Flegeljahre . Eine Biographie von Jean Paul Richter . Drittes Baͤndgen . Tuͤbingen , in der J. G. Cotta 'schen Buchhandlung. 1804 . N ro . 33. Strahlglimmer. Die Bruͤder — Wina. S eelige, heilige Tage, welche auf die Versoͤh¬ nungsstunde der Menschen folgen! Die Liebe ist wieder bloͤde und jungfraͤulich, der Geliebte neu und verklaͤrt, das Herz feiert seinen Mai und die Auferstandenen vom Schlachtfelde begreifen den vorigen vergessenen Krieg nicht. Schlachten heitern den bezognen Himmel auf; beide Bruͤder standen nach der ihrigen im hellsten Wetter da und sahen sich und alles schoͤn beleuchtet. Walt, der nichts war als Lieben und Geben, wuste jezt gar nicht, wie er beides noch zaͤrter, noch waͤrmer gegen seinen Bruder sein koͤnnte; denn er trachtete nach dem hoͤchsten Grade; die Narben der kleinen Gewissensbisse brannten ihn noch ein wenig und die Thraͤnen des sonst duͤrren Vults hatt' er in seiner Seele aufgehoben. Vult stand selber als ein Mensch mit neuen Melodien aus dem Kanon der Liebe da. Ob er diese gleich mehr durch Thaten als Flegeljahre III . Bd. 1 durch Zeichen wirken lies, so war sie doch zu se¬ hen; sein haͤufiges Kommen, sein Nachgeben, seine Milde, seine Helfbegierde, und bei dem Abschiede — wenn er eben schnell genug die Trep¬ pe und Unsichtbarkeit erwischen konnte — oft sein Bruder-Kuß verriethen sein Inneres. „Nie¬ mand, sagte einst Walt zu ihm, kann ruͤhrender aussehen als du, wenn du eben die Milde in dei¬ ne Feueraugen bringst; so kamen mir immer die Sparter vor, wenn sie mit ihren Floͤten auf das Schlachtfeld zogen.“ — „Es muß mir freilich lassen, sagte er, als wenn ein Seehund Mama sagt Nach Bechstein lernt er Worte Papa ꝛc. mur¬ meln. , ja ich moͤchte es fast einen leisen pianen Sturmwind nennen. Aber ernsthaft zu sprechen, ich bin jezt noch bei Konzert-Geld und deswe¬ gen ein gutes frohes Lamm; mein Leben ist ein Buch voll geschlagnen Golds, die Blaͤtter sind so weich und so beweglich, freilich Gold-Blaͤt¬ gen auch, mein Kind!“ Walt nahm solche Reden gar nicht uͤbel. Soweit indeß auch Vult das Lieben trieb — da er sich fuͤr den naͤchsten und lachenden Thron-Er¬ ben des abgegangenen Freund-Grafens anse¬ hen konnte — so merkte er doch, daß er darin seinen Bruder nur bezahle, nicht beschenke und daß dieser ihm stets um einen warmen Tag vor¬ aus war. Einst hoͤrte Vult von seinem Klingeldrath — er hieß eine ganze Maͤdgen-Pension so — die ganze heftige Schutzrede wieder, womit der sanf¬ te Walt gerade in der Liebes-Pause fuͤr ihn ge¬ gen seine Antipathetiker an Neupeters Tafel auf¬ getreten war. Walt hatte ihm nicht ein Wort da¬ von gesagt — wiewohl aus Liebe, nicht blos gegen den Bruder, sondern auch gegen alle Welt, so wie er aus doppelter Liebe das Kabelsche Testament, das den Bruder ein wenig beleidigen konnte, zu zeigen verweigerte. Vult druͤckte ihm beim Eintritt im Feuer der Liebe beide Achseln und machte solchem dadurch Luft, daß er die Neupeter'schen scherzend handhabte. Aber er traf die falsche Zeit, wo Walt am Hoppelpop¬ pel schrieb und den Schreib-Arm allen fuͤnf Welttheilen liebend, fuͤhrend bot und wo er so sehr an den verlornen Klothar dachte, weil er eben im Buch Freudenfeste findender und ge¬ fundner Seelen begieng. Mit eigner wehmuͤthi¬ ger Freude schrieb er jezt daran unter dem Be¬ trauern des abgestorbenen Freundes, so wie sonst mit Schmerzen unter dem Nachjagen nach ihm; und wunderte sich uͤber den Unterschied. Der schoͤne Begeisterungs-Mittag bei Neu¬ peter, auf welchen ihn Vult durch seinen Dank zuruͤckfuͤhrte, stellte ihm den Grafen zu nahe wieder an die Brust; er bekannte es dem Bru¬ der ganz offen, wie ihm der Ferne mit seinem ausgeleerten Dasein und mit der verlornen Wina immer in dem Kopfe liege und so schwer auf der Brust — wie er ihn einsam in dem zugesperr¬ ten Wagen sitzen und zuruͤckdenken sehe — wie ihn ein solcher aus seinem Himmel in einen Kaͤ¬ fig getriebene Adler erbarme und wie darum keine Marter bitterer auf der Erde gefunden werde, als das Bewustsein, einem edlen Geist irgend eine zugefuͤhrt zu haben. O Vult, troͤ¬ ste mich nur recht, wenn du kannst — sagt er bei dem heftigsten Ausbruch — Mein unschul¬ diger Wille troͤstet mich wenig. Wenn du zu¬ faͤlligst, ohne boͤse Absicht, ja in der besten viel¬ mehr, durch einen der Hoͤlle entflognen Funken ein Krankenhaus, oder ein unschuldiges Schwei¬ zerdorf oder ein Haus voll Gefangner angezuͤndet haͤttest, und du saͤhest die Flammen und darauf die Gerippe: ach Gott, wer haͤlfe dir?“ „Mir die kalte Vernunft und dir ich, (sagt' er, aber ohne Groll.) Denn ich werde mich bei der Maͤdchenpension hart neben mir an nach den naͤhern Umstaͤnden erkundigen. Als ich noch im Erblinden stand, saß ich jeden Abend druͤben, es ist die schnelleste Wiener Klapperpost, die mir noch vorgekommen, da sie manche Sachen schon liefert, indem sie noch geschehen. — Der Graf wird nicht wie du durch Zufaͤlle entschuldigt fuͤr seine niedrigen Voraussetzungen uͤber das Lesen und Uebergeben des Briefs; er macht' es ganz nach Art der Großen und der gallischen Tragi¬ ker, die, um etwas zu erklaͤren, lieber die groͤste Suͤnde als eine kleine annehmen, lieber eine Blutschande als Unkeuschheit.“ Der Notar ge¬ stand, Klothars Versuͤndigung erleichtere die Last der seinigen; blieb aber bei seinem Gefuͤhl. In der Gesellschaft kann man einen Menschen leich¬ ter herabsetzen als hinauf; bei Walt umgekehrt. Vult gieng und versprach, bald wieder zu kommen. Eines Nachmittags huͤpfte Flitte, dessen Tanzsaal die ganze Stadt war, in Walts Stuͤb¬ gen. Er war gewohnt, an jedem Orte so viele und gute alte Bekannte zu zaͤhlen als Einwohner darin waren; daher schlug er den zur Volks¬ menge gehoͤrigen Notar ohne Umstaͤnde zur Freundes-Menge. Dieser glaubte gern, er kom¬ me seinetwegen und wurde durch die Freude und die Angst, einen solchen Weltmann zu beherber¬ gen, etwas ausser sich gebracht. Sein Ich fuhr aͤngstlich oben in allen vier Gehirnkammern und darauf unten in den beiden Herzkammern wie eine Maus umher, um darin ein schmackhaftes Ideen-Koͤrngen aufzutreiben, das er dem El¬ sasser zutragen und vorlegen koͤnnte zum Imbis. Er fand wenig, was diesem schmeckte, aber der Elsasser hatte auch keinen Hunger und keine Zaͤhne. Gelehrte Studierstuben-Saßen, welche die ganze Woche, Tag aus Tag ein, im Ban¬ quet und Pikenik der feinsten, reizendsten Ideen und Gerichte aus allen Weltaltern und Welt¬ theilen schwelgen, bilden sich gar zu leicht ein, daß der Welt- und Geschaͤftsmann verdruͤslich und trocken bei ihnen werde, wenn sie ihn nicht immer heiß und fett mit Ideen uͤbergießen am Bratenwender des Gespraͤchs, indeß der Ge¬ schaͤftsmann schon zufrieden gestellt waͤre, wenn er saͤße, und der Weltmann, wenn er am Fen¬ ster staͤnde, oder vernaͤhme, daß die Markgraͤfin gestern bei Tafel unmaͤßig genießet und daß der Baron von Kleinschwager, dessen Namen er gar nie gehoͤrt, diesen Morgen blos durchpaßirt, oh¬ ne anzuhalten. Gelehrten kann das schwerlich zu oft vorgestellt werden; sie ziehen sonst immer einen Proviant-Wagen fuͤr die Gesellschaft mit mehreren oder wenigern Gedanken nach oder gar mit Witz. Rechte gewoͤhnliche und doch befrie¬ digende Unterhaltung ist allgemein unter den Menschen die, daß einer das sagt, was der andere schon weiß, worauf dieser aber etwas versezt, was jener auch weiß, so daß jeder sich zweimal hoͤrt, gleichsam ein geistiger Doppelt¬ gaͤnger. Mit Flitten, der so leer an Realien war, als Gottwalt an Personalien, konnte dieser we¬ nig anfangen. Indeß sprach, sang und tanzte der Elsasser so gut es gieng, trat oft ans Fen¬ ster, und oft ans Buͤcherbret und suchte daruͤber etwas zu sagen, weil er gern von jedem, mit dem prahlte, was jeder eben war. Einige Men¬ schen sind Klaviere, die nur einsam zu spielen sind, manche sind Fluͤgel, die in ein Konzert gehoͤren; Flitte konnte nur vor vielen reden; und blieb im Duett fast zu dumm. Als endlich der gute Notar an der Lang¬ weile, die er zu machen glaubte, selber eine fand — denn im Gespraͤch, wie im Pharao, ist erwie¬ sen der Gewinn (des Vergnuͤgens wie des Gel¬ des) nie groͤßer als der Einsaz von beiden: so studirte er am Elsasser heimlich den Franzosen, (denn Elsas, sagt' er, ist doch franzoͤsisch genug) und goß ihn im Vorbeigehen ab, fuͤr den Abgu߬ saal seines Romans und hob ihn auf. Unter dem Gießen macht' er ploͤzlich das Fenster zu und eine Verbeugung in den Garten durchs Glas hinaus, weil ihn Raphaela, welche drunten neben Wina der Vespersonne entgegen¬ gieng, mit zuruͤckgewandtem Kopfe leicht gegruͤs¬ set hatte. — Da flog Flitte herbei. Raphaela drehte sich, blickte schnell noch einmal um und erkannte nun diesen. Wina gieng langsam und wie schwere Schmerzen tragend darneben, den Kopf nach der Abendsonne gehoben, und das Schnupftuch mehrmals in die Augen druͤckend. Raphaela schien heftig zu sprechen und einzu¬ dringen und ordentlich an jeder nebligen Lebens- Stelle verborgnen tiefen Thraͤnen-Quellen nach¬ zugraben. Walt vergas sich so, daß er laut seufzete. „Ich glaube nur, setzt' er gemaͤssigter hinzu, daß die gute Generals Tochter weint.“ — „Drun¬ ten? fragte Flitte kalt. So ists in Verzweiflung uͤber den eingebuͤßten Grafen; denn sie kann sei¬ nen Verlust nicht uͤberleben. Ein andermal! — a revoir , ami !“ So flog er in den Garten hinab. Walt setzte sich nieder, stuͤtzte den Kopf auf die Hand, die seine Augen zudekte, und hatte ei¬ nen langen reinen Schmerz. Er war nicht im Stand, das liebliche Angesicht des schoͤnen Maͤd¬ gens oder dessen Leiden zu behorchen mit Blicken, wenn sie den Garten herwaͤrts kam. Er erschrack vor der ersten Stunde, wo er bei ihrem Vater ko¬ pieren und ihr aufstossen koͤnnte. Die unterge¬ hende Sonne waͤrmte ihn endlich muͤtterlich aus dem Winterschlafe der boͤsen Stunde auf. Der Garten war leer; er gieng hinunter. Er wußte nicht, was er drunten wollte. Im Gebuͤsch flat¬ terte ein halb zerrissenes feines Brief-Papierblatt. Er nahm es, es war von weiblicher Hand und enthielt eine aus einem fremden Briefe kopierte Stelle, wie er aus den sogenannten Gaͤnsefuͤssen ersah. Ein halbes Blatt, ein entzweigeschliztes, eine Kopie eines zweiten Briefes — einen ersten haͤtt’ er nie gelesen — konnt' er wohl ansehen und lesen: „„ — Blumen entzwei. Glaub' es mir. O wie leicht und froh verschmerzt man eignen Schmerz! Wie so schwer den fremden, den man, wiewohl schuldlos und gezwungen, hergefuͤhrt! Wie kann ein Wesen, das doch auch ein schlagen¬ des Herz hat, ganze Voͤlker weinen lassen, wenn schon der erste Ungluͤckliche, den man machen muͤs¬ sen, so wehe thut? Verbirg und verschweige aber meine Klage gewissenhaft, damit sie nicht meinen Vater quaͤle, der so leicht alles erfaͤhrt! Doch du thust es ohnehin. Indessen steht mein Entschluß so fest als je; nur will ich ihn bezahlen durch Schmerzen. Ich kann jezt nichts thun als leiden und besser werden, ich gehe haͤufiger in die Kir¬ che, ich schreibe oͤfter an meine Mutter, ich bin gefaͤlliger gegen meinen Vater, gegen jede Menschen- Seele. Denn es gehoͤrt sich, daß ich, da mir die Kirche befiehlt, Freuden zu nehmen, es anders¬ wo einbringe, wo sie es erlaubt, einige zu ver¬ mehren. Meine haben laͤngst aufgehoͤrt und fruͤ¬ her als ich Ihn verloren. — O sei du gluͤcklich, meine liebe Raphaela!“ — Daraus kannst du se¬ hen, Schoͤnste, wie diese Wunde meiner W. mein zu weiches Herz zerdruͤcken muß. Leb' wohl! Das goldne Herz, wenn du es nicht schon beim Schmidt bestellet hast, muß durchaus drei Loth wiegen. Den Hasenbrecher und das Armband hat meine Mutter bekommen. Deine Raphaela. Walt wurde unter dem Lesen aus seinem Fen¬ ster namentlich gerufen von Vult mit den freudig¬ sten Minen; er las es unterwegs gar aus. „Du kennst, fieng jener lustig an, meine eustachische Fama's Trompete? — Naͤmlich meine kumaͤische Sybille der Vergangenheit? Das heisset meine Miethfackel? — Himmel, verstehest du mich noch nicht? Ich meine meine historische Oktapla und 8 partes orationis (denn so viele Maͤdgen sinds)? Zum Henker, die Schnapwaise? Die Pension naͤmlich! Von dieser nun erfahr' ich eben folgendes aus reinster Quelle, weil der Ge¬ neral, der sie zuweilen besucht, ihr, wie alle Neu¬ gierige, eben soviel vorerzaͤhlt als abhorcht. Genau genommen ists die Dogaressa und Di¬ rektrice der Maͤdgen, die dem General fuͤr ein paar Neuigkeiten und Hoͤflichkeiten gerade soviel Toͤchterseelen opfert, als mir referiren, 8. Es war vorgestern, daß der General sein Wiegenfest begieng, und nach seiner Sitte das h. Abendmal vor seinem Mittagsmal nahm und darauf der Seelen-Arzenei viel nachtrank. Die Tochter muß allemal mit beichten. Ich weiß nicht, ob du viel mit ausschweifenden Grossen umgegangen, zu welchen Moͤnche am leichtesten sagen wie zu Hun¬ den: faites la belle , fuͤr welche der Ohren¬ beicht-Stuhl das Absonderungsgefaͤs ihres geisti¬ gen Uebertrunks und Ueberfrasses ist, und welche, wie der Norden, ihre Bekehrung den Weibern ver¬ danken, willst du anders Ludwigs 14. lezten Stunden glauben. Kurz der General mag so et¬ was seyn. An seinem Geburts- und Beicht-Tage liebt' er von jeher seine Tochter ganz besonders, weil er eine Art Taufwasser — um zwei entlegne Sakramente durch Fluͤssigkeiten zu vereinen — den ganzen Tag unter der Gehirnschaale dem Kopfe aufgiesset. Er hat uͤberhaupt das Gute, daß er aufrichtig gut gegen sie ist; er sieht ihr sogar nach, daß sie der ihm verhaßten protestantischen Mutter in Leipzig anhaͤngt. Da er nun so den ganzen Tag mit seiner Beicht- und Vater-Tochter beisammen bleibt: so trinkt und weint er sehr. Er foderte jezt Rechenschaft von ihr, warum sie noch so trauerte, daß sie fast den Grafen mehr zu lie¬ ben schiene als ihren Gott und die h. Kirche und ihren Vater. Sie antwortete heftig: das sei es am wenigsten; sogar dem Kirchenrathe Glanz, der oͤfters mit ihr uͤber den heil. Glauben gespro¬ chen, habe sie nur hoͤflich zugehoͤrt; den Grafen aber nicht mehr geliebt als jeden guten Men¬ schen.“ Zablocki fragte erstaunt, warum sie ihn bei ihrer Freiheit der Wahl, doch heirathen wol¬ len? „Ich dachte, sagte sie, ich koͤnnt' ihn viel¬ leicht zu unserer Religion durch rechtes Aufopfern bringen.“ Walt! einen Philosophen bekehren! Tauft und tonsurirt lieber eine Peruͤcke! — Der General laͤchelte und weinte zugleich vor Lust, lief aber immer mehr auf das weiche zarte Wesen Sturm, stieg ins ofne Herz und holte sich das zweite Geheimnis. Sie hofte naͤmlich ihrer abgeschiedenen protestantischen Mutter (und wohl dem verschuldeten Vater) zu Zeiten ein Kopfkissen aus dem reichen Ehebette zuzuwerfen; gestand es es aber ohne Metaphern. Da konnte sich der trunkene Vater nicht enthalten, zu schwoͤren, ihm solle lieber ein Traubenschuß in den Magen fahren, oder sein Warschauer Prozeß verloren ge¬ hen, woll' er je einem solchen seelentreuen Kinde etwas abschlagen oder aufdringen. Und so wei¬ ter! Bist du getroͤstet?“ — Walt schwieg; Vult bat ihn um das zerris¬ sene Blatt in seiner Hand. Er las es froh und fand darin seinen Bericht besiegelt, und machte seinen Spas uͤber Raphaelens weibliche Weise, Herz und Waͤsche, Groͤstes und Kleinstes in ein¬ ander zu stecken. Aber Walt sagte, eben das, so wie ihr Erzaͤhlen, beweise, daß die Weiber mehr episch seyen, die Maͤnner hingegen lyrisch. Ein Laͤufer Zablockis kam hinein und melde¬ te, er solle morgen um 4 Uhr erscheinen zum be¬ wußten Kopieren. Er verbarg muͤhsam den gan¬ zen Abend die Staͤrke seiner Bewegungen. N ro . 34. Inkrustirte Kletten. Kopierstunde . Um 4 Uhr erschien Walt vor dem General, der wie gewoͤhnlich, laͤchelnd den Blauaͤugigen aufnahm. Vergeblich hatte er vor einer Erinne¬ rung an den Brief oder einer Erscheinung der Ver¬ fasserin gezagt. Zablocki gab ihm die namenlo¬ sen oder nur taufnamigen Briefe auf dem schoͤn geaͤderten Sekretair samt Schreibbefehlen und gieng davon. Mit so sehr ausgesuchten End-Lettern oder Final-Schweifen, als nur je aus Paris ver¬ sandt werden nebst viel schlimmern Polaritaͤten, z. B. Robespierrischen Schweifen, Culs de Paris , — kopierte der Notar und sah sich spaͤt um. Das schoͤne Kabinet war von den Tapeten zu einer Blumenlaube gemalt, aber voll Blumen¬ duͤfte, die aus einer wahren kam und voll gruͤner Daͤmmerung. Die Jalousie-Gitter waren vor¬ gezogen, fuͤr ihn ein gruͤner Schleier eines blen¬ denden Tags; sogar im Winter gruͤnte ihn dieses Blaͤtter-Skelet der vertrokneten bunten Zeit wie ein Zauber an. „In dem nahen Wand-Schrank haͤngt — sagt' er zu sich — Winas himmelblaues Kleid, denk' ich. Wie auf einer sanftwallenden Wolke saß er, und schrieb oft eine briefliche Wen¬ dung ab, die sich fuͤr seine Lage sehr gut schickte. Es wiegt' ihn auf und nieder, daß er sich doch mit Ihr, mit derjenigen in Einer Zimmer-Ebene, unter Einem Dache befand, mit welcher er das Trauerband derselben Schmerzen trug und die ihm nach dem Untergang der Freundschaftssonne als stiller Liebes-Hesperus fortschimmerte. Er kopierte mit gespizten Ohren, weil er (nicht ohne alle Hoffnung) in der Furcht dasaß, daß Wina gar in's Kabinet und an einen oder den andern Sekretair fliege, den hoͤlzernen oder den lebendigen. Indes kam nichts. Er uͤberleg¬ te sehr, ob er nicht in den Wandschrank einbre¬ chen und das himmelblaue Kleid als den blauen Aether der fernen Sonne leicht anruͤhren sollte mit Hand oder mit Mund — als der General ein¬ trat, ihn erschreckte und das Kopieren pries und schlos. So gluͤcklich gieng die Schreibstunde, und die Gefahr, Wina zu sehen, voruͤber, und er wankte heim mit einem Kopfe, der sich ein wenig im Herzen vollgetrunken hatte. Auf den Thurmknoͤpfen und Parke-Gipfeln lag noch suͤßes rothes Sonnenlicht und wekte zu¬ gleich das Sehnen und Hoffen der Menschen in und außer Haslau. Er kopierte den zweiten Tag, stets mit der¬ selben Angst, daß Wina die Thuͤre aufmache. Flegeljahre III . Bd. 2 Der dritte aber — wo wieder nichts kam — mach¬ te ihn, wie jeden Krieger die Zeit, so muthig und so zum Mann am vierten, daß er in der That sich sehnte nach Gefahr. Ganze Naͤchte mußte jezt das fromme Maͤdgen vor seiner Seele stehen — er hatte dabei seinen ewigen Fruͤhling blos weil er einen Plan nach dem andern entwarf und verwarf, wie er noch jezt, um die Folgen des ofnen Briefs zu verguͤten, etwan durch die Sanfte fuͤr den Grafen wirken koͤnnte. Es wollte ihm aber nie etwas Bedeutendes einfallen. Am 4. Tage hoͤrt' er unter dem Abschreiben einer schoͤnen erotischen Gestikulation im Briefe, eine weibliche Singstimme, die, obwohl aus dem dritten Zimmer, doch eben so gut aus dem dritten Himmel kommen konnte. Er kopierte feurig wei¬ ter; aber eine Sonnenstadt nach der andern er¬ baueten in ihm diese Orpheus-Toͤne und die Fel¬ sen des Lebens tanzten nach ihnen. Er erinnerte sich noch recht gut, was ihm Vult uͤber Winas Singen geschrieben. Als er darauf unter dem Heimgehen dieselbe Stimme fortsingend vor sich mit einer Schachtel unter dem Arm auf der Treppe sah und auf jeder Staffel erstaunte und nach¬ dachte: so macht' es ihm das schlechteste Vergnuͤ¬ gen von der Welt, diese Stimme auf der Gasse zu einer andern sagen zu hoͤren, ihre Fraͤulein — denn es war die Puzjungfer — komme erst naͤch¬ sten Freitag aus Elterlein zuruͤck — — er spuͤrte ordentliches Sehnen, einmal in seinem Geburts¬ oͤrtlein zu seyn, und aus der so heissen Stadt her¬ auszukommen. Himmel, schlos er indes, wenn schon diese Puzjungfer Karyatide der fernen Goͤttin so singt, wie muß erst diese glaͤnzen, sowohl im Gesang als sonst! Er wurde unendlich begierig, einem Wiederscheine der heiligen Nachbarschaft Winas ins Gesicht zu sehen, uͤberhaupt einer Person, de¬ ren goͤttlichen Geist der Toͤne er hinter ihr gehend anbetete, kurz der Soubrette. Denn er glaubte laͤngst, eine erste Saͤngerin sei gewis nicht die lezte Monatsheilige oder eine Sirene; und eine baby¬ lonische Hetaͤre behalte keine Stimme, gesezt sie haͤtte eine besessen; eine Meinung, die gutmuͤthige Weltleute mehr seiner Unbekanntschaft mit Buͤhne und Welt zuschreiben sollten als seiner Dummheit. Er mochte kaum drei schnellere Schritte ge¬ than haben, um ihr vorzukommen: als er drei Fluͤche und ein Kothwort vernahm. Er drehte sich heftig um, mit der glaͤnzenden Ordenskette in Haͤnden, die er der anscheinenden Ordensschwe¬ ster der Sklavinnen der Tugend vom Sing-Halse gerissen; und in einer dunkeln Allee der Stadt ließ er Thraͤnen fallen, daruͤber, daß eine solche rauhe Seele eine Singstimme besitze, und daß sie der heiligen so nahe wohne. Hoch aber zog Wi¬ nas Gestalt in ihrem glaͤnzenden Wolkenhimmel weiter; und ihm war, als koͤnne nur ein Tod ihn, wie zu Gott, so zur Goͤttin bringen. N ro . 35. Chrysopras. Traͤumen — Singen — Beten — Traͤumen. Am Freitage darauf, wo Wina wiederkom¬ men sollte, sprang er, ohne an sie zu denken, so innig-vergnuͤgt aus dem Bette in den Tag, als waͤr's ein Brauttag. Er wußte keinen Grund als daß er die ganze Nacht einen immer zuruͤkflattern¬ dern Traum gesehen, wovon er kein Bild und Wort und nichts behalten, als einige anonyme Seligkeit. Wie Himmelsblumen werden oft Traͤu¬ me durch die Menschennacht getragen, und am Tageslicht bezeichnet nur ein fremder Fruͤhlings¬ duft die Spuren der verschwundenen. Die Sonne blizte ihm reiner und naͤher, die Menschen sah er wie durch einen Traum der Trun¬ kenheit schoͤner und werther gehen, und die Quel¬ len der Nacht hatten seine Brust mit so viel Liebe vollgegossen, daß er nicht wußte, wohin er sie leiten sollte. Zu Papier sucht' er sie anfangs zu bringen, aber kein Strekvers und kein Kapitel gelang. Er hatte einen Tag wie nach einer vertanzten Nacht, man will nichts machen als hoͤchstens Traͤume, und auch nichts anderes haben — alles soll sanft seyn, sogar die Freude — sie soll nicht mit Wind¬ stoͤssen an den Fluͤgeln reissen, still sollen die aus¬ gestrekten Schwingen das duͤnne Blau durchschnei¬ den und durchsinken — nur Abendlieder will der der Mensch sogar am Morgen, aber kein einziges Kriegslied, und ein Flor, aber ein hellgefaͤrbter, bezieht und daͤmpft die Trommel des Erden- Tobens. Walt konnte nichts anders machen — „nur heute kein Instrument, das gebe Gott!“ wuͤnsch¬ te er — als einen Spaziergang in das Van der Kabelsche Hoͤlzgen, das er einst erben kann, und wo er den entfremdeten Grafen zum erstenmale auf der Erde gesehen. Um ihn flogen, giengen, standen Traͤume aus tiefen Jahrhunderten — aus Bluͤten- und Blumenlaͤndern — aus Knabenzei¬ ten — ja ein Traͤumgen saß und sang im span¬ nenlangen gruͤnen Weihnachts-Gaͤrtgen der Kind¬ heit, das sich der kleine Mensch auf vier Raͤdern am Faden nachzieht. Siehe da bewegte vom Him¬ mel sich ein Zauberstab uͤber die ganze Landschaft voll Schloͤsser, Landhaͤuser und Waͤldgen, und verwandelte sie in eine bluͤtendicke Provence aus dem Mittelalter. In der Ferne sah er mehrere Provenzalen aus Olivenwaͤldern kommen — sie sangen heitere Lieder in heiterer Luft — die leich¬ ten Juͤnglinge zogen voll Freude und voll Liebe mit Saitenspielen in die Thaͤler vor hohe goldbedekte Burgen auf fernen Bergspitzen — aus den engen Fenstern sahen ritterliche Jungfrauen herunter — sie wurden herabgelockt, und liessen in den Auen Zelte aufspannen, um mit den Provenzalen ein Wort zu reden (wie in jenen Zeiten und Laͤndern, wo die Erde noch ein leichtes Lustlager der Dicht¬ kunst war und der Troubadour, ja der Conteur sich in Damen hoͤchsten Standes verlieben durfte) — und ein ewiger Fruͤhling sang auf der Erde und im Himmel, das Leben war ein weicher Tanz in Blumen. „Suͤsse Freudenthaͤler hinter den Bergen, sang Walt, ich moͤchte auch hinuͤber ziehen in das morgenrothe Leben, wo die Liebe nichts verlangt als eine Jungfrau und einen Dichter — ich moͤch¬ te druͤben in wehender Fruͤhlingsluft mit einer Laute zwischen den Zelten mitgehen, und die stille Liebe singen und schnell aufhoͤren, wenn Wina vorbeigienge.“ Darauf kehrte Walt in sein Kaͤmmergen zu¬ ruͤck, fand aber, mit seiner geographischen und historischen Provence in der Brust, so wenig Plaz darin, daß er mit einiger Kuͤhnheit — denn die Poesie hatt' ihn sehr gleich und frei gemacht — in Neupeters Park hinabspazierte, wo er Floren, mit Fruͤchten wie eine Pomona beschwert, in den Wurf kam und die Hand gab. Dem Dichter glaͤnzet die ganze Welt, doch aber eine herzogliche, koͤnigliche Krone matter als ein schoͤner weiblicher Kopf unter Krone und Herzogshut, oder als ein anderer, der nichts aufhat als den Himmel uͤber sich; er ist bescheiden, wenn er einer Fuͤrstin, und aufgerichtet, wenn er einer Hirtin die Hand giebt; nur zu den Vaͤtern beider laͤsset er sich oft gar nicht herab. In einer Laube fand er ein Strumpfband. Ein italischer Vers — denn Raphaela verstand welsch, obwohl er nicht — und ihr Name war darauf gestickt. Da er an diesem geistigen Mor¬ gen merkte, daß er einen provenzalischen Ritter und Poeten zugleich in sich verbinde: so faßt' er den freien Entschluß, das Strumpfband — denn er hielts fuͤr ein Armband — selber Raphaelen, die er brieflesend schleichen sah, mit einigen bedeu¬ tenden Worten zu uͤberreichen. Er legte das Band weich vorn auf die flache Hand wie auf einen Praͤ¬ sentirteller und trug es ihr zart mit der Wendung entgegen — die er aus vielen andern uͤber weltli¬ chen Arm und Arm aus den Wolken ausgele¬ sen —: „er sei so gluͤklich gewesen, ein schoͤnes Band der Liebe zu finden, eine Senne an Amors Bogen, gleichsam den groͤssern Ring an schoͤner Hand und er wisse nicht, wer gluͤklicher sei, der so ihn abzoͤge oder der ihn anlegte.“ Raphaela er¬ roͤthete beschaͤmend-verschaͤmt, nahm das Band, steckt' es schnell ein und gieng stumm fort; Walt dachte: fast ein gar zu zartes Gemuͤth! Er brachte noch viel von seiner Morgenfreude an die Wirthstafel: als er zu seinem Erstaunen da erfuhr — was er schon laͤngst gewußt —, daß an der Juden-Vigilie, am Freitag, die Ka¬ tholiken fasteten. Er legte Messer und Gabel ne¬ ben den Teller hin. Keinen Bissen — und waͤr' er aus dem Reichs-Ochsen in Frankfurt bei der Kaiserkroͤnung ausgeschnitten gewesen — haͤtt' er noch an die Zunge heben koͤnnen. „Ich will nicht koͤstlich schwelgen, dachte er — betagtes Vaccine¬ fleisch war aufgesezt —, in der Stunde, wo eine so wohlwollende Seele wie Wina darben muß.“ — Wie eine Ehefrau, hatte er bei der Gleichguͤl¬ tigkeit gegen eigene Eß-Entbehrungen ein weinen¬ des Erbarmen uͤber fremde. Er dachte nach und fand es immer haͤrter, daß die Kirche auch Non¬ nen fasten liesse, nicht die Moͤnche allein; da es vielleicht schon genug waͤre, wenn nur Spizbuben, Spieler, Moͤrder nichts rechts zu essen haͤtten. Er gieng in die Kopierstube zum General, nicht nur mit dem voͤlligen Wunsche, das Maͤd¬ gen zu sehen, das heute — an seinem romantischen Tage — eine Maͤrtyrin gewesen, sondern auch mit der Gewißheit, sie sei von Elterlein zuruͤck und er¬ scheine. Waͤhrend er mit unsaͤglichem Vergnuͤgen einen aͤußerst frechen Brief einer gewissen Libette, wie er nur aus der moralischen Lutetia Diesen Namen Kothstadt trug sonst Paris in un¬ bildlicher Beziehung. voll Epi¬ kurs-Staͤlle kommen kann, ins Reine schrieb — denn er schmekte in diesen Freudenkelchen nur den Abendmalswein der geistigen Liebe und keinen ge¬ schwefelten —, so drang aus den halbofnen Zim¬ mern kein Laut in sein Kabinet, den er nicht zu einer Ankuͤndigung einer Erscheinung zitternd mach¬ te. Wie in weiten dichten Waldungen ferne lange Toͤne hier und dort romantisch durchklingen: so kamen ihm einzelne Akkorde auf dem Fortepiano — Rufe des Generals — Antworten an Wina vor — Endlich hoͤrt' er wirklich Wina selber im naͤchsten Zimmer mit ihrem Vater vom Singen sprechen. Er gluͤhte bis zur Stirn hinauf, und buͤkte den unruhigen Kopf fast bis an die Feder nieder. Sie hatte jenen innigsten, herzlichsten, mehr aus der Brust als Kehle heraufgeholten Sprachton, den Weiber und Schweizer viel haͤufiger angeben, als andre Leute. Indem der General eintrat und Walt flam¬ mend fortkopieren wollte: hatt' er das Ungluͤk, daß das Maͤdgen Singnoten aus dem Kabinette fliegend wegholte, ohne daß er vor lauter Zart¬ heit etwas gesehen hatte, wenn man nicht die weisse Schleppe zu hoch anschlagen will. Bald darauf fieng im zweiten Zimmer ihre Singstim¬ me an — „O nein doch, rief der General, durch die ofnen Thuͤren, den lezten Wunsch von Reichard meint' ich S. 10. in Reichards Lieder-Sammlung, worinn manche das 10te mal besser klingen, als das erste¬ mal, und Dichter und Komponist meistens ihr ge¬ genseitiges Echo sind. .“ Sie brach ab, und fieng den begehrten Wunsch an. „Singe, unterbrach er sie wieder, nur die erste und lezte Strophe ohne die ennuyanten.“ Sie hielt innen, mit Fingern uͤber den Tasten schwebend und antwortete: gut, Vater!“ Die Verse heissen: Wann, o Schicksal, wann wird endlich Mir mein lezter Wunsch gewaͤhrt: Nur ein Huͤttchen, klein und laͤndlich; Nur ein kleiner eigner Heerd; Und ein Freund, bewaͤhrt und weise, Freiheit, Heiterkeit und Ruh'! Ach und Sie, das seufz' ich leise, Zur Gefaͤhrtin Sie dazu. Vieles wuͤnscht' ich sonst vergebens; Jezo nur zum leztenmal Fuͤr den Abend meines Lebens Irgendwo ein Friedens-Thal; Edle Muß' in eigner Wohnung, Und ein Weib voll Zaͤrtlichkeit, Das, der Treue zur Belohnung, Auf mein Grab ein Veilchen streut. Wina begann, ihre suͤße Sprache zer¬ schmolz in den noch suͤßern Gesang, aus Nach¬ tigallen und Echo's gemacht — sie wollte ihr liebewarmes Herz in jeden Ton draͤngen und gießen, gleichsam in einen toͤnenden Seufzer; — den Notar umfieng der lang getraͤumte Seelen¬ klang mit der Herrlichkeit der Gegenwart so, daß ihn das heranrollende Meer, das er von Fernen rollen und wallen sahen, nun mit hohen Fluthen nahm und deckte. Der General sah un¬ ter dem Singen die Kopie des frechen lezten Brie¬ fes mit einiger witziger Heiterkeit auf dem Ge¬ sichte durch und fragte laͤchelnd: wie gefaͤllt Ih¬ nen die wilde Libette? — „Wie der jezige Ge¬ sang, so wahr, so innig und so tief gefuͤhlt“ versezte Gottwalt. — „Das glaub' ich auch“ sagte Zablocki mit einem ironischen Minen- Glanz, den Walt fuͤr Hoͤr-Verklaͤrung nahm. „Was sind so Ihre vorzuͤglichsten Notariats- Instrumente bisher gewesen?“ fragte der Gene¬ ral. Walt gab viele kurz und schleunig an, sehr verdruͤslich, daß er sein Ohr — wie sein Leben — zwischen Gesang und Prosa thei¬ len sollte. Ob er gleich sich so weniger Seelenkraͤf¬ te und Worte dabei bediente als er nur konnte: so war fuͤr Zablocki doch kein Mensch, — weder aus Wezlar noch Regensburg oder aus irgend einem schriftstellerischen bureau des longitudes et des longueurs — zu lang, zu weitschwei¬ fig, sondern blos zu abrupt. „Ich glaube, fuhr Zablocki fort, Sie machten auch einige Sa¬ chen fuͤr den Grafen von Klothar?“ „Keine Zeile“ versezte Walt zu eilfertig; er war voͤllig von den schoͤnen Toͤnen weggespuͤhlt, und begrif's nicht, daß der General, der selber diese schoͤnen Laute vorgeschrieben, sie uͤber platte verhoͤren wollte. „O Gott, wie kann ein Mensch nicht im harmonischen Strome untersinken, son¬ dern daraus noch etwas vorstecken, besonders die Zunge? Ist das moͤglich, zumal wenn es ei¬ nen so nahe angeht, wie hier den verwaisten General?“ — Walt glaubte naͤmlich, der Ge¬ neral, der von der Frau und auch von der Ju¬ gend geschieden war, habe solche und aͤhnliche Zeilen wie Jezo nur zum leztenmal Fuͤr den Abend meines Lebens — — Und ein Weib voll Zaͤrtlichkeit — — blos als Nachtigallen-Darstellungen eigener See¬ len-Klagen singen lassen. Es konnte ihn weit mehr ruͤhren — zumal da es auch viel reiner war, — wenn er Ton-Spruͤche auf fremde Lei¬ den und Wuͤnsche, als wenn er sie auf eigne be¬ zog; und darum war ihm der vergebliche Antheil an Zablocki so unlieb. Vult aber, dem er alles vortrug, sprach spaͤ¬ ter den Weltmann mit diesen Worten frei: „er ist an Hof-Konzerte gewoͤhnt, mithin an Taub- Bleiben — wie Cremen, ist das Weltleben gleich kalt und suͤß; — indes hat der Weltmann oft viel Ohr bei wenig Herz (wie anden umgekehrt) und behorcht wenigstens die Form der Tonkunst ganz gut.“ „Keine Zeile“ hatte Walt eilfertig gesagt. — „Wie so? versezte Zablocki. Mein Gerichtshal¬ ter sagte mir gerade das Gegentheil.“ Hier ent¬ fuhren Walten die Thraͤnen; — er konnte nicht anders, die lezten Sang-Zeilen hatten ihn mit- und weggenommen; die Scham uͤber die unwill¬ kuͤhrliche Unrichtigkeit trug weniger bei: „wahr¬ haftig — versezt' er — das meint' ich eben; denn die Schenkungs-Akte wurde unterbrochen. — die ersten Zeilen schrieb' ich natuͤrlich.“ Der General schrieb die Verwirrung des geruͤhrtesten Gesichts nicht der schoͤnern Stimme zu, sondern seiner eignen — brach gutmuͤthig mit den Ab¬ schiedsworten ab, daß er auf einige Wochen des Kopieren einstelle, weil er morgen mit seiner Toch¬ ter nach Leipzig auf die Messe reise. Hier hoͤr¬ te das Singen auf; und Walts kurzes Ent¬ zuͤcken. N ro . 36. Kompasmuschel. Traͤume aus Traͤumen . Auf der hellen Gasse war dem aus dem Zablocki¬ schen Hause wankenden Notar, als sei ihm etwas aus den Haͤnden gezogen, etwa ein ganzer brennen¬ der Christbaum oder eine Himmelsleiter, die er an die Sonne anlegen wollen. Ploͤzlich sah er — ohne zu fassen, wie — die boͤse After-Saͤn¬ gerin oder Puzjungfer des Generals und vor ihr Wina gehen, in die katholische Kirche. Leztere macht' er ohne Umstaͤnde zur Simultankirche und trat der zarten Nonne nach, um von ihr die Zeile: „wann, o Schiksal, wann wird endlich“ fortsingen zu hoͤren; denn sein inneres Ohr hoͤrte sie noch ganz deutlich auf der Gasse. Im Tempel fand er sie kniend und gebogen auf den Stufen des Hochaltars, ihr schmucklo¬ ser Kopf senkte sich zum Gebet, ihr weisses Kleid floß die Stufen herab. — Der Meßpriester in wunderlicher Kleidung und Bedienung machte geheimnisvolle Bewegungen — die Altarlichter loderten wie Opferfeuer — ein Weihrauchwoͤlkgen hieng am hohen Fensterbogen — und die unter¬ gehende Sonne blickte noch gluͤhend durch die obersten bunten Scheiben hindurch und erleuch¬ tete das Woͤlkgen — unten im weiten Tempel war es Nacht. Walt, der Lutheraner, dem ein betendes Maͤdgen am Altare eine neue himmli¬ sche Erscheinung war, zerfloß fast hinter ihrem Ruͤcken in Licht und Feuer, in Andacht und Liebe. Als waͤre die heilige Jungfrau, aus dem beflammten Altarblatte, worauf sie gen Him¬ Flegeljahre III . Bd. 3 mel stieg, herabgezogen auf die Stufen, um noch einmal auf der Erde zu beten, so heilig-schoͤn sah er das Maͤdgen liegen. Er hielt es fuͤr Suͤnde, fuͤnf Schritte weiter vorzutreten und der Beterin gerade ins fromme Angesicht zu sehen, obgleich diese fuͤnf Schritte ihn fuͤnf goldne Sprossen auf der Himmelsleiter hoͤher gebracht haͤtten. Zulezt zwang ihn sein Gewissen, gar selber — wiewohl er protestantisch dachte — hin¬ ter den stillen Gebeten einige eigne leichte zu ver¬ richten; die Haͤnde waren schon laͤngst gehoͤrig gefaltet gewesen, eh' er nur darauf gedacht, etwas dazu zu beten. Es ist aber zu glauben, daß in der Welt hinter den Sternen, die gewiß ihre eignen, ganz sonderbaren Begriffe von Andacht hat, schon das unwillkuͤhrliche Haͤndefalten selber fuͤr ein gutes Gebet gegolten, wie denn mancher hiesige Handdruk und Lippendruk, ja mancher Fluch droben fuͤr ein Stos- und Schusgebet kursiren mag; indeß zu gleicher Zeit den groͤßten Kirchen¬ lichtern hienieden die Gebete, die sie fuͤr den Druck und Verlag ohne alle Selbst-Ruͤcksichten blos fuͤr fremde Beduͤrfnisse mit bestaͤndiger Hin¬ ficht auf wahre maͤnnliche Kanzelberedsamkeit im Manuskripte ausarbeiten, droben als baare Fluͤche angeschrieben werden. Wenn nun solche Lichter dort von einem und dem andern Engel des Lichts ausgeschneuzet werden, wenn solche Consistorialvoͤgel zu voͤlli¬ geln Galgenvoͤgeln gerupft im Himmel fliegen: so duͤrfen verkannte Galgenvoͤgel dieser Art in ihren theologischen Journalen, falls sie droben welche schreiben, mit Recht darauf aufmerksam machen, daß die zweite Welt wunderliche Heiligen habe, und noch manche Aufklaͤ¬ rung brauche, bis sie so weit vorruͤcke, daß sie Gebete auf dem Theater und Gebete auf dem Schreibepult, nach Einem liturgischen Stylisti¬ kum, so zu sagen, abgeflucht, gleich gut auf¬ nehme. Walt blieb, bis Wina aufstand und vor¬ uͤber gieng, um sie anzusehen. Er konnt' es aber nachher gar nicht begreifen, daß er, als sie in der groͤßten Naͤhe war, unwillkuͤhrlich wie krampfhaft die Augen zugedruͤckt; „und was half's mir viel, sagt' er, daß ich ihr durch drei Gassen hinter ihr nachguckte?“ Er schweifte aus der Stadt hinaus. Es war ihm, als wenn zwei einander entgegen we¬ hende Stuͤrme eine Rose mitten im Himmel schwebend erhielten. Draußen stand ein langes bergiges Abendroth wie ein Nordschein am Him¬ mel und machte Licht. Er suchte jezt seine alte Sitte hervor, große Erregungen — z.B. wenn er irgend einen Virtuosen gesehen, und waͤr's auf dem Tanzseile gewesen — dadurch zu naͤhren und zu stillen, daß er sich frei einen Superlativ des Falls austraͤumte, wo er die Sache noch Millionenmal weiter trieb. Er wagte dreist den herrlichsten Traum uͤber Wina und sich. „Wi¬ na ist eine Pfarrerstochter aus Elterlein — fieng er an — zufaͤllig reis' ich durch mit Suite; ich bin etwa ein Markgraf, oder Grosherzog, naͤmlich der Erbprinz davon — noch jung (doch ich bin's jezt auch), so bildschoͤn, sehr lang, mit so himmlischen Augen, ich bin vielleicht der schoͤnste Juͤngling in meinem Lande, ganz aͤhn¬ lich dem Grafen — Sie sah mich vor dem Pfarrhause vorbei sprengen auf meinem Araber; da wirft ein Gott aus dem Himmel den unaus¬ loͤ'chlichen Brand der Liebe in ihre arme zarte Brust, als er das Zeichen, einen Erbprinzen auf einem Araber, erblickt. Ich sah sie aber nicht im Galopp. Ich halte mich indeß im schlechten Wirths¬ haus nicht lange auf, sondern besteige ohne Sui¬ te den nahen Himmelsberg, wovon man mich versicherte, daß er die schoͤnsten Aussichten des Doͤrfgens um sich sammle. Und ich fand es auch wahr. Ich komme vor die hinabsteigende Sonne, auf goldnen Bergen der Erde stehen gold¬ ne Berge der Wolken; o nur die gluͤckliche Son¬ ne darf hinter die seeligen Gebuͤrge gehen, wel¬ che das alte ewig verlangte rosenrothe Liebesthal des Herzens umschließen — Und ich sehne mich bitter hinuͤber, weil ich noch nicht lieben durfte als Prinz und traͤume mir Szenen. Da schlaͤgt eine Nachtigall hinter mir so heiß, als zoͤge sie ihren Ton gewaltsam aus meiner Brust; sie sizt auf der linken Schulter der Pfarrtochter, die, oh¬ ne von mir zu wissen und mich zu sehen, her¬ auf vor die Abendsonne gegangen war. Und ihre beiden Augen weinen und sie weiß nicht warum, denn sie schreibt's den Toͤnen ihrer zahm gemachten Philomele zu. Ein Wesen seh' ich da, wie ich noch nie gesehen, ausgenommen im Konzert — doch es ist eben Wina — eine Men¬ schen-Blume seh' ich, die ohne Bewustsein prangt und deren Blaͤtter nichts oͤffnet und schliesset, als der Himmel. Abendroͤthe und Son¬ ne moͤchten ordentlich gern naͤher zu ihr, das Purpurwoͤlkgen wuͤnschte herunter, weil sie die Liebe selber ist, und wieder die Liebe selber sucht, sie zieht alles Leben an sich heran. Eine Tur¬ teltaube laͤuft um ihre Fuͤsse und girrt mit zit¬ ternden Fluͤgeln. Die andern Nachtigallen flat¬ tern fast alle aus ihren Buͤschen und singen um die singende herum. Hier wendet sich ihr Blau-Auge von der Sonne und faͤllt aufgeschlagen auf mich; aber sie zittert. Auch ich zittere, aber vor Freude, und auch ihrentwegen. Ich gehe zu ihr durch die schlagenden Nachtigallen hin; wir sind uns in nichts gleich als in der Schoͤnheit, denn mei¬ ne Liebe ist noch heisser als ihre. Sie buͤckt ihr Haupt und weint und bebt, und ich glaube nicht, daß allein mein hoher Stand sie so er¬ schuͤttert. Was gehen mich gefuͤrstete Huͤte und Stuͤh¬ le mehr an? Ich schenke alles dem Gott der Liebe hin; „wenn du mich auch kennst, Jung¬ frau, sag' ich, so liebe mich doch“: sie redet nicht, aber ihre Nachtigall fliegt auf meine Schulter und singt. „Sieh!“ sag' ich ehrerbie¬ tig und mehr nicht; und nehme ihre rechte Hand und druͤcke sie mit beiden Haͤnden fest an mein Herz. Sie will sie aber mit der linken holen und losmachen; aber ich fasse und druͤcke nun auch die Linke. So bleiben wir, ich seh' sie unauf¬ hoͤrlich an, und sie blickt zuweilen auf, ob ich's noch thue. „Jungfrau, wie ist dein Name?“ sag' ich spaͤt. So leise, daß ich's kaum verneh¬ me, sagt sie: Wina. Mich durchzittert der Laut wie eine ferne alte Bruder-Stimme. „Wina bedeutet Siegerin“ antwort' ich. Sie druͤckt, glaub' ich, schwach meine Hand; die Liebe hat sie erhoben, uͤber Pfarrers- und uͤber Prinzenstand. So blick' ich sie unaufhoͤrlich an, und sie mich zuweilen — die rufenden Nachti¬ gallen schliessen uns ein — die bluͤhenden Abend¬ wolken gehen unter — der laͤchelnde Abendstern geht unter — der Sternenhimmel zieht sein Sil¬ ber-Nez um uns — wir haben die Sterne in der Hand und in der Brust, und schweigen und lieben. Da faͤngt eine ferne Floͤte hinter dem Himmelsberge an, und sagt alles laut, was uns schmerzt und freuet: es ist mein guter Bru¬ der, sag' ich, und im Dorfe wohnen meine lie¬ ben Eltern.“ — Hier kam Walt zu sich; er sah umher, im Flusse (er stand vor einem) sank sein Fuͤrstenstuhl ein und ein Wind blies ihm die leichte Krone ab. „Es waͤr' auch zuviel fuͤr ei¬ nen Menschentraum, Sie gar zu kuͤssen“ sagt' er und gieng nach Hause. Unterwegs pruͤft' er die Rechtmaͤßigkeit des Traums und hielt ihn so Stuͤck fuͤr Stuͤck an den moralischen Probierstein, daß er ihn auf die beste Weise zum zweitenmale hatte. So haͤlt sich die fromme Seele, welche bange schwimmt, gern an jedem Zweige fest, der auch schwimmt. So ist die erste Liebe, wie¬ wohl die unverstaͤndigste, doch die heiligste; ihre Binde ist zwar dicker und breiter — denn sie geht uͤber Augen, Ohren und Mund zugleich — aber ihre Schwungfedern sind laͤnger und weisser, als irgend einer andern Liebe. Vor Neupeters Hause unten sah er lang zu seinem Fenster auf, seine Zelle kam ihm or¬ dentlich fremd vor und er sich, und es war ihm, als muͤsse der Notar jede Minute oben heraus gucken auf ihn herunter. Ploͤzlich fieng am Fen¬ ster eine Floͤte an; er fuhr sehr kurz zusammen, da sein lieber Bruder ihn droben erwartete. Er brachte ihm das Feuer zu, in welches Wina ihr mildes Oel gegossen. Vult war ganz liebreich und freundlich; denn er hatte unterdessen im Doppel-Roman das neue Stuͤck Gartenland be¬ sehen und umschritten, das Walt bisher daran fertig gemacht und gemauert, — und hatte da gefunden, daß die gruͤnen Haͤngbruͤcken, die vom Herkules-Tempel der Freundschaft weg¬ fuͤhrten, sehr schoͤn gut gebogen und angestri¬ chen, die Moos- und Rinden-Einsiedelei der ersten Liebe aber, die sich selber noch fuͤr ein¬ sam und einherzig haͤlt, vortreflich, naͤmlich still und dunkel und romantisch angelegt worden, so daß nun nichts weiter mehr fehlte als die Vo¬ gelhaͤuser, Klingel-Haͤusgen, Satyrs und an¬ dere Garten-Goͤtter, die Vult seines Orts und Amts von der Bruͤcke an ausschweifend zu posti¬ ren hatte. Er pries gewaltig, wiewohl heute das Lob den Notar weniger entzuͤckte als erweichte. „Bruͤ¬ derlein, sagt' er, kennt' ich dich und die Macht der Kunst nicht so gut, so schwuͤr' ich, du waͤ¬ rest schon auf dem elektrischen Isolir-Schemel der ersten Liebe gestanden, und haͤttest geblizt; so wahr und huͤbsch steht jeder Funke da.“ Denn Vult hatte bisher, ungeachtet oder vielmehr we¬ gen aller Offenherzigkeit des Bruders, das Ver¬ gißmeinnicht der Liebe nicht in ihm bemerkt, weil alles in ihm voll Liebes-Blumen stand, und weil Vult selber jezt nicht viel aus den Weibern machte. Sein Schmolgeist, sagt' er oft, meide den weiblichen; man muͤsse aus ei¬ nem lakirten Staͤbgen , das nur fuͤr die weiblichen Blumen in der Erde steht, eine roͤ¬ mische Saͤule werden, deren Kapital jene Blu¬ men blos bekraͤnzen. Sehr erstaunte Walt, — der im Doppel¬ roman nur der Dichter, naͤmlich das stille Meer gewesen, das alle Bewegungen, der Seegefechte und des Himmels, abspiegelt, ohne selber in ei¬ ner zu sein — als Vult aus dem Buche von weitem schließen wollte, er liebe vielleicht. Er glaubte dem gereiseten Floͤtenisten aufs Wort; sagte aber selber keines davon und war heimlich ganz vergnuͤgt, daß er's jezt gerade so habe, wie er's hinschreibe. Stundenlang frappirte ihn eine neue Rolle, worin er etwas zu spielen hatte, was schon Millionenmal auf allen Planeten ge¬ spielet worden. Als nun die Bruͤder nach ihrer Gewohnheit ihre gegenseitigen Tagsgeschichten gegen einander austauschen wollten: so gieng dem Notar die seinige sehr schwer und klebend von der Zunge; — er hielt sich mehr an den General und an dessen mémoires érotiques , um seine eignen zu decken. Er lobte die geistige reine Bluͤthe in jenen; Vult laͤchelte daruͤber und sagte: „Du bist eine verdammte gute Seele!“ Die Liebe, welche das ganze Herz oͤffnet, so wie verschenkt, verschließet und behaͤlt doch den Winkel, wo sie selber nistet; und diktirt dem besten Juͤngling die erste Luͤge, wie der besten Jungfrau die laͤngste. Walt begleitete — bei seinen innern Bewe¬ gungen, deren Blutkuͤgelgen wie hoͤhere Kugeln einen freien Himmel zum Bewegen brauchten — den Bruder nach Hause. Dieser begleitete erfreut wieder jenen; Walt wieder diesen, um vor Winas Fenstern auf dem Heimwege vorbeizukommen. So trieben sie es oft, bis der Notarius siegte. Einsam unter dem breiten Sternenhimmel konnt' er die gluͤhende Seele recht ausdehnen und abkuͤhlen. „Sollt' ich denn den romantischen, so oft gedichteten Fall jezt wirklich in der Wirklich¬ keit erleben, daß ich liebte? sagte er. Nun so will ich — sezt' er dazu, und der bisher winter¬ lich eingepuppte, gefrorne Schmetterling sprengte die Puppen-Huͤlse weit ab, und fuhr auf und wiegte feuchte Schwingen — lieben wie niemand und bis zum Tod und Schmerz — denn ich kann's ja gut, da Sie mich nicht kennt und nicht liebt, und ich ihr nichts schade und sie sehr von Stand ist und jezt vollends auf I Monat verreiset. Ja es sei Ihr ganz und voll hingereicht, das unbe¬ kannte Herz, und wie unterirdischen Goͤttern, will ich ihr schweigend opfern. O ich koͤnnte diese Sterne fuͤr Sie pfluͤcken zum blitzenden Juwelen- Straus und weiche Lilien aus dem Monde darein binden; und es in Ihrem Schlafe neben Ihr Kis¬ sen legen; wuͤßt' es auch kein Wesen, wer es ge¬ than, ich waͤre zufrieden. Er gieng die Gasse herab an Zablockis Haus. Alle Lichter waren ausgeloͤscht. Eine kernschwarze Wolke hieng sich uͤber das Dach; er haͤtte sie gern herabgerissen. Alles war so still, daß er die Wanduhren gehen hoͤrte. Der Mond schuͤttete seinen fremden Tag in die Fenster des dritten Stok¬ werks. „O waͤr' ich ein Stern — so sang es in ihm und er hoͤrte nur zu — ich wollte Ihr leuch¬ ten; — waͤr' ich eine Rose, ich wollte Ihr bluͤ¬ hen; — waͤr' ich ein Ton, ich draͤng' in Ihr Herz; — waͤr' ich die Liebe, die gluͤcklichste, ich bliebe darin; — ja waͤr' ich nur der Traum, ich wollt' in Ihren Schlummer ziehen und der Stern und die Rose und die Liebe und alles seyn, und gern verschwinden, wenn sie erwachte.“ Er gieng nach Hause zum ernsten Schlaf, und hofte, daß ihm vielleicht traͤume, er sei der Traum. N ro . 37. Eine auserlesene Kabinetsdruͤse. Neues Testament . Der September war so schoͤn, der die schoͤn¬ ste Rose, Wina, versezt hatte, daß dem Notar Rock, Stube und Stadt zu enge wurde; er woll¬ te ein wenig in die weite Welt hinaus. Er rei¬ sete unsaͤglich gern, besonders in unbekannte Ge¬ genden, weil er unterwegs glaubte, es sey moͤg¬ lich, daß ihm eines der romantischsten lieblichsten Abentheuer zuflattere, von dem er noch je gelesen. Daher war das erste, was er in einer neuen Stadt machte, kleine Stundenreisen um sie herum. Hatt' er aber lange da gewohnt, so lief er zu Zeiten in eine neue Gasse ein, und machte sich mit besonde¬ rem Vergnuͤgen glaublich, er sei eben auf Reisen in einer ganz fremden Stadt, aus der er noch da¬ zu die Freude hatte, in seiner anzulangen, sobald er nur um die Ecke umbog. Ja sah er nicht traͤu¬ mend dem Laufe der Chausseen nach, die wie Fluͤsse die Landschaft schmuͤcken, weil sie, wie die¬ se, ohne wohin und woher unendlich ziehen, und das Leben spiegeln? — Und dacht' er jezt nicht, auf einer davon geht das stille Maͤdgen da¬ hin, und sieht den blauen Himmel und den Vater an und denkt an vieles? — Nur war er lange in Zweifel und Skrupel, ob's nicht Suͤnde sei, das wenige von den Eltern und Instrumenten gewonnene Geld blos vergnuͤgt zu verreisen, zumal da der Bruder Vult nach sei¬ ner Gewohnheit wieder anfieng, nicht viel zu ha¬ ben. Er las alle moralischen Regeln des reinen Satzes genau durch, um zu erfahren, ob er diese suͤßtoͤnende Ausweichung oder diese Quinten-Fort¬ schreitung von Lust zu Lust in sein Kirchenstuͤk aufnehmen duͤrfe; und noch war er unentschie¬ den; als Flitte alles dadurch entschied, daß er den Stadtthuͤrmer, bei welchem er wohnte, zu ihm schikte und sagen ließ, er liege auf dem Ster¬ bebette und wuͤnsche noch diesen Abend sein Testa¬ ment durch einen Notar zu machen. Wenn die Welt hinter dem Notar den Thurm besteigen soll, wo der Elsasser sich toͤdtlich gebettet, so muͤssen ihr vorher, ohne lange daruͤber zu re¬ den, die nothwendigsten Treppen hingestellt wer¬ den, die zu seinem Lager bringen; alles war so: Das Gluͤk ist ein so schlechter Freund, als dessen Guͤnstlinge — die Natur giebt den Weisen auf die Lebensreise zu wenig Diaͤtengelder mit — Flitte war ein solcher Weiser, und wiewohl er laͤngst die Regel kannte, daß das Ende des Gel¬ des wie das eines Parks geschikt verborgen werden muͤsse: so fehlt' ihm doch der allgemeine nervus rerum gerendarum zu dieser List. In Staͤdten, wo Flitte nur durchflog, ver¬ mocht' er leichter etwas, und waͤr' es auch nur dadurch gewesen, daß er sich als seinen eigenen reichen Bedienten ankleidete und sich selber anmel¬ dete, als seinen Herrn, und zum zweitenmal ohne den Kerl wieder kam. In Haslau that es ihm einen Monat lang gute Dienste, daß er auf seine Kosten einen Teich abziehen und darin nach einem kostbaren Tafelsteine stochern und wuͤhlen ließ, den er wollte hinein verloren haben. Aber der Hunger, der eben sowohl als Philipp II , zumal unter des leztern Regierung, der Mittagsteu¬ fel heissen sollte, und noch mehr der Kleiderteu¬ fel, und jeder Tag hatten ihm allmaͤlich ein an¬ staͤndiges Gefolge von Lehnlakaien oder valets de fantaisie , das immer hinter ihm gieng unter dem bekannten Namen Glaͤubiger , in die Dienste gefuͤhret und zugewaͤlzt. Oft schikten diese wahren Kammer-Mohren ihre eignen Laden- und andere Diener als Mephistophilesse, die, ohne zitirt zu seyn, ihn selber zitirten. Deswegen zog er auf den Glockenthurm — seinen Schuldthurm —, um durch die unzaͤhligen Treppen manche Besuche zu verleiden, oder aus dem Glockenstuhle vorauszusehen. Unten in der Stadt schwur er stets, er hab' es gethan, um eine schoͤne freie Aussicht zu geniessen, so sehr er auch die Beschwerden sich vorher habe denken koͤnnen. Unter seinen Glaͤubigern war nun ein junger Arzt, Namens Hut , der sich sehr aufblies und der wenige Patienten hatte, weil er ihnen das Sterbliche auszog und sie verklaͤrte. Dieser Hut hatte den vier grossen Brownischen Kartenkoͤnigin¬ Flegeljahre III . Bd. 4 nen seine vier ganzen Gehirnkammern eingeraͤumt — der Sthenie die erste vorn heraus — der Hy¬ persthenie die zweite — der Asthenie die dritte — der Hyperasthenie die vierte als wichtigste, — so daß die vier grossen Ideen ganz bequem allein oh¬ ne irgend eine andere dann hausen konnten. Gleich¬ wohl macht' er mit der heiligen Tetraktys von 4 medizinischen syllogistischen Figuren, selber noch keine sonderliche; der alte Spaß uͤber den Doktor¬ hut des D . Huts wurde stets erneuert. Der galante Flitte that nun seinem Glaͤubi¬ ger folgenden Antrag: „die Stadt stecke voll Vor¬ urtheile — er selber in leichten Schulden — ge¬ sezt aber, er stelle sich ein wenig toͤdtlich krank, und mache sein Testament: so heile erstlich durch einen Betrug sich die Stadt von ihrem Selbstbe¬ trug, wenn H. Dr. Hut ihn oͤffentlich wieder herstelle, und er selber zweitens, wenn er sein Vermoͤgen dem Hofagent Neupeter vermache, ge¬ winne diesen nach der schon laͤngst gewonnenen Tochter und koͤnne sie heirathen und Herrn Hut leichter bezahlen. Der Doktor gieng weigernd den Antrag ein. Nach wenigen Tagen erkrankte der Elsasser sehr toͤdtlich — erbrach sich — aß und trank nichts mehr (ausgenommen in seltenen einsamen Augen¬ blicken) — nahm das Abendmahl, das er und andere, wie er dachte, ja auch in gesunden Ta¬ gen naͤhmen. Endlich mußte zum Notar in der Nacht geschikt werden, damit er den lezten Wil¬ len aufsezte. Walt erschrak; Flittens tanzende bluͤhende Jugend hatt' er geliebt und ihn dauerte ihre Nie¬ derlage. Schwer, schwuͤl, bewoͤlkt legt' er den langen hohen Treppen-Gang zuruͤk. Die dicke Glocke schlug 11 Uhr, und ihm klang's, als be¬ wegte der Todesengel den Leichen-Kloͤppel darin. Matt und leise und geschminkt (aber weiß) lag der Elsasser da, unter sieben Testir-Zeugen, wo¬ von der Fruͤhprediger Flachs auch einer war, der es mit seinem blassen langen Gesicht zu keinem Vesperprediger bringen konnte. Walt nahm stumm voll Mitleids des Pa¬ zienten Hand mit der Rechten und zog mit der Linken sein Petschaft und Papier aus der Tasche; und uͤberzaͤhlte mit den Augen kurz die Zeugen. Er foderte drei Lichter, weil sie das promptua¬ rium juris von ihm foderte zu Nachttestamen¬ ten; war aber mit Einem elenden zufrieden, weil auf dem ganzen Leucht-Thurm kein zweites zu haben stand, desgleichen kein drittes, und er viel zu mitleidig und zu eilig war, jemand in die Nacht und den Thurm herabzuschicken nach Licht. Der Kranke fieng an, das erste Vermaͤchtnis zu diktiren, nach welchem dem Kaufmann Neupe¬ ter Flittens ganze Dividende am laͤngst erwarteten westindischen Schiffe zustarb, desgleichen ein ver¬ siegeltes mit OUF bezeichnetes Juwelenkaͤstgen, das von den Gebruͤdern Heiligenbeil in Bremen abzufodern war. — Es war sichtbar, daß Flitte, obwohl halb todt, doch uͤberall auf diktirte gut stilisirte Schreibart ausgieng. — Aber Walt mu߬ te einhalten und einen Loͤffel Wasser fordern, um einige Dinte aus dem Dintenpulver zu machen, in das er eintunkte. Als die Dinte fertig war, fand er wieder sehr ungern, daß die neue ganz anders aussehe als die alte, und daß er so das Instrument — geradezu entgegen allen Notariats- Ordnungen — mit doppelter Dinte hinschreibe. Gleichwohl bracht' er's nicht uͤber sein hoͤfliches Herz, alles zu zerreissen und von neuem anzu¬ heben. Darauf testirte der Kranke dem duͤrftigen Flachs seine silbernen Sporen und seinen mit See¬ hund bezognen leeren Koffer, und die Reitpeitsche. Dem D . Hut vermacht' er alles, was er an Aktiv- Schulden in der Stadt zu fodern hatte. Er mußte innen halten, um einige Kraͤfte zu schoͤpfen. „Auch vermach' ich dem H. Notar Har¬ nisch, hob er mit schwacher Stimme wieder an, fuͤr das Vergnuͤgen ihn zu kennen, alles, was sich theils an Baarschaft, theils an Wechseln nach meinem Tode bei mir vorfinden mag, und was sich gegenwaͤrtig nicht uͤber 20 Friedrichsd'or be¬ laufen wird, daher ich ihn bitte vorlieb zu neh¬ men, und meinen goldnen Fingerring noch bei¬ fuͤge.“ Walt konnte kaum die Feder fuͤhren; und wollt' es auch nicht mehr; denn er verroͤthete, vor so vielen Zeugen, und von einem sterbenden Menschen, dem er nichts vergelten konnte, so an¬ sehnlich beschenkt zu werden; er stand auf, druͤkte stumm vor Mitleiden und Liebe die gebende Hand und sagte: nein, und bat ihn, doch einen Arzt zu waͤhlen. „Dem Hrn. Stadtthuͤrmer Heering“ — woll¬ te Flitte fortfahren, sank aber geschwaͤcht durch Sprechen aufs Kissen zuruͤk. Heering sprang her¬ bei, lockerte die Kissen besser auf und sezte den Pa¬ zienten ein wenig in die Hoͤhe. Es schlug 12 Uhr; und Heering sollte nachschlagen; aber er wollte in einen solchen Aktus nicht haͤmmern auf der Glocke, sondern erhielt Stille, damit man den Testirer forthoͤre: „ihn also bedenk' ich mit meinem feinen weissen Zeuge, desgleichen mit allen meinen Klei¬ dern — nur die Reitstiefel gehoͤren der Magd — und alles was noch von einer reichbesezten Taba¬ tiere in meinem Koffer uͤbrig bleibt, wenn man davon Leichen- und andere Kosten bestritten hat.“ Bald nach einigen Legaten und nach den For¬ malitaͤten, die den lezten Willen eines Menschen noch mehr erschweren als den schlimmsten vorher, war alles abgethan. Noch drang der sichtbar mehr ermattende Elsasser darauf, daß der Notar jezt alle seine Effekten mit dem Notariatssiegel zu¬ petschiere. Er thats, da ihm alle Promptuarien, sowohl von Hommel als Muͤller, dafuͤr buͤrgten, daß er's koͤnne. Es war ihm bitter, von dem armen lustigen Vogel — der ihm Feder und goldne Eier zuruͤk¬ ließ — zu scheiden, und ihn schon in den Krallen der rupfenden Todes-Eule um sich schlagen zu sehen. Heering leuchtete ihm und saͤmtlichen Zeu¬ gen herab. „Mir will's schwanen, sagte der Thuͤrmer, daß er die Nacht nicht uͤbersteht; ich habe meine kuriosen Zeichen. Ich haͤnge aber mor¬ gen fruͤh mein Schnupftuch aus dem Thurme, wenn er wirklich abgefahren ist.“ Schauerlich trat man die langen Treppenleitern durch die lee¬ ren dumpfen Thurm-Gekluͤfte, worin nichts war, als eine Treppe, herunter. Der langsame eiserne Perpendikelschlag, gleichsam das Hin- und Her¬ maͤhen der an die Uhr gehangenen Eisen-Sense der Zeit, — das aͤussere Windstossen an den Thurm — das einsame Gepolter der 9 lebendigen Men¬ schen — die seltsamen Beleuchtungen, die die ge¬ tragene Laterne durch die oberste Empor hinunter in die Stuhlreihen flattern ließ, in deren jeder ein gelber Todter andaͤchtig sitzen konnte, so wie auf der Kanzel einer stehen, — und die Erwartung, daß bei jedem Tritte Flitte verscheiden und als bleicher Schein durch die Kirche fliegen koͤnne, — — das alles jagte wie ein banger Traum den Notar im duͤstern Lande der Schatten und Schrecken um¬ her, daß er ordentlich von Todten auferstand, als er aus dem schmalen Thurme unter den ofnen Sternenhimmel hinaustrat, wo droben Auge an Auge, Leben an Leben funkelte und die Welt wei¬ ter machte. — Flachs, als Geistlicher von den vier lezten Dingen mehr lebend als ergriffen, sagte zu Walt: „Sie haben Gluͤk bei Testamenten“. Aber dieser bezog es auf seinen Stil und Stand, er dachte an nichts, als an das naͤrrische huͤpfende Lebens- Karnaval, wo der zu ernsthafte Tod am Schlusse den Taͤnzern nicht nur die Larven abzieht, auch die Gesichter. Im Bette betete er herzlich fuͤr den jezt kaͤmpfenden Juͤngling um einige Abendroͤthe oder Fruͤhlingsstralen in der wolkigen Stunde, welche auf jeden Menschen, wie ein unendlicher Wolkenhimmel ploͤzlich oben herunter faͤllt und ihn zugehuͤllt aufloͤset. Er druͤckte dabei fest die Augen zu, um uͤber nichts zufaͤlliges etwan zu¬ sammen zu schaudern. N ro . 38. Marienglas. Raphaela . Als Gottwalt erwachte, hatt' er anfangs alles vergessen, und die Abendberge vor seinem Bettfenster standen so roth im Morgenschein, daß sein Wunsch der Reise wieder kam — darauf der Einwurf der Armuth — endlich der Gedanke, daß er aber ja uͤber 20 Louisd'or gebiete. Da sah er nach dem Stadtthurm, worauf als ei¬ nem castrum doloris nun der verstorbne Flit¬ te liegen konnte, und wollte traurig auf¬ blicken. Aber sein Gesicht blieb aufgeheitert, so mit¬ leidig er auch die Augen aufzog; die romantische Reise in solchen blauen Tagen — in solchen Verhaͤltnissen — so ploͤzlich geschenkt — das war ihm ein Durchgang durch die helleste Gluͤcks¬ sonne, wo es Licht staͤubt und man sich ganz mit Flimmern uͤberlegt. Ganz verdruͤslich zulezt daruͤber, daß er nicht traurig werden wollte, fuhr er ohne Gebet aus den Federn, und hoͤrte sein Herz ab. Er mochte aber fragen und zanken, so lang' er wollte, und dem Herzen den blaßen jungen Leichnam auf dem Thurme hinhalten, und dessen zugedruͤckte Augen, die mit keiner Morgensonne mehr auf¬ giengen: es half gar nichts, die Reise und mit¬ hin die Reisegelder behielten ihren Goldglanz, und das Herz sah sehr gern hinein. Endlich fragt' er aufgebracht, ob es denn, wie er sehe, des Teufels lebendig sei und ob es, wenn es koͤnnte, etwa den armen Testator nicht sogleich und mit Freuden rettete und aufbraͤchte? Man besaͤnftigte ihn ein wenig durch die Antwort: mit Freuden und auf der Stelle. Hier fiel ihm das Versprechen des Thuͤrmers ein, ein weisses Schnupftuch als Trauerflagge am Thurme aus¬ zustecken, wenn der junge Mensch verschieden waͤre. Da er aber droben keines fand, und doch daruͤber einige Freude verspuͤrte: so entlies er das arme verhoͤrte Herz und war ordentlich auf sich aͤrgerlich, ohne Noth dem ehrlichen guten Schelm so zugesezt zu haben. Er haͤtt' aber nur diesen Schelm fragen sollen, wie ihn bei zehnmal groͤßerer Erbschaft, z. B. der Tod des Bruders gestimmt haben wuͤrde: so wuͤrd' er, wenn er gefunden haͤtte, daß dann die Last viel zu schwer, der Kopf zu gebeugt gewesen waͤre, um nur etwas anderes zu sehen, als das Grab und den Verlust, leicht den Schluß gezogen haben, daß nur die Liebe den Schmerz erschaffe, und daß er vergeblich einen zu großen, bei einer zu kleinen fuͤr den El¬ sasser von sich gefordert. Izt sah er ein weisses Schnupftuch, aber nicht am Thurm, sondern an Raphaelen, die im Parke traurig lustwandelte, und welcher die modische Taschenlosigkeit das Gluͤck gewaͤhr¬ te, diesen Schmuͤcklappen des Gefuͤhls, diese Flughaut der Phantasie in der Hand zu haben. Sie sah oft nach dem Thurme, einigemal an sein Fenster, gruͤst' ihn mitten im Schmerz; ja als wenn sie ihm winke, hinunter zu kommen, kam es ihm vor, aber nicht glaublich genug, weil er aus englischen Romanen wuste, wie weit weibliche Zartheit gehe. Indeß kam Flora und bat ihn wirklich hinab. Er gieng zur Bewegten als ein Bewegter. „Ich denke mir leicht, dacht' er sich auf der Treppe, wie ihr ist, wenn sie an den Stadt¬ thurm sieht, und droben den Einzigen Menschen bald aufgebahret glauben muß, der nur durch eine herzlichste Liebe, wie eine muͤtterliche gegen ein misgeschafnes Kind, den Eindruck ihrer Widrigkeit schoͤn uͤberwand.“ — „Verzeihen Sie meinen Schritt — fieng sie stockend an, und nahm das Schnupftuch, diese Schuͤrze eines troknen Herzens, von den feuchten Augen weg, — wenn er Ihnen mit der Delikatesse, die mein Geschlecht gegen Ihres behaupten muß, sollte zu streiten scheinen.“ Schade oder ein Gluͤck war's, daß sie gera¬ de diese Phrasis nicht dem hastigen Quoddeus Vult sagte; denn da es schwerlich in Europa oder in Paris oder Berlin, einen Mann gab, der es in dem Grade so verfluchte — und er¬ rieth — als er, wenn eine Frau bestimmt auf ihr Geschlecht und auf das fremde und auf die noͤthigen Zartheiten zwischen beiden hinwies und es haͤufig anmerkte, wie da mancher Handkuß sie eine unreine Seele errathen lasse, dort man¬ cher wilde Blick, und wie das zaͤrtere Geschlecht sich gar nicht genug decken koͤnne: so wuͤrde der Floͤtenspieler ohne Umstaͤnde geaͤussert haben: „eine freimuͤthige H — sei eine kecke Heilige gegen solche Abgruͤnde feiger und eitler Sinnlichkeit zu¬ gleich — er kenne dergleichen Herzen, welche das Schlimme argwohnen, um nur es ungestraft zu denken, die es woͤrtlich bekriegen, um es laͤnger fest zu halten, — ja manche sehen sich wohl gar in der Arzneikunde ein wenig um, da¬ mit sie im Namen der Wissenschaft (diese habe kein Geschlecht) ein unschuldiges Wort reden koͤnnen — und lagern sich vor dem Altar und uͤberall wie Friedrich II so schlachtfertig, en ordre de bataille , wie auf dem Sopha.“ — „Warlich, sezt' er dazu, sie gehen ins leibliche, oder ins geistige Zergliederungshaus, um die Leichen zu — sehen. „Unschuld, nur, wenn du dich nicht kennst, wie die kindliche, dann bist du eine; aber dein Bewustsein ist dein Tod.““ So scheint gleichnisweise, zermalmtes Glas ganz weis , aber ganzes ist beinahe gar unsichtbar . So dachte aber nicht Walt: sondern als Raphaela an ihn die obige Anrede gehalten, gab er die aufrichtige Antwort, daß er nicht einmal bei seinem eignen Geschlechte, geschweige bei dem heiligsten, das er kenne, irgend einen Schritt anders auslege, als das fremde Herz be¬ gehre. Indeß hatte sie ihn weiter nichts zu fragen, als: wie der Sterbende — dem sie als einem Freunde ihres Vaters wohl gewollet, wie allen Menschen und den sie sehr bedauert — sich in der Nacht bei seinem lezten Willen (wovon durch die sieben Zeugen, als durch sieben Thore eben so viele Brode hinlaͤnglicher Nachrichten der Stadt herausgereicht waren) sich benommen ha¬ be, was sie gern zu wissen wuͤnsche, da ein Sterbender ein hoͤheres Wort sei als ein Le¬ bender. Der Notar antwortete gewissenhaft, das heisset als ein Notar, und sagte, er hoffe, nach dem Schnupftuch zu schließen, er sei noch leben¬ dig. Sie berichtete, daß der D. Hut, der geru¬ fen worden, ihn zwar angenommen, aber als ei¬ nen verlornen Menschen, und sie wuͤnschte dem Doktor, mit ihrem weichen Leumund, keine un¬ gluͤckliche Kur. „Das ist doch schon was, und die uͤberleb¬ te Nacht dazu“ versezte Walt ganz wohlge¬ muth. Aber sie versicherte, sie troͤste sich leider nicht so leicht und sie sei uͤberhaupt so ungluͤck¬ lich, daß das fremde Leiden, auch das kleinste ihrer Verwandten, sie heftig angreife und sie Thraͤnen koste. Sie brach in einige aus; sie wurde von sich so leicht, als von andern schwer geruͤhrt. Auch ist das Sprechen von Weinen bei Weibern ein Mittel zum Weinen. Der No¬ tar war seelenvergnuͤgt uͤber alle die Ruͤhrungen die er theils sah, theils theilte. Liebes Frauen- Weinen war ihm eine so seltene Kost, als langer gruͤner Ungar, Nierensteiner Hammelhoden, Wormser liebe Frauen-Milch oder andere Wei¬ ne, die bei H. Kaufmann Corthum in Zerbst zu haben sind. Er blikte ihr mit allen Zeichen des theilnehmenden Herzens in ihre Augen voll Was¬ ser-Feuer, und haͤtte wohl gewuͤnscht, die Deli¬ katesse englischer Romane verstattete ihm, ihre zarte weisse Hand in etwas zu fassen, welche vor ihm stark im besonnten Gruͤne gaukelte, und in den Thau der Gebuͤsche fuhr, und darauf ins Haar, um es damit nach der Vorschrift eines Englaͤnders wie andere Gewaͤchse zu staͤrken. Beide stellten sich jezt — der Pyramide und dem steinernen Grosvater auf der Insel gegen¬ uͤber — an eine Urne aus Baumrinde. Raphae¬ la hatte eine Lesetafel mit der Inschrift: „bis daher dauere die Freundschaft“ daran gemacht. Sie schlang den Arm aufwaͤrts um die Urne, so daß er immer schneeweisser wurde durch Bluts-Verhalt, und versicherte, hier denke sie oft an ihre ferne Wina von Zablocki, die ihr leider jaͤhrlich zweimal, durch die Michaelis- und die Ostermesse, nach Leipzig vom Generale entfuͤhret werde, seinem Vertrage mit der Mut¬ ter zufolge. Ohne ihr Wissen war ihr Ton durch langes Beschreiben der Schmerzen ganz munter geworden. Walt lobte sehr ihre Freund¬ schaft und ihre — Freundin. Sie erhob die Freundin noch gewaltiger als er. Da konnt' er nicht laͤnger mit dem anschwellenden Herzen blei¬ ben. Mit Zuruͤckberufung des alten Klagetons und einem Trauerblik gegen den Thurm schied sie von dem Juͤngling. In diesem aber wurde ein Flug von Daͤm¬ merungsvoͤgeln — um seine Ideen so zu nen¬ nen — wach und flog ihm 36 Stunden lange dermaßen um seinen Kopf, daß er ihnen nicht anders zu entkommen wuste, als — zu Fuß, durch eine Reise. Winas lebendigeres Bild — die September-Sonne, die aus blauem Aether brannte — moͤgliches Reisegeld — und ein gan¬ zes wuͤnschendes Herz, das alles auf der einen Seite — und auf der andern und schlimmen D. Huts lautes Bedauern und Rezeptiren — Flit¬ tes laute Agonien — Heerings peinliches Schnupf- oder Bahrtuch, das jede Minute flat¬ tern konnte — Walts versaͤumte poetische Sing- Stunden (denn was war in solcher Krisis zu Flegeljahre III . Bd. 5 dichten?) — viele gesperrte Traͤume — und end¬ lich 36 innere Fecht-Stunden dazu — — so viel und nicht weniger muste sich in einander hacken, damit Walt, weil's nicht mehr auszu¬ halten war, keine weitere Umstaͤnde machte, son¬ dern zwei noͤthige Gaͤnge, den ersten zu den Te¬ staments-Vollstreckern, um den dritten langen anzusagen als Notariats-Pause; und darauf den zweiten zum Floͤtenspieler, um ihm hun¬ dert Anlaͤsse zur Reise, und die Reise zu melden. Beide Bruͤder freuten sich wochenlang auf alles, was jeder nun dem andern Geschichtliches werde zu erzaͤhlen haben, wenn er wochenlang weggewesen; jezt war Walt der Geber. Vult hatte sich uͤber viel zu wundern. Sehr schwer fiel' es ihm, die juristische Regel, daß Worte eines Sterbenden Eiden gleich gelten wie die ei¬ nes Quaͤkers, auf den prahlenden Flitte anzu¬ wenden; indeß blieb ihm die Angel verdeckt, um welche sich die ganze Taͤuschung drehte. „Mir ist, sagt' er, als haͤtten die Narren dich zum — Weisen; ich weiß aber nicht wo. Um Got¬ teswillen, junger Mensch, sei eine Kutsche, (fol¬ ge einem aͤltern) und habe hinten dein rundes Fenstergen, damit kein Dieb dir Geld abschnei¬ det oder Ehre.“ Ich habe leider nichts zu erzaͤhlen, sagte Vult. Aber der Notar konnte zum Gluͤck noch viel Mittheilen. Er erzaͤhlte chronologisch — denn Vult gebot's, weil jener sonst alles ausließ — und mit hoͤchster Behutsamkeit — denn Walt kannte dessen unmetrische Haͤrten gegen Weiber — Raphaelens Gespraͤch. Allein es half wenig; er ha¬ ste alles Neupeter'sche und besonders das weibliche. „Raphaela, sagt' er, ist lauter Lug und Trug.“ — „Und einer so armen Haͤslichen, versezte Walt, koͤnnt' ich einen vergeben, obgleich we¬ der mir noch einer noch einem Geliebten.“ — „Sie will nur, das mein' ich — fuhr Vult fort — sich auf ihre innere Brust bruͤsten, und waͤhrend Ein Liebhaber ausloͤscht, einen Suk¬ zessor im 'truͤben Thraͤnenwasser erfischen. Ein Weib ist ein weiblicher Reim, der sich auf zwei Laute reimt; ein maͤnnlicher auf einen . Es ist nicht viel besser, Alter, als wenn sie als Falkenier zu dir Falken sagte, und sich als Tau¬ be dir vorwuͤrfe: rupf' an, Maͤnngen!“ „Die Moͤglichkeit solcher Taͤuschungen — sagte Walt — seh' ich wohl auch voraus, und dein Argwohn ist mir oft nichts neues; aber uͤber die Wirklichkeit in jedem Falle, dar¬ uͤber ist der Skrupel. Und Liebe kann ja eben so wohl stimmen als Haß verstimmen. Ist Ra¬ phaelens Freude uͤber mein Lob auf ihre Freun¬ din kein schoͤnes Zeichen?“ — „Nein, sagte Vult. Nur eine Schoͤnheit ist an ausschliessen¬ de Grade des Lobes und Feuers verwoͤhnt und hasset jede Unvollstaͤndigkeit und Theilung der fremden Empfindung; aber eine untergeordnete Gestalt ist genoͤthigt zur Zufriedenheit mit mitt¬ lern Stufen, und vergiebt manches, ausgenom¬ men manches.“ Walt hatte nichts weiter zu berichten, als seinen Plan, den reinen Himmel zu athmen auf einigen Tagreisen, wo er auf nichts ausgehe, als auf den Weg. Vult genehmigte ihn stark. Jener wollte sehr scheiden; aber der Floͤtenspieler, durch Reisen der Abschieds-Abende gewohnt, machte nicht viel Wesens, sondern sagte lustig: fahre dahin, fahre daher, gute Nacht, gluͤckli¬ che Reise.“ Die schoͤnsten Reise-Winke standen am Him¬ mel. Glaͤnzend-scharf durchschnitt die Mond- Sichel der Abendblumen das Blau; frische Mor¬ genluft strich schon uͤber dunkelrothen Wolken- Beeten am Himmel; und ein Stern nach dem andern verhieß einen reinen Tag. N ro . 39. Papiernautilus. Antritt der Reise. Am Morgen sah er auf der Schwelle reise¬ fertig noch einmal seine dunkle westliche Stube an, darauf sogar in die Kammer hinein, und flog mit zwei liebreichen Blicken, die einen Ab¬ schied bedeuten sollten, und mit einem an den Thurm, dem der Tod noch kein Schnupftuch zu¬ geworfen, freudig auf einen leeren Plaz am Thore hinaus, wo er sich uͤberall umsehen, und unter den vier Holz-Armen eines Wegzeigers, bei sich festsetzen konnte, wohin er gegenwaͤrtig gedenke, ob nach Westen, Norden, Nordosten, oder Osten; aus Suͤden, dem Stadtthor, kam er aber h er. Seine Hauptabsicht war, den Namen der Stadt gar nicht zu wissen, der er etwa unter Wegs aufstieß, desgleichen der Doͤrfer. Durch eine solche Unwissenheit hoft' er ohne alles Ziel unter den geschlaͤngelten Blumenbeeten der Reise umher zu schweifen, und nichts zu begehren so wie zu besehen, als was er eben habe — in ei¬ nem fort bei jedem Tritte anzukommen — sich in jedes goldgruͤne Lust-Waͤldgen zu betten, und staͤnd' es hinter ihm — in jeder Ortschaft selber den Namen der Ortschaft zu erfragen, und daruͤber sich ganz heimlich zu ergoͤtzen — und dabei, bei solchen Maasregeln in einem solchen Strich Landes, der vielleicht mit Landhaͤusern, Irrgaͤrten, Tharanden, plauischen Gruͤnden vor¬ her, Bergschloͤssern voll heruntersehender Fraͤu¬ leins-Augen, Kapellen voll aufgehobner Beter- Augen und uͤberhaupt mit Pilgern, Zufaͤllen und Maͤdgen ordentlich uͤbersaͤet sein konnte, in romantische Abentheuer von solcher Zahl und Guͤte hinein zugerathen, als er freilich nie erwar¬ ten wollen. „Mein guter Unendlicher in deinem blauen Morgenhimmel, betete er in seiner durchdringen¬ den Entzuͤckung, lasse doch die Freude dasmal nichts vorbedeuten.“ Er hatte sich in Acht genommen, an den Wegweiser hinauf zu sehen, der wie ein Affe vier Arme hatte, um nicht etwa an den abgewasche¬ nen Armroͤhren einer Stelle ansichtig zu werden, von welcher die Zeit, besonders die Regenzeit, den Namen der Post-Stadt noch nicht rein weg¬ gerieben hatte. Am welt- und geistlichen Arm- Paar waͤr' er diese Gefahr nicht gelaufen, son¬ dern dieses zeiget allgemeiner ins Blaue. In Norden lag Elterlein; in Osten standen die Pestizer oder Lindenstaͤdter Gebuͤrge, uͤber welche die Strasse nach Leipzig — auch eine Lin¬ denstadt — weglief; zwischen beiden nun nahm der Notar den Weg, um die Hoͤhen, hinter wel¬ chen die holdselige Wina jezt rollte oder ruhte, niemals aus den Augen zu verlieren, welche bald aus Blumenkelchen, bald aus Wolken auf Ge¬ buͤrgen trinken wollten. — Ein Gluͤck ist's fuͤr den gegenwaͤrtigen Beschreiber der Reise und des Rei¬ senden, daß Walt selber fuͤr sein und des Floͤ¬ tenisten Vergnuͤgen ein so umstaͤndliches Tage- oder Sekunden-Buch seiner Reise gleichsam als ein Opfer- und Sublimier-Gefaͤß des Lebens vollgefuͤllt, daß ein anderer weiter nichts zu thun braucht, als den Deckel diesem Zucker- und Mutterfasse auszuschlagen und alles in sein Din¬ tenfaß einzulassen fuͤr jeden, der trinken will. Der leidende Mensch hat einen Erfreueten noͤthig — der Erfreuete in der Wirklichkeit einen in der Poesie — und dieser, wie Walt, verdoppelt sich wieder, wenn er sich beschreibt. „Fast wollt' ich hoffen, so faͤngt Walt das Sekunden- und Terzienbuch an Vult an, daß mein liebes Bruͤderlein mich nicht auslachen wer¬ de, wenn ich meine unbedeutende Reise nicht so wohl in deutsche Meilen als russische Werste ab¬ theile, welche als bloße Viertelstunden freilich sehr kurz sind, aber doch nicht zu kurz, ich mei ne fuͤr einen Menschen auf der Erde. So wie es nicht auszukommen waͤre mit dem fluͤchtigen Leben, wenn man es, statt an Minuten- und Stunden-Uhren, lieber an Achttage- oder gar Saͤkular-Uhren abmaͤße, gleichsam einen kurzen Faden an ungeheuern Welt-Raͤdern: so moͤchte man, zumal wenn ein Reich es thut, dem es am wenigsten an Raum fehlt, das russische, dieselbe Entschuldigung haben, wenn man, da der kleine Fuß und der Schuh des Menschen so¬ wohl sein eignes Maas als das seiner Wege ist, fuͤr bloße Fußreisen die Werste zum Wegmesser erwaͤhlt. Die Ewigkeit ist ganz so groß als die Unermeslichkeit; wir Fluͤchtlinge in beiden haben daher fuͤr beide nur Ein kleines Wort, Bruder, Zeit-Raum .“ Als er seine erste Werste nordoͤstlich antrat, Winas Gebuͤrge und die Fruͤh-Sonne zur Rech¬ ten und mitlaufende Regenbogen in den bethaue¬ ten Wiesen zur Linken: so schlug er die Haͤnde als Schellen einer morgenlaͤndischen Musik gegen einander vor Lust und wurde so leicht und be¬ hend von sich selber dahin getragen, daß er kaum aufzutreten brauchte! Laͤuferschuhe und Hosen¬ saͤcke der Ohnehosen geben dem Menschen, wenn er sonst lange Stiefel und kurze Hosen trug, fast Fluͤgel. Sein Gesicht war voll Morgenluft und ein Orient der Phantasie war in seinen Bli¬ cken gemahlt. Sein saͤmmtliches Muͤnzkabinet oder Studentengut hatt' er eingesteckt, als Sur¬ plus- und Operazionskasse, um an dieser Geld- Kaze einen Schwimm-Guͤrtel fuͤr alle Hoͤllen- und Paradieses-Fluͤsse zugleich zu haben. Er bewegte sich durch das widerstrebende Leben so frei wie der Schmetterling uͤber ihm, der nichts braucht als eine Blume und einen zweiten Schmet¬ terling. Der Kunststraße, woran er einen gan¬ zen Klumpen Reformatoren und Weg-Frotteurs stampfen und klopfen sah, gieng er aus dem Wege, weil er sich nicht damit plagen wollte, entweder Einen Morgengrus lang durch sie hin¬ zuziehen, oder den naͤmlichen laͤcherlich immer von neuem zu sagen, und doch wohl falsch ab¬ zusetzen. Huͤgelauf, Thalein lief er in nassen Gras-Bluͤthen und verlohr und erhielt abwech¬ selnd die Stadt, von welcher er indeß wuͤnschte, daß er sie endlich einbuͤste, weil ihm sonst immer nicht recht war, als sei er fort. Er muste noch zwei starke Werste zuruͤck le¬ gen, ehe sie hinter den Obsthuͤgeln untergieng. Noch war ihm nichts besonders unterwegs begeg¬ net, als der Weg selber, als er seinen Gruß ei¬ nem Menschen, dessen Gesicht ein Schnupftuch zuband, im Fluge zuwerfen konnte. Er gieng so lange fort, bis er glauben durfte, der Mann habe sich umgesehen, und er koͤnn' es auch, oh¬ ne zusammen zu stossen. Aber eben sah jener her. Er gieng wieder weiter und blickte um — der Bandagist seiner Seits auch. Als er's zum drittenmal that, merkte er, daß der Mann trotzig stehen bleibe, und daß ihn die Ruͤcksicht gar verdruͤße. Da ließ ihn Walt laufen und stehen. Er stieß bald — so wuchsen die Abentheuer — auf drei alte Frauen und eine blutjunge, welche mit hochaufgethuͤrmten Koͤrben voll Lese¬ holz aus einem Waͤldgen kamen. Auf einmal standen sie alle in gerader Linie zugleich hinter einander still, die schweren Koͤrbe auf den schief¬ untergestellten Stecken auflehnend, die sie vorher als Badinen getragen. Sein Herz machte viel dar¬ aus, daß sie, wie Protestanten und Katholiken in Wezlar, ihre Ferien und Feiertage des Gehens gemeinschaftlich abthaten, um beisammen zu blei¬ ben und fort zu reden. Nie entwischte seinem Auge die kleinste Handvoll Federn oder Heu, wo¬ mit sich der Arme die harte Pritsche in der Wacht¬ stube seines Lebens etwas weicher bettet und sich die Marterbank auspolstert. Ein liebender Geist spuͤret gern die Freuden der Armen aus, um dar¬ uͤber eine zu haben; ein hassender aber lieber die Plagen, seltener um sie zu heben, als um uͤber die Reichen zu bellen, die er vielleicht selber ver¬ mehrt. Herzlich gern wollt' er den Fracht- und Kreuz¬ traͤgerinnen einige Groschen Trage-Lohn auszah¬ len; er schaͤmte sich aber vor so vielen Zeugen ei¬ ner warmen That. Darauf schob ein Mann ei¬ nen Karren voll hoher klappernder Blechwaaren daher; sein Toͤchtergen war als Vorspann vorge¬ legt; beide keuchten stark. Es zwang ihn, sich mit dem Karrenschieber zusammen zu halten und sich auf die eine Wagschale zu stellen, den Kaͤr¬ ner auf die andere. Da er nun sogleich bemerkte, wie sehr er mit seinen Gluͤckslosen und Zucker¬ huͤten den Kaͤrner uͤberwiege — der alten Holz¬ weiber nicht einmal zu gedenken —; da er finden mußte, daß sein freies fliegendes Fortkommen ge¬ gen das traͤge Karren- und Stunden-Rad des Mannes gemessen, mehr der freudigen leichten Weise beikomme, wie die Grossen reisen: so wurd' er roth uͤber seinen Reichthum und Stand — er sah die Weiber noch halten und lehnen — er lief zuruͤck mit vier Gaben und eilig davon. „Bei Gott, schreibt er in sein Tagebuch, um sich ganz zu rechtfertigen — der armselige fluͤchti¬ ge Sinnen-Kizel einer bessern Nahrung, welchen etwan ein paar geschenkte Groschen bereiten koͤn¬ nen und uͤberhaupt der Genuß , der kann nie der Anlas werden, daß man die Groschen so freu¬ dig hinreicht; aber die Freude , die man da¬ durch auf einen ganzen Tag lang in ein ausge¬ hungertes Herz und in seine welken, kalten engen Adern auswaͤrmend hinein giesset, dieser schoͤnste Himmel anderer Menschen ist doch wohl wohlfeil genug damit erkauft, daß man selber einen dabei hat.“ Hier kramt er weitlaͤuftig seinen alten Traum von dem Gluͤcke eines reisenden Mylords aus, auf einmal durch eine ofne volle Hand ein ganzes Dorf unter Bier und Fleischbruͤhe zu se¬ zen und in ein Elysium langer Erinnerung. Mit drei Himmeln im unschuldigen Gesicht — noch einen mehr hatt' er auf den Gesichtern hinter sich gelassen — glitt er leicht von Thautropfen zu Thautropfen. — Das Herz wird wie ein Luft¬ schif durch den Auswurf des schwersten Ballastes, des Geldes, so leicht, so schnell, so hoch. In¬ deß traf er ziemlich spaͤt in dem nur vier kleine Werste entlegenen Haͤrmlesberg ein. Denn uͤberall saß und schrieb, oder stand und sah er oder las alles — jede Inschrift einer Steinbank — und wollte keine Kleinigkeit uͤbergehen, sie muͤßte denn Bevoͤlkerung, Stallfuͤtterung, Wiesenwuchs, Lehmboden und dergleichen betroffen haben. „Drinnen will ich, sagt' er zu sich, da ich doch einem grossen Herren aͤhnlich scheinen soll, mein déjeûner d'inatoire einnehmen“ und trat in den Krug. N ro . 40. Cedo nulli . Wirthshaͤuser — Reisebelustigungen . Der Notarius, der unter die Menschen ge¬ hoͤrte, welche wohl Jahre lang daheim sparen koͤnnen, aber nicht unterwegs — hingegen andere kehren es gerade um — foderte kek sein Noͤsel Landwein. Dabei aß und saß er und beobachtete vergnuͤgt die Wirthsstube, den Tisch, die Baͤnke und die Leute. Als einige Handwerkspursche ih¬ ren Kaffee bezahlten: bemerkte er sehr wahr, daß die Milchtoͤpfgen in Franken ihren Giesschnabel dem Henkel gegenuͤber haben, in Sachsen aber links oder gar keinen. Mit gedachten Purschen gieng seine Seele heimlich auf Reisen. Giebt es etwas schoͤneres, als solche Wanderjahre in der schoͤnsten Jahrszeit und in der schoͤnsten Lebenszeit, bei solchen Diaͤtengeldern, die man unterwegs bei jedem Meister erhebt, und bei solcher Leichtigkeit, in die groͤßten Staͤdte Deutschlands ohne alle Reise¬ kosten zu gehen, und sobald kaltes nasses Wetter einbricht, sogar auf einem Arbeitsstuhl haͤuslich zu nisten und zu bruͤten wie der Kreuzschnabel im Winter? — „Warum, (schreibt sein Tagebuch Vulten,) muͤssen die armen Gelehrten nicht wan¬ dern, denen das Reisen und das Geld dazu gewis eben so noͤthig und dienlich waͤre als allen Ge¬ sellen?“ — „Draussen im Reich“ sagte stets Walts Va¬ ter, wenn er bei Schneegestoͤber von seinen Wan¬ derjahren erzaͤhlte; und daher lag dem Sohne das Reich in so romantischem Morgenthau blizend hin als irgend eine Quadratmeile von Morgen¬ land; in allen Wandergesellen verjuͤngte sich ihm die vaͤterliche Vergangenheit. Jezt fuhr ein Salzkaͤrner mit Einem Pferde vor, trat ein, wusch sich in einer ganz fremden Stube oͤffentlich und troknete sich mit dem an einem Hirschgeweih' haͤngenden Handtuch ab, oh¬ ne noch fuͤr einen Kreuzer verzehrt oder begehrt zu haben. Walt bewunderte den kraͤftigen Welt¬ mann, ob er gleich nich aͤhig gewesen waͤre, sich nur unter vier Augen die seinigen zu waschen. Dennoch exerzirte er — da er in etwas getrun¬ ken — einige Wirthshaus-Freiheiten, und gieng in der Stube wohlgemuth umher, ja auf und ab. Ob er gleich nicht im Stande war, unter ei¬ ner fremden Stubendecke den Hut aufzubehalten — sogar unter seiner sah er ungern bedekt aus dem Fenster aus Artigkeit —: so hatt' er doch seine Freude daran, daß andere Gaͤste ihren auf¬ hatten, und sonst uͤberall von den herrlichen aka¬ demischen Freiheiten und Independenzakten der Wirthsstuben den besten Gebrauch machten, es sei, daß sie lagen, oder schwiegen, oder sich kraz¬ ten. Ihm schienen die Wirthsstuben ordentlich als huͤbsche geraͤumliche, aus abgebrochenen ein¬ geaͤscherten Reichsstaͤdten unversehrt herausgeho¬ bene reichsunmittelbare Diogenes-Faͤsser vorzu¬ kommen, als huͤbsche aus Marathons-Ebenen ausgestochne Gruͤnplaͤtze, vom Keller gruͤnend ge¬ waͤssert. Es wurde schon erwaͤhnt, daß er auf und ab gieng; aber er gieng weiter und — denn das Wirthshausschild sezt' er als Achilles-Schild vor, den Weinbecher als Minervens Helm auf — schrieb unter aller Augen ein und das andere Tex¬ teswort in seine Schreibtafel, um, wenn er allein waͤre Abends im Quartier, daruͤber zu predigen. Flegeljahre III . Bd. 6 Auch trug er ein, daß auf dem Schilde des Wirthshaͤusgens ein Schilderhaͤusgen stand. Der Muth der Menschen waͤchset leicht, ist er nur herausgekeimt; — Kommende gruͤßten leise, Gehende laut; der Notarius dankte beiden lauter. Er war so freudig bei einem Freudenbe¬ cher, den nicht einmal saͤchsischer Landwein haͤtte waͤssern koͤnnen. Er liebte jeden Hund, und wuͤnschte von jedem Hund geliebt zu seyn. Er knuͤpfte deswegen mit dem Wirthsspize — um nur etwas fuͤr das Herz zu haben — ein so en¬ ges Band von Bade-Bekanntschaft und Freund¬ schaft an als ein Stuͤckgen Wursthaut bei solchen Wesen seyn kann. Fuͤr warmherzige Neulinge sind wohl stets die Hunde die Hundssterne, durch deren Leitung sie zur Waͤrme der Menschen zu ge¬ langen suchen, sie sind so zu sagen die Saufinder und Truͤffelhunde tief verstekter Herzen. „Spiz, gieb die Pfote, rief der Wirth in Haͤrmlesberg. Spiz, oder der Spiz — denn der Gattungsname ist, was bei dem Menschen selten, in Deutschland und in Haslau, zugleich der persoͤnliche, ausge¬ nommen in Thuͤringen, wo die Spize Fixe heis¬ sen — Spiz druͤkte dem Notar die Hand, so weit er wußte. „Gebt dem Herrn auch eine Patschhand, Bestien, rief der Wirth, als drei kleine, arm¬ lange gepuzte Maͤdgen von einerlei Statur und Physiognomie an der Hand einer jungen schoͤnen, aber schneeblassen Mutter hereintraten aus der Schlafkammer. „Es sind Drillinge und sollen zu ihrer Frau Pathin“ sagte der Wirth. Gott¬ walt schwoͤrt im Tagebuch, daß etwas „aller¬ liebsteres herzinniglicheres“ es gar nicht gebe, als drei so liebe huͤbsche, niedliche Maͤdgen von einer¬ lei Hoͤhe, mit ihren Schuͤrzgen, und Haͤubgen und runden Gesichtergen sind, wobei nur zu bedauern sei, daß es Drillinge gewesen, und nicht Fuͤnf¬ linge, Sechslinge, Hundertlinge. Er kuͤßte sie alle vor der ganzen Wirthsstube kurz und wurde roth; — es war halb, als hab' er die zarte blei¬ che Mutter mit der Lippe angeruͤhrt; auch sind ja die guten Kinder die schoͤnste Wesen- und Jakobs¬ leiter zur Mutter. Dabei sind solche winzige Maͤdgen fuͤr Notarien, welche ohne Muth und ohne Elektrisir- und Sprachmaschine fuͤr erwach¬ sene Maͤdgen dazustehen fuͤrchten, ordentlich die schoͤnen Ableiter und Zuleiter, geschenkte Rechen¬ knechte fuͤr den Augenblik; — man wundert sich froͤlich und heimlich, daß man ein Ding wie ein Maͤdgen, so dreist umhalset. Walt wurde der Kleinern spaͤter satt, als sie seiner. Er war ja dem Drilling — als eigner Zwilling — viel ver¬ wandter, als alle Gaͤste in der Stube. Er be¬ schenkte sie geldlich zur hoͤchsten Freude der Mut¬ ter. Dafuͤr bekam er drei Kuͤsse, die er lange zuruͤklieferte, nur bei sich betruͤbt, daß ein Tausch¬ handel solcher Artikel selber so fruͤh dem Tausche der Zeit heimfalle. „Ei, Herr guter Harnisch!“ sagte der Wirth. Walt wunderte sich uͤber die Kenntnis seines Namens, aber nicht ohne Ver¬ gnuͤgen, ja mit einiger Hofnung, daß es, nach einem solchen Anfange zu urtheilen, wohl noch seltsamere Avantuͤren zu erleben gebe. Er wollte daher lieber nicht fragen, wie und wo und wann, aus Furcht, um seine Hofnung zu kommen. Mit Wollust sah er zu, wie der Vater sich von den Kindern Aepfel abkaufen ließ, um Walts Geld von ihnen zu haben — und wie die Mutter dem ersten Drilling Brod zulangte, damit er wieder davon furchtsam eine Ziege unter dem Fen¬ ster abknuppern liesse — und wie der zweite herz¬ haft in einen Apfel einbiß, ihn dem dritten zum Beissen hinhielt, und wie beide ihn wechselnd an¬ bissen und reichten und jedesmal laͤchelten. „O waͤr' ich nur ein wenig allmaͤchtig und unendlich — dachte Walt — ich wollte mir ein besonderes Weltkuͤgelgen schaffen und es unter die mildeste Sonne haͤngen, ein Weltgen, worauf ich nichts sezte, als lauter dergleichen liebe Kinderlein; und die niedlichen Dinger ließ' ich gar nicht wachsen, sondern ewig spielen. Ganz gewis, wenn ein Seraph himmelssatt waͤre oder sonst die goldnen Fluͤgel haͤngen liesse, koͤnnt' ich ihn dadurch her¬ stellen, daß ich ihn einen Monat lang auf meine springende jubelnde Kinderwelt herabschikte, und kein Engel koͤnnt', so lange er ihre Unschuld saͤhe, seine eigene verlieren. Endlich ruͤkten die Kinder, einander an den Haͤnden zu fuͤhren befehligt, mit der Mutter aus, zur Frau Pathin. Ein langer Tyroler mit gruͤ¬ nem Hut, von welchem bunte Baͤnder flatterten. trat singend hinein. — Walt trank und brach auf. Schoͤn war draussen die Welt, sogar noch in Haͤrmlesberg. Im Dorfe wurde Zimmerholz mit lauten Schlaͤgen zugehauen, und, mit der rothen Meßschnur angeschnellet, in gerade For¬ men abgetheilt; — alle Kinderszenen unter dem Bauholz seines Vaters kamen mit dem Rosenho¬ nig der Erinnerung aus den Kindheitsrosen bela¬ den zuruͤk. Bleicherinnen mit grossen Huͤten be¬ gossen, leicht gebuͤkt, die weissen Beete aus Flachs-Lilien. Aus dem Hut, den ein Maͤdgen an langen Baͤndern an der Hand herunter haͤngen ließ, floh er zu den blauen, gelben Glaskugeln eines Gartens auf, und wiegte sich uͤberall. Izt kam er in die lange Gasse des aus Ber¬ gen, wie aus Pallaͤsten zusammen gereiheten Ro¬ sana-Thals hinein — Edens Gartenschluͤssel wurden ihm vorn uͤberreicht, und er sperrte es auf. „Der voͤllige Fruͤhling ist da, der Orpheus der Natur, sagt' ich (schreibt er) denn die Wiesen bluͤhen ja — die Dotterblumen stehen so dicht — den Heu-Bergen ziehen kleine Kinder mit grossen Rechen kleine Huͤgel zu — oben aus den Waͤldern der Berge ruft die Waldlerche und die Drosseln herrlich herunter — schoͤne Fruͤhlingswinde ziehen durch das lange Thal — die Schmetterlinge und die Muͤcken halten ihren Kinderball und der Ro¬ sennachfalter oder das Goldvoͤgelgen sizt still auf der Erde — die Blaͤtter der Kirschbaͤume gluͤhen roth, wie ihre Fruͤchte, nach, und statt blasser Bluͤthen fallen schoͤn bemalte Blaͤtter — und im Fruͤhling wie im Herbste zieht die Sonne am Spinnrade der Erde fliegendes Gewebe aus — — wahrhaftig es ist ein Fruͤhling, wie ich noch sel¬ ten einen gesehen.“ Im hohen Aether waren zarte Streifen, Silber¬ blumen gewebt und Meilen-tief darunter zog lang¬ sam ein Wolken-Gebuͤrge nach dem andern hin; — zwischen diese aufgebauete Kluft im Blau flog Walt, und wandelte auf dem Himmelswege aus Duft leicht dahin und sah oben noch hoͤher auf. Doch sah er auch herab ins heimliche Thal — sah den stillen glatten Fluß darin gleiten — Waͤlder bogen sich liebend von einem Bergruͤcken hinein, am andern glaͤnzten Trauben und Wein¬ bergshaͤusgen und reife Beete. — Er fuhr wie¬ der hernieder in sein langes Thal, wie auf einen Eltern-Schoos. „Wie geht es sich so schoͤn in den Saͤulenhal¬ len der Natur, auf dem Gruͤn und zwischen dem Gruͤn, in ewiger Begleitung des unendlichen Le¬ bens! sang er, ohne besondere Metrik, laut hin, und sah sich um, damit niemand seine Singstim¬ me belausche. — Wallet nur hin, ihr huͤbschen Schmetterlinge, und geniesset die Honigwoche des kleinen Seins — ohne Hunger, ohne Durst Schmetterlinge haben nur eine Herzkammer und die meisten keinen Magen. — ein schoͤnes Sonnenleben — ein Liebessein — und die einzige Kammer des Herzens ist nur eine ewige Brautkammer der Liebe — beugt die Blumen — lasset euch wehen — spielt im Glanz und entzit¬ tert nur linde wie Bluͤthen dem Leben.“ Er sah eine Heerde stummer Nachtigallen, die sich zum naͤchtlichen Abzug ruͤsteten. „Wo fliegt ihr hin, ihr suͤssen Fruͤhlings-Klaͤnge? Sucht ihr die Myrte zur Liebe, sucht ihr den Lorbeer zum Sange? Begehrt ihr ewige Bluͤ¬ then und goldne Sterne? So fliegt nur ohne Stuͤrme unter unsern Wolken fort und besingt die schoͤnsten Laͤnder, aber fliegt dann liebesbruͤn¬ stig in unsern Fruͤhling zuruͤk, und singt dem Herzen in schmachtenden Toͤnen das Heimweh nach goͤttlichen Laͤndern vor.“ „Ihr Baͤume und ihr Blumen, ihr neigt euch hin und her, und moͤchtet noch lebendiger werden und reden und fliegen, ich liebe euch, als waͤr' ich eine Blume und haͤtte Zweige; einstens werdet ihr hoͤher leben.“ Und da bog er einen tief ans Wasser sich neigenden Zweig gar ein we¬ nig in die Wellen hinein. Ploͤzlich hoͤrt' er in tiefer Ferne hinter sich eine Floͤte durch das Thal gleichsam auf dem Strom herunter kommen, dem Wehen entgegen. Die Ferne ist die Folie der Floͤte; und ihm, der mehr ihren Ton als ihren Gang verstand, war keine nahe gute nur halb so lieb. Die Toͤne schie¬ nen nachzukommen, doch schwaͤcher. Am Wege stand eine Steinbank, die ihn in dieser Einsam¬ keit schoͤn an die Menschensorge fuͤr andere Men¬ schen erinnerte. Er sezte sich ein wenig darauf, um gleichsam zu danken. Aber er legte sich bald ins hohe Ufer-Gras, um der guten Erde, die zugleich der Stuhl, der Tisch und das Bette der Menschen ist, naͤher zu seyn, und regte sich we¬ nig, um die im warmen stillen Uferwinkel spie¬ lenden Eintags-Fischgen nicht wegzuschrecken. Er liebte nicht einen und den andern Lebendigen, son¬ dern das Leben, nicht einmal die Aussichten, son¬ dern alles, die Wolke und den Gros-Wald der goldnen Wuͤrmgen, und er bog ihn aus einander, um ihren Aufenthalt zu sehen und ihre Brodbaͤum¬ gen und ihre Lustgaͤrtgen. Er hielt lieber mit Schreiben und Dichten auf seiner Schreibtafel in¬ nen, wenn ein buntes weiches Wesen uͤber die glatte Flaͤche sich wegarbeitete, als daß er es weggeschnellet oder gar erdruͤkt haͤtte. „Gott, wie koͤnnte man ein Leben toͤdten, das man recht an¬ gesehen, z. B. nur eine halbe Minute lang“ fragt' er. Er hoͤrte die Floͤte, die gleichsam aus dem Herzen der stummen Nachtigallen sprach. Heisse Freudentropfen sog das dunkle Getoͤn aus seinem von tausend Reizen uͤberfuͤllten Auge. Izt schlu¬ gen ein Paar große helle Tropfen aus einer war¬ men Fluge-Wolke uͤber ihm auf seine flache Hand herab — er sah sie lange an, wie er es sonst als Kind bei Regentropfen gemacht, weil sie vom hohen fernen heiligen Himmel gekom¬ men. Die Sonne stach auf die weisse Haut, und wollte sie wegkuͤssen — er kuͤste sie auf und sah mit unaussprechlicher Liebe nach dem warmen Himmel auf, wie ein Kind an die Mutter. Er sang nicht mehr, seitdem er hoͤrte und weinte. Endlich stand er auf, und sezte seinen Him¬ melsweg fort, als er einige Schritte in der Naͤhe einen aus der Hutschnur eines Fuhrmanns ent¬ fallenen Zollzettel auf dem Wege gewahr wurde. In der Hoffnung, daß er dem Mann vielleicht nachkomme und ihn finde, hob er das Blaͤttgen auf; weil ihm nichts Fremdes klein, wie nichts Eignes wichtig vorkam; und weil sein poetischer Sturm leichter einen Gipfel bog, als eine Blu¬ me. Wenn die Leidenschaft gluth-verworren auffliegt, wie ein brennendes Schiff: so fliegt die zarte Dichtkunst des Herzens nur auf, wie eine goldne Abendroth-Taube, oder wie ein Chri¬ stus, der gen Himmel geht, weil er eben die Erde nicht vergisset. Die Floͤte floß ihm immer durch das Beete des Thales nach, ohne doch weder naͤher zu kommen, wenn er stand, oder zuruͤck zu bleiben, wenn er lief. Jzt schwang sich die Landstraße ploͤzlich aus dem Thale den Berg hinauf. — Die Floͤte drun¬ ten wurde still, da sich oben die Weltflaͤche weit und breit vor ihm aufthat, und sich mit zahl¬ losen Doͤrfern und weissen Schloͤssern anfuͤllte, und mit wasserziehenden Bergen und mit gebog¬ nen Waͤldern umguͤrtete. Er gieng auf dem Bergruͤcken wie auf einer langen Bogen-Bruͤcke, uͤber die unten gruͤnende Meeresflaͤche zu beiden Seiten hin. Er war ganz allein und vor Ohren sicher, er pfiff frei daher figurirte Chorale, Phantasien, und zulezt alte Volksmelodien, und hoͤrte nicht ein¬ mal auf, wenn er einathmete. Gegen die Natur aller andern Blasinstrumente, bleibt diese Mund¬ harmonika wie die andere, romantisch und suͤß in großer Naͤhe — keinen halben Fuß vom Oh¬ re — und wie bei der Musik im Traum, ist hier der Mensch zugleich der Instrumentenma¬ cher, Komponist und Spieler, ohne im gering¬ sten einen andern Lehrmeister dazu gehabt zu ha¬ ben als wieder sich, den Schuͤler selber. Immer betrunkner und gluͤcklicher wurde Walt, als er auf dieser ersten Schaͤferpfeife, auf diesem ersten Alphorn fort blies, dem Morgen¬ winde entgegen, der die Toͤne in die Brust zuruͤck wehte; und zulezt wurd' ihm, als komme das verwehte Getoͤn aus weiter Ferne her. Da er lange so gieng und traͤumte — da er von dem Bergruͤcken bald links in die Hirtenstuͤcken der Wiesen hinunter sah und zu den Kirchthuͤrmen von Altengruͤn — von Jodiz — von Thalhau¬ sen — von Wilhelmslust — von Kirchenfelda — und die Jagd- und Lustschloͤsser erblickte, deren beide Namen allein, wie romantische Zauberwor¬ te, alte Gegenden und Paradiese der Kinderseele erscheinen liessen — da er bald wieder rechts hin¬ unter schauete auf die zweite Ebene, worin sich der gerade Fluß seines Thales, die Rosana, frei geworden auf einem blumigen Tanzplaz schlaͤn¬ gelte und das Silber-Schild der Sonne trug und immer zeigte — und da er das Auge auf die Lindenstaͤdter Gebuͤrge warf, wo unter den hohen hellen Laubholzwaͤldern die dunklen Tan¬ nen-Waldungen gleichsam nur als breite Schlag¬ schatten zu stehen schienen — und da er in den Himmel sah, worin still und leicht die Wolke und die Taube flog — und da in den Waͤldern des Thals die Herbstvoͤgel schrien, und in den Steinbruͤchen einzelne Schuͤsse lang fort halleten: so schwieg er wie aus Andacht vor Gott, und dachte dem, was er singen wollte nach, als ob der Unendliche nicht auch das Denken hoͤre; bis er mit leiser Stimme den Strekvers sang und wiederhohlte, den er schon laͤngst gemacht: O wie ist der Himmel, wie die Erde so voll freudiger Stimmen! Viel schoͤner als dort, wo einstens der Chorus laut jammerte, und nur Niobe schwieg und unter dem Schleier stand mit dem unendlichem Weh, jauchzen die Choͤ¬ re im Himmel und auf Erden, und nur der Allseelige ist still, und der Aether verschleiert ihn. Darauf sah er gen Himmel, nannte Gott zweimal du und schwieg lange; und hielt es fuͤr erlaubt, sogleich an Wina zu denken. Ploͤzlich kam ein altes vertrautes, aber wunderbares Mit¬ tagsgelaͤute aus den Fernen heruͤber, ein altes Toͤnen wie aus dem gestirnten Morgen dunkler Kindheit; siehe Meilen-tief in Westen sah er Elterlein hinter unzaͤhligen Doͤrfern liegen und glaubte die alte Dorf-Glocke zu erkennen, und Winas weisses Bergschloß, ja sogar das elterliche Haus. Er dachte voll Sehnen an seine fernen Eltern — an das Stillleben der Kindheit — und an die sanfte Wina, die ihm, auch im Stillle¬ ben ihrer Kindheit, einst die Aurikeln in die Hand gelegt — sein Auge hieng an den oͤstlichen Ge¬ buͤrgen im stillen Blau, hinter welche er wie hin¬ ter Klostermauern Wina als sanfte Nonne in Blumen ihres Kloster-Gartens sinnend gehen ließ. Glocken aus mehreren Doͤrfern toͤnten zu¬ sammen — der Morgenwind rauschte staͤrker — der Himmel wurde blauer und reiner — der bun¬ te! leichte Teppich des Erdenlebens breitete sich uͤber die Gegend aus, und flatterte an den En¬ den und Walt wohnte, wie ein Traum, nur in der Vergangenheit. Er sang voll Seeligkeit und nannte ihren Namen nicht: „es zieht in schoͤner Nacht der Sternenhimmel, es zieht das Fruͤhlings-Roth Die Abendroͤthe in Norden. , es schlaͤgt die Nachtigall — und der Mensch schlaͤft und merkt es nicht; — endlich geht sein Auge auf, und die Sonne sieht ihn an. O Lina, Lina, du giengst auch voruͤber mit dei¬ nen Blumen — mit den suͤssen Toͤnen — und mit Liebe — aber mein Auge war blind; nun ist es aufgethan, allein die Blumen sind ver¬ welkt, die Worte sind vergangen, und du glaͤn¬ zest hoch als Sonne.“ — Hier kehrte er um vor dem lauten Wehen; er fand die Welt sonderbar still um sich; nur das Gelaͤute klang allein und leise, wie Schal¬ meien der Kindheit, und er wurde sehr bewegt. Er lief wieder und sang immer heisser: „nasses Auge, armes Herz, siehst du nicht den Himmel und den Lenz und das schoͤne Leben? Warum weinst du? Hast du was verloren, ist wer ge¬ storben? Ach ich habe nichts verloren, mir ist nichts gestorben; denn ich habe noch nicht je geliebt, o lass' mich weiter weinen!“ Zulezt sang er nur einzelne Fuͤsse noch, oh¬ ne besondern Zusammenhang — er kam eiliger durch Beete — durch gruͤne Thaͤler — uͤber klare Baͤche — durch Mittagsstille Doͤrfer — vor ruhendem Arbeitszeug vorbei — auf dem Zau¬ berkreis der Hoͤhen stand Zauberrauch — der Sturmwind war entflohen, und am klaren Him¬ mel blieb das grosse unendliche Blaue zuruͤck — Vergangenheit und Zukunft brannten hell und nahe, entzuͤndet vor Gegenwart — der Blu¬ menkelch des Lebens umschloß ihn bunt-daͤm¬ mernd, und wiegte ihn leise — und Pans Stun¬ de gieng an — — „Jezt ergrif mich — schreibt er in seinem Tagebuche — Pans Stunde, wie allemal auf meinen Reisen. Ich moͤchte wohl wissen, wo¬ her sie diese Gewalt bekommt. Nach meiner Meinung dauert sie von 11 und 12 bis 1 Uhr; daher glauben die Griechen an die Pans-, das Flegeljahre III . Bd. 7 Volk an die Tags-Geisterstunde, auch die Rus¬ sen Wenden und Russen nehmen eine, Glieder rauben¬ de, Mittags-Teufelin an. Lausiz, Monatsschrift 1797. 12 Stuͤck. . Die Voͤgel schweigen um diese Zeit. Die Menschen schlafen neben ihrem Arbeitszeug. In der ganzen Natur ist etwas Heimliches, ja Un¬ heimliches, als wenn die Traͤume der Mittags¬ schlaͤfer umherschlichen. In der Naͤhe ist es lei¬ se, in der Ferne an den Himmels-Graͤnzen schweifet Getoͤn. Man erinnert sich nicht sowohl der Vergangenheit, sondern sie erinnert sich an uns und durchzieht uns mit nagender Sehn¬ sucht; der Strahl des Lebens bricht in seltsam¬ scharfe Farben. — Allmaͤhlig gegen die Ves¬ per wird das Leben wieder frischer und kraͤfti¬ ger.“ — N ro . 41. Troͤdelschnecke. Der Bettel-Stab. In Gruͤnbrunn kehrt' er ein. Im Wirths¬ haus hielt er seine Wachsfluͤgel an's Kuͤchen¬ feuer, und schmolz sie ein wenig. In der That braucht der Mensch bei den besten Fluͤgeln fuͤr den Aether doch auch ein Paar Stiefel fuͤr das Pflaster. Da der Speisesaal schon voll Hunde und Herren war: so sezt' er sich lieber unter eine Vorhalle oder Vordachung zu Tisch, die so breit war als der Tisch. Es war ihm, als sei er ein Patriarch, da er in einem ofnen freien luftigen Halb-Haus am Hause sitzen, und die ganze sich aufblaͤtternde Welt umherhaben konnte. Er sah hinaus in die ihm fremden Gegenden und Felder, und er fuͤhlte sich einem leichten Trou¬ badour alter Zeiten gleich, nachdem er zusam¬ men gerechnet hatte, daß er jezt schon in einer Ferne von neunzehn Wersten von seiner Heimath lebe. Er trug in sein Reisebuch die oͤkonomische Gewohnheit ein, die er vor sich sah, die Wiesen mit einem Kohl- oder anderen Fruchtbeete zu umraͤndern, anstatt daß man sonst umgewandt Beet-Felder in Wiesen-Raine einschliesset; und bemerkte gegen einen neben ihm essenden Bauers¬ mann, das sehe sehr niedlich aus. Man liess' ihn lange in seinem Nachklange des melodischen Vormittags, in jener epischen Stimmung sitzen, worin er das Kommen und das Verschwinden der Sterblichen im Wirths¬ hause ansah, und warten, bevor man ihm sein Tisch-Tuch und seinen Teller Essen auftrug. Es ist vielleicht der Muͤhe werth, zu bemerken, daß er nicht aufaß, theils aus Freundlichkeit gegen den Wirth, um ihn nicht um die Nach¬ lese zu bringen, theils weil der Mensch, gleich seinen Unter-Koͤnigen, dem Adler und dem Loͤwen, eine besondere Neigung hat, nie rein aufzuspeisen, wie man an Kindern am ersten wahrnimmt. Der Notar begriff gar nicht, wie der Bauers¬ mann und andere Gaͤste im Stande sein konnten, den Teller ordentlich zu scheuern und zu troknen, und jeden abgeglaͤtteten Knochen noch zu tre¬ panieren und, wie Canonen und Perlen, zu durchbohren. Nach dem Essen stellte er sich vor die ofne Saalthuͤre der Tafelstube, um mit dem im Zau¬ berthal gefundenen Zollzettel in der Hand, und mit dessen Uebergabe zu warten, bis die speisen¬ den Fuhrleute, die er in corpore anzureden und zu befragen scheuete, einzeln heraus kaͤmen. Da stand ein junges schnippisches dreizehnjaͤhri¬ ges Fuhrmaͤnnlein in blauem Hemde und dicker weisser Schlafmuͤtze auf, drehte ganz heimlich des Wirths Sand-Uhr um, und wollte dem Mann im eigentlichen Sinne (denn es war erst ein Drittel Stunden-Sand verlaufen) die Zeit ver¬ treiben. Aber der Notar fuhr erbosset hinzu und kehrte die Umkehrung um, viel zu unvermoͤgend, ein haͤmisches Unrecht, das er gegen sich erdul¬ den konnte, gegen einen andern zu ertragen. Diese Hitze sezt' ihn in Stand, den Zettel vor der ganzen table d' hôte empor zu heben und auszurufen, ob ihn jemand verloren. Ich Herr, sagte ein langer heruͤber gestrekter Arm, und ergrif ihn, und nikte Einmal kurz mit dem Kopfe statt der warmen Danksagung, auf die Walt aufgesehen. Auf dem Fenster sah er neben der Uhr das Schreibbuch des Wirths-Kindes liegen, dem zu drei Zeilen die drei Worte Gott — Walt — Harnisch vorgezeichnet waren. Er war sehr daruͤber erstaunt, und fragte den Wirth, ob er etwan Harnisch heisse. „Karner ist mein Na¬ me“ sagte dieser. Walt zeigte ihm das Buch und sagte, er selber heisse wie da stehe. Der Wirth fragte grob, ob er denn auch wie die vorige Sei¬ te heisse: Hammel — Knorren — Schwanz — ꝛc. Jezt wollte der Notar wieder Fluͤgel anstatt der Pferde nehmen und fort, und vorher bezah¬ len, als ihn ein Bettelmann dadurch aufhielt und erfreuete, daß er sein Allmosen in Natura¬ lien eintreiben wollte, und um ein Glas Bier bettelte, wahrscheinlich ein stiller Anhaͤnger des physiokratischen Systems. Da der Mann unter dem Einkassiren der kleinen Naturalbesoldung seinen Bettelstab in eine Ecke stellte: so gab das dem Notar Gelegenheit, diesen dornigen, schwe¬ ren Stab in die Hand zu nehmen. Walt hob und schwang ihn mit dem besondern Gefuͤhl, daß er nun den Bettelstab, wovon er so oft gehoͤrt und gelesen, wirklich in Haͤnden halte. Zulezt — da er sich es immer waͤrmer aus¬ einander sezte, wie das der lezte und duͤnnste Mast eines entmasteten Lebens, ein so duͤrrer Zweig aus keinem goldnen Christbaum, sondern aus der Klag-Eiche sei, eine Speiche aus Jxions Rad — wurd' er erfasset; er handelte dem Bettelmann, der vom Ernst nicht anders zu uͤberzeugen war, als durch Geld, den Stab ab, die einzige Nip ¬ pe , die der Mann hatte. „Dieser Stab — sag¬ te Walt zu sich — soll mich wie ein Zauberstab verwandeln, und besser als eine Lorenzo-Dose barmherzig machen, wenn ich je vor dem gros¬ sen Jammer meiner Mitbruͤder einst wollte mit kaltem oder zerstreuetem Herzen voruͤber¬ gehn; er wird mich erinnern, wie braun und welk und muͤde die Hand war, die ihn tragen muste. So sagt' er strafend zu sich; und der weich¬ herzige Mensch warf sich, ungleich den harther¬ zigen, vor, er sei nicht weichherzig genug, indeß jene sich das Gegentheil schuld geben. Er brauch¬ te dieses Staͤngeln seiner fruchtbringenden Blu¬ men nicht; aber da, wo diese Wetterstange selber waͤchset, auf den Schlachtfeldern, und um die Lustschloͤsser vierzehnter Ludwige herum, die schon gleich mit Zaͤhnen auf der Welt ankom¬ men Louis XIV . wurde gezaͤhnt gebohren. , an Orten, wo die geheimen Treppen und Throngeruͤste aus solchem Marter-Holz gezimmert werden, in Laͤndern, wo der Bettelstab der allgemeine oder General-Stab ist, viel¬ leicht durch den militairischen selber, da wuͤrd' es ein erwuͤnschtes Legat sein, wenn jeder Bettler seinen Stab in ein eignes Staats-Hoͤlzer-Ka¬ binet vermachte; — wenigstens ist zu glauben, wenn neben jedem Kommando-Stab und Zepter ein solcher laͤge, er diente als Balancirstange, und schluͤge vielleicht wie ein Moses-Stecken aus manchen harten Thron-Felsen weiches Wasser. Der Notar verließ sein Quartier mit dem Exulantenstab so froh als es zu erwarten war, da er den Verkaͤufer desselben in Erstaunen und Freudenthraͤnen gesezt; und besonders da er uͤber die goldne Ernte von Abentheuern hinsah, die er blos in einem halben Tage eingeerntet. „War¬ lich es ist stark, sagt' er, in Haͤrmlesberg weiß man meinen Namen schon muͤndlich — in Gruͤn¬ brunn gar schriftlich — eine wunderbare Floͤte geht und steht mit mir — einen fremden Wan¬ der-Stab hab' ich desfalls — Gott, was kann mir nach solchen Zeichen nicht in einem ganzen langen Nachmittag passiren? Hundert Wunder! Denn es schlaͤgt erst halb 2 Uhr.“ So schloß er und sah mit frohlockenden Augen in den blau¬ ausgewoͤlbten Himmel hinein. N ro . 42. Schillerspath. Das Leben . Im naͤchsten Flusse wusch er den Bettel¬ stab und die Haͤnde ab, in welche er ihn vor dem Verkaͤufer aus Schonung frei genommen. Der erste Akt der Wohlthaͤtigkeit, den er nach dem Kaufe des Stabes verrichtete, war einer mit dem Holze selber an Floͤs-Holz. Er konnt' es nicht ertragen, daß, waͤhrend mitten im Strome viele Floͤs-Scheite lustig und tanzend hinunter schwammen, eine Menge anderer, die nicht unbedeutender waren, sich in Ufer-Win¬ keln stiessen, draͤngten und elend einkerkerten; eine solche Zuruͤcksetzung auf die Expektantenbank verdienten die Floͤs-Scheite nicht; er nahm da¬ her seinen Bettelstock und half so vielen hintan¬ gesezten Scheiten durch Schieben wieder in den Zug der Wogen hinein, als neben ihm litten; denn alle Scheite — so wie alle Menschen — zu befoͤrdern, steht ausser dem Vermoͤgen eines Sterblichen. Er holte darauf einen kleinen zerlumpten Jungen ein, der barfuß in einem Paar rothen Pluͤschhosen voll unzaͤhliger Glazen gieng, das, von einem Manne abgelegt, eine Pump- und Strumpfhose zugleich an ihm geworden war. Der Knabe hatte nichts bei sich als ein Glaͤsgen, mit dessen Salbe er sich unaufhoͤrlich die roth¬ kranken Augen bestrich. Walt fragte ihm sanft seine Leidensgeschichte ab. Sie bestand nur darin, daß er von seiner Stiefmutter weggelau¬ fen, weil sein Vater, ein Militair, von dieser weggelaufen, und daß er sich zu den Franzosen zu betteln hoffe. „Kannst du hessische Groschen brauchen?“ fragte Walt, der zu seinem Schrecken zu grosses Geld bei sich fand. Der Knabe sah ihn dumm an, laͤchelte dann, wie uͤber einen Spaß, und sagte nichts. Walt wies ihm einen. „O, sagt' er, das kenn' er wohl, sein Vater hab' ihn oft wechseln lassen.“ Der Notar erfuhr endlich, der Knabe sei ein Hesse — und gab ihm alle va¬ terlaͤndische Groschen. Allmaͤhlig aͤusserte jezt der Bettelstab seine feindselige Kraft, eine Wetterstange zu seyn, wel¬ che Gewitter zieht. Walt konnte den Fruͤhling des Vormittags durchaus nicht wieder zuruͤk bringen, sondern mußte den Herbst vor sich ste¬ hen sehen, der gerade so episch macht, als der Lenz lyrisch und romantisch. Er durft' es dem Stok sehr aufbuͤrden, daß er nach den Leipziger Bergen sah und doch ganz vergeblich hinter ih¬ nen auf der andern Seite in die Leipziger Ebenen herabzufahren suchte bis vor Winas Gartenthuͤ¬ re, weil der Stok sich gleichsam unter dem Berg- Schlitten stemmte und stuͤlpte. Er sah nur das Fliehen und Fliegen des Le¬ bens, die Eile auf der Erde, die Flucht des Wol¬ kenschattens, indeß am Himmel die Wolke selber nur langsam zieht, und die Sonne gar wie ein Gott steht und blikt. Ach in jedem Herbst fallen auch dem Menschen Blaͤtter ab, nur nicht alle. Er sah eine abgefressene Wiese aber violet von ausgeschlossenen giftigen Herbstblumen. Auf ihr laͤrmten Zugvoͤgel, die mit einander den Plan zu ihrer Nachtreise zu bereden schienen. Auf der Landstrasse fuhr ein rasselnder Wagen hin, unter den Hinterraͤdern boll ein Hund. Am fernen Berg-Abhange schritt eine weibliche weisse Ge¬ stalt kaum merkbar hinter ihrem dunkelbraunen Manne, um in irgend einem unbekannten Doͤrf¬ gen ein Glas und eine Tasse zu geniessen, und dazu vor- und nachher so viel von schoͤner Natur, als unterwegs gewoͤhnlich vorkommt. In der Naͤhe trippelten zwei weißgepuzte Maͤdgen von Stande, mit Blumen und Schnupfaͤuchern in den Haͤnden durch die gruͤnen Saaten-Furchen, und die gelben Schauls flatterten zuruͤck. Er gieng vor einem bis an die Himmelswa¬ gen hinauf gethuͤrmten sogenannten Brautwagen vorbei, worauf alle die Wachsfluͤgel, Fluͤgel¬ decken, Glasfedern, und der Federstaub einer¬ seits, und die Steis- und Schwanzflossen, die Brust- und Ruͤckenflossen, die Danaidengefaͤsse, Wasserstuͤcke, Wasserwagen, Regenmesser und Trockenseile andererseits unter dem Namen Haus¬ geraͤthe aufgeladen waren, welche der Mensch durchaus hienieden haben muß, um nur einiger¬ massen halb durch das Leben zu schwimmen , halb daruͤber zu fliegen . Der Eigenthuͤmer aber schritt voll Empfehlungen der groͤßten Vorsichts¬ regeln fuͤr seine aufgepakten Fluͤgel und Flossen neben dem Wagen her, und versprach sich und andern Schritt vor Schritt ganz andere blauere Tage in der Zukunft als er in seinem vorigen un¬ bekannten Neste gehabt. Darauf kam Walt auf ein Filial-Doͤrfgen von fuͤnf oder sechs waschenden, fegenden Haͤusern und rauchenden Backoͤfen. Die Juͤnglinge hoben mit Stangen und halber Lebensgefahr einen Ma¬ rienbaum mit rothen Baͤnder-Fahnen in die Hoͤ¬ he, der fuͤr ein Dorf wohl nicht weniger ist, als was eine Vogelstange fuͤr eine Mittelstadt. Die Maͤdgen, welche die Baͤnder hinauf geschenkt, sahen hochroth dem Aufbaͤumen zu, und hatten nichts im seeligen Kopf und Herzen, als den morgendlichen Kirmes-Tanz um den Baum mit den allerbedeutendsten Purschen des Orts. Darauf begegnete der Notar einem schwer ausgeschmuͤkten eilfjaͤhrigen Maͤdgen mit einer Kruͤcke — was ihn unsaͤglich erbarmte — und die Frau Pathin lief aus dem Oertgen ihrem Kir¬ mesgast schon entgegen. Darauf kam ein an sich selber angeketteter Malefikant zwischen seinen Kerker-Fuͤhrern; alle priesen, so weit sie mit Worten noch vermochten, das Bier des vorigen Dorfs; auch der Male¬ fikant. Er kam durch das ansehnlichere Dorf, wor¬ in das Filial nur eingepfarrt war. Da die Mut¬ terkirchen-Thuͤre gerade offen stand — aus dem kurzen dicken Thurme wurde etwas geblasen, worein wieder der Viehhirt blies — so gieng er ein wenig hinein; denn unter allen oͤffentlichen Gebaͤuden besucht' er Kirchen am liebsten, als Eispallaͤste, an deren leere Waͤnde das Altarlicht seiner frommen Phantasie sich mit Glanz und ir¬ renden Farben am schoͤnsten brach und umher goß. Es wurde drinnen getauft. Der Taͤufer und der Taͤufling schrien sehr vor dem Tauf¬ engel. Vier oder fuͤnf Menschen waren nach ihrer Art sonntaͤglich blasonnirt, gravirt, mit getriebner Arbeit vom Schneider bedeckt; nur aus den vornehmsten Kirchen-Logen, den adelichen, schaueten Maͤgde, die Arme in blaue Schuͤrzen wie in Unter-Schauls gewickelt, im demi¬ négligé des Wochentags heraus. Wirthschafts- Kleidung in heiliger Staͤtte war ihm harter Mis¬ ton. Der Pathe des getauften Urenkels war der Ur-Grosvater desselben, der das Schrei-Haͤls¬ gen kaum halten konnte vor Jahren, und dessen abgepfluͤkte winterliche nakte Gestalt Walten be¬ sonders dadurch ins Herz drang, daß der alte Mann fuͤnf oder sechs schneeweisse Haare — mehr nicht — zu einem grauen Zoͤpflein zusammen¬ gesammelt und gedreht hatte, um sich zu zeigen. Daß der alte Mensch dem jungen so nahe war, das Kind des Grabes dem Kind der Wiege, die gelben Stoppeln dem heitern Maien-Bluͤmgen, das ruͤhrte den Notar noch eine Stunde uͤber das Dorf hinaus. „Spielet doch Kindtaufens“ sagt' er zu einigen Kindern, die ein Kreuz trugen und Begrabens spielen wollten. Gerade aus dem Herzen flog ihm in den Kopf der Strekvers: Spielet jauchzend, bunte Kinder! Wenn ihr einst wieder Kinder werdet, buͤckt ihr euch lahm und grau; unter dem weinerlichen Spiele bricht der Spielplaz ein und uͤberdekt euch. Wohl auch Abends bluͤht in Osten und Westen eine Aurora, aber das Gewoͤlke verfinstert sich und keine Son¬ ne kommt. O huͤpfet lustig, ihr Kinder, im Morgenroth, das euch mit Bluͤthen bemalt und flattert eurer Sonne entgegen. Die Zauberlaterne des Lebens warf jezt or¬ dentlich spielend bunte laufende Gestalten auf sei¬ nen Weg; und die Abendsonne war das Licht hinter den Glaͤsern. Sie wurden gezogen und es mußte vor ihm voruͤber laufen unten im Strom ein Meßschiff — ein niedriger Dorfkirchhof an der Strasse, uͤber dessen Rasenmauer ein fetter Schos¬ hund springen konnte — eine Extrapost mit vier Pferden und vier Bedienten vornen — der Schatte einer Wolke — nach ihr ins Licht der Schatte eines Rabenzugs — zerrissene hohe graue Raub¬ schloͤsser — ganz neue — eine polternde Muͤhle — ein zu Pferde sprengender Geburts-Helfer — der duͤrre Dorfbalbier mit Scheersak ihm nach¬ schiessend — ein dicker uͤberroͤckiger Landprediger mit einer geschriebenen Erntepredigt, um fuͤr die allgemeine Ernte Gott und fuͤr seine den Zuhoͤrern zu danken — ein Schiebkarren voll Waaren und ein Stab Bettler, beide um die Kirmessen zu be¬ ziehen — ein Vor-Doͤrfgen von drei Haͤusern mit einem Menschen auf der Leiter, um Haͤuser und Gassen roth zu numeriren — ein Kerl auf seinem Kopfe einen weissen Kopf von Gyps tragend, der entweder einen alten Kaiser oder Weltweisen vorstellen sollte oder sonst einen Kopf — ein Gym¬ nasiast spiz auf einem Graͤnzstein seßhaft, mit einem Leich-Roman vor den Augen, um sich die Welt und Jugend poetisch ausmalen zu lassen — und endlich oben auf ferner Hoͤhe und doch noch zwischen gruͤnen Bergen ein vorschimmerndes Staͤdtgen, worin Gottwalt uͤbernachten konnte, und die helle Abendsonne zog alle Spitzen und Giebel sehr durch Gold ins Blau empor. „Wir sind laufende Strichregen, und bald Flegeljahre III . Bd. 2 herunter,“ sagt' er, als er auf einem Huͤgel bald ruͤk-bald vorwaͤrts sah, um die Kette der aus¬ einander eilenden Gestalten zu knuͤpfen. Da stieg ihm ein Bilder-Haͤndler mit seiner auf eine Walze gefaͤdelten flatternden Bilder-Bibel und Bilder-Gal¬ lerie auf dem Nabel nach und fragte, ob er nichts kaufe. „Ich weiß gewis, daß ich nichts kaufe — sagte Walt und gab ihm zwoͤlf Kreuzer — aber lassen Sie mich ein wenig dafuͤr darin herum¬ blaͤttern.“ „Wer lieber als ich,“ sagte der Mann, und bog seinen Thorax zuruͤk und sein Bilderbuch ihm entgegen. Hier fand der Notar wieder die stehen¬ den Bilder der laufenden Bilder, das Leben fuhr mit Farben auf dem Papiere durch einander, die halbe Welt- und Regenten-Geschichte, Potenta¬ ten und Herkulanische Topf-Bilder, und Hans¬ wuͤrste, und Blumen- und Militair-Uniformen, und alles uͤberlud den Magen des Mannes. Wie heisset das Staͤdtlein droben? sagte Walt. „Alt¬ fladungen, mein lieber Herr, und die Berge dort sind eine praͤchtige Wetterscheide, sonst haͤtte uns vorgestern das liebe Gewitter alles angezuͤndet“ (versezte der Bildermann) „indeß hab' ich noch schoͤne aparte Stuͤcke zum Ansehen“ und blaͤtterte das bunte Haͤng-Werk mit beiden Haͤnden auf. Walts Auge fiel auf eine Quodlibetszeichnung, auf welcher mit Reisblei fast alle seine heutigen Weg-Objekte, wie es schien, wild hingeworfen waren. Von jeher hielt er ein sogenanntes Quod¬ libet fuͤr ein Anagramm und Epigramm des Lebens, und sah es mehr truͤbe als heiter an — jezt aber vollends; denn es stand ein Januskopf darauf, der wenig von seinem und Vults Gesichte verschieden war. Ein Engel flog uͤber das das Ganze. Unten stand deutsch: was Gott will, ist wohl gethan; dann lateinisch: quod Deus vult, est bene factus . Er kaufte fuͤr seinen Bruder das tolle Blatt. Der Bildermann verließ den Huͤgel mit Dank. Walt heftete das von dem Voruͤberzuge unseres malenden und gemalten Lebens geruͤhrte Seelen- Auge, auf den wetterscheidenden Berg, der ganz unter den Rosen der Sonne mit einzelnen Felsen- Schneiden und mit Schafen gluͤhte, und er dachte: „So fest steht er nun ewig da — fruͤh als noch keine Menschen hier waren, schnitt er auch die schweren Wetterwolken entzwei, und zerbrach ihre Donnerkeile und machte es hell und schoͤn, im Thale ohne Augen — Und wie tausendmal mag das Abendroth im Fruͤhlingsglanz herrlich ihn vergoldet haben, da noch kein Leben unten stand, das in die Herrlichkeit mit Traͤumen ver¬ sank. — — Bist du denn nicht, du grosse Natur, gar zu unendlich und zu gros fuͤr die armen Kleinen hier unten, die nicht Jahre lang, ge¬ schweige Jahrtausende glaͤnzen koͤnnen, ohn' es zu zeigen — Und dich, o Gott, hat noch kein Gott gesehen. Wir sind ganz gewis klein.“ Je mehr es Abend wurde, desto mehr gieng das epische Gefuͤhl in das suͤsse romantische uͤber und hinter den Rosen-Bergen wandelte wieder Wina in Gaͤrten. Denn der Abend faͤrbet zu¬ gleich die optischen und geistigen Schatten bunter an. Er sehnte sich nach einem fremden Menschen¬ worte; zulezt draͤngt' er sich an einen Mann, der einen Schiebekarren voll Wolle ungemein langsam schob, und immer stand und nach der Sonne sah. „Er sei, sagte dieser sehr bald aufgeregt, sonst nur ein Hutmann gewesen, und habe auf einem glaͤsernen Horn sein Vieh so in der Stadt zusammen geblasen, daß mancher Hutmann et¬ was daran gewendet haͤtte, wenn er's Blasen halb so haͤtte lernen koͤnnen. Nicht ein jedweder sei es kapabel. Und er wuͤnschte zu wissen, ob andern Hirten ihr Vieh so nachgegangen, wenn sie durch die Elbe vorausgewatet; ihm sei es wie Soldaten nachgezogen; und Gott behuͤt' ihn, daß er sich dessen ruͤhmte, aber wahr sei's.“ Der Notar hatte uͤber nichts so viel Freude, als wenn arme Teufel, die niemand lobte, sich selber lobten. „Ich schiebe noch ganzer fuͤnf Stunden durch — sagte der Mann, den der An¬ theil ins Reden sezte — die frische Nacht hab' ich dazu sehr gern“ — Das kann ich mir leicht den¬ ken, mein Alter, (sagte Walt, der den unverge߬ lichen dichterischen Mann von Tockenburg vor sich glaubte), im zweiraͤderigen Schaͤferhaͤusgen, wo er doch meist im Fruͤhling schlaͤft, hatt' er ja den ganzen Sternenhimmel vor sich, wenn er aufwachte. Ihm ist die Nacht gewis besonders lieb? „Ganz natuͤrlich, denk' ich, versezte der Schaͤfer; denn sobald's frisch wird, und es tapfer thauet, so zieht die Wolle die Naͤsse etwas an sich, und schlaͤgt mehr in's Gewicht, das muß ein rechtschaffener Schaͤfer wissen, Herr. Denn zum Centner will's doch immer etwas sagen, wenn's auch nicht viel ist. Da ließ ihn Walt mit einer zornigen guten Nacht stehen, und eilte dem rauchenden Berg¬ staͤdtgen zu, wo er, nach den heutigen Doͤrfern zu schliessen, im Nachtquartier unter solche Aben¬ theuer zu gerathen verhofte, die vielleicht ein an¬ derer mit Wurzeln und Bluͤthen geradezu aushe¬ ben, und in einen Roman verpflanzen koͤnnte. N ro . 43. Polirter Bernsteinstengel. Schauspieler — der Maskenherr — der Eyertanz — die Einkaͤuferin. Er kehrte im Ludwig 18. ein, weil der Gast¬ hof vor dem Thore lag, vor dessen Fragmaschi¬ nen er nie gern vorbeigieng, naͤmlich stillstand. Das erste Abentheuer war sogleich, daß ihm der Wirth ein Zimmergen abschlug; „es sei alles von Fraͤnzels Truppe besezt, sagte der Ludwigs- Wirth, der hoͤhere Posten und Stokwerke nur sol¬ chen, die auf den hoͤhern des Wagens und der Pferde kamen, aufschloß, hingegen den Fußbo¬ den Fußboten anwies. Walt sah sich gezwungen den lauten Markt der Gaststube mit der Aussicht zu bewohnen, daß wenigstens sein Schlafkaͤm¬ merlein einsam sei. Er sezte sich an den halbrunden Ausschnitt eines Wandtisches hinein, und zog einen Haus¬ knecht, da er nahe genug voruͤber kam, gelegent¬ lich an sich, und trug ihm hoͤflich seine Bitte um Trinken vor, die er mit drei guten Gruͤnden un¬ terstuͤzte. Ohne Gruͤnde haͤtt' er's sechs Minuten fruͤher bekommen. Am Klapptischgen that er nichts, als in einem fort die Schauspieler und Spielerin¬ nen im Allgemeinen hochachten, die aus- und eingiengen, dann noch besonders an ihnen hundert einzelne Sachen — unter andern den mit dem Glaͤttzahn aufgestrichenen Manns-Habit — die entgegengesezten Schwimmkleider der Weiber — die allgemeine hohe Selbstschaͤtzung, wodurch je¬ der Akteur leicht der Muͤnzmeister seiner Preisme¬ daillen und sein eigner Chevalier d'honneur war, und jede Aktrice leicht ihre Dekorazions¬ malerin — den Buͤhnen-Muth in der Wirths¬ stube — — das Gefuͤhl, daß der Sockus oder der Kothurn ihre Achilles- Fersen beschuͤze — die bunte Nacht ihrer Diktion, die aus so vielen Stuͤcken so gut zugeschnitten war, als die Uni¬ formen, welche sich die Frankreicher aus Bett¬ decken, Vorhaͤngen und allem, was sie erpluͤn¬ derten, machten — und den reinern Dialekt, den er so sehr beneidete. „Darunter ist wohl keine einzige Person, dacht' er, die nicht laͤngst und oft auf der Buͤhne eine rechtschaffene, oder bescheide¬ ne, oder gelehrte, oder unschuldige, oder gekroͤn¬ te gespielt“, und er impfte, wie Juͤnglinge pfle¬ gen, dem Holze der Buͤhne, wie des Katheders und der Kanzel, den Menschen ein, der darauf nur steht, nicht waͤchset. Was ihn betruͤbte, war, daß alle Gesich¬ ter, sogar die juͤngsten, die Alten- Rollen spielten, indeß auf der Buͤhne, wie auf dem Olymp, ewige Jugend war, wenn's der Zettel begehrte. Im Abenddunkel fiel ihm ein Mensch auf, der keine Mine ruͤckte, mit allen sprach, aber hohl, oft, wenn ihn einer fragte, statt der Ant¬ wort dicht an den Frager trat, mit dem schwar¬ zen Blicke einmal wetterleuchtete und darauf sich umwandte, ohne ein Wort zu sagen. Er schien zu Fraͤnzels Frucht-essender Gesellschaft zu ge¬ hoͤren; dennoch schien diese wieder sehr auf ihn zu merken. Der Mann ließ sich jezt eine Melone bringen, und eine Duͤte Spaniol, zerlegte sie, bestreuete sie damit, und aß die Tabaks-Schnit¬ te und bot sie an. Eben kamen Lichter herein, als er den Teller dem staunenden Notar vor¬ hielt, der vollends sah, daß der Mensch eine Maske, doch keine unfoͤrmliche, vorhatte und der bekannten eisernen glich, die so alte Schau¬ der in seine Phantasie geworfen. Walt bog und schuͤttelte sich; es war ihm aber einiges lieb und er trank. Darauf stieg die Maske — auch diese Phra¬ sis, wenn Ein Wort eine ist, war ihm ein schwarz-bedeckter Wagen, der Todte und Tiger fuͤhren konnte — auf einen Fensterstock, machte das Oberfenster auf, und fragte einige Akteurs, ob sie ein Ei durch das Fenster zu werfen sich ge¬ traueten. „Warum?“ sagte der eine, „Warum nicht?“ der andere. Die Maske machte aber mit etwas Verstektem in der Hand einige Linien in die Luft und versezte kalt: „jezt vielleicht kei¬ ner mehr!“ Er wolle alle Eier zweifach bezah¬ len, sobald einer nur eines durchwerfe, sagt' er. Ein Akteur nach dem andern schleuderte — alle Eier fuhren schief — die Maske verdoppelte den Preis der Aufgabe — es war unmoͤglich — Walt, der sonst auf dem Lande so oft in die Schleudertasche gegriffen, that die Geldtasche auf und bombardirte gleichfalls mit einem Groschen Eier — eben so gut haͤtt' er eine Bombe gewor¬ fen ohne Moͤrser — Eine ganze Bruttafel und Poularderie von Dottern floß von den Fenstern hernieder. „Es ist gut, sagte die, Maske; aber noch bis morgen Abend um diese Zeit bleibt die Eier¬ feindliche Kraft im Fenster; dann kann jeder durchwerfen“ — und so gieng er hinaus. Der Wirth laͤchelte, ohne sonderlich zu bewundern gleichsam als schien' er mehr zu berechnen, daß er morgen auf seiner Rechentafel aus diesen Eiern die beste Falkonnerie von Raubvoͤgeln ausbruͤten koͤnnte, die ihm je in Faͤngen einen Fang zuge¬ tragen. Da die Maske nicht sogleich wieder kam: so gieng der Notar mit den Gedanken: „Him¬ mel, was erlebt nicht ein Reisender in Zeit von 12 Stunden“ auch hinaus — als sei er nach neuen Wundern hungrig, — nach seiner Weise die Vorstadt im Zwielicht zu durchschweifen. Eine Vorstadt zog er der Stadt vor, weil jene diese erst verspricht, weil sie halb auf dem Lande an den Feldern und Baͤumen liegt, und weil sie uͤberall so frei und offen ist. Er gieng nicht lange, so traf er unter den hundert Augen, in die er schon geblickt, auf ein Paar blaue, welche tief in seine sahen, und die einem so schoͤnen und so gut gekleideten Maͤdgen angehoͤrten, daß er den Hut abzog, als sie vor¬ bei war. Sie gieng in ein offenes Kaufgewoͤl¬ be. — Da unter den festen Plaͤzen ein Kaufla¬ den das ist, was unter den beweglichen ein Post¬ wagen, naͤmlich ein freier, wo der Roman¬ schreiber die unaͤhnlichsten Personen zusammen brin¬ gen kann: so behandelte er sich als sein Selbst- Romanschreiber und schafte sich unter die Schnit¬ waaren hinein, aus welchen er nichts kaufte als ein Zopfband, um doch einigermaßen ein Band zwischen sich und dem Blau-Auge anzu¬ knuͤpfen. Das schoͤne Maͤdgen stand im Handel uͤber ein Paar gemslederne Mannshandschuh, stieg im Bieten an einer Kreuzerleiter hinauf und hielt auf jeder Sprosse eine lange Schmaͤhrede gegen die gemsledernen Handschuhe. Der bestuͤrzte Notar blieb mit dem Zopfband zwischen den Fingern so lange vor dem Ladentisch, bis alle Reden geendigt, die Leiter erstiegen und die Handschuhe Kaufs-unlustig dem Kaufmann zu¬ ruͤckgeworfen waren. Walt, der sich sogar scheu¬ te, sehr und bedeutend in einen Laden zu blicken, bloß um keine vergeblichen Hoffnungen eines grossen Absatzes im Vorbeigehen in der feilste¬ henden Brust auszusaͤen, schritt erbittert uͤber die Haͤrte der Sanftaͤugigen aus dem Gewoͤlbe her¬ aus und ließ ihre Reize, wie sie die Handschu¬ he, stehen. Schoͤnheit und Eigennuz oder Geiz waren ihm entgegengesezte Pole. Im Einkau¬ fe — nicht im Verkaufe — sind die Weiber weniger grosmuͤthig und viel kleinlicher als die Maͤnner, weil sie argwoͤhnischer, besonnener, und furchtsamer sind, und mehr an kleine Ausgaben gewoͤhnt als an grosse. Das Blau-Auge gieng vor ihm her, und sah sich nach ihm um; aber er sah sich nach der Brief-Post um, deren Horn und Pferd ihm nachlaͤrmte. Am Posthorne wollte seiner Phantasie etwas nicht gefallen, oh¬ ne daß er sich's recht zu sagen wuste, bis er endlich herausfuͤhlte, daß ihm das Horn — sonst das Fuͤllhorn und Fuͤhlhorn seiner Zukunft — jezt ohne alle Sehnsucht — ausgenommen die nach einer — da stehen lasse und anblase, weil der Klang nichts male und verspreche, als was er eben habe, fremdes Land. Auch mag das oft den Menschen kalt gegen Briefpostreiter un¬ terwegs machen, daß er weiß, sie haben nichts an ihn. Im Ludwig XVIII fand er die Briefpost abgesattelt. Diese fragte ihn, da er sie sehr an¬ sah, wie er heisse? Er fragte warum? Sie ver¬ sezte, falls er heisse, wie er hieß, so habe sie einen Brief an seinen Namen. Er war von Vults Hand. Auf der Adresse stand noch: „man bit¬ tet ein loͤbliches Postamt den Brief, falls H. H. nicht in Altfladungen sich befinden sollte, wieder retour gehen zu lassen, an H. van der Harnisch beim Theaterschneider Purzel.“ N ro . 44. Katzengold aus Sachsen. Abentheuer. Der Brief von Vult war dieser: „Ich komme jezt erst aus den Federn — indeß deine dich wohl schon Werstenweit getra¬ gen, oder du sie, — und schreibe eilig ohne Struͤmpfe, damit dich mein Geschriebenes nur heute noch erreitet. Es ist 10 Uhr, um 10½ Uhr muß der Traum auf die Post. Ich habe nemlich einen so seltsamen und prophetischen gehabt, daß ich dir ihn nachschicke, gesezt auch, du lachst mich einen Monat lang aus. Deine ganze heutige und morgende Reise¬ route hab' ich klar getraͤumet. Beluͤgt mich der Quintenmacher von Traum und trift er dich in Altfladungen nicht an, — worauf ich schwoͤren wollte: — so laͤuft er retour an mich, und es ist die Frage, ob ich ihn einem Spott- und Spas¬ vogel, wie du, dann je vorzeige. Ich sah im Traum, auf der Landzunge ei¬ ner Wolke sizend, die ganze nordoͤstliche Land¬ schaft mit ihren Bluͤthen-Wiesen und Miststaͤt¬ ten; dazwischen hin eine rennende, schmale, gelb¬ roͤckige, jubelnde Figur, die den Kopf bald vor sich, bald gen Himmel, bald auf den Boden warf — und natuͤrlich warest du es. — Die Figur stand einmal und zog ihr Beutelgen, dann fuhr sie in Haͤrmlesberg in der Krug. Darauf sah ich sie oben auf meiner Wolkenzinne durch das Rosana Thal ziehen, den Bergruͤcken hin¬ auf, vor Doͤrfern vorbei. — In Gruͤnbrunn verschwand sie wieder im Krug. Wahrhaftig dichterisch war's vom Traumgott gedacht, daß er mich allzeit 6 Minuten vorher, eh' du in ei¬ nen Krug eintratest, ein dir ganz aͤhnliches We¬ sen vorher hinschluͤpfen sehen ließ, nur aber glaͤnzender, viel schoͤner, mit Fluͤgelgen, wovon bald ein dunkelblauer bald ein hellrother Strahl, so wie es sie bewegte, meinen Wolken-Siz ganz durchfaͤrbte; ich vermuthe also, daß der Traum damit nicht dich — denn den langhosigen Gelb¬ rock zeigt' er mir zu deutlich — sondern deinen Genius andeuten wollte.“ — Vor Bewegung konnte Walt kaum wei¬ ter lesen; denn jezt fand er das Raͤthsel fast auf¬ geloͤßt, wenn nicht verdoppelt — durch ein groͤsseres — warum naͤmlich der Haͤrmlesberger Wirth seinen Namen kannte, warum bei dem Gruͤnbrunner derselbe dem Kinde im Schreibbu¬ che vorgezeichnet war, und warum er bei dem Bildermann das seltsame Quodlibet gefunden. Ordentlich aus Scheu, nun weiter und tiefer in die aufgedeckte Geisterwelt des Briefs hineinzuse¬ hen, erhob er in sich einige Zweifel uͤber die Wahrhaftigkeit desselben, und fragte den trin¬ kenden Postreiter, wann und von wem er den Brief bekommen. „Das weiß ich nicht, Herr, sagt' er spoͤttisch; was mir mein Postmeister giebt, das reit' ich auf die Stazion und damit Gott befohlen.“ Allerdings, sagte Walt und las begierig weiter: „Darauf sah ich dich wieder ziehen, durch viele Oerter, endlich in eine Kirche gehen. Der Genius schluͤpfte wieder voraus hinein. Abends standest du auf einem Huͤgel, und nahmest im Staͤdtgen Altfladungen Nachtquartier. Hier sah ich vor der Wirthshausthuͤre deine verherr¬ lichte Gestalt, naͤmlich deinen Genius mit einem dunklen behangnen Wesen kaͤmpfen, dessen Kopf gar kein Gesicht hatte, sondern uͤberall Haa¬ re.“ — — Gott! rief Walt, das waͤre ja der Masken- Mensch! „Das Wesen ohne Gesicht behauptete die Thuͤre, aber der Genius fuhr als eine Fleder¬ maus in die Daͤmmerung zu mir hinauf, spreng¬ te dicht an meiner Wolken-Spitze seine Fluͤgel wie Krebsscheeren ab und hinab und fiel als Maus odel Maulwurf in die Erde, (etwa eine Meile von Altfladungen) und schien fortzuwuͤhlen (denn Flegeljahre III . Bd. 9 ich sah es am Wellenbeete) bis wieder zu dir und warf unweit einer Kegelbahn einen Huͤgel auf. Es schlug acht Uhr in den Wolken um mich herum; da kam das Ungesicht zum Huͤgel und stekte etwas wie eine Maulwurfsfalle hin¬ ein. — Du aber warst hinterher, zogst sie heraus und fandest, indem du damit blos den Erd-Gipfel wegstreichest, einige hundert - - - jaͤhrige Friedrichsd'or, die der Genius, Gott weiß aus welcher Tiefe und Breite, vielleicht aus Berlin, gerade an die Stelle fuͤr dich herge¬ wuͤhlt“. . . . Jezt kam wirklich die Maske wieder. Walt sah sie schauernd an; hinter der Larve steckt ge¬ wiß nur ein Hinterkopf, dacht' er. Es schlug drei Viertel auf 8 Uhr. Der Mann gieng un¬ ruhig auf und ab, hatte ein rundes schwarzes Papier, das, wie er einem Akteur sagte, an Herzensstatt auf dem Herzen eines arquebusirten Soldaten zum Zielen gehangen, und schnitt ein Gesicht hinein, wovon Walt im Tagebuch schreibt: „es sah entweder mir oder meinem Ge¬ nius gleich. Die unabsehliche Winternacht der Geister, wo die Sphinxe und Masken liegen und gehen, und nicht einmal sich selber erblicken, schien mit der Larve herausgetreten zu sein ins Sommerlicht des Lebens.“ Da es acht Uhr schlug, gieng die Larve hinaus — Walt gieng zitternd-kuͤhn ihr nach — im Garten des Wirthshauses war ein Kegel¬ schub und der Notar sah (wobei er maͤßig zu er¬ starren anfieng) wirklich die Larve einen Stab in einen Maulwurfshuͤgel stecken. Kaum war sie zuruͤck und weg, so nahm er den Stab als ein Streichholz und rahmte so zu sagen den Huͤ¬ gel wie Milch ab — — Die Sahne einiger ver¬ rosteten Friedrichsd'or konnt' er wirklich einschoͤp¬ fen mit dem Loͤffel. Die wenigen haltbaren Gruͤnde, warum der Notar nicht auf die Stelle fiel, und in Ohn¬ macht, bringt er selber bei im Tagebuch, wo man sie weitlaͤuftiger nachlesen kann; obgleich zwei schon viel erklaͤren; — naͤmlich der, daß er ein Strom war, der gegen die staͤrkste Gegen¬ wart heftig anschlug, indeß ihn blos der aufloͤ¬ sende Luft-Himmel der Zukunft duͤnn und ver¬ fliegend in die Hoͤhe zog, wie er nur wollte. Izt aber nach dieser Menschwerdung des Geisterwe¬ sens stand Walt neben seines Gleichen. Der zweite Grund, warum er stehen blieb, war, weil er im Briefe weiter lesen und sehen wollte, was er morgen erfahren, und welchen Weg er nehmen werde. „Es war wahrhaftig das erstemal in meinem Leben, schreibt er, daß ich mich der selt¬ samen Empfindung nahte, ordentlich so hell wie uͤber eine Gegenwart hinweg in eine Zukunft hin¬ ein zu sehen, und kuͤnftige Stunden zweimal zu haben, jezt und einst.“ In der Gaststube war die Maske nicht mehr. Er las herzklopfend die Marsch- und Lebensrou¬ te des Morgens: „Darauf wurde der Traum wieder etwas menschlicher. Ich sah, wie am Morgen darauf dein Genius, und das Un-Gesicht dir auf zwei verschiedenen Wegen vorflogen, um dich zu lo¬ cken; du folgtest aber dem Genius und giengest statt nach St. Luͤne lieber nach Rosenhof. Dar¬ uͤber fiel das Un-Gesicht in Stuͤcken herab, ei¬ nen Todtenkopf und einige Knochen sah ich deut¬ lich von der Wolke. Der Genius wurde in der Ferne eine helle Wolke; ich glaub' aber mehr, daß er sie nur um sich geschlagen. Du trabtest singend aus deinem Mittagsquartier, Namens Jodiz , durch eine Landschaft voll Lustschloͤsser bis an die Rosana, die dich so lange aufhielt, bis dich die Faͤhr-Anstalt hinuͤbergefahren hatte in die passable Stadt Rosenhof . Mir kam's vor, so weit ich die tief in den Horizont hinun¬ ter liegende Stadt erkennen konnte, als habe sich uͤber ihr der Genius in ein grosses blendendes Gewoͤlke auseinander gezogen, und dich und die Stadt zulezt darin aufgefasset, bis die Wolken¬ strecke unter immer staͤrkerem Leuchten und Auswerfen von Sternen und Rosen und Gras zugleich mit meinem Traume aus einander gieng. Und damit wollt' er, denk' ich, nur be¬ deuten, daß du dich im Staͤdtlein recht diver¬ tiren, und darauf auf den Heimweg machen wuͤrdest. Wie eine solche Traͤumerei in meinen Kopf gekommen, laͤsset sich nur dadurch begreiflich machen, daß ich seit gestern immer deinen eignen mit seiner Romantik darin gehabt. Ich wollte, dein Name waͤre so beruͤhmt, daß der Brief dich faͤnde, wenn blos darauf stuͤnde: an H. H., auf der Erde; wie man z. B. an den Mann im Monde recht gut so adressiren kann. Die schoͤnste Adresse hat jener allein, an den man blos die Aufschrift zu ma¬ chen braucht: an Den im Universum. Reise klug, wie eine Schlange, Bruder. Habe viele Weltkenntniß und glaube nicht — wie du dir einmal merken lassen, — es sei thunlich, daß sich auf, der Briefpost blinde Pas¬ sagiere aufsetzen koͤnnten oder auch sehende, und lass' aͤhnliche Fehlschuͤsse. Sei verdammt seelig und lebe von den alten Friedrichsd'oren, die der Maulwurf aufgeworfen, in einigem Saus und Braus. Erkies', o Freund, nur kein Trauerpferd zu einem Steckenpferd; da ohnehin jedes Kreuz, vom Ordenskreuze an bis zum Eselskreuz herab entweder genug traͤgt oder genug druͤckt. Meide die grosse Welt moͤglichst; ihre Hopstaͤnze sind aus F mol gesezt. Das Schicksal nimmt oft das dicke Suͤsholz, an welchem die Leute kaͤuen, als einen guten Pruͤgel vor und pruͤgelt sie sehr — Ich wuͤnschte doch nicht, daß du gerade auf der ersten Stufe des Throns gleich neben dem Fuͤrstenstuhlbein staͤndest, wenn ihn der neue Regent zur Kroͤnung besteigt, und daß er dich dann zu etwas erhoͤbe, in den Adelstand, zu ei¬ nem Kammer- oder Jagdjunker oder so; — wie ein solcher Regent wohl pflegt, weil er in sei¬ ner neuen Regierung gerade nichts fruͤher macht als das edelste, naͤmlich Menschen, d. h. Kam¬ mer-Herrn, Edelleute u. s. w. und erst spaͤter den Staat und dessen Gluͤck, so wie die alten Theologen Bibliotheque universelle T. IX. p. 83. behaupten, daß Gott die Engel vor der Erde und zwar darum erschaffen, da¬ mit sie ihn nachher bei deren Schoͤpfung lob¬ ten — Ich wuͤnscht' es nicht, sag' ich, daß du dem jungen neugebacknen und neubackenden Fuͤr¬ sten die gedachte Ehre anthaͤtest, und eine an¬ naͤhmest; — warlich ein Thron wird, wie der Vesuv, gerade hoͤher durch Auswerfen von Hoͤ¬ hen und Hohen um ihn her — und mein Grund ist dieser: weil du, gesezt dir wuͤrde irgend eine bedeutende maͤnnliche oder weibliche Hof-ja Re¬ gierungs-Charge zu Theil, doch nicht eher ein ruhiges Leben und eine starke Pension bekaͤmest, als nach einem tapfern verflucht grossen Fehltritt oder bei gaͤnzlicher Untauglichkeit zu irgend et¬ was, worauf der Hof-Mensch Abschied und Pension begehrt und nimmt, gleich dem verur¬ theilten Sokrates, der sich eine aͤhnliche Strafe vor Gericht diktirte, naͤmlich lebenslaͤnglichen Freitisch als Prytan; wie untuͤchtig aber du zu rechter Untuͤchtigkeit bist, das weist du am be¬ sten — Kannst du waͤhlen auf deiner Spannen- Reise, so besuche lieber den groͤsten europaͤischen Hof als die kleinsten deutschen, welche jenen in nichts uͤbertreffen (in den Vorzuͤgen am wenig¬ sten) als in den Nachtheilen, wie man denn wahrgenommen, daß auch die Seekrankheit (was sie giebt und nimmt, kennst du) viel aͤrger wuͤrgt auf Seen als auf Meeren — Suche dein Heil an Hoͤfen mehr in groben Thaten als in groben Worten; diese werden schwerer verziehen. — Ein Hofmann vergiebt zwar leicht, aber mit Gift — Auf diesen schluͤpfrigen Abhaͤngen des Throns betrage dich uͤberhaupt ganz treflich und bedenke, daß man da wie die Griechen zu Ho¬ mers Hermanns Mytholog. I . Zeiten, die Verwuͤnschungen nur leise zu thun habe, weil die lauten auf den Urhe¬ ber zuruͤckspringen — Sage Fuͤrsten, Markgra¬ fen, Erzherzogen, Koͤnigen zwar die Wahrheit, aber nicht groͤber als jedem ihrer Bedienten, um dich von republikanischen Autoren zu unterschei¬ den, die sich lieber vor Verlegern als vor Poten¬ taten buͤcken — Gegen Maltheser-Damen, Kon¬ sulesse, Hof- und andere Damen vom hoͤchsten Rang sei kein Pariser Bisam-Schwein, d. h. keine parfuͤmirte Bestie, kein verbindlicher Gro¬ bian, der auf die manierlichste Weise von der Welt des Teufels gegen sie ist. — Sei der schoͤnste, lang gewachsenste, schlankeste Mann von 30 Jahren, der mir noch vorgekommen — Kurz, bleibe ein wahres Musterbild, bitt' ich dich als Bruder! Ueberhaupt, sei passabel! Ich schliesse den laͤngsten ernsthaften Brief, den ich seit zehn Jahren geschrieben; denn es schlaͤgt 10½ Uhr, und er soll durchaus noch fort. Him¬ mel aber! wo magst du jezt seyn? Vielleicht schon mehr als Wersten- weit von unserm Haslau, und erfaͤhrest nun an dir selber, wie leicht es gros¬ sen Reisen wird, den Menschen auszubaͤlgen und umzustuͤlpen wie einen Polypen, und was es auf sich habe, wenn Haͤfen und Maͤrkte und Voͤlker vor uns voruͤbergehen, oder wir, was dasselbe ist, vor ihnen — und wie es einem ziem¬ lich schwer ankommt, nicht zu veraͤchtlich auf Stubenhocker herab zu sehen, die vielleicht noch nie uͤber 10 Meilen weit von ihrem Sparofen weggekrochen und fuͤr welche ein Urtheil uͤber ein Paar Reisende, wie wir, eine Unmoͤglichkeit ist. Solche Menschen sollten, Freund, nur einmal an ihrer eignen Haut erfahren, wie schwer das brit¬ tische Gesez, daß Leute, die aus der Stadt kom¬ men, denen ausweichen sollen, die in selbige reisen Hume's vermischte Schriften, 3. Bd. , manchem Weltmann moralisch zu hal¬ ten falle: sie saͤhen uns beide anders an. — Fahre wohl! Folgt mir, noli nolle ! v . d . h . Postscr . Hebe diesen Brief, im Falle du ihn bekommst — sonst nicht — auf, es sind Gedan¬ ken darin fuͤr unsern Hoppelpoppel. N ro . 45. Katzenauge. Eß- und Trink-Wette — das Maͤdgen. Es mag nun hinter dem Traum ein Geist oder ein Mensch stecken, dachte Walt, eines der groͤßten Abentheuer bleibt er immer. Das schwang ihn uͤber die ganze Stube voll Gaͤste weg; er fuhr auf den romantischen Schwanzstern uͤber die Er¬ den hinaus, die wir kennen. Die Friedrichsd'ore, von denen er viel verthun wollte, waren die gold¬ nen Fluͤgeldecken seiner Fluͤgel, und er konnte ohne Eingriffe in den vaͤterlichen Beutel sich ein Noͤsel Wein ausbitten, gesezt auch, der Elsasser Testa¬ tor komme wieder auf. So froh gestimmt und leicht gemacht bahnte er sich durch das theatralische Gewimmel der Stube seinen bestaͤndigen Hin- und Herweg, wie durch ein Kornfeld, streifte oft an Chemisen vor¬ bei, stand vor manchen Gruppen still, und laͤ¬ chelte kuͤhn genug in fremdes Gespraͤch hinein. Izt trat die Blauaͤugige, welche keine Manns¬ handschuhe gekauft, in's Zimmer. Der Direkteur der Truppe schnaubte oͤffentlich Winen (so ver¬ kuͤrzt' er Jako-bine) hart an, weil sie ihm zu theuere Handschuhe mitgebracht. Mit Vergnuͤ¬ gen entschuldigte Walt innerlich ihren Handels¬ geist mit der alten Theater-Einrichtung solcher Truppen, daß sie nichts uͤbrig haben, und daß aller Goldstaub nur Geigenharzpulver ist, das man in ihr Feuer wirft. Das Maͤdgen heftete, waͤhrend der rohe Direkteur um sie donnerte, die heitersten Blicke auf den Notarius, und sagte endlich, der Herr da moͤge doch den Ausspruch thun und zeugen. Er thats und zeugte stark. Aber der Donnerer wurde wenig erschuͤttert. Da trat die Maske wieder ein. Walt scheuete seinen boͤsen Genius. Sie schien ihn wenig zu bemerken, aber desto mehr den geizigen Prinzipal. Endlich brachte sie es durch leises Disputiren da¬ hin, daß zu einer Wette der Regisseur 10 Thaler in Silber auf den Tisch legte und jene eben so viel in Gold. Eine Flasche Wein wurde gebracht, eine Schuͤssel, ein Loͤffel und eine neugebakne Zwei¬ pfenning-Semmel. Es wurde nun vor dem gan¬ zen Stuben-Publikum die Wette publizirt, daß der Masken-Herr in kuͤrzerer Zeit eine Flasche Wein mit dem Loͤffel aufzuessen verspreche, als der Direkteur seine Semmel hinunterbringe; und daß dieser, wie gewoͤhnlich bei Wetten, gerade auf das Umgekehrte wette. Da die Wette gar zu un¬ gleich schien: so beneideten die meisten Hintersassen des Theater-Lehnsherrn ihrem Vorgesezten das ungeheure Gluͤk, so leicht — blos durch ein Sem¬ mel-Essen — zwei preussische Goldstuͤcke, die nicht einmal aus dem Lande ausgefuͤhrt werden duͤrfen, in seines einzufuͤhren. Alles hob an, der Larvenherr hielt die Wein¬ schuͤssel wagrecht an Kinn, und fieng das schnell¬ ste Schoͤpfen an. Der Gros- und Brodherr der Truppe that einen der unerhoͤrtesten Bisse in die Semmel, so daß er wohl die Halb- oder Drittels-Kugel sich ausschnitt. Izt aß er unbeschreiblich — er hatte eine halbe Weltkugel auf dem Zungenbein zu be¬ wegen, zu zerstuͤcken, zu mazeriren, also auf troknem und nassem Weg zugleich zu scheiden — was er von Dienst-Muskeln in der Wett'-Hoͤhle besaß, mußte aufstehen und sich regen, er spann¬ te und schirrte den Beiß- und den Schlaͤfe-Mus¬ kel an, die bekanntlich immer zusammen ziehen, — ferner den innern Fluͤgelmuskel, den aͤussern und den zweibaͤuchigen — die Muskeln druͤkten nebenher die noͤthigsten Speicheldruͤsen, um Men¬ strua und Alkaheste zu erpressen, der zweibaͤuchi¬ ge die Kieferdruͤse, der Beißmuskel die Ohrdruͤse, und so jeder jede. Aber wie in einem Ballhause wurde der Magenball im Munde hin und herge¬ schlagen; die Kugel, womit er alle zehn Thaler wie Kegel in den Magen schieben wollte, wollte durchaus die Schlundbahn nicht ganz passiren, sondern halb und in kleinen Divisionen, wie ein Armee-Kern. Auf diese Weise indessen verlor der theatralische Commandeur, der den Larvenherrn unaufhoͤrlich und ungehindert schoͤpfen sehen mu߬ te, eine unschaͤzbare Zeit, und indem er den Teu¬ fels-Abbis muͤhsam, Cahiers weise, oder in Ra¬ zionen ablieferte und schlukte, hatte der Wett- Herr schon seine zwei Drittel mit dem Loͤffel leicht aufgetrunken. Ausser sich wirkte Fraͤnzel in alle seine Mus¬ keln hinein — mit den Ceratoglossis, und den Ge¬ nioglossis plattirt' er die Zunge, mit den Stylo¬ glossis exkavirt' er sie — darauf hob er Zungen¬ bein und den Kahlkopf empor und stieß die Un¬ gluͤks-Kugel wie mit Ladstoͤcken hinab. An ana¬ tomischen Schling-Regeln fehlt' es ihm gar nicht. Noch lag eine ganze Drittels-Semmel vor ihm, und der Larvenherr inkorporirte schon zu¬ sehends das vierte Viertel, sein Arm schien ein Pumpenstiefel oder sein Loͤffel. Der Ungluͤkliche schnappte nach der zweiten Hemisphaͤre der Hoͤllenkugel — in Betracht der Zeit hatt' er ein entsezliches Divisionsexempel vor sich oder in sich, eine lange Analyse des Unendli¬ chen — er schauete kaͤuend die Zuschauer an, aber nur dumm und dachte sich nichts bei ihnen, son¬ dern schwizte und malmte verdruͤslich vor sich — die zwanzig Thaler auf dem Tische sah er grim¬ mig an, und wechselnd den Loͤffel-Saͤufer — zu reden war keine Zeit und das Publikum war ihm nichts — die elende Pechkugel vom Drachen konnt' er nicht einmal zu Brei zersetzen (es floß ihm nicht) — an's Schlucken durft' er gar nicht den¬ ken, indeß er sah, wie der Maskenherr den Wein nur noch zusammenfischte — — Das fuͤhlt' er wohl, sein Heil und Heiland waͤre man gewesen, haͤtte man ihn auf der Stelle in eine Schlange verkehrt, die alles ganz ein¬ schlukt, oder in einen Hamster, der in die Backen¬ taschen verstekt, oder ihm den Thyreopalatinus ausgerissen, der die Eßwaaren hindert, in die Nase zu steigen. Endlich schuͤttete der Maskenherr die Schuͤs¬ sel in den Loͤffel aus — und Fraͤnzel stieß und worfelte den Semmel „ globe de Compression “ noch hin und her, so nahe am erweiterten Schlund¬ kopfe, aber ohne das geringste Vermoͤgen, die Semmel durch das so ofne Hoͤllenthor zu treiben, so gut er auch aus den anatomischen Hoͤrsaͤlen wußte, daß er in seinem Maule uͤber eine Mus¬ kel-Hebekraft von 200 Pfund zu befehlen habe. Der Larvenherr war fertig, zeigte endlich dem Publikum die leere Schuͤssel und die vollen Backen des Direkteurs und strich das Wettgeld mit der Rechten in die Linke, unter der Bitte, Hr. Fraͤnzel solle, wenn er etwas darwider und die Semmel schon hinunter habe, blos das Maul aufmachen. Fraͤnzel that's auch, aber blos um den teuflischen Fangeball durch das groͤssere Thor davon zu schaffen. Der Maskenherr schien froh zu seyn, und bot dieselbe Wette wieder aus, bei wel¬ cher er glaͤnzende Erleichterungen vorschlug, z. B. statt einer Semmel blos einen ganzen kleinen Kuh¬ oder Ziegenkaͤse, kaum Knie- oder Semmel-Schei¬ ben gros, auf einmal in den Mund zu nehmen und hinabzuessen, waͤhrend er trinke ut supra ; aber man dachte sehr verdaͤchtig von ihm und niemand wagte. Den Notar haͤtte der Direkteur zu sehr ge¬ dauert, wenn er vorhin die schoͤne Blondine sanf¬ ter angefahren haͤtte. Diese saß und naͤhte, und hob, so oft sie mit der Nadel aufzog, die grossen Flegeljahre III . Bd. 10 blauen Augen schalkhaft zu Walten auf, bis er sich neben sie sezte, scharf auf die Naht blikte und auf nichts dachte, als auf eine schikliche Vorrede und Anfurth. Er konnte leicht einen Gespraͤchs- Faden lang und fein verspinnen, aber das erste Floͤkgen an die Spindel legen konnt' er schwer. Waͤhrend er neben ihr so vor seiner eignen Seele und Gehirnkammer antichambrirte, schnellte sie leicht die kleinen Schuhe von ihren Fuͤßgen ab, und rief einen Herrn her, um sie an den Trocken¬ ofen zu lehnen. Mit Vergnuͤgen waͤr' er selber aufgesprungen; aber er wurde zu roth; ein weib¬ licher Schuh (denn er gab fast dessen Fuß darum) war ihm so heilig, so niedlich, so bezeichnend, wie der weibliche Hut, so wie es am Manne (sein Schuh ist nichts) nur der Ueberrock ist, und an den Kindern jedes Kleidungsstuͤk. „Ich daͤchte, Sie sagten endlich etwas“, sagte Jacobine zu Walten, an dem sie statt der Zunge den Rest mobil machte, indem sie ihr Knaͤul fallen ließ, und es am Faden halten wollte. Er lief der Gluͤcks¬ kugel nach, strikte und drehte sich aber in den Faden dermassen ein, daß Jakobine aufstehen und diesen von seinem Beine, wie von einer Spindel abwaifen mußte. Da sie sich nun buͤkte, und er sich buͤk¬ te, und ihre Postpapierhaut sich davon roth be¬ schlug — denn ihr schlechter Gesundheitspaß wur¬ de ausser und auf der Buͤhne mit rother Dinte kor¬ rigirt — und er die Roͤthe mit Gluth erwiederte; und da beide sich einander so nahe kamen und in den unordentlichsten Zwiespalt der Rede: so war durch diese thaͤtige Gruppirung mehr abgethan und gethan fuͤr Bekanntschaft, als wenn er drei Monate lang gesessen und auf ein Praͤludium und Antrittsprogramm gesonnen haͤtte. — Er war am Ariadnens Faden des Knaͤuls durch das Labyrinth des Rede-Introitus schon durch, so daß er im Hellen fragen konnte: was sind Ihre Hauptrol¬ len?“ — „Ich spiele die unschuldigen und nai¬ ven saͤmtlich“, versezte sie, und der Augenschein schien das Spielen zu bestaͤtigen. Um ihr rechte Freude zu machen, gieng er, so tief er konnte, in's Rollen-Wesen ein, und sprach der stummen Naͤhterin feurig vor. „Sie reden ja so langweilig, wie der Theaterdichter — sagte sie — oder Sie sind wohl einer. Dero wer¬ then Namen?“ — Er sagte ihn. „Ich heisse Jakobine Pamsen; Hr. Fraͤnzel ist mein Stief¬ vater. Wo gedenken Sie denn eigentlich, H. Har¬ nisch?“ Er versezte: „wahrscheinlich nach Ro¬ senhof.“ — „Huͤbsch, sagte sie. Da spielen wir morgen Abends.“ Nun malte sie die goͤttliche Gegend der Stadt, und sagte: „die Gegend ist ganz superb.“ „Nun?“ fragte Walt, und ver¬ sprach sich eine kleine Muster- und Produkten- Karte der Landschaft, ein duͤnnes Blaͤtterskelet da¬ sigen Baumschlags und so weiter. „Aber — Was denn? sagte die Pamsen, die Gegend, sag' ich, ist die goͤttlichste, so man schauen kann. Schauen Sie selber nach.“ Da trat der Larvenherr unbefangen hin und sagte entscheidend: „bei Berchtolsgaden im Salz¬ burgischen ist eine aͤhnliche und in der Schweiz fand' ich schoͤnere. Aber kuͤnstliche Zahnstocher schnizen die Berchtolsgadner“ und zog einen aus der Weste, dessen Grif sauber zu einem Spizhund ausgearbeitet war. „Wer Lustreisen machen kann, fuhr er fort, mein Herr, findet seine Rechnung vielleicht besser im Badort St. Luͤne, wo gegenwaͤrtig drei Hoͤfe versiren, der ganze Flachsenfingische, dem's ge¬ hoͤrt, darnach der Schneerauer und der Pestizer und ein wahrer Zufluß von Kurgaͤsten. Ich reise morgen selber dahin.“ Der Notar machte eine matte Verbeugung; denn das Geschik hatt' ihn auf diesen ganzen Abend verurtheilt, zu erstaunen. „Allmaͤchtiger Gott, dacht' er bei sich, ist denn das nicht woͤrtlich, so wie in des Bruders Briefe?“ Er stand auf — (Jakobine war aus Hasse gegen den um 10 fl. reichern Larvenherrn laͤngst weggelaufen mit dem Naͤhzeug in den Haͤnden) — und sah am Lichte diese Brief-Stelle nach: „ich sah, wie am Mor¬ gen dein Genius und das Ungesicht dir auf zwei verschiedenen Wegen vorflogen, um dich zu lok¬ ken; du folgtest aber dem Genius und giengest statt nach St. Luͤne lieber nach Rosenhof“ — Er sah nun zu gewiß, die Maske sei sein boͤser Ge¬ nius, Jakobine Pamsen aber, nach manchem zu urtheilen, sein bester, und er wuͤnschte sehr, sie waͤre nicht aus der Stube gegangen. Hatt' er schon vorher den Entschluß gefasset, lieber dem Briefe und Traume zu folgen nach Ro¬ senhof, weil er aus Homer und Herodot und ganz Griechenland eine heilige Furcht gelernt, hoͤhern Winken, dem Zeigefinger aus der Wolke mit fre¬ cher Willkuͤhr zu widerstehen und gegen ihn die Menschen-Hand aufzuheben: so wurde sein Ent¬ schluß des Gehorsams jezt durch die Zudringlich¬ keit der Maske und die Einwirkung Jakobinens und durch das Nez neu verstaͤrkt, worin Menschen und Voͤgel sich der Farbe wegen fangen, weil es mit der allgemeinen der Erde und Hoffnung an¬ gestrichen ist, naͤmlich der gruͤnen. Jakobinen sah er nicht mehr, als blos auf ihrer Thuͤrschwelle mit einem Lichte, da er uͤber die seines Kaͤmmerleins trat. Er uͤberdacht' es darin lange, ob er nicht gegen die Menschheit durch Argwohn verstosse, wenn er den Nachtrie¬ gel vorschiebe. Aber die Maske fiel ihm ein und er sties ihn vor. Im Traume war es ihm, als werd' er leise bei dem Namen gerufen. „Wer da?“ schrie er auf. Niemand sprach. Nur der hellste Mond lag auf dem Bett-Kissen. Seine Traͤume wurden verworren, und Jakobine sezt' ihn immer wieder in das rosenfarbne Meer ein, so oft ihn auch die Maske an einer Angel auf ei¬ nen heissen Schwefel-Boden geschleudert. N ro . 46. Edler Granat. Der frische Tag . Am fruͤhen Morgen brach die Truppe, wie Truppen, die Zelte laͤrmend ab und aus dem Lager auf. Die Fuhrleute staͤubten das Nacht¬ stroh von sich. Die Rosse wieherten oder scharr¬ ten. Die Frische des Lebens und Morgens spreng¬ te brennenden Morgenthau uͤber alle Felder der Zukunft, und man hielt es sehr der Muͤhe werth, solchen zuzureisen. Das Getoͤse und Streben be¬ lebte romantisch das Herz, und es war, als reite und fahre man gerade aus dem Prosa-Land in's Dichter-Land, und komme noch an um 7 Uhr, wenn es die Sonne vergolde. Als vor Walten die uͤber alles blasse Jakobine wie ein bleicher Geist einsaß, sah er in den Traum und Abend hinein, wo er diesen weissen Geist wieder finden, auch uͤber die Blaͤsse fragen konnte; denn er ver¬ rieth fast leichter Seelen-Schminke, als Wangen- Schminke, diese rothe Herbstfarbe fallender Blaͤt¬ ter, statt der Fruͤhlingsroͤthe jungfraͤulicher Bluͤ¬ the. Weisse Schminke errathen Gelehrte noch schwerer oder gar nicht, weil sie nicht absehen koͤnnen, sagen sie, wo sie nur anfange. Die Maske saß auf, und sprengte seit ab nach St. Luͤne zu. Gottwalt wußte, daß, wenn er den Weg nach Jodiz einschluͤge, der weissagen¬ de Traum, daß er da Mittags essen werde, schon halb in Erfuͤllung gehe; — er nahm also diesen Weg. Es sei, daß der zweite Reisetag an der Natur den blendenden Glanz abwischet, oder daß sein unruhiger Blik in das geweissagte Rosenhof und dessen Gaben, das leise Gruͤn der Natur, das wie ein Gemaͤlde nur in ein stilles Auge kommt, verscheuchte: genug, statt des gestrigen beschauli¬ chen Morgens hatt' er jezt einen strebenden thaͤti¬ gen. Er saß selten nieder, er flog, er stand und gieng als Befehlshaber an der Spize seiner Tage. Waͤr' ihm Don Quixote's Rosinante auf einer Wiese grasend begegnet, er haͤtte sich frei auf die nakte geschwungen, (er waͤre sein eigner Sattel gewesen:) um in die romantische Welt hinein zu reiten bis vor die Hausthuͤre einer Dulzinee von Toboso. Er sah voruͤbergehend in eine hackende Oelmuͤhle, und trat hinein; die Riesenmaschi¬ nen kamen ihm lebendig vor, die hauenden Ruͤs¬ sel, die unaufhaltbaren Stampf-Maͤchte und Kloͤtze wurden von seltsamen Kraͤften und Gei¬ stern geregt und aufgehoben. Durch den rein-blauen Himmel brausete ein unaufhoͤrlicher Sturm — der seine eigne Windharfe war; — aber nichts weht weiter in Zauber- und Zukunfts-Laͤnder, als eine solche unsichtbare toͤnende Gewalt. Geister flogen im Sturm; die Waͤlder und Berge der Erden wur¬ den von Ueberirdischen geschuͤttelt und geruͤckt; — die aͤussere Welt schien so beweglich zu wer¬ den, wie es die innere ist. Ueberall lagen auf den Felsen Ritter-Schloͤs¬ ser — in den Gaͤrten Lustschloͤsser — an den kleinen Reben-Bergen weisse Haͤusergen — zu¬ weilen da eine rothglaͤnzende Ziegelhuͤtte, dort das Schieferdach einer Korn- oder Papiermuͤh¬ le. — — Unter allen diesen Daͤchern konnten die seltensten Vaͤter und Toͤchter und Bege¬ benheiten wohnen und heraus treten, und auf den Notar zugehen; er versah sich dessen ohne Furcht. Als eine zweite Strasse seine zu einem Kreuz¬ wege, diesem Andreaskreuze der Zauberinnen, durchschnitt: so wehten ihn tiefe Sagen schauer¬ lich aus der Kindheit an; im Brennpunkte der vier Welt-Ecken stand er, das fernste Treiben der Erde, das Durcheinanderlaufen des Lebens umspannt' er auf der wehenden Stelle. Da er¬ blickt' er Jodiz , wo er Vults Traume nach essen sollte. Es kam ihm aber vor, er hab' es schon laͤngst gesehen, der Strom um das Dorf, der Bach durch dasselbe, der am Flusse steil auf¬ fahrende Wald-Berg, die Birken-Einfassung und alles war ihm eine Heimath alter Bilder. Vielleicht hatte einmal der Traumgott vor ihm ein aͤhnliches Doͤrfgen aus Luft auf den Schlaf hingebauet und es ihn durchschweben lassen Es giebt zwar ein zweites Jodiz mit gleicher Ge¬ gend, — das Kindheitsdorf des gegenwaͤrtigen . Er dachte nicht daran, sondern an Abentheuer und an die Natur, die gern mit Aehnlichkeiten auf Steinen, und in Wolken und mit Zwil¬ lingen spielet. Im Jodizer Wirthshaus wurd' er wieder uͤberrascht durch Mangel an allem Ueberraschen¬ den. Nur die Wirthin war zu Hause und er der erste Gast. Erst spaͤter kam mehr Leben an, ein Boͤheimer mit vier Verkaufschweingen, und dem Hunde; aber da dieser sehr lamentirte, daß er lieber vier Heerden treiben und absetzen wollte als allemal die lezten Aeser, mit denen es nie ein Ende nehme: so ließ sich Walt seine Sonnen¬ seite nicht laͤnger zur Winterseite umdrehen, son¬ dern zog mit einer Portativ-Mahlzeit davon. Er gelangte in einen felsigen stillen Wald und glitt vom Weg ab, und lief so lange einer immer enger ablaufenden Schlucht nach, bis er an die sogenannte stille Stelle kam, die er im Tagebuche so beschreibt: Verfassers — es liegt aber nicht in Haslau, son¬ dern in Vogtland, wohin gewiß nicht der Notar gekommen. „Die Felsen draͤngen sich einander entgegen, und wollen sich mit den Gipfeln beruͤhren und die Baͤume darauf langen wirklich einander die Arme zu. Keine Farbe ist da als Gruͤn und oben etwas Blau. Der Vogel singt und nistet und huͤpft, nie gestoͤrt auf dem Boden, ausser von mir. Kuͤhle und Quellen wehen hier, kein Luͤft¬ gen kann herein. Ein ewiger dunkler Morgen ist da, jede Waldblume ist feucht, und der Mor¬ genthau lebt bis zum Abendthau. So heimlich eingebauet, so sicher eingefasset ist das gruͤne Stillleben hier, und ohne Band mit der Schoͤp¬ fung als durch einige Sonnenstrahlen, die Mit¬ tags die stille Stelle an den allgewaltigen Him¬ mel knuͤpfen. Sonderbar, daß gerade die Tiefe so einsam ist, wie die Hoͤhe. Auf dem Montblanc fand Saussuͤre nichts als einen Tag- und einen Nachtschmetterling, was mich sehr erfreuete. — Am Ende wurde ich selber so still, als die Stelle, und schlief ein. Ein Zaubertraum nach dem an¬ dern legte mir Fluͤgel an, die bald wieder zu grossen Blumenblaͤttern wurden, auf denen ich lag und schwankte. Endlich war mir, als rufe mich eine Floͤte beim Namen und mein Bruder stehe dicht an meinem Bette. Ich schlug die Au¬ gen auf, allein ich hoͤrte fast gewiß noch eine Floͤte. Ich wust' aber durchaus nicht, wo ich war; ich sah die Baum-Gipfel mit Gluth- Roth durchflossen; ich entsann mich endlich muͤh¬ sam der Abreise aus Jodiz und erschrack, daß ich eine ganze Nacht und den prophezeieten Abend in Rosenhof, hier verschlafen haͤtte; denn ich hielt die Roͤthe fuͤr Morgenroͤthe. Ich draͤngte mich durch den thauenden Wald hindurch und auf meine Strasse hinaus — ein praͤchtiges Morgen-Land faltete vor mir die gluͤhenden Fluͤ¬ gel auf, und riß mein Herz in das allerheiterste Reich. Weite Fichtenwaͤlder waren an den Spi¬ zen gelbroth besaͤumt, freilich nur durch morden¬ de Fichtenraupen. Die liebe Sonne stand so, daß es der Jahreszeit nach 5¾ Uhr am Mor¬ gen sein mochte, es war aber, die Wahrheit zu sagen, 6¼ Uhr Abends. Indeß sah ich die Lin¬ denstaͤdter Gebuͤrge roth von der entgegenstehen¬ den Sonne uͤbergossen, die eigentlich der oͤstlichen Lage nach uͤber Ihnen stehen muste. Ich blieb im Wirrwarr, obgleich die Sonne vielmehr fiel als stieg, bis ein junger hagerer Maler mit scharfen und schoͤnen Gesichts-Kno¬ chen und langen Beinen und Schritten und ei¬ nem der groͤßten Preussischen Huͤte vor mir da¬ hin voruͤber wollte, mit einer Mahler-Tasche in der Hand. „Guten Morgen, Freund, sagt' ich, ist das die Strasse nach Rosenhof, und wie lange?“ Dort hinter den Huͤgeln liegt's gleich, Sie koͤnnen in einer Viertel-Stunde noch vor Sonnenuntergang ankommen, wenn die Faͤhre eben da ist.“ Er entlief mit seinen gedachten Schritten und ich sagte: Dank, gute Nacht. Es war mir aber gewaltsam, als wenn sich die Welt ruͤckwaͤrts drehte, und als wenn ein großer Schatte uͤber das Sonnen-Feuer des Lebens kaͤ¬ me, da ich den Morgen zum Abend machen muste.“ So weit seine Worte. Jzt stand der Notar still, drehte sich um, eine lange Ebene hinter ihm schlossen unbekannte Berge zu; vor ihm standen sie wie Sturmbalken der Gewitter, gehoͤrnt und gespalten hinter den Huͤgeln gen Himmel und die Berg-Riesen tru¬ gen die hohen Tannen nur spielend. Der flie¬ gende Landschaftsmaler, sah er, sezte sich auf die Huͤgel und schien, nach seiner Richtung zu schliessen, die verdeckte Stadt Rosenhof auf sein Zeichenpapier heraufzutragen. Gott, dachte Walt, nun begreif' ich's einigermaßen, wie die Stadt liegen mag, wie goͤttlich und himmlisch, wenn der Landschafts-Maler von Bedeutung sich davor sezt, und nur sie abreisset, indeß er hinter seinem Ruͤcken eine Landschaft weiß, die einen Fremdling, der jene nicht kennt, ordent¬ lich mit Abend-Glanz und Ansicht uͤberhaͤuft. Als er oben vor die Aussicht kam, stand er neben dem Stand- und Sizpunkte des Ma¬ lers still, und rief nach dem ersten Blick auf die Landschaft aus: „Ja, das ist des Malens¬ werth.“ „Ich zeichne blos“ sagte der gebuͤckte Mahler, ohne aufzublicken. Walt blieb stehen, und sein Auge schweifte von dem breiten Rosana- Strome zu seinen Fuͤssen, aufwaͤrts zur Stadt am Ufer und Gebuͤrg, und stieg auf die waldi¬ gen zwei Felsen-Gipfel uͤber der Stadt, und fiel auf die Faͤhre, die voll Menschen und Wa¬ gen zwischen Seilen, zu seinem Ufer, voll neuer Passagiere, heruͤber glitt, und sein Auge flog endlich den Strom hinab, der, lang von der Abendsonne beglaͤnzt, sich durch fuͤnf gruͤne helle Inseln brennend draͤngte. Die Faͤhre war gelandet, neues Schiffsvolk und Fuhrwerk eingestiegen, sie wartete aber noch und, wie es ihm vorkam, auf ihn. Er lief hin¬ ab und sprang auf das Fahrzeug. Allein es wartete auf schwerere Befrachtung. Er schauete auf drei hier einlaufende Strassen hinauf. End¬ lich bemerkte er, daß im Abendglanze ein zierli¬ cher Reisewagen mit vier Pferden, lange Staub¬ wolken nachschleppend, daher rollte. Daruͤber muste der Notar frohlocken, weil schon ein Fuhrmanns-Karren mit Pferden auf der Faͤhre stand und der Reisewagen mit den sei¬ nigen sie noch viel gedraͤngter und bunter machte, als sie es schon durch den Kongreß von Bettlern, Boten, Spaziergaͤngern, Hunden, Kindern, Wan¬ dergesellen und Grummet-Weibern war, wozu noch der Tyroler, der Geburtshelfer und der Bet¬ telmann kam, die ihm unterwegs begegnet wa¬ ren. Die Faͤhre war ihm ein zusammengeprester Marktplaz, der schwamm, ein stolzes Linien- Schiff zwischen zwei Linien-Seilen, ein Bucen¬ tauro, aus welchem seine Seele zwei Vermaͤh¬ lungsringe auswarf, einen in den Seestrom, ei¬ nen in den glaͤnzenden Abend-Himmel. Er wuͤnschte halb und halb, die Ueberfahrt wollte sich durch einige Gefahr, die andern nichts scha¬ dete, noch treflicher beleben. Ein schoͤner stattlicher Mann stieg vorher aus dem angekommenen Wagen aus, eh' dieser auf das enge Fahrzeug getrieben, und da gehoͤrig eingeschichtet wurde; „er traue seinen Pferden nicht“ sagte der Herr. Walt fuhr ihm fast oh¬ ne ausgezeichnete Hoͤflichkeit entgegen vor Jubel, denn er sah den General Zablocki vor sich. Die¬ ser durch Reisen haͤufiger an solche Erkennungen gewoͤhnt, bezeugte ein ruhiges Vergnuͤgen, sei¬ nen erotischen Sekretair hier anzutreffen. Der lange Postzug stolperte endlich in die Faͤhre mit dem Wagen herein, und aufzitternd sah Walt, daß Zablocki's schoͤne Tochter darin saß, die Augen auf die fuͤnf Inseln heftend, welche der Flegeljahre III . Bd. II Sonnenglanz mit Rosenfeuer uͤberschwemmte. Sein Herz brannte sanft in seinem Himmel, wie die Sonne in ihrem, und gieng seelig auf, und seelig unter. Schon der leere Bekannte waͤr' ihm auf unbekanntem Boden, wie ein Bruder erschie¬ nen; aber nun die still geliebte Gestalt — sie gab ihm einen Seelen-Augenblik, den kein Traum der Phantasie weissagt. Er stand an der Morgenseite des Kutschen¬ schlags und durfte allda ohne Bedenken, da auf der Faͤhre alle Welt fest stehen muß, verharren, und in einem fort hinein sehen, (er hatte sich ge¬ gen den Wagen umgekehrt) er schlug aber die Augen oft nieder, aus Furcht, daß sie ihre her¬ um wende und von seinen gestoͤret werde, ob er gleich wußte, daß sie, geblendet von der Sonne, anfangs so viel saͤhe als nichts. Er vergaß, daß sie ihn wahrscheinlich gar nie angesehen. Nach der herrlichen Pracht-Sonne und nach den 5 Rosen-Inseln, sah er nicht hin, sondern genoß und erschoͤpfte sie ganz dadurch, daß er der stil¬ len Jungfrau und dem stummen Abendtraume, womit sie auf den goldnen Inseln ruhte, mit tausend Wuͤnschen zusah, es moͤg' ihr doch noch besser ergehen, und himmlisch, und darauf noch herrlicher. Von weitem war's ihm, als wenn die Ro¬ sana floͤsse und die Faͤhre schifte, und die Wellen rauschten, und als wenn die wagrecht einstroͤ¬ mende Abend-Sonne Hunde und Menschen mit Jugendfarben uͤberzoͤge, und jeden Bettler und Bettelstab vergoldete, desgleichen das Silber der Jahre und Haare. Aber er gab nicht besonders Acht darauf. Denn die Sonne schmuͤckte Wina mit betenden Entzuͤckungen und die Rosen der Wangen mit den Rosen des Himmels; — und die Faͤhre war ihm ein auf Toͤnen sich wiegen¬ der Sangboden des Lebens, ein durch Abendlicht schiffendes Morgenland, ein Charons-Nachen, der das Elysium trug zum Tartarus des Ufers. Walt sah unkenntlich aus, fremd, uͤberirdisch, denn Winas Verklaͤrung warf den Wiederschein auf ihn. Ein Kruͤppel wollte ihm in der Naͤhe etwas von seiner Noth vorlegen, aber er faste nicht, sondern hassete es, wenn ein Mensch an einem solchen Abend nicht seelig war, wo sich die bis¬ her betruͤbte Jungfrau erheiterte, und sich die Sonne gleichsam wie eine liebe warme Schwester- Hand an das Herz druͤckte, das bisher oft in mancher kalten dunkeln Stunde schwer ge¬ schlagen. „Haͤtt' er nur kein Ende, der Abend, wuͤnschte Walt, und keine Breite, die Rosana, — oder man beschifte wenigstens ihre Laͤnge, fort und fort, bis man mit ihr ins Meer ver¬ schwaͤmme, und darin untergienge mit der Sonne.“ Eben war die Sonne uͤber dem Strome untergegangen. Langsam wandte Wina das Au¬ ge ab und nach der Erde, es fiel zufaͤllig auf den Notar. Er wollte einen Gruß voll Vereh¬ rungen spaͤt in den Wagen werfen, aber die Faͤhre schoß heftig vom Ufer zuruͤck, und zer¬ stieß das wenige, was er zusammen gebauet. Der Wagen fuhr bedaͤchtlich ans Land. Walt gab an 4 Groschen Faͤhrgeld: „fuͤr wen noch?“ fragten die Faͤhrleute. „Fuͤr wer will“ versezte Walt; darauf sprangen, ohne zu fragen und zu zahlen, mehr zu viele ans Land. Der Ge¬ neral wollte zu Fuß in die schoͤne Garten- Stadt, Walt blieb neben ihm. Jener fragte, ob ihm gestern keine Komoͤdianten begegnet. Er berichtete, daß sie diesen Abend in Rosenhof spielten. „Gut! sagte Zablocki — so essen Sie Abends bei mir im Granatapfel — Sie uͤbernachten doch — und Morgens sieht man in Sozietaͤt die ganz splendide Felsen-Gruppe, die Sie droben uͤber der Stadt bemerken.“ Die Entzuͤckung uͤber diese Gabe des Ge¬ schicks spricht Walt in seinem Tagebuch kurz so aus: „wie ich vor ihm daruͤber meine Freude aussprach, lieber Bruder, das kannst du dir vielleicht besser denken als ich jezt.“ N ro . 47 . Titanium . Karthause der Phantasie — Bonmots — Es giebt schwerlich etwas Erquicklicheres als Abends mit dem General Zablocki hinter dem Wagen seiner Tochter zwischen den Gaͤrten voll Rosenstraͤuche in die schoͤne Stadt Rosenhof ein¬ zugehen — ohne alle Sorge und voll Ausmah¬ lungen des Abendessens zu sein — und den schoͤ¬ nen Eß-Rauch uͤber der Stadt ordentlich fuͤr die Zauber-Wolke zu halten, womit der gute Ge¬ nius in Vults Briefe sie uͤberzogen — und von den wirthlichen reinen breiten Gassen und den leichten vergaͤnglichen Spielen und Zwecken des Lebens immer gerade zu den draussen uͤber der Vorstadt stehenden finstern Gebirgshaͤuptern auf¬ zusehen, die so nahe aus ihrer kalten Hoͤhe auf die Haͤuser und die Thuͤrme herunter schauen. Besonders nahm den Notar die gruͤnende Gasse ein, wo der Granatapfel logirte: „mir ist or¬ dentlich, sagte er begeistert und redselig zum General, als gieng' ich in Chalcis in Eu¬ boͤa Pausan . in Att . oder auch einer andern griechischen Stadt, wo so viele Baͤume in den Gassen standen, daß man die Stadt kaum sah. Giebt es eine schoͤne¬ re Vermischung von Stadt und Land als hier, Exzellenz? — Und ist Ihnen nicht auch der Gedanke suͤß, daß hier zu einer gewissen Zeit, so wie in Montpellier, alles in Rosen und von Ro¬ sen lebt, wenn man auch gleich jezt nichts davon sieht als die Dornen, Herr General?“ Dieser, der nicht daraus gehorcht hatte, rief seinem Kutscher einen derben Fluch zu, weil er mit seinem Wagen fast an dem Fraͤnzelschen geentert haͤtte. Walt sagte, das seien die Ak¬ teurs; und forderte vom Wirth ein vortrefliches Zimmer, das man ihm leicht zugestand, weil man ihn fuͤr einen Sekretair Zablocki's ansah, was noch dazu richtig war in Ruͤcksicht der ero¬ tischen Memoiren. Da er darein gefuͤhret wur¬ de, erstaunte er schon vorlaͤufig uͤber den Prunk des Prunkzimmers und wurde geruͤhrt von sei¬ nem Gluͤcksschwung, was zunahm, als er den Bettelstab, dem er seinen Hut aufsezte, an den Spiegeltisch stellte. Da er aber in hoͤchster Be¬ quemlichkeit und Seelen-Ruhe auf- und ab gieng, die Papiertapeten statt des ihm gewoͤhn¬ lichern Tapetenpapiers — die drei Spiegel — die Kommode-Beschlaͤge mit Messing-Masken — die Fenster-Rouleaux — und vollends die Be¬ dientenklingel ausfand: so laͤutete er diese zum erstenmal in seinem Leben, um sogleich ein Herr zu sein und, wenn er eine Flasche Wein sich bringen lassen, nun die suͤßquellende Gegenwart gehend auszuschluͤrfen, und uͤberhaupt einen Abend zu erleben, wie irgend ein Troubadour ihn genossen. Troubadours, sagt' er sich, in¬ dem er trank, uͤbernachteten oft in sehr vergol¬ deten Zimmern der Hoͤfe, — den Tag vorher vielleicht in einer Moos- und Strohhuͤtte — wie Toͤne durchdrangen sie hohe und dicke Mauern — und dann pflegten sie sich darin noch die schoͤn¬ ste Dame von Stand zu aufrichtiger Liebe aus¬ zulesen und, gleich Petrarka, solche in ewiger Dichtung und Treue gar nie selber zu begehren“ — sezt' er dazu und sah an die Wand des — Generals. Zablocki's Zimmer war seinem durch eine zweimal verriegelte Wand- und Transito-Thuͤre versperrt und verknuͤpft. Er konnte gehend — denn stehend zuzuhoͤren, hielt er fuͤr Unrecht — auspacken und jedes heftige Wort des Vaters an Bediente, und den suͤssen Ton, worein Wina sie, wie eine Aeolsharfe den Sturmwind, auf der Stelle uͤbersezte, leicht vernehmen. Ob er gleich hofte, unten in der breiten Gaststube Ja¬ kobinen wieder und viel bekannter anzutreffen: so hielt er es doch fuͤr seeliger, neben der nahen Nonne Wina als Wandnachbar auf- und ab zu¬ spazieren, und sie unaufhoͤrlich sich vorzustellen, besonders das grosse beschattete Auge und die Freundlichkeit und Stimme und das Abendessen neben ihr. Er hoͤrte endlich, daß der General sagte, er gehe in's Schauspiel, und daß Wina bat, zu¬ ruͤck bleiben zu duͤrfen, und daß sie darauf ih¬ rer Kammerdienerin — der gottlosen Saͤngerin Luzie — die Erlaubniß gab, sich im Staͤdtgen umzusehen. Alsdann wurde alles still. Er sah zum Fenster hinaus an ihres. Winas beide Fenster-Fluͤgel (sie schlugen sich nach der Gasse auf) waren offen, und ein Licht im Zimmer und am Wirthshausschild ein Schattenriß, der sich regte. Da er aber nichts weiter sah, so kehrte er wieder mit dem Kopf in seine Stube zuruͤck, worin er — so gehend, trinkend, dichtend, — ein aus Rosenzucker gebackenes Zuckerbrod, ja Zucker-Eiland nach dem andern aus dem Back¬ ofen auf der Schaufel behutsam heraus holte: — „O ich bin so gluͤcklich!“ dacht' er und sah nach, ob man keine Armenbuͤchse an die Papiertapeten geschraubt, weil er in keinem Wirthshause ver¬ gaß, in diese Stimm-Rize unbekannter Klag¬ stimmen, so viel er konnte, zu legen; aber das Zimmer war zu nett zu Wohlthaten. Es wurde sehr dunkel. Der fruͤhe Herbst¬ mond stand schon als ein halbes Silber-Diadem auf einem Gebirgshaupt. Der Kellner kam mit Licht, Walt sagte: ich brauche keines, ich esse bei dem Hr. General. Er wollte das Stuben¬ lange Mondlicht behalten. An der Fensterwand wurde ihm endlich dadurch eine und die andere Reise-Sentenz von fruͤhern Passagieren erleuch¬ tet. Er laß die ganze Wand durch, nicht ohne Zufriedenheit mit den jugendlichen Sentenzen, welche saͤmmtlich Liebe und Freundschaft und Erden-Verachtung mit der Bleifeder anpriesen. — „Ich weiß so gut als jemand — schreibt er im Tagebuch — daß es fast laͤcherlich, wenn nicht gar unbillig ist, sich an fremde Zimmer¬ Wand anzuschreiben; dennoch ergoͤzet den Nach¬ fahrer ein Vorgaͤnger sehr dadurch, daß er auch da gewesen, und die leichte Spur eines Unbe¬ kannten einem Unbekannten nachgelassen. Frei¬ lich schreiben einige nur den Namen und Jahrs¬ zahl an; aber einem wohlwollenden Menschen ist auch ein leerer Name lieb, ohne welchen eine entruͤckte verreisete Gestalt doch mehr ein Begrif bliebe als ein Begriffenes, weniger ein Mensch als eine luftige, auch wohl aͤtherische Mensch¬ heit. Und warum soll man denn einen leeren Gedanken lieber haben und vergeben, als einen leeren Namen? — Ich nehm' es gar nicht uͤbel, daß einer bloshin anschrieb I . P . F . R . Wonsi¬ del : Martii anno 1793 — oder ein anderer Vi¬ vat die A . etc ., die B . etc ., die C . etc ., die I . etc . — oder das Franzoͤsische, Griechische, Lateini¬ sche, auch Hebraͤische. — Und es stehen ja oft kostbare Sentenzen daran wie folgende: „im physischen Himmel glauben wir stets in der Mitte zu sein; aber in Ruͤcksicht des innerli¬ chen glauben wir immer am Horizont zu stehen; im oͤstlichen , wenn wir frohlocken, im west¬ lichen , wenn wir jammern.“ Er wagte zu¬ lezt selber Winas und Walts Namen sammt Da¬ tum ans Stammbuch so zu schreiben. W — W. Sept. 179 — Er schauete wieder auf die Mondhelle Gasse hinaus nach Winen, und er¬ blikte drei herausgelegte Finger, und ein wenig weisse Hutspize; dabei und davon ließ sich leben und traͤumen. Er schwebte und spielte, wie ein Sonnenstaͤubgen, in den langen Mondstrahlen der Stube, er ergaͤnzte sich das stille Maͤdgen aus den drei Fingern; er schoͤpfte aus der nie versiegenden Zukunft, die beim Abendessen als Gegenwart erschien. Freuden flogen ihm als pur¬ purne Schmetterlinge nach und die beleuchteten Stubenbretter wurden Beete von Papillionsblu¬ men — — drei Viertelstunden lang wuͤnscht' er herzlich, so einige Monate auf- und nieder zu gehen, um sich Wina zu denken und das Essen. Aber der Mensch duͤrstet am groͤßten Freu¬ denbecher nach einem groͤssern und zulezt nach Faͤssern; Walt fieng an, auf den Gedanken zu kommen, er koͤnne nach der vaͤterlichen Einla¬ dung ohne Uebelstand sich jezt gar selber einstel¬ len bei der einsamen Wina. Er erschrack genug — wurde scham- und freudenroth — gieng lei¬ ser auf- und ab — hoͤrte jezt Wina auch auf und niedergehen — der Vorsaz trieb immer mehr Wurzeln, und Bluͤthen zugleich — nach einer Stunde Streit und Gluth war das Wagstuͤck seiner Erscheinung und alle zartesten Entschuldi¬ gungen derselben fest beschlossen und abgemacht: als er den General kommen und sich rufen hoͤr¬ te. Er riegelte mit dem Hut-Stock in der Hand, seine Wandthuͤre auf, „diese ist zu, Freund!“ rief der General, und er gieng, den Misgriff nachfuͤhlend, erst aus seiner durch die fremde ein. Bluͤhend von Traͤumen trat er ins helle Zimmer; halb geblendet sah er die weisse schlan¬ ke Wina mit dem leichten weissen Hute, wie ei¬ ne Blumengoͤttin neben dem schoͤnen Bacchus stehen. Der leztere hatte ein heiteres Feuer in jeder Mine. Die Tochter sah ihn unaufhoͤrlich vor Freude uͤber die seinige an. Bediente musten ihm auf Fluͤgeln das Essen bringen. Der Notar wog auf den seinigen, verschwebt in den Glanz dieses magischen Kabinets, nicht viel uͤber das Gewicht von fuͤnf Schmetterlingen, so leicht und aͤtherisch flatterte ihm Gegenwart und Leben vor. Er sezte sich mit weit mehr Welt und Leich¬ tigkeit an das Eß-Taͤfelgen, als er selber ge¬ dacht hatte. Der General, der ein unaufhoͤr¬ liches Sprechen und Unterhalten begehrte, sann Walten an, etwas zu erzaͤhlen, etwas Aufge¬ wektes. Mit etwas Ruͤhrendem waͤr' er leichter bei der Hand gewesen; so aber sagt' er: er wolle nachsinnen. Es fiel ihm nichts bei. Schwerer ist wohl nichts als das Improvisiren der Erin¬ nerung. Viel leichter improvisirt der Scharf- und Tiefsinn, die Phantasie, als die Erinnerung, zumal wenn auf allen Gehirn-Huͤgeln die freu¬ digsten Feuer brennen. Dreitausend fatale Bon¬ mots hatte der Notar allemal schon gelesen ge¬ habt, sobald er sie von einem andern erzaͤhlen hoͤrte; aber er selber kam nie zuerst darauf und er schaͤmte sich nachher vor dem Korreferenten. Sehr haͤtt' er das Schaͤmen nicht noͤthig, da solche Referendarien des fremden Wizes und solche Postschiffe der Gesellschaft meist platte Ge¬ hirne tragen, auf deren Tenne nie die Blumen wachsen, die sie da aufspeichern und auf¬ troknen. „Ich sinne noch nach“ versezte Walt, ge¬ aͤngstigt, einem Blicke Zablocki's, und flehte Gott um einigen Spaß an; denn noch sah er, daß er eigentlich nur uͤber das Sinnen sinne, und dessen Wichtigkeit. Die Tochter reichte dem Vater die Flasche, die nur er — seine Briefe aber sie — aufsiegelte. „Trinken Sie dies Gewaͤchs fuͤr 48ger oder 83ger?“ sagte der General, als man Walten das Glas bot. Er trank mit der Seele auf der Zunge und suchte forschend an die Decke zu blicken. „Er mag wohl, versezt' er, um die Haͤlfte aͤlter sein, als mein voriger Wein, den ich eher fuͤr jungen 48ger halte; — ja, (sezt' er fest darzu, und blikte ins Glas,) er ist gewiß herrliche 83 Jahre alt.“ Zablocki laͤchelte, weil er eine Anekdote, statt zu hoͤren, erlebte, die er schoͤn weiter geben konnte. Der General wollt' ihn aus dem stillen in¬ nerlichen Schnappen nach Bonmots herausfra¬ gen durch die Rede: wie er nach Rosenhof kom¬ me? Walt wuste keine rechte ostensible Ursa¬ chen — wiewohl diese ihm gegenuͤber saß im weissen Hute — anzugeben, ausgenommen Na¬ tur und Reiselust. Da aber diese keine Geschaͤf¬ te waren: so begriff ihn Zablocki nicht, sondern glaubte, er halte hinter irgend einem Berge, und wollte durchaus hinter ihm kommen. Walt schuͤttelte von seinen poetischen Schwingen die koͤstlichen Berge und Thaͤler und Baͤume auf das Tischtuch, die er auf dem seeligen Wege mehr aufgeladen, als durchflogen hatte. Zablocki sagte nach Walts langer Ausspende von Bil¬ dern: „beim Teufel! nimm' oder ich fress' nicht!“ Wina — denn diese hatt' er in jenem Liebes-Zorn angeredet, den weniger die Vaͤter gegen ihre Toͤchter als die Maͤnner gegen ihre Weiber haben — nahm erschrocken ein grosses Stuͤck vom Schnepfen, dem Schoos-Kinde des vaͤterlichen Gaumens, und reichte, hoͤflicher als Zablocki, den Teller dem betretenen Notar hin¬ uͤber, um ein Paar hundert Verlegenheiten zu ersparen. Walt konnte auf keine Weise fassen, wie bei so muͤndlicher lebendiger Darstellung der lebendigen beinahe muͤndlichen Natur als seine war, ein Schnepfe mit allem seinem Album graecum noch einige Sensazion zu machen im Stande sei. Poetische Naturen, wie Walt, sind in Nordlaͤndern — denn ein Hof oder die grosse Welt ist der geborne Norden des Geistes, so wie der geborne Gleicher des Koͤrpers — nichts wei¬ ter als Elephantenzaͤhne in Siberien, die unbe¬ greiflich an einem Orte abgeworfen worden, wo der Elephant erfriert. Mit einschmeichelnder Stimme fragt' ihn wieder Zablocki, ob ihm noch nichts eingefal¬ len; und Wina sah ihn unter dem Abendrothe des rothtaftenen Hutfutters so lieblich Augen¬ nickend und bittend an, daß er sehr gelitten haͤt¬ te, wenn ihm nicht die drei Bonmots, auf die er sich gewoͤhnlich besann, endlich zugekommen waͤren, und daß er wieder nahe daran war, ein gelieferter Mann zu werden, und alles zu verges¬ sen, weil das kindlich bitthafte Auge zu viel Plaz — naͤmlich allen — in seiner Phantasie, Memorie und Seele wegnahm. Flegeljahre III . Bd. „Ein harthoͤriger Minister — fieng er an — hoͤrte an einer fuͤrstlichen Tafel“. . . . „Wie heisset er und wo?“ fragte Zablocki. Das wust' er nicht. Allein da der Notar den wenigen Hi¬ storien, die ihm zufielen, keinen Boden, Ge¬ burtstag und Geburtsschein zuzuwenden wuste — vorfabeln wollt' er nie: — so braucht es Sozie¬ taͤten nicht erst bewiesen zu werden, wie farben¬ los er als Historienmaler auftrat, und wie sehr eigentlich als ein luftiger historischer Improvisa¬ tore. „Ein harthoͤriger Minister hoͤrte an einer fuͤrstlichen Tafel die Fuͤrstin eine komische Anek¬ dote erzaͤhlen, und lachte daruͤber mit dem gan¬ zen Zirkel unbeschreiblich mit, ob er gleich kein Wort davon vernommen. Izt versprach er eine eben so komische zu erzaͤhlen. Da trug er, zum allgemeinen Erstaunen, die eben erzaͤhlte wieder als eine neue vor.“ Der General glaubte, so schnapp' es nicht ab; da er aber hoͤrte, es sei aus: so sagt' er spaͤt: „Delizioͤs!“ lachte indeß erst zwei Minuten spaͤter hell auf, weil er gerade so viele brauchte, um sich heimlich die Anekdote noch einmal, aber ausfuͤhrlicher, vorzutragen. Der Mensch will nicht, daß man ihm die spitze, blan¬ ke Pointe zu hitzig auf der Schwelle auf das Zwergfell setze. Eine gemeine Anekdote ergreift ihn mit ihrem Ausgang froh, sobald er nur vorher durch viel Langeweile dahin getrieben wur¬ de. Geschichten wollen Laͤnge, Meinungen Kuͤr¬ ze. Walt trieb die zweite anonyme Geschichte von einem Hollaͤnder, auf und vor, welcher gern ein Landhaus, wegen der herrlichen Aus¬ sicht auf die See, besessen haͤtte, wie alle Welt um ihn, allein nicht das Geld dazu hatte. Der Mann aber liebte Aussichten dermassen, daß er alle Schwierigkeiten dadurch zu besiegen suchte, daß er sich auf einem Huͤgel, den er gegen die See hatte, eine kurze Wandmauer, und darein ein Fenster brechen ließ, in welches er sich nur zu legen brauchte, um die ofne See zu geniessen und vor sich zu haben, so gut als irgend ein Nach¬ bar in seinem Gartenhaus. Sogar Wina laͤchelte glaͤnzend unter dem rothen Taft-Schatten hervor. Mit noch mehr Anmuth als bisher theilte Walt die dritte Anek¬ dote mit. Ein Fruͤhprediger, dessen Kehlkopf mehr zur Kanzel-Prosa als zur Altar-Poesie gestimmt war, ruͤckte zu einer Stelle hinauf, die ihn zwang, vor dem Altare das „Gott in der Hoͤhe sei Ehr'“ zu singen. Er nahm viele Singstun¬ den; endlich nach vierzehn Singtagen schmeichel¬ te er sich, den Vers in der Gewalt und Kehle zu haben. Die halbe Stadt gieng fruͤher in die Kirche, um der Anstrengung zuzuhoͤren. Ganz muthig trat er aus der Sakristei, (denn er hatte sich darin vom Singmeister noch einmal leise uͤberhoͤren lassen,) und stieg gefast auf den Al¬ tar. Alle Erzaͤhler der Anekdote stimmen uͤber¬ ein, daß er treflich angehoben, und sich anstaͤn¬ dig genug in den Choral hineingesungen hatte: als zu seinem Ruin ein blasender Postillion draus¬ sen vor der Kirche vorbei ritt, und mit dem Post¬ horn ins Kirchenlied einfiel; — das Horn hob den Prediger aus dem alten Sing-Geleise in ein neues hinein, und er sah sich gezwungen, das ernste Lied mitten vor dem Altare nach dem vor¬ beireitenden Trompeterstuͤkgen, auf die lustigste Weise hinauszusingen. Der General lobte sehr den Notar, und gieng heiter aus dem Zimmer; aber er kam nicht wieder. N ro . 48 . Strahlkies . Die Rosenhoͤfer-Nacht. Weder Jakobine noch der General machten je ein Geheimnis daraus — naͤmlich aus ihrem wechselseitigen; — es kann also die Anverwand¬ ten von beiden auf keine Weise zu etwas Juristi¬ schem gegen den Verfasser der Flegeljahre berech¬ tigen, wenn er im Strahlkies blos kalt er¬ zaͤhlet, daß Zablocki ein wenig in den naͤchsten Garten spazieren gegangen, und die Aktrize Ja¬ kobine zufaͤllig nicht so wohl, als in der guten Absicht, von ihrer Rolle der Johanna von Mont¬ faucon im Freien zu verschnaufen. Noch viel weniger als schreibende Verfasser, sind von ho¬ hen Anverwandten allgemeine Saͤtze anzugreifen, wie z. B. dieser: daß sehr leicht der weibliche theatralische Lorbeer sich ruͤckwaͤrts in eine Daphne verwandle — und der Saz, daß ei¬ ne Schauspielerin nach einer schweren tragischen Tugend-Rolle am besten ihr eignes Theater aux Italiens und ihre eigne Parodie werde — am wenigsten dieser, daß das Militair, es sei auf Kriegs-oder Friedensfuß, den griechischen Moͤbeln gleiche, die meistens auf Satyrfuͤssen standen — und endlich der, daß wohl nichts einander mehr sucht, und aͤhnlich findet (daher schon die Worte Kriegstheater und Theaterkrieg, Akzion und Staatsakzion, Truppen,) als eben Theatertruppen die Kriegstruppen, und vice versa . Ich fahre also, nachdem ich berichtet, daß beide spazieren gegangen, gleich ihnen ruhig und ungestoͤrt, hoff' ich, fort. Walts Gesicht wurde eine Rose unter dem Ausbleiben des Vaters. Wina heftete die Au¬ gen, die sich wie suͤsse Fruͤchte unter das breite Laub der Augenlieder verstekten, unter dem Hute auf ihr Strikzeug nieder, das einen langen Kin¬ derhandschuh vollendete. Ueber den Notar kam nun wieder die Furcht, daß sie ihn als den Aus¬ lieferer ihres Briefes zu verabscheuen anfange. Er sah sie nicht oft an, aus Scheu vor dem zu¬ faͤlligen Augen-Aufschlag. Beide schwiegen. Weibliches Schweigen bedeutet — ohnehin als das gewoͤhnlichere — viel weniger als maͤnnli¬ ches. Die befeuernde Wirkung, welche der Wein haͤtte auf den Notar thun koͤnnen, war durch seine Anstrengung, den feinsten Gesellschafter zu spielen, niedergehalten worden. Indeß waͤr' ihm die Lage nicht unangenehm gewesen, wenn er nur nicht jede Minute haͤtte fuͤrchten muͤssen, daß sie — vorbei sei. Endlich sah er sehr scharf und lange auf den Strik-Handschuh und wurde so gluͤcklich, sich einen Faden der Rede daraus zu ziehen; er schoͤpf¬ te naͤmlich die Bemerkung aus dem Handschuh, daß er oft Stundenlang das Stricken besehen, und doch nie begriffen. „Es ist doch sehr leicht, Hr. Harnisch“ versezte Wina, nicht spoͤttisch, sondern unbefan¬ gen, ohne aufzublicken. Die Anrede: „Herr Harnisch“ jagte den Empfaͤnger derselben wieder in die Denk- und Schweig-Karthause zuruͤck.— „Wie kommt's — sagt' er, spaͤt heraustretend, und den Strick- Faden wieder aufnehmend — daß nichts so ruͤh¬ rend ist, als die Kleidungsstuͤcke der lieben Kin¬ der, z.B. dieses — so ihre Huͤtgen — Schuͤhgen? — — Das heisset freilich am En¬ de, warum lieben wir sie selber so sehr?“ — „Es wird vielleicht auch darum sein — versezte Wina und hob die ruhigen vollen Au¬ gen zum Notar empor, der vor ihr stand — weil sie unschuldige Engel auf der Erde sind, und doch schon viele Schmerzen leiden.“ „Wahrhaftig, so ist es — (betheuerte Walt, indem Wina, wie eine schoͤne stille Flamme glaͤn¬ zend vor ihm aufstand, um ihr Maͤdgen herzu¬ klingeln) — Und wie duͤrfen Erwachsene kla¬ gen? — Ich will warlich das Sterben eines Kindes (sezt' er hinzu, und folgte ihr einige Schritte nach) ertragen, aber nicht sein Jam¬ mern; denn in jenem ist etwas so heilig-schau¬ erliches.“ Wina kehrte sich um und nikte. Luzie kam; Wina fragte, ob der General ihr nichts aufgetragen. Luzie wuste von nichts, als daß sie ihn in den nahen Garten hinein spa¬ zieren sehen. Rasch trat Wina ans mondhelle Fenster, athmete Einmal recht seufzend ein, und sagte schnell: „den Schleier, Luzie! Und du weist es gewiß, liebes Maͤdgen, und auch den Gar¬ ten?“ — Mit einer leisen Stimme, wie nur eine maͤhrische Schwester anstimmen kann, ver¬ sezte Luzie: „ja, Gnaͤdigste!“ Wina warf den Schleier uͤber den Hut und redete, hinter diesem gewebten Nebel, und fliegenden Sommer unbe¬ schreiblich bluͤhend und liebreizend, den Notarius mit sanftem Stocken an: „lieber H. Notar — Sie lieben ja auch, wie ich hoͤrte, die Natur — und mein guter Vater“ — — Er war schon nach dem Hut-Stock geflo¬ gen, und stand bewafnet und reisefertig da — und gieng hinter beiden mit hinaus. Denn ein fremdes Zimmer zu verlassen, fuͤhlt' er sich ganz berechtigt. Indeß aber solches geschlossen wurde, kam er wieder voraus zu stehen, nahe an der Treppe; — und in ihm fieng ein kurzes Tref¬ fen und Scharmuͤzel an uͤber die Frage, ob er mit entweder duͤrfe oder solle — oder weder ei¬ nes noch das andere. Wina konnte ihn nicht zuruͤck rufen — und so kam er innen fechtend auf die Treppe, und trug das stille Handgemen¬ ge bis zur Hausthuͤre hinaus. Da gieng er ohne weiteres mit und sezte den Hut von seinem Stock auf den Kopf; aber er zitterte, nicht so wohl vor Furcht oder vor Freu¬ de, sondern vor einer Erwartung, die beide ver¬ einigt. O es ist eine laͤcherliche und reine Zeit im fruͤhen Juͤnglingsalter, wo im Juͤngling die alte franzoͤsische Ritterschaft mit ihrer heiligen Scheu erneuert, und wo der Kuͤhnste gerade der Bloͤdeste ist, weil er seine Jungfrau, fuͤr ihn ei¬ ne von dem Himmel geflogne, eine nach dem Himmel fliegende Gestalt, so ehret wie einen grossen Mann, dessen Nachbarschaft ihm der heilige Kreis einer hoͤhern Welt ist, und dessen beruͤhrte Hand ihm eine Gabe wird. Unseelig, schuldvoll ist der Juͤngling, der niemals vor der Schoͤnheit bloͤde war. Die drei Menschen giengen durch eine wal¬ dige Gasse dem Garten zu. Der Mond zeich¬ nete die wankende Gipfel-Kette auf den lichten Fußsteig hin, mit jedem zitternden Zweig. Luzie erzaͤhlte, wie schoͤn der Garten, und besonders eine ganz blaue Laube darin sei, aus lauter blauen Blumen gewebt. Blauer Enzian — blaue Sternblumen — blauer Ehrenpreis — blaue Waldreben vergitterten sich zu einem klei¬ nen Himmel, worin gerade im Herbst keine Wolke, d. h. keine Knospe war, sondern ofne Aetherkelche. „Da die Blumen leben und schlafen, sagte Walt bei diesem Anlaß, so traͤumen sie gewiß auch, so gut wie Kinder und Thiere. Alle We¬ sen muͤssen am Ende traͤumen.“ — „Auch die Heiligen und die h. Engel?“ fragte Wi¬ na. „Ich wollte wohl sagen Ja — sagte Walt — insofern alle Wesen steigen, und sich also etwas Hoͤheres traͤumen koͤnnen.“ — Ein Wesen ist aber auszunehmen, sagte Wina. — „Gewiß! Gott traͤumet nicht. Aber wenn ich nun die Blumen wieder betrachte, so mag wohl in ihren zarten Huͤllen der dunkle Traum von einem leichtern Traume bluͤhen. Ihre duftende Seele ist Nachts zugehuͤllt, nicht durch blosse Blaͤtter, sondern wahrhaft organisch, wie denn unsere auch nicht durch blosse Augenlieder zuge¬ schlossen wird. Sobald nun einmal die farbigen Wesen am Tage Licht und Kraft verspuͤren: so koͤnnen sie ja auch Nachts einen traͤumerischen Wiederschein des Tages geniessen. Der Allse¬ hende droben wird den Traum einer Rose und den Traum einer Lilie kennen und scheiden. Ei¬ ne Rose koͤnnte wohl von Bienen traͤumen, ei¬ ne Lilie von Schmetterlingen — in dieser Minu¬ te kommt es mir ordentlich fast gewisser vor — das Vergißmeinnicht von einem Sonnenstrahl — die Tulpe von einer Biene — manche Blume von einem Zephyr — Denn wo koͤnnte denn Gottes oder der Geister Reich aufhoͤren? Fuͤr ihn mag wohl ein Blumenkelch auch ein Herz sein, und umgekehrt manches Herz ein Blumen- Kelch.“ — Izt traten sie in den Zauber-Garten ein, dessen weisse Gaͤnge und finstere Blaͤttergruppen einander wechselnd faͤrbten. Die Berge waren, wie Nachtgoͤtter, hoch aufgestanden, und hoben ihr dunkles Erdenhaupt kuͤhn unter die himmli¬ schen Sterne hinein. Der Notar sah den bisher auseinander liegenden Farbenthau der Dich¬ tung an Winas Hand sich als einen Regen¬ bogen aufrichten, und im Himmel stehen als der erste glaͤnzende Halbzirkel des Lebens- Kreises. Er wurde — so wie Wina immer einsyl¬ biger — immer vielsylbiger und betrank sich im Taufwasser seiner Worte, das er uͤber jeden Berg und Stern goß, der ihnen vorkam. Es gab wenige Schoͤnheiten, die er nicht, wenn er vor¬ beigieng, abschilderte. Es war ihm so wohl und so wohlig, als sei die ganze schimmernde Halb¬ kugel um ihn nur unter seiner Hirnschaale von einem Traume aufgebauet, und er koͤnne alles ruͤcken und rauben, und die Sterne nehmen und wie weisse Bluͤthen herunterschlagen auf Winas Hut und Hand. Je weniger sie ihn unterbrach und abkuͤhlte: um so groͤsser machte er seine Ideen, und that zulezt die groͤste, jene unge¬ heure auf, worin die Welt zerschmilzt und bluͤht, so daß Luzie, die bisher weltliche Lieder murmelnd gesungen, damit aufhoͤrte, aus Scheu vor Gottes Wort. Eben wurde das Completorium gelaͤutet, als Wina vor einer uͤberlaubten kleinen Kapelle vorbei gieng. Sie gieng wie verlegen langsam, stand, und sagte Luzien etwas ins Ohr. Walt war ihrer Seele zu nahe, um nicht in sie zu schauen; er gieng schnell voraus, um sie beten zu lassen, und sie heimlich nachzuahmen. Luzie hatte leise Winen gesagt, seitwaͤrts oben die schwarze Laube sei die blaue. In dieser wollte er die Beterin erwarten. Als er naͤher trat, flog aus der Laube Jakobine lustig heraus, und warf ihm scherzend einen Schawl uͤber den Kopf und entfuͤhrte ihn am Arme, um an seiner gruͤ¬ nen Seite, sagte sie, die kostbare Nacht zu ge¬ niessen. Ob er gleich nicht von weitem ahnte, mit welcher frechen Parodie der Morpheus des Zu¬ falls den Menschen oft mit seinem Geschicke paa¬ re und entzweie: so widerstand doch der Spas, und die Freiheit und der Kontrast dem ganzen Zuge seiner hoͤhern Bewegungen. Er sezt' ihr eiligst auseinander, woher, und womit er kom¬ me und sah bedeutend nach der Kapelle, als werd' er von dort aus stark erwartet. Jacobine scherzte schmeichelnd uͤber Walts Damen-Gluͤk und verschloß ihm den Mund durch das Ueber¬ fuͤllen seines Herzens. Indeß er nun aͤusserlich scherzend focht — und innen es auf allen Seiten uͤberschlug, wie er ohne wahre Grobheit Jako¬ binens Arm von seinem schuͤtteln koͤnne: — so sah er, wie vom Eingange des Gartens her, den General auf die Tochter loskommen, sehr freu¬ dig ihre Hand in seinen Arm einpacken, und mit dem Engel der Sterne davon und nach Hause laufen. „Ach wie schnell gehen die schoͤnen Sterne des Menschen unter!“ — dachte Walt, und sah nach den Bergen, wo morgen ein Paar Bil¬ der davon wieder aufgehen konnten; und war nicht im Stande, Jakobinen zu fragen, ob sie die Reize der schoͤnen Nacht empfinde? Diese flog kalt vor dem Notar ins Haus und verschwand auf der Treppe. Er brauchte diesen Abend nichts weiter als ein Kopfkissen fuͤr sei¬ ne wachen Traͤume und ein Stuͤck Mondschein im Bette. Aber in der Nachmitternacht — so lange traͤumt' er — fuhr wieder auf der Gasse eine Nachtmusik auf, welche Zablocki's Leute ab¬ bliesen. Nachdem Walt die Gasse wie ein Lo¬ rettohaͤusgen, in die schoͤnste welsche Stadt ge¬ tragen und niedergesezt, — nachdem er die herr¬ lichen Blize des Klanges, die an den Saiten wie an Metalldrath herabfuhren, auf sich ein¬ schlagen lassen — und nachdem er die Sterne und den Mond nach der irdischen Sphaͤrenmu¬ sik in Tanz gesezt — und nachdem die Lust halb aus war: so flatterte Jakobine, deren Fluͤ¬ stern er vorher fast im Nebenzimmer zu hoͤren geglaubt, zur Thuͤre hinein und ans Fenster, vor brennender Ungeduld, die Toͤne zu hoͤren, nicht aber den Notar. Walt wuste nicht sogleich, wo er war oder bleiben sollte. Er schlich sich heimlich und leise aus den Kissen in die Kleider, und hinter die Hoͤrerin; wie angezuͤndeter Flachs, war er in hoͤhere Regionen aufgeflogen, ohne einen Weg zu wissen. Nicht daß er von ihr oder von sich etwas besorgte; aber nur die Welt kannte er, und ihre Parterre's-Pfeifen gegen jedes kuͤhne Maͤdgen, ein Ungluͤck, wogegen er lieber sich von der zweiten Fama's-Trompete jagdgerecht anblasen liesse, um nur das Weib zu retten; — — und er wuste kaum, ob er nicht aus der Stu¬ be so lange unvermerkt entfluͤchten sollte, bis die Aktrize in ihre heimgegangen. Sie hoͤrte drei Seufzer — fuhr um — er stand da — sie entschuldigte sich sehr, (zu sei¬ ner Lust, da er gefuͤrchtet, er habe sein eignes Dasein zu exkusiren) daß sie in ein beseztes Zimmer gekommen, das ihr, da es ohne Nacht¬ riegel gewesen, frei geschienen. — Er schwur, niemand habe weniger dawider als er; — aber Jakobinens Reinheit glaubte sich damit noch nicht rein gewaschen, sie fuhr fort, und stellt' ihm unter dem musikalischen Getoͤse, so laut sie konnte, vor, wie sie denke, wie ihr Nachtmusik in Mark und Bein fahre, an Fast- und Freitaͤ¬ gen ganz besonders, weil da vielleicht ihr Ner¬ vensystem viel ruͤhrbarer sei, und wie dergleichen sie nie unter dem Bette lasse, sondern wie sie die erste beste Wasch-Serviette (sie hatte eine Flegeljahre III . Bd. 13 um) uͤber den Hals schlage, um nur ans Fen¬ ster zu kommen und zu hoͤren. Unter dieser Rede hatte eine fremde Floͤte so naͤrrisch mit feindlichen Toͤnen durch die Nachtmusik gegriffen und geschrien, daß diese es fuͤr angenehmer hielt, uͤberhaupt aufzuhoͤren. Jakobine sprach laut, ohn' es zu merken, wei¬ ter: „man uͤberkommt dann Gefuͤhle, die nie¬ mand giebt, weder Freundin noch Freund:“ „Etwas leiser, Vortrefliche, ums Himmels¬ willen leiser — sagte Walt, als sie den lezten Saz nach der Musik gesagt — der General schlaͤft gerade neben an und wacht. Wohl, wohl ist meistens fuͤr ein weibliches Herz eine Freundin zu unmaͤnnlich und ein Freund zu unweiblich.“ — Sie sprach so leise als er's haben wollte, und faste ihn an der Hand mit beiden Haͤnden an, wodurch die dicke plumpe Serviette, die sie bis¬ her mit den Fingern wie mit Nadeln zugehal¬ ten, aus einander fiel. Er erfuhr, was Hoͤllen¬ angst ist; denn das leisere Sprechen und Bei¬ sammenstehen, wust' er, konnt' ihn ja jede Mi¬ nute, wenn die Thuͤre aufgieng, bei der Welt in den Ruf eines Libertins, eines frechen Maͤd¬ gen-Wolfs setzen, der nicht einmal die Unschuld schonet, wofuͤr er Jakobine hielt, weil sie sanfte blaue Augen hatte. „Aber Sie wagen beim Himmel zu kuͤhn!“ sagt' er. „Schwerlich, so bald nur Sie nicht wagen“ versezte Sie. Er deutete, was sie von seinen Anfaͤllen sagte, irrig auf seinen unbeflek¬ ten Ruf, und wuste nicht, wie er ihr mit Zaͤrte die Ruͤksicht auf seinen ohne Eigennutz — denn ihr Ruf war ja noch wichtiger — in der groͤsten Eile und Kuͤrze (wegen des Generals und der Thuͤre) auseinander setzen sollte. Und doch war er von so guten ehrlichen Eltern, von so unbe¬ scholtenem Wandel — und trug den Brautkranz jungfraͤulicher Sittsamkeit so lange vor dem Bru¬ der und jedem mit Ehren, — — er hatte den Henker davon, wenn der verfluchte Schein und Ruf hereingrif und ihm den gedachten Kranz vom Kopfe zog, gesezt auch, es wuchs ihm nachher eine frische Martyrerkrone nach. Ihm wurde ganz warm, das Gesicht roth, der Blik irre, der Anstand wild: „gute Jako¬ bine, sagt' er bittend, Sie errathen — es ist so spaͤt und still — mich und meinen Wunsch ge¬ wiß.“ — „Nein, sagte sie, halten Sie mich fuͤr keine Eulalia, H. v. Meinau. Schauen Sie lieber die reine keusche Luna an!“ — sagte sie, und verdoppelte seinen Irrthum. — „Sie geht — ver¬ sezte er und verdoppelte ihren — in einem hohen Blau, das kein Erden-Wurf durchreicht. So will ich wenigstens meine Thuͤr zuriegeln, damit wir sicher sind.“ „Nein, nein,“ sagte sie leise, ließ ihn aber mit einem Handdruck los, um ihre Serviette zu¬ rechte zu falten. Er kehrte sich jezt um, und wollte dem Nachtriegel zufliegen, als etwas auf den Boden hinflog — ein Menschen-Gesicht. Jakobine schrie auf und rannte davon. Er nahm das Gesicht, es war die Maske des Lar¬ venherrn, den er fuͤr den boͤsen Genius ge¬ halten. Im Mondschein durchkreuzten sich seine Phan¬ tasien so sehr, daß es ihm am Ende vorkam, Ja¬ kobine habe selber die Maske fallen lassen und ihm und seinem armen Rufe nachgestellt. Er litt viel; — es richtete ihn nicht auf, daß er sich der besten Behauptungen seines Bruders erinnerte, daß z. B. solche Befleckungen des Rufs heut zu Tage, gleich den Flecken von wohlriechenden Was¬ sern, aus den Schnupftuͤchern und der weissen Waͤ¬ sche von selber heraus gehen, ohne alle Prinzes¬ sen-Waschwasser und Fleckausmacher — es troͤ¬ stete ihn nicht, daß Vult ihn einmal gefragt, ob denn die jezigen Fuͤrsten noch wie die alten ge¬ wisse moralische Devisen und Symbola haͤtten, dergleichen gewesen „ praesis ut prosis “ und an¬ dere spielende, und daß der Floͤtenist selber, ge¬ antwortet, dergleichen habe jezt nicht einmal ein tiefer Stand, und es koͤnne uͤberhaupt, wenn schon in Tasso's und Milton's christliche Heldengedichte die heidnische Goͤtterlehre hab' eindringen duͤrfen, auch in unserem Christenthum so viel Goͤtterlehre (wenig¬ stens in Betref der schoͤnsten Abgoͤttin) Plaz grei¬ fen, als wir gerade beduͤrfen und begehren.“ Darauf dachte Walt wieder an die Moͤglich¬ keit, daß irgend jemand das arme unschuldige Maͤdgen gesehen, und daß er ihren unbescholtnen Ruf anschmize, der — schloß er — unbeschreib¬ lich rein und fest sein muste, da sie so viel gegen die Weiblichkeit sich herausnehmen durfte — Dann fiel ihm die 9te Testaments-Klausel „ Ritte der Teufe l“ ein, die Ehebruch und aͤhnliche Suͤn¬ den an ihm besonders bestraft — Dann der Gene¬ ral mit seiner heiligen Briefsammlung von eroti¬ schen Platonikerinnen — Dann Wina und ihr Au¬ ge aus dem Himmel — — Der Notar bracht' eine der duͤmmsten und elendesten Naͤchte zu, die je ein Mensch durchgelegen, der unter dem Ruͤk¬ grath keine Eiderdunen gehabt, welche freilich noch staͤrker einheizen. N ro . 49. Blaͤtter-Erz. Beschluß der Reise. Heiliger Morgen! Dein Thau heilet die Blumen und den Menschen! Dein Stern ist der Polstern unserer dahingetriebenen Phantasien und seine kuͤhlen Stralen bringen und fuͤhren das verwirrte erhizte Auge zurecht, das seinen eignen Funken nachsah und nachlief! — Als noch viele Sterne in die Daͤmmerung schienen, rief der General den Notarius mit der frohesten Stimme aus dem Bette zur Berg-Par¬ tie; und dann nahm er ihn so liebreich auf — bis an die Stirnhaare laͤchelte er empor —, daß Walt sehr beruhigt war und beseeligt; der General, dacht' er, wuͤrde ganz anders mit mir reden, wenn er etwas wuͤste. Winas Angesicht bluͤhte voll zarter MorgenRosen; im Paradies am Schoͤ¬ pfungs-Morgen bluͤhten keine vollern. Sie giengen zu Fuße dem zerspaltenen Ge¬ buͤrge zu. Die Stadt war tief still, nur in den Gaͤrten ruͤstete schon einer und der andere Beete und Rosenhecken fuͤr den Fruͤhling zu und die Rauchsaͤulen des Morgenbrods bogen sich uͤber die Daͤcher. Draussen flatterte schon Leben auf, die Singdrossel wurde in den nahen Tannen wach, unten an der Faͤhre klang das Posthorn heruͤber, und aus dem Gebuͤrge donnerte der ewige Wasserfall heraus. Die drei Menschen sprachen, wie man am Morgen pflegt, gleich der grauen Natur um sie her, nur einzelne Laute. Sie sahen gen Osten, woran das Gewoͤlke zu einem rothen Vorgebuͤrge des Tages anfieng aufzubluͤhen, und es wehte schon leise, als athme der Morgen vor der Son¬ ne her. Wina gieng an der einen Hand des Vaters, der in der andern einen sogenannten schwarzen Spiegel hatte, um daraus die Natur zum zwei¬ tenmale als ein Luftschloß, als einen Abgußsaal einzuschoͤpfen. Die Fruͤhe — Winas Morgen¬ kleidung — das Traͤumerische, das der Morgen¬ stern aufloͤsend im Herzen so unterhaͤlt, als ste¬ he er am Abendhorizonte — und Walts Bewe¬ gungen von der Nacht her, so wie seine Hinsich¬ ten auf die nahe Scheide-Sekunde; das zusam¬ men machte ihn sprachlos, leise, sinnend, be¬ wegt, voll wunderbarer Liebe gegen das naͤhere Jungfrauenherz, welche so weich und vielknospig war, daß er sich auf Unterwegs freuete, um in der bluͤhenden Seeligkeit recht ruhig zu blaͤttern. Mit suͤsser Stimme aber that an ihn Wi¬ na die Bitte um Verzeihung des gestrigen Aus¬ einanderkommens. Da er die Bitte nicht zuruͤck geben konnte: so schwieg er. Darauf bat sie ihn, Raphaela zu gruͤssen, und ihr als Ursache ihres brieflichen Schweigens den Umweg uͤber Rosen¬ hof nach Leipzig zu sagen. Der General, der so freimuͤthig mit der Tochter vor dem Notarius sprach, als laufe dieser als ein tauber Schatten¬ mann oder als ein stummer verschwiegner Affe mit, machte Winen geradezu Vorwuͤrfe uͤber ih¬ re vielseitigen Sorgen und Schreibereien und uͤber die ewigen Opfer ihres Ichs. Sie versezte bloß: „wollte Gott, sie verdiente den Tadel!“ Als sie ins Gebuͤrge traten, kroch die Nacht in die Schluchten zuruͤck, und unter die Thal- Nebel unter, und der Tag stand mit der Glanz- Stirn schon in den Hoͤhen des Aethers. Ploͤz¬ lich lenkte der General das Paar in eine Felsen- Spalte hinein, worin sie hoch oben das eine hoͤchste Berghorn schon vom Morgen-Purpur umwickelt sahen, das andere tiefere vom Nacht¬ schleier umwunden, zwischen beiden schimmerte der Morgenstern — die Jungfrau und der Juͤng¬ ling riefen mit einander: o Gott! „Nicht wahr? sagte der General und sah den Himmel im schwarzen Spiegel nach — das ist einmal fuͤr meine Schwaͤrmerin?“ — Lang¬ sam und ein wenig nikte sie mit dem Kopfe, und mehrmals mit dem Augenliede, weil sie vom gestirnten Himmel nicht wegsehen wollte; fuͤhrte aber die vaͤterliche Hand an den betenden Mund, um ihm stiller zu danken. Darauf zankt' er ein wenig, daß sie so stark empfinde, und die Gefuͤhle so gern aufnehme, die er ihr zuleite. Schnell fuͤhrte er Beide durch einen kuͤnstli¬ chen Weg vor das staͤubende Grab, worein sich der Wasserfall, wie ein Selbstmoͤrder, stuͤrzte, und woraus er als ein langer verklaͤrter Strom aufer¬ stand und in die Laͤnder grif. Der Strom stuͤrz¬ te — ohne daß man sehen konnte, aus welcher Hoͤhe — weit uͤber eine alte Ruinen-Mauer hinuͤber und hinab. Zablocki sagte darauf schreiend, wenn beide nicht scheueten, sich auf Gefahr eines schwachen Dampf-Regens mit ihm hart an der Mauer hin- und durch deren niedrige von lauter gruͤnen Zweigen zugewebte Pforte durch zu draͤngen: so koͤnnten sie auch etwas von der ebenen Landschaft sehen. Er gieng voraus, mit langem Arme sich Wi¬ nen nachziehend. Als sie durch das halb ver¬ sunkne Thor durch waren, sahen sie in Westen eine Ebene voll Kloͤster und Doͤrfer mit einem dunkeln Strom in seinem Thal, und in Osten die Gebuͤrge, die wieder auf Gebuͤrgen wohnten und, wie die Zybele, mit rothen Staͤdten aus Eis, wie mit Goldkronen, im hohen Himmel stan¬ den. Die Menschen erwarteten das Durchbren¬ nen der Sonne, welche den Schnee des Erden- Alters schon sanft mit ihren warmen Rosen fuͤll¬ te. Der Donner des Wassers zog noch allein durch den Morgenhimmel. — Jezt blikte Gott¬ walt von Osten weg und in die Hoͤhe, denn ein seltsamer Goldschein uͤberflog das nasse Gruͤn — da sah er uͤber seinem Haupte den fest schweben¬ den Wasserfall vor der Morgensonne brennen als eine fliegende Flammenbruͤcke, uͤber welche der Sonnenwagen mit seinen Rossen entzuͤndend rollte. — Er warf sich auf die Knie, und den Hut ab, und die Haͤnde empor, schauete auf und rief laut: O die Herrlichkeit Gottes, Wi¬ na! Da erschien ein Augenblik, — niemand wuste wie oder wenn, — wo der Juͤngling auf die Jungfrau blikte und sah, daß sie ihn wun¬ derbar, neu und sehr bewegt anschaue. Seine Augen oͤfneten ihr sein ganzes Herz; Wina zit¬ terte, er zitterte. Sie schauete auf zum Rosen- und Feuerregen, der die hohen gruͤnen Tannen mit Goldfunken und Morgenroth besprizte; und wie verklaͤrt schien sie vom Boden aufzuschweben, und der rothbrennende Regenbogen leuchtete schoͤn auf ihre Gestalt herunter. Dann sah sie ihn wie¬ der an, schnell gieng ihr Auge unter, und schnell auf, wie eine Sonne am Pol — das herzerhe¬ bende Donnern und das Wetterleuchten des Stroms umrauschte, uͤberdeckte beide mit himm¬ lischen goldnen Fluͤgeln gegen die Welt — der Juͤngling strekte die Arme nicht mehr nach dem Himmel allein aus, sondern nach dem Schoͤn¬ sten, was die Erde hat — — Er vergaß beinahe alles, und war nahe daran, in Gegenwart des Vaters die Hand des Wesens zu ergreifen, das uͤber sein ganzes Le¬ ben diesen Sonnenblik der Zauberei geworfen. Wina druͤckte schnell die Hand uͤber ihre beiden Augen, um sie zu verdecken. Der Vater hatte bisher den Wasserfall im schwarzen Spiegel beob¬ achtet und sah nun auf. Alles wurde geendigt. Sie kehrten zuruͤck. Der General wuͤnschte, daß man heftiger und deutlicher lobte. Das Paar konnt' es nicht. „Jzt, sagt' er, nach solcher Freude sehnet man sich nach einem rechten Janitscharen-Marsch!“ — Gottwalt erwiederte: „O wohl, naͤmlich nach solchen Stellen daraus, die piano und aus Mol zugleich gehen, wodurch vielleicht die Ent¬ zuͤckung fuͤrchterlich stark hereinspricht, wie aus einem Geisterreich.“ — „Es regnet heute noch, versezte Zablocki, die Morgenroͤthe zieht sich naͤr¬ risch uͤber den ganzen Horizont, so ganz beson¬ ders; aber der schoͤne Morgen war doch wenig¬ stens des Sehens werth, Wina? Sie gab kein Ja. Schweigend kam man nach Rosenhof. Zablocki's Wagen, Pferde und Bedienten standen schon reisefertig da. Darauf flog alles auseinander, und davon. Die Lieben¬ den gaben sich kein Zeichen der vorigen Minute, und der Wagen rollte davon, wie eine Jugend und eine heilige Stunde. Walt gieng im Granatapfel noch einige nachblizende Minuten in seiner Stube auf und ab, dann in die des Generals. In dieser fand er ein vergessenes beschriebnes Blatt von Wina, das er ungelesen, aber nicht ungekuͤsset, einsteck¬ te, sammt einem Flakon. Borstwisch und Spreng¬ gefaͤß, die Vorarbeiter neuer Gaͤste, trieben ihn in sein Zimmer zuruͤck. Er steckte die sonderbare Maske zu sich. Darauf machte er — gleich un¬ vermoͤgend, laͤnger zu bleiben und laͤnger zu reisen — sich trunken auf den Weg nach Haslau zuruͤck. Er sehnte sich mit seinem Folioband voll Abentheuer unter dem Arm in die Stube Vults. Sein Herz hatte genug, und brauchte keinen Himmel weiter als den blauen. Jakobine warf ihm von der Treppe, die sie hinauf gieng und er herunter, das Versprechen nach, im Winter in Haslau zu spielen. — Draussen verwelkte der rosenrothe Himmel immer grauer und bis zu Regenwolken. An der Faͤh¬ re must' er lange warten. Es fieng endlich an zu regnen. Aber da der Vorhang vor dem Sing¬ spiele der Liebe aufgegangen war: so wust' er, mit Augen und Ohren unter ihren Gesaͤngen und Lichtern wohnend, wenig oder nicht, ob es auf das Dach des Opernhauses regne oder schneie. Da das Schicksal gern nach dem Feste der suͤssesten Brode dem Menschen verschimmeltes, wurmvolles aus dem Brodschrank vorschneidet: so ließ es den Notar hinter Jodiz auf Irrwe¬ ge — auf physische — laufen, was dem Ver¬ haͤngniß leicht wurde, da er ohnehin nichts Oertliches behielt, nicht den Riß eines Parks, in welchem er einen ganzen Sommer lang spa¬ zieren gegangen. Dann must' er die gebogne weisse Hutfeder, welche ohne Kopf von einem Kavalleristen aus einem Hohlweg vorstach, fuͤr die Schwanzfeder eines laufenden Hahns anse¬ hen, und nachher den Irrthum dem Militair gutmeinend entdecken, der ihn sehr anschnauzte. In einem Kirmesdorf wurd' ihm aus den Fen¬ stern eines betrunknen Wirthshauses ein wenig nachgelacht. Das Rosanathal lief voll Wasser. In einem schoͤnen Gartenhaus spielte der Regen¬ wind auf der Windharfe einen mistoͤnigen Laͤufer und Kadenzen voll Schreitoͤne, da er voruͤber¬ lief. Seelig flog er seinen Weg — denn er hatte Fluͤgel am Kopf, am Herzen, an den Fuͤssen, und saß als gefluͤgelter Merkur noch auf dem Fluͤgelpferd — und ohne es kaum zu merken, kam er durch die vorigen Doͤrfer. Gleich dem Blitze lief sein Geist nur an den Vergoldungen des Welt-Gebaͤudes hin. Nur Wina und ihre Augen fuͤllten sein Herz; an Zukunft, Folgen, Moͤglichkeiten dacht' er nicht; er dankte Gott, daß es noch einige Gegenwart auf der Erde gab. Eine Freude kleinerer Art genoß er hinter Gruͤnbrunn, wo ihm der Boͤheimische Schwein¬ treiber, dessen Klagen er in Jodiz gehoͤrt, mit einem Pilger-Liede aufstieß, und nichts von seinem Plagevieh mehr bei sich hatte, als den Hund. So trug ihn die rollende Erde ohne Erd¬ stoͤsse wiegend um die bedeckte Sonne. Ge¬ gen Abend sah er schon Haslau, die Meilen waren ihm Wersten geworden. In Haͤrmlesberg begegnete er noch einer alten Diebin, die man daraus bis an den Markstein mit dem Staub¬ besen gekehrt hatte. Aus Haslau kamen ihm Feuerspritzen ent¬ gegen, welche gluͤcklich hatten loͤschen helfen. Als er im nassen knappen Badegewand mit fort¬ leuchtenden Entzuͤckungen durch das Haslauer Thor getreten: sah er an den Kirchthum, wo Flitte und Hering wohnten; und nahm freudig wahr, daß der Testator Flitte, so hergestellt und gesund wie ein Fisch im Wasser, aus dem Schallloch gukte. Ende des dritten Baͤndgens. N ro . 50. Halber Blasenstein, eines Dachshunds. J. P. F. Rs. Brief an den Haslauer Stadtrath. P. P. Hier uͤbersend' ich den treflichen Testaments- Exekutoren durch den Student und Dichter Sehu¬ ster die 3 ersten Baͤnde unserer Flegeljahre sammt Flegeljahre III . Bd. 14 diesem Briefe, der eine Art Vor- und Nachrede vorstellen soll. Von dem geschickten Schoͤn- und Geschwindschreiber Halter , bisherigen Infan¬ teristen beim Regiment Churprinz — der zum Gluͤcke des elend geschriebenen Manuskripts ge¬ rade in diesem Monat aus Bregenz mit freund¬ lichem Abschied und gesunder Schreib-Hand nach Hause an das Schreibpult kam, nachdem er uͤber 4 Jahre sich auf mehreren Schlachtfeldern mit den Franzosen gemessen und geschlagen — von diesem sind, darf ich hoffen, sowohl die 3 Baͤnde als dieser Brief so gut geschrieben, daß sie sich lesen lassen; folglich setzen und rezensieren ohnehin. Will ich mich uͤber das Werk hier bis zu einem gewissem Grade aͤussern: so muͤssen eini¬ ge allgemeine Sentenzen und Gnomen voraus¬ gehen: Nicht nur zu einer Peruͤke, auch zu einem Kopfe gehoͤren mehrere Koͤpfe — Ferner: Jedem muß seine Nase in seinen Augen viel groͤsser und verklaͤrter, ja durchsich¬ tiger erscheinen als seinem Nebenmenschen, weil dieser sie mit andern Augen, und aus einem viel fernern Standpunkte ansieht — Weiter: die meisten jezigen Biographen (worunter auch die Romanciers gehoͤren) haben den Spinnen wohl das Spinnen , aber nicht das Weben abgesehen — Ferner: die Verdauung spuͤren, heisset eben keine spuͤren, sondern vielmehr Unverdaulich¬ keiten — Weiter: zur zweiten bessern Welt, worauf alle Welt aus ist und aufsieht, gehoͤret auch der Hoͤllenpfuhl sammt Teufeln — Ferner: der Schatte und die Nacht sehen weit mehr als Gestalten und Wirklichkeit aus, als das Tageslicht, das doch nur allein existieret, und jene scheinen laͤsset — Und zulezt: man reiche dem Leser etwas in einer Nus, so verlangt er's noch enger als Nus- Oel; man breche fuͤr ihn aus der steinigen Schaa¬ le eine koͤstliche Mandel, so will er um diese wie¬ der eine Huͤlse von Zucker haben — — Blos diese wenigen schwachen Saͤtze wende ein verehrlicher Stadtrath auf das Buch und sich und den Leser an, und frage sich: „ist noch jezt die Frage von diesen und jenem?“ Noch vier Punkte hab' ich ausserdem zu be¬ ruͤhren. Der erste Punkt ist nicht der erfreulichste. Noch hab' ich nicht mehr als 50 Nummern vom Kabelschen Naturalienkabinet (denn dieser Brief ist fuͤr den halben Dachshunds-Blasenstein) er¬ schrieben; und fahre schon mit drei Baͤnden vor, die abzuladen sind; da nun das Kabinet 7203 Nummern in allen besizt: so muͤssen endlich saͤmmtliche Flegeljahre so stark ausfallen, als die allgemeine deutsche Bibliothek, welche sich doch von ihnen im Gehalte so sehr unterscheidet. Ich sage lezteres nicht aus Bescheidenheit, son¬ dern weil ich's selber fuͤhle. Indes werd' ich naͤchstens in meinen Vorlesungen uͤber die Kunst gehalten in der Leipziger Oster¬ messe 1804 in der Michaelis-Messe 1804. erweisen, daß (was man ja sieht) und zweitens warum der Epi¬ ker (in wessen Gebiet dieses Werk doch zu ru¬ briziren ist) unendlich lang werde und nur mit dem langen Hobels-Arme den Menschen be¬ wege, anstatt, daß der Lyrikus mit dem kur¬ zen gewaltig arbeitet. Ein epischer Tag hat wie der Reichstag, kaum einen Abend, geschweige einen Garaus; und wie lang Goͤthes Dorothea, die nur einen Tag einnimmt, ist, weiß jeder Deutsche; der Reichsanzeiger wuͤrde eine blosse prosaische Geschichte dieser poetischen Geschichte, in den Flaͤchenraum einer Buchhaͤndler Anzeige einzupressen vermoͤgen. Auch duͤrfte ein verehrlicher Magistrat noch bedenken, daß die Autoren gleich gespannten Sai¬ ten — welche oben und unten, Anfangs und Endes sehr hoch klingen, und nur in der Mitte ordentlich — eben so im Eingange und nachher im Ausgange eines Werkes die weitesten und hoͤchsten Spruͤnge machen (die immer Plaz ein¬ nehmen), um sich theils zu zeigen, theils zu empfehlen, in der Mitte aber kurz und gut zu Werke gehen. Sogar diesen Dreiband hab' ich mit Briefen an Testaments-Exekutoren begon¬ nen und beschlossen, um nur zu schimmern. Ich hoffe von den mittlern Baͤnden der Flegeljahre das Beste, naͤmlich lyrische Verkuͤrzungen worinn meines Wissens Michel Angelo ein wah¬ rer Meister ist. Der zweite Punkt ist noch verdruͤslicher, weil er die Rezensenten betrift. Es wird ihnen allen, weiß ich, so schwer werden, sich alles seinen und groben, schon aus dem Titel Flegel¬ jahre geschoͤpften und abgerahmten, Spasses ge¬ gen mich zu erwehren, als es mir wirklich sel¬ ber, sogar in einem offiziellen Schreiben an ver¬ ehrliche Exekutoren, sauer ankommt, solchen Personen mit keinen verstekten Retorsionen und Antizipazionen des Titels entgegen zu gehen. Doch das liesse vielleicht sich hoͤren, wenigstens machen — und durch eine Grobheit wird leicht eine zweite fast zu einer Hoͤflichkeit — Al¬ lein, verehrte Vaͤter der Stadt, wie der Vor¬ staͤdte, man pakt sie an, man faͤngt mit der Exekuzion bei den Exekutoren den Prozeß an. „Allgemein — schreibt man mir sehr kuͤrzlich aus Haslau, Weimar, Jena, Berlin, Leipzig — wundert und aͤrgert man sich hier, daß die ...... Exekutoren des Kabelschen Testa¬ ments gerade Dir (Ihnen) die Biographie des Notarius, die nach der Testatorischen Klausel ja eben so gut Richardson, Gellerten, Wielanden, Scarron, Hermesen, Marmonteln, Goͤthen, Lafontainen, Spiessen, Voltairen, Klingern, Nikolain, Mds . Stael und Mereau, Schillern, Dyken, Tieken, u. s. w. aufgetragen werden konnte, eben Dir (Ihnen) zugewandt und das herrliche Naturalien-Kabinet dazu, das viele schon besehen. Freunde und Feinde benannter Autoren wollen — Dich (Sie) ohnehin — den Haslauer Magistrat in Journalen verdammt her¬ unter setzen und heimschicken. Doch bitt' ich dich (Sie) mich nicht zu nennen. Ein kuͤnftiger Re¬ zensent schwur hoch: Er wolle nicht ehrlich sein, wenn Er ehrlich bleibe bei so bewandten Um¬ staͤnden.“ Hiergegen laͤsset sich nie etwas machen, aus¬ genommen Antikritiken, die aber ins Unendliche gehen; denn ein Hund bilt das Echo an; es tritt der alte Zyklus von Juͤcken und Krazen, und von Krazen und Juͤcken ein. Das sind aber boͤse Historien; und der Autor leidet dabei unsaͤglich; er hat immer einen Namen zu verlie¬ ren, und nur der Rezensent einen zu gewinnen; er lobt sich uͤberhaupt das Lob und feiert so un¬ gern nach seinem Namenstage noch einen Ekel¬ namens-Tag. Es ist ihm terribel und so un¬ angenehm als irgend etwas, daß das deutsche Publikum von seinen Autoren, wie das englische von seinen Baͤren, wuͤnscht, sie nicht nur tan¬ zen , sondern auch gehezt zu sehen. Ein je¬ der Autor hat doch — oder solls haben — so viel Stolz als irgend ein Peha, oder Tezet, oder Iks oder ein anderer Kapital-Letter von Klopf¬ stock in dessen grammatikalischen Gespraͤchen, besonders da er ja der Chef dieser aufgeblasenen XXII ger Union oder dieser grande Bande des 24 Violons ou les vingt-quatre ist, die er in Glieder stellt auf dem Papier wie er nur will. Allerdings gaͤb' es ein gutes Mittel und Projekt dagegen, hoch edler Stadtrath, wenn es angenommen wuͤrde. Hundertmal hab' ich ge¬ dacht: koͤnnte nicht eine Kompagnie wackerer Autoren von einerlei Grundsaͤtzen und Lorber¬ kraͤnzen zusammen treten und so viel aufbringen, daß sie sich ihren eignen Rezensenten hielten, ihn studieren liessen und salarirten, aber unter der Bedingung, daß der Kerl nur allein seine Brod¬ herren oͤffentlich in den gangbaren Zeitungen, streng aber unpartheiisch und nach den wenigen aͤsthetischen Grundsaͤtzen beurtheilte, die ein sol¬ cher Famulant und Valet de Fantaisie haben und behalten kann? — Wenn sich eine solche Ordonanz, so zu sagen, in seiner Chefs Manier einschloͤsse, nichts weiter triebe und wuͤßte: sollte sie sich nicht niedersetzen, und hinschreiben koͤn¬ nen: „da und da, so und so ist die Sache; und wer's laͤugnet, ist so gewiß ein Vieh, als ein Affe.“ — Einigermassen, verehrlicher Stadtrath, hab' ich einen Anschlag; und er betrift eben den jungen Mann, der Ihnen die Flegeljahre per¬ soͤnlich uͤberbringt. Der Mensch heisset eigent¬ lich Schuster , hat aber den dumpfen Namen durch Ein Strichelgen mehr in den hellern Sehu¬ ster umgepraͤgt. Anfaͤnglich stoͤsset er vielleicht einen wohlweisen Rath etwas ab, durch sein Aeusseres, durch den verworren-grimmigen Blik, Schweden- und Igelkopf, graͤulichen Backenbart und durch die Aehnlichkeiten, die er mit so ge¬ nannten Grobianen gemein hat. Heimlich aber ist er hoͤflich, und er hat uͤberhaupt seine Men¬ schen, die er venerirt. Ich mochte diesen Sehu¬ ster etwan 14 Tage, nachdem er sein Gymna¬ sium, als ein scheuer stiller leiser Mensch ver¬ lassen, der eben keinen besondern Zyklopen und Enak versprach, 14 Tage darauf in Jena wie¬ der gefunden haben — Himmel! wer stand vor mir? Ein Fuͤrst, ein Gigant, ein Flegel aber ein edler, ein Atlas, der den Himmel trug, den er schuf, sezend eine neue Welt, zersezend die alte! Und doch hatt' er kaum zu hoͤren angefangen, und wuste eigentlich nichts Erhebliches; er war noch ein ausgestrekt-liegender Hahn, uͤber dessen Kopf und Schnabel Schelling seine Gleicher-Linie mit Kreide gezogen, und der unverruͤckt, ja verruͤckt, darauf hinstart und nicht auf kann; aber eben er war schon viel und mehr, das fuͤhlt' er, als er verstand und schien. Dies beweiset beilaͤufig, daß es eben so gut im geistigen Reiche eine schnel¬ le Methode, den innern Menschen in 14 Tagen zu einem grossen Manne aufzufuͤttern, geben muͤsse, als es die aͤhnliche im koͤrperlichen giebt, eine Gans, schwebend gehangen, die Au¬ gen verbunden, die Ohren verstopft, durch Naͤhren in nicht laͤngerer Zeit so weit zu brin¬ gen und zu maͤsten, daß die Leber 4 Pfund wiegt. In der That bestimmte mich dieses, da der gute Gigant nichts hat ausser Kraͤfte, mit vier andern bellettristischen herrlichen Verfassern — (ich werde ihnen nie die Schuhriemen aufloͤsen, — gesezt, sie verlangtens), aus der Sache zu sprechen und sie zu fragen, ob wir uns nicht koͤnn¬ ten zusammenschlagen, und ihn auf den noͤthig¬ sten Akademien fuͤr unser Geld absolvieren lassen: „wir hobeln Sehustern, sagt' ich, ganz nach un¬ sern Werken zu, oder vielmehr er hat seine de¬ duzierenden Theorien nach dem Meister, und andern Stuͤcken seiner Kostherren einzurichten, um einstens im Stande zu seyn, als unser Fixstern-Trabant, Brautfuͤhrer und Cheva¬ lier d'honneur unserer 5 Musen, kurz als un¬ ser Rezensier-Markoͤr in den verschiedenen Zeitun¬ gen, die die Welt jezt mithaͤlt, zu beurtheilen und zu schaͤzen.“ Das nahm man an. Und wir Fuͤnfer hat¬ ten wahrhaftig keine Ursache, unsere Ausgaben zu bereuen, als wir spaͤter, im ersten Semester hoͤrten, daß er die Polaritaͤten und die Indifferenz leiden koͤnne, daß er ein Transzendenter Aequi¬ librist sei, und ein polarischer Eis-Baͤr, daß er die Menschen indifferenziere, sich aber potenziere, daß er zwar kein Dichter, kein Arzt, und kein Philosoph sei, aber, was vielleicht mehr ist, al¬ les dieses zusammen genommen. Und in der That nannt' er uns bald darauf in seinen Rezensionen die fuͤnf Direktoren, ja die fuͤnf Sinne der gelehr¬ ten Welt, ich soll darunter der Geschmak sein, le Goût, el Gusto Fuͤr den Sprachforscher ist le Goust von el Gusto das Anagram, oder umgekehrt, und welche Sprache versezte die andere? spricht aber doch verdammt frei von jedem andern. „Gesezt, mein feuriger Schuster,“ wandt' ich einstens ein, als er hin¬ geschrieben hatte, er sehe voraus, in 4 oder 5 Jahren sei Goͤthe so tief herunter als gegenwaͤrtig Wieland; — „O was? versezt' er, ich stecke zu¬ weilen einen Kometen-Kern ins blaue Aether¬ Feld, und bekuͤmmere mich nicht, ob er aufgeht und fliegt als Feuer-Blume. An der Himmels- Achse der Unendlichkeit sind die Pole zugleich Glei¬ cher, alles ist eines, H. Legaz.!“ Nun halten vier Treffer der Litteratur (fuͤnf wuͤrd' ich sagen, waͤr' ich nicht darunter), bei einem Hochedlen Rathe um das Maushackische Le¬ gat, das eben fuͤr arme Studenten aufgeht, fuͤr den guten Ohnehosen an; denn lezteres ist er, wech¬ selnd eigentlich und uneigentlich, gleichsam als differenziere und indifferenziere er auch hier, und waͤhle Realismus und Idealismus beliebig als zwei Wechselstandpunkte aus einem dritten. Ich meine aber so: er hat nichts. Sein Marquisat de Quinet So nannte Scarron seinen Ehrensold vom Buch¬ haͤndler Quinet. wirft zu wenig ab — er braucht zu viele erregende Potenzen, wenn er selber eine sein soll, und Weinberge sind die Terrassentreppe zu seinem Musenberg — wir fuͤnf Markis verspuͤ¬ ren das Ernaͤhren eines sechsten auch stark: — Wiese man nun aber Sehustern das Maushacki¬ sche Legat zu: so koͤnnt' ers pro forma in Jena oder Bamberg verzehren; und dabei gemaͤchlich beurtheilen, einige bekraͤnzen, und ganz weg ha¬ ben, unzaͤhlige kaum von der Seite ansehen, die Gemeinheit herzlich verachten, viele Sachen de¬ duzieren, wie z. B. den Roman, den Humor, die Poesie, aus vier oder fuͤnf Termen und Schrei¬ bern, und voͤllig unter die sogenannten ganzen Leute gehoͤren. Der seelige Maushack selber — den ich zwar nicht kenne, der aber doch von der andern Welt muß endlich profitieret haben — wuͤrde droben, wenn er von diesen Fruͤchten sei¬ nes Nachlasses hoͤrte, seelenvergnuͤgt sagen: „herz¬ lich goͤnn' ich der wilden Fliege drunten das Le¬ gat, blos weil sie um eine Welt fruͤher als ich, von dem Reflexions-Punkte weggeflogen.“ O Gott, Stadtrath! was waͤre noch zu sa¬ gen, wuͤrd' es nicht gedruckt! Ein Autor giebt lauter Nuͤsse aufzubeissen, welche dem Gehirne gleichen, das nach Le Camus ihnen gleicht, und die also 3 Haͤute haben; wer aber schaͤlet sie ab? — Ein bekannter Autor ist allerdings bescheiden; das ist aber eben sein Ungluͤk, daß niemand weiß, wie bescheiden man ist, da man von sich nicht sprechen und es sagen kann. Er koͤnnte seinen Stiefelknecht hundert Livr é efarben anstreichen, er koͤnnte den Eisen-Fang seines Windofens zu sei¬ nem brennenden Namens-Zug verschweifen und ringeln lassen, aber niemand weiß es, daß ers nicht thut. Erwaͤgt man vollends, wie viele Schlachten Bonaparte, sowohl in als außer Eu¬ ropa, ausstand und lieferte, blos damit nur ein¬ mal sein Name richtig geschrieben wuͤrde, ohne das U, wofuͤr er jezt den Franzosen jenes X macht, jenes algebraische Zeichen der unbe¬ kannten Groͤsse, erwaͤgt man also, mit wel¬ cher Muͤhe ein Name gemacht, und mit wie leich¬ ter er wieder ausgewischt wird: so ist's warlich ein matter Trost, daß es in Ruͤcksicht des Ver¬ kennens auch andern groͤsten Maͤnnern nicht bes¬ ser ergangen, z. B. dem grossen Gottsched, der selber sogar im Gellertischen Leipzig so manches erlitt, was man hier nicht wiederholen will. Der vierte Punkt, wovon ich einem hoched¬ len Magistrate zu schreiben versprach, ist gerade ein naͤrrischer, den der junge Schuster am besten ausfechten wuͤrde, in oͤffentlichen Blaͤttern. Ein hochedler Stadtmagistrat wuͤnschte naͤmlich von weiten, daß das Werk etwas verweint, und be¬ weglich verfasset wuͤrde. Aber wie war das noch thunlich in unsern Tagen, Verehrteste, die ein wahrer einziger heller Tag sind, wo die Aufklaͤ¬ rung als ein eingeklemmter angezuͤndeter Strik fort glimmt, an welchem an oͤffentlichen Orten jedes Tabakskollegium seine Koͤpfe anzuͤndet? — Wer oͤffentlich noch ein wenig empfinden darf — und der ist zu beneiden — das sind entweder die Buchhaͤndler in ihren Buͤcher-Geburts-Anzei¬ gen, indem man alle etwannige Empfindsamkeit darin mit dem Eigennuz entschuldigen kann; oder es sinds die lachenden Erben in ihren Todes-An¬ zeigen, wo aus demselben Grunde der Korkzieher der Thraͤnen darf eingeschraubt und angezogen werden. Sonst aber hat man gegen Weinen, be¬ sonders wahres, viel — die Thraͤnenkruͤge sind zerschlagen, die weinenden Marienbilder umge¬ worfen von zeitiger Titanomanie — die besten Wasserwerke sind noch fruͤher angelegt als die Berg¬ werke, welche davon auszutroknen sind — wie in Schmelz-Huͤtten, ist in die Seelenschmelz- Huͤtten, in die Romane, einen Tropfen Wasser zu bringen streng verboten, weil ein Tropfe das Gluth- und Flus-Kupfer zertruͤmmernd auftreibt — der Mensch faͤngt uͤberhaupt an, und zwar bei den Thraͤnen (nach Hirschen und Krokodillen zu schliessen), das Thierische abzulegen, und das Menschliche anzunehmen, wo man bei den La¬ chen anfaͤngt, so daß jezt eine poetische Zaube¬ rin, wie sonst eine prosaische Hexe, daran eben erkannt wird, daß sie nicht weinen kann. Kurz, Ruͤhrung wird gegenwaͤrtig nicht ver¬ stattet — leichter eine Ruͤckenmarksduͤrre als eine Augenwassersucht; — und wir Autoren gestehen es uns manchmal unter einander heimlich in Brie¬ fen, wie erbaͤrmlich wir uns oft wenden und winden, damit wir bei Ruͤhr-Anlaͤssen (wir muͤssen selber daruͤber lachen) keinen Tropfen fahren lassen. Ich schliesse diese Zeilen ungern; aber der Oh¬ nehosen Sehuster steht hinter dem Kopisten, Hal¬ ter , schon gestiefelt und wartet auf die Kopie der¬ Flegeljahre III . Bd. 15 selben mit der Jagdtasche; denn es waͤre kaum zu sagen, was ich den treflichen Testaments-Voll¬ streckern, noch zu sagen haͤtte uͤber das Werk. Moͤg' ich und die Welt nicht zu lange bei Ihnen auf die naͤchsten 500 Nummern passen muͤssen! Nachge¬ rade gegen den vierten Band spinnt sich in der Biographie ordentlich merkbar eine Art von Inte¬ resse an. Denn nun muͤssen die kostbarsten Sachen kommen und im Anzug sein; und ich brenne nach Nummern. Ueberall stehen Tellerfallen, und Dampfkugeln fliegen, Wildrufdreher schleichen, Hummerscheeren klaffen — Walls und Winas neuester Bund ist seltsam, und kann unmoͤglich lange bleiben ohne die groͤßten Stuͤrme, die Baͤn¬ de-lang rasen von Messe zu Messe — Jakobinens Nachtvisitte muß konfuse Folgen haben, oder kann's doch — der Larvenherr muß entlarvt werden (wie¬ wohl ich ihn warlich errathe; denn er ist mir zu kenntlich) — Vult hat seinen Schmolgeist, ist — erlogen von Adel, lebt von Luft, stuͤrmt so leicht — der testierende Elsaßer ist ganz hergestellt und sieht zum Schallloch heraus — die meisten Erben minieren gewis, ich seh' aber, bekenn' ich, noch nichts — des Helden Vater sizt zu Hause und rennt und verschuldet Haus und Hof — Pasvo¬ gel, Harprecht, Glanz, Knol muͤssen sich sehen lassen, und graben noch unter der Erde — guter Gott, welche eine der verwickelsten Geschichten, die ich kenne! Walt soll Pfarrer werden, und ich begreife nicht wie , und hundert andere Dinge nicht besser — der Graf Klothar will heirathen, kommt zuruͤck und findet beim Himmel eine neue Wirthschaft und Historie, die ihn natuͤrlich et¬ was frappieret — Walt will unendlich gut und willig bleiben, und ein zartes ein Gottes-Lamm und soll daraus ein Schaaf, ein Hammel werden, unter Wollen-Scheeren, unter Schlachtmessern — Schlingen, Flammen, Feinde, Freunde, Himmel, Hoͤllen, wohin man nur sieht! . . . . . . — Allerdings, verehrlichster Stadtrath! hat eine solche Geschichte noch kein Dichter gehabt; aber ein Jammer ist es eben und ein noch unbe¬ stimmliches Ungluͤck fuͤr die ganze schoͤne Littera¬ tur, daß sie wahr ist — daß mir so etwas nicht fruͤher eingefallen als zugefallen — daß ich un¬ gluͤckliche Haut, an Testaments Klauseln, und Naturalien-Nummern gefesselt gehend, wie an klein-schrittigem Weiber-Arm, nichts von ro¬ mantischen Gaben und Bluͤthen (indem ich doch auch unter den Romanciers mitlaufe) kuͤnstlich pelzen darf auf solchen Stamm — — O Kritiker! Kritiker, waͤrs meine Geschichte, wie wollt' ich sie fuͤr euch erfinden und schrauben und verwir¬ ren, und quirlen und kraͤuseln! Wuͤrfe ich z. B. etwan nur ein schmales Schlachtfeld in eine sol¬ che goͤttliche Verwiklung — ein Paar Graͤber — einen Schlegelschen Révenant des Euripidischen Jons Jon heisset der Kommende. — fuͤnf Schaufeln voll italischer Erde oder sonst klassischer — einen schwachen Ehe¬ bruch — einen Klostergarten sammt Nonnen — von einem Tollhause die Ketten, wenn nicht die Haͤusler — ein Paar Maler und deren Stuͤcke — und den Henker und alles: — — — ich glaube, Vollstrecker, es fiele anders aus als jezt, wo ich blos nur nachschreibend zusehen muß, wie die Sachen gehen, und aus Haslau kommen, ohne daß ich, im moͤglichen Falle ungewoͤhnlicher Lang¬ weile, etwas anderes fuͤr die Welt und fuͤr H. Cotta in der Gewalt haͤtte, als wahres Mit¬ leiden mit beiden, fast zu sehr von Gewissen, und sonst eingeklemmt und angepfaͤhlt. — Aber mein Rezensent, der junge Sehu¬ ster, der eben zwischen Schreiber und Abschreiber steht, treibt ausserordentlich und will fort, und sieht verdruͤslich nach dem Gottesacker hinaus. Noch schluͤßlich ersuch' ich die Vollstrecker, falls schwere Kapitel, die besondere Kraft und Stim¬ mung fordern, im Anzuge sein sollen, mir sie bald und jezt zu schicken, wo gerade mein Lokale (wozu auch mein Leib zu rechnen), mein Schreib¬ fenster, das den ganzen Ilzgrund beherrscht, (denn ich wohne im Grunerschen Hause in der Gymnasiumsstrasse) und das Bluͤhen der Mei¬ nigen (worunter mein empirisches Ich mit gehoͤrt) mich sichtbar unterstuͤtzen; ja ich wuͤrde — wenn nicht solche Selbst-Personalien eher vor ein Pu¬ blikum, als vor einen Stadtrath gehoͤrten — dazu selber den gedachten Gottesacker schlagen, wo man eben jezt (es ist Sonntags 12 Uhr) halb in der Salvatorskirche, halb auf deren Kirchhofe im Sonnenscheine zwischen Kindern, Schmetterlingen, Siz-Graͤbern und fliegenden Blaͤttern des Herbstes den singenden, orgelnden und redenden Gottes-Dienst so haͤlt, daß ich alles hier am Schreibtische hoͤre. Ich koͤnnte dabei manches empfinden; aber Rezensent draͤngt erbaͤrmlich — weil die Tage kuͤrzer werden — und er ist schuld, daß ich in groͤster Eile mit der groͤsten Hochachtung erharre eines Hochedlen Stadtraths Coburg , den 23. Okt. 1803. J. P. Fr. Richter . Druckfehler des I . Baͤndgens. Seite Zeile 31 9 statt derselbe lies der selber 57 10 st. Territorine l. Territorien 79 12 st. Poststrassen l. Poststrasse — 17 st. ihn l. dasselbe 96 6 st. Haͤnde l. Haͤndel — 9 st. gewoͤlkte l. gewoͤlbte 98 11 st. sind l. seynd 100 18 st. jeder l. in jede — 19 st. verstehe l. erstehe 101 v. u. 5 st. und l. um 112 v. u. 2 st. Thuͤren l. Thurme 119 6 st. verbluͤht l. verbluͤft 121 2 st. jezt I. jez 138 v. u. 5 nach Wenn fehlt sich 147 v. u. 6 streiche H. weg. 155 v. u. 9 statt wol l. voll 167 4 st. schreibe l. schreiben 173 2 st. schreiben I. schrieben 204 10 statt ein l. im