Kritische Waͤlder . Oder Betrachtungen , die Wissenschaft und Kunst des Schoͤnen betreffend, nach Maasgabe neuerer Schriften. Leser, wie gefall ich dir? Leser, wie gefaͤllst du mir? Logau. Erstes Waͤldchen. Herrn Leßings Laokoon gewidmet. 1769 . Analytischer Jnhalt. 1. Es ist unbillig, Leßing auf Winkelmanns Kosten zu loben. Unterschied beider Schriftsteller in Materie, Denkart und Styl. 2. Sophokles Philoktet leidet nicht mit bruͤllendem Geschrei. Die Helden Homers fallen nicht mit Geschrei zu Boden. Schreien kann nicht ein nothwendiger Charakterzug ei- ner Helden- und menschlichen Empfindung seyn. 3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu sanften Thraͤnen zeigt sich ganz anders. Sie ist auch den Griechen nicht allein und ausschliessend eigen. Proben und Charakter der alten hersischen Gesaͤnge. 4. Eine philosophische Geschichte der Elegischen Dichtkunst uͤber Voͤlker und Zeiten, oder Gruͤnde der alten Helden- menschlichkeit, aus ihrer Empfindung fuͤr Vaterland, Geschlecht, heroische Freundschaft, einfaͤltige Liebe und die Menschlichkeit des Lebens hergeleitet, nicht aber als ob sie einen Schlag mehr empfunden, und besser geschrien haͤtten, wie wir. Empfindbarkeit der homerischen Hel- den zeigt sich wuͤrdiger. 5. Sophokles macht in seinem Philoktet gewiß nicht Ge- schrei zum Hauptmittel der Ruͤhrung. Bessere Eindruͤ- cke des griechischen Drama. Ob koͤrperlicher Schmerz je die Hauptidee eines Trauerspiels werden koͤnne? Daß ers bei Sophokles nicht sey. A 2 6. Die 6. Die Behauptung: der griechische Kuͤnstler schilderte das Schoͤne, ist wahr. Grenzen und Erklaͤrung dieses Sa- tzes aus ihrem mythischen Cirkel und ihrer Heldenge- schichte. Warum Timanthes seinen Agamemnon ver- huͤllt gemahlet? 7. Von den Hoͤrnern des Bacchus. Von dem Einfluß der verschiednen mythologischen Zeitalter auf Poesie und Kunst. 8. Wen Virgil in Schilderung seines Laokoon nachgeahmet haben moͤge? Urtheil uͤber Quintus Calaber, und Pe- tron, in ihren Schilderungen. Nach wem der Kuͤnstler gebildet haben koͤnne? 9. Soll die Kunst nichts Voruͤbergehendes zu ihrem An- blicke waͤhlen: so verliert sie ihr Leben. Soll sie fuͤr jede wiederholte Erblickung arbeiten: so ihr Wesen. Ur- sache, warum die Kunst ein Jdeal der Schoͤnheit habe, und insonderheit die stille Ruhe liebe, aus dem Grund- satz, daß sie fuͤr Einen ewigen Anblick arbeite. 10. Ueber Spence’s Erlaͤuterungen der Alten aus Kunst- werken. Rettung seines herunterschwebenden Mars. Frage, ob die Kunst schwebende Koͤrper vorstellen Koͤnne? 11. Dem Kuͤnstler sind Goͤtter und geistige Wesen nicht blos personifirte Abstrakta, so bald et sie in Handlung kann erscheinen lassen. Die Mythologie ist eigentlich poetisch, und hat dichterische Gesetze. Dem Dichter geht Jndividualitaͤt seiner Goͤtter weit uͤber Charakter; so hat er sie dem Kuͤnstler uͤbergeben. 12. Ueber die poetischen Attributen von Horaz, dem großen Liebhaber symbolischer Wesen, wird seine Ode an das Gluͤck, Gluͤck, sein Bild der Nothwendigkeit u. s. w. erklaͤrt. Die Maschinen des epischen Dichters muͤssen nicht allegori- sche Abstrakta seyn: bei Homer sind sie es nicht. 13. Homers Nebel und Unsichtbarwerden sind keine poetische Phrases: sondern gehoͤren mit zum mythischen Wunder- baren seiner Epopee. Unsichtbar seyn ist nicht der na- tuͤrliche Zustand der homerischen Goͤtter. 14. Auch die Groͤße derselben ist bei ihm nicht solch ein Hauptzug, als Macht und Schnelligkeit. Unter welchen Bedingungen, und mit welcher Maͤßigung er ihre Groͤße schildert? Erklaͤrung des Helms der Minerva. Von wem er das Colossalische seiner Goͤtter entlehnet? 15. Ob Homer fuͤr uns Deutsche uͤbersetzt werden solle? Das Fortschreitende seiner Manier, und die bestaͤndig zir- kelnden und wiederkommenden Zuͤge in seinen Bildern sind kaum uͤbersetzbar. 16. Das Succeßive in den Toͤnen ist nicht das Wesen der Dichtkunst. Ganz und gar auch nicht mit dem Coexsi- stenten der Farben zu vergleichen. Aus dem Succeßiven der Poesie folgt nicht, daß sie Handlungen schildere. Das Succeßive der Toͤne kommt jeder Rede zu. 17. Fehlschluͤsse, wenn man die Succeßion der Toͤne fuͤr das Hauptmerkmal der Poesie annimmt. Homer waͤhlt gar nicht das Fortschreitende seiner Schilderungen, um sie nicht coexsistent zu schildern; sondern weil jedesmal in dem Fortschreiten seiner Bilder die Energie derselben und seiner Gedichtart liegt. 18. Homers Gedichtart kann nicht allen Dichtarten Gesetze, und aus ihrer Manier ein oberstes Gesetz geben. Aus A 3 der der Succeßion der Toͤne folgt keine Achtserklaͤrung ge- gen die malende Poesie. 19. Energie ist das oberste Gesetz der Dichtkunst: sie malet also nie werkmaͤßig. Urtheil uͤber Harris Vergleichung und Unterscheidung der schoͤnen Kuͤnste. 20. Ob die Schilderung koͤrperlicher Schoͤnheit der Dicht- kunst verboten sey? Wo sie jede Schoͤnheit durch Reiz zeigen koͤnne? Ob sie jemals an einer Schoͤnheitsschilde- rung werkmaͤßig arbeite? Ob, wenn der Dichter haͤß- liche Formen nuͤtzen kann, er nicht auch schoͤne nutzen koͤnne? 21. Homer macht Thersites nicht haͤßlich, um ihn laͤcherlich zu machen. Haͤßlichkeit an Seele und Koͤrper ist sein Charakter, der blos dadurch gemildert wird, daß er auf nichts Schaͤdliches auslaͤuft. Es wird also der Person Thersites noch diesmal erlaubt, in Homer zu bleiben. 22. Wenn das Haͤßliche zum Laͤcherlichen hilft: so ists zum Contrast des Laͤcherlichen wesentlich. Zum Schrecklichen nicht so. Ja zum Schrecklichen thut es niemals nichts, sondern zum Abscheu. Ekel kommt eigentlich allein dem Geschmack und Geruch zu; andern Sinnen nur, so fern sie sich an deren Stelle setzen. Nicht alles Haͤßliche also ist ekelhaft. 23. Gebrauch des Laͤcherlichen, Schrecklichen, Ekelhaften in Poesie und Malerei. Abschied vom Laokoon. 24. Einzelne Fehler der Winkelmannischen Schriften. Sein Tod — — — Beschluß. Kriti- Kritische Waͤlder . Erstes Waͤldchen. 1. L Der Laokoon des Herrn Leßings, ein Werk, an welchem die drei Huldgoͤt- tinnen unter den menschlichen Wissen- schaften, die Muse der Philosophie, der Poesie, und der Kunst des Schoͤnen, geschaͤftig gewesen, ist in unsrer jetzigen kritischen Pestilenz in Deutschland, fuͤr mich eine der angenehmen Erscheinungen gewe- sen, um welche Demokritus die Goͤtter bat, als um die Seligkeit seines Lebens. Jch wuͤrde dassel- be auch sehr wohlfeil mit der Bildsaͤule vergleichen koͤnnen, von der es den Namen hat, wenn nicht die Mine des Vollendeten, des Schriftstellerischen εποιησε eben die waͤre, die dieser Laokoon am wenig- sten annehmen will. Es mag also diese Sprache durch Kunstvergleichungen immer unsern Schoͤn- A 4 heits- Kritische Waͤlder. heitskuͤnstlern des Styls bleiben: ich will den Lao- koon als eine Sammlung von Materialien, als einen Zusammenschuß von Collektaneen betrachten — auch als solcher allein, verdient er Betrachtung gnug. Die Kunstrichter unsrer Zeit, eine Heerde der kleinen Geschoͤpfe, die Apollo Smintheus jetzt scheint auf unser liebes Vaterland gebannet zu ha- ben, um auch die wenigen blumen- und frucht- reichen Auen zu verwuͤsten, die noch hie und da als Laͤndereyen des Genies uͤbrig geblieben — diese Boten Apollo haben meistens Laokoon nicht besser zu loben gewußt, als auf Winkelmanns Kosten; denn welch ein Lob fließt von den Lippen großer Leute wohl glatter herunter, als das auf Kosten eines dritten? Leßing soll Winkelmannen so viel unverzeihliche Fehler gezeigt, ihn philosophiren gelehrt, ihn die Grenzen und das Wesen der Kunst gewiesen, und insonderheit in seinen Schriften das aufgedeckt ha- ben, daß seine Kenntniß der Alten ein schwankender Grund sey. Waͤre das nicht viel? Einem Win- kelmann, ihm, der sich so ganz nach den Alten gebil- det, der in Griechenland lebet und webet, der in den Alten Kunstkenntniß, bis zum Erstaunen, zeiget, dem Homer, wie er selbst schreibet, taͤglich sein an- daͤchtiges Morgengebet gewesen, — diesem Mann zeigen, daß er Homer nicht gelesen, daß er die Grie- chen nicht kenne: warum? weil sie Leßing kennet, weil Leßing Homer gelesen! Noch aͤrger, daß Win- kel- Erstes Waͤldchen. kelmann kein Philosoph seyn soll, weil er nicht auf Les- sings Art philosophirt, sondern lieber in der Aka- demie alter griechischen Weisen, und insonderheit am heiligen Jlystus wandelt. Und denn am aͤrgsten, Winkelmannen das Wesen der Kunst lehren — o der unseeligen Richter, die taub und bloͤdsinnig, wie Klaudius, uͤber die groͤßesten Schriftsteller unsrer Zeit, nicht anders als im Schlafe, nicht anders als uͤber Schuͤler urtheilen, bei denen Examen zu halten sey, uͤber das, was sie wissen, und nicht wis- sen, zeigen und nicht zeigen, insonderheit, was ih- nen gegen diesen und jenen fehle? Jch fuͤhre aus diesen hohen Urtheilen uͤber Winkelmann nur Eins an: Klotz. acta litter. vol. III. p. 319. lassen sich bei Gelegenheit des Laokoon also vernehmen: Red- diderunt forte virum doctum nimiae laudes securio- rem, quibus prima illius opuscula, multo meliora eo, quod de allegoria compilauit, extulerunt qui- dam, quibus si me quoque accensueris, nec miror, nec indignor. Vtinam ne exemplo Winkelman- nus suo aliquando doceat, saepe nocere auctorum famae et ingeniis praeconum et amicorum voces, plausus et laudes, minuere diligentiam, addere fa- stum et fiduciam! Es sei denn, daß Herr Klotz dieses aus eigner Erfahrung sage, weiß ich nicht, ob die ein- zelnen Urtheile, die Herr Klotz uͤber Winkelmann zu faͤl- len, und die manchen Verbesserungen, die er ihm anzu- drehen beliebet hat, eben Jhn berechtigen, ein so entschei- dendes Haupturtheil uͤber Winkelmann zu faͤllen, ohne Beweise. — — Auch Leßing wiederum hat, wie billig und recht ist, erleuchteten Kunstrichtern zum Vorwurf A 5 die- Kritische Waͤlder. dienen muͤssen, die Schaͤrfe ihrer Augen dem Pu- blikum zu zeigen. Wenn der eine ihn zum groͤß- ten Antiquar unsrer Zeiten, zum ersten Lehrer der Kunst machte: so war er dem andern, ach leider! ein witziger Kopf, und einem dritten, einem from- men kritischen Christen Auch hier fuͤhre ich nur einen Zeugen an: Huch uͤber die Satyre Archilochus; und kann zu jedem angefuͤhr- ten Zuge einen anfuͤhren, wenn es der Muͤhe werth waͤre. , ein Schulphilosoph, ein Aesthetiker aus Baumgartens Schule, der nach der Sprache unsrer neuen Schoͤndenker, mit ein paar Unzen Baumgartenscher Philosophie den Weltwei- sen aller Zeiten trotzen wolle. O! mit verstopftem Ohr durch diese Choͤre quaͤckender Froͤsche hindurch, wie Ulysses durch den Gesang der Syrenen! Fuͤr mich hat Laokoon an sich selbst Schoͤnheit gnug, als daß er blos durch den Kontrast mit einem andern gewinnen doͤrfte. Vor und hinter demsel- ben, was L. gegen W. habe, sind entweder nichts als Parerga, fuͤr die beide sie ansehen werden, oder wenigstens trifft nichts auf Winkelmanns Hauptzweck, die Kunst; und Laokoon also, als Abhand- lung uͤber die Graͤnzen der Poesie und Malerei, hat Werth und Vortrefflichkeit; aber ihn als Streit- schrift, als Pruͤfung der ganzen Winkelmannischen Werke betrachten zu wollen, ist meines Erachtens der falscheste Gesichtspunkt, und der Genius eines Les- Erstes Waͤldchen. Leßings und Winkelmanns sind auch zu verschieden, als daß ichs von mir erlangen koͤnnte, sie gegen ein- ander abzumessen. Wo Leßing in seinem Laokoon am vortrefflich- sten schreibt, spricht — der Kritikus: der Kunst- richter des poetischen Geschmacks: der Dichter. Wie Sophokles Philoktet leide, und die Helden Ho- mers weinen, und Virgils Laokoon den Mund oͤf- nen, und koͤrperliche Schmerzen auf dem Theater winseln doͤrfen — wie Virgil, Petron und Sado- let den Laokoon bilden, und der Dichter den Kuͤnstler, und der Kuͤnstler nachahmen koͤnne — wer spricht hier uͤberall, als der Kunstrichter des Poeten? Die- ser ists, der dem Philoktet des Chateaubrun einen Streich giebt, der Spence’n und Caylus ihre Fehler zeiget, der Homers poetische Wesen claßifi- cirt, und poetische von der malerischen Schoͤnheit unterscheidet — uͤberall der Kunstrichter des Dich- ters: das ist sein Geschaͤft. Und sein Zweck der- selbe. Dem falschen poetischen Geschmack entgegen zu reden, die Grenzen zwoer Kuͤnste zu bestimmen, damit die eine der andern nicht vorgreifen, vorarbei- ten, zu nahe treten wolle: das ist sein Zweck. Was er auf diesem Wege von dem Jnnern der Kunst fin- det, freilich nimmt ers auf; aber mir noch immer Leßing, der poetische Kunstrichter, der sich selbst Dichter fuͤhlt. Win- Kritische Waͤlder. Winkelmann aber, ein Lehrer griechischer Kunst, der selbst in seiner Kunstgeschichte mehr darauf bedacht ist, eine historische Metaphysik des Schoͤ- nen aus den Alten, absonderlich Griechen, zu lie- fern, als selbst auf eigentliche Geschichte. Und also auf eine Critik des Kunstgeschmacks noch uneigent- licher. Um den falschen Geschmack andrer Zeiten und Voͤlker ist ihm nie als um Hauptzweck zu thun; den zuͤchtigt er blos, wenn er neben oder unmittel- bar vor den Alten ihm zu Gesicht kommt: denn sonst, wie oft haͤtte er nach seiner vornehmen grie- chischen Jdee zuͤchtigen, und seine Hand in Neben- streichen ermuͤden muͤssen! Und schreibt er also nicht als Kritikus des Kunstgeschmacks; wie weit entfern- ter vom Kunstrichter der Poesie? Als Kuͤnstler las er die Dichter, als Kunstlehrer brauchet er sie, und wuͤrde nicht so haben schreiben koͤnnen, wenn er auch selbst die Dichter anders, und nicht als Kuͤnstler ge- lesen. Er, dem wie jenem griechischen Kuͤnstler, die Schoͤnheit selbst, (aber die Kunstschoͤnheit) er- schienen war; bezaubert von ihr, suchte er ihre Ge- stalt also mit Feuer in seinen Geist gemalt, bren- nend in seinem Auge, und sich in seinem Herzen re- gend — diese Gestalt der Kunstschoͤnheit, dieß Bild der Liebe, suchte er allenthalben, wollte sie auch im bloßen Abglanz sehen, vermuthete sie selbst, wie Kleists Amynt seine geliebte Lalage, auch in Fußtrit- ten, auch im Bilde des Wassers, auch im Hauche des Ze- Erstes Waͤldchen. Zephyrs, der freilich von einer andern Lalage, (der Schoͤnheit des Dichters) kommen konnte. Jm Gefuͤhl also dieser bildenden und nicht dichtenden Schoͤnheit stand er auch vor Virgils Laokoon, wie vor dem Lao- koon des Polydorus, und so muß er gelesen werden: denn das sind Schranken der menschlichen Natur, auf einmal nur eines sehen zu koͤnnen, was man will, und wie man will — Dieß eine war bei Winkel- mann die Kunst. Soll ich ihm also Kenntniß der Alten absprechen, weil er Homer nicht als Dich- ter, sondern als Kuͤnstler, nicht also des poetischen Wesens seiner Muse wegen, nicht wie Leßing gele- sen? Soll ich ihm einen Seitenblick, den er auf die Poesie wirft, um seine Ku st zu erlaͤutern, und ge- setzt dieser Seitenblick traͤfe auch nicht auf das Jn- nere der Dichtkunst, zum Hauptverbrechen anrech- nen? Und soll ich, weil Leßing wiederum alles aus dem Grunde der Seele holt, soll ich ihn fuͤr einen spekulativen Witzling, und wenn er einigemal mit sei- nen muntern Schluͤssen zu weit kaͤme, fuͤr einen ra- thenden Kopf halten? Warum koͤnnen wir denn nicht zween so originale Denker, Winkelmann und Leßing nehmen, wie jeder ist? Auch in der Schreibart so gar haben beide eine griechische Grazie zur Freun- din; nur daß sie bei beiden nicht Eine Grazie ist. Winkelmanns Styl ist wie ein Kunstwerk der Alten. Gebildet in allen Theilen, tritt jeder Gedan- ke hervor, und stehet da, edel, einfaͤltig, erhaben, vollen- Kritische Waͤlder. vollendet: er ist. Geworden sey er, wo oder wie er wolle, mit Muͤhe oder von selbst, in einem Grie- chen, oder in Winkelmann; genug, daß er durch die- sen auf einmal, wie eine Minerva aus Jupiters Haupt dastehet und ist. Wie also an dem Ufer ei- nes Gedankenmeeres, wo auf der Hoͤhe desselben der Blick sich in den Wolken verliert: so stehe ich an sei- nen Schriften, und uͤberschaue. Ein Feld voll Kriegsmaͤnner, die weit und breit zusammen ge- worben, die Aussicht erst lange ins Große fuͤhren; wenn aber endlich aus dieser Weite das Auge er- habner zuruͤck kommt: so wird es sich an jeden ein- zelnen Kriegsmann heften, und fragen, woher? und betrachten, wer er sey? und alsdenn von vie- len den Lebenslauf eines Helden erfahren koͤnnen. Leßings Schreibart ist der Styl eines Poeten, d. i. eines Schriftstellers, nicht der gemacht hat, sondern der da machet, nicht der gedacht haben will, sondern uns vordenket, wir sehen sein Werk wer- dend, wie das Schild Achilles bei Homer. Er scheint uns die Veranlassung jeder Reflexion gleich- sam vor Augen zu fuͤhren, stuͤckweise zu zerlegen, zusammen zu setzen; nun springt die Triebfeder, das Rad laͤuft, ein Gedanke, ein Schluß giebt den andern, der Folgesatz kommt naͤher, da ist das Produkt der Betrachtung. Jeder Abschnitt ein Ausgedachtes, das τεταγμενον eines vollendeten Gedanken: sein Buch ein fortlaufendes Poem, mit Ein- Erstes Waͤldchen. Einspruͤngen und Episoden, aber immer unstaͤt, immer in Arbeit, im Fortschritt, im Werden. Sogar bis auf einzelne Bilder, Schilderungen und Verzierungen des Styls, erstrecket sich dieser Unterschied zwischen beiden, Winkelmann der Kuͤnstler, der gebildet hat, Leßing der schaffende Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kunst; die- ser selbst in der Philosophie seiner Schriften ein muntrer Gesellschafter; sein Buch ein unterhalten- der Dialog fuͤr unsern Geist. So doͤrften beide seyn: und wie unterschieden! wie vortreflich bei dem Unterschiede! Weg also mit der Brille, durch die man von einem zum andern spielen will, um durch Kontrast zu loben! Wer L. und W. nicht lesen kann, wie jeder derselben ist, der soll keinen von beiden, der soll sich selbst le- sen! — — 2. W. schildert seinen Laokoon Von der Nachahmung griechischer Werke. S. 21. 22. , mit dem Ge- fuͤhl, als haͤtte er ihn selbst geschaffen: „Der Schmerz, „welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des „Koͤrpers entdecket, und den man ganz allein, oh- „ne das Gesicht und andre Theile zu betrachten, „an dem schmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe „selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage „ich, aͤußert sich dennoch mit keiner Wuth im Ge- „sicht Kritische Waͤlder. „sicht und in der ganzen Stellung. Er erhebt „kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem „Laokoon singet; die Oeffnung des Mundes ge- „stattet es nicht: es ist vielmehr ein aͤngstliches „und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet be- „schreibt. Der Schmerz des Koͤrpers und die „Groͤße der Seele sind durch den ganzen Bau der „Figur mit gleicher Staͤrke ausgetheilet und „gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er „leidet, wie des Sophokles Philoktet: sein Elend „gehet uns bis an die Seele; aber wir wuͤnschten, „wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu „koͤnnen.„ „Laokoon leidet, wie des Sophokles Philo- „ktet.„ Von dieser Vergleichung gehet Hr. Les- sing Less. in Laok. p. 3. aus, und will, daß es keine Vergleichung sey: daß Sophokles Philoktet nicht blos aͤngstlich und beklemmt seufze, sondern klage, schreie, mit wilden Verwuͤnschungen; das oͤde Eiland schrecklich anfuͤlle, und auch das Theater von Toͤnen des Unmuths, des Jammers, der Verzweiflung durchhallen lasse. Winkelmann muß also zuerst wohl nicht recht gele- sen haben, und zweitens also uͤbel vergleichen, uͤbel folgern. Der Philoktet Sophokles mag entscheiden — wie leidet dieser? Es ist sonderbar, daß der Ein- druck, Erstes Waͤldchen. druck, den dieses Stuͤck bei mir von lange her zu- ruͤck gelassen, derselbe ist, den W. will: naͤmlich der Eindruck eines Helden, der mitten im Schmerz sei- nen Schmerz bekaͤmpft, ihn mit holem Seufzen zuruͤckhaͤlt, so lange, als er kann, und endlich, da ihn das Ach! das entsetzliche Weh! uͤbermannet, noch immer nur einzelne, nur verstohlne Toͤne des Jammers ausstoͤßt, und das uͤbrige in seine große Seele verbirgt. Lasset uns Sophokles aufschlagen, lasset uns lesen, als ob wir saͤhen, und ich glaube, wir werden den naͤmlichen Philoktet gewahr werden, den Sophokles schuf, und Winkelmann anfuͤhrt, wie er geschaffen ist. Mit Anfange des dritten Aufzuges uͤberraschet ihn der Schmerz; aber mit bruͤllendem Geschrei? Nein: mit einem ploͤtzlichen Stillschweigen, mit einer stummen Bestuͤrzung, und da diese sich end- lich loͤsen, mit einem holen verzognen ἆ ἆ ἆ, das sich auch kaum vom Neoptolem will hoͤren lassen. Νεω. ἑρπ’ εἰ ϑέλεις. τί δή ποϑ ὧδ’ ’δεν ὀυδενός Λόγ σιωπᾷς, κᾀποπλήκτως ὧδ’ ἔχη; Φιλ. ἆ ἆ ἆ Νεω. τι ’στιν; Φιλ. δ ν δεινόν. ἀλλ’ ἰδ ω τέκνον κ. τ. λ. Was ist dir? faͤhrt dieser auf. „Nichts boͤses, gehe nur, mein Sohn; antwortet Philoktet, und wie anders, als mit einem Gesicht voll Liebe, voll zuruͤckhaltendem Heldenmuthe. So geht die Sce- ne des stummen Schmerzes fort: der bekuͤmmerte, B der Kritische Waͤlder. der unruhige, der fragende Neoptolem, und Philo- ktet, der — nicht bruͤllet und tobet, der seinen Schmerz beklemmt, ihn eine große Zeit selbst dem Neoptolem verbergen will, und nur immer zwischen inne mit einem bangen ιω ϑεοι den Goͤttern klaget. Und eben diese stumme Scene des Schmerzes, von welcher Wirkung muß sie auf den Zuschauer ge- wesen seyn? Er sieht Philoktet leiden, stumm, nur in einer verzognen Geberde, nur mit einem be- klemmten Ach! leiden; und wer fuͤhlt dieß beklemm- te Ach! nicht mehr, als das bruͤllende Geschrei ei- nes Mars, der in der Schlacht verwundet, wie zehn tausend Mann, oder warum nicht lieber, wie zehn tausend Ochsen? aufbruͤllet? Hier erschrickt, dort fuͤhlet man: mit Philoktet mitleidend bestuͤrzt, als Neoptolemus, banget man, weiß nicht, woran man ist, was man thun, wie man helfen soll? Man tritt auf sein trauriges α α zu ihm: „Wie denn? du leidest! du redest nicht! Warum so ver- schlossen? du wirst gepeiniget? warum seufzest du zu den Goͤttern? — Und ein Philoktet antwortet mit verzognem Laͤcheln, mit einem Gesicht, in wel- chem sich Schmerz und Muth und Freundlichkeit mischen: Jch? Nein! ich empfinde Erleichterung! ich flehe zu den Goͤttern um gluͤckliche Schiffahrt. Welch ein griechischer Garrik gehoͤret dazu, den Schmerz und den Muth, die menschliche Empfin- dung und die Heldenseele hier abzuwiegen! Ueber- Erstes Waͤldchen. Uebermannet endlich vom Schmerz unterliegt er; er bricht aus — aber in Toͤne der bruͤllenden Verzweiflung, des wuͤtenden Geschreies? Nichts! in ein trauriges απωλολα τεκνον. βρυχωμαι τε- κνον. παπαῖ. απαπαπᾶ. παπᾶ. πάπα. πάπα. παπαῖ: das sind seine gezognen Klagetoͤne! Er bittet um die Heldencur, seinen Fuß abzuhauen: er winselt. — Nichts mehr? Nein, nichts mehr! Er war ausgebrochen, wie Neoptolem sagt, nur in νιγην και στονον in Aechzen und Seufzen, und Ach! wie muß dieß ruͤhren! Sein gekruͤmm- ter Fuß, sein verzognes Gesicht, seine vom Seufzer erhobene Brust, die vom Aechzen hole Seite, sein halbes Ach! — — Weiter geht der Dichter nicht: und um zuvor zu kommen dem Uebertreiben des Ausdrucks, laͤßt er Philoktet vor Schmerz in Unsinn fallen! So sehr hat er gelitten, so sehr seine Kraͤfte zusammen gefasset, daß er raset. Er kommt wieder zu sich! er erholt sich! aber die Krankheit kommt, wie ein verirrter Wandrer wieder: schwarzes Blut spruͤht hervor: sein απτα- παπα saͤngt an: er bittet, aͤchzet; ein Fluch auf Ulysses, ein Zorn mit den Goͤttern, ein Ruff an den Tod, aber alles nur ruckweise, nur Augenbli- cke! der Schmerz laͤßt nach; und siehe! den Augen- blick der Erholung wendet er an, um den dritten Anfall zu erwarten. Er kommt, und da der thea- tralische Ausdruck nicht hoͤher steigen kann, so laͤßt B 2 ihn Kritische Waͤlder. ihn Sophokles — Alles, was er ihn thun lassen kann, um ihn nicht schreien zu lassen: schwaͤrmen, aͤchzen, bitten, zuͤrnen, athemlos zu sich kommen und — — einschlafen. Peinlicher Auftritt! der hoͤchste am Ausdrucke, den vielleicht je ein tragi- sches Stuͤck gefodert, und nur ein griechischer Schauspieler erreichen konnte. Aber in diesem peinlichen Auftritte, was ist da das Hoͤchste am Ausdruck, was ist der Haupt- ton desselben? Etwa Geschrei? So wenig, daß Sophokles ja auf nichts sorgfaͤltiger scheint, als zu vermeiden, daß dieß nicht Hauptton wuͤrde. Wo sind „die Klagen, das Geschrei, die wilden Ver- „wuͤnschungen, mit welchen sein Schmerz das La- „ger erfuͤllte, und alle Opfer, alle heilige Hand- „lungen stoͤrte, die schrecklich durch das oͤde Ei- „land erschollen Laok. p. 3. ;„ wo sind sie? auf dem Thea- ter? Ja! aber in der Erzaͤlung Sophokl. Philokt. Akt. 1. Auftr. , in der Erzaͤ- lung seines Feindes Ulysses, der sich daruͤber recht- fertigen will, daß man ihn ausgesetzt, und verlas- sen; nicht aber in der Aktion, nicht als ob dieß Ge- schrei Hauptausdruck waͤre. Ein andrer Dichter, ein Aeschylus z. E. wuͤrde freilich hieraus mehr Hauptton gemacht, und vielleicht, wie durch seine Evmeniden eine Schwangere erschreckt haben, zu misgebaͤhren: bei einem uͤbertriebenen neuen Tra- gikus Erstes Waͤldchen. gikus wuͤrde Philoktets Gebruͤlle gewiß schon hinter den Scenen anfangen, und er sich mit wuͤstem, wildem Geschrei aufs Theater stuͤrzen, wie z. E. Hudemanns Kain durch den schoͤnsten und neuesten Coup de Theatre sich vor dem Eintritt mit sei- ner Keule meldet, sie vor sich hin wirft, und ihr nach, Laͤnge lang aufs Theater hineinfaͤllt. Aber bei dem weisen Sophokles? — Wie hat er den Ton der Angst abgewogen? wie sorgfaͤltig auf ihn bereitet! wie lange unterdruͤckt! wie oft unter- brochen! wie sehr durchgaͤngig gemildert! Der gan- ze Auftritt kann ein Gemaͤlde des Schmerzes hei- ßen durch alle seine Grade vom stummen, bis zum betaͤubenden Schmerze, der sich selbst gleichsam er- toͤdtet; aber im Ganzen doch das Gemaͤlde des zu- ruͤck gehaltenen und nicht des ausgelassenen Schmerzes, dieß ists unstreitig bey Sophokles vom Anfang zu Ende. Und daher auch die Kuͤrze des Akts, der kurz in Worten, aber lang in der Vorstellung ist. Kaͤ- me es hier auf „das Schreien, auf die jammer- „vollen Ausrufungen, auf das ausgestoßne und „ abgebrochne haͤufige ά ά an„ wie Hr. L. Laok. pag. 4. will: so weiß ich nichts, was entweder schneller auf einander folgen, oder den Zuschauer unwillig ma- chen muß. Aber das Zuruͤckhalten, das peinliche B 3 Ver- Kritische Waͤlder. Verschmerzen, die langen Kaͤmpfe mit dem Weh im Stillen, die endlich mit einer verstohlnen ω μοι! μοι! geschlossen werden; diese dehnen, diese schleichen, und sie sind der Hauptton des ganzen Auftritts. Nun setzen sie noch den daͤmmerenden Chorus hinzu, der dem entschlafnen Philoktet sein Schlaf-sein Ruhelied, in sanften langsamen Zuͤgen singet, und hier nicht bloß den Akt beschließet, son- dern selbst im Akte ist; denn der schlafende Philoktet lieget dem Zuschauer vor Augen; diesen, sage ich, se- tze man hinzu, und es ist ein langer, ganzer, vollen- deter Akt, der meine Seele fuͤllet: aber nicht durchs Ausstoßen, sondern eben durch das Ruͤckhalten des Ach! Und so kann Winkelmann mit Recht sagen: Laokoon leidet, wie Sophokles Philoktet: nur je- ner, als Bildsaͤule, bei welcher ein Seufzer ewig dauret, ewig die Brust beklemmet, und dieser als tragische Person, die den langen Seufzer endlich mit einem Ach! schließen, und den wieder kommen- den Schmerz mit einem Ach! empfangen muß, die zwar auf einer Saite des Jammers herum irret, aber mit abgesetzten, mit langsam wiederkommen- den, mit etwas auf- und absteigenden, mit Zwischen- toͤnen des unterdruͤckten Schmerzes. Sophokles war also derselbe weise Meister in seinem Philoktet, wie Polydorus in seinem Laokoon, und bei beiden zeigt sich, nur nach der Verschiedenheit ihres Vor- wurfs, einerlei Weisheit, denstillen, den praͤgnant- sten Erstes Waͤldchen. sten Ausdruck zu suchen, und dem uͤbertriebnen Ausdruck zu entweichen. Und das sagt Win- kelmann! Allerdings ist Schreien der natuͤrliche Aus- druck des koͤrperlichen Schmerzes Laok. pag. 4. : nur jede Kunst der Nachahmung, und so darf ich auch sa- gen, jede Gedichtart, hat in Nachahmung dieses Ausdruckes ihre eigenen Graͤnzen. Wie abwech- selnd ist Homer in der Art, wie seine Krieger, seine Helden niederfallen, und wie wiederholend in dem, was den Niederfallenden und Sterbenden gemein ist; aber weder jene Abwechselung, noch diese Wie- derholung macht mir das leßingsche Wort verstaͤnd- lich: „Homers Krieger fallen nicht selten mit Ge- „schrei zu Boden Laok. pag. 4. !„ Sehr selten, moͤchte ich sagen, (wenn mich nicht mein Gedaͤchtniß aus Ho- mer truͤgt) und fast gar nicht, außer wenn eine naͤhere Bestimmung dieses Charakters es fodert. So gewoͤhnlich ihm ist, das sein Krieger mit klir- renden Waffen, mit bebendem Boden u. s. w. faͤllt und stirbt, indem ihm Dunkelheit die Au- gen deckt Αμφι δ’ οσσε κελαινη νυξ εκαλυψ . ; so ungewoͤhnlich faͤllt und stirbt einer mit Geschrei, mit Heulen: und alsdenn ist dieß nicht „der natuͤrliche Eindruck des koͤrperlichen „Schmerzes„ sondern ein Charakterzug seines B 4 Verwun- Kritische Waͤlder. Verwundeten. So heult z. E. bei seiner Verwun- dung ein Pherekles Iliad. Ε. 68. ἔριπ’ οἰμώξας. ; aber dieser Pherekles ist ein Trojaner, ein unkriegerischer Kuͤnstler, ein feiger Fluͤchtling, der auf der Flucht eingeholt wird; und freilich ein solcher kann sich durch ein Geheul auf seinen Knieen unterscheiden; aber offenbar „nicht „der leidenden Natur ihr Recht zu lassen„ sondern Vermoͤge seines Charakters. Vermoͤge dieses, schreiet die Venus laut Η δέ μέγ’ ἰαχ σα. Iliad. Ε. v. 343. ; denn sie ist die weich- liche Goͤttinn der Liebe: ihre zarte Haut ist kaum ge- streift, kaum wird sie den rothen Jchor, das Goͤt- terblut, gewahr, so entsinken ihr die Haͤnde; sie verlaͤßt die Schlacht, sie weint vor Bruder, Mut- ter, Vater und dem ganzen Himmel: sie ist untroͤst- lich. Wer will nun sagen, daß mit diesem allen Homer sie charakterisiere, „nicht um sie als die „weichliche Goͤttinn der Wollust zu schildern, son- „dern vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht „zu geben?„ Waͤre dieß, wie wuͤrde er so genau die Seite des Weichlichen Αβληχηρην. Iliad. Ε. v. 337. mit jedem Bilde, mit jedem Worte, mit jeder Bewegung zeichnen? wie wuͤrde er sie noch oben drein, von Pallas verspotten lassen, als haͤtte sie sich bey einem Liebeshandel viel- leicht geritzt? wie wuͤrde selbst ihr lieber Vater Ju- piter uͤber sie laͤcheln? Lachet dieser, spottet jene, um der Erstes Waͤldchen. der leidenden Natur ihr Recht zu geben? und wel- che leidende Natur ist ein Ritz der blendenden Haut? — Eben so wenig schreiet der eherne Mars Iliad. Ε. v. 859. aus einer andern Ursache, als eben — weil er der eherne, der eisenfressende Mars ist, der im Getuͤm- mel der Feldschlacht raset, und eben so wild bey der Verwundung aufschreiet. Nichts ist ungezweifel- ter, als dieß, wenn wir Homer sagen lassen, was er sagt; denn waͤre es ihm auch nur je eingefallen, das Schreien, als „einen natuͤrlichen Ausdruck des „koͤrperlichen Schmerzes„ und nicht mit hoͤhern Absichten zu gebrauchen, so waͤre der Ausdruck: „Er ward verwundet und schrie!„ ihm so gelaͤu- fig, als der „er fiel, und schwarze Nacht bedeckte „seine Augen.„ So weit sind wir also, daß Homer „das Praͤ- „dikat des Schreiens, nicht als einen allgemeinen „Ausdruck des koͤrperlichen Schmerzes, nicht als „eine absolute Bezeichnung, der leidenden Natur „ihr Recht wiederfahren zu lassen„ gebrauche; es muß in dem Charakter eben dessen, den er schreien laͤßt, eine naͤhere Bestimmung dazu liegen, daß eben dieser schreiet und kein andrer. Und da duͤnkt es mich jetzt unbestimmt, von seinen Helden allge- mein zu reden Laok. pag 5. , was sie nach ihren Thaten und Empfindungen sind; denn keiner derselben ist an B 5 Em- Kritische Waͤlder. Empfindungen so wenig, als an Worten, Geberden, Koͤrper, Eigenschaften dem andern gleich; jeder ist eine eigne Menschenseele, die sich in keinem andern aͤußert. Noch minder scheinet mir „das Schreien„ der wichtige unveraͤnderliche Zug zu seyn, der zu der unveraͤnderlichen Aeußerung eines Menschengefuͤhls gehoͤren muͤßte: denn einer kann seufzen, der andre aͤchzen, der dritte schreien, und ein Hannibal in sei- nem aͤußersten Kummer lachen. Am mindesten aber ists nothwendige Bestimmung des Helden, als Mensch betrachtet: so daß er ein Unmensch seyn muͤßte, wenn er nicht schrie. Waͤre dieß: so haͤtte Homer lauter Unmenschen besungen. Sein Aga- memnon, ein Koͤnig der Voͤlker, der herrlichste der Griechen vor Troja wird im tapfersten Gefecht ver- wundet: er faͤhrt zusammen Iliad. λ. v. 254. ΡἹΓΗΣΕΝ ν’αρ’ έπειτα ἄναξ ἀνδρωκ Ἀλαμεμνων. — aber aufzu- schreien, zu weinen, vergißt er; er faßt sich, und stuͤrzt mit seinem Spieße desto schaͤrfer in die Feinde: sollte er deßwegen kein Mensch an Empfindung seyn, weil er nicht wie Mars, oder die Dame Venus aufschrie? Hektor, der tapferste Trojaner, wird von des Ajax großem Felsenstein niedergeworfen, und auf der Brust gequetscht: Spieß und Schild und Helm entfallen: rings um ihn klingen die ehernen Waffen Erstes Waͤldchen. Waffen Iliad. Ξ v. 418. — aber aufzuschreien vergißt er. Man muntert ihn auf, gießt ihm Wasser ein: er kommt zu sich: blickt auf; aber er sinkt in die Kniee, speiet schwarzes Blut — und doch denkt der Unmensch an eins nicht, uͤber seine Brustschmerzen, uͤber seine Seitenstiche zu schreien und zu weinen. — So mit allen Helden Homers, der auch in diesem Stuͤcke Charakter beobachtet. Menelaus wird vom Pfeile Pandarus unvermuthet und im wichtig- sten Zeitpunkte getroffen: sein Blut rinnt: Agame- mnon faͤhrt zusammen: Menelaus selbst Iliad. Δ. v. 148. ; aber nichts mehr! da er den Pfeil in der Wunde sieht, zieht er ihn aus, und laͤßt seinen Bruder und seine Mitsoldaten um sich seufzen. Man weiß, daß Homer eine ordentliche Leiter der Tapferkeit habe, und er hat sie auch in dieser anscheinlichen Kleinig- keit sogar. Ulysses Iliad. Λ. v. 439. haͤlt deßwegen seinen Schmerz zuruͤck, weil er die Wunde nicht toͤdtlich fuͤhlt; Agamemnon und Menelaus fahren Iliad. Δ. v. 148. bei der Verwundung doch noch zusammen; aber end- lich der verwundete Diomedes„ stand, rief dem Sthenelus, ihm den Pfeil aus der Wunde zu zie- hen; und da das Blut quoll, so stroͤmte seine Em- pfindung, statt in Thraͤnen und Geschrei, in feuri- ge Gebethe wider die Feinde aus Iliad. Ε. v. 95. \&c. . Solche Un- men- Kritische Waͤlder. menschen sind die Helden Homers, und je groͤßerer Held, je groͤßerer Unmensch: sein Achilles ist sogar am Koͤrper unverletzlich. Jsts also bei Homer, daß seine Helden schreien und weinen muͤssen „um der menschlichen Natur „treu zu bleiben, wenn es auf das Gefuͤhl der „Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieses „Gefuͤhls durch Schreien oder durch Thraͤnen an- „kommt?„ Laok. pag. 5. Jch wollte nicht, daß ein alter Grieche, dessen Heldenseele, als ein seliger Daͤmon noch in der Welt unsichtbar wandelte, diese Behau- ptung laͤse. Was? wuͤrde er sagen, was ist wohl einem in die Schlacht ziehenden Helden natuͤrlicher, als verwundet, getroffen werden; sich fuͤrchten also kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft; aber in der Schlacht schreien und weinen, das thut kein homerischer Held der Griechen; selbst kein Held der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zuͤ- gen herunter setzt. Einem Hektor Iliad. Χ. v. 330. \&c. in seinem Tode entsinkt, selbst bei seiner letzten sterbenden Bit- te, keine Thraͤne, kein Ton des Geschreies: ein Sarpedon Iliad. Π. v. 586. knirscht, da er stirbt, und je tapferer, um so gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Fei- gen zittern und weinen und schreien: Pherekles, der feige Fluͤchtling, und die weichliche Venus, und der Erstes Waͤldchen. der eisenfressende trojanische Mars. So dichtet mein Homer. Und so haͤlt also die so einnehmende leßingsche Betrachtung Laok. p. 4. — 9. uͤber die Empfindbarkeit der Grie- chen, und den Kontrast derselben gegen rohe Bar- barn, und seine Europaͤer nicht Stich? Die Em- pfindbarkeit zum Schmerzen bei einem koͤrperlichen Schmerze nicht wohl, wenigstens nicht als homeri- scher Heldenzug, nicht allgemein, nicht als noth- wendiges Kennzeichen der menschlichen Empfindung. Giebts aber keine andre Empfindbarkeit zu Thraͤ- nen, und auch zu lauten, zu klagenden Thraͤnen, als koͤrperlicher Schmerz? Ohne Zweifel, und eben diese Empfindbarkeit, wenn sie ein Vorzug der Griechen waͤre, macht ihnen zwar mehr Ehre; al- lein die Abhandlung daruͤber waͤre offenbar eine Ausschweifung von dem Satze, den Hr. L. glaubt er- wiesen zu haben Laok. p. 9. „daß das Schreien Daß Ho- mers Helden nicht bei andrer Gelegenheit das Schreien, ein tapfres riesenmaͤßiges Geschrei, eigen gewesen, leugne ich nicht; wo gehoͤrt das aber hieher? bei Em- „pfindung koͤrperlichen Schmerzes, besonders nach „der alten griechischen Denkart, gar wohl mit ei- „ner großen Seele bestehen kann;„ ein seltner Satz, der im ersten Abschnitt, auch eben so selten, mit ei- ner Armee von weinenden Helden, die ich im Homer nicht kenne, bewiesen wird Hr. Klotz . hat- Um also doch nicht leer Kritische Waͤlder. leer auszugehen, lasset uns Leßingen auf seinem Ab- wege folgen. 3. Die Empfindbarkeit der Griechen zu sanften Thraͤnen, ist zu sehr bekannt in Aeußerungen, als daß man, wie Herr Leßing ein einzelnes Beispiel, und dazu aus einer bloßen Vermuthung Laok. p. 7. nehmen doͤrfte, die hier vielleicht nicht beweiset, was sie be- weisen soll. Griechen und Trojaner sammlen ihre Todten. Beide vergießen heiße Thraͤnen; aber den Trojanern verbietet dieß Priamus. Warum ver- bietet ers ihnen? Er besorgt, sagt die Dacier, sie wuͤrden sich zu sehr erweichen, und morgen mit we- nigerm Muth an den Streit gehen. „Warum „aber, fragt Herr Leßing, muß nur Priamus dieses „besorgen? Der Sinn des Dichters geht tiefer. „Er will uns lehren, daß nur der gesittete Grieche „zugleich weinen und tapfer seyn koͤnne; indem der „ungesittete Trojaner, um es zu seyn, alle Mensch- „lichkeit vorher ersticken muͤsse.„ Zu hart fuͤr die armen Trojaner! Kann Priamus nicht ihren Thraͤ- nen Einhalt thun wollen, nicht aus ungesitteter Bar- hat, wie Er Homer kennet, Leßingen dieß nachschreiben doͤrfen: clamor et eiulatus ex Graecorum opinione nihil detraxit magnitudini animi. Homeri heroes clamantes cadunt: sunt quidem illi heroes Homeri natura mortali maiores, sed numquam tamen etc. Act. litter. Vol. III. p. 286. Erstes Waͤldchen. Barbarei, sondern weil die Thraͤnen der Trojaner, seiner Kinder, fressender waren, als die Thraͤnen der Griechen. Diese waren Angreifende, und strit- ten um der Ehre wegen; ihnen wards also leichter, neuen Muth zu fassen, und Agamemnon brauchte deßwegen keine Besorgniß. Die Trojaner aber litten: sie waren Angefallene, die nicht der Ehre so wohl als der Sicherheit, ihres Lebens wegen strit- ten Χρειοῖ ἀναγκαίῃ, πρό τε παίδων καὶ πρὸ γυναῖκων. Iliad. ϑ, 57. , die sich in Bedraͤngniß fuͤhlten, und halb in Verzweiflung, eines Raͤubers wegen, ihre Kin- der und Maͤnner verlieren, eines Raͤubers wegen die Jhrigen begraben mußten. Hier empoͤrten sich die Empfindungen der Bedraͤngten, hier flossen heiße Thraͤnen der murrenden Unschuld. Und Priamus ließ sie nicht weinen! Warum? weil er ein ungesitteter Barbar war, und seine Trojaner als solche kannte, die nicht zugleich weinen und streiten koͤnnten? Wie wenn er sie zuruͤckgehalten haͤtte, als ein Vater seiner ungluͤcklichen Stadt, und seines ungluͤckbringenden Sohns? damit sie nicht in einem Schicksale, das ihm selbst so zu Herzen gieng, gar murren oder verzweifeln moͤchten? — Doch wenn das auch nicht: noch sind die Trojaner keine Lapplaͤnder, keine Scythen: denn sie weinen ja um die Jhrigen, und Priamus befuͤrchtet eben ein zu weiches Herz, zu tief einfressende Thraͤnen. Ge- Kritische Waͤlder. Gerade also das Gegentheil! — Doch aus solchen Deutungen kann man immer machen, was man will, und eine bloße Allegorie; „der Sinn des Dich- „ters geht tiefer„ kann uns endlich so tief fuͤhren, daß der Boden sinkt. Die ganze Dichtkunst der Griechen hat zu viel Spuren dieser Empfindbarkeit ihrer Nation zu Schmerz und Thraͤnen, als daß man bloß muth- maßen doͤrfte, und sie ist einem großen Theile nach gleichsam ein ganzer lebender Abdruck dieses Gefuͤhls, dieser weichen Seele. Lasset uns diesen Theil die elegische Poesie nennen; aber niemand ver- stehe hier unter diesem Namen jenen hinkenden Af- fen, der sich nach unsern weisen Lehrbuͤchern der Poesie bloß im Sylbenmaas unterscheiden soll: sondern Elegie sei mir hier die klagende Dichtkunst, die versus querimoniae nach Horaz, sie moͤgen sich finden, wo sie wollen, in Epopee und Ode, in Trauerspiel, oder Jdylle; denn jede dieser Gattun- gen kann Elegisch werden. Jn solchem Verstande hat die Elegie ein eignes Gebiet in der menschlichen Seele, naͤmlich die Empfindbarkeit des Schmerzes und der Betruͤbniß: man kann also aus ihr uͤber Voͤlker und Zeiten hinaus sehen, und hier wird sich durch Vergleichungen auch die den Griechen eigne Stelle finden. Jch stecke einige Gesichts- punkte ab. 1. Nicht Erstes Waͤldchen. 1. Nicht jedes Volk hat fuͤr milde Betruͤbnisse ein gleich zartes Herz; bei manchem haben selbst die Klagen eine rohe Vestigkeit, ein heldenmaͤßiges Brausen, in welches sie verschlungen werden, und ein solches wird, bei sonst großen Dichtern, mit der Sprache dieser weichen Thraͤnen sehr unbekannt seyn koͤnnen. So die nordischen Skandinavier, die auch bei Trauerfaͤllen vom Heroismus gestaͤlt, kaum kurze Seufzer ausstießen und — schwiegen; wenn sie sangen, so war ihr Gesang kaum die milde ele- gische Thraͤne. Der Koͤnig Regner Lodbrog stirbt Mallets Geschichte von Daͤnnem. p. 112. 113. : er stirbt unter den entsetzlichsten Schmerzen. Stirbt er in Elegien? Laͤßt er der gequaͤlten sterbenden Menschheit, dem von seinen Soͤhnen entfernten brechenden Vaterherze sein Recht wiederfahren? Ei- ne einzige weiche Thraͤne haͤtte den Nachfolger Odins entweihet. Er stirbt im Triumphsliede, im Andenken an seine Thaten, voll Heldenfreude, voll Rache, voll Muth, voll himmlischer Hoffnung. „Wir haben mit Saͤbelstreichen gefochten, so endet „sein Gesang, o wuͤßten meine Soͤhne die Plagen, „die ich erdulde; wuͤßten sie, daß gistige Nattern „mir den Busen zerfleischen — wie heftig wuͤrden „sie sich nach grausamen Schlachten sehnen! Denn „die Mutter, die ich ihnen gab, hat ihnen ein maͤnn- „liches Herz hinterlassen. C „Wir Kritische Waͤlder. „Wir haben mit Saͤbelstreichen gefochten; doch „jetzt — nahet sich mein letzter Augenblick. Bald „wird das Schwert meiner Soͤhne ins Blut des „Ella getaucht seyn: ihr Zorn wird entflammen, „und diese muthige Jugend die Ruhe nicht weiter „dulden. „Wir haben mit Saͤbelstreichen gefochten in „ein und funfzig Schlachten, wo die Fahnen flo- „gen. Von meiner Jugend an lernte ich, die „Spitzen der Lanzen mit Blute faͤrben, und nie „haͤtte ich einen tapferern Koͤnig, als ich bin, zu „finden geglaubt. — Aber es ist Zeit, aufzuhoͤren: „Odin sendet schon die Goͤttinnen, mich in seinen „Pallast zu fuͤhren. Da werde ich auf dem erha- „bensten Platze sitzend Bier mit den Goͤttern trin- „ken. Die Stunden meines Lebens sind verflos- „sen, ich sterbe laͤchelnd! —„ Das beste Beispiel zu Herrn Leßings Bemerkung uͤber den harten nor- dischen Heldenmuth. Ein anderes aus einer der besten kritischen Schriften Briefe uͤber die Merkwuͤrd. der Litterat. p. 112. 113. unsrer Zeit. Abbiorn Prude, der heldenmuͤthige Daͤne, in den Haͤnden seines Fein- des, der mit langsamer Wuth in seinen Eingewei- den wuͤhlet — wehklaget er, seufzet er? Er denkt an seine Mutter, an alle Freuden seiner Jugend, und seines maͤnnlichen Alters; er fuͤhlt seine ganze Pein, Erstes Waͤldchen. Pein, aber als Held: so stirbt er. — So stirbt der Eskimaux Geschichte von Amerika, Th. I. p. 404. an seinem Marterpfal. Freund, und Vaterland, Kinder und Mutter, alles, was ihm auf seiner Welt das liebste ist, ruffet er in seinem Sterbegesange; aber, um uͤber sie zu weinen, um den Zoll der Menschlichkeit zu entrichten? Eine ein- zige weiche Thraͤne wuͤrde den Helden, sein ganzes Geschlecht, und seinen Freund und sein Vaterland entehren. Kein Ach also entwischt ihm, selbst unter den grausamsten Schmerzen: gesenget und gebrannt singt er seinen Martergesang. Er wird zum desto langsamern Tode losgebunden, und — raucht mit Scherz und Spott seine Pfeife Tobak mit andern: die Martern fangen wieder an; er spottet, schweigt, wird ihr Lehrer in neuen Qualen, singt und stirbt im Triumphe. So der Eskimaux! Wo also das Herz eines Volkes Kieselstein ist: da schlaͤgt der heftigste Schmerz, er treffe nun Leib oder Seele, nichts als heroische Funken; denn wo- her sollte dem Kieselstein eine zarte elegische Thraͤne kommen? Der Heldenmuth, die Liebe zum Vater- lande, und zum Ruhme seines Stammes, das he- roische Buͤndniß mit seinem Freunde, der sein Rach- engel seyn soll: die ganze Bildung einer rohen und starken Natur zum unerschuͤtterten Nachfolger Odins und anderer thraͤnenlosen Helden, die ih- rem Volk, ihrer Republick, eben den Geist der Ta- C 2 pfer- Kritische Waͤlder. pferkeit einfloͤßen — dieß alles betaͤubte Menschlich- keit und Gefuͤhl und Thraͤnen. 2. Nun laßt diesen Heldenmuth, diese Liebe zum Vaterlande, und zum Ruhme seines Stammes, dieß Gefuͤhl fuͤr Freundschaft, und die unverhuͤllte Offenheit der Seele — laßt diese edle und große Gesinnungen sich alle ohne solche Verschanzung und Verhaͤrtung aͤußern: die groͤßte Tapferkeit wird sich alsdenn immer als die empfindbarste Menschheit zeigen. „Nach ihren Thaten werden „solche Leute Geschoͤpfe hoͤherer Art seyn; nach ihren „Empfindungen Menschen.„ Und sollte es nur unter den Griechen diese Dop- pelgeschoͤpfe hoͤherer Art, diese Heldenmenschen, diese Semonen gegeben haben? Und unsre Ureltern waͤren Barbarn, und alle nordische Barbarn in diesem Stuͤck Unmenschen gewesen? Menschliches Gefuͤhl muß jedem einwohnen, der ein Mensch ist; es muß, wo es erstickt, wo es in rohe Tapferkeit verschlungen werden soll, erst von tausend Beispie- len, von einem großen unter einer Nation lebenden Vorbilde, von dem ganzen Geiste des Volks, und durch alle Eindruͤcke der Erziehung von Jugend auf gewaltig bestuͤrmt, und dahin endlich gerissen wer- den, daß es mit diesen Beispielen wetteifre, daß es diesem großen Vorbilde, das den Geist dieses Volks bestimmet, folge. Wo dies nicht ist: da wird sich die unverhuͤllte Natur zeigen; die Empfin- dun- Erstes Waͤldchen. dungen der Menschheit werden sich in ein Helden- gewand kleiden, und der Sinn des Helden sich wie- derum der menschlichen Thraͤne nicht schaͤmen — es sei unter einem Volke, wo es wolle! Und wie? wenn wir ein solches Volk auch mit- ten unter nordischen Gebirgen; mitten unter Bar- barn, selbst unter dem Namen eines barbarischen Volks begriffen, und mit nichts als Kriegen be- schaͤfftigt, auffaͤnden? und welches doch gleich fern von Griechenland, als von seinen Sitten, alle die menschliche Empfindbarkeit zeigte, die kaum ein Grieche gezeigt hat — bliebe da noch der Gegen- satz so ganz vest: „Unsere nordische Uraͤltern wa- „ren Barbarn. Alle Schmerzen verbeißen, dem „Streiche des Todes mit unverwandtem Auge ent- „gegen sehen, weder seine Suͤnde noch den Verlust „seines liebsten Freundes beweinen, sind Zuͤge des „alten nordischen Heldenmuths. Nicht so der „Grieche! Laok. p. 6. „ Wenn ich nun hier einfiele und fortfuͤhre: Nicht so der Schotte, der Celte, der Jrre!„ er aͤußerte seine Schmerzen und Kummer; er schaͤmte sich keiner der menschlichen Schwachhei- ten; keine mußte ihn aber auf dem Wege zur Ehre, und von Erfuͤllung seiner Pflicht zuruͤckhalten, „So haͤtte ich fuͤr meine Barbarn alles gesagt, was L. von seinen Griechen, im Contrast mit den nordischen Barbarn, und doch fuͤr meine nordische Barbarn noch nicht gnug. C 3 Jch Kritische Waͤlder. Jch kenne kein poetisches Volk der Erde, wel- ches große und sanfte Empfindungen, so sehr in Eine Gesinnung verbunden, und in Einer Seele den Heroismus des Helden- und Menschengefuͤhls so ganz gehabt haͤtte, als die — alten Schotten, nach Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Gesaͤnge. Eine sichere Maasgabe, da die Urspruͤnglichkeit dieser Lie- der bewiesen, und das ganze Leben der Nation be- kannt ist, als ein Leben, das unter Thaten, Em- pfindungen und Gesaͤngen verstrich, und wo die Ge- saͤnge eben zu nichts bestimmt waren, als diese Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies also vorausgesetzt: und in jedem Bardenliede zeigt sich ein Volk, dessen Seele ganz der Tapferkeit und einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, dessen Denkart uͤberhaupt von einem Heldenernst eine ge- wisse melancholische Farbe erhalten, und diese auch auf seine weichen Empfindungen verbreitete. Die meisten Stuͤcke der hersischen Dichtkunst kann ich nicht besser, als feyerliche Trauergesaͤnge nen- nen, an die nichts im Alterthume, und was diese Seite des Gefuͤhls betrifft, selbst nichts im griechi- schen Alterthume reicht. Schilrick Fragmente der alten Hochschottl. Dichtk. p. 1. scheidet von seiner geliebten Vin- vela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er verlaͤßt sie: sie bleibt allein: er wird vielleicht fal- len; aber Vinvela wird sein gedenken. Jch ken- ne Erstes Waͤldchen. ne kein Stuͤck, das an Suͤßigkeit der Liebe, und an Entschlossenheit des Scheidenden einen solchen Abschied, zwoer so edlen und so fuͤhlbaren Personen, mit fuͤnf Worten des Dialogs so ruͤhrend besaͤnge. Jch nehme Leßingen seine Worte auf die Griechen: „Hier der Schotte! Er fuͤhlte und furchte sich; „er aͤußerte seine Schmerzen und seinen Kummer: „er schaͤmte sich keiner seiner menschlichen Schwach- „heiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach „Ehre, und von Erfuͤllung seiner Pflicht zuruͤckhal- „ten.„ Und dieser Schotte war ein Barbar von einem nordischen Gebirge. Schilrick trauret um seine entfernte Vinvela Ebendas. p. 4. : sie erscheint, sie spricht im sausenden Luͤftchen: „Jch „hoͤrte von deinem Tode: ich hoͤrte und trauerte um „dich, Schilrick. Vor Gram um dich gab ich den „Geist auf. Schilrick, ich liege erblaßt im Grabe.„ Sie flieht, sie faͤhrt davon, wie der graue Nebel im Winde. Schilrick klagt sie: die sanfteste, feier- lichste Elegie der Liebe! — Nur ein Schotte, wuͤr- de ich im Leßingschen Enthusiasmus sagen, nur ein Schotte kann zugleich weinen und tapfer seyn!„ Was geht uͤber das Gedicht: Colma, Co- mala: Ebendas. p. 81. an Wahrheit und Einfalt, an Suͤßigkeit und Hoheit, an Staͤrke und Zartheit der Gedan- ken, der Empfindungen, des Ausdrucks, an Jn- halt und Einkleidung; was geht an allem diesem uͤber C 4 die Kritische Waͤlder. die elegischen Liebesgesaͤnge dieser Nation, die sich durch nichts, als an Bardenliedern voll tragischer Heldenthaten, und voll tragischer Heldenliebe ergoͤtz- ten? Nichts, selbst aus dem griechischen Alterthume nichts! Die Liebe der Griechen, ihre sanften Em- pfindungen und Klagen, sind weicher und wortstroͤ- mend, wenn ich sie mit diesen Barbarn vergleiche, bey denen die Liebe in stolzer, in heldenstolzer Seele wohnte, sich zu einer sanften Schwaͤrmerei, zu ei- ner erhabnen Heldenzaͤrtlichkeit hob, und auch in den Elegien der Liebe durch große Gesinnungen ruͤh- ret, und bezaubert. Die gewaͤsserten Klagen un- serer Elegisten ermuͤden mein Ohr; aber dort, in diesem feierlichen Alterthume, dort toͤnet eine Me- lancholie der Liebe, die uns lehret, daß „nicht blos der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer seyn koͤnne„, der barbarische Schotte koͤnne es besser. Vielleicht aber war dies nur so mit Einer Em- pfindung der Menschlichkeit, indeß alle andre von Tapferkeit erstickt werden mußten? Wie kann doch Eine Statt finden, ohne zugleich Allen Raum zu machen? Die elegische Stimme der Schotten ist in der Vater -in der Geschlechtsliebe eben so suͤß und tapfer, als in der Weiberliebe. Man weiß, was in den alten Zeiten der Ruhm des Stammes galt: eine Empfindung, die bis auf den dummen Ahnenstolz aus den Seelen unserer Zeiten wegge- schwemmt Erstes Waͤldchen. schwemmt zu seyn scheinet. Wo fliessen edlere Thraͤnen, als wenn der Sohn Fingals Ossian Eben das. p. 17. 21. u. s. , das Andenken seiner Soͤhne und seines Vaters, ih- rer Thaten und ihres Todes erneuret — wo sind ed- lere Thraͤnen, als diese auf den Wangen des Grei- ses, der „gleich einer alten Eiche dasteht: aber der Brand hat meine Zweige weggehauen, und ich bebe bei den Fluͤgeln des Nords. Allein, allein soll ich an meinem Orte zu Staube werden.„ So klagt der tapfere Ossian, und so laͤßt derselbe, den Ar- nim, so den grauhaarigen Carryl klagen: so klagen die Helden, die Vaͤter ihrer Staͤmme. Alle Em- pfindungen der Helden und der Menschen, z. E. Vaterrlands- und Geschlechter-Freundes- und Wei- ber- und Menschenliebe — alle leben in den Ge- dichten dieses Volks, wie in Abdruͤcken ihrer Seele. Und so war es wohl nicht der Grieche allein, der zugleich weinen und tapfer seyn konnte Laok. p. 6. . So war nicht jeder, der Barbar heißt, der in einem rauhen Klima wohnte, und die Bildung der Griechen nicht kannte, von der Art, „daß er, um tapfer zu seyn, „alle Menschlichkeit ersticken muͤßte.„ So lag es also wohl nicht an der National-Seele, am Tem- perament, am Clima, am Gesittetseyn der Griechen, wenn sie beides verbanden: Und so muͤssen also andre Gruͤnde seyn, die diese Mischung von Helden- C 5 thum Kritische Waͤlder. thum und Menschlichkeit bei ihnen und bei den Bar- baren hervorbrachten, oder nicht hervorbrachten. Sollten uns diese Gruͤnde nicht auf den Weg brin- gen: worinn und woher auch die Griechen so em- pfindbar gewesen? 4. 1. Wenn es eine Zeit giebt, da das Wort Va- terland noch nicht ein leerer Schall ist, sondern — — ein Silberton dem Ohr Licht dem Verstand und hoher Flug zum Denken, Dem Herzen groß Gefuͤhl — so muß der Name Vaterland so gut den Dichter zum Helden, als den Helden zum Dichter, und beide zu theilnehmenden Soͤhnen ihres Vaterlandes machen. Der Held wird dafuͤr streiten, der Dich- ter singen, und wenn sie beide es nicht mehr retten koͤnnen, beide noch als Soͤhne darum weinen: und ist nun Dichter und Held, und Sohn des Vater- landes Eine Person — so ist dies die Zeit der Pa- triotischen Klagelieder. Nicht aus einer sich uͤbenden Schulfeder; aus dem vollen Herzen werden diese fließen; nicht blos auf dem Papier, sondern im Gedaͤchtniß, in der Seele leben; die Stimme der Ueberlieferung wird sie aufbehalten, der Mund des Volks sie singen: sie werden Thraͤnen und Tha- ten wecken: ein Schatz des Vaterlandes, und das Gefuͤhl, das sie besingen und wirken, Gefuͤhl des Volks, Erstes Waͤldchen. Volks, Nationalgeist. Es wird also Eine Em- pfindung des Patriotismus seyn, die jetzt zu Tha- ten, jetzt zu Gesaͤngen, jetzt zu Thraͤnen fuͤrs Vater- land gedeihet, nachdem die Ausbildung desselben die Empfindung da oder dorthin lenket: und keinen Absenker derselben ersticket. Bei den Scandina- viern erstickte das Beispiel Odins die eine Art des Ausbruchs, die Heldenthraͤne, um die andre um so mehr zu verstaͤrken: Heldenthaten. Nun aber aͤndere man diesen Geist der Zeit: die ganze Welt werde das Land des Weisen, oder des tauglichen und angenehmen Narren; allmaͤlich wer- den sich die Bande schwaͤchen, die das Herz des Ein- gebohrnen an den Boden der Natur hefteten; ihm wird also auch das Ungluͤck, oder die Entfernung seines Vaterlandes nicht mehr so zu Gemuͤthe drin- gen: und so ist auch die edle Thraͤne um das Vater- land versiegt, die dort den Helden und den Weisen nicht verunzierte, sondern ehrte. Sie wird hoͤchstens der eigennuͤtzigen oder uͤppigen Thraͤne Raum ma- chen, die ein Ovid mitten in seinem traurigen Ge- schwaͤtz, oder Bussi-Rabutin in seinem aͤchzen- den Unsinn, nach einem wohlluͤstigen Hofe fließen laͤßt. Und so ist eine Quelle dieses Heldengefuͤhls ausgetrocknet: „die Bildung, die Erziehung fuͤr das Vaterland.„ 2. Wenn noch ein jedes Geschlecht, eine jede Fa- milie, unzertrennt und Eins im Ganzen, einen Baum bil- Kritische Waͤlder. bildet, wo die Zweige und Fruͤchte dem Stamme zur Ehre gereichen, und durch das Abreißen der- selben der Stamm selbst verwundet wird: wie be- deutend sind alsdenn die gefuͤhlvollen Zuͤge Homers bei seinen fallenden Helden: „er fiel, ein bluͤhender „Juͤngling; der Vater wars nicht, der ihm zum „Kriege rieth! — er stammt aus einem edeln Ge- „schlechte; mit seinem Tode aber ist dies geendigt „— er war aus fernem Lande gekommen; nie aber „wird er in dasselbe ruͤckkehren — die Soͤhne des „Reichen fielen; der Vater hat alles fuͤr Fremde „gesammlet.„ Jn diese Welt also gehoͤren die Heldenklagen des Priamus um seinen Hektor, den Ruhm seines Geschlechts, die Mauer von Troja: in diese Welt die Klagen Ossians, um seine abgeschie- denen Soͤhne; die ganze ruͤhrende Umarmung Hek- tors an seinen kleinen Astyanax: die Klagen der Elektra und andrer tragischen Heldinnen, der ruͤh- rende Hingang der Morgenlaͤnder zu ihren Vaͤ- tern u. s. w. eine Ader des Gefuͤhls, die die besten Dichtungen und Geschichte, nicht blos der Griechen, sondern aller Voͤlker durchstroͤmt, bei denen diese Einigkeit der Geschlechter, dies Familienge- fuͤhl lebte. Nun ersticke man aber dasselbe: man gehe uͤber die natuͤrlichen Beduͤrfnisse der unverdorbnen mensch- lichen Seele und der einfachern Lebensart hinaus: man mache die Ehre zu einem Wirthschaftsver- gleich, Erstes Waͤldchen. gleich, zu einem Stande der Mode, und Eheleute zu nichts, als einander laͤstigen oder zeitkuͤrzenden Personen: man erziehe die Bruͤder, daß sie schon an den Bruͤsten einer Fremden nicht mehr Bruͤder sind, und anwachsend immer fremder werden: man knuͤpfe Personen, die schon am Hochzeittage ge- trennt, und lege Kinder in ihre Arme, die blos ih- ren Namen haben doͤrfen — freilich so wird eine Nerve des Gefuͤhls getoͤdtet: es erlischt der Ehren- name:„ Achilles war ein Sohn Peleus „allmaͤlich: die Sehnsucht des Ulysses zu seiner alten Penelope, und seinem steinigten Jthaka duͤnkt uns abentheuer- lich: der gefuͤhlvolle Stolz der Morgenlaͤnder auf ihre Geschlechtswuͤrde wird laͤcherlich in unsern Au- gen, und die Klagen eines Hallers, Klopstocks, Canitz, Oeders, duͤnken vielen artigen Ehemaͤnnern so poetisch, als eine Anrufung an die Muse. Es war eine Zeit (sie ist noch jetzt unter den Wilden!) da es Freunde gab, in einem Verstande, der sonst kaum Statt findet: zwei unzertrennliche Ge- faͤhrten in Gluͤck und Ungluͤck, durch die heiligsten Gesetze verbunden, wetteifernd in den strengsten Pflichten, und in Erfuͤllung derselben Muster ihrer Vaterstadt, und die Verehrung des Landes. Zu die- sem Gefuͤhl erzogen, besiegelten sie dasselbe also oft mit ihrem Tode und Blute: sie verließen ihren Freund nie, auch in Lebensgefahren, denen die da- malige Tapferkeit mehr als unsre Ueppigkeit ausge- setzt Kritische Waͤlder. setzt war; die kleinste Untreue gegen ihren Freund machte sie zum Spott ihres Geschlechts, und zum Abscheu der Stadt; sie waren nach allen Gesetzen verbunden, seinen Tod zu raͤchen, und die letzte Stimme des Einen, vielleicht gefangenen, vielleicht getoͤdteten Freundes war — an seinen Freund, an den Begleiter seines Lebens. Da also gab es einen Herkules und Jolaus, einen Aeneas und Acha- tes, einen Orestes und Pylades, einen Theseus und Pirithous, einen David und Jonathan: mithin eine Quelle des Gefuͤhls der Freundschaft fuͤr den Helden, die jetzt fuͤr den bloßen Buͤrger und Gesellschafter beinahe versiegen ist. Da also, da flossen, wenn der Tod, wenn ein Ungluͤck die tren- nete, die das Leben nicht trennen konnte, so edle Hel- denthraͤnen, die der Held Achilles um seinen Pa- troklus, wie ein Pylades um seinen Orestes, wie der Held David um seinen Jonathan weinten. Nun laßt die Welt zu einer solchen Freund- schaft verschwinden: die Art des Lebens mache nicht mehr zween solche Begleiter im Leben und Tode noͤthig: das Feierliche bei solchen Verbindungen lasse nach: der Beruf der Menschen zu arbeiten, zu Lebensarten werde verschiedner und gleichsam unstaͤ- ter: der Zustand der Buͤrger und Mitbuͤrger ruhi- ger: jeder sich selbst sein Gott in der Welt — wo wird alsdenn ein Kriegshaufen von Liebhabern, von maͤnnlichen Geliebten, ein boͤotischer ιερος λοχος noch Erstes Waͤldchen. noch Statt finden? Der Freund wird ein Gesellschaf- ter, und ein Ding seyn, was man will, nur nicht, was er in der Welt der Helden, und der Freund- schaftsbuͤndnisse war, es mochte diese Welt uͤbrigens in Griechenland, oder Schottland, oder Amerika leben. Verstopft also eine neue Quelle zu Helden- thraͤnen, wenigstens ist das ruͤhrendste Bild zweener Freunde jetzt ein Cabinetstuͤck blos, uud nicht mehr ein Schauspiel der Welt, wie ehedem, und so anders, als Achilles, als Held, nach unsern Zeiten seyn muͤßte: so fremde ist fuͤr sie „der um seinen Patro- klus weinende, und bis zum Unsinn betruͤbte und rasende Achilles.„ Wenn es eine Zeit und ein Land giebt, da die Schoͤnheit noch mehr Natur, noch minder Putz und Schminke: da die Liebe noch nicht Galanterie, und die maͤnnliche Gabe zu gefallen, etwas mehr als Artigkeit ist: da wird auch die Empfindung, die Sprache, und selbst die Thraͤne der Liebe Wuͤrde ha- ben, und selbst das Auge eines Helden nicht enteh- ren. Freilich wird dieser nicht, wie Polyphem, der Cyklope Theokrits, elegisiren; aber gewiß noch weniger mit dem Philoktet des Chateaubrun, und mit den verliebten griechischen Helden der franzoͤsi- schen Buͤhne. Die wahre Empfindung, und ein maͤnnlicher Werth hat seine Wuͤrde und Hoheit, ohne diese von ungeheuren Metaphern, von galan- ten Wortspielen, oder von artigen Seufzern zu bor- gen: Kritische Waͤlder. gen: und auch hier sei die Liebessprache des alten z. E. Schottischen Helden Beispiel. — Sie handeln als Helden, und fuͤhlen als Menschen. Da aber freilich keine Empfindung so gern das Reich der Phantasie zu seinem Gebiet haben mag, als die Liebe: so kann auch keine so leicht von der Wuͤrde und Wahrheit ab, und in Phantasterei und Spielwerk hinein gerathen, als diese: und also, aus mancherlei Ursachen, zwischen der Heldenthraͤne der Liebe, und zwischen der Verachtung nur immer ein schmaler Rand. Unter allen menschlichen Schwach- heiten, deren sich ein Held nicht schaͤmen doͤrfte, ist diese die delikateste; und daß sie es sey, kann ein gros- ser Trupp verliebter Roman- und Theaterhelden be- weisen. — — Hier indessen hatten die griechi- schen Dichter einen ziemlichen unerkannten Vortheil, naͤmlich den Zutritt zu einem ihnen nationellen Lie- besreiche voll sehr poetischer Phantasien, die sie aus mancher Verlegenheit reißen mußten. Die Liebes- begebenheiten, hier Goͤtter und Goͤttinnen, das gan- ze Gefolge der Venus, der Gratien und Amors, hundert schoͤne und unterhaltende Anekdoten aus der Mythologie der Liebe, gaben ihrer Sprache der Liebe eine Suͤßigkeit, und eine Wuͤrde, die unsre Zeit nur zu oft nachahmet, um — laͤcherlich zu werden. Wenn in unsern Elegien und Oden der Amor mit seinen Pfeilen umherflattert, wenn man den Grie- chen und Roͤmern eine ganze Nomenklatur von Lie- bes- Erstes Waͤldchen besausdruͤcken abgeborget hat, und diese endlich so gar in Briefe zwischen Mannspersonen ausschuͤttet: so verliert sich das Spielwerk von der Wuͤrde, ich will nicht sagen, einer Heldenseele, sondern nur des gesunden Verstandes voͤllig ab, und wird fader Un- sinn. Oder wenn endlich gar der gothische Ton der Liebe aus den mittlern Zeiten der Ritter und Rie- sen, mit der suͤßen Artigkeit unsrer Zeiten in Eins zusammen fließt: so wird alsdenn der herzbrechende Parenthyrsus, die weinerliche Galanterie daraus, von der fuͤrwahr! ein griechischer Held, mit aller sei- ner Empfindbarkeit fuͤr die Schwachheiten mensch- licher Natur, eben so viel wußte, als der weise So- krates von der Klosterheiligkeit der Kapuciner. Ueberhaupt: da die Scene des menschlichen Le- bens noch mehr ins offene Auge fiel: da die Ge- schaͤfte der Welt noch nicht so verwickelt und fein, aber um so verdienstvoller fuͤr die Menschheit seyn mochten: da die Nutzbarkeit und Geschicklichkeit und Tugend noch nicht in so krummen Linien zu be- rechnen, sondern menschlich war: da zog das Men- schengefuͤhl auch die Gemuͤther noch mehr zusam- men; und die Graͤber der Guten des Landes foder- ten die Thraͤne des Helden. Einfacher und mehr zum Augenschein war das Leben des andern, und seine Tugenden und Verdienste auch also treffender an das Herz, denn ein Held, ein Staatskluger, ein Verdienstvoller, ein Weiser, so wie ihn die alte Zeit D foder- Kritische Waͤlder. foderte, und bildete; konnte doch eher eine mensch- liche Thraͤne hervorlocken, als z. E. ein General nach der Taktik, ein Minister, ein Civilist, ein Litterator der neuern Welt, wenn er nichts als die- ses ist; denn bei dem Verlust aller seiner Geschick- lichkeiten und Tugenden sind die wenigsten mensch- lich, und was ist im Stande, menschliche Empfin- dungen zu erregen, als — — Menschheit. Wo bleiben nun die Namen ohne Thaten, die Rangstel- len ohne wirkliche Verdienste, die Bemuͤhungen und Aemter unsrer Zeit ohne Geist und Leben, die Religionen ohne menschliche Tugend — wo blei- ben alle saͤmtliche gelehrte, reiche, vornehme, an- daͤchtige Narren unsrer buͤrgerlichen und feinen und allerchristlichsten Welt, sind die wohl einer menschlichen Thraͤne werth? Endlich, als man den wahren Gebrauch des menschlichen Lebens, und der Gluͤckseligkeit vielleicht besser, obgleich nicht aus Predigten und Moralen, kannte, und das Leben mehr genoß, und menschli- cher anwandte, natuͤrlich waren da auch die bittern Zufaͤlle des Lebens ruͤhrender. Der Tod eines Juͤnglinges, der sein Leben nicht genossen, der in der Bluͤthe seiner Jahre dahin faͤllt, wie ein junger schoͤner Pappelbaum — ein solcher Fall ist bei Homer die Veranlassung zu Bildern, die auch in dem Heldenauge eine zarte Thraͤne der Menschlich- keit erwecken koͤnnen, weil sie — menschlich sind: und Erstes Waͤldchen. und ich wuͤrde kaum eine gute Jdee von dem Juͤng- linge fassen, den bei Homer diese Bilder nicht ruͤhr- ten. Eine eben so zarte Empfindung erregt der Tod eines Mannes, der sein Leben nur halb ge- braucht, der z. E. wie der Protesilaus Homers halbgeendigte Pallaͤste der Pracht, halb vollendete Entwuͤrfe des maͤnnlichen Stolzes nachließ, der sich Anlagen und Geschicklichkeiten umsonst erwor- ben, den Diana vergebens jagen, und Pallas um- sonst kriegen gelehret: ruͤhrende Bilder aus einer menschlichen Welt, in die uns Homer so gern ver- setzet, und in der freilich die Helden leben muͤssen, die „an Thaten den Goͤttern, und an Empfindun- „gen den Menschen gleich sind.„ Jch kann meine Materie nicht vollenden; al- lein zusammen genommen diese Einzelnheiten, wird man ein Zeitalter gewahr, da die Helden, so weit sie uͤber die menschliche Natur erhoben seyn moͤgen, doch in dem Gefuͤhle der Betruͤbniß, und in der Aeußerung derselben durch Thraͤnen, derselben treu bleiben, treuer bleiben, als wir, bei denen dieß sanf- te Gefuͤhl entweder erstickt, oder in eine weibische Ueppigkeit umgeschmolzen wird. Zuruͤck also in diese Welt setze ich mich, wenn ich die Helden Ho- mers und die griechischen Tragoͤdien mit ganzer Seele fuͤhlen will: allein auf Griechenland moͤchte ich dieß Gefuͤhl nicht einschraͤnken: denn wohin das beschrie- bene menschliche Zeitalter trifft, da auch dieß Gleich- D 2 gewicht Kritische Waͤlder. gewicht zwischen Tapferkeit und Empfindung; und dieß, duͤnkt mich, ist uͤberall das Zeitalter zwischen der Barbarei eines Volks, und zwischen der zah- men Sittlichkeit, dem hoͤflichen Schein, in dem wir leben. Jn diesem stirbt auf gewisse Art Vaterland, Ehre, Geschlecht, Freund und Mensch ab, und mithin erstirbt auch hierum das Gefuͤhl, und die Aeußerung desselben, die Thraͤne. Aber die Empfindung des koͤrperlichen Schmer- zes, kann die sich aͤndern? Ein Schlag bleibt ein Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine Ohrfeige, und wird es, so lange die Welt steht, bleiben. Es ist also nicht der naͤmliche Fall dieser mit den vorigen Empfindungen, und unser weichli- cher Zustand hat vielmehr das Gefuͤhl der Schmer- zen unendlich, und oft zum Weibischen erhoͤhet. Hiernach muß es also umgekehrt seyn, daß, wenn ein griechischer Theseus, Herkules, Philoktetes, einen Schmerz, eine Wunde einmal fuͤhlet, so muͤßte ein Sybarit unsrer Zeit ihn siebenfach fuͤhlen, und wenn also „das Schreien der natuͤrliche Ausdruck „des koͤrperlichen Schmerzes, das Recht der leiden- „den Natur, ein Charakterzug griechischer Helden „seyn soll,„ so folgt, daß, wenn jener Einmal, der unsre bei siebenhaft heftigerer Empfindung auch sie- benfach staͤrker schreien doͤrfte und sollte, um — ein Held des Homers zu seyn. Wie Erstes Waͤldchen. Wie sollte es denn nun gekommen seyn, daß „wir feinern Europaͤer einer kluͤgern Nachwelt ge- „ler n t haben, uͤber unsern Mund und Augen zu „herrschen, und uns also so grausam das Privile- „gium der leidenden Natur versaget haben?„ Wenn wir die Empfindungen fuͤr Vaterland, Freund, Geschlecht, Menschheit und was sey, mit- hin unter diesen Empfindungen das weiche Gefuͤhl des Schmerzes daruͤber verloren, und den Verlust, den Mangel derselben mit Anstand und Artigkeit uͤberdeckt haben, so laͤßt sich das erklaͤren. Nun aber soll uns am koͤrperlichen Schmerz ein groͤßerer Grad von Empfindung beiwohnen, und doch weni- ger, unendlich weniger Rechte der leidenden Natur? Ja noch dazu, was bei den Heldengriechen, bei minderm Anlasse des Gefuͤhls, Ehre, oder wenig- stens erlaubt war, sollte bei uns Weichlichen Schan- de, und durch den Anstand, der doch wenigstens den Schein der Staͤrke geben soll, verboten seyn? und zwar als ein Zeichen der Schwaͤche verbo- ten? — — Und dieß waͤre je bei den Griechen ein Charak- terzug homerischer Helden gewesen? So kenne ich mei- nen Homer nicht; so will ich nicht meine Griechen ken- nen. Wenn ein Agamemnon Iliad: l. v. 15. in der Versammlung uͤber den Verlust der Griechen, an dem er durch den Zank mit Achilles Schuld war, weinet; so liebe ich D 3 seine Kritische Waͤlder seine koͤniglichen Zaͤhren: sie fließen fuͤr Kinder: sie erleichtern in ihrem Strome, den Homer mit einem Bache vergleichen kann, sein trauriges vaͤterliches Herz; dieser Agamemnon aber bei seiner Verwun- dung schreie und heule mir nicht. Wenn Achilles, vom Agamemnon oͤffentlich beleidigt, seine Ehre fuͤhlt, und vor seiner Mutter Thetis weinet Iliad. Α. v. 349. 357. 360. \&c. : so sehe ich seine ruhmliebende Thraͤnen gern: ich wei- ne mit, mit dem jungen Helden: aber bei einer Ver- wundung weine und schreie er nicht, sonst ist er Achilles nicht mehr. Um seinen Freund Patroklus heule und aͤchze und traure er Iliad. Σ. v. 21. \&c. Ψ v. 18. \&c. ; ich fuͤhle seine Thraͤnen und sein edles Herz: ich wuͤrde ihn nicht verehren, wenn er ein stoischer Held waͤre: so seufze Agamemnon Iliad. Σ. v. 148. uͤber seinen verwundeten Bruder, und Priamus uͤber seinen erschlagenen Sohn: das sind Leiden der Seele, und edle Thraͤnen, mit denen ja das Geschrei und das Weinen uͤber eine Wunde nicht in Vergleich kommt. Keiner von den Helden Homers schreiet und weinet uͤber so etwas, und soll- te es lohnen, den ganzen Homer zu aͤndern, damit der Lessingsche Satz wahr werde: „So sehr auch „Homer sonst seine Helden uͤber die menschliche „Natur erhebt; so treu bleiben sie ihr doch stets, „wenn es auf das Gefuͤhl der Schmerzen, wenn „es auf die Aeußerungen dieses Gefuͤhls durch „Schrei- Erstes Waͤldchen. „Schreien, oder durch Thraͤnen ankommt Laok. pag. 5. ?„ Jch wollte, Hr. Lessing haͤtte dieß nicht geschrieben. 5. Aber Philoktet? — Hr. Lessing hat einen großen Abschnitt Laok. pag. 31. — 49. darauf gewandt, Sophokles zu vertheidigen, daß er koͤrperliche Schmerzen aufs Theater gebracht, und einen Helden in diesem Schmerze schreien lasse. Die ganze Vertheidigung ist von der Seite des Dramaturgs, und verraͤth in der feinen Manier der Entwicklung, den Verfasser der Dramaturgie; Schade aber, daß sie ganz auf unrichtige Voraussetzung gebauet ist: bei Sopho- kles Philoktet sey Geschrei der Hauptton des Aus- drucks seines Schmerzes, und also das Haupt- mittel, Theilnehmung zu wirken, das doch nicht ist. Und denn Schade auch, daß sie blos als Dra- maturgie, als Anlage zum Drama abgefaßt ist; mich duͤnkts besser, sich den Eindruͤcken der Vorstel- lung zu uͤberlassen, und nichts als Dramaturg zu rechtfertigen, sondern als ein griechischer Zuschauer auf unverstellte Eindruͤcke zu merken — — Und welches sind diese Eindruͤcke ohngefaͤhr? Wenn ein griechisches Stuͤck geschrieben ist, um vorgestellt, und nicht um gelesen zu werden, so ists Philoktet: denn die ganze Wirkung des Trauer- spiels beruhet auf dem Leben der Vorstellung. Hin D 4 also Kritische Waͤlder. also mit Auge und Geist in die atheniensische Buͤh- ne. Der Schauplatz oͤffnet sich Sophocl. Philoct. Act. l. : ein Ufer ohne die Spur eines Menschen: eine einsame unbewohn- te Jnsel mitten in den Wellen des Meers: — wie sind diese Reisende dahin verschlagen? was wird in dieser wuͤsten Einoͤde vorgehen? — Hier, hoͤren wir, ist Philoktet, der beruͤhmte Sohn Poͤans: Elen- der Einsamer! der menschlichen Gesellschaft voͤllig beraubt, hier zur ewigen Einsamkeit verbannet — wie wird er seine Tage hinbringen? — Und er ist krank — krank am Fuße mit einem faulenden Ge- schwuͤre! — Noch aͤrmerer Einsiedler! wer wird dich hier pflegen, dir Speise schaffen, dich reinigen und verbinden? — und wie bist du hergekommen? ach! ausgesetzt — ohne Barmherzigkeit, ohne Huͤl- fe — und wegen eines Verbrechens, wegen seines Eigensinns? Nein, wegen seines barmenden Ge- schreies! Ach! die Unmenschen, was kann der Kran- ke, der Elende anders, als weinen, als schreien? und selbst diese Linderung ihm nicht zu goͤnnen, diese kleine Ungemaͤchlichkeit nicht zu ertragen, ihn aus- zusetzen! Wer hat ihn ausgesetzt? die Griechen, sein Volk, seine Gefaͤhrten — vielleicht geschahe es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der griechischen Heerfuͤhrer vom — Ulysses selbst. Und eben dieser Ulysses kann uns so etwas, so kalt erzaͤh- len, so lau abbrechen, er darf noch die Jnsel sehen, er Erstes Waͤldchen. er hat neue Anschlaͤge wider ihn — o des Boͤsen! wer wollte nicht mit einem armen, einsamen, ver- lassenen Kranken, mit dem niemand Mitleiden ge- habt, gegen den Treulosen Parthei nehmen, der ein Werkzeug seines Ungluͤcks war. Nun faͤllt uns die Wohnung des Elenden naͤ- her in die Augen — eine unbewohnte Hoͤle! — Jst noch etwas Hausgeraͤth und Speise darinn? zertretenes Gras — ein elendes Lager der Thiere! — hier muß der Held liegen, ohne den Troja nicht kann erobert werden: ein Becher von Holze, etwas Feuergeraͤth — ist der ganze Schatz des Koͤniges — und o Goͤtter! hier eitervolle Lappen, Zeugen sei- ner Krankheit! — Er ist fort — wie weit kann der Elende fort hinken? Ohne Zweifel mußte ers — nach Speise vielleicht! vielleicht nach einem lindern- den Kraut! daß ers doch faͤnde! daß man ihn doch saͤhe! Jndessen Auftr. 2. geht die Scene des Betruges an, da Ulysses den Neoptolemus so weit bringt, daß dieser gutherzige Redliche, der Sohn des redlichen Achilles, einen Fremden, einen Elenden, mit List durch Luͤgen und Raͤnke gefangen nehmen soll. Jch weiß es, daß die Griechen, zumal Sophokles, jene unmoralische Ungeheuer so hasset, als er nur die moralischen hassen mag, und daß er auf seinen Thea- ter nichts als Menschen, weder Engel, noch Teu- fel vorstellet; allein Ulysses, wie er hier erscheint, ist D 5 nicht Kritische Waͤlder. nicht blos der schlaue, der verschlagene Ulysses Ho- mers: er ist ein Verfuͤhrer, der offenbar Grundsaͤtze der Treulosigkeit verraͤth, die alle Tugend uͤbern Haufen werfen, und pfui des Boͤsewichts! bei dem das Laster schon zur Sprache durch Grundsaͤtze ge- worden. Sophokles also will lieber die Vorwuͤrfe der Moralitaͤts-Pedanten auf sich nehmen, die jeden Ausspruch von der Buͤhne zu einem Sittenspruche des Pythagoras haben wollen: er mahlt seinen Ulys- ses lieber schwaͤrzer, als er sonst zu mahlen pflegt — um uns nur desto mehr fuͤr den armen Philok- tet einzunehmen, der von ihm hintergangen ist, und hintergangen werden soll. Der Chor und Neoptolem sind nun Auftr. 3. beschaͤff- tigt, dieses Mitleid fuͤr Philoktet tiefer in uns zu praͤgen; sie wiederholen die vorigen Jammerzuͤge, vermehren sie durch Vermuthungen und — — da laͤßt sich von weitem ein Aechzen hoͤren! Daß es ein Aechzen und kein Gebruͤll sey, zeigt das Betra- gen Neoptolems, der, uͤber dem mit seinem Auf- trage bestuͤrzt, nicht weiß, woher es kommt? das Ach kommt naͤher, es wird ein Wimmern, ein tie- fes klaͤgliches Ach — nun ists erst vernehmlich! Sie haben sich nicht geirrt: Philoktet muß kom- men, und ach! der Hirte kommt mit einem Tone der Schalmey, und Philoktet mit einem Tone des Jam- mers Erstes Waͤldchen. mers — er tritt auf! oder vielmehr er schleicht sich hinan, um — Nun wird er sich mit Gebruͤll aufs Theater werfen? zu schreien anfangen, daß Peter Squenz sagen moͤchte: lieber Loͤwe, bruͤlle noch einmal! Wer doch den Kunstrichtern einmal das Gebruͤll ausreden koͤnnte, von dem im Griechischen so wenig Spur ist! Einen langen Aufzug durch Aufzug 2. spricht Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er aus Schreien gedenkt: selbst das vorher von ferne toͤ- nende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelas- sen. Der weise Sophokles! wie wird mich der Mann weibisch duͤnken, wie wird mir sein Ach! veraͤchtlich seyn koͤnnen, daß er nur hin aͤchzte, da er allein zu seyn glaubte, das er vor den Fremden gleich verbirgt, und im Gespraͤche immer bergen kann. Der Leidende ist ein Held. Und fuͤr diesen Charakter sorgt Sophokles ge- nau. Er muß sich erst mehr zum Feunde unsrer Seele machen Aufz. 2. Auftr. 1. , ehe unser Koͤrper sympathisiren koͤnnte, und wie bekuͤmmert ist der Arme um die Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß sie ihm nachstelleten; der Gutherzige haͤlt sie fuͤr Ver- schlagne, fuͤr solche, die seines Theilnehmens werth waͤren — der Menschenfreund! Er sieht die grie- chischen Kleider; ein boͤses Erinnerungszeichen fuͤr ihn an die treulosen Griechen; aber dieß hat er verges- sen. Kritische Waͤlder. sen. Wie wuͤnscht er, daß sie Griechen waͤren: wie verlangt er, wieder einen griechischen Laut zu hoͤ- ren! das ist ein ehrlicher Grieche, der kann Grie- chen interessiren. — Er hoͤrt griechisch: der arme Philoktet hat fuͤr Freude all sein heftiges Weh ver- gessen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den Sohn seines zaͤrtlichen Freundes: er wird offner; er erzaͤlt ihm seine Geschichte, ruͤhrend wie wenn die Penia seibst erschiene. Er ist ein Freund seiner Freunde: dem todten Achilles opfert er seine Zaͤhre der Freundschaft; er vergißt sich selbst, und seufzet uͤber einen Todten, der gluͤcklicher ist, als er. Er ist ein Freund seiner Freunde; der Sohn des Achil- les sieht ihn herzlichen Antheil an sich nehmen, selbst da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen, weil sie brave Leute sind: die Nichtswuͤrdigen ver- flucht er! Wie sehr hat uns nun Philoktet fuͤr sich interessirt, als Menschenfreund, als ein Grieche mit Leib und Seele, als ein Held. Und dieser Held soll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Hel- den, auf einer wuͤsten Jnsel modern? Schmerzliche Abwesenheit, da jene Thaten thun, da jene mit Lorbeern starben, so soll er an einer Wunde aͤchzen, die ja keine Heldenwunde ist. Er, eine so griechi- sche Seele, muß fern von seinem Vaterlande, fern von seinem liebenden Vater, der vielleicht schon zu den Schatten gegangen, sein Leben verzehren: er ein Erstes Waͤldchen. ein betrogner Redlicher — — o Neoptolem, du willst ihn verlassen! o daß ihn Philoktet anflehete! Er thuts, und so dringend: er bestuͤrmt sein Herz von so vielen Seiten, daß die Fuͤrbitte des Chors: erbarme dich seiner! auch unsre Einsprache wird. Wir aͤrgern uns uͤber Neoptolem, daß ihm der Ekel seiner Krankheit noch Einwendung macht, und lie- ben ihn, da er — — es ihm verspricht; Er wird ihm doch nicht betriegen! siehe! wie er ihm flehte, wie er ihm danket, wie er ihn noch zu guter Letzt in seine Hoͤle ladet und — Nun Aufz. 2. Auftr. 2. kommt der verkleidete Kaufmann. Er hoͤrt: „er soll nach Troja, Ulysses habe dieß dem „Heere oͤffentlich versprochen„ und — den Kauf- mann haͤlt er kaum seiner Antwort werth. Eine einzige heroische Verwunderung: „Goͤtter! dieser „Elende, dieser Treulose hat schwoͤren doͤrfen, mich „ins Lager zu bringen?„ verraͤth die ganze Helden- seele Philoktets: diese redet fort Auftr. 3. : diese will zu Schif- fe: diese redliche Seele glaubt dem Neoptolem, ver- traut ihm seine Waffen, vertraut sich ihm in seiner Krankheit. Wie fuͤhle ich fuͤr Philoktet! aber fuͤr ihn den Schreienden? Noch nichts! fuͤr ihn, den Helden, den Griechen, den Edlen — und denn den im hoͤchsten Grade Elenden, und elender noch da- durch, was man mit ihm vor hat. Noch fuͤhlen wir blos mit seiner Seele durch die Phantasie, und jetzt Kritische Waͤlder. jetzt erst soll die seltne Scene der Krankheit kommen. Der Chor Auftr. 3. bereitet auf sie, durch ein Lied auf den aͤußerst jammervollen Philoktetes, und sie kommt Dritte Scene. . Jch habe sie vorher durchgefuͤhrt und mag sie nicht wiederholen. Mich aͤrgert, wenn man sie auf der einen Seite zu einem bloßen Zetergeschrei macht, und auf der andern Seite, wie z. E. Brumoi Theatre des Grecs, Tom. 2. p. 89. , unter den loͤblichen Franzosen fuͤr nichts, als, einen Riegel, ein Einschiebsel, daß fuͤnf Akte voll werden. Welch eine Stille muß auf dem Schauplatze zu Athen geherrschet haben, da dieser Akt vorgieng! Die Auftritte des koͤrperlichen Leidens sind vor- bei, und weiter darf ich nicht. Jch kehre also von der Buͤhne zu Athen zuruͤck, dahin wo ich Lessingen gelassen — wie sehr sind wir aber in dem Eindrucke verschieden, den dieses Stuͤck machen soll. Einer von beiden kann nur Recht haben, und der andre hat sich nur nicht gnug idealisiren koͤnnen, um nicht zu lesen, sondern zu sehen. Damit dieß mich nicht treffe, will ich auf guter Hut seyn. Hr. Lessing macht „die Jdee des koͤrperlichen „Schmerzes„ zur Hauptidee des Stuͤcks Laok. p. 3. 4. 31. 32. , und sucht die feinen Mittel auf p. 33. — 49. , womit der Dichter diese Jdee zu verstaͤrken, zu erweitern gewußt hat. Jch gestehe es, daß, wenn dieß die Hauptidee der Tra- Erstes Waͤldchen. Tragoͤdie waͤre, einige von Hr. L. angegebene Mit- tel wenig auf mich gewirkt haͤtten. Der Eindruck des koͤrperlichen Schmerzes ist viel zu verworren und koͤrperlich gleichsam, als daß er z. E. der Fra- ge Platz ließe p. 33. 34. : wo sitzt der Schmerz? außen oder innen? wie sieht die Wunde aus? was fuͤr ein Gift wirkt darinnen? Waͤre die Vorstellung deskoͤrperli- chen Schmerzes so schwach, um durch solche Sa- chen verstaͤrkt werden zu muͤssen, so ist die Wirkung des Theaters verlohren: so ists besser, daß ich hin- gehe, um die Wunde selbst chirurgisch zu besichtigen. Nein! theatralisch sey die Jdee des Schmerzes, und ich mag also auch nichts, als theatralische Ver- staͤrkung — von fern, aus den gezogenen Minen, aus Toͤnen des Jammers, will ich, wenn Schmerz die Hauptidee des Stuͤcks ist, ihn kennen lernen, und denn ists mir wohl beinahe gleich, woruͤber man schreie, und sich geberde? ob uͤber einen lahmen Fuß, oder uͤber eine Wunde im Jnnern der Brust. Der Kunstrichter verliert alles, wenn er aus der theatra- lischen Anschauung weichet, und uns zur Verstaͤr- kung, zur Glaubwuͤrdigkeit derselben den Attest ei- nes Wundarztes geben ließe — — was es fuͤr eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß es ein Gift sey, das wohl so viel Schmerzen erregen koͤnne. Sophokles habe so etwas uͤberdacht, oder nicht uͤberdacht: gnug, wenn so etwas auf mich wirken muͤs- se, Kritische Waͤlder. se, um meine Jdee vom Schmerze zu verstaͤrken — Lebe wohl, Theater! so bin ich in der Lazarethstube. Theatralische Ruͤhrung also! und wodurch kann ich, wenn die Hauptidee des Stuͤcks koͤrperlicher Schmerz ist, geruͤhret werden? welches sind als- denn die Hauptmittel zur Erregung der Sympa- thie? Jch weiß nichts anders, als die gewoͤhnlichen Aeußerungen, Geschrei, Thraͤnen und Zuͤckungen: diese giebt auch Hr. Lessing p. 3. 52. 34. dafuͤr aus, und giebt sich viele Muͤhe p. 41. — 49. , bei ihnen den nicht beleidigten Anstand, und ihre entschiedne Wirkung zu erklaͤ- ren. Gut also! aber, wenn das Wimmern, das Schreien, die graͤßlichsten Zuͤckungen, das Mittel, das Hauptmittel sind, mir die Jdee des koͤrperlichen Schmerzes einzupflanzen, und mein Herz zu tref- fen: was kann denn die beste Wirkung dieses tref- fenden Schlages seyn? Mit koͤrperlichem Schmer- ze kann ich nicht anders, als koͤrperlich, sympathisi- ren: d. i. meine Fibern kommen durch die Theilneh- mung in eine aͤhnliche Spannung des Schmerzes, ich leide koͤrperlich mit. Und waͤre dieß Mitleid angenehm? Nichts weniger, das Zetergeschrei, die Zuckung faͤhrt mir durch alle Glieder, ich fuͤh- le sie selbst; die naͤmlichen convulsivischen Bewe- gungen melden sich bei mir, wie bei einer gleichge- spanneten Saite. Ob der in Zuckung Liegende, winselnde Mann Philoktet sey, geht mich nicht an: er Erstes Waͤldchen. er ist ein Thier, wie ich: er ist ein Mensch: der menschliche Schmerz erschuͤttert mein Nervengebaͤu- de, wie wenn ich ein sterbendes Thier, einen roͤ- chelnden Todten, ein gemartertes Wesen sehe, das wie ich fuͤhlet. Und wo ist nun dieser Eindruck auch nur im kleinsten Maaße vergnuͤgend, ange- nehm? Er ist peinlich, schon bei dem Anblicke, bei der Vorstellung, ganz peinlich. Hier ist im Augenblicke des Eindruckes an keinen kuͤnstlichen Betrug, an kein Vergnuͤgen der Einbildungskraft zu gedenken: die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich sehe, ich hoͤre, ein Thier meiner Art leiden. Und welche Gladiatorseele gehoͤrte dazu, um ein Stuͤck auszuhalten, in welchem diese Jdee, dieß Gefuͤhl des koͤrperlichen Schmerzes, Hauptidee, Hauptgefuͤhl waͤre? Jch weiß keinen dritten Fall außer diesen beiden: daß ich entweder illudiret wer- de, oder nicht. Jst das erste, ists auch nur ein Augenblick, daß ich den Schauspieler verkenne, und einen zuͤckenden schreienden Gequaͤlten sehe; wehe mir! es faͤhrt mir durch die Nerven! Jch kann den kuͤnstlichen Betruͤger, der sich mir zum Vergnuͤgen, dem Augenscheine nach, aufhaͤngen wollte, keinen Augenblick mehr sehen, so bald der Betrug schwin- det, so bald er wirklich worget. Jch kann den Seil- taͤnzer keinen Augenblick mehr sehen, so bald ich ihn fallen, in das unterliegende Schwert stuͤrzen sehe, so bald er mit zerschlagnem Fusse da liegt. Der E An- Kritische Waͤlder. Anblick Philoktets ist meinem Gesichte unausstehlich, so bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet ist. Blos eine Fechterseele kann in dieser Jllusion des koͤrperlichen Schmerzes, wie an jenem sterbenden Fechter, studiren wollen: wie viel Seele noch in ihm sey? Blos ein Unmensch kann, nach der Fabel von Michael Angelo, einen Menschen kreuzigen, um zu sehen, wie er stirbt. Herr Lessing mag sagen p. 42. , daß „nichts betruͤg- „licher sey, als allgemeine Gesetze fuͤr die Empfin- „dungen geben zu wollen.„ Hier liegt das Gesetz in meinem unmittelbaren Gefuͤhle selbst, und zwar in dem Gefuͤhle, das am weitesten von allgemeinen Gruͤnden abgehet, das mit, als einem sympathisi- renden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende Koͤrper Philoktets mein Hauptaugenmerk ist, so bleibts, „daß p. 32. je naͤher der Schauspieler der Na- „tur kommt, desto empfindlicher Augen und Ohren „beleidigt werden muͤssen.„ Ein Meer unangeneh- mer Empfindungen wird uͤber mich ergehen, und kein angenehmer Tropfe mischt sich dazu. Die Vor- stellung des kuͤnstlichen Betruges? — ist durch die Jllusion gestoͤrt; ich habe nichts, als den Anblick eines zuͤckenden, mit dem ich beinahe mit zuͤcke, ei- nes Wimmernden, dessen Ach! mir das Herz durch- schneidet. Es ist kein Trauerspiel mehr, es ist eine grausame Pantomime, ein Anblick, Fechterseelen zu bilden: ich suche die Thuͤre. Nun Erstes Waͤldchen. Nun aber lasset uns den zweiten Fall setzen, daß der griechische Schauspieler mit aller seiner Skaͤvo- ponie und Deklamation das Geschrei und die Ver- zuckungen des Schmerzes nicht bis zur Jllusion bringen koͤnne (etwas, das Hr. Lessing nicht zu be- haupten getrauet p. 49. , gesetzt also, daß ich ein kalter Zuschauer bleibe: so kann ich mir ja keine widerli- chere Pantomime gedenken, als nachgeaͤffte Zuckun- gen, bruͤllendes Geschrei, und wenn die Jllusion voll- kommen seyn soll, ein uͤbler Geruch der Wunde. Kaum wuͤrde also alsdenn der theatralische Affe Philoktets zum Zuschauer sagen koͤnnen, was der wahre Philoktet zum Neoptolem: „ich weiß! du „hast es alles nichts geachtet; weder mein Geschrei „noch der uͤble Geruch wird dir Ekel erregt haben. Sophokl. Philokt. Akt. 4. Scen. 1. „ Bei einer widerlichen, und zum Ungluͤcke nicht taͤu- schenden Pantomime ist dies unvermeidlich. Jch schlage die Litteraturbriefe Litt. Br. Th. 5. B. 82-84. auf, und fin- de den Ersten ihrer Verfasser an gruͤndlicher Philo- sophie in einem andern aͤhnlichen Falle meiner Mei- nung. Er untersucht, „warum die Nachahmung „des Ekels uns nie gefallen koͤnnen, und giebt zu „Ursachen an, weil diese widrige Empfindung nur „unsre niedere Sinne trifft, Geschmack, Geruch und „Gefuͤhl: die dunkelsten Sinne, die nicht den ge- „ringsten Antheil an den Werken der schoͤnen Kuͤn- E 2 „ste Kritische Waͤlder. „ste haben: weil zweitens die Empfindung des „Ekels widrig werde, nicht durch die Vorstellung „der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen „Eindruͤcken, sondern unmittelbar durchs An- „schauen: und weil endlich in dieser Empfindung „die Seele keine merkliche Vermischung von Lust „erkennet. Er schließt also das Ekelhafte ganz „von Nachahmung der schoͤnen Kuͤnste, und den „hoͤchsten Grad des Entsetzlichen von der pantomi- „mischen Vorstellung im Trauerspiele aus, weil „theils die Taͤuschung hierinn schwer waͤre, theils „auch die Pantomime auf der tragischen Schau- „buͤhne nur in den Schranken einer Huͤlfskunst „bleiben muͤßte.„ Jch wollte, daß der philoso- phische D. sich uͤber meinen Vorwurf erklaͤren moͤch- te: denn der koͤrperliche Schmerz Philoktets hat mehr als einen dieser Gruͤnde wider sich. Seine Taͤuschung kann nur den dunkelsten Sinn, das thie- rische Mitgefuͤhl, erregen: die Empfindung daruͤber ist allemal Natur, und niemals Nachahmung: sie hat nichts Angenehmes mit sich: sie ist kaum der Jllusion faͤhig: sie macht die tragische Buͤhne zur Pantomime, die, je vollkommner sie waͤre, um so mehr zerstreuete. Schlechthin kann also der koͤr- perliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauer- spiels seyn. Und ists doch bei Sophokles Philoktet, bei ei- nem Meisterstuͤcke der Buͤhne! „Wie manches, sagt „Hr. Erstes Waͤldchen. „Hr. Lessing Laok. p. 33. , wuͤrde in der Theorie unwider- „sprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht ge- „lungen waͤre, das Widerspiel durch die That zu „erweisen.„ Jch glaube, schwerlich. Was in der Theorie wahrhaftig unwidersprechlich ist, und nicht blos so scheint, wird nie von einem Genie wider- legt werden, zumal wenn die Theorie in unsern un- erkuͤnstelten Empfindungen laͤge. Mich dauert die Muͤhe, die sich Herr Lessing giebt, Sophokles zu rechtfertigen, und den Englaͤnder Smith zu wider- legen; beide brauchen es nicht: und wenn sie es brauchten, wenn Sophokles Hauptzweck waͤre, durch die Aeußerungen des koͤrperlichen Schmerzes seinen tragischen Endzweck zu erreichen: so haͤtte L. mit al- lem, was er Gutes sagt, wenig gesagt. Aber Sophokles, das tragische Genie, fuͤhlte nur gar zu viel dagegen, diesen Zweck zu erreichen, und gieng ganz einen andern Weg, der ihm nicht mißrathen konnte, und den Hr. L. wie es scheint, von einer Nebenseite gesehen. Jch muß aus dem vorigen Eindrucke, den ich davon geliefert, einige Zuͤge zuruͤcknehmen: 1. Der erste Begriff von Philoktetes ist der Be- griff eines Verlassenen, Kranken, Elenden, von Men- schen verrathenen Einsiedlers, eines Robinson Cru- soe, dessen jammervolle Hoͤle uns gezeigt wird: diese Situation setzt Hr. L. mit der ihm gewoͤhnlichen Staͤrke aus einander. E 3 2. Der Kritische Waͤlder. 2. Der Elende soll noch einen neuen Streich von der List seines alten Feindes leiden: hier schwillt unsere Theilnehmung, und der Kontrast zwischen Ulysses und Neoptolemus macht die ganze Scene menschlich. 3. Der Chor und Neoptolem druͤcken die Pfeile des Mitleids tiefer in unser Herz: sie singen sein Elend in vollem Maaße. Wie begierig sind wir nun, den Mann zu sehen, der hier in der wuͤsten Jn- fel eine besondere Scene spielt, und auf den neues Ungluͤck lauert. Jn diesem ganzen Akt ist noch kein Philoktet zu sehen: noch weniger die Vorstel- lung von seinem koͤrperlichen Schmerz Hauptidee. Sophokles hat in diesem Akt dreierlei Vorsicht, uns erst auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auf- tritt: das Schwerste und Untheatralische in Er- zaͤlung und nicht in Handlung zu zeigen: unser Herz und unsre Phantasie ihm zu sichern, damit wir erst — auch nur seinen Anblick ertragen lernen. Und gleich als ob dieser noch nicht gnug vorbereitet waͤre, muß den wilden Mann ein fern her murmelndes Ach anmelden, das sich naͤhert, und — 1. Nun sind durch den Anblick der Fremden die Seufzer weg, voͤllig weg. Warum das? warum laͤßt sie Sophokles so ganz hinter der Scene? Erst muß er ihn nicht blos vor Verachtung sichern, son- dern seinem ganzen ersten Anblicke nach, ist Philoktet ein leidender Held. Jch weiß nicht, warum L. die- Erstes Waͤldchen. diesen ersten Eindruck, in dem der Held erscheint, nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von fern gehoͤrt, jetzt sehen wir dulden. Mitten unter verbissenen Schmerzen steht und spricht der Men- schenfreund, Grieche, Held — warum hat Hr. L. das Jnteresse nicht mehr entwickelt, das er als Grieche, als ein theilnehmender Freund der Frem- den, als der Verehrer griechischer Helden, wirket? Man kann kaum mehr fuͤr ihn sympathisiren, als man schon gestimmet ist. 2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der eben jetzt Flehende hoͤrt Ulysses neuen Verrath, und wie ist der flehende Elende ploͤtzlich in einen Helden verwandelt? 3. Jn einen Helden, der gegen seine Feinde noch der ungedemuͤthigte Stolze bleibt: Originalzug der griechischen Groͤße, „Liebe gegen die Freunde, un- „wandelbarer Haß gegen die Feinde„ Laok. p. 43. ! Und wer anders als ein Redlicher, kann Neoptolem seine Pfeile und sein Leben so großmuͤthig anvertrauen? — ein solcher Mann ist nicht blos auf alle Wege vor Verachtung gesichert: er hat unser ganzes Herz. 4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des Elendes, und ist offenbar in dem Tone der Ehr- furcht gegen einen Helden, der da duldet, der so lange geduldet hat, nicht, der da schreiet. — Wie wenig, wie wenig ist doch also der Philoktet Sophokles sei- E 4 nem Kritische Waͤlder. nem Hauptzuge nach auf der Buͤhne, der, den L. ge- wohnt ist, als den Graͤßlichen zu charakterisiren, noch ist er immer der große duldende Held: und das in zween langen Auftritten! Und beinahe faͤngt die Jdee von seinem Elende, und von dem Versprechen des Neoptolemus an zu schwinden: fast kann man uns von seinem Schmerz zu viel erzaͤhlt, fast kann derselbe sich in neun Jah- ren doch wohl verringert haben? koͤnnten wir ihn also nicht selbst leiden sehen? Wenn nichts mehr ist, als was wir gesehen haben, so — und nun kommt der Anfall. Es ist bloß ein Anfall, und ich weiß nicht, wie Hr. L. die Wahl einer Wunde ruͤhmt p. 33. , die doch keinen andern Vortheil bringen konnte, als ein ekles Ach fuͤnf Akte lang zu dehnen! Sophokles wußte was bessers zu waͤhlen — eine kurze An- wandlung. Sie legt er in die Mitte des Stuͤcks zur Auszeichnung: sie kommt ploͤtzlich; um so ein- druͤcklicher wird das Gift, als eine Strafe der Goͤt- ter, nicht blos als eine schleichende Krankheit: sie kommt ruckweise, um durch ein Anhalten den Zu- schauer nicht zu ermuͤden: sie schweift in Raserel aus, um den Zuschauer von der Pontomime mehr auf die leidende Seele zu wenden: sie wird lange von Philoktet unterdruͤckt, und nur mitten unter Gespraͤchen mit einzelnen Toͤnen des Jammers be- gleitet: sie endet sich in einem ruhigen Schlafe, und der Erstes Waͤldchen. der laͤßt uns erst Zeit zu uͤberdenken, was Philok- tet ausgestanden. Man kann den ganzen Auftritt nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos fuͤr die Pantomine eines koͤrperlichen Schmerzes, und das ganze Stuͤck nicht mehr verkennen, als wenn Philoktet da seyn sollte, um uͤber eine Wunde zu schreien und zu heulen. Der Anfall ist voruͤber, und nach so wenig, als vor — — doch ich mag ja keinen Kommentar uͤber Sophokles schreiben — wer urtheilen will, lese! So kann also W. seinen Laokoon mit Philoktet vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und am wenigsten bei Homer der Charakterzug eines Helden gewesen seyn! So ist wohl nie Schreien das Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu wirken, und koͤrperlicher Schmerz nie die Hauptidee eines Drama! So hat das Schauspiel gewiß seine eigne schoͤne Natur gleichsam, und genaue Gren- zen zwischen andern Dichtarten. So kann man es ohne Suͤnde eine Reihe handelnder, dichteri- scher Gemaͤhlde nennen! Wer koͤnnte uns uͤber diese Materie besser belehren, als — der Verfasser des Laokoon und der Dramaturgie selbst, wenn er sich „uͤber das Maas der Pantomime in der Tra- goͤdie, uͤber die eigne schoͤne Natur des Drama, und uͤber die besondern Grenzen zwischen Malerei und Schauspiel besonders erklaͤrte? E 5 6. Der Kritische Waͤlder. 6. Der große Winkelmann hat uns die schoͤne grie- chische Natur so meisterhaft gezeiget, daß wohl kei- ner, als ein Unwissender und Fuͤhlloser, es leugnen wird, „ihr Hauptgesetz in der bildenden Kunst sey „Schoͤnheit gewesen.„ Deß ohngeachtet duͤnkt mich noch die erste Quelle mit einigen ihrer Adern unentdeckt: warum die Griechen in Bildung des Schoͤnen so hoch gekommen, um allen Voͤlkern der Erde hierinn den Preis abzulaufen? Herr Lessing giebt auch ein Supplement Laok. p. 9-22. dazu, da er uns den Griechen, im Gegensatz mit dem Kunstgeschmack un- serer Zeit, als einen Kuͤnstler zeiget, der der Kunst nur enge Grenzen gesetzt, und sie blos auf die Nach- ahmung schoͤner Koͤrper eingeschraͤnket: „sein Kuͤnst- „ler schilderte nichts, als das Schoͤne.„ Nichts, als das Schoͤne? Nun ja! mein Leser, ich habe die weisen Erinnerungen und Einschraͤn- kungen gelesen, die man wider diesen Lessingschen Satz sehr gelehrt aufgeworfen; allein man muß L. erst verstehen, ehe man ihn widerlegt. Will er sa- gen, daß die Griechen nichts Haͤßliches gebildet? Jch glaube nicht, und wuͤnsche an einem andern Orte Laok. p. 16. die Worte weg: „die Griechen haben nie ei- „ne Furie gebildet. „ Denn gienge sein Satz so weit: so haͤtte Hr. Klotz noch in jedem seiner kuͤnf- tigen Schriften Gelegenheit, ein Beispiel anzubrin- gen, Erstes Waͤldchen. gen, daß die Alten auch Furien, Medusen u. s. w. gebildet haͤtten — etwas, was wohl jeder weiß, der etwa ein Museum durchlaufen. Oder haͤtten die Alten das Gesetz gehabt, haͤß- liche Figuren auch schoͤn zu bilden, weil was gebil- det werde, schoͤn seyn muͤsse? Jch weiß, daß man ihn auch so verstanden, und alsdenn die liebe Me- duse statt Alles angefuͤhrt; allein auch dieß ist nicht die Verbindung des Sinnes. Jch verstehe ihn so: es sei bei den Griechen kein herrschender, kein Hauptgeschmack gewesen, das erste beste zu schildern und zu bilden, um blos durch die Nachahmung Werth zu erhalten, blos durch Aehn- lichkeit sich als Kuͤnstler zu zeigen: sondern hier habe ihr Geschmack das Schoͤne zum Hauptgegen- stande gemacht, um nicht blos mit leidigen Ge- schicklichkeiten zu pralen. Und in diesem Verstande bleiben folgende Bestimmungen ja von selbst ein- geschlossen. Um von einem herrschenden Geschmacke zu ur- theilen, nehme man nicht jede einzelne Beispiele: denn die Pausons, Pyreicus und andre Rhyparo- graphen, so lange sie nicht Schulen ziehen, und diese mit andern, mit den Schilderern der Schoͤnheit noch nicht um den Vorzug streiten doͤrfen, hindern nichts. Um von einem herrschenden Geschmacke zu urtheilen, muß man die Worte eines Gesetzge- bers, Kritische Waͤlder. bers, Laok. p. 11. not. b. wo Hr. L. die Worte Aristoteles anfuͤhret. eines politischen Philosophen, nicht als Be- weis des Gangbaren annehmen: denn sie sagen, was da seyn sollte, nicht was da ifi. Die besten Zeugen eines herrschenden Geschmacks sind die oͤffentlichen Kunstwerke, die Anordnun- gen der Obrigkeit: und da Hr. Lessing auch vorzuͤg- lich auf diese gesehen, so lehrt man ihn ja nichts neues, wenn man sich vernehmen laͤßt Hr. Klotz Geschichte der Muͤnzen p. 41. 42. : der grie- chische Kuͤnstler schilderte nichts, als das Schoͤne — Entgegengesetzte Zeugnisse „der Schriftsteller und „Beispiele der Kuͤnstler bestimmen mich, dieser „Beobachtung engere Grenzen zu setzen, und sie „bloß auf oͤffentliche Denkmaͤler einzuschraͤnken.„ Jch denke, daß das Hrn. L. erste Quelle gewesen, und er sucht ja vielleicht Anordnungen, wo selbst keine sind Laok. p. 12. das Gesetz der Thebaner ις το χειρων ist mir noch zweifelhaft. . Um von einem herrschenden Geschmacke zu ur- theilen, nehme man ferner nicht Tempelwerke, wo Religion die Hauptabsicht gewesen, oder der Ge- schmack der Religion nicht geaͤndert werden konnte. Hr. L. macht sich diese Einschraͤnkung selbst Laok. p. 103. , und sie ists, die seinen Satz so mildert, daß, ich gestehe es, er freilich durch ihn so viel oder so wenig bedeu- ten kann, als er will. Um Erstes Waͤldchen. Um endlich vem herrschenden Geschmacke zu urtheilen, nehme man freilich nicht alle Zeiten gleich, sondern die, da der Geschmack schon ausgebildet, da er durch keine Kakozelie verdorben erscheint: im er- sten Fall ist noch kein Gesetz gegeben, im zweiten ists eine Zeitlang unter die Bank gebracht; deßwegen aber noch immer Landesgesetz. — Und nach die- sen Bestimmungen kann L. allerdings fest setzen: „daß bei den Alten die Schoͤnheit das hoͤchste Ge- „setz der bildenden Kuͤnste gewesen.„ Allein bei welchen Alten? seit wenn? wie lan- re? welche Unter-welche Nebengesetze? Und wo- her ists bei den Griechen so vorzuͤglich, vor allen Nationen, hoͤchstes Gesetz geworden? Andre wich- tige Fragen, wo bei der letzten mir W. selbst kaum ein Gnuͤge thut. Hr. L. kommt auf zwo Situationen, die hier- in einschlagen: „daß bei den Alten auch die Kuͤn- „ste buͤrgerlichen Gesetzen unterworfen gewesen, „und was die bildenden Kuͤnste auf den Charakter „einer Nation wirken koͤnnen Laok. pag. 12. — 15. .„ Allein, uͤber bei- des konnte er sich nur im Vorbeigehen erklaͤren. Es muß aus Gruͤnden hergeleitet werden koͤnnen: wie bei den Griechen Gesetze uͤber die Kunst nicht blos, wie weit es Hr. L. nimmt, erlaubt; sondern noͤ- thig gewesen — wie bei ihnen Kunst und Poesie und Musik weit mehr zum Wesentlichen des Staats gehoͤ- Kritische Waͤlder. gehoͤret habe, als jetzt — wie der Staat also nicht ohne sie, als seine damaligen Triebfedern, und sie nicht ohne Staat haben seyn koͤnnen — wie also die Wirkung der Nation auf die Kunst, und der Kunst auf die Nation nicht blos physisch und psy- chologisch, sondern auch großen Theils politisch ge- wesen — wie bei den Griechen also aus so man- chen Ursachen, und nicht blos ihres Nationalchara- kters, sondern auch ihrer Erziehung, Lebensart, des Grades ihrer Cultur, ihrer Religion und ihres Staats wegen, die Bildung der Schoͤnheit mehr Eindruͤcke haben koͤnnen, und mehr Eindruͤcke habe annehmen muͤssen. Ein wichtiges Problem Ein Programm des Hrn. Prof. Heine, de caussis fa- bularum seu mythorum veterum physicis, hat mir mehr Gnuͤge gethan, als die ganze Philosophie des Ba- nier; wie uͤberhaupt dieser wuͤrdige Kenner der Alten von seinen Griechen das Schwerste gelernt: stille Groͤs- se, ruhige Fuͤlle, auch im Vortrage und Ausdrucke. , zu dessen Aufloͤsung mehr, als einige Kaͤnntniß der Griechen von der Oberflaͤche her gehoͤret. Un- sern gewoͤhnlichen Græculis also, die jetzt nach dem Modegeschmacke von nichts so gern, als von Kunst, von Schoͤnheit der Griechen sprechen, ist ein Gedan- ke hieran so wenig eingefallen, daß sie alles glauben erklaͤrt zu haben, wenn sie von nichts, als einer ge- wissen feinen schoͤnen Empfindung der Griechen fuͤr die Kunst, und fuͤr die Schoͤnheit, schwatzen; von einer Empfindung, die sie gehabt, die Roͤmer nicht Erstes Waͤldchen. nicht gehabt, und die jetzt in unsern deutschen Neu- griechen wieder auflebe. Alle klotzische Schriften sind von diesem suͤßen Geschwaͤtze voll S. Klotz Gesch. der Muͤnzen p. 106. 107. : denn freilich aus einer gewissen unnennbaren Empfindung, aus einem sechsten Sinne fuͤr die Schoͤnheit, kann man alles, was man will, ohne Kopfbrechen ausfinden. — Ein philosophischer Kopf, wie Lessing, konnte mit solcher qualitas occulta nicht zufrieden seyn: und welcher halbphilosophische Kopf wird sich denn damit laͤchelnd begnuͤgen koͤnnen? Doch nicht zu weit vom Laokoon. Wenn bei den Griechen Schoͤnheit das hoͤchste Gesetz der Kunst war: so mußten gewaltsame Stellungen, haͤßliche Verzerrungen vom Kuͤnstler entweder gemieden, oder herabgesetzt werden: und L. giebt davon die besten Exempel. Jndessen hat er Widerspruch gefunden und einer seiner Widersprecher Klotz Act. litt. conf. mit der Gesch. der Muͤnzen, und die- se mit der Schrift uͤber die geschnittenen Steine. ist, wenn er jetzt einen Stein findet, der dafuͤr, jetzt einen, der dawi- der zu seyn scheinet, auch im Wechselfieber bald fuͤr, bald gegen den Satz, daß der geneigte Leser endlich nicht weiß, wie ihm ist. Ob sich hier nicht ein fe- ster Faden ziehen ließe? Zuerst also: der mythische Cirkel der alten Griechen war ohne Widerspruch der Schoͤnheit ge- bildet: ihre Goͤtter und Goͤttinnen waren nicht, wie die Kritische Waͤlder. die egyptischen, allegorische Ungeheuer: noch, wie die persischen und indischen, beinahe ohne Bild: noch, wie die hetrurischen, traurige und unanstaͤndige Fi- guren; sondern an Bildung reizend dem Auge. Jn der ganzen Natur der Dinge fanden die Griechen keine bessere Vorstellung der goͤttlichen Natur, wie eines Jnbegrifs der Vollkommenheiten, als die menschliche Gestalt; und wiederum, welches zu be- weisen waͤre, keine der Gottheiten war so charakteri- sirt, daß sie immer haͤßlich haͤtte gebildet wer- den muͤssen, um das zu seyn, was sie seyn sollte. Die Goͤtterbegriffe der Griechen waren von Dich- tern bestimmet, und diese Dichter waren Dichter der Schoͤnheit. Die Griechen hatten z. E. einen Jupiter, der freilich nicht immer μιλιχιος, der auch oft der Zor- nige, der Grimmige war: und der Dichter konnte ihn seinem Zwecke gemaͤß schildern. Wie aber der Kuͤnstler? Wer will denn immer gern einen zorni- gen Jupiter sehen, da sein Zorn doch mit dem Un- gewitter uͤbergeht? Was also natuͤrlicher, als daß er zu dem ewigen Anblicke seines Kunststuͤckes den Anblick einer schoͤnen Groͤße lieber waͤhlte, und ihm nur hohen Ernst in sein Gesicht schuf? — Nun kann es freilich, und insonderheit in der aͤltern Zeit der Religion, auch Abbildungen des Zorns gegeben haben: allein, was thut dieß? der Hauptbegriff bei Jupiter, selbst wenn er den Donner wirft, bleibt doch Erstes Waͤldchen. doch — hoher Ernst, schoͤne Groͤße; dieß ist seine bleibende Gestalt, jene geht voruͤber. Venus, wenn sie um den Adonis trauret, raset bei Moschus fuͤrchterlich: auch Juno kann koͤniglich zanken, und Apollo tapfer zuͤrnen — allein ist die- se Raserei, dieß zaͤnkische Gesicht, dieser Zorn im Antlitze denn wohl ihre bestaͤndige Mine, ihr noth- wendiger Charakterzug? Nicht! er ist uͤbergehend, er ist eine vorbeiziehende Wolke: nun soll der Kuͤnst- ler Venus, Apollo, Juno bilden; — will er nicht Unsinn, oder Eigensinn beweisen, so wird er die Mi- ne nehmen, die Venus, Apollo, Juno eigen ist: in der sie sich zeigen wuͤrden, wenn sie ihm zur Bil- dung erschienen, und dieß ist — eine Gestalt der Schoͤnheit. Doch immer aber gab es ja auch im mythi- schen Zirkel der Griechen Figuren, denen die Haͤß- lichkeit ein Charakterzug war: z. E. Medusenkoͤpfe, Bacchanten, Giganten, Silenen, Furien u. s. w. Medusa gehe voraus, denn Pallas traͤgt sie auf ih- rem maͤchtigen Schilde. Meduse, ist sie eine Ge- stalt, die nothwendig haͤßlich gebildet werden muß, von der man nur eine Gestalt wuͤßte, die im hoͤch- sten Grade fuͤrchterliche? Die so viel uͤber die himm- lische Bildung der Meduse, als von einem Jch weiß nicht, warum? und einer Parodoxie reden Klotz Gesch. der Muͤnzen p. 46. 47. , F soll- Kritische Waͤlder. sollten wissen, daß Medusen diese Bildung eigen- thuͤmlich, daß sie eine Reizende gewesen, die Ne- ptun zur Liebe beweget, und daruͤber von der jung- fraͤulichen Minerve verwandelt worden Pausanias erzaͤlt ihre Geschichte noch bequemer fuͤr die Kunst v. Corinth. c. 21. . Nun soll- te sie der Kuͤnstler bilden: zwo Gestalten lagen vor ihm und er waͤhlte — die schoͤne vor ihrer Ver- wandlung: aber um sie als Meduse zu bezeichnen, flocht er Schlangen in ihre Haare. Um diese Schlangen zu erklaͤren, weiß ich da kei- nen andern Ruͤckweg, als mich „auf das besondere Ge- „fuͤhl der Griechen und Roͤmer fuͤr die Schlangen„ zu beruffen Klotz Gesch. der Muͤnz. p. 47. „Es ist wahr, daß un- „ser Gefuͤhl uͤber diesen Punkt eben so verschieden „von dem Gefuͤhl der Griechen und Roͤmer ist, als von „der Empfindung des Kanibalen„ u. s. w. ? ein besonderer Appetit, der — hier aber nichts erklaͤrt. Eine schoͤne Meduse ohne Schlangen waͤre nicht mehr kenntlich, nicht mehr Meduse — ein bloß schoͤnes Gesicht gewesen; so und aus keinem Schlangenappetit mußte also der Kuͤnstler diesen Charakterzug brauchen. Und warum sollte ers nicht? Wann er die Schlangen in die Haare versteckt, so koͤnnen sie zieren; und was an ihnen hervorblickt, ist das was haͤßliches? Schrecklich und nicht haͤßlich; aber dieß Schreckliche gemaͤßigt, mit einem schoͤnen Antlitze contrastirt, ist angenehm; es erweckt den Begriff des Außerordentlichen, von der Erstes Waͤldchen. der Macht der Goͤttin, ist also hier als Charakter- zug noͤthig, und zum viel fassenden Eindrucke taug- lich: es erhebt die Schoͤnheit. Meduse also dorf- te nicht nothwendig ein Bild der Haͤßlichkeit seyn. Und die Furien eben so wenig. Die Ehr- wuͤrdigen: so nannten die Athenienser sie, und so konnten sie die Kuͤnstler bilden: „weder an ihren „Bildnissen, sagt Pausanias In Attic. c. 28. , noch an den Ab- „bildungen der unterirdischen Goͤtter, die im Areo- „pagus stehen, ist was fuͤrchterliches wahrzuneh- „men.„ Und wenn nicht an den Furien; an den eigentlichen Rach- und Plagegoͤttinnen: wenn nicht an den unterirdischen Goͤttern; wenn nicht selbst im Areopagus, dem ernsthaftesten Orte zu Athen — wo und an welchen Bildungen haͤttte denn das Graͤuliche der Hauptcharakter seyn muͤssen? Jch darf also behaupten, daß alle mythische Figuren des Zirkels, die als Hauptfiguren, einzeln, ihrem innern und bestaͤndigen Charakter gemaͤß, ha- ben erscheinen sollen, das Widerliche und Graͤßli- che nie zur nothwendigen Bildung haben dorften. Selbst bis auf den Schlaf und den Tod Laok. p. 121. Die lessingische Erklaͤrung des διεστρ μμεν ς τ ς πωδας scheint dem Sprach- gebrauche zu widersprechen; und wenn es aufs Muth- maßen ankaͤme, koͤnnte ich eben so sagen: „sie schliefen „mit uͤber einander geschlagnen Fuͤßen„ d. i. des einen Fuß streckte sich uͤber den andern hin, um die Verwandt- schaft des Schlafs und Todes anzuzeigen u. s. w. erstreckt F 2 sich Kritische Waͤlder. sich dieß, die beide als Knaben in den Armen der Nacht ruhend vorgestellt wurden, und so gar bis auf die hoͤllischen Goͤtter — schoͤnes Feld von Vorstellungen fuͤr den Kuͤnstler, dem also seine Re- ligion es wenigstens nicht auflegte, zur Schande des Geschmacks, und zum Ekel der Empfindung arbeiten zu muͤssen. Da waren keine Bilder des Abscheues, wie in der skandinavischen und andern nordischen Religionen: keine Fratzenvorstellungen, wie in den Mythologien der heidnischen Mittaglaͤn- der: kein Knochenmann, der den Tod, kein Unge- heuer, das den Teufel vorstellen sollte, wie nach den Jdolen unseres Poͤbels; unter allen Voͤlkern der Er- de haben die Griechen, was den sinnlichen, den bildsamen Theil der Religion anbetrift, die beste Mythologie gehabt: selbst die Kolonien ihrer Reli- gion, nicht ausgenommen. Zweitens: doch aber gab es ja so haͤufige Vor- stellungsarten, Situationen, und Geschichte ihrer Religion, die immer auch fuͤr den Kuͤnstler widerli- che Gestalten liefern mußten, wenn nicht als Haupt- so als Nebenideen: wie nun? Als Nebenideen frei- lich, und eine Mythologie, die nichts als Gestalten in seliger Ruhe lieferte, waͤre fuͤr den Dichter gewiß eine todte, einfoͤrmige Mythologie gewesen, und haͤtte keine Griechen an Poesie hervorbringen koͤn- nen. Gnug aber, daß dieß Nebenideen, unter- geordnete Begriffe, wandelbare Vorstellungen wa- ren; Erstes Waͤldchen. ren; bei solchen befand sich der Dichter recht wohl und der Kuͤnstler auch noch so unbequem nicht. Ein Jupiter z. E. der die Giganten unter sei- nem Wagen hat, kann und soll auf sie, als auf Unge- heuer, als auf widrige Gestalten seinen Blitz schleu- dern; aber diese Gestalten sind ja nicht der Haupt- anblick: sie sind mit ihrem Graͤßlichen dem Jupiter untergeordnet, und also da, das Majestaͤtische in ihm zu vermehren; nicht also wider das Hauptge- setz der Kunst. Ein schoͤner Bachus unter tau- melnden Maͤnaden, und ausgelassenen mit Pausba- cken blasenden Bacchanten, unter Silenen und Sa- tyrs, wird um desto herrlicher und schoͤner erschei- nen. Die fuͤrchterliche Meduse auf dem Brust- harnische der Pallas wird die naͤmliche Schoͤnheit ih- rer Goͤttinn noch mehr erheben: denn hier ist sie nicht Hauptfigur, sondern Zierrath der Kleidung. So Perseus mit seiner Gorgone: Vulcanus, der hinkende, mitten im Saale der Goͤtter: so Cerbe- rus unter den Fuͤßen des majestaͤtischen Pluto — wie manches Papier waͤre mit Einwendungen ge- schont, wenn man bedacht haͤtte, daß in eine Com- position von Figuren auf eine Nebengestalt ja nicht das Hauptgesetz fallen koͤnne, ohne das Ganze zu verderben. Drittens: was ich von den griechischen Goͤt- tern gesagt, gilt auch von ihren Helden. Weder ihre Herren, noch menschliche Helden haben zu ih- F 3 rem Kritische Waͤlder. rem Hauptzuge eine Klosterheiligkeit, eine verzuͤckte Andacht, eine bußfertige Verzerrung, oder eine sich wegwerfende Demuth. Allein also, fuͤr sich selbst genommen, laͤßt der Held hoher Schoͤnheit Platz, insonderheit wenn er als Hauptperson in seiner blei- benden Fassung erschiene. Setzet ihn aber auch in ein Medium der Hinderniß: seine Seele werde von Zorn, von Jammer, von Betruͤbniß erschuͤttert: freilich wird er nicht den stoischen Weisen machen; aber die empfindliche Natur seiner Menschheit, wird sie seiner hoͤhern Natur widersprechen doͤrfen? Hier stehe die Abschilderung Agamemnons in dem Opfer der Jphigenia. Timanthes verhuͤllte ihn: warum aber hat er ihn verhuͤllet? Er hat sich, sagt Plinius Lib. XXXV. Sect. 15. , in den traurigen Physiognomien er- schoͤpft, so daß er dem Vater eine noch traurigere geben zu koͤnnen verzweifelte. Dieß laͤßt Hr. L. den Plinius sagen Laok. p. 18. 19. , und — — widerlegt also die von ihm gegebene Ursache mit Recht: denn es ist wahr, „daß mit dem Grade des Affekts sich „auch die ihm entsprechenden Zuͤge des Gesichts ver- „staͤrken; daß der hoͤchste Grad die allerentschieden- „sten Zuͤge habe, und nichts sey der Kunst leichter, „als diese auszudruͤcken.„ Plinius haͤtte also Un- recht, und der Schriftsteller Klotz act litter. Vol. III. p. 291. noch mehr Unrecht, der ohne diese von L. angegebne Ursache zu entkraͤf- ten, Erstes Waͤldchen. ten, Plinius glaubt, blos weil er idoneus auctor ist. Aber wie wenn Plinius dieß nicht gesagt haͤtte? Plinius Stelle ist diese: Timanthes cum mœ- stos pinxisset omnes, præcipue patruum, \& tristi- tiæ omnem imaginem consumpsisset, patris ipsius vultum velavit, quem digne non pot- erat ostendere. Was sagt nun Plinius? daß Timanth sich an traurigen Physignomien erschoͤpft, daß er dem Vater keine traurigere haͤtte geben koͤnnen? nicht! sondern daß diese noch traurigere seiner nicht wuͤrdig gewesen waͤre, daß er ihn in der- selben nicht wuͤrdig haͤtte zeigen koͤnnen. Jch will dem Valerius Maximus Valer. Maxim. lib. VIII. Cap. 11. folgen, wie er Ti- manths Gemaͤlde angiebt: Kalchas erscheint be- truͤbt, Ulysses traurig, Ajax stoͤßt eben ein Ach! aus, Menelaus windet die Haͤnde — wie nun Agamemnon? nicht anders als starr, sinnlos, be- taͤubt, die Zuͤge des Gesichts eisern angeheftet, oder — rasend: denn so aͤußert sich, duͤnkt mich, der hoͤchste Affekt. Wuͤrde sich da nun Agame- mnon wuͤrdig zeigen? der Anblick eines Starrse- henden, ist er wuͤrdig eines Vaters? kaum! und der die Haͤnde windende Menelaus, der aͤchzende Ajax, der traurige Ulysses, der betruͤbte Kalchas wuͤrden geruͤhrter scheinen, als der starre Vater selbst. So erscheine dieser rasend? ein unnuͤtz rasender Held, F 4 ein Kritische Waͤlder. ein knirschender Agamemon ist ein unwuͤrdiger An- blick. Wenn Menfchen sein Kind ertoͤdten: so ret- te ers: er winde Kalchas das Opfermesser aus der Hand, und mache sich nicht durch sein Geschrei, durch seinen vergeblichen Schmerz unnuͤtz. Wollen aber Goͤtter das Opfer, fodert es das Wohl der Griechen; ists einmal zugestanden; Koͤnig, so wisse dich zu fassen: und wenn dein vaͤterlich Herz bricht, so — wende dein Auge weg; verhuͤlle dein Antlitz: so erscheinst du wuͤrdig des Vaters, und des Koͤni- ges, und des empfindbaren Griechen und des pa- triotischen Helden. Auch wuͤrdig der Kunst des Malers? Mit dem vorigen zusammen; ob aber dieser letzte Zweck der Einige und Hauptzweck gewesen? ob die schoͤnen Rai- sonnemens eintreffen, die Hr. L. dem Timanthes Schuld giebt Laok. p. 19. , „daß er die Grenzen seiner Kunst „gekannt, daß er das Haͤßliche, das Verzerrende „im Gesicht Agamemnons gerne gelindert haͤtte; „da es aber nicht angieng — so habe er ihn ver- „huͤllet. Die Verhuͤllung sey eben ein Opfer, das „der Kuͤnstler der Schoͤnheit gebracht habe;„ weiß ich nicht; wenigstens konnte ihm das Opfer nicht schwer werden, denn er brachte es aus fremden Mitteln. Mehr als ein Dichter Z. E. Euripides in seiner Jphige- nia u. s. w. hatte schon im Schauspiele den Agamemnon verhuͤllet, und Ti- manth Erstes Waͤldchen. manth dorfte also nicht erst mit sich daruͤber ver- nuͤnfteln. Er waͤre frech gewesen, wenn er, was der Dichter verhuͤllt hatte, haͤtte entbloͤssen wollen, zumal es auf seine Kunst so sehr zutraf. Warum ihn aber der Dichter verhuͤllt? ob etwa einem kuͤnf- tigen Timanthes zu gut? ob etwa eine Figur zu verhuͤten, die sich nicht malen ließe? ob um der Kunst ein Opfer zu bringen? Der Kunst freilich; aber kaum dem Pinsel des Timanthes, sondern sei- nem eigenen Schauspiel, und der Grazie desselben! Nicht, als wenn diese bei der Opferung eines Kindes einen stoischen Helden foderte; so unmensch- lich ist die griechische Grazie nicht. Nicht, als wenn sie einen betruͤbten aͤchzenden Vater nicht dul- dete; warum nicht, wenn es damit gethan waͤre? Aber hier sollte er den hoͤchsten Ton des vaͤterlichen Schmerzes, und des entsetzlichsten Jammers: ihn sollte ein Held anstimmen, der zugleich Koͤnig war, der dadurch die Griechen rettete, der ihnen die Opfe- rung versprochen hatte: dieser also sein Wort bre- chen, sein Volk nicht lieben, dafuͤr auch nicht etwas Saures thun wollen? Er lasse sie opfern, er rase nicht wie ein Klageweib vergebens umher: er wende sein Auge ab, und weine vaͤterliche Thraͤnen: so er- scheint er — wuͤrdig dem Koͤnige und dem Va- ter, mithin auch wuͤrdig der theatralischen Grazie. Nur da diese einer andern Person, einer Clytemne- stra, einer Hekuba und andern Helden noch wahr- F 5 schein- Kritische Waͤlder. scheinlicher manches haͤtte erlauben koͤnnen, was sie in dieser Situation, diesem Agamemnon nicht er- laubte: so sieht man, daß auch bei Euripides die- se Verhuͤllung mehr ein Opfer fuͤr seinen Helden in dieser Situation, als fuͤr den Helden absolut, oder absolut fuͤr die Grazie der Schauspielkunst ge- wesen; und daß die Grazie einer fremden Kunst hier gewiß ganz beiseite trete. Jndessen, wie es sey: so bleibt Timanthes Ge- maͤlde, selbst bis auf den schreienden Ajax dessel- ben Hr. L. kann dem Valerius immer glauben: denn auf den schreienden Ajax faͤllt in dem Gemaͤlde nicht das Hauptaugenmerk: und also auch nicht der Mittelpunkt, die Nerve seines Satzes: der das Ganze der Composi- tion, nicht eine Nebenfigur treffen will. , fuͤr Hrn. Lessing, und selbst der rasende Ajax, die fuͤrchterliche Medea, der leidende Herku- les, der seufzende Laokoon; und immer zehn Beispie- le gegen ein gegenseitiges bestaͤtigen seinen Satz, „wie sehr die griechischen Kuͤnstler das Haͤßliche ver- „mieden, und wie sorgfaͤltig auch in den schwer- „sten Faͤllen Schoͤnheit gesucht.„ Sollte man aber in der neuern Zeit, mit Ausdehnung der Kunst auch uͤber die Grenzen des Schoͤnen, das Wesen derselben haben aͤndern, und ihr ein neues Obergesetz: „Wahrheit und Ausdruck„ geen wol- len Laok. p. 10. 23. ? oder sollte diese Uebertragung uͤber die Grenzen des Schoͤnen nicht auch zu unsrer Zeit blos Erstes Waͤldchen. blos „Eigenschaft des Geschmacks in der und jener „Schule„ und also eine Kakozelie seyn, an der es den Griechen bei ihrem Pauson und Pyreicus auch nicht fehlte? die Frage wird sich im folgenden mehr ergeben. „Wenn man in einzelnen Faͤllen den „Maler und Dichter (und also auch die Kunst „zwoer Zeiten) mit einander vergleichen will, so „muß man vor allen Dingen wohl zusehen, ob sie „beide ihre voͤllige Freiheit gehabt haben, ob sie oh- „ne allen Zwang auf die hoͤchste Wirkung ihrer „Kunst haben arbeiten koͤnnen p. 162. .„ Und wer hat hier in einer freiern Luft geathmet? 7. „Ein aͤußerlicher Zwang war bei dem alten „Kuͤnstler oͤfters die Religion.„ Bacchus mit Hoͤrnern ist Lessingen Laok. p. 103. hier das erste Beispiel, das ihn auch scheint auf diese so wahre Ausnahme ge- bracht zu haben. „Bacchus mit Hoͤrnern! in der „That sagt Hr. L. sind solche natuͤrliche Hoͤrner eine „Schaͤndung der menschlichen Gestalt, und koͤnnen „nur Wesen geziemen, denen man eine Art von „Mittelgestalt zwischen Menschen und Thier ertheil- „te.„ Und sorgfaͤltiger kann nicht ein Freund be- dacht seyn, seinem Freunde die Hoͤrner von der Stirne wegzuschaffen, als Hr. L. fuͤr seinen schoͤ- nen Bacchus besorgt ist. Er Kritische Waͤlder. Er erklaͤrt sie also zuerst fuͤr einen bloßen Stirn- schmuck Laok. p. 95. . Und woher ein Stirnschmuck? Aus der Stelle des Dichters — tibi cum sine cornibus adstas Virgineum caput est: „Er konnte sich also auch ohne Hoͤrner zeigen, sagt „Hr. L. und so waren die Hoͤrner ein Stirnschmuck, „den er aufsetzen und ablegen konnte.„ Wie? folgt dieß letzte Also wohl aus der Stelle Ovids, aus einer feierlichen Anruffung desselben? War Bacchus nicht ein Gott? der sich also auch, wie an- dere Goͤtter , in mehr als einer Gestalt zeigen, der bald in jungfraͤulicher Schoͤnheit, bald im fuͤrch- terlichen Schlachtgetuͤmmel fuͤrchterlich, bald als ein schoͤner Juͤngling wie den Seeraͤubern Homers erscheinen konnte? Und hatte Bacchus dieß nicht bloß mit andern Goͤttern gemein, sondern zu ei- nem ihm eigenen Vorzuge, der Gott von tausend Gestalten (μυριομορφος) zu seyn, und also auch die unzaͤlig vielen Beinamen zu haben, die ihm Or- pheus, die Epigrammatisten, Nonnus u. a. geben? folgts da wohl aus der Stelle Ovids, daß Bacchus — — dadurch διμορφος, πολυμορφος, μυριο- μορφος werden koͤnne, wenn er — — seine Hoͤr- ner ablege, wie ohngefaͤhr eine alte Jungfer ihre fal- schen Zaͤhne und Bruͤste? armes Lob! — Einen frommen christlichen Ehemann moͤgen seine Hoͤrner einen bloßen Stirnschmuck und eine Krone der Ge- duld Erstes Waͤldchen. duld von bewaͤhrtem Golde bedeuten: nicht dem my- thologischen Bacchus. So moͤgen es wohl keine Bacchus seyn, die mit hervorsprießenden Hoͤrnern dastehen, sondern lieber Faunen p. 104. : denn „in der That sind solche „natuͤrliche Hoͤrner eine Schaͤndung der menschli- „chen Gestalt, und koͤnnen nur Wesen geziemen, „denen man eine Art von Mittelgestalt zwischen „Menschen und Thier ertheilt.„ Mit solchen ge- ziemenden Schluͤssen! als wenn Bacchus nicht oft gnug diesen und noch ungeziemendere Namen bekaͤ- me: als wenn er nicht oft gnug κεραος, δικε- ραος, χρυσοκεραος, ταυρωπος, ταυρομετωπος, ταυροκεραος, κερασφορος, gehoͤrnt, zweigehoͤrnt, goldgehoͤrnt, stiergehoͤrnt hieße. Kurz! die Hoͤr- ner waren in gewissen Deutungen ihm wesentlich, und gehoͤrten mit zu seiner heiligen Allegorie, in der ihn die Griechen mit von andern Voͤlkern, die die Allegorie noch uͤber die Schoͤnheit der menschlichen Gestalt liebten, bekommen hatten. Ob aber Bacchus in allen Laok. p. 103. seinen Tempeln nicht anders, als gehoͤrnt, erschienen, ist wieder auf der andern Seite zu weit, und hat fuͤr Hrn. L. kei- nen Vortheil, als nachher p. 104. seine Errathungskunst zu uͤben, wo denn alle diese gehoͤrnte Statuen Ba- chus geblieben seyn moͤgen, da wir jetzt keine haben? Mir duͤnkts gnug, daß der bei den Dichtern viel- gestal- Kritische Waͤlder. gestaltige Bacchus auch bei den Kuͤnstlern, auch in seinen Tempel „ in mancherlei Gestalt „ gewe- sen sey: daß nach der aͤltern allegorisirenden Mytho- logie dem Bacchus die Hoͤrner sehr bedeutend und oft also auch fuͤr den Werkmeister, der der Religion arbeitete, ein Attribut des Bacchus seyn muͤssen: daß in den bessern Zeiten, da die Griechen selbst vie- les von ihrer heiligen Allegorie der Schoͤnheit auf- geopfert, auch die ganz schoͤnen Statuen des Bac- chus, insonderheit in seinen Kunstwerken, die besten geworden; und so zerstieben alle Widerspruͤche von selbst. Ueberhaupt sollte das mehr auf Kunst und Dichtkunst angewandt werden, was die zu verschie- denen Zeiten verschiedene Religion auf beide ge- wirket. Jn den aͤltesten Zeiten, da noch die frem- den, von außen uͤberbrachten Begriffe galten, wa- ren freilich die Vorstellungen der Goͤtter oft unwuͤr- dig: und Jupiter selbst schaͤmte sich nicht, mit bei- derlei Geschlecht mit einem Beile, und in Gestalt ei- nes Mistkaͤfers zu erscheinen. Bald aber entwoͤlk- te sich dieß allegorische Gehirn der Aegypter und Asiaten in der freien griechischen Lust: die unnuͤtzen Geheimnisse und Deutungen in Mythologie, Phi- losophie, Poesie und Kunst wurden unter den Grie- chen aus ihren verschlossenen Kammern auf offnen Markt getragen, und Schoͤnheit fieng an, das Hauptgesetz der Poesie und Kunst, nur bei jeder auf Erstes Waͤldchen. auf eigne Art, zu werden. Homer, der Sohn ei- nes himmlischen Genius, ward der Vater schoͤner Dichter und schoͤner Kuͤnstler: und gluͤcklich ist das Land, dem in der sinnlichen Poesie und der noch sinn- lichern Kunst, der Geist seiner Zeit in Religion und Sitten und Gelehrsamkeit und Cultur so wenig Zwang auflegt, als Griechenland in seinen schoͤnsten Zeiten. Jch wundre mich, daß W. in seinen Schriften diese Abstreifung fremder, alter, allego- rischer Begriffe nicht mehr bemerkt, und in ihrer Nutzbarkeit gezeiget hat: es ist ein Hauptknoten in dem Faden der Kunstgeschichte: „wie die Griechen „so manche fremde druͤckende Jdeen in die ihnen „eigne schoͤne Natur verwandelt haben!„ Von hieraus gienge der sicherste Weg, um zwischen inne durch Bedeutung und Schoͤnheit, durch Allegorie und Schoͤnheit der Kunst und Poe- sie unbeschaͤdigt durchzukommen: ich wuͤrde aber mit einmal zu tief in den Unterschied der dichten- den und bildenden Kunst tauchen muͤssen — also zuruͤck zu unsern Prolegomenen. 8. Wenn Schoͤnheit das hoͤchste Gesetz der bil- denden Kunst ist: freilich, so muß Laokoon nicht schreien, sondern lieber nur beklemmt seufzen: denn wenn schon Sophokles zu seinem theatralischen Auf- tritt einen bruͤllenden Philoktet eben so ungereimt fand, Kritische Waͤlder. fand, als Lessing den stoischen Philoktet findet: wie viel mehr der Kuͤnstler, bei welchem ein Seufzer und ein Schrei des offnen Mundes ewig dauret. Ohne es nun durch eine Handvoll Vermuthun- gen ausmachen zu wollen, wer den andern nachgeah- met, ob der Kuͤnstler den Dichter, oder der Dich- ter den Kuͤnstler? fuͤhre ich nur Eins an, was Hrn. Lessing in dem Augenblicke Laok. p. 50-67. nicht beigefallen, daß es außer Pisander p. 51. , der nur als eine Quelle Virgils im Unbestimmten angegeben wird, es Grie- chen gegeben, wo Virgil den naͤhern Gegenstand, die Geschichte Laokoons selbst, geschoͤpft haben koͤnne. Daß unter Sophokles verlohrnen Stuͤcken auch ein Laokoon sey, hat Hr. L. selbst angefuͤhrt p. 8. , und Servius meinet, daß Virgil die Geschichte Lao- koons aus dem Griechischen des Euphormio ge- schoͤpfet. — Vermuthungen, die wenigstens weiter bringen koͤnnen, als der leere Name eines Pisan- ders, oder ein Quintus Calaber, der es nicht ver- diente, von Hrn. Lessing p. 52. auch nur als ein halber Ge- waͤhrsmann angefuͤhrt zu werden: denn was geht seine ganze Giganten - Erzaͤhlung unsern Virgil, oder Laokoon an? Quintus Calaber ist ein spaͤter Schriftstel- ler, ein uͤbertreibender Dichter, ein seyn wollendes Original — mehr Umstaͤnde braucht es nicht, ihm bei dieser Sache den Zutritt eines Zeugen strittig zu machen. Erstes Waͤldchen. machen. Er dichtet bei seinem Laokoon so weit in die Welt hinein, daß die dichterische Fabel kaum mehr Fabel bleibt: sie wird ein abentheuerliches Rie- senmaͤhrchen. Warum muß unter dem warnenden Trojaner die Erde erbeben? Wenn Troja durch die List der Minerva fallen soll; was brauchts die ganze Macht Jupiters, Neptunus und Pluto? Warum muͤssen seine unschuldigen Augen verblinden? war- um muß er rasen? Etwa um noch blind und ver- stockt fortzufahren in seinem Rathe, und also als ein trotzender Gigante gegen die Goͤtter zu erschei- nen? — Etwa weiter durch diesen verstockten Rath noch erst die neue Verbrecherstrafe der Drachen zu verdienen — Was brauchts den gutgesinneten Pa- trioten erst in einen Himmelsstuͤrmer, in einen tollen Verbrecher umzuschaffen, und nachher gar — Un- schuldige fuͤr ihn leiden zu lassen? Laokoon selbst ge- schieht nichts von den Drachen: seine armen un- schuldigen Kinder werden ergriffen, und zerfleischt, — abentheuerliche, abscheuliche Scene, ohne Wahl und Zweck, ohne Zusammenordnung und dichtenden Verstand! Jch bleibe also bei Virgil und dem Kuͤnstler. Virgil mag aus Pisander, aus Euphormio, und woher es sey, geschoͤpft haben: so schoͤpfte er als Dich- ter, als epischer Dichter, als Homer der Roͤmer. Er kleidete also auch diese Erzaͤlung in ein episches Gewand: er goß sie in eine Art von Neuhomeri- G scher Kritische Waͤlder. scher Form; und in solcher Gestalt tritt sie uns vor Augen. Wir haben einen Schriftsteller Virgilius collatione scriptor. graecor. illustratus opera et industria Fulvii Vrsini. Antverp. 1567. , der sich die Muͤhe gegeben, Virgil mit den Griechen zu ver- gleichen, und ihn daher zu erlaͤutern; Schade aber, daß ihm in seiner Vergleichung bloß Worte, Bilder und einzelne Lappen vor Augen sind. Die Manier seiner Poesie aus Homer und andern Griechen zu er- klaͤren, ist ihm nicht eingefallen, sonst muͤßte sich auch in dieser Erzaͤlung von Laokoon der Dichter zei- gen, der nach Homer zeichnen wollte. — Vielleicht wird meine Vermuthung, welche Stelle Homers Virgil nachgeahmet, etwas zu unserm Zwecke thun. Aeneas mitten im Erzaͤlen Virg. Aeneid. lib. II. 199. , kommt auf die Geschichte Laokoons, und siehe! — hîc aliud maius miseris multoque tremendum obiicitur magis atque improvida pectora turbat. Laocoon. ‒ ‒ Wem faͤllt nun nicht gleich bei Eroͤffnung dieser Schlangenscene der homerische Nestor Homer. Iliad. B. 305-326. ein, der auch eine solche Schlangenscene mit einem aͤhnlichen ενϑ’ εφανη μεγα σημα eroͤffnet? Der Vorfall bei beiden ist verschieden; die Manier der Erzaͤlung ist voͤllig dieselbe. Bei Homer erzaͤlt der gespraͤchige Alte, wie vor ihrer Abfahrt die Griechen rings um eine Erstes Waͤldchen. eine Quelle den Unsterblichen Opfer gebracht, wie darauf nahe an einem Pappelbaume sich ein großes Wunderzeichen sehen lassen: ein rothgefleckter graͤu- licher Drache, den Jupiter selbst gesandt, schoß un- ter dem Fuß des Altars ploͤtzlich hervor, schlang sich zum Pappelbaume hinan, wo die Brut, die zarte Brut eines Sperlings auf dem Gipfel des Baums hinter Blaͤttern versteckt nistete — acht an der Zahl, und die Mutter der Jungen war die neunte. Ohne Erbarmen wuͤrgte der Drache die winselnden Kleinen; die Mutter aber — zwar flatterte sie klagend um ihre geliebte Brut, allein auch sie ward am Fluͤgel von ihm umschlungen, ergriffen und mitten in ihrem Geschrei erwuͤrgt u. s. w. — Mich duͤnkt, Virgil habe in der epischen Einkleidung des Laokoon Homer im Gedanken gehabt; nur daß er das Epische so verstaͤrkte, daß aus Homers einfacher Erzaͤlung ein voͤllig ausgemaltes Bild ward, — gegen das ich doch lieber Homers einfache Erzaͤlung zuruͤck- wuͤnschte. Jn Homer sind alle Griechen schon in Erwar- tung: rings um eine Quelle gelagert, mit dem Opfer an die Unsterblichen beschaͤftigt, und also in der Fassung, aͤuf ein himmlisches Zeichen zu mer- ken, so bald es erschiene. Bei Virgil ist alles un- staͤt, zerstreut, auf den griechischen Betruͤger hor- chend, und nicht auf Laokoons Opfer; die Schlangen erscheinen, und was fuͤr ein Geraͤusch, was fuͤr ein G 2 Plaͤt- Kritische Waͤlder. Plaͤtschern im Meer muͤssen sie machen, ehe sie be- merkt werden.„ Zwo Schlangen kommen von der Hoͤhe des Meers herab: in ungeheure Ringe ge- schlungen, (mich schaudert es zu sagen!) liegen sie auf der See und streben gemeinschaftlich ans Ufer. Mitten aus den Fluthen hebt sich ihre Brust empor: uͤber die Wasser ragen ihre blutrothen Kaͤmme: ihr uͤbriger Koͤrper ist mit der langen Oberflaͤche der See gleich, und kruͤmmt seinen unmaͤßlich langen Ruͤcken in Ringen heran. Es entsteht ein Geraͤusch bei schaͤumender See, und schon sind sie am Ufer: ihre Augen funkeln, ihre Zungen zuͤngeln, zischen — welch entsetzlich lange Vorbereitung, so episch, so malerisch, daß — ich nicht weiß, wie Ein Grieche ihre Ankunft abwartet. Wie vieles wendet Virgil auf den Nebenzug eines Gemaͤldes, den Homer mit einem Worte vollendete! und wie ist die ganze Schil- derung mit solchen ausgemalten Nebenzuͤgen uͤber- laden — beinahe ein untruͤgliches Wahrzeichen, daß der Dichter nach der Hand eines andern gear- beitet, daß er nicht aus dem Feuer seiner Phanta- sie geschrieben. Waͤre dies, wie wuͤrde er sich so lange bei ihrem Heranplaͤtschern, und noch laͤnger bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Diese sind ihm das Hauptaugenmerk: sie kommen ihm immer von neuem ins Gesicht, und er schaudert nie mehr, als wenn er an diese unermaͤßliche Windun- gen, und Umschlingungen und Stellungen denkt. Vir- Erstes Waͤldchen. Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun ei- nem Kunstwerke, oder welches mich wahrscheinlicher duͤnkt, dem Gemaͤlde Homers. Das hat von je- her den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu kuͤnstlicher Hand klecket, und Nebendinge am sorg- faͤltigsten vollendet. Eben daher wage ichs, zu sa- gen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr fuͤl- let, als die Seele. Mit allem Vorplaͤtschern der Schlangen thut sie nichts, als uns zerstreuen und betaͤuben: mit allen Windungen derselben um Lao- koon, die hier so genau angezeigt werden, wird un- ser Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt: wir vergessen, auf sein Gesicht zu merken, und auf die Seele, die in demselben spreche: endlich zeiget sich dieselbe — aber durch ein wuͤstes Geschrei, durch das Bruͤllen eines verwundeten Stiers, der vom Altar entlaufen: clamores horrendos ad sidera tollit ‒ ‒ freilich, „ein erhabener Zug fuͤr das Gehoͤr„ wie ich Hrn. L. gern zugebe Laok. p. 30. ; aber ein leerer Schall fuͤr die Seele. Der Dichter hat sich so sehr in die Win- dungen seiner Schlangen verschlungen, daß er eins, und zum Ungluͤcke das Hauptstuͤck, vergißt: Laokoon selbst, und seine Angst und den Zustand seiner Seele: Zuͤge, die Homer so gar bei seiner jungen Sper- lingsbrut, und bei ihrer armen Mutter nicht ver- gißt, und uns also ein Bild nicht fuͤrs Auge, und G 3 noch Kritische Waͤlder. noch minder bloß „erhabne Zuͤge fuͤrs Gehoͤr„, sondern ein Bild in die Seele malet. Jch weiß nicht, wie Hr. L. sich im Lobe Virgils so lange Laok. p. 59-66. bei den Nebenzuͤgen, „Windungen der Schlangen„ u. s. w. aufhaͤlt, die bei dem Maler und Bildhauer, ge- wiß aber nicht bei dem Dichter, weites Lob verdie- nen. Ja wenn Virgil zum Vorbilde eines Kuͤnst- lers gearbeitet haͤtte! Jst das aber nicht wider den Zweck des ganzen Lessingschen Werkes? Und was er gegen Virgil zu nachsehend ist: wird er gegen Petron zu strenge Laok. p. 54. 55. , da sich doch die meisten dieser Vorwuͤrfe sicherer auf Virgil gegen Homer, als auf Petron gegen Virgil betrachtet, deu- ten ließen. Jch weiß Petrons gezwungene Art zu dichten, und gestehe gern zu, daß aus seiner Be- schreibung Laokoons kein Funke poetisches Genies hervorblitze: muß aber darum das Gemaͤlde, das er beschreiben will, muß die ganze Gallerie von Ge- maͤlden zu Neapel nur in seiner Einbildungskraft existirt haben? Warum das? Etwa weil ein Ro- manschreiber kein Historikus seyn darf? seyn darf! freilich nicht; aber auch nicht, daß ers nicht seyn muͤßte; nicht seyn koͤnnte? zumal die schlechten Ro- manschreiber. Sie ersetzen uns das durch einge- schaltete Geschichte, was ihre Phantasie bruͤchig laͤßt: sie liefern uns halbhistorische Romane, oder romanhafte Halbgeschichte: der Abt Terrasson, mit Erstes Waͤldchen. mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, seinen Sethos, und andre einen Roman voll Geographie, oder wahrer Geschichte. Sollte sich nun nicht Pe- tron auch zu dieser Klasse bekennen? Sehr wahr- scheinlich und eben von dieser Vermischung der Wahrheit und der Erdichtung, der Geschichte und Phantasie ruͤhrt auch die große Verschiedenheit des Urtheils, welches die Kunstrichter uͤber Petron von jeher gefaͤllt. Seine Einbildungskraft ist spielend, trocken, gezwungen; und die Kinder, die sie hervor bringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber sein Urtheil, die oft eingeschalteten historischen Zuͤ- ge uͤber den verderbten Zeitgeschmack, sind fein, sind lobwuͤrdig. Mir wirds also sehr glaublich, daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter seyn woll- te, seine Beschreibung Laokoons, durch die Nachah- mung eines wirklichen Gemaͤldes, wohl habe auf- stutzen wollen: daß das Gemaͤlde von Laokoon wohl irgend wo anders, als in der Phantasie Petrons exsistirt habe. Und wenn es exsistirt haͤtte? — Nun! so treffen auch Hr. L. kritische Streiche auf Petron diesmal einen Unrechten, und sein Arkanum; den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm diesmal unzuverlaͤßig werden. Hat Petron ein Ge- maͤlde geschildert: was eher, als daß sein Auge an Nebenideen hangen blieb, daß er diese Nebenideen auch uͤbertreiben konnte? Jsts, daß er im Bilde das Geraͤusch der Schlangen gleichsam zu hoͤren G 4 glaub- Kritische Waͤlder. glaubte: ists, daß er ein Gemaͤlde der Kinder Lao- koons Leidens, und sich zu Tode aͤngstigend antraf: so waren ihm, dem Versificateur einer malerischen Schilderung, dem Nachahmer des Gemaͤldes, diese Figuren Augenmerk gnug, um mit dem Pinsel zu wetteifern, um diese Nebenideen der Phantasie, aber Hauptideen des Auges im Gemaͤlde, bestmoͤg- lichst zu verschoͤnern. Die Groͤße der Schlangen wiederum, in deren Schilderung sich Virgil ver- liebt hat, war nicht sein Hauptaugenmerk: denn sie konnte es nicht im Gemaͤlde seyn, wo man die Groͤße aus dem Geraͤusche in den Wellen gleichsam nur schließen mußte. Die ganze Schilderung Petrons ist eine Zusammenhaͤufung sichtbarer Jdeen: war- um also nicht die Nachahmung eines wirklichen Ge- maͤldes? und alsdenn nicht so sicher ein Beispiel und eine Probe von der schuͤlerhaften Nachah- mung eines andern Dichters, und noch un- sichrer eine erste Probe, die auf alle goͤlte. So sklavisch sie ist: so bleibt doch gegen sie ein Quin- tus Calaber noch nicht eben der beßre p. 57. Dichter und Kenner der Natur: und so unendlich sie hinter Virgil zuruͤckbleibt, so ist doch auch dieser in seiner Schilderung gewiß nicht ganz Dichter; er ist Nach- ahmer Homers, und zeigt dies in den so weit verstaͤrk- ten und verschoͤnerten Nebenzuͤgen, daß das Ganze verschwindet. Was Erstes Waͤldchen. Was wuͤrde hieraus folgen? Dies, daß wenn Virgil nach Homer gearbeitet, er immer seine Ge- schichte, er habe sie aus Pisander, Euphormio, So- phokles geschoͤpft, nach seiner Art veraͤndert habe, und daß also der Kuͤnstler neben ihm aus eben dieser Quelle haben schoͤpfen, und doch in der Vorstel- lung von ihm abgehen koͤnnen, wenn er auch bloß dem griechischen Buchstaben gefolget waͤre. Gesetzt also, er haͤtte den verlohrnen Laokoon des Sophokles vor sich gehabt: welche Jdee haͤtte ihm die sophokleische Muse geben muͤssen? Sophokles, ein so weiser Dichter des Theaters, der zuerst auf demselben gleichsam Sittlichkeit und Anstand vest- setzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das rechte Maas traf; Sophokles, der bei seinem Phi- loktet die Leiden des Koͤrpers so sehr in Leiden der Seele zu verwandeln wuste — wie wird er seinen Laokoon geschildert haben? Mit dem Hauptzuge des graͤßlichen Geschreies? Ein vortreffliches Mittel, das Trommelfell des Ohres, aber nicht unser Herz, zu ruͤhren. Gewiß wird er bessere Wege an unser Herz gesucht, und also auch Laokoons Schmerzen und Geschrei mit der Waage des richterischen Genies zu- gewogen, mit der er sie dem Philoktet zuwiegt. Nun lasset einen weisen griechischen Kuͤnstler von ei- nem weisen griechischen Dichter diesen Gegenstand geborgt: lasset ihn die Manier des theatralischen Ge- G 5 maͤl- Kritische Waͤlder. maͤldes genutzt, und vom Sophokles Laokoon so ge- lernt haben, als Timanthes vom Euripides die weise Verhuͤllung Agamemnons lernte: so duͤnkt mich, ich saͤhe die Waage des Ausdrucks eben auf dem Punkt, auf dem sie bei dem Laokoon des Kuͤnstlers schwebet. Das Maas des Seufzers ist ihm zuge- wogen. „Der Schmerz, welcher sich in allen „Muskeln und Sehnen des Koͤrpers entdecket, und „den man ganz allein, ohne das Gesicht und andre „Theile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezog- „nen Unterleibe bei nahe selbst zu empfinden glaubt; „dieser Schmerz, sage ich, aͤußert sich dennoch mit „keiner Wuth in dem Gesichte, und in der ganzen „Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, „wie Virgil von seinem Laokoon singt; die Oeff- „nung des Mundes gestattet es nicht: es ist viel- „mehr ein aͤngstliches und beklemmtes Seufzen, wie „es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Koͤr- „pers und die Groͤße der Seele sind durch den gan- „zen Bau der Figur mit gleicher Staͤrke ausgethei- „let, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, „aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein „Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir „wuͤnschten, wie dieser große Mann das Elend er- „tragen zu koͤnnen.„ Jch kenne nichts wuͤrdigers, als diese Worte, und der roͤmische Dichter, der Nachahmer Homers, kommt also gar nicht ins Spiel. Jch Erstes Waͤldchen. Jch sehe, daß ich bisher bloß in kritischen Ma- kerien aufgeraͤumt habe, die Hr. L. seinem Laokoon hat zum Grunde legen wollen, fuͤglich aber auch dem Hauptinhalt seines Buchs unbeschadet, haͤtte auslassen koͤnnen. Es ist Zeit, meine Leser aus dem kritischen Schutte hinweg, zu diesem Haupt- inhalte selbst naͤher hinan zu fuͤhren, und — 9. Den ersten Unterschied zwischen Poesie und der bildenden Kunst sucht L. p. 24. in dem Augenblicke zu ertappen, in den die materiellen Schranken der Kunst alle ihre Nachahmungen binden. Dieser Augenblick also koͤnne nicht fruchtbar gnug gewaͤh- let werden: und sei dann nur fruchtbar, wenn er der Einbildungskraft freien Raum laͤßt. — So weit nun sind schon alle Kunstrichter gekommen, die uͤber die Grenzen der Kuͤnste nachdachten; aber der Gebrauch, den Hr. L. macht, gehoͤrt ihm. Jst naͤmlich die Kunst an einen Augenblick gebunden, bleibt dieser Augenblick: so waͤhle sie nicht das Hoͤch- ste in einem Affekt: sonst weiß die Einbildungs- kraft kein Hoͤheres: sie druͤcke auch nichts Transi- torisches aus; denn dies Transitorische wird durch sie verewigt. Nichts hingegen noͤthige den Dichter, sein Ge- maͤlde in einen Augenblick zu concentriren. Er neh- Kritische Waͤlder. nehme jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und fuͤhre sie durch alle moͤg- liche Abaͤnderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Abaͤnderungen, die dem Kuͤnstler ein ganzes besondres Stuͤck kosten wuͤrde, koste ihm einen ein- zigen Zug u. s. w. Das Kennzeichen selbst ist, wie gesagt, laͤngst angegeben; Hr. L. macht aber dies angegebne Kennzeichen praktisch. Nichts Uebergehendes also waͤhle die Kunst zum Augenblicke ihres Gegenstandes p. 25. : aber was ist denn eigentlich, was in der Natur nicht transitorisch, was in ihr voͤllig permanent waͤre? Wir leben in einer Welt von Erscheinungen, wo eine auf die andre folgt, und ein Augenblick den andern vernichtet; alles in der Welt ist an den Fluͤgel der Zeit gebun- den, und Bewegung, Abwechselung, Wirkung ist die Seele der Natur. Metaphysisch also — doch wir wollen hier nicht metaphysisch; sinnlich wollen wir reden: und im sinnlichen Verstande, nach der Erscheinung unsrer Augen giebt es da nicht unab- laͤßige, daurende Gegenstaͤnde gnug, die also die Kunst nachahmen soll? Allerdings, es giebt solche; und dies sind gewissermaßen alle Koͤrper, und zwar so fern sie Koͤrper sind. Diese, so abwechselnd ihre Zeit folgen und Zustaͤnde auch seyn moͤgen; so schnell auch jeder Augenblick ihres Seyns sie aͤnders: so geht er doch nicht unsern Augen voruͤber; fuͤr diese Erstes Waͤldchen. diese kann also der Kuͤnstler Erscheinungen liefern: er schildere Koͤrper, er ahme nach die bleibende Natur. Wenn aber diese bleibende Natur auch zugleich todte Natur waͤre? wenn das Jntransitorische eines Koͤrpers eben von seiner Unbeseeltheit zeugte? Als- denn, dies bleibende Jntransitorische des Gegen- standes zum Augenmerke der Kunst ohne Einschraͤn- kung gemacht — was anders, als daß mit diesem Grundsatz der Kunst auch — ihr bester Ausdruck genommen wuͤrde? Denke dir, mein Leser, einen seelenvollen Ausdruck durch einen Koͤrper, welchen du wollest, und er ist voruͤbergehend. Je mehr er eine menschliche Leidenschaft charakterisiret; um so mehr bezeichnet er einen veraͤnderlichen Zustand der menschlichen Natur, und um so mehr „erhaͤlt er „durch die Verlaͤngerung der Kunst ein widerna- „tuͤrliches Ansehen, das mit jeder wiederholten Er- „blickung den Eindruck schwaͤchet, und uns end- „lich vor dem ganzen Gegenstande Ekel oder Grauen „verursacht.„ Die Einbildungskraft habe noch so viel Spielraum, noch so viel Flug: so muß sie doch endlich einmal an eine Grenze stoßen, und un- willig wieder zuruͤck kommen; ja, je schneller sie ge- het, je praͤgnanter der gewaͤhlte Augenblick sey, um so eher kommt sie zu Ziel. So gut als ich zu einem lachenden la Mettrie sagen kann, wenn ich ihn zum dritten, viertenmal, noch lachend sehe: du bist ein Geck! Kritische Waͤlder. Geck! so gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh sagen koͤnnen: nun so gehe doch fort, was stehest du? — Und so viel Ursache ich habe, einen schrei- enden, einen unablaͤßig schreienden Laokoon endlich unleidlich zu finden; so viel Ursache werde ich, nut etwas spaͤter, finden, auch den seufzenden Laokoon uͤberdruͤßig zu werden, weil er noch immer seufzet. Endlich also auch den stehenden Laokoon, daß er im- merhin stehet, und sich noch nicht gesetzet hat: end- lich auch eine Rose von Huisum, daß sie noch bluͤhet, noch nicht verweset ist: endlich also jede Nachah- mung der Natur durch Kunst. Jn der Natur ist Alles uͤbergehend, Leidenschaft der Seele und Em- pfindung des Koͤrpers: Thaͤtigkeit der Seele und Bewegung des Koͤrpers: jeder Zustand der wan- delbaren endlichen Natur. Hat nun die Kunst nur einen Augenblick, in den Alles eingeschlossen werden soll: so wird jeder veraͤnderliche Zustand der Natur durch sie unnatuͤrlich verewigt, und so hoͤrt mit die- sem Grundsatze alle Nachahmung der Natur durch Kunst auf. Nichts ist gefaͤhrlicher, als eine Delikatesse un- sres Geschmacks in einen allgemeinen Grundsatz zu bringen, und sie in ein Gesetz zu schlagen: sie giebt alsdenn bei einer guten gewiß zehn mißliche Seiten. Hr. L. wollte den hoͤchsten Grad des Affekts von der Bildung einer Bildsaͤule ausschließen; gut! Er gab aber davon die Ursache, daß diese Leidenschaft tran- sitorisch Erstes Waͤldchen. sitorisch p. 25. waͤre; nicht so gut! Er machte endlich aus dieser Ursache einen Grundsatz: die Kunst druͤ- cke nichts aus, was sich nicht anders, als transitorisch, denken laͤßt: und dies verfuͤhrt am weitesten. Mit ihm wird die Kunst tod und entseelt gemacht, sie wird in jene faule Ruhe versenket, die nur den Klo- sterheiligen der mittlern Zeit gefallen koͤnnte: sie ver- liert alle Seele ihres Ausdrucks. Und welches waͤre denn die angebliche Ursache einer so grausamen kritischen Arznei? Weil eine transitorische Erscheinung, sie moͤge angenehm, oder schrecklich seyn, durch die Verlaͤngerung der Kunst ein so widernatuͤrliches Ansehen bekomme, daß mit jeder wiederholten Erblickung p. 25. — Jch mag nicht weiter! Wiederholte Erblickung! jede wieder- holte Erblickung! wer wird auf diese rechnen? Wer wird sich in seiner Jugend ein Vergnuͤgen versagen, weil es endlich mit jedem wiederholtem Genusse schwaͤcher werden muͤßte? wer mit sich selbst ha- dern, mit seiner Empfindung zanken, statt sich un- gestoͤrt dem angenehmen Jetzt zu uͤberlassen, ohne an die Zukunft zu denken? ohne aus dieser sich selbst Schatten hervor zu ruffen, die die Freuden von uns scheuchen? Alle sinnliche Freuden sind bloß fuͤr den ersten Anblick, und fuͤr ihn allein sind auch die Erscheinungen der schoͤnen Kunst. „ La Mettrie, „der sich als einen zweiten Demokrit malen lassen, „lacht Kritische Waͤlder. „lacht dir nur die ersten male, da du ihn siehest: „du betrachtest ihn oͤfter, und er wird aus einem „Philosophen ein Geck; aus seinem Lachen wird ein „Grinsen.„ Es kann seyn! aber wenn dieser la- chende Demokrit auch nur fuͤr den ersten Anblick ge- bildet seyn wollte? Wie nun? war bei diesem ersten Anblicke schon sein Lachen nicht anders, als veraͤcht- lich, und widerlich; ward so gleich dadurch der Phi- losoph ein respektiver Geck, und seine Demokritmi- ne ein Grinsen: so ists freilich schlimm fuͤr ihn und den Kuͤnstler. Das Lachen haͤtte unterbleiben sol- len; aber — nicht seiner permanenten Dauer, son- dern seines veraͤchtlichen widerlichen Anblickes wil- len. War dies aber nicht: duͤnkt dir nur nach oͤf- term Besuche der lachende Philosoph ein Geck — delikater Freund! so bilde dir ein, du habest ihn noch nicht gesehen, oder — meide ihn. Aber uns verwehre darum nicht seinen ersten Anblick: und noch weniger forme ein Gesetz, daß hinkuͤnftig kein Philosoph lachend gemalt werden solle. Warum? weil das Lachen was transitorisches sey. Jeder Zu- stand in der Welt ist so mehr oder minder transito- risch. Sulzer Samml. vermischt. Schr. Th. 5. hat sich mit gesenktem Haupte, mit einem vom Finger unterstuͤtzten Kinne, und mit tie- fer philosophischer Mine stechen lassen. Nach Hr. Lessings Grundsatze muͤßte man ihn im Bilde anre- den: Philosoph, wirst du bald deine Aesthetik aus- gedacht Erstes Waͤldchen. gedacht haben? stirbt dir nicht dein gesenkter Kopf, und dein erhabner Finger? Seufzender Laokoon, wie lange wirst du seufzen? So oft ich dich sehe, ist dir noch die Brust beklemmt, der Unterleib einge- zogen? ein transitorischer Augenblick, ein Seuf- zer, ist bei dir widernatuͤrlich verlaͤngert. Der donnerwerfende Jupiter, und die schreitende Diana, der den Atlas tragende Herkules, und jede Figur in der mindsten Handlung und Bewegung, ja auch nur in jedem Zustande des Koͤrpers ist alsdenn wi- dernatuͤrlich verlaͤngert: denn keine derselben dauret ja ewig. So wird also, wenn die vorstehende Mei- nung Grundsatz wuͤrde, das Wesen der Kunst zerstoͤrt. Es kann also auch nicht als Ursache gelten, warum die Kunst keine Hoͤhe des Affekts ausdruͤcken muͤßte: es ist nicht Delikatesse, sondern Ekel des Geschmacks. Jedes Werk der bildenden Kunst ist, wenn wir uns die Eintheilung Aristoteles gefallen lassen, ein Werk und keine Energie: es ist in allen seinen Theilen auf einmal da: sein Wesen besteht nicht in der Veraͤnderung, in der Folge auf einander, son- dern im Coexistiren neben einander. Hat also der Kuͤnstler es dem ersten aber ganzen und genaue- sten Anblicke, der eine vollstaͤndige Jdee liefern muß, vollkommen gemacht; so hat er seinen Zweck erreicht, die Wirkung bleibet ewig: es ist ein Werk. Es H steht Kritische Waͤlder. steht auf einmal da, und so werde es auch betrach- tet: der erste Anblick sey permanent, erschoͤpfend, ewig, und blos die menschliche Schwachheit, die Schlaffheit unsrer Sinne, und das Unangenehme des langen Anstrengens macht, bei tief zu erforschen- den Werken, vielleicht das zweite, vielleicht hundertste Mal des Anblicks noͤthig; darum aber sind alle diese Male doch nur Ein Anblick. Was ich gese- hen habe, muß ich nicht wieder sehen, und was mir nicht durch das vollstaͤndige Eine des Anblicks, son- dern nur die Abwechselung, durch die Wiederholung desselben widerlich wird, liegt nicht in der Kunst, son- dern in dem Ueberdruß meines Geschmacks. Kann die- ser nun einen Grundsatz der Kunst bilden? kann er auch nur eine tuͤchtige Ursache eines andern Satzes abgeben? So raͤume ich also bei Hrn. L. diese Ursache, als Ursache, als Gesetz weg, und denke damit gnug zu haben, daß der hoͤchste Affekt dem ersten Anblicke widerlich, und der Einbildungskraft gleichsam zu enge sey, folglich in der Kunst muͤsse wenigstens als Hauptanblick vermieden werden. Wenn die Wir- kung der Kunst ein Werk ist, zu Einem, aber gleichsam ewigen Anschauen gebildet: so muß dieser Eine Anblick auch so viel Schoͤnes fuͤr das Auge, und so viel Fruchtbares fuͤr die Einbildungskraft enthal- ten, als er enthalten kann. Daher kommt das Unendliche und Unermaͤßliche in dieser bildenden Kunst, das sie vor allen andern Kuͤnsten des Schoͤ- nen Erstes Waͤldchen. nen voraus hat: naͤmlich ein hoͤchstes Jdeal der Schoͤnheit fuͤr das Auge, und fuͤr die Phantasie die stille Ruhe des griechischen Ausdrucks: denn beide sind die Mittel, uns in den Armen einer ewigen Entzuͤckung, und in dem Abgrunde eines langen se- ligen Anblicks zu erhalten. „Wie kommts, fragt ein Philosoph des Schoͤ- „nen Litt. B. Th. 4. p. 285. , daß es nur in der Malerei und Bildhau- „erkunst eine Jdealschoͤnheit, ein aliquid immen- „sum infinitumque giebt, daß sich die Kuͤnstler in „der Einbildung zum Muster vorstellen, und in „der Dichtkunst nicht?„ Jch glaube nicht, daß er sich diese Frage von Seiten der Kunst durch die Be- merkung aufgeloͤset, „daß in den schoͤnen Kuͤnsten „das Jdealschoͤne am schwersten zu erreichen sey„ denn die Frage bleibt dieselbe: „warum muß denn „ein so schweres Ziel erreichet seyn?„ Aus keiner Ursache glaube ich, als weil die Kunst nur Werke liefert, die Einen Augenblick vorstellen, und zu einem großen Anblicke gebildet sind: die also ihren Au- genblick so annehmlich, so schoͤn machen muͤssen, daß nichts druͤber, daß die Seele in Betrach- tung desselben versunken, gleichsam ruhe, und das Maas der voruͤbergehenden Zeit verliere. Die schoͤnen Kuͤnste und Wissenschaften dagegen, die durch die Zeit und Abwechselung der Augenblicke wirken, die Energie zum Wesen haben, muͤssen kei- H 2 nen Kritische Waͤlder. nen einzelnen Augenblick ein Hoͤchstes liefern, nie auch unsere Seele in dieß augenblickliche Hoͤchste verschlingen wollen; denn sonst wird eben die An- nehmlichkeit gestoͤrt, die in der Folge, in der Ver- bindung und Abwechselung dieser Augenblicke und Handlungen beruhet, und jeden Augenblick nur also als ein Glied der Kette, nicht weiter nutzet. Wird einer dieser Augenblicke, Zustaͤnde und Handlungen, eine Jnsel, ein abgetrenntes Hoͤchstes, so geht das Wesen der energischen Kunst verlohren. Jst aber wiederum der eine ewige Augenblick der bildenden Kunst nicht so, daß er auch einen ewigen Anblick gewaͤhren koͤnnte, so ist ihr Wesen auch nicht erreicht. Bei Koͤrpern ist dieser einige ewige Anblick die voll- kommene Schoͤnheit; und sofern die Seele durch den Koͤrper wirken soll, ists die hohe griechische Ru- he. Diese ist zwischen der todten Unthaͤtigkeit, und zwischen der aufgebrachten uͤbertriebnen Wir- kung mitten inne; die Einbildungskraft kann auf beide Seiten weiter hinschweben, und hat also in diesem Anblicke der Seele die laͤngste Unterhaltung. Todte Unthaͤtigkeit schneidet den Faden der Gedan- ken mit einem Schnitte ab; die Figur ist todt, wer will sie erwecken? Das Uebertriebne im Ausdrucke kuͤrzet wieder auf der andern Seite den Flug der Phantasie; denn wer kann sich uͤber das Hoͤchste noch etwas Hoͤheres gedenken? Aber die selige Ruhe des griechischen Ausdrucks wieget unsre Seele nach bei- Erstes Waͤldchen. beiden Seiten hin: und in ihrem Anblicke stellen wir uns zugleich das stille Meer vor, aus dem sich diese sanfte Welle der Bewegung und Leidenschaft erho- ben; zugleich auch: Wie wenn die Welle sich mehr huͤbe? wie wenn aus diesem hauchenden Zephyr ein reißender Sturm der Leidenschaft wuͤrde? wie wuͤr- den sich alsdann die Fluthen thuͤrmen, und der Aus- druck aufschwellen! — Welch weites Feld der Ge- danken liegt also in dem Anblicke der sanften Ruhe des griechischen Ausdrucks! Jch glaube, von zweien Problemen, den Grund in dem Wesen der Kunst gesunden zu ha- ben. Warum ist bei der bildenden Kunst das hoͤchste Gesetz Schoͤnheit? Weil sie neben einan- der wirket, ihre Wirkung also in einen Augen- blick einschließet, und ihr Werk fuͤr einen ewigen Anblick erschaffet. Dieser einzige Anblick liefere also das Hoͤchste, was ewig vest haͤlt in seinen Ar- men — die Schoͤnheit. — Koͤrperliche Schoͤn- heit ist indessen noch nicht befriedigend: durch unser Auge blickt eine Seele, und durch die uns vorgestell- te Schoͤnheit blicke also auch eine Seele durch. Jn welchem Zustande diese? Ohne Zweifel in dem, der meinen Anblick ewig erhalten, der mir das laͤngste Anschauen verschaffen kann. Und welches ist der? Kein Zustand der faulen Ruhe, der giebt mir nichts zu denken: kein Uebertriebnes im Ausdrucke: dieß schneidet meiner Einbildungskraft die Fluͤgel: son- H 3 dern Kritische Waͤlder. dern die sich gleichsam ankuͤndigende Bewegung, die aufgehende Morgenroͤthe: die uns zu beiden Sei- ten hinschauen laͤßt, und also einzig und allein ewi- gen Anblick gewaͤhret. Auf die Art generalisiren sich die Begriffe des Unterschiedes von selbst, und wir reden nicht mehr, von Bildhauerei und Poesie, sondern von Kuͤnsten uͤberhaupt, die Werke liefern, oder durch eine unterbrochne Energie wirken. Was von der Poesie gilt, wird, in diesem Betrachte, auch von Musik und Tanze gelten; denn auch diese wirken nicht fuͤr einen Anblick, sondern fuͤr eine Folge von Augenblicken, deren Verbindung eben die Wirkung der Kunst macht: sie haben also durchaus andre Gesetze. Es heißt also auch nicht, den roͤmischen Dichter Laokoons erklaͤrt; wenn ich anfuͤhre Laok. p. 30. , daß sein clamores horrendos ad sidera tollit kein schie- fes schreiendes Maul, und keinen haͤßlichen Anblick vorweise: denn freilich arbeitete er nicht fuͤrs Auge, und noch minder ward dieser Zug seines Gemaͤldes ewi- ger Anblick, im malerischen Verstande. Aber wie? wenn seine ganze Schilderung, die ich als ein Gemaͤlde fuͤr meine Seele betrachte, mir keinen andern innern Zustand des Laokoon zeigte, als der in diesem Schreie liegt: bleibt alsdenn nicht auch im Gemaͤlde des Dichters dieser Zug Hauptfigur? Wenn ich mich an den virgilianischen Laokoon erin- nere, Erstes Waͤldchen. nere, erinnere ich mich nicht jedesmal an einen Schreienden? denn auf andre Art hat er bei seinem Schmerze seine Seele nicht gezeigt. Nun aͤndert sich der Gesichtspunkt. Es muß aus dem We- sen der Poesie, aus dem energischen Zwecke des Dich- ters erklaͤrt werden, ob dieser Zug von Laokoon, die- se einzige Aeußerung seiner Empfindung, in mei- ner Einbildungskraft Hauptfigur, bleibender Ein- druck werden sollte? Nicht gnug, daß clamores horrendos ad sidera tollit ein erhabner Zug fuͤr das Gehoͤr sey; (wenn ich einen Zug fuͤr das Gehoͤr verstehe) es muß auch dem Dichter daran gelegen seyn, ihn zum Hauptzuge Laokoons in meiner Phan- tasie zu machen. Jst dies nicht, so hat der Dich- ter, wenn ich gleich kein schoͤnes Bild verlange, doch auf mich seinen ganzen Eindruck verfehlt — Es ist nicht mein Zweck, dies bei Virgil zu unter- suchen. Jch habe Winkelmann gerechtfertigt, der (viel- leicht nur gar historisch) sagen kann: „der Laokoon des „Kuͤnstlers schreiet nicht, wie der Laokoon des Vir- „gils.„ Jch habe die Ursache, die Hr. L. giebt vom Un- terschiede beider Kuͤnste, gepruͤft, und auf das Eine des Anblicks zuruͤckgefuͤhrt, in dem sich die bildende, und keine andre Kunst zeige. Jch wollte, daß Hr. L. in seinem ganzen Werke diesen Unterschied des Aristoteles zwischen Werk und Energie zum Grunde gelegt haͤt- te: denn alle seine Theilunterschiede, die er angiebt, lau- fen doch endlich auf diesen Hauptunterschied hinaus. H 4 Wie Kritische Waͤlder. 10. Wie kann der Dichter dem Kuͤnstler, und der Kuͤnstler dem Dichter nachahmen? Jch glaube, daß der Unterschied, dem Hr. L. bei den Gattungen ihrer Nachahmung macht p. 78. 79. , schon in unsrer Spra- che liege, und also auch in der Auseinandersetzung alles gleich durch ein Wort deutlich mache. Einen nachahmen, heißt, wie ich glaube, den Gegenstand, das Werk des andern nachmachen; einem nachah- men aber, die Art und Weise von dem andern ent- lehnen, diesen oder einen aͤhnlichen Gegenstand zu behandeln. Um in diesen Unterschied einzudringen, sucht H. L. p. 80. einen Gegner auf, mit dem er streite, und dieß ist Spence. Spence war freilich ein rathen- der Kopf voll Allusionen und Aehnlichkeiten: ein Wort, ein Zug des Bildes war ihm gnug, Anspie- lung und Nachahmung zu finden, und ich gestehe gern, daß sich sein Werk selten uͤber ein Verzeichniß von Parallelstellen der Dichter, (zwar leider! nur der roͤmischen Dichter) und der Kuͤnstler (und doch meistens griechischer Kuͤnstler) erhebe. Jndessen spielt ihm Hr. L. einen boͤsen Streich, daß er im Texte nuͤtzliche Erlaͤuterungen anfuͤhrt, die alten Schriftstellen aus der Vergleichung mit Kunstwer- ken zuwuͤchsen, und in seinen Noten diese nuͤtzlichen Erlaͤu- Erstes Waͤldchen. Erlaͤuterungen fast saͤmmtlich widerlegt. Sind also nuͤtzliche Erlaͤuterungen bei Spence von dieser Art, oder sind dies gar die einzigen: so danke ich fuͤr Spence. Und ich weiß nicht, ob H. L. in Allem, was er gegen diese Erlaͤuterungen sagt, so ungetheilt Recht habe. Juvenal redet von einem Soldatenhelme, wo unter andern Sinnbildern er auch — nudam effigiem clypeo fulgentis \& hasta Pendentisque Dei perituro ostenderet hosti. und Addison glaubte die Stellung des Dei penden- tis nicht besser, als durch Werke, erklaͤren zu koͤnnen, wo Mars zu der Rhea herunter schwebet, und al- so uͤber ihr gleichsam hanget. Noch bin ich fuͤr die addisonsche und spencische Erlaͤuterung nicht ein- genommen: was hat aber Hr. L. dagegen p. 83. ? daß es ein Hysteron proteron von Juvenal seyn wuͤrde, von der Woͤlfinn und den jungen Knaben zu reden, und dann erst von dem Abentheuer, dem sie ihr Daseyn zu danken haben. „Bei einem Dichter, bei einem satyrischen Dichter zumal, wie viel hat da wohl ein Hysteron proteron auf sich? Doch so mag ich nicht reden: das hieße nicht den Dichter erklaͤren, son- dern unsre ihm angepaßte Erklaͤrung retten. Erst zeige man mir, wo das Hysteron proteron stecke! „Jn den ersten rauhen Zeiten der Republik zerbrach „der Soldat die kostbarsten Becher, die Meister- H 5 „stuͤ- Kritische Waͤlder „stuͤcke griechischer Kuͤnstler, um eine Woͤlfin, ei- „nen kleinen Romulus und Remus, einen hangen- „den Mars auf seinen Helm zu setzen.„ Dieß ist Juvenals Gedanke, und wo das Hysteron proteron in ihm? Der roͤmische Soldat ist ein sammlender Name, ein nomen collectivum: und sein Helm steht fuͤr alle roͤmische Helme; auf einen konnte dieß, auf einen das gesetzt werden; und so gut die Woͤl- finn, und die beiden Kleinen am Felsen, als der han- gende Mars, waͤre an sich ein Emblem des roͤmi- schen Ursprunges, und des rauhen Soldaten, dem das aus solchem Ursprunge entstandene Rom alles war. Alsdann haͤtte Juvenal ein Paar Beispiele angefuͤhrt, die aus einer Geschichte hergenommen, zu dem Emblem einer Sache neben einander ste- hen, ja aber unter sich kein Ganzes ausmachen sollen. Wie so aber zu dem Emblem einer Sache? „Man „sage, fragt Hr. L. p. 83. , ob eine Schaͤferstunde wohl „ein schickliches Emblema auf dem Helme eines roͤ- „mischen Soldaten gewesen?„ Warum nicht? Es war nicht mehr das Bild einer Schaͤferstunde al- lein, sondern das Bild des goͤttlichen Ursprunges der Roͤmer, des Ursprunges, auf welchen der Soldat stolz war als ein Roͤmer. Es war nicht die Ueber- raschung der Rhea, sondern die Stunde, die dem Stifter Roms das Leben gab: also so unpassend nicht auf den Helm eines Roͤmers, der seinen Mars auch Erstes Waͤldchen. auch in dieser pendenten Stellung nicht verabscheu- te, und auch in ihr so ungerne nicht sein Abkoͤmm- ling seyn mochte, den sie eben zum Roͤmer mach- te. — — Jch habe gesagt, die Bilder Juvenals haben einzeln auf den Helmen der Soldaten seyn koͤnnen: warum aber muͤßte es ein Hysteron proteron seyn, wenn sie auch neben einander auf einem Helme ge- wesen waͤren? nur in verschiedne Gruppen getheilt, wovon der Dichter ein Paar anfuͤhrt. Haben mehr Denkbilder des roͤmischen Ursprungs darauf Raum gefunden: so schnitze sie der Kuͤnstler, mir und dem Sinne Juvenals nicht zuwider. Aber schwebt auch Mars, faͤhrt Hr. L. fort Laok. p. 54. , wirklich? und es ist viel, wie weit sein gruͤbelndes Zweifeln geht. Mag auch Spence recht gesehen, recht haben stechen lassen, und — — die Muͤnze auch gehabt haben? „Es ist hart, muß ich Hrn. L. nachsagen, es ist hart, in einer solchen Kleinigkeit, die Aufrichtigkeit eines Mannes in Zweifel zu zie- hen: zumal es mehr bekannte Muͤnzen von dieser Art giebt. Der Zweifel tritt weiter, und wird zur allge- meinen Verneinung p. 85. . „Ein schwebender Koͤr- „per ohne eine scheinbare Ursache, durch welche die „Wirkung seiner Schwere verhindert wird, ist ei- „ne Ungereimtheit, von der man in den alten „Kunst- Kritische Waͤlder. „Kunstwerken kein Exempel findet.„ Nun! so weit haͤtte man es doch nicht fuͤhren doͤrfen! Mars in dem gegenwaͤrtigen Falle ist ja nichts minder, als ein schwebender Koͤrper, ein ohne scheinbare Ursache schwebender Koͤrper, der ungereimt waͤre, der das Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der Schwere, des koͤrperlichen Gleichgewichts aufhuͤbe — wo ist dieß alles unser Mars? Es ist ein sich herabsenkender Koͤrper, der eben nach den Regeln der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts die Erde sucht, oder mit Shakespears schoͤnem Aus- drucke vom Merkur, der mit seinem Fuße den Huͤgel kuͤsset. Auf einem Kunstwerke von so wenigem Umfange denkt ja niemand, daß dieser herabschwe- bende Mars vom Himmel gekommen, daß er sich durch die Luft gestuͤrzt, daß er in ihr ohne Fluͤgel und Leitband gehangen: wie es also sey, daß er noch so gluͤcklich herabkomme — hieran denkt niemand, denn er sieht Mars nur so fern, als er die Erde be- tritt. Es ist das Niedersenken, wie von einem sanften Sprunge, und dazu braucht man kein Gott zu seyn, oder sich einen Gott von ganz andern Re- geln der Bewegung, der Schwere, des Gleichge- wichts denken zu muͤssen: die sanfte Stellung kann je- der dem Mars nachthun, und der Kuͤnstler sie ohne Ungereimtheit waͤhlen. — Der ganze Allgemein- satz ist also hier kaum an seiner Stelle, und in der Weite, die ihm Hr. L. giebt, leidet er Einschraͤn- kung. Erstes Waͤldchen. kung. Es muß ein Koͤrper sehr augenscheinlich nicht schweben, sondern hangen, und zwar in der all- weiten Luft hangen, wenn sein Anblick die Wahr- scheinlichkeit der Augen beleidigen soll: und wie sel- ten ist dieß auf einer Muͤnze, auf einem geschnitte- nen Steine, und auch wohl noch selten in Gemaͤlden, und der Wahrscheinlichkeit der Augen wird da im- mer ohne Lehrsaͤtze der Bewegung abgeholfen. Was sollen doch, wenn man so genau rechnen wollte, die kleinen Fluͤgelchen an den Fuͤßen Merkurs, bei dem gewaltigem Schwunge, in welchem er sich z. E. in einem farnesischen Gemaͤlde von Caracci zeigt? ma- chen sie denn den Abschwung wahrscheinlicher, als ein Mars, der auf die Erde hinschwebet? Was sol- len alsdann die homerischen Goͤtterpferde, die zwi- schen der Erde und dem sternbesaͤeten Himmel mit einem Sprunge so viel beschreiten, als der Hirt ab- sieht, der vom Gipfel des hoͤchsten Gebirges in den schwarzen Ocean ausschauet — was sollen diese, wenn man ihnen auch ein Paar Fluͤgelchen gaͤbe, die ihnen uͤberdem Homer nicht giebt, wenn man nach der Mechanik bestimmen wollte? Nun aber lasset Apollo, Diana, Luna, Juno, Minerva, und wer von den Himmlischen mehr Gesellschaft machen wol- le, in ihrem Luftwagen sich fortschwingen: zeiget sie uns der Kuͤnstler nur in einer Stellung nahe an, oder uͤber der Erde im Absenken: so vergessen wir gern das Ungeheuere der Luft, die wir uͤberdem hier nicht Kritische Waͤlder. nicht in ihrem Umfange sehen koͤnnen. Wir brau- chen keinen Leitband, der die sich absenkende Figur an ein Gestirn hefte, wir brauchen kein Fahrzeug der Kaklogallinier, welches bei Swifts Reise in den Mond auf der ersten Wolke uͤbernachtete — — Noch minder thut mir die verbesserte Lesart Les- sings zu dieser Stelle Gnuͤge: — — sie ist ge- suchter und metaphysischer p. 87. , als alle vorige Les- arten; und kurz! sollte in Spence nicht mehr Vor- rath zu Erlaͤuterung der Alten seyn, insonderheit wenn ein besserer Kopf die spencischen Compilationen von Parallelstellen nutzte? Aber freilich bleibe ihm die Grille, daß die Dichter bei jeder kleinen Aehn- lichkeit ein Kunstwerk kopiret haben muͤssen. Hr. L. widerlegt sie in einigen Beispielen p. 90. 91. , und bei man- chen haͤtte auch aus dem innern Baue der dichte- rischen Schilderungen erwiesen werden koͤnnen, daß sie aus der Phantasie des Dichters, und nicht von der Arbeit des Kuͤnstlers, geflossen, weil sie sich sonst dem Dichter anders haͤtten vorstellen muͤssen. 11. Es koͤnnen kritische Betrachtungen nicht leicht nutzbarer seyn, als wenn L. gegen Spence uͤber den Unterschied disputirt p. 113 — 118. , in welchem dem Kuͤnstler und Dichter Goͤtter, geistige und moralische Wesen erscheinen: hingegen wird in und außerhalb der Mau- Erstes Waͤldchen. Mauern von Troja, ich meine in Poesie und Dicht- kunst, gesuͤndigt. Goͤtter und geistige Wesen. „Dem Kuͤnstler „sind sie nichts als personisirte Abstrakta, die bestaͤn- „dig die aͤhnliche Charakterisirung behalten muͤssen, „wenn sie erkenntlich seyn sollen: dem Dichter sind „sie handelnde Wesen. p. 99. 100. „ Jch weiß nicht, ob die- ser Unterschied so vest, und beiden Kuͤnsten so we- sentlich waͤre, als er hier angegeben wird — und mich duͤnkt, daß ein Jch weiß nicht von dieser Art, das nichts minder, als den Gebrauch der ganzen My- thologie in allen schoͤnen Kuͤnsten und Wissenschaften, betrifft, wohl eine kleine Aufmerksamkeit verdiene. Also sind die Goͤtter und geistigen Wesen dem Kuͤnstler nichts als personisirte Abstrakte? Freilich so lange eine einzelne Figur nichts als ein kenntli- ches Bild eines himmlischen Wesens seyn soll, so sind die dasselbe charakterisirenden Kennzeichen das Augenmerk. Nun aber trete diese Figur z. E. bei einem Gemaͤlde in Handlung, gesetzt die Handlung floͤsse auch nicht aus ihrem Charakter: so bald tritt die historische Mythologie in die Stelle der emble- matischen: und die Gestalt ist nicht mehr durch das, was sie ist, sondern was sie thut, kenntlich. Hr. L. giebt dies zu p. 100. 101. ; nur meint er, die Handlungen muͤssen nicht ihrem Charakter widersprechen; und aus dem Beispiele, das er giebt, sehe ich, daß er in Unter- Kritische Waͤlder. Untersuchung dieses Widerspruchs sehr fein ist. Eine Venus, meint er, die ihrem Sohne die Waffen giebt, koͤnne freilich gebildet werden: denn hier bliebe sie noch eine Goͤttinn der Liebe: ihr koͤnne noch alle An- muth und Schoͤnheit gegeben werden, die ihr als Goͤttinn der Liebe zukomme: sie werde vielmehr als solche, durch diese Handlung noch kennbarer; aber eine zuͤrnende, eine verachtende Venus ganz und gar nicht. — Jch bin in der Ausdehnung dieses Un- terschiedes nicht Hr. Lessings Meinung. Goͤtter und geistige Wesen sind dem Kuͤnstler freilich personisirte Abstrakta, und Charakterfiguren, so lange er sie allein, blos in einem ihnen gemaͤßen Anstande, oder hoͤchstens in einer intransitiven Hand- lung bilden soll; aber alsdann sind sie es nur aus Noth, aus Muß, um kenntlich zu seyn. Venus, Juno, Minerva haben diese und keine andre Bil- dung der Schoͤnheit, nicht als wenn diese immer ein innerer Charakterzug ihres abstrakten Wesens waͤre; gnug, daß sie ein von Dichtern einmal be- liebtes und vestgesetztes aͤußeres Kennzeichen die- ser Gottheit ist. Jch verstehe mich nicht gnug auf den abstrakten Begriff der Liebe, als daß ich wissen koͤnnte, ob jede Kleinigkeit bei der Bildung der Venus, und keiner andern goͤttlichen Schoͤnheit, da sey, weil sie nothwendig das Abstraktum der Liebe charakterisire? ob z. E. das υγρον ihrer Augen, und das Laͤcheln ihrer Wangen, und das Gruͤbchen ihres Kinnes Erstes Waͤldchen. Kinnes zu diesem Begriffe so unentbehrlich sey, als auf der andern Seite die majestaͤtische Brust der Juno, und die schlanke Taille der Diana, und die unschuldige Mine der Hebe, zu diesem Begriffe eben hinderlich seyn muͤßte. Jch habe nie die My- thologie, als ein solch Register allgemeiner Begriffe studirt, und bin allemal in die Enge gerathen, wenn ich gesehen, wie andre sie am liebsten auf solche Art angesehen. So viel ist einmal gewiß, daß Dichter, und kein anderer, die Mythologie erfunden und bestimmt, und da wette ich, fuͤrwahr nicht als eine Gallerie abstrakter Jdeen, die sie etwa in Figuren zeigten. Wo bleibe ich mit den allerdichterischten Geschichten Homers, wenn ich mir seine Goͤtter, nach Damms Lehrart, nur als handelnde Abstrakte betrachten wollte? Es sind himmlische Jndividua, die freilich durch ihre Handlungen sich einen Charakter vestse- tzen, aber nicht da sind, diese und jene Jdee in Fi- gur zu zeigen: ein ausnehmender Unterschied. Ve- nus kann immer die Goͤttinn der Liebe seyn; nicht aber alles, was sie bei Homer thut, geschieht deß- wegen, um die Jdee der Liebe in Figur zu repraͤsen- tiren: Vulkan mag seyn, was er will, wenn er den Goͤttern ihren Nektarbecher umreicht; ist er nichts als — ihr Mundschenke. Jch schließe also: daß Goͤtter und geistige We- sen „bei dem Dichter nicht blos handelnde Wesen J „sind, Kritische Waͤlder. „sind, die uͤber ihren allgemeinen Charakter noch „andre Eigenschaften und Affekten haben, wel- „che nach Gelegenheit der Umstaͤnde vor jenen „vorstechen koͤnnen, wie Hr. L. sagt p. 99. ; sondern daß diese andre Eigenschaften und Affekten, kurz! eine gewisse eigne Jndividualitaͤt ihr wahres Wesen, und der allgemeine Charakter, der etwa aus die- ser Jndividualitaͤt abgezogen, uur ein spaͤterer, un- vollkommener Begriff sey, der immer untergeord- net bleiben mußte, ja bei Dichtern oft in gar kei- nen Betracht komme. Nun schließe ich weiter. Wenn also in der My- thologie und Geisterlehre der aͤltesten Dichter der individuelle, oder historisch handelnde Theil vor dem charakteristisch handelnden das Uebergewicht behaͤlt: und eben diese Dichter doch die urspruͤnglichen Stif- ter und Vaͤter dieser Mythologie und Ge ist erlehre gewesen; so sei die bildende Kunst, so fern sie my- thologisch ist, blos ihre Dienerinn. Sie entlehnt ihre Geschoͤpfe und Vorstellungen, so fern sie sie brauchen und ausdruͤcken kann. Bei jeder einzelnen Figur also, und mithin meistens bei den Werken der Bildhauer, die einzelne Gestalten bilden, fodert es der Mangel, die Graͤn- zen, nicht aber das Wesen der Kunst, die Per- sonen mehr charakteristisch, als individuell, auszu- druͤcken: denn sonst verirren sie sich in die Menge histo- Erstes Waͤldchen. historischer Personen, und laufen Gefahr, unkaͤnnt- lich zu werden. So bald es aber dem Kuͤnstler die Grenzen seiner Kunst verstatten, dem Dichter zu folgen; so gleich nimmt der Dichter, dem eigentlich die My- thologie gehoͤrt, sein Recht wieder, und die Anord- nung des Kunstwerks wird, dem Ursprunge mytho- logischer Jdeen gemaͤß, dichterisch. Blos um das Unkaͤnntliche zu vermeiden, schraͤnkte er sich auf die abstrakte Jdee ein; Noth und Duͤrftigkeit war sein Gesetz: ist aber dies Gesetz — diese Furcht gehoben; kann er auf andere Art hoffen, kaͤnntlich zu werden, als durch die einfoͤrmige Charaktervorstellung; ver- beut das Wesen seiner Kunst diese andre Art der Kaͤnntlichkeit nicht; erreicht er durch dieselbe gar ei- nen Zweck, den er durch die abstrakte Jdee nicht er- langen konnte: so hat er mit dem Dichter einerlei Rechte. Die ganze Mythologie ist eigentlich ein Land dichterischer Jdeen, und auch wenn sie der Kuͤnstler bildet, wird er Dichter. Und bei diesem ganzen Privilegium des Kuͤnstlers, worauf kommt sein unumschraͤnkter Gebrauch an? auf das Wort: Handlung. Kann der Kuͤnstler z. E. Maler, seinem Werke Handlung geben; kann er mehrere Personen gruppiren, die gemeinschaftlich eine poetische oder historische Situation vorstellen, kaͤnntlich und schoͤn vorstellen koͤnnen; o so vergesse er sicher die innere und aͤußere Charakteristik seiner J 2 Goͤt- Kritische Waͤlder. Goͤtter, die ihm sonst einzeln nothwendig waren. Jmmerhin lasse er auch seine Handlung dem ab- strakten Charakter sichtlich widersprechen: immer- hin male er uns auch eine auf ihren Kupido zuͤrnen- de Venus; denn wenn sie auch in diesem Augen- blick nicht die Liebe selbst bliebe, so bleibt sie doch, was sie urspruͤnglich ist, die Goͤttinn der Liebe, die Mutter des Kupido. Kann er Venus und den getoͤdteten Adonis in malerische Handlung bringen: so ruffen wir der Venus mit dem Dichter zu: „was „schlaͤfst du, Cytherea, auf purpurnen Decken! „Stehe auf, Ungluͤckselige, zeuch Trauerkleider „an, und schlage an deine Brust, und klage der „ganzen Welt: er ist nicht mehr, der schoͤne Ado- „nis! und immerhin wollen wir auch Adonis se- „hen, wie ihn der Dichter sieht: Er liegt, der „schoͤne Adonis liegt ausgestreckt auf dem Gebirge. „Ein moͤrderischer Zahn hat seine zarte Huͤfte ver- „letzt. Noch einen letzten Seufzer athmet er: „schwarzes Blut rinnt uͤber den Leib, der blenden- „der ist, als Schnee. Das Licht seiner Augen „verlischt: die Lippen erblassen: Adonis stirbt.„ Stirbt Adonis etwa, als die Jdee ehelicher Liebe und Gluͤckseligkeit und Schoͤnheit? trauret Venus, um die Jdee der Liebe in Maske zu zeigen? Wird die letztere jedem gesunden mythologischen Auge deß- wegen hier kenntlich werden, weil sie das Abstrak- tum der Liebe macht? Nein, das Suͤjet des Gemaͤl- des Erstes Waͤldchen. des ist dichterisch, ist historisch: so auch die Figuren des Kuͤnstlers? Jedesmal, daß er sie dazu machen kann: wohl! so vergesse ich die abstrakte Jdee, die er in einer einzigen Figur nur aus Noth vorstellen mußte. Kupido, der die Psyche plaget, und Ju- piter, der den Ganymed entfuͤhret, Diane, die den Endymion besucht, und Venus, die ihre geritzte Haut beweinet — ich verspreche dem Kuͤnstler, in diesem Augenblicke keine personifirten Abstrakta zu suchen, im Jupiter keinen Praͤsidenten der Goͤtter, in Dianens Gesichte keine jungfraͤuliche Keuschheit: in Venus kein schmachtendes Liebaͤugeln, und in Kupido, keinen spielenden Verfuͤhrer. Alle diese Wesen gehoͤren dem Dichter, und der Kuͤnstler laͤßt sie ihm, wo er sie ihm lassen kann. — Jch weiß nicht, wie enge dem Kuͤnstler der my- thische Cyklus werden muͤßte, wenn Hr. Lessing ihm alle historische und dichterische Situationen unter- sagte, ihm nur zuließe, in ihm personifirte Abstrakta zu suchen, und jeden kleinen Widerspruch, der in der Handlung gegen die abstrakte Jdee des Charak- ters (ein Jdol der neuern Mythologisten!) vorkaͤme, verboͤte. Lebe alsdenn wohl, handlungsvolle Kunst! du bist in der Mythologie eine Gallerie einfoͤrmiger Jdeen, abstrakter Charakter! „Wenn der Dichter Abstrakta personifiret: „so sind sie durch den Namen, und durch das, was „er sie thun laͤßt, gnugsam charakterisirt. Dem J 3 „Kuͤnst- Kritische Waͤlder. „Kuͤnstler fehien diese Mittel. Er muß also sei- „nen personifirten Abstraktis Sinnbilder zugeben, „durch welche sie kenntlich werden. Diese Sinn- „bilder hat bei dem Kuͤnstler die Noth erfunden; „wozu aber den Kuͤnstler die Noth treibet, warum „soll sich das der Dichter aufdringen lassen, der von „dieser Noth nichts weiß? Es sey ihm also Regel, „die Beduͤrfnisse der Malerei nicht zu seinem Reich- „thume zu machen, und seine Wesen mit Sinnbil- „dern der Kunst auszustaffieren. Er lasse sein „Wesen handeln, und bediene sich auch poetischer „Attribute„ — u. s. w. Wie gerne, wie uner- muͤdet hoͤrt man Hr. L. sprechen p. 115. 116. , wenn er — doch ich will nicht loben. Sollte alles dies nicht auch auf den vorbetrachteten Fall der Kunstcomposition gelten? Der Maler findet im Lande des Dichters personisirte Abstrakte, die auch in seinem Gemaͤlde, durch das, was er sie thun laͤßt, gnugsam charakte- risirt sind. Dem Kuͤnstler einer Figur fehlt dies Mittel: er muß also seinen personifirten Abstraktis Sinnbilder geben, durch welche sie kenntlich werden; aber diese Sinnbilder erfand bei ihm die Noth? Wozu also den Kuͤnstler ohne Handlung die Noth trieb, warum sollte sich das der Kuͤnstler mit Hand- lung aufdringen lassen, wenn er von dieser Noth nicht weiß? Es sei ihm also Regel, auch das, was seiner Kunst Beduͤrfniß ist im andern Fall, nicht zu seinem Reichthume zu machen, seine Wesen nicht mit Erstes Waͤldchen. mit Sinnbildern zu uͤberhaͤufen, sie, wo sie als hoͤ- here Jndividua in Handlung erscheinen, nicht zu Puppen auszustaffieren, und am mindsten es gar zum Hauptsatze seiner Kunst zu machen: „mir sind „die Personen der Mythologie nichts als personifirte „Abstrakta, die bestaͤndig die aͤhnliche Charakteri- „sirung beibehalten muͤssen, wenn sie erkenntlich seyn „sollen.„ Bei diesem Grundsatze, was wird aus der Kunst, die Compositionen liefern soll? Eine Maskerade symbolischer und allegorischer Puppen! Es giebt also selbst unter den Kuͤnsten, die sich auf Zeichnung gruͤnden, noch immer betraͤchtliche Unterschiede, die eine oder die andere mehr dem Dichterischen naͤhern. Die Bildhauerkunst entsteht ihr am weitesten: die Malerei aber, in ihrer Kom- position zumal, zumal in der Komposition dichteri- scher Geschoͤpfe, die urspruͤnglich Wesen der Einbil- dungskraft und nicht des Anschauens sind, tritt der Poesie weit naͤher. Sie hat ein Drama ihrer Fi- guren: sie stellt alle bloß in der Absicht zusammen, um eine Handlung zu repraͤsentiren: sie laͤßt also so viel moͤglich weg, was zur Handlung nicht gehoͤrt, oder ihr gar widerspraͤche. Sollte in jedem Kunstwerke von Composition jede mythologische Person mit allem dem Zubehoͤr uͤberladen werden, der ihr zukommen mag, aber zu dieser Hand- lung nicht gehoͤrt: sollte sie der historische und dichterische Maler nur als personifirte Ab- J 4 strakta Kritische Waͤlder. strakta behandeln sollen, die bestaͤndig die aͤhnliche Charaktirisirung beibehalten muͤssen: welch ein ver- wirrendes und zerstreuendes Geschleppe von symbo- lischen Zeichen und charakterisirenden Praͤdikaten! Soll Venus in einem Gemaͤlde von Komposition nie anders, als die Liebe selbst, (und nicht blos als die Goͤttinn der Liebe) erscheinen, und als die Liebe selbst jedesmal charakterisirt werden; und alle theil- nehmende Personen ebenfalls so, jede nach ihrer Art — weg mit dem Ball in Maske. Der Maler war hier in der Komposition eines dichterischen Suͤ- jets Dichter: seine Figuren sollen sich durch Hand- lung kenntlich machen: auf diese Handlung sollen sich die Attribute beziehen, die er ihnen giebt: sol- che, die zu dieser Vorstellung nicht gehoͤren, so lange nur die Person noch kaͤnntlich bleibet, lasse er weg: er opfere dem Mangel, der Nothwendigkeit seiner Kunst so wenig auf, als er darf, und am allerwenig- sten mache er diesen Mangel, dies Gesetz der Noth zu seiner allgemeinen, wesentlichen Regel: bei dem Kuͤnstler sind Goͤtter und geistige Wesen personifirte Abstrakta, „die bestaͤndig die aͤhnliche Charakterisi- „rung behalten muͤssen. p. 99. „ Jch sage umgekehrt: auch bei ihm sollen Goͤtter und geistige Wesen sich durch Handlung charakterisiren, wo sie es koͤnnen; und blos im Fall, wo sie es nicht koͤnnen, sich als personifirte Abstrakte, durch die ihnen beigelegte Sym- Erstes Waͤldchen. Symbole, kenntlich machen. Jm Grunde also einerlei Gesetz, einerlei Freiheit. 12. Von Seiten der Dichtkunst kann es keine noͤ- thigere Lehre geben, als die p. 116. : der Dichter mache sich die Beduͤrfnisse der Malerei nicht zu seinem Reichthume: er staffiere die Wesen seiner Einbil- dungskraft nicht malerisch aus, lasse sie handeln, und auch die Attribute, womit er sie bezeichnet, muͤssen handelnd, poetisch, nicht malerisch seyn. So dich- ten die alten Dichter: die neuern malen. Unter den Roͤmern in ihrer besten poetischen Zeit ist vor Allen Horaz ein Liebhaber von morali- schen Wesen, von personifirten Abstraktis; diese Personendichtung ist mit ein Hauptstrich seines Ge- nies, und hat seine Oden sehr verschoͤnert. Da eine solche moralische Person bei ihm gemeiniglich schnell, mit wenigen, aber lebendigen Attributen, und recht in die Handlung der Ode auf einmal hineintritt: so lieben wir den angenehmen Sylphen, die schoͤne Sylphide, die uns so gelegen voruͤber rauschet. Wie suͤß ist sein Bild der laͤchelnden Venus, die der Scherz und die Amors umflattern. — Erycina ridens quam Jocus circumvolat et Cupido — J 5 Welch Kritische Waͤlder. Welch ein Bild! wenn Furcht und Sorge ihren Herrn auch zu Schiffe verfolgen, auch hinter ihm zu Pferde sitzen, auch des Nachts um die Daͤcher der Reichen flattern: wenn der Tod mit seinem Fuß an die Huͤten der Armen, und an die Pallaͤste der Maͤchtigen mit gleichen Schlaͤgen anpochet: wenn das Gluͤck — Jch komme jetzt auf die Ode Horazens, die an solchen Personen-Dichtungen die reichste ist, und wo die personifirten Abstrakta den Auslegern manche saure Viertelstunde gemacht haben. Das Gluͤck selbst, die Nothwendigkeit, die Hoffnung, die Treue u. s. w. sind als moralische Wesen in diese Ode zusammengruppirt, und das Ganze des Gesan- ges selbst ist einem personifirten Abstrakto gewidmet. — Man erraͤth es, daß ich von der Ode aus Gluͤck Lib. I. Od. 35. rede. Baxter sucht hier, wie gewoͤhn- lich, in ihr seine lieben Dilogien Horat. ed. Baxt. p. 49. , und Geßner Eclog. Horat. edit. Gessner. p. 71. geht vielleicht auf der andern Seite zu weit, daß er sie fuͤr eine Abhandlung uͤber den Artikel Gluͤck er- klaͤrt: doch wir wollen ohne vorgefaßte Meinung lesen. Gleich zu Anfange rufft Horaz nicht eigentlich das Gluͤck, als ein Abstraktum an, um nach Geß- ners Meinung einen locum daruͤber durchzuhan- deln; sondern die Goͤttinn des Gluͤcks, und zwar zunaͤchst Erstes Waͤldchen. zunaͤchst die, so zu Antium verehret wurde. Die ganze Ode tritt also gleich aus dem Lichte eines all- gemeinen Begriffes weg; und wird ein roͤmi- sches, ein Familienstuͤck der Stadt Anzo: ein Al- tarstuͤck in dem Tempel dieser Stadtgoͤttinn. Ein Einwohner von Anzo sollte aufleben, um uns diese Ode aus seiner Vaterstadt zu erklaͤren, und wie wuͤr- de der uns mit manchem ehrlichen locus communis auslachen, den wir dem Gluͤcke uͤberhaupt aus die- ser Ode andichten, weil wir nicht die Ehre haben, die Goͤttinn zu kennen, der die Ode als ein Jndivi- dualstuͤck gewidmet ist. Welches sind nun die Attribute dieser Goͤttinn? „Sie kann erniedrigen und erhoͤhen!„ So gesagt, waͤre dies Attribut freilich nichts als locus com- munis; allein, wie es Horaz sagt, wird es roͤmisch. Dies Gluͤck in Antium ist eine Roͤmergoͤttinn: sie beschaͤfftigt sich mit den Revolutionen des Staats, die Horaz vielleicht eben damals vor sich sahe: sie giebt und stuͤrzet Triumphe um. So wenig der afrikanische Jupiter eben der roͤmische Jupiter, und die Madonna in Loretto voͤllig die Madonna in Par- ma ist: so ist nicht so ganz diese Fortuna jedwede andere: sie ist Antium eigen, und roͤmisch ge- sinnet. „Rings um ihr Bild geht der flehende Land- „mann, und der Schiffer des karpathischen Meers „mit seiner Bitte.„ Jch weiß nicht, warum Bax- ter Kritische Waͤlder. ter hieruͤber bis in den Mond reiset, und da sor- tem fortunae sucht; auch ist mir die Geßnersche Er- klaͤrung: daß die Stuͤrme des Meers aus unbekann- ten Ursachen kommen, nicht vorausgesehen werden koͤnnen, also dem Gluͤcke zuzuschreiben sind, u. s. w. zu allgemein; und endlich die Klotzische Erlaͤute- rung Vindic. Horat. p. 152. , daß das Gluͤck auf Muͤnzen mit Kornaͤh- ren, mit Schiffankern, und wer weiß womit mehr? gebildet werde, ist fuͤr mich und fuͤr Horaz noch ge- lehrter. Vermuthlich hat Horaz, der Einfaͤltige! an Nichts gedacht, als daß Antium, die Woh- nung der Fortuna, Landꝛinwohner habe, und nahe an der See liege: der Tempel des Gluͤcks also von beiderlei Art Leuten Besuch erhalte. „Dich fuͤrchtet der rauhe Dacier, und die fluͤch- „tigen Scythen: Staͤdte und Voͤlker: und das „wilde Latium: die Muͤtter der barbarischen Koͤ- „nige, und die bepurpurten Tyrannen.„ Allein genommen waͤre nichts leichter zu erklaͤren, als diese Strophe: sie schilderte naͤmlich die Goͤttinn des Gluͤcks roͤmisch gesinnet: vor ihr muͤssen die Feinde, die Rebellen, die Tyrannen Roms zittern; aber nun der Zusatz: iniurioso ne pede proruas stantem columnam; neu populus frequens ad arma cessantes ad arma concitet imperiumque frangat. So Erstes Waͤldchen. So sind uͤber nichts so leicht artigere Dinge gesagt worden, als uͤber diese stehende Saͤule: Baxtern Baxt. Horat. p. 50. duͤnkte sie sehr emphatisch August zu seyn, ohne zu bedenken, ob auch die Feinde, die rebellischen Vasal- len Roms, vor dem Sturze Augusts so bange seyn wuͤrden. Geßner verstand, dem locus communis: de Fortuna, den er in dieser Ode fand, gemaͤß, „je- „den Menschen, auf den sich andere, wie auf eine „Saͤule stuͤtzen,„ ohne uns zu sagen, wie sich dieser Allgemeinsatz zwischen Dacier und Scythen, Bar- barn und Tyrannen schicke. Meine Wenigkeit fin- det in dieser stehenden Saͤule — nun? nichts als eine stehende Saͤule: eine Saͤule, die, vielleicht in Anzo, mit dem Namen Roms bezeichnet, vor der Fortuna stand, wie ja sonst dem Gluͤcke, der Ruhe, der Sicherheit solche Saͤulen pflegen hingestellt zu werden Addiso’ns Dialog. upon the Usefullneß of ancient Medals, p. 47. . Nun fiel Horazen das Bild ihres Un- willens ein: wie? wenn sie ihren Fuß ausstreckte, und die Saͤule stuͤrzte? So waͤre dieser Sturz, ein Sinnbild, dem Poeten ein Losungszeichen von dem Sturze Roms. Jn Haufen wuͤrde das Volk zu Waffen eilen: zu Waffen auch die noch Saͤumen- den ruffen, und das Reich, diese ungeheure Weltsaͤule zerbrechen. Die ganze Ode laͤßt muthmaßen, daß manche zur Zeit Horaz sich regende Welle ihm die- sen Sturm prophezeiet, oder mit seinem Bilde, daß For- Kritische Waͤlder. Fortuna schon damals ihren großen Zeh zu regen schien, um an die Saͤule zu treffen. — Wie aber fuͤrchten sich davor Dacier und Scythen, Barbarn und Tyrannen — keine Roͤmer, keine Patrioten? Horaz sagt nicht: daß jene sich davor, vor diesem Umsturze fuͤrchten; sondern, daß sie die Goͤttinn des Gluͤcks fuͤrchten und scheuen: sie, die uͤber Rom wache, und die Saͤule desselben vor sich habe; die aber auch mit einem Fußstoße dasselbe stuͤrzen koͤnne: diese Allmaͤchtige fuͤrchten und scheuen Scythen und Barbarn, (denn was koͤnnten ihr diese fuͤr ein ande- res Opfer bringen, als Furcht?) und warten auf den Augenblick ihres Entschlusses, der damals sich schien zu naͤhern. Bisher ist die Ode ein roͤmisches National- und ein Antiatisches Familienstuͤck gewesen; sie faͤngt an, symbolischer zu werden: — te semper anteit serva (salva) Necessitas Clavos trabales et cuneos manu Gestans ahena; nec severus Vncus abest, liquidumque plumbum. Seit dem es Kunstrichter von Geschmacke giebt, ist mehr als einer mit diesem Bilde Horaz nicht zu- frieden gewesen. Sanadon zuerst unterstand sich, zu sagen, daß dies Gemaͤlde in seinem Detail genom- men, schoͤner auf der Leinwand, als in einer heroi- schen Ode, waͤre. Jch weiß nicht, ob Sanadons Gefuͤhl hierinn nicht fein und richtig bleibe, ob ich gleich Erstes Waͤldchen. gleich den Spott uͤber ihn gelesen Klotz. Vindic. Horat. p. 154. : quod haec imago non placuit bono Sanadonio, sui ingenii homo est, delicatus mehercle! et venustulus. Jch weiß nicht, ob dieser sui ingenii homo, delicatus mehercle et venustulus mit der maͤchtigen Wider- legung zufrieden seyn koͤnnte: neque enim intel- lexisse videtur, quam divina sint: ahena manus, severus vncus. Jch, der-nicht sein gnug ist, das goͤttliche in einem ahena manus, in einem severus vncus zu erblicken, fuͤhle mit Sanadon gleich, und glaube, daß jeder, der die Ode in einem Strome fortlieset, bei diesem Bilde es fuͤhlen werde, daß er vestgehalten wird, daß er vor einer bemahlten Lein- wand stehen bleibe: und das will niemand in der Ode. Moͤgen also alle diese Werkzeuge attirail patibu- laire, oder Befestigungswerke, oder Symbole der hoͤchsten Macht Fortunens seyn: die eherne Hand und der severus vncus moͤgen Hrn. Klotz so goͤttlich scheinen, als sie wollen: die Stelle bleibt eine der frostigsten im Horaz. Ob aber deßwegen, weil „diese Attribute fuͤr „das Auge und nicht fuͤr das Gehoͤr gemacht sind, „und alle Begriffe, die wir durch das Auge erhal- „ten sollten, wenn man sie uns durch das Gehoͤr „beibringen will, eine groͤßere Anstrengung erfo- „dern, und einer geringern Klarheit faͤhig sind Laok. p. 118. .„ Hr. Kritische Waͤlder. Hr. L. thut mir mit diesem Grunde, wenigstens so wie er ihn ausdruͤckt, so wenig ein Gnuͤgen, als Sa- nadon oder Klotz: denn waͤre ein Begriff, den man urspruͤnglich durch das Auge erhaͤlt, deßwegen nicht fuͤr das Gehoͤr, weil sich mit dem Ohre nicht sehen laͤßt; so verloͤre die Poesie ihren ganzen Antheil an sinnlichen Gegenstaͤnden des Auges: und was bleibt ihr da uͤbrig? Nicht also, weil die Attribute: Naͤ- gel, Klammern, Bley, sich sehen und nicht hoͤren lassen, nicht deßwegen machen sie die Stelle frostig: denn wer wird nicht gleich, wenn er vncus, plum- bum, clavos hoͤret, nicht sogleich mit seiner Einbil- dungskraft vncum, plumbum, clavos sehen? wenn wird Anstrengung noͤthig seyn, sich diese Dinge, wenn er sie durch das Gehoͤr empfaͤngt, so klar zu denken, als wenn er sie saͤhe? Wegen der Attribute selbst also kann wohl die Stelle Horaz nicht frostig werden; aber wohl wegen der Composition die- ser Attribute zu einem Bilde. Die Necessitas geht vor der Fortuna voraus — wohl! und wir erwarten, wozu sie gehen, was sie ausrichten wolle? Sie traͤgt Keule und Nagel — wohl! wozu traͤgt sie sie? — Es fehlt ihr auch nicht Klam- mer und fließend Bley — hier wird der poetische Leser ungeduldig — was brauche ich alles das zu wissen, was ihr fehlt, oder nicht fehlt? was sie hat oder nicht hat? ich hoͤre ja nicht, was sie damit will, oder soll? ich stehe vor einem todten Gemaͤlde. Was Erstes Waͤldchen. Was sie damit soll? antwortet Hr. Klotz Vindic. Horat. p. 154. 155. : „sie „soll damit die Macht des Gluͤcks anzeigen, die „Goͤttinn anzeigen, der nichts widerstehet, der al- „les weichen muß, die Goͤttinn von unwandelbarem „Willen. Wie schoͤn alles passet! Das Gemaͤlde „muß allen gefallen, die poetischen Geist haben.„ Haͤtte Hr. Kl. gesagt, die malerischen Geist ha- ben, so recht! — aber die poetischen Geist haben? ich wuͤßte nicht, was in der Wirkung des Gemaͤldes poetisches waͤre. Der Dichter hat einen andern Pinsel, die Goͤttinn zu charakterisiren, der nichts widersteht, der alles weichen muß, die von unwan- delbarem Willen ist, als daß er ihr ein Stuͤck Bley, und Eisen in die Hand gebe, und sie damit traben lasse: die mindeste Handlung, ja das bloße Wort: sie ist die Goͤttinn, der nichts widersteht, der alles weichen muß, ist besser, als eine mit Mordgeweh- ren wandelnde Figur. Kurz: nicht die Beschaffen- heit der Attribute selbst, daß sie fuͤrs Auge sind, auch nicht eben die Gehaͤuftheit der Attribute, ist der Fehler des Bildes, sondern die Komposition der- selben zu einer bloßen Symbole: zu einer Symbo- le, die nichts thut, die mit ihrem prosaischen nec abest, blos da steht, damit ihr nichts an ihrem Um- gehaͤnge fehle, damit sie als eine voͤllige Symbole in einem Gemaͤlde paradire — dies beleidigt den Le- K ser, Kritische Waͤlder. ser, insonderheit in einer horazischen Ode. Er ruffe ihr gleichsam zu, an der Handlung der Ode mit Theil zu nehmen, oder sich weg zu machen, auf ei- ne Leinwand, an eine Wand, in ein Gemaͤlde der Fortuna. Und wie kam Horaz zu der todten Figur? Wahrscheinlich, daß er sie von einem solchen Ge- maͤlde kopirte, daß er sie mit den Zuͤgen kopirte, mit denen sie vielleicht im Tempel zu Antium anzu- treffen war. Was also in einer Ode Horaz auf den locus communis des Gluͤcks ein befremdender Feh- ler seyn wuͤrde, das findet in einer Ode auf die Fortu- ne von Anzo wenigstens eine entschuldigende Deutung. Es verewigte ein Gemaͤlde, ein schoͤnes symbolisches Gemaͤlde, das ein Schatz des Tempels seyn konnte, in welchen diese Ode, als ein Schatz, auch hingehoͤr- te. Man kritisire Horazen nicht als Dichter, son- dern hier als Dichter fuͤr Anzo. Jch glaube hiemit auch den folgenden morali- schen Wesen Licht und Deutung gegeben zu haben, die man so sehr verkannt hat: Te Spes \& albo rara Fides colit Velata panno — Spence hat Unrecht, daß er in dieser Stelle eine duͤnngekleidete Figur findet Dialog. X. : allein er hat Recht, daß es eine malerische Figur sey, wie aus dem Zu- satze weiß gekleidet erhellet, und die Ursache weiß geklei- Erstes Waͤldchen. gekleidet darf ich nicht erst mit dem Scholiasten, in der alten Gewohnheit suchen, daß die Priester der Treue ihr Opfer mit weißverhuͤlltem Haupte brach- ten; ich habe sie naͤher: welche Kleidung kaͤme in ei- nem Gemaͤlde der Treue zu, als die Kleidung der Unschuld? Jst aber die Figur aus einem Gemaͤlde: wie unnuͤtz zerbricht sich Bentley den Kopf daruͤber, daß Hoffnung und Treue dem Gluͤcke als Begleite- rinnen beigegeben werden? Wenn dieß Gemaͤlde des Gluͤcks in Anzo war: wie reich und schoͤn waͤre die Vorstellung desselben! Nun faͤngt Horaz an, uͤber diese reiche Deu- tung zu allegorisiren: Hoffnung und Treue sind dem Gluͤcke zu Begleiterinnen gegeben — zu Be- gleiterinnen? „so werden sie dasselbe auch immer „begleiten! auch wenn es sein Kleid aͤndern, auch „wenn es die Pallaͤste der Großen feindlich verlassen „sollte. Das ist nur der treulose Poͤbel, das ist „nur eine meineidige Hure, die alsdenn zuruͤck tritt: „nur hinterlistige Freunde zerstieben, wenn die „Weinbecher leer sind: so sind nicht Hoffnung und „ Treue. „ Jch sehe hier so wenig Widerspruch Den groͤßten hat Bentlei gefunden. S. seinen Ho- raz uͤber diese Ode. , „als bei einer erbaulichen allegorischen Deutung, und zwar einer Figur, die ihrem Namen nach dop- pelsinnig ist, nur immer seyn kann. K 2 Und Kritische Waͤlder. Und mit dieser Deutung eben bahnet sich Ho- raz den Weg, seinen August, und den damali- gen Zustand des roͤmischen Reichs der Gluͤcksgoͤt- tinn zu empfehlen — eine Materie, die seine Ode schließet. Jch finde also nichts minder, als ein Abstraktum, das Gluͤck, in ihr abgehandelt: wie man etwa, wenn man sich die Ueberschrift aus ei- nem Woͤrterbuche erklaͤrt, meinen koͤnnte; es ist die Gluͤcksgoͤttinn in Anzo, eine roͤmischgesinnte Gluͤcksgoͤttinn, die auch nach den damaligen Um- staͤnden sich Roms annehmen soll. Aus Antium also, aus Rom, und aus der damaligen Zeit muͤssen auch die personifirten Jdeen dieser Ode Licht neh- men; oder man schielet. Auch Hr. Klotz scheint mit seinen Erlaͤuterungen aus Steinen und Muͤnzen Vindic. Horat. wohl nicht den Endzweck gehabt zu haben, sich selbst von dem poetischen Baue dieser horazischen Ode Re- chenschaft zu geben: wie es doch bei ihr vorzuͤglich angienge. Wenn uͤberhaupt der Gebrauch personi- firter Geschoͤpfe aus einem lyrischen Dichter erklaͤrt werden sollte; so ist der Erste dazu — Horaz, Er, der diese schoͤnen Gespenster ungemein liebt, und in Einfuͤhrung derselben sehr charakteristisch ist; ein Kenner Horaz zeige uns diese Seite! Aber auch der epische Dichter hat personifirte Jdeen noͤthig, die man gemeiniglich Maschinen zu nennen gewohnt ist — wie soll er sie erschaffen? Als Erstes Waͤldchen. Als symbolische Wesen des Kuͤnstlers, als Allego- rien, oder als handelnde Subjekte? Wenn ein Dichter es noͤthig hat, sich vom Kuͤnstler zu unter- scheiden, so ists der Dichter der Epopee, insonder- heit in seinen Maschinen — ich wollte, daß Hr. L. darauf gekommen waͤre! Jch weiß, daß manche sich Leidenschaften, Tu- genden und Laster und ein ganzes Heer moralischer Personen zu Maschinen personifirt haben: allein, ich weiß auch, wie frostig, wie uͤberfluͤssig diese Ma- schinen oft ganze Gedichte herunter erschienen sind, blos weil sie als personifirte Abstrakta erschienen, weil ihnen Jndividualitaͤt fehlte. Ein wirkliches Abstraktum in Person zu malen, ihm aͤußere Ge- stalt zu geben, um es dichterisch bekannt zu machen, geht ohne Symbole nicht an; denn im Jnnern, im Wesen eines abstrakten Begriffes liegen nicht Farben und Gestalten. Der Dichter laͤuft also Gefahr, daß, wenn er uns eine lange Seite herab, die Un- schuld, den Neid, die Naturlehre u. s. w. symbo- lisch gemalt hat, wir hinterher fragen: wie sah das Ding aus? Alle einzelne charakterisirende Zuͤge sind vergessen: wie kann ich sie zusammen nehmen, daß ein ganzes Bild vor mir stehe? Er hat die Arbeit der Danaiden gehabt, immer neue Zuͤge zu schoͤp- fen, die aber augenblicklich wieder wegschluͤpfen, und jetzt stehe ich, und habe in meinem loͤcherichten Siebe — nichts. K 3 Nun Kritische Waͤlder. Nun soll diese abstrakte Person als Maschine handeln; natuͤrlich nicht anders, als aus ihrem Wesen, wie die Unschuld, der Neid, der Zorn handeln muß. So sehe ich ja jeden ihrer Tritte voraus: jede ihrer Reden verrathe ich schon aus ih- rem Namen; nur diesen brauche ich, nur die Jdee selbst, und das Uebrige wird poetische Einkleidung, ein Redezierrath. Das ganze Wesen ist aus einem Begriffe geschaffen, und in ein Wort eingehuͤllt: kann es mich also ruͤhren? epische Bewunderung in mir erregen? mir einen ungewohnten großen An- blick gewaͤhren? Eine solche Schoͤpfung durch ein Wort, das jeder nachsagen, das jeder voraus aus- denken kann, ist — Spielwerk. Nein! Homers Maschinen sind keine abstra- kten Begriffe: es sind Subjekte, die aus sich han- deln, vollstimmige Jndividua. Nicht kann ich es aus einer willkuͤhrlichen Jdee errathen, wie hier und da Jupiter und Juno, und Minerva handeln werden, weil sie Einkleidungen dieser Jdee sind. Alle seine Goͤtter sind erdichtete Personen; aber Personen, mit vollstaͤndig bestimmter Denkart, mit Schwachheiten und Staͤrke, mit Fehlern und Tugenden, mit allem, was zu einem daseyenden Wesen gehoͤrt. Sie zeigen nicht blos Gedanken, Worte, Handlungen; sondern ich sehe auch aus der Art, aus dem Zusammenhange dieser Gedanken, Worte, Handlungen, daß sie aus dem Jnnersten eines Erstes Waͤldchen. eines Jndividuums fließen: der Poet bezaubert mich, daß, so lange ich lese, ich ein solches Wesen glaube. Jhr Herren Allegoristen, ihr Namen- schoͤpfer von Maschinen, ihr Jdeenbildhauer der epischen Dichtkunst — das thut ihr nicht! ihr malet, ihr schildert; und so lese ich euch auch, als Maler, als Schilderer; nicht als Dichter, nicht als zweite Prometheus, nicht als Schoͤpfer unsterb- licher Goͤtter und sterblicher Menschen. Auch die kleinen Wesen der Einbildung, welche die Bahn des homerischen Gedichts gleichsam nur einmal queruͤber durchgehen, Furcht, Schrecken, und die unersaͤttlich wuͤtende Zwietracht erscheinen bei ihm Iliad. Δ. v. 441. 42. Iliad. Ι. v. 2. persoͤnlicher, als Allegorien erscheinen: die letzte z. E. als die Schwester und Gesellinn Mars, des Menschenwuͤrgers, mit ihm in Gesell- schaft, mitten im Schlachtgetuͤmmel. Dieß alles daͤmpfet das Allegorische in der hohen Jdee, „daß „sie, anfangs klein, sich erhebe, und, indem sie „auf dem Boden der Erde einhergeht, ihr Haupt „in den Wolken habe,„ wir sehen immer doch mehr eine Person, als einen Begriff, unter einer Person vorgestellt. Fuͤr personifirte Abstrakta, fuͤr allegorische Maschinen, als solche betrachtet, hat Homer kei- nen Platz; nur den Reden seiner Helden Z. E. Agamemnons Rede von der Goͤttinn Ate T. 78. laͤßt ers, K 4 die Kritische Waͤlder. die Gebete u. s. w. zu allegorisiren, die also aus ih- rem Munde, nicht aber eigentlich aus seiner Schoͤ- pferhand kamen, die also gesprochen und gedacht, nicht aber dichterisch gebildet, gleichsam im Gedichte gesehen werden sollten. Aber auch selbst da sucht er sie, wo er kann, in das Licht eines bestehenden We- sens zu kleiden; er flicht sie in die Genealogie der Goͤtter; er giebt ihnen einen historischen Zug zu: er malt das Allegorische nicht aus mit Praͤdikaten, sondern laͤßt es kaum durch den Namen, durch die historischen Zuͤge, durch die dichterischen Attribute durchblicken. So wenig ists bei Homer Haupt- zweck zu allegorisiren, und am mindesten zu allego- risiren fuͤr Kuͤnstler. — — Hier Winkelmanns Werk von der Allegorie: ich bleibe aber bei zween andern Gefaͤhrten auf dem Wege: wie der Kuͤnstler den Dichter, insonderheit der griechische Kuͤnstler Homer nachahmen koͤnne? Diese Gefaͤhrten sind Caylus und Lessing. 13. Und duͤnke mich jetzt im besten Theile p. 119. — 149. des lessingschen Werks, wo es die Vorschriften des Grafen einschraͤnkt, wo es die Art der Vorstellung Homers, und eines Kuͤnstlers unterscheidet, wo es ein 78. \&c. Phoͤnix Rede von den Gebeten Iliad. Ι. v. 498. Erstes Waͤldchen. ein Muster von praktischem Scharfsinne ist. Mit Verwunderung also muß jeder Leser, der Lessingen verstehet, die verwirrenden Widerspruͤche Klotz geschnittene Steine hin und wieder. gelesen haben, die — — doch hieruͤber darf ich die Ver- theidigung des Verfassers selbst Hamb. Zeitung. 1765. No. 100. als bekannt vor- aus setzen. Jch gehe also ins Detail. „Homer bearbei- „tet sichtbare und unsichtbare Wesen; dieser Unter- „schied kann die Materie nicht angeben, bei ihr ist „alles sichtbar; und auf einerlei Art sichtbar.„ Laok. p. 130. „Das Mittel also, dessen sich die Malerei bedie- „net, uns zu verstehen zu geben, daß in ihren Kom- „positionen dieses oder jenes als unsichtbar betrach- „tet werden muͤsse, ist eine duͤnne Wolke p. 137. . „Diese Wolke scheint aus Homer selbst entlehnt „zu seyn p. 137. . „Wer sieht aber nicht, daß bei dem Dichter „das Einhuͤllen in Nebel und Nacht weiter nichts, „ als eine poetische Redensart, fuͤr unsichtbar „machen, seyn soll? Es hat mich daher jederzeit be- „fremdet, diesen poetischen Ausdruck realisirt, und „eine wirkliche Wolke in dem Gemaͤlde angebracht „zu finden p. 137. 138. .„ K 5 Mit Kritische Waͤlder. Mit dem Unterschiede, den Hr. L. angiebt, bin ich zufrieden; nur der Grund des Unterschiedes, den er angiebt, ist nicht der meine. Wozu soll die Wolke bei dem Dichter und Ma- ler? zur Verhuͤllung. Wo sie also nicht verhuͤl- len kann, da ist sie nicht Wolke mehr, da bleibe sie weg. So bei dem Maler. Sie soll verhuͤllen, und verhuͤllet nicht: sie laͤßt den verhuͤllten Helden noch sichtbar: er steht hinter einer spanischen Wand, und ruft uns zu: ich bin unsichtbar, ich soll nicht gese- hen werden: ich bin nicht zu Hause. „Diese Ursa- „che, duͤnkt mich, ist die wahre. Aber die, daß die Wolke aus einem Dichter entlehnt, bei ihm nichts als eine poetische Redens- art, bei dem Kuͤnstler hingegen eine wirkliche Wol- ke, und also ein poetischer Ausdruck auf eine befrem- dende Weise realisirt sey; „die Ursache scheint min- „der Stich zu halten.„ Homers Nebel ist ein poetischer Nebel; ist er aber damit eine poetische Redensart, ein kuͤnstlicher Ausdruck, statt „unsichtbar werden p. 137. ?„ Wenn Achilles nach dem in die Wolke verborgnen und schnell entruͤckten Hektor noch dreimal mit der Lanze zustoͤßt: soll dieß „in der Sprache des Dichters „weiter nichts heißen, als daß Achilles so wuͤtend „gewesen, daß er noch dreimal gestoßen, ehe er ge- „merkt, daß er keinen Feind vor sich habe?„ Jch darf Erstes Waͤldchen. darf sagen, daß ich bei Homer „eine solche Phrases- „sprache des Dichters„ nicht kenne, und nicht ken- nen mag. Homer, ein Feind aller kuͤnstlichen Fi- guren der Einkleidung, die nichts als solche, nichts als poetischer Zierrath, seyn sollen, (nach Hrn. Les- sings Erklaͤrung, was ist diese Wolke, diese poeti- sche Redensart anders, als eine solche Wortblu- me? ) Homer wird auf solchem Wege einer der nuͤchternen Dichter unsrer Zeiten, die prosaisch den- ken, und poetisch sprechen, deren gradus ad Parnas- sum die Zauberkammer ist, ihre Gedanken der Pro- se in eine Sprache des Dichters in poetische Redar- ten zu verwandeln. Bei solchen mag alsdenn eine prosaisirende Schuͤlerposition Statt finden: „er ward mit einer Wolke bedeckt, das ist: er ward aus den Augen des Feindes weggebracht: Achill stieß dreimal nach dem dicken Nebel: das ist: er war so wuͤtend, daß er noch nicht merkte, sein Feind sey weg. Was kaͤme aber heraus, wenn man so bei Homer laͤse, und auch seine Goͤtter, ihren Himmel ihre Geraͤthe u. s. w. durch ein solches, das ist: prosaisirte, und alles zu poetischen Phrasibus machte. Nein! Homer weiß von Redarten nichts, die nichts als solche waͤren. Der Nebel, in den die Goͤtter huͤllen, ist bei ihm wirklicher Nebel, eine verhuͤllende Wolke, die mit zum Wunderbaren sei- ner Fiktion, mit zum epischen μυϑος seiner Goͤtter ge- Kritische Waͤlder. gehoͤrt. So lange er mich in dieser poetischen Welt, in welcher Goͤtter und Helden kaͤmpfen, wie bezau- bert, vest haͤlt: so lange mich seine Minerva durch diese wunderbaren und schrecklichen Auftritte fuͤhrt, und mir die Augen erhoͤht hat, nicht blos streiten- de Menschen, sondern auch kaͤmpfende und verwun- dete Goͤtter zu erblicken; so lange sehe ich auch die- sen Nebel eben so glaͤubig, als den Gott selbst, der die Wolke um seinen Liebling webt. Beide, der Gott und seine Wolke, haben ein gleich poetisches Wesen; wenn ich das eine prosaisire, muß auch hin- ter den andern ein grammatisches das ist kommen, und dann verliere ich die ganze mythische Schoͤ- pfung in Homer. Jch bin nicht mehr in dem epi- schen Treffen eines Dichters sondern in einer histo- rischen Feldschlacht: ich lese nach der Taktik: ich se- he nach dem gewoͤhnlichen Augenmaaße. Hr. L. scheint darnach gesehen zu haben; wenig- stens uͤberredet er uns, darnach sehen zu koͤnnen p. 138. 139. . „Keinen wirklichen Nebel sahe Achilles nicht, und „das ganze Kunststuͤck, womit die Goͤtter unsicht- „bar machten, bestand auch nicht in dem Nebel — „sondern in der schnellen Entruͤckung. Nur um „zugleich mit anzuzeigen, daß die Entruͤckung so „schnell geschehen, daß kein menschliches Auge dem „entruͤckten Koͤrper nachfolgen koͤnne, huͤllet ihn „der Dichter vorher in Nebel ein; nicht weil man „an- Erstes Waͤldchen. „anstatt des entruͤckten Koͤrpers einen Nebel gese- „hen, sondern weil wir das, was in einem Nebel „ist, unsichtbar denken.„ Welche Unterscheidun- gen! welche Amphibolien! „Keinen wirklichen „Nebel sahe Achilles nicht.„ Ja! der poetische Held sahe ihn, und dreimal stieß er noch mit seinem Spieße nach dem Nebel. „Das Kunststuͤck, wo- „mit die Goͤtter unsichtbar machten, bestand in der „schnellen Entruͤckung!„ Wunderbar! wo ich mir schon wirksame Goͤtter, eine wunderbare Entruͤckung denken kann, und denke; bin ich da nicht ein Scru- pler, am Nebel abdingen zu wollen? „Nur weil die „Entruͤckung schnell vorgieng, huͤllt ihn der Dichter „ein; nicht, weil man einen Nebel gesehen, sondern, „weil wir das, was in einem Nebel ist, unsichtbar „denken.„ So! und deßwegen stoͤßt Achilles dreimal nach dem Nebel, nicht, weil er einen Nebel sahe, sondern, weil er das, was in einem Nebel ist, sich als unsichtbar dachte! O der homerische Don- Quixote! o der cervantische Homer! „Neptun verfinstert die Augen Achilles; in „der That aber sind des Achilles Augen nicht ver- „finstert, sondern — —„ Was man uns doch sagen will! Neptun gießt dem Achilles Dunkel um die Augen, er ruͤckt Aeneas fort: er hat ihn in Si- cherheit gebracht, ihn ermahnt, nicht wider Achil- les zu streiten, ihn verlassen — nun muß er erst zuruͤck kommen, um dem Achilles den Nebel von Kritische Waͤlder. von seinen Augen zu nehmen Iliad. ύ. v. 341. 342. \&c. , und Achilles — hat keinen Nebel vor Augen gehabt! es ist nur so so gesagt, daß seine Augen verdunkelt worden? — — Achilles bekommt das Licht seiner Augen wie- der, er erseufzet, er stutzt uͤber das Wunder: er sieht den Spieß auf der Erde, den Mann hinweg! er erstaunt, er spricht mit sich, mit seiner großen Seele, muthmaaßet auf die Goͤtter — —„ Wie? wird ein homerischer Orthodox sagen, ist es nicht ein straͤflicher Unglaube, an dem Nebel der Goͤtter zu zweifeln, wenn man ein so augenscheinliches Wunder der Verblendung, eine so feierliche Scene sieht! Wer homerische Goͤtter glaubt, muß auch die Wolke ihrer Hand glauben! — — Die Wolkendogmatik der griechischen Goͤtter muß Hrn. Lessing anders bekannt seyn, als mir: denn er faͤhrt fort, Dinge zu behaupten, die wider alle schoͤne Sichtbarkeit homerischer Erscheinungen laufen. „Unsichtbar seyn, sagt er, ist der natuͤrli- „che Zustand der Goͤtter Homers; es bedarf keiner „Blendung, keiner Abschneidung der Lichtstralen, „daß sie nicht gesehen werden; sondern es bedarf ei- „ner Erleuchtung, einer Erhoͤhung des sterblichen „Gesichts, wenn sie gesehen werden sollen. Zwar „laͤßt Homer auch Gottheiten sich dann und wann „in eine Wolke huͤllen, aber nur alsdenn, wenn sie von „andern Goͤttern nicht wollen gesehen werden Laok. p. 140. 141. .„ Fol- Erstes Waͤldchen. Folgendes wird zeigen, daß Hr. L. in seiner Wolken- theorie der griechischen Goͤtter — — ein Ketzer sey. „Unsichtbar seyn, ist der natuͤrliche Zustand der „Goͤtter;„ wie kommt es denn, wenn ich fragen darf, daß Goͤtter wider Willen koͤnnen gesehen werden? daß man sie unvermuthet uͤberraschen darf, wenn sie nicht gesehen seyn wollen? Es war ein Glaubensartikel bei den Griechen, daß nichts ge- faͤhrlicher sey, als ein solcher uͤberraschender An- blick Callimach. hym. in Pallad. Dianam \&c. , und mancher ungluͤcklicher Unschuldige hat- te daruͤber ein Opfer werden muͤssen. Pallas, die keuscheste der Goͤttinnen, die vor Keuschheit sich selbst kaum nackt zu sehen wagte, die wohl am mindesten unter allen Goͤttinnen jene falsche Jungfernscheu besaß, sich zu verstecken, und doch wollen gesehen zu werden, diese jungfraͤuliche Pallas waͤhlet sich den sichersten, den geheimsten Ort, um ihre Gorgone abzulegen: sie badet sich, und ein eben so ehrlicher Tiresias uͤberrascht sie, siehet sie wider seinen Wil- len, erblindet. Jndessen um den Unschuldigen ei- niger Maaßen schadlos zu halten, giebt Pallas — ihm nicht das Gesicht wieder; denn dies ließ ihre Jungfraͤulichkeit nicht zu; sondern die Gabe der Weissagung. Wie haͤtte Pallas wider ihren und Tiresias Willen uͤberraschet werden koͤnnen, wenn „unsichtbar seyn, der natuͤrliche Zustand der „Goͤtter waͤre?„ Wie Kritische Waͤlder. Wie der Pallas: so gieng es auch der baden- den keuschen Diana. Kalydon sah sie, ebenfalls wider seinen und der Goͤttinn Willen, und ward zu Steine. So gieng es selbst dem Jupiter, da er in seinem liebsten Vergnuͤgen einmal seine Wolke ver- gessen hatte. Er ward, da er bei der Rhea schlief, von Haliakmon, wider Willen seiner, und seiner geliebten Beischlaͤferinn, und seines Ueberra- schers, in seiner Schaͤferstunde gestoͤrt — wie das? wenn „ unsichtbar seyn, der natuͤrliche Zu- „stand der Goͤtter waͤre.„ Jch will solche gestoͤrte Schaͤferstunden der Goͤtter und Goͤttinnen nicht aufzaͤlen. Meine Mu- se ist diesmal nicht so, wie die Schwester des Amors, die — — wie die Maͤdchen alle thun, Verliebte gern beschleichet. — Jch fuͤhre, statt aller, das Epigramm aus der An- thologie Anthol. L. IV. c. 19. epig. 33. an, in seinem einfaͤltigen Scherze, in sei- ner naifen Schalkheit: „Werde ja niemand in „meinen Wassern eine der Najaden, oder die Ve- „nus mit ihren Gratien nackt gewahr: selbst wenn „es ohne Vorsatz seyn sollte; denn immer ist nach Ho- „mers Ausspruche der offenbare Anblick der Goͤtter ge- „faͤhrlich, und wer darf Homer widersprechen?„ Um die verborgne Schalkheit einzusehen, die in diesem Epi- gramm liegt, merke man sich den Doppelsinn, der in dem Erstes Waͤldchen. dem Worte „ offenbarer Anblick„ liegt, der Epigram- matist meint nackt; Homer meint „ohne fremde „Einkleidung, wie die Goͤtter sind.„ Die Stelle Homers bestaͤtigt also unsere Meinug: und scheint gar ein Axiom in der griechischen Mythologie ge- worden zu seyn. Juno naͤmlich, die dem Achilles zu Huͤlfe will, macht den Lehrspruch Iliad. Ι. v. 131. Χαλεποὶ δὲ ϑεοὶ φαίνεϑαι εναργεῖς. : daß, wenn Achilles einen Gott gegen sich sehen wuͤrde: so muͤßte er erschrecken: denn „fuͤrchterlich ist der Anblick der Goͤtter, wenn sie offenbar, (wenn sie ohne menschliche Einhuͤllung) erscheinen. Wie ist unsichtbar seyn also ihr natuͤr- licher Zustand? Nach diesem Axiom scheint Homer in Seiner gan- zen Goͤtterdichtung zu verfahren. Sind die Goͤt- ter unter sich, so sind sie auch unter sich sichtbar; sollen sie aber unter Menschen wirken — unerkannt oder erkannt, darnach richtet sich das Schema ihrer Erscheinung. Phoͤbus Apollo Iliad. Α. v. 47. (νυκτὶ ἐοι ὼς) steigt vom Himmel herab in seiner ganzen goͤttlichen Gestalt: Koͤcher und Bogen ruhen auf seiner Schulter: auf seiner Schulter klingen die Pfeile, bei seinem zorni- gen Gange. Nun hatte er sich schon von den Hoͤ- hen des Himmels herabgelassen, und gieng der Nacht gleich: bis er sich weit von den Schiffen L nieder- Kritische Waͤlder. niedersetzen, und seine pestbringenden Pfeile auslas- sen konnte. Warum muß er sich der Nacht gleich, das ist: mit Dunkel bedeckt, bei den Griechen vor- bei schleichen, und nur seine Gestalt annehmen, da er fern vom Anblicke der Schiffe und Menschen ist? — Wenn die homerischen Goͤtter schon an sich menschli- chen Augen unsichtbar sind, wenn es keiner Abschnei- dung der Lichtstralen bedarf, um nicht; sondern ei- ner Erhoͤhung des Gesichts, um gesehen zu wer- den? Will ich nicht wieder zur heiligen Allegorie fliehen, so ist die Wolke vergebens. Und wie oft haͤtte sie alsdenn Homer vergebens! Jn einem Nebel Iliad. Α. v. 359. (ἠΰτ’ ὀμίχλη) steigt Thetis aus dem Meere hervor, bis sie vor ihrem Sohn hinsaß, und sich ihm in Gestalt zu erkennen gab. Jn einer Wolke steigt sie zum Jupiter hinauf: eine dichte Wolke warf Jupiter Iliad. Θ v. 50. um sich, da er auf Jda saß, die Schlacht uͤbersehen, und nicht gesehen seyn wollte. Eine Wolke ist bei Homer mehr als einmal die Klei- dung der Goͤtter, wenn sie in einer Situation, die nicht auf andre wirkt, in einer intransitiven Stel- lung erscheinen. Jhr Koͤrper ist zwar nur, wie ein Koͤrper, der Lebenssaft ihrer Adern ist nur gleichsam wie Blut Iliad. Ε. v. 140. — 142. , d. i. nicht so grob und ir- disch, als ein menschlicher Koͤrper; doch aber immer Blut, das zu vergießen, ein Koͤrper, der zu ver- wunden, Erstes Waͤldchen. wunden, wie weit mehr zu sehen ist. So wird Venus von Diomedes verwundet, ob er sie gleich als Goͤttinn erkennet Ibid. v. 310. 331. : und um sie zu troͤsten, er- zaͤlt ihre Mutter Dione Ibid. v. 381. , was schon von jeher die Himmlischen von den Sterblichen haben erleiden muͤssen, wie Mars von zween seiner tapferen Fein- de gebunden, ins Gefaͤngniß geworfen, dreizehen Monate lang gefangen gehalten, und mit genauer Noth vom Merkur heimlich gerettet sey: wie Juno verwundet, Pluto verwundet — — was darfs, die mythologischen Geschichte her zu erzaͤlen, die alle wenigstens so viel zeigen, daß nach der homerischen Goͤttertheorie der Satz zu hoch klinge: „Unsichtbar „seyn, ist der Zustand der Goͤtter: einer Erhoͤhung „des Gesichts bedarfs, um nur von Menschen ge- „sehen zu werden, nicht aber einer Abbrechung der „Lichtstralen, um nicht gesehen zu seyn.„ Brauchts dieses nicht einmal, wie unmoͤglich, daß ein Gott wider Willen erkannt, gebunden, verwundet werde? Wenn er den menschlichen Augen seiner Natur nach nicht bloß entgeht, sondern dieselben durch ein Wun- der erst erhoͤhet werden sollen, wie sinnlos alsdenn, seiner Natur nach, verwundbar, fuͤr den Helden uͤberwindlich zu seyn? Man wird mir antworten: um einen Gott, um eine Goͤttinn zu erkennen, muß- ten dem Diomedes erst von einer andern Goͤttinn die Augen eroͤffnet werden; allein hier rede ich nur von L 2 dem Kritische Waͤlder. dem Verwundbarseyn durch seine Natur Auch Goͤtter gegen Goͤtter sind verwundbar, und Ju- piter laͤßt der Juno und Minerva drohen, daß, wenn sie nicht zuruͤckwichen, er sie auf zehn Jahre lang un- heilbar verwunden wolle. Θ 464. 475. , und schließe gerade hin: ein verwundbarer Koͤrper muß auch ein durch seine Natur nicht unsichtbarer Koͤrper seyn: wenn unser Auge ihn der Natur dessel- ben nach nicht treffen koͤnnte; wie koͤnnte nach der Natur des Goͤtterleibes meine Hand ihn treffen? Warum aber Minerva dem Diomedes erst den Nebel von den Augen nehmen mußte, um Goͤtter und Menschen in der Schlacht zu unterscheiden Iliad. Ε. v. 116. — 130. ? Jch kann gerade weg sagen: weil er poetisch einen Nebel vor den Augen hatte; allein ich will Homer prosaisch erklaͤren. Wenn die homerischen Goͤtter unmittelbar auf Menschen, und mit Menschen wir- ken; z. E. Streiten, Kaͤmpfen, Pferdelenken, kurz, menschliche Thaten thun wollen: so nehmen sie durch- gaͤngig bei Homer auch bloß menschliche Gestalten an: es heißt alsdenn jedesmal bei Homer: „er „gleichte sich diesem, oder jenem Helden Neptun. (Iliad. Ν. 45.) εισαμενος Κ λχαντι — Mi- nerva (Iliad. Χ. 227.) Δηϊφοβω εικυῖα — ( Iliad. δ. 86. 87. Η δε ανδρι ικελη Λαοδοκω \&c. .„ Und freilich in dieser Gleichung war der Gott nicht zu erkennen: denn er war menschlich eingekleidet: nur aus den uͤbermenschlichen Thaten, aus voͤllig wun- derba- Erstes Waͤldchen. derbaren Begebenheiten schlossen die Helden, daß hie oder da ein Gott seine Hand mit im Spiele ha- ben muͤsse. Sie fuͤrchteten sich also, einem so verklei- deten Gotte zu begegnen, weil es bei ihnen eine Ma- xime geworden: „keiner lebt lange, der einem Got- „te widersteht, oder schadet.„ Mit griechischer Ehrlichkeit fragt ein Held den andern, so offen zu seyn, und zu sagen: ob er ein Gott, oder ein Sterb- licher sey? damit er wisse, mit wem er zu thun ha- be. Und mit himmlischer Offenherzigkeit entdeckt sich der Gott, wenn er ins Gedraͤnge geraͤth, daß man ihm aus dem Wege weichen sollte. — — Kurzum! weil das ganze homerische Treffen voll verkleidet wandelnder Goͤtter ist, weil der Dichter diese Hypothese wissentlich allen Helden und Strei- tern voraus setzt: freilich so gehoͤrt eine Minerva dazu, um diese eingekoͤrperten Wesen vor andern Menschen kennbar zu machen. Aber nicht also, daß sie das Gesicht Diomedes erhoͤhen dorfte, um Unsterbliche zu sehen: denn die Unsterblichen glichen hier Menschen; sondern, um ihm diese und jene mordende Figur kennbar zu machen, daß sie etwas mehr sey, als wofuͤr er sie ansehe, daß sie kein Mensch, sondern ein wandelnder Gott sey Iliad. Ε. 126. — 130. , u. s. f. kurz! hier erscheinen die Goͤtter in einem hindernden Vehikulum gleichsam, und in diesem L 3 Vehi- Kritische Waͤlder. Vehikulum sollen sie kennbar, nicht sichtbar werden. Nun aber falle das Vehikulum weg, lasset sie blos Goͤtter seyn: die Wunde, der Schmerz bleibt ihnen, er ist nicht mit der Gestalt weggefallen, in der sie sich menschlich verkoͤrpert. Mars schreit auf — verlaͤßt die Schlacht, und geht himmelauf: die Gestalt des Acamas ist also weg, und sehet da! die Wolkenhuͤlle ist um ihn: mit Wolken gehet er zum Himmel Iliad. Ε. 867. . Und noch in seiner himmlischen Gestalt fuͤhlt er den Schmerz, den ihm ein Mensch zufuͤgen konnte? ist die Wunde nicht der Gestalt Acamas geblieben? sie gehoͤrt Mars: der himmli- sche Arzt muß sie heilen; sein goͤttlicher Koͤrper war seiner Natur nach also verwundbar, wie also eben seiner Natur nach nicht sichtbar? oder gar nicht an- ders als unsichtbar? Nein! mein Homer ist viel zu sinnlich, als daß er sein ganzes Gedicht durch von so geistigen Goͤt- tern, und von so feinen Allegorien, was die Wolke hie und da bedeutet? wissen sollte. Einem persi- schen Epopoͤisten wuͤrde eine solche innere Unsichtbar- keit der Goͤtter gefallen haben; allein ein griechisches Auge will in der Epopee auch an Gottheiten schoͤne Koͤrper und himmlische Gestalten erblicken: es will sie schon ihrer Natur nach in dieser schoͤnen Sicht- barkeit sehen, und nicht erst durch ein Wunder, oder durch Erstes Waͤldchen. durch die außerordentliche Gnade des Dichters, eine Erleuchtung, eine Erhoͤhung des sterblichen Gesichts noͤthig haben, sie anzuschauen. Fuͤr solch ein Auge sind die griechischen Goͤtter geschaffen. Hat aber der Dichter es noͤthig, sie nicht sehen zu lassen: so kleide er sie in eine Wolke; er werfe Nebel vor unsere Augen. Eine solche Wolke, in der sie erschienen, hat außerdem ja so manche hohe Nebenbegriffe: den Begriff des Himmlischen und Erhabenen, der einem himmlischen Wesen zukommt: ist sie glaͤnzend, so der praͤchtigste Thron eines uͤber- irdischen Regenten; dunkel, so das Gewand des Zornigen und Fuͤrchterlichen; schoͤn duͤftend, so die Verkuͤndigerinn einer lieblichen angenehmen Gottheit — alle diese Nebenideen liegen schon in unserm sinnlichen Verstande: sie haben den Dichtern aller Zeiten die vortrefflichsten Bilder geschaffen: und Homer sollte diesen edlen Gebrauch der Wolke unter- lassen, nicht eingesehen haben? Er allein haͤtte da- mit uns blos ein Hokuspokus einer poetischen Re- densart machen wollen, um hier eine Entruͤckung, dort eine innere Unsichtbarkeit, doch nicht so gerade heraus zu sagen — ich sage nochmals, so kenne ich Homer nicht. Freilich in den spaͤtern Zeiten, da man die home- rische Mythologie quintessenziirte, und aus ihr ein paar Tropfen metaphysischen Geist abzog: da wußte man nicht gnug von der innern Unsichtbarkeit der L 4 Goͤt- Kritische Waͤlder. Goͤtter, von ihren mystischen Erscheinungen, von dem Ueberirdischen ihrer Epiphanien u. s. w. zu ver- nuͤnfteln; allein solche Theophanien, solche seine Metaphysik uͤber die Natur der Goͤtter, gehoͤrt in den Kreis der spaͤtern Platonisten und Pythagoraͤer, und in das heilige Murmeln ihrer Geheimnisse. Jch denke doch aber, daß wir hier nicht uͤber Jamblichus, sondern Homer, reden. — Kurz! ich bin mit der Ursache zufrieden, daß, wenn der Maler mit seiner Wolke nicht unsichtbar machen kann, er auch dem Dichter die Wolke nicht nachaͤffen darf: und was brauchts da weitere Alle- gorien und Deutungen uͤber den Dichter, unter de- nen der Dichter verlohren geht? Nach meinem Ge- fuͤhle gebuͤhrt den griechischen Goͤttern die schoͤnste Sichtbarkeit und Jugend als ein Praͤdikat ihres Wesens: und ohne solche sich einen Apollo, einen Bacchus, einen Jupiter denken zu sollen, sich die Unsichtbarkeit als den natuͤrlichen Zustand der Goͤt- ter vorstellen zu muͤssen — das kann keine griechi- sche Seele: kein griechischer Dichter und Kuͤnstler, ja selbst kein weiser Epikur. Mit dem Begriffe schoͤner Sichtbarkeit geht das Wesen der Goͤtter, das Leben ihrer Geschichte und Thaten, die so genau be- stimmten Stuffen ihrer Jdealgestalten, das An- ziehliche ihres Umganges mit Menschenkindern: das ganze Kraftvolle der Mythologie verlohren. Jch sehe nicht mehr die schoͤnen sinnlichen griechischen Goͤt- Erstes Waͤldchen. Goͤtter: ich sehe sichtbar seyn wollende Phantome! Mit einer solchen Hypothese ist meine beste mytholo- gische und poetische, und Kunstentzuͤckung getoͤdtet! Jch mag die ketzerische Neuigkeit nicht: ich bleibe bei der alten griechischen Rechtglaͤubigkeit. 14. „Auch die Groͤße der homerischen Goͤtter kann „der Maler nicht nachahmen!„ und was Hr. L. daruͤber sagt p. 131 — 136. Laok. , laͤuft auf die drei Ursachen hinaus: daß in der Malerei weniger das Wunderbare der poetischen Einbildung, sondern mehr die Gewohnheit zu sehen, die anschauliche Wahrheit des Auges herrsche: zweitens, daß, da die Malerei innerhalb einem Raume arbeitet, auch mehr die Proportion und Disproportion in Betracht komme, als bei dem Dichter, dessen Einbildungskraft in allen Welten des Moͤglichen und Wirklichen, nicht bloß also zwi- schen Himmel und Erde, und am wenigsten zwischen vier engen Seiten wirket. — Drittens, daß, wo die Groͤße durch Kraft, Staͤrke, Schnelligkeit vom Dichter ausgedruͤckt werden konnten, der Maler in diesem Ausdrucke ihm ganz nachbleibe, da er, der fuͤr den Raum arbeitet, nicht eben Kraft, und der, der fuͤr seinen Anblick arbeitet, nicht eben Schnel- ligkeit der Bewegung zum Mittelpunkte seiner Wirk- samkeit machen kann. — Es koͤnnte diesen Ursa- L 5 chen Kritische Waͤlder. chen ein sehr philosophischer Mantel umgeworfen werden, wenn er des Macherlohns werth waͤre. Jch bleibe gar zu gerne bei Homer, insonderheit wenn Hr. L. den Ausleger desselben machet. — „Groͤße, Staͤrke, Schnelligkeit, sagt Hr. L. — „Homer hat davon noch immer einen hoͤhern wun- „derbaren Grad fuͤr seine Goͤtter im Vorrath, als „er seinen vorzuͤglichsten Helden beilegt. Jn An- „sehung der Staͤrke und Schnelligkeit wird nie- „mand diese Assertion in Abrede seyn; nur doͤrfte „er sich vielleicht der Exempel nicht gleich erinnern, „aus welchen es erhellet, daß der Dichter seinen „Goͤttern auch eine koͤrperliche Groͤße gegeben, die „alle natuͤrliche Maaße weit uͤbersteiget. „Selbst Ausleger des Homers, alte sowohl als neue, „scheinen sich nicht allezeit dieser wunderbaren Sta- „tur seiner Goͤtter gnugsam erinnert zu haben, wel- „ches aus den lindernden Erklaͤrungen abzunehmen, „die sie uͤber den großen Helm der Minerva geben „zu muͤssen glauben„ Laok. 135. . Hr. L. hat die Clarkisch-Ernestinische Ausgabe des Homer hiebei angezogen, und so sind leicht die Ausleger des Homers, alte sowohl als neue, gnug- sam zu erkennen, die sich der wunderbaren Statur der Goͤtter Homers nicht gnug erinnert; sie sind E. 744. ed. Clark-Ernest. Eustathius, Clarke, der durch seine Anfuͤhrung Eustathius genehmigt, und Ernesti, welcher letztere die Erstes Waͤldchen. die homerische Beschreibung des Helms der Miner- va mehr auf die Vestigkeit, als Groͤße desselben will gezogen wissen. Wie nun? ist die alle natuͤr- liche Maaße weit uͤbersteigende koͤrperliche Groͤße ein Charakter der homerischen Goͤtter? ein eben so offenbarer, kenntlicher und nothwendiger Charakter- zug, als Schnelligkeit und Staͤrke? und denn noch zum Ueberfluß haben die alten Meister der Bild- hauerei, wie Hr. L. uͤberzeugt ist, das Kolossalische, das sie oͤfters ihren Statuen ertheilten, aus dem Homer entlehnet? So viel ist leicht zu denken, daß, wenn der Dich- ter seinen Goͤttern eine mehr als Helden- und Rie- senstaͤrke giebt, er diese Staͤrke auch nicht in einen Pygmaͤenkoͤrper werde eingeschlossen haben: etwas, das wider alle poetische und menschliche Wahrschein- lichkeit liefe. Es waͤre dem Anschaulichen des Dich- ters voͤllig entgegen, menschenaͤhnliche Goͤtter mit unermaͤßlicher Staͤrke wirken, und unter dem ge- woͤhnlichen Grade von Menschengestalt sehen zu las- sen. Jn mystischen Geheimnissen waͤren solche Goͤt- ter willkommen, weil man um so mehr seine Ge- schicklichkeit zeigen kann, Knoten aufzuloͤsen, je mehr Knoten und Widerspruͤche man geschlungen: aber im Felde der offenbaren Poesie sind solche Wesen Mikromegas. Daß also die Statur des Koͤrpers der geaͤußerten Staͤrke nicht durchaus, und schon dem sinnlichen An- Kritische Waͤlder. Anblicke nach widerspreche! Nun aber weiter: wo kein uͤbermenschlicher Grad der Staͤrke geaͤußert wird: da ist auch keine uͤbermenschliche Groͤße noͤ- thig, waͤren es auch Goͤtter oder Goͤttinnen. Ja, wo es gegentheils zum Charakter dieser und jener Gottheit gehoͤrt, diese uͤbermenschliche Staͤrke nicht zu besitzen; da waͤre die hypergigantische Statur in dem Anschaulichen der Dichtkunst ein unleidlicher Wi- derspruch. Jch denke, meine Folgerungen sind wahrscheinlich, und sie sollen gewiß werden. Ho- mer sei Zeuge: sein Jupiter, sein Neptun, sei- ne Minerve moͤgen so groß seyn, als sie wollen; eine Juno von koͤniglicher Schoͤnheit schon nicht voͤllig so. Sie mag so viel Großes in ihrem Anblicke haben, daß er sie kuhaͤugicht Βοωπις ποτνια Ηρη. nenne; so viel Erhabenes in ihrem Gliederbaue, als dem Weibe gebuͤhrt, das in Jupiters Armen ruhet: sie mag, wenn sie sich zornig auf ihrem himmlischen Throne reget, den großen Olymp erschuͤttern Iliad. ϑ’. 198. 199. — Jdeen von ihrer Hoheit und Groͤße! Nur daß diese im eigentlichen Verstande mir nicht zuerst durch die koͤrperliche Statur vorgestellt werde: daß sich nicht auf diese, als auf den Hauptanblick, mein Auge hef- ten doͤrfe: sonst verliere ich die Koͤniginn der Goͤtter, die herrlichste der Goͤttinnen aus den Augen: ich sehe ein Riesenweib. Wo hat sie alsdenn, die Lang- streckige? wo hat sie alsdenn im Himmel Raum? wie Erstes Waͤldchen. wie groß muß ihr himmlisches Brautgemach Iliad. ξ’ 163. etc. seyn, das ihr Vulkan erbauet? wie groß der Schluͤssel und das Schloß zu diesem Gemache ν. 168. , das kein Gott eroͤffnen kann, als sie? wie viel Centner Am- brosia wird sie brauchen, um ihren Koͤrper Αμβροσιῃ μεν πρωτον απο χροος ιμεροεντος Λυματα παντα κατῃρεν, αλειψατο δε λιπ’ ελαιω. Iliad. ξʹ 171. 172. zu saͤubern? wie viel Tonnen Oel, um ihn zu salben? wie groß wird ihr Kamm, ihr Guͤrtel, ihr Schmuck seyn? wo wird sie mit Jupiter auf dem Berge Jda in ihrer suͤßen Umarmung ξʹ 345. etc. Raum haben? wie, wenn er sie in seine Arme faßt, an seine koͤnigliche Brust druͤckt, wie wird Jda und die Erde beben? — — Jch mag nicht weiter, gnug! alles Suͤße und Große in dem Gemaͤlde Homers von ihrer An- kleidung, Auszierung, und Umarmung Iliad. ξʹ v. 153. etc. , verschwin- det mit der unermaͤßlichen Gestalt. So bald auch nur mit einem Einigen kenntlichen Zuge die gigan- tische Statur zum Hauptaugenmerke wuͤrde: so schwinden die Graͤnzen der Schoͤnheit, oder wenn man lieber will, der hoͤchsten Vollkommenheit im weiblichen Gliederbaue, Mein Auge erliegt, wenn es ins Ungeheure soll, und die Bewunderung, die ich jetzt fuͤhle, verwandelt sich in eine Art von grau- envollem Selbstgefuͤhle, und Schauder und Ekel. Hat Homer nicht also gut gethan, daß er „seiner „Goͤt- Kritische Waͤlder. „Goͤttinn nicht so offenbar eine koͤrperliche Groͤße gab, „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberstiege.„ Bei seiner Venus waͤre diese noch von uͤblerer Wirkung. Wenn sie ihm die das suͤße Lachen lie- bende Goͤttinn φιλομμειδης Αφροδιτη. ist: wo bleibt das suͤße Lachen im Riesengesichte eines Weibes? Der Mund moͤge sich auch nur zum Laͤcheln verziehen wollen: die Lippen sich auch nur von fern dazu regen; der sich verzie- hende Mund duͤnkt mich Verzerrung, das sich mel- dende Lachen wird Grimasse, und das ausbrechende Lachen ungeheures Gelaͤchter. Und wie ungereimt duͤnkt mich alsdenn diese Riesengestalt, wenn sie uͤber eine Ritzung ihrer Haut am Finger schreiet, klaget, weinet, und den ganzen Himmel erreget! Kurz! wo Groͤße und Staͤrke nicht das Haupt- stuͤck im Charakter einer Gottheit ausmacht, da ist die uͤbermenschliche Natur auch nicht ein nothwendiges Augenmerk? Wo der Charak- ter der Gottheit damit aber gar nicht bestehen kann, z. E. die hoͤchste Vollkommenheit eines weib- lichen Gliederbaues in der Juno, und die liebreizend- ste Schoͤnheit in der Tochter Dionens: da bleibe sie unsern Augen weg. Diese koͤnnen, als mensch- liche Augen, das Jdeal der hohen sowohl als der lieblichen Schoͤnheit eines menschlich scheinenden Koͤr- pers, nicht anders, als mit natuͤrlichem Maaße be- stimmen: zwar mit dem Unterschiede, daß in der Male- Erstes Waͤldchen. Malerei dies Maaß in den Graͤnzen der Kunst bleibt, in der Poesie aber sich zu der Stuffe erheben kann, die fuͤr die Phantasie des Menschen die hoͤchste ist; daß aber auch dies Hoͤchste fuͤr die Phantasie uͤber- schaulich, in seinem natuͤrlichen Maaße bleibe. Geht dies Anschauliche Ganze verloren, uͤbersteigt die Statur der Juno und Venus, auch nur in einer Li- nie, die Groͤße, in welcher ich mir koͤrperliche Voll- kommenheit und Schoͤnheit gedenke: so hat der Dichter seinen Eindruck verfehlt. Nach einmal an- genommenem Charakter, laͤßt sich nicht, wie er will, den Goͤttern eine Groͤße geben, die alle natuͤrliche Maaße uͤbersteigt; in dem natuͤrlichen Maaße, da sich koͤrperliche Schoͤnheit fuͤr meine Phantasie haͤlt, muß sich auch seine Groͤße der Venus und Juno halten — — Nun selbst die Gottheiten, deren Charakter und Jndividualitaͤt einmal eine Aeußerung vorzuͤgli- cher Staͤrke will: Minerva, der gewaltige Erd- umfasser Neptun, und denn der maͤchtigste aller Goͤtter, Jupiter; Und ich wiederhole aufs neue: daß bei ihnen die koͤrperliche Groͤße ihren Wir- kungen nur nicht widerspreche: nicht aber, daß von Groͤße auf Staͤrke bei Homer der Schluß gemacht werden doͤrfe! Homer gab uns keinen Einzigen der Goͤtter ge- malet: so auch nicht ihre, „alles natuͤrliche Maaß „uͤber- Kritische Waͤlder. „uͤbersteigende Groͤße„: er zeigt uns ihre Natur in Wirkung, in Bewegung. Der große Jupiter! aber ist er bei Homer deß- wegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans, von einer seiner Augenbranen bis zur andern sieben Tagereisen haͤtte? Das wuͤrde uns Jupiter der Un- geheure, nicht aber der Große duͤnken: Homer weiß also bessern Weg. Er winkt mit seinem schwaͤrzlichen Augenbranen der Thetis sein hoͤchstes Zeichen zu: das ambrosische Haar auf dem un- sterblichen Haupte des Koͤniges wallet, und der große Olympus bebt Iliad. Αʹ 528. — das ist der große Ju- piter! Nicht wie lange, sondern wie machtvoll seine Augenbrane und sein Haar sey: nicht wie ge- raͤumig, sondern wie gebietend das Haupt des un- sterblichen Koͤnigs: das ist das Augenmerk des Dichters. Das ist Jupiter, der Maͤchtige! Zevs, der Staͤdteverwuͤster. Einmal Iliad. Θ. 17-27. will dieser Jupiter seine uͤberwiegende Macht vor allen Goͤttern recht ausdruͤcken: er mis- set sich also mit ihnen — aber an koͤrperlicher Groͤße? an Laͤnge der Arme? an Staͤrke der Sehnen? un- wuͤrdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen bessern Vorschlag an seine Goͤtter und Goͤttinnen. Alle sollten sich an die himmelherab hangende gol- dene Kette haͤngen, und mit allen Kraͤften ziehen: den Jupiter wuͤrden sie damit nicht vom Himmel zur Erstes Waͤldchen. zur Erde reißen koͤnnen; ich aber, faͤhrt er fort, „wenn ich ziehen wollte, mit Erde und Meer wuͤrde „ich sie aufziehen, alsdenn die Kette um den Gi- „pfel des Olympus schlingen: da hingen sie Alle in „der Hoͤhe. So weit maͤchtiger bin ich, als Goͤtter „und Menschen.„ Es kann kein erhabener und einfaͤltiger Bild gefunden werden, als dies von der Uebermacht des hoͤchsten Gottes; allein ein Bild von der Uebergroͤße dieses Gottes uͤber Goͤtter und Menschen findet sich nicht. So wird die Groͤße Neptunus durch seine Schritte Welch ein Bild giebt der auf Jda die Waage des Schicksals haltende Jupiter! Die Schaale der Grie- chen sinkt zur Erde: die Schaale der Trojaner steigt zum Himmel — wie stark ist der waͤgende Arm des Gottes! Θ. 339. Solche Bilder liefert Homer, und keine Maasstaͤbe! mehr errathen und angedeutet, als ge- schildert: denn eine Ausmessung seiner ganzen Ge- stalt, nach Maasgabe dieser Schritte, waͤre unge- heuer und nicht Homerisch. Vielmehr hat der weise Dichter auch hier in Aeußerung der Groͤße durch die Staͤrke, und der Staͤrke durch Bewegung eine Leiter gesetzt, um nach der Stufe seiner Goͤtter auch ihnen die Wuͤrde zuzuwiegen, die die groͤßeste Kraft mit der groͤßesten Sparsamkeit des Ausdrucks aͤußert. So wie der Hoͤchste der Goͤtter seine Groͤße durch einen Wink: so zeigt der Naͤchste nach ihm M an Kritische Waͤlder an Hoheit, Neptun, die seinige eine Stufe tiefer — schreitend Iliad. Ν. 10. — 45. . Die Groͤße Minervens wird wieder durch ihre Staͤrke gemessen, da sie einen ungeheuren Stein Iliad. Φ. 403. ergreift, und den langstreckigen Mars zu Boden wirft. Vielleicht aber legt Hr. L. mehr Ge- wicht in diesen Stein, als Homer in ihn legen woll- te. „Er war ein schwarzer, rauher, großer Stein, „der zum Grenzstein dahingewaͤlzet war von Maͤn- „nern voriger Zeiten.„ Ob nun mit diesem Homer den Maasstab machen wollen: daß ein Held seiner Zeit gleich zween Maͤnnern, und ein Held alter Zeit gleich zween Helden, und dieser Stein also gleich so viel vierfach zusammengesetzten Mannskraͤften be- rechnet werden muͤsse, als Maͤnner ihn gelegt hat- ten, weiß ich so genau nicht. Homer kann vielleicht blos sagen: es war ein uralter Grenzstein. — Auch die Groͤße des Helms der Minerva Iliad. Ε. 737. ist mir noch strittig; ob sie nach Maas oder Gewichte zu berechnen sey. „Um ihre Schultern legt Pal- „las die fuͤrchterliche Aegis: die ringsum von Furcht „umgeben, in der die Zwietracht, und die Staͤrke, „und die wilde Mordlust: in der auch das Haupt „der Gorgone des abscheulichen Ungeheuers einge- „graben war, fuͤrchterlich, graͤulich, das Schreck- „bild des donnernden Zevs — aufs Haupt setzte sie „den goldnen Helm — — εκατον πολεων πρυλεεσσ’ αραρυιαν. Was Erstes Waͤldchen. Was ist nun das letzte, der den Fußvoͤlkern aus hundert Staͤdten gnug war? Es sey, wie Er- nesti will, der den Anfall einer Armee aus hun- dert Staͤdten, geschweige denn aus einer, aus- halten koͤnnte. Oder wie der Scholiast will, der die Bilder von Fußvoͤlkern aus hundert Staͤd- ten auf sich haͤtte eingegraben haben koͤnnen: alsdenn stimmt diese Erklaͤrung in den Zusammen- hang der Beschreibung von der fuͤrchterlichen Aegis. Oder wie andre wollen, der Helm, den die Fuß- voͤlker aus hundert Staͤdten zu heben, zu tra- gen kaum hinreichten: diese Erklaͤrung duͤnkt mir nach dem Tone Homers die beste; denn sie giebt das staͤrkste Bild von der innern Macht der Goͤttinn, die sich hier in dem Tragen eines Helms, auf eine stille erhabne Weise aͤußert. — Es sei indessen welche von diesen Erklaͤrungen es wolle: keine ist erdacht, um die Stelle zu lindern, sondern nur den Sinn Homers zu erklaͤren, und nach allen duͤnkt mir doch die, obgleich uralte, die Hr. L. annimmt Laok. p. 135. : „der „Helm, unter welchem sich so viel Streiter, als „hundert Staͤdte in das Feld zu stellen vermoͤgen, „verbergen koͤnnen,„ diese duͤnkt mir unter allen die letzte. Wo ist je ein Helm dazu gewesen, um zu sehen, wie viel Streiter unter ihm Raum haben? wie muͤssen die Helden stehen, wenn sie mit dem Helme, wie mit einem Scheffel sollen gemessen wer- M 2 den? Kritische Waͤlder. den? wie waͤre also Homer auf dies kindische oder romantische Bild gekommen, die Streiter von hun- dert Staͤdten, sich in einem allgemeinen Blindekuh- spiele hierunter verkriechen zu lassen? u. s. w. Kurz- um! Homer giebt doch kein Maas der Minerve an ihrer Statur des Koͤrpers geradehin; sondern laͤßt uns den Schluß von ihrem Helme auf ihre Groͤße, oder, wenn die mir schicklichste Erklaͤrung goͤlte, viel- mehr auf ihre innere Staͤrke, „sie setzte den Helm „aufs Haupt, der den Kraͤften eines Fußvolks „aus hundert Staͤdten zu schaffen geben koͤnnte,: welch ein stilles Bild ihrer goͤttlichen Staͤrke! Mars, der Menschenwuͤrger, in allem roh und ungeheuer, in seinem Anfalle und in seinem Geschreie — warum sollte ers nicht auch in seinem Hinsturze seyn? Und da erlaubt sich Homer das Bild, daß er, so wie er zehn tausend Menschen gleich auf- schreien, auch im Falle sieben Hufen Landes Iliad. Φ. 407. be- decken kann: ein gigantischer Kerl! aber das ist auch Mars! Wuͤrde Homer jeden andern Gott ihm nachschreien, und im Falle nachstrecken lassen? Wie wuͤrde wohl der hohen Jund, oder der lieblichen Ve- nus eine so seltene Stellung lassen? — Zudem mißt Homer seinen Kolossus, da er liegt: aufrecht wag- te ers nicht, uns den ungeheuren Aufblick abzu- zwingen. Zudem ists blos im Kampfe der Goͤtter mit Goͤttern, wo Homer alle Kraͤfte zusammen nimmt, Erstes Waͤldchen. nimmt, einen Gigantenkampf, der sich von einem menschlichen Gefechte unterschiede, zu schildern. Jn Schlachtordnung mit Menschen zusammengestellt, Fuͤhrer menschlicher Heere, ist die uͤbermenschliche Statur „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberstei- „get, „ganz verschwunden. Mars und Minerve, da sie ein Heer auf dem Schilde anfuͤhren, koͤnnen sich durch goldene Kleider, durch Schoͤnheit, durch eine ansehnliche und auszeichnende Statur in ihrer Ruͤstung unterscheiden; denn sie sollen ja Goͤtter auf dem Schilde vorstellen — sie koͤnnen in dieser ansehnlichen Gestalt vorragen, und die Menschen- voͤlker etwas niedriger Iliad. Σ. 516-19. seyn; aber an einen sieben Hufen langen Mars ist ja hier nicht zu gedenken, und ich weiß nicht, wie Hr. L. eine Stelle fuͤr sich anfuͤhret Laok. p. 136. , die nur sehr wenig von seiner Asser- tion beweiset. Homer lindert die Groͤße der unter Menschen wandelnden Goͤtter hier so, als sie Clarke und Ernesti am vorigen Orte nicht lindern wollten, und uͤberhaupt gehoͤrt die Vorstellung auf dem Schilde hier nicht zur Sache. Es ist Zeit, daß ich ein Ende mache. Groͤße, Staͤrke, Schnelligkeit sind bei Homer nicht gleich wichtige Praͤdikate, um seine Goͤtter von seinen vor- zuͤglichsten Helden zu unterscheiden Laok. p. 135. . Selbst von Staͤrke und Schnelligkeit wird niemand, der den Homer auch nur ein einziges mal fluͤchtig durchla u - M 3 fen, Kritische Waͤlder. fen, diese Assertion zugeben. Diomedes uͤberwaͤl- tigt die unkriegerische Venus, und Diomedes war doch nicht einmal Achilles. Er uͤberwaͤltigt Mars, und hier mag Dione fuͤr mich das Wort fuͤhren Iliad. Ε. 381. etc. . Der Jndividualcharakter der homerischen Goͤtter und Goͤttinnen ist also das Hauptaugenmerk, nach welchem sich auch ihre Groͤße und Staͤrke richtet. Hier kommt kein Allgemeinsatz in Betrach- tung: Charakter ist hier uͤber Gottheit. Es giebt also bei ihm Goͤttinnen, die an Staͤrke unter den Helden bleiben: Goͤttinnen also auch, die an Groͤße den Menschen gleich seyn muͤssen: Goͤtter, die eben nicht groͤßer seyn doͤrfen. Fuͤr das erste zeuge Venus: fuͤr das zweite Juno, Venus, und viel- leicht alle Goͤttinnen: fuͤr das dritte Apollo. Ferner: Groͤße ist niemals Hauptzweck des Dichters, um aus ihr Staͤrke zu folgern; sondern nur immer da, um dem Bilde der Macht und Ho- heit nicht zu widersprechen. Kann diese also durch andre Merkmaale erkannt werden, um so gefaͤlliger dem Dichter: und welches ist ein besseres Kennzeichen von Hoheit, als Macht in der Wirkung, Schnelligkeit in der Bewegung? Aus dieser also laͤßt Homer auf jene schließen: nicht aber umgekehrt. Aus dem Winke Zevs, aus dem Schritt Neptuns, aus dem Wurfe der Minerva auf ihre Groͤße, nicht aber im Gegentheil. So Erstes Waͤldchen. So wie Er gerne in seiner Schoͤpfung zwischen Himmel und Erde bleibt Iliad. Θ. 13-16. : so uͤberspannet er auch nie gern die Phantasie in dem Maaße der Groͤße. Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge- streuet, und gelindert. Jnsonderheit unter Menschen gelindert: denn zu einem Goͤttertreffen Iliad. Γ. 385 — , und einem Goͤtterhimmel, ist schon eine kleine Ueberspannung zum Wunderba- ren μωρον seiner Goͤtter nothwendig. Wer kann etwas schildern, das er nie gesehen, das er blos durch Menschenerhoͤhung trifft? Und auch hier ists fuͤr mich kein Axiom, „daß „der Dichter seinen Goͤttern eine Groͤße gegeben, „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤbersteiget.„ Denn Homer hat bei dem Unendlichen selbst lauter natuͤr- liche Maaße, und auch deßwegen unter tausend an- dern Ursachen ist er mein Dichter. Ob endlich die Bildhauer das Kolossalische, das sie ihren Goͤtterstatuen oͤfters ertheilten, aus Homer entlehnt? Laok. p. 136. — Diese Frage duͤnkt mich so, als jene indianische: worauf ruht die Erde? auf einem Ele- phanten! und worauf der Elephant? — Von wem naͤmlich mag denn Homer das Kolossalische entlehnt haben, das er, hie und da, diesem und jenem Gotte giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den Ursprung von diesen und mehreren homerischen M 4 Jdeen Kritische Waͤlder. Jdeen finden, insonderheit an Orten, wo das Alte der Goͤttererzaͤlung, wo die Tradition von mytho- logischen Anekdoten herrschet, die statt des Schoͤ- nen, nach welchem er sonst seine Goͤtter schaffet, ins wuͤste Große gehen. Jch habe Lust, uͤber ein Paar Proben dieser Behauptung einige fliegende Schriftchen Harles de Jove Homeri \&c. zu lesen, die zu gut scheinen, um un- ter Schristen ihrer Art zu verfliegen, insonderheit, da mir die Ausgabe im Ganzen betrachtet: „was „hat Homer von den Aegyptern entlehnet? wie hat „er die alten Sagen voriger Zeiten in das Schoͤ- „ne seiner Kunst veraͤndert?„ groß und noch un- genutzt vorkommt. 15. Einige Bilder, die Hr. L. aus Homer an- fuͤhrt Laok. p. 143. 151. , sind nicht uͤbersetzt, nur indirekte, und nach einzelnen Zuͤgen vorgestellt — sie enthalten aber noch in dieser Vorstellung so viel Leben, daß ich an der Uebersetzung Homers, durch einen Origi- nalgeist, in unsere Sprache nicht verzweifle. Jch lese Gott Lob! meinen Homer in seiner Sprache: noch immer aber wuͤrde ich ihn mit Entzuͤcken in der meinigen haben lesen wollen, wenn ein Mein- hard davon auch nur einen Versuch geliefert haͤtte. Dieser wuͤrdige Mann besaß so viel Gabe des Aus- drucks Erstes Waͤldchen. drucks, die Poesie einer fremden Sprache in die un- sere zu prosaisiren, oder wenn man lieber will, die Prose unsrer Sprache so geschickt zum einfaͤltigen Adel der Poesie eines fremden Ausdrucks zu erheben, daß ihn die Muse unsres Vaterlandes bestimmt zu haben schien, der Mund fremder Nationen unter uns zu werden. Dies ist, wie ich glaube, der Hauptzug seiner Verdienste; und wie haͤtte er diese durch eine Uebersetzung Homers nicht gesteigert! Grieche muß ich uͤberdem schon werden, wenn ich Homer lese, ich lese ihn, wo ich wolle: warum denn nicht in meiner Muttersprache? Jnsgeheim muß ich ihn doch in dieser schon jetzo lesen: insgeheim uͤber- setzt ihn sich die Seele des Lesers, wo sie kann, selbst wenn sie ihn griechisch hoͤrt: und ich sinnlicher Leser! ich kann mir ohne diese geheime Gedankenuͤbersetzung sogar kein wahrhaftig nutzbares und lebendiges Le- sen Homers denken. Nur denn erst lese ich, als hoͤrte ich ihn, wenn ich mir ihn uͤbersetze: er singet mir griechisch vor, und eben so schnell, so harmo- nisch, so edel suchen ihn meine deutschen Gedanken nachzufliegen: alsdenn und alsdenn nur vermag ich mir und andern von Homer lebendige bestimmte Re- chenschaft zu geben, und ihn mit ganzer Seele zu fuͤhlen. Jn jedem andern Falle, glaube ich, lieset man ihn als Commentator, als Scholiast, als Schulgelehrter, oder Sprachlehrling, und dies Le- sen ist unbestimmt oder todt. Ein anderes ist, M 5 sagt Kritische Waͤlder. sagt Winkelmann, Homer verstehen, ein anderes, sich denselben erklaͤren koͤnnen; und dies geschieht in meiner Seele nicht anders, als durch eine geheime Uebersetzung, durch eine schnelle Umwandlung in meine Denkart und Sprache. Ueberdem ist diese, in Betracht die Uebersetze- rinn Homers zu werden, weit uͤber die Franzoͤsische und Englische hinaus; sie allein kann vielleicht ei- nen Mittelweg zwischen Umschreibung und Schul- version, wie die meisten Lateinischen sind, finden: und dieser Mittelweg heiße mit einem altdeutschen Worte, dessen starker Gebrauch uns durch so man- che schlechte Ausuͤbung veraͤchtlich und laͤcherlich ge- worden: Verdeutschung. Freilich werde ich mei- nen Homer, auch wenn Meinhard ihn uͤbersetzt haͤt- te, in seiner Urschrift immer fort studiren; nur wuͤrde ich mich auch nicht schaͤmen, die Uebersetzung neben an liegen zu haben, bei jedem starken Bilde, das ich in meiner Muttersprache ganz fuͤhlen will, in sie hinein zu blicken, mit ihr zu wetteifern, — so lese ich Homer. Beduͤrfniß ists also nicht, wenn ich mir einen meinhardschen Homer wuͤnsche: es ist Patriotis- mus, Gefuͤhl fuͤr seine wahre Lesemethode, Gefuͤhl fuͤr meine Muttersprache gegen so manche suͤßlatei- nische Uebersetzung von Hektor und Andromache z. E. u. s. w. Klotz. epist. Homeric. var. loc. betrachtet: Gefuͤhl endlich gegen die Erstes Waͤldchen. die unwichtigen Gruͤnde Riedels Leben Meinhards p. 60 61. , womit man ein Genie, das zu interpretiren da ist, vom Homer abfchrecken, und hinwegsegnen will. Wie? wenn Pope auch so gedacht haͤtte: wo waͤre der englische Homer geblie- ben? und wird wohl ein vernuͤnftiger Englaͤnder, der Homer griechisch lesen kann, ihn nicht lesen wol- len — weil ihn Pope englisch geliefert? — — Wenn dies gute Wort uͤber Homer hier nicht voͤllig an seiner Stelle steht: so haͤtte es doch irgend- wo anders eine Stelle verdient, und ich fahre fort. „Es ist unmoͤglich, sagt Hr. L. Laok. 143. , die musikalische „Malerei, welche die Worte des Dichters mit hoͤ- „ren lassen, in eine andre Sprache uͤberzutragen,„ und an einem andern Orte Laok. p. 180. , wo er die fortschrei- tende Manier Homers vortrefflich entwickelt, ent- geht ihm auch nicht der Vortheil, den ihm seine Sprache gewaͤhrte, „die ihm nicht allein alle moͤg- „liche Freiheit in Haͤufung und Zusammensetzung „der Beiwoͤrter laͤßt, sondern auch fuͤr diese gehaͤuf- „ten Beiwoͤrter eine so gluͤckliche Ordnung hat, daß „der nachtheiligen Suspension ihrer Beziehung da- „durch abgeholfen wird. An einer oder mehrern „dieser Bequemlichkeiten fehlt es den neuern Spra- „chen durchgaͤngig. Auch unsre Sprache hat sie „nicht, oder welches einerlei ist, sie kann sie nur „selten ohne Zweideutigkeit nutzen.„ Mir haben diese Kritische Waͤlder. diese Bemerkungen einen alten Gedanken wieder in die Seele gebracht, den ich bei Homer immer em- pfunden, und zu dem diese einige Zuͤge mit ent- halten. Homer sang, ehe schriftstellerische Prose da war: er weiß also von keinen geschlossenen Perioden. Nicht, als ob in ihm kein einiges Punkt waͤre; die hat er, mein Leser: und hat er nicht gnug, so klecke ihm noch mehrere zu. Jch rede von keinen Unterschei- dungszeichen, in welche unsre Sprachlehrer das We- sentliche des Perioden setzen, sondern von der Zusam- menordnung vieler einzelnen Zuͤge, zu einem ganzen Gemaͤlde, das daher anfaͤngt, wo uns die Sache in die Augen fiel, Zug vor Zug uns weiter fuͤhrt, aber diese Zuͤge verschraͤnket, so umkehret, daß der Sinn des Ganzen aufgehalten, daß er nicht eher vollendet ist, bis wir zu Ende sind. Und dies Kunststuͤck des prosaischen Perioden, behaupte ich, hat Homer nicht. Bei ihm faͤllt gleichsam Zug nach Zug aus einander; er schreitet mit jedem Bei- worte weiter: von keiner Verschraͤnkung, von einer kuͤnstlichen Suspension des Sinnes weiß er nichts. „Der Grieche verbindet das Subjekt gleich mit dem „Praͤdikate, und laͤßt die andern nachfolgen; er „sagt „runde Raͤder, eherne, achtspeichichte„ Laok. 181. „So wissen wir mit eins, wovon er redet, und „werden der natuͤrlichen Ordnung des Denkens ge- „maͤß, Erstes Waͤldchen. „maͤß, erst mit dem Dinge, und dann mit seinen „Zufaͤlligkeiten bekannt. Diesen Vortheil hat „unsre Sprache nicht.„ Keine neuere Sprache hat ihn, die zur Prose urspruͤnglich gebildet worden. Und wenn in diesem Fortschreitenden eben Homers Manier bestehet: und seine Sprache (er pflanzte sie auf seine Dichter fort) und nur seine Sprache dies Fortschreitende zur Manier, zum Ge- setze ihrer Zusammenordnung macht: wie in einer Uebersetzung; so wird Homer in einer Uebersetzung nach dieser neuen Construktionsmanier, die einmal ein Gesetz unsrer Sprachen geworden, seine Ma- nier, das Wesen seiner Poesie, das mit jedem Zu- ge Fortschreitende verlieren: er wird prosaisirt werden. Prosaisirt, nicht in den Farben, in den Figuren seiner Bilder: sondern in der Art ihrer Stellung, in Composition und Manier, und da denke ich, hat er mehr verlohren, als durch jedes Andere! Ein solcher Verlust geht die Art des Aus- drucks in seinem ganzen Werke durch, er ist der groͤßte, denn er hindert den Gang seiner Muse. Jch nehme sein Bild vom herabsteigenden Apol- lo, und sage: So weit das Leben uͤber das Gemaͤl- de geht, so weit ist hier der Dichter uͤber den Pro- saisten einer neuern Sprache: Apollo steigt von den Hoͤhen des Olympus: ergrimmt: Bogen und Koͤ- cher auf der Schulter. Jch sehe ihn nicht allein herab- Kritische Waͤlder. herabsteigen, ich hoͤre ihn. Mit jedem Schritte er- klingen die Pfeile um die Schulter des Zornigen. Er geht einher, gleich der Nacht. Nun sitzt er ge- gen den Schiffen uͤber, und schnellet — fuͤrchter- lich erklingt der silberne Bogen — den ersten Pfeil auf die Maulthiere und Hunde. Sodann faßt er mit dem giftigern Pfeile die Menschen selbst; und uͤberall lodern unaufhoͤrlich Holtzstoͤße mit Leichna- men. „Es ist unmoͤglich, sagt Hr. L., dessen Worte ich mich meistens bedient, die musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hoͤren lassen, in eine andere Sprache mit uͤberzutragen. Und eben so unmoͤglich, fahre ich fort, ists dem Fortschreitenden des Bildes, das mit jedem Zuge weiter tritt, in einer neuern Sprache Fuß vor Fuß nachzufolgen. Mit jedem neuen Worte ist ein Gemaͤlde. Nun laßt uns Homer in einer neuern Spra- che hoͤren: es sey in Pope selbst, der gewiß das Maas seiner Sprache so verstand, als kein Dichter vielleicht vor und nach ihm. Umwerfen muß er die Worte, er muß umschreiben The Iliad. translat. by Pope: Book. 1. v. 61. — 72. . Ein Wort bei Homer wird ihm ein abgetrenntes Comma, ein fortlaufender Zug steht in ihm einzeln da, wie eine Erklaͤrung. Hier nimmt er einen Umstand voraus, dort erklaͤrt er ihn: warum er sey? kurz, die fortschreitende Manier Homers ist weg. Ho- mers Erstes Waͤldchen. mers Bild ist eine ausgemalte Schilderei, ein hi- storisches Gemaͤlde, stillstehend, nur mit poetischen Farben. Die Poesie Homers, auch in Pope’s Spra- che, ist poetische, schoͤngereimte Prose. Um die Schwierigkeit einer homerischen Ueber- setzung zu zeigen: fuͤhre ich noch eine Eigenheit in Homer an, die ich seiner Sprachmanier abgemer- ket, und von unsern Sprachen noch weiter abgehet. Sie ist ein gewisses Wiederkommen auf einen Hauptzug, der schon da war, und jetzt das Band seyn soll, um das Bild weiter zu fuͤhren, und die aus einander fallenden Zuͤge zu einem Ganzen zu verknuͤ- pfen. Exempel moͤgen auch erklaͤren. Der zorni- ge Apollo steigt vom Olympus: ergrimmt: Koͤcher und Bogen auf der Schulter — ist das Bild aus? Nein! es rollt fort, aber um die schon gelie- ferten Zuͤge uns im Auge zu erhalten, scheint es die folgenden blos aus den vorigen zu entwickeln. Koͤcher und Bogen auf der Schulter? Ja! die Pfeile erklangen auf der Schulter. Ergrimmt stieg Apollo nieder? Ja! sie erklangen auf der Schulter des Zornigen! Er stieg nieder — er gieng? sie klangen also mit jedem Tritte des Gan- ges. Nun ist Homer da, wo er ausgieng: er schritt fort, indem er zuruͤcktrat: er hat jeden ver- gangnen Zug erneuert: noch haben wir das Ganze vor Augen. Auf eben die Art rollet er sein Bild weiter. Der letzte Zug erinnerte uns an die Tritte des Kritische Waͤlder. des Schreitenden, und wird weiter gefuͤhrt: der Schreitende gieng der Nacht gleich. Weßwegen Apollo Nacht um sich geworfen? hat der Dichter nicht Zeit zu sagen, er laͤßt es errathen, es war ein fremder Zug in seinem Gemaͤlde hier, an die zu denken, die er jetzt, mit Nacht umdeckt, vorbei strich: er stoͤret sich nicht im Bilde des gehenden Gottes. Nun ist der Gehende die Schiffe vorbei, weit vorbei, er sitzt, er schnellet einen Pfeil — trift er, so ist das Bild zu Ende; aber noch muß es nicht zu Ende seyn. Das Bild des klingenden Bogens waͤre alsdenn verloren: es wird erst wieder erweckt — fuͤrchterlich also erklingt der silber- ne Bogen; nun faßt der Pfeil, der erste, der an- dre, Thiere, Hunde, Menschen, Scheiterhaufen flammen: so flogen die Pfeile des Gottes neun Ta- ge durch das Heer — — Jetzt ist das Gemaͤl- de zu Ende: der Gott, Bogen, Pfeil, die Wirkung derselben, alles ist vor Augen: kein Zug verlohren; keine Farbe mit einem vorbeifliegenden Worte weg- gestorben: er weckte jede zu rechter Zeit wiederho- lend wieder auf: das Bild rollet zirkelnd weiter. So machen es nicht unsre poetischen Schilde- rer: sie malen mit jedem Worte, und mit jedem Worte ist auch die Farbe weg: der Zug verschwun- den, am Ende haben wir nur eben das Letzte: nichts mehr. So aber nicht der Erste, der Dichter: er webt wiederholende Zuͤge ein, die zum zweitenmal das Erstes Waͤldchen. das Bild tieser einpraͤgen, eindruͤcken, und einen Sta- chel in der Seele zuruͤck lassen, wie Eupolis, der Komoͤ- dienschreiber, von dem groͤßten Redner Griechenlan- des, dem Perikles, sagte. Die Manier der Komposi- tion seiner Bilder gleicht der Sprechart des Ulysses, dessen Worte wie die Schneeflocken flogen, das ist, wie Plinius sagt, crebre, assidue, large. Er laͤßt keinen Stein unbewegt, um zum Ziele zu treffen, und seine Pfeile sind, wie die des Philoktets wie- derkommend. Menelaus wird den Raͤuber seiner Ehre und seiner Gattinn vor dem Heere ansichtig, und „freuet „sich wie ein Loͤwe, der auf einen großen Raub „faͤllt.„ Nun waͤre das Bild zu Ende, aber fuͤr Homer ists noch nicht tief gnug in der Seele. Was ist das: der auf einen großen Koͤrper faͤllt? Homer faͤhrt wiederholend fort: wenn er einen hoͤrnichten Hirsch, oder eine wilde Ziege ge- sunden. Nun waͤre uns wieder das Bild seiner Freude zu weit vom Auge entfernet: es rollt also wei- ter: hungrig war er: gierig verschlingt ers! Und um den letzten Stachel in der Seele zu lassen, von seinem gierigen Schlingen, von seiner erhaschen- den Freude: so erweckt Homer hinter ihm eine laute kommende Jagd: schnelle Hunde, bluͤhende junge Jaͤger verfolgen ihn. Nun ist das Bild ganz; ich sehe den gierigen Loͤwen, den Raub, sein Erhaschen, und, was der Raub sey, seine Freude, und seine N die Kritische Waͤlder. die Gefahr vergessende Gierigkeit. So freute sich Menelaus u. s. w. Iliad. Γ-21. . Sein Gemaͤlde ist ein Kreis- bild, wo ein Zug in den andern faͤllt, wo das Vo- rige zuruͤck kehrt, um das Folgende zu entwickeln. Jch muͤßte alle Bilder, alle Gleichnisse Homers abschreiben, wenn ich alle Beispiele geben wollte; denn sie sind alle nach einer Manier. Nicht immer stroͤmen neue Zuͤge herzu: die Vorigen kommen wie- der, malen weiter: der Tanz der Figuren kehrt in sich zuruͤck, und bricht ploͤtzlich ab. Handlung und Empfindung, Zustand und Bewegung wech- seln: und gemeiniglich nimmt sich das Wort, das die Handlung wieder erneuern, das ein Band vori- ger Zuͤge seyn soll, auch dadurch aus, daß es einen Vers anfaͤngt, und also die Rede auf sich stuͤtzet. Jedes Bild Homers ist eine musikalische Malerei: der gegebene Ton zittert noch eine Weile in un- serm Ohre: will er ersterben; so toͤnt dieselbe Sai- te, der vorige Ton kommt verstaͤrkt wieder; alle vereinigen sich zum Vollstimmigen des Bildes. So uͤberwindet Homer das Hinderniß seiner Kunst, daß ihre Wirkung gleichsam jeden Augenblick verschwin- det; so macht er jeden Zug seines Bildes daurend. Jch habe ein Paar Proben, von der feinen Kunst Homers in seiner Bildercomposition, von Sei- ten der Sprache gegeben, um zu zeigen, daß ich zu einer Uebersetzung vielleicht Schwierigkeiten finde, von Erstes Waͤldchen. von denen manche nichts wissen, die recht viel von Homers Uebersetzung sprechen koͤnnen; indessen brin- gen mich auch diese Schwierigkeiten noch nicht zur Verzweiflung. Auch hier wird das Genie Rath finden: es wird zerstuͤcken, und wiederholen — ster- ben lassen, und wieder vors Auge bringen, und dem Homer wenigstens nacheifern. — Jch wollte, daß Hr. L. sich uͤber dies Wiederkommende in Homers Bildern erklaͤren moͤchte. Homer schildert nicht; wo er aber muß, da braucht er das angezeigte Kunst- stuͤck, um mittelst jeden Augenblick schwindender, aber wiederkommender Toͤne das Ganze eines Ein- drucks zu liesern. — — Aus der Tonkunst koͤnn- te diese Energie seiner Manier am besten erlaͤuterk werden. 16. Ueberhaupt muß man nicht denken, daß ein Philosoph, der den Unterschied zwischen Poesie und einer schoͤnen Kunst zu entwickeln unternimmt, da- mit das ganze Wesen der Dichtkunst vollstaͤndig erklaͤren wolle. Hr. L. zeigt, was die Dichtkunst gegen Malerei gehalten nicht sey; um aber zu sehen, was sie denn an sich in ihrem ganzen Wesen voͤllig sey, muͤßte sie mit allen schwesterlichen Kuͤnsten und Wissenschaften z. E. Musik, Tanzkunst und Redekunst verglichen, und philosophisch unterschie- den werden. N 2 Ma- Kritische Waͤlder. Malerei wirkt im Raume; Poesie durch Zeit- folge. Jene durch Figuren und Farben; diese durch artikulirte Toͤne. Jene hat also Koͤrper, diese Handlungen zu eigentlichen Gegenstaͤnden. „So weit ist Hr. Lessing in seiner Entwicklung ge- kommen. Nun nehme ein philosophischer Ton- kuͤnstler sein Werk auf: wie fern haben Poesie und Tonkunst gemeine Regeln, da sie beide durch die Zeitfolge wirken? Wie geht jene ab, da sie Hand- lung singet? Der Redekuͤnstler fahre fort: jede Re- de kann Handlung schildern: wie denn die Poesie? wie in ihren verschiednen Gattungen und Ar- ten? — Endlich diese Theorien zusammen: so hat man das Wesen der Poesie. Auch bei der jetzigen einen Seite der Verglei- chung ists indessen, als ob mir an dem Wesen der Poesie immer etwas zur Berechnung fehle. — — Jch nehme Lessingen da das Wort auf, wo er die Sache aus ihren ersten Gruͤnden herzuleiten ver- spricht Laok. p. 153. . Er schließet so. „Wenn es wahr ist, daß die „Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andre Mit- „tel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene „naͤmlich Figuren und Farben in dem Raume, diese „artikulirte Toͤne aber in der Zeit; wenn unstreitig „die Zeichen ein bequemes Verhaͤltniß zu dem Be- „zeichneten haben muͤssen: so koͤnnen neben einan- „der Erstes Waͤldchen. „der geordnete Zeichen auch nur Gegenstaͤnde, die „neben einander, oder deren Theile neben einander „existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch „nur Gegenstaͤnde ausdruͤcken, die auf einander, „oder deren Theile auf einander folgen. „Gegenstaͤnde, die neben einander, oder deren „Theile auf einander existiren, heißen Koͤrper. Folg- „lich sind Koͤrper mit ihren sichtbaren Eigenschaf- „ten die eigentlichen Gegenstaͤnde der Malerei. „Gegenstaͤnde, die auf einander, oder deren „Theile auf einander folgen, heißen uͤberhaupt „Handlungen. Folglich sind Handlungen der ei- „gentliche Gegenstand der Poesie.„ Vielleicht wuͤrde die ganze Schlußkette untruͤg- lich seyn, wenn sie von einem vesten Punkte anfienge: nun aber lasset uns zu ihm hinan. „Wenn es „wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmun- „gen ganz andre Mittel oder Zeichen gebraucht, als „die Poesie„ allerdings wahr! „Jene naͤmlich Figuren und Farben in dem „Raume, diese aber artikulirte Toͤne in der Zeit.„ Schon nicht so bestimmt! denn der Poesie sind die artikulirten Toͤne nicht das, was Farben und Figu- ren der Malerei sind! „Wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes „Verhaͤltniß zu dem Bezeichneten haben muͤssen.„ Eben damit faͤllt alle Vergleichung weg. Die ar- tikulirten Toͤne haben in der Poesie nicht eben dassel- N 3 be Kritische Waͤlder. be Verhaͤltniß zu ihrem Bezeichneten, was in der Malerei Figuren und Farben zu dem Jhrigen ha- ben. Koͤnnen also zwei so verschiedne Dinge ein Drittes, einen ersten Grundsatz zum Unterschiede, zum Wesen beider Kuͤnste geben? Die Zeichen der Malerei sind natuͤrlich: die Ver- bindung der Zeichen mit der bezeichneten Sache ist in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst gegruͤn- det. Die Zeichen der Poesie sind willkuͤhrlich: die artikulirten Toͤne haben mit der Sache nichts gemein, die sie ausdruͤcken sollen; sondern sind nur durch eine allgemeine Convention fuͤr Zeichen an- genommen. Jhre Natur ist also sich voͤllig un- gleich, und das Tertium comparationis schwindet. Malerei wirkt ganz im Raume, neben einan- der, durch Zeichen, die die Sache natuͤrlich zeigen. Poesie aber nicht so durch die Succession, wie je- ne durch den Raum. Auf der Folge ihrer arti- kulirten Toͤne beruhet das nicht, was in der Ma- lerei auf dem Nebeneinanderseyn der Theile beru- hete. Das Successive ihrer Zeichen ist nichts als conditio, sine qua non, und also blos einige Ein- schraͤnkung: das Coexistiren der Zeichen in der Ma- lerei aber ist Natur der Kunst, und der Grund der malerischen Schoͤnheit. Poesie, wenn sie freilich durch auf einander folgende Toͤne, das ist, Worte wirkt: so ist doch das Aufeinanderfolgen der Toͤne, die Erstes Waͤldchen. die Succession der Worte nicht der Mittelpunkt ih- rer Wirkung. Um diesen Unterschied deutlicher zu machen: muß eine Vergleichung zwischen zweien durch na- tuͤrliche Mittel wirkenden Kuͤnsten gemacht werden, zwischen Malerei und Tonkunst. Hier kann ich sa- gen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, so wie Musik durch die Zeitfolge. Was bei jener das Nebeneinanderseyn der Farben und Figuren ist, der Grund der Schoͤnheit, das ist bei dieser das Auf- einanderfolgen der Toͤne, der Grund des Wohlklan- ges. Wie bei jener auf dem Anblicke des Coexisti- renden das Wohlgefallen, die Wirkung der Kunst beruhet; so ist in dieser das Successive, die Ver- knuͤpfung und Abwechselung der Toͤne das Mittel der musikalischen Wirkung. Wie also, kann ich fortfahren, jene, die Malerei, blos durch ein Blend- werk, den Begriff der Zeitfolge in uns erwecken kann: so mache sie dies Nebenwerk nie zu ihrer Hauptsache, naͤmlich: als Malerei durch Farben, und doch in der Zeitfolge zu wirken: sonst gehet das Wesen und alle Wirkung der Kunst verlohren. Hieruͤber ist das Farbenklavier Zeuge. Und also im Gegentheile die Musik, die ganz durch Zeitfolge wirkt, mache es nie zum Hauptzwecke, Gegenstaͤnde des Raums musikalisch zu schildern, wie unerfahr- ne Stuͤmper thun. Jene verliere sich nie aus dem N 4 Coexi- Kritische Waͤlder. Coexistenten, diese nie aus der Succession: denn bei- de sind die natuͤrlichen Mittel ihrer Wirkung. Bei der Poesie aber ist der Auftritt geaͤndert. Hier ist das Natuͤrliche in den Zeichen, z. E. Buch- staben, Klang, Tonfolge, zur Wirkung der Poesie wenig oder nichts: der Sinn, der durch eine will- kuͤhrliche Uebereinstimmung in den Worten liegt, die Seele, die den artikulirten Toͤnen einwohnet, ist alles. Die Succession der Toͤne kann der Poesie nicht so wesentlich berechnet werden, als der Male- rei das Coexistiren der Farben; „denn die Zeichen „haben gar nicht einerlei Verhaͤltniß zu der bezeich- „neten Sache Laok. p. 153. .„ Der Grund ist wankend: wie wird das Gebaͤu- de seyn? Ehe wir dieses sehen, lasset uns jenen erst auf andre Art sichern. Malerei wirkt im Rau- me, und durch eine kuͤnstliche Vorstellung des Raums. Musik, und alle energische Kuͤnste wir- ken nicht blos in, sondern auch durch die Zeitfolge durch einen kuͤnstlichen Zeitwechsel der Toͤne. Lie- ße sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkuͤhr- liche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wir- kung Kraft nennen: und so, wie in der Metaphy- sik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe sind, wie die mathematischen Wissenschaften sich alle auf Erstes Waͤldchen. auf einen dieser Begriffe zuruͤckfuͤhren lassen; so wollen wir auch in der Theorie der schoͤnen Wissen- schaften und Kuͤnste sagen: die Kuͤnste, die Werke liesern, wirken im Raume; die Kuͤnste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge; die schoͤnen Wis- senschasten, oder vielmehr die einzige schoͤne Wissen- schaft, die Poesie, wirkt durch Kraft. — Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmit- telbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Coexistente, oder die Succession. Nun wird die Frage: welche Gegenstaͤnde kann diese voetische Kraft besser an die Seele bringen, Gegenstaͤnde des Raums, coexistirende Gegenstaͤn- de, oder Gegenstaͤnde der Zeitsuccessionen? Und um wieder sinnlich zu reden: in welchem Medium wirkt die poetische Kraft freier, im Raume, oder in der Zeit? — Sie wirkt im Raume: dadurch, daß sie ihre ganze Rede sinnlich macht. Bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zei- chens empfunden werden; die Seele muß nicht das Vehikulum der Kraft, der Worte, sondern die Kraft selbst, den Sinn, empfinden. Erste Art der anschauenden Erkenntniß. Sie bringt aber auch jeden Gegenstand gleichsam sittlich vor die Seele, d. i. sie nimmt so viel Merkmaale zusammen, um N 5 mit Kritische Waͤlder. mit Einmal den Eindruck zu machen, der Phan- tasie ihn vor Augen zu fuͤhren, sie mit dem Anblicke zu taͤuschen: zweite Art der anschauenden Kaͤnntniß, und das Wesen der Poesie. Jene Art kann jeder lebhaften Rede, die nicht Wortklauberei oder Phi- losophie ist: diese Art der Poesie allein zukommen und macht ihr Wesen, das sinnlich Vollkom. mene in der Rede. Man kann also sagen, daß das erste Wesentliche der Poesie wirklich eine Art von Malerei, sinnliche Vorstellung sey. Sie wirkt in der Zeit: denn sie ist Rede. Nicht blos erstlich, so fern die Rede natuͤrlicher Ausdruck ist, z. E. der Leidenschaften, der Bewe- gungen: denn dies ist der Rand der Poesie; son- dern vorzuͤglich, indem sie durch die Schnelligkeit, durch das Gehen und Kommen ihrer Vorstellungen, auf die Seele wirkt, und in der Abwechselung theils, theils in dem Ganzen, das sie durch die Zeitfolge er- bauet, energisch wirket. Das erste hat sie auch mit einer andern Gattung der Rede gemein; das letzte aber, daß sie einer Abwechselung, und gleich- sam Melodie der Vorstellungen, und Eines Ganzen faͤhig sey, dessen Theile sich nach und nach aͤußern, dessen Vollkommenheit also energesiret — dies macht sie zu einer Musik der Seele, wie sie die Griechen nannten: und diese zweite Succession hat Hr. Lessing nie beruͤhret. Kei- Erstes Waͤldchen. Keines von beiden, allein genommen, ist ihr ganzes Wesen. Nicht die Energie, das Musikali- sche in ihr; denn dies kann nicht Statt finden, wenn nicht das Sinnliche ihrer Vorstellungen, das sie der Seele vormalet, vorausgesetzt wird. Nicht aber das Malerische in ihr; denn sie wirkt energisch, eben in dem Nacheinander bauet sie den Begriff vom sinnlich vollkommnen Ganzen in die Seele; nur bei- des zusammen genommen, kann ich sagen, das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Raum, (Gegen- staͤnde, die sie sinnlich macht) in der Zeit (durch ei- ne Folge vieler Theile zu Einem poetischen Ganzen) wirkt: kurz also sinnlich vollkommene Rede. Nach diesen Voraussetzungen wollen wir zu Hrn. Lessing zuruͤck. Bei ihm ist der vornehmste Ge- genstand der Poesie Handlungen; nur aber Er kann aus seinem Begriffe der Succession diesen Begriff ausfinden; ich gestehe es gerne, ich nicht. „Gegenstaͤnde, die auf einander, oder deren „Theile auf einander folgen, sind Handlungen.„ Laok. p. 154. Wie? ich lasse so viel ich will auf einander folgen, jedes soll ein Koͤrper, ein todten Anblick seyn; ver- moͤge der Succession ist keines noch Handlung. Jch sehe die Zeit fliehen, jeden Augenblick den andern jagen — sehe ich damit Handlung? Verschiedene Auftritte der Natur kommen mir vor Augen: ein- zeln: todte: einander nachfolgend: sehe ich Hand- lung? Kritische Waͤlder. lung? Nie wird P. Kastells Farbenklavier mit sei- nem successiven Vorspielen der Farben, und wenn es auch Wellen- und Schlangenlinien waͤren, Hand- lungen liefern: nie wird eine melodische Kette von Toͤnen, eine Kette von Handlungen heißen. Jch laͤugne es also, daß Gegenstaͤnde, die auf einander oder deren Theile auf einander folgen, deßwegen uͤberhaupt Handlungen heißen: und eben so laͤugne ich, daß weil die Dichtkunst Successionen liefre, sie deßwegen Handlungen zum Gegenstande habe. Der Begriff des Successiven ist zu einer Hand- lung nur die halbe Jdee: es muß ein Successives durch Kraft seyn: so wird Handlung. Jch denke mir ein in der Zeitfolge wirkendes Wesen, ich denke mir Veraͤnderungen, die durch die Kraft einer Substanz auf einander folgen: so wird Handlung. Und sind Handlungen der Gegenstand der Dicht- kunst, so wette ich, wird dieser Gegenstand nie aus dem trocknen Begriff der Succession bestimmt wer- den koͤnnen: Kraft ist der Mittelpunkt ihrer Sphaͤre. Und dies ist die Kraft, die dem Jnnern der Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie. — Der Leser sieht, daß wir sind, wo wir waren, daß naͤmlich die Poesie durch willkuͤhrliche Zeichen wirke; daß in diesem Willkuͤhrlichen, in dem Sinne der Worte ganz und gar Erstes Waͤldchen. gar die Kraft der Poesie liege; nicht aber in der Folge der Toͤne und Worte, in den Lauten, so fern sie natuͤrliche Laute sind. — Hr. L. indessen schließt aus dieser Folge von Toͤnen und Worten alles; nur sehr spaͤt faͤllt es ihm ein p. 165. , daß die Zeichen der Poesie willkuͤhrlich waͤren: allein auch denn ponderirt er nicht, was der Ein- wurf: Poesie wirkt durch willkuͤhrliche Zeichen, sa- gen wolle. Denn wie loͤset er diesen Einwurf? „Dadurch, „daß mit der Schilderung koͤrperlicher Gegenstaͤn- „de die Taͤuschung, das Hauptwerk der Poesie, ver- „lohren gehe, daß also zwar Rede an sich, aber nicht „die sinnlich vollkommenste Rede, die Poesie, Koͤr- „per schildern koͤnne.„ Die Sache scheint jetzt an besserm Orte. Eben weil die Poesie nicht malerisch gnug seyn kann, bei Schilderung koͤrperlicher Ge- genstaͤnde: so muß sie sie nicht schildern. Nicht, damit sie nicht Malerei sey, nicht weil sie in succes- siven Toͤnen schildert: nicht weil der Raum das Ge- biet des Malers, und blos Zeitfolge das Gebiet des Dichters sey — ich sehe bei allem keine Ursache. Das Successive in den Toͤnen ist, wie gesagt, dem Poeten wenig: er wirkt nicht durch sie, als natuͤr- liche Zeichen. Aber wenn ihn seine Kraft verlaͤßt, wenn er mit seinen Vorstellungen unabhaͤngig von seinen Kritische Waͤlder. seinen Toͤnen die Seele nicht taͤuschen kaͤnn: ja, dann geht der Poet verlohren, dann bleibt nichts als ein Wortmaler, als ein symbolischer Namener- klaͤrer. Aber daß sie hier noch nicht am besten Orte sei, mag — sein eignes Beispiel zeugen p. 168. ., Wenn es Hallers Endzweck ist, uns in seinen Alpen, den Enzian, und seinen blauen Bruder, und die ihm aͤhnlichen oder unaͤhnlichen Kraͤuter versmaͤßig ken- nen zu lehren; allerdings verliert er alsdenn den Zweck des Dichters, mich zu taͤuschen, und ich, als Leser, meinen Zweck, mich taͤuschen zu lassen: Dies ist alsdenn der Grund, und kein andrer. Aber wenn ich nun von Hallers Gedichte zu einem bota- nischen Lehrbuche gehe: wie werde ich da den En- zian und seine Bruͤder kennen lernen? Wie anders, als wider durch successive Toͤne, durch Rede? Der Botanist wird mich von einem Theile zum andern fuͤhren: er wird mir die Verbindung dieser Theile klar machen: er wird das Kraut meiner Einbil- dungskraft theilweise und im Ganzen vorzuzaͤhlen suchen, was freilich das Auge mit Einmal uͤbersie- het: er wird alles thun, was bei Hrn. L. der Dich- ter nicht thun soll. Wird er mir verstaͤndlich wer- den? Darum ist nicht die Frage, wenn ich seine Worte verstehe: er muß mir klar werden, er muß mich auf gewisse Art taͤuschen. Kann er dies nicht: sehe ich die Sache blos im Einzelnen, deutlich, nicht Erstes Waͤldchen. nicht aber im Ganzen, anschauend, ein: so werde ich alsdann alle Regeln, die Hr. Lessing dem Dichter giebt, auch dem Versasser eines botanischen Lehr- buchs geben koͤnnen. Jch werde zu ihm sehr ernst- haft sagen p. 166. 167. : „Wie gelangen wir zu der deutli- „chen Vorstellung eines Dinges im Raume, eines „Krauts? Erst betrachten wir die Theile dessel- „ben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Thei- „le, und endlich das Ganze. Unsre Sinne ver- „richten diese verschiedenen Operationen mit einer so „erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine „einige zu seyn beduͤnken, und diese Schnelligkeit „ist unumgaͤnglich nothwendig — Gesetzt nun also „auch, der schriftliche Kraͤuterlehrer fuͤhre uns in „der schoͤnsten Ordnung von einem Theile des Ge- „genstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns „die Verbindung dieser Theile auch noch so klar zu „machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was „das Auge mit Einmal uͤbersiehet, zaͤhlt er uns „merklich langsam nach und nach zu, und oft ge- „schieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten „schon vergessen haben. Jedennoch sollen wir uns „aus diesen Zuͤgen ein Ganzes bilden: dem Auge „bleiben die betrachteten Theile bestaͤndig gegenwaͤr- „tig: es kann sie abermals und abermals uͤberlau- „fen; fuͤr das Ohr hingegen sind die vernommenen „Theile verlohren, wenn sie nicht in dem Gedaͤcht- „nisse Kritische Waͤlder. „nisse zuruͤckbleiben. Und bleiben sie schon da zu- „ruͤck: welche Muͤhe, welche Anstrengung kostet „es, ihre Eindruͤcke alle in eben der Ordnung so leb- „haft zu erneuren, sie nur mit einer maͤßigen Ge- „schwindigkeit auf einmal zu uͤberdenken, um zu „einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelan- „gen! — Solche Beschreibungen moͤgen sich, „wenn man die Blume selbst in der Hand hat, sehr „schoͤn dagegen recitiren lassen; nur fuͤr sich allein „sagen sie wenig oder nichts. — So spricht Hr. L. zum Dichter, und warum soll ich nicht eben so zum Kraͤuterlehrer sprechen, der mich blos durch Worte lehren will? Jch sehe keine Veraͤnderung des Falles, eben denselben Gegenstand, einen Koͤrper, eben dasselbe Mittel, ihn zu schildern, Rede, eben dieselbe Hinderung in diesem Mittel, das Successive der Rede, Worte. Folglich muß die Lection sich so gut auf ihn, als auf jeden Wort- schilderer passen. Folglich muß die Ursache: „Succession ver- „hindert, Koͤrper zu schildern, „da sie auf jede Rede trifft, da jede Rede in solchem Falle nicht das De- finitum, als ein Wort, verstaͤndlich, sondern als eine Sache, anschauend machen will — eigentlich außer dem Gebiete der Poesie liegen. Folglich auch in demselben kein eigentliches, we- nigstens kein hoͤchstes Gesetz geben koͤnnen, sondern nur Erstes Waͤldchen. nur ein Nebenbegriff bleiben, aus dem Wenig oder Nichts gefolgert werden kann. — Meine ganze Schlußkette faͤngt von dem doppelten Grunde an: daß das Successive in den Toͤnen der Poesie kein Haupt- kein natuͤrliches Mittel ihrer Wirkung sey; sondern die Kraft, die diesen Toͤnen willkuͤhr- lich anhaͤngt, und nach andern Gesetzen, als der Succession der Toͤne, auf die Seele wirkt. Zwei- tens: daß das Successive der Toͤne ja nicht der Poesie allein, vielmehr jeder Rede zukommt, und also wenig in ihrem innern Wesen bestimmen oder unterscheiden koͤnne. Wenn nun Hr. L. Suc- cession in seinem Buche zum Hauptgrunde des Unterschiedes zwischen Poesie und Malerei macht; ist da wohl die richtigste Graͤnzscheidung zu er- warten? — 17. Um auf einen fruchtbarern Weg zu kommen, als dieser trockne Nebenbegriff gewaͤhret, macht Hr. L. einen Sprung, den ich ihm nicht nachthue. „Die „Poesie schildert durch successive Toͤne; folglich „schildert sie auch Successionen p. 152. 154. , folglich hat sie „auch Successionen, und eigentlich nichts als Suc- „cessionen zum Gegenstande. Successionen sind „Handlungen: folglich„ — und folglich hat Hr. L. O was Kritische Waͤlder. was er will; aber woher kann ers haben? Den Begriff der Handlung fand er in der Succession; und daß sie nur fortschreitende Gegenstaͤnde schilde- re, schloß er, weil sie in successiven Toͤnen schildert — wo bleibt hier die Kette? Gesetzt, daß das Auf- einanderfolgen der Toͤne in der Dichtkunst das waͤre, was das Nebeneinanderseyn der Farben in der Ma- lerei: welche Proportion ist in dem Successiven der Toͤne, und in dem Successiven der Gegenstaͤnde, die sie schildert: Wie weit halten diese einen Schritt? Wie kann man auch nur an Vergleichung denken? Und wie weit weniger Eins aus dem andern zu schließen? — Und wenn sie auch denn Successio- nen schilderte, warum muͤssen diese Successionen Handlungen seyn? u. s. w. Die Graͤnzscheidung nach solch einem Risse kann kaum richtig seyn. Kaum richtig von Seiten der Malerei, „ihr „Wesen sei, Koͤrper zu schildern,„ wenigstens bin ich mir fortschreitenderer Handlungen der Malerei bewust, als wovon Hr. L. ein Beispiel giebt p. 178. 179. : naͤmlich eine Drapperie, die in ihrem Wurfe zwei Augenblicke vereinige. Noch minder aber von Seiten der Dichtkunst, wo aus dem Successiven der Toͤne wenig oder nichts folgt. Nicht: daß sie keine Koͤrper schil- dern solle; denn koͤnnen keine successiven Toͤne Be- griffe von coexsistirenden Dingen erwecken; so sehe ich Erstes Waͤldchen. ich nicht, wie irgend die Rede, die blos hoͤrbare Re- de anschauende Erkaͤnntniß wirken koͤnnte: denn Bilder wuͤrde ich sagen, sind nicht hoͤrbar. So sehe ich nicht, wie irgend die Rede zusammenhan- gende Bilderbegriffe erwecken koͤnne; denn die suc- cessiven Toͤne hangen nicht zusammen. So sehe ich endlich auch nicht, wie in der Seele aus vielen Theilbegriffen ein Ganzes, z. E. der Ode, des Be- weises, des Trauerspiels entstehen koͤnnte; denn die ganze Succession der Toͤne macht kein solches Gan- zes: „fuͤr das Ohr sind die vernommenen Theile jedesmal verloren.„ Es laͤßt sich also hieraus Alles oder Nichts folgern. Noch weniger folgt hieraus, „die Untauglich- keit der ganzen descriptive Poetry p. 174. 175. , das Unpoeti- sche aller malenden Poesie. Noch weniger hieraus, daß das Wesen der Dichtkunst Fortschreitung sey p. 154. 155. ; daß die Dicht- kunst nur eine einzige Eigenschaft der Koͤrper nutzen muͤsse: daß Einheit der malerischen Beiwoͤrter ihr Regel sey p. 155. — Ja nicht einmal, daß sich „nur aus diesen „Grundsaͤtzen die große Manier Homers bestimmen „und erklaͤren ließe.„ Jch laͤugne Hrn. L. viel, und in seinem Grunde Alles, aber darum laͤugne ich nicht alle Sachen, die nur Er auf diesen Grund bauet. — Darf ich von Homer anfangen? — O 2 „Ho- Kritische Waͤlder. „Homer malet nichts, als fortschreitende Hand- lungen: alle Koͤrper, alle einzelne Koͤrper malet er nur „durch ihren Antheil an den Handlungen, ge- „meiniglich und mit Einem Zuge. Zwingen ihn „ja besondere Umstaͤnde, unsern Blick auf einen „einzelnen koͤrperlichen Gegenstand laͤnger zu heften: „so weist er durch unzaͤlige Kunstgriffe diesen ein- „zelnen Gegenstand in einer Folge von Augenbli- „cken, in deren jedem er anders erscheint p. 155. —„ Schoͤn! vortrefflich! die wahre Manier Homers! — Nur ob Homer diese Manier gewaͤhlt, weil er mit successiven Toͤnen schildern wollte p. 153. , weil er koͤrperliche Gegenstaͤnde anders zu schildern verzwei- felte, weil er beforgen mußte, daß, wenn er uns in der schoͤnsten Ordnung von einem theile des Gegen- standes fuͤhrte, daß, wenn er uns auch die Verbin- dung dieser Theile noch so klar zu machen wuͤßte p. 167. ; dem Auge zwar die betrachteten Theile in der Natur bestaͤndig gegenwaͤrtig blieben, fuͤr das Ohr hinge- gen die vernommenen Theile, folglich die Muͤhe des Dichters, verlohren waͤre — ob deßwegen Homer seine Gegenstaͤnde in eine Folge von Augenblicken gesetzt, ist mir nie bei Homer beigefallen. Wenn seine Hebe z. E. uns den Wagen der Ju- no Stuͤck vor Stuͤck zusammensetzt Iliad. Ε. v. 722 — 731. , ent- kommt da der Dichter dem Versuche, ein Coexsisten- tes Erstes Waͤldchen. tes nicht mit Folgetoͤne zu schildern? Jch sehe Raͤ- der, Achsen, Sitz, Deichsel, Riemen, Straͤnge, nicht wie es beisammen ist, sondern erst langsam zu- sammenkommt. Erst werden mir die Raͤder, nicht blos die Raͤder, sondern die Theile derselben, die ehernen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schienen von Erzt, und die silberne Nabe u. s. w. langsam vorgezaͤlt, denn erst Achsen, denn erst der Sitz, alles in seinen Theilen; und ehe das letzte Stuͤck dran ist, habe ich sicherlich das Erste vergessen. Der Wagen steht zusammen: und Trotz der Phantasie, die sich jetzt das Bild des Wagens mit Einem Blicke und doch in allen seinen Theilen z. E. die eher- nen Speichen und die goldnen Felgen, und die Schie- nen von Erzt u. s. w. auf Einmal anschauend denken koͤnne! Jch sehe also kaum, was Homer gethan haͤtte, um gleichsam die Wirkung successiver Toͤne zu schwaͤ- chen, um durch unzaͤlige Kunstgriffe uns das Coexsistente gegenwaͤrtig zu machen? Liegt es hier einmal am klaren Begriffe des Coexsistiven in allen sei- nen Theilen, „welche groͤßere Muͤhe, welche schaͤr- „sere Anstrengung kostet es, diese langsamen Eindruͤ- „cke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuren, „sie nur mit einer maͤßigen Geschwindigkeit auf „einmal zu uͤberdenken, um zu einem etwanigen „Begriffe des Ganzen zu gelangen.„ Arbeitete der Dichter auf diesen Begriff des Ganzen, da er uns seine Theile zerlegte, um ihn nachher in allen diesen O 3 Thei- Kritische Waͤlder. Theilen zusammengesetzt darzustellen; so sage ich, hat er eben so vergebens gearbeitet, als Brockes, wenn er uns Kraͤuter malet. Das Zusammen- setzen, die Handlung der Hebe kommt gar nicht in Rechnung; das Nacheinander zusammensetzen was mit Einmal gezeigt, gedacht werden sollte, ist Au- genmerk: dies ist bei beiden gleich, ja bei Homer durch das Zusammensetzen noch langsamer. „Doch „nicht blos da, wo Homer mit seinen Beschreibun- „gen weitere Absichten verbindet, sondern auch da, „wo es ihm um das bloße Bild zu thun ist, wird „er dieses Bild in eine Art von Geschichte des Ge- „genstandes verstreuen, um die Theile desselben, „die wir in der Natur neben einander sehen, in sei- „nem Gemaͤlde eben so natuͤrlich auf einander „folgen, und mit dem Flusse der Rede gleich- „sam Schritt halten zu lassen. Der Bogen „des Pandarus z. E. Laok. p. 163. 164. „ — aber wie kann Hr. L. hier in Homers Beschreibung eine Parallele der Fol- ge in den Toͤnen, mit dem Coexsistiren der Theile, und der Theile des Objekts mit den Theilen der Rede finden? Wenn Homer uns den Bogen des Pandarus mahlen will, und uns erst auf die Jagd des Steinbocks fuͤhret, aus dessen Hoͤrnern der Bo- gen gemacht worden: und uns erst den Felsen zeigt, wo ihn Pandarus erlegt, und nun erst die Hoͤrner des Steinbocks laͤngelang ausmißt; nun erst sie in Ar- Erstes Waͤldchen. Arbeit giebt, nun erst uns jeder. Arbeit des Kuͤnst- lers zuschauen laͤßt — wer kann sagen, Homer habe das Successive seiner Beschreibung der Natur des Coexsistenten gleichsam naͤher bringen, und die Theile des Bogens mit dem Flusse der Rede Schritt halten lassen! Statt, daß sie durch diese homerische Ma- nier naͤher zusammen kommen sollten; sehe ich sie sich weiter hinaus zerstreuen; unter vielen andren fremdenn Zuͤgen: (Jagd, Steinbock, Ort des Erha- schens, Ort der Verwundung, Lage des gefaͤllten Steinbocks, Werkstaͤte des Kuͤnstlers,) liegen sie versteckt: und haͤtte Homer mit seiner Geschichte des Bogens darauf gezweckt, um mir nachher mit Einmal alle Theile des Bogens anschaulich zu geben: so haͤtte er eben den schlechtesten Weg genommen. Meine Phantasie wenigstens hat sich der Geschichte uͤberlassen, den Pandarus einen Bogen zu zimmern, aber ihn sich nachher in allen seinen Theilen auf Ein- mal zu denken, die fremden Zuͤge in der Geschichte erst wegzulassen — welche Muͤhe! welche Abson- derung! „Homer malet den Schild Achilles in mehr „als hundert praͤchtigen Versen, nach seiner Mate- „rie, nach seiner Form, nach allen seinen Figuren, „welche die ungeheure Flaͤche desselben fuͤllten, so „ u mstaͤndlich, so genau, daß es neuen Kuͤnstlern „nicht schwer gefallen, eine in allen Stuͤcken uͤber- „einstimmende Zeichnung darnach zu machen. Er „malet dies Schild nicht als ein fertiges vollende- O 4 „tes, Kritische Waͤlder. „tes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat „also auch hier sich des beschriebenen Kunstgriffes „bedienet, das Coexsistirende seines Vorwurfs in „ein Consekutives zu verwandeln, und dadurch aus „der langweiligen Malerei eines Koͤrpers das le- „bendige Gemaͤlde einer Handlung zu geben Laok. p. 183. 184. .„ Feine Bemerkung! richtiger Gegensatz mit Virgi- len! Ob aber Homer dies Werden des Schildes ergriffen, um gleichsam mit dem Consekutiven ein Coexsistirendes zu liefern? „ob er die mehrern Zuͤ- „ge fuͤr die verschiedenen Theile und Eigenschaften „im Raume in einer gedraͤngten Kuͤrze schnell auf „einander folgen lasse, damit wir sie alle auf „einmal zu hoͤren glauben sollen? „ ob es mit dem Werden des Schildes sein Zweck gewesen, den Raum in die Zeitfolge zu verwandeln, und uns durch diese den Anblick Eines Ganzen zu geben, den wir nur durch jenen fassen konnten? p. 166. — Sollen diese Fragen ihr Ja bekommen: so bekenne ich die Schwaͤche meines Gedaͤchtnisses, diesen Zweck an mir nicht erreichen zu koͤnnen. Moͤgen zehen oder noch weniger Gemaͤlde auf dem Schilde seyn: moͤge ich sie auch werdend gesehen haben; ich erstaune uͤber das Werk, aber nicht mit dem glaͤubigen Er- staunen eines Augenzeugen, dem jetzt der ganze Schild vor Augen, bei dem das Consekutive in ein Coexsistirendes verwandelt waͤre. Nur in dem Haupte Erstes Waͤldchen. Haupte des goͤttlichen Kuͤnstlers kann der Schild mit allen seinen Figuren ein malerisches Ganzes ge- bildet haben; ich muß aufs neue das Schild herum, wenn ich die mit jedem successiven Wortzuge verlohr- ne Figur wieder sehen soll, und doch wo sind sie, wenn ich sie zu einem ganzen Schilde ordnen soll? Das Werdensehen hat hiezu nichts gethan, und kann hiezu nichts thun, es sei denn, um mich noch weiter zu zerstreuen; das Nacheinander werden ist und bleibt der Knoten. Homers Sprache sei so vortrefflich, als sie seyn kann, — jedes Wort liefre ein Bild — ohne alle Suspension der Beziehungen — so schnell fortschrei- tend, als Diane in ihrem Gange Laok. p. 180. 181. ; soll dies schnelle Fortschreitende da seyn, um gleichsam das Hinderniß des Raums zu mindern, zu vernichten, um dadurch den taͤuschenden Anblick eines raͤumli- chen Gegenstandes, eines Koͤrpers im Raume zu er- wecken — dies kann keine Rede. Dazu wohl kaum wird Homer seiner schreitenden Manier so treu geblieben seyn: dazu eben nicht fuͤr jedes Ding nur Einen Zug gehabt; dazu am wenigsten das Consekutive Werden gewaͤhlt haben: „um die „Theile seines Gegenstandes mit dem Flusse der Rede „einerley Schritt halten zu lassen.„ Dies kann keine Rede: noch minder wills die Rede des Dich- ters: am mindsten wollte es der Erste der Dichter. O 5 Seine Kritische Waͤlder. Seine ganze Manier zeigt, daß er nicht fortschreite, um uns es sei, wovon es sei, ein Bild des Gan- zen durch Succession zu geben, sondern er schreitet durch die Theile, weil ihm an dem Bilde des Ganzen ganz und gar nicht lag. Jch wollte um alles nicht, Hrn. L. einen fal- schen Sinn angedichtet zu haben: in der Sache selbst mit ihm eins, machen mich nur in dem Grunde der Sache seine Schluͤsse und Verbindungen verlegen. Duͤnkt jemand dieser Unterschied unbetraͤchtlich — so liegt mir nichts daran; andern wird er betraͤcht- lich scheinen. Homer ist immer fortschreitend in Handlungen, weil er damit fortschreiten muß, weil alle diese Theilhandlungen Stuͤcke seiner ganzen Handlung sind, weil er ein epischer Dichter ist. Jch brauche also den Wagen der Juno, und den Zepter des Agamemnon, und den Bogen des Pandarus nicht weiter kennen zu lernen, als sie in die Handlung mit eingeflochten, mitwirken sollen auf meine See- le. Darum also hoͤre ich die Geschichte des Bo- gens, nicht damit mir diese statt Gemaͤlde sey; son- dern um einen Begriff von seiner Staͤrke, von der Macht seiner Arme, mithin von der Kraft seiner Sehne, seines Pfeils, seines Schusses zum Voraus in mich zu pflanzen. Wenn nun Pandarus den Bogen vornimmt, die Sehne anlegt, den Pfeil an- setzt — abdruͤckt! — wehe dem Menclaus, den der Erstes Waͤldchen. der Pfeil eines solchen Bogens trifft, wir kennen seine Staͤrke. Hr. L. kann also nicht sagen, es sey Homeren mit seiner Geschichte des Bogens, um sein Bild, und blos um sein Bild zu thun gewe- sen. Um nichts minder, als hierum: die Staͤrke, die Kraft des Bogens war seine Sache: sie, und nicht die Gestalt des Bogens, gehoͤrt zum Gedichte: sie, und keine andre Eigenschaft, soll hier energisch mitwirken, daß wir, wenn nachher Pandarus ab- druͤckt, wenn nachher die Senne schwirrt, der Pfeil trifft — um so mehr den Pfeil empsinden. Die- ser Energie zufolge, die in einem Gedichte das Hauptwerk ist, erlaubt sich Homer, aus der Schlacht auf die Jagd zu spatzieren, und die Geschichte des Bogens zu dichten: denn ich sehe keine andre Art, diesen Begriff in aller Staͤrke, als durch Geschichte. Durch ein Bild koͤnnen wir eigentlich nur Gestalt lernen: aus der Gestalt muͤssen wir Groͤße, aus die- ser Staͤrke erst schließen; durch eine Geschichte ler- nen wir diese unmittelbar — und wenn es dem energischen Kuͤnstler, dem Dichter, blos um diese Staͤrke zu thun ist, was soll er sich andre Arbeiten aufbuͤrden? Der Maler male Bild, Gestalt; er aber wirke Staͤrke, Energie. — Die wirkt auch Homer von Anfange zu Ende der Beschreibung; nur freilich nicht, wenn ich ihn in der Umkleidung lese, die Hr. L. mit dem Schusse Pandarus macht; aus ihr ist blos ein successives, nicht aber (der Haupt- zweck Kritische Waͤlder. zweck des Dichters!) ein energisches Bild zu hoͤren: wobei wir nicht durch successive Toͤne malerisch, sondern in jedem Tone energisch getaͤuscht wer- den, daß wir zusammen fahren sollen, wenn endlich ein solcher Bogen trifft. Ein gleiches gilt vom Zepter Agamemnons: ich betrachte die Geschichte desselben gar nicht „als „einen Kunstgriff, uns bei einem einzelnen Dinge „verweilen zu machen, ohne sich in die frostige Be- „schreibung seiner Theile einzulassen Laok. p. 159 — 63. .„ Sein Zepter ist ein uraltes, koͤnigliches, goͤttliches Zep- ter! Der Begriff soll wirken; um alle andre Kunst- griffe und Allegorien bleibe ich unbekuͤmmert. Der Wagen der Juno wird beschrieben Iliad. Ε. v. 722. — 731. : wa- rum? natuͤrlich, weil ich ohne den Dichter, diesen Wagen nicht gesehen, weil ich ihn erst kennen lernen muß, um einen himmlischen Wagen zu kennen. Warum wird er zusammengesetzt? Natuͤrlich, weil wir einen himmlischen Wagen nie so gut kennen ler- nen, als wenn er erst in seinen Theilen da liegt, und zusammen gesetzt wird. Um also die Vortreff- lichkeit dieses Goͤtterwagens, um den innern Werth aller seiner Theile, um seinen kuͤnstlichen Bau zu schildern, wird er zusammen gesetzt: nicht aber, um diese Theile successiv zu sammlen, da man sie coexsi- stent nicht sehen kan. Das Zusammensetzen ist hier kein Erstes Waͤldchen. kein Kunstgriff, kein quid pro quo, um uns so das Ganze zu geben: den ganzen Anblick zu sammlen, ist kein Zweck des Dichters; im Zusammensetzen selbst liegt die Energie der Rede; nichts mehr. Bei jedem Theile sollen wir ausruffen: praͤchtig! goͤtt- lich! koͤniglich! — ist dies: ist dieser Begriff sinn- lich vollkommen in der Seele; das Ganze mit sei- nen Theilen war nicht mein Bild: das mag ein Kut- scher lernen. — Der Wagen ist zusammen: die Energie also vollendet:„ ich ruffe nochmals aus: praͤchtig: goͤttlich, koͤniglich! und lasse Juno und Minerva kutschieren. Der Schild Achilles Iliad. ςʹ, 497. \&c. wird unter der Hand Vulkans: warum wird er? Natuͤrlich, weil er werden soll! Achilles hat Waffen noͤthig: Thetis flehet Vulkan darum an: er versprichts, steht auf, arbeitet — warum soll er nicht arbeiten? Jm ganzen homerischen Gedichte sind Goͤtter wirksam: ihre Auftritte wechseln mit den Auftritten der Men- schen ab: nun ist Nacht: die Handlung steht: Vulkan haben wir so lange nicht gesehen: seit dem er als hinkender Mundschenke der Goͤtter erschien: Achilles hat seine Waffen mit Patroklus verlohren; nun gehe Thetis zum Vulkan, nun kan Vulkan schmieden: der Schild ist werdend. — Die ganze Scene gehoͤrt zur Handlung des Gedichts, zum Gange der Epopee, und ist keine Figur, die aus sei- nem Kritische Waͤlder. nem Poem vorruffe, keine Besonderheit der homeri- schen Manier. Jm Werden, in der Schoͤpfung des Schildes liegt ja hier alle Kraft der Energie, der ganze Zweck des Dichters. Bei jeder Figur, die Vulkan aufgraͤbt, bewundere ich den schaffenden Gott, bei jeder Beschreibung der Maaße und der Flaͤche erkenne ich die Macht des Schildes, das dem Achilles wird, auf welches der in das Jnter- esse der Handlung verflochtne Leser so sehnlich, als Thetis, wartet. — Kurz: ich kenne keine Successionen in Homer, die als Kunstgriffe, als Kunstgriffe der Noth, ei- nes Bildes, einer Schilderung wegen, da seyn soll- ten: sie sind das Wesen seines Gedichts, sie sind der Koͤrper der epischen Handlung. Jn jedem Zuge ihres Werdens muß Energie, der Zweck Homers liegen: mit jeder andern Hypothese von Kunstgrif- fen, von Einkleidungen, um das Coexsistente der Schilderung zu vermeiden, komme ich aus dem To- ne Homers. Jch weiß, daß dieser Vorwurf groß sey, daß kein groͤßers Hinderniß der Kraft eines Dichters gelegt werden koͤnne, als nicht in seinem Tone zu lesen; allein deßwegen nehme ich meinen Vorwurf nicht zuruͤck. Wer in dem Zusammense- tzen des Wagens der Juno, und in der Geschichte des Bogens und des Zepters, und in dem Werden des Schildes, nichts als einen Kunstgriff bemer- ken will, um einem koͤrperlichen Bilde zu entkom- men: Erstes Waͤldchen. men: der weiß nicht, was Handlung des Gedichts sey, an dem hat Homer seine Energie verfehlet. Wenn Homer ein koͤrperliches Bild braucht, so schildert ers, wenn es auch ein Thersites seyn sollte; er weiß von keinen Kunstgriffen, von keiner poeti- schen List und Gefaͤhrde: Fortschreitung ist die See- le seines Epos. 18. Nun aber ist Homer auch nicht der einzige Dichter: es gab bald nach ihm einen Tyrtaͤus, Ana- kreon, Pindarus, Aeschylus u. s. w. Sein επος, seine fortgehende Erzaͤlung, verwandelte sich mehr und mehr in ein μελὸς, in ein Gesangartiges, und drauf in ein ειδος, in ein Gemaͤlde; Gattungen, die noch aber immer Poesie blieben. Ein Saͤnger, (μελοποιος) und ein lyrischer Maler (ειδοποιος) Anakreon und Pindar, stehe also gegen den Geschichtsdichter (εποποιος) Homer. Homer dichtet erzaͤlend: „es geschah! es „ward!„ bei ihm kann also alles Handlung seyn, und muß zur Handlung eilen. Hierhin strebt die Energie seiner Muse: wunderbare, ruͤhrende Begebenheiten sind seine Welt: er hat das Schoͤp- fungswort: „es ward!„ Anakreon schwebt zwischen Gesang und Erzaͤlung: seine Erzaͤlung wird ein Lied- chen, sein Liedchen ein επος des Liebesgottes. Er kann also seine Wendung: „es war!„ oder „ich „will„ Kritische Waͤlder. „will„ oder „du sollst!„ haben — gnug, wenn sein μελος von Lust und Freude schallet: eine frohe Empfindung ist die Energie, die Muse jedes seiner Gesaͤnge. Pindar hat ein großes lyrisches Gemaͤlde, ein labyrinthisches Odengebaͤude im Sinne, das eben durch anscheinende Ausschweifungen, durch Neben- figuren in mancherlei Licht ein energisches Ganzes werden: wo kein Theil fuͤr sich, wo jeder auf das Ganze geordnet, erscheinen soll: ein ειδος: ein poe- tisches Gemaͤlde, bei dem uͤberall schon der Kuͤnst- ler, nicht die Kunst, sichtbar ist. „Jch singe!„ Wo mag nun Vergleichung Statt finden? Das Jdealganze Homers, Anakreons, Pindars, wie verschieden! wie ungleich das Werk, worauf sie arbeiten! Der eine will nichts, als dichten: er er- zaͤlet: er bezaubert; das Ganze der Begebenheit ist sein Werk: er ist ein Dichter voriger Zeiten. Der andre will nicht sprechen; aus ihm singet die Freude; der Ausdruck einer lieblichen Empfindung ist sein Ganzes. Der dritte spricht selbst, damit man ihn hoͤre: das Ganze seiner Ode ist ein Gebaͤu- de mit Symmetrie und hoher Kunst. — Kann jeder seinen Zweck auf seine Art erreichen: mir sein Ganzes vollkommen darstellen; mich in dieser An- schauung taͤuschen — was will ich mehr? Es ist eine laͤngst angenommene, und an sich unschuldige Hypothese, das Ganze jeder Gedichtart, als Erstes Waͤldchen. als eine Art von Gemaͤlde, von Gebaͤude, von Kunstwerke zu betrachten, wo alle Theile zu ihrem Hauptzwecke, dem Ganzen mitwirken sollen Bei allen ist der Hauptzweck poetische Taͤuschung; bei allen aber auf verschiedne Art. Die hohe wunder- bare Jllusion, zu der mich die Epopee bezaubert, ist nicht die kleine suͤße Empfindung, mit der mich das anakreontische Lied beseelen will; noch der tragische Affekt, in den mich ein Trauerspiel versetzet — in- dessen arbeitet jedes auf seine Taͤuschung, nach sei- ner Art, mit seinen Mitteln, etwas im vollkom- mensten Grade anschauend vorzustellen; es sey nun dies Etwas epische Handlung, oder tragische Hand- lung, oder eine einige anakreontische Empfindung, oder ein vollendetes Ganze pindarischer Bilder, oder — alles muß indessen innerhalb seiner Graͤnzen, aus seinen Mitteln und seinem Zwecke beurtheilt werden. Keine pindarische Ode also als eine Epopee, der das Fortschreitende fehle: kein Lied als ein Bild, dem der Umriß mangele: kein Lehrgedicht als eine Fabel, und kein Fabelgedicht, als beschreibende Poesie. Sobald wir nicht um ein Wort „Poe- „sie, Poem„ streiten wollen; so hat jede eingefuͤhr- te Gedichtart ihr eignes Jdeal — eine ein hoͤhe- res, schwereres, groͤßeres, als eine andre; jede aber ihr eigenes. Aus einer muß ich nicht auf die an- P dre, Kritische Waͤlder dre, oder gar auf die ganze Dichtkunst Gesetze bringen. Wenn also „Homer nichts als fortschreitende „Handlungen malet, und fuͤr jeden Koͤrper, fuͤr je- „des einzelnes Ding nur einen Zug haͤtte, so fern es „an der Handlung Theil nimmt Laok. p. 155. :„ so mag da- mit seinem epischen Jdeal eine Gnuͤge geschehen. Vielleicht aber, daß ein Ossian, ein Milton, ein Klopstock schon ein anderes Jdeal haͤtten, wo sie nicht mit jedem Zuge fortschreiten, wo sich ihre Mu- se einen andern Gang waͤhlte? Vielleicht also, daß dies Fortschreitende blos Homers epische Manier, nicht einmal die Manier seiner Dichtart uͤber- haupt sey? — Der Kunstrichter soll hier ein furchtsames Vielleicht sagen; das Genie entscheidet mit der starken Stimme des Beispiels. Noch minder darf ich, wenn mich die Praxis Homers auf die Bemerkung fuͤhret: „ Homer schil- „dert nichts als fortschreitende Handlungen,„ so- gleich den Hauptsatz drauf schlagen: „ die Poe- „sie schildert nichts, als fortschreitende Handlungen „— folglich sind Handlungen der eigentliche Ge- „genstand der Poesie.„ Wenn ichs bei Homer bemerke, daß „er alle einzelne Dinge nur durch ih- „ren Antheil an diesen Handlungen, gemeiniglich „nur mit einem Zuge, male Alle Koͤrper, die in Homers Ge- dichte mitwirken sollen, werden mit so viel Zugen ge- schil- „ so darf nicht gleich der Erstes Waͤldchen. „der Stempel drauf: folglich schildert auch die „Poesie nur Koͤrper andeutungsweise durch Hand- „lungen; folglich kann auch die Poesie in ihren „fortschreitenden Nachahmungen nur eine einige „Eigenschast der Koͤrper nutzen, und was daraus „mehr folgen soll„ an Regeln von der Einheit der malerischen Beiwoͤrter, von der Sparsamkeit in den Schilderungen koͤrperlicher Gegenstaͤnde — — u. s. w. Daß diese Grundsaͤtze nicht aus einer Haupt- eigenschaft der Poesie fließen, z. E. aus dem Suc- cessiven ihrer Toͤne, woraus sie Hr. L. hergeleitet, ist bewiesen. Daß sie auch, und wenn sie alle in Homers Praxis so Statt faͤnden, wie Hr. L. glaubt, doch auch nicht aus dem Successiven der Poesie uͤberhaupt, sondern aus seinem naͤhern epischen Zwecke fließen, ist auch gezeigt. Warum soll nun dieser epische Ton Homers der ganzen Dichtkunst, Ton, und Grundsatz und Gesetz so gar ohne Ein- schließung geben, als er sich bei Hrn. L. meldet? Jch zittre vor dem Blutbade, den die Saͤtze: „Handlungen sind die eigentlichen Gegenstaͤnde der P 2 Poe- schildert, als mitwirken sollen. Auf einen schraͤnket sich Homer selten ein; wenn es auch nur ein Stein, Geraͤth, Bogen, u. s. w. waͤre — er nimmt sich immer Zeit, so viel Eigenschaften seines Koͤrpers anzufuͤhren, als hier episch energisiren sollen. Schildert er eine Sache nur mit einem Zuge: so ist dieser meistens allgemein, und fuͤr diesen Ort unbedeutend: es sind die gewoͤhnlichen Bei- namen, die er zu jeder Sache hat, die ihm oft wie- derkommt. Kritische Waͤlder. „Poesie: Poesie schildert Koͤrper, aber nur andeu- „tungsweise durch Handlungen: jede Sache nur „mit einem Zuge u. s. w. Laok. 154. 55. „ unter alten und neuen Poeten anrichten muͤssen. Hr. L.. haͤtte nicht be- kennen doͤrfen, daß ihn die Praxis Homers darauf gebracht; man sieht es einem jeden beinahe an, und kaum — kaum bleibt der einige Homer alsdenn Dichter. Von Tyrtaͤus bis Gleim, und von Gleim wieder nach Anakreon zuruͤck: von Ossian zu Mil- ton, und von Klopstock zu Virgil, wird aufgeraͤumt — erschreckliche Luͤcke. Der dogmatischen, der malenden, der Jdyllendichter nicht zu gedenken. Hr. L. hat sich gegen einige derselben erklaͤrt, und aus seinen Grundsaͤtzen sich noch gegen mehrere erklaͤren muͤssen. „Die ausfuͤhrlichen Gemaͤlde „koͤrperlicher Gegenstaͤnde sind ohne den oben er- „waͤhnten Kunstgriff Homers, das Coexsistirende der- „selben in ein wirkliches Successives zu verwan- „deln„ (es ist oben erwaͤhnt, daß Homer von sol- chem Kunstgriffe nichts weiß, und ein Kunstgriff, was koͤnnte der zu einem so großen Zwecke als Kunstgriff wohl thun?) — „sind jederzeit von „den seinsten Richtern fuͤr ein frostiges Spielwerk „erkannt worden, zu welchem wenig, oder gar kein „Genie gehoͤrt p. 173. 74. .„ Von diesen feinsten Rich- tern werden angefuͤhrt: Horaz, Pope, Kleist, Marmontel; mich duͤnkt aber, daß sie fuͤr Hrn. L. nicht Erstes Waͤldchen. nicht so ins Unbestimmte hin beweisen. Horaz am angefuͤhrten Orte De arte poetica v. 14. , schilt nicht die fuͤr poetische Stuͤmper, die einen Hayn, Altar, Bach, Strom u. s. w. malen, sondern am unrechten Orte malen: — Inceptis gravibus plerumque \& magna professis Purpureus late, qui splendeat, unus \& alter Assuitur pannus, cum lucus \& ara Dianæ \&c. Aut flumen Rhenum, aut pluvius describitur arcus. Sed nunc non erat his locus — — Pope erklaͤrte ein blos malendes Gedicht fuͤr ein Gastgebot auf lauter Bruͤhen; damit aber hat er ja nicht „jedes ausfuͤhrliches Gemaͤlde koͤrperlicher Gegenstaͤnde, das nur ohne den homerischen Kunst- griff erschiene, fuͤr ein frostiges Spielwerk ohne Ge- nie erklaͤrt. Der Hr. v. Kleist, duͤnkt mich, woll- te in seinen Fruͤling eine Art von Fabel legen (ein Plan ist sofern schon drinn, daß sein Gedicht nicht eine Menge von Bildern, die er aus dem unendli- chen Raume der verjuͤngten Schoͤpfung blos auf ge- rathe wohl, bald hie, bald da, gerissen, sondern, nach der Angabe einer kritischen Schrift, ein Spatziergang ist, der die Gegenstaͤnde in der natuͤrlichen Ordnung schildert, in der sie sich seinen Augen dargeboten) er wollte, sage ich, eine Fabel hinein legen; ja nicht aber jede ausfuͤhrliche Schilderung koͤrperlicher Ge- P 3 gen- Kritische Waͤlder. genstaͤnde, als ein frostiges Spielwerk, hinaus wer- fen. Und Marmontel endlich will zwar aus der Jdylle mehr Moral, und weniger physische Bilder haben; ob aber dadurch die Jdylle eine mit Bildern nur sparsam durchflochtene Folge von Empfindun- gen, und wenn dies, eben dadurch auch „eine fort- „schreitende Folge von Handlungen werde, wo Koͤr- „per nur mit einem Zuge geschildert werden sollen„ weiß ich nicht, und nach Hrn. L. ist sie im andern Falle nicht Poesie. Handlung, Leidenschaft, Empfindung! — auch ich liebe sie in Gedichten uͤber alles: auch ich hasse nichts so sehr, als todte stillstehende Schilde- rungssucht, insonderheit, wenn sie Seiten, Blaͤtter, Gedichte einnimmt; aber nicht mit dem toͤdtlichen Hasse, um jedes einzelne ausfuͤhrliche Gemaͤlde, wenn es auch coexsistent geschildert wuͤrde, zu ver- bannen, nicht mit dem toͤdtlichen Hasse, um jeden Koͤrper nur mit einem Beiworte an der Handlung Theil nehmen zu lassen, und denn auch nicht aus dem naͤmlichen Grunde, weil die Poesie in successiven Toͤnen schildert, oder weil Homer dies und jenes macht, und nicht macht — — um deßwil- len nicht. Wenn ich Eins von Homer lerne, so ists, daß Poesie energisch wirke: nie in der Absicht, um bei dem letzten Zuge ein Werk, Bild, Gemaͤlde (obwohl successive) zu liefern, sondern, daß schon waͤhrend der Erstes Waͤldchen. der Energie die ganze Kraft empfunden, und wer- den muͤsse. Jch lerne von Homer, daß die Wir- kung der Poesie nie aufs Ohr, durch Toͤne, nicht aufs Gedaͤchtniß, wie lange ich einen Zug aus der Succession behalte, sondern auf meine Phantasie wirke; von hieraus also, sonst nirgendsher, berech- net werden muͤsse. So stelle ich sie gegen die Ma- lerei, und beklage, daß Hr. L. diesen Mittelpunkt des Wesens der Poesie „Wirkung auf unsre Seele, „Energie,„ nicht zum Augenmerke genommen. 19. Malerei wirkt nicht aus dem Raume allein, d. i. Koͤrper: sondern auch im Raume, durch Eigen- schaften desselben, die sie zu ihrem Zwecke anrichtet. Nicht blos also, daß kein Gegenstand der Malerei ohne Sichtbarkeit und Gestalt Statt finde; sondern Sichtbarkeit und Gestalt sind auch die Eigenschaf- ten der Koͤrper: durch die sie wirket. Poesie aber, wenn sie nicht durch den Raum wirket, d. i. coexsi- stent, durch Farben und Figuren; so folgt noch nicht, daß sie nicht aus dem Raume wirken, d. i. Koͤrper von Seiten der Sichtbarkeit und Gestalt schildern koͤnne. Aus dem Mittel ihrer Wirkung folgt dies nicht: denn sie wirkt durch den Geist, und nicht durch den successiven Ton der Worte. Malerei wirket durch Farben und Figuren fuͤrs Auge: Poesie, durch don Sinn der Worte auf die P 4 un- Kritische Waͤlder. untern Seelenkraͤfte, vorzuͤglich die Phantasie. Da nun die Handlung der Phantasie immer ein An- schauen genannt werden mag; so kann auch die Poe- sie, so fern sie derselben einen Begriff, ein Bild an- schauend macht, fuͤglich eine Malerinn fuͤr die Phan- tasie genannt werden: und jedes Ganze Eines Ge- dichts, ist das Ganze Eines Kunstwerks. Nur da die Malerei ein Werk hervorbringt, das waͤhrend der Arbeit noch Nichts, nach der Vol- lendung Alles ist, und zwar in dem Ganzen des Anblicks Alles: so ist die Poesie Energisch, das ist, waͤhrend ihrer Arbeit muß die Seele schon alles empfinden; nicht wenn die Energie geendigt ist, erst zu empfinden anfangen, und erst durch Recapi- tulation der Successionen empfinden wollen. Habe ich also eine ganze Schilderung der Schoͤnheit hin- durch nichts empfunden: so wird mir der letzte An- blick nichts gewaͤhren. — Malerei will das Auge taͤuschen: Poesie aber die Phantasie — nur wieder nicht werkmaͤßig, daß ich in der Beschreibung das Ding erkenne; sondern bei jeder Vorstellung es zu dem Zwecke sehe, zu dem es mir der Dichter vorfuͤhret. Die Art der Taͤuschung ist also bei jeder Gedichtart verschieden, bei allen Gemaͤlden nur zwiefach: entweder taͤu- schende Schoͤnheit, oder taͤuschende Wahrheit. Aus diesem Zwecke muß also das Werk der Kunst und die Energie des Dichters geschaͤtzt werden. Der Erstes Waͤldchen. Der Kuͤnstler also wirkt durch Gestalten fuͤr das Ganze Eines Anblicks, bis zur Taͤuschung des Auges; der Dichter durch die geistige Kraft der Worte waͤhrend der Succession, bis zur vollkom- mensten Taͤuschung auf die Seele. Wer also Farbe und Wort, Zeitfolge und Augenblick, Gestalt und Kraft mit einander vergleichen kann, vergleiche. — Manches zu dieser Aufgabe hat ein scharfsinni- ger Englaͤnder J. Harris Gespraͤche uͤber die Kunst: uͤber die Mu- sik, Malerei und Poesie: uͤber die Gluͤckseligkeit. vorgezeichnet, der im Geschmacke des Shaftesburi ein Gespraͤch uͤber die Kunst, und ein andres uͤber die Tonkunst, Malerei und Dicht- kunst gegeben. — Schade nur! daß er im letzten, statt blos den Unterschied zwischen diesen dreien Kuͤnsten zu entwickeln, auf die leere Grille geraͤth, den Vorzug zu bestimmen, den eine vor der an- dern habe. Zwischen voͤllig ungleichartigen Dingen laͤuft eine bloße Rangordnung auf einen so schuͤler- haften Wettstreit hinaus, als vor einigen Jahren die Malerei, Musik, Poesie und Schauspielkunst, unter der Aufsicht eines Magisters der Weltweisheit, foͤrmlich und feierlich haben eingehen muͤssen. Wettstreit der Malerei, Musik, Poesie und Schau- spielkunst: Reden — gehalten unter der Aufsicht Wolfgang Ludwig Graͤfenhahns, der Weltweisheit Magisters. Baireuth 1746. Lasset uns sehen, was Harris fuͤr Seiten des Unterschiedes findet. Zuerst macht er die sehr deut- P 5 liche Kritische Waͤlder. liche Eintheilung zwischen Kuͤnsten, die ein Werk liefern, und Kuͤnsten, die durch Energie wirken- Jene sind, deren Wirkung coexsistirende Theile hat, wie eine Bildsaͤule, ein Gemaͤlde: diese, die successive wirket, z. E. Tanz, Musik. Der Mittelpunkt des Lessingschen Werkes, in welchen alle Stralen fallen, ist also schon von Aristoteles ange- geben. Wenn die Wirkung einer Kunst Energie ist: so kann die Vollkommenheit solcher Kunst nur waͤhrend der Dauer wahrgenommen werden; ist sie ein Werk: so ist die Vollkommenheit nicht waͤh- render Energie, sondern erst nachher, sichtbar. Malerei, Musik und Dichtkunst sind alle mimisch, nachahmend; verschieden aber durch die Mittel der Nachahmung; die Malerei mimisiret durch Figur und Farbe; die Tonkunst durch Be- wegung und Toͤne — Malerei und Tonkunst durch natuͤrliche; die Poesie durch ein kuͤnstliches und willkuͤhrliches Mittel. — Diesen Unterschied hat der Verf. der Philosophischen Schriften aufs gruͤndlichste aus einander gesetzt. Jede Kunst hat ihre Gegenstaͤnde. Die Malerei Dinge und Begebenheiten, die sich durch Figur und Farbe ausdruͤcken lassen: Koͤrper: Kraͤfte der Seele, die sich im Koͤrper aͤußern: Handlungen und Begebenheiten, deren Vollstaͤndigkeit auf einer kurzen und augenscheinlichen Folge von Veraͤnde- rungen beruhet: handlungen, deren Veraͤnderun- gen Erstes Waͤldchen. gen alle die ganze Dauer der Folge hindurch sich stets gleichfoͤrmig sind. Handlungen, die in Einen Zeitpunkt zusammenlaufen: vielmehr bekannte als unbekannte Handlungen — Man sieht, daß von die- ser Seite betrachtet, Lessings Laokoon nicht vollen- det sey, da er uͤberhaupt mehr fuͤr den Dichter, als Maler, geschrieben. — Gegenstaͤnde der Tonkunst: Dinge und Vorfallenheiten, die vorzuͤglich durch Bewegung und Toͤne ausgedruͤckt werden koͤnnen: diese sind al- lerlei Bewegungen, Toͤne, Stimmen, Leidenschaf- ten durch Toͤne u. s. w. Gegenstaͤnde der Poesie sind die Objekte beider vorigen Kuͤnste. Zuerst, so fern sie durch na- tuͤrliche Mittel nachgeahmet werden. Hier war leicht zu erachten, daß die Poesie der Malerei nach- bleiben muͤsse: denn alles lief dahinaus, daß Worte keine Farben, und der Mund kein Pinsel sey. Auch das ist mir befremdend, wie hier die Poesie der Ton- kunst an natuͤrlichen Toͤnen gleichkommen koͤnne: Kurz! die Vergleichung ist uͤbel gerathen. Durch bedeutende Worte, als durch willkuͤhrliche ver- abredete Zeichen, und dies sollte eigentlich der Punkt der Lessingschen Vergleichung seyn. Jn den eigentlichen Gegenstaͤnden der Malerei (d. i. die durch Farben, Figuren, und Stellungen charakterisirt sind — deren vollstaͤndige Einsicht nicht von einer Folge der Begebenheiten abhaͤngt — wenig- Kritische Waͤlder. wenigstens von einer kurzen und in die Augen fal- lenden Folge — wo alle mannichfaltige Nebenum- staͤnde in einen untheilbaren Zeitpunkt zusammen- laufen) in allen diesen Gegenstaͤnden bleibt der Dich- ter dem Maler nach: denn erstlich jener ahmt durch willkuͤhrliche Zeichen, dieser durch die Natur nach: dieser zeigt alles in dem naͤmlichen Augenblicke, wie in der Natur; jener nur theilweise, zergliedernd; und also langweilig oder dunkel. Es giebt auch Gegenstaͤnde, die der Dichtkunst eigen sind: Handlungen, die in die Laͤnge dauern, und die ein fuͤr die Malerei praͤgnanter Augenblick in Eins bringt: Sitten, Leidenschaften, Empfindun- gen, und Charakter an sich, die sich am meisten durch Rede zeigen. Hier bleibt die Malerei voͤllig nach, leidet keine Vergleichung — — Harris geht nachher in die Graͤnzen der Poesie und Tonkunst, wo ich ihm nicht nachfolgen mag. Hier wuͤnsche ich der Dichtkunst noch einen Lessing. Er betrachtet genauer den sittlichen, den geistigen Eindruck der Poesie: eine wieder unberuͤhrte Saite, die ich auch nicht beruͤhren mag. Jch wollte meine Leser blos auf einen Schriftsteller aufmerksam machen, der mit Lessingen einerlei Gegenstand bearbeitet, in manchem weiter gekommen, und scharfsinnig gnug war, seinen Gegenstand kurz und buͤndig zu erschoͤ- pfen, wenn er statt des leeren Rangstreites auf nichts, als Erstes Waͤldchen. als auf Unterschied, hiernach auf Graͤnzen, denn auf Gesetze haͤtte sehen wollen. 20. Jch will nicht sagen, daß Hr. Lessing nicht, dem Hauptzwecke seines Buchs nach, gegen Caylus, und gegen Caylus Affen an Unterscheidung Recht be- halte: nur nicht immer an Gruͤnden der Unterschei- dung, und am wenigsten im Hauptgrunde. Er duͤnkt mich immer noch auf dem halben Wege, als wenn die Poesie durch Succession auf ein Werk arbeiten sollte, und nicht schon eben in der Succes- sion ihr Werk liefere. Der Dichter, z. E. der uns Schoͤnheit mahlen wollte, es sei nun ein Constantinus Manasses, oder Ariost, gieng nicht darauf aus, um hinten nach zu fragen: wie sahe Helena, wie sahe Alcina aus? Laok. p. 204. uns mit seiner Beschreibung ein vollstaͤndiges Bild zu hinterlassen, u. s. w. Er fuͤhrt uns durch die Theile, um jeden derselben als schoͤn anschauend zu machen, um, wenn wir alle Theile vergessen haͤtten, so viel anscheinend zu wissen: Helena, Alcina war reizend. Hat Ariost auf Hrn. Lessing damit keine Wirkung gemacht, so wird er vielleicht auf dieje- nigen seiner Landesleute Eindruͤcke machen, die die Schoͤnheit in einer Alcina wie in einer gehauenen Venus theilweise anzuerkennen gewoͤhnt sind: oder wenn Kritische Waͤlder. wenn Ariost selbst eine Alcina saͤhe, wuͤrde er viel- leicht auf solchem Wege — Und uͤberhaupt kann man hier aus einer Vergleichung wenig folgern. Homer mahlt seine Helena nicht p. 201. 215. ; warum? weil sie ihn nicht angehet, weil er von Anfange bis zu Ende seines Gedichts nicht zu der Frage Zeit hat: wie sahe sie aus? sondern immer, was trug sich hier und damit zu? Helena kommt, die Greise sehen sie: wie anders, als daß sie fuͤhlen und sagen mußten, was sie fuͤhlen und sagten; nicht aber laͤßt Homer sie das fuͤhlen und sagen, um „durch Wirkung „anzuzeigen, daß Helena schoͤn sey;„ — Ariost hingegen, der Homer Jtaliens, der aber vom grie- chischen Homer Alles eher, als dies bestaͤndige Fort- schreiten der Handlung hat, Ariost, der sein ganzes Gedicht durch nicht das Werk zu seiner Manier macht: Es ward, es ward, es ward, sondern auch „es war,„ und „wie war es?„ Ariost haͤtte ent- weder so nicht fragen sollen, oder er mußte uns durch die Theile fuͤhren. — Nicht, daß wir nachher die Theile sammlen, zusammensetzen; nicht, daß nach- her die Phantasie streben soll, sich das Ganze Ei- nes Kunstwerks zu denken; im Schildern selbst, im Durchfuͤhren durch seine Theile hat er seinen Zweck erreichen wollen — ob er ihn erreicht? Davon mag jeder denken was er will; gnug, er wollte ihn waͤhrend der Energie erreichen. Wenn Erstes Waͤldchen. Wenn der Dichter die Schoͤnheit lieber in Wir- kung, in Bewegung, d. i. reizend vorstellet, so thut ers nicht, damit diese sich bewegende Schoͤnheit dem sich bewegenden Verse entspreche; nicht als wenn jeder Zug der Schilderung, der Form, Gestalt, und nicht Wirkung, nicht Bewegung ist, deßwegen un- poetisch wuͤrde p. 217. : sondern ich generalisire den Satz lediglich so: „jede Schilderung der Schoͤnheit „wirke energisch„ d. i. zu dem Zwecke des Dichters, zu dem sie da ist, und denn waͤhrend jedem Zuge, den sie liefert. Hiernach moͤge sich Ariost verant- worten: aber das Lessingsche Gebot: „Schoͤnheit „des Koͤrpers zeige sich bei dem Dichter blos durch „Wirkung, blos durch Bewegung, Laok. p. 214. „ raͤumt zu viel auf. Zu viel selbst in Homer; denn ich weiß wohl nicht, ob bei der ganzen Juno, wenn er sie nicht koͤrperlich, wenn er sie nur durch ein Beiwort schil- dern wollte, kein wirksamerer, kein reizenderer Zug sey, als der, die weißellbogichte Juno, (man er- laube mir das ungeheure Wort!) ob dieser eine Zug der sei, durch den sie an der Handlung Theil neh- me, der durch ihren Koͤrper Handlung bezeichne, u. s. f. So seine schoͤnknieichte Briseis, und seine blauaͤu- gichte Pallas, und sein breitschulterichter Ajax, und sein geschwindfuͤßiger Achilles, und seine schoͤnhaa- rige Helena — wo ist hier Wirkung, Bewegung, Reiz Kritische Waͤlder. Reiz, Handlung? — Jmmer ein schoͤner Zuruff an die Dichter Laok. p. 215. : „Malet uns das Wohlgefallen, die „Zuneigung, die Liebe, das Entzuͤcken, welches „die Schoͤnheit verursachet„ — (wenn dies naͤm- lich die Energie eures Gedichts will!) so habt ihr die Schoͤnheit selbst geschildert, (naͤmlich so fern ihr sie nach der vorigen Parenthese schildern muͤsset:) Nicht aber umgekehrt: ihr Dichter schildert keine koͤrperliche Schoͤnheit; koͤnnet ihr sie nicht durch- gaͤngig in Reiz, in Wirkung schildern; der Form nach muͤsse euch kein Zug entwischen: der Gestalt nach schildert sie nicht. — So umgekehrt habe ich auf den Satz wenig Zutrauen. Wer kann leugnen, daß in mancher Gedichtart der erotischen Poesie koͤrperliche Schoͤnheit geschil- dert werden muͤsse, und wer muß nicht alsdenn auch zugeben, daß manche Theile dieser koͤrperlichen Schoͤnheit in Reiz, in Bewegung, nicht geschildert werden koͤnnen? Einmal vorausgesetzt, daß Ariost ein Gemaͤlde seiner Alcine liefern sollte und wollte: wie konnte er wohl ihre Nase, Hals, Zaͤhne, Arme in Wirkung schildern? Hr. L. frage p. 210. : was eine Nase sey, an welcher der Neid nichts zu bessern findet: und ich frage: was eine Nase sey, die sich in Reiz, in schoͤner Bewegung zeige? — Ariost mußte also entweder solche Theile auslassen, und da ers nun einmal auf Schilderung angesetzt: so wuͤrde die Erstes Waͤldchen. die Auslassung einem Jtaliener so, geschienen haben, als jene seine Lobsatyre, auf ein schoͤnes aber groß- nasichtes Maͤdchen, die alle Theile ihres Gesichts zum Himmel erhob, und bei Schilderung der Nase ohnmaͤchtig aufhoͤrte. Oder er mußte solche Zuͤge, die sich nicht anders, als durch die Form anschauend machen ließen, schon so schildern, und sich desto mehr an andern reizvollen geistigen Zuͤgen erholen. Jch halte diese Vermischung auch zu sehr nach dem Ge- schmacke der Jtaliener, als daß sie sich durch die vor- stehende Lessingsche Critik diese und dergleichen Schilderungen, von denen ihre Dichter voll sind, wuͤrden rauben lassen. Noch minder gilt die Ur- sache p. 211. , warum Ariost mit seiner Schilderung Un- recht haben soll: „was fuͤr ein Bild geben diese „allgemeinen Formeln? Jn dem Munde eines Zei- „chenmeisters, der seine Schuͤler auf die Schoͤnhei- „ten des akademischen Modells aufmerksam machen „will, moͤchten sie noch etwas sagen; denn ein Blick „auf dieses Modell, und sie sehen Stirn, Nase, „Hand u. s. w. Aber bei dem Dichter sehe ich „nichts.„ Eben als wenn der Dichter die Figu- ren, die er schildert, auch im Kupfer muͤßte vorste- chen lassen? Wer hat nicht eine Nase, Hand, Stirn gesehen, und wem kostet es Anstrengung, sich eine Stirn, in den besten Schranken, den schoͤnsten Schnitt einer Nase, die schmale Breite einer niedli- Q chen Kritische Waͤlder. chen Hand zu denken, jedesmal, da sie der Dichter nennet. Jch empfinde hierbei nicht so, wie Hr. L. mit Verdrusse die Vergeblichkeit meiner besten An- strengung, so etwas einzeln sehen zu wollen; nach- her aber jedes zusammen zu setzen, mir Alles in Einem, und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit jedem dieser Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei- chenmeister, zu denken — o die Anstrengung fo- dert ja nicht der Dichter von mir! er fuͤhrte mich theilweise, zeigte mir in jedem Theile die Schoͤn- heit: da energisirte seine Muse, und warum nicht? da sie kein akademisches Model von Schoͤnheit, das man auf einmal in allen seinen Theilen sehen sollte, zu lie- fern unternahm. Und soll die Dichtkunst keine schoͤne Gestalt schildern, weil ihre Theile coexsistent sind; so sollte Ho- mer auch keine haͤßliche Gestalt, keinen Thersites ge- schildert haben, weil ihre Mißtheile eben so coexsi- stent sind, und auch coexsistent gedacht werden muͤs- sen, wenn ein Bild der Haͤßlichkeit werden soll. Les- sing hat Homer durch sein Gewebe von kritischen Regeln selbst verwickelt, und nun will er mit ihm hinaus, wo er kaum durchkommt. „Eben weil die „Haͤßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu „einer minder widerwaͤrtigen Erscheinung koͤrperli- „cher Unvollkommenheiten wird, und gleichsam, „von der Seite ihrer Wirkung, Haͤßlichkeit zu seyn „auf- Erstes Waͤldchen. „aufhoͤret, wird sie dem Dichter brauchbar p. 232. . Mich duͤnkt, Hr. L. thue einen Fehlstreich, um die Verlegenheit zu zerstuͤcken. Waͤre die Frage: wie kann der griechische Dichter einen Haͤßlichen schil- dern, da ihn doch der griechische Kuͤnstler nicht schil- dern mochte? so mag die Antwort gelten: die Figur tritt uns nicht mit einmal vors Auge: in der Schil- derung des Dichters ist sie minder widrig: sie hoͤ- ret von der Seite der Wirkung auf unsern Anblick auf, haͤßlich zu seyn. Aber was soll das hier? Es wird einmal eine koͤrperliche Gestalt geschildert, suc- cessive geschildert, da ihre Theile und Mißtheile doch zusammen exsistiren, da sie doch in Verbindung gedacht werden muͤssen, wenn der Begriff der Haͤß- lichkeit aufkommen soll — weg also, mit dem Thersites, nach L. Grundsaͤtzen, nicht weil er haͤß- lich, sondern weil er ein Koͤrper ist, weil er als koͤr- perliche Gestalt, und doch successiv, geschildert wer- den muß. „Aber der Dichter kann ihn nutzen! er nutzt „ihn zu Laok. p. 232. — —„ so kann er doch also Formen, koͤrperliche Schilderungen nutzen? und wenn er sie nutzen kann, sind sie ihm erlaubt? woruͤber streiten wir denn? Kann er haͤßliche Formen nutzen, wie weit eher schoͤne? und sind ihm jene erlaubt, wie weit eher diese? So kann er doch also, wenn er Energie in sie legt, auch koͤrperliche Gegenstaͤnde Q 2 schil- Kritische Waͤlder. schildern — was wollen wir mehr? Die Schaͤrse des Bogens hat nachgelassen: erschlaffet liegt er da! Mit einer solchen Zugabe hat Hr. L. den groͤßten Theil seines Buches wiederlegt. 21. Und wozu nutzet denn Homer den Thersites? Die Frage wird wieder homerisch, und in homeri- schen Fragen antworte ich so selten mit Hrn. L. gleich. „Homer macht den Thersites haͤßlich, um ihn laͤcher- „lich machen zu koͤnnen. Durch seine bloße Haͤß- „lichkeit wird er nicht laͤcherlich; aber auch ohne die- „selbe nicht seyn Laok. p. 233. .„ Auf diese Assertion bauet Hr. L. einen Theil seiner Theorie des Laͤcherlichen, der ich lieber einen andern Ort und Grundlage wuͤnschte, als hier. Jn meinem Homer ist der Hauptcharakter Thersites nicht laͤcherlich, sondern haͤßlich; er ist kein laͤcherlich, sondern boshaft knurrender Kerl, er hat die schwarzeste Seele unter allen vor Tro- ja So machte ihn Ulysses ον γαρ εγω σεο φημι χερειοτ ρον βροτον αλλον Εμμεναι, οσσοι αμ’ Ατρειδης’ πο Ιλιον ηλϑον. Iliad. β. v. 248. 249. Alle sitzen ruhig; der einige Thersites laͤrmt noch umher Iliad. β. 212. : er faͤngt, wahrhaftig nicht zum Spaaße, sondern mit der bittersten Galle an, zu zan- ken: er schmaͤhet die Koͤnige, aber gewiß nicht als Hof- Erstes Waͤldchen. Hofnarr, sondern als Feind, als Todfeind. Wie derb und empfindlich v. 221. \&c. schmaͤlet er auf Agame- mnon! auf seinen Geiz, auf seine Feigheit, auf seine Ungerechtigkeit! Und das alles, vor der Armee, verlaͤumdend und luͤgenhaft, im dreustesten Tone, als ein Richter der Koͤnige! und dazu, als waͤre es im Namen aller Griechen 227. — — ἁς τοι Αχαιοι διδομεν κ. τ. λ. , als haͤtten ihn alle da- zu gedungen! und in eben demselben Athem schimpft er die ganze Nation v. 232. selbst, schilt alle Griechen fuͤr Feige und Nichtswuͤrdige, spricht in einem To- ne, als haͤtte er mehr, als alle, gethan, muͤsse fuͤr alle sorgen, koͤnne allen gebiethen, koͤnne uͤber alle urtheilen! Und noch nicht gnug! er muß noch einen Abwesenden v. 241. , den Tapfersten der Griechen, den Achilles schmaͤhen, und zwar mit der graͤulichsten Luͤge schmaͤhen, daß Achilles kein Herz habe — O der nichtswuͤrdige, haͤßliche Kerl! Nach griechi- schen Begriffen konnte kein Nichtswuͤrdigerer vor Troja gefunden werden. Und wenn er noch das alles aus Dummdreu- stigkeit sagte! aber nun kennet ihn Homer besser: er war schon von jeher gewohnt, so poͤbelhaft sich ge- gen die Koͤnige zu setzen, um — den Griechen ei- ne Freude zu erwecken, einen Gefallen zu thun v. 215. ὁ, τι οἱ εισ ιτο γ λο ν Αργειοισιν Εμμενα . Q 3 — und Kritische Waͤlder. — und nun wird der Kerl noch niedertraͤchtiger, noch haͤßlicher. Nach griechischen Begriffen der Ehre, kann es keine haͤßlichere Seele geben. Daher hassen ihn auch alle Griechen Iliad. β. v. 222. 223. : daher auch mitten in ihrer Betruͤbniß das Freudengelaͤch- ter v. 270. \&c. , da sich Ulysses seiner erbarmet, und ihn mit seinem Zepter zum Schweigen bringt: daher die all- gemeine Stimme: „Ulysses hat nie eine herrlichere „That gethan, als jetzt, da er diesen boͤsartigen „Schwaͤtzer gezuͤchtigt.„ So schildert ihn Homer mit jedem Zuge: so zeigt er sich selbst mit jedem Worte: so begegnet ihm Ulysses mit Auge, und Mund und Hand. Er wirft ihm den veraͤchtlichsten Blick zu v. 245. υπωδρα ιδ ν. ; spricht und handelt mit ihm en Canaille; so betraͤgt er sich hintennach selbst: er haͤngt die Nase, kruͤmmt den Ruͤcken, und weint — veraͤchtlichste, haͤßlichste Seele vor Troja! Nach griechischen Begriffen war der Werth eines Mannes, eines Soldaten, eines Helden auf edlen Stolz gegen sich selbst, auf Ehr- erbietung gegen die, so Ruhm verdienten, auf maͤnn- liche Wahrheitliebe, auf Achtung gegen das Pu- blikum, auf freien Gehorsam gegen die Obern, auf Ehre gebauet — in jedem Verstande war dies ein Jdeal einer haͤßlichen Seele. Und Erstes Waͤldchen. Und nach griechischen Begriffen muß auch eine so haͤßliche Seele keinen andern, als den haͤßlichsten Koͤrper, bewohnen: so schildert ihn Homer: „Am „Gemuͤthe der Boͤsartigste, am Koͤrper der Haͤß- „lichste aller Griechen vor Troja Αιχιστος δ’ ανηρ υπο Ιλιον ηλδε v. 216. — — ον χερειοτερος βροτος αλλος v. 242. .„ Wo ist nun, daß Homer den Thersites haͤßlich macht, um ihn laͤcherlich zu machen? Jhn als Pos- senreißer vorfuͤhren, will er wahrlich nicht: blos ein Misverstand des griechischen Ausdrucks Τι ὁι εισατο γελο ον Αργειοισιν Εμμεναι — — — v. 215. hat Hrn. L. und andre dazu verleitet. „Er war so nie- „dertraͤchtig, sagt Homer, daß er seine Pflicht ver- „gaß, mit den Koͤnigen zankte, sich Pruͤgel ver- „schaffte, blos, um den Griechen mit seinen Reden „eine Freude zu machen; — nichtswuͤrdige Seele! die alle fuͤr so misvergnuͤgt, so haͤßlich knurrend haͤlt, als sich selbst, die allen durch ihre Bosheit ei- nen Gefallen zu thun glaubt. So erklaͤre ich Ho- mer, und finde diesen Zug dem ganzen Gemaͤlde seiner Reden, seiner Handlungen gleich, niedertraͤch- tig, haͤßlich. So nimmt ihn Ulysses: er schilt sei- ne Bosheit, verachtet seine Feigheit, straft seinen Trotz; so nehmen ihn die Griechen: sie hassen ihn, hoͤren ihn mit Unwillen, und freuen sich, da sein Q 4 Ruͤcken Kritische Waͤlder. Ruͤcken blutet: so tritt er vor, so wird er abge- fertigt. Jch sehe also nicht, daß die γελοιον sein Haupt- charakter ist, noch minder, daß dieser Charakter oh- ne Haͤßlichkeit nicht seyn koͤnnte, wie Hr. L. philoso- phirt Laok. p 233. 34. . Ein haͤßlicher Koͤrper, und eine haͤßli- che Seele, was giebt dann das fuͤr einen Kontrast des Laͤcherlichen! Nach griechischen Begriffen ge- hoͤrt nichts besser zusammen, und auch Homer giebt ihm den haͤßlichen Koͤrper, eben um den Unwillen gegen ihn zu bestaͤrken, um seine haͤßliche Seele uns sichtbar vor Augen zu stellen, um uns den Kerl durchaus veraͤchtlich zu machen. Das Laͤcherliche ist so wenig die Hauptfarbe, im Thersites, daß selbst die Zuͤge, die man dahin zu ziehen pflegt, sein un- endliches Geschwaͤtz Αμετροεπ ς , sein vieles Geraͤusch Εκολωα. , sein Poͤbelausdruck Επεα ακοσμα, κατα κοσμον. , sein Zweck Τι οι εισαιτο γελο ον Αργειοις , um den Griechen einen Gefallen zu thun — nicht den Lustigma- cher, sondern nach griechischen Begriffen, den in al- lem nichtswuͤrdigen Menschen schildern. Selbst, daß die Griechen uͤber ihn lachen, ist Schadenfreu- de, ist ein Gelaͤchter des Hasses; nicht die unschuldi- ge Freude uͤber eine lustige Prise, die unschuldig laͤcherlich wird. Waͤre Thersit ein solcher; er sey auch Erstes Waͤldchen. auch dumm, er sey auch haͤßlich am Koͤrper; wenn er nicht boshaft handelte — o so vergebe ich es Ulysses nicht, daß er so mit ihm umgehet. Laß den Haͤßlichen, der sich schoͤn, den Dummen, der sich klug, den Feigen, der sich tapfer duͤnkt, nur immer ohne blutige Schwiele auf dem Ruͤcken laufen! Laß o Ulysses, nur immer deinen Zepter ruhen, und wenn du nach deiner Klugheit dich selbst kennest, so sprich zu dem, der dir blos laͤcherlich auf der Nase spielt, was Onkel Tobias Shandy zu jener Flie- ge: „Geh, armer Teufel! warum sollte ich dir was „thun? die Welt ist gewiß weit gnug, mich und „dich zu fassen.„ Thust du das nicht? willst du einen haͤßlichlaͤcherlichen dafuͤr abpruͤgeln, daß er haͤßlich und laͤcherlich ist? Ulysses so — — Doch so ist der homerische Thersites nicht; er verdient, was er bekam: wir sagen mit den Grie- chen im Homer: „nie hat Ulysses edler gehandelt, als „jetzt!„ wir goͤnnen ihm gern seine Tracht Schlaͤge. Wo bleibt also das Unschaͤdliche, das ον φϑαρτι- κον, das Aristoteles zum Laͤcherlichen fodert? dem Ulysses und Agamemnon schadet freilich sein boͤsar- tiges Verlaͤumden nicht; aber fuͤr seinen eignen Ruͤ- cken geht es nicht so gut ab; denn wem wird ein blutiger schwielenvoller Ruͤcken, als ein ον φϑαρτι- κον τι, oder, als ein gutes Unterkleid duͤnken. Auch den Griechen konnten Schlaͤge, als Schlaͤge, kein Schauspiel des Laͤcherlichen scheinen; wenn ihr scha- Q 5 denfro- Kritische Waͤlder. denfroher Haß gegen Thersites ihnen nicht in die- ser Strafe das: Nicht zu viel! das Viel mehr verdient! haͤtte fuͤhlen lassen. Der erste Strich vom Laͤcherlichen, das Unschaͤdliche, ist also ziemlich zweifelhaft: und der andre, der Contrast zwischen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, erliegt bei Thersites unter dem Eindrucke des Un- vollkommenen, des an sich selbst Haͤßlichen. Auch wer ein Grieche werden kann, wird Thersites in diesem Lichte sehen. Nur weil Homer keine einzige Person seiner Welt zum Jdeal des hoͤchst Vollkommnen oder Un- vollkommnen machet: so vertreibet er auch hier die uͤbermaͤßige Farbe des Haͤßlichen etwas, daß sein Thersites nicht vor allen Figuren seines Gedichts vorrufe. Hat er kein Gutes, so hat er doch noch das Gute an sich, daß er auf sich selbst einen Werth setzt, daß er, seine Beredsamkeit, seine Klugheit und Ehrlichkeit mag so leidig seyn, wie sie will, sich doch diese Haͤßlichkeit nicht zutrauet: so wird der sonst ganz und gar Verachtens-Hassenswuͤrdige doch et- was leidlicher; es geht auf ein Laͤcherliches hinaus. Nur ist dieses Letzte so sehr Nebenzug, es liegt so we- nig in seinem Charakter, daß es sich, als ein frem- der Zug, nur voruͤbergehend, nur hinten nach einmi- schet. Homer laͤßt seine Haͤßlichkeit auf etwas Unschaͤd- liches auslaufen, um sein ganz Haͤßliches, ganz Verabscheuungswuͤrdiges zu lindern; nicht aber umge- Erstes Waͤldchen. umgekehrt: „Homer macht den Thersites haͤßlich, „um ihn laͤcherlich zu machen: nicht seine bloße „Haͤßlichkeit macht ihn laͤcherlich; aber auch ohne „Haͤßlichkeit waͤre er nicht laͤcherlich geworden u. s. w. Schoͤne Unterscheidungen! nur Schade, daß Homer an ihnen so unschuldig ist, als ich. Sein Thersit ist ganz haͤßlich, nur es nimmt mit ihm ein laͤcherliches Ende. Gesetzt indessen, Thersites waͤ- re der, fuͤr den ihn Hr. L. erkennet: so sind sei- ne Beobachtungen uͤberhaupt, philosophisch und richtig. Nun aber hat eben dieser laͤcherliche Thersites unschuldiger Weise zu einem andern Buche von 284. Seiten Gelegenheit geben muͤssen, in welchem er s. v. die Hauptfigur ausmacht. Hr. Klotz hat ihn wuͤrdig geachtet, meistens uͤber ihn ein Baͤndchen Epistolarum Homericarum (vielleicht ein zweiter Riccius) zu schreiben, und ihn darinn feierlich in die Acht zu erklaͤren, in den Bann zu thun, ins Feuer zu werfen — kurz, aus Homer auszurotten. Jch habe gesagt, daß uͤber Thersites die homerischen Briefe geschrieben; denn außer dem, daß er ihnen den meisten Jnhalt, d. i. die meiste Gelegenheit, umher zu schwaͤrmen, verschaffet; so wuͤrde ich, wenn ich Verfasser der Briefe waͤre, es meinem Le- ser danken, wenn er die uͤbrigen Malereien, so ohne Pruͤfung, vorbeischleichen laͤsset. Hr. Klotz Kritische Waͤlder. Hr. Klotz also macht nach einem Eingange von achtzehen Seiten, in denen er uns, nach seiner Ge- wohnheit, nichts mehr sagt, als: ich bin auf dem Lande, und lese die sehr neue Bemerkung Klotz. epist. Homer. p. 24. : daß ein großer Geist auch Fehler habe — daß Homer selbst zuweilen schlummere, daß man diese Stellen des Schlummers bemerken doͤrfe — daß Er — — und nach aller gesteigerter Erwartung kommt das große und breite Beispiel p. 24. : „daß Ho- „mer geschlummert, glaube ich, erhelle an den „Orten; wo er, — es sey nun, daß er sich damit „nach den Sitten seines Zeitalters bequemet, die „noch nicht gnug gefeilt waren, und bei ihrer Ein- „falt etwas Baͤurisches und Rauhes haben; oder „ weil es schwer ist, zuruͤck zu halten, wovon „wir glauben, es werde den Lesern Lachen er- „wecken; oder durch einen Fehltritt seiner Beur- „theilungskraft — kurz! wo er sich zu dem herab „laͤßt, wovon ich halte, es schicke sich zu der „Wuͤrde und Ernsthaftigkeit des epischen Gedich- „tes ganz und gar nicht. Jch meine aber, „daß Homer dadurch, daß er zuweilen, an einem „sehr unschicklichen Orte, seine Leser lachend ma- „chen will, daß er dadurch sein goͤttliches Gedicht „ mit nicht leichten Flecken besudele, die ihm (dem „Gedichte naͤmlich) eine nicht geringe Verunstal- „tung, dem Leser aber — Verdruß erwecken. „Die Erstes Waͤldchen. „Die Sache wird aus dem zweiten Buche erhel- „len — —„ Ob ich gleich meinen ernsthaften Autor sehr ehrerbietig, wie ein Dekret der Sor- bonne uͤbersetze, und seinen Styl, der im vollen Monde gebildet worden, — — for scull That’s empty, when te Moon is full. mit allen seinen Gelenken und Gliedern gern ganz liefre; so kann ich doch ein Paar Seiten p. 25. 26. uͤber- springen, in denen er Homers Auftritt des Thersites vorbringt. Was Homer gesagt, ist mir was Al- tes, aber was daruͤber gesagt wird, etwas Neues. „ Nun will ich nicht laͤugnen, daß Homer alles „gesammlet, was den Anblick des Menschen haͤß- „lich und laͤcherlich machen kann; und auch das „ sehe ich leicht ein, warum Claudius Belurgerius „(v. Nic. Erythraei Pinacoth. p. 205. \& Vincent. „Paravicini sing. Erud. Cent. III. n. 12. p. 150.) „sich an diesem Bilde des Thersites, von der Hand „eines geschickten Kuͤnstlers gemalt, so sehr ergoͤtzet. „Jmmer aber wollen wir den Spruch Quintiliani „betrachten: Nihil potest placere, quod non decet, „zu Deutsch: Nichts kann gefallen, was nicht an- „staͤndig ist. Wenn dieser Mensch etwa in einer „Satyre, oder in einem andern Possengedichte auf- „traͤte: so wuͤrde er mich nicht wenig ergoͤtzen, und Kritische Waͤlder. „und ich wuͤrde dem Dichter gern das Lob des Wi- „tzes, und der Erfindung ertheilen. „Sed nunc non erat his locus \&c. \&c. Mit Erlaubniß des Hrn. Chr. Ad. Klotzius, und Claudius Belurgerius will ich hier eine lange Stelle aus Horaz, und Beispiele aus Virgil, Tas- so, und wer weiß woher p. 28. — 30. ? uͤbergehen, die von der Belesenheit des Hrn. Briefstellers zeigen, und den Satz hier durch sich selbst, am besten bestaͤtigen: daß manches zu sehr unrechter Zeit kommen koͤnne. Jch will bei Thersites bleiben. „So wie es un- „schicklich ist, in einer Scherzsache Trauerspiele zu „erwecken, so auch in einer ernsthaften Sache zu „lachen, wer wuͤrde das fuͤr anstaͤndig halten? „hier wollen wir nicht lachen, wir sind voll Er- „wartung, die uns der Poet selbst eingefloͤsset, was „die Sache fuͤr einen Ausgang nehmen wird. „Wir sehen das ganze Kriegsheer erregt, zusam- „men laufend: wir wollen wissen, ob die Griechen „wieder die Waffen ergreifen, oder nach Hause ge- „hen werden: und siehe! da stoͤßt uns jenes Fratzenge- „sicht (zu Griechisch μορμολυκειον!) auf, und haͤlt „uns Eilende bei der Schleppe zuruͤck. Wir wider- „streben, wir sind auf den unwillig, der uns „das Ungeheuer zuschickte, und da, wo wir ernst- „haft, nicht blos seyn wollten, sondern auch muß- Erstes Waͤldchen. mußten, lachen wir leider. Alle Hochachtung fuͤr des Hrn. Klotzius Ernsthaftigkeit und seine Schlep- pe! wollte ich hier nur ein Paar Kleinigkeiten fra- gen: ob naͤmlich Homer uns mit einer Buͤrgermei- ster- oder Scholiasten-Perucke vorsinge? ob sein Thersites denn als eine Possenfigur, als ein Ding zum Lachen auftrete? Jst dies nicht, tritt er jetzt in diesem kritischen Zeitpunkte, als ein Redner im Namen der ganzen griechische Canaille auf, alles abzusagen, was solche Thersites in der griechischen Armee auf ihren Herzen hatten: gewiß! so kann Homer keinen gelegenern Zeitpunkt finden, als die- sen, und das Colorit, in dem Thersites erscheint, ist so dem Epischen Tone gemaͤß, daß ich mir ihn in keinem andern denken kann. Nicht haͤßli- cher; sonst verdient er den Augenblick todtgeschla- gen zu werden; nicht froͤmmer; sonst wuͤrde er schweigen, und so wuͤrde kein Herold seyn, der auch die Stimme des Poͤbels einmal hoͤren ließe. Jch bin also vor meiner Schleppe und vor einem unanstaͤn- digen Lachen sicher! Der ernsthafte Homer aber, der seinen Thersites ganz anders, naͤmlich als ein unnuͤtzes Fratzengesicht, als ein Ungeheuer, das sich zum Lachen vordraͤngt, kennet, und davor sehr ban- ge ist, faͤhrt fort: „ Wenn wir hingegen den Menschen wegwer- „fen, wenn wir alle die Verse wegschneiden, laßt „sehen, ob wir nicht eine ernste Mine behalten „ wer- Kritische Waͤlder. „ werden? Jch sage es noch einmal, Homers Ther- „sites gefaͤllt mir nicht, und wird mir nie gefallen, „wenn ihn auch Medea wieder verjuͤngte. Weg- „jagen wollen wir den Menschen, oder wenn er sich „widersetzte, und sich erkuͤhnte, Uns auch, so wie die „griechischen Feldherren, zu schmaͤhen, so soll er „mit umgedrehetem Genicke heraus. Zwar zwei- „feln wir nicht, daß auch Er seine Vertheidiger fin- „den, daß sich Einige finden werden, die an den ar- „tigen Jungen nicht wollen Hand angelegt haben. „Denn es giebt Leute, die mit den Musen und mit „der Philosophia in keinem Umgange, in keiner „Bekanntschaft stehen, die die Wissenschaften blos „als Handwerk gelernt, die da schreien u. s. w. —„ Wehe mir! dieser scheltende sehr ernsthafte Ton geht eilf Seiten durch, und wie sollte ichs nun wa- gen, einen Thersites Homers zu retten, der ohne Grund und Ursache verurtheilt ist. Wehe mir! so gehoͤre auch Jch alsdenn unter die Leute, die mit den alten Jungfern, den Musen, und mit der ehr- baren Dame Philosophia in keinem Umgange sie- hen, denn ich haͤtte geglaubt, Thersit waͤre zu viel geschehen. Jch lege also voll ernsthafter Ehrerbie- tung die Hand auf den Mund, und reiche blos mit geziemender Achtung dem h. t. groͤßten Kenner Ho- mers in Deutschland diesen alten Dichter zum noch- maligen Durchlesen dar: denn aus diesen und an- dern Urtheilen, die er uͤber Homer hie und dort ge- faͤllet, Erstes Waͤldchen. faͤllt, haben viele Leser mit Recht gemuthmaßet, er kenne denselben vielleicht nur noch aus dem ersten fluͤchtigen Durchlaufe, den er, wie er uns selbst mit der liebenswuͤrdigsten Offenherzigkeit erzaͤhlt Hortabatur vero idem (Baumeisterus) me in- primis ad studium graecarum litterarum, qua- rum in me erat levis cognitio. Hinc vna cum Neomanno, aequali et familiari meo, divina Ho- meri carmina non tam legi, quam deuoraui, vt intra viginti circiter quatuor dierum spatium omnia perlegeremus. Fuit enim tum nobis il- lud tantum modo propositum, vt formam ali- quam magni opetis et speciem animo informa- remus atque verborum nobis compararemus co- piam. In praef. Eleg. p. 8. , ein- mal mit seinem Stubenburschen in 24 Tagen durch den ganzen Homer hin angestellet, um nur ohnge- faͤhr etwas von der Form des ganzen Werks zu wis- sen, und sich eine Copiam vocabulorum anzuschaf- fen. Nun kann dies freilich noch nicht heißen Ho- mer in Homers Sinne lesen, und es scheint aus diesem fluͤchtigen Durchzuge ihm manches aus Ho- mer entwischet zu seyn, manches aber sich in ihm angeklebet zu haben, was nur Er so bemerket. Kuͤnftig kann ich davon mehr Proben geben; jetzt wiederhole ichs von Thersites. Wie ich ihn kenne, ist er nicht da, um laͤcherlich zu seyn, um uns die Schleppe zu zerreißen, um uns zum ungeziemenden unartigen Lachen zu bringen. Noch ist er da, um R blos Kritische Waͤlder. blos haͤßlich zu seyn, damit doch nicht lauter schoͤne Leute vor Troja seyn moͤgen. Noch ist er am un- rechten Orte da, daß man ihm das Genick um- drehen doͤrfte. Er gehoͤrt mit zur Handlung des Gedichts, und ist der Mund des griegischen Poͤ- bels, der sich jetzt erklaͤren soll oder gar nicht. Er ist nicht laͤcherlich, sondern haͤßlich, und um nur dies Haͤßliche einiger maßen zu lindern, so laͤßt es Homer auf Einen verkleinernden Zug hinauslau- fen: statt ihn als Kronverbrecher zu toͤdten, ihn nur gelinder strafen; statt ihn ganz zum Abscheue zu machen, versoͤhnt er ihn durch einen Nebenzug zu- letzt mit dem Herrn. Jhm einen andern Charak- ter zu geben, heißt aus der lateinischen Uebersetzung urtheilen, und in homerischen Briefen dieses an Tag zu legen, ist Die lateinische Uebersetzung freilich spricht von ver- bis scurrilibus, von dem non prout dicebat, von dem quodcunque videtur ridiculum Argiuis; und aus ihr kann man also ficher den Thersites, so in la- teinifche Phrases uͤbersetzen: hic homo scurram agere, risum reliquorum Graecorum captare, solebat, dedecet carminis grauitatem etc. Alles nach der lateinischen Uebersetzung gut und richtig; wer wird aber Homer in einer lateinischen Ueberse- tzung lesen? — Doch ich kehre lieber zu mei- nem lieben Lessing, bei dem ich uͤberall unterhalten- de Gruͤnde finde — 22. Und Erstes Waͤldchen. 22. Und zwar jetzt zu ihm als Pfychologen. „Der „Dichter nutzt die Haͤßlichkeit, um die vermisch- „ten Empfindungen des Laͤcherlichen und Schreckli- „chen hervorzubringen Laok. p. 232. 233. . „ Zuerst bemerke ich: daß so verschieden an sich diese zwo Gattungen vermischter Empfindungen Schreckliches und Laͤcherliches seyn moͤgen, so bald koͤnnen sie sich in einander verwandeln. Das Schreckliche, als unschaͤdlich erkannt, wird eben, weil es uns schrecklich duͤnkte, laͤcherlich; das Laͤ- cherliche, als schaͤdlich erkannt, eben weil es uns nur laͤcherlich duͤnkte, schrecklich. Vielleicht wer- den beide also das Haͤßliche aus Einer Ursache, ih- rer verwandten Natur nach, nutzen? Wir wollen forschen: Nicht alles Laͤcherliche darf haͤßlich seyn. Un- ter der großen Menge unschaͤdlicher Kontraste zwi- schen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten giebts zwar auch einen, der — haͤßlich schoͤn heißt, und sich auf mancherlei Weise aͤußert, z. E. haͤßlich seyn, und sich schoͤn duͤnken, haͤßlich seyn und fuͤr schoͤn erkannt werden, haͤßlich seyn, und durch Aus- zierung schoͤn seyn wollen u. s. w. Allein, diese eigne Gattung laͤcherlicher Kontraste macht noch nicht alle Gattungen, die ganze Art aus. Der Schwach-starke, R 2 der Kritische Waͤlder. der klein Große, der unwichtig Witzige in jeder Art, sind eben solche laͤcherliche Geschoͤpfe, als der haͤß- lich Schoͤne. So darf auch nicht alles Schreckliche haͤßlich seyn. Wenn ein Wesen seiner hoͤhern Natur, sei- ner groͤßern Uebermacht wegen, uns Schrecken Die meisten homerischen Goͤtter sind schrecklich; aber deßwegen auch haͤßlich? gebietet; so darf dies Schreckliche weder in dem Gegenstande mit Formen, noch in unsrer Seele mit Empfindungen des Haͤßlichen vergesellschaftet seyn. Ein Ungewitter z. E. oder wenn ichs in ein Bild verwandele, ein donnerwerfender Jupiter, kann fuͤrch- terlich, schrecklich seyn, aber ohne Verzerrung des Gesichts, ohne haͤßliche Formen. Ein bruͤllender Loͤwe z. E. kann selbst, wenn ich mich in Sicher- heit fuͤhle, mir ein schrecklicher, ein schaudervoller; keinesweges aber deßwegen ein haͤßlicher Anblick seyn. Es folgt also: daß, um die vermischten Empfin- dungen des Laͤcherlichen oder Schrecklichen hervor- zubringen, Haͤßlichkeit nicht jedesmal, nicht schlecht- hin als Jngrediens gebraucht werden doͤrfe. Es wird daher dem Wesen einer Kunst anheim gestellt werden koͤnnen, ob sie das, was sie nicht brauchen darf, brauchen koͤnne, was sie nicht schlechterdings drauchen darf, hie und dort brauchen wolle. Jch fahre fort: Unter Erstes Waͤldchen. Unter den unschaͤdlichen Kontrasten, die das Laͤcherliche machen, giebts namentlich auch den Kon- trast des haͤßlich Schoͤnen; zum Laͤcherlichen also kann Haͤßlichkeit wirklich ein wesentliches Jngrediens seyn, um es hervorzubringen. Jn schrecklichen Gegenstaͤnden gehoͤrt die Form der Haͤßlichkeit ei- gentlich gar nicht mit zu der Jdee des Schaͤdlichen, des Furcht erregenden selbst; Schauder und Unwille am Haͤßlichen sind zwo Empfindungen, die in ihrer Natur verschieden sind: folglich kann zum Schreckli- chen das Haͤßliche nie eigentlich als wesentliches Jn- grediens wirken: nie es also hervorbringen. Jn Parallelen laͤßt sich daher kaum ihr beiderseitiger Gebrauch behandeln. Wo das Haͤßliche zum Laͤcherlichen zutrifft: da treffe es wesentlich zu: es gehoͤre mit zum Kontrast: es kann nicht wegbleiben. Wo es wegbleiben kann, ists auch ein Kennzeichen, daß es wegbleiben muß — So erklaͤrt Hr. L. mit Recht es fuͤr eine alberne Moͤnchsfratze, daß der weise und rechtschaffene Ae- sop in der haͤßlichen Gestalt Thersites durch dieselbe im Kontrast seiner schoͤnen Seele laͤcherlich wer- den solle. Traͤfe aber das Haͤßliche zum Schrecklichen; so koͤnnte es blos als Nebenidee zutreffen; es gehoͤr- te nicht in die Empfindung des Schauders. Es muß also nicht anders als wie ein Nebeningrediens R 3 zuge- Kritische Waͤlder. zugemischt werden: damit es die Hauptempfindung ja nicht schwaͤche, damit der Schauder nicht Un- wille werde, wenn ers nicht werden soll. Wo ein Gegenstand durch das Jngrediens des Haͤßlichen laͤcherlich werden soll; da kann er, so lange er in den Grenzen der Wahrscheinlichkeit bleibt und den Kontrast abwieget, nie zu haͤßlich seyn. Aber das Haͤßliche zum Schrecklichen kann aller- dings zu sehr verstaͤrkt, und als Hauptingrediens behandelt, das Schreckliche wirklich hindern. Ei- nen Gegenstand ganz haͤßlich fuͤhlen, so daß die Jdee des Unwillens, des Ekels, jede andere verdunkelt, heißt gewiß nicht, ihn ganz fuͤrchterlich empfinden. Das Gefuͤhl des Schrecklichen ist Schauder der Furcht: das Blut tritt zum Herzen zuruͤck: Bloͤße bedeckt das Gesicht: Kaͤlte laͤuft den Koͤrper her- ab; bald aber nimmt sich die Natur zur Selbst- vertheidigung zusammen: das Blut tritt verstaͤrkt in seinen vorigen Gang: die Wangen roͤthen sich: das Feuer breitet sich wieder aus: die Furcht ist vorbei: der Schrecken ist in Zorn verwandelt. So erzeugte, gebar und toͤdtete sich die Em- pfindung des Schrecklichen. — Aber die Em- pfindung des Haͤßlichen wie weit anders: der Miß- ton, die widerwaͤrtige Erscheinung, die wir haͤß- lich nennen, wirkt auch in meinem Nervengebaͤu- de Mißton, Widerwaͤrtigkeit: es bringt meine Sai- Erstes Waͤldchen. Saiten der Empfindung widrig an einander; es krallet in meiner Natur. Die Empfindung des Haͤßlichen durchlaͤuft also meinen Koͤrper ganz anders, als das Gefuͤhl des Schrecklichen: sie gehoͤren nicht in Eins. Und auch zusammengeschlagen vermischen sie sich kaum. Der grausame Richard der Dritte Laok. p. 238. erregt mir Schrecken; der an Seele und Koͤrper haͤßliche Richard Abscheu. Die Haͤßlichkeit sei- ner Seele, den Abscheu meiner Empfindung gegen ihn, kann wohl die Haͤßlichkeit seines Koͤrpers verstaͤrken; mit meinem Schrecken aber, mit sei- nem Charakter des Fuͤrchterlichen, hat sie nichts zu thun. Wenn ich die abscheuliche Seele Ed- munds Laok. p. 237. aus einem wohlgebildeten Koͤrper spre- chen hoͤre: so kann ich den schoͤnen Koͤrper noch beklagen, der einer so schwarzen Seele zur Woh- nung dienen muß; ich kann ihn lieben, wenn ich seinen Einwohner hasse: der Abscheu an der Seele wird also durch den Koͤrper nicht verstaͤrkt, oder ich will noch mehr sagen, geschwaͤchet. Aber der Schrecken, welcher die schwarzen fuͤrchterli- chen Anschlaͤge Edmunds erregen, ist ganz etwas anders, er wirkt, ohngeachtet seines schoͤnen Koͤr- pers, eben so in vollem Maaße. Edmund der Boͤ- R 4 sewicht, Kritische Waͤlder sewicht, ist mir abscheulich; Edmund, der schaͤdlicht Boͤsewicht, schrecklich. Wenn ich es also Hrn. Lessing zugebe: „daß „schaͤdliche Haͤßlichkeit allezeit schrecklich sey, p. 236. „ so wird Hr. L. es mir zugeben, daß sie es nicht wegen ihrer Haͤßlichkeit, sondern blos wegen ihrer Schaͤdlichkeit sey: daß also der Dichter durch das Haͤßliche nie die Empfindung des Schrecklichen hervorbringen, daß er sie, eigentlich gesprochen, nie verstaͤrken koͤnne: kurz, daß Schreckliches und Haͤßliches, zwo ganz verschiedene Arten der Ge- genstaͤnde; Furcht und Abscheu zwo ganz verschie- dene Arten der Empfindung seyn. Herr Lessing hat vielleicht sagen wollen: „Abscheu gegen die „haͤßliche Seele des andern wird durch Abscheu „an seinem haͤßlichen Koͤrper verstaͤrkt: der Dich- „ter koͤnne sich also der Formen des Haͤßlichen be- „dienen, um Abscheu zu verstaͤrken. „ Alsdenn hat er Recht; aber auch keine Verschwisterung der Empfindungen angegeben: denn Abscheu bleibt Ab- scheu; das Haͤßliche, das Abscheuliche sei in Seele oder Koͤrper. Jch habe die Empfindung am Haͤßlichen der Formen Abscheu genannt: Hr. L. glaubt Laok. p. 247. , sie Ekel nennen zu koͤnnen, und gehet darinn von Hrn. Mendel- Erstes Waͤldchen. Mendelsohn ab, der Ekel nur in den niedrigen Sinnen Geschmack, Geruch und Gefuͤhl; nicht aber in Gegenstaͤnden des Gesichts, und kaum des Gehoͤrs finden will Litt. Br. Th. 5. S. 107. . Der Sprachgebrauch, der in Sachen, wo es auf nichts als Gefuͤhl ankommt, immer gehoͤrt werden kann, scheint auf der Seite des letztern Philosophen; nur, wenn ich nicht irre, mit folgenden Unterscheidungen. Jm eigentlichen Verstande scheint Ekel dem Sinne des Geschmacks zuzukommen; nicht aber blos uͤbermaͤßige Suͤßigkeit Litt. Br. eb. das. , sondern jede widrige Beruͤhrung unserer Geschmacksnerven verursachet Ekel. Daher die große Verschiedenheit des Ge- schmacks auf verschiedenen Zungen, nachdem ihre Fibern so und nicht anders gestimmt sind, so und nicht anders angenehm oder widrig werden koͤn- nen. Hier ist also Ekel eine Haupteigenschaft des Uebelgeschmacks, der nicht von der zu langen Dauer einfoͤrmiger Beruͤhrungen unsrer Ge- schmacksfibern, wie Hr. Mendelsohn meinet: son- dern, wie ich glaube, von jeder unserer Natur widri- gen Beruͤhrung derselben herruͤhret. Gewisse Ge- schmacksarten sind ekelhaft nach der allgemeinen Empfindung; andere nach dem Eigensinne Einer Natur, das ist, nach der besondern Spannung der R 5 Fi- Kritische Waͤlder. Fibern in diesem einzelnen Subjekte. Gewisse Arten des Ekels sind angebohren, wenn die Werkzeuge des Geschmacks urspruͤnglich so und nicht anders ge- bildet sind; andre sind angewohnet, und durch lan- ge Associationen der Jdeen zur Natur geworden. Einiges ist ekelhaft, wenn wirs kosten; ein ande- res, wenn wirs gekostet haben, nach dem die widri- ge Beruͤhrung schnell oder langsam geschahe u. s. w. Das Ekelhafte, was in Gegenstaͤnden des Geschmacks das Auge praͤoccupirt, ist nichts als Wiederho- lung voriger Sensationen, aber eine so starke Wie- derholung, daß sie selbst Sensation erregt, und also mit derselben vermischt wird. — Jn Gegenstaͤn- den des Geschmacks hat also das Auge nichts Ekelhaftes. Geschmack und Geruch sind in unsrer Natur durch ein geheimes Band der Organisation verei- nigt: die Staͤrke des Einen pflegt nicht ohne die Staͤrke des andern zu seyn, und der Verlust des Einen den Verlust des andern nach sich zu ziehen. Zunaͤchst also kommt der Ekel dem Geruche zu, durch eine widrige Bewegung der Geruchsfibern; darf ich aber sagen, daß er ihm blos zukomme, durch das Band der aͤhnlichen Organisation mit dem Geschmacke? Jch glaube fast: auch ein ekelhafter Geruch erregt Erbrechen, d. i. widrige Beruͤhrung der Geschmacksorgane. Er aͤußert sich also durch den Erstes Waͤldchen. den Geschmack: er kommt dem Geruche zu, blos als einem mit dem Geschmacke verbundnen Sinne: jeder andere unangenehme z. E. zu starke, zu betaͤubende Geruch heißt nicht ekelhaft. Dem Gefuͤhle kommt Ekel schon sehr uneigent- lich zu. „Eine zu große Weichheit der Koͤrper, „die den beruͤhrenden Fibern nicht gnug widerste- „hen „ Litt. Br. eb. das. , z. E. ein Antasten des Sammets, fei- ner Haare, ꝛc. kann im eigentlichen Verstande eben so wenig ekelhaft heißen, als das sogenannte Ki- tzeln: es ist Widrigkeit, ein heterogenes Gefuͤhl, eine heterogene Beruͤhrung, als ich mag: und zwar Widrigkeit durch das zu Sanfte. Nun giebts eine andere Widrigkeit, das Gefuͤhl einer he- terogenen Nervenspannung, durch das zu Heftige, zu Gewaltsame. So kreischt uns ein Griffel ins Ohr, der einen Stein hinunter krallet: wir fuͤhlen unser ganzes Nervengebaͤude widrig erschuͤttert: wir wollen aus der Haut fahren; aber erbrechen wollen wir uns nicht. Widrig ist der Gegenstand fuͤr unser fuͤhlendes Ohr; nicht aber ekelhaft. Dem Gehoͤre, als solchem, kommt Ekel noch minder zu: denn „eine unmittelbare Folge von „vollkommenen Consonanzen Litt. Br. „ kann Ueberdruß; aber Kritische Waͤlder. aber eigentlich nur dem Ekel erwecken, bei dem Ge- schmack der Hauptsinn waͤre, und die Suͤßigkeit der Toͤne nur empfaͤnde, so fern sie mit der Suͤs- sigkeit, in Anschung des Geschmacks, Aehnlichkeit haͤtte. Ein solcher allein wuͤrde in der uͤbermaͤ- ßigen Consonanz auch eine Aehnlichkeit mit uͤbermaͤ- ßiger Suͤßigkeit, folglich an Toͤnen, Ekel empfin- den; kein andrer! Jch sage, mit Fleiße empfin- den, dunkel empfinden; denn von dem klaren Hinzudenken ist hier nicht die Rede. Endlich: ekelhafte Gegenstaͤnde fuͤrs Auge. Hr. L. glaubt Laok. p. 247. 48. , „daß ein Feuermaal in dem Gesich- „te, eine Hasenscharte, eine gepletschte Nase mit vor- „ragenden Loͤchern, ein gaͤnzlicher Mangel der Au- „genbraunen, sich wohl so nennen ließen: daß wir „etwas dabei empfinden, was dem Ekel nahe kom- „me, daß, je zaͤrtlicher das Temperament ist, wir „desto mehr von den Bewegungen im Koͤrper fuͤh- „len werden, die vor dem Erbrechen vorhergehen. „ Jch mag bei so unsichern Sachen des dunkelsten Ge- fuͤhls uͤber Namen nicht streiten: indessen duͤnkt mich, daß das zaͤrtlichste Temperament, und dazu im zartesten Zustande der Empfindung, z. E. eine schwangere Frau, solche Gegenstaͤnde eher widrig, als ekelhaft nennen, eher davor zuruͤck schaudern, und in Ohnmacht fallen, als sich druͤber erbrechen werde: Erstes Waͤldchen. werde: daß die unangenehme Empfindung immer also eher Widrigkeit des Gefuͤhls, Abscheu des An- blicks, als Ekel, zu nennen sey. Es sey indessen darum, daß ein solcher Anblick Bewegungen erre- gen kann, die vor dem Erbrechen voraus gehen: giebt Hr. L. eben damit das Erbrechen nicht fuͤr die sicherste Wirkung des Ekels an? Und da das Erbrechen eigentlich nur dem Sinne des Geschmacks zukommt: so muß, wenn das Auge Ekel empfaͤnde, es blos durch eine Association von Geschmacksideen solchen empfinden, und uͤber die Zaͤrtlichkeit des Temperaments mag ich nicht streiten. Gnug fuͤr mich: daß Ekel eigentlich nur dem Geschmacke, und dem Geruche, als einem mit dem Geschmacke verbundnen Sinne, zukomme. Das grobe Gefuͤhl der uͤbrigen Sinne empfindet Widrig- keit, und nicht Ekel; es sey denn, daß in diesem und jenem Subjekte das Gesuͤhl eines Sinnes in der koͤrperlichen Organisation, oder in dem zur Na- tur gewordnen Laufe der Begriffe mit dem Geschma- cke, und dem Geruche, gleichsam in naͤherm Ban- de stehen. Es giebt naͤmlich Menschen, bei de- nen der Geschmack, mithin auch der Geruch, unter den groben Sinnen gleichsam die herrschendsten sind, und den sinnlichen Empfindungen insgesamt also Ton zu geben vermoͤgen: bei solchen kann sich ein widerlicher Anblick, ein widriger Schall, ein widri- ges Kritische Waͤlder. ges Gefuͤhl mehr dem Ekel naͤhern: d. i. Bewe- gungen erregen, die vor dem Erbrechen voraus zu gehen pflegen. Allein, diese Besonderheit in der Stimmung des Nervengebaͤudes hindert nicht, daß auch in ihnen unmittelbare Widrigkeit des Gefuͤhls, Gesichts, Gehoͤrs, von der mittelbaren Widrigkeit in diesen Sinnen durch Huͤlfe eines fremden Sin- nes, des Geschmacks, unterschieden seyn sollte. Das Ekelhafte kann sich mehr oder weniger, nach dem die Organisation gestimmt ist, in jede unangeneh- me sinnliche Empfindung einmischen; nicht aber jede unangenehme sinnliche Empfindung, jede Widrigkeit in einem Sinne ist deßhalb Ekel. Kommt also der Ekel vorzuͤglich dem Geschma- cke, und andern Sinnen nur so fern zu, als sie mit ihm verbunden sind, oder sich an seine Stelle setzen koͤnnen: so — Gilt erstlich auf die Frage: Warum ist in den schoͤnen Kuͤnsten und Wissenschaften der Ekel nicht schoͤn? die Ursache Litt. Br. Th. 5. eb. das. so allgemein nicht; weil der Ekel blos den dunkeln Sinnen zukommt: denn dem dunkelsten Sinne unter allen, dem Gefuͤhle, kommt er nicht zu. Noch minder ist der Widerwille, den Haͤßlich- keit wirket, so gaͤnzlich von der Natur des Ekels, als Erstes Waͤldchen. als Hr. L. meinet Laok. p. 247. ; denn Haͤßlichkeit aͤußert sich blos dem Auge; Ekel eigentlich nur dem G e - schmacke. Am mindesten also kann sich zur Nachahmung das Ekelhafte vollkommen so, wie das Haͤßliche, verhalten Laok. 258. . Lasset uns jede der dreierlei Nachah- mungen des Laͤcherlichen, Haͤßlichen, Ekelhaften durchfragen. 23. Das Haͤßliche kann in der Dichtkunst gebraucht werden, um das Laͤcherliche zu erwecken, und, wie gesagt, hat die Dichtkunst alsdenn in Veranstal- tung der Formen keine andre Einschraͤnkung, als Wahrscheinlichkeit und Gleichgewicht des Kontrasts, naͤmlich das scheinbar Schoͤne. Aber das Haͤßli- che, ein Jngrediens des Laͤcherlichen bei dem Maler? Kann der Maler sein Haͤßliches in Kontrast des seyn wollenden Schoͤnen setzen, daß das Laͤcherliche her- vorblickt: so wohl. Da dies aber selten ist, da selbst bei der geistreichsten hogarthschen Composition die Malerei immer augenscheinlicher haͤßliche For- men, als den laͤcherlichen Kontrast durch haͤßliche Formen schildert: so bleibt sie gleichsam koͤrperlich, um dem Dichter des Laͤcherlichen folgen zu koͤnnen. Der Kritische Waͤlder. Der Dichter trifft den Geist des Laͤcherlichen durch das Haͤßliche; der Kuͤnstler bleibt am Koͤrper des Haͤßlichen kleben — und die Hauptsache ist unsicht- bar. Jener stimmt meine Seele, und mein Mund lachet willig; dieser kitzelt mich haͤßlich, und ich soll lachen! Das Haͤßliche zum Schrecklichen? Nichts! in Poesie und Malerei nichts. Will aber der Dich- ter Abscheu erregen: eine abscheuliche, boͤsartige, grimmige Seele an sich schon, wird sich durch haͤßli- che Verzerrungen aͤußern. Soll der Abscheu ver- staͤrkt werden; so gebe er ihr ganz einen haͤßlichen Koͤrper: denn wie anders kann wohl das Wohnhaus seyn, das sie sich gebauet, in dem sie so lange gewirket? Soll der Abscheu sich in Mitleid brechen; will der Dich- ter in Entfernung eine Seele zeigen, die besser seyn koͤnnte: so mildre er ihren Abscheu wenigstens durch Stralen ihrer guten Anlage, durch einen nicht haͤß- lichen Koͤrper. Der Maler hat hier Schranken sei- ner Kunst: denn wie selten will diese wohl Abscheu, hoͤchsten Abscheu erregen? und wenn sich mit dem Haͤßlichen kein Schrecken, sondern nichts, als Ab- scheu, erreichen laͤßt: wie frei geht der Kuͤnst- ler aus? Das Ekelhafte endlich — hier bin ich mit Hrn. L. gar nicht einig. Das Wiesel, das Sokra- tes Erstes Waͤldchen. tes unterbrach, ist an sich kein ekelhafter Gegenstand, und die ekelhaften Zuͤge, die Aristophanes sonst ein- mischt, sind ein Geschenk an den griechischen Poͤbel, das wir demselben auch lassen koͤnnen. Alle hot- tentottische Erzaͤlungen, so bald sie den Ekel zur Hauptwirkung haben, so duͤnken sie mir Aus- geburten des brittischen Ueberwitzes und boͤsen Hu- mours. Jn Hesiods Abbildung der Traurigkeit bin ich mit Longin von einerlei Empfindung: es sey, aus welcher Ursache es sey — Jch mag die fließen- de Nase nicht sehen: ich mag nichts sehen, was wirklich Ekel erwecket. Ekel, als solcher, laͤßt sich schlechthin mit keiner andern gefaͤlligen Empfin- dung verschmelzen; und wenn das Graͤßliche nichts, als ein ekelhaftes Schreckliche, ist: so ist in diesem Graͤßlichen, was sich vom Ekel darein mischet, alle- mal unangenehm, widrig. Nur muß man auch freilich nichts fuͤr Ekel erre- gend halten, was nur einen Nebenbegriff des Ekels, durch weite Zuruͤckerinnerung haben moͤchte: nichts fuͤr Ekel erregend, was, ohne dem Geschmacke und Geruche zuzugehoͤren, blos widrig genannt wer- den koͤnnte: nicht alles endlich in einer kuͤnstlichen Nachahmung fuͤr ekelhaft, was kaum in der Na- tur selbst, die keiner unangenehmen Empfindung solch eine enge Sphaͤre gegeben, als dem wahren Ekel — — S Doch Kritische Waͤlder. Doch ich vergesse aus meinem kritischen Waͤld- chen beinahe gaͤnzlich den Ruͤckweg. Wie habe ich in demselben umhergeirret! Wie verschiedne Aus- sichten boten sich mir dar! Wie manchen richtigen und irrigen Gedanken mag ich auf meinem traͤume- rischen Pfade gedacht haben! Es sey! Lessings Lao- koon hat mir Materie zum Nachdenken verschaffet: Homer, und die menschliche Seele waren die Quel- len, aus denen ich dachte. „Wenn mein Raison- „nement nicht so buͤndig ist, als das lessingsche, so „werden vielleicht meine kritischen Eroͤrterungen mehr „nach der Quelle schmecken Less. Vorr. zu Laok. . „ Uebrigens sey jedes Wort, und jede Wendung verbannet, die wider Hrn. L. geschrieben schiene. Jch habe uͤber seine Materien gedacht, und wo ich insonderheit nach Leitung der Alten davon abgehen mußte, sprach ich offenherzig, und wollte in Form eines Sendschreibens sprechen, wenn es die Abwech- selung und der Jnhalt der Materien zugelassen haͤt- te. Wenn meine Zweifel und Widerspruͤche die Leser des Laokoons dahin vermoͤgen, ihn nochmals, ihn so sorgfaͤltig, als ich, zu lefen, und ihn aus mei- nen Zweifeln, oder meine Zweifel aus ihm, zu ver- bessern: so habe ich der Sache des Laokoons weit mehr gevortheilet, als durch ein kaltes Lob, hinter welchem Erstes Waͤldchen. welchem jeder Leser, so, wie sein Urheber und Besi- tzer, gaͤhnet. Meine Schrift selbst: wie wuͤrdig mir Laokoon geschienen, um daruͤber zu denken! sey ein Opfer meiner Achtung an den Verfasser dessel- ben: Lobworte darzubringen habe ich nicht. 24. Der Rest Laok. p. 261. — 198. beschaͤfftigt sich mit einigen Feh- lern der winkelmannischen Schriften: ich wollte, daß die Aufmerksamkeit Hrn. L. lieber auf das We- sentliche derselben, und auf das ganze Gebaͤude sei- ner Geschichte gefallen waͤre, das noch so mancher Schwierigkeit unterworfen ist. — — Da ich Jahre her taͤglich zu den Alten, als zu der Erstgeburt des menschlichen Geistes, wall- fahrte, und Winkelmann als einen wuͤrdigen Grie- chen betrachte, der aus der Asche seines Volkes aufgelebt ist, um unser Jahrhundert zu erleuchten, so kann ich Winkelmannen nicht anders lesen, als ich einen Homer, Plato und Bako lese, und er sei- nen Apollo siehet. Jndessen haben sich bei einem siebenmaligen Le- sen freilich auch Zweifel bei mir zu Papier gefun- den, die, was insonderheit sein Geschichtgebaͤude aus den Materialien der griechischen Litteratur an- S 2 betrifft, Kritische Waͤlder. betrifft, die Alten selbst zu Zeugen, zu Gewaͤhrsleuten haben doͤrften. Da ich also das Gluͤck hatte, von Win- kelmann einen ermunternden Blick des Beisalls zu er- halten: so war ich beschaͤfftigt, mit mir selbst noch- mals uͤber seine Werke zu sprechen, und alsdenn in dem wuͤrdigen Tone vor ihn zu treten, in dem sich sein Geist offenbaret. Wie erhebend waͤre der Ge- danke gewesen, von ihm, dem Griechen unsrer Zeit, gebilligt zu werden, zur Vollkommenheit seiner un- sterblichen Werke etwas beizutragen! — Und ach! Winkelmann ist nicht mehr! durch die Hand eines Moͤrders, auf die entsetzlichste Weise der Welt, Rom, und seinem Deutschlande entris- sen! O, wenn du Goͤttlicher, noch wie ein seliger Daͤmon, umherwandelst: so sieh die Bestuͤrzung, mit der mich die Nachricht von deinem Verluste traf, die unglaͤubige Unruhe, die dich noch immer le- bend sah, und endlich die Thraͤnen der Wehmuth, die ich deinem Tode schenkte! Wie mancher Litte- rator und Alterthumstenner haͤtte statt seiner nicht blos sterben koͤnnen, sondern auch vielleicht sterben sollen, damit die Welt nicht einst nichts, als ver- fuͤhrende Spuren, von ihm aufzuzeigen habe! Be- Erstes Waͤldchen. Beschluß. J ch bin Hrn. L. auf seinem Pfade gefolget, und, wenn sein Laokoon mehr unordentliche Collek- taneen „zu einem Buche, als ein Buch selbst Vorrede zum Laok. „ ist: was sind denn meine kritischen Waͤlder? Sie sind zufaͤlliger Weise entstanden, und mehr durch die Folge meiner Lectuͤre, als durch die methodische Entwicklung allgemeiner Grundsaͤtze angewachsen. Sie zeigen indessen, daß sich auch unsystematisch ir- ren lasse, daß nicht blos, wenn man aus ein paar angenommenen Worterklaͤrungen, in der schoͤnsten Ordnung, sondern auch, wenn man aus einigen ausgerißnen Stellen in der schoͤnsten Unordnung al- les, was man will, folgert, man dem Fehltritte gleich ausgesetzt bleibe. Jch bin uͤbrigens zu sehr ein Deutscher, daß ich nicht, wenn sich ein Macht- wunsch thun ließe, gleich lieber in meine kritischen Waͤlder, Ordnung und System hinein wuͤnschen wollte; und noch mehr wuͤnsche ich ihnen „das „Vorrecht der Alten, keiner Sache weder zu viel, „noch zu wenig, gethan zu haben Eben das. .„ Jch habe jetzt in der Materie, die Laokoon abhandelt, den Grund gesichert; die Folge wird zeigen, was sich daruͤber auffuͤhren lasse? S 3 Vor Kritische Waͤlder. E. W. Vor der Hand verbitte ich mir nur Eins, den Titel meines Buchs nicht zu einem Gegenstan- de artiger Wortspiele zu machen, an denen manche Witzige unsrer Kunstrichter nicht arm zu seyn pfle- gen. Jn mehr als einer Sprache hat das Wort Waͤlder den Begriff von gesammelten Materien ohne Plan und Ordnung; ich wuͤnschte nur, daß meine Leser die etwas trocknen und verschlosse- nen Pfade dieses ersten Theils uͤberstehen moͤch- ten, um hinter denselben zu freiern Aussichten zu gelangen.