaubigt. Es sind also Personen seine bestaͤndigen Begleiter gewesen. Wo aber ein fruͤ- heres als das oͤffentliche Leben vorkommt, da haben wir die Ele- mente zusammen, sowol was der Schriftsteller als Augenzeuge erzaͤhlt, als was er von Andern hat. Giebt es nun bestimmte Kennzeichen fuͤr die Erzaͤhlungen, die von einem Augenzeugen herruͤhren? Diese Frage ist im Allgemeinen leicht zu bejahen. Aber sollen wir das Unterscheidende angeben, so ist das sehr schwierig. Betrach- ten wir die Sache im Allgemeinen, so muͤssen wir sagen, es giebt Erdichtungen in der Form von Erzaͤhlungen, und da wird es als Vollkommenheit angesehen, wenn sie den Schein eines unmittel- baren Berichts eines Augenzeugen an sich tragen. Da ist die Unmittelbarkeit der sinnlichen Anschauung wol die Formel, unter der man das Charakteristische zusammenhalten kann. Daraus geht aber hervor, daß der Erdichtende diese sinnliche Anschauung selbst habe haben muͤssen, sonst koͤnnte seine Erdichtung nicht den Ty- pus eines urspruͤnglichen Berichts haben. Es kann auch sein, daß einer das was ein Augenzeuge erzaͤhlt gerade so seiner Schrift einverleibt hat, er ist aber nicht selbst Augenzeuge gewesen. Je weniger er bei der Aufnahme selbstthaͤtig gewesen, desto mehr wird es jenen Typus behalten. So koͤnnen die Evangelien Berichte von Augenzeugen enthalten und doch ihre Verfasser von Nichts Augenzeugen gewesen sein. Da fragt sich nun, ob das so bleibt, wenn wir auf die Zusammenstellung sehen? Vorausgesezt also, alles haͤtte den Charakter von Berichten eines Augenzeugen, wuͤr- den wir da nun entscheiden koͤnnen, ob die Evangelisten selbst Augenzeugen waren oder nur Zusammensteller von Berichten der Augenzeugen? Es leuchtet ein, wie schwierig dieß ist zu entscheiden. Waͤren wir uͤber den Typus einig, den der Bericht eines Augenzeugen haben muß, so koͤnnen in einer solchen Schrift Stellen vorkommen, die diesen Typus haben, und die ihn nicht haben. Aus dem lezteren aber wuͤrde gar nicht folgen, daß das Ganze von einem Fremden herruͤhre, sondern, wie ein Einziger nicht alles mit erleben konnte, so konnte er, da sein Impuls auf Zusammenstellung von Einzelheiten gerichtet war, manches aufnehmen, wobei er nicht Augenzeuge gewesen. So erzaͤhlt Johannes mit einer gewissen Ausfuͤhrlichkeit das Verhoͤr bei Annas, dagegen von dem bei Pilatus wenig, denn bei dem ersten war er anwesend, bei dem zweiten nicht. Und so hat er das uͤbergangen, was aufzunehmen nicht nothwendig in seinem Impuls lag. Haͤtte er einen andern Impuls gehabt, so haͤtte er sich von Andern die Nachricht verschaffen muͤssen. Solche Diffe- renz entscheidet also nicht. Bei einer solchen Ungleichheit fragen wir denn, ob der Verfasser im Ganzen Augenzeuge gewesen ist? Entweder nun er ist dieß in dem Grade gewesen, daß er nur was er selbst gesehen aufgenommen hat, oder er hat Berichte von Au- genzeugen und aus der dritten Hand gehabt. Wie ist zwischen diesen beiden Faͤllen zu entscheiden? Kommt nichts Äußeres zu Huͤlfe, so waͤre nur moͤglich zu entscheiden, wenn wir finden koͤnnten, ein Augenzeuge hat, wenn er auch von Andern Erzaͤhl- tes aufnimmt, eine verschiedene Art zu verknuͤpfen und zusam- menzustellen. Koͤnnen wir solche Differenz nun finden? In dem Falle wenn der Gesichtspunkt des Ganzen der einer Lebensbe- schreibung ist, ist der Unterschied gerade in der Zusammenstellung leicht zu finden, weil da das von Andern Zusammengestellte nicht im urspruͤnglichen Zusammenhange der Composition ist, und die Ein- zelheiten, wenn der Verfasser selbst zusammenstellt, werden in der Zu- sammenstellung das Ansehen von Conjecturen haben, den Charakter des Unmittelbaren entbehren. Dagegen werden bei den Andern die Zusammenstellungen den Charakter von Berichten von Augen- zeugen haben, und nur die aufgenommenen Theile werden jenen Charakter (des nicht Unmittelbaren) tragen. Denken wir dagegen, ein Verfasser habe nicht die Idee einer zusammenhaͤngenden Le- bensbeschreibung gehabt, und er habe die Einzelheiten nur nach gewissen bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellt, in diesem Falle ist der Zusammenhang nicht der unmittelbare des Lebens, der Anschauung, sondern der abstracte; es kann also hier der Cha- rakter des Augenzeugen nicht im Zusammenhange liegen. So koͤn- nen wir diese hermeneutische Aufgabe nur dann vollstaͤndig zu loͤsen unternehmen, wo wir bestimmte Extreme finden. Bei Johannes herrscht durchgehends ein bestimmter Gesichts- punkt, es ist aber nicht der einer zusammenhaͤngenden Lebensbe- schreibung, denn es sind viele Momente, welche fuͤr eine Biogra- phie nothwendig sein wuͤrden, im Evangelium ganz weggelassen. Jenen bestimmten Gesichtspunkt koͤnnte auch ein Anderer, als Johannes, gehabt haben. Nun finden wir, daß Johannes die Begebenheiten der Zeit nach aufeinander bezieht. Die Zeitbestim- mungen charakterisiren ihn nach dem Maaßstabe jener Zeit als Augenzeugen. Es ist moͤglich, daß ein Anderer nicht nur den- selben Gesichtspunkt gehabt, sondern auch dieselben Elemente zu- sammengestellt. Es ist auch an sich moͤglich, daß auch die einzel- nen Erzaͤhlungen eben so aussehen wuͤrden, wenn er sie von Au- genzeugen genommen haͤtte. Aber die einzelnen Erzaͤhlungen im Johannes sind so aus einem Stuͤcke, daß man den Urheber des Erzaͤhlten und den Gesichtspunkt nicht zu trennen vermag. In- deß hat er Erzaͤhlungen, wo er nicht Augenzeuge ist, sondern nur nach Augenzeugen referirt, — und doch dieselbe Lebendigkeit hat. Daruͤber entscheidet denn nur die Sache selbst, die es ausspricht, ob er selbst Augenzeuge war oder nicht. Aber betrachten wir das Evangelium im Ganzen, so werden wir urtheilen muͤssen, es sei der Bericht eines Augenzeugen, der einen bestimmten Gesichts- punkt gehabt. Das Princip seiner Composition laͤßt sich klar er- kennen und daraus geht eben hervor, daß der Verfasser im Gan- zen als Augenzeuge anzusehen ist. Betrachten wir das Evangelium des Lukas. Dieser macht keinen Anspruch Augenzeuge zu sein. Er giebt sich aber im Ein- gange fuͤr einen Forscher aus. Da fragt sich, welcher Regel er gefolgt sei. Nach dem Eingange scheint es, als habe er das Ein- zelne chronologisch mit bestimmtem Bewußtsein aneinander gereiht. Aber es geht aus der Betrachtung des Einzelnen hervor, daß in manchen einzelnen Gebieten Unbestimmtheit in der Verknuͤpfung ist. Er hat also nicht aus den Nachrichten selbst eine bestimmte Ordnung feststellen koͤnnen und so lag es also wol nicht in seiner Aufgabe. Wenn nun doch der Eingang dagegen spricht, so moͤchte man sagen, er habe es im Einzelnen nicht durchfuͤhren koͤnnen und sei da einem andern Princip gefolgt. Vergleichen wir ihn mit Johannes, so zeigt sich darin eine bestimmte Differenz, daß im Johannes ein Wechsel ist zwischen dem oͤffentlichen Leben Jesu zu Jerusalem und in Galilaͤa, im Lukas dagegen Jerusalem nur im Zusammenhange der Leidensgeschichte erwaͤhnt wird, alles vor- hergehende am andern Ort vorgeht. Nehmen wir nun Johannes als Augenzeugen, so muͤssen wir sagen, entweder Lukas habe daruͤber keine Nachrichten gehabt, weil seine Quellen nicht im Stande waren, ihm solche zu geben, oder er habe in dieser Hin- sicht eine unrichtige Voraussezung gehabt. Beides ist gleich denk- bar, und wollen wir die Composition erklaͤren, so reicht das eine und das andere hin. Hatte er Nachricht von dem was in Jeru- salem und was an andern Orten geschehen war, und dabei die Voraussezung, daß Jesus nur zulezt dort gewesen, so ist natuͤr- lich, daß er von Jerusalem alles zusammenstellte. Oder war ihm keine solche Zeitbestimmung angegeben, so hat er die Voraussezung selber gemacht, indem es gewiß war, daß Jesu leztes Ende zu Jerusalem gewesen. Auch in diesem Falle ist's natuͤrlich, daß er so zusammenstellte, wie er gethan hat. Darin liegt freilich, daß ihm das Evangelium des Joh. gar nicht bekannt war, woraus aber gar nicht folgt, daß jenes ein spaͤteres gewesen. Denken wir uns, daß er, wie es nach seinem Prooͤmium scheint, einem ordnenden Princip gefolgt ist, und daß er eine allgemeine Vorstellung der Lokalitaͤten hineingelegt hat, so entsteht die Frage, welches das Princip seiner Composition gewesen ist in Beziehung auf alles Außerhierosolymitanische. Betrachten wir das Ganze genauer, so finden wir Kap. 9,51 — bis Kap. 19. eine Reise Christi nach Je- rusalem erwaͤhnt, freilich keine Localbestimmungen weiter, als bis Christus in die Naͤhe von Jerusalem kommt, und so sind alle Erzaͤhlungen in diesem Abschnitt unter den Gesichtspunkt einer Reise Christi nach Jerusalem gebracht, die freilich nur als Eine gedacht wird. Es bleiben dann nur die ersten 8 Kapitel, wo wir einzelne Erzaͤhlungen in verschiedener Art zusammengestellt finden, analoge von der einen und andern Art, ohne Zeitbestimmung. Hermeneutik u. Kritik. 15 Das ist das Bild der Composition des Lukas, wenn man ihn fuͤr sich nimmt und wenn man ihn mit Johannes vergleicht. Nun entstehen aber wieder Zweifel, wenn man ihn mit den bei- den andern Evangelisten vergleicht. Da er so viel Ähnliches mit Matthaͤus hat, so fragt sich, hat er diesen vor Augen gehabt? Wie man aber auch diese Frage loͤsen mag, — Lukas folgt in seiner Zusammenstellung nie lange dem Matthaͤus. Er trifft mit ihm nur im Einzelnen zusammen, und so hat dieß auf das oben gegebene Bild seiner Composition keinen Einfluß. Ob aber die ganze Anordnung ein Werk dessen ist, der sich im Eingange zu erkennen giebt, ist ungewiß. Viele haben die ganze Masse von der Reise Jesu nach Jerusalem bis zu seinem Einzuge angesehen als ein fruͤher schon zusammenhaͤngendes Ganzes, welches Lukas so aufgenommen. Will man nun diese Formel anwenden, so muß man auch sagen, Lukas habe auch die Leidensgeschichte schon als Ganzes vorgefunden, um so mehr, da hier ein Continuum sichtbar ist. Ferner jene kleineren Zusammenstellungen von der Geburt Christi u. s. w. hat er auch nach gewissen Principien gemacht vorgefunden. Alle diese Stuͤcke aber hat er nach seiner Vorstel- lung von der Ordnung, die im Leben Christi statt gefunden, zu- sammengestellt. Dieß leztere ist gewiß, wenn auch jenes andere zweifelhaft ist. Die hermeneutische Aufgabe muß dieß auch unbe- stimmt lassen. Das Princip der Composition ist allein jene Zeit- ordnung, daß alles Außerhierosolymitanische das Fruͤhere und alles Hierosolymitanische das Spaͤtere ist. Betrachten wir Markus fuͤr sich, so finden wir in ihm eben sosehr ein Aggregat von einzelnen Zuͤgen aus dem Leben Jesu. Fragen wir, haben diese den Charakter von Augenzeugen herzu- ruͤhren, so ist offenbar, daß der Name des Verfassers nicht dafuͤr ist. Unter den bestaͤndigen Begleitern Jesu kommt kein Markus vor. Man findet im N. T. einen Markus in einem solchen Ver- haͤltniß zu Petrus, daß dieser, wenn er der Verfasser ist, alle Data von einem Augenzeugen genommen haben koͤnnte. Aber es fragt sich, ob die Erzaͤhlungen selbst den Charakter eines Au- genzeugen haben? Man kann zweifelhaft sein, ob der Verfasser selbst Augenzeuge gewesen oder Relationen von Augenzeugen mit moͤglichster Treue aufgenommen. Auch wenn er nicht Apostel war, konnte er Einzelnem als Augenzeuge beiwohnen. Es ist offenbar, daß die Erzaͤhlungen des Markus ein großes Bestreben haben nach einer gewissen sinnlichen Klarheit. Man koͤnnte sagen, man sehe die Absicht, fuͤr einen Augenzeugen zu gelten. Nehmen wir das genau, so waͤre es ein Falsum von seiner Seite, aber es kann auch nur ein loͤbliches Bestreben sein, klar darzustellen. Hier kommen wir auf Punkte, bei denen es gar sehr auf die subjective Ansicht ankommt, sofern der Eindruck der Erzaͤh- lungsweise auf Verschiedene verschieden sein kann. Es ist dabei zu beruͤcksichtigen das Princip und die Art und Weise, Gesehenes und Gehoͤrtes mitzutheilen. Ferner kommt in Betracht die Art zu vergleichen. Je nachdem man sich daruͤber entscheidet, wird man ein anderes Urtheil uͤber die Composition haben. — Unterschei- den wir die einzelnen Zuͤge, wie sie fuͤr sich ein Continuum bil- den, und die Verknuͤpfungsweise, so finden wir, daß die leztere gar nicht den Charakter eines Augenzeugen traͤgt, weil bestimmte und unbestimmte Verknuͤpfungen wechseln und die Luͤcken nie von der Art sind, daß man sich die dazwischen liegende Zeit leicht ausfuͤllen koͤnnte. Waͤre in den Erzaͤhlungen Ein Augenzeuge, so wuͤrde die Verknuͤpfung anders sein, waͤren mehrere, so wuͤrde nicht durchgehends dieselbe Manier herrschen. Manierirt aber ist Markus. Er hat aber offenbar die Erzaͤhlungen uͤberarbeitet, wo- mit auch der Charakter seiner Schreibart uͤbereinstimmt, welche vielfaͤltig in das Material eingreift. Was den Matthaͤus betrifft, so ist sein Name der eines apo- stolischen Augenzeugen. Die historische Kritik mag daruͤber ent- scheiden, ob die aͤußeren Umstaͤnde und Zeugnisse hinreichen zu entscheiden, ob der Apostel Matthaͤus Verfasser ist oder nicht. Mag der Verfasser sein wer es wolle, unsere Frage hier ist, wel- ches das Princip der Composition sei? Es wechseln Reden Jesu und Erzaͤhlungen von Thatsachen, bei denen die Ausspruͤche 15* Jesu die Spize sind, mit solchen Thatsachen aus dem Leben Jesu, die an und fuͤr sich erzaͤhlt werden. Dieß ist der Typus des Evange- liums im Allgemeinen. Betrachten wir nun das Ganze, in Beziehung auf die Zusammenstellung, so unterscheiden wir 3 Massen. Die erste umfaßt alles, was dem oͤffentlichen Leben Jesu vorangeht, die dritte die Leidens- und Auferstehungsgeschichte, und in der Mitte liegt ein Aggregat von Erzaͤhlungen aus dem oͤffentlichen Leben Jesu, wie wir es eben beschrieben haben. Die Leidensgeschichte ist im gewissen Sinne ein Continuum, aber man kann doch bestimmt unterscheiden die Geschichte von der Gefangennehmung bis zum Tode und die Geschichte von der Auferstehung. In der ersten Masse kann man auch wieder sondern zwei Haupttheile, den ei- nen, der alles enthaͤlt, was sich auf die Geburt Christi bezieht, und den andern, der sich auf die Taufe Christi bezieht. Die mitt- lere Masse besteht aus zusondernden und nur durch bestimmte Formeln verknuͤpften Einzelnheiten. Ist nun im Ganzen eine biographische Tendenz sichtbar? Insofern mehr, als bei Johannes und Markus, als dieß Evangelium mehr die ganze Person Jesu umfaßt. Allein es fehlt gerade dem mittleren, dem Haupttheile, an Einheit, an Continuitaͤt. Wir koͤnnen nun als Princip dieses Theiles ansehen, Einzelheiten zusammenzustellen, auch auszu- waͤhlen, da sich schwerlich denken laͤßt, daß er nicht mehrerer Einzel- heiten haͤtte habhaft werden koͤnnen. Allein wie er ausgewaͤhlt wissen wir nicht, da wir die Quellen nicht kennen, woraus er seine Materialien genommen hat. Wir finden, daß die Reden, die Thatsachen mit Ausspruͤchen Christi, als ihren Spizen, end- lich solche Thatsachen, die um ihrer selbst willen erzaͤhlt werden, untereinander gemischt sind, und dann in bestimmte Massen ge- theilt. Was fuͤr ein Princip dabei obgewaltet, koͤnnen wir nicht vollstaͤndig beurtheilen, weil uns eben das Princip der Auswahl fehlt. Wir koͤnnen im Allgemeinen nur das Bestreben nach einem gewissen Wechsel annehmen, welches modificirt ist durch eine ge- wisse Anziehung des Analogen. Mehr laͤßt sich aus dem Werke selbst nicht abnehmen. Aber die Frage uͤber den Verfasser kann nur auf jener Untersuchung beruhen. Jene Frage aber waͤre immer nur die, ob es wahrscheinlich ist oder nicht, daß ein Au- genzeuge einem solchen Princip der Composition wuͤrde gefolgt sein. Ein Augenzeuge konnte auf eine Weise componiren, wie ein Spaͤterer, der nur Einzelnes zusammensezt, nicht konnte. Ein Spaͤterer, der einer spaͤteren Generation angehoͤrte, konnte nicht componiren wie Johannes. Aber es laͤßt sich nicht behaupten, daß ein Augenzeuge nicht haͤtte eine so untergeordnete Weise waͤh- len koͤnnen. Hat man sich diese Frage bereits soweit geloͤst, wie sie sich aus jedem Buche loͤsen laͤßt, so hat man ein Princip, von welchem man in der Untersuchung der hoͤheren Kritik aus- gehen kann. Dann kann man sich das Einzelne, wie es sich in der Composition gestellt hat, darauf ansehen, ob es von einem Augenzeugen herruͤhren kann oder nicht. Da ist, wenn eine Mi- schung ist von unmittelbaren und nicht unmittelbaren Zeugnissen, das Hoͤchste, zu bestimmen, ob die Art und Weise der Aneinander- reihung einen Augenzeugen verraͤth oder keinen. Bei der Apostelgeschichte finden wir eine große Verschieden- heit der Ansichten uͤber den eigentlichen Zweck und das Princip der Composition des Buches. Das Buch enthaͤlt Erzaͤhlungen aus einem gewissen Zeitraume, aber von so verschiedenem Datum der Örtlichkeit und der Zeit, daß wir sagen koͤnnen, es muͤssen noch viele andere Data dem Verfasser zu Gebote gestanden haben. Wir haben darin Nachrichten uͤber die Stiftung der Gemeinden von Thessalonich, Philippi, Korinth. Wir haben auch Briefe des Apostels Paulus an diese Gemeinden. Aber in Beziehung auf diese Briefe finden wir nichts in der Apostelgeschichte, ungeachtet diese viel spaͤter als die Briefe an die Gemeinden von Thessalonich und Korinth geschrieben ist. Wir haben auch Briefe an die Ga- kater und Kolosser, und damit zugleich Notizen von einer großen Menge Christlicher Gemeinden in Kleinasien. Sollte sich nun der Verfasser der AG. in Beziehung auf diese nicht eben solche Notizen haben verschaffen koͤnnen, wie uͤber jene andern Gemein- den? Wir muͤssen dies fuͤr wahrscheinlich halten, wenn wir den engen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gemeinden be- trachten. — Ferner finden sich im ersten Theile des Buches im gewissen Sinne sehr detaillirte Nachrichten von der Gemeinde in Jerusalem, Notizen von der Zahl ihrer Mitglieder, der Entste- hung und Entwicklung, den Modificationen mancher Einrichtungen. Nachher verschwindet die Gemeinde fast ganz aus der Erzaͤhlung, sie kommt nur wieder vor, wo sie in die Thaͤtigkeit des Apostels Paulus eingreift, aber ohne Beziehung auf die fruͤher gegebenen Notizen und ohne die Luͤcken wenn auch nur kurz auszufuͤllen. Hat der Verfasser, der doch in der Zeit geschrieben, wo sein Buch schließt, bestimmte Nachrichten uͤber die Anfaͤnge jener Ge- meinde gehabt, warum konnte er damals keine von der spaͤteren Geschichte derselben haben, oder warum nahm er sie nicht auf? Dieß beguͤnstigt die Ansicht, daß der Hauptzweck des Buches auf der Paulinischen Seite liege. Der Hauptzweck scheint die Ver- breitung des Christenthums unter den hellenistischen Juden und den Heiden zu sein. Die fruͤhere Geschichte der Gemeinde von Jerusalem scheint nur aufgenommen zu sein, um auf den Punkt zu fuͤhren, wo jene Verbreitung anfaͤngt. Genauer betrachtet aber haͤlt diese Ansicht nicht Stich. Denn die fruͤheren Notizen uͤber die Gemeinde von Jerusalem haͤngen zum Theil mit jenem Zwecke gar nicht zusammen. Der erste Theil enthaͤlt auch schon Notizen uͤber die Verbreitung des Christenthums von Jerusalem aus. Wollte man nun etwa annehmen, der Hauptzweck sei die Verbreitung des Christenthums von Jerusalem und Antiochien aus, so waͤre dafuͤr zu wenig Gleichheit der Verhaͤltnisse; es fehlte dann zu viel, wenn man voraussezen muß, daß es dem Ver- fasser nicht habe entgehen koͤnnen. Ferner, als Barnabas und Paulus ihre zweite Reise von Antiochien aus antraten, und sich daruͤber vereinigten oder es zweckmaͤßiger fanden, sich zu tren- nen, wird nur im Allgemeinen der Weg angegeben, den Barna- bas genommen, und die ganze weitere Erzaͤhlung an Paulus ge- knuͤpft. Von allem was Barnabas gethan ist keine Spur und wir muͤssen doch denken, hat der Verfasser gewußt, welchen Weg Barnabas genommen, und kam dieser in Gegenden, die nachher und vorher beruͤhrt werden, so mußte der Verfasser auch etwas daruͤber sagen koͤnnen. Da haben wir also eine bestimmte For- mel uͤber den Zweck der Composition. Darnach reicht der ange- gebene Zweck nicht aus. — Haͤlt man die Verhaͤltnisse ihrem Gegenstande nach zusammen, so hat man das Resultat, daß vie- les sein muͤsse, was nicht ist, und vieles anders, als es ist. — Der Verfasser giebt sich zu erkennen als derselbe, der das Evan- gelium geschrieben. Die AG. soll der zweite Theil zu jenem Werke sein, auch knuͤpft sie eng an das Evangelium an. Es ist also zu erwarten, daß die AG. nach demselben Princip compo- nirt ist, wie das Evangelium. Die Untersuchung uͤber dieses hat ein Resultat gegeben, dem die Einleitung zu dem ganzen Werke entspricht, daß der Verfasser einzelne fruͤher vorhandene Elemente zusammengestellt. Daraus folgt aber, daß die Elemente auch in der AG. so zusammengestellt sind, sonst waͤre diese nicht der zweite Theil des Evangeliums. Da fragt sich nun, hat der Verfasser in der AG. mehr Materialien gehabt, eben so ausgefuͤhrt, oder eben nur das, was er zusammenstellt? — Die Frage ist eine andere, als die vorhergestellte. Denn dort laͤßt sich denken, daß der Verfasser Notizen gehabt, die nicht in den Zweck gehoͤrten; es waren aber eben nur Notizen. Hatte er hingegen keine Ma- terialien, so war es moͤglich, daß er sich dieselben nicht hatte ver- schaffen koͤnnen, er haͤtte sie erst componiren muͤssen. Da er dieß aber in dem Evangelium nicht gethan hat, so wollte und durfte er es auch nicht in der AG. Die Stiftung der Gemeinde von Jerusalem am Pfingsttage war eine so hoͤchst merkwuͤrdige Bege- benheit, daß sich daruͤber leicht Jemand ein Memoire aufsezen oder einer aus derselben Zeit leicht von Andern dazu aufgefor- dert werden konnte. Eben so besteht alles uͤbrige uͤber Jerusalem mitgetheilte aus einzelnen praͤgnanten Momenten. Dagegen sehen wir auf den lez t en Aufenthalt des Apostels Paulus in Jerusalem, so erkennen wir, wie sich das Christenthum damals schon so ver- breitet hatte, daß in dem groͤßeren Gesammtleben das Einzelne verschwand. Haͤtte nun der Verfasser groͤßere Massen gehabt aus den verschiedenen Regionen der Verbreitung, so haͤtte er einen andern Plan machen muͤssen, und sein Buch haͤtte dafuͤr nicht ausgereicht, er haͤtte es groͤßer machen muͤssen. Haben wir nun keine Spur, daß etwas verloren gegangen ist, so faͤllt jener Ge- danke fort. — Stellen wir uns auf einen andern Standpunkt. Von der Gemeinde in Korinth haben wir Kap. 18. Nachrichten, wie der Apostel Paulus dahin gekommen, sich da aufgehalten, die Gemeinde gestiftet und aus welcher Veranlassung er wieder abge- reist. Dieß sind lauter Dinge, die sich persoͤnlich auf den Apostel beziehen. Nachher bei seiner Reise Kap. 20. war Paulus, wie wir wissen, wieder in Korinth, aber was die AG. von dieser Reise erzaͤhlt, ist alles nur wieder Persoͤnliches. Von den da- zwischen liegenden Momenten in Betreff der Gemeinde wird nichts erwaͤhnt. Haͤtte der Verfasser selbst componiren wollen, so haͤtte er sich die Data dazu wol verschaffen koͤnnen. Allein da die Ein- zelheiten gar nicht hervortreten, so muß man sagen, er hatte keine hinreichenden Materialien dafuͤr. Betrachten wir nun aus die- sem Gesichtspunkt die Materialien der AG., so sehen wir leicht, daß Erzaͤhlungen von Einzelheiten durch Einzelne zusammenge- stellt zum Grunde liegen. So wird die Frage nach dem Princip der Composition eine andere. Der Verfasser konnte bei den vor- gefundenen Materialien nur darauf sehen, wie er dieselben auf die zweckmaͤßigste Weise zusammenstellte. Daruͤber aber koͤnnen wir kein bestimmtes Urtheil weiter haben, als was sich aus dem Buche selbst ergiebt. Man bemerkt, daß bis zu einem gewissen Punkte die Nachrichten uͤberwiegend Palaͤstinensisch sind, nachher werden sie uͤberwiegend Paulinisch, und Palaͤstinensisches wird nur gelegentlich erwaͤhnt. Daraus kann man nun nicht schließen, daß das eine Hauptgegenstand war und das andere Vorbereitung. Auch nicht auf eine weitergehende allgemeine historische Tendenz ist zu schließen. Sondern der Verfasser hat offenbar den vorgefundenen Stoff auf die einfachste, natuͤrlichste Weise geordnet, sofern er eben spaͤter Palaͤstinensisches nicht mehr so viel hatte. Wollte er nur Gegebenes mittheilen und nicht componiren, so lag eine ge- schichtliche Reihefolge nicht in seinem Zwecke. Daß er ein haͤufi- ger Begleiter des Apostels Paulus, und mit diesem vielleicht in Jerusalem war, ist gar nicht das Alleinige, was beweisen koͤnnte, daß er mehr Notizen wirklich haͤtte haben koͤnnen. Es kommen Luͤcken auch bei dem Außerpalaͤstinensischen haͤufig vor. Daraus ist klar, daß der Verfasser an seinen Materia- lien nichts gethan hat, um eine genaue historische Verbindung hervorzubringen. Seine Thaͤtigkeit war nur die der Zusammen- stellung. Dagegen scheint zu sprechen eine gewisse Gelenkigkeit der Sprache, der Schreibart. Allein es folgt daraus gar nichts, da der Verfasser, wenn er die vorgefundenen Erzaͤhlungen beibe- hielt, und Einzelnes von verschiedenen Verfassern in ein Ganzes brachte, nicht nothwendig auch den woͤrtlichen Ausdruck beibehielt, sondern es war natuͤrlich, daß er die Materialien in seiner Schreib- art wiedergab, und bei so einfachen Erzaͤhlungen laͤßt sich das schon bestimmt gesondert denken. Die AG. ist also eine Zusammenstellung vorhandener Materialien , so daß der Verfasser durch das, was er hatte, und das Volumen was er ausfuͤllen konnte, bestimmt wurde. Der Zweck ist nur der christlichen Historiographie selbst, wie sie unter den gegebenen Bedingungen und bei dem primitiven Entschlusse, das schon vorhandene zu gebrauchen, moͤglich war. Hier sind wir aber weiter gegangen, als im Begriff der hermeneutischen Aufgabe liegt. Die Hermeneutik hat es nur mit Regeln zu thun; hier aber sind diese gleich in Anwendung ge- braucht worden. Das hat aber seinen Grund darin, daß die ge- schichtlichen Buͤcher des N. T. sich so sehr von andern analogen Compositionen unterscheiden. Die Regeln koͤnnen also nur sehr speziell sein, und es kommt darauf an, die Composition dieser Buͤcher durch die Betrachtung des Einzelnen zum Bewußtsein zu bringen. Hier ist aber ein durchgreifender Unterschied zwischen dem Evangelium des Johannes und den vier andern historischen Schriften des N. T. Jenes ist eine eigentlich geschichtliche Arbeit, wobei gleichmaͤßig alles Einzelne und die Composition dem Ver- fasser eigenthuͤmlich angehoͤren. Bei den uͤbrigen historischen Buͤ- chern ist es nicht so. Da ist die abnorme Beschaffenheit vorzugs- weise aus den Verhaͤltnissen der Zeit zu erklaͤren. Aber es waͤre auch jezt unmoͤglich, eine Biographie aus solchen einzelnen Zuͤ- gen, Thatsachen, Reden zusammenzusezen. Es giebt zwar eine Menge einzelner Zuͤge von bekannten Maͤnnern. Haͤtten wir nun auch dazu, was sie in einzelnen Faͤllen gesagt, ohne aus dem was sie geschrieben haben zu nehmen, — eine Lebensbeschrei- bung daraus zu machen, waͤre doch der Zeit voͤllig unangemessen, weil das Schreiben jezt unter ganz andern Verhaͤltnissen gesche- hen muß, als damals, wo es eine große Nebensache sein konnte, und jeder, der der christlichen Kirche angehoͤrte, nur ein Mini- mum von Kraͤften darauf verwenden konnte. Das gilt eben so gut von den neutest. Briefen. Wir koͤnnen uns im apostolischen Zeitalter die beiden Elemente leicht zusammenconstruiren, worauf die geschichtliche Darstellung beruhte. Es gab ein Interesse, das Einzelne aus dem Leben Christi in der Kirche lebendig zu erhalten, und die Erinnerung an den ersten Anfang der Kirche zu fixi- ren, nachdem sie eine groͤßere Existenz gewonnen. Das In- teresse erschoͤpfte sich in solchen Aggregaten einzelner Erzaͤhlun- gen. Die Zusammenstellung des schriftlich Verfaßten war durch- aus am Ende Nebensache, da es wenige in der Kirche gab, welche das Buͤcherlesen betreiben konnten. — Die Briefe ver- traten die Stelle der unmittelbaren muͤndlichen Rede und waren auch nur fuͤr den Effect des Augenblicks. Das Schreiben dersel- ben war nur durch die Ferne bedingt und die Aufbewahrung nur Wirkung des Interesse an den ausgezeichneten Maͤnnern, welche sie geschrieben. Kein Apostel hat geschrieben, damit es kuͤnftig gelesen werden sollte. Solche litterarische Tendenzen lagen ganz außer ihrem Kreise. — Die Schriften des Lukas sind an einen einzelnen Mann gerichtet, der sich fuͤr die christliche Sache inte- ressirte. Lukas braucht gar nicht fuͤr diesen allein geschrieben zu haben, aber die Beziehung auf ihn war doch mehr als eine bloße Dedication; es war aber nur eine verhaͤltnißmaͤßig kleine Zahl, auf die solche Schriften rechnen konnten. Eben so soll Matthaͤus sein Werk geschrieben haben, wie er Palaͤstina verlassen, also als eine Reminiscenz an seinen muͤndlichen Vortrag. Die Nachricht mag wahr sein oder nicht, es liegt darin die richtige Andeutung, daß man eben nur aus solchen bestimmten Motiven schrieb. Die Sage, Johannes habe die drei ersten Evangelien ergaͤnzen wollen, hat und verdient keinen Glauben. Aber es liegt darin das Wahre angedeutet, daß Johannes sein Evangelium nur in spaͤterer Zeit und Muße schreiben konnte. Bei unsrem jezigen philologischen Zustande ist nicht zu erwar- ten, daß einer noch sagt, die drei ersten Evangelien habe einer schreiben koͤnnen, der eine Lebensbeschreibung habe schreiben wol- len. Es kann nur darauf ankommen, das Princip der Zusam- menstellung vorhandener Materialien zu finden und den Grad der Willkuͤhr zu bestimmen, welche jeder Componist uͤber sein Material ausgeuͤbt. Da werden sich nicht unbedeutende Differen- zen zeigen unter den drei ersten Evangelisten. Der eine scheint seine Kunst ganz in der Anordnung zu erschoͤpfen und sich uͤber seine Materialien nichts anderes erlaubt zu haben als Gleichmaͤ- ßigkeit der Sprache hervorzubringen, der andere scheint sich so viel Willkuͤhr gestattet zu haben, daß er manches hinzusezt, was der Natur seiner Erzaͤhlungen eigentlich nicht angemessen war, — der dritte scheint ein zusammengeseztes Princip der Anordnung gehabt und mehr Analoges eingeschaltet zu haben. So hat jeder seinen eigenen Charakter. Aber dieser liegt in etwas anderm als in der Einheit der Composition. Wir finden bei allen dieselbe Ge- bundenheit an gegebene Materialien, wobei nur noch die Auswahl zu bestimmen bleibt, die jeder gemacht. Allein daruͤber koͤnnen wir nur in sofern urtheilen, als wir in Anschlag bringen koͤnnen, was der eine hat und dem andern fehlt und das ist nicht viel. Betrachten wir das Princip der Anordnung, so ist es bei den drei ersten Evangelisten eben nur dieß, alles Hierosolymitanische an das Ende des Lebens Christi zu sezen, alles außer Jerusalem Ge- schehene der Zeit nach vorangehen zu lassen. Dieser Anordnung widerspricht Johannes. Diese Differenz ausgleichen zu wollen ist vergeblich. Was die didaktischen Schriften betrifft, so liegt bei der Un- tersuchung uͤber ihre Composition zum Grunde, was uͤber die epistolische Form bereits gesagt ist. Diese haben alle didaktischen Schriften des N. T., aber auf verschiedene Weise. Es gehoͤrt zur epistolischen Form der Alten, daß man im Anfang des Briefes selbst erfaͤhrt, an wen der Brief gerichtet ist. Hier ist nun im N. T. die Differenz, daß die einen an einzelne Gemeinden gerichtet sind, die andern an einzelne Personen; andere an christliche Gemeinden in bestimmtem Umkreise oder von be- stimmtem Charakter. Nur dem Briefe an die Hebraͤer fehlt dieser Theil der Epistolarform ganz. Er faͤngt wie eine Abhandlung an, dabei herrscht aber die epistolarische Anrede, die sonst hoͤch- stens als emphatische Wendung vorkommt, ja zulezt erscheint die Schrift ganz als Brief, so daß eine bestimmte Addresse vor- ausgesezt wird. Außerdem giebt es Briefe, die nach der Addresse ein groͤßeres, mannigfaltiges Publicum haben, die sogenannten katholischen Briefe des Paulus und Jakobus. Da kann man aber nicht sagen, daß die genannten Gemeinden in genauerem Verhaͤltnisse unter sich gestanden und gemeinschaftliche Eigenthuͤm- lichkeiten gehabt haͤtten, und gemeinschaftliche Thatsachen gewesen waͤren, worauf sie sich beziehen. Wir haben einen solchen encycli- schen Brief mitten unter den Paulinischen an einzelne Gemein- den, den Brief an die Galatischen Gemeinden. Man hat ihn aber dahin gestellt im richtigen Gefuͤhl der Sache. Denn es lie- gen hier gemeinschaftliche Thatsachen zum Grunde, und die Ga- latischen Gemeinden bildeten im Verhaͤltniß zu der Verfassung der Galatischen Staͤdte eine eigentliche Corporation. — Es ist oben bereits auch in Beziehung auf die epistolarische Form eine Ein- theilung gemacht worden, freilich so, daß der Unterschied ein flie- ßender ist, der aber in einzelnen Faͤllen Gegensaz wird, nemlich die Eintheilung in solche Briefe, die eine bestimmte Beziehung und Einheit haben, und in solche, die sich dem vertrauten Gespraͤche naͤhern und keine Einheit weiter haben, als das Verhaͤltniß bei- der Theile zu einander. Es lag in der Natur der Sache, daß Zusammensezungen beider Formen entstanden, so daß wenn Je- mand in dem Falle ist, eine bestimmte Auseinandersezung ma- chen zu muͤssen, er zuvor didaktisch ist, nachher aber in die ver- trauliche Mittheilung uͤbergeht. In Beziehung hierauf werden wir also die Frage uͤber die Einheit der Composition bei den Briefen auf eine verschiedene Weise zu stellen haben. Wenn der Brief ganz und gar den Charakter der vertrauli- chen Mittheilung traͤgt, so ist die Frage so zu stellen, aus wel- chem Gesichtspunkt schreibt der Verfasser? ob mehr aus seinem als dessen, an den er schreibt? oder auf welche Weise ist beides verbunden? Eben so bei den Briefen gemischter Form in Be- treff des vertraulichen Theiles, nur daß jene Fragen um so mehr untergeordnet sind, je weniger Raum das Vertrauliche einnimmt. Da ist denn nach dem Verhaͤltnisse beider Elemente zu fragen, und gar nicht bloß nach dem quantitativen, sondern auch nach dem qualitativen, nemlich wie streng sich beides sondert oder wie viel es ineinander uͤbergeht. In dieser Frage hat man die ganze Richtung auf alles, was dem Briefsteller vorschwebte, und auf den Gang, den er genommen hat. Bei den ganz didakti- schen Briefen oder dem mehr traktatmaͤßigen Theile der zusam- mengesezten Briefform ist es oft gar nicht leicht, die Einheit zu finden. Es kann Faͤlle geben, wo man das eigentliche Motif (und ohne das existirt keine Einheit) nur in dem vertraulichen Theile des Briefes findet, weil hier vielleicht erst die Rede ist von dem bestimmten Verhaͤltnisse. — Im Briefe an die Galater ist von vorn herein die Rede von der Thatsache, die das Motif des Briefes ist, von einem wahrscheinlichen Ruͤck- fall der Galatischen Gemeinden in ein unchristliches Leben. Aber man kann sich denken, Paulus haͤtte den didaktischen Theil aus- bilden koͤnnen ohne jener motivirenden Thatsache zu gedenken, aͤhnlich wie im Briefe an die Hebraͤer geschieht, allein man wuͤrde dann im vertraulichen Theile wenigstens die Spur der Thatsache finden, und so waͤre das eigentliche Motif im zweiten Theile, und die ganze Zusammensezung faͤnde ihren Schluͤssel in den Äußerungen, woraus man sieht, was in den Gemeinden vorge- gangen. Je mehr in dem abhandelnden Theile die Freiheit vor- herrscht, desto schwieriger ist die Einheit der Composition zu fin- den. Je mehr dagegen der Charakter der eigentlichen Abhand- lung herrscht, also auch das Ganze gebundener erscheint, desto leichter ist die Einheit zu finden, desto weniger Einfluß hat dann auch die Epistolarform, welche dann wie zufaͤllig erscheinen kann. Hiernach koͤnnen wir uͤberhaupt unterscheiden Briefe von mehr gebundener Composition, welche eine objective Einheit, und Briefe von freier Composition, die eine subjective Einheit haben. Im ersten Falle gilt es einen Gegenstand aufzufassen als Gedanken, auf den sich alles bezieht; im lezteren Falle ist die Einheit, auf die alles zuruͤckgefuͤhrt werden kann, eine gewisse Einheit der Stimmung und der Verhaͤltnisse. Woran kann man nun die eine und andere Art erkennen? So wie man das Einzelne vor sich hat, muß im Allgemeinen wol deutlich sein, ob ein Brief mehr zu der einen oder andern Art gehoͤrt, womit noch nicht die Einheit bestimmt und bezeichnet ist. Denken wir uns vom Brief an die Roͤmer den lezten Theil fort, so kann in Beziehung auf die Hauptmasse niemand zweifeln, daß diese einen zusammenhaͤngenden objectiv didaktischen Charakter hat. Aber welches die objective Einheit sei, ist eine andere Frage, die dadurch noch gar nicht bestimmt ist. Sobald die einzelnen Saͤze uͤberwiegend solche Form und Tendenz haben, ist die Haupt- sache schon dadurch entschieden. In einem rein vertraulichen Briefe, der keine andere Einheit hat als das Verhaͤltniß beider Theile zu einander und zwar in Beziehung auf den Lebensmo- ment, worin der Schreibende, oder der, an den geschrieben wird, sich befindet, da wird das Einzelne mehr musikalischen Charakter haben, d. h. Darstellung von inneren Zustaͤnden sein. In ge- wisser Beziehung ist das also leicht zu unterscheiden, und wenn in einem solchen Briefe auch didaktische Elemente nicht fehlen werden, so sind sie doch immer untergeordnet. Der Brief an die Philipper macht den Totaleindruck einer vertraulichen Ergie- ßung. Stellen darin, welche die Christologie des Apostels ent- halten, sind keine Instanz dagegen; sie moͤgen fuͤr die dogmati- sche Anwendung von besonderer Wichtigkeit sein, aber es waͤre ein Widerspruch gegen die Totalitaͤt, wenn man sie den Kern, die Basis des Briefes nennen wollte. Um die Frage in der Hauptsache zu entscheiden, muß man den Totaleindruck wirken und das Einzelne zuruͤcktreten lassen. — Wenn wir nun aber die Sache in den besondern Verhaͤltnissen zwischen dem Apostel und denen, an die er schreibt, betrachten, so stellt sich dieß oft auf eine eigenthuͤmliche Weise. Es ist nicht leicht ein Brief, von dem man mehr sagen koͤnnte, daß er eine gewisse Gemuͤthsstim- mung des Schreibenden ausdruͤckt, als die Briefe an die Korin- ther. Und doch enthaͤlt jeder eine Masse von objectiven Ausein- andersezungen, die aber den eigentlich persoͤnlichen Verhaͤltnissen angehoͤren. Diese sind der Grund der Stimmung und diese spricht sich aus, je nachdem die behandelten Gegenstaͤnde jenen Verhaͤlt- nissen verwandt sind oder nicht. Der Apostel war veranlaßt, sich uͤber eine Reihe von Gegenstaͤnden auszusprechen, theils von sol- chen, um die er gefragt war, theils die man ihm berichtet hatte, theils die von ihm selbst ausgingen. Aber so klar wie hier sind die Verhaͤltnisse zwischen dem Briefsteller und seiner Addresse nicht uͤberall. Wo Unklarheit daruͤber ist, da muͤssen wir darauf zu- ruͤckgehen, daß auch in Briefen von uͤberwiegend objectiver Art ein aͤhnlicher Gegensaz Statt finden kann, wie bei den uͤberwie- gend subjectiven, — nemlich, der Apostel kann die Gegenstaͤnde mehr von seinem Interesse oder mehr von dem Interesse seiner Leser aus behandeln. Je mehr ihm die, an die er schreibt, unbe- kannt in ihren Verhaͤltnissen sind, um so mehr kann er nur von seinem Zustande aus schreiben. Seine Andeutungen, Conjecturen, uͤber die, an die er schreibt, beruhen mehr auf der Analogie und seinem gesammten Wahrnehmungszustande. Der Brief an die Kolosser ist an eine Gemeinde gerichtet, mit der Paulus in keiner unmittelbaren Verbindung stand. Er hatte Notizen uͤber sie. Aber denkt man sich diese weg, so haͤtte Paulus nur von seinem Standpunkte aus schreiben koͤnnen. Wollte er sie speziell Angehen- des schreiben, so haͤtte er nach der Analogie anderer Gemeinden schreiben koͤnnen, also doch immer nur vor seinem gesammten Wahrnehmungszustande aus. Bei einem solchen Briefe kann man sich leicht zu weit verleiten lassen durch den Umstand, daß der Apostel Notizen bekommen hatte. Er konnte aus seinem Wahrnehmungszu- stande vieles nehmen, dem nichts spezielles in der Gemeinde entspricht. Man hat, weil manches polemisch aussieht, gemeint, dieß beziehe sich auf bestimmte Irrthuͤmer in Kolossaͤ. Allein, da er keine Notiz daruͤber giebt, und auch keinen Grund hatte, dieß, daß er Notiz davon hatte, zu verheimlichen, so kann es eben so gut sein, daß Paulus daruͤber aus seinem Zustande herausgeschrieben hat. Er kannte die Irrlehren von anderwaͤrts her, kannte die Gefahren derselben, wollte denselben in der Kolossischen Gemeinde vorbauen. Bei dem Briefe des Jakobus werden wir, was das Verhaͤlt- niß des Verfassers zu seinen Lesern betrifft, auch nach Beseitigung sonstiger Schwierigkeiten der Addresse fuͤr sehr wahrscheinlich halten muͤssen, daß der Verfasser von denen, an die er schreibt, nicht viel bestimmtes gewußt. Nicht einmal zur Voraussezung einer bestimmten Analogie gewisser Verhaͤltnisse haben wir Grund. Allerdings mochte ihm immer das Übergericht der Heiden- oder Judenchristen bekannt sein; er konnte in dieser Beziehung be- stimmte Zustaͤnde voraussezen. Aber daraus konnte er nur im Allgemeinen abnehmen auf der judenchristlichen Seite die cha- rakteristische Neigung, das Mosaische Gesez geltend zu machen, oder auf der heidenchristlichen Seite die Neigung, sich einer laxen Moral wiederum hinzugeben. Bestimmtere sittliche Zustaͤnde ließen sich daraus nicht schließen. Es war etwas Bestimmteres, wenn er wußte, eine Gemeinde bestand aus Personen niedrigeren Stan- des, oder es war in einer anderen ein bestimmtes Verhaͤltniß zwischen Hoͤheren und Niederen. Allein bei mehreren Gemeinden in verschiedenen Gegenden ließ sich ein solches Verhaͤltniß nicht uͤberall voraussezen. Betrachten wir nun die Mannigfaltigkeit der Gegenstaͤnde, die Jakobus in seinem Briefe behandelt, so fin- den wir, daß der Brief, wie objectiv er auch ist, doch nur aus dem Gesammtzustande des Verfassers geschrieben ist ohne spezielle Beziehung auf die, an die er gerichtet ist. Sollen wir die Com- position des Briefes entwickeln, so fehlt es uns an allem, was wir außer dem Briefe selbst haben muͤßten, um sie aus den Zu- staͤnden, Verhaͤltnissen und Umgebungen des Verfassers zu erklaͤ- ren. Der Brief hat solche Spruͤnge, die sich als Thatsache des Schreibenden selbst bestimmt nur erklaͤren lassen, wenn wir die Verhaͤltnisse desselben genau kennten. Aus dem Briefe selbst las- sen sie sich nicht erklaͤren. So wie wir wissen, die Schreibart steht in keiner bestimm- ten Relation zu denen, an die der Verfasser schreibt, ferner, so wie wir sehen, die Art der Auseinandersezung der Gegenstaͤnde hat gar nicht die Farbe, sich auf die bestimmten Zustaͤnde derer, an die er schreibt, zu beziehen, sie hat auch keine bestimmte Rich- tung: so ist keine Ursache zu glauben, daß der Grund der Com- position in dem liege, was der Verfasser von denen weiß, an die er schreibt. Vielmehr kann dann der Grund der Composition nur liegen in den Zustaͤnden und Verhaͤltnissen des Verfassers selbst. Wir wissen, daß der Apostel Paulus, als er an die Christen in Rom schrieb, noch in keinem bestimmten Verhaͤltnisse zu der Roͤmischen Gemeinde als solcher stand. Wenn aber die lange Reihe von Gruͤßen am Ende zum Briefe gehoͤren, was aber einige Kritiker bezweifeln, so muͤssen wir freilich zugeben, daß der Apostel viele einzelne Personen in der Gemeinde gekannt. Nehmen wir dazu die Notiz uͤber die Christen in Rom, welche die Apostelgeschichte giebt, so hat es nicht den Anschein, als waͤre die Gemeinde in Rom eben so consolidirt gewesen, wie andere. Dieß wuͤrde sich daraus erklaͤren, daß es in Rom immer eine Menge durchgehender, nicht bleibender Christen gab. Wenn wir nun sagen wollten, der Brief sei durch das, was Paulus von Hermeneutik u. Kritik. 16 den Roͤmischen Christen, die er kannte, wußte, bestimmt worden, so waͤre das durchaus nicht wahr. Wenn Paulus im Briefe von einem Project redet, nach Rom zu kommen, und es unwahr- scheinlich gefunden werden muß, daß die ihm bekannten Personen dort alle etablirt gewesen sein sollten, so ist klar, daß er bei sei- nem Briefe mehr auf die Gemeinde, als die einzelnen Personen, mehr auf die Unbekannten, als die Bekannten Ruͤcksicht genom- men hat. Hat nun der Brief im didaktischen Theile eine be- stimmte Einheit? Oder ist er eine freie Ergießung? Im ersten Falle hat er einen objectiven, im andern Falle einen subjectiven Charakter. Wir wissen vom Apostel mehr, als von der Gemeinde. Man koͤnnte deßhalb sagen, der Brief sei eine freie Ergießung, und habe einen subjectiven Zusammenhang, beziehe sich aber da- bei auf den Zustand der Roͤmischen Gemeinde. In diesem Falle haͤtte er den Charakter, die, an die er geschrieben wird, bestimmen zu wollen. Allein die Ansicht vergeht einem wieder, wenn wir sehen, wie der Brief in der Hauptmasse ganz im Gebiete der Auseinandersezung bleibt. Der Brief aber enthaͤlt eine naͤhere Indikation in der Einleitung. Wenn hier nemlich Paulus vom Evangelium als seinem Amte spricht, dem er goͤttliche Kraft bei- legt, so muß man annehmen, der Apostel gehe darauf aus, eine Darlegung seiner Methode im Christenthume, die durch seine ei- genthuͤmliche Ansicht davon bestimmt wurde, zu geben. Hieraus entwickelt sich der ganze Inhalt des Briefes. — Überhaupt gilt die Regel, daß so wie man in der Einleitung auf einen solchen Punkt kommt, der den Charakter eines Entwicklungsknotens hat, man ihn festhalten und darauf den Gesammtinhalt probiren muß. — Da man dieß bei dem Briefe an die Roͤmer nicht ge- hoͤrig beachtet hat, ist vieles in demselben mißverstanden worden. Im Briefe an die Hebraͤer ist uns uͤber das Verhaͤltniß des Schriftstellers zu seinen Lesern gar nichts gegeben. Die Überschrift ist spaͤter, und unterliegt verschiedenen Erklaͤrungen. Der Brief faͤngt gleich an, ohne daß er sich als Brief zu erkennen gaͤbe, in der Form einer Abhandlung. Der erste Gedanke ist der einer Ent- wicklung der goͤttlichen Offenbarungen, und so auch des Gegensazes zwischen der fruͤheren alttestamentischen und der christlichen Offen- barung, als der lezten, vollkommenen. Es kann einem nicht ent- gehen, daß dieser Gedanke wirklich durch die Hauptmasse hindurch- geht. Nimmt man nun dazu, daß derselbe Grundgedanke sich auch in den zweiten Theil hineinzieht, und hier daraus der Tadel des langsamen Fortschritts im Christenthum hervorgeht, dort die Warnung vor dem Zuruͤcktreten aus dem Christenthum, so sieht man, wie das Ganze zusammenhaͤngt, und der Verfasser die Ver- gleichung zwischen Judenthum und Christenthum in der Beziehung aufstellt, aus der Gemeinde den Gedanken eines Ruͤcktritts ins Judenthum gaͤnzlich zu entfernen und die Gemeinde ganz und gar fuͤr das Christenthum zu entscheiden. Was die Form betrifft, die weniger eine bestimmte Einheit hat, so muͤssen wir darauf zuruͤckgehen, daß Jemand schreiben kann aus den Umgebungen, die ihn umgeben, oder aus den Um- gebungen derer, an die er schreibt. Das Leztere wird sich durch eine gewisse Bestimmtheit in den Beziehungen hervorthun, im er- steren Falle liegt eine gewisse Unbestimmtheit in der Natur der Sache. Denn wenn ich aus den Erfahrungen die mich umge- ben einem Andern Rathschlaͤge ertheile, so kann das doch nur auf eine unbestimmte Weise geschehen. Was dagegen aus den Umge- bungen des Andern heraus gesagt wird, hat groͤßere Beziehung auf ihn und so auch groͤßere Bestimmtheit. Das kann nur durch Vergleichung des Einzelnen sich zu erkennen geben, und nicht durch die Structur, wodurch man die Einheit in den mehr didak- tischen Briefen findet. Hier ist nun ein Punkt, der oft sehr leicht oft sehr schwer zu finden ist, immer aber wichtig, das ist der Ton, die Stimmung des Schreibenden. Diese zu kennen gehoͤrt wesentlich dazu, um eine Gedankenreihe als Thatsache im Gemuͤth zu verstehen. Zwei Schriftsteller koͤnnen dieselbe didaktische Tendenz haben, der Ge- genstand kann derselbe sein, die Art der Auffassung, die Gesin- nung, die Schreibweise koͤnnen dieselben sein, aber der eine schreibt 16* in einem ruhigen, der andere in einem bewegteren Tone. Darnach stellt sich auch das Einzelne verschieden, hat eine verschiedene Be- deutung. Es giebt sich jene Verschiedenheit am meisten kund in der Behandlung der Sprache. Bestimmte Regeln lassen sich aber nicht daruͤber aufstellen, eben weil es so sehr Sache des Gefuͤhls ist. Nehmen wir den Fall einer objectiven Einheit in einer briefli- chen Darstellung, zugleich aber den Fall eines ruhigen Tones, so koͤnnen doch bedeutende Differenzen statt finden bei verschiedenen Verfassern; der eine behandelt die Sprache musikalisch, der andere nicht oder weniger, ohne daß dabei der Punkt, den wir jezt be- handeln, dabei im Spiele waͤre. Es giebt Menschen, die im aufgeregten Zustande wizig, beredt sind, wie sonst nicht, und das hat Einfluß auf das Musikalische. Andere verlieren in einem solchen Zustande den Sinn fuͤr Harmonie. Also hierin liegt das Charakteristische nicht. Worin liegt es denn, wodurch giebt es sich eigentlich kund? Es ist schwer auszumitteln, was derselbe Verfasser in dem einen oder andern Zustande geschrieben hat. Nur durch Vergleichung laͤßt sich das Richtige bestimmen. Es kann aber der Fall eintreten, daß man nicht unmittelbar solche Vergleichungen anstellen kann. Man muß dann wie bei der grammatischen Seite sich nach Parallelen umsehen. Es giebt in der Art sich zu aͤußern etwas ganz Individuelles und Persoͤnliches, auf der andern Seite aber ein großes Gebiet von Analogien. Hat man diese gefunden, so hat man eben damit die Parallelen. Aus verwandten und vergleichbaren Schriftstellen kann ich Schluͤsse machen. Hat man bei einer Schrift, indem man sie uͤbersieht, das Gefuͤhl, daß eine Einheit des Tones darin ist, so ist der Schluß leichter und sicherer. Kann man eine solche Einheit nicht festhalten, dann entstehen oft Verschiedenheiten in der Beurthei- lung einzelner Stellen, woruͤber im Allgemeinen nicht zu ent- scheiden ist. Es giebt gewisse Stimmungen, die mit der Neigung zum Hyperbolischen verbunden sind. Jeder weiß, daß man mit quantitativen Unterschieden, die solchen Stimmungen angehoͤren, solche hyperbolische Ausspruͤche zu nehmen hat. Aus dem Zusam- menhange herausgenommen und ohne den Ton, in welchem sie gesagt sind, wird man sie unangemessen und unertraͤglich finden. Nur im Zusammenhange und in ihrem Ton genommen sind sie verstaͤndlich. Schwieriger ist's, wenn in einer Schrift ein Wechsel der Stimmungen ist. Fragen wir nun, wie ein solcher Wechsel entsteht, so haben wir hier besonders in Beziehung auf die di- daktischen Schriften des N. T. zwei klare Faͤlle als Differenzen begruͤndend vor uns. Schrieb der Verfasser mehr aus seinem Zustande heraus und die Schrift wurde nicht in Einem Zuge ge- schrieben, so konnte er leicht in verschiedenen Stimmungen schreiben, wenn in seinem Zustande unterdessen Veraͤnderungen vorgegangen waren, ohne daß er derselben zu erwaͤhnen brauchte, da sie nicht zu den Gegenstaͤnden gehoͤrten, die er behandelte. So konnte leicht eine Ungleichheit entstehen. Schreibt der Verfasser mehr so, daß er den Zustand derer, an die er schreibt, vor Augen hat, so laͤßt sich eine Verschiedenheit des Tones leicht entdecken, wenn die, an die er schreibt, eine Mehrheit sind, und in derselben eine Ungleichheit statt findet. Da kann seine Rede, je nachdem sie sich auf die Einen oder die Andern bezieht, leicht einen andern Ton bekommen. Wir haben von dem Apostel Paulus Briefe, die er in seiner Gefangenschaft geschrieben hat. Es ist moͤglich, daß er in derselben mit Andern so viel zu thun gehabt, daß er nicht ununterbrochen fortschreiben konnte. In einem Rechtsverlauf, worin sich Paulus damals befand, konnten leicht Veraͤnderungen eintreten, die ihn unterbrachen, seine Stimmung aͤnderten; davon zu sprechen, war keine Ursache, aber die Folgen davon traten hervor im Briefe. Und so kann man, wo man dergleichen findet, auch den Schluß machen, der unterbrochene Zusammenhang weise auf eine vorgegangene Veraͤnderung zuruͤck. Dieß ein Beispiel der ersteren Art. Von der andern Art sind die Briefe an die Ko- rinther ein Beispiel. Unmittelbar ergiebt sich, daß es in der Gemeinde bedeutende Differenzen gab, die sich auf den Apostel selbst bezogen. Kommt nun der Apostel auf etwas, was damit in Beruͤhrung steht, so ist natuͤrlich der Ton ein anderer; hat er mit Verhaͤltnissen zu thun, wo Belehrungen noͤthig sind, so aͤn- dert sich natuͤrlich der Ton; hat er mit rein didaktischen Beziehun- gen zu thun, so wird wieder ein Wechsel der Stimmung eintre- ten. Die Sicherheit in der Loͤsung der hermeneutischen Aufgabe haͤngt von dem Grade der Kenntniß ab, welche wir von den Verhaͤltnissen selbst haben. Vergegenwaͤrtigen wir uns die ganze Aufgabe in ihren ver- schiedenen Theilen, und erwaͤgen, wie viel uns bei dem N. T. von dem fehlt, was wir immer voraussezen muͤssen, und wie weit wir davon entfernt sind, uns den urspruͤnglichen Lesern gleich stellen zu koͤnnen, so ist zu begreifen, wie es kommt, daß in der Auslegung des Einzelnen noch so viel — unausgleichbare Diffe- renzen sind. Gehen wir zuruͤck auf die Anfangs gestellte Dupli- citaͤt, daß nemlich einerseits das Ganze nur aus dem Einzelnen zu verstehen ist, und anderseits das Einzelne nur aus dem Ganzen, sofern es von der Einheit des Impulses ausgeht, wodurch alles Einzelne wenn gleich in verschiedenem Grade begruͤndet ist, — so ist bei einem solchen Ausgange schwer zu glauben, daß die Exegese des N. T. je so fertig werden und ihre Resultate so be- gruͤndet erscheinen werden, daß auf weitere Untersuchungen nicht weiter eingegangen zu werden brauchte. Bei der Lage der Sache, in der sich in Beziehung auf gewisse Hauptpunkte nichts aͤndern laͤßt, — denn genauere Notizen uͤber die damalige Lage und die Zu- staͤnde der einzelnen Verfasser moͤchten wir wol schwerlich noch bekommen, — sehen wir, wie nothwendig es ist bei dem N. T. das Ganze als Eins und jedes Einzelne als Besonderes anzuse- hen. Das Ganze bildet eine bestimmte eigenthuͤmliche Welt. Was wir außer dem N. T. noch fuͤr Dokumente haben uͤber die christlichen Zustaͤnde aus derselben Zeit, ist nichts. Bei den An- deutungen in nichtchristlichen Schriften muͤssen wir erst fragen, durch welches Medium die Verfasser gesehen. Was die apokry- phischen Schriften betrifft, so ist ihr Zeitalter meist unbekannt, von keiner kann mit Sicherheit gesagt werden, daß sie die neu- test. Zeit repraͤsentire. Wir haben wohl in den kirchlichen Schrift- stellern Notizen uͤber die neutest. Zeit, aber sind sie auch fest und sicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Roͤmi- schen Gefangenschaft des Apostels Paulus. Einige sehen darin eine bestimmte historische Nachricht, Andere eine bloße Tradition, die urspruͤnglich eine exegetische Conjectur war, welche allmaͤhlich als Thatsache genommen wurde. Man kann sagen, die christlichen Schriftsteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von der Vorstellung, daß alles Einzelne in den neutest. Schriftstellen vom heil. Geiste eingegeben sei, und daß auch alles wahr gewor- den sein muͤsse, was sie sagen. So meinte man auch, daß Pau- lus nach Spanien muͤsse gekommen sein wegen Roͤm. 15, 24. Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen- schaft immer mit der Nachricht von des Apostels Reise nach Spa- nien zusammenhaͤngt, so deutet das auf Roͤm. 15, 24 zuruͤck, und so hat wahrscheinlich die ganze Erzaͤhlung darin ihren Grund. Je nachdem man nun die Sache so oder so ansieht, entsteht na- tuͤrlich fuͤr die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden koͤn- nen, eine andere Exegese. So hat Jemand Koͤhler, Versuch uͤber die Abfassungszeit der epistolischen Schriften im N. T. und der Apokalypse 1830. 8. kuͤrzlich sogar den kritischen Kanon aufgestellt, daß alles dasjenige von Paulus, was man seiner wahren Zeit nach in der Apostelgeschichte nicht nachweisen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit ist, in die Zeit nach der ersten Gefangenschaft falle. Dadurch entsteht eine ganz andere Ordnung der Paulinischen Briefe, die spaͤtesten werden die fruͤhesten u. s. w. So zeigt sich auch hier, wie die Exegese auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutische Kunst wieder die Basis der Kritik sein muß. Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein- zelne aus dem Ganzen verstehen, so befinden wir uns in dem Verhaͤltniß gegenseitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei der Loͤsung dieser Aufgabe dieselben hermeneutischen Principien, aber Verschiedenheit der zum Grunde gelegten Voraussezungen, so werden verschiedene Resultate entstehen. Die Gleichheit der Resultate weist auf Gleichheit der Voraussezungen zuruͤck. Koͤn- nen wir nun freilich sagen, die Richtigkeit der Resultate be- ruhe rein auf der Anwendung richtiger hermeneutischer Prin- cipien, so muͤssen doch auf der andern Seite die richtigen Resul- tate oft erst entscheiden, welche Voraussezung die richtige sei, denn durch diese ist das Resultat gewonnen worden. Zerfaͤllen wir die Aufgabe, so bekommen wir fuͤr das N. T. sehr complicirte Regeln. Man muß alle Differenzen gegenwaͤrtig haben, namentlich in Beziehung auf jedes Einzelne alle Voraus- sezungen, die dabei concurriren. Man muß sie nach einander zum Grunde legen und sich dabei sehr vorsehen. Welches Resultat, wenn man von verschiedenen Voraussezungen ausgeht, am mei- sten mit dem unmittelbaren Zusammenhange einer Schrift uͤber- einstimmt, das wird das richtige sein. Aber ohne in diese Probe einzugehen, kann man nicht sagen, daß man einen sicheren Bo- den habe. In Beziehung auf die didaktischen Schriften kommt noch dazu, daß man nicht nur verstehen soll, was der Schriftsteller gesagt hat, sondern daß auch die Fakta, worauf sich das Gesagte bezieht, auszumitteln sind. So zeigt sich auch hier, daß die hermeneutische Aufgabe nicht eher sicher geloͤst werden kann, bis wir zugleich die Aufgabe der historischen Kritik geloͤst haben. Wenn bisher uͤber die Offenbarung des Johannes nichts ge- sagt worden ist, so kommt das daher, weil ich die Überzeugung habe, daß hier am wenigsten eine hermeneutische Loͤsung moͤglich ist, weil bei diesem Buche alle Schwierigkeiten, welche die uͤbri- gen neutest. Buͤcher zerstreut darbieten, in erhoͤhetem Maaße zu- sammentreffen. Die oben beruͤhrte Wechselwirkung zwischen der Hermeneutik und der historischen Kritik ist zwar allgemein, allein bei der Apokalypse tritt ein ganz eigenes Verhaͤltniß ein. Lassen wir, wenn wir den Inhalt der Schrift betrachten, die Frage uͤber den Verfasser und das Zeitalter des Buches aus dem Spiele. Aber dieser Inhalt ist im Allgemeinen eine Beschreibung von Visionen. Fragt man nun, was hierbei die hermeneutische Aufgabe sei, so ist sie die, aus der Rede des Verfassers mit Bestimmtheit zu erkennen, was er gesehen. Eine ganz andere Frage ist, was das Gesehene bedeutet? Diese Frage bezoͤge sich nicht mehr eigentlich auf die Schrift, sondern auf die Thatsache des Sehens. Halten wir uns mit der hermeneutischen Aufgabe bei der Apokalypse auch nur in diesen Grenzen, so ist sie doch eigentlich nicht auf- zuloͤsen. Betrachten wir die Vision des Petrus, ehe er zu Cornelius ging, so haben wir davon zwei Relationen AG. 10, 9 ff. 11, 3 ff. Da koͤnnen nun zwei verschiedene Ansichten von der Thatsache statt finden. Wie das Faktum in Joppe Kap. 10, 1 ff. erzaͤhlt wird, so war niemand dabei, Petrus allein. Hat nun Petrus die Vision schon fruͤher, oder erst in Jerusalem erzaͤhlt Kap. 11, 3 ff. Ist das nun eine wirkliche Vision oder eine Parabel gewe- sen? Die hermeneutische Aufgabe ist die, wie weit sich die Vi- sion aus der Beschreibung erkennen lasse. Das Wesentliche in der Erzaͤhlung ist das Gespraͤch uͤber das was gesehen wird. So ist die Vision Nebensache, die abermalige Wiederholung der Stimme, die solenne Zahl giebt den starken Verdacht, daß wir kein Faktum haben. Sollen wir die Erzaͤhlung als ein Faktum annehmen, so fragt sich, sah Petrus aͤußerlich oder innerlich? Nach dem Ausdruck 10, 10. war es ein inneres Sehen, nach der Art und Weise der Erzaͤhlung aber ein aͤußeres. Man kann sich aber das aͤußere Sehen als solches nicht construiren. So war es ein inneres. Sagt man, das muͤsse aus der Erzaͤhlung selbst hervorgehen, so sezt man sich nicht genug aus unsrer Stelle heraus. Eine klare Vorstellung bekommt man nur, wenn man als Thatsaͤchliches nur die Entstehung der Überzeugung in Petrus ansieht, das Übrige als Einkleidung. In der Apokalypse sind uͤberall dieselben Fragen zu thun. Wenn wir fragen, was hat der Verfasser nach den Worten ge- sehen? Wir finden bestimmte Beschreibungen von Einzelheiten, die Gegenstaͤnde sind genau angegeben. Zugleich aber finden wir im Einzelnen eine gewisse doppelte Scenerie, Gegenstaͤnde darin, welche eine andere Art von Realitaͤt haben als die uͤbrigen. Wenn erzaͤhlt wird, etwas sei gesehen worden und der Sehende habe einen Anderen, der nicht außerhalb des Gesehenen bei ihm war, gefragt, was Einzelnes fuͤr eine Bewandniß habe, so hat eben dieß mehr Rea- litaͤt fuͤr den Seher, als jene unbestimmte Relation mit ihm. Betrachtet man den Ursprung und die Beschaffenheit des Gesehe- nen, so ist, wenn die Gegenstaͤnde sollen wirklich aͤußerlich ge- sehen worden sein, oft nachzuweisen, daß es fuͤr das Auge nicht in der Einheit des Bildes, wenigstens nicht in der Bestimmtheit habe dargestellt werden koͤnnen, mit der es dargestellt wird. Es wird also ein inneres Sehen angenommen werden muͤssen. Da kommen wir aber auf ein Gebiet, wo es uns an hinreichender Erfahrung fehlt, um Geseze erkennen zu koͤnnen. Also sind nur die Gestalten und die Verhaͤltnisse, die der Verfasser beschreibt, als sein wirklich Gesehenes aufzufassen. Wenn die Klarheit des Gesehenen so weit gehen sollte, daß man das Ganze unter der Form eines Bildes zur Anschauung bringen koͤnnte, so waͤre die unmittelbare hermeneutische Aufgabe geloͤst. Aber was haͤtte man dann? Um zum vollen Verstehen zu gelangen, muͤßte man uͤber die hermeneutische Aufgabe in dieser Beziehung hinausgehen. Nun ist aber das Gesehene nicht der ganze Inhalt, sondern es kommen auch Reden vor. Hier waͤre ein eigentliches Gebiet der Hermeneutik. Die Schrift ist an die Asiatischen Gemeinden gerichtet, dieß ist ihre eigentliche Tendenz im ersten Abschnitt; da sind die Bilder nur die Dekorationen. In dem anderen Theile ist das Gesehene die Hauptsache, und die Rede soll nur einzelne Indikationen einstreuen uͤber die Bedeutung des Gesehenen. Koͤnnte man nach diesen Indikationen allem Einzelnen eine be- stimmte Bedeutung beilegen, und das stimmte zusammen, so waͤre dieß das vollkommene Verstehen in Beziehung auf die Verbin- dung des Gesprochenen und Gesehenen, es mag beides ein aͤuße- res oder ein inneres gewesen sein. Doch sind die Indikatio- nen nicht von dieser Art. Fragen wir aber nach der Einheit des Ganzen, so existirt diese eigentlich nur in der aͤußeren Einheit des Buches und in der Identitaͤt der Person, die man voraussezen muß. Aber die Bilder selbst sind in gewis- sen Reihen vereinzelt und die Beziehung der einen auf die an- dern ist nicht angegeben. Kommen in einer Reihe von Bildern deutende Worte vor, so beziehen sich diese eben nur auf diese Reihe. Über den Zusammenhang der Reihen untereinander er- giebt sich nichts. Es findet sich wohl bisweilen eine Beziehung der einen Reihe auf eine fruͤhere, aber dieß ist nicht durchgehend. Da ist also fuͤr die hermeneutische Aufgabe kein Ziel abzusehen. Es beruht alles auf der historischen Kritik. In der Kritik kom- men aber Fragen zur Sprache, wo es an allen Bedingungen zu einer allgemein guͤltigen Antwort fehlt. Sagen wir, solche Lebensmomente, ein solches Sehen außerhalb der wirklichen Welt, es sei ein aͤußeres oder inneres, sei ein psychologisches Faktum, so fragt sich, wie ist dieß zu erklaͤren? Wir haben darauf keine allgemein guͤltige Antwort. Eine solche wuͤrde entscheiden. Be- antwortet man die Frage so, daß man sagt, die Seele muͤsse in solchen Visionen in einem traumartigen Zustande gedacht werden, so kann es Traͤume geben, die wirklich einen moralischen oder reli- gioͤsen Charakter haben, also wahr sind; aber auch solche kann es geben, die eitel sind. Stellen wir nun die Apokalypse in diese Analogie, dann haͤngt die ganze Frage uͤber die Beschaͤftigung mit dem Buche von dem Inhalt ab. Sind da nun die ethischen oder religioͤsen Elemente, welche vorkommen, der Muͤhe werth, diesen ganzen Apparat von Visionen aufzuklaͤren, so beschaͤf- tige man sich damit. Ist das aber nicht der Fall, so ist auch keine Nothwendigkeit, das zu thun. Die religioͤsen Elemente der Apokalypse sind gar nicht von der Art, daß wir sie nicht ander- waͤrts mit derselben Energie ausgesprochen faͤnden, wozu also den ganzen Apparat durchforschen? Allein man kann vom Stand- punkte der Prophetie aus sagen, wenn in solchen Thatsachen des Seelenlebens eine sittliche oder religioͤse Haltung und Richtung wahrzunehmen ist, so ist vorauszusezen, daß der visionaͤre Apparat aus religioͤsen Eingebungen hervorgegan sei, also prophetische Digni- taͤt habe. Die Visionen lassen sich als Steigerungen des geistigen reli- gioͤsen Lebens ansehen. Das wollen wir denn gelten lassen, und nur als Thatsache erwaͤhnen, wie sachkundige Ausleger in der Beschaͤf- tigung mit dem Buche dahin gebracht sind, Gegenstaͤnde, die zur Zeit Neros oder Galbas vorgegangen sind, darin vorhergesagt zu finden. Allein, wie die Sache liegt, ist an keine rechte Loͤsung zu denken. Der Eine sagt, wenn ein Gegenstand auf jene Weise beschrieben wird, wie in den Visionen geschieht, so muͤsse er selbst schon geschichtlich sein. Der Andere aber folgert eben aus der genaueren Beschreibung die prophetische Dignitaͤt des Buches. Diese Verschiedenheit hat nothwendig Einfluß auf die Erklaͤrung, aber eben deßhalb kann auch keine Erklaͤrung allgemeine Guͤltig- keit haben. So lange der Proceß zwischen jenen entgegengesezten Ansichten noch nicht entschieden ist, ist auch an keine richtige Voraussezung in Ansehung des Buches zu denken. Geben wir auch die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu, daß durch hoͤhere Ein- wirkung Visionen von zukuͤnftigen Ereignissen zu Stande kom- men koͤnnen, so muß doch, wenn man ihnen in bestimmten Faͤl- len glauben soll, ein bestimmter Zweck erkennbar sein. So nahe Voraussezungen, wie die waͤren, wenn die apokalyptischen sich auf die Roͤmische Kaisergeschichte bezoͤgen, waͤren fuͤr Niemand gewesen, weil das Buch in dieser Zeit noch gar keine Verbrei- tung hatte. Dazu kommt, daß die Beziehungen so wenig klar waren, daß auch die, denen das Buch bekannt war, wenn die Begebenheiten eintrafen, nicht erkennen konnten, daß sie vorher- gesagt waren. Daher koͤnnen wir, wenn auch das Princip selbst, doch keine rechte Anwendung desselben zugeben. Wie steht es nun um die Klarheit, mit der bestimmte Begebenheiten nachge- wiesen werden? Das Buch enthaͤlt dafuͤr Indikationen in Zah- len. Aber wo soll man zu zaͤhlen anfangen? Welche Kenntniß soll man bei dem Seher selbst davon voraussezen? Oder soll man sagen, es sei nicht nothwendig, daß er selbst verstanden, was er vorhersagt? Dann aber kommen wir in ein Gebiet, wo alle Anwendung von Regeln aufhoͤrt. So ist die Erklaͤrung von je- nen Indikationen aus rein willkuͤhrlich, weil wir die Notizen, die der Verfasser im Sinne hatte, nicht kennen. Wir gehen von den unsrigen aus, er von den seinigen, und so haben wir keinen festen Punkt, wo wir die Erklaͤrung anschließen koͤnnten. — So bleibt am Ende fuͤr die hermeneutische Aufgabe nur uͤbrig, das Gesehene aus der Beschreibung richtig zu erkennen. Aber diese Aufgabe wird dadurch sehr beschraͤnkt, daß das Zusammen- sehen nicht uͤberall dargethan und die Einheit des Buches in die- ser Hinsicht nicht dargestellt werden kann. — Man mag anfan- gen wo man will, man findet unbestimmte Punkte und kommt nicht zu Stande. Ist dieß die wahre Lage der Sache, so entsteht eine andere Frage, nemlich, was fuͤr eine Bestimmung das Buch im N. T. hat, wie es sich rechtfertigen laͤßt, daß es in den neutest. Kanon gekommen? Sieht man diesen nicht historisch an, sondern als ein Werk des goͤttlichen Geistes, so ist keine andere Antwort, als, damit im N. T. ein bestaͤndiges Raͤthsel sei, ist das Buch in den Kanon gekommen. Wozu das aber? Betrachten wir die Sache historisch, so kann man sagen, die Aufnahme des Buches in den Kanon haͤnge mit gewissen Ansichten zusammen, die bei seiner Bildung in den Gemeinden herrschten, dann aber beruhe es auf dem Streben, eine Analogie zwischen dem N. und A. T. hervorzubringen, also auch im N. T. ein prophetisches Buch zu haben. Betrachten wir das ganze Gebiet der neutest. Hermeneutik, wie viel da noch zu thun ist und wie wenig Aussicht bei diesem Buche, uͤber den oben bezeichneten engen Raum weiter hinaus zu kommen, so ist's nur zu bedauern, daß so viel Zeit, Anstren- gung und Scharfsinn noch neuerlich darauf verschwendet ist. Doch liegt in den neueren Arbeiten ein nuͤtzliches Gegengewicht gegen die falschen Anwendungen des Buches. Aber die Differenz der Ansichten ist auch da in Beziehung auf die Willkuͤhr der Hyppothesen eben nicht sehr groß. Die Einen sagen, der apokalyptische Apparat koͤnne sich nicht auf nahe bevorstehende oder gar bereits vergangene Begebenheiten beziehen. Die Andern sagen, was mit einer gewissen Bestimmtheit im Einzelnen gesagt sei, von dem lasse sich nicht glauben, daß es sich auf etwas be- ziehe, was erst nach langen Jahrhunderten eintreten werde, es muͤsse sich auf Nahes oder bereits Geschehenes beziehen. Aber bei aller Differenz in diesen Hypothesen ist doch auf beiden Sei- ten gleich viel Willkuͤhrlichkeit. Betrachten wir die hermeneutische Aufgabe in ihrer weiteren Beziehung auf die historische Kritik, so finden wir da noch so viel zu leisten, daß man wahrlich nicht noͤthig hat uͤber das ei- gentlich Kanonische hinauszugehen. Fuͤr kanonisch aber kann ich die Apokalypse nicht halten, weil sie zu wenig eigenthuͤmlich reli- gioͤsen Stoff enthaͤlt. Jedes einzelne Buch des N. T. ermangelt fuͤr sich betrachtet der noͤthigen Huͤlfsmittel, um auf vollkommen sichere Weise die hermeneutischen Operationen beginnen zu koͤnnen, weil wir von keinem bestimmte und hinreichende Data haben uͤber die Zeit und die einzelnen Umstaͤnde, unter denen das Buch entstanden ist. Vielmehr was wir in dieser Hinsicht voraussezen muͤssen, entneh- men wir meist nur aus den Schriften selbst. Ja es kommt nicht einmal die ganze Sammlung der einzelnen Schrift recht zu Huͤlfe. Fuͤr die apostol. Briefe haben wir die Apostelgeschichte. Aber sie faͤllt gar nicht so in die Mitte der Dinge, daß sie das Gefor- derte leisten koͤnnte. Die Verhaͤltnisse, wodurch ein einzelner Brief veranlaßt worden, koͤnnen wir erst aus dem Briefe selbst erken- nen. Da muß also die Hermeneutik im Einzelnen uͤber das Buch selbst hinausgehen und die unbestimmte Aufgabe loͤsen, wie die Umstaͤnde gewesen sein moͤgen, damit diese oder jene Äuße- rungen vorkommen konnten. Dieß ist allerdings Sache der histo- rischen Kritik. Allein die hermeneutischen Resultate muͤssen in Beziehung darauf gestellt werden koͤnnen. Die hermeneutische Arbeit ist an einem Buche nicht vollendet, wenn sie jene beson- dere Aufgabe nicht mit gehoͤriger Kunstmaͤßigkeit behandelt. Hier kommt etwas anderes in Betracht, nemlich die Vorstel- lung von dem Gesammtzustande des Christlichen im apostolischen Zeitalter. Man kann damit der historischen Kritik zu Huͤlfe kom- men. Dazu kann man freilich aus anderweitigen Zeugnissen ruͤck- waͤrts schließen. Aber dieß hat, wenn es auf unrechte Weise geschieht, eben so viel Nachtheil fuͤr die hermeneutischen Opera- tionen, als es, wenn es auf die rechte Weise geschieht, ihre Grundlage sein muß. Diese Sache ist nun noch lange nicht beendigt, sondern be- trachtet man die Geschichte unsrer Wissenschaft, so sieht man, sie geht im Zickzack. Wir haben z. B. aus spaͤteren Zeiten No- tizen von der Formation des Christlichen, die man im Allgemei- nen die gnostische nennt. Nun giebt es in den epistolischen Schrif- ten des N. T. eine Menge schwieriger Stellen, welche darauf fuͤhren, daß ihnen besondere Verhaͤltnisse zum Grunde gelegen haben, Abweichungen vom richtigen Typus des Glaubens. Man hat nun geschlossen, wenn der Gnostieismus schon da gewesen waͤre, so koͤnnten sich jene Stellen darauf beziehen, da nun dieß ist, so muͤsse jener auch schon da gewesen sein. So wird daraus ein hermeneutisches Princip. Man machte nun aber die genauere hermeneutische Probe, und fand, daß der Gnosticismus nicht das entsprechende Fundament sei, daß die Polemik gegen denselben eine andere gewesen sein muͤsse. So hat man also gesagt, der Gnosticismus sei im N. T. nicht zu finden. Allein Andere haben wieder gesagt, ein dem Gnosticismus Verwandtes muͤsse zum Grunde liegen, die Anfaͤnge desselben. So ging man wieder zuruͤck, wie im Zickzack. Der Punkt, wo dieses Zickzack aufhoͤren werde, ist noch gar nicht zu bestimmen. Fragen wir, wie vom gegenwaͤrtigen Punkte aus die neu- test. Hermeneutik zu betreiben sei, um nach beiden Seiten hin den Erwartungen zu entsprechen, die sie erfuͤllen soll und voll- staͤndig nicht erfuͤllen kann, weil ihr die noͤthigen Voraussezun- gen fehlen? Man muß immer die entgegengesezten Richtungen miteinander verbinden. Das Erste , was darin liegt, ist dieß, daß man jedes neu- test. Buch fuͤr sich betrachtet nach dem allgemeinen Kanon, das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen zu ver- stehen, zu erklaͤren sucht. Nicht eher ist man zu einem sicheren Resultat gekommen, als bis beide Richtungen darin ihre Befriedigung fin- den. Das sezt eine bestaͤndige Rekapitulation voraus. Das Erste ist immer die allgemeine Übersicht, wodurch die Totalitaͤt anschau- lich, die Structur des Ganzen und die bestimmte Formel dafuͤr gefunden wird. Fuͤhrt die Übersicht auf dunkle Stellen, von de- nen man sieht, daß sie die Hauptpunkte der Construktion enthal- ten, so ist zu fuͤrchten, daß man zu keinem befriedigenden Re- sultate gelangen koͤnne. Bei den neutest. Buͤchern wird dieser Fall dadurch noch erschwert, daß man bei dunklen Stellen der spaͤteren Auffassung derselben außer dem Zusammenhange zu viel eingeraͤumt hat. Da ist denn die Hauptregel die, alles, was uns aus der vortheologischen Lebensperiode vorschwebt, zu besei- tigen. Dieß wird dadurch erleichtert, daß der Behandlungsweise der einzelnen Stellen in ihrer dogmatischen Dignitaͤt außer dem Zusammenhange in der Regel die kirchliche Übersezung zum Grunde liegt, waͤhrend die hermeneutische Behandlung nur den Grund- text zum Gegenstande haben kann. So werden jene Auffassungen schon in die Ferne geruͤckt und die Ausuͤbung der Cautel wird dadurch auf gewisse Weise erleichtert. Wenn nun in irgend einer Schrift derjenigen Stelle, die den Schluͤssel zum Ganzen enthaͤlt, eine nicht durch Stoͤrungen der bezeichneten Art bewirkte Dunkel- heit inwohnt, so ist dieß eben der schwierigste Fall, weil nicht leicht eine Methode gefunden werden kann, um jene Dunkelheit aufzuhellen. Aber das ist freilich auch eine Voraussezung, die nicht gut gemacht werden kann. Denn daß solche Stellen vor- kommen, sezt bei dem Schriftsteller eine solche Unfaͤhigkeit in Be- ziehung auf die Sprache voraus, bei der er eigentlich nicht haͤtte schreiben sollen. Hier ist auf etwas haͤufig Vorkommendes aufmerksam zu ma- chen. Die neutest. Schriftsteller stehen in dem Credit, nicht litte- raͤrisch gebildete Maͤnner gewesen zu sein, außer Paulus. Man steigert das nun oft so, daß man sagt, sie haͤtten mit der Sprache gar nicht umzugehen gewußt, um sich deutlich zu machen. Wenn nun der Exeget die Auslegungen, welche von einem Partheiin- teresse aus gemacht worden sind, so widerlegt, daß er sagt, es lasse sich nicht denken, daß Jemand so sollte geschrieben haben, wenn das seine Meinung gewesen, und dergl. — so wird oft eingewendet, das sei fuͤr die neutest. Schriftsteller viel zu kunst- gemaͤß. Allein wenn man diese Schriftsteller dadurch jeder Will- kuͤhr Preis geben will, so ist das eine ganz falsche Anwendung der an sich unleugbaren Thatsache, daß sie nicht litteraͤrisch ge- bildet waren. Gehoͤren diese Schriftsteller zur Classe der ersten Verkuͤndiger des Evangeliums, waren sie von den Principien desselben auf eine eminente Weise durchdrungen, sind sie es ge- rade gewesen, die bewirkt haben, daß das Christenthum seine be- stimmte Stelle in der Welt eingenommen, so ist Besseres von ihnen anzunehmen. Da kommt freilich noch ein anderer Umstand in Betracht. Man kann sagen, jene Dunkelheiten seien nicht aus ihrer Unfaͤhigkeit im Denken und in der Mittheilung der Ge- danken durch die Sprache hervorgegangen, aber sie mußten doch griechisch sprechen und dies war ihre eigentliche Sprache nicht; die Nothwendigkeit in eine andere, fremde Sprache uͤberzugehen, das sei der eigentliche Grund ihrer Unfaͤhigkeit. Allein kein neu- test. Schriftsteller konnte in den Fall kommen, das Griechische schreiben zu muͤssen, wenn er nicht zuvor in dem Fall gewesen war, es reden zu muͤssen. Ja es kann angenommen werden, daß die Apostel in ihrem Lehramte selbst in Jerusalem sich mehr haben griechisch ausdruͤcken muͤssen. So faͤllt also auch der Grund zur Willkuͤhr in der Auslegung weg. Auf rhetorische Kunstmaͤ- ßigkeit machen sie freilich keinen Anspruch, aber auf die bei jedem Hermeneutik u. Kritik. 17 Menschen vorauszusezende natuͤrliche Faͤhigkeit, ihre Gedanken in einer oft gebrauchten, wenn auch nicht angeborenen Sprache ver- staͤndlich mitzutheilen. Es kann allerdings vorkommen, daß eine neutest. Schrift in Hauptstellen eine unuͤberwindliche Dunkelheit hat. Aber die kann dann nur dadurch fuͤr uns entstehen, daß namentlich didaktische Schriften sich auf uns unbekannte Verhaͤltnisse des Schreibenden oder ihrer Addresse beziehen. Da ist denn also die Aufgabe die, die be- treffende Stelle von ihrer Dunkelheit durch eine hermeneutische Operation im Einzelnen zu befreien und ein Licht uͤber die ob- waltenden Verhaͤltnisse aufzustecken. Bevor nicht eine Erklaͤrung gefunden ist, die das Ganze deutlich macht, ist der Weg der hermeneutischen Operation nicht sicher. Das zweite , was in jenem allgemeinen Kanon die entge- gengesezten Richtungen zu verbinden liegt, ist, daß man aus der allgemeinen Anschauung des Ganzen ins Einzelne fortschrei- tet, und von der allgemeinen Anschauung zuruͤckgeht auf die all- gemeinen Verhaͤltnisse der Schrift. Das schließt aber in sich ein Hinausgehen uͤber die einzelne Schrift hinaus auf das Gebiet der historischen Kritik und ihr hypothetisches Fundament. Das dritte , was in jenem Kanon liegt, ist dieß, daß das N. T. eine Sammlung von verschiedenen Schriften ist. Hier sind zweierlei Richtungen. Die ganze Sammlung ist einmal die Produktion einer in die Geschichte eingetretenen neuen ethischen Potenz, sodann ist jedes Einzelne ein Ganzes fuͤr sich, aus speziel- len Relationen und Situationen entstanden. Da verhaͤlt sich offenbar alles Übrige zu jeder einzelnen Schrift wie der natuͤrliche Ort, aus dem die Parallelen zu nehmen sind, fuͤr die hermeneu- tische Aufgabe im Einzelnen. Aber von der andern Seite ist die Aufgabe nicht zu verkennen, daß wenn wir bei einer Schrift uns die Verhaͤltnisse, die zum Grunde gelegen, erklaͤren, die Re- sultate der Operation von allen neutest. Schriften zusammenstim- men muͤssen, so daß sie ein Bild geben von dem damaligen christ- lichen Zustande als Einheit, denn daraus ist das Ganze hervor- gegangen. Ohne diese Probe haben wir keine Sicherheit. Allein eben dieß ist noch sehr vernachlaͤssigt. Die Hypothese z. B. von dem sogenannten Urevangelium ist das Resultat solcher zuruͤckge- henden Operationen. Man hat nemlich die vielen uͤbereinstim- menden Stellen der Evangelien zusammengenommen und gefragt, wie diese Übereinstimmung wol entstanden sein moͤge. Allein das Princip, welches man gefunden, ist zu sehr nur arithmetischer, abstrakter Natur und zu duͤrftig. Man sagt, was die Evange- lien Übereinstimmendes haben, das sei das Fruͤhere, was jedem eigenthuͤmlich ist, das Spaͤtere. Jenes bildet ein Aggregat von Einzelheiten in groͤßter Duͤrftigkeit, das Urevangelium, welches, wie man meint, von den ersten Verkuͤndigern des Evangeliums als Schema aufgestellt und von jedem Lehrer nach seinem Maaße erweitert worden sei. Macht man nun damit die Probe, so fin- det man zunaͤchst, daß das Evangelium des Johannes dabei nicht zu begreifen sei. Der Apostel Johannes haͤtte doch seine Zustim- mung zu jenem Schema geben muͤssen. Aber die seinem Evange- lium zum Grunde liegende Ansicht ist eine ganz andere. Also die Auctoritaͤt dieses Apostels geht fuͤr jenes Urevangelium schon verloren. Fragen wir nun weiter, in welche Zeit ein solcher Akt der Apostel haͤtte fallen sollen, so finden wir wenigstens in der Apostelgeschichte kein Verhaͤltniß der Art, woraus ein solcher Akt wahrscheinlich wuͤrde, keine Spur selbst da nicht, wo Lukas Ge- legenheit gehabt haͤtte, davon zu sprechen. — So werden alle aus dem Einzelnen hervorgehenden Hypothesen uͤber das zum Grunde liegende Gemeinsame scheitern, sobald man das Ganze zusammenschaut. Es kommt hier besonders in Beziehung auf die didaktischen Schriften ein anderer Punkt in Betracht, der eine Quelle großer Schwierigkeiten ist und den man daher bei der Auslegung immer im Auge haben muß. Nemlich die schriftliche Mittheilung war in jener Zeit immer nur secundaͤr durchaus und in jeder Bezie- hung. In der Regel sind die Schriften nur berechnet fuͤr solche, mit denen schon ein muͤndlicher Verkehr statt gehabt. Nicht nur 17* die Paulinischen, sondern auch die katholischen Briefe sezen die muͤndliche Verkuͤndigung des Evangeliums voraus, und zwar wie sie von gewissen, nicht unbekannten Personen ausgegangen waren. Da das urspruͤnglich etwas Gemeinsames war, so konnte sich Jeder ohne Furcht nicht oder mißverstanden zu werden dar- auf beziehen. Daraus aber muß fuͤr uns wieder eine Dunkelheit entstehen. Überall wo man auf dunkle Stellen stoͤßt, muß man jene primitive Verkuͤndigung voraussezen, und von da aus zu- ruͤckschließen. So ist also die Verbindung der entgegengesezten Richtungen immer anzuwenden, und wenn vielleicht weniger bei den profanen Schriften, so doch vorzugsweise durchaus und uͤberall bei dem Neuen Testamente. Schlußbetrachtung Aus den Vorlesungen im Wintersemester 1826 — 1827. . Wenn die hermeneutische Aufgabe uͤberhaupt vollkommen nur geloͤst werden kann durch Verbindung der Grammatik mit der Dialektik, der Kunstlehre und der speziellen Anthropologie, so ist klar, daß in der Hermeneutik ein maͤchtiges Motiv liegt fuͤr die Verbindung des Speculativen mit dem Empirischen und Ge- schichtlichen. Je groͤßer daher die hermeneutische Aufgabe ist, die einer Generation vorliegt, um so mehr wird sie ein solcher He- bel. Eine aufmerksame Beobachtung der Geschichte lehrt auch, daß seit der Wiederauflebung der Wissenschaften die Beschaͤftigung mit der Auslegung, je mehr sie auf die Principien derselben ein- gegangen ist, desto mehr zur geistigen Entwicklung nach allen Seiten hin beigetragen hat. Soll aber die hermeneutische Kunst solche Wirkung haben, so gehoͤrt dazu, daß man an dem, was durch Rede und Schrift dargestellt ist, wahres Interesse nimmt. Dieß Interesse kann ver- schiedener Art sein, aber wir unterscheiden darin drei Stufen. Die erste Stufe ist das Geschichtsinteresse. Man bleibt stehen bei der Ausmittlung der einzelnen Thatsachen. Es kann darunter viel wissenschaftliches begriffen sein. Es liest z. B. Je- mand die Alten in naturhistorischer Hinsicht. Weder der sprach- liche, noch der psychologische Zusammenhang wird dabei beruͤhrt. Auf dieser niedrigsten Stufe waͤre die Auslegung die allgemein menschliche. Die zweite Stufe ist das kuͤnstlerische oder Geschmacksin- teresse. Dieß ist beschraͤnkter, als das erste, denn das eigentliche Volk nimmt keinen Antheil daran, sondern nur die Gebildeten. Diese Beschaͤftigung fuͤhrt schon weiter. Die Darstellung durch die Sprache giebt den Reiz, und es liegt darin die Anregung zur Kenntniß der Sprache und der Kunstproduktionen. Die Kunst- lehre ist durch den Geschmack an den Werken des Alterthums be- sonders angeregt worden. Die dritte Stufe ist das spekulative, d. h. rein wissenschaft- liche, und das religioͤse Interesse. Ich stelle beides gleich, weil beides von dem Hoͤchsten des menschlichen Geistes ausgeht. Das wissen- schaftliche faßt die Sache in der tiefsten Wurzel. Wir koͤnnen nicht denken ohne die Sprache. Das Denken aber ist die Grund- lage aller andern Funktionen des Geistes, wir gelangen dadurch, daß wir sprechend denken, erst zu einem bestimmten Grade des Bewußtseins und der Absichtlichkeit. Es ist von dem hoͤchsten wissenschaftlichen Interesse, zu erkennen, wie der Mensch in der Bildung und im Gebrauch der Sprache zu Werke geht. Eben so ist es von dem hoͤchsten wissenschaftlichen Interesse, den Men- schen als Erscheinung aus dem Menschen als Idee zu verstehen. Beides ist aufs genaueste verbunden, weil eben die Sprache den Menschen in seiner Entwicklung leitet und begleitet. — Greift das Geschmacksinteresse die Aufgabe tiefer, so kann diese nur durch das wissenschaftliche gehoͤrig geloͤst werden. Allein zu diesem speculativen Interesse erhebt sich ein noch kleinerer Theil, als zu dem Geschmacksinteresse. Das aber gleicht das religioͤse wieder aus, da dieß auch ein allgemeines ist. Es ist die niedrigste Stufe, wo das religioͤse Bewußtsein noch nicht erwacht ist. Je mehr es erwacht und ein allgegenwaͤrtiges wird, desto mehr ist der Mensch selbst erwacht. Nun wird es aber von Allen als ein allgemeines besessen und empfunden. Man kann sich aber daruͤber nur durch die Sprache verstaͤndigen. Wir sehen, daß der Mensch nur in dem Grade uͤber sein hoͤchstes Interesse klar und gewiß wird, in welchem er den Verkehr durch die Sprache kennt. Alles also, was normaler Ausdruck des Religioͤsen, irgendwie heilige Schrift ist, muß dazu beitragen, diese Aufgabe zu einer allgemeinen zu machen. Wir finden freilich Religionen, die heilige Schriften ha- ben, ohne daß in der Masse das Interesse dafuͤr allgemein waͤre. Selbst in der christlichen Kirche macht die Roͤmischkatholische Par- thei eine Ausnahme. Wenn auch die hermeneutische Aufgabe in Beziehung auf die neutestam. Schrift verglichen mit der Totali- taͤt des Objects der ganzen Aufgabe der christlichen Kirche sehr untergeordnet erscheint, auch manches wol nicht zur vollen Loͤ- sung gebracht werden kann wegen der Eigenthuͤmlichkeit der Sprache und der Masse des Materials, so ist es doch auf der andern Seite das allgemeinste Interesse, welches an der hermeneutischen Aufgabe haͤngt, und wir werden mit Sicherheit sagen koͤnnen, wenn das allgemein religioͤse Interesse fallen sollte, wuͤrde auch das hermeneutische verloren gehen. Unsere Ansicht von dem Ver- haͤltniß des Christenthums zum ganzen menschlichen Geschlecht und die geistige Klarheit, womit sich dieß in der evangelischen Kirche entwickelt hat, leistet Gewaͤhr dafuͤr. Freilich kann die Aufgabe auf diesem Gebiete nicht so vollkommen geloͤst werden, wie auf dem Gebiete der classischen Litteratur. Allein unser In- teresse darf deßhalb nicht geringer sein. Wenn wir es auch nie zum voͤlligen Verstehen jeder persoͤnlichen Eigenthuͤmlichkeit der neutest. Schriftsteller bringen koͤnnen, so ist doch das Hoͤchste der Aufgabe moͤglich, nemlich das gemeinsame Leben in ihnen, das Sein und den Geist Christi, immer vollkommener zu erfassen. Kritik . B ei Der handschriftliche Nachlaß Schleiermachers besteht fuͤr diesen Theil der Vorlesungen nur in einigen wenigen Blaͤttern, von denen die aͤltesten vier nur kurze Notizen und uͤberschriftartige Saͤtze zum Behuf der Vor- lesungen enthalten, zwei andere aus verschiedenen Zeiten eine etwas voll- staͤndigere Ausarbeitung anfangen, aber nach einigen zusammenhaͤngen- den Saͤtzen wieder abbrechen. Bei diesem durchaus fragmentarischen Cha- rakter des Nachlasses habe ich vorgezogen, die letzte Vorlesung vom Win- terhalbjahre 1832., mit Benutzung des dabei zum Grunde liegenden zu- letzt gemachten Anfangs einer vollstaͤndigeren Ausarbeitung im Zusam- menhange abdrucken zu lassen. d. H. der Wissenschaft der Kritik ist es zunaͤchst eine schwierige Aufgabe, sich uͤber den Gegenstand derselben gehoͤrig zu orientiren. Wenn mehr Zeit waͤre, wuͤrde es nicht ohne Interesse sein, wenn wir zu zeigen versuchten, wie die Aufgabe und die Be- nennung der Wissenschaft sich im Verlauf der Zeit modifizirt habe. So koͤnnen wir aber nur auf die gegenwaͤrtige Lage der Dinge sehen. Fassen wir den Ausdruck Kritik etymologisch, so kommt zweierlei in Betracht, einmal, daß die Kritik in irgend einem Sinne ein Gericht, sodann, daß sie eine Vergleichung ist. Bei- des faͤllt zuweilen zusammen, geht aber auch zuweilen auseinander. Das Wort, wie es technischer Ausdruck geworden ist, ist sehr schwer als eine wirkliche Einheit zu fassen. Wir gebrauchen es in Be- ziehung auf wissenschaftliche Werke, wie auf Kunstwerke. Fassen wir diese doppelte Beziehung zusammen, so moͤchte fuͤr diese Kritik ein Ausdruck von Fr. August Wolf nicht uͤbel sein, nemlich der der doctrinalen Kritik Vergl. bei dieser Untersuchung uͤber den Begriff der Kritik, ihren Um- fang und Inhalt, Schleiermachers Abhandl. uͤber Begriff und Ein - theilung der philologischen Kritik , in den Akadem. Reden und Abhandlungen, saͤmmtl. Werke, zur Philosophie, dritter Band, S. 387 — 402. . Die eigentliche Tendenz ist immer, einzelne Produktionen mit ihrer Idee zu vergleichen, das ist das Gericht, aber auch Einzelnes in Beziehung auf anderes Einzelnes zu betrachten, und das ist das Vergleichende. Aber beides geht wieder in Eins zusammen, bildet eine Doctrin. So bleibt noch der Gegensaz zwischen der historischen und philologi- schen Kritik. Die Aufgabe der historischen Kritik ist, ihre Einheit so gut als moͤglich zusammengefaßt, die, aus Relationen die That- sachen zu construiren, also zu bestimmen, wie sich die Relation zur Thatsache verhalte. Die philologische wird in die hoͤhere und nie- dere eingetheilt. Fragt man, was ist die hoͤhere und was ist die niedere, so ist die Antwort nicht immer dieselbe. Bisweilen selbst bei Theoretikern, welche auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen, lautet sie sehr mechanisch. Man sagt wol, die philologische Kritik beschaͤftige sich mit Schriften, insbesondere des classischen Alterthums, und zwar in Beziehung auf deren Ächtheit. Aber eben dieser leztere Begriff ist wieder sehr schwierig. Man versteht wol darunter die Frage, ob eine Schrift wirklich von dem Verfasser herruͤhrt, dem sie beigelegt wird, wobei aber ein großer Unterschied ist, ob die Schrift sich selbst dem Verfasser beilegt, wie z. B. der zweite Brief Petri, oder ob sie von Andern ihm beigelegt wird, wie z. B. das Evangelium des Matthaͤus, wo nemlich die Überschrift kein urspruͤnglicher Theil der Schrift ist. Der Fall ist verschieden. Im lezteren Falle ist nur die Frage, ob der Recht gehabt, der die Schrift so benannt und uͤberschrieben hat, und ob der Name das bezeichnet, was wir dabei denken? Das ist aber zunaͤchst gar nicht die Unter- suchung uͤber die Ächtheit oder Unaͤchtheit der Schrift selbst. Man sagt nun, die niedere Kritik beziehe sich auf die Ächtheit oder Unaͤchtheit der einzelnen Buchstaben und Worte, die hoͤhere auf ganze Schriften und ganze Schrifttheile. Allein dieß ist eine mechanische und unhaltbare Unterscheidung. Sind die Worte nicht auch Theile der Schrift? Kann nicht die Ächtheit oder Unaͤcht- heit eines Wortes von viel groͤßerer Bedeutung sein, als die eines ganzen Theiles? — Die Conjectur des Socinianers Sam. Crell Joh. 1, 1. statt ϑεὸς, ϑεοῦ ἦν ὁ λὁγος zu lesen, wuͤrde darnach zur niederen Kritik gehoͤren, die Frage aber uͤber die Pe- rikope von der Ehebrecherin zur hoͤheren. Und doch ist das erstere wegen des ganzen Zusammenhanges des Evangeliums wich- tiger zu wissen, als das leztere. Es giebt offenbar Faͤlle, wo beides so ineinander geht, daß man es gar nicht mehr zu unterscheiden vermag. Die Frage uͤber die Ächtheit oder Unaͤchtheit eines Sazes, also eines Theiles der Schrift, beruht oft auf einem einzelnen Wort. Man wird nicht sagen koͤnnen, ein Wort sei eigentlich kein Theil einer Schrift, aber auch nicht, wenn von Saͤzen die Rede sei, da sei das Ge- biet der hoͤheren, wenn von den Elementen derselben, das Ge- biet der niederen Kritik. Es giebt hier keine Grenze. Die ganze Betrachtungsweise ist ungenuͤgend und es ist besser, den ganzen Unterschied wegzuwerfen. Betrachten wir die beiden obigen Faͤlle von einer andern Seite, so werden wir finden, es gehoͤrt zur Entscheidung uͤber jenes ϑεὸς und ϑεοῦ eine ungleich groͤßere Mannigfaltigkeit von Operationen, auch Thaͤtigkeiten hoͤherer Art, als dazu, um uͤber die Ächtheit des Abschnitts von der Ehebrecherin zu urtheilen. Hier kommt es eben nur auf den Werth der Handschriften an, welche den Abschnitt haben oder nicht haben. Von der Leseart ϑεοῦ aber haben wir in den Handschriften keine Spur, und man muß vieles gelesen und untersucht haben, um daruͤber zu reden. So laͤßt sich also der Ausdruck hoͤhere und niedere Kritik in dem an- gegebenen Sinne auch von dieser Seite nicht rechtfertigen. Um zur richtigen Aufgabe des Begriffs der philologischen Kritik und ihrer Theilung zu gelangen, muͤssen wir sie in Verhaͤltniß zu den andern kritischen Disciplinen betrachten, also mit der hi- storischen und doctrinalen oder recensirenden Kritik. Man koͤnnte noch weiter zuruͤckgehen und fragen, was Kritik uͤberhaupt sei in aller ihrer verschiedenen Beziehung auf die wis- senschaftliche Aufgabe? Aber ob wir so weit zuruͤckgehen koͤnnen und muͤssen, muß der Erfolg lehren. Kommen wir durch die Vergleichung der verschiedenen Arten des Gebrauchs der Kritik so weit, daß wir von der philologischen eine genuͤgende Erklaͤ- rung geben koͤnnen, eine solche, die zugleich das Princip ihrer Theilung enthaͤlt, so fragen wir nicht weiter. Faͤnden wir aber bestimmte Indikationen von dem Verhaͤltnisse zu dem ge- sammten wissenschaftlichen Gebiete, so werden wir zuruͤckgehen koͤnnen, ohne viel Zeit zu verschwenden. So wie die Sache aber liegt, werden wir die Frage so stellen: Womit hat die philologi- sche Kritik mehr Verwandschaft, mit der doctrinalen oder der hi- storischen Kritik? Wir wollen alle einzelnen Aufgaben, ohne sie im Verhaͤltniß zu einander zu betrachten, vorlaͤufig als reines Aggregat ansehen. Zur philologischen Kritik gehoͤrt, daß, wenn uns in einem und demsel- ben Werke Verschiedenheiten aufstoßen, die nicht mit einander bestehen koͤnnen, wir das Richtige auswaͤhlen und das Unrichtige ausstoßen und aus den verschiedenen Arten, wie die Schrift erscheint, die ur- spruͤngliche Gestalt moͤglichst ausmitteln, dieselbe also in ihrem urspruͤnglichen Lebenszusammenhange darstellen, also entscheiden, ob sie eine That von diesem oder jenem sei, oder eine That von diesem oder nicht von diesem. In den Faͤllen, wo nicht von dem Verfasser die Rede ist, wird doch die Frage sein nach der Zeit, in die eine Schrift gehoͤrt. Betrachten wir nun dieß vorlaͤufig als das Aggregat der philologischen Kritik, und fragen, wie sich dieß zur doctrinalen oder recensirenden Kritik verhaͤlt? Das Ge- schaͤft von dieser besteht darin, Werke von Maͤnnern in Beziehung allein auf ihren Werth richtig zu schaͤzen. Das Wort Werk hier ganz genommen, wonach alle menschlichen Produktionen vom Mechanischen an durch die Gebiete der Kunst und Wissenschaft hindurch darunter begriffen sind. Wonach erfolgt nun hier die Schaͤzung? Es giebt fuͤr jedes menschliche Werk ein Urbild. Darnach muß das Einzelne als Erscheinung beurtheilt werden. Da tritt aber bisweilen die Frage ein, haben Urheber und Beurtheiler dasselbe Urbild? Ein anderes Verhaͤlt- niß ist dieß, wenn aus der ersten Schaͤzung die zweite hervorgeht, nemlich die des Verfassers, ob derselbe ein Urbild hatte oder nicht? Aber auf das Verhaͤltniß der Erscheinung zum Urbilde bezieht sich die ganze Aufgabe. Und dieß geht durch das ganze Gebiet durch. Selbst bei der Beurtheilung mechanischer Werke muß ich sagen koͤnnen, was zur Vollkommenheit gehoͤrt, und dieß kann ich nicht eher, als bis ich das Aggregat von Vollkommenheiten zu einem Ganzen gebildet habe, welches eben das Urbild ist. Eben so im Ge- biete der Wissenschaft und der Kunst. Ich muß das Werk un- ter eine gewisse Gattung bringen, ihm einen gewissen Zweck bei- legen, und es fragt sich dann, in wiefern es seinen Zweck erreicht und seiner Gattung gemaͤß ist? Wenden wir dasselbe auf sittliche Handlungen, die voruͤbergehende Lebensmomente sind, an, so wer- den dieselben geschaͤzt nach dem ethischen Urbilde und ihren Bezie- hungen auf das, was bewirkt werden soll. Beides in seiner Zu- sammengehoͤrigkeit bestimmt die Vollkommenheit oder Unvollkom- menheit der Handlung. Hierunter sind nun eine Menge von Gegenstaͤnden, die zu- gleich Gegenstaͤnde der philologischen Kritik sind. Alle Schriften, die irgend Gegenstand der philologischen Kritik werden koͤnnen, sind zugleich Gegenstaͤnde der doctrinalen. Aber die Aufgabe bei- der ist durchaus eine andere. Im Gebiete der Kunst kann die- selbe Aufgabe vorkommen, welche die philologische fuͤr die litte- rarischen Werke hat. Bei einem Werke der bildenden Kunst ist z. B. die Frage, ob es dem angehoͤre, dem es beigelegt wird? Die Beilegung kann im Werke selbst liegen, wenn der Name des Kuͤnstlers darauf eingegraben ist. Der Name kann aber dem Werke anderweitig beigelegt sein. Dann ist die Frage weiter die, ob die einzelnen Theile aͤcht sind, ob etwas restaurirt ist u. s. w. Das sind dieselben Operationen, welche die philologische Kritik zu uͤben hat. Da sehen wir aber schon die Verschiedenheit beider Arten der Kritik, der doctrinalen und philologischen, in denselben Gegen- staͤnden. Denn jene kuͤmmert sich gar nicht um den Verfasser, sondern um die Idee des Werkes, ob dieses jener entspricht oder nicht. Man kann nun aber sagen, das doctrinale Urtheil z. B. uͤber eine Ode werde doch ein falsches, wenn sich darin einzelne Ele- mente spaͤteren Ursprungs finden; so hange also die doctrinale und philologische Kritik genauer zusammen. Allein der doctrinalen Kritik als solcher ist es gleich viel, ob eine Unvollkommenheit des Werkes urspruͤnglich von dem Verfasser heruͤhrt oder von einem Andern. Die philologische Kritik hingegen sagt, wenn sie einmal ausgemacht und bewiesen habe, daß eine Ode von Horaz herruͤhre oder nicht, so kuͤmmere sie sich in beiden Faͤllen nicht, ob sie besser oder schlechter sei. So waͤren also die Aufgaben und Funktio- nen der doctrinalen und philologischen Kritik durchaus verschie- den, waͤhrend die Operation der archaͤologischen und philologi- schen Kritik bei aller Verschiedenheit des Stoffes wesentlich diesel- ben sind. Indessen laͤßt sich doch eine gewisse Gemeinschaft zwischen der doctrinalen und philologischen Kritik nicht verkennen. Diese nemlich hat doch großentheils damit zu thun, die Richtigkeit zu beurtheilen, mit der sich eine Schrift fortgepflanzt hat. Dieß aber laͤßt sich gewissermaaßen unter den Begriff der doctrinalen Kritik bringen. Zu dieser nemlich gehoͤrt die ethische Kritik, die Beur- theilung menschlicher Handlungen nach dem, was sie in Beziehung auf gewisse Geseze, Lebensweisen u. s. w. sein sollen. Nun ist die Handschrift die Handlung eines Menschen, und so handelt es sich um die Treue und Genauigkeit, womit er abgeschrieben hat. Sagt man, eine Handschrift sei ungenau, schlecht gemacht, u. s. w., so ist das doch etwas, was ins philologische Gebiet ge- hoͤrt. Doch ist eine solche Taxation immer nur eine vorlaͤufige Maaßregel. Die eigentliche Aufgabe der philologischen Kritik ist, das Richtige in der Schrift selbst darzustellen. Das Naͤchste was wir zu thun haben ist, zu untersuchen, wie sich die philologische Kritik zur historischen verhaͤlt. Von die- ser sagt man im Allgemeinen, sie sei die Kunst, aus vorhande- nen Relationen die eigentliche Wahrheit einer Thatsache auszu- mitteln. Die Aufgabe ist auf diesem Gebiete ganz allgemein zu stellen. Wir finden nemlich uͤberall eine Differenz zwischen der Relation und der Thatsache. Die Differenz kann geringer und groͤßer sein, aber vorhanden ist sie in irgend einem Grade immer. Wenn Jemand erzaͤhlt, was er selbst erlebt hat, so ist das Analoge dieß, wenn Jemand etwas mit Worten beschreibt, was er selbst gese- hen hat. Etwas mit Worten beschreiben, und das mit Augen Gesehene sind irrationale Groͤßen zu einander. Die Wahrneh- mung ist nemlich ein Continuum, die Beschreibung kann es nicht sein. Die Aufgabe, durch Beschreibung den Gegenstand richtig darzustellen, kann nur auf verschiedene, nie auf dieselbe Weise geloͤst werden. Es ist darin immer eine Verwandlung des Con- tinuum, des concreten Gegenstandes, in den discreten, — in eine aus einzelnen Saͤzen bestehende Beschreibung, worin immer ein Urtheil des Beschreibers mit enthalten ist, und nothwendig einiges nicht beschrieben, uͤbergangen, anderes zusammengezogen wird, weil sonst die Beschreibung eine unendliche werden muͤßte. Es gleicht diese Verwandlung eines Continuums der Verwand- lung einer Flaͤche in einen einzelnen Punkt. Dabei kann man verschieden zu Werke gehen, und so kann auch das Übergangene verschieden ergaͤnzt werden. — Wenn aus der Beschreibung ei- nes unbekannten Thieres zwei von einander unabhaͤngig sich ein Bild davon herstellen, so werden die Bilder sehr verschieden sein. Eben so mit der Erzaͤhlung einer Thatsache. Natuͤrlich ist es von besonderer Wichtigkeit zu wissen, wie der Erzaͤhlende verfahren sei. Je mehr er mir bekannt ist, seine Art wahrzunehmen, seine Neigungen, in der Wahrnehmung etwas zu uͤbersehen, von dem Wahrgenommenen aufzunehmen und auszulassen, desto mehr laͤßt sich die Thatsache aus der Erzaͤhlung ermitteln. Also die Ermittlung der Thatsache aus den Relationen ist die Aufgabe der historischen Kritik. Hier stehen wir aber auf einem Grenzpunkte. Denn haͤtten wir von einer Thatsache nur Eine Erzaͤhlung, so waͤre die Loͤsung der Aufgabe eine rein her- meneutische Operation. Aber wenn wir die Regeln der Herme- neutik auf geschichtliche Werke besonders anwenden, so geht die Ermittlung der Thatsache uͤber das hermeneutische Gebiet hinaus. Nur die Ermittlung der Wahrnehmung woraus die Erzaͤhlung hervorgegangen ist, ist hermeneutische Aufgabe. Zu wissen, wie das gewesen ist, was der Erzaͤhler wahrgenommen hat, ist aller- dings Ausmittlung der Thatsache im Gemuͤth des Erzaͤhlers, aber es beruht das nicht mehr auf seiner Rede, sondern auf an- derweitigen Kenntnissen von ihm, kurz es geht in die angrenzende historische Kritik uͤber. Giebt es mehrere und verschiedene Rela- tionen von derselben Thatsache, so ist die Aufgabe complicirter, schwieriger, denn wir muͤssen ein Resultat herausbringen, woraus sich die verschiedenen Relationen erklaͤren lassen, wie sie zu Stande gekommen sind, — aber die Sicherheit wird groͤßer, weil die Relationen einander ergaͤnzen und die Differenzen sich leichter aus- gleichen. Somit ist dieß eine hoͤhere Position. Wie verhaͤlt sich nun dazu die philologische Kritik? Lassen sich die Gegenstaͤnde derselben irgendwie auf diesen Begriff der historischen Kritik zuruͤckfuͤhren, so sind sie verwandt und unter- einander zu subsummiren; im entgegengesezten Falle gehen sie aus- einander und die philologische Kritik waͤre zu bestimmen nach ihrem relativen Gegensaz gegen die beiden andern. Die Aufgaben der philologischen Kritik sind sehr mannigfal- tig. Man hat, wie schon gesagt, darin das Gebiet der hoͤheren und niederen unterschieden. Diese nennt man auch wohl die ur- kundliche, beurkundende, jene die divinatorische. Allein, wenn man den Unterschied so ausdruͤckt, so durchkreuzen die Gegen- saͤze einander. Denn wenn wir die Aufgabe der hoͤheren so fassen, wie oben aufgestellt ist, so kann sie in dem einen Falle eben so gut durch urkundliche, wie in dem andern Falle nur durch divi- natorische geloͤst werden. Und eben so die niedere. Denn wenn ich von der Guͤte der vorhandenen Handschriften eine bestimmte Schaͤzung machen kann, und die besten stimmen in einer Leseart zusammen, so ist diese ohne weiteres die beste Leseart. Da ist die Aufgabe urkundlich geloͤst. Muß ich aber zu Emendationen meine Zuflucht nehmen, so ist das divinatorische Kritik. Allein so loͤst sich die Frage uͤber das Verhaͤltniß der histo- rischen und philologischen Kritik noch nicht genuͤgend. Wir muͤs- sen die verschiedenen Aufgaben genauer betrachten, und mit ein- ander vergleichen. Da die philologische Kritik kein Begriff a priori ist, sondern mit dem Geschaͤft selber erst sich gebildet und erweitert hat, so kann man auch nur auf diesem Wege zu seiner richtigen Erklaͤrung gelangen. Schriften, die nicht mehr die Urschriften sind, koͤnnen als Relationen angesehen werden. Die Schrift soll nur mitheilen, was der Verfasser geschrieben hat. Diese Thatsache ist nun zu er- mitteln. So scheint die Aufgabe der philologischen Kritik dieselbe, wie in der historischen, der Form nach, aber nicht der Sache nach. Wir finden hier gar nicht dieselbe Irrationalitaͤt zwischen Erzaͤhlung und Thatsache, wie in der historischen Kritik. Der Verfasser schrieb successive, eben so der Abschreiber. Sezen wir nun den Fall, der Verfasser schrieb sein Werk und ein Anderer schrieb es richtig ab, oder jener dictirte es und ein Anderer schrieb es richtig nach, so sind Urschrift und Abschrift u. s. w. gleich und die Differenz zwischen der Thatsache und Relation faͤllt weg, so daß die Aufgabe als Aufgabe verschwindet. Allein die Sache wird gleich anders, wenn wir den Fall etwas anders denken, nemlich, wenn der Schreiber oder Abschreiber nicht richtig nach- geschrieben oder abgeschrieben hat. Hier tritt eine Differenz ein zwischen der Thatsache des Dictirens oder der Urschrift, und der Relation in der dictirten Schrift oder Copie. Ist nun diese Differenz auch nicht nothwendig, so ist sie doch da und muß auf- Hermeneutik u. Kritik. 18 geloͤst werden, und so sind wir wieder auf dem Gebiete der hi- storischen Kritik, und die Aufgabe ist, wie es scheint, unter den Begriff der historischen Kritik zu subsumiren. Dieß ist freilich nur Ein Fall, und ein solcher, wo die philologische Kritik auch unter die doctrinale subsumirt werden koͤnnte, weil es dabei auf Verglei- chung einer Handlung mit ihren Regeln und Gesezen ankommt. Eine andere Aufgabe ist die, daß wir in dem Werke eines Schriftstellers auf etwas stoßen, was den Eindruck eines Frem- den macht; es entsteht der Verdacht der Verfaͤlschung, wobei nicht bloß an ein einzelnes Wort, sondern auch an Groͤßeres gedacht werden kann. Ist dieser Fall auch unter die historische Kritik zu sub- sumiren? Allerdings. Ist der Verdacht gegruͤndet, so stimmt die Relation mit der Thatsache der urspruͤnglichen Schrift nicht uͤberein, im andern Falle sind beide in Übereinstimmung. Dieß zu erfahren, darauf kommt es an. So ist also die Aufgabe, aus der Relation die Thatsache zu ermitteln. Sezen wir noch eine hoͤhere Aufgabe. Es enthalte eine Handschrift alle Schriften eines und desselben Verfassers, darunter aber sei eine, der es an der gehoͤrigen Identitaͤt mit den andern fehlt, so daß der Verdacht entsteht, sie sei nicht von dem Ver- fasser, wie ist dieser Fall anzusehen? Sind Zeugnisse und Gruͤnde genug da, daß die Handschrift nur Schriften desselben Verfassers enthalten soll, steht auch z. B. durch die Überschrift fest, daß der, von dem die Handschrift ausgeht, alles als Schrift desselben Verfassers ansah, so sagt dieß Zeugniß als Thatsache aus, daß der Verfasser auch jene Schrift verfaßt habe. Wenn nun die Schrift doch verdaͤchtig ist, so ist eine Differenz zwischen der Re- lation und der Thatsache, und diese ist auszumitteln. Dieser Fall gehoͤrt der sogenannten hoͤheren Kritik an. Er fuͤhrt aber eben so sehr zur historischen Kritik, wie jener obige, der mehr der sogenannten niederen angehoͤrt. So werden wir also sagen, die philologische Kritik sei unter die historische zu subsumiren, sie sei ein bestimmter Theil von dieser. Dieß gilt von der Aufgabe in ihrem ganzen Umfange. Der Umfang derselben aber ist weiter als das classische, ja als das litterarische Gebiet uͤberhaupt. In ihrer vollen Allgemein- heit gefaßt, haben wir sie im taͤglichen Leben bestaͤndig zu uͤben. So oft sich Jemand verspricht, haben wir einen Fall fuͤr die philologische Kritik, ungeachtet kein geschriebener Buchstabe vor- handen ist. Was eins sein soll, Gedanke und Rede, ist zweier- lei geworden. Wer sich verspricht, sagt anderes als er denkt. So haben wir eine Differenz. Die Differenz kann oft im Au- genblicke nicht gleich bemerkt werden, sondern erst hintennach. Man mag sie gleich bemerken, will aber nicht unterbrechen, um eine Erklaͤrung zu fordern, und so sucht man selbst auszumitteln, was er hat sagen wollen. — Immer aber soll in solchen Faͤllen ausgemittelt werden, was der Redende wirklich hat sagen wollen, da, was er gesagt hat, ein anderes ist. Eben so tritt die Auf- gabe ein bei den Schreibfehlern in Urschriften und Abschriften. Aber selbst Aufgaben der hoͤheren Kritik kommen im gewoͤhnlichen Leben vor, z. B. bei anonymen Schriften. So haben die zu- sammengeseztesten kritischen Probleme des classischen Alterthums uͤberall im Leben wenigstens ihr Analogon, und die Allgemeinheit der Aufgabe ist unverkennbar. Vergleichen wir nun die drei kritischen Hauptaufgaben mit einander, so finden wir, daß die doctrinale Kritik, die ethische mit umfassend, eine ganz allgemeine Aufgabe hat, die uͤberall vorkommt in jedem Zustande der Menschen. Sie bezieht sich auf das Verhaͤltniß des als Einzelnen Bestimmten zum Begriff. Hier liegen die lezten Gruͤnde auf dem dialektischen und speculativen Gebiete. Die historische Kritik ist eine Aufgabe, die ebenfalls uͤberall vorkommt, wo Vergangenheit und Gegenwart einander gegen- uͤbertreten. Da ist immer eine Vergleichung zwischen der Thatsache (in der Vergangenheit) und der Relation (in der Gegenwart) anzu- stellen. Die Aufgabe ist uͤberall, wo es geschichtliches Dasein giebt. Die philologische Kritik hat es zu thun mit der allmaͤhlichen Umgestaltung, die durch das Spiel zwischen Aufnehmen und Wie- dergeben, Receptivitaͤt und Spontaneitaͤt entsteht. 18* Wollten wir alle drei auf eine Einheit zu bringen suchen, so wuͤrde uns dieß zu weit abfuͤhren. Es fragt sich nur, wozu wir uns entschließen sollen, zur Subsumtion der philologischen unter die doctrinale oder unter die historische? Thun wir das erstere, so wuͤrden wir sagen, die Aufgabe der philologischen sei, ein Urtheil zu faͤllen uͤber die Treue der Überlieferung. Aber dieses Urtheil ist noch nicht die Loͤsung der Aufgabe selbst. Denn wenn ich weiß, hier habe ich einen richti- gen, dort einen unrichtigen Proceß, so ist das erste doch nur auf die Weise der Fall, daß das Einzelne nicht auf gewisse Weise getruͤbt worden ist, und nur in dem Falle, daß dieß ganz und gar nicht statt findet, waͤre eine weitere Loͤsung der Aufgabe un- noͤthig. Habe ich aber einen unrichtigen Proceß, so entsteht die Aufgabe, aus der Schrift die urspruͤngliche Rede herzustellen. Diese Aufgabe aber ist in jener der doctrinalen Kritik noch nicht geloͤst. Subsumiren wir dagegen die philologische Kritik unter die historische, so trifft diese Subsumtion wenigstens die Loͤsung der philologischen Aufgabe selbst. Denn es gilt die urspruͤngliche Thatsache aus den vorhandenen Zeugnissen herzustellen. Dieß scheint nun allerdings besser, aber was gewinnen wir? Wir haͤtten mehr als die Haͤlfte des Ganzen, wenn die historische Kri- tik schon eine durchgearbeitete technische Disciplin waͤre, wenn sie feststehende allgemeine Regeln haͤtte. Das ist aber der Fall ganz und gar nicht. Die historische Kritik ist auch uͤberall nur in ihren Anfaͤngen, denn sie hat keine sichere Theorie, worauf wir die philologische Aufgabe zuruͤckfuͤhren koͤnnten. Indessen haben wir durch die Vergleichung mit der histori- schen Kritik eine Formel gewonnen, worauf wir alle Aufgaben der philologischen Kritik zuruͤckfuͤhren koͤnnen, wenn wir den Fall so stellen, daß es uͤberall die differenten Groͤßen giebt, Thatsache und Relation, und ein zwischen beiden angenommenes Verhaͤltniß, welches auszumitteln ist, ob es richtig ist oder nicht. Die Copie will eine genaue Abschrift des Originals sein. Das Original ist der Gegenstand, die Copie Beschreibung, Relation, das angenommene Verhaͤltniß die Identitaͤt oder voͤllige Überein- stimmung. Nun soll untersucht werden, ob dieß angenommene Verhaͤltniß wirklich statt finde. Es kann einzelnes zweifelhaft sein, oder auch die ganze Schrift, immer aber ist auszumitteln, in welchem Verhaͤltniß die Relation mit der Thatsache steht. So kann man sich die Aufgabe der philologischen Kritik als Ein- heit denken. Allein die philologischen Aufgaben sind im Einzelnen ver- schieden und so auch das Verfahren der Loͤsung. So ist es nothwendig eine richtige Eintheilung zu finden, um die verschie- denen Aufgaben gehoͤrig zu gruppiren. Die vorherberuͤhrte Eintheilung in hoͤhere und niedere Kritik wird verschieden gefaßt. Die Benennung hoͤhere und niedere Kritik kann den Sinn haben, entweder daß die Aufgaben nach ihren Gegenstaͤnden wichtiger und unwichtiger sind, oder ihre Aufloͤsung ein verschiedenes Maaß von Kenntnissen und Talenten voraussezen. Allein wenigstens dieß leztere kann erst nach den Operationen selbst eingesehen werden. Nimmt man die Einthei- lung in dem Sinn, daß die hoͤhere die divinatorische, die nie- dere die urkundliche Kritik genannt wird, so ist zwar dadurch eine Verschiedenheit des Verfahrens oder der Methode angedeutet, aber es fragt sich, ob die Benennung von bestimmten Aufgaben gilt, so daß die einen nur durch diplomatische die andern nur durch divinatorische Kritik geloͤst werden koͤnnen. Dieß aber ist nicht der Fall, sondern die Aufgaben fallen oft in beide Gebiete oder die beiden Methoden des Verfahrens fallen in vielen Aufga- ben zusammen. So werden also durch jene Eintheilung die Aufgaben selber nicht getheilt. Giebt es nun eine andere richtigere Art, die philologischen Aufgaben zu gruppiren? Mehr, Hoͤheres, als Gruppirung, ist, wo man mit Einzelheiten zu thun hat, nicht zu verlangen. Es kommt hier nur aufs Praktische an. Die Aufgaben sind entstan- den und entstehen durch das Verhaͤltniß einer spaͤteren Zeit zu den Produktionen einer fruͤheren, und sind sehr verschiedener Art. Nun fragt es sich, lassen sich diese verschiedenen Aufgaben unter gewissen Hauptdifferenzen zusammenfassen? Wie finden wir diese? Indem wir zuruͤckgehen auf das angenommene Verhaͤltniß zwischen der Relation oder dem Zeugniß und der Thatsache. Da fragt sich nun, auf wievielerlei Weise das angenommene Verhaͤltniß der Identitaͤt verloren gehen, oder auf wievielerlei Weise in ver- schiedenen Faͤllen die Differenz zwischen dem Spaͤteren, welches dem Fruͤheren gleich sein soll, es aber nicht ist, entstehen kann? Wir nehmen die Aufgabe in der oben angegebenen vollen Allgemeinheit, wonach sie z. B. auch im taͤglichen Gespraͤch vor- kommen kann. Die allgemeine Voraussezung des Gespraͤchs ist die Identitaͤt zwischen Gedanke und Wort. Darauf beruht alles Verstaͤndniß. Wie entsteht nun im Gespraͤch das Versprechen? Es kann sehr verschiedene Ursachen haben, und in manchen Faͤllen sehr schwer sein, die wahre zu finden. Wir haben im Gespraͤch zwei Operationen, die des Denkens, die rein psychische, und die des Sprechens, welches auf einer rein organischen Funktion be- ruht. Wir koͤnnen dieß das Mechanische nennen, in Vergleich wenigstens mit der Operation des Denkens. Der Impuls dazu, das was dabei Freiheit ist, ist durchaus nur das Übergehen des Gedachten in die Thaͤtigkeit der Sprachwerkzeuge, welche auf Muskelbewegung beruht, die ihren bestimmten Mechanismus hat. Denken wir uns auch den Impuls des Willens fortwirkend, so unterscheiden wir doch immer dieses Moment der Freiheit und das rein Mechanische. Nun lassen sich Abweichungen des Gesproche- nen und Gedachten denken, deren Grund rein in der mechani- schen Operation liegt, und wiederum solche, wo der Grund auf der psychischen Seite liegt, wo das Versprechen aus gleichzeitigen Gedanken, die zwar nicht in der Reihe liegen, aber momentan eindringen, entsteht. In diesem Falle weiß man leichter selbst um das Versprechen, wie es entsteht. Der Art sind die Na- menverwechselungen. Koͤnnen wir nun dieß ganz allgemein fassen und durchfuͤhren, so koͤnnen wir sagen, die Differenz zwi- schen der Thatsache und der Relation oder dem Zeugniß entstehe entweder auf dem mechanischen Wege, oder durch den Einfluß eines Moments, welches auf dem Gebiet der Freiheit liegt. Eine groͤßere weitere Eintheilung der Aufgabe ließe sich dann nicht denken. Allein es fragt sich eben, ob sich jenes so allgemein sezen lasse? Gehen wir nun von dieser ersten Operation, wenn sich Je- mand versprochen hat und die Aufgabe ist, aus dem Gehoͤrten das Gedachte zu ermitteln, weiter, so kommen wir auf den ana- logen Fall des Verschreibens. Hier haben wir die mechanische Operation der Hand. Durch diese ist etwas entstanden, was nicht geschrieben werden wollte. Damit hat es dieselbe Bewand- niß wie mit dem Versprechen. Betrachten wir aber diesen Fall genauer in der Form, wie er in der Kritik der gewoͤhnlichste ist, nemlich den Akt des Ab- schreibens. Schreibt ein Abschreiber was er gesehen hat, und es ist ein Fehler, so hat er sich eigentlich nicht verschrieben, der Fehler liegt ruͤckwaͤrts in dem, was er gesehen. Aber der Fehler, den er selber macht, kann auf einem Versehen beruhen. Ein hoͤherer Grad der Aufmerksamkeit haͤtte alle solche Fehler verhuͤtet. Der Mangel an Aufmerksamkeit aber ist etwas, was eigentlich nicht auf dem Gebiet der Freiheit liegt. Das Versehen kann auf verschiedene Weise geschehen. Gehen wir dabei von der That- sache aus, was da haͤtte geschrieben werden sollen, so koͤnnen wir zwei Faͤlle unterscheiden: entweder es ist geschrieben, was nicht haͤtte geschrieben werden sollen, oder es ist nicht geschrieben, was haͤtte geschrieben werden sollen. Dieß leztere ist der so haͤu- fige Fehler der Auslassung. Diese kann auf zweierlei Weise ge- schehen. Einmal, wenn zwei Worte gleichen Anfang haben und der Abschreiber aus Versehen das Dazwischenliegende auslaͤßt, oder, wenn zwei Worte gleiche Endung haben und der Abschrei- ber von dem ersten zum zweiten fortschreibt und das Dazwischen- liegende uͤbersieht und auslaͤßt. In beiden Faͤllen ist die Aus- lassung nichts gewolltes und hat ihren Grund in der mechani- schen Operation. Denken wir uns aber, daß ein Abschreiber in seiner Urschrift etwas zwischen den Zeilen oder am Rande geschrieben findet, und ungewiß wird, ob er es einschalten oder uͤbergehen soll. Das Übergeschriebene kann sich zu dem eigentlichen Text verhalten als Veraͤnderung oder Einschaltung. Es haͤtte das Verhaͤltniß be- stimmt sollen angedeutet werden, es ist aber nicht der Fall. Laͤßt der Abschreiber das Eingeschaltete aus, weil er es fuͤr eine Veraͤnderung hielt, oder nahm er die Veraͤnderung auf, weil er es fuͤr eine Einschaltung hielt, so wird im ersten Falle etwas fehlen, in diesem zweimal dasselbe, also zuviel stehen. Eben so bei Randglossen, welche entweder Einschaltungen oder Erklaͤrun- gen sein koͤnnen. In allen diesen Faͤllen beruht die Differenz auf einer freien Handlung, weil auf einem Urtheil uͤber That- sachen. Diese Genesis der kritischen Aufgabe ist von dem Um- fange, der Groͤße dessen was aufgenommen oder weggelassen wird, ganz unabhaͤngig. Was durch bloß mechanische Fehler ausgelassen wird, kann bedeutend groß sein, ganze Zeilen, bedeutend klein dagegen, was durch Freiheit, durch Urtheil aufgenommen oder ausgelassen wird. Nicht auf den quantitativen Unterschied, son- dern auf die Genesis der Differenz kommt es an, wenn Regeln festgestellt werden sollen. Noch ist der Fall besonders zu betrachten, wie ein Zweifel uͤber den Verfasser einer Schrift entsteht. Man denke sich einen Codex, der mehrere Platonische Gespraͤche enthaͤlt, aber nur un- ter ihrer Überschrift, und ohne den Namen des Verfassers, weil man voraussezte, derselbe sei bekannt. Dahinter ist ein anderes Gespraͤch, auch mit seiner Überschrift, aber wie die ersteren, unter derselben Voraussezung, auch ohne Namen des Verfassers. Schreibt nun einer das lezte Gespraͤch allein ab, und sezt, weil er es auch fuͤr ein Platonisches haͤlt, den Namen Platons als des Verfassers daruͤber, so ist das ein Irrthum, der aus einer freien Handlung entstanden ist; derselbe kann sich optima fide fortpflanzen in sonst vollkommen richtigen Abschriften. Es fragt sich nun, ob das Ur- theil der Thatsache entspricht oder nicht, der Dialog von Platon herruͤhrt oder nicht? — Die Frage kann leichter und schwerer zu entscheiden sein. Leicht ist's, wenn ein unwissender Mensch das Urtheil gefaͤllt und den Namen Platons zu einem Werke ge- schrieben hat, welches Niemand fuͤr Platonisch halten kann. Ein solcher Irrthum kann aber noch auf eine andere Art entstehend gedacht werden, wenn nemlich Jemand z. B. in jenem Falle nur fragend oder zweifelnd den Namen Platons an den Rand schrieb, und der Abschreiber einer solchen Handschrift den Namen aufnahm. Da ist auch eine freie Handlung, aber von ganz anderer Art, er hat vielleicht nicht uͤber die Sache nachge- dacht, sondern nur gemeint, weil der Name am Rande stand, gehoͤre er mit hinein. Haͤtte der erstere ein Zeichen der Ungewiß- heit gemacht, wuͤrde der zweite sich nicht versehen haben. Aber man kann sich denken, daß ein aͤhnlich lautender Name aufge- nommen, oder ein den Unterschied zwischen zwei Schriftstellern bestimmender Beiname uͤbersehen und weggelassen worden ist. Da kann denn ein mechanisches Versehen angenommen werden. So laufen in diesem Falle die beiden Entstehungsweisen des Irr- thums ineinander. Die Hauptfaͤlle der philologischen Kritik sind in den obigen Beispielen zusammengefaßt. Wir finden in den wenigsten Faͤllen die beiden Entstehungsweisen unterscheidbar. Um das kritische Verfahren in jedem gegebenen Falle zu bestimmen, muß man auf die eine oder andere Entstehungsweise zuruͤckgehen. Dieß ist immer hypothetisch. Aber die Aufgaben lassen sich nicht anders, als darnach sondern und eintheilen. Wir koͤnnen noch weiter zuruͤckgehen und sagen, dasjenige wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist die Entstehung des Verdachts, daß etwas ist, was nicht sein soll. Wo ein sol- cher Verdacht nicht ist, kann auch kein kritisches Verfahren ein- geleitet werden. Der Verdacht kann gleich von vorn herein entstehen bei einem augenscheinlichen Fehler, wie z. B. im Gespraͤch, wenn Jemand sich verspricht, Namen oder Zahl verwechselnd; er kann aber auch erst spaͤter entstehen bei weiterem Verfolgen der Rede. Sezen wir den Fall, daß einem Autor eine Schrift faͤlschlich beigelegt ist, so koͤnnen sie viele lesen und merken nichts und haben keinen Verdacht. Es kann ein Gegenstand sein, den der genannte Verfasser koͤnnte behandelt haben, auch die Behandlungsweise und Schreibart entsprechen, aber es kommen Umstaͤnde vor, die der Verfasser nicht gewußt haben kann. Es kann also die Schrift nicht von ihm geschrieben sein, außer wenn Verdacht ist, daß die betreffende Stelle nicht von dem Verfasser herruͤhrt, also in- terpolirt ist. Allein jene Umstaͤnde werden von vielen Lesern uͤbersehen. So ist also, um den Verdacht zu bekommen, eine gewisse Qualification des Lesers erforderlich. Kann nun das kri- tische Verfahren nicht entstehen, wenn gar kein Verdacht da ist, so koͤnnte man die Faͤlle oder Aufgaben so theilen, je nachdem der Verdacht entstehen muß oder nicht. Dieß koͤnnte Anlaß ge- ben zu jener Unterscheidung in die hoͤhere und niedere Kritik. — Gehen wir die Faͤlle genauer durch. Wenn z. B. durch ein Versehen des Auges eine Auslassung entstanden ist, so daß der Saz zusammenhangslos und unverstaͤndlich wird, so bekommt jeder leicht Verdacht. Ist durch ein mechanisches Versehen eine Sprachwidrigkeit entstanden, so kann der Fehler oft augenscheinlich sein, oft aber gehoͤrt viel Sprachkenntniß dazu, um den Fehler zu entdecken, zumal wenn die verschiedenen Perioden der Sprache in Betracht kommen. Will man danach hoͤhere und niedere Kritik unterscheiden, so darf man nur nicht auf den Umfang sehen. Eine Kleinigkeit kann eben so viel Sprachkenntniß erfordern, als die Unaͤchtheit einer ganzen Schrift zu erkennen. Man koͤnnte sagen, der, dem kein Verdacht entsteht, wo er entstehen sollte, sei ein unkritischer Mann, und im Gegentheil der ein kritischer, der sich auf den Verdacht versteht. Allein wollte man zur Kritik rechnen, daruͤber Anweisungen zu geben, wie man ein kritischer Mann werde, so wuͤrde man zu weit gehen, denn es concurriren dabei verschiedene Naturanlagen und Grade der Übung. Die Kritik kann sich nur auf den Punkt stellen, zu lehren, was zu thun sei wenn der Verdacht entstanden und an- erkannt sei, und wie man dazu komme, die Differenz zu loͤsen. Jezt koͤnnen wir uͤbersehen, wie die Aufgabe zu theilen sei und wovon man ausgehen muͤsse, um bestimmt und sicher ver- fahren zu koͤnnen. Von der Groͤße des Verdachtes muͤssen wir abstrahiren, denn dieser ist zufaͤllig. Sollen wir nun ausgehen von der Art, wie der Fehler, der Irrthum entsteht, wovon der Verdacht ausgeht, oder wie der Verdacht entsteht? Das leztere haͤngt aber wie ge- sagt von dem ab, was außerhalb der Kritik liegt. Also muͤssen wir ausgehen von der Art, wie der Irrthum, Fehler, entsteht. Davon haͤngen die Regeln des Verfahrens ab. Da muͤssen wir aber ausgehen von der urspruͤnglichen Voraussezung, womit alle Operation der Kritik beginnt, nemlich, dem Verdacht oder der Vermuthung, daß das Vorhandene mit der urspruͤnglichen That- sache nicht uͤbereinstimmt. Theilen wir nun das Geschaͤft, so werden wir dem Obigen zufolge bestimmt sondern die Vermu - thungen , welche auf einen mechanischen Fehler , und die , welche auf eine dazwischen getretene freie Hand - lung , wodurch die Differenz zwischen der Thatsache und Relation veranlaßt oder verursacht ist , schließen lassen . Auf die Weise entsteht eine Analogie mit der Einthei- lung in die niedere und hoͤhere Kritik. Die Aufgabe selbst besteht nun (dort wie hier) aus zwei Momenten, dem Erkennen des Fehlers und der Wiederherstellung des Urspruͤnglichen. Da aber die Erklaͤrungsgruͤnde in jenen bei- den Haupttheilen verschieden sind, so muß jenes die Hauptein- theilung bleiben. Erster Theil . Kritik der mechanischen Fehler. W ir fragen hier zuerst, welches ist der allgemeinste Fall, wo der Verdacht einer Differenz zwischen Relation und urspruͤnglicher Thatsache entsteht? Sezen wir nun, wie oben gesagt, die Abschrift als Relation und die Urschrift als urspruͤngliche Thatsache, — so ist der allge- meinste Fall oder Ausdruck des kritischen Verdachts der, daß wenn ein Saz in einer Schrift keinen geschlossenen Sinn giebt, d. h. kein wirklicher Saz ist, die bestimmte Vermuthung entsteht, daß die urspruͤngliche Thatsache alterirt worden ist, denn Niemand will etwas schreiben, was nicht einen geschlossenen Sinn giebt. Dieß ist die Formel fuͤr die Faͤlle, wo immer auf einen mechanischen Fehler zuruͤckgeschlossen werden muß, weil man durchaus nicht voraussezen kann, daß Jemand einen Saz unverstaͤndlich machen will, sondern nur, daß er einen andern Sinn hineinzulegen sucht. — Der Ausdruck ist auch fuͤr den Fall guͤltig, daß Jemand sich in der Urschrift verschreibt, wie wenn sich Jemand verspricht, und der Saz sinnnlos wird. Ein anderer Fall ist, wenn wir mehrere Relationen von derselben Thatsache haben, mehrere Abschriften von einer Urschrift. Da kann ein Verdacht entstehen ganz unabhaͤngig davon, ob eine Stelle Sinn giebt oder nicht, wenn sie nemlich in mehreren Handschriften zwar in jeder einen Sinn hat, aber in jeder einen andern. Es giebt dann wenn wir zwei Lesearten haben zwei Moͤglichkeiten, es kann eine falsch sein, oder alle beide. Entsteht so der Verdacht eben nur durch Vergleichung von mehrern Rela- tionen, so ist auch nicht alles Absichtliche ausgeschlossen, es kann sowol freie Absicht dazwischen getreten sein, als mechanische Feh- ler. Da in diesem Fall der Verdachtsgrund in der Differenz der Relationen liegt, so ist die Aufgabe, zwischen den Differenzen zu entscheiden. So haben wir also zu unterscheiden solche Aufgaben , die aus der Ansicht einer Schrift fuͤr sich , und solche , die nur aus der Vergleichung mehrerer entstehen . Die ersteren beruhen auf der allgemeinen Thatsache, daß mecha- nische Fehler vorkommen, die lezteren sezen voraus, daß von der Urschrift mehr Abschriften gemacht und diese verschieden sind. Diese sind dann wie verschiedene Zeugnisse zu vergleichen. Hier treten nun wieder zwei Aufgaben und zweierlei Ver- fahren ein. Die eine Aufgabe ist, wenn uns die Thatsache eines Fehlers bestimmt entgegentritt, wie ist dann zu verfahren? Die andere ist, Fehler zu entdecken, die sonst nicht entdeckt sein wuͤrden. Es kann sein, daß in einer Handschrift gar nichts vor- kommt, was Verdacht erregt, aber die Moͤglichkeit von Fehlern ist im Allgemeinen immer vorhanden, die Vielheit der Abschriften und ihre Verschiedenheit zeigt, wenn wir vergleichen, daß wirklich Fehler vorhanden sind. Wir haben also die doppelte Aufgabe, erstlich die Differenzen , Fehler zu entdecken , zwei - tens uͤber die Differenzen zu entscheiden , also das Urspruͤngliche zu bestimmen . Betrachten wir nun den einfachsten Fall, wenn im Fortlesen einer Schrift der Verdacht eines Fehlers entsteht. Hier muͤssen wir die Aufgabe theilen ihrem Inhalte nach, dann die Aufloͤsung, je nachdem es eine Differenz in der Verfahrungsart giebt. Der allgemeinste Ausdruck des Verdachts ist, daß eine Stelle vorkommt, die keinen geschlossenen Sinn giebt. Hier ist wieder zweierlei moͤglich, der Saz giebt entweder keinen logisch oder kei- nen grammatisch geschlossenen Sinn. Das lezte kann statt finden ohne das erste. Es koͤnnen z. B. in einem Saze Substantiv und Adjectiv grammatisch nicht zusammenstimmen, aber die Zusam- mengehoͤrigkeit beider, der logische Sinn kann dabei unzweifelhaft sein; der Fall, wenn der logische Sinn nicht geschlossen ist, ist der moͤglich schwerere, weil beim Fehlen des logischen Zusammenhangs eine unendliche Menge von Moͤglichkeiten entsteht. Nur der Zusam- menhang enthaͤlt Indikationen, was gemeint sein kann. So ist also die Aufgabe unbestimmt. Ist dagegen der Saz logisch be- stimmt, aber nicht grammatisch, so ist die Aufgabe einfacher, sie liegt dann rein in der Abwandlung der Formen und in den grammatischen Regeln. Steht das Substantiv richtig, so muß das Adjectiv dem gemaͤß gemacht werden, eben so, wenn die Conjunction gewiß ist, bestimmt sich leicht der Modus. Aber bei der Praͤposition und dem Casus kann man schwanken, weil meh- rere Praͤpositionen mit verschiedenen Casus gebraucht Gleiches be- deuten koͤnnen. Fuͤr die hermeneutische Operation kann es bis auf einen gewissen Punkt gleichguͤltig sein, ob ich die kritische Aufgabe vollkommen richtig loͤse oder nicht. Allein rein philologisch betrachtet in Beziehung auf die Gesammtheit der Sprache ist es nicht gleichgluͤltig. So entsteht also die Aufgabe, aus den verschiedenen Moͤglichkeiten herauszufinden und zu bestimmen, was sowol der Sprache als dem Sinne gemaͤß ist. Um nun sicher zu sein, daß das Urspruͤngliche getroffen ist, wird, da hier eben nur ein mecha- nischer Fehler vorgefallen ist, nothwendig, mehrere Abschriften zu vergleichen. Hier tritt der Unterschied der urkundlichen und di- vinatorischen Kritik hervor. Sind mehrere Abschriften vorhanden, eine aber von diesen hat den Fehler nicht, so hat diese die Praͤsumtion des Urspruͤnglichen fuͤr sich und die Aufgabe ist geloͤst. Haben wir aber nur eine Handschrift, so ist die Entscheidung nur aus innern Gruͤnden moͤglich. So kann und muß also dieselbe Auf- gabe in gewissen Faͤllen aus inneren, in andern aus aͤußeren Gruͤnden geloͤst werden. Die Entscheidung aus aͤußeren Gruͤnden hat natuͤrlich den Vorzug. Aber es giebt Faͤlle, wo die Entschei- dung aus inneren Gruͤnden vollkommen eben so sicher ist, wenn der Sinn logisch bestimmt ist und der vorhandene grammatische Fehler mit grammatischer Nothwendigkeit corrigirt werden kann, d. h. wenn nur eine grammatische Moͤglichkeit da ist. Die Entscheidung aus aͤußeren Gruͤnden kann sehr leicht eine solche sein, daß die Aufgabe fuͤr die hermeneutische Operation geloͤst zu sein scheint. Allein es ist moͤglich, daß in andern Hand- schriften an derselben Stelle etwas anderes steht. Dadurch wird man in die Nothwendigkeit versezt, zwischen dem einen und andern zu entscheiden. So lange nun nicht die Urkunden in der Vollstaͤndig- keit vorliegen, daß wir sagen koͤnnen, die Abschriften zusammen- genommen repraͤsentiren die Urschrift vollstaͤndig, so daß sie ihre Fehler sich gegenseitig aufheben, ist die Entscheidung unvollkom- men und immer nur provisorisch. Apodiktisch ist die Entscheidung allein, wenn die grammatische Nothwendigkeit da ist. Aber die Faͤlle sind erstaunlich verschieden, und das Verfahren gar nicht immer so einfach. Wir haben in dem Obigen den Fall des grammatisch und logisch nicht Geschlossenen nur auf die allgemeine logische Form des Sazes und die allgemeinen grammatischen Regeln bezogen. Allein es koͤnnen nun viel individuellere Faͤlle vorkommen. Es kann ein Saz fuͤr sich logisch geschlossen sein, aber man kann doch mit der groͤßten Gewißheit behaupten, daß er einen Fehler haben muͤsse, weil er so wie er ist entweder nicht in den Zusam- menhang paßt oder nicht fuͤr einen Saz des bestimmten und be- kannten Verfassers gehalten werden kann. Eben so kann ein Saz grammatisch geschlossen und richtig erscheinen und doch ein Fehler darin stecken; in Beziehung auf die allgemeinen Sprachge- seze kann er geschlossen sein, aber nicht in Beziehung auf die be- sondern Sprachbedingungen, unter denen die Schrift entstanden ist. Der Verdacht geht in diesen Faͤllen aus von der hermeneu- tischen Operation, er ist gebunden an die Vollkommenheit, wo- mit man die hermeneutische Operation zu vollziehen strebt. So entstehen dem mit seinem Schriftsteller vertrauten aufmerksamen und geuͤbten Leser Verdachtsfaͤlle, wie sie fuͤr andere nicht ent- stehen. Je mehr sich so die Aufgabe vermannigfaltigt, die Faͤlle spezieller werden, desto weniger reicht das allgemeine Verfahren hin, es muß spezieller und individueller werden. In der weiteren Eroͤrterung der Aufgaben kommt nun zunaͤchst das Verhaͤltniß der beiden Methoden, der urkundlichen und divi- natorischen, in Betracht, um so mehr, da man einseitig die eine wie die andere uͤberschaͤzt hat. So wie wir im Lesen auf eine Abnormitaͤt stoßen, welche einen mechanischen Fehler vermuthen laͤßt, und zwar auf eine grammatische Abnormitaͤt, so ist die Frage, habe ich zur Loͤsung der Aufgabe noͤthig noch irgend etwas anderes einzusehen? Be- trachtet man die Sache nur in Beziehung auf die hermeneutische Aufgabe, so hat man in solchen Faͤllen nicht noͤthig, das Rich- tige erst wieder herzustellen. Nur der nothwendige Sinn wird festgestellt. In den leichteren Faͤllen wenigstens ist in der gram- matischen Abnormitaͤt selbst, verglichen mit den Regeln, schon ge- geben, was sein muß. Da ist denn kaum was geschieht eine Loͤ- sung durch die divinatorische Methode zu nennen. Denken wir uns nun aber schwierigere Faͤlle, wo eine logische Abnormitaͤt ist, der Sinn logisch nicht geschlossen ist, so kann sich der nothwen- dige Sinn aus dem Zusammenhange ergeben. Sobald ich das weiß, frage ich nun, wie kann dieser Sinn urspruͤnglich ausge- druͤckt gewesen sein? Betrachte ich den Fall lediglich in Bezie- hung auf die hermeneutische Aufgabe, so kann mir gleichviel sein, ob die Differenz zwischen dem Hergestellten und Urspruͤnglichen ein Minimum oder groͤßer ist. Von diesem Gesichtspunkte aus kann ich sagen, das urkundliche Verfahren, das Vergleichen von andern Handschriften, ist nur in den Faͤllen noͤthig, wo das divinatorische nicht eintreten kann, d. h. wo nicht bestimmte Auf- gaben genug sind, um zu entscheiden, welches der Sinn des Schriftstellers gewesen. Aber haͤtte die Kritik keine andere Beziehung, als auf die hermeneutische Aufgabe, und zwar in der Beschraͤnkung, daß es nur darauf ankommt, den Sinn einer vorliegenden Stelle richtig aufzufassen, dann wuͤrde unser ganzes philologisches Verfahren bald in eine ungeheure Confusion gerathen. Denn dann ist es gleichguͤltig, ob ich richtige oder unrichtige Abschriften habe, wenn ich nur den Sinn habe. Allein eben dieß waͤre auch ganz unter dem Begriff der wahren Hermeneutik. Da kommt es doch auch auf das Verhaͤltniß des Verfassers zur Sprache an. Um dieß aber zu erkennen, muß auch bestimmt gewußt werden, was wirk- lich urspruͤnglich gestanden hat. Da darf also nicht unentschieden gelassen werden, ob die Differenz von dem Urspruͤnglichen ein Mi- nimum oder groͤßer ist. Es bleibt sonst eine leere Stelle fuͤr das Verhaͤltniß des Verfassers zur Sprache und je mehrere solche leere Stellen ich erhalte, desto weniger kann ich ein Bild von dem Verhaͤltniß im Ganzen bekommen, und desto unsicherer wird das ganze Bild von der Litteratur und Sprache. Ist nun vom philologischen Gesichtspunkt aus nichts unnoͤthig oder unwichtig, so stellt sich die Aufgabe so, bei der Restitution des Richtigen nach der groͤßten Genauigkeit und Gewißheit zu streben. Dazu kommt, daß fuͤr die Kritik die Schrift auch außer der Sprache etwas fuͤr sich ist und ihr Positives hat, was wenn wir von der Schrift abstrahiren in der Rede nicht zum Vorschein kommt. So in der franzoͤsischen, wo einzelne Laute, ja ganze in der Schrift erscheinende Sylben verschluckt werden. Eben so kommt im Griechischen das iota subscriptum in der Rede nicht vor. Fuͤr die Schrift aber ist dieß etwas Positives. Es wird Niemand sagen koͤnnen, daß, wenn wir die ganze kritische Ope- ration als Ergaͤnzung eines historischen Factums ansehen, das positiv in der Schrift Gegebene gleichguͤltig waͤre, sondern gerade die Loͤsung der kritischen Aufgabe fordert oft in den einfachen Faͤllen am meisten die Kenntniß jenes Positiven. Denn wenn ich nicht weiß, daß dieß oder jenes geschrieben worden, so fehlt mir die Leitung, aus dem, was ich als Urspruͤngliches supponire, das Falsche zu erklaͤren, was ich oft nur aus den Schriftzuͤgen kann, zu denen diese positiven Elemente gehoͤren. Nun ist es auch fuͤr die Geschichte der Sprache bedeutend zu wissen, wie in ver- schiedenen Zeiten die Schrift sich zur Sprache verhalte. Die Schrift Hermeneutik u. Kritik. 19 hat ihre eigene Geschichte. Es gehen Veraͤnderungen in ihr vor unabhaͤngig von den Veraͤnderungen in der Rede. Aber jene Veraͤnderungen sind doch wesentliche Momente in der Totalitaͤt der Sprachgeschichte. Von diesem Standpunkte aus erscheint die urkundliche Kritik in ihrem ganzen Umfange. Stellen wir die philologische Aufgabe so, die Geschichte der Sprache und Schrift genau zu erforschen, so ist alles zu verglei- chen, was von Schriften geblieben ist. Das ist aber die Auf- gabe der Diplomatik, wovon die Palaͤographie nur ein Theil ist. Dabei ist der Inhalt der Schrift ganz gleichguͤltig. Jene Aufgabe besteht auch fuͤr sich. Die Aufloͤsung der kritischen Auf- gabe durch Vergleichung mehrerer Abschriften ist nur eine Anwen- dung davon. Gehen wir zu unsrer kritischen Aufgabe zuruͤck, so sind die Faͤlle, welche im Lesen einer alten Schrift entstehen koͤnnen, sehr verschiedener Art. Die einfachsten sind die, wenn die Aufgabe durch das zu loͤsen ist, wodurch sie entsteht. Entsteht z. B. die Aufgabe durch einen grammatischen Fehler, so loͤse ich sie auch durch die Grammatik. Bezieht sich dagegen die Aufgabe auf eine Wendung, einen Ausdruck, der sonst nicht bei einem Schrift- steller vorkommt, so muß er durch eine fremdartige Analogie entstanden sein, und der einfachste Fall ist dann der, wenn sich die Aufgabe eben durch die Analogie loͤst. Diese aber muß ich kennen, sowol die allgemeine als die spezielle des besonderen Schriftstellers. Denkt man sich aber, daß Jemand, der in einer Abschrift Fehler gefunden, so verfahren ist, daß er das Ganze ausgedruͤckt hat, wie ihm der Sinn vorkam, oder wie es ihm als Minimum von Differenz erschien, so kann so viel Fremdes hereingekommen sein, daß mit Sicherheit gar keine Analogie uͤber die Sprachweise des Schriftstellers aufgestellt werden kann. Da ergiebt sich von Neuem, daß das unmittelbare hermeneutische Beduͤrfniß nicht das Maaß der kritischen Operation sein kann. Fragt man nun, wie sich das urkundliche Verfahren zu dem divinatorischen verhaͤlt, so ist jenes die eigentliche Basis der Kritik, das divinatorische nur zum Behuf der unmittelbaren hermeneuti- schen Operation, wo das beurkundende nicht ausreicht. Kommt man bei einem Schriftsteller auf eine verdorbene Stelle, und man hat dann nur eine Ausgabe, so entsteht die Conjectur, also das divinatorische Verfahren. Giebt es aber einen zugaͤnglichen kriti- schen Apparat, und man behandelt die Sache mit philologischem Sinne nicht bloß in Beziehung auf die verdorbene, unverstaͤnd- liche Stelle, so ist das urkundliche Verfahren nothwendig. Ist ein mechanischer Fehler vorauszusezen, so ist auch zu untersuchen, wie der Fehler entstanden sein kann. Dieses Verfahren geht auch wol in das divinatorische uͤber. Man kann die verschiedenen Le- searten ansehen als die bekannten Groͤßen zu der wahren unbe- kannten Groͤße der urspruͤnglichen Leseart. Der Kanon, daß das divinatorische Verfahren nur dann zuzulassen sei, wo es an urkundlichen Mitteln fehlt, oder gar, daß, wo es nicht an diesen fehlt, man nicht befugt sei, das divinatorische Verfahren anzuwenden, und man muͤsse dann bei dem besten, was die Handschriften geben, bleiben, dieser Kanon gilt nicht absolut, ja er darf so gar nicht aufgestellt werden, weil da- bei das hermeneutische Interesse zu kurz kaͤme. Die wahre Ab- schaͤzung beider Methoden richtet sich nach den jedesmaligen Be- ziehungen. Von dem allgemeinen philologischen Gesichtspunkt ist das urkundliche Verfahren eine Aufgabe fuͤr sich. Aber es wird in diesem auch wieder ein divinatorisches geben, je nachdem sich die Aufgabe stellt. Gehen wir auf den Standpunkt zuruͤck, wovon wir ausgingen, und constituiren uns als bloße Leser, so daß wir kein anderes Interesse haben, als mit dem Bewußtsein, der Befriedigung weiter gehen zu koͤnnen, so koͤnnen wir die kritische Aufgabe ganz zur Seite liegen lassen. Allein dieß ist nicht der Gesichtspunkt, aus welchem sich die Kritik als Wissenschaft behan- deln laͤßt. Haben wir einen Schriftsteller, bei dem es nur auf den Inhalt ankommt, dessen Sprachbildung kein besonderes In- teresse hat, so kann man am leichtesten uͤber die kritischen Auf- gaben weggehen, sobald man das Mangelhafte auf hermeneuti- 19* schem Wege gebessert hat. Dagegen gewinnt bei einem Schrift- steller, dessen Sprachbildung fuͤr die ganze Sprache von Werth ist, auch das Interesse zu wissen, was er wirklich geschrieben hat. Da ist also die kritische Aufgabe zu loͤsen. Als bloßer Leser kann man sich mit dem divinatorischen Verfahren um so mehr begnuͤ- gen, je mehr man sich mit der Sprachweise des Schriftstellers vertraut glaubt, so daß man nach sicherer Analogie entscheiden kann. Also koͤnnen wir im Allgemeinen sagen, daß, nimmt man die hermeneutische Aufgabe in ihrer Unmittelbarkeit, in sehr vielen Faͤllen die kritische Aufgabe gar nicht entsteht; erst vom allgemei- nen philologischen Standpunkte aus bekommt die kritische Aufgabe ihren wahren tieferen Sinn und ihre innere Nothwendigkeit. Es giebt Faͤlle, wo im Lesen keine kritische Aufgabe zu ent- stehen scheint, weil wirklich ein bestimmter Sinn da ist, der auch dem Zusammenhange entspricht. Gleichwol kann es sein, daß das, was man liest, nicht wirklich vom Schriftsteller herruͤhrt. Man hat also falsche Elemente fuͤr die Anschauung der Sprache des Schriftstellers, woraus dann Irrthuͤmer entstehen. Hier kann die Ausscheidung nur durch die urkundliche Kritik entstehen. Wie aber steht hier nun beides zu einander, das urkundliche und divinatorische Verfahren? Sollen wir sagen, das verglei- chende, urkundliche Verfahren solle bei der Voraussezung mecha- nischer Fehler so lange fortgesezt werden, bis eine divinatorische Entscheidung nicht mehr vorkommen kann? Das wuͤrde voraus- sezen, daß die Aufgabe durch das urkundliche Verfahren vollkom- men geloͤst werden koͤnne. Diese Voraussezung aber ist nicht rich- tig. Es werden die unmittelbarsten Aufgaben nicht durch die urkundliche Kritik geloͤst, die divinatorische ist immer eine unent- behrliche Huͤlfe. Allein wenn wir von diesem Standpunkte aus- gehen, erscheint die divinatorische Kritik eben nur als Nothbehelf. Suchen wir nun die Endpunkte des urkundlichen Verfah- rens naͤher zu bestimmen und fangen mit denen an, wo es nicht Statt findet. Haben wir z. B. ein eben erschienenes Buch, so ist vorauszusezen, alle Exemplare seien einander gleich. Es kom- men Exemplare vor, in denen nachtraͤglich waͤhrend des Druckes Druckfehler bemerkt sind. Aber im Allgemeinen, und wenn das nicht ausdruͤcklich bemerkt ist, sezen wir die Identitaͤt der Exem- plare voraus. Findet man nun doch einen Fehler, so koͤnnen wir hier das vergleichende urkundliche Verfahren nicht anstellen, weil die Handschrift des Verfassers, woraus alle gedruckten Exemplare geflossen sind, nicht zugaͤnglich ist. Hier sind wir also bei jedem Druckfehler bloß an das divinatorische Verfahren gewiesen. Haben wir dagegen mehrere Auflagen, nicht Ausgaben, und zwar von verschiedener Druckprocedur, so entsteht die Moͤglichkeit, daß die einen Fehler haben, welche die andern nicht u. s. w. Hier kann also verglichen werden. Schon bei diesem Minimum von Differenz kommt das vergleichende urkundliche Verfahren in Be- tracht, und nur in dem Maaße, als das divinatorische eine ab- solutschlagende Gewißheit giebt, kann man sich des urkundlichen enthalten. Gehen wir jenseits des Gebrauchs der Buchdruckerei zuruͤck, so haben wir, weil bei den Handschriften immer die Veran- lassung zu mechanischen Fehlern ist, immer die Aufgabe des ur- kundlichen Verfahrens, sobald nicht die Aufgabe in einen weiteren Gesichtskreis tritt. Hier entsteht aber die Frage, verhaͤlt sich alles in dieser Be- ziehung gleich, was aus dem Alterthum herruͤhrt? Stellen wir uns auf den allgemeinen philologischen Stand- punkt, so kommt es darauf an, zunaͤchst wie die Sprache in allen ihren verschiedenen Perioden ist behandelt worden. Es ist dann nothwendig die Schreibweise des Schriftstellers genau zu erforschen. Zu dem Ende aber muß man wissen, aus welcher Zeit der Ver- fasser ist, das Verfahren waͤre sonst null. Da beschraͤnkt sich also schon die Aufgabe. Ferner, wenn der Verfasser keinen schrift- stellerischen Charakter hat, also keine Constanz im Sprachgebrauch, so kann kein Resultat herauskommen, welches fuͤr die allgemeine Aufgabe von Bedeutung waͤre. Ein solcher kann eben so gut die Weise seiner Zeit repraͤsentiren, als regellos bald so bald so schreiben. So kann es mehrere Produkte geben, von denen wir gestehen muͤssen, daß das philologische Verfahren anzuwenden eben keinen besonderen Nuzen gewaͤhre, der dem Aufwande von Kraft und Zeit entspraͤche. Also beschraͤnkt sich auch hier die Aufgabe. Nun entsteht aber eine Nebenaufgabe. Das Abschreiben ist eine mechanische Operation, die bald auf diese bald auf jene Weise kann getrieben werden. Die Buchstabenschrift hat zu verschiede- nen Zeiten ihre verschiedenen Gestaltungen, welche auch verschie- dene mechanische Irrungen hervorbringen kann. Ist die Differenz der Zeit zwischen der Urschrift und Abschrift bekannt, und giebt es in dieser Zwischenzeit verschiedene Gestaltungen der Schrift, so ist moͤglich, daß jede Irrung ihre eigene Geschichte hat. Es koͤn- nen Irrungen aus ganz verschiedenen Zeiten herstammen. Um dieß zu wissen, werden palaͤographische Kenntnisse und Studien erfordert. Es giebt Schriftzeichen, die mit der grammatischen Position der Woͤrter zusammenhaͤngen, die aber in verschiedenen Zeiten ver- schieden sind. Sobald nun eine Abschrift mehr dem Charakter ihrer Zeit, als dem der Urschrift folgt, entstehen ganz neue und zusammengeseztere Irrungen. Hier finden wir also die unmittel- bar philologische Aufgabe, die Geschichte der Sprache und Schrift in ihren verschiedenen Existenzialverhaͤltnissen zu erforschen. Die Vergleichung der Urkunden hat zugleich wieder den Zweck, jene geschichtlichen Momente festzustellen, weil wir sie eben nur in diesen Überbleibseln haben, wozu die Schriftsteller, die daruͤber geschrieben haben, nur Complemente sind. Da kann ein Schrift- steller, der an und fuͤr sich wenig Bedeutung hat und in schrift- stellerischer Hinsicht keine Muͤhe belohnt, doch in palaͤographischer Hinsicht von großem Werthe sein. So entstehen Gesichtspunkte und Werthe, die man von dem einfachen hermeneutischen Stand- punkte aus gar nicht findet. Das palaͤographische Studium fuͤr sich ist ein rein historisches, man kann es eigentlich nicht mehr zur Kritik rechnen. Aber es kann ohne Kritik nicht bestehen, weil zu beurtheilen ist, ob eine vorkommende Form zu einer ge- wissen Zeit wirklich uͤbliche Form gewesen oder ein Fehler des Abschreibers ist. Fragen wir nun, kann man sich in der Loͤsung der kritischen Aufgabe unter allen Umstaͤnden immer dasselbe Ziel sezen? Vom allgemeinen philologischen Standpunkte aus haben wir, wie gesagt, immer das Interesse, zu fragen, wie der Schriftsteller urspruͤnglich geschrieben habe. Koͤnnen wir dieß in allen Faͤllen ausmitteln? Wir unterscheiden die divinatorische und urkundliche Me- thode. Weiß man genau, wie zur Zeit des Schriftstellers geschrie- ben ist, und kann man seinen Sprachgebrauch sicher bestimmen, so kann man sich mit der divinatorischen Kritik jenes Ziel sezen, zu bestimmen, wie der Verfasser urspruͤnglich geschrieben habe. Aber wie viel gehoͤrt dazu, um jene Voraussezungen mit Sicher- heit zu machen! Was die urkundliche Methode betrifft, so giebt es allerdings oft Faͤlle, wo sie sich jenes Ziel nicht sezen kann. Nemlich die Faͤlle, wo wie bei Homer zweifelhaft ist, ob es je- mals eine Urschrift gegeben, oder wo die Zeitdifferenz zwischen der Urschrift und den aͤltesten Abschriften, die wir haben, bedeutend groß ist, so daß eine Menge von Zwischenpunkten fehlen, wo unbekannte Quellen von Fehlern liegen koͤnnen, und kein Übergang zur Urschrift in Beziehung auf mechanische Fehler zu entdecken ist, — in solchen Faͤllen ist jene Aufgabe durchaus nicht mehr zu loͤsen, und man muß sich, wie z. B. bei den Homerischen Werken, be- gnuͤgen, auf die Schreibweise der Alexandrinischen Grammatiker zuruͤckzugehen. Hier sind also die verschiedenen Interessen zu son- dern, das hermeneutische und das allgemein philologische. Das leztere kann sich eine Grenze sezen, womit sich die hermeneutische Aufgabe nicht begnuͤgen kann. Darnach ist denn das Verfahren nothwendig verschieden. Haben wir von einem alten Schriftsteller einen gedruckten Text vor uns, so ist die Frage natuͤrlich, wie dieser entstanden sei? Es sind verschiedene Verfahrungsweisen denkbar. Weiß ich nicht, wie und nach welchen Regeln und Gesichtspunkten der Her- ausgeber mit dem Texte verfahren ist, so kann ich auch seinen Text nicht richtig behandeln. Wir muͤssen, um jenes zu erfahren, die verschiedenen Faͤlle construiren, aber die Construction der ver- schiedenen Faͤlle fuͤhrt auf verschiedene Verfahrungsweisen und deren Regeln zuruͤck. Diese sind dann in Beziehung auf ihre Zweckmaͤßigkeit zu vergleichen. Diese Frage aber ist ohne die Ver- gleichung zwischen dem Falle, wo ich einen gedruckten Text, und dem Falle, wo ich eine einzelne Handschrift habe, nicht zu beant- worten. Ist nun zwischen diesen beiden Faͤllen immer ein Un- terschied? Oder giebt es auch Faͤlle, wo der Unterschied verschwin- det? Das leztere kann statt finden, wenn ein Schriftsteller aus einer einzelnen Handschrift abgedruckt ist und mit moͤglichster Ge- nauigkeit. Die Differenz aber verschwindet nur dann voͤllig, wenn die Zeichen des Drucks sich ganz an die Zeichen der Handschrift halten. Da ist als haͤtten wir eben nur eine einzelne Handschrift. Sezen wir die verschiedenen Faͤlle eines gedruckten Textes selbst, und zwar zuerst den einfachsten, daß ich weiß, das gedruckte Exemplar stellt eine bestimmte Handschrift des Werkes dar. In diesem Falle ist mir die ganze kritische Aufgabe uͤberlassen, weil ich alle Ursache habe vorauszusezen, daß in diesem Exemplare mechanische Irrungen sind. Ein zweiter Fall ist der, daß das gedruckte Exemplar durch eine Beurtheilung entstanden ist, deren Principien ich nicht kenne. Da bin ich noch schlimmer daran. Denn ich weiß nicht einmal, was einen urkundlichen Grund hat, und was nur auf einer mir nicht bekannten Einwirkung beruht. Es kann z. B. sein, daß der Herausgeber ein Paar Handschriften vor sich gehabt und aus jeder nahm, was ihm darin befriedigender schien als in der andern. Er hat auch wol die divinatorische Methode angewendet, wenn ihm etwas dem Sinn und den Verhaͤltnissen des Buches ange- messener oder nothwendig schien. Ist nun hier Urkundliches und Nichturkundliches, u. s. w. untereinander und so, daß sich die Verhaͤltnisse nicht unterscheiden lassen, so ist dieß die schwierigste Aufgabe der Kritik. Solche so gemachte Ausgaben sind kritisch ganz unbrauchbar und nur dazu brauchbar, um sich des Inhalts des Buches im Großen und Groben zu versichern; an genaue, sichere Kenntniß des Einzelnen ist da gar nicht zu denken. Ist nun gar der Inhalt eines so edirten Werkes zugleich Gegenstand des Streites, so ist der Verdacht unabweisbar, daß der Heraus- geber, zumal wenn er an dem Streit Theil nimmt, manches fuͤr falsch gehalten, was richtig, und manches fremdartige hineinge- bracht. Unter solchen Umstaͤnden sind solche Ausgaben gaͤnzlich zu perhorresciren. Ein dritter Fall ist, daß wir ein gedrucktes Exemplar haben, wobei wir wissen, daß der Herausgeber keine willkuͤhrliche Ände- rungen gemacht. Der Herausgeber hat aus aͤlteren Handschriften geschoͤpft und aus diesen Quellen nach seiner Überzeugung immer das Beste genommen. Allein er hat die Quellen, woraus er genommen, nicht angegeben, und uns nicht in den Stand gesezt, jedes Einzelne auf seine bestimmte Quelle zuruͤckzufuͤhren. In diesem Falle wissen wir zwar, daß nichts im Text steht, was nicht schon einmal vorhanden war, nichts, was nicht urkundlich waͤre, allein auch eine solche Ausgabe ist fuͤr das philologische Interesse, wie fuͤr die einfache hermeneutische Operation, immer unzureichend. Sie gewaͤhrt fuͤr die genaue Kenntniß der urspruͤg- lichen Schreibweise keine Sicherheit, auch koͤnnen, wenn aus ver- schiedenen Abschriften der Text zusammengestellt ist, verschiedene Arten der Zusammenstellung gedacht werden, die einen verschiede- nen Sinn geben, wenigstens was die Staͤrke oder Schwaͤche des Ausdruckes betrifft. Wir sind dann in dem Falle, den Verfasser und den bloßen Leser, der die Zusammenstellungen gemacht hat, nicht gehoͤrig unterscheiden zu koͤnnen. Wenn also schon verschiedene Gestalten desselben Buches existiren, die wenn auch nur in Kleinigkeiten abweichend sind, so ist ein vollstaͤndiger philologischer Gebrauch nur moͤglich unter der Bedingung eines kritischen Apparats. Dieser muß zweierlei enthalten, einmal die Genesis der aufgenommenen Leseart, sodann die Gesammtheit aller kritischen Differenzen. Das erstere reicht nicht aus. Denn, um das kritische Urtheil des Herausgebers pruͤfen und seine Operation nachconstruiren zu koͤnnen, muß ich alles das, was er vor sich hatte, auch vor mir haben. Nun laͤßt sich dieß aber offenbar nur bei einer gewissen Beschraͤnktheit der vorhandenen Huͤlfsmittel leisten, wenn es sich um Verglei- chung von drei oder vier Handschriften handelt. Wir koͤnnen bei einer besonders bedeutenden Stelle die Darstellung wol erweitern, aber beschraͤnkt muß doch der Apparat sein, wenn er brauchbar sein soll. Die Verkuͤrzung des Materials ist z. B. in dem Falle ganz in der Ordnung, wenn alle Handschriften bis auf zwei uͤbereinstimmen. Da braucht eben nur diese Differenz angegeben zu sein, von den andern folgt dann, daß sie mit dem Texte Gleiches haben. Denken, wir aber den Fall einer großen Menge von Handschriften, und unter ihnen eine große Mannigfaltigkeit der kritischen Differenz, wollte man da alle diese Differenzen zu- sammenstellen, so wuͤrde der Apparat eine ungeheure Masse wer- den. Muͤßte man dann fuͤr jeden einzelnen Fall die ganze Masse durcharbeiten, so wuͤrde die Aufgabe in jeder Beziehung eine un- endliche werden. In diesem Falle ist die Vollstaͤndigkeit des Appa- rats nicht zu erreichen und auch nicht heilsam. Was soll dann aber geschehen, um die moͤglichste Sicherheit hervorzubringen und die Leser in den Stand zu sezen, sich aus allem Vorhandenen ein Urtheil zu bilden? Es ist dann noͤthig, daß sich der Heraus- geber erst mit dem Leser uͤber gewisse Hauptpunkte verstaͤndigt, nemlich uͤber die Gruͤnde, warum er auf diese oder jene Hand- schriften keine Ruͤcksichten nimmt, andere dagegen besonders hoch- schaͤzt. Es giebt offenbar verschiedene Principien und verschiedene Gesichtspunkte bei der Anlegung eines kritischen Apparats. Sezen wir den Fall, daß eine Schrift in einer Controverse liegt. Sagt nun der Herausgeber, er schließe solche Handschriften aus und nehme in streitigen Faͤllen auf sie gar keine Ruͤcksicht, eben weil sie mit in der Controverse gesteckt, und deßhalb Gefahr sei, daß in ihnen der Sinn des Schriftstellers alterirt worden, so werden einige Leser zufrieden sein, andere nicht. Diese koͤnnen sagen, jene Ausschließung sei ganz recht da, wo die Differenzen mit der Controverse zusammenhaͤngen, wo aber dieß nicht statt finde, da seien auch solche Handschriften nuͤzlich. Eben so ist es, wenn der Herausgeber alle spaͤteren Handschriften, eben weil sie spaͤtere sind, ausschließt. Einige werden zufrieden damit sein, weil die spaͤteren Handschriften allerdings an sich einen irrigeren Text ver- muthen lassen, zumal wenn die benuzten Handschriften schon ein bedeutendes Material enthalten und bedeutende Differenzen. An- dern aber kann dieß Verfahren gleichsam zu durchgeschnitten erschei- nen, die juͤngeren Handschriften koͤnnen unmittelbar aus einer sehr alten Quelle herruͤhren, und so waͤre ein wesentliches Huͤlfs- mittel abgeschnitten. Je mehr Ursache nun zu einem solchen Verdacht ist, desto weniger ist solch eine allgemeine Regel des Verfahrens zu loben. Muß nun aber doch der Apparat, um nicht unuͤbersehbar zu werden, beschraͤnkt werden, so laͤßt sich der gluͤckliche Fall denken, daß verschiedenen Apparaten verschiedene Maximen zum Grunde liegen. Da ergaͤnzt dann einer den andern, und so kann der Leser dadurch in den Stand gesezt werden, als haͤtte er den ganzen Apparat vor sich. Allein es kommt dann auch wieder alles darauf an, zu wissen, ob und wie weit ich mit den Maximen des Herausgebers uͤbereinstimme. Dazu gehoͤrt aber, daß ich als kritischer Leser selbst ein Urtheil habe uͤber das richtige Verfahren des Herausgebers. So werde ich die verschie- denen Herausgeber nach ihren verschiedenen Gesichtspunkten rich- tig beurtheilen und gebrauchen. Es ist fast unvermeidlich, daß man bestochen wird durch das, was man vor Augen hat. Haben wir einen alten Schrift- steller vor uns, der schon interpungirt ist, so wissen wir, die Interpunktion ruͤhrt nicht von dem Schriftsteller selbst her; wir wissen aber, daß die Interpunktion auf die Art und Weise, den Sinn zu fassen, von Einfluß ist. Die gemachte Interpunktion von vorn herein zu vernichten, und sich auf den urspruͤnglichen Standpunkt zu stellen, werden nur Wenige im Stande sein. So wird man in der Regel durch die vorhandene Interpunktion befangen, haͤlt sie fuͤr richtig, und nur wenn man auf Schwie- rigkeiten stoͤßt und auf die Moͤglichkeit eines andern Sinnes bei veraͤnderter Interpunktion wird man bedenklich. Allein man ist schon im Zuge dessen, was einem fruͤher eingeleuchtet hat, alles andere ist im Nachtheil der Opposition. Wollten wir deßwegen verlangen, daß die alten Schriftsteller ohne alle Interpunktion gedruckt werden sollten, so waͤre dieß zu sehr wider alle Gewohn- heit und wuͤrde fuͤr die meisten Leser neue Schwierigkeiten haben. Richtiger waͤre es freilich an sich, aber es ist unthunlich. Auf jeden Fall aber ist bei interpungirtem Text alle Vorsicht an- zuwenden. Eben so kann der Leser leicht durch den vorliegenden Text bestochen werden. Dieser nimmt von einem fruͤher Besiz, als man die abweichenden Lesearten vergleicht. Daher ist es gut, wenn der Herausgeber die Maximen, die er bei der Constitution des Textes befolgt hat, gleich von vorn herein bestimmt. Je bestimmter sie ausgesprochen sind, desto leichter kann man sich orientiren. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob der Text aus lauter Urkundlichem besteht, oder ob auch Resultate der divinato- rischen Kritik darin sind, ob der Text aus gleichartigem oder un- gleichartigem Urkundlichen besteht. Doch kommt es dabei eben auf die Bestimmung des Werkes an. Denkt man sich die Aus- gabe eines Classikers ohne alle philologische Tendenz zu anderwei- tigem Gebrauch gemacht, etwa bloß fuͤr den aͤsthetischen Genuß der Liebhaber, so kann der Herausgeber selbst seine Emendationen mit aufnehmen. So liegt auch den Ausgaben zum Schulgebrauch die eigentlich kritische Aufgabe fern; der kritische Apparat wuͤrde nur aufhalten. Aber zu streng philologischem Gebrauch ist noth- wendig, daß der Herausgeber den vollstaͤndigen kritischen Apparat vorlege, so daß Urtheil und Urkundliches unterschieden werden koͤnne. Diese Unterscheidung ist nothwendig, wiewol nicht immer rein durchzufuͤhren. Wie weit geht nun aber die Obliegenheit des kritischen Lesers, also eines solchen, der uͤber die unmittelbare hermeneutische Auf- gabe hinausgeht? Er hat vor allem nach dem Verhaͤltniß des Herausgebers zur Thatsache, der urspruͤnglichen, und nach dem bestimmten Zwecke der Ausgabe zu fragen, und diesen zu beur- theilen, ob er ein solcher sei, bei dem man stehen bleiben koͤnne? Die Faͤlle sind verschieden. Ist das urspruͤngliche Verhaͤlt- niß dieses, daß die Schrift vom Anfang an zur Öffentlichkeit und Vervielfaͤltigung bestimmt war, so fragt sich, ist diese von Anfang an geschehen oder spaͤter? Wenn spaͤter, so entsteht die Frage, in welchem Zustande die Urschrift war, als die Verviel- faͤltigung anging, und auf welche Weise dieselbe betrieben worden? Denken wir uns eine Sammlung z. B. von Briefen einer geschichtlichen Person. Es ist nicht bestimmt vorauszusezen, daß die Briefe von Anfang an und absichtlich oͤffentlich gewesen. Wir muͤssen also annehmen, daß die Öffentlichkeit erst mit der Sammlung angefangen. Hat nun der Sammler nicht erweislich lauter Urschriften gehabt, sondern Abschriften, so ist im lezteren Falle der kritische Charakter wol nicht immer derselbe. Er kann von einigen Stuͤcken treuere bessere Abschriften bekommen haben, als von andern. Da fragt sich denn, laͤßt sich die urspruͤngliche Handschrift des Schriftstellers herstellen, ob und wie weit und unter welchen Bedingungen? Haben wir einen reichen Schriftsteller und andere Werke von ihm, die ziemlich genau uͤberliefert sind, so daß wir im Stande sind, eben aus diesen genaueren Quellen seine Sprachbe- handlung sicher kennen zu lernen, so waͤre es auf die Weise vielleicht moͤglich, aber nur auf dem Wege der divinatorischen Kritik, die Urschrift mit einiger Sicherheit herzustellen, doch auch nur da, wo bestimmte Indikationen der Unrichtigkeit des Vorhan- denen vorhanden sind, sei es durch Mannigfaltigkeit der Abschriften oder durch den Sinn. Da werden indeß manche uͤber Vieles weglesen ohne Verdacht. Was ist in solchen Faͤllen fuͤr ein Ziel zu stecken? Wir werden uns, anstatt an den Verfasser, an den Zeitpunkt der Sammlung und Publikation halten muͤssen. Bringt man es dahin, festzustellen, was damals gelesen ist, so ist das alles, was sich erreichen laͤßt. Nicht daß nicht hie und da das divinatorische Verfahren eine Menge von Irrungen besei- tigen koͤnnte, aber Gleichmaͤßigkeit laͤßt sich nicht mehr erreichen. Es kann Faͤlle geben, wo man bei einem niedrigeren Ziele stehen bleiben muß. Nemlich die Vervielfaͤltigung einer Schrift kann auf verschiedene Weise betrieben werden. Geschieht dieß von dem Einen aus Verlangen, ein solches Werk zu besizen, von Andern zu andern Zwecken, so kann gleichzeitig eine große Mannigfaltigkeit von Abschriften entstehen. Wird die Ver- vielfaͤltigung in einem bestimmten Zeitpunkte auf bestimmte Weise als bestimmtes Geschaͤft betrieben, dann ist groͤßere Sicherheit. Es lassen sich dann, wenn die Copien auf dieselbe Weise gemacht sind, bestimmte Regeln aufstellen. In der Regel ist das Fruͤhere dieß, daß Einzelne an den Produktionen eines Schriftstellers ein gewisses Interesse haben, und erst dann, wenn dieß Interesse sich allgemein verbreitet, wird die Vervielfaͤltigung gleichmaͤßiger, systematischer, oder auf geschaͤftlichem Wege betrieben. Hat aber ein Schriftsteller gleich fuͤr das Publicum geschrieben, so ist sein Werk auch gleich auf geschaͤftlichem Wege vervielfaͤltigt. In diesem Falle kann man auch viel eher auf Herstellung der ur- spruͤnglichen Handschriften ausgehen, im entgegengesezten Falle wird man das nicht koͤnnen. Man kann sich daher die Aufgabe auf zweifache Weise stellen. Erstlich, ein Herausgeber kann sich vornehmen, Gleichmaͤßiges zu liefern in allen Theilen, zweitens, mit Aufopferung des Gleich- maͤßigen das Beste und Sicherste in jedem einzelnen Falle zu geben. Fuͤr den Leser sind beide Arten gleich gut, sie ergaͤnzen einander. Aber das muß von einem jeden Herausgeber gefordert werden, daß er den Leser von der Tendenz und den Grund- saͤzen seines Verfahrens in Kenntniß seze. Wenden wir das Bisherige auf das N. T. an, so haben wir hier zunaͤchst das Verhaͤltniß des Lesers zu dem Herausgeber zu betrachten. Als Theologen koͤnnen und duͤrfen wir bei der einfachen hermeneutischen Aufgabe nicht stehen bleiben. Das N. T. bildet ein besonderes Sprachgebiet und jedes ein in seiner Art einziges. Wir haben zwar ruͤckwaͤrtsliegend die Apokryphen und die Septua- ginta, und vorwaͤrtsliegend das patristische Griechische, aber beides ist bei aller Verwandtschaft doch wieder verschieden. Fuͤr den Zu- sammenhang der hermeneutischen Operation haben wir uns so viel als moͤglich Analogien zu verschaffen, aber aus dem N. T. selbst, und so muͤssen wir so viel als moͤglich alles Einzelne ge- nau bestimmen und den Ausdruck uͤberall wo moͤglich auf den urspruͤnglichen der Verfasser zuruͤckfuͤhren. Unterlassen wir dieß, so thun wir uns selbst Schaden, denn es entstehen dann Luͤcken in der Analogie. Der nicht theologische Leser mag bei der ein- fachen hermeneutischen Aufgabe stehen bleiben. Dem Theologen liegt die genaueste Kenntniß des neutestam. Sprachgebrauchs ob, und in Beziehung hierauf machen sogenannte Kleinigkeiten keinen Unterschied. Wir sind also auf das ganze vollstaͤndige kritische Verfahren angewiesen. Wie stehen wir nun damit zu dem Herausgeber? Was hat er zu leisten und was wir zu thun? Wir muͤssen auf die erste Herausgabe des N. T. zuruͤckge- hen, d. h. auf den ersten Anfang des N. T. in seinem gegenwaͤr- tigen Zustande als gedrucktes Buch. Es gab, ehe es gedruckt wurde, eine große Menge von Hand- schriften aus verschiedenen Zeiten in verschiedenen Gegenden ge- funden und in verschiedenen Gegenden geschrieben. Wie fing man nun von diesem Zustande aus den Druck des N. T. an? Man hatte einige Handschriften vor sich und machte aus diesen einen gedruckten Text, ohne gerade bestimmt einer Handschrift zu folgen, und ohne sich von dem Verfahren bestimmte Rechen- schaft zu geben. So entstanden verschiedene gedruckte Texte. Spaͤterhin fixirte sich eine Gestalt, die aber nichts weniger als nach bestimmten Principien gemacht ist, sondern aufs Gerathewol. Dieser Text, die sogenannte recepta, beruht nicht auf Urkundli- chem, es giebt keine Handschrift, der er entspraͤche. Er ist aus gedruckten Ausgaben und einzelnen kritischen Versuchen, die sich aber auf gedruckte Ausgaben beziehen, entstanden. Be- handeln wir die Sache nun rein vom philologischen Standpunkte und erkennen die Thatsache der Verschiedenheit der Handschriften, so entsteht die Aufgabe, die Handschriften zu vergleichen. Diese Aufgabe aber kann von Einzelnen bei ganz systematischem Ver- fahren nicht geloͤst werden. Es haͤtten sich mehrere Maͤnner ver- einigen muͤssen mit Beschraͤnkung auf bestimmte Principien. Um diese Principien richtig aufstellen zu koͤnnen, dazu bedurfte es der Kenntniß der Handschriften, da es nun hieran fehlte, so wurde das Verfahren natuͤrlich desultorisch und fragmentarisch. Seitdem hat man nun vielerlei verschiedene Ausgaben des N. T. gemacht. Einige haben mehrere Handschriften verglichen und die Resultate ihrer Vergleichung als kritischen Apparat ihrer Ausgaben beigefuͤgt, den Text aber gelassen, wie er eben war. Da nun damals die recepta schon vorhanden war, so befinden wir uns bei solchen Ausgaben in dem unguͤnstigsten Falle. Urtheil und Urkundliches ist darin gemischt, auch fehlt die Angabe der Ver- fahrungsweise, das Auge besticht uns durch das Vorliegende, und endlich haben wir auch keine hinreichende Nachricht von dem Zu- stande des Materials. Da entsteht fuͤr uns eine, wenn vollstaͤn- dig, dann fast nicht zu loͤsende Aufgabe, ja bei der Lage der Sache waͤre es kaum der Muͤhe werth, sie zu loͤsen. Sollten alle Handschriften auf systematische Weise aufs genaueste vergli- chen werden, so daß der kritische Apparat auf das vollstaͤndigste dargestellt wuͤrde und alle Bestechungen wegfielen, so koͤnnte das nur so geschehen, daß das N. T. Wort fuͤr Wort vorgenommen und bei jedem die Verschiedenheit der Leseart daneben gestellt wuͤrde. Da aber die recepta verworfen werden muß und keine kritische Ausgabe vorhanden ist, bei der jene Bestechungen ganz wegfallen, so koͤnnte man nur den Text einer Handschrift zum Grunde legen, und dann den kritischen Apparat anknuͤpfen. Denn bei einer Handschrift seze ich die Moͤglichkeit der Irrungen immer voraus, bei einem durchgearbeiteten Texte nicht so, und bin hier also bestochen. Also man muß den Text einer Handschrift zum Grunde legen und die Abweichungen mit Bezeichnung des Ortes, woher sie genommen sind, als kritischen Apparat hinzufuͤgen. — Um die kritische Aufgabe richtig zu loͤsen, muͤssen bessere Ausga- ben gegeben werden, in denen der Text ganz von neuem revidirt worden ist. Ferner ist zu bemerken, daß alle absichtlichen Vergleichungen verschiedener Handschriften, wie sie in den kritischen Apparat ein- gegangen sind, gar nicht fuͤr vollstaͤndig angesehen werden koͤnnen. Gerade bei der Eigenthuͤmlichkeit des N. T. ist eine Ungleichfoͤr- migkeit entstanden, die sonst nicht leicht auf einem andern Gebiete vorkommen kann. Wie viele Stellen sind nicht bloß hermeneu- tisch, sondern auch dogmatisch streitig! So ist's gekommen, daß man oft nur solche Stellen verglichen hat, die dogmatisches Interesse haben. Auf die Weise entsteht eine unvollstaͤndige Ver- gleichung und Vorstellung von der Beschaffenheit der Handschriften. Allerdings haben wir bei dem N. T. den Vortheil, daß ein- zelne Handschriften ganz als Facsimile abgedruckt sind. Allein diese Abdruͤcke sind nicht Allen zugaͤnglich und sehr kostbar. Schon ihres großen Volumens wegen eignen sie sich nicht zum taͤgli- chen Gebrauch und bei dem eigentlichen Lesen hat man sie nicht zur Hand. Betrachten wir die bisher am meisten gebrauchten Handausga- ben des N. T., so hat in einigen der Herausgeber sein Urtheil vom Texte ganz gesondert. So in der Wetsteinschen Ausgabe. Wetstein hat, was ihm an dem hergebrachten Text fehlerhaft duͤnkte und was er fuͤr Besseres hielt, besonders bezeichnet. Noch weiter ging Griesbach , der was er Besseres aufgenommen hat, durch die Schrift unterschieden und das Alte in den inneren Rand gestellt hat. Hier faͤllt die Bestechung des Auges allerdings bis auf einen ge- wissen Punkt weg, aber doch nur zu Gunsten des alten Textes, dem gar keine Auctoritaͤt zum Grunde liegt. Ja selbst bei Gries- bach geht die Superstition in Beziehung auf den gemeinen Text Hermeneutik u. Kritik. 20 selbst in den kritischen Apparat hinein, der darin als der sich von selbst verstehende angesehen wird. Daraus erklaͤrt sich, daß der kritische Apparat unvollstaͤndig ist, weil nicht angefuͤhrt ist, welche Auctoritaͤten den gemeinen Text beschuͤzen. Nur die Auctoritaͤten fuͤr die Abweichungen sind angegeben, aber auch nicht alle, wie denn eine solche Vollstaͤndigkeit auch nicht moͤglich waͤre. So ist der gemeine Text immer maͤchtiger geworden; indem er den kriti- schen Bemuͤhungen zum Grunde liegt, bestimmt er die Art und Weise, wie dieselben hervortreten. Unter diesen Verhaͤltnissen entsteht die Frage, was moͤglicher Weise fuͤr den neutestam. Text geleistet werden kann? Gehen wir zuruͤck auf das, was bisher uͤber die verschiedenen Verhaͤlt- nisse, wenn eine Urschrift da ist und wenn nicht, beilaͤufig gesagt worden ist, so muͤssen wir in Beziehung auf das N. T. sagen, es habe von demselben als Ganzem nie Urschriften gegeben, son- dern es sei nur ein Aggregat sehr verschieden gestalteter Abschrif- ten gewesen. Unter der Urschrift des ganzen N. T. koͤnnte man nur verstehen das zuerst geschriebene Exemplar eines so zusammen- gestellten N. T. Was die einzelnen Buͤcher der Sammlung be- trifft, so waren die Evangelien wol als eigene Schriften ihrer Verfasser vorhanden, wenigstens Matthaͤus, Markus und Johan- nes. Mit Lukas ist es eine eigene Sache. Die Apostelgeschichte, als zweiter Theil des Evangeliums, sollte urspruͤnglich mit die- sem ein Ganzes bilden. Aber noch vor der Zusammenstellung des gesammten N. T. wurden die vier Evangelien zusammenge- schrieben, so daß also das erste Buch des Lukas von dem zwei- ten getrennt war. Welches die Ursache dieser Getrenntheit der beiden Buͤcher war, laͤßt sich eher vermuthen, als beweisen. Ge- wiß aber ist, daß es lange, ehe das N. T. als Sammlung ent- stand, Abschriften dieser Buͤcher gab. Nehmen wir die didaktischen Schriften, so ist die Sammlung der Paulinischen Briefe, die Pa- storalbriefe ausgenommen, die aͤlteste. Diese waren eher zusam- mengestellt, als an ein ganzes N. T. zu denken war. Fragen wir, wann diese Zusammenstellung zuerst gemacht wurde, so koͤn- nen wir nur sagen, wahrscheinlich geraume Zeit nach dem Tode des Apostels. Naͤhere Bestimmung ist unmoͤglich. Sehr zu be- zweifeln ist, daß damals noch die Urschriften vorhanden gewesen, obschon die Briefe des Apostels von den Gemeinden sehr hochge- halten wurden, wie denn auch zu bezweifeln ist, ob die Samm- lung der Paul. Briefe aus Abschriften von Urschriften bestand. — Ist nun unter solchen Umstaͤnden auch nur moͤglich, den urspruͤng- lichen Text herzustellen? Es fehlt der Ruͤckweg dazu. Man kann wol im Allgemeinen sagen, daß es moͤglich sei, aber nie die Moͤglichkeit als solche bestimmt wissen. So kann man sich jenes auch nicht zum Ziel sezen. Die Thatsache vorausgesezt, daß die Handschriften des N. T. eine so große Masse von Abweichungen darbieten, kann man irgend eine Zeit nachweisen, wo diese Ab- weichungen nicht gewesen? Man kann vielleicht auf den Zustand zuruͤckgehen, wo man sie uͤbersehen konnte, nicht auf den, wo sie noch nicht waren. Schon die aͤltesten kirchlichen Schriftsteller, die das N. T. philologisch behandelt haben, z. B. Origenes, fuͤh- ren eine Menge von Abweichungen an. Da aber diese Anfuͤhrun- gen nur gelegentlich sind, so haben wir daran keinen sicheren Maaßstab fuͤr die Masse der vorhandenen Abweichungen. Das Wahrscheinlichste ist, daß mehr vorhanden waren, als angefuͤhrt werden. Alle unsere Handschriften sind juͤnger, als jene Anfuͤh- rungen. So ist es unmoͤglich auf einen Zeitpunkt zuruͤckzugehen, wo die Abweichungen sich noch in bestimmte Grenzen einschließen lassen. Bei dieser Lage der Dinge ist zweierlei moͤglich. Der kriti- sche Herausgeber kann entweder etwas Gleichmaͤßiges leisten wol- len, dann aber muß er sich in solche bestimmte Grenzen zuruͤck- ziehen. Dieß hat Lachmann am besten getroffen. Oder der Herausgeber kann sich vornehmen, das Älteste, was mit Sicher- heit aufzufinden ist, zu geben. Aber in diesem Falle wuͤrde immer Ungleichmaͤßiges und auch Unbestimmbares herauskommen, weil man das Zeitalter unserer Handschriften nicht genau kennt, und selbst, wenn wir das Alter der Handschriften genau kennten, 20* doch damit uͤber das Alter und die Trefflichkeit ihres Textes noch keine sichere Auskunft haben. Fragen wir nun, wonach in Beziehung auf jene zweifache Art der kritischen Herausgabe der kritische Leser zu streben hat, vorausgesezt, daß das Zuruͤckgehen auf die Urschrift unmoͤglich ist? Abstrahiren wir von dem theologischen Interesse, so bekommt das N. T. rein als philologische Thatsache jener Zeit betrachtet einen sehr untergeordneten Werth. Sofern aber das N. T. dasjenige Buch ist, worauf immer zuruͤckzugehen ist, wenn es darauf an- kommt, Vorstellungen uͤber christliche Gegenstaͤnde als urspruͤng- lich christlich darzustellen, so ist das theologische Interesse so viel als moͤglich auszumitteln, ob das, was der Eine oder Andere anfuͤhrt, ein wirklicher Gedanke des N. T. ist. Wie nun, wenn wir bis auf die Urschrift nicht zuruͤckgehen koͤnnen? Halten wir uns mit unserem Interesse in der gegenwaͤrtigen Zeit an der Periode der Protestantischen Kritik, so muͤssen wir sagen, die Vorstellungen, die sich theils fruͤher, theils in der Zeit der Prote- stantischen Kirche gebildet haben, kommen in dieser Bestimmtheit im N. T. nicht vor, sondern koͤnnen nur auf indirectem Wege angefuͤhrt werden. Alle Faͤlle dieser Art, wo bestimmte dogma- tische Interessen auf Stellen im N. T. zuruͤckgehen, sind so be- schaffen, daß die Vorstellungen immer neuer als des N. T. sind. Kann ich nun auch nicht auf die Urschriften selbst zuruͤckgehen, aber doch auf eine Zeit, die aͤlter ist, als jene Vorstellungen, so genuͤgt dieß vollkommen, wenn damals, ehe die streitigen Vor- stellungen entstanden, das N. T. nur dieses enthielt, was wir haben, und nichts anderes. Weiter koͤnnen wir nicht kommen, aber fuͤr unsern Zweck ist's genug. Denn wir sind auf einen Punkt gekommen, wo was im N. T. steht auf ziemlich gleiche Weise in der Kirche bestand. Die Vorstellungen, die sich aus ihm bekaͤmpfen und vertheidigen, sind spaͤter entstanden. Der Zeit- raum zwischen dem Texte und der Urschrift ist ein leerer Raum, der auf die Streitigkeiten keinen Einfluß hat, und so koͤnnen wir uns in dieser Beziehung damit begnuͤgen. Giebt es ein Älteres, was einen bedeutenden Einfluß haben kann, so ist dieß in jedem einzelnen Falle eine hoͤchst wichtige und bedeutende Untersuchung, die eben auf die Constituirung des Textes keinen Einfluß hat. So hat der Socinianer Crell zu beweisen gesucht, ϑεοῦ ἦν ὁ λὁγος sei die urspruͤngliche Leseart. Giebt man dieser Stelle dogmatische Wichtigkeit, so ist es eine wichtige Frage, ob die Leseart echt ist oder nicht. Aber indem Crell dieß zu beweisen sucht aus der Art wie die Stelle gebraucht wird und aus den Vorstellungen die in den Schriften der aͤltesten Kirchenlehrer ent- halten sind, so liegt der ganze Streit jenseits der Constituirung des Textes. Es ist dieß nur ein Ausnahmsfall, wo anderweitige Data auf Anderes schließen lassen, als die Abschriften geben. Ließe es sich auch durchaus beweisen, so duͤrfte man es doch wol nicht in den Text aufnehmen, weil es ein anderes constituirtes Element waͤre, als der uͤbrige Text, eine Conjectur. Überhaupt aber sind unter den eigentlichen Varianten nur wenige, welche ein bedeutendes dogmatisches Interesse haben. Wenn wir nun aber von dem philologischen Interesse aus- gehen, und uns so auf den unmittelbar kritischen Standpunkt stellen, so daß es uns vorzugsweise darauf ankommt, den Sprach- gebrauch der einzelnen neutestam. Schriftsteller festzustellen, so koͤnnen wir nur zuruͤckgehen wollen auf das was mit Sicherheit zu bestimmen ist. Vergeblich werden wir versuchen, uns auf den Standpunkt der urspruͤnglichen Leser der einzelnen Schriften zu versezen, und eben so vergeblich, den Standpunkt der ersten Leser der Sammlung zu erreichen. Die Differenzen sind aͤlter, als die Sammlung. Nur annaͤherungsweise koͤnnen wir auf eine Zeit zuruͤckgehen, woruͤber wir schon kritische Angaben und Urkunden genug aufzuweisen haben. Aber wenn wir dann dar- nach fragen, was zu einer bestimmten Zeit die verbreitetste Gestalt des N. T. war, so werden wir doch nie rein Gleichmaͤßiges finden, sondern immer Verschiedenes neben einander. In Beziehung nun auf die zweifache Art der kritischen Aus- gabe des N. T., entweder einen gleichfoͤrmigen Text von einer bestimmten Zeit, oder den aͤltesten, der sich aus dem Vorhande- nen ausmitteln laͤßt, darzustellen, fragen wir, was ist in dem ei- nen und andern Falle die Befugniß des Lesers? Wir unterscheiden in der Aufgabe des Lesers einmal die ein- fache hermeneutische Operation, dann die rein philologische in Beziehung auf die gesammte neutestam. Sprache. Hier ist nun zweierlei moͤglich. Einmal ist in vielen Faͤllen aus dem gegebe- nen Apparat zu waͤhlen, sofern uns der Herausgeber nur diese Freiheit gelassen hat. Dann aber ist auch moͤglich, daruͤber hin- auszugehen und sich der divinatorischen Kritik zu bedienen. Denken wir uns einen Text, der in eine bestimmte Zeit des kirchlichen Alterthums zuruͤckfuͤhrt. Wissen wir nun, zu der Zeit ist dieß in gewissen Regionen der Kirche am meisten verbrei- tet gewesen, jenes in andern, so ist dieß ein sehr guͤnstiger Fall, wenn wir annehmen koͤnnen, daß sich dieß mit einer gewissen Sicherheit bestimmen laͤßt. Sind wir dann befugt, aus irgend einem Interesse daruͤber hinauszugehen und divinatorisch etwas Anderes zu machen? Sind wir dazu befugt, ohnerachtet wir einen Text vor uns haben, der seines Wissens auch kein Re- sultat der divinatorischen Kritik in sich hat, aber freilich nur sei- nes Wissens? Man hat diese Befugniß wegen der besonderen kritischen Beschaffenheit des N. T. geleugnet. Allerdings ist die Masse ur- kundlicher Subsidien bei dem N. T. groͤßer, als bei irgend einem classischen Schriftsteller. Allein da die groͤßere Masse der Urkun- den aus einer spaͤteren Zeit ist, so haben wir keinen Grund, das N. T. kritisch anders zu behandeln, als die Profanscribenten. Duͤrfen wir nun bei dem N. T. divinatorisch verfahren, so haben wir zu unterscheiden zwischen der einfachen hermeneutischen Auf- gabe und der streng philologischen. Bleiben wir bei der ein- fachen hermeneutischen Aufgabe stehen, so sind Faͤlle denkbar, wo alles Urkundliche keinen Sinn giebt. Soll ich dann die herme- neutische Aufgabe ungeloͤst lassen? Das kann ich nicht, und wollte ich es auch nur zweifelhaft lassen, was die gegebene Stelle fuͤr einen Sinn hat, so ist dieß doch nicht ohne Einfluß auf das Verstehen der ganzen Schrift. Es kann sein, daß ich in dersel- ben Schrift eine andere Stelle finde, in der eine Indikation liegt, wie die zweifelhafte Stelle zu verstehen ist. In diesem Falle kann ich mit der hermeneutischen Loͤsung auskommen, ohne die kritische zu loͤsen. Das Verhaͤltniß kann aber ein anderes sein, nemlich, daß spaͤtere Stellen nur aus einer fruͤheren, wo aber der Sinn zweifelhaft ist oder gar keiner, verstanden werden kann. In diesem Falle muß die kritische Aufgabe durchaus geloͤst werden, auch auf dem Wege der divinatorischen Kritik, wenn die urkund- liche zu nichts fuͤhrt. Wenn man nun die Kritik nicht als fuͤr sich selbst behandelt und als eigene philologische Disciplin, so kann es leicht kommen, daß wir die Differenzen der vorhandenen Urkunden so beurtheilen, daß wir eine Handschrift, die weniger Stellen enthaͤlt, wo der Sinn zweifelhaft ist, fuͤr gut, eine an- dere, die mehr dergleichen enthaͤlt, fuͤr schlecht halten. Dieß ist aber ein falsches Urtheil. Die leztere kann dem urspruͤnglichen Texte viel naͤher liegen, als die erstere, worin das Anstoͤßige willkuͤhrlich geaͤndert sein kann. So sieht man, wie die kritischen Urtheile aus rein hermeneutischem Interesse taͤuschen und falsch sind. Wo das Urkundliche eines solchen Textes nicht hinreicht, geschieht es wol, daß, wenn sich Aushuͤlfe auch in voͤllig werth- losen Handschriften findet, diese von den Exegeten schon als ur- kundliches Zeugniß angefuͤhrt, und dann gesagt wird, vielleicht muͤsse man so lesen. Allein dieß hat dann eben nur den Werth einer divinatorischen Operation. Die divinatorische Kritik ist also im N. T. in Beziehung auf die einfache hermeneutische Ausgabe allerdings statthaft, aber freilich auch wegen der besonderen Beschaffenheit des N. T. zu beschraͤnken. Dieß gilt von den eigentlichen di- daktischen Schriften weniger, als von den historischen und un- ter ihnen weniger von dem Evangelium des Johannes, als den synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte. Denn bei die- sen ist die groͤßte Wahrscheinlichkeit, daß sie aus muͤndlichen Tra- ditionen und einzelnen schriftlichen Aufsaͤzen entstanden sind, auf sehr secundaͤre Weise aus der zweiten und dritten Hand, so daß das erste Schriftliche schon nicht das rein Urspruͤngliche mehr war in Beziehung auf viele Partieen. So koͤnnen darin Ausspruͤche Christi vorkommen, von denen wir nicht wissen, in welchem Zu- sammenhange sie gesprochen sind. Wir sind dann auch nicht im Stande, den Sinn mit voller Bestimmtheit und in seinem gan- zen Umfange anzugeben. Wir haben Ausspruͤche, die bei allem Sententioͤsen doch gar nicht auf allgemeine Weise erklaͤrt werden duͤrfen, weil sie in dem Falle mit andern in Widerspruch stehen wuͤrden. Wie weit sie aber zu beschraͤnken seien, kann man bei so mangelhaften Umgebungen nicht wissen. Um diese zu ergaͤnzen, kann man seine Zuflucht nicht zur divinatorischen Kritik nehmen, denn was wir vor uns haben ist nichts Falsches, sondern nur ein Unbestimmtes. Hier kann allein die historische Kritik eintre- ten, welche nach der Analogie des vollstaͤndigeren Factums, wel- ches vorliegt, das unvollkommene beurtheilt, und aus dem so construirten Zusammenhange bestimmt, in welchem Sinne das unbestimmte zu nehmen sei. — Wo der Saz grammatisch und logisch vollstaͤndig und geschlossen ist und nur die Erklaͤrungsmittel fuͤr einen einzelnen Ausdruck fehlen, da darf man nicht durch divinatorische Änderungen helfen wollen. Die Operationen der divinatorischen Kritik duͤrfen freilich bei der Lesung des N. T. nicht ganz verbannt werden, obschon man vermuthen darf, daß ihr Beduͤrfniß geringer ist, als bei andern Schriften, wo so viel weniger Handschriften vorhanden sind. Aber in Beziehung auf die einfache hermeneutische Aufgabe darf man die divinatorische Kritik nur in den oben bezeichneten Gren- zen ausuͤben. Allein der theologische Leser hat es nicht bloß jedesmal mit den einzelnen Stellen zu thun, die er vor sich hat, auch nicht bloß mit dem einzelnen Buche, sondern immer mit dem ganzen N. T. Dieses umfaßt einen gewissen Ideenkreis, so daß alles fuͤr das andere Parallele oder Analogie ist. Auch der Sprachgebrauch ist ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des Hebraismus doch so sehr ein abgeschlossenes Ganzes, daß wir mit philologischem Interesse bei jeder Stelle auch auf den Werth derselben fuͤr den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und speciell des besondern Schriftstellers zu sehen haben. Um nun in dieser Beziehung von allem Einzelnen den vollstaͤndigsten Gebrauch zu machen, sind wir da berechtigt, uͤber das Urkundliche hinauszugehen, und divinatorisch zu verfahren? Es kann eine Stelle logisch und grammatisch einen guten Sinn haben, auch einen christlichen, der Ausdruck kann auf dem Gebiete der neutestam. Sprache uͤberhaupt liegen, aber es kann etwas darin sein, was dem besondern Sprach- gebrauch des bestimmten Schriftstellers widerspricht. Entsteht dar- aus nun schon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori- schen Verfahren? Nein. Ein solches Verfahren waͤre ziemlich lax. Denn woher ist die Analogie, die man sich gebildet? Wenn doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkuͤhr- lichkeiten giebt, worin die Taͤuschungen fuͤr das Auge noch nicht gaͤnzlich vermieden sind, so muß man sagen, daß eine solche Ana- logie keine Sicherheit hat, das Urspruͤngliche des Schriftstellers zu enthalten. Man wird auch fragen muͤssen, ob denn der Stel- len fuͤr jene Analogie so viel sind, daß uns darin die constante Weise des Schriftstellers gegeben ist? Haben wir alles, was er geschrieben hat? Kurz wir haben nicht Huͤlfsmittel genug, um berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen sich im Allgemeinen nichts einwenden laͤßt. Die Versuche spezieller Sprachcharakteristik sind gut, nur muß man nicht zu viel Werth darauf legen und glauben, es sei etwas festes. Wenn Jemand sagt, der eine Schriftsteller sage Ἰησοῦς Χϱιστὸς, der andere Χϱιστὸς Ἰησοῦς u. s. w., so sind das alles Dinge, die in den Handschriften sehr variiren, wie sie dann auch so sehr in der Hand der Abschreiber lagen, daß unmoͤglich ist, auf die ur- spruͤngliche Hand des Schriftstellers selbst zuruͤckzugehen. Überhaupt koͤnnen wir nicht berechtigt sein, im N. T. die divi- natorische Kritik vorwalten zu lassen um eines allgemeinen In- teresses willen, weil es uns an den dazu gehoͤrigen sichern Praͤ- missen fehlt. Die neutest. Schriftsteller versiren fast ohne Aus- nahme im Gebiet der gewoͤhnlichen Umgangssprache, der συνήϑεια, aber eben deßwegen ist es unmoͤglich, die individuelle Sprach- behandlung des Einzelnen mit Sicherheit aufzustellen, weil das Geschriebene nur ein unendlich kleiner Theil des Gesprochenen ist. Selbst bei dem reichsten, dem Apostel Paulus, haben wir doch nur ein ἀποσπασμάτιον seines Muͤndlichen. Es laͤßt sich wol Manches aufstellen, daß man in einzelnen Faͤllen sagen kann, das klinge ganz fremd. Aber nun gar bei Schriftstellern, von denen wir so wenig haben, die Andere sprechen lassen und an- fuͤhren. Kurz wir sind unter diesen Verhaͤltnissen nicht berechtigt, im N. T. das divinatorische Verfahren anders, als fuͤr das un- mittelbare hermeneutische Beduͤrfniß in Anwendung zu bringen. Wir kommen nun aber bei dem Lesen des N. T. oft in den Fall, daß wir, um den Text zu bilden, zwischen verschiedenem Urkundlichen zu waͤhlen haben. Wenn also das Urkundliche ein Mannigfaltiges von verschiedenem Werth ist, wie haben wir da zu verfahren? Die Aufgabe ist fuͤr den Leser um so groͤßer, wenn der Herausgeber ihn nicht bestochen hat fuͤr das, was sein Re- sultat ist. Es kommt dabei zweierlei in Betracht. Erstlich die Beschaf- fenheit der Urkunden, worin die Differenzen sind, und zweitens die Differenzen selbst. Was das erste betrifft, so ist alles, wo- von wir keine Spur haben, daß es schon ehedem gelesen ist, oder was nur in spaͤteren Handschriften sich findet ohne die Buͤrg- schaft eines alten Textes, nicht unter das rein Urkundliche zu stel- len, sondern als Resultat einer kritischen Operation anzusehen. Koͤnnen wir nun behaupten, daß die Urkunden, die uͤbrig blei- ben, sich ihrem Werthe nach auf bestimmte Weise classificiren lassen, so daß vermoͤge der Classification einigen ein allgemeiner Vorzug vor andern gebuͤhre, andern nur in gewissen Faͤllen? Mit dieser Frage kommen wir auf das eigentliche diplomati- sche Gebiet der neutest. Kritik. Aber eben dieses ganze Gebiet ist durch so viele Hypothesen verwirrt, daß es schwer ist den Ge- genstand auf eine einfache Weise zu behandeln nach so vielen kuͤnstlichen Operationen, die damit gemacht sind. Diese sind eben die gemachten Classificationen der Handschriften, wobei verschiedene eigenthuͤmliche Gesichtspunkte und Vorliebe der Kritiker eingewirkt haben. Es kommt auf eine einfache Betrachtungsweise an. Dabei ist zunaͤchst der Gesichtspunkt der einfachen hermeneu- tischen Aufgabe ganz zu beseitigen, und das philologische Interesse allein herrschend. Wir denken uns den Fall, daß der Heraus- geber so wenig als moͤglich uns durch sein Urtheil bestochen hat. So gehen wir aus von der vorliegenden Thatsache einer großen Menge von verschiedenen Lesearten in den Handschriften. Hier giebt es nun zwei verschiedene Gesichtspunkte, einen allgemeinen und einen speciellen. Nach dem speciellen haben wir die Aufgabe, die Verschiedenheiten ihrer Qualitaͤt nach zu taxiren, fuͤr jeden einzelnen Fall; nach dem allgemeinen, die Verschiedenheiten der Handschriften als solche. Es fragt sich nun, von welchem von beiden Gesichtspunkten wir ausgehen sollen oder wie man sie ein- ander unterzuordnen habe? Man koͤnnte sagen, wir haben so wenig Urtheil uͤber den Werth der Handschriften als solcher, daß derselbe nach dem Werth ihres Inhalts im Einzelnen bestimmt werden muß, also hieran allein habe man sich zu halten. Dieß ist aber nur moͤglich bei einer kleinen Anzahl von Handschriften, die auch nicht bedeutend von einander abweichen. Da ist dieß Verfahren das beste und ausreichend. Allein bei einer so großen Masse von Handschriften, wie wir vom N. T. haben, ist noth- wendig, um das Verfahren zu erleichtern, die Handschriften zu classificiren. Hat die Classification ein bestimmtes Resultat gehabt, so werden gewisse Handschriften ganz beseitigt werden koͤnnen, weil sie ohne Auctoritaͤt und Werth erscheinen. Wie aber laͤßt sich der Werth der Manuscripte taxiren? Zuerst giebt es gewisse aͤußere Differenzen, und zwar beson- ders zwei. Erstlich sind einige mit Uncialbuchstaben, andere mit Cursivschrift geschrieben. Dieß deutet auf einen bestimmten Un- terschied der Zeit, denn die Cursivschrift ist spaͤter aufgekommen, und die Uncialschrift zu gebrauchen hat man in einer gewissen Zeit aufgehoͤrt. Die zweite Differenz ist die, daß es einige Hand- schriften giebt, welche bloß den griechischen Text enthalten, an- dere eine lateinische Interlinearversion. Diese Differenz bezeichnet einen Unterschied der Gegend, denn die griechischlateinischen Ma- nuscripte konnten nur in Gegenden entstehen, wo das Lateinische Erleichterungsmittel war, also im Occident. Koͤnnen wir nun schlechthin sagen, die Cursivhandschriften, weil im Allgemeinen juͤnger, seien bei Seite zu legen, und nur an die Uncialhandschriften habe man sich halten? Nein denn einer Cursivhandschrift kann unmittelbar eine Unicalhandschrift zum Grunde liegen, man wuͤrde sich also in diesem Falle durch jene Maxime wichtiger Materialien berauben. Es muß aber jenes erst bewiesen werden. Sezen wir z. B. den Fall, daß eine Cur- sivhandschrift aus dem 14ten Jahrhundert von einer Unicalhand- schrift des 6ten Jahrhunderts abgeschrieben ist, welche verloren gegangen ist. Haben wir nun mehrere Handschriften aus jener fruͤheren Zeit und die Cursivhandschrift bietet Lesearten, von de- nen sich nicht geradezu nachweisen laͤßt, daß sie durch Irrungen entstanden sind, die sich aber in keinem der aͤlteren Dokumente finden, so folgt, daß sie nicht sehr verbreitet gewesen sind. Auf Lesearten aber, die zu einer gewissen Zeit nicht sehr verbreitet gewesen, und isolirt erscheinen, ist wenig Ruͤcksicht zu nehmen, weil wir keine Gewaͤhrleistung haben, ob sie nicht gemacht sind. Dieser Grundsaz laͤßt sich im Allgemeinen feststellen. Wie ist es nun mit der andern Differenz? Was die In- terlinearcodices betrifft, so ist in ihnen die lateinische Version als exegetische Auctoritaͤt dazwischen gelegt. Nun giebt aber dieses ein solches Verhaͤltniß, daß wahrscheinlich dem Abschreiber das Latein gelaͤufiger gewesen, als das Griechische. Solche Hand- schriften werden daher leicht die Neigung haben, Lateinisches auf- zunehmen, zu latinisiren. Darum aber darf ihnen im Allgemei- nen kein geringerer Werth beigelegt werden. Nur so oft sie von andern in der Art abweichen, daß sich die Abweichung aus dem Zusammensein mit dem Lateinischen erklaͤrt, muͤssen wir uns an die andern halten, die dann bestimmt den Vorzug verdienen. Was aber in beiden Classen uͤbereinstimmt, ist das am meisten Verbreitete in geographischer Hinsicht. Diesem geben wir den Vorzug, damit ist aber noch nicht gesagt, daß eine von beiden Classificationen einen entschiedenen Vorzug habe. Man hat nun aber noch andere Classificationen in Vorschlag gebracht. Findet man, daß die Handschriften von der einen wie der andern Classification in gewissen Lesearten uͤbereinstimmen und abweichen, und stellt man sich das Ähnliche und Verschie- dene in gewissen Massen zusammen, so entsteht eine gewisse Phy- siognomie. Darnach hat man die Handschriften familienweise classificirt. Diese Familien werden dann auch Recensionen genannt, was freilich etwas anderes ist, denn Recension ist absichtliche Con- stitution eines Textes nach gewissen Maximen. Hat man nun Grund dazu, solche Recensionen anzunehmen? Wir haben von solchen eigentlich kritischen Bemuͤhungen nicht soviel historische Nachricht, daß wir als Thatsache feststellen koͤnnten, daß Hand- schriften in Masse darnach gemacht worden waͤren. Wir finden freilich sehr zeitig kritische Vergleichungen, Verbesserungen aus Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es ist nicht nach- weislich, daß nach seinen Verbesserungen Handschriften angefer- tigt worden sind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti- scher Thaͤtigkeit haben, da ist an Recension gar nicht zu denken. Allein die Ansicht erhaͤlt von einer andern Seite Vorschub. Fragen wir, wie die Vervielfaͤltigung vor sich gegangen, so fehlt es uns zwar an bestimmten Nachrichten, aber es wird wahr- scheinlich, daß es damit zugegangen ist, wie mit der Sammlung der neutest. Buͤcher. Es fanden sich in den sogenannten Metro- polen Abschriften mehrerer Buͤcher des N. T., die man dann zu- sammenfuͤgte. Eben an solchen Centralpunkten der Kirche, wie Constantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Christen aus verschie- denen Gegenden in Geschaͤften zusammen und gaben sich gegen- seitig von ihren kirchlichen Verhaͤltnissen und Schriften Notiz. So kam die Zusammenschreibung des N. T. zu Stande. Von sol- chen Hauptpunkten ging nun auch die Vervielfaͤltigung durch Abschriften aus, und so bekam allmaͤhlich jede Gemeinde ein Neues Testament. Der Text, der von solchen Hauptgemeinden ausging, war wesentlich derselbe. Waren das aber schon Recen- sionen? Moͤglich, daß solche ausgingen von Metropolen, die zugleich einen scholastischen Charakter hatten, wie Alexandrien u. a. Allein wir haben keine sichere Spur, daß dieß wirklich geschehen waͤre. Man weiß nur von der Lucianischen Kritik, aber auch, daß sie gemißbilligt wurde. Von einem durchgreifenden kritischen Verfahren im neutest. Text haben wir durchaus keine Spur. Finden wir also Ähnlichkeiten in den Handschriften, so muß man es problematisch lassen, ob es zufaͤllig ist oder nicht, da die Ähnlichkeit nie durchgreifend ist. Die Theorie von den Re- censionen verflicht sich auch so kuͤnstlich, muß eine Menge von Ausnahmen machen, und beruht so wenig auf sicherm Fundament, daß man sie aufgeben muß. Haben wir nun an den oben festgestellten Maximen, die wir aus dem Charakter der Handschriften nach ihrer chronologi- schen und geographischen Classification entnommen haben, genug, oder muͤssen wir noch Regeln haben daruͤber, was aus mechani- schen Irrungen entstanden sein kann? Gehen wir von den Interlinearhandschriften aus, so finden wir Veraͤnderungen, welche auf sehr analoge Weise entstanden sind. Es giebt Handschriften, welche am Rande mehr und we- niger Bemerkungen enthalten. Außerdem hat es von fruͤh an Erklaͤrungen des N. T. gegeben, die zum Theil mit verbreitet waren. Nun laͤßt sich oft eine Schwierigkeit im Text durch eine geringe Veraͤnderung im Text erklaͤren oder durch Danebenstellung eines leichten Ausdrucks am Rande. Solche Marginalien sind oft aus Erklaͤrungen genommen. Da ist denn die Regel, solche Lesearten, eben weil ihr Ursprung sich nachweisen laͤßt, zuruͤckzu- weisen. Allein hier sind wir nicht mehr genau auf unsrem Gebiet, da man nicht recht weiß, ob eine Änderung der Art aus mecha- nischer Irrung oder absichtlich entstanden ist. Allein haͤufig ist das erstere der Fall. Deßhalb ist die Handschrift, wo sich der- gleichen findet, nicht geradezu fuͤr schlecht zu halten, aber in solchen Punkten muß man sich dann in Acht nehmen. Weiter werden wir auf dieser Seite der Aufgabe nicht gehen koͤnnen. Nach jener Regel ist bei Differenzen aus mechanischen Irrungen zu verfahren, um mit so viel Sicherheit als der Zustand der Dinge zulaͤßt aus dem Vorhandenen zu waͤhlen, und so einen, in der Zeit, woraus die aͤltesten Handschriften sind, verbreitet gewesenen Text zu gewinnen. Wo dann kein geschlossener Sinn ist, da kann die Conjectur helfen, oder auch aus spaͤteren Hand- schriften genommen werden, was richtig zu sein scheint. Alle bisher aufgestellten Regeln sind aber, wie man sieht, nicht sehr positiver Natur, sondern sie gehen mehr auf das Eliminiren alles dessen, was einen schlechten, illegitimen Ursprung zu haben scheint. Aber schwerlich werden sich immer alle Ver- schiedenheiten eliminiren lassen bis auf Eine Leseart. Wir muͤssen froh sein, das zu erkennen, was in der moͤglich fruͤhesten Zeit am allgemeinsten verbreitet gewesen ist. Wir bezeichneten vorher Faͤlle, wo man schwanken kann, ob der Fehler auf eine mechanische Irrung oder auf Absicht zuruͤckzu- fuͤhren sei. Dieß fuͤhrt zu dem zweiten Theile der Kritik. Ehe wir aber dazu uͤbergehen, noch einige Bemerkungen uͤber den Gesammtzustand der neutest. Kritik. Dieser ist noch gar sehr verworren. Besonders sind es zwei Extreme, die man haͤufig findet, — der etwas leichtfertige und doch auch wieder schwerfaͤllige Glaube an die Theorie von den verschiedenen Recensionen des neutest. Textes. Schwerfaͤllig , weil die ganze Hypothese so unsicher ist, daß man die Recension nur schaͤzen kann durch eine Mannigfaltigkeit von Ausnahmen und Übergaͤngen; leichtfertig , weil es an aller wahren Begruͤndung fehlt. Die Abschriften moͤgen in gewissen Provinzen uͤberwiegend aͤhnlich gewesen sein, das sind aber noch keine Recensionen. Moͤgen nun daraus wieder abweichende Privathandschriften ent- standen sein, es ist unerweislich, daß dieselbe aus Vergleichung von mehreren Handschriften, die einen verschiedenen Typus gehabt, gemacht sind. Die oͤffentlichen Handschriften nahmen gewiß nicht sobald von den Privathandschriften Verschiedenheiten an. Das fuͤhrt wieder auf den Charakter des am meisten Verbreiteten zu- ruͤck, und hier ist der Hauptgegensaz der zwischen den griechisch- lateinischen und den rein griechischen Handschriften. Außer den Handschriften werden als Zeugnisse des Textes noch die Citate der Kirchenvaͤter und die alten Übersezungen angefuͤhrt. Wenn wir in patristischen Schriften, z. B. besonders bei Origenes und Hieronymus, Stellen finden, wo die Rede ist von einer Verschie- denheit im neutest. Text, so liegt darin allerdings ein bestimmtes Zeugniß, welches aͤlter ist, als die meisten unserer Handschriften, und gar sehr zu gebrauchen. Gewoͤhnlich meint man aber alle neutest. Citate in den Kirchenvaͤtern uͤberhaupt. Darin ist nun zwar allerdings immer etwas, aber solche Citate sind mit großer Vorsicht zu gebrauchen, weil wir nicht behaupten koͤnnen, daß die Kirchenvaͤter die Stellen des N. T. immer buchstaͤblich an- fuͤhren. Denken wir uns namentlich Citationen in den Homilien des Chrysostomus und Anderer. Da hat der Vortragende wol bei der Hauptstelle, die er behandelte, das N. T. vor sich gehabt, und gesprochen, wie er es in seinem Codex fand, andere Stellen aber frei aus dem Gedaͤchtniß citirt. In diesen lezteren also liegt kein Beweisgrund fuͤr eine verschiedene Leseart. Aber in Beziehung auf die Textesabschnitte selbst, welche die Kirchenvaͤter in ihren Homi- lien commentiren, entsteht die Frage, ob die Abschnitte der Schrift, welche in Handschriften der KVV. den Homilien vorangestellt sind, urspruͤnglich so von den Homileten gelesen, oder von den spaͤtern Abschreibern aus ihren eigenen Exemplaren genommen worden sind? Ist nun dieß schwer zu entscheiden, so haben auch solche Texte keine bestimmte Auctoritaͤt. Anders ist es, wenn in der homiletischen Behandlung auf den Text zuruͤckgegangen wird und man daraus erkennen kann, wie der Homilet in seinem Codex gelesen hat. Findet man also im kritischen Apparat die Kirchenvaͤter citirt, so muß man das Citat nachschlagen und sehen, wie es an Ort und Stelle beschaffen ist. Eine Ausgabe des N. T., in der die von den Kirchenvaͤtern citirten Stellen genau angegeben sind, ist dabei durchaus nothwendig. Griesbach ist hier lange nicht genau genug. Was die Übersezungen betrifft, so ist die Aufgabe ebenfalls sehr schwierig. Es fragt sich, mit welcher Sicherheit kann man schließen, daß, weil z. B. in syrischen oder arabischen Übersezun- gen dieses oder jenes Wort steht, der Übersezer dieses oder jenes im Griechischen gelesen habe? Wenn ich aus unverdaͤchtigen Stellen nachweisen kann, daß ein bestimmtes griechisches Wort nur durch ein bestimmtes syrisches oder arabisches wiedergegeben wird, so kann ich wol sicher schließen. Aber Niemand hat sich damit abgegeben, aus solchen Übersezungen den griechischen Text bestimmt wieder herzustellen. So entstaͤnde erst die wahre Sicher- heit. Man macht es in der Regel so, daß man bei Stellen, wo eine Differenz ist und die Entscheidung schwer, in den Übersezun- gen nachschlaͤgt, und sich dann an das Allgemeinuͤbliche und nicht an genau bestimmte Analogien haͤlt. So entsteht aber keine Sicherheit. In allem was grammatisch ist kann man von den Übersezungen keinen Gebrauch machen, weil jede Sprache ihre besondern Regeln hat. Da laͤßt sich schwerlich schließen, wie der Übersezer in der Ursprache gelesen, am wenigsten im N. T., wo bisweilen, um dem Griechischen so nahe wie moͤglich zu bleiben, etwas gesagt ist, was der gewoͤhnlichen Sprache des Übersezers nicht gemaͤß ist. Es sind dieß also Quellen, wovon man in der Regel mit Sicherheit keinen Gebrauch machen kann. Nur dann kann man dieß, wenn die Frage nicht bloß grammatisch ist, und es sich um Entscheidung uͤber verschiedene Woͤrter von der Art handelt, daß aus der Übersezung erkannt werden kann, ob der Text dieß oder jenes Wort enthalten habe, namentlich in den Faͤllen, wo wegen der Ähnlichkeit der Zeichen Woͤrter in der Abschrift verwechselt worden sind und die Verschiedenheit des Sinnes in der Überse- Hermeneutik u. Kritik. 21 zung ausgedruͤckt sein muͤßte. Ist aber die Verwechselung durch das Auge eine sehr leichte, so kann der Übersezer die Verwechse- lung auch gemacht haben. So ist also die Region, wo Verschie- denheiten durch die Übersezungen mit voller Sicherheit entschieden werden koͤnnen, sehr beschraͤnkt. Zweiter Theil . Kritik der Fehler, die durch freie Handlung entstanden sind. H ier sind alle die Faͤlle zu untersuchen, wo die Abweichung nicht in dem Mechanismus der Sinne und der Vorstellungen ihren Grund hat, sondern in einer freien Handlung. Es entsteht die Frage, ob und wie es moͤglich sei, daß man in die Rede eines Andern hineinbringt, was nicht darin gelegen hat? Ein bloßer Referent, der nichts als dieß ist, wird es nicht thun. Aber, wenn Jemand ein bestimmtes Interesse hat, kann es vorkommen, daß er dem Andern etwas unterschiebt. Hat einer das Interesse, Andere glauben zu machen, der Verfasser einer Schrift habe so oder so gedacht, so wird er durch Änderun- gen in der Schrift etwas hervorzubringen suchen, was seiner Ab- sicht gemaͤß ist. Dieß ist eigentlicher Betrug, wissentliche Ver- faͤlschung. Aber so etwas kann man nur unter sehr besondern Umstaͤnden voraussezen, im Allgemeinen nicht. Denken wir, daß Jemand die absichtliche Verfaͤlschung einer Schrift im Großen als seinen Beruf treibt, so wird ein solcher Änderungen vermeiden, um sich im Ruf der Zuverlaͤssigkeit zu erhalten. Aber, wenn Jemand einen Schriftsteller anfuͤhrt mit dem bestimmten Interesse zu zei- gen, daß derselbe zu seiner Parthei oder Meinung gehoͤrt, so kann dieß Interesse zur Verfaͤlschung treiben. Da ist denn zu fragen, ob Jemand ein solches bestimmtes Interesse wirklich ge- habt. Finde ich dieß, so verliert die Stelle ihre Beweiskraft, 21* wenn auch nicht gerade Unredlichkeit nachzuweisen ist. Aber auch der bloße Abschreiber, der mit dem Abschreiben ein Gewerbe treibt, kann z. B. ein Interesse haben, der Schrift den Schein zu geben, daß sie von einem Verfasser herruͤhrt, von dem sie nicht ist. So kann er der Schrift den Namen eines andern Verfassers beilegen, dem sie nicht gehoͤrt. Aber auch dieß kann nur geschehen in spaͤ- terer Zeit unter ganz besondern Umstaͤnden. Überhaupt kann die eigentliche absichtliche Verfaͤlschung nur unter ganz besondern Umstaͤnden vorkommen. Hat Jemand eine Handschrift, findet am Rande Beigeschriebenes, und sezt dieß in den Text, so kann dieß unter Umstaͤnden eine absichtliche Ver- faͤlschung sein. Es liegt aber dieß nicht nothwendig in der Sache, es kann eine richtige oder vermeintliche Correctur sein, sofern etwas im Text ausgelassen und an den Rand geschrieben war. Mehr und weniger koͤnnen wir alles von dieser Art auf die beiden Faͤlle zuruͤckfuͤhren: 1. Bringt Jemand Selbstgemachtes in den Text, es sei von welcher Art es wolle, so ist es immer eine absichtliche Verfaͤlschung. 2. Nimmt Jemand etwas als Correctur auf, wo ihm das, was er im Text vor sich hat, nicht bestehen zu koͤnnen scheint, so ist dieß allerdings eine freie Änderung, die aber jeder Herausgeber macht, nur daß waͤhrend der Heraus- geber es zu bezeichnen pflegt oder doch vermag, jener dabei nichts sagt und sagen kann, und sich des Rechts bedient, wie bei uns der Sezer. Es kann die Änderung als Verbesserung gemeint sein, auch wirklich eine solche sein, aber eben sowol auf einem Irrthum beruhen. In allen solchen Faͤllen ist etwas Absichtliches, aber auf verschiedene Weise. Es kann durch das Verfahren eines Abschreibers oder Lesers etwas Fremdes in den Text hineinkommen, und da sind Faͤlle, die den vorigen sehr verwandt sind. Durch eine bloß mechani- sche Irrung kann ein Abschreiber etwas in den Grundtext brin- gen, was ihm aus der Übersezung vorschwebt. Aber es kann dasselbe auch absichtlich geschehen, als Correctur. Ferner, es kann einer statt eines dunkeln Ausdrucks einen deutlichern sezen, der ihm aus dem Gelesenen vorschwebt, er kann es als eine Bemer- kung vorfinden, auch nur dafuͤr halten und doch in den Text aufnehmen. Dieß sind Änderungen aus freier Handlung. Es fragt sich, in welchem Grade haben wir Ursache, dieß vorauszusezen? Es kommt darauf an, wie man uͤberwiegende Gruͤnde hat sich die Vervielfaͤltigung zu denken. Denkt man sich diese so, daß mehrere gleichzeitig von Einem Originale mehrere Copien machen, so geschieht dieß durch Dictiren. Da ist jeder gebunden, die Zeit mitzuhalten und keiner hat Zeit zu Überlegungen und Änderungen. Nur von jenem Dictirenden koͤnnten solche Ände- rungen ausgehen und wuͤrden so in alle Abschriften kommen, die Schreibenden oder Abschreibenden werden sich um so mehr huͤten, Änderungen zu machen, je handwerksmaͤßiger sie das Geschaͤft treiben und auf den Ruf der Zuverlaͤssigkeit etwas halten. Freie Veraͤnderungen im Text lassen sich nur denken bei einem Ab- schreiber, der sein Geschaͤft nicht mechanisch treibt, sondern ver- staͤndig in der Sache selbst versirt. Anfangs kann von einem solchen oder einem aufmerksamen Leser die Veraͤnderung auch nur auf den Rand geschrieben und nachher in den Text gekom- men sein. So hat die Entstehung der Fehler dieser Art einen gewissen Spielraum. Aber solche Fehler der Veraͤnderungen sind doch immer nur selten und nicht sehr verbreitet. Es ist keine Frage, daß das Fremde, was auf die Weise in den Text gekommen, ausgeschieden werden muͤsse. Die Frage nach dem Urspruͤnglichen ist davon unabhaͤngig und fuͤr sich bestehend. Man hat bei der Genesis solcher Änderungen Absichtliches und Unabsichtliches zu unterscheiden. Das erstere sezt allemal etwas Anderes voraus; es muß schon Fremdes vorliegen. Wir sezen als moͤglich, daß in der Urschrift keine Fehler anderer Art sind, als durch mechanische Irrung entstanden; das Fehlerhafte kann von der Hand des Verfassers selbst sein. In diesem Falle wird die Änderung eine Wiederherstellung dessen sein, was der Verfasser selbst gewollt. Dieser wird das anerkennen als das Sei- nige, Urspruͤngliche. Allein es kann der Ändernde die Stelle auch anders behandeln, als der Verfasser sie behandelt haben wuͤrde. Es kann ferner Faͤlle geben, wo zweierlei gegeben ist, einmal vollkommen Richtiges, sodann etwas, was nicht bestehen kann, moͤglicher Weise aus einer mechanischen Irrung entstanden, woraus aber jenes sich nicht erklaͤren laͤßt. Da ist aber wieder zweierlei moͤglich. Entweder ist das vollkommen Richtige auch das Urspruͤngliche und das durch mechanische Irrung Entstandene das Spaͤtere, oder umgekehrt, jenes die Correctur dieses das Urspruͤngliche. Um das Leztere zu vermuthen, muͤssen aber be- stimmte Indicien vorhanden sein. Daran wird es in Beziehung auf das Mechanische der Sprache nicht fehlen. Man hat zu manchen Zeiten anders geschrieben als gesprochen, anders gespro- chen als die Regeln des Schreibens mit sich bringen. Sobald nun eine solche abweichende Form uͤberwiegend ist, ist es auch moͤglich, daß sie die urspruͤngliche Leseart ist. Findet sich das Richtige nur in einigen Handschriften, so ist's moͤglich, daß das Correctur ist. Wie es moͤglich ist, daß Änderungen in eine Schrift hin- einkommen aus guter Absicht, so koͤnnen sie auch hineinkommen nicht ohne Absicht, aber durch eine falsche freie Wahl, wobei dann nur ein kritisches Faktum schon als vorhanden vorausgesezt wird. Wird eine Marginalbemerkung in den Text aufgenommen, so ist das absichtlich, wenn der Abschreiber weiß, daß es ein Fremdes ist, er nimmt es aber auf als Verbesserung. Haͤlt da- gegen der Abschreiber das Marginale fuͤr hineingehoͤrend, so ist es unabsichtlich. Daß Änderungen der lezteren Art haͤufig vorkommen, steht fest auf allgemeine Weise, so lange eine Schrift nur durch Abschreiber im Einzelnen vervielfaͤltigt worden ist. Es ist immer der Fall gewesen, daß fleißige Leser sich etwas bemerkt haben zu dem was sie lasen. Kamen dergleichen Handschriften in die Haͤnde Anderer, so konnten solche Veraͤnderungen leicht vor- gehen. In welchem Falle koͤnnen nun absichtliche Änderungen ent- stehen? Wir unterscheiden dabei gute und boͤse Absicht. Die gute ist, einen gemachten Fehler wieder gut zu machen, das Ächte wieder herzustellen. Eine solche Änderung ist eine kritische Opera- tion. Wie ist dieser Fall zu behandeln? Verschieden, je nachdem man sich auf den einfachen hermeneutischen oder den allgemeinen philologischen Standpunkt stellt. Hat ein Schriftsteller sich nicht genau grammatisch ausge- druͤckt, oder einen unangemessenen Ausdruck gebraucht, ein An- derer aber hat das verbessert, so koͤnnen wir dieß fuͤr die hermeneuti- sche Aufgabe recipiren als Verbesserung. Wir koͤnnen sagen, der Verfasser habe wol nur das Schlechtere gewaͤhlt, weil ihm nichts besseres zur Hand war, die Verbesserung hat also den eigentlichen Sinn des Verfassers getroffen. Anders von dem allgemeinen philologischen Standpunkte. Von diesem aus muͤssen wir die Hand des Verfassers in voll- staͤndigster Reinheit und Urspruͤnglichkeit zu erhalten suchen; sonst entziehen wir uns die Materialien zu einem bestimmten Urtheil uͤber den Schriftsteller und die Sprachbehandlung seiner Zeit und Gegend. Es kann sich ergeben, daß das, was geaͤndert, schein- bar verbessert worden ist, keine grammatische Irrung, sondern Sprachgebrauch der Zeit und Gegend ist. Was nun die Änderung aus boͤser Absicht betrifft, so ist bedeutend zu unterscheiden. Es kann sehr bestimmte Tendenzen geben, die nicht boͤse gegen den Verfasser gemeint sind, aber auch solche, die dieß sind. Es kann Jemand die Aussagen und Ausdruͤcke eines Schrift- stellers veraͤndern, wenn er glaubt Besseres zu wissen, als der Autor. Bei historischen Gegenstaͤnden laͤßt sich dieß recht gut denken. So wie ich weiß, der Irrthum war nicht ein momen- tanes Verfahren, sondern die bestimmte Auffassungsweise des Autors, so geschieht die Änderung aus keiner guten Absicht gegen den Autor. Das Werk wird alterirt und das Urspruͤngliche nicht hergestellt. Wer so aͤndert, kann es gut mit dem Leser meinen, um diesen vor Irrthum zu bewahren. Ferner, es kann Jemand einen Schriftsteller zur Auctoritaͤt fuͤr seine Ansicht machen wollen. Der Schriftsteller ist damit nicht gerade im Widerspruch, aber er hat sie nicht gerade aus- gesprochen. Durch eine kleine Änderung macht man, daß der Autor sie auszusprechen scheint. Dieß ist zwar keine gute Absicht, denn es wird dem Verfasser untergeschoben, was sein Wissen und Willen nicht war. Es ist ein Unrecht gegen den Verfasser, allein die Absicht ist auch nicht boͤs gegen ihn, sondern gut fuͤr die Sache. Zulezt laͤßt sich denken, daß Jemand eine Veraͤnderung macht, um auf den Schriftsteller zu bringen, was er nicht gethan, ihn eines Irrthums zu zeihen, den er nicht begangen. Unter welchen Bedingungen laͤßt sich dieß sagen? Die Indicationen muͤssen sehr klar sein. Nur unter der Voraussezung eines persoͤnlichen Partheiverhaͤltnisses und unter der Bedingung, daß der Verfasser nicht mehr reclamiren kann, aber doch noch nicht so fern ist, daß die Änderung in seiner Schrift nicht Einfluß haben koͤnnte. Solche Faͤlle kommen aber sehr selten vor. Wir wollen einen fingiren. Tertullian z. B. hat gegen den Marcion geschrieben. Seine Schrift ist eine Partheischrift. Wenn er nun oft Stellen von Marcion anfuͤhrt, und wir wissen, daß er denselben wirklich oft falsch aufgefaßt hat, so war, da Marcion einen Kezernamen hatte, nicht mehr reclamiren konnte, auch die Sache in lebhafter Anregung war, leicht moͤglich, daß Tertullian des Mannes Worte verdrehete und ihm unterschob, woran dieser gar nicht gedacht hatte. Nur unter solchen Umstaͤnden kann so etwas vorkommen. — Dagegen kann die pia fraus der Verfaͤlschung aus guter Absicht bei gewissen Classen von Schriften sehr leicht vorkommen. Man hat dabei das Interesse, eine Schrift, einen Schriftsteller als Auctoritaͤt oder Zeugen aufzustellen. Sind nun die, welche die Schriften im Alterthum verviel- faͤltigten, in dem Falle, daß man dergleichen absichtliche Verfaͤl- schungen von ihnen vermuthen kann? Unmittelbar ist dieß schwer zu denken. Denn gehen wir auf die Zeit zuruͤck, wo ein Werk durch Handschrift vervielfaͤltigt wurde, so muͤssen wir eine Vervielfaͤltigung im Einzelnen und eine im Ganzen unterscheiden. Leztere war ein eigentliches Ge- werbe, das von dem Interesse am Gegenstande ganz abgeloͤst war. Da laͤßt sich also dergleichen absichtliche Verfaͤlschung, Betrug — nicht denken. Die Vervielfaͤltigung im Einzelnen war nur zum Privatgebrauch, und konnte in der Regel keine Ruͤckwirkung auf die oͤffentliche haben. So ist also fuͤr absichtlichen Betrug bei Verfaͤlschung einer Schrift fast gar kein Raum, und es gehoͤrten offenbar ganz besondere Umstaͤnde dazu, wenn wahrscheinlich wer- den soll, daß dergleichen geschehen sei. Bei der Vervielfaͤltigung im Einzelnen zum Privatgebrauch koͤnnen dergleichen Veraͤnderungen vorkommen. Aber diese konnten erst in der zweiten Hand wirkliche Änderungen des Textes werden, wenn aus zum Privatgebrauch gemachten Handschriften mit Be- merkungen die Schrift vervielfaͤltigt wurde zu allgemeinem Gebrauch. Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit dem Neuen Testamente? Eine Menge von Griesbachs kritischen Regeln in den Prole- gomenen gruͤnden sich auf die Voraussezung absichtlicher Änderun- gen. Z. B. wenn er sagt, von zwei Lesearten, von denen die eine einen erbaulichen Gehalt hat, die andere nicht, ist diese an- dere vorzuziehen, eben so, wenn die eine bestimmter rechtglaͤubig ist als die andere. Diese Regeln beruhen darauf, daß man denkt, daß, wenn eine von beiden Lesearten falsch sein sollte, keine von beiden nur auf mechanische Irrungen zuruͤckzufuͤhren sei. Aller- dings hat es an sich betrachtet Wahrheit, daß ein Abschreiber in eine Stelle eher Nachdruck fuͤr den ascetischen Gebrauch habe hineinlegen, als herausbringen wollen. Aber ich kann nicht eher daruͤber entscheiden, als bis ausgemacht ist, daß die Differenz der Lesearten nicht durch mechanische Irrungen hat entstehen koͤnnen. Es fragt sich aber, ob es wahrscheinlich sei, daß ein Abschreiber solche absichtliche Änderungen gemacht habe? Bei einer Vervielfaͤltigung im Großen muͤßte die absichtliche Änderung von dem ausgegangen sein, der die Vervielfaͤltigung leitete. Aber es konnte kein Inte- resse fuͤr ihn haben, die Änderung in fremde Exemplare zu brin- gen, wenn auch in sein eigenes. Das groͤßere Interesse fuͤr den Abschreiber, der mit Abschriften ein Gewerbe trieb, war, sei- nen Credit zu erhalten durch zuverlaͤssige Abschriften. Der Ein- zelne, der die Änderung in seinem Exemplare machte, was konnte der mit seinem einen Exemplare bewirken? Es waͤre eine Absicht auf unbestimmten Erfolg gewesen, da an eine verbreitete Bekannt- schaft seiner Änderung vielleicht erst spaͤt zu denken war. So weiß man nicht recht, wie man sich eine solche pia fraus zu den- ken habe. Dasselbe muß man sagen von den absichtlichen Ver- faͤlschungen durch Orthodoxie oder Heterodoxie. Die Abschreiber waren als solche gar nicht in die kirchlichen Streitigkeiten ver- flochten. Wer in den Streit verflochten war, konnte sagen, ich lese so und dieß ließ sich denken. Aber daß das sollte in das Ge- werbe der Vervielfaͤltigung durch Abschriften gekommen sein, ist nicht gut denkbar. Denn bei der Art, wie man fruͤh anfing, die theol. Streitpunkte zu behandeln, kam es wenig darauf an, wie eine einzelne Stelle gelesen wurde. Man hatte eine ganz andere Art zu argumentiren, als jezt. Fuͤr diese fand man immer Stel- len, ohne daß man noͤthig hatte, in eine bestimmte Stelle die entsprechenden Ausdruͤcke hineinzubringen. Dazu kommt, daß das Meiste dieser Art sich recht gut aus mechanischen Irrungen er- klaͤren laͤßt. Wo beide Arten von Veraͤnderungen moͤglich sind, muß man die Erklaͤrung aus mechanischen Irrungen immer zu- erst versuchen, weil sich diese uͤberwiegend aufdringt. Eine andere Regel Griesbachs ist die, daß, wenn von zwei Lesearten die eine einen leichten richtigen Sinn giebt, die andere auf den ersten Anblick einen schweren oder falschen, der sich aber genauer betrachtet, rechtfertigt, die leztere vorzuziehen sei. Da denkt man sich also nachdenkende Abschreiber. Wenn keine andere Er- klaͤrung der Änderung als durch Absicht moͤglich ist, so ist die Regel allerdings richtig, es muͤßte denn eine absichtliche Änderung gegen den Verfasser der Schrift angenommen werden. Aber wie selten steht die Sache so, daß der Fall gar nicht aus aller- hand mechanischen Irrungen zu erklaͤren waͤre! Die Griesbachschen Prolegomenen haben die verschiedenen Mo- mente und Faͤlle gar nicht so gehoͤrig unterschieden. Es muß allemal zuerst die Frage entschieden werden, was im Allgemeinen moͤglicher ist, eine absichtliche Änderung oder eine mechanische Ir- rung. Wenn nun das leztere immer naͤher liegt, so ist das dar- auf bezuͤgliche Verfahren immer voranzuschicken und hierauf das andere, welches sich auf absichtliche Veraͤnderungen bezieht, zu basiren. So kommen also die Kanones von Griesbach immer in die lezte Reihe des Wahrscheinlichen. Ziehen wir nun zu Rathe, was oben uͤber das Verhaͤltniß gesagt ist, in welches ein Herausgeber des N. T. den Leser zum Texte stellen solle, so ist festgestellt worden, daß der Herausgeber keinen willkuͤhrlichen Text geben duͤrfe, sondern einen solchen, der soweit man zuruͤckgehen kann der in der Kirche am meisten ver- breitete war. Wenn nun der Leser im Fall ist, Verschiedenes waͤhlen zu muͤssen, so darf er auch nicht außer diesem Verbreite- ten etwas aufnehmen, sonst kommt er auf etwas im Privatge- brauch Entstandenes, also gerade absichtlich Gemachtes. Wenn es in den Commentarien wol heißt, dieses oder jenes Wort haͤtte nicht sollen aus dem Text geworfen werden, weil es in dieser oder jener Handschrift fehle, denn es giebt einen ganz guten Sinn, so ist dieß voͤllig unkritisch. Denn was heißt das im N. T. ein Wort aus dem Text herauswerfen? Der Text, den man meint, ist der zusammengeworfene receptus, den man erst ganz auseinander werfen muß, um einen Text zu erhalten. Ein wirklicher Text ist nur der einer einzelnen Handschrift; da kann man sagen, ich werfe hinaus, indem man aus demselben die Urschrift herzustellen sucht. Geht man nicht von einer einzelnen Handschrift aus, so ist eben die Aufgabe, erst einen Text zu machen. Und nun die Maxime, was einen guten Sinn gebe, sei beizubehalten, oder wissenschaftlicher, man habe kein Recht, etwas nicht in den Text aufzunehmen, weil es in solchen Quellen, die wir als Text an- nehmen koͤnnten, fehle, denn es stehe doch irgendwo und gebe einen guten Sinn, — was soll man dazu sagen? Also irgend- wo macht man keinen Text! Es kommt ja weder bei der einfa- chen hermeneutischen Aufgabe, noch auf dem allgemeinen philolo- gischen Standpunkte darauf an, ob ein guter Sinn da ist, sondern den urspruͤnglichen Text herzustellen. Daher koͤnnen Regeln, wie die aus Griesbach erwaͤhnten, nicht eher in das Urtheil eintreten, als bis das Verhaͤltniß der vorhandenen ver- schiedenen Lesearten diplomatisch bestimmt, und ausgemacht ist, daß zwischen den verschiedenen Lesearten nicht aus dem Gesichts- punkt der mechanischen Irrungen entschieden werden kann. Griesbach stellt auch den Kanon auf, daß uͤberall die schwieri- gere und dunklere der leichteren und klareren Leseart vorzuziehen sei, eben so das Ungewoͤhnliche dem Gewoͤhnlichen, das Haͤrtere dem Wei- chen. Dieser Kanon sezt ebenfalls wieder absichtliche Änderung voraus. Unter dieser Voraussezung ist's ganz richtig, der dunklern Leseart den Vorzug zu geben. Aber was das Ungewoͤhnliche betrifft, so kann dieß gerade das Falsche sein, weil es durch mechanische Ir- rung entstanden sein kann. Erst wenn es mit dieser Erklaͤrung nicht mehr gehen will, darf ich eine absichtliche Änderung vermuthen. Ferner sagt Griesbach, die kuͤrzere Leseart sei der laͤngeren vorzuziehen, wenn es, wie er hinzusezt, jener nicht an allen Zeug- nissen fehle. Diese Regel sezt wieder absichtliche Änderungen vor- aus. Vergleichen wir aber damit einen andern Kanon, wonach die Abweichung, oder bestimmter die kuͤrzere Leseart, welche durch Irrung des Auges bei Ähnlichkeit einiger Sylben entstanden, zu verwerfen ist, so entsteht ein Conflict zwischen den beiden Regeln. Waͤhrend also der Eine sagt, die kuͤrzere Leseart ist vorzuziehen, sagt der Andere, sie ist verwerflich, weil sie durch mechanische Irrung entstanden ist. Wie ist der Conflict zu loͤsen? Weil die Erklaͤ- rung aus einer mechanischen Irrung im Allgemeinen den Vorzug verdient, so ist die kuͤrzere Leseart verwerflich, wenn es der laͤn- geren nicht an allen guten Zeugnissen fehlt. Ich kann mir aber dieselbe Regel noch mit einer andern in Conflict denken. Ich soll nach der obigen Regel die kuͤrzere Leseart vorziehen, aber die laͤngere enthaͤlt etwas, wodurch von der Stelle ein heterodoxer Schein abgewendet wird. Sie waͤre also die orthodoxere. Da ziehe ich die kuͤrzere vor, aber aus einem ganz andern Grunde. Es kann indeß auch etwas weggelassen sein, weil es einen hetero- doxen Sinn gaͤbe. Soweit waͤre also die Auslassung, weil sie aus einem orthodoxen Motif entstanden waͤre, zu verwerfen, und die laͤngere Leseart vorzuziehen. Eben so kann es sein in Bezie- hung auf das Ascetische. Aus dem allen aber folgt, daß man erst eine Rangordnung zwischen den beiden Voraussezungen und somit zwischen den Regeln selbst feststellen muͤßte. Was hat die Praͤsumtion fuͤr sich oͤfter vorzukommen, mecha- nische Irrungen, oder direkte oder indirekt absichtliche Änderungen? Die ersteren sind fast unvermeidlich gewesen. Die indirekt absichtlichen Änderungen koͤnnen nur aus dem Privatgebrauch her- vorgehen und koͤnnen nicht allgemein gedacht werden. Die direkt absichtlichen Änderungen sind die seltensten. Man denkt sich gewoͤhnlich, daß die leztern besonders haͤufig in den kirchlichen Streigkeiten geschehen seien. Aber diese gehoͤren einer Zeit an, wo es schon eine Menge von Abweichungen im N. T. gab. Und was haͤtte einer gewinnen koͤnnen durch Ver- faͤlschung seines Exemplars? Andere haͤtten es, wenn er sich dar- auf berufen, gar nicht anerkannt. Oder haͤtte er hoffen sollen, eine verderbliche Saat fuͤr eine kuͤnftige Ernte zu saͤen, die er gar nicht mehr haͤtte erleben koͤnnen? Es giebt freilich Beispiele von absichtlicher Verfaͤlschung. Die sind aber anderer Art und gehen weiter, als was wir bis- her behandelt haben. So giebt man dem Marcion schuld, er habe nicht nur den neutest. Kanon einer bestimmten Theorie gemaͤß zugestuzt, sondern auch die einzelnen Schriften darnach zurecht- gemacht, namentlich viel daraus weggeschnitten. Das waͤre frei- lich eins der staͤrksten Exempel. Aber wie steht es damit? Um die Anschuldigung zu beweisen, muͤßten alle Differenzen eine be- stimmte Physiognomie haben und sich aus seinen Principien er- klaͤren lassen. Ist dieß moͤglich? Es ist eine unrichtige Behaup- tung, daß Marcion den ganzen Kanon des N. T., wie wir ihn haben, gekannt habe. Sein Kanon gehoͤrt in die Bildungszeit des neutest. Kanons und konnte wol nach den Verhaͤltnissen der Zeit nicht anders sein. Liest man Tertullian und Epiphanius gegen Marcion, so bleibt man schwankend, ob das Evangelium des Marcion das des Lukas gewesen, oder nur ein sehr aͤhnliches. Selbst die Hahnsche Untersuchung giebt noch keine Gewißheit, daß Marcion wirklich unsern Lukas vor sich gehabt und daß alles Abweichende sein Werk sei. Die Differenzen, welche Tertullian ihm alle als absichtlich zuschreibt, sind nicht alle von der Art, daß sie sich aus seinen Ideen ableiten lassen. Was sich aber nicht als absichtliche Änderung aus Marcions persoͤnlicher Ansicht erklaͤren laͤßt, ist auch uͤberhaupt nicht als absichtliche Änderung anzusehen. Wir wissen nicht, wie in dieser Beziehung sein Text ausgesehen, und so wie man Zusaͤze hat, die zweifelhaft sind, so wird auch alles Übrige zweifelhaft. Bei Marcion handelt es sich uͤbrigens um den Text eines einzigen Mannes. Das ist aber etwas anderes, als wenn man allgemein aufstellt, daß von Orthodoxen und Heterodoxen absicht- liche Änderungen gemacht seien. Dieß ist um so unwahrscheinli- cher, als die kirchlichen Streitigkeiten gar nicht auf dem Boden versirten, daß sie durch eine einzelne Schriftstelle zu entscheiden waͤren. Man sieht dieß besonders aus den Arianischen Streitig- keiten. Ein bedeutender Theil des Abendlandes war Arianisch. Haͤtte nun diese Doctrin noͤthig gehabt, den Text zu aͤndern, so muͤßte ja in den occidentalischen Texten eine Menge Verfaͤlschun- gen der Art vorhanden sein, was aber gar nicht der Fall ist. Es drehete sich aber in den Streitigkeiten uͤberhaupt nicht um die Leseart, sondern um die Exegese. Liegt die Sache nun gar so, daß eine Stelle auf zweierlei Art anzusehen ist, nemlich so, daß die eine Leseart als Beweis fuͤr eine bestimmte Lehre anzusehen ist, die andere nicht, so habe ich gleiches Recht zu sagen, die eine Partei hat zu Gunsten ihrer Lehre geaͤndert, und, die andere hat dieselbe Stelle durch Ent- stellung den Gegnern zum Beweise untauglich gemacht. Also muß ich mich nothwendig nach andern Entscheidungsgruͤnden um- sehen. Steht fest, daß das Eine nur in einzelnen Handschriften sich findet, das Andere das allgemein Verbreitete ist, so hat jenes gar kein Recht angefuͤhrt zu werden, fuͤr welche Seite es auch streiten moͤge. Es giebt aber viele Faͤlle, wo auf indirekte Weise etwas in den Text gekommen, was vorher, urspruͤnglich nicht darin war. Aber diese Faͤlle sind sehr verschiedener Art. Es kann Richtiges an die Stelle des Unrichtigen in den Text kommen; es koͤnnen Correcturen uͤber die Zeilen oder an den Rand geschrieben werden und durch spaͤtere Handschriften in den Text kommen; es kann Ausgelassenes an den Rand geschrieben werden, oder auch eine erklaͤrende Glosse, und das eine wie das andere nachher in den Text kommen. Was hier Princip fuͤr die Wahl ist, muͤßte eben so Prin- cip fuͤr die Conjectur sein. Das Faktum steht fest, daß in meh- reren Handschriften Stellen in den Text gekommen sind, die in andern nur Marginalien waren. Besonders gilt dieß von den Evangelien, die so viele Parallelen haben und doch abweichend sind. Ein fleißiger Leser schrieb z. B. bei der kuͤrzeren Erzaͤhlung an den Rand, was die laͤngere Parallele mehr hat. So erscheint dann wol in spaͤteren Handschriften die kuͤrzere der laͤngeren assi- milirt. Wenn aͤltere oder gleich alte Handschriften das Kuͤrzere bezeugen, so scheint der Fall klar zu sein. Aber kann es nicht Assimilationen gegeben haben, welche aͤlter sind, als unser Text, aͤlter, als unsere Zeugnisse? Dieß ist eine Moͤglichkeit, aber wir haben keinen Grund uͤber unsern aͤltesten weit verbreiteten Text hinauszugehen. Aber es koͤnnen erklaͤrende Anmerkungen in den Text gekommen sein, und in allen Handschriften stehen. Enthal- ten sie etwas, was dem bestimmten Zusammenhange nicht ent- spricht, was den Principien der psychologischen Exegese wider- spricht, so koͤnnen wir sagen, hier ist ein spaͤterer Zusaz, wenn auch alle Handschriften ihn haben, aber dieß ist immer nur ein eregetisches Urtheil, zu einer kritischen Ausscheidung aus dem Text fehlt es uns an allen Zeugnissen. Wir koͤnnen also als Resultat fuͤr die neutest. Kritik feststel- len: Überall wo eine Verschiedenheit obwaltet, verschiedene Texte gegeben sind, ist die Aufgabe zunaͤchst die, die Entstehungsweise der Verschiedenheit zu erklaͤren. Darin liegt immer zugleich die Entscheidung. Die Erklaͤrung aus mechanischen Irrungen ist immer das Erste, was versucht werden muß. Ergiebt sich so eine Entscheidung, so ist diese vorlaͤufig als die richtige anzusehen. Vorlaͤufig, denn es koͤnnen sich im Zusammenhange Indicien ergeben, die fuͤr die anderweitige Entstehung oder Verschiedenheit sprechen. Ergiebt sich aber eine solche Entscheidung nicht, so ent- steht freilich die Wahrscheinlichkeit einer urspruͤnglich absichtlichen Änderung. Dieß muß aber immer das Lezte bleiben. Muͤssen wir alle Lesearten bis auf Eine verwerfen und diese giebt ent- weder keinen logisch und grammatisch geschlossenen Sinn oder keinen im Zusammenhange, so muͤssen wir dann sagen, dieß sei die, aus welcher wir alle Entstellungen oder etwaige spaͤtere Än- derungen weggenommen, aber doch nicht das, was der Verfasser selber geschrieben habe. Da muß denn auf andere Weise gesucht werden, die Urschrift herzustellen, wobei es einerlei ist, ob man die Huͤlfe aus irgend einem Winkel des kritischen Apparats nimmt, oder durch Conjectur gewinnt. Beides ist gleich ungewiß in kri- tischer Hinsicht. Auf dem Gebiete der classischen Litteratur scheint sich die Sache anders zu stellen, wiewol wir nie ein anderes Princip zu- geben koͤnnen. Der Unterschied ist nur der, daß wir von den meisten classischen Schriftstellern nur wenig Handschriften haben, vom N. T. eine Menge. Wir sind also dort mehr in dem Fall, unsre Zuflucht zur Conjectur zu nehmen, als bei dem N. T. Bei den classischen Schriftstellen kann man nun sagen, die Con- jectur solle nur vorlaͤufig sein, denn es koͤnnen sich immer noch Handschriften finden, die das Richtige geben. Oft schon sind so Conjecturen durch spaͤter gefundene Handschriften bestaͤtigt worden. Waͤhrend man nun hier hoffen kann, bessere Handschriften zu finden und in diesen Besseres, haben wir bei dem N. T. die Hoffnung nicht. Wenn nun, wie schon bemerkt, auch bei dem N. T. ungeachtet des großen handschriftlichen Apparats die Con- jectur doch zulaͤssig, ja nothwendig ist, so ist keine Verschiedenheit der kritischen Principien, sondern nur eine Verschiedenheit der Lage der Dinge auf den beiden Gebieten. Es entsteht nun die Frage, wo im N. T. die Grenze sei zwischen den beiden auseinander gehaltenen Classen von Hand- schriften, von deren einer wir sagten, daß ihre Bestaͤtigung nicht mehr Gewicht habe, als die Conjectur? Dieß fuͤhrt ins Gebiet der Diplomatik oder der Kunst, den Werth der Handschriften zu schaͤzen. Wir haben schon oben zwi- schen Uncial- und Cursivhandschriften unterschieden. Gewoͤhnlich sind die lezteren juͤnger, aber nicht immer. Es giebt keine schar- fen Grenzen. Genau kann man nur unterscheiden Uncialhand- schriften aus einer Zeit, wo man noch gar nicht cursiv schrieb, und Cursivhandschriften aus einer Zeit, wo man nicht mehr mit Un- cialen schrieb. Leztere sind in diesem Falle bestimmt juͤnger. Wie steht es aber um die gleichzeitigen? Die Cursivschrift ist der Schnelligkeit wegen erfunden. Also hat die Uncialhandschrift fuͤr sich die Praͤsumtion der groͤßeren Sorgfalt, welche schon in dem Entschlusse liegt, sie zu gebrauchen. Und da die Zeichen sich be- stimmter sondern, so ist auch ein Versehen leicher zu entdecken. Allerdings sind aus der Uncialschrift die mechanischen Irrungen nicht zu verbannen, es lassen sich Regeln uͤber die Verwechselung der Zeichen aufstellen, woraus eben die mechanischen Irrungen entstanden sind, und diese Regeln hat man sich wol zu merken. Aber waͤre eben so haͤufig aus der Cursivschrift wie aus der Uncialschrift abgeschrieben worden, so wuͤrde die Zahl der mecha- nischen Irrungen beiweiten groͤßer sein. Wie sind nun zu gleicher Zeit Handschriften beiderlei Art entstanden? Wer mehr Zeit und Kosten aufwenden konnte, auch mehr auf die Sache hielt, machte oder erwarb Uncialhandschriften. Hermeneutik u. Kritik. 22 Außerdem waren die Cursivhandschriften mehr fuͤr den Privatge- brauch, die Uncialhandschriften fuͤr den oͤffentlichen. Auch deßhalb haben die lezteren mehr Praͤsumtion fuͤr sich. Aber es ist nicht bloß auf das Alter der Handschriften zu sehen, sondern auch auf das Vaterland. Hier kommt denn, wie schon bemerkt, der Unterschied der rein griechischen und griechischla- teinischen in Betracht. Was sich in den Handschriften der aͤltern Zeit und in griechischen wie lateinischgriechischen findet, das ist eine mit moͤglichster Vollkommenheit bezeugte Leseart. In dem textus receptus finden wir eine Menge der bestbe- zeugten Lesearten nicht. Unter diesen sind freilich viele nicht von großer Wichtigkeit, sie enthalten oft nur eine Eigenthuͤmlichkeit der grammatischen Form. Aber oft kann man auch die bestbe- zeugte Leseart nicht so lassen. Schlechtere Handschriften geben Besseres dem Sinne nach. Aber jenes ist doch das Sichere, das Spaͤtere wahrscheinlich Correctur, die in den spaͤteren Handschrif- ten oft sehr leichtfertig gemacht ist. Man muß sich deßhalb an das beglaubigt Alte, Verbreitete halten, und wenn es keinen Sinn giebt, die Conjectur darauf bauen. Man bauet aber die Conjecturalkritik hierauf viel sicherer, als auf den spaͤteren Text. Lassen sich fuͤr die Conjecturalkritik Regeln geben? Nein, keine positiven Regeln, sondern nur Cautelen. Positive Regeln aber so wenig, als es fuͤr das Erfinden eine Kunstlehre giebt. Die Conjectur ist Sache des durch Übung gebildeten Talents. Laͤßt sich das Urspruͤngliche, was gesucht wird, durch Con- jectur aus einer schwierigen Stelle allein herausbringen, oder muß man Anderes zu Huͤlfe nehmen? Schon die Frage fuͤhrt auf das analoge Gebiet der hermeneutischen Operationen. Hier soll man aus den Umgebungen den schwierigen Punkt zu ver- stehen suchen. Diese Umgebungen reichen oft hin, oft nicht. So gerade in der Kritik. Bisweilen braucht man nichts zu Huͤlfe zu nehmen und erraͤth aus der Stelle selbst, was der Sinn sein muß. Da gilt es denn aber, den entsprechenden Text zu finden, woraus sich die Entstehung des Vorliegenden am leichtesten er- klaͤrt. Dieß ist die rechte kritische Probe. Diese Aufgabe scheint aber in Beziehung auf den ungeheuren kritischen Apparat des N. T. unendlich, wenn sie so gefaßt wird, aus der Conjectur alle Differenzen zu erklaͤren. Die Handschriften liegen Jahrhunderte auseinander und die Differenz ist oft erst durch eine lange Reihe von Falschem entstanden, die wir vollstaͤndig gar nicht verfolgen koͤnnen. In diesem Umfange kann also die Aufgabe nicht gestellt werden. Sie muß getheilt werden. Das Erste ist, die Probe in Beziehung auf die bestbezeugten Lesearten zu machen. Besteht eine Conjectur diese Probe nicht, so ist sie nur eine vorlaͤufige fuͤr das hermeneutische Beduͤrfniß, es ist moͤglich, daß noch Besseres gefunden werde. Wird aber diese Probe geleistet, so kann man weiter gehen. Zunaͤchst wuͤrde man die uͤbrigen verschiedenen Lesearten nach Alter und Ursprung zusammenstellen. Schon hieraus ergeben sich vielleicht Erklaͤrun- gen der spaͤteren aus den fruͤheren. Je nachdem nun diese Ope- ration gelaͤnge, wuͤrde die Conjectur am vollstaͤndigsten bewiesen sein. Aber wenn man auch den kritischen Apparat aufs sorgfaͤltigste zusammenstellte und behandelte, eine ununterbrochene Stufenleiter, die bis zu dem aͤltesten Text zuruͤckfuͤhrte, koͤnnten wir doch fuͤr kein einziges Buch des N. T. aufstellen. Wir werden immer auf Luͤcken stoßen. Daher muß man sich begnuͤgen, wenn man den am besten bezeugten Text aus dem, was man als das Urspruͤngliche vermuthen moͤchte, erklaͤren kann. Der Grundsaz ist festzuhalten, daß man auch da, wo man das Urspruͤngliche zum Behuf der hermeneutischen Operation machen muß, nur von dem, was als das Älteste vorhanden ist, ausgehen duͤrfe. Was auf die Weise entsteht, hat seinen Werth durch die kunstmaͤßige kritische Opera- tion, aber als Auctoritaͤt ist es nie anzusehen. Fuͤr diese divinatorische Kritik giebt es, wie gesagt, nur Cau- telen, keine Regeln. Aber welches sind diese Cautelen? Zuerst ist hinzuweisen auf die Analogie der divinatorischen Operation mit der hermeneutischen. Wie hier die naͤchste Umge- bung, oder auch die weitere, und analoge Parallelstellen auf den 22* rechten Sinn fuͤhren, so kann auch fuͤr die kritische Conjectur zunaͤchst die Stelle selbst Indicationen enthalten, wie zu ergaͤn- zen sei, wenn der Fehler im Text ein solcher ist, daß die gram- matische oder logische Einheit das einzig Gefaͤhrdete ist. Es kann freilich Stellen geben, wo dieß das Übel nur zu sein scheint, es aber nicht ist. Dann wird so viel klar, daß die grammatische Ergaͤnzung oder Zurechtstellung der hermeneutischen Operation nicht genuͤgt. Daraus entsteht denn die Aufgabe, das gewonnene Resultat aufzuheben, und die Stelle von einer andern Seite anzusehen. Nehmen wir nun hieraus die Cautelen, wonach der Fund zu pruͤfen ist, so ist die erste diese, daß die Conjectur der herme- neutischen Operation genuͤgen muͤsse. Außer dem, daß die Con- jectur zu dem Vorhandenen in dem Verhaͤltnisse stehen muß, daß sich die vorhandenen Differenzen daraus herleiten lassen, muß sie auch in den Sinn und Zusammenhang der Stelle passen, sonst kann sie die rechte nicht sein. Beides muß moͤglichst zusammen- treffen, denn es ist davon auszugehen, daß der Verfasser geschrie- ben hat, was im Zusammenhange nothwendig war, und daß der Fehler aus mechanischer Irrung entstanden ist. Es sind aber Faͤlle denkbar, wo beides einander nicht ent- spricht, man kann aus dem Gefundenen wohl die Differenzen alle unmittelbar erklaͤren, aber es genuͤgt der hermeneutischen Opera- tion nicht vollkommen, und eben so umgekehrt. Welchem von beiden Momenten ist dann das Übergewicht zu geben, um das weitere Verfahren zu leiten? Dann ist freilich vorauszusezen, daß das Resultat nicht auf die vollkommenste Weise entstanden sei. Aber einfach und allgemein ist die Frage nicht zu loͤsen. Es kommt alles auf die Lage der Sache an. Je vollstaͤndiger die Succession der Documente ist, um so vollkommener muß sich alles Vorhandene aus dem Gefundenen erklaͤren lassen; ist aber die Succession sehr unterbrochen, so kann auch nichts so Vollstaͤndi- ges gefordert werden. Hat man sehr alte und sehr neue Hand- schriften, die ganz Verschiedenes geben, so kann die Aufgabe nicht so gestellt werden; alle Hypothesen zur Erklaͤrung der Entstehung der Verschiedenheit helfen nichts, weil die Mittelglieder fehlen. Nur das kann dann die Aufgabe sein, etwas zu finden, was dem Zusammenhang der Rede entspricht. Aber hier tritt nun eine andere Cautel ein. Das Gefundene muß nicht nur in der Sprache uͤberhaupt, sondern im Sprach- gebrauch des Verfassers gegeben sein. Kann ich dieß nicht nach- weisen, so ist die Conjectur unsicher, und, im Fall das Gegen- theil statt findet, gerade zu unrichtig. Es giebt gewisse Wendun- gen und Ausdruͤcke, die zu einer bestimmten Zeit nur in der Poe- sie oder in einem bestimmten Gebiet der Prosa uͤblich sind. Nimmt man daraus fuͤr ein anderes Gebiet eine Emendation, so ist sie unrichtig. Je vollstaͤndiger die Nachweisung des entspre- chenden Sprachgebrauchs ist, desto mehr kann sich die Conjectur geltend machen. Hier zeigt sich die Abhaͤngigkeit der philologischen Disciplinen unter einander. Es liegt darin eine Begrenzung der Sicherheit in der Loͤsung der Aufgabe. Denn die Kenntniß des Sprachgebrauchs erlangen wir doch nur auf demselben Wege, nemlich durch kritische Operationen. Werden viele verdorbene Stellen zur Nachweisung des Sprachgebrauchs angefuͤhrt, so kann Falsches entstehen; jene muͤssen erst festgestellt werden. So zeigt sich, daß die vollkommene Gewißheit der Emendation nur ein Werk der Zeit ist. Sie kann wo und wann sie entsteht vollkommenen Beifall finden, aber man muß abwarten, ob sie sich bei erweiter- ter Kenntniß der Sprache und Urkunden bestaͤtigt. Wenden wir dieß auf das N. T. besonders an, so ist hier die eigentliche Schwierigkeit, daß der neutest. Sprachgebrauch schwer zu bestimmen ist. Einmal ist uns die Beschaffenheit der aͤltesten Texte auf sehr uͤble Weise aus den Augen geruͤckt. Die ersten gedruckten Editionen sind voll von Correcturen in Beziehung auf die grammatischen Formen und die Orthographie. Das ist eine falsche Grundlage, wovon man ausgeht. Es soll nicht be- hauptet werden, daß alle unregelmaͤßigen Formen z. B. der Va- ticanischen und anderer Handschriften zur Zeit der Apostel geschrie- ben oder gesprochen wurden. Aber wenn es darauf ankommt, aus dem Vorhandenen eine richtige kritische Operation zu bilden, so muß ich dieß auch vollstaͤndig vor mir haben, ich muß selbst die Schriftzuͤge kennen, um Verwechselungen und dergleichen erklaͤren zu koͤnnen. Es kann also viel Falsches gemacht werden, wenn man nur auf den gedruckten Text zuruͤckgeht. Sodann aber kann man das neutest. Sprachgebiet so wenig genau bestimmen. Man hat in dieser Hinsicht zwei Richtungen verfolgt. Beide zu einem einstimmigen Resultat zu bringen, ist noch nicht gelungen, und eben deßhalb auch nicht, das neutest. Sprachgebiet genau zu fixiren. Die eine Richtung geht von dem Individuellen in der neutest. Sammlung aus. Allein wegen des geringen Umfangs dessen, was man von den Meisten hat, und wegen der proble- matischen Identitaͤt ist hier eine unaufloͤsliche Aufgabe. Die an- dere Richtung ist die nach dem Gemeinsamen. Dieß hat nun eine zweifache Beziehung, die eine auf die griechische Sprache, wie sie damals anderwaͤrts bestand, die andere auf das Helleni- stische. Doch ist auch hier schwer zu einem genuͤgenden Resultate zu gelangen. Wollte man z. B. behaupten, was Philo und Jo- sephus geschrieben gehoͤre unmittelbar dem neutest. Sprachgebiete an, so waͤre das nicht zu rechtfertigen. Eben so, wenn man sagen wollte, was dem Macedonischen Sprachgebiete angehoͤre, sei unmittelbar auch das neutestamentliche. Da ist also eine Un- sicherheit nach beiden Seiten und des Feststehenden noch wenig. Nach obiger Regel muͤßte man bei den neutest. Schriftstellern stehen bleiben, aber da ist der Umfang dessen, woraus Bewaͤh- rung herzunehmen ist, zu beschraͤnkt. So muͤssen wir sagen, daß die divinatorische Kritik im N. T. weit unsicherer ist, als im Ge- biet der classischen Litteratur. In Beziehung auf die Aufgabe, aus dem Gefundenen das Vorhandene zu erklaͤren, stehen wir scheinbar mit dem N. T. besser, weil wir von dem handschriftlich aͤltesten Text eine große Succession von Dokumenten haben, Handschriften aus allen Jahrhunderten. Aber wenn wir nun auch den gehoͤrig bezeugten aͤltesten Text haben, so ist die Aufgabe nicht leichter, denn die Luͤcke zwischen dem Ältesten und Urspruͤnglichen bleibt und ist nicht auszufuͤllen, und man kann gar nicht die Forderung stellen, in allen Faͤllen das aͤlteste Vorhandene aus dem Gefundenen zu erklaͤren. Es gab ja eigentlich gar keine Urschriften des ganzen N. T., die Sammlung war schon Abschrift. Dazu kommt, daß die urspruͤngliche Vervielfaͤltigung nur aus religioͤsem Interesse, ohne alles philologische geschah. Zu der Zeit, wo die philologi- sche Tendenz sich zu regen begann, bestand die Sammlung schon ziemlich in der Gestalt, in der wir sie haben. Kurz das Sam- meln und Zusammenschreiben geschah ohne alle philologische Auf- sicht, und nur mit mechanischer Treue. Vom A. T. ruͤhmt man die Genauigkeit und Sorgfalt, welche man auf die Abschriften und deren Collation gewendet, und mit der man die Abweichungen bemerkt hat. Koͤnnen wir dieß auch vom N. T. ruͤhmen? Nein. Die Verhaͤltnisse waren ganz andere bei dem A. T., und doch ist es dem nicht entgangen, eine Menge von Abweichungen zu haben. Jene Genauigkeit beim A. T. beschraͤnkte sich auf die zum oͤffent- lichen Gebrauch bestimmten Synagogenrollen. Die erste Verviel- faͤltigung des N. T. geschah zum Privatgebrauch. Dazu kommt, daß bei der Entstehung dessen, was der Sammlung vorausgehen mußte, alles zufaͤllig und gelegentlich war. Wie sind z. B. die Abschriften der einzelnen apostolischen Briefe zu andern Gemein- den gekommen? Offenbar durch Einzelne zufaͤllig und gelegent- lich. Nachher mag mehr Genauigkeit entstanden sein, das ur- spruͤngliche Verfahren war keinesweges von der Art. Also kann im N. T. weit weniger davon die Rede sein, das Urspruͤngliche herzustellen, als bei den classischen Schriften. Hier war die Ver- vielfaͤltigung vom Anfang an mehr regelmaͤßig und von philolo- gischem Interesse geleitet. Waͤre auch im N. T. die Nothwen- digkeit haͤufiger, dem Text durch divinatorische Kritik zu Huͤlfe zu kommen, die Loͤsung haͤtte doch nie den Grad der Sicherheit, wie auf dem classischen Gebiet. Es giebt allerdings im N. T. Stellen, welche durch das Vorhandene nicht zu heilen sind, und die Zahl derselben wird groͤßer, wenn man auf den aͤltesten Text zuruͤckgeht, weil die spaͤteren Handschriften schon Emendationen aufgenommen haben. Allein jene Stellen sind groͤßtentheils von der Art, daß sie das wesentliche Interesse und die Dignitaͤt des N. T. nicht affiziren. Sollte wirklich eine kirchliche Lehre auf einer verdaͤchtigen Stelle beruhen, so waͤre das ein Übel, welches mit Sicherheit nicht zu heilen waͤre. Allein das ist wol nie der Fall, denn selbst in einzelnen Stellen, wo es sein koͤnnte, moͤchte wol fuͤr die kirchliche Lehre wenig entschieden werden, wenn man so oder so liest. Vorausgesezt, daß das angegebene Verfahren das richtige sei, und daß es verhaͤltnißmaͤßig wenig Stellen gebe, welche die Huͤlfe der divinatorischen Kritik erfordern, um den Sinn richtig zu be- stimmen, wiefern liegt es jedem Theologen ob, sich mit der neutest. Kritik zu befassen? Diese Frage laͤßt sich verschieden beantworten. Haͤlt man fuͤr zulaͤssig, sich unter eine Auctoritaͤt zu begeben, so scheint es, als koͤnne man sich der Sache gaͤnzlich entschlagen. Allein es kommt doch gar sehr darauf an, ob man diese oder jene Auctoritaͤt waͤhlt. Will man sich nun bei dieser Wahl nicht wieder unter eine Aucto- ritaͤt begeben, so muß man doch selbst ein Urtheil haben. Es mag Manchem zutraͤglicher scheinen, eine gute Wahl zu treffen, als selbst an die Sache zu gehen. Allein in der evangelischen Kirche werden wir doch schwerlich zugeben, daß nur Wenigen jenes Geschaͤft obliege, sobald wir das Princip festhalten, daß der Theolog in seiner Praxis uͤberwiegend mit dem Grundtext, nicht mit der Übersezung zu thun habe. Hiernach muß Jedem obliegen, sich um das, was er vor sich hat, wiefern es der Text ist oder nicht, zu bekuͤmmern. Dieß gilt nicht allein von bestimm- ten dogmatisch wichtigen Stellen. Allein es ist nicht genug, eine Aufgabe allgemein zu stellen, es kommt auch darauf an, ob die Mittel zu ihrer Loͤsung vor- handen sind. Man muß dem Theologen nachweisen, daß die Mittel in seiner Hand seien, und daß der Aufwand von Zeit fuͤr ihn in einem richtigen Verhaͤltnisse stehe. Wie liegt die Sache zu unsrer Zeit? Was haben wir fuͤr Huͤlfsmittel, uns von der Herrschaft der recepta zu befreien? Alle Ausgaben, die auf irgend eine Weise kritisch sind, (die Lachmannsche freilich ausgenommen, obwohl sie, zwar kritisch ge- nug in sich selbst, doch so lange der Apparat fehlt nicht kritisch genannt werden kann, weil der Leser sie nicht kritisch fuͤr sich allein gebrauchen kann,) haben bisher die recepta zum Grund gelegt, selbst Griesbach. Will man nun eine Vorstellung vom Zustande des Textes haben, so muß man auch bei Griesbach sein Auge auf den krit. Apparat haben. Das Erste, was da wahr- zunehmen, ist, wieweit sich die recepta von den aͤltesten Hand- schriften der beiden Hauptfamilien entfernt hat. Hat man diese Hauptanschauung gewonnen, so wird man die Achtung vor je- nem Text schon hinlaͤnglich verlieren. Aber vollstaͤndig kann man sich doch noch nicht uͤberzeugen, wenn man auch bei Seite sezt, daß der bisherige Apparat noch auf sehr unvollstaͤndigen Verglei- chungen beruht, denn auch bei Griesbach ist niemals der Stand der Sache vollstaͤndig und klar dargestellt. Durch die Art, wie Griesbach den Apparat im Verhaͤltniß zum Text eingerichtet hat Vergl. S. 305 f. , wird eine stetige Vergleichung unmoͤglich. Eine solche aber ist nothwendig. Freilich wuͤrde, wenn die Vergleichung stets moͤglich und sicher sein sollte, die Masse des kritischen Apparats groͤßer werden muͤssen, wodurch denn das Verfahren sehr erschwert wer- den wuͤrde. Aber es laͤßt sich eine bessere Einrichtung des Appa- rats denken, so daß alle Handschriften, die gar keine Auctoritaͤt haben, weggelassen, und die Vergleichung nur auf die wirklichen Auctoritaͤten beschraͤnkt wuͤrde. Indem so die unnuͤze Masse ver- schwaͤnde, wuͤrde es moͤglich sein, den Zustand des ganzen Textes vor Augen zu bringen und bei jeder Stelle zu sehen, wie sich die recepta zu dem bezeugten Text verhaͤlt. Auf die Weise lie- ßen sich auch die verschiedenen Classen der Abweichungen der Zahl nach in den Auctoritaͤten darstellen. So erhielte man eine Stu- fenleiter der Abweichungen, bis man an die Stelle kaͤme, wo der Apparat nicht mehr ausreicht und die divinatorische Kritik zu Huͤlfe genommen werden muß. Bei so beschraͤnkendem Verfah- ren wuͤrde die Zahl solcher Stellen groͤßer, weil in den spaͤteren Handschriften schon Correcturen in den Text gekommen sind. Aber es waͤre besser, solche Handschriften ganz wegzulassen, damit man nicht verleitet wuͤrde fuͤr Quellen zu halten, was keine sind. Die gewoͤhnlichen Handausgaben des Textes sind zur Übung in der Kritik gar nicht zu gebrauchen. Nur die Griesbachsche ist dazu geeignet. Wie nun diese? Man muß einzelne Theile des Textes kritisch genau durcharbeiten. Zu dem Ende mache man sich zuerst aus den Griesbachschen Prolegomenen und den Wet- steinschen mit den Handschriften bekannt, welche als Hauptaucto- ritaͤten anzusehen sind. Man abstrahire dabei ganz von der sehr componirten und gebrechlichen Griesbachschen Theorie, und halte sich allein an die Uncialen. Wenn auch unter den Cursivhand- schriften solche sind, welche mit jenen gleiches Alter haben, so sind sie doch nicht von dem Belang, um deßwegen das Verfah- ren complicirter zu machen. Hat man sich nun mit jenen Un- cialen genau bekannt gemacht, ihrem Alter, Ursprung, ihrer Be- schaffenheit, dann muß man in dem Abschnitt, den man durch- arbeiten will, alle Stellen in dem kritischen Apparat vergleichen, wo mehrere zusammen angefuͤhrt sind. Dabei ist aber zu beach- ten, daß, wo Griesbach fuͤr eine Leseart keine dergleichen Aucto- ritaͤt anfuͤhrt, darum die uͤbrigen nicht genannten nicht immer fuͤr die recepta sind. Dann lege man sich die Frage vor, wie das, wofuͤr wirkliche Zeugen sind, und die recepta sich genetisch zu einander verhalten, wie eins aus dem andern auf dem Wege der mechanischen Irrung entstanden sein koͤnne. Die Handschrif- ten koͤnnen aber Fehler haben, die recepta Gutes darbieten. In diesem Falle ist auszumitteln, ob der gemeine Text so sei, daß das Bezeugte daraus entstanden sein kann. Das Umgekehrte kann ich nicht sehen. Dann ist vorlaͤufig die Hypothese aufzu- stellen, daß die recepta Correctur ist oder eine andere uns unbe- kannte Quelle hat, und daß dasjenige, was der kritische Apparat darbietet, ein Fehler ist. Aber eine Zusammenstellung der Fehler, welche sich notorisch als solche in den Handschriften finden, ist noch nicht vollstaͤndig aus den kritischen Apparaten zu entnehmen, weil die Vergleichung der Handschriften noch sehr unvollkommen ist. Durch diese Übung, Lesearten in Beziehung auf ihre Gene- sis zu vergleichen, bildet sich eine Anschauung von den Subsidien und der Beschaffenheit des Textes. Und damit ist man im Stande, in solchen Faͤllen, wo der wirklich bezeugte alte Text die divinato- rische Kritik erfordert, diese nach den obigen Regeln auszuuͤben. Hat man einen Apparat wie den Griesbachschen vor sich, so muß man doch auch auf die Varianten seine Aufmerksamkeit len- ken, welche von geringeren Auctoritaͤten dargeboten werden. Man mag dann sehen, wiefern sie solche Loͤsungen sind, die den Regeln genug thun, immer aber darf man sie nur als Erzeugnisse der divinatorischen Kritik ansehen. Wenn man voraussezen darf, daß jeder Theolog eine ge- wisse Gewoͤhnung an das classische Alterthum hat, so kennt er von hier aus die Operationen der divinatorischen Kritik. Aber um diese im N. T. uͤben zu koͤnnen, muß eine fleißige Lesung des N. T. dazukommen, eine wachsende Bekanntschaft mit den Ei- genthuͤmlichkeiten desselben. In dieser Hinsicht giebt es verschie- dene Huͤlfsmittel fuͤr die eigentliche hermeneutische Operation, die besondern Einfluß auf das Gebiet der Kritik ausuͤben koͤnnen. Dieß sind die Sammlungen, worin der Sprachgebrauch alter Schriftsteller mit dem neutest. verglichen wird. Rechnet man ab, daß hier oft Analogien aufgestellt sind, die keine sind, denn der- gleichen wird immer vorkommen, wo gesucht wird, so gewinnt man daraus allerdings eine gewisse Analogie fuͤr das divinatori- sche Verfahren im N. T. Wollte man sich dabei immer nur an die neutest. Analogien halten, so wuͤrde man oft nur ein reines non liquet aussprechen muͤssen. Hat man sich aber aber auf die rechte Weise das Gebiet der Analogien erweitert, so kann man daraus Huͤlfe nehmen. Denn es kann Faͤlle geben, wo der ur- spruͤngliche Text dem classischen Gebiete naͤher liegt, das Unzu- verlaͤssige dagegen dem neutest. Sprachgebrauch. Gesezt nun, man machte Versuche, Stellen, welche durch urkundliche Kritik nicht zu heilen sind, durch die divinatorische herzustellen, wie weit geht der Gebrauch der Vermuthung? Die eigenthuͤmliche normale Dignitaͤt des N. T. schreibt dabei ganz besondere Grenzen vor, macht ausgezeichnete Vorsicht noth- wendig. Es ist, wie schon gesagt, von solchen Emendationen immer nur ein negativer, kein positiver Gebrauch zu machen, und gar nicht der Fall, daß, wie man oft gedacht hat, mit der Art, den Text einiger Stellen zu constituiren, gewisse Lehren stehen oder fallen. Man kann nicht voraussezen, daß Vorstellungen, die sich erst in theologischen Streitigkeiten gebildet, schon so im N. T. enthalten sein sollten. Dann waͤren sie ja auch in das allgemein christliche Bewußtsein uͤbergegangen, und die entgegen- gesezten haͤtten sich dann gar nicht koͤnnen geltend machen. Nur der Fall kann vorkommen, daß ich sage, wenn ich die Stelle so lese, so kann ich sie als Zeugniß gebrauchen fuͤr die und die dog- matische Vorstellung, wenn aber so, dann nicht. Aber nicht werde ich sie dann dagegen anfuͤhren koͤnnen. Der eigentliche Werth der verschiedenen Lesearten in Beziehung auf den dogma- tischen Gebrauch ist nur der, daß die eine einen bestimmten Ge- brauch zulaͤßt, die andere nicht. Übrigens aber kann nie eine we- sentliche Lehre auf einer einzelnen Stelle beruhen. Was gar keinen Halt haͤtte, als in der Art, wie eine einzelne isolirte Stelle gele- sen wuͤrde, koͤnnte doch nicht wesentlicher Gegenstand des christ- lichen Glaubens sein. Dadurch wird der Werth der divinatori- schen Kritik freilich beschraͤnkt, aber wir koͤnnen ihr uns um so zuversichtlicher hingeben, da es niemals diese eine Stelle ist, welche dem dogmatischen Interesse wesentlich nuͤzen oder scha- den wird. Ein wichtiger Punkt, der nicht außer Acht zu lassen ist, ist der, daß wenige von den Handschriften, die vorzuͤglich in Betracht kommen, vollstaͤndig sind. Die meisten haben Luͤcken oder erstrecken sich nur uͤber einzelne Theile des Textes. Beachtet man das nicht, so entstehen leicht falsche Vorstellungen. Findet man z. B. bei Griesbach Handschriften fuͤr eine Abweichung von der recepta angefuͤhrt, so schließt man leicht fehl, daß die nicht genannten fuͤr die recepta seien. Will man eine Stelle kritisch gruͤndlich durcharbeiten, so muß man sich vor Augen bringen, welche Hand- schriften da sind und welche nicht. Man notire sich zur Bequem- lichkeit in seinem N. T. auf jeder Seite, was fuͤr Handschriften da sind und was fuͤr Luͤcken. Die Uncialhandschriften selbst sind nicht von gleichem Werth. Der Werth derselben muß genau bestimmt werden, damit man sich bei einer so zusammengesezten Operation nur auf das von ausgezeichnetem Werth beschraͤnke. Ein Hauptpunkt der Werth- bestimmung ist das Alter. Vergleiche daruͤber das Obige. Aber es waͤre kein richtiges Verfahren, die Stimmen der werthvollen nur zu zaͤhlen, noch weniger, denen den Vorzug zu geben, wel- che am wenigsten Abnormitaͤten haben. Es giebt in den Hand- schriften Faͤlle, wo man, indem der Text hermeneutisch ungenuͤ- gend erscheint, doch leicht ermitteln kann, daß eine mechanische Irrung zum Grunde liegt. Kommt so etwas oft vor, so ist das freilich ein Beweis, daß der Abschreiber ungenau gewesen. Das ist denn die schwache Seite der Handschrift, und in dieser Bezie- hung hat sie wenig Auctoritaͤt. Aber in jedem andern Betracht kann sie den groͤßten Werth haben, indem sie einen sehr alten Text enthaͤlt. Hat eine Handschrift besondere grammatische For- men, wie z. B. Cod. B ., so giebt ihr das einen vorzuͤglichen Werth, denn es beweist, daß keine willkuͤhrlichen Änderungen, die doch diese Formen zuerst betroffen haben wuͤrden, in ihr vor- genommen sind; dann aber auch, weil bei der Beurtheilung von Änderungen, denen mechanische Fehler zum Grunde liegen, viel darauf ankommt, welche Zeichen da gestanden. Handschriften, welche jene corrigirt haben, bringen andere Zeichen hinein, und machen die Beurtheilung unmoͤglich, wie jene entstanden. So haben also jene Handschriften mit besondern grammatischen For- men besonderen Werth, und der kritische Apparat sollte sie immer mit anfuͤhren. Weiß man, zu der Zeit, aus der eine bestimmte Handschrift ist, haben solche Abnormitaͤten statt gefunden, und die Handschrift hat sie nicht, so entsteht der Verdacht, daß der Abschreiber, der in diesem Falle grammatisch verfahren ist, auch in andern willkuͤhrlich gehandelt, und so verschwindet die Huͤlfe, aus den Zeichen, ihrer Ähnlichkeit u. s. w. die mechanischen Irr- ungen zu erklaͤren, ganz und gar. Zu dem allen aber gehoͤren, wenn die Aufgabe vollkommen geloͤst werden soll, schwierige und zusammengesezte Operationen, palaͤographische Kenntnisse u. s. w. Es kann daher auch nicht die volle kritische Aufgabe als allgemeine Aufgabe fuͤr alle Theologen angesehen werden. Aber betrachten wir als die Aufgabe des Theo- logen das vollkommene hermeneutische Verstaͤndniß, so liegt doch schon darin, daß der Leser und Ausleger sich wenigstens nicht uͤberall auf den Herausgeber verlassen darf. Dazu kommt, daß in der Kritik etwas Allgemeines liegt, und daß wir auf jedem Gebiete des Lesens und Hoͤrens bestaͤndig in einer kritischen Ope- ration begriffen sind. Somit kann sich Niemand davon ganz entbinden wollen. Man muß nur die Aufgabe ihrem Nuzen und Zeitaufwande nach richtig behandeln. Scheiden wir in der Aufgabe von einander, was jedem Theo- logen zugemuthet werden kann, und was eine besondere Virtuosi- taͤt erfordert, und bestimmen das Erste, so werden wir dabei von einem Minimum ausgehen muͤssen. Gehen wir von der Loͤsung der hermeneutischen Aufgabe aus. Darf sich der Theolog auf das Urtheil irgend einer kritischen Auctoritaͤt verlassen, wenn es darauf ankommt, den Zustand des Textes fuͤr die Aufloͤsung der hermeneutischen Aufgabe zu untersuchen? Es giebt Faͤlle, welche gerade am meisten von kritischer Virtuositaͤt abhaͤngen. Da wer- den wir die Frage nicht verneinen duͤrfen. Aber schwerlich wird es viele Faͤlle geben, wo die kritischen Auctoritaͤten, die ich als solche anerkenne, befrage, unter sich einig sind. Um zu entschei- den, muß jeder Principien der Entscheidung fuͤr sich selbst haben. Worauf ist nun da zu sehen? Es kommen hier zwei Punkte in Betracht. Der erste ist, daß man wissen muß, ob das kritische Urtheil das Eine oder Andere durch andere Ruͤcksichten, z. B. Par- theyansichten, benachtheiligt ist oder nicht. Also man muß die Principien der verschiedenen Kritik kennen. Ist dieß beseitigt, so fragt sich ferner, welchem Kritiker soll man am meisten vertrauen? Da ist also eigenes Urtheil uͤber den Werth der kritischen Arbei- ten etwas Unerlaͤßliches. Dieß ist unmoͤglich ohne Kenntniß ihrer Principien. Wer aber daruͤber urtheilen will, muß selbst wieder die Principien der Kritik im Großen und Ganzen kennen. Zu dem Ende muß sich jeder Theolog schon vorher um das Kritische bekuͤmmert haben, nicht erst an der Stelle, wo die hermeneutische Operation es erfordert. Darnach hat er zu beurtheilen, worin er dem einzelnen Kritiker zu trauen hat und worin nicht. Um dieß methodisch zu treiben, mache man sich eine Classification der Auctoritaͤten, denen man folgt. Das Wesentliche dabei waͤre Folgendes. Bei der Lesung des N. T. zur Loͤsung der hermeneutischen Aufgabe ist das Naͤchste die Huͤlfe der Commentatoren. Die Com- mentare sind zwar eigentlich exegetischer Art, aber sie kommen immer in den Fall, die verschiedenen Lesearten zu beurtheilen. Hat man nun einen Commentar, von dem man glaubt, daß man sich auf sein kritisches Urtheil verlassen kann, so hat man nicht noͤthig, die kritische Operation selbst zu machen, aber die Grund- saͤze seines kritischen Verfahrens muß man kennen und ihn da- nach beurtheilen und classificiren. Sagt ein Commentator, ich halte mich ganz an Griesbach, so hat er eben gar kein eigenes Urtheil. Beruft er sich aber bald auf diese, bald auf jene kriti- sche Auctoritaͤt, oder er entscheidet fuͤr sich selbst ohne Auctoritaͤt, so hat er in beiden Faͤllen ein eigenes Urtheil, ist kritisch, und ich muß wissen, welchen Principien er folgt. So haben wir also eine Classe, die sich selbst als Kritiker darstellenden Commentato- ren. Die zweite Classe ist dann die der eigentlichen kritischen Her- ausgeber des N. T. Deren sind aber zu viele, als daß jeder Theolog auf sie zuruͤckgehen koͤnnte. Es entsteht also die Frage, welche sich von diesen am meisten als Kritiker geltend gemacht haben? Dieß wird sich vorzuͤglich dadurch manifestiren, wie die Commentatoren sie gebrauchen. Bengel, Wetstein und Griesbach sind die drei Hauptkritiker, die auch immer am meisten angefuͤhrt werden. Von dem Verfahren derselben muß jeder eine gewisse eigene Anschauung haben. Wetstein und Griesbach haben eine gewisse Verwandtschaft mit einander, so daß der leztere auf dem ersteren eigentlich beruht. Beide haben den gemeinschaftlichen Feh- ler, daß sie den vulgaͤren Text zum Grunde gelegt haben. Wet- stein hat denselben unveraͤndert, und nur durch Zeichen unter dem Text die andern Lesearten mit ihren Auctoritaͤten angefuͤhrt. So ist bei ihm das Auge fuͤr die recepta bestochen und man muß daher um so mehr auf die Abweichungen und deren Auctoritaͤten unter dem Text zuruͤcksehen. Aber es ist um so mehr zu wuͤn- schen, daß sich jeder mit dem Werke genauer bekannt mache, da es außerdem reich ist an Observationen von Analogien aus den griechischen und juͤdischen Schriftstellern, die lezteren beque- mer als bei Lightfoot und Schoͤttgen. Bengel hat die recepta verlassen, und einen eigenen Text constituirt. So hat er die Bestechung des Auges durch jene ver- mieden, aber nie Buͤrgschaft gegeben, woher er das hat, was man im Text liest. Aber wer jezt bei der Constitution des Textes auf die recepta keine Ruͤcksicht nehmen will, der hat mehr Huͤlfs- mittel, die Leser von seinem Verfahren zu unterrichten, als Ben- gel zu seiner Zeit. Bengel hat von seinem Verfahren Rechen- schaft gegeben in seinem apparatus criticus, auch in seinem Gno- mon. Es ist wuͤnschenswerth, daß sich jeder damit bekannt macht, wenn auch nur fuͤr einzelne Abschnitte. Von Griesbach ist schon oͤfter die Rede gewesen. Jeder wird bei genauerer Bekannt- schaft finden, wie oft er Lesearten, welche die vorzuͤglichsten Aucto- ritaͤten fuͤr sich haben, in die unterste Stelle herabsezt und die recepta uͤberschaͤzt. Bedenkt man, daß in der neueren Zeit die modificirte re- cepta des Griesbachschen Textes und der Bengelsche Text sich die meiste Auctoritaͤt verschafft haben, so daß sie in den meisten Ausgaben repetirt sind, so erscheint es als ganz nothwendig, daß jeder sich ein Urtheil daruͤber verschaffe. Geht man nun auf das Verfahren der Kritiker pruͤfend ein, so wird man sich auch dadurch so viel Bekanntschaft mit den bedeutendsten Handschriften u. s. w. verschaffen und so viel kritisches Urtheil sich erwerben, daß man uͤberall wo es noͤthig ist selbststaͤndig entscheiden kann. In dem Grade aber wird man finden, daß jeder von ihnen ge- fehlt hat und keinem vollkommen zu vertrauen ist. So muß also jeder um so mehr die kritischen Operationen selbst machen. Was bei einem solchen Verfahren nebenbei sich von selbst versteht, ist daß man die deutsche Übersezung ganz vergißt. So lange man diese noch im Sinne hat, giebt es keine Selbststaͤndig- keit im Gebrauch des N. T. Das determinirende Bewußtsein der- selben ist immer das zu corrigirende, es ruͤckt die wahren Analo- gien aus den Augen und verleitet zu falschen. Die allgemeine Aufgabe nun, sich ein eigenes kritisches Ur- theil zu verschaffen, beschraͤnkt sich auf das Nothwendige zum Behuf der hermeneutischen Aufgabe. Aber die Arbeiten dazu sind schon Voruͤbungen zur kritischen Virtuositaͤt, und es giebt dabei Ver- anlassungen genug, uͤber jenes nothwendige Minimum hinaus- zugehen. Nur daß groͤßere Neigung und Anlage den Einen wei- ter fuͤhrt als den Andern, — worin sich dann eben schon die Virtuositaͤt kund thut. Zu der Bildung des kritischen Urtheils koͤnnen alle kritischen Arbeiten Voruͤbungen sein, nicht bloß die Übung im N. T. Auch an andern Schriftstellern, und selbst im gewoͤhnlichen Leben koͤnnen dergleichen Übungen gemacht werden. Es liegt im Charakter des Philologischen, daß die kritische Richtung uͤberall hin begleitend ist, und so liegt sie auch im Charakter des Theologischen. Worin liegt der Unterschied zwischen dem Leser, der sich zum Hermeneutik u. Kritik. 23 Behuf der hermeneutischen Operation den Text gestaltet, und dem kritischen Herausgeber des Textes? — Es giebt einen bestimmten Unterschied zwischen dem Resultat der diplomatischen und der divinatorischen Kritik. Bei der diplo- matischen Kritik sind beide auf dem allgemeinen philologischen Standpunkt, sie wollen beide das Urspruͤngliche wo moͤglich er- mitteln. In Beziehung auf die divinatorische Kritik sind beide im Dienste der hermeneutischen Operation. Diese noͤthigt zu ergaͤn- zen und zwischen Verschiedenem zu waͤhlen. Soll die Loͤsung der Aufgabe ihren richtigen Gang gehen, so darf das Resultat der diplomatischen mit dem Resultat der divinatorischen Kritik nicht ver- wechselt werden. Der Leser geht aus von dem diplomatisch Ermittel- ten, und das Divinatorische macht sich jeder selbst, und foͤrdert sich jeder nach seiner Art und Überzeugung in Beziehung auf die hermeneutische Operation. Daher wird es immer mehr Grundsaz der Herausgeber werden, die Resultate der divinatorischen Kritik nicht in den wirklichen Text aufzunehmen. Außer demselben koͤnnen sie mitgetheilt wer- den. Es giebt zwischen strenger Darstellung des Textes und Mittheilung hermeneutischer Operation ein Mittleres, Commentare mit Text und Texte mit einem Commentar verbunden. Ist im ersteren Falle der Commentar die Hauptsache und die Mittheilung des Textes nur ein Huͤlfsmittel fuͤr den Leser, so darf doch auch selbst in diesem Falle der Text nur rein diplomatisch gegeben werden, wird dies Resultat der divinatorischen Kritik in den Text mit aufgenommen, so entsteht Bestechung, wenn auch nachher im Commentar Rechenschaft davon gegeben wird. Ist der Text Haupt- sache und der Commentar nur Nebensache, so ist um so noth- wendiger, den Text rein diplomatisch mitzutheilen. Es ist oben gesagt worden, daß mechanische Irrungen eher anzunehmen seien, als absichtliche Änderungen. Es giebt nun Faͤlle zusammengesezter Art. Denkt man sich zwei Lesearten, eine laͤngere und kuͤrzere. Nach Griesbachs Kanon ist die kuͤrzere vor- zuziehen, jene immer ein Zusaz. Nach unsrem Kanon versuchen wir zuerst, ob sich die Erscheinung aus einer mechanischen Irrung erklaͤren lasse. Finde ich zwei gleiche Anfaͤnge oder zwei gleiche Endungen, so entsteht die Moͤglichkeit einer Auslassung aus mecha- nischer Irrung, und die laͤngere Leseart verdient den Vorzug. Es kann aber ein Zusaz, eine Epexegese, zufaͤllig dieselbe Gestal- tung haben; ja es wird eine Epexegese meistentheils in der gram- matischen Bildung mit dem Texte uͤbereinstimmen, so daß von selbst gleiche Endungen entstehen. Wie da? Weil beide Faͤlle uͤberhaupt moͤglich sind, so muß man auch beides uͤberall im Sinne haben. So entsteht eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ist es wahrscheinlich, daß die laͤngere Leseart ein Zusaz sei? Dazu muß eine Veranlassung gesucht werden. Oder ist die kuͤrzere feh- lerhaft? Dazu muß die Moͤglichkeit eines Abirrens des Auges wahrscheinlich gemacht werden. Die Abirrung wird um so wahr- scheinlicher, wenn beide Enden ziemlich nahe aneinander stehen, der Unterschied der laͤngeren und kuͤrzeren Leseart gering ist, oder wenn ein Ende unmittelbar unter dem andern steht in der dar- auf folgenden Zeile. Dazu aber gehoͤrt eine genaue Kenntniß der Handschriften. In den synoptischen Evangelien steht die Sache eigenthuͤmlich anders. Da giebt es Übertragungen aus dem einen in das an- dere, die nicht gut unmittelbar beim Abschreiben entstanden sein koͤnnen. Denn daß ein Abschreiber solche Einschaltungen aus dem Gedaͤchtniß sollte gemacht haben, ist, wenn er das Abschreiben als Geschaͤft trieb, nicht wahrscheinlich. Aber indirect als Mar- ginalbemerkungen des Lesers koͤnnen sie entstanden sein. Hier also, wo eine laͤngere Leseart in einem Evangelium etwas aus einem andern enthaͤlt, ist die Wahrscheinlichkeit fuͤr die kuͤrzere. Dagegen koͤnnte fuͤr die laͤngere eine Wahrscheinlichkeit entstehen, wenn zufaͤlliger Weise auch eine Abirrung des Auges zu den- ken waͤre. Diese Wahrscheinlichkeit wuͤrde aber wieder vermindert, wenn die Differenz zwischen der laͤngeren und kuͤrzeren bedeu- tend waͤre. Bei der eigenthuͤmlichen Beschaffenheit des N. T. muͤssen wir auch in den didaktischen Buͤchern die Moͤglichkeit zugeben, 23* daß Zusaͤze gemacht sind als Erklaͤrungen und Vervollstaͤndigun- gen dem Begriffe nach. Denn es giebt auch in den didaktischen Schriften solche Parallelen, weil immer ein bestimmter Kreis von Vorstellungen behandelt wird, worin oft dieselben Elemente sich wiederholen, nur anders ausgedruͤckt. So konnten also bei der einen andere aͤhnliche Stellen beigeschrieben werden. Man muß daher auch in den didaktischen Buͤchern bei der Differenz der laͤngeren und kuͤrzeren Leseart, naͤchstdem daß man sie aus mechanischen Irrun- gen zu erklaͤren sucht, darnach sehen, ob nicht etwas den Cha- rakter eines Glossems hat. Darin liegt denn aber kein absichtli- ches Veraͤndernwollen des Textes, sondern es ist spaͤter in den Text hineingebracht, was urspruͤnglich nicht hineingehoͤrte. Hieran knuͤpft sich eine andere Aufgabe der Kritik. Ebenfalls durch einzelne Worte, geringe Veraͤnderungen oder Verschiedenheiten entsteht Gewißheit oder Ungewißheit uͤber den Verfasser einer Schrift. Es fragt sich, wie steht es mit dieser Aufgabe, welche eine ganz andere zu sein scheint? Die Frage, ob der Brief an die Hebraͤer Paulinisch sei oder nicht, ist keine kritische Frage in unsrem Sinn. Denn es giebt keinen Text, der dazu Veranlassung gaͤbe, keine Handschrift, welche den Namen des Apostels in der Überschrift truͤge oder im Text vorkommen ließe. Von diesem Standpunkte ist der Brief ein anonymer, und die Aufgabe, den Verfasser zu ermitteln, eine Aufgabe der historischen Kritik, mit der wir es hier nicht zu thun haben. Eben so ist es mit der Frage, ob der zweite Brief Petri echt sei, und mit der, ob das Evangelium des Mat- thaͤus ein Werk des Apostels sei oder nicht. Was das leztere be- trifft, so giebt es keine Überschrift, welche dem Namen den Titel eines Apostels beilegte. Hier ist eben so wenig eine kritische Frage in unsrem Sinne, wie bei dem dritten Evangelium und der Apostelgeschichte, ob diese von dem Lukas herruͤhre, der den Apo- stel Paulus begleitete. Wie muß die Sache stehen, wenn dergleichen eine eigentlich kritische Frage werden soll? Der naͤchstliegende Fall ist der, wenn die Handschriften Ver- schiedenes uͤber den Verfasser behaupten. Dann ist zu entscheiden, wie bei Lesearten. Hier ist aber ein großer Unterschied, ob die Behauptung in der Schrift selbst oder außerhalb gemacht ist. Wenn außerhalb, so ist ungewiß, ob die Überschrift ein Theil der Schrift in der ersten Ausgabe ist oder nicht. Ist das erstere ausgemacht, so ist die Frage wie alle kritischen Fragen zu ent- scheiden. Ist dagegen wahrscheinlich, daß die Überschrift spaͤter ist, so ist die Beurtheilung eine von der Schrift selbst zu sondernde Aufgabe. Ist die Überschrift ein bloßes Urtheil oder hat sie Aucto- ritaͤten fuͤr sich? Sobald die Frage sich so wendet, daß gefragt wird, ob die Überschrift als ein bloßes Urtheil angesehen werden kann, so hoͤrt sie auf eine kritische zu sein und gehoͤrt der histo- rischen Kritik an. Allein kann denn jene Frage nicht auf eine andere Weise eine kritische werden? Haben wir eine Schrift, welche sich in ihr selbst als Schrift eines gewissen Verfassers ausgiebt, es ist auch sonst kein Streit daruͤber, im Lesen aber stoßen wir auf solche Stellen, die uns schwer wird als Worte des Verfassers zu denken, so entstehen Zweifel, indem wir uns in der hermeneutischen Operation, die wir auf jene Voraussezung gruͤnden, gestoͤrt fuͤhlen. Da kommt es darauf an, von dem Interesse der hermeneutischen Operation aus uͤber das Diplomatische zu entscheiden, ob es das Urspruͤngliche ist oder nicht. Somit aber treten wir auf unser Gebiet. Nur von diesem Gesichtspunkt aus koͤnnen wir die Sache erfassen. Das philologische Gebiet ist uͤberall da, wo Schwierigkeiten oder Stoͤrungen in der hermeneutischen Operation zu heben oder diplomatische Entscheidungen zu geben sind. Wie aber entstehen nun solche Zweifel, und wie gelangen wir zur Entscheidung? Wir muͤssen die Endpunkte aufsuchen, schlagende Faͤlle, welche die Sache sogleich entscheiden, auf der einen Seite, und auf der andern solche, welche einen Stachel zuruͤcklassen, eine Unsicherheit, welche nicht uͤberwunden werden kann, ohne daß gegeben waͤre, was wirklich Entscheidung bringt. Von beiden Seiten entsteht ein verschiedenes Verfahren. Ist ein entschiedener Punkt gegeben, der die Moͤglichkeit voͤllig abschneidet, daß die Schrift von dem bestimmten Verfasser sei, so ist die Sache ausgemacht. Es entsteht dann nur die Frage, wie die Schrift jenem Verfasser hat beigelegt werden koͤnnen. Betrachten wir die Sache auf eine allgemeinere Weise, so haben wir zuerst zu untersuchen, ob nicht zwischen dem, was wir zulezt abgehandelt, und dem, womit wir jezt zu thun haben wollen, eine Luͤcke sei. Die Anwendbarkeit der Regel, daß mechanische Irrungen immer zuerst wahrscheinlich sind, beschraͤnkt sich, wie oben be- merkt ist, auf einen gewissen Umfang, ein gewisses Maaß von Differenzen. Es kommen aber Faͤlle vor, wo Differenzen durch Auslassungen oder Zusaͤze in einem viel groͤßeren Maaße vorkommen. Dieß scheinen wir ausgelassen zu haben. Denn dieß ist nicht dasselbe, als wenn die Rede ist von einer eigenen Schrift, ob sie dem angehoͤrt, dem sie beigelegt wird oder nicht. Ist nun hier wirklich eine Luͤcke? Wir haben oben gesagt, es muͤsse in allen Faͤllen, wo Differenzen sind, neben der Moͤglichkeit der mechani- schen Irrung auch das andere gedacht werden, ob sie nicht viel- leicht durch eine bewußte Handlung entstanden seien. Wie laͤßt sich entscheiden, ob ein Zusaz der Schrift urspruͤnglich angehoͤre oder ob die Auslassung das Urspruͤngliche sei? Man muß zuerst auf die hermeneutische Operation Ruͤcksicht nehmen, hier aber beide Faͤlle sezen. Man seze also, der Zusaz sei aͤcht. Findet sich dann fuͤr die hermeneutische Operation nichts Stoͤrendes, so kann man bei der Voraussezung bleiben, findet sich in der Folge eine bestimmte Beziehung auf die zweifelhafte Stelle, so liegt darin eine Bestaͤtigung. Kann man aber bei jener Voraussezung nicht ungestoͤrt fortfahren, so ist das ein Grund zu der entgegengesezten Ansicht. Schwebt das Diplomatische, so muß man die Wahr- scheinlichkeitsrechnung eintreten lassen, indem man von beiden Voraussezungen ausgeht. Stellt man dann die Resultate beider Voraussezungen in ihren Momenten zusammen, so wird wol eins uͤberwiegend klar werden. Oft aber wird es auch schwebend blei- ben und dann nimmt der Eine dieß der Andere jenes. Gesezt z. B. die Unechtheit von 1 Joh. 5, 7. waͤre diploma- tisch nicht entschieden, so koͤnnte man ungewiß sein, ob nicht etwas fehle, wenn man die Stelle auslasse, so sehr erscheint sie der Form nach angepaßt. Betrachte ich sie aber materiell, ihrem Inhalte und Zusammenhange nach, so erscheint sie allerdings als ein uͤberfluͤssiger Zusaz. So schwankt das Urtheil, so lange das Diplomatische schwankt. Es beduͤrfen aber alle solche groͤßeren Stellen durchaus keiner andern Regeln, sondern sind ganz nach den fruͤher aufgestellten zu behandeln. Gehen wir nun auf das neue Thema, uͤber die Ächtheit oder Unaͤchtheit einer Schrift zu entscheiden, wieder zuruͤck und genauer ein. Wenn eine Schrift lange Zeit hindurch immer fuͤr die Schrift eines bestimmten Verfassers gehalten worden ist, und es entstehen erst spaͤter Zweifel, so wird durch dieses Spaͤterkommen der Zwei- fel selbst nicht beeintraͤchtigt, sondern nur das folgt daraus, daß die hermeneutische Operation fruͤher nicht mit solcher Genauig- keit und Vollkommenheit gemacht worden ist. Unterscheiden wir nun die verschiedenen wesentlichen Faͤlle. Der erste ist der, daß in einer Schrift eine Stelle vorkommt, die mit der Vorstellung von dem Verfasser, die mich bisher be- gleitet hat, in Widerspruch steht, wo ich also gehemmt werde. Es ist in der Stelle die Rede von einer Thatsache, von der der Verfasser nach seinen Lebensverhaͤltnissen durchaus keine Notiz ha- ben, wovon er also auch unmoͤglich reden konnte. Eine einzige Stelle der Art ist ein vollkommener Beweis fuͤr die Unaͤchtheit der Schrift, wofern jene Unmoͤglichkeit wirklich da ist, und diese ist da, wenn die Stelle wirklich der Schrift angehoͤrt. So ent- steht also die Frage, ob die Stelle der Schrift urspruͤnglich an- gehoͤrt, oder ein Zusaz von anderwaͤrts her. Wenn diplomatisch gar nichts diesen Zweifel bestaͤtigt, so ist noch denkbar, daß die Stelle in den Text gekommen sei vor allen den Abschrif- ten die wir haben. Wird dieß wahrscheinlich, so verliert die Stelle alle ihre Beweiskraft. Hier kommen wir auf einen Punkt, wo wir die Richtigkeit eines gewissen kritischen Verfah- rens beurtheilen koͤnnen. Man sagt oft, es gebe Faͤlle, wo je- der einzelne Verdachtsgrund nichts beweise, aber mehrere zusam- men einen vollen Beweis geben. Diese Regel billigt wol jeder mit seinem Gefuͤhl, unterwirft man sie aber dem Calcul, so scheint sie falsch. Indessen gehen wir von unsrer Position aus, so rechtfertigt sie sich doch. Wir haben gesagt, die Beweiskraft einer Zweifel erregenden Stelle werde in dem Grade geschwaͤcht, nicht aufgehoben, in welchem die Wahrscheinlichkeit entsteht, daß sie spaͤterer Zusaz sei. Denke ich mir aber sechs solcher Stellen, so sind das eben so viel Gruͤnde, und jeder von ihnen waͤre allein hinreichend, wenn nicht jedem inwohnte, was eine entgegenge- sezte Moͤglichkeit giebt. Es fragt sich also, was ist uͤberwiegend wahrscheinlicher, die Wiederholung solcher beweisenden Stellen, oder die Interpolation derselben? Offenbar nimmt die Wahr- scheinlichkeit der Interpolation in dem Grade ab, in welchem viele falsche Stellen vorkommen. Denn dazu wuͤrde eine Gedan- kenlosigkeit gehoͤren, die gar nicht sehr wahrscheinlich ist. Unter solchen Verhaͤltnissen hat also jene Regel ihre vollkommene Rich- tigkeit. Der bezeichnete Fall ist hergenommen aus dem Gebiet der historischen Interpretation. Dazu gehoͤrt als Apparat die moͤg- lichst genaue Kenntniß der Lebensverhaͤltnisse des Verfassers. Ähn- liches aber bietet die psychologische Interpretation dar. Wenn ich in einer Schrift auf einen Gedanken stoße, der mit der Denk- weise ihres Verfassers nicht uͤbereinstimmt, so werde ich dadurch ebenfalls gehemmt in der Voraussezung, in der ich bisher gelesen habe. Wie im vorigen Falle angenommen werden mußte, daß der Verfasser von der fraglichen Thatsache durchaus keine Notiz haben konnte, so muß ich auch hier annehmen, der Verfasser habe in seinem ganzen Leben nie so gedacht. Darin liegt eine Be- schraͤnkung des Falles. Denn es giebt wenig Gegenstaͤnde, wor- uͤber der Mensch nicht seine Meinung aͤnderte. Aber der Fall ist ganz derselbe, wie bei dem Historischen, nur daß hier die Be- hauptung des Widerspruchs schwieriger ist, nicht bloß weil innere Gedankenverhaͤltnisse schwerer nachzuweisen sind als aͤußere That- sachen, sondern auch weil die Interpretation der Gedanken an sich schwerer ist. Kann ich mir denken, daß eine solche Stelle Zusaz ist, so ist's damit, wie im obigen Falle; je mehr solcher verdaͤchtigen Stellen vorkommen, desto wahrscheinlicher wird, daß sie urspruͤnglich zur Schrift gehoͤren und diese unaͤcht ist. Dieß sind die wesentlichen Anwendungen der allgemeinen Formel auf den beiden Hauptgebieten der Interpretation. Dasselbe kann nun eintreten in Beziehung auf die Sprache mit analoger Duplicitaͤt. Kommt ein Wort vor, welches wo und wann der Verfasser schrieb, nicht in Gebrauch war, das Wort ist aber diplomatisch sicher, und nicht aus einer mechanischen Irrung entstanden, so ist das ein schlagendes Moment gegen die Ächtheit der Schrift. Allein eben der vollstaͤndige Beweis daß das Wort in jener Zeit nicht vorkommen koͤnne, ist sehr schwierig. Der andere Fall waͤre der, daß Ausdruͤcke, Wendungen vorkommen, welche zwar nicht außerhalb des Sprachgebiets des Verfassers liegen, aber außerhalb seiner Eigenthuͤmlichkeit. Wenn dann dafuͤr in seinen uͤbrigen Schriften keine Analogie zu finden ist, vielmehr zahlreiche dage- gen, so daß man fuͤr dieselben Begriffe solenne andere Ausdruͤcke findet, so kann eine einzige Stelle genuͤgen zur Begruͤndung des Verdachts. Allein dazu gehoͤrt eine sehr ins Einzelne und Indi- viduelle gehende vollstaͤndige Sprachkenntniß. Hier laͤßt sich nun der Gang in solcher Untersuchung genauer bezeichnen. Es kann Faͤlle geben, wo eine einzige Stelle fuͤr den vertrauten Kenner des Verfassers vollkommen entscheidend ist, aber Andern nur als ein einzelner Verdachtsgrund erscheint. Da muß der Kriti- ker mehreres aufsuchen, um seine Gewißheit Andern mitzutheilen, und so entsteht denn ein durchgaͤngiges kritisches Verfahren, die ganze Schrift wird darauf angesehen. Bleibt es nun bloß bei der einen Stelle, und werden auch bei einer absichtlichen Verglei- chung nicht mehrere gefunden, so ist die Beweiskraft der einen allerdings geschwaͤcht. Man wird dann versuchen, sie auch anders zu erklaͤren, ja sich sogar mit einer unwahrscheinlicheren Erklaͤrung begnuͤgen. Es entsteht aber die Frage, wie kann die Thatsache entstanden sein, daß die Schrift einem Verfasser beigelegt wird, dem sie nicht gehoͤrt? Die Schrift kann als absichtlicher Betrug entstanden sein, indem der Verfasser selbst sie so eingerichtet, daß sie fuͤr die Schrift des angeblichen Verfassers gehalten werden sollte. Dieser Fall aber laͤßt sich selten annehmen, weil die Ver- haͤltnisse, unter denen sich das durchfuͤhren ließe, sehr complicirt sind. So lange der angebliche Verfasser lebt, wird es einem andern nicht leicht gelingen, eine Schrift auf jenes Namen zu verbreiten. Eine solche Schrift muͤßte sich bis zu einer bestimm- ten Zeit von dem Lebenskreise des angeblichen Verfassers fern halten. Dieß ist an sich nicht wahrscheinlich. Und je mehr eine solche Schrift das Ansehen hat zu dem Lebenskreise des erdichte- ten Verfassers zu gehoͤren, desto weniger ist der Verdacht des Betruges anwendbar. Wahrscheinlich ist dann, daß die Beile- gung der Schrift auf einem falschen Urtheil beruht. Wo eine Schrift anonym erschien, war ein solches falsches Urtheil leicht moͤglich. Dieß ging in die Schrift uͤber, und die spaͤteren Ab- schreiber konnten sie schon gewiß als Schrift jenes Verfassers aus- geben in der Überschrift, nicht aus mechanischer Irrung, sondern absichtlich und bewußt, aber nicht aus Betrug. Sobald man zu solchen Voraussezungen gefuͤhrt wird, muß man sie auf die- sen Fall zuruͤckfuͤhren und eins von beiden nachweisen und dar- nach von Anfang an die kritische Operation einrichten. Wo die Sache schwebt, muß man von beidem ausgehen und eine Wahr- scheinlichkeitsrechnung eintreten lassen. Wenn wir die Thatsache, daß ein Werk einem Verfasser faͤlschlich zugeschrieben worden ist, im Allgemeinen betrachten, so wird die Veranlassung dazu, wenn es absichtlich und ernstlich ge- schehen sein soll, sehr speziell sein muͤssen. Es muß, wenn man sich beruhigen soll, auf wahrscheinliche Weise angegeben werden, wie Jemand dazu gekommen ist. Die Thatsache kann durch die zweite Hand entstehen, also eigentlich nicht absichtlich, wenn eine Schrift anonym ist, und Jemand das Urtheil faͤllt, sie sei von dem oder dem, und dieß Urtheil nachher in die Schrift selbst uͤbergeht. Hier lassen sich mehrere Faͤlle unterscheiden. Der haͤu- figste Fall ist der, daß eine solche Schrift nicht einzeln, sondern in einer Sammlung sich befindet. So wie eine solche Thatsach vorgekommen ist, entsteht Verdacht gegen die ganze Sammlung. Was folgt daraus, wenn einzelne Theile einer solchen Samm- lung einem Verfasser mit Unrecht beigelegt werden? Zunaͤchst fragt sich, wie ist die Sammlung entstanden? Heut zu Tage ist's gewoͤhnlich, daß die Schriftsteller ihre einzelnen Schriften selbst sammeln. Da hat denn die Sammlung dieselbe Authenti- citaͤt, wie jede einzelne Schrift. Ganz anders aber, wenn Andere die Sammlung veranstalten. Da koͤnnen solche Fehler vorkom- men, doch nur in Beziehung auf anonyme Schriften. Lebt der Verfasser noch, so ist's seine Sache, zu widersprechen. Thut er es nicht, so kann das als schweigende Gewaͤhrleistung angesehen werden. Wird die Sammlung erst nach dem Tode des Schrift- stellers gemacht, so kann um so leichter geschehen, daß einzelne anonyme Schriften, die man bei seinen Lebzeiten ihm zugeschrie- ben hatte, ohne daß er Protest dagegen eingelegt, faͤlschlich mit aufgenommen werden. Wird die Sammlung lange nach dem Tode des Verfassers veranstaltet, so ist die Moͤglichkeit noch groͤ- ßer. In diesem Falle ist zwischen dem Sammelnden und dem Zeitalter des Verfassers kein genauer Zusammenhang mehr. Da ist denn die Regel, daß, sobald solch ein Verdacht entsteht, die ganze Sammlung als verdaͤchtig erscheinen, und jede einzelne Schrift sich anders als dadurch, daß sie in der Sammlung steht, rechtfertigen muß. Im Alterthum finden wir fast uͤberall in den operibus omnibus falsche Werke. Auf der anderen Seite aber entstehen oft Zweifel, die naͤher betrachtet keinen Grund haben. Dieser unsichere Gang der Kritik fordert eine bestimmte Regel. Dem Bisherigen zu Folge kann man feststellen, daß eine Samm- lung, sobald notorisch ist, daß sie nicht von dem Verfasser selbst ist, keine Authentie hat; ferner, daß, wenn sie noch zur Zeit seiner Zeitgenossen gemacht ist, diese den Verfasser in dem Grade vertreten, als der Sammlung oͤffentliche Aufmerksamkeit geschenkt worden ist; endlich daß, wenn sie spaͤter gemacht ist, sie gar keine urspruͤngliche Sicherheit und nur in sofern Auctoritaͤt hat, als wir dem Sammler richtiges Urtheil und die relative Unmoͤg- lichkeit sich zu irren zuschreiben koͤnnen. Auf die Weise erscheint die Praͤsumtion, daß ein Werk des Alterthums dem wirklich zu- gehoͤrt, dem es zugeschrieben wird, sehr verringert. Wenn ein Werk aus aͤlterer Zeit einem Schriftsteller zuge- schrieben wird, so ist freilich zunaͤchst das Auge bestochen und da- mit auch das Urtheil eben durch den der Schrift oder Sammlung vorgesezten Namen. Von dieser Bestechung muß man sich im Lesen der Schrift zu befreien suchen. Eben so aber kann auch ein schon vorhandener Verdacht mein Urtheil bestechen. So ent- steht ein zweifaches Verfahren, zwei einander entgegengesezte, gleich einseitige Maximen. Die Anhaͤnger der einen werden von den Andern die Auctoritaͤtsglaͤubigen genannt, welche alles festhalten was uͤberliefert ist und so vieles wirklich Verdaͤchtige uͤbergehen. Die entgegengesezten sind die Hyperkritischen, von denen die An- dern sagen, daß sie, weil sie nur darauf ausgehen, Verdachts- gruͤnde zu finden, alles ruhige und einfache Studium aufheben. Es ist eben so schwer, dieser Duplicitaͤt auszuweichen, als ein Mittleres zwischen beiden Richtungen aufzustellen. Allerdings hat der Gegensaz sein Nachtheiliges, denn so lange Streit ist auf die- sem Gebiet, kann die hermeneutische Operation nicht ruhig fort- schreiten. Es fragt sich aber, ob das ganze Verfahren nur in Beziehung auf die hermeneutische Operation zu betrachten ist, oder ob es fuͤr sich selbst Werth hat? Geht man von der Be- ziehung auf die hermeneutische Operation aus, so folgt, daß man den kritischen Streit nicht fuͤhren duͤrfe uͤber Dinge, welche fuͤr die hermeneutische Operation keinen Werth haben, und sodann, daß man die hermeneutische Loͤsung nicht eher aufhalten duͤrfe, als bis die Verdachtsgruͤnde einen gewissen Grad von Bestimmt- heit erreicht haben. Dadurch wird allerdings das kritische Ver- fahren zuruͤckgedraͤngt und auf eine spaͤtere Zeit verwiesen. Da- gegen aber erhebt sich wiederum das allgemeine philologische In- teresse. Denn wenn eine Schrift hermeneutisch auch noch so un- bedeutend ist, so ist sie doch, wenn der bestimmte Kreis und die Zeit, der sie angehoͤrt, nachgewiesen ist, eben fuͤr diesen Kreis und diese Zeit ein Sprachdokument. Kann das freilich nicht nach- gewiesen werden, so ist auch das philologische Interesse null. Man sieht aber, wie verschieden sich das Interesse abstuft, wenn man von dem allgemeinen philologischen Standpunkt ausgeht. So giebt es in der Sammlung der Platonischen Werke mehrere, von denen wahrscheinlich gemacht worden ist, daß sie nicht Pla- tonisch sind, aber doch der unmittelbaren Schule des Sokrates angehoͤren. An und fuͤr sich verliert fuͤr den allgemeinen philolo- gischen Standpunkt die Frage dadurch an Interesse, weil jene Werke doch in das Gebiet des Atticismus jener Zeit gehoͤren. In dieser Hinsicht ist ihr Werth nur mit geringer Differenz be- stimmt. Wir koͤnnen wol sagen, Platon war ein ganz anderer Virtuos in Beziehung auf die Sprache, als jeder andere Sokra- tische Schuͤler. Allein dieß wuͤrde sich doch mehr auf den Styl, als auf die Sprache beziehen. Hingegen fuͤr den, der mit der Geschichte der Philosophie zu thun hat, wird die Frage auch so von Wichtigkeit sein. Er erkennt darin eine besondere Lehre, die neben der Platonischen aus der Sokratischen Schule hervorge- gangen ist. So stuft sich das Interesse verschieden ab, je nach- dem sich der Gesichtspunkt stellt. Aus dem allen aber ergiebt sich, daß die Regel nicht allein vom Standpunkte der hermeneutischen Operation, sondern auch des allgemeinen philologischen Interesses aufzustellen ist. Der Fall der Sammlung fuͤhrt uns unmittelbarer, als wenn wir eine Schrift einzeln betrachten, auf die Frage, wie Schriften den positiven Beweis fuͤhren koͤnnen, daß sie dem oder dem Ver- fasser wirklich angehoͤren? Einzeln nemlich hat eine Schrift ur - spruͤnglich nichts, worin sie Verdacht darboͤte, in der Samm- lung aber, unter den angefuͤhrten Umstaͤnden, ist dieß leicht moͤglich. Wir haben gesagt, ist eine Sammlung von dem Verfasser selbst oder bei seinen Lebzeiten gemacht, so braucht sie keinen Be- weis zu fuͤhren. Hier tritt zuerst hervor der Beweis durch Zeug - nisse , wenn aus unbezweifelten Schriften der Zeitgenossen oder andern bestimmten Nachrichten nachgewiesen werden kann, daß die Zeitgenossen die Schrift schon bestimmt dem Verfasser zugeschrie- ben haben. Dieser Beweis ist aber nur dann vollstaͤndig, wenn ein solcher Zusammenhang wirklich nachgewiesen werden kann, wenn die Schriften aus einer Zeit sind, wo wir eine zusammen- haͤngende Litteratur haben. Wo wir nur wenig Fragmente von Sprache und Litteratur haben, ist dieser Beweis unmoͤglich. Aber es giebt noch eine andere Beweisfuͤhrung, welche sich an jene erste anschließt, die durch Analogie . Habe ich einige sichere Schriften desselben Verfassers, und die vollstaͤndigste Erinnerung daran erregt in mir beim Lesen einer andern, die ihm in der Sammlung beigelegt wird, gar keinen Verdacht, so hat dieselbe allerdings die Praͤsumtion fuͤr sich, ihm anzugehoͤren. Aber die- ser Beweis hat nicht die Sicherheit, welche der erste hat, denn die Richtigkeit des Urtheils haͤngt hier gar sehr von der Beschaf- fenheit des Urtheilenden ab. Hiernach wird man in einer groͤße- ren Sammlung Werke der ersten und zweiten Classe unterschei- den koͤnnen, solche, welche durch Zeugnisse sicher dokumentirt sind, und solche, fuͤr welche Urtheile von solchen, denen man ein rich- tiges Verfahren zutrauen kann, angefuͤhrt werden koͤnnen. Bei den lezteren ist aber schon Unterwerfung unter eine Auctoritaͤt. Wenn wir aber weiter gehend finden, daß die, auf deren Auctoritaͤt die zweite Classe gegruͤndet ist, in Beziehung auf an- dere Werke sagen, es sind hier zwar keine Verdachtsgruͤnde, aber wir haͤtten dieselben auch ungestoͤrt fortlesen koͤnnen, wenn wir sie als von einem Andern herruͤhrend genommen haͤtten, nichts haͤtte uns gerade an den bestimmten Verfasser erinnert, so sind dieß zweideutige Schriften, welche auch ihren Beweis werden fuͤhren muͤssen. So wie wir einen geringeren Grad von Vollkommenheit in der Sprache, in Gedanken und Ausfuͤhrung, oder dieß und jenes weniger Übereinstimmende finden, aber doch auf der andern Seite sagen koͤnnen, die Schrift koͤnne doch von demselben Ver- fasser herruͤhren, unter der Voraussezung, daß er sich in dieser oder jener Beziehung vernachlaͤssigt habe, so bleibt Ungewißheit. Dieß sind die Geseze des kritischen Verfahrens in Betreff der Sammlungen. Betrachtet man das Resultat, so ist schon durch jenes Verfahren eine so bedeutende Saͤuberung auf dem Gebiete der alten Litteratur entstanden, daß sowohl das allge- meine philologische Interesse als das Interesse der realen Disci- plinen auf viel festerem Boden beruhet, als fruͤher. Es ist auch sehr gut, daß jene beiden Maximen neben einander bestehen. Denn haͤtte nur die eine, die auctoritaͤtsglaͤubige, gegolten, so wuͤrden noch eine Menge Irrthuͤmer herrschen. Die entgegenge- sezte Maxime allein herrschend wuͤrde in die ganze Sache eine Willkuͤhr gebracht haben, wodurch die Resultate noch weit un- sicherer geworden sein wuͤrden, als sie jezt sind durch die Reaction der andern Maxime. Denn diese noͤthigt zu einer Strenge in der Beweisfuͤhrung, und bewirkt, daß man sich weniger schnell dem Einflusse einzelner Momente hingiebt, und alles beruͤcksichtigt, was sich von der entgegengesezten Seite anfuͤhren laͤßt. Betrachten wir die Aufgabe von einer andern Seite, so ent- steht die Frage, ob und was fuͤr ein Interesse es habe zu wissen, von wem eine Schrift herruͤhre? Bei einer Sammlung von Schriften die Einem Verfasser angehoͤren, hat jene Frage großes Interesse. Gehoͤrt eine Schrift dem Verfasser an, so wird dadurch die Totalvorstellung von dem- selben naͤher bestimmt, das Bild von seinem Leben, seiner Art, vervollstaͤndigt. Wird dagegen eine einzelne Schrift einem Ver- fasser beigelegt, von dem nichts anderes vorhanden ist, so kann es ganz gleichguͤltig sein, ob er dieser oder jener ist. Es ist ge- nug, das Zeitalter und den Kreis, worin die Schrift entstanden ist, zu wissen. Es koͤnnen aber auch bei einer einzelnen Schrift Umstaͤnde, Beziehungen eintreten, wo auch fuͤr jene Frage wieder Interesse entsteht. Habe ich z. B. eine philosophische Schrift, deren Verfasser ich gar nicht oder nur zweifelhaft kenne, es sind auch gar keine weiteren Bestimmungen vorhanden, so kann es mir oft ganz gleichguͤltig sein, ob ihr Verfasser Simon oder Cebes ist, weiß ich aber der eine von diesen hat mit dem, der andere mit jenem Sokratiker in naͤherer Verbindung gestanden, und es sind das Maͤnner von großer Bedeutung, welche die Lehre des Sokrates auf verschiedene Weise entwickelt haben, so ist ihre Per- soͤnlichkeit wichtig, denn ihre Gedanken werden in das Gebiet der einen oder andern Schule gehoͤren, und also die genauere Kennt- niß von ihnen dazu beitragen, den Begriff von jener Schule zu vervollstaͤndigen. Eben so hat es ein Interesse, den Verfasser eines historischen Werkes zu kennen, weil es hier darauf ankommt, zu wissen, wie der Referent zu den Begebenheiten gestanden. Wird sie einem Manne zugeschrieben, von dem ich weiß, daß er zu der Zeit und in der Gegend der Begebenheiten gelebt hat, so hat die Schrift eine Auctoritaͤt, die sie nicht haben wuͤrde, wenn ein anderer aus spaͤter Zeit und aus einer andern Gegend ihr Verfasser waͤre. Weiß ich dagegen von des Verfassers Verhaͤltnis- sen zu den Begebenheiten nichts Naͤheres, so ist mir auch sein Name gleichguͤltig. So ist also dieß Interesse jener Frage sehr verschie- den. Aber noch eins ist zu merken. In dem Maaße, in wel- chem die Kenntniß von der ganzen Region, in welche eine Schrift gehoͤrt, noch nicht vollendet ist, kann man auch das Interesse jener Frage noch nicht bestimmen. In einem sehr durchgearbeite- ten Litteraturgebiet muß man das Interesse der Frage bestimmen koͤnnen. Aber in jenem ersten Falle bleibt ein unbedingtes In- teresse, weil, um nichts zu vernachlaͤssigen, das groͤßte anzu- nehmen ist. Auf dem Gebiete der classischen Litteratur lassen sich alle diese Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es im hohen Grade gleichguͤltig ist, wer ihr Verfasser ist, und die nur wichtig sind als Sprachdenkmale einer gewissen Zeit und Gegend. Die Schrift selbst ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr Verfasser gestanden, sowohl was die Sprache als den Inhalt be- trifft. Die Persoͤnlichkeit ist dabei gleichguͤltig. Je mehr aber die Persoͤnlichkeit in Sprache und Gegenstand verflochten ist, desto mehr waͤchst das Interesse der Frage. Was nun das Neue Testament betrifft, so sind hier die kri- tischen Aufgaben dieser Art theils aus alter Zeit uͤberliefert, theils neu entstanden, manche sind schon entschieden und wieder zwei- felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitlaͤufige Ge- schichte der kritischen Bestrebungen. Fuͤr einen roͤmischkatholischen Theologen haben alle jene kri- tischen Fragen kein Interesse, denn der Kanon ist ein Werk der Kirche, und wie er in derselben uͤberliefert ist, so hat er auch denselben Werth und dieselbe Auctoritaͤt der Unfehlbarkeit, wie die Tradition der Lehre. Es ist fuͤr den katholischen Theologen gleichguͤltig, ob er sagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf- genommen ist, folgt, daß er ein Brief Petri sei, oder ob er sagt, die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne sich zu bekuͤmmern, ob er ein Werk des Petrus sei oder nicht. Der Brief hat auf jeden Fall kanonisches Ansehen, und da ist die kritische Frage ohne Interesse. Diese Ansicht liegt aber ganz außer unserm Standpunkte, weil wir in der Kritik keine Auctoritaͤt der Kirche gelten lassen koͤnnen. Freilich ist der Kanon uͤberliefert, ohne daß wir wissen, wie er gerade so geworden. Aber wenn wir es auch wuͤßten, koͤnnten wir ihn doch nicht ohne Pruͤfung annehmen. Denn da Hermeneutik u. Kritik. 24 man nach gewissen Regeln zu Werke gehen mußte, als man ihn gestaltete, so fragt sich, ob die Subsumtion richtig gewesen. Fragen wir nun, was hat fuͤr uns Protestanten die Frage nach dem Verfasser jeder Schrift des N. T. fuͤr ein Interesse, so ist die Frage gar nicht auf einfache Weise zu beantworten. Das Interesse ist sehr verschieden. Das N. T. ist eine Sammlung, aber nicht der Werke Eines Verfassers. Es ist also die obige Regel, wobei die Sammlung der Schriften Eines Mannes vorausgesezt wurde, bei dem N. T. nicht ohne Weiteres anwendbar. Wir muͤssen unterscheiden. Das N. T. ist zum Theil eine Sammlung von Sammlungen, theils eine Sammlung von einzelnen Schriften differenter Verfasser. Jeder Theil ist besonders zu betrachten. Wir haben im N. T. eine Sammlung, welche fruͤher den Namen ὁ ἀπόστολος fuͤhrte. Das ist die Sammlung der Pau- linischen Briefe, aber jezt vollstaͤndiger, als in fruͤherer Zeit. Ent- stehen nun kritische Fragen aus dem Gebiet der Paul. Briefe, so haben wir den oben eroͤrterten Fall der Sammlung. Fragen wir aber, ob der Verfasser des Briefs Jakobi einer von den Maͤnnern dieses Namens ist, die im N. T. vorkommen, welcher von diesen, oder ob uͤberhaupt ein anderer, so hat diese Frage an und fuͤr sich kein Interesse, weil wir von keinem von diesen etwas ande- res haben, und die Handlungen, welche von dem einen oder an- dern erzaͤhlt werden, mit jenem Briefe in keiner wesentlichen Ver- bindung stehen. Aber anders gestellt gewinnt die Frage gleich ein groͤßeres Interesse. Fragen wir nemlich, ob der Verfasser einer der im N. T. erwaͤhnten Jakobus ist, also ein Mann aus dem apostolischen Zeitalter, ein unmittelbarer Zeitgenosse der Apo- stel, ein Apostel selbst, oder ob er ein spaͤterer sei, — so hat eben dieß Interesse zu wissen. Die Zeitdifferenz ist freilich in diesem Falle ziemlich begrenzt. Dabei koͤnnte die Persoͤnlichkeit nur noch bis auf einen gewissen Punkt gleichguͤltig sein. Eben so mit dem Judas. Indessen scheint sich von einer andern Seite die Sache zu aͤndern, wenn der Inhalt dieser Briefe von der Art waͤre, daß unsere Vorstellung von dem Ideenkreise im aposto- lischen Zeitalter wesentlich anders bestimmt wuͤrde, je nachdem der Verfasser dieser oder jener ist. Enthielten jene Schriften et- was, was die andern apostolischen Schriften nicht enthalten, Abwei- chendes aber nicht Widersprechendes, so waͤre die Frage natuͤrlich von großer Wichtigkeit. Schrieb ein Apostel rein als Einzelner, außer Verkehr mit den andern, isolirt, so verliert die Frage wie- der an Interesse, weil man von ihm auf jenen Kreis, auf den es uns eigentlich ankommt, nicht zuruͤckschließen kann. Das In- teresse waͤre dann eigentlich nur das an der bloßen Persoͤnlichkeit. Wenn in einer Schrift, welche zur Zeit der Apostel geschrieben und aus ihrem gemeinsamen Leben hervorgegangen waͤre, gleich- wol superstitioͤse und judaisirende Vorstellungen vorkaͤmen, denen in andern Briefen widersprochen wird, so ist hier nicht das In- teresse an der Persoͤnlichkeit selbst, sondern an gewissen Relationen derselben; es waͤre interessant zu wissen, ob dergleichen Vorstel- lungen im Kreise der Apostel ohne Widerspruch gegolten, also gewissermaßen als die ihrigen angesehen werden duͤrften oder nicht. Wie zerfallen nun in Beziehung auf das alles die kritischen Fragen der Art im N. T.? Es ist eine alte Streitfrage, ob der zweite und dritte Brief des Johannes von dem Apostel Johannes und der zweite Petri- nische Brief von dem Apostel Petrus verfaßt seien. Die Frage ist in Hinsicht der Persoͤnlichkeit von geringem Interesse. Der zweite und dritte Joh. Brief sind von so geringem Umfange, daß es weder in Beziehung auf die Sprache noch auf den Inhalt bedeutend sein kann, ob sie zu den uͤbrigen Schriften des Apo- stels hinzukommen oder nicht. Sind das Evangelium und der erste Brief aͤcht, und es findet sich in den beiden kleinen Briefen Widersprechendes damit in Gedanken und Sprache, so schließen wir, daß sie nicht von Johannes sind. Aber findet sich nichts dergleichen, so ist zu unbedeutend was sie uns von Johannes geben, wenn sie aͤcht sind, und nicht geben, wenn sie unaͤcht sind. Sehen wir den ersten Brief Petri als aͤcht an, so haben 24* wir, wenn es auch der zweite waͤre, eine Petrinische Briefsamm- lung. Aber die Sammlung bestaͤnde eben nur aus diesen beiden, und da der zweite streitig ist, so koͤnnen wir keine urspruͤngliche Sammlung annehmen, und muͤssen den ersten Brief selbststaͤndig behandeln, weil nur was aus ihm herruͤhrt, nicht was aus der Sammlung herruͤhren kann, fuͤr den zweiten entscheidet. Anders bei den Paulinischen Briefen. Da ist der Zweifel nicht alt. Man wußte wol, daß die Pastoralbriefe nicht im Ka- non des Marcion standen, aber man bezweifelte sie nicht und sagte, Marcion habe sie aus haͤretischem Interesse ausgelassen. Aber die Frage nach der Ächtheit dieser Briefe hat ein bedeuten- des persoͤnliches Interesse. Ihr Inhalt haͤngt mit den Thatsachen im Leben des Apostels zusammen; es entstehen Raͤthsel darin, wenn man sie ihm zuschreibt, und fallen weg, wenn man sie ihm nicht zuschreibt. Was die Evangelien betrifft, so koͤnnte man, was das Jo- hanneische betrifft, sagen, es sei gleichguͤltig, ob sein Verfasser Johannes geheißen oder nicht. Aber es handelt sich hier nicht von der Persoͤnlichkeit allein, sondern auch uͤber die Zeit und Ver- haͤltnisse des Verfassers zu den Begebenheiten. Nach Bretschnei- ders Probabilien waͤre das Evangelium an einem den Begeben- heiten ganz fremden Orte und in spaͤterer Zeit entstanden. Die entgegengesezte Ansicht behauptet, daß die Relation von einem Augenzeugen herruͤhre. Hier ist also ein historisches Interesse in Beziehung auf die Art, wie die Begebenheiten bezeugt sind. Dieß Interesse wird noch erhoͤhet durch das Verhaͤltniß des Evan- geliums zu den drei ersten, daß es anderes erzaͤhlt, als diese, und vieles auslaͤßt, was diese haben. Markus und Lukas sind uns unbekannte Personen. Wir wissen nur, daß sie zu dem unmittelbaren und naͤchsten Zeugen- kreise des Lebens Jesu nicht gehoͤren. Da ist's denn auch gleich- guͤltig, ob sie die im N. T. erwaͤhnten Personen des Namens sind oder andere desselben Namens. Selbst die Frage nach der Zeit der Entstehung ist hier nicht so bedeutend. Anders ist es, wenn man von der Identitaͤt des Verfassers der Apostelgeschichte und des Evangeliums des Lukas redet, aber die bezweifelt Niemand, un- geachtet der merkwuͤrdigen Trennung beider Buͤcher im N. T. Von ganz anderem Interesse ist die Frage uͤber den Mat- thaͤus, aber die Frage ist genau genommen auch erst neu. Fragt man, ist das Evangelium von dem Apostel des Namens, so kommt dabei auf die bloße Persoͤnlichkeit wenig an, obwohl auch der Punkt nicht ganz leer ist, weil von ihm bestimmte Thatsachen erzaͤhlt werden. Aber die Hauptsache ist, ob Matthaͤus der Apo- stel ist. Wenn dieß ist, dann ist das Verhaͤltniß des Matthaͤus und Johannes zu den Begebenheiten wesentlich dasselbe. Dieß ist von bedeutendem Einfluß auf die Art, wie die Differenzen beider behandelt werden. Haͤlt Jemand das Evangelium des Matthaͤus fuͤr das Werk des Apostels, das Johanneische aber nicht, so ist Matthaͤus Norm fuͤr den Johannes, und alles was dieser mit jenem Widersprechendes hat, kommt auf Rechnung der Unaͤchtheit des Johanneischen Evangeliums. Sagt man umge- kehrt, so entsteht auch das umgekehrte Verhaͤltniß. Werden beide als Werke von Aposteln angesehen, so sind ihre Differenzen un- ausgleichbar. So ist also hier die kritische Frage von großem Interesse in Beziehung auf die Ausmittlung der Thatsachen aus den verschiedenen Relationen. Auf die Weise finden wir im N. T. alle verschiedenen Grade von kritischem Interesse, und die verschie- denen kritischen Fragen nach dem Verfasser beisammen, und jede muß nach ihrer Art und Bedeutung entschieden werden. Fragen wir nun, sind diese kritischen Fragen im N. T. auf dieselbe Weise zu loͤsen, wie wir oben im Allgemeinen festgestellt haben, oder giebt es fuͤr die neutest. Schriften in dieser Hinsicht besondere Regeln? Wir fanden fruͤher schon auf dem Gebiete der Hermeneutik eine aͤhnliche Frage, aber als eine alte Streitfrage, nicht als eine solche, welche fuͤr uns auf dem natuͤrlichen Wege der Untersu- chung entstand. Fuͤr die consequente Theorie der katholischen Kirche existirt die kritische Frage gar nicht. Fuͤr uns in der evan- gelischen Kirche ist sie nothwendig vorhanden. Und wie auf dem Gebiete der Hermeneutik werden wir auch hier sagen muͤssen, daß es fuͤr die neutest. Kritik keine andern Regeln gebe, als die allgemeinen. Die kritischen Fragen entstehen, weil eine Thatsache noch nicht recht ausgemittelt war, oder weil sie verdunkelt worden. Auf diese beiden Faͤlle laͤßt sich die Sache immer zuruͤckfuͤhren. Eine Thatsache auszumitteln, kann es im neutest. Gebiet keine andern Regeln geben, als auf andern Gebieten. Es kann bei der Ausmittlung von Thatsachen nur durch zwei Elemente Entscheidung herbeigefuͤhrt werden. Einmal durch Auctoritaͤten . Sind diese vollstaͤndig und uͤbereinstim- mend, so ist die Frage auch vollstaͤndig entschieden. Stimmen sie nicht zusammen, enthalten einige Contraindikationen, so ist die Frage unentschieden. Sodann durch Analogien , wenn man aus dem Sprachgebrauch und dem Gedankenverhaͤltnisse fuͤr und wider die Identitaͤt des Verfassers entscheidet. Giebt es nun fuͤr beide eine andere Beurtheilung auf dem neutest. Gebiete, als auf jedem andern? Es giebt allerdings hier Auctoritaͤten von anderer Art, als anderwaͤrts. Dieß liegt in der Natur der kanonischen Schriften. Diese haben ihre eigenthuͤmliche Dignitaͤt, weil wir ihren Ver- fassern eine eigenthuͤmliche Auctoritaͤt zuschreiben, aber doch nur auf dem Gebiet ihres eigenthuͤmlichen Berufs. Wenn in neutest. Schriften Alttestamentisches citirt wird auf bestimmte Weise, etwa aus Jesaias, aus einer Region, von der der Kritiker weiß, daß sie spaͤter ist und keine Weissagung, wird da Jemand sagen wollen, weil Paulus jenen anfuͤhre, so sei jede kritische Operation vergeblich? Wol Niemand jezt noch. — Pau- lus hat so citirt, weil ihm die Stelle unter dem Namen des Jesaias gegeben war. Auf diesem Gebiete wird man also die Auctoritaͤt des Paulus ablehnen. Eben so, wenn ein Psalm als Davidisch citirt wird, den wir nicht dafuͤr halten koͤnnen. Wenn aber der Fall waͤre, daß zweifelhafte neutest. Schriften in andern neutest. Schriften, welche als authentisch feststehen, citirt wuͤrden, so waͤre das freilich etwas anders. Allein da wuͤrde die Auctori- taͤt nicht als eine apostolische gelten, sondern nur als die Aucto- ritaͤt eines solchen, der bestimmt wissen konnte, wie es sich mit der Sache verhalte. Dieß ist nun freilich nicht der Fall. Dieß kann uns also nicht zu Statten kommen, und es wuͤrde auch dadurch keine Sonderung des neutest. Gebietes entstehen. Wollte nun gar Jemand den Kirchenvaͤtern eine ganz eigen- thuͤmliche Auctoritaͤt beilegen, so waͤre das wol fuͤr einen katho- lischen Theologen, nicht aber fuͤr uns, wie sich von selbst ver- steht. Jener aber, wenn er consequent ist, bedarf dieser Aucto- ritaͤt gar nicht. Wir sehen die Zeugnisse der Kirchenvaͤter als Urtheile an, die erst gepruͤft werden muͤssen. Die kritischen Regeln sind also dieselben, wie auf jedem an- dern litterarischen Gebiete. Es giebt in Beziehung auf die neutest. Buͤcher Fragen, wel- che denen auf dem Gebiet der eigentlichen philologischen Kritik sehr verwandt sind, nicht aber hieher gehoͤren. Diese muͤssen wir aussondern. Dahin gehoͤrt die complicirte Frage uͤber die Genesis der synoptischen Evangelien. Die philologische Kritik als solche hat mit der Genesis eines Buches nichts zu schaffen, sie kann nur auf die Erscheinung des Buches zuruͤckgehen. Giebt es aber in jenen Schriften Stellen, welche bei der urspruͤnglichen Erscheinung nicht dazu gehoͤrt haben, so liegt das auf unsrem Gebiete. Da kommt es auf Auctoritaͤten und Analogien an. Fragt man dagegen, sind einzelne Theile der synoptischen Evan- gelien schon fruͤher vorhanden gewesen, sind dieselben aus fort- waͤhrender Erinnerung oder fruͤher gesammelten Materialien ent- standen, sind sie ganz oder theilweise Zusammenstellungen von vorhanden gewesenen, ausgearbeiteten Materialien, — so sind das Fragen, die nicht auf unser Gebiet gehoͤren; es sind Aufga- ben eigenthuͤmlicher Art, die nicht viel ihres Gleichen haben, wo- fuͤr es aber doch auf dem classischen Gebiete Analogien giebt, wie z. B. die bekannte Homerische Frage. Wohin gehoͤren diese und aͤhnliche Fragen, wenn doch nicht auf das Gebiet der philo- logischen Kritik? Sie gehoͤren der historischen Kritik an. Diese hat es recht eigentlich mit der Ermittlung von Thatsachen zu thun. Die Sache kommt nun so zu stehen. Die philologische Kritik fuͤhrt zuruͤck bis auf das anerkannte oͤffentliche Dasein dieser Schriften, so weit sie kann. Auf das abgesonderte Dasein ein- zelner Schriften kann sie uns eigentlich nicht zuruͤckfuͤhren. Denn wir haben nur Fragmente von der Geschichte der einzelnen Buͤ- cher. Das Resultat fehlt ganz. Wir haben die Sammlung des N. T., wissen aber nicht, wie sie entstanden ist. Das N. T. ist nicht immer so gewesen, das wissen wir. Wir haben daruͤber einzelne Data. Wie aber aus jenen Differenzen die jezige Ein- heit gewonnen worden ist, daruͤber fehlt der historische Zusam- menhang in den Zeugnissen. Es giebt noch Abschriften des N. T. welche den unvollstaͤndigen Zustand bezeugen, wie z. B. die Pe- schito. Aber wir koͤnnen die Luͤcke dadurch nicht ausfuͤllen. Fragt ma nweiter zuruͤckgehend nach der Entstehung der einzelnen Schrif- ten, so ist diese Frage wiederum nicht so vereinzelt, daß sie sich nur auf die synoptischen Evangelien bezoͤge. Es fragt sich auch, wie die einzelnen Briefe entstanden sind. Dieß ist auch eine rein historische Frage. So hat sich in dieser Beziehung ein Gebiet von Aufgaben gebildet und zwar nicht im N. T. allein, was wir von dem der eigentlichen philologischen Kritik sondern muͤssen, es ist das Gebiet der historischen Kritik. Diese ist die Kunst, eine Thatsache zu restituiren, so daß sie gleichsam vor unsren Augen geschieht. Und zwar gilt es da, die Thatsache entweder aus mangelhaften Zeugnissen oder aus nicht uͤbereinstimmenden zu restituiren, also auf dem Wege der Ergaͤn- zung in dem einen oder auf dem Wege der Ausgleichung in dem andern Falle. Beide Aufgaben kommen vor. Nehmen wir z. B. die Homerische Frage. Lassen wir es auch ganz unentschieden, ob zu der Zeit, wo der Dichter gelebt haben soll, er des Schreibens habe kundig sein und seine Werke selbst schriftlich habe abfassen koͤnnen, so werden wir doch mit Recht behaupten, daß sie von jenem Punkte aus nicht durch die Schrift allein haben verviel- faͤltigt und verbreitet werden koͤnnen. So wird also die Verbrei- tung derselben durch muͤndliche Überlieferung groͤßer gewesen sein. Muͤndlich aber konnten sie nicht als Ein Ganzes uͤberliefert wer- den. Das ist von selbst klar. So wie man aber an eine Zer- theilung denkt, so ist es nothwendig, eine vollstaͤndige und un- vollstaͤndige Überlieferung anzunehmen. Das fuͤhrt auf das Posi- tive einer einzelnen Überlieferung einzelner Theile, als Factum, welches also aus mangelhaften Nachrichten ergaͤnzt werden muß. Dieß ist die Aufgabe. Eben so die Aufgabe der Ausgleichung aus differenten Zeugnissen. Diese kommt bestaͤndig und uͤberall vor in der Geschichte, und das ist die eigentliche Aufgabe der hi- storischen Kritik. Wir haben diese Aufgabe von der eigentlichen hermeneutischen Operation gesondert. Dieß ist auch nothwendig. Aber man muß sich immer bewußt bleiben, daß die hermeneu- tische Aufgabe nicht geloͤst werden kann ohne die Operation der historischen Kritik. Die unmittelbar hermeneutische Aufgabe ist geloͤst, wenn ich weiß, wie der Geschichtschreiber die Thatsachen dargestellt hat. Aber wenn ich ihn gebrauchen will als historisches Zeugniß, entsteht die Aufgabe der historischen Kritik. Im N. T. entsteht die Aufgabe der Ausgleichung wie der Ergaͤnzung in Beziehung auf alles, was darin geschichtlich ist. So ist diese doppelte Aufgabe z. B. bei der Geschichte Jesu Christi aus den Evangelien vorhanden. Wollen wir uns dagegen das Faktum der Ausbreitung des Christenthumes außerhalb der Zeit, welche die Apostelgeschicht umfaßt, deutlich machen, so ist die Aufgabe, die Thatsache durch Ergaͤnzung vollstaͤndig zu ermitteln. Die Ergaͤnzung besteht darin, zwischen zwei getrennten historischen Elementen auf wahrscheinliche Weise die Mitte auszufuͤllen. Diese Aufgabe schließt sich unmittelbar an die hermeneutische Auf- gabe an. Bei den synoptischen Evangelien ist die Aufgabe ganz eigener Art, weil sie hier die hermeneutische Operation selbst afficirt. Unter den verschiedenen Hypothesen uͤber das synoptische Verhaͤlt- niß giebt es auch solche, welche der Einheit jedes einzelnen Evan- geliums bis auf einen gewissen Grad aufheben. Findet man es wahrscheinlich, daß die Evangelien aus schon vorhandenen schrift- lichen und muͤndlichen Überlieferungen so entstanden sind, daß Verschiedene auf verschiedene Weise ein Ganzes daraus gemacht haben, so fragt sich, ob der Verfasser die schriftlich vorhandenen Elemente aufgenommen, wie sie waren, oder ob er sie in seiner eigenen Schreibweise uͤberarbeitet gegeben habe? Wird das erstere wahrscheinlich gemacht, so hoͤrt die Einheit der Schrift fuͤr das allgemeine philologische Interesse auf uud die hermeneutische Aufgabe muß auf andere Weise geloͤst werden. Die Schrift bildet dann nicht mehr Ein Gebiet von Analogien des Sprachgebrauchs; ihr Gebrauch wenigstens wird sehr unsicher. Dieß ist also eine sehr zusammengesezte Aufgabe, die in keinem Litteraturgebiet voͤllig ihres Gleichen hat. Es ist aber gewiß nicht gleichguͤltig, ob und wie diese Aufgabe geloͤst wird, schon darum nicht, weil die herme- neutische Operation unmittelbar dadurch afficirt wird. Ja die Sache selbst ist auch anders. Soll die hermeneutische Aufgabe so vollstaͤndig als moͤglich geloͤst werden, so ist zu wuͤnschen, daß jeder Evangelist das Ganze auf seine Weise bearbeitet haben moͤge, um eine Einheit in Beziehung auf die Sprache zu haben. Bedenken wir aber, daß viele Reden Christi darin sind, welche eine ganz eigene Auctoritaͤt haben, so werden wir wuͤnschen, diese Reden vollkommen so zu haben, wie Christus sie urspruͤnglich gesprochen. So entstehen zwei entgegengesezte Interessen. Es kommt aber nicht darauf an, was wir wuͤnschen, sondern zu er- mitteln, wie die Sache sich wirklich verhaͤlt, um den Grad der Zuverlaͤssigkeit zu bestimmen, mit der die Reden Christi uͤberliefert sind. Ungeloͤst darf diese Aufgabe nicht bleiben, es fehlt sonst Wesentliches fuͤr den Gebrauch des N. T. in Beziehung auf seine vollkommene Sicherheit. Liegen denn aber jene Aufgaben wirklich vor? Dieß klingt sonderbar. Aber es gab eine Zeit, wo die Aufgaben noch nicht vorhanden waren. Wir muͤssen also erst fragen, ob sie mit Recht aufgestellt sind oder nicht; dann erst koͤnnen wir die Methoden an- geben, um der Loͤsung derselben so nahe als moͤglich zu kommen. Die eigentlich zur historischen Kritik des N. T. gehoͤrigen Fragen werden gewoͤhnlich in der Einleitung ins N. T. abgehan- delt. Dieß ist nun eine Wissenschaft, die gar keine Grenzen hat, in die man werfen kann, was man will. Da ist auch von einem Zuruͤckgehen auf Principien gar nicht die Rede, sondern man be- handelt die Sachen nach Maaßgabe des jedesmaligen Zustandes. Es fragt sich aber, giebt es keine solche Principien? Wenn wir die Aufgaben so fassen, wie sie in jener Disciplin vorzukommen pflegen, so ist es auf Ermittlung der Thatsache aus mangelhaften und widersprechenden Indicien oder Zeugnissen abgesehen. Da ist keine andere Methode, als was sich jedem nach seiner Besonderheit als das Wahrscheinlichste darstellt. Bleibt man dabei stehen, so erhaͤlt man nur Ohngefaͤhres. Man wird sich der Wahrheit bald naͤhern, bald sich mehr von ihr entfernen. Und so wird wuͤnschenswerth, daß man auf festes Objectives zu- ruͤckgehen koͤnne. Wenn die Grenze zwischen der philologischen und historischen Kritik so festgestellt wuͤrde, daß die erste immer auf Dokumente, als das Fruͤheste oder ruͤckwaͤrts gerechnet auf das Lezte zuruͤck- geht, und was daruͤber hinausliegt, aus ihrem Gebiete ausschließt, so ist nach dieser Seite hin dieses Lezte der Anfang fuͤr die Auf- gabe der historischen Kritik. Fragen wir nun, kann es zur Wie- derherstellung einer Thatsache, mit der es so steht, eine bestimmte Methode geben, so ist die Frage so gleichsam ohne alles Funda- ment, isolirt und schwebt in der Luft. Gehen wir aber davon aus, daß die Thatsache ein Einzelnes ist in einem Ganzen, so fragt sich, ist dieses Ganze nur ein bloßes Aggregat von solchen Einzelheiten oder etwas anderes? Wollte man das erstere be- haupten, so wuͤrde man alle Geschichte aufheben. Denn das wuͤrde heißen, jeder geschichtliche Moment sei in der Zeitreihe etwas rein Zufaͤlliges. Wollen wir nicht alle Geschichte in leeren Schein aufloͤsen, so muß sich selbst das Einzelne als etwas fuͤr das Urtheil auffassen lassen. Jeder Gesammtzustand muß nun Einheit sein und jede Thatsache muß sich im Zusammenhange begreifen lassen. Es wird also darauf ankommen, wie weit man den Gesammtzustand wird auffassen koͤnnen. Was die Frage uͤber die Entstehung der synoptischen Evan- gelien betrifft, so wird das Naͤchste sein, sich den Gesammtzu- stand, in den jene Thatsache gehoͤrt, gehoͤrig vorzustellen. Allein da entsteht gleich wieder eine Unbestimmtheit in der Aufgabe, weil wir die Zeit nicht genau angeben koͤnnen, worin die Evangelien entstanden sind. Wir wissen nur, daß sie sich zu einer bestimm- ten Zeit vorfinden und jeder in dem jezigen Zustande. Wie lange sie vorher da gewesen, wissen wir nicht. Bleiben wir bei den fruͤhesten Dokumenten der Thatsache stehen, so finden wir die Evangelien nie einzeln erwaͤhnt, auch kein einzelnes Vorkommen derselben, sondern alle vier immer zusammen. Anzunehmen, sie seien Theile eines Ganzen und zusammen gefertigt, ist unstatthaft. Sie sind also gewiß einzeln da gewesen. Da haben wir aber eine geschichtliche Luͤcke. Denn uͤber ihr einzelnes Dasein wissen wir nichts. Die erste Aufgabe ist also die, eben so von dem ersten Anfange an einen Punkt zu finden in der Zeit, welcher der Entstehung der Schriften am naͤchsten liegt, und eben so, wie jener Punkt, wo sie zusammen vorkommen, dokumentirt ist. So haben wir die Unbestimmtheit in gewisse Grenzen eingeschlossen. Wir fangen mit dem Leben Christi an. Dabei ist das Schlimme, daß die Nachricht davon eben in diesen Buͤchern steht. Indessen ist das Dasein der Person Christi auch ohne das hinlaͤnglich be- zeugt, nemlich durch die andern neutest. Buͤcher, welche doch urspruͤnglich unabhaͤngig von jenen entstanden sind, man muͤßte denn annehmen, daß auch diese als Theile eines Ganzen gemacht waͤren, das ganze N. T. also ein Gemachtes und somit ein großer Betrug. Nun haben wir aber als bezeugt eine von unsrer Samm- lung abgesonderte, den Kanon des Marcion. Und wiewohl der- selbe ein etwas anderer ist, so liegt doch in ihm eine zur Be- gruͤndung der historischen Erscheinung gewisse Thatsache. Wenn wir nun davon ausgehend weiter hinabsteigen, um bezeugte That- sachen zu haben, die aͤlter sind, als unsere Evangelien, so finden wir eine merkwuͤrdige Thatsache. Offenbar sind mehrere Briefe des N. T. zur Zeit des Kaisers Nero geschrieben. Nun ist es eine Thatsache, daß viele behauptet haben, Matthaͤus sei im 48. Jahre unserer Zeitrechnung geschrieben. Verbinden wir diese Thatsachen, so entsteht der merkwuͤrdige Schluß, daß das Evan- gelium des Matthaͤus unter dieser Voraussezung bedeutend aͤlter sein wuͤrde, als jene Briefe. In den Briefen des Paulus aber giebt es keine Spur, daß der Apostel eine Schrift von diesem Umfange und Inhalt gekannt habe. Ist nun wol wahrscheinlich, daß beides wirklich so zusammen gewesen? Wir haben uns den Gesammtzustand aus gewissen Elementen zusammengesezt zu den- ken, von denen das eine eine bezeugte Thatsache, das andere eine Hypothese ist. An diesem Beispiele koͤnnen wir uns die Prin- cipien der historischen Kritik vollstaͤndig entwickeln. Haben wir aus einem Gesammtzustande mehrere Punkte, so fragt sich, koͤnnen wir diese als Einheit zusammendenken oder nicht? Laͤßt es sich zusammendenken, daß Paulus in seiner Gesammtthaͤtigkeit und eine solche Schrift geraume Zeit vorhanden war, ohne daß sich von ihr in den Paulinischen Briefen eine Notiz faͤnde, so ist jene Hypothese, daß das Matthaͤusevangelium im Jahre 48 ge- schrieben sei, moͤglich. Kann ich das nicht, so faͤllt die Hypothese. So sieht man, wie man zu Werke gehen muß. Unter welchen Vor- aussezungen ließen sich wol jene beiden Punkte zusammendenken? Koͤnnte man zeigen, Paulus koͤnne recht gut ohne Notiz von jenem Evangelium gewesen sein, oder daß er in seinen Briefen jene Notiz nicht zu zeigen noͤthig gehabt, so waͤren beide Punkte zusammen denkbar. Nun aber unterliegt die Chronologie des Apostels Paulus sehr vielen Zweifeln, die Frage, in welchen Zeit- punkt seiner Wirksamkeit seine Briefe fallen, ist im Allgemeinen noch nicht vollstaͤndig beantwortet. Dennoch scheint es uns un- moͤglich, daß er von jenem Evangelium keine Notiz gehabt haben sollte. Nach jener Hypothese soll das Evangelium in Palaͤstina geschrieben sein, das war nicht der Wirkungskreis des Paulus, allein er stand doch mit jenen Gegenden sehr in Zusammenhang, so daß, wenn es nicht absichtlich verborgen gehalten wurde, er Notiz davon haben mußte. Das aber ist nicht denkbar, daß es fuͤr Christen geschrieben, um die Thatsachen des Evangeliums zu fixiren, in Jerusalem verborgen und dem eigentlich allein littera- rischen Apostel unbekannt geblieben sein sollte. Wie ist aber nun der andere Fall, daß Paulus Notiz davon gehabt, in seinen Brie- fen aber nur nicht erwaͤhnt haben koͤnne? Um dieß zu entschei- den, muͤßte man sich wieder Punkte angeben, aus denen ein Ge- sammtzustand zusammengesezt waͤre, worin die Entscheidungsmo- mente laͤgen. Waͤre die Kirche damals voller Evangelien gewesen, so waͤre es auch fuͤr Paulus nicht nothwendig gewesen, davon zu reden. Allein man soll nach jener Hypothese sich das Evan- gelium des Matthaͤus als das fruͤheste und eine Zeitlang einzige denken. Aber vielleicht hatte er eben in seiner Art zu wirken nicht noͤthig auf das Buch Ruͤcksicht zu nehmen? Das kann man wol nicht sagen, denn wenn es das einzige Evangelium war und Paulus stand an der Spize eines großen Kreises von Gemein- den, deren Zusammenhang mit Palaͤstina er zu vermitteln hatte, so war seine Pflicht, es zu verbreiten. Ferner hatte er in seinen Briefen, vornehmlich den notorisch spaͤteren, da wo er von dem gemeinsamen Leben der Christen redet, namentlich auch von ihren Versammlungen, Pflicht und Gelegenheit genug, das Buch an- zufuͤhren. So waͤre die Ewaͤhnung des Buches ein Theil seiner Pflichterfuͤllung gewesen. Wenn er von der Auferstehung Christi redet, sich darauf als eine Thatsache beruft, haͤtte er sich da nicht auf eine Schrift berufen sollen, die seine Pflicht war bekannt zu machen? In dem Maaße also, in welchem wir einen solchen Gesammtzustand mit jener Hypothese nicht zusammenzudenken ver- moͤgen, muß dieselbe fallen, da uͤber des Apostels Verhaͤltniß und Wirkungskreis kein Zweifel sein kann. Das ganze Verfahren der Kritik in diesem Stuͤcke muß immer darauf beruhen, in Beziehung auf eine streitige Frage einen Ge- sammtzustand zu construiren, worin man feste Punkte hat, nach denen man das Zweifelhafte beurtheilen kann, sofern es sich mit dem Ganzen in Einheit denken laͤßt oder nicht. Gewoͤhnlich nun glaubte man bisher und auch wol noch jezt genug gethan zu haben, wenn man eine einzelne Moͤglichkeit nachgewiesen. Allein das Einzelne schwebt ohne Construction des Gesammtzusammenhanges in der Luft. So ist es in dem Streit uͤber die Ächtheit des ersten Briefes an den Timotheus gegangen. Waͤhrend ich dabei davon ausging, den Gesammtzustand, der ge- wesen sein muͤßte, wenn der Brief von Paulus geschrieben sein sollte, darzulegen und darnach die einzelnen Umstaͤnde zu beurthei- len, stellte der juͤngere Planck dem Einzelnen andere Einzelheiten entgegen, ohne sie in einen Gesammtzustand zu bringen. So stehn einander entgegen das Verfahren, welches von der Vorstel- lung reiner Zufaͤlligkeit ausgeht, und die einzig richtige Maxime, das Einzelne aus einem Gesammtzustande zu erklaͤren und es auf einen eben so haltbaren Gesammtzustand zuruͤckzufuͤhren. Betrachten wir nun das Verhaͤltniß der synoptischen Evan- gelien, so fragt sich, in welchem Gesammtzustande hat ein sol- ches entstehen koͤnnen? Sezen wir die Hypothese, daß das aͤlteste Evangelium des Matthaͤus Markus, und beide Lukas benuzt habe, so ist die Frage, welcher Gesammtzustand zu denken sei, worin das habe ge- schehen koͤnnen. Wie muͤssen die Zustaͤnde der Christenheit gewesen sein, wenn, nachdem Matthaͤus geschrieben war, hinreichender Grund und Beduͤrfniß gewesen sein soll, das Evangelium des Markus zu schreiben? Wie ist die Differenz zwischen beiden zu fassen? War sie von der Art und so der Muͤhe werth, um ein solches Buch zu schreiben? Wie verhalten sich beide Verfasser in Bezie- hung auf ihre Lokalitaͤt zu einander? Konnte das Evangelium des Matthaͤus nicht dahin kommen, wo Markus schrieb, und schrieb dieser eben deswegen das seine? Nimmt man nun dazu, daß zwischen den drei ersten Evangelien nur ein sehr geringer Zeitraum angenommen wird, so fragen wir, wie der Zustand der Kirche gewesen sein muͤsse, daß die drei Evangelien so kurz hintereinander entstehen konnten? Entweder ungeheure Mangel- haftigkeit an Communication oder ungeheure Lust zum Schrei- ben muͤßte man annehmen. Beides aber stimmt nicht mit dem, was wir sonst von der damaligen Zeit wissen. Der Mangel an Zusammenhang unter den Gemeinden war nicht mehr so groß, und das Schreiben hat erst spaͤter zugenommen. So koͤnnen wir uns also jene Hypothese nicht denken ohne die Einheit des Bildes von der Zeit zu zerstoͤren und offenkundige Elemente abzuleugnen. Wir muͤssen sie also streichen und eine bessere suchen. Alles Bisherige ist nur Maxime der Beurtheilung, nicht der Erfindung. Waͤre es nicht besser, daß solche unhaltbare Hypo- thesen gar nicht entstanden waͤren? Ganz gewiß. Wie kann man aber auf das Richtige kommen? Nur dadurch, daß man von Oben heruntersteigt, und von dem ersten Anfange ab in genauer Entwicklung der christlichen Zustaͤnde bleibt. Was ist uns nun in Betreff des synoptischen Problems gegeben, was wir bezeugt wissen? Wir koͤnnen nur annehmen, daß einzelne muͤndliche und schriftliche Relationen aus dem Leben Christi vor der Zeit unsrer Evangelien vorhanden gewesen und unsere Evangelien Produckte davon sind, daß keins auf das andere unmittelbar Beziehung ge- habt, endlich, daß ihre Abfassung herunter zu ruͤcken sei in eine Zeit, wo ein solches Zusammenschreiben in den christlichen Zu- staͤnden selbst begruͤndet erscheint. Fassen wir noch einmal kurz zusammen, worin die einzig richtige Methode der historischen Kritik besteht. Kommt es auf Ausmittlung einer Thatsache an, von der allemal mehrere einzelne Momente gegeben sein muͤssen, so ist eine Entscheidung nur moͤg- lich, wenn man einen festen Punkt hat, von dem man ausge- hen kann, und auf der andern Seite einen, der aus dem Zu- sammenhange mit dem, was zu erklaͤren ist, hervorgegangen ist. Zwischen diesen beiden bekannten Endpunkten liegt die streitige Thatsache. Es muß einen gehoͤrig bezeugten Gesammtzustand geben, gleichsam als Ort der Thatsache, einen fruͤhern und einen spaͤteren, diesseits und jenseits der Thatsache. Lassen sich ver- schiedene Ansichten denken, so ist die Probe eine doppelte, nemlich, ob sich die verschiedenen bekannten Momente erklaͤren lassen zu- sammen mit dem bezeugten fruͤheren Gesammtzustande, so daß klar wird, wie die Thatsache daraus hervorgegangen, sodann aber auch, ob sich der andere Endpunkt und der dazu gehoͤrige Gesammt- zustand als aus der ermittelten Thatsache hervorgegangen erklaͤren lasse. Stimmt beides zusammen, so ist das eine Entscheidung, wie sie nur irgend moͤglich ist. Sobald freilich neue Elemente der Thatsache zum Vorschein kommen, muß die Untersuchung er- neuert werden. Diese Methode beruht eben darauf, daß jede Thatsache als Theil eines zusammenhaͤngenden geschichtlichen Gan- zen angesehen wird. Hat man daher ganz genaue Punkte zu demselben Ganzen, so sind sie als zur Thatsache selbst gehoͤrig zu betrachten. Um so bestimmter kann dann die Entscheidung sein. Im N. T. wird diese Methode immer noch zu wenig ange- wendet. Dieß haͤngt aber zusammen mit der Behandlungsart der eigentlichen kritischen Aufgabe, mit dem immer noch vorhan- denen, ganz unwissenschaftlichen Respect vor der recepta, wo man die schlechteste Überlieferung ganz ohne Urtheil annimmt. Wie ist die Frage uͤber die Ächtheit der neutest. Schriften be- handelt worden? Wie ist hier die Stellung des Kritikers? Es ist eine hinlaͤnglich bezeugte Thatsache, daß gewisse Theile des neutest. Kanons zu einer gewissen Zeit noch in einem großen Theile der Kirche fuͤr unaͤcht gehalten worden sind. Die spaͤtere Thatsache ist, daß der Kanon in der christlichen Kirche so uͤber- einstimmend sich findet, wie er nur werden konnte, nachdem jene Schriften als aͤcht anerkannt worden sind. Wir koͤnnen noch eine Duplicitaͤt unterscheiden, an die man damals freilich nicht dachte, naͤmlich das Interesse an den Urhebern der Schriften, so- fern sie Apostel waren, und an den Schriften selbst, sofern sie kanonisch waren. Das unterschied man damals nicht, wie man denn den zweiten Brief des Petrus nicht aufgenommen haben wuͤrde, wenn man ihn nicht fuͤr aͤcht gehalten haͤtte. Aber die spaͤtere bezeugte Thatsache ist, daß auch die fruͤher bezweifelten Hermeneutik u. Kritik. 25 Schriften in den Kanon gekommen sind, daß also von den strei- tenden Partheyen diejenige die Oberhand bekommen hat, welche jene Schriften fuͤr aͤcht hielt. Wie das zugegangen, daruͤber fehlt die Geschichte. Jeder, der die Frage behandelt, weiß das sehr gut. Wenn nun aber die Frage aufs Neue behandelt wird, so wird die Sache wol so gestellt, als ob sie ein Proceß waͤre, und als ob die, welche die Ächtheit behaupten, ihn schon gewonnen, als die im Besiz seien, den Angreifenden aber oblaͤge, den Beweis zu fuͤhren. Hier ist das Urtheil durch die Überlieferung, wie oben bei dem Text das Auge bestochen. Man fuͤhrt das Recht der Verjaͤhrung da ein, wo es sich von keinem Rechte, sondern von der Wahrheit handelt. Das ist ein heilloser Respect vor der Über- lieferung und ein katholisches Verfahren. Denn das Innere dieses Respects ist das Gespenst der erscheinenden Kirche. Ehe man sich davon nicht losgemacht, ist keine wissenschaftliche Behandlung moͤglich. Worauf fuͤhrt es, daß nur die Angreifenden den Beweis zu leisten haben? Die Vertheidigung wird dann so gefuͤhrt, daß man, statt auf die Gesammtzustaͤnde zuruͤckzugehen, nur einzelne Momente anfuͤhrt, ohne zu zeigen, daß diese sich auch zusam- menreimen. Wie soll es sein? Es kommt darauf an, was dabei eigentlich zu erklaͤren ist. Es ist die Thatsache zu erklaͤren, daß diejenige Parthey, welche die zweifelhaften Schriften fuͤr aͤcht hielt, die herrschende geworden. Das Fruͤhere ist, daß die Schriften von Einigen anerkannt wurden, von Andern nicht. Hier ist das Wahrscheinlichste zu berechnen bei der Betrachtung des Fruͤheren und Spaͤteren. Behandeln wir die beiden Meinungen als zwei Lesearten, und fragen wir, welche ist wahrscheinlich die aͤchte, welche hat mehr fuͤr sich? Haͤtten wir die Gruͤnde, weßwegen die Einen jene Schriften fuͤr aͤcht, die Andern fuͤr unaͤcht hielten, vollstaͤndig vor uns, so brauchten wir diese nur zu pruͤfen. Allein davon ist wenig uͤbrig. So kommt es eben nur auf die Wahrscheinlichkeit an. Was haben wir in jener Zeit uͤberwiegend vorauszusezen, Verlangen nach heiligen Schriften oder Vorsichts- maaßregeln dagegen? Offenbar das erste nach dem Gesammtzu- stande der alten Kirche. Also diejenigen, welche jenes Verlangen hatten, werden weniger besondere Gruͤnde noͤthig gehabt haben, die Zweifelnden desto mehr. So lange nicht andere Entscheidungs- gruͤnde sich zeigen, muͤssen wir sagen, daß die Zweifelnden bessere Gruͤnde gehabt haben, als die Annehmenden. So war also die allgemeine Annahme solcher Schriften nur die Folge der vorherr- schenden Neigung. Dazu kommt der Gegensaz zwischen den Ortho- doxen und Katholischen auf der einen Seite, und den Haͤretikern auf der andern. Darin liegen in gewisser Beziehung Contrain- dikationen. Die Consolidirung der Kirche war in der katholischen Kirche die herrschende Richtung, und diese stand mit dem Ver- langen, ein Corpus von heiligen Schriften zu consolidiren, in Verbindung. Damit war das Bestreben verbunden, moͤglichst das Haͤretische zu vermeiden. Es giebt haͤretische Schriften, die in vielen Gemeinden gebraucht wurden und gleich den zweifelhaften Anspruch machten, in den Kanon aufgenommen zu werden. Aber man schied sie aus. So ist der spaͤtere Gesammtzustand das Resultat von dem Verlangen einer jeden Gemeinde alles zu haben, was irgend in einer andern Gemeinde als heilig gegolten. Dieß Verlangen hat in allen Faͤllen gesiegt, wo in dem Zweifel- haften nichts Haͤretisches war; es hat nicht gesiegt, wo Haͤreti- sches war. So ist der Hergang der Sache. Aber man hat sie damals nicht aus den rechten Gruͤnden betrachtet, sondern mehr eigentlich als einen Tausch. Damit die Einen fahren ließen, was von katholischer Seite als haͤretisch erschien, so nahmen die An- dern an, was zweifelhaft war, ohne haͤretisch zu sein. Nun kommt die Frage so zu stehen, daß sie aus inneren Gruͤnden ent- schieden werden muß. Was hatten die Zweifelnden fuͤr Gruͤnde, und was fuͤr welche die Annehmenden? Das Bezweifeln sezt eine kritische Richtung voraus, die Annahme nicht. Koͤnnten wir Fakta beibringen, um auszumitteln, woher die zweifelhaften Schriften zuerst gekommen, und wie sie sich so verbreitet haben, so koͤnnten wir den Beweis aus wirklich bezeugten Thatsachen 25* fuͤhren, so lange das nicht ist, koͤnnen wir nur aus inneren Gruͤn- den Beweis fuͤhren, nach der bezeichneten Methode, das Ein- zelne nur in Beziehung auf den Gesammtzustand zu behandeln. Die kritischen Untersuchungen haben im N. T. noch ein an- deres Hinderniß. Wenn wir die Momente, aus denen die herr- schenden Vorstellungen vertheidigt zu werden pflegen, genauer betrachten, so finden wir, daß vieles als Zeugniß angesehen wird, was nur Meinung gewesen. So wird die zweite Gefangenschaft des Apostels Paulus von Vielen fuͤr eine bezeugte Thatsache ge- halten. Allein bei genauerer Untersuchung fehlt es an allem Zeug- niß dafuͤr. Gaͤbe es Zeugnisse, so muͤßte man auch angeben koͤn- nen, was der Apostel nach der in der Apostelgeschichte erzaͤhlten Gefangenschaft gethan. Es giebt freilich spaͤtere Nachrichten dar- uͤber, aber sie haben keine bezeugende Kraft. Wie die Ansicht der Alten von der zweiten Gefangenschaft entstanden sein moͤge aus der Voraussezung der Inspiration der heiligen Schrift, dieß haben wir schon oben in der Hermeneutik zu erklaͤren gesucht S. 247. . Noch ein Anderes kommt hier in Betracht, wo man recht sehen kann, wie es der Kritik geht, wenn man ihr nicht freies Feld laͤßt. Sie arbeitet dann nur gegen sich selbst. Es waren gegen manche Paulinische Briefe Zweifel erhoben worden, weil man sagte, es kaͤmen Punkte darin vor, die sich aus dem bekannten Gesammtzustande, aus dem Leben des Apo- stels nicht erklaͤren lassen. Wenn aber nur die Apostelgeschichte nichts davon sagt, so ist das kein Grund, denn diese hat geschicht- liche Luͤcken. Wenn aber gegen bestimmte Nachrichten Contrain- dikationen in des Apostels Schriften vorkommen, so sind diese eben nicht aus jenem Gesammtzustande zu begreifen, sie koͤnnen daraus nicht hervorgegangen sein. Da war die Befreiung des Apostels aus der ersten Gefangenschaft ein sehr bequemes Auskunftsmittel; sie sollte alle Contraindikationen aufheben. Allein da alle positive Zeugnisse dafuͤr fehlen, auch die Erklaͤrung der ganzen Sache aus der Inspirationstheorie der Alten sehr nahe liegt, so kann man aus einer so gar nicht bezeugten Thatsache keine Argumentation gestatten. Man huͤte sich bloße Meinungen der Alten fuͤr Wahr- heiten zu halten! Oft haben wir eben nur Tradition von Mei- nungen ohne alle wirkliche Geschichte. Da sei man vorsichtig! Wir werden vielleicht nicht dahin, kommen, alle Fragen in Beziehung auf einzelne Buͤcher und den ganzen Complex des N. T. vollstaͤndig zu entscheiden. Denn es giebt Aufgaben, wo wir nicht Punkte genug haben, um zu einem festen Urtheile zu kommen. Da muß vieles ungewiß bleiben und streitig. Aber durch die richtige Methode, die wir angegeben haben, befreien wir uns wenigstens von falschen Praͤventionen und machen und erhalten den Boden der Untersuchung rein. Daß Mo- mente von Wichtigkeit, die wir noch nicht kennen, noch sollten entdeckt werden, ist sehr unwahrscheinlich. Es muͤßten das Schrif- ten sein aus dem Zeitraume, der am wenigsten historisch ausge- fuͤllt ist, oder solche, welche sichere Nachrichten von demselben er- hielten. Daß solche noch gefunden werden sollten, ist sehr un- wahrscheinlich. Aber darum muͤssen wir dennoch auf alles Strei- tige die richtige Methode anwenden. Dazu soll diese Vorlesung ein Beitrag sein, aber nur in der Kuͤrze, so daß auf die einzel- nen neutestamentlichen Buͤcher die Anwendung zu machen und die aufgestellten Principien weiter auszubilden uͤberlassen bleibt. Druckfehler . Seite 26 Zeile 9 v. o. statt strenge Bestimmung des Seins auf das Denken lies strenge Bestimmung des Denkens durch das Sein . — 48 — 4 — statt zu jener Einheit lies von jener Einheit. — 72 — 3 — — verbindende — verbundene. — 84 — 9 — — kommt vorzuͤglich — kommt es vorzuͤglich. — 118 Anmk. — — §. 8. — § 6 — 120 Z. 5 v. u. — daß ein- — daß einzelne . — 129 — 2 v. o. — sondern — sodann. — 141 — 1 — — Evangelium — Evangelium des Jo - hannes . — 142 — 2 — — verfaͤhrt — behandelt. — 146 — 5 — — Also ein — Also kein . — 151 — 22 — — Die Elementen — Die Elemente. — 176 — 9 — — Eulerts — Eulers. — 206 — 19 — — die Hauptgedanken — den Hauptgedanken. — 210 — 15 — — Dann — Denn. — 212 — 25 — — der Impulse — dem Impulse. — 244 — 10 — — ohne daß dabei der Punkt — ohne daß der Punkt. — 269 — 2 — — ganz genommen — ganz in dem Sinne genommen. — 272 — 26 — — subsummiren — subsumiren. — 303 — 3 — — und jedes — und zwar . — 304 — 15 — — ihrer Ausgaben — ihren Ausgaben. — 320 — 2 — — dieselbe — dieselben. — 378 — 1 — — der Einheit — die Einheit. Goͤttingen , gedruckt in der Dieterichschen Universitaͤts-Buchdruckerei. Inhaltsverzeichniß . Allgemeine Einleitung Seite 3 bis 4. Hermeneutik — 5 — 262. Einleitung — 7 — 40. Erster Theil, die grammatische Auslegung — 41 — 142. Zweiter Theil, die psychologische Auslegung — 143 — 262. Kritik — 263 — 389. Einleitung — 265 — 283. Erster Theil, Kritik der mechanischen Fehler — 284 — 322. Zweiter Theil, Kritik der Fehler, die durch freie Handlung entstanden sind — 323 — 389.