Die Elemente der Staatskunst. Oeffentliche Vorlesungen , vor Sr. Durchlaucht dem Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar und einer Versammlung von Staatsmaͤnnern und Diplomaten, im Winter von 1808 auf 1809, zu Dresden, gehalten von Adam H. Muͤller , Herzogl. S. Weimarischem Hofrath . Erster Theil . Mit einer Kupfertafel . Berlin, bei J. D. Sander. 1809 . Dem Herrn Hofrath Heeren in Goͤttingen , seinem Lehrer und Freunde , ehrfurchtsvoll zugeeignet von Adam H. Muͤller . Vorrede . W as die ernsthafte Betrachtung der laufenden Weltereignisse in einer, auf das Alterthum und die Wesentlichkeit der menschlichen Dinge, gerichteten Seele allmaͤhlich erzeugt, habe ich, zum Vortheil der Staatswissenschaften und des historischen Studiums, in diesen Buͤchern aufstellen wollen. Der Geschichte zumal ist es ersprießlich, daß die Idee des vollen, ganzen und lebendigen Staates der Kritik unterworfen werde: wie kann man auch den politischen Verfassungen der Vorwelt Gerechtigkeit wider- fahren lassen, ohne einen Kanon vom Staate, welcher der Geschichte entnommen ist, und nun selbst wieder die Geschichte beleben hilft! Ich habe fuͤr mein Zeitalter geschrie- ben, und so wird man es billigen, daß ich mich der gerade jetzt unterdruͤckten geistlichen und feudalistischen Elemente des Staates waͤr- mer annehme, als der in diesem Augenblick triumphirenden. Mir ist es aber um ihrer aller Wechselwirkung zu thun, und so bin ich der erste, der gegen die flachen Goͤtzendiener des Mittelalters und der absoluten Hierarchie den Stein aufhebt. Obgleich heute ein eifriger Widersacher von dem Alt-Roͤmischen Princip unsrer Verfassungen, bin ich dennoch irdisch und Roͤmisch genug, morgen dem geistlichen Princip, wenn es allein herrschen wollte, den Krieg anzukuͤndigen. — Nichts wuͤnsche ich weiter von mir entfernt halten zu koͤn- nen, als jene kraͤnkliche, hyperkritische Jugend meiner Zeit, die den Geist und das Heilige wieder in die Mode zu bringen strebt. Auch mit der grassirenden Vaterlandsretterei haben diese Bogen, wie der Augenschein lehrt, nichts zu schaffen. Vom Geiste der Gesetze handle ich; und so verlohnt es wohl der Muͤhe, am Eingange dieser Betrachtungen einen Blick auf das be- ruͤhmte Werk von Montesquieu zu werfen und das Verhaͤltniß zwischen seiner Ansicht und der meinigen anzugeben. Wenn man den Einfluß der Reglerungs- formen und Gesetze auf das Gluͤck der Men- schen unter allen Zonen und in allen Zeiten erwaͤgt, so gelangt man allerdings zu großen und merkwuͤrdigen Resultaten. Regierungsfor- men und Gesetze erziehen die Menschen. Aber die Betrachtung ist nur einseitig, wenn man nicht eben so wohl erwaͤgt, welchen Einfluß die Eigenthuͤmlichkeit der Menschen wieder auf die Regierungsform und die Gesetze habe. Der Erzieher erzieht seinen Zoͤgling; aber der Zoͤgling erzieht auch seinen Erzieher wieder. Vor einigen Jahren glaubte man, daß die Erziehungskunst aus dem Menschen alles machen koͤnne; indeß kam man von diesem Glauben an die Erziehungskunst wieder zuruͤck, und behauptete eben so unbedingt, daß sie nichts vermoͤge, daß das Leben und die natuͤrlichen Anlagen des Zoͤglings alles mach- ten. — Ganz derselbe Fall war es mit der Regierungskunst: zur Zeit der Franzoͤsischen Revolution glaubte man, daß von schlechten Verfassungen und Gesetzen alles Ungluͤck der Menschheit herruͤhre; und jetzt sind die Vor- trefflichsten eben so wohl uͤberzeugt, daß die Verfassungen und Gesetze nichts vermoͤgen, wenn die Voͤlker nicht an und fuͤr sich schon gut geartet und innerlich frei sind. Das sind zwei gleich verderbliche Extreme: denn Voͤlker und Gesetze bilden sich immer und allenthalben gegenseitig; allein und abgeson- dert vermag weder der Wille der Voͤlker, noch die Guͤte der Gesetze etwas. Die Arbeit der Gesetz- und Verfassungs-Fabrikanten an und fuͤr sich bedeutet nichts; eben so wenig bedeu- tet an und fuͤr sich das Privatverdienst und die Privatbildung der Voͤlker ohne nationale Formen etwas. Das ist nun der Gesichtspunkt, aus dem der esprit des loix von Montesquieu ange- sehen werden muß. Wenige Buͤcher der Welt moͤchten sich an Gelehrsamkeit und Kunde aller Gesetze und Verfassungen diesem Buche an die Seite stellen lassen. Welche Wirkung die verschiedenen politischen Anordnungen auf das Wohl der Voͤlker haben, ist mit Scharf- sinn und Treue dargestellt, der Mechanismus der Regierungsformen mit seltener Klarheit und bis in die kleinsten Triebfedern entwickelt, die entlegensten Erscheinungen sind mit außer- ordentlicher Kunst parallelisirt, und die zartesten Eigenheiten aller politischen Veranstaltungen aufgef a ßt; der Bluͤthenstaub, moͤchte ich sagen, aller Gesetze ist gesammelt, und zu einem politischen Honig gemischt und praͤparirt, der manchen Staatsmann verfuͤhrt und allen seinen unmittelbaren, naͤheren Erfahrungen abwendig gemacht haben mag: aber der Grundgedanke von dem uͤberwiegenden Einflusse der Gesetze ist falsch, gehoͤrt der Zeit an, und vernichtet die Anspruͤche auf ewige Dauer, welche die kolossale Arbeit in so vielen andern Ruͤcksichten verdienen moͤchte. Die Staatengeschichte kann freilich darge- stellt werden als die Entwickelung der Miß- griffe, deren sich die Menschen in Entwerfung der Gesetze haben zu Schulden kommen lassen: wir gewinnen auf diesem Wege gewisse Grund- saͤtze uͤber den Bau der Staaten. Das ist schoͤn und gut. Aber wo lernen wir denn die viel wichtigere Kunst, die Grundsaͤtze an- zuwenden? — Gegen alle Regeln, die Ihr mir aus der Weltgeschichte uͤber Regierungs- formen ableiten koͤnnt, will ich Euch die Regierungsform meines Landes, welche aus den Umstaͤnden dieser bestimmten L talitaͤt entstanden und gewachsen ist, vertheidigen; will beweisen, daß mir keine Grundsaͤtze etwas helfen, sondern bloß ein in langer Erfahrung gesammeltes Gefuͤhl von dem Rathsamen und Guten. Was fehlt also Montesquieu? Man wird mich nicht mißverstehen, oder es fuͤr Hochmuth achten, wenn ich sage: es fehlt ihm, was in diesen Vorlesungen dargelegt wor- den ist, die Geschichte des lebendigen Gesetzes . Er nimmt die Gesetze als gegeben an, und fragt: welche Wirkungen sie auf das Wohl der Voͤlker hervorbringen. — Ich habe bewiesen, daß in der Staatskunst alles darauf ankommt, die Geschichte des Ge- setzes selbst zu kennen, und einzusehen, wie aus einer ewigen Wechselwirkung zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit, und den ge- genwaͤrtigen Ereignissen die Gesetze allmaͤhlich im Laufe der Zeit entstehen, nie vollendet sind, sich immer weiter ausbilden, und auf solche Art die Macht und das Naturell der Voͤlker gemeinschaftlich daran arbeiten; nur wenn der gesetzgebende Verstand allein das Wort fuͤhrt, oder wenn die Begierden der Voͤlker, da sie augenblicklich und auf das unmittelbare Wohlseyn gerichtet sind, allein entscheiden, werden die so entstehenden Gesetze nichts taugen. Warum? Weil der Quell der Gesetze ein unreiner ist, weil aus der augen- blicklichen Verstandes-Conception eben so wenig, als aus augenblicklichen Beduͤrfnissen, ewige Vorschriften fuͤr das Agiren eines Staates, oder Gesetze, hervorgehen koͤnnen. Ich halte also das Geschaͤft der Gesetz- gebung nicht fuͤr ein Sortiren und Rangiren aller auf der Erde an irgend einem Orte und zu irgend einer Zeit gegebenen Gesetze, fuͤr ein bloßes Auswaͤhlen und kuͤnstliches Combiniren Dessen, was sich hier und dort als heilsam bewiesen hat; ich lasse mich durch die Wirkungen eines Gesetzes noch nicht fuͤr dasselbe einnehmen, — sondern die Hauptsache ist fuͤr mich, daß das Gesetz auf eine natur- gemaͤße Weise aus freier vollstaͤndiger Wech- selwirkung der Freiheit und der Kraft, der Beduͤrfnisse und des Verstandes entsprungen sey, — und daß es, dieser Entstehung gemaͤß, nun auch fortlebe, sich immer mehr entwickele und reinige. — So erhalte ich nicht bloß die Erkenntniß des Guten und Boͤsen in der Gesetzgebung, welche an und fuͤr sich noch nichts hilft, sondern ich lerne die lebendige Kunst die Gesetze auszubilden . Diese Kunst uͤber alles zu setzen, hat mich meine Zeit gelehrt; und so, neben Wahrheiten, die ewig gelten werden, kann ich auch den Werth des großen Montesquieu auf eine Weile in den Schatten stellen. — Meine Per- soͤnlichkeit und mein wissenschaftliches Verdienst mit dem seinigen vergleichen zu wollen, waͤre laͤcherlich; es neben ihm zu erheben, waͤre voͤllig Thorheit: denn, wer kann sagen, daß er, was die Geschichte darbietet, gekannt und auch in vielen Ruͤcksichten empfunden habe, wie Montesquieu! Wo ist bei irgend einem neueren Schriftsteller diese Leichtigkeit und Gewandtheit des Geistes, bei demselben heldenartigen Gefuͤhle fuͤr die Wahrheit, bei dem unermeßlichen Fleiße! Wer hat diese lichtvolle Kuͤrze der Darstellung, bei demselben Reichthum und bei der Fuͤlle der Materien! Nur irreligioͤs ist er, neben Burke betrachtet, durch und durch: die Gesetze sind ihm durch- aus Sache des weltlichen Arrangements und der weltlichen Klugheit; daher versaͤumt er, neben dem esprit der Gesetze, uͤberall den Geist der Gesetze, das Ewige und Unver- gaͤngliche in denselben, welches zu empfinden und zu wuͤrdigen man die Gesetze selbst vielmehr auf die vollstaͤndige und ewige Natur des Rechtsgefuͤhls im Menschen, als auf den weltlichen Erfolg, den Glanz, den Reich- thum eines einzelnen Staates, begruͤndet haben muß. — Deshalb nun gefaͤllt mir Montesquieu viel besser, wenn er sich beschraͤnkt und die welt- liche Entwickelung und den weltlichen Verfall eines einzelnen Staates darstellt, wie in seinen considérations sur les causes de la gran- deur des Romains et de leur décadence. Da ist er ganz in seinem Element: die Roͤ- mische Politik hat er zergliedert, die Motive zu dem ungeheuren Verfahren der Weltbeherr- scher aus einander gelegt, beides mit einer Kuͤnstlichkeit, von welcher der bloße Verstand kein weiteres Beispiel aufgestellt hat. Wenn man dies kleine Buch neben Gibbon’s Rie- senwerk stellt, dann wird Montesquieu erst ehrwuͤrdig: er wird zum Propheten, wenn man ihn liest, und die Regierungsgeschichte des Franzoͤsischen Directoriums damit vergleichen will. — Ursachen und Wirkungen, das ganze werk der groͤßten weltlichen That, von der die Geschichte erzaͤhlt, wird bis zur Durch- sichtigkeit klar: die Wirkungen von der tau- sendjaͤhrigen Consequenz eines einzigen Volkes liegen deutlich vor uns. Nur eine einzige große Frage, die im Gemuͤthe des wahren Lesers nicht verstummen will, wird nicht beantwortet: den Willen der Weltherrschaft, und die Gesetze, welche diesen Willen bethaͤtigen sollen, nimmt Montesquieu als Data an; also frage ich: wie! aus dem Schooße eines Geschlechtes, welches die Frei- heit Aller will (und wollen muß , in so fern es uͤberhaupt lebt), konnte der Wille, Alle zu unterdruͤcken, hervorgehen und sich auch durch tausend Jahre behaupten gegen die nothwendige Reaction der uͤbrigen Voͤlker? Warum war diese Reaction, der ein ewiges Naturgesetz zum Grunde lag, durch so viele Jahrhunderte hindurch so ohnmaͤchtig gegen den eisernen Willen Roms? Wenn man die Weltgeschichte im Ganzen, d. h. wie ich in meinen Vorlesungen hinlaͤnglich gezeigt habe, aus religioͤsen Gesichtspunkten betrach- tet, so erscheint Rom in aller seiner Groͤße und mit seinem eisernen Willen nur als eine nothwendige und natuͤrliche Krankheit des Ge- schlechtes. Ich will von der Geschichte nicht die Kunst lernen, wie man ein zweites Rom, oder irgend ein abgesondertes, auf Kosten der uͤbrigen Voͤlker der Erde bluͤhendes, Reich macht, welches, eben weil es auf Kosten der andern errichtet ist, nothwendig im Laufe der Zeiten wieder dahin sinken muß; sondern ich will von der Geschichte lernen, wie das doppelte Verlangen in meinem Herzen nach der Freiheit, um meinetwillen, und nach dem Gesetz, um der Uebrigen willen, befriedigt werden koͤnne. Dieses doppelte und gott- menschliche Verlangen ist unter allen Umstaͤnden der Welt das einzige wahre und untriegliche, weil es der Kern aller Religion, aller Va- terlandsliebe und des ganzen irdischen Lebens uͤberhaupt ist. Aus dem Standpunkte dieses Verlangens er- erscheinen Rom und alle Weltherrschaften als bloße Krankheiten des Geschlechtes. Aller- dings will ich nun sehen, welche Symptome eine solche Krankheit hat, wie sie um sich greift, wie sie das Geschlecht zerruͤttet; und dazu ist Montesquieu der erste und tuͤchtigste Fuͤhrer. Aber welches ist die gesunde, richtige Form der Menschheit und des Staates? und wie artet sie aus in jene Krankheit? das ist eine noch groͤßere Frage. Daruͤber schweigt Montesquieu; und das nenne ich seine Irreligiositaͤt . Hier, wo das Aller- heiligste der Politik angeht, endigt sein poli- tisches Raisonnement; und wie das eigent- liche Rom, ich meine, wie das Roͤmische an Rom, durch das Christenthum und durch nichts Anderes gesunken, d. h. wie die Krank- heit durch die bloße Kraft der Gesundheit uͤberwunden worden sey, davon ist bei ihm unter den causes de la décadence durchaus nicht die Rede. Durch den aͤußeren Ruhm solcher Werke * wie der esprit des loix muß man sich nicht blenden lassen uͤber die innere Mangelhaftig- keit ihrer Natur. Alle Eigenschaften, die erfor- derlich waren, dem achtzehnten Jahrhundert zu imponiren, hatte Montesquieu; auch hatte er alle, um das neunzehnte zu belehren: aber befriedigen kann er uns nicht mehr. Von dem, was wir „Geist der Gesetze“ nennen, handelt das beruͤhmte Buch gar nicht: fuͤr uns ist es ein Repertorium der Staatengeschich- te, voll sinnreicher Einfaͤlle und gruͤndlicher historischer Kritik; uͤber den Bau der Staaten aber, und ihr Leben, ist so wenig daraus zu lernen, wie aus Bayle’s Werke. Das, worauf Montesquieu einen so hohen Werth legt, die mechanische Theilung der Ge- walten, die kuͤnstliche Beschraͤnkung der Su- veraͤnetaͤt um der Freiheit willen, ist, nach unsern Erfahrungen, voͤllig unpraktisch, eine Curiositaͤt, eine Antiquitaͤt; und diese politische Quacksalberei steht den Versuchen des Theo- phrastus Paracelsus, in seinen chemischen Re- torten und Flaschen Menschen zu machen, viel naͤher, als man glaubt. Daß in England eine solche Theilung der Gewalten Statt finde, ist nicht wahr: diesen albernen Gedanken haben Stubengelehrte, und spaͤterhin, in ihre Fuß- stapfen tretend, der große Haufe der Brittischen Verfassung untergelegt. Die Macht ist nicht getheilt, sondern die uralten Gegensaͤtze in der buͤrgerlichen Gesellschaft, aus deren Wechselwir- kung alle wahre und einfache Macht erst ent- springt, sind in England geschont, geheiligt, und bekraͤftigt durch Zeit und treues Beharren der Nation: das heißt Brittische Verfassung, und verdient allein, Verfassung zu heißen an allen Orten und in allen Laͤndern der Welt. Jene politischen Vorurtheile, welche Mon- tesquieu bewußt- und absichtslos durch seinen Nahmen gewissermaßen geheiligt hat, sind, nachdem sie das gehoͤrige Unheil in der Welt angerichtet haben, jetzt schon veraltet: es sind junge Greise. — Die Staatswissenschaften sind uͤber diese Periode des Uebermuthes schon hin- weg, und nachdem die ganze Verfassungs- kunst bankerott geworden, kehren wir allmaͤhlig in die Bahn der Natur zu den ewigen Thei- lungen zuruͤck, welche sie eingerichtet hat, um der Menschheit Einheit, Freiheit und Frie- den zu bringen. Ich uͤberlasse es den wenigen Richtern, die es in diesen Tagen der Zerruͤttung und Frivolitaͤt fuͤr mein auf das Ewige gerichtetes Streben und fuͤr diese wohlgedachte Arbeit ge- ben mag, zu entscheiden, ob ich ein Recht habe, uͤber Montesquieu’s Geist, den ich verehre, so zu urtheilen, wie es hier geschehen ist. Und wenn man die aͤußere Politur des esprit des loix erheben will, so unterschreibe ich von ganzem Herzen; nur gebe ich zu bedenken, zu welcher Zeit und unter welchen unruhigen Umstaͤnden der Geist der Gesetze geschrieben worden ist, den ich hiermit dem Publicum und meinen Freunden uͤberliefre. Der Verfasser . Inhalt . Erster Band . Erstes Buch . Von der Idee des Staates, und vom Begriffe des Staates. Erste Vorlesung . D aß es den politischen Systemen unsrer Zeit an Bewegung mangle, und daher die Theorie mit der Praxis in Widerspruch sey. (Gehalten am 19ten Nov. 1808.) Zweite Vorlesung . Daß die politischen Systeme aus todten Begriffen er- bauet sind, waͤhrend die lebendige Idee darin herr- schen sollte. (Gehalten am 22sten November.) Dritte Vorlesung . Daß der Nutzen und das Recht u. s. w., die als Be- griffe einander widersprechen, sich versoͤhnen, so- bald sie ideenweise erkannt werden. (Gehalten am 26sten November.) Vierte Vorlesung . Wie der Krieg ein Lehrer politischer Ideen werde, wie er das National-Recht und die National-Oe- konomie belebe. (Gehalten am 29sten November.) Fuͤnfte Vorlesung . Wie sich in der natuͤrlichen, allen Voͤlkern der Erde gemeinschaftlichen, Verfassung der Familie die le- bendige Natur des Staates ausdruͤcke. (Gehalten am 3ten December.) Zweites Buch . Von der Idee des Rechtes . Sechste Vorlesung . Daß die Idee des Rechtes alle einzelnen Rechte belebe, und daß das Richteramt nicht allein in dem mecha- nischen Entscheiden, sondern auch in dem lebendigen Vermitteln unter den einzelnen Rechten bestehe. (Gehalten am 6ten December.) Siebente Vorlesung . Wie sich die Partheien zum Richter, der Contract zum Gesetze, und die Freiheit zum Rechte verhalten. (Gehalten am 10ten December.) Achte Vorlesung . Vom strengen Privat-Eigenthum und vom (weib- lichen) Lehns-Eigenthume. (Gehalten am 13ten December.) Neunte Vorlesung . Vom Staatsrechte und vom Adel. (Gehalten am 17ten December.) Zehnte Vorlesung . Vom Voͤlkerrechte oder von der Christenheit. (Gehalten am 20sten December.) Zweiter Band . Drittes Buch . Vom Geiste der Gesetzgebungen im Alterthum und im Mittelalter. Elfte Vorlesung . Geist der Mosaischen Gesetzgebung. (Gehalten am 24sten December 1808.) Zwoͤlfte Vorlesung . Geist der Griechischen Gesetzgebungen. (Gehalten am 7ten Januar 1809.) Dreizehnte Vorlesung . Geist der Roͤmischen Gesetzgebung. (Gehalten am 10ten Januar.) Vierzehnte Vorlesung . Von dem Wesen des Feudalismus. (Gehalten am 14ten Januar.) Funfzehnte Vorlesung . Von dem Verhaͤltnisse der kirchlichen Gesetzgebung zu der weltlichen. (Gehalten am 17ten Januar.) Sechzehnte Vorlesung . Von der Natur der buͤrgerlichen und staͤdtischen Ge- setze im Mittelalter. (Gehalten am 21sten Januar.) Siebzehnte Vorlesung . Schluß der Rechtslehre. (Gehalten am 24sten Januar.) Viertes Buch . Von der Idee des Geldes und des National-Reichthums. Achtzehnte Vorlesung . Vom individuellen (Gebrauchs-) Werthe, und vom geselligen (Tausch-) Werthe der Dinge. (Gehalten am 28sten Januar.) Neunzehnte Vorlesung . Colbert, Adam Smith, und die Phystokraten. (Gehalten am 31sten Januar.) Zwanzigste Vorlesung . Von dem Wesen der oͤkonomischen Production. (Gehalten am 4ten Februar.) Ein und zwanzigste Vorlesung . Vom Verhaͤltnisse des Metallgeldes zu der Idee des Geldes; vom Real- und Nominal-Werthe des- selben. (Gehalten am 7ten Februar.) Zwei und zwanzigste Vorlesung . Von der Circulation des Geldes, vom Muͤnzfuße und vom Muͤnzschatze. (Gehalten am 11ten Februar.) Drei und zwanzigste Vorlesung . Von den Kaͤmpfen der Koͤnige mit dem Golde, und von den Muͤnzzerruͤttungen der letzten Jahrhun- derte. (Gehalten am 14ten Februar.) Vier und zwanzigste Vorlesung . Von dem National-Capital und vom National- Credit. (Gehalten am 18ten Februar.) Dritter Band. Fuͤnftes Buch . Von den oͤkonomischen Elementen des Staates und vom Handel. Fuͤnf und zwanzigste Vorlesung . Von der Wechselwirkung zwischen den Naturkraͤften, den Menschenkraͤften und der Vergangenheit, oder zwischen Land, Arbeit und Capital. (Gehalten am 21sten Februar.) Sechs und zwanzigste Vorlesung . Von der Theilung der Arbeit, und vom geistigen Ca- pital. (Gehalten am 25sten Februar.) Sieben und zwanzigste Vorlesung . Daß die Abgaben des Buͤrgers Zinsen des geistigen National-Capitals sind. (Gehalten am 28sten Februar.) Acht und zwanzigste Vorlesung . Vom Markt, Vorrath und Mangel, besonders mit Ruͤcksicht auf den Getreidehandel. (Gehalten am 4ten Maͤrz.) Neun und zwanzigste Vorlesung . Vom oͤkonomischen Gleichgewicht im Innern der Staaten, besonders mit Beziehung auf die Direc- tion des Getreidehandels. (Gehalten am 7ten Maͤrz.) Dreißigste Vorlesung . Vom Zins, und vom Verhaͤltniß des Capitals zu der Circulation. (Gehalten am 11ten Maͤrz.) Ein und dreißigste Vorlesung . Von dem lebendigen Gleichgewichte zwischen dem Nationalgelde und dem Weltgelde, und vom Geld- mangel. (Gehalten am 14ten Maͤrz.) Zwei und dreißigste Vorlesung . Von der Weltherrschaft des Geldes, und daß der Staatsmann wahres Geld sey. (Gehalten am 18ten Maͤrz.) Sechstes Buch . Vom Verhaͤltniß des Staates zu der Religion. Drei und dreißigste Vorlesung . Von dem Streite zwischen dem Privat-Christenthum und dem politischen Heidenthum in den be ss eren Gemuͤthern. (Gehalten am 21sten Maͤrz.) Vier und dreißigste Vorlesung . Daß Christus nicht bloß fuͤr die Menschen , sondern auch fuͤr die Staaten gestorben sey. (Gehalten am 25sten Maͤrz.) Fuͤnf und dreißigste Vorlesung . Von der Universalitaͤt des Christenthums, von politi- schen Opfern und politischer Eintracht. (Gehalten am 28sten Maͤrz.) Sechs und dreißigste Vorlesung . Von der Freiheit und vom Gehorsam in demselben Christenthume. (Gehalten am 30sten Maͤrz.) Die Die Elemente der Staatskunst. Erstes Buch . Von der Idee des Staates, und von dem Begriffe des Staates. [1] Erste Vorlesung . Daß es den politischen Systemen unserer Zeit an Bewegung mangle, und daher die Theorie mit der Praxis in Widerspruch sey. D ie Zusammensetzung eines Staates ist et- was so Großes, Mannichfaltiges und Unergruͤnd- liches, daß die Eilfertigkeit und der Leichtsinn, womit das Studium desselben gegenwaͤrtig, be- sonders in Deutschland, getrieben wird, billig be- fremden muß. Kaͤme es bloß darauf an, die aͤußere Maschinerie, das Geruͤst des erhabenen, nie zu vollendenden Baues zu beobachten und zu kennen, so moͤchte immerhin ein geuͤbtes Auge, eine gewisse leicht zu gewinnende Fertigkeit in Einsammlung von Kenntnissen, auch ein gutes Gedaͤchtniß hinreichen, einen Meister der Staats kunde zu Stande zu bringen. Aber wer nennt den Staat eine Maschine, und seine Glieder todtes Raͤderwerk! wer vergleicht ihn mit einem Bau, und seine zarten empfindlichen Bestandtheile mit kalten Steinmassen, die das Eisen erst regie- ren und formen, und dann das Winkelmaß ordnen und fuͤhren muß? — Allerdings greift man nach allem Großen im Gebiete der Kunst, wenn man die erste Empfindung beschreiben will, welche die Betrachtung der buͤrgerlichen Gesell- schaft erweckt. Die Monumente der Baukunst bieten sich dem Vergleiche zuerst dar. Die Dauer vor allen Dingen, die Ewigkeit, welche aus ih- nen redet, die kuͤhnen Formen, die in sich selbst ruhende Groͤße: — alle diese Eigenschaften kom- men auch dem Staate zu; — und so mag der erste Eintritt in die Staatswissenschaft fuͤr das Ge- fuͤhl verwandt seyn mit der Betrachtung der Trajans-Saͤule oder der Piramyden. Aber wo bleibt dieses, wo bleiben alle ande- ren Gleichnisse, wenn man die Bewegung der buͤrgerlichen Gesellschaft, ihr Fortschreiten, ihr Umsichgreifen, den rastlosen Umlauf ihrer Kraͤfte und Reichthuͤmer wahrzunehmen anfaͤngt! wenn die Geschichte uns den Staat durch ganze Jahrhunderte im ewigen Kampfe und Wettlaufe mit anderen Staaten zeigt! Ein ruhender Gla- diator, ein schlafender Feldherr, sind der Dar- stellung wuͤrdig fuͤr Den, der sie im Circus und auf dem Schlachtfelde gesehen hat: eben so ist der stillstehende Staat, wie ihn die gemaͤchliche Weisheit der politischen Lehrbuͤcher zeigt, merk- wuͤrdig und sinnreich fuͤr Diejenigen, die ent- weder selbst schon in das Leben eines Staates handelnd eingegriffen haben, oder doch die Ge- schichte kennen. Was sollen aber den Andern das trockne Fachwerk, die duͤrre Regel und die todten Kenntnisse? In der Bewegung also, vor allen Dingen, will der Staat betrachtet seyn, und das Herz des wahren Staatsgelehrten soll, so gut wie das Herz des Staatsmannes, in diese Bewegung eingreifen. Die Aufgabe fuͤr Beide ist keines- weges ein willkuͤhrliches Anordnen todter Stoffe; das Gluͤck der Voͤlker laͤßt sich nicht ausstreuen, wie Geld; das Streben einer Nation laͤßt sich nicht abfinden, oder richten, durch einzelne, klug vorgeschriebene und angewendete Arzneien; — das Werk der Politik ist nie abgemacht, so daß der Staatsmann nach Hause, oder in den Privat- stand, zuruͤckkehren koͤnnte. Kurz, man begiebt sich, als Staatsmann und als Staatsgelehrter, entweder ganz hinein in den Umschwung des politischen Lebens, und traͤgt den Stolz, die Schmerzen des erhabenen Staatskoͤrpers, wie seine eignen, auf immer; oder man bleibt ewig außerhalb. — Das nun ist das wohlfeile, vielbeliebte und vielgetriebene Gewerbe der Stuben-Politik! Diese geht immer davon aus, daß der Staatsmann muͤßig und herzlos, gleich ihr selbst, außerhalb des Staates stehe, und meint, der Staat koͤnne durch einen hier und dort angelegten Hebel nun sogleich in seine wahren Angeln gehoben werden — als ob ein kranker Staat durch einen tuͤchtigen Vorsatz der Besserung, oder durch ein verschriebenes Recept unmittelbar zu heilen sey! — Und dies ist noch die edlere Gattung, da sie den Staatsmann mit einem Arzte ehren- voll vergleicht. — Noch unwuͤrdiger denken Jene, welche Ver- fassungen und Gesetze, alles Erhabene, was der Staatsmann beschließt, mit Kleidern vergleichen, die er seinem Staate zuschneidet und anpaßt, und die, wenn der Staat sie abgetragen hat oder herausgewachsen ist, nur abgelegt zu werden brauchen. Die Franzoͤsische Revolution hat ge- lehrt, daß man den Staat entfleischt, waͤhrend man ihn bloß von veralteten Unwesentlichkeiten zu entkleiden waͤhnt; daß das Reformiren eines Staates durchaus nichts gemein hat mit dem Ausmustern einer Garderobe; kurz, daß man sich in das Herz des Staates, in den Mittelpunkt seiner Bewegung, begeben muß, wenn man das Wesen des Staates begreifen und auf ihn wir- ken will. Lange Friedenszeiten sind fuͤr die Cultur der Staatswissenschaft nicht guͤnstig, eben weil die innere Natur des Staates unter heftigen Be- wegungen , unter Revolutionen und Kriegen, am deutlichsten an’s Licht tritt. — Ist nicht Cice- ro’s politische Weisheit eine Frucht der Gaͤhrun- gen und Revolutionen in der Roͤmischen Repu- blik, die sich gerade damals zu einer Monarchie umzugestalten strebte? Hat die Republik der vereinigten Niederlande nicht besonders den Krie- gen um ihre Freiheit, den Kaͤmpfen mit dem Meere, mit Spanien, Frankreich und England, die Reihe großer Staatsmaͤnner und Staatsge- lehrten zu verdanken, unter denen Namen, wie die von Oranien, van de Witt und Hugo Grotius glaͤnzen? — Was bildete Macchia- velli und Guicciardini ? Welche Zustaͤnde zo- gen Burke’n groß? — Alle diese Meister lernten nicht aus Lehrbuͤchern, Statistiken und Staats- kalendern, und nicht durch muͤßige Stuben-Spe- culation, sondern im Leben, in der Bewegung, den Staat kennen. Ihre Neigungen, die groͤß- ten wie die geringsten, waren ganz dahingege- ben an das Vaterland; ihr Schicksal Eins mit dem seinigen . Als sich nun von außen und innen Feinde in den verschiedensten Gestalten erhoben; hier mit Waffen der Klugheit, dort mit Waffen des Armes, und dann wieder mit Waf- fen der Beredtsamkeit gefochten werden mußte; als hier ein auflodernder Volksaufstand besaͤnf- tigt, dort der Zwiespalt erbitterter Partheien mit kluger Hand verglichen, dort feindselige Ele- mente, die eindringenden Wellen des Oceans zu- ruͤckgewiesen, dann wieder der Handel und der Credit unterstuͤtzt, oder eindringenden Heeren die Spitze geboten und tausend Verarmten und Un- gluͤcklichen aufgeholfen werden sollte: da war die einzige, groͤßte Schule der Staatsweisheit und der Vaterlandsliebe eroͤffnet, und jene Leh- rer der Welt mußten daraus hervorgehn. — Denn wie der Mensch unter Leiden und Un- gluͤck sein Herz kennen lernt, so lernen unter Calamitaͤten, Bewegungen und Stuͤrmen aller Art die Voͤlker sich selbst kennen und achten. Das Gluͤck verzieht, verwoͤhnt, schlaͤfert ein und isolirt die Menschen, wie die Voͤlker; da hingegen das Ungluͤck wach erhaͤlt, reitzt, bindet und erhebt. Eben so ein langer Friede. Wie viele ver- borgene Tugend, wie vieles unsichtbare Schoͤne, aber auch wie viele verdeckte Schlechtheit kommt zum Vorschein, wenn einmal nach langem Frie- den der Krieg das Innerste einer Nation, bis in die geringfuͤgigsten Familien-Verhaͤltnisse hinein, aufwuͤhlt! Der Regierung und den Unterthanen faͤllt es, wie Schuppen, von den Augen: sie erkennen einander gegenseitig, und alles Gluͤck, das sie gemeinschaftlich besessen haben, wird erst in der Gefahr zum Gluͤck; im Sturm, in der Bewegung fuͤhlen sie zuerst den Werth des Bleibenden und Dauernden; vieles ehemals Groß- geachtete verschwindet, vieles ehemals Kleine wird bedeutend. Kurz, das Wesentliche am Staa- te, Das, wovon seine Existenz abhaͤngt, kommt am deutlichsten unter Bewegungen und Kriegen zum Vorschein. Was die Menschen eigentlich auf Leben und Tod verbindet, so, daß eine buͤr- gerliche Gesellschaft, ein politisches Ganze, ein Staat, aus ihnen entsteht — diese Bande und ihre Kraft muͤssen am besten erpruͤft und studiert werden koͤnnen, wenn viele feindselige Maͤchte zusammentreten, um sie aufzuloͤsen und zu zer- stoͤren. — So ist die Zeit, in der wir leben, eine große Schule der Staatsweisheit. Gluͤcklich, wer ein großes Herz in diese Schule mitbringt, sich durch allen Schein von gaͤnzlicher Zerrissenheit alter Bande nicht blenden laͤßt, und gerade in dieser fuͤrchterlichsten Bewegung mit angemessener Kraft die Wesentlichkeiten festhaͤlt, welche jetzt vielleicht deutlicher als je zu erkennen sind! Wir haben Staaten decomponiren sehen, und koͤnnen uͤber ihre Composition Rechenschaft geben. — Daß wir, die denkenden Zeitgenossen einer allgemei- nen politischen Revolution, unterstuͤtzt durch einen ausgebreiteten literarischen Commerz und Ge- danken-Verkehr, wie er bei keiner aͤhnlichen fruͤheren Weltbegebenheit Statt fand, von dem Wesen der Staaten mehr wissen koͤnnen, als fruͤhere Zeitalter, ist hiernach klar, wenn auch die Erfahrung mich widerlegen moͤchte. Weniges ist nehmlich geschehen; und in demselben Maße, wie die Politik sich aller Koͤpfe bemaͤchtigt hat und das taͤgliche Brot des großen Haufens gewor- den ist, hat sie aufgehoͤrt, die Gemuͤther einzel- ner großgearteter und tiefsinniger Menschen zu beschaͤftigen. Der Ernst, den dieses Studium vor allen andern fordert, ist nicht weiter vor- handen; die Entstehung außerordentlicher Werke uͤber die Gesetzgebung und Staatskunst wird nicht mehr, wie ehemals, beguͤnstigt durch die Ehrfurcht ganzer Voͤlker und Jahrhunderte vor Talenten und gewaltigen Arbeiten des Geistes; die Mei- sten trauen ihrem eignen Talente mehr zu, als der in einem einzigen Kopfe vereinigten Weis- heit einer ganzen Nation. Und wie Wenigen gilt der Beschluß eines ganzen Jahrhunderts, oder die Arbeit eines Montesquieu mehr, als das Resultat von der eignen Ueberlegung einer Viertelstunde! — Nichts desto weniger koͤnnen wir — die Ungunst der Zeit sey, welche sie wolle — von der buͤr- gerlichen Gesellschaft mehr wissen, als die fruͤ- heren Zeitalter. Was wir wissen, unternehme ich in seinen großen Grundzuͤgen zu zeigen, da es bis jetzt noch kein Andrer oder Besserer unter- nommen hat. Ich bitte meine Zuhoͤrer (und Leser) nur, den Umfang meines Geschaͤftes zu erwaͤgen, so brauche ich sie nicht weiter um Nachsicht zu bitten. Ich erinnre sie an die alles uͤbersteigende Erhabenheit meines Gegenstandes, so brauche ich ihnen nicht erst anzukuͤndigen, daß die Indi- viduen, und mit ihnen alle gemeine Partheilich- keit und Persoͤnlichkeit, in den Hintergrund tre- ten werden. Die Staatswissenschaft , die ich meine, soll den Staat im Fluge, in seiner Bewegung, auffassen; daher genuͤgt mir keine von den bis- herigen Theorieen dieses Studiums vollstaͤndig. Sie sind sehr gruͤndlich und fleißig in der Her- zaͤhlung des gesammten zu einem Staat erfor- derlichen Apparats; sehr sinnreich in der Angabe der zu treffenden Anordnungen; im Vorrechnen der Vortheile und Nachteile von jedem zu ver- fuͤgenden Gesetze oder Institute; sie sind, um ein Gleichniß aus der Arzneikunst zu gebrauchen, voll- staͤndig in der Anatomie des Staates, und klug im Beschreiben der Heilmittel fuͤr seine Krankheiten: aber, wenn es darauf ankommt, die ganze Le- benserscheinung eines Staates auf eine angemes- sene Weise zu ergreifen, so fehlt es ihnen selbst an dem dazu erforderlichen Leben. Die meisten Staatslehren z. B. sind fast al- lein auf den Friedensstand einer Nation berechnet: sie enthalten Kapitel vom Kriege und von Krieges- anstalten; sie geben dem milden, humanen, phi- lanthropischen Wesen, welches sie „ Staat ” nennen, und welches eben nicht gern Blut sehen mag, nun zuletzt noch Schild und Helm, ohne dafuͤr zu sorgen, daß jede Muskel, jeder Nerve des Staates zum Kriege geruͤstet seyn, daß jeder Blutstropfen des Staates, wie er auch fuͤr den Frieden gluͤhen moͤge, dennoch Eisen enthalten muͤsse; kurz, sie betrachten den Krieg als eine bloße Ausnahme von allen Friedensregeln, als ein schreckliches Interregnum des Zufalls, und, sobald er ausbricht, ist ihre gesammte Friedens- weisheit zu Ende. Der Staat traͤgt, nach ih- nen, zwei ganz widersprechende Staaten in sich: einen Kriegesstaat und einen Friedensstaat; zwei Schaaren von Beamten, Kriegesbeamte und Friedensbeamte, die mit einander in Widerspruch sind, wie ihr beiderseitiges Geschaͤft. Die ge- sammte Kraft, welche der Staat im Frieden braucht, bedeutet wenig oder gar nichts, und bleibt unbenutzt im Kriege ; die gesammte Krieges- kraft ist wieder eben so unthaͤtig im Frieden . Der alte goldne Spruch: Wenn du den Frieden willst, so bilde dich kriegerisch aus ! wird von ihnen entweder gar nicht geach- tet, oder doch so ausgelegt: „Wenn du den Frieden willst, so mache die gehoͤrigen Vorkeh- rungen zum Kriege, baue Festungen, und rekru- tire deine Armee!” Damit ist aber nichts ge- wonnen; der Krieg ist und bleibt bloßes Ge- werbe einer einzelnen Zunft, und wird nicht zur National-Angelegenheit. Jener herrliche Spruch will sagen: Der Kriegeszustand ist eben so natuͤr- lich, wie der Friedenszustand; der Staat ist al- lenthalben beides zugleich: ein liebreiches und ein streitendes Wesen; und der Gedanke, der Muth des Krieges muß alle Familien, alle Ge- setze, alle Institutionen des ganzen Friedens durchdringen. Jeder Staat hat nicht bloß von außen, sondern auch von innen, ewige Feinde, geheime und oͤffentliche; oft ist gerade seine Traͤg- heit und Friedensliebe der gefaͤhrlichste. Wie der Commerz-Minister eines Landes auf das Ausland und auf das Inland zugleich sehen muß, eben so der Krieges-Minister auf beide, eben so jeder Beamte, jeder Buͤrger, ohne Unterlaß auf beide. Die Delphische Ueberschrift: Kenne dich selbst ! ist die erste Regel, so gut fuͤr den Staat, wie fuͤr den einzelnen Menschen. Wie will aber der Staat sich kennen lernen? Reicht es hin, daß er seine Ressourcen, Produkte, Land, Leute, Summen und Umlauf des Geldes, Gesetze und wohlthaͤtigen Anstalten kennt? Damit begreift er sich noch eben so wenig, wie ein Mensch, der, in sein Wohnzimmer verschlossen, sich selbst beob- achtete, seinen Puls befuͤhlte, und seine Nah- rung abwoͤge. Dies fuͤhrt Staaten und Men- schen zur Hypochondrie: diese zur Menschenscheu; jene zu Neutralitaͤts-Systemen oder zur Staaten- scheu, aber nicht zur Selbstkenntniß. Im be- staͤndigen regen und beweglichen Umgange mit Seinesgleichen lernt der Mensch besonders sich selbst kennen: eben so der Staat seine Eigenheit, sein Gewicht, seine Physiognomie, seine Kraft und seine Liebenswuͤrdigkeit nur im bestaͤndigen, streitenden und friedlichen Umgange mit andern Staaten. Der Staatsgelehrte kann demnach den Kriegeszustand nicht außerhalb seiner Staats- lehre, als etwas damit Unvertraͤgliches und Un- natuͤrliches, stehen lassen, sondern er soll machen, daß die ganze Lehre gaͤnzlich von dem Ge- danken des Krieges allgegenwaͤrtig durchdrungen und beseelt werde. Nie soll er den Frieden ohne den Krieg, nie die Ruhe ohne die Bewegung darstellen. Diese Ergaͤnzung der Wissenschaft ist ihr Hauptgewinn bei allen traurigen, nur aus unrichtiger Ansicht des Krieges und der Staats- bewegung hergeflossenen, Erfahrungen der Zeit. Eben so soll die Staatskunst , die ich meine, den Staat im Fluge, im Leben, in der Bewe- gung behandeln, nicht bloß Gesetze hinein wer- fen und hinein wuͤrfeln, und dann muͤßig zuse- hen, wie es gehen wird. Der Staatsmann soll die allgegenwaͤrtige Seele der buͤrgerlichen Ge- sellschaft seyn, und kriegerisch und friedlich zu- gleich handeln. Je groͤßer die Bewegung des Mee- res ist, um so mehr wird die Ruhe des Steuer- mannes geruͤhmt. Kraft und Ruhe muͤssen zu- sammentreten, wenn ein Kuͤnstler werden soll. Vornehmlich bedarf der Staatskuͤnstler beider; sein Stoff, das Volk, fordert beides, hat eine Art von Sehnsucht so gut nach Frieden, wie nach Krieg. Es ist nur Taͤuschung, wenn man glaubt, daß die Voͤlker mehr den Frieden begehr- ten. Waͤren sie fuͤr beides erzogen, wie sie jetzt bloß fuͤr den dumpfen, traͤgen, lebenslosen Be- sitz und fuͤr die Stube — denn darin besteht ja ihr vielgeruͤhmter Friede — erzogen sind: so wuͤr- den sie auch beides verlangen. Die Thierge- schlechter mag man eintheilen in wilde und zah- me; dem Menschen lasse man beides: was ihn groß macht, seine Kraft ; und was ihn reit- zend macht, seine Milde . — So viel uͤber den Geist und die Natur des ganzen Geschaͤftes. — Wie sich der wahre Staats- mann und der echte Staatsgelehrte zu einander verhalten, kann, nach diesen einleitenden Betrach- tungen, keine schwierige Frage seyn. Vor Gott sind sie einander gleich, wie auch die Welt sie unterscheiden moͤge: der eine regiert den Staat; der andre erzieht Staatsmaͤnner. Aber sobald die Staatsgelehrsamkeit einzeln, und abgeson- dert und leblos, fuͤr sich auftritt, sehen wir einen von den gemeinen Handwerkern, welche wir im Leben Theoretiker zu nennen pflegen. Eben so hoͤrt die Staatskunst auf Kunst zu seyn, wenn sie sich von der Staatsgelehrsamkeit ab- sondert und nun in der Gestalt des bloßen duͤr- ren Praktikers auftritt. Und diese beiden Figuren wollen wir nun naͤher betrachten. Vor allen Dingen bemerken wir wir an Beiden eine gegenseitige gruͤndliche Ver- achtung. Der Theoretiker stuͤtzt sich auf die Vernunft, auf die schulgerechte, symmetrische Form seiner Ansicht, und auf allgemeine Ge- setze; der Praktiker auf Erfahrung, auf die Realitaͤt und Bedeutung seines Geschaͤftes, und auf die Localitaͤt. Der Eine schwebt in den Luͤften uͤber allen Laͤndern und Zeiten; der Andre haͤlt sich an seinen Grund und Boden, und an das, was er mit Haͤnden greifen oder von seinem Buͤreau aus uͤbersehen kann. Und so geht es denn, wenn sie Beide zu einander kommen, d. h. wenn der Praktiker ein politisches Buch, oder der Theoretiker eine praktische Anstalt un- tersucht, wie bei jenem beruͤhmten Gastmahle, welches der Fuchs und der Storch einander ga- ben: jeder begehrt andre Speise und in ande- ren Gefaͤßen, als der Andre ihm vorsetzen kann. Der Eine wirft dem Andern seine idealistischen Traͤumereien vor, die, meint er, zwar am Ar- beitstische glaͤnzen moͤchten, in der Wirklichkeit aber grund- und bodenlos waͤren; der Andre spricht von Schlendrian, beschraͤnkten Gesichts- punkten und Verlaͤugnung aller Principien; und wie sie auch Beide hierin Recht haben moͤgen, so taugen doch Beide nichts. — In einem Lande wie Deutschland — wo bei Müllers Elemente. I. [2] verschlossenen Thuͤren regiert wird, und wo, we- nige gluͤckliche Staaten ausgenommen, die Re- gierungsbeschluͤsse uͤber die Haͤupter uneingewei- heter Unterthanen hergehen, wie der Wind und die Wolken, von denen niemand sagen kann, woher sie kommen, und wohin sie fahren, oder was sie bedeuten — muß diese Spaltung noch viel groͤßer seyn, als in England, wo die Ver- fassung, die hinreißende Gewalt, die Sichtbar- keit und Zugaͤnglichkeit des oͤffentlichen Lebens einen eigentlichen Theoretiker nicht einmal auf- kommen laͤßt. Das beruͤhmte Buch von Adam Smith ist eins von den wenigen Buͤchern der Britten, welche man theoretisch nennen koͤnnte, weil es sich nicht in praktischen Schranken bewegt, weil die Lehre der Handels- und Gewerbs-Frei- heit, die darin aufgestellt ist, auf die geschlossene Persoͤnlichkeit der Staaten, auf ihren abgeson- derten Charakter, und auf ihre nothwendige krie- gerische Stellung unter einander, zu wenig Ruͤck- sicht nimmt. Indeß, wie viele Spuren eines reichen, thaͤtigen Lebens dieses Buch enthaͤlt, fuͤhlt man erst, wenn man es in der magern Ge- stalt Deutscher vermeintlicher Bearbeitungen wie- dersieht, wo die Resultate von Adam Smith’s Leben nur systematisch aufgestutzt und zierlich in Reihe und Glied erscheinen. Es ging Adam Smith in Deutschland, wie dem Philosophen Kant , von dem die Dichter der Xenien sagten: Setzt doch ein einziger Reicher so viele Arme in Nahrung! Wenn die Koͤnige bau’n, haben die Kaͤrrner zu thun. — Gewisse politische Schriftsteller und seynwol- lende Philosophen haben das frische und gesunde Fleisch jenes erhabenen Buches zergliedert, ap- pretirt, und wieder zergliedert, so, daß von dem praktischen Gehalte des Urhebers nichts uͤbrig bleibt, als Resultate, die nur Werth haben fuͤr Den, der in die Handels- und Denkweise des großen und liebenswuͤrdigen Mannes eingegan- gen ist, und ihn selbst noch hoͤher schaͤtzt, als sein Buch. — Mit diesem Gerippe von Adam Smith nun stellen sich unsre Theoretiker den alten Prakti- kern aus der Schule Colberts und Friedrichs des Zweiten gegenuͤber. — Um die Schwersaͤl- ligkeit dieser zu vollenden, fehlt weiter nichts, als ein solcher revolutionnaͤrer Leichtsinn der Geg- ner. Hat es ihnen bisher noch an den gehoͤrigen Gruͤnden fuͤr die Handelssperre gefehlt, so bie- tet die Unwissenheit der Theoretiker sie ihnen jetzt dar; und bei dem ganzen Streite verliert niemand mehr, als der ungluͤckliche Staat, ge- winnt aber auch niemand mehr, als der echte und unbefangene Staatsgelehrte oder Staats- mann, der hier leibhaftig die beiden widrigen Extreme vor sich sieht, die er zu vermeiden hat. In Deutschland nun ist die Mitte zwischen diesen beiden Extremen doppelt schwer zu treffen: Einerseits , weil unsern Theoretikern durch den Ueberfluß an literarischen Communications-An- stalten die Ansicht der entferntesten Staaten be- sonders erleichtert ist, und wir also vorzuͤglich ein- geladen werden, uns auf eine idealische Hoͤhe zu begeben, von der aus es uns uͤberhaupt kein wirk- licher Staatsmann, ja die Welt selbst nicht, mehr recht machen kann; andrerseits , weil unsre Praktiker, die wenigen hoͤheren Beamten in den groͤßeren Staaten ausgenommen, in so enge Wirkungskreise gewiesen, von so kleinlichen Ver- haͤltnissen beengt, in so eigensinnige Localitaͤten eingepreßt sind, daß sie die Pedanterei eben so schwer vermeiden koͤnnen, wie unsere Theoretiker die Schwaͤrmerei. Deshalb aber ist auch Deutschland ein sehr schoͤnes Theater fuͤr Den, welcher den Staat in allen seinen Details, und den Staatsmann, wie den Staatsgelehrten, in seinen Verirrungen ken- nen lernen will. Dessen ungeachtet ist bei den Praktikern, hier und uͤberall, mehr Gemuͤth und wahre lebendige Wissenschaft, als bei den Theo- retikern: es laͤßt sich mehr bei ihnen lernen; die Wirklichkeit in ihrer Allgewalt und mit ihren nie ruhenden Forderungen steht ihnen bestaͤndig zur Seite, und erhaͤlt sie lebendig: sie sind mehr in die Bewegung des Staates verflochten und mit ihrer ganzen anderweitigen Existenz an sie ge- bunden; sie sind innerhalb der buͤrgerlichen Ge- sellschaft, waͤhrend die Theoretiker sich bestaͤndig draußen halten, und, wenn sie Unrecht haben, nicht zu greifen sind. — Fuͤr diese giebt es eine Kunst des Staaten- bau’s, wie des Orgelbauens oder des Uhrma- chens; und darin besteht nun die ganze Weisheit der Buchholze und der verschiedenen Staats- rathgeber in Deutschland. Einen Mechanismus angeben, und das Gewicht nachweisen, welches die Maschine in Bewegung setzen soll; ein Raͤder- werk von Institutionen und socialen Koͤrperschaf- ten, und dann die Beduͤrfnisse erster Nothwen- digkeit, oder der Magen, als Gewicht daran gehaͤngt, und die Intelligenz dem Ganzen als Pendul oder Corrections-Instrument beigege- ben: — das heißt bei ihnen ein Staat . Alles dies erkennen, heißt den Staat als große, aus mehreren kleinen Sachen zusammengesetzte, Sa- che begriffen haben; das Grobe, Koͤrperliche am Staate, die sichtbare Masse, ist nun gesehen, das Handgreifliche alles ergriffen. Aber das Wich- tigste ist dennoch uͤbersehen und verfehlt. Alle nur gedenkbare Elemente des Staates, alle Gesetze, Institutionen u. s. w., sind nur von Einer Seite sichtbar und zu berechnen: jedes fuͤr sich hat wieder sein eignes persoͤnliches, geheim- nißvolles Leben und seine eigenthuͤmliche Bewe- gung; die erschoͤpfendste Erkenntniß desselben in todter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der Staatskunst muß erst wieder in die gemeine Wirklichkeit, zu der Erfahrung, zuruͤck; er muß das Gesetz, die Institution, eine Zeit lang im freien Leben und in freier Bewegung betrachten; es muß sich in ihm ein Gefuͤhl von dem Werth und der Bedeutung, wie von der wahren An- wendung des Gesetzes bilden, was mehr sagen will, als der gruͤndlichste Uhrmacherverstand von der Sache. Wie alle hoͤheren Wissenschaften, so auch die Staatswissenschaften: sie wollen erlebt , nicht bloß erkannt und erlernt werden. Das heißt nun, wie Burke es verlangt, „die Jahr- hunderte fragen,” und hinein construiren in die Wissenschaft, waͤhrend die Systeme der gelehrten Handwerker in unseren Zeiten — sie moͤgen an die Geschichte appelliren, wie sie wollen — doch nur aus Einem Momente geschoͤpft, wie fuͤr Einen Moment berechnet sind. — Der Streit der Theoretiker und Praktiker, wie ich ihn hier dargestellt habe, ist nicht zu schlichten, und zwar vornehmlich deshalb nicht, weil Beide ganz verschiedene Gegenstaͤnde im Auge haben: der Eine ein ganz unbegrenztes Gedankenbild; der Andre eine steife, abgeschlos- sene Wirklichkeit: der Eine den entschiedensten Widerwillen gegen alle Schranken; der Andre eine eben so entschiedene Abneigung gegen alle Freiheit: der Theoretiker, weil auf jedem Schrit- te seines idealischen Weges seine Forderungen an die Menschen und sein Pochen, auf die Al- leinherrschaft der Vernunft ungemessener wird; der Praktiker, weil ihm, mit jedem Tage seiner Geschaͤftsfuͤhrung, die Nothwendigkeit nothwen- diger, und die Gewohnheit maͤchtiger erscheint. Ferner veraͤndern sich auf den ganz verschiede- nen Wegen ihre Organisationen, ihre anderwei- tigen Ansichten vom Leben und vom Menschen so, daß Beziehungen und Verstaͤndniß unmoͤg- lich werden, und bei jeder Beruͤhrung Beide ein- ander nur in ihrer Einseitigkeit bestaͤrken koͤnnen. Dennoch aber stuͤtzt sich der Theoretiker auf die nicht zuruͤckzuweisende Autoritaͤt des Geistes und der Vernunft; der Praktiker auf das eben so ehrwuͤrdige Recht der physischen Beduͤrfnisse und der Erfahrung. — Und zum Regieren der Voͤl- ker brauchen wir beides, Geist und Erfahrung, einer gewissen Theorie und einer gewissen Pra- xis. Wo sollen wir ein Vorbild, ein Muster von einer gediegenen Allianz beider finden? Denn, wenn die wahre Theorie und die wahre Praxis eben so feindselig gegen einander gestellt sind, wie der Theoretiker und der Praktiker, so giebt es weder Staatswissenschaft, noch Staatskunst, und es ist dann eine bloße Taͤu- schung, wenn man glaubt, daß die Voͤlker regiert wuͤrden; dann macht sich das ganze buͤrgerliche Wesen, wie wir es um uns her sehen, von selbst. Heutiges Tages macht sich auch die ganze Sache, fast uͤberall, von selbst: es sind wenige Stellen der Welt, wo eigentlich regiert wird. Wie wenige Staatsmaͤnner sind auf der einen Seite der Zeit und den unerbittlichen, immer ungestuͤmeren Forderungen der Gegenwart und des physischen Lebens gewachsen, d. h. wahrhaft praktisch, und zugleich gefaßt auf die Zukunft, auf die Nachwelt, auf die edleren Beduͤrfnisse eines besseren Geschlechtes, d. h. wahrhaft theo- retisch! — Die Einen , die praktischen, sind Sklaven der Gewohnheit, und kleben am Al- ten , d. h. an seiner Schale , weil der Geist des Alterthums gerade die Seele befreiet und entbindet: die Schlacken der Vorzeit hangen an ihnen wie Kletten; die Andern , die theo- retischen, faseln dafuͤr in die Zukunft hinein, traͤumen von neuen Zeiten, ganz neuen Zustaͤn- den der Dinge; und daruͤber versaͤumen Beide die große ahndungsvolle Gegenwart. — Wenn man uns doch einen Staatsmann zei- gen wollte, der so ganz in der Gegenwart staͤnde, und dabei dennoch die Rechte der Vergangenheit zu schonen und der Zukunft in’s Auge zu sehen wuͤßte, gleich-viel, ob bei den Zeitgenossen, oder bei fruͤheren Generationen! Sein Bild wollten wir uns dann tief in die Seele druͤcken — nicht, um ihn nachzuahmen; denn das recht Große laͤßt sich nicht nachahmen; man kann nur, von seinem Geiste erfuͤllt, wieder Großes, und ganz verschiedenartiges Großes, thun. Deshalb waͤhle ich, unter Vielen, einen Einzigen: nicht einen Zeit- genossen und noch Lebenden, weil wir sein gan- zes politisches Leben uͤbersehen muͤssen; nicht einen ganz Alten, damit seine Denkungs- und Handlungsweise uns ganz begreiflich sey; nicht einen Landsmann, damit die Verschiedenheit des Theaters, auf dem er regierte, von dem unsri- gen uns zwinge, den Geist seines Handelns zu begreifen, und uns nicht etwa mit bloßem Fest- halten und Aneignen der Aeußerlichkeiten zu be- gnuͤgen; endlich einen solchen, an den wir be- staͤndig mit Freiheit appelliren koͤnnen, weil er in der bedeutendsten Handlung seines Lebens, in der Mißbilligung der Franzoͤsischen Revolution, und in der Protestation dagegen, mit den jetzi- gen Machthabern von Europa uͤbereinkommt — Edmund Burke . Seine Werke und sein Leben kann unser Jahrhundert aufzeigen, wenn das Zeitalter des Hugo Grotius, Macchia- velli’s und William Cecil’s uns fragt, ob wir Staatsmaͤnner unter uns gehabt haben. Hier ist praktisches Leben, hier ist Geist und Theorie; Ehrfurcht, ungebundene, vor dem Alter- thum, freie Sorge fuͤr die Zukunft; hier erschei- nen Staatsmann und Staatsgelehrter in Einer Person, nirgends, wie bei so vielen, selbst vor- trefflichen Andern, der Geist einzeln, abgeschoͤpft wie ein Schaum auf Einer Schuͤssel, und die Praxis einzeln, wie ein Hefen oder Bodensatz, auf einer andern . Seine Werke lassen sich nicht destilliren; es lassen sich von ihnen keine Begriffe abziehen, in versiegelten Flaschen aufbewahren, und, wie es in den gewoͤhnlichen Schulen der Staatswissenschaft geschieht, vom Lehrer auf den Schuͤler, vom Vater auf den Sohn, weiter ge- ben. Eben so wenig lassen sich praktische Kunst- griffe von ihm lernen. Begreift man aber den wirklchen historischen Fall, von dem er spricht, so h a t man zugleich seinen Geist begriffen; be- greif t man den Gedanken, der ihn bewegt, so sieht man denselben zugleich ausgedruͤckt im wirk- licher Leben, richtig und gewaltig ausgedruͤckt. — Der Staat und alle großen menschlichen Angelegenheiten haben Das an sich, daß ihr We- sen sich durchaus nicht in Worte oder Defini- tionen einwickeln oder einpressen laͤßt. Jedes neu Geschlecht, jeder neue große Mensch giebt ihnm eine andre Form, auf welche die alte Er- klaͤrung nicht paßt. Solche steife Ein- fuͤr alle- ma abgefaßte Form, wie die gemeinen Wissen- scheften vom Staate, vom Leben, vom Men- schen umherschleppen und feil bieten, nennen wir: Begriffe . Vom Staate aber giebt es keinen Begriff. — Unsre Vaͤter hatten vom Staate den Begriff, daß er eine Zwangsanstalt sey; indeß sind andre Zeiten gekommen, und das Beste, das Wichtigste hat sich nicht erzwingen lassen: — wir haben uns andre Begriffe gebildet, die in- deß nicht Stand halten koͤnnen, weil der Be- griff keine Bewegung hat, der Staat aber sehr viele, wie ich im Anfange meiner Betrachtung zeigte. — Wenn der Gedanke, den wir von einem sol- chen erhabenen Gegenstande gefaßt haben, sich erweitert; wenn er sich bewegt und waͤchst, wie der Gegenstand waͤchst und sich bewegt: dann nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff von der Sache, sondern die Idee der Sache, des Staates, des Lebens. Unsre gewoͤhnlichen Staats-Theorieen sind Aufhaͤufungen von Be- griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak- tisch: sie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt halten, weil sie auf dem Wahne beruhen, der Staat lasse sich vollstaͤndig und Ein- fuͤr allemal begreifen; sie stehen still, waͤhrend der Staat in’s Unendliche fortschreitet. — Es gab z. B. in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute, welche sich bemuͤheten, Begriffe von der Ge- treideausfuhr zu geben; alle diese Begriffe und darauf gebauete Vorschlaͤge waren aber unbrauch- bar und nicht auszufuͤhren. Da erschien die genialische, und doch so elegante und zierliche, Behandlung dieses beruͤhmten Problems vom Abbe Gagliani ; und ein ploͤtzliches Verstum- men der alten, staatswirthschaftlichen Tonange- ber, und der Beifall von Frankreich und ganz Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte. Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs- regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts Einzelnes davon konnte angewendet werden: denn Gagliani bewies eben, daß jede Regel nur auf einen bestimmten Fall anwendbar sey, daß es keine bestimmte Regel von unbestimmten Faͤl- len gebe, und setzte den Staatswirth, der ihn verstand, in die klare und muthige Disposition, nun seines Orts zu thun, was noth war. — Diesen wichtigen Unterschied zwischen der Idee und dem Begriff , auf den ich in jedem Ab- schnitte meiner Darstellung zuruͤckkommen werde, zu erkennen, giebt es kein gefaͤlligeres Mittel, als die Lectuͤre der Dialogues sur le commerce des blés . — So nun im großen, freien Styl, so ideen- weise , lernt sich die Staatswissenschaft in Bur- ke’s Werken. Weder vom bloßen Verstande ausgehend, noch bloß von der Noth des Augen- blicks und dem Drange der Umstaͤnde, sind sie eine ewig offne und doch freie Schule der Welt; der ganze Mensch, verflochten mit seinem Leben und allen seinen Schicksalen in die Schicksale der Welt und des Vaterlandes, spricht zum gan- zen Leser, und reißt ihn mit sich fort in die Be- wegung, indem er ihm den Muth und den Geist giebt, zu tragen, zu dulden, zu trotzen und zu helfen, zu bessern und weiter zu begeistern, wo es von noͤthen ist. Der bestimmte Fall kommt nicht wieder, die Welt gebiert Eine neue Erscheinung uͤber die an- dre; aber der Geist, der aus den Werken sol- cher Staatsmaͤnner ausgeht, ist ewig, weil es kein abstracter, abgezogener Geist, sondern ein lebendiger Geist ist, der nur begriffen wird, in wie fern man das zu ihm gehoͤrige Fleisch, die damals reale und praktische Lage der Sachen, das heißt, die Theorie in der Praxis, zugleich mit begriffen hat. Darum sind die Memoiren von Sully , dem Cardinal Retz , und von Noailles lehrreicher, als alle systematischen Handbuͤcher der Staatskunst, weil sie Beides, den Geist und das Factum, als Eins und mit Einem Schlage geben; weil Bewegung in ihnen ist . — Hat man sich in solchem Studium erst- lich die Freiheit und dann die praktische Beweg- lichkeit erworben, welche die Politik verlangt: nun, dann mag der Schwarm systematischer und theoretischer Stuben-Staatsmaͤnner und vertrock- neter Registraturen-Praktiker kommen; jetzt, da sich schon ein Gefuͤhl politischen Lebens und ein Kern unabhaͤngiger Gesinnung in uns gebildet hat, sind jene einseitigen Figuren hoͤchst lehr- reich: denn erstlich wissen wir jetzt ihre lebens- lose Weisheit mit eigner Kraft zu beleben; dann erhalten sie uns die Extreme gegenwaͤrtig, in deren Mitte wir uns bewegen sollen, und brin- gen in uns den Gewinn, welchen wir von Burke, Sully und Gagliani davon getra- gen haben, zum Bewußtseyn. — So viel von Burke’s Schriften; und nun noch ins Beson- dere ein Wort von seinem Leben. Als einen Abtruͤnnigen hat ihn die Zeit, haben ihn seine Freunde, unter Fox’ens An- fuͤhrung, ausgeschrieen, weil er die Parthei der Freiheit im ersten Momente des Ausbruches der Franzoͤsischen Revolution verließ, nachdem er sein ganzes vorheriges Leben hindurch auf ihrer Seite gestanden hatte. Eben in dieser sei- ner Apostasie kam es zum Vorschein, wie hoch er uͤber den ganzen Troß seiner Freunde, vor- nehmlich uͤber Fox, Grey und Erskine, hervor- ragte. Er gab seine zwanzigjaͤhrige Freundschaft mit Fox an einem einzigen Tage auf, da es nun entschieden war, daß Dieser es mit dem todten Begriffe „Freiheit”, und nicht mit der Idee derselben, zu thun hatte. In Frankreich ras’te dieser Begriff, und zerstoͤrte alles Vorhandene, Geordnete; alles, wofuͤr Burke , neben seinem Gottesdienste der Freiheit, in seinem großen Herzen noch hinlaͤnglichen Raum hatte. Er wollte nicht fuͤr einen todten Begriff eine lebendige Welt verschleudert sehen; er warf das ganze Ge- wicht seines Herzens und seiner Beredtsamkeit zur Ehre der Idee „Freiheit,” in die Schale der koͤniglichen Gewalt — damals, als noch die ganze Welt entweder im ersten Entsetzen vor der ungeheuren Begebenheit verstummte, oder im Taumel des Goͤtzendienstes, vom Begriffe der Freiheit befangen, der National-Versamm- lung Beifall zujauchzte. Unter allem Tumulte jenes Augenblickes war ihm der Charakter und die ganze kuͤnftige Bahn dieses Ereignisses so klar, wie er es in seinen beruͤhmten Betrach- tungen uͤber die Franzoͤsische Revolu- tion , sich selbst zum Zeugniß und allen kommen- den Geschlechtern zur Lehre, niedergeschrieben hat. Das nun ist die Gewalt der lebendigen Idee , und ihr erhabener Sieg uͤber den todten Begriff! In einer ganz veraͤnderten Welt, wie die vom Jahre 1790, findet sie sich auf der Stelle wieder; das Chaos selbst kann sie nicht verwirren: denn sie traͤgt die Seele aller Ordnung, den Muth des wahren Regierens, unuͤberwindlicher und unausloͤschlicher in sich, als die eigne Lebens- flamme. — Indeß zerreibt sich der trockne Be- griff unter den Stoͤßen der Zeit: das Schicksal treibt unerbittlich seinen Spott mit ihm, und verdrehet ihn, daß zuletzt die Freiheit von der Tyrannei nicht mehr zu unterscheiden ist; es zwingt einen Fox , von sich selbst abtruͤnnig zu wer- werden, waͤhrend Burke’s freie Abtruͤnnigkeit jedem kommenden Geschlechte immer deutlicher in dem Lichte wahrer Treue erscheint. — Alles, was im Staat oder im Leben nach Begriffen und Grundsaͤtzen erbauet ist, vergeht im be- wegten Flusse der Zeit. Welche Wirkung ist von allen geruͤhmten Maximen des Cardinals Richelieu jetzt noch uͤbrig? Die Idee aber ist ewig; denn sie ist , sie lebt . — In aͤhnlicher Abtruͤnnigkeit von dem Begriffe zu Ehren der Idee erscheinen — damit ich noch einiger bekannten und leichteren Beispiele gedenke — der Cardinal-Erzbischof von Wien Migazzi , in seinem Uebertritte von der Jansenistischen Parthei zu der Jesuitischen, gerade in dem Au- genblicke, und nicht eher, als bis die Jesuitische Parthei allenthalben unterdruͤckt wurde; — fer- ner Johann von Muͤller in seiner glaͤnzen- den Jugend, als Er, der in den Sinn jeder Parthei, also auch der Aufgeklaͤrten, einzu- gehen wußte, gerade zum Vertheidiger der damals unterdruͤckten, der paͤpstlichen, wurde. In dem steifen Verharren auf dem Buch- staben gewisser Begriffe und Grundsaͤtze liegt das Geheimniß der Treue und der Festigkeit nicht; wie sich ja uͤberhaupt der erhabene Sinn weder des menschlichen, noch des politischen Müllers Elemente. I. [3] Lebens nicht in Worten und Buchstaben abfassen laͤßt. Nur in der Bewegung kann sich die Ruhe und die Treue zeigen; nur in der Beweglichkeit die Festigkeit des Herzens: denn ein Herz ist auf andre Weise ruhig, als ein Stein. Wie ruhig ist die Natur in aller ihrer ewigen Bewegung! Demnach ist das, was ich unter Bewegung des Staates, und der ihr angemessenen Beweg- lichkeit des Staatsgelehrten, wie des Staats- mannes, meine, und auf welche Art ich die Idee von dem Begriffe unterscheide, so klar, wie es zu unserm weiteren gegenseitigen Verstaͤndniß noͤthig ist. — Zweite Vorlesung . Daß die politischen Systeme aus todten Begriffen erbauet sind, während die lebendige Idee darin herrschen sollte. W ir muͤssen sehr oft zuruͤckkehren zu den be- ruͤhmten Worten des Archimedes: „Gebt mir eine Stelle außerhalb der Erde, so will ich die Erde aus ihren Angeln he- ben .” — Nicht leicht laͤßt sich irgend ein fal- sches Bestreben im Leben, im Staate, in der Wissenschaft denken, das nicht durch die erha- bene Paradoxie jenes großen Wortes beseitigt wuͤrde. Treffen nicht 1) alle ungluͤcklichen Irrthuͤmer der Franzoͤsischen Revolution in dem Wahne uͤberein, der Einzelne koͤnne wirklich heraustreten aus der gesellschaftlichen Verbindung, und von außen um- werfen und zerstoͤren, was ihm nicht anstehe; der Einzelne koͤnne gegen das Werk der Jahrtau- sende protestiren; er brauche von allen Institu- ten, die er vorfinde, nichts anzuerkennen; kurz, es sey wirklich eine Stelle außerhalb des Staa- tes da, auf die sich jeder hin begeben, und wo er dem großen Staatskoͤrper neue Bahnen vorzeich- nen, aus dem alten Koͤrper einen ganz neuen machen, und dem Staate, anstatt der alten un- vollkommenen, aber erpruͤften Constitution, eine neue, wenigstens fuͤr die naͤchsten vierzehn Tage vollkommene, vorzeichnen koͤnne? — Stellen sich nicht 2) die meisten politischen Schriftsteller so, als staͤnden sie entweder im Anfange aller Zeiten , und als sollten die Staaten erst jetzt errichtet werden; als waͤren die großen Werke der Staatskunst, welchen wir in der Geschichte begegnen, nichts weiter als armselige Versuche, und die Geschichte selbst nichts anders, als ein Cursus der Experimental- Politik; als wuͤrden erst jetzt Staaten in die Welt kommen, erst jetzt das Regieren angehen? oder , als staͤnden sie am Ende aller Zeiten , und als muͤßten die Vorfahren sich gefallen lassen, was sie — die letzten, weisesten Enkel, großge- fuͤttert mit der gemeinschaftlichen Vernunft und Erfahrung aller fruͤheren Geschlechter — uͤber die Werke, uͤber die tausendfaͤltigen Satzungen und Ausspruͤche, ja uͤber die Graͤber der Ahnher- ren beschließen wuͤrden; kurz, als waͤren sie wirklich die Letzten, oder koͤnnten doch dafuͤr haf - ten, daß ihre Nachkommen sich alles wuͤrden gefallen lassen, was sie beschloͤssen, da sie alles schon im Voraus wuͤßten, was jene Zukuͤnfti- gen beduͤrfen und begehren wuͤrden? Stellen sich solche Schriftsteller nicht außerhalb des Staa- tes? wollen sie nicht mit eben der Weisheit, die sie vom Rathhause heruntergebracht, nun das Rathhaus aus seinen Grundfesten herausheben? Endlich 3) woher kommt die durchaus fal- sche Vorstellung in die Politik, „der Staat sey eine nuͤtzliche Erfindung, eine bloße Anstalt des gemeinen Besten, ein menschliches Auskunftsmit- tel, um mancherlei Unbequemlichkeiten zu ver- huͤten, eine gegenseitige Sicherheits-Versiche- rung, ohne die der Mensch, im Nothfalle, wenn auch unbequemer und unbehaglicher, doch ganz wohl leben koͤnne? Der Staatskuͤnstler stehe nun außerhalb seines Staates, wie der Tischler außer- halb des Moͤbels, das er verfertigt, und der Kaͤufer, die beduͤrftige Nation, komme und waͤhle sich unter allen diesen politischen Mobi- lien die zweckmaͤßigsten, bequemsten und modern- sten; denn er, der Staatsmann, baue in Vor- rath, fuͤr jeden Geschmack?” Woher sonst kommt die allgemeine Vorliebe fuͤr den Begriff des Staates, als daher, daß man sich den Betrach- ter und den Agirenden, den Staatsgelehrten und den Staatsmann, immer außerhalb des Staa- tes, denselben mit Haͤnden begreifend und befuͤhlend, denkt, und daß man den großen Sinn des Archimedischen Wortes nicht ergruͤndet hat, welches auf die physikalische und die politische Mechanik gleich-richtig paßt? — Dem dreifachen Irrthume, den ich hier dar- gestellt habe, wollen wir eine dreifache Wahrheit entgegenstellen, und dergestalt unsre Staatsan- sicht auf die Natur der Sache gruͤnden. 1) So wie jedes Geschoͤpf der Natur in der Mitte der Natur zu stehen meint; wie jede Crea- tur, wenn sie die Wahrheit gestehen will, sich einbil- det, die ganze Welt bewege sich um sie her; wie keine Seele außer der Natur, oder auf ihrer un- tersten Stufe zu stehen glaubt; wie kein Wurm schlecht von sich denkt: — so steht jeder Mensch in der Mitte des buͤrgerlichen Lebens, von allen Seiten in den Staat verflochten, da; und so wenig er aus sich selbst heraustreten kann, eben so wenig aus dem Staate. 2) So wie ferner niemand, wenn er sich nicht ziert und den Propheten oder den Tacitus spielen will, im Grunde des Herzens von seiner Zeit schlecht denkt, und am Anfang oder am Ende der Welt, an threm Morgen oder ihrem Abend, sondern, wie jeder Andre, in der Mitte der Zeit, und am Mittage der Welt zu leben glaubt —: eben so steht jeder Staatsbuͤrger mit- ten in der Lebenszeit des Staates, und hat hinter sich eine Vergangenheit, die respectirt, vor sich eine eben so große Zukunft, fuͤr die ge- sorgt werden soll; aus diesem Zeitzusammen- hange kann niemand heraustreten, ohne sich selbst zu widersprechen. Wir Alle klagen mit- unter uͤber die schlechte Zeit, sehnen uns in un- gluͤcklichen Augenblicken wohl gar nach andern vergangenen oder kommenden Zeiten hin, und moͤchten unsre eignen Ahnherren, oder unsre eig- nen Enkel seyn; doch der Widerspruch hierin ist offenbar, und bleibt ewig. Endlich 3) ist der Staat nicht eine bloß kuͤnstliche Veranstaltung, nicht eine von den tau- send Erfindungen zum Nutzen und Vergnuͤgen des buͤrgerlichen Lebens, sondern er ist das Gan- ze dieses buͤrgerlichen Lebens selbst, nothwendig sobald es nur Menschen giebt, unvermeidlich, — in der Natur des Menschen begruͤndet, wuͤrde ich sagen, wenn nicht, aus allen richtigen Ge- sichtspunkten betrachtet, menschliche Existenz und buͤrgerliche eins und dasselbe waͤren, und wenn ich also mit jenen Worten nicht etwas sehr Ueber- fluͤßiges sagen wuͤrde. Dies sind drei einfache Gedanken, selbst Kin- dern begreiflich, scheinbar sich von selbst verste- hend, dergleichen an die Spitze jeder Wissenschaft, z. B. der Mathematik, gestellt zu werden pfle- gen, von denen die ganze Wissenschaft ausgeht, und zu denen sie unaufhoͤrlich zuruͤckkehrt; daher zwar sehr leicht, aber auch sehr schwer, je nach- dem man sie betrachten will. Lassen Sie uns diese drei Wahrheiten noch inniger und kraͤftiger zusammenfassen in eine ein- zige, und diese so ausdruͤcken: der Mensch ist nicht zu denken außerhalb des Staa- tes . „Wie!” hoͤre ich fragen; „wenn er sich im Kreise seiner Familie den leisesten und zarte- sten Empfindungen des Lebens hingiebt, von denen die Regierung nie etwas wissen oder er- fahren kann; wenn er stille und heilige Pflichten erfuͤllt, die vor keinen andern Richter gehoͤren, als vor sein eigenes Herz; ja, wenn er in tie- fer Abgezogenheit, den Wissenschaften hingegeben, lebt —: steht er in allen diesen Faͤllen nicht wirklich außerhalb des Staates, auf einer Stelle, wo ihn der Staat nicht erreichen kann? — Fer- ner: wo standen denn jene ersten Menschen, die unsre Erde lange vorher bewohnt haben moͤgen, ehe an irgend eine buͤrgerliche Verfassung zu denken war? Wo stehen denn noch heut zu Tage alle jene wilde Voͤlker, die den Stand der Natur noch nicht verlassen haben? Wo steht denn Der, welcher freiwillig oder gezwungen in ein Exil geht? Stehen nicht eben so viele Menschen und menschliche Angelegenheiten außerhalb, als in- nerhalb des Staates?” — Alle diese Einwuͤrfe sind sehr gegruͤndet, und aus taͤglichen Erfahrungen, aus einer fast allge- mein verbreiteten Denkungsart her genommen; aber welche tiefe Corruption aller Ansichten vom Staate leuchtet daraus hervor! — Der Staat ist demnach weiter nichts als ein einzelnes De- partement der menschlichen Angelegenheiten; der Mensch braucht Haus, Hof, Knecht, Magd, Vieh und mancherlei Geraͤth, und unter diesem Geraͤthe nun auch Staaten, d. h. große organi- sirte Polizei-Anstalten, erweiterte Marechaus- seen, damit er alles des groben Gepaͤckes, wel- ches er auf die Lebensreise mitnehmen muß, sicher sey. Oder: die Wissenschaften, die schoͤ- nen Kuͤnste, Freundschaft, Liebe, haͤusliches Gluͤck — die sind das Wesentliche im Leben des gebil- deten Mannes; um derentwillen ist er da. Der Staat? — je nun, der ist ein nothwendiges Uebel; ein trauriger Nothbehelf in einer Welt, worin es wenige Gebildete und sehr vielen nichts- nutzigen und begierigen Poͤbel giebt, der abge- wehrt werden muß. — Solcherlei Vorstellungen vom Staate waren in Deutschland die verbrei- tetsten, bis die allgemeine Noth daran erinnert hat, daß die Goͤtter ihren Sitz anderswo haben, als in den kleinen Nichtswuͤrdigkeiten des elegan- ten und haͤuslichen Lebens; bis, unter den unge- heuren Bewegungen der Zeit, selbst in die feig- sten und schlaffsten Seelen eine Ahndung gekom- men ist, daß dem Menschen alles fehle, wenn er die gesellschaftlichen Bande oder den Staat nicht mehr empfindet. — Aber klar ist die Vor- stellung noch nicht, daß der Staat das Beduͤrf- niß aller Beduͤrfnisse des Herzens, des Geistes und des Leibes sey; daß der Mensch nicht etwa bloß seit den letzten civilisirten Jahrtausenden, nicht bloß in Europa, sondern uͤberall und zu allen Zeiten, ohne den Staat nicht hoͤren, nicht sehen, nicht denken, nicht empfinden, nicht lie- ben kann; kurz, daß er nicht anders zu den- ken ist, als im Staate . — Alle große und tiefe Gemuͤther haben das laͤngst erkannt; aber daß auch leichtere Seelen, die von einem untrieg- lichen, gesellschaftlichen Tact geleitet werden und mehr zur Klugheit als zur Weisheit erzogen sind, endlich damit uͤbereinstimmen, zeigt Vol- taire’s beruͤhmter Ausspruch: Celui qui n’ose regarder fixement les deux poles de la vie humaine, la religion et le gouvernement, n’est qu’un lâche. Ich will es versuchen, den unermeßlichen Wust falscher Vorstellungen vom Staate, die nicht bloß im gesellschaftlichen Leben, sondern auch in fast allen politischen Lehrbuͤchern noch heut zu Tage eine große Rolle spielen, nach ge- wissen Rubriken zu ordnen, und bei der Wi- derlegung meinen Ausspruch: „daß es nichts Menschliches gebe außerhalb des Staates,” zu bewaͤhren. Es erscheint jetzt eine Reihe von Begriffen , in deren Zerstoͤrung sich die stei- gende Hoheit der Idee des Staates bewaͤhren soll. 1) Der Staat sorgt bloß fuͤr die aͤu- ßeren Beduͤrfnisse des Menschen, und nimmt bloß seine aͤußerlichen Handlun- gen in Anspruch . — Der Mensch lebt in zwei und, so Gott will, mehr Welten wechsels- weise; er dient mehreren Herren zugleich. Mit dem Einen Fuße steht er in einer wirklichen phy- sischen, mit dem andern in einer idealischen, mo- ralischen Welt: zu einigen Handlungen kann er maschinenweise , durch mechanische Gewalt, gezwungen werden; andre und bei weitem die wichtigsten Handlungen der Menschen, bleiben geisterweise der Willkuͤhr uͤberlassen: sein Herz, seine Liebe kann der Buͤrger dem Staate verweigern, schenken und zuruͤcknehmen, wie er will. — Sehen Sie da die Gebrechlichkeit aller unsrer Theorieen, die, um nur einen recht rund abgeschlossenen Begriff vom Staate geben zu koͤn- nen, lieber auf den schoͤneren Theil des menschlichen Wesens, auf die Gefuͤhle und die Gedanken der Menschen, Verzicht leisten, und sich mit rohem Gehorsam, mit der Furcht der Beherrschten, anstatt aller Liebe, mit grober Tributzahlung begnuͤgen, wo sie die innigste Hingebung, die uneingeschraͤnkteste Aufopferung, begehren soll- ten. — Sehen Sie, wie der ganze, dergestalt begriffsweise abgeschlossene Staat bloß fuͤr den vermeintlichen Friedenszustand berechnet ist, d. h. fuͤr einen Zustand, worin sich diese Zerstuͤcke- lung des buͤrgerlichen Wesens in aͤußere und in- nere Handlungen, in Zwangs- und Gewissens- verhaͤltnisse, praktisch ausfuͤhren laͤßt. Im soge- nannten Frieden laͤßt es sich denken, daß Recht und Moral, oder aͤußeres und inneres Leben, jedes seinen abgesonderten Weg geht; daß Stock und Halseisen auf der Einen Seite, und das moralische Urtheil auf der andern, ein besondres Regiment fuͤhren. Nun aber lassen Sie einen Krieg ausbrechen, worin der ganze Staat fuͤr Einen Mann stehen soll: — ist da nicht das ganze mit der Scheere des Begriffes in oͤffentliches und Privatleben, in Civil und Mili- tair zerschnittene und zersplitterte buͤrgerliche Wesen de facto aufgeloͤs’t? Die innere Her- zenskraft der Unterthanen soll nun dem Staate beispringen, alles soll der Buͤrger nun einem Ganzen hinzugeben und aufzuopfern im Stande seyn! Aber wo oder was ist denn dieses Ganze? — Der Geist der Buͤrger? Der ist schon im Dienste der Wissenschaften engagirt; und was ha- ben die Wissenschaften mit dem Staat und seinen Kriegen zu thun! Die Wissenschaften sind Ein- fuͤr allemal neutral, sind, heißt es, Gemeingut der Menschheit, und was dergleichen schlaffe, sogenannte philanthropische Phrasen mehr sind. — Das Herz der Buͤrger, ihre Neigung, ihr Gefuͤhl? Das alles steht im Dienst einer seich- ten, nichtswuͤrdigen Haͤuslichkeit, treibt ein arm- seliges Dilettantenwesen mit den schoͤnen Kuͤn- sten und andren zur eleganten Bildung gehoͤrigen Dingen. — Alles, was der Staat braucht — denn die stehenden Armeen und die Waffenvorraͤthe sind das Wenigste —, ist, mit Bewilligung des Staates und der Theorie, anderweitige Verbind- lichkeiten eingegangen, — und uͤber ihre kostbar- sten Kleinode kann die Republik, gerade im Augen- blicke der Noth, nicht nach Willkuͤhr verfuͤ- gen. — Freilich sind die Gedanken zollfrei; freilich will es etwas anderes sagen, die Herzen der Menschen zu regieren, als ihre Haͤnde und Beine; freilich gehoͤren, wenn man den Menschen ein- mal zerstuͤckeln will, ganz andre Maͤchte dazu, die Geister als die Leiber in ein kraͤftiges Ganze zu verbinden: aber wie kann denn die Theorie behaupten, die Leiber koͤnnten, ohne die Gei- ster, fuͤr die Ewigkeit verbunden seyn! Wie kann sie einen Haufen von Haͤnden und Beinen „ einen Staat ” nennen! Wo der Kern des menschlichen Wesens liege; wo man den Punkt im Menschen suchen muͤsse, in welchem alles leibliche und geistige Interesse zusammen tritt, damit, wer diese Festung erobert habe, nun Herr des Ganzen sey: das ist die Frage; dort muͤßt ihr eure Hebel, eure Baͤnder anlegen, wenn ein Staat werden soll. — Der Staat hat es eben sowohl mit der Sitte , als mit dem Rechte zu thun; der Suveraͤn muß die große Vereini- gung eben sowohl zusammen reitzen , als zu- sammen zwingen . Was heißt Gesetz, wenn das Heiligste, die innersten Angelegenheiten des Menschen, hors de la loi stehen? Seit den Zeiten der Kirchen-Reformation hat man sich in Deutschland sehr laut und sehr oft gegen solche Corporationen im Staate erklaͤrt, welche man „ Staaten im Staate ” nannte; und allerdings war es eine gerechte Absicht, im Staate nichts Fremdartiges, von seiner Autori- taͤt Eximirtes, dulden zu wollen. Sehr richtig fuͤhlte man die Gebrechlichkeit eines Staates, der uͤber sich selbst nicht Herr seyn kann, weil in seinem Innern etwas von seiner Organisation durchaus Unabhaͤngiges, in seinen Verband nicht Eingreifendes existirt. Man hat den Anspruͤchen der katholischen Kirche, des Adels, der staͤdti- schen und staͤndischen Corporationen die sehr richtige Forderung entgegengesetzt, daß diese ver- schiedenen Koͤrper nur geduldet werden koͤnnten, in so fern sie sich vertruͤgen und Eins wuͤrden mit dem Staate, und also keinen Staat im Staate bildeten. — Wie kann man aber eine den Gesetzen ganz fremdartige, ja widerspre- chende Sitte, eine der Buͤrgerlichkeit ganz entge- gengesetzte haͤusliche Tugend, eine den aͤußer- lichen Verpflichtungen ganz widerstreitende Nei- gung des Herzens, eine aller Nationalitaͤt ent- gegenarbeitende Wissenschaft, eine den großen energischen Geist des politischen Lebens voͤllig vernichtende Religion der Schlaffheit, der Feig- heit und des isolirten Interesse — nicht bloß dulden, sondern gut heißen und befoͤrdern! Das ist schlimmer, als Staat im Staate; das ist Anar- chie der Geister, mitten im gesetzlichen Verein. Die christliche Religion war Religion der Kraft und der Resignation, der Adel auf ritter- liche Tugend, Einigkeit und Aufopferung gegruͤn- det: alle diese Institute, auch in der groͤßten Entartung, konnten noch gewonnen werden fuͤr die Angelegenheit des Gemeinwesens, und ihr dienen — eben weil sie Corporationen, und das Zusammenhalten, das Concentriren der Kraͤfte ihr oberster Grundsatz war. Aber wie verhaͤlt sich zu unsern Staaten die von dem Staate und von der Theorie legalisirte und doctrinalisirte Zersplitterung, Entfremdung und Auswaͤrtigkeit der Geister ! Die Physiokraten behaupteten, der Kauf- mannsstand sey in allen Europaͤischen Staaten eigentlich hors de la loi, hors de l’intérêt commun, besonders die mit dem auswaͤrtigen Handel beschaͤftigte Kaufmannsschaft, weil es ihr Grundsatz seyn muͤsse, Freund und Feind in seinem Reichthume zu verkuͤrzen. Diese, wie sich an einem andern Orte zeigen wird, durchaus falsche und einseitige Behauptung paßt auf keinen Stand ins Besondre, desto besser aber auf den edleren geistigen Theil aller Individuen. — Hat nicht nicht sogar Adam Smith bei aller seiner Erha- benheit nie begreifen koͤnnen, wie eigentlich die Producte der Geister im Staate, neben den viel solideren Producten der Erde und des ma- nufacturirenden Fleißes, in Betracht kommen muͤssen? Mit den Gelehrten, Staatsmaͤnnern, Schauspielern, Geistlichen u. s. f. weiß er fuͤr seinen Zweck durchaus nichts anzufangen; erst wenn sie ihm ein handgreifliches Product, z. B. der Philosoph ein Buch, liefern, kurz, nur in so fern ihr Fleiß wirklich manufacturirend, und das, was sie produciren, wirkliches Object fuͤr den Handel wird, kommen sie, seiner Meinung nach, fuͤr den Staat in Anschlag. Er wollte eine absolute Grenze um die Production her zie- hen, einen fixen Begriff vom National-Reich- thum geben; dem Begriffe zu gefallen, muß- ten die fruchtbarsten Gedanken des Staatsman- nes, die begeisterndsten Reden des Gelehrten oder des Geistlichen von dem Umkreise der pro- ductiven Staatsarbeiten ausgeschlossen werden. Es kam auf ein Begreifen , auf ein Hand- greifen an; also hielt sich Adam Smith an das Product . — Viel interessanter ist aber das Problem, die Production zu begreifen, die große, tief ver- wickelte und doch so einfache Bewegung der Müllers Elemente. I. [4] Geister und der Haͤnde, unter denen der Natio- nal-Reichthum im ewigen Werden begriffen ist. Wer diese betrachten will, kann die maͤchtig ein- wirkenden inneren oder Seelenkraͤfte des Men- schen nicht mehr ausschließen; dieses Werden, diese Bewegung des Reichthums, kann augen- scheinlich nur im Werden, in der Bewegung, d. h. ideenweise , aufgefaßt werden. Und was interessirt den Lehrling mehr: das Product oder die Production? die Frage: was ist Reichthum? oder die andre: wie wird Reichthum? — Beide sind gleich-wichtig, und Eine kann nur in und neben der andern beantwortet wer- den. Sobald man, um die Eine Frage: „was ist Reichthum?” absolut und fuͤr immer zu be- antworten, eine Grenze um die abgezogenen rei- nen Producte her zieht, und — dadurch genoͤ- thigt, wie Adam Smith — eine absolute un- uͤbersteigliche Mauer zwischen dem physischen und moralischen, zwischen dem realen und idealen Besitz errichtet: kann man die Bewegung und das Werden, also die Idee, nicht weiter dar- stellen. Uns kommt es auf die Idee des Staa- tes an, d. h. wie es nun hinlaͤnglich klar seyn wird: wir wollen das Seyn des Staates und das Werden desselben zugleich betrachten; die Fragen: was ist der Staat? und: wie wird der Staat? zugleich beantworten; den Staat in seiner Bewegung auffassen. Demnach lehrt uns das erhabene Beispiel Adam Smith’s: die geistigen Beduͤrfnisse der Menschen und ihr inneres Handeln vom Staate nicht auszuschließen , was freilich unsrer gesammten Staatsansicht eine von allen bestehenden Theorieen durchaus abweichende, aber um so lebendigere Gestalt geben muß. Der erste Grundirrthum der gangbaren poli- tischen Systeme ist widerlegt: der Staat ist nicht eine bloße Manufactur, Meierei, Assecuranz-An- stalt, oder mercantilische Societaͤt; er ist die in- nige Verbindung der gesammten physi- schen und geistigen Beduͤrfnisse, des ge- sammten physischen und geistigen Reich- thums, des gesammten inneren und aͤußeren Lebens einer Nation, zu einem großen energischen, unendlich bewegten und lebendigen Ganzen . — Von diesem Ganzen kann die Wissenschaft kein todtes, still- stehendes Bild, keinen Begriff geben; denn der Tod kann das Leben, der Stillstand die Bewe- gung nicht abbilden. Daß keine Idee, also auch nicht die Idee des Staates, deshalb, weil sie in der hier beschriebenen Allgemeinheit und Un- endlichkeit aufgefaßt wird, nun formlos zerfließt und verschwimmt, wird meine weitere Darstel- lung zeigen. Nicht jede Schranke wird verwor- fen, sondern nur die absolute; es giebt eine Be- wegung innerhalb der Schranken. Die Natur- wissenschaft nennt diese Bewegung: Wachs- thum ; und von ihr ist die Rede. II) Es giebt einen Naturzustand ohne Staat, eine Zeit vor allem Staate . Die Errichtung der Staaten ist ein Werk reiner Will- kuͤhr, bloßer Convenienz oder Klugheit. — Diesen andern großen Irrthum, der die unselige Lehre, daß der Mensch im Staate, wie in einem Hause, durch eine bestaͤndig offne Thuͤr aus- und ein- gehen koͤnne, wie es ihm gefalle, druͤckt niemand naiver aus, als in seiner bekannten derben, kurzen und populaͤren Manier der Ritter von Schloͤzer . „Der Staat,” sagt er in seinem allgemeinen Staatsrecht, „ist eine Erfindung : Menschen machten sie zu ihrem Wohl, wie sie Brand-Cassen u. s. f. erfanden. Die instructivste Art, Staatslehre abzuhandeln, ist, wenn man den Staat als eine kuͤnstliche, uͤberaus zusam- mengesetzte Maschine , die zu einem bestimm- ten Zwecke gehen soll, behandelt.” — Wenn nun gleich dieser Schriftsteller seine etwas ver- wegne Behauptung dadurch wieder gut macht, daß er sagt, diese Erfindung sey uralt, fast all- gemein und sehr leicht, endlich auch ein unent- behrliches Beduͤrfniß der Menschheit; und wenn dem uͤbrigens hochverdienten Manne deshalb kein Vorwurf gemacht werden soll, daß er in einem so erfinderischen Jahrhundert lebte: so paßt doch seine Erklaͤrung vom Wesen des Staates zu unsern Absichten besser, als irgend eine andre; und so gereicht es zu seinem Lobe, daß Er, was Andre unter mancherlei Capitulationen und Ver- wahrungen undeutlich und unmuthig meinten , wenigsten unumwunden, und mit einer gewissen genialischen Dreistigkeit, deutlich herausgesagt hat. — Es folgt mancherlei Thoͤrichtes aus dieser un- gluͤcklichen Lehre, die vor zwanzig Jahren ein so unermeßliches Publicum hatte: 1) Was Menschenhaͤnde willkuͤhrlich gemacht haben, koͤnnen andre Menschenhaͤnde willkuͤhrlich zerstoͤren, wenigstens verwerfen. Man sieht nicht gut ein, warum, wenn der Staat eine bloße Erfindung nach Art der Brand-Cassen u. s. w. ist, nun nicht einmal ein Mensch zu demselben Zwecke, der dem Staate untergelegt wird, etwas Anderes und noch Kluͤgeres erfinden sollte, was kein Staat waͤre; man sieht, wenn man das viele Wichtige und Große, was mit dem Staate zu- sammenhaͤngt und in ihn verwachsen ist, uͤber- legt, nicht gut ein, wie jenen Leuten, die noch uͤberdies so hohe Meinungen von den reißenden Progressen ihres Zeitalters hatten, um die Dauer dieser schoͤnen Erfindung nicht bange geworden ist, zumal da in der Nachbarschaft jenseits des Rheins das Erfinden nach Herzenslust und im Großen getrieben wurde, und Dinge zum Vor- schein kamen, die allem in der Welt aͤhnlich sa- hen, nur nicht dem Staate. 2) Ist der Staat bloß eine erfundene Ma- schine zu einem bestimmten Zwecke, z. B. der allgemeinen Sicherheit, eine Muͤhle, welche die verraͤtherischen und raͤuberischen Leidenschaften kurz und klein mahlt, daß sie unschaͤdlich werden und dem oͤffentlichen Besten dienen: so wuͤrde ja, wenn eines Morgens das suͤndhafte Ge- schlecht der Menschen ploͤtzlich moralisch und wohlgezogen erwachte, die ganze Maschine uͤber- fluͤßig geworden seyn. Dieser Fall wird freilich nicht eintreten; indeß ist der Gedanke, daß der Staat eine bloße Kruͤcke unsrer Gebrechlichkeit, eine kuͤnstliche Nachhuͤlfe fuͤr ein zerruͤttetes Ge- schlecht sey, ganz in Ernste genaͤhrt worden, und die erhabene Angelegenheit in die Haͤnde gemeiner Pfuscher, Weltverbesserer, oder Projectirer und Alchymisten, wie sie Burke nennt, gerathen. Man hat das Regieren wie eine bloße Fertig- keit, das Errichten eines Staates wie eine Sache des Handgriffs und der Routine getrieben. 3) Gab es eine Zeit, und einen Ort, wo Menschen lebten, und diese Erfindung nicht ge- macht war, oder doch nicht angewendet wurde: so ist die Chimaͤre eines Naturrechtes , an welches von allen positiven Gesetzen appellirt werden koͤnne, so ungegruͤndet nicht; — so giebt es, außer allen Staaten, wirklich einen noth- wendigen Zustand der Gesellschaft, der, weil ihn die reine Natur errichtet hat, harmonischer und zweckmaͤßiger seyn muß, als alles Willkuͤhr- liche und Kuͤnstliche, — an den bestaͤndig zu appelliren die heiligste Verpflichtung des recht- lichen Menschen seyn wuͤrde. Die Chimaͤre des Naturrechtes, welche vor funfzehn bis zwanzig Jahren alle großen Koͤpfe in Europa beschaͤftigte, ist bloß deshalb in die Welt gekommen, weil man die Idee des Staates nie groß und uͤber- schwenglich genug aufgefaßt hatte. Da man die Idee des Rechtes, oder der Einheit in allen menschlichen Geschaͤften, nie uͤber die ganze Erde auszudehnen wußte, so blieb außerhalb noch im- mer einiger unerklaͤrlicher Raum, eine Art von Vacuum; und so fand sich denn hier wirklich eine Archimedische Stelle, von wo aus man auf eine Weile viele Europaͤische Staaten aus ihren Angeln gehoben hat. Ein Naturrecht, das von dem positiven Rechte abweicht! Aber die Staa- ten, die bestimmten, positiven Staaten, sind ja Rechtsanstalten; Staaten errichten — nach den Begriffen dieser Zeit — heißt ja, das Recht errichten; also ein Recht vor dem Recht und außer dem Rechte! Was war natuͤrlicher, als daß man die Mo- ral — von der wir oben redeten, und mit wel- cher der wirkliche Staat eigentlich nichts zu schaffen hatte, woruͤber ich so eben geklagt habe, — nun groͤßten Theils hinaustrieb in das er- waͤhnte Vacuum , und dasselbe mit Sittenregeln, oder mit philosophischen Deductionen eines ver- meintlichen reinen Rechtes (wie es eine reine Mathematik giebt) bevoͤlkerte! — Aus diesem allerunnatuͤrlichsten Bestreben, ein Naturrecht zu construiren, entstand die ungluͤck- lichste Mischung und Verwechselung des Natuͤr- lichen und Kuͤnstlichen. Da man einmal davon ausgegangen war, alles positive Recht als etwas Reinkuͤnstliches und Unnatuͤrliches anzusehen, und dennoch das Positive aus dem Natuͤrlichen dedu- cirt und gerechtfertigt werden sollte: so wußte zuletzt niemand mehr, was eigentlich positives und was kuͤnstliches Recht sey; das Zeitalter wurde muͤde, den nun erst recht verwickelten Knoten aufzuloͤsen, und die vermeintliche Wis- senschaft des Naturrechtes hoͤrte auf, das große Publicum weiter zu beschaͤftigen. Nettelbladt hatte nicht ganz Unrecht, als er in der großen Verlegenheit sein Naturrecht offenherzig: jus naturae positivum nannte, was, nach den damaligen Ansichten der Men- schen, ungefaͤhr eben so viel sagen wollte, wie ein viereckiger Cirkel . Jetzt aber hat dieses Wort, so wenig der brave Mann daran denken mochte, eine tiefe und richtige Bedeutung. Die Idee des Rechtes nehmlich hat zwar Ele- mente: ein koͤrperliches oder positives, und ein geistiges oder allgemeines, allgemein guͤltiges; und dies zweite Element war es eben, was jene Leute „natuͤrliches Recht” nannten. Sie mein- ten nun, man koͤnne dieses geistige Element von dem koͤrperlichen oder positiven trennen; man koͤnne es davon abziehen (abstrahiren) und es, wie in hermetisch versiegelten Flaschen, etwa zur gelegentlichen Herzstaͤrkung kraͤnkelnder Staaten, abgesondert aufbewahren. Man begnuͤgte sich wieder mit dem Begriffe : es bildete sich ein reines, stillstehendes Recht, welches auf das volle uͤppige unbewegliche Leben wirklicher Staaten oder Rechts-Institute entweder gar nicht, oder nur verderblich, wirken konnte. Wer sich das Recht denkt, denkt sich unmittelbar eine bestimmte Localitaͤt, einen bestimmten Fall, wofuͤr es Recht ist; das ist der natuͤrliche, schoͤne Drang des lebendigen Menschen nach lebendiger Erkenntniß. Wer ein Gesetz, wie es da in Buch- staben hingeschrieben steht, erkennt, der hat den Begriff des Gesetzes, d. h. nichts als ein tod- tes Wort; wer es in der Anwendung, oder, was dasselbe sagen will, in der Bewegung sieht, der hat ein Drittes, weder bloß die For- mel, noch bloß etwas Positives oder einen be- stimmten Fall. Und jenes Dritte, das ist nun die Idee des Gesetzes, des Rechtes, die nie ab- geschlossen oder fertig, sondern in unendlicher, lebendiger Erweiterung begriffen ist. — Der Staat aber ist eine große, bestimmte Localitaͤt, und seine Gesetzgebung ist die Masse der dazu gehoͤrigen Formeln. Wer Beides, die Localitaͤt und die Formeln, in einander, und so in Bewegung betrachtet, der hat die Idee des Staates; und da die Idee, so wie ich sie hier construirt habe, selbst innerlich praktisch ist, so kann er auch zur Stelle auf den Thron des- selben Staates gesetzt werden, und wird ihn regieren, weil er wachsen wird, wie der Staat waͤchst. Die Idee kann das Leben allenthalben hin begleiten und auf dasselbe wirken, weil sie selbst lebendig ist, waͤhrend der Begriff immer zuruͤckbleibt, bestaͤndig zu spaͤt kommt und, weil er selbst todt ist, nur zerstoͤren und toͤdten kann, wie wir es in der Franzoͤsischen Revolution ge- sehen haben, wo ihm ein Wirkungskreis einge- raͤumt wurde, der groß genug war. Wo ein Local ist, ein positiver Fall — und der ist doch wohl uͤberall —: da ist auch unmittel- bar ein Gesetz, oder, um meine Rede ganz auf menschliche Angelegenheiten zu beziehen, ein Recht. Daß dieses Recht ausgesprochen werde, ist un- wesentlich; daß es niedergeschrieben werde, noch unwesentlicher; daß es empfunden werde, ist hinreichend. Da nun der Mensch uͤberall im natuͤrlichen Zustande — d. h. so lange ihn noch keine falsche und todte Theorie, wenn nicht zer- stoͤrt, so doch verzogenhat — immer Gesetz und Fall zugleich, oder ein Drittes, das hoͤher als Beides ist, empfindet, nehmlich die Idee —; da hierin allein alle Bewegung und alles Leben be- ruhet: so muß das Wesen des Rechtes uͤberall vorhanden seyn, wo es Menschen giebt. Da ferner die Natur vom Anfange dafuͤr gesorgt hat, daß es zwei Menschen und nicht Einen gebe; da sie dieselbe Menschenformel vom Anfange an in zwei ganz entgegengesetzten Stof- fen ausgedruͤckt hat, die bestaͤndig einander be- duͤrfen und doch einander so unendlich wider- streben, in den beiden Geschlechtern; da sie den Gedanken „ Mensch ” in die Mitte zwischen Mann und Weib, als ein unsichtbares Drittes, gelegt, und uns dergestalt einen abgeschlossenen, festen Begriff vom Menschen versagt hat; da sie auf diese Weise uns genoͤthigt, den Men- schen, in bestaͤndigen Wechselblicken auf zwei ganz verschiedene Menschen, also im Fluge, in bestaͤndiger Bewegung, also nicht als Begriff, sondern als Idee, aufzufassen —: wo ist und bleibt denn nun die Zeit, wo es Menschen gab, und kein Gefuͤhl ihres wahren Verhaͤltnisses, d. h. kein Recht? Was vom zweiten Menschen gilt, gilt auch vom dritten, der nichts andres ist als ein zwei- ter Zweiter, und so bis in’s Unendliche fort. Warum nun in die Weltgeschichte einen einge- bildeten Strich an einer unbestimmten Stelle hin zeichnen, und sagen: was jenseits liegt, ist kein Staat, das ist Naturzustand; was diesseits liegt, ist ein Staat! — Aber weil mit ihrem todten Begriffe „ Staat ” zugleich tausend Un- wesentlichkeiten in die Wissenschaft kommen; weil der Begriff sich nicht schuͤtteln, die Unwesent- lichkeiten nicht von sich abstreifen kann —: so entsteht der Wahn, Rechtszustand und Staat waͤren zwei generisch verschiedene Dinge, und das Recht sey aͤlter als der Staat. — Ihr Begriff „ Staat ” reicht ungefaͤhr bis dahin, wo der Ackerbau in die Welt kommt: so lange behaͤlt der Staat nehmlich noch eine verwandte Physiognomie mit ihrem vermeintlich wissenschaftlichen, den sie in der Seele tragen; und so ist ihnen auch das erste Blatt im Thu- cydides erst eigentliche Geschichte. Jenseits des Thucydides, jenseits des Ackerbaues — ja, da ist nun keine Geschichte, kein eigentlicher Staat mehr, da muͤssen wir einen ganz andern Maß- stab ansetzen, da muͤssen wir uns einen neuen Begriff backen; und so kommt zu Stande, was sie Naturrecht nennen. — Indeß schwebt die Idee frei durch alle Zeiten hin, und erkennt das Wesen der Menschheit, des Rechtes und des Staates uͤberall wieder, versteht, und wird verstanden. Der Begriff ist bloß fuͤr die weisen Kinder weiser Jahrhunderte; die Idee haben Alle gemein: denn sie ist das ewig Rechte. Das Wesen der Idee koͤnnten wir, falls wir der Organe, der Sprache, oder der Toͤne, der Blicke jener Zeiten maͤchtig waͤren, den ersten Kindern der Erde deutlich machen; was wir Begriff nennen, wuͤrde ihnen ewig unbegreiflich seyn. Wo bleibt nun also, wenn man auf das Eine Wesentliche des Staates sieht, jener Naturzustand ohne allen Staat, jene Zeit vor allem Staate? — Die Verbindung der menschlichen Angelegen- heiten existirt uͤberall, und zu allen Zeiten, wo es Menschen giebt; und die Geschichte zeigt uns die Idee des Staates vom Anfange an, allent- halben, obgleich auf den verschiedensten Stufen des Wachsthums und der Ausbildung. — Der Staat ruhet ganz in sich; unabhaͤngig von menschlicher Willkuͤhr und Erfindung, kommt er unmittelbar und zugleich mit dem Menschen eben daher, woher der Mensch kommt: aus der Na- tur : — aus Gott , sagten die Alten. III ) Die Wissenschaften sind unab- haͤngig vom Staate ; sie bieten einen Zu- fluchtsort dar, wohin der Mensch, wenn er von aͤußeren Verhaͤltnissen geplagt und von den gro- ßen politischen Bewegungen der Zeit bestuͤrmt wird, entweichen kann. Wir haben schon oben gese- hen, daß sich nichts Menschliches, also auch die Wissenschaft nicht, außerhalb des Staates denken laͤßt; indeß verdient dieser verbreitetste, gefaͤhr- lichste Irrthum noch eine kurze, besondere Be- trachtung. — Man koͤnnte glauben, ich wolle auf den staatsverderblichen Einfluß der Gelehr- ten kommen; ich wolle zeigen, daß Physiokraten, Encyklopedisten, die ganze Secte der Philoso- phen die eigentlichen Urheber des Wahnes ge- wesen waͤren, die Wissenschaft koͤnne den Staat zu ihren Experimenten gebrauchen, und die uͤber ganz Europa verbreitete Republik der Gelehrten sey unabhaͤngig vom Staat, und wichtiger als der Staat selbst. Dies waͤre ein reiches Thema; doch die Wahrheit der Sache springt schon von selbst in die Augen. Daher will ich nur zeigen, daß die Wissenschaften verderben und verdunsten, daß ihnen alles Leben, dessen sie beduͤrfen, und alle Gemuͤthlichkeit, aller Kern, alle Kraft ab- geht, sobald sie aus dem Vereine mit dem Staat’ heraustreten und fuͤr sich selbst herrschen und bedeuten wollen. Der Staat, so wie ich ihn in seiner einzig wahren und lebendigen Gestalt beschrieben habe, ist das ewig bewegte Reich aller Ideen: das koͤr- perliche, physische, ergreifbare Leben reicht nicht hin, ihn zu deduciren, und wir waren genoͤ- thigt, alles Unsichtbare, Geist, Sitte, Herz, das ganze idealische Treiben des Menschen zu- ruͤckzufordern, die dem Staat abwendig gemach- ten Gedanken der Buͤrger zu vindiciren, als wir uns oben bestrebten, das Wesen des Staates zu erkennen. Eben so sind wir jetzt nicht im Stande, die Wissenschaft und ihr Wesen zu ergruͤnden, wenn eine absolute Grenze zwischen den idealen und den realen Besitzthuͤmern des Lebens gezogen, und uns bloß die Eine Haͤlfte, die ideale, zuge- wiesen wird; wenn man uns die große, Eine, einfache Welt in zwei ewig geschiedene — in die wirkliche des Staates, und in die eingebildete der Wissenschaften — zerschneidet, und wir doch Menschen bleiben, die, selbst ganz und aus Einem Stuͤcke, auch eine ganze und wie aus Einem Stuͤcke gehauene Welt begehren, und nun von gerechter Sehnsucht wechselsweise aus der Einen in die andre, aus der Welt der Be- griffe in die Welt des realen Lebens, getrieben werden und doch nirgends zu Hause sind. Es ist hinreichend klar: die Wissenschaft allein, und fuͤr sich, kann nichts erzeugen als Begriffe, so wenig wie das aͤußere, physische, praktische Leben lebendig verharren kann, wenn sich der Geist nicht damit zu ewiger Erzeugung der Ideen oder des wahren Lebens vereinigt. Wissenschaft und Staat sind, was sie seyn sollen, wenn sie beide Eins sind — wie die Seele und der Koͤr- per Eins sind in demselben Leben, und nur der Begriff sie hoffnungslos zerschneidet und jedem Theil eine abgesonderte Heimath, einen verschie- denen Wirkungskreis zutheilt. Das Das hat die Wissenschaft der wuͤrdigen Alten so groß gemacht, und die der heutigen Deutschen so klein, so verwirrt, so todt, daß jene unter allen geistigen Bestrebungen nie von dem Vater- lande lassen konnten, diese aber mit schnoͤdem Hochmuth den Staat seinem Schicksale anheim stellen, und sich herabzulassen glauben, wenn sie einmal fragen: ob das Vaterland wirklich noch stehe, oder schon versunken sey. Keine einzelne Wissenschaft kann bestehen, wenn sie nicht in das gesellschaftliche Leben eingreift. Betrachten Sie — damit ich mein Beispiel von einer Wissenschaft hernehme, die am ent- ferntesten von der Politik zu liegen scheint — den Gang der Naturwissenschaft. Wie glaͤnzend auch die Erscheinungen waren, die im ersten Momente des Aufflammens eines neuen wissen- schaftlichen Lebens in Frankreich und Deutsch- land, dort durch Lavoisier , hier durch Schel- ling , herbeigefuͤhrt wurden: dort und hier hat sich alle Kraft der Meister aufgeloͤs’t in die Ohn- macht nachbetender und nachschwaͤrmender Schu- len. Haͤtte die Naturwissenschaft, die sich auf einen so hohen Standpunkt stellte, jemals gefuͤhlt, daß es auch eine Naturgeschichte des Staates giebt; haͤtte sie, erhaben uͤber das Schreien der Theorie, daß der Staat eine kuͤnstliche Erfindung Müllers Elemente. I. [5] sey, nicht nachgelassen, ihn durch und durch als Werk eben derselben Natur, deren Gottesdienste sie sich hingab, zu betrachten: so blieb sie, auch in ihren tiefsten Speculationen, ganz nahe bei dem Menschen, sie blieb im Gleichgewichte, blieb lebendig. Kurz, es ist fuͤr die Wissenschaften kein Heil, bis alle sich wieder an den Staat anschließen, und die ganze einseitige Stubenbe- triebsamkeit sich aufloͤs’t und Eins wird mit dem oͤffentlichen Leben, wovon niemand unge- straft abtruͤnnig werden kann. — Lassen Sie uns jetzt alle Einzelheiten unsrer Betrachtung zusammengreifen! Der Staat ist die Totalitaͤt der menschlichen Angele- genheiten, ihre Verbindung zu einem le- bendigen Ganzen . Schneiden wir auch nur den unbedeutendsten Theil des menschlichen We- sens aus diesem Zusammenhange fuͤr immer her- aus; trennen wir den menschlichen Charakter auch nur an irgend einer Stelle von dem buͤr- gerlichen: so koͤnnen wir den Staat als Lebens- erscheinung, oder als Idee, worauf es hier an- kommt, nicht mehr empfinden. Die Allgemeinheit, in welcher die Idee des Staates hier erscheint, darf nicht erschrecken. Die Theorie hat uns unzaͤhlige falsche Schran- ken in den Weg gebauet, den wir betreten; diese muͤssen alle erst fortgeraͤumt werden, ehe die wahren Schranken, welche die Bewegung des Staates nicht hindern, sondern vielmehr befoͤr- dern, gezeigt und aufgerichtet werden koͤnnen. Diese wahren Schranken sind da, in allen wirk- lichen Staaten um uns her; sie bestimmen den praktischen Staatsmann und Gesetzgeber, wenn die kleinste Abgabe gefordert, der unbedeutendste Rechtsfall geschlichtet werden soll. Aber die Theo- rie betrachtet sie falsch; sie fixirt diese Schran- ken, nimmt ihnen Leben und Wachsthum, und stoͤrt auf diese Art das Wirken des Staats- mannes. Wir muͤssen vor allen Dingen die Theorie berichtigen, da es uns darauf ankommt, sie mit der Praxis zu versoͤhnen. Fragt nun, nach die- ser Darstellung, noch irgend jemand: was ist denn der Zweck des Staates? so frage ich ihn wieder: du betrachtest also den Staat als Mit- tel? als ein kuͤnstliches Mittel? du meinst also noch immer, daß es außerhalb des Staates et- was gebe, um dessentwillen er da sey, dem er dienen muͤsse, wie das Geruͤst dem Gebaͤude, wie die Schale dem Kern? — Du glaubst im Herzen noch immer, es koͤnne doch wohl noch einmal darauf hinaus laufen, daß der Staat nun uͤberfluͤßig sey, und etwas Anderes, Besseres ans Licht kommen koͤnne, als er? — Ordnung, Freiheit, Sicherheit, Recht, die Gluͤckseligkeit Aller sind erhabene Ideen fuͤr Den, der sie ideenweise auffaßt; der Staat, wie groß und erhaben, wie alles umfassend, wie in und auf sich selbst ruhend er auch sey, verschmaͤhet es nicht, mitunter be- trachtet zu werden, als sey er nur um Eines von diesen Zwecken willen da; er ist aber zu groß, zu lebendig, um sich, den Wuͤnschen der Theoretiker gemaͤß, Einem dieser Zwecke aus- schließend und allein hinzugeben: er dient ihnen allen, er dient allen gedenkbaren Zwecken, weil er sich selbst dient. — So hat man oft auch nach der Bestimmung des Menschen gefragt. Der Mensch fuͤhlte sich unvollstaͤndig, krank und halb. Es wurde ge- antwortet: „der Mensch ist um seiner Gluͤckselig- keit willen da;” — „nein, um seiner Tugend willen,” sagte ein Zweiter; „fuͤr seine Vervoll- kommnung,” sagte ein Dritter. Recht gut! wenn ihr nur fuͤhlen moͤchtet, daß alle diese Zwecke immer in den Menschen zuruͤckkehren, daß es immer wieder auf seine Tugend, seine Gluͤckseligkeit, seine Vollkommenheit abgesehen bleibt, und Er , nichts Einzelnes, am Ende doch sein eigner Zweck ist. Du hast dich selbst empfunden; und so hast du zugleich alle deine unendlichen Bestimmungen empfunden, du hast das Leben des Staates empfunden. Was hilft der einzelne Zweck, den ich dir begriffsweise zum Einstecken hinreichen kann, da du schon tausend andre Bestimmungen des Staates empfunden hast! Dritte Vorlesung . Daß der Nutzen und das Recht, die als Begriffe einander widersprechen, sich versöhnen, sobald sie ideenweise erkannt werden. E s ist hinreichend eroͤrtert worden, daß die Idee des Rechtes gerade so alt ist, wie die Menschheit, oder vielmehr, daß sie das einzige, erste, echte Kennzeichen der Menschheit ausmacht. Das Recht aber ist, der allgemeinen Meinung nach, das Wesentliche am Staate. Also ist der Staat, wenn man von allem Unwesentlichen, Conventionellen und Localen seiner Form abse- hen will, auch nicht um einen Tag juͤnger, als das menschliche Geschlecht. Sobald die Na- tur den Gedanken der Menschheit in zwei ver- schiedenen Formen oder Geschlechtern ausgepraͤgt hatte — und damit mußte sie doch anfangen, um die Menschheit fortpflanzen zu koͤnnen —: so- bald gab es auch ein Verhaͤltniß zwischen diesen beiden Menschen, oder zwischen diesen beiden Geschlechtern; es gab Bedingungen ihres Neben- einanderbestehens; es gab ein gesellschaftliches Gesetz, und dieses Gesetz mußte ein lebendiges, bewegliches seyn, weil das Verhaͤltniß zweier Menschen unter einander lebendig und beweglich ist; kurz, die Idee des Rechtes war im Gange. Diese, das Verhaͤltniß zweier oder mehrerer Menschen ewig regulirende, Idee gehoͤrt unzer- trennlich zu der Natur des Menschen; also ist es fuͤr die Sache selbst ganz gleichguͤltig, ob sie bloß empfunden, oder auch wirklich ausgesprochen, oder ob sie niedergeschrieben wird auf zwei Mo- saische und zwoͤlf Roͤmische Tafeln, oder ob sie wirklich lebendig und persoͤnlich repraͤsentirt wird durch einen Patriarchen, Monarchen, Rex oder Imperator . Wenn man es vorzieht, die Idee des Rech- tes durch den Buchstaben ausdruͤcken zu lassen, so nennen wir einen solchen Zustand der gesell- schaftlichen Dinge vorzugsweise: Republik ; haͤlt man es fuͤr passender, daß eine wirkliche Person diese Idee repraͤsentire und lebendig ausuͤbe, so zeigt sich die Monarchie : wiewohl keiner von diesen Zustaͤnden, ausschließend, hin- reicht, die Idee des Rechtes oder die allerna- tuͤrlichste Verfassung der menschlichen Dinge auf- recht zu erhalten. In der ersten Familie, welche auf dieser Erde existirt haben mag, muß wechselsweise bald der Mann, bald die Frau, oder eine dritte unbe- greifliche Stimme, die Stimme Gottes oder der Instinct des Gesetzes, regiert haben. Es hat also in diesem allerersten Regiment auf Erden wechselsweise monarchische Momente gege- ben, wo eine von den beiden Personen herrschte, und republicanische Momente, wo keine von beiden die Oberhand hatte, sondern ein, wenn auch noch so dunkles, Gefuͤhl des Rechtes, das die spaͤteren Jahrhunderte durch den Buchstaben auszubilden, zu verdeutlichen und festzuhalten glaubten. Wie sich auch die Formen spaͤterhin veraͤndert haben; in wie viel groͤßeren Dimen- sionen, in wie viel reicheren Gestalten die Idee des Rechtes erscheinen moͤge: ihr Wesen ist durch alle Zeitalter der Menschheit hindurch immer dasselbe geblieben. — Noch heutiges Tages spricht man in den un- eingeschraͤnktesten Monarchieen von einer Unter- worfenheit des Suveraͤns unter das Gesetz; man setzt einen Streit zwischen dem Gesetze und dem Repraͤsentanten des Gesetzes voraus. Das Gesetz, wie es da im Buchstaben ausgedruͤckt ist, kann wegen seiner Starrheit und Leblosig- keit nicht regieren; deshalb ist ein lebendiger Ausuͤber des Gesetzes, ein wirklicher, persoͤnli- cher Suveraͤn , noͤthig. Dieser nun soll, we- gen seiner Veraͤnderlichkeit und seiner menschli- chen Gebrechlichkeit, nicht anders regieren, als mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Gesetz. Also weder der Suveraͤn soll , noch das Gesetz kann allein regieren; demnach regiert wirklich ein Drit- tes, Hoͤheres, welches aus dem Conflict des Gesetzes mit dem Suveraͤn in jedem Augenblicke hervorgeht, und von dem Suveraͤn das Leben, von dem Gesetze aber die Eigenschaft der Dauer erhaͤlt; und dieses ist die Idee des Rechtes . Deshalb irrt man sich, wenn man voraus- setzt, zu irgend einer Zeit, die man nicht einmal historisch anzugeben im Stande ist, sey das Recht wirklich und leibhaftig, in eigener hoher Person, an den Tag gekommen; es sey eine absolute bin- dende und zwingende Gewalt erschienen, die vor- her nicht da gewesen sey. Von der Zeit an, heißt es, mache der Staat eine Zwangsanstalt aus, und diese zwingende Gewalt sey das eigent- liche Kennzeichen desselben. Aber der Buchstabe des Gesetzes allein kann , und der Suveraͤn allein soll nicht zwingen. Die Idee des Rech- tes allein darf zwingen; und in diesem Sinne war schon die erste Familie auf der Erde eine Zwangsanstalt. Daß man spaͤterhin den Oberherrn mit phy- sischer Gewalt zum Zwingen ausgeruͤstet hat; daß nachher spaͤtere Jahrhunderte dem auf diese Weise kuͤnstlich bewaffneten Machthaber den phi- lanthropischen Gedanken untergelegt haben, er sey das Recht selbst, und wo der Zwang gefunden werde, muͤsse auch das Recht seyn —: das ist schoͤn und gut; dessen ungeachtet aber haben die aufgeklaͤrtesten und menschenfreundlichsten, auch unumschraͤnktesten Suveraͤne in unsern Tagen oͤfters erklaͤrt, daß sie sich dem Gesetze unter- worfen fuͤhlen, daß also eine unsichtbare hoͤhere Gewalt allen ihren Zwang wieder bezwinge, und daß die praͤsumirte Vollkommenheit und recht- liche Abgeschlossenheit des Staates, welche die Theorie behauptet, nicht Statt finde. Diese ist in einem sonderbaren Widerspruche mit sich selbst: auf der Einen Seite setzt sie eine wirk- liche und absolute Zwangsgewalt voraus, als laͤngst und vollkommen rechtlich existirend; auf der andern laͤugnet sie, daß schon ein wirkliches Wesen gefunden sey, dem, wegen seiner Voll- kommenheit, diese Zwangsgewalt uͤbertragen wer- den koͤnne. Das erste thut sie in ihrem posi- tiven Rechte, das andre in ihrem Natur- recht ; und wenn man strenge untersuchen will, so wird man finden, daß sie in der einen von diesen Disciplinen eben das wieder aufhebt, was sie in der andern behauptet. Wir duͤrfen also getrost alles Naturrecht, außer, oder uͤber, oder vor dem positiven Rechte, laͤugnen; wir duͤrfen alles positive Recht fuͤr natuͤrliches anerkennen, da ja alle die unend- lichen Localitaͤten, welche das positive Recht her- beifuͤhren, aus der Natur herfließen; wir duͤr- fen kuͤnftig, da nun einmal alles positive Recht zugleich natuͤrliches Recht ist, das Bestreben, die wahre Natur im positiven Rechte zu behaupten, Naturrecht nennen. In diesem Sinne nennt einer von den groͤßten jetzt lebenden Rechtsleh- rern, der Hofrath Hugo in Goͤttingen, das Naturrecht: Philosophie des positiven Rechtes . Also der Staat ist so alt, wie das mensch- liche Geschlecht; er ist nothwendig, nicht eine kuͤnstliche Erfindung, alles umfassend; das geistige und sittliche Leben eben sowohl wie das koͤrper- liche und gesetzliche gehoͤrt in seinen Umkreis; weder in der Wirklichkeit noch in der Specula- tion bietet sich eine Stelle dar, die außerhalb des Staates laͤge; wir koͤnnen uns so wenig vom Staate, wie von uns selbst, losreißen. Nur die verworfenste, kern- und herzloseste Wissen- schaft, nur die nichtswuͤrdigste Speculation, kann thun, als staͤnde sie in gar keiner Beziehung auf den Staat; und die hervorstechendste, in der bishe- rigen Theorie zu leicht angeschlagene oder ganz uͤbersehene Eigenschaft des Staates ist seine Be- wegung, weshalb er sich nur ideenweise erken- nen laͤßt. Wir betreten jetzt ein neues Feld unserer Un- tersuchung, und betrachten den Staat, wie er sich den Sinnen darstellt. Wie verhaͤlt sich also die menschliche oder buͤrgerliche Gesellschaft — was, nach meinen Voraussetzungen, dasselbe sagen will — zu ih- rem Wohnsitze, der Erde? Der Planet, den wir bewohnen, hat alle Zeichen groͤßerer Dauerhaf- tigkeit; er ist aͤlter als das menschliche Ge- schlecht, und wird wahrscheinlich das menschliche Geschlecht auch uͤberleben. Mit diesem Planeten ist das menschliche Geschlecht in Kampf: es sucht ihm abzugewinnen, was es nur vermag; es sucht ihn zu zaͤhmen, und alle seine Erzeug- nisse, alle seine Kraͤfte in das Interesse der buͤr- gerlichen Gesellschaft hinein zu ziehen. In diesem Streit entwickelt sich die Kraft der Gesellschaft; sie verbreitet und concentrirt sich. Mit einem Briefe, einem Wechsel, einer Stange Silber reicht der Kaufmann in London seinem Correspondenten in Madras seine Hand uͤber die Oceane hin, und hilft ihm den großen Krieg mit der Erde fuͤhren, hilft ihm sie bethoͤ- ren, sie bezwingen, ihr Nahrung und neue Mit- tel zu einer stets innigern Allianz gegen den ge- meinschaftlichen Feind rauben. — Die Erde wehrt sich unaufhoͤrlich gegen diese Angriffe ihrer Kinder; sie wehrt sich mit doppel- ten Waffen: der Gewalt; der Schoͤnheit und des Reitzes. Außer dem Vortheile der groͤßeren Dauerhaftigkeit, hat sie vor dem menschlichen Geschlechte noch den Vortheil voraus, daß alle ihre Kraͤfte die groͤßte Einheit haben, waͤhrend ihr Feind, die Menschheit, ein tausendkoͤpfi- ges Wesen ist, und waͤhrend noch uͤberdies die unzaͤhligen Koͤpfe ihres Feindes nach wenigen Jahren verschwinden, und neue, ganz anders gestaltete, an ihre Stelle treten. Die alte, große Kriegerin hat bis heute schon gegen zweihun- dert verschiedene Generationen der Menschen in Schlachtordnung sich gegenuͤber gesehen, und jede Generation bestand aus vielen hundert Mil- lionen ganz verschieden gestalteter, und durch weite Raͤume von einander getrennter Koͤpfe. Was hat die Erde in diesem Kriege zu thun? Nichts, als die Verbindung der Generationen und der Koͤpfe zu verhindern. Wie viele Mittel standen der Erde zu Gebot, ihren Feind, der nur durch seine Vereinigung und innige Allianz feindselig gegen sie auftreten konnte, zu spalten, seine Kraͤfte zu theilen, und so zu entwaffnen! Jede neue Generation konnte sie durch neue Reitze verfuͤhren, daß sie die vor- angegangene Generation, ihren natuͤrlichen Alliir- ten, vergaß oder von ihm abtruͤnnig wurde. Wenn durch die Muͤhe vieler verbuͤndeten Gene- rationen eine große Kriegeskraft zusammenge- bracht war, wie in Rom, so brauchte sie nur Barbaren hinein zu locken, die den allzu maͤchtig gewordenen Feind zermalmen und alle seine Spu- ren zertreten mußten, so daß die Nachkommen, wenn sie in die Vergangenheit zuruͤcksahen, nichts fanden, womit sie sich alliiren konnten. Wenn es darauf ankam, die Zeitgenossen unter ein- ander zu spalten, so hatte sie tausend Mittel, den Verkehr derselben mit Gewalt zu hemmen, oder durch die groͤßere Freundlichkeit, welche sie gegen einige unter ihnen bewies, die andern zur Eifersucht und zum Raube zu reitzen. Dennoch hat die Erde nicht Herr werden koͤnnen uͤber das kleine, anscheinend so unendlich zersplitterte Ge- schlecht, noch seine Allianz verhindern! Sie hat oft solche Spuren vorangegangener Generationen, wie Herculanum und Pompeji, mit der Lava, der Asche ihrer Vulkane neidisch bedeckt, aber gerade dadurch die innigere Allianz, das bessere Verstaͤndniß zwischen den Roͤmern des ersten, und den Europaͤern des achtzehnten Jahrhun- derts, die jene Spuren wieder auffanden, veran- laßt. Dieselben Barbaren, welche sie herein rief, um das praͤchtige Alterthum zu zerstoͤren, haben im Laufe der Zeiten alle Denkmaͤhler von Rom und Griechenland wieder aus dem Staube her- vorgezogen, und sind in eine festere Verbindung mit ihnen getreten, als erfolgt seyn wuͤrde, wenn das große Erbtheil jener Zeiten ruhig und all- maͤhlich auf die unsrigen herabgekommen waͤre. Die Erzaͤhlung von diesem Kriege aller Krie- ge, diesem Kriege des menschlichen Geschlechtes mit der Erde, nennen wir Weltgeschichte , und die oft unterbrochene, doch immer sicherer zu Stande gebrachte Allianz der menschlichen Individuen unter einander gegen die Erde nen- nen wir Staat . Da das ganze Leben in die- sem unaufhoͤrlichen geheimen und oͤffentlichen Kriege mit der Erde und ihren Kraͤften besteht, so laͤßt sich kein Leben der Menschen ohne diese Allianz der Menschen unter einander denken, und auch von diesem ganz verschiedenen Stand- punkte aus ist es erwiesen, daß der Mensch ohne Staat nicht zu denken ist, und daß menschliche und buͤrgerliche Existenz Eins und dasselbe sind. — Sobald es Menschen giebt, sagen wir, sind sie nothwendig verbunden durch eine Idee des Rechtes, der Einheit, des Friedens. Indem wir diesen Gedanken in der Bewegung darstellten, begruͤndeten wir unsere Theorie des Rechtes ; wir bewiesen das Leben des Staates, als eines juristischen Wesens. Jetzt, indem wir leben- dig gezeigt haben, wie, sobald es Menschen giebt, dieselben einander bestaͤndig beduͤrfen gegen einen gemeinschaftlichen Feind, haben wir unsere Theorie der Staatswirthschaft begruͤn- det, und das Leben des Staates, als eines gro- ßen oͤkonomischen Gemeinwesens, deducirt. Man kann die Weltgeschichte Rechtsge- schichte nennen, wie Kant in seiner beruͤhmten und sehr populaͤren Abhandlung „Entwurf einer Universalhistorie in weltbuͤrgerlicher Absicht” ge- than hat; man kann sie aber auch Krieges- geschichte nennen, wenn man in die Idee des Krieges des Menschen mit der Erde eingehen will, wo denn die Kriegesgeschichte die Geschichte der Beduͤrfnisse, des Handels u. s. f. unter sich begreift. In der Kriegesgeschichte und in der Rechtsgeschichte wird im Grunde ganz das- selbe selbe erzaͤhlt werden muͤssen; denn beiden kaͤme es nur darauf an, zu zeigen, wie die natuͤrliche und nothwendige Allianz der Menschen unter ein- ander, dort , in der Kriegesgeschichte, gegen die gemeinschaftliche Feindin , die wir Erde nann- ten, hier , in der Rechts- oder Friedensgeschichte, fuͤr das allgemeine Palladium , nehmlich die Idee des Rechtes oder der Vereinigung selbst, im Laufe der Zeiten immer groͤßer und maͤchti- ger geworden ist. Durch die Idee des Rechtes wird der Mensch in den Stand gesetzt, einen immer wirksameren Krieg gegen die Erde zu fuͤhren; durch diesen Krieg, die Idee des Rech- tes, oder der allgemeinen Allianz, immer deut- licher zu erkennen, immer schoͤner auszuuͤben. — Die Theorie von jenem Kriege des Menschen mit der Erde ist der Gegenstand der beruͤhmten Untersuchungen uͤber den National-Reichthum von Adam Smith , wie die Geschichte der Ausbil- dung von jener Idee des Friedens und des Rech- tes der Inhalt des Esprit des loix von Mon- tesquieu . Die beiden Haupttheile der Staats- wissenschaft, die Finanzlehre und die Rechts- lehre, standen in schroffer Abgeschiedenheit ein- ander gegenuͤber, als diese beruͤhmten Werke er- schienen. Wiewohl nun beide große Schriftsteller ihr genialisches Geschaͤft in ganz verschiedenen Müllers Elemente. I. [6] Welten zu treiben scheinen; wiewohl zwischen der sonderbaren Disposition des Menschen zum Tausch und Handel, welche Adam Smith , und dem Begriffe des Gesetzes, welchen Mon- tesquieu an die Spitze seines Werkes setzt, keine unmittelbare Beziehung Statt zu finden scheint: so streifen doch beide Meister oft auf eine wunderbare Weise in einander, und gewin- nen in ihren erhabenen Irrthuͤmern eine nicht zu verkennende Aehnlichkeit. So wenig ich, wie der Erfolg zeigen wird, weder Montesquieu’s Begriff von der Thei- lung der Gewalten , noch Adam Smith’s Begriff von der Theilung der Arbeiten in Schutz nehmen kann; so wenig sich der Begriff der politischen Freiheit , fuͤr welchen Mon- tesquieu , oder der Begriff der oͤkonomischen Freiheit , fuͤr welchen Adam Smith sein Buch schrieb, noch jetzt in seinem ganzen Um- fange vertheidigen laͤßt: so sind dennoch die Re- sultate von dem reichen vielseitigen Leben beider Gelehrten ungefaͤhr dieselben; nehmlich, daß 1) die hoͤchste Einheit und Ordnung der buͤrgerli- chen Geschaͤfte nur durch die groͤßte Theilung derselben erreicht werden koͤnne; daß dem zu Folge Einheit und Theilung, oder Friede und Streit, weit entfernt einander gegenseitig zu stoͤ- ren, sich vielmehr unter einander befoͤrdern und bedingen; daß 2) die Freiheit jedes einzelnen Gliedes vom Staate, und jeder Kraft, sich an ihren Platz zu stellen und von dort aus zu wirken, eine unerlaͤßliche Bedingung alles politischen Lebens ausmache; endlich 3), daß das ganze politische Leben ein nothwendiges, unendliches, und auch die Ausbildung der Gesetze und die Vermehrung der Beduͤrfnisse unendlich sey. — Indeß, als Begriffe stoßen Oekonomie und Recht in diesen Werken einander unaufhoͤrlich noch ab. Ich versuche es, das Bindungsglied zwischen diesen beiden streitenden Welten, des Rechtes und des Nutzens, anzugeben, wie es die großen Bewegungen der Zeit mich lehrten; und so haben sich in der Idee des Staates Krieg und Friede, Beduͤrfniß und Gesetz, mit einan- der vereinigt. Die ewige Allianz der Menschen unter ein- ander, welche wir Gesellschaft oder Staat nennen, ist also eben so rechtmaͤßig als nuͤtzlich; sie hat demnach einen doppelten Zweck . Aber sie ist auch — und hier thue ich den bedeutendsten Schritt in meiner ganzen Untersuchung — von doppelter Art : 1) Eine Allianz der dieselbe Zeit genießenden Menschen auf der Erde. Alle Zeitgenossen sollen sich gegen ihren gemeinschaftlichen Feind, die Erde, verbinden, um ihrer Einen furchtbaren Eigenschaft, der Einheit ihrer Kraͤfte , zu begegnen. Diese Art der Allianz geben uns alle Staats-Theorieen zu; desto leichtsinniger uͤbersehen sie aber die andre , eben so bedeutende, Art der Allianz. Der Staat ist 2) eine Allianz der vorange- gangenen Generationen mit den nachfolgenden, und umgekehrt. Er ist eine Allianz nicht bloß der Zeitgenossen, sondern auch der Raumge- nossen ; und diese zweite Allianz wird der an- dern großen Eigenschaft unsrer Feindin, der Erde, ihrer Dauerhaftigkeit , entgegengestellt. Sie uͤberlebt uns alle; deshalb wird sie immer im Vortheil gegen uns seyn, wenn eine Generation sich von ihr verfuͤhren laͤßt, die andre Genera- tion zu verlaͤugnen. Der Staat ist nicht bloß die Verbindung vieler neben einander lebender , sondern auch vieler auf einander folgender Familien; sie soll nicht nur unendlich groß und innig im Raum seyn, sondern auch unsterblich in der Zeit. Die Lehre von der Verbindung auf einander folgender Generationen ist ein leeres Blatt in allen unsern Staats-Theorieen; und darin liegt ihr großes Gebrechen, darin liegt es, daß sie ihre Staaten, wie fuͤr einen Mo- ment, zu erbauen scheinen, und daß sie die er- habenen Gruͤnde der Dauer des Staates und seine vorzuͤglichsten Bindungsmittel — wohin vor allen andern der Geburtsadel gehoͤrt — nicht kennen und nicht wuͤrdigen. — Im Mittelalter war die ganze Staatslehre mehr Gefuͤhl als Wissenschaft; aber alles Ge- meinwesen bewegte sich um zwei sehr verschiedene Gefuͤhle: 1) um die Ehrfurcht vor dem Worte, das die Zeitgenossen einander gaben; 2) um die eben so tief gegruͤndete Ehrfurcht vor dem Worte, vor dem Gesetze, das die Vorfahren den Nach- kommen hinterlassen hatten. Diese Barbaren des Mittelalters fuͤhlten sehr wohl, daß die Ver- pflichtung des Buͤrgers eine doppelte und gleich- ehrwuͤrdige sey; waͤhrend wir unsre Social-Con- tracte bloß von den Zeitgenossen schließen lassen, die Social-Contracte zwischen den vorangegange- nen und nachfolgenden Geschlechtern hingegen nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zer- reißen. Endlich — und das ist nun in denen Tagen ge- schehen, die wir selbst erlebt haben — wurde eine Generation, die gegenwaͤrtige, vollstaͤndig und in allen Stuͤcken abtruͤnnig von allen vorange- gangenen Generationen und Raumgenossen, ver- suchte es ganz fuͤr sich allein und ohne Alliirte den Krieg gegen die Erde zu fuͤhren, wurde auf das schrecklichste dafuͤr bestraft, doch in der Strafe wieder belohnt mit der Einsicht in diese zweite und bisher ganz verhuͤllte Hemisphaͤre der Staatswissenschaft. Burke war der erste Staatsmann und Staatsgelehrte, der gleich nach dem Ausbruch der Franzoͤsischen Revolution die- ses geistige Indien entdeckte, hierdurch Leben, Ideen und Bewegung in die politischen Theo- rieen brachte, und in der Geschichte derselben das vereinigende, hoͤhere Mittelglied zwischen Adam Smith und Montesquieu wurde. — Das Recht und der Nutzen (oder die in der Unart der Zeiten vor Burke insonderheit so ge- nannte Politik) thaten, nach langer Spaltung, nun den ersten Schritt zur Versoͤhnung; denn die Dauer wurde wieder Bedingung alles Gluͤckes, in dem Maße, wie die von den Vaͤtern gaͤnz- lich abgefallene Generation von einem Tage zum andern Das sich umgestalten, verschwinden und wieder erscheinen sah, was, seiner Natur nach, fuͤr tausendjaͤhrige Dauer bestimmt war. Jetzt, nachdem alles schwankend geworden, und nichts mehr so groß, so dauerhaft ist, daß man auf den naͤchsten Tag dafuͤr gut sagen koͤnnte, muß ja wohl die Lehre von der politischen Dauer und von der Allianz der Generationen, die so lan- ge uͤbersehen worden, alle Gemuͤther anzieh’n. Jetzt muͤssen ja wohl auch andre Vorstellungen vom Nutzen und vom oͤkonomischen Werth in Umlauf kommen; jetzt muß man ja wohl begrei- fen lernen, daß der augenblickliche Nutzen und ein tausendjaͤhriges Recht einander nie wahrhaft widersprechen koͤnnen. Das Recht und die Oekonomie fuͤhren unter einander einen alten Streit auf der Erde; das Gesetz und der Nutzen scheinen schwer zu ver- soͤhnen —: das Gesetz, weil es, der gemeinen Ansicht nach, ein ewiges ; der Nutzen, weil er ein augenblickliches Ding ist. Sobald man aber einsieht, daß das einzelne Gesetz nicht zwin- gen kann, ausgenommen in dem Kreise bestimm- ter Faͤlle, fuͤr die es als Gesetz gilt; daß es be- stimmte Grenzen, also nicht ewige Dauer hat, welche nur die Idee des Rechtes haben kann: — sobald wird man auch einsehn, daß der Nutzen nicht etwas durchaus Augenblickliches ist; man wird dauernden Nutzen verlangen, und der dauernde Nutzen wird dem Gesetze nicht weiter widersprechen. Man blicke nur in die Geschichte; man folge irgend einer Nation durch den Lauf einiger Jahr- hunderte: so wird man ein juristisches Ganze und ein oͤkonomisches Ganze sehen; man wird, nach meiner obigen Bezeichnung, Rechtsgeschichte und Kriegesgeschichte zugleich studieren, und der große Zwiespalt zwischen dem Gesetz und dem oͤkonomischen Vortheile, den man auf den ersten Anblick wahrgenommen hat, wird allmaͤhlich ver- schwinden: das wahre Recht und der wahre Nutzen werden Hand in Hand geh’n. — Man denke sich den Ausbruch eines rechtmaͤ- ßigen Krieges: dem augenblicklichen Nutzen scheint die Maßregel zu widersprechen; da aber die Sicherheit aller andern nuͤtzlichen Bestrebungen erstickt, und Sicherheit der Nutzen par ex- cellence ist: so kann der rechtmaͤßige Krieg, den das Gesetz befiehlt, nicht weiter der Oekonomie widersprechen; es ist oͤkonomisch, vieles Einzelne hinzugeben, um das Ganze zu retten. — Ferner. Uralte Gesetze einer Nation haben unermeßliches Eigenthum in die Haͤnde einzelner Staatsbuͤrger gebracht. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß diese unverhaͤltnißmaͤßig gro- ßen Schollen, unter mehrere Eigenthuͤmer ver- theilt, besser bewirthschaftet seyn, und das reine, reale Einkommen der Nation jaͤhrlich um vieles vermehren wuͤrden. Die Oekonomie scheint hier dem Gesetze zu widersprechen; und der gemeine Staatsmann wird, von dem scheinbaren Wider- spruch und von dem scheinbar evidenten Vor- theile getaͤuscht, vielleicht die Majorats-Gesetze aufheben wollen, unter deren Schirm sich jene großen Massen des Grundeigenthums aufgehaͤuft haben. Wenn man aber aus dem bloßen Stand- punkte des Nutzens, doch weitsichtiger und um- sichtiger, so raͤsonnirte: „Was ist aller einzelne Vortheil ohne Credit, ohne Treue und Glauben! Daß mein Vortheil behauptet werden und dauern koͤnne, ist die Seele aller einzelnen Vortheile, der Vortheil aller Vortheile; daß meine Enkel noch frei genießen koͤnnen, was ich erwerbe, wird mir nur durch die Treue garantirt, mit der ich Das respectire, was die Enkel unter meinen Zeitgenossen als Erben ihrer Ahnherren genießen.” — Oder, wenn ich, eben so oͤkonomisch, auf folgende Art raͤsonnirte: „Was ich an reinem Einkommen gewinne, indem jene großen Schol- len in mehrere kleine, besser bewirthschaftete zer- theilt werden, verliere ich in außerordentlichen Faͤllen, wo ich ungewoͤhnlicher Fonds bedarf. Der große Eigenthuͤmer kann bei einem aus- brechenden Kriege groͤßere Aufopferungen machen, als alle die kleineren, unter die seine Scholle vertheilt werden wuͤrde, zusammengenommen; und er wird es thun, da er mehr an das In- teresse des Staates gebunden ist, als alle jene kleinen.” So naͤhert sich die Oekonomie, je er- leuchteter, je weitsichtiger sie wird, immer mehr dem Rechte. — Wir wollen aber den Fall setzen, es sey nicht um die Aufhebung der Majorate, sondern um die Aufhebung und Auseinandersetzung der Ge- meinheiten zu thun. Die augenscheinliche Ver- mehrung des reinen Einkommens einer Nation spricht fuͤr die Aufhebung; ein altes Gesetz spricht dagegen, doch ein Gesetz von viel geringerem Umfange, als jenes, welches gegen die Aufhe- bung der Majorate spricht. Gewohnheit, Starr- sinn der Bauern stellen sich auf die Seite des Gesetzes; doch der unmittelbare Vortheil kann hier den Sieg uͤber ein beschraͤnktes und ohn- maͤchtiges Gesetz davon tragen. Aber wie wird der Vortheil gegen das ein- zelne, ihm widerstreitende Gesetz abgewogen? Sowohl in dem Calcul uͤber das Gesetz, als in dem andern uͤber den Nutzen, muß der Lauf der Zeit, ja der Jahrhunderte, mit in Anschlag ge- bracht werden; wie sich das Gesetz und der oͤko- nomische Vortheil im Laufe der Jahre verhal- ten: das ist ihre große Probe in der Seele des Staatsmanns. Vor ihm ist weder das einzelne Gesetz etwas bloß Ideales und Ewiges, noch der einzelne Vortheil etwas bloß Reales und Augenblickliches. Der Staatsmann betrachtet 1) das Gesetz nie einzeln in seiner abstracten Strenge, sondern er stellt es der Lage der Dinge gegenuͤber, in der es entstanden, er sieht es an, wie es aus der Geschichte hervorgegangen ist; er behandelt das einzelne Gesetz wie eine Seele, deren Koͤr- per in einem Capitel aus der National-Geschichte besteht; und so stellt er selbst weder das bloße Gesetz, noch die bloße historische Erfahrung, oder die personificirte Geschichte dar, sondern er ist ein lebendiges Drittes: die Idee des Na- tional-Rechtes . Eben so betrachtet der Staatsmann 2) den Nutzen, den oͤkonomischen Gewinn, nie einzeln in seiner concreten Gestalt: er stellt die bestimmte oͤkonomische Maßregel einem Gesetze gegenuͤber, das sich daraus entwickeln muß; er giebt dem duͤrren Koͤrper eine Seele, indem er sich die Maßregel des Nutzens durch lange folgende Jahre fortlaufend denkt. So personificirt er den Nutzen, wie er im ersteren Falle das Gesetz personificirte; er belebt beide: den Nutzen, indem er ihm eine Seele; das Gesetz, indem er demselben einen Koͤrper giebt. Der Nutzen, fuͤr den die Zu- kunft, das Gesetz, fuͤr das die Vergangenheit spricht, sind beide persoͤnlich, lebendig: sie sind Pairs; und er, der Staatsmann, der Suveraͤn, die hoͤhere Person, kann sie beide vermitteln, oder zwischen ihnen entscheiden. So repraͤsen- tirt der Staatsmann weder den bloßen augen- blicklichen Nutzen, noch die bloße prophetische Vorsorge, sondern die Idee des National- Vortheils, des National-Reichthums . Auf diese Weise wird der Begriff des Na- tional-Reichthums, wie in unsrer neulichen Un- terhaltung der Begriff des National-Rechtes, zerstoͤrt, an beider Stelle die Idee gesetzt, und so Bewegung in die Wissenschaft des Staates gebracht. Nun sind das Recht und der Nutzen, das Gesetz und der Besitz gleichartige Wesen, und es kann keinen verzweifelten Streit zwischen ihnen geben; denn es waltet ein gemeinschaftli- cher Geist des Lebens in ihnen beiden. Alle strei- tende Ideen erzeugen hoͤhere Ideen in der Seele des Staatsmannes; und vor diesen immer hoͤ- heren Ideen ordnet, beruhigt und fuͤgt sich die Welt. So steht der Staatsmann in der Mitte sei- ner Nation und seiner Zeit, uͤber alle einzelne Gesetze erhaben, und aller einzelne Vortheil der Nation ist ihm unterworfen. Das National- Gesetzbuch ist ihm nichts anderes als ein Aus- zug, ein esprit der National-Geschichte; die unzaͤhligen oͤkonomischen Beduͤrfnisse, welche sich klagend und bittend an ihn wenden, sind eben so viele Forderungen der Zukunft. Diese und die eben so lauten und ernsten Forderungen der Vergangenheit, welche aus den Gesetzen spre- chen, hat er unter einander zu vertragen und zu vermitteln: er soll die Vergangenheit und die Zukunft in einander weben. Dies kann er nur dadurch, daß er beide lebendig und persoͤnlich, d. h. ideenweise, vor sich hin stellt; er kann es nur, in so fern er, in Burke’s Manier, die Jahrhunderte fragt, die Gesetze der Dauer in seinen Calcul zieht, vor allem andern die Allianz der Raumgenossen sowohl als der Zeitgenossen im Auge behaͤlt, und also Zeit und Ewigkeit in seinem Busen traͤgt. Vierte Vorlesung . Wie der Krieg ein Lehrer politischer Ideen werde, wie er das National-Recht und die National-Oekonomie belebe. W enn wir den wahren Staatsmann fragen, der seine Bestimmung erkennt und die Befoͤrde- rung jener Verbindung sowohl zwischen den Zeit- als den Raum-Genossen im Auge hat, dem die Gegenwart und der zeitige, rechtlichste und reichste Zustand seines Volkes nichts ist, ohne die Garantie desselben fuͤr die Zukunft; — wenn wir ihn fragen, wo er die Gewaͤhrleistung hernehme, daß sein Wirken und Schaffen dauern werde; — so wird er antworten: Die Vergan- genheit, die Erfahrung des Vergangenen allein, kann diese Gewaͤhrleistung geben. Je treuer und inniger ich mich an Das anschließe, dessen Dauer- haftigkeit erpruͤft ist, um so wahrscheinlicher kann ich hoffen, daß ich selbst dauern werde. — Eine symmetrische Verfassung des Staates, eine geometrisch-strenge Eintheilung von Grund und Boden, ein genauer Anschlag des jaͤhrlichen rei- nen Einkommens und der Beduͤrfnisse, ein syste- matisches Gesetzbuch, gleiche Vertheilung der La- sten, einfoͤrmige Muͤnze, Maß und Gewicht: alles das bringt ein sogenannter guter Kopf mit leidlicher Speculation und fleißiger Abwaͤ- gung von Gruͤnden und Gegengruͤnden — auf dem Papiere bald zu Stande. Staͤnde der Staat ruhig da, wie ein Haus; blieben die Werkstuͤcke seines Baues, wie wir sie gefuͤgt haben; stroͤmten nicht jeden Augenblick neugestaltete Bewohner ein, und die alten hinaus: so moͤchte unsre kluge Eintheilung der Zimmer, und unsre ganze anordnende Weisheit etwas werth seyn. Jetzt aber wandelt und regt sich und wechselt in jedem Augenblicke der Stoff un- srer Kunst; er spottet unsrer Systeme und aller Geometrie. — Was ist also natuͤrlicher, als daß wir auch diesen Wechsel und Wandel der mensch- lichen Dinge eben so wohl studieren muͤssen, wie ihre ruhende Erscheinung! — Vielleicht faͤnde sich in der vereinigten Be- wegung der Menschheit oder einer Nation, wenn wir dieselbe durch Jahrhunderte verfolgten, eine Art von Gesetz der Bewegung; vielleicht faͤnde sich, daß, wie jeder Vers seinen eigenthuͤmlichen Rhythmus, jedes Musik-Stuͤck seinen eigenthuͤm- lichen Takt, so auch jede Nation ihre eigen- thuͤmliche Bewegung habe, welche vor allen Dingen der Staatsmann, als Capellmeister, doch auch jeder einzelne Buͤrger seines Theils empfinden, und in welche er, der Natur seines Instrumentes gemaͤß, eingreifen muͤsse. — Vielleicht verbaͤnde ein einziger Grundtakt alle Generationen eines Volkes, vielleicht ein noch hoͤherer, mehr umfas- sender, alle Generationen der Menschheit unter einander. Ich habe nur ahnden lassen wollen, wie viel von den wesentlichsten Eigenthuͤmlich- keiten des Staates die bisherige Theorie uͤber- sehen hat, weil ihr das Wesen der Ideen, und, dem zu Folge, das Wesen der geistigen, wie der koͤrperlichen Bewegung, der Nationen fremd geworden ist. Der Staatsmann ist bestaͤndig schon von der Natur so gestellt, daß er ideenweise agiren muß. Wollte er sich ausschließend an den Begriff und Inbegriff der Gesetze seiner Nation halten; wollte er sich nie uͤber die Schwelle der bereits vorhandenen Legislation hinaus wagen: so wuͤrde er bald mit seinem Volk und seiner Zeit zerfallen, und die Bewegung der Zeiten, die er nicht in seinen Calcul aufgenommen oder zu ignoriren gewagt haͤtte, muͤßte ihn zermalmen. — Eben so so verderblich wuͤrde die Vergangenheit auf ihn zuruͤckwirken und sich an ihm raͤchen, wenn er, einem oͤkonomischen Begriffe zu gefallen, sein Auge ausschließend auf die Zukunft und ihre Beduͤrf- nisse zu richten wagte. — Aber das Gesetz, oder die Vergangenheit, und die Oekonomie, oder die Zukunft, nehmen ihn beide wechselsweise unauf- hoͤrlich in Anspruch, so daß er sich keinem von beiden ausschließend hingeben kann, und von selbst schon auf eine dritte hoͤhere Stelle getragen wird, von wo aus er zwischen den beiden ewig streitenden Partheien unaufhoͤrlich vermitteln und ideenweise agiren muß. Wollte er bloß in einem kritischen Falle die Geschichte seines Landes nach- sehen, und fragen: wie hat der und der bei einer aͤhnlichen Gelegenheit gehandelt? und nun dieses Handeln nachmachen: so wuͤrde er mit einem solchen, von ganz anders gestalteten Zei- ten und Personen entlehnten, Begriff unmoͤglich eingreifen koͤnnen in die Begebenheiten seiner Zeit. Berathschlagte er hingegen mit der Geschichte, bloß, um sich in den freien, muthigen und natio- nellen Tact des Handelns zu versetzen, ohne ir- gend etwas Bestimmtes als Copier-Muster fuͤr sein Handeln aus dem Zusammenhange der Ge- schichte herauszureißen; verlangte er von der Geschichte weiter nichts, als daß sie ihn bestaͤrke Müllers Elemente. I. [7] in seiner Idee des National-Lebens, damit er, auf diese Art geruͤstet, allen unendlichen Forde- rungen des Augenblickes und der Zukunft entge- gen treten koͤnne: — nun, so wuͤrde die Gegen- wart von ihm so gestaltet werden, daß dabei weder die Rechte der Vergangenheit, noch der Zu- kunft verletzt wuͤrden. — Denken Sie sich den Suveraͤn eines Landes bei einer Cabinets-Berathschlagung zwischen dem Justiz- und dem Finanz-Minister: jenem als Ad- vocaten der Gesetze und der Vergangenheit; diesem als Wortredner des dringenden Augenblickes und der fordernden Zukunft! Unsere Deutschen Ver- fassungen haben, in ganz abgesonderten Depar- tements, Einerseits das Interesse der Gesetze, und andrerseits das oͤkonomische Interesse sich consolidiren lassen, so daß, von hundert mechani- schen Haͤnden gehaͤmmert und geschmiedet, end- lich der juristische Begriff sowohl als der oͤkono- mische starr und abgesondert dem Suveraͤn vor- gelegt wird. Nun koͤnnte sich vielleicht auch der erleuchtetste, bestgesinnte Fuͤrst aus dem furcht- baren Dilemma oft nicht herauswinden, wenn nicht in den meisten Faͤllen die Sache von der Nothwendigkeit, von dem bloßen Drange der Umstaͤnde, entschieden wuͤrde. Wie ganz anders staͤnde es, wenn der Justiz- Minister seinem Suveraͤn die Forderungen des Gesetzes oder der Vergangenheit ganz unter dem erhabenen oͤkonomischen Gesichtspunkte, von dem in unsrer vorigen Unterhaltung die Rede war, der Finanz-Minister hingegen den oͤkonomischen Vortheil oder das Beduͤrfniß des Augenblickes ganz unter einem eben so erhabenen legislativen Gesichtspunkte darzustellen wuͤßte; wenn folglich nicht zwei auf Tod und Leben entzweite Begriffe, sondern zwei lebendige Ideen , von denen jede auf ihre Weise das Ganze repraͤsentirte, in das Cabinet des Suveraͤns gelangten, und dieser nun aus zwei streitenden Ideen die dritte hoͤhere zu bilden haͤtte! Jetzt aber wenden sich alle Forderungen der Gegenwart an eine große Zunftgenossenschaft, an die Finanz-Behoͤrde; alle Protestationen dage- gen, ex capite der und der Gesetze, oder der und der Contracte, an die juristische Zunftgenos- senschaft; in zwei ganz verschiedenen Manufactu- ren, bei verschlossenen Thuͤren, und mit der Fe- der in der Hand, werden jene Forderungen und diese Protestationen begriffsweise ausgearbeitet und so endlich dem Suveraͤn vorgelegt. Der Finanz- Minister, der die Gewalt des Augenblickes am besten fuͤhlt, muß das sproͤde Gesetz, welches sich widersetzen will, verachten; der Justiz-Minister begreift die Nothwendigkeit des Krieges und der Forderung von Seiten der Alliirten nicht. Je- der von beiden repraͤsentirt seine Behoͤrde, Kei- ner das Vaterland. Begriffe sind, wie alles Leb- lose, nicht zu vermitteln, nicht zu versoͤhnen; die ganze Berathschlagung konnte unterbleiben: wer den Augenblick auf seiner Seite hat, behaͤlt Recht; und das ist der Finanz-Minister. Das Jahrhundert der Industrie, in welchem wir leben, trieb jene traurige Spaltung der Be- hoͤrden so weit, daß man der alten guten Ein- richtung — wonach jeder Staatsbeamte seine Schule mit einem gruͤndlichen juristischen Stu- dium anfangen mußte, und dem zu Folge man der Vergangenheit und den Gesetzen zwar keinen Vorzug, aber den Rang, die Art von Adel ein- raͤumte, welche ihnen gebuͤhrt — untreu wurde; daß sich auf den Universitaͤten, zum großen Schaden des Gemeinwesens, eigene Cameral- Facultaͤten zu bilden anfingen, an die der junge Staatsmann sich unmittelbar wenden konnte, und wo denn das Studium von der Vermehrung des reinen Einkommens auf eigne Hand getrieben wurde. Was fuͤr Fruͤchte dieses lockre Mode-Stu- dium getragen hat, und wie das reine Einkommen in Deutschland vermehrt worden ist, weiß Gott. Das sind die philanthropischen Ideen, die der Charakter des Jahrhunderts seyn sollen! Kanaͤle graben und Heerstraßen bauen fuͤr den Verkehr mit den kleinen Nichtswuͤrdigkeiten des Lebens, aber den großen Kanal der Gesetze, auf den die Weisheit der Vaͤter durch die Jahrhunderte her- abstroͤmt, einfallen lassen, wohl gar verdaͤmmen! Ein einziger Wasserbaumeister wiegt auf der Schale dieser Philanthropen so schwer, wie hun- dert Rechtsgelehrte. In England, dem Lande, das ungefaͤhr so aussieht, wie Deutschland aussehen wuͤrde, wenn es gegen den Einfluß der Nachbarn andre Gren- zen gehabt haͤtte, als den Rhein und die Alpen; dem Lande, das die alte Germanische Gesetzge- bung ausgebildet hat, wie Spanien die alte Ger- manische Sitte und Poesie — in England exi- stirt die Departements-Eintheilung, in unserm Sinne des Wortes, nicht. Wie viel man auch uͤber den Manufacturen- Chararter vieler Brittischen Einrichtungen sagen mag — regiert wenigstens wird nicht in die- ser Manier; die Gesetze werden nicht manufactu- rirt. Die verschiedenen Zweige der Administra- tion sind in England getheilt, wie es, der Ord- nung halber, uͤberall geschehen muß; aber es giebt dort kein administratives Corps, das nicht in gewissem Sinne wieder das ganze Vaterland repraͤsentirte. Eine der verbreitetsten Notionen uͤber England ist die , daß der Finanz-Minister jenes Landes immer nothwendig Premier-Minister seyn muͤsse; und, wenn man die kolossale Staats- wirthschaft von Großbrittanien betrachtet, die sich unter den furchtbarsten Krisen so glaͤnzend erhalten hat, so sollte man glauben, Gesetze, Verfassung, Nationalgeist, alles Einzelne diene am Ende doch nur dieser Behoͤrde, und die Brit- tische Constitution sey nichts anders als ein sehr weises, gruͤndliches Reglement des großen Comp- toirs fuͤr den Welthandel. — Will man indeß einmal wieder die ganze Be- trachtung dieses Landes aus einem juristischen Standpunkte vornehmen, so scheinen die Gesetze eben so sehr der Mittelpunkt zu seyn, um den sich alles bewegt; nur von dem Augenblick und seiner erschreckenden Gewalt abgesehen, so erschei- nen der Großkanzler, die zwoͤlf Richter der Rei- ches, und der Sprecher des Unterhauses eben so wichtig, wie der Finanz-Minister. Wie oft ist England seine buchstaͤbliche Treue gegen das Ge- setz vorgeworfen worden! Bei jeder großen Maßregel ist die erste Frage im Parliament nach dem precedent, nach dem was man in Deut- schen Staaten, mit etwas verhaͤrtender Ueber- setzung, den Vorgang nennt, nach einem aͤhn- lichen Capitel in jeder National-Geschichte, durch dessen Herbeiziehung man sich zuvoͤrderst in die alte National-Gemuͤthsstimmung, in den alten National-Tact zu versetzen strebt, worauf nun die Debatte beginnen und der neue Vorfall in seiner ganzen Eigenthuͤmlichkeit an’s Licht tre- ten kann. Endlich ist die ganze politische Erziehung der Britten durchaus alterthuͤmlich und juristisch: wenig Beisatz von modernem Staatswitz, Con- stitutions-Bauerei und économie politique und allem dem Tand, womit man auf dem Continente spielt , dessen erhabene Wesentlichkeit hinge- gen in England ausgeuͤbt und von großen Auto- ren beschrieben wird. Alle großen Financiers in England waren erzogene, ich moͤchte sagen, ge- borne Juristen Freilich ist das Studium des Rechtes in England von der Deutschen Vorschule der Jurisprudenz sehr verschie- den. Das Recht, welches man auf den Brittischen Universitaͤten theoretisch, vorzuͤglich aber in den Ge- richtshoͤfen praktisch lernt, ist etwas durchaus Natio- nales. Das Studium der Institutionen von Sir Edward Coke und der Commentarien von Blackstone steht der ganzen Oekonomie des Britti- chen National-Lebens viel naͤher, als die Justinianische . Ich habe neulich angedeutet, daß in dem Ab- schnitte der oͤkonomischen Wissenschaften, der von dem Credit handelt, und den unsre national-oͤko- nomischen Mode-Juͤnger, aus einem richtigen Instinkt ihrer eigenen Flachheit, nur leicht und fluͤchtig beruͤhren, der Schlußstein des Oekonomie- Staates zu finden ist, und daß sich an dieser Stelle das Recht und der Reichthum auf das innigste beruͤhren. Wir sind gewohnt, uns den Credit unmittelbar bei dem Gelde, bei dem Be- sitze, bei Waaren, und von diesen Dingen, ihrem Erscheinen und Verschwinden, abhaͤngig, zu den- ken, als eine Art von eingebildetem Wesen, wel- ches an den Sachen klebt, und im Grunde auf dem traͤgen Glauben beruhet, „wo viele Guͤter seyen, da koͤnne auch wohl noch mehr seyn; wer lange gezahlt habe, von dem sey nicht einzusehn, warum er heute, gerade heute, aufhoͤren solle zu zahlen.” Wenn der Reichthum einer Nation Eins wird mit ihr; wenn er in ihre Verfassung verwaͤchst, Gesetzgebung dem unsrigen. Indeß ist dies alles, auch die Scheu der Britten vor aller Anwendung des Roͤmi- schen Rechtes, eine Folge der guten Gewohnheit, alle National-Angelegenheiten juristisch zu begreifen. und Jeder alle Andere, das Ganze jeden Ein- zelnen, und jeder Einzelne das Ganze verbuͤrgt; wenn die neue Generation erfuͤllt, was die alte versprochen hat; kurz, wenn der Reichthum et- was Persoͤnliches, und, was mehr sagen will, wenn er etwas Nationales, ich moͤchte es noch wei- ter treiben, wenn er etwas Innerlich-Morali- sches wird, so daß man ernsthaft und ohne alle Frivolitaͤt von einem Menschen ruͤhmen kann, er sey worth ten thousand pounds, (was in Deutschland, wo dieser solide Begriff des Reich- thums nicht existirt, unter vieler moralischer Pruͤ- derie so verstanden worden ist, als meinte der Englaͤnder, der Mann sey, wenn man die zehn- tausend Pfund von ihm wegnehme oder abziehe, nun wirklich nichts mehr werth) —: dann wird auch zwischen dem Gesetz und dem oͤkonomischen Vortheil keine weitere verzweifelte Spaltung mehr Statt finden; und deshalb habe ich das treffende Beispiel von England gewaͤhlt, weil ich zeigen wollte, wie die Idee des Rechtes, und die Idee des Nutzens, wofern sie nur beide ideen- weise auftreten, leicht in der Wirklichkeit Eins werden, oder, mit andern Worten, sich leicht der hoͤheren Idee, die sich im Suveraͤn darstellt, zur Versoͤhnung und Vermittelung hingeben. Ich darf an dieser passenden Stelle wohl auf den immer uͤbersehenen Vorzug der vielgeruͤhmten Brittischen Constitution aufmerksam machen. Die Gesetze und der Reichthum, oder Justiz und Fi- nanzen, ferner die damit verwandten Streitmas- sen in dem Innern jedes Europaͤischen Staates, Adel und Buͤrgerschaft, Land-Interesse und Geld- Interesse, Freiheit des Volkes und Suveraͤnetaͤt des Thrones, stehen in England nicht, wie in den meisten uͤbrigen Verfassungen von Europa, einander als Begriffe entgegen, von denen zwar jeder sich auf unverjaͤhrbare Rechte stuͤtzt, die aber, eben weil sie todte Begriffe sind, in keine lebendige Beziehung, in keine persoͤnliche Ver- bindung treten koͤnnen, sondern sie sind, als Ideen, in ewigem, lebendigem Verkehr begriffen: der esprit publique und die taktmaͤßige, gelassene Bewegung des Ganzen erhalten jede einzelne von ihnen in bestaͤndiger Frische; und so ist jeder Brittische Buͤrger, wie sehr er auch einem ein- zelnen Theile des oͤffentlichen Geschaͤftes oder des National-Interesse angehoͤren moͤge, auf- gefordert und in den Stand gesetzt, ihr Leben zu empfinden, und zwischen den verschiedenen Ideen, die ohne Ende durch Preßfreiheit, Par- liament, Gerichtshoͤfe und Volksversammlungen zum Worte kommen, die hoͤhere Idee des Na- tional-Rechtes und des National-Vortheils, und zwischen diesen die noch hoͤhere Idee des gemein- schaftlichen Vaterlandes, selbstthaͤtig zu erzeugen. Angenommen, es gaͤbe auf der ganzen Erde nur einen einzigen Staat, so wuͤrde dieser ge- wiß in sich vertrocknen und zu Stein werden. Denn so wie in dem Bezirk eines bestimmten Staates, die Grenzlinien zwischen den einzelnen Administrations-Zweigen oder Departements moͤ- gen auch noch so bestimmt und scharf gezogen wer- den, dennoch bloß deshalb, weil es mehrere Depar- tements sind, ein unaufhoͤrliches Anziehen und Abstoßen zwischen diesen, also ein lebendiger Ver- kehr, eine Bewegung Statt finden muß: so wird es — ein einzelner Europaͤischer Staat moͤge auch noch so sehr in sich erstarren — bloß dadurch, daß es mehrere Staaten giebt, unmoͤg- lich, daß der todte Begriff des Rechtes oder des Nutzens je die Rolle in der Wirklichkeit spielen koͤnnte, welche die Theorie ihm zuschreibt. — Jeder Staat wird von Nebenstaaten unaufhoͤr- lich beruͤhrt, gereitzt und erschuͤttert; kein steifer Rechtsbegriff, kein trockner Nutzens-Calcul, kann ihn gegen die Bewegungen der Nachbarstaaten vertheidigen, die viel weniger aus dem Eigensinn oder der Anmaßung der Cabinette (wie man es sich gewoͤhnlich denkt), als aus der ewigen Natur der Dinge hervor gehen. Die Natur fordert un- aufhoͤrlich jeden einzelnen Staat dazu auf, sich in der Idee zu erkennen, d. h. sich als lebendi- ges, bewegtes Wesen geltend zu machen, sich bestaͤndig mit anderen Staaten zu vergleichen und zu messen; — und so wie ich oben gezeigt habe, daß der Mensch das Wesen des Menschen nicht absolut begreifen kann, weil die Natur eigent- lich keine absolute Menschen, sondern uur Maͤn- ner und Weiber, erschaffen hat, und daß sich der Mensch daher nur mit bestaͤndig wechselnden Bli en, in zwei ganz verschieden organisirten Menschen, also lebendig und ideenweise, auffas- sen laͤßt: eben so ist auch das Wesen des Staa- tes nicht absolut zu begreifen, sondern gleichfalls nur mit Wechselblicken auf sehr verschieden ge- staltete, constituirte und organisirte Staaten, le- bendig, im Fluge, d. h. ideenweise, zu erkennen. Auf diese Weise hat es die Natur unmoͤglich gemacht, den erhabensten Gedanken des Men- schen, den Staat, je als Begriff zu fixiren, und je irgend eine Unwesentlichkeit, oder irgend eine Localitaͤt, als etwas Nothwendiges in den Ge- danken des Staates aufzunehmen, oder denselben fuͤr immer zu hemmen oder zu verunstalten. — Auf diese Weise ist die unendliche Bewegung und Entwickelung der buͤrgerlichen Gesellschaft moͤglich gemacht, und auch der wahre immerwaͤhrende Zusammenhang der Gesellschaft unter einander, den ja keine Gewalt in der Welt, außer dem todten Begriffe nur, unterbrechen kann. Wenn wir in der Weltgeschichte mitunter die Dinge eine Wendung nehmen sehen, als soll- ten die verschiedenen Individualitaͤten der Voͤl- ker nun verwischt und die Theilung der Welt in mehrere Staaten nun aufgehoben werden; als sollten die Begriffe eines einzigen Kopfes das ganze bunte Weltreich der Ideen nun ausloͤschen, und an die Stelle des vielgestalteten und deshalb um so einfacheren Lebens, ein einfoͤrmiger, kuͤnst- licher und todter Mechanismus treten —: so duͤrfen wir diese Stellen in der Weltgeschichte nur genauer pruͤfen, und die Vergaͤnglichkeit eines solchen Beginnens, und die Zwecke der Natur dabei, werden uns bald einleuchten. Als das alte Reich der Ideen in Griechenland, die leben- digen Staaten, die lebendigen Wissenschaften und Kuͤnste, untergegangen waren, und in Rom, in Alexandrien, in Sicilien und den Griechischen Colonieen bloß die Begriffe der Tugend, der Freiheit, der Schoͤnheit noch uͤbrig geblieben; als an die Stelle des freien Lebens starre Mas- sen getreten waren, uͤber die kein uͤppiges Spiel der Geister, sondern nur die Gewalt der Ele- mente waltete: da mußte nothwendig die groͤßere Masse uͤber die kleinere, der Begriff der militaͤ- rischen Gewalt uͤber alle anderen Begriffe Herr werden, und der ewigen Stadt die Unterdruͤk- kung der Welt gelingen. Aber die erste Idee, die sich wieder regte, war auch nicht mehr Rom unterthan, trat aus dem Umkreise der Universal-Herrschaft der Roͤ- mer heraus, und gruͤndete eine neue, viel schoͤnere Welt. Der Schein der Universal-Herrschaft kommt mitunter in die Welt, um den Voͤlkern ihre Abgestorbenheit sichtbar zu machen, um jeder einzelnen Nation ihr hoͤchstes Gut, das sie vor allem todten Besitze vergessen hat, nehmlich die Idee ihrer Eigenthuͤmlichkeit, wie einen Kranz des Sieges, den sie erst erobern muß, vorzu- halten. — Diese Eigenthuͤmlichkeit der Gesetze, der Ver- fassung und der Sitten gering zu schaͤtzen, war auch der Charakter der Kosmopoliten in unsern Tagen, die, weil die Figur der einzelnen Euro- paͤischen Staaten gewissen geometrischen Begrif- fen, die Gesetzessammlungen derselben gewissen Systemen, und die ganze Haushaltung der Staa- ten gewissen arithmetischen Exempeln und ge- wissen Vorstellungen einer aͤußeren Symmetrie nicht angemessen waren, nun nichts Hoͤheres er- schwingen konnten, als den armseligen Begriff: Ein Herr, Ein Gesetz, Ein Kalender, Ein Muͤnze- Maß und Gewicht uͤber dem ganzen Erdboden. Daß die Natur ihre Ordnung (die freilich mehr ist, als das Facit eines Rechen- Exempels, mehr als das x einer algebraischen Formel) gerade aus der unendlichen Verschie- denartigkeit der Menschen, ihrer Wohnsitze, ihrer Beduͤrfnisse, ihrer Klimate, ihrer Regierungs- weisen bilde, und daß demnach die Einheit des Ganzen oder des Kosmos , nicht besser befoͤr- dert werde, als wenn Jeder in seiner eigenthuͤm- lichen Gestalt sich bewaͤhrt, sich regt und ver- theidigt, und daß alle die unendlichen Unbequem- lichkeiten, welche daraus entstehen, immer fort wieder neue Bewegung veranlassen, d. h. zum Segen des Ganzen ausschlagen muͤssen; — kurz, daß die Idee des Patriotismus, und die Idee des Kosmopolitismus einander nicht nur nicht widerstreiten, sondern vielmehr einander beleben, waͤhrend der Begriff des Patriotismus zu ge- schlossenen Handelsstaaten, und der Begriff des Kosmopolitismus zu Universal-Staaten, d. h. zu den beiden großen Hauptformen alles politischen Unsinns, fuͤhrt —: diese ewigen Wahrheiten muͤs- sen heut zu. Tage verkuͤndigt werden. Die lebendigen Schranken der Staaten unter einander umwerfen, und die nach Maßgabe vermeintlicher natuͤrlicher Grenzen abgesteckten Schranken der Staaten in großen unuͤbersteig- lichen Mauern ausbauen, kurz, Fichte und — die Kosmopoliten unseres Jahrhunderts sind die beiden Extreme, mit denen unsre Staatswissen- schaft ewig nichts zu schaffen haben kann. Leben- dige Grenzen hat jeder Staat, unzaͤhlige freie Beruͤhrungspunkte des Lebens; und daraus ent- stehen die Verhaͤltnisse, welche wir, im Gegensatze seines eignen inneren Lebens, auswaͤrtige Verhaͤltnisse nennen. Die Natur will die Idee des Staates, und keinen Begriff desselben: deshalb hat sie mehrere Staaten erschaffen; jeder von ihnen an und fuͤr sich schon zu groß fuͤr den Zwang und die Zucht- ruthe des Begriffs, und die absolute Vereini- gung aller unmoͤglich. Die Thorheit aller Be- griffe vom ewigen Frieden, denen man einen Thron uͤber allen diesen Staaten hat erbauen, die man durch einen Universal-Monarchen oder permanenten Voͤlker-Congreß hat repraͤsentiren lassen wollen, braucht nicht erst bewiesen zu wer- den; ihre Unausfuͤhrbarkeit leuchtet ein, und — hoffe ich, nach allen meinen Praͤmissen — auch das Ungluͤck der Welt, und der Stillstand der buͤrgerlichen Gesellschaft, welche der Ausfuͤhrung auf dem Fuße folgen wuͤrden. Kriege sind, aus dem dem Standpunkte der einzelnen Menschen, Unbe- quemlichkeiten, welche das Neben-einander-Woh- nen einzelner Voͤlker mit sich fuͤhrt, wie in der bestgeordneten buͤrgerlichen Gesellschaft Prozesse und Streit Unbequemlichkeiten sind, welche sich von dem Neben-einander-Wohnen der einzelnen Menschen nicht trennen lassen. — Aus dem Standpunkte der Staaten sind Kriege die Bewegungen insonderheit, unter de- nen das politische Leben sich selbst erkennen und fuͤhlen lernt, unter denen der Staat sich seiner abgesonderten Natur bewußt wird, das Ganze seine Kraͤfte vornehmlich erpruͤft, weil es sich selbst einem andern solchen Ganzen gegenuͤber sieht. Unter allen Bindungsmitteln der Staats- vereinigung ist der wahre Krieg das wirksamste und dauerhafteste, weil gemeinschaftliche Noth und Thraͤnen besser und fester binden als das Gluͤck, weil alles Einzelne, was sich im Frieden verbergen und verheimlichen kann, nun nothwen- dig oͤffentlich hervortreten und dem Ganzen her- gegeben werden muß. Ich rede von wahren Krie- gen: die Beispiele liegen in der Geschichte. — In dem Kriege der National-Kraft gegen die Na- tional-Kraft, nicht des National-Uebermuthes gegen die National-Ohnmacht, wird das Wesent- lichste und Schoͤnste der National-Existenz, d. Müllers Elemente. I. [8] h. die Idee der Nation, allen Interessenten ihres Schicksals vornehmlich klar; sie wird ergreiflich, persoͤnlich, tritt Allen, selbst den Geringsten, nahe, und der Friede, welcher einem solchen Kriege folgt, heißt Friede par excellence , weil er ein lebendiger, allgemein empfundener, im Gegensatze jenes todten Friedens ist, worin alle großen Kraͤfte sich vereinzeln und erstarren. Zum Wesen eines wahren Krieges gehoͤrt es, daß zwischen den kriegfuͤhrenden Staaten et- was gemeinschaftlich sey. Sollen wir uͤber einzelne Dinge mit einander streiten oder Frieden schlie- ßen koͤnnen, so muͤssen wir uͤber irgend etwas schon einig seyn. Im Mittelalter war ein sol- ches allen Europaͤischen Maͤchten gemeinschaftli- ches Gut die christliche Religion, und die damit ganz nahe verwandte Rittersitte; spaͤter, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, war es die Idee des Rechtes, wie sie sich in den gro- ßen ernsthaften Friedensschluͤssen jener Zeit aus- druͤckt. Darauf ist nun ein Zeitalter der Be- griffe gefolgt, und von allen sichtbaren und anerkannten Gemeinschaftlichkeiten zwischen den Europaͤischen Voͤlkern nichts weiter uͤbrig geblie- ben, als das verdaͤchtige und leicht zu verdrehende Gemeingut der lumières du siècle, gewisse all- gemeine, nebelhafte Vorstellungen von einer Cul- tur, die Jeder gesehen haben will, und Niemand aufzeigen kann. Dem zu Folge ist vielleicht in diesem Augen- blick eine solche, den Europaͤischen Maͤchten gemeinschaftliche, Basis des Rechtes und des Glaubens, welche die Bedingung rechtlicher Kriege ist, nicht zu finden. Dennoch rede ich von keiner Antiquitaͤt: die Idee des Staates oder des Rechtes, wie ich sie beschrieben habe, ist dieses ewige Gemeingut; die Verbindung im Recht, nach der die Menschheit strebt und ohne Ende strebt, muͤssen alle einzelnen Voͤlker wollen, in so fern sie nur ihre eigne Existenz wollen: diese ist es, in der, und fuͤr die alle wahren Kriege gefuͤhrt werden; noch jetzt werden die unechten Kriege mit Scheingruͤnden motivirt, die wenig- stens von dem Begriffe jener Verbindung aller Staaten im Recht, oder in der Idee des Staa- tes hergenommen sind. Jeder wirkliche einzelne Staat druͤckt die al- len Staaten gemeinschaftliche Idee des Rechtes in seiner eigenthuͤmlichen Sprache, in eigen- thuͤmlichen Formen, Gesetzen und Sitten aus; also liegt in jedem einzelnen Staate nothwendig das doppelte Streben, 1) diesen seinen eigen- thuͤmlichen Ausdruck der Rechts-Idee gegen al- len Angriff und alle Corruption zu vertheidigen, d. h. nicht bloß den Flaͤchenraum, den er einmal be- sitzt, zu vertheidigen, sondern den gesammten dar- auf errichteten nationalen Koͤrper jener Rechts- Idee unberuͤhrt und unverdorben zu erhalten ; 2) diesen eigenthuͤmlichen Ausdruck der Rechts- Idee allen andern Staaten kenntlich, fuͤhlbar und wichtig zu machen, kurz, sich selbst nicht bloß zu vergroͤßern , sondern, im vollen Sinne des Wortes, nach allen Seiten seines erhabenen We- sens hin auszubreiten . Aus diesem gegenseiti- gen Regen und Dehnen der Europaͤischen Staa- ten, aus diesem Agiren und Reagiren, aus diesem Sich-gegenseitig-Beschraͤnken und Treiben, ent- steht das hoͤchste, schoͤnste und regelmaͤßigste Wachs- thum aller Einzelnen, wie Kant den Fortschritt der Cultur aus dem Nebeneinanderstehen und gegenseitigen Draͤngen der einzelnen menschlichen Individuen erklaͤrte, die, gleich dicht gepflanzten Baͤumen eines Waldes, einander zu einem gera- den und stolzen Wuchse in die Hoͤhe treiben, waͤhrend der einzelne Baum in nachtheiliger Frei- heit verkruͤppelt und naͤher am Boden bleibt. Jenes gemeinschaftliche, gleichmaͤßige Wachsen und Gedeihen der neben einander lebenden Staa- ten ist im Zeitalter der Begriffe mit dem Worte Gleichgewicht bezeichnet worden, welches Wort zu unzaͤhligen Mißverstaͤndnissen Anlaß gegeben hat, eben weil die wichtigste Eigenheit dieses Zustandes der Dinge, nehmlich die gemein- schaftliche Bewegung, nicht darin ausgedruͤckt ist. In dem Abschnitte vom Voͤlkerrechte werden wir diesen erhabenen Umgang der Staaten unter einander noch naͤher erwaͤgen. Jetzt kommt es uns vielmehr darauf an, die Sache aus dem Gesichts- punkte des einzelnen Staates zu betrachten. Alle Geschaͤfte des einzelnen Staates, die wir vorher aus dem doppelten Gesichtspunkte des Rechtes und des Reichthums betrachteten, muͤs- sen nun, da wir ein neues und nothwendiges Verhaͤltniß des Staates kennen gelernt haben, wieder unter einen neuen doppelten Gesichts- punkt fallen. Alle Staatsgeschaͤfte koͤn- nen 1) mit Ruͤcksicht auf den inneren Zustand des Staates, aber auch wieder 2) mit Ruͤcksicht auf die Nachbarstaaten, oder auf die aͤußere Be- deutung des Staates, erwogen werden. Daß man, der Ordnung halber, in unsern Staaten die Geschaͤfte, je nachdem sie unmit- telbarer auf das Innere, oder auf das aͤußere Verhaͤltniß gerichtet sind, unter zwei verschiedene Departements — der auswaͤrtigen und der in- neren Angelegenheiten — vertheilt hat: dawi- der ist nichts einzuwenden. Aber daß man bei- derlei, der von mir beschriebenen Natur der Sache nach innig verbundene, Geschaͤfte absolut von einander getrennt, und, wie fuͤr die Reich- thums- und Rechts-Verhaͤltnisse im Inneren des Staates, so auch hier wieder, zwei ganz abge- sonderte Begriffs-Manufacturen angelegt hat: dieser Mißbrauch ist zum großen Verderben vie- ler Staaten ausgeschlagen. Daß der Staat ein auf Tod und Leben verbundenes Ganze sey, erkennt er, oder erkennen seine Theilnehmer, im Friedenszustande sehr schwer: da nehmlich ist jeder Theilnehmer viel mehr gegen seinen Mittheil- nehmer, als gegen den benachbarten Staat, auf- merksam oder feindlich gestellt; das ohne Ende zum Streite aufgelegte Gemuͤth des Menschen wendet sich, sobald die gemeinschaftliche Gefahr voruͤber ist, unmittelbar gegen seinen bisherigen Mitstreiter. In einem langen Frieden muß sich also, eben weil das Auge der Buͤrger fast aus- schließend auf das Innere gewendet ist, das Zar- teste und Innigste des gesellschaftlichen Verban- des aufloͤsen, und nachher nur allmaͤhlich in einem laͤngeren Kriege, durch die Nothwendigkeit ein gesellschaftliches Ganzes dem Feinde gegenuͤber zu stellen, wieder geschuͤrzt werden. — Was sollen die Regenten und Verwalter der großen Staatsverbindung im Frieden thun, um die gesellschaftliche Einheit, welche im Kriege sichtbar herausgetreten, nun lebendig zu erhalten? Ist ein todter Rechts- oder Zwangsbegriff, dem man meisten Theils das Regiment im Frie- den uͤbergiebt, hinreichend, die Verbindung fort- zusetzen und zu verewigen, deren Werth im Kriege jeder Einzelne sinnlich und geistig empfun- den? Wie will eine politische Manufactur den großen, freien, stolzen Nationalgeist aufrecht er- halten, oder auch nur ersetzen, der sich in einem wahren Kriege entzuͤndet? — Haͤtte man den Unterschied der lebendigen Rechts-Idee von dem todten Rechts-Begriff, wie ich ihn angegeben, erkannt, so wuͤrde man sich jener falschen Abgoͤt- terei mit dem absoluten Frieden nicht zum Un- gluͤcke der Welt hingegeben haben. Aber das traurige Vorurtheil, das Recht sey wirklich, handgreiflich und leibhaftig in unsern Staaten schon vorhanden; in jedem Staate gebe es eine Art von National-Magazin, worin das Recht schon aufgestapelt liege, und jeder einzelne Buͤr- ger brauche nur hin zu gehen und sich die ihm ge- buͤhrende und erforderliche Portion zu erhandeln —: das hat uns in’s Verderben gebracht. Haͤtte man sich das Recht als ewig lebendige Idee gedacht, die durch den Begriff nie absolut und fuͤr immer ausgedruͤckt werden kann, die immer wachsen, und bestaͤndig mit neuaufgluͤhen- der freier Selbstthaͤtigkeit wieder erobert werden muß, so wuͤrde nicht in so viele, selbst muthige, Seelen jene Scheu vor dem Kriege, als etwas absolut Unnatuͤrlichem und Unrechtmaͤßigem, als einer mit Hunger und Pest in gleicher Linie ste- henden National-Calamitaͤt, gekommen seyn. Man wuͤrde empfunden haben 1), daß, je deut- licher, lebendiger, persoͤnlicher, der einzelne Buͤr- ger den Staat als ein Ganzes vor sich sehe, um so mehr das Recht im Gange sey und trium- phire; 2) daß nichts so sehr, als ein wahrer Krieg, jeden Einzelnen mit der Existenz und der Natur der ganzen Staats-Verbindung erfuͤllen und durchdringen koͤnne; daß demnach 3) die ungeheure Bewegung, welche wir „Krieg“ nennen, dem Gedeihen und der schoͤnsten Bluͤthe des wahren Rechtes eben so zutraͤglich sey, wie alle jene kuͤnstlichen Friedens-Institute, die wir, weil sie stillstehen und angestellt werden, Rechts- anstalten nennen. Man glaubte, der Krieg sey hors de la loi; das ganze Verhaͤltniß zu benachbarten Staaten sey ein nothwendiges Uebel; der Staat muͤsse vornehmlich nach politischer Selbstzufriedenheit und Selbstgenuͤgsamkeit trachten; auch der aus- waͤrtige Handel sey zwar nicht zu verwerfen, wenn er viel Geld und rohe Producte herein bringe, und viel manufacturirte Waaren ausfuͤhre: indeß ziehe er mancherlei Unbequemlichkeiten und Collisionen nach sich; daher sey es besser, wenn man sich mit Dem begnuͤge, was der eigne Bo- den erzeuge und die eigne Kuͤche zubereite. Einem falschen Friedensbegriffe zu gefallen, wurde also auch zwischen den Departements der auswaͤrtigen und inneren Geschaͤfte eine absolute Scheidewand gezogen, der Diplomatie die Tuͤcke und Hinterlist, dem Kriege das ganze Heer der nothwendigen Teufeleien und Mordkuͤnste mit Widerwillen eingeraͤumt; waͤhrend es die erste Politik der Regierungen haͤtte seyn sollen, jenen stolzen Geist des Krieges festzuhalten und ihn in den sogenannten Friedenszustand hinein zu bannen, alle einzelnen Friedensanstalten, alle Zweige der Administration durchdringen zu lassen, schwaͤn- gern zu lassen von einem allgegenwaͤrtigen Krieges- gedanken, und jeden einzelnen Buͤrger so zu stellen, daß ihm die allen Nachbarstaaten Ehr- furcht gebietende Gestalt seines Vaterlandes, oder des Ganzen, theurer und werther geblieben waͤre, als seine eigne Wuͤrde und Bedeutung, daß er alle Eitelkeit eines todten, stillstehenden, faulen Friedenslebens gern hingegeben haͤtte fuͤr die Por- tion Stolz, die auch ihm von dem dauernden National-Ruhme zu Theil werden mußte. Sage ich hiermit, es sey die Politik der Re- gierungen gewesen, ohne Ende wirklichen Krieg zu fuͤhren? Nein, wahrlich nicht! Aber die ganze Nation fuͤr den Krieg, wie fuͤr den Frieden, d. h., meinen Voraussetzungen nach, fuͤr die Be- wegung und fuͤr die Ruhe, fuͤr den Ruhm des Ganzen und fuͤr das Gluͤck jedes Einzelnen zu- gleich zu erziehen; den Frieden durch und durch mit Krieg und Bewegung zu befruchten, damit der wirkliche Krieg, wenn er nun ausbreche, mit einem ewigen Friedensgedanken befruchtet seyn koͤnne; damit in Krieg und Frieden die Idee des Rechtes, als worauf allein es dem Staate ankommen duͤrfe, in immer gleicher Entwicke- lung begriffen sey. Auswaͤrtiges Departement und Departement des Innern muͤssen, der Ord- nung halber, getrennt werden; aber in der Seele des Suveraͤns, aller Beamten und aller Buͤr- ger muß jedes Geschaͤft zugleich auf das innere Gluͤck und auf den National-Ruhm des Gan- zen gerichtet seyn. Eine große, schoͤne Monarchie, voll der herrlichsten, auch jetzt noch keinesweges zerstoͤr- ten Anlagen, wird sich erheben, vielleicht eben so rasch, wie sie gesunken ist, wenn sie bei ihrer Reorganisation auf das Wiedererobern des alten Selbstgefuͤhls, das sie einst in großen, hartnaͤcki- gen Kaͤmpfen erworben hatte, ihr Hauptaugen- merk richtet: mit dem Selbstgefuͤhle kommt die von mir beschriebene Herrschaft der Ideen, wor- auf allein es abgesehen ist. An die Stelle alter Rechtsbegriffe neue, an die Stelle alter Institute und Anstalten neue, wie man zu sagen pflegt, „dem Geiste der Zeiten angepaßte,“ auslaͤndische Administrations-Anstalten zu setzen und davon Heil zu erwarten, koͤnnen ihr nur ihre Feinde ra- then. Die innere Organisation dieser Monarchie, was auch die Stuben-Politiker und die Constitu- tions-Fabrikanten sagen moͤgen, war sehr gut; nur das Vertrauen in die todte Anstalt, in das todte Gesetz, in die todte Form muß uͤberall ver- schwinden und das alte Leben, wo es schlaff ge- worden, nun kraͤftig und ideenweise gelebt wer- den. Die einzelnen Ressourcen, die man, wenn ein Staat von einer Calamitaͤt geheilt werden soll, immer so hoch anschlaͤgt, bedeuten we- nig: daß jeder einzelne Buͤrger, jeder Beamte, jedes Departement nicht bloß seinen einzelnen Geschaͤftszweig, sondern auch das Ganze ideen- weise repraͤsentire; daß alles Einzelne mit Ruͤck- sicht auf das Ausland und auf den National- Ruhm gethan werde: das ist die große, ewige, unversiegliche Ressource aller Staaten. Die Abgoͤtterei mit dem Rechtsbegriffe fuͤhrt zunaͤchst zu dem Wahn, sich herausschneiden zu koͤnnen aus dem Zusammenhange mit den uͤbri- gen Staaten, die, wie ich gezeigt habe, bei der Bildung der ewigen Rechts-Idee concurriren muͤssen. In eben dem Maße wie sich der Staat isolirt und neutralisirt, isolirt und neutralisirt sich auch jeder Buͤrger des Staates, und der Rechtsbegriff wird nun gleich-unfaͤhig, das Wohl und den Frieden, sowohl des Ganzen, als jedes einzelnen Buͤrgers, zu befoͤrdern. Fuͤnfte Vorlesung . Wie sich in der natuͤrlichen, allen Voͤlkern gemeinschaftlichen, Verfassung der Familie die Natur des Staates ausdruͤcke. D er Staat ist oft mit einer Familie verglichen und als ein Aggregat mehrerer Familien darge- stellt worden. Wenn sich die Vergleichung nur um das innere Wesen der Familie drehet, so muß unter demselben klar werden, daß der Staat nichts andres als die erweiterte Familie, und daß die erste gruͤndliche Probe aller Verfassun- gen und Gesetze die Untersuchung ist: ob und in wie fern dieselbe mit dem Familien-Verhaͤltnisse harmonire, und ob die beiden Verhaͤltnisse, aus deren inniger Vereinigung jede Familie besteht, Alter und Jugend Einerseits, und maͤnnli- ches und weibliches Geschlecht andrerseits, die ganze Gesetzgebung gleichmaͤßig durchdringen. — Die Vergleichung paßt nie, wenn man ein- zelne Seiten des Familienlebens herausnimmt und sie, mit allen Unwesentlichkeiten oder Locali- taͤten, die ihnen ankleben moͤgen, nun verglei- chend auf den Staat uͤbertraͤgt. So hat man oft den Hauswirth mit dem Staatswirth, die haͤusliche Oekonomie mit der National-Oekono- mie verglichen, oder den Hausherrn mit dem Suveraͤn, die haͤusliche Justiz mit der Natio- nal-Justiz; doch, ohne weiter zu fragen, was denn nun die ewig nothwendige Verfassung des haͤuslichen Lebens sey, hat man die gegenwaͤrtige aͤußere Physiognomie der Familie mit der gegen- waͤrtigen aͤußeren Physiognomie der Staaten ver- glichen. Da sich nun aber der Staat, wie er in unsern Theorieen erscheint, um das weibliche Geschlecht und dessen maͤchtigen Einfluß unver- haͤltnißmaͤßig wenig, um das maͤnnliche Geschlecht hingegen unverhaͤltnißmaͤßig viel bekuͤmmert; da ferner die Theorie des Staates die Rechte der Gegenwaͤrtigen und ihr Interesse viel mehr in Schutz nimmt, als die Rechte der vorangegange- nen Alten, in der Familie hingegen der Einfluß der Alten und des weiblichen Geschlechtes, wenn auch verschiedenartig, doch eben so maͤchtig er- scheint, wie die Gewalt des Mannes: so ist un- ter den beiden verglichenen Gegenstaͤnden, dem Staat und der Familie, in der gegenwaͤrtigen Wirklichkeit eine solche Incongruenz, daß alle Vergleiche, zumal die noch von Aeußerlichkeiten und Einzelnheiten hergenommen werden, gaͤnz- lich verungluͤcken muͤssen. — Die Theorie der Familie oder des ersten, zur Erhaltung, Verbindung und Fortdauer des menschlichen Geschlechtes nothwendigsten, Ver- haͤltnisses muß am Eingang aller Staatslehre stehen. Alle die schlaffen Nebenbegriffe, die wir in Zeiten entarteter Sitten mit dem Worte „Familie“ verbinden, muͤssen an die Seite ge- schafft und das Verhaͤltniß mit Strenge so er- wogen werden, wie die Natur es rein und noth- wendig angeordnet hat. Wie nothwendig diese Speculation zur Eroͤr- terung aller Staats-Ideen und zur ruhigen na- tuͤrlichen Betrachtung der einfachsten, praktischen Theile der Politik ist, wird der Verfolg und — das verspreche ich dreist — der gluͤckliche Erfolg meiner Darstellung zeigen. Wir leben nun ein- mal in einem Zeitalter, wo man durch allge- meine Verwirrung der Sprache und der Ansich- ten der Dinge, sich zu der Natur und der Wahrheit nicht anders hindurch arbeiten kann, als auf dem Wege einer strengen, aber geschmei- digen, nicht abstracten, aber lebendigen Specu- lation. Sir James Stewart , in seinen staats- wirthschaftlichen Untersuchungen, die man in neueren Zeiten gegen das Werk von Adam Smith viel zu sehr herabgesetzt hat, und die von großer Welterfahrenheit, Gelehrsamkeit und Reinheit der Gesinnungen Zeugniß geben, sagt: „in jedem Lande sind zu gleicher Zeit zwei Menschenalter auf der Schaubuͤhne — eine Classe von Men- schen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, deren Meinungen sich bilden; eine andre um die Funfziger Jahre her, deren Meinungen und Ge- wohnheiten bereits befestigt sind.“ Mit andern Worten: die buͤrgerliche Gesellschaft besteht aus zwei in ihren gesammten Ansichten sehr verschie- denen Classen von Menschen, deren Eine, die juͤngere, mehr auf den Erwerb nicht bloß von Meinungen sondern auch von Besitzthuͤmern, die andre, aͤltere, mehr auf die Erhaltung des be- reits Erworbenen gestellt ist. — Die Jugend eines Landes liebt aus sehr na- tuͤrlichen Gruͤnden das Ungemessene; sie liebt unbeschraͤnkte Laufbahnen fuͤr den Ehrgeitz und fuͤr das Streben nach Reichthum; die Schran- ken des Gesetzes und der Gewohnheit sind ihr laͤstig, und so ist sie geneigt, dieselben zu durch- brechen; das Alter hingegen muß diese Schran- ken mehr und mehr verehren, je mehr es an physischen Kraͤften abnimmt, fuͤr seine Nach- kom- menschaft zu sorgen hat, und derselben seinen Erwerb zu erhalten strebt. Dergestalt hat in- nerhalb des Staates sowohl das Streben nach Erweiterung, als das andre, nach Erhaltung und Feststellung, seinen Wortfuͤhrer. So natuͤrlich wie diese beiden verschiedenen Bestrebungen in der menschlichen Natur sind, so nothwendig wird zu allen Zeiten die alte Zeit, und das im- Alten-Verharren von den Alten, die neue Zeit und der Wechsel aber von den jungen Leuten im Staate in Schutz genommen werden. Auf diese Art bewirkt die Natur, daß der Staat weder still steht (was geschehen wuͤrde, wenn die Alten allein Recht behielten), noch stuͤrzt , (was sich wohl zutraͤgt, wenn, wie wir es erlebt haben, die Jungen und jugendliche Weltansichten ein- mal unbedingte Oberhand erhalten), sondern mit gemessenen, ruhigen, sichern Schritten geht . Den ungestuͤmen Forderungen und Bestre- bungen der Jugend dient das Alter zu einer Art von Hemmkette, eben so wie der Traͤgheit des Alters die Jugend zum Sporn dient. — Da nun jeder einzelne Mensch im Raume sei- nes Lebens zuerst zu der jungen Parthei gehoͤrt, nachher aber allmaͤhlich der andern Parthei ent- gegenreift, und nun im Alter eine ganz andre Seite des Lebens, ein ganz andres Interesse, Müllers Elemente. I. [9] ganz entgegengesetzte Neigungen und Wuͤnsche kennen lernt: so kann ein eigentlicher Kampf auf Tod und Leben zwischen beiden Partheien nie Statt finden. In jedem Augenblicke treten ganze Reihen, bloß durch den Drang eines nie nach- lassenden Naturgesetzes, von der Parthei der Jugend zu der Parthei des Alters uͤber; unauf- hoͤrlich werden neue Menschen geboren, und er- setzen den Abgang der Jugendparthei, so, daß der Streit beider Principien zwar die ganze buͤrgerliche Gesellschaft bis in ihre geheimsten Theile durchdringt, aber sich nie in einzelnen Individuen auf die Dauer fixiren kann. Ein junger Staatsmann oder Feldherr, der sich ausschließend fuͤr die Jugendparthei erklaͤrt, und jene Schranken, welche die Vorzeit errichtet hat und welche die Parthei der Alten in Schutz nimmt, durchbricht oder umwirft; der die Ge- walt des Augenblickes, dieses Erbtheil der Jugend, nun allein in sein Interesse zieht; der so agirt, als gaͤbe es nur diese Eine Seite der Welt —: dem steht ein gefahrvoller, schrecklicher Augen- blick bevor, wo er die unvermeidliche Schwelle in das andre Alter, in die andre Seite der Welt, betritt. Die Zeit, das Naturgesetz wandeln unver- ruͤckten Schrittes fort, und noͤthigen jeden ein- zelnen Menschen, die ganze buͤrgerliche Gesell- schaft — ihre Jugend-Hemisphaͤre sowohl, als die des Alters — zu umschiffen. Er betritt also jene Schwelle des Alters; andre Wuͤnsche, an- dre Neigungen kommen unvermeidlich; alle In- stitute der Vorzeit, die er in seiner Jugend schmaͤhte oder umwarf, alle Gesetze, alle Schran- ken gewinnen eine uͤberschwengliche Macht und Hoheit fuͤr die verwilderte Seele, die sich nun in eine ganz andre Natur und ganz andre Bedin- gungen des Daseyns finden soll. Je mehr er selbst auf die Hoͤhe des Lebens hinaufsteigt, um so deutlicher erheben sich rings umher die Gebirge der Vorzeit. Die nothwendigen Beduͤrfnisse sei- nes zweiten Alters hat er selbst zerstoͤrt; er selbst hat dem Gesetze der Natur die Kraft gegeben, ihn zu zermalmen. Aller Ruhm, jede einzelne That aus jener Zeit, wo er den Welt schoͤpfer spielte, wird nothwendig einzeln wieder ausge- loͤscht, nun, da er die Rolle eines Welt erhal- ters uͤbernimmt und die aufgehaͤufte Kraft der Jahrhunderte, welche zur Erhaltung noͤthig ist, entbehren muß, weil er sie selbst zersplittert hat. Die fruͤheren Genossen des Jugend-Propheten sehen ihn ganz neue Wege betreten, empfinden die Inconsequenz; er selbst fuͤhlt sie in seinem Innern, will die Miene der Jugend beibehalten, mischt aus beiden Altern Feindseliges, nie zu Vereinigendes, unter einander, und geht in den Zauberkuͤnsten, zu denen er seine Zuflucht neh- men muß, nothwendig unter. Die Formen des neuen Alters, das er betreten hat, ahmt er nach: aber der Geist desselben laͤßt sich nicht bannen; Gebet und Schminke vertragen sich ewig nicht: Qui n’a pas l’esprit de son age, De son age a tout le malheur. Auch hier wieder ist ganz deutlich zu erken- nen, wie der Staatsmann uͤberall und auf jedem Schritte seiner Laufbahn zwischen zwei streitenden Ideen zu vermitteln und eine hoͤhere Idee zu erzeugen hat. Einzeln kann er weder die Macht der Jugend, noch die ruhige Weisheit und Umsichtigkeit des Alters gebrauchen. Das Princip der Anciennetaͤt, wonach dem Einen Alter des Menschen, dem spaͤteren, schwaͤcheren, ein unbedingter Vorrang bei Besetzung der Staats- aͤmter eingeraͤumt wurde, hat, wie wir Alle fuͤhlen, die Katastrophe von 1789 und ihre schauerlichen Folgen herbei fuͤhren helfen. Das Alter hatte fast in allen Staaten einen zu ent- schiedenen Vorzug vor der Jugend; der Jugend fehlte es an Repraͤsentanten in den Regierun- gen von Europa. So muß das Jahr 1808 in der Weltgeschichte Epoche machen, wo die Wieder- einfuͤhrung des Geburtsadels in Frankreich zeigt, daß die gewaltige Reaction der Jugend gegen das Alter, welche die Geschichte der letzten zwan- zig Jahre erfuͤllt, bald ihre Endschaft erreicht haben wird, und daß alle jene Institute, welche die Weisheit der Vaͤter zur Unterstuͤtzung des Alters anordnete, wieder aufleben, in dem Ver- haͤltnisse, als die vor Kurzem rebellisch gewor- dene Jugend sich selbst dem Alter naͤhert und dessen Beduͤrfnisse zu fuͤhlen anfaͤngt. Sonder- barer Weise hatte die Natur in derselben Zeit, die sich jetzt ihrer Endschaft naͤhert, fast lauter Juͤnglinge auf die bedeutendsten Throne von Europa gestellt, damit die große Lehre der Zeit von den Regierungen nicht bloß begriffen, son- dern wirklich erlebt wuͤrde, und damit der ein- seitige Triumph beider Principien von denselben Gemuͤthern in seinem Umfange aufgefaßt und zu kuͤnftigem gehoͤrigen Gleichgewichte der An- ciennetaͤt und des Talents, der Freiheit und der Subordination, oder der Jugend und des Alters, ausschlagen koͤnnte. England mit seinem bejahr- ten Monarchen scheint dieser Lehre auch weniger zu beduͤrfen, da in seiner unvergleichlichen Ver- fassung Jugend und Alter auf das richtigste ba- lancirt sind, und beide in der Regierung, im Parliament, im Civil- und Militaͤr-Dienst be- reits laͤngst so gestellt sind, daß sie, wo es noͤ- thig ist, zu Worte kommen koͤnnen. Wenn man die Geschichte aller Regierungsfor- men der Welt durchgeht, so wird man allenthalben diese beiden Principien in Streit sehen; alle Ge- setzgeber haben ihr erstes Augenmerk darauf gerich- tet, sie zu vereinigen, oder eine hoͤchste Gewalt zu bilden, die weder der Jugend noch dem Alter ausschließend angehoͤre, die vielmehr recht maͤnn- lich an der Schwelle beider Alter stehe, oder die Beduͤrfnisse beider in Einem und demselben Wil- len vereinige. Alle Gesetzgebung hat danach gestrebt, da einmal die Anspruͤche beider Alter unaufhoͤrlich gehoͤrt werden sollen, nun auch beide so persoͤn- lich, als moͤglich, in wirklichen National-For- men vor sich aufstellen zu lassen. So sind die Senate, die Patriciate, und endlich der Euro- paͤische Adel entstanden, und dem Volke oder der Buͤrgerschaft gegenuͤber gestellt worden. Die Anspruͤche des Alters haben 1) das Recht der Jahrhunderte, d. h. den ersten Rechtsgrund von allen (oder die Dauer, da die Zeit der beste Pruͤsstein alles Rechtes ist) fuͤr sich; 2) sind die Anspruͤche des Alters unsichtbarer, weniger in die Augen springend, als die Anspruͤche der Jugend. Deshalb muß eine gute Gesetzgebung 1) sie besonders versichtbaren und aus der Masse hervortreten lassen; 2) muß sie dem Alter vor- nehmlich, weil es die Bedingungen der Dauer kennt und erlebt hat, weil es selbst gedauert hat, die Repraͤsentation der Dauer und alle In- stitution, welche sich auf die Dauer bezieht, uͤber- tragen. Da nun die Gesetzgebung vornehmlich Er- haltung und Dauer des Gegenwaͤrtigen in Haͤn- den hat, so ist sie in den meisten zusammenge- setzten Verfassungen vielmehr den Senaten, die Ausuͤbung hingegen vielmehr einzelnen Gliedern des Volkes uͤbertragen worden. Da ferner in den Haͤnden der Jugend bereits hinlaͤngliche Mit- tel zur Auszeichnung und zum Glanze vorhan- den sind, und Naturkraft und Schoͤnheit ihr be- reits einen hinlaͤnglichen Vorrang einraͤumen, so hat das Gesetz sein Gewicht vornehmlich in die Schale des Alters geworfen: die Kunst hat dem Alter den Glanz wieder ersetzt und wieder erstat- tet, den ihm die Natur entzogen. — Die antiken Verfassungen haften indeß noch an dem Begriffe der beiden Alter, indem sie wirk- lich alte Leute in einen Regierungskoͤrper zusam- menwerfen, und demnach die beiden Principe wirklich und leibhaftig einander gegenuͤber stellen; so daß nun die Idee „Recht des Alters ,“ worauf es eigentlich ankommt, sehr leicht ver- wechselt werden kann mit dem Begriff „Recht der alten Leute ,“ und die Idee „Recht der Jugend ,“ eben so leicht mit dem Begriff „Anspruͤche der jungen Leute .“ — Nicht wahr? Sie wuͤrden die Idee des Rechtes reiner und aus- gebildeter in einem Lande wiederfinden, wo das Recht des Alters durch einen politischen Koͤrper repraͤsentirt werden koͤnnte, der aus lauter wirk- lich jungen Leuten bestaͤnde, und, umgekehrt, das Recht der Jugend durch einen aus wirklich alten Leuten bestehenden Koͤrper? Dies waͤre ein Zei- chen, daß in einem solchen Lande jedes einzelne Individuum das Ganze im Auge haͤtte, und Alter und Jugend und alle Beduͤrfnisse des Gan- zen zu repraͤsentiren im Stande waͤre; daß Jeder mehr als sich selbst, mehr als das Interesse sei- nes Alters beabsichtigte; kurz, daß die Idee des großen allgemeinen Rechtes dem Begriffe der ein- zelnen Rechte bei allen Individuen den Rang abliefe. — Da nun also in der neueren Welt die Re- praͤsentation des Rechtes des Alters erblich wurde, und an die Stelle der antiken Senate der Geburtsadel treten konnte; so zeigt diese Wendung der Dinge vor allen andern das Wachs- thum der Ideen des Rechtes. Und so geschieht es, daß in der Verfassung, welche den Geist der modernen, veredelten Gesetzgebung am reinsten ausdruͤckt, in der Brittischen, das Recht des Alters im Oberhause, das Recht der Jugend vielmehr im Unterhause durch Versammlungen repraͤsentirt wird, in denen beiden wirklich alte und wirklich junge Leute unter einander sitzen, wenn auch, durch die Verfassung des Brittischen Majorats-Adels, das Oberhaus noch einige Se- natsform behaͤlt, indem nur das aͤlteste Glied von der aͤltesten Linie jeder Familie Sitz und Stimme hat, die Majoritaͤt demnach aus wirk- lich alten Leuten bestehen wird. Seitdem das Recht des Alters auf diese Weise in Europa (d. h. in Großbrittanien, wo alles Europaͤische in der reinsten, wesentlichsten Gestalt erscheint) durch Familien, und nicht mehr durch Indivi- duen, repraͤsentirt wird, also die wirkliche Jugend durch die Verfassung genoͤthigt ist, das Recht des Alters, das wirkliche Alter aber, das Recht der Jugend zu vertheidigen: seitdem muß die Idee des Rechtes an Ausbildung unendlich ge- wonnen haben. Wie ich in unserer letzten Un- terhaltung zur Ehre der Idee verlangte, daß der Finanz-Minister eines Landes seine Sache ganz unter einem juristischen, der Justiz-Minister die seinige ganz unter einem oͤkonomischen Stand- punkte sollte ansehen und darstellen koͤnnen; wie ich ferner von dem Krieges-Minister ver- langte, daß er seine Sache ganz als Friedens- Angelegenheit, vom Minister des Innern oder des Friedens, daß er seine Maßregel ganz als Krieges-Angelegenheit sollte darstellen koͤnnen, damit sich immer auswiese, daß Jeder das Ganze im Auge habe: so erklaͤre ich es jetzt fuͤr den Tri- umph der Idee und fuͤr einen hohen Grad von Vollkommenheit einer Verfassung, wenn das Alter seine Sache als Angelegenheit der Jugend, und die Jugend die ihrige als Angelegenheit des Alters darzustellen, von den Gesetzen und der Constitution ohn Unterlaß aufgefordert wird, so daß jeder Einzelne alle Lebensalter des Menschen und des Staates repraͤsentirt. Wer heute ein juristisches Interesse hat, das er auf Tod und Leben durchsetzen moͤchte, hat morgen ein oͤkonomisches, das ihm eben so nahe am Herzen liegt: wie gluͤcklich, wenn das heu- tige Interesse dem gestrigen nicht widerspricht! Wer heute ein Friedens-Interesse hat, kann morgen ein Krieges-Interesse haben: wie gluͤck- lich, wenn er Heute und Morgen vereinigen, wie sicher steht er auf der Erde, wenn er unter jenem und unter diesem voͤllig entgegengesetzten Interesse ganz derselbe bleiben kann! Wer heute, selbst jung, das Recht der Jugend auf seiner Seite hat, und nach wenigen Jahren sich nun auf das Recht des Alters berufen, und das In- teresse des Alters zu dem seinigen machen muß: wie gluͤcklich ist er, wenn beide Alter einander nicht widersprechen, wenn in die fruͤheste Ju- gend schon die Vorsicht auf das Alter, wenn in das spaͤteste Alter noch die Ruͤcksicht auf die Jugend und ihre nothwendigen, unverweigerli- chen Anspruͤche eingewebt ist! wenn also Jeder das Ganze repraͤsentirt, alle Beduͤrfnisse des Augenblicks und alle Alter des Lebens in sich vereinigt; wenn er nicht in den Extremen, oder bei den Begriffen, die im Extreme liegen, son- dern da, wo ihn die Natur hingestellt, hinge- noͤthigt, nehmlich in der Mitte bei den Ideen, verweilt! Die Natur hat den einfachsten Menschen in seiner hoͤchsten Entwickelung, als Mann, in die Mitte seiner Verhaͤltnisse gestellt. Drei Gene- rationen, jede zu dreißig Jahren gerechnet, leben zugleich auf der Erde; der Mann steht zwischen seinen Eltern, persoͤnlichen Repraͤsentanten des Alters, und zwischen seinen eigenen Kindern, persoͤnlichen Repraͤsentanten der Jugend, aufge- fordert beide zu vermitteln, fuͤr beide zu sorgen, beide in der Idee zu umfassen. Dieses einfache Verhaͤltniß in jeder Familie ist das vollstaͤndige Schema und Muster des großen zusammenge- setzten Verhaͤltnisses, das sich zeigt, wenn wir die große Allianz der Generationen, den Staat in der Zeit, oder, wie ich mich ausdruͤckte, unter den Raumgenossen, betrachten. Man muß diese Textur, diesen heiligen und innigen Verband der Generationen unter einander, so einfach er ist, mit Scharfsinn und Tiefsinn erwaͤgen, wenn man erkennen will, was eigentlich die Genera- tionen an einander bindet. Die uͤberschwengliche Wichtigkeit dieser einfachen Gedanken tritt in ihrem vollen Glanze hervor, wenn man die posi- tiven Gesetze und die positiven Beduͤrfnisse der Staaten unmittelbar betrachtet; da zeigt es sich, wie die Lehre von der Erbfolge, von der Primoge- nitur, vom Adel, von der Majorennitaͤt, von der Verjaͤhrung, ferner wie die Theorie der Subor- dination im Staat und aller Rangverhaͤltnisse, am leichtesten, natuͤrlichsten und gruͤndlichsten nach dem Schema des Gegensatzes von Alter und Jugend, wie sich dasselbe am einfachsten, in seinen großen Grundzuͤgen in jeder Familie dar- stellt, eroͤrtert werden kann. Wenn man die menschliche, oder buͤrgerliche Gesellschaft ganz oberflaͤchlich betrachtet, so sind die hervorstechendsten Unterschiede der einzelnen Individuen, welche man bemerkt, und auf den ersten Blick bemerkt: Alter und Jugend, und maͤnnliche und weibliche Individuen. Diese Unter- schiede sind den Menschen unter allen Zonen ge- meinschaftlich; sie sind nothwendige Bedingungen, und nothwendige Folgen davon, daß es uͤber- haupt Menschen giebt. — In ihnen ruhet die ewig unabaͤnderliche große Ungleichheit der Men- schen; alle anderen Unterschiede, Reiche und Arme, Vornehme und Geringe, sind abgeleitete und unwesentliche; jene sind in der ersten Fami- lie (dem ersten und einfachsten Staate), so gut wie in dem entwickeltsten, zusammengesetztesten, reichsten Staate, die vorwaltenden. Alle Staats- lehre muß demnach mit ihrer Darstellung, oder — was dasselbe sagen will — mit der Theorie der Familie , anfangen. Die Ungleichheit von Alter und Jugend ist eine Ungleichheit in der Zeit, oder eine Ungleich- heit unter den Raumgenossen; alle Ungleichheit auf Erden ist dazu da, daß sie auf eine zugleich natuͤrliche und schoͤne Weise vom Menschen auf- gehoben, alle Dissonanz, daß sie vom Menschen geloͤs’t werden soll; die Natur reicht dem Men- schen unaufhoͤrlich ungleiche Dinge hin, damit er in’s Unendliche etwas auszugleichen habe, und das ganze Leben des wahren Menschen ist nichts anders als ein Ausgleichen des Ungleichen, ein Verbinden des Getrennten. Die Ungleichheit des Alters ist also da, daß der Mensch unauf- hoͤrlich aufgefordert werde, verschiedene Zeiten, und die Anspruͤche verschiedener Zeiten, unter ein- ander zu vermitteln oder zu verknuͤpfen; sie ist da, wegen jener nothwendigen, allem politischen Leben unentbehrlichen Allianz der Generationen oder der Raumgenossen. Die Ungleichheit des Geschlechtes hingegen ist eine Ungleichheit der Zeitgenossen, sie ist also da, wegen jener Allianz der Zeitgenossen oder der Ne- ben-einander-Stehenden. Wie moͤchte der Mensch aufgefordert werden, sich anzuschließen, und sich zu verbinden, wenn die Natur ihn nicht durch die hoͤchste Verschiedenheit andrer menschlichen Natur dazu reitzte! Um die Verbindung der Geschlechter her bilden sich alle uͤbrigen Verbin- dungen der Menschen unter einander: sie ist die mittelste, innigste und wesentlichste; denn die Fortdauer des Geschlechtes haͤngt von ihr ab: alle andren Verbindungen haben nur eine von der ihrigen abgeleitete Kraft. — Wie ich also oben die Familie in der Zeitfolge, im Nach einander, unter dem Schema des Ge- gensatzes: Alter und Jugend , betrachtet habe, so habe ich sie jetzt im Nebene inander, das heißt in dem eben so wesentlichen Gegensatz: Mann und Weib , zu betrachten. Das natuͤrliche Verhaͤltniß der beiden Ge- schlechter laͤßt sich aus einem doppelten Grunde schwer erkennen: 1) weil dieses Verhaͤltniß im heutigen gesellschaftlichen Leben schon so verwirrt ist, daß man kaum die einfachen Worte „Mann und Weib” aussprechen kann, ohne mannichfaltige Mißverstaͤndnisse zu befuͤrchten; 2) weil die aus- geartete Schule eines großen Naturforschers, Schellings nehmlich, mit dem sogenannten Gegensatze von Mann und Weib, den eine geistreiche Naturforschung als den Schluͤssel aller großen Natur-Phaͤnomene, aufgefunden hatte, nun ein kindisches, modisches Unwesen treibt. Allerdings ist es ein schoͤner Beweis davon, welchen erhabenen und menschlichen, den uͤbrigen Nationen zur Zeit noch, eben wegen seiner Ein- falt und Natuͤrlichkeit, unbegreiflichen Charak- ter die Wissenschaft in Deutschland annimmt, indem sie alle Verhaͤltnisse in Natur und Kunst, die wir doch einmal nur aus menschlichen Stand- punkten betrachten koͤnnen, an die menschliche, oder vielmehr an die gesellschaftliche Natur des Menschen anknuͤpft, und sich von Hause aus begiebt, an den Gegenstaͤnden der Natur etwas Anderes, Neues oder Hoͤheres, zu entdecken, als eben das Verhaͤltniß oder die Beziehung dieser Naturgegenstaͤnde zum Menschen, d. h. nicht zum Menschen an sich, sondern zum wirklichen Menschen in der Gesellschaft, ohne die er nie gedacht werden, noch denken soll. Indeß ist gar zu viel unreife und vorwitzige Jugend in Deutschland, die nur das Wort begreift, und als Begriff in einen voreiligen Cours bringt; und gegen alle Gemeinschaft mit dieser, gegen alle auch nur augenblickliche Verwechselung mit ihr, mußte ich mich verwahren. Alle Gesetzgebung in der Welt hat von je her geschwankt zwischen den beiden Verhaͤltnissen, dem Zeitverhaͤltnisse, Alter und Jugend, und dem Raumverhaͤltnisse, Mann und Weib; sie hat bald dieses, bald jenes ihren politischen In- stitutionen zum Grunde gelegt. So liegt jenes, das Zeitverhaͤltniß, fast den gesammten antiken Verfassungen zum Grunde; sie sind fast alle pa- triarchalischer Natur. Wer von der Natur den wahren und zarten Blick fuͤr solche Untersuchun- gen erhalten hat, wird finden, daß sich fast die ganze Roͤmische Gesetzgebung um die Lehre von der vaͤterlichen Gewalt, d. h. um die ziemlich unbedingte Gewalt der Vorangegangenen uͤber die die Nachkommenden, her bewegt: daher der buchstaͤbliche und strenge Charakter der alten Ge- setzgebungen, daher ferner die gaͤnzliche Unem- pfindlichkeit der meisten gegen die Art, wie das weibliche Geschlecht in den Staat eingreift, und die Unterdruͤckung jener zarten und doch so gewaltigen Waffen, welche das schwaͤchere Ge- schlecht von der Natur empfangen hat. Als Rom gesunken war, bildete sich im christlichen Europa, unter der Aegide einer Religion, welche gerade die Anbetung des Schwachen und Huͤlf- losen lehrte, eine neue, der alten ganz entgegen- stehende, Gesetzgebung. Ich nenne sie „ Gesetz- gebung ,” ob sie gleich keinesweges schriftlich und in Systemen, wie die antike, sondern viel- mehr nur in den Herzen der Voͤlker, als unsicht- bare Legislation der Sitten, existirte. Indeß, da wir, wenn wir die Geschichte des Mittelalters studieren, uns nicht verbergen koͤnnen, daß sie eigentlich regiert, und da, wie ich bereits fruͤher erwiesen, die alte unuͤbersteigliche Mauer zwi- schen Sitte und Gesetz nicht weiter bestehen kann, und die Idee des Rechtes, also auch die Idee des Gesetzes, beide in sich aufnimmt, das Gesetz und die Sitte unter sich begreift: so suche und finde ich die Gesetzgebung des Mittelalters in dem christlich-chevaleresken Geiste aller Tha- Müllers Elemente. I. [10] ten und Werke jener Zeit, den wir ja in allen unsern gegenwaͤrtigen Staaten, in eben so vie- len handgreiflichen und leserlichen Spuren, als die sich von der Roͤmischen Gesetzgebung nur vorfinden moͤgen, ausgedruͤckt finden. Diese Sitten des Mittelalters zeigen mir eine sonderbare und gegen den Geist der antiken Ge- setze sehr contrastirende, ehrfurchtsvolle Scheu vor der unsichtbaren Gewalt, welche die Natur dem weiblichen Geschlechte gegeben hat. Wie die al- ten Verfassungen alle auf Gewalt und Zwang gebauet waren, so zeigt sich jetzt in Religion und Sitten eine ganz andre Grundlage der buͤr- gerlichen Gesellschaft: die Liebe und der Reitz. — Wie damals die vaͤterliche Gewalt, so wird jetzt das eheliche Verhaͤltniß das Schema der Gesetz- gebung, einer Gesetzgebung, die noch heut zu Tage neben den geschriebenen Gesetzen, die viel- mehr aus der Griechisch-Roͤmischen Welt her- ruͤhren, unter der Gestalt der Ehrengesetze, her laͤuft und sich von keinem Tribunale des Buch- stabens, auch von keiner Polizei-Anstalt, hat bezwingen lassen. Das ist die große Wiederherstellung der buͤr- gerlichen Gesellschaft, welche die christliche Reli- gion begruͤndet hat! Er, der in Knechtsgestalt in die Welt gekommen war, fuͤhrte lange Jahrhun- derte hindurch die Herrschaft uͤber die Welt; und so wurde alles anscheinend Schwache in der Welt, vor allem das weibliche Geschlecht, be- trachtet, als sey etwas Geheimnißvolles, Goͤtt- liches darin; man ahndete und glaubte eine herr- schende Kraft, welche die Natur in das Ge- schlecht gelegt habe, das dem ersten Anscheine nach nur zu dienen schien. Der Gedanke, den nur die weisesten und schoͤnsten Gemuͤther der Vorwelt genaͤhrt und durch ihr Leben ausge- druͤckt hatten, „daß es ein Herrschen im Dienen, einen Stolz in der Demuth, eine Gewalt im Gehorsam gebe,” wurde National-Gedanke; und auf solche Art bekam das zweite Grund-Ver- haͤltniß der Familie, das Verhaͤltniß des maͤnn- lichen zum weiblichen Geschlechte, wieder seine urspruͤngliche und nothwendige Form. Die Kraft des Mannes, die mehr den Augenblick auf ihrer Seite hat, wurde balancirt durch den gleichfoͤr- migen, nie nachlassenden Einfluß der Frau, wel- cher auf die Dauer berechnet ist, wie das ganze weibliche Geschlecht ja auch um der Fortdauer willen existirt. So nehmen wir auch hier das Wachsthum der Idee der Menschheit , oder der Idee des Rechtes , was dasselbe sagen will, wahr. Beide Geschlechter sahen einander in die Augen; jedes fing an die Eigenthuͤmlichkeit des andern zu wuͤrdigen; jedes konnte Wortfuͤhrer des an- dern werden, wie oben das Alter Wortfuͤhrer der Jugend, und umgekehrt, das Recht Repraͤ- sentant der Oekonomie, und umgekehrt, der Krieg Wortfuͤhrer des Friedens, und umgekehrt; und so wurde der Mensch immer mehr in der Idee, d. h. vollstaͤndig und allseitig, bewegt und leben- dig erkannt. Jeder Einzelne stellte mehr das Ganze der Familie, und also das Ganze des Staates, dar. Neben der Kraft und der Strenge trat die Liebe und die Milde in ihr altes, unver- jaͤhrbares Recht. Wie viele große und mensch- liche Ideen sich an die Eine Grund-Idee von der Ehrfurcht vor der menschlichen Schwaͤche und Gebrechlichkeit anknuͤpften, springt in die Augen: die Gleichheit der Menschen vor der Idee Gottes oder des Rechtes; die Achtung des Menschen fuͤr den Menschen, als solchen, und von dem sich — wie ohnmaͤchtig er auch erschien — nach dem großen Beispiele, welch s voran- gegangen war, nicht sagen ließ, ob sich Gott nicht auch in ihm offenbaren werde; die Achtung der Person fuͤr die Person, als solche; mit Einem Wort, die Achtung fuͤr das Persoͤnliche im Men- schen, nicht das Saͤchliche, nicht die bloße physi- sche Kraft und Bedeutung. Kurz, es wurde klar und in dem erhabenen Gleichgewichte zwischen Kaiser und Papst, welches nachher so verunstaltet worden ist, auch sichtbar und handgreiflich, daß es in allen menschlichen Angelegenheiten auf ein gleichmaͤßiges Fortschreiten zweier unaufhoͤrlich in einander greifenden und sich gegenseitig bedin- genden Wesen, eines sichtbaren weltlichen und eines unsichtbaren geistigen Interesse, ankommt, und daß alle Gesetzgebung, die sich bloß auf das rohe, leibhaftige Aeußere, auf den todten Buch- staben, auf ein einseitiges starres Festhalten des Besitzes gruͤndet, auch in sich selbst erstarren und untergehen muß. Eine Legislation, die nicht in allen ihren Theilen von dem hier beschriebenen weiblichen, religioͤsen Geiste getraͤnkt und durchdrungen ist, kann auf Suveraͤnetaͤt keinen Anspruch machen; denn es ist eine halbe Gesetzgebung, und so kann sie uͤber ganze und vollstaͤndige Menschen nicht herrschen. Der zartere, schoͤnere Theil der Menschheit, d. h. nicht bloß das weibliche Ge- schlecht, sondern die verborgenen, unsichtbaren Maͤchte im Innern jedes Menschen, mit aller ihrer Gewalt und ihrem unaufhoͤrlichen Einfluß auf Handeln und Leben, fallen immerfort aus ihrem Sprengel heraus, stehen hors de la loi ; und mit ihnen wird dem Staate unaufhoͤrlich, was er vornehmlich braucht, Neigung und Liebe der Buͤrger, entzogen. — Sobald man diesen unsichtbaren, mindestens weniger in die Augen fallenden, Maͤchten wie- der ihren alten natuͤrlichen Einfluß zugesteht, gewinnt aller Buchstabe im Staate wieder eine lebendige Gestalt, aller todte Besitz faͤngt an sich zu bewegen, alle Sachen erhalten eine persoͤn- liche Bedeutung, alle Begriffe bekommen Bewe- gung, d. h. sie werden zu Ideen; waͤhrend eine bloß weltliche Macht — sie moͤge alle Begriffe und alles Sichtbare in der Welt rauben, fest- halten, und sich unterwerfen — ihrem Schick- sale nicht entgeht, und endlich ein Volk, oder auch nur einen einzelnen Menschen findet, wel- che jenes Unsichtbare, den zarteren Geist der Sitte, des Rechtes, der Religion, zu verthei- digen unternehmen, und, wenn sie diesem Geiste, der sich nicht ungeraͤcht verspotten laͤßt, getreu bleiben, nothwendig aus ewigen Naturgesetzen die Oberhand behalten muͤssen. Der schwaͤchere Begriff weicht dem staͤrkeren, wie die Mauer vor dem stuͤrzenden Felsen weicht; der kolossalste Begriff weicht vor der ersten lebendigen Idee, wie der haͤrteste Felsen von der kleinsten Pflanze bloß durch organische Bewegung und Wachs- thum gesprengt wird. Die Ehe, nicht unsern verderbten und ver- unstalteten Zeitbegriffen, sondern ihrer natuͤrli- chen und urspruͤnglichen Gestalt nach, also das Verhaͤltniß des maͤnnlichen und des weiblichen Geschlechtes, ist eine ewige, unter allen Zonen der Erde verbreitete Schule der Gegenseitigkeit; und darum ist die Ruͤcksicht auf dieses zweite Grundverhaͤltniß der Familie so wichtig. Die beiden Elemente des Staates, deren jedes in sei- ner Eigenthuͤmlichkeit bestehen und vertheidigt werden muß, die sichtbare und die unsichtbare Macht, die Gewalt und die Liebe, die Strenge und die Milde, welche vermittelnd zu vereinigen, die Aufgabe sowohl des Staatskuͤnstlers als aller andern Kuͤnstler ist, erscheinen in dem Ver- haͤltnisse der beiden Geschlechter lebendig, per- soͤnlich und als wirkliche Ideen neben einander. Und wie nun die Natur die Fortdauer des wirk- lichen leibhaftigen Menschen abhaͤngig gemacht hat von der innigsten, gegenseitigen Beruͤhrung und Verbindung dieser beiden Geschlechter: so hat sie damit dem unbefangensten Beobachter der buͤrgerlichen Vereinigung den deutlichsten Finger- zeig gegeben, alle anderen Verhaͤltnisse nach die- sem Muster einzurichten, allenthalben von der Verbindung des recht Verschiedenartigen und Entgegengesetzten die groͤßte Innigkeit dieser Ver- bindung, und nur von der Gegenseitigkeit der Rechte aller einzelnen Individuen unter einander, und nur von dem gegenseitigen Sich-Tragen und Behaupten der anscheinend ungleichsten, aber doch zum menschlichen Wesen einmal gehoͤrigen Ideen, die Bluͤthe des Staates, der Idee aller Ideen, zu erwarten. Wie lernt der Mensch, als Kind, im natuͤr- lichen Zustande, zuerst das Gesetz kennen? Als einen Begriff nicht . Die buchstaͤbliche Strenge des Vaters, und die geistige Milde der Mutter wirken unaufhoͤrlich wechselsweise; und so wird das Kind eigentlich erzogen und regiert weder vom Vater noch von der Mutter allein, sondern von einem unsichtbaren Suveraͤn, von einem unsichtbaren, lebendigen Gesetze, welches zwischen den Eltern steht: von einer Idee des Rechtes, worin die Eigenthuͤmlichkeiten beider Geschlech- ter, die Strenge des Vaters und die Milde der Mutter, zusammentreten. Sollte dieses unsicht- bare Gesetz nun ausgesprochen werden, so wuͤr- den die Spuren beider so verschieden gestalteter Gesetzgeber unverkennbar, und in gegenseitiger Durchdrungenheit, darin sichtbar seyn. — Der Su- veraͤn, der Gesetzgeber eines Staates, muß also, wenn er die wahre Idee des Rechtes in unend- lichem Wachsthum durch das Gesetz ausdruͤcken und die Beduͤrfnisse des Ganzen umfassen und den Willen des Ganzen aussprechen will, beide Geschlechter der Menschheit und ihre ganze Natur unaufhoͤrlich und stets inniger in sich vereinigen. — In welcher barbarischen Zerruͤttung und Ein- seitigkeit die Gesetze des heutigen Europa einem ersten, oberflaͤchlichen Blicke auch erscheinen moͤ- gen —: unter aller Verwirrung findet sich doch eine große, unausloͤschliche Spur, daß jene Idee einer nothwendigen Gegenseitigkeit einst alle Ge- setzgebungen durchdrungen hatte und nothwendig kuͤnftig wieder durchdringen wird. Wenn man die Erziehungsgeschichte der heutigen Europaͤischen Staaten, und das rein erhaltene Resultat die- ser Erziehung in England betrachtet: so findet man das Streben aller Staaten nach einer Ver- bindung der buchstaͤblichen und der eben so noth- wendigen Ehrengesetze, des sichtbaren Interesse der Gegenwart und des unsichtbaren Interesse der Jahrhunderte, ausgedruͤckt durch eine große, von keiner Macht der Welt zu erschuͤtternde Institution, durch den Standes- oder Ge- schlechts-Unterschied , von Adel und Buͤr- gerstand, den wir in seiner andren Natur, nehm- lich als Rang-Unterschied, bereits oben in der Entwickelung des ersten Familien-Verhaͤltnisses von Alter und Jugend, erwaͤhnt haben. Der Adel soll das Unsichtbare, die Macht der Sitte und des Geistes im Staate repraͤsentiren, und so ist er in der großen Ehe, welche Staat heißt, was die Frau in der Ehe im gewoͤhnlichen Ver- stande. So tritt die Verschiedenheit der Geschlech- ter, nachdem ihr gegenseitiges Interesse den ganzen Staat durchlaufen und beseelt hat, in vergroͤ- ßerter Dimension noch einmal vor den Gesetz- geber hin, damit dieser in wirklicher persoͤnlicher Gestalt und ideenweise beide Elemente des Staa- tes unaufhoͤrlich gegenwaͤrtig habe und zu ver- mitteln genoͤthigt sey. Dies ist der Adel in seiner nothwendigen und natuͤrlichen Gestalt; dies ist die Theorie der Familie in der ihrigen. Wie sich zu solchen Au- sichten die Verunstaltungen, in denen wir Adel, Familie und Gesetze um uns her sehen, verhal- ten, und wie alles hier Dargestellte wichtig und weltgebietend in der Anwendung erscheine, wer- den wir nun weiter sehen. Zweites Buch. Von der Idee des Rechtes . Sechste Vorlesung . Daß die Idee des Rechtes alle einzelnen Rechte belebe, und daß das Richteramt nicht allein in den mechanischen Ent- scheidungen, sondern auch in dem lebendigen Vermitteln unter den einzelnen Rechten bestehe. D as, was ich uͤber die Natur und die Ausbil- dung der Rechts-Idee zu sagen habe, muß ich mit einem Vergleiche anfangen, den sie, in so fern wir uns in unsern bisherigen Unterhaltungen verstaͤndigt haben, tiefsinnig und beziehungsreich finden werden. — In der aͤltesten Gesetzgebung, die wir noch heut zu Tage in ihrem ganzen Umfange zu uͤbersehen im Stande sind, der Mosaischen , ist, wie bekannt, Religions-Vor- schrift und weltliches Gesetz noch Eins und das- selbe, wenlgstens beides innig in einander ver- schmolzen. Diese Gesetzgebung eroͤffnet sich, wie eben so bekannt, mit dem Gesetze: Du sollst nicht andre Goͤtter haben neben mir . — In diesem Gesetze, das auf den ersten, ober- flaͤchlichen Blick nur eine theologische Beziehung zu haben scheint, wird mit einfacher Erhabenheit Dasselbe befohlen, was ich, unter mancherlei kuͤnstlichen Wendungen, wozu mich die Verwir- rung meiner Zeit genoͤthigt hat, als Gesetz aller Gesetze, am Eingange meiner Staatslehre folgen- dermaßen habe ausdruͤcken muͤssen: Du sollst neben der Idee des Rechtes keine wei- teren Begriffe von Rechten haben . — Wenn ich die Uebereinstimmung dieser beiden Gesetzesausdruͤcke erweisen kann, so habe ich eine nicht geringe Autoritaͤt fuͤr mich gewonnen; denn wie wenige Staatsmaͤnner alter und neuer Zeit koͤnnen sich, auch wenn nur der Stand- punkt weltlicher Klugheit gelten soll, neben Mo- ses stellen! Die meisten verschwinden ganz neben ihm, wenn von Totalitaͤt, wenn von der Ver- einigung aller politischen Verhaͤltnisse einer Na- tion, der geistigen und der physischen, der juristi- schen wie der oͤkonomischen, in einen einzigen lebendigen Willen, oder in eine Idee, die Rede ist. — Ich gehe unmittelbar zu meinem Beweise fort: 1) Es wird keines Streites daruͤber zwischen uns und den Alten beduͤrfen, ob wir die Stimme des Guten in unsrer Brust, mit den Alten, Gott , oder, mit den Neuen, Recht nennen sollen. Wie verschieden die Nahmen auch klin- gen —: Jeder weiß, was ich meine. Das mit diesen beiden Nahmen bezeichnete Wesen soll, nach Moses und allen Gesetzgebern der Welt, ein in sich selbst einziges Wesen seyn. Moses verlangt vor allen andern Dingen die Anerken- nung des einzigen Gottes; eben so verlangen alle andern weltlichen Gesetzgeber stillschweigend oder ausdruͤcklich die Anerkennung eines einzigen Rech- tes. Dessen ungeachtet finden wir bei den reli- gioͤsesten Voͤlkern den Dienst mehrerer Goͤtter, in den rechtlichsten Staaten die Aufrechthaltung mehrerer Rechte. — Ist da kein Widerspruch? Vertraͤgt sich wirklich die Lehre von Einem Gott mit mehreren Goͤttern, die Lehre von Einem Recht mit mehreren Rechten? — Moͤgen es urspruͤnglich die verherrlichten He- roen und Stifter der Voͤlker, oder personificirte Naturkraͤfte gewesen seyn, aus denen sich der Kreis der Griechischen Goͤtter entwickelt hat —: so wie sie uns in den Werken der Alten inner- lich ansprechen, sind es Ideen, verschieden ge- staltete, aber lebendige, persoͤnliche Ausdruͤcke von dem Leben der Menschheit. So wie sie uns in ihrem alleraͤltesten Dienste erscheinen, wider- sprechen sie einander nicht; der Dienst der Einen Gottheit schließt den Dienst der andern nicht aus, weil sie sich unter einander fuͤgen, weil sie Ideen sind, welche allenthalben in einer hoͤheren Idee vereinigt werden koͤnnen; also schließen sie auch urspruͤnglich einen Gott aller Goͤtter, eine Idee aller Ideen, nicht aus. — Spaͤterhin verdirbt diese lebendige Natur der Goͤtter; in der Entartung der Zeiten erstarrt die Idee allmaͤhlich: es wird ein todter Begiff dar- aus; jeder Gott erhaͤlt seinen bestimmten Spren- gel, seine fixen Eigenschaften, und es entsteht im Volke die Ansicht von den Goͤttern, die uns in der Jugend unter der Aufschrift: Mytholo- gie , beigebracht worden ist. Mit andern Wor- ten: aus den Goͤttern werden Goͤtzen , aus den Ideen werden Begriffe ; und unter die- sen Goͤtzen nun, oder unter diesen Begriffen, herrscht die schauerlichste Anarchie. Wie moͤch- ten sie sich beruͤhren, da kein Leben in ihnen ist! Wie koͤnnten sie sich verbinden zu der Idee eines Gottes der Goͤtter , da ihnen die Be- dingung alles Verbandes, nehmlich die gemein- schaftliche Bewegung, gebricht! Kurz: die Idee Eines Gottes vertraͤgt sich sehr wohl mit den Ideen mehrerer Goͤtter. Der Begriff eines ein- zigen Gottes aber, eines Weltgoͤtzen, wie er uns in unsrer Jugend vordemonstrirt, sein Daseyn uns bewiesen worden ist, vertraͤgt sich mit den Be- Begriff mehrerer Goͤtter, oder kleiner Provin- zial-Goͤtzen nicht; eben so wenig, wie sich diese kleinen Goͤtzen oder Begriffe jemals unter ein- ander vertragen. Der uralte Hang des Volkes, welches Mo- ses zu erziehen hatte, den Goͤttern seiner Nach- barn zu vertrauen, ist bekannt. Die Idee eines einzigen, unsichtbaren Gottes war von je her von den Gesetzgebern dieses Volkes vor allen andern in ihrer Reinheit erkannt worden. In eigenthuͤmlichen National-Ideen, wie bei den Griechen, konnte sich bei den Juden diese Idee nicht auspraͤgen; denn in der Zeit ihrer ersten Ausbildung lebten sie unter den Aegyptern in Knechtschaft. Also nur die auf ihre Eigenthuͤm- lichkeit nicht passenden, auf ihrem Boden nicht gewachsenen, National-Ideen (Goͤtter) der Nach- barn konnten sie begriffsweise und erstarrt bei sich aufnehmen. Es wurden Goͤtzen daraus; und diese auszuschließen, war die erste von allen Forderungen Mosis: denn diese Begriffe, diese todten Goͤtzen widersprachen ewig der Idee des einzigen, lebendigen Gottes. — Dies ist der leicht zu entziffernde Sinn des Wortes: du sollst nicht andre Goͤtter haben neben mir . 2) Wir wollen nun Das, was wir in der Müllers Elemente. I. [11] Darstellung des Mosaischen Gesetzes „ Gott ” nannten, Recht nennen. Vertraͤgt sich die An- erkennung der einzigen, lebendigen Idee des Rechtes mit dem Bestehen unzaͤhliger einzelnen Rechte? — Ich antworte: Den circulirenden Staats-Theorieen nach, die aus Begriffen zu- sammengebauet sind: Nein . — Einer Staats- Theorie zufolge, die Leben, die Bewegung hat und in Ideen lebt: Ja. — Den jetzt folgenden Beweis werden Sie leicht anticipiren. Die Corporationen, Institutionen und Grund- gesetze, welche sich in der Jugendzeit eines Vol- kes aus dem Boden des Vaterlandes allmaͤhlich erheben, sind solche verkoͤrperte Rechts-Ideen , wie die Goͤtter Griechenlands urspruͤnglich, und in dem jugendlich-frommen Sinne des Griechi- schen Volkes, verkoͤrperte religioͤse Ideen waren. Adel, Buͤrgerschaft, Geistlichkeit, Reichs- tag, goldne Bulle u. s. w. moͤchte ich politische National-Goͤtter der Deutschen nennen: so lange Leben und Bewegung in diesen Instituten und Gesetzen ist, so lange sie als Ideen leben, schließt eins das andre, und schließt auch der Dienst aller dieser einzelnen Rechts-Ideen den Dienst der einzigen, lebendigen Rechts-Idee, die das Ganze beseelen soll, nicht aus. Im Verfolg entartender Zeiten erstirbt auch in diesen Rechts- Ideen, so gut wie in den Griechischen Goͤttern, das alte Leben; nur die todten, starren Rechts- begriffe von ihnen bleiben zuruͤck. Diese Begriffe fuͤgen sich nicht nur nicht in einander, sondern sie widersprechen sich auch, sie zerstoͤren sich, und so kommt eine alte, ehr- wuͤrdige Verfassung, die natuͤrlich und eben des- halb vortrefflich ist, in solche Geringschaͤtzung, daß sie zum Gespoͤtte des Poͤbels wird, aber nicht deswegen, weil sie alt geworden (was ihr hoͤchster Vorzug seyn wuͤrde), oder den Zei- ten nicht angemessen, sondern weil ihr Dienst in dem Herzen des Volkes erstorben ist, weil diesem die Kraft gebricht, das Alte zu ver- juͤngen, weil nur Begriffe von ihr und keine Ideen im Schwange gehn, diese Begriffe aber sich gegenseitig abstoßen, und dennoch jeder ein- zelne derselben von dem besonders dabei interes- sirten Buͤrger krampfhaft festgehalten und als ein kleiner Goͤtze verehrt wird. Es giebt eine Idee Adel und einen Begriff Adel; einen Gott Adel und einen Goͤtzen Adel. Wenn das Goͤttliche in solchen Institutionen ausgestorben ist, und der goͤtzenhafte Begriff al- lein zuruͤckbleibt, dann haͤlt sich jeder einzelne Buͤrger an den ihn vorzuͤglich interessirenden Buchstaben: der Adel an seinen todten Privile- gien-Begriff, der Handwerker an seinen todten Zunftbegriff, der Kaufmann an seinen todten Innungsbegriff, der Soldat an seinen todten Ehrebegriff, die Regierung an ihren todten Suveraͤnetaͤts-Begriff. Alle diese Begriffe, die, als Ideen , eine so ehrwuͤrdige Rolle spielten, stoßen und reiben sich jetzt maschinenmaͤßig, so lange es gehen will, an einander, und der allge- meine Goͤtze, ein philosophisch-metaphysischer Begriff des Rechtes, wird in dem Tumult allent- halben herausgestoßen; er, selbst todt, kann die andern nicht beleben. Nun kommen Gelehrte, Weltverbesserer von aller Art, und verbinden sich mit dem Poͤbel, der nichts zu verlieren hat, und rufen: die Formen taugen nichts; die Goͤt- zen taugen nichts! Neue Formen, neue Goͤtzen! — Dies ist die Essenz aller politischen Bewegun- gen in unsren Tagen. Consequenter rufen Andre: die Menschen taugen nicht; denn sie machen die Goͤtzen, und sind allzumal Goͤtzendiener. Dies giebt den Re- volutionnaͤr von Grund aus, einen Robespierre, einen St. Just. Die Nichtswuͤrdigsten rufen: einige Menschen taugen nichts, die , welche zunaͤchst bei den Goͤt- zen stehen, die Regierenden, der Adel, die Geist- lichkeit; das Volk ist gut. Dies giebt die Bris- sotiner, die Deutschen revolutionnaͤren Schrift- steller und das ganze Heer der Philanthropen und Halb-Philosophen. — Was wuͤrde Moses thun? Die lebendige Idee des einzigen ewigen Rechtes oder Gottes wieder herstellen: das ist das Eine, was noth ist. Und wie wird diese Idee wieder hergestellt? Da- durch, daß durch die Kraft eines freien und fri- schen Gemuͤthes alle diese todten Rechtsbegriffe wieder bewegt, wieder belebt werden. Formen des Auslandes, Begriffe, Goͤtzen sich uͤber das Meer kommen lassen, giebt neue Goͤtzen fuͤr alte Goͤtzen, denen nun nicht einmal die Macht der Gewohnheit zu Huͤlfe kommt, und welche die Nation wieder auswirft, wenn es der Gesetzge- ber nicht selbst thut. Die Geschwornen-Gerichte ( Jurys ) sind ein juristischer National-Gott — in England. Wenn in Frankreich, nach neueren Decreten, die Aus- spruͤche derselben von der Regierung sollen an- nullirt werden duͤrfen, so scheint dies die Ueber- zeugung anzudeuten, daß man jenem National- Gotte auf dem fremden Boden nicht gleiche Ehr- erbietung erweison koͤnne. So nun lautet das Gesetz Mosis, in die Sprache unsrer Tage uͤbersetzt: Du sollst ne- ben der Idee des Rechtes keine weite- ren Begriffe von Rechten haben . — Ich habe die Zusammenstellung zweier ver- schiedenen Ausdruͤcke fuͤr das Gesetz aller Gesetze einen „ Vergleich ” genannt; Jedermann fuͤhlt aber, daß hier mehr ist. — Nicht umsonst re- clamirte ich gleich am Eingange meiner Staats- lehre die Herzen und alles geistige Eigenthum der Buͤrger fuͤr den Staat. Ohne diese, deren Vereinigung wir, mit dem edelsten, verstaͤndlich- sten Namen, „ Religion ” nennen, ist keine Staatskunst moͤglich. Ich will Den sehen, der mir sagen kann, was Recht sey, und der den- noch mit dem Worte „ Staat ” nicht mehr als einen gemeinen Zusammenhang weltlicher Ange- legenheiten meint, der nothwendig ein Mecha- nismus von Begriffen seyn muß, und nichts weiter. — Ich berufe mich nicht auf Leibnitz, Burke und die groͤßten Maͤnner des Jahrhun- derts, welche die Einheit des Staates und der Kirche empfunden haben. Wer das Wesen der Ideen erkannt hat, der hat die Religion er- kannt. — Die einfache ewige Idee des Rechtes also vertraͤgt sich sehr wohl mit einzelnen Rechten, jedoch nur mit lebendigen Rechten, d. h. solchen, die als Ideen verstanden, ausgeuͤbt und verthei- digt werden. Jeder Richter wird es eine schoͤne Vertheidigung eines einzelnen Rechtes nennen, wenn der Advocat nicht etwa dieses einzelne Recht aus dem Zusammenhange der uͤbrigen Rechte herausschneidet, es isolirt, und aus dem bloßen einzelnen, einseitigen Buchstaben deducirt, daß es nun ewig gelten solle, — sondern wenn derselbe sich vor dem Auge des Richters ganz auf die Seite der uͤbrigen Rechte stellt, und von diesem entgegengesetzten Standpunkte aus zeigt, wie, um der uͤbrigen Rechte willen, jenes einzelne Recht aufrecht zu erhalten sey, und wie das Ganze dabei interessirt ist, daß das Einzelne be- stehe. Der waͤre der vortrefflichste Vertheidiger des Adels, der ganz auf die Seite des Buͤrger- standes treten, und von dortaus die nothwen- dige Aufrechthaltung der Adelsrechte erweisen koͤnnte. — Lassen Sie uns annehmen, die Regierung eines Landes berathschlage uͤber die Ausfuͤhrbarkeit oder Unausfuͤhrbarkeit der Getreidesperre in einem gegebenen Moment. Der Grundeigenthuͤmer (das Land-Interesse) ist natuͤrlicher Weise gegen , der Fabrikant (das gesammte Geld-Interesse des Landes) fuͤr die Maßregel. Hier ist einer von den unzaͤhligen Conflicten zweier ganz ent- gegenstehenden Interesses, die in einem wohl organisirten Staate sich taͤglich zutragen muͤssen; denn je mehr die streitenden Kraͤfte im Innern jedes Landes massenweise und en gros vor dem Throne des Suveraͤns einander gegenuͤber tre- ten; je weniger en détail und — im kleinen, unedlen Sinne des Wortes — persoͤnlich um das Wohl des Ganzen gestritten wird: um so besser ist die Administration des Staates. Der Grundeigenthuͤmer verk auft das Product, auf dessen Handelsbeschraͤnkung es ankommt, strebt also nach den groͤßt moͤglichen, der Fabrikant kauft es, strebt also nach den niedrigst moͤg- lichen Preisen; und dem Staate sind beide strei- tenden Staͤnde gleich-wichtig und werth. In solchen Faͤllen nun auf der Einen und der andern Seite das plus und das minus des fuͤr jenen und diesen Stand aus der Maßregel erwachsen- den Schadens, nach Art der Rechenmeister, ab- zuwaͤgen, die weniger verlierende Parthei hinter der mehr verlierenden aus bloß arithmetischen Gruͤnden zuruͤckstehen zu lassen, charakterisirt den gemeinen Staatsmann. — Urspruͤnglich sind die Rechte beider Staͤnde, des Landmannes und des Fabrikanten, auf die Unterstuͤtzung des Staates gleich-groß; beide muͤs- sen gemeinschaftlich prosperiren, oder keiner pros- perirt, und nur in einem gegebenen Augenblick kann das Recht des Einen leichter erfunden wer- den, weil es darauf ankommt, das Ganze zu erhalten. — Dieses Ganze entscheidet also eigent- lich, und der Richter repraͤsentirt es; folglich muß auch das Recht jeder besonderen Parthei von dem Advocaten derselben dargestellt werden, wie es im Ganzen, und nicht, wie es fuͤr sich abgesondert erscheint: nur so gehoͤrt es vor den Richter oder vor den Staat. Wie wird aber das Recht des Land-In- teresse und das Recht des Geld-Interesse fuͤr den gegebenen Fall im Ganzen dargestellt? Dadurch, daß die Advocaten beider Partheien ihre Plaͤtze vertauschen, und der Vertheidiger des Land-In- teresse ganz in einem staͤdtischen, der Verthei- diger des Geld-Interesse hingegen in einem laͤnd- lichen Standpunkte redet; dadurch daß der Ad- vocat des Grundeigenthums zeigt, daß gerade fuͤr die staͤdtische Industrie die Sperre rathsam, und der Advocat der Fabrikanten, daß dieselbe der laͤndlichen Industrie nachtheilig sey. Nun kann der Richterspruch eintreten: ein Wort, das nicht zwischen beiden Partheien einseitig und arithmetisch entscheidet, sondern, da es aus dem Ganzen kommt, und, da es, als solches, beide Advocaten verstehen, auch fuͤr beide Partheien gesprochen wird. Die Gruͤnde abwaͤgen, das Fuͤr und Wider bei einer Maßregel in Betracht ziehen, sind in den gewoͤhnlichen Tribunalen und in den gewoͤhn- lichen Staats-Theorieen beliebte Redensarten — eben weil man nur mit Begriffen von Rechten und von Interessen zu thun hat, die unter ein- ander streiten, deren Advocaten jeder seine Sache abgesondert so schwer und wichtig als moͤglich darstellt, um durch die bloße Gewalt der Masse die Masse des Gegners zu erdruͤcken. In den wenigsten Faͤllen aber stehen Recht und Unrecht vor dem Richter, in den meisten Faͤllen Recht und Gegenrecht; in den wenigsten Faͤllen liegt dem Richter die Frage vor: Soll die Eine Par- thei oder die andre bestehen? In den meisten Faͤllen ergeht an ihn die viel erhabnere Frage: wie soll diese Parthei und jene mit ihr streitende bestehen? — Kurz, der Richter ist ja nicht bloß eine ver- neinende und bejahende Maschine, er ist ja nicht bloß Schiedsrichter oder Der, welcher vom Himmel zwei Kugeln, eine schwarze und eine weiße, um den Ausschlag zu geben, in die Haͤnde bekommen, waͤhrend jede von den beiden Par- theien nur Eine von beiden erhalten hat. Nein; jede von den beiden Partheien hat einen doppel- ten Charakter und ein doppeltes Interesse: 1) ein besondres, individuelles Interesse; 2) ein allgemeines, ein Interesse am Ganzen. Um das besondre Interesse wird gestritten; denn die- ses ist bei jeder Parthei ein anderes, verschiede- nes. Ueber das allgemeine Interesse beider Par- theien koͤnnen Mißverstaͤndnisse obwalten; im Wesentlichen aber ist es auf beiden Seiten das- selbe. So doppelgestaltig treten sie vor den Richter. Auch dieser hat eine doppelte Bestim- mung: das besondere Recht aufrecht zu erhal- ten, und Wachsthum und Bluͤthe des allgemei- nen Rechtes und Interesse nicht verderben zu lassen, sondern zu foͤrdern. Dies nun auf irgend einen vorliegenden Streit angewendet, giebt folgende, durchaus ge- nuͤgende, Instruction fuͤr den Richter, welche zu- gleich alle einzelnen Faͤlle umfaßt: 1) Du sollst das beiden Partheien gemeinschaftliche Interesse am Ganzen durch Verstaͤndi- gung vermitteln ; und 2) du sollst zwi- schen dem besonderen Interesse beider streitenden Partheien entscheiden . — Jeder Richterspruch soll nicht bloß Decision , sondern auch Vergleich seyn; das Ganze, oder die allgemeine Rechts-Idee, und das Einzelne, oder das besondre Recht, sollen in dem Urtheile mit einander versoͤhnt werden. Verlaͤugneten die beiden Partheien ihr Interesse am Ganzen; beharrte jede einseitig auf dem Buchstaben, auf dem Begriff ihres Rechtes: so waͤren beide Rechte schaͤdlich, keine Vermittelung moͤglich, sondern nur eine Entscheidung, indem der Richter das schaͤdlichere Recht, als eigentliches Unrecht, un- bedingt verwuͤrfe. Besser waͤre es, wenn beiden dergestalt isolirten Partheien Unrecht gegeben wuͤrde; denn die Idee des Rechtes leidet, wie wir gesehen haben, eigentlich keine Rechtsbegriffe neben sich; das Lebendige kann zwischen todten Dingen nicht einmal entscheiden, und zum wah- ren Kriege gehoͤrt es, daß zwischen den krieg- fuͤhrenden Partheien irgend etwas gemeinschaft- lich sey. — Die in unserm Zeitalter so allgemeine Klage uͤber den Egoismus koͤnnten wir als o bestimmter in folgende Worte uͤbersetzen: der Sinn fuͤr das Gemeinschaftliche, fuͤr Ideen, ist ausgestor- ben. Jeder stuͤtzt sich auf Begriffe von tod- tem Vortheil und von todten Rechten; und weil die Gesetze selbst nur als Begriffe verstanden werden, und weil sie, wie andre Sachen eben auch, benutzt und gemißbraucht werden koͤnnen, so gehen die Staaten einer allgemeinen Auf- loͤsung entgegen, dem nur durch die Wieder- herstellung der Idee, und durch kein andres gemeines weltliches Mittel vorgebeugt werden kann. Lassen Sie uns zu der hier gegebenen Theorie des Prozesses ein Beispiel nach einem großen Maßstabe waͤhlen, einen voͤlkerrechtlichen Pro- zeß zwischen zwei großen, unabhaͤngigen Natio- nen. Dieser Fall ist um so lehrreicher, da hier ein eigentlicher, handgreiflicher Richter noch nicht vorhanden ist, vielmehr ein solcher erst eingesetzt werden soll. Jede von den beiden Nationen hat ein besonderes Interesse und ein allgemeines, dieses letztere moͤge nun, wie im Mittelalter, christliche Religion , oder, wie spaͤterhin, Recht oder Gleichgewicht heißen. Die Un- terhandlung faͤngt an mit oder ohne Mediation einer dritten Macht; die ehemaligen Vertraͤge zwischen den beiden Nationen werden zum Grunde gelegt. Was sind diese Vertraͤge? Urtheilsspruͤ- che eines unsichtbaren Richters, durch welche fruͤhere Streitigkeiten beigelegt worden. Sie sind redende Beweise, daß damals jede von den bei- den Maͤchten in das Interesse der andern Par- thei eingangangen ist, daß die Abgesandten bei- der Partheien oftmals ihre Plaͤtze vertauscht haben, daß jeder von den beiden Advocaten oft- mals aus dem Standpunkte der andern Parthei sein eignes Interesse betrachtet und vertheidigt hat, kurz, daß Ideen galten, daß das lebendige, freie Leben mit einander rechtete, daß es, außer den gegenseitig stipulirten Rechten und Besitzthuͤ- mern, auf noch etwas Andres, Unsichtbares und Heiliges, ankam. Wenn man in solchen Tractaten nichts als den Buchstaben sehen will; wenn man nicht zugleich die Geschichte der Negociationen, aus denen der Tractat hervorgegangen ist, zu Rathe zieht; wenn man das Gesetz ohne den Prozeß, aus welchem es erzeugt worden, kurz, wenn man es fuͤr sich als Begriff, nicht in seinem Zusammen- hange mit dem Ganzen und im Werden, betrach- tet: so kann es niemals zur Grundlage eines neuen Prozesses, einer neuen Negociation, dienen. Wie moͤchte ein todtes Wort zur Norm einer neuen lebendigen Verhandlung werden! Alles kommt darauf an, den neuen Prozeß lebendig an die alten anzureihen, und die gesammten Verhaͤltnisse der beiden Staaten als einen unauf- hoͤrlichen und lebendigen Verkehr anzusehen. Diese Kunst der hoͤheren Diplomatie ist in neueren Zeiten mit vielen andern erhabenen Kuͤn- sten verloren gegangen. Geist, Leben und Bewe- gung, die urspruͤnglichen Eigenschaften aller Trac- taten und von dem Buchstaben derselben unzer- trennlich, haben sich wirklich getrennt, seitdem das gemeinschaftliche Interesse der Christenheit eine Antiquitaͤt, und das Europaͤische Gleichge- wicht eine todte Formel geworden ist. Man hat den Geist der Staaten-Verbindungen in einer besondern Disciplin, und den Buchstaben dersel- ben in einer andern besonderen, aufzufassen ge- sucht; und so ist ein vermeintliches natuͤrliches Voͤlkerrecht, und ein sogenanntes positives ent- standen. Damit nun ist eine eigentliche Nego- ciation unmoͤglich geworden: wer von den beiden streitenden Partheien den Besitz und den Buch- staben fuͤr sich hat, appellirt unaufhoͤrlich von diesem Buchstaben an denselben, waͤhrend der andern Parthei nichts uͤbrig bleibt, als sich auf das ganz wesenlose natuͤrliche Recht zu berufen. Beide Partheien also stehen, jede fuͤr sich, auf einem ganz verschiedenen Boden, jede in einer andern Welt; sie haben die Eine Eigenschaft gu- ter Parth en, ein besonderes Interesse; aber die andere eben so nothwendige Eigenschaft, das gemeinschaftliche Interesse, das Interesse an ir- gend einem Ganzen, worin beide begriffen waͤren, fehlt, oder wird wenigstens nicht von beiden er- kannt und anerkannt. Also ist kein Richter zwi- schen beiden gedenkbar; denn, wie ich oben ge- zeigt habe, ist ja der Richter nichts anders als der Repraͤsentant jenes zwischen beiden Gemein- schaftlichen; also auch kein Gesetz, kein Tractat, kein Friede — welche Worte ja nichts andres bedeuten, als die feierliche Anerkennung dieses Gemeinschaftlichen, und des besonderen In- teresse jeder einzelnen Europaͤischen Nation, in so fern es sich mit jenem Gemeinschaftlichen ver- traͤgt. — Je mehr das Recht den Charakter der Idee verliert und zum Begriffe wird, um so mehr trennt sich der Geist des Rechtes von dem Buch- staben desselben, die Wissenschaft zerfaͤllt in ein so genanntes natuͤrliches und in ein so ge- nanntes positives Recht, oder — unnatuͤrli- ches Recht, um es gerade heraus zu sagen; denn die heutige Theorie weiß eigentlich nicht zu zeigen, wie das positive Recht dem natuͤrli- chen entgegengesetzt werde, und dennoch auch wieder in gewissem Sinne natuͤrlich bleibt. — Das Gemeinschaftliche unter den menschlichen Individuen laͤßt sich von Menschen, in so fern sie Menschen bleiben, nicht ganz ablaͤugnen; aber da die Kunst, das Gemeinschaftliche allent- halben in dem besonderen Rechte zu schauen und mit demselben zu verschmelzen; da die Kunst, in jedem einzelnen Falle nicht bloß zu entscheiden, sondern auch zu vermitteln, oder das Naturrecht, in allen positiven Formen als die Seele dersel- ben ben zu behaupten, kurz, die eigentliche richter- liche Kunst nur von einzelnen schoͤnen Gemuͤ- thern geuͤbt, doch keinesweges von der Staats- wissenschaft als erstes Object aller politischen Erziehung anerkannt wird: so glaubt man der Natur und dem Gemeinschaftlichen seinen Tri- but zu bezahlen, wenn man ihre Forderungen in das Buͤndel einer besonderen Wissenschaft, in das Naturrecht, zusammenwirft, wo sie denn von muͤßigen Koͤpfen, Jahr aus Jahr ein, in neue Systeme zerschmolzen werden, indessen der praktische Jurist ohne Geist und Leben die tod- ten Schlacken der positiven Gesetze abwaͤgt, feilt und loͤthet, wie es das Beduͤrfniß des Tages verlangt, und das Streben jedes noch so ver- derbten Gemuͤthes nach einer lebendigen Einheit oder Idee des Rechtes unbefriedigt bleibt. Diese richterliche Kunst , die Eine große Seite des Staatsmannes, welche uns in der er- sten Haͤlfte unsrer Unterhaltungen beschaͤftigen soll, wie in der zweiten die administrative Kunst (die Finanz-Kunst), wird auf unsern Rechtsschulen nicht gelehrt; ihre beiden Elemente werden zerstuͤckt und jede von einem ganz ver- schiedenen Lehrstuhle herabgereicht, waͤhrend die Erkenntniß der Elemente hier, wie uͤberall, nichts bedeutet ohne die Kunst ihrer Verbindung. — Müllers Elemente. I. [12] Bei diesem ganzen ungluͤcklichen Bemuͤhen liegt die Vorstellung zum Grunde, als ob die Kunst eine Verderberin der Natur waͤre, als ob Kunst und Natur jede fuͤr sich auf abgesondertem Boden staͤn- den und einen Vernichtungskrieg mit einander fuͤhrten, waͤhrend die erste Bedingung alles poli- tischen Studiums seyn sollte, zu begreifen, daß alle Gesetze, die begreiflichsten wie die anschei- nend widernatuͤrlichsten, aus dem Schoße der- selben Natur hervorgegangen sind, die uns Alle umfaͤngt, d. h. daß alle Gesetze bloß dadurch in Widerspruch mit der Natur treten, daß man sie aus dem allgemeinen Gebiete des buͤrgerlichen Lebens herausreißen, ihnen fuͤr die Ewigkeit einen bestimmten Sprengel abstecken, und diesen mit dem Buchstaben vermauern will, daß man sie fixirt, waͤhrend sich die Natur bewegt. Wenn man ein todtes Umhertreiben der Begriffe „ Kunst ” nennen will, so muß solche Kunst nothwendig in ewigem Streite mit der Natur befangen seyn, und so muß man, da der Mensch von Zeit zu Zeit denn doch wieder der Natur nicht entbeh- ren kann, dieser ein besonderes Gebiet abstecken, wo der Mensch sie finden koͤnne, ob er gleich auch dort wieder nur eine todte Natur antref- fen wird, weil ihr Wesen ja eben darin besteht, daß sie sich nicht auf ein abgesondertes Gebiet anweisen laͤßt. Indem nun die richterliche Kunst, von der ich gesprochen habe, der Natur ihre un- endliche Bewegung und das Gesetz derselben ab- sieht, und indem sie es sich aneignet, nimmt sie das eigentliche Wesen der Natur in ihr gan- zes Geschaͤft auf, und bedarf nunmehr keines weiteren besondern Naturrechtes. Dem zu Folge ist jedes Gesetz eine Idee, und kann nur in seinem Werden, in seinem Wachsthum, in dem Prozesse, aus welchem es erzeugt worden ist, d. h. in seiner natuͤrlichen Entstehung, erkannt werden. Der gemißbrauchte Gemeinplatz, „wo kein Klaͤger ist, da ist kein Rich- ter,” heißt, in die Sprache der hoͤheren Rechts- lehre uͤbersetzt: „ohne streitende Partheien kein Richter, ohne entgegengesetzte Rechte kein Ge- setz, ohne Krieg kein Friede.” Durch den Krieg, durch entgegengesetzte Rechte, durch streitende Partheien — mit andern Worten: durch Wech- sel und Bewegung , erhalten die an sich todten Begriffe Friede, Gesetz und Richter erst Reali- taͤt und Leben. Also giebt es fuͤr jedes einzelne Recht in der Welt eine doppelte Bedeutung. Jedes Recht ist 1) Gesetz, in so fern man es aus dem Standpunkte des Richters , 2) ist es Con- tract, in so fern man es aus dem Stand- punkte der Partheien betrachtet . Die Rechte werden nicht bloß eingetheilt in solche, die mehr vom Richter, und in solche, die mehr von dem Vergleiche zweier Partheien herruͤhren, in Gesetze und Contracte, sondern jedes Gesetz muß zu gleicher Zeit als Contract, jeder Con- tract zu gleicher Zeit als Gesetz angeschauet wer- den; das heißt: sie in Bewegung und als Idee anschauen. Die Idee des Rechtes, welche aller buͤrger- lichen Gesellschaft zum Grunde liegt, kann und muß, damit sie Idee sey, auf doppelte Weise an- geschauet werden: 1) als Grundgesetz, aus dem Willen Gottes und seiner Repraͤsentanten, der Gesetzgeber, herruͤhrend, wie die Alten den Ur- sprung derselben gern darstellten; 2) als Grund- vertrag, aus dem Streite der irdischen Par- theien hervorgehend, als contrât social , wie die neuere Rechts-Philosophie die Entstehung der buͤrgerlichen Gesellschaft darstellte. Vor einigen Jahren war man bekanntlich damit beschaͤftigt, das Recht und die buͤrgerliche Verfassung durchaus und allein aus sich selbst zu begruͤnden und zu construiren. Man schnitt aus dem Gebiete der menschlichen Angelegen- heiten die Sphaͤre der rechtlichen Verhaͤltnisse heraus, betrachtete diese absolut fuͤr sich, und glaubte, mit dem gutgemeinten Geschaͤfte auch wirklich zu Stande gekommen zu seyn, nachdem man allen Vertraͤgen einen gemeinschaftlichen Urvertrag, und allem Rechte ein allgemeines Menschenrecht zum Grunde gelegt hatte. Die Historie schien dieser wackern und strengen An- sicht der Dinge allenthalben zu widersprechen; es schien, als habe bloße Gewalt die Staaten ge- gruͤndet, und dem wilden, boͤsen Stamme sey nur bei fortschreitender Cultur hier und dort ein juristisches Reis eingeimpft worden. Wiewohl wir nun dieser historischen Ansicht von dem Ursprunge der Staaten keinesweges das Wort reden wollen, so geben wir doch gern zu, daß kein Staat in Folge eines wirklich ab- geschlossenen contrât social entstanden sey. Hoͤchst charakteristisch fuͤr unser ganzes Zeitalter war es, daß die philosophische Voraussetzung eines absolut rechtlichen Ursprunges mit der groͤßten Hartnaͤckigkeit gerade von eben Denen durchge- fochten wurde, welche die historische Ueberzeu- gung von dem wilden, absolut unrechtlichen, wirklichen Ursprunge der Staaten am eifrigsten naͤhrten, und daß man demnach der politischen Geschichte ein philosophisches Princip aufzwang, in demselben Augenblicke, da man fester als je einzusehen glaubte, daß die Gesellschaft eine Schoͤpfung des Zwanges, und nichts weiter, sey. Ein solcher Begriff eines Grundvertrages, der uͤber der falschen Voraussetzung eines vermeint- lichen Widerspruches zwischen unsern kuͤnstlichen Staaten und einem ihnen vorangegangenen na- tuͤrlichen Zustande errichtet wurde, hat mit dem Grundvertrage, von dem wir sprechen, durch- aus nichts zu schaffen. Der Grundvertrag ist nichts anders als die Idee des Vertrages selbst: daß nehmlich zu allem Gesetz und zu aller Einheit, zu allem Ver- bande, der Conflict zweier Individualitaͤten ge- hoͤre; kurz, der Gedanke, daß nicht Einer aus sich selbst sein eignes Gesetz oder das Gesetz Andrer werden koͤnne. — Wer auch im gewoͤhn- lichen Privatleben, nur fuͤr sein Haus, oder fuͤr sein Herz, eine Regel aufstellen will; mit andern Worten, wer einen Gedanken finden will, der sein Hauswesen oder die streitenden Kraͤfte in seiner Brust zusammen halten und verbinden soll: der muß zuerst einen solchen Streit zwischen den feindlichen Wesen in seinem Hause oder Herzen zu entwickeln wissen, damit im Streite die eigenthuͤmliche Natur der beiden Wesen kund werde, und nun auf verstaͤndige Weise zwischen ihnen ein Vertrag abgeschlossen und vermittelt werden koͤnne. Dieser Vertrag ist nun ein Ge- setz, eine Regel; aber — wohl zu verstehen! — nur in so fern er in Beziehung auf den Streit, woraus er entsprungen ist, betrachtet wird. Der Streit ist sein Fleisch , und der Vertrag des Streites Geist : ein Geist, der bestaͤndig in dem Fleische wirken muß; dadurch wird er zu einem lebendigen Vertrage, das Gesetz zu einem leben- digen Gesetze. — Alle Gesetze des Staates, welche niederge- schrieben und gesammelt worden, sind, jedes einzelne, aus irgend einem Conflict, einer Colli- sion zweier streitenden Naturen entstanden. Zwei Partheien, jede auf ihre Eigenheit, Freiheit und Nothwendigkeit pochend, haben sich einander ge- genuͤber gestellt. Jede behauptete ihr Recht; und so mußte, durch die eifrige Fuͤhrung der beiden Sachen, ein Urtheil, ein Spruch, ein Gesetz, ein Vertrag, kurz etwas Gegenseitiges hervor- gehen; ein Hoͤheres, worin ihre beiden Sachen begriffen und enthalten waren. Der Richter ist eine zu Huͤlfe gerufene dritte Person, welche hier und dort den Streit befoͤrdert, einen Strei- ter dem andern erklaͤrt, und Beide in den Stand setzt, den Gedanken, die Regel, das Urtheil an- zuerkennen, worein die beiden streitenden Faͤlle sich fuͤgen muͤssen, wenn sie bestehen wollen. Dieses Hoͤhere, dieses Friedenswort in einem einzelnen Streite, ward niedergeschrieben, und heißt Gesetz —: lebendiges Gesetz, in so fern sich der Leser ganz in die Lage des Richters, das heißt in die Gegenwart der beiden streiten- den Partheien, versetzt; todtes Gesetz, in so fern er den Buchstaben des Urtheils treu ab- schreibt, ohne auf die Geschichte des Urtheils zu achten; in so fern er das Resultat anmerkt, ohne zu begreifen, woraus es resultire; in so fern er zwar das Was ? zu sagen weiß, aber jenes Wachsthum, jene Entwickelung, welche dem Menschen durch die Frage: Wie ? klar wird, nicht achtet. Alle Gesetzgebungen der Erde sind aus einem solchen unendlichen Streiten und Sich-Vertra- gen hervorgegangen; die Gesetze selbst haben oft wieder unter einander gestritten, und es hat ein Vertrag zwischen ihnen, ein hoͤheres Gesetz, er- richtet werden muͤssen. So giebt es Gesetze z. B. die uͤber den Adel, welche gar nicht mehr aus dem Streite von Individuen, sondern aus dem Streite ganzer Corporationen hervorgegangen sind, und billig Gesetze der Gesetze ge- nannt werden koͤnnen. Gewiß aber ist es, daß ein Gesetz nicht anders zu denken ist und nichts bedeutet, als vis-à-vis oder im Gegensatze des Streites. Darum ist das Wort Vertrag ein sehr gutes Wort; noch besser als Gesetz , weil der Gedanke des Streites schon darin liegt, und weil es im Grunde bedeutet: Gesetz im Streite . Weil nun der Vertrag, nehmlich Friede im Streite, der Grundgedanke aller ein- zelnen Gesetze ist, so ist sehr mit Recht die Idee des (aber nicht eines) Grundvertrages zur Be- dingung alles Staatsvereins gemacht worden. Siebente Vorlesung . Wie sich die Partheien zum Richter, der Contract zum Gesetze, und die Freiheit zum Rechte verhalte. D er beruͤhmte Wahlspruch: suum cuique , druͤckt das Wesen der Gerechtigkeit vollkommen aus, wenn man das suum ideenweise ver- steht. Meint man damit bloß jenes Aggregat von Sachen, welches dem menschlichen Leben ange- haͤngt wird und ihm nachschleppt, todtes Eigen- thum, unempfindlichen Besitz, so kann sich leicht die hoͤchste Ungerechtigkeit hinter jenem Wahl- spruch verstecken. In einer Staatslehre, wie die meinige, die den lebendigen, bewegten, in allen seinen Elementen kriegerischen (nicht bloß militaͤ- rischen) Staat postulirt, die demnach innerhalb einer Nation nur solche Einrichtungen gelten laͤßt, welche den Staat innerlich und aͤußerlich vertheidigen helfen und lebendig in das leben- dige Ganze eingreifen, ist das erste unter allen Besitzstuͤcken des Buͤrgers die Freiheit , in dem Sinne, wie sie heute beschrieben werden soll: die Freiheit, seine Kraft und sein eigen- thuͤmliches Wesen geltend zu machen, zu wach- sen, sich zu regen, zu streiten. „Es versteht sich, in den gehoͤrigen Schranken!” hoͤre ich ein- wenden. Gerade dahin will ich. Und welches sind denn diese gehoͤrigen Schranken? — „Die Schranke fuͤr die Freiheit des einzelnen Buͤrgers ist nichts anders, als die Freiheit der uͤbrigen Buͤrger,” wird man mir antworten, und sehr mit Recht. Damit eine Kraft sich aͤußern und wirken koͤnne, muß ihr irgend eine andre Kraft entge- genwirken; Krieg ohne Gegenkrieg, Freiheit ohne Gegenfreiheit ist nichts. Warum eifert man ge- gen Monopole und Privilegien? — Weil Ein- zelnen Freiheiten zugestanden werden, die den Andern versagt sind; weil man Freiheiten aus- theilt, die eigentlich keine Freiheiten sind, indem die Gegenfreiheit der Uebrigen fehlt, welche ja unbedingt erforderlich ist, um die Freiheit des einzelnen Buͤrgers zur Wirksamkeit und zur Ent- wickelung zu bringen. — Freiheit ohne Gegen- freiheit Andrer, kann keine Wirkung hervorbrin- gen; also ist es eine unproductive, folglich todte Freiheit, folglich nichts. Der Staat im Ganzen strebt, auf seine Nachbar-Staaten die groͤßtmoͤgliche Wirkung zu thun; also bedarf er 1) der hoͤchsten Freiheit aller Einzelnen, und 2) des hoͤchsten Wetteifers, des lebhaftesten Streits der Freiheit mit der Frei- heit. Aus dem unendlichen Streite der Freiheit mit der Gegenfreiheit erzeugen sich die besten Fabrikate, die besten Gesetze, und die muthigsten, gewandtesten, zur Vertheidigung des Ganzen geschicktesten Buͤrger; und dies sind doch die drei Hauptwirkungen oder Producte, welche der Staat erzeugen will. Von den Fabrikaten be- greift es Jeder, der nur Einmal einen fluͤchtigen Blick in Adam Smith’s Buch oder in irgend eins von den vielen, der Weise des großen Mannes nachgestuͤmperten Systemen geworfen hat. Aber daß auch die besten Gesetze aus dem lebhaftesten Streite der Freiheit mit der Gegenfreiheit her- vorgehen, moͤchte den Meisten noch nicht ganz so einleuchten. Je mehr jeder einzelne Anspruch des Buͤr- gers die Freiheit hat, gegen einen entgegenge- setzten eben so freien Anspruch eines andern Buͤrgers sich geltend zu machen: um so mehr wird das Gesetz, welches diese gegenseitige An- spruͤche reguliren soll, ausgeschliffen und vollen- det werden. Je lebhafter und je vielseitiger der Streit ist, den die beiden Partheien vor Gericht fuͤhren; je mehr jede Parthei zum Worte kommt (das heißt aber nicht etwa: je mehr ihr zu reden verstattet ist, sondern je weniger die Gesetze ihr den Mund verschließen): um so gediegener, le- bendiger und ideenhafter wird der Urtheilsspruch ausfallen koͤnnen. Je mehr der Buͤrgerstand gegen den Adel, und umgekehrt, der Rentenirer gegen seinen Schuldner, der Eigenthuͤmer gegen den Pachter, der Kaͤufer gegen den Verkaͤufer, und umgekehrt, streiten kann; je weniger todte Gesetze und todte Formen einem oder dem andern Theile verbieten, den natuͤrlichen Gesichtspunkt fuͤr seine Sache zu veraͤndern, und diese lebendige Sache nach einer todten Gesetzformel zuzuschnei- den und zu verdrehen; kurz, je freier und natuͤr- licher jede der beiden dem Staate gleich-nothwen- digen Partheien sich aussprechen und vor dem Richter regen kann: um so mehr muß das Ge- setz ausgebildet werden, welches zur Regulirung und Anwendung der beiden streitenden Partheien bestimmt ist. — Je vollstaͤndiger der Streit, um so vollstaͤndiger das Gesetz; nennen Sie es einst- weilen: Gleichgewicht der beiden Partheien. Je mehr also Staat und Gesetz, in den un- endlichen Streitigkeiten entgegenstehender Rechte, das schwaͤchere Recht in Schutz nehmen; je mehr sie in der Exposition dieser Streitsache ihr Ge- wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen: um so lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenseitiger wird der Streit, um so glaͤnzender kann die Gerechtigkeit triumphiren. Man verstehe mich nicht falsch! Das todte, abgeschlossene Gesetz und die starre Prozeßform, sage ich, heben haͤufig dieses Gleichgewicht auf, indem sie eine oder die andre Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge Gesetzform einzuspannen; das Eigenthuͤmlichste der Sache geht in diesem juristischen Umgießen verloren; anstatt freien Streites und Vertra- ges zwischen dem Lebendigen und dem Lebendigen, wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen des Todten gegen das Todte. Ich liebe das Symbol der Wage in den Haͤnden der Justiz nicht, weil es ein unvollstaͤn- diges Bild ist. In dieser Manier der Justiz er- scheinen alle Rechte wie Sachen, die Justiz selbst wie ein Verstandeshandwerk, waͤhrend sie bestaͤn- dig die Person und das Persoͤnliche im Auge ha- ben, und, wie jede Beschaͤftigung freier und leben- diger Menschen, eine Kunst seyn sollte. — Des- halb habe ich das Wesen des lebendigen Gesetzes und der lebendigen Prozeßform neulich darzustel- len gesucht, und von dem Richter verlangt, daß er allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt- ler erscheine, d. h. als ein solcher, der den Streit der Partheien belebt, der schwaͤcheren so viel als moͤglich beispringt, beide Partheien in Freiheit und Gegenfreiheit heraustreten laͤßt, und auf diese Weise die Moͤglichkeit eines Vertrages zwi- schen ihnen herbeifuͤhrt; 2) aber auch, als Ent- scheider. Damit nun ist nicht ein einziges Gesetz, nicht eine einzige gerichtliche Form an sich, und als solche, verdammt: in ihnen ruhet das schoͤnste Erbtheil der Weisheit unsrer Vaͤter. Aber es giebt eine freie Unterwerfung unter jene Erfahrung der Vorfahren, welche die Ge- setze ausdruͤcken, da man nehmlich auch den Er- fahrungen der Gegenwart ihr Recht giebt, da der Richter aus freier Betrachtung und Bele- bung des Streitfalles, der ihm vorgelegt wird, sich ein eigenthuͤmliches Gesetz entwickelt, und zwischen diesem und dem bestehenden Gesetze ver- mittelt, d. h. weder fuͤr jeden Fall ein neues Ge- setz macht, noch jeden neuen Fall dem bestehen- den Gesetze sklavisch und mechanisch unterwirft, sondern auf die von mir beschriebene Weise in seiner Person das bestaͤndig wachsende und fort- lebende Gesetz darstellt. Allerdings gebuͤhrt in dieser Vergleichung eines Gesetzes , welches das Resultat von den Er- fahrungen der Vergangenheit ist, mit dem Ge- setze , welches der Richter aus vollstaͤndiger Er- waͤgung des ihm vorliegenden Streites sich bil- det, allezeit der Vergangenheit der Rang, oder der Vortritt, aber noch nicht ein unbedingter Vor- zug vor der Gegenwart. Das Verhaͤltniß der hypothekarischen Glaͤubiger (des Geld-Interesse) zum Grundeigenthuͤmer (oder dem Land-Inte- resse) kann durch die Erfahrung eines ganzen Jahrhunderts in einem bestimmten Lande reiflich erwogen, und eine Gesetzgebung darauf errichtet seyn, die der gewoͤhnlichen Lage der Dinge voll- kommen entspricht. Auf diese Gesetzgebung soll ein ritterschaftliches Credit-System, wie unter andern in mehreren Provinzen des Preußischen Staates, errichtet worden seyn. — Jetzt bricht ein verheerender Krieg aus; der Grundeigenthuͤmer wird dem Bankerott nahe gebracht; die Regie- rung kommt ihm durch moratoria zu Huͤlfe, und in den Provinzen, wo Credit-Systeme vorhan- den sind, fallen die Obligationen im Werthe. Noch einige andre Umstaͤnde treten hinzu, um Verwirrung in das bis dahin so wohlgeordnete und so lange bestandene Verhaͤltniß zwischen dem Grund-Eigenthuͤmer und dem Geld-Eigenthuͤmer zu bringen. — Denken Sie Sich das Gewuͤhl von Prozessen, welche die Regierung, und groͤß- ten Theils das Verhaͤltniß des Grund-Eigen- thuͤ- thuͤmers zu dem Rentirer zum Gegenstande ha- ben. — Hier ist offenbar ein Fall, wo der gegenwaͤrtige Augenblick fuͤr die Ausbildung der Gesetzgebung gerade so wichtig ist, wie die Erfahrung eines ganzen vorangegangenen Jahrhunderts. Der Be- griff von dem Verhaͤltnisse des hypothekarischen Glaͤubigers zu seinem Schuldner laͤßt sich in der Abstraction bald auffassen; die Grundsaͤtze der bisherigen Gesetzgebung uͤber diesen Gegenstand lassen sich leicht festhalten. Aber durch welch eine Welt von ganz neugestellten Partheien soll dieser Begriff, sollen diese Grundsaͤtze hindurch- gefuͤhrt werden? Eine große Schule fuͤr den Richter ist aufgethan: das Verhaͤltniß des Be- weglichen zum Grundeigenthume kann in der reichsten, vollstaͤndigsten Bewegung aufgefaßt wer- den. — Den Grundsatz: fiat justitia et pereat mundus , „entscheidet nach den alten Regeln, und laßt den Staat daruͤber zu Grunde gehen,” anzuwenden, wird niemand einfallen. Was wird also geschehn? Die Justiz-Behoͤrden werden sich von den administrativen Behoͤrden Verhaltungs- regeln oder neue Gesetze ausbitten und dabei er- klaͤren, ihre Sache sey nur, nach den bestehen- den Gesetzen zu entscheiden. Und die admini- Müllers Elemente. I. [13] strativen Behoͤrden — sollen sie, die einseitigen Berichte der einzelnen Partheien und ihrer Wort- fuͤhrer vernehmend, halb auf Gruͤnde, halb auf Willkuͤhr gestuͤtzt, das neue Gesetz, oder das neuregulirte alte Gesetz anticipiren, indeß dieses Gesetz sich im vielseitigen, geschlossenen Streite der Partheien allmaͤhlich, aber lebendig, vor der Seele des Richters haͤtte bilden sollen? — „Vor der Seele des Richters! — Wer ist denn dieser Richter?” wendet man mir sehr mit Recht ein. Alle jene verschiedenen Entscheidun- gen also, die in den zerstreueten Gerichtshoͤfen eines Landes abgefaßt werden; alle jene divergen- ten Ansichten und Interesses der Richter, von denen die meisten auf ihren Standpunkten das Interesse des Ganzen zu erwaͤgen, oder die oͤko- nomischen, administrativen Gesichtspunkte fuͤr die vorliegende Rechtssache aufzufassen voͤllig unfaͤ- hig sind — diese sollen gemeinschaftlich das Ge- setz bilden? — Eine halbrichtige Entscheidung des Administrators, an die sich alle Richter bin- den muͤssen, ist besser und gerechter, als die Er- nennung eines ganzen Heeres von Richtern zu Gesetzgebern, unter deren linkischer Vermittelung am Ende alle großen, durch Jahrtausende be- waͤhrten Grundsaͤtze des Rechtes abhaͤnden kom- men. Man lese nur Burke’s beruͤhmte Be- schreibung von der Composition der National- Versammlung! Die große Majoritaͤt der Repraͤ- sentanten des tiers-état bestand aus Dorfrich- tern, Dorfpfarrern und medicinischen Quacksal- bern; aus einem ganzen Heere solcher kleinen vermittelnden, natuͤrlichen Friedensrichtern. Diese hatten ihr ganzes Leben hindurch die Gesetze in dem gehoͤrigen Detail und Streit studiert; und was ist aus der Idee des Rechtes geworden, als sie nun die Gesetzgeber spielten! — „Deshalb,” faͤhrt man, sich mit großer Ein- sicht auf die gegenwaͤrtige Lage der Dinge beru- fend, fort, „muß die administrative Behoͤrde von der richterlichen in jedem wohlorganisirten Staate absolut getrennt, und der Richter einem bloßen reinen Anpassen der vorkommenden Streitfaͤlle auf die bestehenden Gesetze angewie- sen seyn. Ihm kommt es nicht zu, weder unter den Partheien, noch zwischen dem bestehenden Gesetz und den aus dem neuen interessanten Streitfalle hervorgehenden Gesetze zu vermitteln, aus dem alten und aus dem neuen Gesetz ein drittes hoͤheres Gesetz (welches eigentlich nur das heranwachsende, sich ausbildende alte Gesetz ist) zu erzeugen; sondern er soll nur die ihm vorgelegte Sache auf der Wage seines Verstan- des nach den ihm von dem Administrator uͤber- gebenen Gewichten oder Gesetzen mit voͤlliger Unpartheilichkeit oder Neutralitaͤt abwaͤgen, und, falls etwa die Gewichte nicht mehr paßten, der administrativen Behoͤrde davon Anzeige machen, damit diese fuͤr neue, den Umstaͤnden angemeß- nere, Sorge trage.” — „Nicht jeder Buͤrger, nicht jeder Beamte im Staate kann das Ganze repraͤsentiren; deshalb muͤssen die Staatsgeschaͤfte durch strenge Schran- ken von einander abgesondert seyn, damit Jeder fuͤr sein besondres Ressort sich genuͤgend ausbil- den koͤnne. — Ferner besteht ja eben darin die besondere Wohlthat bestimmter und unabaͤnder- licher Gesetzgebung, daß jedes kommende Ge- schlecht sich und sein Handeln nach ihr einrich- ten, die noͤthigen Cautelen gebrauchen und uͤber- haupt sich so stellen koͤnne, daß sein ganzes Be- tragen gesetzlich erfunden werden muͤsse. Alle diese großen Vortheile verschwinden, sobald der Richter nicht bloß zwischen dem Gesetz und sei- nen Partheien vermitteln darf , sondern sogar zu dieser Vermittelung durch seine Instruction verpflichtet ist.” — Ich gebrauche diesen geschickten Einwurf, der gegen mein bisheriges Unternehmen gemacht wer- den kann 1) zur Beseitigung vieler Mißverstaͤnd- nisse, die zwischen uns entstehen koͤnnten, indem ich von der Wesenheit der Staatskunst aller Jahrhunderte rede, und — weil ich der Sprache meiner Nation und den Formen meines Jahr- hunderts unterworfen bin — leicht so verstanden werden koͤnnte, als meinte ich mit den Worten, die ich ausspreche, denn doch wieder die mit jenen Worten verknuͤpften Formen meiner Zeit; 2) zur wahren Erklaͤrung des Wesens der Frei- heit, und ihres Verhaͤltnisses zum Gesetz, welche mir in unsrer heutigen Unterhaltung obliegt. — Daß die Gesetze in der Zeit, welche wir leben, nur als Begriffe gelten; daß unsre heu- tige richterliche Kunst nur im Zerlegen und Zer- gliedern jener Begriffe und in einem Anpassen der Gesetzesbegriffe auf Handlungen, die eben- falls nur begriffsweise aufgefaßt sind, besteht; daß ferner der Staat selbst nur ein Convolut von Rechts- und Finanz- und Krieges-Begriffen ist, deren jeder sich abgesondert in der Gestalt einer absolut getrennten Behoͤrde darstellt — gebe ich nicht bloß zu, sondern eben gegen diese todte Ansicht der Dinge, da die Wissenschaft nun ein- mal durch eine bestaͤndige Opposition oder Kritik ihr Leben beurkunden muß, ist meine gesammte Darstellung des Staates gerichtet. Die in unsern Staaten eingefuͤhrte strenge Scheidung der ver- schiedenen Behoͤrden, das Gesetz der Theilung der Staatsarbeit an und fuͤr sich, ist freilich der augenblicklichen Ordnung guͤnstig; aber der Ver- band des Ganzen, die Bedingung aller Gerech- tigkeit und alles Reichthums gehen durch diese absolute Theilung verloren. Wie er verloren gehe, zeige sich, habe ich fruͤher gesagt, wenn solche in ihrem Innern wohl geordnete Staaten in einen Krieg gerathen. Im Kriege solle sich nun zeigen, daß sie ein Ganzes seyen, denn als ein solches sollen sie sich ja ihrem Feinde gegenuͤber stellen, und da werde denn klar, wie die nach dem Begriff geordneten Behoͤrden, Institute und Armeen einen nicht geringen Antheil an ihrem Ungluͤcke haben, wenn keins dem Ganzen, son- dern nur einem Theile vom Begriffe des Gan- zen, diene. — Mehreren Staaten und Laͤndern, die in unsern Zeiten einen so schmerzlichen Gluͤckswechsel erfah- ren haben, hat nichts gefehlt, als dieser Ver- band, dieses unsichtbare kraͤftige und republikani- sche Ineinandergreifen aller Elemente, welches man fuͤhlt, wenn man sich der Vorfahren oder der antiken Staaten erinnert, und in dieser Be- trachtung die Nahmen Gott oder Vaterland aussprechen will; — damit hat ihnen aber alles gefehlt. Diesen Verband herzustellen — ist die allgemeine Forderung der ganzen gegenwaͤrtigen Generation; den meint sie, wenn sie in allen ihren unendlichen Leiden, mit dumpfer, unbe- stimmter, und doch ahndungsvoller Sehnsucht, den Frieden herbeiruft. — Diesen Verband, das Eine was noth ist, soll ich zeigen, deutlich, in weltlichen Argumenten, damit der Verstand durch den Verstand uͤberzeugt und uͤberwunden werde; ich soll zeigen, daß alle kuͤnstlichen For- men und Institute des Staates, sobald jener Verband, jener lebendige Zusammenhang, jene Bewegung sie durchdringe, vortrefflich bestehen koͤnnen, so wie sie sind; daß sie indeß, ohne diese Bewegung, welche sie einst durch eine allgegen- waͤrtige Religion erhielten, nichts sind, als starre Uhrwerke, bestimmt den Gang der Zeit und die Vergaͤnglichkeit aller irdischen Dinge einfoͤrmig anzuzeigen; nicht Tummelplaͤtze eines freien und uͤppigen Lebens, nicht Wohnsitze der Gerechtig- keit oder des Reichthums. Wie kann ich also eine abgesonderte Form der Justiz dulden, die an dem National-Leben nicht Theil nimmt, die, unbekuͤmmert um die Schicksale des Staates, um dessentwillen sie da ist, durch allen Wechsel und Wandel, auf sich selbst gerichtet, fortschrei- tet, die sich spitzt, und schaͤrft, und schleift und bildet auf ihre eigne Hand! Nein! kein Privatverhaͤltniß des Lebens, also auch kein Privatrecht des Menschen, kann aus- genommen werden von jenem bewegten kriegeri- schen Geiste, der das Ganze ergreifen soll. Es ist nicht die Rede davon, ein einziges Gesetz, eine einzige Form abzuschaffen; nur den Sinn zu aͤndern, in welchem sie alle gebraucht wer- den, darauf kommt es an. — Wenn ich also sage: der lebhafteste und vielseitigste Streit der Partheien, welcher den Richter zur Vermitte- lung noͤthige, ferner der lebhafteste, vielseitigste Streit des neuen Gesetzes, das sich dem Richter aufzudringen scheint, mit dem alten Gesetze, wodurch der Richter zur Erzeugung eines hoͤhe- ren, das alte und neue Gesetz umfassenden, Ge- setzes genoͤthigt werde, — das sey das Element der wahren Gerechtigkeit; in solchem Streite werde beides geschont, die Freiheit und das Gesetz : so gilt dies ewig, paßt auf jeden Rich- ter und auf jede Staatsform. Der letzte Rich- ter eures Landes soll nicht das Ganze an sich, sondern den Willen und das Streben des Ganzen repraͤsentiren; er soll im Kleinen und in seinem engen Gesichtskreise vollstaͤndig dastehen, wie der Suveraͤn in seinem großen, weiten , zwi- schen den Forderungen der Vorfahren und zwi- schen den Beduͤrfnissen der Zeitgenossen, zwi- schen Gesetz und Streitfall, beide lebendig ver- mittelnd, nicht todt vergleichend und abmessend. Wozu sind eure Instanzen, als um, wenn falsch vermittelt worden ist, zu verbessern? Ist denn die Justiz nur dazu da, jedem sein Buͤndel armseliges Eigenthum zu conserviren, ihm durch Entscheidung zuzusprechen, was ihm zukomme? oder nicht vielmehr ihm durch bestaͤndige Ver- mittelung zwischen dem allgemeinen Recht und seinem besondern Recht, auch in dem Gefuͤhle des Eigenthums aller Eigenthume, nehmlich sei- ner Freiheit, d. h., nach meiner obigen Erklaͤ- rung, im Bewußtseyn seines Agirens und Rea- girens auf alle Einzelne, oder auf das Ganze, zu erhalten? — Das ist die Idee der Ge- rechtigkeit ; das ist der Begriff der Ge- rechtigkeit . Die Idee der Gerechtigkeit bindet das Eigen- thum an mich selbst, an meine Person; indem derselbe Verband, der mich unaufhoͤrlich an den Staat knuͤpft, zugleich alles mein Eigenthum mit mir selbst verbindet. — Der Begriff der Gerechtigkeit knuͤpft mein Eigenthum zwar an mich, und mit einem Bande, welches ich selbst wirken koͤnnte, wenn ich die Gesetze und die lan- desuͤblichen Formen gehoͤrig begriffen haͤtte; aber da mein Band mit dem Staate, mit dem allgemeinen Gerechtigkeits-Garant, wieder ein besonderes ist, so kann dieses zerreißen, waͤhrend jenes ganz bleibt, und mir gegen das zerhauende Schwert des feindlichen Siegers nun auch nichts hilft. Die Idee der Gerechtigkeit spricht: er- halte beides zugleich, den Staat, das allgemeine Tribunal der Gerechtigkeit, und die kleinen Tri- bunale des Privatrechtes; oder du erhaͤltst keins! Stuͤrzt das Pantheon; so werden die kleinen dar- in aufgerichteten Kapellen nicht widerstehen. — Aus dem unendlichen Streite der Freiheit mit der Gegenfreiheit erzeugen sich nicht bloß die be- sten Fabrikate, sondern auch die besten Gesetze; und das ist es, was ich zu beweisen hatte und bewiesen habe. In einem Staate, der frei genannt werden will, muß in allen Gesetzen die Spur jenes Streites zu finden seyn; man muß es den Ge- setzen ansehen, daß sie aus der Gegenseitigkeit aller Verhaͤltnisse, d. h. aus der Bewegung, nicht aus todter, einseitiger, wenn auch noch so verstaͤndiger und consequenter Willkuͤhr, entsprun- gen sind; das Recht muß allenthalben — so druͤckte ich es neulich aus — erscheinen 1) als Ge- setz, und 2) als Contract, als Vergleich: als Resultat einer Vermittelung zwischen zwei noth- wendigen und unvermeidlichen Extremen. Dem- nach, als vor zwanzig Jahren gegen den Druck starrer Begriffe von Staat, Gesetz, Adel, Su- veraͤnetaͤt u. s. f. (welche nicht an sich, sondern weil der Geist des Lebens, die Idee Gottes oder des Rechtes aus ihnen gewichen war, druͤckten) Rath geschafft werden sollte, rief man mit der- selben dumpfen und unbestimmten Sehnsucht, womit man jetzt, wie ich oben gesagt habe, nach Frieden ruft, nach Freiheit . Man ahndete sehr richtig, daß es nur Freiheit geben koͤnne, in so fern die Gegenseitigkeit, oder die Con- tracts-Natur aller politischen Verhaͤltnisse des Lebens sich erweisen lasse. Die Natur des Su- veraͤnetaͤts-Contractes fing an, alle Koͤpfe und alle Federn zu beschaͤftigen. Wenn Er nicht erfuͤllt, was er, in so fern er Koͤnig ist, uns versprochen haben muß, da alles in der Welt gegenseitig ist, und also auch das Verhaͤltniß „Herrschaft und Unterthaͤnigkeit” ein gegensei- tiges seyn muß; so brauchen auch wir nicht zu erfuͤllen, was wir ihm versprochen und geschwo- ren haben: — dies wurde die Grundformel bei den Entwuͤrfen und den Rechtfertigungen aller Graͤuel in jener Zeit. — Anstatt die Idee des Vertrages, wie ich sie beschrieben, in allen den unendlichen politischen Verhaͤltnissen wieder zu finden und zu beleben (was die Seele aller Freiheit ist), hielt sich der schwerfaͤllige, ungefluͤgelte Verstand jener Zeiten sogleich wieder an einen bestimmten, fixen Be- griff eines Vertrages zwischen fixen und todten und voͤllig disparaten Partheien, Volk und Suveraͤn. Auf die Frage: „was ist das Volk?” ant- worteten sie: das Buͤndel ephemerer Wesen mit Koͤpfen, zwei Haͤnden und zwei Fuͤßen, welches in diesem Einen, gegenwaͤrtigen, armseli- gen Augenblick auf der Erdflaͤche, die man Frank- reich nennt, mit allen aͤußeren Symptomen des Lebens neben einander steht, sitzt, liegt; — an- statt zu antworten : „ein Volk ist die erha- bene Gemeinschaft einer langen Reihe von ver- gangenen, jetzt lebenden und noch kommenden Geschlechtern, die alle in einem großen innigen Verbande zu Leben und Tod zusammenhangen, von denen jedes einzelne, und in jedem einzel- nen Geschlechte wieder jedes einzelne menschliche Individuum, den gemeinsamen Bund verbuͤrgt, und mit seiner gesammten Existenz wieder von ihm verbuͤrgt wird ; welche schoͤne und unsterb- liche Gemeinschaft sich den Augen und den Sin- nen darstellt in gemeinschaftlicher Sprache, in ge- meinschaftlichen Sitten und Gesetzen, in tau- send segensreichen Instituten, in vielen zu noch besonderer Verknotung, ja Verkettung der Zeiten besonders ausgezeichneten, lange bluͤhenden Fa- milien, endlich in der Einen unsterblichen Familie, welche in der Mitte des Staates steht, in der Regenten-Familie, und, damit wir noch besser den rechten Mittelpunkt des Ganzen treffen, in dem zeitigen Majorats-Herrn dieser Familie. — Auf die Frage: „was ist der Suveraͤn?” antworteten jene ungluͤcklichen Apostel der Freiheit: „wer anders, als eben Der, welcher in der Mitte steht und die Gewalt in Haͤnden zu haben scheint, in der Gestalt, in der Farbe, in dem Kleide, worin er eben jetzt, in dieser Stunde, erfunden wird;” anstatt zu antworten : „der Suveraͤn ist nichts anders, als eben die Idee jenes großen Bundes, welchen das Volk aus- druͤckt, und bis in seinem letzten, kleinsten Ele- mente allgegenwaͤrtig traͤgt; jene strebende, draͤn- gende Gewalt aller Glieder des Volkes und aller vergangenen und kommenden Geschlechter nach dem Mittelpunkte, nach einer immer innigeren Verbindung hin, die alle einzelnen streitenden Kraͤfte versoͤhnt; jenes unaufhoͤrliche Siegen einer großen Grundgewalt, wie des Erdkoͤrpers, einer Centripetal-Kraft, uͤber unendliche einzelne, aus einander strebende Centrifugal-Kraͤfte, wel- ches alles sich wieder darstellt in der vermitteln- den Gewalt des Hausvaters uͤber seine Familie, des Richters uͤber seine Partheien, des Bischofs uͤber seine Gemeine, des Feldherrn uͤber sein Heer, des Fuͤrsten uͤber die eben versammelten, bald voruͤbergehenden Glieder des ewigen Vol- kes, des Gesetzes uͤber anscheinend ganz verschie- denartige Geschlechter. Indem nun alle diese unendlich gespalteten Ele- mente des Volkes von unendlichen suveraͤnen Ideen allenthalben mit nie nachlassender Gewalt des staͤrkeren Lebens uͤber das schwaͤchere ver- soͤhnt werden, zeigt sich im Streite zugleich ein unendliches Vermitteln und Vertragen, welches nur moͤglich ist, in so fern jedes einzelne Glied des politischen Weltkoͤrpers seiner lebendigen Na- tur treu bleibt, waͤchst, sich regt und durch nichts anderes beschraͤnkt wird, als durch eben so leben- dige, stolze und freie Naturen neben ihm. Der Grundvertrag ist demnach nicht etwa ein irgend- wann oder wo geschlossener, sondern die Idee des sich immerfort und an allen Stellen schließenden Vertrages, der in jedem Moment durch die neue Freiheit, die sich neben der alten zu regen be- ginnt, an allen Stellen erneuert und eben da- durch erhalten wird. Anstatt dieser lebendigen Idee des Vertrages aller Vertraͤge, ward von den Aposteln des contrât social und des com- mon-sense , ein bestimmter Contract zwischen jener ephemeren Gestalt des Volkes und des Su- veraͤns praͤsumirt, dem zu Folge der Umkreis des Staates sein Centrum etwa so angeredet haben sollte: „ich will um dich herlaufen, Mittelpunkt, wenn du im Mittelpunkte bleiben willst; bleibst du nicht im Mittelpunkte, so laufe ich wo an- ders hin, und habe das Recht zu laufen.” — Aus dem Privatrechte von dem ersten besten Pacht-Contracte her, nahm man diesen Begriff des Contractes. Die einfache Natur aller Gegen- seitigkeit, die ein Kind begreift, war aus dem Pacht-Contracte sehr bald in den Social-Con- tract uͤbergetragen; aber die Natur der beiden strei- tenden und contrahirenden Partheien, und der Streit dieser politischen Centripetal- und Centri- fugal-Kraft ward vollstaͤndig verfehlt: das rund fuͤr sich abgeschlossene Privatrecht konnte wohl mit dem Begriffe des Contractes aufwarten; aber wo sollte es, von den großen Rechtsverhaͤltnis- sen im Staate durch seine eigne, unpassende Genuͤgsamkeit ausgeschlossen, die Idee des Con- tractes hernehmen? eine Idee, die sich gleich-le- bendig bewaͤhrt haͤtte, man mochte sie nun auf einen ordinaͤren Pacht-, oder auf den ewigen Social-Contract anwenden. Zu entscheiden zwischen Volk und Suveraͤn, und, dem zu Folge, den Suveraͤn abzusetzen, hatte der Richter in seiner Privat-Rechtsschule wohl gelernt; aber die Kunst des Vermittelns zwischen den bei- den gleich- ewigen, gleich- nothwendigen Par- theien fehlte ihm. — Er hatte nicht eigentlich die beiden Partheien lebendig und persoͤnlich vor sich, sondern die Sachen und ihre Anwendung auf eine praͤsumirte Sache, ein praͤsumirtes Grundgesetz, welches erst construirt werden muß- te, damit der Privat-Richter sich in die neuen kolossalen Rechtsverhaͤltnisse uͤberhaupt nur fin- den konnte. So trat nun in Frankreich an die Stelle unzaͤhliger Begriffe ein allgemeiner Grundbegriff, die Freiheit , der alle die kleinen zerschmetterte, aber nicht lange den Schein von Leben, mit wel- chem er zuerst auftrat, bewahren konnte, son- dern im Laufe der Zeiten vor einer Macht mit Einsicht gepaart, um so gewisser verschwinden mußte. — Die Freiheit kann in keiner andern Gestalt wuͤrdiger und passender dargestellt werden, als in der ich sie gezeigt habe: sie ist die Erzeuge- rin, die Mutter des Gesetzes. In dem tau- sendfaͤltigen Streite der Freiheit des Einen Buͤr- gers mit der Gegenfreiheit aller uͤbrigen entwik- kelt sich das Gesetz; in dem Streite des beste- henden Gesetzes, worin sich die Freiheit der ver- gan- gangenen Generation offenbart, mit der Freiheit der gegenwaͤrtigen, reinigt sich und waͤchst die Idee des Gesetzes. Die Idee der Freiheit ist die große, nie nachlassende Centrifugal-Kraft der buͤrgerlichen Gesellschaft, wodurch die andre ihr ewig entgegen strebende Centripetal-Kraft derselben, nehmlich die Idee des Rechtes, erst wirksam wird. Jedermann fuͤhlt, wie diese im Innern des Menschen nie schweigende Begierde seine Eigen- heit zu behaupten, sich, seine Ansicht, seine Handlungsweise, seinen Gang, seine ganze Le- bensform bei den Uebrigen geltend zu machen, — in dem bestaͤndigen Agiren und Reagiren auf das aͤhnliche Streben aller Uebrigen nun eine lebendige Ordnung erzeugen hilft. Je verschie- denartiger und mannichfaltiger aber die Naturen sind, welche dieses Streben, ihre Eigenheit gel- tend zu machen, aͤußern, um so weniger wird ein Begriff des Gesetzes hinreichen, zwischen ihnen Ordnung, oder, was dasselbe sagen will, gleichmaͤßiges Wachsthum zu bewirken; je ver- schiedenartiger die Gestalten der Freiheit sind, um so vielseitiger wird der Streit mit der Ge- genfreiheit seyn, um so lebendiger das Gesetz und die Ordnung, die sich daraus entwickeln wird. Der Staat verstatte dem Menschen, das Müllers Elemente. I. [14] zu seyn und ohne Ende immer mehr zu werden, was er, seiner eigenthuͤmlichen Natur und sei- nem individuellen Wachsthum nach, seyn kann: so giebt er, mit Einer und derselben Handlung, dem Volke Freiheit, dem Gesetze Leben und Kraft. — Die Freiheit aber ist eine Eigenschaft, welche jedem einzelnen von den vielfaͤltigen Bestand- theilen des Staates zukommen muß, nicht bloß den physischen, sondern auch den moralischen Personen. In Großbrittanien wird es beson- ders klar, wie jedes Gesetz, jeder Stand, jedes National-Institut, jedes Interesse, jedes Ge- werbe seine eigenthuͤmliche Freiheit, und wie jede von diesen moralischen Personen, eben so gut wie die einzelnen menschlichen Individuen, auch jenes Streben hat, seine Eigenheit geltend zu machen. Es ist eben dort ein allgemeiner Geist des politischen Lebens in alle Bestandtheile des Staates gefahren; und da die Gesetze selbst, freie, vom Geiste des Ganzen beseelte Personen sind, so hat der Buͤrger allenthalben, wo er hinblickt, Seinesgleichen vor sich, so sind alle Bestandtheile des Staates unaufhoͤrliche Gegen- staͤnde seiner Opposition und seiner Liebe. Bin ich selbst frei, sagt der Ahnherr, so ist auch Das frei, was zu mir gehoͤrt, nicht bloß mein Hausrath und die Gauen und die Burg, auf denen ich hause, sondern auch meine Thaten mit ihren Wirkungen, und meine Worte, mein Gesetz, das ich den Enkeln hinterlasse. So per- soͤnlich wie ein freies Wort eines freien Mannes, sollen die Gesetze, unter allen unendlichen, freien Gespraͤchen der Gegenwaͤrtigen, vernommen wer- den. Der gleichmaͤßige Streit ihrer Freiheit mit der Freiheit der gegenwaͤrtigen Generation, soll der Idee des Rechtes zu neuer Anfrischung und Belebung gereichen; alle Jahrhunderte sollen freie Repraͤsentanten herabsenden duͤrfen in die Volksversammlung, die wir heutigen Menschen bilden, und die Gesetze, alle Spuren der Vorzeit, sollen von uns als solche lebendige Repraͤsentan- ten Derer, die selbst nicht kommen koͤnnen, weil sie schon in ihren Graͤbern ruhen, anerkannt und respectirt werden. — Demnach, sobald die Freiheit bloß als die Eigenschaft einzelner Bestandtheile des Staates, z. B. der kleinen Maͤnner, die gerade jetzt auf der Buͤhne stehen, anerkannt wird; sobald man sie nicht eben so wohl allen andern nothwendigen Elementen des Staates zuspricht; sobald man, wie es in Frankreich geschah, ein, von aller der Eigenheit, in deren Behauptung sich eben die Freiheit aͤußert, entkleidetes Wesen, ein Abstrac- tum, einen Begriff „Mensch” frei erklaͤrt: so ist die Freiheit selbst ein Begriff, und kann keine andre Kraft begehren, als die der bloßen Masse; sie kann wie ein großer Fels andre kleinere Fel- sen zerschmettern, ist aber in dem allgemeinen Ruin eben auch nichts mehr als Truͤmmer. — Nichts kann der Freiheit, wie ich sie beschrie- ben habe, und wie sie nicht bloß mit dem Ge- setze besteht, sondern vom Gesetze erzeugt und getragen wird, und dafuͤr wieder das Gesetz erzeugt und traͤgt, mehr widersprechen, als der Begriff einer aͤußeren Gleichheit . Wenn die Freiheit nichts anders als das allgemeine Streben der verschiedenartigsten Naturen nach Wachsthum und Leben ist, so kann man kei- nen groͤßeren Widerspruch ausdenken, als indem man, mit Einfuͤhrung der Freiheit zugleich, die ganze Eigenthuͤmlichkeit, d. h. Verschiedenartig- keit, dieser Naturen aufhebt. Indeß war auch von meiner Freiheit in Frankreich nicht die Rede; das Wesentliche, was jene engherzigen Schwaͤrmer meinten, ihre Freiheit und ihre Gleichheit, wurde realisirt; denn der Begriff der Freiheit, da er die Freiheit herausreißt aus jener unendlichen Reaction mit der Gegenfrei- heit unter allen moͤglichen Formen, da er die Freiheit an sich begehrt, meint er und erhebt er die Willkuͤhr. Ferner der Begriff der Gleich- heit, da man eine aͤußere Gleichheit meint, und alle aͤußere Verschiedenheit, worin sich eben die innere Gleichheit als Idee bewaͤhren soll, aus- geloͤscht wird, verfehlt seinen Zweck nicht: alle diese gerupften, der ganzen, stolzen, eigenthuͤm- lichen Bekleidung ihres Lebens beraubten, Crea- turen gleichen einander an Ohnmacht und sklavi- scher Gesinnung. So hat sich eine vermeinte Freiheit, mit ihrem Gefolge, der Gleichheit, in dem revolutionirten Frankreich charakterisirt. Daß Einzelne frei sind und ihnen die Be- hauptung ihrer Eigenthuͤmlichkeit freigestellt bleibt, waͤhrend Andre die Form ihres Lebens und Handelns von fremder Willkuͤhr hernehmen muͤs- sen: das hat die Welt gegen Privilegien, Exem- tionen und Monopolien aller Art erbittert. Wohlan! wenn die Freiheit also uͤberhaupt wieder hergestellt werden soll, so muß sie all- gemein wieder hergestellt werden, jede einzelne Natur, die zum Ganzen des Staates gehoͤrt, muß sich auf ihre Weise regen, streiten und ver- theidigen koͤnnen; denn, waͤre auch nur eine ein- zige ausgenommen, so koͤnnte sie sich uͤber ein Privilegium, das allen uͤbrigen zustaͤnde, und uͤber Unterdruͤckung beklagen. Wer sind also diese einzelnen Naturen, damit wir keine uͤbersehen, und dadurch selbst wieder das Werk unsrer Be- freiung zunicht machen? — Herzaͤhlen koͤnnen wir sie nicht, und die Zeitgenossen werden sich wahrscheinlich schon von selbst melden. Aber an die Abwesenden, an die Raumge- nossen, an die vergangenen und kommenden Ge- nerationen, die der Leichtsinn der Gegenwart am allerersten uͤbersehen koͤnnte, an sie, deren Interesse in der Fessel des Begriffes liegt, deren Worte man wie kalte Verstandesformeln, deren hinterlassene Werke man als todtes Eigenthum betrachtet, muß erinnert werden. Gesteht Ihr ihnen nicht die Freiheit und das Leben zu, wel- ches ihnen, der Natur der Sache nach, zu- kommt; privilegirt Ihr die gegenwaͤrtige Gene- ration mit Freiheit vor allen vergangenen und kommenden Geschlechtern: so habt Ihr einen neuen Begriff fuͤr den alten, eine neue Tyran- nei fuͤr die alte errichtet, und das kommende Geschlecht wird Eure Freiheit eben so wenig re- spectiren, wenn Ihr dereinst abwesend seid, als Ihr die Freiheit Eurer abwesenden Vaͤter geach- tet habt. — So liegt in dem stolzen Gefuͤhl eigener Frei- heit, wofern es nur consequent ist und sich wahr- haft zu behaupten strebt, zugleich eine tiefe De- muth, eine liebevolle Hingebung an das Ganze, eine Gerechtigkeit , sowohl gegen die auf die Fuͤlle ihrer Kraft und auf die Gewalt des Augen- blickes pochende Gegenwart, als gegen die abwe- sende Generation. Der wahre Ruf der Freiheit muß die Todten erwecken, und die kuͤnftigen Ge- schlechter muͤssen sich, wenn er erschallt, in ihren dunkelsten Keimen regen. — Dies war ein Ton, den die wuͤrdigen Alten kannten: sie empfanden tief, daß mit dieser Freiheit alles von der Erde entweiche, Gerechtigkeit, Gesetz, Kraft, Reich- thum und Lebensmuth. Die Idee der Freiheit, das ist der kriegerische Geist, der den Staat bis in seinen letzten Nerven durchdringt, das ist das Eisen, welches in jedem seiner Blutstropfen fließen soll: dadurch, daß jeder Einzelne durch und durch seine Eigenheit vertheidigt und bewaff- net, lernt er die wahren lebendigen wachsenden Schranken kennen, die seiner Wirksamkeit ange- wiesen sind, und jenseits dieser Schranken, den eben so freien streitlustigen gewaffneten Nachbar achten, lieben und ihm vertrauen. Der Staat ist Tempel der Gerechtigkeit, und eine Burg zu- gleich: templum in modum arcis. Achte Vorlesung . Vom strengen Privat-Eigenthum, und vom (weiblichen) Lehns-Eigenthum. D a ich in unsrer letzten Unterhaltung gezeigt habe, daß die lebendige Freiheit unzertrennlich ist von dem lebendigen Gesetz, und daß das Ge- setz keine andre Quelle hat, als den Streit der Freiheit mit der Gegenfreiheit; daß nur unter verschiedenartigen Naturen, und in so fern sich dieselben in ihrer Verschiedenartigkeit behaup- ten, ein nie nachlassendes Streben nach Verei- nigung, Vermittelung oder Vergleich, also ein lebendiges, wachsendes Gesetz Statt finden kann, und daß also das wahre Gesetz zugleich Con- tract seyn muß —: so haben wir jetzt zu zei- gen, daß diese Gegenseitigkeit der Verhaͤltnisse des Lebens, so fern man sich nur uͤber den aͤuße- ren Schein hinwegsetzen will, an allen Stellen des Privat-, des Staats- und des Voͤlker- Rechtes wieder gefunden wird. — Die ganze Lehre vom Eigenthume scheint meiner Behauptung zu widersprechen. „Wie koͤnnen,” fragt man mich, „Sachen im Ver- haͤltniß der Gegenseitigkeit zum Menschen ste- hen? Wie kann ferner ein freier Streit und, dem zu Folge, ein Vergleich, ein Contract, zwischen einem lebendigen Menschen und einer todten Sache Statt finden? Zwischen Menschen und Menschen ist allerdings ein unaufhoͤrliches Agiren und Rea- giren, also ein lebendiger unaufhoͤrlicher Con- tract, gedenkbar; aber die Sachen muͤssen, in so fern nur jene persoͤnlichen Verhaͤltnisse zu den Nebenmenschen geschont werden, dem unbeding- ten Schalten und Walten des Menschen uͤber- lassen bleiben; der Gebrauch der Sachen — die wenigen Faͤlle ausgenommen, wo der Staat zur Abwendung allgemeiner Gefahr oder zu Errei- chung eines gemeinnuͤtzigen Zweckes ihn beschraͤn- ken muß — liegt uͤbrigens außerhalb des Gesetzes, und der ziemlich unbedingte Despotismus des Menschen uͤber sein Eigenthum ist, den gemei- nen Ansichten nach, die Hauptaͤußerung seiner sogenannten Freiheit. Der Mensch, heißt es ferner, ist in seinen Verhaͤltnissen zu Personen freilich unaufhoͤrlich beschraͤnkt: er kann nicht, wie er gern moͤchte; er muß sich fuͤgen; muß den Menschen unaufhoͤrlich schonen, weil er Sei- nesgleichen ist: fuͤr diesen Druck aber, den er in allen persoͤnlichen Verhaͤltnissen auszustehen hat, kann er sich an den unempfindlichen, todten Sachen schadlos halten; hier ist er meisten Theils unbeschraͤnkt, und Herr uͤber Seyn und Nicht- seyn. Der Gegenstand unserer heutigen Unterhal- tung ist die Idee des Eigenthums . — Hier, oder nirgends, muß sich die lebendige Ansicht der Dinge, zu deren Wortfuͤhrer ich mich aufgewor- fen habe, in ihrer ganzen Groͤße und Unerschuͤt- terlichkeit zeigen. Waͤre das Verhaͤltniß des Menschen zu seinen Besitzstuͤcken durchaus und absolut verschieden von dem andern Verhaͤltnisse des Menschen zu Personen, und dem Vereine dieser Personen, den man gewoͤhnlich „ Staat ” nennt; gaͤbe es, außer dem Staate von Perso- nen, in welchem ein lebendiges Gesetz regiert, noch einen besonderen Staat von Sachen, der einem bloß mechanischen Verstandesgesetze unter- worfen waͤre, und von eigenen Richtern nach einfachen, schon seit Jahrtausenden regulirten Vernunftschluͤssen regiert wuͤrde: so haͤtten wir wirklich eine Stelle außerhalb des lebendigen Staates, von wo aus dieser, wie die neueren Zeiten uns uͤberzeugt haben, ewig gefaͤhrdet seyn muͤßte. — Es waͤre ein leichtes Geschaͤft, alle Real- Verhaͤltnisse auf die Personal-Verhaͤltnisse zu- ruͤckzufuͤhren, zu zeigen, daß alles Eigenthum nicht fuͤr den Menschen an sich, aber wohl fuͤr den Menschen in der buͤrgerlichen Gesellschaft, und um dieser Gesellschaft willen, Werth habe; daß Nahrung, Kleidung, Wohnung denn doch nur Mittel waͤren, das Verhaͤltniß des Men- schen zum Menschen, welches der eigentliche Zweck des Lebens sey, aufrecht zu erhalten; daß demnach das Ganze der buͤrgerlichen Gesellschaft bei dem Gebrauche der unbedeutendsten Sache des Einzelnen interessirt sey; daß die Sachen also nichts anders als nothwendige Accessorien, ich moͤchte sagen, erweiterte Gliedmaßen des mensch- lichen Koͤrpers seyen, und dem zu Folge Das, was wir „ Person ” nennen, eine kleine Welt von Sachen. Da nun die Freiheit des Menschen, wie wir neulich gesehen haben, nichts anderes als die Behauptung seiner persoͤnlichen Eigenheit, seiner Verschiedenartigkeit sey, und diese Eigen- heit sich nicht bloß in dem Bau und der Phy- siognomie und der Constitution des menschlichen Koͤrpers, und in seiner Denkungsart, sondern eben so wohl in seiner Art sich die Dinge an- zueignen und dieselben zu gebrauchen, in seiner Kleidung, Nahrung, Wohnung u. s. f. offen- bare, und er viel eher ein Glied seines Leibes als manche Sachen entbehren koͤnne: so liege in der Behauptung der Freiheit schon die Behaup- tung des Eigenthums mit eingeschlossen, und so waͤren die Sachen eben so wohl wie die uͤbrigen Glieder des menschlichen Koͤrpers bei der unend- lichen Bildung des Gesetzes durch den Streit der Freiheit mit der Gegenfreiheit thaͤtig und huͤlfreich; — die Rechtslehre sey also nur eine Geschichte der persoͤnlischen Verhaͤltnisse in der buͤrgerlichen Gesellschaft, und jenes Gesetz, wel- ches den Streit der Personen im Staate regu- lire, muͤsse nothwendig auch die Sachen umfas- sen, die ja uͤberhaupt nur Werth haͤtten, in so fern sie Mittel oder, richtiger ausgedruͤckt, Glie- der, Organe von Personen waͤren. — Dies waͤre allerdings eine gute Manier, die Sachen, wenigstens indirecter Weise, in den lebendigen Umkreis der menschlichen Verhaͤltnisse hinein zu ziehen, und zu beweisen, daß ein blo- ßer Verstandesbegriff die Eigenthumsverhaͤltnisse des Lebens nicht reguliren koͤnne, da nehmlich unaufhoͤrlich die persoͤnlichen Verhaͤltnisse mit ih- nen concurrirten, diese aber, wie schon hinrei- chend erklaͤrt worden, nur durch ein eben so le- bendiges, persoͤnliches Gesetz aufrecht erhalten werden koͤnnen. — Indeß duͤrfen wir uns mit einer solchen De- duction nicht begnuͤgen. Alle unsre Gesetzgebun- gen sind durch den Wahn, daß es eine absolute Scheidewand zwischen den Personen und den Sachen gebe, verderbt worden; die frevelhaf- testen Angriffe auf die heiligsten Rechte hat man in unsern Tagen durch jenen Unterschied moti- virt, den man zwischen der nackten Person und ihren vermeintlichen reinen Rechten, und der Sache an sich hat finden wollen; der persoͤnliche Charakter, den ein Familiengut im Laufe der Jahrhunderte annimmt, und der sich auch in dem durch lange Zeit wohl bewirthschafteten Ca- pital eines Handlungshauses nicht verkennen laͤßt, wurde nicht weiter empfunden. Nach jener stren- gen Verstandes-Distinction, waren Capital und Familiengut nichts anders, als eben auch todte Sachen, und ward jene erhabene Verschmelzung der Sachen und der Personen, die wir in allen recht gluͤcklichen Staaten finden, unter dem Na- men des Feudalismus Ein fuͤr alle Mal, als ein Verbrechen gegen die Vernunft, verabscheut. Das wahre lebendige Verhaͤltniß zwischen den Personen und den Sachen im Staate zu zeigen, ist die schwierigste und wichtigste Aufgabe, welche dem Staatsgelehrten vorgelegt werden kann. Nehmen Sie also eine tiefgeschoͤpfte Darstellung dieser großen Angelegenheit mit Ruhe und Nach- sicht auf. Sie haben Sich meinen Beweis gefallen las- sen, daß den Gesetzen des Staates, falls uͤber- haupt vom Rechte die Rede seyn solle, Leben zugesprochen werden, und daß ein todtes Gesetz, eine mechanische todte Anwendung desselben, im Staate nicht Statt finde, weil dieser selbst als ein lebendiges Wesen angesehen werden muͤsse. Ein einzelnes Beispiel von einer Sache, welcher Leben und Persoͤnlichkeit zugestanden werden muß, wenn der Staat damit bestehen soll, haͤtten wir also schon beseitigt: das Gesetz selbst erscheint auf den ersten Blick als eine bloße Sache und der Willkuͤhr lebendiger Menschen durchaus un- terworfen; sobald aber der Mensch bedenkt, daß die ganze Spur, die er von sich auf der Erde zuruͤcklaͤßt, nur in solchen Sachen besteht, ja, daß sein ganzes Leben sich nur in einem Formen und Umgestalten solcher Sachen offenbart: so faͤngt er an, erst die vorhandenen Sachen als Spuren des ihm vorangegangenen Lebens zu ach- ten, allmaͤhlich aber die ganze wirthbare und wohnliche Einrichtung des buͤrgerlichen Lebens, Gesetze und Eigenthum, als ein Werk der buͤr- gerlichen Gesellschaft zu lieben. Die Erbauer des Staates sind ihm gegen- waͤrtig, wenn er ihr Werk, den Staat, mit seinen Gesetzen, seinen Vorraͤthen, Schaͤtzen und Eigenthumsanordnungen betrachtet; zuletzt sieht er in den Gesetzen und in allen urspruͤng- lichen Einrichtungen, die ihn bei seinem Eintritt in die buͤrgerliche Gesellschaft empfangen, nichts weiter als segensreiche Haͤnde großer Vorfahren, die bis zu ihm heruͤber reichen, ihm beistehn, und sein kurzes, gebrechliches Daseyn aufrecht er- halten. — So werden dem gegenwaͤrtigen Men- schen die Gesetze zu lebendigen, persoͤnlichen We- sen, mit denen er sich lebendig unterredet und be- redet, wie mit einem lebendigen Weisen. Das Leben eines Gesetzes wird weit mehr respectirt, als das Leben eines wirklichen Menschen; kurz, ein Gesetz ist eine wahre Person, und wer es anders ansieht, versteht es nicht. Der Mensch kann sein Leben in Steinmas- sen, in oͤkonomischen Anlagen und Pflanzungen eben so gut ausdruͤcken, wie in den Buchstaben des Testamentes, oder des Gesetzes, welches er hinterlaͤßt. Wenn ich demnach dergleichen Stein- massen, oder Anpflanzungen, ein aͤhnliches Leben zuschriebe, wie dem Gesetze, so wuͤrden Sie mir nicht Unrecht geben koͤnnen. Was diese Stein- massen an und fuͤr sich sind, lebendig oder todt, geht mich nichts an; uns interessirt an ihnen nichts als ihr Nutzen fuͤr die buͤrgerliche Gesell- schaft. Stehen sie in Beziehung auf das mensch- liche Leben? das ist die Frage. Ist etwas an ihnen, das dem menschlichen Leben entspricht? Und was dem Leben entspricht, das ist selbst lebendig. Die Spuren ehemaligen Lebens, fer- ner der gegenwaͤrtige lebendige Verkehr mit den Dingen, endlich die Aussicht, daß diese Dinge kuͤnftig gebraucht werden, d. h. in das leben- dige Leben eingreifen koͤnnten: das ist es, was an den Sachen interessirt und ihnen Werth giebt. Wir lieben, wir achten, wir bezahlen, wir be- arbeiten, wir verschenken an den Sachen nur ihre Nutzbarkeit, ihre Beziehung auf das Leben, d. h. ihre Persoͤnlichkeit. — Und dennoch ver- faͤhrt die Theorie der Jurisprudenz so, als waͤre die Begreifbarkeit der Sachen, und das Her- ausreißen derselben aus dem Zusammenhange der buͤrgerlichen Gesellschaft, das Verschließen derselben in Koffer, das Wesen des Eigenthums; weshalb auch consequente Juristen nicht umhin koͤnnen, alles Privat-Eigenthum fuͤr unrecht- maͤßig zu erklaͤren. Also nicht die Sachen an sich , die, wie sie uͤberhaupt keinen Werth haben, nun meinethal- ben auch todt seyn moͤgen, aber die Beziehung der Sachen auf Personen ist das eigentliche Ob- ject jekt des Eigenthums . Der lebendige Mensch kann an den Sachen nichts brauchen, als die Eigenschaften daran, welche seinem Leben ent- sprechen, in sein Leben eingreifen, also selbst lebendig sind. Mit diesen lebendigen Eigenschaf- ten streitet er und vertraͤgt sich, contrahirt mit ihnen gerade auf dieselbe Weise, wie mit Per- sonen: er schließt eine Allianz mit ihnen zu ge- genseitiger Huͤlfe und Unterstuͤtzung; und so ist das Verhaͤltniß des Menschen zu den Dingen keinesweges ein einseitiges, despotisches, sondern ein gegenseitiges, republicanisches. Lassen Sie uns die Paradoxie dieses Aus- spruches durch naͤhere Betrachtung beseitigen. Je mehr wirkliche Merkmahle des Lebens die Sachen an sich tragen, um so wichtiger sind sie fuͤr die buͤrgerliche Gesellschaft. Eins der ersten unter diesen Merkmahlen, ist die Produc- tivitaͤt . Ein fruchtbarer Acker ist unter allen Gegenstaͤnden des Eigenthums einer der bedeu- tendsten, weil seine Productivitaͤt, unter leichter menschlicher Beihuͤlfe, mit der menschlichen Pro- ductivitaͤt Schritt haͤlt, weil zwischen den Er- zeugnissen des Ackers und des Menschen ein ununterbrochener, lebendiger Verkehr moͤglich ist. Alle Sachen der Welt haben mehr oder weniger diese Productivitaͤt; wenn sie mit dem Menschen Müllers Elemente. I. [15] in Verbindung treten, vermoͤgen sie neue Sachen zu erzeugen. Diese Productivitaͤt aͤußert sich vornehmlich bei der Sache par excellence , bei dem Stellvertreter aller Sachen, dem Gelde. Es wird allgemein angenommen, daß jedes Geld-Capital im Laufe eines Jahres so und so viele Procente erzeugt haben muͤsse. Jene drei, vier oder fuͤnf Procent landesuͤblicher Zinsen werden schon im gemeinen Leben fuͤr ein Lebens- zeichen des Capitals angesehen; der allgemeine Sprachgebrauch unterscheidet todtes Capital und lebendiges . — Jedes einzelne Besitzstuͤck des Lebens laͤßt sich als ein solches Capital betrachten, und der fuͤr den Menschen aus solchem Besitzstuͤck im Gebrauch erwachsende Nutzen, als die Zinsen jenes Capitals. Dieser, lebendige Zinsen erzeu- gende, Umgang des Menschen mit den Sachen oder mit den Capitalen, ist das wahre Verhaͤlt- niß des Menschen zu den Sachen; und so erscheint das Eigenthum, wenn es in der Be- wegung betrachtet wird. Alles zu allem gerech- net, woruͤber der einzelne Mensch auf dieser Erde disponirt, ist es ein Nießbrauch eines gro- ßen, der ganzen Menschheit und allen Genera- tionen gemeinschaftlichen Capitals, welches nicht angetastet werden, weder soll, noch kann. Wie die menschliche Gesellschaft lebt und waͤchst, so lebt und waͤchst auch, in bestaͤndiger Verbindung und Wechselwirkung mit ihr, das große Capital, dessen sie zu ihren immer groͤßeren Geschaͤften bedarf. Welche doppelte Thorheit also, 1) die- ses große Capital, wie es in der Franzoͤsischen Revolution geschehen ist und noch gegenwaͤrtig in unsern meisten Staats-Theorieen geschieht, fuͤr ein Object des Eigenthums der Generation zu halten, die gerade jetzt auf der Erde verweilt; 2) dieses Eigenthum als ein einseitiges zu betrach- ten, so, als ob dieses Capital dem Menschen unterworfen waͤre, der Mensch aber seines Or- tes nicht wieder dem Capitale! So nun entsteht, wenn man die wahre Na- tur des Eigenthums betrachtet, ein durchaus per- soͤnliches Verhaͤltniß zwischen dem Grundbesitzer und seinem Grundstuͤck, zwischen dem Capitali- sten und seinem Capital, zwischen dem Eigen- thuͤmer und seinem Eigenthum. Jedes Eigen- thum waͤchst und entwickelt sich unter unsern Augen, wie ein lebendiger Mensch; es ist keines- weges unsrer unbedingten und unbeschraͤnkten Willkuͤhr unterworfen, es hat seine eigne Natur, seine Freiheit, sein Recht — welche wir respecti- ren muͤssen, wenn wir es gebrauchen wollen, wenn wir durch die Vereinigung mit ihm etwas erzeugen wollen, Ernten, Zinsen, oder auch nur den leichtesten Lebensgenuß. Was sonst hat die groͤßten Handelsstaaten der Welt groß gemacht, als diese Ehrfurcht fuͤr das Capital? diese tief- gewurzelte Ueberzeugung, daß der voruͤberge- hende Einzelne nur Nießbraucher desselben sey, und keinesweges nach freier Willkuͤhr mit dem Theil des großen National-Capitals schalten und walten duͤrfe, den er von seinem Standpunkte aus uͤbersehen und erreichen koͤnne; daß sein Verhaͤltniß zu seinem besonderen Capitale voͤllig eben so zart sey, wie das zu seiner Frau in der Ehe! Man muß das Wesen wahrer Handelsstaa- ten, und die Natur der alten Europaͤischen Adels- verhaͤltnisse einer genauen Betrachtung unter- worfen haben, um die Idee des lebendigen Eigenthums in zwei ganz entgegengesetzten Formen aufzufassen, und um den Grundmangel des heutigen Privat-Rechtes zu empfinden. Die Unveraͤußerlichkeit aller Familienguͤter — ein Ge- setz, woruͤber heut zu Tage jeder Modejuͤnger der National-Oekonomie spottet, und das, wie es auch entstanden seyn moͤge, schon deshalb ernsthafte Betrachtung verdient, weil es durch die Sitte ganzer Jahrhunderte aufrecht erhalten, befestigt und bekraͤftigt worden — ist ein herrliches Muster, wonach alles Eigenthum im Staate sich richten und formen sollte: — waͤhrend wir, im Wahn eines allgemeinen unbeschraͤnkten Be- sitzes aller auf der Erde vorhandenen sogenann- ten todten Sachen, worin unser so bestimmtes und absolutes Privat-Recht uns noch bestaͤrkt, nie einsehen wollen, daß alles Das, dessen Eigen- thuͤmer wir uns nennen, eben so wohl, und noch viel mehr, jener unsterblichen Familie gehoͤrt, deren vergaͤngliche Glieder wir sind. Capital und Zinsen, Grundstuͤck und Ertrag zu verwech- seln, beides fuͤr gleich-abhaͤngig von der Will- kuͤhr des gegenwaͤrtigen Besitzers zu halten: das war der Charakter jener Zeit und des Ge- schlechtes, welches, in eitlem, schrecklich bestraftem Hochmuth, seiner Ahnherren und seiner Enkel vergaß, und den Begriff dieses despotischen Eigenthums unter die Menschenrechte setzte: les droits de l’homme en société sont la liberté, l’egalité, la propriété ! Es ist wahr, wenn ein Einzelner jenen leben- digen Charakter des Eigenthums bei Seite setzen und Capital und Zinsen in thoͤrichter Willkuͤhr verschleudern will, so kann er fuͤr den Augen- blick eine große Wirkung hervorbringen. Das- selbe wird der Fall seyn bei einer Nation, die das National-Capital ihres Eigenthums angreift. Aber diese glaͤnzenden Augenblicke wuͤrden in der Staatswissenschaft, welche nur auf die Er- fahrungen ganzer Jahrhunderte achtet, nichts gelten. Das Eigenthum also ist kein todter Begriff, kein starres, krampfhaftes Festhalten, welches mit der unaufhoͤrlichen, regsamen Gegenseitigkeit der persoͤnlichen Verhaͤltnisse im Staat uͤbel har- moniren wuͤrde, sondern es ist eine lebendige Idee, ein wechselseitiges Besitzen und Beses- sen- werden zwischen den Menschen und den Sachen. Das Object des Privat-Eigenthums ist nicht etwa eine todte, aus dem allgemeinen Zusammenhange der buͤrgerlichen Gesellschaft her- ausgeschnittene, eximirte Sache, sondern der le- bendige Verkehr mit den nutzbaren Eigenschaf- ten dieser Sache, oder ihr Gebrauch. — Jede Sache, wie jedes Gesetz, wie jede Person im Staate, hat ihre Eigenheit, ihre Persoͤnlichkeit, die sie geltend macht und mit der ihr eigenthuͤm- lichen Freiheit behauptet; aus dem gemeinschaft- lichen freien Streben aller dieser Individuen ent- wickelt sich ein allgemeines gegenseitiges Vertra- gen und Vergleichen, und in diesem unendlichen Contrahiren der Personen unter einander, und der Personen mit Sachen, waͤchst die Idee des Rechtes heran. In den bisherigen Rechtslehren nun hat man den Verkehr der Personen mit Sachen nur dann erst eines Blickes gewuͤrdigt, wenn zweite Per- sonen dabei concurrirten; man hielt die wirkli- chen lebendigen Menschen allein fuͤr rechtsfaͤhig, hatte also die Summe dieser Menschen, ihrer Rechte und ihrer Beduͤrfnisse im Auge, wenn man vom Rechte sprach. Da es aber nicht die Summe der gegenwaͤrtigen Nießbraucher, son- dern die Totalitaͤt aller freien Individuen aller Jahrhunderte ist, welche den Staat bildet, so leuchtet ein, daß das gesammte Erbtheil der vorangegangenen Zeiten, welches nur Dem todt scheint, der sich die großen Erblasser nicht ver- gegenwaͤrtigen kann, vor den Augen des Staats- mannes genau eben so rechtsfaͤhig seyn muß, wie die gegenwaͤrtige, lebendige Generation; denn der Staatsmann oder der Richter soll ja nicht etwa die Summe der Nießbraucher als bloßer Wortfuͤhrer einer einzelnen Generation vertreten, sondern den Staat auch in der Dauer umfassen, d. h. wahrer Repraͤsentant der Totalitaͤt des Staates seyn. Nicht bloß Freiheit und Gegen- freiheit der jetzt lebenden Menschen geben in ihrem Streite das Gesetz, sondern eben so wohl die Freiheit des Gegenwaͤrtigen, und die in seinen Werken noch fortlebende Gegenfreiheit des Ab- wesenden, des Verstorbenen. Dem zu Folge, muß das National-Capital sowohl, als das National-Gesetz, d. h. die ganze Verlassenschaft der Verstorbenen, als eine rechts- faͤhige Person jeder einzelnen wirklichen Person gegenuͤber, auch wenn keine zweite wirkliche Per- son dabei concurrirte, angesehen werden; und da jede nutzbare Sache als ein Theil des Natio- nal-Capitals angesehen werden muß, so kann eine absolute Scheidewand zwischen Sachen und Personen vor dem Richter nicht weiter Statt finden. Nach der bisherigen Ansicht der Dinge wurden die Verhaͤltnisse der Personen unter ein- ander als einzige Objecte der Rechtswissen- schaft angesehen, hingegen die reinen und di- recten Verhaͤltnisse der Personen zu Sachen, da man sich nicht verhehlen konnte, wie sehr auch der Staat dabei interessirt sey, der Nutzens- wissenschaft oder der Oekonomie zugewie- sen. — Sollen nun Finanzlehre und Rechtslehre, wie ich gezeigt habe, beide einander durchdringen; soll die Rechtslehre, ob sie wirklich mit einer Idee oder nur mit Begriffen verkehre, dadurch zeigen, daß sie alle Finanz-Verhaͤltnisse des Le- bens als rechtliche und demnach die Totalitaͤt des Rechtsstaates aufzufassen im Stande sey: so darf die alte Grenze zwischen Personen und Sachen, welche die Sprengel der Finanz- und der Gerichts-Behoͤrde absonderte, als todte Mauer nicht weiter bestehen. Der Justiz-Mini- ster — so nenne ich den Repraͤsentanten des Rechtsstaates — muß die Persoͤnlichkeit, d. h. die Rechtsfaͤhigkeit aller Sachen im Staate eben so wohl als die Rechtsfaͤhigkeit der wirklichen lebendigen Personen zu erkennen wissen, wenn er nicht fuͤr den bloßen Wortfuͤhrer eines Be- griffs, einer Zunft gehalten seyn will. Die Ver- schwendung irgend eines Theiles von dem Na- tional-Capitale muß demnach von dem Staats- manne, der das Ganze repraͤsentirt, nicht bloß als unoͤkonomisch, sondern auch im vollen Sinne des Wortes als unrechtlich angesehen werden, und in der Gesetzgebung muͤssen, was im gemei- nen Leben Recht , und was dort Nutzen ge- nannt wird, innig verschmolzen erscheinen. Lassen Sie uns das Wesentlichste dieser Be- trachtungen zusammen fassen. Jedes Indivi- duum, welches durch seine Brauchbarkeit zu er- kennen giebt, daß es zum Staate gehoͤrt, also jedes einzelne, eigne, anscheinend noch so unbe- deutende Glied des Staates, hat eine Art von Buͤrgerrecht im Ganzen, d. h. es ist Per- son , und zugleich, im edlen Sinne des Wortes, Sache . Als Person, besitzt es; als Sache wird es besessen. Jeder einzelne Buͤrger ist eine wahre Sache: der Staat ist die große Person, welche ihn besitzt; aber dieser Besitz ist kein tod- ter, keine Leibeigenschaft, kein einseitiges, despo- tisches Festhalten, sondern ein gegenseitiges Wech- selwirken. In so fern das Vaterland mich sei- nen Buͤrger, seinen Unterthan nennt, nenne ich es wieder mein Vaterland. In demselben Verhaͤltnisse steht der Buͤrger auch wieder zu dem kleinen Staate seines Hauswesens: der kleinste Hausrath dient an seinem Orte als Sache dem Ganzen, oder der Person, dem Hausherrn; aber es herrscht auch wieder an seinem Orte als kleine Person: seine Eigenheit will respectirt, will geschont seyn. Ich sage noch einmal: unter dieser Eigenheit der Sachen verstehe ich nicht das, was diese Sachen an sich, sondern was sie in Beziehung auf das menschliche, auf das buͤrgerliche Leben sind. Wer Sachen, als Sa- chen, zu gebrauchen, und in ihrer andern Eigen- schaft, als Personen, wieder zu schonen, wer lebendigen Gebrauch der Sache, und lebendige Sparsamkeit und Vorsicht in diesem Gebrauche zu vereinigen weiß: den nennen wir einen guten Hauswirth, einen Oekonomen. Dieselbe Idee der Gerechtigkeit, welche wir oben im Großen und Ganzen betrachteten, fin- den wir hier im Kleinen und Ganzen wieder: der Hauswirth ist eben so wohl Richter als Fi- nancier in der Verwaltung seines kleinen Ver- moͤgens; und da, ihm gegenuͤber, bloß die haͤus- liche und gesellschaftliche Natur aller Theile die- ses Vermoͤgens in Anschlag kommt: so wird er, nach einem und demselben Gesetze der Gerechtig- keit, zwischen seinen Knechten, Maͤgden, seinem Vieh, seinem Acker, seinem Feldgeraͤthe vermit- teln; ohne weitere Verstandes-Distinction, daß jene ja wirkliche Personen, diese aber nur Sa- chen seyen. — Eben so der wahre Staatsmann: nach dem- selben Gesetze der Gerechtigkeit, unbekuͤmmert um die scharfen Distinctionen der Philosophie des Ta- ges, sieht er in allen Individuen, sogenannten lebendigen und sogenannten todten, sogenannten Personen und sogenannten Sachen, nur ihre ge- sellschaftliche Bedeutung, den Werth, welchen sie fuͤr das buͤrgerliche Leben haben; und das Verhaͤlt- niß dieser einzelnen gesellschaftlichen Werthe heißt ihm: Rechtsverhaͤltniß. Diese Rechtsverhaͤltnisse alle gemeinschaftlich aufrecht zu erhalten, oder zu vermitteln, oder zu repraͤsentiren: das haͤlt er fuͤr seine Bestimmung; nicht die bloßen, leben- digen Personen, nicht die bloße Summe der Beduͤrfnisse, oder die Laune dieses Augenblickes will er repraͤsentiren. So nun haͤtten wir uns in den Stand ge- setzt, die wahre Natur des Privat-Rechtes un- befangen und lebendig zu erkennen. Das Pri- vat-Recht ist nicht etwa, wie uns die Roͤmische Schule lehrt, die Wissenschaft von dem Verhaͤlt- nisse der lebendigen Privat-Personen im Staate zu einander, in so fern dasselbe persoͤnliche und saͤchliche Objecte hat; sondern es ist die Wissen- schaft von den Rechts-Verhaͤltnissen aller der Individuen, oder gesellschaftlichen Werthe, welche in demselben Staate sich neben einander mit Freiheit behaupten wollen. Die wahre lebendige Natur des Eigenthums, so wie ich sie beschrie- ben habe, ist ein Gewinn des Mittelalters. Zu- gleich mit der Achtung fuͤr die schwaͤchere Haͤlfte des menschlichen Geschlechtes, ist die Achtung fuͤr jene gesellschaftliche Bedeutung der Besitzstuͤcke des Lebens, die der alten Welt als unbedingt und sklavisch dem lebendigen Menschen unter- worfen schienen, verbreitet worden. Das Ge- heimniß der Gegenseitigkeit aller Verhaͤltnisse des Lebens, welches dem jugendlichen Uebermuthe und Kraftgefuͤhle der Roͤmischen und Griechi- schen Welt verborgen blieb, wurde klar. Zu zei- gen, wie vielen Antheil an dieser großen Veraͤn- derung die christliche Religion gehabt haben moͤge, kommt mir an diesem Orte nicht zu. Denken Sie Sich, als ob die Unterwerfung der Welt durch die Roͤmer nun gelehrt habe, daß die bloße Kraft und der bloße Verstand zur eigent- lichen wahren Herrschaft uͤber die Welt denn doch nicht fuͤhre; daß man einen neuen, entgegen- gesetzten Weg einzuschlagen habe, und daß in dem Unterworfenen, anscheinend Schwaͤcheren eine eigne, ganz eigenthuͤmliche Kraft sey, die respectirt werden muͤsse, und aus deren Reaction gegen die Action der aͤußeren maͤnnlichen Kraft, erst die wahre, lebendige, schoͤne und dauernde Ordnung der Dinge hervorgehe; kurz, daß alles, was der Mensch eigentlich wolle und auf die Dauer wollen koͤnne, erzeugt werden muͤsse, und nicht erzwungen werden koͤnne. Dieser Gedanke liegt der ganzen adeligen Verfassung des Mittelalters zum Grunde, vor allem aber den Successions- oder den Erbfolge-Gesetzen, die erst in dieser Zeit in tausendfaͤltigen Formen ausgebildet worden sind. Wenn in der Roͤmischen Gesetzgebung — wie ausgebildet die Lehre von der Uebertragung der todten Sachen auf einen andern eben so todten Besitzer, oder das, was damals Succession hieß, auch schon seyn mag — dennoch die Sachen als bloßes Anhaͤngsel der Personen erscheinen: so tritt im Mittelalter vor allen Dingen das Grund- eigenthum, und spaͤterhin in den Staͤdten auch das Geld-Capital, als eigentliche Person her- vor, und die zeitigen Besitzer erscheinen in Ge- setzen oft als bloße Accessorien der Sachen. Lehne, Majorate sind eigentlich bloße Reactionen gegen den Roͤmischen Einfluß. — Der Mensch ist bestimmt, scheinen die Ge- setzgeber des Mittelalters zu sagen, gemeinschaft- lich mit seinem Eigenthume die Ordnung und den Reichthum in’s Unendliche fort zu erzeugen; also reicht ein einzelnes Menschenleben dazu nicht hin; folglich muß durch strenge Erbfolge-Gesetze der einzelne Besitzer an das durch Jahrtausende fortlebende Grundstuͤck geknuͤpft werden, und in dem Verhaͤltnisse der einzelnen Person zu der mit ihr zusammenhangenden Sache, muß das Gesetz seinen Accent auf diese Sache setzen, und nur dafuͤr sorgen, daß das Leben des zeitigen Besitzers an seine Vorfahren und Nachkommen so eng und innig geknuͤpft werde, als moͤglich, was denn durch Erbfolge-Gesetze geschieht. — So entsteht nun jener beruͤhmte Streit zwi- schen dem Privat-Rechte, welches den Accent allenthalben auf die Personen setzt und seine Roͤ- mische Abkunft nicht verlaͤugnen kann, und den Gesetzen des Mittelalters, welche die Sachen vor den Personen auszeichnen, und die Persoͤn- lichkeit der Sachen allenthalben anerkennen. Die Franzoͤsische Revolution, aus diesem Gesichts- punkt angesehen, war eine Reaction des Roͤmi- schen Privat-Rechtes gegen die Gesetze des Mit- telalters, welche eine eben so wesentliche und unentbehrliche Seite der buͤrgerlichen Gesellschaft vertreten, und damals, auch wohl noch jetzt, mit dem allgemeinen Schimpfnahmen „Feuda- lismus” bezeichnet worden. Dieses aus den disparatesten und erhabensten Elementen gemisch- te, von Wenigen verstandene Wesen wollen wir weiter hin noch einer naͤheren Kritik unterwerfen. Fuͤr jetzt kam es mir nur darauf an, eine wahre Ansicht von dem Verhaͤltnisse der Perso- nen zu den Sachen, des Eigenthuͤmers zu dem Eigenthume, und auf diese Weise das Ideal des Privat-Rechtes zu geben, dessen erster Grund- satz die Gegenseitigkeit des Verhaͤltnisses zwi- schen Personen und Sachen ist. — In dem wah- ren Privat-Rechte werden also Roͤmische und feudalistische Elemente lebendig mit einander ver- bunden werden muͤssen. Die beiden Familien- Verhaͤltnisse, welche ich in meiner Darstellung der Familie, als den Grund aller menschlichen Verbindungen gezeigt habe, werdem dem Privat- Rechte etwa auf folgende Weise zum Grunde gelegt werden muͤssen. Der Mensch lebt in einer doppelten Ehe, 1) mit der Person, und 2) mit der Sache. Der Stand der Familie (das hoͤhere Personenrecht) und der Stand des Besitzes (das hoͤhere Sa- chenrecht) sind die beiden einander gegenseitig auf das innigste durchdringenden Gesichtspunkte der Privat-Rechtswissenschaft. Unsere bisheri- gen Rechts-Theorieen Roͤmischen Ursprunges se- hen den Staat unter dem Gesichtspunkt des abso- luten saͤchlichen, weltlichen Besitzes an. Allen diesen Theorieen muß eine auf der Idee der Fa- milie gebauete, aus den Erfahrungen, Gesetzen und Sitten des Mittelalters geschoͤpfte Theorie der Persoͤnlichkeit aller Gegenstaͤnde des Besit- zes gegenuͤber gestellt werden, damit die Welt nicht weiter im Namen des Rechtes hoͤchst un- rechtmaͤßig und roh eingetheilt, sortirt und ge- schichtet werde in Personen und Sachen, son- dern, damit in allen Individuen, aus denen der Staat besteht, deutlich beides, die persoͤnli- che und die saͤchliche Natur , heraustrete, demnach das Leben und die Rechtsfaͤhigkeit nicht bloß da gesucht werde, wo sich der Schein des Lebens und der Rechtsfaͤhigkeit findet, d. h. nicht bloß bei den zeitigen Menschen, sondern auch auch bei allen den lebendigen und anscheinend todten Individuen, die aus dem Standpunkte des wahren und vollstaͤndigen Staatsmannes, wegen der Bedeutung, die sie — wenn auch nicht in der Summe der Lebenden, doch in der Totalitaͤt des ganzen, ewigen Staates — haben, als lebendig und rechtsfaͤhig anerkannt werden muͤssen. Müllers Elemente. I. [16] Neunte Vorlesung. Vom Staatsrechte und vom Adel . E s ist eine falsche Staatskunst, die durch ihre Bemuͤhung den absoluten Frieden oder einen absoluten Rechtszustand bewirken will. — Man nehme den Streit der Kraͤfte, den ewigen Zwie- spalt aller Individuen und sein Motiv, die Frei- heit, aus der buͤrgerlichen Gesellschaft heraus, und bringe es dahin, daß sich alle diese verschie- denartigen Naturen irgend einem Rechtsbegriffe blindlings und sklavisch unterwerfen —: so hat man damit nicht nur nichts erreicht, sondern das wahre und lebendige Recht aus den Staaten wirklich verbannt. Angenommen, man haͤtte die einfachste Gesetzgebung, und dazu einen Suve- raͤn, der sich, unerreichbar fuͤr alle Bestechung der Sinne und des Lebens, ganz dem Ausdrucke dieser Gesetzgebung unterzuordnen wuͤßte, der, wie eine reine Verstandesmaschine, unbedingt nach dem Gesetze spraͤche: so waͤre das buͤrger- liche Leben zu Ende, alle Kraft todt, d. h. alle Freiheit, oder alles Gesetz todt. Das leben- dige Leben kann todten Schranken ewig nicht unterworfen werden, und in dieser Hinsicht waͤre es voͤllig gleich, ob die Willkuͤhr eines Tyrannen oder der starre Buchstabe des weisesten Gesetzes, Regel fuͤr die unterworfenen Naturen waͤre; der Widerspruch wuͤrde gleich groß seyn. Daß dem einen sowohl als dem anderen Bewegung fehlte, d. h. Streit, oder Freiheit, oder die Liebe, wie der goͤttliche Paulus sagt, das waͤre ihre Eine große Gebrechlichkeit. Man berechne die kuͤnst- lichsten Verfassungen, (wie denn in neueren Zei- ten viele Rechenmeister sich darauf gelegt haben, um jede Leidenschaft der Regierenden abzuleiten, um die Gesetzgeber und Richter gaͤnzlich zu neu- tralisiren und die erhabene Kunst des Herrschens vollstaͤndig zu mechanisiren) —: so hat man nun erst das Ungluͤck der Welt in ein System ge- bracht; denn der Tod ist zum Richter uͤber das Leben gesetzt . Ein uraltes Germanisches Gesetz, welches in die Brittische Verfassung und in viele Ordens- Statute des Mittelalters uͤbergegangen ist, sagt: „Der Edelgeborne kann nur von Seinesgleichen, von seinem Pair, gerichtet werden.” Eben so kann die ganze buͤrgerliche Gesellschaft nur von ihresgleichen beherrscht werden, und die herr- schende Idee, der Staat, muß voͤllig wie ein Mensch organisirt seyn. Der absolute reine Ver- stand kann nicht uͤber Wesen herrschen, deren Leben darin besteht, daß sie aus Verstand und Empfindung gemischt sind. Des unaufhoͤrlichen Widerstreites zwischen beiden bedarf der Staat, so gut wie der einzelne Mensch, zu seinem Da- seyn. Ist es denn moͤglich, den einfachsten Pri- vat-Streit befriedigend zu endigen, indem man mit einem Verstandesbegriff oder mit einem Grundsatze dazwischen tritt? Aber der vollstaͤndige Mensch hat eine unbegrenzte Gewalt, den aͤußeren Streit der Menschen zu befriedigen, weil seine Voll- staͤndigkeit eben darin liegt, daß derselbe Streit unaufhoͤrlich in seinem Innern vorgeht. Der ewige Friede, sowohl unter den Buͤr- gern desselben Staates, als unter den Voͤl- kern , ist bekanntlich die wirkliche Unterwerfung Aller unter Ein und eben dasselbe unumgaͤngliche Gesetz. Der Wahn, als ob die Kriege zwischen Voͤlkern Suspensionen des Rechtes, d. h. un- rechtliche Zustaͤnde, hingegen die Streitigkeiten unter Privatleuten innerhalb desselben Staates deshalb rechtlich waͤren, weil ein wirklicher und wirksamer Richter fuͤr sie existire — also der Wahn, daß ein rechtliches Verhaͤltniß zwischen Zweien dadurch entstehe, daß ein Dritter, Staͤr- kerer, uͤber ihnen walte, also endlich der Wahn, daß alles Recht vom Staͤrkeren ausfließe, folg- lich Recht des Staͤrkeren sey: — dieser Wahn hat auch das Problem vom ewigen Frieden un- ter Voͤlkern, d. h. von der Sicherheit vor Kriegen, und vom ewigen Frieden innerhalb der Staaten, d. h. von der Sicherheit vor Revolutionen, veranlaßt. — Soll unter den Voͤlkern bloß der Krieg, und innerhalb der Staaten bloß die Rebellion und die Unruhe vermieden werden; besteht darin das Wesen unsrer politischen Einrichtungen: — wohlan! so setze man den Maͤchtigsten auf den Thron der Welt, so erlaube man ihm eine Welt- Polizei zu organisiren und zu concentriren. — Und was haben wir dadurch erreicht? Mir scheint es, Sicherheit, welche Ihr zum hoͤchsten und letzten Staatszweck erhebt, und eine Weile ewigen Friedens. Auch der Geringste, nehmen wir an, soll weder an seinem Eigenthume, noch an seiner Person gekraͤukt werden. Die Macht kann alles durchsetzen, was Ihr von dem Rechte begehrt: aller Zwiespalt der Kraͤfte beruhigt sich; es wird nun stille, und Jeder ist sicher vor den Angriffen des Nachbars. Eure abwehrende, negative Gerechtigkeit ist nun realisirt worden durch die Macht; aber der schoͤpfe- rische Geist Eurer ehemaligen Staaten, die Un- beschraͤnktheit alles Strebens, alles Erwerbs ist dahin: Jeder hat, begreift, uͤbersieht bei Heller und Pfennig das Seinige. — Nun faͤllt es Al- len wie Schuppen von den Augen: die todten Grenzen erscheinen alsbald den Einzelnen, wie eben so viele Gefaͤngnisse; die Sicherheit selbst wird zu einer immerwaͤhrenden Qual. Es zeigt sich, daß nicht der Besitz, sondern der Wachs- thum des Besitzes, die Aussicht zu unendlicher Erweiterung des Besitzes — und so erklaͤrten wir in unsrer letzten Unterhaltung das Eigen- thum — gluͤcklich machen. — Der Streit der Kraͤfte , der wahre Krieg, die Freiheit, das Gut aller Guͤter, fehlt; ohne dasselbe ist die Ge- rechtigkeit nichts weiter, als consequente Macht, das Recht nichts weiter, als Recht des Staͤrke- ren in ein System gebracht. Erst durch den Krieg wird der Friede, durch die Freiheit das Gesetz zur lebendigen Idee. Der mit Muͤhe zu Boden geworfene Streit muß also wieder erweckt wer- den. Dann erscheint die Gerechtigkeit wieder als das Kind, welches die Macht mit der Macht erzeugt; sie erscheint nicht bloß abwehrend, schuͤt- zend, oder negativ; sie befruchtet, sie segnet, sie begeistert. — Durch den Streit der Freiheit mit der Frei- heit bildet sich also in’s Unendliche fort ein uͤber allen diesen einzelnen Freiheiten waltendes Recht, Gesetz, oder — um dieses hoͤhere Erzeugniß der Ge- sellschaft noch lebendiger auszudruͤcken — die ver- mittelnde Macht eines Richters, Patriarchen, Monarchen, Fuͤrsten. — Ein unvollkommenes, lebendiges Gesetz ist, allen meinen Voraussetzun- gen zu Folge, besser als ein noch so logisches, kuͤnstliches, aber todtes Gesetz. Darin nun besteht der große Vorzug aller monarchischen Ver- fassung : das Gesetz wird nicht bloß mechanisch ausgelegt, sondern wirklich repraͤsentirt durch eine Person; es kann gemißbraucht werden, aber nicht erstarren; ein lebendiges Individuum, wie es auch gestaltet seyn moͤge, wird unaufhoͤrlich in dem Strome fortschreitender Zeiten fortge- rissen, kann also auf die Dauer der Freiheit der Einzelnen keine Gefahr bringen, waͤhrend ein todter Gesetzbegriff, wenn er aufrecht erhal- ten werden koͤnnte, allgemeinen Stillstand be- wirken wuͤrde. Ein lebendiges Individuum wird von der Natur unaufhoͤrlich in die verschieden- sten Gesichtspunkte gestellt, durch Jugend und Alter, durch maͤnnliche und weibliche Ansichten hindurchgefuͤhrt, ist also an und fuͤr sich schon voll- staͤndiger, als das geschlechtlose, zeitlose Gesetz. Betrachten Sie die Regierung Ludwigs XIV , den frischen Morgen, den glaͤnzenden Mittag und den truͤben, schwermuͤthigen Abend dersel- ben, so werden Sie mich verstehen, wenn ich sage, daß durch die an ein strenges Erbfolgege- setz gebundene Monarchie eine Art von regelmaͤ- ßigem Lichtwechsel uͤber die buͤrgerliche Gesell- schaft komme. Jedes Alter, jedes Geschlecht mit seinen Rechten und Eigenheiten erhaͤlt fuͤr eine gewisse Periode den Vorzug, bis das Ge- stirn des Monarchen sich wechselt, bis er, den natuͤrlichen Gesetzen seines Lebens folgend, die Schwelle eines andern Alters betritt, und nun andre Neigungen und Ansichten den bisher un- terdruͤckten wieder Luft machen. Jede Parthei des Lebens kommt in einer ganz natuͤrlichen Ord- nung an die Reihe; jedes Streben erlebt eine Zeit besondrer Gunst, wo es seine Bedeutung geltend machen und den Schatz der National- Erfahrungen, oder die lebendige Gesetzgebung, mit seinem eigenthuͤmlichen Wesen bereichern kann. — Auf den ersten Blick scheint der Buchstabe des Gesetzes vor einem lebendigen Menschen den Vorzug der Dauer zu haben; aber es ist eben Sproͤdigkeit, und — erlauben Sie mir den Aus- druck — zaͤhes Leben, und nichts weiter: das geistreiche, gaͤhrende National-Leben zersprengt alle diese todten Bande und Klammern, waͤhrend die Schranken der wahren Monarchie zugleich mit der Frucht, die sie einschließen, selbst wach- sen und sich ausweiten. Was ist alle Dauer des Gesetzes unter den Haͤnden des gemuͤthlosen Sophisten, waͤhrend es in der Person des Mo- narchen umher wandelt, von Jedermann verstan- den, und doch dem Sophisten so unerreichbar, wie das Geheimniß des Lebens selbst; waͤhrend alles, dessen Freiheit durch die Sproͤdigkeit des Geset- zes verletzt werden mag, zu seiner Zeit in dem Gemuͤthe des Monarchen seinen Fuͤrsprecher fin- det! Das bloße Gesetz spricht nur; der Mo- narch aber spricht und hoͤrt . Kurz, der Idee des Rechtes ist die monarchische Verfassung guͤn- stiger, als die republikanische. In Betreff der republikanischen Ver- fassung erwaͤgen Sie zuerst die kurze Dauer aller Republiken, von denen die Geschichte redet, den Monarchieen der neueren Welt gegenuͤber, seit- dem diese durch ein Erbfolgegesetz befestigt, d. h. wirklich monarchisch construirt, waren. Rom und Venedig machen keine Ausnahme: jenes durchaus militaͤrisch und auf einen Weltkrieg, dieses durchaus mercantilisch und auf einen Welt- handel gestellt. Das Streben dieser beiden Staa- ten war auf die ganze Welt gerichtet, aber nicht nach innen; das bei weitem groͤßte Feld Roͤmi- scher und Venezianischer Thaͤtigkeit lag außer- halb des Spielraums fuͤr die republikanischen Gesetze. — Eine in sich selbst ruhende Republik ferner, wie Athen, muß unaufhoͤrlichen Gaͤhrungen unterworfen seyn: die Sproͤdigkeit des herrschen- den Gesetzes muß immer neue Reactionen in dem fortschreitenden, lebendigen Volke veranlas- sen; anstatt des regelmaͤßigen, des periodischen Lichtwechsels in den Monarchieen, muß hier ein unregelmaͤßiger, zufaͤlliger erfolgen. Der Streit des kalten Gesetzes mit der Fuͤlle lebendiger Na- turen mag glaͤnzendere politische Phaͤnomene er- zeugen; aber sie werden bald wieder erloͤschen: die wechselnde National-Laune wird Einen De- magogen nach dem andern erheben; es wird sich am Ende zeigen, daß auch in Republiken das Gesetz allenthalben nach lebendiger Verkoͤrperung strebt, und daß es jeden Augenblick einen wirk- lichen Repraͤsentanten des Gesetzes giebt, nur daß dieser von Stunde zu Stunde wechselt, und, wenn es auch jedes Mal der vortrefflichste, der ἀριςος, waͤre, demnach nur einzelne, unzu- sammenhangende rechtliche Momente, aber kein dauernder, rechtlicher Zustand bewirkt wird, d. h. kein dauerndes Wachsthum der Idee des Rechtes, also uͤberhaupt keine dauerhafte Na- tional-Existenz. Wie auch Religion und Sitten das Alterthum und das Recht der vorangegangenen Generation in Schutz nehmen moͤgen — ihre Stimme wird in dem Tumulte der Partheien, denen kein bleiben- der, maͤchtiger Richter gegenuͤbersteht und die Wage haͤlt, immer uͤberhoͤrt werden; die Frei- heit der Gegenwaͤrtigen, der lebendigen Koͤpfe, wird gegen die Freiheit der Abwesenden, der vorangegangenen und der zukuͤnftigen Genera- tionen, wellche auch behauptet werden soll, wie ich neulich gezeigt habe, immer die Oberhand behalten; die augenblickliche Freiheit der Buͤrger wird uͤber die ewige Freiheit der unsterblichen Staats-Familie allezeit den Sieg davon tragen; kurz, diese kuͤnstliche Erhebung todter Formen und Gesetze auf einen Thron, der dem Leben gebuͤhrt, wird nach kurzen Versuchen zum Unter- gang derselben Freiheit fuͤhren, um derentwillen sie angeordnet ist. Sehen Sie da, wie wich- tig und noͤthig es ist, die Idee der Freiheit, wie wir es neulich gethan haben, in ihrem gan- zen Umfange aufzufassen, auch die Freiheit des Abwesenden und des anscheinend Todten, neben der schon allzubeguͤnstigten und in die Augen springenden Freiheit der Gegenwaͤrtigen und Le- bendigen geltend zu machen. So entsteht die Idee einer liberté générale , waͤhrend die liberté de tous — d. h. der gerade neben einander stehenden Menschen, die man gewoͤhnlich im Auge hat, wenn man von Frei- heit redet — oft anscheinend durch solche Institu- tionen gefaͤhrdet wird, welche jener allgemeinen Freiheit halber aufrecht erhalten werden muͤssen. Um der Freiheit des ganzen Staates willen, ist nun in den neueren Gesetzgebungen ein Recht der Familien entstanden und den Rechten der einzelnen Personen als Gleichgewicht gegenuͤber gestellt worden. Um die liberté générale , d. h. die volonté générale , bei allen Beschluͤssen des Augenblickes gegenwaͤrtig zu haben, hat man durch die Bande des Blutes lange Jahrhunderte hindurch verbundene Personen, oder Familien, als Individuen den einzelnen Personen rechtlich gegenuͤber gestellt: so sind die adeligen und die regierenden Familien entstanden. Einer Familie hat man die Repraͤsentation des Gesetzes uͤber- tragen, deren Oberhaupt das Interesse des Augenblicks und das der Jahrhunderte in einem hohen Grade in sich vereinigt, und nun selbst lebendig am besten dazu geeignet ist, zwischen den Abwesenden und den Gegenwaͤrtigen, zwi- schen den Familien und den Einzelnen, zwischen der Ewigkeit und dem Augenblike zu vermitteln. Auf diese Art ist das Ziel aller republikanischen Verfassungen, die groͤßtmoͤgliche Entwickelung der liberté générale , durch monarchische For- men viel sicherer und glaͤnzender erreicht wor- den. — Die urspruͤngliche Form der buͤrgerlichen Ge- sellschaft war monarchisch. Nachher, als Miß- braͤuche diese Form verdaͤchtig gemacht hatten, glaubte man, einen lebendigen Repraͤsentanten des Gesetzes entbehren zu koͤnnen, kehrte aber, nach wenigen gescheiterten Versuchen, zur mo- narchischen Verfassung zuruͤck. Die Erfahrun- gen unsrer Zeit haben gelehrt, daß weder eine absolut-republikanische, noch eine absolut-monar- chische Form moͤglich ist, sondern daß Repu- blikanismus und Monarchie nichts an- deres, als die beiden gleich nothwendi- gen Elemente jeder guten Verfassung sind . Der freie moͤgliche Streit aller der un- endlichen Partheien, deren Conflict die buͤrger- liche Gesellschaft ausmacht, das ist die republi- kanische Natur aller Verfassung; und hoͤchst lebendige Entwickelung des Gesetzes, das ist ihre monarchische Seite, die aber, wie sich in mei- ner ganzen Darstellung zeigt, mit der republi- kanischen in dem Verhaͤltniß strenger und gegen- seitiger Abhaͤngigkeit steht. Das Privatrecht beantwortete die Frage: wie entwickelt sich und waͤchst die Idee des Rechtes in dem Streite der Freiheit mit der Gegenfrei- heit der einzelnen Buͤrger desselben Staates? — Die andre Frage: wie entwickelt sich in dem Gesammtstreite der einzelnen Buͤrger mit dem lebendigen Gesetze, die Idee des Rechtes? beant- wortet das Staatsrecht. — In demselben Ver- haͤltnisse der Gegenseitigkeit, worin alle Indivi- duen desselben Staates zu einander stehen, steht auch jedes einzelne Individuum, und die Tota- litaͤt dieser Individuen zum Staate, zum leben- digen Gesetz, oder zum Suveraͤn. So wie der Streit der Freiheit mit der Gegenfreiheit der einzelnen Buͤrger im Laufe der Zeiten allmaͤhlich gewisse Regeln begruͤndet, welche der Suveraͤn in seiner Qualitaͤt als Privat-Richter benutzt, belebt und erweitert: so entwickeln sich aus dem Verhaͤltnisse des Suveraͤns zu den Unterthanen erpruͤfte Formen, welche als Reichs-Grundge- setze, oder, wie man sie in neueren Zeiten ge- nannt hat, als organische Gesetze (Sena- tus-Consulte), den nachfolgenden Zeiten zur Grundlage ihrer gesammten Unterthaͤnigkeitsver- haͤltnisse, als Verfassung, als Constitution dienen. Wenn von solchen organischen Gesetzen und Con- stitutionen und ihrer Verbesserung die Rede ist, kommt es nur darauf an, daß man sich nie von dem medicinischen Sinne dieses Wortes ent- ferne! Im natuͤrlichen Gange der Dinge ent- wickelt sich dieses Verhaͤltniß so gut und harmo- nisch, als es die Zeiten und die Lage der Um- staͤnde vergoͤnnen; verbessern kann die Kunst, aber umformen, oder etwas nach Verstandes- gesetzen Erfundenes an die Stelle des im Gange der Natur Erzeugten setzen, so wenig, als es der Kunst des Arztes gelingen wird, bei einem gegebenen Kranken nach allgemeinen Ansichten von dem Wesen des gesunden, menschlichen Koͤr- pers, nun eine neue Constitution, frische Saͤfte, einen vollkommenen Ton der Nerven hervor- zubringen. Das Genie des Arztes oder des Staatsman- nes wird sich hier nicht in seiner Erfindungs- kraft, aber wohl in dem Divinations-Geiste of- fenbaren, womit er in die gegebene Natur und in die fruͤheren, unabaͤnderlichen Schicksale des Koͤrpers eingeht, den er zu curiren hat, nicht in der Art, wie er ein allgemeines Ideal von guter Verfassung dem kranken Koͤrper oder dem kranken Staate aufdringt, sondern wie er, ohne der eigenthuͤmlichen Natur seines Patienten et- was zu vergeben, nicht nach Gesundheit uͤber- haupt, sondern nach der diesem Koͤrper eigen- thuͤmlichen und erreichbaren Gesundheit strebt. — Wenn man den Leichtsinn erwaͤgt, womit in un- sern Zeiten hier und da alte Verfassungen aufge- geben werden, den Leichtsinn Derer, meine ich, die lange unter dem unmittelbaren Einflusse die- ser Verfassungen lebten: so findet man, daß ih- nen der Staat nichts weiter ist, als eine große Polizei-Anstalt, die durch eine andre Anstalt der Art ersetzt werden kann, ohne daß sich in dem inneren Leben der Buͤrger etwas veraͤndert. — Betrachtet man den Staat als ein großes, alle die kleinen Individuen umfassendes, Indivi- duum; sieht man ein, daß die menschliche Gesell- schaft im Ganzen und Großen sich nicht anders darstellen kann, denn als ein erhabener und voll- staͤndiger Mensch —: so wird man niemals die inneren und wesentlichen Eigenheiten des Staa- tes, die Form seiner Verfassung, einer willkuͤhr- lichen Speculation unterwerfen wollen. Das Verhaͤltniß des Suveraͤns zu dem Volke ist an und fuͤr sich ein sehr einfaches, eben weil es ein durchaus gegenseitiges ist. Der unsterb- liche Suveraͤn in dem unsterblichen Volke, beide in ihrer allgemeinen, ewigen Natur betrachtet, stehen stehen in unaufhoͤrlicher Wechselwirkung. Je freier das Volk, d. h. je freier die Totalitaͤt der Individuen, aus denen der Staat besteht, nicht bloß die Summe der Koͤpfe: um so maͤchtiger das Gesetz, oder der Suveraͤn. Die Macht des Suveraͤns und die Freiheit des Volkes sind nicht, wie man gewoͤhnlich glaubt, Begriffe, die ein- ander ausschließen, sondern es sind beides Ideen, die, wenn man sie in gehoͤriger Bewegung, d. h. durch den Lauf ganzer Jahrhunderte, denkt, einander unaufhoͤrlich bedingen, so daß, wie ich oben gezeigt habe, jede Erweiterung der Frei- heit kraͤftigeren Streit entzuͤndet, aus welchem Streite das Gesetz reiner und maͤchtiger ausge- boren wird, also die wahre Suveraͤnetaͤt. Das ist ja schon im gemeinen Leben der große Vor- theil jedes Dritten bei einer lebhaften Privat- Discussion; wenn ein recht gleichmaͤßiger und geschlossener Streit zwischen zwei Partheien ge- fuͤhrt wird, so wird es dem unbefangenen Drit- ten sehr leicht, den Ausschlag zu geben, 1) weil gleichstehende Wagschalen eines sehr kleinen Ge- wichtes beduͤrfen, um aus dem Gleichgewichte gebracht zu werden, 2) weil der recht geschlossene Streit, in welchem sich die Kraft der Kraft ge- genuͤber fuͤhlt, am allergeneigtesten zum Frieden macht, und weil nur zwischen der Macht und Müllers Elemente. I. [17] Ohnmacht der Friede unmoͤglich ist. Der Suve- raͤn wird also seine beiden Verpflichtungen, als lebendiger Repraͤsentant des Gesetzes, oder als Richter, die Verpflichtung zu entscheiden, und die andre zu vermitteln, in so fern erfuͤllen koͤn- nen, als die liberté générale entwickelt ist. So erscheint der Grundsatz: divide et impera , in seiner edelsten Bedeutung. Das ist also die große Aufgabe des Staats- rechtes, in jedem Augenblicke abzusehen von der liberté de tous der freien lebendigen Maͤn- ner, welche, nur ein kleiner Theil der allgemeinen Freiheit, schon ohnedies zu viele Vortheile fuͤr sich hat, und die liberté générale so sichtbar und anschaulich zu machen, die Freiheit der Ab- wesenden der Freiheit der Gegenwaͤrtigen so kennt- lich und maͤchtig gegenuͤber zu stellen, als moͤg- lich. Dieses Problem ist in der Bildung der neue- ren Staaten von der Natur selbst, wie ich schon gezeigt habe, auf das herrlichste geloͤs’t worden, dadurch, daß Familien-Freiheiten den Freiheiten der Einzelnen, Familien-Rechte den Rechten der Einzelnen entgegengesetzt worden sind. Es versteht sich aber von selbst, daß die goͤtt- liche Institution des Adels hier als erstes Mo- bil des wahren Staatsrechtes nur in so fern auf- gestellt wird, als der Adel seiner urspruͤnglichen Verfassung getreu bleibt, d. h. als der einzelne Adelige sich nur fuͤr den zeitigen Repraͤsentanten der Familien-Freiheiten, und als zeitigen Nieß- braucher der Familien-Rechte ansieht. Verwan- delt sich in einer unverstaͤndigen und sittenlosen Zeit der Adelige in einen einzelnen, freien Mann; will er die Familien-Macht wie ein augenblick- liches, buͤrgerliches Eigenthum behandeln, und bestaͤrkt ihn die Regierung darin: so verwandeln sich alle seine Rechte in Vorr echte, in gemei- ne Privilegien; die Abwesenden werden nicht weiter von ihm repraͤsentirt: er verhaͤlt sich nun zu den uͤbrigen Buͤrgern gerade eben so, wie jeder andre Monopolist; er ist in dieser, aller Freiheit widersprechenden Macht zu ohnmaͤchtig, um dem einseitigen Grundsatze von der liberté de tous die Wage zu halten, und wird, wie er sich auch straͤuben moͤge, zu Grunde gehen muͤssen. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Soll der Adel mit seiner Familien-Freiheit dem Streben der Freiheit der voruͤbergehenden Einzelnen oder der Buͤrgerschaft das Gleichge- wicht halten, so muß er durch Sitte und Gesetz zugleich emporgetragen und ausgezeichnet werden. Kraͤftige Ideen von Ehre und Tadellosigkeit Einer- seits, Seltenheit andrerseits, die am besten durch das Gesetz der Primogenitur, wie in England, aufrecht erhalten wird; ferner strenge Aufsicht auf die Reinheit der Abkunft, besonders der maͤnnlichen, (denn der Begriff der mésalliance scheint nur erkuͤnstelt, wie er denn auch das Verderben der Ra ç en zur Folge hat) — und diese strenge Aufsicht auf den reinen Familien- Zusammenhang, die aus der Idee des Adels, wie ich sie angegeben habe, nothwendig herfließt, wird am besten durch eigene Herolds- oder Wapen- Collegien bewirkt —; ferner die Zugaͤnglichkeit zu dem Adel nur fuͤr das ganz eminente Verdienst; endlich die Aufrechthaltung aller besondren Fa- milien-Institutionen und gerade der Gesetze, die den einzelnen Nießbraucher recht zu beschraͤnken scheinen, Fideicommisse, Majorate, Aufrechthal- tung aller Unveraͤußerlichkeitsbestimmungen. Vor allen Dingen aber muß das unsichtbare Wesen des Adels durch Gesetze und Ehrenauszeichnun- gen aller Art so sehr herausgehoben werden, als moͤglich. Sobald der Adel mit diesen seinen hoͤchsten Guͤtern vertheidigungsweise agiren, sobald er selbst sie geltend machen muß, weil die Re- gierung den Rechten der Menschenwuͤrde etwas zu vergeben glaubt, wenn sie gerade das Gluͤck und nicht so sehr das Verdienst anerkennt und auszeichnet; sobald die Regierung bloß schonen- der Weise, wie gegen ein nothwendiges Uebel, das der Gerechtigkeit halber wie ein andres weltli- ches, saͤchliches Erbtheil aufrecht erhalten wer- den muß, zu Werke geht: giebt sie das Signal zu einer absoluten Trennung der Staͤnde. Das persoͤnliche, zum Heile des ganzen Staates, mit der Muttermilch eingesogene Gefuͤhl des Adels kann sie nicht ausloͤschen: je mehr sie selbst die Auszeichnung oͤffentlich anerkennte, um so be- scheidener wuͤrde der Besitzer werden, und nun das angeerbte Gefuͤhl durch selbsterworbene Ver- dienste zu schmuͤcken streben; denn ein Vor- zug, den niemand laͤugnet, druͤckt auch nie- mand: durch die allgemeine Anerkennung unter- wirft man sich ihm mit Freiheit. Aber ein realer, von fruͤheren Jahrhunderten anerkannter Vor- zug, den die jetzige Generation in Zweifel zie- hen will, den also jeder einzelne Eigenthuͤmer desselben auf seine eigne Hand vertheidigen muß, druͤckt allerdings, eben weil sich die Idee des Vorzuges in einen Begriff verwandelt und nun, wie weltliches Eigenthum, wie eine Sache, ver- theidigt wird. Die Adeligen selbst verlieren durch die falsche Humanitaͤt einer solchen Regierung bald das persoͤnliche Gefuͤhl, d. h. die Idee des Adels: bald sehen sie selbst nichts mehr darin, als todten Besitz und Privilegium; und so ge- bricht ihnen die lebendige Kraft gerade in den Augenblicken, wo sie dieselbe am nothwendigsten brauchen. — So wird die erhabene Idee des Adels zum Begriff: sie sinkt so tief herab, daß die Welt in dem Adel uͤberhaupt nichts mehr sieht, als ein Buͤndel saͤchlicher Privilegien. — Wie wenig kennen Diejenigen den Geist der meisten Regierungen neuerer Zeit, wie unreif zu allem Urtheil uͤber denselben sind Die, welche die unzaͤhligen falschen Schranken, mit denen das Talent bisher noch oft zu kaͤmpfen hatte, der Existenz des Geburtsadels zuschreiben! Viel- mehr darin, daß man die Natur dieses Geburts- adels verlaͤugnete; sein Wesen, wie der Verfas- ser des neuen Leviathan thut, in den Besitz saͤch- licher Privilegien setzte; die Anzahl seiner Mit- glieder durch verschwenderische Gnade und durch Unaufmerksamkeit gegen das Primogenitur-Gesetz ohne Ende vermehrte; daß man ihn durch den Buchstaben der Gesetze Einerseits erhob und mit saͤchlichen Privilegien, selbst wohl sogar mit dem unbedachtesten, mit dem Privilegium zu den hoͤhe- ren Staatsaͤmtern, uͤberhaͤufte, sittlich und per- soͤnlich hingegen ihn allen uͤbrigen Staatsbuͤr- gern da gleichstellte, wo man ihn haͤtte auszeich- nen sollen: darin lag das Laͤstige des Adels. Man strebte, den Adel mit dem Buͤrgerstande zu vermischen; der Adel konnte das Gefuͤhl der persoͤnlichen Auszeichnung nicht fahren lassen, und wurde nun in der Aufrechthaltung desselben, und in dem Trotze darauf um so unertraͤglicher, als der Staat das Persoͤnliche nicht weiter honorir- te, und den Adel mit den saͤchlichen Privilegien schon uͤber die Gebuͤhr bezahlt und abgefunden glaubte. Selbst diese Privilegien wuͤrden manche dieser Regierungen, die sie nehmlich immer mehr fuͤr nothwendige Uebel ansahen, schon laͤngst abge- schafft oder beschraͤnkt haben, wenn nicht, gerecht wie sie waren, ein Respect vor dem wohl- hergebrachten saͤchlichen Eigenthum , als wofuͤr sie das ganze Adelswesen ansahen, sie da- von, wie von der Confiscation irgend einer andern Sachenerbschaft, abgehalten haͤt- te . Sie hatten einen bloß privatrechtlichen und keinen staatsrechtlichen Gesichtspunkt fuͤr den Adel; sie hatten den interêt de tous ausschlie- ßend im Auge, waͤhrend der interêt général und uͤberhaupt die Ruͤcksicht auf die Totalitaͤt des Staates, auf das eigentlich Dauernde und Unsterbliche in seiner Macht, ihnen voͤllig aus dem Gesichte gekommen war. — Der Adel wird unfehlbar in allen Laͤndern zu einer Caste wer- den, wo man, ohne ihn selbst weiter zu hono- riren, ihn, seine Guͤter und Privilegien mit buchstaͤblicher Gesetzlichkeit conservirt. — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — Behandelt man den Adel bloß als saͤchlich- privilegirten Stand, so muß er, bloß durch den Instinkt ehemaligen persoͤnlichen Unterschiedes ge- leitet, nun unter sich castenweise zusammen hal- ten; und so fand der Buͤrgerstand den Adel un- ertraͤglich, weil er ihn nicht anerkannte und doch sein persoͤnliches Recht respectiren mußte. Der- gestalt nun zeigt es sich, daß alle neuerliche An- griffe auf den Geburtsadel nur auf den Begriff desselben, und auf die ungebuͤhrliche Ausdehnung saͤchlicher Privilegien, und auf die alte civilisti- sche Lehre von der Erbfolge gerichtet sind; also dem wahren Adel, oder der hier beschriebenen Idee des Geburtsadels, zu einer indirecten Lob- rede gereichen koͤnnen. — Der Adel also ist die erste und einzig noth- wendige staatsrechtliche Institution im Staate: er repraͤsentirt, den einzelnen Menschen und ih- rer augenblicklichen Macht gegenuͤber, die Macht und die Freiheit der unsichtbaren und der abwe- senden Glieder der buͤrgerlichen Gesellschaft; und so begruͤndet er durch seinen erhabenen und ge- schlossenen Streit mit der Buͤrgerschaft die Moͤg- lichkeit der Repraͤsentation sowohl der liberté générale , als des interêt général , als der volonté générale in der Person eines einzigen regierenden, suveraͤnen Menschen. — Alle uͤbrigen Repraͤsentationen der volonté de tous , des interêt de tous , und der liberté de tous sind von untergeordneter Wichtigkeit. Staͤndeversammlungen, corps legislatifs , Reichs- tage und alle andren staatsrechtlichen Koͤrper, ha- ben — als Mittel, das Interesse der Gegenwart und die oͤffentliche Meinung sowohl dem Suveraͤn als der Nation kund werden zu lassen, als Mit- tel die ganze ungeheure Gegenwart der buͤrger- lichen Gesellschaft mit allen ihren Forderungen dem Suveraͤn sichtbar zu machen — einen gro- ßen, nicht zu berechnenden Werth. Sie dienen als Mittelglieder, wodurch die ganze ungeheure Peripherie des Staates auf ihr Centrum, auf den Suveraͤm, einzuwirken in Stand gesetzt wird, wie die gesammten sogenannten ausuͤbenden oder administrativen Behoͤrden im Staate, der ge- sammte Civil- und der stehende Militaͤr-Etat dazu dienen, aus dem Mittelpunkte auf alle Theile der Peripherie wieder zuruͤckwirken zu koͤnnen. — Aber sobald sie das Gesetz der Ein- heit der Macht, oder, mit andern Worten, das gesammte Streben der buͤrgerlichen Gesellschaft nach einem lebendigen Mittelpunkte wieder aufhe- ben und die Macht beschraͤnken oder gar brechen sollen, stehen sie mit sich selbst in Widerspruch, und zerstoͤren sich selbst. Daß alle einzelne Freiheit, alles einzelne Be- duͤrfniß im Staat in großen, gewaltigen, leicht uͤbersehlichen Massen sich vor dem Throne des Suveraͤns ordne, daß vor allen Dingen der Streit der Vergangenheit mit der Gegenwart, um der Dauer des Ganzen willen, lebendig vor den Augen des Suveraͤns gefuͤhrt werde, wie es durch die wahre Standes-Opposition von Adel und Buͤrgerschaft geschieht: dadurch wird die Macht des Suveraͤns zugleich beschraͤnkt und — erzeugt; denn erst durch die unendlichen Schran- ken entsteht eine wirkliche Macht, und aus dem unendlichen bewegten Streit dieser Macht mit ihren Schranken, oder mit der liberté générale , wie ich sie genannt habe, auch hier erst die Idee des Rechtes, die Idee des Staatsrechtes. — Wozu die Chimaͤre von einer unbeschraͤnkten Macht eben sowohl, als die Fabel von einer absichtlichen, kuͤnstlichen Beschraͤnkung der Macht, weiter im Staatsrechte? Doch weil sie nur von Begriffen des Gesetzes oder der Macht, und von Begriffen der Freiheit wußten, so mußten sie maschinenweise und todt die beiden mechani- schen und starren Elemente verbinden. — In der Theorie unsrer Politiker freilich nicht, wohl aber in der Natur, im wirklichen Leben, in der wahren Wissenschaft entsteht die Macht nicht an- ders, als durch die Schranken, und aus dem fruchtbaren Streite der Macht mit den Schran- ken die Idee des organischen Gesetzes, welche also Eins ist mit der Idee des buͤrgerlichen Ge- setzes, die eben so aus dem Streite der Macht oder der Freiheit des Privaten mit der sie be- schraͤnkenden Anti-Macht oder Anti-Freiheit des andern Privaten lebendig erzeugt wird und in’s Unendliche waͤchst. Alles Staatsrecht hat seinen Sitz in den Staͤndeverhaͤltnissen: die Lehren der neuesten Zeit stellen die Anordnung der Constitutions-For- men oder der staatsrechtlichen, organischen Ge- setze, wie eine Sache des reinen Calculs dar, und dieser Calcul beabsichtigt die Loͤsung der Aufgabe, wie die den Staat verbindende Gewalt zugleich zu theilen und zu verbinden sey. Man strengte sich an, dergleichen Theilungen und Ver- bindungen zu erfinden, und uͤbersah gaͤnzlich, daß die Natur das staatsrechtliche Problem be- reits im Voraus in jeder Familie geloͤs’t hatte. Jeder Act einer vollstaͤndigen menschlichen Ge- sellschaft besteht aus den Einfluͤssen eines phy- sisch-staͤrkeren und eines physisch-schwaͤcheren Ge- schlechtes. Jedes von diesen Geschlechtern, in’s Unendliche verschiedenartig organisirt, balancirt das andre auf das gluͤcklichste, ohne seine gluͤck- lichen und segensreichen Kraͤfte zu hemmen. Hier ist Theilung nicht der Massen, wohl aber der Naturen; hier ist lebendiges und productives Gleichgewicht zwischen denselben; hier ist Einheit. Was sind nun jene Koͤrperschaften, die sich in ihrer reinsten Gestalt in der Brittischen Ver- fassung zeigen, anders, als große Repraͤsenta- tionen der Geschlechts- und Alters-Differenzen, aus welchen die Natur die Harmonie jeder Fa- milie hervorruft? In so fern sie innerlich und generisch einander entgegenstehen, ist ein lebendi- ges Gleichgewicht zwischen ihnen moͤglich. Kurz, wie in der Natur uͤberall, so auch im Staate, fließen Theilung und Einheit aus derselben Quelle, dem wahren Gegensatze nehmlich: nichts kann verbinden, als die wahre Theilung selbst. — Alle Constitutions-Kuͤnstelei unsrer Tage ist also nichts andres, als der immer ungluͤckliche Ver- such, ein Surrogat der Staͤndeverhaͤltnisse des Mittelalters zu finden. Man theilte und zer- schnitt die einzelnen Functionen und Qualifica- tionen der Suveraͤnetaͤt, man theilte manufactu- renartig den suveraͤnen Willen und das suveraͤne Geschaͤft, welches unmoͤglich ist. Die Naturen, deren Conflict und Balance den Staat und die Familie ausmacht, sind von der Natur — im Staate und in der Familie — schon wahrhaft getheilt gegeben. — Auf der Erkenntniß dieser, von ewigen, goͤttlichen Gesetzen angeordneten, Theilung beruhet alle Wissenschaft der Regierungs- form; sie ist auch mit der Idee des Staates vertraͤglich, waͤhrend alle Theilung der Functio- nen von dem Begriffe ausgeht, und die leben- digen Glieder des Staates selbst in kalte und todte Begriffe verwandelt. Einheit soll die Staatsverfassung haben. Ich habe gezeigt, wie die wahre lebendige Ein- heit im Staate durch unendliche Opposition der Freiheit der einzelnen Menschen und Generatio- nen mit einander begruͤndet, wie sie maͤchtig und sowohl zur Entscheidung als zur Vermittelung faͤhig wird. Theilung soll jede Staatsver- fassung haben: ich habe gezeigt, wie durch die unendliche Theilung des Interesse erst ein allge- meines und einfaches Interesse moͤglich wird, und wie die monarchische Einheit sowohl auf die regelmaͤßige und rhythmische Bewegung des Gan- zen, als auf die kraͤftige Ausbildung aller ein- zelnen Freiheit segensreich zuruͤckwirkt. — Immer ist es die Hauptaufgabe aller Staatskunst, die vergangenen Generationen in lebendiger Gegen- wart zu erhalten, in keinem Augenblicke die Un- sterblichkeit und die Totalitaͤt des politischen Le- bens aus den Augen zu lassen, und dem Staate seinen ersten Zweck, die Dauer oder das Le- ben , auf diese Weise durch Staatswissenschaft und durch Staatskunst zu sichern. — Zehnte Vorlesung . Vom Voͤlkerrechte, oder von der Christenheit. N achdem sich die Rechts-Idee, auf die von mir beschriebene Weise, in einem bestimmten Locale allseitig, eigenthuͤmlich und national ausgebildet hat, zeigen sich bald gewisse Grenzen im Raume, die nicht uͤberschritten werden koͤnnen. Die Na- tur hat durch die Gestalt der Erdoberflaͤche, und in dem Verhaͤltnisse der Kraͤfte des einzelnen Menschen zu diesem Flaͤchenraume, jedem Staate eine Art von Maximum seiner Groͤße angewiesen. Das unaufhoͤrliche Reagiren der Peripherie des Staates auf seinen Mittelpunkt, und des Mit- telpunktes auf die Peripherie, wird unmoͤglich, wenn einzelne Theile des Staates durch unge- heure Meere oder Wuͤsten von einander abgeson- dert sind, oder wenn, noch unbezwinglicher als Meer und Wuͤste, fremdartige Sprachen und Sitten sich dieser Reaction in den Weg stellen. Die nothwendige Gegenseitigkeit aller politischen Verhaͤltnisse innerhalb des Staates kann in sol- chen Faͤllen nicht mehr realisirt werden; daher wird auch die lebendige Einheit der Macht oder des Gesetzes unausfuͤhrbar. Dies war die un- uͤberwindliche Schwierigkeit in der Lage des gro- ßen Kaisers Karl’s des Fuͤnften, dem die groͤßte aller Erbschaften, von denen in der Weltgeschichte die Rede ist, zugefallen war. Darin liegt es, daß alle Colonial-Verhaͤltnisse nur einstweilige Zwischenzustaͤnde sind, in denen sich an keine wahre Einheit der Macht, auch an keine gegen- seitige, lebendige und unaufhoͤrliche Reaction zwischen der Macht und der Freiheit denken laͤßt. Die Natur hat die einzelnen Raͤume der Erd- oberflaͤche physich, klimatisch, und mit Ruͤcksicht auf alle natuͤrlichen, kuͤnstlichen und sittlichen Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz, so ge- trennt, daß die allgemeine, gleichzeitige Ausbildung der Rechts-Idee unmoͤglich wird. Dafuͤr hat sie in einzelnen Districten wieder alles vereiniget, was zu einer localen und vollstaͤndigen Ausbildung der Rechts-Idee noͤthig ist. Wenn sie z. B. das Gebiet des al- ten Griechenlands zum Korn-, Wein- und Oel-Bau und zum Handel, also auch zur Fa- brication, gleich-tuͤchtig gemacht hat; so sage ich: ich: sie hat diesem Lande die Anlage zu einer localen und vollstaͤndigen Ausbildung der Rechts- Idee gegeben; sie hat auf einem und demselben Boden so viele ganz entgegengesetzte Streitkraͤfte, sie hat in einem kleinen Raum so viele ganz ent- gegengesetzte Zweige der Industrie, und folglich so viele Formen der Freiheit, versammelt, daß ein vollstaͤndig- allseitiger Streit, also eine har- monische, kraͤftige und nationale Ausbildung der Rechts-Idee, moͤglich wurde. — Irgend ein ein- zelnes Element der Cultur oder der Industrie, die Viehzucht in den ungeheuren Bergtriften von Klein-Asien, die Fabriken und der Handel von Tyrus und Sidon auf der engen, langen Kuͤste zwischen dem Libanon und dem mittellaͤn- dischen Meere, der Ackerbau, den die Natur selbst in Aegypten lehrt — vermag fuͤr die Aus- bildung der Macht, oder, was dasselbe sagen will, der Rechts-Idee und der Freiheit, nichts. — Keinem Eroberer vermoͤgen diese einseitigen Staaten zu widerstehen; denn jene organische allseitige Macht, mit der die Pflanze den Felsen sprengt, fehlt ihnen: in dem Gedaͤchtnisse der Welt, oder in der Weltgeschichte, wird ihrer wenig gedacht. Aber die Lehren, welche Cad- mus aus Phoͤnicien, Thaut aus Aegypten, und die Pelasgischen Nomaden nach Griechenland Müllers Elemente. I. [18] hinuͤber bringen, finden dort alle einen empfaͤng- lichen Boden. Der Ackerbau neben dem Han- del, jener in seiner bleibenden, dieser in seiner beweglichen, meerwaͤrts strebenden Natur, ent- wickeln einen wahren politischen Streit; nun, auf Griechischem Boden, erheben sich wahre Par- theien, recht entgegengesetzte Freiheiten, aus deren geschlossenem Kampfe sich ein echtes, organisches Wachsthum der Rechts-Idee, d. h. eine natur- gemaͤße Macht, erhebt, welche den Persern die Spitze bieten und noch den spaͤtesten Generationen schoͤne Spuren ihres Daseyns hinterlassen kann. In dieser Allseitigkeit der Anlagen liegt vor allem andern das Geheimniß der Groͤße Griechenlands. Mit solcher, zur nationalen Ausbildung der Rechts-Idee erforderlichen, Vollstaͤndigkeit der Anlagen hat die Natur einzelne Stellen der Erdoberflaͤche ausgezeichnet. Ein Blick auf die Landkarte kann Jedermann uͤberzeugen, daß von jenen fuͤnf Staaten, welche den Mittelpunkt der neuen Geschichte ausmachen, Frankreich, Eng- land, Italien, Spanien und Deutschland, jeder fuͤr sich ein politisches Ganze, eine abgeson- derte Versammlung aller der streitenden Extreme oder Freiheiten bildet, welche dazu gehoͤren, daß die Rechts-Idee auf eine nationale Weise aus- gebildet werden koͤnne. Zuvoͤrderst hat jeder von diesen fuͤnf Staaten sein abgesondertes Flußge- biet, eine eigenthuͤmliche, innere Communication aller Theile mit dem Meere; ferner jeder eine eigenthuͤmliche, den Beduͤrfnissen des Klima’s angemessene, Anlage zum Ackerbau, und eine gleiche Anlage zum Handel; denn was Deutsch- land an Seekuͤsten abgeht, wird durch die unge- heure Landesgrenze gegen mehrere von der Na- tur weniger beguͤnstigte Staaten, gegen Ungarn, Polen und den Norden, ersetzt. Ferner hat jeder — was die Folge aller dieser Naturbeguͤnsti- gungen ist — eine in eigenthuͤmlicher Schoͤn- heit ausgebildete Sprache, und einen scharf ab- gezeichneten Charakter des Volkes und der Sitte; endlich hat jeder von diesen Staaten sein Hoch- land und sein Niederland, seinen Norden und seinen Suͤden. In diesem Entgegensetzungen, in dieser von der Natur selbst auf einen kleinen Raum zusam- mengestellten Anlage zum Streit unter vollstaͤn- dig ausgebildeten Extremen freier Naturen, liegt der Beruf zu einer localen und nationalen Aus- bildung der Rechts-Idee, allen meinen Voraus- setzungen nach: denn, wo es wahren Streit der Partheien giebt, da kommt und waͤchst das Ge- setz; nichts bindet es, als allein der wahre und unendliche Krieg. Die Ohnmacht, der Mangel an politischer und rechtlicher Haltung, welche wir in Polen wahrnehmen, hat ihren Haupt- grund in der einseitigen Anlage dieses Landes zum Ackerbau, und demnach in einseitiger Aus- bildung des Gesetzes. Der Handel, die Erobe- rung von Liefland, Esthland und Ingermann- land auf der Einen, und die Erwerbung der Crim auf der andern Seite, haben Rußland eine politische Haltung gegeben, nicht, weil den Reich- thuͤmern, der Industrie und den Sitten des uͤbri- gen Europa Thuͤren eroͤffnet worden sind, sondern weil dem Territorial-Interesse ein ganz entgegen- gesetztes bewegliches Geld-Interesse gegenuͤber gestellt worden ist. Weil ein wahrer innerer Krieg moͤglich geworden, ein Streit der Freiheit mit der Gegenfreiheit, so ist auch ein lebendiges wach- sendes Recht, die Bedingung aller National-Exi- stenz, nun moͤglich. Weil Rußland, welches bisher auf Einem Fuße stand, nun auf zweien steht, so kann es gehen. Jetzt darf ich hoffen, verstanden zu werden, wenn ich einen Unterschied mache zwischen ein- seitigen und vollstaͤndigen Staaten, oder zwischen solchen Staaten, die als bloße Massen gel- ten, die den Felsen zu vergleichen sind, und sol- chen , die durch inneres Gleichgewicht der strei- tenden Kraͤfte maͤchtig sind, und mit der Pflanze verglichen werden koͤnnen, die den Felsen sprengt, organische, lebendige Staaten. — Staaten, welche die Natur bloß fuͤr den Handel, oder bloß fuͤr den Ackerbau, oder bloß fuͤr den momen- tanen Krieg mit physischen Waffen abgerichtet hat, sind einseitige, voruͤbergehende, unorganische Staaten; denn ihnen fehlt das eigentliche Kenn- zeichen des Lebens, das, was dem Staate Dauer und wahre Haltung giebt, ein allfeitiger inne- rer Krieg, und also ein Gleichgewicht der Kraͤfte, ein Gefuͤhl der wahren Unabhaͤngigkeit, d. h. ein eigenthuͤmliches, unendliches Lebensgefuͤhl, die große Spur der wachsenden Rechts-Idee: sie gelten bloß durch die Gewalt der Masse, koͤn- nen also der groͤßeren Masse, welche die Natur im Laufe der Zeiten unfehlbar herbeifuͤhrt, nichts entgegensetzen, als ihren irdischen Theil, der al- lein fuͤr sich, ohne den unsterblichen Theil, wel- cher sich in der Rechts-Idee und also in der Freiheit aͤußert, nicht widerstehen kann. Daß unter allen Welttheilen Europa die meisten von der Natur mit allseitigen Anlagen ausgeruͤsteten Stellen enthaͤlt und folglich der vornehmste Sitz organischer Staaten ist — darin liegt die Ursache des erhabenen Ranges, den es in den Weltgeschaͤften behauptet hat. — Wie viel hat die Natur gethan, um in jenen fuͤnf Europaͤischen, organischen Staaten jene An- lage zu lebendiger Vollstaͤndigkeit noch vollstaͤn- diger auszubilden! Zuerst laͤßt sie die Uranlage dieser Voͤlker ungestoͤrt, dem Klima, dem Bo- den und der ganzen Localitaͤt gemaͤß, sich ent- wickeln: es bilden sich die Italischen, Gallischen Iberischen, Brittanischen und Germanischen Ur- voͤlker. Italien, mit allen Gaben der alten Welt, und mit den bluͤhendsten Griechischen Colonieen befruchtet, unterwirft sich zuerst die fuͤnf Reiche; dann Germanien, im Bunde mit dem frischen, jugendlichen Norden, mit den Gothen, Vanda- len; dann Spanien im Bunde mit Portugal und den beiden Indien und den Niederlanden; dann Frankreich, auf sich selbst, auf seine cen- trale Lage, auf die allgemeine Popularitaͤt seiner Sprache und seiner Sitten gestuͤtzt; dann endlich England auf seine Industrie und seine Verfas- sung und auf den Zusammenhang mit allen Thei- len der Welt — sie unterwerfen sich alle nach der Reihe die fuͤnf Reiche. Im Laufe der Zei- ten, und in dem Maße, wie sich die Eigenthuͤm- lichkeit und die rechtliche Kraft eines jeden von diesen Staaten mehr ausbildet, wird auch die Praͤponderanz, die allezeit Einer von ihnen ge- habt hat, weniger druͤckend. Vergleichen Sie die Macht der Roͤmer im Zeitalter des Augustus, die der Germanier im Zeitalter Karls des Gro- ßen, die der Spanier im Zeitalter Karls des Fuͤnften und Philipps, die der Franzosen im Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten, und die der Britten im Jahrhundert der George und der Pitts: so sehen Sie, durch diese ganzen Zeit- laͤufe hindurch, die Einzelmacht der Fuͤnf-Reiche, wachsen; die Praͤponderanz der hervorragenden Macht wird immer mittelbarer, immer unsicht- barer, die Freiheit der einzelnen Maͤchte immer weniger gefaͤhrdet — es versteht sich bis auf die Franzoͤsische Revolution herab, wo ein neues Jahr der Welt angeht, und ganz neue Verhaͤlt- nisse der Staaten sich zu bilden anfangen. Jedes einzelne der Fuͤnf-Reiche ist von den uͤbrigen nach der Reihe bewohnt worden, und die ganze uͤbrige Welt hat an seiner praktischen, vollstaͤndigen, allseitigen Erziehung arbeiten muͤs- sen. So ist Groß-Brittanien erzogen wor- den von den Roͤmern unter Caͤsar, von Germa- nischen Sachsen unter Hengis und Horsa, von Franzoͤsischen Normaͤnnern unter Wilhelm dem Eroberer, von Spanien durch die Armada, durch vielfaͤltigen Conflict des Brittischen und Spani- schen Interresse in den Colonieen. Spanien ist großgezogen worden durch die Roͤmer, durch Germanische Staͤmme, unter dem gemeinschaft- lichen Namen der Westgothen, durch Deutsche und Franzoͤsische Koͤnige, und durch den uner- meßlichen Handelseinfluß der Britten; Italien durch Germanische Leibwachen und Horden, durch Odoaker, die Longobarden und die Deutschen Kaiser, durch mehrmalige Franzoͤsische Erobe- rungen, durch Spanische Herrschaft in Neapel und in mehreren Laͤndern von Ober-Italien, und wieder durch Brittischen Handel; Frankreich durch die Roͤmer, durch Germanische Staͤmme, Franken und Karl den Großen, durch Britten, vornehmlich unter Eduard dem Dritten, und dem schwarzen Prinzen, durch Spanier in viel- faͤltigen Kriegen, und in dem pacte de famille . Deutschland endlich traͤgt die Spuren der ver- schiedenartigsten Einfluͤsse vor allen uͤbrigen zu sichtbar an sich, als daß sie erst hergezaͤhlt zu werden brauchten. — Dann sandte die Natur ihnen allen gemein- schaftliche Feinde zu, die kriegerischsten Repraͤ- sentanten des Nordens und des Suͤdens, die Normaͤnner und die Araber, um die Jugend- kraft der Voͤlker zu uͤben, welche das politische Leben zu einer unbekannten, glaͤnzenden Hoͤhe hinauftreiben sollten. Die Strenge des eisernen Nordens, und die wolluͤstige Begeisterung des Suͤdens, beide in Heldengestalt, erschuͤtterten nach einander die Fuͤnf-Reiche, und liessen die Spuren zuruͤck, die sich im Charakter Europaͤi- scher Ritterschaft so wunderbar mischten. Ja, da- mit alle Elemente der Menschheit in diesen herr- lichen Staaten verbunden wuͤrden, so ward zwei Jahrhunderte hindurch der Kern ihrer Be- voͤlkerung nach Asien getrieben, um dort das gro- ße Panier ihrer Vereinigung, die christliche Reli- gion, gegen den ganzen Orient zu behaupten. So viel hat die Natur gethan, um jeden einzelnen dieser Staaten vollstaͤndig zu befruch- ten, um den lebhaftesten Streit aller Partheien des Lebens in ihm hervorzurufen, und um der- gestalt ihm ein lebendiges, rechtliches und unab- haͤngiges Daseyn zu geben. — Diese Unabhaͤn- gigkeit zeigt sich noch heut zu Tage, unter allem Anschein aͤußerer Abhaͤngigkeit und aͤußerer Aehn- lichkeit der Sitten, in Sprache, Gemuͤthsart, Kunst, Bildung und National-Physiognomie. Uebrigens sind auch nur die unter den Fuͤnf- Reichen , welche der Idee der politischen Ein- heit nicht treu geblieben, oder welche, sie auszu- fuͤhren, durch bisher unuͤberwindliche Schwierig- keiten verhindert worden sind, nehmlich Deutsch- land und Italien, einstweilen aͤußerlich abhaͤngig geworden. — Wenn einzelne Staaten einmal zu der inneren Unabhaͤngigkeit gelangt sind, welche noch jetzt — wie auch die momentane Lage der Welt mir widersprechen moͤge — die Fuͤnf-Reiche darstellen: so entsteht durch das rechtliche Stre- ben jedes einzelnen von ihnen (worin ja eben, wie ich gezeigt habe, ihre Unabhaͤngigkeit und ihr organisches Leben sich aͤußert), dem rechtlichen Streben der andern gegenuͤber, so entsteht durch den Streit der Freiheit in fuͤnf kolossalen, welt- umfassenden Ausdruͤcken dieser Freiheit, eine maͤch- tige und weltgebietende Idee des Rechtes. Unter dieser Gestalt muß das Voͤlkerrecht gedacht wer- den, wenn uͤberhaupt ein Seyn damit verknuͤpft werden soll. Diese Idee auszusprechen, ist der Mensch zu klein und zu ohnmaͤchtig, weil er sie auszuuͤben zu gering ist; Europaͤisches Voͤlker- recht, Gleichgewicht , sind Ausdruͤcke, welche die große Idee andeuten sollen, aber so, wie sie uns in den gewoͤhnlichen Staats-Theorieen dar- geboten werden, zu unvollkommen, um auch nur anzudeuten. Jeder wahre organische Rechtsstaat muß, wie ich gezeigt habe, und wie auch die Natur durch die beschriebene Einrichtung der Erdoberflaͤche, deutlich zu verstehen giebt, beschraͤnkt seyn im Raume, damit er ein wirkliches, lebendiges und abgeschlossenes Individuum seyn koͤnne. Als Individuum nun tritt er mit den andern großen Individuen seiner Art in einen unaufhoͤrlichen kolossalen Rechtsstreit der National-Freiheit ge- gen die National-Freiheit. Dieser Rechtsstreit ist zu groß, als daß der einzelne Mensch weiter darin Richter seyn koͤnnte; denn wie vermoͤchte er das Leben dieser gewaltigen Individuen allge- genwaͤrtig zu durchdringen! — Es bedarf keines Beweises, daß dieser erhabene Prozeß der Voͤl- ker von einem wirklichen Schiedsrichter nicht mehr geschlichtet werden kann; ferner, daß auch kein Buchstab umfassend genug ist, diesem unge- heuren Koͤrper als Gesetzgebung zur Grundlage zu dienen; daß demnach der Begriff Universal- Monarchie , wie einige Phantasten ihn in die- sem Augenblicke naͤhren, und der Begriff Uni- versal-Republik , wie man ehemals das so- genannte Europaͤische Gleichgewicht sich denken mochte, Chimaͤren sind. Damit ist, wie ich schon oben gezeigt habe, die lebendige Idee des Europaͤi- schen Gleichgewichtes, wie einige wenige Staats- maͤnner und Staatsgelehrte sie sich noch denken moͤgen, keinesweges angegriffen. Versteht man unter Gleichgewicht gleichmaͤßiges Wachsthum, gegenseitiges Sich-Steigern und Erheben der Staaten; denkt man sich unter dem Resultat die- ses Gleichgewichtes eine große, gewaltige und wachsende Rechts-Idee, und nicht, wozu das Wort so leicht verleiten kann, ein bloßes, reines, gegenseitiges Beschraͤnken, ein Aufgehoben- und Vernichtet-werden der Macht durch die Macht: so bin ich vollkommen damit einverstanden. Aber das war die ohnmaͤchtige und gemuͤths- lose Ansicht Derer, die aus Partheigaͤngern des Gleichgewichtes nun Partheigaͤnger der Univer- sal-Monarchie geworden sind, daß alle diese schoͤnen Friedensstaaten unter einander in keinem andern Verhaͤltnisse staͤnden, als des gegenseiti- gen Sich-Stuͤtzens, des Sich-Anlehnens der gewaltigen Massen an einander, ohne weiteres Resultat, als das der Ruhe, des allgemeinen Stillstandes und des nothwendigen Morsch-wer- dens und Versinkens der Staaten in sich selbst. Gemeine Seelen aber sollen uͤber diesen Umgang der Staaten-Individualitaͤten unter einander nicht weiter nachdenken; ihnen ist von diesem nie nachlassenden Umgange nichts weiter sichtbar, als die einzelnen Momente des wirklichen Krieges, und diese schrecken sie von der Betrachtung zu- ruͤck. Uebrigens, meinen sie, falle ja auch zwischen den Staaten nichts Bedeutendes weiter vor, als einiger Handel, einiges Hin- und Herreisen, Ge- sandten-schicken, mitunter das Abschließen eines Tractates uͤber Aus- und Einfuhr, Freizuͤgig- keit, militaͤrisches Cartel, und der wissenschaft- liche Verkehr, welcher mit den Staaten eigent- lich nichts zu schaffen habe. Ja, den Krieg ab- gerechnet, scheint der Umgang zwischen Staa- ten ein stiller Umgang: er ist so laut, daß er dem gemeinen sterblichen Ohre wieder still wird, — gleich der Harmonie der Sphaͤren, nach der Idee einiger Alten. — Alle diese Staaten, die wir als große Men- schen, menschlich an Koͤrperbau, Gemuͤths- und Denkart, Bewegung und Leben dargestellt haben, sollen unabhaͤngig und frei seyn, wie das Indi- viduum im einzelnen Staate oben beschrieben wurde. In ihrer eigenthuͤmlichen, nationalen Form und Manier sollen sie wachsen und leben, und sich einander geltend und fuͤhlbar machen. Warum? Weil nur aus recht entgegengesetzten Partheien ein Gesetz hervorgehen kann. Wie vollstaͤndig auch die Staaten innerlich ausgebil- det seyn moͤgen — sie behalten, als Individuen, immer wieder einen Geschlechts-Charakter, und so beduͤrfen sie eines andern politischen Individu- ums von entgegengesetztem Geschlechts-Charak- ter. Staaten von buͤrgerlichem Geschlecht, wie die Handels-Republiken des Mittelalters, beduͤr- fen des innigen Umganges mit Staaten von mehr adeligem Geschlecht, wie Oestreich und Frankreich. Hier und dort wird die Rechts-Idee vollstaͤndig und allseitig und national ausgebildet; aber der hoͤchste Ausdruck dieser Rechts-Idee bleibt immer noch ein einseitiger, bedarf einen entgegengesetzten, eben so nationalen Ausdruck des Rechtes ihm gegenuͤber, damit er ewig fuͤhle, daß das Recht nie abgeschlossen und fixirt wer- den koͤnne, sondern in’s Unendliche fort wachsen muͤsse. Jeder Staat bedarf, um sich selbst zu fuͤh- len, um sich zu erkennen und um sich zu messen, bestaͤndig seines Gleichen. Damit es Einen Staat, und damit es Einen Menschen geben koͤnne, sind mehrere Staaten und mehrere Menschen noͤthig. Wie moͤchten alle die unendlichen Indi- viduen, aus denen, wie ich gezeigt habe, der Staat besteht, zu der Erkenntniß kommen, daß sie ein Ganzes bilden, wenn nicht andre Staa- ten, andre politische Totalitaͤten sie an den Zu- sammenhang erinnerten, und zu der Gemeinschaft zwaͤngen, die sie bilden! Wenn es also uͤberhaupt Einen Staat geben soll, so muß es mehrere Staaten geben, und einen nie nachlassenden, le- bendigen Umgang dieser Staaten. Dem zu Folge widerspricht sowohl der Idee des Rechtes, als der Existenz jedes Staates, innerlich und durch- aus 1) die Chimaͤre der Universal-Monar- chie und 2) der Wahn der politischen Neutra- litaͤt . Die Universal-Monarchie ist ein Staat ohne Schranken; der neutrale Staat ein absolut be- schraͤnkter, geschlossener Staat: beides sind Extre- me, deren jedes den vollstaͤndigsten Widerspruch enthaͤlt. Eins der untrieglichsten Zeichen, wie tief-greifend und wie innig die Verbindung der Europaͤischen Staaten in den beiden letzten Jahr- hundertem war, ist der Antheil aller Staaten an jedem moͤglichen Streite, der unter zweien von ihnen entstehen moͤchte. Daß jeder Krieg alle Cabinette in Bewegung setzte und zum Universal-Kriege wurde, beweist, wie innig ver- flochten das Interesse, und wie ununterbrochen der Umgang jedes einzelnen mit allen uͤbrigen war. Es waren nicht sowohl die Ansichten der Cabinette, welche den Krieg bestimmten; es war niemals der Eigensinn der Regierenden, wie ein weichlicher, verderbter Poͤbel sich die Sache denken mochte: es waren immer tiefer liegende, in der nothwendigen Construction des gesammten Staatenverhaͤltnisses liegende Gruͤnde. Ein in- nerer, der gegenwaͤrtigen Generation voͤllig un- bewußter, aus dem Anstoße fruͤherer Generatio- nen herruͤhrender Drang nach lebendigem Wachs- thum, war auch das eigentliche Mobil der Kriege, die in den vorletzten Jahrhunderten einzelne Staaten fuͤr ihre Vergroͤßerung unternommen haben. Aber das Motiv, welches die Cabinette im achtzehnten Jahrhundert leiten mochte, unter- schied sich durchaus von dem Mobil, von dem allen, ihnen unbewußt, mitgetheilten Drange nach Wachsthum. Die Cabinette und die Voͤlker sahen in dem Staatenverhaͤltnisse von Europa nichts mehr, als das armselige Bild der schwankenden Wage. Eine Operation, welche die Staaten, durch neue Vertheilung der Gewichte, entwaffne- te, zum Stillstand oder — wie sie es nannten — in’s Gleichgewicht brachte, schien den Cabi- netten unbedingt rechtlich. Man zaͤhlte die Qua- dratmeilen seines Gebietes, die Anzahl der Ein- wohner, den Bestand der Koͤpfe, die man unter Waffen bringen konnte, und die Summe der Geld-Revenuͤen; und, als ob das Voͤlkerrecht nichts anderes waͤre, als das Facit einer politi- schen Rechenkunst, wurde das allgemeine Stre- ben der Cabinette nun auf arithmetische Vergroͤ- ßerung, auf Vermehrung der Quadratmeilen, Einwohner, Truppen und Revenuͤen gerichtet. Die ganze innere Gestalt der einzelnen Staaten modificirte sich nach diesem traurigen Princip, welches damals den Geist aller Administrationen, auch der gepriesensten, ausmachte. Das Das ganze Geheimniß der Zeitgenossen von Friedrich dem Zweiten, an welchem er selbst, die- ser auch in seinen Irrthuͤmern außerordentliche und genialische Kopf, wohl den entschiedensten An- theil nehmen mußte, war Vergroͤßerung der Massen . Wenn das Europaͤische Gleichgewicht nichts anderes war, als ein Garantiren, Stuͤt- zen und Aufheben der Masse durch die Masse, so hatte diese Schule vollkommen Recht. In den voͤlkerrechtlichen Prozessen war nichts weiter zu thun, als zu entscheiden . Deshalb mußte, um der im Laufe der Jahre bestaͤndig wechselnden Gestalt dieser Massen zu begegnen, jeder einzelne Staat zum Waͤchter uͤber diese arithmetischen Massen werden, und dadurch, daß er mit seinem Gewichte bestaͤndig zwischen den beiden Schalen schwankte, den jeden Augenblick nothwendigen Ausschlag geben helfen. Der große Zweck, wel- chen alle Europaͤischen Staaten im Auge hatten, wenn sie ihr Interesse im Cabinet betrachteten, war unendliche Vergroͤßerung; der Zweck, den sie vorgaben, wenn sie ihre Schritte oͤffentlich rechtfertigten, war jene große arithmetische ○, die das Resultat von dem Neben-einander-Leben dieser herrlichen Staaten seyn sollte. Was war in den Augen dieser calculirenden Weisheit ein Müllers Elemente. I. [19] wirkliches, lebendiges, tausendjaͤhriges Recht, neben dem geheimen Streben nach dem ∞, und dem oͤffentlich vor allem Volk anerkannten Stre- ben nach der großen ○! — Die Theilung von Polen war nichts anderes, als eine nothwendige Folge derselben Politik, die noch nicht absah, wohin sie fuͤhren wuͤrde. Nun aber ist, wie ich gezeigt habe, der wahre Staat mehr, als Masse. In so fern er in sich frei, vollstaͤndig, lebendig und organisch ist, ver- mag die Masse nichts uͤber ihn, wohl aber kann er die Masse sprengen. Dadurch, daß im Privat-Rechte die Rechte nicht bloß massenweise abgewogen und entschieden, sondern auch die Freiheit der recht- lichen Partheien angeschuͤrt und zwischen ihnen vermittelt wird; dadurch, daß im Staatsrechte zwischen der Macht des Suveraͤns, und der Macht des Volkes, nicht wie zwischen zwei ganz heterogenen Massen abgewogen und entschieden, sondern, daß zwischen der Macht des Suveraͤns, und der Gegenmacht des Volkes, zwischen zwei freien, unendlich verschiedenen und doch unend- lich in einander greifenden Wesen, vermittelt; dadurch endlich, daß im Voͤlkerrechte zwischen der Macht des Einen und des andern Staates nicht bloß auf der Weltwage des Gleichgewichtes ohne Ende abgewogen und entschieden, sondern dadurch, daß zwischen ihrer gegenseitigen reich gestalteten und kolossalischen Freiheit lebendig vermittelt wird — zeigen sich andre und groͤßere Resultate von dem Privat- und dem oͤffentlichen Leben und von dem Umgange der Voͤlker. An- statt der in allen drei Rechten allgegenwaͤrtigen, bloß entscheidenden Wage, anstatt des todten Friedens, anstatt des bloßen Streit-Abmachens, anstatt der in allen drei Rechten allenthalben be- zweckten ○ — ein lebendiges, wirkliches Krie- ges-Resultat, eine wachsende, sichtbare, die gan- ze große Gemeinschaft durchdringende Idee des Rechtes, und, durch die unendliche Vermittelung zwischen der kleinsten und der groͤßten Freiheit, ein freies goͤttliches Leben des Ganzen. Wenn durch ein ganzes Jahrhundert hindurch der Zweck des Rechtes bloß negativ, oder vielmehr als ○, als Stillstand, als todter Friede gedacht, wenn nichts Reales, kein wirkliches Lebensgut, allen Rechtsanstalten zum Ziel ihres Strebens mehr vorgehalten worden ist: dann darf man sich nicht wundern, daß, nachdem jede große Macht in Europa sich jenes ○, ihrem Interesse gemaͤß, insgeheim construirt hat, nun auch die Theorie des Rechtes eine voͤllig abstracte Gestalt bekommt, und der schlichte Menschenverstand am Ende nicht mehr weiß, was er sich dabei denken soll, und ob das Recht, wovon die Wissenschaft so viel Aufhebens macht, denn auch in der Wirklichkeit existire. Ich habe im Privatrechte, im Staatsrecht und im Voͤlkerrechte von einem allgemeinen Stre- ben nach Freiheit gesprochen, welches alle Indi- viduen durchdringen solle. Sie wuͤrden mich sehr mißverstanden haben, wenn Sie meinten, ich ha- be, nach Anleitung der vorbeschriebenen politi- schen Schule, unter diesem Streben nichts Hoͤ- heres verstanden, als das Streben nach Vergroͤ- ßerung, welches letztere freilich auch noch jetzt das Motiv aller Thaͤtigkeit bei der unermeßlichen Majoritaͤt der Menschen seyn mag. Geld sammeln, Ansehen erwerben, sein Besitzthum auf Kosten Andrer vergroͤßern — in diesen Bestrebungen der Menschen zeigt es sich, daß jene Schule eigent- lich die Schule des Jahrhunderts ist. Das mei- nen sie, wenn sie die Freiheit nennen. Ich habe hinlaͤnglich den großen Unterschied bemerken lassen, der zwischen den Summen und der To- talitaͤt, zwischen der liberté volonté , und dem interét de tous , und dem allgemeinen Willen und Interesse und der allgemeinen Freiheit Statt fin- det. Ein lebendiger Staat, oder ein organischer, ist der , welcher nach Totalitaͤt strebt, nicht nach Vergroͤßerung der Summe. In einem Staate, der nach bloßer Vergroͤßerung strebt, ist das eigentliche Lebens-Princip noch nicht gekommen, oder schon ausgestorben: er kann, sage ich, seine Masse vergroͤßern; aber die Masse weicht unfehl- bar nun auch der groͤßeren Masse, die im Laufe der Zeiten nicht ausbleibt. Die Europaͤischen Fuͤnf-Reiche mit ihren Accessorien waren von Natur, wie ich oben zeigte, zu jener Totalitaͤt, d. h. zu organischen Staaten, gebildet und er- zogen worden. Jeder sollte ein vollstaͤndiges, reich gegliedertes, aus unendlichen lebendigen Par- theien zusammengewirktes Ganze darstellen, als wachsendes Ganze gelten, und nicht als Aggre- gat von einzelnen Massen. In dem Umgange dieser Fuͤnf-Reiche und ihrer Accessorien entwickelte sich ein maͤchtiges, heiliges, unsichtbares Wesen. Die christliche Re- ligion war es, der allein jener Thron uͤber den lebendigen Voͤlkern gebuͤhrte: sie gab dem gro- ßen Gemeinwesen von Europa die Gestalt und den sichtbaren, allen Herzen tief verstaͤndlichen, Charakter; sie gab den Vertraͤgen eine heilige Bedeutung, und dem Recht eine sichtbare und doch zugleich unendliche Ideen-Form. Die Ein- heit der Fuͤnf-Reiche, als Christenheit, ging durch die religioͤse Spaltung in der Reformation verloren. An ihre Stelle trat eine Rechts-Idee, deren Leben Stand hielt, so lange noch die Herzen der Voͤlker im Glauben eins blieben und nur uͤber die irdische Form dieses Glaubens gespaltet waren. Aber allmaͤhlich entwich auch dieses Band des Glaubens, und die Idee des Rechtes, die selbst noch im Westphaͤlischen Frieden deutlich wahr zu nehmen ist, erstarrte zum Begriff des auf den Buchstaben der Tractaten gegruͤndeten Voͤlkerrechtes. In dem Maße, wie die Voͤlker nicht mehr an ihre eigene Freiheit glaubten, ging ihnen auch das Gefuͤhl des Rechtes verloren. Nun war der Welt nichts weiter verblieben von allen wahren Heiligthuͤmern der Mensch- heit, als der Gedanke des augenblicklichen Nut- zens; ein arithmetischer Calcul war der Ersatz fuͤr alle energische, lebensreiche Weisheit der Vor- fahren. Was vermochte der Buchstabe der Tracta- ten, da die auslegende Empfindung, das große le- bendige Gemein-Interesse der Voͤlker und der al- les umfassende, alles bindende Glaube fehlte! Die oben beschriebene ○ des Gleichgewichtes ward auf den Thron uͤber die Voͤlker gesetzt; den Stillstand des Ganzen vertheidigen und behaup- ten, hieß Recht , nach Unterwerfung der Welt, nach Verbindung aller Massen in Eine Masse streben, hieß Politik . So strebte man zugleich nach der Universal-Monarchie insgeheim , und nach allgemeiner Neutralitaͤt, oder nach dem tod- ten Gleichgewichte, oͤffentlich . Das Genie eines Friedrichs des Zweiten, eines Josephs des Zwei- ten und einer Katharina gehoͤrte dazu, um die doppelsinnige Rolle, unbeschraͤnktes Streben nach Vergroͤßerung, und oͤffentliches Wortfuͤhren der allgemeinen Neutralitaͤt, oder des Gleichgewich- tes, zugleich zu spielen. Andrerseits konnte aber auch die große poli- tische ○, oder die Lehre von der Neutralitaͤt, nicht einseitig durchgefuͤhrt werden. Als dann eine neue Ordnung der Dinge begann, und der Grundsatz, in dem großen Geschaͤfte der Fuͤnf-Reiche, deren Theile auf Leben und Tod auch durch bloßes weltliches Interesse verbunden sind, sich zu iso- liren, und den großen, nie nachlassenden, Leben erzeugenden Weltkrieg, unbekuͤmmert, welches In- teresse dabei etwa auf dem Spiele stehen moͤch- te, zu scheuen, oder einen zu laͤssigen Antheil daran zu nehmen, hier und dort Maxime wurde: — da bereitete die Nemesis still und heimlich, durch eine Reihe anscheinend lachender Jahre, einem vergaͤnglichen Systeme seinen Untergang. Eine Weltstrafe war es, welche hier die Natur vollzog; und sie vollzog dieselbe, wie oͤfters, gerade an den Unschuldigsten, damit die Menschen nicht in Zweifel seyn koͤnnten, wofuͤr die Strafe eigent- lich erfolge; damit sie nicht waͤhnen sollten, das Gericht gelte etwa eine Person; damit sie fuͤhl- ten, daß es eine verlaͤugnete heilige Idee sey, der die Nemesis beistehe. Je lebendiger und allseitiger die Freiheit der Einzelnen ist, um so gewaltiger, inniger und sichtbarer ist ihr gemeinschaftliches Interesse, oder das Recht, oder das Gesetz: das ist die große, um des Lebens willen, allgegenwaͤrtige, und auch durch kein Wort verlaͤugnete Idee meiner Rechts- lehre. Wer sie verstanden hat, der hat den Grundgedanken aller Staatswissenschaft, und, da menschliche und buͤrgerliche Existenz Eins und dasselbe sind, auch den Grundgedanken des ganzen Lebens verstanden. Das einseitige Stre- ben nach Vergroͤßerung oder Universal-Monar- chie, ist ein Streben nach einem Monopol, nach dem Ausschließen der Uebrigen von der Freiheit, also nicht ein Streben der Freiheit, welche, wie ich ich gezeigt habe, das Streben des Nachbars nach Freiheit anerkennen muß. In dem wahren stolzen Streben nach Freiheit und Unabhaͤngig- keit liegt zugleich, wie ich gleichfalls gezeigt, Demuth und Hingebung gegen die Freiheit der Uebrigen, Strenge und Milde: so ist alle Ge- meinschaft vor der Idee des Rechtes zugleich eine religioͤse Gemeinschaft; sie verlangt Aufopfe- rung, Weggeben des Sichtbaren fuͤr das Unsicht- bare. Was kann also den großen Umgang der kolossalen Menschen, die ich oben als Glieder oder Theilnehmer der erhabenen Gemeinschaft der Fuͤnf-Reiche dargestellt habe, besser reguliren, als der Glaube, das unsichtbare und doch so maͤchtige, so bewegliche Gesetz der Religion, unter deren Schutz, und in deren immerwaͤhren- dem, innigem, thaͤtigem Anschauen die Fuͤnf-Reiche groß geworden sind! Hier sind Freiheit, Gesetz, Ehrfurcht vor den Abwesenden; alle Elemente der wahren Weltherrschaft sind hier beisammen. Vor ihr schließen sich die freie Behauptung der eignen Nationalitaͤt, und die innigste Gemein- schaft unter den Staaten nicht gegenseitig aus. Ein Glaube, der, Trotz aller Nationalitaͤt, den- noch in den innersten geheimsten Nerven jedes Staates Raum findet und sich mit den verschie- denartigsten Formen des buͤrgerlichen Lebens ver- traͤgt — der ist von selbst schon das hoͤchste ge- meinschaftliche Gut, das innigste Bindungs-Mit- tel, der sicherste gemeinschaftliche Boden, und der untrieglichste, lebendigste Gesetzgeber fuͤr Alle. Erst am Schlusse meiner Vorlesungen wird diese Behauptung sich vollstaͤndig bewaͤhren; denn in Einer Stunde laͤßt sich nicht alles sagen.