Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Dritter Theil. Berlin, 1786. bei Friedrich Maurer. M it dem Schluß dieses Theils heben sich Anton Reisers Wanderungen, und mit ihnen der eigentliche Roman seines Lebens an. Das in diesem Theil enthaltne ist eine getreue Darstel¬ lung der Scenen seiner Juͤnglings-Jahre, welche andern, denen diese unschaͤtzbare Zeit noch nicht entschluͤpft ist, vielleicht zur Lehre und Warnung dienen kann. Vielleicht enthaͤlt auch diese Darstellung manche, nicht ganz unnuͤtze Winke fuͤr Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen koͤnnten, in der Behandlung mancher ihrer Zoͤglinge be¬ hutsamer, und in ihrem Urtheil uͤber dieselben gerechter und billiger zu seyn! Auf A uf die Weise brachte er zwoͤlf schreckliche Wo¬ chen seines Lebens zu, bis ihn endlich der Pa¬ stor M. . . durch die dritte Hand selbst wissen ließ, daß er sich seiner wieder annehmen wolle, sobald er sich zur ernstlichen Abbitte und Reue uͤber sein Betragen bequemte. Diß erweichte endlich sein Herz, da er uͤber¬ dem seines hartnaͤckigen Trotzes und des darauf folgenden langwierigen Elendes muͤde war. Er setzte sich hin, und schrieb einen langen Brief an den Pastor M. . ., worin er sich selbst mit der groͤßten Erbitterung gegen sich herabsetzte — sich als den unwuͤrdigsten Menschen schilderte, den je die Sonne beschienen habe — — und sich kein besser Schicksal prophezeite, als daß er der¬ einst vor Armuth und Duͤrftigkeit unter freiem Himmel das Ende seines Lebens finden wuͤr¬ de — — Kurz, dieser Brief war in den uͤberspannte¬ sten Ausdruͤcken der Selbstverachtung und Selbstherabwuͤrdigung, die man sich nur denken 3r Theil . A kann, abgefaßt, und war doch nichts weni¬ ger , als Heuchelei — Reiser hielt sich wirklich damals fuͤr ein Un¬ geheuer von Bosheit und Undankbarkeit; und schrieb den ganzen Brief an den Pastor M. . . mit einer Erbitterung gegen sich selbst nieder, wie sie vielleicht nur bei irgend einem Menschen moͤglich ist — — er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen, sondern sich noch immer mehr an¬ zuklagen — Indes sahe er doch so viel ein, daß die Wuth, Romanen und Komoͤdien zu lesen und zu sehen, die naͤchste Veranlassung seines gegenwaͤrtigen Zustandes war — aber wodurch ihm das Lesen von Romanen und Komoͤdien zu einem so noth¬ wendigen Beduͤrfniß geworden war — alle die Schmach, und die Verachtung, wodurch er schon von seiner Kindheit aus der wirklichen, in eine idealischen Welt verdraͤngt worden war — darauf zuruͤckzugehen hatte seine Denkkraft da¬ mals noch nicht Staͤrke genug, darum machte er sich nun selbst unbilligere Vorwuͤrfe, als ihm vielleicht irgend ein anderer wuͤrde gemacht ha¬ ben — in manchen Stunden verachtete er sich nicht nur, sondern er haßte und verabscheuete sich — Die Beichte, welche er daher dem Pastor M... in dem an ihn gerichteten Briefe ableg¬ te, war schrecklich und einzig in ihrer Art — so daß der Pastor M... erstaunte, da er sie laß — denn vielleicht war ihm in seinem Leben nie so gebeichtet worden — Da Reiser diesen Brief abgegeben hatte, so wartete er nur darauf, wann er bei dem Pastor M... wuͤrde vorgelassen werden; und es wurde ihm ein Tag bestimmt, welchem er nun mit sonderbaren, vermischten Empfindungen, von Furcht und Hoffnung, und resignirter Verzwei¬ flung, entgegen sahe. — Er hatte sich dabei auf eine sehr theatralische Scene gefaßt gemacht, die ihm aber gaͤnzlich mi߬ lang. — Er wollte nehmlich dem Pastor M... zu Fuͤßen fallen, und seinen ganzen Zorn auf sich herab erbitten. — Die ganze Anrede an ihn hatte er sich schon in seinen Gedanken entworfen, und nun trug er sich bestaͤndig mit dieser Idee herum, wo er ging und stund, bis zu dem Tage, A 2 wo er bei dem Pastor M. . . sollte vorgelassen werden. — Allein waͤhrend der Zeit ereignete sich fuͤr ihn ein hoͤchstverdrießlicher Umstand. — Sein Vater hatte von seinem Zustande gehoͤrt und war nach H. . . heruͤbergekommen, um Fuͤrbitte fuͤr ihn ein¬ zulegen, welches Reisern deswegen hoͤchstunan¬ genehm war, weil er keiner fremden Fuͤrsprache zu beduͤrfen glaubte, sondern sich selbst schon fuͤr faͤhig genug hielt, durch seine affektvolle Anrede, die er sich erlernt hatte, das Herz des Pastor M. . . zu ruͤhren. — Endlich erwachte er zu dem wichtigen Tage, wo er den Pastor M. . . sprechen sollte und seine Phantasie ging nun mit lauter großen Din¬ gen schwanger, — wie er voll Reue und Ver¬ zweiflung sich dem Pastor M... zu Fuͤßen wer¬ fen, — und dieser ihn dann geruͤhrt aufheben, — und ihm verzeihen wuͤrde. — Und da er nun endlich in das Haus des Pa¬ stor M. . . kam, und sich diesem so lange vorbe¬ reiteten Auftritte mit schauervoller Sehnsucht naͤherte; indem er draußen wartete, bis man ihn hereinrufen wuͤrde, kam endlich der Bediente heraus, und sagte ihm, er solle nur herein kom¬ men, sein Vater , sei schon bei dem Pastor M. . . Diese Nachricht war ein Donnerschlag fuͤr ihn — er stand eine Weile, wie betaͤubt da — in dem Augenblick scheiterte sein ganzer Plan — er wollte den Pastor M. . . ohne Zeugen spre¬ chen — denn nur ohne Zeugen fuͤhlte er sich im Stande, die ganze Scene mit dem Niederknieen vor dem Pastor M. . ., und der ruͤhrenden und pathetischen Anrede an ihn, zu spielen. — In Gegenwart eines Dritten, und vorzuͤglich nun in Gegenwart seines Vaters vor dem Pastor M. . . niederzuknieen, war ihm unmoͤglich. — Er schickte den Bedienten wieder herein, und ließ sagen, er muͤßte den Pastor M. . . nothwen¬ dig allein sprechen. — Diß Gespraͤch wurde ihm abgeschlagen, und statt der glaͤnzenden und ruͤh¬ renden Scene, die er zu spielen dachte, mußte er nun, indem er hereintrat, ohne ein einziges Wort von seiner ganzen laͤngstentworfenen An¬ rede vorbringen zu koͤnnen, durch die Gegenwart seines Vaters bis zur Verachtung gedemuͤthigt, wie ein Missethaͤter, dastehen. — A 3 Es bemaͤchtigte sich seiner hiebei ein Gefuͤhl, das er in seinen Leben noch nicht gekannt hatte — seinen Vater neben sich in bittender Stellung vor dem Pastor M... stehen zu sehen , war ihm unertraͤglich — alles in der Welt haͤtte er darum gegeben, daß dieser in dem Augenblick hundert Meilen weit entfernt gewesen waͤre. — Er fuͤhlte sich in seinem Vater doppelt gedemuͤthigt und beschaͤmt — und dann kam der Verdruß dazu, daß ihm die ganze Fußfallsscene mißlungen war — alles ging nun so kalt , so gemein , so gewoͤhnlich zu — — Reiser stand so unausgezeichnet, wie ein ganz gemeiner, all¬ taͤglicher Boͤsewicht da, dem man uͤber sein Be¬ tragen die verdienten Vorwuͤrfe macht — und er wollte sich doch selbst, als einen recht großen Boͤ¬ sewicht schildern, und selbst die haͤrteste Strafe fuͤr sein Verbrechen nun auf sich herab erbit¬ ten. — Allein kein Zufall in seinem Leben fuͤgte sich vielleicht mehr zu seinem wahren Vortheil, als eben dieser — Waͤre es ihm dißmal mit der an¬ gelegten Scene gelungen, wer weiß, wozu er in der Folge noch geschritten, und was fuͤr Rollen er wuͤrde gespielt haben. — Vielleicht war diß eben der entscheidende Augenblick, wo sein Schick¬ sal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden, oder ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch bleibeu sollte, auf der Spitze stand. — Die ganze Fußfallszene waͤre doch im Grun¬ de, obgleich nicht offenbare Heuchelei und Ver¬ stellung, doch wenigstens Affektation gewesen, und der Uebergang von der Affektation zur Heu¬ chelei und Verstellung, wie leicht ist der! — Es war gewiß eine wahre Wohlthat fuͤr Rei¬ sern, daß der Pastor M. . . alle die uͤberspannten Ausdruͤcke in seinem Briefe keiner Aufmerksam¬ keit wuͤrdigte, und statt dadurch geruͤhrt zu seyn, sie laͤcherlich fand, und sie fuͤr die unreife Ge¬ burt einer durch Romanen und Komoͤdienlektuͤre erhitzten Phantasie erklaͤrte; mit dem Beifuͤgen, wenn Reiser wirklich solch ein Boͤsewicht waͤre, als er sich in dem Briefe geschildert haͤtte, so wuͤrde er sich nicht das mindeste mehr um ihn bekuͤmmern, sondern ihn, als ein Ungeheuer, verabscheuen. — Und statt sich nun weiter in Erklaͤrungen einzulassen, daß ihm das Vergangene verziehen A 4 sein solle, wenn er kuͤnftig sich anders betruͤge und dergleichen, kam der Pastor M. . ., auf eine gar nicht empfindsame Art, sogleich auf Reisers zerrißene Schuhe und Struͤmpfe, und auf die Schulden, die er gemacht hatte, und wie diese nun bezahlt, und seine zerrißenen Kleidungs¬ stuͤcken wieder hergestellt werden sollten. — Nicht einmal zu feierlicher Angelobung kuͤnftiger Besserung oder so etwas Ruͤhrendem ließ er Rei¬ sern kommen. — Sein ganzes Benehmen gegen ihn, ob er sich gleich seiner nun wieder annahm, war rauh und hart — aber eben diß rauhe und harte Betragen war es, was Reisern aus seinem Schlummer weckte, und ihn aus seiner idealischen Romanen- und Komoͤdienwelt wieder in die wirk¬ liche Welt versetzte, insbesondere, da ihm sein Roman, den er mit dem Pastor M. . . zu spie¬ len gedachte, mißlungen war, und er doch nun auch wieder aus seinem schrecklichen Zustande, durch keine leere Phantasie, ein Bauer zu wer¬ den , und dergleichen, sondern wirklich heraus¬ gerissen werden sollte. — Unzaͤhlige gute Vorsaͤtze und Entschliessungen draͤngten sich nun mit dieser Wendung seines Schicksals in seiner Seele wieder empor, die mißlungene Fußsallsscene schmerzte ihn zwar noch immer; endlich aber soͤhnte er sich auch daruͤber mit dem Schicksal aus — und so fing nun eine neue Epoche seines Lebens an. — Er zog von dem Buͤrstenbinder aus und wurde bei einem Schneider eingemiethet, bei dem er in derselben Stube wohnen, und auf dem Boden schlafen mußte. — Die Frau F. . . und der Hofmusikus, welche in demselben Hause wohnten, nahmen sich seiner wieder an, indem sie ihm woͤchentlich einmal zu essen gaben. — Die Frau F. . . ließ ihn das kleine Maͤdchen, welches sie bei sich hatte, im Schreiben und im Katechismus unterrichten — er besuchte die Schule wieder regelmaͤßig, man schoͤpfte wie¬ der neue Hoffnung von ihm — selbst der Prinz ließ ihn zu sich kommen, und sprach ihn in Ge¬ genwart des Pastor M. . ., der das Geld zu sei¬ ner Unterstuͤtzung vom Prinzen fuͤr ihn in Em¬ pfang nahm, und damit seine Schulden tilgte. So ging nun alles wieder so weit gut — und er fing nun an wieder fleißig zu seyn — obgleich seine aͤußere Situation auch hier seinem Studieren A 5 eben nicht zu guͤnstig war — denn in der Stube des Schneiders hatte er nichts, wie sein ange¬ wiesenes Plaͤtzchen, wo sein Klavier stand, das ihm zugleich zum Tische diente, und unter wel¬ chem er zugleich seine ganze Bibliothek in ein kleines Buͤcherbrett aufgestellt hatte. — Wenn er nun fuͤr sich las und arbeitete, so konnte er um sich her nicht Stille gebieten; und so lange der Winter dauerte, war er doch genoͤthigt, in der Stube seines Wirths zu bleiben — im Sommer zog er mit seinem Klavier und Buͤchern auf den Boden, wo er schlief, und einsam und ungestoͤrt war. — Er war kaum einige Wochen aus seinem vo¬ rigen Logis, und von seinen vorigen Stubenge¬ sellschaftern G. . . und M. . . weggezogen, so er¬ eignete sich ein fuͤrchterlicher Vorfall, der ihn die Groͤße und Naͤhe der Gefahr, in welcher er geschwebt hatte, sehr lebhaft empfinden ließ. — G. . . wurde nehmlich eines Tages, da er im Chore sang, auf oͤffentlicher Straße in Verhaft genommen, und sogleich geschlossen in eines der tiefsten Gefaͤngnisse auf dem . . . . Thore gebracht, welches nur fuͤr die aͤrgsten Missethaͤter be¬ stimmt ist. — Reisern ergrif Beben und Entsetzen, da er ihn hinfuͤhren sahe — und was das sonderbarste war, so machte der Gedanke, man moͤchte ihn etwa fuͤr einen Mitschuldigen des noch unbekannten Verbrechens seines ehemaligen Stubengesell¬ schafters halten, daß sich gerade solche Merk¬ male der Schaam und Verwirrung bei ihm aͤußerten, als wenn er wirklich ein Mitschul¬ diger gewesen waͤre — so daß seine Angst bei¬ nahe so groß wurde, als ob er wirklich selbst ein Verbrechen begangen hatte. Diß war eine na¬ tuͤrliche Folge seines von Kindheit an unterdruͤck¬ ten Selbstgefuͤhls, das damals nicht stark genug war, den Urtheilen anderer von ihm zu wieder¬ stehen — haͤtte ihn jedermann fuͤr einen offen¬ baren Verbrecher gehalten, so wuͤrde er sich zuletzt vielleicht auch dafuͤr gehalten haben. — Endlich kam es denn heraus, daß sein ehe¬ maliger Stubengesellschafter G. . . einen Kir¬ chenraub begangen, Treffen von Altardecken bei der Nacht entwendet, und um die in den Stuͤhlen verwahrten mit Silber beschlagenen Gesangbuͤcher zu stehlen, sogar Schloͤsser aufge¬ brochen hatte. Das waren denn die Projekte gewesen, auf welche er ganze Tage hindurch auf dem Bette liegend, gesonnen und gegruͤbelt hatte. Den eigentlichen Kirchenraub aber hatte er erst veruͤbt, nachdem Reiser schon von ihm weg¬ gegangen war, ob er gleich vorher sich schon ver¬ schiedener Diebereien schuldig gemacht hatte. Auf sein Verbrechen stand nun eigentlich der Strang — und Reisern wandelte immer die Furcht vor einem aͤhnlichen Schicksal an, so oft er dachte, wie nahe er diesem Menschen gewesen war, und wie leicht er Stufenweise von ihm zu einem Wagstuͤck nach dem andern haͤtte verfuͤhrt werden koͤnnen, da mit der Expedition auf der Kirscheninsel schon ein so heroischer Anfang gemacht worden war. — Reiser wuͤrde in dem naͤchtlichen Kirchenraube immer auch mehr Heroisches als Niedertraͤchtiges gefunden haben, und es wuͤrde G. . . vielleicht nicht schwerer geworden sein, ihn zur Theilnehmung an einer solchen Expedition, als zu der auf der Kirscheninsel, zu bereden. Wer weiß, ob nicht auch diese Reflexion, oder diß dunkle Bewußtsein, mit zu Reisers Ver¬ wirrung beitrug, so oft von G... gesprochen wurde — es daͤuchte ihm nur noch ein so kleiner Schritt zwischen ihm, und dem Verbre¬ chen, zu dem er haͤtte verleitet werden koͤnnen; daß es ihm ging, wie einem, dem vor einem Ab¬ grunde schwindelt, von welchem er noch weit genug entfernt ist, um nicht hereinzustuͤrzen, der sich aber dennoch, selbst durch seine Furcht , un¬ aufhaltsam hin gezogen fuͤhlt, und schon in dem Abgrunde zu versinken glaubt. — Die leichte Moͤglichkeit, an G...s Verbre¬ chen Theil zu nehmen, welche Reiser bei sich empfand, erweckte bei ihm fast ein aͤhnliches Ge¬ fuͤhl, als ob er wirklich daran Theil genommen haͤtte, woraus sich also seine Angst und Verwir¬ rung sehr gut erklaͤren laͤßt. Indes kam es mit G... so weit nicht, daß er ge¬ hangen wurde, sondern nachdem er einige Monathe im Gefaͤngniß gesessen hatte, ward sein Urtheil da¬ hin gemildert, daß er uͤber die Grenze gebracht und des Landes verwiesen wurde. — Reiser hat von seinem Schicksale nachher nichts weiter erfahren koͤnnen. — So endigte es sich also mit dem ei¬ gentlichen sterbenden Sokrates, von welchem Reiser so lange den Spottnahmen tragen mußte, da er doch nicht den sterbenden Sokrates selbst, sondern nur einen unbedeutenden Freund desselben, vorgestellt haͤtte, der nicht viel mehr that, als daß er in einem Winkel stand und weinte, indes der sterbende Sokrates zur Ruͤhrung aller Zu¬ schauer den Giftbecher trinken und sich auf dem Todtbette noch in dem glaͤnzendsten Lichte zeigen konnte. Reiser hatte damals schon seit laͤnger als einem Jahre angefangen, sich ein Tagebuch zu machen, worin er alles, was ihm begegnete, aufschrieb. — Diß Tagebuch gerieth denn ziemlich sonderbar, weil er keinen einzigen Umstand seines Lebens, und keinen einzigen von den Vorfallenheiten des Tages, er mochte so unbedeutend seyn, wie er wollte, darin ausließ. — Da er nun nur lauter wirkliche Begebenheiten, und seine Phan¬ tasieen, die er den Tag uͤber hatte, nicht mit aufschrieb, so mußten die Erzaͤhlungen von den Begebenheiten des Tages, eben so kahl und ab¬ geschmackt, und ohne alles Interesse sein, wie diese Begebenheiten selbst waren. — Reiser lebte im Grunde immer ein doppeltes, ganz von einan¬ der verschiedenes inneres und aͤußeres Leben, und sein Tagebuch schilderte gerade den aͤußern Theil desselben, der gar nicht der Muͤhe werth war, aufgezeichnet zu werden. — Den Einfluß der aͤußern — wuͤrklichen Vorfaͤlle auf den innern Zustand seines Gemuͤths zu beobachten, verstand Reiser damals noch nicht; seine Aufmerksamkeit auf sich selbst hatte noch nicht die gehoͤrige Rich¬ tung erhalten. — Indes verbesserte sich doch sein Tagebuch mit der Zeit, indem er anfing, nicht nur seine Bege¬ benheiten, sondern auch seine Vorsaͤtze und Ent¬ schliessungen, darin aufzuzeichnen, um nach eini¬ ger Zeit zu sehen, was er davon in Erfuͤllung gebracht hatte. — Er machte sich schon damals selber Gesetze , die er in seinem Tagebuche auf¬ schrieb, um sie in Erfuͤllung zu bringen. — Auch that er sich selbst zuweilen feierliche Geluͤbde, z. B. fruͤh aufzustehen, den Tag seine Stunden ordentlich einzutheilen, und dergleichen mehr. — Aber es war sonderbar — gerade die feier¬ lichsten Vorsaͤtze, welche er faßte, pflegten ge¬ meiniglich am spaͤtesten und kaͤltesten in Erfuͤllung zu gehen — wenn es zur Ausfuͤhrung im Klei¬ nen kam, so war das Feuer der Phantasie erlo¬ schen, womit er sich die Sache im Ganzen und mit allen ihren angenehmen Folgen zusammen genommen gedacht hatte — wenn er sich hingegen alles schlechtweg und ohne allen Prunk und Feier¬ lichkeit vornahm, so ging die Ausfuͤhrung oft weit eher und besser von statten. — An guten Vorsaͤtzen war er unerschoͤpflich — Diß machte ihn aber auch bestaͤndig mit sich sel¬ ber unzufrieden, weil der guten Vorsaͤtze zu viele waren, als daß er sich selber jemals haͤtte ein Ge¬ nuͤge thun koͤnnen. — Drei Tage, wo er einmal ununterbrochen mit sich zufrieden gewesen war, zeichnete er als eine große Merkwuͤrdigkeit in seinem Leben auf, welche es auch wirklich fuͤr ihn war — denn diese drei Tage waren fast so lange er denken konnte, die einzigen in ihrer Art. — Es war aber gerade diese drei Tage uͤber ein gluͤcklicher Zusammenfluß von Umstaͤnden, heiteres Wetter, gesundes Blut, freundliche Gesichter bei denen Personen, zu denen er kam, und wer weiß, was mehr, mehr, wodurch ihm die Ausfuͤhrung seiner guten Vorsaͤtze nun merklich erleichtert wurde. — Er nahm uͤbrigens zu allerlei Mitteln seine Zuflucht, um sich fromm und tugendhaft zu er¬ halten. — Vorzuͤglich suchte er alle Morgen edle und gute Gesinnungen in sich zu erwecken, indem er Popens allgemeines Gebet , das er sich englisch aufgeschrieben, und auswendig ge¬ lernt hatte, hersagte, und wirklich, so oft er es sagte, dadurch geruͤhrt und zu guten Vorsaͤtzen und Entschliessungen aufs neue belebt wurde. — Dann hatte er eine Anzahl Lebensregeln aus einem Buche ausgeschrieben, die er des Tages uͤber zu gewissen bestimmten Zeiten laß — und ein paar Chorarien, welche etwas zur Tugend und Froͤmmigkeit vorzuͤglich Anfmunterndes hat¬ ten, wurden ebenfalls taͤglich zu bestimmten Stunden sehr gewissenhaft von ihm gesungen. — Waͤren nun hiebei seine aͤußern Verhaͤltnisse nur etwas guͤnstiger und aufmunternder gewor¬ den, so haͤtte Reiser mit diesen Vorsaͤtzen und Bestrebungen, die doch bei einem jungen Men¬ schen in seinem Alter (er war damals etwas uͤber 3r Theil . B sechzehn Jahr) wohl sehr selten sind, ein Muster von Tugend werden muͤssen. Aber dies war es, was ihn immer wieder niederschlug, die Meinung der Menschen von ihm, welche er mit Gewalt nicht umaͤndern konnte, und die doch ohnerachtet aller seiner Be¬ strebungen, ein beßrer Mensch zu werden, sich nicht ganz wieder zu seinem Vorthell lenken wollte — er schien es nun einmal zu sehr ver¬ dorben und zu sehr die Erwartung aller von ihm getaͤuscht zu haben, als daß er sich je die vorige Achtung und Liebe der Menschen haͤtte wieder erwerben koͤnnen. — Insbesondre war ein Verdacht auf ihn gefal¬ len, der ihn sehr unverdienter Weise traf, — dies war der Verdacht der Luͤderlichkeit , weil er bei einen so luͤderlichen Menschen, wie G... war, gewohnt hatte. — Reiser war so weit hie¬ von entfernt, daß ihm drei Jahre nachher, da er zufaͤlliger Weise ein anatomisches Buch zu sehen bekam, uͤber gewisse Dinge ein Licht aufging, wovon damals seine Begriffe noch sehr dunkel und verworren waren. Sein Lesen aber bei dem Buͤcherantiquarius und sein Komoͤdiengehn wurde ihm am schlimm¬ sten ausgeleget, und immer noch fuͤr ein unver¬ zeihliches Vergehen gehalten. — Nun fuͤgte es sich gerade, daß eine Gesellschaft Luftspringer nach H... kam, und weil ein Platz nur eine Kleinigkeit kostete, so ging er einen ein¬ zigen Abend hin, um diese halsbrechenden Kuͤnste mit anzusehen — man hatte ihn erblickt — und weil diß nun auch eine Art von Komoͤdie war, so hieß es, sein alter Hang sei nun wieder er¬ wacht, und es gehe kein Abend hin, daß er nicht den Schauplatz bei den Luftspringern besuchte; da truͤge er nun wieder sein Geld hin — man sehe hieraus schon, daß doch nun nichts aus ihm werden wuͤrde. — Seine Stimme war viel zu ohnmaͤchtig, um sich gegen die Aussage derer zu erheben, die ihn alle Abend bei den Luftspringern wollten gesehen haben — kurz, der einzige Abend, an welchem er hier her ging, brachte ihn wieder weiter in der Meinung der Menschen zuruͤck, als ihn sein ganzer bisheriger Fleiß und regelmaͤßiges Betragen darin hatte vorwaͤrts bringen koͤnnen. B 2 Hiezu kamen nun noch einige Sachen, die ihn sehr niederschlugen. Das Neujahr kam wieder heran, und er freute sich schon darauf, daß er nun bei dem Aufzug mit Fackeln und Mu¬ sik, doch wieder die Vorrechte seines Standes geniessen, in Reihe und Glied mit den uͤbrigen gehen, und auch nun nicht mehr, wie das vorige mal, einer der letzten in der Ordnung seyn wuͤrde. — Um nun aber die Fackel und seinen Antheil zur Musik und sonstigen Kosten bezahlen zu koͤn¬ nen, wartete er nur auf die Austheilung des Chorgeldes, das er sich mit saurer Muͤhe im Frost und Regen hatte ersingen muͤssen, und indem er nun zum Direktor kam, um es in Empfang zu nehmen, war es den Konrektor eingefallen, fuͤr die Privatstunden, die Reiser in Sekunda bei ihm gehabt, und nicht bezahlt hatte, Beschlag darauf zu legen. — Reiser ging zu dem Konrek¬ tor hin, und bat ihn flehentlich, ihm nur die Haͤlfte von dem Chorgelde zu lassen; allein dieser war unerbittlich; und da Reiser wieder zum Di¬ rektor kam, so machte ihm auch der die bittersten Vorwuͤrfe, daß er aufs neue in der Komoͤdie bei den Luftspringern gewesen waͤre, und sich sogar auf dem Markte vor der Schule Honig und Brodt gekauft, und das auf der Straße gegessen habe. — Eine Sache, die Reiser fuͤr sehr etwas unschuldiges und auch nicht fuͤr erniedrigend hielt, die ihm aber jetzt als die groͤßte Nieder¬ traͤchtigkeit ausgelegt wurde, und woruͤber ihn der Direktor einen schlechten Buben schalt, der weder Ehre noch Scham hatte, und mit dem er sich nicht weiter befassen wollte. — Nicht leicht war Reiser wohl in seinem ganzen Leben trauriger und niedergeschlagener gewesen, als da er jetzt vom Direktor zu Hause ging. Er achtete Wind und Schneegestoͤber nicht, sondern irrte wohl anderthalb Stunden auf dem Wall und in der Stadt umher, und uͤberließ sich seinem Gram und seinen lauten Klagen. — Denn alles war ihm nun auf eimnal fehlge¬ schlagen; sein Bestreben, sich bei dem Direktor durch sein Betragen wieder in Gunst zu setzen; seine Hoffnung, ein gutes Chorgeld zu erhalten, welches ohnedem zu Neujahr immer am betraͤcht¬ lichsten zu seyn pflegte; und sein sehnlicher Wunsch am morgenden Tage, dem Aufzuge mit D 3 Fackeln und Musik beizuwohnen, und dort oͤf¬ fentlich mit in Reihe und Gliede zu gehn. — Was ihn aber am meisten schmerzte, war doch im Grunde das letzte — und diß war sehr natuͤrlich; denn durch seine Theilnehmung an dem Aufzuge fuͤhlte er sich gleichsam in alle Rechte seines Standes, die ihm so sehr verleidet waren, wieder eingesetzt — davon ausgeschlossen zu bleiben, daͤuchte ihm eine der groͤßten Wider¬ waͤrtigkeiten, die ihm nur begegnen konnte. — Das war auch die Ursach, weswegen er den Kon¬ rektor um Erlassung der Haͤlfte von dem Chor¬ gelde so flehentlich gebeten hatte, welches zu thun er sich sonst nie wuͤrde erniedrigt haben. Alle sein Sinnen und Denken, Geld zu be¬ kommen, half nichts; er konnte sich keine Fackel kaufen, und mußte den folgenden Abend, waͤh¬ rend daß alle seine Mitschuͤler, im glaͤnzenden Pomp, unter einer Menge von Zuschauern, uͤber die Straße zogen, traurig an seinem Klavier zu Hause sitzen — er suchte sich zu troͤsten, so gut er konnte; aber da er von fern die Musik hoͤrte, so that diß eine sonderbare Wirkung auf sein Ge¬ muͤth — er dachte sich lebhaft den Glanz der Fackeln, die Menge der Zuschauer, das Getuͤm¬ mel, und seine Mitschuͤler als die Hauptpersonen dieses prachtvollen Schauspiels — und sich nun ausgeschlossen, einsam und von aller Welt ver¬ lassen — diß versetzte ihn in eine Wehmuth, die derjenigen voͤllig aͤhnlich war, da seine Eltern ihn oben auf der Stube allein gelassen hatten, waͤhrend daß sie unten bei dem Wirth bei einer Gasterei waren, von welcher das frohe Gelaͤchter und Klingen mit den Glaͤsern zu ihm hinauf erschallte, und er sich da auch so einsam und von aller Welt verlassen fuͤhlte, und sich aus den Liedern der Madame Guion troͤ¬ stete. — Dergleichen Vorfaͤlle draͤngten ihn dann im¬ mer wieder aus der Welt in die Einsamkeit — er war nicht vergnuͤgter, als wenn er allein bei seinem Klavier sitzen, und fuͤr sich lesen und ar¬ beiten konnte — und wuͤnschte nichts sehnli¬ cher, als daß es bald Sommer seyn moͤgte, um auf dem Boden, wo sein Bette stand, den gan¬ zen Tag allein zubringen zu koͤnnen. Und da nun dieser sehnlich gewuͤnschte Som¬ mer kam, so genoß er nun auch zu allererst die B 4 Wonne des einsamen Studirens. Er liehe sich seit einiger Zeit wieder Buͤcher vom Antiqua¬ rius; aber sein Geschmack fiel nun auf lauter wissenschaftliche Buͤcher. — Seine Romanen und Komoͤdienlektuͤre hatten seit jener schreckli¬ chen Epoche seines Lebens gaͤnzlich aufgehoͤrt. — Sobald die Luft nun anfing, warm zu wer¬ den, eilte er auf seinen Boden, und brachte da die vergnuͤgtesten Stunden seines Lebens mit Lesen und Studiren zu. — Er hatte sich von dem Buͤcherantiquarius un¬ ter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwaͤssert sind, so gab doch diß seiner Denk¬ kraft gleichsam den ersten Stoß — er bekam da¬ durch wenigstens eine leichte Uebersicht aller phi¬ losophischen Wissenschaften, wodurch sich die Ideen in seinem Kopfe aufraͤumten. — Sobald er diß merkte, nahm auch sein Eifer, die Sache bald zu uͤbersehen , mit jedem Tage zu. — Er sah, daß das bloße Lesen nichts half — er fing also an, sich auf kleinen Blaͤttchen schrift¬ liche Tabellen zu entwerfen, wo er das Detail immer dem Ganzen gehoͤrig unterordnete, und und sich auf die Weise einen anschaulichen Begriff davon zu machen suchte. — Das simple Abschreiben des Hauptinhalts brachte fuͤr ihn schon ein vorzuͤgliches Interesse in die Sache — denn indem er nun das Blatt, auf welches er die in dem Buche enthaltenen Materien niedergeschrieben hatte, beim Lesen des Buches vor sich hinlegte, erhielt er dadurch den Vortheil, daß er bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen verlohr , welches doch beim philosophischen Denken immer ein Haupt¬ erforderniß ist, und auch die groͤßte Schwierig¬ keit macht. — Alles was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Charte wie ein unbekanntes Land vor ihm, welches genauer kennen zu lernen, er eine ordentliche Sehnsucht empfand. — Die Umrisse, das Fachwerk war durch die allgemeine Uebersicht des Ganzen einmal in seiner Seele gemacht, er strebte nun von den Luͤcken, die er erst jetzt empfinden konnte, eine nach der andern auszufuͤllen. — Und dasjenige, was ihm erst bloße leere Nahmen gewesen waren, wur¬ den nun allmaͤlig vollgefuͤllte deutliche Begriffe, B 5 und wenn er nun eben den Nahmen wieder laß, oder wieder dachte, und ihm auf einmal alles so licht und helle wurde, was ihm vorher dunkel und verworren gewesen war, so bemaͤchtigte sich seiner ein so angenehmes Gefuͤhl dabei, als er noch nie empfunden hatte — er schmeckte zuerst die Wonne des Denkens . — Die immerwaͤhrende Begierde, das Ganze bald zu uͤberschauen, leitete ihn durch alle Schwie¬ rigkeiten des Einzelnen hindurch. — In seiner Denkkraft ging eine neue Schoͤpfung vor. — Es war ihm, als ob es erst in seinem Verstande daͤmmerte, und nun allmaͤlig der Tag anbraͤche, und er sich an dem erquickenden Lichte nicht satt sehen konnte. — Er vergaß hieruͤber fast Essen und Trinken, und alles was ihn umgab, und kam unter dem Vorwande von Kraͤnklichkeit, in einer Zeit von sechs Wochen fast gar nicht von seinem Boden herunter — in dieser Zeit saß er vom Morgen bis an den Abend mit der Feder in der Hand bei seinem Buche, und ruhete nicht eher, bis er vom Anfang bis zum Ende durch war. — Was hierbei seinen Eifer nie erloͤschen ließ, war, wie schon gesagt, das bestaͤndige vor Augen halten des Hauptinhalts — und das immerwaͤhrende Unterordnen und Klassifiziren der Materien in seinem Kopfe sowohl als auf dem Papiere. — Er brachte also diesen Sommer, ohngeachtet seine aͤußern Verhaͤltnisse sich eben nicht sehr ver¬ bessert hatten, doch ziemlich vergnuͤgt zu. — Wenigstens mußte er die einsamen Stunden, welche er auf dem Boden zubrachte, immer unter die gluͤcklichsten seines Lebens zaͤhlen. — Auch war er uͤberhaupt von nun an, minder ungluͤck¬ lich, weil seine Denkkraft angefangen hatte, sich zu einwickeln. — Wo er ging und stund, da meditirte er jetzt, statt daß er vorher bloß phantasirt hatte — und seine Gedanken beschaͤftigten sich mit den er¬ habensten Gegenstaͤnden des Denkens — mit den Vorstellungen von Raum und Zeit, von der hoͤch¬ sten vorstellenden Kraft, u. s. w. — Allein schon damals war es ihm oft, wenn er sich eine Weile im Nachdenken verlohren hatte, als ob er ploͤtzlich an etwas stieße, das ihn hemmte , und wie eine bretterne Wand, oder eine undurchdringliche Decke auf einmal seine weitere Aussicht schloß — es war ihm dann, als habe er nichts gedacht — als Worte — Er stieß hier an die undurchdringliche Scheidewand , welche das menschliche Den¬ ken von dem Denken hoͤherer Wesen ver¬ schieden macht , an das nothwendige Be¬ duͤrfniß der Sprache , ohne welche die menschliche Denkkraft keinen eignen Schwung nehmen kann — und welche gleichsam nur ein kuͤnstlicher Behelf ist, wodurch etwas dem eigentlichen reinen Denken, wozu wir dereinst vielleicht gelangen werden, aͤhnliches, hervorgebracht wird. — Die Sprache schien ihm beim Denken im Wege zu stehen, und doch konnte er wieder ohne Sprache nicht denken. — Manchmal quaͤlte er sich Stunden lang, zu versuchen, ob es moͤglich sey , ohne Worte zu denken — Und dann stieß ihm der Begriff vom Daseyn als die Grenze alles menschlichen Denkens auf — da wurde ihm alles dunkel und oͤde — da blickte er zuweilen auf die kurze Dauer seiner Existenz, und der Gedanke oder vielmehr Ungedanke vom Nichtseyn, erschuͤtterte seine Seele — es war ihm unerklaͤrlich, daß er jetzt wirklich sey, und doch einmal nicht gewesen seyn sollte — so irrte er ohne Stuͤtze und ohne Fuͤhrer in den Tiefen der Metaphysik umher. — Manchmal, wenn er itzt im Chore sang, und statt daß seine Mitschuͤler sich miteinander un¬ terredeten, einsam vor sich weg ging, und diese dann hinter ihm sagten: da geht der Melancho¬ likus! so dachte er uͤber die Natur des Schalles nach, und suchte zu erforschen, was sich dabei mit Worten nicht ausdruͤcken ließ. — Diß trat nun in die Stelle seiner vorigen romanti¬ schen Traͤume, womit er sich sonst so manche truͤbe Stnnde verphantasirt hatte, wenn er an einem traurigen Wintertage im Schnee und Regen im Chore sang. — Er liehe sich nun von dem Buͤcherantiquarius Wolfs Metaphysik , und las auch die nach der einmal angefangenen Weise durch — und wenn er nun zu dem Schuster S. . . kam, so war der Stoff zu ihren philosophischen Gespraͤ¬ chen weit reichhaltiger, wie vorher — und sie ka¬ men von selbst auf alle die verschiedenen Syste¬ me, welche von den Weltweisen der alten und neuern Zeiten vorgetragen, und immer von einer unzaͤhligen Menge nachgebetet sind. Waͤhrend der Zeit war nun auch der Direktor B..., von dessen Freundschaft Reiser so viel ge¬ hofft hatte, und so sehr in seiner Hoffnung ge¬ taͤuscht war, nach einer kleinen Stadt nicht weit von H... als Superintendent befoͤrdert worden, und ein andrer Nahmens S... an dessen Stelle gekommen. — Diese Veraͤnderung interessirte Reisern eben nicht sehr, der damals an nichts, als an seine Methaphysik dachte. — Der neue Direktor war ein alter Mann, welcher aber Kenntnisse und viel Geschmack besaß, und von Pendanterei, welches bei alten Schulmaͤnnern ein so seltener Fall ist, ziemlich frei war. Waͤhrend dieser Veraͤnderung fielen eine große Menge Schulstunden ohnedem aus. — Reisers Versaͤumniß wurde also eben so merklich nicht — Und wenn nun ja eine Versaͤumniß von oͤffent¬ lichen Schulstunden gut genutzt worden ist, so war es die seinige — in welcher er in Zeit von ein paar Monathen mehr that, und sein Verstand mit weit mehr Begriffen, als seine ganzen akade¬ mischen Jahre hindurch, bereichert wurde. — Nie hoͤrte er wenigstens den ganzen Kursus der Philosophie so ausfuͤhrlich wieder vortragen, als er ihn damals fuͤr sich durchdacht hatte — auch die uͤbrigen Wissenschaften, als Dogma¬ tik, Geschichte u. s. w. hoͤrte er nie auf der Uni¬ versitaͤt so ausfuͤhrlich wieder, als er sie zum Theil in H. . . auf der Schule gehoͤrt hatte. — Er hatte in seiner Jugend keinen Unterricht, als im Rechnen und Schreiben genossen, welcher itzt fast gaͤnzlich fuͤr ihn verlohren ging, weil er das Rechnen nicht zu uͤben Gelegenheit hatte, und seine Hand durch das Nachschreiben ver¬ darb. — Nun fuͤgte es sich, daß er einige In¬ formation im Schreiben bekam, die ihm zwar wenig oder gar nichts einbrachte, wobei er aber doch merklich seine Hand uͤbte; da er nun wieder anfing, die Schularbeiten mitzumachen, und dem Rektor seine Exercitien brachte, so wunderte sich dieser sehr uͤber die Verbesserung seiner Hand, und gab ihm sogleich etwas abzuschreiben, welches aber dort im Hause geschehen mußte, so daß er auf die Weise wieder Zutritt zu dem Rektor er¬ hielt; welches ihn denn auch mit einiger Hoff¬ nung, sich wieder in Kredit zu setzen, belebte, die aber bald niedergeschlagen wurde, da sein Vater einmal nach H. . . heruͤber kam, und der Pastor M. . . demselben keinen andern Trost gab, als daß sein Sohn ein Schl. . .l sey, aus dem nie etwas werden wuͤrde. — Da sein Vater wieder wegreißte, begleitete er ihn bis vors Thor hinaus, und hier war es, wo ihm derselbe die troͤstlichen Worte des Pa¬ stor M. . . hinterbrachte, und ihm dabei die bittersten Vorwuͤrfe machte, daß er die Wohl¬ thaten, welche man ihm erwiesen, so schlecht er¬ kennte, wobei er ihn zugleich auf den Rock, den er trug, verwieß, und ihm diesen als ein unverdientes Geschenk von seinen Wohlthaͤtern schilderte. — Diß letztere brachte Reisern auf; denn der Rock, welcher von groben grauen Tuch war, das ihm ein voͤlliges Bedientenansehen gab, war ihm immer verhaßt gewesen, und er ließ sich daher gegen seinen Vater verlauten, daß ein solcher Bedientenrock, den er zu seinem Aerger tragen muͤsse, eben kein großes Gefuͤhl von Dank¬ barkeit bei ihm erwecken koͤnne. — Daruͤber gerieth sein Vater, dem die Grund¬ saͤtze von der Demuͤthigung und Ertoͤdtung alles Stolzes und Eigenduͤnkels aus den Schrif¬ ten der Mad. Guion heilig waren, in eine Art von Wuth — drehte sich schnell von ihm, und gab ihm seinen Fluch auf den Weg. — Reiser wurde ebenfalls hiedurch in einen Zustand ver¬ setzt, worin er sich noch nie befunden hatte, alles, was er bisher von seinem widrigen Schicksal ge¬ litten und geduldet hatte, und daß nun auch sein Vater sogar ihn von sich stieß, und ihm seinem Fluch gab, fuhr ihm auf einmal durch die Seele. — Er stieß, indem er nach der Stadt zuruͤck¬ ging, laute Gotteslaͤsterungen aus, und war der Verzweiflung nahe — er wunschte sich wirk¬ lich vom Erdboden verschlungen zu seyn — und der Fluch seines Vaters schien ihn im Ernst zu verfolgen. Diß hemmte wieder auf eine Weile alle seine guten Vorsaͤtze, und seinen bisher freiwillig un¬ unterbrochenen Fleiß. 3r Theil . C Der Sommer ging nun zu Ende — und ein anhaltender koͤrperlicher Schmerz fing nun oͤfter wieder an, seinen Geist niederzudruͤcken. Er hatte von dieser Zeit an unaufhoͤrliches Kopfweh, welches ein ganzes Jahr anhielt, so daß fast kein Tag und keine Stunde dazwischen ausfiel, wo er sich von diesem fortdaurenden Schmerz befreit gefuͤhlt haͤtte. — Der Schneider, bei dem er nun ein Jahr ge¬ wohnt hatte, sagte ihm auch das Logis auf, und er zog in einer abgelegenen Straße bei einem Fleischer ins Haus, wo noch einige Schuͤler, nebst ein paar gemeinen Soldaten im Quartier lagen. — Er mußte sich hier auch mit unten in der Stube aufhalten, und seine Einrichtung mit dem Klavier und dem Buͤcherbrette darunter blieb, wie vorher — statt des Bodens aber erhielt er oben ein kleines Kaͤmmerchen, wo er mit noch einem Chorschuͤler schlief, und im Sommer, wenn es warm war, jeder fuͤr sich allein seyn konnte. Der Umgang mit seinem Wirth dem Flei¬ scher, mit den beiden Soldaten, die dort im Quartier lagen, und ein paar luͤderlichen Chor¬ schuͤlern, die noch nebst ihm da wohnten, konn¬ te zur Bildung und Verfeinerung seiner Sitten eben nicht viel beitragen. — Alles versammlete sich im Winter des Abends in der Stube, und weil er bei dem Geraͤusch und Lermen doch nicht arbeiten konnte, so mischte er sich lieber mit unter den Hauffen, und amuͤsirte sich mit den Leuten, die nun einmal den naͤch¬ sten Kreis um ihn her ausmachten, so gut er konnte. Ohngeachtet seiner immerwaͤhrenden Kopf¬ schmerzen, arbeitete er doch auch so oft er nur ein wenig in Ruhe seyn konnte, fuͤr sich, und lernte auf die Weise in Zeit von einigen Wochen franzoͤsisch, indem er sich einen lateinischen Terenz mit der franzoͤsischen Uebersetzung liehe, und sich taͤglich ununterbrochen selbst eine Lektion gab; er kam dadurch wenigstens so weit, daß er von der Zeit an jedes franzoͤsische Buch ziemlich verstehen konnte. Da sich indes sein aͤußerer Zustand nicht ver¬ besserte, und uͤberdem noch koͤrperlicher Schmerz ihn unaufhoͤrlich druͤckte, so versetzte ihn diß in C 2 eine Seelenstimmung, wo ihm Youngs Nacht ¬ gedanken , die er damals zufaͤlligerweise erhielt, eine hoͤchst willkommene Lektuͤre waren — es daͤuch¬ te ihm, als faͤnde er hier alle seine vorigen Vorstel¬ lungen von der Nichtigkeit des Lebens, und der Eitelkeit aller menschlichen Dinge wieder. — Er konnte sich nicht satt in diesem Buche lesen, und lernte die Gedanken und Empfindungen, welche darin herrschen, beinahe auswendig. Die einzige Linderung bei seinen Kopfschmer¬ zen war, wenn er ausgestreckt ruͤcklings auf dem Bette liegen konnte — in dieser Stellung blieb er denn oft ganze Tage lang, und las — diß war der einzige ihm uͤbrig gebliebene Genuß des Le¬ bens, an dem er sich noch festhielt, da sonst die toͤdtendste Langeweile ihm das elende Leben, was er noch fortschleppte, unertraͤglich gemacht haben wuͤrde. — Um sich nun zuweilen dem Geraͤusch, das ihn umgab, zu entziehen, scheute er manchmal weder Regen noch Schnee, sondern machte des Abends, wenn es dunkel wurde, und er sicher war, daß er von niemanden gesehen, noch von irgend einem Menschen wuͤrde angeredet werden, einen Spatziergang auf dem Walle, um die Stadt; und bei diesen Spatziergaͤngen war es, wo sich sein Geist immer etwas wieder ermannte, und ein Funke von Hoffnung, sich aus seinem schrecklichen Zustande herauszuarbeiten, in seiner Seele wieder emporglimmte. — Wenn er dann auf den Straßen, die an den Wall grenzten, in den Haͤusern Licht angesteckt sahe, und sich nun dachte, daß in jeder erleuchte¬ ten Stube, deren in einem Hause oft so viele waren, eine Familie, oder sonst eine Gesellschaft von Menschen, oder ein einzelner Mensch lebte, und daß eine solche Stube also in dem Augen¬ blick die Schicksale und das Leben und die Ge¬ danken eines solchen Menschen, oder einer solchen Gesellschaft von Menschen in sich faßte; und daß er auch nun nach dem vollendeten Spatziergange in eine solche Stube wieder zuruͤckkehren wuͤrde, wo er gleichsam hingebannt, und wo der eigent¬ liche Fleck seines Daseyns waͤre; so brachte diß bei ihm zuerst eine sonderbare demuͤthigende Empfindung hervor, als sey nun sein Schicksal, unter diesem unendlichen verwirrten Haufen sich einander durchkreuzender, menschlicher Schick¬ C 3 sale gleichsam verlohren, und werde dadurch klein und unbedeutend gemacht. — Dann er¬ hoben aber auch eben diese Lichter in den ein¬ zelnen Stuben in den Haͤusern am Walle, zu¬ weilen seinen Geist wieder, wenn er einen Ueber¬ blick des Ganzen daraus schoͤpfte, und sich aus seiner eigenen kleinen einengenden Sphaͤre, wo¬ durch er sich unter allen diesen im Leben unbe¬ merkten und unausgezeichneten Bewohnern der Erde mitverlohr, herausdachte, und sich ein be¬ sonderes ausgezeichnetes Schicksal prophezeite, wovon die suͤße Vorstellung, indem er dann mit schnellen Schritten vorwaͤrts ging, ihn aufs neue mit Hoffnung und Muth belebte. Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in ei¬ nem fremden ihm unbekannten Hause, wo er sich eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben und Schicksalen er eben so wenig, als sie von den seinigen wußte, hat nachher bestaͤndig son¬ derbare Empfindungen in ihm erweckt — die Eingeschraͤnktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich . Er fuͤhlte die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind, nur einer. Sich in das ganze Seyn und Wesen eines andern hineindenken zu koͤnnen, war oft sein Wunsch — wenn er so auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menschen her¬ ging — so wurde ihm der Gedanke der Fremd ¬ heit dieses Menschen, der gaͤnzlichen Unbe ¬ wußtheit des einen von dem Nahmen und Schicksalen des andern, so lebhaft, daß er sich, so dicht es der Wohlstand erlaubte, an eineu solchen Menschen andraͤngte, um auf einen Au¬ genblick in seine Atmosphaͤre zu kommen, und zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durch¬ dringen koͤnnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieses fremden Menschen von den sei¬ nigen trennte. — Noch eine Empfindung aus den Jahren sei¬ ner Kindheit ist vielleicht nicht unschicklich hier heran gezogen zu werden — er dachte sich damals zuweilen, wenn er andere Eltern, als die seinigen haͤtte, und die seinigen ihn nun nichts angingen, sondern ihm ganz gleichguͤltig waͤren. — — Ueber C 4 den Gedanken vergoß er oft kindische Thraͤnen — seine Eltern mochten seyn, wie sie wollten, so waren sie ihm doch die liebsten — und er haͤtte sie nicht gegen die vornehmsten und guͤtigsten vertauscht. — Aber zugleich kam ihm auch schon damals das sonderbare Gefuͤhl von dem Verlieren unter der Menge , und daß es noch so unzaͤhlig viele Eltern mit Kindern, außer den seinigen gab, worunter sich diese wieder ver¬ lohren — — So oft er sich nachher in einem Gedraͤnge von Menschen befunden hat, ist eben diß Ge¬ fuͤhl der Kleinheit , Einzelnheit , und fast dem Nichts gleichen Unbedeutsamkeit in ihm er¬ wacht — — Wie viel ist des mir gleichen Stoffes hier! welch eine Menge von dieser Menschen¬ masse , aus welcher Staaten und Kriegesheere, so wie aus Baumstaͤmmen Haͤuser und Thuͤrme gebauet werden! — Das waren ohngefaͤhr die Gedanken, die damals ein dunkles Gefuͤhl in ihm hervorbrachten, weil er sie nicht in Worte einzukleiden, und sie sich nicht deutlich zu machen wußte. Einmal da vier Missethaͤter auf dem Raben¬ steine vor H... gekoͤpft wurden, ging er unter der Menge von Menschen mit hinaus, und sahe nun vier darunter, welche aus der Zahl der uͤbrigen ausgetilget und zerstuͤckt werden soll¬ ten. — Diß kam ihm so klein, so unbedeutend vor, da der ihn umgebenden Menschenmasse noch so viel war — als ob ein Baum im Walde umgehauen, oder ein Ochse gefaͤllt werden sollte. — und da nun die Stuͤcken dieser hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wur¬ den, und er sich selbst, und die um ihn her ste¬ henden Menschen eben so zerstuͤckbar dachte — so wurde ihm der Mensch so nichtswerth und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von thierischer Zerstuͤckbarkeit begrub — und sogar mit einem gewissen Vergnuͤ¬ gen wieder zu Hause ging, und seinen Haarteich auf dem Wege verzehrte — denn es war damals gerade sein schreckliches Vierteljahr, wo er man¬ che Tage bloß von diesem Teige lebte. — Nah¬ rung und Kleidung war ihm gleichguͤltig, so wie Tod und Leben — ob nun eine solche bewegliche Fleischmasse, deren es eine so ungeheure Anzahl C 5 gibt, auf der Welt mehr umher geht, oder nicht! — Denn er konnte sich nicht enthalten, sich immer an den Platz der zerstuͤckten und in Stuͤcken auf das Rad gewundenen hingerichteten Missethaͤter zu stellen — und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: Der Mensch ist wie das Vieh ; wie das Vieh stirbt , so stirbt er auch . — Wenn er von dieser Zeit an ein Thier schlach¬ ten sahe, so hielt er sich immer in Gedanken da¬ mit zusammen — und da er es bei dem Schlaͤch¬ ter auch so oft zu sehen Gelegenheit hatte, so ging eine ganze Zeitlang sein bloßes Denken da¬ hin — den Unterschied zwischen sich und einem solchen Thiere, das geschlachtet wird, auszumit¬ teln. — Er stand oft Stundenlang, und sah so ein Kalb, mit Kopf, Augen, Ohren, Mund, und Nase, an; und lehnte sich, wie er es bei fremden Menschen machte, so dicht wie moͤg¬ lich an dasselbe an, oft mit dem thoͤrichten Wahn, ob es ihm nicht vielleicht moͤglich wuͤrde, sich nach und nach in das Wesen eines solchen Thieres hineinzudenken — es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Thiere zu wis¬ sen — und zuweilen vergaß er sich bei dem an¬ haltenden Betrachten desselben so sehr, daß er wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art des Daseyns eines solchen Wesens empfunden zu haben. — Kurz, wie ihm seyn wuͤrde, wenn er z. B. ein Hund, der unter Menschen lebt, oder ein anderes Thier waͤre — das beschaͤftigte von Kindheit auf schon oft seine Gedanken. — Und da er sich nun den Unterschied zwischen Koͤrper und Geist gedacht hatte, so war ihm nichts wichtiger, als zugleich irgend einen wesent¬ lichen Unterschied zwischen sich und dem Thiere aufzufinden, weil er sich sonst nicht uͤberreden konnte, daß das Thier, welches ihm in seinem Koͤrperbau so aͤhnlich war, nicht eben so wie er einen Geist haben sollte. — Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstoͤ¬ rung und Zerstuͤckelung des Koͤrpers? — Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Koͤrpers bei einem jeden von einander abgesondert waren, und nur durch die Bewegung einiger Theile die¬ ser Scheidewand einander wieder mitgetheilt wurden, schienen ihm nach dem Tode der Men¬ schen in eins zusammen zu fließen — da war nichts mehr, das sie absonderte und von einan¬ der trennte — er dachte sich den uͤbrig geblie¬ benen und in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerftatterte . — Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine so ungeheure un¬ foͤrmliche Seelenmasse zu entstehen — wo er immer nicht einsahe, warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da waͤ¬ ren, und weil die Zahl ins Unendliche fort¬ zugehen schien, das einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde. Diese Unbedeutsamkeit , diß Verlieren unter der Menge , war es vorzuͤglich, was ihm oft sein Daseyn laͤstig machte. Nun ging er einmal eines Abends traurig und mißmuthig auf der Straße umher — es war schon in der Daͤmmerung, aber doch nicht so dunkel, daß er nicht von einigen Leuten haͤtte ge¬ sehen werden koͤnnen, deren Anblick ihm uner¬ traͤglich war, weil er ihnen ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu seyn glaubte. — Es war eine naßkalte Luft und regnete und schneiete durch einander — seine ganze Kleidung war durchnetzt — ploͤtzlich entstand in ihm das Gefuͤhl, daß er sich selbst nicht entfliehen konnte . — Und mit diesem Gedanken war es, als ob ein Berg auf ihm lag — er strebte sich mit Gewalt darunter empor zu arbeiten, aber es war, als ob die Last seines Daseyns ihn darnieder druͤckte — Daß er einen Tag wie alle Tage mit sich aufstehen, mit sich schlafen gehen — bei je¬ dem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fort¬ schleppen mußte. — Sein Selbstbewußtseyn mit dem Gefuͤhl von Veraͤchtlichkeit und Weggeworfenheit wurde ihm eben so laͤstig, wie sein Koͤrper mit dem Gefuͤhl von Naͤsse und Kaͤlte; und er haͤtte diesen in dem Augenblick eben so willig und gerne wie seine durchnetzten Kleider abgelegt — haͤtte ihm damals ein gewuͤnschter Tod aus irgend ei¬ nem Winkel entgegen gelaͤchelt. — Daß er nun unabaͤnderlich er selbst seyn mußte , und kein anderer seyn konnte ; daß er in sich selbst eingeengt, und eingebannt war — das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Flus¬ ses fuͤhrte, welcher durch einen Theil der Stadt ging, wo dasselbe mit keinem Gelaͤnder versehen war. — Hier stand er zwischen dem schrecklich¬ sten Lebensuͤberdruß, und der instinktmaͤßt¬ gen unerklaͤrlichen Begierde fortzuathmen, kaͤmpfend, eine halbe Stunde lang, bis er end¬ lich ermattet, auf einem umgehauenen Baum¬ stamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefuͤhl einer fieberhaften Kaͤlte, und das Klappern seiner Zaͤhne ihn wieder zu sich selbst brachte, und ihm zufaͤlliger Weise einfiel, daß er den Abend bei seinem Wirth dem Fleischer, fri¬ sche Wurst zu essen bekommen wuͤrde — und daß die Stube sehr warm geheitzt seyn wuͤrde. — Diese ganz sinnlichen und thierischen Vorstel¬ lungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an — er vergaß sich, so wie er sich nach der Hinrichtung der Missethaͤter vergessen hatte, ganz als Mensch, und kehrte in seinen Ge¬ sinnungen und Empfindungen als Thier wieder heim. — Als Thier wuͤnschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseyns unertraͤglich gewesen. Allein wie er sich schon so oft aus seiner wirk¬ lichen Welt in die Buͤcherwelt gerettet hatte, wenn es aufs aͤußerste kam, so fuͤgte es sich auch dißmal, daß er sich gerade vom Buͤcherantiqua¬ rius die Wielandsche Uebersetzung vom Schake¬ spear liehe — und welch eine neue Welt eroͤfnete sich nun auf einmal wieder fuͤr seine Denk- und Empfindungskraft! — Hier war mehr als alles, was er bisher ge¬ dacht, gelesen und empfunden hatte. — Er laß Makbeth , Hamlet , Lear , und fuͤhlte seinen Geist unwiederstehlich mit emporgerissen — jede Stunde seines Lebens, wo er den Schakespear laß, ward ihm unschaͤtzbar. — Im Shakespear lebte, dachte und traͤumte er nun, wo er ging und stund — und seine groͤßte Begierde war, das alles, was er beim Lesen desselben empfand, mit¬ zutheilen — und der naͤchste, dem er es mitthei¬ len konnte, und welcher Gefuͤhl dafuͤr hatte, war sein Freund Philipp Reiser, der in einer abgelegenen Gegend der Stadt wohnte, wo er sich eine neue Werkstaͤtte angelegt hatte, und Klaviere zimmerte, — dabei sang er noch immer im Chore mit, aber nicht in dem, worin sich Anton Reiser befand. — sie waren also durch ihre aͤußern Verhaͤltnisse eine lange Zeit, ohnge¬ achtet ihrer ersten vertrauten Freundschaft, von einander getrennt worden. — Nun aber, da Anton Reiser seinen Shake¬ spear unmoͤglich fuͤr sich allein genießen konnte, so wußte er zu keinem bessern damit zu eilen, als zu seinem romantischen Freunde. — Diesem nun ein ganzes Stuͤck aus dem Sha¬ kespear vorzulesen, und auf alle dessen Empfin¬ dungen und Aeußerungen dabei mit Wohlgefallen zu merken, war die groͤßte Wonne, welche Rei¬ ser in seinem Leben genossen hatte. — Sie widmeten ganze Naͤchte zu dieser Lektuͤ¬ re, wo Philipp Reiser den Wirth machte, um Mitternacht Kaffee kochte, und Holz im Ofen nachlegte — dann saßen sie beide bei einer kleinen Lampe an einem Tischchen — und Philipp Reiser hatte sich mit langem Halse heruͤbergebeugt, so wie wie Anton Reiser weiter laß, und die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg. — Diese Shakespearnaͤchte gehoͤren zu den angenehmsten Erinnerungen in Reisers Leben. — Aber wenn auch durch irgend etwas sein Geist gebildet wurde, so war es durch diese Lektuͤre, wogegen alles, was er sonst dramatisches gelesen hatte, gaͤnzlich in Schatten gesetzt und verdun¬ kelt wurde. Selbst uͤber seine aͤußern Verhaͤlt¬ nisse lernte er sich auf eine edlere Art hinweg¬ setzen — selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen hoͤhern Schwung. — Durch den Shakespear war er die Welt der menschlichen Leidenschaften hindurch gefuͤhrt — der enge Kreis seines idealischen Daseyns hatte sich erweitert — er lebte nicht mehr so einzeln und unbedeutend, daß er sich unter der Menge ver¬ lohr — denn er hatte die Empfindungen Tau¬ sender beim Lesen des Shakespear mit durchem¬ pfunden. — Nachdem er den Shakespear, und so wie er ihn gelesen hatte, war er schon kein gemeiner und alltaͤglicher Mensch mehr — es dauerte auch nun 3r Theil . D nicht lange, so arbeitete sein Geist unter allen sei¬ nen aͤußern druͤckenden Verhaͤltnissen, unter allem Spott und Verachtung, worunter er vorher er¬ lag, empor — wie der Verfolg dieser Geschichte zeigen wird. — Die Monologen des Hamlet hefteten sein Au¬ genmerk zuerst auf das Ganze des menschlichen Lebens — er dachte sich nicht mehr allein, wenu er sich gequaͤlt, gedruͤckt, und eingeengt fuͤhlte; er fing an, diß als das allgemeine Looß der Menschheit zu betrachten. — Daher wurden seine Klagen edler als vorher — die Lektuͤre von Youngs Nachtgedanken hat¬ te diß zwar auch schon gewissermassermassen be¬ wirkt, aber durch den Shakespear wurden auch Youngs Nachtgedanken verdraͤngt — der Sha¬ kespear knuͤpfte zwischen Philipp Reisern und Anton Reisern das lose Band der Freundschaft fester. — Anton Reiser bedurfte jemanden, an den er alle seine Gedanken und Empfindungen richten konnte, und auf wen sollte wohl eher seine Wahl gefallen seyn, als auf denjenigen, der einmal seinen angebeteten Shakespear mit durch¬ empfunden hatte! — Das Beduͤrfniß, seine Gedanken und Em¬ pfindungen mitzutheilen, brachte ihn auf den Einfall, sich wieder eine Art von Tagebuch zu machen, worin er aber nicht sowohl seine aͤußern geringfuͤgigen Begebenheiten, wie ehemals, son¬ dern die innere Geschichte seines Geistes auf¬ zeichnen, und das, was er aufzeichnete, in Form eines Briefes an seinen Freund richten wollte. — Dieser sollte denn wiederum an ihn schrei¬ beu , und diß sollte fuͤr beide eine wechselseitige Uebung im Stil werden. — Diese Uebung bil¬ dete Anton Reisern zuerst zum Schriftsteller; er fing an, ein unbeschreibliches Vergnuͤgen daran zu empfinden, Gedanken, die er fuͤr sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden, um sie seinem Freunde mittheilen zu koͤnnen — so entstanden ihm unter den Haͤnden eine Anzahl kleiner Aufsaͤtze, deren er sich zum Theil auch in reifern Jahren nicht haͤtte schaͤmen duͤrfen. — Die Uebung war zwar einseitig, denn Phi¬ lipp Reiser blieb mit seinen Aufsaͤtzen zuruͤck — aber Anton Reiser hatte doch nun jemanden, dem er Gefuͤhl und Geschmack zutrauete, dessen Beifall oder Tadel ihm nicht gleichguͤltig war, D 2 und an den er denken konnte , so oft er etwas niederschrieb. — Nun war es sonderbar; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte, so kamen ihm im¬ mer die Worte in die Feder: was ist mein Da¬ seyn , was mein Leben ? Diefe Worte stan¬ den daher auch auf mehreren kleinen Stuͤckchen Papiere, die er hatte beschreiben wollen, und dann, wenn es nicht ging, wieder wegwarf. — Seine dunkle Vorstellung vom Leben und Daseyn, das wie ein Abgrund vor ihm lag, draͤngte sich immer zuerst in seiner Seele empor — er fuͤhlte sich gedrungen, erst diesen wichtig¬ sten Punkt seiner Zweifel und Besorgnisse zu be¬ richtigen, ehe er irgend etwas anders zum Ge¬ genstande seines Denkens machte. — Es war also sehr natuͤrlich, daß ihm, wider seinen Wil¬ len, diese Worte immer wieder in die Feder ka¬ men, wenn er sich bemuͤhte, Gedanken nieder¬ zuschreiben. — Endlich arbeitete sich denn doch der Aus¬ druck durch die Gedanken durch — und das erste, was ihm in ziemlich passende Worte einzukleiden gelang, war etwas metaphysisches uͤber Ichheit und Selbstbewußtseyn . — Denu da er nun weiter denken, und Gedan¬ ken niederschreiben wollte, so lag ihm natuͤrlicher Weise nichts naͤher, als diß: er wollte erst mit sich selbst gleichsam in Richtigkeit seyn, ehe er zu etwas anderm schritte. — Nun fing er an, den Begriff des Indivi¬ duums zu verfolgen, der ihm schon seit einigen Jahren, da er zuerst etwas von Logik gehoͤrt hatte, vorzuͤglich wichtig geworden war, — und da er nun endlich auf den hoͤchsten Grad des Bestimmtseyns von allen Seiten, und des voll¬ kommen sich selbst gleich seyns stieß — so war es ihm nach einigem Nachdenken, als ob er sich selbst entschwunden waͤre — und sich erst in der Reihe seiner Erinnerungen an das Vergangene wieder suchen muͤßte. — Er fuͤhlte, daß sich das Daseyn nur an der Kette die¬ ser unumterbrochnen Erinnerungen festhielt. — Die wahre Existenz schien ihm nur auf das eigentliche Individuum begrenzt zu seyn — und außer einem ewig unveraͤnderlichen , alles D 3 mit einem Blick umfassenden Wesen , konnte er sich kein wahres Individuum denken. — Am Ende seiner Untersuchungen duͤnkte ihm sein eignes Daseyn, eine bloße Taͤuschung , eine abstrakte Idee — ein Zusammenfassen der Aehnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem Leben mit dem entschwundenen hatte. — Durch diese Begriffe von seiner eignen Einge¬ schraͤnktheit, veredelten sich seine Begriffe von der Gottheit — er fing an, nun in diesem großen Begriffe, sein eignes Daseyn zu fuͤhlen, das ihm ohnedem unter den Haͤnden zu verschwinden, ohne Zweck, abgerissen, und zerstuͤckt zu seyn schien. — — Aus diesen Reflexionen bildete sich der erste schriftliche Aufsatz, den er entwarf, und dem er die Form eines Briefes an seinen Freund gab, mit welchem er sich uͤber diese Materie oft zu un¬ terreden pflegte, und der ihn wenigstens immer zu verstehen schien. — — Dabei dauerten seine Kopfschmerzen immer fort — allein er gewoͤhnte sich zuletzt so daran, daß ihm sein Zustand ordentlich gefaͤhrlich oder unnatuͤrlich vorkam, wenn er einen Tag ein¬ mal keine Kopfschmerzen hatte. — Seine Zusammenkuͤnfte mit Philipp Reisern wurden nun immer haͤufiger — und er erhielt unvermutheter Weise zu diesem noch einen Freund; diß war der Sohn des Kantors, Nah¬ mens W..., einer seiner Mitschuͤler, gegen dessen Miene und Gesichtsbildung er fast immer eine Art von Antipathie gehegt, und sich zugleich von ihm verachtet geglaubt hatte. — Dieser wußte von seinem Vater, daß Anton Reiser einmal Verse gemacht hatte, und weil er nun selbst fuͤr jemanden ein Gedicht auf einen Geburtstag zu machen versprochen hatte, so suchte er Reisern auf, und bat ihn um die Ver¬ fertigung dieses Gedichts, das er selbst auszuarbei¬ ten nicht Lust oder Zeit hatte. — Diß war fuͤr Reisern die erste Veranlassung, seine ganz vernach¬ laͤssigte Poesie wieder hervorzusuchen. — Das kleine Gedicht gelang ihm nicht uͤbel — W... besuchte ihn von der Zeit an oͤfter, und versprach ihm einstmals, daß er ihm die Bekannt¬ schaft eines merkwuͤrdigen Mannes verschaffen wolle, der uͤbrigens ganz im Dunkeln lebe, und D 4 nichts weiter, als ein Essigbrauer sey — Rei¬ ser war sehr begierig auf diese Bekanntschaft — es zog sich aber noch eine ganze Weile damit hin. — Durch die Verse, welche ihm fuͤr W. . . ge¬ lungen waren, war seine schlummernde Neigung fuͤr die Poesie wieder aufgeweckt — allein seine Traͤgheit zog ihn zu der harmonischen Prosa zu¬ ruͤck, wozu sich sein Ohr durch die wiederhohlte Lektuͤre der vortrefflichen Ebertschen Uebersetzung von Youngs Nachtgedanken gewoͤhnt hatte — und nun fehlte es nur an einer aͤußern Veran¬ lassung, die seiner Einbildungskraft einen unge¬ woͤhnlichen Schwung zu geben vermochte. — Diese Veranlassung ereignete sich an einem truͤben und regnigten Sonntagnachmittage — wo er im Chore sang — er hatte erst mit W. . . gesprochen, und dieser erkundigte sich unter an¬ dern nach seiner Lektuͤre, und wunderte sich, daß er ihn bestaͤndig lesend getroffen habe. — Reiser antwortete ihm, das sey ja noch das einzige, wo¬ durch er sich wegen der Verachtung, der er so allgemein in der Schule und im Chore aus¬ gesetzt waͤre, einigermaßen schadlos halten koͤnnte. — Durch diß Gespraͤch mit W..., da er in kur¬ zem seine Situation uͤberdachte, war sein Herz ein¬ mal lebhaften Eindruͤcken geoͤfnet worden — und nun fuͤgte es sich gerade, daß eben der V..., mit dem er einst nebst G... den sterbenden Sokrates aufgefuͤhrt hatte, ihn zum Gegenstande seines groben Witzes machte, und durch allerlei Anspie¬ lungen ihn bei seinen Mitschuͤlern wieder laͤcher¬ lich zu machen suchte, die denn auch bald mit einstimmten, so daß Reiser fast eine halbe Stunde lang das Ziel ihrer witzigen Einfaͤlle war. — Er sagte auf alles diß kein Wort, und kraͤnkte sich, indem er einsam vor sich weg ging, inner¬ lich daruͤber; und ob er sich gleich bemuͤhte, seine Kraͤnkung in Verachtung zu verwandeln, so wollte es ihm doch nicht recht damit gelingen; bis er sich endlich unvermerkt in eine bittere menschenfeindliche Laune hinein phantasirte, die durch nichts, als das Andenken an seinen Phi¬ lipp Reiser wieder gemildert wurde. — Da nun auch der Vorsatz, seine Empfindungen und Ge¬ danken an ihn niederzuschreiben, herrschend ge¬ D 5 worden war, so behielt derselbe auch dißmal selbst uͤber seinen Verdruß und seine Kraͤnkung zuletzt die Oberhand; er suchte sich das Kraͤn¬ kende, was er empfunden hatte, und noch em¬ pfand, in Worte einzukleiden, um es seiner Ein¬ bildungskraft desto lebhafter vorstellen zu koͤn¬ nen. — Und ehe das Chorsingen noch geendigt war, war auch schon der Aussatz, den er zu Hause niederschreiben wollte, unter allen Ge¬ raͤusch und Spott und Hohngelaͤchter, das ihn umgab, voͤllig vollendet — und die Freude dar¬ uͤber erhob ihn gewissermaßen uͤber sich selbst und seinen eigenen Kummer. — Sobald er zu Hause kam, schrieb er mit einer sonderbaren gemischten wehmuͤthigen Empfindung, voll Schmerz uͤber seinen Zustand, und voll Freude, daß es ihm ge¬ lungen war, durch die Sprache ein lebhaftes Bild von seinem Zustande zu entwerfen, fol¬ gende Worte nieder: An R ... Wie traurig ist doch das Daseyn der Men¬ schen — und dieses nichtige Daseyn, machen wir uns noch selbst einander unertraͤglich, statt daß wir durch vertrauliche Geselligkeit uns in dieser Wuͤ¬ ste des Lebens einander unsre Last erleichtern sollten. — — Ist es nicht genug, daß wir im bestaͤndigen Wahn und Irrthum, wie in einem bezauberten Lande herumirren? Muͤssen uns auch noch Ungeheuer an¬ schreien? — Muß auch noch ein boshafter Satyr uns mit seinem Hohngelaͤchter die Seele durchbohren? Wie oͤde, wie traurig ist hier alles um mich her! — Und ich muß verlassen und einsam hier herumirren — keine Stuͤtze, kein Fuͤhrer! — Wohl mir! einen Haufen erblick' ich dort; Menschen, mir gleich, auch diese Wuͤste durch¬ irrend — „O nehmt mich auf, Freunde, nehmt mich „auf, daß ich mit euch diese Wuͤste durchzie¬ „he; und sie wird mir zur gruͤnenden Aue „werden!“ Sie nehmen mich auf — wohl mir! — — Weh mir! — was seh ich? — Sind das noch die Menschen, meine Bruͤder? — Ach, ihre Larve faͤllt ab — und Teufel sinds — und zur Hoͤlle wird mir nun die Wuͤste — Ich fliehe, und ihr Hohngelaͤchter heulet mir nach — — „So habt ihr mich betrogen, menschliche „Larven? — Ha, keine Larve soll mich wieder „betruͤgen! — Nun sey mir willkommen Nacht, „und du Einsamkeit, und du, schwaͤrzeste Me¬ „lancholei. — Alle ihr lachenden Scherze, und „alle ihr tobenden Freuden, Larven des Todes, „seyd auf ewig von mir verbannt!“ — So ging ich, und dachte, und finsterer Gram erfuͤllte meine Seele — Als ploͤtzlich ein Juͤngling vor mir stand — den Freund verkuͤndigte sein Blick — Empfin¬ dung sprach sein sanftes Auge — schleunig wollt' ich entfliehn — aber er faßte so vertraulich meine Hand — und ich blieb stehn — er um¬ armte mich, ich ihn — unsre Seelen flossen zusammen — Und um uns ward's Elysium. — Reiser haͤtte wirklich kein wahreres Bild als dieses von seinem damaligen Zustande entwerfen koͤnnen — in allem, was er sagte, war nichts Uebertriebenes — denn die Menschen, mit denen er zunaͤchst durchs Leben ging, wurden wirklich fuͤr ihn quaͤlende Geister — und zu den an¬ schreienden Ungeheuern gehoͤrte vorzuͤglich V. . ., dessen grober und doch boshafter Witz Reisern den Sonntagnachmittag bis tief in die Seele gekraͤnkt hatte, da dieser V. . . doch sonst im¬ mer von ihm ein Freund hatte seyn wollen — wenigstens war er, und der Landesverwiesene G. . . noch die einzigen, die nach der Auffuͤhrung der Komoͤdie mit Reisern umgingen, weil sie mit ihm ein gleiches Schicksal des Hasses und der Verachtung aller ihrer Mitschuͤler theilten — und selbst dieser V. . . stellte sich nun mit auf die Seite derer, welchen Reiser ein Gegenstand des Spottes war — und veranlaßte diesen Spott sogar durch seine groben Witzeleien, womit er sich auf Reisers Kosten lustig machte. — Diß alles vereinigte sich nun, ihn in die menschen¬ feindliche Laune zu versetzen, worin er den vor¬ hergehenden Aufsatz entwarf. — Durch das An¬ denken an Philipp Reisern, und weil doch auch der Sohn des Kantors, sein ehemaliger Feind, anfing sein Freund zu werden, milderte diß schon seine bittere Laune so weit, daß er am Schluß seines Aufsatzes einlenkte, und den sanftern Em¬ pfindungen wieder Gehoͤr gab. — Auf die Weise hatte er nun in seinem Tage¬ buche schon verschiedene kleine Aussaͤtze an seinen Freund entworfen, als der Fruͤhling wieder heran kam, und zu Ostern die gewoͤhnliche oͤffentliche Schulpruͤfung gehalten wurde, wobei er denn auch erschien. — Aber wie sehr wurde sein Muth niederge¬ schlagen, da er sich gegen die uͤbrigen betrachtete, und sich gerade unter allen am schlechtesten ge¬ kleidet sahe — er saß da, wie verlohren; auf ihn wurde gar keine Ruͤcksicht genommen — keine einzige Frage an ihn gethan. — Den Vormittag hielt er es aus — aber als er den Nachmittag wieder hinging, und sich aufs neue unter dem ihn umgebenden Haufen wie verlohren sahe — konnte er es nicht laͤnger aus¬ halten — er ging wieder fort, ehe noch die Pruͤ¬ fung anging. — Und nun eilte er gerade zum Thore hinaus — es war ein truͤber neblichter Himmel — und ging auf ein kleines Waͤldchen zu, das nicht weit von H. . . liegt. — Sobald er aus dem Gewuͤhle der Stadt war, und die Thuͤrme von H... hinter sich sah, be¬ maͤchtigten sich seiner tausend abwechselnde Em¬ pfindungen. — Alles stellte sich ihm auf einmal aus einem andern Gesichtspunkte dar — er fuͤhlte sich aus alle den kleinlichen Verhaͤltnis¬ sen, die ihn in jener Stadt mit den vier Thuͤr¬ men, einengten, quaͤlten, und druͤckten, auf einmal in die große offene Natur versetzt, und athmete wieder freier — sein Stolz und Selbstgefuͤhl strebte empor — sein Blick schaͤrfte sich auf das, was hinter ihm lag, und faßte es in einem klei¬ nen Umfange zusammen. — Er sahe da die Priester mit ihren schwarzen Maͤnteln und Kragen die Treppe hinaufsteigen, und seine Mitschuͤler versammlet, und Praͤmien unter sie austheilen, und dann wie ein jeder wieder nach Hause ging , und sich alles so im Cirkel drehte — und in dem Umfange der Stadt, die nun hinter ihm lag, und von der er sich immer weiter entfernte, alles das sich durch¬ kreuzende Gewimmel. — Alles schien ihm da so dicht, so klein in einander zu laufen , wie der zusammengedraͤngte Haufen Haͤuser, den er noch in der Ferne sahe — und nun dachte er sich hier auf dem freien Felde die Stille, und daß ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine haͤmi¬ sche Mine machte — und dort das lermende Ge¬ wuͤhl, das Rasseln der Wagen, denen er aus dem Wege gehn mußte, die Blicke der Menschen, die er scheute — das alles mahlte sich in seiner Einbildungskraft im Kleinen, und erweckte ein wunderbares Gefuͤhl in ihm, wie am Abend der Tag sich von der Daͤmmerung scheidet, und die eine Haͤlfte des Himmels noch vom Abend¬ roth erhellt ist, indes die andere schon im Dun¬ kel ruht. — Er fuͤhlte ungewoͤhnliche Kraft in seiner See¬ le, sich uͤber alles das hinwegzusetzen, was ihn darnieder druͤckte — denn wie klein war der Um¬ fang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekuͤmmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt. — Aber dann kehrte wieder das wehmuͤthige Gefuͤhl zuruͤck: wo sollte er nun in dieser großen oͤden Welt festen Fuß fassen, da er sich aus allen Verhaͤltnissen herausgedraͤngt sahe? — Da wo auf einem kleinen Fleck der Erde die mensch¬ lichen Schicksale zusammenlaufen, war er nichts, gar nichts! — Ihm fiel ein, daß verdraͤngt zu werden von Kindheit an sein Schicksal gewesen war — wenn er bei irgend etwas zusehen wollte, wobei es darauf ankam, sich hinzuzudraͤngen, so war jeder andere dreister wie er, und draͤngte sich ihm vor — er glaubte, es sollte etwa einmal eine Luͤcke entstehen, wo er, ohne jemanden vor sich hin¬ wegzudraͤngen, sich in die Reihe mit einfuͤgen koͤnnte — aber es entstand keine solche Luͤcke — und er zog sich von selbst zuruͤck, und sahe nun in der Ferne dem Gedraͤnge zu, indem er einsam da stand. — Und wenn er nun so einsam da stand, so gab ihm der Gedanke, daß er dem Gedraͤnge nun so ruhig zusehen konnte, ohne sich selbst hinein zu mischen, schon einigen Ersatz fuͤr die Entbehrung desjenigen, was er nun nicht zu sehen bekam — 3r Theil . E allein fuͤhlte er sich edler und ausgezeichneter, als unter jenem Gewimmel verlohren. — Sein Stolz, der sich emporarbeitete, siegte uͤber den Verdruß, den er zuerst empfand — daß er an den Haufen sich nicht anschließen konnte, draͤngte ihm in sich selbst zuruͤck — und veredelte und er¬ hob seine Gedanken und Empfindungen. — Diß war nun auch der Fall bei dem einsamen Spatziergange au dem truͤben und regnigten Nachmittage, wo er den haͤmischen Blicken seiner versammleten Mitschuͤler, und der gaͤnzlichen Vernachlaͤssigung und dem unertraͤglichen Nicht¬ bemerktwerden , das ihm bevorstand, entfloh, indem er aus dem Thore von H. . . dem einsamen Walde zueilte. — Dieser einsame Spatziergang entwickelte auf einmal mehr Empfindungen in seiner Seele, und trug mehr zur eigentlichen Bildung seines Geistes bei — als alle Schulstunden, die er je gehabt hatte, zusammengenommen. — Dieser einsame Spatziergang war es, welcher Reisers Selbstgefuͤhl erhoͤhte, seinen Gesichts¬ kreis erweiterte, und ihm eine anschauliche Vor¬ stellung von seinem eignen wahren, isolirten Daseyn gab; das bei ihm auf eine Zeitlang an keine Verhaͤltnisse mehr geknuͤpft war, sondern in sich und fuͤr sich selbst bestand. — Indem er einen Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens warf, lernte er zuerst das Große im Leben von dessen Detail unterscheiden . Alles was ihn gekraͤnkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend, und nicht der Muͤhe des Nachdenkens werth. — Aber nun stiegen andre Zweifel, andre Be¬ sorgnisse in seiner Seele auf — die er schon lange bei sich genaͤhrt hatte — uͤber den in undurch¬ dringliches Dunkel gehuͤllten, Ursprung und Zweck, Anfang und Ende seines Daseyns — uͤber das Woher und Wohin bei seiner Pilgrimm¬ schaft durchs Leben — die ihm so schwer ge¬ macht wurde, ohne daß er wußte, war¬ um ? — Und was nun endlich aus dem allen kommen sollte. — Diß erregte in ihm eine tiefe Melancholie. So wie er muͤhsam uͤber die duͤrre Heide vor dem Walde im gelben Sande forwanderte, umzog sich der Himmel immer truͤber, indes ein feines E 2 Staubregen seine Kleider durchnetzte — als er in den Wald kam, schnitt er sich einen Dorn¬ stock, und wanderte weiter fort — da kam er an ein Dorf, und machte sich eben allerlei suͤße Vor¬ stellungen von den stillen Frieden, der in diesen laͤndlichen Huͤtten herrschte, als er sich in einem der Haͤuser ein paar Leute, die wahrscheinlich Mann und Frau waren, zanken, und ein Kind schreien hoͤrte. — Also ist uͤberall Unmuth und Mißvergnuͤgen und Unzufriedenheit, wo Menschen sind, dachte er, und setzte seinen Stab weiter fort — Die einsamste Wuͤste wurde ihm wuͤnschenswerth — und da ihn endlich auch in dieser die toͤdtliche Langeweile quaͤlte, so blieb das Grab sein letzter Wunsch — und weil er nun nicht einsah, warum er sich die Jahre seines Lebens hindurch, in der Welt von allen Seiten hatte muͤssen druͤcken, stoßen, und wegdraͤngen lassen, so zweifelte er endlich an einer vernuͤnftigen Ursach seines Da¬ seyns — sein Daseyn schien ihm ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefaͤhrs. — Es wurde fruͤher wie gewoͤhnlich Abend, weil der Himmel truͤbe war, und es staͤrker an fing zu regnen — und da er zu Hause wieder an¬ langte, war es schon voͤllig dunkel — er setzte sich bei seiner Lampe nieder, und schrieb an Phi¬ lipp Reisern: „Vom Regen durchnetzt und von Kaͤlte er¬ „starrt kehr' ich nun zu dir zuruͤck, und wo „nicht zu dir — zum Tode — denn seit diesem „Nachmittage ist mir die Last des Lebens, wovon „ich keinen Zweck sehe, unertraͤglich. — Deine „Freundschaft ist die Stuͤtze, an der ich mich „noch festhalte, wenn ich nicht unaufhaltsam „in dem uͤberwiegenden Wunsche der Vernich¬ „tung meines Wesens versinken will.“ — Und nun erwachte auf einmal wieder der Gedanke, sich den Beifall seines Freundes durch den Ausdruck seiner Empfindungen zu erwerben. — Diß war gleichsam die neue Stuͤtze, woran sich seine Lebenslust wieder fest¬ hielt — und da den Nachmittag alle seine Em¬ pfindungen so aͤußerst stark und lebhaft gewesen waren, so wurde es ihm nicht schwer, sie wie¬ der zuruͤckzurufen — Er hub also an: E 3 Dir Freund, will ich mein Leiden klagen, O koͤnnten dir es Worte sagen: Ich weiß, du fuͤhltest meinen Schmerz — Mich traͤnkt nicht hoffnungslose Liebe, Nicht kraͤnkten unerfuͤllte Triebe Nach Ehr und Gold mein Herz. — Dieser Anfang bezog sich zum Theil auf Phi¬ lipp Reisers verliebte Launen, womit ihn dieser oft quaͤlte, indem er ihm alle die allmaͤligen Fortschritte erzaͤhlte, die er in der Gunst seines Maͤdchens gethan hatte, — und seine Hoffnun¬ gen und Aussichten, die sich alle auf die Errei¬ chung der Gegengunst seines Maͤdchens be¬ schraͤnkten. — Wofuͤr nun Anton Reiser gar kei¬ nen Sinn hatte, dem es nie eingefallen war, sich die Liebe eines Maͤdchens zu erwerben, weil er es fuͤr ganz unmoͤglich hielt, daß ihm bei seiner schlechten Kleidung, und bei der allgemeinen Verachtung, der er ausgesetzt war, je ein solcher Versuch gelingen wuͤrde. — Denn so wie er die Verachtung, welche auf seinen Geist fiel, gleichsam mit zu sich selber rech¬ nete, so rechnete er auch die schlechte Kleidung mit zu seinem Koͤrper, der ihm denn eben so we¬ nig liebenswuͤrdig, als sein Verstand achtungs¬ wuͤrdig vorkam. — Kurz, es war ihm der unge¬ reimteste Gedanke von der Welt, daß er je von einem Frauenzimmer geliebt werden sollte. — Denn von den Helden, die in den Romanen und Komoͤdien, die er gelesen hatte, von Frauenzim¬ mern geliebt wurden, machte er sich ein so hohes Ideal, das er nie zu erreichen im Stande zu seyn glaubte. — Die eigentlichen Liebesgeschich¬ ten waren ihm daher auch hoͤchstlangweilig, und am langweiligsten die Erzaͤhlungen von den Lie¬ besabentheuern, womit ihn sein Freund Phi¬ lipp Reiser unterhielt, und die er manche Stunde bloß aus Gefaͤlligkeit fuͤr ihn anhoͤrte. — Uebrigens fielen diese Erzaͤhlungen seines Freundes immer sehr ins Romanhafte. — Die ganze Prozedur vom ersten freundschaftlichen Haͤndedruck bis zur eigentlichen wechselseitigen Liebeserklaͤrung, mit allen Zweifeln, Besorgnis¬ sen, und allmaͤligen Fortschritten, die dazwischen liegen, ging ihren vorgeschriebenen Gang, wie in den Romanen — und was nun Anton Reiser in den Romanen gaͤnzlich uͤbergeschlagen, oder E 4 doch nur fluͤchtig durchgelesen hatte, das mußte er sich jetzt von seinem Freunde der Laͤnge nach erzaͤhlen lassen. — Der Gedanke, daß ihn z. B. nicht hoff¬ nungslose Liebe, sondern ganz andre Dinge kraͤnk¬ ten, war also der natuͤrlichste Eingang zu dem Gedicht an Philipp Reisern. Seine Zweifel und Besorgnisse wegen seines aͤngstlichen zwecklosen Daseyns waren es, die ihn niederdruͤckten, und er fuhr fort: Die Quaal, die meine Seele fuͤhlet, Die moͤrderisch im Herzen wuͤhlet, Verbannet jede andre Pein — Wer gab, in Tiefen hinzuschauen, Um selbst mein Elend mir zu bauen, Mir doch den tollen Vorwitz ein? Grundlose Tiefen, die den Blicken Nur Nacht und Graun entgegen schicken, Und lohnen mit Melancholei — Sie koͤmmt, daß auf dem ehrnen Throne Sie nun in meiner Seele wohne, Und rufet ihr Gefolg' herbei. — Nun kam das Gefolge: die Sorgen, der Gram: Ihm folgt, den Tod in ihren Blicken, Verzweiflung, ihre Koͤcher schicken Die letzten Pfeile auf mich ab. — Nun sank die Melodie der auf einander folgen¬ den Empfindungen wieder in sanftes Mitleid mit sich selber zuruͤck. Ja, jede Lust muß ich nun meiden, Mir bluͤhen nicht des Lenzes Freuden, u. s. w. Hievon erhob sich der Gang der Ideen zu allge¬ meinen Betrachtungen uͤber das Leben, die sich aber zuletzt wieder in eben den schrecklichen Zweifeln endigten, von welchen die Melodie ausgegangen war: Mein Pfad geht uͤber duͤrre Heide, Hier flieht mich hoͤhnend jede Freude, Und laͤßt nur Eckel mir zuruͤck. Ich wandre — doch wohin ich reise? Woher? — das sage mir der Weise, Der mehr als ich mich selber kennt — Mein Daseyn — das sich kaum entschwinget Dem Augenblick, der es verschlinget, Und bang nach seinem Ziele rennt; E 5 Wem soll ich dieses Daseyn danken? Wer setzt' ihm diese engen Schranken? Aus welchem Chaos stiegs empor? In welche graͤuelvolle Naͤchte, Sinkt's — wenn des Schicksals ehrne Rechte Mir winket zu des Todes Thor? — — Diß Gedicht floß gleichsam aus seiner Seele — Selbst der Reim und das Versmaß machte ihm nur wenige Schwierigkeit, und er schrieb es in weniger als einer Stunde nieder. — Nachher fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um Gedichte zu machen, und diß gelang ihm nie so gut. — Aber der Fruͤhling und Sommer des Jahres 1775 verfloß ihm nun ganz poetisch. — Die an¬ genehmen Shakespearnaͤchte, welche er im Win¬ ter mit Philipp Reisern zugebracht hatte, wur¬ den nun durch noch angenehmere Morgenspa¬ tziergaͤnge verdraͤngt. — Nicht weit von H. . ., wo der Fluß einen kuͤnstlichen Wasserfall bildet, ist ein kleines Ge¬ hoͤlz, welches man nicht leicht irgendwo ange¬ nehmer und einladender finden kann. — Hierher wurden Wallfahrten noch vor Son¬ nenaufgang angestellt — die beiden Wanderer nahmen sich ihr Fruͤhstuͤck mit, und wenn sie nun im Walde angelangt waren, so beraubten sie eine Menge Baumstaͤmme ihres Mooses, und bereiteten sich einen weichen Sitz, worauf sie sich lagerten, und wenn sie ihr Fruͤhstuͤck ver¬ zehrt hatten, sich einander wechselsweise vorla¬ sen. — Hierzu wurden besonders Kleists Ge¬ dichte ausgewaͤhlt, die sie bei dieser Gelegenheit beinahe auswendig lernten. Wenn sie dann am andern Tage wieder hin¬ kamen, so suchten sie im ganzen Waͤldchen erst ihren gestrigen Platz wieder, und fanden sich nun hier wie zu Hause in der großen freien Na¬ tur, welches ihnen eine ganz besondere herzerhe¬ bende Empfindung war. — Alles in diesem großen Umkreise um sie her, gehoͤrte ihren Au¬ gen, ihren Ohren, und ihrem Gefuͤhl — das junge Gruͤne der Baͤume, der Gesang der Voͤgel und der kuͤhle Morgenduft. Wenn sie dann wieder heimkehrten, so ging Philipp Reiser in seine Werkstatt, und machte Klaviere, indes Anton Reiser die Schule besuchte, wo nun groͤßtentheils schon eine ganz andere Ge¬ neration seiner Mitschuͤler war, so daß er auch hier mit leichterm Herzen hingehen konnte. — In manchen Stunden suchte dann Anton Reiser auch seine geliebte Einsamkeit wieder, ob er nun gleich einen Freund hatte — und wenn irgend ein schoͤner Nachmittag war, so hatte er sich auf einer Wiese vor H. . . laͤngst dem Flusse ein Plaͤtzchen ausgesucht, wo ein kleiner klarer Bach uͤber Kiesel rollte, der sich zuletzt in den vorbeigehenden Fluß ergoß. — Diß Plaͤtzchen war ihm nun, weil er es immer wieder besuchte, auch gleichsam eine Heimath in der großen ihn umgebenden Natur geworden; und er fuͤhlte sich auch wie zu Hause , wenn er hier saß, und war doch durch keine Waͤnde und Mauern einge¬ schraͤnkt, sondern hatte den freien ungehemmten Genuß von allem, was ihn umgab. — Diß Plaͤtzchen besuchte er nie, ohne seinen Horaz oder Virgil in der Tasche zu haben. — Hier laß er Blandusiens Quell, und wie die eilende Fluth Obliquo laborat trepidare rivo , Von hier saͤhe er die Sonne untergehen, und be¬ trachtete die sich verlaͤngernden Schatten der Baͤume. — An diesem Bache vertraͤumte er man¬ che gluͤckliche Stunde seines Lebens — Und hier besuchte ihn auch zuweilen die Muse, oder viel¬ mehr, er suchte sie — Denn er bemuͤhte sich jetzt, ein großes Gedicht zu Stande zu bringen, und weil er dißmal bloß dichten wollte, um zu dich¬ ten, so gelang es ihm nicht, wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war dißmal eher bei ihm da, als der Gegenstand, den er be¬ singen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gu¬ tes zu folgen pflegt. — Die Gedanken waren dißmal gesucht, oder gemein — man sahe, was er schrieb, hatte sollen ein Gedicht werden — Indes schimmerte auch durch diese schlechten Verse allenthalben seine schwermuͤthige Laune durch — jedes lachende und angenehme Bild war gleichsam mit einem Flor uͤberzogen — Die Blaͤtter faͤrbten sich nur mit jungem Gruͤn, um wieder zu verwelken — Der Himmel war nur heiter, um sich wie¬ der zu truͤben . — Philipp Reiser ertheilte diesem Gedichte seinen Beifall nicht; und doch hatte Anton Reiser, bei jedem Reime, den er muͤhsam hersetzte, darauf gerechnet. — Aber sein Freund war ein strenger und unpartheiischer Richter, der nicht leicht einen matten Gedanken, einen gesuchten Reim, oder ein Flickwort ungeahndet ließ. — Besonders machte er sich uͤber eine Stelle in Anton Reisers Gedicht lustig, die hieß: So wechselt Lust und Schmerz im ganzen Leben ab, Und selbst das Leben sinkt ins stille kuͤhle Grab — Philipp Reiser konnte nicht aufhoͤren, uͤber diese Stelle, die er in einem komischen Tone de¬ klamirte, seinen Witz spielen zu lassen. — Er nannte seinen Freund seinen lieben Hans Sachs — und machte ihm mehr dergleichen Lobspruͤche, die eben nicht allzuaufmunternd wa¬ ren. — Indes ließ er ihn doch nicht ganz sinken — sondern hob einige ertraͤgliche Stellen aus dem Gedicht heraus, denen er denn seinen Bey¬ fall nicht ganz versagte. — Durch eine solche wechselseitige Mittheilung und fruchtbare Kritik, wurde nun das Band zwischen diesen beiden Freunden immer fester ge¬ knuͤpft, und Anton Reisers Streben, er mochte Verse oder Prosa niederschreiben, ging unab¬ laͤssig dahin, sich den Beifall seines Freundes zu erwerben. — Damals ereignete sich nun ein Vorfall, der Anton Reisers Herzen eben nicht viel Ehre zu ma¬ chen scheint, ob er gleichwohl in der Natur der menschlichen Seele gegruͤndet ist. — Der Sohn des Pastor M. . ., welcher waͤh¬ rend der Zeit die Universitaͤt bezogen hatte, und von dort schwindsuͤchtig wieder zuruͤckgekommen war, wurde, nachdem man alle moͤglichen Mittel vergeblich angewandt, von den Aerzten aufgege¬ ben, die in diesem Fruͤhjahr seinen Tod als gewiß prophezeyten; und Reisers erste Gedanken, da er diß hoͤrte, waren, wie er auf diesen Vorfall ein Gedicht machen wollte, das ihm Ruhm und Beifall und auch vielleicht die Gunst des Pastor M. . . wieder zuwege braͤchte. Kurz, er hatte das Gedicht schon acht Tage vorher ange¬ fangen, ehe der junge M. . . starb . — Statt nun, daß er diß Gedicht haͤtte machen sollen, weil er uͤber diesen Vorfall betruͤbt war, suchte er sich vielmehr selbst in eine Art von Be¬ truͤbniß zu versetzen, um auf diesen Vorfall ein Gedicht machen zu koͤnnen. — Die Dichtkunst machte ihn also dißmal wirklich zum Heuch¬ ler . — Allein der junge M. . . hatte sich auch die letzte Zeit um Reisern eben nicht viel bekuͤmmert, und sich seiner gegen die Spoͤttereien und Belei¬ digungen seiner Mitschuͤler nicht angenommen — sondern, so wie es zuweilen kam, wohl selbst mit eingestimmt. — Daß Reisern also sein Gedicht auf den jungen M. . . mehr am Herzen lag, als der junge M. . . selbst, war wohl sehr natuͤrlich, obgleich es wieder nicht zu billigen war, daß er Empfindungen log , die er nicht hatte — er war auch dabei nicht ganz einig mit sich selber, son¬ dern sein Gewissen machte ihm haͤufige Vorwuͤr¬ fe, die er denn dadurch uͤbertaͤnbte, daß er sich selbst zu uͤberreden suchte, er empfinde wirklich eine solche Wehmuth uͤber den fruͤhen Tod des jungen M. . ., der in der Bluͤthe seiner Jahre allen Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft dieses Lebens entrissen ward. — Weil Weil nun diß Gedicht im Grunde Heuchelei war, so gelang es ihm auch wiederum nicht, und erhielt auch den Beifall seines Freundes nicht, der fast an jeder Zeile etwas zu tadeln fand — auch der Pastor M. . ., dem er das Gedicht uͤber¬ reichen ließ, nahm keine besondere Ruͤcksicht dar¬ auf, und er erreichte also seinen Zweck dadurch gar nicht. — Aber es ereignete sich bald darauf ein Vorfall, der ihm Veranlassung gab, sich auf eine weniger affektirte Art in poetische Begeisterung zu versetzen. Es fuͤgte sich nehmlich im Anfang des Sommers, daß ein junger Mensch von neunzehn Jahren, der ansehnliches Vermoͤgen besaß, und ein sehr guter Freund von Philipp Reisern war, beim Baden im Flusse ertrank. — Philipp Reiser trug bei dieser Gelegenheit seinem Freunde auf, daß er auf diesen Vorfall ein Gedicht, so gut es nur in seinen Kraͤften stuͤnde, verfertigen sollte — er wollte es drucken lassen, und wenn es auch nicht gedruckt wuͤrde, so wuͤrde es doch immer, wenn es gut geriethe, als ein Produkt des Geistes schaͤtzbar seyn. 3r Theil . F Dieser Auftrag von seinem Freunde machten Anton Reisers ganzen Ehrgeitz rege; er suchte sich den Vorfall so lebhaft, wie moͤglich, vors Auge zu bringen, und nachdem er andert¬ halb Tagelang Ausdruck gegen Ausdruck abge¬ wogen, und seine Seelenkraͤfte angestrengt hatte, um sich den Beifall seines Freundes zu verdienen, waren ihm am Ende folgende Stro¬ phen gelungen: Wenn seufzend unterm Druck schwer auf ihn ruh'nder Jahre Ein frommer Greis erblaßt, wird Wehmuth unser Herz; Doch legt ein rascher Tod den Juͤngling auf die Bahre, Der kaum zu bluͤh'n begann — so wird die Wehmuth Schmerz. Der braunen Nacht entstieg der schoͤnste Sommermorgen Und ruhig athmete noch fruͤh des Juͤnglings Brust — Ein sanfter Schlaf verscheucht rund um ihn her die Sorgen, Bis ihn Aurora weckt zu einem Tag voll Lust. Er sahe diesen Tag — und tausend frohen Tagen Sah er entgegen noch voll starker Zuversicht— Nicht bange Ahndungen, die seinen Tod ihn sagen, Beklemmen seine Brust, die nur von Freu¬ den spricht — Am heitern Himmel glaͤnzt die unumwoͤlkte Sonne, Dem Juͤngling freundlich zu und winkt ihn auf die Flur — Da strahlte um ihm her in hoher stiller Wonne Und ernst in ihrer Pracht die feiernde Natur, Doch welch ein Schatten bebt dort durch den goldnen Schimmer? — Und immer naͤher bebt's? — o Juͤngling, zieh zuruͤck F 2 Den allzukuͤhnen Fuß — zu spaͤt! — Welch ein Gewimmer! — Ach Gott! — den Juͤngling trift sein trau¬ riges Geschick. Es lauerte der Tod auf ihn in stillen Fluthen, Und uͤber seinen Raub rauscht er nun stolz dahin — Des Juͤnglings Freunde sehn’s, und ihre Herzen bluten, Sie fuͤhlen den Verlust, und klagen laut um ihn. Doch, welch ein Wonnetod, wo solche Zaͤh¬ ren fließen, Wo sanft ein Auge weint, aus dem der Him¬ mel lacht — 0 selig, wenn nun einst sich meine Augen schließen, Wenn dann auch um mich hier die Freundschaft zaͤrtlich klagt! Das letztere bezog sich auf den Umstand, daß ein junges schoͤnes Frauenzimmer, die eine nahe Anverwandtin von dem Ertunkenen war, und mit deren Bruder sich dieser eben gebadet hatte, auf die erhaltene Nachricht von dem ungluͤckli¬ chen Vorfall, sogleich aus der Stadt herbeieilte, und bei der Menge Menschen, die am Flusse standen, ihre Thraͤnen nicht verbarg, welches Anton Reiser mit Ruͤhrung bemerkte, so daß er den Todten fast beneidet haͤtte, um den solche Thraͤnen flossen. — Reiser war nehmlich auch in der Absicht sich zu baden an den Fluß gegangen, und eben da er hinkam war der junge Mensch ertrunken, dessen Gefaͤhrte sich noch nicht einmal wieder ange¬ kleidet hatte; er sahe darauf die gleichguͤltigen und bei der Sache unintereßirten Zuschauer sich allmaͤlig versammlen, sahe den Koͤrper des jun¬ gen Menschen, den er selbst durch Philipp Rei¬ sern sehr gut gekannt hatte, herausziehen, und alle Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen, vergeblich anwenden, — diß alles machte einen so lebhaften Eindruck auf ihn, daß das Gedicht, welches er auf diesenVorfall verfertigte, eine gewisse Wahr ¬ heit im Ausdruck erhielt, und sich dadurch von F 3 dem Gedicht auf den Tod des jungen M... sehr merklich unterschied. Diß Gedicht fand nun, einige Haͤrten ausgenommen, Philipp Reisers Beifall wie¬ der, welches fuͤr Anton Reisern so aufmun¬ ternd war, daß er nun auch ohne Veran¬ lassung, durch eigne Aufsaͤtze in Prosa und in Versen, sich seines Freundes Beifall zu erwerben suchte. — Allein die Aufsaͤtze und Gedichte ohne eigent¬ liche Veranlassung, wollten ihm nie recht gelin¬ gen — er quaͤlte sich vierzehn Tage lang mit ei¬ nem Gegenstande, den er sich zu besingen vor¬ genommen hatte; diß war eine Gegeneinander¬ stellung des Weltmanns, dessen Hoffnung sich mit diesem Leben endigt, und des Christen, der eine frohe Aussicht auf die Zukunft jenseits des Grabes hat. — Diese Idee war ein Ueberbleib¬ sel seiner Lektuͤre von Youngs Nachtgedanken, und da ihm der Gegenstand, woruͤber er Verse machen wollte, gleichguͤltig war, indem er keine besondre Veranlassung zum Dichten, als seine Neigung und das Streben nach dem Beifall sei¬ nes Freundes hatte, so draͤngte sich ihm das Re¬ sultat seiner Lektuͤre von Youngs Nachtgedanken am ersten auf, dem er noch eine ziemlich ver¬ nuͤnftige Wendung gab, indem er seinen Christen alle erlaubten Freuden des Weltmanns genießen ließ, und ihm dennoch den Vortheil einer fro¬ hen Aussicht in die Ewigkeit dazu gab, so daß er gegen den Weltmann auf allen Seiten gewinnen mußte. — Aus dieser zwar richtigen aber zu ge¬ suchten und gekuͤnstelten Idee entstand denn folgendes zweite Gedicht, das wiederum Reisers Beifall nicht erhielt, und womit er auch selbst, ohngeachtet der Muͤhe, die es ihm gekostet hatte, nie zufrieden war: Der Weltmann und der Christ. Einst gingen uͤber Blumenwiesen Ein Christ und Weltmann einen Pfad: Hier, wo der Freude Baͤche fließen, Ward jeder suͤßer Freuden satt. Der Weltmann nutzte klug sein Leben, Er hielts fuͤr seine Ewigkeit — Nie konnte sich sein Geist erheben, Bis uͤber sich und Welt und Zeit. F 4 Mit Klugheit nutzt' er jede Freude, Die die Natur umsonst ihm bot: Ihm lacht die Flur im Blumenkleide, Ihm glaͤnzet fruͤh das Morgenroth — Vor diesen edlern Erdenfreuden Verschloß auch nicht der Christ die Brust, Und, nicht gebohren nur zu Leiden, Genoß auch er des Weltmanns Lust. Nur mit dem kleinen Unterscheide: Der Freude Anfang war ihm da, Wo jener seiner kurzen Freude, Furchtbarem End' entgegen sah. — Dieser Sommer war also fuͤr Anton Reiser ein recht poetischer Sommer. — Seine Lektuͤre mit dem Eindruck, den die schoͤne Natur damals auf ihn machte, zusammengenommen, that eine wunderbare Wirkung auf seine Seele; alles er¬ schien ihm in einem romantischen bezaubernden Lichte, wohin sein Fuß trat. — Aber ohngeachtet seines genauen Umganges mit Reisern liebte er dennoch vorzuͤglich die ein¬ samen Spatziergaͤnge. — Nun war vor dem neuen Thore in H. . ., der Gang auf der Wiese, laͤngst dem Flusse, nach dem Wasserfall zu, be¬ sonders einladend fuͤr seine romantischen Ideen. Die feierliche Stille, welche in der Mittags¬ stunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zersteuten hohen Eichbaͤume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Gruͤne der Wiese hinwarfen. — Ein kleines Gebuͤsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Naͤhe hoͤrte — am jenseitigen Ufer des Flus¬ ses, der angenehme Wald, in welchem er mit Reisern des Morgens in der Fruͤhe spatziren ge¬ gangen war — in der Ferne weidende Heerden; und die Stadt mit ihren vier Thuͤrmen, und dem umgebenden mit Baͤumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in eiuem optischen Kasten. — Diß zusammengenommen versetzte ihn allemal in je¬ ne wunderbare Empfindung, die man hat, so oft es einem lebhaft wird, daß man in diesem Au¬ genblick nun gerade an diesem Orte, und an kei¬ nem andern ist; daß diß nun unsere wirkliche F 5 Welt ist, an die wir so oft als an eine bloß idea¬ lische Sache denken. — Es faͤllt einem ein, daß man sich bei der Lek¬ tuͤre von Romanen immer wunderbarere Vor¬ stellungen von den Gegenden und Oertern ge¬ macht hat, je weiter man sie sich entfernt dachte. Und nun denkt man sich, mit allen großen und kleinen Gegenstaͤnden, die einen jetzt umgeben, z. B. in Vorstellung eines Einwohners von Pecking — dem diß alles nun eben so fremd, so wunderbar daͤuchten muͤßte — und die uns umge¬ bende wirkliche Welt bekommt durch diese Idee einen ungewohnten Schimmer, der sie uns eben so fremd und wunderbar darstellt, als ob wir in dem Augenblick tausend Meilen gereist waͤren, um diesen Anblick zu haben. — Das Gefuͤhl der Ausdehnung und Einschraͤnkung unsers We¬ sens draͤngt sich in einen Moment zusammen, und aus der vermischten Empfindung, welche dadurch erzeugt wird, entsteht eben die sonder¬ bare Art von Wehmuth, die sich unserer in sol¬ chen Augenblicken bemaͤchtigt. — Reiser fing schon damals an, uͤber dergleichen Erscheinungen bei sich selber nachzudenken, und zu untersuchen, wie die Gegenstaͤnde solche Ein¬ druͤcke auf ihn machen koͤnnten — allein die Eindruͤcke selbst waren noch zu lebhaft, als daß er kaltbluͤtige Reflexionen daruͤber haͤtte anstellen koͤnnen — auch war seine Denkkraft noch nicht geuͤbt und nicht stark genug, sich die aufsteigen¬ den Bilder der Phantasie gehoͤrig unterzuordnen — dazu kam eine gewisse Traͤgheit und Hinsin¬ ken in der Behaglichkeit des Genusses, wodurch ebenfalls seine Reflexionen wieder gehemmt wurden. — Demohngeachtet aber hatte er schon seit dem vorigen Sommer im Sinn gehabt, einen Auf¬ satz uͤber die Liebe zum Romanhaften zu schreiben, und diesen in das H. . .sche Magazin einruͤcken zu lassen — er sammlete hiezu bestaͤndig Ideen, und hatte genug Gelegenheit, sie zu sammlen, weil seine eigene Erfahrung sie ihm taͤglich an die Hand gab. — Allein mit dem ganzen Aufsatze kam er doch nicht zu Stande. Auch konnte er damals nicht begreiffen, war¬ um die einzelnen auf der Wiese hin und her zer¬ streuten hohen Baͤume mit ihrem Schatten in der Mittagssonne einen so wunderbaren Eindruck auf ihn machten — er fiel nicht darauf, daß eben der einsame Stand derselben in großen und unregelmaͤßigen Zwischenraͤumen , der Ge¬ gend das majestaͤtische feierliche Ansehn gab, wo¬ durch sein Herz immer so geruͤhrt wurde. — Diese einsamen Baͤume machten ihm seine eigne Einsamkeit, indem er unter ihnen umherwandelte, gleichsam heilig und ehrwuͤrdig — so oft er unter diesen Baͤumen ging, lenkten sich seine Gedanken auf erhabene Gegenstaͤnde, seine Schritte wur¬ den langsamer, sein Haupt gesenkt, und sein ganzes Wesen ernster und feierlicher — dann verlohr er sich in dem naheliegenden niedri¬ gen Gebuͤsch, und setzte sich in den Schatten ei¬ nes Gestraͤuchs, wo er denn beim Geraͤusch des nahen Wasserfalls sich entweder in angenehmen Phantasien wiegte, oder laß. — Es ging auf die Weise fast kein Tag hin, wo seine Phantasie nicht mit neuen Bildern aus der wirklichen sowohl als aus der idealischen Welt genaͤhrt worden waͤre. — Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahre die Leiden des jungen Wer¬ thers erschienen waren, welche nun zum Theil in alle seine damaligen Ideen und Empfin¬ dungen von Einsamkeit , Naturgenuß , pa¬ triarchalischer Lebensart , daß das Leben ein Traum sey , u. s. w. eingriffen.— Er bekam sie im Anfange des Sommers durch Philipp Reisern in die Haͤnde, und von der Zeit an, blieben sie seine bestaͤndige Lektuͤre, und kamen nicht aus seiner Tasche. — Alle die Empfindungen, die er an dem truͤben Nachmit¬ tage auf seinem einsamen Spatziergange gehabt hatte, und welche das Gedicht an Philipp Reisern veranlaßten, wurden dadurch wieder lebhaft in seiner Seele. — Er fand hier seine Idee vom Nahen und Fernen wieder, die er in seinen Aufsatz uͤber die Liebe zum Romanhaften bringen wollte — seine Betrachtungen uͤber Leben und Daseyn fand er hier fortgesetzt — „ Wer kann sagen, das ist, da alles mit Wetterschnelle vorbeiflieht ?“— Das war eben der Gedanke, der ihm schon so lange seine eigne Existenz wie Taͤuschung, Traum, und Blendwerk vorge¬ mahlt hatte. — Was aber nun die eigentlichen Leiden Wer¬ thers anbetraf, so hatte er dafuͤr keinen rechten Sinn. — Die Theilnehmung an den Leiden der Liebe kostete ihm einigen Zwang — er mußte sich mit Gewalt in diese Situation zu versetzen suchen, wenn sie ihn ruͤhren sollte, — denn ein Mensch der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes ganz von ihm verschiedenes We¬ sen zu seyn, weil es ihm unmoͤglich fiel, sich selbst jemals, als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken. — Wenn Werther von seiner Liebe sprach, so war ihm nicht viel anders dabei, als wenn ihn Philipp Reiser von den allmaͤligen Fortschritten, die er in der Gunst seines Maͤdchens gethan hatte, oft Stundenlang unterhielt. — Aber die allgemeinen Betrachtungen uͤber Le¬ ben und Daseyn, uͤber das Gaukelspiel mensch¬ licher Bestrebungen, uͤber das zwecklose Gewuͤhl auf Erden; die dem Papier lebendig eingehauchten aͤchten Schilderungen einzelner Naturszenen, und die Gedanken uͤber Menschenschicksal und Men¬ schenbestimmung waren es, welche vorzuͤglich Reisers Herz anzogen. — Die Stelle, wo Werther das Leben mit ei¬ nem Marionettenspiel vergleicht, wo die Puppen am Drath gezogen werden, und er selbst auf die Art mit spielt oder vielmehr mit gespielt wird, seinen Nachbar bei der hoͤlzernen Hand ergreift, und zuruͤckschaudert — erweckte bei Reisern die Erinnerung an ein aͤhnliches Gefuͤhl, das er oft gehabt hatte, wenn er jemanden die Hand gab. Durch die taͤgliche Gewohnheit vergißt man am Ende, daß man einen Koͤrper hat, der eben so wohl allen Gesetzen der Zerstoͤrung in der Koͤr¬ perwelt unterworfen ist, als ein Stuͤck Holz; das wir zersaͤgen oder zerschneiden, und daß er sich nach eben den Gesetzen, wie jede andere von Menschen zusammengesetzte koͤrperliche Maschine bewegt. — Diese Zerstoͤrbarkeit und Koͤrperlich¬ keit unsers Koͤrpers wird uns nur bei gewissen Anlaͤssen lebhaft — und macht daß wir vor uns selbst erschrecken, indem wir ploͤtzlich fuͤhlen, daß wir etwas zu seyn glaubten, was wir wirklich nicht sind, und statt dessen etwas sind, was wir zu seyn uns fuͤrchten. — Indem man nun einem andern die Hand gibt, und bloß den Koͤrper sieht und beruͤhrt, indem man von dessen Gedan¬ ken keine Vorstellung hat, so wird dadurch die Idee der Koͤrperlichkeit lebhafter, als sie es bei der Betrachtung unseres eignen Koͤrpers wird, den wir nicht so von den Gedanken, womit wir ihn uns vorstellen, trennen koͤnnen, und ihn also uͤber diese Gedanken vergessen. Nichts aber fuͤhlte Reiser lebhafter, als wenn Werther erzaͤhlt, daß sein kaltes freudenloses Daseyn neben Lotten in graͤßlicher Kaͤlte ihn anpackte . — Diß war gerade, was Reiser empfand, da er einmal auf der Straße sich selbst zu entfliehen wuͤnschte, und nicht konnte, und auf einmal die ganze Last seines Daseyns fuͤhlte, mit der man einen und alle Tage aufstehen und sich niederlegen muß. — Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unertraͤglich, und fuͤhrte ihn mit schnellen Schritten an den Fluß, wo er die unertraͤgliche Buͤrde dieses elenden Daseyns abwerfen wollte — und wo seine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. — Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen, bis auf den Punkt der Liebe, im Werther wieder zu finden. — „Laß das Buͤchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen naͤ¬ hern finden kannst.“ — An diesen Worten dachte dachte er, so oft er das Buch aus der Tasche zog — — er glaubte sie auf sich vorzuͤglich passend. — Denn bei ihm war es, wie er glaubte, theils Geschick, theils eigne Schuld, daß er so verlassen in der Welt war; und so wie mit diesem Buche konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freun¬ de nicht unterhalten. — Fast alle Tage ging er nun bei heiterm Wet¬ ter mit seinem Werther in der Tasche den Spa¬ tziergang auf der Wiese laͤngst dem Flusse, wo die einzelnen Baͤume standen, nach dem kleinen Gebuͤsch hin, wo er sich wie zu Hause fand , und sich unter ein gruͤnes Gestraͤuch setzte, das uͤber ihm eine Art von Laube bildete — weil er nun denselben Platz immer wieder besuchte, so wurde er ihm fast so lieb, wie das Plaͤtzchen am Bache — und er lebte auf die Weise bei heiterm Wetter mehr in der offenen Natur, als zu Hause, indem er zuweilen fast den ganzen Tag so zu¬ brachte, daß er unter dem gruͤnen Gestraͤuch den Werther, und nachher am Bache den Virgil oder Horaz laß. — Allein die zu oft wiederholte Lektuͤre des Wer¬ thers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine 3r Theil . G Denkkraft, um vieles zuruͤck, indem ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die oͤftere Wiederhohlung so gelaͤufig wurden, daß er sie oft fuͤr seine eigenen hielt, und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsaͤtzen, die er entwarf, mit Reminiscen¬ zien aus dem Werther zu kaͤmpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern ge¬ wesen ist, die sich seit der Zelt gebildet haben. — Indes fuͤhlte er sich durch die Lektuͤre des Wer¬ thers, eben so wie durch den Shakespear, so oft er ihn laß, uͤber alle seine Verhaͤltnisse erhaben; das verstaͤrkte Gefuͤhl seines isolirten Daseyns, indem er sich als ein Wesen dachte, worin Him¬ mel und Erde sich wie in einem Spiegel dar¬ stellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen seyn, das er sich in den Augen andrer Menschen schien. — Was Wunder also, daß seine ganze Seele nach einer Lektuͤre hing, die ihm, so oft er sie kostete, sich selber wiedergab! — Nun fiel auch in diesen Zeitpunkt gerade die neue Dichterepoche, wo Buͤrger, Hoͤlty, Voß, die Stollberge u. s. w. auftraten, und ihre Gedichte zuerst in den Musenalmanachen drucken ließen, die damals ihren Anfang genommen hatten. — Der dißjaͤhrige Musenalmanach enthielt vorzuͤg¬ lich vortreffliche Gedichte von Buͤrger, Hoͤlty, Voß u. s. w. Die beiden Balladen Leonore von Buͤrger , und Adelstan von Hoͤlty , lernte Reiser so¬ gleich auswendig, wie er sie laß — und diese beiden auswendig gelernten Balladen sind ihm nachher auf seinen Wanderungen oft sehr zu stat¬ ten gekommen. Schon damals versammlete er oͤfters in der Daͤmmerung des Abends, entweder bei seinem Wirth zu Hause, oder bei seinem Vetter, dem Perukenmacher, einen Cirkel um sich her, und deklamirte Leonore oder Adelstan und Roͤßchen — und theilte auf die Weise mit den Verfassern das Vergnuͤgen des Genusses von dem Beifall, den ihre Werke erhielten — denn so gut war er gesinnt, daß er diesen Beifall im¬ mer in ihrer Seele fuͤhlte, und sie sich in den¬ selben Zirkel wuͤnschte. — Aber seine Verehrung gegen die Verfasser solcher Werke, wie die Lei¬ den des jungen Werthers , und verschiedene Gedichte im Musenalmanach waren, fing auch G 2 nun an, ausschweifend zu werden — er vergoͤt¬ terte diese Menschen in seinen Gedanken, und wuͤrde es schon fuͤr eine große Gluͤckseligkeit ge¬ halten haben ,nur einmal ihres Anblicks zu genießen — Nun lebte Hoͤlty damals in H..., und ein Bruder desselben war Reisers Mitschuͤler — und haͤtte ihn leicht mit dem Dichter bekannt machen koͤnnen — Aber so weit ging damals noch Rei¬ sers Selbstverkennung, daß er es nicht einmal wagte, Hoͤltys Bruder diesen Wunsch zu ent¬ decken, und sich selbst mit einer Art von bitterm Trotz diß ihm so naheliegende und so sehr ge¬ wuͤnschte Gluͤck versagte — indes suchte er jede Gelegenheit auf, mit Hoͤltys Bruder zu sprechen, und jede Kleinigkeit, welche dieser ihm von dem Dichter erzaͤhlte, war ihm wichtig — und wie oft beneidete er diesen jungen Menschen, daß er der Bruder desjenigen war, welchen Reiser fast unter die Wesen hoͤherer Art zaͤhlte; daß er mit ihm vertraulich umgehn, ihn so oft er wollte sprechen, und ihn du nennen konnte. Diese ausschweifende Ehrfurcht gegen Dich¬ ter und Schriftsteller nahm nachher mehr zu als ab; er konnte sich kein groͤßeres Gluͤck denken, als dereinst einmal in diesem Zirkel Zutritt zu haben — denn er wagte es nicht, sich ein sol¬ ches Gluͤck anders, als im Traume vorzuspie¬ geln. — Seine Spatziergaͤnge wurden ihm nun immer interessanter; er ging mit Ideen, die er aus der Lektuͤre gesammlet hatte, hinaus, und kehrte mit neuen Ideen, die er aus der Betrachtung der Natur geschoͤpft hatte, wieder herein — Auch machte er wieder einige Versuche in der Dicht¬ kunst, die sich aber immer um allgemeine Be¬ griffe herumdrehten, und sich wieder zu seiner Spekulation hinneigten, die doch immer seine Lieblingsbeschaͤftigung war. — So ging er einmal auf der Wiese, wo die hin und her zerstreuten hohen Baͤume standen, und seine Ideen stiegen auf einer Art von Stuffen¬ leiter bis zu dem Begriff des Unendlichen empor — Dadurch verwandelte sich seine Spekulation in eine Art von poetischer Begeisterung, wozu sich denn die Begierde, den Beifall seines Freun¬ des zu erhalten, gesellte — er dachte sich ein Ideal eines Weisen, eines Menschen, der so viel Ideen hat, als einem Sterblichen nur moͤglich G 3 sind — und der dennoch immer eine Luͤcke in sich fuͤhlt, die nur durch die Idee vom Unend¬ lichen ausgefuͤllt werden kann, und so brachte er dann wieder, mit einigem Zwang wegen des Aus¬ drucks, folgendes Gedicht zuwege: Die Seele des Weisen. Des Weisen Seel in ihrem Fluge Erhub sich uͤber Wolken hoch; Und folgte kuͤhn dem innern Zuge, Der maͤchtig himmelan sie zog. — Sie strebt, das Leere auszufuͤllen. Das sie in sich mit Ekel sieht. Und forscht, um die Begier zu stillen. Nach Wahrheit, die ihr stets entflieht. Sie thuͤrmt Gedanken auf Gedanken, Durchschauet kuͤhn der Himmel Heer, Erschwingt den Weltbau ohne Schranken, Doch der Gedanke laͤßt sie leer. — Sie wagt es nun, sich selbst zu denken. Sich, die so oft sich selbst entflieht; Wagt's, in ihr Seyn sich zu versenken. Und sieht, daß sie sich selbst nicht gnuͤgt. — Da hub sich hoch mit Adlerschwingen Des Weisen Seele uͤber sich — Zu dir, den alle Wesen singen, Und dachte, Gott, Jehovah, dich. Und nun fuͤhlt sie die weite Leere In sich, erfuͤllt mit Seeligkeit, Und schwimmt in einem Freudenmeere, Weil sie sich ihres Gottes freut. — So wie er nun den Begriff von Gott in ein Gedicht gezw aͤ ngt hatte, suchte er auch den Begriff von der Welt in Verse zu bringen. — So lief seine ganze Dichtkunst auf allgemei¬ ne Begriffe hinaus. — Das Detail der Natur in und außer dem Menschen zu schildern, dahin zog ihn seine Neigung nie — Seine Einbildungs¬ kraft arbeitete best aͤ ndig, die großen Begriffe von Welt , Gott , Leben , Daseyn , u. s. w. die er mit seinem Verstande zu umfassen gesucht hatte, nun auch in poetische Bilder zu kleiden — und diese poetischen Bilder selbst waren immer das Große in der Natur, als Wolken , Meer , Sonne , Gestirne u. s. w. G 4 Das Gedicht uͤber die Welt, war weit mehr Spekulation als Gedicht, und wurde daher das Gezwungenste, was man sich denken kann, es hub sich an: Der Mensch entschwinget sich dem Staube Und mit ihm seine Welt — Dem Grabe wird der Mensch zum Raube, Und mit ihm seine Welt. — Philipp Reiser tadelte diß Gedicht durch¬ weg, ausgenommen folgenden Vers, den er er¬ traͤglich fand: Der haͤuft sich seine Welt mit Schaͤtzen, Und der mit Lorbern an; Und jeder findet sein Ergoͤtzen Am Spiel, das er ersann. — Reisers Phantasie lag jetzt mit seiner Denk¬ kraft im Kampfe; sie wollte bei jeder Gelegen¬ heit in das Gebiet derselben eingreifen, und die allerabstraktesten Begriffe wieder in Bilder huͤl¬ ken — Diß war fuͤr Reisern oft ein aͤngstlicher qualvoller Zustand — und in einem solchen Zu¬ stande hatte er das Gedicht uͤber die Welt her¬ vorgebracht, das weder eigentliche Spekula¬ tion noch Poesie, sondern ein verungluͤcktes Mit¬ telding von beiden war. Da nun eine Zeitlang regnigtes Wetter ein¬ fiel, so wich Reiser dennoch nicht von seiner ein¬ samen poetischen Lebensart ab. Er schloß sich in seine Kammer ein, wo er ein altes baufaͤlliges Klavier, fuͤr sich selbst, so gut er konnte, wieder zurecht brachte, und es mit vieler Muͤhe stimmte — Bei diesem Klaviere saß er nun den ganzen Tag, und lernte, da er die Noten kannte, fast alle Arien aus der Jagd, aus dem Tod Abels u.s.w. fuͤr sich selber singen und spielen — dazwischen laß er den Tom Jons von Fielding , und Hallers Gedichte ver¬ schiedenemal durch, und brachte einige Wochen in dieser Einsamkeit fast eben so vergnuͤgt zu, als die, wo er in seinem vorigen Logis auf dem Bo¬ den Philosophie studirte. — Hallers Gedichte konnte er beinahe auswendig. Hier besuchte ihn Philipp Reiser einmal ei¬ nes Nachmittags und gab ihm den Auftrag, eine Chorarie zu verfertigen, die er alsdann in Musik setzen wolle. — Diß war fuͤr Anton Reisern ein G 5 so ehrenvoller und ermunternder Auftrag, daß er sich, sobald er allein war, zum Dichten hin¬ setzte, und indem er immer einen Akkord auf dem Klavier dazwischen anschlug, in weniger als einer Stunde folgende Verse hervorgebracht hatte: Der Herr ist Gott — o falle nieder, Und rausche maͤchtig hohe Lieder Dem Ewgen, der dich schuf Natur! Rauscht eures Gottes Lob, ihr Winde, Verkuͤndigt es, ihr stillen Gruͤnde, Ihr Blumen, duftet's auf der Flur! — — — — — — Ihr Wolken donnert ihm zu Ehren, Seyd nicht zu seinem Lobe stumm Ihr Hoͤhlen und ihr Felsengaͤnge, Und wiederhallt die Lobgesaͤnge Zu eures großen Schoͤpfers Ruhm! Und was nur lebt und denkt auf Erden, Das muͤsse ganz zum Danke werden, Und loben Gott durch Froͤlichkeit — So wird dem Schoͤpfer aller Wesen Von dem, was er zum Seyn erlesen, Ein ewigtoͤnend Lied geweiht. Philipp Reiser setzte also diese Verse in Mu¬ sik und sie wurden nun wirklich im Chore gesun¬ gen, ohne daß jemand den Verfasser wußte. — Das neue Stuͤck fand viel Beifall, und jeder¬ mann war besonders mit dem Text zufrieden — es schmeichelte auch Anton Reisern nicht wenig, da er seine eignen Worte von seinen Mitschuͤlern, die ihn so verachteten, singen, und sie ihren Bei¬ fall daruͤber bezeigen hoͤrte, — aber er sagte kei¬ nem einzigen, daß die Verse von ihm waͤren — sondern genoß lieber bei sich selbst des stillen Triumpfs, den ihm dieser ungesuchte Beifall ge¬ waͤhrte — Seine Gedanken waren es doch, die jetzt zu so oft wiederhohlten malen, als das neue Stuͤck gesungen wurde, die Aufmerksamkeit einer An¬ zahl Menschen die sangen, und derer die zuhoͤr¬ ten, beschaͤftigte — wenn irgend etwas faͤhig ist, der Eitelkeit eines Menschen, der Verse macht, Nahrung zu geben, so ist es, wenn man die Ge¬ danken und Ausdruͤcke desselben fuͤr wuͤrdig haͤlt, in Musik gesetzt zu werden. — Jedes Wort scheint dadurch gleichsam einen hoͤhern Werth zu erhalten — und die Empfindung, welche Anton Reisern daruͤber anwandelte, wenn er seine Arien singen hoͤrte, mag vielleicht bei einem jeden, der einmal sein eigenes Singestuͤck vollstimmig, und bei einer betraͤchtlichen Anzahl Zuschauer auffuͤhren hoͤrte, sich im Innern seiner Seele geregt haben; auch hat man lebende Beispiele davon, was dergleichen Triumphe fuͤr unerhoͤrte Ausbruͤche der Eitelkeit bei gewissen Personen veranlaßt haben. — Anton Reisers Triumph dauerte nicht lange — denn sobald man erfuhr, wer der Verfasser die¬ ser Verse sey, so fand man daran allerlei zu tadeln, und einige von den Chorschuͤlern, welche Kleists Gedichte gelesen hatten, behaupteten gradezu, daß sie aus dem Kleist ausgeschrieben waͤren. — Nun mochten freilich wohl Reminiszenzien darin seyn, aber der letzte Gedanke, von dem was Gott zum Seyn erlesen habe, drehte sich wie¬ der um Reisers metaphysische Spekulation, in wie fern nur den lebenden und denkenden Ge¬ schoͤpfen eigentliches Daseyn zugeschrieben werden koͤnne. — Philipp Reiser war mit diesem Ge¬ dichte auch in so weit zufrieden, bis auf die Na¬ tur, die wie eine Dame , vor Gott nieder¬ knieen sollte — welches zu gewagte Bild er tadelte. — Waͤhrend daß Philipp Reiser also Klaviere machte, um zu leben, beschaͤftigte sich Anton Reiser damit Verse zu machen, welche jener ihm kritisiren mußte, der selbst nie einen Vers zu machen versucht hatte, und also auch nicht eifer¬ suͤchtig auf ihn war — vielmehr gab er ihm zu¬ weilen selbst ein Thema zu bearbeiten — wie un¬ ter andern einmal, daß er Philipp Reisers Zu¬ stand, seine verliebten Leiden, sein Emporarbei¬ ten, und wieder Sinken, in dessen Nahmen be¬ singen sollte — und ohne daß damals noch an den Mond so viele Seufzer und verliebte Klagen, wie nachher im Siegwart, und unzaͤhligen Lie¬ dern, gerichtet waren, hub Reiser seinen Ge¬ sang an: Was blickest du so mitleidsvoll Vom Himmel stiller Mond mich an? Weist du vielleicht den Kummer wohl, Den ich nur leise klagen kann? u. s. w. Und dann in einem derfolgenden Verse, in Bezie¬ hung auf Reisers Zustand: Oft will ich mich erheben Und sinke schwer zuruͤck; Und fuͤhle dann mit Beben Mein trauriges Geschick. — Bei diesem allen versaͤumte auch Anton Rei¬ ser damals seine oͤffentlichen Schulstunden nicht, wo der neue Direktor, der wie schon erwaͤhnt ist, bei ein wenig Pedanterie, doch im Grunde ein Mann von Geschmack sowohl als Kenntnissen war, Deklamationsuͤbungen anstellte, die Rei¬ sers ganzen Ehrgeiz rege machten. — Allein derjenige, welcher nun zum Deklami¬ ren oͤffentlich auftreten wollte, mußte wenigstens ein gutes Kleid haben, welches Reisern fehlte, der außer seinem Kleide von bedientenmaͤßigen grauen Tuche, nichts als einen alten Ueberrock hatte, und in keinem von beiden wagte er es auf¬ zutreten. — Seine schlechte Kleidung war es also, welche ihm hier aufs neue im Wege stand, und seinen Muth niederschlug. Endlich wurde denn doch auch diß Hinderniß gehoben, indem der Prinz wieder so viel fuͤr ihn hergab, daß ihm ein gutes Kleid konnte geschaft werden. — Und nun ging alle sein Denken und Trach¬ ten dahin, wie er ein Gedicht verfertigen wolle, daß er fuͤr wuͤrdig hielt, es oͤffentlich zu dekla¬ miren. — Nun war es gar nicht gewoͤhnlich, daß ir¬ gend jemand ein Gedicht, welches er deklamiren wollte, selbst verfertigte, sondern ein jeder schrieb sich irgendwo eins aus, und legte beim Deklami¬ ren das Papier vor sich hin, oder gab es dem Direktor, welcher nachlaß. — Reiser hatte sich nun aber einmal darauf ge¬ setzt, das Gedicht, welches er zuerst deklamiren wollte, selbst verfertigt zu haben — er war nun nur noch um einen wuͤrdigen Stoff verlegen, vorzuͤglich wuͤnschte er einen solchen Stoff zu bearbeiten, wobei sich viel Deklamation anbrin¬ gen ließe. — Und da er nun einmal an einem schoͤnen Abend, bei hellem Mondschein, ganz voll von diesem Gedanken, um den Wall spatzieren ging, so erinnerte er sich an ein Gedicht, gegen die Gottesleugner, das er ein paar Jahre vorher, wegen des deklamatorischen Ausdrucks, der darin herrschte, fast auswendig gelernt hatte, das ihm aber in Ansehung der Gedanken jetzt hoͤchst ab¬ geschmackt vorkam — indes wurde dieser Gegen¬ stand ihm in den Augenblick so lebhaft — daß er noch einmal den Spatziergang um den Wall machte, und waͤhrend dieser Zeit, sein Gedicht, der Gottesleugner , in seinem Kopfe vollendet hatte. — Seine Gedanken hatten eine eigne Wendung genommen, welche von der alltaͤglichen in dem Gedichte, das er auswendig wußte, ganz ver¬ schieden war. — Er dachte sich den Gottesleug¬ ner, als den Sklaven des Sturmwindes, des Donners, der tobenden Elemente, der Krank¬ heit, und der Verwesung, kurz als den Sklaven aller der unvernuͤnftigen leblosen Wesen, die staͤrker sind als er, und die nun seine Herren ge¬ worden sind, da er den Geist voll ewger Huld nicht Huld nicht verehren will. — Das Beduͤrfniß , einen Gott zu glauben, erwachte bei dieser Gele¬ genheit, da er erst bloß damit umging, ein Ge¬ dicht zu verfertigen, und zu deklamiren, so maͤch¬ tig in Reisers Seele, daß er gegen den, der diesen Trost ihm rauben wolle, gleichsam eine Art von gerechter Erbitterung fuͤhlte, und sich in diesem Feuer erhalten konnte, bis sein Gedicht vollendet war, das sich mit der frohen Ueberzeu¬ gung von dem Daseyn einer vernuͤnftigen Ursach aller Dinge, welche sind und geschehn, anhub und endigte, und bei aller Unregelmaͤßigkeit, und dem oftmals Gezwungnen im Ausdruck, doch ein Ganzes von Empfindungen ausmachte, welches Reisern bis jetzt hervorzubringen noch nicht gelungen war. — Die Mittheilung dieses Gedichts wird daher in dieser Ruͤcksicht nicht uͤberfluͤßig seyn, wenn es gleich um sein selbst willen keine Aufbewahrung verdiene: Der Gottesleugner. E s ist ein Gott — wohl mir! Dem Vater meiner Tage, 3r Theil . H Ihm dank' ich mein Geschick — er wog mir jeden Schmerz Und jede Freude zu — er kennet jede Plage, Die ich hier leiden soll — drum weine nicht, mein Herz! Wenn sich der Morgen schoͤn aus brauner Nacht enthuͤllet, So toͤne froh dein Lied dem Ewgen, der ihn schuf! Und wenn sein Donner laut in hohlen Luͤften bruͤllet, So toͤne froh dein Lied dem Ewgen, der ihn schuf! O freue fruͤh und spaͤt dich seiner, meine Seele! Lob' ihn — denn ein Gedank an ihn ist See¬ ligkeit, Und leben ohne Gott, und denken — ist die Hoͤlle, Und jeder Seelenblick ein Quell von ewgem Leid. Du, der du zweifelst, ob ein Gott im Himmel wohnet, Thor, o verbanne schnell den Zweifel aus der Brust — Der dir mit tausend Qual, und mit der Hoͤlle lohnet, Und denke einen Gott — und fuͤhle Himmelslust! Du kannst, du willst ihn nicht den guten Gott erkennen, Den Geist voll ewger Huld, zum Herren uͤber dir? — Wohl! — so erkenne denn die Qualen, die dich brennen, Der Elemente Wuth zu Herren uͤber dir — Droht dir am Himmel hoch ein schwarzes Donnerwetter, Braußt dort das hohle Meer — ruft hier ein offnes Grab — Dann Frevler, bete an! — denn das sind deine Goͤtter, Die dir Vernuͤnftigen dein toller Wahnsinn gab! H 2 Und droht die Krankheit dir mit schreckendem Gefieder — Nagt nun am Herzen dir — Und grinset dann der Tod Des Grabes Schreckenbild dich an — so falle nieder Vor ihm und bet ihn an — Verwesung ist dein Gott! Dann sinke in dein Grab — vereine mit dem Staube Die Seele, die dem Wahn hier in dir selbst begrub — Und werde, wenn du kannst, dem ewgen Nichts zum Raube, Du, den zum denkenden Geschoͤpfe Gott erhub. — Wer seinen Gott verkennt, dem wird die Welt zur Hoͤlle — Er selbst ist nur ein Traum, und um ihn her ist Wahn — Doch denke einen Gott, und schnell wirds um dich helle — Und deine Seele schwingt sich maͤchtig him¬ melan. — Durch die Empfindungen, welche waͤhrend der Zeit, daß er diß Gedicht verfertigte, in ihm abwechselten, war wirklich seine ganze Seele er¬ schuͤttert — er bebte vor dem schrecklichen Ab¬ grunde des blinden Ohngefaͤhrs, an dessen Rande er schon stand, mit Schaudern und Entsetzen zuruͤck, und schmiegte sich gleichsam mit allen seinen Gedan¬ ken und Empfindungen in die troͤstende Idee von dem Daseyn eines alles regierenden und lenken¬ den guͤtigen Wesens hinein — Da nun diß Gedicht auch seines Freundes voͤl¬ ligen Beifall fand, so lernte es auswendig, und den naͤchsten Tag in der Woche, da Deklama¬ tionsuͤbung war, nahm er sich vor, es zu dekla¬ miren. — Er erschien hierbei mit seinem neuan¬ geschaften Kleide, das sich ziemlich gut ausnahm, und das erste feine Kleid war, welches er in sei¬ nem Leben trug — das war ein nicht unbedeu¬ H 3 tender Umstand bei ihm. — Das neue Kleid, wodurch er sich nun seinen Mitschuͤlern, von de¬ nen er so lange durch seine schlechte Kleidung ausgezeichnet gewesen war, wieder gleich gesetzt sahe, floͤßte ihm Muth und Zutrauen zu sich sel¬ ber ein; und was das sonderbarste war, so schien es ihm auch mehr Achtung bei andern zu erwer¬ ben, die nun erst mit ihm sprachen, da sie sich vorher gar nicht um ihm bekuͤmmert hatten. — Und da er nun vollends in dem Hoͤrsaale, wo er so lange ein Gegenstand der allgemeinen Ver¬ achtung gewesen war, auf dem Katheder vor sei¬ nen versammleten Mitschuͤlern oͤffentlich auftrat, um sein von ihm selbst verfertigtes Gedicht zu deklamiren, so erhob sich sein niedergedruͤckter Geist zum erstenmale wieder, und es erwachten wieder Hoffnungen und Aussichten auf die Zu¬ kunft in seiner Seele. — Er hatte dem Direktor eine Abschrift von dem Gedichte zum Nachlesen gegeben, die ihm dieser wieder zuruͤckgab, ohne daß Reiser in Versuchung gerieth, ihm zu sagen, daß er das Gedicht selbst verfertigt habe — er war mit dem innern Be¬ wußtseyn davon zufrieden, und es war ihm an¬ genehm, wenn seine Mitschuͤler sich bei ihm er¬ kundigten, wo das Gedicht, das er deklamirt haͤtte, stuͤnde, und er ihnen dann irgend einen Dichter nannte, woraus er es abgeschrieben habe. — Reiser bat sich vom Direktor die Erlaubniß aus, in der kuͤnftigen Woche nocheinmal dekla¬ miren zu duͤrfen, und da er diese erhielt, aͤnderte er das Gedicht an Philipp Reisern Dir Freund will ich mein Leiden klagen etwas um, und gab ihm die Ueberschrift: die Melancholie . — Er ließ diß Gedicht nun anfangen: Der Seele Leiden will ich klagen — Koͤnnt ihr es, Worte, halb nur sagen, O sagt's und lindert meinen Schmerz! Die letzte Strophe: Wem soll ich dieses Daseyn danken? Wer setzt ihm diese engen Schranken? Aus welchem Chaos stiegs empor? In welche graͤuelvolle Naͤchte, Sinkts, wenn des Schicksals ehrne Rechte Mir winket zu des Todes Thor? H 4 deklamirte er mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung aͤußerte, und blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch ei¬ nen Augenblick mit emporgehobnen Arm ste¬ hen, der gleichsam ein Bild seines fortdaurenden unaufgeloͤßten schrecklichen Zweifels blieb. Da er nun von dem Direktor die Abschrift seines Gedichts wieder znruͤckerhielt, gab ihm die¬ ser seinen Beifall mit seiner Deklamation zu er¬ kennen, und sagte zugleich, die beiden Gedichte, welche er deklamiret haͤtte, waͤren sehr gut aus¬ gewaͤhlt . — Diß war denn doch zu viel fuͤr Reisern, als daß er laͤnger der Versuchung haͤtte wiederstehen koͤnnen, den Direktor wissen zu lassen, daß die Gedichte von ihm selber waͤren, und den Beifall, der jetzt nur seine Auswahl traf, fuͤr seine Arbeit einzuerndten. Indes schwieg er jetzt noch stille, und wartete ein paar Tage, bis er ohnedem zu dem Direktor gehen mußte, um ihm einen lateinischen Aufsatz, den er, so wie seine Mitschuͤler, woͤchentlich zur Uebung im Stiel verfertigen mußte, zur Durch¬ sicht zu bringen; und bei dieser Gelegenheit uͤber¬ reichte er denn dem Direktor eine Abschrift von den beiden Gedichten, die er deklamirt hatte, und sagte ihm, daß er selbst der Verfasser da¬ von waͤre. — Des Direktors Minen, der ihn sonst ziem¬ lich gleichguͤltig angesehen hatte, heiterten sich sichtbar gegen ihn auf, da er dieß sagte, und von dem Augenblick an schien dieser Mann sein Freund zu werden — er ließ sich mit ihm in ein Ge¬ spraͤch uͤber die Dichtkunst ein, erkundigte sich nach seiner Lektuͤre, und Reiser ging mit freudenvollen Herzen uͤber die gute Aufnahme seiner Gedichte zu Hause. — Den andern Tag verkuͤndigte er Philipp Rei¬ sern sein Gluͤck, der sich aufrichtig mit ihm daruͤ¬ ber freute, daß man nun einmal aufhoͤren wuͤrde, ihn zu verkennen, und nun vielleicht gluͤcklichere Tage auf ihn warteten. — Nun fuͤgte es sich, daß Reiser in der fol¬ genden Woche am Montag Morgen etwas spaͤt in die erste Lehrstunde kam, welche der Di¬ rektor hielt, und in welcher er die lateinischen Aufsaͤtze ohne Nennung der Nahmen oͤffentlich zu beurtheilen pflegte. — Und da er nun in den H 5 Hoͤrsaal trat, hoͤrte er den Anfang seines Gedichts der Gottesleugner vom Direktor, der auf dem Katheder saß, ablesen, und Zeile vor Zeile kritisiren.— Reiser konnte erst kaum seinen Ohren trauen, da er diß hoͤrte — sobald er hereintrat, waren aller Augen auf ihn gerichtet — denn diese oͤffentilche Kritik war die erste in ihrer Art. — Der Direktor mischte so viel aufmunterndes Lob unter seinen Tadel, und bezeigte uͤber die beiden Gedichte, die Reiser deklamirt hatte, im Ganzen genommen, so sehr seinen Beifall, daß dieser von dem Tage an, die Achtung seiner Mit¬ schuͤler, deren Spott er so lange gewesen war, erhielt, und auf die Weise eine neue Epoche sei¬ nes Lebens anfing. — Sein poetischer Ruhm breitete sich bald in der Stadt aus — er bekam von allen Seiten Auftraͤge Gelegenheitsgedichte zu machen — und seine Mitschuͤler wollten alle von ihm in der Poesie unterrichtet seyn, und das Geheimniß, wie man Verse machen koͤnne, von ihm lernen. — Auch wurden dem Direktor nun so viele Verse ins Haus gebracht, daß dieser es endlich untersagen mußte — auch hat er nachher nie wieder oͤffentlich Verse kritisirt. — Was Reisern am meisten bei der Sache freu¬ te, war der merkliche Fortschritt, den er seit ei¬ nem Jahre in Ansehung der Bildung seines Ge¬ schmacks gethan zu haben glaubte, da ihm vor einem Jahre das Gedicht an die Gottesleugner, welches er jetzt hoͤchst abgeschmackt fand, noch so sehr gefallen hatte, daß er es der Muͤhe werth hielt, es auswendig zu lernen. — Aber in diß Jahr hatte sich auch die Lektuͤre des Shakespear, des Werthers, und der vielen vorzuͤglichen Ge¬ dichte in den neuen Musenalmanachen, nebst sei¬ nem Studium der Wolfischen Philosophie, zusam¬ mengedraͤngt, wozu noch die Einsamkeit, und der stille ungestoͤrte Naturgenuß kam, wodurch sein Geist zuweilen in einem Tage mehr, als vorher in ganzen Jahren, an Kultur gewann.— Man fing nun auch an, wieder auf ihn aufmerk¬ sam zu werden, und diejenigen, welche bisher geglaubt hatten, daß nichts aus ihm werden wuͤrde, fingen nun wieder an zu glauben, daß doch noch wohl etwas aus ihm werden koͤnnte. — Bei dieser bessern Wendung seines Schicksals behielt Reiser demohngeachtet noch immer seine schwermuͤthige Laune bei, woran er nun einmal ein besonderes Behagen fand; und selbst an dem Tage, da ihm die unerwartete Ehre der oͤffent¬ lichen Kritik seiner Gedichte wiederfahren war, ging er den Nachmittag einsam und schwermuͤ¬ thig, bei dem truͤben und regnigten Wetter in der Stadt umher — und wollte am Abend zu Philipp Reisern gehen, um diesem sein Gluͤck zu sagen. — Da er nun hinkam, fand er ihn nicht zu Hause, und alles war ihm nun so todt, so oͤde — er konnte sich seines Gluͤcks, die Achtung der Menschen, die ihn zunaͤchst umgaben, in ge¬ wißer Maaße gewonnen zu haben, nicht recht freuen, weil er es seinem Freunde nun nicht hatte erzaͤhlen koͤnnen. — Und da er nun traurig vor sich hin, wieder nach Hause kehrte, verfolgte er die Idee des Nichtzuhausefindens, des Ruͤckkehrens mit kum¬ merbeladenem Herzen, wenn er seinem Freunde ein Leiden haͤtte klagen wollen, bis zu dem fuͤrchterlichen Gedanken, daß er ihn todt gefun¬ den habe, und nun verzweiflungsvoll selbst sein Gluͤck verwuͤnschte, weil er das groͤßtt Gluͤck des Lebens, einen treuen Freund, verlohren hatte. — Daraus bildeten sich denn wieder folgende Verse, die er aufschrieb, als er zu Hause kam — Ich suchte meinen Freund, Wollt' ihm sagen meine Leiden Und fand ihn nicht — — Da ging ich bekuͤmmert Mit schwerem Herzen In meine Huͤtte zuruͤck — — Ich suchte meinen Freund, Wollt' ihm sagen meine Freuden Und fand ihn nicht — Da ward ich so traurig, Als freudig ich vor war, Und ging und schwieg — Ich suchte meinen Freund, Wollt' ihm sagen mein Gluͤck Und fand ihn todt — — Da verflucht' ich mein Gluͤck Und that einen Schwur So lange mein Auge noch Thraͤnen weint, Zu trauren um diesen einen Freund, Denn diesen einen Freund hatt' ich nur. — Um diese Zeit machte er nun auch durch den Sohn des Kantors W. . . eine sehr interessante Bekanntschaft mit dem philosophischen Essig¬ brauer, womit ihn dieser schon vor einem halben Jahre hatte bekannt machen wollen, und immer nicht dazu gekommen war. — W. . . hohlte ihn also eines Abends ab, und Reiser war voller Erwartung — unterwegs un¬ terrichtete ihn W. . ., wie er sich bei dem Essig¬ brauer nehmen, daß er nicht guten Abend, und wenn er wegginge nicht gute Nacht sagen solle. — Dann kamen sie auf der langen Osterstraße die voller altfraͤnkischen Haͤuser ist, durch den großen Thorweg uͤber einen langen Hof in das Brauhaus, wo der Essigbrauer hinten hinaus sein abgesondertes Revier hatte, in welchem die Faͤsser in einem großen Verschlage, wo bestaͤndig eingeheitzt ist, Reihenweise nebeneinanderstanden‚ so daß sie eine Art von langen Gaͤngen bildeten, in welchen man sich verlieren konnte. — Wenn man hier sprach, so schallte es dumpf wieder. — Da nun hier niemand zu sehen war, so fing W. . . an zu rufen ubi? — und eine Stimme in der Ferne antwortete hic! — sie gingen darauf in das eigentliche Brauhaus, dicht neben dem Revier, wo die Faͤsser standen, und der Essig¬ brauer, in seinem weissen Kamisol, und blauen Schuͤrze, mit aufgestreiften Armen, stand am Fenster und schrieb — er waͤre gleich fertig, sagte er, darauf gab er an W. . . ein Papier, worauf einige lateinische Verse standen, die er so eben fuͤr ihn verfertigt hatte. — Der Essigbrauer schien Reisern ein Mann von ohngefaͤhr dreissig Jahren zu seyn — in jeder Bewegung seiner Muskeln, in dem zuckenden Blick seiner Augen, schien sich in sich selbst zu¬ ruͤckgedraͤngte Kraft zu aͤußern. — Gleich der erste Anblick des Essigbrauers floͤßte Reisern Ehr¬ furcht ein — dieser aber schien sich erst gar nicht um ihn zu bekuͤmmern, sondern sprach mit W. . . uͤber einige neue Musikalien und andere Sachen, wobei er kein Wort anders als platdeutsch sprach, und sich doch dabei so richtig und edel ausdruͤckte, daß selbst das groͤbste platdeutsch in seinem Munde einen gewissen Reitz gewann, der verursachte, daß man mit Vergnuͤgen und Be¬ wunderung, wenn er sprach, an seinen Lippen hing, wie Reiser nachher oft erfahren hat, wenn dieser Essigbrauer zwischen seinen Faͤssern Weis¬ heit lehrte. — Weil es schon ein ziemlich kalter Herbstabend war, so fuͤhrte der Essigbrauer seine beiden Gaͤ¬ ste in seinen geheizten Prunksaal, wo die langen Reihen Faͤsser standen, und wo er ihnen eine Art von suͤßem sehr wohlschmeckenden Bier vorsetzte, wobei denn das Gespraͤch allgemein wurde; und da die Rede auf einem gemeinschaftlichen Be¬ kannten, einen alten Mann fiel, der sehr viel Drollichtes und Sonderbares an sich hatte, fing der Essigbrauer an, den ganzen Charakter dieses Mannes mit Sternischer Laune bis auf das kleinste Detail zu schildern. — Hernach laß er etwas aus dem Tom Jones mit solchem Ausdruck und einer so wahren und richtigen Deklamation vor, daß Reiser nicht leicht irgendwo eine bessere Unterhaltung gefunden hatte, und dem jungen W... W. . . beim Weggehen sein Vergnuͤgen uͤber diese Bekanntschaft nicht genug beschreiben konnte. — Er besuchte von nun an, entweder in W...s Gesellschaft oder allein den Essigbrauer fast alle Abend, und fand sich hier, wenn sie bei der han¬ genden Lampe zwischen den Faͤssern, am warmen Ofen, auf ihren hoͤlzernen Schemeln saßen, und im Tom Jones lasen, oder Charakterschilderun¬ gen machten, so gluͤcklich und vergnuͤgt, als er noch nie, ausgenommen mit Philipp Reisern, gewesen war — allein in dem Umgange mit dem Essigbrauer fuͤhlte er sich allemal erhoben und gestaͤrkt, so oft er bei sich erwog, daß ein Mann von solchen Kenntnissen und Faͤhigkeiten sich mit solcher Geduld und Standhaftigkeit der Seele, seinem Schicksale unterwarf, welches ihn von allem Umgange mit der feinern Welt, und von aller Nahrung des Geistes, die ihm daraus haͤtte zustroͤmen koͤnnen, gaͤnzlich ausschloß. — Und eben der Gedanke, daß ein solcher Mann so ver¬ steckt und in der Dunkelheit lebte, machte Rei¬ sern den Werth desselben noch auffallender — so wie ein Licht in der Dunkelheit staͤrker zu 3r Theil . J leuchten scheint, als wenn sein Glanz sich unter der Menge andrer Lichter verliert. — Als Essigbrauer war K. . ., so hieß er, wirk¬ lich ein großer Mann, das er vielleicht auch als Gelehrter, nur nicht in dem Maaß, gewesen waͤre — weil ohne diesen Kampf mit seinem Schicksale, die erhabene duldende Kraft seiner Seele nicht so haͤtte geuͤbt werden koͤnnen. — Es mochte wohl keine menschenfreundliche Tu¬ gend geben, welche ihm in seiner Lage auszuuͤben moͤglich war, und die er nicht ausgeuͤbt haͤtte. — Von seinem sauererworbenen Verdienst er¬ sparte er immer so viel, daß er einige junge Leute, zu deren Bildung beizutragen die Freude seines Lebens machte, zuweilen des Abends an seinem Tische bewirthen, und auch wohl manchmal ei¬ nen Spatziergang mit ihnen machen konnte, wobei er sich allemal das Vergnuͤgen machte, zu bezahlen, was sie verzehrten. — Auch unterstuͤtzte er noch uͤberdem eine arme Familie taͤglich mit einem Groschen, den er sich von seinem geringen Verdienst abzog — denn er war eigentlich nur Knecht in dieser Brauerei, worin sein Vetter, ein alter abgelebter Greis, fuͤr den er die Arbeit mit verrichtete, Meister war. — W. . . und Philipp Reiser und der Essig¬ brauer waren jetzt Reisers vorzuͤglichster Um¬ gang, wozu noch ein junger Mensch kam, der durch Reisers Beispiel aufgemuntert, ohngeach¬ tet der Armuth seiner Eltern, auch den Ent¬ schluß gefaßt hatte, zu studieren. — Auch diesen suchte der Essigbrauer durch W. . . an sich zu zie¬ hen, um zu der Bildung seines Geistes beizutra¬ gen. — Seine Unterredungen waren groͤßten¬ theils wahre sokratische Gespraͤche, die er oft mit dem feinsten Spott uͤber die kindische Thor¬ heit oder Eitelkeit seiner jungen Gesellschafter wuͤrzte. — Da nun der Winter herankam‚ wiederfuhr Reisern eine Aufmunterung, die noch mehr als alles Vorhergehende wieder seinen Muth beleb¬ te. — Er erhielt nehmlich vom Direktor den eh¬ renvollen Auftrag, auf den Geburtstag der Koͤ¬ nigin von England, welcher im Januar eintraf, eine deutsche Rede zu verfertigeu , die er bei die¬ ser Feierlichkeit halten sollte. I 2 Diß war nun das hoͤchste und glaͤnzendste Ziel, wornach ein Zoͤgling dieser Schule nur stre¬ ben konnte, und wozu nur sehr wenige gelang¬ ten: denn gemeiniglich wurden sonst die Reden an des Koͤniges und der Koͤnigin Geburtstage nur von jungen Edelleuten gehalten. — Bei die¬ ser Feierlichkeit pflegten der Prinz und die Mi¬ nister, nebst allen uͤbrigen Honoratioren der Stadt zugegen zu sein — welche einem solchen jungen Menschen, der nun als die Hoffnung des Staats betrachtet wurde, nach geendigter Rede ordent¬ lich Gluͤck wuͤnschten — ein Anblick der Reisern oft niederschlug, wenn er dachte, daß er zu so etwas Glaͤnzendem nie in seinem Leben gelan¬ gen wuͤrde. — Und nun fuͤgte es sich so ploͤtzlich, da er noch im Anfange desselben Jahres allgemein verachtet und hindangesetzt war, daß ihm ohne sein Zu¬ thun ein so ermunternder Auftrag geschahe, zu dessen Ausfuͤhrung er nun auch gleich mit dem groͤßten Eifer schritte. Er nahm sich vor, seine deutsche Rede in Hexametern zu verfertigen: nun hatte ihm der Direktor die Litteraturbriefe geliehen, und sie ihm zur sorgfaͤltigsten Lektuͤre empfohlen — da stieß er denn auch unter andern auf die Rezen¬ sion, wo Zachariaͤ's Uebersetzung von Miltons verlohrnem Paradiese, wegen der schlechten Hexameter, getadelt, und zugleich uͤber den Bau des Hexameters, seine Einschnitte u. s. w. viel vortrefliches gesagt wird. — Diß faßte Reiser auf, und suchte nun seinen Hexameter mit der groͤßten Sorgfalt auszufeilen. — Manchen Tag kam er kaum mit drei bis vier Versen zu Stan¬ de — jeden Abend ging er dann zu Philipp Rei¬ sern, und ließ seine Verse noch einmal dessen Kritik paßiren, wobei sie denn zusammen alle Baͤnde der Litteraturbriefe miteinander durch¬ lasen, und auch in diesem Winter ihre Shake¬ spearnaͤchte wieder erneuerten. — Im November war Reiser ohngefaͤhr mit der Haͤlfte seiner Rede fertig und ging damit zum Direktor, um sie ihm zur Kritik zu zeigen. — Dieser bezeigte ihm seinen großen Beifall uͤber seine Arbeit, kuͤndigte ihm aber zugleich an, daß er die Rede nicht oͤffentlich wuͤrde halten koͤnnen, weil diß verschiedene Kosten erforderte, die Rei¬ ser wohl nicht wuͤrde aufbringen koͤnnen. — — I 3 Kein Donnerschlag haͤtte Reisern mehr zu Bo¬ den schlagen koͤnnen, als diese Nachricht — alle seine glaͤnzenden Aussichten, womit er sich waͤh¬ rend der Verfertigung seiner Rede geschmeichelt hatte, waren auf einmal wieder verschwunden, und er fiel wieder in sein voriges Nichts zuruͤck. — Der Direktor suchte ihn hieruͤber zu troͤsten — aber er ging mit schwerem Herzen und melan¬ cholischen Gedanken, daß er zur ewigen Dunkel¬ heit bestimmt sey, von dem Direktor weg, und nun fielen ihm die Verse ein, die er fuͤr Philipp Reisern gemacht hatte, und die sich jetzt auf sei¬ nen Zustand paßten: Oft will ich mich erheben Und sinke schwer zuruͤck Und fuͤhle dann mit Beben Mein trauriges Geschick. — Und als an einem andern Tage im Chore unter andern in einer Arie die Worte gesungen wurden: Du strebst, um gluͤcklicher zu werden, Und siehst, daß du vergebens strebst — so deutete er dieß ebenfalls auf sich, und kam sich auf einmal wieder so verlassen, so veraͤcht¬ lich, so unbedeuteud vor, daß er selbst Plilipp Reisern nicht einmal von seinem neuen Kummer etwas sagen mochte, und lieber nicht zu ihm ging, um nicht von seinem Schicksal mit ihm reden zu duͤrfen, das nun anfing ihm wieder verhaßt zu werden, und der Muͤhe des Nachdenkens nicht mehr werth zu scheinen. — Da er sich indes hieruͤber endlich satt gequaͤlt hatte, so dachte er auf ein Mittel, wie er doch noch seinen Zweck erreichen koͤnnte — und diß bot sich ihm, da er nur erst daruͤber nachdachte, sehr bald dar — er durfte nur zu dem Pastor M. . . gehen, welcher doch wieder Hoffnung von ihm zu schoͤpfen angefangen hatte, und durfte diesen nur bitten, ihm bei dem Prinz so viel, als zur Anschaffung eines guten Kleides und uͤbri¬ gens zur Bestreitung der Kosten bei Haltung der Rede erfordert wurde, auszuwirken, worin auch der Pastor M. . . sogleich willigte, und Rei¬ sern schon im Voraus einen guten Erfolg ver¬ sprach. — Reisers Besorgnisse waren also nun auf einmal wieder gehoben, und er konnte nun die angefangene Rede mit frohem Herzen vollen¬ den, um sie am Geburtstage der Koͤnigin zu J 4 zu halten. — Da es nun aber wieder anfing zu frieren, so konnte er oben auf seiner Kammer nicht mehr allein seyn, sondern mußte wieder des Abends unten bei den Wirthsleuten in der Stube sitzen, wo die einquartirten Soldaten nebst dem Wirth ihn mit zu ihren Spielen noͤthigten, mit denen sie sich die langen Winterabende vertrie¬ ben. — Hier verfertigte er nun groͤßtentheils des Nachmittags und des Abends in der Daͤmme¬ rung, indem er sich mit dem Kopf an den Ofen legte, seine Rede. — Und nun hatte er auch ein schoͤnes Mittel gegen seine schwermuͤthige Laune gefunden; so oft er nehmlich merkte, daß sie anfing, seiner Herr zu werden, ging er im groͤßten Regen und Schnee des Abends, wenn es schon dunkel war, aus, und einmal um den Wall spatzieren, und es fehlte ihm niemals, daß sich nicht, so wie er mit schnellen Schritten vor¬ waͤrts ging, neue Aussichten und Hoffnungen unvermerkt in seiner Seele entwickelt haͤtten, von welchen freilich die glanzendste ihm am naͤchsten lag. — Bei diesen Spatziergaͤngen um den Wall gelangen ihm auch die besten Stellen in seiner Rede, und Schwierigkeiten in Ansehung des Versbaues, die ihm oft, wenn er sich mit dem Kopf am Ofen gelehnt hatte, unuͤberwindlich schienen, hoben sich hier wie von selbst. — Der Wall um H. . . war von seiner Kindheit an der vorzuͤglichste Schauplatz seiner angenehm¬ sten Phantasie und romanhaftesten Ideen gewe¬ sen — denn er sahe hier die dichtineinander ge¬ baute Stadt und die laͤndliche offene Natur, mit Gaͤrten, Aeckern und Wiesen, so nahe aneinan¬ dergraͤnzend, und doch so außerordentlich ver¬ schieden, daß dieser Kontrast einer lebhaften Wir¬ kung auf seine Phantasie nie verfehlen konnte — Dann draͤngten sich auch in die Umgehung des Ortes, der seine meisten Schicksale gleichsam in seinen Umfang einschloß, immer tausend dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit in seiner Seele empor, welche mir seiner gegenwaͤrtigen Lage zusammengehalten, gleichsam mehr Interesse in sein Leben brachten, — und vorzuͤglich des Abends machte der Anblick von den auf den Zimmern hin und her zerstreuten Lichtern in den dicht an dem Wall grenzenden Haͤusern alle¬ mal die schon vorherbeschriebene Wirkung auf ihm. — I 5 Seitdem er nun die Verse deklamirt hatte, hatte, wurde er fast von allen seinen Mitschuͤ¬ lern geachtet . — Das war ihm ganz etwas Ungewohntes — er hatte in seinem Leben so et¬ was noch nicht erfahren — ja er glaubte kaum, daß es moͤglich sey, daß man ihn noch achten koͤnne — nach allen den bisherigen Erfahrungen bildete er sich ein, es muͤsse wohl etwas in seiner Person oder seinen Minen liegen, wodurch er vielleicht so lange er lebte laͤcherlich und ein Ge¬ genstand des Spottes seyn wuͤrde. — Diese Em¬ pfindung der Achtung erhoͤhte sein Selbstbewußt¬ seyn, und schuf ihn zu einem andern Wesen um — sein Blick, seine Mine verwandelte sich — sein Auge wurde kuͤhner — und er konnte, wenn jemand seiner spotten wollte, ihm jetzt so lange gerade ins Auge sehen, bis er ihn aus der Fas¬ sung brachte. — Seine ganze aͤußere Lage aͤnderte sich auch nun auf einmal. — Durch die Verwendung des Rektors und des Pastor M..., die nun beide wieder die beste Hoffnung von ihm geschoͤpft hatten, bekam er bald so viele Unterrichtsstun¬ den, daß ihm eine fuͤr seine damaligen Beduͤrf¬ nisse ziemlich betraͤchtliche monathliche Einnah¬ me daraus erwuchs, welche ihm denn freilich auch eine ganz ungewohnte Sache war, womit er nicht gehoͤrig umzugehen wußte. — Keiner seiner reichen und angesehenen Mit¬ schuͤler schaͤmte sich nun mehr mit ihm umzuge¬ hen, und ihn in seiner schlechten Wohnung zu besuchen. — Er sahe sich auch noch in diesem Jahre gedruckt, indem er verschiedene kleine Neujahrwuͤnsche in Versen fuͤr einen Buch¬ drucker verfertigte, welcher dergleichen gedruckte Wuͤnsche verkaufte — ob nun gleich sein Nahme nicht hiebei bemerkt war, und niemand wußte, daß die Verse von ihm waren, so machte ihm doch der Anblick dieser ersten gedruckten Zeilen von seiner Hand, ein unbeschreibliches Vergnuͤ¬ gen, so oft er sie ansah. — Und als nun gar einige Tage vorher, ehe die Rede gehalten wur¬ de, auf einem lateinischen Anschlagbogen sein Nahme, nebst den Nahmen noch zweier seiner Mitschuͤler von den angesehensten Eltern, oͤffent¬ llch gedruckt stand; und er nun auf diesem An¬ schlagbogen wirklich Reiserus hieß, wie ihn der vorige Direktor einst genannt hatte; und die Zwischenzeit zwischen jener muͤndlichen und dieser gedruckten Benennung Reiserus , mit alle dem, was er darin verschuldet oder unverschuldet ge¬ litten hatte, sich ihm lebhaft darstellte — so preßte ihm diß Thraͤnen der Freude und der Wehmuth aus — denn von dieser ploͤtzlichen Wendung seines Schicksals hatte er sich vor ei¬ nem Jahre, vor einem halben Jahre noch nichts traͤumen lassen. — Dieser lateinische Bogen mit seinem Namen war nun am schwarzen Brette vor der Schule und an den Kirchthuͤren oͤffent¬ lich angeschlagen, so daß Leute, die vorbeigingen, still standen, um ihn zu lesen. — Nun war es uͤblich, daß die jungen Leute, welche bei dergleichen Vorfaͤllen Reden hielten, die Honoratiores der Stadt selbst einige Tage vorher dazu einladen mußten. — Welch eine Veraͤnderung, da Reiser, den sonst wegen seiner schlechten Kleider selbst seine Mitschuͤler nicht einmal auf der Straße anzureden oder mit ihm zu gehen wuͤrdigten — nun mit dem Hut unterm Arm und den Degen an der Seite, ordentlich seine Cour bei dem Prinz machte, und ihn zu der Feier des Geburtsfestes seiner Schwester, der Koͤnigin von England, einlud — und wie er nun bei diesem Einladungsgeschaͤft, sich den vor¬ nehmsten Einwohnern der Stadt zeigen konnte, und von allen mit den aufmunterndsten Hoͤflich¬ keitsbezeigungen aufgenommen ward. — Er hatte also, ehe er sichs versah, und da er schon gaͤnzlich Verzicht darauf gethan hatte, das ehrenvollste Ziel erreicht, nach welchem ein Pri¬ maner in H. . . nur streben konnte, und welches nur von wenigen erreicht wurde. — Diese den jungen Leuten selbst uͤbertragene Einladungen haben wirklich etwas sehr Aufmun¬ terndes und sind in mancher Absicht zur Nach¬ ahmung zu empfehlen. . — Reiser ward durch diese Einladungen, waͤhrend einer Zeit von weni¬ gen Tagen, in eine Welt gefuͤhrt, die ihm bisher ganz unbekannt gewesen war — er unterhielt sich mit Ministern, Raͤthen, Predigern, Gelehrten, kurz, mit Personen aus allerlei Staͤnden, die er bisher nur in der Entfernung angestaunt hatte, Mund gegen Mund; und alle diese Personen ließen sich mit Hoͤffichkeitsbezeugungen zu ihm herab, und sagten ihm etwas Angenehmes und Aufmunterndes, so daß Reisers Selbstgefuͤhl in diesen wenigen Tagen mehr, als vorher in Jah¬ ren gewann. — Er lud auch den Dichter Hoͤlty ein, den er aber bei dieser Gelegenheit nur wenig kennen lernte; denn Reisers Schuͤchternheit konnte nur durch eine gewisse Zutraulichkeit, die man ihm bewieß, gehoben werden, und diese war Hoͤlty's Sache nicht, der bei der ersten Unterre¬ dung mit einem Unbekannten allemal etwas ver¬ legen war. — Reiser nahm diese Verlegenheit fuͤr Verachtung, die ihn destomehr kraͤnkte, je groͤßer seine Achtung fuͤr Hoͤlty war, und so wagte er es nicht, ihn wieder zu besuchen. — Wenn er nun den Tag uͤber seine glaͤnzende Rolle ausgespielt hatte, so ging er des Abends zu seinem Essigbrauer, wo denn auch Philipp Reiser, und W. . ., und der andre junge Mensch, den sein Beispiel zum Studiren aufgemuntert hatte, waren, die ihn mit offenen Armen em¬ pfingen — und denen er von seinen Besuchen, und den Personen, die er kennen gelernt hatte, erzaͤhlte — und auf die Weise die Freude uͤber seinen Zustand mit ihnen theilte. — Die Frau F. . ., und sein Vetter, der Peru¬ quenmacher, und alle die Leute, welche ihm Frei¬ tische gegeben hatten, bewetteiferten sich nun, ihm ihre Freude und Theilnehmung zu bezeigen. — Seine Eltern, die lange nichts von ihm ge¬ hoͤrt und ihre Hoffnung auf ihn schon laͤngst auf¬ gegeben hatten, waren ganz erfreut, da sie diese ploͤtzliche guͤnstige Wendung seines Schicksals ver¬ nahmen, und den lateinischen Anschlagbogen er¬ hielten, worauf der Nahme ihres Sohnes mit großen Buchstaben gedruckt stand. — Bei allen diesem aͤußern Glanze blieb nun Reiser immer noch in seiner alten Wohnung, wo sein Wirth der Fleischer, dessen Frau und Magd, und ein paar Soldaten, die dort im Quartier lagen, seine Stubengesellschaft ausmachten. — Wenn ihn nun, ohngeachtet dieser schlechten Wohnung, einer von seinen reichen und angese¬ henen Mitschuͤlern besuchte, so machte ihm dieß ein geheimes Vergnuͤgen — daß er auch, ohne ein einladendes Logis oder sonst aͤußere Vorzuͤge zu haben, bloß um sein selbst willen gesucht wuͤr¬ de. — Dieß machte, daß er zuweilen auf seine schlechte Wohnung ordentlich stolz war. — Endlich kam nun der Tag seines Triumphes heran, wo er auf die auffallendste Art, die nur In seiner Lage moͤglich war, oͤffentlich Ehre und Beifall einerndten sollte — aber eben dieß er¬ weckte bei ihm eine ganz besondre schwermuͤthige Empfindung — auf diesen Punkt war nun bis¬ her alle sein Wuͤnschen und Trachten gespannt gewesen — bis auf diesen Punkt heftete sich die Aufmerksamkeit eines großen Theils von Men¬ schen auf ihn — und wenn nun dieß vorbei waͤre, so sollte das alles nachlassen, und die ganz all¬ taͤglichen Scenen des Lebens sollten dann wieder kommen . — Dieser Gedanke erweckte in Reisern sehr oft den sonderbaren im Ernst ge¬ meinten Wunsch, daß er am Ende seiner Rede hinfallen und sterben moͤchte. — Nun fuͤgte es sich, daß gerade an dem Tage, da die Rede ge¬ halten wurde, eine außerordentliche Kaͤlte ein¬ fiel, wodurch mancher zuruͤckgehalten wurde, so daß die Anzahl der Zuhoͤrer etwas kleiner wie gewoͤhnlich, aber die Versammlung doch immer noch glaͤnzend genug war. — Indes kam Reisern an diesem Tage alles so todt, so oͤde vor; die Phantasie mußte zuruͤcktreten — das Wirk¬ liche war nun da — und eben daß nun dieß, wovon er so lange getraͤumt hatte, schon wirk¬ lich lich und nichts weiter als dieß war, machte ihn nachdenkend und traurig — denn nach die¬ sem Maßstabe maß er nun die ganze Zukunft des Lebens ab — alles war ihm hier, wie im Trau¬ me, wie in dunkler Entfernung — er konnte es sich nicht recht vors Auge bringen — mit melancholi¬ schen Gedanken bestieg er den Katheder — und waͤhrend daß die Musik ertoͤnte, ehe er noch an¬ fing zu reden, dachte er an ganz etwas anders, als an seinen gegenwaͤrtigen Triumph — er dachte und fuͤhlte die Nichtigkeit des Lebens — die angenehme Vorstellung seines gegenwaͤrtigen wirklichen Zustandes schimmerte nur wie durch einen truͤben Flor durch. — Um die Fortschritte, welche er damals in An¬ sehung des Ausdrucks seiner Gedanken gemacht hatte, zu bezeichnen, ist es vielleicht nicht un¬ zweckmaͤßig, aus der Rede, die er hielt, einige Stellen herauszuheben. Sie hub an: Welch ein Weihrauch steigt so sanft von Wonnegefilden Durch den Aether hinauf, bis hin zum Thro¬ ne der Gottheit? — — 3r Theil . K O sie sind's — die Gebete gluͤcklicher Voͤlker — sie wallen Fuͤr Charlotten so sanft hinauf zum Ewgen — und flammen — u. s. w. — — Georg! — rauscht Harfen! toͤnet Jubelgesang von ganzen be¬ gluͤckten Nationen laut! — Und verstumme mein Lied! Denn vergebens Wagst du's, sein Lob, Georgens Lob zu erschwin¬ gen — so wagts oft Kuͤhn des Adlers Flug bis zur Sonne sich zu erheben, Schwingt sich hoch uͤber Felsen, und Berg' und Wolken empor, duͤnkt Nun sich ihr naͤher, und merkt nicht, daß sein Schneckenflug immer Noch auf der Erde verweilt, die ihm schon ent¬ schwand — welche Toͤne Klangen stark und harmonisch genug, Geor¬ gens erhabner Tugenden goͤttliche Harmonie nur schwach nachzubilden? — u. s. w. — — Und Georg hebt sich nun auf den Gipfel Seiner Groͤß' empor — denkt ernst das Wohl seiner Voͤlker, Denkt es — und schaft es — Und unerschuͤt¬ tert vom Donner Steht er nun da — wie die Ceder Gottes — mit ihrem wohlthaͤtgen Schatten schuͤtzt sie Gevoͤgel und Wild — und der Sturmwind verschwendet An ihren Blaͤttern sein Toben, und kraͤuselt ihr laubigtes Haar. — So Sicher in den Stuͤrmen, die seine Scheitel umdonnern Steht Georg — Wenn Voͤlker toben — Doch du getreues Volk deinem Koͤnig, verhuͤlle nur dein Antlitz, und weine! Siehe nicht wie dein Bruder im fernen Lande sich auflehnt Gegen seinen Koͤnig. — — u. s. w. K 2 Jedes fuͤhlende Herz wallt heute Charlotten entgegen Und verzeihts dem schwaͤchern Juͤngling — der es auch wagte Und Charlotten sang — doch still mein Lied, denn von fern rauscht Schon des Volks Frohlocken, das seiner Koͤnigin heute Seinen Weihrauch streut — und laut: es lebe Charlotte! Ruft, daß Wald und Gebuͤrg' es wieder¬ hallen: sie lebe! Reiser hatte sich bei Verfertigung dieser Rede ein Ideal in seinem Kopfe gebildet, das ihn wirklich begeisterte — wozu denn das kam, daß er von diesen Gegenstaͤnden oͤffentlich reden sollte. — Der Gedanke fuͤllte gleichsam die Luͤcken aus, wo seine Begeisterung aufhoͤrte, oder ermattete. — Da er aber nun freilich von seinem Gegen¬ stande wenig oder gar nichts wußte, so bemuͤhte er sich, eine Anzahl Lobreden, die auf den Koͤnig und die Koͤnigin schon gehalten waren, in die Haͤnde zu bekommen; diese laß er durch, und abstrahirte sich daraus sein Ideal, ohne sonst aus einer einzigen, sich auch nur eines Ausdrucks zu bedienen — dieß vermied er so sorgfaͤltig, als er nur immer konnte; denn vor dem Plagiat hatte er die entsetzlichste Scheu — so daß er sich sogar des Ausdrucks am Schluß seiner Rede, daß Wald und Gebuͤrg' es wiederhallen , schaͤmte, weil einmal in Werthers Leiden der Ausdruck steht: daß Wald und Gebuͤrg' er¬ klang — ihm entschluͤpften zwar oft Remini¬ szenzien, aber er schaͤmte sich ihrer, sobald er sie bemerkte. — An dem Tage nun, da er die Rede gehalten hatte, war er, wie ich schon bemerkt, niederge¬ schlagener, wie jemals — denn alles war ihm doch so todt, so leer — und es war nun vorbei — womit seine Einbildungskraft sich so lange be¬ schaͤftigt hatte. — Den Nachmittag wurde er nebst den andern beiden, die Reden gehalten hatten, bei dem ersten Buͤrgermeister, der zugleich Scholarch war, zum Kaffee gebeten, dieß war ihm eine ganz unge¬ wohnte Ehre — er wußte sich nicht recht dabei K 3 zu nehmen — und wurde nicht eher wieder hei¬ ter, als bis er sein schoͤnes Kleid ausgezogen hatte, und des Abends wieder zu seinem Essig¬ brauer kam, wo W... und S... und Philipp Reiser auch schon waren, die sich seines Gluͤcks nun wirklich freuten, und deren Theilnehmung ihm mehr werth war, als alle das Glaͤnzende dieses Tages. — Reiser erhielt nun noch mehr Unterrichts¬ stunden, wodurch sich seine Einnahme so ver¬ besserte, daß er sich ein beßres Logie miethen, zuweilen einige seiner Mitschuͤler zum Kaffee bit¬ ten, und fuͤr einen Primaner auf einen ganz an¬ sehnlichen Fuß leben konnte — nun aber daͤuchte ihm das Geld, was er einnahm, gegen seine son¬ stigen Einkuͤnfte und Beduͤrfnisse gehalten so viel, daß ihm die Kostbarkeit desselben, und die Nothwendigkeit des Zusammenhaltens auch nicht im mindesten einleuchtete — er wurde auf die Weise durch seine staͤrkere Einnahme aͤrmer, als er vorher war; und eben das, was eine Wirkung seines guͤnstigen Gluͤcks war, wurde in der Folge wieder die Quelle seines Ungluͤcks. — Da er nun aber die Achtung aller derer, die ihn kannten, und derer, von welchen sein Gluͤck abhing, so ploͤtzlich und so unerwartet wieder gewonnen hatte, so machte dieß natuͤr¬ licher Weise einen Eindruck auf sein Gemuͤth, der ihn zu einem edlen Bestreben anspornte, diese Achtung immer mehr zu verdienen — er fing an, die Stunden des oͤffentlichen Unterrichts sorgfaͤltiger wie jemals zu nutzen, und vorzuͤglich durch Aufschreiben, sich, so viel er nur konnte, davon zu eigen zu machen. — Die Uebungen im Deklamiren waͤhrten fort — und Reiser verfertigte zu diesem Endzweck noch ein Gedicht uͤber die Maͤngel der Ver¬ nunft — ein Thema, das der Direktor zur Ausarbeitung aufgegeben hatte. — Reiser brachte hier alle seine Zweifel hinein, die er schon so lange mit sich herumgetragen hatte. — Die Begriffe Alles und Seyn , als die hoͤch¬ sten Begriffe des menschlichen Verstandes, gnuͤgten ihm nicht — sie schienen ihm eine enge und aͤngst¬ liche Einschraͤnkung zu seyn — daß nun damit alles menschliche Denken aufhoͤren sollte — ihm fielen die Worte des sterbenden alten Tischers K 4 ein — alles, alles, alles! — daß er gleichsam da, wo sich ein neues Daseyn von dem alten scheidet, diesen hoͤchsten, Grenzbegriff so oft wiederhohlte — die Scheidewand sollte gleichsam durchgebrochen werden — Alles und Daseyn mußten wieder untergeordnete Begriffe von einem noch hoͤhern, vielumfassendern Begriffe werden — alles was ist — muß noch etwas neben sich leiden, etwas — das zugleich mit allem was ist, unter etwas Hoͤherem , etwas Erhabenerem , begriffen wird — warum soll unser Denken die letzte Grenze seyn? — wenn wir nichts hoͤheres sagen koͤnnen, als alles was da ist , soll denn eine hoͤhere und die hoͤchste Denkkraft auch nichts hoͤheres sagen koͤnnen? — Der sterbende Tischer wollte vielleicht mehr sagen, als er sein alles zweimal wiederhohlte, aber seine Zunge oder seine Gedanken versagten ihm — und er starb. — Dieß waren die sonderbaren Ideen, die Rei¬ ser in sein Gedicht uͤber die Maͤngel der Vernunft brachte, das unter andern die Worte enthielt: Das All, das die Vernunft im kuͤhnsten Flug' erschwingt, Wie weit ists noch von dem, wonach der Se¬ raph ringt? — Zuletzt endigte sich denn das Gedicht auf eine sehr orthodoxe Weise, daß man also doch zu dem Licht der Offenbarung am Ende seine Zuflucht nehmen muͤsse: Ein Licht, das vor uns her durch dunkle Schatten geht, Und unsern Pfad erhellt — weh dem, der es verschmaͤht! — Den Schluß billigte der Direktor sehr; das Ganze des Gedichts aber hielt er, wie auch sehr natuͤrlich war, fuͤr unverstaͤndlich. — Ein andermal arbeitete Reiser wieder ein Ge¬ dicht uͤber die Zufriedenheit — gleichsam zu seiner eignen Belehrung, oder zur eignen Richtschnur seines Lebens, aus — nachdem er nun aber alle Beruhigungsgruͤnde bei den Widerwaͤrtigkeiten des Lebens durchgegangen war, und sich gleichsam in eine sanfte Stille eingewiegt hatte, so erwachte doch am Ende wieder seine schwarze Melancho¬ lie — und er beschloß die Reihe der sanften Em¬ pfindungen, welche in diesem Gedicht ausgedruͤckt K 5 waren, doch vm Ende mit folgenden Ausdruͤcken der Verzweiflung: Doch machen ungemeßne Leiden Dir hier dein Leben selbst zur Quaal — Und findest du dann keinen Retter Und keinen Endger deiner Noth — Sieh auf! — er koͤmmt im Donnerwetter — O gruͤße, gruͤße deinen Tod! Indem er einem solchen Gedanken nachhing, empfand er oft eine Art von qualenvoller Wonne, wenn es dergleichen geben kann. — Dieß Gedicht war gleichsam ein Gemaͤhlde aller seiner Empfindungen, die, wenn sie auch sanft und ruhig anhuben, sich doch gemeiniglich auf die Weise zu endigen pflegten. — Zu diesem Gange der Empfindungen war nun einmal, durch alle die unzaͤhligen Kraͤnkungen und De¬ muͤthigungen, die er von Jugend auf erlitten hatte, sein Gemuͤth gestimmt — bei der heiter¬ sten lachendsten Aussicht zog sich das schwarze Melancholische immer wieder wie eine Wolke vor seine Seele. — Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natuͤrlich und wahr. — Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, fuͤr jemanden ver¬ liebte Klagen zu dichten. — Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht ver¬ setzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden koͤnnte — indem er sein ganzes Aeußre einmal fuͤr so wenig empfelend hielt, daß er gaͤnzlich Verzicht darauf gethan hatte, je zu gefallen; so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der daruͤber klagt, daß er nicht geliebt wird — was er also hievon wußte, das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu koͤnnen. — Dem¬ ohngeachtet geriethen ihm die verliebten Kla¬ gen , die er entwarf, nicht ganz uͤbel, weil er das kurz darin zusammendraͤngte, was er aus Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte. — Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in eiuem Zustande, wo er vom Ueber¬ rest seiner Leiden niedergedruͤckt der Verzweiflung nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Ruͤcksicht zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen, und konnte sich wieder in seine Stelle versetzen. — Der letzte Vers dieser verliebten Klagen schien ihm daher auch unter den Haͤnden zu gerathen. — Im tiefsten, schwarzen Hain, Wohin kein Wandrer kam, Wo Todes Voͤgel schrein — Am ausgehoͤhlten Stamm Der Eiche will ich trostlos weinen, So lange Stern' am Himmel scheinen, Bis unter meiner Klagen Laut Der Morgen thaut. — — Zuweilen fing ihm nun auch sogar das zaͤrtliche an, zu gelingen, wenn es mit einer gewissen sanften Schwermuth vergesellschaftet war — so machte er z. B. fuͤr jemanden ein Abschiedsgedicht an dessen Geliebte — das sich, nach einer bittern Klage uͤber die Trennung, schloß: Den Abschied? — O ich kann nur wei¬ nen — Mein Herz ist schwer und thraͤnenvoll — Dir muͤssen heitre Tage scheinen — Geliebte — o leb wohl, leb wohl! Und in seiner Rede an der Koͤnigin Geburtstage war folgende Stelle, die ich vorher nicht mit ausgezogen habe, eigentlich diejenige, wobei er am meisten und am wahrsten empfunden hatte — — — Sie laͤchelt — und die Froͤlichen jauchzen — Und die Traurigen trocknen vom nassen Auge die Zaͤhre, Heitern den truͤben Blick auf zur Freud' und laͤcheln, und segnen Auch dem Tag' entgegen, der ihnen Charlotten zum Trost gab. — Auch er rechnete sich in Gedanken mit unter diese Zahl der Traurigen, die den truͤben Blick zur Freude aufheitern. — Und er fand weit mehr Suͤßigkeit darin, sich unter der Zahl der Trau¬ rigen, als unter der Zahl der Froͤlichen zu den¬ ken. — Dieß war wiederum the Joy of grief (die Wonne der Thraͤnen) wohin von Kindheit an sein Herz hing. — So brachte er nun den Winter ziemlich gluͤck¬ lich zu — aber da nun einmal seine Phantasie so lebhaft angeregt, und sein Gemuͤth durch so viele sich durchkreuzende Wuͤnsche und Hoffnun¬ gen bis auf den staͤrcksten Grad in Bewegung gesetzt war, so mußte er nothwendig anfangen, das Einfoͤrmige in seiner Lage zu empfinden. — Er war in seinem neunzehnten Jahre — fuͤnf Jahre hatte er schon die Schule besucht, und wußte noch nicht, wann er die Universitaͤt wuͤrde beziehen koͤnnen. — Es fing an, ihm wieder so enge in H... zu werden, beinahe, wie damals, da ihm die Reise nach B... zu dem Hutmacher bevorstand. — Alle seine Gedanken fingen all¬ maͤlig an, ins weite zu gehn — er traͤumte sich in eine romanhafte Zukunft hin. — Und da nun der Fruͤhling heran kam, so er¬ wachte auf einmal eine sonderbare Begierde zum Reisen in ihm, die er bis dahin noch nie in dem Grade empfunden hatte. — Bremen liegt zwoͤlf Meilen von H..., und bis an den Ort, wo Reisers Eltern wohnten, war grade die Haͤlfte Weges bis nach Bremen — und nun von Bremen die Weser hinunter bis nach der See zu fahren — das war das große Projekt, womit sich Reiser schon seit einigen Wo¬ chen trug — und seine Einbildungskraft spiegelte ihm Wunderdinge von dieser Reise vor. — Der Anblick der Weser — der Schiffe — einer Handelsstadt — beschaͤftigten seine Seele im Wachen und im Traume. — Er ließ sich von einem seiner Mitschuͤler, an dessen Bruder, wel¬ cher in Bremen ein Kaufmannsdiener war, einen Brief mitgeben, und trat nun mit einem Dukaten in der Tasche seine Reise zu Fuße an. — Dieß war nun die erste sonderbare roman¬ hafte Reise, welche Anton Reiser that, und von der Zeit fing er eigentlich an, seinen Nahmen mit der That zu fuͤhren. — Er hatte sich zu dieser Reise mit einer Spe¬ cialcharte von Niedersachsen — einem tragbaren Dintenfaß — und einem kleinen Buche von weißen Papier versehen, um uͤber seine Reise unterwegs ein ordentliches Journal fuͤhren zu koͤnnen. — Mit jedem Schritte, den er that, nachdem er aus den Thoren von H. . . war, wuchs gleich¬ sam seine Erwartung und sein Muth — und er war von seiner Reise so begeistert, daß er schon ein paar Meilen von H. . . sich auf einem Huͤgel an der Landstraße setzte, sein Dintenfaß, das mit einem Stachel versehen war, vor sich in die Erde pflanzte, und auf diese Weise halbliegend anfing, in seinem Journal zu schreiben — es fuhren un¬ ten einige Kutschen vorbei, und die Leute, denen ein schreibender Mensch auf einem Huͤgel an der Landstraße freilich ein sonderbarer Anblick seyn mußte, lehnten sich weit aus dem Schlage, um ihn zu betrachten — dieß beschaͤmte ihn etwas — aber er erhohlte sich bald wieder von der unan¬ genehmen Wirkung, die dieß neugierige Angaffen zuerst auf ihn that, indem er sich in Ansehung dieser Menschen, die ihn nicht kannten, seine Existenz hinwegdachte — er war fuͤr diese Menschen gleichsam todt — darum schloß er auch den Aufsatz, welchen er auf dem Huͤgel an der Landstraße in sein Taschenbuch schrieb, mit den Worten: Was kuͤmmert mich der Leute Thun, Wenn ich im Grabe bin? Und nun setzte er seinen Stab weiter fort, kam am Abend in der Daͤmmerung vor dem Dorfe, wo seine Eltern wohnten, dicht vorbei, erkun¬ digte sich nach dem naͤchsten Dorfe, das auf dem Wege Wege nach Bremen zu lag, und da es nur noch eine Viertelmeile weit war, so ging er bis dahin, und uͤbernachtete in diesem Dorfe. — Den andern Tag wanderte er denn uͤber die oͤde duͤrre Heide fort, und erfragte sich den Weg von einem Dorfe zum andern — konnte aber Bremen nicht erreichen — sondern mußte noch einmal in einem Dorfe, welches das letzte von Bremen war, uͤbernachten — und den dritten Tag erreichte er denn seinen sehnlichsten Wunsch — er erblickte die Thuͤrme von Bremen — sahe nun das wirklich vor sich, womit seine Phantasie sich schon so lange beschaͤftigt hatte. — Er hatte außer H. . . und B. . . noch keine betraͤchtliche Stadt gesehen — und Bremen war ihm schon durch den Klang des Nahmens so merkwuͤrdig geworden — seine Phantasie hatte der Stadt ein graues schwaͤrzliches Ansehen gegeben — er war nun aͤußerst begierig, die Stadt inwendig zu betrachten — und wagte es ohne Paß ins Thor zu gehen, indem er sich auf Befragen, wer er waͤre, fuͤr einen Einwohner der Stadt, und da man noch genauer fragte, fuͤr einen von den Leuten des Prinzipals von dem Kaufmanns¬ 3r Theil . L diener ausgab, an den er einen Brief abzugeben hatte, worauf man ihm denn passiren ließ. — Sobald er nun in der Stadt war, durchwan¬ derte er erst ein paarmal die Straßen, und dann war sein erstes, daß er sich erkundigte, ob nicht etwa einer von den großen Kaͤhnen, die auf der Weser lagen, nach der Muͤndung schiffen wuͤrde, wo noch zu Bremerlehe die heßischen Truppen lagen, die nach Amerika bestimmt waren, und damals gerade absegeln sollten. — Es fuͤgte sich, daß gerade eine von den Kaͤh¬ nen abging, und Reiser begab sich nun zum er¬ stenmale in seinem Leben zu Schiffe — und fuhr noch an demselben Tage bis sechs Meilen jenseit Bremen, wo angelegt, und in einem Dorfe uͤbernachtet wurde. — Diese Schiffahrt, oh es gleich stuͤrmisches und regnigtes Wetter war, machte Reisern un¬ endliches Vergnuͤgen, indem er mit seiner Land¬ karte in der Hand auf dem Verdeck stand, und die Oerter an beiden Ufern, deren Nahmen er nun wußte, die Musterung vor sich vorbei paßi¬ ren ließ — er aß und trank mit den Schiffern, und kehrte am Abend mit ihnen in die Herberge ein. — Von da wollte er den andern Morgen mit einem andern Schiffe weiter bis an die Seekuͤste fahren, er sah schon in Gedanken die ungeheuren Wasserfluthen vor sich, und seine Einbildungs¬ kraft war gerade bis auf den hoͤchsten Grad ge¬ spannt, da ihm ploͤtzlich eine Sache einfiel, die er die ganze Reise uͤber noch nicht reiflich erwo¬ gen hatte, ob nehmlich auch seine Boͤrse zureichen wuͤrde — und wie erschrack er, da er sich von dem Schiffer seine Rechnung machen ließ, und nachdem er sie bezahlt hatte, nur noch wenige Groschen uͤbrig behielt. — Er getraute sich nun den Abend nicht, zu essen, sondern gab Kopfweh vor, und ließ sich sogleich sein Bette zeigen — hier machte er fast die halbe Nacht Entwuͤrfe, wie er nun mit Ehren aus diesem Gasthofe kommen sollte, wenn etwa seine Zeche mehr betruͤge, als die wenigen Gro¬ schen, die er noch uͤbrig hatte. — Da er sich nun am andern Morgen erkun¬ digte, wie viel er bezahlen muͤsse, so langten zu¬ faͤlligerweise die wenigen Groschen, die er noch L 2 hatte, gerade zu, aber er behielt auch nicht einen Heller uͤbrig, und befand sich nun achtzehn Mei¬ len von H. . ., zwoͤlf Meilen von dem Ort, wo seine Eltern wohnten, und sechs Meilen von Bremen. — Er gab vor, daß er nun nicht nach der Seekuͤste mitfahren koͤnne, weil er uͤberlegt habe, daß es ihn doch zu lange aufhalten wuͤrde, und so wanderte er nun, froh, daß er noch so mit Ehren davon gekommen war, aus seiner naͤchtlichen Herberge den geraden Weg wieder auf Bremen zu. — Sein Brief an den Kaufmannsdiener in Bre¬ men war nun noch seine einzige Hoffnung — ohne diesen war er, zwoͤlf Meilen weit, bis zu dem Wohnorte seiner Eltern, von aller Welt verlassen. — Er war noch nuͤchtern, wie er seine Reise an¬ trat, und mußte sich nun darauf gefaßt machen, den ganzen Tag so zu bleiben. — Der Weg, welcher anfaͤnglich laͤngst dem Ufer der Weser hinging, war sandigt, und ermuͤdend — dem ohngeachtet aber ging er gutes Muths fort, bis es gegen Mittag kam, und die Sonnenhitze brennend wurde. — Hunger, Durst und Muͤdigkeit uͤberfielen ihn zugleich mit dem Gedanken, daß er hier auf dem oͤden Felde fremd, ohne Geld, und gleichsam von aller Welt verlassen war — er suchte sich einige Brodkrumen aus der Tasche zusammen — und fand bei dieser Gelegenheit noch zwei sogenannte Bremergroten, wovon jeder ohngefaͤhr vier Pfennige betraͤgt. — Dieß war ihm unter den Umstaͤnden so lieb, als haͤtte er einen Schatz gefunden; er rafte alle seine uͤbrigen Kraͤfte zusammen, um bald nach dem naͤchsten Dorfe zu kommen, wo er sich fuͤr den einen Groten ein wenig Bier geben ließ, das ihm nun eine ganz ungehoffte Erquickung war, denn er hatte sich einmal darauf gefaßt gemacht, die sechs Meilen bis Bremen nuͤchtern zuruͤckzulegen. — Der Trunk Bier floͤßte ihm wieder neuen Muth ein, so wie das Vierpfennigstuͤck, das er doch nun noch in der Tasche hatte. — Freilich stellte sich auch der Hunger wieder ein, aber er suchte ihn zu uͤberwinden, und blieb resignirt. — Ein armer Handwerksbursch ge¬ sellte sich unterwegens zu ihm, der in jedem Dorfe L 3 einkehrte, und sich etwas zusammenbettelte. — Und Reisern machte das sonderbare Verhaͤltniß eine Art von Vergnuͤgen, daß dieser arme Hand¬ werksbursch, der ihn vielleicht als einen wohlge¬ kleideten Menschen beneiden mochte, doch jetzt im Grunde reicher, als er war. — Den Nachmittag erreichte er Vegesack , und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreima¬ stiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. — Dieser Anblick ergoͤtzte ihn, ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbe¬ schreiblich — und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzu¬ frieden sey. — Gegen Abend erreichte er Bremen; aber ehe er an die Stadt kam, mußte er sich erst an das jenseitige Ufer der Weser uͤbersetzen lassen, wofuͤr gerade ein Bremergrote bezahlt werden mußte — daß er nun diesen gerade noch gespart hat¬ te, daͤuchte ihm wiederum ein ordentlicher Gluͤcksfall, weil er sonst die Stadt nicht mehr wuͤrde erreicht haben, woran ihm doch jetzt alles lag. — Mit Sonnenuntergang kam er denn endlich noch an das Stadtthor, und weil er ordentlich gekleidet war, und das ganze Wesen eines spa¬ tzierengehenden annahm, der zuweilen still stehet, und sich nach etwas umsieht, und dann wieder ein paar Schritte weiter geht — so ließ man ihn ungehindert durchpassiren. — Er fand sich also auf einmal wieder in dem Bezirk einer volkreichen Stadt, wo ihn aber niemand kannte, und er so verlassen und allein, indem er traurig uͤber das Gelaͤnder in die Weser hinabsahe, auf der Straße da stand, als wenn er auf einer unbewohnten wuͤsten Insel gewesen waͤre. — Eine Weile gefiel er sich gewissermaßen in diesem verlaßnen Zustande, der doch so etwas sonderbares romanhaftes hatte. — Da aber das vernuͤnftige Nachdenken uͤber die Phantasie wieder den Sieg erhielt; so war freilich seine erste Sorge, von seinem Briefe an den Kaufmanns¬ diener Gebrauch zu machen. — L 4 Wie groß war aber sein Erschrecken, da er sich in der Wohnung desselben nach ihm erkun¬ digte, und erfuhr, daß er erst den Abend spaͤt zu Hause kommen wuͤrde. — Er blieb auf der Straße nicht weit von dem Hause stehen — die Dunkelheit der Nacht brach herein — in einen Gasthof getraute er sich ohne Geld nicht zu ge¬ hen — alle seine romanhaften Ideen, die ihm vorher diesen Zustand noch erleichtert hatten, waren verschwunden, er empfand nichts, als die grausame Nothwendigkeit, diese Nacht von Hun¬ ger und Muͤdigkeit gequaͤlt, mitten in einer volk¬ reichen Stadt unter freiem Himmel zubringen zu muͤssen. — Indem er nun melancholisch da stand, und sich verlegen nach allen Seiten umsah, kam ein wohlgekleideter Mann dahergegangen, der ihn genau betrachtete, und ihn mit mitleidiger Miene fragte, ob er etwa hier fremd sey? — allein er konnte sich nicht uͤberwinden, diesem Manne seinen Zustand zu entdecken — sondern war ent¬ schlossen, lieber auf alle Faͤlle die Nacht unter freiem Himmel zuzubringen, welches er auch wuͤrde gethan haben, wenn nach so vielen Wieder¬ waͤrtigkeiten sich jetzt nicht wiederum ein gluͤck¬ licher Umstand fuͤr ihn ereignet haͤtte. — Der Kaufmannsdiener hatte sich nehmlich aus der Gesellschaft, worin er sich befand, losgerissen, um zu Hause etwas nothwendiges zu besorgen, und da er hoͤrte, daß jemand einen Brief von seinem Bruder an ihn habe abgeben wollen, den nachher noch in der Naͤhe am Wasser spatzieren gegangen waͤre, so eilte er gleich, um den Ueber¬ bringer des Briefes, dessen Ansehen man ihm be¬ schrieben hatte, was moͤglich, aufzusuchen, und traf auch Reisern, den er gleich erkannte, wirk¬ lich an, da dieser schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Nacht ein Obdach zu finden. — Sobald der junge Kaufmann nur die Hand¬ schrift seines Bruders erblickte, war er gegen Reisern aͤußerst freundschaftlich und gefaͤllig, und erbot sich sogleich, ihn in einen Gasthof zu fuͤh¬ ren. — Reiser entdeckte ihm denn seinen wahren Zustand, freilich mit einigen Erdichtungen; — er sei nehmlich wider seiner Gewohnheit zum Spiel verleitet worden, und habe alle seine Baar¬ schaft verloren — denn daß er sich mit zu weni¬ gem Gelde zu dieser Reise versehen habe, schaͤmte L 5 er sich zu sagen, weil er dadurch noch mehr in der Meinung des jungen Menschen, von dem er jetzt allein Huͤlfe erwarten konnte, zu verlieren glaubte. — Aber nun aͤnderte sich auf einmal sein widri¬ ges Schicksal— der Kaufmann erbot sich sogleich, ihm so viel vorzustrecken, daß es ihm an nichts fehlen sollte — er fuͤhrte ihn in einen angesehe¬ nen Gasthof, wo Reiser auf seine Empfehlung auf das beste bewirthet wurde, und nun den Abend so vergnuͤgt zubrachte, daß ihm alle Be¬ schwerden des Tages vielfaͤltig ersetzt wurden. — Einige Glaͤser Wein, die er noch in Gesell¬ schaft des Kaufmannsdieners trank, thaten nach der Ermuͤdung und Entkraͤftung eines ganzen Tages, eine so außerordentliche Wirkung auf seine Lebensgeister, daß er fast die ganze Gesell¬ schaft, die sich alle Abend hier zu versammlen pflegte, mit Anekdoten von H. . . und lustigen Einfaͤllen, die ihm sonst gar nicht gewoͤhnlich waren, unterhielt, und sich den Beifall aller der Personen in diesem kleinen Zirkel erwarb, wor¬ unter sich auch derjenige mit befand, der ihn den Abend traurig und verlassen auf der Straße ste¬ hen sah, und unter allen den voruͤbergehenden Leuten, der einzige gewesen war, dem ein ganz fremder Mensch, welcher traurig und verlassen da stand, wichtig genug schien, daß er sich um ihn bekuͤmmerte und ihn anredete. — Reiser gewann dadurch eine außerordentliche Zuneigung zu die¬ sem Manne, denn ein solches Anreden und Be¬ sorgtseyn um den Zustand eines ganz fremden Menschen, der wie verlassen und huͤlfebeduͤrftig zu seyn scheint, ist doch eigentlich die allgemeine Menschenliebe , woran man den frommen Samariter von dem voruͤbergehenden Priester und Leviten unterscheiden kann. — Reiser hat nicht leicht in seinem Leben einen Abend vergnuͤgter zugebracht, als diesen, wo er sich in einer fremden Stadt, in einem ganz frem¬ den Zirkel von Menschen, geachtet sahe, ins Ge¬ spraͤch gezogen, und mit aufmunterndem Beifall angehoͤrt wurde. — Der Kaufmannsdiener noͤthigte ihn nun selbst, sich noch einige Tage in Bremen aufzu¬ halten, zeigte ihm die Merkwuͤrdigkeiten der Stadt, und Reiser fand nun an eben dem Or¬ te, wo er erst fremd, von keinem Menschen be¬ merkt, einsam und verlassen auf der Straße stand, so viele Menschen, die sich fuͤr ihn in¬ teressirten, mit ihm sich unterredeten, und mit ihm ausgingen, daß er an diese Personen, die ihm so viele zuvorkommende gutmuͤthige Hoflich¬ keit und Freundschaftsbezeigungen erwiesen, eine Art von Anhaͤnglichkeit bekam, welche es ihm schwer machte, sich nach einer so kurzen Zeit schon wieder auf immer von ihnen zu trennen. — Er speißte des Mittags in einer ansehnlichen Tischgesellschaft, wo ihm als einen Fremden im¬ mer mit ausgezeichneter Hoͤflichkeit begegnet wur¬ de, — eine Behandlung, die er bis jetzt noch eben nicht gewohnt gewesen war. — Der Kauf¬ mannsdiener streckte ihm so viel vor, daß er nicht nur seine Rechnung im Gasthofe bezahlen, son¬ dern auch mit Bequemlichkeit wieder nach H. . . zuruͤckreisen konnte, welches er nun freilich zu Fusse that. — Und da ihm nun dißmal sein unbesonnener Anschlag so gut gelang, so bildete sich zuerst un¬ vermerkt der Keim zu dem Gedanken in ihm, sein Gluͤck nicht laͤnger in seiner bisherigen einge¬ schraͤnkten Lage abzuwarten, sondern es in der weiten Welt, die ihm offen stand, selbst auf¬ zusuchen. — Er hatte in einer fremden Stadt eine ganze Anzahl Menschen gefunden, die sich um ihn be¬ kuͤmmerten, Theil an ihm nahmen, und ihm sei¬ nen Aufenthalt angenehm machten lauter Sa¬ chen, die er in H. . . nie gewohnt gewesen war. — Er hatte Abentheuer uͤberstanden, und in einem kurzen Zeitraum den schnellsten Gluͤcks¬ wechsel erfahren — indem er kaum eine Stunde vorher noch von aller Welt verlassen, und unmit¬ telbar darauf sich in einem Zirkel von Menschen befand, die alle auf ihn aufmerksam waren, und ihn in ihre Gespraͤche zogen. — Was Wunder, daß nun dadurch der Gedanke bei ihm rege wurde, die traurige Einfoͤrmigkeit seines bisherigen Aufenthalts, und seiner bishe¬ rigen Verhaͤltnisse mit dergleichen Abwechselun¬ gen zu vertauschen — wodurch er, ohnge¬ achtet aller Beschwerlichkeiten, die er daruͤber erdulden mußte, doch seine Seele auf eine ange¬ nehme, vorher noch nie empfundene Art erschuͤt¬ tert fuͤhlte. — Selbst die Wehmuth, die er empfand, da ihm nun die Thore der Stadt, in welcher er noch gestern mit einer Anzahl ihm wohlwollender Menschen vertraulich an einem Tische gesessen hatte, aus den Augen schwanden, und er also nun sogar die letzten hervorragenden Spuren, dieses ihm in der kurzen Zeit so lieb gewordenen Ortes, aus seinem Gesichtskreise verlohren hatte — selbst diese Wemuth hatte einen nieempfun¬ denen Reiz fuͤr ihn — er kam sich selber groͤßer vor, weil er eigenmaͤchtig, ganz ohne irgend ei¬ nen aͤußern Antrieb — nun zum erstenmale eine Reise nach einer ganz fremden Stadt gethan hatte, in der er binnen ein paar Tage mehr Menschen fand, die ihm wohl wollten, als er in H. . . ganze Jahre hindurch nicht hatte finden koͤnnen. — Das Wandern fing ihm an, so lieb zu wer¬ den — er phantasirte sich durch tausend ange¬ nehme Vorstellungen die Ermuͤdung hinweg — wenn es dunkel wuͤrde, so betrachtete er den vor ihm sich hinschlaͤngelnden Weg, auf den er bestaͤndig sein Augenmerk heften mußte, gleich¬ sam wie einen treuen Freund, der ihn leitete. — Dieß wurde ihm denn zuletzt eine dichterische Idee — es wurde Bild, Vergleichung, woran er tausend Dinge kettete. — „Wie sich ein Wan¬ drer an seinen Weg haͤlt; so getreu, wie der Weg dem Wandrer — so — und so —“ Dieß Ideen¬ spiel verfolgte er im Gehen — und das Einfoͤr¬ mige der Gegend bei der umgebenden Dunkel¬ heit, und des immerwaͤhrenden Fußaufhebens, verschwand ihm unmerklich, und machte ihn nicht verdrießlich. — Es war schon ganz dunkel, da er zu seinen Eltern kam, die sich freilich wunderten, daß er dicht vor ihnen vorbeigegangen, erst nach Bre¬ men gereißt, und dann zu ihnen gekommen war. — Demohngeachtet aber nahmen ihn seine El¬ tern, wegen der vielen angenehmen Nachrichten, die sie von ihm erhalten hatten, dießmal mit Freuden auf. — Und Reiser hatte nun so viel Stoff zu my¬ stischen Unterredungen mit seinem Vater ge¬ sammlet, daß sie dißmal sich oft bis in die Nacht unterhielten. — Reiser suchte nehmlich alle die mystischen Ideen seines Vaters, die er aus den Schriften der Mad. Guion geschoͤpft hatte, von Alles und Eins, vom Vollenden in Eins u. s. w., metaphysisch zu erklaͤren, welches ihm sehr leicht wurde — indem die Mystik und Methaphysik wirklich in so fern zusammentreffen, als jene oft eben das vermittelst der Einbildungskraft zufaͤl¬ ligerweise herausgebracht hat, was in dieser ein Werk der nachdenkenden Vernunft ist. — Rei¬ sers Vater, der dieß nie in seinem Sohne gesucht hatte, schien nun auch eine hohe Idee von ihm zu bekommen, und ordentlich eine Art von Ach¬ tung gegen ihn zu hegen. — Die Neigung zur Schwermuth aber behielt auch hier bestaͤndig bei Reisern das Uebergewicht. — Er stand mit seiner Mutter an der Thuͤre, da das Kind eines Nachbars begraben wurde, und der Vater in tiefer Trauer, mit hangendem Haar und nassem Auge folgte. — Wenn sie mich nur auch erst so hintruͤgen, sagte Reisers Mutter, die freilich im Leben nicht viel Freude gehabt hatte, und Reiser, der sich doch noch viel Freude versprechen konnte, stimmte innerlich so herzlich in diesem Wunsch mit ein, als ob ihm das groͤßte Herzeleid wiederfahren waͤre. — Er nahm dießmal bei seiner Abreise von sei¬ ner Mutter und seinen Bruͤdern mit mehrerer Ruͤhrung, wie gewoͤhnlich Abschied — und wan¬ derte zu Fuß wieder nach H. . . — Da er nun die vier Thuͤrme wieder erblickte, die er schon unter so mancherlei verschiedenen Verhaͤltnissen wieder gesehen hatte, so wandelte ihm dießmal aufs neue ein aͤngstliches Gefuͤhl an, da er aus der weiten Welt nun wieder in diesen kleinen Umkreis aller seiner Verhaͤltnisse und Verbindun¬ gen zuruͤckkehren sollte, das Allzubekannte dort daͤuchte ihm so fade . — Aber auf einmal er¬ heiterte sich seine Seele wieder, da er ins Thor getreten war, und gleich an einer Ecke einen Ko¬ moͤdienzettel angeschlagen fand. — Dieß uͤber¬ raschte ihn auf die angenehmste Weise — sein erster Gang war, wie vor drei Jahren, nach dem Schlosse, wo das Theater war, und wo der Hauptzettel mit dem Verzeichniß der Personen angeschlagen stand — man spielte den Klavigo , Brockmann den Beaumarchais , Reinicke den Klavigo, die aͤlteste Dem . Ackermann (die juͤngere war damals schon gestorben) spielte die Maria, Schroͤder den Don Carlos, die 3r Theil . M Reinicken die Schwester der Maria, Schuͤtz den Buenko, und Boͤheim den Freund des Beaumarchais. — So vortrefflich war Rollenbesetzung in diesem Stuͤck bis auf die unbedeutendsten Neben¬ rollen. — Reiser kannte alle diese vortrefflichen Schauspieler — war es wohl zu verwundern, daß seine Erwartung auf das hoͤchste gespannt wurde, aufs neue die Vorstellung eines Stuͤcks von ihnen zu sehen, das er zwar noch nicht gele¬ sen hatte, wovon er aber wußte, daß es von dem Verfasser der Leiden des jungen Werthers war? — Durch diesem zufaͤlligen Umstand, vergesell¬ schaftet mit der Ruͤckerinnerung an die Aben¬ theuer, die er auf seiner Reise gehabt hatte, bil¬ dete sich eine sonderbare romantische Idee in sei¬ nem Kopfe, die nun wieder auf einige Jahre seines kuͤnftigen Lebens einen sehr großen Einfluß hatte. — Theater — und reisen — wurden unvermerkt die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner Einbildungskraft, woraus sich denn auch sein nachheriger Entschluß erklaͤrt. — Er versaͤumte nun wieder nicht leicht einen Abend die Komoͤdie — dadurch aber wurde sein Kopf wieder so voll von theatralischen Ideen, daß ihm seine eigentlichen Geschaͤfte des bestaͤn¬ digen Lernens und Lehrens — denn er hatte fast den ganzen Tag mit Unterrichtsstunden besetzt — schon zuweilen nicht recht mehr zu schmecken an¬ fingen, und er sich dann kein Bedenken machte, dann und wann eine der Stunden, wo er lehrte oder lernte, zu versaͤumen, indem er dann jedes¬ mal rechnete, daß es doch nur eine Stunde sey. — Nun wurden damals die Zwillinge von Klinger zuerst aufs Theater gebracht, und frei¬ lich mit aller moͤglichen Kunst dargestellt, indem Brockmann den Guelfo, Reinicke den alten Guelfo, die Reinicken die Mutter, die Acker¬ mann die Kamilla, Schroͤder den Grimaldi, und Lambrecht den Bruder des Guelfo, spielte. — Dieß schreckliche Strck machte eine außeror¬ dentliche Wirkung auf Reisern — es griff gleich¬ sam in alle seine Empfindungen ein. — Guelfo glaubte sich von der Wiege an unterdruͤckt M 2 — das glaubte er von sich auch — ihm fielen dabei alle die Demuͤthigungen und Kraͤnkungen ein, denen er von seiner fruͤhsten Kindheit an, fast so lange er denken konnte, bestaͤndig ausgesetzt worden war. — Er vergaß den Fuͤrstensohn, und alle die Verhaͤltnisse eines Fuͤrstensohnes, und fand nur sich in dem unterdruͤckten Guelfo wie¬ der. — Die bittre Lache , die Guelfo in der Verzweiflung uͤber sich selbst aufschlug, grif in Reisers innerste Empfindungen ein — er erin¬ nerte sich dabei aller der fuͤrchterlichen Augen¬ blicke, wo er wirklich am Rande der Verzwei¬ flung stand, und eben eine solche Lache uͤber sich aufschlug — indem er sein eignes Wesen mit Verachtung und Abscheu betrachtete, und oft mit schrecklicher Wonne in ein lautschallendes Hohngelaͤchter ausbrach. — Der Abscheu vor sich selber, den Guelfo em¬ pfand, indem er den Spiegel entzwei schlaͤgt, worin er sich nach der Mordthat erblickt — und daß er nun nichts wuͤnscht, als zu schlafen — zu schlafen — das alles schien Reisern so wahr, so aus seiner eignen Seele, die bestaͤndig mit dergleichen schwarzen Phantasien schwanger ging, gehoben zu seyn, daß er sich ganz in die Rolle des Guelfo hineindachte, und eine Zeitlang mit allen seinen Gedanken und Empfindungen darin lebte. — Waͤhrend daß also n un auf dem Koͤniglichen Operntheater von der Schroͤderschen Gesellschaft Komoͤdie gespielt wurde, kam auch die Zeit der Sommerferien heran; wo die Primaner jaͤhr¬ lich oͤffentlich eine Komoͤdie aufzufuͤhren pfleg¬ ten. — Reiser zweifelte nicht, daß man ihm dießmal eine Rolle antragen wuͤrde, da er doch nun, seitdem er die Rede auf der Koͤnigin Geburtstag gehalten hatte, einer der angesehensten unter seinen Mit¬ schuͤlern war, und daher auch gar nicht glaub¬ te, daß man ohne ihn die Sache anfangen wuͤrde. — Wie sehr erstaunte er also, da er vernahm, daß man die Sache dennoch ohne ihn angefan¬ gen, und sogar schon die aufzufuͤhrenden Stuͤcke bestimmt, und ihm nicht einmal eine Rolle darin zugetheilt hatte. — Da er jetzt wirklich viele Freunde und vielen Anhang unter seinen Mit¬ schuͤlern hatte, so konnte er sich diese Zuruͤckstellung M 3 erst gar nicht erklaͤren, bis er denn freilich merk¬ te, daß hier ein solcher Rollenneid, und ein so aͤngstliches Bemuͤhen, einander den Rang abzu¬ laufen, statt fand, daß ein jeder genug fuͤr sich zu sorgen hatte, und wer sich nicht mit Gewalt hinzudraͤngte, auch nicht gerufen wurde. — Reiser hat sich nachher oft an diesen Auftritt in seinem Leben zuruͤckerinnert, und Betrach¬ tungen daruͤber angestellt, wie in diesen kindi¬ schen Bestrebungen nach einer so unbedeutenden Sache, als eine Rolle in einem Stuͤcke war, das von den Primanern in H. . . aufgefuͤhrt wurde, sich doch das ganze Spiel der menschlichen Lei¬ denschaften eben so vollstaͤndig entwickelte, als ob es die allerwichtigste Angelegenheit betroffen haͤt¬ te; und wie das Streben gegeneinander, dieß Verdraͤngen und wieder verdraͤngt werden, ein so getreues Bild des menschlichen Lebens im Kleinen war, daß Reiser alle seine kuͤnftigen Erfahrungen hierdurch schon gleichsam vorberei¬ tet sahe. — Dieß kam nun freilich wohl mit daher, weil den Primanern die Anordnung der Schauspiele, und die Besetzung der Rollen aus ihrem Mittel gaͤnzlich uͤberlassen war. — Der Geist wurde dadurch gleichsam republikanisch — es konnten sich mehrere Kraͤfte entwickeln — List und Ver¬ schlagenheit gebraucht, und Kabalen geschmiedet werden; wie es nur irgend bei der Wahl eines Parlamentsgliedes geschieht — denn es wurden uͤber dergleichen oͤffentliche Angelegenheiten, auch wenn z. B. ein Aufzug mit Musik und Fackeln sollte veranstaltet werden, ordentlich Stimmen gesammlet, wodurch einer zum Anfuͤhrer bei dem Zuge, oder zu sonst etwas oͤffentlichem gewaͤhlt wurde. — Reiser sahe sich also nun auf einmal wieder, da er es am wenigsten vermuthete, von demje¬ nigen ausgeschlossen, woran sein ganzes Herz jetzt mehr wie jemals hing, und weswegen er vordem schon so viel erduldet hatte. — Er suchte sich zwar mit dem Gedanken zu troͤsten, daß man ihn verkenne, daß ihm von seinen Mitschuͤlern Unrecht geschehn sey — aber dieß wollte doch auf die Laͤnge nicht zureichen — vorzuͤglich kraͤnkte es ihn, daß sein Freund W. . . ihm nichts davon gesagt hatte, der mit von der Gesellschaft de r M 4 Spielenden war, und der es wußte, wie sehr sein Herz an dieser Sache hing. — Aber dieser glaubte selbst in einem zu unvortheilhaften Lichte zu erscheinen, wenn er denjenigen als ein Mitglied in Vor ¬ schlag braͤchte , auf den die Aufmerksam ¬ keit keines einzigen außer ihm gefallen war . — W. . . meinte es deswegen uͤbrigens noch gar nicht boͤse mit Reisern, sondern war nach wie vor sein Freund, nur bis auf diesen Punkt nicht. — Eine Erfahrung, die mancher vielleicht in seinem Leben oͤfter zu machen Gele¬ genheit gehabt hat. — Es haͤlt schwer in der Freundschaft Stand zu halten, wenn sich alles wider jemanden erklaͤrt — man faͤngt an, seinem eignen Urtheil nicht recht mehr zu trauen, das immer noch einer Stuͤtze außer sich zu beduͤrfen scheint, sey sie auch so klein sie wolle — wenn die Sache nur noch von einem einzigen in Regung gebracht wird, so will man gern der zweite seyn, der einstimmt, nur der erste scheut sich ein jeder zu seyn — und die Freundschaft muß schon einen sehr hohen Grad erreicht haben, wenn sie hier der entgegenstrebenden Politik nicht unterliegen soll. — W. . . war sonst ein sehr aufrichtiger Mensch — und da Reiser ihn fragte, was unter ihm und einer Anzahl seiner Mitschuͤler, die immer zu¬ sammen kaͤmen, im Werke sey, so gab ihm W. . . erst ohne Umschweife zu verstehen; er wolle es ihm nicht sagen — bis Reiser weiter in ihn drang, und dann doch die ganze Sache erfuhr — wo dann jener sich damit aus der Verlegenheit zog, daß er die ganze Sache als unbedeutend vorstellte, und als etwas, das doch wohl schwer lich zu Stande kommen wuͤrde, u. s. w. Diese Erfahrung, die Reiser damals zuerst an seinem Freunde W. . . machte, hat er nachher nur zu oft in seinem Leben wieder bestaͤtigt gefunden. — Außer Reisern war nun J. . ., von dem ich schon erwaͤhnt habe, daß er nachher einer der beliebtesten dramatischen Schriftsteller geworden ist, derjenige, welcher sich unter der damaligen Generation der Primaner in H. . . in Ansehung seines Kopfes am mehrsten auszeichnete — und an den sich Reiser schon vor einigen Jahren an¬ M 5 zuschließen gesucht hatte. — Allein die Verschie¬ denheit ihrer Gluͤcksumstaͤnde hatte dieses Anein¬ anderschließen damals gehindert. — Da nun aber Reiser angefangen hatte, sich auszuzeichnen, so fing J. . . von selber an, sich an ihn zu schließen— und sie unterredeten sich oft bei ihren einsamen Spaziergaͤngen uͤber ihre kuͤnftige Bestimmung in der Welt. — J. . . lebte auch ganz in der Phantasienwelt, und hatte sich damals gerade ein sehr reitzendes Bild von der angenehmen Lage eines Landpredigers entwor¬ fen — er war also entschlossen, Theologie zu stu¬ dieren, und unterhielt Reisern fast bestaͤndig mit der Schilderung jener stillen, haͤußlichen Gluͤck¬ seligkeit, die er dann im Schooß einer kleinen Gemeinde, die ihn liebte, in seinem Doͤrfchen genießen wuͤrde. — Reiser, welcher dergleichen Spiele der Phantasie aus eigner Erfahrung kannte, prophezeite ihm in Voraus, daß er die¬ sen Entschluß zu seinem eignen Besten wohl nie in Erfuͤllung bringen wuͤrde: dem wenn er Pre¬ diger wuͤrde, so wuͤrde er wahrscheinlich ein großer Heuchler werden — er wuͤrde mit der groͤßten Hitze des Affekts und mit aller Staͤrke der Deklamation doch immer nur eine Rolle spie¬ len. — Ein geheimes Gefuͤhl sagte Reisern, daß dieß bei ihm selber wohl der Fall seyn wuͤrde, darum konnte er jenem so gut den Text lesen. — I. . . ist nun freilich nicht Prediger geworden — aber es ist doch sonderbar, jene Ideen von haͤuslicher stiller Gluͤckseligkeit , die er da¬ mals so oft gegen Reisern geaͤußert hat, sind doch nicht verloren gegangen, sondern fast in allen seinen dramatischen Arbeiten realisirt, da er sie in seinem Leben nicht hat realisiren koͤnnen. — Da nun aber die Schauspieler wieder nach H. . . kamen, so wurden bei I. . . alle jene rei¬ zenden Phantasieen von stiller Gluͤckseligkeit auf einem Dorfe, sehr bald verdraͤngt, und die herr¬ schende Idee war nun bei ihm, so wie bei Rei¬ sern, wieder das Theater . — I. . . war nun einer der vorzuͤglichsten Mit¬ glieder der Gesellschaft, die sich zum Auffuͤhren der Komoͤdie verbunden hatten, aber hier hatte er dennoch seinen Freund Reiser auch ver¬ gessen. — Diese Vernachlaͤssigung von denen, die er noch fuͤr seine besten Freunde hielt, bei einer Sache, die ihm so sehr am Herzen lag, wie die¬ se, war ihm aͤußerst kraͤnkend. — Er sprach mit J. . . daruͤber, der sich damit entschuldigte, er habe nicht geglaubt, daß Reiser zu der Sache noch Lust habe. — Und was Reisern am meisten kraͤnkte, war, als er hoͤrte, daß er bei der Rollen¬ austheilung nicht etwa Feinde unter der Gesell¬ schaft gehabt, die ihn haͤtten ausschließen wollen, sondern daß man gar nicht einmal an ihn gedacht , seiner nicht einmal erwaͤhnet , hatte . — Da er sich nun indes erklaͤrte, daß er an der Gesellschaft Theil nehmen wolle, so war man ihm nicht zuwider, wenn er mit einer von den Rollen, die noch uͤbrig waren, vorlieb nehmen wollte. — Er mußte sich denn hiezu entschließen, und erhielt in dem ersten Stuͤck, das aufgefuͤhrt wurde, in dem Deserteur aus Kindesliebe noch die Rolle des Peter , welche ihm freilich nicht die angenehmste war, die er doch aber lie¬ ber, als gar keine nahm. — Man wird die Erzaͤhlung dieser anscheinen¬ den Kleinigkeiten nicht unwichtig finden, wenn man in der Folge sehen wird, daß sie auf sein kuͤnftiges Leben einen großen Einfluß hatten, und daß die Rollenaustheilung bei den Komoͤdien, die er mit seinen Mitschuͤlern auffuͤhrte, gleich¬ sam ein Bild von einem Theile seines kuͤnftigen Lebens war. — Er wollte sich nicht zudraͤngen , und war doch wieder nicht stark genug , es zu ertragen , wenn man ihn vernachlaͤs¬ sigte . — Da er nun ein Mitglied der theatralischen Gesellschaft geworden war, so verleitete ihn dieß zu vielen Ausgaben, die seine Einkuͤnfte uͤber¬ stiegen, und zu vielen Versaͤumnissen, die seine Einkuͤnfte verminderten. — Er mußte die Ge¬ sellschaft zuweilen zu sich bitten, wie es ein jeder that — und der oͤftern Proben wegen, die an¬ gestellt wurden, manche seiner Unterrichtsstun¬ den, die er gab, versaͤumen. — Ueberdem war sein Kopf nun wieder bestaͤndig mit Phantasien erfuͤllt — er war zu keinem anhaltenden und ernsthaften Nachdenken, zu keinem Fleiß im Studiren mehr aufgelegt. — Es bildeten sich nun schon Schriftstellerpro¬ jekte in seinem Kopfe — er wollte ein Trauer¬ spiel der Meineid schreiben. — Er sah schon den Komoͤdienzettel angeschlagen, worauf sein Nahme stand — seine ganze Seele war voll von dieser Idee — und er ging oft, wie ein Rasender in seiner Stube wuͤthend auf und nieder, indem er alle die graͤßlichen nnd fuͤrchterlichen Scenen seines Trauerspiels durchdachte und durchem¬ pfand. — Der Meineid gereute den Meineidigen zu spaͤt, und Mord und Blutschande war schon die Folge davon gewesen, als er eben im Begriff war, von unaufhoͤrlicher Gewissensangst getrie¬ ben, den Meineid durch Aufopferung seines gan¬ zen Vermoͤgens, daͤs er dadurch gewonnen hatte, wieder gut zu machen — und der schmeichelhaf¬ teste Gedanke fuͤr Reisern war, wenn er dieß Stuͤck noch in seinem jetzigen Stande, noch als Schuͤler vollenden wuͤrde, was man denn fuͤr Erwartungen von ihm schoͤpfen — wie es dann noch weit mehr ihm zum Ruhm, gereichen muͤßte. — Schon in seinem neunten Jahre, da er in die Schreibschule ging, hatte er sich mit einem seiner Mitschuͤler vorgenommen, daß sie zusam¬ men ein Buch schreiben wollten — und beide schmeichelten sich schon damals mit der Idee, wie ihnen dieß zum ewigen Ruhme gereichen wuͤrde. — Der Knabe, welcher damals den Entwurf zu dem Buche mit ihm machte, das ihre beiderseitigen Lebensgeschichten enthalten soll¬ te, war ein sehr guter Kopf, der sich aber nach¬ her durch einen uͤbertriebenen Fleiß zu Grunde richtete, und im siebzehnten Jahre starb. — Mit diesem spielte er auch schon damals zu¬ weilen, ehe die Stunde anging, und wenn der Lehrer noch nicht da war, Komoͤdie, und fand immer in dieser Art von Belustigung ein unbe¬ schreibliches Vergnuͤgen — ob er gleich damals noch gar keine Komoͤdie gesehen, sondern nur aus Erzaͤhlungen andrer einen ganz dunklen Be¬ griff davon hatte. — Was aber die Verferti¬ gung des Buchs anbetraf, so war ihm das da¬ mals schon eine so erhabene Idee — ein Buch war ihm eine so heilige und wichtige Sache, deren Hervorbringung er kaum einem Sterb¬ lichen, wenigstens keinem noch lebenden Sterblichen zutrauete. — Ueberhaupt war es ihm noch lange nachher immer eine sonderbare Idee, wenn er hoͤrte, daß die Personen, die irgend ein beruͤhmtes Werk geschrieben hatten, noch lebten , und also aßen, tranken, und schliefen, wie er. — Da er in seinem sechszehnten Jahre zum er¬ stenmale Moses Mendelsohns Schriften laß, so kam der Nahme, der alte Homerskopf auf dem Titel, alles zusammen, um eine sonderbare Taͤu¬ schung bei ihm hervorzubringen, als ob dieser Moses Mendelsohn irgend ein alter Weiser sey, der vor Jahrhunderten gelebt haͤtte, und dessen Schriften nun etwa ins Deutsche uͤbersetzt waͤ¬ ren — er trug sich lange mit diesem Wahn herum, bis er einmal zufaͤlliger Weise von seinem Vater hoͤrte, daß dieser Mendelssohn noch lebe, daß er ein Jude sey, auf den die ganze juͤdische Nation sehr stolz waͤre, und daß Reisers Vater ihn selbst in Pyrmont gesehen habe, und wie er aussaͤhe, u. s. w. dieß brachte in Reisers Ideenzustande auf einmal eine große Veraͤnderung hervor — seine Vorstellungen vom Alten und Neuen, Ge¬ gen¬ genwaͤrtigem und Vergangnen mischten sich son¬ derbar durcheinander. — Er konnte sich nur mit Muͤhe zu dem Gedanken gewoͤhnen, sich einen Mann als noch lebend vorzustellen, den seine Einbildungskraft so lange in die vergangnen Jahrhunderte zuruͤck versetzt hatte. — Er dachte sich einen solchen Mann wie eine unter den Men¬ schen wandelnde Gottheit — und solche Men¬ schen einst von Angesicht zu Angesicht zu sehen, mit ihnen sich zu unterreden, das war der hoͤchste seiner Wuͤnsche. — Und nun hatte er sich doch im Ausdruck sei¬ ner Gedanken auf verschiedene Art versucht; er fing an zu hoffen, daß ihm vielleicht einmal ein Werk des Geistes gelingen wuͤrde, wodurch er sich den Weg in jenen glaͤnzenden Zirkel bahnte, und sich das Recht erwuͤrbe, mit Wesen umzuge¬ hen, die er bis jetzt noch so weit uͤber sich erhaben glaubte. — Daher schrieb sich vorzuͤglich mit die Schriftstellersucht, welche schon damals anfing, ihn Tag und Nacht zu quaͤlen. — Ruhm und Beifall sich zu erwerben, das war von jeher sein hoͤchster Wunsch gewesen; — aber der Beifall mußte ihm damals nicht zu weit lie¬ 3r Theil . N gen — er wollte ihn gleichsam aus der er¬ sten Hand haben, und wollte gern, wie es der natuͤrliche Hang zur Traͤgheit mit sich bringt, erndten ohne zu saͤen.— Und so griff nun freilich das Theater am staͤrksten in seinen Wunsch ein. — Nirgends war jener Beifall aus der ersten Hand , so wie hier zu erwarten. — Er betrachtete einen Brockmann, einen Reincke im¬ mer mit einer Art von Ehrfurcht, wenn er sie auf der Straße gehen sahe, und was konnte er mehr wuͤnschen, als in den Koͤpfen anderer Men¬ schen einst eben so zu existiren, wie diese in seinem Kopfe existirten. — So wie jene Leute vor einer so großen Anzahl von Menschen, als sonst nur selten oder nie versammlet sind, alle die erschuͤt¬ ternden Empfindungen der Wuth, der Rache, der Großmuth nach einander durchzugehen, und sich gleichsam jeder Nerve des Zuschauers mitzu¬ theilen. — Das daͤuchte ihm ein Wirkungskreis, der in Ansehung der Lebhaftigkeit in der Welt nicht seines Gleichen hat. — Allein er war nun freilich zu spaͤt zu der thea¬ tralischen Gesellschaft getreten, um eine Rolle, wie er sie sich wuͤnschte, zu erhalten, welches ihn außerordentlich kraͤnkte. — Indes freute es ihn doch wieder, daß er nur noch eine Rolle be¬ kam, da er den Ersatz erhielt, daß ihm die Ver¬ fertigung eines Prologs zu dem Deserteur aus Kindesliebe aufgetragen wurde, welcher nebst dem Personen-Verzeichniß gedruckt werden sollte. — Nun wartete man nur darauf, bis die or¬ dentlichen Schauspieler wieder wegreisen wuͤrden, um alsdann ebenfalls auf dem großen Koͤniglichen Operntheater zu spielen, wozu sich die Primaner selbst die Erlaubniß erbeten haͤtten — so daß dießmal diese dramatischen Uebungen so glaͤnzend wurden, wie sie noch niemals gewesen waren. — Die ganze Einrichtung war dabei den jungen Leuten selbst uͤberlassen — und da nun Reiser mit von der Gesellschaft war, so nahm er doch auch an allen oͤffentlichen Berathschlagungen und De¬ batten Theil — eine Sache, die er von Alters her nie gewohnt gewesen war, und die ihm daher fremd vorkam — es war ihm ordentlich als kaͤme es ihm nicht recht zu , wenn man ihn auch mit in Betrachtung zog. — N 2 Ob er nun gleich eben keine aͤußere Veran¬ lassung dazu hatte, so war ihm doch die Ein¬ samkeit noch immer lieb — und seine ver¬ gnuͤgtesten Stunden waren, wenn er etwa eine Strecke vor das Thor hinaus nach einer Windmuͤhle ging, wo ringsumher in einem klei¬ nen Bezirk eine romantische Abwechselung von Huͤgeln und Thaͤlern war, und wo er sich im Garten in einer Laube eine Schale Milch geben ließ, und dabei laß — oder in seine Schreibtafel schrieb. — Dieß war schon vor mehrern Jahren einer seiner liebsten Spatziergaͤnge, und er war auch oft mit Philipp Reisern da gewesen. — Als Werthers Leiden erschienen, fiel ihm bei den reitzenden Beschreibungen von Wahlheim sogleich diese Windmuͤhle ein, und die manchen suͤßen Stunden, welche er einsam da genossen hatte. — Dann war vor dem neuen Thore ein kuͤnst¬ lich angelegtes ganz kleines Waͤldchen, worin so viele Kruͤmmungen und sich durchschlaͤngelnde Pfade angebracht waren, daß man das Waͤldchen wenigstens fur sechsmal so groß hielt, als es war, wenn man darin herumirrte — man hatte rings umher die Aussicht auf eine gruͤne Wiese, wo in der Ferne hinter den einzelnen hohen Baͤumen, unter denen Reiser so gern zu wandern pflegte, und hinter dem kleinen Gebuͤsch, wo er sich so oft gelagert hatte, der Fluß hervorschim¬ merte, mit dessen Ufern er ebenfalls, durch seine oͤftern Spatziergaͤnge an demselben, unter so manchen verschiednen Situationen seines Lebens, vertraut geworden war. — Oft wenn er am Ende dieses Waͤldchens auf einer Bank saß, und in die weite Gegend hinaus schaute, stiegen alle die vergangnen Scenen seines Lebens, der Kum¬ mer und die Sorgen, die er dort an so manchem schwuͤlen Sommertage mit sich herumgetragen hatte, wieder vor ihm auf, und das Andenken daran versetzte ihn in eine stille Wehmuth, der er mit Vergnuͤgen nachhing. — Er konnte auch in der Ferne die Bruͤcke sehn, die uͤber den Bach ging, an dem er so manche Stunde gesessen, und so manches gelesen, und gedichtet hatte. — Weil nun das Waͤldchen so nahe vor der Stadt war, so pflegte er oft des Abends im Mondschein hin¬ auszugehn, und auch wohl mit unter ein wenig zu siegwartisiren, ohne doch den Siegwart N 3 gelesen zu haben, der erst ein Jahr nachher erschien. — Hier hatte er in dem vorigen Jahre, da er neunzehn Jahr alt war, an einem rauhen Sep¬ temberabend seinen Geburtstag gefeiert — und sich selber die heiligsten Geluͤbde gethan, sein kuͤnftiges Leben besser als das vergangne zu nutzen. — Auf diesen einsamen Spatziergaͤngen verfer¬ tigte er denn auch seinen Prolog, der sich wie seine Rede mit welch ein anfing; denn in das sanft¬ klingende welch ein hatte er sich ordentlich ver¬ liebt, es schien gleich eine solche Fuͤlle von Ideen zu fassen, und alles folgende hinein zu fuͤgen — er konnte sich keinen vollklingendern Anfang den¬ ken, und hub daher denn auch seinen Prolog an: Welch eine Goͤttin geußt Entzuͤcken Ins Herz des Fuͤhlenden? Laͤßt mitleidsvoll vor seinen Blicken Oft Scenen sanfter Freud' entstehn‚ Und bildet ihre Haine schoͤn Sanfttraurender Melancholie? Sie ists des Himmels Phantasie — Oft wandelt sie auf Blumenwegen Mit ihm ins stille Thal hinab, Zeigt ihm die Unschuld da in Huͤtten, Und Freuden welche Gott ihr gab, u. s. w. Dieser Prolog wurde nun nebst dem Perso¬ nenverzeichniß wie ein kleines Buch gedruckt, und auf dem Titel stand, verfaßt von Reiser , ge¬ sprochen von I . . . — Reiser sah sich also aufs neue gedruckt, und was noch mehr war, so er¬ hielt er von seinen Mitschuͤlern den Auftrag, den Prinzen selbst zu der Komoͤdie einzuladen, wel¬ ches er denn mit dem Degen an der Seite, und in seinem Gallakleide, worin er die Rede gehal¬ ten hatte, that. — Die Noblesse und Honoratioren der Stadt wurden nun auch von den jungen Leuten selbst eingeladen, und Reiser erhielt hier wiederum Ge¬ legenheit, so wie damals, da er die Rede gehal¬ ten hatte, einen Theil der großen Welt in der Naͤhe zu sehen, den er vorher nur noch aus ei¬ ner großen Entfernung angestaunt hatte — er sahe, daß die Minister, Grafen, und Edelleute, N 4 mit denen er nun Gesicht gegen Gesicht sprach, nicht so erstaunlich von ihm verschiedene Wesen waren, sondern daß sie in ihren Aeußerungen, eben so wie die gemeinsten Leute, manchmal et¬ was sonderbares und komisches hatten, wodurch der Nimbus um sie verschwand, sobald man sie nur reden hoͤrte, und sich in der Naͤhe mit ihneu unterhielt. — So glaͤnzend nun Reisers Zustand schien, wenn er so uͤber die Straße paradirte, und in den ersten Haͤusern seine Kour machte, so war dieser Zustand doch im eigentlichen Verstande ein glaͤnzendes Elend zu nennen — denn durch das schlechte Verhaͤltniß seiner Ausgaben gegen seine Einkuͤnfte wurden seine Umstaͤnde immer mißlicher, seine Lage immer aͤngstlicher. — Ue¬ berdem druͤckte ihn das einfoͤrmige seiner Lage, und daß er noch keine Aussicht vor sich sahe, die Universitaͤt mit Anstand zu beziehen — auch war ihm nun jener Beifall aus der ersten Hand , den ein Schauspieler einerndten kann, so wichtig und so lieb geworden, daß sein Hang im¬ mer mehr nach dem Theater, als nach der Uni¬ versitaͤt war. — Es war wirklich damals gerade die glaͤnzend¬ ste Schauspielerepoche in Deutschland, und es war kein Wunder, daß die Idee sich in eine so glaͤnzende Laufbahn, wie die theatralische war, zu begeben, in den Koͤpfen mehrerer jungen Leute Funken schlug, und ihre Phantasie erhitzte — das war denn damals auch der Fall bei der dra¬ matischen Gesellschaft in H. . . — sie hatte gerade die vortrefflichsten Muster, einen Brockmann , Reinicke , Schroͤder , zu einem Zweck der Kunst vereinigt, taͤglich Lorbeern einerndten sehen, und es war wirklich kein unruͤhmlicher Gedanke, sol¬ chen Mustern nachzueifern. — Und um nun diesen Endzweck zu erreichen, brauchte man nicht erst drei Jahre auf der Uni¬ versitaͤt studirt zu haben. — Dann kam bei Rei¬ sern die unwiderstehliche Begierde zum Reisen hin¬ zu, welche sich seit der abentheuerlichen Wallfahrt nach Bremen seiner bemaͤchtigt hatte — und der Gedanke, sich aus allen seinen bisherigen Ver¬ haͤltnissen, wo selbst das beste ihm doch immer nur halb gegluͤckt war, hinaus zu versetzen, und sein Gluͤck in der weiten Welt zu suchen, fing allmaͤlig an, bei ihm der herrschende zu werden — N 5 es war aber nur noch ein bloßes Spiel seiner Phantasie; er war noch nicht eigentlich ent¬ schlossen, die Sache selbst ins Werk zu richten. — Waͤhrend dieser Zeit besuchte ihn nun sein Vater in H. . ., den er jetzt zum erstenmale in seiner Stube, die mit sehr guten Moͤbeln verse¬ hen, und schoͤn austapezirt war, bewirthen konn¬ te. — Seinem Vater suchte er nun seine Lage von der angenehmsten und vortheilhaftesten Seite zu schildern, und stellte ihm das Auffuͤhren der Komoͤdie als eine Sache vor, wodurch er nun sowohl wegen des gedruckten Prologs, als auch, weil er den Prinz selbst dazu eingeladen haͤtte, wieder neue Aufmerksamkeit auf sich errege, und sich eben so, wie durch die Rede an der Koͤnigin Geburtstage, im auffallenden Lichte wieder zei¬ gen koͤnnte. — Reisers Vater aͤußerte bei dieser Gelegenheit einen sehr wichtigen und wahren Gedanken, daß solche Vorfaͤlle, wo einer sich oͤffentlich zu seinem Vortheil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z. B. bei der Rede an der Koͤnigin Geburtstage, gleichsam wie ein Sieg zu betrachten waͤren , den man verfolgen muͤsse , weil dergleichen im Leben sich nur selten ereigne. — Reiser begleitete seinen Vater bei dessen Ruͤck¬ reise eine Stunde vor das Thor hinaus, und da sie nun an eben den Fleck kamen, wo ihm der¬ selbe einst seinen Fluch gegeben hatte, so standen sie zufaͤlligerweise still — es fiel Reisern nachher erst ein, daß dieß derselbe Fleck wnr — sie hatten sich bis dahin uͤber die wichtigsten und erhaben¬ sten Gegenstaͤnde, worin die Mystik und Meta¬ phisik zusammen treffen, unterredet, und nun schloß Reisers Vater einen Bund mit seinem Sohne, daß sie von nun gemeinschaftiich jenem großen Ziele der Vereinigung mit dem hoͤchsten denkenden Wesen, naͤher zu kommen streben woll¬ te; worauf er ihm denn auf eben dem Fleck, durch Auflegung der Hand, seinen Segen er¬ theilte, wo er ihm ehemals seinen Fluch gab. — Reiser kehrte also nun in einer sehr guten Stimmung wieder zu Hause — und blieb darin, bis nun wieder eine neue Rollenbesetzung von den Stuͤcken, die außer dem Deserteur aus Kin¬ desliebe noch aufgefuͤhrt werden sollten, seine Phantasie erregte, und seine durch vernuͤnftiges Nachdenken eingewiegten romanhaften Ideen wieder erweckte. — Die Stuͤcke, die noch aufgefuͤhrt wurden, waren Klavigo , der Mann nach der Uhr , und der Edelknabe . — Er hatte im Deserteur aus Kindesliebe mit einer unbedeutenden Ne¬ benrolle vorlieb genommen, und rechnete nun darauf, wenigstens die Rolle des Klavigo zu erhalten — so wie nun alle Wuͤnsche seines Her¬ zens sich auf das Theater hefteren, so waren sie insbesondre auf diese Rolle gleichsam gespannt — und man theilte sie nicht ihm, sondern einem an¬ dern zu, der sie offenbar schlechter spielte, wie Reiser sie gespielt haben wuͤrde. — Reisers Kraͤnkung hieruͤber war so groß, daß ihn dieser Vorfall in eine Art von wirklicher Melancholie stuͤrzte. — Wem dieß unwahrschein¬ lich oder unnatuͤrlich vorkommt, der erwaͤge, daß sein ganzer Wunsch, den er schon Jahrelang bei sich genaͤhrt hatte, jetzt gerade auf der Spitze der Erfuͤllung oder Nichterfuͤllung stand, oͤffentlich vor den versammleten Einwohnern seiner Vater¬ stadt, seine Talente zu entwickeln, und zeigen zu koͤnnen, wie tief er empfand, was er sagte, und wie maͤchtig er wieder das durch Stimme und Ausdruck zu sagen im Stande waͤre, was er so tief empfand — solche erschuͤtternde Empfindun¬ gen wieder bei tausenden zu erregen, wie Reincke, der den Klavigo spielte, in ihm erregt hatte, das war fuͤr ihn ein so großer, stolzer, nnd die Seele erhebender Gedanke, wie vielleicht nie fuͤr irgend einen Sterblichen eine Rolle in einem Trauerspiel gewesen seyn mag. — Hier waͤre nun alles das weit uͤber seine Erwartung erfuͤllt worden, was er sich schon vor mehr, als fuͤnf Jahren gewuͤnscht hatte. — Denn das Auditorium war hier so glaͤnzend und zahlreich, wie es vielleicht nie ge¬ wesen seyn mochte. — Das Schauspielhaus, welches einige tausend Personen faßte, war so voll, daß niemand mehr Platz darin fand, und unter den Zuschauern befanden sich der Prinz, nebst dem ganzen Adel, die Geistlichkeit und die Gelehrten und Kuͤnstler der Stadt. — Vor ei¬ nem solchen Auditorium, und dazu in einer Stadt, die beinahe seine Vaterstadt war, worin er erzogen, und so mancherlei wiederwaͤrtige Schicksale erlebt hatte, sich mit aller der Staͤrke der Empfindung und des Ausdrucks, die er b i s jetzt nur fuͤr sich allein hatte entwickeln koͤnnen, oͤffentlich zu zeigen — konnte in seiner Lage wohl etwas wuͤnschenswertheres fuͤr ihn seyn.— Aber vom sterbenden Sokrates an schien der Genius der Schauspielkunst auf ihn zu zuͤrnen. Er suchte sich die Rolle des Klavigo zu erbit¬ ten und zu ertrotzen, aber beides half nichts; sein Nebenbuhler siegte. — Dieß griff ihn auf seiner verwundbarsten Sei¬ te, auf dem zaͤrtlichsten Fleck seines Lebens an — alles uͤbrige wurde ihm nun dadurch verbittert — Keiner unter allen, der ihm die Rolle des Kla¬ vigo abgetreten haͤtte, wuͤrde soviel darunter ver¬ lohren haben, als er, daß er sie nicht erhielt. — Da sein eigentlicher gegenwaͤrtiger Lebensfleck ihm so verdunkelt war, so zog es sich auch wieder uͤber sein ganzes uͤbriges Leben wie ein Flor; alles huͤllte sich ihm in melancholische Trauer — er suchte die Einsamkeit wieder, wo er nur konnte und fing an, sich in seinem aͤußern zu vernach¬ laͤssigen. — Philipp Reiser machte indes auf seiner Stube Klaviere, und nahm an allen diesen Possen kei¬ nen Theil. — Anton Reiser war seit seiner Ver¬ bindung mit der dramatischen Gesellschaft selten zu ihm gekommen — jetzt da es ihm so wenig nach Wunsch ging, besuchte er ihn wieder oͤfter, hing bei ihm seiner Schwermuth nach, ohne ihm doch den eigentlichen Grund davon zu sagen — denn er wollte sich gegen sich selbst nicht einmal recht merken lassen, daß seine Schwermuth bloß davon herruͤhrte, weil er die Rolle des Klavigo nicht erhalten hatte, sondern er wollte sich lie¬ ber uͤberreden, daß dieselbe eine Folge von sei¬ ner Betrachtung des menschlichen Lebens uͤber¬ haupt sey. — Indes wurde ihm von der Zeit an, daß er die Rolle des Klavigo nicht erhielt, sein Aufent¬ halt in H. . . laͤstig, er fing von der Zeit an, un¬ stet und fluͤchtig zu werden. — Sein Jahrelanger sehnlichster Wunsch mußte in Erfuͤllung gebracht werden, mochte es auch nun seyn, wo es wollte — er mußte irgendwo alles das wirklich ma¬ chen, was bis jetzt durch eine so lang anhaltende Komoͤdienlektuͤre, und seinen schon so lange fort¬ daurenden Hang zum Theater, in seiner Phan¬ tasie reif geworden war. — Als der Klavigo probirt wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt — und waͤhrend daß J. . . als Beaumarchais auf dem Theater wuͤthe¬ te, wuͤthete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Rase¬ rel ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt, und sich die Haare raufte. — Denn die Erleuch¬ tung, die Blicke unzaͤhliger Zuschauer, alle auf ihn allein hingeheftet, und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkraͤfte aͤußernd, durch die Erschuͤtterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend — das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwaͤrtig — und nun sollte er nichts, wie unter der Menge verlohren , ein bloßer Zuschauer seyn, wie er jetzt war, waͤhrend daß ein Dummkopf, der den Klavigo spielte, alle die Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem staͤrker empfindenden, gebuͤhrt haͤtte. — Nach alle den vorhergehenden Situa¬ tionen, worin er sich seit Jahren beunden hatte, war ihm nun die Rolle des Klavigo gleichsam Zweck seines Lebens geworden, das das durch tausend druͤckende Lagen ein¬ mal ganz unter die Herrschaft der Phan¬ tasie zuruͤckgedraͤngt war, die nun uͤber dasselbe ihre Rechte ausuͤben wollte. — — Die Seite war bis zur hoͤchsten Span¬ nung hinaufgewunden und nun sprang sie . — Als diese schreckliche Probe vorbei war, so fand sich Reiser wieder ganz allein, ohne einen Feund, ohne einen der sich seiner annahm. — Er wollte doch jemanden seinen Kummer klagen, und ging zu J. . ., der sich von dem Augenblick fester wie jemals an ihn schloß, weil gerade das¬ selbe Beduͤrfniß bey ihm war, was Reisern zu ihm trieb. — J. . .s Phantasie war ebenfalls bis auf den hoͤchsten Grad gespannt, und sein Hang zum Theater uͤberwiegend geworden, er bedurfte ei¬ nen, dem er seine geheimsten Wuͤnsche, und seinen Kummer entdecken konnte. — Nun hatten sein Vater und sein aͤlterer Bru¬ der nicht ohne Grund befuͤrchtet, daß der Hang zum Theater, durch den großen Beifall, den er sich durch sein Spiel erwarb, zu sehr genaͤhrt 3r Theil . O und am Ende uͤberwiegend werden moͤgte, nnd ihm daher untersagt, an den dramatischen Ue¬ bungen ferner Theil zu nehmen, wogegen er nun freilich alle moͤglichen Einwendungen machte, und eben jetzt noch deswegen mit seinem Vater in Unterhandlung stand, — Er machte nun Rei¬ sern zum Vertrauten von seinem Vorsatz, sich ganz dem Theater zu widmen, so wie er ehmals mit ihm uͤber seinen Entschluß, ein Dorfprediger zu werden, gesprochen hatte. — Die Rolle, wel¬ che J. . . schon gespielt hatte, war der Deserteur im Deserteur aus Kindesliebe , und der Jude im Diamant , der als Nachspiel zum Deserteur gegeben wurde. — Den Juden hatte er so mei¬ sterhaft gespielt, daß er nachher mit eben dieser Rolle unter Eckhofs Augen debuͤtirte, und seine theatralische Laufbahn eroͤfnete — so wie er sich nun durch den Juden im hoͤchsten Komischen gezeigt hatte, so zeigte er sich durch den Beaumar¬ chais im hoͤchsten Ttragischen , und sein Spiel war wirklich in dieser letztern Rolle so hinreißend, daß man Brockmann selbst zu hoͤren und zu se¬ hen glaubte; und das Vergnuͤgen sich in dieser Rolle oͤffentlich zu zeigen, sollte ihm nun verleidet werden. — Er noͤthigte Reisern, die Nacht bei ihm auf seiner Stube zu bleiben, wo sie sich denn in reitzenden Traͤumen von der Gluͤckseligkeit, die der Stand eines Schauspielers gewaͤhrte, ver¬ lohren, bis sie beide daruͤber einschliefen. — Jetzt waren sie beide fast unzertrennlich, und Tag und Nacht beisammen. — Und einst, da sie an einem warmen aber truͤben Morgen vors Thor hinausgingen, sagte I. . ., dieß waͤre gu¬ tes Wetter, davon zu gehen — und das Wetter schien auch so reisemaͤßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend , die Gegenstaͤnde umher so dunkel, gleichsam als sollte die Auf¬ merksamkeit nur auf die Straße, die man wan¬ dern wollte, hingeheftet werden. — Die Idee wurde in beider Koͤpfen so rege, daß nicht viel fehlte, sie haͤtten sie gleich ins Werk gerichtet — indes wollte doch I. . . wo moͤglich in H. . . noch seinen Beaumarchais spielen — sie kehrten also nach der Stadt wieder um — so sehr sich nun auch I. . . fuͤr Reisern mit bewarb, so war es doch unmoͤglich, daß dieser die Rolle des Klavigo erhalten konnte — statt dessen trat ihm endlich der, welcher den Klavigo spielte, den Fuͤrsten im O 2 Edelknaben ab — und in dem Manne nach der Uhr erhielt Reiser die Rolle des Magister Bla¬ sius. — Reiser war nun daruͤber melancholisch, daß er den Klavigo nicht spielen sollte, und J. . . daß er uͤberhaupt nicht mehr mit Komoͤdie spielen sollte — beide aber suchten sich zu uͤberreden, daß sie des Lebens um sein selbst willen uͤberdruͤssig waͤren, und luden sich einmal des Nachts zwei Pistolen, womit sie fast die ganze Nacht hindurch Kurzweil trieben, indem sie seyn oder nicht seyn hertragierten. — Bei Reisern ging indes der Lebensuͤberdruß in der That so weit, daß er nicht aus der Stelle wich, wenn J. . . die geladene Pistole auf ihn hielt, und den Finger anlegte, um sie abzu¬ druͤcken, indes Reiser eben dasselbe wieder gegen ihn that. — Am andern Tage aber hatte er einen etwas ernsthaftern Auftritt mit Philipp Reisern, den er besuchte. — Er hatte die Nacht nicht geschla¬ fen, eine dumme Traͤgheit blickte aus seinen hohlen Augen hervor, der Lebensuͤberdruß saß auf seiner Stirne, alle Spannkraft seiner Seele war dahin — er sagte zu Philipp Reisern guten Tag! — und dann stand er da, wie ein Stock. — Philipp Reiser, der ihn schon oͤfter, aber noch nie in dem Grade in einem solchen Zustande der Erschlaffung gesehen hatte, und der nun zu fuͤrch¬ ten anfing, daß es wohl gaͤnzlich mit ihm vorbei seyn moͤchte — that ihm im ganzen Ernst, den Vorschlag, daß er ihn todtschießen wollte , ehe ein verworfner und schlechter Mensch aus ihm wuͤrde, wie jetzt der Fall waͤre. — Mit Philipp Reisern, dessen Begriffe ebenfalls roman¬ haft und uͤberspannt waren, war in solchen Faͤl¬ len nicht zu spaßen. — Anton Reiser verbat sich also diese Kur noch fuͤr jetzt, und versicherte, daß er sich wohl noch einmal von seiner jetzigen Er¬ schlaffung wieder erhohlen wuͤrde. — Indes fing nun seine Lage an, immer mi߬ licher zu werden — durch die Ausgaben, welche sein Theilnehmen an der Auffuͤhrung der Komoͤ¬ dien erforderte, die seine Einkuͤnfte weit uͤber¬ stiegen, und durch die Versaͤumniß der Lehrstun¬ den, welche er gab, stuͤrzte er sich immer tiefer in Schulden, und fing bald an den nothwendigsten O 3 Beduͤrfnissen des Lebens wieder an, Mangel zu leiden, weil er nicht die Kunst gelernt hatte, auf Kredit zu leben. — Seine Garderobe als Fuͤrst im Edelknaben, die er sich, so wie jeder die seinige, selbst anschaf¬ fen mußte, kostete ihm allein so viel, als wovon er einen Monath lang alle seine Ausgaben haͤtte bestreiten koͤnnen — und fuͤr dieß alles erreichte er doch nicht einmal seinen Zweck, sich in einer auffallenden tragischen Rolle zeigen zu koͤnnen, welches doch eigentlich von jeher sein Wunsch ge¬ wesen war. — Von den drei Stuͤcken, die an einem Abend nacheinander aufgefuͤhrt wurden, war Klavigo das erste, der Mann nach der Uhr das zweite, und der Edelknabe blieb bis zuletzt. — Waͤhrend daß nun der Klavigo aufgefuͤhrt wurde, suchte Reiser in der Anziehstube dicht bei dem Theater, so viel wie moͤglich seine Sinne zu betaͤuben, und sich die Ohren zu verstopfen — jeder Laut, den er vom Theater hoͤrte, war ihm ein Stich durch die Seele — denn hier war es, wo nun eben das schoͤnste Gebaͤude seiner Phan¬ tasie, woran Jahrelang gebaut worden war, wirklich scheiterte, und er mußte es selbst mit an¬ sehen, ohne es im mindesten verhindern zu koͤn¬ nen — er suchte sich mit den beiden Rollen, die er noch zu spielen hatte, zu troͤsten, und alle seine Aufmerksamkeit darauf zu heften, aber es war vergeblich — waͤhrend daß die Rolle des Klavigo nun von einem andern vor einer solchen Menge von Zuschauern wirklich gespielt wurden, war ihm zu Muthe, wie einer der alle sein Haab und Gut ohne Rettung in den Flammen aufgehen sieht — noch bis zum letzten Tage hatte er immer gehofft, diese Rolle, es koste auch was es wolle, zu erhalten — nun aber war alles vorbei . — Und da nun wirklich alles vorbei, und Kla¬ vigo zu Ende gespielt war, so wurde ihm wieder etwas leichter. — Aber ein Stachel blieb doch immer in seiner Brust zuruͤck. — Er spielte nun im Mann nach der Uhr, worin J. . . den Mann nach der Uhr machte, die Rolle des Magister Blasius mit allem Beifall — Aber dieß war nicht der rechte Beifall, den er sich gewuͤnscht hatte. — Er wollte nicht zum Lachen reitzen, son¬ dern durch sein Spiel die Seele erschuͤttern. — Der Fuͤrst im Edelknaben war nun zwar ein D 4 edle aber doch eine zu sanfte Rolle fuͤr ihn — und uͤberdem mißlang es gewißermaßen mit der ganzen Auffuͤhrung des Stuͤcks — denn da der Klavigo und den Mann nach der Uhr zu Ende waren, so gingen die meisten Zuschauer weg, weil es schon sehr spaͤt war, und es blieb nicht der dritte Theil da, welche den Edelknaben noch abwarteten — dieß und der quaͤlende Gedanke an den Klavigo, den er immer noch nicht unter¬ druͤcken konnte, war Ursach, daß Reiser den Fuͤr¬ sten im Edelknaben sehr nachlaͤssig, und weit schlechter spielte, als er ihn haͤtte spielen koͤnnen — und da nun alles geendigt war, mißvergnuͤgt und traurig zu Hause ging. — Er dachte aber dabei doch noch dereinst seine Lust zu buͤßen, sich auf dem Theater in einer heftigen und erschuͤt¬ ternden Rolle zu zeigen, moͤchte es auch kosten, was es wolle. — Daß ihm zum erstenmale dieser Genuß versagt war, reitzte seine Begierde dar¬ nach nur noch staͤrker — und wie konnte er siche¬ rer die Erfuͤllung seines hoͤchsten Wunsches hof¬ fen, als wenn er das zum eigentlichen Geschaͤft seines Lebens machte, woran ohnedem schon sein ganzes Herz hing. — Der Gedanke, sich dem Theater zu widmen , bekam daher, statt nie¬ dergedruͤckt zu werden, noch immer mehr Gewalt uͤber ihn. — Allein, so wie man immer , zu dem was man zu thun wuͤnscht , sich selbst die drin¬ gendsten Bewegungsgruͤnde zu schaffen sucht , um sein Betragen gleichsam gegen sich selbst zu rechtfertigen — so suchte sich auch Reiser die Bezahlung der kleinen Schulden, die er zu machen verleitet war, als eine so un¬ moͤgliche Sache, und die Entdeckung derselben, als etwas so mißliches vorzustellen, daß er schon dieserwegen sich aus H. . . entfernen zu muͤssen glaubte. — Aber seine eigentlichen Bewegungs¬ gruͤnde waren, der unwiderstehliche Trieb nach Veraͤnderung seiner Lage , und die Begierde, sich auf irgend eine Weise, sobald wie moͤg¬ lich , oͤffentlich zu zeigen, um Ruhm und Beifall einzuerndten, wozu ihm nun freilich nichts be¬ quemer, als das Theater scheinen mußte, wo es einem nicht einmal darf zur Eitelkeit angerechnet werden, daß er sich so oft wie moͤglich zu seinem Vorteil zeigen will, sondern, wo die Sucht nach Beifall gleichsam privilegirt ist . — O 5 Indes fingen seine kleinen Schulden freilich auch an, ihn zu druͤcken, wozu noch ein paar Demuͤthigungen kamen, die ihm vollends sei¬ nen laͤngern Aufenthalt in H. . . zum Eckel machten. — Die eine bestand darin, daß ein junger Edel¬ mann, den er unterrichtete, und mit dem er sich, auf der Stube desselben, manchmal noch ein we¬ nig zu unterhalten pflegte, zu ihm sagte, er habe die Ehre , sich ihm zu empfehlen , ehe sich Rei¬ ser selbst noch empfohlen hatte. — Es war sehr wahrscheinlich, daß jener wirklich geglaubt hatte, Reiser mache Mine zum Weggehen, und also mit dem Abschiedskomplimente ein wenig zuvor¬ kommend gewesen war — aber eben dieß zuvor¬ kommende war fuͤr Reisern so erschrecklich auf¬ fallend, und druͤckte auf einmal so sehr sein gan¬ zes Wesen darnieder, daß er, da er schon hinaus war, noch eine Weile still stand, und ihm die Arme am Koͤrper niedersanken — dieß zuvor¬ kommende ich habe die Ehre mich Ihnen zu empfehlen , gesellte sich ploͤtzlich in seiner Idee zu dem dummer Knabe ! Des Inspektors auf dem Seminarium , zu dem ich meine ihn ja nicht! Des Kaufmanns, zu dem par nobile Fratrum der Primaner, und zu dem das ist ja eine wahre Dummheit ! Des Rektors — Er fuͤhlte sich auf einige Augenblicke wie vernich¬ tet, alle seine Seelenkraͤfte waren gelaͤhmt. — der Gedanke des auch nur einen Augenblick laͤ¬ stig gewesen seyns, fiel wie ein Berg auf ihn — er haͤtte in dem Moment dieß irgend einem Geschoͤpf außer ihm so laͤstige Daseyn abschuͤt¬ teln moͤgen. — Dann ging er aus dem Thore nach dem Kirchhofe, wo der Sohn des Pastor M. . . be¬ graben lag, und weinte bei dessen Grabe die bit¬ tersten Thraͤnen des Unmuths und Lebensuͤber¬ drusses. — Alles erschien ihm auf einmal in ei¬ nem traurigen melancholischen Lichte — die ganze Zukunft seines Lebens war duͤster — er wuͤnschte mit dem Staube vermischt zu seyn, den sein Fuß betrat, und dieß alles noch, wegen des zuvor ¬ kommenden : ich habe die Ehre mich Ih¬ nen zu empfehlen . — Diese Worte ließen ei¬ nen Stachel in seiner Seele zuruͤck, den er ver¬ geblich wieder herauszuziehen suchte — ob er dieß gleich sich selber nicht eigentlich gestand, son¬ dern seinen Unmuth und Lebensuͤberdruß, aus allgemeinen Betrachtungen uͤber die Nichtigkeit des menschlichen Lebens, und die Eitelkeit der Dinge, herzuleiten suchte — freilich fanden sich denn auch diese allgemeinen Betrachtungen ein, die aber ohne jene herrschende Idee nur seinen Verstand beschaͤftigt, nicht aber sein Herz in Be¬ wegung gesetzt haben wuͤrden. — Im Grunde war es das Gefuͤhl, der durch buͤrgerliche Verhaͤltnisse unterdruͤckten Menschheit , das sich seiner hiebei bemaͤchtigte, und ihm das Leben verhaßt machte — er mußte einen jungen Edel¬ mann unterrichten, der ihn dafuͤr bezahlte, und ihm nach geendigter Stunde auf eine hoͤfliche Art die Thuͤre weisen konnte, wenn es ihm be¬ liebte — was hatte er vor seiner Geburt verbro¬ chen, daß er nicht auch ein Mensch geworden war, um den sich eine Anzahl anderer Menschen bekuͤmmern, und um ihn bemuͤht seyn muͤssen — warum erhielt er gerade die Rolle des Arbei¬ tenden und ein andrer des Bezahlenden ? — Haͤtten ihn seine Verhaͤltnisse in der Welt gluͤck¬ lich und zufrieden gemacht, so wuͤrde er allent¬ halben Zweck und Ordnung gesehen haben, jetzt aber schien ihm alles Widerspruch, Unordnung, und Verwirrung. — Da er nun zu Hause ging, so wurde er auf der Straße erstlich von einem seiner Glaͤubiger gemahnet — und da er mit gesenktem Haupte melancholisch vor sich hin ging, so hoͤrte er hinter sich einen Jungen zum andern sagen: da geht der Magister Blasius ! — Dieß brachte ihn so auf, daß er dem Jungen auf der Straße ein paar Ohrfeigen gab, welcher nun hinter ihm herschimpfte, bis Reiser seine Wohnung er¬ reichte. — Von dem Tage an, war Reisern der Anblick von den Straßen in H. . . ein Greuel — und vor allem war die Straße, wo der Junge hinter ihm hergeschimpft hatte, ihm am verabscheuungswuͤr¬ digsten; er vermied es, wo er konnte, durch die¬ selbe zu gehen, und wenn er doch durchgehen mußte, so war es ihm, als ob die Haͤuser auf ihn fallen wollten — wohin er trat, glaubte er hinter sich den spottenden Poͤbel, oder einen ungeduldi¬ gen Glaͤubiger zu hoͤren. — Diese Demuͤthigungen waren zu schnell nach¬ einander gekommen, als daß er sich unter dem Druck, welcher ihm von nun an den Ort seines Aufenthalts verhaßt machte, nocheinmal haͤtte wieder emporarbeiten koͤnnen. — Der Gedanke, H. . . zu verlassen, und sein Gluͤck in der weiten Welt zu suchen, wurde von nun an fester Ent¬ schluß, den er aber doch niemanden, als Philipp Reisern entdeckte — dieser war damals sehr mit sich selber beschaͤftigt, weil er wieder einen ver¬ liebten Roman spielte, und alle seine Aufmerk¬ samkeit darauf wandte, wie er seinem Maͤdchen gefallen wollte. — Anton Reisers Schicksal war ihm daher etwas weniger wichtig, als es ihm zu einer andern Zeit wuͤrde gewesen seyn. — Ohngeachtet Anton Reiser vielleicht in weni¬ gen Tagen H. . . auf immer zu verlassen im Be¬ griff war, so unterhielt ihn sein Freund dennoch mit dem ganzen Detail seiner Liebschaft, als wenn jener den Erfolg von dem allen haͤtte ab¬ warten koͤnnen. — Dieß aͤrgerte ihn denn zu¬ weilen wohl — aber Philipp Reiser war doch einmal sein naͤchster Vertrauter — und er hatte niemanden außer ihm, dem er sich haͤtte entdecken moͤgen. — Weil er doch aber nun, um sein Gluͤck in der weiten Welt zu suchen, sich irgend einen Ort in der weiten Welt zum Ziel seiner Wanderung machen mußte, so waͤhlte er Weimar hierzu, wo sich damals die Seilersche Truppe, uͤber welche Eckhof die Direktion fuͤhrte, aufhalten sollte. — Hier wollte er seinen Entschluß, sich dem Theater zu widmen, ins Werk zu richten suchen. — Waͤhrend nun, daß er mit diesem Gedanken umging, erlitt' er noch eine Demuͤthigung, die ihn vollends in seinem Entschluß bestaͤrkte. — Er ging nehmlich eines Nachmittags mit ei¬ ner Anzahl seiner Mitschuͤler, die von der dra¬ matischen Gesellschaft waren, in einem oͤffent¬ lichen Garten vor der Stadt spatziren. — Nun mochten ihm wohl die Gedanken, womit er um¬ ging, ein sonderbares zerstreutes Ansehen geben, wodurch er sich vor seiner Gesellschaft eben nicht zu seinem Vortheil auszeichnete — und seine Mitschuͤler fielen, ehe er sichs versahe, auf ein¬ mal wieder mit einem solchen Spott uͤber ihn her, daß es ihm auch nicht moͤglich war, gegen alles, was sie sagten, nur ein Wort vorzubrin¬ gen. — Da nun ihr Witz freien Spielraum fand, so war des Witzelns kein Ende — und da nun uͤberdem ein paar Offiziere in der Naͤhe standen, die dem Gespraͤch zuhoͤrten, so konnte Reiser nicht laͤnger ausdauern — er schlich sich vom Tische weg, bezahlte dem Wirth, was er fuͤr seinen Theil schuldig war — und eilte so schnell er konnte fort — und sobald er nun allein war, brach er aufs neue in laute Verwuͤnschun¬ gen uͤber sich und sein Schicksal aus. — Er spottete uͤber sich selbst, weil er sich zum Spott und zur Verachtung gebohren glaubte. — Woher kam es denn auch, daß er zum Spott der Welt gleichsam an der Stirne gebrandtmarkt war? — was hastete denn fuͤr ein Mal des Laͤ¬ cherlichen an ihm, das durch nichts konnte aus¬ geloͤscht werden? — das ihn jetzt, da er doch von seinen Mitschuͤlern geachtet war, aufs neue wieder in einer boͤsen Stunde ihrem Ge¬ laͤchter Preis gab? — Es war die unverantwortliche Seelenlaͤh¬ mung durch das zuruͤcksetzende Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn, die er von seiner Kind¬ heit an noch nicht hatte wieder vermindern koͤn¬ nen. — Es war ihm unmoͤglich geworden, je¬ manden außer sich, wie seines Gleichen zu betrachten — jeder schien ihm auf irgend eine Art wichtiger , bedeutender in der Welt, als er, zu seyn — daher daͤuchten ihm Freund¬ schaftsbezeigungen von andern gegen ihn immer eine Art von Herablassung — weil er nun glaubte , verachtet werden zu koͤnnen , so wurde er wirklich verachtet — und ihm schien oft das schon Verachtung, was ein anderer, mit mehr Selbstgefuͤhl, nie wuͤrde dafuͤr genommen haben. — Und so scheint nun einmal das Ver¬ haͤltniß der Geisteskraͤfte gegeneinander zu seyn; wo eine Kraft keine entgegengesetzte Kraft vor sich findet, da reißt sie ein und zerstoͤrt, wie der Fluß, wenn der Damm vor ihm weicht. — Das staͤrkere Selbstgefuͤhl verschlingt das schwaͤchere unaufhaltsam in sich — durch den Spott , durch die Verachtung , durch die Brand ¬ markung des Gegenstandes zum Laͤcher ¬ lichen . — Das Laͤcherlichwerden ist eine Art von Vernichtung, und das Laͤcherlichmachen 3r Theil . P eine Art von Mord des Selbstgefuͤhls, die nicht ihres Gleichen hat. — Von allen außer sich ge¬ haßt zu werden, ist dagegen wuͤnschens und begehrenswerth. — Dieser allgemeine Haß wuͤrde das Selbstgefuͤhl nicht toͤdten, sondern es mit einem Trotz beseelen, wovon es auf Jahrtausende leben, und gegen diese hassende Welt Wuth knir¬ schen koͤnnte. — Aber keinen Freund, und nicht einmal einen Feind zu haben — das ist die wahre Hoͤlle, die alle Qualen der fuͤhlbaren Vernichtung eines denkenden We¬ sens in sich faßt. — Und diese Hoͤllenqual war es, welche Reiser empfand, so oft er sich aus Mangel am Selbstgefuͤhl, fuͤr einen wuͤrdigen Gegenstand des Spottes und der Verachtung hielt — seine einzige Wonne war dann, wenn er fuͤr sich allein war, in lautes Hohngelaͤchter uͤber sich selber auszubrechen, und das nun selber gleichsam an sich zu vollenden, was die Wesen außer ihm angefangen hatten. — „Wenn diese Wesen mich verspotten und zerstoͤren, „Die staͤrker und vollkommner sind, als ich, „Warum soll ich des Mitleids Stimme hoͤren, „Und weinen schaͤndlich uͤber mich? —“ Da er nun also dem hohnlachenden Cirkel seiner Mitschuͤler entflohn war — so schweifte er in der einsamen Gegend umher und entfernte sich immer weiter von der Stadt, ohne ein Ziel zu haben, wohin er seine Schritte richtete. — Er ging immer querfeldein bis es dunkel wurde — da kam er an einen breiten Weg, der zu ei¬ nem Dorfe fuͤhrte, das er vor sich liegen sahe — der Himmel fing an, sich immer duͤstrer zu um¬ ziehn, und drohte Regenwetter — die Raben fingen an zu kraͤchzen, und zwei, die immer uͤber seinem Kopfe hinflogen, schienen ihm das Geleite zu geben — bis er an den kleinen engen Kirch¬ hof des Doͤrfchens kam, welcher gleich vorne an lag, und mit unordentlich uͤbereinandergelegten Steinen eingefaßt war, die eine Art von Mauer vorstellen sollten. — Die Kirche mit dem kleinen spitzen Thurme, der mit Schindeln gedeckt war, P 2 in der dicken Mauer nach jeder Seite zu mir ein einziges Fensterchen, durch welches das Licht schraͤg hereinfallen konnte — die Thuͤre wie halb in die Erde versunken, und so niedrig, daß es schien, man koͤnne nicht anders als gebuͤckt hineingehen. — Und eben so klein nnd unansehn¬ lich, wie die Kirche war, so enge und klein war auch der Kirchhof, wo die aufsteigenden Grab¬ huͤgel dichtaneinander gedraͤngt, und mit hohen Nesseln bewachsen waren. — Der Horizont war schon verdunkelt; der Himmel schien in der truͤben Daͤmmerung allenthalben dicht auf zu liegen, das Gesicht wurde auf den kleinen Fleck Erde, den man um sich her sahe, begr aͤ nzt — das Winzige und Kleine des Dorfes, des Kirchhofes, und der Kirche that auf Reisern eine sonderbare Wir¬ kung — das Ende aller Dinge schien ihm in solch eine Spitze hinauszulaufen — der enge dumpfe Sarg war das letzte — hierhinter war nun nichts weiter — hier war die zugenagelte Bretterwand — die jedem Sterblichen den fer¬ nern Blick versagt. — Das Bild erfuͤllte Reisern mit Eckel — der Gedanke an dieß Auslaufen in einer solchen Spitze , dieß Aufhoͤren ins Enge, und noch engere, und immer engere — wohinter nun nichts weiter mehr lag — trieb ihn mit schrecklicher Gewalt von dem winzigen Kirchhofe weg, und jagte ihn vor sich her, in der dunklen Nacht, als ob er dem Sarge, das ihn einzuschließen drohte, haͤtte entfliehen wol¬ len. — Das Dorf mit dem Kirchhofe war ihm ein Anblick des Schreckens, so lange er es noch hinter sich sahe — auf dem Kirchhofe war ihm ein sonderbarer Schrecken angewandelt — was er so oft gewuͤnscht hatte, schien ihm gewaͤhrt zu werden, das Grab schien seine Beute zu for¬ dern, und noch stets, so wie er flohe, hinter ihm seinen Schlund zu eroͤfnen — erst da er ein an¬ dres Dorf erreichte, war er wieder ruhiger. — Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Ge¬ danken des Todes so schrecklich machte, war die Vorstellung des Kleinen , die, so wie sie herr¬ schend wurde, in seine Seele eine fuͤrchterliche Leere hervorbrachte, welche ihm zuletzt unertraͤg¬ lich war. — Das Kleine nahet sich dem Hin¬ schwinden, der Vernichtung — die Idee des Kleinen ist es, welche Leiden , Leerrheit , und Traurigkeit hervorbringt — das Grab ist das P 3 enge Hans , der Sarg ist eine Wohnung, still , kuͤhl , und klein — Kleinheit erweckt Leer¬ heit , Leerheit erweckt Traurigkeit — Trau¬ rigkeit ist der Vernichtung Anfang — unend¬ liche Leere ist Vernichtung. — Reiser empfand auf dem kleinen Kirchhofe die Schrecken der Vernichtung — der Uebergang vom Daseyn zum Nichtseyn, stellte sich ihm so anschaulich und mit solcher Staͤrke und Gewißheit dar, daß seine ganze Existenz nur noch wie an einem Fa¬ den hing, der jeden Augenblick zu zerreissen drohte. — Nun war also auf einmal aller Lebensuͤber¬ druß bei ihm verschwunden — er suchte in sei¬ ner Seele wieder eine gewisse Ideenfuͤlle hervor¬ zubringen, um sich gleichsam nur vor der gaͤnz¬ lichen Vernichtung zu retten — und da er von ohngefaͤhr auf die Heerstraße nach N. . . gerieth, wo seine Eltern wohnten, und ihm nun auf ein¬ mal diese ganze Gegend bekannt war — so nahm er sich erst vor, die ganze Nacht durch zu gehen, und seine Eltern noch einmal mit einem unver¬ mutheten Besuch zu uͤberraschen. — Eine Meile war er schon von H. . . und hatte also ohngefaͤhr noch fuͤnf Meilen zuruͤckzulegen. — Allein der Gedanke, daß er seinen Eltern nichts von seinem Entschluß haͤtte entdecken duͤrfen, und doch mit schwerem Herzen von ihnen haͤtte Abschied nehmen muͤssen, verleidete ihm diesen Vorsatz wieder, da es uͤberdem gegen Mitter¬ nacht stark zu regnen anfing. — Er ging also aufs neue mitten im Regen und Dunkel durch das hohe Korn queerfeldein nach der Stadt zu — es war eine warme Sommernacht, und der Regen und die Dunkelheit waren ihm bei dieser menschenfeindlichen naͤchtlichen Wanderung die angenehmsten Gesellschafter — er fuͤhlte sich groß und frei in der ihn umgebenden Natur — nichts druͤckte ihn, nichts engte ihn ein — er war hier auf jedem Fleck zu Hause, wo er sich niederlegen wollte, und dem Anblick keines Sterblichen ausgesetzt. — Er fand zuletzt eine ordentliche Wonne darin, durch das hohe Korn hinzugehen, ohne Weg und Steg — durch nichts, nicht einmal durch ein eigentliches Ziel gebunden, nach welchem er seine Schritte haͤtte richten muͤssen. — Er fuͤhlte sich in dieser Stille P 4 der Mitternacht frei, wie das Wild in der Wuͤste — die weite Erde war sein Bette — die ganze Natur sein Gebiet. — So wanderte er die ganze Nacht hindurch bis der Tag anbrach — und als er die Gegen¬ staͤnde allmaͤlig wieder unterscheiden konnte, so daͤuchte es ihm nach der Gegend, als ob er ohn¬ gefaͤhr noch eine halbe Meile von H... waͤre — auf einmal aber befand er sich, ehe er sichs ver¬ sahe, dicht an einer großen Kirchhofsmauer, die er sonst nie in dieser Gegend bemerkt hatte — er nahm alle sein Nachdenken zusammen, und suchte sich zu orientieren, aber es war vergeb¬ lich — er konnte die lange Kirchhofsmauer aus dem Zusammenhange der uͤbrigen Gegenstaͤnde nicht erklaͤren; sie war und blieb ihm eine Er¬ scheinung, welche ihn eine Zeitlang wirklich zwei¬ feln ließ, ob er wache oder traͤume — er rieb sich die Augen — aber die lange Kirchhofsmauer blieb immer da — uͤberdem war auch durch sein sonderbares Nichtwandern, und durch das Wegfal¬ len der gewohnten Pause, wodurch die Vorstellun¬ gen des Tages der Natur gemaͤß unterbrochen werden, seine Phantasie zerruͤttet — er fing selbst an, fuͤr seinen Verstand zu fuͤrchten, und war vielleicht wirklich dem Wahnwitz nahe, als er endlich die vier Thuͤrme von H. . . wieder durch den Nebel sahe, und nun wußte, wo er war. — Die Morgendaͤmmerung hatte ihn ge¬ taͤuscht, daß er die Gegend fuͤr eine andre hielt, die noch eine halbe Meile von H. . . lag, und mit dieser, die dicht vor der Stadt war, sehr viel Aehnlichkeit hatte. — Der große Kirchhof, in dessen Mitte eine kleine Kapelle stand, war der ordentliche Kirchhof, dicht vor H. . ., und Reisern war nun auf einmal die ganze Gegend wieder bekannt — er erwachte wirklich, wie aus einem Traume. — Aber wenn irgend etwas faͤhig ist, jemanden dem Wahnwitz nahe zu bringen, so sind es wohl vorzuͤglich die verruͤckten Ovts und Zeitideen , woran sich alle unsre uͤbrigen Begriffe festhalten muͤssen. — Dieser neue Tag war fuͤr Reisern, wie kein neuer Tag, weil zwischen diesem und dem vorhergehenden Tage keine Unterbre¬ chung der Wirkungen seiner vorstellenden Kraft statt gefunden hatte. — Er ging in die Stadt; es war noch fruͤhmorgens, und auf den Straßen P 5 herrschte eine Todtenstille. — Das Haus, die Stube, worin er wohnte, alles kam ihm anders, fremd, und sonderbar vor. — Diese Nachtwan¬ derung hatte eine Veraͤnderung in seinem ganzen Gedankensystem hervorgebracht — er fuͤhlte sich in seiner Wohnung von nun an nicht mehr zu Hause — die Ortsideen schwankten in seinem Kopfe hin und her — er war den ganzen Tag uͤber, wie ein Traͤumender — bei dem allen aber war ihm die Erinnerung an die Nachtwan¬ derung angenehm. — Das Kraͤchzen der beiden Raben, die uͤber seinem Kopfe hinflogen, der kleine Dorfkirchhof , die durchwanderten Kornfelder , alles draͤngte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammen, und machte zusam¬ men eine dunkle Gruppe, ein schoͤnes Nachtstuͤck aus, woran sich seine Phantasie noch oft nachher in einsamen Stunden ergoͤtzt hat. — Allein sein Aufenthalt in H. . . wurde ihm von nun an, wo moͤglich noch verhaßter — und der Wandergeist hatte sich seiner nun ganz be¬ maͤchtigt — dieß war aber auch der Fall bei meh¬ rern von den jungen Leuten, welche mit Komoͤ¬ die gespielt hatten. — Einer Nahmens T. . ., der vorher ein aͤußerst stiller, fleißiger, und or¬ dentlicher Mensch war, entdeckte Reisern im Vertrauen seine Unzufriedenheit mit seinem kuͤnftigen Stande eines Theologen, wozu er be¬ stimmt war, und unterredete sich mit ihm uͤber die Gluͤckseligkeit, welche der Schauspielerstand gewaͤhrte, wobei er gegen die Vorurtheile dekla¬ mirte, die diesen ehrenvollen Stand noch im¬ mer unverdienter Weise herabsetzten. — Dieß Gespraͤch hielten beide auf einem Spa¬ ziergange nach einem kleinen Dorfe vor H...; und sie hatten sich so in ihrer Unterredung ver¬ tieft, daß sie von der Nacht uͤberfallen, und in dem Dorfe zu bleiben genoͤthigt wurden. — Dieß ungewoͤhnliche Uebernachten an einem fremden Orte, setzte beiden noch mehr roman¬ hafte Ideen in den Kopf — es daͤuchte ihnen schon, als ob sie auf Abentheuer ausgingen, und Gluͤck und Ungluͤck mit einander theilten. — Der kuͤhne Vorsatz dieser beiden Abentheurer, sich uͤber alle Vorurtheile der Welt hinwegzu¬ setzen, und ihrer Neigung, oder ihrem Beruf , wie sie es nannten, zu folgen, blieb denn auch nicht unausgefuͤhrt. — Reiser machte den An¬ fang, und T. . . folgte ihm bald, wurde aber noch gluͤcklich wieder zuruͤckgebracht. — Reiser machte indes, ehe er seinen Vorsatz ausfuͤhrte, noch eine naͤchtliche Wanderung mit I. . ., der ihn des Abends um eilf Uhr mit noch einem von der dramatischen Gesellschaft besuchte, und ihn zu einem Spatziergange nach dem D., einem Berge, der drei Meilen von H. . . entfernt ist, einlud. — Reiser, dem dergleichen naͤchtliche Wanderungen nun schon anfingen, eine gewohnte Sache zu werden, war sogleich enschlossen — es war eine warme mondhelle Sommernacht. — Die Unterhaltung unterwegens war ganz poe¬ tisch, zuweilen etwas affektirt, und dann wieder wahr, nachdem es fiel. — Wo sie durch ein Dorf kamen, duftete ihnen der frische Heugeruch entgegen. — Und diese Nachtwanderung war wirklich eine der angenehmsten, die man sich nur denken kann, so daß sie recht vom Zufall veran¬ staltet zu seyn schien, um Reisers Phantasie noch mehr zu erhitzen, und seiner einmal angefachten Lust zum Wandern das voͤllige Uebergewicht uͤber die Vernunft zu geben. — Die Die drei Abentheurer erreichten noch vor Tagesanbruch ein Dorf, das dicht am Fuß des Berges lag, wo sie einkehrten, und noch einige Stunden schliefen. — Da sie aber am andern Mor¬ gen fruͤh aufstanden, so waren alle die schoͤnen Bil¬ derchen aus der Zauberlaterne verschwunden; die kahle Wirklichkeit mit allen ihren unvermeid¬ lichen Unannehmlichkeiten stand wieder vor ihrer Seele da — sie saßen uͤber eine Stunde einander gegen uͤber und jaͤhnten sich an. — Wenn irgend etwas Reisern von seiner Phantasie noch haͤtte heilen koͤnnen, so waͤre es dieser Morgen nach solch einer Nacht gewesen — es war ihnen nun leid geworden, den Berg zu besteigen, sie fuͤhl¬ ten sich muͤde und matt, und nahmen den naͤch¬ sten Weg wieder nach der Stadt zuruͤck, der ih¬ nen wegen der brennenden Sonnenhitze ziemlich beschwerlich wurde — allein sie fingen unterwe¬ gens an, Reime zu extemporiren, womit sie sich die Einfoͤrmigkeit des Gehens einigermaßen erleichterten. — Reiser blieb demohngeachtet voͤllig entschlos¬ sen, zu wandern, moͤgte auch sein Schicksal seyn, was da wollte — er zog alles, was ihm begeg¬ 3r Theil O nen konnte, dennoch der traurigen Einfoͤrmig¬ keit, und dem nicht halb und nicht ganz gluͤcklich seyn in H. . . vor. — Alle seine Gedanken gingen nun einmal ins Weite. — Er sahe uͤberdem kein Mittel vor sich, seine Schulden zu tilgen, ohne sie dem Pastor M. . . aufs neue zu entdecken, dessen Achtung und Freundschaft er dann voͤllig zu verlieren ge¬ waͤrtigen mußte. — Auch die verschiedenen De¬ muͤthigungen, die er seit kurzem wieder hatte er¬ tragen muͤssen, waren ihm noch im frischen An¬ denken, und machten ihm den Aufenthalt in H. . . sowohl, als die Gegenden umher ver¬ haßt. — Er wußte seinem einzigen Vertrauten, Phi¬ lipp Reisern, seine Lage auch so mißlich vorzu¬ stellen, daß dieser endlich selbst seinen Entschluß, H. . . zu verlassen, billigte, und ihm die Reise¬ route nach Erfurt, so wie er den Weg selbst von dorther bis H. . . zu Fuße gemacht hatte, vor¬ schrieb. — Von da wollte denn Anton Reiser nach Weimar gehen, um bei der Seilerschen oder vielmehr Eckhoffischen Schauspielergesell¬ schaft, als Mitglied angenommen zu werden — und von da aus, wollte er denn, wenn ihm dieß gelaͤnge, seine Schulden in H... bezahlen, und seinen guten Ruf wieder herzustellen suchen, in¬ dem er dort gleichsam wieder aufstaͤnde , nachdem er hier buͤrgerlich gestorben waͤre. — Dieß letzte war ihm insbesondre eine der angenehmsten Vorstellungen, womit er sich trug. — Er brachte nun Philipp Reisern seine weni¬ gen Buͤcher und Papiere, und gab sie ihm in Verwahrung — seine Kleider hatte er zum Theil versetzt, um die Kosten zur Komoͤdie zu bestrei¬ ten — und seine uͤbrigen wenigen Sachen ließ er seinen Wirth zur Schadloshaltung fuͤr die Miethe. — Diesem sagte er, daß sein Vater sehr krank geworden sey, und daß er um diesen zu besuchen, auf eine Woche verreisen wuͤrde, wenn etwa jemand nach ihm fragen sollte. — Und nun war er so weit in Richtigkeit bis auf die Baarschaft, womit er eine Reise von mehr als vierzig Meilen antreten sollte. — Diese bestand denn, nach allem, was er hatte auftrei¬ ben koͤnnen, aus einem einzigen Dukaten , Q. 2 womit er Muth genug hatte, sich auf den Weg zu machen, ohngeachtet Philipp Reiser ihm die Unbesonnenheit dieses Unternehmens genug vor¬ stellte. — Aber mit Gelde konnte ihn dieser aus dem sehr wichtigen Grunde nicht unterstuͤtzen, weil es ihm selbst gemeiniglich und gerade jetzt gaͤnzlich daran fehlte. — Anton Reiser konnte also nun im eigent¬ lichen Verstande von sich sagen, daß er alle das seinige mit sich trug. — Das gute Kleid, worin er die Rede auf der Koͤnigin Geburtstag gehal¬ ten hatte, nebst einem Ueberrock war seine ganze Garderobe — dabei trug er einen vergoldeten Galanteriedegen an der Seite und Schuh und seidene Struͤmpfe. — Ein reines Oberhemde, nebst noch ein paar seidenen Struͤmpfen, Homers Odysse in Duodez mit der lateinischen Version, und der lateinische Anschlagbogen von der Rede¬ uͤbung an der Koͤnigin Geburtstage, worauf sein Nahme gedruckt stand, war alles, was er in der Tasche bei sich trug. — Es war in der Mitte des Winters, an einem Sonntagmorgen, den er noch bei Philipp Rei¬ fern zubrachte, wo er sich voͤllig reisefertig mach¬ te, um den Nachmittag seine Wanderschaft an¬ zutreten, und, weil die Tage schon lang waren, noch drei Meilen bis zu der naͤchsten Stadt, auf seiner Tour, zuruͤckzulegen. — Es war heitrer Sonnenschein — die Leute gingen in ihrem Sonntagsschmuck auf der Straße, und zum Theil vor das Thor spatzieren, um am Abend in ihre Haͤuser wieder zuruͤckzukehren, und Reiser sollte nun an diesem Tage auf immer aus H. . . scheiden — dieß machte ihm eine son¬ derbare Empfindung, die weder Schmerz noch Wehmuth, sondern mehr eine Art von Betaͤu¬ bung war. — Der Abschied aus H. . . preßte ihm keine Thraͤne aus, sondern er war dabei fast so kalt und unbewegt, als ob er durch eine fremde Stadt gereißt waͤre, der er nun wieder den Ruͤk¬ ken zukehren mußte, um weiter zu gehen. — Selbst der Abschied von Philipp Reisern war mehr kalt als zaͤrtlich. — Philipp Reiser machte sich viel mit einer neuen Kokarde an seinem Hute zu schaffen , und unterhielt dabei seinen scheidenden Freund, noch in der letzten Stunde, die sie zusammen zubrachten, Q 3 von seinem verliebten Romane, den er damals gerade spielte, gleichsam, als wenn Anton Rei¬ ser den Verfolg davon haͤtte abwarten koͤnnen.— Kurz, die ganze Unterhaltung war so, als ob sie am andern Tage wieder zusammen kommen, und alles denn nach der alten Weise fortgehen wuͤr¬ de. — Was aber Anton Reisern am meisten aͤrgerte, war das Putzen der Hutkokarde , womit sich sein einziger Freund in der letzten Ab¬ schiedsstunde noch so eifrig beschaͤftigen konnte.— Diese Hutkokarde schwebte ihm noch lange nachher vor Augen, und machte ihm allemal eine verdrießliche Ruͤckerinnerung, so oft er daran dachte. — Auch wurde ihm der Abschied aus H. . . von seinem einzigen Freunde durch dieß Putzen der Hutkokarde sehr erleichtert. — Philipp Reiser meinte es aber demohngeachtet gut mit ihm, nur hatte dießmal seine kleine Ei¬ telkeit, und seine verliebten Schwaͤrmereien uͤber die freundschaftliche Theilnehmung die Oberhand behalten, und seine Hutkokarde, worin er viel¬ leicht seiner Schoͤnen gefallen wollte, war ihm auch ein sehr wichtiger Gegenstand geworden, wo¬ fuͤr nun Anton Reiser freilich keinen Sinn hatte — „So kalt, so starr an der ehernen Pforte „des Todes anzuklopfen.“ Diese Worte aus Werthers Leiden hatten Anton Reisern diesen ganzen Morgen im Sinne gelegen, und da ihm Philipp Reiser den großen Thorweg oͤfnen wollte, durch den nun doch der eigentliche Trennungspunkt bewirkt wurde, weil Philipp Reiser, um nicht Verdacht zu erwecken, als ob derselbe um seine Abreise wuͤßte, ihn mit Fleiß nicht begleiten sollte; so blieb er noch eine Weile inwendig stehen, sahe Philipp Reisern starr an, und in dem Augenblick war es ihm, als klopfte er so kalt und starr an der ehernen Pforte des Todes an . — Er gab Philipp Reisern, der ihm kein Wort sagen konnte, die Hand, zog darauf den Thorweg hinter sich zu, und eilte, um die naͤchste Ecke zu kommen, damit sein nun von ihm geschiedener Freund ihm nicht etwa nachsehen moͤgte. — Darauf ging er schnell uͤber den Wall nach dem Aegidien Thore zu und sahe noch einmal seitwaͤrts nach seiner ehmaligen Wohnung im Hause des Rektors, die er vom Walle aus be¬ merken konnte. — Es war des Nachmittags um zwei Uhr, und man laͤutete zur Kirche — er verdoppelte seine Schritte, je naͤher er dem Thore kam. — Es war ihm, als ob das Grab noch einmal hinter ihm seinen Schlund eroͤf¬ nete. — Da er aber nun die Stadt mit ihren gruͤnbepflanzten Waͤllen im Ruͤcken hatte, und die Haͤuser, wie er zuruͤckblickte, sich immer dichter zusammendraͤngten, so wurde ihm leich¬ ter, und immer leichter, bis endlich die vier Thuͤrme, welche den bisherigen Schauplatz aller seiner Kraͤnkungen und Bekuͤmmernisse bezeich¬ neten, ihm aus dem Gesichte schwanden. —