Ueber den Selbstmord. Fuͤr Menschen, die nicht fuͤhlen den Werth, ein Mensch zu seyn. Von J. M. Sailer , Lehrer der Moralphilosophie. Muͤnchen, Bey Joseph Lentner, Buchhaͤndler. 1785 Speusippum cruribus resolutum Diogenes hortabatur, ut se ipsum vita privaret. Cui ille: non cruribus, inquit, vivimus, sed mente. Instruction fuͤr dieß Buͤchlein. G eh hin, Buͤchlein! in die Welt, wo es Menschen giebt, die zu ih- rem Daseyn sagen koͤnnen: ich bin deiner satt, und vollende dein Ta- gewerk, wie es dir auf die Stirne ge- zeichnet ist, dem Menschen seine Wuͤr- de fuͤhlbar zu machen — den Werth, ein Mensch zu seyn. Einige werden dir schon von ferne entgegen rufen: Wozu? Du kommst zu fruͤhe. Derley gutmuͤthigen Fremdlin- gen in der neuesten Weltgeschichte, die so )( 2 reden Instruction reden koͤnnen, darfst du nur die Leichen vorzaͤhlen, die der Menschenfeind, Selbst- mord, in nahen und fernen Landen seit kurzem gehaͤufet hat, und sie werden dich deines Weges gehen lassen. Wo nicht: so fuͤhre sie stilischweigend in die Gesell- schaften, in denen der Selbstmord seine Lobredner, und, wer soll es glauben? seine Lobrednerinnen findet: in Schrift- stellerstuben , die die schwarze Muͤhe ken- nen, die ihre Bewohner an der Empfeh- lung solcher Grundsaͤtze verschwenden, deren Befolgung mit dem Selbstmorde endet: in Romanen -Bibliotheken, wo die Helden und Heldinnen wetteifern die Last des Lebens, und der Liebe mit ei- nemmale wegzuwerfen: in Schauspiele n , die es als erste Tapferkeit preisen, ein Moͤrder seiner selbst zu werden: zu Toiletten, wo Schriften, die alle Ar- ten von uͤberspannten Gefuͤhlen predigen, als Lieblingslectuͤre oben an zu stehen die Ehre haben, und das Vorrecht, in den taͤglichen Putzstunden als einzige Lebens- weisheit fuͤr dieß Buͤchlein. weisheit gelesen — verschlungen zu werden. Andere werden dir beweisen wol- len, du kommest zu spat. Ich will se- hen — sonst antworte nichts, und geh kaltbluͤtig weiter. Wem dein Mittelgewand zwischen dem steifen der Schule, und dem leich- ten, spielenden der Mode zu ernsthaft ist, bey dem uͤbernachte nicht, und wo nur fliegende Schriftleins willkomm sind, die gleich einer Landplage von Heuschre- cken die kleinen Reste des deutschen Sin- nes noch vollends aufzuzehren drohen, da betritt nicht einmal die Schwelle. Aber dem Juͤngling , der nicht um- sonst fragt, was ist Wahrheit? der auf dem Scheidewege des Lasters, und der Tugend stille steht, und vor dem ent- scheidenden Entschlusse, diesen oder jenen Pfad zu betreten, den Blick schaͤrft, um das Ende zu sehen, wohin beyde fuͤh- ren; der ein hoͤher Beduͤrfniß in der )( 3 Brust Instruction fuͤr dieß Buͤchlein. Mensch heißt, mit Einer Stimme zu- rufen: Was weinest du? Wir jauchzen all zusamm’, und sind fast wenig — Empfinde, wer du bist! Du unser Koͤnig, Und weinen, du? Meinen Freunden sage im Fortge- hen, mit einem Haͤndedruck, daß du ein Muster seyst, wie ich Moralphilo- sophie lehre. Und bey wem die Wahrheit uͤber alles geht, zu dem sage: Bruder! Erster Erster Abschnitt . Gruͤnde wider den Selbstmord. A Rebus in angustis facile est contemnere vitam: fortiter ille facit, qui miser esse potest. Erster Grund. S elbstmord ist eine Empoͤrung ge- gen den Naturtrieb zur Selbst- erhaltung — die unnatuͤrlichste Handlung, deren ein Mensch faͤhig ist. Selbstmord! Wie kommen diese wi- dersprechenden Begriffe, Mord , und Selbst in Einen zusammen? Einen Mitmenschen morden ist schon unnatuͤrlich: aber sich selbst morden — ist das Unnatuͤrlichste aus allem, was sich denken laͤßt. Wenn es uns die Geschichte nicht sag- te, daß Menschen an sich selbst Hand ange- leget haben, wer sollte es glauben, daß eine Wut wider sein eigen Daseyn in einem Men- schen moͤglich waͤre? Alles, was lebt, strebt A 2 nach Erster Abschnitt. nach Fortdauer seines Lebens, und kaͤmpft gegen jede aͤußere Gewalt, die ihm das Le- ben zu rauben drohet. Wie ist es denn moͤglich, daß ein Lebendiger, der den Werth des Lebens fuͤhlen kann, und ihn schon so oft gefuͤhlet hat, sich selbst Gewalt anthue, um sich dieß sein Leben zu rauben? Welche Empoͤrung eines Geschoͤpfes, dem der Wunsch zu leben Natur ist, gegen diese seine Natur gehoͤrt dazu, daß es sich selbst hinrichte. Selbsthinrichtung! welch eine Schauer durchlaͤuft mein Gebein beym bloßen Aus- sprechen dieses Wortes? Der Wurm kruͤmmt sich gegen den zerdruͤckenden Fußtritt des Menschen, und sagt durch diese Kruͤmmung: Ich will leben; und der Mensch, der hoch uͤber dem Wurme an der Leiter der Dinge steht, kann ein Feind seiner Existenz wer- den, und durch That sprechen: Ich will nicht leben! Welche Unordnung! Du sagst: Die Leiden, die auf mir liegen, sind so schwer, daß sie den Trieb zur Selbsterhaltung uͤberwaͤltigen; daß mei- ne Gruͤnde wider den Selbstmord. ne Natur flehend zu mir ruft: Zerstoͤre mich; daß der Trieb zur Selbsterhaltung — Trieb zur Zerstoͤrung wird. Freund! ich kenne deine Sprache; hoͤre itzt die meine: Fuͤrs erste: denke zuruͤck, wie oft hat dich dein Gefuͤhl schon widerlegt? Wie oft griffst du schon, im Drange der Leiden, nach dem Dolch, und wolltest ihn dir in die Brust stossen: und der Dolch fiel dir unge- braucht aus der Hand? Wie oft bebtest du schon zuruͤck vor dem gefaßten Entschluß, ich will mich selbstmorden, und ein Ent- setzen vor dir ergriff dich, daß du stille stan- dest, und suchtest Muth, die Greulthat an dir zu vollfuͤhren, und fandest ihn nicht? Also schwieg er nicht der Trieb zur Selbst- erhaltung: er redete laut. Zwar kannst du ihn nach und nach schon noch zum Schwei- gen bringen, das heißt, zuerst ihn — und dann dich selbst ermorden, wenn du par- theyisch genug bist, immer nur auf das er- wuͤnschte Ende des Leidens, immer nur auf die scheinbare Unertraͤglichkeit der Last, und A 3 nie Erster Abschnitt. nie auf die Wahrscheinlichkeit, oder wenigst auf die Moͤglichkeit kommender Errettung hinzusehen. Allein eben dieses beweiset ja, daß es nicht eigentlich die Leiden sind, die den Trieb zur Selbsterhaltung in dir uͤber- waͤltigen, sondern daß die Partheylichkeit deines Herzens die Vorstellungen von der Groͤße der Leiden so hoch spannen kann, daß sie den Trieb zur Selbsterhaltung unterdruͤ- cken. Man mag nun das Reich der mensch- lichen Freythaͤtigkeit erweitern oder verengen, wie man will: so kann doch kein ruhiger, helldenkender Verstand daran zweifeln, daß die Ueberspannung der Vorstellungen, und die daraus entstehende Ueberwaͤltigung des Erhaltungstriebes, wenigst in den Anfaͤn- gen und ersteren Fortgaͤngen der Spannung, von den Einfluͤssen der menschlichen Freythaͤ- tigkeit abhaͤngig sey. Haben doch die menschlichen Leiden im- mer zweyerley Seiten: an einer hangen große Lasten, die die Leiden groß, und wohl gar unertraͤglich machen, an der an- dern sind brauchbare Handheben festgemacht, die Gruͤnde wider den Selbstmord. die sich bequem anfassen, und an denen sich die schwersten Lasten ganz leicht aufheben lassen. Nun ist es wohl moͤglich, daß ei- ner immer die Handheben vorbeygeht, und nur die Zentnerlasten anfuͤhlet, und etwa mit Huͤlfe der Einbildungskraft noch neue daran haͤngt. Da wird ihm denn freylich das Leiden immer unertraͤglicher, und der Trieb zur Selbsterhaltung immer schwaͤcher werden. Aber was koͤnnen z. B. zwey Summen dafuͤr, daß eine immer groͤßer, und die andere immer kleiner wird, wenn wir bey einer immer neue Quellen hin- zusetzen, und bey der andern immer eini- ge wegstreichen? Fuͤrs Zweyte: Der Trieb zur Selbst- erhaltung ist nicht nur in der sinnlichen, er ist auch in der vernuͤnftigen Natur des Menschen gegruͤndet. Nicht nur das Thier in uns, auch der Geist, dieser Funke der Gottheit spricht laut das Gesetz der Natur aus: erhalte dich. Und ob sie gleich, diese streitenden Parteyen, der Geist und die Sinnlichkeit, im ewigen Kriege miteinander A 4 verwi- Erster Abschnitt. verwickelt sind, so stimmen sie dennoch ge- woͤhnlicher Weise in dem Gesetze der Selbster- haltung uͤberein. Und wenn sie sich auch darinn entzweyen, so ist es immer nur die Sinnlichkeit, oder wenigst eine irrige, ver- worrene Vorstellung, die den Erhaltungs- trieb selbstmoͤrderisch uͤberwaͤltiget, und die Last des Lebens unberufen wegwirft: wie die gesunde Vernunft. Diese ruft immer mit Macht entgegen: „Unter- Soll ihn die Vernunft anrathen; so muß uns eine kalte Ueberlegung versichern, daß alle Guͤter dieser Erde fuͤr uns auf ewig verlohren seyn werden; so muß es wenigstens hoͤchst wahrscheinlich seyn, daß weder Ueber- legung noch Zeit vermoͤgend seyn werden, ei- nen quaͤlenden Eindruck zu uͤberwaͤltigen. Wir muͤssen den schwarzen Dunst, der aus dem Schlamme der Leidenschaft aufsteigt, zer- streuet, und die Gegenstaͤnde lauter, und un- gebrochen betrachtet haben. Und dennoch soll uns das Leben eckeln? Dennoch sollen wir mehr Truͤbsal, als Gutes vor Augen se- hen? Welcher von allen Selbmoͤrdern war in solchen Umstaͤnden? Oder welcher unselige Sterbliche wird je in solchen Drangsalen seuf- zen? — — Wenn du je geliebt hast, Euphranor! so versetze dich ganz in das Elend dieser Ver- zweifel- Gruͤnde wider den Selbstmord. „Unternimm das Wichtigste nicht in der Stunde der Verwirrung — harre nur noch eine kleine Weile: Zeit und die kaͤltere Ueberlegung werden dir das Le- ben wieder ertraͤglich, und liebenswerth machen.„ Die Vernunft ist es nie, die zum Selbstmord raͤtht, wie Moses mit seinem Scharfsinn, und mit seiner Darstellungs- gabe beweiset zweifelten. Empfinde alle Schmach des be- trogenen Liebhabers, die Reue des Treulo- sen, und die schreckliche Greuel des Verfuͤh- rers in ihrem weitesten Umfange. Noch mehr! Laß sie alle in entsetzlicher Vermischung uͤber ein einziges Haupt ausgegossen seyn. Wie nun? Bleibt dem Elenden kein anderer Trost, als Gift und Dolch? Wenn der Verstockte auch gegenwaͤrtig seine Brust allen Trostgruͤn- den verschließt, wenn die Vernunft, die Freund- schaft, die ganze Natur, die Gottheit selbst itzt tauben Ohren predigt; wird die Zeit nicht den heilsamen Staub der Vergessenheit uͤber seine Wunde streuen? Wird die Zukunft ihn nicht ganz umbilden, und in eine Sphaͤre von ruhigen Empfindungen setzen, in welcher er den gegenwaͤrtigen Sturm von ferne be- trachten wird? Gesetzt, er laͤugnet die Vor- sehung, er laͤugnet die Guͤte Gottes, die alles, Euphra- , und das ist viel gesagt A 5 fuͤr Erster Abschnitt. fuͤr den, der die Raͤthe der Vernunft zu schaͤtzen weis, das heißt, fuͤr Ausspruͤche der Wahrheit haͤlt. Zweyter Grund. D er Selbstmord ist ein Aufruhr ge- gen das allgemeine Menschengefuͤhl. Wenn der Tod irgend einen Fuͤr- sten, einen Ehegatten, einen Sohn, einen Freund aus dem Schoose des Landes, der Familie, der Freundschaft hinwegnimmt, so verwundet er das Herz des Freundes, der Familie, des Vaterlandes. Jedes Auge sieht den Tod als einen Raͤuber der Freude an, und jedes Herz wird erschuͤttert durch den Hintritt eines Geliebten. Wenn Euphranor, fuͤrwahr! alles zu unserm Besten lenket; hat er so elende Begriffe vvn der Na- tur unserer Empfindungen, daß er glaubet, der Donner wuͤrde unaufhoͤrlich in seinen Oh- ren rauschen, der itzt uͤber seinem Haupte rol- let? Und hievon soll ihn die Vernunft uͤber- zeugen? O nein! die Leidenschaft, die schwaͤr- zeste Leidenschaft hat sein Gesicht umnebelt. Und wenn er noch so kaltsinnig, den Dolch in der Gruͤnde wider den Selbstmord. Wenn nun aber der Fuͤrst, der Ehe- gatte, der Sohn, der Freund an sich selbst Hand anlegt, und sich der Familie, den Freunden, dem Vaterlande raubt, dann ist’s nicht bloß Schmerz, der uns das Herz zerreißt: es ist ein Schauer, der den Strom unserer Empfindungen aufhaͤlt; es ist ein Entsetzen der Natur, das uns nicht zum Weinen kommen laͤßt; es ist eine Spannung unserer Gefuͤhle, von der wir nicht so leicht zuruͤck kommen; es ist eine Zerruͤttung der Empfindungen, die sich nicht beschreiben, nur empfinden laͤßt. Denken wir, wie uns zu Herze waͤre im Augenblick, wo wir vor einem hohen Thurme vorbey giengen, und man uns sag- te: Der edle Juͤngling da, deß Hirnmark diesen der Hand, seinen Entschluß zu uͤberlegen schei- net; so laß dich den Schein nicht truͤgen. Es ist die wilde, halsstaͤrrige Gemuͤthsstille der verstocktesten Selbsthasser, der Gipfel al- ler Wuth, der die Vernunft noch weiter von ihnen verbannet, als das Toben der ausgelas- senen Verzweiflung; denn diese brauset oͤfter in Worten aus, ohne bis zur entsetzlichen That empor zu schaͤumen.“ (vermischte Philos. Schriften, I. B. Dreyzehnter Brief.) Erster Abschnitt. diesen Pflasterstein hier faͤrbt, und sich mit Erdenstaub vermischet, fiel unversehens von diesem hohen Thurm herab: und wie uns auf einmal so ganz anders werden wuͤrde, wenn man uns sagte: Der Juͤngling stieg in der Absicht auf den Thurm, um sich herabzustuͤrzen, und stuͤrzte sich aus Vor- satz herab. Im ersten Falle waͤren wir Schmerz, Mitleid, im zweyten verloͤren wir uns selbst im Angriff der ungewohntesten Gefuͤhle. Auch ist es sonderbar, daß bey der ersten Nachricht von dem Selbstmorde einer gekannten, merkwuͤrdigen Person der Land- mann wie der Hofmann, die Viehmagd wie der Schulgelehrte, der Verwandte wie der Fremdling, der Greis wie der Knabe, der tapfere Krieger wie das weichherzige Maͤdchen ꝛc. in eine neue Welt von Empfin- dungen hineingeworfen werden — Voraus- gesetzt, daß die Hoͤrer dieser Nachricht noch nicht um alle Menschenempfindung gekom- men, oder nicht eben in der ungluͤcklichen Arbeit begriffen sind, sich ein System der Selbstentleibung zu bauen, oder ein vol- lendetes Gruͤnde wider den Selbstmord. lendetes gegen die Stimme des Gewissens zu rechtfertigen. Noch verdient hier angemerkt zu wer- den, daß die beruͤhmtesten Aerzte und Men- schenforscher, um das Phaͤnomen des Selbstmordes erklaͤren zu koͤnnen, sich ge- noͤthiget finden, eine Art von Verruͤckung der Gedankenreihen in dem Subjecte des Selbstmoͤrders anzunehmen. Was also alle Gesunddenkende misbil- ligen, wogegen sich das allgemeine Men- schengefuͤhl empoͤret — „was sich bey gesun- dem, unverdorbenem Sinne, und ohne eine Zerruͤttung im Verstande, nicht einmal den- ken laͤßt —„ das kann doch keine empfeh- lenswuͤrdige — muß wenigst eine aͤußerst bemitleidenswerthe That seyn. Zwar verliert dieser Grund, von dem Aufruhr des Menschengefuͤhles gegen den Selbstmord, je laͤnger je mehr von seiner Kraft auf das menschliche Herz, weil das Selbstmorden, je laͤnger, je (nicht allge- meiner, aber doch) weniger selten zu wer- den scheinet. Je mehrere sich wider dieß Gefuͤhl Erster Abschnitt. Gefuͤhl empoͤren, desto wahrscheinlicher kann es vielen flachdenkenden, oder starkem- pfindenden Seelen werden, daß der Abscheu gegen den Selbstmord kein Naturgefuͤhl, sondern erst durch Huͤlfe der Erziehung ein- gepfropfet sey. Es ist dieß freylich (recht verstanden) ein bloßer Schein: aber schon der Schein nimmt bey allen denen, die ihn fuͤr mehr als Schein halten, dem Beweisgrunde et- was von seiner Kraft auf das Menschenherz. Ich kann und will es also nicht widerspre- chen, daß die Kraft dieses Beweises gerade in dem Verhaͤltnisse schwaͤcher werde, in welchem das Selbstmorden allgemeiner wird. Allein bey alle dem verliert die innere Rich- tigkeit des Beweises nichts. Denn die in- nere Richtigkeit eines Beweisgrundes, und das Quantum seiner wirkenden Kraft sind gar verschiedene Dinge. Die innere Rich- tigkeit ist unveraͤnderlicher Natur, immer die- selbe: aber die Groͤße einer bestimmten Kraft kann nur durch ihr Uebermaaß uͤber die entgegen wirkenden Hindernisse, nur durch Gruͤnde wider den Selbstmord. durch den Rest, den die Subtraction der geringern Kraft von der groͤßern giebt, be- stimmet werden. Der Satz also, Selbst- mord ein Aufruhr gegen alles gesunde Menschengefuͤhl, bleibt immer allgemein- wahr, wenn gleich das Selbstmorden noch so allgemein wuͤrde: nur muͤßte man als- denn die zweyte Wahrheit beysetzen: daß des gesunden Gefuͤhles unter den Menschen immer weniger, und die Zahl der Kran- ken immer groͤßer wuͤrde. Krankheit ist Krankheit, es mag Ein Mensch, oder eine Million Menschen krank darnieder liegen. Was gesunde Menschenaugen sehen, ist dem Menschenauge sichtbar: es mag uͤbrigens viele, oder wenige Blinde geben, die es nicht sehen. Was die Gefuͤhle aller Ge- sunddenkenden empoͤret, das kann keine Frucht einer gesunden, festen Empfindung seyn: es mag von vielen oder wenigen fuͤr gesunde Empfindung gehalten werden. Gewicht Erster Abschnitt. Gewicht dieser beyden Gruͤnde. S ie haben eine unausweichliche Kraft fuͤr jeden, der den Trieb der Selbst- erhaltung noch nicht toͤdtlich verwundet, und sich das gesunde Menschengefuͤhl noch nicht aus dem Herzen gerissen hat. Sie haben auch die traurige Kraft, daß sie fuͤr den gewichtig seyn koͤnnen, der ungluͤcklich genug ist, am Daseyn einer all- ordnenden Fuͤrsehung zu zweifeln: wenn er anders noch ein Ohr fuͤr diese Stimme der Natur hat, die die Selbsterhaltung em- pfiehlt und vor Selbstentleibung warnet. Laßt uns itzt von der Natur zum Schoͤp- fer aufsteigen, um das Vernunftwidrige des Selbstmordes noch fuͤhlbarer zu machen. Drit- Gruͤnde wider den Selbstmord. Dritter Grund. D er Selbstmord ist ein eigenmaͤchti- ger Eingriff in die Oberherrschafts- rechte des Schoͤpfers. Denn der Selbst- moͤrder verlaͤßt eine Stelle, 1. an die er sich nicht hingestellt, 2. die er noch laͤnger haͤtte behaupten koͤnnen, 3. die er zu verlassen kein Recht ha- ben konnte, 4. und von der ihn ordentlicher, und rechtmaͤssigerweise nur derjenige ent- lassen kann, der ihn dahingestellet, (oder die seine Stelle unter den Menschen vertreten.) Daß wir uns an die Stelle, die wir als lebendige Wesen im Bezirke der Schoͤp- fung behaupten, nicht selbst hingesetzet ha- ben, bedarf doch wohl keines Beweises. Daß der Selbstmoͤrder vor dem Zeit- punkte, den ihm die Natur dazu bestimmt, B diese Erster Abschnitt. diese Stelle verlaͤßt, ist wieder keiner Be- zweiflung faͤhig. Daß das Geschoͤpf kein Recht hat, sei- ne Stelle gegen die offenbaren Winke des Schoͤpfers eigenmaͤchtig zu verlassen, das liegt in dem großen Verhaͤltnisse zwischen Geschoͤpf und Schoͤpfer — Wer ein Geschoͤpf denkt, denkt ein abhaͤngig Wesen von dem Willen des Schoͤp- fers. Wer diese Abhaͤngigkeit laͤugnet, laͤugnet das Daseyn des Schoͤpfers. Wer das Daseyn des Schoͤpfers laͤugnet, wem diese erste Wahrheit nicht erste Wahrheit ist, der kann freylich keinen Sinn fuͤr dieses Buͤchlein haben: zumal er keinen fuͤr die Natur hat. Die Abhaͤngigkeit des Geschoͤpfes vom Schoͤpfer ist also nicht mehr, und nicht we- niger gewiß, als gewiß das Geschoͤpf Ge- schoͤpf, und der Schoͤpfer Schoͤpfer ist. Daß der Schoͤpfer das erste, urspruͤng- liche Recht hat, das Geschoͤpf von der Stel - le dieses Lebens abzurufen, wenn es sein e Weis - Gruͤnde wider den Selbstmord. Weisheit fuͤr gut findet, das wird ihm wohl kein Werk seiner Haͤnde streitig machen. Es ist also nur noch ein Gang uͤbrig, den die Frage nehmen kann, dieser naͤm- lich, ob nicht etwa der Schoͤpfer dem Geschoͤpfe das Recht, seine Stelle zu ver- lassen, aus weisem Wohlwollen uͤberlas- sen habe — wenigst im heissesten Lei- densdrange wirklich uͤberlasse. Wenn die Vernunft (nicht Leiden- schaft, nicht das Herz, nicht Mode,) un- tersuchen darf, so wird sie gestehen muͤssen, daß viele Gruͤnde zum Nein, keiner zum Ja neigen. Die ganze menschliche Natur, dieser große, mit dem Finger Gottes ge- schriebene Codex aller natuͤrlichen Rechte, Befugnisse ꝛc. kann keine Spur von diesem uͤberlassenen Rechte aufweisen. Laßt uns Schritt vor Schritt gehen. 1. Die Natur des Menschen, in so ferne sie die Natur eines lebendigen Wesen ist, kann das allgemeine Gesetz Erster Grund. , B 2 das Erster Abschnitt. das diesem Rechte gerade entgegen steht — das Gesetz der Selbsterhaltung, nicht ver- laͤugnen. Also keine Spur von diesem Rechte. 2. Die Natur des Menschen, in so ferne sie hoͤhere Empfindungskraft in sich schließt, und aus den Gefuͤhlen aller Gesunddenkenden erkennbar ist, hat ein all- gemeines Naturgefuͤhl Zweyter Grund. aufzuweisen, ei- nen natuͤrlichen Abscheu gegen die Selbst- ermordung, eine entscheidende Misbilligung der vollendeten That, eine kunstlose, bered- same Warnung vor dem fuͤrchterlichen Schritte — und dieser Abscheu, diese Mis- billigung, diese Warnung der Mutter Na- tur laͤßt sich mit dem Rechte, die Stelle dieses Lebens nach Gutbefinden zu verlassen, nicht wohl vereinigen. Also keine Spur von diesem Rechte. 3. Die Natur des Menschen, in so ferne sie Denkkraft, Forschungsgabe ist, kann auch von den heissesten Leiden nie mit Zuverlaͤssigkeit zum voraus bestimmen: Ob Gruͤnde wider den Selbstmord. Ob diese Leiden nicht noch auch in der kurzen Strecke dieses Lebens ein Saame hoͤherer Freuden fuͤr den Leidenden, und fuͤr andere werden koͤnnen; kann nie mit Zuverlaͤssigkeit zum voraus bestimmen, ob nicht vielmehr das scheinbare Gute, das er von dem Selbstmorde erwartet, von den boͤsen Folgen fuͤr ihn und fuͤr andere, die daraus entstehen, unver- gleichbar werde uͤberwogen werden; kann am allerwenigsten, im Sturmgedraͤnge von Leiden die La- sten der Gegenwart, die Hoffnungen der Zukunft, und die Folgen des Selbst- mordes messen. Also koͤnnte der Mensch das Recht, seine Stelle zu verlassen, wenn er es auch haͤtte, nicht einmal mit Vernunft ausuͤben. Eben darum hat die Vernunft gar keinen Grund, anzunehmen, daß der Schoͤpfer dem Geschoͤpfe ein Recht gegeben haͤtte, des- sen vernuͤnftiger Gebrauch ganz ausser der B 3 Sphaͤr Erster Abschnitt. Sphaͤre seiner Denkkraft laͤge. Also keine Spur von diesem Rechte. 4. In die Natur des Menschen, in so ferne sie nebst dem belebenden Geiste das sterbliche, vergaͤngliche, irdische Princi- pium, den Leib, mitbegreift, ist ein maͤchti- ger Schauer vor dem Tode, vor der Zer- stoͤrung gelegt, und der Schoͤpfer, deß Hand die Menschennatur gebaut, hat die Strassen des Todes mit vielen, vielen Vor- mauern des Schreckens vermauert, um da- durch unsre eigenmaͤchtige Annaͤherung da- zu — zu verhuͤten. Also keine Spur von dem Rechte, die Stelle des Lebens eigen- maͤchtig zu verlassen. 5. Die Natur des Menschen, in so ferne sie zur Unsterblichkeit Fuͤr Leser, die die Bestimmung zur Unsterb- lichkeit in der Menschennatur nicht finden koͤnnten, schloͤsse sich die Analyse des dritten Grundes schon. n. 4. geschaffen ist, kann, ohne gegen alle Vernunftgruͤnde anzustossen, kein ander Daseyn nach dem Ende dieses Lebens erwarten, als welches eine Folge des vorhergegangenen ist. Je groͤßer Gruͤnde wider den Selbstmord. groͤsser also der Heldenmuth des Sterbli- chen, desto belohnender wird das neue Da- seyn des Unsterblichen seyn. Wenn nun der Sterbliche das Recht haͤtte, die Stelle hienieden nach Willkuͤhr zu verlassen, so wuͤrde er eben dadurch berechtiget seyn, sei- nen Schicksalen jenseits des Grabes gerade die schlechtere Wendung zu geben: Und dieß Recht sollte der Schoͤpfer, die erste Liebe, dem Lieblinge der Schoͤpfung, bestimmt zum lebendigsten, vollkommensten Leben , er- theilen koͤnnen? Also keine Spur von die- sem Rechte in der ganzen, grossen, viel- umfassenden Menschennatur. Uebrigens hat schon Pythagoras diesen Grund gegen den Selbstmord, der aus der Oberherrschaft Gottes hergeholet ist, ange- bracht, indem er verboten Vetatque Pythagoras, injussu impera- toris, id est, Dei, de praesidio, et sta- tione vitae decedere. ( Cic. de Senect. XX. edit. Haude .) Ohne Befehl des Feldherrn, das heißt, Gottes, den Posten, und B 4 die Erster Abschnitt. die Wache dieses Lebens zu ver- lassen. Mit andern Worten: Der den Geist dem Leibe eingehau- chet, der allein hat das Recht, ihm die Zeit des Aufenthaltes in diesem Wohnorte zu bestimmen. Vierter Grund. D er Selbstmord ist eine gewaltsame Durchstreichung des Planes, den die Fuͤrsehung dem Geschoͤpfe gezeichnet. Nur die alluͤbersehende Weis- heit kann entscheiden, wie lange zu leben, einem Menschen gut sey, und den entschei- denden Ausspruch dieser alluͤbersehenden Weis- heit lernet der Mensch natuͤrlicher Weise nur aus den Kraͤften seines Koͤrpers , nur aus der Natur der Dinge kennen. Wir ha- ben (die Faͤlle der unmittelbaren Offenbarun- gen weggelassen) keinen andern Weg den Willen der Gottheit zu erforschen, als die Natur der Dinge. Diese ist das Orakel der Gruͤnde wider den Selbstmord. der Gottheit, das wir, wie sie selbst, re- spectiren muͤssen. Aus der Erleuchtungs- und Erwaͤrmungskraft der Sonne in Absicht auf unsere Erde schliesse ich mit Grund, es sey der Wille des Schoͤpfers, daß die Erde und die Erdebewohner von ihr beleuch- tet und erwaͤrmet werden. Aus dem, daß der Vogel Schwingfedern, der Fisch Floß- federn hat, schliesse ich mit Grund, es sey der Wille des Schoͤpfers, daß jener flie- ge, dieser schwimme. Aus dem, daß das Thier mit Instinkt, der Mensch mit Ver- nunft begabt ist, schliesse ich mit Grund, es sey der Wille des Schoͤpfers, daß das Thier dem Instinct folge, der Mensch sich durch Vernunft leiten lasse. Aus der er- kannten Fruchtbringungskraft des Saatkorns im Schoose der Mutter-Erde, schliesse ich mit Grund, es sey der Wille des Schoͤp- fers, daß das Saatkorn in die Erde gelegt werde. So ist denn jede Kraft ein Wink der Gottheit, daß man dieselbe fortdauren, und wirken lasse, so lange sie fortdauren, und wirken kann, im Falle, daß das Ge- setz der hoͤhern Vollkommenheit kein Op- B 5 fer, Erster Abschnitt. fer, keine Einschraͤnkung, keine Ausnah- me fodert. So ist es denn auch der Wille der Gottheit, daß jeder Sterbliche den Fa- den seines Lebens so lange fortlaufen lasse, bis ihn die Hand des Schoͤpfers abschneidet, die ihn angesponnen hat. Denn die Regel der hoͤhern Vollkommenheit kann nie fordern, daß ich ihn selbst abschneide, weil ich da- durch eben die Regel aller hoͤhern Vollkom- menheit umstosse, die es laut sagt: Schreit auf der Bahn, die dir die Fuͤr- sehung angewiesen, nur immer weiter fort, bis dich der Tod im Namen der naͤmlichen Fuͤrsehung, durch sein non plus ultra abfodert — spring aber nie selbst von der angewiesenen Bahn weg. Fortwandeln ist deine Pflicht — deine Bestimmung — das Werk deiner Treue. Das Auf- und Abtreten haͤngt nicht von dir ab, gehoͤrt nicht in die Ge- genstaͤnde deiner Wahl. Zum Abtre- ten darfst du dir das Zeichen nicht selbst geben, so wenig du — die Stunde zum ersten Auftritt bestimmen konn- test Gruͤnde wider den Selbstmord. test — da du noch nicht warest. Nur sorgen sollst du, daß dein Abtreten ehrevoll fuͤr dich, und dem gefaͤllig werde, der dich hiehergestellt. So gewiß aber der Pilger gegen den Plan seiner Reise handelt, wenn er die Marschru- the abkuͤrzt, und einen naͤher gelegenen Ort zum letzten Ziele seiner Reise macht, als der im Reiseplan aus viel bedeutenden Gruͤn- den dazu bestimmt war: so gewiß durch- streicht der Selbstmord den Plan der hoͤch- sten Weisheit, so viel an ihm ist: indem er das Lebensziel, das die Fuͤrsehung aus den weisesten Absichten weiter hinausge- setzt, eigenmaͤchtig naͤher hereinruͤckt — und den Plan der Pilgerschaft abkuͤrzt. Und dazu hat die menschliche Kurzsichtig- keit kein Recht, und keinen Beruf, so we- nig der Blinde und Unerfahrne das Recht haben kann, sich zum Hofmeister des se- henden und erfahrnen Mannes in Geschaͤf- ten, wo Auge und Erfahrung Hauptsache sind, aufzuwerfen. Zwar wird die Fuͤrse- hung auch den Selbstmord wieder in den großen Erster Abschnitt. großen Plan der Weltregierung einzuflech- ten wissen; aber dazu hat der Unterthan nie ein Recht, Uebels zu thun, damit der Regent Gelegenheit habe, etwas Gutes herauszuziehen. Gewicht dieser beyden Gruͤnde. D er dritte setzet das Daseyn des Schoͤp- fers voraus, und ist zwar blos ver- nemend, aber dennoch starkwirkend auf die noch nicht schlaffgewordenen Fibern ei- ner menschenkennenden, und Gottvereh- renden Seele. „Es findet sich in der Menschennatur keine Spur von einem Rechte, die Stelle dieses Lebens eigenmaͤchtig zu verlassen.„ Dieser fuͤr das Wohl der Menschheit, und fuͤr die Sicherheit der menschlichen Existenz so vielbedeutende Satz wird an der Hand einer ziemlich vollstaͤndigen Induction burch alle anerkannte, oder wenigst erweis- bare Gruͤnde wider den Selbstmord. bare Grundbestimmungen der Menschenna- tur durchgefuͤhrt. Mein Wahrheitsinn findet diese Be- weisart fuͤr genugthuend: und wenn ihr der Lebenssatte auch nur einigen Grad von Wahrscheinlichkeit beylegte, so haͤtte die Versuchung zum Selbstmorde schon viel von ihrer Kraft auf sein Herz verloren. Denn in dem schrecklichsten Geschaͤfte, wo es auf Selbsthinrichtung ankommt, wo zwischen Leben und Tod, zwischen Fortdauer des Le- bens und Selbsttoͤdtung gewaͤhlet wird, in dem schauervollsten Augenblicke, der sich den- ken laͤßt, sollte der Muth zu deiner gewiß schweren Arbeit schon bloß durch die auffal, lende Wahrscheinlichkeit, daß der Selbst- mord ein Eingriff in die Rechte des Schoͤp- fers sey, vollends entkraͤftet werden koͤnnen. Der vierte Beweis geht auch den Gang der Induction, wie sein Vorgaͤnger, nur mit dem Unterschiede, daß dieser das Ge- biet der Menschennatur durchwandert, jener den Bezirk der ganzen weiten Schoͤpfung durchlaͤuft: Beyde kommen auf verschiede- nen Erster Abschnitt. denen Wegen zu Einem Ziele: aß der Selbstmord Eingriff in die Rechte der Fuͤrsehung, und Durchstreichung Ihres Planes sey. Wer dieses Paar Gruͤnde unphiloso- phisch finden kann, der hat den Schluͤssel, den uns der Schoͤpfer gegeben den Sinn der Natur aufzuschliessen, noch nie recht ken- nen gelernet. Ich will ihn hier bloß nen- nen, weil ich anderswo ausfuͤhrlich genug davon geredet habe Vernunftlehre fuͤr Menschen wie sie sind. Erster Band, Seit. 320. bey Strobl, Muͤnchen. : er heißt Analogie. Induction beruht ja auf Analogie, und Ana- logie stuͤtzt sich auf Erfahrungen, und Er- fahrung ist Grund und Stof und Same alles menschlichen Erkennens. Wer also die- sen Beweisgrund unlogisch findet, beweiset dadurch, daß er die ganze Logik unlogisch finde. Fuͤnfter Gruͤnde wider den Selbstmord. Fuͤnfter Grund. D er Selbstmord ist die aͤusserste Ent- weihung des edelsten Geschenkes, das uns zum edelsten Zwecke gegeben ward. Das Menschenleben, das sich der Selbstmoͤrder abkuͤrzt, ist eine vielbefassen- de Kraft, die 1. je laͤnger, je mehr Gutes kennen lernen; 2. je laͤnger, je mehr Boͤses durch Ge- duld und Weisheit zur Quelle des Guten machen; 3. je laͤnger je mehr Gutes unter den Menschen stiften; 4. je laͤnger je mehr Gutes geniessen; 5. je laͤnger je mehr den unsterblichen Geist vervollkommnen, besser, und zu den hoͤchsten Freuden jenseits des Grabes geschickter machen kann; 6. und bereits schon vieles Gute ken- nen gelernt, erfahren, genossen, andern mitgetheilet hat. Nun Erster Abschnitt. Nun der Selbstmoͤrder braucht diese koͤstliche, und zur Erreichung der wichtig- sten Zwecke gegebene Kraft, dieses edle Ge- schenk — das Menschenleben als ein Werk- zeug, eben dieses Menschenleben zu zerstoͤ- ren, arbeitet durch sein Ich gegen sein Ich — braucht seine lebendige Hand wider das Le- ben seiner Hand, seine Existenz wider seine Existenz. Er wirft also die kostbarste Perle in den vorbeyfliessenden Strom, und waͤhnt sich gluͤcklich, der Perle los geworden zu seyn. Ganz gewiß hat er ihren Werth ver- kannt: sonst haͤtte er die Perle noch, und bewahrte sie, wie ein Heiligthum. Denn wer den Werth dieses Lebens fuͤhlte, koͤnnte so wenig ein Zerstoͤrer dieses seines Lebens werden, als wenig die Liebe hassen kann. „Allein, wird der scharfsinnigere Theil meiner Leser denken, da liegt eben der Knote, das ist eben die Frage: wie koͤnnen wir uns den Werth dieses Lebens fuͤhlbar machen, und dieß Gefuͤhl immer lebendig genug erhalten„? Ja wahrlich, da ist der Knote . Die Kunst den Werth des Lebens kennen Gruͤnde wider den Selbstmord. kennen zu lernen, und ihn zu fuͤhlen ist zwar sehr einfach an Regeln: aber, wie bey allem, was wahrhaft groß, und edel macht, so auch da — die Ausuͤbung, die Ausuͤbung kaͤmpft mit großen Schwierigkeiten. Wer den ganzen Werth seines Lebens fuͤhlen moͤch- te, der denke sich nur (freylich bald gesagt, und schwer zu befolgen!) der denke sich nur Alles Wahre, Edle, Gute, Schoͤne, das wir in diesem Leben kennen lernen, und immer deutlicher erkennen, stif- ten, mittheilen, verbreiten, ausuͤ- ben, selbst geniessen, erfahren, bewun- dern koͤnnen; Und dann alles Wahre, Edle, Gute, Schoͤne, zu dessen Erkenntniß, Genuß, Besitz, Mitgenuß, Mittheilung, Aus- breitung, Vollendung im kuͤnf- tigen Leben, wir uns in diesem faͤhig machen koͤnnen. C Wer Erster Abschnitt. Wer den ganzen Werth seines Le- bens In den Predigten uͤber die Wuͤrde des Menschen, und den Werth der vornehmsten Dinge. angeben will, darf nur den Werth dieses, und des kommenden Lebens in Eine Schale legen. Denn der Werth einer Sa- che steigt ja gerade in dem Verhaͤltnisse, in welchem der Werth aller jener Dinge steigt, die uns der Besitz dieser Sache verschafft, und deren Erkenntniß, Erwerb, Besitz in Zukunft — mit dieser Sache wie immer in Verbindung stehet. So z. B. besteht der Werth des Adels in dem Inbegriffe und Werthe aller jener Vortheile, und Vorzuͤ- ge, die er wirklich gewaͤhrt, und dazu er faͤhig macht. Die Summe und der Werth derjenigen Guͤter also, die der weise Ge- brauch dieses Lebens verschaffen, und deren er uns fuͤr die Zukunft und Ewigkeit faͤhig machen kann, vollenden den Werth dieses Lebens. Diese Betrachtungen (und was ist ein- facher als sie?) koͤnnen jeden gesunden, nachdenkenden Verstand gar bald zur Ueber- zeugung Gruͤnde wider den Selbstmord. zeugung bringen, daß der Werth dieses Lebens (in einem wahren Sinn) unermeßlich sey, und alle nur erdenkliche Bitterkeiten dieses Lebens weit uͤberwaͤge. Aber, wenn gleich alle Guͤter der Gegenwart und Zukunft, die den Werth dieses Lebens vollenden, in Eine Schale gelegt — alle Leiden, die einem Menschen in der Laufbahn seiner Sterblich- keit begegnen koͤnnen, in die andere Schale gelegt — unvergleichlichbar uͤberwaͤgen: so bleibt es doch immer eine traurige Wahr- heit, daß sehr wenige Menschen den Werth des Lebens recht zu waͤgen wissen, noch we- nigere aber im Aufstosse irgend eines Lei- dens unpartheyisch genug sind, die schlim- men und guten Seiten dieses Lebens, beson- ders in Verbindung mit der Zukunft und Ewigkeit, gegen einander abzuwaͤgen. Ein Tropfen Bitterkeit vergaͤllt manchem das Meer aller Vergnuͤgungen, das ihm bis- her geworden ist, und waͤchst durch Huͤlfe der vergroͤssernden Einbildungskraft zu einem C 2 Meere Dinge. Leipzig in der Weygandischen Buch- handl. 1784. fuͤhret der vortrefliche Verfasser diese große Idee vortreflich aus. Erster Abschnitt. Meere von Leiden an, dessen Anblick die kranke Seele nicht mehr ertragen kann — und so stuͤrzt das runde Steinchen, das vom Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol- lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße des Berges die Statue des Lebens nieder. Wehe, wehe, die schoͤne, feste Statue, sie ist nicht mehr! So ists mit jedem Leiden, wodurch das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens nach und nach aus der Seele des Leidenden verdraͤngt, und die Empfindung von der Laͤstigkeit des Lebens erzeuget, gestaͤrkt, er- hoͤhet wird: bis der Entschluß aufwacht, die Last wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu vollziehen. Das ist die Geschichte der Krankheit. Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver- theidigern des Selbstmordes zulasse, was ich denselben, ohne die Rechte der Wahrheit zu kraͤnken, zulassen kann. Aber itzt darf ich doch auch die ganze Wahrheit sagen? Nicht wahr, wer der ersten Empfindung, „Das Leben eine Last“, maͤchtig entge- gen Gruͤnde wider den Selbstmord. gen kaͤmpft; wer das fliegende Gefuͤhl vom Werthe des Lebens mit Gewalt zuruͤck haͤlt; wer den Funken nicht im Busen naͤhrt, bis er Flamme wird, sondern ihn muthig vom Leib und Kleide schuͤttelt, da er noch Funke ist: der wird wohl nie Selbstmoͤrder werden koͤnnen. Allein, wenn jemand, sein eig- ner Feind, das Gute seiner Existenz immer in den Schatten zuruͤcksetzt, und das Schlim- me immer ans Licht hervorzieht, und, was Hauptsache ist, die erfinderische Einbildungs- kraft mit ihren lebhaften Farben darein malen laͤßt, was sie will: welch’ ein fuͤrch- terlich Lebensgemaͤlde wird nach Jahren da- stehen? Der ungluͤckliche Maler wird sich wohl nicht mehr enthalten koͤnnen, es mit Einem Pinselzug durchzustreichen, und die Leinwand, worauf die Ebenteuer gemalt sind — ins Feuer zu werfen, um von dem folternden Anblicke des Schauergemaͤldes auf immer frey zu werden. Sehr natuͤrlich, denke ich: aber dieß Natuͤrliche beweißt nichts, gar nichts fuͤr den Selbstmord. Oder wuͤrden wir denn nicht jede Todesart auf dem Krankenlager auch natuͤrlich finden, C 3 wenn Erster Abschnitt. wenn wir die Reihe der Wirkungen uͤberse- hen koͤnnten, die sie hervorgebracht haben? Wenn sich jemand durch Trunkenheit hin- richtet, und auf dem Siechenbette zum fuͤrchterlichen Gerippe keucht: kann man von ihm nicht sagen, daß er sein Leben, das edelste Geschenk, schrecklich entwei- het hat? Und es ist doch so natuͤrlich, daß Trunkenheit den Helden fruͤhe in die Bahre legt. Wer durch wilde Ausbruͤche des Zorns seine Gesundheit zerruͤttet, entweihet doch wohl das edelste Geschenk, sein Leben. Und es ist doch so natuͤrlich, daß die Aus- bruͤche des Zorns die Gesundheit zerstoͤren. Es lassen sich also beyde Wahrheiten ganz sein neben einander hinstellen: Selbstmord ist aͤusserste Entweihung des edelsten Geschenkes, Und: Es geht so ganz natuͤrlich zu, daß einer Der Selbstmord ist die unnatuͤrlichste Handlung, weil er den Naturtrieb zur Selbsterhaltung uͤberwaͤltiget — und der Gruͤnde wider den Selbstmord. einer zur unnatuͤrlichsten Hang zum Selbstmord doch sehr natuͤrlich, weil er den Leidenschaften, dem Temperamen- te ꝛc. ganz conform ist. Hand- lung, zum Selbstmorde, reif wird. Oder: Es ist nicht so leicht, das Gefuͤhl vom Werthe des Lebens immer leb- haft zu erhalten, Und: Das Wegwerfen der koͤstlichen Perle ist doch Entweihung des koͤst- lichen Geschenkes. Sechster Grund. D er Selbstmord ist zugleich der Tod aller vernuͤnftigen, aufgeklaͤrten, erleuchteten Gottes- Menschen- Selbst- Liebe. Denn so lange Gottes- Menschen- und Selbstliebe in dem Herzen lebt, und so lange diese Gottes- Menschen- und Selbst- C 4 liebe Erster Abschnitt. liebe von der aufgeklaͤrten Vernunft ge- leitet wird, ist aller Selbstmord gerade- zu unmoͤglich. Ich behaupte nicht, daß der Selbst- mord der Tod aller Gottes-Menschen- Selbstliebe sey, sondern nur daß er der Tod aller erleuchteten Gottes- Menschen- und Selbstliebe sey. Selbstmord der Tod aller erleuch- teten Gottesliebe. Es kann sich ein gut- muͤthiger Schwaͤrmer „aus Liebe Gottes„ morden, d. h. aus Sehnsucht, nur recht bald bey seinem Gott zu seyn. Allein da liegt keine erleuchtete Gottesliebe zum Grun- de, weil alle erleuchtete Gottesliebe sich in eine treue, ausharrende Erfuͤllung des goͤtt- lichen Willens aufloͤset, und der goͤttliche Wille von dem Menschen nichts anders fo- dert, als: „Trage die Buͤrde, bis ich sie dir ab- nehme — Thu Gutes, so lange es Tag ist — Brauche die Kraft, die du hast.„ Es Gruͤnde wider den Selbstmord. Es kann ein redlicher Schwermuͤthige in der Verwirrung seiner Begriffe vielleicht so weit gebracht werden, daß er die Selbst- mordung als den hoͤchsten Actus der Liebe Gottes ansieht. Seinem Herzen fehlt es nicht an Liebe, an Neigung zu dem lie- benswuͤrdigsten Wesen, aber seinem Ver- stande an Erleuchtung. Im Gegentheile, die erleuchtete Lie- be kennt den Willen des Herrn, weil sie er- leuchtet ist, und thut ihn, weil sie Liebe ist. So lange sie also bey Leben ist, diese erleuchtete Liebe, so lange kann keine Ver- suchung zum Selbstmorde wichtig werden, weil der Verstand, der helle, ungetruͤbte Menschensinn, die Sanction des Natur- gesetzes, harre aus auf der Stelle, bis dir das Zeichen zum Abzuge von dem Feldherrn gegeben wird, nicht miskennet, und der Wille, die thaͤtige Liebe, fest an dem Gesetze haͤlt. Selbstmord der Tod aller vernuͤnf- tigen Selbstliebe. C 5 Es Erster Abschnitt. Es kann sich ein Elender aus Selbst- liebe morden, d. h. um seinen Leiden, die er fuͤr unertraͤglich haͤlt, ein Ende zu ma- chen. Allein diese Selbstliebe ist keine ver- nuͤnftige (von den Grundsaͤtzen der hellen Vernunft geleitete) Selbstliebe. Denn die vernuͤnftige Selbstliebe geht vorzuͤglich auf Selbsterhaltung aus, ohne die sich keine wei- ter fortschreitende Bildung des Menschen in der Bildungsschule dieses Lebens denken laͤßt. Sie arbeitet vorzuͤglich an der stuffen- weise aufsteigenden Vervollkommnerung des unsterblichen Geistes. Und die Vollkom- menheit des unsterblichen Geistes, wenigst die Seelenstaͤrke, die ein betraͤchtlicher Theil davon ist, verhaͤlt sich gerade wie die Groͤße der Erduldungskraft, gerade wie der gesetzte hohe Sinn im Gutesthun, und Boͤsesdul- den. Wer groͤssere Lasten tragen kann, ist offenbar staͤrker; wer fester, ruhiger in dem Anfalle des heftigsten Schmerzens aushar- ren kann, ist offenbar herzhafter; wer in dem Gedraͤnge von Leiden noch groß genug ist, sich groͤßer, als das groͤßte Leiden zu fuͤhlen, der ist offenbar groͤßer, im eigen- sten Gruͤnde wider den Selbstmord. sten Sinne großmuͤthiger, als alle andere, die geringere Lasten tragen, geringere Leiden dulden koͤnnen. Wer aber offenbar staͤrker, herzhaftiger, großmuͤthiger ist als andere, der ist eben darum offenbar vollkommener, als andere. In so ferne also der Selbst- mord aus Mangel an Erduldungskraft ent- steht, und zugleich den Faden der Geistes- vervollkommnerung eigenmaͤchtig abschnei- det, ist er nicht vernuͤnftige Selbstliebe — sondern eigentlicher Selbsthaß — also Tod aller vernuͤnftigen Selbstliebe. Selbstmord ist auch Tod aller ver- nuͤnftigen Menschenliebe. Waͤre in dem Ungluͤcklichen, der sich selbst morden kann, die allgemeine Men- schenliebe lebendig: so wuͤrde er sich als ei- nen Theil des ganzen Geschlechtes, als ein Glied an dem großen Koͤrper fuͤhlen, das kein Recht hat, sich selbst von den uͤbrigen Gliedern loszureissen. Waͤre in ihm die Buͤrgerliebe lebendig: so wuͤrde er seine Existenz als einen Beytrag zum gemeinen Besten ansehen, die sich selbst nicht nach Will- Erster Abschnitt. Willkuͤhr zerstoͤren darf, weil dem Staate das bloße Beyspiel des Selbstmordes (ohne itzt den Verlust eines einzelen Gliedes in die Rechnung zu bringen) nicht anders als schaͤdlich, und das Beyspiel der aushar- renden Geduld nicht anders als nuͤtzlich seyn kann: indem das erste die falschen Begriffe von Tapferkeit verbreitet, das zweyte die wahren unterstuͤtzet. Es ist nichts gemein- schaͤdlichers, als wenn die Tapferkeit der Buͤrger von Vertheidigung des Staates ge- gen auswaͤrtige Feinde, auf Verminderung der Staatsbuͤrger, auf Selbstzerstoͤrung ab- gelenket wird. Es ist nichts gemeinnuͤtzi- gers, als wenn jeder Staatsbuͤrger sein Le- ben, seine Kraft, als ein Heiligthum an- sieht, das nur zum gemeinen Besten darf verwendet werden. Waͤre in ihm (dem Selbstmoͤrder) die Naͤchstenliebe lebendig: so wuͤrde er keine Ursache finden, an seinem Koͤrper Hand anzulegen, so lange es in der Welt Elende giebt, denen er durch Vorstel- lung, Bitte, Warnung, Huͤlfe, Beyspiel nuͤtzlich seyn kann. Waͤre in ihm die Ver- wandtenliebe lebendig, so wuͤrde er keine Kraft Gruͤnde wider den Selbstmord. Kraft finden, den Dolch in seine Brust zu stossen, der zugleich das Eingeweide aller seiner Verwandten tief verwunden wuͤrde. Waͤre in ihm die Freundeliebe lebendig: wie koͤnnte er Seelen, die jede Freude und jedes Leiden mit ihm getheilt haben, fuͤr ih- re Freundschaftstreue mit dem Uebermaase alles Kummers lohnen? Waͤre in ihm auch nur eine vernuͤnftige Geschlechtsliebe leben- dig: so wuͤrde er sich wohl huͤten, nicht nur sich alle Quellen der menschlichen Freuden auf immer zu verstopfen, sondern auch der geliebten Person das Andenken an ihren un- gluͤcklichen Liebhaber fuͤr ihr ganzes Leben schauervoll zu machen. Das Gewicht dieser beyden Gruͤnde. D er fuͤnfte bringt die kurze Strecke dieses Lebens mit jener nach dem Tode in ei- ne Verbindung, macht Ein Continuum dar- aus, um den Werth des Menschenlebens zu erhoͤhen. Es Erster Abschnitt. Es ist bekannt, daß sich von dem, was Menschenleben heißt, zweyerley Vor- stellungsarten denken lassen. Eine, die ich die menschenfeindliche nennen moͤchte, macht dieses Leben zu einem Ganzen, das seinen Anfang im Mutterleibe, sein Ende im Grabe hat, daß also hinter dem Grabe kein Lebensfunke mehr glimmt. Die ande- re sieht dieses Leben als einen kleinen Ab- schnitt einer Linie an, deren erstes Theil- chen, derselbe kleine Abschnitt naͤmlich, vom Punkte der Empfaͤngniß im Mutterleibe, bis zum Grabe reicht, deren zweyter Theil aber mit dem Ende des ersten anfaͤngt, und un- aufhoͤrlich fortlaͤuft. Diese Vorstellungsart (die ich die menschenfreundliche nenne, weil das kranke Menschenherz einen Balsam dar- an findet, dessen es bedarf, und den es sonst nirgends finden kann) denkt noch dieses zu ihrer Linie hinzu, daß sich aus dem Lebens- faden, der vom ersten Puncte des Seyns bis zum Grabe reicht, der andere, welcher vom Grabe anfaͤngt, und Ewigkeiten durch- reicht, herausspinne. Es Gruͤnde wider den Selbstmord. Es ist itzt nicht mein Beruf, die Wahrheit dieser letzten Vorstellung zu erwei- sen; ich sage nur: wenn die menschenfreund- lichsten Vorstellungen gerade die wahrsten sind, so fuͤhle ich hierinn eine Harmonie, die der Wuͤrde der Menschennatur Ehre macht. Ich sage nur: wer an die Un- sterblichkeit glaubt, hat um einen wichtigen Grund wider den Selbstmord mehr; kann in jeder Nacht dieses Lebens einen Lichtpunct finden, der ihn vom Abgrunde der Verzweif- lung wegleitet; kann sich nicht nur den Be- griff von dem Werthe dieses Lebens unend- lich erweitern, sondern auch das sterbende Gefuͤhl davon, immer wieder neu beleben. Ich sage nur: nichts scheuchet den Gedanken an Selbstentleibung maͤchtiger zuruͤck, als ein Blick auf die Wuͤrde des Menschen, und was ist die Wuͤrde des Menschen, wenn nach einem paar schwuͤler Tage, das man Leben nennet, der ganze Mensch modert? Ich sage nur, daß die Unsterblichkeit dem Menschenleben einen unermeßlichen Werth giebt, und daß sich der Vernuͤnftige doch zweymal besinnen wird, dieß sein Leben wegzu- Erster Abschnitt. wegzuwerfen, wenn er glaubt, daß die Dauer seines Geistesleben ewig ist, und die kom- mende Periode desselben mit der gegenwaͤrti- gen in Verbindung steht. Ich sage nur: daß der Mensch, der sein Leben wegwirft, wie wenn er eine versengte Blume in den vorbeyfliessenden Bach wuͤrfe, ein koͤstlich Geschenk wegwerfe, und daß dieß Weg- werfen Entweihung des Geschenkes sey. Dieß sage ich, und dieß zeigt den Selbstmord von einer Seite, die sich, und ihn nicht empfiehlt — die sich und ihn je- dem, der den wahren Werth der Dinge pruͤft, als verabscheuungswerth darstellen muß. Der sechste Grund fuͤhrt den Selbst- mord in das Triebhaus aller Moralitaͤt zu- ruͤck — — und beweiset, daß erleuchtete Liebe, die sich zum Schoͤpfer schwingt, und vom Schoͤpfer zum Ich, und zum Bruder- geschlechte des Ichs heruntersteigt, und die- ses große Drey zugleich umfaßt, dieser Adel der Vernunftgeschoͤpfe — nie Triebfeder zum Selbstmorde werden kann. Gruͤnde genug fuͤr Gruͤnde wider den Selbstmord. fuͤr den, der bedenkt, daß Waͤrme des Her- zens ohne Licht des Verstandes — fuͤr We- sen, die Wille und Verstand so nahe bey- sammen haben, nie Bestimmung heissen, nie zweckerreichendes Streben seyn kann. Siebenter Grund. D er Selbstmord steht im fuͤrchterlich- sten Gegensatze gegen den Buchsta- ben, und Geist der Offenbarung. Denn 1. Die Offenbarung lehret die indivi- duellste, allergenaueste Fuͤrsehung, die das Kleinste wie das Groͤste be- sorgt; die alle Leiden und Freu- den nach Einem Plan der hoͤchsten Liebe sendet; die gerade aus dem al- lergroͤsten Leiden die allergroͤste Freu- de heraus zu ziehen weis; die alles Boͤse zur Quelle des Guten, und zum Laͤuterungsmittel der Guten macht; die dem Gottliebenden alle Dinge ohne Ausnahme zum Besten lenket ꝛc. ꝛc. D 2. Sie Erster Abschnitt. 2. Sie lehret die absolute Ertragbar- keit aller menschlichen Leiden, das heißt, daß jedem seine Portion Lei- den von der hoͤchsten Guͤte weislich zugewogen worden, und keinem mehr zu theil wird, als er zu tra- gen Kraft hat, und Kraft be- kommt, wenn er nur die gegenwaͤr- tige redlich gebraucht: daß also in diesem Sinne jedem, der hat, ge- geben wird, und Gottes Treue keinen uͤber sein Vermoͤgen versu- chen laͤßt. 3. Sie macht uns das unumschraͤnk- teste Vertrauen auf die helfende Allmacht, die in den heissesten, truͤbsten Stunden Kuͤhlung, Licht, und Huͤlfe aller Art — so ganz zu rechter Zeit dem flehenden Glauben herabsendet, zur suͤssen Pflicht. 4. Sie muntert uns durch unwandel- bare, mit Gottes Wort und mit Gottes That tausendfach versiegelte Verheissungen zum glaͤubigen Ge- bete Gruͤnde wider den Selbstmord. bete auf, das allemal Huͤlfe er- flehet — d. h. entweder Linderung, Hebung, Tilgung des Leidens, oder Kraft es zu ertragen, bis hoͤhere Seligkeit daraus entspringt. Freun- de, was wollen wir mehr? 5. Sie zeichnet es als eine Lieblings- maxime des Weltregenten aus, die Tugend seiner Freunde, oder was eines ist, die Feuerfestigkeit ihres Glaubens und ihrer Liebe im Gluto- fen der Truͤbsal zu pruͤfen, die Schlacken des Eigensinnes, Hoch- muths, und alles selbstsuͤchtigen Strebens immer mehr vom Golde der lautern Gottes- und Menschen- liebe wegzuschmelzen, und die Er- fahrungsweisheit dieser Lichtsoͤhne, als die einzige wahre, durch schwe- re, aber zuverlaͤssige Proben zu waͤh- ren, oder vielmehr mit neuen Er- fahrungen zu bereichern. 6. Sie lehret die vollkommenste All- vergeltung, daß naͤmlich jedem tap- D 2 fer Erster Abschnitt. fer erduldeten Leiden seine eigne Se- ligkeit, und jeder Stufe von Tugend ihre eigne Stufe von Seligkeit ent- spricht: und also jeder aͤrntet, was er saͤet. 7. Sie lehret mehr als Allvergeltung: sie lehret, wenn ich mich dieses kuͤhn gewaͤhlten, aber bestimmt wahren Ausdruckes bedienen darf, Ueber- vergeltung, die gotteswuͤrdigste, alle Menschenerwartungen uͤbersteigende Uebervergeltung: sie lehret, daß die Leiden dieser Zeit gar alle Proportion verlieren, gegen die Freuden der Zu- kunft, die der siegenden Geduld zu theil werden. 8. Sie lehret, daß die ausharrende Geduld in allen Truͤbsalen, die voll- kommene Unterwuͤrfigkeit des Ver- standes und des Herzens gegen alle Fuͤgungen der Fuͤrsehung, das edle Anerkennen der liebevollen Oberherr- schaft Gottes in allen Auftritten die- ses Lebens, die dankbare, gottver- trauende Gruͤnde wider den Selbstmord. trauende Seelenstille in allen Leiden, und die freudige Thaͤtigkeit in allem, was Geschaͤft, Beruf, Pflicht heißt, kurz, daß die unermuͤdliche Wirk- samkeit, und Duldsamkeit des menschlichen Geistes nach dem Win- ke des himmlischen Vaters — erste, einzige, hoͤchste Tugend sey. 9. Sie lehret, daß jeder Odemzug ein Geschenk des Vaters der Menschen, von seiner milden Vaterhand darge- reicht sey; daß Er (der Allbeleber) jedem Dinge, welches ist und lebt, sein Daseyn und Leben darreiche, daß es also gegen die liebvolle und weise Absicht der Quelle alles Lebens gehan- delt sey, wenn wir dem, der uns den Odemzug darreicht, um zu ath- men, das Leben, um zu leben, Odem und Leben eigenmaͤchtig zuruͤck- geben. Denn, wenn es die Weis- heit des Schoͤpfers fuͤr gut faͤnde, daß wir in diesem Augenblicke nicht mehr athmen, nicht mehr seyn soll- D 3 ten: Erster Abschnitt. ten: so wuͤrde uns seine Liebe den gegenwaͤrtigen Odemzug, und mit ihm das Seyn wohl nicht mehr dar- gereichet haben. Eine einzige Ein- schraͤnkung, die aber die Offenba- rung selbst macht, leidet diese große Wahrheit, und sie ist diese: daß wir naͤmlich in Faͤllen, wo uns die Er- fuͤllung einer unsrer erkannten, ge- wissen Pflichten, irgend einer Lebens- gefahr aussetzt, z. B. in Verkuͤn- dung der Wahrheit des Evangeli- ums, jene, die nur den Leib toͤdten koͤnnen, aber den Geist mit Schwert und Rad und Flamme und Beil nicht beruͤhren moͤgen, ja nicht fuͤrch- ten, sondern vielmehr mit freudiger Unerschrockenheit den Odemzug, den uns die Vatermilde schenket um fer- ners zu leben, zur Ehre des Evan- geliums, zur Erfuͤllung unsrer Pflicht verwenden sollen, ob wir gleich vor- hersehen koͤnnen, daß uns die Wahr- heitliebe, die Pflichtstreue das Leben kosten werde. 10. Sie Gruͤnde wider den Selbstmord. 10. Sie lehret, daß alle Kraͤfte, die wir von dem Schoͤpfer erhalten ha- ben, hiemit wohl auch die eigentli- chen Lebenskraͤfte, Talente sind, verliehen zum Wucher, zum weisen Gebrauche, aber nicht zum Ver- graben, noch weniger zum Zer- stoͤren. 11. Sie lehret, daß unser Beruf auf Erde der Beruf eines Knechtes sey, der sein Tagewerk treu vollendet, und wachend, der Ankunft seines Herrn entgegen harret, weil er weis, daß dieß Wachen, dieß Harren der Wille seines Herrn, und die Erfuͤllung deß, was der Herr will, die Ehre und das Gluͤck des Knechtes sey. Das waͤre nun nicht im edlen Knechts- sinne gehandelt, wenn einer des lan- gen Wartens uͤberdruͤßig, seinem Herrn aus dem Dienste liefe. 12. Sie lehret, daß der, welcher un- recht thut, (suͤndiget) ein Knecht der Suͤnde sey, und also die Suͤnde D 4 mit Erster Abschnitt. mit dem Suͤnder tyrannisch umgehe, wie ein Despot mit seinem Sklaven; sie lehret, daß die Beobachtung der Lehre Jesu zur Erkenntniß der Wahr- heit fuͤhre, und die Wahrheit frey mache; sie lehret, daß diejenigen wahrhaft frey seyn, die der Sohn frey machet. Wenn uns nun aber die Suͤnde zu Sklaven, Christus hingegen und die Wahrheit zu Freygebohrnen ma- chen: so ist’s offenbar, daß uns weder die Befriedigung der gereitzten Leidenschaften, noch die Selbsthin- richtung frey machen koͤnnen. Denn Sklaverey unter dem Zepter des Unrechtes ist das geradeste Gegen- theil von der Freyheit des Menschen, und Durchbrechung des Koͤrpers ist noch lange nicht Freystellung des von Luͤge und Schein und wilder Lust gefesselten Geistes. Messer, Pistole, Strick ꝛc. sind also nach dem Geiste der Offenbarung keine Mittel, den Menschengeist frey zu machen. 13. Sie Gruͤnde wider den Selbstmord. 13. Sie zeigt uns (nebst andern herr- lichen Beyspielen) an dem Stifter der christlichen Religion das aller- vollkommenste Beyspiel der aushar- rendsten Geduld in den aͤussersten Leiden, der keinen Weg zu seiner Herrlichkeit kannte, als den Leidens- pfad, und es uns zur Pflicht mach- te, in seine Fußstapfen einzutreten. Mensch, hast du einmal die Le- bens- und Leidensgeschichte des Hoch- gelobten gelesen, oder lesen hoͤren: fandest du nicht, daß seine Lebens- reise, von der Geburt in der Hoͤhle zu Bethlehem bis zum Sterben auf Golgatha, mit Dornen dicht besaͤet war, daß die letzten drey Jahre, und besonders die letztern Stunden seines Lebens die leibhafteste Leidens- geschichte der Menschheit liefern; daß aber jede neue Stufe des Leidens fuͤr Ihn eine hoͤhere Stufe zur Herr- lichkeit, und daß die hoͤchste Stufe des Leidens, das Geistaufgeben am D 5 Kreu- Erster Abschnitt. Kreuzespfahl, die naͤchste Stufe zum Throne der Herrlichkeit fuͤr Ihn ward. Wenn nun das vollkommenste Vorbild der Menschheit, und das vollkommenste Abbild der Gottheit, Jesus Christus, keinen naͤhern, ge- radern Weg zur Vollendung des Menschenwuͤrde kennet, keinen an- dern selbst geht, keinen zu gehen anraͤth als das Ausdauern in dem Vorsatze, zu thun und zu dulden, was wir nach dem Willen der Fuͤrse- hung thun und dulden sollen, bis wir zum großen, erschmachteten Ruhe- puncte, zu unserm: es ist vollbracht, gelangen; wo ist der Sophist, der da Glauben verdient, wenn er ruft: Selbstmord, das Nichtaushar- ren auf dem Wege zur Vollen- dung, fuͤhrt schneller und richtiger zum Ziele? 14. Sie lehret nicht nur, daß wir die Pflicht auf uns haben, von der un- sichtbaren Hand der Fuͤrsehung uns leiten Gruͤnde wider den Selbstmord. leiten zu lassen, und alle Gelegenheit zum Guten treu zu benutzen, bis die Lebenskraft aufgetrocknet ist: sie giebt uns nicht nur Beyspiele von Hel- den, die in diesem edlen Berufe, bis zum letzten Odemzuge ausgehar- ret haben, sondern sie verheißt uns auch im Namen Gottes hoͤhere Kraͤfte, Gaben, deren wir beduͤr- fen, um die schwersten Lasten zu tra- gen, die auf uns koͤnnen geleget werden; sie verheißt uns im Namen Gottes, daß Er denen, die Ihn darum bitten, den heiligen Geist geben werde, damit sie vollends ei- ne neue Creatur in Christo werden, neugeschaffen zum Gutesthun, und ausgeruͤstet mit Geistesstaͤrke zum Boͤsesdulden; sie lehret, daß solche Juͤnger Jesu Christi, die nicht Wortchristen, sondern Herzens- und Thatchristen, nicht eingebildete, selbst- staͤndige Weisen oder Thoren, sondern durch den heiligen Geist, durch Glau- be und Liebe Eines sind mit Jesus Chri- Erster Abschnitt. Christus, und mit dem Vater im Himmel, Dinge verstehen, Thaten thun, Lasten tragen, Leiden dulden koͤnnen, die andere Menschen nicht verstehen, thun, tragen, leiden koͤnnen — Alle diese Lehren, Beyspiele, Verheis- sungen sind 1. offenbare Lehren, Beyspiele, Ver- heissungen der Bibel, der Offenba- rungsurkunde. *) Der Leser wird mich auch dieß- mal mit dem undankbaren Tex- te ausschreiben verschonen, und sie selbst, besonders im neuen Testamente, nachlesen: zumal sich der Geist wohl nicht auf das Papier hinschreiben laͤßt, und ich’s mit dem Buchsta- ben fuͤr itzt schon gar nicht zu thun haben will. 2. Solche Lehren, Beyspiele, Ver- heissungen, die das geradeste Ge- gentheil vom Selbstmorde predi- gen: Gruͤnde wider den Selbstmord. gen: denn sie predigen einen krafter- flehenden, lastentragenden, auf die Zukunft und Allvergeltung fest hin- ausblickenden, zum Wohlthun und Unrechtleiden stets maͤchtigen, an Laͤuterung eigner Tugend treu mit- arbeitenden, im Leiden unbeweglich ausharrenden, weltbesiegenden Glau- ben an die weiseste, maͤchtigste Liebe des Unsichtbaren. Und dieser feststehende, treuarbei- tende, starkduldende, unbesiegliche Glaube ist offenbar das Gegentheil des lahmen, alle Lasten wegwerfen- den Selbstmordes. 3. Solche Lehren, Beyspiele, Verheis- sungen, deren Buchstabe die kraͤf- tigsten Gegenmittel gegen den Selbst- mord empfiehlt, und deren Geist den Selbstmord vollends unmoͤglich macht. Gewicht Erster Abschnitt. Gewicht dieses Grundes. E r ist offenbar der gewichtigste; denn auch der flachste Anblick kann den red- lichen Leser uͤberzeugen, daß er an Reich- thum, Mannigfaltigkeit, Kraft, Zuverlaͤßig- keit der Lehren, Beyspiele, und Verheissun- gen keinen seines gleichen hat. Er ist vielleicht Ein Wink fuͤr den, dem die Freude ge- worden, tiefer in die Tiefen der Menschen- der einzige, der es recht anschaulich beweiset, daß das Selbst- morden in gar keinem Falle, auch da nicht, wo die Last des Lebens so ganz unertraͤglich zu seyn scheint, dem Willen der Fuͤrsehung gemaͤß seyn kann. Er ist gewiß der einzige, der nicht nur die Pflicht in dem aͤussersten Leiden aus- zuharren, beweiset, sondern auch allgemein hinlaͤngliche Kraft zum Ausdauern theils giebt, theils verheißt. Er ist das letzte Fundament, auf dem die Zuverlaͤßigkeit der vorigen Gruͤnde wider Gruͤnde wider den Selbstmord. wider den Selbstmord, die aus dem Glau- ben an die Fuͤrsehung, und die Unsterblich- keit der Seele hergeleitet worden, auch als- denn noch unwandelbar fest beruhet, wenn die Vernunftgruͤnde fuͤr jene große Wahrhei- ten wankend zu werden beginnen. Er muß jedem Freunde des Christen- thums auch deßwegen willkommen seyn, weil er die Quintessenz des Christenthums, und das Mark der Bibel dem forschenden Blicke nahe legt. Letzter natur, und das Reich der menschlichen Ueber- zeugungen hinein zu b l icken. Erster Abschnitt. Letzter allzusammenfassender Grund wider den Selbstmord. D er Selbstmord ist nach allen Bezie- hungen Fasse mich recht, lieber Leser: ich sage nicht, daß der Selbstmoͤrder alle diese Beziehungen im Augenblicke der Selbstmordung vor Augen habe: denn so ein Ebenteuer von Greuelthaͤ- ter ist nicht gedenkbar, der alle diese Beweg- gruͤnde, nicht zu suͤndigen hell anblickte, und dennoch betrachtet, ein Inbe- grif von allem, was grauvoll heissen kann. Denn 1. in Beziehung auf Gott ist er Undank gegen den ersten Wohlthaͤter. So oft ließ Er seine Sonne uͤber mir aufgehen, und ich spraͤche voll Unmuths: nun will ich seine Sonne nimmer sehen? So oft ließ er mich die Suͤsse des Schla- fes geniessen, und die labende Kraft der frischen Quelle erfah- ren, und ich spraͤche voll Ueber- druß: Dieser seiner Wohlthaten bin Gruͤnde wider den Selbstmord. bin ich satt: geniesse sie, wer will, mir sind sie eckelhaft, unaussteh- lich? — — Und so spricht die That jedes Selbstmoͤrders. Ungehorsam gegen den Herrn des Lebens. Er sprach zu mir: ar- beite, dulde, kaͤmpfe, hoffe, bis der Abend kommt, wo es heißt: nun ist’s des Schweißes, des Kampfes, des Harrens genug: Und ich gaͤbe zur Antwort: ich kann und will nicht warten, bis der Abend anbricht, ich will das Tagewerk enden, ehe der Haus- vater die Glocke zieht, und den Feyerabend ankuͤndet? — — Und so spricht die That jedes Selbstmoͤrders. Un- dennoch suͤndigte. Ich warne nur den Juͤng- ling vor der Greuelthat, ich beschreibe nicht die Empfindung des Selbstmoͤrders. Ich bin Arzt, der vor dem Gifttranke warnet, nicht Dichter, der die Gaͤnge malet, wie ein Mensch zum Gifttrinken mit Bewußtseyn, kommen kann. E Erster Abschnitt. Unglaube an die unerschoͤpfliche Weisheit, die auch da noch Mit- tel zu helfen ausfindig machen kann, wo die menschliche Weis- heit keine mehr sieht. Wer an einen Blick glaubt, der alle Be- gebenheiten wie Eine uͤbersieht, der Abgruͤnde durchblicket, der die Mitternacht wie Mittagshelle schaut, der Auswege sieht, wo nichts als Untergang drohet; wer an diesen Einen (uͤberall Huͤl- fe ersehenden) Blick glaubt, kann nie auf die Empfindung der Ver- legenheit, nie auf den Ausdruck der Kurzsichtigkeit gerathen: mir ist nimmer zu helfen. Mistrauen auf die unermuͤdliche Liebe, die zum Helfen nie zu traͤ- ge, nie zu bequem, nie zu ei- gensinnig, nie zu selbstsuͤchtig, nie zu ohnmaͤchtig werden kann. Wenn Gott aufhoͤren kann, Liebe zu seyn, dann wird der erleuch- tete Gruͤnde wider den Selbstmord. tete Gottesverehrer, der auf diese Liebe vertraut, anfangen, Selbst- moͤrder werden zu koͤnnen. 2. In Beziehung auf das Individuum des Selbstmoͤrders ist der Selbstmord: Feigheit, Mangel an Starkmuth. Denn sobald das Leben anfaͤngt eine Last zu werden, so ist es kein Heroismus mehr, dieselbe abzu- laden: Heroismus ist’s, dieselbe noch laͤnger fortzutragen. Je groͤßer die Buͤrde, desto groͤßer die Tragkraft, die ihr nicht un- terliegt: je druͤckender der Druck, desto muthiger der Muth, der ihn aushalten kann: je schauerwecken- der der Anblick des Feindes, desto maͤnnlicher die Mannskraft, die ihm unerschrocken entgegen tritt. Niedertraͤchtigkeit, sein eigner Hen- ker zu seyn. Seine Haͤnde mit dem Blute seines Bruders faͤr- ben, ist niedrig, und wird von E 2 der Erster Abschnitt. der Empfindung aller Menschen als niedrig erklaͤrt: soll es adelich seyn, selbe mit eignem zu faͤrben? Man hat eine zuruͤcktretende Em- findung von dem Diener der oͤffentlichen Gerechtigkeit, Dem man in gewisser Ruͤcksicht doch Ach- tung schuldig ist. der den Schwertschlag an einem Strassenraͤuber vollbracht, und noch warm von der Hinrichtung eben die Buͤhne verlassen hat: sollte der werdende Selbstmoͤrder nicht zuruͤcktreten vor sich selbst, wenn es ihm, im Augenblicke vor der Selbstmordung, durch den Sinn fuͤhre: Du dich mit deinem Blute beflecken??? Gleichguͤltigkeit gegen den hohen Werth des Lebens, und gegen die in alle den mannigfaltigen Auf- tritten des laͤnger fortdaurenden Lebens noch ersteigliche Stufen von Tugend und Weisheit und Seligkeit. Haͤtte sich Cicero als Juͤng- Gruͤnde wider den Selbstmord. Juͤngling selbst gemordet: wer haͤtte Rom den Buͤrgermeister, den Staatsmann, den Redner, der Welt o den Denker, den Wei- sen ersetzet? Haͤtte Sokrates sich selbst gemordet, wie waͤren sein Leben, und sein Sterben eine Schule der Weisheit fuͤr seine Zeitgenossen, und die kommen- den Jahrhunderte geworden? O, die Empfindung des Selbstmoͤrders, die nach der That in seiner Seele Plaz nehmen muß, wenn er im Buche der Allwissenheit liest: So viele Thraͤnen haͤttest du noch trocknen koͤnnen, wenn du die Kraft selbe zu trocknen, nicht selbst zerstoͤret haͤttest: so viele Freuden haͤttest du freudelosen Seelen noch schenken koͤnnen, wenn du die Kraft, zu erfreuen, nicht selbst zerstoͤret haͤttest: so viele Heldenthaten haͤttest du zur Ehre der Tugend, zum Tri- E 3 umphe Erster Abschnitt. umphe der Religion, zum Be- sten des Vaterlandes, noch thun koͤnnen, wenn du die Kraft, Held zu seyn, nicht selbst zer- schnitten haͤttest: so viele Witt- wen haͤtten dich noch als Retter der gedruͤckten Unschuld, so viele Waisen noch als Vater der Huͤlf- losen mit dankbaren, seelenzer- schmelzenden Thraͤnen geseegnet, wenn du die Kraft, ein Retter und Vater der Elenden zu seyn, nicht selbst erwuͤrget haͤttest. — Diese marternde Empfindung, diese Hoͤlle von Empfindung, diese Satansqual von Empfindung — wie will sie der Selbstmoͤrder ertragen? Juͤngling! stehe still bey dieser Stelle, und frage dich: ob du diese Empfindung ertragen koͤnn- test? Und wenn du das kannst — Nein, das kannst du nicht, darum athme wieder freyer, und werde deines Lebens froh: und freue dich, Gruͤnde wider den Selbstmord. dich, daß du den Werth empfin- dest, ein Retter deines Bruders zu seyn! — Eine Art von Wahnsinn, ohne die sich kein Selbstmord denken laͤßt. Wie viel Abschreckendes liegt in der unbezweiflichen Wahr- heit: kein gesunder Verstand raͤth zum Selbstmorde, keine ge- sunde Willenskraft stimmt zum Selbstmorde ein: kein gesunder Gedanke, und keine gesunde Em- pfindung leiht Kraft zum Selbst- morde her — Also krank, fuͤrch- terlich krank am Verstande und Herzen muß der seyn, der eine Versuchung zum Selbstmorde fuͤr bedenkenswerth finden kann. 3. In Beziehung auf andere ist der Selbstmord Gefuͤhllosigkeit gegen seine Ver- wandte, Freunde, denen der Selbstmoͤrder das allergroͤste Her- E 4 zeleyd Erster Abschnitt. zeleid verursachet, das er kann. Gefuͤhllosigkeit gegen sein Vater- land, gegen den Staat, dem er ein Glied raubt, und damit alle Dienste, die es ihm noch haͤtte- thun koͤnnen. Gefuͤhllosigkeit gegen die ungluͤckli- chen Lebenssatten, denen er durch sein Beyspiel die Summe der Versuchungen zum Selbstmorde vermehrt. Gefuͤhllosigkeit gegen die Elenden, Trostlosen, Rathbeduͤrftigen, Nackten, Hungerigen, denen der Selbstmoͤrder, wenn er sein Le- ben nicht selbst geendet haͤtte, durch Rath, Speise, Decke, Geld die Last des Lebens haͤtte erleichtern koͤnnen. Gefuͤhllosigkeit gegen die christliche Kirche, in der wir leben. Wel- chen Schandflecken haͤngt der Selbstmoͤrder dem Christenna- men Gruͤnde wider den Selbstmord. men an? Christenname und Selbstmord, Christenglaube und Selbstmord, Christenberuf und Selbstmord, Christengeduld und Selbstmord, Christengebet und Selbstmord, Christenfreude und Selbstmord, Christenwandel und Selbstmord, Christentod und Selbstmord — Nein, diese Wi- derspruͤche kann keine Vernunft vereinen! Wo Selbstmord ist, da kann Christenthum — erleuch- tetes, aufgeklaͤrtes, redliches Chri- stenthum nicht seyn. 4. Graunvoll ist der Selbstmord in Be- ziehung auf Vergangenheit, Ge- genwart, Zukunft. Was in Absicht auf die Vergan- genheit den Gedanken an das ge- nossene Gute undankbar verbannet; den Vorsatz, das gestiftete Gute mit neuem zu vermehren zernichtet, und den Plan, das veruͤbte Un- recht wieder gut zu machen zerreisset; E 5 Was Erster Abschnitt. Was in Absicht auf die Gegen- wart nur Gewaltthaͤtigkeit ist, und Gewaltthaͤtigkeit zur Selbstzer- stoͤrung; Was in Absicht auf die Zukunft den unsterblichen Geist gerade in seinem allerschreckbarsten Zustande, wo alle seine Kraͤfte auf die trau- rigste Weise verstimmt sind, — der Ewigkeit in den Schoos wirft; Was also der redliche Zuruͤckblick auf die Vergangenheit, der gerade Anblick der Gegenwart, der ge- schaͤrfte Hinausblick in die Zu- kunft — graunvoll finden, und eben darum mit Einer Stimme misbil- ligen: — — wie kann dieß von ungetruͤbter Vernunft, und von aufgehelltem Gewissen gebilliget werden? 5. Graunvoll in Beziehung auf Ursa- chen, That, Folgen. Die Ursachen, die zum Selbst- mord verleiten, sind entweder fuͤrch- terliche Gruͤnde wider den Selbstmord. terliche Ausschweifungen des Her- zens, oder schauervolle Verirrun- gen des Verstandes, oder, was ge- woͤhnlicher ist, beydes zugleich — allemal Schwaͤche, bemitleidens- wuͤrdige Schwaͤche. Die That selbst ist auf einer Seite fast immer qualvoller als al- les Elend, wovon man sich durch den Selbstmord zu befreyen sucht, und auf der andern sinnlose Wut gegen seine Natur, unersetzliche Zer- stoͤrung der menschlichen Existenz. — Die Folgen, bloß in Absicht auf die Person des Selbstmoͤrders, sind graunvoll genug, als: Unfaͤ- higkeit, neue Verdienste um das Wohl der Menschen zu sammeln; Unfaͤhigkeit, die unnennbaren Freu- den, die uͤberwundene Versuchung zum Selbstmorde verschaffet haben wuͤrde, zu geniessen; Unfaͤhigkeit, dem Schoͤpfer fuͤr die schoͤne Mor- genroͤthe, die nach etlichen finstern Stun- Erster Abschnitt. Stunden — mit nie gesehenem Glanze in das noch sehende Auge gestralet haͤtte, kindlichfroh zu dan- ken; Und dann — — ganz umge- aͤnderte Schicksale der Zukunft, der Ewigkeit, die offenbar einen an- dern Gang genommen haͤtten, wenn der Selbstmoͤrder die Hand, die ihm einige Tropfen Wermut in den Le- benskelch getroͤpfelt, dankbar geseg- net haͤtte, statt daß er den Lebens- kelch (mit all seiner Suͤsse und Bit- terkeit) zertruͤmmert hat. Daß in diesem Grunde theils einige, schon im Vorhergehenden erwaͤhnte Gruͤnde, theils andere neue Bemerkungen concentrirt sind, sagt die Aufschrift, und bedarf keiner besondern Erinnerung. — Zum Gruͤnde wider den Selbstmord. Zum Schlusse des ersten Abschnittes. Noch ein paar Etwas wider den Selbstmord. 1. D er Schoͤpfer hat dem Menschen die Unmaͤßigkeit in Speise und Trank verboten, hauptsaͤchlich auch deßwegen, weil sie am Lebensfaden naget: soll er das eigen- maͤchtige, stuͤrmische Abreissen des Lebens- fadens erlauben? 2. Dieses Leben ist fuͤr den Menschen eine Pruͤfungsklasse: darf der Schuͤler ohne den Wink des Schulherrn abzuwarten, der Pruͤ- fungszeit gewaltsam, und eigenmaͤchtig ein Ende machen, besonders da die fortdaurende Lebenskraft ein Pfand vom Schoͤpfer ist, daß sein Wille das Ausdauern in der Pruͤfungs- klasse dem Schuͤler zur Pflicht macht? 3. Es ist keine geltende Entschuldigung eines Moͤrders, wenn er sagt, und es allen- falls auch beweisen koͤnnte: Ich habe des- wegen den Cajus erstochen, weil er es von mir so dringend begehrt hat. Wie darf also Erster Abschnitt. also Cajus sich selbst einen Dienst thun, den ihm kein anderer erweisen darf? Du sagst: das Gewicht seiner Gruͤnde, die Last seiner Leiden kann kein anderer ganz so fuͤhlen, wie er. Mithin darf ihn kein anderer, er aber sich selbst morden. Und ich sage: keiner wird durch das uͤberspannte Gefuͤhl seiner Leiden, seiner Lasten so ganz des gesunden Verstandes beraubt, wie er: und daraus, daß nur der Leidende das ganze Maas seines Leidens fuͤhlen kann, laͤßt sich nur erklaͤren, wie es zugehe, daß einer sein Selbstmoͤrder werden koͤnne, aber nicht, daß er es mit Recht werde. 4. Ein Forscher in den Annalen des Men- schengeschlechtes hat zur Ehre der Tugend die Anmerkung gemacht, daß der Selbstmord zu Rom nie gemeiner gewesen, als unter Ti- berius und Nero, wo Unzucht, Schwelgerey, Tyranney den hoͤchsten Gipfel erreichet hat- ten. — Selbstmord — das ist wider dich! Irreligion, Weichlichkeit, und was ich nicht deutsch nennen mag — vaga libido, Ueberspannung der Empfindung allerley Art, Druck, Verkaufung des Rechtes an den Meist- Gruͤnde wider den Selbstmord. Meistbietenden, Kaͤlte gegen die leidende Menschheit bey dem ewigen Gekreische von Liebe predigen — sind, so viel ich mein Jahr- hundert kenne, keine seltne Erscheinungen. Ist es kindische Furcht, wenn ich an dem Leitfaden der Geschichte, und das Bleymaas der taͤglichen Beobachtung in der Hand, ahn- de, der Selbstmord muͤsse von Tag zu Tag natuͤrlicher werden, je natuͤrlicher in einem eignen Sinne des Wortes. die unnatuͤrlichsten Ausbruͤche der Leidenschaften bereits geworden sind? 5. Ich bin ein Bild des Allbelebers: Er, das Original, hat seine Freude am Be- leben, an Conservation der Lebenskraͤfte — und ich, sein Bild, soll Trost suchen, Trost finden koͤnnen in Toͤdtung, in Zerstoͤrung der Lebenskraͤfte? Der Mensch! — ein Bild deß, der lebt und ganz Leben und Freude ist, soll Freude am Nichtseyn haben? — Der Stein da, auf dem ich stehe, ist, weiß aber nicht, daß er ist, und kann sich seines Seyns nicht freuen ; und das Bluͤm- chen, das da trinkt den Morgenthau, und saugt den Nahrungssaft aus der Erde, und sich Erster Abschnitt. sich oͤffnet dem kommenden Strale der Son- ne, ist wohl auch, weiß aber nichts darum, daß sie den Thau trinkt, und Nahrung aus der Erde saugt, und dem Strale des Mor- genroths sich oͤffnet; und das Fuͤllen dort auf der Weide, das munter springt und freudig wiehert, ist auch, und empfindet auch, kann aber diese Empfindung der Freude durch Nach- denken nicht wieder geniessen. — In der Mitte dieser Erdegeschoͤpfe, die kein Gefuͤhl Ihrer Selbst, kein Anschauen Ihres Werthes in sich haben, bin ich, und weiß, daß ich bin, und kann mich freuen, daß ich bin, und kann diese Freude durch Nachden- ken vergroͤßern — und ich soll mit dieser Kraft zu empfinden, daß ich bin, mit die- ser Kraft froh zu werden, daß ich bin, mit dieser Kraft die Freude an meinem Seyn durch Nachdenken, Selbstbewußtseyn wie- der zu geniessen, und durch Wiedergenuß zu vergroͤßern — Ich, nicht Stein, nicht Blume, mehr als Thier, Ich Mensch soll sprechen: Ich will nimmer seyn? Zweyter Zweyter Abschnitt . Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. F Die Ueberzeugung durch die Erfahrung ist gleich einem aͤchten Diamant, die Ueberzeugung durch Meynungen aber ein wohlpolirtes Eis, das bey der kleinsten Waͤrme in Wasser zer- fließt. Stilling. Sieh da die Antwort auf alle Scheingruͤnde! 1. „ I ch bin so elend, so ohne alle Aus- sicht in der Welt, daß ich keine Freude mehr fuͤr mich hoffen darf. Also ist Selbstentleibung meine ein- zige Gluͤckseligkeit, und eine Kugel vor den Kopf mein einziger Erloͤser.„ „Ich kann keine Freude mehr hoffen.“ Freund, weißt du denn, was der morgige Tag alles bringen wird? Kennst du denn zum voraus alle Kummer- und Freuden- thraͤnen, die morgen unter der Sonne aus den Augen der Menschen troͤpfeln werden? „Nein, das weiß ich nicht, das kann ich nicht wissen, das kann kein Sterblicher wis- sen.“ Wenn du aber nicht weist, was der morgige Tag, der in wenigen Stunden an- F 2 bricht, Zweyter Abschnitt. bricht, mitbringen wird: wie kannst du wis- sen, daß alle die noch kommenden Tage, die zu deiner natuͤrlichen Lebensbahn gehoͤren, dir keine einzige Freude mehr bringen wer- den? Bist du denn schon einmal im Archi- ve der Zukunft gewesen, hast du schon in dem großen versiegelten Buche des goͤttlichen Weltplanes alle Blaͤtter durchgelesen, und auch verstanden, daß du sagen darfst: fuͤr mich koͤmmt keine Freude mehr? Was daͤchtest du von dem politischen Zeitungstho- ren in der Schenke, der bey seinem Glas Bier mathematisch demonstrirte, er wisse genau, was fuͤr Entwuͤrfe unser Kaiser Jo- seph in seinem Herzen traͤgt, auch jene, die er noch keinem Menschenohr vertraut; er wisse umstaͤndlich, was alle Großen der Er- de in den verschwiegensten Cabineten beschaͤf- tiget; er koͤnne alle Plane ihrer Conferenz- minister, denen sie selbst noch keinen Namen gegeben, beym rechten Namen nennen. Nicht wahr, das muͤßte der erste Tollhaͤus- ler auf Gottes Erdboden seyn? Wenn es aber Thorheit ist, aus den Cabineten der Großen Dinge wissen wollen, die noch nicht trans- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. transspiriret haben: soll es nicht Thorheit seyn, den undurchdringlichen Schleyer, der auf den Zahllosen Begebenheiten der Zukunft liegt, mit der Fingerspitze wegheben wollen, und sagen: fuͤr mich bluͤht keine Freude mehr. „Ich darf keine Freude mehr hoffen.“ Sieh, wie du deine gegenwaͤrtige Empfin- dung, in der alle deine Sinne, Vernunft und Herz schwimmen, zum Maaßstabe dei- nes Urtheils uͤber die Zukunft machst: und gerade dieser Maaßstab ist der unzuverlaͤssig- ste aus allen. Wenn der Wetterfuͤrchten- de Knabe (um das im Eingange angefuͤhrte mendelsohn’sche Gleichniß auszumalen) glaub- te, der Donner, der itzt in dem Momente des fuͤrchterlichen Krachens uͤber seinem Haupte rollet, werde ewig, ewig in seinem Ohr rau- schen: was wuͤrdest du ihm sagen? „Lieber Knabe, wuͤrdest du ihm sagen, die Donner bruͤllen nicht immer, nicht im- mer leuchten die Blitze: Heiterkeit und Stil- le ist schon auf dem Wege — fuͤr dein Aug’ F 3 und Zweyter Abschnitt. und Ohr: du must die Gegenwart nicht zur Richterinn uͤber die Zukunft machen: auf Regen folgt Sonnenschein, und das erder- schuͤtternde Donnerwetter verliert sich in eine feyerliche, liebliche Stille.“ Was du nun dem Knaben sagtest, das predigt dir die ganze Natur laut in dein Herz: „Harre aus — der Leiden jedes loͤset sich fruͤhe oder spaͤte in eine nie gefuͤhlte Freude auf. Denke doch zuruͤck auf die groͤßte Freu- de, die dir in deinem Leben geworden ist. Wenn du in der Stunde dieser deiner Ent- zuͤckung gedacht haͤttest: fuͤr mich waͤchst nun kein Leiden mehr: ewig, ewig schwimm’ ich im Freudenmeere; waͤr’ in diesem Ur- theile Wahrheit gewesen? Nein, denn es sind auf jene heitern Tage wirklich viele truͤbe Stunden gefolget. So kann denn auch das entgegen gesetzte Urtheil, in dem entgegen gesetzten Zustande, in der Stunde des heissesten Leidens: fuͤr mich koͤmmt kei- ne Freude mehr, unmoͤglich gewisse Wahr- heit seyn. Ich Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Ich habe gefehlet, daß ich das Wort Urtheil gebraucht habe. Denn die Spra- che, fuͤr mich kommt keine Freude mehr, ist kein Urtheil, kein Ausspruch der gesun- den Vernunft, ist kein aus ruhiger Ueber- legung, aus richtiger Einsicht quillendes Ja, sondern Sprache der Empfindung, der schwar- zen, gegen alle Stralen von Hoffnung kaͤmp- fenden Empfindung. Der erste Grund also fuͤr den Selbstmord, ich kann keine Freu- de mehr hoffen, ist kein Grund, denn er streitet wider die Natur, das heißt, wider die Veraͤnderlichkeit der Dinge, und wi- der die Veraͤnderlichkeit der menschlichen Empfindungen. 2. „ D as Leben ist eine Wohlthat, ein Geschenk: ich darf es al- so zuruͤck geben, wenn es mir beschwerlich wird: wie ich ein geschenktes Haus vertauschen, F 4 ver- Zweyter Abschnitt. verschenken, oder gar abbrechen darf, wenn ich will.“ So schwach dieser Grund ist, so haben ihn doch große Geister wichtig gefunden, oder wenig- An diesem Scheingrunde ist gar alles Schein; denn Erstens: ist es nicht allgemein wahr, daß ich z. B. ein geschenktes Haus nach Willkuͤhr veraͤndern, abbrechen ꝛc. darf. Oder, was wuͤrde die wachende Polizey in einem gebildeten Staate dazu sagen, wenn mehrere Buͤrger in die Raserey geriethen, ihre schoͤn und regelmaͤssig gebauten Haͤuser, deren Eigenthuͤmer sie durch Schenkung, oder wie immer geworden sind, nach ihren eigensinnigen Launen mit hundert tausend Schnoͤrkeln, nach altem gothischem Geschma- cke, verunstalten, oder abbrechen, oder gar in die Luft sprengen zu lassen? Und wenn das der Buͤrger in einem cultivirten Staate mit seinem Hause nicht thun darf, soll es der Mensch, im Staate Gottes, mit seinem Leibe wagen duͤrfen? Zwey- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Zweytens: ist es nicht allgemein wahr, daß man jede Wohlthat dem, der sie erthei- let hat, nach Willkuͤhr heimgeben darf. Oder, wenn dir ein wohlthaͤtiger weiser Fuͤrst sein eigen Portraͤt zum Geschenke mach- te, etwa um dir auf dem Wege zur Weis- heit einen neuen Sporn zu geben: duͤrftest du dem Fuͤrsten dieß sein Portraͤt nach Will- kuͤhr zuruͤck geben, ohne dich in den Augen aller Welt mit dem Schandzeichen der Ge- fuͤhllosigkeit, des Stolzes, des Undankes zu brandmarken? Und, wenn du das ge- schenkte Portraͤt des Fuͤrsten nicht nach Will- kuͤhr zuruͤck geben darfst, wie darfst du es wagen, die menschliche Existenz, dieß schoͤ- ne Ebenbild, und Portraͤt der Gottheit, zu zerstoͤren, und es dem Koͤnig der Koͤnige mit undankbarer Gewaltthaͤtigkeit hinzu- werfen? — Drittens: kann es Geschenke geben, die mit beygesetzten Verpflichtungen deß, der das Geschenk empfangen, und mit aus- F 5 druͤck- wenigstens wichtig zu machen gesucht. Ein Be- weis, was es mit sogenannten großen Geisten fuͤr ein gebrechlich Ding sey. Zweyter Abschnitt. druͤcklicher Vorbehaltung des Herrschafts- rechtes fuͤr die Person des Schenkherrn ge- macht werden. So kann der Besitzer einer Biblio- thek irgend einer Akademie das Recht schen- ken, die Buͤcher zur Aufnahme der Wissen- schaften zu benutzen, mit dem Anhange, daß er der Eigenthuͤmer der Bibliothek bleibe. Auf eine aͤhnliche Weise schenkte uns der Herr alles Lebens das Menschenleben, mit der angehaͤngten theuren Pflicht, es weislich zu benutzen, und mit dem noth- wendigen Vorbehalte, daß der Geber des Menschenlebens auch Herr desselben sey und bleibe. Wir haben das Recht, die Lebens- kraͤfte zu eignem und fremdem Wohl zu ge- brauchen: aber keines, selbe eigenmaͤchtig zu stoͤren. Viertens: heißt sich Selbstmorden nicht: dem Schoͤpfer die Wohlthat zuruͤck ge- ben — sondern die Wohlthat zerstoͤren, und die Truͤmmer davon dem Wohlthaͤter uͤberlassen; es heißt sein Haus abbrennen, und Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. und die Asche davon dem Schenkherrn, oder vielmehr dem Zufalle, dem Winde preis ge- ben. Wo Zerstoͤrung des Geschenkes, da ist keine Zuruͤckgabe gedenkbar — Und was kann ich zuruͤck geben, da ich im Au- genblicke der Selbstermordung aufhoͤre, Mensch zu seyn? Fuͤnftens: ist es ein unausdenkli- cher Abstand zwischen dem Geschenke eines materiellen Hauses, das aus Kalk, Stein, Kuͤtte ꝛc. besteht, und zwischen dem Ge- schenke des Menschenlebens, das aus Kno- chen und Muskeln und Fibern und Ner- ven und Blut und Duft und Geist be- steht. Das Haus kannst du abbrechen, und aus den Truͤmmern desselben ein an- dres erbauen: aber gehe hin, schneide dir deinen Lebensfaden ab, und knuͤpfe ihn wieder an — wenn du kannst. Raube dir das Menschenleben, und gieb dir es wieder, wenn du kannst. Hoͤr auf Mensch zu seyn, und werde es wieder, wenn du kannst — aus eigner Kraft, die dahin ist. 3. „Wuͤrde Zweyter Abschnitt. 3. „ W uͤrde ein Mensch, ein Vater zuͤrnen, dem sein unvermu- thet zuruͤckkehrender Sohn um den Hals fiele, und riefe: ich bin wie- der da, mein Vater: zuͤrne nicht, daß ich die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen laͤnger haͤtte fortsetzen sollen: mir ist nur wohl, wo du bist. Und du lieber himmlischer Vater, solltest den ungluͤcklichen Selbstmoͤrder von dir weisen?“ Dieser Einwurf koͤnnte deshalb einen staͤrkern Eindruck auf ein fuͤhlend Menschen- herz machen, weil er die Vaterliebe Gottes sehr kuͤnstlich in ein auffallendes Parallel mit menschlicher Guͤte zu setzen weiß. Wenn wir aber den Blick schaͤrfen: so ist es nichts mehr als ein elender Fehlschluß, der blendet, und wahrlich nur den Unachtsamen blen- den kann. Setzen wir den Fall nur etwas bestimm- ter, und der Scheingrund steht in seiner ganzen Bloͤße da. Setzen Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Setzen wir, der Vater haͤtte seinen Sohn auf Reisen geschickt, damit er die Menschen kennen, Wissenschaften und Kuͤn- ste lernen, und wohlgebildet an Leib und Seele zuruͤckkehren, und dann die La- sten der Haushaltung, und Amtsgeschaͤfte der muͤden Vaterschulter abnehmen sollte: er, der Vater, wolle ihn zu rechter Zeit schon selbst heimberufen. Nun aber waͤre dem Soͤhnchen die Luft zu rauh, das Reisen zu unbequem, und das Sichselbstbilden zu muͤhsam. Er kaͤme also ungerufen, dumm und ungezogen nach Hause, und gienge auf den Vater zu, um ihn zu umarmen, und spraͤche: Vater, sieh, ich bin gern bey dir: verzeih, daß ich meine Reisezeit nicht ausgehalten habe. — Was wuͤrde in diesem Falle auch der liebend- ste Vater sagen, thun? „Ungehorsamer, wuͤrde er sagen, du bist meiner Umarmung nicht werth: das Herz deines Vaters hast du bluten gemacht durch deinen Ungehorsam. Du kommst zu- ruͤck ohne Bildung, ohne Tugend, ohne Weis- Zweyter Abschnitt. Weisheit. Ich kann so einen elenden Tau- genichts, weder in meiner Haushaltung, noch bey meinen Amtsgeschaͤften brauchen. Du hast die Absicht deines Vaters ganz vereitelt — Fort mit dir — und gehe dei- nem Vater nimmer unter das Angesicht, bis du weiser und besser, und zu deinem Gluͤcke reifer geworden bist.„ Der Vater wuͤrde also eines aus bey- den mit seinem Sohne thun, ihn entweder, unter Aufsicht eines wackern Hofmeisters wieder auf Reisen senden, oder im vaͤterli- chen Hause strenge Zucht mit ihm halten. Und, wenn das der Vater nicht thut, so handelt er wider die Pflicht der weisen Va- terliebe. Laßt mich noch verstaͤndlicher re- den, und das Gleichniß noch einmal vor- nehmen, von dem ich am Schlusse des ersten Abschnittes schon einen Gebrauch gemacht habe. Die Aeltern schicken ihre Kinder in oͤffentliche Schulen. Wenn nun der Knabe nach der ersten Viertelstunde wieder nach Hause liefe, und zur Entschuldigung angaͤ- be: er sey lieber zu Hause bey der Mama als Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. als in der Schule bey dem Schullehrer: wuͤr- de die Mutter, wenn sie Mutter waͤre, nicht nur hiesse, mit dieser unzeitigen, und eitel vorgeblichen Anhaͤnglichkeit des Kindes an die Mutterseite zufrieden seyn? Wuͤrde sie nicht vielmehr sagen: Kind, wenn du mich lieb hast, so beweise es dadurch, daß du die bestimmte Schulzeit bis auf den letzten Punct aushaͤltst. — Nun ist es ein abgenutzter, aber wah- rer, aber nie genug zu uͤberdenkender Ge- danke, daß dieses unser Leben eine Pilger- reise nach unserer Heimat, eine Universi- taͤt zur Bildung der Menschheit, eine Er- ziehungsanstalt zum bessern Leben sey. So ist es denn offenbar gegen die Absicht des Vaters der Menschen gehandelt, wenn der Pilger seine Erdereise hienieden eigen- maͤchtig einstellt, oder der Schuͤler im Gymnasium der Fuͤrsehung (den Menschen meyne ich) — eigenmaͤchtig aus der Zucht- schule hinauslaͤuft, und den Ruf des großen Erziehers nicht abwartet. 4. „Da Zweyter Abschnitt. 4. „ D a Gott bey seiner Vorsehung und Regierung das menschliche Leben so unzaͤhlich vielen, oft aus den kleinsten und zufaͤlligsten Ursachen entstehenden Gefahren uͤberlassen: sollte er’s nicht auch, und vielmehr noch, der eignen Willkuͤhr des Men- schen uͤberlassen haben? Und wenn aus jenen erhellet, daß der Plan der goͤttlichen Herrschaft, und Regie- rung nicht von Verlaͤngerung einze- ler Menschenleben abhaͤnge, wie kann die willkuͤhrliche Abkuͤrzung des eigenen Lebens ein Verbrechen gegen die Gottheit seyn? Dieser Einwurf kommt in den Aussaͤtzen uͤber Selbstmord, und Unsterblichkeit vor, die dem David Hume zugeschrieben werden. Dieser Grund sagt nicht mehr und nicht weniger als: diesen erschlaͤgt ein Dachziegel, jenen der Donner: da stirbt einer am tollen Hundsbisse, dort ein anderer an den Blat- tern. Soll nun sich der Mensch das nicht selbst anthun duͤrfen, was Hundsbisse, Blat- tern, Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. tern, Donnerwetter, Dachziegel, Zufall thun koͤnnen, und an unzaͤhligen Menschen bereits gethan haben? — — Nein, er darf es nicht thun — und darf es darum nicht thun, weil er Mensch ist. Er hat Ueberle- gung — kann in die Zukunft hineinschauen, das der Dachziegel nicht kann; hat Ver- nunft — kann dem wilden Triebe widerste- hen, das der tolle Hund nicht kann; hat ein Gewissen in der Brust — und wird nicht vom Electricismus getrieben wie der Donner. Oder darf der Mensch etwa auch das (neugebaute) Haus seines Vaters anzuͤnden, weil es vor zwey Jahren der Blitz eingeaͤ- schert hat? Darf er seinem Bruder das Ge- treid aus der Scheune stehlen, weil ihm vor Jahren der Hagel die Saaten verwuͤstet hat? O Welt, was wuͤrde aus dir werden, wenn das der Mensch mit Ueberlegung thun duͤrf- te, was die Elemente nach dem Natur- Plane thun? Wenn Sieh die goͤttingische Anzeigen St. 210 den 31. Dec. 1784. G Zweyter Abschnitt. Wenn der Donner die Eiche spaltet, und den Hirten am Felde toͤdtet, so thut er den Willen des Herrn. Denn dieser hat es ihm befohlen: Spalte mir diese Eiche, und toͤdte mir den Hirten dort. Wenn der Mensch die fremde Eiche, die nicht sein ist, spaltat, und den Hirten mordet, so thut er wider den Willen des Herrn, der ihm in’s Herz schrieb: laß je- dem das Seine, und beflecke dich nicht mit Menschenblut. Also auch, wenn der Donner dich in Asche verwandelt, thut er den Willen des Herrn: wenn du dich selbst mordest, so thust du wider den Willen des Herrn, der dich auf die Erde gestellt, und den Trieb zum Leben dir Dieser Ausdruck: Der Schoͤpfer hat das Menschenleben vielen Gefahren uͤberlassen, ist wirklich sehr zweydeutig. Denn der Schoͤpfer hat fuͤrs erste mein Le- ben den Gefahren nicht uͤberlassen: er wuß- te, was kommen wuͤrde, ehe es koͤmmt; er leitete die natuͤrlichen Begebenheiten so, daß das kommen mußte, was kommt; er bestimm- te den ersten und letzten Punct, und alle Zwi- schenpuncte Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. dir in’s Herz gelegt hat, und sprach: harre aus, bis ich komme. Man sieht also, daß dieser ungluͤckliche Einfall der skeptischen Laune fuͤr den Selbst- mord nichts beweise, oder zugleich alle Pflich- ten gegen den Naͤchsten, und das gemeine Wesen aufloͤse. Denn so wie der Schoͤpfer das Leben der Menschen unzaͤhligen Gefah- ren, von dem Laufe der Naturbegebenhei- ten, und wohl auch von den kleinsten, un- geahndesten Veraͤnderungen zerstoͤret zu wer- den (um den Ausdruck des Skeptikers beyzubehalten), uͤberlassen hat: so hat er auch die Gluͤcksguͤter der Menschen, den Flor der Koͤnigreiche, und das ganze Quantum zeitlicher Gluͤckseligkeit diesen naͤmlichen Ge- fahren uͤberlassen. G 2 Fer- schenpuncte des menschlichen Lebens: das heißt nun nicht, das Menschenleben den Gefahren uͤberlassen. Fuͤrs zweyte ist das, was in unsern Augen, aus Mangel der Einsicht in die Reihe der Begebenheiten, Gefahr ist, im allsehenden Auge Gottes keine Gefahr: so wie was in Absicht auf unser Nichtvorherwissen Zufall ist, in Hinsicht auf Gott nicht Zufall, sondern Ordnung, Fuͤgung, Feststel- lung ist. Zweyter Abschnitt. Ferner: wie der Schoͤpfer mein Leben von den Elementen, so hat er auch das Le- ben meiner Mitmenschen von den Elementen abhaͤngig gemacht. Wenn ich also aus dem Grunde, daß mein Leben in Gefahr steht, von dem Gange der Elemente abgekuͤrzt zu werden, es mir selbst eigenmaͤchtig ab- kuͤrzen duͤrfte: so wuͤrde ich das naͤmliche Befugniß in Absicht auf das Leben anderer Menschen, die naͤmlichen Verwuͤstungsrech- te in Absicht auf die Gluͤcksguͤter anderer, ja sogar auf den Flor der Staaten, den Wohlstand der Nationen, und umgekehrt je- der andere die naͤmlichen Rechte auf meine, und aller uͤbrigen Menschen Guͤter und Le- ben haben. Und dieß waͤre nichts gerin- gers, als das bekannte bellum omnium erga omnes. Anbeter des Pyrrhonis- mus — steh stille, und staune, und wirb ihm noch ferner neue Candidaten, wenn du kannst, dem angebeteten Goͤtzen! 5. Schein- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. 5. Scheingrund fuͤr die Selbstmorde à la Werther. „ D ie Liebe (wenn sie unbezwingbare Leidenschaft geworden, und wie bald bricht der feuerschwangere Funke in helle, unbesiegliche Flam- men aus?) spannt die Empfindung, bis sie uͤberspannt ist — und uͤber- spannte Empfindung kann sich nicht mehr tragen, und nicht herunter- spannen: also muß sie sich toͤdten, und den Koͤrper auch mit.“ Zuerst eine Antwort ohne Kompliment. Wenn der Kranke mit der Krankheit spielet, und die Krankheit immer maͤchtiger werden laͤßt: so wird sie endlich so maͤchtig werden, daß keine Arzney mehr dagegen wirken kann. — Izt liegt er todt da, der vor zehen Tagen noch gesund war, und dessen Krankheit vor zwey Tagen noch heil- bar gewesen waͤre. G 3 Nun Zweyter Abschnitt. Nun koͤmmt mich hohe Lust an zu fragen: 1. Wenn die Krankheit etliche Augenbli- cke vor dem Sterben unheilbar ist: war sie es auch, da sie noch im Kei- me schlief, oder die erste Aeusserung ihres Lebens von sich gab? — — Antwort im Namen der Menschheit: Nein. 2. Wenn der kranke Nachbar seine Krank- heit so lange streichelte, bis sie zur un- heilbaren Sucht erwuchs, bin ich recht daran, wenn ich mich auch auf dieses Streicheln des kranken Theiles ver- lege? — — Antwort im Namen der Menschheit: Nein. 3. Wenn es Afteraͤrzte gaͤbe, die die Mode, mit der Krankheit zu taͤn- deln, bis sie unbaͤndig wird, als Menschenweisheit, Urgenie, edle Empfindsamkeit, Geistesstaͤrke, Ge- sundheit der Seele zu ruͤhmen wuͤß- ten: sollte sich ein Vernuͤnftiger von den Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. den Rezepten dieser Marktschreyer leiten lassen? Antwort im Namen der Menschheit: Nein. Dann eine Stelle aus der besten Rezension der Leiden des jungen Werthers. Asmus saͤmtliche Werke, erster Theil. I ch glaubte mich an der Wahrheit zu ver- suͤndigen, wenn ich diese Stelle, die es verdiente, daß alle feurige Juͤnglinge sich selbe als ein Ordensband umhiengen, und alle Maͤdchen an ihre Rechte baͤnden, nicht als die kompleteste, und sinnlichste Ant- wort auf den erwaͤhnten Scheingrund hie- her setzte: „Ja, die Lieb’ ist ’n eigen Ding; laͤßt sich’s nicht mit ihr spielen, wie mit einem Vogel. Ich kenne sie, wie sie durch Leib, und Leben geht, und in jeder Ader zuckt, und stoͤrt, und mit ’m Kopf und der Ver- nunft kurzweilt. Der arme Werther! Er hat sonst so feine Einfaͤlle, und Gedanken. G 4 Wenn Zweyter Abschnitt. Wenn er doch eine Reise nach Pareis, oder Pecking gethan haͤtte! So aber wollt’ er nicht weg von Feuer und Bratspieß, und wendet sich so lange dran herum, bis er ca- put ist. Und das ist eben das Ungluͤck, daß einer bey so viel Geschick und Gaben so schwach seyn kann. Und darum sollen sie unter der Linde an der Kirchhofmauer neben seinem Grabhuͤgel eine Grasbank machen, daß man sich darauf hinsetze, und den Kopf in die Hand lege, und uͤber die menschliche Schwachheit weine. — Aber, wenn du ausgeweinet hast, sanfter, guter Juͤngling! wenn du ausgeweinet hast; so hebe den Kopf froͤlich auf, und stemme die Hand in die Seite! Denn es giebt Tugend, die, wie die Liebe, auch durch Leib, und Leben geht, und in jeder Ader zuckt, und stoͤrt. Sie soll, dem Vernehmen nach, nur mit viel Ernst, und Streben errungen werden, und deßwegen nicht sehr bekannt, und beliebt seyn; aber wer sie hat, dem soll sie auch da- fuͤr reichlich lohnen, bey Sonnenschein, und Frost und Regen, und wenn Freund Hain mit der Hippe kommt.“ Im Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Im Grunde thut jeder Selbstmoͤrder à la Werther, was Fritze gleich nach die- ser Stelle sagt: Nun mag ich auch nicht laͤnger leben, Verhaßt ist mir des Tages Licht; Denn Sie hat Franze Kuchen geben, Mir aber nicht. 6. Ein Gottlob! noch einsamer Weg zum Selbstmorde. E s giebt einige Ungluͤckliche, die an kei- nen Gott glauben, als der fuͤr das All- gemeine sorgte, und zu groß waͤre, als daß er sich um das Einzele bekuͤmmern sollte. Ihr Gott ist ein Admiral, der sich um die Ratzen seiner Flotte, die unten im Schiffe nagen, nicht bekuͤmmert — das heißt um die Menschen, die an diesem Erderund auf und abkriechen. Ihr Gott ist ein Gene- ral Im Carl von Carlsberg II. Th. 324. wird ein solcher Selbstmoͤrder und diese Denkart geschildert. der einen for ç irten Marsch thut, G 5 und Zweyter Abschnitt. und sich nichts daraus macht, wenn ein paar hundert Mann im Moraste stecken blei- ben. Ihr Gott ist, um das schonendste Bild zu waͤhlen, ein Kuͤnstler, der eine sich selbst bewegende Kunstuhr vollendet, — ihr den ersten Trieb zur Bewegung gegeben, und sich nicht mehr um Gang, und Schick- sale einzeler Raͤder bekuͤmmert. Ihr Gott verderbt die Zeit nicht damit, daß er auf die heissen Angstthraͤnen, die die Wangen der Wittwe durchgluͤhen, heruntersaͤhe, oder dem Wehegeheul des Waisen, der sich ohne Mutter und ohne Huͤlfe in der Welt sieht, zuhoͤrte — wenn auch sein Aug und Ohr so weit reichten. Wer nun an einen solchen Gott glaubt, der glaubt an keinen Denn es ist wider alle gesunde Begriffe ei- nen Gott annehmen, der das Allgemeine be- sorgt, ohne das Einzele zu besorgen. . Wer an einen solchen Gott glaubt, der sieht das Beten, als erste Thorheit an, so wie es eine Thor- heit waͤre, wenn der Schiffbruchleidende im Untergehen einen tauben Felsen um Huͤlfe anflehete. Wer aber ohne Gott, und ohne Gebet Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Gebet in der Welt lebt, der ist das wehrlo- feste Geschoͤpf bey den Versuchungen zum Selbstmorde. Sobald ihm eine Last uner- traͤglich scheint (und wie oft kann sich dieser Fall ereignen?) so oft er sich ohne Huͤlfe, ohne Aussicht, ohne Kraft fuͤhlet — in den Sturm der Leiden hinausgeworfen: dann schwebet er allemal uͤber dem Abgrunde der Selbsthinrichtung, und sieht ihn, diesen Abgrund, noch dazu — fuͤr seinen Port an. Wie schauert mir’s ab dem Gemaͤlde? Wie schrecklich ist das Ende dieses Weges? Und wie sie ihn so hoch erheben, die Thoren, die darauf wandeln? Wie sie sich ruͤhmen ihres Idealgottes, der seine erhabene Groͤße be- leidigte, wenn er sich um die Kleinigkeiten dieser Welt annaͤhme, der die Selbstherr- schaft an die Gesetze der Natur abgetreten hat, der fuͤr die Millionen, Millionen Seuf- zer seiner Geschoͤpfe entweder kein Ohr, oder wenigstens keine Aufmerksamkeit hat, der mit dem eisernen Zaum der ewigen Gesetze nur die Genera und Species leitet, und in Ordnung haͤlt, ohne die Einzelheiten eines Blickes zu wuͤrdigen — gleich jener Philo- sophie, Zweyter Abschnitt. sophie, die im Nebel der abgezogenen Be- griffe eingehuͤllt, keine Erfahrung, kein Indi- viduum vor ihren Thron kommen laͤßt!! Wie ist mir dagegen der Bibelgott Sieh das herrliche Lied: Der Bibelgott, im christl. Magaz. Viert. Band. so lieb, aus dem, durch den, und in dem alles ist, deß Auge im Verborgenen sieht, wie an der Mittagshelle, von dessen Wink das große Weltsystem, wie das Erdestaͤub- chen abhaͤngt, dessen Hand Koͤnigreiche wie Wassertropfen leitet, dessen Liebe den Lieb- ling der Schoͤpfung, den Menschen — und den nach Speise schreyenden Raben naͤhret, dessen Weisheit die Schicksale aller Natio- nen, und das Fallen des Sperlinges vom Dache geordnet, dessen allsehender Blick die großen Revolutionen aller Jahrhunderte, und das letzte silberweisse Haar am Schei- tel des Greises bemerket — Der Bibel- gott, der hoͤrt und sieht, hilft und segnet, troͤstet und warnet, lebt und belebt, ord- net und lenket, ist und herrscht, antwortet und giebt, der lebendige Allbeleber, Er ist zwar Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. zwar auch der Natur-Gott, der Vernunft- Gott — aber nicht der weltenbauenden, sondern in dieser Welt still beobachtenden, nicht der willkuͤhrlich witzelnden, sondern der redlich forschenden, nicht der durch Stolz und Vorurtheil getruͤbten, sondern der gesun- den, geraden, hellen Menschenvernunft. — Ja, Du Vernunft- und Bibel- gott! wie erhebt mich der Gedanke an dich uͤber alles, was vergaͤnglich ist, und reizt! Wie staͤrkt der Glaube an dich gegen alles, was vergaͤnglich ist, und druͤckt! Mit diesem kurzen Aufsatze, der dem Verfasser aus dem Herzen kam, wollte er nur dieß sagen: Die verfuͤhrendsten Schein- gruͤnde zum Selbstmorde liegen in der Trug- idee, daß Gott eine ruhige alte Monas, das Leitseil der allgemeinen Naturgesetze in der Hand — und das Gebet Alfanz und Aberglaube sey. Dank der Fuͤrsehung, daß das Reich dieser Trugidee, meines Wissens, noch sehr duͤrftig, und ihr Termin von kleinem Um- schnitte sey! 7. Das Zweyter Abschnitt. 7. „ D as Leben eines Menschen ist fuͤr das Universum nicht wichtiger als das Leben einer Auster: also kann der Selbstmord nicht viel be- deutender seyn, als es zu bedeuten hat, ob an der Tafel des Edel- manns um eine Auster mehr oder weniger aufgezehret werde.“ Ja, wahrlich, wenn wirklich alle Menschen ihre Vernunft, die sie uͤber Au- stern und Adler erhebt, dazu misbrauchten, um den Menschen, in Vergleich mit dem Universum, zur Auster herab zu wuͤrdigen: Dann waͤre freylich die elende Vergleichung nicht gar so ebenteurlich gerathen — und bis dahin wollen wir zu stolz seyn dem Ein- wurfe die Ehre einer Widerlegung zu er- weisen. — Nur ergreife ich die Gelegenheit, ei- nen Abweg, den die Philosophie (nicht die Tochter des Himmels, sondern die Nachaͤf- ferinn Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. ferinn derselben) zu gehen angefangen, bey seinem rechten Namen zu nennen. Wer Mensch ist, und die Wuͤrde fuͤhlt, Mensch zu seyn, dankt es der Stern- kunde, daß sie uns den kuͤhnen Gedanken verschaft: So viele Fixsterne, so viele Sonnen; so viele Sonnen, so viele Wel- ten Gottes. Allein, wenn dieser Gedan- ke den Menschen uͤber die kleine Erde erhebt, und ihm den Begriff von Gottes Allmacht erweitert: so druͤckt uns ein zweyter Gedan- ke, der von einigen Denkern, oder Nachbe- tern als gleich richtig angenommen, und mit Geraͤusch gepredigt wird, tief in den Erde- staub herunter. Der Gedanke heißt: Wie wenig, wie gering, wie nichts ist der Mensch gegen das Universum? Dieser Gedanke ist falsch, ist menschenwuͤrdeschaͤn- dend, ist Unphilosophie. Er ist falsch. Denn es mag die Schoͤpfung noch so viele, unzaͤhliche Wel- ten in sich begreifen: so bleibt es doch im- mer wahr, daß der Erdbewohner, der Mensch heißt, Bild Gottes ist — und also alle tausend- Zweyter Abschnitt. tausendmal tausend Sonnen, alle tausend- mal tausend Welten, das ganze Universum (in so ferne ich Geister und Menschen davon wegdenke, und nur Koͤrper, Massen, Ele- mente, Planetenbahnen, Zentralkraͤfte ꝛc. darunter verstehe) der Menschenwuͤrde den Kniefall machen, und ihn, den Menschen, als Gottes Bild respectiren muͤssen. Mensch wache auf, und fuͤhle, was du bist! Er ist menschenwuͤrdeschaͤndend. Denn man mag die Fixsterne noch so groß machen, und mit noch so viel tausend Ver- nunftgeschoͤpfen bevoͤlkern: so bleibt es doch ewig wahr, daß es Erdebewohner, Men- schen waren, die die Planeten und Fixster- ne geschieden, die Bahnen der erstern be- rechnet, und die Groͤße der letztern gedacht, den Lichtstral gespaltet, und dem Blitze neue Wege angewiesen — daß es Menschen sind, die den Durchgang eines Sterns durch die Sonne, und die Mondsfinsternisse ꝛc. auf Tag und Minute weissagen koͤnnen — daß es Menschen waren und sind, die Haͤuser auf dem Meere gebauet, und erst neulich ei- nen Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. nen Pfad durch die Luft gefunden haben — daß es Menschen sind, die sich in einem Au- genblicke von Welten zu Welten, von Ge- schoͤpfen zum Schoͤpfer empor schwingen, und Ewigkeiten denken koͤnnen. Er ist Unphilosophie. Denn was falsch ist, und die Menschenwuͤrde schaͤndet, kann so wenig Philosophie seyn, als wenig die dunkelste Mitternachtstunde, Mittags- helle ist. Auch ist’s ebenteuerlich: um den Men- schen klein zu machen, verlaͤßt der Mensch den geraden Anblick des Menschen, der ihm vor dem Auge steht, und steigt mit seinen Einbildungen in die unbekannten Welten hinauf, traͤumt da, was sich mit einem an- gebrannten Hirn traͤumen laͤßt, und traͤgt am Ende das Resultat seines Traumes, der Mensch sey nichts gegen das Universum, mit einem Hohngelache uͤber den Stolz der Menschheit, die sich so groß deuchte und so klein waͤre, zur Schau umher. Freund! ein großer Mann sagte einst: was den Begriff von Gottes Liebenswuͤr- H digkeit Zweyter Abschnitt. digkeit klein machet, das kann nicht Wahr- heit seyn; und ich moͤchte sagen: was die Wuͤrde des Menschen heruntersetzt, das kann nichts mehr als ein Phantom seyn. 8. „ D er Nervenbau ist besonders bey gefuͤhlvollen Menschen so schwach, die Fiber so reitzbar, die Empfindlichkeit der Organe so groß, der Uebergang vom Eindruck zum Gedanken, vom Gedanken zur Lust, von der Lust zur That so schnell, so unaufhaltsam, daß auch die Selbstentleibung in dieser Hinsicht immer nur Mitleid, und nie Tadel verdienen kann.“ Es war eine Zeit, wo alle Erschei- nungen in der Koͤrperwelt durch den Aether (die beruͤhmte materia omnipotens ) er- klaͤret wurden: und nun ist eine andere, wo die ersten Ausschweifungen in der Sittenwelt durch den Nervenbau entschuldigt und ge- rechtfertiget werden. Ganz gewiß muͤßte die Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. die Reitzbarkeit des Nervensystems und sein Einfluß auf das sittliche Betragen der Men- schen auch mit in Anschlag gebracht werden, wenn man die Sittlichkeit ihrer Handlun- gen, und die Grade derselben genau bestim- men wollte, oder koͤnnte. Allein man hat deshalb noch keinen Beruf, die Reitzbarkeit der Nerven zur Decke zu machen, unter der die Leidenschaften ihre fuͤrchterlichen Griffe gar bequem verbergen koͤnnen. Und da stoße ich weiter auf eine Lieblingsthorheit un- serer hochgeruͤhmten Zeitweisheit, naͤmlich: „Man schreibt auf einer Seite die ersten Ausschweifungen dem schwachen Fibern- bau auf die Rechnung, und thut auf der andern zu gleicher Zeit alles Aeus- serste, um die schwaͤchliche, leichtbe- wegliche, reitzbare Fiber nur noch schwaͤchlicher, leichtbeweglicher, im- mer reitzbarer zu machen.“ Man spricht vom schwachen Fibern- bau — und giebt dem schwachen Geschoͤpfe Romanen in die Hand, die die Empfin- dung auf’s hoͤchste spannen, und den Juͤng- H 2 ling Zweyter Abschnitt. ling entnerven, ehe er Mann wird. Man spricht vom schwachen Fibernbau — und nimmt das schwache Geschoͤpf mit in Schau- spiele, wo alle schlafenden Reitze der Sinn- lichkeit aufgewecket, und alle wachenden aufs hoͤchste gespannt werden. Man spricht vom schwachen Fibernbau — und fuͤhrt das Maͤd- chen in Gesellschaften, wo die wollusttrun- kenen Blicke des frechen Junkers, und alle die Aergerszenen des Gesetzlosen und geehrten Lasters die Phantasie mit unaustilgbaren Lust- bildern fuͤllen, und Herz und Hirn zugleich verderben. Man spricht vom schwachen Fi- bernbau — und giebt dem schwachgebauten Geschoͤpfe eine Erziehung, die weiter nichts ist als ein schreckliches Einerley von Beyspie- len und Regeln der Eitelkeit, Taͤndeley, Empfindeley, Liebeley u. s. w. Und wenn nun durch Erziehung, Lec- tuͤre, Umgang, Schauspiele, Verfuͤh- rung ꝛc. die Leidenschaft der Juͤnglinge, der Maͤdchen auf den Punct gespannt worden, daß sie sich, und ihre Familien mit Schand- thaten gebrandmarkt: dann heißt’s: „Der Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. „Der schwache Nervenbau war schuld daran“! Und wenn durch Erziehung, Lectuͤre, Umgang, Schauspiele ꝛc. die Leidenschaft des schwachen Geschoͤpfes so hoch gespannt worden, daß es sich selbst mordete: dann dreht sich der Philosoph auf seinem Absatz, und singt sein Liedchen: „’s war schwacher Nervenbau.“ Wie, wenn an einem heissen Som- mertage der Blitz die fuͤrstliche Burg in Flamme setzte, und die Buͤrger, statt daß sie wetteiferten das Feuer zu loͤschen, muͤssig am Marktplatze zusammenstuͤnden, einander ansaͤhen, und das Spruͤchlein wiederholten: „Heut war’s sehr schwuͤl“, und die Flamme wuͤten liessen, bis auch ihre Haͤuser davon ergriffen waͤren: gerade so handeln die Menschenfreunde, die bey dem Verfall der Sittlichkeit, der von Tag zu Tag heller in’s Auge leuchtet, nichts zu sagen haben, als vom schwachen Nerven- bau, und ihres Ortes selbst dazu beytra- H 3 gen, Zweyter Abschnitt. gen, wenigstens es nicht zu hindern trach- ten, daß die Empfindungen der vaterlaͤndi- schen Jugend immer weicher, und die Fi- bern immer schwaͤcher werden. — — 9. „ I ch bin so ein unnuͤtzes Hausge- raͤth in der Welt — hinaus mit mir aus dem Hause.“ So denken entweder aͤußerst Laster- hafte, weil sie keine Geisteskraft, keine Lust mehr, andern Gutes zu thun, in ih- rem Innersten fuͤhlen, oder aͤußerst Ver- ungluͤckte, weil sie keinen Wirkungskreis, keine Gelegenheit mehr, andern nuͤtzlich zu werden, wie sie es vordem waren, zu ha- ben glauben, oder aͤußerst Schwermuͤthi- ge, weil sie in den finstern Stunden ihres Daseyns weder die Geisteskraft, die in ihnen liegt, noch die Gelegenheit wohlzuthun, die um sie herum ist, gewahr werden. Wahrheit ist in dieser Vorstellung gewiß nicht: sie mag im Verstande des Boͤ- sewich- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. sewichtes, oder des Verungluͤckten, oder des Truͤbsinnigen gedacht werden. Denn wer nuͤtzlich werden will, kann es fast allemal, wenigstens durch das Beyspiel des aushar- renden Gehorsams gegen die Befehle der Fuͤrsehung: und wer nicht nuͤtzlich werden will, der beweiset weiter nichts, als daß er es nicht will — also nicht, daß der Selbst- mord erlaubt sey. Und wenn es im strengsten Sinne wahr waͤre, daß ich andern gar nichts, auch nicht durch das Beyspiel nuͤtzen koͤnnte: so giebt mir deshalb die Vernunft noch kein Recht zum Selbstmorde. Denn wenn auch mein Daseyn wirklich andern gar nichts mehr nuͤtzen koͤnnte: so kann es dennoch mir, dem lebendigen Ich allemal nuͤtzlich werden. Also wird der Mensch im Staate Gottes nie ein unnuͤtzes Hausgeraͤth. Der Staatsverbrecher, zur ewigen Gefangenschaft verdammt in einer unterirrdischen Gruft, koͤnnte vielleicht am ehesten von dem Gedan- ken, sieh deine Existenz — ein ganz unnuͤ- tzes Hausgeraͤth, zum Selbstmorde ver- H 4 sucht Zweyter Abschnitt. sucht werden. Denn er ist beydes zugleich, lasterhaft und ungluͤcklich, ungluͤcklich und ohne den Stral einer Hofnung, und er wird, wenn ihm nicht die Religion den Muth stuͤtzt, bald auch aͤußerst schwermuͤ- thig werden muͤssen. Also Schwermuth, Elend, boͤses Gewissen, Hofnungslosigkeit — alles menschliche Leiden vereinigt sich in dem Schicksale dieses Verbrechers. Und dennoch kann er dieß sein fuͤrchterliches Schicksal, die Abgeschiedenheit von den uͤbrigen Men- schen, das Bewußtseyn seiner Greuelthat, die Fessel am Beine, das ewige Mitter- nachtdunkel seiner Gruft, das Vergessen- oder Verfluchtseyn von seinen Freunden — alles Leiden kann er zur Quelle des Segens fuͤr sich machen, wenn er nur will; kann im Dunkeln des Kerkers durch ungestoͤrtes Nachdenken lernen, was er im Anblicke und Genusse der freyen, von Gottes Sonne be- leuchteten Welt nicht gelernet hatte; kann in dem Zustande der tiefesten Niedrigkeit, das Nichts aller irdischen Hoheit fuͤhlen, das er auf dem Gipfel der Ehre wohl nie ge- fuͤhlet hatte; kann an der sparsamen Misse- thaͤter- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. thaͤterkost die Guͤte des Menschenvaters ken- nen lernen, die er an den praͤchtigen Hofta- feln, und im Ueberflusse von allen Arten in- und auslaͤndischer Weine, nicht gefuͤhlet hatte; kann itzt die lange Reihe seiner Ju- gend- und Staats-Suͤnden, und jede in ihrer wahren Gestalt erblicken, die er im Ge- wirre der Cabalen auch bey hundert Wand- leuchtern, auch bey hellstem Mittagslichte nicht erblicket hatte; kann itzt die Erbarmun- gen Gottes, die durch den verschlossensten Kerker offne Wege finden, und kein tiefge- ruͤhrtes Herz voruͤber gehen, mit hochver- trauendem Herzen umfassen, fuͤr die er im Galakleide keinen Sinn gehabt hatte; kann die letzten Jahre seines Lebens mit unsterb- lichen Heldenthaten des Glaubens an die allordnende Liebe, mit großmuͤthiger Dul- dung der Folgen seiner Suͤnden, und mit vollkommenster Selbstunterwerfung gegen alle Wege der Fuͤrsehung adeln, da er ehe- dem Ordensband und Stern und Fuͤrsten- gunst und sich selbst durch das schwaͤrzeste Verbrechen entehret hatte; — kann den Ver- wahrungs- und Zuͤchtigungsplatz der Staats- H 5 ver- Zweyter Abschnitt. verbrecher in einen Stufengang zur Tugend, Weisheit und Seligkeit verwandeln, und in der Nacht des Kerkers zu den herrlichsten Lichtfreuden der Ewigkeit reif werden. Und wenn das elendeste, versunkenste Geschoͤpf, ein verjaͤhrter Staatsverbrecher mit Vorsatz und nach Entwuͤrfen — zur ewi- gen Gefangenschaft verdammt — in der großen Familie Gottes noch gluͤcklich, noch gut und weise werden kann: wo ist der Mensch, der sagen darf: hinaus mit mir aus der Welt: ich bin ein unnuͤtz Haus- geraͤth? 10. Es (u) Non modo quaerimus, vtrum sit fa- ctum, sed vtrum fuerit faciendum. Sana quippe ratio etiam exemplis anteponen- da est, cui quidem et exempla concor- dant: sed illa quae tanto digniora sunt imitatione, quanto excellentiora pietate. Non fecerunt Patriarchae, non Prophe- tae, non Apostoli: quia et ipse domi- nus Christus, quando eos, si persecu- tionem paterentur, fugere admonuit de ciuitate in ciuitatem, potuit admonere, vt sibi manus inferrent, ne in manus perse- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. 10. „ E s haben sich so viele beruͤhmte Maͤnner des Alterthums selbst gemordet: und Roͤmer und Grie- chen sehen diese Thaten als Helden- thaten an.“ — Darauf lasse ich zuerst, einen gar nicht neuen Schriftsteller, den scharfsinni- gen Augustin antworten, weil bis auf diese Stunde noch kein Schriftsteller treffender ge- antwortet hat. „Es fraget sich itzt nicht, ob sie es gethan haben, sondern, ob sie es haͤtten thun persequentium pervenirent. Porro si hoc ille non jussit, aut monuit, ut hoc mo- do sui ex hac vita migrarent, quibus migrantibus mansiones aeternas se prae- paraturum esse promisit, quaelibet exem- pla opponant gentes, quae ignorant Deum, manifestum est, hoc non licere colenti- bus vnum verum Deum. Sed tamen etiam praeter Lucretiam, de qua supra satis quod videbatur diximus, non facile reperiunt, de cuius auctoritate praescri- bant, nisi illum Catonem, qui se Vticae occi- Zweyter Abschnitt. thun sollen. Denn die gesunde Vernunft muß auch mehr als alle Beyspiele gelten. Doch haben wir auch Beyspiele, die mit der gesunden Vernunft uͤbereinstimmen, und die- se sind desto nachahmungswuͤrdiger, je aus- gezeichneter sie an Tugend (und Weisheit) sind. Die Patriarchen haben es nicht ge- than, die Propheten haben es nicht gethan, die Apostel haben es nicht gethan. Auch haͤtte ihnen der Herr Christus damals, als er occidit; non quia solus id fecit, sed quia vir doctus et probus habebatur, vt merito putetur recte etiam fieri potuis- se vel posse, quod fecit. De cujus fa- cto quid potissimum dicam, nisi quod amici ejus, etiam docti quidam viri, qui hoc fieri prudentius dissuadebant, imbecillioris, quam fortioris animi faci- nus esse censuerunt, quo demonstrare- tur non honestas turpia praecavens, sed infirmitas adversa non sustinens. Hoc et ipse Cato in suo charissimo filio indi- cauit. Nam si turpe erat sub victoria Caesaris vivere, cur auctor hujus turpi- tudinis pater silio fuit, quem de Caesa- ris benignitate omnia sperare praecepit? cur non et illum secum coegit ad mor- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. er sie von einer Stadt in die andere fliehen, und so der Verfolgung ausweichen hieß, gar wohl die Ermahnung geben koͤnnen, daß sie selbst an sich Hand anlegen sollten, um nicht den Verfolgern in die Haͤnde zu fal- len, aber Er gab ihnen diese Ermahnung nicht. Da nun Jener, welcher den Sei- nen versprechen konnte, daß Er ihnen nach diesem Leben ewige Wohnungen zubereiten wuͤrde, die Seinen nicht ermahnte, auf diese tem? Nam si eum filium, qui contra imperium in hostem pugnauerat, etiam victorem, laudabiliter Torquatus occi- dit, cur victus victo filio pepercit Cato, qui non pepercit sibi? An turpius erat contra imperium esse victorem, quam contra decus ferre victorem? Nullo mo- do igitur Cato turpe esse judicauit sub victore Caesare vivere, alioquin ab hac turpitudine paterno ferro filium libera- ret. Quid est ergo, nisi quod filium quantum amauit, cui parci à Caesare et sperauit, et voluit, tantum gloriae ipsius Caesaris, ne ab illo etiam sibi parcere- tur, vt ipse Caesar dixisse fertur, inui- dit: aut vt aliquid nos mitius dicamus, erubuit? De civitate Dei. Lib. I. C. XXIII. Zweyter Abschnitt. diese Weise aus dem Leben zu treten: so ist es offenbar, daß die Verehrer des Einen wahren Gottes, ungeachtet aller Beyspiele von Gottnichtkennenden Voͤlkern, dieses nicht thun duͤrfen. — — Besonders macht man viel Wesens aus Cato’s Selbstermor- dung, nicht weil er sich selbst gemordet, das wohl auch viele andere thaten, sondern weil er fuͤr einen gelehrten und rechtschaffenen Mann gehalten wird: woraus man denn auf die Rechtschaffenheit dieser seiner lezten That, und uͤberhaupt auf die Erlaubtheit des Selbstmordes schliesset. Man kann aber uͤber diese seine That nicht leicht ein treffen- deres Urtheil faͤllen, als wenn man das be- hauptet, was seine Freunde, auch gelehrte Maͤnner gesagt haben, da sie ihm den Selbst- mord misriethen: es zeuge die Selbster- mordung mehr von Geisteskleinheit als Geistesgroͤße; der Selbstmord sey ein Beweiß nicht von der Rechtschaffenheit, die sich vor allem huͤtet, was schaͤndlich ist, sondern von der Schwaͤche die das widrige Schicksal nicht ertragen kann. Diese Denkart aͤußerte Cato selbst in Anse- hung Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. hung seines liebsten Sohnes. Denn wenn es eine Schandthat waͤre, unter der Sie- gesfahne des Caͤsars zu leben, wie duͤrfte der Vater den Sohn zu dieser Schandthat reitzen, da er ihn alles Gute von Caͤsars Men- schenfreundlichkeit hoffen machte? Warum zwang er ihn nicht vielmehr, mit sich zu sterben? Wenn Torquatus ruͤhmlich gehan- delt, da er seinen eigenen Sohn, der ge- gen Staats- und Kriegsbefehle mit dem Feinde gestritten, und auch als Sieger zu- ruͤck kam, als einen Staatsverbrecher hin- richtete: warum schonte der uͤberwundene Cato seines uͤberwundenen Sohnes, da er seiner nicht schonte? — — Cato hatte es also im Herzen wohl selbst nicht geglaubt, daß es eine Schandthat waͤre, noch laͤnger unter Caͤsars Siegen zu athmen: sonst haͤtte er wohl seinen Sohn mit vaͤterlichem Schwer- te von dieser Schande gerettet. Man kann also nichts anders sagen, als: so sehr Cato als Vater seinen Sohn geliebet, und ihm Caͤsars Gnade gewuͤnscht, und gegoͤnnet hatte: so sehr misgoͤnnte Cato als Cato dem Caͤsar die Ehre, dem Cato eine Gnade er- wiesen Zweyter Abschnitt. wiesen zu haben, oder um den mildesten Ausdruck zu waͤhlen: so sehr schaͤmte sich Cato aus Caͤsars Gnade zu leben. Zweytens erinnere ich: eben dieses Factum, daß die Philosophie der Alten, die ohne den Leitstern der hoͤhern Offenba- rung im Finstern fortwandelte, den Selbst- mord fuͤr Heldenthat ruͤhmen konnte, zeigt dem unpartheyischen Forscher des menschli- chen Wissens, wie schwer es der isolirten Vernunft seyn muͤsse, sich zu uͤberzeugen- den Beweisen, und richtigen Denn das ist kein richtiger Begriff von der Unsterblichkeit, der mir Muth zum Selbst- morde giebt. Nicht der Gedanke, ich wer- de ewig seyn, sondern der ganze Gedanke: ich werde ewig seyn, und mein kuͤnf- Begrif- fen von der Unsterblichkeit der Seele durch- zuarbeiten, und wie leicht der Selbstmord auch den uͤbrigens scharfsinnigsten Koͤpfen im falschen Lichte erscheinen koͤnne, sobald sie ihn nicht aus dem Standpuncte der Men- schenwuͤrde, der Unsterblichkeit betrachten. Drittens bemerke ich, wie unphilo- sophisch eine gewisse Philosophie, die nicht mehr Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. mehr im Dunkeln schleicht, gegen ihre eig- nen Eingeweide kaͤmpft, indem sie lieber zu den Begriffen des Alterthums, die doch an der Sonne der hoͤhern Offenbarung nicht reif- fen konnten, lichtscheu zuruͤckkehret, als daß sie sich die Wohlthat der Zeit, und das Licht des Christenthums dankbar zu Nutzen mach- te. Denn das kann selbst der Nichtchrist, der je ein Blatt in der Weltgeschichte durch- geblaͤttert, nicht laͤugnen, daß durch das, was man Christenthum nennt, Licht in die Welt gekommen sey. 11. „ D er Selbstmoͤrder vertauscht sein elendes Daseyn nicht mit sei- ner Zernichtung; er streift nur die gegenwaͤrtige Huͤlle ab, laͤßt nur den verdruͤßlichen Balg hinter sich, um in einer neuen Verwandlung mit verklaͤr- tig Seyn nach dem Tode wird die Frucht meines itzigen seyn, dieß ist aͤchter Begriff von der Unsterblichkeit. Sieh die Aufloͤsung des folgenden Einwurfes. J Zweyter Abschnitt. verklaͤrter Schoͤnheit hervor zu bre- chen.“ So spricht bey Moses der menschlichere Vertheidiger des Selbstmordes. Also Freund, glaubst du an eine Un- sterblichkeit? Nun diese deine Ueberzeugung stuͤzt sich entweder auf den Glauben an eine hoͤhere Offenbarung: so sagt dir ja eben die- se, daß die Unsterblichkeit eine Folge der Sterblichkeit, diese die Aussaat, jene die Aernte sey; oder auf Gruͤnde der gesunden Vernunft Es gehoͤrt nicht hieher, zu entscheiden, was auf die Vernunftbeweise von der Un- : so sagt dir eben die naͤmli- che Vernunft, daß sie sich keinen Begriff von der hoͤchsten Weisheit machen kann, welche alle andere Veraͤnderungen in der Welt, als Ursachen und Wirkungen zusam- mengeknuͤpft, und gerade in dem allerwich- tigsten Geschaͤfte der Bildung des menschli- chen Geistes, Gegenwart und Zukunft, Zeit und Ewigkeit, Sterblichkeit und Unsterblich- keit, nicht als Folge und Ursache in Ver- bindung gebracht haͤtte — Und was noch mehr Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. mehr ist, Sie, die Vernunft kann keinen einzigen Vermuthungsgrund fuͤr die Unsterb- lichkeit ausfindig machen, wenn sie die Zu- kunft nicht als eine Aufloͤsung des in der Gegenwart verwickelten Knotens — und hie- mit die Unsterblichkeit als Folge der Sterb- lichkeit ansehen darf. Also keine Unsterblichkeit, oder eine solche, wie sie die Vernunft vermuthet, und die hoͤhere Offenbarung verheißt. — Um also in einer neuen Verwandlung mit ver- klaͤrter Schoͤnheit hervorzugehen, muͤssen wir uns in der sterblichen Huͤlle, dieser Ver- wandlung faͤhig machen. Um zu herrschen im Reiche der Unsterblichen muͤssen wir hier, im Lande der Sterblichen, dulden, und kaͤmpfen, bis der Koͤrper (welcher dem Christen, der an eine Auferstehung glaubt, und auch dem Kenner der Menschennatur etwas mehr ist als ein verdruͤßlicher Balg) bis der Koͤrper selbst zerfaͤllt. J 2 12. „Man sterblichkeit der Seele, fuͤr ein Gewicht zu legen sey. Zweyter Abschnitt. 12. „ M an wird mich als Philosophen ehren, wenn ich uͤber die Schrecken des Todes erhaben, dem gefangenen Geiste Luft machen kann.“ Als Philosophen? Hoͤrt der Leichnam wohl auch den Laut der Glocke, wenn man ihn zu Grabe traͤgt? Oder schwebt etwa der entflohene Geist noch uͤber dem Sarge, um ein Zeuge des Leichengepraͤnges zu seyn, und die Freunde zu zaͤhlen, die seine Leiche begleiten? Waͤre Philosophie in dem Unsinn, wenn einer den Tod gewaltsam herbeyrufte, um nur bald in der Leichenrede gelobt zu werden, und dieses Lob selbst mit anzuhoͤren? Ist denn Philosophie was anders als Lebensweisheit, und die Kunst dem Kno- chenmanne froh entgegen zu laͤcheln, wenn die Sense klirrt? Ist das Philosophie — dem Tode die Sense gewaltsam aus der Hand wenden, um (Worte, und Begriffe fliehen einander) sich selbst nieder zu maͤhen? Und wer sind am Ende die Leute, die den Selbst- moͤrder Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. moͤrder als Philosophen preisen? Ein Jour- nalist, von dem der Setzer noch etwas Ma- nuscript mit Ungestuͤm fodert, um das letzte Blatt fuͤllen zu koͤnnen… Ein ver- liebter Narr, dem seine Goͤttin mit ihrer entschlossenen Sproͤdigkeit die Welt zu enge gemacht… Ein Verleger, der vom eben veruͤbten Selbstmorde, wie der Raabe vom Aase seinen Profit sucht, und groͤßere Ver- schleiß hofft, wenn er von seinem Klienten, oder Goͤnner den Selbstmord Philosophie nennen laͤßt, als wenn man ihn nach altem Herkommen Unphilosophie hiesse… Ein witziger Gesellschafter, der die Unwichtigkeit seiner Person durch das Paradoxe seiner Saͤ- tze gerne verkleistern moͤchte… Hundert Nachbeter, die allemal mit der Parthey, davon sie Unterstuͤtzung hoffen, den Mund auf- und zuthun, und sich wie die Drat- puppen, nur nach dem Zuge ihres Princi- pals bewegen… Hundert Betrogene, die nicht wissen zwischen der Rechten und Linken zu unterscheiden… Ein Candidat, der eben seinen akademischen Cursus vollendet hat, und nun durch freye Mienen und kuͤh- J 3 ne Zweyter Abschnitt. ne Meynungen desto hitziger Brod sucht, je mehr ihn die ordentlichen Attestaten uͤber- all zuruͤck schlagen… Ein Skeptiker, der einen Theil seines Lebens der traurigen Be- muͤhung, das Klare zu verdunkeln, und das Gewisse ungewiß zu machen, aufgeopfert hat… Der Leser vollende dieses Register: ich setze nur hinzu: wehe der Philosophie, wenn Leute, aus derley Zuͤnften, das Ver- dienst des Philosophen zu bestimmen haben, und das Ordensband des Weisen umhaͤngen koͤnnen — wenn sie wollen! Der Edle schaͤmet sich aus ihrer Hand den Ritterschlag zu empfangen, und o daß es dieser Edlen immer mehrere gaͤbe! Dann braͤche das goͤldene Jahrhundert der Philosophie mit Macht heran! Ver- Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Vermischte Scheingruͤnde mit kuͤrzern Antworten. 1. „ G ott hat den Menschen nach sei- nem Bilde gemacht: also gab er ihm das Herrschaftsrecht uͤber sein Leben.“ Antwort. Also kann der Kuͤnstler sei- nem Kunstwerke die Eigenschaft geben, daß es sich selbst gemacht hat? Eben weil der Mensch nur Bild Got- tes, nur ein matter Stral der Geistersonne ist, so ist er nicht Urbild, nicht Herr des Lebens. 2. „Was kann der schwache Sterbliche dafuͤr, wenn ihn Schwermut, Ver- zweiflung, Leidenschaft uͤberrascht?“ Antwort. Der Weise richtet sein Herz so ein, daß es von der unnatuͤrlichsten Handlung nicht uͤberrascht werden kann. J 4 3. „Ich Zweyter Abschnitt. 3. „Ich darf mein Leben um der Reli- gion, des Vaterlandes, des Fuͤr- sten, der Rechtschaffenheit willen preis geben: also auch um meines eignen Besten willen.“ Antwort. Ja, wenn das Beste deiner ganzen Existenz, die Zeit und Ewig- keit umfaßt, und das Beste der Gesellschaft, des Koͤrpers, dessen Glied du bist, nicht gerade das Gegentheil foderte. 4. „Bey den Englaͤndern ist der Selbst- mord eine Art von Krankheit, die periodisch wiederkehrt; was koͤnnen die armen Deutschen dafuͤr, wenn sie diese Krankheit erben?“ Antwort. Auch bey den Englaͤndern ist der Selbstmord offenbar nicht bloß Wir- kung einer Krankheit, nicht bloß Sache des Klima, oder des Temperaments: Getraͤn- ke, Ausschweifungen, Lebensweise, Unglau- be, Irreligion ꝛc. tragen gewiß viel dazu bey. Ferners, Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. Ferner, halte ich wohl selbst das Selbstmorden fuͤr eine Seuche, aber fuͤr eine solche, die Niemanden verpesten kann, der nicht will, und fruͤhe genug vorar- beitet, daß er am Ende nicht wolle — verpestet werden. — Uebrigens halte ich den Deutschen sei- nes Namens unwerth, der die Nachahmung so weit treibt, daß er sich Sitten, Laster, und Seuchen aus der Fremde holet, da es uns ja an einheimischen noch nie gefehlet hat. 5. „Ich bin an der aͤussersten Graͤnze der Duͤrftigkeit, und in der Gefahr, Hungers zu sterben: warum soll ich denn meinen Abschied von der Welt nicht beschleunigen duͤrfen?“ Antwort. Der Mensch lebt nicht vom Brode allein, sondern von jedem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt. Harre auf Ihn: der Raben spei- set, kann deiner nicht vergessen: der dir das Leben gab, der hat auch Nahrung dafuͤr. Und dann waͤge noch einen Augenblick: auf J 5 einer Zweyter Abschnitt. einer Schale — die Furcht, Hungers zu sterben, eine Furcht, die bloß Furcht ist, die wahrscheinlich nie realisirt wird, die noch in Freude an Fuͤlle der Lebensmittel, ver- wandelt werden kann: auf der andern Scha- le — der Tod aus Selbstermordung; und wirklicher, gewisser Tod, gewaltsamer Tod… Am Ende: die Memme beschleunigt ihr Loos, der Mann erwartet es. 6. „Ich bin aus dem Mittelpuncte der Anbetung ausgeworfen worden: Schande deckt mich, ich sehe mich als das Ziel der allgemeinen Ver- achtung an — Und Schande, Ver- achtung ist nach meinem Gefuͤhle aͤrger als der Tod.“ Antwort. Aber doch nicht aͤrger als der Richterblick des Schoͤpfers? Was ist alles Urtheil der Welt gegen die Sentenz des Weltrichters? 7. „Ich kann die Angst des Gewissens nicht mehr ertragen: die Rache Got- tes Scheingruͤnde fuͤr den Selbstmord. tes verfolget mich: mein Vergehen ist groͤßer, als daß ich Vergebung hoffen koͤnnte.“ Antwort. Wer bist du, daß du den graͤnzenlosen Erbarmungen des Allbarmher- zigen eine Graͤnze setzen darfst, und sagen: bis hieher, und nicht weiter? „Mein Vergehen ist zu zu groß, als das es“ — von dir haͤtte sollen begangen werden, aber nicht so groß, daß es nicht sollte koͤnnen vergeben werden. Der dich schuf, ist groͤßer als du. „Die Rache Gottes verfolgt mich“ — Ra- che? Gottes? Verfolgen? Wie schauervoll auch das Gemaͤlde der Liebe ausfallen muß, wenn es die Hand der Verzweiflung ent- wirft! Gott die Liebe, verfolgen!!! Und wenn das Gemaͤlde Wahrheit waͤre, so waͤre es immer Thorheit, wie sich ein Welt- weiser ausdruͤckt, in den Fluß hinunter zu springen, um der Angst auf einer gefaͤhrli- chen Bruͤcke zu gehen, uͤberhoben zu wer- den. „Ich kann die Angst des Gewissens nicht mehr ertragen“ — Also weg mit der Angst. „Ich kann ihrer nicht los wer- den“ — Zweyter Abschnitt. den“ — weil du nur in dich nicht hinein- blickest. Aber erhebe dein Auge, und be- trachte den schoͤnen blauen Himmel, und denke dir den Vater, der seinem verlohrnen Sohne entgegen laͤuft, und unter den zaͤrt- lichen Umarmungen Freudenthraͤnen uͤber die Wangen des Wiedergefundenen weinet, und sich nicht satt weinen kann, und seines andern Sohnes daruͤber vergißt: und es wird dir leichter um’s Herz werden. Drit- Dritter Abschnitt . Von den Bewahrungsmitteln vor dem Selbstmorde, nebst andern Winken, Bitten, Warnungen, Gemaͤlden ꝛc. ꝛc. zur Ehre der Vernunft, und ihrer Schwester, der Offenbarung. Denn beyde sind Kinder Eines Gottes. Bewahrungsmittel vor dem Selbstmorde. 1. V erwirf, ohne Untersuchung, alles, was das Gefuͤhl von der Groͤsse dieser Greuelthat schwaͤcht. Denn es ist — nur Blendwerk. Glaub es mir, auf mein Wort: denn ich habe untersucht. Mancher kalte Philosoph spraͤche vielleicht: untersuche, und pruͤfe selbst . Auch ich re- de in tausend Faͤllen so. Aber gerade in diesem rede ich nicht so, und wiederhole: verwirf, ohne Untersuchung alles, was den natuͤrlichen Abscheu vor dem Selbstmorde mindert. Denn der Arzt sendet den Patien- ten nicht erst auf Universitaͤten, die Medizin zu studiren — sondern schreibt ihm Arz- neyen und Diaͤt vor. So Dritter Abschnitt. So sage ich dir nicht: loͤse die Schein- gruͤnde wider den Selbstmord auf, son- dern: glaube mir’s, daß alle Scheingruͤn- de der Muͤhe des Aufloͤsens (wenigstens fuͤr dich) unwerth sind. In diesem, und in jedem aͤhnlichen Falle ist das Unphiloso- phische, ipse dixit , erste Philosophie. Denn die einer Versuchung zum Selbstmorde faͤ- hig sind, koͤnnen nicht anders geleitet wer- den, als wie Kinder und Kranke — durch den Glauben an das Mutterwort, und an die Befehle des Arztes. Lies also keine Schrift, die dem Selbst- morde das Wort redet, denn sie ist, wenn sie die beste ist — eine schoͤne Schale, wor- inn uͤberzuckert Gift praͤsentirt wird. Lies nicht einmal die Biographien der Selbst- moͤrder, sie moͤgen so gut, oder so schlecht geschrieben seyn, als man will: Denn die- ses Lesen bringt uns den Gegenstand, der uns nie zu ferne bleiben kann, unvermerkt zu nahe. Annalen der Diebsleute wuͤrden unter Duͤrftigen manche Diebstaͤle veranlas- sen, Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. sen, und Biographien der Selbstmoͤrder unter aͤhnlich gestimmten, manchen Selbst- mord. Wenn diese Vorschrift zu strenge, zu pietistisch klingt, der lese die Geschichte des Selbstmordes L ‒ ‒ ‒ die in dem Magazin zur Erfahrungskunde (dritten Bandes zwey- tem Stuͤcke, Berlin bey Mylius 1785.) erzaͤhlet wird. Ich will davon nur die merkwuͤrdigern Umstaͤnde ausheben. „Des Morgens fruͤhe, da mein Be- dienter um sechs Uhr hinzukommt, und auch in die Stube, wo die Conducteurs arbeiten, herein will, um Nachtigallen zu fuͤttern, findet er solche zugeschlossen; er gehet nach der Stube, wo sie schlafen, und siehet, daß L....s Bette noch gemacht, woruͤber er, so wie die uͤbrigen beiden Conducteurs, die beym Anziehen begriffen, sich wundern, zusammen nach der Stube gehen, mit Ge- walt die Thuͤr eroͤfnen wollen, aber so we- nig damit als mit dem staͤrksten Laͤrm daran, das geringste ausrichten koͤnnen. K Sie Dritter Abschnitt. Sie gehen also in meine Stube, wo man auch durch eine Thuͤr hereinkommen kann, allein auch diese, welche ich bestaͤn- dig verschlossen gehalten, koͤnnen sie nicht oͤffnen. Von ohngefaͤhr siehet sich mein Be- dienter um, und wird ein Bund Schluͤssel gewahr, passet alle durch, und findet den dazugehoͤrigen. Er ruft die beyden Con- ducteurs und sagt: ich kann nun aufschlies- sen, allein aber gehe ich nicht hinein. Sie kommen also, um mit dabey zu seyn. Mein Bedienter schließet auf, und da er die Thuͤre, so nach inwendig aufge- het, kaum einen Fuß breit aufgemacht, so siehet er den L…. vollkommen angezogen, mit fliegendem Haar, ganz weiß als Kreide stehen, und saget schon die Worte: Herr L.... — um weiter zu sprechen: was feh- let Ihnen? aber ehe er letzteres sagen kann, hebt er schon die Pistole in die Hoͤhe, setzt solche ins rechte Auge, und Knall und Fall ist eins. Alles aufs aͤußerste erschrocken, laͤuft bestuͤrzt die Treppe herunter — nachdem sie sich Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. sich vom Schrecken erholet, gehen sie zusam- men wieder herauf und finden ihn todt, oh- ne ein Zeichen des Lebens zu geben, auf dem Gesichte zur Erde liegend, und im Blute schwimmend. Auf seinem Tische lieget der Werther aufgeschlagen, S. 218, wo es heißt: es ist zwoͤlf — sie sind gela- den, u. s. w. Sogar das Lesen solcher Schriften, die wider den Selbstmord geschrieben sind, kann einem Schwermuͤthigen, der mit Ge- danken vom Selbstmorde zu kaͤmpfen hat, zur Falle werden. Der philosophische Arzt erzaͤhlet (im zweyten Stuͤcke 2. Aufl. S. 208.) ein auf- fallendes Beyspiel: „Ein trockener Schrift- steller hatte ein weitlaͤufiges Werk vom Selbst- morde geschrieben. Er bewies sehr strenge, daß der Selbstmord gegen Gott, gegen die Religion, gegen den Staat, und gegen alle Vernunft waͤre. Ihm begegnete einstens ein anderer Englaͤnder in voͤlligem Tiefsinne. Man sah ihm seine schwermuͤthigen Ent- K 2 schluͤsse Dritter Abschnitt. schluͤsse an dem Gesichte an. Wo wollen sie hin, mein Freund, sagte der Schrift- steller? Ich gehe nach der Temse, mich zu ersaͤufen, sagte der finstere Englaͤnder. Ey, gehen Sie doch nur noch diesesmal nach Hause, sagte jener, und lesen sie doch mein so gruͤndliches und ausfuͤhrliches Buch vom Selbstmorde. Ja wohl, erwiederte der Englaͤnder, eben das oͤde Durchlesen ihres unschmackhaften Buches hat mir eine so ver- drießliche lange Weile verursacht, daß ich mich entschlossen habe, mir das Leben zu nehmen.“ Gewissen zum Truͤbsinn oder Schwaͤr- merey geneigten Seelen koͤnnen sogar Schrif- ten fuͤr die Unsterblichkeit gefaͤhrlich werden. So hat sich Cleombrotus, als er Plato’s Buch von der Unsterblichkeit gelesen, von einer Mauer ins Meer gestuͤrzt, um schnell aus diesem Leben zur Unsterblichkeit zu gelangen. — Sey nie Lobredner der Selbstmoͤr- der — auch nicht gegen deine Ueberzeugung, um Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. um zu witzeln; denn auch die laͤcherlichsten Einfaͤlle des Witzes wissen sich in der Stun- de der Versuchung die Miene der Wichtig- keit zu geben. Auch ist’s Weisheit des Juͤnglings bey dem menschenfeindlichen Lob- preisen des Unnatuͤrlichsten taub zu seyn; „Kuͤtte in den Ohren“ — ist auch da hoͤchste Weisheit, ist besser als alle War- nungen vor dem Sirenengesange. 2. Lerne Maͤßigung in allem, was Freu- de oder Kummer, Begierde oder Furcht heißt. Der Freund der Maͤßigung kann unmoͤglich Selbstmoͤrder werden. Denn die hoͤchste Zerruͤttung laͤßt sich nicht denken, wo die Empfindungen Ordnung und Maaß kennen. Ordnung und Maaß der Empfin- dungen — sieh da das große weite Feld der praktischen Vernunft. Das ist hoͤchste, praktische Vernunft, in der Ebbe und Flut des menschlichen Stre- bens das Scepter der Oberherrschaft nicht aus den Haͤnden lassen, und jeder Woge K 3 von Dritter Abschnitt. von Neigung mit der Fingerspitze gebieten koͤnnen: lege dich, und jedem Gemurmel der Eigenliebe: verstumme. Diese hoͤchste, praktische Vernunft heißt in der verachteten Sprache des Evangeliums: Selbstverlaͤug- nung, ein Begriff, der in den beliebte- sten, und zahlreichsten Schriftstellereyen des Jahrhunderts keinen Plaz mehr finden kann, so wenig die Sache selbst, die wirkliche Selbstverlaͤugnung, bisher bey den Meisten hat Eingang finden koͤnnen. Es ist trau- rig, daß die Fahrten der theoretischen Dieß sey mit aller Ehrfurcht gegen den Kopf des Menschen gesagt. Vernunft so viele Lobredner haben, unge- achtet der vielen Sandbaͤnke und Meerstru- del, die sie allemal gefaͤhrlich machen, im Gegentheile die Souveraͤnitaͤt der prakti- schen Vernunft uͤber das tausendwogige Men- schenherz, die allemal nur mit Freude und Heiterkeit lohnet, so wenig Freunde findet. Man hat dem Christenthum vorgewor- fen, daß es die Rechte der menschlichen Ver- nunft kraͤnket: und ich halte es fuͤr die erste Eigenschaft des Christenthums, daß es die Ver- Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Vernunft in ihre koͤnigliche Rechte wieder einsetzt, und den Thron ihrer Alleinherr- schaft gruͤndet, daß ihn das Universum nicht umstossen mag. Das koͤnigliche Recht der Vernunft ist herrschen — uͤber die rebelles ani- mi motus. Und dieses Koͤnigreich der Venunft ist auch nicht von dieser Welt, ist ohne Pracht und Praͤtension, gegruͤndet auf Wahr- heit und Kampf, unsichtbar und inner- lich, kommt ohne Geraͤusch und wirket mit Macht. Wohl dem, der dieß Koͤnigreich der Vernunft zu erweitern, und zu befestigen sucht, und ihr zuerst seine Sinnlichkeit, seine Launen, und alles Regen seines Her- zens unterwirft. Er ist Koͤnig durch sie, und kann denn auch seinen Bruͤdern, die das eiserne Joch der Sinnlichkeit mit schoͤnen Baͤndern umwunden, ohne zu seufzen — vielmehr jauchzend, und gluͤckselig in ih- rem Wahn forttragen, die Augen oͤffnen, daß sie erkennen ihren Sklavenstand, und Muth empfangen die Fessel zu brechen, und K 4 auf- Dritter Abschnitt. aufrufen: auch ich bin zum Koͤnige ge- bohren! Allein nichts ist verkannter, ungeschaͤtz- ter, als die Koͤnigswuͤrde der menschli- chen Vernunft, dieser schoͤne Zug in dem Ebenbilde Gottes — dem Menschen: oder, wenn dem metapherscheuen Geschmacke eini- ger meiner Leser diese Ausdruͤcke zu sinnlich sind: nichts ist verkannter, ungeschaͤtzter als die Grundbestimmung der Menschenver- nunft, den geheimsten, verschwiegensten Regungen des Herzens gegen die Stimme des Gewissens, mit Macht entgegen zu ar- beiten, bis volle Einstimmung aller Re- gungen des Herzens mit dem Gewissen, das ist, mit dem Befehle der Gottheit er- kaͤmpfet ist. Da hat nun das Christenthum ein dreyfaches Verdienst um diese Wuͤrde der Menschenvernunft, erstens, weil es uns darauf aufmerksam macht; zweytens, weil es uns die Behauptung dieser Wuͤrde zur stren- Daß Wollust im eigensten Sinne Selbst- moͤrderinn sey, beweiset unter andern auch der oben erwaͤhnte Selbstmord. Denn eben dieser Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. strengen Pflicht macht; drittens, weil es uns Kraft verheißt und giebt, die Herrschaft des Geistes uͤber die Empoͤrungen des Flei- sches fest zu gruͤnden. Also nicht nur die kalte Vorschrift, lerne Maͤßigung, muß man dem Juͤng- linge geben, eine Vorschrift, die alle Wei- sen aller Jahrhunderte wohl auch gegeben haben, sondern hinweisen muß man ihn zur Quelle, wo er nicht nur Unterricht, son- dern auch Kraft schoͤpfen kann, die empfoh- lene Maͤßigung zu erobern. Und dieß wollte ich. 3. Huͤte dich vorzuͤglich vor den Leiden- schaften, die ich eigentlich die selbstmoͤr- derischen nennen moͤchte, weil sie die mei- sten Selbstmorde erzeugen. Sie heissen: Geiz, Stolz, Schwelgerey, Wol- lust dieser L… war schon in seinem achtzehenten Lebensjahre durch allerley Ausschweifungen sehr beruͤchtigt. Da er seinen Aeltern die aͤngst- . Und weil es in der sittlichen Welt K 5 so Dritter Abschnitt. so wenig einen Sprung geben kann, als we- nig ihn die Naturforscher in der Koͤrperwelt gelten lassen, so bebe zuruͤck von den er- sten Lockungen dieser Moͤrderinnen. Der Schwelger, der sich gestern hingerichtet, dachte vor zwanzig Jahren wohl nicht an den Selbstmord, ob er gleich sein Vermoͤ- gen je laͤnger je mehr zusammenschmelzen sah — dachte nicht an den Selbstmord, als er die ersten tausend Thaler gegen fuͤnf Pro- zente aufnahm. Der bloße Gedanke an den Tod war ihm unertraͤglich: es konnte ihm also der Gedanke an Selbsttoͤdtung schon gar nicht zu Sinne kommen. Aber als nach mehreren Jahren Schulden auf Schulden gehaͤufet wurden; als Armuth und Schande und Fluch ihn mit vereinigter Macht aͤngstlichsten Sorgen verursacht hatte, wurde er nach Berlin geschickt. Hier betrug er sich eine Zeitlang gut, alsdann fieng er wieder an, auszuschweifen, schlich sich auch einmal zu Nachts aus dem Hause weg, worinn er in Pension war, und gieng in ein H… haus. Als er hier alles zugesetzt hatte, entlehnte er eine Pistole, kaufte Pulver und Schrott, und gieng in die Hasenheide, um sich zu erschies- sen. Er saß auf der Erde, hatte das Pul- Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Macht geisselten, als alle Aussichten Geld aufzutreiben, und seine Ehre zu retten schwanden — da trat die schwarze Verzweif- lung mit ihrem fuͤrchterlichen Plane zu ihm hin, und der Selbstmord ward ihm, als einziger Retter, willkommen. So behandeln auch die uͤbrigen drey Leidenschaften, Stolz, Geiz, Wollust ihre Sklaven. Sie sind die vollkommensten So- phistinnen, die sich denken lassen. Zuerst versprechen sie ihren Freunden nur Gluͤckse- ligkeit, zaubern ihnen nur Paradiese vor, fuͤhren sie am zweyfachen Gaͤngelbande des Genusses und der Erwartung von Abgrun- de zu Abgrunde, verheissen immer, was sie nicht geben koͤnnen, taͤuschen immer und saͤttigen nie — und reden dabey kein Sylb- chen ver vor sich liegen, und wollte die Pistole zu- bereiten, als ein Funke ins Pulver fiel, wel- ches aufflog, und ihn versengte. Ganz be- taͤubt von Schrecken fiel er um, sah aber ei- nen Mann, den er bat, nach seinem Hause zu gehen, und zu bitten, daß man ihn in ei- ner Kutsche abholen moͤchte, welches auch ge- schah. Ein halb Jahr nachher erschoß er sich wirklich. (Im Magazine zur Erfahrungssee- lenkunde. 3. B. 2. St. S. 115.) Dritter Abschnitt. chen vom Selbstmorde: auf einmal, da die Zeit den Trug der Verheissungen aufdecket, und der Elende sich in allen seinen Hoffnun- gen betrogen findet, da ruͤcken sie mit dem bis auf den Augenblick geheim gehaltenen Projecte heraus, und weisen mit ausgestreck- tem Zeigefinger auf Selbstentleibung, als den einzigen Ausweg. Der Ungluͤckliche folgt auch dem letzten Rath seiner angebeteten Freundinn, wie er den fruͤhern blind gefol- get war — und ist nicht mehr. Kurz: in den Praͤmissen paradirt nichts als Lust, Se- ligkeit, und in der Conclusion steckt der Selbstmord. Was ist Sophisterey des Herzens ge- gen den Verstand, wenn dieß keine ist? Und was ist Vernunftsache, wenn die Auf- deckung der Sophistereyen keine ist? — — Laßt uns also, Bruͤder, denen das Men- schenleben theuer ist, die uͤberschriene Ver- nunft in Schutz nehmen gegen die Sophiste- reyen des Herzens; laßt uns die Fehlschluͤs- se der Leidenschaft scharf pruͤfen, und die Irrgaͤnge des vom Herzen verfuͤhrten Ver- standes, mit der Fackel der gesunden Be- griffe Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. griffe beleuchten, damit er einmal anbreche, der Tag der Vernunft, und die Sophiste- reyen der Sinnlichkeit, wie die Schatten der Nacht von der kommenden Morgenroͤthe, verscheuchet werden. Sehet, Freunde, wie ich fuͤr das Reich der Vernunft eifere, aber fuͤr jenes, das so wenig mit Unglauben als mit Aberglauben zu thun hat, das weder der Hypothesenbauerey, noch der Zweyfeley in die Haͤnde arbeitet, das nur die Men- schenwuͤrde aus Licht stellt, und uͤbrigens in hoͤchster Harmonie mit dem Reiche der Of- fenbarung lebt, ihr Wege bahnt, und von ihr Licht und Kraft empfaͤngt. 4. Laß dich nie vom Gebethe, das heißt, vom Kindersinn gegen den Allvater der Menschheit, oder, was eines ist, vom Glauben an die Fuͤrsehung. Ich achte es der Muͤhe werth, zu be- weisen, daß dieses Bewahrungsmittel recht verstanden, und recht gebraucht, das ein- zige allgemeinhinlaͤngliche sey. Die Dritter Abschnitt. Die naͤchsten Ursachen des Selbstmor- des sind, wie es theils aus dem bisherge- sagten erhellet, theils bey flachem Nachden- ken einleuchten muß, 1. boͤses Gewissen, das sich selbst nim- mer ertragen kann, oder 2. Furcht der Schande, der Strafe, die man bey gewisser oder wahrschein- licher Entdeckung großer Verbrechen, oder wie immer ausstehen muͤßte, oder 3. unersaͤttlicher Stolz, der auf das em- pfindlichste gekraͤnkt worden, oder 4. Geldgier, als Quelle der Verwirrung, Verzweiflung, oder 5. Wollust, Verliebtheit, Verruͤckung aus Liebe, oder 6. Leichtsinn, Ueppigkeit, oder 7. Modesucht, einen großen Geist zu spielen, oder 8. Falscher Heroismus, der dem Fein- de das ganze Vergnuͤgen nicht goͤnnt, gesiegt zu haben, oder 9. Muͤde- Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. 9. Muͤde-, satt-seyn des gewoͤhnlichen Guten, oder 10. Truͤbsinn, Melancholie, Hypochon- drie, oder 11. Selbstbetrug, unerleuchtete Sehn- sucht nur recht bald zu Gott zu kom- men, ꝛc. ꝛc. ꝛc. Alle diese Ursachen lassen sich nun auf Eine zuruͤck fuͤhren, naͤmlich: auf Mangel am festen, erleuchteten, thaͤtigen Glauben an die Fuͤrsehung. Denn wuͤrde dieses feste, erleuchtete Vertrauen noch im Augen- blicke, der schon zum Selbstmorde bestimmt ist, lebendig, so wuͤrde im naͤmlichen Augen- blicke der Truͤbsinn von dem Allerfreuenden neue Lebensfreuden, und das zerruͤttete Gewissen von dem Allerbarmenden Verge- bung aller Fehltritte mit Zuversicht erwar- ten; so wuͤrde die Sehnsucht bald bey Gott zu seyn, dem Weisesten die Bestim- mung des letzten Augenblickes getrost uͤber- lassen; so wuͤrde sich die beginnende Ver- zweiflung des Stolzen, des Wolluͤstigen, des Geldgierigen ꝛc. und das Muͤdeseyn an gewoͤhn- Dritter Abschnitt. gewoͤhnlichen Vergnuͤgungen, und die elen- de Nachaͤffung des Heroismus in stilles Anschmiegen an die Huld des Allmaͤchtigen verwandeln — das heißt, es wuͤrde kein Selbstmord mehr seyn. Wenn nun alle Selbstmorde aus Man- gel am festen, erleuchteten Vertrauen auf die Fuͤrsehung entstehen, und wenn dieß feste, erleuchtete Vertrauen eigentlich Gebet ist: so soll man doch die Quelle des Selbst- mordens da aufsuchen, wo sie liegt, und die Quelle zu verstopfen trachten, die wirklich Quelle des Jammers ist, wenigstens vom Gebete nicht mehr im verachtenden Tone sprechen, und die Empfehlung desselben der Dummheit uͤberlassen. Bruͤder, wer sich des Gebetes schaͤmt, der gleicht dem Sohne, der sich seines Va- ters schaͤmet. Wer an Gott glaubt, glaubt an die Kraft des Gebetes, oder er weis nicht, was er glaubt. Drum feuriger Juͤngling, wenn dir das Menschenleben lieb ist, so laß dich nicht vom Gebete. 5. Suche Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. 5. Suche dir einen Herzens- und Ge- wissensfreund, der Wahrheit und Tugend uͤber alles schaͤtzt, und dem du dein Inner- stes aufzudecken Kraft und Lust fuͤhlest: und wenn du ihn gefunden hast, den Schatz oh- ne seines gleichen, so bewahre ihn wie dei- nen Augapfel, denn sein Freundeswort wird dich vor tausend Thorheiten, und vor der groͤsten, sich das Leben zu rauben, bewah- ren. Diesem deinem Freunde entdecke jede Versuchung zum Selbstmorde gleich im er- sten Angriffe: er wird dich das Unnatuͤrliche der Sache fuͤhlen, und noch zu rechter Zeit verabscheuen machen. Sein ernster Blick wird dich durch die gefaͤhrlichsten Auftritte deines Lebens begleiten: sein Beyspiel in den reizendsten Versuchungen dein Schutzen- gel seyn, und dir auf manchem gefaͤhrlichen Pfade, ehe du einen ungluͤcklichen Schritt thust, sanft ins Ohr flistern: Zuruͤck, da liegen Fußangeln — L 6. Dispu- Zweyter Abschnitt. 6. Disputire nie mit dir selbst uͤber den Selbstmord, suche keine Beweisgruͤnde fuͤr ihn auf, sondern kaͤmpfe gegen jede Luͤ- genidee, die den unermeßlichen Werth eines Gutes, das so leicht zerstoͤrbar, und durch- aus unersetzbar ist, verkleinert. Wer sich mit Feinden dieser Art in Dispute einlaͤßt, ist so viel als uͤberwunden: und wer uͤber Gebote vernuͤnftelt, steht am Rande der Uebertretung. Die Verfuͤhrungsgeschichte unsrer Stammmutter Heva, ihr Gespraͤch mit der Schlange uͤber das Warum des Verbotes, diese erste und ungluͤcklichste Di- sputation auf Gottes Erdboden, ist ein tref- fendes Sinnbild von den Verfuͤhrungsge- schichten ihrer Kinder. Beson- Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Besondere Bewahrungsmittel fuͤr Truͤbsinnige . 1. S ieh den Gedanken, es ist mir nimmer zu helfen, als den aͤrgsten Feind deines Lebens an. Laß also dein Herz nie vertraut mit ihm werden. Und damit es dich nicht hinterliste, und al’ incognito mit ihm Freundschaft mache, so arbeite mit Macht allen den feindseligen Vorstellungen entgegen, die immer nur die Finsterniß der Gegenwart, die Ungewißheit der Zukunft, und die Bereuungswuͤrdigkeit der Vergan- genheit vergroͤßern. — — Die abgenutz- testen Wahrheiten waͤren auch hier die brauch- baresten, z. B. so lange ein Gott im Himmel ist, so giebt es immer noch Ei- nen, der helfen kann: und so lange der Mensch auf diesen Einen sein Vertrauen setzet, kann ihm immer noch geholfen werden. L 2 2. Ler- Dritter Abschnitt. 2. Lerne warten, denn entweder aͤndert sich die Gestalt der Dinge — oder dein Herz. Lerne warten, denn zum Selbstmorde ist’s immer noch Zeit genug: und wenn du wirk- lich zu kraftloß wuͤrdest, diese Handlung zu vollfuͤhren, wohl dir alsdann, daß die Na- tur der Dinge den unnatuͤrlichsten Plan zer- nichtet: sie handelte weiser als du! Lerne warten, denn wenn du ihn einmal gethan hast, den schauervollen Schritt, magst du ihn ewig nicht wieder zuruͤck nehmen. Ler- ne warten, denn da kann nie periculum in mora werden. Lerne warten, denn wer warten kann, der will seines Lebens wie- der froh werden, und wer dieß will, der bedarf, fuͤr diesen Augenblick wenigstens, keiner Warnung vor dem Selbstmorde. 3. Bleib nie allein, wenn das duͤstere Stuͤndchen kommt. Die Einsamkeit hat die meisten Selbstmorde aus Truͤbsinn — zur Reife gebracht. Wie die Nacht die Mutter der Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. der Gespenster, und aller Kinderfurchten ist: so erregt oder naͤhrt wenigstens die Einsam- keit alle die finstern Entwuͤrfe des lebensat- ten Truͤbsinns. 4. Mache es dir zum unverbruͤchlichen Gesetze, im Sturme des Truͤbsinns nie einen Entschluß zu fassen, und laß es ei- nen Beweis deiner Gewissenhaftigkeit seyn, diesem Vorsatz auch in Kleinigkeiten getreu zu bleiben, und ihn recht oft zu erneuern. 5. Sieh es als einen Grundartikel der Natur- und Christus-Religion an, I. daß derjenige, der dich in so ein duͤste- res Gefaͤngniß (wie du deinen Koͤr- per nennest) eingeschlossen hat, es aus den liebevollesten, und weisesten Ab- sichten gethan habe. II. Daß derjenige, der dir die Fibern ge- flochten, und deinen Koͤrper gebauet, dir auch Kraft geben koͤnne, und wer- de, in diesem deinem Koͤrper zufrieden L 3 zu Dritter Abschnitt. zu seyn, und mit Zufriedenheit auszuharren. III. Daß derjenige, der dir diese finstere Wohnung angewiesen, dich zur rech- ten Zeit schon selbst heraus fuͤhren werde. Sieh da den Katechismus fuͤr Truͤb- sinnige! Wenn der Truͤbsinnige die Religion nicht von der Seite betrachtet, ihre Grund- lehren nicht fuͤr sein Herz individualisirt, so kann ihm die Religion selbst, diese Freun- dinn des Lebens und die Quelle der men- schenwuͤrdigsten Freuden, zur Folter und zum Grabe werden. Wenn dir also dein Leben theuer ist, Mann vom schwarzen Blute, und langsa- men Kreislaufe, so laß dir diese drey großen Wahrheiten, die sich in diese Eine aufloͤ- sen, daß Gott auch fuͤr dich Gott, die Liebe auch fuͤr dich Liebe ist, den Inhalt deiner taͤglichen Morgenbetrachtung seyn, und leichter wird dir’s werden um’s Herz, und Freude wird deinen Blick aufheitern, und Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc. und die Dinge werden sich ihm in einer wahren, Freude-athmenden Gestalt zei- gen. — 6. Befestige dich in dem Trostgedanken, den wir aus dem Fuͤllhorn der hoͤhern Of- fenbarung empfangen haben, und der fuͤr sich allein, wenn wir ihr sonst keine weitere Vortheile, keine andere Aufschluͤsse zu dan- ken haͤtten, die Verdienste derselben um die Ruhe und Gluͤckseligkeit des Menschenge- schlechtes schon ins Unendliche erhoͤhen muͤß- te — befestige dich in dem Trostgedanken, der allein im Stande ist, alle Wunden zu heilen, und alle Kummerthraͤnen zu trock- nen — befestige dich in dem Trostgedan- ken, daß dem Gottliebenden alle Dinge zum Besten dienen — also auch dem Truͤbsinni- gen sein Temperament, also auch dem Schwer- leidenden die Lasten der Leiden, die auf ihm liegen, wenn er nur vertrauensvoll auf- blickt zu dem, der auch den Truͤbsinnigen schuf zu seinem Bilde, und auch des Schwer- belasteten Vater ist. L 4 7. Suche Dritter Abschnitt. 7. Suche dein Temperament zu ver- bessern, das heißt, dem Hange zum Truͤb- sinn entgegen zu arbeiten; erstens: durch Umgang mit Freude-ver- breitenden Seelen; zweytens: durch Lectuͤre ermunternder Schriften; drittens: durch das Studium der Natur, die so geschaͤftig ist, fuͤr den Men- schen Segen und Lust zu gebaͤh- ren, die schon fuͤr ihn sorgt, und Anstalten zu seinen Vergnuͤgungen macht, ehe er aus Mutterleibe kommt. viertens: durch Betrachtung Gottes von der liebvollesten Seite, die fuͤr alle Menschen die wahrste, fuͤr den Truͤbsinnigen die einzige unschaͤd- liche ist; fuͤnftens: durch weise Beschaͤftigung, die zerstreuet, vor langer Weile be- wahret, Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc. wahret, und das fuͤr Melancholi- sche so gefaͤhrliche Mitsichselbst- wohnen unterbricht. sechstens: durch treue Befolgung dessen, was dir edle Freunde, und wei- se Aerzte rathen. Denn es giebt Faͤlle, wo der Moralist umsonst an Aufheiterung des Truͤbsinni- gen arbeitet, wenn ihm der Arzt nicht vorarbeitet, oder mitar- beitet. Seneka und das Christenthum — Zur Ehre der Wahrheit und des leztern. E s ist unwidersprechlich, daß Seneka den Selbstmord ex instituto gelehret habe: man darf seinen 58. und 70. Brief nicht studiren, nur lesen, um sich da- von zu uͤberzeugen. Und ich muß es gegen mein Jahrhundert bekennen, daß er ihn weit scharfsinniger und scheinbarer verthei- L 5 diget, Dritter Abschnitt. diget, als viele neuere, die arm an Se- neka’s Kraft waren, und doch durch Ver- theidigung des Unnatuͤrlichen glaͤnzen woll- ten. Es ist so meine Art, daß ich gern jedes Ding in seinem Werthe lasse, den Seneka in seinem, und das Christenthum in seinem. Und es mag Seneka, als Weltweiser, noch lange leuchten, wenn er gleich im Gegensatz mit der hoͤhern Of- fenbarung, in den Schatten tritt. Und ich fuͤhle immer eine Unbehaglichkeit, wenn ich von Vergleichungen zwischen unver- gleichbaren Dingen reden hoͤre. Allein, da wir in einer Zeit leben, wo man sich’s zum Geschaͤfte macht, das Christenthum in den Schatten, und die Weisheit des gelehrten Alterthums in’s Licht zu setzen, so kann ich nicht umhin, zwischen den Grundsaͤtzen des Christenthums, und jenen der Stoa, wenigstens wie sie durch den Mund des Seneka spricht, eine Parallel anzustellen. Stellen Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Stellen aus dem 58 Briefe, samt Anmerkungen. Seneka. Der christliche Weise. So wollen wir denn be- stimmen, ob man im grau- en Alter das Ende der Ta- ge nicht ab- warten, son- dern dem Le- ben selbst ein Ende machen muͤsse. So wollen wir denn die Jugend- und Mannsjahre so zubringen, daß das graue Alter noch eine Quelle der Freude fuͤr uns werden kann, und daß wir mit stets unbe- siegter Gegenwart des Geistes dem kommenden Tode entge- gen sehen, den verzoͤgernden getrost erwarten koͤnnen: weil es doch laͤngst ausgemacht ist, daß wir ihn so wenig beschleu- nigen duͤrfen, als wir Ursa- che haben, vor ihm zu zit- tern, wenn wir weise gele- bet haben. Immer Itaque de isto seremus sententiam, an opor- teat fastidire senectutis extrema, et finem non operiri sed manu facere. — Prope est à timen- te, qui fatum segnis exspectat: sicut ille ul- tra Dritter Abschnitt. Seneka. Der christliche Weise. Das schick- sal traͤge er- warten graͤnzt an Furchtsam- keit: so wie es ein Beweis der Weinliebe ist, wenn ei- ner die Flasche rein ausleeret, und auch die Hefe trinkt. Immer und ganz fuͤr sei- ne Pflicht, und gar nicht fuͤr sein Schicksal besorgt seyn — das graͤnzt nicht et- wa an Weisheit, sondern ist selbst hoͤchste Menschenweis- heit: so wie es ein Beweis der vollkommensten Tugend ist, wenn einer weder auf Laͤn- ge noch Kuͤrze des Lebens rech- net, sondern jeden Augenblick, der ihm wird, zum thaͤtigen Preise des Schoͤpfers, das heißt, zu eignem, und fremden Wohl nutzt, als waͤre er der einzige und letzte dieses Lebens. Wenn die Glieder des Koͤrpers zu ih- ren Amtsver- richtungen un- nuͤtz sind: wa- Wenn gleich die Werkzeu- ge des Koͤrpers zu allen ihren Verrichtungen untauglich wer- tra modum deditus vino est, qui amphoram exsiccat, et faecem quoque exsorbet. — Si inutile ministeriis est corpus, quidni oporteat educere animum laborantem? — Et Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka. Der christliche Weise. rum soll man dem schwerbe- lasteten, und nach Freyheit ringenden Gei- ste nicht her- aus helfen duͤrfen? werden: so bleiben sie deßun- geachtet immer Gottes Eigen- thum, wie der belebende Geist. Er also, der Vater der Gei- ster, der den Menschengeist in den Koͤrper eingeschlossen, wird dem naͤmlichen aus dem Koͤrper herauszuhelfen wissen, wann es seine Weisheit fuͤr gut findet. Eigenthumsrech- te, die die Menschen unter- einander haben, sind unantast- bar: soll es das Eigenthum Gottes — dem Menschen nicht auch seyn? Und ich glaube, daß man mit dem Selbstmorde Der Mann, der in freudi- ger Anerkennung der hoͤchsten Oberherrschaft Gottes er- graut, hat Heiterkeit des Gei- stes Et fortasse paulo ante, quam debet, fa- eiendum est, ne eum fieri debeat, facere non possis. — Non relinquam senectutem, si me totum mihi reservabit: totum autem ab illa parte Dritter Abschnitt. Seneka. Der christliche Weise. nicht zu lange zuwarten muͤs- se, sonst moͤch- te man im Zeitpuncte, wo man seiner aͤusserst be- duͤrfte, zur Selbstermor- dung zu schwach seyn. stes genug, jede Beschwerde des hohen Alters, auch wenn die Glieder des Leibes ihre Dienste allmaͤhlich ver- sagen, zu tragen: bedarf al- so des elendesten Mittels nicht, sich von dieser Beschwerde zu befreyen. Auch wenn die Hand erkaltet, das Auge bricht, die Lippe erstarrt, — blickt der Geist noch ruhig in die Zu- kunft, und harrt Gottgelassen dem Festtage der Aufloͤsung entgegen. Und wenn, was das aͤusserste ist, die anwach- senden Schmerzen dem gepruͤf- ten Dulder auch das Selbst- bewußtseyn raubten, was verloͤre er dadurch? Nichts. Das parte meliore. At si coeperit concutere men- tem, si partes eius convellere, si mihi non vi- tam reliquerit, sed animam: prosiliam ex aedi- ficio putrido ac ruenti. — Morbum Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka. Der christliche Weise. Das ist eben die Groͤße des Gottesverehrers, daß ihn selbst der Verlust des Bewußtseyns nicht ungluͤcklich machen kann. Gott kennet die Seinen, auch wenn sie sich nicht mehr ken- nen — ihrer nicht mehr be- wußt sind. Wenn ich im Alter noch ganz mein bin, wenn der bes- sere Theil, der Geist, noch un- gestoͤrt seine Arbeit thun kann: dann will ich ger- ne ausharren. Der Weise, den das Evan- gelium bildet, bliebe unerschuͤt- tert, wenn auch der Welten- bau uͤber seinem Haupte zu- sammenbraͤche: warum sollte er in dem morschen Gebaͤude seines Koͤrpers nicht aushar- ren, bis es vollens eingestuͤrzt und ihm freyen Austritt oͤf- net? Horaz ruͤhmt es wohl auch von seinem entschlossenen, recht- Morbum morte non fugiam, duntaxat sa- nabilem, nec animo officientem: non afferam mihi manus propter dolorem. Sic mori vinci est. Hunc tamen si sciero perpetuo mihi esse patien- Dritter Abschnitt. Seneka. Der christliche Weise. Aber wenn das hohe Alter den Geist zu quaͤlen an- faͤngt, wenn es mir kein Leben mehr, sondern nur die Seele uͤbrig laͤßt: so wer- de ich wohl selbst aus dem morschen und einstuͤrzenden Stockhause heraus sprin- gen duͤrfen. rechtschaffenen Manne, quod impavidum ferient ruinae. Aber wie wuͤrde er das Kra- chen des Welteinsturzes ertra- gen koͤnnen, wenn er das Zer- fallen seines Koͤrpers nicht aushalten kann? Vielleicht be- steht darinn der groͤßte Ruhm des Christenthums, daß es Kraft giebt, das zu leisten, wozu sich nichtchristliche Wei- se anheischig machen . Uebri- gens wird der menschliche Geist von dem einstuͤrzenden Koͤr- pergebaͤude nicht erschlagen: er hat also keine Ursache, sei- ne Abreise so sehr zu beschleu- nigen, um nur diesem Ein- sturze zuvor zu kommen. Wenn die Krankheit Auch die schmerzhafteste Krankheit kann mich (die er- sten patiendum, exibo non propter ipsum, sed quia impedimento mihi futurus ad omne, pro- pter quod vivitur. — Qui propter dolorem Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka. Der christliche Weise. heilbar, und dem Geiste unhinderlich ist, will ich ihr, durch Selbst- mordnung, kein Ende machen: wegen des Schmerzens werde ich nie Hand an mich legen, denn so sterben hiesse uͤberwunden werden. Wenn ich aber vor- hersehen kann, daß der Schmerz kein Ende haben werde, so wer- sten Anfaͤlle und den Fall des verlornen Bewußtseyns ab- gerechnet) nicht an allem hin- dern, wozu ich geschaffen bin: vielmehr giebt sie mir Gele- genheit, durch Erduldung des Schmerzens die Groͤße des Geistes zu beweisen, und ihn durch Uebung noch staͤrker zu machen. Am ruhigen Spe- kuliren kann die Krankheit den Menschengeist hindern, aber ja nicht am ruhigen Forttra- gen der aufgeladenen Buͤrde. Und dieß letztere ist eine edle- re Verrichtung des Geistes, als das erste. Freylich einen Brief an seinen Lucilius uͤber die Zuverlaͤßigkeit des Selbst- mordes zu schreiben, dazu koͤnnte allenfals der kranke Seneka moritur, imbecillis est et ignavus: stultus, qui doloris causa vivit. M Dritter Abschnitt. Seneka. Der christliche Weise. de ich aus der Huͤtte heraus gehen, nicht wegen des Schmerzens, sondern weil er mir hinder- lich seyn wuͤr- de, das zu ver- richten, weß- wegen ein Mensch lebet. Seneka zu wenig Kraft haben: daran koͤnnte ihn der Schmerz hindern. Aber die kranken, wie die gesunden Tage aus der Hand des Schoͤpfers dank- bar anzunehmen, und Ihn mit stiller Geduld fuͤr beyde preisen: dazu kann der kranke Christ nie zu wenig Kraft ha- ben: daran kann ihn kein Schmerz hindern, wenn er nur nicht selbst will. Schwach und feig ist der, welcher Schmerzens halber stirbt: aber der ist ein Thor, wel- cher Schmer- zens halber lebt. Ja, ein Thor ist der, welcher Schmerzens halber lebt: aber der ist ein weiser Mann, der in den aͤussersten Schmerzen ausdauert, nicht um laͤnger ge- foltert zu werden, sondern weil es der Wille seines Herrn ist, daß er durch Gedult weiser, staͤrker, edler, Gottaͤhnlicher werden soll. Sieh da, so scheiden sich Chri- stus und Seneka, das Evange- lium, und die Stoa! In Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. In diesem Briefe redet Seneka zum Theil noch maͤßiger als im 70. Er be- hauptet nicht, daß sich jeder selbstmorden duͤrfe: nur erlaubt ers dem Greisen , aus der baufaͤlligen Huͤtte heraus zu springen, noch ehe das Gekrach des Einsturzes an- faͤngt. Ich habe zu milde gesprochen, nicht nur erlaubt ers dem Greisen, er scheint es ihm auch zur Pflicht zu machen , weil es Thorheit waͤre, blos des Schmerzens hal- ber zu leben. Die Ursache, warum der Greis sich selbstmorden duͤrfe, ist sehr duͤrftig: Der Geist wird gehindert an seiner Arbeit: also darf ich demselben aus dem Ar- beitshause heraus helfen . Sieh, wie der Philosoph immer nur auf Eine Arbeit des Geistes sieht, auf das ruhige Denken, Forschen naͤmlich, und die zweyte, das Selbstbekaͤmpfen , das Tragen der Beschwerde, nicht einmal in Rechnung bringt! M 2 Sieh, Dritter Abschnitt. Sieh, wie der Philosoph sich selbst widerspricht, da er sonst so vieles Gerede aus der Tugend zu machen wußte, und seinen Tugendhaften uͤber Natur und Schick- sal erhaben darstellte, oder vielmehr gar von Gott und Schicksal unabhaͤngig mach- te: itzt aber diesen seinen erhabnen Weisen wieder so klein macht, daß er im Ertra- gen keines, im Lastwegwerfen alles Heil findet! „Der muß ein starker Weinsaͤu- fer seyn, der die Flasche bis auf die Hefe leeret.“ Sieh, wie der Weise phantasirt, da er zwischen dem Weinsaͤufer, der den letzten Tropfen vom Nagel schluͤrft, und dem Manne, der die Bitterkeiten des Lebens bis auf die Hefe des grauen Alters aus- trinket, eine Aehnlichkeit finden kann, die die- sen mit jenem in Eine Klasse setzte! — — Stellen Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Stellen aus Seneka’s 70 Briefe, mit Anmerkungen. Seneka . Der christliche Weise . Der Weise lebt, so lange er muß , nicht so lange er kann . Der Weise glaubt, er muͤsse so lange leben, als er kann : und er koͤnne so lan- ge leben, bis ihn der Wille des Schoͤpfers aus dem Le- ben rust. Er denkt immer darauf, wie er lebe, nicht ob er lange lebe. Er ist wohl auch uͤber- zeugt, daß es nicht auf ein langes, sondern auf ein gu- tes Leben ankomme. Aber er glaubt darneben auch, es sey Pflicht, so lange gut zu leben, als man lebt, und so lange zu leben, als man kann. Kommt vie- les Laͤstige und Kommen Lasten uͤber ihn: so sagt er zu sich: nun will M 3 ich Sapiens vivit, quantum debet, non quan- tum potest. — Cogitat semper, qualis Vita, non quanta. — Si multa occurrunt molesta, et Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . Ruhestoͤrende uͤber ihn, so wirft er sich aus dem Leben hinaus: und dieß thut er nicht nur im aͤussersten Nothfalle, son- dern, so bald ihm das Gluͤck verdaͤchtig zu werden begin- net, so sieht er mit schar- fem Blicke um- her, ob er wohl schon an die- sem Tage zu ich erst recht beweisen, was das Leben fuͤr einen Werth habe. Nun ists erst Tu- gend zu leben. — — Wer- den ihm seine Gluͤcksumstaͤn- de noch so verdaͤchtig: Got- tes Vaterliebe wird es ihm nie — und diese macht ihm auch die schwerste Last ertraͤg- lich. Er sieht sich nicht um den Tod um — sondern um Geduld, und diese findet er leichter, als der Selbstmoͤr- der den Tod. Wenn et tranquillitatem turbantia, emittit se; nec hoc tantum in necessitate ultima facit, sed cum primum illi coeperit suspecta esse fortuna, di- ligenter circumspicit, numquid illo die desi- nen Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . leben aufhoͤren solle. Er waͤhnt, es liege eben nichts daran, ob er selbst sei- nem Leben ein Ende mache, oder ob dem- selben ein En- de gemacht werde. Spaͤ- ter, oder fruͤ- her: er habe keinen grossen Verlust zu be- fuͤrchten. Wenn Krankheit, oder aͤussere Gewaltthaͤtigkeit sei- nem Leben ein Ende macht, so glaubt er, daß ihn der Vater der Menschen aus dem Leben ruft. Den Ein- fall aber, sein Selbstscharf- richter zu seyn, haͤlt er nicht fuͤr den Ruf des Vaters. Er stellt das fruͤhe oder spaͤte Sterben dem anheim, der Leben und Tod in seiner Hand hat, fuͤrchtet auch den fruͤhen Tod so wenig, als den spaͤ- ten: nur glaubt er, nichts beytragen zu duͤrfen, daß der- selbe fruͤher komme. M 4 Er nendum sit. — Nihil existimat referre, fa- ciat finem, an accipiat: tardius fiat, an ci- tius, non de magno detrimento timet — Ne- mo multum ex stillicidio potest perdere. — Citius Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . Unser Leben ist wie eine Dachtraufe: Tage, Stun- den troͤpfeln so dahin — bis es ausgetroͤp- felt hat. Was liegt daran, ob dieser oder der kommende Tropfen der letzte sey. Er haͤlt dieses Leben auch fuͤr eine Dachtraufe, glaubt aber zugleich, daß jeder Trop- fen den Werth eines wohl- thaͤtigen Stromes bekommen kann, wenn er ihn nur mit Weisheit und Liebe zum Be- sten seines Bruders benutzen will. Bey ihm hat die Stunde auch sechzig Minu- ten, aber jede Minute — den Werth der Ewigkeit. Fruͤher oder spaͤter sterben — das gehoͤrt nicht zur Sa- che: gut oder nicht gut ster- Fruͤher oder spaͤter sterben, gehoͤrt freylich nicht zur Sa- che: aber Ursache des fruͤhen Todes seyn — das gehoͤrt schon zur Sache. Gut Citius mori, vel tardius, ad rem non perti- net: bene mori, aut male, ad rem pertinet. — Bene autem mori, est effugere male vivendi periculo. — Si altera mors cum tormento, altera Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . ben, das ge- hoͤrt zur Sa- che. — Gut ster- ben heißt — der Gefahr boͤse zu leben, auf immer entrinnen. Gut sterben heißt, gut gelebt haben, heißt mit dem Bewußtseyn edler Thaten zur rechten Stunde aus dem Leben gehen — wann der Feldherr das Zeichen zum Ab- zug geben laͤßt… Daß mit dem Tode die Gefahr boͤse zu leben verschwindet, ist kein Beweis des guten Todes — sondern eine Folge des Todes uͤberhaupt… Wer soll nicht eine leichte, einfache To- desart einer Ich habe mir das Leben nicht gegeben: ich darf es mir also auch nicht nehmen. Ich darf das Lebensziel nicht ab- M 5 kuͤrzen, altera simplex, et facilis est, quidni huic sit iniicienda manus? quemadmodum navem eli- gam navigaturus, et domum habitaturus, ita mortem utique, qua sum exiturus e vita. — Quem- Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . grausamen vorziehen? Wenn ich zu Wasser reisen will, waͤhl’ ich mir das Schiff, das mir ge- faͤllt; wenn ich Herberge neh- men will, waͤhl’ ich mir das Haus, das mir gefaͤllt: soll ich nicht auch die To- desart waͤhlen duͤrfen, die mich aus dem Leben schafft? kuͤrzen, wenn es die allbe- stimmende Fuͤrsehung weiter hinaus geruͤckt hat. Die Art, in dieß Leben einzugehen hieng nicht von meiner Wahl ab: so kann auch die Art, aus dem- selben hinauszugehen, nicht von meiner Willkuͤhr abhan- gen. Denn der die Stunde des Todes bestimmt, bestimmt auch die Art des Todes , wie Er die Stunde der Geburt, und die Umstaͤnde derselben bestimmet hat. Anfang und Ende des Lebens stehen nicht unter meiner Gewalt: nur der Gebrauch desselben. Haus , und Schiff kann ich waͤhlen: aber die Art, und Weise in die Welt zu kommen, konnte ich nicht waͤhlen. Tugend und Weisheit kann, und darf ich auch Quemadmodum non utique melior est longior vita Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . auch waͤhlen, die mir den Aus- tritt aus der Welt suͤsse ma- chen — nur darf ich mich nicht selbst gewaltsam hinaus stossen, so wenig ich aus eig- nem Entschlusse hereingetre- ten bin. Gleichwie das laͤngere Leben darum nicht besser ist, weil es laͤnger ist: so ist doch gewiß der Tod desto schlim- mer, je laͤnger er waͤhret. Weder der Werth des Le- bens, noch der Werth des Todes haͤngt von der Kuͤrze oder Dauer ab. Wer im Le- ben, und im Sterben die edel- ste Thaͤtigkeit , und Leidsam- keit aͤussert, dessen Leben, und Sterben haben den groͤsten Werth. Ist die Todesart mit heftigern Schmerzen verbun- den: so ist der Muth, der die groͤssere Buͤrde tragen kann, offenbar groͤsser, als der sie wegwirft. — In vita, sic peior est utique mors longior. — In Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . In keinem Stuͤcke muͤs- sen wir unsern Geist mehr Herr seyn las- sen, als im To- de. Er gehe hinaus, wo und wie er durch- zubrechen an- gefangen : durch Huͤlfe des Schwer- tes, oder des Strickes, oder des Gifttran- kes — Nur wacker darauf- gearbeitet, bis In keinem Stuͤcke kann der Geist des Menschen seine Staͤrke herrlicher offenbaren, als in großmuͤthigem Kamp- fe gegen die Versuchung, die Last des Lebens wegzuwerfen. Wo feige Seelen keinen an- dern Retter kennen, als den Strick, oder den Gifttrank, oder die Pistole, da hebt der Großmuͤthige sein Haupt em- por, und ruft lauft aus sei- nem Herzen: ich kann le- ben , ich kann die Buͤrde tragen, ich kann im Leiden ausharren — ich kann die Stunde abwarten, bis der Bote des Herrn (der Tod) kommt, und die Fessel auf- schließt, In nulla re magis, quam in morte, morem animo gerere debemus. Exeat, qua impetum cepit: sive ferrum appetit, sive laqueum, sive aliquam potionem venas occupantem, pergat, et Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . die Fessel der Knechtschaft zerbrochen sind. schließt, die der Herr mir an- geschlagen hat — dann fleug’ ich frey — zum Herrn, und rufe: da bin ich .“ Das Leben magst du an- dern ruͤh- men — dir den Tod. Die Todesart, die dir gefaͤllt, ist die beste. — Was du dir goͤnnest, das goͤnne auch andern — Das Beste aber, was du dir und andern wuͤnschen kannst, ist dieses, daß der Wille der allordnenden Weisheit an dir und an andern gesche- he — im Leben und im To- de . Was die hoͤchste Weis- heit fuͤr gut gefunden, die hoͤchste Liebe verordnet — das ist das Beste. Was dem Weisesten gefaͤllt, soll auch dir gefallen. — Die et vincula Servitutis abrumpat. — Vitam et aliis approbare quisque debet, mortem sibi. Optima est, quae placet. — Invenies etiam professos sapientiam, qui vim afferendam vi- tae Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . Es giebt auch Weise, die wider den Selbstmord sprechen: es sey unrecht sein Selbstmoͤrder zu werden: man muͤsse auf den Punct zum Abzug warten, den die Natur fest- gestellet hat. Allein, was heißt dieß an- ders, als der Freyheit den Weg sperren? Die aͤchte Freyheit des Geistes bestehet nicht darinn, daß er das Gefaͤngniß durch- brechen kann, wann er will, sondern darinn, daß ihn kein Schmerz, kein Tyrann, keine Angst zwingen kann, es vor dem Augenblicke, den die hoͤchste Weisheit genannt hat, selbst zu thun. Der Tyrann kann das Gefaͤngniß durch- brechen — aber daß der Mensch es selbst thue, dazu kann er den freyen Men- schengeist nicht zwingen. Und dann der Leib ist nicht bloß Gefaͤngniß des Geistes, er ist Werkstaͤtte, Wohnstaͤtte des Unsterblichen, vom Schoͤpfer gebaut tae suae negent, et nefas judicent, ipsum in- teremtorem sui fieri. Expectandum esse exi- tum, quem natura decrevit. Hoc qui dicit, non videt, se viam libertati claudere. — Nil Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . gebaut zur Ausbildung des Ueberirrdischen in einem ir- dischen Gemaͤchte. Der Selbstmord zerbricht also nicht so fast das Gefaͤngniß eines Staatsgefangenen, als das Laboratorium des Un- sterblichen, der sich darinn auf Ewigkeiten verarbeitet. Das Beste, was das ewi- ge Gesetz ge- than, ist dieß, daß jedem Ein Eingang ins Leben bestim- met ist, und viele Ausgaͤn- ge offen gelas- sen sind. Das Beste, was wir von dem Schoͤpfer aller Dinge denken koͤnnen, ist dieß, daß er jedem Menschen den Zeit- punct seines Eintrittes in dieses Leben, die Bahn , die er durchzulaufen hat, die Marken seiner Wohnung, und den Zeitpunct , und die Art seines Austrittes aus die- sem Nil melius aeterna lex fecit, quam quod unum introitum nobis ad vitam dedit, exitus multos. — Hoc est unum, quod de vita non possumus queri; neminem tenet. Placet, vive. non Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . sem Leben nach den Maaßre- geln der weisesten Liebe be- stimmet hat. Das machts allein, daß man uͤber das Leben nicht klagen kann: es haͤlt nie- manden auf . Gefaͤllts dir zu leben, lebe. Gefaͤllts dir nicht, darfst nur hingehen, wo du herkom- men bist. Das macht uns das Leben zur Freude, und dem, der daran glaubt, alle Klage un- moͤglich, daß die ganze Bahn desselben, Anfang, Mittel, Ende, von dem Finger der ersten Weisheit gezeichnet , und alle Schritte darauf von der ersten Liebe geleitet , und auch sogar die Fehltritte von der ersten Macht in den Plan der hoͤchsten Menschen- beseligung eingeflochten sind. Wenn man einem Wie- genkind das Recht einraͤumen wollte, den Plan zu seiner Erziehung zu entwerfen, und die Skizzen seines ganzen kuͤnf- non placet? licet eo reverti, unde venisti. — Ut dolorem capitis levares, sanguinem sae- pe Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . kuͤnftigen Lebens zu zeichnen, welche Thorheit ? Aber diese Thorheit waͤre nicht groͤßer, als die, welche dem Men- schen das Recht einraͤumt, nach Belieben aus dem Le- ben zu treten. Denn so wenig ein Wiegenkind auch nur den Begriff von Erziehung denken kann: so wenig kann der Mensch das Gute in An- schlag bringen, das er sich durch den Selbstmord ent- zieht, und das Uebel , das er sich dadurch zuzieht. So wenig die Erziehung des Kin- des vom Kinde, so wenig kann die weitere Erziehung des Erwachsenen zur hoͤhern Vollkommenheit, die Ver- laͤugnung oder Abkuͤrzung seiner pe emisisti: ad extenuandum corpus vena mit- titur: non opus est vasto vulnere dividere N prae- Dritter Abschnitt. Seneka . Der christliche Weise . seiner Existenz von seiner Willkuͤhr, abhangen. Nur der, der alle Folgen, und Ur- sachen einer That, Zukunft wie Vergangenheit, Vergan- genheit wie Gegenwart, Sterblichkeit und Unsterblich- keit, Zeit und Ewigkeit uͤber- sieht, nur der große Schau- spieler, der selbst alle Kno- ten verflochten, und alle in der letzten Scene aufloͤsen wird, der alle Rollen aus- theilt, und das ganze Schau- spiel dirigirt, nur der kann sagen: itzt trete dieser da auf die Buͤhne, itzt trete jener dort von der Buͤh- ne ab . Um den Kopfschmer- Einen Stich kostet die Freyheit — von den gegen- waͤrti- praecordia. Scalpello aperitur ad illam ma- gnam libertatem via et puncto securitas constat. Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Seneka . Der christliche Weise . zen zu min- dern — — — laͤssest du dir eine Ader schlagen. Es gehoͤrt keine große Wunde dazu, dem Le- ben ein Ende zu machen . Ein Federmes- ser oͤffnet die Thuͤr zur gros- sen Freyheit: Einen Stich — nicht mehr kostet die Si- cherheit. waͤrtigen Leiden: aber die Freyheit von den martern- den Vorwuͤrfen des Gewis- sens, das der Selbstmoͤrder nicht morden kann, das ihn mit in die Ewigkeit beglei- tet — die Sicherheit vor dem Richterblicke des Lebens- Herrn, dem sich der Selbst- moͤrder nicht entziehen kann — — diese verschaft uns der Stich nicht. Und was nuͤtzt jene Freyheit, jene Sicher- heit ohne diese? Nochmal: so sprechen Christus und Se- neka, das Evangelium und die Stoa! N 2 Cice- Dritter Abschnitt. Cicero, ein Mittelstuͤck zwischen Christenthum und Seneka. (Im Scipio’s Traume) C. III. „ W enn dich nicht jener Gott, dessen Tem- pel dieß All ist, von dem Gefaͤng- nisse des Leibes frey macht: so kannst du nicht hieher (zu den seligen Wohnungen der abgeschiedenen Geister) kommen. … So ist es denn Pflicht fuͤr dich, lieber Publius, und fuͤr alle Rechtschaffene , ja nicht selbst den Menschengeist aus dem Ge- faͤngnisse des Leibes loszulassen. Ohne Be- fehl dessen, der euch ihn, diesen Geist, ge- schenkt hat, duͤrfet ihr das Menschenleben nicht verlassen: damit es nicht das Ansehen gewinne, als haͤttet ihr dem Berufe eines Menschen, den euch Gott angewiesen, aus dem Wege laufen wollen.“ So Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. So laͤßt Cicero seinen unsterblichen Helden reden. Welche Stralen von Wahrheit leuch- ten aus diesen Worten heraus? Wie ehr- wuͤrdig ist mir Cicero’s Geist, durch den die Menschenvernunft dießmal so rein, so un- gebrochen geredet? Wie viel liegt in den Worten: retinendus est animus in custo- dia corporis, ne munus huma- num, assignatum à Deo, defu- gisse videamini? Also giebt es einen Menschenberuf , und diesen hat uns Gott angewiesen , und die- sem angewiesenen Berufe sollen wir treu bleiben . Nec injussu ejus, a quo ille (spi- ritus) vobis datus, ex homi- num vita migrandum. Also ist der menschliche Geist eine Gabe Gottes : und ohne Befehl dieses Gottes soll man das Menschenleben nicht verlassen. N 3 In- Dritter Abschnitt. Indeß laͤßt es sich nicht laͤugnen I. Tusc. XXX. vetat enim dominans ille in nobis Deus, injussu hinc nos suo demigrare. Cum vero caussam justam Deus ipse dederit, ut nunc Socrati, nunc Catoni, saepe multis: ne ille, medius fidius, , daß Cicero deßungeachtet in dieser wichtigen Lehre nicht ganz fest gewesen, und unter dem Ausdruck, injussu Dei non e vita mi- grandum, eine Zweydeutigkeit verborgen liege, wie er denn auch von Cato glaubte, daß dieser auf den Ruf der Gottheit dieß Le- ben verlassen, und ihn mit Sokrates in Eine Reihe stellte. Hier also ein Beyspiel von dem Schick- sale der menschlichen Vernunft . Auf ei- ner Seite sieht sie sehr richtig , daß man gegen den Befehl der Gottheit den Geist nicht aus dem Bewahrungshause loslassen duͤrfe: auf der andern laͤßt sie sich von der uͤbertriebenen Achtung gegen Cato, also von einem Vorurtheile , ein gefaͤrbt Glas vor das Auge halten, und nun sieht sie an dem Selbstmorde ein Werk des Gehorsams ge- gen Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. gen den Ruf der Gottheit, weil sie eines se- hen will — — sieht die Wahrheit nimmer, weil sie den Schatten des großen Mannes lieber hat als die Wahrheit. Dieser Cicero nun, der die Wahrheit von Unerlaubtheit des Selbstmordes, im All- gemeinen so treu erfaßt , und im Einzeln so menschlich verfehlet — wie groß ist er an der Seite des Seneka , der in keine Versuchung kommt von Gottes Willen zu sprechen, wenn er vom Selbstmorde spricht, der in der wichtigsten Angelegenheit noch mit seinem Witze spielen kann? Und dieser Cicero, der so groß er- scheint an der Seite des Seneka, dieser Ci- cero, an dem die Vernunft versucht zu ha- ben scheint, was sie vermag — wie schwan- kend spricht er nicht gegen den sichern, fe- N 4 sten fidius, vir sapiens, laetus ex his tene- bris in lucem illam excesserit: nec ta- men illa vincla carceris ruperit: leges enim vetant: sed tanquam à magistratu aut ab aliqua potestate legitima, sic à Deo vocatus atque emissus, exierit. Dritter Abschnitt. sten Ton des Evangeliums, dessen Buch- stabe und Geist das geradeste Gegentheil vom Selbstmorde ist? (Seite 49.) Dieß sage ich nicht, um Cicero her- unter, oder um das Evangelium hinaufzu- setzen: denn jedes Ding ist, was es ist, und bedarf unsers Herunter- und Hinaufsetzens nicht. — Nur um einige Urtheile unserer Zeit zu berichtigen, sagte ich’s. Cato und die Christen, noch eine Parallel. Diese Idee hat der wuͤrdige Fortsetzer der Mosh. Moral, und vor ihm Augustin be- ruͤhret. H ier staunet das philosophische Rom den großen Cato als Selbstmoͤrder an, und da bewundert das heidnische Rom den hohen Sinn der Christen, die als großmuͤ- thige Zeugen fuͤr die Wahrheit des Christen- thums, auf Blutgeruͤsten, unter der Hand des Henkers sterben. Welcher Contrast? Aendern Von den Bewahrungsmitteln. ꝛc. Aendern wir den Fall: denken wir, Cato haͤtte große Begriffe vom Daseyn des Einen Gottes, und der Unsterblichkeit der Seele gehabt, und sie unter der edlen Roͤ- merjugend mit Wort und That ausgebrei- tet; nun waͤre er denn von irgend einem Tyrannen unter Androhung der schimpflich- sten Hinrichtung angehalten worden, oͤffent- lich gegen seine Ueberzeugung zu erklaͤren, daß der Glaube an Einen Gott, und die Unsterblichkeit der Seele Thorheit sey: der Mann Cato aber haͤtte mit unentwegtem Sinne seinen Hals dem Beil des Henkers dargestreckt, um nur nicht gegen Wahrheit, und Gewissen zu handeln, und um die ed- len Roͤmer durch die Machtstimme seines Blutes in der Ueberzeugung von den wichtig- sten Wahrheiten recht tief zu gruͤnden — die Christen hingegen haͤtten sich selbst ge- mordet, um der oͤffentlichen Hinrichtung zu- vorzukommen. Wenn der Fall dieser waͤre, mit wel- chem Recht wuͤrden alle die großen, und kleinen Philosophen des Cato Heldenthat ge- priesen, und die todesscheue Feigheit der N 5 Christen Dritter Abschnitt. Christen gebrandmarket haben? Da nun aber der Fall gerade umgekehrt ist, da Cato sich selbst gemordet , weil er das Sie- gerantlitz des Caͤsars nicht ertragen konnte, und die Christen sich morden liessen , um nur an der gewiß erkannten Wahrheit nicht meyneidig zu werden: wie kommt es, daß Maͤnner, die nach der Vernunft, nicht nach den Leidenschaften richten sollten, so enthu- siastisch gegen die Zeugen der Wahrheit, und so enthusiastisch fuͤr den Selbstmoͤr- der eingenommen seyn koͤnnen? Wie kommt es, daß sie die Starkmut jener als Fa- natismus bemitleiden, und die Grausamkeit dieses gegen seine eigne Existenz, als He- roismus anbeten? Pfuy der elenden Idololatrie in den Tagen, wo von Mannbarkeit und Freylas- sung der Vernunft (manumissis ingeniis) so vieles geposaunet wird! Das ist der Adel des Freygebohrnen Mannes , daß er die Dinge sieht, wie sie sind, und schildert, wie er sie sieht? Drey Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Drey Beyspiele wider den Selbstmord (statt aller.) Eines aus dem Heidenthum. R egulus gieng nach Carthago, ob er gleich vorhersah, daß er auf die grau- samste Art wuͤrde hingerichtet werden, um die Ehre des Eides, und der oͤffentlichen Treue zu retten. Wie erhaben ist diese Selbsterhaltung des Regulus uͤber jenen Selbstmord des Cato? Gerade so viel er- habner Regulus als Cato war Die Anmerkung Augustins uͤber den Cha- rakter und die Heldenthaten des Regulus kann ich nicht weglassen: Nolunt autem isti, contra quos agimus, ut sanctum vi- rum Job, qui tam horrenda mala in sua carne perpeti maluit, quam illata sibi morte omnibus carere cruciatibus: vel alios sanctos ex nostris litteris summa au- ctoritate celsissimis fideque dignissimis, qui captivitatem, dominationemque hosti- um ! Eines Dritter Abschnitt. Eines aus dem Judenthum. Josephus der Geschichtschreiber, als er von vier Maͤnnern, die mit ihm in eine Hoͤhle geflohen waren, ermuntert ward, sich lieber das Leben zu nehmen, als dem Vespasian als Sklaven zu ergeben, ant- wor- um ferre quam sibi necem inferre ma- luerunt, Catoni praeferamus: sed ex li- teris eorum, eidem illi Marco Catoni Marcum Regulum praeferamus. Cato enim nunquam Caesarem vicerat, cui victus dedignatus est subjici, et ne sub- jiceretur, a se ipso elegit occidi: Re- gulus autem Paenos jam vicerat, impe- rioque Romano Romanus imperator non ex civibus dolendam sed ex hostibus laudandam victoriam reportaverat: ab eis tamen postea victus, maluit eos fer- re serviendo, quam eis se auferre mo- riendo. Proinde servavit et sub Car- thaginensium dominatione patientiam, et in Romanorum dilectione constantiam, nec victum auferens corpus ab hostibus, nec invictum animum a civibus. Nec quod Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. wortete: Haltet ihr das fuͤr Heldenmuth, sich selbst zu toͤdten? Ist denn wohl der Steuermann beherzt, welcher aus Furcht eines heftigen Sturms, sein Schiff selbst versenket? Eines quod se occidere noluit, vitae hujus amore fecit. Hoc probavit, cum caussa promissi jurisque jurandi ad eosdem ho- stes, quos gravius in senatu verbis, quam in bello armis offenderat, sine ulla dubitatione remeavit. Tantus ita- que vitae hujus contemptor, cum sae- vientibus hostibus, per quaslibet poe nas eam finire, quam se ipse perimere maluit, magnum scelus esse si fe homo interimat, procul dubio judicavit. In- ter omnes suos laudabiles et virtutum insignibus illustres viros non proferunt Romani meliorem, quem neque felicitas corruperit; nam in tanta victoria pau- perrimus permansit; nec infelicitas fre- gerit: nam ad tanta exitia revertit in- trepidus. De Civit. DEI. L.I. C. XXIV. (d) Nach- Dritter Abschnitt. Eines aus dem Christenthum. Paulus Nachdem ich das Beyspiel des Herrn schon oben im ersten Abschnitte beruͤhret habe, so steht hier das Beyspiel von einem seiner Juͤnger am rechten Orte. , der sich auf einer Seite so bruͤnstig sehnte aufgeloͤset, und bey sei- nem Herrn zu seyn, und auf der andern, um der Wahrheit willen die schweresten Lei- den dulden mußte, harrete im heissesten Lei- dengedraͤnge von innen, und von aussen großmuͤthig aus, und bewies am Ende als Blutzeuge , daß es gerade so herrlich sey — sich um der Wahrheit willen von andern toͤdten lassen, und die fremde Gewaltthaͤ- tigkeit maͤnnlich ertragen — als es schaͤndlich waͤre, sich selbst aus Mangel an Stark- muth hinrichten. Was Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Was denkt, und fuͤhlt, und sagt der Weise dazu, wenn er von einem Selbstmorde hoͤret? 1. R ichte nicht, verdamme nicht . Denn das menschliche Herz hat Tiefen , die man durch kein Senkbley auch der ge- nauesten Beobachtung ergruͤnden kann; Irr- gaͤnge , deren Geschichte der geuͤbteste Ge- schichtforscher nicht geben kann; Verschrau- bungen , deren Entstehen kein Schrauben- gang irgend einer alten, oder neuen Seelen- kunde erklaͤren kann. Verdamme nicht . Denn deine Hand hat nicht die Wage des Richters, und dein Auge waͤre nicht scharf genug, um das Neigen des Zuͤngleins, das das Ueberge- wicht der Gruͤnde fuͤr oder wider eine in- dividuelle That entscheidet, zu bemerken. Verdamme nicht . Denn du bist ein Mitknecht des Selbstmoͤrders, und Mitknechte haben keinen Beruf zum Rich- teramte. Ver- Dritter Abschnitt. Verdamme nicht . Denn es ist Ein Tag festgesetzt, der alles Geheime ans Ta- geslicht hervorbringen wird; Ein Mann bestimmt , der den ganzen Erdboden richten wird. Greif jenem Tage nicht vor , und diesem Manne nicht ein . Aber „Wenn so viele Gruͤnde wider den Selbstmord streiten, wie der erste Abschnitt glauben machte, so habe ich ja gerade so viele Gruͤnde den Selbstmoͤrder zu verdam- men , als viele wider den Selbstmord an- gefuͤhrt worden. Nein, Leser, die Folge ist unrichtig. Die Gruͤnde wider den Selbstmord sind aus der Natur des Selbstmordes uͤberhaupt her- geholet, nicht aus einem Individuum des Selbstmordes; sie sind in ihrem wahren Lichte gezeiget, um den Juͤngling zu war- nen , daß er sich nicht der Flamme naͤhere: aber ich kann nicht geradezu behaupten, daß der Selbstmoͤrder, der wirklich von der Flamme verzehret worden, eben diese Gruͤnde in eben diesem Lichte erblicket habe. Ich Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Ich weis nicht, in wie ferne er aus uͤber- legtem Entschlusse und mit Bewußtseyn des Erfolges, der Flamme entgegen gegangen sey, oder ob ihn nicht etwa eine unsicht- bare Gewalt in den Rachen der Flamme hineingeworfen habe. Ferners Wenn der Weise sagt: verdamme den Selbstmoͤrder nicht , so folget dar- aus nicht, daß an der individuelen Hand- lung dieses Selbstmordes nichts verdam- menswuͤrdiges sey: so wenig daraus folgt, daß sie den hoͤchsten Grad der Verdammens- wuͤrdigkeit erreicht habe. Das Wort, ver- damme nicht , ist nur so viel sagend: „falle dem Richter nicht in die Wage: du kannst weder die tausendmal tausend Einfluͤsse des Temperaments, der Erzie- hung, der Vorurtheile, der Unerkenntniß, der Ueberredung, der Beyspiele, der Ver- fuͤhrung, der Irrungen, der Schwermuth, der Leidenschaft ꝛc. auf die selbstmordende Handlung, noch das Aufbuͤrdliche oder Un- aufbuͤrdliche aller dieser Ingredienzen, noch O auch Dritter Abschnitt. auch den Grad der Aufbuͤrdlichkeit irgend einer Mitursache messen, waͤgen: also kannst du nicht richten, nicht verdammen. 2. Kanonisire nicht , vergoͤttere nicht. Wo der einsichtlose Eifer verdammet, da vergoͤttert die unbaͤndige Schwaͤrmerey: bey- de reden , wo sie schweigen sollten. Sieh da die großen Partheyen, die von jeher ein- ander verfolgten — und die Wahrheit und Weisheit in der Mitte ließen! Ich will die dreyerley Sprachen des Eifers, der Schwaͤrmerey, der Weisheit neben einander stellen. — Sprache des Eifers . Sprache der Schwaͤrmerey . Im Satansreiche jammert schon Die schwarze Ra- benseele, Und aͤrntet ihrerSuͤn- de Lohn Im tiefsten Grund der Hoͤlle. Die Heldenseele jauch- zet schon Im Chor der Se- raphinen, Und aͤrntet ihrer Tu- gend, Lohn, Wo ew’ge Palmen gruͤnen. Sprache Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Sprache der christlichen Weisheit . Vergoͤttert und verdammet nicht. Nur Einer ist’s, deß Hand die Wage haͤlt — Wer tollkuͤhn diesem in die Wage faͤllt, Den trift des Richters scharf Gericht. 3. Lerne anbeten . In Gottes großer Familie giebt es so manche Auftritte, wo Schweigen und Anbeten Weisheit ist. „Herr! ists moͤglich, daß ein Ver- nunstgeschoͤpf deiner Hand so tief sinken kann? Was ist doch der Mensch, den Du gebaut? Wer forschet den Weg, den Du die Deinen fuͤhrest? Abgrund! Ab- grund! laßt uns hinfallen und anbeten!“ Dieß ist nicht selten das große Eine , was uns bey so ausserordentlichen Begebenhei- ten das Mark durchschauert. 4. Wer da steht, der sehe zu, daß er nicht falle . Denn der gefallen ist, stand vor kurzem noch. O, wie finde ich den O 2 Men- Dritter Abschnitt. Menschen in jedem Selbstmoͤrder! Wie fuͤhl’ ich mich selbst in jeder Greuelthat! Wie zittere ich vor mir, wenn ich mich in die Lage des Selbstmoͤrders hineindenke! Wie trift das: nihil humani à me alie- num, alle Saiten meiner Seele! Wer an dem Selbstmoͤrder nicht den Menschen er- blicket, nicht erblicket in seiner wahren Ge- stalt, der findet ihn nirgends. Ein Vernunstgeschoͤpf — und sein Selbst- moͤrder! Das Ebenbild Gottes — und erwuͤrgt am Stricke mit eig- ner Hand ! Das edelste Daseyn — unter der Sonne — und dieß edelste Daseyn sich selbst zur unertraͤgli- chen Last! Die Krone der Schoͤp- — fung — und dieser Krone die große, weite Schoͤpfung zu enge! Der Menschenkoͤrper — das Meisterstuͤck der und dieses Mei- sterstuͤck, zerstoͤrt Allmacht Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Allmacht, die Pil- gerwohnung des un- sterblichenGeistes — von ihm, diese Wohnung einge- rissen von dem Pil- ger selbst! — Das Naturgesetz der — Selbsterhaltung, je- dem Lebendigen mit Gottesfinger einge- schrieben — Und diese Gottes- flammenschrift aus- geloͤscht von dem edelsten Lebendigen auf Erde! Welche eine Lection fuͤr Menschen ist der Selbstmord eines aus ihrem Geschlechte! Und wie wenige oͤffnen die Augen, zu sehen die Menschheit, wie sie ist, und werden weise! Der Wunsch. E ine Apologie der Vernunft gegen die despotischen Druͤckungen, die sie von Romanenschreibern Jeden wuͤrdigen Mann, der sich von die- sen Classen selbst ausnimmt, rechne ich nicht hinein. , Schauspie- lern, Schauspieldichtern, Modekraͤmern , O 3 und Dritter Abschnitt. und von dem ganzen Kriegsheere der schluͤpfrigen Schriftsteller und Kuͤnstler erfaͤhrt — Eine Apologie der Vernunft ge- gen Sinnlichkeit, und gegen Weichlich- keit, Luxus und Wollust, ihre Kinder, und gegen alle, die diese auf den Altar stellen, und jene (die Vernunft) zum Fußschemel der Leidenschaft herunterwuͤr- digen — Eine Apologie der Vernunft ge- gen die entnervende Erziehung, entner- vende Schriftstellereyen, entnervende Ge- sellschaften, entnervende Lebenswesen ꝛc. ꝛc. wuͤnschte ich zu lesen — Aber von einem Manne, der das Men- schenherz, die Welt, sich und die Tugend kennet, der Sache und Sprache in seiner Gewalt hat, der Sinn und Muth hat zu schreiben, was wahr ist und nuͤtzt, nicht was Daß Wollust, Geitz, Stolz, Schwelgerey im strengsten Sinne selbstmoͤrderische Leiden- schaften sind, hab ich oben schon gezeigt: itzt bemerke ich, daß jede Leidenschaft Selbstmoͤr- derinn werden kann. Ein Unterschied bleibt Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. was Geld und Beyfall bringt. Du Mann, unter welchem Himmelstriche du immer lebst, wenn dich diese Zeile weckte, wie wuͤrden dir nicht Unschuld, Weisheit, Religion und das vor Selbstmord gesicherte Menschenleben danken! Die Quintessenz des Buͤchleins. J ede indeß immer: Stolz, Wollust, Schwelgerey, Geiz erzeugen die meisten Selbstmorde, weil sie unter den Leidenschaften die lebhaftesten sind, und das Zenith, wo sie selbstmorden, schneller als andere erreichen. Leidenschaft, weß Ramens und Herkommens sie immer ist, kann auf einen Punct gespannet werden, wo sie den Menschen zum Selbstmoͤrder machen kann, und jede Leidenschaft, die diesen Punct bereits erreichet hat, war einmal unmerklich klein, und die Ueber- gaͤnge von dem Unmerklichkleinen bis zum Unermeßlichgroßen geschehen allemal schneller als man glauben kann . Aus Dritter Abschnitt. Aus dieser dreyfachen Bemerkung soll sich der Vernuͤnftige drey heilsame War- nungen herausfolgern: 1. Wenn jede Leidenschaft einer Groͤße faͤhig ist, die mich zum Selbstmoͤr- der machen kann: so will ich keiner Leidenschaft trauen, so wenig ich ei- nen bekannten Strassenmoͤrder mir zum Reisegefaͤhrten waͤhlen moͤchte. 2. Wenn jede Leidenschaft, die ihr Ma- ximum erreicht, einmal ihr Mini- mum gehabt haben muß: so will ich mir’s zur Pflicht machen, das Mi- nimum irgend einer Leidenschaft, wie ihr Maximum zu verabscheuen. Alle Selbstmoͤrder rufen uns von der Ewigkeit heruͤber: principiis obsta, sero medicina paratur, cum mala per longas invaluere moras. Wohl dem, der sich von dieser Stim- me warnen laͤßt! 3. Wenn die Uebergaͤnge von der unter- sten Stufe der Leidenschaft zur hoͤ- hern so schnell, und unmerkbar ge- schehen: Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. schehen: so will ich die Wachsamkeit verzehnfachen, daß mich die Leiden- schaft nicht hinterliste; so will ich mir’s zum Geschaͤfte machen, der schmeichelnden Leidenschaft immer mehr Abbruch zu thun; so will ich ihr auch die aͤusserste Fingerspitze ent- ziehen, um desto gewisser die ganze Hand unverletzt zu erhalten. Jede Leidenschaft in ihren ersten Anfaͤn- gen, ist ein schlafender Riese — hingestreckt ins weiche Gras. Wer es nun versaͤumt, den Schlafenden in Bande zu legen, die er auch wachend nicht zerreissen mag: wo ist der Held, der den Wachenden, den Fuͤrch- terlichkraͤftigen meistern kann? P Wem Dritter Abschnitt. Wem meine Prosa zu matt ist, der lese die freye Poesie uͤber den Selbstmord. Ha! wie Nacht, und Graus den Felsen umhüllt, Und die Trümmer und das Gesträuch der Sturm Heulend durchstürmt, und am Fuse des Würgaltars Deine verbluteten Opfer liegen! Was that die Menschheit dir, Tyrann! Daß du dir zum Opfer sie schlachtest? Mit Inngrimm und unersättlich Greifst du unter das Menschengeschlecht, Und unaufhaltbar würget dein Arm, Und herabschallt Hohnlache — und Wutschaum Triefet auf die geraubte Beut’: Und den Satansblick weidet die Mordlust. Des „Lebens“ sanftesten, stärksten Trieb, Den in das werdende Menschenherz, Da Er’s formte, der Allliebende Mit liebender, sanfter Hand Pflanzte — und sorgsam pflegte darinn, Den erstickest, den zertilgst du. All’, Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. All’, alle Lebensfreuden zu frühe auch; Ach! es genießet nimmer der Blick Deine Schönheit, Natur, und nimmer danket die Thrän’ Im Aug des Geretteten: nimmer schlinget den Arm Der Freude um uns die Einsamkeit, und Seeligkeiten Geust in den Labebecher die Liebe nimmer. Und du wärst Befreyer und Held, Sanften Schirm und Ruh darbietend im Schoose — Wenn die Menschen umwogt des Elends Sturm, Und herstürzt wie Fels, und zermalmet der Gram, Und der Lichtblick dämmert, Und die Seele verzaget? Tyrann bist du! Ach! die Armen wähnen es nicht, Daß den trügrischen Pfad Labyrinthe verschlingen, Und deine Rosenbänder, bald eherne Sklavenfessel Sie umklirren, und des Reitzes Zauberflor Siebenfachdeckende Mitternacht ist. P 2 Mit Dritter Abschnitt. Mit schwerem, umwölktem Sinn Wandelt am Abgrund der Elende, Und stürzet hinab! — ach! er wähnte Näher zu kommen dem Lastenbefreyer, Zu sehen das Beyfallslächen, und zu hören, Daß der Vater rufte dem schwachen Kind! Es wecket des Ruhmes Posaunenklang In des Liebelnden kranker Seele Den Heroismus auf, daß, tollkühn Er sich das Leben entreist mit eigner Hand: Aber Gerichtsposaune! du wirst Des Ruhmes Disharmonieen verdonnern. Wut und Schwachheit kämpfen In des verzweifelnden Seele, „Stürzen in zerstäubter Welten Chaos und Nichtseyn“ —! — Du verhültest das lichte, trosterrungene Ziel, Und zur Stütze gabst du ihm Moosrohr! Tyrann! Tyrann! Tyrann! Nicht Von den Bewahrungsmitteln ꝛc. Nicht Befreyer, nicht Held, dein Nahme heißt Empörung und Aufruhr gen die Natur, — Und Vater des Meineids, der vom Posten verführet den Unterthan, Den ihm anwies der Herr! Er ist, der giebt und nimmt und herrschet! Und du raubst mit verwegnem Arm, was du nicht gabst. Wiß’, daß verletztes Recht mit Rache vergelte Jeho- va’s Blitz. Horcht Brüder! euer Eingeweid ist’s, Das ihr — ach! lange noch? — zerfleischet mit blinder Wut. Zerreisset mit männlicher Stärke die Zauberbinde, Und erhebt den entschleirten Blick, Und zerschell’t die Sklavenkett’, Und wande’t frey wie Gott! Der ist der beste, größte, Wem mächtig empor im Herzen sich drängt, des Grösserseyns Seelenerhebend Gefühl: Wann wild die Verfolgung stürmt, und unzählbar wächst Der Leiden Kriegsheer, und des zertrümmerten Weltbaus Zusammstürzende Schutt Zerschmetterung droht! P 3 Sieh! Dritter Abschnitt. Von den ꝛc. Sieh! es wachet ob euch das Auge deß, Der mit Liebe begann, und mit Liebe vollendet, Umgürtet mit Macht, der Schöpfungen alle Fortleitet zu der Vollendung Ziel, Und will versammeln die Küchlein unter die Flügel, Wie’s bey der Gefahr die Henne mütterlich thut. Kein Sperling und kein Haupthaar fällt unbewußt Jehova’s Vaterliebe, und keine Thrän’. Er zählet die Sperling’, und zählet die Haupthaar’, Und stille Thränen bringen in goldnen Opferschalen die Engel: Soll sonder Wissen und Liebe des Vaters Des Elends-Schwert schlagen die Kinder? Ach! kehret zurück, zurück! Geläutert Gold im Tiegel Sey das Ruh’ und Seeligkeit-strebende Herz, Und Felsenfundament der Glaube: Und Er wird wandeln das Glauben in’s Schau’n, und Nacht in Licht, Und des Schmerzens Weinen in der Freude Triumph. — — * v. — Appro- APPROBATIO . P raesentem Dissertationem, in qua à P. R. et Clarissimo D. Michaele Sailer, SS. Theolog. Doctore, et in Universitate Dilingana Theologiae Pastoralis, et Ethices Professore Authochiria soli- dis Argumentis impugnatur, et contra eandem apta remedia suppeditantur, cum nihil contra catholicum dogma, et bonos mores contineat, typo dignissimam censeo. Augustae Vindelico- rum, die 3 Julii, Anno 1785. Joannes Nepomu- cenus Augustus Ungelter de Deis- senhausen, Episco- pus Pellensis, Ecclesiae Cathedralis Augustanae summus Praepositus E- mi mi . ac Ser mi . D. D. Electoris ac Archiepis. Trevirensis Consiliarius intimus nec non Vicarius in Pontificalibus et Spiritualibus Generalis mpria. Josephus Ant. Stei- ner, SS. Theol. Doctor Eminentiss. ae Sereniss. Elect. Archiepis. Trevir. Episcopi Augustani Con- sil. Eccles. Major Poeni- tent. Consist. Assessor, Visitator generalis, ad insig. Colleg. S. Mauri- tii Canonicus, et libro- rum Censor. Sinn- Sinnstoͤrende Druckfehler. S. 7. Z. 13. Quellen statt Nullen. 75. Z. 19. die — welche die 90. Z. 19. stoͤren — zerstoͤren. 109. Z. vorl. Termin — Terein. 132. Z. drittl. wenden — winden. 133. Z. 8. Raabe — Rabe. 134. Z. 12. wenn — wem. 140. Z. 1. in dich nicht — in dich. 157. Z. 9. zweyfeley — zweifeley. 178. Z. 9. preisen — zu preisen. 191. Z. 10. verarbeitet — vorarbeitet. 202. Z. letzte ? — !