Hamburgische Dramaturgie. Erster Band. Hamburg. In Commission bey J. H. Cramer, in Bremen. Hamburgische Dramaturgie. Ankuͤndigung. E s wird sich leicht errathen lassen, daß die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwaͤrtigen Blattes ist. Der Endzweck desselben soll den guten Absich- ten entsprechen, welche man den Maͤnnern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beymessen kann. Sie haben sich selbst hinlaͤnglich daruͤber erklaͤrt, und ihre Aeusserun- gen sind, sowohl hier, als auswaͤrts, von dem feinern Theile des Publikums mit dem Beyfalle aufgenommen worden, den jede freywillige Be- foͤrderung des allgemeinen Besten verdienet, und zu unsern Zeiten sich versprechen darf. * Frey- Freylich giebt es immer und uͤberall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bey jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man koͤnnte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern goͤnnen; aber, wenn die ver- meinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst auf bringen; wenn ihr haͤmischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen, be- muͤht ist: so muͤssen sie wissen, daß sie die ver- achtungswuͤrdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind. Gluͤcklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die groͤßere Anzahl wohlge- sinnter Buͤrger sie in den Schranken der Ehr- erbietung haͤlt, und nicht verstattet, daß das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spoͤttischen Aberwitzes werden! So gluͤcklich sey Hamburg in allem, woran seinem Wohlstande und seiner Freyheit gelegen: denn es verdienet, so gluͤcklich zu seyn! Als Schlegel, zur Aufnahme des daͤnischen Theaters, — (ein deutscher Dichter des daͤnischen Thea- Theaters!) — Vorschlaͤge that, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht wor- den, sie zur Aufnahme des unsrigen zu thun: war dieses der erste und vornehmste, 〟daß man 〟den Schauspielern selbst die Sorge nicht uͤber- 〟lassen muͤsse, fuͤr ihren Verlust und Gewinnst 〟zu arbeiten.〟 Werke, dritter Theil, S. 252. Die Principalschaft unter ihnen hat eine freye Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrentheils desto nachlaͤßiger und eigennuͤtziger treiben laͤßt, je gewissere Kunden, je mehrere Abnaͤhmer, ihm Nothdurft oder Luxus versprechen. Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen waͤre, als daß eine Gesellschaft von Freunden der Buͤhne Hand an das Werk ge- legt, und nach einem gemeinnuͤtzigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden haͤtte: so waͤre dennoch, blos dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veraͤnderung koͤnnen, auch bey einer nur maͤßigen Beguͤnstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere * 2 Ver- Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf. An Fleiß und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Ein- sicht fehlen duͤrfte, muß die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierinn mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und hoͤre, und pruͤfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschaͤtzig verhoͤret, sein Urtheil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden! Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster fuͤr das Publikum halte, und derjenige, dessen Er- wartungen getaͤuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rathe gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Lieb- haber ist Kenner; nicht jeder, der die Schoͤn- heiten Eines Stuͤcks, das richtige Spiel Eines Acteurs empfindet, kann darum auch den Werth aller andern schaͤtzen. Man hat keinen Ge- schmack, wenn man nur einen einseitigen Ge- schmack hat; aber oft ist man desto partheyischer. Der Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich uͤber Schoͤnheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuͤgen und Ent- zuͤcken erwartet, als sie nach ihrer Art gewaͤhren kann. Der Stuffen sind viel, die eine werdende Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buͤhne ist von dieser Hoͤhe, natuͤrlicher Weise, noch weiter entfernt: und ich fuͤrchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist. Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herum irret. Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuͤhrenden Stuͤcken halten, und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier thun wird. Die Wahl der Stuͤcke ist keine Kleinig- keit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn * 3 nicht nicht immer Meisterstuͤcke aufgefuͤhret werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indeß ist es gut, wenn das Mittelmaͤßige fuͤr nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urtheilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beybringen will, braucht man es nur aus einan- der zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaͤßige Stuͤcke muͤssen auch schon darum beybehalten werden, weil sie gewisse vorzuͤgliche Rollen haben, in welchen der oder jener Acteur seine ganze Staͤrke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist. Die groͤßte Feinheit eines dramatischen Rich- ters zeiget sich darinn, wenn er in jedem Falle des Vergnuͤgens und Mißvergnuͤgens, unfehlbar zu unterscheiden weiß, was und wie viel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schau- spielers, zu setzen sey. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heißt beyde verderben. Jenem wird der Muth benommen, und dieser wird sicher gemacht. Be- Besonders darf es der Schauspieler verlan- gen, daß man hierinn die groͤßte Strenge und Unpartheylichkeit beobachte. Die Rechtferti- gung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da, und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlim- mes rauschet gleich schnell vorbey; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhaftern Eindruck auf jenen gemacht hat. Eine schoͤne Figur, eine bezaubernde Mine, ein sprechendes Auge, ein reitzender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten aus- druͤcken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch groͤßten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schaͤtzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr noͤthig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfuͤllend! Er muß uͤberall mit dem Dichter denken; er muß da, wo dem Dich- Dichter etwas Menschliches wiederfahren ist, fuͤr ihn denken. Man hat allen Grund, haͤufige Beyspiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu ver- sprechen. — Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht hoͤher stimmen. Beide scha- den sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet. Heute geschieht die Eroͤffnung der Buͤhne. Sie wird viel entscheiden; sie muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urtheile ziemlich durchkreuzen. Es wuͤrde Muͤhe kosten, ein ruhiges Gehoͤr zu erlangen. — Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher, als mit dem Anfange des kuͤnftigen Monats erscheinen. Hamburg, den 22 April, 1767. Hamburgische Dramaturgie. Erstes Stuͤck. Den 1sten May, 1767. D as Theater ist den 22sten vorigen Monats mit dem Trauerspiele, Olint und So- phronia, gluͤcklich eroͤfnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reitz der Neuheit habe. Der innere Werth dieses Stuͤckes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl waͤre zu tadeln, wenn sich zeigen liesse, daß man eine viel bessere haͤtte treffen koͤnnen. Olint und Sophronia ist das Werk eines jun- gen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings fuͤr unsere Buͤhne zu fruͤh; aber eigentlich gruͤndet sich sein A Ruhm Ruhm mehr auf das, was er, nach dem Urtheile seiner Freunde, fuͤr dieselbe noch haͤtte leisten koͤnnen, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haͤtte in seinem sechs und zwan- zigsten Jahre sterben koͤnnen, ohne die Kritik uͤber seine wahren Talente nicht eben so zweifel- haft zu lassen? Der Stoff ist die bekannte Episode beym Tasso. Eine kleine ruͤhrende Erzehlung in ein ruͤhrendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Muͤhe, neue Verwickelungen zu erdenken, und einzelne Empfindungen in Scenen auszudehnen. Aber zu verhuͤten wissen, daß diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwaͤchen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag thun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzehlers in den wahren Standort einer jeden Person ver- setzen koͤnnen; die Leidenschaften, nicht beschrei- ben, sondern vor den Augen des Zuschauers ent- stehen, und ohne Sprung, in einer so illusori- schen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sym- pathisiren muß, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu noͤthig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklaͤren, thut, und was der blos witzige Kopf nachzu- machen, vergebens sich martert. Tasso Tasso scheinet, in seinem Olint und Sophronia, den Virgil, in seinem Nisus und Euryalus, vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Staͤrke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Staͤrke der Liebe schildern. Dort war es heldenmuͤthiger Dienst- eifer, der die Probe der Freundschaft veran- laßte: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit giebt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bey dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbesserung — weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn ver- leitet, was bey dem Tasso so simpel und natuͤr- lich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, daß nichts daruͤber! Beym Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aber- glauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rath giebt, das wunderthaͤtige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? A 2 Wenn Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht eben so unwissend war, als es der Dichter zu seyn scheinet, so konnte er einen solchen Rath unmoͤg- lich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verraͤth sich in mehrern Stuͤcken, daß ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beygewohnet. Der groͤbste Fehler aber ist, daß er eine Religion uͤberall des Polytheismus schul- dig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heißt ihm 〟ein Sitz der falschen Goͤtter,〟 und den Priester selbst laͤßt er ausrufen: 〟So wollt ihr euch noch nicht mit Rach und Strafe ruͤsten, 〟Ihr Goͤtter? Blitzt, vertilgt, das freche Volk der Christen! Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Costume, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muß solche Unge- reimtheiten sagen! Beym Tasso koͤmmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne daß man eigentlich weiß, ob es von Menschenhaͤnden entwendet worden, oder ob eine hoͤhere Macht dabey im Spiele ge- wesen. Cronegk macht den Olint zum Thaͤter. Zwar verwandelt er das Marienbild in 〟ein Bild Bild des Herrn am Kreuz;〟 aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube giebt dem Olint eine sehr veraͤchtliche Seite. Man kann ihm unmoͤglich wieder gut werden, daß er es wagen koͤnnen, durch eine so kleine That sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freywillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Groß- muth. Beym Tasso laͤßt ihn blos die Liebe die- sen Schritt thun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, blos um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht Ein Bette besteigen, so sey es Ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den nehmlichen Pfahl gebun- den, bestimmt, von dem nehmlichen Feuer ver- zehret zu werden, empfindet er blos das Gluͤck einer so suͤßen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wuͤnschet nichts, als daß diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter seyn moͤge, daß er Brust gegen Brust druͤcken, und auf ihren Lip- pen seinen Geist verhauchen duͤrfe. Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwaͤrmerinn, und einem hitzigen, begierigen Juͤnglinge, ist beym Cronegk voͤllig verlohren. Sie sind beide von der kaͤltesten Einfoͤrmigkeit; beide haben nichts als das Maͤrterthum im Kopfe; und nicht A 3 genug, genug, daß Er, daß Sie, fuͤr die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Se- rena haͤtte nicht uͤbel Lust dazu. Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrift das Trauerspiel uͤberhaupt. Wenn heldenmuͤthige Gesinnungen Bewunde- rung erregen sollen: so muß der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man oͤfters, was man an mehrern sieht, hoͤret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem Codrus sehr versuͤndi- get. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum frey- willigen Tode fuͤr dasselbe, haͤtte den Codrus allein auszeichnen sollen: er haͤtte als ein einzel- nes Wesen einer ganz besondern Art da stehen muͤssen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Va- terlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird getheilt, und Codrus verlieret sich unter der Men- ge. So auch hier. Was in Olint und Sophronia Christ ist, das alles haͤlt gemartert werden und sterben, fuͤr ein Glas Wasser trinken. Wir hoͤren diese frommen Bravaden so oft, aus so verschie- denem Munde, daß sie alle Wirkung verlieren. Die Die zweyte Anmerkung betrift das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrentheils Maͤrtyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesun- den Vernunft zu laut erschallet, als daß jeder Rasender, der sich muthwillig, ohne alle Noth, mit Verachtung aller seiner buͤrgerlichen Oblie- genheiten, in den Tod stuͤrzet, den Titel eines Maͤrtyrers sich anmaßen duͤrfte. Wir wissen itzt zu wohl, die falschen Maͤrtyrer von den wah- ren zu unterscheiden; wir verachten jene eben so sehr, als wir diese verehren, und hoͤchstens koͤn- nen sie uns eine melancholische Thraͤne uͤber die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit uͤberhaupt in ihnen faͤhig er- blicken. Doch diese Thraͤne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maͤrtyrer zu sei- nem Helden waͤhlet: daß er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgruͤnde gebe! daß er ihn ja in die unumgaͤngliche Nothwendigkeit setze, den Schritt zu thun, durch den er sich der Gefahr blos stellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht hoͤhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon beruͤhret, daß es nur ein eben so nichtswuͤrdiger Aberglaube seyn konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verach- ten, ten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschul- diget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war, und bey vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; daß es noch Laͤnder giebt, wo er der frommen Einfalt nichts befremdendes haben wuͤrde. Denn er schrieb sein Trauerspiel eben so wenig fuͤr jene Zeiten, als er es bestimmte, in Boͤh- men oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sey von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht blos schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und sei- nes Landes in Augen, und nur was diesen ge- fallen, was diese ruͤhren kann, wuͤrdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Poͤbel herablaͤßt, laͤßt sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurtheilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestaͤrken. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Zweytes Stuͤck. Den 5ten May, 1767. N och eine Anmerkung, gleichfalls das christ- liche Trauerspiel betreffend, wuͤrde uͤber die Bekehrung der Clorinde zu machen seyn. So uͤberzeugt wir auch immer von den un- mittelbaren Wirkungen der Gnade seyn moͤgen, so wenig koͤnnen sie uns doch auf dem Theater gefal- len, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehoͤret, aus den natuͤrlichsten Ursachen entsprin- gen muß. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muß alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt seyn soll. Die Bewegungsgruͤnde zu jedem Ent- schlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Ge- danken und Meynungen, muͤssen, nach Maaß- gebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegen einander abgewogen seyn, und jene muͤssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der B streng- strengsten Wahrheit hervor bringen koͤnnen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoͤnheiten des Detail, uͤber Mißverhaͤltnisse dieser Art zu taͤuschen; aber er taͤuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beyfall, den er uns abgelau- schet hat, zuruͤck. Dieses auf die vierte Scene des dritten Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haͤtte bewegen koͤnnen, aber viel zu unvermoͤgend sind, Bekeh- rung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beym Tasso nimmt Clorinde auch das Christenthum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, daß ihre Aeltern diesem Glauben zugethan gewesen: feine, erhebliche Umstaͤnde, durch welche die Wirkung einer hoͤ- hern Macht in die Reihe natuͤrlicher Begeben- heiten gleichsam mit eingeflochten wird. Nie- mand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuͤcke auf dem Theater gehen duͤrfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beyspiel und Bitten, durch Großmuth und Ermahnungen bestuͤrmet, und bis in das Innerste erschuͤttert worden, laͤßt er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Großes sieht, mehr vermu- then, als glauben. Und vielleicht wuͤrde Vol- taire taire auch diese Vermuthung unterdruͤckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zufchauers etwas haͤtte geschehen muͤssen. Selbst der Polyeukt des Corneille ist, in Ab- sicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr ge- worden sind, so duͤrfte die erste Tragoͤdie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten seyn. Ich meyne ein Stuͤck, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessiret. — Ist ein solches Stuͤck aber auch wohl moͤglich? Ist der Charakter des wah- ren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveraͤnderliche Sanftmuth, die seine wesent- lichsten Zuͤge sind, mit dem ganzen Geschaͤfte der Tragoͤdie, welches Leidenschaften durch Leiden- schaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Gluͤck- seligkeit nach diesem Leben, der Uneigennuͤtzigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Buͤhne unternommen und vollzogen zu sehen wuͤnschen? Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie- rigkeiten es zu uͤbersteigen vermag, diese Bedenk- lichkeiten unwidersprechlich widerlegt, waͤre also mein Rath: — man liesse alle bisherige christ- liche Trauerspiele unaufgefuͤhret. Dieser Rath, B 2 wel- welcher aus den Beduͤrfnissen der Kunst herge- nommen ist, welcher uns um weiter nichts, als sehr mittelmaͤßige Stuͤcke bringen kann, ist dar- um nichts schlechter, weil er den schwaͤchern Ge- muͤthern zu Statten koͤmmt, die, ich weiß nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesin- nungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Staͤte gefaßt machen, im Theater zu hoͤren be- kommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sey, Anstoß geben; und ich wuͤnschte, daß es auch allem genommenen Anstoße vorbeugen koͤnnte und wollte. Cronegk hatte sein Stuͤck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uͤbrige hat eine Feder in Wien dazu gefuͤget; eine Feder — denn die Arbeit eines Kopfes ist dabey nicht sehr sichtbar. Der Ergaͤnzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden Willens gewe- sen. Der Tod loͤset alle Verwirrungen am besten; darum laͤßt er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beym Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennuͤtzigsten Großmuth ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freylich schwer zu errathen, wie er zwey Nebenbuhlerinnen aus einander setzen wollen, ohne den Tod zu Huͤlfe zu rufen. In einem an- dern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: Aber woran stirbt sie denn? — Woran? am fuͤnften Akte; antwortete dieser. In Wahrheit; der fuͤnfte Akt ist eine garstige boͤse Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit laͤngeres Leben versprachen. — Doch ich will mich in die Kritik des Stuͤckes nicht tiefer einlassen. So mittelmaͤßig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der aͤußern Pracht; denn diese Ver- besserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Kuͤnste, deren Huͤlfe dazu noͤthig ist, sind bey uns in eben der Vollkommenheit, als in jedem andern Lande; nur die Kuͤnstler wol- len eben so bezahlt seyn, wie in jedem andern Lande. Man muß mit der Vorstellung eines Stuͤckes zufrieden seyn, wenn unter vier, fuͤnf Personen, einige vortrefflich, und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaͤnger oder sonst ein Nothnagel, so sehr beleidiget, daß er uͤber das Ganze die Nase ruͤmpft, der reise nach Utopien, und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist. Herr Eckhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indeß mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; B 3 man man erkennet ihn in der kleinsten noch immer fuͤr den ersten Akteur, und betauert, auch nicht zu- gleich alle uͤbrige Rollen von ihm sehen zu koͤn- nen. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, daß er Sittenspruͤche und allgemeine Betrach- tungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, daß das Trivialste von dieser Art, in seinem Munde Neuheit und Wuͤrde, das Frostigste Feuer und Leben erhaͤlt. Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem Codrus und hier, so manche in einer so schoͤnen nachdruͤcklichen Kuͤrze ausgedruͤckt, daß viele von seinen Versen als Sentenzen behalten, und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch oͤfters gefaͤrbtes Glas fuͤr Edel- steine, und witzige Antithesen fuͤr gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwey dergleichen Zei- len, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wir- kung auf mich. Die eine, 〟Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht.〟 Die andere, 〟Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Boͤsewicht.〟 Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allge- meine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemer- bemerken, durch welches sich der Beyfall aus- druͤckt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gaͤnz- lich ausbrechen laͤßt. Theils dachte ich: Vor- trefflich! man liebt hier die Moral; dieses Par- terr findet Geschmack an Maximen; auf dieser Buͤhne koͤnnte sich ein Euripides Ruhm erwer- ben, und ein Sokrates wuͤrde sie gern besuchen. Theils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstoͤßig diese vermeinten Maxi- men waͤren, und ich wuͤnschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmle den meisten Antheil moͤge gehabt haben. Es ist nur Ein Athen gewesen, es wird nur Ein Athen bleiben, wo auch bey dem Poͤbel das sittliche Gefuͤhl so fein, so zaͤrtlich war, daß einer unlautern Moral wegen, Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestuͤrmet zu werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen muͤssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Per- son, welche sie aͤußert, entsprechen; sie koͤnnen also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen muͤssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bey dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urtheilen koͤnnen. Aber auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum naͤhern, und der Dichter muß nie so unphilosophisch den- ken, daß er annimmt, ein Mensch koͤnne das Boͤse Boͤse, um des Boͤsen wegen, wollen, er koͤnne nach lasterhaften Grundsaͤtzen handeln, das La- sterhafte derselben erkennen, und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so graͤßlich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines scha- len Kopfes, der schimmernde Tiraden fuͤr die hoͤchste Schoͤnheit des Trauerspieles haͤlt. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, daß von Priestern einer falschen Religion die Rede sey. So falsch war noch keine in der Welt, daß ihre Lehrer nothwendig Unmenschen seyn muͤssen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil ge- stiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Boͤsewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemißbraucht haͤtten. Wenn die Buͤhne so unbesonnene Urtheile uͤber die Priester uͤberhaupt ertoͤnen laͤßt, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbeson- nene finden, die sie als die grade Heerstraße zur Hoͤlle ausschreyen? Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stuͤckes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Drittes Stuͤck. Den 8ten May, 1767. U nd wodurch bewirkt dieser Schauspieler, (Hr. Eckhof) daß wir auch die gemeinste Moral so gern von ihm hoͤren? Was ist es eigentlich, was ein anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle eben so un- terhaltend finden sollen? Alle Moral muß aus der Fuͤlle des Herzens kommen, von der der Mund uͤbergehet; man muß eben so wenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen. Es verstehet sich also von selbst, daß die mo- ralischen Stellen vorzuͤglich wohl gelernet seyn wollen. Sie muͤssen ohne Stocken, ohne den geringsten Anstoß, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtigkeit gespro- chen werden, daß sie keine muͤhsame Auskrah- mungen des Gedaͤchtnisses, sondern unmittelbare C Ein- Eingebungen der gegenwaͤrtigen Lage der Sachen scheinen. Eben so ausgemacht ist es, daß kein falscher Accent uns muß argwoͤhnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den richtigsten, sichersten Ton uͤberzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrun- gen habe. Aber die richtige Accentuation ist zur Noth auch einem Papagey beyzubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfin- det! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man sich einmal ins Gedaͤchtniß gepraͤget hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschaͤftiget; aber alsdann ist keine Empfindung moͤglich. Die Seele muß ganz gegenwaͤrtig seyn; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf ihre Reden richten, und nur alsdann — Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu ha- ben scheinen. Die Empfindung ist uͤberhaupt immer das streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann seyn, wo man sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfin- dung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen aͤußern Merkmalen urtheilen koͤnnen. Nun Nun ist es moͤglich, daß gewisse Dinge in dem Baue des Koͤrpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwaͤchen und zwey- deutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bildung des Gesichts, gewisse Minen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Faͤhigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwaͤrtig aͤußern und ausdruͤcken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche. Gegentheils kann ein anderer so gluͤcklich gebauet seyn; er kann so entscheidende Zuͤge besitzen; alle seine Muskeln koͤnnen ihm so leicht, so geschwind zu Gebothe stehen; er kann so feine, so vielfaͤltige Abaͤnderungen der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade begluͤckt seyn, daß er uns in den- jenigen Rollen, die er nicht urspruͤnglich, son- dern nach irgend einem guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen wird, da doch alles, was er sagt und thut, nichts als mechanische Nachaͤffung ist. Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichguͤltigkeit und Kaͤlte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeaͤffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm C 2 ge- gesammelt, nach denen er selbst zu handeln an- faͤngt, und durch deren Beobachtung (zu Folge dem Gesetze, daß eben die Modificationen der Seele, welche gewisse Veraͤnderungen des Koͤr- pers hervorbringen, hinwiederum durch diese koͤrperliche Veraͤnderungen bewirket werden,) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstel- lung kraͤftig genug ist, etwas von den nicht frey- willigen Veraͤnderungen des Koͤrpers hervorzu- bringen, aus deren Daseyn wir fast allein auf das innere Gefuͤhl zuverlaͤßig schliessen zu koͤnnen glauben. Ein solcher Akteur soll z. E. die aͤußerste Wuth des Zornes ausdruͤcken; ich nehme an, daß er seine Rolle nicht einmal recht verstehet, daß er die Gruͤnde dieses Zornes weder hinlaͤnglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergroͤbsten Aeußerungen des Zornes, einem Akteur von urspruͤnglicher Empfindung abgeler- net hat, und getreu nachzumachen weiß — den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den rau- hen bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zaͤhne u. s. w. — wenn er, sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefuͤhl von Zorn befallen, welches wiederum in den Koͤrper zuruͤckwirkt, und da auch diejenigen Veraͤnderungen hervorbringt, die nicht blos von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird gluͤhen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu seyn scheinen, ohne es zu seyn, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es seyn sollte. Nach diesen Grundsaͤtzen von der Empfindung uͤberhaupt, habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche aͤußerliche Merkmale diejenige Empfin- dung begleiten, mit der moralische Betrachtun- gen wollen gesprochen seyn, und welche von die- sen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so daß sie jeder Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann. Mich duͤnkt Folgendes. Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der, als solcher, einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Ueberlegung verlangt. Er will also mit Gelassenheit und einer gewissen Kaͤlte gesagt seyn. Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindruͤcken, welche individuelle Umstaͤnde auf die handelnden Personen machen; er ist kein bloßer symbolischer Schluß; er ist eine C 3 ge- generalisirte Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung ge- sprochen seyn. Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kaͤlte? — Nicht anders; mit einer Mischung von bei- den, in der aber, nach Beschaffenheit der Situa- tion, bald dieses, bald jenes, hervorsticht. Ist die Situation ruhig, so muß sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muß uͤber ihr Gluͤck, oder ihre Pflichten, blos darum allgemeine Be- trachtungen zu machen scheinen, um durch diese All- gemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu geniessen, diese desto williger und muthiger zu beobachten. Ist die Situation hingegen heftig, so muß sich die Seele durch die Moral (unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam von ihrem Fluge zuruͤckholen; sie muß ihren Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stuͤrmischen Ausbruͤchen den Schein vorbedaͤcht- licher Entschliessungen geben zu wollen scheinen. Jenes erfodert einen erhabnen und begeister- ten Ton; dieses einen gemaͤßigten und feyerlichen. Denn dort muß das Raisonnement in Affekt ent- brennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskuͤhlen. Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen Situationen die all- allgemeinen Betrachtungen eben so stuͤrmisch her- aus, als das Uebrige; und in ruhigen, beten sie dieselben eben so gelassen her, als das Uebrige. Daher geschieht es denn aber auch, daß sich die Moral weder in den einen, noch in den andern bey ihnen ausnimmt; und daß wir sie in jenen eben so unnatuͤrlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie uͤberlegten nie, daß die Stuͤcke- rey von dem Grunde abstechen muß, und Gold auf Gold brodiren ein elender Geschmack ist. Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabey machen sollen, noch was fuͤr welche. Sie machen gemeiniglich zu viele, und zu unbedeutende. Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln scheinet, um einen uͤberlegenden Blick auf sich, oder auf das, was sie umgiebt, zu werfen; so ist es natuͤrlich, daß sie allen Bewegungen des Koͤrpers, die von ih- rem bloßen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle gerathen in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudruͤcken, ohne die das Auge der Vernunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuß fest auf, die Arme sinken, der ganze Koͤrper zieht sich in den wagrechten Stand; eine Pause — und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer feyerlichen Stille, als ob er sich nicht stoͤhren wollte, sich selbst zu hoͤren. Die Reflexion ist aus, — wie- wieder eine Pause — und so wie die Reflexion ab- gezielet, seine Leidenschaft entweder zu maͤßigen, oder zu befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los, oder setzet allmaͤlig das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, waͤhrend der Reflexion, die Spuren des Affekts; Mine und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Mine und Auge nicht so urploͤtzlich in unserer Gewalt, als Fuß und Hand. Und hierin dann, in diesen ausdruͤckenden Minen, in diesem entbrannten Auge, und in dem Ruhestande des ganzen uͤbrigen Koͤrpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kaͤlte, mit welcher ich glaube, daß die Moral in heftigen Situationen ge- sprochen seyn will. Mit eben dieser Mischung will sie auch in ruhi- gen Situationen gesagt seyn; nur mit dem Unter- schiede, daß der Theil der Aktion, welcher dort der feurige war, hier der kaͤltere, und welcher dort der kaͤltere war, hier der feurige seyn muß. Nehmlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Empfindun- gen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen hoͤhern Grad von Leb- haftigkeit zu geben sucht, so wird sie auch die Glie- der des Koͤrpers, die ihr unmittelbar zu Gebothe stehen, dazu beytragen lassen; die Haͤnde werden in voller Bewegung seyn; nur der Ausdruck des Ge- sichts kann so geschwind nicht nach, und in Mine und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der uͤbrige Koͤrper gern heraus arbeiten moͤchte. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Viertes Stuͤck. Den 12ten May, 1767. A ber von was fuͤr Art sind die Bewegungen der Haͤnde, mit welchen, in ruhigen Si- tuationen, die Moral gesprochen zu seyn liebet? Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Haͤnde vorgeschrieben hat- ten, wissen wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, daß sie die Haͤndesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner darinn zu leisten im Stande sind, kaum die Moͤglichkeit sollte begreifen las- sen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikulirtes Geschrey behalten zu haben; nichts als das Vermoͤgen, Bewe- gungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixirte Bedeutung zu geben, und wie sie unter einander zu verbinden, daß sie D nicht nicht blos eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes faͤhig werden. Ich bescheide mich gern, daß man, bey den Alten, den Pantomimen nicht mit dem Schau- spieler vermengen muß. Die Haͤnde des Schau- spielers waren bey weiten so geschwaͤtzig nicht, als die Haͤnde des Pantomimens. Bey diesem vertraten sie die Stelle der Sprache; bey jenem sollten sie nur den Nachdruck derselben vermeh- ren, und durch ihre Bewegungen, als natuͤr- liche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bey dem Pantomimen waren die Be- wegungen der Haͤnde nicht blos natuͤrliche Zei- chen; viele derselben hatten eine conventionelle Bedeutung, und dieser mußte sich der Schau- spieler gaͤnzlich enthalten. Er gebrauchte sich also seiner Haͤnde sparsa- mer, als der Pantomime, aber eben so wenig vergebens, als dieser. Er ruͤhrte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstaͤrken konnte. Er wußte nichts von den gleichguͤl- tigen Bewegungen, durch deren bestaͤndigen einfoͤrmigen Gebrauch ein so großer Theil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Dratpuppen giebt. Bald mit der rechten, bald mit der lin- ken Hand, die Haͤlfte einer krieplichten Achte, abwaͤrts vom Koͤrper, beschreiben, oder mit beiden beiden Haͤnden zugleich die Luft von sich weg- rudern, heißt ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen Tanzmeistergrazie zu thun geuͤbt ist, o! der glaubt, uns bezaubern zu koͤnnen. Ich weiß wohl, daß selbst Hogarth den Schau- spielern befiehlt, ihre Hand in schoͤnen Schlan- genlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit allen moͤglichen Abaͤnderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwun- ges, ihrer Groͤße und Dauer, faͤhig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um sich zum Agiren dadurch geschickt zu machen, um den Armen die Biegungen des Reitzes ge- laͤufig zu machen; nicht aber in der Meinung, daß das Agiren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schoͤnen Linien, immer nach der nehmlichen Direktion, bestehe. Weg also mit diesem unbedeutenden Porte- bras, vornehmlich bey moralischen Stellen weg mit ihm! Reitz am unrechten Orte, ist Affektation und Grimasse; und eben derselbe Reitz, zu oft hinter einander wiederholt, wird kalt und end- lich eckel. Ich sehe einen Schulknaben sein Spruͤchelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Menuet die Hand giebt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam vom Rocken spinnet. D 2 Jede Jede Bewegung, welche die Hand bey mora- lischen Stellen macht, muß bedeutend seyn. Oft kann man bis in das Mahlerische damit ge- hen; wenn man nur das Pantomimische vermei- det. Es wird sich vielleicht ein andermal Gele- genheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu mahlerischen, von mahlerischen zu pantomi- mischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauch, in Beyspielen zu erlaͤutern. Itzt wuͤrde mich dieses zu weit fuͤhren, und ich merke nur an, daß es unter den bedeutenden Gesten eine Art giebt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat, und mit denen er allein der Moral Licht und Leben ertheilen kann. Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisirenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umstaͤnden der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermaßen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Be- ziehung auf das Gegenwaͤrtige von dem weniger aufmerksamen, oder weniger scharfsinnigen Zu- hoͤrer, nicht bemerkt oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel giebt, diese Bezie- hung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zuruͤck- zubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus seyn koͤnnen, so muß sie der Schauspieler ja nicht zu machen versaͤumen. Man Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie mir es itzt bey- faͤllt; der Schauspieler wird sich ohne Muͤhe auf noch weit einleuchtendere besinnen. — Wenn Olint sich mit der Hofnung schmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, daß er so grausam mit den Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrieg- lichkeit unsrer Hofnungen zu Gemuͤthe fuͤhren. 〟Vertraue nicht, mein Sohn, Hofnungen, die betriegen!〟 Sein Sohn ist ein feuriger Juͤngling, und in der Jugend ist man vorzuͤglich geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen. 〟Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Ju- gend oft.〟 Doch indem besinnt er sich, daß das Alter zu dem entgegen gesetzten Fehler nicht weniger ge- neigt ist; er will den unverzagten Juͤngling nicht ganz niederschlagen, und faͤhret fort: 〟Das Alter quaͤlt sich selbst, weil es zu wenig hoft.〟 Diese Sentenzen mit einer gleichguͤltigen Aktion, mit einer nichts als schoͤnen Bewegung des Ar- mes begleiten, wuͤrde weit schlimmer seyn, als sie ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die, welche ihre D 3 All- Allgemeinheit wieder auf das Besondere ein- schraͤnkt. Die Zeile, 〟Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend sich〟 muß in dem Tone, mit dem Gestu der vaͤterli- chen Warnung, an und gegen den Olint ge- sprochen werden, weil Olint es ist, dessen uner- fahrne leichtglaͤubige Jugend bey dem sorgsamen Alten diese Betrachtung veranlaßt. Die Zeile hingegen, 〟Das Alter quaͤlt sich selbst, weil es zu wenig hoft〟 erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Haͤnde muͤssen sich nothwendig gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, daß Evander diesen Satz aus eigener Erfahrung habe, daß er selbst der Alte sey, von dem er gelte. — Es ist Zeit, daß ich von dieser Ausschweifung uͤber den Vortrag der moralischen Stellen, wieder zuruͤckkomme. Was man Lehrreiches darinn findet, hat man lediglich den Beyspielen des Hrn. Eckhof zu danken; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abstrahiren gesucht. Wie leicht, wie angenehm ist es, einem Kuͤnstler nachzufor- schen, dem das Gute nicht blos gelingt, sondern der es macht! Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals jemals gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Ac- cent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den verworrensten, holprichsten, dunkelsten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Praͤcision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklaͤrung, den vollstaͤndigsten Commentar er- haͤlt. Sie verbindet damit nicht selten ein Raf- finement, welches entweder von einer sehr gluͤck- lichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurtheilung zeuget. Ich glaube die Liebeser- klaͤrung, welche sie dem Olint thut, noch zu hoͤren: 〟— Erkenne mich! Ich kann nicht laͤnger schweigen; 〟Verstellung oder Stolz sey niedern Seelen eigen. 〟Olint ist in Gefahr, und ich bin außer mir — 〟Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir; 〟Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute, 〟War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite. 〟Dein Ungluͤck aber reißt die ganze Seele hin, 〟Und itzt erkenn ich erst wie klein, wie schwach ich bin. 〟Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen, 〟Da du zur Pein bestim̃t, von jedermann verlassen, 〟Verbrechern gleich gestellt, ungluͤcklich und ein Christ, 〟Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist: 〟Itzt wag ichs zu gestehn: itzt kenne meine Triebe! Wie frey, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher Ueberstroͤ- mung mung des Herzens sprach ihr Mitleid! Mit welcher Entschlossenheit ging sie auf das Bekenntniß ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie uͤberraschend brach sie auf einmal ab, und veraͤnderte auf einmal Stimme und Blick, und die ganze Haltung des Koͤrpers, da es nun darauf ankam, die duͤrren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Au- gen zur Erde geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen Tone der Verwirrung, kam endlich, 〟Ich liebe dich, Olint, — heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiß, ob die Liebe sich so erklaͤrt, empfand, daß sie sich so erklaͤren sollte. Sie entschloß sich als Heldinn, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie, als ein zaͤrtliches, schamhaftes Weib. So Kriegerinn als sie war, so gewoͤhnt sonst in allem zu maͤnnlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Ober- hand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sitt- samkeit so schwere Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freymuͤthigkeit wieder da. Sie fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbe- kuͤmmerten Hitze des Affekts fort: — — — Und stolz auf meine Liebe, 〟Stolz, daß dir meine Macht dein Leben retten kann, 〟Bieth ich dir Hand und Herz, und Kron und Pur- pur an. Denn die Liebe aͤußert sich nun als großmuͤthige Freundschaft: und die Freundschaft spricht eben so dreist, als schuͤchtern die Liebe. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Fuͤnftes Stuͤck. Den 15ten May, 1767. E s ist unstreitig, daß die Schauspielerinn durch diese meisterhafte Absetzung der Worte, 〟Ich liebe dich, Olint, — der Stelle eine Schoͤnheit gab, von der sich der Dichter, bey dem alles in dem nehmlichen Flusse von Worten daher rauscht, nicht das geringste Verdienst beymessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen haͤtte, in diesen Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er haͤtte sagen sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob koͤnnte groͤßer seyn, als so ein Vorwurf? Freylich muß sich nicht jeder Schauspieler einbil- den, dieses Lob verdienen zu koͤnnen. Denn sonst moͤchte es mit den armen Dichtern uͤbel aussehen. E Cro- Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes, widerwaͤrtiges, haͤßliches Ding gemacht. Und dem ohngeachtet ist sie noch der einzige Charakter, der uns bey ihm in- tereßiret. So sehr er die schoͤne Natur in ihr verfehlt, so thut doch noch die plumpe, unge- schlachte Natur einige Wirkung. Das macht, weil die uͤbrigen Charaktere ganz außer aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von Weibe, als mit himmelbruͤtenden Schwaͤrmern sympathisiren. Nur gegen das Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton faͤllt, wird sie uns eben so gleichguͤltig und eckel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt sie von einem Aeußersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklaͤrt, so fuͤgt sie hinzu: 〟Wirst du mein Herz verschmaͤhn? Du schweigst? — Entschliesse dich; 〟Und wenn du zweifeln kannst — so zittre! So zittre? Olint soll zittern? er, den sie so oft, in dem Tumulte der Schlacht, unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen? — O wenn es der Schauspielerinn eingefallen waͤre, fuͤr diese un- gezogene weibliche Gasconade 〟so zittre!〟 zu sagen: ich zittere! Sie konnte zittern, so viel sie wollte, ihre Liebe verschmaͤht, ihren Stolz beleidiget zu finden. Das waͤre sehr natuͤrlich gewe- gewesen. Aber es von dem Olint verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fodern, das ist so unartig als laͤcherlich. Doch was haͤtte es geholfen, den Dichter einen Augenblick laͤnger in den Schranken des Wohlstandes und der Maͤßigung zu erhalten? Er faͤhrt fort, Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marquetenderinn rasen zu lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemaͤnte- lung mehr Statt. Das einzige, was die Schauspielerinn zu sei- nem Besten noch thun koͤnnte, waͤre vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so ganz hinreissen liesse, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die aͤußerste Wuth nicht mit der aͤußersten Anstrengung der Stimme, nicht mit den gewaltsamsten Gebehrden aus- druͤckte. Wenn Shakespear nicht ein eben so großer Schauspieler in der Ausuͤbung gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch wenigstens eben so gut gewußt, was zu der Kunst des einen, als was zu der Kunst des an- dern gehoͤret. Ja vielleicht hatte er uͤber die Kunst des erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu hatte. We- nigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komoͤdianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel fuͤr alle Schau- E 2 spieler, spieler, denen an einem vernuͤnftigen Beyfalle gelegen ist. 〟Ich bitte Euch, laͤßt er ihn unter andern zu dem Komoͤdianten sagen, 〟sprecht die 〟Rede so, wie ich sie Euch vorsagte; die Zunge 〟muß nur eben daruͤber hinlaufen. Aber wenn 〟ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von 〟unsern Schauspielern thun: seht, so waͤre mir 〟es eben so lieb gewesen, wenn der Stadtschreyer 〟meine Verse gesagt haͤtte. Auch durchsaͤgt 〟mir mit eurer Hand nicht so sehr die Luft, son- 〟dern macht alles huͤbsch artig; denn mitten in 〟dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, 〟so zu reden, in dem Wirbelwinde der Leiden- 〟schaften, muͤßt ihr noch einen Grad von Maͤßi- 〟gung beobachten, der ihnen das Glatte und Ge- 〟schmeidige giebt. Man spricht so viel von dem Feuer des Schau- spielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schau- spieler zu viel Feuer haben koͤnne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anfuͤhren, daß ein Schauspieler ja wohl am unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger seyn koͤnne, als es die Umstaͤnde erfodern: so haben die, welche es leugnen, Recht zu sagen, daß in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, son- dern zu wenig Verstand zeige. Ueberhaupt koͤmmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrey und Kontorsionen Feuer sind, so ist es wohl un- streitig, streitig, daß der Akteur darinn zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwin- digkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stuͤcke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu bey- tragen, um seinem Spiele den Schein der Wahr- heit zu geben: so muͤßten wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur aͤußersten Illusion getrie- ben zu sehen wuͤnschen, wenn es moͤglich waͤre, daß der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstande anwenden koͤnnte. Es kann also auch nicht dieses Feuer seyn, dessen Maͤßigung Shake- spear, selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muß blos jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegungen meynen; und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Maͤßigung beobachtet hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stuͤcken maͤßigen muͤsse. Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer aͤußersten Anstrengung nicht widerwaͤrtig wuͤr- den; und allzu schnelle, allzu stuͤrmische Bewe- gungen werden selten edel seyn. Gleichwohl sollen weder unsere Augen und unsere Ohren beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bey Aeus- serung der heftigen Leidenschaften alles vermei- det, was diesen oder jenen unangenehm seyn koͤnnte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen ver- langt, wenn sie den hoͤchsten Eindruck machen, E 3 und und ihm das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen. Die Kunst des Schauspielers stehet hier, zwischen den bildenden Kuͤnsten und der Poesie, mitten inne. Als sichtbare Mahlerey muß zwar die Schoͤnheit ihr hoͤchstes Gesetz seyn; doch als transitorische Mahlerey braucht sie ihren Stel- lungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponirend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini oͤfters erlauben; es hat bey ihr alle das Ausdruͤckende, welches ihm eigenthuͤmlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Kuͤnsten durch den permanenten Stand erhaͤlt. Nur muß sie nicht allzulang darinn verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden Bewegungen all- maͤlig vorbereiten, und durch die darauf folgen- den wiederum in den allgemeinen Ton des Wohl- anstaͤndigen aufloͤsen; nur muß sie ihm nie alle die Staͤrke geben, zu der sie der Dichter in sei- ner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittel- bar unsern Augen verstaͤndlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt seyn, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebet, unverfaͤlscht uͤberliefern soll. Es koͤnnte leicht seyn, daß sich unsere Schau- spieler bey der Maͤßigung, zu der sie die Kunst auch auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in Ansehung des Beyfalles, nicht allzuwohl be- finden duͤrften. — Aber welches Beyfalles? — Die Gallerie ist freylich ein großer Liebhaber des Lermenden und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten Haͤnden zu erwiedern. Auch das deutsche Parterr ist noch ziemlich von diesem Geschmacke, und es giebt Akteurs, die schlau genug von diesem Ge- schmacke Vortheil zu ziehen wissen. Der Schlaͤf- rigste raft sich, gegen das Ende der Scene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal die Stimme, und uͤberladet die Aktion, ohne zu uͤberlegen, ob der Sinn seiner Rede diese hoͤhere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was thut das ihm? Genug, daß er das Parterr dadurch erinnert hat, aufmerksam auf ihn zu seyn, und wenn es die Guͤte haben will, ihm nachzuklatschen. Nach- zischen sollte es ihm! Doch leider ist es theils nicht Kenner genug, theils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen, fuͤr die That. Ich getraue mich nicht, von der Aktion der uͤbrigen Schauspieler in diesem Stuͤcke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemuͤht seyn muͤs- sen, Fehler zu bemaͤnteln, und das Mittel- maͤßige geltend zu machen: so kann auch der Beste Beste nicht anders, als in einem sehr zweydeuti- gen Lichte erscheinen. Wenn wir ihn auch den Verdruß, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten lassen, so sind wir doch nicht auf- geraͤumt genug, ihm alle die Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet. Den Beschluß des ersten Abends machte der Triumph der vergangenen Zeit, ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Franzoͤsischen des le Grand. Es ist eines von den drey kleinen Stuͤcken, welche le Grand unter dem allgemei- nen Tittel, der Triumph der Zeit, im Jahr 1724 auf die franzoͤsische Buͤhne brachte, nach- dem er den Stoff desselben, bereits einige Jahre vorher, unter der Aufschrift, die laͤcherlichen Verliebten, behandelt, aber wenig Beyfall da- mit erhalten hatte. Der Einfall, der dabey zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind sehr laͤcherlich. Nur ist das Laͤcherliche von der Art, wie es sich mehr fuͤr eine satyrische Erzaͤhlung, als auf die Buͤhne schickt. Der Sieg der Zeit uͤber Schoͤnheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung eines sechszigjaͤhrigen Gecks und einer eben so alten Naͤrrinn, daß die Zeit nur uͤber ihre Reitze keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar laͤcherlich; aber diesen Geck und diese Naͤrrinn selbst zu sehen, ist eckelhafter, als laͤcherlich. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Sechstes Stuͤck. Den 19ten May, 1767. N och habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem großen Stuͤcke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schrei- ben sich von einem Dichter her, der es mehr als irgend ein anderer versteht, tiefsinnigen Ver- stand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefaͤllige Mine des Scherzes zu geben. Womit koͤnnte ich diese Blaͤtter besser auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mittheile? Hier sind sie. Sie beduͤrfen keines Commentars. Ich wuͤnsche nur, daß manches darinn nicht in den Wind gesagt sey! Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der Wuͤrde, und die andere mit alle der Waͤrme und Feinheit und einschmeichelnden Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte. F Pro- Prolog. (Gesprochen von Madame Loͤwen.) I hr Freunde, denen hier das mannichfache Spiel Des Menschen, in der Kunst der Nachahmung gefiel: Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen, Wie schoͤn, wie edel ist die Lust, sich so zu quaͤlen; Wenn bald die suͤße Thraͤn’, indem das Herz er- weicht, In Zaͤrtlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht, Bald die bestuͤrmte Seel’, in jeder Nerv’ erschuͤttert, Im Leiden Wollust fuͤhlt, und mit Vergnuͤgen zittert! O sagt, ist diese Kunst, die so Eur Herz zerschmelzt, Der Leidenschaften Strom so durch Eur Inners waͤlzt, Vergnuͤgend, wenn sie ruͤhrt, entzuͤckend, wenn sie schrecket, Zu Mitleid, Menschenlieb’, und Edelmuth erwecket, Die Sittenbilderinn, die jede Tugend lehrt, Ist die nicht Eurer Gunst, und Eurer Pflege werth? Die Fuͤrsicht sendet sie mitleidig auf die Erde, Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde; Weiht sie, die Lehrerin der Koͤnige zu seyn, Mit Wuͤrde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein; Heißt Heißt sie, mit ihrer Macht, durch Thraͤnen zu er- goͤtzen, Das stumpfeste Gefuͤhl der Menschenliebe wetzen; Durch suͤße Herzensangst, und angenehmes Graun Die Bosheit baͤndigen, und an den Seelen baun; Wohlthaͤtig fuͤr den Staat, den Wuͤthenden, den Wilden, Zum Menschen, Buͤrger, Freund, und Patrioten bilden. Gesetze staͤrken zwar der Staaten Sicherheit, Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit: Doch deckt noch immer List den Boͤsen vor dem Richter, Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boͤse- wichter. Wer raͤcht die Unschuld dann? Weh dem gedruͤckten Staat, Der, statt der Tugend, nichts, als ein Gesetzbuch hat! Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen, Gesetze, die man lehrt des Hasses Urtheil sprechen, Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Partheylichkeit Fuͤr eines Solons Geist, den Geist der Druͤckung leiht! Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen, Das Schwerdt der Majestaͤt aus ihren Haͤnden drehen: Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls Der Redlichkeit, den Fuß der Freyheit auf den Hals. F 2 Laͤßt Laͤßt den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten, Und das blutschuld’ge Beil der Themis Unschuld schlachten! Wenn der, den kein Gesetz straft, oder strafen kann, Der schlaue Boͤsewicht, der blutige Tyrann, Wenn der die Unschuld druͤckt, wer wagt es, sie zu decken? Den sichert tiefe List, und diesen wafnet Schrecken. Wer ist ihr Genius, der sich entgegen legt? — Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geissel traͤgt, Die unerschrokne Kunst, die allen Mißgestalten Strafloser Thorheit wagt den Spiegel vorzuhalten; Die das Geweb’ enthuͤllt, worin sich List verspinnt, Und den Tyrannen sagt, daß sie Tyrannen sind; Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht er- bloͤdet, Und mit des Donners Stimm’ ans Herz der Fuͤrsten redet; Gekroͤnte Moͤrder schreckt, den Ehrgeitz nuͤchtern macht, Den Heuchler zuͤchtiget, und Thoren kluͤger lacht; Sie, die zum Unterricht die Todten laͤßt erscheinen, Die große Kunst, mit der wir lachen, oder weinen. Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb’, und Lehrbegier; In Rom, in Gallien, in Albion, und — hier. Ihr, Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Thraͤnen flossen, Mit edler Weichlichkeit, die Euren mit vergossen; Habt redlich Euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint, Und ihr aus voller Brust den Beyfall zugeweint: Wie sie gehaßt, geliebt, gehoffet, und gescheuet, Und Eurer Menschlichkeit im Leiden Euch erfreuet. Lang hat sie sich umsonst nach Buͤhnen umgesehn: In Hamburg fand sie Schutz: hier sey denn ihr Athen! Hier, in dem Schooß der Ruh, im Schutze weiser Goͤnner, Gemuthiget durch Lob, vollendet durch den Kenner; Hier reifet — ja ich wuͤnsch’, ich hoff, ich weissag es! — Ein zweyter Roscius, ein zweyter Sophokles, Der Graͤciens Kothurn Germaniern erneure: Und ein Theil dieses Nuhms, ihr Goͤnner, wird der Eure. O seyd desselben werth! Bleibt Eurer Guͤte gleich, Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf Euch! F 3 Epi- Epilog. (Gesprochen von Madame Hensel.) S eht hier! so standhaft stirbt der uͤberzeugte Christ! So lieblos hasset der, dem Irrthum nuͤtzlich ist, Der Barbarey bedarf, damit er seine Sache, Sein Ansehn, seinen Traum, zu Lehren Gottes mache. Der Geist des Irrthums war Verfolgung und Ge- walt, Wo Blindheit fuͤr Verdienst, und Furcht fuͤr An- dacht galt. So konnt er sein Gespinst von Luͤgen, mit den Blitzen Der Majestaͤt, mit Gifft, mit Meuchelmord beschuͤtzen. Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut: Die Wahrheit uͤberfuͤhrt, der Irrthum fodert Blut. Verfolgen muß man die, und mit dem Schwerdt bekehren, Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren. Und mancher Aladin sieht Staatsklug oder schwach, Dem schwarzen Blutgericht der heilgen Moͤrder nach, Und muß mit seinem Schwerdt den, welchen Traͤu- mer hassen, Den Freund, den Maͤrtyrer der Wahrheit wuͤrgen lassen, Ab- Abscheultchs Meisterstuͤck der Herrschsucht und der List, Wofuͤr kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist! O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst miß- brauchen, In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen, Dich, die ihr Blutpanier oft uͤber Leichen trug, Dich, Greuel, zu verschmaͤhn, wer leiht mir einen Fluch! Ihr Freund’, in deren Brust der Menschheit edle Stimme Laut fuͤr die Heldinn sprach, als Sie dem Priester Grimme Ein schuldlos Opfer ward, und fuͤr die Wahrheit sank: Habt Dank fuͤr dies Gefuͤhl, fuͤr jede Thraͤne Dank! Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes: Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes! Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind, Zwar Schwaͤchere vielleicht, doch immer Menschen sind. Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Thraͤnen, Die sonst kein Vorwurf trift, als daß sie anders waͤhnen! Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu, Nichts zur Verstellung zwingt, zu boͤser Heucheley; Der fuͤr die Wahrheit gluͤht, und, nie durch Furcht gezuͤgelt, Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt. Solch Solch Beyspiel, edle Freund’, ist Eures Beyfalls werth: O wohl uns! haͤtten wir, was Cronegk schoͤn gelehrt, Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben, Durch unsre Vorstellung tief in Eur Herz gegraben! Des Dichters Leben war schoͤn, wie sein Nachruhm ist; Er war, und — o verzeiht die Thraͤn! — und starb ein Christ. Ließ sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten, Um sie — was kann man mehr? noch todt zu un- terrichten. Versaget, hat Euch itzt Sophronia geruͤhrt, Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebuͤhrt, Den Seufzer, daß er starb, den Dank fuͤr seine Lehre, Und — ach! den traurigen Tribut von einer Zaͤhre. Uns aber, edle Freund’, ermuntre Guͤtigkeit; Und haͤtten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht. Verzeihung muthiget zu edelerm Erkuͤhnen, Und feiner Tadel lehrt, das hoͤchste Lob verdienen. Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt, In welcher tausend Quins, fuͤr einen Garrick sind; Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen, Und — doch nur Euch gebuͤhrt zu richten, uns zu schweigen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Siebendes Stuͤck. Den 22sten May, 1767. D er Prolog zeiget das Schauspiel in seiner hoͤchsten Wuͤrde, indem er es als das Supplement der Gesetze betrachten laͤßt. Es giebt Dinge in dem sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmit- telbaren Einflußes auf das Wohl der Gesell- schaft, zu unbetraͤchtlich, und in sich selbst zu veraͤnderlich sind, als daß sie werth oder faͤhig waͤren, unter der eigentlichen Aufsicht des Ge- setzes zu stehen. Es giebt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faͤllt; die in ihren Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren Folgen so unermeß- lich sind, daß sie entweder der Ahndung der Ge- setze ganz entgehen, oder doch unmoͤglich nach Verdienst geahndet werden koͤnnen. Ich will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des Laͤcherlichen, die Komoͤdie; und G auf auf die andern, als auf ausserordentliche Erschei- nungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen, und das Herz in Tu- mult setzen, die Tragoͤdie einzuschraͤnken. Das Genie lacht uͤber alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, daß das Schauspiel uͤberhaupt seinen Vorwurf entweder disseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes waͤhlet, und die eigentlichen Gegenstaͤnde dessel- ben nur in so fern behandelt, als sie sich entweder in das Laͤcherliche verlieren, oder bis in das Ab- scheuliche verbreiten. Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt- lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha- raktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unuͤberlegt, in einem Stuͤcke, dessen Stoff aus den ungluͤcklichen Zeiten der Kreutzzuͤge genom- men ist, die Toleranz predigen, und die Abscheu- lichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreutzzuͤge selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Paͤbste waren, wurden in ihrer Ausfuͤhrung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die wahre Religion; und einzelne Per- Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, koͤmmt das wohl gegen die unselige Raserey, welche das rechtglaͤubige Eu- ropa entvoͤlkerte, um das unglaͤubige Asien zu verwuͤsten? Doch was der Tragicus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auf- fassen. Menschlichkeit und Sanftmuth verdie- nen bey jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlaß dazu kann so entfernt seyn, den wenigstens unser Herz nicht sehr natuͤrlich und dringend finden sollte. Uebrigens stimme ich mit Vergnuͤgen dem ruͤh- renden Lobe bey, welches der Dichter dem seligen Cronegk ertheilet. Aber ich werde mich schwer- lich bereden lassen, daß er mit mir, uͤber den poe- tischen Werth des kritisirten Stuͤckes, nicht eben- falls einig seyn sollte. Ich bin sehr betroffen gewesen, als man mich versichert, daß ich ver- schiedene von meinen Lesern durch mein unver- hohlnes Urtheil unwillig gemacht haͤtte. Wenn ihnen bescheidene Freyheit, bey der sich durchaus keine Nebenabsichten denken lassen, mißfaͤllt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu verleiden, den unge- kuͤnstelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaf- G 2 ten ten werden ihn jederzeit schaͤtzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muß, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre erfordern, weit unter welchen er starb. Sein Codrus ward von den Verfassern der Bibliothek der schoͤnen Wissen- schaften gekroͤnet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stuͤck, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urtheil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals ertheilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel koͤmmt, doch noch ein Hin- kender. Eine Stelle in dem Epilog ist einer Mißdeu- tung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt: 〟Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt, 〟In welcher tausend Quins, fuͤr einen Garrick sind. Quin, habe ich darwider erinnern hoͤren, ist kein schlechter Schauspieler gewesen. — Nein, gewiß nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bey der Nachwelt immer ein gu- gutes Vorurtheil fuͤr seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr, als dieses Vorur- theil fuͤr sich: man weiß, daß er in der Tragoͤdie mit vieler Wuͤrde gespielet; daß er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genuͤge zu leisten gewußt; daß er, im Komischen, die Rolle des Falstaff zu ihrer groͤßten Vollkommenheit ge- bracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Mißverstaͤndniß liegt blos darinn, daß man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und ausserordentlichen Schau- spieler einen schlechten, und fuͤr schlecht durch- gaͤngig erkannten, entgegen setzen wollen. Quin soll hier einen von der gewoͤhnlichen Sorte be- deuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der uͤberhaupt seine Sache so gut weg- macht, daß man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spie- let, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabey zu Huͤlfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar, und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heissen; aber wie viel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu seyn, fuͤr den das einstimmige Geruͤcht schon laͤngst den Garrick erklaͤret hat. Ein sol- cher Quin machte, ohne Zweifel, den Koͤnig im Hamlet, als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoͤdie waren; Theil VI. S. 15. und der Rebhuhne giebt G 3 es es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. 〟Was? sagen sie, Garrick der groͤßte Akteur? Er schien ja nicht uͤber das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das fuͤr eine Kunst, uͤber ein Gespenst zu erschrecken? Gewiß und wahr- haftig, wenn wir den Geist gesehen haͤtten, so wuͤrden wir eben so ausgesehen, und eben das gethan haben, was er that. Der andere hin- gegen, der Koͤnig, schien wohl auch, etwas ge- ruͤhrt zu seyn, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle moͤgliche Muͤhe, es zu verbergen. Zu dem sprach er alle Worte so deutlich aus, und redete noch einmal so laut, als jener kleine unan- sehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!〟 Bey den Englaͤndern hat jedes neue Stuͤck seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst, oder ein Freund desselben, ab- fasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoͤrer von verschiedenen Dingen zu un- terrichten, die zu einem geschwindern Verstaͤnd- nisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stuͤckes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterley darinn zu sagen, was das Anditorium fuͤr den Dichter, oder fuͤr den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und un- billigen billigen Kritiken, sowohl uͤber ihn als uͤber die Schauspieler, vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die voͤl- lige Aufloͤsung des Stuͤcks, die in dem fuͤnften Akte nicht Raum hatte, darinn erzehlen zu las- sen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen uͤber die geschilderten Sitten, und uͤber die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton aͤndern sie auch nicht ein- mal gern bey dem Trauerspiele; und es ist gar nichts ungewoͤhnliches, daß nach dem blutigsten und ruͤhrendsten, die Satyre ein so lautes Gelaͤch- ter aufschlaͤgt, und der Witz so muthwillig wird, daß es scheinet, es sey die ausdruͤckliche Absicht, mit allen Eindruͤcken des Guten ein Gespoͤtte zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wuͤnschte, daß auch bey uns neue Ori- ginalstuͤcke, nicht ganz ohne Einfuͤhrung und Empfehlung, vor das Publikum gebracht wuͤrden, so versteht es sich von selbst, daß bey dem Trauer- spiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener seyn muͤßte. Nach dem Lustspiele koͤnnte er immer so burlesk seyn, als er wollte. Dryden ist es, der bey den Englaͤn- dern dern Meisterstuͤcke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem groͤßten Vergnuͤgen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Theil laͤngst vergessen sind. Hamburg haͤtte einen deutschen Dryden in der Naͤhe; und ich brauche ihn nicht noch ein- mal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu wuͤr- zen, so gut als der Englaͤnder verstehen wuͤrde. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Achtes Stuͤck. Den 26sten May, 1767. D ie Vorstellungen des ersten Abends, wur- den den zweyten wiederhohlt. Den dritten Abend (Freytags, den 24sten v. M.) ward Melanide aufgefuͤhret. Dieses Stuͤck des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der ruͤhrenden Gattung, der man den spoͤttischen Beynamen, der Weinerlichen, gegeben. Wenn weinerlich heißt, was uns die Thraͤnen nahe bringt, wobey wir nicht uͤbel Lust haͤtten zu weinen, so sind verschiedene Stuͤcke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Stroͤme von Thraͤnen; und der gemeine Praß franzoͤsischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefaͤhr so weit, daß uns H wird, wird, als ob wir haͤtten weinen koͤnnen, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden haͤtte. Melanide ist kein Meisterstuͤck von dieser Gat- tung; aber man sieht es doch immer mit Ver- gnuͤgen. Es hat sich, selbst auf dem franzoͤsischen Theater, erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sey aus einem Roman, Mademoiselle de Bon- tems betittelt, entlehnet. Ich kenne diesen Ro- man nicht; aber wenn auch die Situation der zweyten Scene des dritten Akts aus ihm genom- men ist, so muß ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weßwegen ich wohl, eine Melanide gemacht zu haben, wuͤnschte. Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweyten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muß es zum Troste des groͤßten Haufens unserer Uebersetzer anfuͤhren, daß ihre italienischen Mitbruͤder meistentheils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indeß in gute Prosa uͤbersetzen, erfodert etwas mehr, als Genauigkeit; oder ich moͤchte wohl sagen, etwas anders. Allzu puͤnktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil unmoͤglich alles, was in der einen Sprache natuͤrlich ist, es auch in der andern seyn kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich waͤß- rig rig und schielend. Denn wo ist der gluͤckliche Versificateur, den nie das Sylbenmaaß, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas staͤrker oder schwaͤcher, fruͤher oder spaͤter, sagen liesse, als er es, frey von diesem Zwange, wuͤrde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiß; wenn er nicht Geschmack, nicht Muth genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergaͤnzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlaͤßigkeiten seines Originals uͤberliefert, und ihnen nichts als die Entschul- digung benommen haben, welche die Schwierig- keiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache fuͤr sie machen. Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjaͤhrigen Entfernung vom Theater, aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Ken- ner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loͤwen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl aus- druckfaͤhigsten Gesichte von der Welt, das feinste schnellste Gefuͤhl, die sicherste waͤrmste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so leb- haft, als es viele wuͤnschen, doch allezeit mit H 2 An- Anstand und Wuͤrde aͤußert. In ihrer Dekla- mation accentuirt sie richtig, aber nicht merklich. Der gaͤnzliche Mangel intensiver Accente verur- sacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu koͤnnen, weiß sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Huͤlfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich er- klaͤren. Man weiß, was in der Musik das Mouvement heißt; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mou- vement ist durch das ganze Stuͤck einfoͤrmig; in dem nehmlichen Maaße der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, muͤssen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einfoͤrmigkeit ist in der Musik nothwen- dig, weil Ein Stuͤck nur einerley ausdruͤcken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moͤglich seyn wuͤrde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Periodeu von mehrern Gliedern, als ein besonderes mu- sikalisches Stuͤck annehmen, und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so muͤssen diese Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Laͤnge waͤren, und aus der nehmlichen Anzahl von Sylben des nehmlichen Zeitmaaßes bestuͤnden, dennoch nie mit einerley Geschwin- digkeit digkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nach- druck, noch in Ruͤcksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerley Werth und Belang seyn koͤnnen: so ist es der Natur gemaͤß, daß die Stimme die geringfuͤgi- gern schnell herausstoͤßt, fluͤchtig und nachlaͤßig daruͤber hinschlupft; auf den betraͤchtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzaͤhlet. Die Grade dieser Verschieden- heit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine kuͤnstliche Zeittheilchen bestimmen und gegen einander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unter- schieden, so wie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durch- drungenen Herzen, und nicht blos aus einem fer- tigen Gedaͤchtnisse fließet. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses bestaͤndig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vol- lends alle Abaͤnderungen des Tones, nicht blos in Ansehung der Hoͤhe und Tiefe, der Staͤrke und Schwaͤche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, so- gar des Holprichten und Geschmeidigen, an den rechten Stellen, damit verbunden: so entstehet jene natuͤrliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eroͤfnet, weil es empfindet, daß sie H 3 aus aus den Herzen entspringt, und die Kunst nur in so fern daran Antheil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu verglei- chen, als Herr Eckhof, der aber, indem er die intensiven Accente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleißiget, noch hinzufuͤget, blos dadurch seiner Deklamation eine hoͤhere Vollkommenheit zu geben im Stande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urtheile blos so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Ruͤh- rende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele, und fahre indeß in der Geschichte unsers Theaters fort. Den vierten Abend (Montags, den 27sten v. M.) ward ein neues deutsches Original, betittelt Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe, auf- gefuͤhret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, daß bereits zwey andere Stuͤcke von ihm, den Beyfall des dortigen Publi- kums erhalten haͤtten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaͤrtigen zu urtheilen, muͤssen sie nicht ganz schlecht seyn. Die Hauptzuͤge der Fabel und der groͤßte Theil der Situationen, sind aus der Neuen Heloise des Rousseau entlehnet. Ich wuͤnschte, daß Hr. Heu- feld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurthei- lung lung dieses Romans in den Briefen, die neueste Lit- teratur betreffend, Theil X. S. 255 u. f. gelesen und studiert haͤtte. Er wuͤrde mit einer sicherern Einsicht in die Schoͤn- heiten seines Originals gearbeitet haben, und viel- leicht in vielen Stuͤcken gluͤcklicher gewesen seyn. Der Werth der Neuen Heloise ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darinn ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung faͤhig. Die Situationen sind alltaͤglich oder unna- tuͤrlich, und die wenig guten so weit von einander entfernt, daß sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den en- gen Raum eines Schauspiels von drey Aufzuͤgen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Buͤhne unmoͤglich so schliessen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schließt, als verlieret. Der Liebhaber der Julie mußte hier gluͤcklich wer- den, und Hr. Heufeld laͤßt ihn gluͤcklich werden. Er bekoͤmmt seine Schuͤlerinn. Aber hat Hr. Heufeld auch uͤberlegt, daß seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rous- seau, oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die intereßiret. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts, als eine kleine verliebte Naͤrrinn, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoͤne Stelle im Rousseau besinnet. 〟Julie, sagt der Kunstrichter, dessen Urtheils ich erwaͤhnet habe, spielt in der Ge- schichte eine zweyfache Rolle. Sie ist Anfangs ein schwaches und sogar etwas verfuͤhrerisches Maͤd- chen, chen, und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdich- tet hat, weit uͤbertrift.〟 Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ih- rer Liebe, durch die Gewalt, die sie uͤber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stuͤcke nichts zu hoͤren und zu sehen ist: was bleibt von ihr uͤbrig, als, wie gesagt, das schwache ver- fuͤhrerische Maͤdchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Thorheit im Herzen hat? Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bey uns ziemlich nach dem Domestiquen. Ich wuͤnschte, daß unsere dramatischen Dichter auch in sol- chen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerksamer seyn wollten. — St. Preux spielt schon bey dem Rousseau eine sehr ab- geschmackte Figur. 〟Sie nennen ihn alle, sagt der an- gefuͤhrte Kunstrichter, den Philosophen. Den Philo- sophen! Ich moͤchte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder thut, dadurch er die- sen Namen verdienet? In meinen Augen ist er der al- bernste Mensch von der Welt, der in allgemeinen Aus- rufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt, und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abentheuerlich, schwuͤlstig, aus- gelassen, und in seinem uͤbrigen Thun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft, und ist den- noch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu thun, ohne von seiner Schuͤlerinn, oder von seinem Freunde an der Hand gefuͤhret zu werden.〟 — Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesen St. Preux! Ham- Hamburgische Dramaturgie. Neuntes Stuͤck. Den 29sten May, 1767. I n dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen auf- geklaͤrten Verstand zu zeigen, und die thaͤ- tige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komoͤdie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus sei- ner Schwachheit eine Tugend macht, und sich sehr bele diget findet, daß man seinem zaͤrtlichen Herzchen nicht durchgaͤngig will Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit laͤuft auf ein Paar maͤchtige Thorheiten heraus. Das Buͤrschchen will sich schlagen und erstechen. Der Verfasser hat es selbst empfunden, daß sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe da- durch vorzubeugen, wenn er zu erwaͤgen giebt: 〟daß ein Mensch seines gleichen, in einer Zeit von vier und zwanzig Stunden, nicht wie ein J Koͤnig, Koͤnig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten koͤnne. Man muͤsse zum voraus annehmen, daß er ein rechtschaffener Mann sey, wie er beschrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafuͤr erkannt haͤtten.〟 Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute unter einander ertheilen, allen Glauben beymißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschaͤft dadurch sehr leicht machen koͤnnte. Wir wollen es auf der Buͤhne sehen, wer die Menschen sind, und koͤnnen es nur aus ihren Thaten sehen. Das Gute, das wir ihnen, blos auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmoͤglich fuͤr sie interessiren; es laͤßt uns voͤllig gleichguͤltig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es so- gar eine uͤble Ruͤckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, daß wir deßwegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund fuͤr den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklaͤren, ihn auch dafuͤr zu erkennen bereit seyn sollten: so fan- fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Mißtrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre guͤnstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vier und zwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schaͤtzung, die groͤßten. Wie traf es sich denn indeß, daß vier und zwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwey aͤußersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umstaͤnden nur immer einfallen koͤnnen? Die Gelegenheiten sind auch darnach; koͤnnte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moͤchten aber noch so natuͤrlich herbeygefuͤhret, noch so fein behandelt seyn: so wuͤrden darum die Narrhei- ten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre uͤble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stuͤrmischen Scheinweisen, nicht ver- lieren. Daß er schlecht handele, sehen wir: daß er gut handeln koͤnne, hoͤren wir nur, und nicht einmal in Beyspielen, sondern in den all- gemeinsten schwankendsten Ausdruͤcken. Die Haͤrte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum J 2 Ge- Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewaͤh- let hatte, wird beym Rousseau nur kaum be- ruͤhrt. Herr Heufeld hatte den Muth, uns eine ganze Scene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laͤßt den Vater, die Tochter zu Boden stoßen. Ich war um die Ausfuͤhrung dieser Aktion be- sorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl concertiret; es ward, von Sei- ten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabey beobachtet, und dieser Anstand that der Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir geste- hen mußte, diesen Akteurs koͤnne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld ver- langt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter auf- gehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb seyn, daß dieses unter- lassen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Eckelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Faͤllen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich sehen. Die darauf folgende Scene ist die hervor- ragendste des ganzen Stuͤckes. Sie gehoͤrt dem Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Un- wille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fußfaͤllig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kraͤnket uns, denjenigen so erniedriget zu er- blicken, blicken, dem die Natur so heilige Rechte uͤber- tragen hat. Dem Rousseau muß man diesen ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gruͤnde bey Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, daß es sich durch die aͤußerste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen wuͤrde: so konnte sie nur durch die ploͤtzliche Ueberraschung der unerwar- testen Begegnung erschuͤttert, und in einer Art von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge- liebte sollte sich in die Tochter, verfuͤhrerische Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veraͤnderung abzugewinnen, so mußte er sich entschliessen, ihr sie abzunoͤthigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß sie den inbruͤnstigsten Liebhaber dem kaͤltesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen- dung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau blos das Befremdliche jener Aufopfe- rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der- selben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in Sicherheit setzen wollte? — Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan J 3 haͤtte, haͤtte, so wuͤrden wir um eine Scene gekommen seyn, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kraͤftig ist; er wuͤrde uns ein hohes Licht in seiner Copie ver- mahlt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiß, wo es herkoͤmmt, das aber eine treffliche Wirkung thut. Die Art, mit der Herr Eckhof diese Scene ausfuͤhrte, die Aktion, mit der er einen Theil der grauen Haare vors Auge brach- te, bey welchen er die Tochter beschwor; waͤren es allein werth gewesen, eine kleine Unschicklich- keit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bey Zergliederung des Planes, merklich wird. Das Nachspiel dieses Abends war, der Schatz; die Nachahmung des Plautinschen Trinummus, in welcher der Verfasser alle die komischen Sce- nen seines Originals in einen Aufzug zu concen- triren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so noth- wendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel, langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unver- meidlich. Possen muͤssen Schlag auf Schlag gesagt gesagt werden, und der Zuhoͤrer muß keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stuͤcke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen waͤre, wuͤrde eine frostige Liebhaberinn seyn; und freylich lie- ber keines, als so eines. Sonst moͤchte ich es niemanden rathen, sich dieser Besondernheit zu befleißigen. Wir sind zu sehr an die Unter- mengung beider Geschlechter gewoͤhnet, als daß wir bey gaͤnzlicher Vermissung des reitzendern, nicht etwas Leeres empfinden sollten. Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das nehmliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Buͤhne gebracht. Sie haben beide große Stuͤcke von fuͤnf Aufzuͤgen daraus gemacht, und sind daher genoͤthiget gewesen, den Plan des Roͤ- mers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heißt, die Mitgift, und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italieni- schen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Des- touches fuͤhrt den Titel, der verborgne Schatz, und ward ein einzigesmal, im Jahre 1745, auf der italienischen Buͤhne zu Paris, und auch dieses einzigemal nicht ganz bis zu Ende, aufge- fuͤhret. Es fand keinen Beyfall, und ist erst nach nach dem Tode des Verfassers, und also ver- schiedene Jahre spaͤter, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so gluͤcklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bey dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zuruͤckgefuͤhret worden. Plau- tus hatte seine ganz eigne Manier, in Benen- nung seiner Stuͤcke; und meistentheils nahm er sie von dem allerunerheblichsten Umstande her. Dieses z. E. nennte er Trinummus, den Drey- ling; weil der Sykophant einen Dreyling fuͤr seine Muͤhe bekam. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Zehntes Stuͤck. Den 2ten Juny, 1767. D as Stuͤck des fuͤnften Abends (Dienstags, den 28sten April,) war, das unvermu- thete Hinderniß, oder das Hinderniß ohne Hinderniß, vom Destouches. Wenn wir die Annales des franzoͤsischen Thea- ters nachschlagen, so finden wir, daß die lustig- sten Stuͤcke dieses Verfassers, gerade den aller- wenigsten Beyfall gehabt haben. Weder das gegenwaͤrtige, noch der verborgene Schatz, noch das Gespenst mit der Trommel, noch der poeti- sche Dorfjunker, haben sich darauf erhalten; und sind selbst in ihrer Neuheit, nur wenige- mal aufgefuͤhret worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter an- kuͤndiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und K wenn wenn er es thut, duͤnket man sich berechtiget, daruͤber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser, und glaubt, etwas schlechters zu finden, sobald man nicht das nehmliche findet. Destouches hatte in seinem verheyratheten Phi- losophen, in seinem Ruhmredigen, in seinem Verschwender, Muster eines feinern, hoͤhern Komischen gegeben, als man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stuͤcken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klaßificiren, dieses zu seiner eigenthuͤmlichen Sphaͤre; was bey dem Poeten vielleicht nichts als zufaͤllige Wahl war, erklaͤrten sie fuͤr vor- zuͤglichen Hang und herrschende Faͤhigkeit; was er einmal, zweymal, nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu koͤnnen: und als er es nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern aͤhnlicher, als daß sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit wiederfahren liessen, ehe sie ihr voreiliges Urtheil aͤnderten? Ich will damit nicht sagen, daß das Niedrig- komische des Destouches mit dem Molierischen von einerley Guͤte sey. Es ist wirklich um vie- les steifer; der witzige Kopf ist mehr darinn zu spuͤren, als der getreue Mahler; seine Narren sind selten von den behaͤglichen Narrren, wie sie aus den Haͤnden der Natur kommen, sondern mehrentheils von der hoͤlzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt, und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie uͤber- ladet; ladet; sein Schulwitz, sein Masuren, sind da- her frostiger als laͤcherlich. Aber dem ohnge- achtet, — und nur dieses wollte ich sagen, — sind seine lustigen Stuͤcke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzaͤrtelter Geschmack findet; sie haben Scenen mit unter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern koͤnnten. Hierauf folget ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betittelt, die neue Agnese. Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Sproͤde; aber insgeheim war sie die gefaͤllige feurige Freundinn eines gewissen Bernard. Wie gluͤcklich, o wie gluͤcklich machst du mich, Bernard! rief sie einst in der Ent- zuͤckung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragt das liebe einfaͤltige Maͤd- chen: Aber, Mamma, wer ist denn der Bernard, der die Leute gluͤcklich macht? Die Mutter merkte sich verrathen, faßte sich aber geschwind. Es ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kuͤrzlich gewaͤhlt habe; einer von den groͤßten im Paradiese. Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Ver- gnuͤgen; Mamma bekoͤmmt Verdacht; Mamma beschleicht das gluͤckliche Paar; und da bekoͤmmt Mamma von dem Toͤchterchen eben so schoͤne K 2 Seuf- Seufzer zu hoͤren, als das Toͤchterchen juͤngst von Mamma gehoͤrt hatte. Die Muttter er- grimmt, uͤberfaͤllt sie, tobt. Nun, was denn, liebe Mamma? sagt endlich das ruhige Maͤd- chen. Sie haben sich den H. Bernard gewaͤhlt; und ich, ich mir den H. Hilar. Warum nicht? — Dieses ist eines von den lehrreichen Maͤrchen, mit welchen das weise Alter des goͤttlichen Vol- taire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komi- schen Oper seyn muß. Er sahe nichts anstoͤßiges darinn, als die Namen der Heiligen, und die- sem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhaͤngerinn der Lehre des Gabalis; und der H. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter den Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette, Isabelle und Gertrude, oder die vermeinten Sylphen; welche die Grundlage zur neuen Agnese ist. Man hat die Sitten darinn, den unsrigen naͤher zu brin- gen gesucht, man hat sich aller Anstaͤndigkeit beflissen; das liebe Maͤdchen ist von der reitzendster, verehrungswuͤrdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfaͤlle verstreuet, die zum Theil dem deutschen Ver- fasser eigen sind. Ich kann mich in die Veraͤn- derun- derungen selbst, die er mit seiner Urschrift ge- macht, nicht naͤher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wuͤnschten, daß er die Nachbarinn, anstatt des Vaters, beybehalten haͤtte. — Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein jun- ges Frauenzimmer, das eine vortrefliche Ak- trice verspricht, und daher die beste Aufmunte- rung verdienet. Alter, Figur, Mine, Stim- me, alles koͤmmt ihr hier zu statten; und ob sich, bey diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muß man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verriethen, als sich an einer Agnese verrathen darf. Den sechsten Abend (Mittwochs, den 29sten April) ward die Semiramis des Hrn. von Vol- taire aufgefuͤhret. Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die franzoͤsische Buͤhne gebracht, erhielt großen Beyfall, und macht, in der Geschichte dieser Buͤhne, gewissermaaßen Epoche. — Nachdem der Hr. von Voltaire seine Zayre und Alzire, seinen Brutus und Caͤsar geliefert hatte, ward er in der Meinung bestaͤrkt, daß die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vie- len Stuͤcken weit uͤbertraͤfen. Von uns Fran- zosen, sagt er, haͤtten die Griechen eine geschick- K 3 tere tere Exposition, und die große Kunst, die Auf- tritte unter einander so zu verbinden, daß die Scene niemals leer bleibt, und keine Person we- der ohne Ursache koͤmmt noch abgehet, lernen koͤnnen. Von uns, sagt er, haͤtten sie lernen koͤnnen, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerin- nen, in witzigen Antithesen, mit einander spre- chen; wie der Dichter, mit einer Menge erhabner, glaͤnzender Gedanken, blenden und in Er- staunen setzen muͤsse. Von uns haͤtten sie lernen koͤnnen — O freylich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da moͤchte zwar ein Auslaͤnder, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demuͤthig um Erlaubniß bitten, anderer Meinung seyn zu duͤrfen. Er moͤchte vielleicht einwenden, daß alle diese Vorzuͤge der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen großen Einfluß haͤtten; daß es Schoͤnheiten waͤren, welche die einfaͤltige Groͤße der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht und man glaubt. Ein einziges ver- mißte er bey seiner Buͤhne; daß die großen Mei- sterstuͤcke derselben nicht mit der Pracht aufge- fuͤhret wuͤrden, deren doch die Griechen die klei- nen Versuche einer erst sich bildenden Kunst ge- wuͤrdiget haͤtten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzi- gen gen Parterre das stehende Volk drengt und stoͤßt, beleidigte ihn mit Recht; und besonders belei- digte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zu- schauer auf der Buͤhne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren nothwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war uͤberzeugt, daß blos dieser Uebelstand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bey einem freyern, zu Handlungen bequemern und praͤchtigern Theater, ohne Zweifel gewagt haͤtte. Und eine Probe hiervon zu geben, ver- fertigte er seine Semiramis. Eine Koͤniginn, welche die Staͤnde ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermaͤhlung zu eroͤffnen; ein Ge- spenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blut- schande zu verhindern, und sich an seinem Moͤr- der zu raͤchen; diese Gruft, in die ein Narr her- eingeht, um als ein Verbrecher wieder heraus- zukommen: das alles war in der That fuͤr die Fran- zosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Ler- men auf der Buͤhne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gege- ben zu haben; und ob er es schon nicht fuͤr die franzoͤsische Buͤhne, so wie sie war, sondern so wie er sie wuͤnschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vor der Hand, so gut gespielet, als es sich ohngefaͤhr spielen ließ. Bey Bey der ersten Vorstellung saßen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich haͤtte wohl ein altvaͤtrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel moͤgen erscheinen sehen. Erst bey den fol- genden Vorstellungen ward dieser Unschicklich- keit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Buͤhne frey; und was damals nur eine Aus- nahme, zum Besten eines so ausserordentlichen Stuͤckes, war, ist nach der Zeit die bestaͤndige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur fuͤr die Buͤhne in Paris; fuͤr die, wie gesagt, Se- miramis in diesem Stuͤcke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch haͤufig bey der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zayren und Me- ropen auf die Schleppe treten zu koͤnnen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Eilftes Stuͤck. Den 5ten Junius, 1767. D ie Erscheinung eines Geistes war in einem franzoͤsischen Trauerspiele eine so kuͤhne Neuheit, und der Dichter, der sie wag- te, rechtfertiget sie mit so eignen Gruͤnden, daß es sich der Muͤhe lohnet, einen Augenblick da- bey zu verweilen. „Man schrie und schrieb von allen Seiten, sagt der Herr von Voltaire, daß man an Ge- spenster nicht mehr glaube, und daß die Erschei- nung der Todten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch seyn koͤnne. Wie? versetzt er dagegen; das ganze Alterthum haͤtte diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergoͤnnt seyn, sich nach dem Alterthume zu richten? Wie? unsere Religion haͤtte der- gleichen ausserordentliche Fuͤgungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte laͤcherlich seyn, sie zu erneuern?„ L Diese Diese Ausrufungen, duͤnkt mich, sind rheto- rischer, als gruͤndlich. Vor allen Dingen wuͤnschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik, sind Gruͤnde, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu brin- gen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu uͤber- zeugen. Die Religion, als Religion, muß hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Alterthums, gilt ihr Zeug- niß nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Alterthums gelten. Und so nach haͤtten wir es auch hier, nur mit dem Alterthume zu thun. Sehr wohl; das ganze Alterthum hat Ge- spenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Alterthums hatten also Recht, diesen Glau- ben zu nutzen; wenn wir bey einem von ihnen wiederkommende Todte aufgefuͤhret finden, so waͤre es unbillig, ihm nach unsern bessern Ein- sichten den Proceß zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten theilende dramatische Dichter, die nehmliche Befugniß? Gewiß nicht. — Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtglaͤubigere Zeiten zuruͤcklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzehlt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, son- dern dern er laͤßt es vor unsern Augen nochmals ge- schehen; und laͤßt es nochmals geschehen, nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und hoͤhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, son- dern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns taͤuschen, und durch die Taͤuschung ruͤhren. Wenn es also wahr ist, daß wir itzt keine Ge- spenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglau- ben die Taͤuschung nothwendig verhindern muͤß- te; wenn ohne Taͤuschung wir unmoͤglich sym- pathisiren koͤnnen: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns dem ohn- geachtet solche unglaubliche Maͤhrchen ausstaffi- ret; alle Kunst, die er dabey anwendet, ist ver- loren. Folglich? Folglich ist es durchaus nicht er- laubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Buͤhne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen fuͤr uns vertrock- net? Nein; dieser Verlust waͤre fuͤr die Poesie zu groß; und hat sie nicht Beyspiele fuͤr sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet, und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spoͤt- tisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fuͤrch- terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch seyn. Wir glauben keine Gespenster L 2 mehr? mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, daß wir die Unmoͤglichkeit davon erweisen koͤnnen; ge- wisse unumstoͤßliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und bestaͤndig so ge- genwaͤrtig, daß ihm alles, was damit streitet, nothwendig laͤcherlich und abgeschmackt vorkom- men muß? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, uͤber die sich fast eben so viel dafuͤr als darwider sagen laͤßt, die nicht entschieden ist, und nicht entschieden wer- den kann, hat die gegenwaͤrtig herrschende Art zu denken den Gruͤnden darwider das Ueberge- wicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrey und geben den Ton; der groͤßte Haufe schweigt und verhaͤlt sich gleich- guͤltig, und denkt bald so, bald anders, hoͤrt beym hellen Tage mit Vergnuͤgen uͤber die Ge- spenster spotten, und bey dunkler Nacht mit Grausen davon erzehlen. Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dich- ter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch da- von von zu machen. Der Saame, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haͤufigsten, fuͤr die er vornehmlich dichtet. Es koͤmmt nur auf seine Kunst an, diesen Saamen zum Kaͤu- men zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gruͤnden fuͤr ihre Wirklichkeit in der Ge- schwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so moͤgen wir in gemei- nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muͤssen wir glauben, was Er will. So ein Dichter ist Shakespear, und Shake- spear fast einzig und allein. Vor seinem Ge- spenste im Hamlet richten sich die Haare zu Ber- ge, sie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu be- rufen; es macht ihn und seinen Geist des Ni- nus — laͤcherlich. Shakespears Gespenst koͤmmt wirklich aus jener Welt; so duͤnkt uns. Denn es koͤmmt zu der feyerlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duͤstern, geheimnißvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht ein- mal zum Popanze gut, Kinder damit zu schrecken; L 3 es es ist der bloße verkleidete Komoͤdiant, der nichts hat, nichts sagt, nichts thut, was es wahr- scheinlich machen koͤnnte, er waͤre das, wofuͤr er sich ausgiebt; alle Umstaͤnde vielmehr, unter welchen er erscheinet, stoͤren den Betrug, und verrathen das Geschoͤpf eines kalten Dichters, der uns gern taͤuschen und schrecken moͤchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen soll. Man uͤberlege auch nur dieses einzige: am hellen Ta- ge, mitten in der Versamlung der Staͤnde des Reichs, von einem Donnerschlage angekuͤndiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoͤrt, daß Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau haͤtte ihm nicht sagen koͤnnen, daß die Gespen- ster das Sonnenlicht scheuen, und große Gesell- schaften gar nicht gern besuchten? Doch Vol- taire wußte zuverlaͤßig das auch; aber er war zu furchtsam, zu eckel, diese gemeinen Umstaͤnde zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art seyn; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, duͤnket mich kein rechtes Gespenst zu seyn; und alles, was die Illusion hier nicht befoͤrdert, stoͤret die Il- lusion. Wenn Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haͤtte, so wuͤrde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit em- pfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer großen Menge erscheinen zu lassen. Alle muͤssen auf einmal, bey Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen aͤußern; alle muͤssen es auf verschiedene Art aͤußern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Ballets haben soll. Nun richte man einmal eine Heerde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das gluͤcklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des nehmli- chen Affekts die Aufmerksamkeit theilen, und von den Hauptpersonen abziehen muß. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so muͤssen wir sie nicht allein sehen koͤnnen, son- dern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beym Shakespear ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einlaͤßt; in der Scene, wo die Mutter dabey ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehoͤrt. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruͤtteten Gemuͤths wir an ihm ent- decken, desto bereitwilliger sind wir, die Er- scheinung, welche diese Zerruͤttung in ihm ver- ursacht, fuͤr eben das zu halten, wofuͤr er sie haͤlt. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns uͤber, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als daß wir an der ausserordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken uͤber seinen Geist viele; aber nicht viel. Se- miramis ruft einmal: Himmel! ich sterbe! und die andern machen nicht mehr Umstaͤnde mit ihm, als man ohngefehr mit einem weit entfernt ge- glaubten Freunde machen wuͤrde, der auf ein- mal ins Zimmer tritt. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Zwoͤlftes Stuͤck. Den 9ten Junius, 1767. I ch bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und franzoͤsischen Dichters findet. Vol- tairs Gespenst ist nichts als eine poetische Ma- schine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessirt uns fuͤr sich selbst nicht im geringsten. Shakespears Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir An- theil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid. Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dich- ter von den Gespenstern uͤberhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespear als eine ganz na- tuͤrliche Begebenheit. Wer von beiden philo- sophischer denkt, duͤrfte keine Frage seyn; aber Shakespear dachte poetischer. Der Geist des M Ni- Ninus kam bey Voltairen, als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe angenehmer und unange- nehmer Empfindungen faͤhig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben koͤnnen, in keine Be- trachtung. Er wollte blos damit lehren, daß die hoͤchste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache. Ich will nicht sagen, daß es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so ein- richtet, daß sie zur Erlaͤuterung oder Bestaͤti- gung irgend einer großen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, daß diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als noth- wendig ist; daß es sehr lehrreiche vollkommene Stuͤcke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; daß man Unrecht thut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse ver- schiedener Trauerspiele der Alten findet, so an- zusehen, als ob das Ganze blos um seinetwillen da waͤre. Wenn daher die Semiramis des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst haͤtte, als dieses, worauf er sich so viel zu gute thut, daß man nehmlich daraus die hoͤchste Gerechtigkeit vereh- ren lerne, die ausserordentliche Lasterthaten zu strafen, ausserordentliche Wege waͤhle: so wuͤrde Semiramis in meinen Augen nur ein sehr mittel- maͤßiges Stuͤck seyn. Besonders da diese Moral selbst selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem weisesten Wesen weit anstaͤndi- ger, wenn es dieser ausserordentlichen Wege nicht bedarf, und wir uns die Bestrafung des Guten und Boͤsen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken. Doch ich will mich bey dem Stuͤcke nicht laͤn- ger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgefuͤhret worden. Man hat alle Ursache, damit zufrieden zu seyn. Die Buͤhne ist geraͤumlich genug, die Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in verschiedenen Scenen auftreten laͤßt. Die Verzierungen sind neu, von dem besten Ge- schmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als moͤglich in einen. Den siebenden Abend (Donnerstags, den 30sten April,) ward der verheyrathete Philo- soph, vom Destouches, gespielet. Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die franzoͤsische Buͤhne, und fand so allgemeinen Beyfall, daß es in Jahr und Tag sechs und dreyßigmal aufgefuͤhret ward. Die deutsche Uebersetzung ist nicht die prosaische aus den zu Berlin uͤbersetzten saͤmtlichen Werken des Des- touches; sondern eine in Versen, an der mehrere Haͤnde geflickt und gebessert haben. Sie hat wirklich viel gluͤckliche Verse, aber auch viel harte und unnatuͤrliche Stellen. Es ist unbe- M 2 schreib- schreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem Schauspieler das Agiren machen; und doch wer- den wenig franzoͤsische Stuͤcke seyn, die auf irgend einem deutschen Theater jemals besser aus- gefallen waͤren, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Loͤwen die launigte Celiante als eine Meisterinn, und Herr Acker- mann den Geront unverbesserlich. Ich kann es uͤberhoben seyn, von dem Stuͤcke selbst zu reden. Es ist zu bekannt, und gehoͤrt unstreitig unter die Meisterstuͤcke der franzoͤsischen Buͤhne, die man auch unter uns immer mit Vergnuͤgen sehen wird. Das Stuͤck des achten Abends (Freytags, den 1sten May,) war das Kaffeehaus, oder die Schottlaͤnderinn, des Hrn. von Voltaire. Es liesse sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein Verfasser schickte es als eine Uebersetzung aus dem Englischen des Hume, nicht des Geschichtschreibers und Philo- sophen, sondern eines andern dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel, Douglas, be- kannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der Kaffeeschenke des Goldoni etwas Aehnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni, das Urbild des Frelon gewesen zu seyn. Was aber dort blos ein boͤsartiger Kerl ist, ist hier zugleich ein elen- der Scribent, den er Frelon nannte, damit die Aus- Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwor- nen Feind, den Jurnalisten Freron, fallen moͤchten. Diesen wollte er damit zu Boden schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich versetzt. Wir Auslaͤn- der, die wir an den haͤmischen Neckereyen der franzoͤsischen Gelehrten unter sich, keinen An- theil nehmen, sehen uͤber die Persoͤnlichkeiten dieses Stuͤcks weg, und finden in dem Frelon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bey uns nicht fremd ist. Wir haben unsere Frelons so gut, wie die Franzosen und Englaͤnder, nur daß sie bey uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere Litteratur uͤberhaupt gleichguͤltiger ist. Fiele das Tref- fende dieses Charakters aber auch gaͤnzlich in Deutschland weg, so hat das Stuͤck doch, noch außer ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein, koͤnnte es in unserer Gunst er- halten. Wir lieben seine plumpe Edelmuͤthig- keit, und die Englaͤnder selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden. Denn nur seinetwegen haben sie erst kuͤrzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich ver- pflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu seyn ruͤhmte. Colman, unstreitig itzt ihr bester ko- mischer Dichter, hat die Schottlaͤnderinn, unter dem Titel des Englischen Kaufmanns, uͤbersetzt, und ihr vollends alle das nationale Colorit gege- M 3 ben, ben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen Sitten auch kennen will, so hatte er doch haͤufig dagegen verstossen; z. E. darinn, daß er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen laͤßt. Colman miethet sie dafuͤr bey einer ehrlichen Frau ein, die moͤblirte Zimmer haͤlt, und diese Frau ist weit anstaͤndiger die Freundinn und Wohl- thaͤterinn der jungen verlassenen Schoͤne, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman fuͤr den englischen Geschmack kraͤftiger zu machen ge- sucht. Lady Alton ist nicht blos eine eifersuͤch- tige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Ge- nie, von Geschmack und Gelehrsamkeit seyn, und giebt sich das Ansehen einer Schutzgoͤttinn der Litteratur. Hierdurch glaubte er die Ver- bindung wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frelon stehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphaͤre von Thaͤtigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane eben so eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Franzoͤsischen der Lord Falbridge zu dessen Begnadigung thut, thut im Englischen Freeport, und er ist es allein, der alles zu einem gluͤcklichen Ende bringet. Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen durchaus vor- trefflich, den Dialog fein und lebhaft, und die Charaktere sehr wohl ausgefuͤhrt gefunden. Aber doch doch ziehen sie ihr Colmans uͤbrige Stuͤcke weit vor, von welchen man die eifersuͤchtige Ehefrau auf dem Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die sich ihrer erinnern, un- gefehr urtheilen koͤnnen. Der englische Kauf- mann hat ihnen nicht Handlung genug; die Neu- gierde wird ihnen nicht genug darinn genaͤhret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar. Hiernaͤchst hat er ihnen zu viel Aehn- lichkeit mit andern Stuͤcken, und den besten Si- tuationen fehlt die Neuheit. Freeport, meynen sie, haͤtte nicht den geringsten Funken von Lieben gegen die Lindane empfinden muͤssen; seine gute That verliere dadurch alles Verdienst u. s. w. Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz un- gegruͤndet; indeß sind wir Deutschen es sehr wohl zufrieden, daß die Handlung nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte, zerstreuet und ermuͤdet uns; wir lieben einen einfaͤltigen Plan, der sich auf einmal uͤbersehen laͤßt. So wie die Englaͤnder die fran- zoͤsischen Stuͤcke mit Episoden erst vollpfropfen muͤssen, wenn sie auf ihrer Buͤhne gefallen sol- len; so muͤßten wir die englischen Stuͤcke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Buͤhne gluͤcklich damit bereichern wollten. Ihre besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley wuͤrden uns, ohne diesen Aushau des allzu wol- luͤstigen Wuchses, unausstehlich seyn. Mit ihren ihren Tragoͤdien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Theil bey weiten so verworren nicht, als ihre Komoͤdien, und verschiedene haben, ohne die geringste Veraͤnderung, bey uns Gluͤck gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komoͤdien zu sagen wuͤßte. Auch die Italiener haben eine Uebersetzung von der Schottlaͤnderinn, die in dem ersten Theile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine Scene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte, Frelon werde in der englischen Ur- schrift am Ende bestraft; aber so verdient diese Bestrafungen sey, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener duͤnkte diese Entschuldigung nicht hinlaͤnglich, und er er- gaͤnzte die Bestrafung des Frelons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind große Liebhaber der poetischen Gerechtigkeit. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Dreyzehntes Stuͤck. Den 12ten Junius, 1767. D en neunten Abend (Montags, den 4ten May,) sollte Cenie gespielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Haͤlfte der Schauspieler, durch einen epidemischen Zufall, ausser Stand gesetzet zu agiren; und man mußte sich so gut zu helfen suchen, als moͤglich. Man wiederholte die neue Agnese, und gab das Singspiel, die Gouvernante. Den zehnten Abend (Dienstags, den 5ten May,) ward der poetische Dorfjunker, vom Destouches, aufgefuͤhrt. Dieses Stuͤck hat im Franzoͤsischen drey Auf- zuͤge, und in der Uebersetzung fuͤnfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht werth, in die deutsche Schaubuͤhne des weiland beruͤhmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen zu werden, und seine gelehrte Freundinn, die Ueber- setzerinn, war eine viel zu brave Ehefrau, als N daß daß sie sich nicht den kritischen Ausspruͤchen ihres Gemahls blindlings haͤtte unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch fuͤr große Muͤhe, aus drey Aufzuͤgen fuͤnfe zu machen? Man laͤßt in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlaͤgt einen Spatziergang im Garten vor; und wenn Noth an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: Meine Damen und Herren, treten sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen er- funden, und was hilft ihr Spielen, wenn das Parterr nicht sehen kann? — Die Uebersetzung selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorinn die Knittelverse des Ma- suren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie uͤberall eben so gluͤcklich gewesen, wo sie den Einfaͤllen ihres Originals eine andere Wendung geben zu muͤssen geglaubt, wuͤrde sich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich dem ohngeachtet auf- mutzen hoͤren. In der Scene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, laͤßt Destouches den Masuren zu ihr sagen: „Sie setzen mich in Er- staunen, Mademoisell; ich habe Sie fuͤr eine Virtuosinn gehalten. O pfuy! erwiedert Hen- riette; wofuͤr haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Maͤdchen; daß Sie es nur wis- sen. Aber man kann ja, faͤllt ihr Masuren ein, bei- beides wohl zugleich, ein ehrliches Maͤdchen und eine Virtuosinn, seyn. Nein, sagt Henriette; ich behaupte, daß man das nicht zugleich seyn kann. Ich eine Virtuosinn!„ Man erinnere sich, was Madame Gottsched, anstatt des Worts, Virtuosinn, gesetzt hat: ein Wun- der. Kein Wunder! sagte man, daß sie das that. Sie fuͤhlte sich auch so etwas von einer Virtuosinn zu seyn, und ward uͤber den ver- meinten Stich boͤse. Aber sie haͤtte nicht boͤse werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Person einer dummen Agnese, sagt, haͤtte die Frau Professorinn immer, ohne Maulspitzen, nachsagen koͤnnen. Doch viel- leicht war ihr nur das fremde Wort, Virtuosinn, anstoͤßig; Wunder ist deutscher; zudem giebt es unter unsern Schoͤnen funfzig Wunder gegen eine Virtuosinn; die Frau wollte rein und ver- staͤndlich uͤbersetzen; sie hatte sehr recht. Den Beschluß dieses Abends machte die stumme Schoͤnheit, von Schlegeln. Schlegel hatte dieses kleine Stuͤck fuͤr das neuerrichtete Kopenhagensche Theater geschrie- ben, um auf demselben in einer daͤnischen Ueber- setzung aufgefuͤhret zu werden. Die Sitten darinn sind daher auch wirklich daͤnischer, als deutsch. Dem ohngeachtet ist es unstreitig unser bestes komisches Original, das in Versen ge- schrieben ist. Schlegel hatte uͤberall eine eben N 2 so so fließende als zierliche Versification, und es war ein Gluͤck fuͤr seine Nachfolger, daß er seine groͤßern Komoͤdien nicht auch in Versen schrieb. Er haͤtte ihnen leicht das Publikum verwoͤhnen koͤnnen, und so wuͤrden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beyspiel wider sich gehabt ha- ben. Er hatte sich ehedem der gereimten Ko- moͤdie sehr lebhaft angenommen; und je gluͤckli- cher er die Schwierigkeiten derselben uͤberstiegen haͤtte, desto unwiderleglicher wuͤrden seine Gruͤnde geschienen haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unsaͤgliche Muͤhe es koste, nur einen Theil derselben zu uͤbersteigen, und wie wenig das Vergnuͤgen, welches aus diesen uͤberstiegenen Schwierigkeiten entstehet, fuͤr die Menge klei- ner Schoͤnheiten, die man ihnen aufopfern muͤs- se, schadlos halte. Die Franzosen waren ehe- dem so eckel, daß man ihnen die prosaischen Stuͤcke des Moliere, nach seinem Tode, in Verse bringen mußte; und noch itzt hoͤren sie ein prosaisches Lustspiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen koͤnne. Den Englaͤnder hingegen wuͤrde eine gereimte Komoͤdie aus dem Theater jagen. Nur die Deutschen sind auch hierinn, soll ich sagen billiger, oder gleichguͤl- tiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was waͤre es auch, wenn sie itzt schon waͤhlen und ausmustern wollten? Die Die Rolle der stummen Schoͤne hat ihre Be- denklichkeiten. Eine stumme Schoͤne, sagt man, ist nicht nothwendig eine dumme, und die Schauspielerinn hat Unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels stumme Schoͤnheit ist allerdings dumm zugleich; denn daß sie nichts spricht, koͤmmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabey wuͤrde also dieses seyn, daß man sie uͤberall, wo sie, um artig zu scheinen, denken muͤßte, unartig machte, dabey aber ihr alle die Artigkeiten liesse, die blos mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu den- ken, haben koͤnnte. Ihr Gang z. E. ihre Ver- beugungen, brauchen gar nicht baͤurisch zu seyn; sie koͤnnen so gut und zierlich seyn, als sie nur immer ein Tanzmeister lehren kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben, da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muß Quadrille nicht schlecht spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzu- gewinnen. Auch ihre Kleidung muß weder alt- vaͤtrisch, noch schlumpicht seyn; denn Frau Praat- gern sagt ausdruͤcklich: „Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet? — Laß doch sehn! „Nun! — dreh dich um! — das ist ja gut, und sitzt galant. „Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand? N 3 In In dieser Musterung der Fr. Praatgern uͤber- haupt, hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Aeusserliche seiner stummen Schoͤne zu seyn wuͤnsche. Gleichfalls schoͤn, nur nicht reitzend. „Laß sehn, wie traͤgst du dich? — Den Kopf nicht so zuruͤcke! Dummheit ohne Erziehung haͤlt den Kopf mehr vorwaͤrts, als zuruͤck; ihn zuruͤck halten, lehrt der Tanzmeister; man muß also Charlotten den Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer Stummheit nichts, viel- mehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren gerade die, welche der stummen Schoͤnheit am meisten entsprechen; sie zeigen die Schoͤnheit in ihrem besten Vortheile, nur daß sie ihr das Leben nehmen. „Wer fragt: hat sie Verstand? der seh nur ihre Blicke. Recht wohl, wenn man eine Schauspielerinn mit großen schoͤnen Augen zu dieser Rolle hat. Nur muͤssen sich diese schoͤne Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke muͤssen langsam und stier seyn; sie muͤssen uns, mit ihrem unbeweg- lichen Brennpunkte, in Flammen setzen wollen, aber nichts sagen. „Geh doch einmal herum. — Gut! hieher! — Neige dich! „Da haben wirs, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich. Diese Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine baͤurische Neige, einen dummen Knix machen laͤßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt seyn, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praat- gern muß sie nur noch nicht affektirt genug fin- den. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praat- gern will, sie soll sich dabey zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Loͤwen be- merkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern sonst eine Rolle fuͤr sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswuͤrdige Hand- lungen, dergleichung die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen. Den eilften Abend (Mittewochs, den 6ten May,) ward Miß Sara Sampson aufgefuͤhret. Man kann von der Kunst nichts mehr verlan- gen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stuͤck ward uͤberhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkuͤrzt es daher auf den meisten Thea- tern. Ob der Verfasser mit allen diesen Ver- kuͤrzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiß ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Niednagel neh- men will, so schreyen sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freylich ist der uͤbermaͤßigen Laͤnge eines Stuͤcks, durch das bloße Weglassen, nur uͤbel uͤbel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Scene verkuͤrzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu aͤndern. Aber wenn dem Ver- fasser die fremden Verkuͤrzungen nicht anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Muͤhe werth duͤnket, und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen. Madame Henseln starb ungemein anstaͤndig; in der mahlerischsten Stellung; und besonders hat mich ein Zug ausserordentlich uͤberrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, daß sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die gluͤcklichste Art zu Nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, aͤus- serte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Auf- flattern eines verloͤschenden Lichts; der juͤngste Strahl einer untergehenden Sonne. — Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schoͤn findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung: aber er sehe sie einmal! Ham- Hamburgische Dramaturgie. Vierzehntes Stuͤck. Den 16ten Junius, 1767. D as buͤrgerliche Trauerspiel hat an dem fran- zoͤsischen Kunstrichter, welcher die Sara seiner Nation bekannt gemacht, Journal Etranger, Decembre 1761. einen sehr gruͤndlichen Vertheidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben. Die Namen von Fuͤrsten und Helden koͤnnen einem Stuͤcke Pomp und Majestaͤt geben; aber zur Ruͤhrung tragen sie nichts bey. Das Un- gluͤck derjenigen, deren Umstaͤnde den unsrigen am naͤchsten kommen, muß natuͤrlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Koͤnigen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Koͤnigen. Macht ihr Stand schon oͤfters ihre Unfaͤlle wichtiger, so macht er sie darum nicht O nicht interessanter. Immerhin moͤgen ganze Voͤlker darein verwickelt werden; unsere Sym- pathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff fuͤr unsere Empfindungen. „Man thut dem menschlichen Herze Unrecht, sagt auch Mormontel, man verkennet die Na- tur, wenn man glaubt, daß sie Titel beduͤrfe, uns zu bewegen und zu ruͤhren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Gelieb- ten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen uͤberhaupt: diese sind pathetischer, als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Ungluͤck- lichen ist, den seine Gefaͤlligkeit gegen unwuͤr- dige Freunde, und das verfuͤhrerische Beyspiel, ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre daruͤber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefaͤngnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der aͤußersten Beduͤrfniß, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thraͤnen geben. Man zeige mir in der Ge- schichte der Helden eine ruͤhrendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn wenn sich endlich dieser Ungluͤckliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfaͤhrt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fuͤrchterlichen Augen- blicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie gluͤcklich er habe leben koͤnnen, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoͤdie wuͤrdig zu seyn? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet sich denn nicht dieses Wunderbare genug- sam in dem ploͤtzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbre- chen, von der suͤßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem aͤußersten Ungluͤcke, in das eine bloße Schwachheit gestuͤrzet?„ Man lasse aber diese Betrachtungen den Fran- zosen, von ihren Diderots und Mormontels, noch so eingeschaͤrft werden: es scheint doch nicht, daß das buͤrgerliche Trauerspiel darum bey ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere aͤußer- liche Vorzuͤge zu verliebt; bis auf den gemein- sten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seines gleichen, ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein gluͤckliches Genie vermag viel uͤber sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie er- wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Staͤrke zu zeigen O 2 ver- verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stuͤcke gemacht hat, welches er das Gemaͤhlde der Duͤrftigkeit nennet, hat schon große Schoͤnheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, haͤtten wir es fuͤr unser Theater adoptiren sollen. Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen Sara aussetzet, ist zum Theil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Ver- fasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht ungluͤcklichen Muͤhe einer gaͤnzli- chen Umarbeitung unterziehen wollen. Er er- innert sich, was Voltaire bey einer aͤhnlichen Gelegenheit sagte: „Man kann nicht immer alles ausfuͤhren, was uns unsere Freunde ra- then. Es giebt auch nothwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, muͤßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut.„ Den zwoͤlften Abend (Donnerstags, den 7ten May,) ward der Spieler, vom Regnard, auf- gefuͤhret. Dieses Stuͤck ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buͤhne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, daß ihm Reg- nard die Anlage und verschiedene Scenen gestoh- len len habe; Regnard schob die Beschuldigung zu- ruͤck, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlaͤßigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so muͤssen wir es ihm wohl noch dazu dan- ken, daß er sich uͤberwinden konnte, die Ver- traulichkeit seines Freundes zu mißbrauchen; er bemaͤchtigte sich, blos zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraus sahe, daß sie verhunzt werden wuͤrden. Wir haͤtten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissen- hafter gewesen waͤre. Doch haͤtte er die That eingestehen, und dem armen Du Freny einen Theil der damit erworbnen Ehre lassen muͤssen. Den dreyzehnten Abend (Freytags, den 8ten May,) ward der verheyrathete Philosoph wie- derholet; und den Beschluß machte, der Liebha- ber als Schriftsteller und Bedienter. Der Verfasser dieses kleinen artigen Stuͤcks heißt Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spie- len gab. Es faͤllt ungemein wohl aus. Den vierzehnten Abend (Montags, den 11ten May) wurden die coquette Mutter vom Quinault, und der Advocat Patelin aufgefuͤhrt. Jene wird von den Kennern unter die besten Stuͤcke gerechnet, die sich auf dem franzoͤsischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches O 3 darinn, darinn, dessen sich Moliere nicht haͤtte schaͤmen duͤrfen. Aber der fuͤnfte Akt und die ganze Auf- loͤsung haͤtte weit besser seyn koͤnnen; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten ge- dacht wird, koͤmmt nicht zum Vorscheine; das Stuͤck schließt mit einer kalten Erzehlung, nach- dem wir auf eine theatralische Handlung vorbe- reitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des franzoͤsischen Theaters deswegen mit merk- wuͤrdig, weil der laͤcherliche Marquis darinn der erste von seiner Art ist. Die coquette Mutter ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault haͤtte es immer bey dem zweyten, die veruneinigten Verliebten, koͤnnen bewenden lassen. Der Advocat Patelin ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit ausserordentlichen Beyfall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit, und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet, und nicht auf bloßen Ein- faͤllen beruhet. Bruegs gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwaͤrtig aufgefuͤhret wird. Hr. Eckhof spielt den Patelin ganz vortrefflich. Den funfzehnten Abend (Dienstags, den 12ten May,) ward Leßings Freygeist vorge- stellt. Man Man kennet ihn hier unter dem Titel des be- schaͤmten Freygeistes, weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brave, das eben diese Aufschrift fuͤhret, unterscheiden wollen. Ei- gentlich kann man wohl nicht sagen, daß derje- nige beschaͤmt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freygeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter Theil. Die eitle unbesonnene Hen- riette, der fuͤr Wahrheit und Irrthum gleich- guͤltige Lisidor, der spitzbuͤbische Johann, sind alles Arten von Freygeistern, die zusammen den Titel des Stuͤcks erfuͤllen muͤssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstel- lung alles Beyfalls wuͤrdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Boͤck den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter er- fordert, um dem endlichen Unwillen uͤber die Hartnaͤckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, da- gegen abstechen zu lassen. Den Beschluß dieses Abends machte das Schaͤferspiel des Hrn. Pfeffels, der Schatz. Dieser Dichter hat sich, außer diesem kleinen Stuͤcke, noch durch ein anders, der Eremit, nicht unruͤhmlich bekannt gemacht. In den Schatz hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schaͤferspiele zu haben pfle- pflegen, deren ganzer Inhalt taͤndelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur oͤfters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoͤchst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem Eremiten, welches ein kleines Trauerspiel seyn soll, das man, anstatt der allzulustigen Nachspiele, auf ruͤhrende Stuͤcke koͤnnte folgen lassen. Die Ab- sicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaͤhnen uͤbergehen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Funfzehntes Stuͤck. Den 19ten Junius, 1767. D en sechszehnten Abend (Mittewochs, den 13ten May,) ward die Zayre des Herrn von Voltaire aufgefuͤhrt. „Den Liebhabern der gelehrten Geschichte, sagt der Hr. von Voltaire, wird es nicht unan- genehm seyn, zu wissen, wie dieses Stuͤck ent- standen. Verschiedene Damen hatten dem Ver- fasser vorgeworfen, daß in seinen Tragoͤdien nicht genug Liebe waͤre. Er antwortete ihnen, daß, seiner Meynung nach, die Tragoͤdie auch eben nicht der schicklichste Ort fuͤr die Liebe sey; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben muͤßten, so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stuͤck ward in acht- zehn Tagen vollendet, und fand großen Beyfall. Man nennt es zu Paris ein christliches Trauer- P spiel, spiel, und es ist oft, anstatt des Polyeukts, vor- gestellet worden.„ Den Damen haben wir also dieses Stuͤck zu verdanken, und es wird noch lange das Lieblings- stuͤck der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwuͤrfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schoͤnheit besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freyen zugaͤnglichen Sitz einer unumschraͤnkten Gebieterinn verwandelt; ein verlassenes Maͤd- chen, zur hoͤchsten Staffel des Gluͤcks, durch nichts als ihre schoͤnen Augen, erhoͤhet; ein Herz, um das Zaͤrtlichkeit und Religion streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott theilet, daß gern fromm seyn moͤchte, wenn es nur nicht aufhoͤren sollte zu lieben; ein Eifer- suͤchtiger, der sein Unrecht erkennet, und es an sich selbst raͤchet: wenn diese schmeichelnde Ideen das schoͤne Geschlecht nicht bestechen, durch was ließe es sich denn bestechen? Die Liebe selbst hat Voltairen die Zayre diktirt: sagt ein Kunstrichter artig genug. Richtiger haͤtte er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur eine Tragoͤdie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist Romeo und Juliet, vom Shakespear. Es ist wahr, Voltaire laͤßt seine verliebte Zayre ihre Empfindungen sehr fein, sehr sehr anstaͤndig ausdruͤcken: aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemaͤhlde aller der kleinsten geheimsten Raͤnke, durch die sich die Liebe in unsere Seele einschleicht, aller der unmerklichen Vortheile, die sie darinn gewinnet, aller der Kunstgriffe, mit der sie jede andere Lei- denschaft unter sich bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und Verab- scheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den Kanzeleystyl der Liebe vor- trefflich; das ist, diejenige Sprache, denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das behutsamste und gemaͤssenste aus- druͤcken will, wenn sie nichts sagen will, als was sie bey der sproͤden Sophistinn und bey dem kalten Kunstrichter verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiß von den Geheimnissen der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespear gehabt, so hat er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit unter dem Dichter ge- blieben. Von der Eifersucht laͤßt sich ohngefehr eben das sagen. Der eifersuͤchtige Orosmann spielt, gegen den eifersuͤchtigen Othello des Shakespear, eine sehr kahle Figur. Und doch ist Othello of- fenbar das Vorbild des Orosmann gewesen. P 2 Cib- Cibber sagt, From English Plays, Zara’s French author fir’d Confess’d his Muse, beyond herself, in- spir’d; From rack’d Othello’s rage, he rais’d his style And snatch’d the brand, that lights this tragic pile. Voltaire habe sich des Brandes bemaͤchtiget, der den tragischen Scheiterhaufen des Shakespear in Gluth gesetzt. Ich haͤtte ge- sagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu eines, der mehr dampft, als leuchtet und waͤrmet. Wir hoͤren in dem Orosmann einen Eifersuͤchtigen reden, wir sehen ihn die rasche That eines Eifer- suͤchtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht mehr und nicht weniger, als wir vorher wußten. Othello hingegen ist das voll- staͤndigste Lehrbuch uͤber diese traurige Raserey; da koͤnnen wir alles lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden. Aber ist es denn immer Shakespear, werden ei- nige meiner Leser fragen, immer Shakespear, der alles besser verstanden hat, als die Franzo- sen? Das aͤrgert uns; wir koͤnnen ihn ja nicht lesen. — Ich ergreife diese Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsetz- lich vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine eine Uebersetzung vom Shakespear. Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand be- kuͤmmert sich schon mehr darum. Die Kunst- richter haben viel Boͤses davon gesagt. Ich haͤtte große Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Maͤnnern zu wider- sprechen; nicht, um die Fehler zu vertheidigen, die sie darinn bemerkt haben: sondern, weil ich glaube, daß man von diesen Fehlern kein solches Aufheben haͤtte machen sollen. Das Unterneh- men war schwer; ein jeder anderer, als Herr Wieland, wuͤrde in der Eil noch oͤftrer verstoßen, und aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr uͤberhuͤpft haben; aber was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er uns den Shakespear geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schoͤnheiten, die es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es sie liefert, so beleidigen, daß wir nothwendig eine bessere Uebersetzung haben muͤßten. Doch wieder zur Zayre. Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die Pariser Buͤh- ne; und drey Jahr darauf ward sie ins Englische uͤbersetzt, und auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Uebersetzer war Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, P 3 nicht nicht von der schlechtesten Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheiden- heit, in der Zuschrift seines Stuͤcks an den Eng- laͤnder Fackener, davon sagt, verdient gelesen zu werden. Nur muß man nicht alles fuͤr voll- kommen so wahr annehmen, als er es ausgiebt. Wehe dem, der Voltairens Schriften uͤber- haupt nicht mit dem skeptischen Geiste lieset, in welchen er einen Theil derselben geschrieben hat! Er sagt z. E. zu seinem englischen Freunde: „Eure Dichter hatten eine Gewohnheit, der sich selbst Addison Le plus sage de vor ecrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie waͤre das wohl recht zu uͤbersetzen? Sage heißt, weise: aber der weiseste unter den englischen Schriftstellern, wer wuͤrde den Ad- dison dafuͤr erkennen? Ich besinne mich, daß die Franzosen auch ein Maͤdchen sage nennen, dem man keinen Feyltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat. Dieser Sinn duͤrfte vielleicht hier passen. Und nach diesem koͤnnte man ja wohl gerade zu uͤbersetzen: Addison, derjenige von euern Schriftstellern, der uns harmlosen, nuͤchternen Franzosen am naͤchsten koͤmmt. unterworfen; denn Gewohn- heit ist so maͤchtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernuͤnftige Gewohnheit bestand darinn, daß jeder Akt mit Versen beschlossen werden mußte, die in einem ganz andern Ge- schmacke waren, als das Uebrige des Stuͤcks; und und nothwendig mußten diese Verse eine Ver- gleichung enthalten. Phaͤdra, indem sie ab- geht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe, Cato mit einem Felsen, und Cleopatra mit Kin- dern, die so lange weinen, bis sie einschlafen. Der Uebersetzer der Zayre ist der erste, der es gewagt hat, die Gesetze der Natur gegen einen von ihr so entfernten Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschaft; er hat es empfun- den, daß die Leidenschaft ihre wahre Sprache fuͤh- ren, und der Poet sich uͤberall verbergen muͤsse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen.„ Es sind nicht mehr als nur drey Unwahrheiten in dieser Stelle; und das ist fuͤr den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, daß die Englaͤnder, vom Shakespear an, und vielleicht auch von noch laͤnger her, die Gewohnheit ge- habt, ihre Stuͤcke in ungereimten Versen mit ein Paar gereimten Zeilen zu enden. Aber daß diese gereimten Zeilen nichts als Vergleichungen enthielten, daß sie nothwendig Vergleichungen enthalten muͤssen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von Voltaire einem Englaͤnder, von dem er doch glauben konn- te, daß er die tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die Nase sagen koͤnnen. Zweytens ist es nicht andem, daß Hill in seiner Uebersetzung der Zayre von dieser Gewohn- heit abgegangen. Es ist zwar beynahe nicht glaub- lich lich, daß der Hr. von Voltaire die Uebersetzung sei- nes Stuͤcks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich, oder ein anderer. Gleichwohl muß es so seyn. Denn so gewiß sie in reimfreyen Versen ist, so gewiß schließt sich auch jeder Akt mit zwey oder vier gereimten Zeilen. Vergleichungen enthalten sie freylich nicht; aber, wie gesagt, unter allen der- gleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shake- spear, und Johnson, und Dryden, und Lee, und Otway, und Rowe, und wie sie alle heissen, ihre Aufzuͤge schliessen, sind sicherlich hundert gegen fuͤnfe, die gleichfalls keine enthalten. Was hatte denn Hill also besonders? Haͤtte er aber auch wirk- lich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire lei- het: so waͤre doch drittens das nicht wahr, daß sein Beyspiel von dem Einflusse gewesen, von dem es Voltaire seyn laͤßt. Noch bis diese Stunde erschei- nen in England eben so viel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit gereimten Zeilen enden, als die es nicht thun. Hill selbst hat in kei- nem einzigen Stuͤcke, deren er doch verschiedene, noch nach der Uebersetzung der Zayre, gemacht, sich der alten Mode gaͤnzlich entaͤußert. Und was ist es denn nun, ob wir zuletzt Reime hoͤren oder keine? Wenn sie da sind, koͤnnen sie vielleicht dem Orche- ster noch nutzen; als Zeichen nehmlich, nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit schicklicher aus dem Stuͤcke selbst abge- nommen wuͤrde, als daß es die Pfeiffe oder der Schluͤssel giebt. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Sechszehntes Stuͤck. Den 23sten Junius, 1767. D ie englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr unnatuͤrlich; be- sonders war ihr tragisches Spiel aͤußerst wild und uͤbertrieben; wo sie heftige Leidenschaf- ten auszudruͤcken hatten, schrien und gebehrdeten sie sich als Besessene; und das Uebrige toͤnten sie in einer steifen, strotzenden Feyerlichkeit daher, die in jeder Sylbe den Komoͤdianten verrieth. Als er daher seine Uebersetzung der Zayre auf- fuͤhren zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zayre einem jungen Frauenzimmer, das noch nie in der Tragoͤdie gespielt hatte. Er urtheilte so: dieses junge Frauenzimmer hat Ge- fuͤhl, und Stimme, und Figur, und Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht an- genommen; sie braucht keine Fehler erst zu ver- lernen; wenn sie sich nur ein Paar Stunden uͤberreden kann, das wirklich zu seyn, was sie Q vor- vorstellet, so darf sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es gieng auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, daß nur eine sehr ge- uͤbte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genuͤge leisten koͤnne, wurden beschaͤmt. Diese junge Aktrice war die Frau des Komoͤdianten Colley Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten Jahre ward ein Meisterstuͤck. Es ist merkwuͤrdig, daß auch die franzoͤsische Schau- spielerinn, welche die Zayre zuerst spielte, eine Anfaͤngerinn war. Die junge reitzende Made- moisell Gossin ward auf einmal dadurch beruͤhmt, und selbst Voltaire ward so entzuͤckt uͤber sie, daß er sein Alter recht klaͤglich betauerte. Die Rolle des Orosmann hatte ein Anver- wandter des Hill uͤbernommen, der kein Komoͤ- diant von Profeßion, sondern ein Mann von Stande war. Er spielte aus Liebhaberey, und machte sich nicht das geringste Bedenken, oͤffent- lich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schaͤtzbar als irgend ein anders ist. In Eng- land sind dergleichen Exempel von angesehenen Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnuͤgen einmal mitspielen, nicht selten. „Alles was uns dabey befremden sollte, sagt der Hr. von Voltaire, ist dieses, daß es uns befremdet. Wir sollten uͤberlegen, daß alle Dinge in der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der fran- franzoͤsische Hof hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat weiter nichts besonders dabey gefunden, als daß diese Art von Lustbarkeit aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Kuͤnsten fuͤr ein Un- terschied, als daß die eine uͤber die andere eben so weit erhaben ist, als es Talente, welche vor- zuͤgliche Seelenkraͤfte erfodern, uͤber bloß koͤr- perliche Fertigkeiten sind?„ Ins Italienische hat der Graf Gozzi die Zayre uͤbersetzt; sehr genau und sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Theile seiner Werke. In welcher Sprache koͤnnen zaͤrtliche Klagen ruͤhrender klin- gen, als in dieser? Mit der einzigen Freyheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stuͤcks ge- nommen, wird man schwerlich zufrieden seyn. Nachdem sich Orosmann erstochen, laͤßt ihn Vol- taire nur noch ein Paar Worte sagen, uns uͤber das Schicksal des Nerestan zu beruhigen. Aber was thut Gozzi? Der Italiener fand es ohne Zweifel zu kalt, einen Tuͤrken so gelassen weg- sterben zu lassen. Er legt also dem Orosmann noch eine Tirade in den Mund, voller Ausru- fungen, voller Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den Text setzen. Questo mortale orror che per le vene Tutte mi scorre, omai non è dolore, Che Q 2 Es Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deut- schen ist er zu lang. Kaum hat Orosmann ge- sagt „verehret und gerochen;„ kaum hat er sich den toͤdtlichen Stoß beygebracht, so lassen wir den Vorhang niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, daß der deutsche Geschmack dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkuͤr- zung mit mehrern Stuͤcken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, daß sich ein Trauerspiel wie ein Epigramm schliessen soll? Im- Che basti ad appagarti, anima bella. Feroce cor, cor dispietato, e misero, Paga la pena del delitto orrendo. Mani ciudeli — oh Dio — Mani, che siete Tinte del sangue di sì cara donna, Voi — voi — dov’ è quel ferro? Un’ altra volta In mezzo al petto — Oimè, dov’ è quel ferro? In acuta punta — — Tenebre, e notte Si fanno intorno — — Perchè non posso — — Non posso spargere Il sangue tutto? Sì, sì, lo spargo tutto, anima mia, Dove sei? — piu non posso — oh Dio! non posso — Vorrei — vederti — io manco, io manco, oh Dio! Immer mit der Spitze des Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher koͤmmt uns gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die Execution vorbey, durch- aus nun weiter nichts hoͤren zu wollen, wenn es auch noch so wenige, zur voͤlligen Rundung des Stuͤcks noch so unentbehrliche Worte waͤren? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache einer Sache, die nicht ist. Wir haͤtten kalt Blut ge- nug, den Dichter bis ans Ende zu hoͤren, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir wuͤrden recht gern die letzten Befehle des großmuͤthigen Sultans vernehmen; recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch theilen: aber wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum, weiß ich kein darum. Sollten wohl die Orosmannsspie- ler daran Schuld seyn? Es waͤre begreiflich ge- nug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten. Erstochen und geklatscht! Man muß Kuͤnstlern kleine Eitelkeiten verzeihen. Bey keiner Nation hat die Zayre einen schaͤr- fern Kunstrichter gefunden, als unter den Hol- laͤndern. Friedrich Duim, vielleicht ein An- verwandter des beruͤhmten Akteurs dieses Na- mens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel daran auszusetzen, daß er es fuͤr etwas klei- nes hielt, eine bessere zu machen. Er machte Q 3 auch auch wirklich eine — andere, Zaire, bekeerde Turkinne. Treurspel. Am- sterdam 1745. in der die Be- kehrung der Zayre das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, daß der Sultan uͤber seine Liebe sieget, und die christliche Zayre mit aller der Pracht in ihr Vaterland schicket, die ihrer vor- gehabten Erhoͤhung gemaͤß ist; der alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr da- von zu wissen? Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser, daß er uns kalt laͤßt; er interessire uns, und mache mit den kleinen mechanischen Regeln, was er will. Die Duime koͤnnen wohl tadeln, aber den Bogen des Ulysses muͤssen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich darum, weil ich nicht gern zuruͤck, von der mißlungenen Verbesserung auf den Un- grund der Kritik, geschlossen wissen moͤchte. Duims Tadel ist in vielen Stuͤcken ganz gegruͤn- det; besonders hat er die Unschicklichkeiten, deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das Fehlerhafte in dem nicht genug- sam motivirten Auftreten und Abgehen der Per- sonen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der sechsten Scene im dritten Akte nicht entgangen. „Orosmann, sagt er, koͤmmt, Zayren in die Moschee abzuholen; Zayre wei- gert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzufuͤhren; sie geht ab, und Oros- mann mann bleibt als ein Laffe ( als eenen lafharti- gen ) stehen. Ist das wohl seiner Wuͤrde ge- maͤß? Reimet sich das wohl mit seinem Cha- rakter? Warum dringt er nicht in Zayren, sich deutlicher zu erklaͤren? Warum folgt er ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin fol- gen?„ — Guter Duim! wenn sich Zayre deut- licher erklaͤret haͤtte: wo haͤtten denn die andern Akte sollen herkommen? Waͤre nicht die ganze Tragoͤdie daruͤber in die Bilze gegangen? — Ganz Recht! auch die zweyte Scene des dritten Akts ist eben so abgeschmackt: Orosmann koͤmmt wieder zu Zayren; Zayre geht abermals, ohne die geringste naͤhere Erklaͤrung, ab, und Orosmann, der gute Schlucker, ( dien goeden hals ) troͤstet sich desfalls in einer Monologe. Aber, wie gesagt, die Verwickelung, oder Un- gewißheit, mußte doch bis zum fuͤnften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare haͤngt, so haͤngen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem staͤrkern. Die letzterwaͤhnte Scene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler, der die Rolle des Oros- mann hat, seine feinste Kunst in alle dem beschei- denen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein eben so seiner Kenner zu empfinden faͤhig ist. Er muß aus einer Gemuͤthsbewegung in die an- dere uͤbergehen, und diesen Uebergang durch das stumme Spiel so natuͤrlich zu machen wissen, daß der der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch da- bey merkliche Gradation mit fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosmann in aller seiner Groß- muth, willig und geneigt, Zayren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen seyn sollte, Falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm laͤnger kein Geheimniß davon zu machen. Indem er- wacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zaͤrtlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zayre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der aͤußerste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zaͤrtlichkeit, und von der Zaͤrtlichkeit zur Erbitterung uͤber. Alles was Remond de Saint Albine, in seinem Schauspieler, Le Comedien, Partie II. Chap. X. p. 209. hierbey beobachtet wissen will, leistet Hr. Eckhof auf eine so vollkommene Art, daß man glauben sollte, er allein koͤnne das Vor- bild des Kunstrichters gewesen seyn. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Siebzehntes Stuͤck. Den 26sten Junius, 1767. D en siebzehnten Abend (Donnerstags, den 14ten May,) ward der Sidney, vom Gresset, aufgefuͤhret. Dieses Stuͤck kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider den Selbstmord, konnte in Paris kein großes Gluͤck machen. Die Franzosen sagten: es waͤre ein Stuͤck fuͤr Lon- don. Ich weiß auch nicht; denn die Englaͤnder duͤrften vielleicht den Sidney ein wenig uneng- lisch finden; er geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophirt, ehe er die That begeht, zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine Reue koͤnnte schimpflicher Klein- muth scheinen; ja, sich von einem franzoͤsischen Bedienten so angefuͤhrt zu sehen, moͤchte von manchen fuͤr eine Beschaͤmung gehalten werden, die des Haͤngens allein wuͤrdig waͤre. R Doch Doch so wie das Stuͤck ist, scheinet es fuͤr uns Deutsche recht gut zu seyn. Wir moͤgen eine Raserey gern mit ein wenig Philosophie bemaͤn- teln, und finden es unserer Ehre eben nicht nach- theilig, wenn man uns von einem dummen Streiche zuruͤckhaͤlt, und das Gestaͤndniß, falsch philosophirt zu haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Duͤmont, ob er gleich ein franzoͤsischer Prahler ist, so herzlich gut, daß uns die Etiquette, welche der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun erfaͤhrt, daß er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht naͤher ist, als der gesundesten einer, so laͤßt ihn Gresset ausrufen: „Kaum kann ich es glauben — Rosalia! — Hamilton! — und du, dessen gluͤcklicher Eifer u. s. w.„ Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten ge- hoͤrt das erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter seinem Herrn und seines Herrn Freunden, er auch immer ist. Wenn ich Schauspieler waͤre, hier wuͤrde ich es kuͤhnlich wagen, zu thun, was der Dich- ter haͤtte thun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht das erste Wort an meinen Erretter richten duͤrfte, so wuͤrde ich ihm wenig- sten den ersten geruͤhrten Blick zuschicken, mit der ersten dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und und dann wuͤrde ich mich gegen Rosalien, und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zuruͤckkommen. Es sey uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart! Herr Eckhof spielt den Sidney so vortreff- lich — Es ist ohnstreitig eine von seinen staͤrk- sten Rollen. Man kann die enthusiastische Me- lancholie, das Gefuͤhl der Fuͤhllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worinn die ganze Gemuͤthsver- fassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit groͤßerer Wahrheit ausdruͤcken. Welcher Reichthum von mahlenden Gesten, durch die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Koͤrper giebt, und seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstaͤnde ver- wandelt! Welcher fortreissende Ton der Ueber- zeugung! — Den Beschluß machte diesen Abend ein Stuͤck in einem Aufzuge, nach dem Franzoͤsischen des l’Affichard, unter dem Titel: Ist er von Fami- lie? Man erraͤth gleich, daß ein Narr oder eine Naͤrrinn darinn vorkommen muß, der es haupt- saͤchlich um den alten Adel zu thun ist. Ein jun- ger wohlerzogener Mensch, aber von zweifelhaf- tem Herkommen, bewirbt sich um die Stieftoch- ter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter haͤngt von der Aufklaͤrung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur fuͤr den Pflegesohn eines gewissen buͤrgerlichen Lisanders, R 2 aber aber es findet sich, daß Lisander sein wahrer Va- ter ist. Nun waͤre weiter an die Heyrath nicht zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfaͤlle zu dem buͤrgerlichen Stande her- ablassen muͤssen. In der That ist er von eben so guter Geburt, als der Marquis; er ist des Mar- quis Sohn, den jugendlichen Ausschweiffungen aus dem vaͤterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusoͤhnen. Die Aussoͤhnung gelingt, und macht das Stuͤck gegen das Ende sehr ruͤh- rend. Da also der Hauptton desselben ruͤhren- der, als komisch, ist: sollte uns nicht auch der Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; aber dasmal haͤtte ich ihn von dem einzigen laͤcherlichen Cha- rakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch zu erschoͤpfen; aber er sollte doch auch nicht irre fuͤhren. Und dieser thut es ein wenig. Was ist leichter zu aͤndern, als ein Titel? Die uͤbrigen Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale, gerei- chen mehr zum Vortheile des Stuͤcks, und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast allen von dem franzoͤsischen Theater entlehnten Stuͤcken mangelt. Den achtzehnten Abend (Freytags, den 15ten May,) ward das Gespenst mit der Trommel ge- spielt. Dieses Dieses Stuͤck schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her. Addison hat nur eine Tragoͤdie, und nur eine Komoͤdie gemacht. Die dramatische Poesie uͤberhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf weiß sich uͤberall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden Stuͤcke, wenn schon nicht die hoͤchsten Schoͤnheiten ihrer Gattung, wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schaͤtzbaren Werken machen. Er suchte sich mit dem einen sowohl, als mit dem andern, der franzoͤsischen Regel- maͤßigkeit mehr zu naͤhern; aber noch zwanzig Addisons, und diese Regelmaͤßigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Englaͤnder werden. Begnuͤge sich damit, wer keine hoͤhere Schoͤn- heiten kennet! Destouches, der in England persoͤnlichen Um- gang mit Addison gehabt hatte, zog das Lustspiel desselben uͤber einen noch franzoͤsischern Leisten. Wir spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und natuͤrlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich mich indeß nicht irre, so hat Madame Gott- sched, von der sich die deutsche Uebersetzung her- schreibt, das englische Original mit zur Hand genommen, und manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet. R 3 Den Den neunzehnten Abend (Montags, den 18ten May,) ward der verheyrathete Philosoph, vom Destouches, wiederholt. Des Regnard Demokrit war das jenige Stuͤck, welches den zwanzigsten Abend (Dienstags, den 19ten May,) gespielet wurde. Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch gefaͤllt es. Der Kenner lacht dabey so herzlich, als der Unwis- sendste aus dem Poͤbel. Was folgt hieraus? Daß die Schoͤnheiten, die es hat, wahre allge- meine Schoͤnheiten seyn muͤssen, und die Fehler vielleicht nur willkuͤhrliche Regeln betreffen, uͤber die man sich leichter hinaussetzen kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Uebliche aus den Augen gesetzt: im- merhin. Sein Demokrit sieht dem wahren De- mokrit in keinem Stuͤcke aͤhnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl, so streiche man Demokrit und Athen aus, und setze blos erdichtete Namen dafuͤr. Reg- nard hat es gewiß so gut, als ein anderer, ge- wußt, daß um Athen keine Wuͤste und keine Ti- ger und Baͤre waren; daß es, zu der Zeit des Demokrits, keinen Koͤnig hatte u. s. w. Aber er hat das alles itzt nicht wissen wollen; seine Ab- sicht war, die Sitten seines Landes unter frem- den den Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen Dichters, und nicht die historische Wahrheit. Andere Fehler moͤchten schwerer zu entschuldi- gen seyn; der Mangel des Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge muͤßiger Personen, das abgeschmackte Geschwaͤtz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt, weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern weil es Unsinn in jedes andern Munde seyn wuͤrde, der Dichter moͤchte ihn ge- nannt haben, wie er wolle. Aber was uͤbersieht man nicht bey der guten Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiß nicht, was man aus ihm machen soll; er aͤndert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er ein feiner witziger Spoͤtter, bald ein plumper Spaßmacher, bald ein zaͤrtlicher Schulfuchs, bald ein unverschaͤmter Stutzer. Seine Erken- nung mit der Cleanthis ist ungemein komisch, aber unnatuͤrlich. Die Art, mit der Made- moisell Beauval und la Thorilliere diese Scenen zuerst spielten, hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern fortge- pflanzt. Es sind die unanstaͤndigsten Grimas- sen; aber da sie durch die Ueberlieferung bey Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so koͤmmt koͤmmt es niemanden ein, etwas daran zu aͤndern, und ich will mich wohl huͤten zu sagen, daß man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possen- spiele dulden sollte. Der beste, drolligste und ausgefuͤhrteste Charakter, ist der Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und ge- rade zu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts weni- ger als episodisch, sondern zu Aufloͤsung des Kno- ten eben so schicklich als unentbehrlich ist. Histoire du Theatre François. T. XIV. p. 164. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Achtzehntes Stuͤck. Den 30sten Junius, 1767. D en ein und zwanzigsten Abend (Mittewochs, den 20sten May,) wurde das Lustspiel des Marivaux, die falschen Vertraulich- keiten, aufgefuͤhrt. Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahr- hundert fuͤr die Theater in Paris gearbeitet; sein erstes Stuͤck ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von zwey und siebzig. Die Zahl seiner Lustspiele belaͤuft sich auf einige dreyßig, wovon mehr als zwey Drit- theile den Harlekin haben, weil er sie fuͤr die italienische Buͤhne verfertigte. Unter diese ge- hoͤren auch die falschen Vertraulichkeiten, die 1763 zuerst, ohne besondern Beyfall, gespielet, zwey Jahre darauf aber wieder hervorgesucht wurden, und desto groͤßern erhielten. Seine Stuͤcke, so reich sie auch an mannich- faltigen Charakteren und Verwicklungen sind, S sehen sehen sich einander dennoch sehr aͤhnlich. In allen der nehmliche schimmernde, und oͤfters allzu- gesuchte Witz; in allen die nehmliche metaphysi- sche Zergliederung der Leidenschaften; in allen die nehmliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides sei- ner Kunst, weiß er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner, und doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, daß wir am Ende einen noch so weiten Weg mit ihm zu- ruͤckgelegt zu haben glauben. Seitdem die Neuberinn, sub Auspiciis Sr. Magnificenz, des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin oͤffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Buͤhnen, denen daran gele- gen war, regelmaͤßig zu heissen, dieser Verban- nung beyzutreten geschienen. Ich sage, geschie- nen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jaͤckchen und den Namen abgeschaft, aber den Narren behalten. Die Neuberinn selbst spielte eine Menge Stuͤcke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bey ihr Haͤnnschen, und war ganz weiß, anstatt scheckigt, gekleidet. Wahrlich, ein großer Triumph fuͤr den guten Geschmack! Auch die falschen Vertraulichkeiten haben ei- nen Harlekin, der in der deutschen Uebersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberinn ist todt, todt, Gottsched ist auch todt: ich daͤchte, wir zoͤgen ihm das Jaͤckchen wieder an. — Im Ern- ste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? „Er ist ein auslaͤndisches Geschoͤpf;„ sagt man. Was thut das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Auslaͤnder waͤren! „Er traͤgt sich, wie sich kein Mensch unter uns traͤgt:„ — so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. „Es ist widersinnig, das nehmliche Individuum alle Tage in einem andern Stuͤcke erscheinen zu sehen.„ Man muß ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im Timon, morgen im Falken, uͤbermorgen in den falschen Vertrau- lichkeiten, wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkoͤmmt; sondern es sind Harlekine; die Gat- tung leidet tausend Varietaͤten; der im Timon ist nicht der im Falken; jener lebte in Griechen- land, dieser in Frankreich; nur weil ihr Cha- rakter einerley Hauptzuͤge hat, hat man ihnen einerley Namen gelassen. Warum wollen wir eckler, in unsern Vergnuͤgungen waͤhliger, und gegen kahle Vernuͤnfteleyen nachgebender seyn, als — ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind — sondern, als selbst die Roͤmer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in ei- S 2 nem nem Stuͤcke uͤber dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mußten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stuͤcks schicken oder nicht? Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit eben so vieler Laune als Gruͤndlichkeit, ver- theidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moͤser uͤber das Groteske-Komische, allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon. Es wird darinn beylaͤufig von einem gewissen Schriftsteller gesagt, daß er Einsicht genug be- sitze, dermaleins der Lobredner des Harlekin zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr Moͤser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie ge- macht, ja nicht einmal gedacht zu haben er- innern. Ausser dem Harlekin koͤmmt in den falschen Vertraulichkeiten noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrigue fuͤhret. Beide wurden sehr wohl gespielt; und unser Theater hat uͤberhaupt, an den Herren Hensel und Merschy, ein Paar Akteurs, die man zu den Be- dientenrollen kaum besser verlangen kann. Den Den zwey und zwanzigsten Abend (Don- nerstags, den 21sten May,) ward die Zelmire des Herrn Du Belloy aufgefuͤhret. Der Name Du Belloy kann niemanden unbe- kannt seyn, der in der neuern franzoͤsischen Litte- ratur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Ver- fassers der Belagerung von Calais! Wenn es dieses Stuͤck nicht verdiente, daß die Franzosen ein solches Lermen damit machten, so gereicht doch dieses Lermen selbst, den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersuͤchtig ist; auf das die großen Thaten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werthe eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sit- ten uͤberzeugt, jenen nicht zu seinen unnuͤtzen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenstaͤn- den zaͤhlet, um die sich nur geschaͤftige Muͤßig- gaͤnger bekuͤmmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stuͤcke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer, als unsere barbarischsten Voraͤltern, denen ein Liedersaͤnger ein sehr schaͤtzbarer Mann war, und die, bey aller ihrer Gleichguͤltigkeit gegen Kuͤnste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Baͤrfellen und Bernstein handelt, der nuͤtzlichere Buͤrger waͤre? sicherlich fuͤr die Frage eines Narren gehalten haͤtten! — Ich S 3 mag mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten liesse, daß sie nur den tausendsten Theil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben wuͤrde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer fuͤr franzoͤsische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit faͤhig seyn werden! Was Wunder auch? Unsere Ge- lehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschaͤtzung alles dessen zu bestaͤrken, was nicht gerade zu den Beutel fuͤllet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Kuͤnstler; man aͤußere den Wunsch, daß eine reiche bluͤhende Stadt der anstaͤndigsten Erho- lung fuͤr Maͤnner, die in ihren Geschaͤften des Tages Last und Hitze getragen, und der nuͤtzlich- sten Zeitverkuͤrzung fuͤr andere, die gar keine Ge- schaͤfte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater seyn?) durch ihre bloße Theilneh- mung aufhelfen moͤge: — und sehe und hoͤre um sich. „Dem Himmel sey Dank, ruft nicht blos der Wucherer Albinus, daß unsere Buͤrger wich- tigere Dinge zu thun haben!„ — — — — Eu! Rem poteris servare tuam! — — Wichtigere? Eintraͤglichere; das gebe ich zu! Eintraͤglich ist freylich unter uns nichts, was im im geringsten mit den freyen Kuͤnsten in Ver- bindung stehet. Aber, — hæc animos ærugo et cura peculî Cum semel imbuerit — Doch ich vergesse mich. Wie gehoͤrt das alles zur Zelmire? Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte, oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen seyn. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus bey Seite, und ward Komoͤ- diant. Er spielte einige Zeit unter der franzoͤsi- schen Truppe zu Braunschweig, machte ver- schiedene Stuͤcke, kam wieder in sein Vaterland, und ward geschwind durch ein Paar Trauerspiele so gluͤcklich und beruͤhmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit haͤtte machen koͤnnen, wenn er auch ein Beaumont geworden waͤre. Wehe dem jungen deutschen Genie, daß diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Betteley wuͤrden sein gewissestes Loos seyn! Das erste Trauerspiel des Du Belloy heißt Ti- tus; und Zelmire war sein zweytes. Titus fand keinen Beyfall, und ward nur ein einzigesmal gespielt. Aber Zelmire fand desto groͤßern; es ward vierzehnmal hinter einander aufgefuͤhrt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eige- ner Erfindung. Ein Ein franzoͤsischer Kunstrichter Journal Encyclopédique. Juillet 1762. nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung uͤberhaupt zu erklaͤren: „Uns waͤre, sagt er, ein Stoff aus der Geschlchte weit lieber gewesen. Die Jahrbuͤcher der Welt sind an beruͤchtigten Ver- brechen ja so reich; und die Tragoͤdie ist ja ausdruͤck- lich dazu, daß sie uns die großen Handlungen wirk- licher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zu- gleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Be- gierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß Zayre, Alzire, Mahomet, doch auch nur Geburthen der Erdichtung waͤren. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Be- gebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreutz- zuͤge gegeben, in welchen sich Christen und Tuͤrken, zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, haßten und wuͤrgten. Bey der Eroberung von Mexico haben sich nothwendig die gluͤcklichen und erhabenen Contraste zwischen den europaͤischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwaͤrmerey und der wahren Religion, aͤußern muͤssen. Und was den Mahomet anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betruͤgers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schoͤnste philosophischste Gemaͤhlde, das jemals von diesem gefaͤhrlichen Ungeheuer gemacht worden.„ Ham- Hamburgische Dramaturgie. Neunzehntes Stuͤck. Den 3ten Julius, 1767. E s ist einem jeden vergoͤnnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist ruͤhmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechen- schaft zu geben suchen. Aber den Gruͤnden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allge- meinheit ertheilen, die, wenn es seine Richtig- keit damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen muͤßte, heißt aus den Gren- zen des forschenden Liebhabers herausgehen, und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwer- fen. Der angefuͤhrte franzoͤsische Schriftsteller faͤngt mit einem bescheidenen, „Uns waͤre lieber gewesen„ an, und geht zu so allgemein verbin- denden Ausspruͤchen fort, daß man glauben sollte, dieses Uns sey aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter fol- gert keine Regeln aus seinem Geschmacke, son- dern hat seinen Geschmack nach den Regeln T ge- gebildet, welche die Natur der Sache erfo- dert. Nun hat es Aristoteles laͤngst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die histo- rische Wahrheit zu bekuͤmmern habe; nicht wei- ter, als sie einer wohleingerichteten Fabel aͤhn- lich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, daß er sie schwerlich zu seinem gegenwaͤrtigen Zwecke besser erdichten koͤnnte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbuͤcher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Muͤhe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Moͤglichkeit, daß etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es ge- schehen ist: was hindert uns, eine gaͤnzlich er- dichtete Fabel fuͤr eine wirklich geschehene Hi- storie zu halten, von der wir nie etwas gehoͤrt haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwuͤrdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerley, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeug- nissen und Ueberlieferungen bestaͤtiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenom- men, men, daß es eine Bestimmung des Theaters mit sey, das Andenken großer Maͤnner zu erhalten; dafuͤr ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch gethan hat, son- dern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstaͤnden thun werde. Die Absicht der Tragoͤdie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heißt sie von ihrer wahren Wuͤrde herab- setzen, wenn man sie zu einem bloßen Panegyri- kus beruͤhmter Maͤnner macht, oder sie gar den Nationalstolz zu naͤhren mißbraucht. Die zweyte Erinnerung des nehmlichen fran- zoͤsischen Kunstrichters gegen die Zelmire des Du Belloy, ist wichtiger. Er tadelt, daß sie fast nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wun- derbarer Zufaͤlle sey, die in den engen Raum von vier und zwanzig Stunden zusammenge- preßt, aller Illusion unfaͤhig wuͤrden. Eine seltsam ausgesparte Situation uͤber die andere! ein Theaterstreich uͤber den andern! Was ge- schieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so dren- gen, koͤnnen schwerlich alle vorbereitet genug seyn. Wo uns so vieles uͤberrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als uͤberraschen. „Warum muß sich z. E. der Tyrann dem Rham- T 2 nes nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemuͤthsaͤnde- rung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschloßenste Weise Theil; und wenn er ein- mal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdruͤckt. Welche geringfuͤgige Ursachen giebt hiernaͤchst der Dich- ter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt, und sich wiederum in dem Grabmahle verbergen will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und der Dichter muß uns sorgfaͤltig diesen kleinen Umstand einschaͤrfen. Denn wenn Polidor an- ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Gesicht, anstatt den Ruͤcken zuwendete: so wuͤrde sie ihn erkennen, und die folgende Scene, wo diese zaͤrtliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern uͤberliefert, diese so verstechende, auf alle Zuschauer so großen Eindruck machende Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht weit natuͤrlicher gewesen, wenn Polidor, indem er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur ein Wink gegeben haͤtte? Freylich waͤre es so natuͤrlicher gewesen, als daß die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polidor geht, geht, ob er seinen Ruͤcken dahin oder dorthin kehret, gruͤnden muͤssen. Mit dem Billet des Azor hat es die nehmliche Bewandtniß: brachte es der Soldat im zweyten Akte gleich mit, so wie er es haͤtte mitbringen sollen, so war der Tyrann entlarvet, und das Stuͤck hatte ein Ende.„ Die Uebersetzung der Zelmire ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht lieber eine koͤrnichte, wohl- klingende Prosa hoͤren wollen, als matte, gera- debrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Uebersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend seyn, die ertraͤglich sind. Und daß man mich ja nicht bey dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich wuͤrde eher wissen, wo ich aufhoͤren, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen dunkel und zweydeutig; der Franzose war schon nicht der groͤßte Versifikateur, fondern stuͤm- perte und flickte; der Deutsche war es noch we- niger, und indem er sich bemuͤhte, die gluͤcklichen und ungluͤcklichen Zeilen seines Originals gleich treu zu uͤbersetzen, so ist es natuͤrlich, daß oͤf- ters, was dort nur Luͤckenbuͤsserey, oder Tavto- logie, war, hier zu foͤrmlichem Unsinne werden mußte. Der Ausdruck ist dabey meistens so niedrig, und die Konstruction so verworfen, daß der Schauspieler allen seinen Adel noͤthig hat, jenen aufzuhelfen, und allen seinen Verstand T 3 brau- brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden! Aber verlohnt es denn auch der Muͤhe, auf franzoͤsische Verse so viel Fleiß zu wenden, bis in unserer Sprache eben so waͤßrig korrecte, eben so grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa uͤber- tragen, so wird unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der Zwit- terton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen Uebersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch der kuͤhn- sten Tropen und Figuren, außer einer gebunde- nen cadensirten Wortfuͤgung, uns an Besof- fene denken laͤßt, die ohne Musik tanzen. Der Ausdruck wird sich hoͤchstens uͤber die alltaͤgliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die thea- tralische Deklamation uͤber den gewoͤhnlichen Ton der gesellschaftlichen Unterhaltungen erhe- ben soll. Und so nach wuͤnschte ich unserm pro- saischen Uebersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, daß das Syloͤenmaaß uͤberhaupt ein kindischer Zwang sey, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwer- fen. Denn hier koͤm̃t es blos darauf an, unter zwey Uebeln Uebeln das kleinste zu waͤhlen; entweder Ver- stand und Nachdruck der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metri- sche der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist, und zur Verstaͤrkung des Ausdrucks nichts beytra- gen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas mehr, und wir koͤnnen der griechischen ungleich naͤher kommen, die durch den bloßen Rhytmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darinn ausgedruͤckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoͤsischen Verse haben nichts als den Werth der uͤberstandenen Schwierigkeit fuͤr sich; und freylich ist dieses nur ein sehr elender Werth. Die Rolle des Polidors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnen- heit und Heiterkeit, die einem Boͤsewichte von großem Verstande so natuͤrlich zu seyn scheinen. Kein mißlungener Anschlag wird ihn in Verle- genheit setzen; er ist an immer neuen Raͤnken unerschoͤpflich; er besinnt sich kaum, und der unerwarteste Streich, der ihn in seiner Bloͤße darzustellen drohte, empfaͤngt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch fester aufdruͤckt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von Seiten des Schauspielers das getreueste Ge- daͤchtniß, die fertigste Stimme, die freyeste, nach- nachlaͤßigste Aktion, unumgaͤnglich noͤthig. Hr. Borchers hat uͤberhaupt sehr viele Talente, und schon das muß ein guͤnstiges Vorurtheil fuͤr ihn erwecken, daß er sich in alten Rollen eben so gern uͤbet, als in jungen. Dieses zeiget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner unter- scheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die nur immer auf der Buͤhne glaͤnzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich in lauter galanten liebenswuͤrdigen Rollen be- gaffen und bewundern zu lassen, ihr vornehm- ster, auch wohl oͤfters ihr einziger Beruff zum Theater ist. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Zwanzigstes Stuͤck. Den 7ten Julius, 1767. D en drey und zwanzigsten Abend (Freytags, den 22sten May,) ward Cenie aufgefuͤh- ret. Dieses vortreffliche Stuͤck der Graffigny mußte der Gottschedinn zum Uebersetzen in die Haͤnde fallen. Nach dem Bekenntnisse, wel- ches sie von sich selbst ablegt, „daß sie die Ehre, welche man durch Uebersetzung, oder auch Ver- fertigung theatralischer Stuͤcke, erwerben koͤnne, allezeit nur fuͤr sehr mittelmaͤßig gehalten habe,„ laͤßt sich leicht vermuthen, daß sie, diese mittel- maͤßige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittel- maͤßige Muͤhe werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß sie einige lustige Stuͤcke des Destouches eben nicht verdorben hat. Aber wie viel leichter ist es, eine Schnurre zu uͤbersetzen, als eine Em- pfindung! Das Laͤcherliche kann der Witzige U und und Unwitzige nachsagen; aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre eigene Regeln; und es ist ganz um sie ge- schehen, sobald man diese verkennt, und sie da- fuͤr den Regeln der Grammatik unterwerfen, und ihr alle die kalte Vollstaͤndigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will, die wir an einem logischen Satze verlangen. Z. E. Do- rimond hat dem Mericourt eine ansehnliche Ver- bindung, nebst dem vierten Theile seines Ver- moͤgens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Mericourt geht; er verweigert sich dem großmuͤthigen Anerbieten, und will sich ihm aus Uneigennuͤtzigkeit verweigert zu haben scheinen. „Wozu das? sagt er. Warum wollen Sie sich ihres Vermoͤgens berauben? Genießen Sie ih- rer Guͤter selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet.„ J’en jouirai, je vous rendrai tous heureux: laͤßt die Graffigny den lieben gutherzigen Alten antworten. „Ich will ihrer genießen, ich will euch alle gluͤcklich machen.„ Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlaͤßige Kuͤrze, mit der ein Mann, dem Guͤte zur Natur geworden ist, von seiner Guͤte spricht, wenn er davon sprechen muß! Seines Gluͤckes genießen, andere gluͤcklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht blos eine Folge des andern, ein Theil des andern; das eine ist ihm ganz das andere: und und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiß auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das nehmliche zweymal spraͤche, als ob beide Saͤtze wahre tav- tologische Saͤtze, vollkommen identische Saͤtze waͤren; ohne das geringste Verbindungswort. O des Elenden, der die Verbindung nicht fuͤhlt, dem sie eine Partikel erst fuͤhlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die Gottschedinn jene acht Worte uͤbersetzt hat? „Alsdenn werde ich meiner Guͤter erst recht ge- nießen, wenn ich euch beide dadurch werde gluͤck- lich gemacht haben.„ Unertraͤglich! Der Sinn ist vollkommen uͤbergetragen, aber der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn er- stickt. Dieses Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Aus- bruche des Herzens alle Bedenklichkeiten der Ueberlegung geben, und eine warme Empfin- dung in eine frostige Schlußrede verwandeln. Denen, die mich verstehen, darf ich nur sa- gen, daß ungefehr auf diesen Schlag das ganze Stuͤck uͤbersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren gesunden Menschenverstand paraphra- sirt, jeder affektvolle Ausdruck in die todten Be- standtheile seiner Bedeutung aufgeloͤset worden. Hierzu koͤmmt in vielen Stellen der haͤßliche Ton des Ceremoniels; verabredete Ehrenbenennun- U 2 gen gen contrastiren mit den Ausrufungen der ge- ruͤhrten Natur auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie: „Frau Mutter! o welch ein suͤßer Name!„ Der Name Mutter ist suͤß; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Citronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich oͤffende Herz wieder zusammen. Und in dem Augen- blicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem „Gnaͤdiger Herr Vater! bin ich Ihrer Gnade werth!„ ihm in die Arme. Mon pere! auf deutsch: Gnaͤdiger Herr Vater. Was fuͤr ein respectuoͤses Kind! Wenn ich Dor- sainville waͤre, ich haͤtte es eben so gern gar nicht wieder gefunden, als mit dieser Anrede. Madame Loͤwen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Wuͤrde und Empfindung spielen. Jede Mine spricht das ruhige Be- wußtseyn ihres verkannten Werthes; und sanfte Melancholie auszudruͤcken, kann nur ihrem Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen. Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort faͤllt aus ihrem Munde auf die Erde. Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es koͤmmt aus ihrem eignen Kopfe, aus ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wuͤßte nur einen einzigen Fehler; aber es ist ein sehr seltner Feh- ler; ein sehr beneidenswuͤrdiger Fehler. Die Aktrice Aktrice ist fuͤr die Rolle zu groß. Mich duͤnkt einen Riesen zu sehen, der mit dem Gewehre eines Cadets exerciret. Ich moͤchte nicht alles machen, was ich vortrefflich machen koͤnnte. Herr Eckhof in der Rolle des Dorimond, ist ganz Dorimond. Diese Mischung von Sanft- muth und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in so einem Manne wirk- lich seyn, oder sie ist es in keinem. Wann er zum Schlusse des Stuͤcks vom Mericourt sagt: „Ich will ihm so viel geben, daß er in der großen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!„ wer hat den Mann gelehrt, mit ein Paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das fuͤr ein Land ist, dieses Vaterland des Me- ricourt? Ein gefaͤhrliches, ein boͤses Land! Tot linguæ, quot membra viro! — Den vier und zwanzigsten Abend (Freytags, den 25sten May,) ward die Amalia des Herrn Weiß aufgefuͤhret. Amalia wird von Kennern fuͤr das beste Lust- spiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgefuͤhrtere Cha- raktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine uͤbrige komische Stuͤcke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders U 3 macht macht Madame Boͤck den Manley, oder die ver- kleidete Amalia, mit vieler Anmuth und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden wuͤrden, ein junges Frauenzimmer so lange ver- kannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen uͤberhaupt geben einem dramatischen Stuͤcke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafuͤr kann es aber auch nicht fehlen, daß sie nicht sehr komi- sche, auch wohl sehr interessante Scenen veran- lassen sollten. Von dieser Art ist die fuͤnfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde ei- nige allzu kuͤhn croquirte Pinselstriche zu lindern, und mit dem Uebrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben, wohl rathen moͤchte. Ich weiß nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirk- lich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht un- tersuchen, wie weit es mit der weiblichen Be- scheidenheit bestehen koͤnne, gewisse Dinge, ob- schon unter der Verkleidung, so zu bruͤsquiren. Ich will die Vermuthung ungeaͤußert lassen, daß es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sey, eine Madame Freemann ins Enge zu trei- ben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl haͤtte feiner anfangen koͤnnen; daß man uͤber einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen muͤsse; daß — Wie gesagt, ich will diese Vermuthungen unge- aͤußert aͤußert lassen; denn es koͤnnte leicht bey einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem nehmlich die Gegenstaͤnde sind; ob- schon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, daß diejenige Frau, bey der die eine Art fehl geschla- gen, auch allen uͤbrigen Arten Obstand halten werde. Ich will blos bekennen, daß ich fuͤr mein Theil nicht Herz genug gehabt haͤtte, eine dergleichen Scene zu bearbeiten. Ich wuͤrde mich von der einen Klippe, zu wenig Erfahrung zu zeigen, eben so sehr gefuͤrchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verrathen. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crebillonschen Faͤ- higkeit bewußt gewesen waͤre, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiß ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen waͤre. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst oͤffnet. Man- ley, oder Amalia, wußte ja, daß Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmaͤßig verbunden sey. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gaͤnzlich ab- spaͤnstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um fluͤchtige Gunstbezeigun- gen zu thun, sondern als einen ernsthaften Lieb- haber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu theilen bereit sey? Seine Bewerbungen wuͤrden dadurch, ich will nicht sagen unstraͤflich, aber doch unstraͤflicher geworden seyn; er wuͤrde, ohne ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen koͤnnen; die Probe waͤre ungleich verfuͤhrerischer, und das Bestehen in der- selben ungleich entscheidender fuͤr ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man wuͤrde zugleich einen ordentlichen Plan von Seiten der Amalia dabey abgesehen haben; anstatt daß man itzt nicht wohl errathen kann, was sie nun weiter thun koͤnnen, wenn sie ungluͤcklicher Weise in ihrer Verfuͤh- rung gluͤcklich gewesen waͤre. Nach der Amalia folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, der Finanzpachter. Es besteht ungefehr aus ein Dutzend Scenen von der aͤußer- sten Lebhaftigkeit. Es duͤrfte schwer seyn, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswuͤrdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres nied- licheres Ganze zu machen gewußt, als Er. Den fuͤnf und zwanzigsten Abend (Dienstags, den 26sten May,) ward die Zelmire des Du Belloy wiederholt. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Ein und zwanzigstes Stuͤck. Den 10ten Julius, 1767. D en sechs und zwanzigsten Abend (Freytags, den 29sten May) ward die Muͤtterschule des Nivelle de la Chaussee aufgefuͤhret. Es ist die Geschichte einer Mutter, die fuͤr ihre partheyische Zaͤrtlichkeit gegen einen nichts- wuͤrdigen schmeichlerischen Sohn, die verdiente Kraͤnkung erhaͤlt. Marivaux hat auch ein Stuͤck unter diesem Titel. Aber bey ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung laͤßt: und wie geht es damit? Wie man leicht errathen kann. Das liebe Maͤd- chen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr ken- net; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mamma darum zu fragen, und Mamma mag dem Himmel danken, daß es noch so gut ab- X laͤuft. laͤuft. In jener Schule giebt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pen- dant der andern; und ich glaube, es muͤßte fuͤr Kenner ein Vergnuͤgen mehr seyn, beide an ei- nem Abende hinter einander besuchen zu koͤnnen. Sie haben hierzu auch alle aͤußerliche Schicklich- keit; das erste Stuͤck ist von fuͤnf Akten, das andere von einem. Den sieben und zwanzigsten Abend (Montags, den 1sten Junius,) ward die Nanine des Herrn von Voltaire gespielt. Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst er- schien. Was ist das fuͤr ein Titel? Was denkt man dabey? — Nicht mehr und nicht weniger, als man bey einem Titel denken soll. Ein Titel muß kein Kuͤchenzettel seyn. Je weniger er von dem Inhalte verraͤth, desto besser ist er. Dich- ter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabey, und die Alten haben ihren Komoͤdien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drey oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten, oder etwas von der Intrigue verrie- then. Hierunter gehoͤret des Plautus Miles gloriosus. Wie koͤmmt es, daß man noch nicht angemerket, daß dieser Titel dem Plautus nur zur Haͤlfte gehoͤren kann? Plautus nannte sein Stuͤck Stuͤck blos Gloriosus; so wie er ein anderes Truculentus uͤberschrieb. Miles muß der Zu- satz eines Grammatikers seyn. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereyen beziehen sich nicht blos auf seinen Stand, und seine kriegerische Thaten. Er ist in dem Punkte der Liebe eben so groß- sprecherisch; er ruͤhmt sich nicht allein der tapfer- ste, sondern auch der schoͤnste und liebenswuͤr- digste Mann zu seyn. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufuͤgt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschraͤnkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero De Officiis Lib. I. Cap. 38. verfuͤhrt; aber hier haͤtte ihm Plautus selbst, mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt: Alazon Græce huic nomen est Co- mœdiæ Id nos latine gloriosum dici- mus — und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, daß eben das Stuͤck des Plautus gemeinet sey. Der Charakter eines großspreche- rischen Soldaten kam in mehrern Stuͤcken vor. Cicero kann eben sowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben. — Doch dieses beylaͤufig. X 2 Ich Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komoͤdien uͤberhaupt, schon einmal ge- aͤußert zu haben. Es koͤnnte seyn, daß die Sache so unbedeutend nicht waͤre. Mancher Stuͤmper hat zu einem schoͤnen Titel eine schlechte Komoͤdie gemacht; und blos des schoͤnen Titels wegen. Ich moͤchte doch lieber eine gute Ko- moͤdie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was fuͤr Charaktere bereits bearbei- ten worden, so wird kaum einer zu erdenken seyn, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stuͤck genannt haͤtten. Der ist laͤngst da gewesen! ruft man. Der auch schon! Die- ser wuͤrde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet seyn! Entlehnet? Das koͤmmt aus den schoͤnen Titeln. Was fuͤr ein Eigenthums- recht erhaͤlt ein Dichter auf einen gewissen Cha- rakter dadurch, daß er seinen Titel davon herge- nommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht haͤtte, so wuͤrde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen duͤrfen, und niemand wuͤrde mich dar- uͤber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z. E. einen neuen Misanthropen. Wann er auch keinen Zug von dem Molierschen nimmt, so wird sein Misan- throp doch immer nur eine Copie heissen. Ge- nug, daß Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr spaͤ- ter lebet; und daß die Sprache fuͤr die unendli- chen chen Varietaͤten des menschlichen Gemuͤths nicht auch unendliche Benennungen hat. Wenn der Titel Nanine nichts sagt; so sagt der andere Titel desto mehr: Nanine, oder das besiegte Vorurtheil. Und warum soll ein Stuͤck nicht zwey Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwey, drey Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwey Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweyten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu seyn. In der nehmlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte, das be- siegte Vorurtheil; und auf dem andern, der Mann ohne Vorurtheil. Doch beides ist nicht weit aus einander. Es ist von dem Vorurtheile, daß zu einer vernuͤnftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sey, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein Paar Stuͤcke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Gluͤck gemacht hatten. Die Pamela des Boissy und des De la Chaussee sind auch ziemlich kahle Stuͤcke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu seyn, etwas weit Besseres zu machen. X 3 Na- Nanine gehoͤrt unter die ruͤhrenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel laͤcherliche Scenen, und nur in so fern, als die laͤcherlichen Scenen mit den ruͤhrenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komoͤdie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komoͤdie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal laͤchelt, wo man nur immer weinen moͤchte, ist ihm ein Ungeheuer. Hin- gegen findet er den Uebergang von dem Ruͤhren- den zum Laͤcherlichen, und von dem Laͤcherlichen zum Ruͤhrenden, sehr natuͤrlich. Das mensch- liche Leben ist nichts als eine bestaͤndige Kette solcher Uebergaͤnge, und die Komoͤdie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens seyn. „Was ist gewoͤhnlicher, sagt er, als daß in dem nehm- lichen Hause der zornige Vater poltert, die ver- liebte Tochter seufzet, der Sohn sich uͤber beide aufhaͤlt, und jeder Anverwandte bey der nehm- lichen Scene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube neben an aͤußerst bewegt; und nicht sel- ten hat eben dieselbe Person in eben derselben Viertelstunde uͤber eben dieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwuͤrdige Matrone saß bey einer von ihren Toͤchtern, die gefaͤhr- lich krank lag, am Bette, und die ganze Fa- milie stand um ihr herum. Sie wollte in Thraͤ- nen zerfließen, sie rang die Haͤnde, und rief: O Gott! laß mir, laß mir dieses Kind, nur die- ses; ses; magst du mir doch alle die andern dafuͤr neh- men! Hier trat ein Mann, der eine von ihren uͤbrigen Toͤchtern geheyrathet hatte, naͤher zu ihr hinzu, zupfte sie bey dem Aermel, und fragte: Madame, auch die Schwiegersoͤhne? Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Ein- druck auf die betruͤbte Dame, daß sie in vollem Gelaͤchter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hoͤrte, waͤre vor Lachen fast erstickt.〟 〟Homer, sagt er an einem andern Orte, laͤßt sogar die Goͤtter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, uͤber den poßirlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht uͤber die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andro- macha die heissesten Thraͤnen vergießt. Es trift sich wohl, daß mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuers- brunst, oder sonst eines traurigen Verhaͤng- nisses, ein Einfall, eine ungefehre Posse, Trotz aller Beaͤngstigung, Trotz alles Mitleids, das unbaͤndigste Lachen erregt. Man befahl, in der Schlacht bey Speyern, einem Regimente, daß es keinen Pardon geben sollte. Ein deut- scher Officier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen; nur das Leben nicht; da- damit kann ich unmoͤglich dienen! Diese Naive- taͤt ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komoͤdie das Lachen auf ruͤhrende Empfin- dungen folgen koͤnnen? Bewegt uns nicht Alk- mene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Er- fahrung streiten zu wollen.〟 Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komoͤdie fuͤr eine eben so fehler- hafte, als langweilige Gattung erklaͤret? Viel- leicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine Cenie, noch kein Haus- vater vorhanden; und vieles muß das Genie erst wirklich machen, wenn wir es fuͤr moͤglich erkennen sollen. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Zwey und zwanzigstes Stuͤck. Den 14ten Julius, 1767. D en acht und zwanzigsten Abend (Dienstags, den 2ten Junius,) ward der Advokat Pa- telin wiederholt, und mit der kranken Frau des Herrn Gellert beschlossen. Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert derjenige, dessen Stuͤcke das meiste urspruͤnglich Deutsche haben. Es sind wahre Familiengemaͤlde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Muͤhmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darinn zu er- kennen. Sie beweisen zugleich, daß es an Ori- ginalnarren bey uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere Thor- heiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemei- nen Leben sehen wir uͤber viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich Y unsere unsere Virtuosen an eine allzuflache Manier ge- woͤhnet. Sie machen sie aͤhnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vortheilhaft genug zu beleuch- ten gewußt, so mangelt dem Bilde die Run- dung, das Koͤrperliche; wir sehen nur immer Eine Seite, an der wir uns bald satt gesehen, und deren allzuschneidende Außenlinien uns gleich an die Taͤuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die uͤbrigen Seiten herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig und eckel; wann sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem Seinigen geben. Er muß sie nicht in ihrer All- tagskleidung, in der schmutzigen Nachlaͤßigkeit, auf das Theater bringen, in der sie innerhalb ihren vier Pfaͤhlen herumtraͤumen. Sie muͤssen nichts von der engen Sphaͤre kuͤmmerlicher Um- staͤnde verrathen, aus der sich ein jeder gern her- ausarbeiten will. Er muß sie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verstand leihen, das Arm- selige ihrer Thorheiten bemaͤnteln zu koͤnnen; er muß ihnen den Ehrgeitz geben, damit glaͤnzen zu wollen. Ich weiß gar nicht, sagte eine von meinen Bekanntinnen, was das fuͤr ein Paar zusam- men ist, dieser Herr Stephan, und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Mann, und ein guter Mann. Gleichwohl muß seine ge- geliebte Frau Stephan um eine lumpige Adrienne so viel Umstaͤnde machen! Wir sind freylich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar großes Nichts nicht. Eine neue Adrienne! Kann sie nicht hinschicken, und aus- nehmen lassen, und machen lassen. Der Mann wird ja wohl bezahlen; und er muß ja wohl. Ganz gewiß! sagte eine andere. Aber ich habe noch etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Muͤtter. Eine Adrienne! Welche Schneidersfrau traͤgt denn noch eine Adrienne? Es ist nicht erlaubt, daß die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Roberonde, Bene- dietine, Respectueuse, — (ich habe die andern Na- men vergessen, ich wuͤrde sie auch nicht zu schreiben wissen,) — dafuͤr sagen! Mich in einer Adrienne zu denken; das allein koͤnnte mich krank machen. Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muß es auch die neueste Tracht seyn. Wie koͤnnen wir es sonst wahrscheinlich finden, daß sie daruͤber krank geworden? Und ich, sagte eine dritte, (es war die gelehr- teste,) finde es sehr unanstaͤndig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib ge- macht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser — wie soll ich es nennen? — Verkennung unserer Delicatesse gezwungen hat. Die Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertig Y 2 seyn; seyn; die Stephan sollte es noch anziehen; und in vier und zwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fertig. Ja er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele vier und zwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt — Hier ward meine Kunstrichterinn unter- brochen. Den neun und zwanzigsten Abend (Mitte- wochs, den 3ten Junius,) ward nach der Me- lanide des De la Chaussee, der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, gespielet. Der Verfasser dieses Stuͤcks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an drolligen Einfaͤllen; nur Schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hoͤrt, alle diese Einfaͤlle voraussieht. National ist es auch genug; oder vielmehr provincial. Und dieses koͤnnte leicht das andere Extremum werden, in das unsere komischen Dichter ver- fielen, wenn sie wahre deutsche Sitten schildern wollten. Ich fuͤrchte, daß jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er gebohren worden, fuͤr die eigentlichen Sitten des gemein- schaftlichen Vaterlandes halten duͤrfte. Wem aber liegt daran, zu erfahren, wie vielmal im Jahre man da oder dort gruͤnen Kohl ißt? Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel ha- ben; doch versteht sich, daß jeder etwas anders sagen muß. Hier ist das nicht; der Mann nach der der Uhr, oder der ordentliche Mann, sagen ziemlich das nehmliche; außer daß das erste ohn- gefehr die Karrikatur von dem andern ist. Den dreyßigsten Abend (Donnerstags, den 4ten Junius,) ward der Graf von Essex, vom Thomas Corneille, aufgefuͤhrt. Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, wel- ches sich aus der betraͤchtlichen Anzahl der Stuͤcke des juͤngern Corneille, auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird auf den deutschen Buͤhnen noch oͤfterer wiederholt, als auf den franzoͤsischen. Es ist vom Jahre 1678, nach- dem vierzig Jahre vorher bereits Calprenede die nehmliche Geschichte bearbeitet hatte. 〟Es ist gewiß, schreibt Corneille, daß der Graf von Essex bey der Koͤniginn Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Na- tur sehr stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verstaͤndnisses mit dem Grafen von Tyrone, den die Rebellen in Irrland zu ihrem Haupte erwaͤhlet hatten. Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verur- theilt, und nachdem er durchaus nicht um Gnade bitten wollen, den 25sten Februar, 1601, ent- Y 3 hauptet. hauptet. So viel hat mir die Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, daß ich sie in einem wichtigen Stuͤcke ver- faͤlscht haͤtte, weil ich mich des Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Koͤniginn dem Grafen zum Unterpfande ihrer unfehlbaren Be- gnadigung, falls er sich jemals eines Staatsver- brechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muß mich dieses sehr befremden. Ich bin versichert, daß dieser Ring eine Erfindung des Calprenede ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiben das geringste davon gelesen.〟 Allerdings stand es Corneillen frey, diesen Um- stand mit dem Ringe zu nutzen, oder nicht zu nutzen; aber darinn ging er zu weit, daß er ihn fuͤr eine poetische Erfindung erklaͤrte. Seine historische Richtigkeit ist neuerlich fast außer Zweifel gesetzt worden; und die bedaͤchtlichsten, skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Ro- bertson, haben ihn in ihre Werke aufgenom- men. Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermuth redet, in wel- che Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: 〟Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste, war diese, daß dieses Uebel aus einer betruͤbten Reue wegen des Grafen von Esser entstanden sey. Sie hatte eine ganz ausserordentliche Achtung fuͤr das An- denken denken dieses ungluͤcklichen Herrn; und wiewohl sie oft uͤber seine Hartnaͤckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne Thraͤnen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung mit neuer Zaͤrtlichkeit belebte, und ihre Betruͤbniß noch mehr vergaͤllte. Die Graͤfinn von Notthingham, die auf ihrem Tod- bette lag, wuͤnschte die Koͤniginn zu sehen, und ihr ein Geheimniß zu offenbaren, dessen Ver- hehlung sie nicht ruhig wuͤrde sterben lassen. Wie die Koͤniginn in ihr Zimmer kam, sagte ihr die Graͤfinn, Essex habe, nachdem ihm das To- desurtheil gesprochen worden, gewuͤnscht, die Koͤniginn um Vergebung zu bitten, und zwar auf die Art, die Ihro Majestaͤt ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr nehmlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, daß, wenn er ihr denselben, bey einem etwanigen Un- gluͤcke, als ein Zeichen senden wuͤrde, er sich ihrer voͤlligen Gnaden wiederum versichert hal- ten sollte. Lady Scroop sey die Person, durch welche er ihn habe uͤbersenden wollen; durch ein Versehen aber sey er, nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Haͤnde gerathen. Sie habe ih- rem Gemahl die Sache erzehlt, (er war einer von den unversoͤhnlichsten Feinden des Essex,) und der habe ihr verbothen, den Ring weder der Koͤniginn zu geben, noch dem Grafen zuruͤck zu sen- senden. Wie die Graͤfinn der Koͤniginn ihr Ge- heimniß entdeckt hatte, bath sie dieselbe um Ver- gebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene Ungerechtigkeit einsahe, daß sie ihn im Verdacht eines unbaͤndigen Eigensinnes gehabt, antwortete: Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr! Sie verließ das Zimmer in großer Entsetzung, und von dem Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gaͤnzlich. Sie nahm weder Speise noch Trank zu sich; sie ver- weigerte sich allen Arzeneyen; sie kam in kein Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Naͤchte auf einem Polster, ohne ein Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen, auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst der Seelen und von so langem Fasten ganz entkraͤftet, den Geist aufgab.〟 Ham- Hamburgische Dramaturgie . Drey und zwanzigstes Stuͤck. Den 17ten Julius, 1767. D er Herr von Voltaire hat den Essex auf eine sonderbare Weise kritisirt. Ich moͤchte nicht gegen ihn behaupten, daß Essex ein vorzuͤglich gutes Stuͤck sey; aber das ist leicht zu erweisen, daß die Fehler, die er daran tadelt, Theils sich nicht darinn finden, Theils unerheb- liche Kleinigkeiten sind, die seiner Seits eben nicht den richtigsten und wuͤrdigsten Begriff von der Tragoͤdie voraussetzen. Es gehoͤrt mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein sehr profunder Historikus seyn will. Er schwang sich also auch bey dem Essex auf dieses sein Streitroß, und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, daß alle die Thaten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht werth sind, den er erregt. Z Tho- Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt; und zum Gluͤcke fuͤr den Dichter, war das damalige Publikum noch unwissender. Itzt, sagt er, kennen wir die Koͤniginn Elisabeth und den Grafen Essex besser; itzt wuͤrden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die historische Wahr- heit schaͤrfer aufgemutzet werden. Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß die Koͤniginn damals, als sie dem Grafen den Proceß machen ließ, acht und sechzig Jahr alt war. Es waͤre also laͤcherlich, sagt er, wenn man sich einbilden wollte, daß die Liebe den geringsten Antheil an dieser Begebenheit koͤnne gehabt haben. War- um das? Geschieht nichts Laͤcherliches in der Welt? Sich etwas Laͤcherliches als geschehen denken, ist das so laͤcherlich? 〟Nachdem das Urtheil uͤber den Essex abgegeben war, sagt Hume, fand sich die Koͤniginn in der aͤußersten Unruhe und in der grausamsten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge fuͤr ihre eigene Sicherheit und Bekuͤm- merniß um das Leben ihres Lieblings, stritten unauf hoͤrlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quaͤlenden Zustande mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und wiederrufte den Befehl zu seiner Hinrichtung ein- einmal uͤber das andere; itzt war sie fast ent- schlossen, ihn dem Tode zu uͤberliefern; den Au- genblick darauf erwachte ihre Zaͤrtlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des Grafen ließen sie nicht aus den Augen; sie stell- ten ihr vor, daß er selbst den Tod wuͤnsche, daß er selbst erklaͤret habe, wie sie doch anders keine Ruhe vor ihm haben wuͤrde. Wahrscheinlicher Weise that diese Aeußerung von Reue und Ach- tung fuͤr die Sicherheit der Koͤniginn, die der Graf sonach lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange fuͤr den ungluͤcklichen Gefangnen genaͤhret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhaͤrtete, war die vermeintliche Hals- starrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, ließ sie dem Rechte endlich sei- nen Lauf.〟 Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem acht und sechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben ließ? Sie, der es so sehr schmeichelte, wenn man ihre Schoͤnheit ruͤhmte? Sie, die es so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muß in diesem Z 2 Stuͤcke Stuͤcke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Hoͤflinge stellten sich daher alle in sie ver- liebt, und bedienten sich gegen Ihro Majestaͤt, mit allem Anscheine des Ernstes, des Styls der laͤcherlichsten Galanterie. Als Raleigh in Un- gnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die Koͤniginn eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl war diese Goͤttinn damals schon sechzig Jahr alt. Fuͤnf Jahr darauf fuͤhrte Heinrich Unton, ihr Abgesandter in Frankreich, die nehmliche Sprache mit ihr. Kurz, Cor- neille ist hinlaͤnglich berechtiget gewesen, ihr alle die verliebte Schwachheit beyzulegen, durch die er das zaͤrtliche Weib mit der stolzen Koͤniginn in einen so interessanten Streit bringet. Eben so wenig hat er den Charakter des Essex verstellet, oder verfaͤlschet. Essex, sagt Vol- taire, war der Held gar nicht, zu dem ihn Cor- neille macht: er hat nie etwas merkwuͤrdiges ge- than. Aber, wenn er es nicht war, so glaubte er es doch zu seyn. Die Vernichtung der spani- schen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihn Voltaire wenig oder gar kein Theil laͤßt, hielt er so sehr fuͤr sein Werk, daß er es durch- aus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die ge- ringste Ehre davon anmaßte. Er erbot sich, es mit mit dem Degen in der Hand, gegen den Grafen von Notthingham, unter dem er kommandirt hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von sei- nen Anverwandten, zu beweisen, daß sie ihm allein zugehoͤre. Corneille laͤßt den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom Cecil, vom Cobhan, sehr veraͤchtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht gut heissen. Es ist nicht er- laubt, sagt er, eine so neue Geschichte so groͤb- lich zu verfaͤlschen, und Maͤnner von so vorneh- mer Geburt, von so großen Verdiensten, so unwuͤrdig zu mißhandeln. Aber hier koͤmmt es ja gar nicht darauf an, was diese Maͤnner waren, sondern wofuͤr sie Essex hielt; und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und gar keine einzuraͤumen. Wenn Corneille den Essex sagen laͤßt, daß es nur an seinem Willen gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so laͤßt er ihn freylich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire haͤtte darum doch nicht ausrufen muͤssen: 〟Wie? Essex auf dem Thro- ne? mit was fuͤr Recht? unter was fuͤr Vor- wande? wie waͤre das moͤglich gewesen?〟 Denn Voltaire haͤtte sich erinnern sollen, daß Essex von muͤtterlicher Seite aus dem Koͤnigli- Z 3 chen chen Hause abstammte, und daß es wirklich An- haͤnger von ihm gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zaͤhlen, die Anspruͤche auf die Krone machen koͤnnten. Als er daher mit dem Koͤnige Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das erste seyn, ihn zu versichern, daß er selbst der- gleichen ehrgeitzige Gedanken nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel we- niger, als was ihn Corneille voraussetzen laͤßt. Indem also Voltaire durch das ganze Stuͤck nichts als historische Unrichtigkeiten findet, be- geht er selbst nicht geringe. Ueber eine hat sich Walpole Le Chateau d’Otrante, Pref. p. XIV. schon lustig gemacht. Wenn nehmlich Voltaire die erstern Lieblinge der Koͤ- niginn Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley und den Grafen von Leicester. Er wußte nicht, daß beide nur eine Person waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerherrn von Vol- taire zu zwey verschiedenen Personen machen koͤnnte. Eben so unverzeihlich ist das Hysteron- proteron, in welches er mit der Ohrfeige verfaͤllt, die die Koͤniginn dem Essex gab. Es ist falsch, daß er sie nach seiner ungluͤcklichen Expedition in Irrland bekam; er hatte sie lange vorher be- kommen; und es ist so wenig wahr, daß er da- damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge- ringste Erniedrigung zu besaͤnftigen gesucht, daß er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art muͤndlich und schriftlich seine Empfindlichkeit daruͤber ausließ. Er that zu seiner Begnadi- gung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Koͤniginn mußte ihn thun. Aber was geht mich hier die historische Un- wissenheit des Herrn von Voltaire an? Eben so wenig als ihn die historische Unwissenheit des Corneille haͤtte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen. Die ganze Tragoͤdie des Corneille sey ein Ro- man: wenn er ruͤhrend ist, wird er dadurch we- niger ruͤhrend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat? Weßwegen waͤhlt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geschichte beylegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei- gen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewoͤhnlichen Praxi der Dich- Dichter uͤbereinstimmender auszudruͤcken: sind es die bloßen Facta, die Umstaͤnde der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Per- sonen, durch welche die Facta wirklich gewor- den, warum der Dichter lieber diese als eine an- dere Begebenheit waͤhlet? Wenn es die Cha- raktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahr- heit abgehen koͤnne? In allem, was die Cha- raktere nicht betrift, so weit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstaͤrken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabey hinzuthun darf; die geringste wesentliche Veraͤnderung wuͤrde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen fuͤhren; und nichts ist anstoͤßiger, als wovon wir uns keine Ursache geben koͤnnen. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Vier und zwanzigstes Stuͤck. Den 21sten Julius, 1767. W enn der Charakter der Elisabeth des Cor- neille das poetische Ideal von dem wah- ren Charakter ist, den die Geschichte der Koͤniginn dieses Namens beylegt; wenn wir in ihr die Unentschluͤßigkeit, die Widerspruͤche, die Beaͤngstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zaͤrtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bey die- sen und jenen Umstaͤnden wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu koͤnnen vermuthen lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles gethan, was ihm als Dichter zu thun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte fuͤhren, um ihn da jedes Datum, jede beylaͤufige Erwaͤhnung, auch wohl solcher Personen, uͤber welche die Ge- schichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen be- A a legen legen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruff ver- kennen, heißt von dem, dem man diese Verken- nung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicaniren. Zwar bey dem Herrn von Voltaire koͤnnte es leicht weder Verkennung noch Chicane seyn. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit groͤßerer, als der juͤngere Corneille. Es waͤre denn, daß man ein Mei- ster in einer Kunst seyn, und doch falsche Begriffe von der Kunst haben koͤnnte. Und was die Chi- cane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da aͤhnlich sieht, ist nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen, und in der Phi- losophie den witzigen Kopf. Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth acht und sechzig Jahr alt war, als sie den Grafen koͤpfen ließ? Im acht und sechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersuͤchtig! Die große Nase der Elisabeth dazu genommen, was fuͤr lustige Ein- faͤlle muß das geben! Freylich stehen diese lusti- gen Einfaͤlle in dem Commentare uͤber eine Tra- goͤdie; also da, wo sie nicht hingehoͤren. Der Dichter haͤtte Recht zu seinem Commentator zu sagen: 〟Mein Herr Notenmacher, diese Schwaͤnke gehoͤren in eure allgemeine Geschichte, nicht un- ter ter meinen Text. Denn es ist falsch, daß meine Elisabeth acht und sechzig Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stuͤcke, das Euch hinderte, sie nicht ungefehr mit dem Essex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Al- ter: Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann seyn. Aber warum habt ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seyd ihr so gelehrt? Warum vermengt ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt ihr im Ernst, daß die Erinnerung bey dem und jenem Zu- schauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen hat, lebhafter seyn werde, als der sinn- liche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eigene Augen uͤber- zeugen ihn, daß es nicht eure achtzigjaͤhrige Eli- sabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als seinen eignen Augen?〟 — So ungefehr koͤnnte sich auch der Dichter uͤber die Rolle des Essex erklaͤren. 〟Euer Essex im Rapin de Thoyras, koͤnnte er sagen, ist nur der Embryo von dem meinigen. Was sich jener zu seyn duͤnkte, ist meiner wirklich. Was jener, unter gluͤcklichern Umstaͤnden, fuͤr die Koͤniginn vielleicht gethan haͤtte, hat meiner gethan. Ihr hoͤrt ja, daß es ihm die Koͤniginn selbst zuge- steht; wollt ihr meiner Koͤniginn nicht eben so A a 2 viel viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und großer, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der That weder so groß, noch so unbiegsam: desto schlimmer fuͤr ihn. Genug fuͤr mich, daß er doch immer noch groß und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe seinen Namen zu lassen.〟 Kurz: die Tragoͤdie ist keine dialogirte Ge- schichte; die Geschichte ist fuͤr die Tragoͤdie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden ge- wohnt sind. Findet der Dichter in der Ge- schichte mehrere Umstaͤnde zur Ausschmuͤckung und Individualisirung seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur daß man ihm hier- aus eben so wenig ein Verdienst, als aus dem Gegentheile ein Verbrechen mache! Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das uͤbrige Ur- theil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. Essex ist ein mittelmaͤßiges Stuͤck, sowohl in Ansehung der Intrigue, als des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht seyn kann, als aus edel- muͤthigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigun- gen und Bitten herab zu lassen, auf das Schaf- fot zu fuͤhren: das war der ungluͤcklichste Ein- fall, fall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben mußte. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Ueber- setzung ist er oft kriechend geworden. Aber uͤberhaupt ist das Stuͤck nicht ohne Interesse, und hat hier und da gluͤckliche Verse; die aber im Franzoͤsischen gluͤcklicher sind, als im Deut- schen. 〟Die Schauspieler, setzt der Herr von Voltaire hinzu, besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie, und mit einem großen blauen Bande uͤber die Schul- ter darinn erscheinen koͤnnen. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid ver- folgt: das macht Eindruck. Uebrigens ist die Zahl der guten Tragoͤdien bey allen Nationen in der Welt so klein, daß die, welche nicht ganz schlecht sind, noch immer Zuschauer an sich zie- hen, wenn sie von guten Akteurs nur aufge- stutzet werden.〟 Er bestaͤtiget dieses allgemeine Urtheil durch verschiedene einzelne Anmerkungen, die eben so richtig, als scharfsinnig sind, und deren man sich vielleicht, bey einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte. Ich theile die vorzuͤglichsten also hier mit; in der festen Ueber- zeugung, daß die Kritik dem Genusse nicht scha- det, und daß diejenigen, welche ein Stuͤck am schaͤrfesten zu beurtheilen gelernt haben, immer A a 3 die- diejenigen sind, welche das Theater am fleißig- sten besuchen. 〟Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige Nebenrolle. Solche krie- chende Schmeichler zu mahlen, muß man die Farben in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat.〟 〟Die vorgebliche Herzoginn von Irton ist eine vernuͤnftige tugendhafte Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heyra- then wollen. Dieser Charakter wuͤrde sehr schoͤn seyn, wenn er mehr Leben haͤtte, und wenn er zur Verwickelung etwas beytruͤge; aber hier vertritt sie bloß die Stelle eines Freundes. Das ist fuͤr das Theater nicht hinlaͤnglich.〟 〟Mich duͤnket, daß alles, was die Personen in dieser Tragoͤdie sagen und thun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmet ist. Die Handlung muß deutlich, der Knoten ver- staͤndlich, und jede Gesinnung plan und natuͤr- lich seyn: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was will Essex? Was will Eli- sabeth? Worinn besteht das Verbrechen des Grafen? Ist er schuldig, oder ist er faͤlschlich angeklagt? Wenn ihn die Koͤniginn fuͤr un- schuldig haͤlt, so muß sie sich seiner annehmen. Ist er aber schuldig: so ist es sehr unvernuͤnftig, die Vertraute sagen zu lassen, daß er nimmer- mehr mehr um Gnade bitten werde, daß er viel zu stolz dazu sey. Dieser Stolz schickt sich sehr wohl fuͤr einen tugendhaften unschuldigen Hel- den, aber fuͤr keinen Mann, der des Hochver- raths uͤberwiesen ist. Er soll sich unterwerfen: sagt die Koͤniginn. Ist das wohl die eigentliche Gesinnung, die sie haben muß, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth darum von ihm mehr geliebt, als zu- vor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als mich selbst: sagt die Koͤniginn. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so unter- suchen Sie doch die Beschuldigungen Ihres Ge- liebten selbst, und verstatten nicht, daß ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und unterdruͤcken, wie es durch das ganze Stuͤck, obwohl ganz ohne Grund, heißt.〟 〟Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug werden, ob er ihn fuͤr schuldig oder fuͤr unschuldig haͤlt. Er stellt der Koͤniginn vor, daß der Anschein oͤfters betriege, daß man alles von der Partheylichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe. Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Koͤniginn. Was hatte er dieses noͤthig, wenn er seinen Freund nicht straf bar glaubte? Aber was soll der Zuschauer glau- ben? ben? Der weiß eben so wenig, woran er mit der Verschwoͤrung des Grafen, als woran er mit der Zaͤrtlichkeit der Koͤniginn gegen ihn ist.〟 〟Salisbury sagt der Koͤniginn, daß man die Unterschrift des Grafen nachgemacht habe. Aber die Koͤniginn laͤßt sich im geringsten nicht einfallen, einen so wichtigen Umstand naͤher zu untersuchen. Gleichwohl war sie als Koͤniginn und als Geliebte dazu verbunden. Sie ant- wortet nicht einmal auf diese Eroͤffnung, die sie doch begierigst haͤtte ergreifen muͤssen. Sie er- wiedert bloß mit andern Worten, daß der Graf allzu stolz seyn, und daß sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten.〟 〟Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht war?〟 Ham- Hamburgische Dramaturgie . Fuͤnf und zwanzigstes Stuͤck. Den 24sten Julius, 1767. 〟 E ssex selbst betheuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben, als die Koͤ- niginn davon uͤberzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er kann sie mit einem ein- zigen Worte zu Boden schlagen; und er thut es nicht. Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemaͤß? Soll er aus Liebe zur Irton so widersinnig handeln: so haͤtte ihn der Dichter durch das ganze Stuͤck von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen muͤssen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in die- ser Heftigkeit sehen wir ihn nicht.〟 〟Der Stolz der Koͤniginn streitet unauf hoͤr- lich mit dem Stolze des Essex; ein solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie handeln laͤßt, so ist er bey der Elisa- beth sowohl, als bey dem Grafen, bloßer Ei- gensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich B b will will sie nicht um Gnade bitten: das ist die ewige Leyer. Der Zuschauer muß vergessen, daß Eli- sabeth entweder sehr abgeschmackt, oder sehr un- gerecht ist, wenn sie verlangt, daß der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muß es vergessen, und er vergißt es wirklich, um sich bloß mit den Gesinnungen des Stolzes zu beschaͤftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist.〟 〟Mit einem Worte: keine einzige Rolle die- ses Trauerspiels ist, was sie seyn sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Wo- her dieses Gefallen? Offenbar aus der Situa- tion der Personen, die fuͤr sich selbst ruͤhrend ist. — Ein großer Mann, den man auf das Schaffot fuͤhret, wird immer intereßiren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch ohne alle Huͤlfe der Poesie, Eindruck; ungefehr eben den Eindruck, den die Wirklichkeit selbst machen wuͤrde.〟 So viel liegt fuͤr den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein, koͤnnen die schwaͤchsten verwirrtesten Stuͤcke eine Art von Gluͤck machen; und ich weiß nicht, wie es koͤmmt, daß es immer solche Stuͤcke sind, in welchen sich gute Akteurs am vortheilhaftesten zeigen. Selten wird ein Meisterstuͤck so meister- haft vorgestellt, als es geschrieben ist; das Mit- tel- telmaͤßige faͤhrt mit ihnen immer besser. Viel- leicht, weil sie in dem Mittelmaͤßigen mehr von dem Ihrigen hinzuthun koͤnnen; vielleicht, weil uns das Mittelmaͤßige mehr Zeit und Ruhe laͤßt, auf ihr Spiel aufmerksam zu seyn; viel- leicht, weil in dem Mittelmaͤßigen alles nur auf einer oder zwey hervorstechenden Personen beru- het, anstatt, daß in einem vollkommenern Stuͤcke oͤfters eine jede Person ein Hauptakteur seyn muͤßte, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt, zugleich auch die uͤbrigen verderben hilft. Beym Essex koͤnnen alle diese und mehrere Ursachen zusammen kommen. Weder der Graf noch die Koͤniginn sind von dem Dichter mit der Staͤrke geschildert, daß sie durch die Aktion nicht noch weit staͤrker werden koͤnnten. Essex spricht so stolz nicht, daß ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung, in jeder Gebehrde, in jeder Mine, noch stolzer zeigen koͤnnte. Es ist sogar dem Stolze wesentlich, daß er sich weniger durch Worte, als durch das uͤbrige Betragen, aͤußert. Seine Worte sind oͤfters bescheiden, und es laͤßt sich nur sehen, nicht hoͤren, daß es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese Rolle muß also noth- wendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen koͤnnen keinen uͤbeln Einfluß auf ihn haben; je subalterner Cecil und Salisbury gespielt werden, desto mehr ragt Essex hervor. B b 2 Ich Ich darf es also nicht erst lange sagen, wie vor- trefflich ein Eckhof das machen muß, was auch der gleichguͤltigste Akteur nicht ganz verderben kann. Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht voͤllig so; aber doch kann sie auch schwerlich ganz ver- ungluͤcken. Elisabeth ist so zaͤrtlich, als stolz; ich glaube ganz gern, daß ein weibliches Herz beides zugleich seyn kann; aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen koͤnne, das begreife ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht viel Zaͤrtlichkeit, und einer zaͤrtlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen den Kennzeichen des an- dern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich gelaͤufig sind; hat sie aber nur die einen vorzuͤg- lich in ihrer Gewalt, so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdruͤckt, zwar em- pfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, daß sie dieselbe so lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen, als die Natur? Ist sie von einem majestaͤtischen Wuchse, toͤnt ihre Stimme voller und maͤnnli- cher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen; aber wie steht es mit den zaͤrtlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger imponirend; herrscht in ihren Minen Sanft- Sanfmuth, in ihren Augen ein bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlkang, als Nachdruck; ist in ihrer Bewegung mehr An- stand und Wuͤrde, als Kraft und Geist: so wird sie den zaͤrtlichen Stellen die voͤlligste Genuͤge leisten; aber auch den stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiß nicht; sie wird sie noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zuͤr- nende Liebhaberinn in ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich meyne also, die Aktri- cen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich taͤuschend zu zeigen vermoͤgend waͤren, duͤrften noch seltner seyn, als die Elisabeths sel- ber; und wir koͤnnen und muͤssen uns begnuͤgen, wenn eine Haͤlfte nur recht gut gespielt, und die andere nicht ganz verwahrloset wird. Madame Loͤwen hat in der Rolle der Elisa- beth sehr gefallen; aber, jene allgemeine An- merkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zaͤrtliche Frau, als die stolze Mo- narchinn, sehen und hoͤren lassen. Ihre Bil- dung, ihre Stimme, ihre bescheidene Aktion, ließen es nicht anders erwarten; und mich duͤnkt, unser Vergnuͤgen hat dabey nichts verloren. Denn wenn nothwendig eine die andere verfin- stert, wenn es kaum anders seyn kann, als daß nicht die Koͤniginn unter der Liebhaberinn, oder B b 3 diese diese unter jener leiden sollte: so, glaube ich, ist es zutraͤglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und der Koͤniginn, als von der Liebhaberinn und der Zaͤrtlichkeit, verloren geht. Es ist nicht bloß eigensinniger Geschmack, wenn ich so urtheile; noch weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Mei- sterinn in ihrer Kunst seyn wuͤrde, wenn ihr diese Rolle auch gar nicht gelungen waͤre. Ich weiß einem Kuͤnstler, er sey von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmei- cheley zu machen; und diese besteht darinn, daß ich annehme, er sey von aller eiteln Empfindlich- keit entfernt, die Kunst gehe bey ihm uͤber alles, er hoͤre gern frey und laut uͤber sich urtheilen, und wolle sich lieber auch dann und wann falsch, als seltner beurtheilet wissen. Wer diese Schmei- cheley nicht versteht, bey dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht werth, daß wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit ein- sehen und empfinden, wenn wir auch noch so viel Geschrey davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefuͤhl fuͤr seine Schwaͤche haben. Er spottet bey sich uͤber jede uneingeschraͤnkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln. Ich Ich wollte sagen, daß sich Gruͤnde anfuͤhren lassen, warum es besser ist, wenn die Aktrice mehr die zaͤrtliche, als die stolze Elisabeth aus- druͤckt. Stolz muß sie seyn, das ist ausge- macht: und daß sie es ist, das hoͤren wir. Die Frage ist nur, ob sie zaͤrtlicher als stolz, oder stolzer als zaͤrtlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwey Aktricen zu waͤhlen haͤtte, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die be- leidigte Koͤniginn, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der raͤcherischen Majestaͤt, auszudruͤcken vermoͤchte, oder die, welcher die eifersuͤchtige Liebhaberinn, mit allen kraͤnkenden Empfindungen der verschmaͤhten Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem theuern Frevler zu ver- geben, mit aller Beaͤngstigung uͤber seine Hart- naͤckigkeit, mit allem Jammer uͤber seinen Ver- lust, augemessener waͤre? Und ich sage: diese. Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des nehmlichen Charakters vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz seyn soll, so muß sie es wenigstens auf eine andere Art seyn. Wenn bey dem Grafen die Zaͤrtlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet seyn kann, so muß bey der Koͤniginn die Zaͤrtlichkeit den Stolz uͤberwiegen. Wenn der Graf sich eine hoͤhere Mine giebt, als ihm zukoͤmmt; so muß die Koͤniginn etwas weniger zu seyn schei- nen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase Nase nur immer in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist, her- abblicken lassen, wuͤrde die eckelste Einfoͤrm gkeit seyn. Man muß nicht glauben koͤnnen, daß Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle waͤre, eben so, wie Essex, handeln wuͤrde. Der Aus- gang weiset es, daß sie nachgebender ist, als er; sie muß also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren, als er. Wer sich durch aͤußere Macht empor zu halten vermag, braucht weniger Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft thun muß. Wir wissen darum doch, daß Elisabeth die Koͤniginn ist, wenn sich gleich Essex das koͤniglichere Ansehen giebt. Zweytens ist es in dem Trauerspiele schickli- cher, daß die Personen in ihren Gesinnungen steigen, als daß sie fallen. Es ist schicklicher, daß ein zaͤrtlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als daß ein stolzer von der Zaͤrtlich- keit sich fortreissen laͤßt. Jener scheint, sich zu erheben; dieser, zu sinken. Eine ernsthafte Koͤ- niginn, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen koͤnnte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird, und nach den kleinen Beduͤrfnissen ihrer Lei- denschaft seufzet, ist fast, fast laͤcherlich. Eine Ge- liebte hingegen, die ihre Eifersucht erinnert, daß sie Koͤniginn ist, erhebt sich uͤber sich selbst, und ihre Schwachheit wird fuͤrchterlich. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Sechs und zwanzigstes Stuͤck. Den 28sten Julius, 1767. D en ein und dreyßigsten Abend (Mittewochs, den 10ten Junius,) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, die Hausfran- zoͤsinn, oder die Mammsell, aufgefuͤhret. Dieses Stuͤck ist eines von den sechs Origina- len, mit welchen 1744, unter Gottschedischer Geburthshuͤlfe, Deutschland im fuͤnften Bande der Schaubuͤhne beschenkt ward. Man sagt, es sey, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da mit Beyfall gespielt worden. Man wollte versu- chen, welchen Beyfall es noch erhalten wuͤrde, und es erhielt den, den es verdienet; gar keinen. Das Testament, von eben derselben Verfasserinn, ist noch so etwas; aber die Hausfranzoͤsinn ist ganz und gar nichts. Noch weniger, als nichts: denn sie ist nicht allein niedrig, und platt, und kalt, sondern noch oben darein schmutzig, eckel, und im hoͤchsten Grade beleidigend. Es ist mir C c unbe- unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schrei- ben koͤnnen. Ich will hoffen, daß man mir den Beweis von diesem allen schenken wird. —— Den zwey und dreyßigsten Abend (Don- nerstags, den 11ten Junius,) ward die Semi- ramis des Herrn von Voltaire wiederhohlt. Da das Orchester bey unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Choͤre ver- tritt, so haben Kenner schon laͤngst gewuͤnscht, daß die Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stuͤcke gespielt wird, mit dem Inhalte desselben mehr uͤbereinstimmen moͤchte. Herr Scheibe ist unter den Musicis derjenige, wel- cher zuerst hier ein ganz neues Feld fuͤr die Kunst bemerkte. Da er einsahe, daß, wenn die Ruͤh- rung des Zuschauers nicht auf eine unangenehme Art geschwaͤcht und unterbrochen werden sollte, ein jedes Schauspiel seine eigene musikalische Be- gleitung erfordere: so machte er nicht allein be- reits 1738 mit dem Polyeukt und Mithridat den Versuch, besondere diesen Stuͤcken entspre- chende Symphonien zu verfertigen, welche bey der Gesellschaft der Neuberinn, hier in Ham- burg, in Leipzig, und anderwaͤrts aufgefuͤhret wurden; sondern ließ sich auch in einem beson- dern Blatte seines kritischen Musikus Stuͤck 67. um- staͤndlich daruͤber aus, was uͤberhaupt der Kom- ponist ponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung mit Ruhm arbeiten wolle. 〟Alle Symphonien, sagt er, die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben be- ziehen. Es gehoͤren also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien, als zu den Lustspielen. So verschieden die Tragoͤdien und Komoͤdien unter sich selbst sind, so verschieden muß auch die dazu gehoͤrige Musik seyn. Ins- besondere aber hat man auch wegen der verschie- denen Abtheilungen der Musik in den Schau- spielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen eine jede Abtheilung gehoͤrt, zu sehen. Daher muß die Anfangssymphonie sich auf den ersten Aufzug des Stuͤckes beziehen; die Sym- phonien aber, die zwischen den Aufzuͤgen vor- kommen, muͤssen Theils mit dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges, Theils aber mit dem Anfange des folgenden Aufzuges uͤbereinkom- men; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des letzten Aufzuges gemaͤß seyn muß.〟 〟Alle Symphonien zu Trauerspielen muͤssen praͤchtig, feurig und geistreich gesetzt seyn. In- sonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen, und den Hauptinhalt zu bemer- ken, und darnach seine Ersindung einzurichten. Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir fin- den Tragoͤdien, da bald diese, bald jene Tu- C c 2 gend gend eines Helden, oder einer Heldinn, der Stoff gewesen ist. Man halte einmal den Po- lyeukt gegen den Brutus, oder auch die Alzire gegen den Mithridat: so wird man gleich sehen, daß sich keinesweges einerley Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die Religion und Gottesfurcht den Helden, oder die Heldinn, in allen Zufaͤllen begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermaßen das Praͤchtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Großmuth, die Tapferkeit, oder die Standhaftigkeit in allerley Ungluͤcksfaͤllen im Trauerspiele herrschen: so muß auch die Musik weit feuriger und lebhafter seyn. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele Cato, Brutus, Mithridat. Alzire aber und Zaire erfordern hingegen schon eine etwas veraͤnderte Musik, weil die Begebenheiten und die Cha- raktere in diesen Stuͤcken von einer andern Be- schaffenheit sind, und mehr Veraͤnderung der Affekten zeigen.〟 〟Eben so muͤssen die Komoͤdiensymphonien uͤberhaupt frey, fließend, und zuweilen auch scherzhaft seyn; insbesondere aber sich nach dem eigenthuͤmlichen Inhalte einer jeden Komoͤdie richten. So wie die Komoͤdie bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muß auch die Symphonie beschaffen seyn. Z. E. die Komoͤdien, der Falke und die beyderseitige Un- be- bestaͤndigkeit, wuͤrden ganz andere Symphonien erfordern, als der verlohrne Sohn. So wuͤr- den sich auch nicht die Symphonien, die sich zum Geitzigen, oder zum Kranken in der Einbildung, sehr wohl schicken moͤchten, zum Unentschluͤßi- gen, oder zum Zerstreuten, schicken. Jene muͤssen schon lustiger und scherzhafter seyn, diese aber verdrießlicher und ernsthafter.〟 〟Die Anfangssymphonie muß sich auf das ganze Stuͤck beziehen; zugleich aber muß sie auch den Anfang desselben vorbereiten, und folglich mit dem ersten Auftritte uͤbereinkommen. Sie kann aus zwey oder drey Saͤtzen bestehen, so wie es der Komponist fuͤr gut findet. — Die Symphonien zwischen den Aufzuͤgen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten sollen, werden am natuͤrlichsten zwey Saͤtze haben koͤnnen. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweyten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein noͤthig, wenn die Affekten einander allzu sehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen, wenn er nur die gehoͤrige Laͤnge erhaͤlt, damit die Beduͤrfnisse der Vorstellung, als Lichtputzen, Umklei- den u. s. w. indeß besorget werden koͤnnen. — Die Schlußsymphonie endlich muß mit dem Schlusse des Schauspiels auf das genaueste C c 3 uͤber- uͤbereinstimmen, um die Begebenheit den Zu- schauern desto nachdruͤcklicher zu machen. Was ist laͤcherlicher, als wenn der Held auf eine un- gluͤckliche Weise sein Leben verlohren hat, und es folgt eine lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als wenn sich die Komoͤdie auf eine froͤhliche Art endiget, und es folgt eine traurige und bewegliche Sym- phonie darauf?〟 —— 〟Da uͤbrigens die Musik zu den Schauspielen bloß allein aus Instrumenten bestehet, so ist eine Veraͤnderung derselben sehr noͤthig, damit die Zuhoͤrer desto gewisser in der Aufmerksamkeit er- halten werden, die sie vielleicht verlieren moͤch- ten, wenn sie immer einerley Instrumente hoͤren sollten. Es ist aber beynahe eine Nothwendig- keit, daß die Anfangssymphonie sehr stark und vollstaͤndig ist, und also desto nachdruͤcklicher ins Gehoͤr falle. Die Veraͤnderung der Instru- menten muß also vornehmlich in den Zwischen- symphonien erscheinen. Man muß aber wohl urtheilen, welche Instrumente sich am besten zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdruͤcken kann, was man aus- druͤcken soll. Es muß also auch hier eine ver- nuͤnftige Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzu gut, wenn man in zwey auf einander folgenden Zwischensympho- nien nien einerley Veraͤnderung der Instrumente an- wendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man diesen Uebelstand vermeidet.〟 Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den Worten eines Tonkuͤnstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, daß sie weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten im Stande sey. Die mehresten muͤssen es von ihren Kunstverwandten erst hoͤren, daß die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste Aufmerksamkeit darauf wen- den. Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur was geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der Lei- denschaften, auf welchen alles dabey ankoͤmmt, ist noch einzig das Werk des Genies. Denn ob es schon Tonkuͤnstler giebt und gegeben, die bis zur Bewunderung darinn gluͤcklich sind, so man- gelt es doch unstreitig noch an einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt, und allgemeine Grundsaͤtze aus ihren Beyspielen hergeleitet haͤtte. Aber je haͤufiger diese Beyspiele werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sam- sammeln, desto eher koͤnnen wir sie uns verspre- chen; und ich muͤßte mich sehr irren, wenn nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkuͤnstler in dergleichen dramatischen Sympho- nien geschehen koͤnnte. In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwaͤchste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstaͤrkt: in der Instru- mentalmusik hingegen faͤllt diese Huͤlfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Kuͤnstler wird also hier seine aͤußerste Staͤrke anwenden muͤssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Toͤnen, die eine Empfindung ausdruͤcken koͤnnen, nur im- mer diejenigen waͤhlen, die sie am deutlichsten aus- druͤcken; wir werden diese oͤfterer hoͤren, wir wer- den sie mit einander oͤfterer vergleichen, und durch die Bemerkung dessen, was sie bestaͤndig gemein ha- ben, hinter das Geheimniß des Ausdrucks kom̃en. Welchen Zuwachs unser Vergnuͤgen im Theater da- durch erhalten wuͤrde, begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers Theaters, hat man sich daher nicht nur uͤberhaupt bemuͤht, das Orchester in einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch wuͤrdige Maͤnner bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Mustere in dieser Art von Komposition zu machen, die uͤber alle Erwar- tung ausgefallen sind. Schon zu Cronegks Oliut und Sophronia hatte Herr Hertel eigue Symphonien ver- fertiget; und bey der zweyten Auffuͤhrung der Semira- mis wurden dergleichen, von dem Herrn Agricola in Berlin, aufgefuͤhrt. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Sieben und zwanzigstes Stuͤck. Den 31sten Julius, 1767. I ch will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen; — denn je lebhafter und feiner ein sinnliches Ver- gnuͤgen ist, desto weniger laͤßt es sich mit Wor- ten beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobspruͤche, in unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung da- mit verfallen, und diese sind eben so ununterrich- tend fuͤr den Liebhaber, als eckelhaft fuͤr den Virtuosen, den man zu ehren vermeinet; — son- dern bloß nach den Absichten, die ihr Meister dabey gehabt, und nach den Mitteln uͤberhaupt, deren er sich, zu Erreichung derselben, bedienen wollen. Die Anfangssymphonie bestehet aus drey Saͤtzen. Der erste Satz ist ein Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Floͤten; der D d Grund- Grundbaß ist durch Fagotte verstaͤrkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und stuͤrmisch; der Zuhoͤrer soll vermuthen, daß er ein Schauspiel ungefehr dieses Inhalts zu er- warten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein; Zaͤrtlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unter- werfung, nehmen ihr Theil daran; und der zweyte Satz, ein Andante mit gedaͤmpften Vio- linen und concertirenden Fagotten, beschaͤftiget sich also mit dunkeln und mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweg- lichen Tonwendungen mit stolzen; denn die Buͤhne eroͤfnet sich mit mehr als gewoͤhnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit; wie diese Herrlichkeit das Auge spuͤren muß, soll sie auch das Ohr vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instru- mente sind wie in dem ersten, außer daß die Ho- boen, Floͤten und Fagotte mit einander einige besondere kleinere Saͤtze haben. Die Musik zwischen den Akten hat durch- gaͤngig nur einen einzigen Satz; dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweyten, der sich auf das Folgende bezoͤge, schei- net Herr Agricola also nicht zu billigen. Ich wuͤrde hierinn sehr seines Geschmacks seyn. Denn die Musik soll dem Dichter nichts verder- ben; der tragische Dichter liebt das Unerwar- tete, das Ueberraschende, mehr als ein anderer; er er laͤßt seinen Gang nicht gern voraus verrathen; und die Musik wuͤrde ihn verrathen, wenn sie die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch sie nur den allgemeinen Ton des Stuͤcks angeben, und nicht staͤrker, nicht be- stimmter, als ihn ungefehr der Titel angiebt. Man darf dem Zuhoͤrer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn fuͤhren will, aber die verschiede- nen Wege, auf welchen er dahin gelangen soll, muͤssen ihm gaͤnzlich verborgen bleiben. Dieser Grund wider einen zweyten Satz zwischen den Akten, ist aus dem Vortheile des Dichters her- genommen; und er wird durch einen andern, der sich aus den Schranken der Musik ergiebt, bestaͤrkt. Denn gesetzt, daß die Leidenschaften, welche in zwey auf einander folgenden Akten herrschen, einander ganz entgegen waͤren, so wuͤrden nothwendig auch die beiden Saͤtze von eben so widriger Beschaffenheit seyn muͤssen. Nun begreife ich sehr wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegen- stehenden, zu ihrem voͤlligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit, bringen kann; er thut es nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu thun. Aber kann dieses D d 2 auch auch der Musikus? Es sey, daß er es in Einem Stuͤcke, von der erforderlichen Laͤnge, eben so wohl thun koͤnne; aber in zwey besondern, von einander gaͤnzlich abgesetzten Stuͤcken, muß der Sprung, z. E. aus dem Ruhigen in das Stuͤr- mische, aus dem Zaͤrtlichen in das Grausame, nothwendig sehr merklich seyn, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder ploͤtzliche Uebergang aus einem Aeußersten in das andere, aus der Finsterniß in das Licht, aus der Kaͤlte in die Hitze, zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir in Wehmuth, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider eben den, fuͤr den unsere Seele ganz mit- leidiges Gefuͤhl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie laͤßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Em- pfindungen wahrzunehmen; wir empfinden, wie im Traume; und alle diese unordentliche Em- pfindungen sind mehr abmattend, als ergoͤtzend. Die Poesie hingegen laͤßt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die ploͤtzlichsten Uebergaͤnge nicht allein ertraͤglich, sondern auch angenehm. In der That ist diese Motivirung der ploͤtzli- chen Uebergaͤnge einer der groͤßten Vortheile, den den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergroͤßte. Denn es ist bey weitem nicht so nothwendig, die allgemeinen unbestim̃ten Empfindungen der Mu- sik, z. E. der Freude, durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzu- schraͤnken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als nothwendig es ist, abstechende widerspre- chende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewaͤhren koͤnnen, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, in welchem man nicht allein Mannich- faltiges, sondern auch Uebereinstimmung des Mannichfaltigen bemerke. Nun aber wuͤrde, bey dem doppelten Satze zwischen den Akten ei- nes Schauspiels, diese Verbindung ersten hinten nach kommen; wir wuͤrden es erst hinten nach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in eine ganz entgegen gesetzte uͤberspringen muͤssen: und das ist fuͤr die Musik so gut, als erfuͤhren wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine uͤble Wirkung gethan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir nun einsehen, daß er uns nicht haͤtte beleidigen sollen. Man glaube aber nicht, daß so nach uͤberhaupt alle Symphonien verwerflich seyn muͤßten, weil alle aus mehrern Saͤtzen bestehen, die von einander unterschieden sind, und deren jeder etwas anders D d 3 aus- ausdruͤckt, als der andere. Sie druͤcken etwas anders aus, aber nicht etwas verschiednes; oder vielmehr, sie druͤcken das nehmliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren verschiednen Saͤtzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdruͤckt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in Einer Symphonie muß nur Eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß eben dieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abaͤnderungen, es sey nun nach den Graden ihrer Staͤrke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherley Vermischungen mit an- dern verwandten Leidenschaften, ertoͤnen lassen, und in uns zu erwecken suchen. Die Anfangs- symphonie war vollkommen von dieser Beschaf- fenheit; das Ungestuͤme des ersten Satzes zer- fließt in das Klagende des zweyten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feyerlichen Wuͤrde erhebet. Ein Tonkuͤnstler, der sich in seinen Sym- phonien mehr erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren laͤßt, um sich in einen dritten eben so verschiednen zu werfen; kann viel Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann uͤber- raschen, kann betaͤuben, kann kitzeln, nur ruͤh- ren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen spre- chen, und sympathetische Regungen in ihm er- wecken will, muß eben sowohl Zusammenhang be- beobachten, als wer unsern Verstand zu unter- halten und zu belehren denkt. Ohne Zusammen- hang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Theile, ist die beste Musik ein eitler Sand- haufen, der keines dauerhaften Eindruckes faͤhig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Kuͤnst- lers verewigen kann. Der Satz nach dem ersten Akte sucht also le- diglich die Besorgnisse der Semiramis zu unter- halten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat; Besorgnisse, die noch mit einiger Hofnung ver- mischt sind; ein Andante mesto, bloß mit ge- daͤmpften Violinen und Bratsche. In dem zweyten Akte spielt Assur eine zu wich- tige Rolle, als daß er nicht den Ausdruck der darauf folgenden Musik bestimmen sollte. Eine Allegro assai aus dem G dur, mit Waldhoͤrnern, durch Floͤten und Hoboen, auch den Grundbaß mitspielende Fagotte verstaͤrkt, druckt den durch Zweifel und Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erhohlenden Stolz dieses treu- losen und herrschsuͤchtigen Ministers aus. In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bey Gelegenheit der ersten Vorstel- lung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese Erscheinung auf die Anwesenden machen laͤßt. Aber der Tonkuͤnstler hat sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er hohlt es nach, was was der Dichter unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E moll, mit der nehmlichen Instrumentenbe- setzung des vorhergehenden, nur daß E-Hoͤrner mit G-Hoͤrnern verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und traͤges Erstaunen, sondern die wahre wilde Bestuͤrzung, welche eine dergleichen Erscheinung unter dem Volke verursachen muß. Die Beaͤngstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid; wir betauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherinn wissen. Betauern und Mitleid laͤßt also auch die Musik ertoͤnen; in einem Larghetto aus dem A moll, mit gedaͤmpften Violinen und Bratsche, und einer concertirenden Hoboe. Endlich folget auch auf den fuͤnften Akt nur ein einziger Satz, ein Adagio, aus dem E dur, naͤchst den Violinen und der Bratsche, mit Hoͤrnern, mit verstaͤrkenden Hoboen und Floͤten, und mit Fagotten, die mit dem Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels angemessene, und ins Erhabene gezogene Betruͤbniß, mit einiger Ruͤck- sicht, wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde eben so wuͤrdig als maͤch- tig erhebt. Die Absichten eines Tonkuͤnstlers merken, heißt ihm zugestehen, daß er sie erreicht hat. Sein Werk soll kein Raͤthsel seyn, dessen Deutung eben so muͤhsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwinde- sten in ihm vernimt, das und nichts anders hat er sa- gen wollen; sein Lob waͤchst mit seiner Verstaͤndlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto verdienter je- nes. — Es ist kein Ruhm fuͤr mich, daß ich recht gehoͤrt habe; aber fuͤr den Hrn. Agricola ist es ein so viel groͤs- serer, daß in dieser seine Composition niemand etwas anders gehoͤrt hat, als ich. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Acht und zwanzigstes Stuͤck. Den 4ten August, 1767. D en drey und dreyßigsten Abend (Freytags, den 12ten Junius,) ward die Nanine wiederholt, und den Beschluß machte, der Bauer mit der Erbschaft, aus dem Franzoͤ- sischen des Marivaux. Dieses kleine Stuͤck ist hier Waare fuͤr den Platz, und macht daher allezeit viel Vergnuͤgen. Juͤrge koͤmmt aus der Stadt zuruͤck, wo er einen reichen Bruder begraben lassen, von dem er hun- dert tausend Mark geerbt. Gluͤck aͤndert Stand und Sitten; nun will er leben wie vornehme Leute leben, erhebt seine Lise zur Madame, fin- det geschwind fuͤr seinen Hanns und fuͤr seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende Bothe koͤmmt nach. Der Makler, bey dem die hundert tausend Mark ge- standen, hat Banquerot gemacht, Juͤrge ist wieder nichts wie Juͤrge, Hanns bekoͤmmt den E e Korb, Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluß wuͤrde traurig genug seyn, wenn das Gluͤck mehr nehmen koͤnnte, als es gegeben hat; ge- sund und vergnuͤgt waren sie, gesund und ver- gnuͤgt bleiben sie. Diese Fabel haͤtte jeder erfinden koͤnnen; aber wenige wuͤrden sie so unterhaltend zu machen ge- wußt haben, als Marivaux. Die drolligste Laune, der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire, lassen uns vor Lachen kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache giebt allem eine ganz eigene Wuͤrze. Die Uebersetzung ist von Kriegern, der das franzoͤsische Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu uͤbertragen gewußt hat. Es ist nur Schade, daß verschiedene Stellen hoͤchst fehlerhaft und verstuͤmmelt abgedruckt werden. Einige muͤßten nothwendig in der Vorstellung berichtiget und ergaͤnzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Scene. He, he, he! Giv mie doch fief Schil- link kleen Geld, ik hev niks, as Gullen un Dah- lers. He, he, he! Segge doch, hest du Schrul- len med diene fief Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken? He, he, he, he! Giv mie fief Schil- link kleen Geld, seg ik die. Woto denn, Hans Narr? Juͤrge. Foͤr duͤssen Jungen, de mie mienen Buͤndel op dee Reise bed in unse Doͤrp dragen hed, un ik buͤn ganß licht un sacht hergahn. Buͤst du to Foote hergahn? Ja. Wielt’t veel cummoder is. Da hest du een Maark. Dat is doch noch resuabel. Wo veel maakt’t? So veel is dat. Een Maark hed se mie dahn: da, da is’t. Nehmt’ hen; so is’t richdig. Un du verdeihst fief Schillink an een Jun- gen, de die dat Pak dragen hed? Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven. Sollen die fuͤnf Schilling fuͤr mich, Herr Juͤrge? Ja, mien Fruͤnd! Fuͤnf Schilling? ein reicher Erbe! fuͤnf Schillinge? ein Mann von ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele? O! et kumt mie even darop nich an, jy doͤrft’t man seggen. Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so. Wie ist das? Juͤrge ist zu Fuße gegangen, weil es kommoder ist? Er fordert fuͤnf Schillin- ge, und seine Frau giebt ihm ein Mark, die ihm fuͤnf Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen Schilling hin- schmeissen? warum thut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb ihm ja noch uͤbrig. Ohne das E e 2 Fran- Franzoͤsische wird man sich schwerlich aus dem Hanfe finden. Juͤrge war nicht zu Fuße ge- kommen, sondern mit der Kutsche: und darauf geht sein 〟Wielt’t veel cummoder is.〟 Aber die Kutsche gieng vieleicht bey seinem Dorfe nur vorbey, und von da, wo er abstieg, ließ er sich bis zu seinem Hause das Buͤndel nachtragen. Dafuͤr giebt er dem Jungen die fuͤnf Schillinge; das Mark giebt ihm nicht die Frau, sondern das hat er fuͤr die Kutsche bezahlen muͤssen, und er erzehlt ihr nur, wie geschwind er mit dem Kutscher daruͤber fertig geworden. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n’ons que de grosses piéces. (le contrefaisant) Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec tes cinq sols de monnoye, qu’est-ce que t’en veux faire? Eh! eh! eh! baille moi cinq sols de monnoye, te dis-je. Pourquoi donc, Nicodeme? Pour ce garçong qui apporte mon paquet depis la voiture jusqu’à cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et à mon aise. T’es venu dans la voiture? Oui, parce que cela est plus com- mode. T’a baillé un écu? Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un écu, ce m’a-t-on fait Den Den vier und dreyßigsten Abend (Montags, den 29sten Junius,) ward der Zerstreute des Regnard aufgefuͤhrt Ich glaube schwerlich, daß unsere Großvaͤter den deutschen Titel dieses Stuͤcks verstanden haͤt- ten. Noch Schlegel uͤbersetzte Distrait durch Traͤumer. Zerstreut seyn, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der Analogie des Franzoͤsischen ge- macht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen, nachdem sie einmal ge- macht sind. Man versteht sie nunmehr, und das ist genug. Regnard brachte seinen Zerstreuten im Jahre 1697 aufs Theater; und er fand nicht den ge- ringsten Beyfall. Aber vier und dreyßig Jahr darauf, als ihn die Komoͤdianten wieder vor- suchten, fand er einen so viel groͤßern. Wel- ches Publikum hatte nun Recht? Vielleicht hat- ten sie beyde nicht Unrecht. Jenes strenge Publi- kum verwarf das Stuͤck als eine gute foͤrmliche Komoͤdie, wofuͤr es der Dichter ohne Zweifel E e 3 aus- fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ça. Et tu dépenses cinq sols en porteurs de paquets? Oui, par maniere de recreation. Est-ce pour moi les cinq sols; Monsieur Blaise? Oui, mon ami. \&c. ausgab. Dieses geneigtere nahm es fuͤr nichts mehr auf, als es ist; fuͤr eine Farce, fuͤr ein Possenspiel, das zu lachen machen soll; man lachte, und war dankbar. Jenes Publikum dachte: —— non satis est risu diducere rictum Auditoris —— —— —— und dieses: —— \& est quædam tamen hic quoque virtus. Ausser der Versification, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlaͤßig ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Muͤhe gemacht haben. Den Charakter seiner Hauptperson fand er bey dem La Bruyere voͤllig entworfen. Er hatte nichts zu thun, als die vornehmsten Zuͤge Theils in Handlung zu bringen, Theils erzehlen zu las- sen. Was er von dem Seinigen hinzufuͤgte, will nicht viel sagen. Wider dieses Urtheil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralitaͤt fassen will, desto mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vowurf fuͤr die Komoͤdie seyn. Warum nicht? Zerstreut seyn, sagt man, sey eine Krankheit, ein Ungluͤck; und kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene eben so wenig ausgelacht zu werden, als einer der Kopfschmerzen hat. Die Komoͤdie muͤsse sich nur mit Fehlern abgeben, die sich verbessern las- sen. sen. Wer aber von Natur zerstreut sey, der lasse sich durch Spoͤttereyen eben so wenig bessern, als ein Hinkender. Aber ist es denn wahr, daß die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemuͤhungen nicht abhelfen koͤnnen? Sollte sie wirklich mehr natuͤrliche Verwahrlosung, als uͤble Angewohnheit seyn? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Auf- merksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Ge- walt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksam- keit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Ein- druͤcken zu Folge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betaͤubt, nicht ausser Thaͤtigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwaͤrts thaͤtig. Aber so gut sie dort seyn kann, so gut kann sie auch hier seyn; es ist ihr natuͤrlicher Beruff, bey den sinnlichen Ver- aͤnderungen ihres Koͤrpers gegenwaͤrtig zu seyn; es kostet Muͤhe, sie dieses Beruffs zu entwoͤhnen, und es sollte unmoͤglich seyn, ihr ihn wieder ge- laͤufig zu machen? Doch es sey; die Zerstreuung sey unheilbar: wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Ko- moͤdie nur uͤber moralische Fehler, nur uͤber ver- besserliche Untugenden lachen sollen? Jede Un- ge- gereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realitaͤt, ist laͤcherlich. Aber lachen und ver- lachen ist sehr weit auseinander. Wir koͤnnen uͤber einen Menschen lachen, bey Gelegenheit seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verla- chen. So unstreitig, so bekannt dieser Unter- schied ist, so sind doch alle Chicanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komoͤdie gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht gehoͤrig in Erwaͤgung gezogen. Moliere, sagt er z. E., macht uns uͤber den Misanthropen zu lachen, und doch ist der Mi- santhrop der ehrliche Mann des Stuͤcks; Mo- liere beweiset sich also als einen Feind der Tu- gend, indem er den Tugendhaften veraͤchtlich macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht veraͤchtlich, er bleibt wer er ist, und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste. Der Zer- streute gleichfalls; wir lachen uͤber ihn, aber verachten wir ihn darum? Wir schaͤtzen seine uͤbrige guten Eigenschaften, wie wir sie schaͤtzen sollen; ja ohne sie wuͤrden wir nicht einmal uͤber seine Zerstreuung lachen koͤnnen. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften, nichtswuͤr- digen Manne, und sehe, ob sie noch laͤcherlich seyn wird? Widrig, eckel, haͤßlich wird sie seyn; nicht laͤcherlich. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Neun und zwanzigstes Stuͤck. Den 7ten August, 1767. D ie Komoͤdie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, uͤber die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese laͤcherliche Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Uebung unserer Faͤhigkeit das Laͤcherliche zu bemerken; es unter allen Be- maͤntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feyerlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, daß der Geitzige des Moliere nie einen Geitzigen, der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe; ein- geraͤumet, daß das Lachen diese Thoren gar nicht bessern koͤnne: desto schlimmer fuͤr sie, aber nicht fuͤr die Komoͤdie. Ihr ist genug, wenn sie F f keine keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freygebigen ist der Geitzige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Thorheiten, die sie nicht ha- ben, haben andere, mit welchen sie leben muͤs- sen; es ist ersprießlich, diejenigen zu kennen, mit welchen man in Collision kommen kann; er- sprießlich, sich wieder alle Eindruͤcke des Bey- spiels zu verwahren. Ein Preservatif ist auch eine schaͤtzbare Arzeney; und die ganze Moral hat kein kraͤftigers, wirksamers, als das Laͤ- cherliche. —— Das Raͤthsel, oder, Was den Damen am meisten gefaͤllt, ein Lustspiel in einem Aufzuge von Herr Loͤwen, machte diesen Abend den Be- schluß. Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzeh- lungen und Maͤhrchen geschrieben haͤtten, so wuͤrde das franzoͤsische Theater eine Menge Neuigkeiten haben entbehren muͤssen. Am mei- sten hat sich die komische Oper aus diesen Quel- len bereichert. Des letztern Ce qui plait aux Dames gab den Stoff zu einem mit Arien un- termengten Lustspiele von vier Aufzuͤgen, welches, unter dem Titel La Feé Urgele, von den ita- lienischen Komoͤdianten zu Paris, im December 1765 1765 aufgefuͤhret ward. Herr Loͤwen scheinet nicht sowohl dieses Stuͤck, als die Erzehlung des Voltaire selbst, vor Augen gehabt zu haben. Wenn man bey Beurtheilung einer Bildsaͤule mit auf den Marmorblock zu sehen hat, aus wel- chem sie gemacht worden; wenn die primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen ver- mag, daß dieses oder jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen gerathen: so ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Loͤwen wegen der Einrichtung seines Stuͤcks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem Hexenmaͤhrchen etwas Wahrscheinli- chers, wer da kann! Herr Loͤwen selbst giebt sein Raͤthsel fuͤr nichts anders, als fuͤr eine kleine Platsanterie, die auf dem Theater gefal- len kann, wenn sie gut gespielt wird. Ver- wandlung und Tanz und Gesang concurriren zu dieser Absicht; und es waͤre bloßer Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur duͤnkt mich, daß ein Waffen- traͤger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der irrenden Ritterschaft ein- sieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberey gruͤn- det, und ritterliche Abentheuer als ruͤhmliche Handlungen eines vernuͤnftigen und tapfern Mannes annimmt. Doch, wie gesagt, es ist F f 2 eine eine Plaisanterie; und Plaisanteriern muß man nicht zergliedern wollen. Den fuͤnf und dreyßigsten Abend (Mitte- wochs, den 1sten Julius,) ward, in Gegen- wart Sr. Koͤnigl. Majestaͤt von Daͤnemark, die Rodogune des Peter Corneille aufgefuͤhrt. Corneille bekannte, daß er sich auf dieses Trauerspiel das meiste einbilde, daß er es weit uͤber seinen Cinna und Cid setze, daß seine uͤbrige Stuͤcke wenig Vorzuͤge haͤtten, die in diesem nicht vereint anzutreffen waͤren; ein gluͤcklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ein gruͤndliches Raisonnement, heftige Leiden- schaften, ein von Akt zu Akt immer wachsendes Interesse. — Es ist billig, daß wir uns bey dem Meister- stuͤcke dieses großen Mannes verweilen. Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzehlt Appianus Alexandrinus, gegen das Ende sei- nes Buchs von den syrischen Kriegen. 〟De- metrius, mit dem Zunamen Nicanor, unter- nahm einen Feldzug gegen die Parther, und lebte als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Koͤniges Phraates, mit dessen Schwester Rodogune er sich vermaͤhlte. In- zwi- zwischen bemaͤchtigte sich Diodotus, der den vorigen Koͤnigen gedienet hatte, des syrischen Thrones, und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen Na- men er als Vormund anfangs die Regierung fuͤhrte. Bald aber schafte er den jungen Koͤnig aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf, und gab sich den Namen Tryphon. Als An- tiochus, der Bruder des gefangenen Koͤnigs, das Schicksal desselben, und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs, zu Rhodus, wo er sich aufhielt, hoͤrte, kam er nach Syrien zuruͤck, uͤberwand mit vieler Muͤhe den Tryphon, und ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraates, und foderte die Befreyung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Deme- trius auch wirklich los; aber nichts desto weni- ger kam es zwischen ihm und den Antiochus zum Treffen, in welchem dieser den kuͤrzern zog, und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Deme- trius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret war, ward von seiner Gemahlinn, Cleopatra, aus Haß gegen die Rhodogune, umgebracht; obschon Cleopatra selbst, aus Verdruß uͤber diese Heyrath, sich mit dem nehmlichen Antio- chus, seinem Bruder, vermaͤhlet hatte. Sie hatte von dem Demetrius zwey Soͤhne, wovon sie den aͤltesten, mit Namen Seleucus, der nach F f 3 dem dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, ei- genhaͤndig mit einem Pfeile erschoß; es sey nun, weil sie besorgte, er moͤchte den Tod seines Va- ters an ihr raͤchen, oder weil sie sonst ihre grau- same Gemuͤthsart dazu veranlaßte. Der juͤngste Sohn hieß Antiochus; er folgte seinem Bruder in der Regierung, und zwang seine abscheuliche Mutter, daß sie den Giftbecher, dem sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken mußte.〟 In dieser Erzehlung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es wuͤrde Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen Tryphon, einen Antiochus, einen Demetrius, einen Seleucus, daraus zu machen, als es ihm, eine Rodogune daraus zu erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzuͤglich darinn reitzte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpirten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug raͤchen zu koͤnnen glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, daß so nach sein Stuͤck nicht Rodogune, sondern Cleopatra heis- sen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, daß die Zuhoͤrer diese Koͤniginn von Syrien mit jener beruͤhmten letzten Koͤniginn von Aegypten gleiches Namens verwechseln duͤrften, wollte er lieber von der zweyten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. 〟Ich glaubte mich, sagt er, dieser Freyheit um so so eher bedienen zu koͤnnen, da ich angemerkt hatte, daß die Alten selbst es nicht fuͤr nothwen- dig gehalten, ein Stuͤck eben nach seinem Hel- den zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Theil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z. E. Sophokles eines seiner Trauerspiele die Trachinerinnen genannt, welches man itzi- ger Zeit schwerlich anders, als den sterbenden Herkules nennen wuͤrde.〟 Diese Bemerkung ist an und fuͤr sich sehr richtig; die Alten hielten den Titel fuͤr ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht, daß er den Inhalt angeben muͤsse; genug, wenn dadurch ein Stuͤck von dem andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand hinlaͤnglich. Allein, gleich- wohl glaube ich schwerlich, daß Sophokles das Stuͤck, welches er die Trachinerinnen uͤber- schrieb, wuͤrde haben Deianira nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden Titel zu geben, aber ihm einen verfuͤhrerischen Titel zu geben, einen Titel, der unsere Auf- merksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen moͤchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgniß des Corneille gieng hiernaͤchst zu weit; wer die aͤgyptische Cleopatra kennet, weiß auch, daß Syrien nicht Aegypten ist, weiß, daß mehr Koͤnige und Koͤniginnen einer- einerley Namen gefuͤhrt haben; wer aber jene nicht kennt, kann sie auch mit dieser nicht ver- wechseln. Wenigstens haͤtte Corneille in dem Stuͤck selbst, den Namen Cleopatra nicht so sorg- faͤltig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deut- sche Uebersetzer that daher sehr wohl, daß er sich uͤber diese kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Scribent, am wenigsten ein Dichter, muß seine Leser oder Zuhoͤrer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl manchmal denken: was sie nicht wissen, das moͤgen sie fragen! Ham- Hamburgische Dramaturgie . Dreyßigstes Stuͤck. Den 11ten August, 1767. C leopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschießt den einen von ihren Soͤhnen, und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und eben dieselbe Quelle. Wenigstens laͤßt es sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die einzige Eifersucht ein wuͤthendes Ehe- weib zu einer eben so wuͤthenden Mutter machte. Sich eine zweyte Gemahlinn an die Seite gestel- let zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und die Hoheit ihres Ranges zu theilen, brachte ein empfindliches und stolzes Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, weil er fuͤr Cleopatra nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl faͤllt; aber in ihm faͤllt auch ein Vater, der raͤchende Soͤhne G g hinter- hinterlaͤßt. An diese hatte die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an Ihre Soͤhne gedacht, von deren Ergeben- heit sie versichert sey, oder deren kindlicher Eifer doch, wenn er unter Aeltern waͤhlen muͤßte, ohnfehlbar sich fuͤr den zuerst beleidigten Theil erklaͤren wuͤrde. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward Koͤnig, und der Koͤnig sahe in der Cleopatra nicht die Mutter, sondern die Koͤnigs- moͤrderinn. Sie hatte alles von ihm zu fuͤrch- ten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Her- zen; noch war der treulose Gemahl in seinen Soͤhnen uͤbrig; sie fieng an alles zu hassen, was sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung staͤrkte diesen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidi- gerinn fertiger, als der Beleidigte; sie begieng den zweyten Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie begieng ihn an ihrem Sohne, und beruhigte sich mit der Vorstellung, daß sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, daß sie eigentlich nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvor- komme. Das Schicksal des aͤltern Sohnes waͤre auch das Schicksal des juͤngern geworden; aber dieser war rascher, oder war gluͤcklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbre- chen chen raͤchet das andere; und es koͤmmt bloß auf die Umstaͤnde an, auf welcher Seite wir mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen. Dieser dreyfache Mord wuͤrde nur eine Hand- lung ausmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nehmlichen Leidenschaft der nehmlichen Person haͤtte. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragoͤdie? Fuͤr das Genie fehlt ihr nichts: fuͤr den Stuͤmper, alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht seinen natuͤrlichen Gang. Dieser natuͤrliche Gang reitzet das Genie; und den Stuͤmper schrecket er ab. Das Genie koͤn- nen nur Begebenheiten beschaͤftigen, die in ein- ander gegruͤndet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zuruͤck zu fuͤh- ren, jene gegen diese abzuwaͤgen, uͤberall das Ungefehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, daß es nicht anders ge- schehen koͤnnen: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnuͤtzen Schaͤtze des Gedaͤchtnisses in Nahrun- gen des Geistes zu verwandeln. Der Witz hin- gegen, als der nicht auf das in einander Gegruͤn- dete, sondern nur auf das Aehnliche oder Un- aͤhnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, G g 2 die die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, haͤlt sich bey Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen. Diese mit einander zu verbinden, ihre Faden so durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befrem- dung in die andere gestuͤrzt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Aus der bestaͤn- digen Durchkreutzung solcher Faͤden von ganz verschiednen Farben, entstehet denn eine Contex- tur, die in der Kunst eben das ist, was die We- berey Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder roth, gruͤn oder gelb ist; der beydes ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gauckelputz fuͤr Kin- der. Nun urtheile man, ob der große Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurtheilung weiter nichts, als die An- wendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Ver- wicklung. Cleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht? dachte dachte Corneille: das waͤre ja eine ganz gemeine Frau; nein, meine Cleopatra muß eine Heldinn seyn, die noch wohl ihren Mann gern verlohren haͤtte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr Mann Rodogunen liebt, muß sie nicht so sehr schmerzen, als daß Rodogune Koͤniginn seyn soll, wie sie; das ist weit erhabner. — Ganz recht; weit erhabner und — weit un- natuͤrlicher. Denn einmal ist der Stolz uͤber- haupt ein unnatuͤrlicheres, ein gekuͤnstelteres Laster, als die Eifersucht. Zweytens ist der Stolz eines Weibes noch unnatuͤrlicher, als der Stolz eines Mannes. Die Natur ruͤstete das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewalt- seligkeiten aus; es soll Zaͤrtlichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reitze sollen es maͤchtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herr- schen, und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es geniessen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloß des Herrschens wegen, gefaͤllt, bey der alle Neigungen dem Ehrgeitze unterge- ordnet sind, die keine andere Gluͤckseligkeit ken- net, als zu gebiethen, zu tyrannisiren, und ihren Fuß ganzen Voͤlkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal, auch mehr als einmal, wirklich gewesen seyn, aber sie ist dem ohngeachtet eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig G g 3 das das minder Natuͤrliche. Die Cleopatra des Corneille, die so eine Frau ist, die, ihren Ehr- geitz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit machiavellischen Maximen um sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr tugendhaft und liebenswuͤrdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zaͤrtlichen, eifersuͤchtigen Frau, will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie seyn soll, nur zu heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus uͤberlegtem Ehrgeitze, Frevelthaten veruͤbet, em- poͤrt sich das ganze Herz; und alle Kunst des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an, wie wir ein Monstrum an- staunen; und wenn wir unsere Neugierde gesaͤt- tiget haben, so danken wir dem Himmel, daß sich die Natur nur alle tausend Jahre einmal so verirret, und aͤrgern uns uͤber den Dichter, der uns dergleichen Mißgeschoͤpfe fuͤr Menschen verkaufen will, deren Kenntniß uns ersprieß- lich seyn koͤnnte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter funfzig Frauen, die ihre Maͤnner vom Throne gestuͤrzet und ermordet haben, ist kaum eine, von der man nicht beweisen koͤnnte, daß nur beleidigte Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus bloßem Stolze das Scepter selbst zu fuͤhren, wel- welches ein liebreicher Ehemann fuͤhrte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele, nach- dem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen, haben diese Regierung hernach mit allem maͤnnlichen Stolze verwaltet: das ist wahr. Sie hatten bey ihren kalten, muͤrri- schen, treulosen Gatten alles, was die Unter- wuͤrfigkeit kraͤnkendes hat, zu sehr erfahren, als daß ihnen nachher ihre mit der aͤußersten Gefahr erlangte Unabhaͤngigkeit nicht um so viel schaͤtz- barer haͤtte seyn sollen. Aber sicherlich hat keine das bey sich gedacht und empfunden, was Cor- neille seine Cleopatra selbst von sich sagen laͤßt; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der groͤßte Boͤsewicht weiß sich vor sich selbst zu ent- schuldigen, sucht sich selbst zu uͤberreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster sey, oder daß ihn die unvermeidliche Nothwendigkeit es zu begehen zwinge. Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters, als Lasters ruͤhmet; und der Dichter ist aͤußerst zu tadeln, der aus Begierde etwas Glaͤnzendes und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen laͤßt, als ob seine Grundneigungen auf das Boͤse, als auf das Boͤse, gehen koͤnn- ten. Dergleichen mißgeschilderte Charaktere, der- gleichen schaudernde Tiraden, sind indeß bey kei- keinem Dichter haͤufiger, als bey Corneillen, und es koͤnnte leicht seyn, daß sich zum Theil sein Beyname des Großen mit darauf gruͤnde. Es ist wahr, alles athmet bey ihm Heroismns; aber auch das, was keines faͤhig seyn sollte, und wirklich auch keines faͤhig ist: das Laster. Den Ungeheuern, den Gigantischen haͤtte man ihn nennen sollen; aber nicht den Großen. Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist. Ham- Hamburgische Dramaturgie . Ein und dreyßigstes Stuͤck. Den 14ten August, 1767. I n der Geschichte raͤchet sich Cleopatra blos an ihrem Gemahle; an Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht raͤchen. Bey dem Dichter ist jene Rache laͤngst vorbey; die Ermor- dung des Demetrius wird blos erzehlt, und alle Handlung des Stuͤcks geht auf Rodogunen. Corneille will seine Cleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muß sich noch gar nicht geraͤchet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen raͤchet. Einer Eifersuͤchti- gen ist es allerdings natuͤrlich, daß sie gegen ihre Nebenbuhlerinn noch unversoͤhnlicher ist, als gegen ihren treulosen Gemahl. Aber die Cleo- patra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder gar nicht eifersuͤchtig; sie ist bloß ehrgeitzig; und die Rache einer Ehrgeitzigen sollte nie der Rache einer Eifersuͤchtigen aͤhnlich seyn. Beide Lei- denschaften sind zu sehr unterschieden, als daß H h ihre ihre Wirkungen die nehmlichen seyn koͤnnten. Der Ehrgeitz ist nie ohne eine Art von Edelmuth, und die Rache streitet mit dem Edelmuthe zu sehr, als daß die Rache des Ehrgeitzigen ohne Maaß und Ziel seyn sollte. So lange er seinen Zweck verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht, kaum ist seine Lei- denschaft befriediget, als auch seine Rache kaͤlter und uͤberlegender zu werden anfaͤngt. Er pro- portioniert sie nicht sowohl nach dem erlittenen Nachtheile, als vielmehr nach dem noch zu be- sorgenden. Wer ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergißt er es auch wohl, daß er ihm ge- schadet hat. Wen er nicht zu fuͤrchten hat, den verachtet er; und wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes Laster, das keine andere Befriedi- gung kennet, als das gaͤnzliche Verderben seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie versoͤhnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhoͤret, die nehmliche Beleidigung zu seyn, und immer waͤchset, je laͤnger sie dauert: so kann auch ihr Durst nach Rache nie erloͤschen, die sie spat oder fruͤh, im- mer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der Cleopatra beym Cor- neille; und die Mißhelligkeit, in der diese Rache also mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als als aͤußerst beleidigend seyn. Ihre stolzen Ge- sinnungen, ihr unbaͤndiger Trieb nach Ehre und Unabhaͤngigkeit, lassen sie uns als eine große, erhabne Seele betrachten, die alle unsere Be- wunderung verdienet. Aber ihr tuͤckischer Groll; ihre haͤmische Rachsucht gegen eine Per- son, von der ihr weiter nichts zu befuͤrchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bey dem ge- ringsten Funken von Edelmuthe, vergeben muͤß- te; ihr Leichtsinn, mit dem sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die unsinnigsten so plump und geradehin zumuthet: machen sie uns wiederum so klein, daß wir sie nicht genug verachten zu koͤnnen glauben. End- lich muß diese Verachtung nothwendig jene Be- wunderung aufzehren, und es bleibt in der gan- zen Cleopatra nichts uͤbrig, als ein haͤßliches ab- scheuliches Weib, das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet. Aber nicht genug, daß Cleopatra sich an Ro- dogunen raͤchet: der Dichter will, daß sie es auf eine ganz ausnehmende Weise thun soll. Wie faͤngt er dieses an? Wenn Cleopatra selbst Ro- dogunen aus dem Wege schaft, so ist das Ding viel zu natuͤrlich: denn was ist natuͤrlicher, als seine Feindinn hinzurichten? Gienge es nicht an, daß zugleich eine Liebhaberinn in ihr hinge- richtet wuͤrde? Und daß sie von ihrem Liebhaber H h 2 hin- hingerichtet wuͤrde? Warum nicht? Laßt uns erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius noch nicht voͤllig vermaͤhlet gewesen; laßt uns erdichten, daß nach seinem Tode sich die beiden Soͤhne in die Braut des Vaters verliebt haben; laßt uns erdichten, daß die beiden Soͤhne Zwil- linge sind, daß dem aͤltesten der Thron gehoͤret, daß die Mutter es aber bestaͤndig verborgen ge- halten, welcher von ihnen der aͤlteste sey; laßt uns erdichten, daß sich endlich die Mutter ent- schlossen, dieses Geheimniß zu entdecken, oder vielmehr nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen fuͤr den aͤltesten zu erklaͤren, und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, wel- cher eine gewisse Bedingung eingehen wolle; laßt uns erdichten, daß diese Bedingung der Tod der Rodogune sey. Nun haͤtten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen sind in Rodogu- nen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte umbringen will, der soll regieren. Schoͤn; aber koͤnnten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Koͤnnten wir die guten Prinzen nicht noch in groͤßere Verlegenheit setzen? Wir wollen versuchen. Laßt uns also weiter erdichten, daß Rodogune den Anschlag der Cleo- patra erfaͤhrt; laßt uns weiter erdichten, daß sie zwar einen von den Prinzen vorzuͤglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat, auch sonst keinem Men- Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, daß sie fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch den, welchem der Thron heimfallen duͤrfte, zu ihrem Gemahle zu waͤhlen, daß sie allein den waͤhlen wolle, wel- cher sich ihr am wuͤrdigsten erzeigen werde; Ro- dogune muß geraͤchet seyn wollen, muß an der Mutter der Prinzen geraͤchet seyn wollen; Ro- dogune muß ihnen erklaͤren: wer mich von euch haben will, der ermorde seine Mutter! Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intri- gue! Diese Prinzen sind gut angekommen! Die sollen zu thun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen! Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, er- morde seine Mutter! Es versteht sich, daß es sehr tugendhafte Prinzen seyn muͤssen, die ein- ander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt fuͤr den Teufel von Mamma, und eben so viel Zaͤrtlichkeit fuͤr eine liebaͤugelnde Furie von Gebietherinn haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist die Verwick- lung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, daß es gar nicht moͤglich ist, sie wieder auf- zuwickeln. Der eine geht hin und schlaͤgt die Prinzeßinn todt, um den Thron zu haben: da- mit ist es aus. Oder der andere geht hin und H h 3 schlaͤgt schlaͤgt die Mutter todt, um die Prinzeßinn zu haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin, und schlagen die Geliebte todt, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht auswerden. Oder sie schlagen beide die Mutter todt, und wollen beide das Maͤdchen haben: und so kann es wiederum nicht auswer- den. Aber wenn sie beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere todt schlagen; so stehen sie beide huͤbsch und sperren das Maul auf, und wissen nicht, was sie thun sollen: und das ist eben die Schoͤnheit davon. Freylich wird das Stuͤck dadurch ein sehr sonder- bares Ansehen bekommen, daß die Weiber darinn aͤrger als rasende Maͤnner, und die Maͤnner weibischer als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist dieses ein Vorzug des Stuͤckes mehr; denn das Gegentheil ist so gewoͤhnlich, so abgedroschen! — Doch im Ernste: ich weiß nicht, ob es viel Muͤhe kostet, dergleichen Erdichtungen zu ma- chen; ich habe es nie versucht, ich moͤchte es auch schwerlich jemals versuchen. Aber das weiß ich, daß es einem sehr sauer wird, derglei- chen Erdichtungen zu verdauen. Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur in der Geschichte davon davon zu finden. Diese Bedenklichkeit haͤtte sich Corneille immer ersparen koͤnnen. 〟Viel- leicht, sagt er, duͤrfte man zweifeln, ob sich die Freyheit der Poesie so weit erstrecket, daß sie unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es hier gemacht habe, wo nach der Erzehlung im ersten Akte, welche die Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fuͤnften, nicht das geringste vor- koͤmmt, welches einigen historischen Grund haͤtte. Doch, faͤhrt er fort, mich duͤnkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte beybehal- ten, so sind alle vorlaͤufige Umstaͤnde, alle Ein- leitungen zu diesem Resultate in unserer Ge- walt. Wenigstens wuͤßte ich mich keiner Regel dawider zu erinnern, und die Ausuͤbung der Alten ist voͤllig auf meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die Elektra des Sophokles mit der Elektra des Euripides, und sehe, ob sie mehr mit einander gemein haben, als das bloße Resultat, die letzten Wirkungen in den Begeg- nissen ihrer Heldinn, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm eigenthuͤmliche Mit- tel gelanget, so daß wenigstens eine davon noth- wendig ganz und gar die Erfindung ihres Ver- fassers seyn muß. Oder man werfe nur die Au- gen auf die Iphigenia in Taurika, die uns Ari- stoteles zum Muster einer vollkommenen Tragoͤ- die giebt, und die doch sehr darnach aussieht, daß daß sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, in- dem sie sich bloß auf das Vorgeben gruͤndet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare, auf welchem sie geopfert werden sollte, entruͤckt, und ein Reh an ihrer Stelle unterge- schoben habe. Vornehmlich aber verdient die Helena des Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die Episoden, sowohl der Knoten, als die Aufloͤsung, gaͤnzlich erdichtet sind, und aus der Historie nichts als die Namen haben.〟 Allerdings durfte Corneille mit den histori- schen Umstaͤnden nach Gutduͤnken verfahren. Er durfte, z. E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und Voltaire hat sehr Unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht koͤnne gewesen seyn; sie habe den Demetrius geheyra- thet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenig- stens zwanzig Jahre haben muͤßten, noch in ihrer Kindheit gewesen waͤren. Was geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Deme- trius gar nicht geheyrathet; sie war sehr jung, als sie der Vater heyrathen wollte, und nicht viel aͤlter, als sich die Soͤhne in sie verliebten. Vol- taire ist mit seiner historischen Controlle ganz un- leidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner all- gemeinen Weltgeschichte dafuͤr verificiren wollte! Ham- Hamburgische Dramaturgie . Zwey und dreyßigstes Stuͤck. Den 18ten August, 1767. M it den Beyspielen der Alten haͤtte Cor- neille noch weiter zuruͤck gehen koͤnnen. Viele stellen sich vor, daß die Tragoͤdie in Griechenland wirklich zur Erneuerung des An- denkens großer und sonderbarer Begebenheiten erfunden worden; daß ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die Fußtapfen der Ge- schichte zu treten, und weder zur Rechten noch zur Linken auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis ließ sich um die historische Richtigkeit ganz unbekuͤmmert. Diogenes Laertius Libr. I. §. 59. Es ist wahr, er zog sich daruͤber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, daß Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst verstanden: so laͤßt sich den Fol- gerungen, die man aus seiner Mißbilligung zie- hen J i hen koͤnnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von Seiten des Nutzens, ihrer noch nicht wuͤrdig erzeigen konnte. Thespis ersann, erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und thun, was er wollte: aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich, noch lehrreich zu machen. So- lon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne die geringste Vermuthung von dem Nuͤtz- lichen zu haben. Er eiferte wider ein Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu fuͤhren, leicht von uͤbeln Folgen seyn koͤnnte. Ich fuͤrchte sehr, Solon duͤrfte auch die Er- dichtungen des großen Corneille nichts als lei- dige Luͤgen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen? Machen sie in der Geschich- te, die er damit uͤberladet, das geringste wahr- scheinlicher? Sie sind nicht einmal fuͤr sich selbst wahrscheinlich. Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der Erdich- tungskraft; und er haͤtte doch wohl wissen sol- len, daß nicht das bloße Erdichten, sondern das zweckmaͤßige Erdichten, einen schoͤpfrischen Geist beweise. Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Soͤhne mordet; eine solche That kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich vor, sie in einer Tragoͤdie zu behan- deln. deln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieses ist eben so graͤßlich als ausserordentlich. Es giebt hoͤchstens drey Scenen, und da es von allen naͤhern Um- staͤnden entbloͤßt ist, drey unwahrscheinliche Scenen. — Was thut also der Poet? So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrschein- lichkeit oder die magere Kuͤrze der groͤßere Man- gel seines Stuͤckes scheinen. Ist er in dem erstern Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht seyn, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach wel- cher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen muͤssen. Unzufrieden, ihre Moͤglichkeit blos auf die historische Glaub- wuͤrdigkeit zu gruͤnden, wird er suchen, die Cha- raktere seiner Personen so anzulegen; wird er su- chen, die Vorfaͤlle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so nothwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jedem Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leiden- schaften durch so allmaͤliche Stuffen durchzu- fuͤhren: daß wir uͤberall nichts als den natuͤr- lichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bey jedem Schritte, den er seine Perso- nen thun laͤßt, bekennen muͤssen, wir wuͤrden ihn, in dem nehmlichen Grade der Leidenschaft, J i 2 bey bey der nehmlichen Lage der Sachen, selbst ge- than haben; daß uns nichts dabey befremdet, als die unmerkliche Annaͤherung eines Zieles, von dem unsere Vorstellungen zuruͤckbeben, und an dem wir uns endlich, voll des innigsten Mit- leids gegen die, welche ein so fataler Strom da- hin reißt, und voll Schrecken uͤber das Bewußt- seyn befinden, auch uns koͤnne ein aͤhnlicher Strom dahin reissen, Dinge zu begehen, die wir bey kaltem Gebluͤte noch so weit von uns entfernt zu seyn glauben. — Und schlaͤgt der Dichter diesen Weg ein, sagt ihm sein Genie, daß er darauf nicht schimpflich ermatten wer- de: so ist mit eins auch jene magere Kuͤrze seiner Fabel verschwunden; es bekuͤmmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfaͤl- len fuͤnf Akte fuͤllen wolle; ihm ist nur bange, daß fuͤnf Akte alle den Stoff nicht fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer mehr und mehr vergroͤßert, wenn er ein- mal der verborgnen Organisation desselben auf die Spur gekommen, und sie zu entwickeln ver- stehet. Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstoͤßig seyn, daß er vielmehr eben hierinn das Wunderbare desselben zu zu finden vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern duͤrfe, wenn er sich nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid zu erregen. Denn er weiß so we- nig, worinn eigentlich dieses Schrecken und die- ses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervor zu bringen, nicht sonderbare, unerwartete, un- glaubliche, ungeheure Dinge genug haͤufen zu koͤnnen glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den ausserordentlichsten, graͤßlichsten Ungluͤcksfaͤllen und Frevelthaten, nehmen zu muͤssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Cleopatra, eine Moͤrderinn ihres Gemahls und ihrer Soͤhne, aufgejagt, so sieht er, um eine Tragoͤdie daraus zu machen, weiter nichts dabey zu thun, als die Luͤcken zwi- schen beiden Verbrechen auszufuͤllen, und sie mit Dingen auszufuͤllen, die wenigstens eben so befremdend sind, als diese Verbrechen selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die histori- schen Materialien, knaͤtet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman zusam- men; und wenn er es so gut zusammen geknaͤtet hat, als sich nur immer Hecksel und Mehl zusam- men knaͤten lassen: so bringt er seinen Teig auf das Dratgerippe von Akten und Scenen, laͤßt erzehlen und erzehlen, laͤßt rasen und reimen, — und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter oder saurer ankoͤmmt, ist das J i 3 Wun- Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel, — wird gedruckt und aufgefuͤhrt, — gelesen und angese- hen, — bewundert oder ausgepfiffen, — beybe- halten oder vergessen, — so wie es das liebe Gluͤck will. Denn \& habent sua fata libelli. Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen? Oder brauche ich sie noch lange zu machen? — Nach dem geheimnißvollen Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist seine Rodogune, nun laͤnger als hundert Jahr, als das groͤßte Meisterstuͤck des groͤßten tragi- schen Dichters, von ganz Frankreich, und gele- gentlich mit von ganz Europa, bewundert wor- den. Kann eine hundertjaͤhrige Bewunderung wohl ohne Grund seyn? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre Empfindung gehabt? War es von 1644 bis 1767 allein dem hambur- gischen Dramaturgisten auf behalten, Flecken in der Sonne zu sehen, und ein Gestirn auf ein Meteor herabzusetzen? O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war; und vor langer Weile studierte er die franzoͤsischen Poeten; diesem Huronen wollte die Rodogune gar nicht gefallen. Hernach leb- te, zu Anfange des itzigen Jahrhunderts, ir- gendwo in Italien, ein Pedant, der hatte den Kopf Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute des sechszehnten Seculi voll, und der fand an der Rodogune gleichfals vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn, weil er reich war, und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer armen verlaßnen Enkelinn dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen Augen erziehen, lehrte sie huͤbsche Verse machen, sammelte Allmosen fuͤr sie, schrieb zu ihrer Aus- steuer einen großen eintraͤglichen Commentar uͤber die Werke ihres Großvaters u. s. w.) aber gleichwohl erklaͤrte er die Rodogune fuͤr ein sehr ungereimtes Gedicht, und wollte sich des Todes verwundern, wie ein so großer Mann, als der große Corneille, solch widersinniges Zeug habe schreiben koͤnnen. — Bey einem von diesen ist der Dramaturgist ohnstreitig in die Schule gegan- gen; und aller Wahrscheinlichkeit nach bey dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Fran- zose, der den Auslaͤndern uͤber die Fehler eines Franzosen die Augen eroͤffnet. Diesem ganz gewiß betet er nach; — oder ist es nicht diesem, wenigstens dem Welschen, — wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn daß ein Deutscher selbst daͤchte, von selbst die Kuͤhnheit haͤtte, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden? Ich Ich rede von diesen meinen Vorgaͤngern mehr, bey der naͤchsten Wiederholung der Rodogune. Meine Leser wuͤnschen aus der Stelle zu kom- men; und ich mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Uebersetzung, nach welcher dieses Stuͤck aufgefuͤhret worden. Es war nicht die alte Wolfenbuͤttelsche vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch unge- druckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die beste von dieser Art nicht schaͤ- men, und ist voller starken, gluͤcklichen Stellen. Der Verfasser aber, weiß ich, hat zu viel Ein- sicht und Geschmack, als daß er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte. Corneillen gut zu uͤbersetzen, muß man bessere Verse machen koͤnnen, als er selbst. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Drey und dreyßigstes Stuͤck. Den 21sten August, 1767. D en sechs und dreyßigsten Abend (Freytags, den 3ten Julius,) ward das Lustspiel des Herrn Favart, Solimann der Zweyte, ebenfals in Gegenwart Sr. Koͤnigl. Majestaͤt von Daͤnemark, aufgefuͤhret. Ich mag nicht untersuchen, wie weit es die Geschichte bestaͤtiget, daß Solimann II. sich in eine europaͤischen Sklavinn verliebt habe, die ihn so zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewußt, daß er, wider alle Gewohnheit seines Reichs, sich foͤrmlich mit ihr verbinden und sie zur Kaiserinn erklaͤren muͤssen. Genug, daß Mar- montel hierauf eine von seinen moralischen Er- zehlungen gegruͤndet, in der er aber jene Sklavinn, die eine Italienerinn soll gewesen seyn, zu einer Franzoͤsinn macht; ohne Zweifel, weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, daß irgend eine an- dere Schoͤne, als eine Franzoͤsische, einen so K k selt- seltnen Sieg uͤber einen Großtuͤrken erhalten koͤnnen. Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Er- zehlung des Marmontel sagen soll; nicht, daß sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen Kenntnissen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Laͤcherlichen, ausgefuͤhret, und mit der Eleganz und Anmuth geschrieben waͤre, welche diesem Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst. Aber es soll eine moralische Erzehlung seyn, und ich kann nur nicht finden, wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schluͤpfrig, so anstoͤßig, als eine Erzehlung des La Fontaine oder Grecourt: aber ist sie darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist? Ein Sultan, der in dem Schooße der Wol- luͤste gaͤhnet, dem sie der alltaͤgliche und durch nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und eckel gemacht hat, der seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder gespannet und gereitzet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit, die raffinirteste Zaͤrt- lichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschoͤpft: dieser kranke Wolluͤstling ist der leidende Held in der Erzehlung. Ich sage, der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Suͤßigkeiten den Ma- gen verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas verfaͤllt, was jedem ge- sun- sunden Magen Abscheu erwecken wuͤrde, auf faule Eyer, auf Rattenschwaͤnze und Raupen- pasteten; die schmecken ihm. Die edelste, be- scheidenste Schoͤnheit, mit dem schmachtendsten Auge, groß und blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den Sultan, — bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestaͤti- scher in ihrer Form, blendender von Colorit, bluͤhende Svada auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Toͤne, eine wahre Muse, nur verfuͤhrerischer, wird — genossen, und vergessen. Endlich er- scheinet ein weibliches Ding, fluͤchtig, unbe- dachtsam, wild, witzig bis zur Unverschaͤmtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie wenig Schoͤnheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses Ding, als es den Sul- tan erblickt, faͤllt mit der plumpesten Schmeiche- ley, wie mit der Thuͤre ins Haus: Graces au ciel, voici une figure humaine! — (Eine Schmeicheley, die nicht blos dieser Sultan, auch mancher deutscher Fuͤrst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch plumper, zu hoͤren bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirk- lich enthaͤlt, zu fuͤhlen.) Und so wie dieses Ein- gangscompliment, so das Uebrige — Vous eres beaucoup mieux, qu’il n’appartient K k 2 à à un Turc: vous avez même quelque chose d’un François — En vérité ces Turcs sont plaisans — Je me charge d’apprendre à vivre à ce Turc — Je ne désespére pas d’en faire quelque jour un François. — Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und schilt, es droht und spottet, es liebaͤugelt und mault, bis der Sultau, nicht genug, ihm zu gefallen, dem Serraglio eine neue Gestalt gegeben zu haben, auch Reichsgesetze abaͤndern, und Geistlichkeit und Poͤbel wieder sich aufzubringen Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr eben so gluͤcklich seyn will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem Va- terlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Muͤhe! Marmontel faͤngt seine Erzehlung mit der Be- trachtung an, daß große Staatsveraͤnderungen oft durch sehr geringfuͤgige Kleinigkeiten veran- laßt worden, und laͤßt den Sultan mit der heim- lichen Frage an sich selbst schliessen: wie ist es moͤglich, daß eine kleine aufgestuͤlpte Nase die Gesetze eines Reiches umstossen koͤnnen? Man sollte also fast glauben, daß er blos diese Be- merkung, dieses anscheinende Mißverhaͤltniß zwischen Ursache und Wirkung, durch ein Exem- pel erlaͤutern wollen. Doch diese Lehre waͤre unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst, daß er eine ganz andere und weit weit speciellere dabey zur Absicht gehabt. 〟Ich nahm mir vor, sagt er, die Thorheit derjenigen zu zeigen, welche ein Frauenzimmer durch An- sehen und Gewalt zur Gefaͤlligkeit bringen wol- len; ich waͤhlte also zum Beyspiele einen Sultan und eine Sklavinn, als die zwey Extrema der Herrschaft und Abhaͤngigkeit.〟 Allein Mar- montel muß sicherlich auch diesen seinen Vorsatz waͤhrend der Ausarbeitung vergessen haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den ge- ringsten Versuch einiger Gewaltsamkeit von Seiten des Sultans; er ist gleich bey den ersten Insolenzen, die ihm die galante Franzoͤsinn sagt, der zuruͤckhaltendste, nachgebendste, gefaͤlligste, folgsamste, unterthaͤnigste Mann, la meilleure pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden seyn wuͤrde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in dieser Erzehlung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben bey dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Kaͤfer, wenn er alle Blumen durchschwaͤrmt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen. Doch Moral oder keine Moral; dem drama- tischen Dichter ist es gleich viel, ob sich aus sei- ner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern laͤßt oder nicht; und also war die Erzehlung des Mar- montel darum nichts mehr und nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das that Favart, und sehr gluͤcklich. Ich K k 3 rathe rathe allen, die unter uns das Theater aus aͤhn- lichen Erzehlungen bereichern wollen, die Fa- vartsche Ausfuͤhrung mit dem Marmontelschen Urstoffe zusammen zu halten. Wenn sie die Gabe zu abstrahiren haben, so werden ihnen die geringsten Veraͤnderungen, die dieser gelitten, und zum Theil leiden muͤssen, lehrreich seyn, und ihre Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen Spekulation wohl unentdeckt geblieben waͤre, den noch kein Kritikus zur Regel generalisiret hat, ob er es schon verdiente, und der oͤfters mehr Wahrheit, mehr Leben in ihr Stuͤck bringen wird, als alle die mechanischen Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren Beobach- tung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur ein- zigen Quelle der Vollkommenheit eines Drama machen moͤchten. Ich will nur bey einer von diesen Veraͤnde- rungen stehen bleiben. Aber ich muß vorher das Urtheil anfuͤhren, welches Franzosen selbst uͤber das Stuͤck gefaͤllt haben. Journal Encyclop. Janvier 1762. Anfangs aͤußern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des Marmontels. 〟Solimann der Zweyte, sagen sie, war einer von den groͤßten Fuͤrsten seines Jahrhunderts; die Tuͤrken haben keinen Kaiser, dessen Andenken ihnen theurer waͤre, als dieses Solimanns; seine Siege, seine Talente und Tu- Tugenden, machten ihn selbst bey den Feinden verehrungswuͤrdig, uͤber die er siegte: aber welche kleine, jaͤmmerliche Rolle laͤßt ihn Mar- montel spielen? Roxelane war, nach der Ge- schichte, eine verschlagene, ehrgeitzige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kuͤhnsten, schwaͤr- zesten Streiche faͤhig war, die den Sultan durch ihre Raͤnke und falsche Zaͤrtlichkeit so weit zu bringen wußte, daß er wider sein eigenes Blut wuͤthete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrich- tung eines unschuldigen Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bey dem Marmontel eine kleine naͤrrische Coquette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf voller Wind, doch das Herz mehr gut als boͤse. Sind dergleichen Ver- kleidungen, fragen sie, wohl erlaubt? Darf ein Poet, oder ein Erzehler, wenn man ihn auch noch so viel Freyheit verstattet, diese Freyheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere er- strecken? Wenn er Facta nach seinem Gutduͤn- ken veraͤndern darf, darf er auch eine Lucretia verbuhlt, und einen Sokrates galant schildern?〟 Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich moͤchte die Rechtfertigung des Hrn. Mar- montel nicht uͤbernehmen; ich habe mich vielmehr schon dahin geaͤußert, Oben S. 184. daß die Charaktere dem Dich- ter weit heiliger seyn muͤssen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, inso- fern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen koͤnnen; da hingegen einerley Factum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten laͤßt. Zwey- Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntniß bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umstaͤnden solche Facta her- vor zu bringen pflegen, und hervor bringen muͤssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Serraglio eine europaͤische Skla- vinn gegeben, die sich zur gesetzmaͤßigen Gemahlinn des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Factum. Die Charaktere dieser Sklavinn und dieses Kaisers bestim- men die Art und Weise, wie dieses Factum wirklich ge- worden; und da es durch mehr als eine Art von Cha- rakteren wirklich werden koͤnnen; so steht es freylich bey dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er waͤhlen will; ob die, welche die Historie bestaͤtiget, oder eine andere, so wie der moralischen Absicht, die er mit seiner Erzehlung verbindet, das eine oder das andere gemaͤßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere, als die historischen, oder wohl gar diesen voͤllig entgegen gesetzte waͤhlet, auch der histori- schen Namen enthalten, und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Factum beylegen, als bekann- ten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehret unsere Kenntniß, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren, und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntniß, die wir bereits ha- ben, und ist dadurch unangenehm. Die Facta betrach- ten wir als etwas zufaͤlliges, als etwas, das mehrern Personen gemein seyn kann; die Charaktere hingegen als etwas wesentliches u. eigenthuͤmliches. Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, so lange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht veraͤndern; die geringste Veraͤnderung scheinet uns die Individulitaͤt aufzuheben, und andere Perso- nen unterzuschieben, betruͤgerische Personen, die frem- de Namen usurpiren, und sich fuͤr etwas ausgeben, was sie nicht sind. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Vier und dreyßigstes Stuͤck. Den 25sten August, 1767. A ber dennoch duͤnkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte giebt, als in diesen freywillig ge- waͤhlten Charakteren selbst, es sey von Seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie beste- hen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es ver- goͤnnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrath seines Gedaͤchtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefuͤhl, hervor zu bringen vermag, macht seinen Reichthum aus; Pindarus Olymp. II. str. 5. v. 10. was es gehoͤrt oder gelesen, hat es ent- weder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht wissen, L l wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstoͤßt also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so groͤblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug daruͤber verwundern koͤnnen; wir stehen und staunen und schlagen die Haͤnde zusammen und rufen: 〟Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen koͤnnen! — wie ist es moͤglich, daß ihm nicht beyfiel! — uͤberlegte er denn nicht?〟 O, laßt uns ja schweigen; wir glauben ihn zu de- muͤthigen, und wir machen uns in seinen Augen laͤcherlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset blos, daß wir fleißiger zur Schule ge- gangen, als er; und das hatten wir leider noͤ- thig, wenn wir nicht vollkommne Dummkoͤpfe bleiben wollten. Marmontels Solimann haͤtte daher meinet- wegen immer ein ganz anderer Solimann, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane seyn moͤgen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden haͤtte, daß, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehoͤren koͤnnten; zu einer Welt, deren Zufaͤlligkeiten in einer andern Ord- nung verbunden, aber doch eben so genau ver- bunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der all- gemeinen Wirkung des Guten abzwecken; kurz, zu zu der Welt eines Genies, das — (es sey mir erlaubt, den Schoͤpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschoͤpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das hoͤchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Theile der gegenwaͤrtigen Welt versetzet, ver- tauscht, verringert, vermehret, um sich ein ei- genes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden seyn, daß man ihm auch jenes nicht fuͤr genossen ausgehen laͤßt. Wer uns nicht schadlos halten kann, oder will, muß uns nicht vorsetzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sey nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt. Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet, oder sich schaffet, Ueberein- stimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden. Uebereinstimmung: — Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie muͤssen immer einfoͤrmig, immer sich selbst aͤhnlich bleiben; sie duͤrfen sich itzt staͤrker, itzt schwaͤcher aͤußern, nach dem die Umstaͤnde auf sie wirken; aber keine von diesen Umstaͤnden muͤssen maͤchtig genug seyn koͤnnen, sie von schwarz auf weiß zu aͤndern. L l 2 Ein Ein Tuͤrk und Despot muß, auch wenn er ver- liebt ist, noch Tuͤrk und Despot seyn. Dem Tuͤrken, der nur die sinnliche Liebe kennt, muͤs- sen keine von den Raffinements beyfallen, die eine verwoͤhnte Europaͤische Einbildungskraft damit verbindet. 〟Ich bin dieser liebkosenden 〟Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat 〟nichts anzuͤgliches, nichts schmeichelhaftes; ich 〟will Schwierigkeiten zu uͤberwinden haben, 〟und wenn ich sie uͤberwunden habe, durch neue 〟Schwierigkeiten in Athem erhalten seyn:〟 so kann ein Koͤnig von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal giebt, so koͤmmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entaͤußert sich seines Despotismus selbst, um einer freyern Liebe zu geniessen; aber wird er deßwegen auf einmal der zahme Affe seyn, den eine dreiste Gaucklerinn kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: Solimann war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angele- genheiten seines Serraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeschaͤfte haͤtte treiben sollen. Sehr wohl; aber so haͤtte er auch am Ende wichtige Staatsgeschaͤfte nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten seines Serraglio treiben muͤs- sen. Denn zu einem großen Manne gehoͤrt bei- des: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wich- tige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen laͤßt, freye Herzen, die sich aus blosser Liebe zu seiner Person die Sklaverey gefallen liessen; er haͤtte ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zaͤrtliche Elmire wird von einer wolluͤstigen Delia verdrengt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick uͤber die Hoͤrner wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen muß, ehe er die zweydeutige Gunst geniesset, die bisher immer der Tod seiner Begierden ge- wesen. Wird sie es nicht auch hier seyn? Ich muß lachen uͤber den guten Sultan, und er ver- diente doch mein herzliches Mitleid. Wenn El- mire und Delia, nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzuͤckte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Au- genblicke, fuͤr ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Kroͤnung, noch der Muͤhe werth halten, ihr dieses Opfer gebracht zu ha- ben? Ich fuͤrchte sehr, daß er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Au- gen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frech- heit und ihre aufgestuͤlpte Nase. Mich duͤnkt, ich hoͤre ihn ausrufen: Beym Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt! Ich leugne nicht, daß bey alle den Widerspruͤ- chen, die uns diesen Solimann so armselig und veraͤchtlich machen, er nicht wirklich seyn koͤnnte? L l 3 Es Es giebt Menschen genug, die noch klaͤglichere Widerspruͤche in sich vereinigen. Aber diese koͤnnen auch, eben darum, keine Gegenstaͤnde der poetischen Nachahmung seyn. Sie sind un- ter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es waͤre denn, daß man ihre Widerspruͤche selbst, das Laͤcherliche oder die ungluͤcklichen Folgen der- selben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bey seinem Solimann zu thun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Cha- rakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht. — Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen uͤber geringere Geschoͤpfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Kuͤnstlern unterscheidet, die nur dichten um zu dichten, die nur nachahmen um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnuͤgen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen, und verlangen, daß auch wir uns mit dem eben so geringen Vergnuͤgen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen aber absicht- losen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmun- gen faͤngt das Genie an, zu lernen; es sind seine Voruͤbungen; auch braucht es sie in groͤßern Werken zu Fuͤllungen, zu Ruhepunkten unserer waͤr- waͤrmern Theilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbin- det es weitere und groͤßere Absichten; die Absicht uns zu unterrichten, was wir zu thun oder zu lassen haben; die Absicht uns mit den eigentli- chen Merkmahlen des Guten und Boͤsen, des Anstaͤndigen und Laͤcherlichen bekannt zu machen; die Absicht uns jenes in allen seinen Verbindun- gen und Folgen als schoͤn und als gluͤcklich selbst im Ungluͤcke, dieses hingegen als haͤßlich und ungluͤcklich selbst im Gluͤcke, zu zeigen; die Ab- sicht, bey Vorwuͤrfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung fuͤr uns Statt hat, wenigstens unsere Begeh- rungs- und Verabscheuungskraͤfte mit solchen Gegenstaͤnden zu beschaͤftigen, die es zu seyn verdienen, und diese Gegenstaͤnde jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verfuͤhrt, was wir begehren sollten zu ver- abscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren. Was ist nun von diesen allen in dem Charakter des Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchem ist ge- rade das Gegentheil darinn; ein Paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Eckel und das andere Unwille eigentlich erregen muͤßte, ein stum- pfer Wolluͤstling, eine abgefaͤumte Buhlerinn, wer- den uns mit so verfuͤhrerischen Zuͤgen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu seyn glaubte, glaubte, seiner rechtschaffen und so schoͤnen als gefaͤlli- gen Gattinn uͤberdruͤßig zu seyn, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist. Wenn Fehler, die wir adoptiren, unsere eigene Feh- ler sind, so haben die angefuͤhrten franzoͤsischen Kunst- richter Recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmon- telschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabey noch mehr gesuͤndiget zu ha- ben, als jener. 〟Die Wahrscheinlichkeit, sagen sie, auf die es vielleicht in einer Erzehlung so sehr nicht an- koͤmmt, ist in einem dramatischen Stuͤcke unumgaͤng- lich noͤthig; und diese ist in dem gegenwaͤrtigen auf das aͤußerste verletzet. Der große Solimann spielet eine sehr kleine Rolle, u. es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstal- tet; da ist auch nicht ein Schatten von der unum- schraͤnkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Man haͤtte diese Gewalt wohl lindern koͤnnen; nur ganz vertilgen haͤtte man sie nicht muͤssen. Der Cha- rakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Ueberlegung daruͤber koͤmmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahr- scheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Buͤrger; sie tadelt alle seine Gebraͤuche; sie widerspricht in allen seinem Geschmacke, und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Viel- leicht zwar haͤtte sie das alles sagen koͤnnen; wenn sie es nur mit gemessenern Ansdruͤcken gesagt haͤtte. Aber wer kann es aushalten, den großen Solimann von ei- ner jungen Landstreicherinn so hofmeistern zu hoͤren? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmaͤhten Schnupftuche ist hart; und der mit der weggeworfenen Tabackspfeife ganz uner- traͤglich.〟 Ham- Hamburgische Dramaturgie. Fuͤnf und dreyßigstes Stuͤck. Den 28sten August, 1767. D er letztere Zug, muß man wissen, gehoͤrt dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bey diesem feiner, als bey jenem. Denn beym Favart giebt Roxelane das Tuch, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu goͤnnen, als sich selbst; sie schei- net es zu verschmaͤhen: das ist Beleidigung. Beym Marmontel hingegen laͤßt sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben, und giebt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen Willens ist, und das mit der uneigennuͤtzigsten, gutherzigsten Mine: der Sul- tan kann sich uͤber nichts beschweren, als daß sie seine Gesinnungen so schlecht erraͤth, oder nicht besser errathen will. M m Ohn Ohne Zweifel glaubte Favart durch derglei- chen Ueberladungen das Spiel der Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinen- zen sahe er einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen, beson- ders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, daß seine Roxelane noch un- bedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Muthwillen treibet, so hat er sie dennoch zu ei- nem bessern und edlern Charaktere zu machen gewußt, als wir in Marmontels Roxelane er- kennen. Und wie das? warum das? Eben auf diese Veraͤnderung wollte ich oben S. 262. kommen; und mich duͤnkt, sie ist so gluͤcklich und vortheilhaft, daß sie von den Fran- zosen bemerkt und ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient haͤtte. Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines naͤrrisches, vermessenes Ding, dessen Gluͤck es ist, daß der Sultan Ge- schmack an ihm gefunden, und das die Kunst ver- steht, diesen Geschmack durch Hunger immer gie- riger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedi- gen, als bis sie ihren Zwecke erreicht hat. Hin- ter Favarts Roxelane hingegen steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerinn mehr gespielt zu ha- ben, als zu seyn, durch ihre Dreistigkeiten den Sul- Sultan mehr auf die Probe gestellt, als seine Schwaͤche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den Sultan dahin gebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, daß seine Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve ab- nimmt, und ihm eine Erklaͤrung thut, die zwar ein wenig unvorbereitet koͤmmt, aber ein Licht auf ihre vorige Auffuͤhrung wirft, durch wel- ches wir ganz mit ihr ausgesoͤhnet werden. 〟Nun kenn ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimste Triebfedern, er- forscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den Empfindungen der Ehre offen. So viel Tu- gend entzuͤckt mich! Aber lerne nun auch, mich kennen. Ich liebe dich, Solimann; ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rechte, nimm meine Freyheit zuruͤck; sey mein Sultan, mein Held, mein Gebiether! Ich wuͤrde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen muͤssen. Nein, thue nichts, als was dich dein Gesetz zu thun berechtiget. Es giebt Vorurtheile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht erroͤthen darf; sieh hier in Roxelanen — nichts, als deine un- terthaͤnige Sklavinn. Sultan, j’ai pénetré ton ame; J’en ai demêlé les ressorts. Elle est grande, elle est fiere, \& la gloire l’enflame, Tant 〟 So sagt sie, und M m 2 uns uns wird auf einmal ganz anders; die Coquette verschwindet, und ein liebes, eben so vernuͤnf- tiges als drolligtes Maͤdchen steht vor uns; So- limann hoͤret auf, uns veraͤchtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe wuͤr- dig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fuͤrchten, er moͤchte die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er moͤchte sie bey ihrem Worte fassen, der Liebha- ber moͤchte den Despoten wieder annehmen, so- bald sich die Liebhaberinn in die Sklavinn schickt, eine kalte Danksagung, daß sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritte zuruͤck halten wollen, moͤchte anstatt einer feu- rigen Bestaͤtigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind moͤchte durch ihre Großmuth wieder auf einmal verlieren, was sie durch muth- willige Vermessenheiten so muͤhsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens, und das Stuͤck schließt sich zu unserer voͤlligen Zufriedenheit. Und Tant de vertus excitent mes transports. A ton tour, tu vas me connoitre: Je t’aime, Soliman; mes tu l’as mérité. Reprends tes droits, reprends ma liberté; Sois mon Sultan, mon Heros \& mon Maitre. Tu me soupçonnerois d’injuste vanité. Va, ne fais rien, que ta loi n’autorise; Il est des préjugés qu’on ne doit point trahir, Et je veux un Amant, qui n’ai point à rougir: Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise. Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veraͤnderung? Ist sie blos willkuͤhrlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gat- tung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel seiner Er- zehlung diesen vergnuͤgendern Ausgang? Ist das Gegentheil von dem, was dort eine Schoͤnheit ist, hier ein Fehler? Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der aesopischen Fabel und des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen Erzehlung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollstaͤndige Hand- lung, die fuͤr sich ein wohlgeruͤndetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des Antheils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausfuͤhren laͤßt, ist er unbekuͤmmert, er hat uns nicht interessiren, er hat uns unter- richten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu thun, dieses mag befriediget werden, oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hin- gegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus M m 3 seiner seiner Fabel fließende Lehre, keinen Anspruch; es gehet entweder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Gluͤcksveraͤnderungen seiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermoͤ- gend sind, oder auf das Vergnuͤgen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewaͤhret; und beides erfordert eine gewisse Vollstaͤndigkeit der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bey der moralischen Erzehlung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Beyspiel giebt. Wenn es also wahr ist, daß Marmontel durch seine Erzehlung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie muͤsse durch Nachsicht und Gefaͤlligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er Recht so aufzuhoͤ- ren, wie er aufhoͤrt. Die unbaͤndige Roxe- lane wird durch nichts als Nachgeben gewon- nen; was wir dabey von ihrem und des Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichguͤltig, moͤgen wir sie doch immer fuͤr eine Naͤrrinn und ihn fuͤr nichts bessers halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Folge zu beruhi- gen; es mag uns immer noch so wahrscheinlich seyn, daß den Sultan seine blinde Gefaͤlligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefaͤlligkeit uͤber das Frauen- Frauenzimmer uͤberhaupt vermag; er nahm also eines der wildesten; unbekuͤmmert, ob es eine solche Gefaͤlligkeit werth sey, oder nicht. Allein, als Favart diese Erzehlung auf das Theater bringen wollte, so empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des moralischen Satzes groͤßten Theils verlohren gehe, und daß, wenn sie auch vollkommen er- halten werden koͤnne, das daraus erwachsende Vergnuͤgen doch nicht so groß und lebhaft sey, daß man dabey ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, entbehren koͤnne. Ich meine das Vergnuͤgen, welches uns eben so rein ge- dachte als richtig gezeichnete Charaktere gewaͤh- ren. Nichts beleidiget uns aber, von Seiten dieser, mehr, als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Werth oder Unwerth mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst damit betrogen hat, oder uns wenigstens damit betrie- gen will, indem er das Kleine auf Stelzen he- bet, muthwilligen Thorheiten den Anstrich hei- terer Weisheit giebt, und Laster und Ungereimt- heiten mit allen betriegerischen Reitzen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt ausstaffiret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden, desto strenger verfaͤhrt unsere Ueberlegung; das haͤßliche Gesicht, das wir so schoͤn geschminkt sehen, wird fuͤr noch ein- mal mal so haͤßlich erklaͤrt, als es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu waͤhlen, ob er von uns lieber fuͤr ein Giftmischer oder fuͤr einen Bloͤdsin- nigen will gehalten seyn. So waͤre es dem Fa- vart, so waͤre es seinen Charakteren des Soli- manns und der Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere nicht von Anfang aͤndern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu verderben, die er so voll- kommen nach dem Geschmacke seines Parterrs zu seyn urtheilte, so blieb ihn nichts zu thun uͤbrig, als was er that. Nun freuen wir uns, uns an nichts vergnuͤgt zu haben, was wir nicht auch hochachten koͤnnten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere Neugierde und Besorgniß wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama weit staͤrker ist, als einer bloßen Erzeh- lung, so interessiren uns auch die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnuͤ- gen uns nicht, ihr Schicksal bloß fuͤr den gegen- waͤrtigen Augenblick entschieden zu sehen, son- dern wir wollen uns auf immer desfalls zufrieden gestellet wissen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Sechs und dreyßigstes Stuͤck. Den 1sten September, 1767. S o unstreitig wir aber, ohne die gluͤckliche Wendung, welche Favart am Ende dem Charakter der Roxelane giebt, ihre dar- auf folgende Kroͤnung nicht anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den laͤcherli- chen Triumph einer Serva Padrona, wuͤrden betrachtet haben; so gewiß, ohne sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein klaͤglicher Pim- pinello, und die neue Kaiserinn nichts als eine haͤß- liche, verschmitzte Serbinette gewesen waͤre, von der wir voraus gesehen haͤtten, daß sie nun bald dem armen Sultan, Pimpinello dem Zweyten, noch ganz anders mitspielen werde: so leicht und natuͤrlich duͤnkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir muͤssen uns wundern, daß sie, dem ohngeachtet, so manchem Dichter nicht bey- gefallen, und so manche drollige und dem An- sehen nach wirklich komische Erzehlung, in der N n dra- dramatischen Form daruͤber verungluͤcken muͤs- sen. Zum Exempel, die Matrone von Ephesus. Man kennt dieses beissende Maͤhrchen, und es ist unstreitig die bitterste Satyre, die jemals gegen den weiblichen Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nach erzehlt; und da es selbst in der schlechtesten Copie noch immer gefiel, so glaubte man, daß es ein eben so gluͤcklicher Stoff auch fuͤr das Theater seyn muͤsse. Houdar de la Motte, und andere, mach- ten den Versuch; aber ich berufe mich auf jedes feinere Gefuͤhl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter der Matrone, der in der Erzeh- lung ein nicht unangenehmes hoͤhnisches Laͤcheln uͤber die Vermessenheit der ehelichen Liebe er- weckt, wird in dem Drama eckel und graͤßlich. Wir finden hier die Ueberredungen, deren sich der Soldat gegen sie bedienet, bey weitem nicht so fein und dringend und siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein em- pfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich Ernst ist, das aber den Ver- suchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre Schwaͤche duͤnkt uns die Schwaͤche des gan- zen Geschlechts zu seyn; wir fassen also keinen besondern Haß gegen sie; was sie thut, glauben wir, wuͤrde ungefehr jede Frau gethan haben; selbst ihren Einfall, den lebendigen Liebhaber ver- vermittelst des todten Mannes zu retten, glau- ben wir ihr, des Sinnreichen und der Beson- nenheit wegen, verzeihen zu muͤssen; oder viel- mehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die Vermuthung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zusatz des haͤmischen Erzehlers sey, der sein Maͤhrchen gern mit einer recht giftigen Spitze schliessen wollen. Aber in dem Drama findet diese Vermuthung nicht Statt; was wir dort nur hoͤren, daß es geschehen sey, sehen wir hier wirklich geschehen; woran wir dort noch zweifeln koͤnnen, davon uͤberzeugt uns unser ei- gener Sinn hier zu unwidersprechlich; bey der bloßen Moͤglichkeit ergoͤtzte uns das Sinnreiche der That, bey ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre Schwaͤrze; der Einfall vergnuͤgte unsern Witz, aber die Ausfuͤhrung des Einfalls empoͤrt unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Buͤhne den Ruͤcken, und sagen mit dem Lykas beym Petron, auch ohne uns in dem besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus Impe- rator fuisset, debuit patrisfamiliæ corpus in monimentum referre, mulierem ad- figere cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen, je weniger Kunst der Dichter bey ihrer Verfuͤhrung ange- wendet; denn wir verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib uͤberhaupt, sondern ein vorzuͤglich leichtsinniges, luͤderliches Weibs- N n 2 stuͤck stuͤck insbesondere. — Kurz, die petronische Fa- bel gluͤcklich auf das Theater zu bringen, muͤßte sie den nehmlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; muͤßte die Matrone so weit ge- hen, und auch nicht so weit gehen. — Die Er- klaͤrung hieruͤber anderwaͤrts! Den sieben und dreyßigsten Abend (Sonna- bends, den 4ten Julius,) wurden Nanine und der Advokat Patelin wiederholt. Den acht und dreyßigsten Abend (Dienstags, den 7ten Julius,) ward die Merope des Herrn von Voltaire aufgefuͤhrt. Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der Merope des Maffei; ver- muthlich im Jahr 1737, und vermuthlich zu Cirey, bey seine Urania, der Marquise du Chatelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift davon zu Paris bey dem Pater Bru- moy, der als Jesuit, und als Verfasser des Theatre des Grecs, am geschicktesten war, die besten Vorurtheile dafuͤr einzufloͤssen, und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorur- theilen gemaͤß zu stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern mußte er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr geschmeichelt, von seinem lie- ben Sohne Voltaire uͤber ein Trauerspiel, uͤber eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um um Rath gefragt zu werden, ein Briefchen vol- ler Lobeserhebungen an jenen daruͤber zuruͤck- schrieb, welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur Warnung, je- derzeit dem Stuͤcke selbst vorgedruckt worden. Es wird darinn fuͤr eines von den vollkommen- sten Trauerspielen, fuͤr ein wahres Muster er- klaͤrt, und wir koͤnnen uns nunmehr ganz zu- frieden geben, daß das Stuͤck des Euripides gleichen Inhalts verlohren gegangen; oder viel- mehr, dieses ist nun nicht laͤnger verlohren, Vol- taire hat es uns wieder hergestellt. So sehr hierdurch nun auch Voltaire beru- higet seyn mußte, so schien er sich doch mit der Vorstellung nicht uͤbereilen zu wollen; welche erst im Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von sei- ner staatsklugen Verzoͤgerung auch alle die Fruͤchte, die er sich nur immer davon verspre- chen konnte. Merope fand den ausserordentlich- sten Beyfall, und das Parterr erzeigte dem Dich- ter eine Ehre, von der man noch zur Zeit kein Exempel gehabt hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille sehr vorzuͤglich; sein Stuhl auf dem Theater ward bestaͤndig frey gelassen, wenn der Zulauf auch noch so groß war, und wenn er kam, so stand jedermann auf; eine Distinction, deren in Frank- reich nur die Prinzen vom Gebluͤte gewuͤrdiget werden. Corneille ward im Theater wie in sei- N n 3 nem nem Hause angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als daß ihm die Gaͤste ihre Hoͤflichkeit bezeigen? Aber Voltairen wie- derfuhr noch ganz etwas anders: das Parterr ward begierig den Mann von Angesicht zu ken- nen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende war, verlangte es ihn zu sehen, und rufte, und schrie und lermte, bis der Herr von Voltaire heraustreten, und sich begaffen und beklatschen lassen mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet haͤtte, ob die kindische Neugierde des Publikums, oder die eitele Gefaͤlligkeit des Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dich- ter aussieht? Nicht wie andere Menschen? Und wie schwach muß der Eindruck seyn, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Au- genblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstuͤck, duͤnkt mich, erfuͤllet uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers daruͤber vergessen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern der allgemei- nen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es waͤre Suͤnde in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hy- perbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so uͤber- schwenglich, daß es dem rohern Menschen zu ver- verzeihen, daß es sehr natuͤrlich war, wenn er sich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sey, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlaͤßi- ges von der Person und den Lebensumstaͤnden des Homers wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wol- len es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabey, es zu vergessen, daß Homer, der Schul- meister in Smyrna, Homer, der blinde Bett- ler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzuͤcket. Er bringt uns unter Goͤt- ter und Helden; wir muͤßten in dieser Gesell- schaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thuͤrsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Taͤuschung muß sehr schwach seyn, man muß wenig Natur, aber desto mehr Kuͤnsteley empfinden, wenn man so neugierig nach dem Kuͤnstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde fuͤr einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu kennen, seyn muͤßte: (und was hat er dabey auch wirklich vor dem ersten dem besten Murmelthiere voraus, welches der Poͤbel gese- gesehen zu haben, eben so begierig ist?) so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der franzoͤsischen Dichter dabey befunden zu haben. Denn da das Pariser Parterr sahe, wie leicht ein Vol- taire in diese Falle zu locken sey, wie zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweydeutige Ca- ressen werden koͤnne: so machte es sich dieses Vergnuͤgen oͤftrer, und selten ward nachher ein neues Stuͤck aufgefuͤhrt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervor mußte, und auch ganz gern hervor kam. Von Voltairen bis zum Marmon- tel, und vom Marmontel bis tief herab zum Cor- dier, haben fast alle an diesem Pranger gestan- den. Wie manches Armesuͤndergesichte muß darunter gewesen seyn! Der Posse gieng endlich so weit, daß sich die Ernsthaftern von der Nation selbst daruͤber aͤrgerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kuͤhn genug, das Parterr vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus nicht; sein Stuͤck war mit- telmaͤßig, aber dieses sein Betragen desto braver und ruͤhmlicher. Ich wollte durch mein Bey- spiel einen solchen Uebelstand lieber abgeschaft, als durch zehn Meropen ihn veranlaßt haben. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Sieben und dreyßigstes Stuͤck. Den 4ten September, 1767. I ch habe gesagt, daß Voltairens Merope durch die Merope des Maffei veranlasset worden. Aber veranlasset, sagt wohl zu wenig: denn jene ist ganz aus dieser entstanden; Fabel und Plan und Sitten gehoͤren dem Maffei; Voltaire wuͤrde ohne ihn gar keine, oder doch sicherlich eine ganz andere Merope geschrieben haben. Also, um die Copie des Franzosen richtig zu beurtheilen, muͤssen wir zuvoͤrderst das Original des Italieners kennen lernen; und um das poeti- sche Verdienst des letztern gehoͤrig zu schaͤtzen, muͤssen wir vor allen Dingen einen Blick auf die historischen Facta werfen, auf die er seine Fabel gegruͤndet hat. Maffei selbst fasset diese Facta, in der Zueig- nungsschrift seines Stuͤckes, folgender Gestalt zusammen. 〟Daß, einige Zeit nach der Erobe- O o rung rung von Troja, als die Herakliden, d. i. die Nachkommen des Herkules, sich in Peloponne- sus wieder festgesetzet, dem Kresphont das Mes- senische Gebiete durch das Loos zugefallen; daß die Gemahlinn dieses Kresphonts Merope ge- heissen; daß Kresphont, weil er dem Volke sich allzu guͤnstig erwiesen, von den Maͤchtigern des Staats, mit sammt seinen Soͤhnen umgebracht worden, den juͤngsten ausgenommen, welcher auswaͤrts bey einem Anverwandten seiner Mut- ter erzogen ward; daß dieser juͤngste Sohn, Na- mens Aepytus, als er erwachsen, durch Huͤlfe der Arkader und Dorier, sich des vaͤterlichen Reiches wieder bemaͤchtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Moͤrdern geraͤchet habe: dieses erzehlet Pausanias. Daß, nachdem Kresphont mit seinen zwey Soͤhnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus dem Ge- schlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; daß dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlinn zu werden; daß der dritte Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet Apollodorus. Daß Merope selbst den gefluͤch- teten Sohn unbekannter Weise toͤdten wollen; daß sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, daß der, den sie fuͤr den Moͤrder ihres ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sey; daß der nun erkannte Sohn bey einem Opfer Gele- genheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses meldet Hyginus, bey dem Aepytus aber den Namen Telephontes fuͤhret.〟 Es waͤre zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere Gluͤckswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tra- gicis waͤre genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn erkenne, eben da sie im Begriffe sey, ihn als den vermeinten Moͤrder ihres Sohnes umzu- bringen; und Plutarch, in seiner zweyten Ab- handlung vom Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf eben dieses Stuͤck, Dieses vorausgesetzt, (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann, weil es bey den alten Dichtern nicht gebraͤuchlich, und auch nicht erlaubt war, einander solche eigene Situatio- nen abzustehlen,) wuͤrde sich an der angezoge- nen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden, welches Josua Barnes nicht mitgenommen haͤtte, und ein neuer Heraus- geber des Dichters nutzen koͤnnte. wenn er sich auf die Bewegung beruft, in welcher das ganze Theater gerathe, indem Merope die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, daß der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen koͤnne. O o 2 Aristo- Aristoteles erwaͤhnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber, bey dem Cicero und mehrern Alten, einen Kresphont des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes, als das Werk dieses Dichters ge- meinet haben. Der Pater Tournemine sagt in dem obge- dachten Briefe: 〟Aristoteles, dieser weise Ge- 〟setzgeber des Theaters, hat die Fabel der Me- 〟rope in die erste Klasse der tragischen Fabeln 〟gesetzt ( a mis ce sujet au premier rang 〟des sujets tragiques. ) Euripides hatte sie 〟behandelt, und Aristoteles meldet, daß, so oft 〟der Kresphont des Euripides auf dem Theater 〟des witzigen Athens vorgestellet worden, die- 〟ses an tragische Meisterstuͤcke so gewoͤhnte 〟Volk ganz ausserordentlich sey betroffen, ge- 〟ruͤhrt und entzuͤckt worden.〟 — Huͤbsche Phra- ses, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bey dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt, und bey dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber uͤber dieses verlohnet es der Muͤhe, ein Paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles eben so unrecht verstanden haben. Die Sache verhaͤlt sich, wie folget. Ari- stoteles untersucht, in dem vierzehnten Kapitel seiner Dichtkunst, durch was eigentlich fuͤr Be- geben- gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer- de. Alle Begebenheiten, sagt er, muͤssen ent- weder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichguͤltigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind toͤdtet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausfuͤhrung der That sonst weiter einiges Mitleid, als das all- gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz- lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden ist. Und so ist es auch bey gleichguͤltigen Per- sonen. Folglich muͤssen die tragischen Begeben- heiten sich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru- der muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toͤdten, oder toͤdten wollen, oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln, oder mißhan- deln wollen. Dieses aber kann entweder mit, oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht vollfuͤhrt werden muß: so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absich- ten des Trauerspiels mehr oder weniger entspre- chen. Die erste: wenn die That wissentlich, mit voͤlliger Kenntniß der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn sie wissentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die That unwissend, ohne Kenntniß des Gegenstandes, unternom- O o 3 men men und vollzogen wird, und der Thaͤter die Person, an der er sie vollzogen, zu spaͤt kennen lernet. Die vierte: wenn die unwissend unter- nommene That nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen giebt Aristoteles der letztern den Vor- zug; und da er die Handlung der Merope, in dem Kresphont, davon zum Beyspiele anfuͤhret: so haben Tournemine, und andere, dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels uͤberhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu seyn erklaͤre. Indeß sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß eine gute tragische Fabel sich nicht gluͤcklich, son- dern ungluͤcklich enden muͤsse. Wie kann dieses beides bey einander bestehen? Sie soll sich un- gluͤcklich enden, und gleichwohl laͤuft die Bege- benheit, welche er nach jener Klassification allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, gluͤck- lich ab. Widerspricht sich nicht also der große Kunstrichter offenbar? Victorins, sagt Dacier, sey der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht ver- standen, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel uͤberhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherley Art der Dichter tragische Begeben- heiten heiten behandeln koͤnne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu veraͤndern, und welche von diesen Arten die beste sey. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemnestra durch den Orest, der Inhalt des Stuͤckes seyn sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, nehmlich entweder als eine Begeben- heit der erstern, oder der zweyten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter muͤsse nun uͤber- legen, welcher hier der schicklichste und beste sey. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen muͤsse, und durch den Orest geschehen muͤsse. Nach der zwey- ten, darum nicht: weil sie zu graͤßlich sey. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemnestra dadurch abermals gerettet wuͤrde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klasse uͤbrig. Die dritte! Aber Aristoteles giebt ja der vierten den Vorzug; und nicht blos in einzeln Faͤllen, nach Maasgebung der Umstaͤnde, sondern uͤberhaupt. Der ehrliche Dacier macht es oͤftrer so: Aristoteles behaͤlt bey ihm Recht, nicht weil er Recht hat, son- dern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Bloͤße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben so schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener, in diese zu stossen: so ist es ja doch um die Untruͤglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm, im Grunde, noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Ueberein- stimmung der Geschichte ankoͤmmt, wenn der Dich- ter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gaͤnzlich veraͤndern darf: wird es unter die- sen sen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweyten Plane behandelt werden muͤs- sen? Die Ermordung der Klytemnestra muͤßte ei- gentlich nach dem zweyten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten waͤhlen, weil die- ser tragischer ist, und der Geschichte doch nicht ge- radezu widerspricht. Gut, es sey so: aber z. E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen, als den zweyten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Ge- schichte gleich allgemein bekannt. Was fuͤr eine Rangordnung kann also unter diesen Planen Statt finden? Der in einem Falle der vorzuͤglichste ist, koͤmmt in einem andern gar nicht in Betrachtung. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung, nicht auf historische, sondern auf blos erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordung der Klytemnestra waͤre von dieser letztern Art, und es haͤtte den Dichter frey gestan- den, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne voͤllige Kenntniß vollziehen zu las- sen. Welchen Plan haͤtte er dann waͤhlen muͤssen, um eine so viel als moͤglich vollkommene Tragoͤdie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten; denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschaͤhe es blos aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich gluͤcklich schließt? Aber die besten Tragoͤdien, sagt eben der Aristote- les, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen ertheilet, sind ja die, welche sich ungluͤcklich schliessen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestaͤtiget hat er ihn vielmehr. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Acht und dreyßigstes Stuͤck. Den 8ten September, 1767. I ch bin es auch nicht allein, dem die Ausle- gung des Dacier keine Genuͤge leistet. Unsern deutschen Uebersetzer der Aristote- lischen Dichtkunst, Herrn Curtius. S. 214. hat sie eben so wenig be- friediget. Er traͤgt seine Gruͤnde dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug duͤnken, um seinen Autor lieber gaͤnzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sey. 〟Ich uͤberlasse, schließt er, einer tiefern 〟Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich 〟kann kein Licht zu ihrer Erklaͤrung finden, und 〟scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philo- 〟soph dieses Kapitel nicht mit seiner gewoͤhnli- 〟chen Vorsicht durchgedacht habe.〟 Ich P p Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahr- scheinlich scheinet. Eines offenbaren Wider- spruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bey so einem Manne zu finden glaube, setze ich das groͤßere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Ver- stand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich uͤberlese die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems er- sehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten koͤnnen, was ihm diesen Wider- spruch gewissermaaßen unvermeidlich machen muͤssen, so bin ich uͤberzeugt, daß er nur anschei- nend ist. Denn sonst wuͤrde er dem Verfasser, der seine Materie so oft uͤberdenken muͤssen, ge- wiß am ersten aufgefallen seyn, und nicht mir ungeuͤbterm Leser, der ich ihn zu meinem Unter- richte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge den Faden seiner Gedanken zuruͤck, ponderire ein jedes Wort, und sage mir immer: Aristoteles kann irren, und hat oft ge- irret; aber daß er hier etwas behaupten sollte, wovon er auf der naͤchsten Seite gerade das Ge- gentheil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sichs auch. Doch ohne weitere Umstaͤnde; hier ist die Er- klaͤrung, an welcher Herr Curtius verzweifelt. — Auf Auf die Ehrr einer tiefern Einsicht mache ich des- falls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer groͤßern Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnuͤgen. Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Ge- sinnungen und Ausdruck werden zehnen gera- then, gegen einen, der in jener untadelhaft und vortrefflich ist. Er erklaͤrt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, πϱαξεως und eine Handlung ist ihm eine Verknuͤpfung von Begebenheiten, συνϑεσις πραγματων. Die Handlung ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Theile dieses Ganzen: und so wie die Guͤte eines jeden Ganzen, auf der Guͤte seiner einzeln Theile und deren Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder we- niger vollkommen, nach dem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede fuͤr sich und alle zusammen, den Absichten der Tragoͤdie mehr oder weniger entsprechen. Nun bringt Aristo- teles alle Begebenheiten, welche in der tragi- schen Handlung Statt haben koͤnnen, unter drey Hauptstuͤcke: des Gluͤckswechsels, πεϱιπετειας der Erkennung, ἀναγνωϱισου; und des Lei- P p 2 dens, dens, παϑους. Was er unter den beiden erstern versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles zusammen, was den handelnden Personen verderbliches und schmerzliches wiederfahren kann; Tod, Wun- den, Martern und dergleichen. Jene, der Gluͤckswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte Fabel, μυϑος πε- πλεγμενος, von der einfachen, ἁπλω, unter- scheidet; sie sind also keine wesentliche Stuͤcke der Fabel; sie machen die Handlung nur man- nichfaltiger, und dadurch schoͤner und interes- santer; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre voͤllige Einheit und Rundung und Groͤße haben. Ohne das dritte hingegen laͤßt sich gar keine tragische Handlung denken; Arten des Lei- dens, παϑη, muß jedes Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt seyn; denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Gluͤcks- wechsel, nicht jede Erkennung, sondern nur ge- wisse Arten derselben diese Absicht erreichen, sie in einem hoͤhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr mehr nachtheilig als vortheilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem Gesichts- punkte, die verschiednen unter drey Hauptstuͤcke gebrachten Theile der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet, wel- ches ches der beste Gluͤckswechsel, welches die beste Erkennung, welches die beste Behandlung des Leidens sey: so findet sich in Ansehung des er- stern, daß derjenige Gluͤckswechsel der beste, das ist, der faͤhigste, Schrecken und Mitleid zu erwecken und zu befoͤrdern, sey, welcher aus dem Bessern in das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, daß diejenige Behand- lung des Leidens die beste in dem nehmlichen Ver- stande sey, wenn die Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen, aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt. Und dieses soll sich widersprechen? Ich ver- stehe nicht, wo man die Gedanken haben muß, wenn man hier den geringsten Widerspruch fin- det. Der Philosoph redet von verschiedenen Theilen: warum soll denn das, was er von die- sem Theile behauptet, auch von jenem gelten muͤssen? Ist denn die moͤglichste Vollkommen- heit des einen, nothwendig auch die Vollkom- menheit des andern? Oder ist die Vollkommen- heit eines Theils auch die Vollkommenheit des Ganzen? Wenn der Gluͤckswechsel und das, was Aristoteles unter dem Worte Leiden be- greift, zwey verschiedene Dinge sind, wie sie es sind, warum soll sich nicht ganz etwas Verschie- denes von ihnen sagen lassen? Oder ist es unmoͤg- P p 3 lich, lich, daß ein Ganzes Theile von entgegen gesetz- ten Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristo- teles, daß die beste Tragoͤdie nichts als die Vor- stellung einer Veraͤnderung des Gluͤckes in Un- gluͤck sey? Oder, wo sagt er, daß die beste Tra- goͤdie auf nichts, als auf die Erkennung dessen, hinauslaufen muͤsse, an dem eine grausam wider- natuͤrliche That veruͤbet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der Tragoͤdie uͤberhaupt, sondern jedes von einem besondern Theile derselben, welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der Gluͤckswechsel kann sich mitten in dem Stuͤcke eraͤugnen, und wenn er schon bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so ist z. E. der Gluͤcks- wechsel im Oedip, der sich bereits zum Schlusse des vierten Akts aͤußert, zu dem aber noch man- cherley Leiden (παϑη) hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stuͤck schliesset. Gleichfalls kann das Leiden mitten in dem Stuͤcke zur Voll- ziehung gelangen sollen, und in dem nehmlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so daß durch diese Erkennung das Stuͤck nichts weniger als geendet ist; wie in der zwey- ten Iphigenia des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn auszuopfern im Begriffe ist, erkannt wird. wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ- gischste Gluͤckswechsel mit der tragischsten Be- handlung des Leidens sich in einer und eben der- selben Fabel verbinden lasse, kann man an der Merope selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch die erstere ha- ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu schuͤtzen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte? Warum koͤnnte sich dieses Stuͤck nicht eben so- wohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen schliessen? Warum sollte es einem Dichter nicht frey stehen koͤnnen, um unser Mit- leiden gegen eine so zaͤrtliche Mutter auf das hoͤchste zu treiben, sie durch ihre Zaͤrtlichkeit selbst ungluͤcklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht erlaubt seyn, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen, gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Wuͤrde eine solche Me- rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bey dem Kunstrichter so widersprechend findet? Ich merke wohl, was das Mißverstaͤndniß ver- anlasset haben kann. Man hat sich einen Gluͤcks- wechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne ohne Leiden, und das durch die Erkennung verhin- derte Leiden nicht ohne Gluͤckswechsel denken koͤn- nen. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das andere seyn; nicht zu erwaͤhnen, daß auch nicht bei- des eben die nehmliche Person treffen muß, und wenn es die nehmliche Person trift, daß eben nicht beides sich zu der nehmlichen Zeit eraͤugnen darf, sondern eines auf das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne dieses zu uͤberlegen, hat man nur an solche Faͤlle und Fabeln gedacht, in welchen beide Theile entweder zusammen fliessen, oder der eine den andern nothwendig aus- schließt. Daß es dergleichen giebt, ist unstreitig. Aber ist der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der moͤglichsten Allgemeinheit ab- faßt, ohne sich um die Faͤlle zu bekuͤmmern, in wel- chen seine allgemeinen Regeln in Collision kommen, und eine Vollkommenheit der andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Collision mit sich selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Theil der Fabel, wenn er seine Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit seyn; jener von einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er gesagt, daß jede Fabel diese Theile alle nothwendig haben muͤsse? Genug fuͤr ihn, daß es Fabeln giebt, die sie alle haben koͤnnen. Wenn eure Fabel aus der Zahl dieser gluͤcklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten Gluͤckswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so untersuchet, bey welchem von beiden ihr am besten uͤberhaupt fahren wuͤrdet, und waͤhlet. Das ist es alles! Ham- Hamburgische Dramaturgie. Neun und dreyßigstes Stuͤck. Den 11ten September, 1767. A m Ende zwar mag sich Aristoteles wider- sprochen, oder nicht widersprochen haben; Tournemine mag ihn recht verstanden, oder nicht recht verstanden haben: die Fabel der Merope ist weder in dem einen, noch in dem an- dern Falle, so schlechterdings fuͤr eine vollkom- mene tragische Fabel zu erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er eben sowohl gerade das Gegentheil von ihr, und es muß erst untersucht werden, wo er das groͤs- sere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber, nach meiner Erklaͤrung, nicht widerspro- chen, so gilt das Gute, was er davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von ei- nem einzeln Theile derselben. Vielleicht war der Mißbrauch seines Ansehens bey dem Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jesuiterkniff, um uns mit guter Art zu verstehen zu geben, daß Q q eine eine so vollkommene Fabel von einem so großen Dichter, als Voltaire, bearbeitet, nothwendig ein Meisterstuͤck werden muͤssen. Doch Tournemine und Tournemine — Ich fuͤrchte, meine Leser werden fragen: 〟Wer ist 〟denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen 〟Tournemine.〟 Denn viele duͤrften ihn wirk- lich nicht kennen; und manche duͤrften so fragen, weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montes- quieu. Lettres familières. Sie belieben also, anstatt des Pater Tourne- mine, den Herrn von Voltaire selbst zu substi- tuiren. Denn auch er sucht uns, von dem ver- lohrnen Stuͤcke des Euripides, die nehmlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buͤhne sey. Auch er sagt, daß Aristoteles diesem Coup de Théatre den Vorzug vor allen andern ertheile. Und vom Plutarch versichert er uns gar, daß er dieses Stuͤck des Euripides fuͤr das ruͤhrendste von allen Stuͤcken desselben gehalten habe. Aristote, dans sa Poëtique immortelle, ne balance pas à dire que la reconnoissance de Merope \& de son fils étaient le moment le plus interessant de toute la scène Grec- que. Die- Dieses letztere ist nun gaͤnzlich aus der Luft ge- griffen. Denn Plutarch macht von dem Stuͤcke, aus welchem er die Situation der Merope an- fuͤhrt, nicht einmal den Titel namhaft; er sagt weder wie es heißt, noch wer der Verfasser des- selben sey; geschweige, daß er es fuͤr das ruͤh- rendste von allen Stuͤcken des Euripides erklaͤre. Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, daß die Erkennung der Merope und ihres Soh- nes der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen Buͤhne sey! Welche Ausdruͤcke: nicht anstehen, zu behaupten! Welche Hyper- bel: der interessanteste Augenblick, der ganzen griechischen Buͤhne! Sollte man hieraus nicht schliessen: Aristoteles gehe mit Fleiß alle interes- sante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben koͤnne, durch, vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beyspiele, die er von jedem insbesondere bey allen, oder wenigstens den vornehmsten Dichtern gefunden, unter ein- Q q 2 an- que. Il donnait à ce coup de Théatre la preferance sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si sensible, fremissaient de crainte que le vieillard, qui devait arrêter le bras de Merope, n’ar- rivât pas assez-tot. Cette piéce, qu’on jouait de son tems, \& dont il nous reste tres peu de fragmens, lui paraissait la plus touchante de toutes les tragedies d’Euri- pide \&c. Lettre à Mr. Maffeì. ander ab, und thue endlich so dreist als sicher den Ausspruch fuͤr diesen Augenblick bey dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beyspiele anfuͤhret; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beyspiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand aͤhnliche Beyspiele in der Iphigenia, wo die Schwester den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu vergehen. Das zweyte Beyspiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermuthet, auch die Helle ein Werk die- ses Dichtees gewesen: so waͤre es doch sonder- bar, daß Aristoteles alle drey Beyspiele von ei- ner solchen gluͤcklichen Erkennung gerade bey demjenigen Dichter gefunden haͤtte, der sich der ungluͤcklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht ausschließt; und obschon in der Iphigenia die gluͤckliche Erken- nung auf die ungluͤckliche Peripetie folgt, und das Stuͤck uͤberhaupt also gluͤcklich sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine un- gluͤckliche Peripetie auf die gluͤckliche Erkennung folgte, und sie also voͤllig in der Manier schlos- sen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern ver- diente? Mit Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art moͤglich; ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, laͤßt sich aus den wenigen Fragmenten, die uns von dem Kresphontes uͤbrig sind, nicht schliessen. Sie enthalten nichts als Sittenspruͤche und morali- sche Gesinnungen, von spaͤtern Schriftsteller ge- legentlich angezogen, und werfen nicht das ge- ringste Licht auf die Oekonomie des Stuͤckes. Dasjenige, welches Dacier anfuͤhret, ( Poeti- que d’Aristote, Chap. XV. Rem. 23.) ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bey dem Plutarch in der Abhandlung, Wie man seine Feinde nuͤtzen solle. Aus dem einzigen, bey dem Polybius, welches eine Anrufung an die Goͤttinn des Friedens ist, scheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die Handlung gefallen, die Ruhe in dem Mes- senischen Staate noch nicht wieder hergestellet gewesen; und aus ein Paar andern sollte man fast schliessen, daß die Ermordung des Kresphon- tes und seiner zwey aͤltern Soͤhne, entweder ei- nen Theil der Handlung selbst ausgemacht habe, oder doch nur kurz vorhergegangen sey; welches beides sich mit der Erkennung des juͤngern Soh- nes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Bruͤder zu raͤchen kam, nicht wohl zusammen reimet. Die groͤßte Schwie- rigkeit aber macht mir der Titel selbst. Wenn Q q 3 diese diese Erkennung, wenn diese Rache des juͤngern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen: wie konnte das Stuͤck Kresphontes heissen? Kresphon- tes war der Name des Vaters; der Sohn aber hieß nach einigen Aepytus, und nach andern Telephontes; vielleicht, daß jenes der rechte, und dieses der angenommene Name war, den er in der Fremde fuͤhrte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts sicher zu bleiben. Der Vater muß laͤngst todt seyn, wenn sich der Sohn des vaͤterlichen Reiches wie- der bemaͤchtiget. Hat man jemals gehoͤrt, daß ein Trauerspiel nach einer Person benennet wor- den, die gar nicht darinn vorkoͤmmt? Corneille und Dacier haben sich geschwind uͤber diese Schwierigkeit hinweg zu setzen gewußt, indem sie angenommen, daß der Sohn gleichfalls Kresphont geheissen; Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poet. d’Arist. Une Mere, qui va tuer son fils, comme Merope va tuer Cresphonte \&c. aber mit welcher Wahr- scheinlichkeit? aus welchem Grunde? Wenn es indeß mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich Maffei schmeichelte: so koͤnnen wir den Plan des Kresphontes ziemlich genau wissen. Er glaubte ihn nehmlich bey dem Hyginus, in der hundert und vier und achtzig- sten sten Fabel, gefunden zu haben. — Questa scoperta penso io d’aver fatta, nel leggere la Favola 184 d’Igino, la quale a mio credere altro non è, che l’Ar- gomento di quella Tragedia, in cui si rap- presenta interamente la condotta di essa. Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch’ io feci già in quell’ Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le più di quelle Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di ciò col confrontarne alcune poche con le Trage- die, che ancora abbiamo; e appunto in questi giorni, venuta a mano l’ultima edi- zione d’Igino, mi è stato caro di vedere in un passo addotto, coma fu anche il Reinesio di tal sentimento. Una miniera è però questa di Tragici Argomenti, che se fosse stata nota a’ Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a lor fan- tasia: io la scoprirò loro di buona voglia, perchè rendano col loro ingegno alla no- stra età ciò, che dal tempo invidioso le fu rapito. Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto più di considerazione quell’ Operetta, anche tal qual l’abbiamo, che da gli Eruditi non è stato creduto: e quan- to al discordar tal volta dagli altri Scrit- tori delle favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole costui narrate secondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso conver- tendole, le avean ridotte. Denn er haͤlt die Fabeln des Hyginus uͤberhaupt, groͤßten Theils Theils fuͤr nichts, als fuͤr die Argumente alter Tra- goͤdien, welcher Meinung auch schon vor ihm Rei- nestus gewesen war; und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich neue zu erdichten. Der Rath ist nicht uͤbel, und zu befolgen. Auch hat ihn mancher be- folgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, daß er ihn gegeben. Herr Weiß hat den Stoff zu seineni Thyest aus dieser Grube geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verstaͤndiges Auge. Nur moͤchte es nicht der groͤßte, sondern vielleicht gerade der allerkleinste Theil seyn, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen. Es braucht auch dar- um gar nicht aus den Argumenten der alten Tra- goͤdien zusammen gesetzt zu seyn; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder unmittelbar, geflossen seyn, zu welchen die Tragoͤdienschreiber selbst ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Compilation gemacht, scheinet selbst, die Tragoͤdien als abgeleitete verdorbene Baͤche betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter nichts als die Glaubwuͤr- digkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte, ausdruͤcklich von der alten aͤchtern Tradition ab- sondert. So erzehlt er, z. E. die Fabel von der Ino, und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach dieser, und darauf in einem besondern Abschnitte, nach der Behandlung des Euripides. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Vierzigstes Stuͤck. Den 15ten September, 1767. D amit will ich jedoch nicht sagen, daß, weil uͤber der hundert und vier achtzigsten Fa- bel der Name des Euripides nicht stehe, sie auch nicht aus dem Kresphont desselben koͤnne gezogen seyn. Vielmehr bekenne ich, daß sie wirklich den Gang und die Verwickelung eines Trauerspieles hat; so daß, wenn sie keines ge- wesen ist, sie doch leicht eines werden koͤnnte, und zwar eines, dessen Plan der alten Simpli- citaͤt weit naͤher kaͤme, als alle neuere Meropen. Man urtheile selbst: die Erzehlung des Hygi- nus, die ich oben nur verkuͤrzt angefuͤhrt, ist nach allen ihren Umstaͤnden folgende. Kresphontes war Koͤnig von Messenien, und hatte mit seiner Gemahlinn Merope drey Soͤhne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn er- regte, in welchem er, nebst seinen beiden aͤltesten Soͤhnen, das Leben verlohr. Polyphontes be- maͤchtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche waͤhrend dem Aufruhre R r Ge- Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn, Namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Aetolien in Sicherheit bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gu- tes von ihm gewaͤrtigen, und versprach also dem- jenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege raͤumen wuͤrde. Dieses erfuhr Telephon- tes; und da er sich nunmehr faͤhig fuͤhlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Aetolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephon- tes umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafuͤr ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf, und befahl, ihn so lange in sei- nem Pallaste zu bewirthen, bis er ihn weiter aus- fragen koͤnne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Muͤdigkeit ein- schlief. Indeß kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseiti- gen Bothschaften gebraucht, weinend zu Mero- pen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Aeto- lien weg sey, ohne daß man wisse, wo er hinge- kommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, weßen sich der angekom- mene Fremde ruͤhme, mit einer Axt nach dem Gastzimmer, und haͤtte ihn im Schlafe unfehl- bar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt, und die Mutter an der Frevelthat ver- verhindert haͤtte. Nunmehr machten beide ge- meinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versoͤhnt. Po- lyphontes duͤnkte sich aller seiner Wuͤnsche ge- waͤhret, und wollte den Goͤttern durch ein feyer- liches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, fuͤhrte Te- lephontes den Streich, mit dem er das Opfer- thier faͤllen zu wollen sich stellte, auf den Koͤnig; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines vaͤterlichen Reiches. In der 184sten Fabel des Hyginus, aus wel- cher obige Erzehlung genommen, sind offen- bar Begebenheiten in einander geflossen, die nicht die geringste Verbindung unter sich ha- ben. Sie faͤngt an mit dem Schicksale des Pentheus und der Agave, und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen koͤnnen; es waͤre denn, daß sie sich blos in derjenigen Aus- gabe, welche ich vor mir habe, ( Joannis Schefferi, Hamburgi 1674) befaͤnde. Diese Untersuchung uͤberlasse ich dem, der die Mittel dazu bey der Hand hat. Genug, daß hier, bey mir, die 184ste Fabel mit den Worten, quam Licoterses excepit, aus seyn muß. Das uͤbrige macht entweder eine besondere Fabel, von der die Anfangsworte verlohren gegangen; oder gehoͤret, welches mir das wahrscheinlichste ist, zu der 137sten, so daß, beides mit einander verbunden, ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der R r 2 Auch Auch hatten, schon in dem sechszehnten Jahr- hunderte, zwey italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Ponponio Torelli, den Stoff zu ih- ren Trauerspielen, Kresphont und Merope, aus dieser Fabel des Hyginus genommen, und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Ueberzeugung ohngeachtet, wollte Maffei selbst, sein Werk so wenig zu einer bloßen Di- vination uͤber den Euripides machen, und den verlohrnen Kresphont in seiner Merope wieder aufleben lassen, daß er vielmehr mit Fleiß von ver- der 137sten oder zu der 184sten machen wol- len, folgendermaaßen zusammenlesen wuͤrde. Es versteht sich, daß in der letztern die Wor- te, cum qua Polyphontes, occiso Cres- phonte, regnum occupavit, als eine unnoͤ- thige Wiederholung, mit sammt dem darauf folgenden ejus, welches auch so schon uͤber- fluͤßig ist, wegfallen muͤßte. Merope. Polyphontes, Messeniæ rex, Cresphon- tem Aristomachi filium cum interfecisset, ejus imperium \& Meropem uxorem posse- dit. Filium autem infantem Merope ma- ter, quem ex Cresphonte habebat, abs- conse ad hospitem in Ætoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quærebat, aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem ætatem venit, capit consilium, ut exequa- tur patris \& fratrum mortem. Itaque venit verschiednen Hauptzuͤgen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging, und nur die ein- zige Situation, die ihn vornehmlich darinn ge- ruͤhrt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte. Die Mutter nehmlich, die ihren Sohn so feurig liebte, daß sie sich an dem Moͤrder dessel- ben mit eigner Hand raͤchen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die muͤtterliche Zaͤrtlichkeit uͤberhaupt zu schildern, und mit Ausschliessung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stuͤck zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkom- R r 3 men venit ad regem Polyphontem, aurum pe- titum, dicens se Cresphontis interfecisse filium \& Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in hospitio manere, ut am- plius de eo perquireret. Qui cum per las- situdinem obdormisset, senex qui inter matrem \& filium internuncius erat, flens ad Meropem venit, negans eum apud ho- spitem esse, nec comparere. Merope cre- dens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum cum securi venit, inscia ut filium suum interficeret, quem senex cognovit, \& matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit, oc- casionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum Polyphonte in gra- tiam. Rex lætus cum rem divinam face- ret, hospes falso simulavit se hostiam per- cussisse, eumque interfecit, patriumque regnum adeptus est. men zusprach, ward veraͤndert; welches beson- ders die Umstaͤnde von Meropens zweyter Ver- heyrathung und von des Sohnes auswaͤrtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlinn des Polyphonts seyn; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweyten Mannes uͤberlassen zu haben, in dem sie den Moͤrder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erfor- derte, sich durchaus von allen, welche naͤhere Anspruͤche auf den Thron haben koͤnnten, zu be- freyen. Der Sohn mußte nicht bey einem vor- nehmen Gastfreunde seines vaͤterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemaͤchlichkeit, in der voͤlligen Kenntniß seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen seyn: denn die muͤtterliche Liebe erkaltet natuͤrlicher Weise, wenn sie nicht durch die bestaͤndigen Vorstellungen des Unge- machs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand gerathen kann, ge- reitzet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der ausdruͤcklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu raͤchen; er muß nicht von Me- ropen fuͤr den Moͤrder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafuͤr ausgiebt, son- dern weil eine gewisse Verbindung von Zufaͤllen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bey der ersten muͤndlichen Erklaͤrung aus, und ihr ruͤh- ren- render Kummer, ihre zaͤrtliche Verzweiflung hat nicht freyes Spiel genug. Und diesen Veraͤnderungen zu Folge, kann man sich den Maffeischen Plan ungefehr vorstellen. Polyphon- tes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fuͤhlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Koͤ- niges zugethan, und rechnet auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Mißvergnuͤgten zu beruhigen, faͤllt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er traͤgt ihr seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirkli- chen Liebe. Doch Merope weiset ihn mit diesem Vor- wande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch Dro- hungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Ver- stellung nicht verhelfen koͤnnen. Eben dringt er am schaͤrfesten in sie; als ein Juͤngling vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstraße uͤber einem Morde ergriffen hat. Aegisth, so nañte sich der Juͤngling, hatte nichts gethan, als sein eignes Leben gegen einen Raͤu- ber vertheidiget; sein Ansehen verraͤth so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, daß Merope, die noch ausserdem eine gewisse Falte seines Mundes be- merkt, die ihr Gemahl mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den Koͤnig fuͤr ihn zu bitten; und der Koͤnig be- gnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ih- ren juͤngsten Sohn, den sie einem alten Diener, Na- mens Polydor, gleich nach dem Tode ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eige- nes Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er fuͤr sei- nen Vater haͤlt, heimlich verlassen, um die Welt zu se- hen; aber er ist nirgends wieder aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der Landstraße ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen waͤre? So denkt sie, und wird in ihrer bangen Vermuthung durch verschiedene Umstaͤnde, durch die Bereitwilligkeit des Koͤnigs, den Moͤrder zu begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring Ring bestaͤrket, den man bey dem Aegisth gefunden, u. von dem ihr gesagt wird, daß ihn Aegisth dem Erschla- genen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls, den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhaͤndigen, wenn er erwach- sen, und es Zeit seyn wuͤrde, ihm seinen Stand zu ent- decken. Sogleich laͤßt sie den Juͤngling, fuͤr den sie vor- her selbst gebeten, an eine Saͤule binden, und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstossen. Der Juͤngling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Aeltern; ihm entfaͤhrt der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort sorgfaͤltig zu vermeiden; Merope verlangt hieruͤber Erklaͤrung: indem koͤmmt der Koͤnig dazu, und der Juͤngling wird befreyet. So nahe Merope der Erkennung ihres Irrthums war, so tief verfaͤllt sie wiederum darein zuruͤck, als sie siehet, wie hoͤhnisch der Koͤnig uͤber ihre Verzweiflung trium- phirt. Nun ist Aegisth unfehlbar der Moͤrder ihres Sohnes, u. nichts soll ihn vor ihrer Rache schuͤtzen. Sie erfaͤhrt mit einbrechender Nacht, daß er in dem Vor- saale sey, wo er eingeschlafen, u. koͤm̃t mit einer Axt, ihn den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen, und den schlafen- den Aegisth erkañt hatte, in die Arme faͤllt. Aegisth er- wacht und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeinten Moͤrder ihres Soh- nes. Sie will ihm nach, und wuͤrde ihn leicht durch ihre stuͤrmische Zaͤrtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zuruͤck gehalten haͤtte. Mit fruͤhem Morgen soll ihre Vermaͤhlung mit dem Koͤnige vollzogen werden; sie muß zu dem Altare, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erthei- len. Indeß hat Polydor auch den Aegisth sich keñen ge- lehrt; Aegisth eilet in den Tempel, drenget sich durch das Volk, und — das Uebrige wie bey dem Hyginus. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Ein und vierzigstes Stuͤck. Den 18ten September, 1767. J e schlechter es, zu Anfange dieses Jahrhun- derts, mit dem italienischen Theater uͤber- haupt aussahe, desto groͤßer war der Bey- fall und das Zujauchzen, womit die Merope des Maffei aufgenommen wurde. Cedite Romani scriptores, cedite Graii, Nescio quid majus nascitur Oedipode: schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwey Akte in Rom davon gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Carneval hin- durch, fast kein anderes Stuͤck gespielt, als Me- rope; die ganze Welt wollte die neue Tragoͤdie sehen und wieder sehen; und selbst die Operbuͤh- nen fanden sich daruͤber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechszehn Jahren (von 1714—1730) sind mehr als drey- ßig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. S s Sie Sie ward ins Franzoͤsische, ins Englische, ins Deutsche uͤbersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Uebersetzungen zugleich drucken zu lassen. Ins Franzoͤsische war sie bereits zwey- mal uͤbersetzt, als der Herr von Voltaire sich nochmals daruͤber machen wollte, um sie auch wirklich auf die franzoͤsische Buͤhne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieses durch eine eigent- liche Uebersetzung nicht geschehen koͤnnte, wovon er die Ursachen in dem Schreiben an den Mar- quis, welches er nachher seiner eignen Merope vorsetzte, umstaͤndlich angiebt. 〟Der Ton, sagt er, sey in der italienischen Merope viel zu naif und buͤrgerlich, und der Ge- schmack des franzoͤsischen Parterrs viel zu fein, viel zu verzaͤrtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen koͤnne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zuͤgen der Kunst se- hen; und diese Zuͤge muͤßten zu Paris weit an- ders als zu Verona seyn.〟 Das ganze Schrei- ben ist mit der aͤußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nach- laͤßigkeiten und Maͤngel werden auf die Rech- nung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schoͤnheiten, aber leider nur Schoͤnheiten fuͤr Italien. Gewiß, man kann nicht hoͤflicher kritisiren! Aber die verzweifelte Hoͤflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten da- dabey leidet. Die Hoͤflichkeit macht, daß wir liebenswuͤrdig scheinen, aber nicht groß; und der Franzose will eben so groß, als liebenswuͤr- dig scheinen. Was folgt also auf die galante Zueignungs- schrift des Hrn. von Voltaire? Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei eben so viel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte. Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltai- rische Stil; es ist Schade, daß eine so gute Fe- der nicht mehr geschrieben hat, und uͤbrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sey Voltaire, oder sey wirklich Lindelle: wer einen franzoͤsischen Januskopf sehen will, der vorne auf die einschmeichelndste Weise laͤchelt, und hinten die haͤmischsten Grimassen schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich moͤchte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Hoͤflichkeit bleibet Voltaire disseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungs- sucht schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Je- ner haͤtte freymuͤthiger, und dieser gerechter seyn muͤssen, wenn man nicht auf den Verdacht ge- rathen sollte, daß der nehmliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden Namen wieder ein- bringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen vergeben habe. S s 2 Vol- Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erstern un- ter den Italienern sey, welcher Muth und Kraft genug gehabt, eine Tragoͤdie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und das zaͤrt- lichste Interesse aus der reinsten Tugend ent- springe. Er beklage es, so sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delicatesse seiner Nation ihm nicht erlauben wollen, von den leichtesten natuͤr- lichsten Mitteln, welche die Umstaͤnde zur Ver- wicklung darbieten, von den unstudierten wah- ren Reden, welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Par- terr hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit dem koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem Theater mehr hoͤren will; Je n’ai pu me servir come Mr. Maffei d’un anneau, parce que depuis l’anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela semblerait trop petit sur notre theatre. wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu jedem andern, auch dem aller unschicklichsten Mittel der Erkennung seine Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt, zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbun- den hat. Es hat sehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ein junger Mensch, der sich fuͤr den Sohn Sohn gemeiner Aeltern haͤlt, und in dem Lande auf Abentheuer ganz allein herumschweift, nach- dem er einen Mord veruͤbt, dem ohngeachtet nicht soll fuͤr einen Raͤuber gehalten werden duͤr- fen, weil es voraus sieht, daß er der Held des Stuͤckes werden muͤsse; Je n’oserais hazarder de faire prendre un heros pour un voleur, quoique la circon- stance ou il se trouve autorise cette meprise. wenn es beleidiget wird, daß man einen solchem Menschen keinen kostbarem Ring zutrauen will, da doch kein Faͤhndrich in des Koͤnigs Armee sey, der nicht de belles Nippes besitze. Das Pariser Par- terr, sage ich, hat in diesen und aͤhnlichen Faͤl- len Unrecht: aber warum muß Voltairen auch in andern Faͤllen, wo es gewiß nicht Unrecht hat, dennoch lieber ihm, als dem Maffei Unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die franzoͤsische Hoͤflichkeit gegen Auslaͤnder darinn besteht, daß man ihnen auch in solchen Stuͤcken Recht giebt, wo sie sich schaͤmen muͤßten, Recht zu haben, so weiß ich nicht, was beleidigender und einem freyen Menschen unanstaͤndiger seyn kann, als diese franzoͤsische Hoͤflichkeit. Das Geschwaͤtz, welches Maffei seinem alten Polydor von lusti- gen Hochzeiten, von praͤchtigen Kroͤnungen, de- nen er vor diesen beygewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wenn das Interesse aufs hoͤchste gestiegen und die Einbil- S s 3 dungs- dungskraft der Zuschauer mit ganz andern Din- gen beschaͤftiget ist: dieses Nestorische, aber am unrechten Orte Nestorische, Geschwaͤtz, kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks un- ter verschiedenen cultivirten Voͤlkern, entschul- diget werden; hier muß der Geschmack uͤberall der nehmliche seyn, und der Italiener hat nicht seinen eignen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht eben sowohl dabey gaͤhnet und dar- uͤber unwillig wird, als der Franzose. 〟Sie 〟haben, sagt Voltaire zu dem Marquis, 〟in 〟Ihrer Tragoͤdie jene schoͤne und ruͤhrende Ver- 〟gleichung des Virgils: Qualis populea mœrens Philomela sub umbra Amissos queritur fœtus — — — 〟uͤbersetzen und anbringen duͤrfen. Wenn ich 〟mir so eine Freyheit nehmen wollte, so wuͤrde 〟man mich damit in die Epopee verweisen. Denn 〟Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, 〟dem wir zu gefallen suchen muͤssen; ich meine 〟unser Publikum. Dieses verlangt, daß in 〟der Tragoͤdie uͤberall der Held, und nirgends 〟der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bey 〟kritischen Vorfaͤllen, in Rathsversammlungen, 〟bey einer heftigen Leidenschaft, bey einer drin- 〟genden Gefahr, kein Koͤnig, kein Minister 〟poetische Vergleichungen zu machen pflege.〟 Aber verlangt denn dieses Publikum etwas un- rech- rechtes? meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte nicht jedes Publikum eben dieses verlan- gen? eben dieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire das ganze italienische Publi- kum zu so einem Publiko machen wollen, weil er nicht Freymuͤthigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus zu sagen, daß er hier und an meh- rern Stellen luxurire, und seinen eignen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausfuͤhrliche Gleichnisse uͤberhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden koͤnnen, haͤtte er anmerken sollen, daß jenes Virgilische von dem Maffei aͤußerst gemißbrau- chet worden. Bey dem Virgil vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich ge- schickt; bey dem Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der uͤber das Ungluͤck, wovon es das Bild seyn soll, triumphiret, und muͤßte nach der Gesinnung des Polyphonts, mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wich- tigere, und auf das Ganze noch groͤßern Ein- fluß habende Fehler scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener uͤberhaupt, als einem einzeln Dichter aus ihnen, zur Last zu legen, und duͤnkt sich von der allerfeinsten Le- bensart, wenn er den Maffei damit troͤstet, daß es seine ganze Nation nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation waͤren; daß aber aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Feh- ler waͤren, weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und fuͤr sich gut oder schlecht sey, sondern was die Nation dafuͤr wolle gelten lassen. 〟Wie haͤtte ich es 〟wagen duͤrfen, faͤhrt er mit einem tiefen Buͤcklinge, aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Ta- sche, gegen den Marquis fort, 〟bloße Nebenpersonen 〟so oft mit einander sprechen zu lassen, als Sie gethan 〟haben? Sie dienen bey Ihnen die interessanten Sce- 〟nen zwischen den Hauptpersonen vorzubereiten; es 〟sind die Zugaͤnge zu einem schoͤnen Pallaste; aber 〟unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in 〟diesem Pallaste befinden. Wir muͤssen uns also schon 〟nach dem Geschmacke eines Volks richten, welches 〟sich an Meisterstuͤcken satt gesehen hat, u. also aͤußerst 〟verwoͤhnt ist.〟 Was heißt dieses anders, als: 〟Mein Herr Marquis, Ihr Stuͤck hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnuͤtze Scenen. Aber es sey fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte! Behuͤte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde niemanden etwas unangenehmes un- ter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kal- ten, langweiligen, unnuͤtzen Scenen mit Vorbedacht, mit allem Fleisse gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie ihre Nation braucht. Ich wuͤnschte, daß ich auch so wohlfeil davon kommen koͤnnte; aber leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter seyn muß, um meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr uͤber- sieht〟 — Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen; denn sonst, Desinit in piscem mulier formosa superne: aus der Hoͤflichkeit wird Persifflage, (ich brauche die- ses franzoͤsis. Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen) und aus der Persifflage, dummer Stolz. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Zwey und vierzigstes Stuͤck. Den 22sten September, 1767. E s ist nicht zu leugnen, daß ein guter Theil der Fehler, welche Voltaire als Eigen- thuͤmlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgaͤnger zu entschul- digen scheinet, um sie der italienischen Nation uͤberhaupt zur Last zu legen, daß, sage ich, die- se, und noch mehrere, und noch groͤßere, sich in der Merope des Maffei befinden. Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der beruͤhmtesten Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen fuͤr das eigentliche Genie, welches zur Tragoͤdie erfodert wird, wenig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und Alterthuͤmer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung fuͤr das tragi- sche Genie sind. Er war unter Kirchenvaͤter T t und und Diplomen vergraben, und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaft- liche Veranlassung, seine Merope vor die Hand nahm, und sie in weniger als zwey Monaten zu Stande brachte. Wenn dieser Mann, unter solchen Beschaͤftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstuͤck gemacht haͤtte, so muͤßte er der aus- serordentlichste Kopf gewesen seyn; oder eine Tragoͤdie uͤberhaupt ist ein sehr geringfuͤgiges Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr fuͤr eine Erholung als fuͤr eine Arbeit ansieht, die seiner wuͤrdig waͤre, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und aus- gedrechselter, als gluͤcklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekannten Vorbildern in Buͤchern, als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck zeigt von mehr Phantasie, als Gefuͤhl; der Litterator und der Versificateur laͤßt sich uͤberall spuͤren, aber nur selten das Genie und der Dichter. Als Versificateur laͤuft er den Beschreibun- gen und Gleichnissen zu sehr nach. Er hat ver- schiedene ganz vortreffliche, wahre Gemaͤhlde, die in seinem Munde nicht genug bewundert wer- den koͤnnten; aber in dem Munde seiner Perso- nen unertraͤglich sind, und in die laͤcherlichsten Ungereimtheiten ausarten. So ist es, z. E. zwar sehr schicklich, daß Aegisth seinen Kampf mit mit dem Raͤuber, den er umgebracht, umstaͤnd- lich beschreibet, denn auf diesen Umstaͤnden be- ruhet seine Vertheidigung; daß er aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu haben bekennet, alle, selbst die allerkleinsten, Phaͤnomena mahlet, die den Fall eines schweren Koͤrpers ins Wasser begleiten, wie er hinein schießt, mit welchem Geraͤusche er das Wasser zertheilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie sich die Fluth wieder uͤber ihn zuschließt: Atto I. Sc. III. — — — — — — In core Pero mi venne di lanciar nel fiume Il morto, ò semivivo; e con fatica (Ch’ inutil’ era per riuscire, e vana) L’alzai da terra, e in terra rimaneva Una pozza di sangue: a mezo il ponte Portailo in fretta, di vermiglia striscia Sempre rigando il suol; quinci cadere Col capo in giù il lasciai: piombò, e gran tonfo S’udì nel profondarsi: in alto salse Lo spruzzo, e l’onda sopra lui si chiuse. das wuͤrde man auch nicht einmal einem kalten ge- schwaͤtzigen Advokaten, der fuͤr ihn spraͤche, verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor sei- nem Richter stehet, und sein Leben zu vertheidi- gen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als daß er in seiner Erzehlung so kindisch genau seyn koͤnnte. T t 2 Als Als Litterator hat er zu viel Achtung fuͤr die Simplicitaͤt der alten griechischen Sitten, und fuͤr das Costume bezeigt, mit welchem wir sie bey dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas, ich will nicht sa- gen veredelt, sondern unserm Costume naͤher gebracht werden muß, wenn es der Ruͤhrung im Trauerspiele nicht mehr schaͤdlich, als zutraͤg- lich seyn soll. Auch hat er zugeflissendlich schoͤne Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was fuͤr einer Art von Werken er sie entlehnt, und in was fuͤr eine Art von Werken er sie uͤbertraͤgt. Nestor ist in der Epopee ein gespraͤchiger freundlicher Alte; aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragoͤdie ein alter eckler Saalbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides haͤtte folgen wollen: so wuͤrde uns der Litterator vollends etwas zu lachen gemacht haben. Er haͤtte es sodann fuͤr seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes uͤbrig sind, zu nutzen, und seinem Werke getreulich einzuflechten. Non essendo dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia d’Euripide, non ho cer- cato per consequenza di porre nella mia que’ sentimenti di essa, che son rimasti qua, Wo er also geglaubt haͤtte, daß sie sich hinpaßten, haͤtte er sie als Pfaͤhle aufgerichtet, nach welchen sich der Weg Weg seines Dialogs richten und schlingen muͤs- sen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittenspruͤche, womit man seine Luͤcken fuͤllet, so sind es andere. Dem ohngeachtet moͤchten sich wiederum Stellen finden, wo man wuͤnschen duͤrfte, daß sich der Litterator weniger vergessen haͤtte. Z. E. Nachdem die Erkennung vorgegangen, und Me- rope einsieht, in welcher Gefahr sie zweymal ge- wesen sey, ihren eignen Sohn umzubringen, so laͤßt er die Ismene, voller Erstaunen ausrufen: 〟Welche wunderbare Begebenheit, wunderba- 〟rer, als sie jemals auf einer Buͤhne erdichtet 〟worden!〟 Con così strani avvenimenti uom forse Non vide mai favoleggiar le scene. Maffei hat sich nicht erinnert, daß die Geschichte seines Stuͤcks in eine Zeit faͤllt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem Ho- mer, dessen Gedichte den ersten Saamen des Drama ausstreuten. Ich wuͤrde diese Unacht- samkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede entschuldigen zu muͤssen glaubte, daß er den Namen Messene zu einer Zeit brau- T t 3 che, qua, e là; avendone tradotti cinque versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due verfi Gellio, e alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m’inganna, presso Stobeo. che, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil Homer keiner erwaͤhne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten halten, wie er will: nur verlangt man, daß er sich immer gleich bleibet, und daß er sich nicht einmal uͤber etwas Bedenken macht, woruͤber er ein andermal kuͤhnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, daß er den Anstoß vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen. Ueberhaupt wuͤrden mir die angefuͤhr- ten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dich- ter sollte alles vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier schei- net es zwar, als ob Maffei die Illusion eher noch bestaͤrken wollen, indem er das Theater ausdruͤcklich außer dem Theater annehmen laͤßt; doch die bloßen Worte, Buͤhne und erdichten, sind der Sache schon nachtheilig, und bringen uns geraden Weges dahin, wovon sie uns ab- bringen sollen. Dem komischen Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung Vorstellungen entgegen zu setzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht es des Grades der Taͤuschung nicht, den unser Mitleiden erfor- dert. Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lin- delle dem Maffei mitspielt. Nach seinem Ur- theile theile hat Maffei sich mit dem begnuͤgt, was ihm sein Stoff von selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabey anzuwenden; sein Dialog ist ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Wuͤrde; da ist so viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude des Harlekins zu dulden waͤre; alles wimmelt von Ungereimtheiten und Schulschnitzern. 〟Mit 〟einem Worte, schließt er, das Werk des Maf- 〟fei enthaͤlt einen schoͤnen Stoff, ist aber ein sehr 〟elendes Stuͤck. Alle Welt koͤmmt in Paris 〟darinn uͤberein, daß man die Vorstellung des- 〟selben nicht wuͤrde haben aushalten koͤnnen; 〟und in Italien selbst wird von verstaͤndigen 〟Leuten sehr wenig daraus gemacht. Verge- 〟bens hat der Verfasser auf seinen Reisen die 〟elendesten Schriftsteller in Sold genommen, 〟seine Tragoͤdie zu uͤbersetzen; er konnte leichter 〟einen Uebersetzer bezahlen, als sein Stuͤck ver- 〟bessern.〟 So wie es selten Komplimente giebt, ohne alle Luͤgen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stuͤcken wider den Maffei Recht, und moͤchte er doch hoͤflich oder grob seyn, wenn er sich be- gnuͤgte, ihn blos zu tadeln. Aber er will ihn unter die Fuͤße treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke. Er schaͤmt sich nicht, offenbare Luͤgen zu sagen, au- gen- genscheinliche Verfaͤlschungen zu begehen, um nur ein recht haͤmisches Gelaͤchter aufschlagen zu koͤnnen. Unter drey Streichen, die er thut, geht immer einer in die Luft, und von den an- dern zweyen, die seinen Gegner streifen oder treffen, trift einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterey Platz machen soll, Vol- tairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum Theil gefuͤhlt zu haben, und ist daher nicht saum- selig, in der Antwort an Lindellen, den Maffei in allen den Stuͤcken zu vertheidigen, in welchen er sich zugleich mit vertheidigen zu muͤssen glaubt. Dieser ganzen Correspondenz mit sich selbst, duͤnkt mich, fehlt das interessanteste Stuͤck; die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire haͤtte mittheilen wol- len. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeicheley zu erschleichen hofte? Nahm sich Maffei etwa die Freyheit, ihm hin- wiederum die Eigenthuͤmlichkeiten des franzoͤsi- schen Geschmacks ins Licht zu stellen? ihm zu zeigen, warum die franzoͤsische Merope eben so wenig in Italien, als die italienische in Frank- reich gefallen koͤnne? — Ham- Hamburgische Dramaturgie. Drey und vierzigstes Stuͤck. Den 25sten September, 1767. S o etwas laͤßt sich vermuthen. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuthen, was andere ge- sagt haben koͤnnten. Lindern, vors erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z. E., Aegisth, wenn ihn Merope nun- mehr erstechen wolle, rufe aus: O mein alter Vater! und die Koͤniginn werde durch dieses Wort, alter Vater, so geruͤhret, daß sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermuthung komme, Aegisth koͤnne wohl ihr Sohn seyn. Ist das nicht, setzt er hoͤhnisch hinzu, eine sehr gegruͤndete Vermuthung! Denn freylich ist es ganz etwas sonderbares, daß ein junger Mensch einen alten Vater hat! 〟Maffei, faͤhrt er fort, U u 〟hat 〟hat mit diesem Fehler, diesem Mangel von 〟Kunst und Genie, einen andern Fehler ver- 〟bessern wollen, den er in der erstern Ausgabe 〟seines Stuͤckes begangen hatte. Aegisth rief 〟da: Ach, Polydor, mein Vater! Und dieser 〟Polydor war eben der Mann, dem Merope ih- 〟ren Sohn anvertrauet hatte. Bey dem Na- 〟men Polydor haͤtte die Koͤniginn gar nicht mehr 〟zweifeln muͤssen, daß Aegisth ihr Sohn sey; 〟und das Stuͤck waͤre aus gewesen. Nun ist 〟dieser Fehler zwar weggeschaft; aber seine 〟Stelle hat ein noch weit groͤberer eingenom- 〟men.〟 Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Koͤniginn stutzt blos bey dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das Messeni- sche Gebiete zu setzen. Sie giebt auch ihr Vor- haben darum nicht auf; sie fodert blos naͤhere Erklaͤrung; und ehe sie diese erhalten kann, koͤmmt der Koͤnig dazu. Der Koͤnig laͤßt den Aegisth wieder los binden, und da er die That, weßwegen Aegisth eingebracht worden, billiget und ruͤhmet, und sie als eine wahre Heldenthat zu belohnen verspricht: so muß wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zuruͤckfallen. Kann der ihr Sohn seyn, den Polyphontes eben dar- um belohnen will, weil er ihren Sohn umge- bracht bracht habe? Dieser Schluß muß nothwendig bey ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß sie eines bloßen Namens wegen, den ja wohl mehrere fuͤhren koͤnnen, mit der Vollziehung ihrer Rache gezau- dert habe; Che dubitar? misera, ed io da un nome Trattenere mi lasciai, quasi un tal nome Altri aver non potesse — und die folgenden Aeußerungen des Tyrannen koͤnnen sie nicht anders als in der Meinung vol- lends bestaͤrken, daß er von dem Tode ihres Soh- nes die allerzuverlaͤßigste, gewisseste Nachricht haben muͤsse. Ist denn das also nun so gar ab- geschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich gestehen, daß ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal fuͤr sehr noͤthig halte. Laßt es den Aegisth immerhin sagen, daß sein Vater Poly- dor heisse! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hiesse, und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede, das fuͤr wahr- scheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiß, daß er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der bloßen Uebereinstimmung eines Na- mens schliessen koͤnnte. Freylich, wenn sie wuͤß- U u 2 te, te, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sey der Moͤrder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermuthung gruͤnde: so waͤre es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund zu glauben, daß er seiner Sache werde gewiß seyn. — Es versteht sich, daß ich das, was man zur Noth entschul- digen kann, darum nicht fuͤr schoͤn ausgebe; der Poet haͤtte unstreitig seine Anlage viel feiner machen koͤnnen. Sondern ich will nur sagen, daß auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund han- delt; und daß es gar wohl moͤglich und wahr- scheinlich ist, daß Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren, und bey der ersten Gelegen- heit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen koͤnnen. Woruͤber ich mich also beleidi- get finden moͤchte, waͤre nicht dieses, daß sie zum zweytenmale, ihren Sohn als den Moͤrder ihres Sohnes zu ermorden, koͤmmt: sondern dieses, daß sie zum zweytenmale durch einen gluͤcklichen ungefehren Zufall daran verhindert wird. Ich wuͤrde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gruͤnden der groͤßern Wahrscheinlichkeit sich be- stimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, koͤnnte auch den Gruͤnden der schwaͤchern das Uebergewicht ertheilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freyheit mit mit dem Zufalle nimmt, und mit dem Wunder- baren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall Einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann seyn; wir wollen es um so viel lieber glauben, je mehr uns die Ueberraschung gefaͤllt. Aber daß er zum zweytenmale die nehmliche Uebereilung, auf die nehmliche Weise, verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht aͤhnlich; eben dieselbe Ueber- raschung wiederholt, hoͤrt auf Ueberraschung zu seyn; ihre Einfoͤrmigkeit beleidiget, und wir aͤrgern uns uͤber den Dichter, der zwar eben so abentheurlich, aber nicht eben so mannichfaltig zu seyn weiß, als der Zufall. Von den augenscheinlichen und vorsetzlichen Verfaͤlfchungen des Lindelle, will ich nur zwey anfuͤhren. — 〟Der vierte Akt, sagt er, faͤngt 〟mit einer kalten und unnoͤthigen Scene zwi- 〟schen dem Tyrannen und der Vertrauten der 〟Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, 〟ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth, 〟und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur 〟Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschla- 〟fen waͤre, ihn die Koͤniginn mit aller Gemaͤch- 〟lichkeit umbringen koͤnne. Er schlaͤft auch 〟wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O 〟schoͤn! und die Koͤniginn koͤmmt zum zweyten- 〟male, mit einer Axt in der Hand, um den jun- U u 3 〟gen 〟gen Menschen umzubringen, der ausdruͤcklich 〟deswegen schlaͤft. Diese nehmliche Situation, 〟zweymal wiederholt, verraͤth die aͤußerste Un- 〟fruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen 〟Menschen ist so laͤcherlich, daß in der Welt 〟nichts laͤcherlicher seyn kann.〟 Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu die- sem Schlafe beredet? Das luͤgt Lindelle. Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle sagt; ensuite cette sui- vante rencontre le jeune Egiste, je ne sais comment, \& lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand il sera endormi, la reine puisse le tuer tout à son aise: sondern auch der Hr. von Voltaire selbst: la confidente de Mérope engage le jeune Egiste à dormir sur la scene, afin de donner le tems à la reine de venir l’y assas siner. Was aus dieser Uebereinstimmung zu schliessen ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Luͤgner mit sich selbst uͤberein; und wenn zwey Luͤgner mit einander uͤbereinstim- men, so ist es gewiß abgeredete Karte. Aegisth trift die Vertraute an, und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Koͤniginn so ergrimmt auf ihn sey. Die Ver- traute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschaͤfte rufe sie itzt wo an- ders hin; er solle einen Augenblick hier verzie- hen; sie wolle gleich wieder bey ihm seyn. Al- lerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Koͤ- Koͤniginn in die Haͤnde zu liefern; sie beredet ihn zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und Aegisth, welcher, seinem Versprechen nach, bleibet, schlaͤft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schlaͤft, weil er muͤde ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen koͤnnen, als hier. Atto IV. Sc. II. Egi. Mà di tanto furor, di tanto affanno Qual’ ebbe mai cagion? — —. Ism. Il tutto Scoprirti io non ricuso; mà egli è d’uopo Che qui t’arresti per brev’ ora: urgente Cura or mi chiama altrove. Egi. Io volontieri T’attendo quanto vuoi. Ism. Mà non partire E non for sì, ch’ iò quà ritorni indarno. Egi. Mia fè dò in pegno; e dove gir do- vrei? — — Die zweyte Luͤge des Lindelle ist von eben dem Schlage. 〟Merope, sagt er, nachdem sie der alte Poly- 〟dor an der Ermordung ihres Sohnes verhin- 〟dert, fragt ihn, was fuͤr eine Belohnung er 〟dafuͤr verlange; und der alte Narr bittet sie, 〟ihn zu verjuͤngen.〟 Bittet sie, ihn zu ver- juͤngen? 〟Die Belohnung meines Dienstes, antwortet der Alte, ist dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnuͤgt sehe. Was koͤnn- test du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines moͤchte ich mir wuͤn- schen; aber das stehet weder in deiner, noch in irgend irgend eines Sterblichen Gewalt, mir zu ge- waͤhren; daß mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert wuͤrde, u. s. w.〟 Atto IV. Sc. VII. Mer. Ma quale, ô mio fedel, qual potro io Darti già mai mercè, che i merti agguagli? Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora M’è, il vederti contenta, ampia mercede. Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro Sol mi saria ciò, ch’ altridar non puoto. Che scemato mi fosse il grave incarco De gli anni, che mi stà sù’l capo, e à terra Il curva, e preme si, che parmi un monte — Heißt das: erleichtere Du mir diese Last? gieb Du mir Staͤrke und Jugend wieder? Ich will gar nicht fagen, daß eine solche Klage uͤber die Ungemaͤchlichkeiten des Alters hier an dem schick- lichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit, Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter, im eigentlich- sten Verstande wahnwitzig seyn, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anluͤgt. — Anluͤgt! Luͤgen! Ver- dienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Wor- te? — Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wich- tig genug war, darum zu luͤgen, soll das einem dritten nicht wichtig genug seyn, ihm zu sagen, daß er gelogen hat? — Ham- Hamburgische Dramaturgie. Vier und vierzigstes Stuͤck. Den 29sten September, 1767. I ch komme auf den Tadel des Lindelle, wel- cher den Voltaire so gut als den Maffei trift, dem er doch nur allein zugedacht war. Ich uͤbergehe die beiden Punkte, bey welchen es Voltaire selbst fuͤhlte, daß der Wurf auf ihn zuruͤckpralle. — Lindelle hatte gesagt, daß es sehr schwache und unedle Merkmale waͤren, aus welchen Merope bey dem Maffei schliesse, daß Aegisth der Moͤrder ihres Sohnes sey. Vol- taire antwortet: 〟Ich kann es Ihnen nicht ber- 〟gen; ich finde, daß Maffei es viel kuͤnstlicher 〟angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu 〟machen, daß ihr Sohn der Moͤrder ihres Soh- 〟nes sey. Er konnte sich eines Ringes dazu be- 〟dienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem 〟koͤniglichen Ringe, uͤber den Boileau in seinen 〟Satyren spottet, wuͤrde das auf unserm Thea- 〟ter sehr klein scheinen.〟 Aber mußte denn X x Vol- Voltaire eben eine alte Ruͤstung anstatt des Rin- ges waͤhlen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Ruͤstung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen waͤre, sich keine neue Ruͤstung kaufen duͤrfe, und sich mit der alten seines Vaters behelfen koͤnne? Der vor- sichtige Alte! Ließ er sich nicht auch ein Paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah es, damit Aegisth einmal an dieser Ruͤ- stung erkannt werden koͤnne? So eine Ruͤstung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Fa- milienruͤstung, die Vulkan selbst dem Großgroß- vater gemacht hatte? Eine undurchdringliche Ruͤstung? Oder wenigstens mit schoͤnen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sie Euri- kles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist: so mußte sie der Alte freylich mitnehmen; und der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu seyn, daß er unter den blutigen Verwirrungen, bey welchen ein anderer nur an das Kind gedacht haͤtte, auch zugleich an eine so nuͤtzliche Moͤbel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so mußte er doch nicht auch die Ruͤstung seines Vaters verlieren, in der er jenes wieder erobern konnte. — Zweytens hatte sich Lindelle uͤber den Polyphont des Maffei aufge- halten, der die Merope mit aller Gewalt hey- rathen rathen will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: 〟Weder Maffei, noch ich, haben die Ursachen 〟dringend genug gemacht, warum Polyphont 〟durchaus Meropen zu seiner Gemahlinn ver- 〟langt. Das ist vielleicht ein Fehler des Stof- 〟fes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen sol- 〟chen Fehler fuͤr sehr gering halte, wenn das 〟Interesse, welches er hervor bringt, betraͤcht- 〟lich ist.〟 Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff veraͤndert. Was brauchte Voltaire diese Veraͤnderung anzunehmen, wenn er seinen Vortheil nicht dabey sahe? — Der Punkte sind mehrere, bey welchen Vol- taire eine aͤhnliche Ruͤcksicht auf sich selbst haͤtte nehmen koͤnnen: aber welcher Vater sieht alle Fehler seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharf- sichtiger zu seyn, als der Vater; genug, daß er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich waͤre die- ser Fremde! Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er seine Scenen oft nicht verbinde, daß er das Theater oft leer lasse, daß seine Personen oft ohne Ursache auftraͤten und abgiengen; alles wesentliche Feh- ler, die man heut zu Tage auch dem armselig- sten Poeten nicht mehr verzeihe. — Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der X x 2 fran- franzoͤsischen Kunstrichter uͤberhaupt; die muß ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch seyn moͤgen; wol- len wir es Lindellen auf sein Wort glauben, daß sie bey den Dichtern seines Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der groͤßten Regelmaͤßigkeit ruͤhmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln eine solche Ausdeh- nung geben, daß es sich kaum mehr der Muͤhe verlohnet, sie als Regeln vorzutragen, oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beobach- ten, daß es weit mehr beleidiget, sie so beobach- tet zu sehen, als gar nicht. Dieses war, zum Theil, schon das Urtheil unsers Schlegels. 〟Die Wahrheit zu geste- 〟hen, sagt er in seinen Gedanken zur Aufnah- me des daͤnischen Theaters, 〟beobachten die 〟Englaͤnder, die sich keiner Einheit des Ortes 〟ruͤhmen, dieselbe großentheils viel besser, 〟als die Franzosen, die sich damit viel wissen, 〟daß sie die Regeln des Aristoteles so genau 〟beobachten. Darauf koͤmmt gerade am al- 〟lerwenigsten an, daß das Gemaͤhlde der Sce- 〟nen nicht veraͤndert wird. Aber wenn keine 〟Ursache vorhanden ist, warum die auftreten- 〟den Personen sich an dem angezeigten Orte 〟befinden, und nicht vielmehr an demjenigen 〟geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn 〟eine Person sich als Herr und Bewohner eben 〟des Zimmers auffuͤhrt, wo kurz vorher eine 〟an- Besonders ist Vol- Voltaire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit zu machen, daß er alle Freyheit behaͤlt, sich zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer, und macht so aͤngstliche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied von ihm sey an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus die- sem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es, bey der gemeinen Klasse von Kunstrichtern, noch X x 3 so 〟andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause 〟waͤre, in aller Gelassenheit mit sich selbst, 〟oder mit einem Vertrauten gesprochen, oh- 〟ne daß dieser Umstand auf eine wahrschein- 〟liche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn 〟die Personen nur deswegen in den angezeig- 〟ten Saal oder Garten kommen, um auf die 〟Schaubuͤhne zu treten: so wuͤrde der Ver- 〟fasser des Schauspiels am besten gethan ha- 〟ben, anstatt der Worte, 〟der Schauplatz ist 〟ein Saal in Climenens Hause,〟 unter das 〟Verzeichniß seiner Personen zu setzen: 〟der 〟Schauplatz ist auf dem Theater.〟 Oder im 〟Ernste zu reden, es wuͤrde weit besser gewe- 〟sen seyn, wenn der Verfasser, nach dem Ge- 〟brauche der Englaͤnder, die Scene aus dem 〟Hause des einen in das Haus eines andern 〟verlegt, und also den Zuschauer seinem Hel- 〟den nachgefuͤhret haͤtte; als daß er seinem 〟Helden die Muͤhe macht, den Zuschauern zu 〟gefallen, an einen Platz zu kommen, wo er 〟nichts zu thun hat.〟 so sehr Mode ist, es fast aus keinem andern, als aus diesem, zu betrachten; da es der ist, aus wel- chem die Bewunderer des franzoͤsischen Theaters, das lauteste Geschrey erheben: so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrey mit einstimme. 1. Die Scene ist zu Messene, in dem Pallaste der Merope. Das ist, gleich Anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den Grundsaͤtzen und Beyspielen der Alten, ein He- delin verlangen zu koͤnnen glaubte. Die Scene muß kein ganzer Pallast, sondern nur ein Theil des Pallastes seyn, wie ihn das Auge aus einem und eben demselben Standorte zu uͤbersehen faͤ- hig ist. Ob sie ein ganzer Pallast, oder eine ganze Stadt, oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerley Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein ausdruͤckliches Gebot bey den Al- ten findet, die weitere Ausdehnung, und woll- te, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sey. Wenn er seine besten Stuͤcke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so mußte er wohl so nachgebend seyn. Was Corneillen aber erlaubt war, das muß Voltairen Recht seyn. Ich sage also nichts dagegen, daß eigent- lich die Scene bald in dem Zimmer der Koͤniginn, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vor- hofe, bald nach dieser bald nach einer andern Aus- Aussicht, muß gedacht werden. Nur haͤtte er bey diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabey empfahl: sie muͤssen nicht in dem nehmlichen Akte, am wenigsten in der nehmlichen Scene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muß durch diesen ganzen Akt dauern; und ihn vollends in eben derselben Scene abaͤn- dern, oder auch nur erweitern oder verengern, ist die aͤußerste Ungereimtheit von der Welt. — Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen Platze, unter einem Saͤulengange, oder in ei- nem Saale spielen, in dessen Vertiefung das Grabmahl des Kresphontes zu sehen, an wel- chem die Koͤniginn den Aegisth mit eigner Hand hinrichten will: was kann man sich armseliger vorstellen, als daß, mitten in der vierten Scene, Eurikles, der den Aegisth wegfuͤhret, diese Vertiefung hinter sich zuschliessen muß? Wie schließt er sie zu? Faͤllt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen Vorhang das, was Hedelin von dergleichen Vorhaͤngen uͤber- haupt sagt, gepaßt hat, so ist es auf diesen; On met des rideaux qui se tirent \& retirent, pour faire que les Acteurs paroissent \& disparoissent selon la necessité du Sujet — ces rideaux ne sont bons qu’ à faire des cou- vertures pour berner ceux qui les ont in- ventez, \& ceux qui les approuvent. Pra- tique du Theatre Liv. II. chap. 6. be- besonders wenn man zugleich die Ursache erwegt, warum Aegisth so ploͤtzlich abgefuͤhrt, durch diese Maschinerie so augenblicklich aus dem Ge- sichte gebracht werden muß, von der ich hernach reden will. — Eben so ein Vorhang wird in dem fuͤnften Akte aufgezogen. Die ersten sechs Sce- nen spielen in einem Saale des Pallastes: und mit der siebenden erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um einen todten Koͤrper in einem blutigen Rocke sehen zu koͤnnen. Durch welches Wunder? Und war dieser An- blick dieses Wunders wohl werth? Man wird sagen, die Thuͤren dieses Tempels eroͤffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwittweten Koͤnigli- chen Majestaͤt Schloßkapelle, die gerade an den Saal stieß, und mit ihm Communication hatte, damit Allerhoͤchstdieselben jederzeit trockes Fußes zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses Weges nicht allein her- auskommen, sondern auch hereingehen sehen; wenigstens den Aegisth, der am Ende der vier- ten Scene zu laufen hat, und ja den kuͤrzesten Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf, seine That schon vollbracht haben soll. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Fuͤnf und vierzigstes Stuͤck. Den 2ten October, 1767. 2. N icht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit der Zeit gemacht. Man denke sich einmal al- les das, was er in seiner Merope vorgehen laͤßt, an Einem Tage geschehen; und sage, wie viel Ungereimtheiten man sich dabey denken muß. Man nehme immer einen voͤlligen, natuͤrlichen Tag; man gebe ihm immer die dreyßig Stun- den, auf die Corneille ihn auszudehnen erlau- ben will. Es ist wahr, ich sehe zwar keine phy- sikalische Hindernisse, warum alle die Begeben- heiten in diesem Zeitraume nicht haͤtten gesche- hen koͤnnen; aber desto mehr moralische. Es ist freylich nicht unmoͤglich, daß man innerhalb zwoͤlf Stunden um ein Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet seyn kann; besonders, wenn man es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht, ver- Y y langt langt man nicht eine so gewaltsame Beschleuni- gung durch die allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen? Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursa- chen, wodurch soll uns, was blos physikalischer Weise moͤglich ist, denn wahrscheinlich werden? Der Staat will sich einen Koͤnig waͤhlen; Po- lyphont und der abwesende Aegisth koͤnnen al- lein dabey in Betrachtung kommen; um die An- spruͤche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben heyrathen; an eben demsel- den Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich, und faͤllt fuͤr ihn aus; Polyphont ist also Koͤnig, und man sollte glauben, Aegisth moͤge uunmehr erfcheinen , wenn er wolle, der neuerwaͤhlte Koͤnig koͤnne es, vors erste, mit ihm ansehen. Nichtsweniger; er bestehet auf der Heyrath, und bestehet darauf, daß sie noch des- selben Tages vollzogen werden soll; eben des Tages, an dem er Meropen zum erstenmale seine Hand angetragen; eben des Tages, da ihn das Volk zum Koͤnige ausgerufen. Ein so alter Soldat, und ein so hitziger Freyer! Aber seine Freyerey, ist nichts als Politik. Desto schlim- mer; diejenige, die er in sein Interesse ver- wickeln will, so zu mißhandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht Koͤnig war, als sie glauben mußte, daß ihn ihre Hand Hand vornehmlich auf den Thron verhelfen soll- te; aber nun ist er Koͤnig, und ist es geworden, ohne sich auf den Titel ihres Gemahls zu gruͤn- den; er wiederhole seinen Antrag, und viel- leicht giebt sie es naͤher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewoͤhnen, ihn als ihres gleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu noͤthig. Wenn er sie nicht ge- winnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen? Wird es ihren Anhaͤngern unbekannt bleiben, daß sie gezwungen worden? Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu muͤssen glauben? Werden sie nicht auch darum dem Aegisth, so- bald er sich zeigt, beyzutreten, und in seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben, sich fuͤr verbunden achten? Vergebens, daß das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer funfzehn Jahr sonst so bedaͤchtlich zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun selbst in die Haͤnde liefert, und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne alle Anspruͤche zu besitzen, anbietet, das weit kuͤrzer, weit unfehlbarer ist, als die Verbin- dung mit seiner Mutter: es soll und muß gehey- rathet seyn, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue Koͤnig will bey der alten Koͤ- niginn noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man sich etwas komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn Y y 2 daß daß es einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen koͤnne, wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer wirklichen Eraͤugung ungefehr nicht viel mehr Zeit brau- chen wuͤrden, als auf die Vorstellung dieses Ak- tes geht; und daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen voͤlligen Umlauf der Sonne erfo- dert: hat er darum die Einheit der Zeit beobach- tet? Die Worte dieser Regel hat er erfuͤllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an Einem Tage thun laͤßt, kann zwar an Einem Tage gethan werden, aber kein vernuͤnftiger Mensch wird es an Einem Tage thun. Es ist an der physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moralische dazu kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt daß die Ver- letzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmoͤglichkeit involviret, dennoch nicht immer so allgemein anstoͤßig ist, weil diese Unmoͤglich- keit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z. E. in einem Stuͤcke, von einem Orte zum andern ge- reiset wird, und diese Reise allein mehr als einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht alle Menschen die geographischen Distanzen; aber aber alle Menschen koͤnnen es an sich selbst mer- ken, zu welchen Handlungen man sich Einen Tag, und zu welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die physische Ein- heit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der moralischen zu beobachten verstehet, und sich kein Bedenken macht, diese jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vortheil, und opfert das Wesentlichere dem Zufaͤlligen auf. — Maffei nimmt doch wenigstens noch eine Nacht zu Huͤlfe; und die Vermaͤhlung, die Po- lyphont der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch ist es bey ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget; die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie uͤbereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Epheme- ron von einem Koͤnige, der schon darum den zweyten Tag nicht zu regieren verdienet, weil er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfaͤngt. 3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde oͤfters die Scenen nicht, und das Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heut zu Tage auch den gering- sten Poeten nicht verzeihe. 〟Die Verbindung 〟der Scenen, sagt Corneille, ist eine große 〟Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns 〟von der Stetigkeit der Handlung besser versi- 〟chern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie Y y 3 〟ist 〟ist aber doch nur eine Zierde, und keine Regel; 〟denn die Alten haben sich ihr nicht immer unter- 〟worfen u. s. w.〟 Wie? ist die Tragoͤdie bey den Franzosen seit ihrem großen Corneille so viel vollkommener geworden, daß das, was dieser blos fuͤr eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher Fehler ist? Oder haben die Fran- zosen seit ihm das Wesentliche der Tragoͤdie noch mehr verkennen gelernt, daß sie auf Dinge einen so großen Werth legen, die im Grunde keinen ha- ben? Bis uns diese Frage entschieden ist, mag Cor- neille immer wenigstens eben so glaubwuͤrdig seyn, als Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler bey dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Vol- taire aufgehen, nach welchem er das Theater oͤf- ters laͤnger voll laͤßt, als es bleiben sollte. Wenn z. E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Koͤniginn koͤmmt, und die Koͤniginn mit der dritten Scene abgeht, mit was fuͤr Recht kann Polyphont in dem Zimmer der Koͤniginn ver- weilen? Ist dieses Zimmer der Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frey herauslassen sollte? Das Beduͤrfniß des Dichters verraͤth sich in der vierten Scene gar zu deutlich, in der wir zwar Dinge erfahren, die wir nothwendig wissen muͤssen, nur daß wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet haͤt- ten. 4. Maf- 4. Maffei motivirt das Auftreten und Abge- hen seiner Personen oft gar nicht: — und Vol- taire motivirt es eben so oft falsch; welches wohl noch schlimmer ist. Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie koͤmmt, man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen muͤssen. Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abge- gangen ist. Denn sonst ist das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand, und keine Ursache. Wenn z. E. Eurikles in der dritten Scene des zweyten Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Koͤ- niginn zu versammeln; so muͤßte man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch hernach etwas hoͤren. Da wir aber nichts davon zu hoͤren bekommen, so ist sein Vorgeben ein schuͤlerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten besten Luͤgen, die dem Knaben einfaͤllt. Er geht nicht ab, um das zu thun, was er sagt, sondern um, ein Paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht wiederkommen zu koͤnnen, die der Poet durch keinen andern ertheilen zu lassen wußte. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, daß der Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feyerlichen Verbindung schon alles bereit sey; und so geht er er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Coulisse hinein; worauf Polyphont den vierten Akt wieder an- faͤngt, und nicht etwa seinen Unwillen aͤußert, daß ihm die Koͤniginn nicht in den Tempel ge- folgt ist, (denn er irrte sich, es hat mit der Trau- ung noch Zeit,) sondern wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, uͤber die er nicht hier, uͤber die er zu Hause in seinem Gemache, mit ihm haͤtte schwatzen sollen. Nun schließt auch der vierte Akt, und schließt vollkommen wie der dritte. Polyphont citirt die Koͤniginn nochmals nach dem Tempel, Merope selbst schreyet, Courons tous vers le temple ou m’attend mon outrage; und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie, Vous venez à l’autel entrainer la victime. Folglich werden sie doch gewiß zu Anfange des fuͤnften Akts in dem Tempel seyn, wo sie nicht schon gar wieder zuruͤck sind? Keines von beiden; gut Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und koͤmmt noch einmal wieder, und schickt auch die Koͤniginn noch einmal wieder. Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten und fuͤnften Akte geschieht dem- nach nicht allein das nicht, was geschehen sollte; son- dern es geschieht auch, platter Dings, gar nichts, und der dritte u. vierte Akt schliessen blos, damit der vierte und fuͤnfte wieder anfangen koͤnnen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Sechs und vierzigstes Stuͤck. Den 6ten October, 1767. E in anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich beobachten. Je- nes thun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten verstanden zu haben. Die Einheit der Handlung war das erste dra- matische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus jener, die sie schwerlich strenger be- obachtet haben wuͤrden, als es jene nothwendig erfordert haͤtte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu gekommen waͤre. Da nehmlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen ha- ben mußten, und diese Menge immer die nehm- liche blieb, welche sich weder weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch laͤnger aus densel- ben wegbleiben konnte, als man gewoͤhnlicher- maaßen der bloßen Neugierde wegen zu thun Z z pflegt: pflegt; so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen und eben denselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und eben densel- ben Tag einschraͤnken. Dieser Einschraͤnkung unterwarfen sie sich denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß sie, unter neunmalen, siebenmal weit mehr dabey gewannen, als verloren. Denn sie lies- sen sich diesen Zwang einen Anlaß seyn, die Handlung selbst so zu simplifiiren, alles Ueber- fluͤßige so sorgfaͤltig von ihr abzusondern, daß sie, auf ihre wesentlichsten Bestandtheile ge- bracht, nichts als ein Ideal von dieser Hand- lung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am gluͤcklichsten ausbildete, die den we- nigsten Zusatz von Umstaͤnden der Zeit und des Ortes verlangte. Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen Geschmack fanden, die durch die wilden Intriguen der spanischen Stuͤcke schon verwoͤhnt waren, ehe sie die grie- chische Simplicitaͤt kennen lernten, betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts, nicht als Folgen jener Einheit, sondern als fuͤr sich zur Vorstellung einer Handlung unumgaͤngliche Er- fordernisse, welche sie auch ihren reichern und verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen muͤßten, als es nur immer der Gebrauch des des Chors erfordern koͤnnte, dem sie doch gaͤnz- lich entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmoͤglich oͤfters, dieses sey: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren voͤlligen Gehorsam aufzukuͤndigen, nicht Muth genug hatten, ein Abkommen. Anstatt eines einzigen Ortes, fuͤhrten sie einen unbe- stimmten Ort ein, unter dem man sich bald den, bald jenen, einbilden koͤnne; genug, wenn diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit aus einan- der laͤgen, und keiner eine besondere Verzierung beduͤrfe, sondern die nehmliche Verzierung un- gefehr dem einen so gut als dem andern zukom- men koͤnne. Anstatt der Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine gewisse Zeit, in der man von keinem Auf- gehen und Untergehen der Sonne hoͤrte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht oͤfterer als einmal zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherley darinn eraͤugnen, ließen sie fuͤr Einen Tag gelten. Niemand wuͤrde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich auch so noch vortreff- liche Stuͤcke machen; und das Sprichwort sagt, bohre das Bret, wo es am duͤnnsten ist. — Aber ich muß meinen Nachbar nur auch da bohren lassen. Ich muß ihm nicht immer nur die dicke- ste Kante, den astigsten Theil des Bretes zei- Z z 2 gen, gen, und schreyen: Da bohre mir durch! da pflege ich durchzubohren! — Gleichwohl schreyen die franzoͤsischen Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stuͤcke der Eng- laͤnder kommen. Was fuͤr ein Aufhebens ma- chen sie von der Regelmaͤßigkeit, die sie sich so unendlich erleichtert haben! — Doch mir eckelt, mich bey diesen Elementen laͤnger aufzuhalten. Moͤchten meinetwegen Voltairens und Maf- feis Merope acht Tage dauern, und an sieben Orten in Griechenland spielen! Moͤchten sie aber auch nur die Schoͤnheiten haben, die mich diese Pedanterieen vergessen machen! Die strengste Regelmaͤßigkeit kann den klein- sten Fehler in den Charakteren nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bey dem Maffei oͤfters spricht und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat Recht uͤber die heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyran- nen in den Mund legt. Die Edelsten und Be- sten des Staats aus dem Wege zu raͤumen; das Volk in alle die Wolluͤste zu versenken, die es entkraͤften und weibisch machen koͤnnen; die groͤß- ten Verbrechen, unter dem Scheine des Mit- leids und der Gnade, ungestraft zu lassen u. s. w. wenn es einen Tyrannen giebt, der diesen un- sinnigen Weg zu regieren einschlaͤgt, wird er sich sich dessen auch ruͤhmen? So schildert man die Tyrannen in einer Schuluͤbung; aber so hat noch keiner von sich selbst gesprochen. Atto III. Sc. II. —— —— —— Quando Saran da poi sopiti alquanto, e queti Gli animi, l’arte del regnar mi giovi. Per mute oblique vie n’andranno a Stige L’alme piu audaci, e generose. A i vizi Per cui vigor si abbatte, ardir si toglie Il freno allargherò. Lunga clemenza Con pompa di pieta farò, che splenda Su i delinquenti; a i gran delitti invito, Onde restino i buoni esposti, e paghi Renda gl’ iniqui la licenza; ed onde Poi fra se distruggendosi, in crudeli Gare private il lor furor si stempri. Udrai sovence risonar gli editti, E raddopiar le leggi, che al sovrano Giovan — Es ist wahr, so gar frostig und wahnwitzig laͤßt Voltaire seinen Polyphont nicht deklamiren; aber mit unter laͤßt er ihn doch auch Dinge sa- gen, die gewiß kein Mann von dieser Art uͤber die Zunge bringt. Z. E. — Des Dieux quelquefois la longue patience Fait sur nous à pas lents descendre la vengence — Z z 3 Ein Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu neuen Verbrechen aufmuntert: Eh bien, encore ce crime! — — Wie unbesonnen, und in den Tag hinein, er gegen Meropen handelt, habe ich schon beruͤhrt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem eben so verschlagenen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von Anfange schildert, noch weniger aͤhnlich. Aegisth haͤtte bey dem Opfer gerade nicht erscheinen muͤssen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwoͤren? In den Augen des Volks? Unter dem Geschrey seiner verzweifelnden Mutter? Wird da nicht unfehl- bar geschehen, was er zuvor selbst besorgte? Acte I. Sc. 4. Si ce fils, tant pleuré, dans Messene est produit, De quinze ans de travaux j’ai perdu tout le fruit. Croi- Er Giovan servate, e transgredite. Udrai Correr minaccia ognor di guerra esterna; Ond’ io n’andrò su l’atterita plebe Sempre crescendo i pesi, e peregrine Milizie introdurrò. —— —— Er hat sich fuͤr seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth verlangt nur sein Schwerdt wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit eins zu entscheiden; und diesen tollkuͤh- nen Aegisth laͤßt er sich an dem Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand faͤllt, ein Schwerdt werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen Ungereimt- heiten frey; denn dieser kennt den Aegisth nicht, und haͤlt ihn fuͤr seinen Freund. Warum haͤtte Aegisth sich ihm also bey dem Altare nicht naͤ- hern duͤrfen? Niemand gab auf seine Bewe- gungen Acht; der Streich war geschehen, und er zu dem zweyten schon bereit, ehe es noch ei- nem Menschen einkommen konnte, den ersten zu raͤchen. 〟Me- Croi-moi, ces prejugés de sang \& de nais- sance Revivrons dans les cœurs, y prendront sa defense. Le souvenir du pere, \& cent rois pour ayeux, Cet honneur pretendu d’être issu de nos Dieux; Le cris, \& le desespoir d’une mere eplo- rée, Detruiront ma puissance encor mal as- surée. 〟Merope, sagt Lindelle, wenn sie bey dem 〟Maffei erfaͤhrt, daß ihr Sohn ermordet sey, 〟will dem Moͤrder das Herz aus dem Leibe reis- 〟sen, und es mit ihren Zaͤhnen zerfleischen. Atto II. Sc. 6. Quel scelerato in mio poter vorrei Per trarne prima, s’ebbe parte in questo Assassinio il tiranno; io voglio poi Con una scure spalancargli il petto Voglio strappargli il cor, voglio co’ denti Lacerarlo, e sbranarlo —— —— 〟Das heißt, sich wie eine Kannibalinn, und 〟nicht wie eine betruͤbte Mutter ausdruͤcken; 〟das Anstaͤndige muß uͤberall beobachtet wer- 〟den.〟 Ganz recht; aber obgleich die franzoͤ- sische Merope delikater ist, als daß sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz, beissen sollte: so duͤnkt mich doch, ist sie im Grunde eben so gut Kannibalinn, als die Italieni- sche. — Ham- Hamburgische Dramaturgie. Sieben und vierzigstes Stuͤck. Den 9ten October, 1767. U nd wie das? — Wenn es unstreitig ist, daß man den Menschen mehr nach seinen Tha- ten, als nach seinen Reden richten muß; daß ein rasches Wort, in der Hitze der Leiden- schaft ausgestossen, fuͤr seinen moralischen Cha- rakter wenig, eine uͤberlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich wohl Recht ha- ben. Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer uͤberlaͤßt, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie ungluͤcklich ihr abwesender Sohn vielleicht sey, ihr Mitleid uͤber alle Ungluͤckliche erstrecket: ist das schoͤne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zaͤrtlichkeit erfaͤhrt, von ih- rem Schmerze betaͤubt dahin sinkt, und ploͤtzlich, sobald sie den Moͤrder in ihrer Gewalt hoͤret, A a a wieder wieder aufspringt, und tobet, und wuͤthet, und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu voll- ziehen drohet, und wirklich vollziehen wuͤrde, wenn er sich eben unter ihren Haͤnden befaͤnde: ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in welchem es an Aus- druck und Kraft gewinnet, was es an Schoͤn- heit und Ruͤhrung verlohren hat. Aber Me- rope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, An- stalten dazu vorkehret, Feyerlichkeiten dazu an- ordnet, und selbst die Henkerinn seyn, nicht toͤdten sondern martern, nicht strafen sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freylich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kani- balinnen denken; eine Mutter, wie es jede Baͤrinn ist. — Diese Handlung der Merope gefalle wem da will; mir sage er es nur nicht, daß sie ihm gefaͤllt, wenn ich ihn nicht eben so sehr verachten, als verabscheuen soll. Vielleicht duͤrfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; viel- leicht duͤrfte er sagen, Merope muͤsse ja wohl den Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze Coup de Théatre, den Aristo- teles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athe- nienser ehedem so sehr entzuͤckt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire wuͤrde sich wieder- um irren, und die willkuͤhrlichen Abweichungen des des Maffei abermals fuͤr den Stoff selbst neh- men. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert nicht, daß sie es mit aller Ueberlegung thun muß. Und so scheinet sie es auch bey dem Euripides nicht gethan zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus fuͤr den Auszug seines Stuͤcks annehmen duͤrfen. Der Alte koͤmmt und sagt der Koͤniginn weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte sie ge- hoͤrt, daß ein Fremder angelangt sey, der sich ruͤhme, ihn umgebracht zu haben, und daß die- ser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie ergreift das erste das beste, was ihr in die Haͤnde faͤllt, eilet voller Wuth nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er- kennung geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war sehr simpel und natuͤrlich, sehr ruͤhrend und mensch- lich! Die Athenienser zitterten fuͤr den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu duͤrfen. Sie zitterten fuͤr Meropen selbst, die durch die gut- artigste Uebereilung Gefahr lief, die Moͤrderinn ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber machen mich blos fuͤr den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß ich es ihr fast goͤnnen moͤchte, sie vollfuͤhrte den Streich. Moͤchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen, so haͤtte sie sich auch A a a 2 Zeit Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutduͤrstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Moͤrder was sie will, ich ver- zeihe ihr, sie ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwuͤnschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr in- teressirte, an dem Sie so viele Merkmahle der Auf- richtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Ruͤstung bey ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Moͤrder Ihres Sohnes, an dem Grabmahle seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Huͤlfe zu nehmen — O pfuy, Madame! Ich muͤßte mich sehr irren, oder Sie waͤren in Athen ausgepfiffen worden. Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Poly- phont nach funfzehn Jahren die veraltete Me- rope zur Gemahlinn verlangt, eben so wenig ein Fehler des Stoffes ist, habe ich schon beruͤhrt. Oben S. 347. Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Poly- phont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts geheyrathet; und es ist sehr glaub- lich, daß selbst Euripides diesen Umstand so an- genommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gruͤnde, mit welchen Eurikles, beym Vol- Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu ge- ben, Acte II. Sc. 1. — — Non, mon fils ne le souffrirait pas. L’exil, ou son enfance a langui condamnée Lui serait moins affreux que ce lâche hy- menée. Il le condamnerait, si, paisible en son rang, Il n’en croyait ici que les droits de son sang; Mais si par les malheurs son ame etait in- struite, Sur ses vrais intérêts s’il réglait sa con- duite, De ses tristes amis s’il consultait la voix, Et la necessité souveraine des loix, Il verrait que jamais sa malheureuse mere Ne lui donna d’amour une marque plus chère. Me. haͤtten sie auch vor funfzehn Jahren dazu vermoͤgen koͤnnen. Es war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Moͤrder ihrer Maͤn- ner uͤberwanden und sie zu ihren zweyten Maͤn- ner annahmen, wenn sie sahen, daß den Kin- dern ihrer ersten Ehe Vortheil daraus erwachsen koͤnne. Ich erinnere mich etwas aͤhnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d’Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu ha- ben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches A a a 3 sie sie noch unter ihren Herzen traͤgt, auf eine sehr ruͤhrende Art daruͤber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente angefuͤhrt zu wer- den; aber ich habe das Buch nicht bey der Hand. Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen waͤre, die Auffuͤhrung seiner Merope zu recht- fertigen, wenn er sie als die Gemahlinn des Po- lyphonts eingefuͤhret haͤtte. Die kalten Scenen einer politischen Liebe waͤren dadurch weggefal- len; und ich sehe mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter, und die Situationen noch weit intri- guanter haͤtten werden koͤnnen. Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es ei- nen Ah que me dites-vous? De dures vérités Qui m’arrachent mon zéle \& vos calamités. Quoi! Vous me demandez que l’interet surmonte Cette invincible horreur que j’ai pour Po- lifonte! Vous qui me l’avez peint de si noires cou- leurs! Je l’ai peint dangereux, je connais ses fureurs; Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui resiste; Il est sans héritier, \& vous aimez Egiste. — nen bessern geben koͤnne, daß dieser bessere eben der sey, der schon vor Alters befahren worden, so beguuͤgte er sich auf jenem ein Paar Sand- steine aus dem Gleisse zu raͤumen, uͤber die er meinet, daß sein Vorgaͤnger fast umgeschmissen haͤtte. Wuͤrde er wohl sonst auch dieses von ihm beybehalten haben, daß Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefehr nach Messene ge- rathen, und daselbst durch kleine zweydeutige Merkmahle in den Verdacht kommen muß, daß er der Moͤrder seiner selbst sey? Bey dem Euri- pides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdruͤcklichen Vorsatze, sich zu raͤchen, nach Messene, und gab sich selbst fuͤr den Moͤr- der des Aegisth aus; nur daß er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sey aus Vorsicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was sonst fuͤr Ursa- che, an der es ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar oben S. 318. dem Maffeini einige Gruͤnde zu allen den Ver- aͤnderungen, die er mit dem Plane des Euripi- des gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit entfernt, die Gruͤnde fuͤr wich- tig, und die Veraͤnderungen fuͤr gluͤcklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder Tritt, den er aus den Fußtapfen des Griechen zu thun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß sich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefehr nach nach Messene koͤmmt, und per combinazione d’ac- cidenti (wie Maffei es ausdruͤckt) fuͤr den Moͤrder des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirrtes, zweydeutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwaͤcht auch das Juteresse ungemein. Bey dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er Aegisth sey, und je gewisser er es wußte, daß Me- rope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto groͤßer mußte nothwendig das Schrecken seyn, das ihn daruͤber befiel, desto quaͤlender das Mitleid, welches er voraus sahe, Falls Merope an der Voll- ziehung nicht zu rechter Zeit verhindert wuͤrde. Bey dem Maffei und Voltaire hingegen, vermuthen wir es nur, daß der vermeinte Moͤrder des Sohnes der Sohn wohl selbst seyn koͤnne, und unser groͤßtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick versparet, in welchem es Schrecken zu seyn aufhoͤret. Das schlimmste dabey ist noch dieses, daß die Gruͤnde, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuthen lassen, eben die Gruͤnde sind, aus welchen es Merope selbst vermuthen sollte; und daß wir ihn, besonders bey Voltairen, nicht in dem allergeringsten Stuͤcke naͤher und zuverlaͤßiger ken- nen, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gruͤnden entweder eben so viel, als ih- nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben so viel, so halten wir den Juͤngling mit ihr fuͤr einen Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr ruͤhren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht besser darauf merket, und sich von weit seichtern Gruͤnden hinreissen laͤßt. Beides aber taugt nicht. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Acht und vierzigstes Stuͤck. Den 13ten October, 1767. E s ist wahr, unsere Ueberraschung ist groͤs- ser, wenn wir es nicht eher mit voͤlliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfaͤhrt. Aber das armselige Vergnuͤgen einer Ueberraschung! Und was braucht der Dichter uns zu uͤberraschen? Er uͤberrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Theil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermuthet treffen muß, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Antheil wird um so lebhafter und staͤrker seyn, je laͤnger und zuverlaͤßiger wir es vorausgesehen haben. Ich will, uͤber diesen Punkt, den besten franzoͤ- sischen Kunstrichter fuͤr mich sprechen lassen. 〟In den verwickelten Stuͤcken, sagt Diderot, In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater S. 327. d. Uebs. ist das B b b das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den einfachen Stuͤcken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des Plans. Allein worauf muß sich das Interesse beziehen? Auf die Personen? Oder auf die Zu- schauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben muß. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schuͤr- zen, ohne daß sie es wissen; fuͤr diese sey alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne daß sie es merken, der Aufloͤsung immer naͤher und naͤher. Sind diese nur in Bewegung, so wer- den wir Zuschauer den nehmlichen Bewegungen schon auch nachgeben, sie schon auch empfinden muͤssen. — Weit gefehlt, daß ich mit den mei- sten, die von der dramatischen Dichtkunst ge- schrieben haben, glauben sollte, man muͤsse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen. Ich daͤchte vielmehr, es sollte meine Kraͤfte nicht uͤbersteigen, wenn ich mir ein Werk zu machen vorsetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten Scene verrathen wuͤrde, und aus diesem Um- stande selbst das allerstaͤrkeste Interesse entspraͤn- ge. — Fuͤr den Zuschauer muß alles klar seyn. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers thun kann, als daß man ihm gerade vor- aus- aussagt, was noch vorgehen soll. — O ihr Ver- fertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie uͤbertreten kann, so oft es ihm beliebt! — Meine Gedanken moͤgen so paradox scheinen, als sie wollen: so viel weiß ich gewiß, daß fuͤr Eine Gelegenheit, wo es nuͤtzlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vor- fall so lange zu verhehlen, bis er sich eraͤugnet, es immer zehn und mehrere giebt, wo das In- teresse gerade das Gegentheil erfodert. — Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimniß eine kurze Ueberraschung; und in welche anhal- tende Unruhe haͤtte er uns stuͤrzen koͤnnen, wenn er uns kein Geheimniß daraus gemacht haͤtte! — Wer in Einem Augenblicke getroffen und nieder- geschlagen wird, den kann ich auch nur Einen Augenblick betauern. Aber wie steht es als- denn mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter uͤber mei- nem oder eines andern Haupte zusammenziehet, und lange Zeit daruͤber verweilet? — Meinet- wegen moͤgen die Personen alle einander nicht kennen; wenn sie nur der Zuschauer alle ken- net. — Ja, ich wollte fast behaupten, daß der Stoff, bey welchem die Verschweigungen noth- wendig sind, ein undankbarer Stoff ist; daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ih- B b b 2 nen nen nimmt, nicht so gut ist, als der, in wel- chem man sie haͤtte entuͤbrigen koͤnnen. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen be- schaͤftigen muͤssen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgrif- fen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerheftigsten Bewegungen. — Warum haben gewisse Monologen eine so große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschlaͤge einer Person vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoffnung erfuͤllet. — Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zu- schauer fuͤr die Handlung nicht staͤrker interes- siren, als die Personen. Das Interesse aber wird sich fuͤr den Zuschauer verdoppeln, wenn er Licht genug hat, und es fuͤhlet, daß Hand- lung und Reden ganz anders seyn wuͤrden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum erwarten koͤnnen, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie thun oder thun wollen, vergleichen kann.〟 Dieses Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, fuͤr welchen von beiden Planen sich Di- derot erklaͤren wuͤrde: ob fuͤr den alten des Eu- ripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth eben so gut kennen, als er sich selbst; oder fuͤr den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Raͤthsel ist, und dadurch das ganze Stuͤck 〟zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen〟 macht, die weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hervorbringen. Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine Gedanken uͤber die Entbehrlichkeit und Gering- fuͤgigkeit aller ungewissen Erwartungen und ploͤtzlichen Ueberraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, fuͤr eben so neu als gegruͤn- det auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraction, aber sehr alt in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahiret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vor- gaͤnger nur immer auf das Gegentheil gedrun- gen; aber unter diese Vorgaͤnger gehoͤrt weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfol- ger in ihrer Praͤdilection fuͤr dieses Gegentheil haͤtte bestaͤrken koͤnnen, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stuͤcken der Alten abgesehen hatten. B b b 3 Un- Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast immer den Zu- schauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie fuͤhren wollte. Ja, ich waͤre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die Vertheidigung seiner Prologen zu uͤbernehmen, die den neuern Kriticis so sehr mißfallen. 〟Nicht genug, sagt Hedelin, daß er meistentheils alles, was vor der Handlung des Stuͤcks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhoͤrern ge- radezu erzehlen laͤßt, um ihnen auf diese Weise das Folgende verstaͤndlich zu machen: er nimmt auch wohl oͤfters einen Gott dazu, von dem wir annehmen muͤssen, daß er alles weiß, und durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kund macht. Wir erfahren sonach gleich Anfangs die Entwicklung und die ganze Katastrophe, und sehen jeden Zufall schon von weiten kom- men. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater bestaͤndig herrschen sollen, gaͤnzlich zuwider ist, und alle Annehmlichkeiten des Stuͤckes vernichtet, die fast einzig und al- lein auf der Neuheit und Ueberraschung beru- hen.〟 Pratique du Théatre Lib. III. chap. 1. Nein: der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte so geringschaͤtzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit hoͤ- hoͤhern Vollkommenheit faͤhig waͤre, und daß die Ergetzung einer kindischen Neugierde das geringste sey, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine Zuhoͤrer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung eben so viel wis- sen, als nur immer ein Gott davon wissen konn- te; und versprach sich die Ruͤhrung, die er her- vorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, als von der Art, wie es ge- schehen sollte. Folglich muͤßte den Kunstrich- tern hier eigentlich weiter nichts anstoͤßig seyn, als nur dieses, daß er uns die noͤthige Kenntniß des Vergangnen und des Zukuͤnftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beyzubringen ge- sucht; daß er ein hoͤheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen Antheil nimmt, dazu gebrauchet; und daß er dieses hoͤ- here Wesen sich geradezu an die Zuschauer wen- den lassen, wodurch die dramatische Gattung mit der erzehlenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann blos hierauf einschraͤnk- ten, was waͤre denn ihr Tadel? Ist uns das Nuͤtzliche und Nothwendige niemals willkom- men, als wenn es uns verstohlner Weise zuge- schanzt wird? Giebt es nicht Dinge, besonders in der Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das In- teresse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, daß wir sie durch die Darzwischenkunft eines eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen uͤberhaupt? In den Lehrbuͤchern sondre man sie so genau von einander ab, als moͤglich: aber wenn ein Genie, hoͤherer Absich- ten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusammenfliessen laͤßt, so ver- gesse man das Lehrbuch, und untersuche blos, ob es diese hoͤhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stuͤck des Euripides weder ganz Erzehlung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser Zwitter mehr vergnuͤgt, mehr er- bauet, als die gesetzmaͤßigsten Geburten eurer correkten Racinen, oder wie sie sonst heissen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von nutzbarsten last- tragenden Thieren? — Ham- Hamburgische Dramaturgie. Neun und vierzigstes Stuͤck. Den 16ten October, 1767. M it einem Worte; wo die Tadler des Eu- ripides nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermoͤgen, oder aus Gemaͤchlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als moͤglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu fin- den vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Voll- kommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde eben so regelmaͤßig ist, als sie ihn zu seyn verlangen, und es nur dadurch weniger zu seyn scheinet, weil er seinen Stuͤcken eine Schoͤnheit mehr ertheilen wollen, von der sie keinen Begriff haben. Denn es ist klar, daß alle die Stuͤcke, deren Prologe ihnen so viel Aergerniß machen, auch ohne diese Prologe, vollkommen ganz, und vollkommen verstaͤndlich sind. Streichet z. E. vor dem Jon den Prolog des Merkurs, vor der C c c He- Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der Morgenandacht des Jon, und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide darum im geringsten verstuͤmmelt? Woher wuͤrdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da waͤre? Behaͤlt nicht alles den nehmlichen Gang, den nehmlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, daß die Stuͤcke, nach eurer Art zu denken, desto schoͤ- ner seyn wuͤrden, wenn wir aus den Prologen nicht wuͤßten, daß der Jon, welchen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Jon von dem Altar zu einem schmaͤhlichen Tode reissen will, die Mut- ter dieses Jon ist; wenn wir nicht wuͤßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte ungluͤckliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes er- fahren solle. Denn alles dieses wuͤrde die trefflichsten Ueberraschungen geben, und diese Ueberraschungen wuͤrden noch dazu vorbereitet genug seyn: ohne daß ihr sagen koͤnntet, sie braͤchen auf einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, son- dern sie entstuͤnden; man wolle euch, nicht auf einmal etwas entdecken, sondern etwas aufhef- ten. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Man- gel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wolluͤstigen Schoͤßling schneidet der Gaͤrtner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen, — es ist wahr, es heißt sehr viel annehmen, — daß Euripides vielleicht eben so viel Einsicht, eben so viel Geschmack koͤnne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um so viel mehr, wie er bey dieser großen Einsicht, bey diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen koͤnnen: so tretet zu mir her, und betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es so gut, als wir, daß z. E. sein Jon ohne den Prolog bestehen koͤnne; daß er, ohne den- selben, ein Stuͤck sey, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zuschauers, bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewiß- heit und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fuͤnf- ten Akte, daß Jon der Sohn der Kreusa sey: so ist es fuͤr ihn nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten Akte aus dem Wege raͤumen will; so ist es fuͤr ihn nicht die Mutter des Jon, an welcher sich Jon in dem vierten Akte raͤchen will, sondern blos die Maͤuchelmoͤrderinn. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid herkommen? C c c 2 Die Die bloße Vermuthung, die sich etwa aus uͤber- eintreffenden Umstaͤnden haͤtte ziehen lassen, daß Jon und Kreusa einander wohl naͤher angehen koͤnnten, als sie meinen, wuͤrde dazu nicht hin- reichend gewesen seyn. Diese Vermuthung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhoͤrer diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht moͤglich war, daß er sie einer von den handelnden Personen selbst zu dan- ken haben konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter sie ihm auf die einzige moͤgliche Weise ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine Tragoͤdie ist dadurch, was eine Tragoͤdie seyn soll; und wenn ihr noch unwillig seyd, daß er die Form dem Wesen nach- gesetzet hat, so versorge euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuͤcken, wo das Wesen der Form aufgeopfert ist, und ihr seyd belohnt! Immer- hin gefalle euch Whiteheads Kreusa, wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerinn ausfragt, im- merhin gefalle sie euch besser, als des Euripides Jon: und ich werde euch nie beneiden! Wenn Aristoteles den Euripides den tragisch- sten von allen tragischen Dichtern nennet, so sahe er nicht blos darauf, daß die meisten seiner Stuͤcke eine ungluͤckliche Katastrophe haben; ob ich ich schon weiß, daß viele den Stagyriten so ver- stehen. Denn das Kunststuͤck waͤre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stuͤmper, der brav wuͤrgen und morden, und keine von seinen Per- sonen gesund oder lebendig von der Buͤhne kom- men liesse, wuͤrde sich eben so tragisch duͤnken duͤrfen, als Euripides. Aristoteles hatte un- streitig mehrere Eigenschaften im Sinne, wel- chen zu Folge er ihm diesen Charakter ertheilte; und ohne Zweifel, daß die eben beruͤhrte mit dazu gehoͤrte, vermoͤge der er nehmlich den Zu- schauern alle das Ungluͤck, welches seine Per- sonen uͤberraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer auch dann schon mit Mitlei- den fuͤr die Personen einzunehmen, wenn diese Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen. — Sokrates war der Leh- rer und Freund des Euripides; und wie man- cher duͤrfte der Meinung seyn, daß der Dichter dieser Freundschaft des Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichthum von schoͤnen Sittenspruͤchen, den er so verschwendrisch in sei- nen Stuͤcken ausstreuet. Ich denke, daß er ihr weit mehr schuldig war; er haͤtte, ohne sie, eben so spruchreich seyn koͤnnen; aber vielleicht wuͤrde er, ohne sie, nicht so tragisch geworden seyn. Schoͤne Sentenzen und Moralen sind uͤberhaupt gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten hoͤren; sein Lebens- C c c 3 wan- wandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den Menschen, und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam seyn; in allen die ebensten und kuͤrzesten Wege der Natur aus- forschen und lieben; jedes Ding nach seiner Ab- sicht beurtheilen: das ist es, was wir in seinem Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was ihn zu dem Ernsten in seiner Kunst machte. Gluͤcklich der Dichter, der so einen Freund hat, — und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rathe ziehen kann! — Auch Voltaire scheinet es empfunden zu ha- ben, daß es gut seyn wuͤrde, wenn er uns mit dem Sohn der Merope gleich Anfangs bekannt machte; wenn er uns mit der Ueberzeugung, daß der liebenswuͤrdige ungluͤckliche Juͤngling, den Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Moͤrder ihres Aegisths hin- richten will, der nehmliche Aegisth sey, sofort koͤnne aussetzen lassen. Aber der Juͤngling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn koͤnnten kennen lernen. Was thut also der Dichter? Wie faͤngt er es an, daß wir es gewiß wissen, Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte Narbas zuruft? — O, das faͤngt er sehr sinnreich an! Auf so einen Kunstgriff konnte sich nur ein Vol- taire besinnen! — Er laͤßt, sobald der unbekannte Juͤng- Juͤngling auftritt, uͤber das erste, was er sagt, mit großen, schoͤnen, leserlichen Buchstaben, den ganzen, vollen Namen, Aegisth, setzen; und so weiter uͤber jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir es; Merope hat in dem Vor- hergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bey diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht gethan haͤtte, so duͤrften wir ja nur das vorgedruckte Verzeichniß der Personen nach- sehen; da steht es lang und breit! Freylich ist es ein wenig laͤcherlich, wenn die Person, uͤber deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen Ae- gisth gelesen haben, auf die Frage: —— —— —— Narbas vous est connu? Le nom d’Egiste au moins jusqu’à vous est venu? Quel était votre état, votre rang, votre père? antwortet: Mon père est un vieillard accablé de misère; Policlete est son nom; mais Egiste, Narbas, Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas. Freylich ist es sehr sonderbar, daß wir von die- sem Aegisth, der nicht Aegisth heißt, auch keinen keinen andern Namen hoͤren; daß, da er der Koͤniginn antwortet, sein Vater heisse Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heisse so und so. Denn einen Namen muß er doch haben; und den haͤtte der Herr von Voltaire ja wohl schon mit erfinden koͤnnen, da er so viel erfunden hat! Leser, die den Rummel einer Tragoͤdie nicht recht gut verstehen, koͤnnen leicht daruͤber irre werden. Sie lesen, daß hier ein Bursche ge- bracht wird, der auf der Landstraße einen Mord begangen hat; dieser Bursche, sehen sie, heißt Aegisth, aber er sagt, er heisse nicht so, und sagt doch auch nicht, wie er heisse: o, mit dem Burschen, schliessen sie, ist es nicht richtig; das ist ein abgesaͤumter Straßenraͤuber, so jung er ist, so unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, daß es fuͤr die erfahrnen Leser besser ist, auch so, gleich An- fangs, zu erfahren, wer der unbekannte Juͤng- ling ist, als gar nicht. Nur daß man mir nicht sage, daß diese Art sie davon zu unterrichten, im geringsten kuͤnstlicher und feiner sey, als ein Prolog, im Geschmacke des Euripides! — Ham- Hamburgische Dramaturgie. Funfzigstes Stuͤck. Den 20sten October, 1767. B ey dem Maffei hat der Juͤngling seine zwey Namen, wie es sich gehoͤrt; Ae- gisth heißt er, als der Sohn des Poly- dor, und Kresphont, als der Sohn der Mero- pe. In dem Verzeichnisse der handelnden Per- sonen wird er auch nur unter jenem eingefuͤhrt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stuͤcks als kein geringes Verdienst an, daß dieses Ver- zeichniß den wahren Stand des Aegisth nicht voraus verrathe. Fin ne i nomi de Personaggi si è levato quell’ errore, comunissimo alle stampe d’ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essen- dosi messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d’Egisto. Das ist, die Italiener sind D d d sind von den Ueberraschungen noch groͤßere Lieb- haber, als die Franzosen. — Aber noch immer Merope! — Wahrlich, ich betaure meine Leser, die sich an diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherley und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung nur seyn kann. Anstatt des Inhalts der hier gang- baren Stuͤcke, in kleine lustige oder ruͤhrende Romane gebracht; anstatt beylaͤufiger Lebens- beschreibungen drolliger, sonderbarer, naͤrrischer Geschoͤpfe, wie die doch wohl seyn muͤssen, die sich mit Komoͤdienschreiben abgeben; anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandaloͤser Anekdoten von Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser artigen Saͤchelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte, trockne Kritiken uͤber alte be- kannte Stuͤcke; schwerfaͤllige Untersuchungen uͤber das, was in einer Tragoͤdie seyn sollte und nicht seyn sollte; mit unter wohl gar Erklaͤrun- gen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen? Wie gesagt, ich betauere sie; sie sind gewaltig angefuͤhrt! — Doch im Vertrauen: besser, daß sie es sind, als ich. Und ich wuͤrde es sehr seyn, wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen muͤßte. Nicht daß ihre Erwartungen sehr schwer zu erfuͤllen waͤren; wirklich nicht; ich wuͤrde sie vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sie sich mit meinen Absichten nur besser vertragen wollten. Ueber die Merope indeß muß ich freylich ein- mal wegzukommen suchen. — Ich wollte eigent- lich nur erweisen, daß die Merope des Voltaire im Grunde nichts als die Merope des Maffei sey; und ich meine, dieses habe ich erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern ebendieselbe Verwicklung und Aufloͤ- sung machen, daß zwey oder mehrere Stuͤcke fuͤr ebendieselben Stuͤcke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire mit dem Maffei einerley Ge- schichte behandelt hat, sondern weil er sie mit ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier fuͤr weiter nichts, als fuͤr den Uebersetzer und Nachahmer desselben zu erklaͤren. Maffei hat die Merope des Euripides nicht blos wieder hergestellet; er hat eine eigene Merope gemacht: denn er ging voͤllig von dem Plane des Euripi- des ab; und in dem Vorsatze ein Stuͤck ohne Galanterie zu machen, in welchem das ganze Interesse blos aus der muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit entspringe, schuf er die ganze Fabel um; gut, oder uͤbel, das ist hier die Frage nicht; genug, er fchuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Poly- phont nicht vermaͤhlt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus welchen der Tyrann, D d d 2 nun nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Ver- maͤhlung dringen zu muͤssen glaubet; er ent- lehnte von ihm, daß der Sohn der Merope sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von seinem vermeinten Vater entkoͤmmt; er entlehnte von ihm den Vorfall, der den Aegisth als einen Moͤrder nach Messene bringt; er entlehnte von ihm die Mißdeutung, durch die er fuͤr den Moͤrder seiner selbst gehalten wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regun- gen der muͤtterlichen Liebe, wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Haͤnden sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldi- gen: mit einem Worte, Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht auch die ganze Aufloͤsung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bey welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feyer, und vielleicht, daß er, blos darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die Verbindung mit Meropen fallen ließ, um die- ses Opfer desto natuͤrlicher anzubringen. Was Maffei erfand, that Voltaire nach. Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umstaͤnden, die er vom Maffei entlehnte, eine andere Wendung. Z. E. Anstatt daß, beym Maffei, Maffei, Polyphont bereits funfzehn Jahre regie- ret hat, laͤßt er die Unruhen in Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beym Maffei, Aegisth von einem Raͤuber auf der Straße angefallen wird, laͤßt er ihn in einem Tempel des Herkules von zwey Unbekannten uͤberfallen werden, die es ihm uͤbel nehmen, daß er den Herkules fuͤr die Herakliden, den Gott des Tempels fuͤr die Nachkommen dessel- ben, anfleht. Anstatt daß, beym Maffei, Ae- gisth durch einen Ring in Verdacht geraͤth, laͤßt Voltaire diesen Verdacht durch eine Ruͤ- stung entstehen, u. s. w. Aber alle diese Ver- aͤnderungen betreffen die unerheblichsten Kleinig- keiten, die fast alle außer dem Stuͤcke sind, und auf die Oekonomie des Stuͤckes selbst keinen Einfluß haben. Und doch wollte ich sie Voltai- ren noch gern als Aeußerungen seines schoͤpferi- schen Genies anrechnen, wenn ich nur faͤnde, daß er das, was er aͤndern zu muͤssen vermeinte, in allen seinen Folgen zu aͤndern verstanden haͤt- te. Ich will mich an dem mittelsten von den angefuͤhrten Beyspielen erklaͤren. Maffei laͤßt seinen Aegisth von einem Raͤuber angefallen werden, der den Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern ei- ner Bruͤcke uͤber die Pamise; Aegisth erlegt den Raͤuber, und wirft den Koͤrper in den Fluß, D d d 3 aus aus Furcht, wenn der Koͤrper auf der Straße gefunden wuͤrde, daß man den Moͤrder verfol- gen und ihn dafuͤr erkennen duͤrfte. Ein Raͤu- ber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den Beutel nehmen will, ist fuͤr mein feines, edles Parterr ein viel zu nie- driges Bild; besser, aus diesem Raͤuber einen Mißvergnuͤgten gemacht, der dem Aegisth als einem Anhaͤnger der Herakliden zu Leibe will. Und warum nur Einen? Lieber zwey; so ist die Heldenthat des Aegisths desto groͤßer, und der, welcher von diesen zweyen entrinnt, wenn er zu dem aͤltrern gemacht wird, kann hernach fuͤr den Narbas genommen werden. Recht gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen von diesen Mißver- gnuͤgten erlegt hat, was thut er alsdenn? Er traͤgt den todten Koͤrper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der leeren Landstraße in den nahen Fluß; das ist ganz be- greiflich: aber aus dem Tempel in den Fluß, dieses auch? War denn außer ihnen niemand in diesem Tempel? Es sey so; auch ist das die groͤßte Ungereimtheit noch nicht. Das Wie ließe sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maf- feis Aegisth traͤgt den Koͤrper in den Fluß, weil er sonst verfolgt und erkannt zu werden fuͤrchtet; weil er glaubt, wenn der Koͤrper bey Seite ge- schaft sey, daß sodann nichts seine That verra- then then koͤnne; daß diese sodann, mit sammt dem Koͤrper, in der Fluth begraben sey. Aber kann das Voltairens Aegisth auch glauben? Nim- mermehr; oder der zweyte haͤtte nicht entkom- men muͤssen. Wird sich dieser begnuͤgen, sein Leben davon getragen zu haben? Wird er ihm nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten beobachten? Wird er ihn nicht mit sei- nem Geschrey verfolgen, bis ihn andere festhal- ten? Wird er ihn nicht anklagen, und wider ihn zeugen? Was hilft es dem Moͤrder also, das Corpus delicti weggebracht zu haben? Hier ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Muͤhe haͤtte er sparen, und dafuͤr eilen sollen, je eher je lieber uͤber die Grenze zu kom- men. Freylich mußte der Koͤrper, des Folgen- den wegen, ins Wasser geworfen werden; es war Voltairen eben so noͤthig als dem Maffei, daß Merope nicht durch die Besichtigung dessel- ben aus ihrem Irrthume gerissen werden konnte; nur daß, was bey diesem Aegisth sich selber zum Besten thut, er bey jenem blos dem Dichter zu gefallen thun muß. Denn Voltaire corrigirte die Ursache weg, ohne zu uͤberlegen, daß er die Wirkung dieser Ursache brauche, die nunmehr von nichts, als von seiner Beduͤrfniß abhaͤngt. Eine einzige Veraͤnderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die nehmlich, durch welche er den den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Moͤrder ihres Sohnes zu raͤchen, unter- druͤckt, und dafuͤr die Erkeunung von Seiten des Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen laͤßt. Hier erkenne ich den Dichter, und besonders ist die zweyte Scene des vierten Akts ganz vortreff- lich. Ich wuͤnschte nur, daß die Erkennung uͤber- haupt, die in der vierten Scene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu muͤssen das Ansehen hat, mit mehrerer Kunst haͤtte getheilet werden koͤnnen. Denn daß Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggefuͤhret wird, und die Vertiefung sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht ein Haar besser, als die uͤbereilte Flucht, mit der sich Aegisth bey dem Maffei rettet, und uͤber die Voltaire seinen Lindelle so spotten laͤßt. Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natuͤrlicher; wenn der Dichter nur hernach Sohn und Mutter einmal zu ammen gebracht, und uns nicht gaͤnzlich die ersten ruͤhrenden Ausbruͤche ihrer beiderseitigen Empfindungen gegen einander, vorenthalten haͤtte. Vielleicht wuͤrde Voltaire die Erkennung uͤberhaupt nicht getheilet haben, wenn er seine Materie nicht haͤtte dehnen muͤssen, um fuͤnf Akte damit vollzu- machen. Er jammert mehr als einmal uͤber cette longue carriére de cinq actes qui est prodigieu- sement difficile à remplir sans episodes — Und nun fuͤr diesesmal genug von der Merope! Ham- Hamburgische Dramaturgie. Ein und funfzigstes Stuͤck. Den 23sten October, 1767. D en neun und dreyßigsten Abend (Mitte- wochs, den 8ten Julius,) wurden der verheyrathete Philosoph und die neue Agnese, wiederholt. S. den 5ten und 7ten Abend, Seite 75 und 91. Chevrier sagt, L’Observateur des Spectacles T. II. p. 135. daß Destouches sein Stuͤck aus einem Lustspiele des Campistron geschoͤpft habe, und daß, wenn dieser nicht seinen Jaloux desabusé geschrieben haͤtte, wir wohl schwerlich einen verheyratheten Philosophen haben wuͤrden. Die Komoͤdie des Campistron ist unter uns we- nig bekannt; ich wuͤßte nicht, daß sie auf irgend einem deutschen Theater waͤre gespielt worden; auch ist keine Uebersetzung davon vorhanden. Man duͤrfte also vielleicht um so viel lieber wis- sen E e e sen wollen, was eigentlich an dem Vorgeben des Chevrier sey. Die Fabel des Campistronschen Stuͤcks ist kurz diese: Ein Bruder hat das ansehnliche Ver- moͤgen seiner Schwester in Haͤnden, und um die- ses nicht herausgeben zu duͤrfen, moͤchte er sie lieber gar nicht verheyrathen. Aber die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um ihren Mann zu vermoͤgen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf alle Weise eifersuͤchtig zu machen, indem sie ver- schiedne junge Mannspersonen sehr guͤtig auf- nimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich um ihre Schwaͤgerinn zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt; der Mann wird eifersuͤchtig; und williget endlich, um sei- ner Frau den vermeinten Vorwand, ihre An- beter um sich zu haben, zu benehmen, in die Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner Frau, dem zu ge- fallen sie die Rolle der Coquette gespielt hatte. Der Mann sieht sich beruͤckt, ist aber sehr zu- frieden, weil er zugleich von dem Ungrunde sei- ner Eifersucht uͤberzeugt wird. Was hat diese Fabel mit der Fabel des ver- heyratheten Philosophen aͤhnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus dem zweyten Akte des Campistronschen Stuͤcks, zwischen Dorante, so heißt der Eifer- suͤch- suͤchtige, und Dubois, seinem Sekretair. Diese wird gleich zeigen, was Chevrier gemeinet hat. Und was fehlt Ihnen denn? Ich bin verdruͤßlich, aͤrgerlich; alle meine ehemalige Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht auf- hoͤren wird, mich zu martern, zu peinigen — Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker? Meine Frau. Ihre Frau, mein Herr? Ja, meine Frau, meine Frau. — Sie bringt mich zur Verzweiflung. Hassen Sie sie denn? Wollte Gott! So waͤre ich ru- hig. — Aber ich liebe sie, und liebe sie so sehr — Verwuͤnschte Quaal! Sie sind doch wohl nicht eifersuͤchtig? Bis zur Raserey. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifer- suͤchtig? Sie, der Sie von je her uͤber alles, was Eifersucht heißt, — Gelacht, und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran! Ich Geck, mich von den elenden Sitten der großen Welt so hinreissen zu lassen! In das Geschrey der Narren einzustimmen, die sich uͤber die Ordnung und Zucht unserer ehrli- chen Vorfahren so lustig machen! Und ich stimmte E e e 2 nicht nicht blos ein; es waͤhrte nicht lange, so gab ich den Ton. Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was fuͤr albernes Zeug habe ich nicht gesprochen! Eheliche Treue, bestaͤndige Liebe, pfuy, wie schmeckt das nach dem kleinstaͤdischen Buͤrger! Der Mann, der seiner Frau nicht allen Willen laͤßt, ist ein Baͤr! Der es ihr uͤbel nimmt, wenn sie auch andern gefaͤllt und zu gefallen sucht, gehoͤrt ins Tollhaus. So sprach ich, und mich haͤtte man da sollen ins Tollhaus schicken. — Aber warum sprachen Sie so? Hoͤrst du nicht? Weil ich ein Geck war, und glaubte, es ließe noch so galant und weise. — Inzwischen wollte mich meine Familie ver- heyrathet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Maͤdchen vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben; die soll in meiner Denkungsart nicht viel aͤndern; ich liebe sie itzt nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichguͤltiger gegen sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward taͤglich schoͤ- ner, taglich reitzender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie — Nun, das nenne ich gefangen wer- den! Denn ich bin so eifersuͤchtig! — Daß ich mich schame, es auch nur dir zu beken- nen. — Alle meine Freunde sind mir zuwider — und und verdaͤchtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause zu suchen? Was wollen die Muͤßiggaͤnger? Wozu alle die Schmeicheleyen, die sie meiner Frau ma- chen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere er- hebt ihr gefaͤlliges Wesen bis in den Himmel. Den entzuͤcken ihre himmlischen Augen, und den ihre schoͤnen Zaͤhne. Alle finden sie hoͤchst reitzend, hoͤchst anbetenswuͤrdig; und immer schließt sich ihr verdammtes Geschwaͤtze mit der verwuͤnschten Be- trachtung, was fuͤr ein gluͤcklicher, was fuͤr ein beneidenswuͤrdiger Mann ich bin. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu. O, sie treiben ihre unverschaͤmte Kuͤhnheit wohl noch weiter! Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest du erst sehen und hoͤren! Jeder will da seine Auf- merksamkeit und seinen Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt den andern, eine boshafte Spoͤtterey die andere, ein kuͤtzelndes Histoͤrchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Minen, mit Liebaͤugeleyen, die meine Frau so leutselig anuimmt, so verbindlich erwiedert, daß — daß mich der Schlag oft ruͤhren moͤchte! Kannst du glauben, Dubois? ich muß es wohl mit ansehen, daß sie ihr die Hand kuͤssen. Das ist arg! E e e 3 Do- Gleichwohl darf ich nicht muchsen. Denn was wuͤrde die Welt dazu sagen? Wie laͤ- cherlich wuͤrde ich mich machen, wenn ich meinen Verdruß auslassen wollte? Die Kinder auf der Straaße wuͤrden mit Fingern auf mich weisen. Alle Tage wuͤrde ein Epigramm, ein Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen u. s. w. Diese Situation muß es seyn, in welcher Chevrier das Aehnliche mit dem verheyratheten Philosophen gefunden hat. So wie der Eifer- suͤchtige des Campistron sich schaͤmet, seine Ei- fersucht auszulassen, weil er sich ehedem uͤber diese Schwachheit allzulustig gemacht hat: so schaͤmt sich auch der Philosoph des Destouches, seine Heyrath bekannt zu machen, weil er ehe- dem uͤber alle ernsthafte Liebe gespottet, und den ehelosen Stand fuͤr den einzigen erklaͤrt hat- te, der einem freyen und weisen Manne anstaͤn- dig sey. Es kann auch nicht fehlen, daß diese aͤhnliche Schaam sie nicht beide in mancherley aͤhnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z. E., die, in welcher sich Dorante beym Cam- pistron siehet, wenn er von seiner Frau verlangt, ihm die uͤberlaͤstigen Besucher von Halse zu schaffen, diese aber ihn bedeutet, daß das eine Sache sey, die er selbst bewerkstelligen muͤsse, fast die nehmliche mit der bey dem Destouches, in welcher sich Arist befindet, wenn er es selbst dem dem Marquis sagen soll, daß er sich auf Meliten keine Rechnung machen koͤnne. Auch leidet dort der Eifersuͤchtige, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart uͤber die Eifersuͤchtigen spot- ten, und er selbst sein Wort dazu geben muß, ungefehr auf gleiche Weise, als hier der Philo- soph, wenn er sich muß sagen lassen, daß er ohne Zweifel viel zu klug und vorsichtig sey, als daß er sich zu so einer Thorheit, wie das Heyrathen, sollte haben verleiten lassen. Dem ohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bey seinem Stuͤcke nothwendig das Stuͤck des Campistron vor Augen gehabt haben muͤßte; und mir ist es ganz begreiflich, daß wir jenes haben koͤnnten, wenn dieses auch nicht vor- handen waͤre. Die verschiedensten Charaktere koͤnnen in aͤhnliche Situationen gerathen; und da in der Komoͤdie die Charaktere das Haupt- werk, die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich aͤußern zu lassen, und ins Spiel zu setzen: so muß man nicht die Situationen, sondern die Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stuͤck Original oder Co- pie genennt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der Tragoͤdie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind, und Schrecken und Mitleid vor- nehmlich aus den Situationen entspringt. Aehn- liche Situationen geben also aͤhnliche Tragoͤdien, aber nicht aͤhnliche Komoͤdien. Hingegen geben aͤhn- aͤhnliche Charaktere aͤhnliche Komoͤdien, anstatt daß sie in den Tragoͤdien fast gar nicht in Erwaͤ- gung kommen. Der Sohn unsers Dichters, welcher die praͤchtige Ausgabe der Werke seines Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbaͤnden aus der Koͤniglichen Druckerey zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu dieser Ausgabe, eine besondere dieses Stuͤck betreffende Anekdote. Der Dichter nehmlich habe sich in England verheyrathet, und aus ge- wissen Ursachen seine Verbindung geheim halten muͤssen. Eine Person aus der Familie seiner Frau aber habe das Geheimniß fruͤher ausge- plaudert, als ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem verheyratheten Philosophen gegeben. Wenn dieses wahr ist, — und warum sollten wir es seinem Sohne nicht glauben? — so duͤrfte die vermeinte Nachahmung des Cam- pistron um so eher wegfallen. Ham- Hamburgische Dramaturgie. Zwey und funfzigstes Stuͤck. Den 27sten October, 1767. D en vierzigsten Abend (Donnerstags, den 9ten Julius,) ward Schlegels Tri- umph der guten Frauen, aufgefuͤhret. Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es war, so viel ich weiß, das letzte komische Werk des Dichters, das seine fruͤhern Geschwister unendlich uͤbertrift, und von der Reife seines Urhebers zeiget. Der ge- schaͤftige Muͤßiggaͤnger war der erste jugendliche Versuch, und fiel aus, wie alle solche jugend- liche Versuche ausfallen. Der Witz verzeihe es denen, und raͤche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darinn gefunden haben! Er enthaͤlt das kalteste, langweiligste Alltagsgewaͤsche, das nur immer in dem Hause eines Meißnischen Pelz- haͤndlers vorfallen kann. Ich wuͤßte nicht, daß er jemals waͤre aufgefuͤhrt worden, und ich zweifle, daß seine Vorstellung duͤrfte auszuhal- F f f ten ten seyn. Der Geheimnißvolle ist um vieles bes- ser; ob es gleich der Geheimnißvolle gar nicht geworden ist, den Moliere in der Stelle geschil- dert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß zu diesem Stuͤcke wollte genommen haben. Misantrope Acte II. Sc. 4. C’est de la tête aux pieds, un homme tout mistere, Qui vous jette, en passant, un coup d’oeil egaré, Et sans aucune affaire est toujours affairé. Tout ce qu’il vous debite en grimaces abonde. A force de façons il assomme le monde. Sans cesse il a tout bas, par rompre l’en- tretien. Un secret à vous dire, \& ce secret n’est rien. De la moindre vetille il fait une merveille Et jusques au bon jour, il dit tout à l’oreille. Moliers Geheimnißvoller ist ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels Geheimnißvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen will, um von den Woͤlfen nicht gefressen zu werden. Daher koͤmmt es auch, daß er so viel aͤhnliches mit dem Charakter des Mißtrauischen hat, den Cronegk hernach auf die Buͤhne brachte. Beide Charaktere aber, oder vielmehr beide Nuancen des nehmlichen Charakters, koͤnnen nicht anders als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindli- chen und haͤßlichen Seele sich finden, daß ihre Vor- Vorstellungen nothwendig mehr Mitleiden oder Abscheu erwecken muͤssen, als Lachen. Der Ge- heimnißvolle ist wohl sonst hier aufgefuͤhret wor- den; man versichert mich aber auch durchgaͤngig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr begreiflich, daß man ihn laͤppischer ge- funden habe, als lustig. Der Triumph der guten Frauen hingegen hat, wo er noch aufgefuͤhret worden, und so oft er noch aufgefuͤhret worden, uͤberall und jederzeit, einen sehr vorzuͤglichen Beyfall erhalten; und daß sich dieser Beyfall auf wahre Schoͤnheiten gruͤnden muͤsse, daß er nicht das Werk einer uͤberraschenden blendenden Vorstellung sey, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach Lesung des Stuͤcks, zuruͤckgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefaͤllt es um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen ge- sehen, dem gefaͤllt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es die strengesten Kunst- richter eben so sehr seinen uͤbrigen Lustspielen, als diese uͤberhaupt dem gewoͤhnlichen Prasse deutscher Komoͤdien vorgezogen. 〟Ich las, sagt einer von ihnen, Briefe, die neueste Litteratur betreffend. Th. XXI. S. 133. den ge- schaͤftigen Muͤßiggaͤnger: die Charaktere schie- F f f 2 nen nen mir vollkommen nach dem Leben; solche Muͤßiggaͤnger, solche in ihre Kinder vernarrte Muͤtter, solche schalwitzige Besuche, und solche dumme Pelzhaͤndler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht gethan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gaͤhnte vor Langeweile. — Ich las darauf den Triumph der guten Frauen. Wel- che Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, aͤch- ten Witz in ihren Gespraͤchen, und den Ton ei- ner feinen Lebensart in ihrem ganzen Umgan- ge.〟 Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat, ist der, daß die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider, muß man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu sehr an frem- de, und besonders an franzoͤsische Sitten ge- woͤhnt, als daß er eine besonders uͤble Wirkung auf uns haben koͤnnte. 〟Nikander, heißt es, ist ein franzoͤsischer Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ern- ste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stuͤrzen, aller Frauen Verfuͤhrer und aller Maͤn- Maͤnner Schrecken zu werden sucht, und der bey allem diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbniß der Sitten und Grund- saͤtze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gott- lob! daß ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben muß. — Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wo- chen nach der Hochzeit verlassen, und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, koͤmmt auf den Einfall ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson, und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Haͤuser nach, wo er Avanturen sucht. Philint ist witziger, flat- terhafter und unverschaͤmter als Nikander. Das Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen aber doch arti- gen Wesen sich sehen laͤßt, stehet Nikander da wie verstummt. Dieses giebt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die Erfindung ist artig, der zweyfache Charakter wohl gezeich- net, und gluͤcklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petit- maitre ist gewiß kein Deutscher.〟 〟Was mir, faͤhrt er fort, sonst an diesem Lustspiele mißfaͤllt, ist der Charakter des Age- nors. Den Triumph der guten Frauen voll- kommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehe- mann von einer gar zu haͤßlichen Seite. Er F f f 3 ty- tyrannisiret seine unschuldige Juliane auf das unwuͤrdigste, und hat recht seine Lust sie zu quaͤ- len. Graͤmlich, so oft er sich sehen laͤßt, spoͤt- tisch bey den Thraͤnen seiner gekraͤnkten Frau, argwoͤhnisch bey ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Hand- lungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachtheile auszulegen, eifersuͤchtig, hart, un- empfindlich, und, wie sie sich leicht einbilden koͤnnen, in seiner Frauen Kammermaͤdchen ver- liebt. — Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als daß wir ihm eine schleunige Besserung zu- trauen koͤnnten. Der Dichter giebt ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswuͤrdigen Herzens nicht genug entwickeln koͤnnen. Er tobt, und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Eben so wenig hat der Dichter Raum gehabt, seine Besserung gehoͤrig vorzubereiten und zu veran- stalten. Er mußte sich begnuͤgen, dieses gleich- sam im Vorbeygehen zu thun, weil die Haupt- handlung mit Nikander und Philinten zu schaf- fen hatte. Kathrine, dieses edelmuͤthige Kam- mermaͤdchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: Die geschwindesten Bekehrungen sind nicht alle- mal die aufrichtigsten! Wenigstens so lange die- ses Maͤdchen im Hause ist, moͤchte ich nicht fuͤr die Aufrichtigkeit stehen.〟 Ich Ich freue mich, daß die beste deutsche Ko- moͤdie dem richtigsten deutschen Beurtheiler in die Haͤnden gefallen ist. Und doch war es viel- leicht die erste Komoͤdie, die dieser Mann be- urtheilte. Ende des ersten Bandes. Druckfehler. S. 119. Z. 7. ist austatt Gesetze zu lesen Rechte. S. ebd. Z. 17. — — Stuͤcke — — Aufzuͤge. S. 151. Z. 16. — — des Polydors — — des Antenors. S. 177. Z. 5. — — daß die Fehler — — daß viele von den Fehlern. Nachricht. Den Titel zu diesem Bande werden die Leser am Ende des zweyten Bandes, zum Schlusse des Jah- res, auf Ostern, erhalten.