Das Staatsrecht des Deutschen Reiches . Zweiter Band. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches . Von Dr. Paul Laband, Professor d. Deutschen Rechts an der Universität Straßburg. Zweiter Band. Tübingen , 1878. Verlag der H. Laupp 'schen Buchhandlung. Das Recht der Uebersetzung wird vorbehalten. Druck von H. Laupp in Tübingen. Vorwort . Der in dem Vorwort zum ersten Bande angedeutete Plan, das Werk in zwei Bänden erscheinen zu lassen, hat eine Abände- rung erfahren, indem die Darstellung der auf das Heer und die Marine, auf die Gerichtsverfassung und auf das Reichsfinanzwesen sich beziehenden Rechtssätze einem dritten Bande vorbehalten worden ist. Der Grund hierfür liegt nicht allein in dem großen Umfange des Stoffes, der eine äußerliche Abtrennung der erwähnten Materien zweckmäßig erscheinen ließ; sondern zum Theil in der gegenwärtigen Lage der Gesetzgebung. Die Justizgesetzgebung ist noch nicht vol- lendet; dieselbe wird im Laufe des nächsten Jahres erst durch den Erlaß der noch fehlenden Rechtsanwalts-Ordnung und des Reichs- gesetzes über die Gerichtskosten, sowie durch die Ausführungs-Ge- setze der Einzelstaaten ihren Abschluß finden. Die Ordnung des Finanzwesens des Reiches aber geht einer eingreifenden Umgestal- tung entgegen, indem die Einführung neuer unmittelbarer Einnahme- Quellen des Reiches in naher Aussicht steht. Die Tragweite dieser Reform ist ebenso wenig in staatsrechtlicher wie in politischer Hin- sicht in diesem Augenblicke zu übersehen. Eine Darstellung des gegenwärtigen Rechtszustandes würde daher der Gefahr unter- liegen, schon bei ihrer Veröffentlichung veraltet zu sein. Vorwort. In dieser Erwägung erschien es angemessen, die Erörterung der angegebenen Lehren noch aufzuschieben und sie für den Schluß- band vorzubehalten, der hoffentlich nach einer nicht zu langen Pause erscheinen wird. Straßburg , im November 1877. Inhalts-Verzeichniß. Siebentes Kapitel. Die Gesetzgebung des Reiches. Seite §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes 1 §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung 24 §. 58. Gesetze im formellen Sinne 59 §. 59. Die Verordnungen des Reiches 67 §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze 93 §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung 106 §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen 120 Achtes Kapitel. Die Staatsverträge des Reiches. §. 63. Begriff und juristische Natur 152 §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen 160 §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge 185 §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder 194 Neuntes Kapitel. Die Verwaltung des Reiches. I. Abschnitt. Allgemeine Grundsätze . §. 67. Der Begriff der Verwaltung 198 §. 68. Die Formen der Verwaltung 212 §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung 229 II. Abschnitt. Die einzelnen Verwaltungszweige . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten 239 §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie 284 §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens 358 §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens 380 §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens mit Einschluß des Papiergeldes 410 §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens 439 §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens 456 Siebentes Kapitel. Die Gesetzgebung des Reiches. §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. Das Wort Gesetz hat in der Rechtswissenschaft eine doppelte Bedeutung, welche man als die materielle und formelle bezeichnen kann. Im materiellen Sinne bedeutet Gesetz die rechtsver- bindliche Anordnung eines Rechtssatzes . Der Begriff ist demnach aus zwei Elementen zusammengesetzt, welche durch die Worte „Anordnung“ und „Rechtssatz“ gegeben sind. Den Gegen- satz dazu bildet in einer Beziehung das Gewohnheitsrecht Der Ausdruck „Gesetz“ wird indessen im materiellen Sinne auch als gleichbedeutend mit „Rechtsnorm“ verwendet, so daß er auch das Gewohnheits- recht mit einschließt. Es beruht dies auf der sehr untergeordneten Bedeutung, welche bei den staatlichen Zuständen der Gegenwart dem Gewohnheitsrecht im Verhältniß zum Gesetzesrechte zukömmt. In diesem weitesten Sinne wird das Wort „Gesetz“ erklärt in den Einführungs-Gesetzen zur Strafproceß- Ordn. §. 7, zur Civilproc.-Ordn. §. 12, zur Konkurs-Ordn. §. 2. , welches zwar Rechtssätze enthält, deren Geltung aber nicht auf einer Anordnung, also einem Willensact, sondern auf dem Bewußt- sein von der Rechtsverbindlichkeit einer thatsächlich bestehenden Ue- bung beruht. Den Gegensatz in der anderen Richtung bildet das Rechtsgeschäft , welches zwar ein Willensact, eine rechtswirk- same Anordnung ist, aber nicht Rechtssätze zum Inhalt hat, son- dern subjective Rechte und Pflichten. Aus dem Begriff des Gesetzes leiten sich folgende Sätze ab: 1) Es gehört zum Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne des Wortes, daß dasselbe einen Rechtssatz aufstellt; aber nicht, daß dieser Rechtssatz eine allgemeine Regel enthält, welche auf viele oder auch nur auf eine unbestimmte Anzahl von Fällen an- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 1 §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. wendbar ist Dies ist freilich eine weit verbreitete Annahme. Vgl. z. B. Zachariä , Staatsr. II. §. 155 (S. 140). Zöpfl , Staatsr. II. §. 430. v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172. . Zwar liegt es in der Natur des Rechts , daß dasselbe gewöhnlich solche Regeln bildet, welche in allen Fällen An- wendung finden sollen, in denen ein bestimmter Thatbestand ge- geben ist, und da das Gesetz eine Rechtsq uelle ist, so hat es ge- wöhnlich, dieser Natur des Rechtes entsprechend, einen allgemeinen Rechtssatz zum Inhalt. Allein dies ist eben nur ein Naturale, nicht ein Essentiale des Gesetzes-Begriffes. Mit dem Begriff des Gesetzes ist es völlig vereinbar, daß dasselbe einen Rechtssatz auf- stellt, der nur auf einen einzigen Thatbestand anwendbar ist, oder nur ein einzelnes concretes Rechtsverhältniß regelt Alsdann kann im praktischen Erfolge die Regelung dieses Rechtsver- hältnisses durch Gesetz der Begründung des Rechtsverhältnisses durch Rechts- geschäft sehr nahe kommen, grade so, wie bei dem sogen. Herkommen es oft schwer zu unterscheiden ist, ob man es mit der Regelung eines Rechtsverhält- nisses durch locales Gewohnheitsrecht oder mit der Begründung eines Rechtsverhältnisses durch Ersitzung , also mit objectivem oder subjectivem Recht, zu thun hat. Man muß aber festhalten, daß an und für sich Beides möglich ist. . Für ein Gesetz dieser Art hat die römische Rechtssprache einen besonderen technischen Namen; es heißt privilegium. Grade weil aber hier die Rechtsregel mit dem von ihr normirten Rechtsverhältniß sich deckt, hat man das Wort auch auf das subjektive Recht angewen- det, welches durch die für den concreten Fall gegebene lex begründet wird. Die Sprache hat sich dann des Wortes bemächtigt, um jede Abweichung von dem gewöhnlichen Rechtszustande, jede dem ius singulare angehörende Rechtsvorschrift und jede durch ius singulare begründete subjective Berechtigung zu bezeichnen Ueber die Bedeutungen des Wortes im Corpus iuris von Justinian vgl. v. Savigny , System I. S. 62, von Wächter , Würtb. Privatr. II. 1. S. 16. . Der Deutschen Rechtssprache fehlt das Gefühl für den ur- sprünglichen Sinn des fremden Wortes als einer besonders gear- teten lex gänzlich; man verwendet es seit Jahrhunderten für jede Art von subjectiven Befugnissen, die nicht durch die allgemein gül- tigen Rechtsvorschriften von selbst gegeben sind, und für jeden Akt der Staatsgewalt, durch welchen derartige Befugnisse zur Ent- stehung kommen können. Das Wort Privilegium entspricht dem- §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. gemäß ebenso wenig einem bestimmten Rechtsbegriff, wie das Wort Vorrecht. Es wird verwendet zur Bezeichnung theils von Regeln des ius singulare, z. B. Privilegien der Minderjährigen, Kirchen, Weiber, Soldaten, bevorzugten Gläubiger u. s. w., theils von vertragsmäßig eingeräumten Begünstigungen, z. B. Zoll- oder Schifffahrtsprivilegien, welche durch internationale Handelsverträge festgesetzt sind, theils von Vorrechten oder Befreiungen, welche durch Akte der Staatsgewalt, seien es nun Akte der Verwaltung oder der Gesetzgebung, begründet worden sind. Es ist mithin un- richtig, das Wort Privilegium, so wie es in dem modernen Sprach- gebrauch verwendet wird, mit lex specialis oder lex in privos ho- mines lata zu identifiziren und die sogenannte Privilegienhoheit als einen Bestandtheil der „gesetzgebenden Gewalt“ zu erklären. Vielmehr ist die Ertheilung eines sogenannten Privilegiums in der Mehrzahl der Fälle ein Akt der Staat sverwaltung innerhalb des durch die Gesetze abgegränzten Gebietes, auf welchem die Hand- lungsfreiheit der Regierung ihren Spielraum hat Vgl. besonders die Abhandlung v. Gerber ’s in der Tübinger Zeit- schrift f. Staatswissensch. 1871 S. 430 fg. (Auch in seinen gesammelten Jurist. Abhandlungen S. 470 fg.) . Aber es ist andererseits ebenso unrichtig, das Privilegium als begrifflichen Gegensatz des Gesetzes hinzustellen und zu behaup- ten, die Ertheilung eines Privilegiums sei immer eine Verwal- tungshandlung So Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 206 fg., der sich auf v. Gerber — wie ich glaube, mit Unrecht — für seine Ansicht beruft. . Beides ist vielmehr möglich; ein Privilegium kann bald durch Rechtsgeschäft (Verwaltungsact), bald durch Ge- setzgebungsact ( lex specialis ) begründet sein v. Wächter a. a. O. Note 13. . In allen Fällen, in welchen bestehende Rechtsgrundsätze aufgehoben oder suspendirt werden sollen, ohne daß der Regierung eine allgemeine Ermäch- tigung hierzu durch einen Rechtssatz ertheilt worden ist, bedarf es einer lex specialis. Insbesondere ist es aber auch möglich, daß für einen einzelnen, concreten Fall ein Rechtssatz angeordnet oder eine sonst geltende allgemeine Rechtsregel abgeändert wird, ohne daß zugleich eine subjective Berechtigung oder Begünstigung be- gründet wird. Eine solche Anordnung ist ein privilegium im ech- 1* §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. ten und ursprünglichen Sinne des Wortes, eine wahre und wirk- liche lex specialis. Auch für die Reichsgesetzgebung gelten diese, aus dem Begriffe des Gesetzes sich herleitenden Regeln; und wenngleich die Reichs- verfassung eine Bestimmung darüber nicht enthält, so haben sie doch unzweifelhaft Anerkennung und Anwendung gefunden. Ver- waltungsacte, z. B. die Ernennungen der Reichsbeamten, sind nie- mals unter dem Gesichtspunkt der lex specialis aufzufassen, auch wenn der gemeine Sprachgebrauch sie selbst oder die aus ihnen hervorgehenden Berechtigungen als Privilegien bezeichnet; anderer- seits ist die Anordnung eines Rechtssatzes ein Gesetz auch dann, wenn der Rechtssatz nur auf einen einzigen Fall anwendbar ist. Beispiele für solche Specialgesetze sind das Gesetz vom 21. Juli 1870 (B.G.-Bl. S. 498) über die Verlängerung der Legislatur- Periode des am 31. August 1867 gewählten Reichstages; das Gesetz v. 24. Dez. 1874 (R.-G.-Bl. S. 194) über die geschäftliche Behandlung der Entwürfe des Gerichtsverfassungsgesetzes und der beiden Prozeß-Ordnungen Vgl. darüber Bd. I. S. 557 fg. Ferner die entsprechenden Gesetze vom 1. Febr. 1876 und vom 20. Febr. 1876 (R.G.-Bl. S. 15. 23.). , sowie die Gesetze über die Kontrole der Staatsrechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlassen worden sind Vergl. Bd. I. S. 356 Note 1. Ferner gehört hierher das Gesetz vom 11. Juni 1870 (B.G.-Bl. S. 416); insofern es Mecklenburg-Schwerin und An- halt eine Abfindung für die Aufhebung des Elbzolles gewährt, begründet es zugleich subjective Rechte dieser Staaten gegen den Reichsfiscus. Andererseits enthält das Ges. vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts im §. 1 ein privilegium onerosum, indem es die im §. 8 des Einf.-Ges. zum Gerichts- verfassungsges. anerkannte Rechtsbefugniß der Einzelstaaten zur Errichtung eines obersten Landesgerichtes dem Königreich Sachsen entzieht. . 2) Ein Gesetz enthält eine Rechtsregel, aber es ist zum Be- griff eines Gesetzes nicht genügend , daß lediglich ein Rechtssatz formulirt wird. Die Constatirung, daß ein Rechtssatz bestehe, oder daß er zweckmäßig oder vernünftig sei, oder daß seine Einführung beantragt oder beschlossen sei, ist wesentlich verschieden von einem Gesetz. Der im Gesetz zu Tage tretende Wille ist stets ein Be- fehl , daß der in dem Gesetz enthaltene Rechtssatz befolgt werden soll. Jedes Gesetz ist eine Anordnung und setzt das iubeo des §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. Gesetzgebers voraus Die alte römische Formel des Gesetzes-Vorschlags lautete velitis iubea- tis hoc, Quirites, rogo. — Gaius I. §. 3 definirt: Lex est quod populus iubet atque constituit ; plebiscitum est quod plebs iubet atque con- stituit. . In jedem Gesetz ist deshalb ein doppelter Bestandtheil zu unterscheiden, die in dem Gesetze formulirte Rechts- regel und die Ausstattung derselben mit rechtsverbindlicher Kraft, oder wie man auch sagen kann, der Gesetzes- Inhalt und der Gesetzes- Befehl . Diese beiden Elemente des Gesetzesbegriffes können mit ein- ander derartig verbunden sein, daß ihre Unterscheidung ohne staats- rechtliche Bedeutung ist. Sowohl die souveraine Volksversammlung wie der absolute Monarch beschließt die Rechtsregel und befiehlt zugleich ihre Geltung. Es ist aber ebenso gut möglich, daß für die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes andere Vorschriften bestehen und daß dabei andere Kräfte mitwirken, wie für die Ertheilung des Gesetzes-Befehles. Alsdann wird die Unterscheidung beider Momente von großer theoretischer und praktischer Wichtigkeit. Man verschließt sich jede Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntniß der Lehre von der Gesetzgebung, wenn man das Wesen des Gesetzes in der Schaffung eines Rechtssatzes erblickt. Gesetzgebung ist vielmehr lediglich die Ausstattung eines Rechtssatzes mit ver- bindlicher Kraft, mit äußerer Autorität; sie besteht in der Sanc- tion eines Rechtssatzes Gute Bemerkungen über die Bedeutung der Gesetzgebung als Rechts- quelle finden sich bei von Mohl , Staatsrecht, Völkerrecht, Politik II. S. 380 ff. Vgl. auch Jordan , Lehrb. des Staatsrechts §. 186. 213. (S. 341 fg.) . Es ist nicht einmal nothwendig, daß ein Organ des Staates an der Feststellung des Gesetzes-Inhaltes mitwirkt; der Staat kann in die Lage kommen, nicht nur den Rechtssatz in dem geltenden Gewohnheitsrecht, sondern sogar den Wortlaut des Gesetzes, dem er die Sanction ertheilen soll, bereits als gegeben vorzufinden. Durch einen völkerrechtlichen Vertrag können zwei oder mehrere Staaten sich verpflichten, einen vertragsmäßig festgestellten Complex von Rechtssätzen gleichlautend zum Gesetz zu erheben. Im ehe- maligen Deutschen Bunde konnte die Bundes-Versammlung durch Beschluß Rechtsregeln formuliren, sogenannte Bundesgesetze machen, welche an sich keine Gesetzeskraft hatten, denen aber die einzelnen §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. Bundesstaaten dieselbe zu ertheilen verpflichtet waren. Wechsel- Ordnung und Handelsgesetzbuch sind bei ihrem ersten Entstehen von keinem verfassungsmäßig zur Gesetzgebung berufenen Organe eines Deutschen Staates ihrem Inhalte nach festgestellt oder be- schlossen, wohl aber von den einzelnen Staaten zum Gesetz erklärt oder als Gesetz eingeführt, d. h. mit Gesetzeskraft ausgestattet worden. Ihre Erklärung zu Reichsgesetzen änderte Nichts an ihrem Inhalte, sondern ersetzte lediglich den Gesetzesbefehl der Einzel- staaten durch den Gesetzesbefehl des Reiches. Für mehrere Rechtsgebiete ergehende selbstständige Gesetzes- Befehle mit identischem Rechtsinhalt schaffen materiell gemeines Recht; ein für mehrere Rechtsgebiete verbindlicher Gesetzes-Befehl begründet für dieselben formell gemeines Recht. Auch innerhalb des einzelnen Staates aber kann die Feststellung dessen, was Gesetz werden soll, einem andern Organ obliegen, als dem- jenigen, welchem die Sanction zukömmt. Dies ist insbesondere in der constitutionellen Monarchie der Fall. Der Monarch als der alleinige Träger der ungetheilten und untheilbaren Staatsgewalt ist allein im Stande ein Staatsgesetz zu erlassen, d. h. den staatlichen Befehl seiner Befolgung zu ertheilen. Den Inhalt des Gesetzes aber zu bestimmen, steht ihm nicht ausschließlich zu; die Volksver- tretung hat vielmehr mit der Regierung den Inhalt zu vereinbaren. Der Wortlaut der anzuordnenden Rechtsregeln ist bereits vor dem Erlaß des Gesetzes auf dem im Verfassungsrecht vorgezeichneten Wege fixirt; der Souverain kann an demselben Nichts ändern, er hat nur darüber die Freiheit der Willensentschließung, ob er den Befehl ertheilen will, daß dieser Wortlaut Gesetz werde. Und nicht blos die Volksvertretung, auch die Organe der Provinzial- Kreis- oder Kommunalverbände oder andere bei dem Zustande- kommen des Gesetzes Betheiligte können verfassungsmäßig einen Antheil an der Feststellung seines Inhaltes haben. Das Hoheitsrecht des Staates oder die Staatsgewalt kömmt nicht in der Herstellung des Gesetzes-Inhaltes, sondern nur in der Sanction des Gesetzes zur Geltung; die Sanction allein ist Gesetz- gebung im staatsrechtlichen Sinne des Wortes Vergl. auch von Linde , Archiv f. civil. Praxis Bd. 16. S. 329. 330. . Das Recht zur staatlichen Gesetzgebung in dieser Bedeutung ist ebenso untheilbar §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. wie die Souverainetät, deren Ausfluß und Bethätigung es ist, und die Frage nach dem Subject der gesetzgebenden Gewalt ist iden- tisch mit der Frage nach dem Träger der Staatsgewalt. Die Lehre von der Theilung der Gewalten beruht in der Hauptsache auf der Verkennung des hier entwickelten Gegen- satzes Eine Kritik dieser Lehre, welche die Einheit des Staates zerstört und welche weder logisch haltbar noch praktisch durchführbar ist, kann hier unter- bleiben, da in der deutschen, politischen und staatsrechtlichen Literatur über die Verwerflichkeit dieser Theorie seit langer Zeit fast vollkommenes Einverständniß besteht. Vergl. v. Mohl , Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft I. S. 280—282. Eine Ausnahme macht neuerdings Westerkamp , Ueber die Reichsverf. S. 89 ff., der sich wieder für diese Lehre erwärmt. . Da in dem constitutionellen Staate der Monarch kein Gesetz erlassen darf, welches die Volksvertretung nicht genehmigt hat, und andererseits kein Beschluß der Volksvertretung Gesetzes- kraft erlangt, wenn der Monarch demselben nicht die Sanction er- theilt, so faßte man das Wesen der Gesetzgebung als eine Verein- barung zwischen dem Monarchen und dem Landtage auf. Der Willensact der einheitlichen Staatspersönlichkeit wurde in den Con- sens zweier Contrahenten aufgelöst Der mittelalterliche Staat und insbesondere der auf den Trümmern des Feudalwesens erwachsene ständische Staat hat bekanntlich die gesetzgebende Gewalt des Staates nur sehr unvollkommen entwickelt und an ihre Stelle eine vertragsmäßige Vereinbarung über die Befolgung gewisser Rechtsnormen ge- setzt. Anschauungen dieser Art wirkten noch lange nach, auch nachdem der moderne organische Staatsbegriff bereits ausgebildet war. . Man sah einerseits in der Beschlußfassung der Volksvertretung über den Inhalt des Gesetzes eine Bethätigung der Gesetzgebungsgewalt und man nannte die Volksvertretung deshalb „den gesetzgebenden Körper“; andererseits zog man die königliche Sanction herunter zu einer bloßen Zustim- mung zu den Beschlüssen des corps législatif. Formen und Aus- drücke des englischen Rechtes wurden auch hier von Einfluß. Da in England die Zustimmung des Königs zu der vom Parlament beschlossenen Bill Royal Assent Dieser Ausdruck, sowie die in England übliche Sanctions-Formel » le roy le veult « erklären sich daraus, daß in früherer Zeit alle Bills des Par- lamentes die Form von Petitionen an die Krone hatten. Vgl. May , Das englische Parlament und sein Verfahren (übers. v. Oppenheim) S. 378 fg. Cox , die Staatseinrichtungen Englands (übersetzt von Kühne) S. 14. 42. heißt, so bezeichnete auch die französische Constitution von 1791 die vom Könige ertheilte Sanc- §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. tion als Consentement royal und in der französischen Literatur des constitutionellen Staatsrechts war die Auffassung durchweg herrschend, daß die Sanction des Gesetzes durch den König ein der Genehmigung des Gesetzes durch die Kammern gleichartiger Akt, eine Erklärung von gleichem Willens-Inhalte sei. Diese Anschauungen wurden auch in Deutschland geltend Vgl. v. Mohl , Staatsr., Völkerr., Politik II. S. 476. Am deutlich- sten Grotefend , Staatsr. §. 621 S. 634: „Die Entschließungen sowohl des Souverains und des Landtages als auch jeder der beiden Kammern dieses letzteren stehen sich hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung völlig gleich“. Auch Bluntschli sagt noch in der 5ten Aufl. seines Allgemeinen Staatsr. (1876) S. 132 ausdrücklich: „Was die Abstimmung durch die Kammern, ist die Sanc- tion des Hauptes.“ . Fast alle Darstellungen des Deutschen Staatsrechts, auch wenn sie die Lehre von der Theilung der Gewalten verwerfen und von dem sogen. monarchischen Prinzip ausgehen, erfordern zum Zustande- kommen eines Gesetzes den „übereinstimmenden Willen“ des Landes- herrn und des Landtages, ohne zu erkennen, daß die Genehmigung eines Gesetzes durch den Landtag eine Willenserklärung von ganz anderem Inhalte ist als die Genehmigung eines Gesetzes durch den Landesherrn. Der Sprachgebrauch wurde immer allgemeiner, dem Landesherrn ein „Veto“ und zwar das sogenannte absolute Veto beizulegen Vrgl. Murhard , Das königl. Veto in der constitut. Monarchie 1832. Klüber , Oeffentl. R. §. 295 Note a ). Zöpfl , Grunds. des Staatsr. II. §. 373 Nr. IV. v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1. §. 46 (S. 175). Weiß , Staatsr. §. 309 spricht sogar von einem wechselseitigen Veto der Regie- rung und der Stände; ebenso Westerkamp S. 95 fg. von einem wechsel- seitigen Veto des Reichstages und des Bundesrathes hinsichtlich der Reichs- gesetze. . Dadurch wurde das ihm zustehende Recht der Sanc- tion unter den verkehrtesten Gesichtspunkt gebracht, indem das Wesen der landesherrlichen Befugniß, wenn sie ein Veto wäre, nicht darin bestände, ein Gesetz zu erlassen, sondern den Gesetzgeber (Landtag) an der Ausübung seines Rechtes zu hindern Nicht das Veto, sondern das Placet steht dem Könige zu. Vgl. auch Zachariä II. S. 163 und Bluntschli a. a. O. S. 433. . Daß man aus dieser falschen Auffassung keine Consequenzen zog, beruhte wesentlich darauf, daß die Behandlung des Staatsrechts eine vor- wiegend politische war, welche sich um die juristische Logik nicht kümmerte. §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. Die wichtigste aller Deutschen Verfassungen, die Preußische Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850 folgte der herrschenden Theorie von der Gleichartigkeit der Funktionen, welche der König und der Landtag hinsichtlich der Gesetzgebung auszuüben haben, indem sie im Art. 62 bestimmte: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich.“ Dieser Bestimmung gegenüber suchte man die Untheilbarkeit der dem Könige zustehenden Souveränetät durch die theoretische Unter- scheidung zwischen jus und exercitium iuris zu retten. Das Recht der Gesetzgebung stehe dem Könige zu, die Ausübung erfolge in Gemeinschaft mit dem Landtage v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172 erklärt, die gesetzgebende Gewalt sei ein Ausfluß der Staatsgewalt und stehe daher dem Könige , als dem Oberhaupte der ungetheilten Staatsgewalt zu. Gleich darauf S. 176 aber heißt es, die gesetzgebende Gewalt stehe dem Könige und den bei- den Kammern gemeinschaftlich zu und es wird daraus sogar de- ducirt, daß es nicht einmal möglich sei, die Ausübung der Gesetzgebungsgewalt dem Könige zu delegiren . . Und doch konnte man sich nicht verhehlen, daß nur die Sanction einen Entwurf zum Gesetz erhebt, an dieser Sanction aber der Landtag weder quoad jus noch quoad exercitium einen Antheil hat Vrgl. besonders Schultze , Preuß. Staatsr. I. S. 159, II. S. 221 und v. Rönne a. a. O. I. 1 §. 48 (S. 197 Note 8). . Die Fassung der Preuß. Verf.-Urk. ist auch für die Ausdrucks- weise der Norddeutschen Bundesverfassung und der Reichsverf. von maßgebendem Einfluß geworden; der Art. 5 Abs. 1 der R.-V. lehnt sich eng an den Art. 62 der Preuß. V.-U. an. Um so weniger darf man sich dieser Bestimmung gegenüber mit einer bloßen Wort- Interpretation begnügen. Der Wortlaut des Art. 5, wonach die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrathes und des Reichstags zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend ist, widerspricht nicht nur der Natur der Sache, sondern auch den Anordnungen der Artikel 2 und 17 der R.-V. Uebereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse der beiden Versammlungen sind zu einem Reichsgesetze zwar erforder- lich, aber nicht ausreichend. Wäre dies der Fall, so müßte eine §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. vom Bundesrathe an den Reichstag gebrachte Gesetzesvorlage in dem Augenblicke zum Gesetz werden, in welchem die Mehrheit des Reichstages sie genehmigt hat Vrgl. auch Seydel , Kommentar S. 82. 83. . Die Anordnung des Art. 5 be- trifft nur die Feststellung des Gesetzes- Inhalts ; hierzu ist die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse der beiden Versamm- lungen erforderlich und ausreichend; der Effect dieser Ueberein- stimmung besteht aber zunächst nur in der definitiven Herstellung eines Gesetz-Entwurfes . Um ihn zum Gesetz zu erheben, muß noch die Ausstattung desselben mit verbindlicher Kraft, der Ge- setzes- Befehl oder die Sanction hinzukommen Vrgl. die Ausführungen in dem folgenden Paragraphen. . 3) Da nur diejenige Anordnung eines Rechtssatzes ein Gesetz ist, welche rechtsverbindlich ist, so ergiebt sich, daß Gesetze nur derjenige erlassen kann, welcher befugt ist, die Rechtsordnung zu regeln und die Befolgung eines Rechtssatzes anzubefehlen Duranton , Cours de droit français I. ch. 2 nro 29 definirt Ge- setz ganz richtig als » une règle établie par une autorité à laquelle on est tenu d’obéir. « . Die Frage, wem diese Befugniß zusteht, beantwortet sich nach dem je- weiligen Verfassungszustande. Daß nur der Souverain oder die „höchste“ Staatsgewalt Gesetze zu geben befugt sei, folgt aus dem Begriffe des Gesetzes nicht, sondern kann nur aus dem in einem politischen Gemeinwesen verwirklichten Staatsbegriff sich er- geben. Der Begriff des Gesetzes umfaßt vielmehr auch die Au- tonomie in allen ihren Abstufungen und Anwendungen. Rechts- verbindliche Anordnungen von Rechtssätzen Seitens der Gemeinden und anderen öffentlich-rechtlichen Verbänden oder der Grundherr- schaften und anderen nicht souverainen Gewalthabern sind auch Gesetze im materiellen Sinne des Wortes. Nur da, wo der Staat die Ordnung und Regelung des Rechtszustandes zu seiner Aufgabe gemacht hat, die er selbst und ausschließlich durchführt, so daß er allein befugt ist, Rechtssätze wirksam anzuordnen, wird die Defini- tion des Gesetzes als einer rechtsverbindlichen Anordnung eines Rechtssatzes gleichbedeutend mit der Definition des Gesetzes als einer vom Staate erlassenen Anordnung eines Rechtssatzes Vgl. v. Gerber , Grundz. §. 45 Note 1. . Wo der Staat die Ordnung des Rechtszustandes im Wesent- §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. lichen, wenngleich nicht völlig, zu seiner eigenen Aufgabe macht und den ihm untergeordneten Verbänden und Einzelpersonen nur in beschränktem Maße den Erlaß rechtsverbindlicher Anordnungen von Rechtssätzen gestattet, so daß die an Zahl und Bedeutung über- wiegende Masse aller Gesetze vom Staat ausgeht, entwickelt sich der Sprachgebrauch, unter Gesetzen die Staatsg esetze zu ver- stehen. Anstatt die Gesetze einzutheilen in staatliche (souveräne) und autonomische, pflegt man die autonomischen Anordnungen den „Gesetzen“ gegenüberzustellen, als wären sie nicht eine Unterart, sondern der Gegensatz der Gesetze. Diese ungenaue Ausdrucksweise erzeugt dann ihrerseits wieder die Vorstellung, daß nur der Sou- verain Gesetze erlassen könne, daß die „gesetzgebende Gewalt“ ihrem Begriff und Wesen nach „die höchste Gewalt“ sei, der alle andern untergeordnet sind, und daß die Souveränetät eine unerläßliche Voraussetzung für die Gesetzgebung sei. Diese Vorstellung ist, trotzdem sie allgemein verbreitet ist, ein Irrthum. Es ist leicht, aus der Rechtsgeschichte dies zu erweisen und Verfassungszustände anzuführen, in denen die Regelung der Rechtsordnung und darum auch die Befugniß zum Erlaß von Gesetzen nicht zu den aus- schließlichen Prärogativen der souverainen Gewalt gehörte. Grade in Deutschland ist das ehemalige Reich niemals in dem Alleinbesitz der Befugniß gewesen, die Rechtsordnung zu regeln, und erst die allgemeine Staatsrechts-Theorie des letzten Jahrhunderts hat die in Rede stehende Anschauung zur Herrschaft gebracht. Auch die jetzige Reichsverfassung weiß Nichts von dem Grund- satz, daß das Reich allein und ausschließlich berufen sei, die ge- sammte Rechtsordnung zu regeln und damit ist von selbst die aus- schließliche Befugniß des Reiches zur Gesetzgebung verneint. Den Einzelstaaten ist ein großer Theil der staatlichen Aufgaben zu selbst- ständiger Erfüllung überlassen und dadurch ihnen zugleich die Be- fugniß gewahrt, hinsichtlich dieses Theiles Rechtsregeln in verbind- licher Weise aufzustellen, also Gesetze zu geben. Demgemäß unter- scheidet die Reichsverfassung selbst Reichsgesetze und Landes- gesetze R.-V. Art. 2. 35. . Wenn man die unrichtige Vorstellung fallen läßt, daß nur die souveräne Staatsgewalt im Stande sei, Gesetze zu geben, so kann man aus der reichsverfassungsmäßigen Anerkennung §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. der Landesgesetzgebung nicht den Schluß ziehen, daß die Einzel- staaten souverain seien oder daß die Souveränetät zwischen Reich und Einzelstaat getheilt sei, sondern die Landesgesetzgebung fällt unter den wissenschaftlichen Begriff der Autonomie, während die Reichsgesetzgebung die Gesetzgebung des Souverains ist Vgl. oben Bd. I. S. 105 ff. . 4) Da jedes Gesetz ein Willensact ist, bedarf dasselbe einer Erklärung . Denn ein Wille, welcher nicht erklärt, d. h. äußer- lich erkennbar gemacht ist, gilt juristisch nicht als vorhanden. Die Form, in welcher die Erklärung erfolgen muß, läßt sich aus dem Begriff des Gesetzes nicht ableiten, sondern bestimmt sich nach den positiven Vorschriften, welche darüber bestehen. Die Erklärung des Gesetzeswillens darf man aber nicht verwechseln oder identifiziren mit der Verkündigung des Gesetzes. Es kann allerdings eine Form der Erklärung gewählt werden, welche zugleich die Gemeinkundig- keit des Gesetzes herbeiführt oder erleichtert; es gilt dies nament- lich von dem Falle, wenn die Sanction des Gesetzes durch Ab- stimmung der Volksversammlung erfolgt und das Resultat der Abstimmung in der Volksversammlung selbst verkündigt wird. Ge- wöhnlich aber ist die Bekanntmachung eines Gesetzes von der Er- klärung des Gesetzes-Willens getrennt. Die Form für diese Er- klärung dient nur dem Zwecke, den Gesetzes-Willen in authenti- scher Gestalt erkennbar, nicht ihn allgemein bekannt zu machen. Gegenwärtig bedient man sich allgemein hierzu der Schrift; die Form der Gesetzes-Erklärung ist sonach die der öffentlichen Urkunde . Wer diese Urkunde auszufertigen hat und welchen Erfordernissen dieselbe genügen muß, ist eine Frage des positiven Rechts; für die Reichsgesetzgebung beantwortet sie sich durch Art. 17 der R.-V. Siehe unten §. 57 III. Wesentlich ist für dieselbe nur, daß sich aus der- selben in formell unzweifelhafter Art das Vorhandensein des Ge- setzgebungs-Befehls und sein Inhalt ergiebt. Durch die Beurkun- dung des Gesetzes wird dasselbe sinnlich wahrnehmbar und dadurch juristisch erst existent. In der absoluten Monarchie enthält die Gesetzes-Urkunde weiter Nichts als die Erklärung des landesherr- lichen Willens, daß ein Rechtssatz befolgt werden soll; das Zu- standekommen eines rechtsgültigen Gesetzes ist an andere Voraus- §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. setzungen nicht gebunden; die formellen Erfordernisse der Gesetzes- Urkunde dienen lediglich zur Sicherung, um den wahren und ern- sten Willen des Monarchen zu constatiren und um Fälschungen, Irrthümer und Willkürlichkeiten auszuschließen. Wo aber der Er- laß eines Gesetzes noch an andere Voraussetzungen als an den persönlichen Willen des Monarchen geknüpft ist, kann die Beur- kundung des Gesetzes nur erfolgen, wenn das Vorhandensein dieser Voraussetzungen festgestellt wird. Die Erklärung des Gesetzes ist in diesem Falle nicht nur eine authentische Beurkundung seines Wortlautes, sondern zugleich eine formelle Constatirung, daß die verfassungsmäßigen Vorbedingungen des Gesetzgebungs-Willens er- füllt sind. Die Erklärung des Gesetzes erhält alsdann eine weittragende staatsrechtliche Bedeutung; sie bildet ein Erforderniß für das Zu- standekommen eines Gesetzes, welches man eben sowohl von der Sanction wie von der Verkündigung unterscheiden muß. In der Deutschen Rechtsliteratur ist dieses Erforderniß durchweg unbeachtet geblieben; man verlangt für die Gesetzgebung einfach Sanction und Publikation. So wie man die Sanction zusammenwirft mit der ihr vorangehenden Feststellung des Gesetzes-Inhaltes, so vermengt man die Verkündigung mit der ihr vorangehenden formellen Er- klärung (Beurkundung) des Gesetzes-Befehls. Das ältere Deutsche Reichsstaatsrecht hat den Akt, durch welchen das rechtsgültige Zustandekommen eines Reichsge- setzes constatirt wird, in höchst sorgfältiger Weise ausgebildet. Be- kanntlich wurden alle auf einem Reichstage zu Stande gekommenen Gesetze am Schluß des Reichstages zusammengefaßt Das letzte formelle Reichsgesetz ist daher der Reichs-Abschied von 1654. Während des Regensburger permanenten Reichstages kam ein eigent- liches Reichsgesetz nicht mehr zu Stande. Alle Anordnungen des Reiches be- standen vielmehr formell aus zwei getrennten Akten, dem übereinstimmenden Beschluß der drei Collegien des Reichstages ( Commune trium oder Reichs- gutachten), welches vom Kurfürsten von Mainz als Reichs-Erzkanzler ausge- fertigt und dem Kaiser übersendet wurde, und der kaiserlichen Ratifikations- Urkunde (Commissionsdekret oder Hofdekret). Vrgl. Pütter , elementa iuris publ. Germanici I. §. 226 sq., woselbst zugleich Beispiele mitgetheilt sind. Häberlin , Handbuch des Teutschen Staatsr. I. §. 154 ff. (S. 515—526). Gönner , Teutsches Staatsr. §. 188. 189. Um die Gesetzgebungsformen des Deutschen Reiches zu ermitteln, muß man daher in die Zeit vor 1654 zurück- . Die Re- §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. daktion des Reichsabschiedes lag dem Reichs-Erzkanzler ob, jedoch unter Mitwirkung einer Deputation der Stände, welche aus Mit- gliedern aller Collegien gebildet wurde, und eines oder zweier Kommissare des Kaisers. Die Urkunde wurde in zwei Exemplaren auf Pergament ausgefertigt, von denen eines für die Reichskanzlei, das andere für den Reichshofrath bestimmt war. Beide Urkunden wurden vom Kaiser und den Ständen unterzeichnet und untersiegelt; die Lehre von der subscriptio und obsignatio der Reichs-Abschiede bildete ein nicht unbeträchtliches Kapitel des Reichsrechts. Wenn allseitiges Einverständniß über die Fassung des Reichs-Abschiedes erzielt und die Ausfertigung mit Unterschriften und Siegeln ver- sehen war, so wurde eine feierliche Sitzung des Reichstages anbe- raumt, in welcher der Kaiser in Person oder sein Kommissar über die Verhandlungen des Reichstages berichtete, hierauf den Reichs- Abschied vom Reichs-Erzkanzler laut vorlesen ließ, und endlich die Stände ermahnte, die Vorschriften desselben zu befolgen. Dieser Akt heißt bei den Reichs-Publizisten die Publicatio oder auch Pro- mulgatio des Reichsabschiedes Arumaeus de Comitiis c. 8. nr. 95. Strube , Corp. iur publ. ; die Befugniß, diesen Akt vorzu- nehmen, wurde als kaiserliches Reservatrecht angesehen. Wurde von den versammelten Ständen kein Widerspruch erhoben, so lag hierin die Erklärung des Einverständnisses mit der Fassung des Reichsabschiedes. Eine beglaubigte Abschrift wurde dem Reichs- Kammergericht von der Reichskanzlei zugesendet. Der eben be- schriebene Akt der Publicatio war keine Verkündigung im Sinne von Bekanntmachung. Kaiser und Reichstag hatten selbst den Reichsabschied beschlossen; ihnen brauchte er also nicht kund ge- macht zu werden; die Behörden und Angehörigen des Reiches aber erlangten durch die feierliche Schlußsitzung des Reichstages keine Kunde von dem Inhalte des Reichsgesetzes. Die Verkündigung der Reichs-Abschiede im eigentlichen Sinne war im Wesentlichen Sache der Stände, welche dieselbe in ihren Territorien zu veran- gehen. Die Hauptquelle hierfür ist eine im Jahre 1582 verfaßte und öfters gedruckte Schrift: „Ausführlicher Bericht, wie es auf Reichstägen pflegt ge- halten zu werden“, besonders Cap. 13. (Sie steht bei Goldast , Reichshän- del. P. XXII ). Vrgl. ferner Limnäus , Jus public. T. III. Lib. IX. c. 1. nro. 192 sq. Pfeffinger , Vitriar. illustr. Tom. IV. Lib. IV. cap. 1. nr. 83 sq. und am ausführlichsten Moser , Teutsches Staatsr. Bd. 50 S. 253 ff., woselbst umfassende Auszüge aus den älteren Schriften gegeben sind. §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. lassen hatten Die Mittheilung der Reichsgesetze Seitens des Kaisers an die Reichs- behörden und an die Kreis-Ausschreibe-Aemter und Stände nannte man aller- dings auch Publikation, gewöhnlich aber Insinuation oder Intimation. Die Art und Weise der Bekanntmachung war eine sehr ungeregelte. Moser , Teutsches Staatsr. Bd. 50 S. 50 ff. Vrgl. auch Güterbock , Entstehungs- geschichte der Carolina (1876) S. 199 fg. . Die Bedeutung der feierlichen Publicatio des Reichs-Abschiedes bestand vielmehr darin, daß Existenz und Wort- laut der vom Kaiser und Reichstag vereinbarten und vom Kaiser sanctionirten Reichsgesetze in solenner und authentischer Form con- statirt wurden; es war die » solemnis editio « des Reichsgesetzes. Eine ähnliche Einrichtung besteht in England . Das Recht der Krone, die von den beiden Häusern genehmigten Bills zu sanc- tioniren, ist ein Scheinrecht, da nach einem unbezweifelten Rechts- satz die Krone die Genehmigung nicht verweigern darf Der letzte Fall, in welchem eine von dem Parlament genehmigte Bill von der Krone verworfen wurde, ereignete sich im Jahre 1707. Auch vorher waren Fälle dieser Art höchst selten. Die Verpflichtung des Königs wird theils aus dem von ihm geleisteten Eid, theils aus der Stellung der dem Parla- mente verantwortlichen Minister, auf deren Rath der König seine Regierungs- handlungen vornimmt, hergeleitet. Vgl. Cox, Staatseinrichtungen Englands S. 43 fg. May , das engl. Parlament S. 422 und besonders Blackstone , Commentaries I. chap. 2. (15. Engl. Ausgabe. London 1809. Vol. I. p. 183 ff. Französ. Uebers. von Chompré I. pag. 350 ff. ) . Von wesentlicher Bedeutung aber ist die Befugniß der Krone, das Ge- setz auszufertigen . Die alte und regelrechte Form der Er- klärung des Gesetzes besteht darin, daß der König in einer feier- lichen Sitzung des Hauses der Lords erscheint, die Gemeinen an die Schranke entbietet, vom Kron-Clerk die Titel der vom Parla- ment beschlossenen Bills verlesen läßt und die Genehmigung der- selben erklärt. Seit Stat. 33 Heinrich VIII. c. 21 ist statt dieser Form auch die Erklärung durch Patent zulässig, welches vom König eigenhändig unterschrieben, von dem Kron-Clerk gegengezeichnet und mit dem großen Staatssiegel versehen sein muß. In feierlicher Sitzung der Lords, zu welcher die Gemeinen geladen werden, wird das Patent seinem ganzen Inhalte nach verlesen und die königliche Genehmigungsklausel wird von dem Clerk des Parlaments in das Cap. 23 §. 33 sq. Pfeffinger , a. a. O. nr. 98—100. Moser a. a. O. Daselbst findet sich S. 283—295 eine genaue Beschreibung aller Vorgänge bei der „Publikation“ des Reichs-Abschiedes von 1654. §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. Protokollbuch der Lords eingetragen. Dieser Vorgang ist keine eigentliche Verkündigung des Gesetzes, obwohl die Fiction besteht, daß Alles, was in öffentlicher Sitzung des Parlaments geschieht, auch öffentlich bekannt gemacht sei; die wirkliche Bekanntmachung des Gesetzes erfolgt erst später durch den Druck. Die juristische Bedeutung des Aktes besteht vielmehr in der formellen und au- thentischen Erklärung des staatlichen Gesetzgebungs- Willens . Bevor diese Erklärung erfolgen kann, muß der König und der ihm in dieser Angelegenheit Rath ertheilende Minister prüfen, ob die Bill in der That die ordnungsmäßige und über- einstimmende Genehmigung beider Häuser erlangt hat und ob die zahlreichen Formvorschriften, welche das Englische Recht für das Zustandekommen eines Gesetzes aufgestellt hat, vollständig beobachtet worden sind. Ergiebt sich in dieser Beziehung ein Mangel, so ist die Bill dem betreffenden Hause zur Erledigung desselben und zur Beseitigung der Formwidrigkeit zurückzustellen Vrgl. über die Einzelheiten die ausführliche Darstellung bei May a. a. O. S. 378—430, besonders S. 425 fg. . Hieraus folgt, worin das wahre Wesen der Königlichen Ausfertigung besteht. Sie ist nur scheinbar die Ertheilung der Sanction und bezweckt nicht die Kundmachung der Bill, sondern sie constatirt in authentischer und feierlicher Form das verfassungsmäßige Zustandekommen des Gesetzes, sie ist die solemnis editio legis. Von größerem Einfluß auf das gegenwärtige constitutionelle Staatsrecht Deutschlands ist die Entwicklung des Französischen Rechts gewesen, welche deshalb einer genaueren Erörterung bedarf. Vor der Revolution von 1789 ging sowohl die Sanction als die Erklärung des Gesetzes vom Könige aus, die Verkündigung da- gegen war Sache der Gerichtshöfe (Parlamente). Gemäß der Or- donnanz von 1667 Tit. I. Art. 2 wurden die königlichen Ausfer- tigungen der Gesetze und Verordnungen den „souverainen Gerichts- höfen“ zur Registrirung und Verkündigung übersendet. Das En- registrement führte keine Bekanntschaft des Publikums mit dem Gesetze herbei; es bestand darin, daß das Gesetz in die Liste des Gerichtshofes eingetragen wurde; es constatirte die Aechtheit der königlichen Urkunde und den Wortlaut des in ihr enthaltenen Ge- setzes; es wird von Portalis ganz richtig als vérification des §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. lois bezeichnet Second Exposé des motifs du Titre préliminaire du Code civil bei Locré , La Législation de la France I. p. 569 sq. . Die Verkündigung erfolgte nach geschehener Ein- registrirung auf Befehl des Parlaments in den einzelnen Ort- schaften durch Verlesen, Aushang u. s. w. Auch die Gesetzgebung von 1789 ließ zunächst die Registrirung und Verkündigung der Gesetze durch die Gerichtshöfe bestehen; die Gesetze v. 20. Oktober und 5. Nov. 1789 beseitigten nur die Mißbräuche, welche sich in die Praxis der Gerichte eingeschlichen hatten, indem sie anordneten, daß die von der National-Versammlung beschlossenen Dekrete, so- bald sie die Sanction des Königs erhalten haben, ohne Zusatz, Veränderung oder Anmerkung den Behörden zum Zweck der Ein- tragung in die Listen und zur Verkündigung zu übersenden seien, und daß die Gerichts- und Verwaltungsbehörden, welche nicht binnen drei Tagen nach Empfang der Gesetze sie eintragen und sie binnen einer Woche verkündigen lassen, als prévaricateurs und wegen forfaiture bestraft werden sollen. Die formelle und authen- tische Erklärung des Gesetzes verblieb dagegen Sache des Königs; das Gesetz vom 9. Nov. 1789 bezeichnet diesen Akt als die Pro- mulgation des Gesetzes, indem es denselben scharf von der Publikation desselben unterscheidet. So lange das Königthum und das — wenigstens scheinbare — Recht desselben zur Sanction der Gesetze bestand, fiel die Pro- mulgation äußerlich mit der Sanction zusammen Zur Promulgation gehört die Constatirung, daß die Nationalversamm- lung das Gesetz beschlossen und der König dasselbe genehmigt habe. Die in dem Gesetz vom 9. Nov. 1789 vorgeschriebene Formel lautet: Louis, par la Grâce de Dieu .... L’Assemblée nationale a décrété et nous voulons et ordonnons ce qui suit: … Mandons et ordonnons à tous les tribunaux, corps administratifs et municipalités, que les présentes ils fassent transcrire sur leurs régistres, lire, publier et afficher dans leurs ressorts et départements respectifs. . Seit der Unterdrückung des Königthums hob sich die Promulgation von der Sanction, von der sie begrifflich durchaus verschieden war, auch in der äußeren Erscheinung ab und es treten jetzt Sanction, Pro- mulgation und Publikation als drei völlig getrennte Erfordernisse eines Gesetzes hervor. Es gilt dies namentlich von der Verfassung des Jahres VIII. Nach dem Art. 37 dieser Verf. wurden die Gesetze sanctionirt (erlassen) vom Corps législatif. Innerhalb einer Laband , Reichsstaatsrecht. II. 2 §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. Frist von 10 Tagen konnte aber die Sanction sowohl von dem Tribunal als von der Regierung durch Recurs an den Senat pour inconstitutionalité de la loi angefochten werden, so daß also der Sanctionsbeschluß erst nach Ablauf der zehntägigen Frist, wenn innerhalb derselben der Recurs nicht erhoben wurde, Rechtskraft erlangte. Nach einem Arrêté v. 28 Nivôse des Jahres VIII. war die Anordnung getroffen, daß in dem Arbeitszimmer der Consuln ein Koffer sich befinden sollte, in welchem die Siegel der Republik deponirt waren und in welchen die Decrete des Corps législatif vom Staatssecretair gelegt werden sollten. Am zehnten Tage nach Erlaß der Decrete des Corps législatif hatte der Staatssecretär sie dem ersten Consul zu überreichen, welcher die Beidrückung des Staatssiegels befahl und eine offizielle, unterschriebene gegenge- zeichnete und mit dem Siegel versehene Ausfertigung unverzüglich dem Justiz-Minister übersendete Vrgl. Valette et Benat St.-Marsy , Traité de la confection des Lois. Paris 1839. S. 205. 206. . Hierin bestand die dem ersten Consul zustehende Promulgation der Gesetze, während die Sanction vom Corps législatif ausgieng, die Publikation dem Justizminister und den Behörden oblag. Es ist klar, daß der Rechtsgrund für die verbindliche Kraft der Gesetze nicht in der Promulgation, sondern in der Sanction derselben be- ruhte; die Promulgation constatirte nur, daß der staatliche Gesetz- gebungsbefehl verfassungsmäßig erlassen worden ist und gab dem- selben einen formellen und authentischen Ausdruck Ein Avis du Conseil d’État du 5 pluviose An VIII. (26. Januar 1800) führt aus, daß die Promulgation der Gesetze nicht dem pouvoir législatif, sondern dem pouvoir exécutif zustehe und fügt hinzu: »Il faut bien se garder de confondre cette promulgation avec la sanction, que le Roi constitutionel avait en 1791 ou avec l’acceptation que le Conseil des Anciens avait par la Constitut. de l’an III. Cette sanction et cette ac- ceptation étaient parties nécessaires de la formation de la loi et ne res- semblaient en rien à sa promulgation.« Locré a. a. O. I. p. 623 sq. . Portalis bezeichnet in dem Discours vom 23 Frimaire X (14 Dezbr. 1801) nr. 16 (bei Locré I. S. 466 ff.) die Promulgation als solemnis editio legis und fügt mit dem ihm eigenthümlichen phrasenhaften Styl hinzu: »La promulgation est une forme extérieure à la loi comme la parole et l’écriture sont extérieures à la pensée.« Die spätere französische Verfassungs-Entwicklung hat diese Be- §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. deutung der Promulgation wieder verdunkelt. Schon der Art. 1 des Code civ. schreibt der Promulgation eine Wirkung zu, welche nicht ihr, sondern der Sanction zukömmt, indem er bestimmt, daß die Gesetze vollstreckbar sind en vertu de la promulgation. Ver- gebens wurde bei den Berathungen des Corps législatif ausge- führt, daß diese Bestimmung mit dem Wesen der Promulgation im Widerspruch stehe Der Deputirte M. Andrieux machte in der Sitzung des Corps lé- gislatif v. 23 Frimaire des Jahres X. (14. Dezbr. 1801) geltend: »La pro- mulgation n’est en aucune manière un acte législatif; elle n’a pour objet que de certifier la loi et déclarer, qu’elle n’a point été attaquée pour cause d’inconstitutionalité.« ( Locré I. S. 438.) Der Redner des Tri- bunals Favard charakterisirte das Wesen der Promulgation, indem er sagte: »La promulgation n’est autre chose que le cachet du gouvernement, qui atteste , que la loi qui est presentée aux citoyens a reçu tous les caractères qui la constituent loi, et n’a point été dénoncée au Sénat Con- servateur pour cause d’inconstitutionalité.« ( Locré I. S. 534.) . Da dem Chef der Regierung in Wahr- heit die gesetzgebende Gewalt übertragen werden sollte, nach der Verfassung aber die Sanction der Gesetze dem Corps législatif und nur die Promulgation dem ersten Consul zustand, so begann man das Gesetzbuch mit dem Satze, daß die Gesetze ihre verbind- liche Kraft erhalten en vertu de la promulgation . Die Redner der Regierung, Portalis und Boulay , versuchten die Bedeu- tung des Satzes zu verhüllen Vrgl. Locré I. S. 516. . Nach der Restauration fallen Promulgation und Sanction wieder zusammen, in derselben Weise wie dies 1789 der Fall war. Sowohl die Charte von 1814 Art. 22 wie die Charte von 1830 Art. 18 bestimmten: »Le Roi seul sanctionne et promulgue les lois.« Zur Promulgation gehört aber nicht nur die authentische Erklärung der Sanction, sondern auch die formelle Bestätigung, daß die Voraussetzung der Sanction, nämlich die Genehmigung des Gesetzes durch die Kammern vorhanden ist Das Reglement v. 13. Aug. 1814 Tit. 4 Art. 3 schreibt vor, daß der König die Sanction ertheilt, »en faisant inscrire sur la minute, que ladite loi disputée, deliberée et adoptée par les deux chambres, sera publiée et enregistrée pour être exécutée comme loi de l’État.« Vrgl. die entspre- chende Bestimmung des Ges. v. 9. Nov. 1789 oben S. 17 Note 2. . Dagegen legt die Ordonnanz v. 27. Nov. 1816 dem Worte Promulgation einen völlig verschiedenen Sinn unter, indem Art. 1. derselben lautet: 2* §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. »A l’avenir la promulgation des lois et de nos ordonnances résultera de leur insertion au Bulletin officiel.« Die Einrückung in das Gesetzblatt ist Verkündigung des Gesetzes, nicht Ausferti- gung desselben. Im heutigen französischen Staatsrecht fallen Sanction und Promulgation wieder ganz auseinander; nach der Verf. von 1875 werden die Gesetze von den Kammern sanctionirt, der Präsident hat weder das Recht der Zustimmung noch des Veto; dagegen steht es ihm zu, die Gesetze zu promulgiren und zu publiziren Vrgl. Bard et Robiquet , La Constitution française de 1875 (Paris 1876) p. 337 ff. 344. Gesetz vom 18. Juli 1875 Art. 7. Decret vom 6. April 1876. . Trotz dieses Schwankens der Gesetzgebung hinsichtlich des Ge- brauches des Wortes Promulgation Ausführlich verbreitet sich darüber Merlin , Repertoire de iurisprud. Art. Loi §. IV. (T. XVIII. p. 387 sqq.) ist in der französischen Rechts- literatur der Unterschied der Promulgation von der Sanction einer- seits und von der Publikation andererseits fast ausnahmslos fest- gehalten worden und das Wesen der Promulgation in der authen- tischen Beglaubigung des Gesetzes erblickt worden Vrgl. Dalloz , Jurisprud. générale. Tome XXX. Art. Lois Nr. 122. 125. »La promulgation est l’acte par lequel le Chef de l’Etat atteste l’existence de la loi et la publication est le mode employé pour faire parvenir la loi à la connaissance des citoyens.« Uebereinstimmend: Ph. Vallette et Benat St.- Marsy , Traité de la confection des Lois (1839) p. 211. Batbie , Traité de droit publ. III. p. 439 (Paris 1862). Ducrocq , Cours de droit administratif I. nr. 20. A. Valette , Cours de Code civil. Paris 1872. I. S. 19. Aehnlich auch Laferrière , Cours de droit publ. et administratif. (5. Ausg. Paris 1860) I. S. 114. »La promulgation est l’édition solennelle de la loi, le moyen de constater son existence et de lier le peuple à son observation.« . Da die Promulgation des Gesetzes in Frankreich nicht wie im alten deutschen Reiche und in England in einem vor dem Reichs- tage oder Parlamente sich vollziehenden feierlichen Akte, sondern lediglich in der Unterzeichnung einer Urkunde besteht, so entzieht sich diese Thatsache selbst wieder der allgemeinen Kenntniß und Wahrnehmung. Sie bedarf der Kundmachung und dieselbe erfolgt, indem die Gesetzes-Urkunde offiziell veröffentlicht wird. Die Veröffentlichung des Gesetzes ist die unmittelbare und nothwendige Folge seiner Promulgation; mit der Promulgation verbindet sich §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. daher der Befehl zur Verkündigung des Gesetzes. Schon die altfranzösischen Gesetzes-Ausfertigungen enthielten diesen Befehl an die Parlamente; ebenso findet er sich in der Promulgationsformel des Ges. v. 9. Nov. 1789; die Verf. vom 5 Fructid. des Jahres III, welches dem Directorium die Promulgation der Gesetze übertrug, schrieb im Art. 130 für die Promulgation ebenfalls eine Formel vor, welche einen Publikationsbefehl enthielt Sie lautete: »Le Directoire ordonne que la loi ou l’acte du Corps législatif ci-dessus sera publié, exécuté«, etc. ; dasselbe gilt von dem Reglement v. 13. Aug. 1814. Nicht selten wird daher das Wesen der Promulgation, zwar nicht in der Verkündigung selbst, wohl aber in dem Befehl zur Verkündigung gefunden, da dieser Befehl gewissermaßen die unmittelbare und praktische Consequenz der Ausfertigung des Gesetzes ist Vergl. z. B. Duranton , Cours de droit français I. chap. II. nr. 44 ff. Berriat-St. Prix , Théorie de droit Constit. franç. S. 502 ff. Aubry et Rau , Cours de droit civil français (4. Ausg.) I. § 26. S. 48 ff. Laurent , Principes de droit civil (Brüssel 1869) I. S. 57 ff. Der Zu- sammenhang zwischen Ausfertigung und Verkündigungsbefehl wird angedeutet von Demante , Cours analytique de Code civ. (1849) I. p. 33. . Diese Rechtsanschauungen sind mit der französischen constitu- tionellen Staatsrechtstheorie in das Deutsche Landesstaats- recht eingedrungen. Bei der monarchischen Verfassung der Deut- schen Staaten lag aber kein praktischer Anlaß vor zwischen der Sanction und der Promulgation zu unterscheiden. Es galt als selbstverständlich, daß die Sanction in einer vom Landesherrn unter- schriebenen, mit dem Staatssiegel versehenen und gegengezeichneten Urkunde erklärt wird und es galt als ebenso selbstverständlich, daß in dieser Urkunde auf die erfolgte Zustimmung der Stände Bezug genommen und dieselbe ausdrücklich bezeugt werde. In allen Deutschen Staaten herrscht in dieser Beziehung eine gleichmäßige, fast bis auf den Wortlaut der Formel übereinstimmende Praxis Vgl. Zachariä , Deutsches Staatsr. II. §. 161 (S. 176). . In der Promulgation des französischen Rechts sah man Nichts Anderes als die Verkündigung des Gesetzes, oder im günstigsten Fall den Verkündigungs-Befehl Das Wort Promulgation wird in der Deutschen Rechtsliteratur in sehr verschiedenem Sinne verwendet. Die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller gebraucht dasselbe als ganz gleichbedeutend mit Publikation. Ebenso . Daß sich zwischen Sanction §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. und Publikation noch ein drittes Erforderniß für die Herstellung des Gesetzes einschiebe, nämlich die solenne und authentische Er- klärung des staatlichen Gesetzgebungs-Willens, blieb unbemerkt v. Wächter , Württemb. Privatr. II. 1 S. 24 erklärt in Ueberein- stimmung mit dem herrschenden Sprachgebrauch Promulgation für gleichbedeu- tend mit Publikation; bemerkt aber, daß im französischen Recht eine von der Publikation verschiedene Promulgation des Gesetzes „eine nicht ganz un- angemessene Bedeutung“ habe. Vgl. auch Pfaff und Hofmann , Com- mentar zum österr. bürgerl. Gesetzb. I. S. 135 Note 44. und es wurde ebensowenig den wichtigen Rechtswirkungen dieses Aktes, die im folgenden Paragraphen ihre Erörterung finden wer- den, Beachtung geschenkt. Die constitutionelle Staatsrechts-Theorie selbst stand einer richtigen Auffassung des Gesetzgebuugs-Vorganges im Wege, da man das Wesen des Gesetzes in der Uebereinstim- mung des Landtages und der Krone erblickte, nicht in einer ein- heitlichen Willens-Erklärung der einen und untheilbaren Staats- gewalt, für welche jene Uebereinstimmung nur eine verfassungs- mäßig erforderte Vorbedingung ist. Auf die Reichsverfassung sind diese Sätze des Deutschen Landesstaatsrechtes nicht ohne Abänderung anwendbar, weil das Deutsche Reich keine Monarchie ist. Sanction und Promulgation der Gesetze fallen nicht mehr zusammen; und ebenso wenig darf die Promulgation mit der Kundmachung verwechselt werden. Die Ausfertigung der Gesetze und der Befehl, dieselben zu verkündigen, stehen vielmehr zwischen der Sanction der Gesetze und ihrer Kund- machung durch das Reichsgesetzblatt als ein besonderer Akt, dessen Vollziehung der Art. 17 der R.V. dem Kaiser überträgt. 5) Endlich folgt aus dem an die Spitze gestellten Begriffe des Gesetzes die Nothwendigkeit seiner Verkündigung. Da jedes Gesetz ein Befehl ist, also an Jemanden gerichtet sein muß, so er- eine große Zahl von Verfassungs-Urkunden. Vergl. Zöpfl , Staatsr. II. §. 373 Note 1. Bisweilen bezeichnet man aber damit den Entstehungsprozeß, die verfassungsmäßige Zustandebringung eines Gesetzes. Vgl. z. B. v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1 S. 199 Note 2. Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 223. Grotefend , S. 534 Note 1. v. Held , System des Verfassungsr. II. S. 93. Noch Andere verstehen darunter „den Befehl, das Gesetz zu befolgen“, z. B. Jordan , Versuche über Staatsr. S. 538 fg. Linde im civil. Archiv Bd. 16 S. 331. Weiß , System des Staatsr. S. 658. Einige erklären Promulgation für gleichbedeutend mit Sanction, z. B. Puchta , Vorlesungen §. 14. Reyscher , Württemb. Privatr. I. §. 67. S. 107. §. 56. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. giebt sich, daß dem Adressaten die Möglichkeit gewährt werden muß, von dem Befehl Kunde zu erlangen. Das Gesetz aber ist nicht an bestimmte einzelne Personen gerichtet; es enthält einen Rechtssatz, es normirt die allgemeine Rechtsordnung, es verlangt Befolgung oder Berücksichtigung von Allen, welche an dieser Rechts- ordnung Theil nehmen oder zur Handhabung und Aufrechterhal- tung derselben berufen sind. Daraus ergiebt sich, daß das Gesetz nicht blos einzelnen Behörden oder Beamten, die es zunächst zur Ausführung zu bringen haben, mitgetheilt werden darf, sondern daß es öffentlich bekannt, gemeinkundig gemacht werden muß. Es tritt hier in sehr bezeichnender Weise ein Gegensatz zwischen Ge- setzen und Verwaltungs-Verordnungen hervor, der auf der Ver- schiedenheit des Wesens derselben beruht Vrgl. unten die Lehre von der Verwaltung. . Nicht jede Veröffentlichung des Gesetzes aber ist Verkündigung desselben im staatsrechtlichen Sinne. Die Verkündigung ist ein Willensact des Gesetzgebers und kann deshalb nur ausgehen von dem Gesetzgeber oder von demjenigen, den er dazu beauftragt hat. Deshalb sind Abdrücke eines Gesetzes in Sitzungsberichten, Zei- tungen, wissenschaftlichen Werken u. s. w., trotzdem sie grade die Gemeinkundigkeit des Gesetzes am meisten fördern, keine Verkün- digung. Auch die Verkündigung ist ein obrigkeitlicher Akt, ein Be- standtheil des Gesetzgebungs-Vorganges. Die Verkündigung kann demnach nur von demjenigen rechtswirksam erfolgen, der dazu ver- fassungsmäßig legitimirt ist. Damit hängt ein anderes Erforderniß eng zusammen. Die Art der Verkündigung muß eine Gewähr dafür bieten, daß der veröffentlichte Wortlaut des Gesetzes vollständig und genau ist und daß er in der That Gesetz geworden ist. Diese Gewähr muß eine rechtliche sein; d. h. es genügt nicht, daß das Gesetz thatsäch- lich correct abgedruckt worden ist oder daß keine Verdachtsgründe vorliegen, welche einen Zweifel an der Richtigkeit des Textes be- gründen, sondern es muß eine Verantwortlichkeit für die Verkündigung bestehen. Mit dem Erforderniß der Legitimation zur Vornahme der Verkündigung fällt dies insofern zusammen, als die Verkündigung eine Amtshandlung sein muß, die nur derjenige wirksam vornehmen kann, der dazu competent ist, und für welche derselbe, wie für alle Amtshandlungen, verantwortlich ist. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen Ausführungen gehören zu dem gültigen Zustandekommen eines Ge- setzes folgende Erfordernisse: die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes, die Sanction, die Promulgation und die Publikation. Es ist nun zu untersuchen, welche Vorschriften die Reichsverfassung für diese Erfordernisse der Reichsgesetze aufgestellt hat. I. Die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes . 1) Nach dem Art. 5 Abs. 1 der Reichsverfassung ist die Ueber- einstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrathes und des Reichstages zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend. Diese Bestimmung ist, wie schon oben hervorgehoben wurde, ihrer Fassung nach nicht correct; sie bezieht sich nicht auf den eigent- lichen Erlaß des Gesetzes, sondern auf die Beschlußfassung darüber, was zum Gesetz erhoben werden darf oder soll; sie normirt nicht die Gesetzgebung, sondern einen Theil, ein Stadium derselben. Sie bezeichnet zugleich denjenigen Punkt, an welchem der Weg der Ge- setzgebung anfängt , durch staatsrechtliche Regeln beherrscht zu werden. Ein Gesetz kann zahlreiche, wichtige und lange Zeit in Anspruch nehmende Vorstufen durchgemacht haben, ehe es Gegen- stand einer Beschlußfassung im Bundesrathe oder Reichstage wird; aber diese Vorstufen sind nicht durch Rechtssätze geregelt An und für sich wäre dies sehr wohl möglich. Es könnte z. B. vor- geschrieben sein, daß ein Gesetzentwurf, bevor er im Bundesrath oder Reichstag zur Berathung gelangt, einem Staatsrath zur Begutachtung vorgelegt werden müsse. Vrgl. über eine derartige Vorschrift der Württemb. Verf. v. Mohl , Württemb. Staatsr. I. §. 32 (S. 196) und über die Mitwirkung des Landes- Ausschusses von Elsaß-Lothringen unten §. 62. . Wer zuerst den Gedanken eines neuen Gesetzes faßt und dessen Verwirk- lichung anregt; wer sich der Arbeit unterzieht, diesen Gedanken zu formuliren und auszuführen; wer an der Vorberathung, Kritik und Verbesserung dieser Vorschläge sich betheiligt u. s. w., der hat vielleicht an dem Gesetzgebungswerke thatsächlich einen sehr viel größeren Antheil als Bundesrath und Reichstag, welche lediglich seinen Vorschlägen zustimmen. Aber seine gesammte Thätigkeit ist staatsrechtlich unerheblich; seine Dienste für die Gesetzgebung §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. sind thatsächliche; eine juristische Mitwirkung an der Gesetzgebung ist in denselben nicht enthalten. Dieser Satz erscheint als selbstverständlich und kaum der Er- wähnung werth, wenn man dabei an Vorarbeiten für ein Gesetz denkt, welche von Privatpersonen ausgehen. Aber er gilt ebenso von Vorarbeiten, welche von Behörden in Erfüllung ihrer amt- lichen Pflichten unternommen werden. Es liegt in den thatsäch- lichen Verhältnissen begründet, daß die Vorarbeiten für Gesetzent- würfe, die Formulirung des Inhaltes und die Aufstellung von Motiven in der Mehrzahl der Fälle im Reichskanzler-Amt oder in einer der andern obersten Reichsbehörden erfolgen. Aber es giebt keinen Rechtssatz , der dies anordnet. Der Reichskanzler hat kein Recht darauf, daß diese Vorarbeiten von den ihm unterstellten Behörden und Beamten, oder daß sie unter seiner Leitung und Aufsicht vorgenommen werden. An Stelle des Reichskanzler-Amtes kann ebenso gut auch das Ministerium eines der Gliedstaaten diese Arbeiten vornehmen oder sie kann einer Kommission von Sachver- ständigen übertragen werden, wie dies schon in mehreren Fällen geschehen ist. Staatsrechtlich ist es gleichgültig, welche Schicksale ein Gesetzentwurf gehabt hat, bevor er an den Bundesrath oder Reichstag gelangt. Andererseits stehen Entwürfe von Reichsge- setzen, welche der Reichskanzler ausarbeiten läßt, die aber nicht zur Vorlage an den Bundesrath gelangen, staatsrechtlich auf der glei- chen Stufe, wie unbeachtet gebliebene Gesetzes-Entwürfe von Privat- personen; d. h. sie sind ohne alle rechtliche Bedeutung. Auch eine an den Bundesrath oder den Reichstag gelangende Petition um Erlaß eines Gesetzes kann, selbst wenn sie zu dem gewünschten Ziele führt, nicht als der Anfang der Gesetzgebung im staatsrecht- lichen Sinn erachtet werden; die Initiative zum Gesetz ist vielmehr erst in den Anträgen und Beschlüssen enthalten, welche die Petition zur Folge hat. 2) Bundesrath und Reichstag sind einander vollkommen gleich- gestellt. Die Thätigkeit des Bundesrathes unterscheidet sich von derjenigen des Reichstages in Bezug auf die Feststellung des Ge- setzes-Inhaltes in keinem Punkte. Keine der beiden Körperschaften ist auf ein Veto beschränkt oder genöthigt, einen Gesetzes-Vorschlag im Ganzen anzunehmen oder zu verwerfen; ebensowenig besteht eine Rangordnung hinsichtlich der Zeitfolge der Beschlußfassung. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Es hat demnach jede der beiden Körperschaften die sogenannte Initiative . Dieselbe kann in beiden nur von einem Antrage eines Mitgliedes der betreffenden Körperschaft ihren Ausgang neh- men. Im Bundesrath ist nach Art. 7 Abs. 2 der R.-V. „jedes Bundesglied befugt, Vorschläge zu machen und in Vortrag zu bringen und das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Berathung zu übergeben“ „Anträge der einzelnen Bundesstaaten, welche sich nicht etwa im Ver- laufe der Diskussion eines auf die Tagesordnung gesetzten Gegenstandes ent- wickeln, sind von dem Bevollmächtigten dem Reichskanzler schriftlich zu über- geben und werden von diesem auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gebracht oder, wenn sie sich auf eine, bereits einem Ausschuß überwiesene Vor- lage beziehen, diesem Ausschuß vorgelegt.“ Geschäfts-Ordnung des Bundesrathes §. 8. Vgl. Bd. I. S. 276. . Im Reichstage müssen Anträge, welche von Reichstags-Mitgliedern ausgehen, von mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet sein; Abänderungs-Vorschläge, welche vor oder bei der zweiten Berathung eingebracht werden, bedürfen keiner Unter- stützung; bei der dritten Berathung müssen sie von 30 Mitgliedern unterstützt sein Geschäfts-Ordn . des Reichstages §. 20 Abs. 1. §. 17 Abs. 3. §. 18 Abs. 2. . Ueber die geschäftliche Behandlung der Gesetzes-Vorschläge im Bundesrathe und Reichstage vrgl. oben Bd. I. §. 30 S. 276 ff. §. 51 S. 565 ff. Eine scheinbare Differenz zwischen dem Rechte des Bundes- rathes und dem des Reichstages, Gesetze vorzuschlagen, ist dadurch begründet, daß der Art. 23 dem Reichstage diese Befugniß „inner- halb der Kompetenz des Reiches“ gestattet, während der Bundes- rath an eine solche Beschränkung nicht gebunden ist v. Rönne , Staatsrecht des Deutschen Reiches (2. Aufl.) I. S. 239 nimmt an, daß auch der Bundesrath nicht berechtigt sei, Gesetze außerhalb der Kompetenz des Reiches vorzuschlagen. . Da aber auch die Veränderung der Kompetenz des Reiches selbst nach Art. 78 der R.-V. dem Reiche zusteht, also „innerhalb der Kompetenz des Reiches“ liegt, so ist es dem Reichstage unbenommen, eine Erwei- terung dieser Kompetenz vorzuschlagen Ausführliche Erörterungen darüber bei Hänel , Studien I. S. 156 ff. 160. 256 und bei Koller , Verfassung des Deutschen Reichs S. 93 ff. . Bei strengster Auslegung würde demnach der Art. 23 nur die Folge haben, daß der Reichs- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. tag, bevor er ein Gesetz vorschlägt, welches das zur Zeit der Reichsgesetzgebung zugewiesene Gebiet überschreitet, zunächst ein präparatorisches Gesetz vorschlagen müßte, welches in entsprechender Weise dieses Gebiet erweitert, und daß der Reichstag erst, nach- dem dieser Vorschlag Gesetz geworden ist, dasjenige Gesetz vor- schlagen dürfte, welches von dieser erweiterten Kompetenz Anwen- dung macht Dies ist die Ansicht von Seydel , Comment. S. 151. Thudichum S. 215. Auerbach S. 57. Beseler in den Preuß. Jahrb. Bd. 28 (1871). S. 192. v. Rönne a. a. O. S. 266. 267. Note 5. Vgl. auch dessen Preuß. Staatsr. I. 1. §. 22 (S. 87). Hänel , Studien I. S. 256 Note 7 erklärt diese Ansicht für „ganz unhaltbar“. . Es ist aber nicht einzusehen, warum der Reichstag diesen letzteren Vorschlag nicht gleich mit dem auf Abänderung der verfassungsmäßigen Kompetenz gerichteten für den Fall der Annahme des letzteren solle verbinden können oder warum er nicht eine Erweiterung der Kompetenz mittelst Sanctionirung des von ihm vorgeschlagenen Gesetzes solle beantragen dürfen Vrgl. v. Mohl , Reichsstaatsrecht S. 63. 163. v. Held S. 123. Hänel a. a. O. Die richtige Ansicht ist auch im Verfassungberathenden Reichstage vom Bundes-Kommiss. Hofmann entwickelt worden. (Stenogr. Berichte S. 319 Sp. 2.). Vgl. auch Hiersemenzel I. S. 35 und Bähr in den Preuß. Jahrd. Bd. XXVIII. (1871) S. 80. . Eine praktische Bedeutung kömmt der in Rede stehenden ein- schränkenden Klausel aber in keinem Falle zu. Denn Gesetzes- Vorschläge des Reichstages kann der Bundesrath ohnedies nach freiem Belieben verwerfen, auch wenn sie innerhalb der Reichs- competenz sich halten Der Bundesrath könnte allerdings einen vom Reichstage an ihn ge- langenden Gesetzesvorschlag, ohne sich auf eine sachliche Prüfung seiner Be- stimmungen einzulassen, unter Berufung auf Art. 23 aus dem formellen Grunde zurückweisen, weil dieser Vorschlag sich nicht innerhalb der Reichscompetenz halte. Allein da der Bundesrath überhaupt Gründe nicht anzugeben verpflichtet ist, wenn er einem Gesetzes-Vorschlag des Reichstages seine Zustimmung ver- sagt, so unterscheidet sich rechtlich eine solche Zurückweisung in Nichts von einer Verwerfung des Vorschlages. ; stimmt er denselben aber zu und werden sie auf verfassungsmäßigem Wege zum Gesetz erhoben, so wird die Gültigkeit desselben dadurch nicht beeinträchtigt, daß der Vorschlag vom Reichstage ausgegangen ist, da eben die Uebereinstimmung von Bundesrath und Reichstag genügt, um auf Grund derselben ein Gesetz zu sanctioniren. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 3) Wenn eine der beiden Körperschaften einen Gesetzes-Vor- schlag beschlossen hat, so ist derselbe der andern zu übermitteln. Geht der Vorschlag vom Bundesrath aus, so wird die Vorlage „nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundesrathes im Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht.“ R.-V. Art. 16. Der Reichs- kanzler als der einzige Reichsminister hat die Vorlage einzubringen; er thut dies nicht als Vorsitzender des Bundesrathes, sondern als Beamter des Kaisers, demgemäß nicht im Auftrage des Bundes- rathes oder im Namen der verbündeten Regierungen, sondern im Auftrage und im Namen des Kaisers. Ob er für die Einbringung jeder einzelnen Vorlage einer speziellen kaiserlichen Ermächtigung bedarf, ist reichsgesetzlich nicht bestimmt; scheint aber durch die ausdrückliche Hervorhebung, daß die Vorlage im Namen des Kaisers gemacht werden soll, angedeutet zu sein. Der Kaiser aber ist verfassungsmäßig verpflichtet, die Vorlage an den Reichstag nach Maßgabe der Beschlüsse des Bun- desrathes zu bringen; d. h. er darf weder die Einbringung ganz unterlassen oder unnöthig verzögern, noch darf er die Vorlage anders einbringen, als der Bundesrath sie beschlossen hat. Ge- setz-Entwürfe, welche der Bundesrath verworfen hat, oder welche in demselben gar nicht zur Beschlußfassung gelangt sind, kann der Kaiser dem Reichstage nicht vorlegen lassen; der Kaiser als solcher hat das Recht der Initiative nicht; er ist darauf beschränkt, in seiner Eigenschaft als König von Preußen Anträge im Bundesrathe zu stellen. Der Reichstag muß über eine Gesetzesvorlage des Bundesrathes einen materiellen Beschluß fassen, d. h. sie annehmen oder ablehnen; er darf nicht über dieselbe zur Tages-Ordnung übergehen Der Reichstag hat dies ausdrücklich anerkannt in seiner Geschäfts- Ordnung §. 50 Abs. 4. . Wenn der Reichstag einen Gesetzes-Vorschlag aufgestellt oder einen vom Bundesrath ihm vorgelegten amendirt hat, so wird der- selbe durch den Präsidenten des Reichstages dem Reichskanzler übersendet Gesch.-O. des Reichstages §. 66. und von diesem dem Bundesrathe in dessen nächster Sitzung vorgelegt Gesch.-O. des Bundesrathes §. 7. . Scheinen dem Bundesrathe Veränderungen an dem Entwurfe erforderlich, so können die von ihm beschlossenen §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Amendements dem Reichstage vorgelegt und die Verhandlungen zwischen beiden Körperschaften so lange fortgesetzt werden, bis eine Einigung über den Wortlaut des Gesetzes erzielt ist Aus Gründen der Zweckmäßigkeit ist es aber üblich geworden, daß bei wichtigen Gesetzes-Entwürfen von Seiten des Bundesrathes während der Ver- handlungen des Reichstages, namentlich nach den bei der zweiten Bera- thung gefaßten Beschlüssen, im Reichstage eine Erklärung darüber abgegeben wird, welchen Beschlüssen des Reichstages der Bundesrath sich anschließen, welchen er seine Zustimmung versagen wolle. Eine formelle Rechtswirkung ist mit einer solchen Erklärung nicht verbunden; es bleibt insbesondere dem Bun- desrathe unbenommen, nachträglich doch noch den Wünschen des Reichstages nachzugeben. . II. Die Sanction der Reichsgesetze . 1. Der von dem Bundesrathe und Reichstage festgestellte Ent- wurf wird dadurch zum Gesetze erhoben, daß die Befolgung seiner Vorschriften befohlen oder angeordnet wird. Jedes Gesetz besteht demnach aus zwei verschiedenen, auch äußerlich vollkommen von einander getrennten Theilen, von denen der eine die Regeln selbst, der andere den Gesetzesbefehl, die Anordnung ihrer Befol- gung enthält. Diese Anordnung kann dem Gesetzes-Inhalt voran- gehen oder nachfolgen. Die Praxis hat sich im Anschluß an das in Preußen und allen andern Deutschen Staaten beobachtete Ver- fahren für die Voranstellung der Sanctions-Formel entschieden, welche aus den Worten besteht: „Wir … verordnen … was folgt.“ Die Sanctions-Formel kann aber auch noch einen andern Inhalt haben, sie kann zugleich die verfassungsmäßige Entstehung des Gesetzes, insbesondere die zwischen dem Bundesrathe und Reichs- tage erzielte Uebereinstimmung bezeugen; sie kann also zugleich Promulgations-Formel sein. Diese Verbindung ist in der consti- tutionellen Monarchie üblich und in der Natur der Verhältnisse gegeben, da der Monarch in demselben Akte das Gesetz sanctionirt und promulgirt Siehe oben S. 19. 21. . In den Deutschen Staaten haben daher die Gesetze eine Eingangsformel, welche diesen doppelten Inhalt hat, und der Norddeutsche Bund sowie das Deutsche Reich haben für die Eingangsworte der Gesetze eine Formel angenommen, welche sich an diese Praxis und insbesondere an die in der Preußischen Monarchie herkömmliche Fassung anlehnt. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Insoweit die Eingangsworte des Gesetzes Promulgationsformel sind, wird die Bedeutung derselben unten erörtert werden; an dieser Stelle kommen sie nur als Sanctions-Erklärung in Betracht. 2. Die wichtigste Frage, welche sich in Betreff der Sanction erhebt, ist die nach dem Organ , welches den Gesetzen die Sanc- tion ertheilt. Die Eingangsformel der Reichsgesetze scheint darauf eine einfache und zweifellose Antwort zu geben; denn nach ihr ist es der Kaiser , welcher die Anordnung erläßt. Bei näherer Prüfung erweist sich diese Annahme aber als unhaltbar und weder mit der Natur der Sache noch mit den Bestimmungen der Reichs- verfassung vereinbar. Da die gesetzgebende Gewalt des Staates identisch ist mit der Staatsgewalt, so ergiebt sich, daß nur der Souverain des Staates, der Träger der Staatsgewalt, Gesetzgeber sein, d. h. den Gesetzen die Sanction ertheilen kann. In der Sanction der Gesetze kommt der staatliche Herrschaftswille unmittelbar zum Ausdrucke. Sowie man sagen kann, daß dem Träger der Souveränetät die Sanction der Gesetze zusteht, so kann man auch umgekehrt schließen, daß demjenigen, der in einem Staatswesen die Gesetze sanctionirt, die souveräne Staatsgewalt zusteht. Die Sanction ist der Kernpunkt des ganzen Gesetzgebungs-Vorganges; Alles, was vorher auf dem Wege der Gesetzgebung geschieht, ist nur Vorbereitung derselben, Erfüllung von erforderlichen Vorbedingungen; Alles, was nachher geschieht, ist nothwendige Rechtsfolge der Sanction; unabwendbar durch dieselbe bereits verursacht. Der entscheidende und freie Wille, ob etwas Gesetz werden soll oder nicht, kömmt allein bei der Sanc- tion zur Entfaltung. Daraus folgt mit Nothwendigkeit, daß der- jenige, der das Recht hat, die Sanction zu ertheilen, auch das Recht haben muß, sie zu versagen, oder wie man sich gewöhnlich ausdrückt, daß ihm das absolute Veto zustehen muß. Wer die Sanctionsformel in Folge des Willens eines Anderen auf ein Gesetz schreiben muß , auch ohne daß er selbst will, aber kraft rechtlicher Nöthigung, der ertheilt in Wahrheit die Sanction nicht, der ist nicht Träger der gesetzgebenden Gewalt, sondern jener An- dere, in dessen freier Entschließung es steht, jenen Beschluß zu fassen oder nicht. Hieraus ergiebt sich, daß man dem Kaiser nur dann die Sanction der Reichsgesetze zuschreiben kann, wenn man ihm zugleich das sogen. absolute Veto, d. h. die Befugniß, die §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Sanction zu verweigern, beilegt. Dies ist aber durch die Reichs- verfassung ausgeschlossen. Art. 5 der R.-V. stellt deu Satz an die Spitze: „Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundes- rath und den Reichstag.“ Der Kaiser wird hier gar nicht er- wähnt; hätte dem Kaiser aber die Befugniß eingeräumt werden sollen, einem Reichsgesetz die Sanction zu ertheilen oder zu ver- sagen, wäre also seine Zustimmung zu dem Zustandekommen eines Gesetzes wesentlich, so hätte man ihn nicht bei der Aufzählung derjenigen Organe übergehen können, durch welche die Gesetzgebung ausgeübt wird. Auch der folgende Passus, wonach die Ueberein- stimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend ist, bestätigt, daß die Zustimmung des Kaisers zum Zustandekommen eines Gesetzes nicht erforderlich ist. Wenngleich Art. 5 Abs. 1, wie bereits hervorge- hoben worden ist, den Weg der Reichsgesetzgebung nicht vollstän- dig regelt, seine Anordnungen also anderweitig ergänzt werden müssen, so wird doch durch ihn jede mit ihm in Widerspruch stehende Annahme widerlegt. Aus der Vergleichung des Art. 5 Abs. 1 mit seinem Vorbild, dem Art. 62 der Preuß. Verf.-Urk. ergiebt sich zweifellos, daß die Nichterwähnung der kaiserlichen Zu- stimmung bei dem Zustandekommen eines Gesetzes bedeutet, daß dieselbe kein Requisit für den Erlaß eines Gesetzes sein solle. Ganz direct ausgeschlossen wird aber das kaiserliche Placet durch den zweiten Absatz desselben Artikels, nach welchem Gesetzes- vorschläge über das Militairwesen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 bezeichneten Abgaben im Bundesrath als abgelehnt gelten, wenn sich die Stimme des Präsidiums dagegen ausspricht. Die Einräumung dieses Rechtes wäre völlig sinnlos, wenn das Präsi- dium bei allen Gesetzesvorschlägen ein liberum veto hätte, oder richtiger ausgedrückt, wenn es den vom Bundesrath und Reichstag beschlossenen Gesetzentwürfen die Sanction zu ertheilen hätte. Auch bei den im Art. 5 Abs. 2 bezeichneten Gesetzen kömmt die bevor- zugte Kraft der Präsidialstimme nur innerhalb des Bundes- rathes zur Geltung; auch bei ihnen ist davon keine Rede, daß neben der Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages noch das Placet des Kaisers erforderlich sei Vrgl. oben Bd. I. S. 280. ; aber nach dem §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Grundsatz exceptio firmat regulam folgt aus dem Abs. 2 des Art. 5, daß der Regel nach Reichsgesetze auch gegen den Willen des Kaisers zu Stande kommen können, wofern nämlich die Preußischen Stimmen im Bundesrathe in der Minorität geblieben sind. Folglich kann unmöglich derjenige Willensact, welcher den Gesetzes-Entwurf zu einem Reichsgesetz umwandelt, ein Willensact des Kaisers sein Auch die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller stimmt darin über- ein, daß dem Kaiser die Sanction der Gesetze nicht zusteht. Vgl. Thudichum , Verf.-R. S. 88. Meyer , Grundzüge S. 67. 69. Hiersemenzel I. S. 70. 71. Riedel S. 22. 25. v. Held S. 106. v. Mohl S. 290. Seydel , Kommentar S. 124. v. Gerber S. 246. Auch v. Rönne (2. Aufl.) I. S. 230 ist derselben Ansicht; jedoch verbindet er damit das Miß- verständniß, daß in den Fällen des Art. 5 Abs. 2 der R.-V. der Kaiser „das Recht der Sanction besitzt“ (!) und er in den übrigen Fällen nicht berechtigt sei, „die Sanction zu verweigern.“ . Auch Art. 17 der R.-V. bestätigt dies. Denn er überträgt dem Kaiser die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Ueberwachung der Ausführung derselben, also nur Funk- tionen, welche die Sanction des Gesetzes bereits voraussetzen. Aus der Betrachtung der rechtlichen Grundlinien der Reichsver- fassung ergiebt sich vielmehr ein anderes Resultat. Träger der souverainen Reichsgewalt ist die Gesammtheit der Deutschen Staaten als ideelle Einheit gedacht Vrgl. Bd. I. S. 87 ff. . Nur von ihr kann daher der eigentliche Gesetzgebungsact, die Sanction der Reichsgesetze ausgehen. Die Gesammtheit der Deutschen Landes- herren und freien Städte ertheilt den Entwürfen zu Reichsgesetzen die Sanction, welche sie in Reichsgesetze umwandelt. In allen Fällen aber, in denen die Deutschen Bundesglieder ihren Antheil an der Reichsgewalt auszuüben haben, ist der Bundesrath das dafür verfassungsmäßig bestimmte Organ, nicht der Kaiser. Denn der Kaiser handelt nach freier und höchst eigener Entschließung, die Bundesraths-Mitglieder stimmen nach der ihnen ertheilten In- struktion. Der Kaiser ist daher wohl geeignet, Rechte des Reiches gegen die Gliedstaaten, gegen die Reichsangehörigen und gegen auswärtige Mächte zu verwalten, niemals aber den Antheil der Bundesglieder an der Reichsgewalt zu verwirklichen. Dazu ist allein der Bundesrath geeignet, dessen Mitglieder rechtlich keinen §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. eigenen Willen haben, sondern nur die Werkzeuge sind, durch welche der Wille der Einzelstaaten und deren Landesherren erklärt wird, und der durch seinen Beschluß den Willen der Einzelstaaten zu einem einheitlichen Gesammtwillen verbindet. Die Sanction der Reichsgesetze erfolgt demnach durch einen Beschluß des Bundesrathes Bei den Berathungen über das Gesetz betreffend die Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem deutschen Reich erklärte Minister v. Mittnacht in der Reichstagskommission: „Der Kaiser sei im Reiche kein selbstständiger Faktor der Gesetzgebung, sondern nur das einflußreichste Mitglied der Gesammt- heit. … Der Kaiser habe auch in der Reichsverfassung eine einflußreiche Stellung, obgleich die oberste Gewalt, die Gesetzgebung, föderativ gedacht sei.“ Kommissionsbericht v. 16. Mai 1871. Drucksachen I. Sess. 1871. Bd. II. Nro. 133. S. 17. (Auch abgedruckt in Hirth’s Annalen 1871.) . Da nun der Bundesrath auch an der Feststellung des Gesetzes- Inhaltes Antheil nimmt, so kann die Zustimmung des Bundes- rathes zu dem Inhalte des Gesetzentwurfs mit dem Beschluß, denselben zu sanctioniren, in einen und denselben Akt zusammen- fallen und in Folge dessen die Bedeutung dieses letzteren ver- dunkelt werden. Dessenungeachtet ist es nicht schwierig, beide Momente von einander zu unterscheiden; denn die beiden Be- schlüsse werden nicht in allen Fällen gleichzeitig und uno actu gefaßt . Cs tritt dies deutlich zu Tage, wenn ein Gesetzesvorschlag vom Bundesrath ausgeht und vom Reichs- tage unverändert angenommen wird. Obwohl der Bundes- rath schon früher als der Reichstag mit dem Inhalt des Gesetz- entwurfs sich einverstanden erklärt hat, so muß der Bundesrath dennoch, wenn die Vorlage aus dem Reichstage an ihn zurück- gelangt, einen zweiten Beschluß fassen, welcher darauf gerichtet ist, den Gesetzentwurf dem Kaiser zur Ausfertigung und Verkündigung zu unterbreiten Es ist dies durch den Wortlaut des Art. 7 Ziff. 1 der R.-V. anerkannt, wonach der Bundesrath beschließt : „über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von demselben gefaßten Beschlüsse .“ Es ge- nügt daher nicht, den vom Reichstag gefaßten Beschluß nur zur Kenntniß des Bundesraths zu bringen. . Dieser Beschluß enthält die Sanction des Gesetzentwurfes. Rechtlich ist die Möglichkeit gegeben, daß die Bundesregie- rnngen einen von ihnen dem Reichstag vorgelegten und vom Reichs- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 3 §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. tage bereits genehmigten Gesetzentwurf zurückziehen, d. h. nicht sanctioniren. Dasselbe gilt von dem Falle, wenn der Bundesrath während der Verhandlungen des Reichstages über die von Reichstags-Mit- gliedern oder Kommissionen gestellten Anträge oder über die in zweiter Berathung gefaßten Beschlüsse verhandelt und vor der Schlußberathung des Reichstages in demselben eine Erklärung ab- gibt, welchen Abänderungen er zustimmen wolle und welchen nicht. Genehmigt alsdann der Reichstag bei der Schlußabstimmung den Gesetzentwurf in der den Bundesrathsbeschlüssen entsprechenden Fassung, so ist die Uebereinstimmung über den Gesetzes-Inhalt hergestellt, dessenungeachtet aber noch ein Beschluß des Bundes- rathes erforderlich, welcher den Gesetzes-Entwurf definitiv geneh- nehmigt, d. h. sanctionirt. Dieser Akt der Sanction ist merkwürdig durch das Mißver- hältniß, welches zwischen seiner politischen und seiner juristischen Bedeutung besteht. Politisch ist er fast ohne Belang; denn der Bundesrath wird natürlich einem Gesetzentwurf, dessen Inhalt er zustimmt, die Sanction ertheilen und umgekehrt die Sanction ver- weigern, wenn er den Inhalt verwirft. Die politische Aufgabe ist vollständig gelöst, wenn es gelungen ist, einen Wortlaut des Gesetzentwurfs zu finden, mit welchem Bundesrath und Reichstag sich einverstanden erklären. Bei der überwiegend durch politische Gesichtspunkte beherrschten Behandlung des Staatsrechts ist es daher nicht zu verwundern, daß man die Sanction mit der Zu- stimmung zum Inhalt völlig zusammenwirft und nur der letzteren unter den Erfordernissen des Gesetzes Beachtung schenkt, und daß auch die Reichsverfassung selbst die Sanction der Reichsgesetze gar nicht erwähnt. Juristisch ist es dagegen von größter Wichtigkeit, sowohl für die Erkenntniß des Gesetzgebungs-Vorganges als auch für das richtige Verständniß des ganzen Verfassungsbaues des Reiches, Klarheit darüber zu gewinnen, wer im Deutschen Reiche der eigentliche Gesetzgeber ist. Dadurch allein wird es ermöglicht, sowohl die Funktionen des Kaisers wie diejenigen des Bundes- rathes und des Reichstages bei der Gesetzgebung in logischem Ein- klang mit dem Prinzip von der Untheilbarkeit der Souve- ränetät zu erhalten und den Widerspruch zu vermeiden, daß man die Lehre von der Theilung der Staatsgewalt allgemein als §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. eine unlogische und absurde erkennt und sie dennoch auf die Aus- übung der Gesetzgebung anwendet. 3. Die Eingangsformel der Reichsgesetze gibt dem Vorgange, durch welchen ein Reichsgesetz zu Stande kömmt, keinen völlig ge- treuen Ausdruck. Sie ist ganz so gefaßt, als wäre der Bundes- rath eine Abtheilung der Volksvertretung und das Reich nicht ein Bundesstaat, sondern eine Monarchie mit zwei Kammern. Die erfolgte Zustimmung des Bundesrathes wird neben der des Reichs- tages erwähnt, als wäre bei der Reichsgesetzgebung die Stellung beider Versammlungen ebenso gleichartig, wie etwa die Stellung der beiden Häuser des preußischen Landtages. Den Gesetzesbefehl erläßt der Kaiser ; allerdings „im Namen des Reiches“, aber ohne Andeutung, daß der Wille des Reiches, das Gesetz zu sanc- tioniren, durch das Organ des Bundesrathes hergestellt worden ist. Trotzdem steht die Sanctionsformel nicht im Widerspruch mit der Rolle, welche nach der Reichsverfassung dem Bundesrath zu- gewiesen ist. Denn der Bundesrath ist durchweg darauf beschränkt, Beschlüsse zu fassen; dagegen erläßt er niemals formell Befehle . So wie auf dem ganzen Gebiete der Verwaltung der Reichskanzler den Beschluß des Bundesrathes zur Ausführung bringt, indem er die Befolgung desselben befiehlt, sei es auch nur in der Form der Bekanntmachung; so wird bei der Gesetzgebung der von den Bun- desregierungen gefaßte Sanctionsbeschluß vom Kaiser ausgeführt, indem er die Befolgung desselben befiehlt. In der Eingangsfor- mel der Reichsgesetze ist demnach hinter dem Worte „verordnen“ hinzuzudenken: auf Grund und in Ausführung des vom Bundes- rathe Namens der verbündeten Regierungen gefaßten Sanctions- beschlusses. Thatsächlich sind diese Worte entbehrlich, weil der Zustimmung des Bundesrathes ohnedies in der Eingangsformel Erwähnung geschieht; freilich ohne Andeutung, daß die Zustim- mung des Bundesrathes etwas wesentlich Anderes in sich schließt als die Zustimmung des Reichstages. 4. Da der Reichstag weder an der Sanction noch an der Promulgation der Reichsgesetze einen Antheil hat, die Eingangs- formel aber lediglich auf diese beiden Gegenstände sich bezieht, so besteht keine rechtliche Nöthigung, daß die Genehmigung des Reichs- tages auch auf die Eingangsworte des Gesetzes erstreckt wird. Die Praxis hat jedoch im Anschluß an das in Preußen beobachtete 3* §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Verfahren sich dafür entschieden, die Beschlußfassung des Reichs- tages auch auf die Eingangsformel auszudehnen Der von v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1. S. 183 weitläufig aus- geführte Grund, daß die Sanctionsformel ein „ Theil des Gesetzes “ sei, vgl. auch dessen Staatsrecht des deutschen Reichs II. 1 S. 16 — ist lediglich eine versteckte petitio principii . . Dadurch ist der Reichstag in der Lage, eine Controle darüber auszuüben, daß die Eingangsformel mit dem für die Reichsgesetzgebung vor- geschriebenen Verfahren im Einklang steht. 5. Der Beschluß des Bundesrathes, durch welchen einem Ge- setzentwurf die Sanction ertheilt wird, ist nach den in Art. 6 und 7 der Reichsverfassung gegebenen Bestimmungen zu fassen. In der Regel genügt daher die einfache Majorität, welche nach den Bd. I. S. 279 fg. entwickelten Vorschriften festzustellen ist. Aus- genommen hiervon sind a ) Gesetzesvorschläge, durch welche die bestehenden Einrich- tungen hinsichtlich des Militärwesens, der Kriegs- marine oder der im Art. 35 der Reichsverf. bezeichneten Ab- gaben verändert werden sollen. Sie sind abgelehnt, wenn die preußischen Stimmen im Bundesrathe gegen ihre Annahme abge- geben werden R.-V. Art. 5 Abs. 2. Vgl. oben Bd. I. S. 280. 281. . b ) Gesetzesvorschläge, durch welche Veränderungen der Ver- fassung erfolgen sollen. Sie sind abgelehnt, wenn sie im Bun- desrathe 14 Stimmen gegen sich haben R.-V. Art. 78 Abs. 1. Die Entscheidung der Vorfrage, ob ein Gesetzvorschlag eine Veränderung der Verfassung enthält oder nicht, erfolgt durch einfache Majorität. Bd. I. S. 280. Hänel , S. 259. v. Rönne , II. 1. S. 35. . Daß in diesem Artikel unter Verfassung nur die Verfas- sungs-Urkunde , wie sie durch das Ges. v. 16. April 1871 festgestellt worden ist, nicht der gesammte Verfassungszustand des Reiches zu verstehen ist, unterliegt keinem Zweifel. Diese Verfassungs-Urkunde bezeichnet sich selbst als „Verfassung“ und es kann daher nicht angenommen werden, daß sie in ihrem eigenen Artikel 78 unter diesem Ausdruck etwas Anderes versteht v. Mohl , Reichsstaatsr. S. 143 fg. . Auch würde die entgegengesetzte Ansicht zu völliger Unklarheit führen, da der „Verfassungszustand“ durch die Gesammtheit aller beste- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. henden Gesetze und Einrichtungen bestimmt wird; fast jedes Gesetz daher eine Veränderung der Verfassung in diesem Sinne bewirken würde. Auch der Art. 107 der Preuß. Verf.-Urk., welcher in ähnlicher Weise wie Art. 78 Abs. 1 der R.-V. von der Abände- rung der Verfassung auf dem Wege der Gesetzgebung spricht, ist niemals anders ausgelegt worden, als daß das Wort Verfassung gleichbedeutend mit Verfassungs-Urkunde ist Vgl. v. Rönne , Staatsr. der Preuß. Monarchie I. 2 §. 187. VI. S. 617 fg. . Ebenso unzweifelhaft ist es, daß alle in gesetzlichem Wege er- folgten Veränderungen der Verfassungs- Urkunde ebenfalls nur geändert werden können unter Beobachtung der im Art. 78 Abs. 1 aufgestellten Regel Dies sind zur Zeit die oben Bd. I. S. 51. 52 aufgeführten Gesetze. . Dagegen bedarf eine andere Frage noch einer näheren Unter- suchung. Es kann nämlich vorkommen, daß ein Gesetz erlassen werden soll, welches formell den Wortlaut der Verfassungs-Urkunde unverändert läßt, materiell aber eine Abänderung ihres Inhaltes bewirkt, welches also, wie man zu sagen pflegt, „materiell ver- fassungswidrig“ ist Eine ausführliche, aber verwirrte und unlogische Abhandlung über die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze enthält v. Mohl’s Staatsr. Völkerr. und Politik. Bd. I. S. 66 ff. . Ein solches Gesetz kann selbstverständlich nur die Sanction erhalten, wenn sich im Bundesrath nicht 14 Stimmen gegen die- selbe erklären, da sonst die Bestimmung des Art. 78 Abs. 1 eine völlig wirkungslose und illusorische wäre. Es ist ferner unbedenk- lich anzuerkennen, daß das korrekte Verfahren darin besteht, daß zunächst der Wortlaut der Verfassung entsprechend verändert und alsdann erst das beabsichtigte Specialgesetz erlassen wird, damit die Harmonie zwischen den in der Verfassung formulirten Prin- zipien und den Gesetzgebungs-Akten des Reiches nicht gestört wird. Auch sind die politischen Nachtheile unverkennbar, welche die Durch- löcherung der Verfassungssätze durch gelegentliche Specialgesetze im Gefolge hat. Alles dies ist aber nicht entscheidend für die Be- antwortung der Rechtsfrage, ob nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder nach den Anordnnngen der deutschen Reichsverfassung der Erlaß von Spezialgesetzen, welche dem Wortlaut der Verfassung §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. widerstreiten, auch unter Erfüllung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Erfordernisse untersagt und unstatthaft ist, und ob Gesetze dieser Art, welche ohne vorhergehende verfassungsmäßig erfolgte Veränderung der Verfassungs-Urkunde erlassen worden sind, rechtlich wirkungslos seien. Diese Frage ist zu verneinen Sie ist in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die Be- jahung erklären sich: Hiersemenzel I. S. 35. 214. Beseler in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28. S. 190 ff. Zachariä zur Frage von der Reichscompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma. 1871 S. 46. G. Meyer , Staatsrechtl. Erörterungen S. 64 Anm. 1. Westerkamp , S. 133 u. be- sonders v. Rönne , Staatsr. des D.R. II. 1. S. 31 fg. Für die Ver- neinung haben sich ausgesprochen O. Bähr , in den Preuß. Jahrb. 1871 Bd. 28 S. 79, besonders Hänel , Studien I. S. 258. . Die in der Verfassung ent- haltenen Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingun- gen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als an- deren Gesetzen kömmt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren Willen im Staate als den des Souverains und in diesem Willen wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfassung wie der Gesetze. Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sodern gleich jedem andern Gesetz ein Willens- act des Staates und mithin nach dem Willen des Staates ver- änderlich Die Eigenschaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Ver- fassungsurkunde zu stützen pflegt, nämlich, daß sie „feierlich verbrieft“, „mit der Volksvertretung vereinbart“ sei und dgl., kommen ebenso allen anderen Gesetzen zu. . Es kann freilich gesetzlich vorgeschrieben sein, daß Aenderungen der Verfassung nicht mittelbar erfolgen dürfen (d. h. durch Gesetze, welche ihren Inhalt modifiziren), sondern nur unmit- telbar durch Gesetze, welche ihren Wortlaut anders fassen. Wo ein solches erschwerendes Erforderniß für Verfassungs-Aenderungen aber durch einen positiven Rechtssatz nicht angeordnet ist, läßt sich das- selbe aus der juristischen Natur der Verfassung und dem Verhält- niß der Verfassungs-Urkunde zu einfachen Gesetzen nicht herleiten. Der Satz, daß Spezialgesetze stets mit der Verfassung im Ein- klang stehen müssen und niemals mit ihr unvereinbar sein dürfen Vgl. z. B. v. Rönne , Staatsr. des Deutschen R. II. 1 S. 33. We- sterkamp , S. 196 ff. u. v. a. , ist lediglich ein Postulat der Gesetzgebungs-Politik, §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. aber kein Rechtssatz; wenn es auch wünschenswerth erscheint, daß der gesetzlich bestehende Rechts- und Verfassungszustand nicht im Widerspruch stehe mit dem Wortlaut der Verfassungs-Urkunde, so ist dennoch die thatsächliche Existenz eines solchen Widerspruchs an und für sich ebenso möglich und rechtlich zulässig, wie etwa eine Divergenz des Strafgesetzbuchs, Handelsgesetzbuchs oder der Pro- zeß-Ordnung mit einem später erlassenen Specialgesetz. Die Reichsverfassung enthält keine Vorschrift, daß Aenderun- gen ihrer Bestimmungen nur unmittelbar durch Aenderungen ihres Wortlautes, nicht mittelbar durch Erlaß von Specialgesetzen er- folgen dürfen. Sie verlangt im Art. 78 Abs. 1 Nichts weiter, als daß sie „im Wege der Gesetzgebung erfolgen“, mit dem allei- nigen Zusatz, daß 14 Stimmen im Bundesrathe zur Ablehnung des Gesetzes genügen. Es ist daher nicht wohl zu begreifen, wie man sich auf den Art. 78 Abs. 1 berufen kann z. B. v. Rönne , a. a. O. S. 32 fg. , um darzuthun, daß „der Weg der Gesetzgebung“ nicht genügend sei, sondern daß er gleichsam zweimal zurückgelegt werden müsse, das erste Mal um der Verfassungs-Urkunde den erforderlichen Wortlaut zu geben, das zweite Mal um die eigentlich beabsichtigten gesetzlichen Anord- nungen zu treffen. Eben so wenig kann man sich mit Erfolg auf die Bestimmung im Art. 2 der R.-V. berufen, wonach das Reich das Recht der Gesetzgebung nur „nach Maßgabe des Inhaltes der Reichsverfassung“ auszuüben berechtigt sei, um darzuthun, daß jedes Gesetz seinem Inhalte nach mit den Bestimmungen der Reichs- verfassung in Uebereinstimmung stehen müsse; denn auch Art. 78 gehört zum Inhalte der Reichsverfassung. Jedes Gesetz, welches in den in der Reichsverfassung vorgeschriebenen Formen er- gangen ist, entspricht dem Erforderniß der Verfassungsmäßigkeit; die in der Verfassung enthaltenen materiellen Vorschriften da- gegen sind durch Art. 78 ausdrücklich für abänderlich im Wege der Gesetzgebung erklärt. Auch der Reichsverfassung gegenüber gilt daher der Grundsatz lex posterior derogat priori. In der Praxis des Deutschen Reiches sind die hier entwickelten Sätze wiederholt zur Anwendung gebracht worden. Der Art. 4 der Verfassung hat schon zur Zeit des Norddeutschen Bundes, ohne daß sein Wortlaut verändert worden wäre, seinem Inhalte nach §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. eine Erweiterung erfahren durch das Gesetz vom 12. Juni 1869 über die Errichtung des Oberhandelsgerichts Vgl. darüber die Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses 1869/70. Stenogr. Berichte S. 59. . Daß auch das Gesetz vom 6. März 1875, betreffend Maßregeln gegen die Reb- lauskrankheit, die im Art. 4 normirte Competenz überschreitet, ist kaum zweifelhaft Vgl. Protokoll des Bundesrathes 1875 § 170. . Ganz offenbar aber ist es, daß Art. 1 der R.-V. durch das Ges. v. 9. Juni 1871 betreffend die Vereinigung von Els.-Lothr. mit dem Deutschen Reiche und Art. 20 Abs. 2 und Art. 40 der R.-V. durch das Ges. v. 25. Juni 1873 betreffend die Einführung der Verf. des Deutschen Reichs in Els.-Lothr. ma- teriell abgeändert worden sind, obgleich diese Veränderungen im Text der Verfassung keinen Ausdruck gefunden haben. Ferner hat das Ges. v. 21. Juli 1870 die Legislatur-Periode des damaligen Reichstages über die im Art. 24 der R.-V. festgesetzte Dauer verlängert. Endlich ist Art. 50 Abs. 2 der R.-V. durch das Postges. v. 28. Oktob. 1871 § 50 modifizirt worden Hänel , a. a. O. Auch das Gesetz v. 25. Mai 1873 über die Rechts- verhältnisse der zum dienstlichen Gebrauche einer Reichsverwaltung bestimmten Gegenstände ist nach der Ansicht von Seydel (in Behrend’s Zeitschrift f. die Deutsche Gesetzgebung Bd. VII. S. 234) außerhalb der verfassungsmäßigen Reichscompetenz erlassen. . Wenn man hiernach anerkennen muß, daß unter Beobachtung der im Art. 78 aufgestellten Erfordernisse verfassungsändernde Ge- setze erlassen werden können, ohne daß der Wortlaut der Verfas- sungs-Urkunde eine Abänderung erfährt, so entsteht die weitere Frage, ob solche Gesetze ebenfalls nur unter Beobachtung der im Art. 78 Abs. 1 gegebenen Vorschrift abgeändert werden können oder ob hierzu ein von der einfachen Majorität des Bundesrathes sanctionirtes Gesetz genügt. Diese Frage ist im letzteren Sinne zu entscheiden In demselben Sinne äußern sich: Thudichum , Verfassungsr. S. 84 und Westerkamp S. 135. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Hänel S. 255 Note 6. Keine Beantwortung der Frage enthalten die Bemerkungen v. Mohl’s S. 158. . Denn die erschwerende Bedingung des Art. 78 Abs. 1 setzt Anordnungen voraus, welche formell Bestandtheile der Verfassungs- Urkunde geworden oder an die Stelle solcher Be- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. standtheile getreten sind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines Rechtssatzes, sondern dieses äußerliche Merkmal allein ist dafür entscheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder die spezielle Regel des Art. 78 Abs. 1 Anwendung findet. Wenn demnach einmal die Verfassung durch ein Spezialgesetz mittelbar abgeändert worden ist, so können die Bestimmungen dieses Spezial- gesetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität sanctionirtes Gesetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende Modifikationen der ursprünglichen Verfassungssätze herbeigeführt werden. Auch dieser Grundsatz ist in der Praxis zur Anwendung gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts und damit die im Art. 4 der R.-V. abgegrenzte Kompetenz des Reichs durch eine Reihe von Gesetzen erweitert worden ist Vgl. über dieselben Bd. I. S. 363 fg. , ohne daß für dieselben der Charakter der verfassungsändernden Gesetze in Anspruch genommen worden ist Gerade hieran aber zeigt es sich, wie bedenklich es in politischer Hin- sicht ist, die Verfassungs-Grundsätze durch Spezialgesetze zu durchbrechen, ohne den Wortlaut der Verfassungs-Urkunde entsprechend abzuändern. . Sollen die Bestimmungen eines Spezialgesetzes dieselben Garantieen gegen Veränderungen erhalten, wie diejenigen der Verfassung, ohne daß sie doch in die Verfassungs-Urkunde selbst aufgenommen werden, so muß das Spezialgesetz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur auf dem im Art. 78 der R.-V. bezeichneten Wege abgeändert werden könne. Andererseits kann auch die Verfassungs-Urkunde Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der einfachen Gesetz- gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79 Abs. 2 der Norddeutschen Bundesverf. der Fall war, oder indem sie ihre Anordnungen „bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes“ auf- stellt. Vgl. R.-V. Art. 20 Abs. 2. 60. 61 Abs. 2. 68. 75 Abs. 2. III. Die Promulgation der Reichsgesetze . Wenn der Reichstag einem Reichsgesetze die Zustimmung er- theilt und der Bundesrath dasselbe definitiv genehmigt (sanctionirt) hat, so sind die materiellen Voraussetzungen für den Erlaß des Gesetzes gegeben. Es bedarf das Gesetz aber, um rechtlich wirk- sam werden zu können, einer sinnlich wahrnehmbaren authentischen §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. und solennen Erklärung, einer äußeren, seine rechtmäßige Entste- hung verbürgenden und bestätigenden Form. Der Beschluß des Reichstages hat an und für sich keine verbindliche Kraft, weil er nicht einen Befehl der Staatsgewalt zum unmittelbaren Inhalte hat; der Sanctions-Beschluß des Bundesrathes ist — wie bereits erörtert wurde — ebenfalls nicht der formelle Erlaß des Gesetzes- befehles selbst, sondern nur ein Beschluß, daß dieser Befehl im Namen des Reiches erlassen werden soll. Die formelle Erklärung des Gesetzgebungswillens des Reiches, die Ausfertigung und Verkündigung des Reichsgesetzes ist vielmehr durch Art. 17 der R.-V. dem Kaiser übertragen. 1. Die Eingangsworte der Gesetzes-Urkunde lauten: „Wir . . . . . verordnen im Namen des Deutschen Reiches, nach er- folgter Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages , was folgt.“ Die Ausfertigung des Gesetzes enthält also die kaiserliche Versicherung, daß das Gesetz die Zu- stimmung des Reichstages und Bundesrathes erhalten hat, d. h. den Anforderungen der Reichsverfassung gemäß zu Stande gekom- men ist. Sie setzt demnach eine Prüfung des Weges, den das Gesetzgebungswerk zurückgelegt hat, voraus. Dem Kaiser als sol- chem steht zwar ein Veto gegen das Reichsgesetz nicht zu; aber der Kaiser hat das Recht und die Pflicht, zu untersuchen, ob das Gesetz in verfassungsmäßiger Weise die Zustimmung des Reichs- tages und Bundesrathes und die Sanktion des durch den Bundes- rath vertretenen Reichs-Souverains erhalten hat. Er hat daher insbesondere zu prüfen, ob im Bundesrathe die Abstimmung nach den im Art. 7 der Reichsverf. aufgestellten Regeln und ob die Beschlußfassung der Bestimmunngen der Art. 5. 37 oder 78 der R.-V. gemäß erfolgt ist In dem Gesetz vom 21. Juli 1870 (B.-G.-Bl. S. 498) lautet die Pro- mulgationsformel: „nach erfolgter verfassungsmäßiger Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages.“ Es sollte dadurch angedeutet werden, daß die Abstimmung im Bundesrathe gemäß Art. 78 der R.-V. erfolgt ist. Bei den späteren, die Reichsverfassung abändernden Gesetzen hat man diesen Zu- satz in den Eingangsworten jedoch wieder fortgelassen und zwar mit Recht; denn die Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages muß bei allen Gesetzen, mögen sie die Verfassung abändern oder nicht, verfassungs- mäßig erfolgen. ; ob dem Gesetz, falls es iura singulo- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. rum berührt, der davon betroffene Bundesstaat zugestimmt hat; ob der Reichstag und Bundesrath die Gesetzesvorlage den beste- henden Vorschriften gemäß behandelt haben, ob zwischen den Be- schlüssen beider Körperschaften völlige Uebereinstimmung besteht, u. s. w. Wenn diese Prüfung zu einem negativen Ergebniß führt, so hat der Kaiser nicht blos das Recht, sondern die Pflicht, die Ausfertigung zu versagen bis der Mangel gehoben ist. Auch wenn der Kaiser irrthümlich zu dieser Ansicht gelangen sollte, so gilt seine Entscheidung; denn es gibt keine höhere Instanz, welche ihn zur Ausfertigung des Gesetzes anhalten könnte. Es ist daher thatsächlich die Möglichkeit gegeben, daß der Kaiser, indem er die Ausfertigung des Gesetzes aus einem formellen Grunde versagt, ein Veto ausübt v. Mohl , Reichsstaatsr. S. 291 ff. macht mit Recht geltend, daß dem Kaiser die Ausfertigung „verfassungswidriger“ Gesetze „nicht zugemuthet“ werden könne; er unterscheidet aber nicht zwischen Ausfertigung und Sanktion. . Eine politische Gefahr ist in diesem Satze nicht zu finden; man würde völlig seine thatsächliche Be- deutung verkennen, wenn man daraus den Schluß ziehen wollte, daß es in die Willkür des Kaisers gestellt sei, ob er ein Gesetz ausfertigen wolle oder nicht. Die Rücksicht auf den Bun- desrath und auf den Reichstag, auf die öffentliche Meinung und auf das eigene Ansehen machen es ganz unmöglich, daß der Kaiser die ihm übertragene Befugniß widerrechtlich mißbrauche. Erkennt der Kaiser an, daß das Gesetz in tadelloser Weise den Vorschriften der Reichsverfassung gemäß zu Stande gekom- men ist, so ist die Ausfertigung desselben seine verfassungsmäßige Pflicht Hierüber herrscht fast allgemeine Uebereinstimmung. Vgl. Thudichum S. 94. Hiersemenzel , I. S. 70. Meyer , Grundz. S. 70. Riedel , S. 108. Seydel , Commentar S. 124. Westerkamp , S. 130 fg. v. Pözl , S. 111. v. Rönne , I. S. 230. Nur v. Martitz , S. 53 Anm. 45 vertritt die entgegengesetzte Ansicht, indem er irriger Weise die Stellung des Kaisers im Reich mit der des Königs von Preußen identifizirt. . 2. Wenn der Kaiser die Ausfertigung ertheilt, so wird da- mit in formell unanfechtbarer und rechtswirksamer Weise constatirt, daß das Gesetz verfassungsmäßig zu Stande gekommen ist. Dadurch beantwortet sich die Frage nach dem sogen. richter- lichen Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze von selbst. Diese in der Deutschen Rechtsliteratur so überaus §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. häufig erörterte Frage wird von der überwiegenden Mehrzahl der Schriftsteller zu Gunsten des richterlichen Prüfungsrechts entschie- den Die Literatur über diese Frage ist fast in allen Lehrbüchern des Staats- rechts und Privatrechts zusammengestellt und soll deshalb hier nicht von Neuem aufgeführt werden. Die vollständigste Darstellung der Dogmengeschichte gibt die Abhandlung von Bischof in der Zeitschrift f. Civilr. n. Proceß (Gießen 1859) Bd. XVI. S. 245 ff. 385 ff.; seit dem Erscheinen dieser Schrift ist die Literatur aber noch sehr erheblich angewachsen. — Hervorgehoben muß werden, daß die Erörterungen oben im Texte sich nur auf die Reichsgesetze beziehen, also nicht auf Verordnungen des Reiches, von denen unten §. 59 die Rede sein wird. . Man sagt: In verfassungswidriger Weise errichtete oder die Verfassung verletzende Gesetze seien nur Scheingesetze; die Gerichte, welche berufen sind, die Gesetze anzuwenden, müssen vor allen Dingen prüfen, ob ein sich als Gesetz bezeichnender Erlaß auch in der That den Erfordernissen eines Gesetzes entspreche, und wenn diese Prüfung zu einem verneinenden Resultat führe, so sei es die Pflicht der Gerichte, sich durch die trügerische Bezeichnung nicht irreleiten zu lassen, sondern den Erlaß, der in Wahrheit kein Gesetz und nichtig sei, als nichtig zu behandeln. Diese Deduction enthält, wie ihr schon oft entgegengehalten worden ist, eine petitio principii. Es ist allerdings richtig, daß der Richter, bevor er ein Gesetz anwendet, sich vergewissern muß, daß dieses Gesetz existirt; dadurch ist aber Nichts für die Frage entschieden, durch welche Thatsachen für den Richter die Existenz des Gesetzes formell constatirt wird. Das Argument beweist aber, wie falsche Gründe so oft, zu viel. Nicht nur der Richter, son- dern jeder Beamte hat bei seiner Amtsthätigkeit die Gesetze anzuwenden und folglich zu untersuchen, welche Gesetze verbindliche Kraft haben. Jeder Beamte haftet für die Gesetzmäßigkeit seiner Amtsführung; für die Reichsbeamten ist dieser Satz durch § 13 des Reichsbeamten-Gesetzes ausdrücklich anerkannt Vgl. Bd. I. S. 423 ff. . Derselbe Grund, welcher für das Prüfungsrecht der Gerichte geltend ge- macht wird, führt daher zu dem Schluß, daß jede Behörde das verfassungsmäßige Zustandekommen eines Gesetzes untersuchen müßte, bevor sie das Gesetz zur Anwendung bringt Dies wird auch von v. Martitz , Betrachtungen S. 132 und von Bluntschli , Allgemeines Staatsrecht S. 133 Note 2 hervorgehoben. . Aber nicht §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. nur die Behörden und Beamten, sondern alle unter der Herrschaft der Gesetze lebenden Personen müssen die Gesetze befolgen und bei ihren Rechtsgeschäften und bei allen Handlungen und Unterlassun- gen nach den bestehenden Gesetzen sich richten. Der Grundsatz ignorantia iuris nocet macht es Jedem ohne Ausnahme zur Pflicht, zu prüfen, welche Gesetze bestehen. Wer einen sich als Gesetz aus- gebenden Erlaß, dem keine Gesetzeskraft zukömmt, als Gesetz an- sieht und darnach handelt, kann die Folgen einer Gesetzes-Ver- letzung auf sich laden, insofern er diejenigen Gesetze verletzt, welche er durch jenen Erlaß irrthümlich für aufgehoben erachtet. Die Frage wird daher ganz falsch und in vollkommen irreführender Weise gestellt, wenn man sie auf das richterliche Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze richtet. Die Frage ist viel- mehr die, ob es überhaupt formelle Kriterien gibt, an welchen die rechtswirksame Existenz eines Gesetzes erkannt werden kann, oder ob ein Gesetz nur dann Geltung hat, wenn materiell alle für das Zustandekommen eines Gesetzes gegebenen Regeln befolgt sind. Ein Gesetz kann nicht zugleich für die Gerichte unverbindlich und für alle anderen Behörden und Unterthanen verbindlich sein, sondern es kann nur absolut, d. h. für Alle, die unter seiner Herr- schaft stehen, entweder gültig oder ungültig sein. Es bedarf keiner Ausführung, welche politischen Nachtheile, welche Störung der Rechtssicherheit, welche Gefährdung der staatlichen Ordnung mit dem Grundsatz verknüpft wären, daß Jeder in jedem Falle auf eigene Gefahr die Untersuchung vornehmen müsse, ob ein Gesetz in verfassungsmäßiger Weise zu Stande gekommen ist v. Mohl , Staatsrecht, Völkerr. Polit. I. S. 93 fg., meint ganz naiv, daß wenn der „einfache Bürger“ einem von ihm für verfassungswidrig gehal- tenen Gesetze den Gehorsam verweigert, dies nur als ein „erfreuliches Zeichen staatlicher Durchbildung und männlicher Gesinnung betrachtet werden könne.“ „Fast möchte man so weit gehen, zu behaupten, daß selbst ein Mißgriff von Seiten eines Bürgers nicht viel weniger erfreulich sei (!), indem einer- seits die Gesinnung sich als die nämliche erweise, auf der andern Seite die Staatsgewalt durch Aufrechterhaltung ihres Rechtes, zum mindesten gesagt, nichts verliere.“ Wie aber, wenn einige Millionen einfacher Bürger einen solchen „erfreulichen“ Mißgriff thun und dem Gesetz den Gehorsam versagen? Oder wenn der einfache Bürger ein ordnungsmäßig verkündetes Gesetz befolgt und nachher, durch Richterspruch über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes belehrt, zu spät zu seinem Schaden erkennt, daß es ihm an „staatlicher Durch- bildung und männlicher Gesinnung“ fehlt? . Die §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Unrichtigkeit dieses Grundsatzes ergibt sich vom rein staatsrecht- lichen Gesichtspunkte aus der juristischen Bedeutung der Promul- gation des Gesetzes in dem oben entwickelten Sinne. In dem monarchischen Einheitsstaate ist es das nobile officium, das hohe politische Amt des Landesherrn zu prüfen und zu constatiren, be- vor er das Gesetz verkündigen läßt, daß es der Verfassung ent- sprechend errichtet worden ist. Die Verkündigung des Gesetzes ist mehr als die bloße Bekanntmachung; der Landesherr ist nicht an die Stelle des Ausrufers getreten, welcher im vorigen Jahrhundert beim Schall der Trommel oder Trompete das Gesetz auf dem Marktplatz vorgelesen hat; sondern sein Kronrecht besteht in dem Gesetzgebungs-Amt und zur Obliegenheit dieses Amtes ge- hört die Kontrole, daß die für das Gesetzgebungs-Geschäft beste- henden Rechtsvorschriften befolgt worden sind. Im Deutschen Reich ist dieses Amt durch Art. 17 der R.-V. dem Kaiser übertragen. Nicht jeder einzelne Richter oder Ver- waltungsbeamte, sondern der Kaiser ist zum Wächter und Hüter der Reichsverfassung gesetzt. Ihm liegt es ob, darauf zu sehen, daß bei jedem Gesetzgebungsakt des Reiches alle für die Reichs- gesetzgebung geltenden Rechtssätze befolgt werden; er prüft im Interesse aller Glieder und Unterthanen des Reiches, ob das Ge- setz verfassungsmäßig errichtet ist; und er gibt dem Resultat dieser Prüfung durch Ausfertigung des Gesetzes den formell rechtswirk- samen Ausdruck. Es ist schon öfters der Gedanke ausgesprochen worden, daß die Erwähnung der Zustimmung der Volksvertretung in der ver- öffentlichten Gesetzes-Urkunde eine Vermuthung der Wahrheit und Legalität begründe; diese Vermuthung aber durch den Be- weis des Gegentheils entkräftet werden könne Gneist , Verhandlungen des Vierten Deutsch. Juristentages I. S. 232. v. Gerber , Grundzüge §. 49 S. 155 fg. Planck , in Ihering’s Jahr- büchern Bd. IX. S. 370. Schulze , Preuß. Staatsrecht II. S. 243 fg. Hänel , Studien I. S. 264. . Der Richter würde daher die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes zu unter- suchen haben, wenn entweder eine Prozeß-Partei das verfassungs- mäßige Zustandekommen des Gesetzes bestreitet, oder wenn eine politische Partei, eine Fraktion des Reichstages oder eine Bundes- regierung eine solche Contestation erhebt und dadurch die Bestrei- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. tung jener Vermuthung notorisch geworden ist. Es kann nun der Fall, daß der Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers ein Gesetz verkündigen läßt mit der ausdrücklichen Versicherung, daß dasselbe die Zustimmung des Reichstages und Bundesrathes erhalten habe, während in Wahrheit das Gesetz von einer dieser Körperschaften oder von beiden gar nicht genehmigt worden ist, als thatsächlich unmöglich bezeichnet werden. Wer könnte ernstlich die Eventualität erörtern wollen, daß Kaiser und Reichskanzler sich zu einer so dreisten, öffentlichen Lüge verbinden? Dies sind gänzlich unpraktische „Doktorfragen“. Von praktischer Wichtigkeit ist dagegen der Fall, wenn es in Zweifel gezogen wird, ob die Abstimmung des Reichstages gemäß Art. 28 und die Beschluß- fassung des Bundesrathes gemäß Art. 5. 7. 37. 78. der R.-V. erfolgt ist. Soll der Richter also verpflichtet und berechtigt sein, zu unter- suchen, ob der Reichstag, als er das Gesetz genehmigte, beschluß- fähig war und ob sich in Wahrheit die absolute Majorität für dasselbe erhoben hat; soll er etwa auf Grund von Zeugen-Aus- sagen feststellen, daß die verfassungsmäßig erforderliche Zustim- mung nicht ertheilt worden ist? Gneist a. a. O., dem zahlreiche Anhänger folgen, bricht seiner eigenen Theorie die praktische Spitze ab, indem er den im englischen Recht geltenden Grundsatz zur Anwendung bringt, daß dies interna corporis seien, über welche das Parlament wie jede Korporation selbst zu entscheiden habe; dadurch sei die Kognition der Gerichte ausgeschlossen. Dieser Grund aber ist unzutreffend, auch abgesehen davon, ob man die Volksvertretung in Deutschland in irgend einer Beziehung einer universitas ordinata vergleichen darf. Denn theils können die Gerichte unzweifelhaft darüber entscheiden, ob ein Korporations- Veschluß statutengemäß gefaßt und gültig oder unter Verletzung der Statuten zu Standen gekommen und deshalb null und nichtig sei; theils sind die Bestimmungen der Reichsverfassung über die Beschlußfassung des Reichstages keine bloße Geschäfts-Ordnung des Reichstages, die dessen Autonomie unterliegen oder deren Be- folgung in dem Ermessen des Reichstages stünde; es handelt sich hierbei nicht um interna des Reichstages, sondern um das öffent- liche Recht des Reiches. Ganz Unmögliches aber würde dem Richter zugemuthet wer- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. den, wenn er festzustellen verpflichtet wäre, ob die der Oeffentlich- keit entzogene Beschlußfassung des Bundesrathes „verfassungs- mäßig“ erfolgt ist, z. B. ob bei einem Gesetze, welches nach der Ansicht des Richters die verfassungsmäßige Kompetenz des Reiches erweitert oder iura singulorum betrifft, die Vorschriften des Art. 78 Abs. 1 und Abs. 2 befolgt worden sind, ob der letzte Absatz des Art. 7 mit Recht oder Unrecht zur Anwendung gekom- men ist u. s. w. Auch diese Bestimmungen sind nicht blos eine Geschäfts-Ordnung des Bundesrathes, welche lediglich interna des- selben regeln, sondern sie sind zugleich gemeingültige Sätze des Verfassungsrechtes Vgl. auch Hänel I. S. 259. . Soll aber etwa der Richter den Reichs- kanzler zeugeneidlich vernehmen oder eine amtliche Auskunft von demselben über Thatsachen verlangen, aus denen die Verfassungs- widrigkeit des Gesetzes hergeleitet werden soll, nachdem derselbe Reichskanzler durch Gegenzeichnung des Gesetzes die Verantwort- lichkeit dafür übernommen hat, daß dasselbe verfassungsmäßig zu Stande gebracht worden ist? Hiersemenzel , Verf. I. S. 10 meint daher, daß der Richter hin- sichtlich des Bundesrathes sich mit der in der Promulgationsformel enthaltenen Bescheinigung begnügen müsse, hinsichtlich des Reichstages dagegen ein Prü- fungsrecht habe, — was ganz prinziplos ist. Würde man aber das richterliche Prüfungsrecht der verfas- sungsmäßigen Entstehung eines Gesetzes trotz dieser Bedenken aus konstitutionellem Doctrinarismus aufrecht erhalten wollen, so dürfte man auch vor der Consequenz nicht zurückscheuen, daß ein in dem Reichsgesetzblatt gehörig verkündigtes Gesetz, über dessen verfassungs- mäßiges Zustandekommen und über dessen Rechtsgiltigkeit der Kaiser und sein Reichskanzler, der Bundesrath und der Reichstag vollkom- men einverstanden sind, bei Gelegenheit eines Civil- oder Criminalpro- zesses von einem Gericht für verfassungswidrig entstanden und des- halb für null und nichtig erklärt werden könnte. Denn ist das Reichs- gesetz von Anfang an nichtig, so kann es dadurch nicht rechtswirksam werden, daß der Reichstag oder der Bundesrath dazu schweigen Zu welchen Consequenzen die hier bekämpfte Ansicht führen müßte, kann man aus folgendem Beispiel ersehen. Wenn ein Gericht die gewiß nicht unbegründete Ansicht hat, daß die Errichtung des Reichs-Oberhandelsgerichts außerhalb der in der Nordd. Bundesverfassung begrenzten Kompetenz lag, wenn dasselbe Gericht der von vielen Staatsrechtslehrern aufgestellten Theorie . §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Man hat sich für das richterliche Prüfungsrecht des verfas- sungsmäßigen Zustandekommens der Reichsgesetze auf Art. 2 der R.-V. berufen, welcher bestimmt, daß das Reich das Recht der Gesetzgebung „nach Maßgabe des Inhaltes dieser Verfassung“ ausübt Vgl. Heinze , Verhältniß des Reichsstrafr. zum Landesstrafrecht 1871 S. 25. Hänel , Studien I. S. 263. 264. v. Rönne , II. 1. S. 61. . Allerdings soll das Reich seine Gesetzgebung nur aus- üben gemäß der Reichsverfassung, nicht unter Verletzung derselben; die objective Geltung dieser Regel ist unbestreitbar und bedarf keiner Anerkennung in der Reichsverfassung. Aber darüber sagt der angef. Art. 2 Nichts, wer zu entscheiden habe , ob ein Reichsgesetz nach Maßgabe des Inhaltes der Reichsverfassung erlassen sei; insbesondere ob diese Frage von jedem Gerichtshofe und von jeder Verwaltungsbehörde aus anderen Gründen und in anderer Weise, oder ob sie einheitlich und gemeinverbindlich vom Kaiser zu entscheiden sei. Aus dem Art. 2 der R.-V. folgt nur, daß der Kaiser einen ihm vorgelegten Gesetzes-Text nicht ausfertigen und zur Verkündigung bringen soll, wenn dieser Gesetzes- Text nicht nach Maßgabe der Reichsverfassung vereinbart und sanctionirt worden ist. Es ist in der That nicht einzusehen, welche staatsrechtliche Bedeutung die im Art. 17 der R.-V. dem Kaiser übertragene „Ausfertigung“ der Reichsgesetze haben solle, wenn nicht die im Vorstehenden entwickelte Die rechtliche Bedeutung der dem Kaiser zustehenden Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze wird in der Literatur des Reichsstaatsrechts fast nirgends erörtert. Nur Seydel , Kommentar S. 124 fg. geht auf die- selbe ein; er findet darin aber nur ein „Ehrenrecht“ des Kaisers, „eine blos formelle, keine materielle Befugniß.“ . Die Beschlüsse des Reichstages sowie die des Bundesrathes werden von den Vorsitzenden dieser Körper- zustimmt, daß es unzulässig und verfassungswidrig sei, Gesetze, deren Inhalt der Verfassung widerspricht, zu erlassen, so lange der Wortlaut der Verfas- sungs-Urkunde nicht entsprechend abgeändert worden ist, wenn endlich dieses Gericht sich die Befugniß und Pflicht beilegt, die Verfassungsmäßigkeit gehörig verkündeter Gesetze zu untersuchen und verfassungswidrig erlassene, wenngleich ordnungsmäßig verkündete Gesetze als rechtsungültig zu behandeln: so müßte dieses Gericht die ganze Einrichtung des obersten Reichsgerichts für verfas- sungswidrig erachten, dessen Urtheile als null und nichtig erklären, ihnen die Vollstreckung versagen u. dergl. Die drei hier vorausgesetzten Vordersätze finden sich z. B. bei v. Rönne , Staatsrecht des D. R. II. 1. S. 32. 34 Note 1. 62. Laband , Reichsstaatsrecht. II. 4 §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. schaften, dem Reichstags-Präsidenten, resp. dem Reichskanzler aus- gefertigt. Der Wortlaut des Gesetzes, wie er von diesen beiden Versammlungen beschlossen werden ist, steht daher ohne Zuthun des Kaisers bereits urkundlich fest und der Kaiser könnte darauf beschränkt sein, die Verkündigung anzuordnen. Diese Form be- steht in der Schweiz . Der Beschluß des Nationalrathes und ebenso der Beschluß des Ständerathes werden in gleichlautenden oder in einer und derselben Urkunde von den Präsidenten und Protokollführern der beiden Räthe ausgefertigt und der Bundes- rath beschließt alsdann lediglich die Aufnahme des Bundesbe- schlusses in die amtliche Gesetzsammlung der Eidgenossenschaft. Nach der Reichsverfassung aber soll der Kaiser die Gesetze nicht blos verkünden, sondern auch ausfertigen; die Gesetzes-Urkunde soll nicht eine Urkunde des Bundesrathes, sondern eine Urkunde des Kaisers sein. Daraus ergiebt sich, daß die Gesetzes-Ausfertigung einen selbstständigen Inhalt haben muß; denn der Kaiser ist nicht dazu da, um Beschlüsse des Bundesrathes oder des Reichstages zu beurkunden; sondern wenn er etwas beurkundet, so ist dies stets sein eigener Regierungsakt. Andererseits bedeutet die kaiserliche Ausfertigung des Gesetzes auch nicht die Genehmigung desselben; denn im Deutschen Reich geht die Sanction der Gesetze — wie gezeigt worden ist — nicht vom Kaiser, sondern vom Bundesrathe aus In den monarchischen Einzelstaaten fällt die Ausfertigung mit der Sanktion zusammen; indem der König das Original des Gesetzes unterschreibt, sanctionirt und beurkundet er es zugleich. Die Verfassungs-Urkunden der Einzelstaaten erwähnen daher die Ausfertigung der Gesetze als eines beson- deren Aktes nicht. . Wenn demnach die kaiserliche Ausfertigung des Gesetzes einen selbstständigen Inhalt hat und doch nicht Genehmigung des Gesetzes ist, so bleibt für dieselbe nichts Anderes übrig, als daß sie die formelle Constatirung erbringt, daß das Gesetz reichsverfassungs- mäßig berathen, beschlossen und sanctionirt worden ist. Sie ist die solemnis editio legis; sie entspricht dem Begriff der Promul- gation, wie ihn die französische Verf. des Jahres VIII. ausge- bildet hat Vgl. oben S. 18. Ueber ein gleichartiges Prinzip im Staatsrecht der Rö- mischen Republik vgl. v. Ihering , Geist d. Röm. R. III. 1. §. 55 S. 229 ff. (3. Aufl. 1877.) . Wenn die Reichsverfassung aber den Kaiser mit §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. dieser Funktion betraut, so kann es nicht jedem Richter und Ver- waltungsbeamten zustehen, in dem einzelnen, von ihnen zu ent- scheidenden Falle den kaiserlichen Ausspruch einer Ueberprüfung zu unterwerfen und je nach dem Ausfalle derselben ihm einen widersprechenden entgegenzusetzen Noch weiter geht Thudichum , Verf.-R. S. 95. Er verlangt nur, daß eine Anordnung im Reichsgesetzblatt als „Gesetz“ bezeichnet sei, aber weder, daß die Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages darin erwähnt sei, noch daß diese Zustimmung wirklich ertheilt sei. Das letztere stellt aber Art. 5 der Reichs-Verf. als Erforderniß eines Gesetzes hin. Es muß daher entweder — wie die herrschende Ansicht will — in jedem einzelnen Falle vom Richter untersucht werden, ob diesem Erforderniß genügt ist, oder es muß — wie hier ausgeführt worden ist — das Vorhandensein dieses Er- fordernisses allgemein mit formeller Beweiskraft in der Ausfertigung con- statirt sein. . Selbst wenn man daher nach dem öffentlichen Rechte eines Deutschen Bundesstaates ein richterliches Prüfungsrecht der Ver- fassungsmäßigkeit der Landes gesetze annehmen wollte, so besteht jedenfalls ein solches Prüfungsrecht den Reichsgesetzen gegen- über nicht. Aus dem hier ausgeführten Grundsatz ergibt sich noch eine andere wichtige Consequenz. So wenig der Richter oder Verwal- tungsbeamte, ebensowenig kann auch das einzelne Bundesglied ein vom Kaiser ausgefertigtes Gesetz als verfassungswidrig zu- standegekommen bezeichnen und für unverbindlich erklären Die entgegengesetzte Folgerung zieht consequenter Weise Hänel , Studien I. S. 261 ff.; er erblickt gerade in dem richterlichen Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze einen indirekten Rechtsschutz des Einzelstaates gegen rechtswidrige Eingriffe des Reiches in seine Rechts-Ordnung. Die Einzelstaaten würden um denselben nicht zu beneiden sein; denn sie könnten in die eigenthümliche Lage kommen, daß der Bundes- rath von ihnen die Durchführung eines Reichsgesetzes verlangt und sie mit Bundesexekution bedroht, während die Gerichtshöfe dasselbe Reichsgesetz für nicht nach Maßgabe der Reichsverfassung erlassen und deshalb für unan- wendbar und nichtig erklären. . Wenn eine Bundesregierung der Ansicht ist, daß durch ein Gesetz ein ihr zustehendes Sonderrecht verletzt oder ihr eine unbillige Mehrbe- lastung auferlegt werde, so muß sie ihren Widerspruch gegen den Erlaß des Gesetzes vor Ausfertigung desselben erheben und der Beschlußfassung im Bundesrath unterbreiten. Hat der Kaiser die Ausfertigung ertheilt, so ist damit constatirt, daß ein solcher 4* §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Widerspruch entweder nicht erhoben oder durch ordnungsmäßigen Beschluß des Bundesrathes für unbegründet erklärt oder durch nachträgliche Zustimmung des betheiligten Bundesgliedes zu dem Gesetze erledigt worden ist Dadurch erledigen sich die politischen Bedenken, welche gegen die Bd. I. §. 11 entwickelte Theorie der jura singulorum erhoben worden sind; insbe- sondere von Löning in Hirth’s Annalen. 1875 S. 359 fg. und v. Mar- titz in der Tübinger Zeitschrift f. Staatswissensch. 1876 S. 570 ff. Die jura singulorum sind objective Schranken für die Reichsgesetzgebung, durch deren Nichtbeachtung das Reich materiell Unrecht begehen würde; aber der Einzel- staat hat nicht die Befugniß, durch die einseitige Behauptung, daß ein solches Unrecht gegen ihn verübt worden ist, sich dem Gehorsam gegen eine Anord- nung des Reiches zu entziehen, welche formell die Kraft eines Reichsgesetzes erlangt hat. . So ist beispielsweise durch die Ausfertigung des Postgesetzes v. 28. Oktober 1871 in formeller und unanfechtbarer Weise constatirt, daß Württemberg von dem im Protokoll v. 25. Nov. 1870 Ziff. 3 (B.-G.-Bl. S. 657) ihm eingeräumten Widerspruchsrecht keinen Gebrauch gemacht hat; und es würde ebenso unzulässig sein, daß etwa einmal die Regierung von Württemberg es in Frage stellt, ob die Zustimmung Würt- tembergs zum Postgesetz in rechtswirksamer Weise ertheilt sei, als daß ein Württembergisches Gericht im einzelnen Rechtsfall Erhe- bungen darüber anstellt. 3) Ueber die Form, in welcher die Ausfertigung zu erfolgen hat, bestimmt die Reichsgesetzgebung Nichts. Aus dem Wortbe- griff selbst ergibt sich, daß die Ausfertigung die wesentlichen Be- standtheile einer Urkunde , also den vollständigen Wortlaut des Gesetzes, die eigenhändige Unterschrift des Kaisers und das Datum enthalten muß. Das Datum der Reichsgesetze bestimmt sich nicht nach dem Tage, an welchem sie vom Reich mittelst Bundesraths- Beschlusses sanctionirt worden sind, und ebenso wenig nach dem Tage der Verkündigung, sondern nach dem Tage, an welchem der Kaiser sie ausgefertigt hat. Außer der Unterschrift enthält die Ausfertigung auch den Abdruck des Kaiserlichen Siegels. Erforderlich ist ferner die Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. R.-V. Art. 17. Die Verantwortlichkeit erstreckt sich in diesem Falle darauf, daß der dem Kaiser zur Ausfertigung vorgelegte Text buchstäblich ge- nau dem vom Reichstage und Bundesrathe beschlossenen Wortlaut §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. entspricht, und daß das Gesetz in verfassungsmäßiger Weise zu Stande gekommen ist. Der Reichskanzler hat bei Prüfung dieser Frage den Kaiser zu unterstützen und ihm darüber erforderlichen Falles Vortrag zu halten; durch seine Gegenzeichnung bekundet er, daß auch er bei pflichtmäßiger Prüfung die rechtliche Ueberzeugung gewonnen habe, daß das Gesetz in Uebereinstimmung mit den Vor- schriften der Reichsverfassung errichtet worden sei. Dagegen er- streckt sich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nicht auf den materiellen Inhalt der Gesetzes-Vorschriften, auf welche er nach erfolgter Beschlußfassung des Reichstages und Bundesrathes keinen Einfluß mehr auszuüben vermag. Wenn der Reichskanzler daher mit den Anordnungen des Gesetzes nicht einverstanden ist, jedoch anerkennen muß, daß das Gesetz verfassungsmäßig errichtet worden ist, so ist er weder verpflichtet, noch auch berechtigt, die Ausferti- gung desselben durch Versagung seiner Gegenzeichnung zu hindern oder zu verzögern. 4. Dem Kaiser steht außer der Ausfertigung der Reichsgesetze gemäß Art. 17 der R.-V. deren Verkündigung zu. Dieser Ausdruck bedeutet an dieser Stelle nicht die Bekanntmachung selbst, welche im Art. 2 der R.-V. geregelt ist, sondern den Verkündi- gungs-Befehl . Der kaiserliche Befehl ist an den Reichskanzler gerichtet und steht mit der Ausfertigung in so untrennbarem und engem Zusammenhange, daß beide thatsächlich zusammenfallen. Denn der Kaiser kann kein Gesetz verkündigen lassen, dessen ver- fassungsmäßige Existenz er nicht vorher durch die Ausfertigung constatirt hat, und er kann andererseits nicht das Gesetz ausfertigen und es dennoch nicht verkündigen lassen. Wenn der Kaiser aner- kennt, daß das Gesetz gültig zu Stande gekommen ist, so ist die Verkündigung desselben, da ihm kein Veto zusteht, nicht nur sein Recht, sondern seine Pflicht. Sowie die Terminologie des franzö- sischen Rechtes, wie oben ausgeführt, unter dem Ausdruck promul- gation die Ausfertigung und den Publikationsbefehl zusammenfaßt, so verbindet auch der Art. 17 der R.-V. die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze mit einander. Der Regel nach wird die Verkündigung sofort nach vollzogener Ausfertigung er- erfolgen; erscheint es dem Kaiser geboten, die Verkündigung auf einige Zeit hinauszuschieben, so kann er dies durch Verzögerung der Ausfertigung erreichen. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Da die Verkündigung die nothwendige und in der Regel sofort eintretende Folge der Ausfertigung ist, so ergiebt sich, daß der Verkündigungs-Befehl vom Kaiser nicht ausdrücklich ertheilt zu werden braucht, sondern daß er als selbstverständlich in der Ausfertigung stillschweigend mitenthalten ist. Dem Wortlaut des Art. 17 würde es allerdings entsprechen, wenn der Kaiser die Aus- fertigung des Gesetzes dem Reichskanzler mit der ausdrücklichen Anordnung, dasselbe zu verkündigen, zugehen ließe und ein solcher Befehl wird in der That in allen denjenigen Fällen erforderlich sein, wenn derselbe noch irgend einen andern Inhalt hat als die stereotype und selbstverständliche Bestimmung: „Dieses Gesetz ist zu verkündigen“ Wenn z. B. mit der Verkündigung bis zum Eintritt eines bestimmten Zeitpunktes gewartet werden soll. In dieser Hinsicht ist ein Beschluß des Bundesraths v. 5. April 1876 anzuführen. Der Bundesrath sanctionirte das Ges. betreffend die Abänderung des Tit. VIII. der Gewerbe-Ordn., sowie das Ges. über die eingeschriebenen Hülfskassen mit der Maßgabe, daß das letztere Gesetz bei der Verkündigung dem ersteren vorangehe . Es sollte nämlich das Datum jenes Gesetzes in diesem (§ 141) eingefügt werden. Protok. des Bundesr. 1876 § 152. S. 109. . IV. Die Publikation der Reichsgesetze . Die Ausführung des Verkündigungsbefehls, also die eigent- liche Verkündigung geschieht nach Art. 2 der Reichsverf. vermittelst eines Reichsgesetzblattes. Hier kommen folgende Punkte in Betracht: 1. Die Verkündigung ist keine gewöhnliche Bekanntmachung, sondern sie ist die Ausführung eines kaiserlichen Befehls, eine Amtshandlung der Reichsregierung . Demgemäß kann die Verkündigung nur erfolgen von einem Organ des Reiches; die Verkündigung der Reichsgesetze ist ein Bestandtheil des zur Reichs- gesetzgebung erforderlichen Vorganges und kann mithin nur vom Reiche ausgehen. Damit widerlegt sich die von Seydel , Com- mentar S. 39 u. 124 aufgestellte Ansicht, daß die Verkündigung von Reichswegen nur eine „Formvereinfachung sei und daß es gerade so gut denkbar wäre, daß man die Verkündigung den einzelnen Staaten überlassen hätte“ Diese Ansicht beruht darauf, daß Seydel ein von dem Landesgesetz- gebungsrecht verschiedenes Reichsgesetzgebungsrecht ganz leugnet und das Reichs- gesetz als „gleichmäßiges Landesgesetz aller Bundesstaaten“ definirt. . Der Abdruck von Reichsgesetzen in §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. Gesetz- oder Amtsblättern der Einzelstaaten ist ohne jede staats- rechtliche Bedeutung; er steht auf gleicher Stufe mit dem Abdruck in Zeitungen oder wissenschaftlichen Werken Vgl. auch Thudichum , Verf.-R. S. 94. Koller , Verf. des D. R. S. 187. Die meisten Gesetzsammlungen der Einzelstaaten enthalten sich mit Recht jeder Reproduction des Inhaltes des Reichsgesetzblattes, da die in dem- selben abgedruckten Gesetze und Verordnungen als gemeinkundig gelten können. Bei den von den Einzelstaaten erlassenen Ausführungs-Gesetzen wird aber nicht selten das betreffende Reichsgesetz zur Erleichterung des Verständnisses als „An- lage“ abgedruckt; dies ist namentlich geschehen mit dem Münzgesetz, Impfgesetz, Personenstands- und Civilehegesetz u. a. Einige Gesetz-Sammlungen enthalten ferner Inhalts-Angaben der zur Versendung gelangten Stücke des Reichsgesetz- blattes, so z. B. das Regierungs-Blatt von Württemberg , die Gesetz- Sammlung von Sachsen-Altenburg , das Regierungs-Blatt von Sachsen-Weimar . Im Gesetzblatt für Sachsen-Coburg und Gotha ist bis incl. 1868 und im Regierungsblatt für Mecklenburg- Schwerin bis 1870 incl. der Inhalt des Bundes-Gesetzblattes vollständig abgedruckt. Jetzt wird auf der „Amtl. Beilage zum Regierungs-Bl. f. Mecklenb.- Schwerin“ nur angegeben, welches Stück des Reichs-Gesetzblattes mit versendet wird. In einer besonderen „Beilage“ zum Bayerischen Gesetzblatt von 1872 sind eine Anzahl in Bayern eingeführter Gesetze des Norddeutsch. Bundes „abgedruckt“, ebenso im Großh. Hessischen Regierungs-Blatt 1870 Nr. 63 die in Südhessen zur Einführung gelangten Gesetze des Norddeutschen Bundes. . 2. Die Verkündigung kann nur erfolgen vermittelst eines Reichsgesetzblattes. Es ist diese Art der Verkündigung von Reichs- gesetzen nach Art. 2 der R.-V. die einzige, welche rechtliche Wirkung hat; sie kann durch kein anderes Mittel der Bekanntmachung ersetzt werden. Das Reichsgesetzblatt enthält daher eine vollständige Sammlung aller Reichsgesetze; es giebt keine Reichsgesetze mit ver- bindlicher Kraft, welche nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckt sind. Von diesem Grundsatz hat sich in der Praxis eine, allerdings nur scheinbare Ausnahme gebildet. Wenn nämlich durch ein Reichs- gesetz ein Landesgesetz, welches in einem zum Reiche gehörenden Staate bereits ordnungsmäßig verkündet worden ist, zum Reichs- gesetz erklärt oder in einem andern Gebiete des Reiches eingeführt oder wenn auf dasselbe in einem Reichsgesetz Bezug genommen wird, so findet ein Wieder-Abdruck in dem Reichsgesetzblatte nicht immer statt, sondern es wird öfters auf den im Gesetzblatte des Einzelstaates erfolgten Abdruck verwiesen, welcher dadurch vom Reiche für authentisch erklärt wird Die Praxis ist in dieser Beziehung eine sehr unregelmäßige und will- . So wenig eine solche Spar- §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. samkeit in dem Reichsgesetzblatte, welches neben den Reichsgesetzen eine große Anzahl nicht dahin gehörender Mittheilungen enthält, zu billigen ist, so kann sie doch nicht als eine Verletzung des Art. 2 der R.-V. erachtet werden, da der Abdruck im Reichsgesetzblatte dasjenige enthält, was staatsrechtlich der wesentliche Bestand- theil eines Reichsgesetzes ist, nämlich den vom Reich erlassenen Gesetzes- Befehl , während der Inhalt dieses Befehls freilich aus anderweitigen Druckschriften ermittelt werden muß. 3. Die Amtshandlung der Gesetzes-Verkündigung, die Aus- führung des kaiserlichen Verkündigungs-Befehls, liegt dem Reichs- minister des Kaisers, dem Reichskanzler ob. Der Reichskanzler allein ist dazu staatsrechtlich legitimirt . Da die Verkündigung nur vermittelst des Reichsgesetzblattes erfolgen kann, so läßt sich dies auch in der Form ausdrücken, daß der Reichskanzler von Rechtswegen der Herausgeber des Reichsgesetzblattes ist Ausdrücklich anerkannt ist dies in der Verordnung v. 26. Juli 1867 § 3 (B.-G.Bl. S. 24); „Die Herausgabe des Bundesgesetzblattes erfolgt im Bureau des Bundeskanzlers“. . Daraus ergiebt sich zugleich, daß der Reichskanzler für den Inhalt des Reichsgesetzblattes verantwortlich ist . Das heißt: Er darf kein Gesetz in demselben abdrucken, von welchem ihm nicht die kaiserliche Ausfertigung zugegangen ist, und er hat dar- kührliche. Sehr zahlreiche Preuß. Gesetze, welche zu Reichsgesetzen erklärt oder in Reichsgesetzen in Bezug genommen sind, sind im Bundes- resp. Reichs- Gesetzblatt wieder abgedruckt; in sehr zahlreichen anderen Fällen ist dies unter- blieben und es ist lediglich auf den Abdruck in der Preuß. Ges.-Samml. ver- wiesen. Während z. B. das Handels-Ges.-B. und die Wechsel-Ordn. bei ihrer Erklärung zu Gesetzen des Nordd. Bundes wieder abgedruckt worden sind, ist die im Freizügigkeits-Gesetz v. 1. Nov. 1867 § 7 in Bezug genommene Gotha’er Convention v. 15. Juli 1851, die im Anleihe-Gesetz v. 9. Nov. 1867 § 6 für anwendbar erklärte Preuß. Verordn. v. 16. Juni 1819, das im Ges. v. 19. Juni 1868 § 1 auf die Bundesschulden-Verwaltung ausgedehnte Preuß. Ges. vom 24. Febr. 1850 u. v. a. nicht in dem Bundes- resp. Reichs-Gesetzbl. zum Ab- druck gelangt; und dieses Verfahren ist bisweilen auch bei solchen Gesetzen beobachtet worden, welche in einem weniger verbreiteten und darum minder zugänglichen Blatt als es die Preuß. Ges.-Sammlung ist, verkündet worden sind. So verweist z. B. das Ges. v. 14. Juni 1868 nicht blos auf ein Preuß. Reglement v. 13. Juni 1825, sondern auch auf eine Schleswig-Holsteinische Verordn. v. 15. Februar 1850, und das Ges. v. 18. Mai 1868 § 9 auf ein im Fürstenthum Hohenzollern-Sigmaringen erlassenes Gesetz vom 6. März 1840, ohne daß diese Vorschriften im Bundesgesetzbl. abgedruckt worden sind. §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. über zu wachen, daß der Abdruck fehlerfrei, ohne Zusätze und ohne Auslassungen erfolgt Die Berichtigung von Druckfehlern im Reichsgesetzblatte ist daher die Pflicht des Reichskanzlers und gehört zu seinen amtlichen Befugnissen. Eine Verordn. des Kaisers ist dazu nicht erforderlich, wie Böhlau , Mecklenb. Landr. I. S. 303 meint. . Der Reichskanzler muß daher, um sich nöthigenfalls verantworten zu können und damit etwaige Zweifel an der Richtigkeit des im Gesetzblatte gelieferten Abdrucks erledigt werden können, für die Aufbewahrung der vom Kaiser ausgefer- tigten Original-Gesetzes-Urkunde Sorge tragen. Die Verantwort- lichkeit erstreckt sich ferner darauf, daß alle vom Kaiser promul- girten Gesetze vollständig und rechtzeitig im Reichsgesetzblatt abge- druckt werden. Durch diese in positiver und negativer Richtung wirkende Ver- antwortlichkeit des Reichskanzlers für den Inhalt des Reichsgesetz- blattes ist eine staatsrechtliche Garantie für die Echtheit und Rich- tigkeit des im Reichsgesetzblatt gelieferten Abdruckes gegeben. Der durch die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gesicherte Abdruck des Gesetzes im Reichsgesetzblatte hat die rechtliche Eigenschaft der Authenticität . Allen Gerichten, Behörden und Angehörigen des Reiches wird das Vorhandensein und der Wortlaut der Kaiserl. Ausfertigung des Gesetzes vom Reichskanzler dadurch amtlich be- kundet und mitgetheilt, daß er das Gesetz in das Reichsgesetzblatt aufnimmt und das Stück des Gesetzblattes herausgiebt (d. h. ver- senden läßt) Ueber den Vertrieb des Reichsgesetzblattes (sowie der amt- lichen Gesetz- und Verordnungs-Blätter der einzelnen Staaten des Reichs-Post- gebietes) durch die Reichspostanstalt sind reglementarische Vorschriften gegeben in der Allgemeinen Postdienstanweisung Abschn. V. Abth. 3. Abschn. II. . Die Prüfung, welche den Behörden und Ange- hörigen des Reiches hinsichtlich der Existenz der Reichsgesetze ob- liegt, beschränkt sich daher darauf, daß sie sich überzeugen, daß das Reichsgesetz in dem Reichsgesetzblatt in der dem Art. 17 der R.-V. entsprechenden Art und Weise abgedruckt ist. Die vorstehenden Sätze werden im Art. 2 der R.-V. in einer an die Fassung des Art. 1 des Code civ. anklingenden Weise ausgedrückt, indem es daselbst heißt: „Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen, welche §. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht“. In Wahrheit be- ruht die verbindliche Kraft der Reichsgesetze nicht auf ihrem Ab- druck im Gesetzblatte, sondern auf der ihnen ertheilten Sanction ; aber diese Sanction hat zur Folge die Kaiserliche Promulga- tion (Ausfertigung und Verkündigungs-Befehl); und die Promul- gation hat wieder zur Folge die vom Reichskanzler bewirkte Pu- blikation durch Abdruck im Reichsgesetzblatt. Aus dieser, unter der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erfolgten Verkün- digung ergiebt sich daher einerseits der Rückschluß auf die verfas- sungsmäßig geschehene Sanction und andererseits erlangt ohne die Verkündigung im Reichsgesetzblatt kein Reichsgesetz verbindliche Kraft. Im praktischen Resultate verhält es sich demnach scheinbar so, als erhielten die Reichsgesetze in der That ihre verbindliche Kraft „ durch ihre Verkündigung vermittelst des Reichsgesetz- blattes“. V. Der gesammte Gesetzgebungs-Akt von der Einbringung des Entwurfs im Reichstage bis zur Verkündigung der ausgefertigten Gesetzes-Urkunde im Reichsgesetzblatt muß nach einer allgemeinen Uebung, die sich zu einem wirklichen constitutionellen Gewohnheits- recht gestaltet hat, beendet sein bevor der Reichstag zu einer neuen Session zusammentritt. Es beruht dies theils auf dem sogen. Prinzip der Discontinuität der Reichstags-Sessionen Vgl. darüber Bd. I. S. 557. , theils auf einer Rücksicht auf den Reichstag, dessen Majorität vielleicht wegen veränderter Verhältnisse dem Gesetze zur Zeit nicht mehr zustimmen würde, so daß es angemessen erscheint, den Entwurf ihm nochmals vorzulegen. Eine ausdrückliche Anerkennung hat der Grundsatz Seitens der Reichsregierung im Jahre 1871 gefunden. Die Post- gesetze wurden dem Reichstage in der 2ten Session 1871 in der- jenigen Fassung vorgelegt, welche der Reichstag in der 1ten Session beschlossen hatte, nachdem der Bundesrath die anfänglich bestehen- den Bedenken gegen die Sanktion des Gesetzentwurfs aufgegeben hatte, inzwischen aber die Berufung des Reichstages zu einer neuen Session erfolgt war Die Motive heben diesen Grund für die wiederholte Einbringung des Gesetzentwurfs ausdrücklich hervor; Drucksachen des Reichstages 1871. II. Sess. Bd. I. Nro. 9 (S. 19). . §. 58. Gesetze im formellen Sinne. §. 58. Gesetze im formellen Sinne. I. Der im vorigen Paragraphen erörterte Weg der Gesetz- gebung und die Beobachtung der für den Erlaß eines Gesetzes auf- gestellten Vorschriften ist auch anwendbar auf solche staatliche Willens- acte, welche nicht die Anordnung von Rechtsregeln zum Inhalte haben. Der materielle Inhalt jedes Willensentschlusses des Staates kann gerade so wie ein einzuführender Rechtssatz zwischen denjeni- gen Organen vereinbart werden, welchen die Feststellung des Ge- setzes-Inhaltes zusteht, und es kann auf Grund dieser Vereinba- rung die Sanction, Promulgation und Publikation in vollkommen gleicher Weise wie bei der Aufstellung von Rechtsregeln erfolgen. In der absoluten Monarchie war jeder ordnungsmäßig erlassene Befehl des Landesherrn verbindlich, gleichviel ob er die Befolgung eines Rechtssatzes und seine Anwendung durch die Gerichte, oder ob er die Verwaltung und die Thätigkeit der dazu bestellten Behörden betraf. Ebenso kann nach dem Englischen Staatsrecht eine Bill des Parlaments und die königliche Zustimmung zu derselben jeden irgend denkbaren Inhalt haben. Schon vor der Einführung der constitutionellen Verfassungsform war daher der „Weg der Gesetz- gebung“ nicht beschränkt auf die Regelung der Rechtsordnung und nicht für dieselbe charakteristisch. Diese Verfassungsform hat aber die Veranlassung gegeben, daß sich ein neuer, durch formelle Kri- terien bestimmter Begriff des Gesetzes gebildet und zu großer staatsrechtlicher Bedeutung entwickelt hat. Die consequente Durchführung der Theorie von der Theilung der Gewalten hatte zur Folge, daß alle Funktionen des staatlichen Lebens, welche dem Könige allein und den von ihm ernannten Verwaltungs-Beamten zustanden, zur Executive , und alle Funk- tionen, welche ein Zusammenwirken von Krone und Volksvertretung verlangten, zur Legislative gerechnet wurden. Dadurch scheiden aus dem Begriffe des Gesetzes einerseits aus alle diejenigen Anord- nungen von Rechtssätzen, welche der Monarch ohne Zustimmung der Volksvertretung auf Grund einer allgemeinen in der Verfassung, oder einer speziellen in einem Gesetze ihm ertheilten Ermächtigung zu erlassen befugt ist. Nicht jede rechtsverbindliche Anordnung einer Rechtsregel, also nicht jedes Gesetz im materiellen Sinne des Wortes, ist daher zugleich ein Gesetz im formellen Sinne. Im §. 58. Gesetze im formellen Sinne. materiellen Sinne ist gesetzliches Recht gleichbedeutend mit ius scriptum; im formellen Sinne ist nur dasjenige ius scriptum Ge- setzesrecht, welches unter Zustimmung der Volksvertretung ent- standen ist. Andererseits aber fallen unter diesen formellen Begriff des Gesetzes alle diejenigen Willensacte des Staates, zu welchen die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich ist, auch wenn sie keine Anordnung von Rechtssätzen enthalten. Ueberall, wo man die selbstständige Entscheidung des Monarchen oder seiner Minister ausschließen wollte, erklärte man „ein Gesetz“ d. h. die Beobach- tung der für die Gesetzgebung vorgeschriebenen Formen für erfor- derlich, weil diese Formen die Genehmigung der Volksvertretung in sich schließen. Man glaubte, indem man das Wort Gesetz auf alle unter Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommenen Willensentschlüsse des Staates, auch wenn sie keine Rechtssätze be- treffen, anwendete, in der That die Volksvertretung auf die „Legis- lative“ beschränkt und die Theorie von der Theilung der Gewalten durchgeführt zu haben. In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Gesetz in diesem Sinne nicht einen Theil der in der Staatsgewalt enthaltenen Befug- nisse , sondern eine Form , in welcher der staatliche Wille er- klärt wird, gleichviel was der Inhalt dieses Willens ist. Durch ein „Gesetz“ kann der Wirthschaftsplan für den Staatshaushalt oder der Kosten-Anschlag für ein Unternehmen festgestellt, die Rich- tigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der ver- jagten Dynastie confiscirt und ebenso derselben restituirt, die Er- richtung oder Zerstörung eines nationalen Denkmals anbefohlen, die Ertheilung einer Dotation, des Ehrenbürgerrechts oder eines Titels, sowie die Verbannung oder der Verlust der Staats-Ange- gehörigkeit ausgesprochen werden. Durch ein Gesetz kann ebenso eine schwebende Rechtsstreitigkeit entschieden, die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausgesprochen, eine Wahl anerkannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amnestie ertheilt werden. Verwaltungsvorschriften von Wichtigkeit, welche nicht nach dem Belieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, sondern dauernd von den Verwaltungsbehörden befolgt werden sollen, wer- den überaus häufig in der Form des Gesetzes erlassen. Ein und dasselbe Gesetz kann einen sehr verschiedenartigen Inhalt haben §. 58. Gesetze im formellen Sinne. und neben wirklichen Rechtssätzen Verwaltungsvorschriften, Finanz- maßregeln, Ermächtigungen u. s. w. enthalten. Es giebt mit einem Worte keinen Gegenstand des gesammten staatlichen Lebens, wel- cher nicht zum Inhalte eines Gesetzes gemacht werden könnte. Gesetz im materiellen Sinne und Gesetz im formellen Sinne verhalten sich daher zu einander nicht wie Gattung und Art, wie ein weiterer und ein ihm untergeordneter engerer Begriff; sondern es sind zwei durchaus verschiedene Begriffe, von denen jeder durch ein anderes Merkmal bestimmt wird; der eine durch den Inhalt , der andere durch die Form einer Willenserklä- rung Eine ausführliche Entwicklung des Gegensatzes zwischen materiellen und formellen Gesetzen habe ich gegeben in meiner Schrift über das Budget- recht (Berlin 1871) S. 3—11. Vgl. ferner Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 205 ff.; Ernst Meier in v. Holtzendorff’s Encyclopädie I. (3. Aufl.) S. 882 und E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidi’s Zeitschrift für deutsches Staatsr. I. S. 209 (1867). . Ein Staatsgesetz im formellen Sinne ist ein Willensact des Staates, der in einer bestimmten feierlichen Weise zu Stande gekommen und erklärt worden ist In der Erklärung der Menschenrechte vom 26. Aug. 1789 Art. 6 heißt es: La loi est l’expression de la volonté générale. In ähnlicher Weise desi- nirt Portalis : »La loi est une déclaration solennelle de la volonté du Souverain sur un objet d’intérêt commun.« (Locré, Legislat. de la France I. S. 266 Nr. 21). Merlin , Répertoire Art. Loi §. II. (Tome XVIII. p. 384 sq.) setzt ausführlich auseinander, daß nicht jede Erklärung des pou- voir législatif einen Rechtssatz schaffe, dennoch aber als Gesetz anzuerkennen sei, denn die constituirende Versammlung habe durch Decret vom 9. Nov. 1789 beschlossen, que tous ses décrets, qui seraient revêtus de la sanction royale portassent indistinctement le nom et l’intitulé de Lois.« Die Verfassung v. 5. Fructidor des Jahres III. Art. 92 sagt: »Les resolutions du Conseil des Cinqcents adoptées pour le Conseil des Anciens s’appellent Lois«. Dieser formelle Begriff des Gesetzes ist in der neueren französischen Literatur der ausschließlich herrschende, nur daß natürlich die Erfordernisse mit jeder Verfassungs-Aenderung wechseln. . Den gemeinsamen Ausgangs- punkt für beide Begriffe, der die Verwendung desselben Ausdrucks für zwei so verschiedene Dinge erklärt, bildet der Satz, daß An- ordnungen von Rechtssätzen der Regel nach nur auf dem verfas- sungsmäßig bestimmten Wege erfolgen dürfen, der deshalb der Weg der Gesetzgebung heißt. Aus diesen Erörterungen ergiebt sich, in welcher Hinsicht Ge- §. 58. Gesetze im formellen Sinne. setze im materiellen Sinn und Gesetze im formellen Sinn unter denselben Grundsätzen stehen, und in welcher Beziehung dies nicht der Fall ist. In Beziehung auf die Voraussetzungen ihrer Gültigkeit stehen beide gleich; denn darauf beruht ja eben der formelle Begriff des Gesetzes, daß für die Gültigkeit eines staat- lichen Willensactes diejenigen Erfordernisse verfassungsmäßig auf- gestellt worden sind, welche für die rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes bestehen. Die Vorschriften über Feststellung des Inhaltes, Sanction, Promulgation und Publikation finden dem- nach vollständig und ausnahmslos auch Anwendung auf solche Ge- setze, welche nicht Anordnungen von Rechtsregeln enthalten. Die Wirkungen eines staatlichen Willensactes dagegen bestimmen sich nach dem Inhalte desselben. Gesetze, welche Rechtsregeln überhaupt nicht enthalten, können nicht diejenigen Wirkungen haben, welche dem Befehl, einen Rechtssatz zu befolgen, zukommen; sondern sie haben die ihrem Inhalt entsprechenden Wirkungen. Gesetze, welche Ermächtigun- gen ertheilen, haben die Wirkungen von Vollmachten; Gesetze, welche einen Rechtsstreit entscheiden, haben die Wirkungen von Urtheilen; Gesetze, welche den Haushalt regeln, haben die Wirkungen von Wirthschaftsplänen, also von Verwaltungsvorschriften u. s. w. Ueber die formelle Gesetzeskraft vrgl. unten §. 60. I. . II. Die doppelte Bedeutung des Wortes „Gesetz“ im ma- teriellen und formellen Sinne macht sich auch noch in einer andern, praktisch wichtigen Richtung geltend. Der Ausdruck „Gesetzgebung“ wird im objectiven und subjectiven Sinne verstanden; in diesem bedeutet er die Befugniß zum Erlaß von Vorschriften (Kompetenz), in jenem bedeutet er die Summe der auf Grund der Gesetzgebungs- befugniß in gültiger Weise erlassenen Vorschriften. Wenn der Ver- fassungssatz besteht, daß eine gewisse Materie von der „Reichsge- setzgebung“ ausgeschlossen sei, so bedeutet das nicht, daß das Reich diese Materie in der Form der Verordnung regeln dürfe, sondern es soll damit gesagt werden, daß diese Materie überhaupt der Willensherrschaft des Reiches entrückt und z. B. der der Einzel- staaten überwiesen sei. In diesem Sinne wird „die Bundeslegis- lative“ oder „Bundesgesetzgebung“ in dem Bayrischen Verfassungs- bündniß und dem dazu gehörigen Schlußprotokoll v. 23. Nov. 1870 vielfach in Bezug auf Bayern beschränkt oder ausgeschlossen, wo- durch selbstverständlich die Befugniß des Reiches zur Normirung §. 58. Gesetze im formellen Sinne. gewisser Angelegenheiten, sowohl in der Form des Gesetzes als in der Form der Verordnung, abgewendet werden soll. Andererseits bedeutet die Anordnung, daß eine Materie der Reichsgesetzgebung unterliegt, nicht: daß die Regelung in der Form des Reichs- Gesetzes erfolgen müsse, sondern: daß die Reichs -Gewalt über- haupt kompetent sei, diese Materie in verbindlicher Weise zu regeln. So werden im Art. 4 der R.-V. die Angelegenheiten aufgeführt, „welche der Beaufsichtigung des Reiches und der Gesetzgebung desselben“ unterliegen. Hierdurch wird die Befugniß des Reiches zur Aufstellung rechtsverbindlicher Regeln begründet, nicht die Form vorgeschrieben, in welcher dieselben aufzustellen sind. In demselben Sinne kehrt das Wort wieder in Ziff. 13 desselben Artikels, in Art. 35; 38; 52 Abs. 2, an welchen Stellen der Umfang der Reichskompetenz normirt wird, und ebenso in den zahlreichen Stellen der Reichsgesetze, in welchen die Regelung irgend eines Gegenstan- des der „Landesgesetzgebung“ übertragen oder auf die „Landes- gesetze“ verwiesen wird. Das Ges. v. 5. Juni 1869 §. 3 (B.-G.-Bl. S. 380) erklärt, daß die Vorschriften der Einführungs-Gesetze in Kraft bleiben, „nach welchen unter Landesgesetzen im Sinne des Handelsgesetzb. nicht blos die förmlichen Gesetze, sondern das ge- sammte Landesrecht zu verstehen und in Ansehung der be- treffenden Vorbehalte des Handelsgesetzbuchs die Erlassung maß- gebender Vorschriften auf anderem Wege als auf dem Wege der förmlichen Gesetzgebung, soweit dies nach dem Landesrecht zulässig, nicht ausgeschlossen ist.“ In demselben Sinne wird der Ausdruck „Landesgesetz“, „Landesgesetzgebung“ in der Gewerbe-Ordn. v. 21. Juni 1869 §. 155, im Einf.-Ges. zum Strafgesetzb. v. 31. Mai 1870, in dem Personenstands- und Civilehegesetz v. 6. Febr. 1875 §. 11 Vgl. die Motive zu diesem Gesetze S. 23. und anderen Reichsgesetzen verwendet. In allen diesen Stellen entspricht das Gesetzgebungsrecht dem materiellen Gesetzesbegriff. Es kann aber auch die Gesetzgebungs- Befugniß in einer dem formellen Gesetzesbegriff entsprechenden Be- deutung verstanden werden; d. h. nicht als Kompetenz zur Auf- stellung von Rechtsregeln, sondern als Befugniß, in der Form des Gesetzes Willensacte von irgend welchem Inhalte vorzu- nehmen. Der Ausdruck kann das Recht des Reichstages oder des §. 58. Gesetze im formellen Sinne. Landtages zur Mitwirkung an dem Erlaß eines Befehles bedeuten. Wenn in einem souverainen Einheitsstaate eine Verfassungsbestim- mung dahin lautet, daß eine gewisse Anordnung der Gesetzgebung zusteht, so kann das nicht die Kompetenz der Staatsgewalt bedeuten, da dieselbe souverain ist, sondern es beschränkt die Kom- petenz des Staats oberhauptes , es erkennt die Befugniß der Volksvertretung zur Theilnahme an der Bethätigung der Staats- gewalt an. In einem Bundesstaat aber ist ein doppelter Gegen- satz möglich, die Bundesgewalt kann der Einzelstaatsgewalt und innerhalb der Organisation beider Gewalten kann das Staatsober- haupt der Volksvertretung gegenüber gestellt werden. Der Rechts- satz, daß irgend ein Befehl durch Reichsgesetz oder durch Landes- gesetz erlassen werden könne, enthält daher eine doppelte Bestimmung; er normirt einerseits die Kompetenz des Reiches oder Einzel- staates zum Erlaß eines solchen Befehls und andererseits die Form , in welcher der Befehl zu erlassen ist. Ein Beispiel für eine solche Verwendung des Wortes „Reichs- gesetz“ liefert der Art. 41 Abs. 1 der R.-V., wonach „kraft eines Reichsgesetzes“ Eisenbahnen angelegt oder an Privatunternehmer zur Ausführung konzessionirt und mit dem Expropriationsrechte ausgestattet werden können. Es handelt sich hier nicht um die Aufstellung von Rechtssätzen und die Regelung der Rechtsordnung, sondern um eine Regierungshandlung, für welche durch die Clausel „kraft eines Reichsgesetzes“ sowohl die Kompetenz des Reiches als die Beobachtung der Gesetzgebungsformen vorgeschrieben wird. Dasselbe gilt vom Art. 69, welcher anordnet, daß der Reichshaus- halts-Etat für jedes Jahr „durch ein Gesetz“ ( i. e. Reichsgesetz) festgestellt wird. Deutlicher wird die Verwendung des Wortes Gesetz im formellen Sinne zum Ausdruck gebracht, wenn die An- ordnung getroffen wird, daß das Reich eine Befugniß „im Wege der Gesetzgebung“ auszuüben habe, denn der Weg der Reichsge- setzgebung ist eben die Gesetzgebungs form . Die Reichsverf. selbst bedient sich dieses Ausdruckes im Art. 18 Abs. 2; Art. 46 Abs. 3; Art. 58; 60; 73; 75 Abs. 2; Art. 76 Abs. 2; Art. 78 Abs. 1; und in zahlreichen Stellen der Reichsgesetze kehrt er wieder. Aus den vorstehenden Erörterungen ergiebt sich, daß die Vor- schrift, eine gewisse Staatsthätigkeit soll „durch Reichsgesetz“ er- folgen oder unterliegt „der Reichsgesetzgebung“, einen dreifachen §. 58. Gesetze im formellen Sinne. Sinn haben kann. Entweder bildet den begrifflichen Gegensatz das Landesgesetz ; alsdann erkennt sie die Kompetenz des Reiches an und schließt die der Einzelstaaten aus Vorausgesetzt, daß nicht eine concurrirende Befugniß der Einzel- staaten und des Reiches anerkannt wird. . Oder die Verord- nung des Kaisers, oder Bundesraths u. s. w. bildet den Gegen- satz; alsdann schreibt sie die Form des Reichsgesetzes vor und schließt die Formen der Verwaltungsacte, Verträge u. s. w. aus. Oder endlich sie will beides zugleich ausdrücken, sowohl die Befugniß des Reiches als auch die Form ihrer Ausübung. Für die Interpretation der Reichsverfassung und der auf Grund derselben ergangenen Gesetze ist es von Wichtigkeit, diese verschiedenen Bedeutungen auseinander zu halten. Der Sinn der Vorschriften wird öfters ein völlig verschiedener, je nachdem man die eine oder andere Bedeutung des Wortes Reichsgesetz zu Grunde legt. Gewöhnlich wird aus dem Zusammenhange und der Aus- drucksweise ohne Schwierigkeiten zu ermitteln sein, wie die Bestim- mung der Verfassung zu verstehen ist; dies gilt aber keineswegs allgemein. Gleich der Art. 2 der R.-V. kann hier als wichtigstes Beispiel angeführt werden, da derselbe theils so ausgelegt werden kann, daß er unter Reichsgesetzen alle vom Reiche — gleichviel in welcher Form — erlassenen Rechtsvorschriften versteht, theils in der Art, daß er sich auf alle in der Form des Gesetzes erklärten Willensacte des Reiches bezieht, gleichviel welchen Inhalt sie haben Vergleiche darüber unten §. 59 V. . Leider ist die Reichsverf. von dem Vorwurf nicht freizusprechen, daß sie selbst die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Gesetzgebung verwechselt und durcheinander geworfen hat. Ganz unverkennbar und deshalb in unschädlicher Weise ist dies der Fall im Art. 48 Abs. 2 der R.-V. Derselbe bestimmt: „Die im Art. 4 vorgesehene Gesetzgebung des Reichs in Post- und Telegraphen-Angelegenheiten erstreckt sich nicht auf die- jenigen Gegenstände, deren Regelung nach den in der Norddeutschen Post- und Telegraphen-Verwaltung maßgebend gewesenen Grund- sätzen der reglementarischen Festsetzung oder administrativen An- ordnung überlassen ist.“ In dem hier in Bezug genommenen Art. 4 wird die Kom- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 5 §. 58. Gesetze im formellen Sinne. petenz des Reiches normirt und das Wort Gesetzgebung im ma- teriellen Sinne verstanden. Wenn von dem im Art. 4 Nro. 10 der Reichsgesetzgebung zugewiesenen Bereich im Art. 48 Abs. 2 ein Theil wieder ausgenommen wird, so kann das an sich nur den Sinn haben, daß dieser Theil nicht zur Kompetenz des Reiches, mithin also zur Kompetenz der Einzelstaaten gehören soll. Diesen Sinn aber hat Art. 48 Abs. 2 nicht; vielmehr bestimmt Art. 50 Abs. 2 ausdrücklich, daß der Erlaß der reglementarischen Fest- setzungen und allgemeinen administrativen Anordnungen dem Kaiser zusteht. Es ist also nicht die Kompetenz des Reiches ausgeschlossen, denn der Kaiser ist ja ein Organ des Reiches; sondern es ist die Form des Reichsgesetzes ausgeschlossen und durch die der kaiserl. Verordnung ersetzt. Die im Art. 4 vorgesehene Gesetzgebung des Reiches ist die Gesetzgebungs- Befugniß ; im Art. 48 Abs. 2 wird dagegen dem Worte die Bedeutung der Gesetzgebungs- Form untergelegt; bei der Berufung auf Art. 4 also die materielle mit der formellen Bedeutung verwechselt. Ganz dasselbe gilt von Art. 11 Abs. 2. Nur ist hier die Verwechslung weniger sicher zu erkennen und deshalb eine ver- schiedene Auslegung des Artikels eher möglich. Derselbe ordnet an, daß insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, zu ihrem Abschluß die Zu- stimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Geneh- migung des Reichstages erforderlich ist. Obwohl nach dieser Aus- drucksweise es auf den ersten Blick kaum zweifelhaft erscheint, daß das Wort Reichsgesetzgebung hier — ebenso wie im Art. 4 — im materiellen Sinne genommen ist, so ist der wahre Sinn dieses Ar- tikels doch nur dann zu gewinnen, wenn man unter dem Bereich der Reichsgesetzgebung denjenigen Kreis von Willensentschlüssen versteht, für welchen die Form des Reichsgesetzes nothwendig ist. Art. 11 Abs. 2 will Bundesrath und Reichstag dagegen schützen, daß nicht die Form des Vertrages mißbraucht werden könne, um die Form des Reichsgesetzes zu umgehen Vgl. Bd. I S. 511 und unten die Lehre vom Abschluß von Staats- verträgen §. 64. . §. 59. Die Verordnungen des Reichs. §. 59. Die Verordnungen des Reichs. I. Ueber Begriff und Wesen der Verordnung stehen sich in der Deutschen Literatur zwei Ansichten gegenüber. Nach der einen ist die Verordnung eine Aeußerung der Verwaltungs- oder Regierungsthätigkeit des Staates; sie bildet den Gegensatz zum Gesetze; in ihr kommt nicht der Wille des Staates oder Vol- kes, sondern der Wille der Regierung oder des Königs zum Aus- drucke; sie findet Anwendung auf dem Gebiete, welches von der Gesetzgebung der freien Thätigkeit der Verwaltungsbehörden über- lassen ist; sie ist ein Ausfluß der sogen. vollziehenden Gewalt Vgl. z. B. Bluntschli , Allgemeines Staatsrecht (5. Aufl.) II. S. 94. Beseler , Deutsches Privatrecht I. §. 18. Förster , Preuß. Privatr. I. §. 9. Dernburg , Preuß. Privatr. I. §. 16 S. 29. G. Planck in Ihering’s Jahrb. Bd. IX. S. 339. E. A. Chr. (v. Stockmar ) in Aegidi’s Zeitschr. f. Deutsches Staatsr. Bd. I. S. 203 fg. und namentlich Lor. v. Stein , Handb. der Verwaltungslehre I. S. 30 fg. S. 64 ff. (2. Aufl. 1876). . Nach der anderen Ansicht ist die Verordnung dem Gesetz gleich- artig; sie enthält Rechtsvorschriften; der Ausdruck Gesetz im wei- teren Sinne umfaßt die eigentlichen oder formellen Gesetze und die Verordnungen; Verordnungen sind demnach Gesetze, welche von dem Staatsoberhaupt oder den mit dieser Befugniß ausgestatteten Behörden ohne Mitwirkung der Volksvertretung erlassen sind Diese Ansicht ist bei den Staatsrechtslehrern die herrschende. Unter ihren sehr zahlreichen Vertretern sind hervorzuheben: Zachariä , Staatsr. II. §. 160 (S. 168 ff.). v. Held , Verf.-R. II. S. 59 ff. v. Mohl , Staats- recht, Völkerr. u. Polit. II. S. 404 ff. v. Gerber , Grundzüge §. 48 S. 150. Ferner v. Mohl , Württemb. Staatsr. I. §. 33 S. 198. v. Pözl , Bayr. Verf.-R. §. 161. §. 163. v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1. S. 172. 185 ff. Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 225. Böhlau , Mecklenb. Landr. I. §. 51. S. 311. Roth , Bayr. Civilr. I. §. 7 S. 95. Unger , System des österr. Privatr. I. S. 26. 27. Gneist , Verwaltung, Justiz, Rechtsweg S. 73: „Gesetz ist die mit Zustimmung der verfassungsmäßigen Landesvertretung er- lassene Verordnung; Verordnung der Ausdruck des Staatswillens ohne diese Zustimmung.“ . Die Durchsicht jeder größeren Gesetz- und Verordnungssamm- lung lehrt, daß beide Ansichten für einen Theil der Verordnungen richtig sind. Es gibt zahllose Verordnungen, welche Rechtssätze enthalten und sich materiell durchaus nicht von Gesetzen unterschei- den, welche gewissermaßen nur zufällig statt in der Form des Ge- 5* §. 59. Die Verordnungen des Reichs. setzes in der der Verordnung ergangen sind; ebenso giebt es un- zählige Verordnungen, welche Verwaltungsvorschriften enthalten oder Verwaltungs-Einrichtungen betreffen und nicht Rechtsregeln sanctio- niren, sondern Aeußerungen der Regierungsgewalt sind. Keine der beiden Definitionen trifft daher das Wesen der Verordnung voll- ständig und ausschließlich. Der Begriff der Verordnung ist vielmehr gerade wie der des Gesetzes ein zwiefacher; der Ausdruck hat eine materielle und eine formelle Bedeutung; wie hinsichtlich des Gesetzesbegriffes so ist auch hinsichtlich der Verordnung der Doppelsinn durch die Theorie von der Theilung der Gewalten und ihre historische Bedeutung für das moderne Staatsrecht entstanden Eine Andeutung dieses Gedankens findet sich bei Schmitthenner , Grundlinien des Staatsrechts §. 74 S. 302. . Der materielle Begriff der Verordnung ergiebt sich aus dem Gegensatz zum materiellen Gesetzesbegriff. Da das Gesetz die Anordnung einer Rechtsregel ist, so muß die Verordnung im Ge- gensatz zum Gesetze einen anderen Inhalt haben; sie enthält keinen Rechtssatz, sondern ist eine Anordnung auf dem Gebiete der Ver- waltung, eine Ausübung der freien Regierungsthätigkeit. Ihr An- wendungsgebiet ist das von den Gesetzen den Verwaltungsbehörden freigelassene Feld staatlicher Fürsorge. Die Geschichte lehrt, daß die Grenzen zwischen dem Gebiet des Gesetzes und dem der Ver- ordnung keine unwandelbaren, ja überhaupt nicht fest bestimmte sind. Was ursprünglich eine durch Zweckmäßigkeitsrücksichten ver- anlaßte Vorschrift für die Ausübung der den Behörden und Be- amten obliegenden Funktionen war, kann ein dauernder und we- sentlicher Bestandtheil der öffentlichen Rechtsordnung eines Staates werden; ebenso kann das Gebiet, auf welchem dem freien Ermessen der Regierung Spielraum gegeben ist, durch fortschreitende Detail- lirung der Gesetzgebung mehr und mehr eingeengt werden. So lange aber eine Verwaltungs-Vorschrift nicht gesetzlich sanctionirt ist, kann sie von dem Oberhaupte der Verwaltung aufgehoben oder verändert werden; so lange hat sie demnach nicht den Charakter eines Rechtssatzes . Den einzelnen Beamten oder Behörden gegenüber kann sie vollkommen bindend und verpflichtend sein; für die Verwaltung als Ganzes ist sie nicht ein zwingender Befehl §. 59. Die Verordnungen des Reichs. einer höheren Potenz, sondern ein Ausfluß der eigenen Wil- lensbestimmung; sie schafft nicht Recht, sondern bewegt sich inner- halb der vom Recht gesetzten Schranken. Der Gegensatz von Ge- setz und Verordnung im materiellen und ursprünglichen Sinne entspricht daher vollkommen dem Gegensatz von Rechts vorschrift und Verwaltungs vorschrift. Nach der Theorie von der Theilung der Gewalten hat die Volksvertretung einen Antheil an der Regelung der Rechtsordnung, aber nicht an der Leitung der Verwaltung; sie hat eine Mitwirkung an dem Erlaß der Gesetze, aber nicht an dem Erlaß der Verord- nungen. Hieraus ergiebt sich der formelle Sinn der Verord- nung. Sowie man einerseits Verwaltungsacte, an denen die Volks- vertretung eine Mitwirkung erhalten sollte, der Legislative oder Gesetzgebung zuwies, sie an die Form des Gesetzes band, so er- klärte man andererseits die Anordnung von Rechtsregeln, falls dieselbe ohne Zustimmung der Volksvertretung statthaft sein sollte, für eine Verordnung, d. h. man gestattete dafür diejenigen For- men, welche im Allgemeinen nur für den Erlaß von Verwaltungs- vorschriften ausreichend sind. In diesem formellen Sinne scheiden demnach aus dem Begriff der Verordnung aus alle diejenigen Ver- waltungs-Vorschriften, welche auf dem Wege der Gesetzgebung er- lassen werden, wie z. B. der Staatshaushalts-Etat, und es fallen andererseits unter diesen Begriff alle Rechtsvorschriften, welche ohne Mitwirkung der Volksvertretung zu Stande gekommen sind. Der formelle Begriff der Verordnung deckt sich mithin keineswegs mit dem Begriff der Verwaltungs-Vorschrift; er umfaßt theils weniger, theils mehr; er umfaßt im Gegensatz zum formellen Gesetzes- begriff alle Willensacte des Staates, welche im Wege der Ver- ordnung sich vollziehen. Die Lehre von der Gesetzgebung hat es demnach mit der Ver- ordnung nur insoweit zu thun, als Rechtsvorschriften im Wege der Verordnung erlassen werden können; soweit die Verord- nung dagegen zur Aufstellung von Verwaltungs-Vorschriften dient, ist sie bei der Lehre von der Verwaltung zu behandeln. II. Es entsteht zunächst die Frage, ob der Erlaß von Rechts- vorschriften im Wege der Verordnung nach der Reichsverfas- sung überhaupt zulässig ist? Man unterscheidet bekanntlich zwei Arten von Rechts-Verord- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. nungen, welche man als Verordnungen mit interimistischer Gesetzes- kraft und Ausführungs-Verordnungen einander gegenüberstellt. Der begriffliche Gegensatz zwischen denselben beruht darauf, daß die ersteren gesetzlich sanctionirte Rechtsvorschriften zu suspendiren oder aufzuheben vermögen, die letzteren dagegen nur innerhalb der in den Gesetzen aufgestellten allgemeinen Rechtsgrundsätze speziellere Bestimmungen treffen dürfen, durch welche untergeordnetere Punkte geregelt, Rechtsvorschriften von geringerer Wichtigkeit und Bedeu- tung gegeben werden. Durch die ersteren würde, wenn sie unbe- dingt zulässig wären, die Mitwirkung der Volksvertretung an der Gesetzgebung zu einer werthlosen Förmlichkeit herabgemindert; sie sind deshalb überall nur gestattet unter der Resolutiv-Bedingung, daß das demnächst zusammentretende Parlament sie genehmigt. Die letzteren lassen die unter Theilnahme der Volksvertretung er- lassenen Rechtsvorschriften unangetastet, sie halten sich innerhalb des von ihnen gezogenen Rahmens und haben deshalb dauernde Geltung. Ausführungs-Verordnungen in dem hier entwickelten Sinne sind Ergänzungen der Gesetze; „Ausführung“ der gesetz- lichen Regeln hat den Sinn von Detaillirung, Entwicklung, Ent- faltung, so wie man von der Ausführung eines skizzirten Gemäldes oder eines kurz angedeuteten Gedankens spricht. Der Ausdruck „Ausführung eines Gesetzes“ kann aber auch die Anwendung oder Handhabung desselben bedeuten, so wie man die Erfüllung eines Befehls oder Auftrages die Ausführung desselben nennt. Es er- giebt sich hieraus der Doppelsinn, welchen das Wort „Ausfüh- rungs-Verordnung“ haben kann; es kann einerseits bedeuten den Erlaß von Rechtsvorschriften zur Ergänzung oder Detaillirung von Gesetzesregeln und es kann andererseits bedeuten den Erlaß von Anweisungen an die Behörden über die von ihnen zu entfaltende Thätigkeit, um die Anordnungen eines Gesetzes zur Ausführung zu bringen. In dem ersteren Falle enthält die Ausführungs-Ver- ordnung Rechtsregeln und fällt unter den Begriff der Gesetzge- bung im materiellen Sinne, im letzteren Fall enthält sie Verwal- tungs-Vorschriften und hat mit der Regelung der Rechtsordnung Nichts zu thun. Die an dieser Stelle zu beantwortende Frage ist demnach die, ob es nach der Reichsverfassung zulässig ist, daß Rechtsvorschriften zur Ergänzung und Detaillirung von Reichsge- setzen im Wege der Verordnung erlassen werden. §. 59. Die Verordnungen des Reichs. In dieser speziellen Fassung wird die Frage in der bisherigen Literatur aber nicht aufgestellt, sondern es wird die Zulässigkeit von Ausführungs-Verordnungen im Allgemeinen bejaht, so daß beide Arten von Ausführungs-Verordnungen darunter mitbegriffen werden So heißt es z. B. bei v. Rönne , II. 1. S. 56: „Auch kann nicht in Zweifel gezogen werden, daß die von den dazu berechtigten Organen der Reichsgewalt innerhalb ihrer Zuständigkeit erlassenen Verordnungen unbedingte Gültigkeit für alle Reichsangehörige haben und daß sie, ebenso wie die Reichsgesetze , den landesgesetzlichen jeder Art, mit Einschluß der Landes- verfassungen, vorgehen. Denn, wenn gleich der Art. 2 der R.-V. nur bestimmt hat, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, so muß dies doch auch gleichmäßig von den Reichsverordnungen gelten, da letztere nur ergän- zende Theile des betreffenden Reichsgesetzes sind .“ . Es wird nur erfordert, daß die Verordnung weder Bestimmungen enthalte, welche mit dem Reichsgesetze unmittelbar oder mittelbar im Widerspruch stehen (contra legem) , noch daß sie für Materien, welche gesetzlich nicht geregelt sind, neue Rechts- sätze (praeter legem) einführen, sondern daß sie intra legem die speziellen, im Gesetze selbst nicht ausdrücklich formulirten Vor- schriften aufstellen. Darin aber weichen die Anhänger dieser Lehre von einander ab, daß die Einen wegen Art. 7 Z. 2 der R.-V. den Bundesrath für der Regel nach befugt erachten, Ausführungs-Ver- ordnungen zu erlassen Riedel , S. 22. Thudichum in v. Holtzend. Jahrb. I. S. 22 v. Held , S. 109. Dreyer , Deutsches Reichs-Civilrecht S. 6. , Andere dagegen wegen Art. 17 den Kai- ser v. Martitz , S. 53. 63. Meyer , Grundzüge S. 69. , noch Andere endlich, indem sie beide Stellen der R.-V. com- biniren, ein concurrirendes Recht des Bundesrathes und Kaisers annehmen Böhlau , Mecklenb. Landrecht I. S. 289. v. Mohl , S. 169—173. v. Rönne (2. Aufl.), I. S. 214 fg. 231. II. 1. S. 57 fg. Zorn in der Krit. Vierteljahresschrift 1875 Bd. XVII. S. 394 ff. . Diese ganze Theorie ist aber in der Reichsverfassung nicht nur nicht begründet, sondern sie steht mit derselben in offenbarem Wi- derspruch. Art. 7 Abs. 2 der R.-V. sagt: „Der Bundesrath beschließt über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungs- vorschriften und Einrichtungen , sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist.“ §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Hier ist mit der größten Deutlichkeit hervorgehoben, daß nur von Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen die Rede ist; von der Auf- stellung von Rechtsvorschriften enthält der Artikel Nichts. Er ertheilt dem Bundesrath durchaus keine Befugniß, ohne Zustimmung des Reichs- tages Rechtsregeln zu sanctioniren, Ausführungs-Gesetze im materiel- len Sinne des Wortes zu erlassen Vgl. auch Seydel in Hirth’s Annalen 1874 S. 1145. . Ganz übereinstimmend spricht der Art. 37 der R.-V. nur von den „zur Ausführung der gemein- schaftlichen Gesetzgebung dienenden Verwaltungsvorschriften und Ein- richtungen.“ In der Verf. des Nordd. Bundes fehlte bekanntlich der Art. 7; als er bei der Redaktion der R.-V. in dieselbe aufgenom- men wurde, erklärte der Staatsminister Delbrück, daß „eine ma- terielle Aenderung des Bestehenden damit kaum herbeigeführt ist“ Vgl. Bd. I. S. 259. . Auch aus der Entstehungsgeschichte dieses Artikels ergiebt sich da- her, daß durch ihn nicht eine Gesetzgebungs-Befugniß für den Bun- desrath begründet werden sollte, für welche sich in der Nordd. Bundesverf. und den Verfassungsbündniß-Verträgen durchaus kein Anhalt findet. Die Tragweite des Art. 7 Ziff. 2 liegt ausschließ- lich auf dem Gebiete der Verwaltung und wird dort erörtert werden. Ebensowenig überträgt der Art. 17 dem Kaiser die Befugniß, Ausführungs-Gesetze zu erlassen, sondern „die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze“. Einer Ueberwachung können nur Handlungen oder Unterlassungen unterliegen, aber nicht Regeln. Dem Kaiser gebührt die Controle über die durch Reichsgesetze nor- mirte Verwaltung , aber nicht die Aufstellung von Rechtsnor- men Vgl. auch Seydel in Hirth’s Annalen 1876 S. 13. . Das, was der Kaiserlichen Ueberwachung unterliegt, ist die Anwendung und Handhabung der Reichsgesetze, die Ausführung derselben im Sinne von Durchführung; der Erlaß einer Ausfüh- rungs-Verordnung ist aber — wie oben entwickelt worden ist — die Ergänzung oder Detaillirung eines Gesetzes durch Spezial- Vorschriften Bemerkenswerth ist auch, daß keine einzige kaiserl. Verordn. auf Grund des Art. 17 der R.-V. erlassen worden ist. Die Verordn. vom 26. Juli 1867 (B.-G.-Bl. S. 24) betreffend die Einführung des Bundesge- setzblattes — welche übrigens einen Rechtssatz nicht sanctionirt — ist zur Aus- führung der Art. 2 u. Art. 17 erlassen; sie ist die einzige Kaiserl. Verordn., in deren Eingangsformel der Art. 17 der R.-V. überhaupt erwähnt worden ist. . §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Die in Rede stehende Theorie führt auch zu absurden Resul- taten; sie könnte dazu mißbraucht werden, die Mitwirkung des Reichstages an der Reichsgesetzgebung gänzlich illusorisch zu machen. Denn der Begriff eines Ausführungsgesetzes ist ein äußerst unbe- stimmter und dehnbarer; unter dem Vorgeben, daß gewisse Rechts- vorschriften zur Ausführung anderer Gesetzesbestimmungen dienen, ließen sich mancherlei Rechtsregeln aufstellen, die nur in losem Zu- sammenhange mit dem zur Ausführung zu bringenden Gesetze stehen. Ja es läßt sich mit Grund behaupten, daß fast sämmtliche Reichsgesetze zur Ausführung der Reichsverfassung dienen, ihr ge- genüber nur Ausführungsbestimmungen enthalten, und man würde damit zu dem Schluß gelangen, daß jedes innerhalb der verfas- sungsmäßigen Kompetenz des Reiches sich haltende Gesetz eben so wohl in der Form der Gesetzgebung als in der Form der Ver- ordnung nach dem Belieben der Reichsregierung erlassen werden könnte, wofern nur in dem letzteren Falle das Gesetz als Ausfüh- rungsbestimmung zu diesem oder jenem Artikel der R.-V. bezeichnet wird. Der Grundsatz, daß Gesetze im materiellen Sinne (Rechts- vorschriften) im Wege der Gesetzgebung zu erlassen sind, also zu- gleich Gesetze im formellen Sinne sein sollen, ist in der Reichsverf. als selbstverständlich vorausgesetzt; ebenso wie in der Preuß. Verf.- Urk. Art. 62 und der Mehrzahl der „constitutionellen“ Verfassungen. Während aber die Preuß. Verf.-Urk. im Art. 45 dem Könige den Erlaß von Ausführungs-Verordnungen ohne Einschränkungen über- trägt, hat die Reichsverfassung keine entsprechende Bestimmung. Ebenso wenig wie die R.-V. den Erlaß von Ausführungs- gesetzen im Verordnungswege für zulässig erklärt, enthält sie eine Ermächtigung zum Erlaß von Verordnungen mit interimi- stischer Gesetzeskraft , durch welche reichsgesetzlich anerkannte Rechtssätze zeitweilig abgeändert oder aufgehoben werden könnten. Nur insoweit nach Art. 68 der R.-V. der Kaiser einen Theil des Bundesgebietes in Kriegszustand erklären darf, ist demselben die Befugniß eingeräumt, den gesetzlichen Rechtszustand nach Vorschrift des Preuß. Gesetzes v. 4. Juni 1851 zeitweise abzuändern. In der Literatur des Reichsstaatsrechts herrscht darüber auch Einver- ständniß, daß Verordnungen, welche Reichsgesetzen gegenüber dero- gatorische Kraft hätten (contra legem) , oder welche reichsgesetzlich nicht geregelte Rechtsmaterien normiren und neues Recht schaffen §. 59. Die Verordnungen des Reichs. sollen (praeter legem) , auf Grund der R.-V. nicht erlassen werden dürfen, auch nicht im Falle eines Nothstandes und wenn der Reichs- tag nicht versammelt ist. Die R.-V. enthält weder über die Be- dingungen, unter denen eine solche Verordnung statthaft ist, noch über das Subject, von welchem sie erlassen werden darf, noch über die Formen und Rechtswirkungen derselben irgend eine Bestimmung. Wenn sonach die R.-V. weder den Erlaß von Ausführungs- Verordnungen noch den Erlaß von Verordnungen mit interimisti- scher Gesetzeskraft für zulässig erklärt und kein Organ des Reiches dazu ermächtigt hat, so ist es doch andererseits ebenso unrichtig, daß die R.-V. den Erlaß von Rechtsverordnungen verboten oder für unzulässig erklärt habe und daß die Sanctionirung von Rechts- vorschriften auf einem andern Wege als dem der Gesetzgebung verfassungswidrig sei. Diese Theorie, welche gleichsam den Gegensatz zu der soeben bekämpften Ansicht bildet, ist von v. Rönne , Staatsr. des Deutschen Reiches II. 1. S. 13 ff., entwickelt wor- den Sie ist von demselben Schriftsteller auch für Preußen aufgestellt wor- den in dessen Preuß. Staatsrecht I. 1. §. 46 (3. Aufl. S. 176). Er selbst constatirt aber, daß sie „von den Preuß. Kammern nicht immer inne gehalten worden ist“ (Staatsr. des Deutschen Reichs a. a. O. Note 4), d. h. daß die Preuß. Gesetzgebung durch dieselbe sich nicht hat irre führen lassen. . Derselbe begründet sie in folgender Weise: „Da nach Art. 5 Abs. 1 der R.-V. die Reichsgesetzgebung durch den Bundesrath und den Reichstag gemeinschaftlich ausgeübt wird, so folge, daß es verfassungsmäßig nicht zulässig sei, daß der eine der beiden Faktoren der Reichsgesetzgebung die Ausübung seines Rechtes der Theilnahme daran auf den andern übertrage oder auch nur dem- selben stillschweigend überlasse. Es sei daher der Reichstag ver- fassungsmäßig nicht berechtigt, sich der ihm durch die Verfassung beigelegten Mitwirkung bei der Reichsgesetzgebung, auch nicht für einzelne Fälle , zu begeben und dieses Recht auf den Bundesrath allein zu übertragen. Die R.-V. kenne nur eine einzige Gattung von Gesetzen, nämlich die im Art. 5 gedachten, zwischen dem Bundesrathe und dem Reichstage vereinbarten und gebe dem Reichstage nicht das Recht, auf die Ausübung seines Mitwirkungs- rechtes bei der Gesetzgebung zu verzichten und den Erlaß von Ge- setzen dem Bundesrathe allein zu übertragen oder zu überlassen. Deshalb sei es mit dem Grundsatz des Art. 5 unver- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. einbar, in ein Reichsgesetz die Bestimmung aufzu- nehmen , daß der Bundesrath ermächtigt sein solle, im Wege der Verordnung ohne weitere Zuziehung des Reichstages, Vorschriften über Gegenstände zu erlassen, welche an sich und ihrer Natur nach zu denjenigen gehören, welche dem Gebiete der Ge- setzgebung angehören.“ Auf Grund dieser Deduktion sollte man den Schluß erwarten, daß Rechtsvorschriften intra legem (Ausführungs-Gesetze) nicht durch Verordnung erlassen werden dürfen; zur Ueberraschung des Lesers fährt v. Rönne aber fort: „dagegen ist es selbstverständ- lich verfassungsmäßig zulässig, durch ein Reichsgesetz dem Bundes- rathe oder auch dem Kaiser oder auch dem Reichskanzler den Er- laß derjenigen Verordnungen zu übertragen, welche zur Aus- führung eines Reichsgesetzes erforderlich erscheinen“ v. Rönne fügt noch hinzu: „ oder welche nur die zur Ausführung des betreffenden Reichsgesetzes nöthigen allgemeinen Verwaltungs-Vorschriften und Einrichtungen betreffen, bei welchen es sich also nur um die Anwendung der in dem Reichsgesetze niedergelegten Normen handelt.“ So wird durch eine leichte Redewendung der Art. 7 Ziff. 2 der R.-V. entstellt. Die letztere Stelle erwähnt nur eine Art von Verordnungen, nämlich die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungs -Vorschriften und Einrichtungen; v. Rönne macht zwei Kategorien daraus, Ausführungsbestim- mungen zu einem Reichsgesetz oder die zur Ausführung erforderlichen Ver- waltungs-Vorschriften. . Da v. Rönne, wie oben S. 71 erwähnt worden ist, zum Erlaß von Ausführungsverordnungen nicht nur den Bundesrath sondern außer- dem auch den Kaiser für verfassungsmäßig befugt erachtet, so ist der praktische Sinn seiner Erörterung wohl der, daß Verordnungen contra und praeter legem verfassungswidrig seien und weder der Bundesrath noch der Kaiser noch beide gemeinsam durch Reichs- gesetz zum Erlaß derselben ermächtigt werden können. Dies ist aber durchaus unrichtig. Zwischen Ausführungs- Verordnungen und Verordnungen mit interimistischer Gesetzeskraft, oder besser ausgedrückt, zwischen dem Erlaß von Rechtsvorschriften intra legem und dem Erlaß von Rechtsvorschriften praeter oder contra legem besteht in dieser Hinsicht keinerlei Unterschied. Der Gesetzgebung ist keine Schranke auferlegt, daß sie nicht auch An- ordnungen über die Aufstellung von Rechtsvorschriften treffen dürfte. Der Art. 5 enthält lediglich eine Bestimmung, in welcher §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Form die Reichsgesetzgebung ausgeübt wird, aber keine Vorschrift, worin der Inhalt eines Reichsgesetzes bestehen müsse oder nicht bestehen dürfe. Ein Gesetz kann demnach anstatt unmittelbar Rechtsregeln aufzustellen, Anordnungen darüber enthalten, wie gewisse Rechtsregeln erlassen werden sollen. Es liegt hierin keine Verletzung oder Aufhebung, sondern eine besondere Anwendung der im Art. 5 der R.-V. gegebenen Vorschrift Vgl. Seydel in Hirth’s Annalen 1874 S. 1145, der sich sehr treffend hierüber äußert. . Man kann da- her nicht das Erforderniß aufstellen, daß für die Sanctionirung eines derartigen Gesetzes die für Verfassungs-Aenderungen gegebe- nen Regeln befolgt werden müssen und noch weniger kann man ein solches Gesetz für gänzlich unzulässig und verfassungswidrig erachten. Eine vielfach bethätigte Praxis, deren Rechtmäßigkeit niemals weder vom Reichstage noch vom Bundesrathe oder der Reichs- regierung angezweifelt worden ist, hat dieser Auffassung sich ange- schlossen. Für den Erlaß von Ausführungs-Bestimmungen ist es überflüssig, Beispiele anzuführen, da hinsichtlich dieser eine Mei- nungsverschiedenheit nicht besteht. Aber es giebt auch Reichsge- setze, deren Inhalt lediglich in der Delegation des Verordnungs- rechtes besteht, die also nichts Anderes bestimmen, als daß gewisse au und für sich dem Gebiete der Gesetzgebung angehörende Normen auf einem anderen, als dem in Art. 5 der R.-V. vorgezeichneten Wege erlassen werden sollen. Solche Gesetze sind das Bundesges. v. 10. März 1870 (B.-G.-Bl. S. 46), durch welches der Bundes- rath ermächtigt wird, gewisse Vorschriften zur Ergänzung der Maaß- und Gewichtsordnung zu erlassen; das Ges. v. 30. März 1874 (R.-G.-Bl. S. 23) über die Aegypt. Konsulargerichtsbarkeit, das Ges. v. 6. Januar 1876 (R.-G.-Bl. S. 3). Endlich fehlt es auch nicht an Beispielen, daß die Aufhebung oder Abänderung von Vorschriften der Reichsgesetze im Verord- nungswege gesetzlich vorgesehen ist, mit der Beschränkung, daß die Verordnung dem Reichstage bei dessen nächstem Zusammen- treten zur Genehmigung vorzulegen ist und daß sie außer Kraft tritt, wenn der Reichstag die Genehmigung versagt. Dies ist ge- schehen in der Gewerbe-Ordnung §. 16 u. §. 56, welche einen §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Beschluß des Bundesrathes zuläßt, und namentlich in dem Ein- führungs-Gesetz zur Civilproceß-Ordn. §. 6, woselbst eine mit Zustimmung des Bundesrathes erlassene Kaiserl. Verordnung erfordert wird Ueber die ähnliche Anordnung im §. 8 des Ges. v. 25. Juni 1873 für Elsaß-Lothringen vergleiche unten §. 62. . Es ergiebt sich demnach folgendes Resultat: Eine allgemeine, durch die Reichsverfassung selbst begründete Befugniß zum Erlaß von Rechts-Verordnungen im Gegensatz zu Verwaltungs-Vorschriften. besteht nicht, wohl aber kann dieselbe in jedem einzelnen Falle durch ausdrückliche Anordnung eines Reichsgesetzes constituirt werden. Oder mit andern Worten: Jede Verordnung, welche Rechtsvorschriften enthält, kann nur gültig erlassen werden auf Grund einer spe- ziellen, reichsgesetzlichen Delegation Dem entsprechend wird in jeder Verordnung in den Eingangsworten die Gesetzes-Bestimmung angegeben, auf Grund deren sie erlassen ist. Als eine wesentliche Form , deren Nichtbeobachtung die Ungültigkeit der Ver- ordnung zur Folge hat, kann dies zwar nicht erachtet werden, da die Reichs- gesetzgebung die Formen, in denen Verordnungen zu erlassen sind, überhaupt nicht geregelt hat. Materiell hängt aber die Gültigkeit einer Verordnung von dem Vorhandensein einer gesetzl. Delegation ab und es ist demgemäß die Praxis, diese Gesetzesbestimmung in der Verordnung in Bezug zu nehmen, durchaus sachgemäß. . Fehlt es an einer solchen Delegation und ist ein Reichsgesetz so unvollständig, daß es ohne den Erlaß von Ergänzungs-Vor- schriften unausführbar ist, so muß es unausgeführt bleiben bis die erforderlichen Ergänzungs-Vorschriften im Wege der Gesetz- gebung erlassen werden Ein Beispiel für ein zeitweilig unausführbar gewesenes Gesetz ist das Anleihegesetz v. 9. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. S. 157), welches erst durch das Ges. v. 19. Juni 1868 (B.-G.-Bl. S. 339) ausführbar gemacht wurde. Auch §. 35 des Ges. über die Kriegsleistungen v. 13. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 137) kann hier angeführt werden. . In allen anderen Fällen ist die Hand- habung und Auslegung der Reichsgesetze, die Herleitung der aus denselben sich ergebenden Consequenzen, die Bestimmung ihres Wir- kungskreises und die Art ihrer Anwendung den Gerichten und an- deren zur Rechtsprechung berufenen Behörden überlassen und die Befolgung gleichheitlicher Grundsätze wird in dieser Beziehung ledig- lich durch den Instanzenzug gesichert. §. 59. Die Verordnungen des Reichs. III. Die Delegation des Verordnungsrechts kann erfolgen zu Gunsten des Bundesrathes, des Kaisers, des Reichskanzlers oder einer andern Reichsbehörde, oder der Einzelstaaten Es versteht sich von selbst, daß eine Delegation des Verordnungsrechts wirksam nur erfolgen kann unter Angabe desjenigen Organes, welches die Ver- ordnung erlassen soll. Wenn es richtig ist, daß in der Reichsverfassung eine allgemeine Ermächtigung, Rechtsverordnungen zu erlassen, nicht enthalten ist, so ergiebt sich, daß es keinen Sinn hat, wenn ein Gesetz bestimmt, daß die zur Ausführung erforderlichen Rechtsregeln „durch Verordnung“ erlassen werden sollen, ohne hinzuzufügen, von wem. Die Reichsgesetzgebung enthält jedoch ein Paar Beispiele einer derartigen Anordnung; nämlich in dem Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste v. 9. Nov. 1867 §. 19 und im Rayon- Gesetz v. 21. Dez. 1871 §. 47 Abs. 2 (R.-G.-Bl. S. 471). Indeß sind keine Rechts vorschriften im Verordnungswege auf Grund dieser beiden Gesetzes- bestimmungen ergangen; vielmehr sind z. B. die zur Ausführung des §. 16 des Ges. v. 9. Nov. 1867 nothwendig gewesenen Vorschriften durch das Ge- setz über den Landsturm v. 12. Febr. 1875 (R.-G.-Bl. S. 63) erlassen wor- den, das seinerseits wieder im §. 8 den Erlaß der Ausführungsbestimmungen dem Kaiser überträgt. Soweit nach Art. 63 der R.-V. dem Kaiser das Ver- ordnungsrecht in Militair-Angelegenheiten übertragen ist, bedurfte es keines Vorbehaltes. . Jeder dieser vier Fälle bedarf einer näheren Erörterung. Vorauszuschicken ist die für alle Arten von Verordnungen geltende Bemerkung, daß der juristische Inhalt der Befugniß, Verordnungen zu erlassen, nicht in der Abfassung der Verordnung sondern in der Ausstattung derselben mit verbindlicher Kraft, in dem Befehl, sie zu befolgen, besteht. Erlaß einer Verordnung bedeutet nicht die Feststellung ihres Wortlautes, sondern die Sanction der in ihr enthaltenen Rechtssätze. Es wird sich zeigen, daß auch bei den Verordnungen theilweise andere Regeln für die Feststellung ihres Inhaltes wie für die Sanction gelten. 1. Bundesraths-Verordnungen Delegationen an den Bundesrath sind namentlich enthalten in allen Zoll- und Steuergesetzen ; so z. B. im Ges. v. 10. Mai 1868 §. 10 (B.-G.-Bl. S. 227); im Gesetz v. 25. Mai 1868 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 313); im Ges. v. 26. Mai 1868 (Tabaksteuer) §. 7. 8. 13; im Ges. v. 10. Juni 1869 §. 28 (Wechselstempel B.-G.-Bl. S. 199); im Ges. v. 26. Juni 1869 §. 5 (Zuckersteuer B.-G.-Bl. S. 284); im Zollges. v. 1. Juli 1869 §. 167 (B.-G.-Bl. S. 364); im Ges. v. 8. Juni 1871 §. 5 (Prämienpapiere R.-G.-Bl. S. 211); im Ges. v. 31. Mai 1872 §. 1 Abs. 2 u. §. 43 (Brausteuer R.-G.-Bl. S. 166); im Zollges. v. 7. Juli 1873 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 243). Ferner in anderen das Finanzwesen betreffenden Gesetzen z. B. Ges. v. 14. Juni . Die Beschluß- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. fassung über dieselben erfolgt nach ganz denselben Regeln wie die Beschlußfassung über Gesetze. Jedoch ist das sogenannte Veto der Präsidialstimme in Angelegenheiten, welche das Militairwesen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 der R.-V. bezeichneten Abgaben betreffen, auf „Gesetzesvorschläge“ beschränkt. R.-V. Art. 5 Abs. 2. Daß hier das Wort „Gesetzesvorschläge“ nur Gesetze im engeren oder formellen Sinne bezeichnet, ergiebt sich theils aus dem Zu- sammenhange mit Abs. 1 desselben Artikels, welcher die Ausübung der Reichsgesetzgebung durch den Bundesrath und Reichstag behandelt, theils aus der Vergleichung mit Art. 37, welcher das sogen. Veto des Präsidiums gegen Bundesraths-Verordnungen in Angelegenheiten der Zoll- und Steuer- Verwaltung anerkennt. Es genügt auch das Veto gegen Gesetzesvorschläge vollkommen, da es das Mittel bietet, die Delegation des Verordnungsrechtes an den Bundesrath, die ja nur durch Gesetz erfolgen kann, zu ver- hindern. 2. Verordnungen des Kaisers . Der Ausdruck Ver- ordnung wird vielfach auf Kaiserliche Anordnungen angewendet, welche keine Rechtsvorschriften enthalten und sich in keiner Beziehung unter den Gesichtspunkt der Gesetzgebung bringen lassen, sondern ihrem Inhalte nach Anwendungen eines Rechtssatzes auf einen ein- zelnen Fall, Regierungsakte, Verfügungen sind Vgl. Bd. I. S. 254 u. unten bei der Lehre von der Verwaltung. . Dahin gehört z. B. der Kaiserliche Befehl, durch welchen die Reichstagswahlen ausgeschrieben, der Bundesrath und der Reichstag berufen, ver- tagt oder geschlossen werden, durch welchen auf Grund des Art. 65 der R.-V. die Anlage eines Festungswerkes angeordnet wird u. s. w. 1871 Art. 3 (R.-G.-Bl. S. 248); im Ges. v. 4. Dez. 1871 §. 3 (R.-G.-Bl. S. 407), im Kriegsleistungsges. v. 13. Juni 1873 (S. 129) §. 16. 17 Abs. 4, §. 20 Abs. 3, §. 33 und in dem Ges. vom 23. Febr. 1874 §. 5 (R.-G.-Bl. S. 17); im Münzges. v. 9. Juli 1873 Art. 13 (R.-G.-Bl. S. 237) und im Bankges. v. 14. März 1875 §. 6 Abs. 3, §. 12. 36. Andere Beispiele von Wichtigkeit sind das Wahlges. v. 31. Mai 1869 § 15 (B.-G.-Bl. S. 148), die Gewerbe-Ordnung §. 24. 29. 31. 64 Abs. 3, das Jesuitenges. v. 4. Juli 1872 §. 3. Soweit nach den angeführten Gesetzesbestimmungen nur solche Verord- nungen vom Bundesrath erlassen werden sollen, welche die Verwaltungsthätig- keit der Behörden regeln, ist die gesetzl. Ermächtigung dazu wegen der in der Verfassung Art. 7 u. 37 enthaltenen Grundsätze überflüssig. §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Wir reden hier aber nur von Rechtsverordnungen, d. h. von An- ordnungen, welche ihrem Inhalte nach Gesetze sind Die Zusammenstellung von Seydel in Hirth’s Annalen 1876 S. 16 fg. nimmt auf diesen Unterschied keine Rücksicht. . Der Erlaß solcher Verordnungen kann dem Kaiser entweder schlechthin delegirt werden oder mit der Einschränkung, daß er da- bei an die Zustimmung des Bundesrathes gebunden ist Beispiele dafür liefern namentlich das Kautionsges. v. 2. Juni 1869 §. 3 (B.-G.-Bl. S. 161), Ges. über den Reichskriegsschatz v. 11. Nov. 1871 §. 3, Reichsbeamtenges. §. 18. 87. 88, Ges. über die Seewarte v. 9. Januar 1875 §. 4 (R.-G.-Bl. S. 11); Reichsbankges. v. 14. März 1875 §. 40 (R.-G.-Bl. S. 188); Einf.-Ges. zum Gerichtsverfassungsges. §. 15. 16. 17, zur Civilproceß- Ordn. §. 6 u. v. a. . In dem letzteren Falle tritt ebenso wie bei der förmlichen Gesetzgebung der Unterschied zwischen der Feststellung des Inhaltes und der Sanction der Verordnung zu Tage. Der Inhalt der Verordnung wird durch Vereinbarung festgestellt; die Herstellung einer Uebereinstimmung zwischen Kaiser und Bundesrath ist die Vorbedingung zu ihrem Erlaß Statt der Clausel „mit Zustimmung des Bundesrathes“ findet sich in sehr vielen Gesetzen auch der Ausdruck: „im Einvernehmen mit dem Bundesrathe“. Thudichum , Verf.-R. S. 90 meint, daß dieser Ausdruck dem Kaiser zwar die Pflicht auferlege, mit dem Bundesrathe vor Verkündigung der Verordnung in Verhandlung zu treten, daß aber der Erlaß der Verordn. durch den Widerspruch des Bundesrathes nicht gehindert werden könne. Auch v. Mohl S. 266. 267 ist dieser Ansicht, „weil sonst wohl „im Einverständ- nisse“ gesagt worden wäre“. Ihm folgt fast wörtlich v. Rönne I. S. 214 Note 2 a. E. Ich vermag mich dieser Auslegung nicht anzuschließen, welche dem allgemeinen Sprachgebrauch Zwang anthut. „Im Einvernehmen mit Jemandem“ heißt nicht: „nach Vernehmung“, sondern ist ganz gleichbedeutend mit: „im Einverständniß“. . Die Sanction der Verordnung aber steht dem Kaiser zu; die Beschlüsse des Bundesrathes sind demnach, wenngleich sie unter Zustimmung der Preußischen Ver- treter gefaßt sind, nicht rechtswirksam, so lange der Kaiser die- selben nicht sanctionirt hat. Es ist dies wesentlich verschieden von der kaiserlichen Promulgation (Ausfertigung und Verkündigung) eines Gesetzes. Dieselbe ist eine Erklärung von ganz anderem Inhalte als die Sanction und ist, wofern das Gesetz ordnungs- mäßig zu Stande gekommen ist, eine Pflicht des Kaisers Siehe oben S. 31. 43. . Die Verordnung dagegen kommt durch die Beschlußfassung des Bundes- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. rathes nicht zu Stande, sondern wird durch dieselbe nur vorbereitet und ermöglicht; der Kaiser ist daher völlig ungehindert, die Sanc- tion zu versagen. In politischer Beziehung ist dies in dem Falle ohne Belang, wenn die Preußischen Bevollmächtigten im Bundes- rath der Verordnung zugestimmt haben; juristisch aber ist es auch in diesem Falle von Erheblichkeit, daß die mit Zustimmung des Bundesrathes erlassenen Verordnungen nicht Gesetzgebungs-Akte des Bundesrathes, sondern des Kaisers sind. Denn wenn in einem Reichsgesetz der Erlaß von Ausführungs-Vorschriften dem Kaiser delegirt ist, würden vom Bundesrath erlassene Verordnungen null und nichtig sein, während durchaus kein Hinderniß besteht, daß der Kaiser auch in denjenigen Fällen, in welchen ihm dies nicht gesetzlich zur Pflicht gemacht ist, sich der Zustimmung des Bundesraths zu dem Inhalte der von ihm zu erlassenden Verord- nungen versichert Dies geschieht sehr häufig, wie die Protokolle des Bundesraths be- weisen. . In keinem Falle aber kann gegen oder auch nur ohne den Willen des Kaisers eine solche Verordnung zu Stande kommen und es ist wenigstens denkbar und staatsrechtlich zulässig, daß der Kaiser den Erlaß der Verordnung nachträglich ablehnt, obgleich die Preuß. Stimmen im Bundesrathe für Er- theilung der Zustimmung abgegeben worden sind. 3. Verordnungen des Reichskanzlers oder einer andern Reichsbehörde . Dieser Fall hat die größte Verwandt- schaft mit der Delegation zu Gunsten des Kaisers und ist ihm in allen Stücken analog. Denn der Reichskanzler und die übrigen Reichsbehörden sind Gehilfen des Kaisers, deren er sich bei der ihm zustehenden Regierungsthätigkeit bedient Vgl. Bd. I. S. 227. 298 fg. . Alle einer Reichs- behörde zustehenden Befugnisse sind umschlossen von der kaiserlichen Prärogative und staatsrechtlich nur Bethätigungen der dem Kaiser übertragenen Führung der Regierungsgeschäfte a. a. O. S. 299 a. E. . Man kann da- her jede gesetzliche Anordnung, welche dem Reichskanzler oder einer andern Reichsbehörde den Erlaß einer Rechtsverordnung überträgt, juristisch auffassen als die Delegation des Verordnungsrechtes zu Gunsten des Kaisers , mit der Maßgabe, daß nicht der Kaiser selbst dieses Geschäft zu versehen braucht, sondern daß es für Laband , Reichsstaatsrecht. II. 6 §. 59. Die Verordnungen des Reichs. ihn sein Minister (der Reichskanzler) oder eine andere, zur Füh- rung solcher Geschäfte constituirte Behörde erledigen kann. Daß dies in der That sich so verhält, ergiebt sich daraus, daß der Kaiser, falls er will, innerhalb der durch die Gesetze gegebenen Grenzen dem Reichskanzler Anweisungen ertheilen kann, in welcher Art die Verordnung von ihm erlassen werden soll, und daß er einen Reichskanzler, welcher einem solchen Befehl zuwider handelt, entlassen kann. Es ergiebt sich aus dieser Erwägung, daß in den- jenigen Fällen, in denen der Reichskanzler oder eine andere Reichs- behörde mit dem Erlaß einer Ausführungs-Verordnung betraut ist, auch eine kaiserliche Verordnung zulässig und rechtsgültig ist; aber nicht eine Bundesraths-Verordnung. Denn im Verhältniß zur Verordnung des Reichskanzlers ist die Verordnung des Kaisers das majus, welches das minus in sich schließt; dagegen die Bun- desraths-Verordnung ein aliud Es kann aus diesem Grunde auch bezweifelt werden, ob in denjenigen Fällen, in welchen der Erlaß von Ausführungsbestimmungen dem Bundes- rath gesetzlich übertragen worden ist, der Bundesrath ermächtigt ist, diese Befugniß dem Reichskanzler zu subdelegiren, wie dies z. B. in der V. v. 19. Juni 1871 §. 10 Abs. 1 (R.-G.-Bl. S. 258) geschehen ist. . Ebenso, wie von den kaiserlichen Verordnungen diejenigen An- ordnungen des Kaisers zu unterscheiden sind, welche im juristischen Sinne Verfügungen sind, so sind auch die von dem Reichskanzler oder einer andern Reichsbehörde kraft gesetzlicher Delegation er- lassenen Verordnungen wohl zu unterscheiden von den von ihnen bei Erledigung der ihnen obliegenden Verwaltungsgeschäfte ertheil- ten Entscheidungen und Verfügungen, für welche sie einer besonde- ren Delegation nicht bedürfen, zu denen sie vielmehr kraft ihres allgemeinen amtlichen Geschäfts-Auftrages befugt sind. Die Analogie zwischen den kaiserl. Verordnungen und den Verordnungen des Reichskanzlers zeigt sich auch darin, daß bei den letzteren ebenfalls die Zustimmung des Bundesrathes oder eines Bundesraths-Ausschusses zu dem Inhalt der Verordnung für erforderlich erklärt werden kann Beispiele bieten das Konsulatsges. § 38; Postges. v. 28. Oct. 1871 §. 50; Schiffsvermessungs-Ordn. v. 5. Juli 1872 §. 35; Ges. v. 23. Mai 1873 (Invalidenfonds) §. 11 (R.-G.-Bl. S. 121) u. a. Noch complicirter ist die Vorschrift im §. 10 des Reichsgesetzes v. 20. Dez. 1875, wonach Vollzugs- bestimmungen von dem Reichskanzler, nach Anhörung der Reichs-Postver- . Ist dies gesetzlich vorgeschrieben, §. 59. Die Verordnungen des Reichs. so muß der Inhalt der Verordnung zwischen dem Reichskanzler und dem Bundesrathe oder Bundesraths-Ausschuß vorerst verein- bart werden, während die Sanction der auf diese Art festgestellten Verordnung dann durch den Reichskanzler erfolgt. 4. Verordnungen der Einzelstaaten . Hier ist es von Wichtigkeit, die den Einzelstaaten delegirte Befugniß, Aus- führungs-Verordnungen zu den Reichsgesetzen zu erlassen, von der den Einzelstaaten zustehenden Autonomie zu unterscheiden. Beide haben das mit einander gemein, daß sie nicht gegen die Reichs- gesetze ( contra legem ) verstoßen dürfen; ferner, daß die Sanction von der Einzelstaatsgewalt ausgeht; endlich, daß sie nicht für das ganze Reichsgebiet, sondern nur für das Gebiet des Einzelstaates Geltung haben. Im Uebrigen aber sind sie durchweg verschieden. Bei den autonomischen Anordnungen übt der Staat seine eigene Gesetzgebungsgewalt aus, bei dem Erlaß von Ausführungs-Ver- ordnungen eine fremde, ihm nur delegirte, nämlich die des Reiches. Die Kraft dieser Verordnungen wurzelt in dem Reichsgesetz; sie sind, obgleich von dem Einzelstaat erlassen, ein Bestandtheil der Reichsgesetzgebung im materiellen Sinne des Wortes und des- halb gehen sie den Landesgesetzen und folglich auch den Verfassungsgesetzen der Einzelstaaten vor . Die autonomischen Gesetzgebungs-Akte der Einzelstaaten normiren das Gebiet, welches von der Reichsgesetzgebung freigelassen wird, sei es, daß es der Kompetenz derselben entzogen ist oder sei es, daß das Reich es nicht normiren will; sie sind Anordnungen praeter legem imperii. Die kraft Delegation erlassenen Verordnungen können nur solche Materien betreffen, welche von der Reichsgesetz- gebung geregelt sind, und können nur Bestimmungen enthalten, welche innerhalb des durch die Regeln des Reichsgesetzes gegebenen Rahmens fallen; sie sind Anordnungen intra legem imperii. Dar- aus folgt, daß alle autonomischen Anordnungen in den For- men erlassen werden müssen, welche das Landesstaatsrecht vor- schreibt, insbesondere, wenn es sich dabei um die Veränderung des bestehenden Rechtszustandes handelt, im Wege der Landesgesetz- gebung; und wenn es sich um Abänderungen des Verfassungsrechts waltung und des Reichs-Eisenbahn-Amts, unter Zustimmung des Bundes- raths zu erlassen sind. 6* §. 59. Die Verordnungen des Reichs. handelt, in den für Verfassungs-Aenderungen vorgeschriebenen For- men. Dagegen sind die vom Reich delegirten Verordnungen in den vom Reich dafür vorgeschriebenen Formen zu erlassen; es hängt also von dem Wortlaut der Delegation in dem einzelnen Reichsgesetz ab, ob die Ausführungs-Bestimmungen im Wege der Landesgesetzgebung, oder durch landesherrliche Verordnung („im Verordnungswege“) Der Verordnungsweg ist ausdrücklich vorgeschrieben im Ge- nossenschaftsges . v. 4. Juli 1868 §. 72; in der Seemanns-Ordnung §. 23 Abs. 3; im Ges. v. 6. Febr. 1875 §. 79; eine Königl. Bayerische Ver- ordn . im Ges. v. 9. Febr. 1875 §. 3 und im Ges. v. 13. Febr. 1875 §. 18 (R.-G.-Bl. S. 41. 58); eine landesherrliche Verordnung im §. 17 Abs. 2 des Einf.-Ges. zum Gerichtsverfassungsgesetz u. s. w. , oder durch Verordnung der obersten Re- gierungsbehörden, Ministerien, Finanzbehörden u. dgl. zu erlassen sind Die Behauptung v. Mohl’s S. 174, daß die Form, in der die den Einzelstaaten übertragenen Ausführungsbestimmungen zu erlassen seien, nach dem Landesstaatsrecht sich bestimme, ist demnach falsch. Richtig Seydel in Hirth’s Annalen 1874 S. 1144. . Nur wenn das Reichsgesetz Nichts darüber bestimmt, treten die Vorschriften des Landesstaatsrechts ein. Wenn in den Reichsgesetzen demnach auf die in den Einzel- staaten geltenden oder von denselben zu erlassenden Bestimmungen Bezug genommen wird, so ist es von großer Erheblichkeit, durch Interpretation festzustellen, ob das Reichsgesetz hierbei auf die Autonomie der Einzelstaaten verweist, also das von der Reichs- gesetzgebung normirte Gebiet von dem von derselben nicht normirten Gebiete abgränzt , oder ob es die Einzelstaaten ermächtigt , auf einem reichsgesetzlich geregelten Gebiete die erforderlichen Aus- führungs-Bestimmungen zu erlassen In einem und demselben Reichsgesetz kann beides vorkommen; so enthält z. B. das Ges. über die Bundesflagge v. 25. Okt. 1867 §. 3 u. §. 17 eine Delegation, in §. 19 eine Anerkennung der Autonomie; die Gewerbe- Ordnung enthält im §. 21. 38 eine Delegation, in zahlreichen anderen Artikeln Vorbehalte der Autonomie; das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz ent- hält im §. 8 eine Delegation, im §. 52 einen Vorbehalt der Landesgesetz- gebung; im Reichsmilitairgesetz §. 36 ist den Einzelstaaten die Normirung der Kosten des Rekrutirungsverfahrens übertragen; daselbst im §. 46 die Besteue- rung der Militairpersonen ihrer Autonomie unterworfen; die Strandungs- Ordn. v. 17. Mai 1874 enthält in §. 2. 22. 24 eine Delegation, in §. 45 einen Vorbehalt für die Autonomie; ebenso die Seemanns-Ordnung im §. 4 eine Delegation, im §. 45 einen Vorbehalt für die Autonomie u. s. w. . §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Es ergiebt sich endlich, daß die Einzelstaaten einer ausdrück- lichen reichsgesetzlichen Ermächtigung zum Erlaß von Gesetzen auf den ihrer Autonomie überlassenen Gebieten nicht bedürfen, wohl aber zum Erlaß von Verordnungen behufs Ausführung von Reichs- gesetzen Uebereinstimmend Seydel in Hirth’s Annalen 1876 S. 13 Note 1. Dagegen meint v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1. §. 48 (S. 197), daß, „so weit die Einzelstaaten die Vollziehung von Reichsgesetzen haben, ihnen selbst- verständlich (?) auch das Recht des Erlasses aller Ausführungs-Verordnungen zusteht“. Es liegt hier wahrscheinlich eine Verwechslung der Verwaltungs- Verordnung mit der Rechts-Verordnung (dem Ausführungs-Gesetz) zu Grunde. . Die Delegation an die Einzelstaaten kann auch in der Art beschränkt sein, daß nur der formelle Erlaß (die Sanction) der Anordnungen ihnen zusteht, der materielle Inhalt derselben dagegen vom Bundesrath festgestellt wird, wie dies z. B. in dem Ges. v. 25. Febr. 1876 §. 4 (R.-G.-Bl. S. 164) geschehen ist Aehnlich auch in dem Ges. v. 7. April 1869 (Maßregeln gegen die Rinderpest betreffend) §§. 7 u. 8. ; oder daß ihnen die Anordnung von Ausführungs-Bestimmungen nur subsidiär übertragen ist, d. h. soweit nicht der Bundesrath selbst sie erläßt, wofür das Ges. v. 6 Febr. 1875 §. 83 ein Bei- spiel liefert. IV. Die Verordnung bedarf wie das Gesetz einer formellen und authentischen Erklärung und mithin einer Ausfertigung . Hinsichtlich der vom Kaiser zu erlassenden Verordnungen versteht es sich von selbst, daß sie vom Kaiser ausgefertigt werden. Es finden dieselben Grundsätze Anwendung, wie bei den Gesetzen; die Ausfertigung besteht in einer vom Kaiser unterschriebenen, mit dem Kaiserlichen Siegel versehenen, datirten und vom Reichskanzler gegengezeichneten Urkunde. Ist der Erlaß der Verordnung dem Reichskanzler übertragen, so ist die Urkunde, welche die Verordnug enthält, von ihm zu unterzeichnen Eine Vertretung des Reichskanzlers durch den Chef einer ihm unter- geordneten Reichsbehörde oder durch einen ihm zur Unterstützung beigegebenen Beamten kann bei dem Erlaß von Rechts-Verordnungen nicht für zulässig er- achtet werden. Denn die dem Reichskanzler delegirte Gesetzgebungs-Befugniß enthält nicht die Befugniß zur Subdelegation. Eben so wenig kann eine vom Kaiser zu erlassende Verordnung vom Reichskanzler ausgefertigt werden. . Die Form, in welcher die von den Einzelstaaten zu erlassenden Verordnungen auszufertigen sind, bestimmt sich, falls nicht etwa das Reichsgesetz darüber eine §. 59. Die Verordnungen des Reichs. Anordnung trifft, nach dem Landesstaatsrecht. Was endlich die Bundesraths-Verordnungen anlangt, so liegt die Ausfertigung der Bundesraths-Beschlüsse, wie dies bei allen beschließenden Collegien Gebrauch ist, dem Vorsitzenden, also dem Reichskanzler ob. Eine kaiserliche Ausfertigung der vom Bundesrath beschlossenen Verord- nungen ist in der R.-V. nicht vorgeschrieben; Art. 17 erfordert dieselbe nur bei Gesetzen. Diese Unterscheidung ist sachlich begrün- det, da für ein Gesetz der Bundesrathsbeschluß nur eine der ver- fassungsmäßigen Vorbedingungen ist, für eine Verordnung dagegen der Bundesrathsbeschluß genügt. Die rechtliche Bedeutung der Ausfertigung ist bei den Ver- ordnungen dieselbe, wie bei den Gesetzen. Es wird durch dieselbe authentisch bekundet, daß die Verordnung formell ordnungsmäßig zu Stande gekommen ist, und daß sie den in der Urkunde enthal- tenen Wortlaut hat. Wenn in der Promulgationsformel einer kaiserlichen Verordnung bezeugt wird, daß dieselbe mit Zustimmung des Bundesrathes oder im Einvernehmen mit dem Bundesrath er- lassen ist, so entzieht sich die Richtigkeit dieser Thatsache jeder weiteren Prüfung und Beurtheilung durch die Gerichte, Verwal- tungsbehörden und Unterthanen des Reiches. Es ist in dieser Formel nicht nur ein Zeugniß enthalten, daß der Inhalt der Ver- ordnung dem Bundesrath zur Beschlußfassung vorgelegt und durch einen Beschluß desselben gebilligt worden ist; sondern auch ein formell unanfechtbares Urtheil ausgesprochen, daß dieser Beschluß des Bundesrathes den Verfassungsbestimmungen gemäß und gültig gefaßt worden ist. Dieser kaiserliche Ausspruch kann nicht von Gerichten oder Verwaltungsbehörden in den einzelnen von ihnen zu entscheidenden Fällen unbeachtet gelassen oder berichtigt werden. Die Verantwortlichkeit für die Richtigkeit des kaiserlichen Ausspruchs übernimmt der Reichskanzler durch Gegenzeichnung der kaiserlichen Urkunde. Dasselbe gilt von den vom Reichskanzler erlassenen Ver- ordnungen, wenn in denselben bezeugt wird, daß sie nach Verneh- mung oder unter Genehmigung eines Bundesraths-Ausschusses oder unter Zustimmung des Bundesraths oder nach Anhörung einer Reichsbehörde ergangen sind. Ist dem Reichskanzler der Erlaß der Verordnung anvertraut, so ist ihm auch unter eigener Verant- wortlichkeit die Beobachtung des dafür vorgeschriebenen Verfahrens überlassen. §. 59. Die Verordnungen des Reiches. Bei den vom Bundesrath zu beschließenden Verordnungen hat der Bundesrath selbst, wie jedes Collegium bei seinen Beschlüssen, die dafür bestehenden Vorschriften zu beobachten und, falls sich Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten ergeben, dieselben durch Beschluß zu entscheiden. Wenn der Vorsitzende des Bundesrathes den Bundesraths-Beschluß ausfertigt, so bekundet er dadurch zu- gleich, daß Zweifel über das Verfahren oder über das Resultat der Abstimmung entweder nicht erhoben oder ordnungsmäßig er- ledigt worden sind Bei diesen Geschäften, welche dem Reichskanzler als Vorsitzenden des Bundesrathes obliegen, ist eine Vertretung desselben durch ein anderes Mit- glied des Bundesrathes zulässig. Art. 15 Abs. 2 der R.-V. Es sind auch in der That Bundesraths-Verordnungen in Vertretung des Reichskanzlers von dem Präsidenten des Reichskanzler-Amts ausgefertigt worden. Vgl. z. B. die V. v. 25. Sept. 1869 (B.-G.-Bl. S. 635); die Schiffsvermessungs-Ordnung v. 5. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 281) u. v. a. . Die Ausfertigung der Verordnung hat demnach wie die Pro- mulgation der Gesetze die Wirkung, daß sie die Ordnungsmäßig- keit des formellen Verfahrens authentisch bekundet. Dagegen be- steht in einer andern Beziehung ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen Gesetzen und Verordnungen. In der Form des Gesetzes kann das Reich, so wie jeder vollsouveräne Staat, jeden Willens- akt, gleichviel worin sein Inhalt besteht, rechtswirksam erklären; die Verordnung dagegen kann nur auf Grund einer besonderen Ermächtigung erlassen werden. Die Rechtskraft jeder Rechtsver- ordnung ist immer zurückzuführen auf ein Gesetz, welches für einen bestimmten Kreis von Anordnungen den gewöhnlichen Weg der Gesetzgebung durch den kürzeren Verordnungsweg ersetzt. Die Gültigkeit der Verordnung ist daher nicht blos abhängig davon, daß dieser Verordnungsweg formell richtig eingehalten worden ist, sondern auch davon, daß er überhaupt zulässig war. Man kann dies die materielle Voraussetzung für die Gültigkeit der Verord- nungen nennen. Die Ausfertigung oder Promulgation bestätigt nur die Beobachtung der formellen Erfordernisse, nicht die Inne- haltung der materiellen Schranken. Bei den formellen Gesetzen giebt es keine solche materiellen Vor- aussetzungen; bei ihnen ist durch die Bekundung, daß der Weg der Gesetzgebung eingehalten worden ist, zugleich nothwendig die Rechts- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. gültigkeit des Gesetzes constatirt. Bei den Verordnungen ist die Innehaltung des dafür bestehenden Weges unzureichend, wenn dieser Weg überhaupt nicht gestattet war. Hieraus ergiebt sich, daß in jedem einzelnen Falle, in welchem es sich um die Anwen- dung einer Verordnung handelt, eine Prüfung vorgenommen wer- den muß, ob die Form der Verordnung zulässig war Die entgegengesetzte Ansicht vertheidigt v. Martitz S. 132 fg. . Es ist dies kein Vorrecht der Gerichte; Verordnungen können — eben so wenig wie Gesetze — Rechtsvorschriften aufstellen, die bald gültig, bald ungültig sind. Die für eine Rechtsverordnung erforderliche gesetzliche Dele- gation muß sowohl das Subject bestimmen, von welchem die Ver- ordnung erlassen werden soll, als das Object, worauf sie sich er- strecken darf. Demgemäß ist auch die Prüfung der Rechtsgültig- keit einer Verordnung auf beide Punkte zu erstrecken. 1. Auf das Subject . Es ist zu untersuchen, ob die Ver- ordnung von demjenigen Organe erlassen ist, welches dazu reichs- gesetzlich ermächtigt worden ist. Ist im Gesetz eine kaiserliche Ver- ordnung verlangt, so kann sie nicht durch eine Verordnung des Bundesrathes ersetzt werden, und eben so wenig umgekehrt Ein Beispiel für eine Unregelmäßigkeit dieser Art ist die Kaiserl . Verordn. v. 1. April 1876 (R.-G.-Bl. S. 137 fg.) zur Ausführung des Kriegs- leistungsges. v. 13. Juni 1873. Dieses Gesetz enthält keine Delegation zu Gunsten des Kaisers, sondern in den §§. 16. 17. 20. 29. 33 Ermächtigungen für den Bundesrath . Der Fehler ist aber lediglich ein formeller; denn die Verordn. v. 1. April 1876 ist „nach erfolgter Zustimmung des Bundes- rathes“ erlassen. . Ist die Verordnung einem Organ des Reiches übertragen, so sind Aus- führungsverordnungen der Einzelstaaten rechtsunwirksam und an- dererseits kann die durch Gesetz begründete Befugniß der Einzel- staaten zum Erlaß von Ausführungs-Verordnungen nicht dadurch beseitigt werden, daß der Kaiser oder der Bundesrath oder der Reichskanzler eine solche Verordnung erläßt. 2. Auf das Object . Der Kreis der durch Verordnung zu regelnden Rechtsbeziehungen kann ein sehr weiter sein; ein Ge- setz kann möglicher Weise weiter Nichts enthalten als die Anord- nung, daß eine gewisse Materie durch Verordnung normirt werden soll Vrgl. oben Seite 76. , oder es kann eine Strafe für die Uebertretung von Vor- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. schriften androhen, welche im Verordnungswege zu erlassen sind Dies ist z. B. geschehen im Strafgesetzbuch §. 145, wonach die straf- gesetzlich geschützten Verordnungen vom Kaiser zu erlassen sind. Binding , Normen I. S. 75 nennt derartige Gesetze „Blankettstrafgesetze“. . In allen Fällen muß sich aber der Inhalt der Verordnung inner- halb der von dem delegirenden Gesetz gezogenen Grenzen halten. Wenn eine Verordnung diese Grenzen überschreitet, so braucht sie deshalb nicht ganz und gar nichtig zu sein; sie behält ihre Gültig- keit, soweit ihre Anordnungen durch die gesetzliche Ermächtigung gestützt und getragen werden; oder sie kann als Rechtsvorschrift ungültig sein, als Verwaltungsvorschrift dagegen Wirkungen haben Es gilt dies beispielsweise von dem Eisenbahn-Betriebs-Re- glement . Dasselbe schafft keine Rechtssätze, sondern lediglich Verwaltungs- regeln für den Eisenbahn-Betrieb und kann bei der Beurtheilung der Fracht- verträge nicht kraft des Gesetzgebungswillens des Reiches als Entscheidungs- norm , sondern kraft des Willens der Vertragschließenden als Vertrags- bestimmung in Betracht kommen. Es ist dies mit vorzüglicher Klarheit ausgesprochen in dem Urtheil des Reichs-Oberhandelsgerichts v. 30. Nov. 1875 Entscheidungen Bd. XIX. S. 184 ff. — Auch die zur Ausfüh- rung des Militairpensionsgesetzes vom Bundesrath beschlossenen „Bestimmun- gen“ v. 22. Febr. 1875 (Centralbl. S. 142), welche vielfach Interpretationen des Gesetzes oder Schlußfolgerungen aus demselben enthalten, zu deren Erlaß der Bundesrath aber nicht durch eine besondere gesetzliche Bestimmung ermäch- tigt worden ist, sondern welche er auf Grund des Art. 7 Ziff. 2 der R.-V. erlassen hat, können nur als Instruktionen für die Militär-Intendanturen und Kassenverwaltungen angesehen werden, nicht als Rechtsregeln, welche bei einer richterlichen Entscheidung über Pensions-Ansprüche in Betracht kommen könnten. . Von diesen Gesichtspunkten aus unterliegen einige Verord- nungen des Reiches in Beziehung auf ihre rechtliche Gültigkeit er- heblichen Bedenken. Es gilt dies namentlich vom Eisenbahn- Polizei-Reglement , welches zuerst am 3. Juni 1870 erlassen und im Bundesgesetzbl. S. 461 verkündigt wurde, in neuer Re- daction aber am 4. Januar 1875 ergangen und im Centralblatt des Deutschen Reiches v. 1875 S. 57 ff. abgedruckt ist. Dasselbe ist ergangen „in Gemäßheit der Art. 42 und 43 der Reichsver- fassung“; diese Artikel enthalten aber keine Ermächtigung für den Bundesrath, eine Gesetzgebung in Bahnpolizei-Angelegenheiten aus- zuüben, sondern eine „Verpflichtung der Bundesregierungen“, die Deutschen Eisenbahnen wie ein einheitliches Netz verwalten und zu diesem Behuf die neuherzustellenden Bahnen nach einheitlichen Nor- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. men anlegen und ausrüsten zu lassen. „Es sollen demgemäß in thunlichster Beschleunigung übereinstimmende Betriebseinrichtungen getroffen, insbesondere gleiche Bahnpolizei-Reglements eingeführt werden.“ Demnach ist die Einführung der Bahnpolizei-Reglements den Einzelstaaten überlassen Das kaiserl. Friedensgericht zu Mühlhausen hat durch Urth. v. 24. Febr. 1876 die richtige Auslegung dieses Artikels zur Geltung gebracht; das Reichs-Oberhandelsger . hat sich indeß für die ent- gegengesetzte Ansicht erklärt im Urth. v. 2. Juni 1876 (Jurist. Zeitschrift für Elsaß-Lothr. I. S. 340 fg.). ; das vom Bundesrath beschlossene Reglement gilt demnach in jedem Einzelstaat nur dann, wenn es in der That in einer dem Landesrecht entsprechenden Weise in dem- selben eingeführt worden ist Das Reglement enthält im §. 74 die Bestimmung: „dasselbe wird durch das „Centralblatt für das Deutsche Reich“ und außerdem von den Bundes- regierungen publizirt .“ Die Publicirung im Centralblatt ist bloße Kund- machung, die Publicirung in den Einzelstaaten wirkliche Einführung. Damit steht allerdings nicht im Einklang, daß das Reglement selbst den Tag bestimmt, von welchem an es „in Kraft tritt und auf allen Eisenbahnen Deutschlands Anwendung findet“. In ähnlicher widerspruchsvoller Weise heißt es in der Lootsen-Signal-Ordnung v. 31. Januar 1875 (Centralbl. S. 124): „Nachdem der Bundesrath beschlossen hat, die Regierungen der Seeuferstaaten um Erlaß der nachstehenden (Verordnung) zu ersuchen, wird dieselbe mit dem 1. März d. J. in Kraft treten.“ . Nun enthält das Reglement aber nicht blos polizeiliche Verwaltungs vorschriften, sondern in dem §. 62 eine Strafbestimmung und im §. 63 eine Anordnung über die vorläufige Festnehmung von Personen, welche auf der Ueber- tretung der polizeil. Bestimmungen betroffen werden, also Anord- nungen, welche in das Gebiet des Strafrechts und des strafrechtl. Verfahrens einschlagen und überall da in der Form des Ge- setzes erlassen werden müssen, wo nicht durch besondere gesetzliche Anordnung der Verordnungsweg für zulässig erklärt worden ist. Ebenso ist die Rechtsgültigkeit der Schiffsvermessungs-Ordnung v. 5. Juli 1872 mindestens zweifelhaft; dieselbe ist auf Grund des Art. 54 der R.-V. vom Bundesrath erlassen; dieser Artikel nor- mirt aber lediglich die Kompetenz des Reiches , er enthält keine Delegation für den Bundesrath zum Erlaß von Rechtssätzen Vgl. darüber unten §. 74. IV. . V. Die Verordnungen, welche Rechtsvorschriften enthalten, müssen, um Geltung zu erlangen, verkündigt werden. Es er- §. 59. Die Verordnungen des Reichs. giebt sich dies daraus, daß Rechtsvorschriften nicht an einzelne Be- hörden oder Personen gerichtet sind, wie Instruktionen und Ver- fügungen, welche durch Mittheilung an den Adressaten verbindliche Kraft erlangen, sondern daß sie die öffentliche Rechtsordnung mit regeln helfen und an Alle gerichtet sind, welche an der Rechtsord- nung des Staates Antheil nehmen. Ob die Rechtsvorschrift im Wege des Gesetzes oder in der Form der Verordnung erlassen wird, macht in dieser Beziehung keinen Unterschied Wohl aber besteht ein Unterschied zwischen der Rechts -Verordnung und der Verwaltungs -Verordnung. Ueber die letztere siehe unten §. 67. . Auch der Begriff der Verkündigung ist derselbe bei der Rechtsverordnung wie bei dem Gesetz. Nicht jede Veröffentlichung ist Verkündigung, sondern nur diejenige, welche zugleich eine staatsrechtliche Gewähr für die Authenticität der veröffentlichten Verordnung bietet, d. h. welche unter amtlicher Verantwortlichkeit geschieht. Diesem Erforderniß wird aber nur genügt durch die Veröffentlichung im Reichs-Ge- setzblatt , für dessen Inhalt der Reichskanzler die Verantwort- lichkeit trägt Vgl. oben S. 56 fg. . Ein Abdruck im Centralblatt f. das Deutsche Reich oder im Reichs-Anzeiger u. s. w. kann nur die Bekanntschaft des Publikums mit der Verordnung fördern, aber nicht als Verkün- digung im staatsrechtlichen Sinne gelten. Daß Verordnungen im Reichsgesetzblatt verkündet werden müssen, ergibt sich auch aus dem Art. 2 der Reichsverf. Der erste Satz dieses Artikels legt dem Reich das Recht der Gesetzgebung mit der Wirkung zu, daß die „Reichsgesetze“ den „Landesgesetzen“ vorgehen. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß die Ausdrücke „Reichsgesetze“ und „Landesgesetze“ hier nicht auf formelle Gesetze beschränkt werden dürfen, sondern dieser Satz besagt, daß alle vom Reiche sanctionirten Rechtsvorschriften den von den Einzel- staaten sanctionirten Rechtsvorschriften vorgehen. Zu den vom Reiche sanctionirten Rechtsvorschriften gehören aber auch die in den Reichs- verordnungen enthaltenen Rechtsregeln. Wenn nun der zweite Satz dieses Artikels fortfährt: „Die Reichsgesetze erhalten ihre verbind- liche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen, welche ver- mittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht“, so würde es gegen die Regeln der Auslegungskunst verstoßen, in diesem zweiten Satze §. 59. Die Verordnungen des Reichs. das Wort Reichsgesetz in einem ganz andern Sinne zu verstehen und diesem Ausdruck in derselben Zeile der Reichsverfassung zwei verschiedene Bedeutungen beizulegen. Auch dieser zweite Satz be- schränkt sich nicht auf die formellen Gesetze, von denen erst Art. 5 der R.-V. spricht, sondern er schreibt für alle vom Reiche erlas- senen Rechtsvorschriften die Verkündigung mittelst des Reichsgesetz- blattes vor Vgl. auch Thudichum , Verf.-R. S. 93 Note 4. Daß auch Reichs- gesetze ohne Rechtsinhalt im Gesetzblatt verkündigt werden müssen, ist zweifel- los, da die Verkündigung zum „Wege der Gesetzgebung“ gehört; daraus ist aber der Rückschluß nicht gerechtfertigt, daß Rechtsvorschriften ohne Gesetzes- form (Rechtsverordnungen) nicht verkündigt zu werden brauchen. . Es folgt hieraus, daß Rechtsverordnungen des Reiches, welche nicht im Reichsgesetzblatt verkündigt sind, keine verbindliche Kraft haben. Für die vom Kaiser erlassenen Verordnungen ist übrigens in der Verordn. v. 26. Juli 1867 (B.-G.-Bl. S. 24) ausdrücklich vorgeschrieben worden, daß sie in dem Reichsgesetzblatt verkündet werden sollen Unter „Verordnungen“ sind aber hier Gesetzgebungsakte zu verstehen, nicht Verfügungen (Verwaltungshandlungen). Vgl. Entsch. des R.-O.-H.-G. Bd. XV. S. 297. . Die Ausführung dieser Vorschrift liegt dem Reichs- kanzler als Minister des Kaisers ob Eine auffallende Ausnahme von dieser Vorschrift bildet die Verordn. v. 15. Juli 1873 über die Tagegelder und Reisekosten der Personen des Sol- datenstandes „des preußischen Heeres“. Obwohl dieselbe vom Minister Delbrück in Vertretung des Reichskanzlers contrasignirt ist, die Finanzen des Reiches berührt und allgemeine Normen aufstellt, welche vermögensrechtliche Ansprüche einzelner Personen gegen die Reichskasse begründen, ist sie nicht im Reichsgesetzblatt verkündet, sondern nur im Centralblatt f. das Deutsche Reich v. 1873 S. 248 ff. mitgetheilt worden. . Den Abdruck der vom Bundesrath sanctionirten Verordnungen hat der Reichskanzler als Vorsitzender des Bundesrathes zu ver- anstalten. Es folgt dies aus Art. 15 der R.-V.; da zu der ihm obliegenden „Leitung der Geschäfte“ auch die zur Ausführung der Beschlüsse des Bundesrathes erforderlichen Verfügungen gehören Gesch.-Ordn. des Bundesrathes §. 15. Vgl. Bd. I. S. 276. , der Beschluß des Bundesrathes aber, eine Verordnung zu erlassen, durch Bekanntmachung dieser Verordnung im Reichsgesetzblatte aus- geführt wird. Andere Regeln gelten selbstverständlich für diejenigen Verord- §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. nungen, deren Erlaß den Einzelstaaten delegirt ist. Beruht die verbindliche Kraft derselben auch auf der vom Reiche ertheilten Er- mächtigung, so sind sie doch Willenserklärungen des Einzelstaates und nur für das Gebiet desselben verbindlich. Sie werden daher vom Einzelstaat nicht nur sanctionirt, sondern auch publicirt und die Formen, welche beobachtet werden müssen, um ihre Echtheit und Richtigkeit zu verbürgen, bestimmen sich nach den Vorschriften des Landesstaatsrechts. Für die Verkündigung derselben kann dem- nach der Abdruck in einem Verordnungsblatt oder Ministerialblatt oder Amtsblatt u. s. w. genügen, beziehungsweise erforderlich sein In einigen Fällen sind Verordnungen der Einzelstaaten im Central- blatt des Deutschen Reiches abgedruckt worden; so namentlich die über die Schifffahrts-Abgaben, 1873 S. 184, 1875 S. 203 ff. 301 ff. Dieser Abdruck ist keine „Verkündigung“ im Rechtssinne. . §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. I. Die Wirkungen der Gesetze bestimmen sich nach deren In- halt und können daher ebenso verschieden sein wie diese. Im All- gemeinen haben die Gesetze dieselbe Bedeutung, welche dem Rechte überhaupt zukommt, sie bestimmen die durch das gesellige Zusam- menleben der Menschen gebotenen Schranken und Gränzen der na- türlichen Handlungsfreiheit des Einzelnen. Das Gesetz kann diese Handlungsfreiheit in einem gewissen Umfange anerkennen, also eine Ermächtigung oder Erlaubniß enthalten, oder es kann sie in einem gewissen Umfange aufheben, sei es durch ein Gebot oder sei es durch ein Verbot, und es kann endlich an die Verletzung dieser Anordnungen Rechtsnachtheile knüpfen. Legis virtus haec est: imperare, vetare, permittere, punire sagt Modestinus L. 7 Dig. de Legibus I. 3. . Ergibt sich schon aus diesem verschiedenen Inhalt eine große Mannigfaltigkeit der Wirkungen, so wird die letztere noch dadurch gesteigert, daß die in dem Gesetz enthaltene Anordnung bald an die Einzelnen bald an die Behörden und Organe der Staatsgewalt selbst gerichtet sein kann. Dies gilt auch von der Gesetzgebung auf dem Gebiete des Civilrechts, indem dadurch den Gerichten Befehle ertheilt werden, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfange sie den privatrechtlichen Ansprüchen den rechtlichen Schutz gewähren sollen. Sehr zahlreiche Gesetze regeln nur die eigene §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. Thätigkeit des Staates, seine Verfassung, die Zusammensetzung, Geschäfte und Geschäftsformen der Behörden, die wirthschaftliche Ordnung des Staatswesens, den Betrieb der Staatsanstalten u. s. w. Solche Gesetze berühren den Unterthan des Staates unmittelbar gar nicht und sind auf ihn und seine individuellen Rechtsbeziehun- gen unanwendbar; er wird von den Wirkungen dieser Gesetze nur dadurch mitbetroffen, daß er in dem Staatswesen lebt, in welchem jene Gesetze gelten. Diese Gesetze sind scheinbar Befehle des Staates an sich selbst. Da jeder wirksame Befehl aber ein Ueber- und Unterordnungs- Verhältniß voraussetzt, einen mit der Gewalt zum Befehlen aus- gestatteten Herrn und einen zum Gehorsam verpflichteten Unter- gebenen, so kam man wegen jenes Scheines dazu, zwischen dem Staat, dem der Befehl ertheilt wird, und dem Staate, welcher den Befehl erläßt, zu unterscheiden, oder mit andern Worten: die „ge- setzgebende Gewalt“ für die höchste Gewalt im Staate zu erklären, welcher die anderen „Gewalten“ gehorchen müssen, also unterge- ordnet seien Vrgl. z. B. Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 206. Westerkamp S. 93. . Diese Theorie löst die Einheitlichkeit des Staates auf und steht im Widerspruch mit dem Begriff der Souveränetät, der die Untheilbarkeit in sich schließt. Die gesetzgebende Gewalt ist identisch mit der Staatsgewalt und kann demnach nicht in my- stischer und transcendentaler Weise über der Staatsgewalt schweben. Jene Gesetze sind auch in der That nicht Befehle, welche an die Staatsgewalt gerichtet sind, sondern Befehle der Staatsgewalt an die Behörden und Beamten und an die übrigen Körperschaften und Personen, welche staatliche Funktionen zu verrichten haben. Sie enthalten die Anordnungen des Staates darüber, wie diese Funk- tionen zu versehen sind; sie sind der maßgebende Ausdruck des wirklichen und wahren Willens des Staates. Wenn diese Gesetze von der Regierung oder der Volksvertretung, von Behörden und Beamten verletzt werden, so tritt nicht die Staatsgewalt mit sich selbst in Widerspruch, sondern die Personen, welche das Gesetz, statt es zur Anwendung zu bringen, verletzen, treten in Widerspruch mit der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt in abstracto ist durch das Gesetz niemals gebunden, wohl aber Jeder, der die Staats- §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. gewalt nach dem Willen des Staates zu handhaben hat. Deshalb kann der Staat seine Gesetze zu jeder Zeit ändern, suspendiren oder aufheben, und zwar Verfassungsgesetze so gut wie einfache Gesetze; aber es ist dazu die Erklärung des staatlichen Willens erforderlich, daß an die Stelle der bisherigen Anordnung eine an- dere treten soll. Für die Erklärung dieses Willens ist, da er die Aufstellung von Rechtssäßen zum Inhalt hat, die Form des Ge- setzes erforderlich, so weit nicht durch positive Rechtsvorschriften einzelne Ausnahmen begründet sind. Mithin ergiebt sich der Satz, daß ein Gesetz nur durch ein Gesetz aufgehoben oder abgeändert werden kann; bis zur Aufhebung durch Gesetz aber auch für die Organe des Staates selbst verbind- lich ist. Auf diesem Grundsatz beruht die überaus große praktische Wichtigkeit des formellen Gesetzesbegriffes. Wenn die Form des Reichs-Gesetzes für irgend einen Willensact des Reiches ge- wählt wird oder vorgeschrieben ist, mag dieser Willensact die Sanction einer Rechtsvorschrift zum Inhalt haben oder nicht, so werden dadurch der Reichstag und der Bundesrath nicht nur an dem Erlaß betheiligt, sondern es ist auch die Wieder-Aufhebung oder Aenderung dieses Willensentschlusses nur auf dem Wege der Gesetzgebung zulässig. Man kann diesen Satz in der Art aus- drücken, daß die Beobachtung der Gesetzesform einen staatlichen Willensact mit formeller Gesetzeskraft ausstattet. II. Aus dem Begriff des Gesetzes folgt, daß im Prinzip dem Gewohnheitsrecht derogatorische Kraft nicht zukömmt Für das Handelsr. erkennt auch Thöl , Handelsr. (5. Aufl.) I. §. 22 S. 77 dies an und zwar nicht wegen Art. 1 des H.-G.-B.’s, sondern wegen Art. 2 der R.-V., dem zu Folge „es kein den Reichsgesetzen widerstreitendes Recht irgend einer Art giebt“. . So lange der Staat seinen Befehl, daß ein gewisser Rechtssatz gelten soll, aufrecht erhält, können Unterthanen und Behörden diesen Be- fehl nicht unbeachtet lassen und noch weniger ihn durch Nichtbefol- gung aufheben. Insbesondere darf der vom Staat bestellte Richter den staatlichen Rechtsschutz nicht in anderer Weise und nach anderen Grundsätzen handhaben, als ihm durch die Gesetze des Staates vorgeschrieben ist. Allein das Gesetz kann unanwendbar werden, wenn die That- §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. bestände, die es regeln will, nicht mehr existiren. Der Wille, den der Staat in seinem Gesetze ausspricht, hat in vielen Fällen Le- bensverhältnisse, Einrichtungen und wirthschaftliche Zustände zur selbstverständlichen und deshalb stillschweigenden Voraussetzung, so daß bei dem Wegfallen dieser Voraussetzung auch der im Gesetz ausgesprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Gesetze enthal- tenen Befehl gilt ganz dasselbe was überhaupt von jedem Befehl gilt; er kann seine Kraft und Wirksamkeit wegen veränderter Um- stände verlieren. In den Gesetzen werden die Thatbestände, auf welche die gesetzlichen Regeln Anwendung finden sollen, gewöhnlich nur unvollständig angegeben; sie sind aus den allgemeinen Lebens- verhältnissen und Kulturzuständen zu ergänzen. Die im Gesetze ausdrücklich aufgeführten Momente können fortbestehen, aber ihre Bedeutung völlig verändern, wenn sie mit andern Lebensverhält- nissen sich combiniren. Wünschenswerth wird es zwar auch in diesen Fällen sein, daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das veraltete Gesetz ausdrücklich aufhebt; allein eine solche förmliche Aufhebung ist nicht absolut erforderlich, da der Wille des Staates, die neueren veränderten Lebensverhältnisse rechtlich zu regeln und sie Normen, die für andere Thatbestände gegeben waren, zu unterwerfen, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch nicht aufgehoben zu werden braucht. Die sogenannte derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechtes reduzirt sich daher auf eine Inter- pretation des Gesetzes und auf die Regel, daß das Gesetz auf solche Fälle nicht anzuwenden ist, auf welche es selbst nicht ange- wendet werden will Eine weitere Ausführung dieses mit der herrschenden Theorie vom Gewohnheitsrecht im Widerspruch stehenden Gedankens muß ich mir für eine andere Gelegenheit vorbehalten. . III. Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich das Recht der Gesetzgebung „innerhalb dieses Bundesge- bietes“ aus. Diese Worte können unmöglich ausdrücken wollen, daß die Reichsgesetze außerhalb des Bundesgebietes nicht gelten. Denn theils versteht es sich von selbst, daß die Staatsgewalt der Regel nach nur in dem ihr unterworfenen Gebiete sich wirksam entfalten kann; die Worte würden daher einen äußerst trivialen Sinn haben, wenn sie nur hervorheben sollen, daß das Reich dem Ausland keine Gesetze geben könne. Theils würden sie etwas §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. offenbar Unrichtiges aussagen; denn es ist zweifellos, daß das Reich auch solche Gesetze geben kann, welche außerhalb des Bun- desgebietes zur Geltung und Wirksamkeit kommen und zwar nicht nur in den Jurisdictions-Bezirken der Reichsconsulate, sondern allgemein im Auslande. Territorial begränzt ist nur die Hand- habung des Rechts schutzes ; sie kann nur in dem Bundesgebiet verwirklicht werden, dem die Konsular-Jurisdictionsbezirke und in einigen Beziehungen die deutschen Seeschiffe hinzutreten. Soweit die Gesetze dagegen die Reichsangehörigen zu Handlungen oder Unterlassungen verpflichten oder sonst Rechtsnormen für ihr Verhalten aufstellen, ist ihr Geltungsbereich örtlich überhaupt nicht begränzt. Beispiele liefern das Konsulatsgesetz, das Reichs- beamten-Gesetz hinsichtlich der Reichsbeamten, welche im Auslande ihren Wohnsitz haben, die Mehrzahl der auf die Seeschifffahrt be- züglichen Gesetze, das Gesetz über die Beurkundung des Personen- standes §§. 61—64; 68 Abs. 2; 85; die Vorschriften über Be- strafung von Verbrechen, welche im Auslande verübt werden (R.-St.-G.-B. §. 4 fg.), Militär-Strafgesetzb. §. 7. 161. See- manns-Ordn. v. 27. Dez. 1872 §. 100 u. s. w. Die Worte sollen vielmehr nur andeuten, daß für die Gesetz- gebung des Reiches das Bundesgebiet eine Einheit ist, und daß die in dem vorhergehenden Artikel 1 aufgeführten Staaten, aus deren Gebieten das Bundesgebiet besteht, für die räumliche Gel- tung der Reichsgesetze keine gesonderten Rechtsgebiete bilden. Nur soweit Reservatrechte einzelner Staaten die Kompetenz des Reiches zur Gesetzgebung beschränken, ist eine Ausnahme begründet. Diese Einheit des Bundesgebietes als Geltungsbereich der Reichsgesetze schließt aber nicht den Satz ein, daß das Reich seine Gesetze immer für das ganze Bundesgebiet erlassen müsse. Ge- setze und ebenso Verordnungen des Reiches können auch für Theile des Bundesgebietes gegeben werden und zwar ohne Rücksicht da- rauf, ob das Geltungsgebiet des Reichsgesetzes mit dem Gebiete eines oder mehrerer Bundesstaaten zusammenfällt oder nicht Hiersemenzel I. S. 36. Riedel , S. 81. Beispiele: Ges. v. 4. Mai 1868 für die Hohenzollern’schen Lande. (B.-G.-Bl. 1868 S. 150). Ges. v. 4. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 375) für beide Mecklenburg, Lauenburg, Lübeck und Preußische Gebietstheile; Ges. v. 8. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 384) für . Nur Laband , Reichsstaatsrecht. II. 7 §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. in Betreff des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts und des ge- richtlichen Verfahrens ist nach Art. 4 Z. 13 der R.-V. (Ges. v. 20. Dez. 1873) die Kompetenz des Reiches beschänkt auf „die ge- meinsame Gesetzgebung“. Darnach ist die Fortbildung und Um- gestaltung eines einzelnen Landrechts oder Partikularrechts durch die Reichsgesetzgebung verfassungsmäßig ausgeschlossen Vgl. darüber Heinze S. 142 fg. und derselbe in den Erörterun- gen zum Entw. des St.-G.-B. (1870) S. 18 fg. Die von ihm gezogenen Con- sequenzen gehen aber zu weit. Vgl. Rüdorff , Kommentar zum St.-G.-B. (2. Aufl.) S. 55. . Soweit indeß partikuläre Rechtssätze mit den allgemeinen von der Reichs- gesetzgebung befolgten Prinzipien und Tendenzen im Widerspruch stehen, ohne daß sie durch den Wortlaut der Reichsgesetze als auf- gehoben zu erachten sind, steht es dem Reiche zu, sie durch be- sondere Gesetze zu beseitigen Ein Beispiel liefert das Ges. v. 4. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. S. 128), welches Bestimmungen des Lüb. Rechts und Rostocker Stadtrechts aufhob, die mit den Prinzipien der Gewerbe-Ordnung nicht im Einklang standen. Eben- so ist dem Reiche wol nicht die Befugniß zu bestreiten, Landesgesetze auf- zuheben oder für nichtig zu erklären, welche sich mit der gemeinsamen Gesetz- gebung des Reichs in Bezug auf bürgerliches Recht, Strafrecht oder gericht- liches Verfahren in Widerspruch befinden. Dadurch kann das Reich Ueberschrei- tungen der den Einzelstaaten zustehenden Autonomie beseitigen und unschädlich machen. Ein solches Gesetz wäre nicht Normirung des Partikularrechts, son- dern Schutz des gemeinsamen Rechts. Abweichender Ansicht ist Heinze S. 143. . Der Satz, daß Reichsgesetze auch für Theile des Bundes- gebietes erlassen werden können, findet folgende spezielle Anwen- dungs-Fälle: 1) Ein Landesgesetz kann zum Reichsgesetz erklärt werden, ohne Erweiterung seines Geltungsgebietes. Dadurch wird in den geltenden Rechtssätzen selbst nichts geändert, sondern nur der lan- desherrliche Befehl, diese Sätze als Rechtsregeln zu befolgen, durch den Befehl des Reiches ersetzt. Dies hat die Wirkung, daß der Einzelstaat dieses Gesetz weder aufheben noch verändern kann. Hievon ist aber wohl zu unterscheiden der überaus häufige Fall, daß in einem Reichsgesetz hinsichtlich gewisser Pnnkte auf die Landesgesetze verwiesen, dieselben für anwendbar erklärt, oder in dieselben Gebiete und Nordhessen; Ges. v. 1. Juli 1869 (B.-G.-Bl. S. 376) für Theile des Hamburgischen Gebietes u. s. w. §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. Kraft erhalten werden. Eine solche Anordnung eines Reichsge- setzes enthält keine Sanction der in den Landesgesetzen enthal- tenen Bestimmungen und stattet demnach nicht die zur Zeit gel- tenden Landesgesetze mit der Kraft von Reichsgesetzen aus, sondern sie erklärt, daß die reichsgesetzlichen Vorschriften in den landes- gesetzlichen ihre Ergänzung finden sollen; sie bestätigt also die Fortdauer der Autonomie der Einzelstaaten Nicht der augenblickliche Bestand der landesgesetzlichen Vorschriften, sondern die Landesgesetzgebung als fortwirkende Rechtsquelle wird in Kraft erhalten. Vgl. auch Heinze S. 89 ff. . Demgemäß können solche Landesgesetze von den einzelnen Staaten abgeändert und aufgehoben werden Ausdrücklich ausgesprochen ist dies in dem Gesetz über die Bundes- flagge v. 25. Okt. 1867 §. 19 (B.-G.-Bl. S. 39): „Die landesgesetzlichen Be- stimmungen … finden Anwendung, soweit sie mit den Vorschriften des Bun- desgesetzes sich vertragen und unbeschadet ihrer späteren Aenderung auf landes- gesetzlichem Wege.“ Vgl. ferner das Ges. über die vertragsmäßigen Zinsen v. 14. Nov. 1867 §. 5 Abs. 2 (B.-G.-Bl. S. 160). . 2) Ein Reichsgesetz, welches für einen Theil des Bundes- gebietes erlassen ist, kann später auf einen anderen Theil aus- gedehnt oder in demselben eingeführt werden. Nach dem, was oben S. 54 fg. über das Wesen der Verkündigung ausgeführt worden ist, bedarf es in diesem Falle nicht eines erneuten Ab- drucks des Gesetzes im Reichsgesetzblatt, sondern es genügt die Verkündigung des Gesetzes, welches die Ausdehnung des Geltungs- bereiches ausspricht. Die Einführung eines Reichsgesetzes in einem andern Theile des Bundesgebietes ist nicht in der Art aufzufassen, als wenn von diesem Zeitpunkt an zwei gleichlautende Gesetze des Reiches in zwei verschiedenen Geltungsbereichen herrschen, sondern der einheitliche Geltungsbereich des einen Reichsgesetzes ist ein größerer geworden. Es kann dies bei manchen Auslegungsfragen z. B. über die Bedeutung von Inland, Ausland, Inländer, Fremde u. s. w. in Betracht kommen. 3) Ein Reichsgesetz kann für einzelne Theile des Bundes- gebietes Abänderungen oder Zusätze erhalten; ebenso kann ein für einen Theil des Bundesgebietes erlassenes Reichs-Gesetz in einem andern Theil mit Modifikationen eingeführt werden. Daß in einem solchen Falle die besondere, für einen gewissen Gebietstheil erlassene Vorschrift der allgemeinen Anordnung des Reichsgesetzes 7* §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. vorgeht, ist selbstverständlich. Von Wichtigkeit wird dies nament- lich in Betreff derjenigen Reichsgesetze, welche vor Einführung der Reichsverfassung mit Abänderungen und Ergänzungen in Elsaß- Lothringen eingeführt worden sind Vgl. unten §. 62. . IV. Der Gesetzgeber kann mit dem Befehl, die im Gesetz enthaltenen Normen zu beobachten, zugleich eine Anordnung ver- binden, von welchem Zeitpunkte an dieser Befehl gelten soll. Es kann auch die Bestimmung des Anfangstermins vorbehalten bleiben, sei es einem besonderen Gesetz Das Gesetz v. 21. Juli 1870 (B.-G.-Bl. S. 498) liefert ein Beispiel für ein Ges., welches lediglich die Bestimmung des Geltungstermins einer ge- setzl. Vorschrift zum Inhalt hat. , sei es einer Verordnung des Kaisers Beispiele : Ges. v. 23. Okt. 1867 (B.-G.-Bl. S. 53). Ges. vom 4. Juli 1868 §. 39 (B.-G.-Bl. S. 383). Ges. v. 8. Juli 1868 §. 70 (S. 402). Ges. v. 12. Juni 1869 §. 27 (B.-G.-Bl. S. 208). Ges. v. 1. Juni 1870 §. 1 Abs. 2 (B.-G.-Bl. S. 312). — Das Ges. v. 15. Juli 1871 bestimmt zwar den Anfangstermin seiner Geltung, ermächtigt aber den Kaiser, die Vorschrift in §. 1 schon vor dem gesetzlichen Termin durch Verordnung in Wirksamkeit zu setzen. (R.-G.-Bl. S. 325. Die Kaiserl. V. S. 326.) oder Bundesrathes Das Münzges. v. 9. Juli 1873 Art. 1 Abs. 2 erfordert eine mit Zu- stimmung des Bundesrathes erlassene Kaiserl. V., welche mindestens drei Mo- nate vor dem Eintritt des Zeitpunktes zu verkündigen ist. . Ist aber in dem Reichsgesetz der Anfangstermin seiner Geltung weder bestimmt noch die Be- stimmung desselben vorbehalten, so beginnt die verbindliche Kraft des Gesetzes mit dem vierzehnten Tage nach dem Ablauf des- jenigen Tages, an welchem das betreffende Stück des Reichsgesetz- blattes in Berlin ausgegeben worden ist. R.-V. Art. 2 a. E. Aus dieser Verfassungsbestimmung ergeben sich zunächst zwei Fol- gen, nämlich, daß auf jedem Stück des Reichsgesetzblattes der Tag angegeben sein muß, an welchem die Ausgabe desselben in Berlin erfolgt ist Es ist dies ausdrücklich vorgeschrieben in der Verordnung v. 26. Juli 1867 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 24). Die Verantwortlichkeit des Reichs- kanzlers für den Inhalt des Reichsgesetzblattes erstreckt sich auch auf diesen Vermerk . , und ferner, daß jedes Gesetz, dessen Geltungs- termin sich nach Art. 2 der R.-V. bestimmt, mag es noch so um- fangreich sein, in Einem Stück des Reichsgesetzblattes vollständig abgedruckt werden muß. §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. Im Uebrigen aber gibt diese Bestimmung der R.-V. noch zu folgenden Erörterungen Anlaß: 1) Das Motiv, aus welchem der Anfang der rechtsverbind- lichen Kraft eines Reichsgesetzes um einen Zeitraum von 14 Tagen nach der Verkündigung hinausgeschoben wird, ist zweifellos darin zu suchen, daß die allgemeine Kundbarkeit des Reichsgesetzes und zwar sowohl seines Wortlautes als der Thatsache seiner Verkündi- gung, ermöglicht werden soll, bevor das Gesetz in Kraft tritt. Die Form der Verkündigung durch die Presse dient ja vorzugsweise dem Zweck, das Gesetz allgemein bekannt zu machen; dieser Zweck aber wird durch den Abdruck selbst noch nicht erreicht, sondern erst durch die Verbreitung des Abdruckes. Aber man darf dieses Motiv eines Rechtssatzes nicht selbst zum Rechtssatz er- heben. Gemeinkundigkeit des Gesetzes ist in keiner Beziehung eine Voraussetzung seiner Gültigkeit . Der Art. 2 der R.-V. stellt keine Fiktion auf, daß nach Ab- lauf der 14tägigen Frist das Reichsgesetz allgemein bekannt sei Diese Theorie findet sich bei Böhlau , Meckl. Landr. I. S. 413 ff. Er nimmt an, daß Gemeinkundigkeit zur Vollendung der Publikation gehöre und daß im Art. 2 der R.-V. eine Fiktion aufgestellt werde, deren Gegen- stand „die Vollendung des Publikations-Aktes“ (?) sei. . Durch eine Vergleichung mit dem Art. 1 des Code civil, welcher das Vorbild für die ähnlichen Anordnungen der Deutschen Landes- gesetzgebungen geliefert hat, wird die Tragweite dieses Satzes deutlich. Der französische Gesetzgeber ging von der Anschauung aus, daß die Gesetze nicht verpflichten können, ohne bekannt zu sein; da man sie aber nicht jedem Einzelnen bekannt machen könne, so sei man genöthigt, sich mit einer öffentlichen Kundmachung zu begnügen und eine Frist aufzustellen, nach Ablauf deren die Fiktion eintrete, daß Jedermann sich die Kenntniß des Gesetzes verschafft habe Diese Deduction entwickelt Portalis im Discours préliminaire du projet de Code civil Nro. 25 ( Locré , La Législation de la France I. S. 268). . Dem entsprechend wird im Art. 1 Abs. 2 des Cod. civ. die Möglichkeit, daß die Verkündigung des Gesetzes öffentlich be- kannt sei, zur ausdrücklichen Bedingung der Vollstreckbarkeit eines Gesetzes gemacht. »Elles seront exécutées dans chaque partie de l’Empire, du moment où la promulgation en pourra être con- §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. nue .« Nach Maßgabe der Entfernung der Departements-Haupt- stadt von der Reichs-Hauptstadt wird darauf im Abs. 3 desselben Artikels die Frist bestimmt, mit deren Ablauf die Vermuthung eintritt, daß die Promulgation in dem Departement gemeinkundig sei. »La promulgation faite par l’Empereur sera réputée con- nue « … Eine Consequenz dieses Grundsatzes ist die, daß so- lange ein französisches Departement von einer feindlichen Macht occupirt ist oder die Verbindung der Departements-Hauptstadt mit Paris unterbrochen ist, ein in dieser Zeit verkündetes Gesetz in dem Departement verbindliche Kraft nicht erlangen kann. Die französische Praxis hat diesen Grundsatz stets als einen zweifel- losen in Anwendung gebracht Vgl. v. Richthofen in Hirth’s Annalen 1874 S. 535 fg. . Die vom Art. 1 des Code civ. hingestellte Vermuthung fällt daher weg, wenn die Unmöglich- keit , daß ein Gesetz Gemeinkundigkeit habe erlangen können, dar- gethan wird. Der Art. 2 der R.-V. dagegen knüpft nicht die Verbindlich- keit der Gesetze an die Voraussetzung ihrer Gemeinkundigkeit, und die Vermuthung ihrer Gemeinkundigkeit an den Ablauf einer ge- wissen Frist, sondern die verbindliche Kraft tritt unmittelbar durch den Ablauf dieser Frist ein, ohne alle Rücksicht darauf, ob diese Frist die Gemeinkundigkeit ermöglichte oder nicht. Daher ist es auch zulässig, den Anfang der Geltung auf den Tag der Ver- kündigung selbst zu bestimmen, also auf einen Zeitpunkt, an wel- chem das Stück des Reichsgesetzblattes noch gar nicht im ganzen Umfang des Bundesgebietes verbreitet sein kann Die Beispiele dafür sind sehr zahlreich. Einige der wichtigsten sind folgende: Ges. v. 29. Mai 1868 §. 5 B.-G.-Bl. S. 238 (Aufhebung der Schuld- haft); Ges. vom 27. März 1870 § 6 B.-G.-Bl. S. 15 (Verbot der Ausgabe von Banknoten). Gesetze vom 21. Juli 1870 B.-G.-Bl. S. 497. 498. Ferner sämmtliche Verordnungen, welche Ausfuhr- und Einfuhr-Verbote enthalten oder dieselben wieder aufheben. — Gesetze, die im fernen Auslande beobachtet wer- den müssen, sollten geraume Zeit vor dem Beginn ihrer Geltung verkündet werden. Dies geschieht aber nicht immer; so ist z. B. in der am 30. Dez. 1871 (R.-G.-Bl. S. 479) verkündigten Verordnung zur Verhütung des Zu- sammenstoßens der Schiffe auf See der Anfang ihrer Geltung auf den 1. Jan. 1872 festgesetzt. . Aus dem- selben Grunde ist es ohne Belang, ob das Reichsgesetzblatt in der That in allen Theilen des Bundesgebietes Verbreitung gefunden §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. hat; die Reichsgesetze gelten auch in denjenigen Orten, in denen niemals Jemand ein Stück des Reichsgesetzblattes zu Gesicht be- kommen hat Die Verbreitnng der Bekanntschaft erfolgt in der That durch die Zeitungen viel wirksamer als durch das R.-G.-Bl. . Deshalb ist es auch unerheblich, ob das Reichs- gesetzblatt in einen gewissen Theil des Reichsgebietes gelangen konnte oder nicht. In einer belagerten Festung, in einem vom Feinde besetzten Landstrich, in einer durch Ueberfluthung oder an- dere Natur-Ereignisse unzugänglich gemachten Gegend erlangen die Gesetze des Deutschen Reiches in demselben Zeitpunkt wie im übrigen Bundesgebiet verbindliche Kraft Damit ist die Frage nicht zu verwechseln, in wie weit bei Fest- stellung der subjectiven Verschuldung die Thatsache in Betracht zu ziehen ist, daß Jemand von dem Erlaß einer reichsgesetzl. Vor- schrift keine Kunde hatte oder haben konnte. . Andererseits erlangt vor Ablauf der gesetzlichen Frist kein Reichsgesetz verbindliche Kraft, wenngleich es die allgemeinste Verbreitung und Gemein- kundigkeit gefunden hat. 2) Der Termin, an welchem die verbindliche Kraft der Reichs- gesetze beginnt, ist für das ganze Bundesgebiet derselbe; die größere oder geringere Entfernung von Berlin macht keinen Unter- schied Es kann jedoch in einem Reichsgesetz den Einzelstaaten vorbehalten werden, schon vor dem reichsgesetzl. Termin die Geltung des Reichsgesetzes in ihren Gebieten eintreten zu lassen. Dies ist z. B. geschehen in der Ge- werbe -Ordn. v. 21. Juni 1869 §. 7 (durch Landes gesetz ); Münzgesetz §. 1 und Personenstands- und Civilehegesetz v. 6. Febr. 1875 §. 79 (im Ver- ordnungs wege). Andererseits kann den Einzelstaaten auch gestattet werden, den Anfangstermin der Geltung einer reichsgesetzl. Bestimmung über den reichsgesetzl. Termin hinauszuschieben. Beispiele : Ges. v. 10. Nov. 1871 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 392) u. Ges. v. 26. Nov. 1871 § 2 (R.-G.-Bl. S. 397). . Aber er gilt auch nur für das Bundesgebiet, nicht für das Ausland. Die an die Spitze des Artikels 2 der R.-V. ge- stellten Worte: „innerhalb dieses Bundesgebietes“ sind auch auf den Schlußsatz desselben Artikels zu beziehen und dort zu ergänzen. Eine Bestätigung findet dies in dem Konsulats-Gesetz v. 8. Nov. 1867 §. 24 Abs. 2 (B.-G.-Bl. S. 142), wonach in den Konsular- Jurisdiktonsbezirken die verbindliche Kraft der Reichsgesetze nach Ablauf von 6 Monaten, von dem Tage gerechnet, an welchem §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. dieselben durch das Bundesgesetzblatt verkündet worden sind Es ist dies der Tag, welcher auf dem Reichsgesetzblatt als der Aus- gabetag angegeben ist. Vgl. auch Seydel , Comment. S. 40. , anfängt. Von dieser speziellen Vorschrift abgesehen, fehlt es an einer allgemeinen Regel, wann die verbindliche Kraft von Reichs-Gesetzen außerhalb des Bundesgebietes anfängt, insbesondere von Gesetzen, welche den im Auslande lebenden Reichsangehörigen oder Reichs- beamten oder den zur Bemannung Deutscher Seeschiffe gehörenden Personen etwas anbefehlen oder verbieten u. s. w. Würde man den in Art. 2 der R.-V. ausgesprochenen Grundsatz zur Anwendung bringen, so käme man zu dem Resultat, daß ein und dasselbe Reichsgesetz in den Konsular- Jurisdictions bezirken, also z. B. in der Türkei 6 Monate, dagegen in Australien oder Californien schon 14 Tage nach seiner Verkündigung verbindliche Kraft erlangt. . In der- artigen Gesetzen sollte daher ein Anfangstermin ihrer Geltung immer ausdrücklich angeordnet werden Diese Sorgfalt hat die Reichsgesetzgebung aber keineswegs immer be- obachtet; so fehlt z. B. die Festsetzung des Geltungstermines in dem Gesetz über die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes von Reichs- angehörigen im Auslande vom 4. Mai 1870. Das Gesetz v. 6. Febr. 1875 §. 85 Abs. 2 hat dagegen einen bestimmten Geltungstermin festgesetzt und zwar den 1. März 1875. . Ist dies unterblieben, so muß nach den Umständen ermessen werden, welche Zeit etwa erforderlich ist, damit das Stück des Gesetzblattes von Deutsch- land nach dem in Frage stehenden ausländischen Gebiete gelangen könne und diese Zeit der für das Bundesgebiet geltenden 14- tägigen Frist hinzugerechnet werden Auch im franz. Recht sehlt es an einer gesetzlichen Vorschrift für diesen Fall. Vgl. darüber Demolombe , Cours de Code civil. Tom. I. Ch. II. Nr. 29. Nach seiner Ansicht beginnt die verbindliche Kraft französ. Gesetze für einen im Auslande lebenden Franzosen, sobald er das Gesetz kennen ge- lernt hat oder die Gelegenheit dazu gehabt hat; darnach könnte die Gesetzes- kraft für jeden einzelnen im Auslande lebenden Franzosen an einem andern Tage beginnen und unter Umständen niemals anfangen. . 3) Der Wortlaut des Art. 2 der R.-V. spricht zwar nur von Gesetzen; es ist aber bereits dargethan worden, daß dieses Wort hier nicht im formellen Sinne verstanden werden kann, daß es daher diejenigen Verordnungen, welche Rechtsregeln enthalten, mit umfaßt. Solche Verordnungen des Reiches erlangen daher ebenfalls erst mit dem im Art. 2 der R.-V. festgesetzten Zeitpunkt §. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. verbindliche Kraft, wenn sie nicht selbst einen anderen Anfangs- termin derselben bestimmen Dagegen kann die 14tägige Frist auf solche Gesetze, welche sich selbst als Declaration eines früheren Reichsgesetzes bezeichnen, wie z. B. das Gesetz v. 19. Mai 1871 (R.-G.-Bl. S. 101), wohl nicht Anwendung finden, da in diesen Fällen das Gesetz selbst erklärt, daß es einen neuen Rechtssatz nicht einführen, sodern einen bereits bestehenden nur deutlicher und zweifel- loser aussprechen wolle. . 4) Auf Willensacte des Reiches, welche in der Form des Reichsgesetzes erklärt werden, die aber keine Rechtssätze enthalten, ist die Vorschrift über den Anfang ihrer verbindlichen Kraft nicht anwendbar. Denn zum „Wege der Gesezgebung“ oder zur „Ge- setzes-Form“ gehört diese Vorschrift nicht; sie setzt vielmehr ein Gesetz im materiellen Sinne voraus. Auch der Natur der Sache nach läßt sich dieselbe auf Willenserklärungen, die nur formell oder scheinbar Gesetze sind, nicht übertragen. Es gilt dies na- mentlich von dem wichtigsten hierher gehörenden Falle, dem Reichs- haushalts-Etat; die verbindliche Kraft desselben von dem 14ten Tage nach Ausgabe des Stückes des Reichsgesetzblattes, in welchem er publizirt ist, zu datiren, hätte keinen Sinn Das Gleiche gilt von Gesetzen, welche den Reichskanzler zum Ankauf von Grundstücken, zur Gewährung von Unterstützungen, zur Aufnahme von Anleihen u. s. w. ermächtigen, oder die ein Etats-Gesetz nachträglich abändern. . Von diesem Gesichtspunkte aus ist auch eine Frage zu ent- scheiden, welche bereits wiederholt praktische Bedeutung erlangt hat. Wenn nämlich ein Reichsgesetz die Bestimmung enthält, daß der Zeitpunkt, mit welchem es in Kraft tritt, durch Kaiserliche Verordnung bestimmt werden soll, so müßte, wenn man den Art. 2 der R.-V. auf alle Gesetze in formellen Sinne für anwendbar er- achtet, erst eine Frist von 14 Tagen seit dem Tage der Verkündi- gung verstreichen, bevor diese Kaiserliche Verordnung erlassen werden kann, da ja die im Gesetz ertheilte Ermächtigung selbst erst mit diesem Zeitpunkt in Kraft treten würde. In mehreren Fällen ist jedoch diese Frist nicht innegehalten worden Das Gesetz vom 23. Oct. 1867 ist am 6. Novomber verkündigt. Die gleichzeitig verkündigte Verordnung des Bundespräsidiums ist vom 2. Nov. datirt und setzt den Beginn der Geltung jenes Gesetzes auf den 15. November fest. (B.-G.-Bl. 1867 S. 53. 54.) — Das Ges. v. 1. Juni 1870 ist am 16. Juni verkündigt; die Präsidial-Verordnung ist ebenfalls vom 1. Juni 1870 datirt und in demselben Stück des Gesetzblattes wie das Gesetz verkündigt. und es §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. ersch eint auch in der That der Art 2 nicht anwendbar, da eine solche Ermächtigung keine Vorschrift ist, welche einen Rechtssatz zum Inhalt hat. 5) Endlich bedarf der Fall noch der Erwähnung, wenn das Gesetz einen bestimmten Anfangstermin seiner Geltung enthält, die Verkündigung desselben aber über diesen Termin hinaus sich ver- zögert. Da die Verkündigung ein wesentliches Erforderniß für die Existenz eines Gesetzes ist, so ergibt sich, daß das Gesetz vor seiner Verkündigung keinerlei Rechtskraft äußern kann und daß daher auch die Bestimmung über den Beginn seiner Geltung vor der Verkündigung rechtlich als nicht vorhanden anzusehen ist. In wie weit aber die in dem Gesetz enthaltenen Rechtsvorschriften nach Verkündigung des Gesetzes auf Thatbestände oder Rechtsverhält- nisse zurückzubeziehen sind, welche in der Zwischenzeit zwischen dem im Gesetz angegebenen Tage der Wirksamkeit und dem Tage der Verkündigung ihre Entstehung haben, ist lediglich nach dem Inhalt des Gesetzes zu beurtheilen In der Gesetzgebungs-Geschichte des Deutschen Reiches ist ein Fall dieser Art zu erwähnen, der aber allerdings nicht vollkommen hierher gehört. Der Verfassungs-Bündniß-Vertrag mit Bayern ist am 31. Januar 1871 verkündigt worden und sollte mit dem 1. Januar 1871 in Wirk- samkeit treten. Vgl. darüber Bd. I. S. 47. Es ist bereits wiederholt vorge- kommen, daß sich die Verkündigung einer Rechtsvorschrift bis fast zu dem Tage verzögerte, an welchem sie in Kraft treten sollte; so die Verordn. vom 29. Juli 1868 (verkündigt am 10. August. B.-G.-Bl. S. 465), die Verordn. v. 19. Oct. 1868 (verkündigt am 31. Oct. B.-G.-Bl. S. 513); das Ges. vom 11. Juni 1870, welches die Aufhebung des Elbzolls am 1. Juli anordnet, ist am 29. Juni verkündigt; vergl. ferner die in der vorigen Note erwähnte V. v. 19. Aug. 1871. . §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. I. Da im Bundesstaate die Einzelstaaten der staatlichen Herr- schaft des Bundes unterworfen sind Vgl. oben Bd. I. §. 8. , so ergibt sich, daß die Bundesgesetze nicht blos die rechtlichen Schranken für die Hand- (B.-G.-Bl. 1870 S. 312. 314.) Das Ges. v. 17. Juli 1871 und die dazu gehörige Kaiserl. V. vom 19. August 1871 sind in einem und demselben Stück des Reichsgesetzbl. am 27. Aug. 1871 verkündigt (S. 325. 326) und dieser 27. Aug. 1871 ist zugleich der Tag, an welchem die V. in Kraft trat. §. 61. Reichsgesetzgebung nnd Landesgesetzgebung. lungsfreiheit der Individuen, sondern auch für die der Glied- staaten ziehen. So haben auch die Reichsgesetze zum großen Theil einen In- halt, durch welchen sie den Einzelstaaten etwas erlauben, gebieten oder verbieten. Der in dem Reichsgesetz enthaltene Be- fehl ist in überaus zahlreichen Fällen ein Befehl an die Einzel- staaten über die Ausübung oder Nichtausübung von Hoheitsrechten, über die Entfaltung oder Unterlassung einer staatlichen Thätigkeit. Es tritt uns hier der Gegensatz zwischen dem Bundesstaat und dem Staatenbund besonders scharf entgegen. Auch die von einem Staatenbund aufgestellten Rechtsregeln können für die betheiligten Staaten verbindlich sein; aber ihre Verbindlichkeit beruht nicht auf dem Befehl einer übergeordneten Gewalt, sondern auf dem Consense der Mitglieds-Staaten, und zwar auch dann, wenn sie durch die Majorität beschlossen werden. Ihre Verbindlichkeit ist die des Vertrages . Der einzelne Staat erfüllt eine ver- tragsmäßige Pflicht, indem er den Bundesbeschluß zur Ausfüh- führung bringt. Hierzu ist demnach ein Willensact des Einzel- staates erforderlich, nämlich der Befehl des Einzelstaates an seine Behörden und Unterthanen, den Bundesbeschluß zu befolgen; oder mit andern Worten: es muß ein Gesetzgebungs-Akt des Einzel- staates hinzukommen, durch welchen der Bundesbeschluß für den Einzelstaat in ein Gesetz umgewandelt wird. Formell kann dieser Akt in der bloßen Verkündigung des Bundesbeschlusses bestehen, deren juristisches Wesen — wie oben ausgeführt wor- den ist — nicht in der Bekanntmachung des Gesetzes-In- halts, sondern in der öffentlichen Erklärung des Gesetzes-Befehls besteht. Im Bundesstaat dagegen erlangt das Bundesgesetz seine recht- liche Geltung und verbindliche Kraft ohne einen Willensakt des Einzelstaates. Der dem Reiche angehörende Gliedstaat wird von der Reichsgewalt beherrscht und ergriffen, wie der einzelne Unter- than. Die Gesetzes-Befehle des Reiches müssen von dem Einzel- staat und seinen Behörden befolgt und ausgeführt werden. Einer vertragsmäßigen Pflicht gegenüber besteht die Wahl der Willens- entschließung, ob man sie erfüllen oder ob man sie nicht erfüllen und die Folgen der Nichterfüllung auf sich nehmen wolle; dagegen das Gesetz des Reiches entfaltet seine rechtliche Kraft ohne Rück- §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. sicht darauf, ob der Einzelstaat ihm gehorchen wolle oder nicht; es gilt kraft des Willens des Reiches, nicht kraft des Willens des Einzelstaates. Deshalb kann der Einzelstaat die Befolgung der Reichsgesetze seinen Behörden und Angehörigen nicht nur nicht verbieten , sondern es ist auch kein Raum für eine Willens- erklärung des Einzelstaates, welche den Behörden und Unterthanen desselben die Beobachtung und Anwendung der Reichsgesetze anbe- fiehlt oder erlaubt. Der Einzelstaat kann den an ihn erlassenen und ihn bindenden Befehl des Reiches nicht seinerseits sanctioniren, und da die Sanction ihren öffentlichen Ausdruck findet in der Verkündigung, auch nicht verkündigen Ueber eine unrichtige Auffassung der Verkündigung bei Seydel S. 39 siehe oben S. 54 Note 2. Sie hängt mit dessen Gesammt-Auffassung des Wesens des Reiches zusammen. Aber selbst v. Mohl , Reichsst. S. 165 schreibt: „Einer besonderen Verkündigung durch die einzelne Regierung be- darf (!) es nicht und ist eine solche eher (!) grundsatzwidrig.“ . Der bloße Abdruck eines Reichsgesetzes in einem Gesetz- oder Verordnungsblatt eines Einzelstaates ist im juristischen Sinne keine Verkündigung, son- dern eine bloße Verbreitung des Gesetzes im Publikum Er steht, wie bereits oben S. 55 bemerkt wurde, auf gleicher Stufe mit dem Abdruck in Zeitungen und Zeitschriften. Dies gilt z. B. von dem Wieder-Abdruck der Reichsgesetze im Mecklenburg . Regierungsblatte. Vgl. Böhlau , Mecklenb. Landr. I. S. 298. . Wird mit diesem Abdruck aber der landesherrliche Befehl , das Reichs- gesetz zu befolgen, verbunden, so ist dieser Befehl vollständig nich- tig; denn er sagt nur, was sich ganz von selbst versteht und was der Landesherr weder zu befehlen noch zu verbieten rechtlich be- fugt ist Wenn der Einzelstaat die Befolgung eines Reichsgesetzes anordnet, so hat das ungefähr die gleiche Bedeutung, als wenn der Magistrat einer Stadt- gemeinde den Einwohnern die Befolgung eines Staatsgesetzes einschärft. . Daß die Richter und Verwaltungsbeamten, welche die Reichsgesetze in den Einzelstaaten anzuwenden und auszuführen haben, in keinem Dienstverhältniß zum Reiche, sondern nur zum Einzelstaate stehen, ändert hieran Nichts. Der Art. 2 der R.-V. deutet die Unzulässigkeit einer Verkündigung durch die Einzelstaaten dadurch an, daß er sagt: „Die Reichsgesetze erhalten ihre verbind- liche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichswegen .“ Was bereits verbindliche Kraft hat, dem kann nicht nochmals verbind- liche Kraft ertheilt werden. §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. II. Das Verhältniß der Reichsgesetze zu den Landesgesetzen Vortreffliche Untersuchungen darüber enthält die Schrift von Heinze , das Verhältniß des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht. Leipzig 1871. Vgl. auch auch Kayser im Handbuch des Deutschen Strafrechts von Holtzen- dorff Bd. IV. S. 93 ff. (1877). der einzelnen Staaten bestimmt sich im Allgemeinen durch den Grundsatz, daß das Reich die souveräne Gesetzgebungs-Gewalt, die Einzelstaaten die Autonomie haben Vgl. Bd. I. §. 10 S. 105 fg. Einen wesentlich verschiedenen Standpunkt nimmt Seydel ein, welcher Kommentar S. 35. 124 das Reichsgesetz lediglich als „gleichmäßiges Landesgesetz aller Bundesstaaten“ erklärt. Ebenso Böhlau a. a. O. I. S. 289. 309. . Daraus ergiebt sich, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen. R.-V. Art. 2. Im Einzelnen erfordern hier folgende Punkte eine genauere Erörterung: 1. Der Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen be- ruht darauf, daß ihre Sanktion von der höheren, und zwar der souverainen Gewalt, ausgeht; nicht auf ihrem Inhalte oder der Art der Feststellung desselben. Der Vorrang kömmt daher nicht blos den eigentlichen, d. h. unter Zustimmung des Reichs- tags erlassenen Reichsgesetzen, sondern auch allen Reichsverordnungen zu, wofern sie rechtsgültig erlassen sind Abweichender Ansicht Heinze S. 24. Uebereinstimmend Riedel S. 41. Seydel , Commentar S. 37. v. Mohl S. 168. Hänel , Studien I. S. 263 Note 16. . Andererseits stehen nicht blos die formellen Landesgesetze den Reichsgesetzen nach, sondern ebenso die Verordnungen der Einzelstaaten und die in den Einzel- staaten geltenden Gewohnheitsrechtssätze. Durch den Erlaß eines Reichsgesetzes verlieren alle landesrechtlichen Vorschriften, welche mit dem Reichsgesetz im Widerspruch stehen, ipso iure ihre Gel- tung; ebenso treten formell außer Kraft diejenigen, deren mate- rieller Inhalt mit dem neuen Reichsgesetz übereinstimmt Riedel S. 40. Seydel S. 37. ; das Reichsgesetz ist nicht blos das spätere, sondern auch das stärkere (höhere) Gesetz Hiersemenzel , Verf. des Nordd. B. I. S. 7. . 2. Durch den Erlaß eines Reichsgesetzes ergeben sich für die Gesetzgebung der Einzelstaaten folgende Beschränkungen: a ) Landesgesetze, welche Rechtssätze, die in einem Reichsgesetz enthalten sind, wiederholen oder bestätigen, sind unstatthaft und §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. wirkungslos. Was bereits auf Grund der vom Reiche ertheilten Sanction rechtliche Geltung hat, kann nicht von einem Einzelstaat nochmals sanctionirt werden Heinze S. 22. . Ebenso wenig kann der Einzel- staat ein Reichsgesetz durch Landesgesetz erläutern ; denn eine authentische Interpretation eines Gesetzes kann nur vom Gesetz- geber selbst ausgehen; eine wissenschaftliche oder logische Interpre- tation aber ist niemals mit dem Befehl, sie zu befolgen, verbun- den, kann also niemals in der Form des Gesetzes oder der Ver- ordnung erfolgen Heinze S. 23. Die entgegengesetzte Ansicht findet sich bei Riedel S. 42. . b ) Landesgesetze, welche die mit einem Reichsgesetz im Wider- spruch stehenden landesgesetzlichen Vorschriften aufheben , sind unzulässig Riedel S. 82. . Eine bereits aufgehobene Vorschrift kann nicht noch- mals aufgehoben werden; der landesherrliche Befehl eine gewisse Rechtsvorschrift zu befolgen, wird kraftlos, sobald der souve- raine Befehl des Reiches, eine andere Rechtsvorschrift zu befolgen, in Wirkung getreten ist; mithin kann der landesherrliche Befehl auch nicht mehr zurückgenommen werden. Wenn das Landesgesetz sich darauf beschränkt, im Allgemeinen die landesrechtlichen, mit einem Reichsgesetz im Widerspruch stehenden Bestimmungen für aufgehoben zu erklären, so spricht es etwas aus, was sich von selbst versteht, und ist unschädlich. Wenn aber das Landesgesetz die durch das Reichsgesetz in Wegfall gekommenen landesrechtlichen Vorschriften speziell und in der Tendenz, sie vollzählig aufzuführen, angiebt, so ist die Möglichkeit geboten, daß das Landesgesetz hier- bei gewisse Rechtsvorschriften übersieht oder die Tragweite der reichsgesetzlichen Anordnungen verkennt. Die in einem solchen Ge- setze nicht aufgeführten, mit dem Reichsgesetze aber thatsächlich dennoch im Widerspruch stehenden landesgesetzlichen Vorschriften sind aber ebenso beseitigt, wie die ausdrücklich erwähnten. Der Einzelstaat kann die Wirkungen des Reichsgesetzes nicht indirect abschwächen, indem er diese Wirkungen unvollständig aufzählt. Die landesgesetzliche Aufhebung bestimmter Vorschriften des Landes- rechtes, weil dieselben mit einem Reichsgesetz im Widerspruch stehen, würde eine unzulässige Deklaration eines Reichsgesetzes sein Heinze S. 28. 144 ff. Riedel S. 82. Nach Koller , Verf. des . §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. Nur wenn ein Reichsgesetz ausdrücklich die Einzelstaaten er- mächtigt, diejenigen landesrechtlichen Vorschriften im Wege der Gesetzgebung oder im Wege der Verordnung zu bezeichnen, welche durch das Reichsgesetz in Wegfall kommen, ist der Einzelstaat in der Lage, die Veränderungen, welche das Reichsgesetz an dem bis- herigen Rechtszustande hervorbringt, partikularrechtlich zu fixiren. Außerdem kann das Reichsgesetz die Veranlassung bieten, landesrechtliche Vorschriften, welche mit dem Reichsgesetz nicht im Widerspruch stehen, die aber durch dasselbe aus ihrem bisherigen Zusammenhange gerissen werden und deren Fortgeltung die Har- monie des Rechtszustandes stören würde, zu beseitigen, also die Wirkungen des Reichsgesetzes zu erweitern . Eben dahin ist der Fall zu rechnen, wenn Rechtsgrundsätze, welche ein Reichsgesetz für gewisse Thatbestände anordnet, landesgesetzlich auch auf andere Thatbestände ausgedehnt werden. Hierzu ist der Regel nach ein förmliches Landesgesetz erforderlich; es sei denn, daß das Reichsgesetz selbst die Aufhebung derartiger Vorschriften des Lan- desrechts im Verordnungswege gestattet. c ) Landesgesetze, welche Rechtsvorschriften, die mit einem Reichsgesetz im Widerspruch stehen, einführen , sind unzulässig; ebenso Landesgesetze, welche reichsgesetzliche Anordnungen aufheben, zeitweilig außer Wirksamkeit setzen oder abändern. Denn der Be- fehl der höheren Gewalt kann nicht durch den Befehl der unter- geordneten Gewalt aufgehoben oder verändert werden; der Um- stand, daß das Landesgesetz das spätere ist, kann nicht in Betracht kommen, da es dem Reichsgesetz gegenüber das schwächere ist Den entgegengesetzten Grundsatz hat das Hamburg . Obergericht in zwei Erkenntnissen, welche in der Allgem. Deutsch. Strafrechtszeitung Bd. X. (1870) S. 265 ff. mitgetheilt sind, zur Geltung gebracht. Vgl. über die Un- richtigkeit dieser Urtheile Belmonte a. a. O. und John ebenda Bd. XI. S. 240 ff., woselbst ein von der richtigen Auffassung ausgehendes Urtheil des O.-A.-G’s. zu Lübeck mitgetheilt ist. Vgl. ferner auch Dreyer , Reichs- civilr. S. 12 fg. Kayser a. a. O. S. 57. . Enthält ein Landesgesetz Vorschriften, welche theilweise mit einem Reichsgesetz im Widerspruch stehen, theilweise nicht, so kann es in- D. R. S. 187 soll allerdings den Landes-Regierungen „eine gewissermaßen gutachtliche Publikation (!) über die derogirende Wirksamkeit eines Reichsgesetzes zustehen.“ §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. soweit rechtliche Verbindlichkeit erlangen, als seine Anordnungen mit denen des Reichsgesetzes vereinbar sind. Ein Reichsgesetz kann jedoch seine Vorschriften als subsidiäre oder eventuelle aufstellen, so daß sie also nur in Ermangelung landesgesetzlicher Anordnungen gelten sollen Fast alle größeren Reichsgesetze enthalten zahlreiche Beispiele dafür. Ueber die subsidiären Vorschriften des H.-G.-B’s. vgl. Goldschmidt , Hand- buch des Handelsrechts I. S. 298. . In diesem Falle steht es den Einzelstaaten frei, durch partikularrechtliche Normirung eines solchen Rechtsverhältnisses die Anwendung der reichsgesetz- lichen Vorschriften auszuschließen Wo es den Einzelstaaten gestattet ist, eine andere als die im Reichs- gesetz aufgestellte Regel zu sanctioniren, steht es ihnen auch frei, dieselbe Regel für anwendbar zu erklären. Die sonst unstatthafte Wiederholung einer reichsgesetzlichen Vorschrift durch Landesgesetz ist dann zulässig, wenn der Einzel- staat zu bestimmen hat, ob die reichsgesetzliche Vorschrift oder eine andere gelten soll. Vgl. Heinze S. 86. . Es setzt dies aber immer voraus, daß das Reichsgesetz auf die Landesgesetze verweist und seine eigenen Anordnungen als nur subsidiäre erkennbar macht. In einigen Fällen übrigens hat das Reichsgesetz seine Be- stimmungen als subsidiäre erklärt, dennoch aber die Landesgesetz- gebung ausgeschlossen, indem das Reichsgesetz zwar der örtlichen Rechtsbildung (Ortsgebrauch, Ortsstatut, Verordnung der Orts- polizei) den Vorrang vor seinen eigenen Vorschriften einräumte, nicht aber die territoriale Staatsgewalt zum Erlaß von Rechts- vorschriften ermächtigte Beispiele liefert das Handels-Gesetz-Buch Art. 61. 82. 83. 331. Die Gewerbe-Ordnung Art. 69. 72 ff. 106. 108. u. v. a. . d ) Landesgesetze zur Ergänzung der Reichsge- gesetze sind unzulässig, wenn das Reichsgesetz eine Materie voll- ständig regeln wollte , gleichviel ob es dieses Ziel thatsächlich in befriedigender Weise erreicht hat oder nicht Heinze S. 23 und besonders S. 31 fg. Riedel S. 82. 83. v. Rönne II. 1. S. 7. . Das Reich ent- rückt durch ein solches Gesetz die von ihm normirte Rechtsmaterie der einzelstaatlichen Autonomie. Ist eine Ergänzung der reichs- gesetzlichen Bestimmungen erforderlich, so ist dieselbe den höheren allgemeinen Rechtsprinzipien zu entnehmen, denen die in dem Reichs- gesetz sanctionirten Sätze sich logisch unterordnen. Im einzelnen §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. Falle kann die Entscheidung der Frage allerdings sehr schwierig sein, ob ein Reichsgesetz eine Rechtsmaterie in vollständiger und abschließender Weise regeln oder Ergänzungen durch die Landes- gesetzgebung gestatten will, und ob ein von einem Landesgesetz ge- regelter Punkt zu dem von der Reichsgesetzgebung occupirten Ge- biete gehört oder nicht Die Frage ist für das Strafrecht besonders wichtig. In dem einen Falle bedeutet das Schweigen des Reichsstrafgesetzb. über einen gewissen That- bestand Straflosigkeit desselben, in dem andereu Falle Unterwerfung des- selben unter die Autonomie der Einzelstaaten. Beispiele bei Heinze S. 32 ff. und in dessen Erörterungen zu dem Entw. des St.-G.-B.’s (1870) S. 24 ff. Vgl. auch Rüdorff , Kommentar z. St.-G.-B. 2. Aufl. S. 48 ff. Für das Handelsgesetzb . u. die Wechsel-Ordn . ist reichsgesetzlich aner- kannt, daß Ergänzungen durch die Landesgesetzgebung statthaft sind, und die landesgesetzlichen Vorschriften, welche nur eine Ergänzung derselben ent- halten, sind bei der Erklärung jener Gesetzbücher zu Reichsgesetzen in Kraft erhalten worden. Ges. v. 5. Juni 1869 §. 2 (B.-G.-Bl. S. 379). Vgl. Thöl , Handelsr. I. S. 71 (5. Aufl.). . Die authentische und allgemein maß- gebende Entscheidung eines solchen Zweifels kann nur durch ein Reichsgesetz erfolgen, welches den Sinn und die Tragweite des früheren Reichsgesetzes deklarirt ; so lange dies nicht ergeht, ist in jedem einzelnen Anwendungsfalle von der kompetenten Ge- richts- oder Verwaltungsbehörde nach den Regeln juristischer Inter- pretation zu beurtheilen, ob das Reichsgesetz Ergänzungen durch das Landesrecht gestattet oder ausschließt. Sehr zahlreiche Reichs- gesetze verweisen ausdrücklich auf die Landesgesetze als Ergänzun- gen der reichsgesetzlichen Bestimmungen oder bedienen sich der Formel, daß gewisse Vorschriften der Landesgesetze durch das Reichsgesetz „ unberührt “ bleiben Vgl. Einf.-Ges. zur Civilproceß.-Ordn . §. 14: „Die proceß- rechtlichen Vorschriften der Landesgesetze treten für alle bürgerlichen Rechts- streitigkeiten, deren Entscheidung nach den Vorschriften der Civilproceßordnung zu erfolgen hat, außer Kraft , soweit nicht in der Civilprozeßordn. auf sie verwiesen oder so weit nicht bestimmt ist, daß sie nicht berührt werden .“ Die §§. 15 u. 16 enthalten einen Katalog von landesgesetzlichen Vorschriften, welche „unberührt bleiben.“ Vgl. ferner das Einf.-Ges . zur Strafproceß -Ordn. §. 6 und zur Konkurs -Ordn. §. 4. . Wenn es an einer solchen ausdrücklichen Erklärung fehlt, kann für die Beantwortung dieser Frage es von Bedeutung sein, ob ein Reichsgesetz schlechthin „alle in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Rechtsvorschriften“, welche Laband , Reichsstaatsrecht. II. 8 §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. die reichsgesetzlich geregelte Materie betreffen, beseitigt So z. B. das Ges. v. 11. Juni 1870 §. 57. , oder ob es nur „alle entgegenstehenden“ oder ihm „widersprechenden“ Be- stimmungen der Landesgesetze aufhebt Diese in Reichsgesetzen öfters begegnende Bestimmung ist völlig selbst- verständlich und deshalb überflüssig. Bei weitem zweckmäßiger wäre es, wenn die Reichsgesetze in diesen Fällen die entgegengesetzte Formulirung enthielten, daß die Landesgesetze in Kraft bleiben, so weit sie mit den Bestimmungen des Reichsgesetzes nicht in Widerspruch stehen, denn dies ist eben nicht selbst- verständlich. . In dem letzteren Falle weist das Reichsgesetz auf die ihm nicht widersprechenden Bestim- mungen der Landesgesetze als zu seiner Ergänzung dienende hin und erklärt damit, daß es keine abschließende oder umfassende Normirung der von ihm behandelten Materie geben will ; es ist demnach zu vermuthen, daß es auch in Zukunft eine Ergänzung durch die Autonomie der Einzelstaaten dulden will. Indeß ist nicht zu übersehen, daß sich die beiden in Rede stehenden Klauseln direct nur auf die bereits in Geltung befindlichen landesgesetzlichen Vorschriften beziehen und daher für die Frage nach der Zulässigkeit einer Ergänzung durch spätere Gesetze der Einzelstaaten nur als Interpretations-Momente in Betracht kommen können. e ) Endlich bedarf die Frage, ob Landesgesetze zulässig sind, welche Vorschriften zur Ausführung eines Reichsgesetzes auf- stellen, einer Beantwortung. Dieselbe ist deshalb nicht ohne Schwie- rigkeit, weil der Ausdruck „Ausführungsgesetz“ ein vieldeutiger und unbestimmter ist. Bei der Lehre von den Verordnungen ist bereits hervorgehoben worden, daß man unter Ausführungsbe- stimmungen zu einem Gesetze die nähere Entwickelung, Detaillirung, Interpretation und Ergänzung der in diesem Gesetze sanctionirten Prinzipien zu verstehen pflegt. Bestimmungen dieser Art dürfen die Einzelstaaten eben so wenig im Wege der Gesetzgebung wie im Wege der Verordnung erlassen, wofern nicht das Reichsgesetz ihnen diese Befugniß ausdrücklich übertragen hat. Denn die authen- tische Interpretation eines Reichsgesetzes kann nur vom Reiche ausgehen, die logische Interpretation der Reichsgesetze aber, die Entwicklung der in ihnen enthaltenen Rechtssätze, die Anwendung der daraus sich ergebenden Folgerungen ist Sache der Gerichte und andern im Einzelfalle kompetenten Behörden. Unter dem §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. Namen und Schein der Ausführungsgesetze könnte sich leicht eine landesgesetzliche Declaration, eine partikuläre Umbildung und Um- prägung des Reichsgesetzes verstecken Heinze S. 23. 24. . Wohl zu unterscheiden von Gesetzen dieser Art sind aber Lan- desgesetze, welche man zwar auch als Ausführungsgesetze zu Reichs- gesetzen bezeichnet, welche aber nur gewisse von den Reichsgesetzen nicht unmittelbar normirte Partien des Landesrechts in der Art umgestalten, daß die Ausführung der Reichsgesetze erleichtert und ermöglicht und der gesammte Rechtszustand des Einzelstaats in harmonischem Zusammenhang erhalten wird. Solche Gesetze sind zulässig; denn wenngleich sie durch die Einführung eines Reichs- gesetzes veranlaßt und auf die Erleichterung ihrer Ausführung berechnet sind, so normiren sie doch nicht diese Ausführung selbst, sondern eine von der Reichsgesetzgebung freigelassene Sphäre des Landesrechts Das Einführungsges . zum Strafgesetzb. §. 8, welches diese Be- fugniß der Einzelstaaten ausdrücklich anerkennt, nennt solche Anordnungen fälschlich: „Uebergangsbestimmungen“. Vgl. Heinze S. 109. Wirkliche Uebergangsbestimmungen kann der Regel nach nur das Reich geben, falls dieselben die Zeit nach Einführung des Reichsgesetzes berühren, der Einzelstaat, falls sie die Zwischenzeit bis zum Inkrafttreten des neuen Reichs- gesetzes betreffen. Das Einf.-Ges. z. Strafproceß -Ordn. §. 8; das Einf.-Ges . zur Civilproc .-Ordn. §. 18 Abs. 2. §. 21 Abs. 2. §. 23 Abs. 2; das Einf.-Ges. z. Konc.-Ordn . §. 8 Abs. 2. §. 12. 13 ermäch- tigen die Einzelstaaten zum Erlaß eigentlicher Uebergangsbestimmungen. . Ein besonders wichtiger hierher gehörender Fall ist der, wenn das Reichsgesetz gewisse staatliche Einrichtungen voraussetzt , aber sie nicht regelt; z. B. eine Behörden-Organisation, ein Ge- fängnißwesen, eine Gemeinde-Verfassung. Ohne solche Einrichtun- gen könnte zwar das Reichsgesetz nicht ausgeführt werden, aber die Einrichtungen haben eigene und selbstständige und weiterrei- chende Zwecke als bloß die Ausführung des Reichsgesetzes zu er- möglichen. Ihre Normirung bleibt daher den Einzelstaaten über- lassen. 3. So lange eine Rechtsmaterie reichsgesetzlich nicht geregelt ist, unterliegt dieselbe im Allgemeinen der Autonomie der Einzel- staaten Von der Autonomie der Einzelstaaten ist zu unterscheiden die reichs- . Von diesem Prinzip giebt es aber eine doppelte Aus- 8* §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. nahme, indem gewisse Angelegenheiten nach der Reichsverfassung entweder der Gesetzgebung der Einzelstaaten oder derjenigen des Reiches gänzlich entzogen sind. Die gesammte Rechtsordnung zer- fällt demnach in dieser Hinsicht in drei Gebiete, in das der aus- schließlichen Gesetzgebungs-Competenz des Reiches, in das der fa- kultativen Gesetzgebungs-Competenz des Reiches, welches zugleich bedingt das Gesetzgebungsgebiet der Einzelstaaten ist, und in das der ausschließlichen Gesetzgebungs-Competenz der Einzelstaaten. a ) Der ausschließlichen Kompetenz Vgl. Riedel S. 38. 39. v. Rönne II. 1. S. 9. des Reiches unterliegen die Anordnungen über die Verfassung des Reiches, die Organisa- tion, die Amtsbefugnisse und Pflichten seiner Behörden, die recht- liche Stellung seiner Beamten, die Bildung des Reichstages (Wahl- recht) und die Rechte und Pflichten der Abgeordneten, die Finanz- wirthschaft des Reiches, die Verwaltung der Reichs-Anstalten und das Verhältniß der einzelnen Bundesglieder zum Reich. Alle diese Gegenstände unterliegen ihrer Natur nach nicht der Machtsphäre eines einzelnen Staates, sondern setzen die Verbindung der Einzel- staaten zu einer höheren Einheit, dem Reiche, voraus; sie können daher auch nur von dieser höheren Gewalt ihre rechtliche Normi- rung erhalten. Aus demselben Grunde hat das Reich ausschließ- lich die Gesetzgebung über die Kriegsmarine, da nach Art. 53 der R.-V. dieselbe eine „einheitliche“ ist; hinsichtlich der Handelsmarine sind in Art. 54 Abs. 2 diejenigen Punkte aufgeführt, welche „das Reich“ zu bestimmen hat, so daß auch in diesen Beziehungen die Gesetzgebung der Einzelstaaten ausgeschlossen ist. In Betreff des Kriegswesens ist die Gesetzgebung der Einzelstaaten ebenfalls aus- geschlossen, da nach Art. 61 der Verf. im ganzen Reichsgebiet „die gesammte“ Preuß. Militairgesetzgebung einzuführen war und nach gleichmäßiger Durchführung der Kriegsorganisation ein „umfassen- des“ Reichsmilitairgesetz dem Reichstage und dem Bundesrathe vorgelegt werden sollte. Dieses „umfassende“, also Ergänzungen durch die Landesgesetzgebung ausschließende Reichsmilitairgesetz ist unter dem 2. Mai 1874 (R.-G.-Bl. S. 45) ergangen. Außerdem ist durch den Art. 35 der R.-V. dem Reich ausschließlich zuge- wiesen die Gesetzgebung über das gesammte Zollwesen; ferner über gesetzliche Ermächtigung derselben zum Erlaß von Ausführungsbestimmungen zu Reichsgesetzen. Siehe oben S. 83 fg. §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. die Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen dargestellten Zuckers und Syrups, jedoch mit der Ausnahme, daß in Bayern, Württemberg und Baden die Besteuerung des inländischen Branntweins und Bieres der Landesgesetzgebung vorbehalten bleibt; endlich über den gegen- seitigen Schutz der in den einzelnen Bundesstaaten erhobenen Ver- brauchsabgaben gegen Hinterziehungen, sowie über die Maßregeln, welche in den Zoll-Ausschlüssen zur Sicherung der gemeinsamen Zollgrenze erforderlich sind Vgl. hierüber die näheren Ausführungen in meinem Reichsfinanzrecht in Hirth’s Annalen 1873 S. 448 ff. . Auf diesen Gebieten sind gesetzliche Vorschriften der Einzel- staaten unstatthaft und rechtlich unwirksam auch hinsichtlich solcher Punkte, welche das Reich gesetzlich nicht geregelt hat. Denn hier ist die Gesetzgebung der Einzelstaaten ganz und gar ausgeschlossen und durch die Reichsverfassung untersagt. b ) Der fakultativen Gesetzgebungs-Kompetenz des Reiches unter- liegen die übrigen, im Art. 4 der Reichsverf. aufgeführten Angelegen- heiten. So lange das Reich über Gegenstände, welche hierher ge- hören, eine bindende Norm nicht aufstellt, bleiben nicht nur die in den Einzelstaaten geltenden Rechtsvorschriften in Kraft, sondern sie können auch von dem Einzelstaat im Wege der Landesgesetzgebung und — so weit dies nach dem Landesrecht zulässig ist — der Landesverordnung aufgehoben oder abgeändert werden Vgl. Bayrisches Schlußprotok. v. 23. Nov. 1870 Art. VI. . So bald das Reich von der ihm zustehenden Befugniß Gebrauch macht, treten die Landesgesetze nach den vorstehend entwickelten Regeln außer Kraft und die Reichsgesetze an ihre Stelle. c ) Der ausschließlichen Gesetzgebungs-Kompetenz der Einzel- staaten unterliegen alle Gebiete, welche nach der Reichsverfassung oder den auf Grund derselben ergangenen Gesetzen der Kompetenz des Reiches nicht zugewiesen sind. Diese Kompetenz der Einzel- staaten tritt also überall subsidiär ein, wo es an einem die Kompetenz des Reiches begründenden Rechtssatz fehlt. Eine Er- weiterung der Gesetzgebungs-Kompetenz des Reiches ist eine Ab- änderung der Reichsverfassung; demnach kann das Gebiet, welches §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. der ausschließlichen Gesetzgebung der Einzelstaaten überlassen ist, beschränkt werden durch ein nach den Vorschriften des Art. 78 Abs. 1 und event. Art. 78 Abs. 2 der R.-V. zu Stande gekomme- nes Reichsgesetz. 4. Es entsteht nun die Frage, ob Behörden der Einzelstaaten, richterliche oder Verwaltungs-Behörden, befugt und verpflichtet sind, die Zulässigkeit eines Landesgesetzes oder einer landesherr- lichen Verordnung gegenüber einem Reichsgesetz zu prüfen, oder ob es dem Reiche überlassen bleiben muß, kraft der ihm nach Art. 4 und Art. 17 zustehenden „Beaufsichtigung“ und „Ueber- wachung“ dafür Sorge zu tragen, daß die Einzelstaaten Anordnun- gen zurücknehmen, zu deren Erlaß sie der Reichsgesetzgebung gegen- über nicht befugt waren. Hier ist zunächst die Einmengung eines unrichtigen Gesichts- punktes abzuweisen; nämlich die Berücksichtigung landesgesetzlicher Vorschriften über das Recht der Behörden, die Rechtsgültigkeit gehörig verkündeter landesherrlicher Gesetze oder Verordnungen zu prüfen, wie sie z. B. die Preuß. Verf.-Urk. Art. 106 aufstellt. Diese Vorschriften beziehen sich nicht auf das Verhältniß der vom Einzelstaat angeordneten Rechtssätze zu den von einer überge- ordneten Gewalt ausgehenden Anordnungen, sondern auf die Bethätigung der Gesetzgebungs-Befugniß innerhalb der Macht- sphäre des Einzelstaats. Entstanden sind diese Anordnungen zu einer Zeit, als den Einzelstaaten die souveraine Gesetzgebungs- gewalt zustand; anwendbar geblieben sind sie seit Gründung des Reiches (Nordd. Bundes) nur auf die den Einzelstaaten verbliebene Autonomie Vgl. Hiersemenzel II. S. 282. v. Holtzendorff , Reichs- strafr. und Landesstrafr. S. 16 (Allgem. Deutsche Strafrechtszeitung 1871). Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 247. . So weit die Einzelstaaten noch das Recht der Ge- setzgebung haben, so weit behalten auch diese Vorschriften unge- schmälert ihre Kraft; ob aber die Einzelstaaten überhaupt über einen gewissen Punkt noch Gesetze zu geben befugt sind, ist eine Frage, welche von jenen Vorschriften völlig unberührt bleibt. Das Verhältniß, in welchem die Organe der einzelnen Staaten in Be- ziehung auf die Gesetzgebung zu einander stehen, kann durch Gesetz jedes einzelnen Staates normirt werden; das Verhältniß dagegen der Staatsgewalt des Einzelstaats zur Reichsgewalt hinsichtlich der §. 61. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. Befugniß, Rechtsvorschriften zu sanctioniren, kann nicht durch den Willen des Einzelstaates, also nicht durch Landesgesetz entschieden werden. Die Entscheidung dieser Frage ist vielmehr aus der Reichsverfassung zu entnehmen und für alle Deutschen Staaten gleichmäßig zu treffen, gleichviel welche Rechtsgrundsätze in den- selben über das sogen. richterliche Prüfungsrecht landesgesetzlicher Anordnungen gelten. Diese Entscheidung ist durch folgende zwei Sätze gegeben: a ) Jede Behörde, welche in ihrem amtlichen Wirkungskreise Rechtssätze zu handhaben hat, mag es ein Gericht oder eine Ver- waltungsbehörde sein, muß prüfen, welcher Rechtssatz auf den einzelnen, zur Entscheidung stehenden Fall anwendbar ist. Ent- halten die vorhandenen Rechtsquellen einander widersprechende Rechtssätze, so muß die Prüfung darauf gerichtet werden, welche dieser Rechtsquellen in dem concreten Falle maßgebend ist und nach bekannten Rechtsgrundsätzen gebührt hierbei beispielsweise der lex specialis vor der lex generalis, der lex posterior vor der lex prior u. s. w. der Vorrang. Ergiebt sich ein Widerspruch zwischen einem Reichsgesetz — und daß auch die Reichsverfassung ein Reichs- gesetz ist, versteht sich von selbst — und einem Landesgesetz, so entscheidet einfach der im Art. 2 der R.-V. aufgestellte Grundsatz, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen ; d. h. die Behörde hat auf den ihrer Entscheidung unterliegenden Fall nicht die Vorschrift des Landesgesetzes, sondern die des Reichsgesetzes anzuwenden Heinze S. 134 fg. Hauser , Verf. S. 31 Note 9 und die in der vori- gen Anmerk. angeführten Schriftsteller. Unrichtig ist es daher, wenn Riedel S. 83 lit. e diese Prüfung den Behörden „ in Ermanglung einer spe- ziellen reichs- oder landesgesetzlichen Bestimmung oder einer sonstigen verbindlichen Erklärung der hiezu berufenen Organe (?)“ zugestehen will. . Nur unterliegt die Frage, ob eine Collision zwi- schen einem Reichsgesetz und einem Landesgesetz vorliegt, dem res- sortmäßigen Instanzenzuge und hieraus ergiebt sich eine verschiedene Stellung der Gerichte und der Verwaltungsbehörden, indem die Entscheidung der höheren Verwaltungs-Instanz für die ihr unter- geordneten Behörden zwingend und für ihr Verhalten in anderen, ähnlichen Fällen maßgebend sein kann, während die Entscheidung der höheren richterlichen Instanz nur in dem einzelnen Fall for- melles Recht schafft. §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Ein Widerspruch zwischen einem Reichsgesetz und einem Lan- desgesetz liegt aber nicht nur dann vor, wenn das Reichsgesetz eine andere Rechtsvorschrift aufstellt als das Landesgesetz, sondern auch in dem Fall, wenn das Reich den Erlaß einer landesgesetz- lichen Vorschrift ausdrücklich oder stillschweigend untersagt hat In Anwendung dieses Prinzips hat das Ober-Appellat.-Ge- richt zu Dresden durch Erk. v. 27. Sept. 1872 (Goltdammer’s Archiv Bd. XX. S. 97 ff.) die Königl. Sächs. Verordn. v. 10. Dez. 1870 für unwirk- sam erklärt, welche in Folge dessen aufgehoben wurde. Rüdorff , Kom- mentar (2. Aufl.) S. 50. . b ) Daneben besteht das Recht des Reiches, die Ausführung der Reichsgesetze zu überwachen und die im Art. 4 der R.-V. auf- gezählten Angelegenheiten zu beaufsichtigen. Diese Befugniß kann aber nicht in der Art geltend gemacht werden, daß der Kaiser resp. sein Minister, der Reichskanzler, oder der Bundesrath ein Landes- gesetz für nichtig erklärt oder in die amtliche Thätigkeit der Landes- behörden unmittelbar eingreift, sondern nur dem Landesherrn, resp. der Centralregierung des Einzelstaates gegenüber, indem der Einzel- staat über die Unzulässigkeit des von ihm erlassenen Gesetzes auf- geklärt und zur pflichtmäßigen Rücknahme desselben aufgefordert wird Vgl. meine Erörterungen in Hirth’s Annalen 1873 S. 484 fg. Ein Beispiel eines solchen Vorganges ist oben Bd. I. S. 266 Note 1 mitgetheilt. In einem anderen Falle hat der Bundesrath durch Beschluß anerkannt (Protok. 1873 §. 134): „daß der Erlaß landesgesetzlicher Bestimmuugen in Beziehung auf Forst- und Feldpolizei-Straffälle und auf den Holz-(Forst) Diebstahl durch §. 2 Abs. 2 des Einf.-Ges. zum St.-G.-B. v. 31. Mai 1870 nicht ausge- schlossen sei.“ . §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Aus der eigenthümlichen Stellung, welche das Reichsland ein- nimmt, ergeben sich auch hinsichtlich der Gesetzgebung Besonder- heiten und zwar sowohl in Beziehung auf die Formen, in denen der gesetzgeberische Wille zur rechtlichen Wirksamkeit gelangt als auch in Beziehung auf das gegenseitige Verhältniß von Reichsge- setzgebung und Landesgesetzgebung. Der historischen Entwicklung gemäß sind drei Zeiträume von einander zu unterscheiden, für welche verschiedene Grundsätze zur Anwendung kommen. Der erste beginnt mit der Occupation des Landes durch die Deutschen Heere, §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. der zweite mit der Vereinigung des im Friedensvertrage v. 26. Febr. 1871 abgetretenen Gebietes mit dem Deutschen Reiche, der dritte mit der Einführung der Deutschen Reichsverfassung im Reichslande. I. Die Zeit der kriegerischen Occupation . 1. Die Rechtsregeln, welche für diese Periode zur Anwendung zu bringen sind, beruhen auf dem völkerrechtlichen Prinzip, daß durch die kriegerische Besetzung eines Gebietes die staatliche Zuge- hörigkeit desselben rechtlich nicht aufgehoben oder verändert wird, wohl aber thatsächlich die Ausübung der einheimischen Staatsgewalt suspendirt und auf die occupirende Macht übertra- gen wird Vgl. hierzu die Erörterungen von Löning , Die Verwaltung des General-Gouvernem. im Elsaß. Straßb. 1874 S. 8 ff. . Bis zum Friedensschluß war Elsaß-Lothringen ein Theil Frankreichs, nicht Deutschlands; aber die französische Staats- gewalt konnte in den von den Deutschen Heeren besetzten Gebieten sich nicht wirksam äußern, ihre Handhabung und Ausübung war dem Oberbefehlshaber der Deutschen Heere, d. h. dem Könige von Preußen zugefallen. Die Suspension der französischen Staatsge- walt enthält zugleich den Ausschluß der französischen Gesetzgebung; in denjenigen Gebieten, welche dem Machtbereich des französischen Staates entzogen waren, konnten Willensakte desselben überhaupt nicht, also auch nicht Gesetze, zur rechtlichen Geltung gelangen. Da- gegen war der Oberbefehlshaber der Deutschen Armee in der Lage, die in der Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse auszuüben, also auch Gesetzesbefehle zu erlassen, und die Schranken, die er sich hierbei auferlegte, waren lediglich durch die völkerrechtliche Uebung gegeben Löning a. a. O. S. 26 ff. . Aus diesem Grundsatze ergeben sich folgende Conse- quenzen: a ) Die französische Gesetzgebungsbefugniß erlosch in dem Ge- biete des Reichslandes nicht durch einen einheitlichen Rechtsakt und nicht mit einem Male, sondern nach und nach mit dem Vorrücken der Deutschen Heere. Entscheidend dafür ist nicht die Thatsache, daß ein Ort von Deutschen Truppen besetzt worden ist, sondern daß er der Einwirkung der französischen Staatsgewalt entzogen worden ist. Beides braucht nicht nothwendig zusammenzufallen; §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. auch solche Ortschaften, die nicht mit Deutschen Truppen belegt waren, die sich aber im Machtbereich der letzteren befanden, waren der Herrschaft der französischen Staatsgewalt entrückt. Die Fest- stellung des Zeitpunktes, in welchem ein District aus der thatsäch- lichen Beherrschung durch die Französische Macht in die der Deut- schen Macht überging, ist eine quaestio facti. Die während des Krieges erlassenen französischen Gesetze konnten demnach in einem Theile Elsaß-Lothringens noch rechtliche Wirksamkeit erlangen, wäh- rend in einem anderen Theile dies nicht mehr möglich war. Man darf hieraus aber nicht den Schluß ziehen, daß dies in Wirklichkeit überall da eingetreten ist, wo die Besetzung durch Deutsche Truppen noch nicht vollzogen war. Es mußten vielmehr auch da, wo Gesetzgebungsakte Frankreichs noch an sich möglich waren, diejenigen Bedingungen erfüllt werden, welche das franzö- sische Recht selbst für die Rechtswirksamkeit von Gesetzen vorschreibt, und dahin gehört das im Code civ. Art. 1 enthaltene, oben S. 101 bereits erörterte Erforderniß der Publikation in dem Sinne, daß die Promulgation des Gesetzes authentisch d. h. durch Verbreitung des Gesetzblattes bekannt werden kann. In den von den Deutschen Truppen cernirten Festungen konnte es daher einen Zeitraum geben, in welchem die Deutsche Heeresleitung zur Ausübung der Gesetz- gebungsbesugniß noch nicht gelangt war, weil sie sich diese Orte thatsächlich noch nicht unterworfen hatte, während zugleich die fran- zösischen Gesetze nicht mehr zu rechtlicher Geltung kamen, weil die Verbindung mit dem in französischer Gewalt verbliebenen Ge- biete unterbrochen und dadurch die Verbreitung des authentischen Gesetzes-Abdruckes in diesen Orten verhindert war Vgl. v. Richthofen in Hirth’s Annalen 1874 S. 534 ff. . b ) Die occupirten Gebiete waren während des Krieges dem Deutschen Staatswesen , das erst mit dem 1. Januar 1871 errichtet wurde, nicht unterworfen, sondern sie befanden sich nur in der militärischen Gewalt der verbündeten Deutschen Heere. Der König von Preußen als Oberbefehlshaber der Deutschen Streit- kräfte hatte daher in den besetzten Gebieten nicht staatsrechtliche, sondern völkerrechtliche Befugnisse; er übte, so weit es sich um die Regierung der französischen Gebiete handelte, nicht die deutsche, sondern die französische Staatsgewalt aus. Daher sind auch die §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. während der Occupation erlassenen Verordnungen nicht als Willens- akte des Deutschen Reiches anzusehen, sondern als Willens- akte, welche der Deutsche Oberbefehlshaber an Stelle der suspendirten französischen Staatsgewalt vornahm. Sie stehen demnach auf gleicher Stufe mit den französischen, in Elsaß- Lothringen geltenden Gesetzen d. h. sie sind nicht Reichsgesetze, son- dern Landesgesetze, sie haben nicht die Kraft des Reichsrechts, sondern die des Partikularrechts. 2. Die Verwaltung (d. h. Occupations-Regierung) von Elsaß- Lothringen wurde von dem Oberbefehlshaber der Deutschen Heere auf den „ General-Gouverneur im Elsaß“ übertragen Allerhöchste Cabinets-Ordre v. 14. Aug. 1870. Ihm waren zunächst die occupirten Distrikte des Elsasses , durch Verordn. v. 21. Aug. 1870 aber auch die lothringischen Arrondissements Saarburg, Chateau-Salins, Saargemünd, Metz und Thionville unterstellt worden. (Verordnungen und Amtl. Nachrichten f. Els.-Lothr. Nro. 2 u. 3.) . Die ihm obliegende Thätigkeit wurde geregelt durch eine vom Preußischen Kriegsministerium in Gemeinschaft mit dem Kanzler des Norddeutschen Bundes entworfene und von dem Bundes-Ober- feldherrn genehmigte Instruction Diese Instruction ist am 21. August erlassen worden, wie sich aus der Cabinets-Ordre vom 26. Aug. 1870 ergibt. Verordn. u. Amtl. Nachr. Nr. 4. . Dieselbe ist nicht veröffentlicht worden; in der Proklamation des General-Gouverneurs, Grafen v. Bismarck-Bohlen, v. 30. August 1870 macht derselbe aber be- kannt, daß in den ihm zugewiesenen Gebieten „die kaiserlich fran- zösische Staatsgewalt außer Wirksamkeit gesetzt und die Autorität der Deutschen Mächte an deren Stelle getreten sei“, und daß er „zur Handhabung derselben“ ernannt worden sei Verordn. u. Amtl. Nachrichten Nr. 6. . Die Voll- macht des General-Gouverneurs umfaßte daher alle in der fran- zösischen Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse. Wenngleich ihm in der Instruction über die Art und Richtung, in welcher er von dieser Vollmacht Gebrauch machen sollte, wahrscheinlich nähere An- weisungen ertheilt worden sind, so war formell seine Vollmacht eine unbeschränkte. Er konnte daher in rechtsverbindlicher Weise Anordnungen über Gegenstände treffen, welche in den Bereich der Gesetzgebung gehören. Oder mit andern Worten: Während der Zeit der Occupation war die Verordnung des §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. General-Gouverneurs die Form, in welcher die Gesetzgebung in Elsaß-Lothringen ausgeübt wurde Dies schloß natürlich nicht aus, daß nicht Verordnungen vom „Ober- befehlshaber der Deutschen Heere“ selbst erlassen werden konnten. Beispiele sind die Verordnungen über das Posttaxwesen v. 28. Oct. 1870 und die V. über die Bestrafung des Anschlusses an die feindlichen Streitkräfte v. 15. Dez. 1870 (Verordnungen und Amtl. Nachrichten Nro. 36. 77). . Von dieser Befugniß machte der General-Gouverneur in sehr aus- gedehnter Weise Gebrauch. Zur Verkündigung dieser Verordnungen wurden die „Amt- lichen Nachrichten für das General-Gouvernement Elsaß“ vom 1. September 1870 an herausgegeben. Eine Verordnung vom 9. Sept. 1870 bestimmte, daß alle Verordnungen oder Verfügun- gen des General-Gouverneurs und des (ihm durch Cab.-Ordre v. 26. Aug. 1870 unterstellten) Civil-Commissars durch die Veröffent- lichung in den Amtl. Nachrichten ꝛc. ohne Unterschied, ob sie in deutscher oder französischer Sprache abgefaßt sind, verbindende Kraft für Jedermann erhalten. Diese verbindende Kraft trat, so- fern in den Verordnungen selbst nicht etwas anderes bestimmt ist, ein für das Departement des Niederrheins nach Ablauf des Tages der Ausgabe der „Amtlichen Nachrichten“ in der Residenz des General-Gouverneurs, für das Departement des Oberrheins nach Ablauf des folgenden, für das Departement der Mosel nach Ab- lauf des zweitfolgenden Tages. Auf jeder Nummer wurde der Vermerk des Ortes und das Datum der Ausgabe besonders ab- gedruckt. Seit dem 19. Oktober 1870 erschienen die „Amtlichen Nach- richten ꝛc.“ unter dem Titel „Straßburger Zeitung und Amtliche Nachrichten für das General-Gouvernement Elsaß“ Verordnungen und Amtl. Nachrichten Nro. 30. . Sie sind für Elsaß-Lothringen an die Stelle des Bulletin des Lois getreten und bilden die offizielle Gesetzsammlung für die Zeit der Occupation. Eine Sammlung aller in derselben enthal- tenen Verordnungen und Bekanntmachungen ist vom Oberpräsidium in Straßburg herausgegeben worden unter dem Titel: Verord- nungen und Amtliche Nachrichten für Elsaß-Lothringen aus der §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Zeit vom Beginn der deutschen Occupation bis Ende März 1872“. Straßb. Trübner. 1872 Diese Ausgabe ist im Vorstehenden citirt. Die Eigenschaft der Au- thenticität kommt derselben nicht zu. . 3. Nach Abschluß des Friedens mit Frankreich wandelte sich die thatsächliche kriegerische Besetzung der an Deutschland abgetre- tenen Gebiete in eine rechtliche Beherrschung derselben um; der Rechtstitel derselben war nicht mehr das Kriegsrecht, sondern die vertragsmäßige Uebertragung der Staatsgewalt. Die für Deutsch- land erworbenen Gebiete wurden aber nicht sofort dem Deutschen Staatsverbande einverleibt und ebenso wenig zu einem eigenen Staate constituirt; es dauerte vielmehr der durch den Krieg ge- schaffene provisorische Zustand noch einige Zeit fort. Erst das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 sprach die Vereinigung von Elaß- Lothringen mit dem Deutschen Reiche aus; dieses Gesetz ist am 14. Juni 1871 durch das Reichsgesetzblatt verkündigt worden, hat also am 28. Juni 1871 gemäß Art. 2 der R.-V. verbindliche Kraft erlangt. In Elsaß-Lothringen ist es zwar erst am 5. Juli 1871 durch die erste Nummer des Gesetzblattes für Elsaß-Lothringen verkündet worden; da es aber unmöglich war, daß das die Ver- einigung aussprechende Gesetz in Elsaß-Lothringen zu einem andern Zeitpunkte in Geltung trat als im Deutschen Reiche und da es sich bei diesem Gesetz um eine Verfügung des Deutschen Reiches über die ihm abgetretenen Gebiete, also um einen Willensakt des Deutschen Reiches handelte, dessen Object Elsaß-Lothringen war, so muß man annehmen, daß das Gesetz auch für Elsaß-Lothringen am 28. Juni 1871 in Wirksamkeit getreten ist Correcter wäre es freilich gewesen, wenn die Reichsregierung für eine rechtzeitige Verkündigung des Gesetzes in Elsaß-Lothringen Sorge ge- tragen hätte. , und daß mithin von diesem Tage an die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen nach den im Gesetz vom 9. Juni 1871 aufgestellten Regeln zu beur- theilen ist. Obwohl das Amt des General-Gouverneurs noch bis zum 5. September bestand Verordnungen und Amtl. Nachrichten Nro. 297. 299. , so bestimmte sich doch vom 28. Juni an die demselben zustehende Kompetenz nicht mehr ausschließlich nach der vom Bundesoberfeldherrn ertheilten Instruction, sondern in §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. erster Reihe nach den Vorschriften des Reichsgesetzes vom 9. Juni 1871. Die Machtbefugniß des General-Gouverneurs, das in Elsaß- Lothringen geltende Recht durch Verordnungen umzugestalten, hörte mit dem 28. Juni 1871 auf. II. Die Zeit vom 28. Juni 1871 bis zum 31. Dezember 1873 . Durch das Gesetz vom 9. Juni 1871 §. 3 ist dem Kaiser die Ausübung der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übertragen, mithin auch die Ausübung der Befugniß, Gesetze zu erlassen. Die Form, in welcher diese Befugniß ausgeübt werden mußte, war aber, so lange die Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen nicht zur Wirksamkeit gelangte, eine von den Vorschriften der Reichsverfas- sung abweichende und ebenso ist das Verhältniß der auf Grund des Gesetzes vom 9. Juni 1871 für Elsaß-Lothringen erlassenen Gesetze zu den auf Grund der Reichsverfassung erlassenen Gesetzen ein anderes wie es im Uebrigen zwischen Landesgesetzen und Reichsgesetzen besteht. Im Einzelnen ist Folgendes zu bemerken: 1. Der Weg der Gesetzgebung . Derselbe besteht auch bei den für das Reichsland gegebenen Gesetzen aus der Feststellung des Gesetzentwurfs, der Sanction, Promulgation und Publikation. a ) Die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes . Die wesentlichste Abweichung zwischen den durch die Reichsverfassung vorgeschriebenen und den durch das Gesetz vom 9. Juni 1871 an- geordneten Erfordernissen eines Gesetzes beruht in dem Ausschluß des Reichstages an der Beschlußfassung über den Gesetzent- wurf. Nur bei der Aufnahme von Anleihen oder der Uebernahme von Garantien für Elsaß und Lothringen, durch welche irgend eine Belastung des Reiches herbeigeführt wurde, war die Zu- stimmung des Reichstages erforderlich. Diese Ausnahme betrifft lediglich die Finanzwirthschaft des Reiches ; Gesetze, welche der Landeskasse von Elsaß-Lothringen Verpflichtungen auferlegten, auch wenn sie die Aufnahme einer Anleihe zu Lasten derselben anord- neten, bedurften der Zustimmung des Reichstages nicht Eine Anwendung dieses Satzes enthält das Gesetz v. 10. Juni 1872 §. 20 fg. (G.-Bl. f. E.-L. S. 171.). . Dagegen war die Zustimmung des Bundesrathes §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. zum Erlaß eines Gesetzes erforderlich. Ueber die Beschlußfassung des Bundesrathes enthält das Gesetz vom 9. Juni 1871 keine be- sonderen Vorschriften; es kommen mithin die im dritten Abschnitt der Reichsverf. darüber aufgestellten Regeln zur Anwendung. Einer ausdrücklichen Einführung derselben in Elsaß-Lothringen bedurfte es nicht, da die Thätigkeit des Bundesrathes als eines Organes des Reichs selbstverständlich durch die Reichsverfassung geregelt wird Die Bestimmungen im Art. 7 Abs. 4 und 78 sind jedoch unan- wendbar. . Dasselbe gilt von den Funktionen des Reichskanzlers in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Bundesrathes. Eine Er- gänzung erhielt jedoch Art. 8 der R.-V. durch die Bildung eines dauernden Ausschusses für Elsaß-Lothringen, die bereits am 27. Mai 1871 beschlossen wurde Siehe Bd. I. S. 291. . b ) Die Sanction der Gesetze gebührt dem Kaiser . Der Wortlaut des Gesetzes vom 9. Juni 1871 läßt darüber keinen Zweifel zu. Der erste Absatz des hier in Betracht kommenden §. 3 stellt den allgemeinen Grundsatz an die Spitze, daß der Kaiser die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen ausübt . Da die Gesetzgebung nichts Anderes als Bethätigung der Staats- gewalt ist, so steht mithin dem Kaiser die Ausübung der Gesetz- gebung zu; der staatsrechtliche Hoheitsakt besteht aber — wie oben ausgeführt wurde — bei der Gesetzgebung in der Sanction. Wer nicht die Gesetze erläßt , d. h. sanctionirt , von dem kann man nicht sagen, daß er die Staatsgewalt ausübt. Der zweite Absatz desselben Paragraphen bestätigt dies vollkommen, in- dem er hinzufügt, daß der Kaiser bei Ausübung der Gesetz- gebung an die Zustimmung des Bundesrathes gebunden ist. Als das Subject, welches die Gesetzgebungs-Befugniß ausübt, wird also hier ausdrücklich der Kaiser bezeichnet und seine Freiheit in der Ausübung dieser Befugniß wird nur dadurch beschränkt, daß die Zustimmung des Bundesrathes erfordert wird. Während der Art. 5 der R.-V. bei den Erfordernissen eines Reichsgesetzes den Kaiser gar nicht erwähnt, sondern nur innerhalb des Bundesrathes die Präsidialstimme in gewissen Fällen den Ausschlag geben läßt, §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. stellt das Ges. v. 9. Juni 1871 den Kaiser als den eigentlichen Gesetzgeber hin. Dieser Unterschied ist kein bloß theoretischer und formeller. Zwar kann der Kaiser kein Gesetz für Elsaß-Lothringen erlassen ohne Zustimmung des Bundesrathes; während aber der Kaiser nach der Reichsverfassung verpflichtet ist, ein vom Bundesrath ord- nungsmäßig beschlossenes Gesetz zu promulgiren, ohne daß ihm ein Veto zusteht, hat er für Elsaß-Lothringen die freie Entschei- dung darüber, ob er dem vom Bundesrath beschlossenen Gesetze sein Placet ertheilen wolle oder nicht Bei den Berathungen des Gesetzes vom 9. Juni 1871 im Deutschen Reichstage traten in dieser Hinsicht sehr verschiedene Ansichten hervor. Von einigen Rednern wurde die Auffassung zur Geltung gebracht, daß der Kaiser bei der Gesetzgebung für Els.-Lothringen dem Bundesrathe gegenüber dieselbe Stellung habe, wie sie ihm nach Art. 5 der R.-V. zukomme. So namentlich in den Berathungen der Kommission v. Mittnacht , und in der Sitzung des Reichstages v. 20. Mai 1871 die Abgeordneten Wagner und Windthorst (Stenogr. Ber. S. 820. 822). Von anderer Seite wurde die ausdrückliche Anerkennung des kaiserlichen Veto in dem Gesetze gewünscht, insbesondere von den Abgeordneten v. Treitschke und v. Kardorff (Stenogr. Ber. S. 817. 844). Minister Delbrück und Andere machten dagegen geltend, daß es dem Einfluß der Kaiserl. Regierung ohnedies gelingen würde, die Mehrheit im Bundesrathe in wichtigen Fragen zu erlangen. Mit vorzüglicher Klarheit führte indessen der Abgeordnete Lasker aus, daß die Stellung des Kaisers im Reichslande, wie sie durch das Einverleibungsgesetz begründet werden sollte, eine wesentlich andere sei wie die Stellung des Kaisers als Bundespräsidium nach der Reichsverf. (Stenogr. Berichte S. 827. 828). Den hier in Betracht kommenden Satz sprach endlich auf das Bestimmteste Fürst Bismarck aus, indem er erklärte, er könne als Reichskanzler im Bundesrathe „nicht majorisirt werden, ohne Zustimmung des Kaisers ist kein Gesetz möglich.“ (Stenogr. Berichte S. 924.) — Die Frage ist seit Einf. der Reichsverfassung in Elsaß- Lothringen ohne praktische politische Bedeutung, und nur staatsrechtlich von Interesse. . Der Kaiser kann nicht majorisirt werden; ja selbst, wenn die Preußischen Stimmen im Bundesrath für einen Gesetzentwurf abgegeben worden sind, kann der Kaiser — wenn er z. B. durch Berichte aus dem Reichslande die Ueberzeugung von der Unzweckmäßigkeit des Gesetzentwurfs gewinnt — die Genehmigung desselben verweigern. Die Beschlnß- fassung des Bundesrathes über ein elsaß-lothring . Gesetz ist an sich ohne Rechtswirkung; sie ist eine bloße Vorbedingung für den Erlaß eines kaiserlichen Gesetzes. Die Beschlußfassung des §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Bundesrathes über den Erlaß eines Reichsgesetzes nach der Reichs- verfassung ist staatsrechtlich der entscheidende Akt, denn sie hat die kaiserliche Ausfertigung und Verkündigung des Gesetzes zur nothwendigen Rechtsfolge . Das Gesetz vom 9. Juni 1871 nor- mirt die Stellung des Kaisers und Bundesrathes bei der Gesetz- gebung für Elsaß-Lothringen genau ebenso, wie dies oben für die- jenigen Verordnungen nachgewiesen wurde, welche der Kaiser mit Zustimmung des Bundesrathes oder im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlassen hat. Man kann demnach den Gedanken des Gesetzes v. 9. Juni 1871 §. 3 auch in der Art formuliren: Bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Reichsver- fassung ist die unter Zustimmung des Bundesrathes erlassene kaiserliche Verordnung die Form, in wel- cher die Gesetzgebung im Reichslande ausgeübt wird . In der That bedient sich auch der §. 2 desselben Gesetzes einer ähnlichen Ausdrucksweise, indem er bestimmt, daß „durch Verord- nung des Kaisers mit Zustimmung des Bundesrathes einzelne Theile der Verfassung eingeführt werden können“ Daß der Ausdruck „Verordnung“ im §. 3 des Gesetzes nicht gebraucht wurde, beruhte auf dem Bestreben, die Vorstellung auszuschließen, als hätten die Anordnungen des Kaisers nur provisorische Geltung und wäre eine nach- trägliche Genehmigung des Reichstages erforderlich. . c ) Die Promulgation der kaiserlichen Gesetze erfolgt selbst- verständlich durch den Kaiser. Die Ausfertigung geschieht durch eine Urkunde unter der Unterschrift und dem Insiegel des Kaisers, welche zu ihrer Gültigkeit der Unterschrift des Reichskanzlers be- darf Ges. v. 9. Juni 1871 §. 4. . Die Promulgationsformel enthält die Constatirung, daß der Bundesrath verfassungsmäßig seine Zustimmung zu dem Wort- laut des Gesetzes ertheilt hat und der Reichskanzler übernimmt durch seine Unterschrift für die Richtigkeit dieser Feststellung die Verantwortlichkeit. Im Uebrigen gilt von der Ausfertigung des Gesetzes und dem damit verbundenen Verkündigungsbefehl in allen Beziehungen dasjenige, was oben S. 41 und S. 85 von der Pro- mulgation der Reichsgesetze und kaiserlichen Verordnungen ausge- führt worden ist. d ) Die Publikation der elsaß-lothringischen Gesetze ist in dem Ges. v. 9. Juni 1871 nicht geregelt worden. Da der Art. 2 Laband , Reichsstaatsrecht. II. 9 §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. der R.-V. nicht eingeführt wurde, so kam die Verkündigung durch das Reichsgesetzblatt nicht zur Anwendung. Zunächst blieb die V. v. 9. Septemb. 1870 in Geltung, nach welcher die Verkündigung durch die „Amtlichen Nachrichten“ zu erfolgen hatte. Schon am 3. Juli 1871 wurde jedoch ein Gesetz gegeben, wonach die Ver- kündigung der für Elsaß-Lothringen erlassenen Gesetze und kaiser- lichen Verordnungen in einem Gesetzblatt erfolgen soll, welches den Titel „Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen“ führt und vom Reichs- kanzler-Amt herausgegeben wird. Das Gesetz lehnt sich in seiner Wortfassung an den Art. 2 der R.-V. an und bestimmt wie dieser, daß, sofern nicht in dem verkündeten Gesetze ein anderer Anfangs- Termin seiner verbindlichen Kraft bestimmt ist, diese mit dem vier- zehnten Tage nach Ablauf desjenigen Tages beginnt, an welchem das betreffende Stück des Gesetzblattes in Berlin ausgegeben wor- den ist Ges. v. 3. Juli 1871 §. 2. . Dieses Gesetz trat am Tage seiner Verkündigung, nämlich am 5. Juli 1871, in Kraft. Alles, was oben S. 54 fg. von dem Wesen und den Erforder- nissen der Verkündigung von Reichsgesetzen entwickelt worden ist, findet auch auf die Gesetze für Elsaß-Lothringen analoge Anwen- dung. 2. Die Form der Verordnung . Das Gesetz vom 9. Juni 1871 hat keine Anordnung darüber, wie Ausführungs-Bestimmungen, welche Rechtssätze enthalten, rechts- wirksam erlassen werden können. Die Frage nach der Zulässigkeit von Rechtsverordnungen ist demnach ebenso zu entscheiden, wie nach der Reichsverfassung Siehe oben S. 77. . Alle Rechtsregeln, auch wenn sie nur zur Ausführung oder Ergänzung gesetzlicher Vorschriften dienen, müssen der Regel nach in der, im §. 3 des Ges. v. 9. Juni 1871 normirten Gesetzesform aufgestellt werden; eine allgemeine Er- mächtigung von dieser Form abzuweichen ist nicht ertheilt worden. Ebenso wenig ist es aber verboten, durch eine spezielle im Wege der Gesetzgebung erlassene Vorschrift eine solche Ermächtigung zu ertheilen und für den Erlaß gewisser Anordnungen einen anderen Weg als den der regelmäßigen Gesetzgebung vorzuschreiben Da das französische Recht im Allgemeinen in Els.-Lothr. in Geltung . §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Von den verschiedenen Formen, welche für Verordnungen zur Ausführung von Reichsgesetzen oben §. 59 als möglich dargethan worden sind, scheidet zunächst die Verordnung des Einzelstaates aus, da Elsaß-Lothringen kein Staat ist und eine der Reichsgewalt gegenüber selbstständige, mit eigenen Rechten ausgestattete Staats- gewalt im Reichsland nicht besteht Vgl. Bd. I. S. 582 fg. . Es scheidet aber ferner unter der Herrschaft des Gesetzes vom 9. Juni 1871 aus: die unter Zustimmung des Bundes- rathes erlassene kaiserliche Verordnung . Denn dies ist eben die von diesem Gesetz normirte Gesetzesf orm. Dessen- ungeachtet findet sich ein Beispiel für die Vorschrift, daß die zur Ausführung eines Gesetzes erforderlichen Rechtsvorschriften „durch eine im Einvernehmen mit dem Bundesrathe zu erlassende kaiser- liche Verordnung“ ergehen sollen, und zwar in dem Ges. v. 15. Okt. 1873 betreffend die Kautionen der Beamten §. 2, in wörtlicher Wiederholung des §. 3 des Bundesgesetzes v. 2. Juni 1869. Diese Bestimmung ist von praktischer Bedeutung erst von der Zeit an, wo die Reichsverf. in Elsaß-Lothringen in Wirksamkeit trat. So lange das Ges. v. 9. Juni 1871 die Formen der Gesetzgebung regelte, wurde durch §. 2 des Ges. v. 15. Okt. 1873 keine Ab- weichung von dem Wege der Gesetzgebung vorgeschrieben; erst seit- dem dieser Weg der Gesetzgebung sich nach den Vorschriften der R.-V. bestimmt, ist die im §. 2 des Ges. v. 15. Okt. 1873 vor- geschriebene Form nicht mehr die Gesetzesform, sondern eine Ver- ordnungsform; und da die unter der Herrschaft des Gesetzes vom 9. Juni 1871 rechtsgültig erlassenen Gesetze ihre Geltung mit Ein- führung der R.-V. nicht einbüßten, so besteht auch diese Vorschrift gegenwärtig zu Recht Auf Grund derselben ist nicht nur die Verordnung v. 22. Nov. 1873 (G.-Bl. S. 292), sondern auch die V. v. 15. Okt. 1875 (G.-Bl. S. 183) er- gangen. Im Allgemeinen muß allerdings bestritten werden, daß während des Provisoriums Anordnungen getroffen werden durften, durch welche die Formen der Gesetzgebung für die Zeit nach Einführung der R.-V. abweichend von den Bestimmungen des Reichsrechts normirt worden wären. Denn das Ges. v. 9. Jnni 1871 enthielt eine zeitlich begränzte Delegation für den Kaiser; . blieb, so blieben auch diejenigen gesetzlichen Special-Bestimmungen in Kraft, welche dem Staatsoberhaupt oder den Verwaltungsbehörden die Befugniß zum Erlaß von Verordnungen u. s. w. übertragen. 9* §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Auch Verordnungen des Bundesrathes für Elsaß- Lothringen waren nach dem Gesetz v. 9. Juni 1871 nicht für zu- lässig zu erachten, obgleich sie an und für sich ja möglich und durch den Wortlaut jenes Gesetzes nicht ausdrücklich verboten waren. Das Gesetz schloß sie aber mittelbar aus durch Anerkennung des Grundsatzes, daß der Kaiser die Staatsgewalt ausübt, da der Er- laß einer Verordnung eine Ausübung der Staatsgewalt ist. Das Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen enthält auch in der That keine Verordnungen des Bundesrathes aus der Zeit der Herrschaft des Gesetzes vom 9. Juni 1871, abgesehen von der Abgrenzung der Reichstags-Wahlbezirke und der Ergänzung des Wahlreglements v. 1. Dez. 1873, wozu der Bundesrath durch das Ges. v. 25. Juni 1873 §. 6 ermächtigt worden war. Eine Ausnahme macht nur das Bahnpolizei-Reglement , welches nach einer Bekannt- machung des Reichskanzlers v. 29. Dez. 1871 „auf Beschluß des Bundesrathes in Elsaß-Lothringen vom 1. Jan. 1872 an in Kraft tritt“ (G.-Bl. 1872 S. 92) Dasselbe ist übrigens erst am 31. Januar 1872 verkündigt worden, kann also vorher nicht rechtliche Gültigkeit erlangt haben. . Soweit dasselbe lediglich die Ver- waltung der Reichs-Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen regelt, war der Reichskanzler unzweifelhaft befugt, die Befolgung des Bundes- raths-Beschlusses den ihm unterstellten Behörden anzubefehlen; so weit dieses Reglement aber in den §§. 67—70 Bestimmungen aus dem Bereich des Strafrechts und des Strafprocesses enthält, war weder der Bundesrath für das Reich, noch der Reichskanzler für derselbe konnte dieselbe daher nicht in der Art verwenden, daß er sich selbst auf Grund derselben seine Gesetzgebungs-Befugniß verlängert . Mit Einf. der R.-V. sollte die Theilnahme des Reichstages an der Gesetzgebung eintreten; es konnte daher nicht während des Provisoriums angeordnet werden, daß die Form der Gesetzgebung für gewisse Gegenstände ausgeschlossen bleiben solle. Das Ges. v. 15. Okt. 1873 §. 2 wiederholt aber nur einen Satz, der für das Reich bereits durch das Ges. v. 2. Juni 1869 §. 3 Anerkennung gefunden hatte. — Auch das Gesetz v. 13. Juli 1873 (G.-Bl. S. 165) führt an Stelle der bis dahin erforderlichen Form des Gesetzes die Form der Kaiserl. Ver- ordnung ein für die Ermächtigung der Bezirke, Gemeinden und anderen Korporationen zur Aufnahme von Anleihen und zur Erhebung von Steuerzu- schlägen. Dieser Fall betrifft nicht die Normirung des Rechts, sondern die staatliche Aufsicht über die Finanzwirthschaft der Bezirke, Gemeinden u. s. w., also die Verwaltung ; ist aber immerhin bedenklich. §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. das Reichsland zum Erlaß derselben befugt Daß diese Befugniß nicht auf Art. 43 der R.-V. gestützt werden kann, ist bereits oben S. 89 fg. ausgeführt worden. ; diese Bestimmungen erlangten vielmehr im Reichslande keine Rechtsgültigkeit. Es sind jedoch während der Herrschaft des Gesetzes vom 9. Juni 1871 in Elsaß-Lothringen Reichsgesetze eingeführt worden, welche den Bundesrath zum Erlaß von Ausführungs- Verordnungen ermächtigen. So z. B. das Jesuitengesetz v. 4. Juli 1872 durch Ges. v. 8. Juli 1872; demgemäß sind die Bundes- rathsbeschlüsse, welche auf Grund des §. 3 des Reichsgesetzes ge- faßt worden sind, vom Reichskanzler für Elsaß-Lothringen ver- kündet worden im Gesetzblatt 1872 S. 507, 1873 S. 89 Andere Beispiele sind das Ges. v. 15. Juli 1872 betreffend die Ein- führung des §. 29 der Gewerbe-Ordnung, mit welchem zugleich die vom Bun- desrath beschlossenen Ausführungsbestimmungen verkündet worden sind (G.-Bl. 1872 S. 534 ff.) und das Gesetz v. 27. Jauuar 1873, betreffend die Einfüh- rung des Gesetzes zum Schutz des Urheberrechtes, mit welchem zugleich die Bundesraths-Verordnung v. 12. Dez. 1870 über die Zusammensetzung und den Geschäftsbetrieb der Sachverständigen-Vereine verkündet worden ist (G.-Bl. 1873 S. 19. 34). . In einigen Fällen enthält das Einführungs-Gesetz die Bestimmung, daß der Reichskanzler die zur Ausführung des Gesetzes er- forderlichen Anordnungen erläßt, während das eingeführte Reichs- gesetz den Erlaß dieser Anordnungen dem Bundesrathe über- trägt. Dies ist z. B. der Fall in dem Ges. v. 14. Juli 1871 Art. 3 (G.-Bl. S. 175) betreffend die Einführung der Wechsel- stempelsteuer, verglichen mit §. 28 des Wechselstempel-Gesetzes vom 10. Juni 1869 §. 28 Vgl. auch das Ges. v. 16. Mai 1873 §. 4 betreffend die Einführung des Branntweinsteuergesetzes. . Demzufolge hat der Reichskanzler durch Bekanntmachung v. 27. Juli 1871 die vom Bundesrathe getroffenen Bestimmungen im Gesetzblatt für E.-L. (S. 183) verkündet mit der Klausel, daß dieselben „Anwendung zu finden haben.“ Es kann nun fraglich erscheinen, ob für Elsaß-Lothringen der Bundes- rath oder der Reichskanzler weitere Ausführungsbestimmungen zum Wechselstempelgesetz, falls der Erlaß solcher sich als nothwendig erweisen sollte, zu treffen befugt ist. Da es gewiß nicht die Ab- sicht des Gesetzes war, Elsaß-Lothringen in dieser Hinsicht dauernd in anderer Art wie das übrige Deutschland zu stellen und dem §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Bundesrath hier eine Befugniß zu entziehen, welche ihm im ganzen übrigen Reichsgebiet zusteht, dem Reichskanzler auch bei strenger Wortauslegung nur der Erlaß der zur Ausführung des Einfüh- rungs-Gesetzes erforderlichen Anordnungen, aber nicht der Erlaß der zur Ausführung des eingeführten Reichsgesetzes nothwendigen Bestimmungen im Art. 3 des Ges. v. 14. Juli 1871 übertragen worden ist, so beantwortet sich die Frage zu Gunsten des Bundesrathes. Es bleiben als regelmäßige Verordnungs-Formen unter der Herrschaft des Ges. v. 9. Juni 1871 demgemäß übrig: a ) Verordnungen des Kaisers . Dieselben unter- scheiden sich von den Gesetzen lediglich dadurch, daß die Zustim- mung des Bundesrathes nicht eingeholt zu werden braucht, und daß, wenngleich thatsächlich der Inhalt der Verordnung die Zu- stimmung des Bundesrathes erhalten haben sollte, dies in der Promulgations-Formel nicht erwähnt wird. Sie sind, sofern sie Rechtsv orschriften enthalten, nur zulässig auf Grund spezieller gesetzlicher Ermächtigung, welche in zahlreichen Fällen ertheilt worden ist Beispiele : Ges. v. 14. Juli 1871 über die Gerichtsverfassung §. 2. §. 18. Ges. v. 17. Juli 1871 §. 2. Einf.-Ges. zum Strafgesetzb. v. 30. Aug. 1871 Art. XVI. Verwaltungs-Ges. v. 30. Dez. 1871 §. 18. Einf.-Ges. zum Handels-Ges. u. Wechs.-Ordn. v. 19. Juni 1872 §. 34. Ges. v. 1. Dez. 1873 §. 15. Ges. v. 26. Dez. 1873 §. 8. . Daß sie im Gesetzbl. für Els.-Lothr. verkündigt werden, ist in dem Gesetz v. 3. Juli 1871 §. 1 ausdrücklich vor- geschrieben. b ) Verordnungen des Reichskanzlers oder einer anderen mit der Landesverwaltnng betrauten Behörde. Es gilt von denselben Alles, was oben S. 81 von den Verordnungen des Reichskanzlers im Herrschaftsgebiete der Reichsverfassung ausge- führt worden ist. Soweit Anordnungen des Reichskanzlers ledig- lich die Verwaltungsthätigkeit der Beamten regeln, ist eine beson- dere gesetzliche Ermächtigung zum Erlaß derselben nicht erforder- lich; zu derselben ist der Reichskanzler vielmehr in seiner Stellung als Minister des Kaisers, dem die Ausübung der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übertragen ist, befugt. Jede in den Bereich der Gesetzgebung eingreifende Anordnung, insbesondere jede Rechts- vorschrift, kann dagegen der Reichskanzler nur auf Grund spezieller §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. gesetzlicher Delegation und nur innerhalb des Umfanges der ihm ertheilten Ermächtigung treffen Ermächtigungen für den Reichskanzler enthalten das Ges. v. 14. Juli 1871 über die Gerichtsverfass. §. 2 Abs. 3 u. §. 16. Ges. v. 14. Juli 1871 über die Quartierleistnng §. 3. Das Ges. v. 14. Juli 1871 über die Berg- behörden Art. 8. Ges. v. 17. Juli 1871 über die Einf. der Zoll- u. Steuer- gesetze §. 4. Das Verwaltungsgesetz v. 30. Dez. 1871 §. 14. Das Forstgesetz v. 30. Dez. 1871 §. 8 u. 9. Das Schulgesetz v. 12. Febr. 1873 §. 4. Das Weinsteuerges. v. 20. März 1873 §. 38. Das Expropriationsges. v. 1. Dez. 1873 §. 29. Ein Gesetz, welches lediglich die Aufhebung der bestehenden Vor- schriften ausspricht und den Reichskanzler ermächtigt, andere an deren Stelle zu erlassen, ist das Ges. v. 13. Januar 1873 (G.-Bl. S. 14.). . Verbindliche Kraft erlangen solche Verordnungen aus den oben S. 91 fg. entwickelten Gründen nur dann, wenn sie ordnungsmäßig, d. h. im Gesetzblatt für Elsaß- Lothringen verkündet worden sind. 4) Das Verhältniß zu den nach Maßgabe der Reichsverfassung erlassenen Gesetzen . Die oben S. 109 fg. über das gegenseitige Verhältniß der Reichs- gesetze und Landesgesetze entwickelten Regeln sind auf die für Elsaß-Lothringen erlassenen Gesetze vollständig unanwendbar , denn sie beruhen auf der Thatsache, daß Reichsgesetze und Landes- gesetze von zwei verschiedenen Staatsgewalten erlassen wer- den, von denen die eine der anderen untergeordnet ist. Die Wir- kungen eines Gesetzes gegenüber anderen Anordnungen hängen von der rechtlichen Machtstellung des Subjectes ab, welches den Gesetzesbefehl (die Sanction) ertheilt, nicht von den Formen, welche den Weg der Gesetzgebung bilden; aus der Ueberordnung der Reichsgewalt über die Einzelstaats-Gewalt ergibt sich der Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen und ihre verbindliche Kraft. In Elsaß-Lothringen ist die Staatsgewalt mit der Reichs- gewalt identisch; kann man auch objectiv die Befugnisse, welche das Reich auf Grund der Verfassung im ganzen Reichsgebiete hat, von denen unterscheiden, welche dem Reiche auf Grund seiner unmittelbaren Herrschaft im Reichslande zustehen, so haben doch beide Klassen von staatlichen Befugnissen dasselbe Subject Vgl. Bd. I. S. 585. . Seit der Constituirung Elsaß-Lothringens zum Reichslande gibt es demnach in Elsaß-Lothringen keine Landesg esetzgebung, keine Autonomie im juristischen Sinne mehr. Als Landesgesetze §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. (im Sinne des Art. 2 der R.-V.) zu betrachten sind nur diejeni- gen Rechtsvorschriften, welche vor der Vereinigung Elsaß-Loth- ringens mit dem Deutschen Reiche Geltung erlangt haben; seit der Vereinigung steht die gesetzgebende Gewalt im Reichslande ausschließlich dem Reiche zu. Die für Elsaß-Lothringen erlassenen Gesetze sind demnach nicht Landesgesetze, sondern Reichsgesetze und zwar Provinzialgesetze des Reiches Vgl. Bd. I. S. 588 ff. . Das Ver- hältniß der auf Grund des Vereinigungsgesetzes erlassenen Gesetze zu den auf Grund der Reichsverfassung ergangenen Gesetze ist mithin nicht das der Landesg esetze zu den Reichsg esetzen, sondern das zweier Arten von Reichsgesetzen zu einander. Das Reich übte, so lange die R.-V. in E.-L. noch nicht eingeführt war, für zwei von einander getrennte Gebiete das Recht der Gesetz- gebung in zwei verschiedenen Formen aus; das Reichsg ebiet zerfiel in Hinsicht auf die Ausübung der Gesetzgebung in zwei Rechtsg ebiete, aber die gesetzgebende Gewalt des Reiches spal- tete sich nicht in zwei von einander unabhängige, selbstständige Gewalten . Von diesem Prinzip aus ergibt sich eine Reihe von Folgerungen, in denen der Gegensatz zwischen dem Reichsland und dem übrigen Bundesgebiet zu Tage tritt. a ) Im Herrschaftsgebiet der Reichsverfassung gilt jedes Reichs- gesetz kraft seiner Verkündigung von Reichswegen mittelst des Reichsgesetzblattes; jede Verkündigung durch den Einzelstaat, jede Bestätigung, Erläuterung oder Einführung des Reichsgesetzes durch einen Akt der Landesgesetzgebung ist unstatthaft. Für Elsaß- Lothringen war die Verkündigung eines Reichsgesetzes mittelst des Reichsgesetzblattes völlig wirkungslos; ein auf Grund der Reichs- verfassung erlassenes Gesetz war für Elsaß-Lothringen ebensowenig von verbindender Kraft, wie ein auf Grund des Gesetzes vom 9. Juni 1871 ergangenes Gesetz im Gebiete der Reichsverfassung Geltung hatte. Es mußte vielmehr jedes nach Maßgabe der Reichsverfassung erlassene Gesetz, wenn es im Reichslande Geltung erlangen sollte, daselbst durch einen besonderen Gesetzgebungsakt nach Vorschrift des Ges. v. 9. Juni 1871 eingeführt werden. Der Rechtsgrund seiner Geltung beruht ausschließlich auf dem kaiser- lichen Einführungsgesetz. Davon machen auch diejenigen Gesetze des Reiches keine Ausnahme, welche nach ihrem Wortlaut, Inhalt §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. und Zweck für das ganze Reichsgebiet Geltung haben sollten und mußten, wie das Postgesetz vom 28. Oktober 1871, das Je- suitengesetz v. 4. Juli 1872, das Militair-Strafgesetzbuch v. 8. Juli 1872, das Zollgesetz v. 7. Juli 1873 Dieses Gesetz ist im Gesetzbl. f. Els.-Lothringen v. 1873 S. 191 ver- kündet worden, aber ohne Einführungsgesetz , was ein formelles Ver- sehen ist. — Ebenso ist die gesetzliche Einführung des Posttax-Gesetzes vom 17. Mai 1873 und des den Art. 13 Nro. 4 der R.-V. abändernden Gesetzes v. 20. Dez. 1873 verabsäumt und dieses Versehen erst durch das Reichsgesetz v. 8. Febr. 1875 (G.-Bl. S. 9) gut gemacht worden. , das Gesetz über die Kriegs- leistungen v. 13. Juni 1873 u. s. w. Sie mußten zweimal er- lassen werden, einmal für das Herrschaftsgebiet der Reichsverfas- sung, das andere Mal für das Herrschaftsgebiet des Ges. v. 9. Juni 1871. Will man die Provinzialgesetzgebung des Reichs für Elsaß- Lothringen als Landesgesetzgebung bezeichnen, so kann man für das Reichsland im vollsten Gegensatz zu dem im Art. 2 der R.-V. ausgesprochenen Prinzip den Grundsatz formuliren, daß Reichsge- setze nur gelten, wenn sie im Wege der Landesgesetzgebung einge- führt worden sind Das Wort „Landesgesetzgebung“ hat eben für das Reichsland einen durchaus anderen Sinn als für die Bundesglieder. . b ) Während es im Gebiete der Reichsverfassung unzulässig ist, daß die Einzelstaaten eine Bestimmung eines Reichsgesetzes ab- ändern oder aufheben, die Reichsgesetze vielmehr den unbedingten Vorrang vor allen Landesgesetzen haben, auch den später erlasse- nen, verhält es sich im Reichslande umgekehrt. Die Einführung der Reichsgesetze konnte in Elsaß-Lothringen mit Abänderungen derselben erfolgen Dies ist nur sehr selten geschehen, aber doch vorgekommen. Beispiele dafür bieten das Einf.-Ges. zum Strafgesetzbuch Art. XVI. und das Einf.- Ges. zum Handelsgesetzb. §. 32. — Diese Einführungsgesetze vereinigen in sich Anordnungen, welche im übrigen Reiche theils der Gesetzgebung des Reiches theils der Gesetzgebung der einzelnen Staaten unterliegen. Vgl. auch Förtsch und Leoni in Rüdorff’s Kommentar zum St.-G.-B. (2. Aufl.) S. 571. , mit der Wirkung, daß das Landesg esetz (d. h. das für das Reichsland erlassene Gesetz) dem Reichsg esetz vorgeht . Denn die Mitwirkung des Reichstages verleiht den Reichsgesetzen keine höhere Kraft; das Reich übte seine gesetzgebende Gewalt im Reichslande nur in anderer Form oder durch andere Organe aus wie im übrigen Bundesgebiet; immer ist es aber die- §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. selbe Gewalt, von welcher der Gesetzesbefehl ausgeht. Derselben steht es daher frei, für das Reichsland etwas Anderes , wie für das übrige Gebiet anzuordnen. Nur das Reichsgesetz v. 9. Juni 1871 selbst konnte nicht durch ein auf Grund desselben ergangenes Landesgesetz abgeändert werden, da es die Delegation der Gesetz- gebungsgewalt für den Kaiser und Bundesrath enthält, sonach der Kompetenz derselben die Grenzen zieht und die Art der Ausübung bestimmt. Zur Hinausrückung des im §. 2 dieses Gesetzes ange- gebenen Zeitpunktes, mit welchem die R.-V. in Elsaß-Lothringen in Wirksamkeit treten sollte, bedurfte es daher eines nach Vorschrift der R.-V. erlassenen Gesetzes Dasselbe ist am 20. Juni 1872 ergangen. Es ist auch im Ges.-Bl. f. Els.-Loth S. 441 verkündet worden. . c ) Durch die unveränderte Einführung eines Reichsgesetzes in Elsaß-Lothringen entstand streng genommen nur materiell gemeines Recht zwischen dem Reichsland und dem übrigen Reichsgebiete, d. h. es herrschten in zwei verschiedenen Rechtsgebieten Gesetze mit identischem Inhalte; ihre Geltung beruhte nicht auf einem und demselben, für beide Gebiete verbindlichen Befehl. Um aber diese Folge auszuschließen und um in der That in Beziehung auf die eingeführten Gesetze das ganze Reichsgebiet zu einem einheit- lichen Rechtsgebiet zu machen, wurde in den meisten Einfüh- rungsgesetzen die Formel gewählt, daß „die Wirksamkeit des an- liegenden Reichsgesetzes auf Elsaß-Lothringen ausgedehnt wird.“ d ) Die auf Grund des Reichsgesetzes v. 9. Juni 1871 ergangenen Gesetze für Els.-Lothringen haben die Kraft von Reichsgesetzen. Während das in allen Deutschen Staaten bereits in Wirksamkeit ge- wesene Handelsgesetzbuch zum Reichsgesetz erklärt werden konnte, in- dem dadurch der Gesetzesbefehl des Reiches an die Stelle des Gesetzes- befehls des Einzelstaates getreten ist, würde es sinnlos sein, die während der Herrschaft des Ges. v. 9. Juni 1871 in Els.-Loth- ringen erlassenen Gesetze zu Reichsgesetzen zu erklären; denn dies hieße den Gesetzesbefehl des Reiches durch den Gesetzesbefehl des Reiches ersetzen. Dies gilt nun aber nicht blos von denjenigen Gesetzen, welche in den Bereich der in der R.-V. normirten Kom- petenz der Reichsgesetzgebung fallen sondern von allen Gesetzen Handelsgesetzbuch, Wechselordnung, Strafgesetzbuch, Genossenschaftsgesetz, Gesetz über den Schutz des Urheberrechts u. s. w. sind in Elsaß-Lothringen . §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Hieraus ergibt sich die staatsrechtlich wichtige Consequenz, daß, nachdem die Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen in Wirksamkeit getreten ist, die auf Grund des Reichsgesetzes vom 9. Juni 1871 erlassenen Gesetze nur im verfassungsmäßigen Wege der Reichs- gesetzgebung abgeändert und aufgehoben werden können, auch wenn sie Gegenstände betreffen, welche nach der R.-V. nicht der Reichsgesetzgebung unterliegen Ein Aufsatz in Puchelt’s Zeitschrift für französ. Civilrecht Bd. VI. S. 373 fg. kommt grade zu dem entgegengesetzten Resultat; er erklärt alle vor Einf. der R.-V. in Elsaß-Lothr. erlassenen Gesetze für Landes gesetze, auch z. B. das Strafgesetzb., Handelsgesetzb. u. s. w. Es beruht dies auf der Verwechslung des Begriffes des Landesgesetzes mit Gesetzen, die auf einem anderen als dem in der Reichsverf. vorgeschriebenen Wege vom Reiche für einen Theil des Reichsgebietes erlassen werden. . Die mit Zustimmung des Bun- desrathes ergangene Kaiserliche Verordnung war die Form, in der sie erlassen werden durften; aber diese Form ist nicht mehr genügend, um sie abzuschaffen oder zu modifiziren In einigen Fällen sind mit den in Els.-Lothringen eingeführten Reichs- gesetzen zugleich die auf Grund derselben ergangenen Ausführungs-Verord- nungen durch Gesetz eingeführt worden. So durch das Ges. v. 14. Juli 1871 (G.-Bl. S. 187) nicht blos das Ges. v. 25. Juni 1868, sondern auch die zur Ausführung desselben erlassene „Instruction“ v. 31. Dez. 1868; ferner durch das Ges. v. 11. Dez. 1871 (G.-Bl. S. 386) nicht blos das Kautions- gesetz v. 2. Juni 1869, sondern auch die zur Ausführung desselben ergangenen Kaiserl. Verordnungen. In späteren Fällen hat man die richtigere Form ge- wählt, die Ausführungsverordnungen im Einf.-Gesetz nicht zu erwähnen. Aber auch in den angegebenen Fällen ist ihre Abänderung im Verordnungswege auch nach Einf. der Reichsverf. für zulässig zu erachten, da das eingeführte Reichsgesetz selbst diese Form anerkennt. Dadurch wird die Anwendung der sonst geltenden Regel ausgeschlossen, daß die Einführung einer Verordnung durch Gesetz den Inhalt der Verordnung mit formeller Gesetzeskraft ausstattet. . III. Die Zeit seit Einführung der Reichsverfassung . Auf Grund des Reichsgesetzes vom 25. Juni 1873 trat die Reichsverfassung vom 1. Januar 1874 ab in Elsaß-Lothringen in Kraft, soweit nicht einzelne Bestimmungen derselben schon vorher eingeführt waren. Von diesem Zeitpunkte an fiel demnach hin- nicht auf Grund der Reichsverf., sondern auf Grund des Reichsges. v. 9. Juni 1871 eingeführt worden, stehen also in dieser Hinsicht den Gesetzen völlig gleich, welche Gegenstände betreffen, auf die sich die Kompetenz des Reichs nach der Reichsverfassung nicht erstreckt. §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. sichtlich der Gesetzgebung die Spaltung des Reichsgebietes in zwei Rechtsgebiete fort; das Reichsland trat dem von der Reichsver- fassung beherrschten Rechtsgebiete hinzu. Die oben entwickelten Regeln, nach denen die Gesetzgebung des Reiches ausgeübt wird, fanden daher zunächst auf die für das Reichsland ergehenden Ge- setze vollkommene Anwendung. Durch das Reichsgesetz vom 2. Mai 1877 R.-G.-Bl. S. 491. sind dieselben jedoch ergänzt und modifizirt wor- den, so daß die Grundsätze über die Ausübung der Gesetzgebung in Elsaß-Lothringen gegenwärtig ziemlich complicirt sind. 1. Die Gesetzgebungs-Kompetenz . Während die Reichsverfassung die Befugniß des Reiches zur Gesetzgebung beschränkt und bestimmte Grenzen zieht, durch welche die Kompetenz der Reichsgesetzgebung von der Autonomie der Einzelstaaten geschieden wird, ist die Gesetzgebungs-Befugniß des Reiches im Reichslande eine allumfassende, unbeschränkte und aus- schließliche. Dieser Satz ist durch den Begriff des Reichslandes selbst gegeben; denn es besteht im Reichslande keine von der Reichs- gewalt verschiedene Landes-Staatsgewalt, folglich auch kein vom Reich verschiedener Gesetzgeber. Es existirt keine staatliche Macht im Reichslande, von welcher die Sanction eines Gesetzes ausgehen könnte, als das Reich selbst. Es ist dies in dem Gesetz v. 9. Juni 1871 §. 3 Abs. 4 ausdrücklich anerkannt worden: „Nach Einführung der Reichsverfassung steht bis zu ander- weitiger Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetzgebung auch in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten dem Reiche zu.“ Dieser Grundsatz ist durch das Reichsgesetz v. 2. Mai 1877 vollkommen unberührt geblieben; denn dieses Gesetz hat zwar für gewisse Fälle den Weg der Gesetzgebung abweichend von der Reichs- verfassung normirt, aber die Kompetenz des Reiches in keiner Weise beschränkt. Obgleich es nun im Reichslande nur Einen Gesetzgeber giebt, so kann man doch die Angelegenheiten , welche ver- fassungsmäßig im ganzen Reichsgebiet der Gesetzgebung des Reiches unterliegen, von denjenigen Angelegenheiten unterscheiden, auf welche sich die Gesetzgebung des Reiches nur im Reichs- §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. lande erstreckt. Auf dieser Unterscheidung der beiden Kompetenz- kreise beruht es, wenn man von einer inneren Gesetzgebung R.-G. v. 25. Juni 1873 §. 4 Abs. 1. des Reichslandes und von Landesgesetzen für Elsaß-Loth- ringen spricht Vgl. Bd. I. S. 590. . Diese Unterscheidung war bis zum Erlaß des Reichsges. v. 2. Mai 1877 ohne alle staatsrechtliche Bedeutung; für die innere Gesetzgebung des Reichslandes bestanden durchweg dieselben Regeln wie für die übrige Reichsgesetzgebung; erst durch das erwähnte Reichsgesetz sind besondere Rechtsvorschriften dafür erlassen worden. Landesgesetze für Elsaß-Lothringen sind aber auch gegenwärtig noch Reichsgesetze d. h. vom Reich sanctio- nirte Gesetze. Landesg esetze für E.-L. sind Provinzialge- setze des Reiches für E.-L. in solchen Angelegenheiten, in denen nach der Verfassung des Reiches die Gesetzgebungs-Kompetenz des- selben im übrigen Bundesgebiet ausgeschlossen ist. Für Landesgesetze in diesem Sinne ist durch das Gesetz vom 2. Mai 1877 eine besondere Form vorgeschrieben; aber ihrem Wesen und ihrer staatsrechtlichen Bedeutung nach sind sie nicht Bethätigungen einer Autonomie, wie die Landesgesetze der Bundes- staaten, sondern Bethätigungen der Reichsgewalt. Die „Autonomie“ besteht nicht in einer eigenthümlichen Form, in welcher Gesetze zu Stande kommen, sondern in der selbstständigen Befugniß , Ge- setze zu erlassen. Diese Befugniß setzt ein Subject voraus, dem sie zusteht; im Reichslande fehlt ein solches Subject. 2. Der Weg der elsaß-lothringischen Landes- gesetzgebung . Durch das Reichsgesetz v. 2. Mai 1877 sind für den Erlaß von Landesgesetzen zwei Wege gegeben. Der eine derselben ist der gewöhnliche Weg der Reichsgesetzgebung; er entspricht dem eben entwickelten Charakter der Landesgesetze für E.-L. als Reichs- gesetze, er ist theoretisch der reguläre, der ratio negotii entspre- chende, und war bis zum Ges. v. 2. Mai 1877 der einzig zu- lässige. Der zweite durch das Ges. v. 2. Mai 1877 geschaffene Weg bildet ein ius singulare; er besteht in einer Nachbildung des in den Bundesstaaten für die Landesgesetzgebung bestehenden Weges. Dieser singuläre Weg soll nach dem Reichsges. v. 2. Mai 1877 §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. regelmäßig befolgt werden, dagegen der begrifflich reguläre Weg der Reichsgesetzgebung nur ausnahmsweise oder subsi- diär eingeschlagen werden Das Ges. v. 2. Mai 1877 stellt im §. 1 jenen Weg voran, indem es bestimmt: Landesgesetze — werden — erlassen —; darauf folgt dann im §. 2 der Zusatz: „Die Erlassung von Landesgesetzen (§ 1) im Wege der Reichsgesetzgebung bleibt vorbehalten .“ Dadurch ist das Verhältniß, in welchem die beiden Wege der Gesetzgebung zu einander stehen, zwar im All- gemeinen charakterisirt, bestimmte Voraussetzungen aber, unter denen von dem Vorbehalt des §. 2 Gebrauch gemacht werden soll oder darf, sind nicht festgestellt worden. . Er unterscheidet sich von dem ordent- lichen Wege der Reichsgesetzgebung in folgenden Punkten: a ) Die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes . Die Zustimmung des Reichstages ist ersetzt durch die Zustim- mung des durch den Kaiserl. Erlaß vom 29. Oktober 1874 Gesetzbl. f. E.-L. S. 37. R.-G.-Bl. 1877 S. 492. ein- gesetzten Landesausschusses . Dieser Erlaß ermächtigte den Reichskanzler, Entwürfe von Gesetzen für Elsaß-Lothringen über solche Angelegenheiten, welche der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung nicht vorbehalten sind, einschließlich des Landeshaushalts-Etats, einem aus Mitgliedern der Bezirkstage zu bildenden Landes-Ausschuß zur gutacht- lichen Berathung vorzulegen, ehe sie den „zuständigen Faktoren der Gesetzgebung zur Beschlußfassung zugehen“ Derselbe Erlaß enthält die Anordnungen über die Zusammensetzung, Einberufung und den Geschäftsgang des Landes-Ausschusses. Der Erl. vom 13. Febr. 1877 (G.-Bl. f. E.-L. S. 9. R.-G.-Bl. S. 493) änderte ihn ab, indem die Wahl von zwei Vicepräsidenten gestattet wurde. Die zur Ausfüh- rung des Erl. erforderlichen Anordnungen hat der Reichskanzler durch V. v. 23. März 1875 (G.-Bl. S. 63) getroffen. . Dieser Erlaß hat keinen Rechtssatz geschaffen; er hatte bis zu dem Gesetz v. 2. Mai 1877 nur die Bedeutung einer Instruktion für den mit der Vorbereitung der Gesetzgebungs-Arbeiten für Elsaß-Loth- ringen betrauten Reichskanzler. Seine politische Wichtigkeit darf nicht unterschätzt werden; staatsrechtlich aber bedeutete er Nichts . Denn es besteht ohnehin kein rechtliches Hinderniß für die Regie- rung, über Gesetzentwürfe gutachtliche Aeußerungen einzuholen, bevor sie dem Bundesrath oder Reichstag zur Beschlußfassung vorgelegt werden; und es ist andererseits durch den Erlaß die §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Einholung des Gutachtens des Landesausschusses für Gesetze, welche die sogen. inneren Angelegenheiten Elsaß-Lothringens be- treffen, nicht zum rechtlichen Erforderniß erklärt geworden. Auch wenn die Begutachtung Seitens des Landesausschusses nicht er- folgt ist, kann das Reichsgesetz rechtsgiltig zu Stande kommen Dies gilt auch jetzt noch, wofern der im §. 2 des Ges. v. 2. Mai 1877 vorbehaltene Weg der Reichsgesetzgebung beschritten wird. . Mit Recht ist daher die Bezugnahme auf das eingeholte Gutachten des Landesausschusses in der Promulgationsformel der für Elsaß- Lothringen ergangenen Reichsgesetze fortgeblieben. Erst das Gesetz vom 2. Mai 1877 hat dem erwähnten Erlaß vom 29. Oktober 1874 eine staatsrechtliche Bedeutung verliehen, indem es die gutachtliche Aeußerung des Landesausschusses in eine Zustimmung zu den Landesgesetzen verwandelte und dieser Zu- stimmung die Kraft beilegte, die Zustimmung des Reichstages zu ersetzen. Der Erlaß vom 29. Oktober 1874 war nicht in der für Schaffung eines Rechtssatzes erforderlichen Gesetzesform ergangen. Diesen Mangel hat das R.-G. v. 2. Mai 1877 gehoben. Das- selbe hat den Erlaß mit der Kraft eines Reichsgesetzes ausge- stattet; er ist als Anlage zu dem Gesetz im R.-G.-Bl. verkündet; und er kann fortan nur durch Reichsgesetz d. h. im ordent- lichen Wege der Reichsgesetzgebung abgeändert oder auf- gehoben werden R.-G. v. 2. Mai 1877 §. 4. . Außer der Zustimmung des Landes-Ausschusses ist die Zu- stimmung des Bundesrathes zu dem Inhalt des Gesetzes er- forderlich; in dieser Beziehung besteht kein Unterschied zwischen dem Weg der ordentlichen Reichsgesetzgebung und dem Weg der elsaß-lothringenschen Landesgesetzgebung. b ) Die Sanction . Nach dem R.-G. v. 2. Mai 1877 §. 1 werden die Landes- gesetze für Elsaß-Lothringen mit Zustimmung des Bundesrathes vom Kaiser erlassen . Hierin besteht der zweite wichtige Unterschied zwischen der Landesgesetzgebung für Elsaß-Lothringen und der ordentlichen Reichsgesetzgebung. Ganz ebenso wie nach dem Gesetz vom 9. Juni 1871 ist auch nach dem Gesetz vom §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. 2. Mai 1877 die Sanction der Landesgesetze dem Kaiser übertragen, während sie nach der Reichs-Verfassung dem Bundesrath zusteht. Alles was oben S. 127 fg. über diesen Unterschied für die Zeit bis zum 31. Dezember 1873 aus- geführt worden ist, findet auch Anwendung auf die Zeit seit der Rechtskraft des Gesetzes vom 2. Mai 1877. Der Bundesrath hat demnach keine andere Befugniß, wie der Landesausschuß; er ist der eigentliche Gesetzgeber nicht; seine Zustimmung ist lediglich eine Voraussetzung für den Erlaß eines Gesetzes Seitens des Kaisers. Zwar unterscheidet die Fassung des §. 1 cit. die Zu- stimmung des Bundesrathes von derjenigen des Landesausschusses durch eine verschiedene Art der Erwähnung; wirklich entscheidend aber ist allein der Satz, daß dem Kaiser das Placet der Landes- gesetze zusteht und er nicht rechtlich verpflichtet ist, ein vom Bundesrath beschlossenes Gesetz auszufertigen und zu ver- kündigen Während bei den eigentlichen Reichsgesetzen, wie oben S. 29 ff. ausge- führt wurde, die Zustimmung des Bundesrathes etwas wesentlich Anderes be- deutet wie die Zustimmung des Reichstages, werden im Art. 5 der R.-V. und in der Promulgationsformel der Reichsgesetze beide ganz gleichartig neben einander genannt. Für die Landesgesetze von Elsaß-Lothringen dagegen, bei deren Zustandekommen Bundesrath und Landesausschuß in der That ganz gleiche Funktionen haben, bestimmt §. 1 des Gesetzes v. 2 Mai 1877 mit einer stylistischen Geschmacklosigkeit, die bei den R.-G. leider nicht selten ist: „Landesgesetze … werden mit Zustimmung des Bundesraths vom Kaiser erlassen, wenn der … Landesausschuß denselben zugestimmt hat.“ . c ) Die Ausfertigung der Landesgesetze erfolgt wie die der Reichsgesetze durch den Kaiser. Durch dieselbe wird unter Verantwortlichkeit des gegenzeichnenden Reichskanzlers formell con- statirt, daß der Landesausschuß und der Bundesrath den beste- henden Rechtsvorschriften gemäß dem Gesetz zugestimmt haben. d ) Die Verkündigung der Landesgesetze für Elsaß-Loth- ringen erfolgt auch nach Einführung der R.-V. noch durch das Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen Vgl. Bd. I. S. 589. und zwar auch dann, wenn sie im Wege der Reichsgesetzgebung erlassen werden Dieser Weg war ja bis zum Ges. v. 2. Mai 1877 der einzige . . Die Richtig- keit dieses Verfahrens ist aber staatsrechlich äußerst bedenklich. Denn auch diese Gesetze sind, wie wiederholt dargethan worden ist, §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Reichsgesetze; es findet daher auf sie der Art. 2 der R.-V. An- wendung. Durch Einf. der R.-V. sind die Bestimmungen des Gesetz vom 3. Juli 1871, insoweit sie mit den Anordnungen der Reichs-Verfassung im Widerspruch stehen, aufgehoben Die Motive zum Ges. v. 25. Juni 1873 S. 8 (Drucksachen 1873 Bd. III. Nro. 177) berühren diese Frage, entscheiden sie aber ohne zutreffende Gründe im entgegengesetzten Sinn. Art. 2 der R.-V. muß auf die für E.-L. erlassenen Gesetze uneingeschränkte Anwendung finden, weil das Gesetz vom 25. Juni 1873 die R.-V. in Elsaß-Lothr. „ mit der Maßgabe “ ein- führte, daß dem in Art. 1 der Verf. bezeichneten Bundesgebiete das Gebiet des Reichslandes hinzutritt, und weil das Ges. v. 9. Juni 1871 §. 3 Abs. 4 die Gesetzgebungskompetenz des Reiches auch auf die der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten erstreckt hat. . Durch das Gesetz vom 2. Mai 1877 aber sind diese Bestimmun- gen nicht wieder in Kraft gesetzt worden, da dieses Gesetz über die Verkündigung der Landesgesetze für Elsaß-Lothringen gänzlich schweigt. Man könnte sich allenfalls darauf berufen, daß auch das Gesetzblatt für Elsaß-Lothr. begrifflich „ein Reichsgesetzblatt“ sei und daher die Verkündigung mittelst desselben den Anforderungen des Art. 2 der R.-V. genüge; offenbar setzt aber dieser Art. 2 sowie die zur Ausführung desselben ergangene V. v. 26. Juli 1867 ein einheitliches, alle Reichsgesetze in sich vereinigendes Ge- setzblatt voraus. Eine bisher unangefochtene Praxis hat aber die Verkündi- gung der Landesgesetze für Elsaß-Lothringen in dem Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen für rechtswirksam erachtet und es sprechen dafür in der That Gründe der Zweckmäßigkeit Hinsichtlich der im Wege der Reichsgesetzgebung erlassenen Landes- gesetze für E.-L. hat das bisherige Verfahren die Folge, daß manche Gesetze doppelt , nämlich im Reichs-Gesetzbl. und im Gesetzbl. f. E.-L. verkündigt werden. So z. B. das Ges. v. 15. Nov. 1874 (Münzges.) im R.-G.-Bl. S. 131, ausgegeben am 19. November und im Gesetzbl. f. E.-L. S. 39, ausge- geben am 25. Nov.; das Ges. v. 19. Dez. 1874 (Maß- u. Gew.) im R.-G.-Bl. 1875 S. 1 (ausgegeb. am 11. Januar) und im Gesetzbl. f. E.-L. S. 1 (aus- gegeben am 5. Januar); das Ges. v. 8. Februar 1875 im R.-G.-Bl. S. 69 (22. Febr.) und im Gesetzbl. f. E.-L. S. 9 (19. Febr.); das Ges. v. 11. Febr. 1875 im R.-G.-Bl. S. 61 (18. Febr.), im Gesetzbl. f. E-L. S. 49 (vom 23. Febr.). Diese doppelte Verkündigung eines und desselben Gesetzes widerspricht nicht nur dem juristischen Begriffe der Gesetzes-Verkündigung, sondern führt auch zu dem sonderbaren Resultat, daß der Tag, an welchem das Gesetz in Wirksamkeit tritt, sich verschieden bestimmt, je nachdem die vierzehntäge Frist . Empfehlens- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 10 §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. werth dürfte es aber doch vielleicht sein, die in dem Gesetz vom 25. Juni 1873 und 2. Mai 1877 gelassene Lücke über den Pu- blikations-Modus der Landesgesetze durch ein nachträgliches Reichs- gesetz auszufüllen, das am besten die Form der authentischen Inter- pretation haben könnte. 3. Das Verhältniß der im Wege der Landesgesetz- gebung zu den im Wege der Reichsgesetzgebung erlas- senen Gesetzen . Wenn man von dem Grundsatz ausgeht, daß Landesgesetze für Elsaß-Lothringen Provinzialgesetze des Reiches sind, so folgt von selbst daraus, daß die sonst geltenden Regeln über das Verhältniß von Landesgesetzen und Reichsgesetzen unanwend- bar sind und daß im Falle eines Widerspruches einfach die Regel lex posterior derogat priori entscheidet. Dies findet unzweifelhaft Anwendung auf die im Wege der Reichsgesetzgebung erlassenen Landesgesetze. Durch ein Reichsgesetz kann jedes Reichsgesetz, mit Einschluß der Reichsverfassung selbst, für Elsaß-Lothringen abge- ändert oder aufgehoben werden; so gut dies zulässig ist, wenn es ausdrücklich geschieht, kann es auch thatsächlich geschehen, indem Angelegenheiten der Landesgesetzgebung in einer mit älteren reichs- gesetzlichen Anordnungen im Widerspruch stehenden Weise durch Reichsgesetz geregelt werden. Es ist dieselbe Staatsgewalt, welche die Reichsgesetze und Landesgesetze für Elsaß-Lothringen erläßt und mithin muß der letzte Willensact derselben als der Ausdruck des gegenwärtigen Willens dem früheren vorgehen. Für die im Wege der Landesgesetzgebung d. h. gemäß §. 1 des Ges. v. 2. Mai 1877 erlassenen Gesetze gilt dies aber nicht; dieselben sind nicht im Stande, Reichsgesetze aufzuheben oder ab- zuändern. Es folgt dies aus §. 2 Abs. 2 dieses Gesetzes. Dar- aus ergiebt sich die staatsrechtliche Natur dieser Landesgesetzgebung. Dieselbe beruht auf einer Delegation der Gesetzge- bungs-Befugniß des Reiches an den Kaiser . Die Landesgesetze für Elsaß-Lothringen, welche nach §. 1 des Gesetzes vom 2. Mai 1877 erlassen werden, sind im Vergleich zu den for- mellen Reichsgesetzen Kaiserliche Verordnungen , welche von der Ausgabe des Reichs-Gesetzblattes oder von der Ausgabe des Gesetzbl. f. E.-L. berechnet wird. §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. unter Zustimmung des Bundesrathes und Landesausschusses, auf Grund der im §. 1 des Gesetzes vom 2. Mai 1877 ertheilten Er- mächtigung, erlassen werden. Wenn sie auch den Namen Landes- gesetze wegen der Theilnahme des Landes-Ausschusses an ihrer Herstellung führen, so wurzelt doch die Befugniß zu ihrem Erlaß nicht unmittelbar in der Souveränetät, sondern in einer Ermächti- gung, welche der Souverän (das Reich) gesetzlich dem Kaiser er- theilt hat. Von diesem Satz aus läßt sich eine Frage beantworten, welche die schlechte Fassung des Ges. v. 2. Mai 1877 hervorruft und ungelöst läßt. Der §. 2 lautet nämlich: „Die Erlassung von Landesgesetzen (§. 1) im Wege der Reichs- gesetzgebung bleibt vorbehalten. Die auf Grund dieses Vorbehaltes erlassenen Landesgesetze können nur im Wege der Reichsgesetzgebung aufgehoben oder geändert werden.“ Wie verhält es sich mit den vor dem Mai 1877 im Wege der Reichsgesetzgebung erlassenen Landesgesetzen? Ihnen stehen die vor Einf. der Reichsverfassung auf Grund des Ges. v. 9. Juni 1871 erlassenen Gesetze völlig gleich. Vgl. oben S. 138. Dieselben sind nicht „auf Grund dieses Vorbehaltes“ erlassen, sondern auf Grund des Gesetzes v. 9. Juni 1871 und v. 25. Juni 1873. Können auch diese Gesetze nur im Wege der Reichsgesetzgebung oder auch auf dem im §. 1 des Ges. v. 2. Mai 1877 vorgezeichneten Wege der Landesgesetzgebung abgeändert werden? Von dem oben ent- wickelten Satze aus beantwortet sich die Frage in dem ersten Sinn; was im Wege der Reichsgesetzgebung erlassen ist, kann nicht im Wege der Landesgesetzgebung aufgehoben oder verändert werden, weil ein Gesetz des Reiches nicht durch einen Willensact seines Delegaten aufgehoben werden kann. Nach diesem Prinzip bestimmt sich ferner der Umfang des Prüfungsrechtes der Gerichte, Behörden, Unterthanen u. s. w. ge- genüber der Rechtsgültigkeit der nach §. 1 des Ges. vom 2. Mai 1877 ergangenen Landesgesetze. Da sie auf einer Delegation be- ruhen, sind diejenigen Grundsätze analog anzuwenden, welche oben S. 86 ff. hinsichtlich der Verordnungen entwickelt sind. Dem Prüfungsrechte entzogen sind diejenigen Thatsachen, welche in der Promulgationsformel rechtsverbindlich constatirt sind, nämlich 10* §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. die verfassungsmäßig erfolgte Zustimmung des Landesausschusses und des Bundesrathes und die Sanction des Kaisers. Dem Prü- fungsrechte unterworfen ist die Frage, ob diese Gesetze nicht materiell die in der Delegation enthaltenen Gränzen überschreiten d. h. etwas enthalten, was nach der Reichsverfassung der Reichs- gesetzgebung vorbehalten ist, oder was einem auf Grund der R.-V. erlassenen Reichsgesetz oder einem im Wege der Reichs- gesetzgebung erlassenen Landesgesetz widerspricht. 4. Die Rechtsverordnungen . Das Reichsges. v. 25. Juni 1873 §. 8 ermächtigt bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung den Kaiser, unter Zu- stimmung des Bundesrathes Verordnungen mit gesetzlicher Kraft zu erlassen; sie gestattet also den Erlaß von Rechtsvorschriften in derjenigen Form, welche in der Zeit von der Einverleibung Elsaß- Lothringens bis zur Einführung der Reichsverf. die alleinige Ge- setzgebungsform war. Die Anwendung dieser Form ist aber an eine dreifache Schranke gebunden: a ) „Dieselben dürfen Nichts bestimmen, was der Verfas- sung oder den in Elsaß-Lothringen geltenden Reichsgesetzen zuwider ist, und sie dürfen sich nicht auf solche Angelegenheiten beziehen, in welchen nach dem Ges. v. 9. Juni 1871 §. 3 Abs. 2 die Zustimmung des Reichstages erforderlich ist“ Das ist: „Aufnahme von Anleihen oder Uebernahme von Garantien für Elaß-Lothringen durch welche irgend eine Belastung des Reichs her- beigeführt wird.“ . Ausgeschlossen ist diese Form demnach in allen denjenigen Angelegenheiten, welche nach der Reichsverfassung der Reichsgesetzgebung vorbehalten sind; und sie ist ferner auch im Bereiche der Landesgesetzgebung nur zulässig unter Wahrung derjenigen Vorschriften der Landesgesetze, welche im Wege der Reichsgesetzgebung ergangen sind Die Fassung des §. 8 cit. kann dies zweifelhaft erscheinen lassen, da der Ausdruck „Reichsgesetz“ mehrdeutig ist. Aus den Motiven zu diesem Gesetze S. 12 (Drucksachen 1873 IV. Sess. Bd. III. Nr. 177) ergiebt sich aber, daß die Verordnungen nur im Bereiche der Landesgesetzgebung und inner- halb dieses Bereiches nur unter Wahrung der im Wege der Reichsgesetz- gebung erlassenen (landesgesetzlichen) Vorschriften gestattet werden sollten. . b ) Die Verordnungen dürfen nur erlassen werden, „ während der Reichstag nicht versammelt ist “. Die kaiserl. Verord- §. 62. Die Gesetzgebung für Elaß-Lothringen. nung, durch welche der Reichstag einberufen wird und welche den Tag seines Zusammentretens angiebt, wird im Reichsgesetzblatt bekannt gemacht; dagegen ist es nicht üblich, den Tag, an welchem der Reichstag vertagt oder geschlossen wird, im Reichsgesetzbl. mit- zutheilen. Aus dem R.-G.-Bl. ist demnach nicht zu ersehen, ob das Datum der Verordnung in einen Zeitraum fällt, während dessen der Reichstag nicht versammelt gewesen ist. Ebenso wenig wird in der Promulgationsformel der Verordnung diese Thatsache ausdrücklich constatirt; indeß kann eine Vermuthung für das Vor- handensein dieser Voraussetzung daraus hergeleitet werden, daß in der Promulgationsformel der §. 8 des Ges. v. 25. Juni 1873 in Bezug genommen wird. c ) Die Verordnungen sind dem Reichstage bei dessen nächstem Zusammentritt zur Genehmigung vorzulegen. Sie treten außer Kraft, sobald die Genehmigung versagt wird. Man nennt Verordnungen dieser Art gewöhnlich Verordnungen mit interimi- stischer oder provisorischer Gesetzeskraft. Die juristische Charakte- risirung derselben besteht darin, daß der Gesetzesbefehl unter einer Resolutivbedingung erlassen wird; wenn diese Resolutivbedingung eintritt, d. h. wenn der Reichstag die Genehmigung versagt, so fällt der Gesetzesbefehl ex nunc fort Wenn der Reichstag, dem die Verordnung vorgelegt worden ist, zu einer Beschlußfassung über dieselbe nicht gelangt, so bleibt die Verordnung in Geltung; denn nur die Versagung der Genehmigung entzieht ihr die Kraft; dazu bedarf es eines Beschlusses des Reichstages. Hieraus ergiebt sich, daß die Verordnungen nicht eine provisorische, sondern eine resolutiv bedingte Gesetzeskraft haben. . Der Versagungsbeschluß muß vom Reichskanzler sofort im Gesetzblatt bekannt gemacht werden; aber auch wenn er dies unterläßt, hat die Verordnung keine Kraft mehr; denn sie verliert dieselbe durch den Beschluß des Reichstages, nicht durch die Bekanntmachung des Reichskanzlers über diesen Beschluß In Preußen ist zwar hinsichtlich der auf Grund des Art. 63 der Preußischen Verfassungs-Urkunde erlassenen Verordnungen eine andere Auf- fassung vorherrschend; dieselbe ist aber auf Art. 106 der Verfassungs-Urkunde gestützt und daher auf das Reichsland nicht übertragbar, da dort eine ähnliche Gesetzesbestimmung nicht besteht. . Ertheilt der Reichstag die Genehmigung, so ist eine Verkündigung dieses Beschlusses zwar nicht wesentlich, da sich an der Geltung der Verordnung nichts ändert, sondern nur der Nichteintritt der §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Resolutivbedingung entschieden ist Es ist nicht correct, zu sagen, daß sich die Verordnung durch die Er- theilung der Genehmigung Seitens des Reichstages in ein Gesetz um- wandele . Ein Gesetz im materiellen Sinne ist sie von Anbeginn an, ein Gesetz im formellen Sinne wird sie auch durch die ertheilte Genehmigung nicht, sondern sie behält die Form der Verordnung. Vgl. Bd. I. S. 513. 514. ; thatsächlich besteht aber die Praxis, den Genehmigungsbeschluß des Reichstages im Gesetzbl. f. E.-L. zu publiziren. Ob Verordnungen dieser Art, nachdem der Reichstag die Genehmigung derselben ertheilt hat, fortan nur im Wege der Reichsgesetzgebung aufgehoben werden können oder ob sie auch fernerhin durch kaiserl. Verordnung nach §. 8 cit. oder durch ein nach dem Ges. v. 2. Mai 1877 zu Stande gebrachtes Landesgesetz abgeändert werden können, ist gesetzlich nicht be- stimmt. Es entsteht die Frage, ob die im §. 8 des Ges. v. 25. Juni 1873 ertheilte Ermächtigung durch das R.-G. v. 2. Mai 1877 aufgehoben ist oder ob sie neben demselben fortbesteht. Die Fas- sung des Ges. v. 2. Mai 1877 ist eine so unklare, daß sie nicht einmal über diesen wichtigen Punkt Auskunft gewährt. Der §. 8 des Ges. v. 25. Juni 1873 ertheilte die Ermächtigung „bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung“; es frägt sich, ob diese ander- weite gesetzliche Regelung in dem R.-G. v. 2. Mai 1877 zu er- blicken und demgemäß mit dem Inkraftreten des letzteren der dies ad quem eingetreten und die Ermächtigung des §. 8 erloschen ist. So sehr sachliche Gründe hierfür sprechen würden, so ist diese Frage dennoch zu verneinen . Nach seinem Wortlaut führt das Ges. v. 2. Mai 1877 einen Weg der Landesgesetzgebung neben und an Stelle des Weges der formellen Reichsgesetzgebung ein; es ersetzt die Zustimmung des Reichstages durch die Zustimmung des Landesausschusses; aber es bestimmt nicht, daß in solchen Fällen, in denen bis dahin die Zustimmung des Reichstages nicht erforderlich war, in Zukunft die Zustimmung des Landesausschusses eingeholt werden müsse. Von der Form der Verordnung und den Bedingungen, unter denen dieselbe zulässig ist, spricht das Gesetz v. 2. Mai 1877 gar nicht; dasselbe hebt keine der bis dahin vor- handen gewesenen Formen für den Erlaß von Rechtsvorschriften auf, sondern es führt nur neben den bestehenden noch eine neue §. 62. Die Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen. Form ein, die cumulativ den älteren hinzutritt. Dies wird auch durch die Geschichte des Gesetzes bestätigt Die Motive des I. Entw., welcher dem Landesausschuß in seiner II. Session, Mai 1876 vorgelegt wurde, enthalten die ausdrückliche Bemer- kung, daß die im §. 8 des Ges. v. 25. Juni 1873 ertheilte Befugniß „von dem Gesetzentwurfe nicht berührt“ wird. Verhandlungen des Landes- ausschusses v. E.-L. II. Sess. (Straßb. 1876) Bd. I. Nro. 2. Ebenso die Motive des dem Reichstage vorgelegten Entwurfes. Drucksachen des Reichstages, I. Sess. 1877 Bd. I. Nro. 5. Auch der Abg. Hänel , der an erster Stelle den Antrag unterzeichnet hat, auf welchem die definitive Fassung des Gesetzes beruht (Drucks. a. a. Ort Nro. 60), hat dies ausdrücklich hervor- gehoben ( Stenogr. Berichte des Reichst. S. 280) und ebenso der Unter- staatssecretär Herzog (ebendas. S. 281). . Die praktischen Consequenzen sind allerdings etwas sonderbar. Rechtsvorschriften, die im Wege der Landesgesetzgebung, also mit Zustimmung des Bundesrathes und Landesausschusses erlassen worden sind, können vom Kaiser unter Zustimmung des Bundes- rathes ohne Zustimmung des Landesausschusses abgeändert wer- den; es ist dies auch dann zulässig, während der Landes- ausschuß versammelt ist , wofern nur der Reichstag nicht versammelt ist Ein Antrag, dies abzuändern (Drucksachen a. a. O. Nro. 61) wurde vom Reichstage abgelehnt, nachdem sowohl der Abgeordnete Hänel als der Unterstaatssecretär Herzog sich dagegen ausgesprochen hatten. Stenogr. Be- richte S. 280. 281. ; solche Verordnungen sind zur Genehmigung nicht dem Landesausschuß , sondern dem Reichstage vorzu- legen und sie treten außer Kraft, wenngleich der Landesausschuß ihnen nachträglich zugestimmt hat, falls der Reichstag seine Ge- nehmigung versagt. Diese Uebelstände wären vermieden worden, wenn in das Ges. v. 2. Mai 1877 die Bestimmung aufgenommen worden wäre, daß der §. 8 des Gesetzes vom 25. Juni 1873 mit der Maßgabe in Geltung bleibt, daß wo in demselben vom Reichstage die Rede ist, der Landesausschuß an dessen Stelle tritt Versagt der Landes-Ausschuß die Genehmigung, so bliebe immer noch der ordentliche Weg der Reichsgesetzgebung vorbehalten. . 5. Nach den vorstehenden Erörterungen giebt es demnach in Elsaß-Lothringen gegenwärtig folgende Formen für den Erlaß von Rechtsvorschriften: a ) Reichsgesetze im formellen Sinne. Sie werden vom Kaiser §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. unter Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages ver- kündet. b ) Landesgesetze im formellen Sinne. Sie werden vom Kai- ser unter Zustimmung des Bundesrathes und des Landes- ausschusses erlassen auf Grund des §. 1 des Ges. v. 2. Mai 1877. c ) Verordnungen auf Grund des §. 8 des Ges. v. 25. Juni 1873. Sie werden vom K aiser mit Zustimmung des Bundes- rathes erlassen und sind dem Reichstag zu nachträglicher Geneh- migung vorzulegen. d ) Ausführungs-Verordnungen zu Landesgesetzen . Sie werden auf Grund des §. 3 Abs. 1 des R.-G. v. 9. Juni 1871 vom Kaiser erlassen. e ) Ausführungs-Verordnungen zu Reichsgesetzen , welche nach Maßgabe der in den Reichsgesetzen enthaltenen Delegation zu erlassen sind. Achtes Kapitel. Die Staatsverträge des Reiches. §. 63. Begriff und juristische Natur. Willensakte des Staates können außer in der Form des Ge- setzes auch in der Form des völkerrechtlichen Vertrages sich voll- ziehen. Den Gegenständen nach, welche der Einwirkung der staat- lichen Willensmacht unterworfen sind, besteht keine Abgrenzung zwischen dem Gebiet der Gesetzgebung und dem Gebiete der Ver- tragsschließung. So wie die Form des Gesetzes nicht auf den Erlaß von Rechtsvorschriften beschränkt ist, sondern auf jeden denk- baren Willensact des Staates Anwendung finden kann, so ist auch Alles, was der Staat überhaupt wollen und thun kann, geeignet, zum Gegenstand eines Staatsvertrages gemacht zu werden Es ist durchaus unrichtig, von einer „vertragsschließenden Gewalt“ zu . Aus §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. diesem Grunde müssen die Rechtssätze über die Erfordernisse und Wirkungen der Staatsverträge in Einklang stehen mit den Rechts- grundsätzen über die Gesetzgebung, weil sonst die Regeln, welche über eine dieser beiden Formen staatlicher Willensacte bestehen, durch Anwendung der andern Form illusorisch gemacht werden könnten. Diese Harmonie ist auch in der That in vollstem Maße vorhanden und es ist zur theoretischen Erkenntniß derselben nur erforderlich, die juristischen Vorgänge und Willenserklärungen zu analysiren, welche sich bei dem Abschluß und der Durchführung von Staatsverträgen verwirklichen. Von einem Gesetz unterscheidet sich ein Staatsvertrag auf den ersten Blick dadurch, daß das Gesetz ein Befehl ist, den die Staatsgewalt an ihre Unterthanen erläßt, daß der Staatsvertrag dagegen ein Versprechen ist, welches einem gleichberechtigten Contrahenten ertheilt wird. In dem Staatsvertrage verpflichtet sich der Staat — oder der Geschäftsführer des Staates Namens desselben — etwas zu geben, zu thun, zu unterlassen. Während nun der Staat die Befolgung seiner Befehle von seinen Untertha- nen durch die staatlichen Machtmittel erzwingt, kann es keinen staatlichen Zwang zur Erfüllung von Staatsverträgen geben, da der Staat nicht gegen sich selbst Zwang zu üben vermag; son- dern es giebt lediglich einen völkerrechtlichen Zwang, welchen der eine Contrahent gegen den andern zur Anwendung bringt, wenn er es für erforderlich oder nützlich hält. Ein Staatsvertrag hat an und für sich gar keine Rechtswirkungen nach Innen (gegen Behörden und Unterthanen), sondern einzig und allein nach Außen. Staatsverträge sind Rechtsgeschäfte, durch welche nur die Contra- henten gegen einander Ansprüche und Verpflichtungen begründen. Durch den Abschluß des Vertrages ist in keiner Weise eine recht- liche oder thatsächliche Gewißheit geboten, daß der Vertrag auch wirklich erfüllt wird; manche Staatsverträge bleiben unausgeführt, bisweilen unter stillschweigender Zustimmung beider Contrahenten, bisweilen auch weil ein Contrahent auf die Ausführung nicht reden und dieselbe neben die gesetzgebende und vollziehende Gewalt zu stellen. Die Fähigkeit des Staates, Staatsverträge abzuschließen, ist kein Theil der Staatsgewalt, der von anderen Theilen derselben irgendwie abgegränzt wäre, so wenig wie die Fähigkeit einer Privatperson, Contracte zu schließen, ein Theil der Persönlichkeit ist. §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. dringen kann oder will. Die Entscheidung, ob ein Staatsvertrag erfüllt oder ob die völkerrechtlichen Folgen der Nichterfüllung ge- tragen werden sollen, steht in jedem Falle nur dem Staate als solchem, der Regierung, nicht den einzelnen Unterthanen oder Be- hörden zu. Der völkerrechtliche Vertrag als solcher verpflichtet die letzteren niemals und unter keinen Umständen und die einzelnen Behörden und Unterthanen sind in keinem Falle weder befugt noch im Stande, den Vertrag zu erfüllen. Nur der Staat als solcher, der das alleinige Subject der aus dem Staatsvertrage hervor- gehenden Pflichten ist, vermag dieselben zu erfüllen. Diese Er- füllung aber geschieht in der Mehrzahl der Fälle durch einen Befehl an die Unterthanen resp. Behörden. Wenn z. B. ein Schutz- und Trutzbündniß mit einer andern Macht abgeschlossen wird, so ist dieser Vertrag für die Staatsangehörigen ohne alle und jede Rechtswirkung; sie gehorchen, falls dasselbe zu einem Kriege führt, lediglich der Einberufungs-Ordre, dem Marschbefehl, dem Gesetz, welches ihnen die zur Kriegsführung erforderlichen finan- ziellen Leistungen auferlegt u. s. w., also nicht die Vereinbarung unter den Staaten äußert rechtliche Wirkungen auf die Angehöri- gen eines derselben, sondern innerhalb jedes Staates wirkt einzig und allein der von der Staatsgewalt ausgehende Befehl . Ohne einen solchen Befehl darf der einzelne Staatsangehörige gar nicht nach eigenem Ermessen jenes Bündniß erfüllen. Ganz dasselbe gilt nun, wenn zwei Staaten übereinkommen, gewisse Geschäfte nach gleichmäßigen Grundsätzen zu verwalten, gewisse Einrichtungen über- einstimmend zu treffen, sich gegenseitige Dienste zu leisten u. s. w. Ein solcher Vertrag verpflichtet die Behörden der einzelnen Staaten nicht nur nicht, ihn zu erfüllen, sondern sie sind auch nicht einmal befugt, ihn zur Richtschnur ihrer amtlichen Thätigkeit zu nehmen, so lange sie nicht von der vorgesetzten Behörde, also in letzter In- stanz von der Centralregierung ihres Staates, den Befehl er- halten haben, dem Vertrage gemäß zu handeln; und der Vertrag verliert für sie sofort jede Geltung, so bald sie von der vorgesetzten Behörde die Weisung bekommen, im Widerspruch mit demselben zu verfahren. Auch hier ist es also nicht der Vertrag, sondern der dienstliche Befehl der vorgesetzten Behörde, die Verwaltungs- Verordnung, welche innerhalb des einzelnen Staates rechtliche Wirkungen entfaltet. §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. Wenn nun ein Staatsvertrag einen Inhalt hat, welcher die in einem oder mehreren der contrahirenden Staaten bestehenden Rechtssätze verändert oder aufhebt oder die Schaffung neuer Rechts- regeln erfordert, so ist es wieder nicht der Staatsvertrag, der im Stande wäre, diese Rechtssätze hervorzubringen, sondern der Staats- vertrag erzeugt nur die Verpflichtung für die contrahirenden Staaten, daß diese und zwar jeder in seinem Gebiete die vereinbarten Rechtssätze schaffen. Dazu ist ein Befehl der Staatsgewalt er- forderlich, welcher die Befolgung der in dem Vertrage enthaltenen Rechtsregeln anordnet, sie mit Gesetzeskraft ausstattet, d. h. ein Gesetzesbefehl . Der Abschluß eines Staatsvertrages erzeugt demgemäß nie- mals irgend welche Rechtssätze oder Verwaltungs-Normen, sondern er begründet lediglich die Verpflichtung des Staates zum Erlaß derselben. Durch den Erlaß dieser Vorschriften wird der Vertrag erfüllt ; die Behörden und Unterthanen, welche dann diese Ver- waltungs-Vorschriften und Rechtssätze befolgen, erfüllen nicht mehr den Staatsvertrag, sondern den Befehl ihres Staates. Hier- aus ergiebt sich zunächst ein sehr wichtiges Resultat. Ein Vertrag kann vollwirksam und gültig abgeschlossen sein, d. h. völkerrechtliche Verpflichtungen der Contrahenten erzeugen, und er kann doch gleichzeitig für die Behörden und Unterthanen des Staates rechtlich wie nicht vorhanden zu erachten sein; wenn nämlich der Befehl der Staatsgewalt, ihm gemäß zu handeln, gar nicht oder nicht in der verfassungsmäßigen Form ergangen ist. Inzwischen ist der Vertrag eben nicht erfüllt, was ein bei allen Verträgen des Völkerrechts wie des Privatrechts mögliches und rechtlich durchaus nicht unzulässiges Stadium ist. Die Richtigkeit dieser Unterscheidung ergiebt sich in zweifel- loser Weise, wenn man sich denkt, daß der abgeschlossene Staats- vertrag gar nicht veröffentlicht wird. An der Verbindlichkeit des- selben für die Staaten ändert dies nicht das Geringste; die Behörden und Unterthanen der contrahirenden Staaten können aber unmöglich durch einen geheimen Staatsvertrag gebunden wer- den; sie werden nur verpflichtet durch die in verfassungsmäßiger Form zur Erfüllung dieses Vertrages ergehenden Befehle ihres Staates; es ist nicht erforderlich, daß es jemals bekannt wird, daß diese Befehle auf Grund jenes Staatsvertrages ergangen sind, §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. und es ist andererseits ganz unerheblich, wenn der Staatsvertrag nachträglich veröffentlicht wird. Staatsrechtlich kömmt es einzig und allein auf die von der Staatsgewalt erlassenen Befehle an Aus der Praxis des Deutschen Reiches lassen sich mehrere Beispiele anführen, daß Gesetze oder Verordnungen auf Grund oder Behufs Erfüllung völkerrechtlicher Vereinbarungen erlassen worden sind, ohne daß die letzteren verkündigt worden sind. So das Gesetz vom 30. März 1874 und die Verord- nung vom 23. Dez. 1875 wegen Einschränkung der Konsulargerichtsbarkeit in Egypten, während die Uebereinkunft mit Egypten nicht veröffentlicht ist; ferner sind die internationalen Telegraphen-Konventionen nicht verkündet, wohl aber auf Grund derselben die Telegraphen-Ordnungen v. 21. Juni 1872 und vom 24. Januar 1876 erlassen worden; ebenso liegt der Bekanntmachung vom 31. Okt. 1873 (R.-G.-Bl. S. 366) betreffend die portopflichtige Korrespondenz mit Oesterreich selbstverständlich ein Uebereinkommen mit der Oesterreichischen Regierung zu Grunde; die Bundesraths-Verordnung v. 8. Juli 1874 zur Er- gänzung der Schiffsvermessungs-Ordnung (Centralbl. 1874 S. 282) ist erlassen „im Anschluß an die von der internationalen Kommission zur Regelung der Abgaben auf dem Suezkanal gefaßten Beschlüsse“ u. s. w. . Die äußere Trennung des Vertrages, der unter den Staaten abgeschlossen ist, und der von den contrahirenden Staaten zur Durchführung desselben erlassenen Befehle ist aber in vielen Fällen unzweckmäßig und mit großen Schwierigkeiten verbunden. Die Verträge enthalten regelmäßig gegenseitige Zusicherungen, die nicht aus ihrem Zusammenhange gerissen werden können, sie ent- halten ferner Verabredungen, welche theils nur die Verwaltung betreffen, theils in die Rechtsordnung eingreifen, und hier handelt es sich wieder theils um die Einführung neuer Verwaltungsvor- schriften oder neuer Rechtsregeln, theils nur um die Aufrechterhal- tung und die Fortdauer der bestehenden Anordnungen. Es würde deshalb eine keineswegs leichte und einfache Aufgabe sein, wenn der Staat im Anschluß an den Staatsvertrag diejenigen Verfü- gungen, Verordnungen und Gesetze formuliren und erlassen sollte, welche zur Durchführung des Vertrages erforderlich sind In manchen Fällen ist dies aber nicht zu umgehen, alsdann muß an den Staatsvertrag sich ein Gesetz oder eine Verordnung anschließen. So ist z. B. das Salzsteuergesetz v. 12. Oktober 1867 (G.-Bl. S. 41) seiner eigenen Angabe in den Eingangsworten gemäß erlassen worden „ in Folge der zwischen den Staaten des Deutschen Zoll- und Handelsvereins am 8. Mai d. J. abgeschlossenen, hier beigefügten Uebereinkunft“ … Ebenso ist das Gesetz v. 2. Nov. 1871 (R.-G-Bl. S. 375) betreff. die St. Gotthard-Eisenbahn äußerlich getrennt von dem Vertrage v. 28. Okt. 1871, welche bei der Publi- . Der §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. Staat erleichtert und vereinfacht sich dies, indem er den allge- meinen Befehl erläßt, den von ihm abgeschlossenen Vertrag zu beobachten, ihm gemäß zu verwalten, zu urtheilen u. s. w. Dies ist die gewöhnliche und in der weitaus größten Mehrzahl der Fälle zur Anwendung kommende Form. Betrifft der Vertrag lediglich Verwaltungssachen, so genügt es, wenn er den betreffenden Be- hörden mit der Verfügung, ihm gemäß zu verfahren, bekannt ge- macht wird; greift er in den Bereich der Gesetzgebung ein, so muß der Befehl ihn zu befolgen wie jeder andere Gesetzesbefehl ver- kündet werden. So wie das gewöhnliche Gesetz aus zwei Theilen besteht, dem Gesetzesinhalt und dem den Gesetzesbefehl enthalten- den Eingang, so wird auch der Staatsvertrag mit einem Eingange versehen, welcher die Befolgung desselben anbefiehlt. Fast in allen Staaten, namentlich auch in der Mehrzahl der Deutschen Staaten wird dieses Verfahren beobachtet Vgl. die Nachweisungen bei Meier , Abschluß von Staatsverträgen S. 330 ff., welche leicht vermehrt werden können. ; es verschafft dem wahren juri- stischen Verhältniß, daß nicht der internationale Vertrags-Abschluß sondern der staatliche Befehl den in dem Vertrage enthaltenen Sätzen innerhalb des Staats Rechtsgültigkeit und Gesetzeskraft er- theilt, den deutlichen und zutreffenden Ausdruck. Man kann nun aber noch einen Schritt weitergehen. Wenn die Regierung einen von ihr abgeschlossenen Staatsvertrag den Behörden mittheilt, so kann sie die ausdrückliche Anordnung, den- selben zu befolgen, als selbstverständlich weglassen; die letztere er- giebt sich in concludenter und zweifelloser Weise aus der That- sache der amtlichen Mittheilung selbst. Der Befehl, den Vertrag zu beobachten, kann stillschweigend ertheilt werden. Denn daß die Regierung einen von ihr abgeschlossenen Vertrag auch erfüllen und ausführen will, ist im Allgemeinen zu vermuthen und wird im concreten Fall zweifellos, da die Regierung den Behörden doch offenbar den Vertrag in der Absicht und zu dem Zwecke mittheilt, daß sie sich nach dem Inhalt desselben richten sollen. Die stereo- type Klausel, durch welche dies den Behörden ausdrücklich anbe- fohlen wird, ist deshalb entbehrlich. Diese Form war seit langer kation als Anlage beigefügt ist; dasselbe gilt von dem Ges. v. 15. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 329) wegen Uebernahme der Wilh.-Luxemb. Eisenb. und dem beigefügten Vertrage vom 11. Juni 1872. §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. Zeit in Preußen üblich. Vor Einführung der constitutionellen Verfassungsform machte es auch keinen Unterschied, ob der Vertrag lediglich die Verwaltungsthätigkeit oder auch die Rechtsordnung berührte; für beide Arten von staatlichen Anordnungen war der Befehl des Königs genügend und nur darin bestand ein Unter- schied, daß die wichtigeren oder die das Publikum direct berühren- den Staatsverträge, z. B. Handels- und Schifffahrtsverträge, in der Gesetzsammlung verkündet, andere nur in den Amtsblättern oder Ministerialblättern abgedruckt oder den betreffenden Behörden durch Cirkular-Verfügung mitgetheilt wurden. Diese in Preußen übliche Form, welche den Befehl, den Ver- trag zu befolgen, als selbstverständlich unterdrückt, hat nun die nachtheilige Folge, daß dieser Befehl überhaupt übersehen werden kann. Denn da er stillschweigend ertheilt wird, so ist er nicht sinn- lich wahrnehmbar, sondern nur durch den Intellekt zu begreifen. Es entsteht dann leicht die, durch den Anblick des nackten ohne Verkündigungsformel abgedruckten Vertrages erzeugte Vorstellung, als ob Behörden und Unterthanen durch den Abschluß des Ver- trages zur Befolgung desselben verpflichtet wären und als wenn die Verkündigung des Vertrages keine andere Bedeutung hätte als ihn zur öffentlichen Kenntniß zu bringen. Der Staat selbst ver- schuldet die irrige Theorie, als könnten durch den Abschluß eines Staatsvertrages Verwaltungsvorschriften oder gar Rechtssätze er- zeugt werden. Man übersieht das nothwendige Mittelglied und verkennt die juristische Bedeutung der Verkündigung. Der Ab- schluß des Vertrages constatirt nur den Willen des Staates, sich zu verpflichten ; die Verkündigung des Vertrages constatirt den Willen des Staates, die Verpflichtung zu erfüllen , indem die Beobachtung des Vertrages anbefohlen wird. Die Verkündigung ist auch bei Staatsverträgen etwas wesentlich Anderes als die Ver- öffentlichung; der bloße Abdruck eines Staatsvertrages in Zeitun- gen, Zeitschriften u. s. w. ist ohne alle und jede rechtliche Bedeu- tung. Der rechtliche Inhalt der Verkündigung ist nicht die Be- kanntmachung des Publikums mit dem Staatsvertrage, sondern der Befehl des Staates an Behörden und Unterthanen, den Vertrag zu beachten. Völkerrechtlich ist der Abschluß des Vertrages der entscheidende Vorgang, staatsrechtlich die Verkündigung; die staatsrechtliche Theorie aber hat sich daran gewöhnt, sich vor- §. 63. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. zugsweise mit dem Abschlusse und nur nebenher und in flüchtiger Kürze mit der Verkündigung der Staatsverträge zu beschäftigen, da diese Verkündigung ihrem äußeren Bestande nach nichts weiter enthält als den Wortlaut des Vertrages. War diese Form schon vor der Einführung der constit. Verf. eine incorrecte, so ist sie nach derselben eine durchaus verwerf- liche . Denn an dem Abschluß des Vertrages ist der Landtag niemals betheiligt; dagegen kann der Befehl , den Vertrag zu be- folgen, in allen Fällen, in denen der Vertrag in den Bereich der Gesetzgebung eingreift, vom König nicht ohne Zustimmung des Landtages erlassen werden. Die Mittheilung der Thatsache, daß der König einen Staatsvertrag abgeschlossen hat, involvirt nicht mehr die selbstverständliche Anordnung, diesen Vertrag zu befolgen; denn diese Anordnung hat noch eine andere Voraussetzung als den Willen des Königs, nämlich die Zustimmung des Landtages; folglich sollte diese Anordnung nicht mehr stillschweigend er- theilt werden, sondern unter Constatirung der vom Landtage er- theilten Genehmigung. Daß man die vor 1848 bestehende Form beibehalten hat, be- ruhte Anfangs vielleicht auf einem Irrthum über die juristische Bedeutung der Verkündigung; und — wie unten näher ausgeführt werden wird — darauf, daß man eine doppelte Ausfertigung des Vertrages unterließ; daß man sie später nicht änderte, auf der Macht der Gewohnheit. Im höchsten Grade zu bedauern ist es aber, daß die Preuß. Art der Verkündigung im Nordd. Bunde und im Deutschen Reiche beibehalten worden ist; denn hier ist der Kaiser nicht der Souve- rain, hier kömmt nicht blos der Reichstag sondern auch der Bun- desrath als ein eigenartiger Faktor in Betracht; hier wird das Verhältniß der vom Reich ausgehenden Befehle zu den Befehlen der Einzelstaaten, insbesondere also auch das Verhältniß der Staats- verträge des Reiches zu den Landesgesetzen der Einzelstaaten von Wichtigkeit; hier können die Sonderrechte der Einzelstaaten in Be- tracht kommen u. s. w. Der bloße Abdruck des Vertrages in dem Reichsgesetzblatt ohne jede Promulgationsformel trägt allen diesen Fragen keine Rechnung; er läßt den staatsrechtlichen Vorgang, welcher dem internationalen Rechtsgeschäft die Bedeutung rechts- verbindlicher Normen verschafft, völlig im Dunkeln, und er ist §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. Schuld daran, daß sowohl die Theorie wie die Praxis hinsichtlich der Behandlung, der Wirkung, der Erfordernisse von Staatsver- trägen eine ungemein unklare und schwankende ist. Es erhöht dies die großen Schwierigkeiten, welche die mißlungene Fassung des Art. 11 der R.-V. ohnedies bere itet. Wenn man aber nicht gänzlich darauf verzichtet, einen wissenschaftlichen Zusammenhang in die Lehre von den Staatsverträgen zu bringen, und wenn man sie mit den übri- gen Lehren des Staatsrechts in den unerläßlichen, praktisch und theoretisch gleich unentbehrlichen Einklang setzen will, so darf man sich durch die fehlerhafte Art der Verkündigung nicht hindern lassen, denjenigen Willensact aus dem Dunkel hervorzuholen, auf welchem die staatsrechtliche Bedeutung eines Staatsvertrages allein beruht. Wie bei der Gesetzgebung der staatsrechtlich entscheidende Vorgang — die Sanction — äußerlich verschwindet und von den übrigen Erfordernissen der Gesetzgebung verdeckt und verborgen ist, so wird auch der staatsrechtlich entscheidende Vorgang bei den Staatsver- trägen — der Befehl sie zu befolgen — bei der Verkündigung gleichsam verschluckt und deshalb der Aufmerksamkeit der Staats- rechtslehrer entzogen. Im Folgenden sollen die beiden Akte, der Abschluß des völker- rechtlichen Rechtsgeschäftes und der staatliche Befehl, auf dem die verbindliche Kraft im Innern beruht, einer getrennten Erörterung unterzogen werden. §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. I. Die Legitimation zum Abschluß . Es ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der sowohl auf dem Gebiete des Privatrechts wie auf demjenigen des öffentlichen Rechts Geltung hat, daß der Vertreter eines Rechtssubjekts das letztere nur insoweit rechtsgültig verpflichten kann, als er innerhalb seiner Vertretungsbefugniß oder Vollmacht handelt. Dies gilt also auch von demjenigen Organ, welches berufen ist, für einen Staat internationale Verträge abzuschließen; dieselben können völkerrechtliche Gültigkeit nur erlangen, wenn jenes Organ innerhalb seiner verfas- sungsmäßigen Vertretungsbefugniß gehandelt hat. Wenn demnach eine Verfassung den Grundsatz aufstellt, daß der Souverain ohne Genehmigung des Landtages oder der Präsident ohne Zustimmung §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. einer souverainen (gesetzgebenden) Versammlung zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge nicht befugt ist, so sind Verträge, welche unter Verletzung einer solchen Vorschrift abgeschlossen sind, null und nichtig und sie erzeugen keinerlei völkerrechtliche Verpflichtun- gen. Denn Verfassungsbestimmungen dieser Art heben die Legi- timation des Souverains oder Präsidiums auf; sie setzen ent- weder an die Stelle derselben die Legitimation des gesetzgebenden Körpers und beschränken den Souverain oder Präsidenten auf die Führung der Verhandlungen und Vereinbarung eines Vertrags- entwurfs, oder sie begründen für den Souverain oder Landesherrn eine bedingte Legitimation. Die Behauptung, daß ein solcher Rechtssatz nur innerhalb desjenigen Staates Wirkungen haben könne, welcher ihn sanctionirt hat, dagegen nicht für den andern Staat, mit welchem der Vertrag geschlossen worden ist, ist völlig unhaltbar. Denn jeder Contrahent muß die Legitimation desjeni- gen, mit dem er verhandelt, prüfen; er muß die Dispositionsfähig- keit und Stellvertretungsbefugniß desselben untersuchen; er muß auf eigene Gefahr feststellen, daß derselbe die rechtliche Macht hat, das Subject, Namens dessen er handelt, zu vertreten und zu ver- pflichten; er muß daher namentlich bei Geschäften mit juristischen Personen sich eine solche Kenntniß von ihrer Verfassung verschaffen, als erforderlich ist, um beurtheilen zu können, wer zur Vertretung der juristischen Person befugt und legitimirt ist. Ueber diesen Rechtssatz waren seit Hugo Grotius alle Autoritäten des Völker- rechts einig Sehr zahlreiche Beläge hiefür erbringt Ernst Meier . Ueber den Abschluß von Staatsverträgen Leipzig 1874. S. 91 ff., so daß eine Wieder- holung der Citate hier entbehrlich scheint. Einige derselben finden sich auch bei Gorius in Hirth’s Annalen 1874 S. 762 ff. und es ist auch in der That nicht möglich, ihn zu leugnen, ohne mit den Grundbegriffen des Rechts und der Logik in Conflict zu gerathen. Allein eine ganz andere Frage ist die, ob das positive Recht eines Staates, welches die Genehmigung der Volksvertretung zu Staatsverträgen oder zu gewissen Arten derselben vorschreibt, da- durch die Legitimation des Staatsoberhauptes zur völker- rechtlichen Vertretung aufheben oder beschränken will, oder ob es nur das Staatsoberhaupt bei der Vollziehung des Vertrages an die Mitwirkung der Volksvertretung binden will. Daß das Laband , Reichsstaatsrecht. II. 11 §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. Gesetz immer beides zugleich wollen müsse, daß es mit sich selbst in Widerspruch treten würde, wenn es für die völkerrechtliche Gül- tigkeit der Verträge andere Voraussetzungen aufstellen würde als für ihre staatsrechtliche Vollziehbarkeit, ist unrichtig Diesen Satz von der nothwendigen Congruenz der Vorschriften über den Abschluß und über die Ausführung von Staatsverträgen nehmen Meier und Gorius in den angeführten Abhandlungen zum Ausgangspunkte ihrer Deduktionen. . Die Le- gitimation zur Vertretung betrifft ein ganz anderes Rechts- verhältniß, wie die Befugniß, Unterthanen und Behörden rechts- gültige Befehle ertheilen zu dürfen. Sowie bei den Personen des Privatrechts die Befugniß zur Vertretung derselben mit rechts- verbindlicher Kraft an ganz andere Bedingungen geknüpft sein kann, wie die Befugniß zur Geschäftsführung, Vermögensverwal- tung, Statutenveränderung, innerhalb der Korporation, so ist auch bei den Personen des öffentlichen Rechtes und insbesondere bei den Staaten weder ein begriffliches noch thatsächliches Hinderniß gegeben, daß die Legitimation zur Vertretung durch andere Vor- schriften geregelt ist, wie die Befugniß zur Vornahme von Herr- schaftsakten innerhalb des Staatsverbandes. Dazu fehlt es auch nicht an Motiven. Denn für den völkerrechtlichen Verkehr wie für den vermögensrechtlichen Privatverkehr besteht das Bedürfniß, die Legitimation des Mitcontrahenten leicht und sicher feststellen zu können, äußerlich erkennbare und untrügliche Merkmale zu haben, durch welche seine Vollmacht dargethan wird, vor Ausflüchten und Einreden wegen mangelnder Stellvertretungsbefugniß gesichert zu sein. Deshalb ist es nicht nur rechtlich möglich , sondern es kann sich auch aus praktischen Gründen empfehlen, das Staats- oberhaupt mit der formellen Legitimation nach Außen, mit der Befugniß zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge auszustatten, und doch gleichzeitig bei der Vollziehung der Vertragsverpflich- tungen innerhalb des Staates ihn denselben Beschränkungen zu unterwerfen, welche für andere Regierungsakte bestehen. Dies ist unbestrittener Weise in England geschehen Eine übersichtliche Darstellung hierüber enthält das Gutachten von Gneist über Art. 48 der Preuß. Verf.-Urk. (Drucks. des Hauses der Abge- ordneten 1868 Nr. 236.) Dasselbe ist in dem citirten Werke von Meier als Anhang abgedruckt. Vgl. ferner die ausführlichere und gründliche Darstellung, welche Meier selbst a. a. O. S. 115 ff. giebt. ; dasselbe Recht ist §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. verfassungsmäßig in Belgien und im Anschluß an die Bestimmun- gen der belgischen Verfassung in Preußen anerkannt worden Allerdings weder in consequenter noch klarer Formulirung. Vgl. dar- über Gneist a. a. O. unter Nr. IV. und v. Rönne , Preuß. Staatsr. I. 1 §. 77 S. 467 ff., dessen Ausführungen ich im Wesentlichen für richtig und zutreffend halte. Eine andere Auffassung hat Meier S. 212 ff. vertheidigt, welcher Schulze , Preuß. Staatsrecht II. S. 826 zustimmt. . Es ist unbedingt zuzugeben, daß diese verschiedene Normirung der völkerrechtlichen Legitimation und der staatsrechtlichen Machtvoll- kommenheit nicht allgemeine Anwendbarkeit auf alle Staaten hat, nicht aus der juristischen Natur der constitutionellen Staatsform mit Nothwendigkeit sich ergiebt, sondern daß es eben lediglich eine Frage des positiven Rechtes ist , in wie weit nicht nur die Vollziehung, sondern zugleich auch die Legitimation zum Ab- schluß von Staatsverträgen beschränkenden Vorschriften unter- worfen ist In Nordamerika ist der Präsident zum Abschluß von Staastver- verträgen nur unter Zustimmung des Senats legitimirt, während dem Repräsentantenhause keine Theilnahme am Abschlusse, sondern nur an der Vollziehung zusteht. Rüttimann I. §. 249 ff. Meier a. a. O. S. 163 ff. Nach der Verfassung der Schweiz v. 29. Mai 1874 ist der Bundes- rath beschränkt auf die „Wahrung der Interessen der Eidgenossenschaft nach Außen“ und auf die „Besorgung der auswärtigen Angelegenheiten“ (Art. 102 Nro. 8), dagegen gehört der Abschluß von Bündnissen und Verträgen mit dem Auslande zur Kompetenz der Bundesversammlung (Art. 85 Nro. 5) und für das Bundesgericht sind die von der Bundesversammlung geneh- migten Staatsverträge maßgebend (Art. 113 Abs. 3). Dieselben Grund- sätze galten auch nach der früheren Bundesverfassung. Rüttimann I. §. 256. — Im ehemaligen Deutschen Reich konnte der Kaiser nur mit Zu- stimmung des Reichstags Verträge mit fremden Staaten abschließen. Instr. Pac. Osnabr. Art. VIII. §. 2. Wahlcapitul. Art. VI. §. 4. Vgl. Pfef- finger , Vitriar. illustr. III. 3. §. 21 (T. IV. p. 397—430) . — Ueber die Verfassungsbestimmungen der Deutschen Einzelstaaten vgl. Meier S. 106. 110 ff. Zachariä , Staatsr. II. §. 236 Note 8. . Diese Frage ist nun mit Beziehung auf das Deutsche Reich zu untersuchen: 1. Der erste Absatz des Art. 11 der R.-V. ermächtigt den Kaiser , das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reiches Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen. Hierdurch wird die formelle Legitimation des Kaisers zur Vertretung des Reiches im völker- 11* §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. rechtlichen Verkehr begründet; Abs. 1 cit. enthält die allge- meine staatsrechtliche Bevollmächtigung des Kaisers, Rechtsgeschäfte im Namen des Reiches mit fremden Staaten abzuschließen . An die allgemeine im Abs. 1 enthaltene Regel schließen sich aber zwei weitere Bestimmungen an. Der zweite Absatz, welcher in der Verf. des Nordd. Bundes fehlte und erst bei dem Eintritt der süddeutschen Staaten in den Bund hinzugefügt wurde, be- stimmt, daß zur Erklärung des Krieges im Namen des Reiches die Zustimmung des Bundesrathes erforderlich ist, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Der dritte Absatz fügt die Regel hinzu: „Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluß die Zu- stimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich“ In dem ursprünglichen Entwurf der Norddeutschen Bundesverf. fehlte der Satz. Bei den Berathungen der Regierungs-Kommissare über den Preuß. Entw. wurde das Erforderniß der Zustimmung des Bundesrathes hinzugefügt, das Erforderniß der Genehmigung des Reichstags wurde von dem verfassungs- berath. Reichstag auf Grund eines Antrages des Abg. Lette eingeschaltet, ohne daß bei der Debatte über den Art. 11 in der Sitzung vom 26. März 1867 die Bedeutung des Amendements erörtert worden ist. Stenogr. Be- richte S. 374. . Wenn man zunächst für einen Augenblick zugiebt, daß sich diese Bestimmung überhaupt auf die Legitimation zum Abschluß von Verträgen und auf die völkerrechtliche Verbindlichkeit der letzteren bezieht, so ist doch der Satz zweifellos und unbestreit- bar, daß die im ersten Absatz ertheilte Stellvertretungsbefugniß durch Abs. 3 nicht allgemein d. h. für alle Staatsverträge des Reiches aufgehoben oder an Bedingungen geknüpft wird, sondern nur für eine gewisse Sorte von Staatsverträgen. Man würde daher zunächst folgendes Resultat gewinnnen : Es giebt zwei Klassen von Staatsverträgen; die einen kann der Kaiser mit völkerrechtlicher Gültigkeit Namens des Reiches abschließen; dagegen ist er nicht befugt, die anderen abzuschließen, wofern er nicht die Zustimmung des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichstages hat. §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. Die erste Klasse würde die Regel, die zweite Klasse die Ausnahme bilden. Es erhebt sich nun die Frage, welche Verträge gehören zu dieser zweiten Klasse; welchen Umfang hat die Rechtsregel, durch welche die Legitimation des Kaisers zur völkerrechtlichen Vertretung des Reiches an die Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages geknüpft wird? 2. Diese Frage beantwortet Abs. 3 des Art. 11 durch die Worte: „insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 in den Be- reich der Reichsgesetzgebung gehören.“ Art. 4 der R.-V. zählt die Angelegenheiten auf, welche der Beaufsichtigung und Gesetzgebung des Reiches unterliegen; er gränzt die Kompetenz des Reiches gegen die Kompetenz der Einzelstaaten ab Vgl. oben §. 58 II. S. 62 fg. ; den Gegensatz zu den Gegenständen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsg esetzgebung gehören, bilden die Gegenstände, welche in den Bereich der Landesg esetzgebung gehören. Eine wörtliche Auslegung des Abs. 3 giebt also das unsinnige und deshalb un- mögliche Resultat, daß wenn ein Staatsvertrag Gegenstände be- trifft, welche verfassungsmäßig zur Kompetenz des Reiches gehören, der Kaiser nicht befugt ist, diesen Vertrag abzuschließen, ohne die Zustimmung des Bundesrathes und die Genehmigung des Reichs- tages einzuholen; hinsichtlich der Gegenstände dagegen, welche nicht zur Kompetenz des Reiches gehören, würde die all- gemeine, im Abs. 1 enthaltene Regel eintreten, daß der Kaiser ohne Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages Staatsver- träge Namens des Reiches darüber abzuschließen befugt wäre. Daß dies der Sinn des Art. 11 nicht sein kann , bedarf keiner Ausführung. Der Kaiser kann über Angelegenheiten, die der Kompetenz des Reiches überhaupt nicht unterstellt sind, auch nicht durch internationale Verträge verfügen v. Mohl , Reichsstaatsr. S. 303 ff. erklärt sich für diese, die gesetz- lichen Kompetenzgränzen zwischen Reich und Einzelstaat aufhebende Aus- legung, wofern nur Zweck und Inhalt des Staatsvertrages sich innerhalb der Aufgaben halten, welche in der Einleitung zur R.-V. angegeben sind. Ihm folgt Gorius Hirth’s Annalen 1874 S. 771. . Die Vorschriften, welche für Verfassungs-Aenderungen gegeben sind, müssen vielmehr auch in dem Falle zur Anwendung kommen, wenn mittelst eines Staats- §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. vertrages die verfassungsmäßige Grenzlinie der Reichskompetenz abgeändert werden soll; folglich kann der Kaiser nicht durch die Verfassung selbst die Befugniß erhalten haben, ohne Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages Staatsverträge über Gegen- stände zu schließen, welche nicht zur verfassungsmäßigen Kompetenz des Reiches gehören. Man könnte darnach versucht sein, den Art. 11 in der Art zu interpretiren, daß der Kaiser zwar Verträge nur innerhalb der dem Reiche zustehenden Kompetenz abschließen dürfe, daß aber die Kompetenz des Reiches in zwei Kreise zerfällt, von denen der eine durch die im Art. 4 der Reichsverf. aufgezählten Angelegenheiten gebildet wird, der andere dagegen durch solche Angelegenheiten, auf welche die Kompetenz des Reiches durch irgend eine andere Bestimmung der R.-V. oder der Reichsgesetze erstreckt wird Dies behauptet Hiersemenzel I. S. 51 Nro. 3. Vgl. dagegen Riedel S. 106 Ziff. 11. . Dies ist aber nicht weniger absurd. Darnach würden z. B. die Finanzen des Reiches, welche im Art. 4 der R.-V. als selbstverständlich unter den zur Kompetenz des Reiches gehörenden Angelegenheiten nicht besonders aufgeführt worden sind, zu denjenigen Gegenständen gehören, auf welche die beschränkende Vorschrift des Art. 11 Abs. 3 keine Anwendung findet. Dasselbe würde von allen denjenigen An- gelegenheiten gelten, auf welche die Reichskompetenz nachträglich erstreckt worden ist, ohne daß der Wortlaut des Art. 4 eine Ver- änderung erfahren hat. Es würde in der That dem Umstande, daß eine Befugniß des Reiches grade im Art. 4 der R.-V. und nicht durch eine andere Gesetzesbestimmung anerkannt oder begrün- det ist, eine ganz wunderbare Wirkung auf den Abschluß von Staatsverträgen beigelegt worden sein. Art. 4 würde hinsichtlich der Gesetzgebung die Kompetenz des Reiches gegen die Kompe- tenz der Einzelstaaten , dagegen hinsichtlich der Vertragsschlies- sung die Kompetenz des Kaisers gegen die Kompetenz des Bun- desrathes und Reichstages abgrenzen. Andererseits stehen dem Reiche bei vielen Angelegenheiten, welche nach Art. 4 der R.-V. in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, auch Verwaltungsbefugnisse zu. Der Art. 4 bestimmt durchaus nicht, daß das Reich hinsichtlich der daselbst aufgezählten §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. Gegenstände, auf die Beaufsichtigung und den Erlaß von Gesetzen beschränkt ist; einige der im Art. 4 aufgezählten Angelegen- heiten sind ausschließlich, andere zum größten Theil in die un- mittelbare Verwaltung des Reiches genommen; bei allen sind Ver- ordnungen des Kaisers oder Reichskanzlers möglich. So weit die Verwaltungsbefugnisse des Reiches sich erstrecken oder dem Kaiser oder Reichskanzler das Verordnungsrecht gesetzlich übertragen ist, könnten durch Verfügung oder Verordnung die Beamten des Reiches angewiesen werden, gewisse Geschäfte in einer gewissen Art zu er- ledigen. Und doch fallen völkerrechtliche Verträge über solche Ge- genstände unter die Bestimmung des Art. 11 Abs. 3. Der Kaiser könnte also die Zusage, eine solche Verordnung zu erlassen, einem fremden Staate zwar ohne Zustimmung des Bundesrathes und Genehmigung des Reichstages nicht gültig ertheilen, wohl aber wäre er staatsrechtlich völlig befugt, diese Zusage sogleich rechts- wirksam zu erfüllen! Auch für diese an dem Buchstaben des Art. 11 Abs. 3 haftende Theorie hat sich trotz ihrer Absurdität ein Vertheidiger gefunden, nämlich Gorius in Hirth’s Annalen 1875 S. 546 ff. Dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 3 liegt offenbar eine Ver- wechslung zu Grunde zwischen den Angelegenheiten, welche zum Bereich der Reichsgesetzgebung (Kompetenz) gehören, und den- jenigen Gegenständen, welche das Reich in der Form der Gesetz- gebung erledigen soll. Dem Abs. 3 ist ein befriedigender Sinn nur abzugewinnen, wenn man ihn trotz seines entgegenstehenden Wortlautes dahin auslegt, daß Willensakte, welche das Reich ver- fassungsmäßig nur unter Zustimmung des Bundesrathes und mit Genehmigung des Reichstages, d. h. in der im Art. 5 definirten Form des Reichsgesetzes vornehmen kann, an diese Er- fordernisse auch dann gebunden sein sollen, wenn sich das Reich durch einen Staatsvertrag zur Vornahme derselben verpflichtet hat. Dieses Kriterium wird aber nicht dadurch gegeben, ob der Staatsvertrag einen Gegenstand betrifft, welcher im Art. 4 der R.-V. aufgeführt ist oder nicht, sondern einzig und allein dadurch, ob zur Vollziehung des Staatsvertrages ein Befehl erforderlich ist, den der Kaiser nur unter Zustimmung des Bundesrathes und mit Genehmigung des Reichstages (im Gesetzgebungs- Wege) erlassen kann, oder ob der Kaiser die zur Erfüllung des Staats- §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. vertrages erforderlichen Befehle selbstständig (im Verordnungs - Wege) zu erlassen befugt ist In vollkommen übereinstimmender Weise wird Art. 11 Abs. 3 von Meier a. a. O. S. 294 ff. ausgelegt. . In diesem Sinne verstanden ist die Anordnung in Art. 11 Abs. 3 nicht nur im Einklang mit den übrigen Vorschriften der R.-V. und der allgemein herrschenden staatsrechtlichen Theorie, sondern sie ist ganz unentbehrlich und im Grunde genommen völlig selbstverständlich. Denn die Rechte des Bundesrathes und des Reichstages, an den Willensakten des Reiches mitzuwirken, könnten mit Leichtigkeit umgangen und völlig illusorisch gemacht werden, wenn es dem Kaiser frei stünde, anstatt den Weg der Gesetzgebung zu betreten, unbehindert durch Bundesrath und Reichstag die von ihm gewünschte Vorschrift zum Gegenstande eines Staatsvertrages mit der Rechtswirkung zu machen, daß sie für Behörden und Unterthanen verbindlich ist. 3. Die vorstehende Erörterung hat das Resultat ergeben, daß die beiden Klassen von Staatsverträgen, welche nach Abs. 1 und Abs. 3 des Art. 11 zu unterscheiden sind, sich durch ein Kriterium bestimmen, welches lediglich die Vollziehung des Ver- trages , d. h. seine staatsrechtliche Gültigkeit betrifft. Es wäre nicht nur unzweckmäßig, sondern vernunftwidrig und sich selbst widersprechend, wenn der Kaiser einen Befehl, den er nur mit Zu- stimmung des Bundesrathes und Reichstages erlassen kann, als- dann ohne Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages erlassen dürfte, wenn er zuvor den Erlaß dieses Befehls in einem Vertrage mit einer fremden Macht der letzteren zugesichert hat. Diese Ab- surdität sollte durch Art. 11 Abs. 3 ausgeschlossen werden, weil man in mißverständlicher Auffassung des Wesens eines Staats- vertrages glaubte, daß sie aus Abs. 1 des Art. 11 hergeleitet werden könnte. Abs. 3 hebt diejenigen Verträge heraus, welche nur mit Zustimmung des Bundesrathes und Genehmigung des Reichstages vollzogen werden können, weil zu ihrer Vollziehung ein Gesetz nothwendig ist. Eine Bestimmung über die Bedingungen der Vollziehbarkeit kann vollkommen unabhängig von den Vor- schriften über die Legitimation zum Abschluß eines Staatsvertrages bestehen. Es ist daher durchaus nicht erforderlich, die Anordnun- §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. gen in Abs. 1 u. Abs. 3 in der Art zu combiniren, daß Abs. 3 eine Ausnahme aufstellt, durch welche die im Abs. 1 enthaltene allgemeine Regel für gewisse Klassen von Verträgen ausgeschlos- sen wird. Vielmehr können beide Regeln neben einander bestehen und die Rechtssätze enthalten: Der Kaiser ist legitimirt, Staats- verträge Namens des Reiches abzuschließen. Wenn zur Vollziehung eines Staatsvertrages Anordnungen erforderlich sind, die in der Form des Gesetzes ergehen müssen, so kann der Kaiser den von ihm geschlossenen Staatsvertrag nicht zur Ausführung bringen, wenn nicht der Bundesrath dem Abschluß zugestimmt und der Reichstag die Genehmigung ertheilt hat. In diesem Sinne verstanden, steht der Inhalt der im Abs. 3 des Art. 11 enthaltenen Regel im Einklang mit dem Umfang, auf welchen sie sich erstreckt; er unterscheidet nicht blos die Staatsver- träge nach den Voraussetzungen ihrer Vollziehbarkeit, sondern er normirt auch diese Voraussetzungen. Die Legitimation zum Ab- schluß völkerrechtlicher Verträge bliebe dagegen durch Abs. 3 ganz unberührt; dieselbe würde lediglich durch Abs. 1 normirt. Auch bei dieser Auslegung darf man aber nicht meinen, daß die Be- stimmung des Abs. 3 auf die Befugniß zum Abschluß der Staats- verträge einflußlos sei; ihre Wirkung ist eine indirecte , aber sehr eingreifende. Es würde nämlich weder der Würde des Kai- sers und seines Ministers, noch der des Reiches entsprechen, wenn der Kaiser Staatsverträge abschließen würde, die er nicht erfüllen kann; wenn er insbesondere den Erlaß von staatlichen Befehlen (Gesetzen) zusichern würde, zu dem er rechtlich gar nicht befugt ist. Der Kaiser wäre vielmehr durch die Vorschrift des Art. 11 Abs. 3 genöthigt, auch wenn dieselbe seine völkerrechtliche Legitimation zur Vertretung des Reiches unberührt läßt, bei Staatsverträgen, welche in den Bereich der Gesetzgebung eingreifen, vor ihrem Abschluß die Zustimmung des Bundesrathes und des Reichstages einzuholen. Der Vorgang ist nicht der, daß erst der Staatsvertrag abgeschlos- sen und dann derselbe vom Reichstage genehmigt wird, sondern der regelmäßige und übliche Weg ist der, daß der Bundesrath und der Reichstag zuerst ihre Zustimmung zur Ausführung des Ver- trages ertheilen, und daß darauf erst der Kaiser den Vertrag abschließt Vgl. unten sub III. S. 183 fg. Die Behauptung Meier’s S. 105, . Aus der Vorschrift des Abs. 3 cit. ergiebt sich, §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. wenn man sie in der angegebenen Weise auslegt, eine staats- rechtliche Pflicht des Kaisers, von der ihm anvertrauten Ver- tretungsbefugniß in den von dem Abs. 3 betroffenen Fällen nur Gebrauch zu machen, nachdem er die Zustimmung des Bundes- rathes und die Genehmigung des Reichstages erlangt hat, es sei denn, daß er mit Zuversicht auf die nachträgliche Genehmigung rechnen kann und ein Aufschub des definitiven Vertragsabschlusses mit Nachtheilen verknüpft ist. Die Erfüllung dieser Verpflichtung ist aber eine res interna des Reiches; es ist lediglich Sache des Bundesrathes und Reichstages, gegen Verletzungen derselben zu reagiren. Die völkerrechtliche Gültigkeit des vom Kaiser ratifizir- ten Vertrages bliebe gänzlich unberührt davon, weil diese Ver- pflichtung des Kaisers die formelle Legitimation desselben zum Ver- tragsabschlusse nicht berührt, der fremde Staat aber nur diese Legi- timation zu prüfen hat. 4. Diese Auslegung des Art. 11 ist nun auch in der That die einzige, welche mit seinem Wortlaut, mit den allgemeinen Prin- zipien der Reichsverfassung und mit der Praxis des internationalen Verkehrs vereinbar ist In der Literatur ist die Auslegung des Art. 11 Abs. 3 streitig. Eine völkerrechtliche Wirksamkeit, so daß ein vom Kaiser geschlossener Vertrag nichtig ist, wenn er nicht die Zustimmung des Bundesrathes und die Genehmi- gung des Reichstages erlangt hat, schreiben dem Abs. 3 zu Thudichum S. 91 ff. 127 v. Mohl , Reichsstaatsr. S. 304. Gorius a. a. O. und beson- ders E. Meier a. a. O. S. 275 ff. Dagegen unterscheiden v. Rönne , Ver- fassungsr. des D. R. S. 60 ff. (1. Aufl. — Die zweite Aufl. behandelt diese Lehre bis jetzt noch nicht) und Seydel , Komment. S. 118 zwischen der Zu- stimmung des Bundesrathes zum Abschluß und der Genehmigung des Reichstages zur Gültigkeit ; die erstere sei ein Erforderniß der völker- rechtlichen Verbindlichkeit, die letztere dagegen nur ein Erforderniß der staats- rechtlichen Vollziehbarkeit. — Beide Ansichten sind, wie im Folgenden dargethan werden wird, meines Ermessens unrichtig. . So wie Abs. 3 zum Abschluß von Verträgen die Zustimmung des Bundesrathes verlangt, so erklärt der vorhergehende Absatz daß ein „unlösbarer Widerspruch“ zwischen den vertragsmäßigen Staats- pflichten nach Außen und der verfassungsmäßig beschränkten Verfügungsgewalt des Staatsoberhaupts im Innern besteht, ist demnach unbegründet. Richtig ist nur, daß ein Widerspruch entstehen kann , wenn der Kaiser einen Vertrag ohne Vorbehalt ratifizirt, zu dessen Vollziehung er ohne die Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages nicht befugt ist. §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. desselben Artikels „zur Erklärung des Krieges im Namen des Rei- ches die Zustimmung des Bundesrathes für erforderlich“. Es entspricht den Regeln der Auslegungskunst, dieselbe Redewendung in demselben Artikel in demselben Sinne zu interpretiren Abs. 3 des Art. 11 findet sich zwar schon in der Verf. des Nordd. Bundes, während Abs. 2 erst bei dem Hinzutritt der süddeutschen Staaten ein- geschaltet wurde. Dies ändert aber Nichts an dem Satze, daß die Reichsver- fassung als ein einheitliches Gesetz aus sich selbst ausgelegt werden muß, so daß ihre einzelnen Bestimmungen unter einander im Einklang bleiben. Diese Interpretationsregel hebt Meier selbst S. 195 mit Recht hervor. . Der Kaiser würde sich nach Art. 11 Abs. 2 ohne Zweifel einer Ueber- schreitung seiner staatsrechtlichen Befugnisse schuldig machen, wenn er, abgesehen von dem Falle eines Angriffs auf das Bundesgebiet, im Namen des Reiches einen Krieg erklären würde, ohne die Zu- stimmung des Bundesrathes eingeholt zu haben. Aber würde in diesem Falle die Kriegserklärung völkerrechtlich ungültig sein? Wäre der Krieg etwa ein Privatunternehmen des Kaisers, für welches das Reich die Verantwortlichkeit ablehnen könnte? Würde irgend Jemand der Deduktion Gehör schenken, daß der fremde Staat ja wissen müsse, daß der Kaiser nicht berechtigt sei, ohne Zustimmung des Bundesrathes den Krieg zu erklären, daß deshalb eine solche Kriegserklärung nichtig sei, daß die vom Kaiser in Kriegsbereitschaft gesetzten und in das feindliche Gebiet geführten Truppen nicht als die Armee eines kriegführenden Staates anzu- sehen seien u. s. w.? Der Abs. 2 läßt eine andere Auslegung gar nicht zu, als daß er zwar eine staatsrechtliche Beschrän- kung des Kaisers mit rechtlicher Wirkung nach Innen, nicht aber eine Beschränkung der im Abs. 1 ertheilten völkerrechtlichen Vertretung mit Wirkung nach Außen enthält. Dieser unzweifelhafte Sinn, in welchem im Abs. 2 die Zu- stimmung des Bundesrathes für erforderlich erklärt wird, bietet ein authentisches Hülfsmittel der Interpretation für den Sinn, in welchem dieselben Worte im Abs. 3 zu verstehen sind. Damit stimmt überein, daß der Bundesrath und ebenso der Reichstag nach Außen überhaupt nicht Namens des Reiches han- deln. Woher soll der auswärtige Staat zuverlässige Kenntniß haben, daß der Bundesrath die Zustimmung zum Abschluß des Vertrages ertheilt hat, da seine Verhandlungen nicht öffentlich sind? §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. Und mit der bloßen Anzeige, daß der Bundesrath zugestimmt habe, wäre immer noch nicht dem Erforderniß Genüge geschehen, daß der fremde Staat die Vorschriften der Verfassung des mitcontra- hirenden Staates kennen und beachten müsse. Der fremde Staat müßte noch weiter prüfen, ob der Beschluß des Bundesrathes ge- mäß den im Art. 7 der R.-R. aufgestellten Vorschriften erfolgt ist. Die auswärtige Regierung wäre ferner verpflichtet, die stenogra- phischen Berichte des Deutschen Reichstages, die Geschäfts-Ordnung u. s. w. zu studiren, um zu wissen, ob der Reichstag die verfas- sungsmäßige Genehmigung zum Vertrage ertheilt hat. Die Funk- tionen, welche dem Kaiser obliegen, bevor er einen Staatsvertrag ratifizirt, legt die entgegenstehende Theorie der Regierung des fremden Staates auf, wenn die letztere bei dem Abschluß eines völkerrechtlich wirksamen Vertrages prüfen müßte, ob die im Abs. 3 des Art. 11 enthaltene Vorschrift beobachtet worden ist. Die Rati- fikation eines Vertrages Seitens des Kaisers wäre für die aus- wärtige Regierung nicht genügend, um ihr die formelle Gewißheit zu verschaffen, daß ein Staatsvertrag mit völkerrechtlich verbind- licher Kraft abgeschlossen worden ist; sie müßte außerdem noch auf Beibringung einer authentischen Urkunde über den Beschluß des Bundesrathes und über den Beschluß des Reichstages bestehen. Die fremde Regierung müßte überdies die überaus schwierige Untersuchung vornehmen, ob der Vertrag Gegenstände betrifft, welche in den Bereich der Reichsgesetzgebung (in dem oben darge- legten Sinne) gehören. Die Kenntniß der Verfassungs-Organisation des Deutschen Reiches genügt zur Beantwortung dieser Frage nicht, sondern es ist die genaueste Kenntniß der gesammten Gesetzgebung dazu erforderlich, da man nur aus dem Studium derselben ent- nehmen kann, welche Willensakte des Reiches auf den Weg der Gesetzgebung gewiesen sind. Diese Rechtssätze darf man nicht mit der Legitimation des Souverains zum Abschluß von Verträgen zu- sammenwerfen, die klar und deutlich erkennbar sein muß. Der Regierung eines auswärtigen Staates kann man die richtige und vollständige Kenntniß dieser verwickelten und sich stets verändernden Regeln unmöglich zumuthen, während man wohl verlangen und erwarten darf, daß sie die Verfassung befreundeter Staaten soweit kennt, um zu wissen, wer zur völkerrechtlichen Vertretung derselben legitimirt ist. Wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen der §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. Reichsregierung und dem Reichstage (resp. zwischen Kaiser und Bundesrath) besteht, ob ein Staatsvertrag unter den Abs. 3 des Art. 11 fällt oder nicht, so heißt es geradezu die auswärtige Re- gierung zur Einmischung in diesen Streit auffordern und nöthigen, sofern man die völkerrechtliche Gültigkeit des Staatsvertrages von der Entscheidung dieser Frage abhängig macht, denn die aus- wärtige Regierung muß sich doch ein Urtheil darüber bilden, ob sie einen gültigen Vertrag abgeschlossen hat oder nicht In den meisten Darstellungen über die hier erörterte Frage wird der Hauptnachdruck darauf gelegt, ob durch das Zustimmungsrecht der Volksver- tretung zum Abschluß von Staatsverträgen die Einheitlichkeit der Aktion nach Außen für die Regierung beschränkt wird, oder nicht, resp. in wie weit dies zulässig sei. Dieser Gesichtspunkt ist m. E. ein unrichtiger. Die freie Bewegung der Regierung bei der Führung von Verhandlungen mit fremden Staaten wird in beiden Fällen in gleichem Maße beschränkt, mag die völkerrechtliche Gültigkeit oder nur die staatsrechtliche Vollziehbarkeit der Ver- träge von der Genehmigung der legislativen Körperschaften abhängig gemacht sein. Der Unterschied besteht nur darin, daß die erste Ansicht den fremden Staat an der Lösung der inneren staatsrechtlichen Frage unmittelbar und direct betheiligt und ihm ein eigenes selbstständiges Urtheil über die staats- rechtlichen Befugnisse des Staatsoberhauptes zur rechtlichen Pflicht macht, während die zweite Ansicht die Lösung der staatsrechtlichen Frage von der Einmischung des fremden Staates abschließt und ihn auf die Prüfung der formellen Legitimation beschränkt. . Auch politisch führt die hier bekämpfte Theorie zu einem un- haltbaren Resultate. Zwar ist der Kaiser befugt, die gesammte auswärtige Politik zu leiten, Schutz- und Trutzbündnisse zu schließen, das Reich in einen Krieg zu stürzen, die bewaffnete Macht des Reiches aufzubieten, die höchsten Lebensinteressen des Reichs auf das Spiel zu setzen — aber einen Staatsvertrag abzuschließen, der die Niederlassungsverhältnisse oder den Schutz literarischer Erzeug- nisse oder die Form und Beweiskraft von Notariatsurkunden eines Konsuls u. dgl. betrifft, dazu wäre der Kaiser nicht legitimirt. So ganz willkührlich kann ein Staat denn doch nicht die Vertretungs- befugniß regeln und beschränken, daß es für den völkerrechtlichen Verkehr allein auf den Wortlaut ankäme, den ein Regierungs- Kommissar oder ein Reichstagsabgeordneter einem von ihm vorge- schlagenen Amendement zur R.-V. gegeben hat. Wem ein Staat die Verwendung der Armee und Kriegsmarine, die Entscheidung §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. über Krieg und Frieden, die Leitung der gesammten auswärtigen Politik überträgt und anvertraut, den muß der Staat auch zu seiner Vertretung im internationalen Verkehr ermächtigen, dessen feierliches Wort muß er mit der Kraft ausstatten, den Staat zu verpflichten Wenn im ehemaligen Deutschen Reich der Kaiser zum Abschluß von Staatsverträgen nicht befugt war, sondern der Reichstag, so stand dies im vollen Einklang mit der gesammten Verfassung . Ohne Zu- stimmung des Reichstages konnte der Kaiser auch auf dem Gebiet der aus- wärtigen Politik keine Entscheidung treffen, kein Bündniß schließen, keinen Krieg erklären, keinen Frieden vereinbaren; er konnte ohne Beschluß des Reichs- tages kein Truppencontingent aufbieten, als die seines eigenen Staates; er hatte keinen Kriegsschatz zur Verfügung. Die Gesandten auswärtiger Mächte waren beim Reichstage beglaubigt, sie traten mit demselben in geschäftlichen Verkehr, ihnen wurden die Beschlüsse des Reichstages in den mit ihnen ver- handelten Angelegenheiten offiziell mitgetheilt u. s. w. Pfeffinger , Vitriar. illustr. III. 2 §. 71 (T. IV. p. 357 sqq.) . Im jetzigen Deutschen Reich ist dies Alles anders; dem Kaiser sind Machtbefugnisse eingeräumt, welche ihn gleichsam von selbst zum Vertreter des Reiches nach Außen machen, so daß eine Auslegung des Art. 11 Abs. 3, welche seine Legitimation theil- weise aufhebt, die Harmonie des Verfassungsbaus stört, während die Rechte des Bundesrathes und Reichstages vollkommen gewahrt bleiben, wenn jede Veränderung der bestehenden Gesetze innerhalb des Reiches nur mit ihrer Zustimmung erfolgen darf. . Wenn jemals der Versuch einer praktischen Anwen- dung der entgegenstehenden Theorie gemacht werden sollte, d. h. wenn ein vom Deutschen Kaiser Namens des Reiches ratifizirter Staatsvertrag nachträglich von der Deutschen Regierung für völker- rechtlich unverbindlich und null und nichtig erklärt werden würde, weil der Bundesrath oder Reichstag die Zustimmung zu demselben nicht ertheilt habe, obgleich der Vertrag zu der im Art. 11 Abs. 3 der R.-V. aufgeführten Kategorie gehöre, so würde das allge- meine Rechtsgefühl hierin nicht die Bethätigung eines im völker- rechtlichen Verkehr anerkannten Rechtssatzes, sondern einen frivolen Wort- und Vertragsbruch erblicken. 5. Die hier vertheidigte Auslegung des Art. 11 Abs. 3 findet hinsichtlich der Genehmigung des Reichstages eine direkte und ausdrückliche Bestätigung in den Materialien der Reichsverfassung. Zu dem Art. 47 des Entwurfs (Art. 50 der jetzigen R.-V.) war von den Abgeordneten Erxleben und Francke ein Amendement ge- §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. stellt worden, welches hinsichtlich der Postverträge auf Art. 11 verwies. Nachdem der Bundescommissar, Staatsminister Graf von Itzenplitz sich gegen dasselbe ausgesprochen und es für unausführ- bar erklärt hatte, die Post- und Telegraphen-Verträge mit den auswärtigen Staaten erst von der vorhergehenden Genehmigung des Reichstages abhängig zu machen, sprach der Abgeordnete Lette , auf dessen Antrag Art. 11 Abs. 3 den in Rede stehenden Zusatz erhalten hatte S. oben S. 164 Note 1. , sein Einverständniß hiermit aus und gab über den Sinn, in welchem er selbst seinen Antrag verstanden, fol- gende Erklärung ab: „Im Wesentlichen ist nichts Anderes mit meinem Amendement gemeint, als das, was auch in der Preußischen Verfassung be- stimmt ist. Außerdem weist wohl schon die Fassung des Amen- dements darauf hin, daß es nur um eine nachträgliche Genehmigung in den betreffenden Fällen zu thun ist, da es heißt „zur Gültigkeit bedarf es der Genehmigung des Reichs- tages“. Es ist eine andere Fassung in Bezug auf den Reichstag gewählt als in Bezug auf den Bundesrath. Ich glaube, ich kann das im Namen meiner politischen Freunde ver- sichern, daß ein Anderes durchaus nicht beabsich- tigt ist und daß man am wenigsten die Executive in gedachter Beziehung hat geniren wollen. Manche übrigens von derartigen Verträgen werden zum Theil nur in das Gebiet der Exekutive gehören und nicht einmal der Vorlegung beim Reichstage bedürfen. Soweit sie aber nach der Wortfassung unseres Amendements in Verbindung mit §. 4 der Genehmi- gung des Reichstages bedürfen, würde es in den vorausgesetzten Fällen genügen, daß sie nachträglich vorgelegt werden .“ Der Bundescommissar erwiderte, daß er „diese Erklärung dankbar acceptire“, der Abgeordnete Erxleben erklärte sich eben- falls mit dem, was der Bundescommissar gesagt hat, „vollständig einverstanden“ und sprach die Ansicht aus, „daß es sehr wohl möglich sein wird, dergleichen Postverträge nachträglich vor- zulegen“. Hiermit war die Discussion über Art. 47 (50) geschlossen §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. und bei der Abstimmung wurde das Amendement Erxleben abge- lehnt 25. Sitzung des verfassungberathenden Reichstages v. 2. April 1867. Stenogr. Berichte S. 518. 519. . Aus dieser Verhandlung ergiebt sich, daß das Amendement des Abg. Lette nicht bezweckte, den Abschluß der Staatsverträge von einer Genehmigung des Reichstages abhängig zu machen, daß die Staatsverträge vielmehr nur nachträglich dem Reichstage vorgelegt werden sollten, und daß man einer anderen Auslegung dadurch glaubte vorbeugen zu können, daß man in Bezug auf den Reichstag eine andere Fassung wählte als in Bezug auf den Bun- desrath. Diese Erklärung gab der Abg. Lette in seinem Namen und im Namen seiner politischen Freunde ab, sie wurde vom Bun- descommissar ausdrücklich acceptirt und es wurde ihr im Reichs- tage von keiner Seite ein Widerspruch entgegengesetzt. Es fehlt daher der Behauptung, daß der Reichstag und die verbündeten Regierungen trotzdem die entgegengesetzte Ansicht durch die An- nahme des Amendements Lette haben sanctioniren wollen, an jeder Begründung Meier nennt die Erklärung des Bundeskommissars „höchst auffallend“, die Aeußerung des Abgeordneten Erxleben „noch auffallender“, die Inter- pretation, welche der Abg. Lette seinem eigenen Amendement gab, „am aller- auffallendsten“ (a. a. O. S. 278. 279). In der That auffallend ist aber, daß Meier durch diese authentischen Erklärungen über den Sinn des Art. 11 nicht zu der Ueberzeugung gelangt ist, daß seine eigene Auslegung desselben unrichtig ist. . Wenn die Genehmigung des Reichstages eine Vorbedingung für den völkerrechtlich gültigen Abschluß eines Staatsvertrages wäre, wenn er ohne diese Genehmigung keine internationale Ver- pflichtung erzeugen könnte und null und nichtig bliebe, so könnte die Vorlegung des Vertrages an den Reichstag nicht als „nach- träglich“ bezeichnet werden. Diese Ausdrucksweise ist vielmehr nur mit der Auffassung vereinbar, daß die Regierung den Vertrag be- reits mit völkerrechtlicher Kraft und Wirksamkeit abgeschlossen habe und hierauf zur Vollziehung desselben im Inlande die Genehmi- gung des Reichstages einholt Ganz unklar und widerspruchsvoll sind die Ausführungen von Go- rius , indem derselbe bald die Genehmigung des Reichstages für eine Suspensivbedingung erklärt, durch deren Eintritt der Staatsvertrag Gültigkeit . §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. 6. Ueber die Frage, ob die Zustimmung des Bundesrathes zum Abschluß von Staatsverträgen von den verbündeten Regie- rungen in dem Sinne für erforderlich erklärt worden ist, daß da- durch die völkerrechtliche Legitimation des Bundespräsidiums be- schränkt werden sollte, oder nur in dem Sinne, daß dem Bundes- präsidium die staatsrechtliche Pflicht auferlegt wurde, die Zustim- mung des Bundesrathes vor dem Vertrags-Abschluß einzuholen, geben die Protokolle über die Berathungen der Bevollmächtigten keine Auskunft Vgl. über dieselben Bd. I. S. 21 ff. . Wohl aber findet die letztere Ansicht ihre Bestätigung in dem vom Norddeutschen Bunde und Deutschen Reiche beobachteten Ver- fahren bei der Ratifikation der Staatsverträge. Würde zum gül- tigen Abschluß des internationalen Rechtsgeschäftes die Zustimmung des Bundesrathes erforderlich sein, wie z. B. in der Nordameri- kanischen Union die Zustimmung des Senates erforderlich ist, so müßte in der Ratifikations-Urkunde diese Zustimmung be- glaubigt oder erwähnt sein, da sie nicht nur innerhalb des Reiches (staatsrechtlich), sondern auch dem fremden Staate gegen- über (völkerrechtlich) von Erheblichkeit wäre. Grade in der ersten Zeit des Norddeutschen Bundes aber ist in einem Staatsvertrage, der die Genehmigung des Bundesrathes und Reichstages erhalten hat und in dem Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden ist, die ent- gegengesetzte Regel sanctionirt und der Gegensatz zwischen dem Rechte des Nordd. Bundes und dem Rechte der Vereinigten Staaten von Nordamerika veranschaulicht worden. Der Vertrag mit Amerika über die Staatsangehörigkeit v. 22. Febr. 1868 bestimmt im Art. 6 Bundesgesetzbl. 1868 S. 230. : „Der gegenwärtige Vertrag soll ratifizirt werden von Seiner Majestät dem Könige von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes und von dem Präsidenten unter und mit Geneh- migung des Senats der Vereinigten Staaten“ Auch bei dem Abschluß des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867 wurde in dem Schluß-Protokoll am Ende (B.-G.-Bl. 1867 S. 112) „konstatirt, . erhält (Hirth’s Annalen 1874 S. 772), bald die Nichtgenehmigung für eine Resolutivbedingung, durch deren Eintritt der gültig geschlossene Vertrag inva- lidirt wird (Hirth’s Annalen 1875 S. 537 ff.). Laband , Reichsstaatsrecht. II. 12 §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. In ganz ähnlicher Weise heißt es in dem Frankfurter Frieden mit Frankreich v. 10. Mai 1871 Art. 18: „Die Ratifikationen des gegenwärtigen Vertrages durch Seine Majestät den Deutschen Kaiser einerseits und andererseits durch die Nationalversammlung und durch das Oberhaupt der vollziehenden Gewalt der Französischen Republik werden in Frankfurt … ausgetauscht werden“ Auch da, wo für die Ratifikation die Zustimmung des Bundesrathes vorbehalten ist, z. B. in dem Vertrage mit Frankreich v. 12. Okt. 1871 Art. 12 (R.-G.-Bl. S. 368) sind der Bundesrath und Reichstag einander vollkommen gleichgestellt worden. Vgl. auch den Vertrag mit der Schweiz v. 24. Januar 1874 Art. 16 (R.-G.-Bl. 1874 S. 119). . In Uebereinstimmung hiermit steht das Formular, welches Seitens des Deutschen Reiches bei Ausfertigung der Ratifikationen verwendet wird. Sonderbarer Weise wird in der staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Literatur auf Form und Inhalt dieser Ur- kunde keine Rücksicht genommen und anstatt aus diesem authenti- schen Material den wirklichen Sachverhalt zu ermitteln, zieht man es vor „aus den Fesseln des Systems zu argumentiren“. Es mag dies z. Th. daraus sich erklären, daß im Reichsgesetzblatt die Rati- fikations-Urkunden nicht veröffentlicht werden. Dagegen kann man den Wortlaut der Ratifikationen aus ausländischen Gesetz- sammlungen kennen lernen, in denen Staatsverträge in einer mehr correcten und sachgemäßen Weise als in Deutschland veröffentlicht werden. Dies ist der Fall z. B. in der Schwedischen Gesetzsamm- lung. Die Staatsverträge werden daselbst mit den Ratifikations- Urkunden sowohl in Schwedischer Sprache als in der Sprache der Ausfertigung publicirt und man kann daher aus der »Swensk Författnings-Samling 1873 Nro. 41“ den Wortlaut der Ratifi- kation des Additional-Postvertrages vom 25. Mai 1873 kennen lernen, also eines Vertrages, welcher dem Deutschen Reichstage zur verfassungsmäßigen Beschlußnahme vorgelegt Drucksachen 1873 Nro. 157. und im Reichs- daß die Ratifikation des Vertrages für den Norddeutschen Bund nur durch dessen Präsidium zu erfolgen habe.“ Vgl. auch die Postverträge mit Oesterreich und mit Luxemburg vom November 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 96. 115). „Die Ratifikation des Vertrages für den Norddeutschen Bund erfolgt durch dessen Präsidium.“ §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. gesetzblatt verkündet worden ist R.-G.-Bl. 1873 S. 198. . Die Urkunde lautet: Wir Wilhelm von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen ꝛc. ꝛc. ꝛc. Urkunden und bekennen hiermit: Nachdem der von Unserem Bevollmächtigten mit dem Bevoll- mächtigten Seiner Majestät des Königs von Schweden und Nor- wegen am 25. Mai 1873 geschlossene Additional-Postvertrag, wel- cher aus vier Artikeln bestehende Vertrag wörtlich also lautet: (Folgt der Text des Vertrages) Uns vorgelegt und von Uns geprüft worden: so erklären Wir, daß Wir diesen Vertrag in allen darin enthaltenen Bestimmungen hierdurch genehmigen und ratificiren , auch verspre- chen , selbige zu erfüllen und von unseren Behörden genau voll- ziehen zu lassen . Urkundlich haben Wir gegenwärtiges Ratifika- tionsinstrument vollzogen und mit dem Reichs-Insiegel versehen lassen. Gegeben zu Schloß Babelsberg den 23. Juni 1873. Wilhelm. ( L. S. ) v. Bismarck. Ebenso werden in der Amtlichen Sammlung der Bun- desgesetze und Verordnungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Staatsverträge der Schweiz mit dem vollständigen Abdruck beider Ratifikationen verkündigt. Bei der Ratifikation des Auslieferungs-Vertrages v. 24. Januar 1874 ist Seitens des Deutschen Reiches ein Formular angewendet worden, welches mit dem vorstehend abgedruckten bis auf unerheb- liche stylistische Wendungen fast wörtlich übereinstimmt und dasselbe dadurch bestätigt Amtl. Sammlung ꝛc. der Eidgenossenschaft 1875 S. 82 ff. Dagegen wird in der Schweizerischen Ratifikations-Urkunde bezeugt, daß der Ver- trag „vom Nationalrathe am 31. Januar und vom Ständerathe am 2. Juni dieses Jahres genehmigt worden ist.“ Dieser Klausel steht in der daneben abgedruckten Deutschen Ratifikations-Urkunde ein leerer Raum gegenüber. . In den vom Deutschen Reiche ausgestellten und von den fremden Staaten angenommenen Vertrags-Urkunden erscheint mit- hin der Bundesrath ebensowenig wie der Reichstag als ein bei dem Abschluß von Staatsverträgen betheiligtes Organ; die völker- rechtliche Vertretung des Reiches steht vielmehr unbeschränkt und ausschließlich dem Kaiser zu. 12* §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. II. Die Leitung der Verhandlungen . Zu den dem Kaiser zustehenden Regierungsgeschäften gehört die Leitung der Verhandlungen mit auswärtigen Staaten über den Abschluß von Staatsverträgen, die Ernennung und Beglaubi- gung der Beamten, denen die Führung der Verhandlungen über- tragen ist, sowie die Ertheilung der Instruktionen für dieselben. Eine Theilnahme einzelner Staaten an den Verhandlungen ist je- doch in folgenden Fällen reichsgesetzlich zugesichert: 1. Bei Handels- und Schifffahrtsverträgen mit Oesterreich und der Schweiz ist der Kaiser verpflichtet, die angränzenden Bundesstaaten zur Theilnahme an den dem Abschluß vorangehenden Verhandlungen einzuladen, ohne daß diesen Staaten aber ein Veto gegen den Abschluß des Vertrages zusteht, falls eine Uebereinstimmung nicht zu erzielen ist Schlußprotok. zum Art. 8 §. 6 des Zollvereins-Vertrages vom 8. Juli 1867. B.-G.-Bl. 1867 S. 108. — R.-V. Art. 40. . 2. Bei dem Abschlusse (d. h. den dem Abschluß vorhergehen- den Verhandlungen) von Post- und Telegraphen-Ver- trägen mit außerdeutschen Staaten sollen Vertreter der an die betreffenden Staaten angränzenden Bundesstaaten zur Wahrung der besonderen Landesinteressen zugezogen werden Schlußprotokoll zu dem Vertrage mit Bayern v. 23. Nov. 1870 (R.- G.-Bl. 1871 S. 23) Art. XI. . Thatsächlich besteht die Uebung, die Genehmigung des Bundesrathes schon zur Eröffnung der Verhandlungen über alle diejenigen Gegenstände einzuholen, deren Regelung zur Kompetenz des Bundesrathes nach Art. 7 der R.-V. gehört. III. Die Perfection des Staatsvertrages . Die Reichsverfassung enthält keine Vorschriften, in welcher Form der Kaiser völkerrechtliche Verträge Namens des Reiches abschließen solle; es gelten darüber vielmehr die allgemeinen, auf der völkerrechtlichen Uebung beruhenden Sätze des Völkerrechts. Die theoretische Möglichkeit, daß Staatsverträge mündlich oder stillschweigend geschlossen werden, kann außer Betracht bleiben, da praktisch der schriftliche Abschluß allein von Bedeutung ist. Die Vertragsurkunde hat nicht nur den Zweck, ein authentisches Be- §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. weismittel über den Inhalt der Vereinbarungen zu bieten, sondern ihre Bedeutung besteht vorzüglich darin, das Zustandekommen einer bindenden Uebereinkunft zu constatiren, das Stadium der Vorver- handlungen, der Propositionen und Gegenpropositionen äußerlich abzuschließen und zu bekunden, daß die contrahirenden Staaten sich definitiv gegen einander verpflichtet haben. Der Staatsver- trag wird demnach perfekt in dem Moment der Unterzeich- nung der Vertrags-Urkunde durch beide Contrahen- ten — oder, falls jeder der beiden Contrahenten eine von ihm allein unterzeichnete Urkunde dem andern Contrahenten übergiebt, mit der Zustellung (Auswechslung) der unterzeichne- ten Urkunde . Da nun der allgemeinen im Art. 11 Abs. 1 der R.-V. anerkannten Regel gemäß der Kaiser zum Abschluß von Staatsverträgen Namens des Reiches legitimirt ist, so wird der Staatsvertrag perfekt in dem Momente, in welchem die von dem Deutschen Kaiser unterzeichnete Vertragsurkunde dem Souverain des andern Staates resp. dessen Bevollmächtigten (Minister, Ge- sandten u. s. w.) gegen Empfangnahme der von ihm unterzeichneten Ausfertigung der Vertragsurkunde übergeben wird. Diese Regel gilt indeß nicht unbedingt. Denn der Souverain kann seine Be- amten nicht nur beauftragen, die Verhandlungen zu führen und einen Vertrags entwurf zu vereinbaren, sondern er kann sie auch bevollmächtigen, den Vertrag selbst definitiv abzuschließen und die Urkunden darüber zu unterzeichnen. Diese, nur in minder wichti- gen Fällen übliche und — wie sich zeigen wird — staatsrechtlich zulässige Art der Vertragsschließung kann man im Gegensatz zu der regelmäßigen als die nicht solenne Vertragsform bezeichnen. 1. Die nicht solenne Vertragsform . Dieselbe besteht entweder in der Unterzeichnung einer gemeinschaft- lichen Urkunde, eines sogenannten Protokolls, durch die Minister, Gesandten oder anderen Bevollmächtigten der contrahirenden Staa- ten, mit der Maßgabe, daß dieselbe eine definitive Vereinbarung sein soll Beispiele dafür bieten das Protokoll mit Italien v. 3. Dez. 1874 und mit Belgien v. 8. Okt. 1875 wegen Verzichts anf die Beibringung von Trau-Erlaubnißscheinen (Centralbl. 1875 S. 155 u. 719); mit Frank- reich vom 7. Okt. 1874 wegen Abgränzung der Diöcesen (R.-G.-Bl. 1874 S. 123); mit England v. 14. April 1875 wegen Declaration des Art. 6 , oder in der Auswechslung einseitiger Ur- §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. kunden, sogenannter Erklärungen, welche von einer Behörde aus- gestellt werden Der Abschluß von Verträgen durch Austausch von Erklärungen ge- schieht überaus häufig; Anwendungsfälle bieten die zahlreichen Uebereinkom- men wegen Anerkennung der Schiffsvermessungs-Papiere (z. B. Centralblatt 1873 S. 163. 316. 1874 S. 323 1876 S. 26. 221 u. s. w.), wegen wechsel- seitiger Unterstützung Hülfsbedürftiger (z. B. Centralbl. 1873 S. 281. 1874 S. 31. 1875 S. 475), wegen Schutzes der Waarenbezeichnungen ꝛc. (R.-G.-Bl. 1872 S. 293. 1873 S. 337. 1875 S. 259. 301. 1876 S. 169. 1877 S. 406) u. s. w. . Daß die Erklärung von dem Minister der ausw. Angelegenheiten selbst, also für das Deutsche Reich vom Reichs- kanzler unterschrieben wird, ist nicht nothwendig. Der Reichskanzler kann bei diesen Staatsgeschäften wie bei anderen sich vertreten lassen. Ja es ist nicht einmal erforderlich, daß die Erklärung vom Auswärtigen Amt ausgeht; auch andere Behörden, z. B. das Reichskanzleramt, das Generalpostamt, die Admiralität u. s. w. können mit coordinirten Behörden anderer Staaten Erklärungen austauschen. Selbstverständliche Voraussetzung ist aber, daß die Erklärung nur solche Gegenstände betrifft, welche zur ausschließ- lichen Kompetenz der Behörde gehören, so daß dieselbe kraft staatlichen Geschäfts-Auftrages Vgl. Bd. I. S. 293 fg. oder kraft spezieller Ermächtigung der kompetenten Oberbehörde befugt ist, die von der Erklärung berührten Angelegenheiten selbstständig zu regeln Vgl. Heffter , Völkerr. §. 84 (6. Aufl. S. 173). Ist der Vertrag durch einen zum Abschluß nicht kompetenten Bevollmächtigten vereinbart oder ist der definitive Abschluß durch ein auf Seiten des andern Contrahenten liegendes Hinderniß verzögert, so kann auch die Ratifikation durch den Reichs- kanzler vorbehalten werden. So ist z. B. die Uebereinkunft mit der Schweiz v. Aug. 1873 wegen Errichtung einer Deutschen Zollabfertigungs- stelle in Basel, Seitens der Schweiz von der Bundesversammlung ge- nehmigt und formell ratifizirt worden, während Seitens des Deutschen Reichs die Ratifikation folgende Form hat: „Vorstehende Uebereinkunft wird im Namen des Deutschen Reiches genehmigt. Berlin, 23. August 1873. Der Reichskanzler. In Vertretung. Delbrück.“ (Amtl. Gesetzsammlung der Schweiz. Eidgenossensch. 1874 Bd. XI. S. 364.) Die Frage, in welcher Form Verein- barungen abgeschlossen werden sollen, ist schon häufig zum Gegenstand der Be- . Hieraus er- des Handelsvertrages (R.-G.-Bl. 1875 S. 199); mit Spanien und Eng- land über den Handels- und Schifffahrtsverkehr im Sulu-Archipel vom 11. März 1877 (Centralblatt 1877 S. 271). Die letztere ist dem Reichstage „zur Kenntniß“ gebracht worden. Drucksachen 1877 Bd. II. Nro. 205. §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. giebt sich, daß diese Vertragsform niemals anwendbar ist, wenn die in der Erklärung abgegebenen Versprechungen mit den Gesetzen oder den Verordnungen des Kaisers, des Bundesrathes oder einer höheren Verwaltungsinstanz im Widerspruch sich befinden oder wenn sie Geldmittel erfordern, welche noch nicht im Staatshaus- halts-Gesetz bewilligt sind. Da die auswärtige Regierung darüber nur schwer eine formelle Gewißheit sich verschaffen kann, so wird auch sie nur bei geringfügigen Gegenständen, deren Erledigung zweifellos den Verwaltungsbehörden obliegt, auf diese Form ein- gehen Wenn bei dem Austausch der Erklärungen oder bei den zwischen den Verwaltungsbehörden getroffenen Vereinbarungen die Ratifikation des Kaisers vorbehalten wird, so ist die Vertragsschließung eine solenne. Vgl. z. B. die Vereinbarungen zwischen dem Generalpostamt des Nordd. Bundes mit der Postverwaltung von Nordamerika v. 21. Okt. 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 26) und mit dem Generalpostamt von England v. 25. April 1870 (B.-G.-Bl. 1870 S. 565). Eine in nicht solenner Form geschlossene Ueberein- kunft kann in einen formellen Staatsvertrag umgewandelt werden. Ein Bei- spiel liefert der Vertrag mit den Niederlanden v. 12. Okt. 1876, der das Protokoll v. 17. Mai 1876 bestätigt, R.-G.-Bl. 1877 S. 539. . Wenn diese Form aber unter dem Einverständniß beider Staaten gewählt worden ist und wenn materiell die Minister, Ge- sandten, Behörden u. s. w., welche die Urkunden unterzeichnet haben, innerhalb ihrer Kompetenz gehandelt haben, so ist die Ueberein- kunft im juristischen Sinn ein gültiger Staatsvertrag mit voller völkerrechtlicher Wirksamkeit. 2. Die solenne Vertragsform ist die übliche. Die Minister oder Gesandten sind zwar beauftragt, die Verhandlungen zu führen und einen Vertragsentwurf zu vereinbaren und definitiv festzustellen, aber sie sind regelmäßig nicht bevollmächtigt, in Ver- tretung des Souverains Namens des Staates ein internationales Rechtsgeschäft abzuschließen. Der Abschluß erfolgt vielmehr durch die Ausstellung einer Urkunde, welche vom Souverain selbst unter- schrieben, mit dem Staatssiegel versehen und von dem Minister contrasignirt ist Daß auch Staatsverträge des Reiches vom Reichskanzler contrasignirt werden müssen, entspricht ebensowohl dem völkerrechtlichen Gebrauch als den allge- meinen Principien des constitutionellen Staatsrechts. Die Reichsverfassung Art. 17 stellt das Erforderniß der Gegenzeichnung allerdings nur „für Anord- . Man nennt die Auswechslung dieser Urkunden schlußfassung des Bundesrathes gemacht worden. Vgl. z. B. Protokolle 1874 §. 34. 1875 §. 185. §. 200. 237. §. 64. Der Abschluß von Staatsverträgen. die Ratificirung oder Ratifikation des Vertrages. Sie wird in den Punktationen der Bevollmächtigten in der Regel ausdrück- lich vorbehalten, bisweilen unter Verabredung einer bestimmten Frist, binnen welcher sie erfolgen soll; aber auch ohne ausdrück- liche Verabredung versteht sich der Vorbehalt der Ratificirung von selbst. Dem Souverain und seinen Räthen wird dadurch Gelegen- heit geboten zu prüfen, ob der Bevollmächtigte seinen Instruktionen gemäß gehandelt habe, ob der festgestellte Wortlaut des Vertrages klar und deutlich dem wahren Willen des Souverains entspricht u. s. w. Der völkerrechtliche Vertrag wird erst durch die Ratificirung abgeschlossen , erst durch sie im juristischen Sinne perfekt Die Autoritäten des Völkerrechts sind hierüber völlig einverstanden. Vgl. z. B. Charles de Martens , Manuel diplomatique cap. 10 Nro. 5. G. Fr. v. Martens , Précis du droit des gens §. 48. Vattel , Le droit des gens. II. §. 156. Heffter , Völkerrecht §. 87. Hart- mann , Institut. des Völkerr. S. 130. Calvo , Le droit international. I. §. 589. Eine Abhandlung (von Wurm ) über die Ratifikation von Staats- verträgen ist in der Deutschen Vierteljahrsschrift 1845 I. S. 163 ff. enthalten. Vgl. ferner Amari , Diritto internazionale (Milano 1875) II. pag. 494—502, der zahlreiche Schriftsteller anführt und überhaupt die Frage ausführlich be- handelt. — Eine etwas abweichende Ansicht hat Klüber , Völkerr. §. 142. . Man muß sich auch an diesem Punkte hüten, die juristische Auffassung von der politischen beirren zu lassen. Das politische Problem ist gelöst, wenn die Bevoll- mächtigten sich über den Staatsvertrag geeinigt haben; für den Politiker und Staatsmann hat nur die Feststellung des definitiven Wortlautes Interesse, die nachfolgende Auswechslung formeller Dokumente ist von seinem Standpunkte aus eine Formalität ohne praktische Bedeutung. Im Rechtssinne dagegen existirt vor der Ratifikation der Staatsvertrag überhaupt noch gar nicht, sondern lediglich ein Vertrags-Entwurf In formeller Beziehung ist es nicht absolut nothwendig, daß die Rati- fikations-Urkunde den Wortlaut des Vertrages wiederholt; es genügt, wenn die von den Bevollmächtigten festgestellten Punktationen (der Vertragsentwurf) in der Ratifikations-Urkunde dergestalt in Bezug genommen werden, daß sie hinlänglich genau bezeichnet werden. Diese Form der Ratifikation wird bis- weilen ausdrücklich vereinbart; so z. B. im Zollvereinsvertrag (B.-G.-Bl. 1867 S. 112), in den Postverträgen v. 23. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. 1868 S. 68. 96. . nungen und Verfügungen“ des Kaisers auf, die Praxis hat aber mit Recht angenommen, daß es auch für andere Regierungsakte des Kaisers gilt. §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. Bevor nun der Souverain den Vertrag abschließt, kann er den Entwurf desselben der Volksvertretung zur Genehmigung vor- legen und sich von derselben die staatsrechtlich erforderliche Zu- stimmung zu dem Erlaß derjenigen Maßregeln ertheilen lassen, welche zur Erfüllung des Vertrages erforderlich sind. Erst wenn dies geschehen ist, kann der Souverain den Vertrag mit der Ge- wißheit abschließen, daß er zur Erfüllung desselben in der recht- lichen Lage ist, und da der Souverain einen Conflict zwischen den völkerrechtlichen Verbindlichkeiten des Staates und den staatsrecht- lichen Voraussetzungen ihrer Erfüllung nicht herbeiführen darf, so kann man es in der That als eine Rechtspflicht des Souve- rains bezeichnen, bei allen das Gebiet der Gesetzgebung berühren- den Verträgen den Vertragsentwurf der Volksvertretung vorzu- legen und erst nach ertheilter Genehmigung den Vertrag zu rati- ficiren d. h. abzuschließen. Aber auch in solchen Fällen, in denen eine staatsrechtliche Verpflichtung hierzu nicht begründet ist, kann es aus politischen Gründen angemessen erscheinen, die Zustimmung der Volksvertretung einzuholen Gerade bei einem Vertrage, der unzweifelhaft keinen Gegenstand be- rührt, der unter Art. 4 der R.-V. gehört, und der überhaupt mit dem Rechts- zustande Deutschlands gar nichts zu thun hat, dagegen dem Deutschen Reiche pekuniäre Lasten auferlegt, nämlich bei dem Vertrage mit Griechenland wegen der Ausgrabungen in Olympia (R.-G.-Bl. 1875 S. 241), ist im Art 10 ausbedungen, daß keiner der beiden Theile verpflichtet ist, ihn vor der Genehmigung durch die Volksvertretung zur Ausführung zu bringen und im Art. 11 ist eine Frist für die Ratifikation „unter Vorbehalt der Ge- nehmigung durch die Volksvertretung“ festgesetzt. Dem Deutschen Reichstage ist der Vertrag als Anlage zum Etat für 1875 ( III. S. 45) vorgelegt worden. Aehnlich die internationale Meterkonvention Art. 14, welche dem Reichstage mit dem Etat für 1876 als Anlage ( I. S. 31) vorgelegt worden ist. . §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. Verträge verpflichten ihrer juristischen Natur nach immer nur die Contrahenten; Staatsverträge verpflichten daher lediglich die Staaten, niemals deren Unterthanen; sie erzeugen immer nur völkerrechtliche Befugnisse und Verbindlichkeiten, niemals Rechts- 115) u. a. Vgl. über diesen, von der diplomatischen Uebung abweichenden Gebrauch Calvo a. a. O. I. §. 588. §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. sätze. Die Behörden und Unterthanen werden nicht durch Rechts- geschäfte, sondern nur durch Befehle ihrer Staatsgewalt zum Ge- horsam verpflichtet; sie werden demgemäß auch zur Befolgung der in einem Staatsvertrage vereinbarten Regeln nicht durch den Staatsvertrag selbst, sondern nur durch den staatlichen Befehl, diese Regeln zu befolgen, verpflichtet. Von diesem Gesichtspunkte aus ergiebt sich als logische Consequenz der Satz: die staatsrecht- liche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge beruht nicht auf deren Abschluß, sondern auf dem Befehl des Staates, den Inhalt des Vertrages als bindende Vorschrift anzusehen. Nach dem Inhalte dieses Befehls bestimmen sich die staats- rechtlichen Erfordernisse desselben. Wenn das Reich in dem Ver- trage sich zur Vornahme einzelner Handlungen verpflichtet hat, zu welchen die Behörden nach Maßgabe der bestehenden Gesetze be- fugt sind, so genügt eine einfache Verfügung an die ressortmäßigen Behörden, durch welche ihnen die Vornahme dieser Handlungen aufgetragen wird. Enthält der Vertrag Vereinbarungen über all- gemeine Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, welche zur Ausführung von Reichsgesetzen dienen Z. B. über Zollabfertigungen, über Gewerbebetrieb, Schiffsvermessungs- papiere u. dgl. , so ist nach Art. 7 Ziff. 2 der Bundesrath zum Erlaß von Anordnungen befugt, falls nicht durch Reichsgesetz der Erlaß solcher Anordnungen dem Kaiser oder einer Reichsbehörde übertragen ist. Dagegen ist die Uebereinstim- mung von Bundesrath und Reichstag erforderlich, wenn zur Aus- führung des Vertrages ein Gesetzesbefehl nothwendig ist. Dies ist aber nicht nur dann der Fall, wenn der Vertrag Rechtsvor- schriften enthält, welche das bestehende Recht aufheben, abändern, ergänzen, sondern auch dann, wenn er irgend einen Gegenstand betrifft, welcher im Deutschen Reich in der Form der Gesetz- gebung erledigt werden muß oder erledigt zu werden pflegt, insbesondere auch wenn er Verwaltungsregeln betrifft, die im Deutschen Reich durch Gesetze sanctionirt worden sind Vgl. darüber unten §. 67 IV. Wenn die Ausführung des Vertrages mit Geldausgaben verknüpft ist, so ist es erforderlich, daß diese Ausgaben in das Reichsbudget-Gesetz aufgenommen, also vom Bundesrath und Reichstag bewilligt werden. Vgl. die S. 185 Note 1 angeführten Beispiele. . §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. Denn Verwaltungsvorschriften, welche im Wege der Gesetzgebung erlassen sind, können auch nur im Wege der Gesetzgebung aufge- hoben werden Vgl. §. 60 I. S. 95. . Die Frage, welche Staatsverträge „in den Bereich der Reichs- gesetzgebung“ eingreifen, ist demnach nicht im Allgemeinen nach unabänderlichen Kriterien zu beantworten, sondern immer nur nach dem momentanen Zustande der Reichsgesetzgebung. Jedes neue Gesetz kann einen Gegenstand, der bisher der freien Willensent- scheidung der Verwaltung überlassen war, „ gesetzlich “ regeln oder eine bisher in Geltung stehende gesetzliche Vorschrift aufheben und das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden für maßgebend anerkennen; damit ändert sich immer zugleich auch der Kreis der Gegenstände, über welche Staatsverträge nur mit Genehmigung des Bundesrathes und Reichstages staatsrechtliche Geltung erlangen können. Insoweit nun ein Gesetzesbefehl erforderlich ist, um einem Staatsvertrage staatsrechtliche Geltung zu verschaffen — oder wenn man sich der verunglückten Fassung des Art. 11 Abs. 3 anschließen will — insoweit die Verträge sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören — ist zum Erlaß und zur Wirksamkeit dieses Befehles Alles das- jenige erforderlich, was zum Zustandekommen eines gewöhnlichen Gesetzes gehört und die im §. 57 entwickelten Rechtssätze finden durchweg analoge Anwendung. Damit die im Staatsvertrage ent- haltenen Vorschriften gesetzliche Gültigkeit erlangen, bedarf es der Uebereinstimmung zwischen Bundesrath und Reichstag über ihren Inhalt, der Sanction, Promulgation und Publikation, und zwar nach folgenden Regeln: 1. Die Feststellung des Inhaltes . Da nur der Kaiser die Verhandlungen über Staatsverträge durch seine Beamten führen lassen kann, so ergiebt sich, daß die Vorlage eines Staatsvertrages im Bundesrath immer nur vom Kaiser, niemals von einem anderen Bnndesgliede erfolgen kann Selbstverständlich steht es aber jedem Mitgliede frei, den Abschluß eines Staatsvertrages in Anregung zu bringen, und einen Antrag zu stellen, daß der Bundesrath beschließen möge, den Kaiser zu ersuchen, die zur Herbeifüh- rung eines Vertrags-Abschlusses geeigneten Schritte zu veranlassen. . §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. Da ferner die Vorlagen an den Reichstag nach Maßgabe der Be- schlüsse des Bundesrathes gebracht werden (R.-V. Art. 16), so folgt, daß dem Reichstage ein Staatsvertrag nur vorgelegt werden kann, wenn der Bundesrath sich mit demselben einverstanden er- klärt hat. Sowie hierdurch das sogen. Recht der Initiative für die Mitglieder des Bundesrathes und Reichstages in Wegfall kömmt, so ist auch das Recht der Amendirung , wenn auch de jure nicht ausgeschlossen, so doch de facto beschränkt, da der Inhalt und Wortlaut des Vertrages nicht unter den Organen des Reiches, sondern zwischen den Bevollmächtigten des Reiches und des frem- den Staates vereinbart und festgestellt wird. Der Reichstag kann jedoch die Genehmigung des Vertrages an die Bedingung knüpfen, daß derselbe gewisse Abänderungen oder Zusätze erhält, und die Zulässigkeit einer solchen Beschlußfassung kann um so we- niger bezweifelt werden, als dem Reichstage regelmäßig nicht der definitiv geschlossene Vertrag, sondern der Vertrags-Entwurf zur Genehmigung vorgelegt wird. 2. Die Sanction . Der Erlaß des Befehls, welcher dem Staatsvertrage staats- rechtliche Kraft und Verbindlichkeit ertheilt, ergeht von dem Bun- desrathe, als demjenigen Organe des Reiches, dem der eigentliche Gesetzgebungsakt zusteht. S. oben S. 30 ff. Dieser Akt kann nur vollzogen werden, nachdem der Reichstag die Genehmigung er- theilt hat und der Wortlaut des Vertrages mit den Beschlüssen des Reichstages in Einklang gesetzt worden ist. Der vom Reichs- tage gefaßte Beschluß, welcher die Genehmigung ausspricht, muß nach Art. 7 Ziff. 1 der R.-V. dem Bundesrath nochmals zur Beschlußfassung vorgelegt werden, und dieser zweite Beschluß des Bundesrathes enthält die Sanktion. Sowie bei gewöhnlichen Ge- setzen dieser Beschluß darauf gerichtet ist, dieselben dem Kaiser zur Ausfertigung zu unterbreiten, geht er bei Staatsverträgen da- hin, dieselben dem Kaiser zur Ratifikation zu überweisen. Art. 11 Abs. 3 macht im Gegensatz zu Art. 5, der bei der gewöhnlichen Gesetzgebung die Beschlüsse des Bundesraths und Reichstags als ganz gleichartige nebeneinanderstellt, einen bemerkenswerthen Unter- schied bei den Staatsverträgen, indem er die Zustimmung des Bundesrathes für erforderlich zu ihrem Abschluß , die Geneh- §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. migung des Reichstages für erforderlich zu ihrer Gültigkeit erklärt. Obwohl in dieser Ausdrucksweise der völkerrechtliche Akt mit dem staatsrechtlichen zusammengeworfen und verwechselt wird, so spricht sich doch durch dieselbe der richtige Gedanke aus, daß die Erklärungen des Bundesrathes und des Reichstages nicht gleichartig sind. Die Genehmigung des Reichstages ist die Vor- aussetzung, ohne welche der Bundesrath den Vertrag nicht für staatsrechtlich verbindlich erklären kann; die Erklärung des Bun- desrathes ist wieder die Voraussetzung, ohne welche der Kaiser nicht dem fremden Staat das Versprechen geben kann, daß der Vertrag vollzogen werden wird. Die Erklärung des Bundes- rathes ist demnach die Voraussetzung der Ratificirung und es liegt die Verwechslung sehr nahe, den Inhalt des Bundesraths- beschlusses anstatt in der Vollstreckbarkeits-Erklärung des Vertrages in der Zustimmung zu seinem Abschlusse (d. h. Rati- ficirung) zu erblicken. In Wahrheit ist die Ratificirung die Folge der vom Bundesrath beschlossenen Vollstreckbarkeits-Erklärung, so- wie die Ausfertigung des Gesetzes die Folge der vom Bundesrath ertheilten Sanction ist. Für die Beschlußfassung des Bundesrathes gelten ganz die- selben Regeln, welche für die Sanction der Gesetze Anwendung finden. Nur ist das im Art. 5 Abs. 2 den Preußischen Stimmen eingeräumte Widerspruchsrecht bei Gesetzesvorschlägen über das Militairwesen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 bezeichneten Abgaben praktisch unanwendbar, da nur mit Zustimmung des Kaisers ein Vertragsentwurf zu Stande kommen und die Initia- tive im Bundesrath vom Kaiser allein ausgehen kann, so daß also der Fall unmöglich ist, daß sich im Bundesrath die Stimme des Präsidiums gegen die Vollstreckbarkeits-Erklärung des vom Kaiser selbst oder seiner Regierung vorgelegten Vertrages ausspricht. Dagegen finden die im Art. 78 der R.-V. enthaltenen Rechts- Vorschriften auch auf Staatsverträge vollkommene Anwendung und zwar a ) Wenn die Vollziehung des Vertrages eine Veränderung der Verfassung in sich schließt, so gilt dieselbe als abgelehnt, wenn im Bundesrathe 14 Stimmen sich dagegen erklären Uebereinstimmend Thudichum S. 91. 92; Meier S. 294. . Dies §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. findet beispielsweise Anwendung auf Staatsverträge, welche eine Veränderung des Bundesgebietes (R.-V. Art. 1) zum Gegenstande haben, ohne Unterschied, ob der Vertrag ein Friedensschluß ist oder ob er ohne vorausgegangenen Krieg abgeschlossen worden ist Art. 11 Abs. 1 führt neben einander auf „ Frieden, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten“; Abs. 3 des Art. 11 spricht dann von Verträgen mit fremden Staaten; es könnte daher die Meinung entstehen, als beziehe sich der Abs. 3 nur auf solche Verträge, welche weder Frieden noch Bündnisse sind. Allein eine solche Auslegung würde weder dem Wortlaute noch dem Sinne entsprechen. Dem Wortlaute nicht, weil Abs. 3 aus der Gesammtmasse der Verträge diejenigen heraushebt, welche sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, also ein ganz anderes funda- mentum divisionis wie die Aufzählung im Abs. 1 dess. Artikels zur Grund- lage hat; dem Sinne nach nicht, weil Abs. 1 — wie im Texte ausgeführt — die völkerrechtliche Legitimation zum Abschlusse, Abs. 3 die staatsrechtlichen Erfordernisse der Vollziehbarkeit betrifft. Für die Gleichstellung der Friedens- verträge mit andern Staatsverträgen entscheiden sich Hiersemenzel S. 52. Thudichum S. 93. Seydel S. 117. Westerkamp S. 43; die ent- gegengesetzte Ansicht vertreten v. Rönne a. a. O. S. 63 und Meier S. 306 fg. . Sollte ein Staatsvertrag einen mit der Verf. im Widerspruch stehenden Inhalt haben, z. B. die Anordnungen derselben über das Eisenbahnwesen oder über das Post- und Telegraphenwesen modificiren oder die Fortdauer eines Landeskonsulates zugestehen (Art. 56) oder die Grenzen des Bundesgebietes abändern u. dgl., so wäre es zwar correct und empfehlenswerth, durch ein besonde- res Gesetz den Wortlaut der Verfassung entsprechend abzuändern; für die Vollstreckbarkeit des Vertrages kann dies aber ebensowenig als rechtliches Erforderniß aufgestellt werden, wie für die Gültig- keit eines die Verfassung abändernden Gesetzes. Siehe oben S. 37 ff. b ) Wenn die Vollziehung des Staatsvertrages in die Son- derrechte einzelner Bundesstaaten eingreift, so ist die besondere Zustimmung der betheiligten Bundesstaaten erforderlich. Der in Art. 78 Abs. 2 der R.-V. zugesicherte Schutz der Sonderrechte wäre ein vollkommen illusorischer, wenn er sich nur auf den ge- wöhnlichen Weg der Gesetzgebung und nicht auch auf den Fall der Genehmigung eines internationalen Vertrages bezöge. Aus dem oben Bd. I. §. 11 entwickelten Begriff dieser Rechte ergiebt sich, daß dieselben materielle Schranken der dem Reiche zustehenden §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. Gewalt sind Siehe Bd. I. S. 119. ; ihre Respectirung ist daher unabhängig von der Form, in welcher das Reich seine Gewalt ausübt Eine Anwendung hat dieser Grundsatz gefunden bei der Beschlußfassung des Bundesrathes über die Uebereinkunft mit Italien v. 3. Dez. 1874 wegen gegenseitigen Verzichts auf die Beibringung von Trau-Erlaubnißscheinen. Der Königl. Bayerische Bevollmächtigte erklärte: „Die Kgl. Bayer. Regierung hält sich zunächst für verpflichtet, auf den Vorbehalt in Nro. III. §. 1 des Versailler Bündnisses v. 23. Nov. 1870 und in Ziff. I des Schlußprotokolls von demselben Tage hinzuweisen, erklärt sich indeß bereit , wegen Aus- führung des Uebereinkommens, gegen dessen Inhalt eine materielle Erinne- rung nicht besteht, die betreffenden bayer. Behörden mit Anweisung zu ver- sehen, nachdem die bayerische Landesgesetzgebung, soweit sie in den Bereich jenes Reservatrechtes fällt, durch das Uebereinkommen nicht alterirt wird.“ Protokolle des Bundesrathes 1875 §. 103 S. 84. Vgl. auch ebendas. §. 306 S. 296. . 3. Die Ausfertigung . Gemäß der in Preußen ausgebildeten und vom Norddeutschen Bunde und dem Deutschen Reiche festgehaltenen Praxis findet eine Ausfertigung des Gesetzes, welches den Unterthanen und Behörden die Beobachtung oder Vollziehung eines Staatsvertrages anbefiehlt, nicht statt. Wenn man das völkerrechtliche Geschäft und den staatlichen Befehl äußerlich so auseinanderhalten würde, wie es die juristische Natur der Sache verlangt und wie es in der überwiegenden Mehrzahl aller Staaten thatsächlich geschieht, so müßte jeder Staatsvertrag zweimal ausgefertigt werden; ein- mal für den Staat, mit welchem er abgeschlossen worden ist (Rati- fikation) und überdies für den eigenen Staat behufs der Gesetz- gebung (Promulgation). Die völkerrechtliche Ausfertigung bedarf keiner Bezugnahme auf die vom Bundesrath und Reichstag er- theilte Zustimmung oder Genehmigung, da diese eine res interna ist, die den Mitcontrahenten Nichts angeht; die Hinzufügung eines Befehles, dem Vertrage nachzukommen, würde ganz sinnlos sein, da der internationale Vertrag unter Gleichberechtigten geschlossen wird und lediglich gegenseitige Versprechungen enthält. Für die staatsrechtliche Ausfertigung dagegen ist das wesentlichste Stück der Befehl an alle der Staatsgewalt unterworfenen Personen (Unterthanen und Behörden), den Vertrag zu beachten und zu be- folgen, d. h. die Verordnungsclausel, wie sie für jedes Gesetz er- §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. forderlich ist Siehe oben S. 29. . Zugleich müßte die Verfassungsmäßigkeit dieses Befehls formell constatirt werden durch die Kaiserliche Beurkun- dung, daß der Bundesrath und der Reichstag die Zustimmung ertheilt haben. Endlich wäre noch ein drittes Erforderniß begründet, welches bei gewöhnlichen Gesetzen nicht existirt; da nämlich die Zustimmung des Bundesrathes und Reichstages nur für den Fall und unter der Voraussetzung ertheilt ist, daß der völkerrechtliche Vertrag wirklich zu Stande kömmt und auch der mitcontrahirende Staat sich definitiv verpflichtet, so müßte in der staatsrechtlichen Ausfertigung constatirt werden, daß diese Voraussetzung erfüllt, d. h. der Vertrag durch Auswechslung der Ratifikationen definitiv geschlossen worden ist. Diese zweite — staatsrechtliche — Aus- fertigung der Verträge unterbleibt aber nach der im Reich an- genommenen Praxis gänzlich; man beschränkt sich auf die Rati- fikation. 4. Die Verkündigung . Der Staatsvertrag als Geschäft des Völkerrechts bedarf weder einer Verkündigung im staatsrechtlichen Sinne noch einer Veröffentlichung zum Zwecke seiner thatsächlichen Bekanntmachung. Geheime Verträge haben dieselben völkerrechtlichen Wirkungen wie veröffentlichte. Der Begriff der Verkündigung ist auf Rechtsge- schäfte überhaupt logisch unanwendbar. Dagegen bedarf das Ge- setz, welches die Vollziehung oder Beobachtung des Staatsver- trages anordnet, der Verkündigung wie jedes andere Gesetz. Da nun aber im Deutschen Reich dieses Gesetz überhaupt nicht formu- lirt und ausgefertigt wird, so kann es auch nicht verkündigt wer- den; der Verkündigung wird vielmehr die Vertrags urkunde zu Grunde gelegt. Der Abdruck derselben im Reichsgesetzblatt erscheint daher äußerlich als eine bloße Mittheilung , daß ein Staatsvertrag mit dem angegebenen Wortlaut abgeschlossen worden sei, aber nicht als ein an die Reichsangehörigen gerichteter Befehl. Der Abdruck schweigt von der Zustimmung des Bundesrathes und der Geneh- migung des Reichstages und es wird dieselbe auch nicht einmal stillschweigend durch die Thatsache des Abdruckes im Reichsgesetz- blatte constatirt, da bisweilen auch solche Verträge daselbst abge- §. 65. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. druckt werden, die gar nicht in den Bereich der Reichsgesetzgebung eingreifen, der Genehmigung des Reichstages nicht bedürfen und dieselbe auch nicht erhalten haben Dahin gehören z. B. die zahlreichen Eisenbahn-Verträge, welche lediglich die Concessionirung, den Anschluß und den Betrieb an der Gränzstation be- treffen; ferner der Vertrag mit den Niederlanden über die Verbindung der Kanäle (R.-G.-Bl. 1877 S. 539) u. s. w. . Dem Abdruck wird ferner diejenige Urkunde zu Grunde gelegt, in welcher die mit Führung der Verhandlungen betrauten Bevollmächtigten die Punktatio- nen festgestellt und unterzeichnet haben, er enthält daher nicht einmal die Unterschrift des Kaisers und ebensowenig die Contra- signatur des Reichskanzlers. Der völkerrechtliche Hauptact, die Ratifikations-Urkunde, wird nicht publicirt. Dagegen wird hinter dem Abdruck des Vertrages die historische Notiz, daß die Ratifi- kation desselben erfolgt ist, beigefügt. Diese Notiz ist ohne Unter- schrift und Beglaubigung und man kann ihr nicht ansehen, ob sie vom Reichskanzler oder von einem Setzerlehrling der Staatsdruckerei herrührt. Da diese Art der Verkündigung den Anordnungen im Art. 2 und Art. 17 der R.-V. zweifellos nicht entspricht, ein Rechtssatz aber, daß der bloße Abdruck eines Staatsvertrages im Reichsge- setzblatt dieselben staatsrechtlichen Wirkungen habe wie eine ord- nungsmäßige Verkündigung, weder in der Reichsverfassung noch in einem andern Reichsgesetz anerkannt ist, so läßt sich mit Grund in Zweifel ziehen, ob die bisher übliche Art der Verkündigung in denjenigen Fällen, in denen der Inhalt des Vertrages in den Be- reich der Gesetzgebung eingreift, rechtliche Kraft und Wirksamkeit hat Die mangelhafte Art der Verkündigung der Staatsverträge ist schon wiederholt gerügt worden, z. B. von Thudichum S. 96 und ihn ziemlich wörtlich abschreibend v. Rönne , Verfassungsr. (1. Aufl.) S. 62 Note 3; ferner von E. Meier S. 336. . In jedem Falle hat die bisher übliche Art der Verkündigung ohne Eingangsworte, also ohne Constatirung, daß die Zustimmung des Bundesraths und Reichstages ertheilt worden ist, die Wirkung, daß den Behörden, welche die in dem Staatsvertrage enthaltenen Rechtssätze zur Anwendung zu bringen haben, insbesondere den Gerichtsbehörden, das Recht und die Pflicht obliegt, im einzelnen Laband , Reichsstaatsrecht. II. 13 §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder. Falle zu prüfen, ob in Wahrheit diesen Erfordernissen gesetzlicher Gültigkeit Genüge geschehen ist oder nicht. 5. Ausführungsbestimmungen . Wenn zur Vollziehung von Staatsverträgen Ausführungsbe- stimmungen erforderlich sind, so finden die Grundsätze über Ver- ordnungen analoge Anwendung. Demgemäß können Rechts- vorschriften im Verordnungswege nur auf Grund gesetzlicher Ermächtigung, die in der Genehmigung des Staatsvertrages durch Bundesrath und Reichstag enthalten sein kann, erlassen werden; Verwaltungsvorschriften dagegen sind vom Bundesrath oder, wenn sie die unmittelbare Reichsverwaltung betreffen, nach Maßgabe der Spezialgesetze von den Verwaltungschefs zu erlassen. Hervorzuheben ist nur, daß auch die Ausführungsbestimmungen durch völkerrechtlichen Vertrag vereinbart werden können, welcher der Genehmigung des Reichstages nicht bedarf, wenn er nur Verwaltungsmaßregeln oder Detailvorschriften innerhalb der durch den genehmigten Staatsvertrag sanctionirten Grundsätze betrifft Beispiele bieten die Frankfurter Zusatzconvention vom 11. Dez. 1871 (R.-G.-Bl. 1872 S. 7) zur Ausführung des Art. 17 des Frank- furter Friedens. Das Abkommen zwischen Deutschland und Italien mit der Schweiz von 25. Juli 1873 zur Ausführung des zwischen dem Deutschen Reich und Italien abgeschlossenen Auslieferungsvertrages vom 31. Okt. 1871 (Centralbl. 1873 S. 271). Das Protokoll vom 6. Juli 1874 (R.-G.-Bl. S. 120) zur Ausführung des Auslieferungsvertrages mit der Schweiz v. 24. Januar 1874. . §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder. Die Reichsverfassung enthält keine Bestimmung darüber, in- wieweit den einzelnen Gliedstaaten die Befugniß zum Abschluß von Staatsverträgen verblieben ist; aus den allgemeinen Prinzi- pien der Verfassung ergiebt sich aber, daß den Einzelstaaten der völkerrechtliche Verkehr mit fremden Staaten, sowie der Abschluß von Staatsverträgen untereinander nicht entzogen, wohl aber be- schränkt worden ist. Dieser Satz ist so zweifellos und unbestritten und durch eine so constante und unangefochtene Praxis bekräftigt, daß er keiner weiteren Begründung bedarf. Dagegen muß der Umfang, in welchem den Einzelstaaten das Vertragsrecht zusteht und die rechtliche Wirkung der internationalen Verträge der Einzel- staaten gegenüber den Hoheitsrechten des Reiches näher festgestellt werden. §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder. I. Der Umfang , in welchem den Einzelstaaten das Recht zur Vertragsschließung verblieben ist, begrenzt sich durch folgende zwei Sätze: 1. Aus der staatsrechtlichen Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich und der hierauf beruhenden Verpflichtung der Einzelstaaten und ihrer Regierungen zur Treue ergiebt sich, daß kein Gliedstaat weder mit einem anderen Bundesstaat noch mit einer ausländischen Macht einen Vertrag abschließen darf, welcher gegen die Sicherheit, Existenz oder Integrität des Deutschen Reiches oder eines Gliedes desselben oder gegen dessen Verfassung, Landes- herrn u. s. w. gerichtet ist. Ein solcher Vertrag würde nicht blos nichtig sein, sondern diejenigen Personen, welche an dem Abschluß desselben wissentlich Theil genommen haben, würden sich nach §§. 81. 83. 84. 87 ff. des R.-St.-G.-B.’s des Hochverraths oder Landes- verrathes schuldig machen. 2. Ueber Gegenstände, welche der Kompetenz der Einzelstaaten durch die Reichsverfassung oder durch die auf Grund derselben er- gangenen Reichsgesetze entzogen sind, können die Einzelstaaten keine Verträge mit rechtlicher Wirksamkeit abschließen. Denn soweit ein Einzelstaat gewisse Hoheitsrechte, sei es auf dem Gebiete der Rechts- ordnung oder auf dem Gebiete der Verwaltungsthätigkeit, über- haupt nicht mehr hat, kann er auch keine Verpflichtung über die Art und Weise ihrer Ausübung übernehmen Vgl. auch Thudichum S. 250. v. Rönne (1. Aufl.) S. 60. Meier S. 271 ff. Schulze , Preuß. Staatsr. II. S. 829. . II. Innerhalb des Umfanges, in welchem die Einzelstaaten hiernach Staatsverträge abschließen dürfen, ergeben sich für die Wirkungen derselben zwei Beschränkungen, von denen die eine staatsrechtlicher, die andere völkerrechtlicher Natur ist. 1. Auch auf denjenigen Gebieten staatlicher Thätigkeit, auf welchen den Einzelstaaten selbstständige Hoheitsrechte verblieben sind, ist ihre Gewalt keine souveraine, sondern durch die Reichs- gewalt beschränkte. Sie können daher keine Staatsverträge ab- schließen, durch deren Erfüllung sie sich mit den Anordnungen der Reichsgesetze oder der gültig erlassenen Verordnungen der Reichs- behörden in Widerspruch setzen würden Hiersemenzel I. S. 51 Z. 5. . Ihre Handlungsfreiheit 13* §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder. findet in den Reichsgesetzen eine Schranke. Insbesondere ist die Anordnung des Art. 2 der R.-V., wonach Reichsgesetze den Lan- desgesetzen vorgehen, ein rechtliches Hinderniß für den Abschluß aller Staatsverträge, durch welche sich ein Staat zum Erlaß von Vorschriften verpflichten würde, die mit irgend einer Vorschrift eines Reichsgesetzes im Widerspruch stehen. Die mit der Logik unvereinbare Auffassung, als sei in einem Bundesstaat die Staats- gewalt zwischen Centralgewalt und Einzelstaat getheilt und jeder von beiden auf seinem Theil souverain, erweist sich eben überall als völlig unhaltbar, sobald man eine ernsthafte Anwendung von ihr machen will Meier stellt zwar im Anschluß an die bisher herrschende Lehre vom Wesen des Bundesstaates auf S. 271 den Satz auf, daß sowohl das Reich als die Einzelstaaten „innerhalb ihres Kreises vollkommen selbständig und unabhängig sind“, bringt aber selbst S. 273 fg. sofort Thatsachen bei, die das Gegentheil beweisen. . Es läßt sich kein Staatsvertrag mit irgend welchem Inhalt ausdenken, den ein deutscher Einzelstaat abschließen könnte, ohne an den Reichsgesetzen z. B. über Strafrecht, Proceß, Privatrecht, Militair-, Zoll-, Post-, Consulatswesen u. s. w. eng- gezogene Schranken zu finden. Aber auch soweit das Reich von seiner Gesetzgebungsbefugniß noch keinen Gebrauch gemacht hat, kann der Einzelstaat durch Staatsverträge dem Rechte des Reiches nicht präjudiciren. Die auf Grund von Staatsverträgen von den Einzelstaaten erlassenen Vorschriften verlieren ipso iure ihre Geltung, sobald das Reich durch Gesetz eine andere Vorschrift sanctionirt. Denn das Motiv, aus welchem der Einzelstaat eine Vorschrift erlassen hat, nament- lich ob dies auf Grund eines internationalen Rechtsgeschäftes oder aus eigenem Antriebe geschehen ist, verleiht der Vorschrift keine höhere Kraft; sie muß vor dem Befehl der höheren Macht (des Reiches) weichen. Das Reich kann zwar sehr erhebliche Gründe haben, die von den Einzelstaaten geschlossenen Staatsverträge bei der Reichsgesetzgebung zu berücksichtigen; wenn das Reich aber ein Gesetz erläßt, so beseitigt dasselbe nach Art. 2 der R.-V. alle mit ihm im Widerspruch stehenden landesgesetzlichen Vorschriften, auch die in Folge eines Staatsvertrages ergangenen. Jeder aus- wärtige Staat kennt die rechtliche Lage der Deutschen Einzelstaaten oder muß sich vor dem Abschluß eines Vertrages mit ihnen diese §. 66. Die Staatsverträge der Bundesglieder. Kenntniß verschaffen; wenn er sich trotzdem darauf einläßt, mit ihnen ein solches Rechtsgeschäft abzuschließen, so weiß er auch, daß sein Gegencontrahent sich gar nicht anders verpflichten kann als unter dem selbstverständlichen Vorbehalt, daß die von ihm ertheilten Zusicherungen nicht im Widerspruch sich befinden mit den verfas- sungsmäßigen Befehlen des Reiches und daß er durch den Erlaß eines solchen Befehls in die rechtliche Unmöglichkeit versetzt werden kann, den von ihm abgeschlossenen Staatsvertrag noch weiter zu erfüllen Die entgegengesetzte Auffassung würde nicht nur mit Art. 2 der R.-V. im Widerspruch stehen, sondern auch praktisch zu unsinnigen Resultaten führen. Jeder einzelne Staat könnte einer vom Reich beabsichtigten Gesetzgebung zu- vorkommen und sie vereiteln, indem er einen Staatsvertrag schließt. Das Recht des Reiches, das Münzwesen, Maaß- und Gewichtswesen, Bankwesen, Patentwesen u. s. w. einheitlich zu regeln, wäre ein völlig illusorisches ge- wesen, wenn die Einzelstaaten vor Erlaß der betreffenden Reichsgesetze im Stande gewesen wären, durch Staatsverträge Rechtssätze bei sich einzuführen, welche auch nach Erlaß des Reichsgesetzes noch Geltung behalten hätten. Das- selbe gilt natürlich auch von den noch nicht vom Reich geregelten Materien. Wenn das Reich ein Gesetz über das Eisenbahnwesen, über das Notariats- wesen, über die Medicinalpolizei, über das bürgerl. Recht u. s. w. erlassen wird, verlieren alle mit diesen Gesetzen im Widerspruch stehenden landesgesetz- lichen Vorschriften ipso jure ihre Geltung, mögen sie auf Staatsverträgen be- ruhen oder nicht. Vgl. auch Thudichum S. 251. Riedel S. 105. Sey- del S. 119. Schulze, Preuß. Staatsr. II. S. 831. . 2. Die Einzelstaaten sind außer Stande, die Erfüllung der von ihnen mit andern Staaten abgeschlossenen Verträge durch die völkerrechtlichen Mittel zu erzwingen; weder gegenüber anderen Gliedstaaten des Reiches, da hier gewaltsame Selbsthülfe unter denselben durch den Begriff des Reiches ausgeschlossen ist, noch gegenüber auswärtigen Staaten, da kein einzelner Staat des Reiches Krieg führen kann. Alle durch Staatsverträge erworbenen Rechte oder Ansprüche der Einzelstaaten finden daher ihren Schutz ledig- lich durch das Reich, und zwar bei Streitigkeiten unter verschiede- nen Bundesstaaten nach Art. 76 Abs. 1 der R.-V., bei Streitig- keiten mit auswärtigen Staaten nach den Grundsätzen des Völker- rechts, im äußersten Falle durch Erklärung des Krieges im Namen des Reiches, wozu der Kaiser unter Zustimmung des Bundes- rathes nach Art. 11 Abs. 2 der R.-V. befugt ist. Ebenso kann kein auswärtiger Staat gegen einen Deutschen §. 67. Der Begriff der Verwaltung. Einzelstaat völkerrechtliche Zwangsmittel zur Durchführung der durch Staatsverträge begründeten Ansprüche in Anwendung bringen, ohne daß das Reich zum Schutze seines Mitgliedes und des Bun- desgebietes einzutreten verpflichtet wäre Unklare Bemerkungen hierüber finden sich bei v. Mohl S. 302 fg. . Wenngleich daher die Befugniß der Einzelstaaten zum Ab- schluß von Staatsverträgen mit auswärtigen Staaten durch das Reich nicht absorbirt ist, so fällt dem Reiche doch die Vertretung der Einzelstaaten bei der völkerrechtlichen Geltendmachung der aus den Staatsverträgen resultirenden Ansprüche und Verpflich- tungen aktiv und passiv zu. Neuntes Kapitel. Die Verwaltung des Reiches. Erster Abschnitt. Allgemeine Grundsätze. §. 67. Der Begriff der Verwaltung. I. Der Ausdruck „Verwaltung“ wird je nach dem Gegen- satz, in welchem dieses Wort steht, in der staatsrechtlichen und po- litischen Literatur in sehr verschiedenem Sinne gebraucht; man unterscheidet bald die Verwaltung von der Verfassung und stellt demgemäß das Verwaltungsrecht dem Verfassungsrecht gegenüber; bald findet man den Gegensatz zur Verwaltung in der Rechts- pflege. Oder man faßt unter dem Worte Verwaltung die gesammte Fürsorge für die gesellschaftlichen Kultur-Interessen zu- sammen und bringt das Verwaltungsrecht in Gegensatz zum Privatrecht, ja selbst zum Staatsrecht. Oder endlich man versteht unter Verwaltung die Vollziehung der Gesetze und stellt dieselbe §. 67. Der Begriff der Verwaltung. der Gesetzgebung gegenüber. Die letztere Auffassung ist die in der staatsrechtlichen Literatur herrschende; auf ihr beruht die Einthei- lung der Staatsgewalt in die Legislative und in die Executive oder vollziehende Gewalt. Auch hier wird der Begriff der Ver- waltung im Gegensatz zur Gesetzgebung genommen. Aber nicht in dem aus der französischen Doctrin von der Theilung der Gewalten in die Deutsche Literatur übergegangenen Sinne. Man darf aus der Gesetzgebung und Verwaltung nicht zwei verschiedene, von ein- ander getrennte Gewalten oder materiell abgegränzte Theile der Staatsgewalt machen. Vielmehr kömmt sowohl in der Gesetz- gebung des Staates wie in der Verwaltung desselben die einheit- liche und ungetheilte Staatsgewalt zur Erscheinung. Und anderer- seits ist der Inhalt der Verwaltung in der Ausführung der Ge- setze nicht erschöpft; sondern sie empfängt ihren Inhalt, gerade wie die Gesetzgebung selbst, unmittelbar aus dem Wesen und den Aufgaben des Staates. Das Verhältniß zwischen Gesetzgebung und Verwaltung bestimmt sich durch folgende Erwägung. Der Staat ist als Person ein handlungsfähiges Wesen. Er hat die durch seinen Zweck ihm gestellten Aufgaben durch freie Thätigkeit zu erfüllen; er vermag dies nur durch Handlungen, gerade wie der einzelne Mensch. Dieselben haben ihre Quelle in seinem Willen; nicht in einer Rechtsregel. Die Freiheit des Willens hat aber eine doppelte Schranke, eine natürliche in dem Maaß der Kräfte, und eine rechtliche in den Rechtssätzen, welche gewisse Handlungen verbieten, zu anderen nöthigen. Ganz so wie der einzelne Mensch seine individuellen Lebensaufgaben erfüllt durch seine Thätigkeit, welche ihren Ursprung in seinem Wollen hat, die aber durch sein Können und Dürfen ihre Gränzen findet, so auch der Staat. Durch die Aufstellung von Gesetzen werden die dem Staate obliegenden Aufgaben nicht realisirt; Gesetze sind nichts Anderes als Regeln; sie sind an und für sich wirkungslos. Ein Staat, der weiter Nichts thäte, als Gesetze geben, müßte so- gleich der Auflösung verfallen; der Staat kann seine Lebensauf- gaben durch die Aufstellung von Rechtsregeln ebensowenig verwirk- lichen, wie man durch die Formulirung von Regeln der Mechanik eine Maschine herstellen und in Thätigkeit erhalten kann. Es gilt dies zunächst für die eine große Hauptaufgabe jedes Staates, für die Aufrechterhaltung der Rechts-Ordnung. Dieser Aufgabe wird §. 67. Der Begriff der Verwaltung. nicht genügt durch Sanctionirung von Rechtssätzen, es kann im Gegentheil das Gewohnheitsrecht ausreichen, sondern es muß die Handhabung des Rechtsschutzes hinzukommen, also eine sehr um- fassende Thätigkeit, welche den in den Gesetzen ausgesprochenen Rechtsregeln praktischen Erfolg verschafft. Außer dem Schutze des Rechtes hat der Staat aber noch andere Aufgaben; ihm liegt der Schutz seiner Angehörigen und seines Gebietes gegen Angriffe anderer Staaten und die Pflege der Wohlfahrt des Volkes ob. Die Erfüllung dieser Aufgaben kann durch Aufstellung von Rechtsregeln nicht nur nicht erreicht werden, sondern sie ist begrifflich ohne alle Sanction von Rechts- sätzen möglich, da sie es mit der Verwirklichung des Rechts über- haupt gar nicht zu thun hat. Soldaten ausbilden, Waffen anschaffen, Festungen anlegen, — oder Wege und Kanäle bauen, Eisenbahnen in Betrieb halten, Briefe und Telegramme befördern, — oder Schulen errichten, Handel, Industrie und Ackerbau heben und unterstützen u. s. w. das Alles sind Thätigkeiten, welche sich zwar innerhalb der vom Recht gezogenen Schranken halten müssen, welche aber die Auf- rechthaltung der Rechtsordnung selbst nicht zum Gegenstande haben, und deshalb ihren positiven Inhalt durch Rechtssätze nicht er- halten. Sie sind möglich und denkbar, ohne daß sie durch spe- zielle Gesetze angeordnet und normirt werden; die Regierung hat die Befugniß zur Vornahme dieser Thätigkeit nicht auf Grund von Rechtsregeln, sondern auf Grund der Natur des Staates und der aus dieser Natur sich ergebenden Aufgaben des Staates. Das ursprüngliche und begriffliche Verhältniß der Verwal- tung und Gesetzgebung besteht demnach nicht darin, daß die Verwaltung positiv durch die Gesetzgebung bestimmt und ge- leitet wird, sondern daß sie negativ durch die Gesetzge- bung beschränkt wird. Das Wesen der Verwaltung besteht nicht in der Ausführung der Gesetze, sondern in der Durchführung der dem Staate obliegenden Aufgaben unter Beobachtung d. h. ohne Verletzung der Gesetze. Die Staatsverwaltung steht hinsicht- lich der Führung der öffentlichen Geschäfte dem Rechte gerade so frei und gerade so gebunden gegenüber wie der Einzelne hinsicht- lich seiner Privatgeschäfte. Der Kaufmann, welcher ein Handels- gewerbe betreibt, führt dadurch nicht das Handelsgesetzbuch aus, §. 67. Der Begriff der Verwaltung. fondern er findet an demselben für seine Thätigkeit, die er sich frei gestaltet, rechtliche Normen und Schranken; ebenso hat der Staat durch das von ihm selbst gesetzte Recht nicht den Inhalt seiner Thätigkeit bestimmt, sondern derselben rechtliche Schranken auferlegt. Staats-Verwaltung kann man daher definiren als die freie Thätigkeit der Staatsregierung behufs Durchführung der staat- lichen Aufgaben innerhalb der von der Rechtsordnung des Staates gesteckten Gränzen. II. Dieses reine und einfache Verhältniß der Verwaltung zur Gesetzgebung genügt und ist thatsächlich aufrecht erhalten, wo der Staat für die Erfüllung seiner Thätigkeit sich der allgemeinen, für alle Rechtssubjecte geltenden Rechtsordnung unterwirft und sich mit derselben zufrieden giebt. Für die Verwaltung von Domänen und Forsten, von fiskalischen Bergwerken und Fabriken, für den Betrieb von Banquiergeschäften durch den Staat (Seehandlung) u. s. w. gelten in der That im Allgemeinen die Grundsätze des allgemeinen Rechts, innerhalb deren die Staatsregierung ganz die- selbe Handlungsfreiheit hat wieder Einzelne. Wenn der Staat für die Beförderung der Briefe und Packete mittelst der Post diejeni- gen Rechtssätze gelten läßt, welche für alle Frachtführer im All- gemeinen bestehen, so bedarf es keines Postgesetzes; ein solches wird nur dann nothwendig, wenn der Staat sich das Monopol der Briefbeförderung beilegt und wenn er hinsichtlich seiner An- sprüche und Pflichten besondere Rechtsregeln aufzustellen für an- gemessen erachtet. Auch wenn der Staat seine militärischen Streit- kräfte, wie dies unter der Herrschaft des Werbesystems der Fall war, durch gewöhnlichen Dienstvertrag sich verschafft, so wie der Fabrikherr seine Arbeiter oder der Rheder seine Schiffsleute mie- thet, bedarf die Verwaltung keines Militärgesetzes. Erst wenn die Dienstpflicht der Unterthanen anerkannt und geregelt und das Mi- litärverhältniß anderen, besonderen Rechtsgrundsätzen unterstellt werden soll, als sie das sonst geltende allgemeine Recht enthält, wird ein Militärgesetz für die Verwaltung unentbehrlich. Ebensowenig bedarf es eines Schulgesetzes, wenn die Erthei- lung von Unterricht Jedem freisteht und der Staat von dieser Freiheit unter den für Alle geltenden Regeln durch Errichtung von Schulen Gebrauch macht. §. 67. Der Begriff der Verwaltung. Besondere Verwaltungsgesetze sind begrifflich die Ausnahme; als Regel ergiebt sich für die Verwaltung die freie Thätigkeit innerhalb des Spielraumes, welchen die Gesetze gestatten. That- sächlich kehrt sich das Verhältniß aber um, weil für die zweck- mäßige Erfüllung der dem Staate obliegenden Aufgaben gewöhn- kich die Aufstellung besonderer Rechtsregeln nothwendig oder wenigstens nützlich ist. Es sind hier zwei Klassen von Gesetzen zu erwähnen, ohne welche eine heilsame Verwaltungsthätigkeit des Staates gewöhnlich nicht entfaltet werden kann. 1. Der Staat bedient sich behufs Durchführung seiner Auf- gaben seiner Herrschaft über Land und Leute; er verlangt Lei- stungen; er befiehlt Handlungen; er beschränkt die Handlungsfrei- heit der Unterthanen durch Verbote. Der Staat steht seinen An- gehörigen nicht als gleichberechtigtes Subject gegenüber, sondern als der mit imperium ausgestattete Herr. Dieses imperium aber ist in dem modernen, civilisirten Staate keine willkührliche, sondern eine durch Rechtssätze bestimmte Gewalt. Der Staat kann von seinen Angehörigen keine Leistung und keine Unterlassung fordern, er kann ihnen nichts befehlen und nichts verbieten, als auf Grund eines Rechtssatzes. Das ist das Merkmal des Rechtsstaates im Gegensatz zur Despotie. Nicht in dem Umfange, in welchem die Staatsgewalt die Freiheit der Unterthanen beschränkt, nicht in dem Maße der Lasten, welche sie ihnen auferlegt, ist dieser Unterschied begründet; sondern lediglich darin, daß in der Despotie die Staats- gewalt nach Willkühr gehandhabt wird, im Rechtsstaat nach Rechts- regeln. Diese Rechtsregeln können im Gewohnheitsrecht begründet sein; bei den modernen staatlichen und rechtlichen Zuständen sind sie gewöhnlich durch Gesetze sanctionirt. Der Staat kann Niemanden zur Zahlung von Steuern und Zöllen, zur Leistung von Militair- diensten, zur Erfüllung der Geschworenenpflicht, zum Schulbesuch u. s. w. zwingen, wenn nicht durch Gesetz diese Befugniß des Staates anerkannt ist, und folglich auch nur unter den Voraus- setzungen und nur in demjenigen Maße, welche das Gesetz vor- schreibt. Ebenso wenig kann die Regierung Jemanden in seiner Gewerbethätigkeit oder an der freien Bewegung oder an der freien Benutzung seines Eigenthums u. s. w. hindern und ihm im Inte- resse der allgemeinen Sicherheit, Gesundheit, Wohlfahrt oder im Interesse der Staatsfinanzen Beschränkungen auferlegen, außer auf §. 67. Der Begriff der Verwaltung. Grund eines Rechtssatzes, welcher die Behörden des Staates dazu ermächtigt. Hierauf beruht die Nothwendigkeit des größten Theiles der sogenannten Verwaltungsgesetze. Der Staat könnte den wichtigsten und erheblichsten Theil seiner Aufgaben nicht erfüllen, wenn er nicht Handlungen und Unterlassungen der Unterthanen anbefehlen könnte. Er darf dies aber im Rechtsstaate nur auf Grund eines Rechtssatzes und deshalb sind Gesetze nöthig, welche diese Rechts- sätze schaffen. Der Staat verwendet bei der ihm obliegenden Thätigkeit die ihm durch die Gesetzgebung eingeräumten rechtlichen Befugnisse und je sorgfältiger und genauer das Gesetz Voraus- setzungen, Umfang und Formen bestimmt, in denen die Staatsge- walt dem Einzelnen gegenüber zur Geltung gebracht werden darf, desto enger lehnt sich die Thätigkeit der Behörden an die durch Gesetze aufgestellten Regeln an. Dadurch entsteht der Anschein, als sei die Verwaltung nach ihrem Zweck und Wesen Ausfüh- rung der Gesetze. Allein mit größerem Rechte könnte man sagen, daß derjenige, welcher die ihm obliegenden Steuern zahlt, welcher seiner Militairpflicht genügt, welcher seine Kinder zur Schule schickt, welcher seine Fabrik vorschriftsmäßig anlegt, die Finanzgesetze, das Militairgesetz, das Schulgesetz, die Fabrikordnung ausführt. Ebenso wird das dem Staate durch das Postgesetz ein- geräumte Monopol zur Briefbeförderung nicht durch die Post- anstalt realisirt, sondern durch die mittelst Androhung von Strafen erzwungene Enthaltung aller anderen Personen von der gewerbe- mäßigen Beförderung von Briefen. Für die Verwaltung liefern jene Gesetze nicht die von ihr zur Ausführung zu bringenden Auf- gaben, sondern nur die rechtlichen Voraussetzungen oder Befugnisse, mittelst deren die Verwaltung in der Lage ist, ihren Aufgaben ge- recht zu werden. Die Militärbehörde, welche auf Grund des Dienstpflicht-Gesetzes Rekruten einzieht, oder die Zoll- und Steuer- behörde, welche auf Grund der Finanzgesetze Abgaben erhebt, bringt diese Gesetze in keinem anderen Sinne „zur Ausführung“, wie etwa der Erbe, welcher auf Grund des gesetzlichen Erbrechts den Nachlaß fordert, oder der Gläubiger, welcher auf Grund des Handelsgesetzbuches Verzugszinsen verlangt, das Privatrecht „zur Ausführung bringt“ Daß die Behörde nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht hat, . Diese Gesetze bilden vielmehr nur den §. 67. Der Begriff der Verwaltung. formellen Rechtsgrund, kraft dessen die Behörde bei ihrer, auf die Realisirung der Staatsaufgaben gerichteten Thätigkeit in der Lage ist, dem Einzelnen etwas befehlen oder verbieten, von ihm Lei- stungen oder Unterlassungen erzwingen zu können. Es kann darin allerdings zugleich eine Normirung der dem Staate obliegenden Pflichten liegen; denn da die Gesetzgebung der Regierung nur die- jenigen Eingriffe in die Rechtssphäre des Einzelnen gestattet, welche für die Ausführung der staatlichen Aufgaben nothwendig erscheinen, so liegt in der Einräumung einer Befugniß der Staatsgewalt zu- gleich die Anerkennung, daß sich die Thätigkeit der Staatsregie- rung in dieser Richtung erstrecken soll, daß also die Regierung von der ihr zugewiesenen Befugniß nicht nur Gebrauch machen darf, sondern auch Gebrauch machen soll . Allein, wenn das Gesetz bestimmt, daß jeder wehrfähige Deutsche dienstpflichtig ist, so hat die Verwaltung dadurch nicht die Aufgabe, dieses Gesetz auszuführen, d. h. wirklich jeden wehr- fähigen Deutschen ohne Ausnahme zur Fahne einzuberufen; son- dern es wird ihr nur das Recht dazu verliehen und jeder wehr- fähige Deutsche hat die Pflicht, wenn er zum Dienst einberufen wird, Folge zu leisten. Ja es kann durch Gesetz die Regierung mit Befugnissen ausgestattet werden, die dieselbe regelmäßig nicht verwerthet, sondern die sie nur für den Nothfall in Reserve hat, von denen sie vielleicht niemals thatsächlich Gebrauch macht, so daß Rekruten einzuziehen oder Zölle zu erheben, während der Erbe oder Gläubiger nach freiem Belieben die Geltendmachung seines Rechtes unterlassen darf, kann man nicht einwenden. Es beruht dieser Unterschied auf dem Gegensatz der öffentlichen Rechte, denen Pflichten entsprechen, gegen die Privatrechte, bei denen dies nicht der Fall ist. Weil der Staat die Aufgabe hat für die Lan- desvertheidigung zu sorgen, ergiebt sich die Pflicht der Behörden, für militä- risch ausgebildete Mannschaften zu sorgen und deshalb auch unter Anderem von dem, dem Staate eingeräumten Aushebungs-Recht Gebrauch zu machen. Die Pflicht des Staates wird dadurch aber keineswegs erfüllt; die Armee- Verwaltung hat noch unzählige andere Aufgaben, die in keinem Sinne als Ausführung der Militärgesetze bezeichnet werden können. Die Behörden dürfen zwar nur nach Maßgabe des Dienstpflicht-Gesetzes und der anderen Mili- tärgesetze Rekruten einziehen; aber sie thun dies nicht, damit diese Ge- setze ausgeführt werden, sondern damit die Aufgabe des Staates, wehrhaft zu sein, erfüllt werde. Aehnliches gilt von der polizeilichen Thätigkeit. §. 67. Der Begriff der Verwaltung. man gewiß nicht davon reden kann, daß die Regierung die Auf- gabe oder Verpflichtung habe, ein solches Gesetz zu vollziehen. Die Gesetze, von denen hier die Rede ist, haben es sämmtlich zu thun mit einer Abgränzung der Staatsgewalt. Sie geben die Rechtsvorschriften über die Einwirkungen, welche der Staat auf Personen und Vermögen seiner Untergebenen vornehmen darf, und sichern daher zugleich andererseits die Sphäre, welche vor diesen Eingriffen rechtlich geschützt ist. Der Gesammtinhalt aller dieser Gesetze definirt den rechtlichen Inhalt der Staatsge- walt, wie er durch die positive Gesetzgebung eines bestimmten Staates in einem bestimmten Zeitpunkt fixirt ist. Alle diese Be- fugnisse zusammengenommen bilden das staatliche imperium. Diese Gesetze sind daher „staatsrechtliche“ im engsten Sinne des Wortes; sie betreffen recht eigentlich die Rechte des Staates. Von Ver- waltungsvorschriften sind sie dagegen durch ihren Inhalt und ihre Wirkungen verschieden. 2. Auch wo es sich nicht um die Ausstattung der Staatsge- walt mit Herrschaftsrechten handelt, sondern wo an und für sich der Staat auf gleicher Stufe mit den anderen Rechtssubjecten stehen könnte, schafft sich der Staat für seine auf die Durchfüh- rung der staatlichen Aufgaben gerichtete Thätigkeit günstigere oder wenigstens besondere Rechtssätze. Solche Gesetze modifi- ciren das Privatrecht, Strafrecht oder Proceßrecht und setzen spe- zielle Regeln an die Stelle der allgemeinen. Die Postanstalt könnte, so gut wie jeder andere Frachtführer, nach den Grund- sätzen des Civil- und Handelsrechts in ihren geschäftlichen Ver- hältnissen verpflichtet und berechtigt werden; der Staat aber giebt für ihre Haftpflicht, für ihre Leistungen und Rechte in dem Post- gesetze besondere Vorschriften. Die Finanzbehörden könnten die fälligen Steuern und Zölle im gewöhnlichen Wege des Civilpro- cesses einklagen und beitreiben; der Staat aber setzt an die Stelle dieses Verfahrens ein anderes, einfacheres, seine Thätigkeit erleich- terndes. Die Thätigkeit der Regierung könnte auf dieselben Mittel beschränkt sein, wie sie das Recht jedem Unterthan für seine Ge- schäftsthätigkeit gewährt; der Staat sichert und erleichtert diese Thätigkeit aber durch zahlreiche Strafgesetze, welche den Anord- nungen seiner Verwaltungsbehörden Gehorsam und Befolgung ge- währleisten. Eine große Masse der sogenannten Verwaltungsgesetze §. 67. Der Begriff der Verwaltung. enthält Regeln des Privatrechts, Proceßrechts und Strafrechts, welche ebenso gut, wie sie in dem Postgesetz, den Steuer- und Zollgesetzen, der Gewerbe-Ordnung u. s. w. enthalten sind, in dem bürgerlichen Gesetzbuch, der Proceß-Ordnung oder dem Strafgesetz- buch ihren Platz haben könnten. Daß die speziellen Rechtssätze in besonderen Gesetzen formulirt sind, beruht nicht auf ihrem juristi- schen Wesen, sondern auf technischen Gründen der Gesetzgebungs- kunst. Andererseits enthalten die privatrechtlichen Gesetze, die Proceßordnungen und besonders das Strafgesetzbuch sehr viele Bestimmungen, welche mit Rücksicht auf die Verwaltungsthätigkeit des Staates die im Allgemeinen herrschenden Rechtsregeln abän- dern oder ergänzen. Soweit aber spezielle Rechtssätze gesetzlich nicht anerkannt sind, gelten die allgemeinen Rechtsregeln auch für die durch die Verwaltungsthätigkeit des Staates hervorgerufenen Rechtsverhältnisse. So wie die unter 1. besprochenen Gesetze keine Verwaltungsvorschriften sondern staatsrechtliche Regeln enthalten, so sind auch die hier in Rede stehenden Gesetze keine Verwaltungs- vorschriften, sondern sie enthalten Rechtssätze des Privatrechts, Strafrechts und Proceßrechts. Auch hier kann man nicht in dem herkömmlichen Sinne sagen, daß die Verwaltung die Aufgabe habe, die Gesetze auszuführen. Die Post, welche auf Grund des Post- gesetzes Entschädigung leistet, führt das Postgesetz in keinem andern Sinne aus, wie der Frachtführer, welcher für ein verlorenes Fracht- gut Schadensersatz zahlt, das Handelsgesetzbuch ausführt. Dasselbe gilt von den zahllosen Leistungen von Vermögenswerth, welche die meisten Verwaltungsbehörden nach Maßgabe der Gesetze zu erheben oder zu gewähren haben. Die Zoll- und Steuerbehörde, welche im administrativen Wege Zahlungen eintreibt und Strafen vollstreckt, führt die Zoll- und Steuergesetze in keinem andern Sinne aus, wie man dies von den Gerichten hinsichtlich der Pro- ceßordnungen sagen könnte; die Zollbehörde und das von ihr zu beobachtende Verfahren tritt lediglich an die Stelle des ordentlichen Gerichts und des gewöhnlichen Processes. Ebenso ist kein begriff- licher Unterschied zwischen der Bestrafung desjenigen, welcher ein im Strafgesetzbuch erwähntes Delict verübt hat, und der Bestra- fung desjenigen, der eine im Zoll- oder Steuergesetz u. s. w. mit Strafe bedrohte Handlung begangen hat. III. Die beiden erwähnten Klassen von Gesetzen sind Gesetze §. 67. Der Begriff der Verwaltung. im materiellen Sinne des Wortes, denn sie enthalten Rechtsregeln. Auch wenn sie in der Form der Verordnung ergehen, sind sie nicht Aeußerungen der Verwaltungsthätigkeit, sondern Akte der Gesetz- gebung; nicht Handlungen des Staates, sondern Sanction von Rechtsregeln für die Handlungen desselben. Es giebt nun aber gewisse Anordnungen, welche man ebensowohl unter dem Gesichts- punkt der Gesetzgebung als unter dem der Verwaltung auffassen kann; das ist namentlich die Einrichtung des Verwaltungs-Appa- rates selbst, die Organisation des Behördensystems. Von der Verwaltungsthätigkeit ist die Schaffung dieses Apparates begriff- lich leicht zu unterscheiden. Die Errichtung von Verwaltungs- Behörden ist noch nicht die Verwaltungsthätigkeit selbst, sondern nur Vorbereitung und Ermöglichung derselben; es ist die Aus- stattung des Staates mit Organen, mittelst deren der Staat eine Thätigkeit entfalten kann. Die Organe der juristischen Personen kann man gewissermaßen den Körper derselben nennen und sie den natürlichen Organen der physischen Personen vergleichen. Da nun jede juristische Person ein Gebilde des Rechts ist, so ist auch die Organisation derselben durch die Rechtsordnung bestimmt und ge- regelt und die Bildung und Wirksamkeit ihrer Organe beruht auf Rechtssätzen. Eine juristische Person kann erst thätig werden, wenn sie existent geworden ist, wenn sie also Organe hat; sie kann sich nicht durch ihre eigene Thätigkeit erzeugen. So wie man auf dem ganzen Gebiete des Privatrechts keinerlei Art von juristischer Per- son sich vorstellen kann, deren Grundformen und Organe nicht durch Rechtssätze vorgezeichnet oder durch Statut normirt sind, so giebt es auch auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts keine juristische Person ohne Organe, die von Rechtswegen bestehen. Vor Allem gilt dies von dem Staate, dessen Verfassung das wichtigste Stück seiner eigenen Rechtsordnung ist. Es giebt daher auch keinen Staat, dessen Verfassungsrecht nicht darüber Regeln enthielte, welche Organe die verwaltende Thätigkeit auszuüben haben, und dessen Gesetzgebung nicht Bestimmungen über die Behörden-Organisation träfe. Andererseits aber kann die einmal organisirte und handlungs- fähig gewordene juristische Person durch ihre eigene Thätigkeit ihre Organisation weiter ausbilden, vervollständigen und spezialisiren. Auch hier gelten die gleichen Regeln von den juristischen Personen §. 67. Der Begriff der Verwaltung. des Privatrechts und des öffentlichen Rechts. Die Corporation und der Aktienverein haben durch Rechtssätze und Statut gewisse allgemeine und unentbehrliche Verwaltungs-Organe; dieselben kön- nen aber durch Rechtsgeschäfte sich anderweitige Organe schaffen, indem sie Bevollmächtigte, Gehülfen, Kontrolleure u. s. w. ernennen und eine planmäßige Vertheilung der Geschäfte unter dieselben vornehmen. So kann auch im Staate das Recht sich möglicherweise auf den einen Satz beschränken, daß der Monarch zu verwalten habe. Alsdann ist die Herstellung des Verwaltungs-Apparates selbst eine Verwaltungsthätigkeit, eine Summe von Rechtshandlungen. Wie weit die Organisation des Verwaltungs-Apparates zum Gegenstand der Rechtsordnung erhoben, wie weit dieselbe der Ge- schäftsführung der durch das Recht gegebenen Organe überlassen wird, ist demnach nicht durch juristische Gründe bestimmt, sondern durch politische Erwägungen. Für gewisse Gebiete der Verwaltung pflegt die Behörden-Organisation bis auf die Einzelheiten rechtlich festgestellt zu sein, so insbesondere für die Rechtspflege und für die Finanzverwaltung; für andere Gebiete besteht eine ansgedehnte Handlungsfreiheit der Regierung Es wird hier selbstverständlich von der mittelbaren Beschränkung der- selben durch den Staatshaushalts-Etat abgesehen. Vgl. oben Bd. I. S. 301 ff. . Die Einrichtung und Verzweigung der Behörden und die Ab- gränzung ihres Geschäftskreises, sowie die Veränderung oder Auf- hebung bestehender Behörden kann daher an sich ebensowohl als ein Akt der Gesetzgebung d. h. als Regelung der staatlichen Rechts- ordnung, wie als ein Akt der staatlichen Verwaltung d. h. als Bethätigung der Geschäftsführung gedacht werden und es ist ledig- lich nach dem positiven Recht eines bestimmten Staates und eines bestimmten Zeitpunktes zu beantworten, in welchem Maaße das Eine oder das Andere der Fall ist. Die Entwicklung des moder- nen Staates ist darauf gerichtet, das gesammte Behörden-System und die Zuweisung bestimmter Geschäftskreise an die einzelnen Aemter immer vollständiger und ausschließlicher durch die Gesetz- gebung zu regeln und zur Rechtsinstitution zu erheben. Soweit dies geschehen ist, ist die Handlungsfreiheit der Verwaltung be- seitigt oder beschränkt; und dieselbe kann nur die gesetzlichen Vor- §. 67. Der Begriff der Verwaltung. schriften durch Ernennung der Beamten, Herstellung von Dienst- gebäuden u. s. w. zur Verwirklichung bringen. Insoweit aber eine gesetzliche Anordnung nicht getroffen ist, erscheint die auf die Organisirung der Aemter gerichtete Verwaltungsthätigkeit auch hier nicht als Ausführung oder Vollziehung von Gesetzen, sondern als Bethätigung der Handlungsfreiheit innerhalb der gesetzlichen Schranken. IV. In den vorhergehenden Erörterungen ist der Begriff der Gesetzgebung durchweg im materiellen Sinne des Wortes d. h. als Sanction von Rechtsregeln verwendet worden; ganz anders aber gestaltet sich das Verhältniß von Verwaltung und Gesetzgebung, wenn der letztere Ausdruck im formellen Sinne genommen wird. Es ist oben bereits dargethan worden, daß jeder überhaupt mög- liche Willensact des Staates in die Form des Gesetzes gekleidet werden kann; in diesem Sinne besteht daher kein Gegensatz zwi- schen Gesetzgebung und Verwaltung, sondern das Gesetz kann selbst seinem Inhalte nach ein Verwaltungsakt sein. Insbesondere kann das Gesetz gewisse Handlungen der Regierung vorschreiben; z. B. die Herstellung einer Eisenbahn, eines Festungswerkes, eines Par- lamentsgebäudes, die Aufnahme oder Tilgung einer Anleihe, die Ansammlung eines Fonds, die Errichtung einer Anstalt u. s. w. Ferner kann in der Form des Gesetzes den Behörden eine mehr oder minder ausführliche Instruktion über die Art und Weise ihrer Thätigkeit gegeben werden. Der Betrieb der Bankgeschäfte, der Post- und Telegraphen-Anstalt, die Ausprägung von Münzen, die Anlage und Verwaltung von Staatsgeldern, die Thätigkeit der Behörden im Interesse der Gesundheitspflege, der Sicherheit des Verkehrs, der Hebung von Handel, Industrie und Landwirth- schaft, der Verbreitung von Kenntnissen und Bildung im Volke u. s. w. kann durch allgemeine Anordnungen geregelt werden, welche in der Form der Gesetzgebung ergehen. In den Gesetzen finden sich unzählige Bestimmungen, welche ihrem Inhalte nach ebenso gut in Reglements oder allgemeinen Verfügungen ihren Platz haben könnten. Gesetze dieser Art sind im materiellen Sinne Verwaltungsakte; sie enthalten keinen Rechtsbefehl, son- dern einen Verwaltungsbefehl. Diesen Gesetzen gegenüber ist die Verwaltung allerdings Voll- ziehung, d. h. Ausführung des in gesetzlicher Form ergangenen Laband , Reichsstaatsrecht. II. 14 §. 67. Der Begriff der Verwaltung. Verwaltungsbefehls. Die Handlungsfreiheit der Verwaltungs- behörden innerhalb der vom Rechte gezogenen Gränzen wird durch solche Gesetze beseitigt. Die Regierung kann nunmehr nicht handeln, wie sie will, sondern sie muß handeln, wie es das ihre Verwaltungsthätigkeit regelnde Gesetz vorschreibt. Vom Stand- punkte der französischen Staatsdoktrin aus, welche den Begriff der Gesetzgebung durchaus im formellen Sinne nimmt, ist es daher völlig begreiflich, die Verwaltung als die Executive zu er- klären. Nur zeigt es sich gerade hier, wie unrichtig es ist, aus der Legislative und Executive zwei getrennte Gewalten zu machen. Grade weil die Form des Gesetzes ebenso gut zum Erlaß eines Rechtsbefehls wie zum Erlaß eines Verwaltungsbefehls verwendet werden kann, ist der Volksvertretung durch ihre Mitwirkung bei der sogenannten Legislative ein Antheil sowohl an der Regelung der Rechtsordnung wie an der Verwaltung des Staates gewährt. Die Verwaltung kann nur dann auf die Vollziehung oder Aus- führung der Gesetze beschränkt sein, wenn die obersten Verwaltungs- befehle in der Form des Gesetzes erlassen werden, also nicht unter Ausschluß, sondern unter Mitwirkung der Volksvertretung. In England, von dessen öffentlichem Rechte die ganze Lehre von der Theilung der Gewalten abstrahirt worden ist, hat man es niemals be- zweifelt, daß das Parlament auch Funktionen der Verwaltung ausübt. Die Gränze zwischen einer allgemeinen Verwaltungs-Anord- nung und der Aufstellung einer Rechtsregel ist aber eine überaus schwankende und unsichere. Es ist bereits oben hervorgehoben worden, daß eine Anordnung, welche das Oberhaupt der Ver- waltung innerhalb des Gebietes der ihm zustehenden Handlungs- freiheit getroffen hat, zu einem Satze der Rechtsordnung erhoben werden kann, der die Verwaltung selbst bindet und von ihr nicht mehr aufgehoben oder verändert werden kann. Die Verwaltung ist nicht blos Anwendung und Ausführung, sondern zugleich Fort- bildung und Quelle des öffentlichen Rechts. Indem die Verwal- tung innerhalb der vom Rechte gezogenen Schranken für die Be- friedigung der staatlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse Sorge trägt, führt sie zu neuen Rechtssätzen. Gerade so wie der Ge- schäftsverkehr der Individuen das Privatrecht langsam aber stetig weiter ausbildet und aus dem stets wiederkehrenden, stereotypen Inhalte der Rechts geschäfte erst Gebräuche, dann Rechts sätze §. 67. Der Begriff der Verwaltung. schafft, welche als Gewohnheitsrecht oder durch gesetzliche Aner- kennung bindende Kraft erlangen, so erzeugt auch die gleichmäßige in unzähligen Fällen wiederholte und den Bedürfnissen des Staates entsprechende Geschäftsthätigkeit der Behörden erst eine Verwal- tungs-Tradition, und endlich Sätze des öffentlichen Rechts. Das Recht selbst ist gleichsam nur der Niederschlag und die Fixirung der vorangegangenen Entwickelung; die Bedürfnisse des wirth- schaftlichen und staatlichen Zusammenlebens sind immer früher da, als die Rechtssätze, welche bei normalen Zuständen ihr Erzeugniß sind. Wenn auch das vorhandene Recht Form und Inhalt der Rechtsgeschäfte beherrscht und für die weitere Entwicklung ein wesentlich mit bestimmendes Moment ist, so ist doch das Recht niemals ein fertig abgeschlossenes, d. h. todtes, sondern ein stets fortschreitendes, veränderliches. Dies ist nicht nur hinsichtlich des Privatrechts, sondern in demselben Maaße für das öffentliche Recht wahr. Immer neue Lebensverhältnisse entstehen und erzeugen neue gesellschaftliche Mißstände und Bedürfnisse und damit immer neue staatliche Aufgaben und Thätigkeiten. Das vorhandene Recht ge- nügt deshalb niemals vollständig sämmtlichen Bedürfnissen der Gegenwart, es ist immer nur das Resultat der Vergangenheit. Die Verwaltung muß diesen Bedürfnissen der Gegenwart abhelfen und indem sie innerhalb der Schranken der Rechtsordnung beginnt, führt sie allmählig eine Umgestaltung, Erweiterung und Fortbil- dung der Rechtsordnung herbei. Unter Umständen kann dieser Einfluß ein so gewaltiger sein, daß die alte Rechtsordnung da- durch völlig verändert wird. Das alte ius civile der Römer er- lag den Amtsverordnungen der Prätoren und Aedilen, dem ius honorarium; das alte Volksrecht der germanischen Stämme ver- schwand vor den Beamten-Instructionen, welche die merovingischen und karolingischen Könige in ihren Kapitularien ertheilten; das gemeine Landrecht des späteren Mittelalters wurde auf das gründ- lichste umgestaltet und in allen seinen Theilen verändert und fort- gebildet durch die Verwaltungs-Verordnungen der Stadtmagistrate; das aus dem Mittelalter überkommene Recht machte einem ganz neuen Rechte Platz, welches seine Ausbildung durch die Instruktio- nen und Verwaltungs-Verordnungen erhielt, die die Landesherren ihren Amtmännern, ihren Rentmeistern, ihren Hof- und Kammer- richtern, mit einem Worte ihren Beamten, ertheilten. 14* §. 68. Die Formen der Verwaltung. Die Verwaltungsthätigkeit des Staates ist sonach zugleich Handhabung und Erzeugung des öffentlichen Rechts und es findet eine fortwährende Wechselwirkung zwischen Verwaltung und Rechts- bildung statt. Dadurch tritt der Antheil der Volksvertretung in der verwaltenden Thätigkeit des Staates erst in seiner vollen Be- deutung hervor. Er besteht nicht nur darin, daß bei den parla- mentarischen Verhandlungen eine etwaige Verletzung der Gesetze durch die Verwaltungsbehörden oder eine irrige und unzweckmäßige Vollziehung derselben gerügt werden kann; er wird auch nicht dadurch erschöpft, daß durch Feststellung des Staatshaushaltes die finanziellen Mittel für die Verwaltungsthätigkeit der Behörden bewilligt werden; sondern er kommt vorzugsweise dadurch zur Geltung, daß die Gesetzgebung eine Form der staatlichen Willens- erklärung ist, welche nicht blos auf die Sanction von Rechtssätzen sondern auch auf die Anordnung und Regelung der Verwaltungs- thätigkeit anwendbar ist. §. 68. Die Formen der Verwaltung. I. Verwaltung ist — wie in dem vorhergehenden Paragraphen entwickelt wurde — Thätigkeit, Geschäftsführung. Die staatliche Geschäftsführung vollzieht sich aber, wie jede Geschäftsführung, theils durch Handlungen factischer Natur, theils durch Rechts- geschäfte. Die ersteren sind durch Rechtssätze nicht bestimmt; die unzähligen Arbeiten, welche der Staat auf den verschiedenen Ge- bieten der Verwaltung vornehmen läßt, haben eben so wenig ein juristisches Interesse und einen rechtlichen Inhalt, wie die that- sächlichen Beschäftigungen und Arbeiten der Individuen. Für das Staatsrecht sind nur die Rechtsgeschäfte der Verwaltung von Belang. Diese Rechtsgeschäfte sind ganz ebenso wie auf dem Ge- biete des Privatrechts entweder zweiseitige, d. h. Verträge , oder einseitige, d. h. Befehle. 1. Der Vertrag findet überall Anwendung, wo der Staat mit den ihm zustehenden Herrschaftsrechten die ihm obliegenden Aufgaben nicht zu erfüllen vermag. Die Verwaltung ist genöthigt, Verträge aller Art in großer Zahl unablässig abzuschließen; die Lieferung von Waaren, die Leistung von Arbeiten, die Herstellung von Werken, die Beschaffung von Geldmitteln u. s. w. kann der §. 68. Die Formen der Verwaltung. Gegenstand dieser Verträge sein. Ebenso kann der Staat seiner- seits die Leistung von Arbeiten oder die Lieferung von Waaren u. s. w. übernehmen, z. B. in dem Betrieb der Postanstalt, der Staats- Eisenbahnen, der Forsten, in dem Dienste der Lootsen u. v. a. Auch die Anstellung der Staatsbeamten ist — wie oben Bd. I., §. 37 fg. — ausgeführt wurde, ein Vertrag, weil der Staat der Regel nach nicht das Recht beansprucht, Jemanden zur Uebernahme eines Staatsamtes zu zwingen. Soweit der Vertrag einen ver- mögensrechtlichen Inhalt hat, was in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle zutrifft, handelt der Staat als Persönlichkeit des Privatrechts, als Fiskus, und er steht alsdann als gleichbe- rechtigte Partei seinen Mitcontrahenten gegenüber. Das durch den Vertrag begründete Rechtsverhältniß ist nach den allgemeinen Grundsätzen des Privatrechts zu beurtheilen, sofern nicht dieselben durch spezielle zu Gunsten des Fiskus eingeführte Rechtssätze modi- fizirt sind. Es ergiebt sich zugleich hieraus, daß die Entscheidung von Streitigkeiten über die aus solchen Verträgen entstehenden Be- fugnisse und Pflichten im Wege des gerichtlichen Processes zu treffen ist. Ein sehr großer Theil der gesammten Verwaltungs- thätigkeit des Staates steht demnach nicht unter eigenthümlichen staatsrechtlichen Regeln, sondern unter denen des Privatrechts und Civilprocesses. In zwei Beziehungen aber kommen staatsrechtliche Prinzipien zur Anwendung. a ) Hinsichtlich des Subjects , welches den Vertrag für den Staat schließt. Der Staat wird nur durch diejenigen Verträge verpflichtet, welche ein Bevollmächtigter desselben innerhalb seiner Stellvertretungsbefugniß, d. h. ein Beamter des Staates innerhalb seiner Kompetenz abgeschlossen hat. Dieses für alle juristischen Personen geltende Prinzip hat die Folge, daß die Frage nach der Gültigkeit eines für den Staat abgeschlossenen Geschäftes zum Theil nach staatsrechtlichen Regeln zu beurtheilen ist. Die Voll- macht einer Behörde bestimmt sich nach dem ihr zugewiesenen Ge- schäftskreise und die Befugniß einer bestimmten Person Namens einer Behörde zu handeln, beruht auf der Berufung dieser Per- son zur Führung des betreffenden Amtes. Die Gültigkeit eines Vertrages, welcher zum Zwecke der Staatsverwaltung abgeschlossen worden ist, hängt demnach von der Bejahung der beiden Vorfragen ab, ob demjenigen, welcher im Namen des Staates den Vertrag §. 68. Die Formen der Verwaltung. geschlossen hat, in rechtsgültiger Weise das Amt übertragen worden ist, und ob der Abschluß des in Rede stehenden Vertrages zu dem Geschäftskreise dieses Amtes gehört. Beide Fragen sind staats- rechtlicher Natur. Die erste ist nach den über die Anstellung von Staatsbeamten geltenden Rechtsgrundsätzen, die zweite nach den staatsrechtlichen Vorschriften über das Behördensystem und die Kompetenz der einzelnen Behörden zu entscheiden. In beiden Be- ziehungen aber muß man sich hüten, die Ansätze des Staatshaus- halts mit Rechtsregeln zu verwechseln. Das Staatsoberhaupt kann durch die Anstellung eines Beamten, welchem ein Gehalt zu- gebilligt wird, ohne daß dasselbe im Budget ausgeworfen ist, eine Rechtsverletzung sich zu Schulden kommen lassen; dessenungeachtet aber bleibt die Uebertragung des Amtes und die damit verbundene Vollmacht völlig rechtswirksam, wenn sie in den vorgeschriebenen Formen erfolgt ist. Ebenso sind die von einer Behörde innerhalb ihrer gesetzlichen Kompetenz abgeschlossenen Verträge völlig rechts- wirksam, wenngleich sie die im Etat angesetzten Summen über- steigen. Inwieweit der Beamte dafür von seinem Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen, vielleicht zum Ersatz angehalten wer- den kann, ist eine den Dritten nicht berührende Frage. b ) Hinsichtlich des Inhaltes der Verträge. Im Allge- meinen besteht auf dem Gebiete des Verkehrsrechtes volle Freiheit der Contrahenten, innerhalb der gesetzlichen Schranken zu verein- baren, was ihnen beliebt. Die Grundsätze des Obligationenrechts haben regelmäßig den Charakter des ius dispositivum. Dies gilt prinzipiell auch von den Rechtsgeschäften, welche zum Zwecke der Staatsverwaltung geschlossen werden. Grade an den unzähligen Verträgen, welche die Verwaltungsbehörden abzuschließen veran- laßt sind, wird es deutlich, daß die Verwaltungsthätigkeit nicht Anwendung oder Vollziehung der Gesetze ist; der Staat schließt vielmehr diese Verträge mit derselben Handlungsfreiheit ab wie jedes andere Rechtssubject, und die Behörden, welche zur Verwal- tung der Staatsgeschäfte berufen sind, haben bei der Vereinbarung der Vertragsbedingungen der Regel nach keine andere Stellung wie sie die geschäftsführenden Organe juristischer Personen (Corpo- rationen, Stiftungen, Aktienvereine) überhaupt haben. Ausnahms- weise aber kann der Inhalt der Verträge durch Gesetz so fest vor- geschrieben sein, daß die Verwaltungsbehörden die Verträge nach §. 68. Die Formen der Verwaltung. einer genau bestimmten Schablone abschließen müssen. Diese Aus- nahmen beruhen theils auf dem finanziellen Interesse des Staates, sind also durch den Antheil der Volksvertretung an der Ordnung der Staatswirthschaft begründet, theils auf der Fürsorge für die Wohlfahrt des Volkes. Ein Beispiel für die Ausnahmen der ersten Klasse bieten die Anleihegesetze. In denselben kann nicht nur die Regierung zur Aufnahme einer Anleihe in gewissem Be- trage ermächtigt werden, sondern es kann zugleich vorgeschrieben werden, unter welchen Bedingungen das Geschäft geschlossen, wie die Anleihe aufgebracht, verzinst, getilgt werden soll. Ebenso kann ein Gesetz, welches die Regierung ermächtigt, eine Eisenbahn zu kaufen oder in eigenen Betrieb zu nehmen, die Bedingungen ge- nau feststellen, welche in dem zu diesem Zwecke abzuschließenden Vertrage zu vereinbaren sind. Für die zweite Klasse von Ausnahmen bietet ein besonders anschauliches Beispiel die Post. Es würde ganz unerträglich sein, wenn bei der Aufgabe jedes einzelnen Briefes die Bedingungen speziell verabredet werden müßten oder auch nur dürften, unter denen die Postanstalt die Beförderung desselben übernimmt. Diese in unzähligen Fällen abzuschließenden Verträge müssen einen voll- kommen stereotypen Inhalt haben. Nun ist es allerdings möglich, daß die Verwaltungsbehörden selbst diesen Inhalt allgemein fest- stellen, insbesondere auch den zu entrichtenden Gebührenbetrag fixiren. Dies ist gegenwärtig der Fall bei dem Geschäftsbetrieb der Telegraphen-Anstalt, der Eisenbahnen, mehreren Geschäftszweigen der Post u. s. w. Es kann aber auch durch Gesetz der Inhalt dieser Verträge fixirt werden, wie dies namentlich hinsichtlich der Beför- derung von Briefen geschehen ist. Der gesetzlich festgestellte Porto- Tarif enthält keine Rechtssätze, sondern ist ein Preis-Verzeichniß; aber die Verwaltung darf nicht unter anderen Bedingungen Brief- beförderungs-Verträge abschließen, als unter den gesetzlich festge- stellten. Ebenso können die Anstellungs-Verträge mit Beamten von der Regierung nicht anders abgeschlossen werden, als nach den im Beamtengesetz gegebenen Vorschriften, namentlich in Betreff der Gehalts- und Pensionsansprüche. Aber nicht nur die vom Staate zu zahlenden oder zu erhebenden Geldbeträge, sondern auch der gesammte übrige Inhalt der von der Verwaltung abzuschließenden Verträge kann für gewisse Arten der letzteren durch Gesetz allge- §. 68. Die Formen der Verwaltung. mein vorgezeichnet sein, so daß er in jedem einzelnen Falle ohne Abweichung und deshalb auch ohne besondere oder ausdrückliche Erklärung als vereinbart anzusehen ist. Alsdann wandelt sich das, was seiner Natur nach ursprünglich Vertragsberedung ist, in gesetz- liches Recht um, gerade so wie auf dem Gebiete des Privatrechts aus dem stets wiederkehrenden stereotypen Inhalt unzähliger Ge- schäfte ein Satz des Gewohnheitsrechtes sich bildet. In dem einen Falle ist es der Gesetzesbefehl des Staates, in dem andern die opinio iuris, d. h. das Bewußtsein von der rechtlichen Verbind- lichkeit des Geschäfts-Gebrauches, welches die Umwandlung des Vertragswillens in eine Rechtsregel bewirkt. Dadurch aber fällt der Vertragswille nicht fort. Der Verkäufer haftet für die von ihm zugesicherten Eigenschaften der Waare allerdings kraft Rechts- satzes, gleichviel ob er will oder nicht; andererseits entspricht diese Haftung aber auch seinem vertragsmäßigen Willen, ohne Rücksicht auf das Gesetz, welches ihm dieselbe auferlegt; und so beruhen auch die Ansprüche und Verpflichtungen des Staates aus den im Betriebe der Verwaltung geschlossenen Verträgen nicht blos auf der abstracten Regel des Gesetzes, sondern ebenso auf dem im concreten Falle wirksam gewordenen Willen der Contrahenten; der Inhalt beider ist identisch. 2. Der Befehl. Soweit der Staat Herrschaftsrechte über Land und Leute hat, um durch Anwendung derselben seinen Auf- gaben gerecht zu werden, ist der Befehl die Form, in welcher sich die Thätigkeit der Verwaltungsbehörden vollzieht. Der Befehl wird ertheilt durch eine Verfügung der Verwaltungsbehörde, welche außer diesem Befehle selbst bisweilen noch andere Bestandtheile haben kann, insbesondere Angabe der Gründe, Androhung von Strafen, Belehrungen über die Befugniß zu Reclamationen oder Beschwerden u. s. w. Der staatsrechtlich erhebliche Inhalt der Verfügung aber, auf welchem die von ihr bezweckten Rechtswir- kungen beruhen, ist der Befehl an den der Staatsgewalt Unter- gebenen, etwas zu leisten, zu thun oder zu unterlassen. Die Ein- ziehung der Steuern, Zölle und Gebühren, die Einberufung zur Leistung der Militairpflicht, die Anforderungen des Staates an die Unterthanen zur Handhabung des Rechtsschutzes, die polizeiliche Thätigkeit u. s. w. bieten zahllose Anwendungsfälle. Die Verfügung ist ein Akt des öffentlichen Rechtes; man kann §. 68. Die Formen der Verwaltung. sie das einseitige Rechtsgeschäft des öffentlichen Rechtes nennen, im Gegensatz zu den eben erörterten zweiseitigen Geschäften, den Verträgen. Dadurch ist zugleich der begriffliche Ge- gensatz der Verfügung und des Gesetzes, oder des Verwaltungs- befehls und des Gesetzesbefehls ausgedrückt. Der Akt der Gesetzgebung (im materiellen Sinne) ist kein Rechtsgeschäft und begründet kein Rechtsverhältniß, sondern sanctionirt eine Rechts- regel; der Verwaltungsbefehl schafft keine Rechtssätze, sondern Rechtsverhältnisse, er begründet subjective Pflichten und ist Aus- übung subjectiver Rechtsbefugnisse Deshalb gehören z. B. sogenannte Polizei-Verordnungen, welche ge- wisse Handlungen allgemein mit Strafe bedrohen, nicht zu den Verwaltungs- acten sondern zu den Gesetzgebungsacten, zu deren Vornahme die Polizei- Behörden kraft Delegation befugt sind. . Die Verfügung ist ein Rechtsa kt, sie muß deshalb auch nach Inhalt und Form gewissen Erfordernissen des Rechts entsprechen. a ) Der Inhalt der Verfügung . Der in der Verfügung enthaltene Befehl muß rechtlich begründet sein, d. h. die Befugniß des Staates, Jemandem etwas zu befehlen oder zu verbieten, von welcher die Verfügung Anwendung macht, muß durch einen Rechts- satz anerkannt sein. Die dem Staatsbürger obliegende Gehorsams- pflicht ist im modernen Staate keine ungemessene, deren Umfang durch das Belieben der Regierung bestimmt werden könnte. Dies ist nicht einmal für den Fall eines Nothstandes zuzugeben; es be- steht im heutigen Recht kein ius eminens des Staates, welches für die Zeit der Noth aus dem Staatsbürger einen Staatssclaven machen würde, sondern zu jeder Zeit und unter allen Verhältnissen sind die Rechte der Staatsgewalt gegen den Einzelnen durch Rechts- sätze anerkannt und deshalb beschränkt. Jeder Verwaltungsbefehl muß daher auf einem Gesetze beruhen, welches die Regierung mit der Befugniß ausstattet, eine derartige Leistung, Handlung oder Unterlassung von den Unterthanen zu verlangen. Es gilt dies ausnahmslos und findet nicht blos auf die Einforderung von finan- ziellen oder militärischen Leistungen, sondern in demselben Umfange auf alle polizeilichen Gebote und Verbote Anwendung. Die Frage, ob eine Verfügung einen Befehl enthält, zu dessen Erlaß die Re- gierung befugt ist oder nicht, ist eine reine Rechtsfrage und §. 68. Die Formen der Verwaltung. ist immer einzig und allein durch eine juristische Erwägung, durch die logische Subsumirung der Verfügung unter das objective Recht, durch eine richterliche Urtheilsfindung zu entscheiden, gleichviel ob nach dem positiven Recht eine Gerichtsbehörde oder eine Verwal- tungsbehörde zur Fällung dieses Urtheils berufen ist. Die geistige Thätigkeit ist die gleiche, mag der damit betraute Beamte Gerichts- rath oder Regierungsrath heißen. Der Rechtsgrund , auf dem die Verfügung beruht, ist aber für den Inhalt derselben nicht allein und ausschließ- lich entscheidend. Der Staat soll von den ihm zustehenden Rechten keinen zwecklosen und noch weniger einen unzweckmäßigen Gebrauch machen. Die Ausübung der staatlichen Herrschaftsrechte geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern nur zur Durchführung der staatlichen Aufgaben, also nur in dem Maße und in der Art und Weise, wie es dieser Zweck erfordert. Die Verfügung muß daher nicht nur rechtlich zulässig, sie muß auch für die Erreichung der staatlichen Zwecke nothwendig oder nützlich, mit einem Worte zweck- mäßig sein. Die Entscheidung der Frage, ob die Verfügung die- sem Erforderniß entspricht, ist niemals eine juristische, d. h. nach Rechtsregeln zu findende, sondern in allen Fällen eine technische oder politische oder finanzwissenschaftliche u. s. w. In der Prüfung und Entscheidung dieser Zweckmäßigkeitsfrage kömmt die Freiheit der Verwaltung innerhalb der Rechtsschranken zur Verwirklichung. Hieraus ergiebt sich der prinzipielle Unterschied zwischen Ver- waltung und Rechtspflege. Die richterlichen Entscheidungen sind ausschließlich durch Rechtssätze begründet, die Entschließungen der Verwaltungsbehörden müssen zugleich rechtlich erlaubt und durch Zweckmäßigkeitsgründe gerechtfertigt sein. Die Gesetze sind für die Verwaltungsbehörden keineswegs weniger bindend wie für die Gerichte; die Verwaltungsbehörden dürfen niemals aus Zweck- mäßigkeitsgründen die geltenden Rechtssätze verletzen; aber sie wer- den innerhalb der durch die Rechtsordnung gegebenen Gränzen durch Motive der Zweckmäßigkeit zu ihren Handlungen bestimmt. Die Verwaltungs-Verfügung kann daher in zwiefacher Weise von dem Betroffenen angegriffen werden, entweder Mangels des Rechts- grundes oder Mangels des Zweckmäßigkeitsgrundes. Die Ent- scheidung über beide Angriffe kann durch positives Recht einer und derselben Behörde übertragen sein; der Natur dieser Entscheidung §. 68. Die Formen der Verwaltung. entspricht es aber, daß die Beschwerde über den mangelnden Rechts- grund durch Urtheil des Gerichts, die Beschwerde über die mangelnde Zweckmäßigkeit durch Verfügung der höheren Verwaltungsbehörde erledigt wird. Der Mangel der Zweckmäßigkeit macht die Verfügung nie- mals rechtlich unwirksam oder unerlaubt; er ist überhaupt ohne juristische Erheblichkeit. Er kann nur für die höhere Ver- waltungsbehörde Veranlassung geben, wegen des eigenen Interesses der Verwaltung die Verfügung aufzuheben oder abzuändern, wo- bei es sich von selbst versteht, daß das Interesse der Verwaltung mit dem des Staates völlig zusammenfällt. Der Mangel des Rechtsgrundes dagegen macht die Verfügung unwirksam und un- verbindlich, selbst wenn sie durchaus zweckmäßig ist. Unterwirft sich der von der Verfügung Betroffene nicht freiwillig, was ihm im Allgemeinen unbenommen ist Wofern nämlich die Verfügung nicht eine rechtlich verbotene Handlung fordert, oder eine gesetzlich vorgeschriebene Handlung untersagt. , so muß die höhere Verwal- tungsbehörde, wenn ihr der Nachweis des mangelnden Rechtsgrun- des erbracht ist, die Verfügung aufheben oder abändern; unzweck- mäßige Verfügungen kann die höhere Behörde aufrechterhalten, wenn ihr die Aufhebung mit größeren Nachtheilen verbunden zu sein scheint, wie die Bestätigung. Durch rechtswidrige Verfügungen macht sich der Beamte dem dadurch Beschädigten verantwortlich, durch unzweckmäßige kann er sich den Tadel der vorgesetzten Be- hörde oder des Publikums zuziehen, aber er kann nicht rechtlich dafür belangt werden. Der Mangel der Zweckmäßigkeit findet seine Remedur innerhalb des Organismus der Verwaltung selbst, der Mangel der Rechtmäßigkeit bringt die Verwaltung in Colli- sion mit der Rechtsordnung. Auf den verschiedenen Gebieten der staatlichen Thätigkeit ist der, den Zweckmäßigkeits-Erwägungen der Verwaltungsbehörden eingeräumte Spielraum ein sehr ungleich bemessener. Am gering- sten ist er der Regel nach auf dem finanziellen Gebiete; die Er- hebung der Steuern, Zölle und Gebühren ist durchweg durch Rechtssätze so fest normirt, daß bei den Verfügungen der Steuer- und Zollbehörden u. s. w. fast nur die Gesetzmäßigkeit derselben in Frage kommt. Den Gegensatz bildet die polizeiliche Thätigkeit; §. 68. Die Formen der Verwaltung. hier beschränken sich die Gesetze meistens auf allgemeine und weit- reichende Ermächtigungen, so daß im einzelnen Falle nach Zweck- mäßigkeits-Rücksichten zu befinden ist, ob und in welcher Art von der gesetzlichen Befugniß Gebrauch gemacht werden soll. b ) Die Form der Verfügung . Die Verfügung ist eine obrigkeitliche Willenserklärung, welche einen Befehl enthält. Dar- aus ergiebt sich ein dreifaches Erforderniß. Sie muß von dem- jenigen ausgehen, dem die Befugniß zusteht, Namens des Staates zu befehlen; sie muß ferner in deutlich erkennbarer und zuver- lässiger Weise enthalten, was der Inhalt des Befehles ist; sie muß endlich demjenigen, dem der Befehl ertheilt wird, gehörig bekannt gemacht werden. α) Die Verfügung muß von demjenigen erlassen werden, welcher dazu befugt ist; d. h. sie ist nur dann rechtsverbindlich, wenn sie von einer Behörde innerhalb ihrer gesetzlichen Kompetenz ergangen ist. Die Kompetenz der Behörden aber ist sowohl räum- lich als sachlich begränzt und überdies nach der Rangordnung der Behörden abgestuft. Nur in dem hierdurch bestimmten Umfange ist jede Behörde mit dem obrigkeitlichen imperium ausgestattet. Jede Verfügung, welche eine Behörde mit Ueberschreitung der ihr zustehenden Kompetenz erläßt, entbehrt des Grundes, auf welchem ihre Rechtswirkung beruht, nämlich der mit einem gewissen Amte verbundenen Staatsgewalt. Es kann in dem Erlaß einer solchen Verfügung möglicherweise der Thatbestand eines Amtsdelictes ge- geben sein; in keinem Falle aber hat der von einer inkompetenten Behörde ertheilte Befehl verbindliche Kraft und deshalb kann auch die Nichtbefolgung desselben keine Rechtsnachtheile begründen. β) Die Verfügung muß, wie jede Willenserklärung in deut- licher und zuverlässiger Weise erkennbar machen, worauf der Wille, also in diesem Falle der obrigkeitliche Befehl, gerichtet ist. An sich ist jedes Mittel der Erklärung zulässig, nicht blos die Schrift. Mündliche Verfügungen sind durchaus nicht selten; der Polizei- beamte, welcher eine Versammlung auflöst, welcher einem Händler einen bestimmten Platz am Markte anweist, welcher einen Haus- besitzer zur Reinigung des Straßenpflasters auffordert u. s. w., ertheilt diese Befehle mündlich. Ebenso der Zollbeamte, welcher dem Reisenden die Oeffnung seiner Koffer oder die Bezahlung eines gewissen Zollbetrages anbefiehlt. Selbst durch Zeichen kann §. 68. Die Formen der Verwaltung. ein obrigkeitlicher Befehl gültig ertheilt werden, wofern dieselben allgemein verständlich sind; so kann z. B. die Sperrung einer Straße, also das polizeiliche Verbot, sie zu passiren, durch eine Barri è re oder durch eine mit einem Strohwisch versehene Stange u. dergl. erklärt werden. Der Regel nach aber erfolgt der obrigkeitliche Befehl schrift- lich und der gemeine Sprachgebrauch bezeichnet die in dieser Form ertheilten Befehle vorzugsweise als Verfügungen. Die urkund- liche Form der Verfügungen ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht gesetzlich näher bestimmt, sondern richtet sich nach dem Geschäftsgebrauch der Behörden, welcher für die häu- figer vorkommenden Fälle Formulare ausgebildet hat. Im Allge- meinen ist zu einer urkundlichen Verfügung die Unterschrift der Behörde oder des sie vertretenden Beamten erforderlich; dagegen ist die Beidrückung des Amtssiegels weder nothwendig noch üblich. γ) Die Verfügung muß demjenigen, der sie befolgen soll, be- kannt gemacht werden. Die Bekanntmachung geschieht der Regel nach durch Behändigung (Insinuation oder Intimation). Die Lehre von der Behändigung ist rechtlich besonders ausgebildet hinsichtlich der gerichtlichen Verfügungen, namentlich der Vorladungen. Die gesetzliche Regelung ist für diese Art obrigkeitlicher Verfügungen wegen der Contumazial-Folgen, welche die Nichtbefolgung der ge- richtlichen Ladung nach sich ziehen kann, geboten. Die Vorschriften über die Behändigung gerichtlicher Verfügungen sind aber nicht durch den Inhalt des gerichtlichen Befehles bedingt, sondern sie normiren die Voraussetzungen, unter denen angenommen werden kann, daß die gerichtliche Verfügung zur Kenntniß des Adressaten gelangt ist. Sie sind deshalb analog auf alle Verfügungen anwendbar. Es gilt dies insbesondere hinsichtlich der Frage, welchen Personen in Vertretung des Adressaten eine Verfügung behändigt werden kann, über die Insinuation von Verfügungen, welche an juristische Personen, Vereine, Gesellschaften u. s. w. gerichtet sind. Ist die Verfügung nicht an individuell bestimmte Personen, sondern an eine Mehrheit von Personen oder an unbekannte Per- sonen gerichtet, so tritt an die Stelle der Behändigung die öffent- liche Bekanntmachung durch Amtsblätter, Zeitungen, Mauer-An- schläge u. dgl. Eine solche Bekanntmachung hat begrifflich keiner- §. 68. Die Formen der Verwaltung. lei Verwandtschaft mit der Publikation der Gesetze und Rechts- verordnungen, sondern sie ist analog dem öffentlichen Aufgebot, welches die Gerichte bei Concursen, Subhastationen und in an- deren zahlreichen Fällen erlassen; sie ist ein Surrogat der Behändigung . II. Aus dem Begriff der Verwaltung als Geschäftsführung ergiebt sich, daß die Thätigkeit der Behörden durch das Gesetz allein nicht bestimmt wird, sondern durch das freie Ermessen der- selben innerhalb der durch das Gesetz bestimmten Schranken. Diese Freiheit kann aber nicht jeder einzelnen Behörde in ihrem Wir- kungskreise zustehen, ohne daß die Einheit und Harmonie der Ge- schäftsführung gefährdet und gestört wird. Unter dem freien Er- messen der Verwaltung ist nicht das subjective Ermessen jedes ein- zelnen Beamten und unter der Handelungsfreiheit nicht das Belieben jeder untergeordneten Behörde zu verstehen. Die einzelnen Be- hörden sind vielmehr in einem gegliederten System verbunden und die Geschäftsführung des Staates ist nicht zerrissen und zerstückelt, sondern unter die Behörden planvoll vertheilt. Die Zerlegung der staatlichen Geschäfte in kleine Geschäftskreise, welche den ein- zelnen Aemtern zugewiesen sind, muß Hand in Hand gehen mit einer Centralisation der Geschäftsleitung. Die unteren Behörden sind demgemäß bei ihrer Geschäftsführung den Anweisungen der vorgesetzten Behörde unterworfen und zur Befolgung der ihnen ertheilten Anordnungen verpflichtet. Den oberen Behörden liegt es ob, die Geschäftsführung der ihnen untergebenen zu leiten und zu beaufsichtigen. Die Verwaltung der Staatsgeschäfte vollzieht sich daher nicht blos durch Befehle an Unterthauen, sondern auch durch Befehle an die eigenen Organe. Die Befolgung der von der vorgesetzten Behörde innerhalb ihrer Kompetenz ertheilten Be- fehle gehört zu der Dienstpflicht des Beamten und die Verletzung derselben ist ein Disciplinarvergehen Siehe oben Bd. I. §§. 40. 41. . Der Befehl der vorge- setzten Behörde kann nun aber zweierlei Art sein. Er kann sich auf einen einzelnen, concreten Fall beziehen, die Vornahme einer bestimmten Handlung, den Abschluß eines bestimmten Vertrages, den Erlaß einer bestimmten Verfügung anordnen oder untersagen. Ein solcher Befehl wird ebenfalls als Verfügung bezeichnet §. 68. Die Formen der Verwaltung. und unterscheidet sich von den soeben erörterten Verfügungen durch Nichts Anderes, als daß seine verbindliche Kraft nicht auf den allgemeinen gesetzlichen Herrschaftsrechten des Staates, sondern auf der besonderen Amtsgewalt der vorgesetzten Behörde beruht, und die Pflicht, ihn zu befolgen, nicht ein Theil der staatsbürgerlichen Unterthanenpflicht, sondern ein Theil der amtlichen Dienstpflicht ist. Der Befehl der vorgesetzten Behörde kann aber auch einen generellen Inhalt haben, das Verhalten der untergeordneten Be- hörden im Allgemeinen oder für eine unbestimmte Anzahl von Fällen regeln oder denselben die Richtung vorzeichnen, welche sie bei ihrer Geschäftsführung inne zu halten haben. Ein solcher Befehl heißt eine Verordnung oder — da dieser Ausdruck auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung vorkömmt — genauer Ver- waltungs-Verordnung . Die juristische Natur der Verwal- tungs-Verordnung und der Gegensatz derselben gegen die Rechts- Verordnung ergiebt sich aus folgenden Punkten: 1. Die Verwaltungs-Verordnung ist ihrem Wesen nach nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Verfügung verwandt; sie sanktio- nirt nicht Rechtsregeln, sondern sie befiehlt die Vornahme oder Unterlassung von Handlungen und Rechtsgeschäften oder sie ordnet die Modalitäten an, unter welchen diese Handlungen nnd Rechts- geschäfte vollzogen werden sollen. Die Verwaltungs-Verordnung ist kein Ausführungsgesetz, sondern eine General-Verfügung ; sie ist eine Instruktion oder ein Reglement für die untergebenen Beamten und Behörden; sie normirt nicht die Rechtsordnung, sondern die Thätigkeit und das Verhalten der Behörden. 2. Die Verwaltungs-Verordnung hat deshalb Rechtswirkungen nur innerhalb des eigenen Verwaltungs-Apparates, nicht gegen Dritte. Mittelbar freilich kann sie von der erheblichsten Trag- weite für alle Unterthanen werden, da die Unterbehörden die dem Staate zustehenden Herrschaftsrechte in der Art handhaben und die ihnen behufs Durchführung der staatlichen Aufgaben obliegende Thätigkeit in der Art ausüben, wie es in der Verordnung ihnen vorgeschrieben ist. Unmittelbar aber verpflichtet die Verwaltungs- Verordnung nicht die Staatsbürger, sondern nur die Staatsbe- hörden und Beamten; sie ist eine res interna der Verwaltung. Der Bereich der Verwaltungs-Verordnung ist demnach derselbe wie der Bereich der freien Verwaltungs-Thätigkeit überhaupt; sie §. 68. Die Formen der Verwaltung. kann — wie bereits oben S. 211 ausgeführt wurde, die Ent- stehung neuer Rechtssätze vorbereiten und anbahnen, aber formelles Recht weder aufheben noch schaffen. 3. Die Befugniß, Verwaltungs-Verordnungen zu erlassen, steht nicht blos dem Monarchen, als dem Chef der Verwaltung, sondern in vielfachen Abstufungen den Behörden zu. Die von der höheren Instanz erlassene Verordnung bindet alle unteren In- stanzen, schließt aber nicht die Befugniß derselben aus, hinsichtlich aller, in der höheren Verordnung nicht geregelten Punkte, ihrer- seits wieder Verordnungen zu erlassen für die ihnen unterstellten Aemter. Wenn man auch öfters den Namen Verordnung auf die vom Landesherrn oder etwa von den obersten Centralbehörden (Ministern) erlassenen Anordnungen beschränkt, dagegen die von anderen Behörden erlassenen als General-Verfügungen, Rescripte, Instructionen n. dergl. bezeichnet, so besteht doch ein begrifflicher, juristischer Unterschied nicht. 4. Die Verwaltungs-Verordnung bedarf keiner Publikation in dem Sinne, welchen dieses Wort bei der Gesetzgebung hat, sondern der Behändigung oder Insinuation. Sie muß denjenigen Behörden, denen sie Vorschriften giebt, mitgetheilt werden. Die Mittheilung erfolgt gewöhnlich durch ein von der vorgesetzten Be- hörde ausgefertigtes Schreiben, welches bei den Akten aufbewahrt wird. Die schriftliche Zufertigung kann aber ersetzt werden durch den Druck in solchen Amtsblättern, welche die Behörden zu halten verpflichtet sind. Nur muß alsdann der Abdruck die Gewähr der Aechtheit und Zuverlässigkeit bieten. Eine solche Mittheilung durch gedruckte Blätter ist lediglich ein Surrogat der schriftlichen Zu- fertigung. Abgesehen von diesem Falle hat die Veröffentlichung der Ver- waltungs-Verordnung durch den Druck weder die Rechtswirkung der Verkündigung noch diejenige der Behändigung, sondern sie ist lediglich thatsächliche Bekanntmachung an das Publikum. Dieselbe ist nicht nur für die Gültigkeit der Verordnung rechtlich nicht er- forderlich, sondern sie kann eine pflichtwidrige und strafbare Ver- letzung des Amtsgeheimnisses enthalten. Die Entscheidung darüber, ob eine Verwaltungs-Verordnung veröffentlicht werden soll resp. darf oder nicht, steht natürlich derjenigen Behörde zu, welche die Verordnung erläßt, nicht derjenigen, an welche sie gerichtet ist. §. 68. Die Formen der Verwaltung. III. Bei jeder ausgedehnten und an viele Geschäftsführer vertheilten Verwaltung sind zur Erhaltung der Einheit und Ord- nung nicht blos leitende Organe erforderlich, welche die ausfüh- renden instruiren und ihnen ihre Thätigkeit vorschreiben, sondern es ist auch eine stetige und wirksame Beaufsichtigung erfor- derlich. Hieraus ergibt sich eine dritte Art von Verwaltungs- geschäften, die ebensowohl von der unmittelbaren Geschäftsführung, wie von der Ertheilung von Anweisungen und Instructionen be- grifflich verschieden ist, wenngleich sie mit dieser letzteren Art von Geschäften thatsächlich oft verbunden ist. Die controllirende Thätig- keit hat die Eigenthümlichkeit, daß sie nach Außen hin nicht wirk- sam zu werden braucht, ja es in unmittelbarer Weise nicht einmal werden kann. Die genaueste und sorgfältigste Controlle hat ein durchaus negatives Ergebniß, wenn die Thätigkeit der controllirten Behörden eine vollkommen ordnungsmäßige und zufriedenstellende ist. Nur wenn Fehler der unteren Behörden bemerkt werden, wenn diese Behörden etwa Rechtssätze oder die ihnen ertheilten Instruk- tionen verletzen oder unrichtig anwenden, oder wenn ihre Geschäfts- führung als unzweckmäßig oder nutzlos erscheint, führt die Con- trole zu einem Einschreiten. Die beaufsichtigende Thätigkeit der Instanzen hat aber zunächst und unmittelbar nur den Erfolg, daß die Fehler, Rechtswidrigkeiten oder Mängel constatirt werden. Möglicherweise hat diese Feststellung gar keine weiteren Folgen. Sie kann aber Veranlassung geben zu Handlungen sehr verschie- denen Inhaltes, z. B. zur gerichtlichen Verfolgung des pflicht- widrigen Beamten oder zur Einleitung einer Disciplinar-Unter- suchung gegen ihn oder zur Einziehung des Ersatzes für den von ihm verursachten Schaden; ferner aber zum Erlaß einer Verfügung, welche dem Beamten eine bestimmte Handlung oder Unterlassung vorschreibt, oder einer Verwaltungs-Verordnung, durch die das Verhalten einer Behörde für gewisse Fälle geregelt wird; oder sie kann endlich zur Vorbereitung eines Gesetzes dienen, durch welches die Collision zwischen dem für nothwendig erachteten Verhalten der Verwaltungs-Behörden und dem bestehenden Recht beseitigt wird. Die Beaufsichtigung der Verwaltung ist an sich kein Rechts- geschäft, überhaupt kein Willensact, sondern eine geistige Thätig- keit von lediglich factischer Natur, die an sich nicht nur ohne alle Laband , Reichsstaatsrecht. II. 15 §. 68. Die Formen der Verwaltung. rechtliche Wirkung ist, sondern die überhaupt gar nicht äußerlich erkennbar zu werden braucht; welche aber die Motive für Willensacte des Staates erzeugt . Grade deshalb liegt in ihr politisch der Schwerpunkt der ganzen Verwaltungs- Thätigkeit. Im Vergleich zu ihr erscheint die unmittelbare Ge- schäftsführung der eigentlich ausführenden Unterbehörden als eine unselbstständige und in zahllosen Fällen mechanische Thätigkeit; der Erlaß von speziellen oder allgemeinen Anordnungen (Verfügun- gen und Verordnungen) an die Unterbehörden aber ist bloße Con- sequenz und Ausfluß der durch die Aufsicht gewonnenen Motive. Die Befugniß zum Erlaß solcher Anordnungen ist daher gewöhn- lich mit der Funktion, die Geschäftsführung zu beaufsichtigen, ver- bunden. Darnach kann man die Gesammtthätigkeit der Verwal- tung in zwei große Gruppen theilen; in die unmittelbare Geschäftsführung , die in der That gewöhnlich bloße Voll- ziehung der durch Gesetz oder durch Anordnungen der höheren Behörden ertheilten Verwaltungsbefehle ist, und in die Leitung und Beaufsichtigung der Geschäftsführung. Beide Gruppen von Thätigkeiten zusammen bilden erst die volle Geschäftsführung oder Verwaltung. Da die erste der beiden Gruppen von der letzteren geistig und rechtlich vollständig beherrscht wird, so kann der souveraine Staat auf die erstere verzichten, auf die letztere nicht. Er kann die un- mittelbare Geschäftsführung Gemeinden, Korporationen, Vereinen, Verbänden aller Art übertragen oder überlassen; sich selbst auf die Leitung und Beaufsichtigung ihrer Geschäftsführung beschrän- kend. Die souveraine Staatsgewalt kann in weit ausgedehntem Maaße die zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben erforderliche Thätigkeit Verbänden überlassen, die ihr zwar untergeben und gleichsam einverleibt sind, die aber eine eigene rechtliche Persön- lichkeit, eine selbstständige Willenssphäre und Willensmacht haben, die mit obrigkeitlichen Rechten ausgestattet sind und welche Ge- schäfte, die zur Realisirung staatlicher Zwecke gehören, als eigene Geschäfte führen. Eine solche Einrichtung neunt man, wie bereits oben Bd. I. §. 10. S. 101 ff. ausgeführt worden ist, Selbst- verwaltung . Ihr Wesen besteht demgemäß in einer Theilung der Verwaltungsgeschäfte zwischen Staat und Verwaltungskörper in der Art, daß dem letzteren die unmittelbare Geschäftsführung §. 68. Die Formen der Verwaltung. oder Vollziehung, dem ersteren die Normirung und Beaufsichtigung zusteht. IV. Neben der Beaufsichtigung der Geschäftsführung, welche sich innerhalb der Verwaltung selbst vollzieht und einen integriren- den Bestandtheil derselben bildet, ist die Verwaltung überdies einer mehrfachen Controlle unterworfen, welche man als indirecte bezeich- nen kann. Es ist nämlich die Gefahr vorhanden, daß die Ver- waltungsbehörden durch einseitige und rücksichtslose Verfolgung der von ihnen zu erreichenden Zwecke, andere gleichberechtigte oder noch höher stehende Interessen des Staates verletzen, insbesondere die Finanzwirthschaft oder die Rechtsordnung, sowie daß die von der Verwaltung eingeschlagene Richtung nicht im Einklang steht mit den allgemeinen Zielpunkten der Politik, welche der Staat verfolgt. Der Staat bedarf daher gegen seine eigene Verwaltung eines Schutzes, der die Schädigung dieser der Verwaltungsthätig- keit an sich fremden Interessen verhütet. Daraus ergiebt sich eine dreifache Controlle der Verwaltung: a ) Die Finanzcontrolle . Dieselbe betrifft lediglich die staatswirthschaftliche Seite der staatlichen Geschäftsführung; sie wird geführt durch die Ober-Rechnungsbehörde . Ihr liegt es ob, zu prüfen und festzustellen, ob die Rechnungen über die Einnahmen und Ausgaben der Staatskassen in Ordnung sind, ob die Verwaltungsbehörden bei der Einnahme von Staatsgeldern und bei der Verwendung des Staatsvermögens den bestehenden Vorschriften gemäß gehandelt haben, und ob die Verwaltung dem in dem Etatsgesetz aufgestellten Wirthschaftsplan gemäß geführt worden ist Das Nähere unten bei der Darstellung des Finanzrechts. . b ) Die Rechtscontrolle . Dieselbe erstreckt sich nur auf die Rechtmäßigkeit der von der Verwaltung vorgenommenen Rechts- acte; weder die Zweckmäßigkeit derselben noch die finanzielle Wir- kung derselben auf die Staatswirthschaft läßt eine Prüfung nach Rechtssätzen zu. Sie wird geführt durch die Gerichte , gleichviel ob durch die gewöhnlichen zur Handhabung der Rechtspflege ein- gesetzten Gerichtsbehörden oder durch Spezialgerichte, denen die Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitfragen übertragen ist, so- genannte Verwaltungsgerichte. Diese Controlle setzt die Erhebung 15* §. 68. Die Formen der Verwaltung. eines Streites über die Berechtigung der Verwaltung zur Vor- nahme einer Handlung, zum Erlaß eines Befehles, zur Geltend- machung eines Anspruches oder über die Verpflichtung zu einer Leistung auf dem Gebiete der Verwaltung voraus. Sie wird daher nicht wirksam, wenn sich der Gegenpart der Verwaltungs- behörde bei der rechtswidrigen Handlung oder Unterlassung be- ruhigt. Unmittelbar und formell weist sie ferner nur in dem einzelnen, dem Streit zu Grunde liegenden Falle die Verwaltungs- behörden in die vom Rechte gezogenen Schranken zurück; sie wirkt aber mittelbar über den einzelnen Fall hinaus auf die Gesammt- haltung der Verwaltungsbehörden durch die thatsächliche Macht der Präjudikate. Sie wird ergänzt und verstärkt durch die civilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten für Gesetzesverletzungen, welche ebenfalls im Wege des gerichtlichen Verfahrens geltend ge- macht wird. c ) Die politische Controlle . Dieselbe ist darauf ge- richtet, daß die Verwaltungsbehörden nicht eine Thätigkeit ent- wickeln, welche dem allgemeinen Wohle des Staates schädlich oder gefährlich werden könnte, und daß sie nicht Tendenzen verfolgen, welche der Staat als solcher nicht theilt. Diese Controlle liegt zwar in erster Reihe dem Landesherrn ob; da demselben aber die oberste Leitung der Verwaltung ohne dies zusteht, so fällt die Controlle mit der Leitung zusammen; sie wäre — getrennt von ihr gedacht — bloße Selbstcontrolle. Dagegen wird sie wirksam gehandhabt von der Volksvertretung , welche vielfache Mittel hat, die Thätigkeit der Verwaltung zu kritisiren, Mängel zu rügen, Widersprüche mit der allgemeinen Politik hervorzuheben und auf Abhülfe zu dringen. Rechtlich findet diese Controlle ihren Aus- druck und ihre Verwirklichung in der parlamentarischen Minister- Verantwortlichkeit . Die vorstehenden Erörterungen haben den Zweck, die rechtlich erheblichen Momente in der Lehre von der Staatsverwaltung klar zu legen. Sie haben gezeigt, daß die allgemein herrschende Auf- fassung, wonach die Verwaltung Ausführung oder Vollziehung der Gesetze sei, theils falsch theils ungenügend ist, und sie haben ver- sucht, die juristischen Folgerungen aus dem Grundsatz herzuleiten, §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. daß die Verwaltung Geschäftsführung sei. Es ergiebt sich aus denselben zugleich, inwiefern die Staatsverwaltung überhaupt ein Object der Rechtsw issenschaft ist. Der weitaus größte Theil der Staatsverwaltung steht dem Recht ganz fern und kann deshalb nicht in Rechtsregeln gebracht werden. Die Rechtsordnung liefert nur für einen verhältnißmäßig kleinen Theil der staatlichen Ver- waltungsthätigkeit die Motive oder bestimmt ihren Inhalt; der bedeutendste Theil der Verwaltungshandlungen ist entweder ohne allen juristischen Charakter oder er steht wenigstens nicht unter be- sonderen Rechtssätzen, sondern unter den allgemeinen Regeln des Privatrechts, Strafrechts und Proceßrechts. Eigenthümliche Rechts- sätze für die Verwaltung bestehen nur in Betreff der Ausstattung der Staatsbehörden mit Hoheitsrechten , in Betreff der Ver- theilung der Befugnisse unter die einzelnen Behörden und in Betreff der Formen und Wirkungen der zum Zwecke der Ver- waltung dienenden Rechtsgeschäfte . Daraus ergibt sich die Abgränzung des Verwaltung srechts aus dem Chaos der sogen. Verwaltung slehre und die Beantwortung der Frage, inwiefern die Verwaltungsthätigkeit des Reiches ein Gegenstand des Reichs- staatsrechts ist Daraus ergibt sich z. B., daß die Thätigkeit des Statistischen Amtes, des Gesundheits-Amts, der Seewarte und anderer mit rein wissenschaftlichen oder technischen Funktionen betrauter Aemter überhaupt gar kein Object des Staatsrechts ist; von staatsrechtlicher Bedeutung ist lediglich die Stellung dieser Aemter im Behördensystem des Reiches und das aus der Beamten- Eigenschaft der zur Besorgung der Amtsgeschäfte angestellten Personen sich er- gebende Rechtsverhältniß derselben. Diese beiden Lehren sind bereits im ersten Bande §§. 32 ff. erörtert worden. . §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. Der im vorstehenden Paragraphen entwickelte Unterschied zwi- schen unmittelbarer Geschäftsführung und beaufsichtigender Ver- waltung ist für das Verhältniß von Reichsverwaltung und Staats- verwaltung entscheidend. Die Gesammtmasse der zur Erreichung der staatlichen Aufgaben erforderlichen Geschäftsthätigkeit zerfällt dadurch in drei große Theile, welche staatsrechtlich von einander geschieden sind. Diese Scheidung ist für das Verhältniß des Reiches zu den Einzelstaaten von hervorragender Bedeutung und auf ihr §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. beruht die juristische Eigenthümlichkeit der Reichsverwaltung. Der eine Theil wird von denjenigen Zweigen der Verwaltungsthätig- keit gebildet, welche den Einzelstaaten vollständig überlassen sind, so daß ihnen Geschäftsführung und Beaufsichtigung zusteht. Die zweite Gruppe umfaßt diejenigen Verwaltungsgebiete, welche unter Einzelstaat und Reich vertheilt sind, so daß den Einzelstaaten die unmittelbare Geschäftsführung (Selbstverwaltung), dem Reich die oberste Leitung und Beaufsichtigung zugewiesen ist. Die dritte Masse endlich besteht aus denjenigen Ressorts, welche das Reich vollständig verwaltet, so daß ihm nicht nur die Controlle, sondern auch die unmittelbare Geschäftsführung obliegt. Als der Norddeutsche Bund gegründet wurde, waren die Deutschen Staaten souverän, also in ihrer auf die Erfüllung der staatlichen Aufgaben gerichteten Thätigkeit rechtlich vollkommen un- abhängig. Durch die Errichtung des Bundesstaates unterwarfen sie sich einer Oberstaatsgewalt, welcher die Befugniß zur Gesetz- gebung für einen großen Kreis staatlicher Angelegenheiten zuge- wiesen wurde. Die rechtlichen Normen für die Regierungsthätig- keit der Einzelstaaten konnten von jetzt ab den letzteren von einer über ihnen stehenden Gewalt vorgeschrieben werden; damit aber diese Gesetzgebung nicht wirkungslos und unbeachtet bleibe, mußte die Verwaltungsthätigkeit der Einzelstaaten der Aufsicht der Cen- tralgewalt unterstellt werden. Es war dies nicht nur deshalb erforderlich, damit die Regie- rungen und Behörden der einzelnen Staaten zur Beobachtung der reichsgesetzlichen Vorschriften genöthigt werden, sondern auch des- halb, damit die Gesetzgebung des Reiches auf die bei der Ver- waltungsthätigkeit der Einzelstaaten hervortretenden Bedürfnisse und Mängel, auf die dabei gesammelten Erfahrungen und ent- standenen Gebräuche Rücksicht nehmen könne, da die Verwaltung, wie oben S. 210 fg. ausgeführt worden ist, auch eine rechtsbildende Bedeutung hat. Die Geschäftsführung selbst aber ist den Einzel- staaten verblieben; dem politischen Bedürfniß war genügt, wenn die Verwaltung nur nach gleichen Regeln und nach übereinstim- menden Zielen geführt wurde. Nur einige Verwaltungszweige sind speziell ausgenommen; bei ihnen ist dem Reiche auch die Geschäfts- führung zugewiesen worden. Soweit dagegen die gesetzliche Regelung gewisser Angelegen- §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. heiten der Autonomie der Einzelstaaten überlassen blieb, war auch keine politische oder staatsrechtliche Nothwendigkeit vorhanden, ihre Verwaltungsthätigkeit der Ueberwachung oder Leitung Seitens des Reiches zu unterwerfen. Die Reichsverfassung hat im Eingange des Art. 4 diese Grund- sätze anerkannt: „Der Beaufsichtigung Seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten.“ Es ist hierin die Congruenz der Gesetzgebungs-Kompetenz und der Verwaltungs-Kompetenz des Reiches ausgesprochen und die Ver- waltungsthätigkeit des Reiches ausdrücklich auf die Beaufsichtigung beschränkt. Hinsichtlich einzelner Angelegenheiten ist dann in den späteren Artikeln der Reichsverfassung oder in besonderen Reichsge- setzen dem Reiche auch die unmittelbare Geschäftsführung ganz oder theilweise übertragen worden. Es sind dies Ausnahmen, während Art. 4 das allgemeine Prinzip aufstellt. Ergänzt werden diese Regeln durch den Grundsatz, daß den, bei ihrem Eintritt in den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich souverainen, im Voll- besitze der staatlichen Gewalt befindlichen Staaten alle diejenigen Rechte verblieben sind, welche nicht durch die Verfassung oder durch verfassungsmäßig erlassene Gesetze ihnen entzogen worden sind. Hieraus ergeben sich drei Rechtsgrundsätze: 1. Alle Angelegenheiten, welche der Autonomie der Einzel- staaten unterliegen, bilden das Gebiet der vollen und freien Ver- waltung derselben. 2. Die Verwaltungs-Kompetenz des Reiches erstreckt sich auf dieselben staatlichen Angelegenheiten, welche der Gesetzgebung des Reiches unterstellt sind. Diese Kompetenz umfaßt aber regelmäßig nur die Beaufsichtigung und die damit nothwendig verbundene oberste Leitung der Verwaltung, während die unmittelbare Ge- schäftsführung den Einzelstaaten verblieben ist. 3. Die volle Verwaltung steht dem Reiche nur ausnahmsweise zu hinsichtlich derjenigen Angelegenheiten, welche durch besondere Gesetzes-Anordnung der Verwaltung des Reiches überwiesen sind oder nach der Natur der Sache ihr zufallen müssen, wie z. B. die Verwaltung des Aktiv- und Passivvermögens des Reichsfiskus. I. Die freie Verwaltung der Einzelstaaten . Dieselbe bildet keinen Gegenstand des Reichsstaatsrechts, son- §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. dern des Staatsrechts der einzelnen Staaten. Sie wird von dem Willen der Einzelstaaten beherrscht und geregelt. Dessenungeachtet würde es ganz unhaltbar sein, die Einzelstaaten hinsichtlich dieser Thätigkeit für souverain zu erachten und sonach eine Theilung der Souverainetät zwischen Reich und Einzelstaat anzunehmen. Es ist dies bereits bei der Erörterung des Bundesstaatsbegriffes Bd. I. S. 74 und 105 hervorgehoben worden und findet hier seine nähere Ausführung und Bestätigung. Verwaltungs-Befehle können auf diesen Gebieten staatlichen Lebens den Einzelstaaten vom Reiche allerdings nicht ertheilt werden, weder in der Form der Verord- nung noch in der des Reichsgesetzes; eine positive Thätigkeit kann das Reich den Einzelstaaten nicht vorschreiben und noch weniger die Art und Weise anordnen, wie diese Thätigkeit vollzogen wer- den soll. Da aber die Verwaltung eine Thätigkeit innerhalb der bestehenden Rechtsordnung ist, da die Handlungen und Rechtsge- schäfte der Verwaltungsbehörden hinsichtlich ihrer Zulässigkeit, Gül- tigkeit und Wirkung in vielen Fällen nach den Regeln des Privat- rechts, Strafrechts und Processes zu beurtheilen sind, diese Rechts- regeln aber vom Reiche erlassen werden können und zum großen Theile von demselben bereits erlassen worden sind, so befindet sich der Einzelstaat in Bezug auf seine Verwaltungsthätigkeit nicht innerhalb einer von ihm selbst aufgerichteten, sondern innerhalb einer ihm von einer höheren Macht gegebenen Rechtsordnung. Handlungen und Rechtsgeschäfte, welche das vom Reich gegebene Recht verbietet oder für unwirksam erklärt, können die Regierungen der Einzelstaaten auch auf den ihnen überlassenen Verwaltungs- Gebieten nicht mit rechtlicher Wirkung vornehmen. Soweit die Thätigkeit der Verwaltungsbehörden Ausführung oder Vollziehung staatlicher Befehle ist, haben die Behörden hinsichtlich dieser Ange- legenheiten nicht Befehle des Reiches, sondern Befehle ihres Staates zu vollführen; insoweit die Verwaltung aber die Entfaltung der staatlichen Handlungsfreiheit innerhalb der Rechtsschranken ist, kommen auf dieselbe nicht nur die Landesgesetze, sondern in erster Reihe die Reichsgesetze zur Anwendung. II. Die beaufsichtigende Verwaltung des Reiches . 1. Die Controlle des Reiches hat den Zweck, darüber zu wachen, daß die vom Reiche aufgestellten Rechtsregeln von den §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. Regierungen der Einzelstaaten nicht verletzt werden. Sie bestimmt also nicht positiv die Thätigkeit der Einzelstaaten; die Initiative der Geschäftsführung ist den letzteren übertragen. Dem Reiche steht aber die Gesetzgebung zu und hier wird der schon öfters hervorgehobene Doppelsinn des Wortes Gesetz von größter Wichtig- keit. Das Reichsgesetz kann nicht nur einen Rechtsbefehl sondern auch einen Verwaltungsbefehl enthalten, oder mit andern Worten: es kann nicht nur eine Rechtsregel sanctioniren, sondern auch den Einzelstaaten Handlungen anbefehlen. In zahlreichen Gesetzen des Reiches ist dies geschehen und in allen diesen Fällen ist die Ge- schäftsführung der Einzelstaaten Vollziehung oder Ausführung des Reichsgesetzes. Hier tritt der Gegensatz zwischen der freien Ver- waltung und der Selbstverwaltung der Einzelstaaten zu Tage; die erstere ist nur negativ beschränkt durch die reichsgesetzliche Rege- lung der Rechtsordnung, die letztere ist positiv bestimmt und mit speziellen Aufgaben erfüllt durch die in der Form des Reichsge- setzes ergangenen Verwaltungsbefehle. 2. Aber nicht nur in der Form des Gesetzes, sondern auch in der Form der Verordnung kann das Reich Verwaltungs- befehle erlassen. Die in einem Reichsgesetze vorgeschriebene oder erforderte Thätigkeit der Bundesstaaten kann hinsichtlich des De- tails eine nähere Regelung finden. Das Reich kann den Einzel- staaten Instructionen oder Belehrungen ertheilen, in welcher Art, Richtung, Form, Umfang sie das Reichsgesetz zur Ausführung zu bringen haben und diese Instructionen sind für die Einzelstaaten verbindliche Befehle. Nach Art. 7 Z. 2 der R.-V. hat der Bun- desrath zu beschließen „über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtun- gen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist.“ Dieses im Art. 7. Abs. 2 der R.-V. dem Bundesrathe beigelegte Recht, Verwaltungs-Verordnungen zu erlassen, ist wohl zu unter- scheiden von der Befugniß, Rechtsregeln im Verordnungswege zu sanctioniren, d. h. Ausführungs-Gesetze zu geben. Vrgl. oben §. 59. S. 70 ff. Während eine Rechtsverordnung immer nur auf Grund besonderer gesetzlicher Ermächtigung (Delegation) gültig er- lassen werden kann, ist der Bundesrath durch die Verfassung selbst mit dem Verwaltungs-Verordnungs-Recht ausgestattet. Nur wenn dasselbe dem Bundesrath entzogen und entweder dem Kaiser, dem §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. Reichskanzler oder einer andern Reichsbehörde oder den Einzel- staaten übertragen werden soll, muß dies durch spezielle reichsge- setzliche Anordnung erfolgen. Die Beschlußfassung über die Ver- waltungs-Verordnungen erfolgt nach den in den Art. 6 u. 7 der R.-V. gegebenen Regeln. Die Zustimmung des Präsidiums zur Abänderung bestehender Vorschriften oder Einrichtungen ist nach Art. 37 der R.-V. nur bei denjenigen Verwaltungs-Verordnungen erforderlich, welche zur Ausführung der gemeinschaftlichen Zoll - und Steuergesetzgebuug dienen (Art. 35). Für das Heer- wesen und die Kriegs-Marine ist dieses Sonderrecht entbehrlich wegen der im Art. 63 und im Art. 53 der R.-V. dem Kaiser eingeräumten Befugnisse, welche das Recht des Bundesrathes, Verwaltungsvorschriften zu erlassen, überhaupt sehr wesentlich be- schränken und in der Hauptsache ausschließen Art. 5 Abs. 2 erkennt dieses Recht des Präsidiums bei Gesetzes - Vorschlägen an; mithin kann ohne Zustimmung des Präsidiums auch kein Ge- setz zu Stande kommen, welches das Recht, Ausführungsgesetze zu erlassen oder in die dem Kaiser nach Art. 53 u. Art. 63 zustehenden Verwaltungsbe- fugnisse einzugreifen, dem Bundesrath überträgt. . Ueberdies ist in dem Kriegsdienstgesetz vom 9. Nov. 1867, §. 18, dem Militairgesetz v. 2. Mai 1874 §. 71, dem Landsturm- gesetz v. 12. Februar 1875 §. 8, dem Militair-Kontrollgesetz vom 15. Febr. 1875 §. 8 dem Kaiser der Erlaß der erforderlichen Ausführungsbestimmungen ausdrücklich übertragen worden. Die vom Bundesrathe auf Grund des Art. 7 Abs. 2 erlasse- nen Vorschriften haben niemals die Kraft von Rechtssätzen, son- dern sind lediglich Instruktionen oder Anweisungen für die Regie- rungen und deren Behörden. Sie sind daher nur für die Amts- führung der letzteren verbindlich, nicht für Dritte; namentlich be- gründen sie keine Verpflichtungen der einzelnen Reichsangehörigen und ebenso wenig können sie dieselben wirksam mit Strafen be- drohen. Die Verwaltungs-Verordnungen des Bundesrathes be- dürfen aus demselben Grunde keiner Publikation; sie werden viel- mehr den Einzelregierungen mitgetheilt (behändigt), welche für die weitere Mittheilung an die Landesbehörden Sorge zu tragen ha- ben Die Ausführung der vom Bundesrath beschlossenen Verwaltungsver- ordnungen liegt zunächst den Regierungen der Bundesstaaten ob, welche . Soweit der Inhalt etwa für das Publikum von Interesse §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. ist, kann eine öffentliche Bekanntmachung erforderlich und in der Bundes-Verordnung selbst den Einzelregierungen vorgeschrieben sein; aber eine solche Bekanntmachung ist etwas durchaus Anderes als die Verkündigung eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung. Ebenso hat die Veröffentlichung von Verwaltungs-Verordnungen des Bundesrathes im Centralblatt des Deutschen Reiches keine andere Bedeutung, wie sie etwa dem Abdruck der Erkenntnisse des Reichs-Oberhandelsgerichts in den von Räthen desselben herausge- gebenen „Entscheidungen“ zukömmt. 3. Die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze steht dem Kaiser zu (R.-V. Art. 17). Er übt diese Ueberwachung aus durch den Reichskanzler und die demselben unterstellten ober- sten Behörden des Reiches oder durch Kommissare. Das Recht der Ueberwachung enthält die Befugniß, von der Geschäftsführung der Einzelstaaten eine vollkommene und eingehende Kenntniß zu nehmen und zu diesem Zwecke den Behörden der Einzelstaaten entweder Kommissare des Reiches beizuordnen, wie dies auf dem Gebiete der Zoll- und Steuerverwaltung geschieht, oder von den Bundesregierungen Berichte zu erfordern. Dem Recht des Kaisers zur Ueberwachung der Bundesregierungen entspricht die Pflicht der Bundesregierungen zur Berichterstattung an die Reichs- Regierung . Es ist selbstverständlich, daß auch jedes andere er- laubte Mittel, um von der Thätigkeit der Bundesregierungen zur Ausführung der Reichsgesetze Kenntniß zu erlangen, neben der Berichterstattung anwendbar ist. Findet der Kaiser d. h. sein Minister, der Reichskanzler, daß die Ausführung eines Reichs- gesetzes mangelhaft oder unrichtig ist, so steht ihm die Befugniß zu, die betreffende Regierung darauf aufmerksam zu machen und sie zur Abhülfe aufzufordern. Wenn die Regierung des Einzel- staates aber das von ihr und ihren Behörden eingehaltene Ver- fahren für dem Reichsgesetz gemäß erachtet, und der von der Reichs- regierung dem Gesetz gegebenen Auslegung widerspricht, so hat der Bundesrath den Streit zu entscheiden. Es ist dies, wie Bd. I. S. 255—261 ausgeführt worden ist, der Sinn der Bestimmung dieselbe dadurch bewirken, daß sie die Landesbehörden des betreffenden Res- sorts mit den erforderlichen Verfügungen (Verordnungen) versehen. Es ist dies wenigstens vom Bundesrath selbst wiederholt und ohne Widerspruch anerkannt worden. Vgl. z. B. Protokoll 1875 §. 124 S. 111. §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. in Art. 7. Z. 3 der R.-V.: „Der Bundesrath beschließt über Mängel , welche bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der vorstehend erwähnten Vorschriften oder Einrichtungen hervortreten.“ 4. Die unmittelbare Verwaltung ist Sache der Einzelstaaten. Sie führen dieselbe nicht kraft Auftrages des Reiches oder als Organe desselben, sondern kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen. Aus diesem Grundsatze ergeben sich drei wichtige Folge- rungen: a ) Die Verträge , welche die Behörden der Einzelstaaten bei Gelegenheit dieser Geschäftsführung abschließen, verpflichten und berechtigen nicht den Reichsfiskus, sondern den Landesfiskus. Es kann wohl sein, daß die Verwaltungsgeschäfte für Rechnung des Reiches geführt werden, wie z. B. die Militair-Verwaltung und in beschränktem Maaße die Zollverwaltung, so daß dem Landesfiskus die von ihm gemachten Zahlungen aus der Reichs- kasse erstattet werden; dem Dritten gegenüber ist aber der Landes- Fiskus zur Erfüllung obligirt, da nicht im Namen und in Stell- vertretung des Reiches, sondern im Namen des Gliedstaates con- trahirt worden ist. Für die Frage nach der Proceßlegitimation und dem Gerichtsstande bei Klagen aus einem solchen Vertrage ist dies von sehr großer Bedeutung. b ) Die obrigkeitlichen Verfügungen sind nicht Aeuße- rungen oder Bethätigungen der Reichsgewalt, sondern der Staats- gewalt der Bundesglieder. Sie stehen demnach, soweit nicht durch Reichsgesetz besondere Vorschriften ergangen sind, unter den staats- rechtlichen Regeln des Einzelstaates; insbesondere hinsichtlich der Amtsgewalt (Kompetenz) der einzelnen Behörden, hinsichtlich der Formen, unter denen die Verfügungen zu erlassen sind, in Betreff der gegen sie zulässigen Beschwerden, über die Folgen der Nicht- beobachtung des in der Verfügung ertheilten Befehles u. s. w. c ) Die Leitung der Verwaltung steht den Centralbehör- den der Einzelstaaten zu, nicht dem Reiche. Die einzelnen, mit der unmittelbaren Verwaltungsthätigkeit betrauten Behörden sind Landesbehörden; sie empfangen ihre Befehle und Instruktionen von den Landesregierungen und in letzter Stelle von den Landes- herren Vrgl. Bd. I. S. 400. . Die Reichsregierung kann ihnen unmittelbar keine §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. Handlungen oder Unterlassungen anbefehlen; sie kann sich nur an die Regierung des Einzelstaates wenden und sie auffordern, für die Befolgung der vom Reiche erlassenen Anordnungen Sorge zu tragen und die Landesbehörden dazu anzuhalten. Das Reich kann daher die von den Behörden der Einzelstaaten erlassenen Verfü- gungen weder aufheben oder abändern, noch gegen die Beamten einschreiten, sondern es kann nur auf Grund des Art. 19 der R.-V. gegen das Bundesglied wegen Nichterfüllung seiner ver- fassungsmäßigen Pflichten die Exekution vollstrecken. Denn der Einzelstaat, welcher die Verletzung reichsgesetzlicher Anordnungen durch seine Behörden stillschweigend duldet oder ausdrücklich ge- nehmigt, verletzt seine Gehorsamspflicht gegen das Reich; der Landesbeamte dagegen, welcher in seiner amtlichen Thätigkeit gegen die Reichsgesetze verstößt, verletzt dadurch seine Dienstpflicht gegen den Einzelstaat, welchem er angehört. 5. Aus diesen Erörterungen ergiebt sich zugleich die Entscheidung der Frage nach der Verantwortlichkeit für die hier in Rede stehenden Verwaltungsgeschäfte. Die unmittelbare, ausführende und leitende Verwaltung ist ein Geschäft des Einzelstaates, die Kontrolle dieser Verwaltung ein Geschäft des Reiches. Demgemäß ist der Reichskanzler dem Kaiser und dem Reichstage dafür ver- antwortlich, daß er diese Kontrolle pflichtgemäß und mit der er- forderlichen Sorgfalt und Umsicht handhabt; die Minister der Ein- zelstaaten dagegen sind ihren Landesherren und Landtagen gegen- über verantwortlich für die gesetzmäßige und zweckentsprechende Führung der unmittelbaren Verwaltung Vgl. Bd. I. S. 312. . Daß die Gesetze, welche diese Verwaltung regeln, Reichsgesetze sind, ändert hieran Nichts. Denn einerseits kann den Reichskanzler keine Verantwortlichkeit treffen für Handlungen, welche er weder zu befehlen noch zu ver- bieten im Stande ist, andererseits beschränkt sich die Verantwort- lichkeit der Minister der Einzelstaaten nicht auf die Beobachtung der Landesgesetze, sondern sie bezieht sich auf die geltenden Gesetze überhaupt, also in erster Reihe gerade auf die den Landesgesetzen vorgehenden Reichsgesetze. §. 69. Reichsverwaltung und Staatsverwaltung. III. Die unmittelbare Reichsverwaltung . Die für die unmittelbare Reichsverwaltung geltenden allge- meinen Regeln ergeben sich aus der Vergleichung mit den für die aufsichtführende Verwaltung entwickelten Grundsätzen von selbst. 1. Das Reich hat die Befugniß zur Gesetzgebung und kann demgemäß unter Benutzung der Gesetzesform der Verwaltungs- thätigkeit der Behörden bestimmte Aufgaben zuweisen, Handlungen vorschreiben u. s. w., mit einem Worte die obersten Verwaltungs- befehle ertheilen. 2. Das Reich hat ferner die Befugniß, allgemeine Verwal- tungsvorschriften zu erlassen und Einrichtungen zum Zweck der Verwaltungsthätigkeit zu treffen. Dieselben Regeln, welche oben über die Verwaltungs-Verordnungen des Bundesrathes ausgeführt worden sind, finden auch hier vollkommene Anwen- dung. 3. Das Reich hat die Befugniß, die erforderlichen obrig- keitlichen Verfügungen zu erlassen. Sofern dieselben inner- halb der den Reichsbehörden zustehenden Kompetenz ergangen sind, haben sowohl die Behörden der Einzelstaaten wie die einzelnen Angehörigen des Reiches die Pflicht, ihnen Gehorsam zu leisten. Die von den Reichsbehörden im Betriebe ihrer Berwaltungsge- schäfte abgeschlossenen Verträge berechtigen und verpflichten den Reichsfiskus. Alle mit der Verwaltungsthätigkeit verbundenen Ausgaben und Einnahmen erfolgen für Rechnung des Reiches. 4. Die Leitung der amtlichen Thätigkeit der Verwaltungs- hehörden steht dem Reichskanzler und den ihm unterstellten Cen- tralbehörden des Reiches zu. Die unmittelbar ausführenden Be- hörden sind den dienstlichen Befehlen und Verwaltungs-Vorschriften ( leitenden Verfügungen ) der vorgesetzten Behörden, wofern sie innerhalb der Kompetenz derselben erlassen sind, Gehorsam schuldig. Die Verantwortlichkeit für die Geschäftsführung der Reichs-Verwaltungs-Behörden lastet deshalb auf dem Reichskanzler. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Zweiter Abschnitt . Die einzelnen Verwaltungszweige. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten umfaßt die gesammte Thätigkeit des Reiches, um die Rechte und Interessen desselben anderen Staaten gegenüber oder die Rechte und Interes- sen von Deutschen Reichs-Angehörigen im Auslande zu wahren. Diese Thätigkeit wird theils von dem Auswärtigen Amte in Berlin, also im Inlande, theils von den Gesandtschaften und Konsulaten im Auslande selbst geleistet. Für Gesandtschaften und Konsulate bestehen aber so verschiedene Rechtsvorschriften, daß eine getrennte Behandlung dieser beiden Zweige des Ressorts der auswärtigen Angelegenheiten geboten ist Ueber den Unterschied zwischen den Funktionen der Gesandtschaften und denjenigen der Konsulate vgl. besonders F. Martens , das Consular- wesen im Orient (Berlin 1874) S. 25 ff. . Im Allgemeinen sind die Rechte der diplomatischen Vertreter und Agenten durch Regeln des Völker- rechts und durch die Gebräuche des internationalen Verkehrs be- stimmt; staatsrechtliche Grundsätze finden nur in sehr beschränktem Maaße Anwendung. Die Lehre von den Voraussetzungen und Wirkungen völkerrechtlicher Verträge hat juristisch mit der Ver- waltung der auswärtigen Angelegenheiten Nichts zu thun, wenn- gleich die Führung der Verhandlungen über den Abschluß und die Erfüllung dieser Verträge zu dem Geschäftskreise des Auswär- tigen Amtes gehört. I. Gesandtschaften Literatur: A. Miruß , das Europäische Gesandtschaftsrecht. 2 Ab- theilungen Leipzig 1847 (die zweite Abtheilung enthält ein sehr ausführliches Literaturverzeichniß); L. Alt , Handbuch des Europäischen Gesandtschaftsrechtes. Berlin 1870. Beide Werke betreffen nur die völkerrechtliche Seite dieser Lehre und das Gesandtschafts-Ceremoniell; staatsrechtliche Fragen werden in den- selben gar nicht berührt. Dasselbe gilt von dem trefflichen Werk des Baron Karl v. Martens , Le Guide diplomatique (5. Aufl. herausgegeben von . 1. Kompetenz des Reiches und der Einzelstaaten . Das aktive und passive Gesandtschaftsrecht des Reiches beruht §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. nicht auf einem Satz der Reichsverfassung, sondern auf der völker- rechtlichen Anerkennung des Reiches als politischer Körperschaft. Denn das Gesandtschaftsrecht betrifft das Verhältniß des Reiches zu anderen Staaten, kann daher nicht durch einen einseitigen Willens- akt des Reiches, durch ein nur für das Reich selbst wirksames Gesetz normirt werden. Die Reichsverfassung bestimmt vielmehr nur, durch welches Organ das Reich das ihm nach völkerrecht- lichen Grundsätzen zustehende Gesandtschaftsrecht ausübt, indem sie im Art. 11 dem Kaiser die Befugniß beilegt, „Gesandte zu be- glaubigen und zu empfangen“ und indem sie den Kaiser ermächtigt, „das Reich völkerrechtlich zu vertreten.“ Durch diese Bestimmungen wird die Verwaltung der auswär- tigen Angelegenheiten des Reiches zur unmittelbaren Reichs- verwaltung erklärt; das Reich ist nicht darauf beschränkt, den di- plomatischen Verkehr der Einzelstaaten zu überwachen und gesetzlich zu regeln, sondern es hat seine eigene diplomatische Vertretung; die Wahrnehmung der internationalen Beziehungen ist dem Kaiser und seinem Minister, dem Reichskanzler übertragen. Aber der Art. 11 der R.-V. überträgt dem Kaiser nicht das ausschließliche Gesandtschaftsrecht; er enthält kein Verbot für die Einzelstaaten, mit fremden Staaten einen diplomatischen Ver- kehr zu erhalten und Gesandte zu entsenden oder zu empfangen. Hieraus folgt, daß auch die einzelnen Bundesglieder das aktive und passive Gesandtschaftsrecht ausüben können, wofern fremde Staaten den diplomatischen Verkehr mit ihnen fortzusetzen geneigt sind. Das Gesandtschaftsrecht der Einzelstaaten hat überdies eine ausdrückliche Anerkennung gefunden in dem Schlußprotokoll zu dem Bayrischen Bündniß-Vertrage v. 23. Nov. 1870 Art. VII. u. VIII. und diese Bestimmungen haben eine auch die übrigen Bundesglie- der betreffende Bedeutung, da sie über das Verhältniß des Ge- sandtschaftsrechtes des Reiches zu dem Gesandtschaftsrecht der Ein- zelstaaten positive Auskunft geben, während die Reichsverfassung über das Gesandtschaftsrecht der Einzelstaaten völlig schweigt. Geffcken . Leipzig 1866) und von Esperson , Diritto diplomatico. Vol. I. Turin 1872. Speziell mit den Verhältnissen des Deutschen Reiches beschäftigt sich der Aufsatz von Thudichum in v. Holtzendorff’s Jahrbuch IV. S. 323 ff. und der Aufsatz über die Reichsbehörden in Hartmann ’s Zeitschr. f. Ge- setzgeb. u. Praxis auf dem Gebiet des öffentl. Rechts Bd. II. (1876) S. 15 ff. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. a ) Das aktive Gesandtschaftsrecht der Bundesglieder ist mit dem des Reiches völlig konkurrirend; d. h. die Einzelstaaten sind nicht nur befugt, an den Höfen, an welchen keine Reichsgesandt- schaften bestehen, Landes-Gesandtschaften zu halten, sondern sie können neben der Reichsgesandtschaft eine Landes-Gesandtschaft errichten. Während der Art. 56 der R.-V. die Errichtung neuer Landes konsulate in dem Amtsbezirk der Deutschen Konsuln un- tersagt, erwähnen Art. VII. und VIII. ausdrücklich das Neben- einanderbestehen von Reichsgesandtschaften und Bayerischen Gesandt- schaften an denselben Höfen. Nur für Preußen ist aus thatsäch- lichen und völkerrechtlichen Gründen es nicht möglich, neben dem Reichsgesandten einen Landesgesandten zu beglaubigen, wegen der Personen-Identität des Kaisers und Königs. b ) Die Reichsgesandtschaften haben nicht nur die Rechte und Interessen der Gesammtheit, sondern auch diejenigen der Einzel- staaten und aller ihrer Angehörigen zu vertreten und wahrzuneh- men. Es gehört dies zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes, welche nach dem Eingang zur R.-V. eine Aufgabe des Bundes bildet und ist im Art. 3 Abs. 6 der R.V. anerkannt Vgl. Bd. I. S. 110. S. 150. . Es ist demgemäß die Errichtung von Landes-Gesandtschaften ent- behrlich, wo Reichsgesandtschaften bestehen, und wenn ein einzelnes Bundesglied in einem ausländischen Gebiete so erhebliche Interessen wahrzunehmen hat, daß ihm eine dauernde diplomatische Vertre- tung geboten erscheint, so kann es zunächst die Errichtung einer Reichsgesandtschaft in Anregung bringen. Für den Fall der Ab- lehnung bleibt ihm das Mittel, eine Landes-Gesandtschaft zu er- richten, vorbehalten. c ) Wenn an demselben Hofe eine Reichsgesandtschaft und eine Landesgesandtschaft besteht, so tritt zwischen beiden eine Theilung der Geschäfte ein. Die Vertretung der Sonder-Interessen des Einzelstaates, seines Souveraines und seiner Angehörigen ist zu- nächst Sache der Landesgesandtschaft und dem Reichsgesandten ent- zogen. Es ist dies in dem Bayrischen Schlußprotokoll Art. VIII. anerkannt und zwar nicht in dem dispositiven Theile desselben, welcher ein finanzielles Sonderrecht Bayerns begründet, sondern als ein thatsächlicher Erwägungsgrund, der auf alle Bundesglie- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 16 §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. der, nicht nur auf Bayern, Anwendung findet; nämlich „ in Er- wägung des Umstandes , daß an denjenigen Orten, an wel- chen Bayern eigene Gesandtschaften unterhalten wird, die Ver- tretung der Bayerischen Angelegenheiten den Bun- desgesandten nicht obliegt .“ Dem Gesandten eines Bun- desgliedes kann zugleich von einem andern Bundesgliede Voll- macht ertheilt und ihm die Vertretung auch dieser besonderen Landes-Interessen übertragen sein, so daß er wie ein gemeinschaft- licher Gesandter mehrerer Bundesglieder anzusehen ist. Das Reich hat kein Einspruchsrecht dagegen, wenn die Regierung eines Bun- desgliedes es vorzieht, die Vertretung ihrer besonderen Interessen lieber dem Gesandten eines andern Bundesgliedes als dem Reichs- gesandten zu übertragen. Zu den besonderen Angelegenheiten gehören die Beziehungen des Landesherrn und seiner Familie zu den Mitgliedern des aus- wärtigen souverainen Hauses; ferner die Interessen des Einzel- staates für alle seiner Kompetenz unterliegenden Gegenstände, ins- besondere die Förderung von Kunst und Wissenschaft, z. B. die Anschaffung von Werken für Kunstsammlungen und Bibliotheken oder die Einrichtung und Unterhaltung von Anstalten im Auslande für künstlerische oder wissenschaftliche Arbeiten; sodann Ausliefe- rungs-Anträge Vgl. Protokolle des Bundesraths 1876 §. 146 S. 104. ; endlich die Privat-Angelegenheiten der Angehö- rigen des Einzelstaates Dahin gehört insbesondere die Ausstellung von Attesten. Vgl. z. B. die Bekanntmachung v. 6. Januar 1873 betreffend die Zurückstellung der in Rußland lebenden Deutschen Militairpflichtigen. Centralblatt 1873 S. 16. . Dem Reichsgesandten liegt die Wahrnehmung derjenigen In- teressen ob, welche die Gesammtheit der Bundesglieder, das Reich als Ganzes, angehen, und die Vertretung der Sonder-Interes- sen derjenigen Bundesglieder und ihrer Angehörigen, für deren Vertretung durch eine Landesgesandtschaft nicht Sorge getragen ist. Alle Angelegenheiten, welche durch die Reichsverfassung oder durch besondere Gesetze zu gemeinschaftlichen des Reiches erklärt sind, gehören deshalb ausschließlich zu dem Geschäftskreise der Reichsgesandten Die richtigen Gesichtspunkte finden sich bei G. Meyer , Grundzüge S. 50 fg. . Dahin sind zu zählen: Alle Angelegenheiten §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. der auswärtigen Politik . Denn da das Reich allein Krieg erklären und Frieden schließen kann und der Kaiser den Ober- befehl über die Machtmittel des Reiches (Heer und Marine) hat, so ist auch die gesammte auswärtige Politik, die hiervon untrenn- bar ist, für das ganze Reich nothwendig eine einheitliche und eine für alle Bundesglieder gemeinschaftliche Angelegenheit. Dasselbe gilt von allen internationalen Handels- und Schifffahrts- Angelegenheiten und der Handels-Politik wegen der ver- fassungsmäßig anerkannten Einheit des Zollgebietes und der Han- delsmarine. Ferner gehören hierher die Angelegenheiten des Post- und Telegraphen-Wesens, die internationalen Militair- und Marine-Angelegenheiten, Niederlassungs-Verhältnisse, Freizügigkeit zwischen dem Gebiete des Reichs und dem des auswärtigen Staates, Gewerbebetrieb der Deutschen im Auslande oder der Ausländer in Deutschland, Auslieferung von Flüchtigen, sowie Unterstützung und Uebernahme hülfsbedürftiger Angehöriger, Auswanderungs- Sachen, internationale Verhandlungen über das Maaß-, Münz- und Gewichtssystem, über Patentschutz, den Schutz von Fabrik- zeichen und Waaren-Marken, über Musterschutz und Schutz des geistigen Eigenthums, über die Rechtshülfe und die Beglaubi- gung von öffentlichen Urkunden, über internationale Maßregeln der Medicinal- und Veterinärpolizei, über Angelegenheiten des Preß- und Vereinswesens; alle die Reichsfinanzen berührenden internationalen Angelegenheiten; endlich alle Angelegenheiten, welche zum Gegenstande eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen dem Deutschen Reich und dem Staat, bei dessen Souverain der Reichs- gesandte beglaubigt ist, gemacht worden sind. In allen diesen Angelegenheiten ist jede Einmischung eines Landesgesandten ohne Zustimmung des Reichsgesandten eine un- befugte; sie ist eine Ueberschreitung der den Bundesgliedern ver- bliebenen Kompetenz und kann selbst eine Verletzung der verfas- sungsmäßigen Bundespflichten sein, so daß im äußersten Falle Art. 19 der R.-V. in Anwendung gebracht werden könnte Wenn der Reichsgesandte glaubt, daß der Einfluß und die Thätigkeit eines Landesgesandten zur Geltendmachung allgemeiner Deutscher Interessen von Nutzen sein könnte, so ist eine Mitwirkung des Landesgesandten nicht nur zulässig, sondern durch die Gemeinsamkeit der Deutschen Interessen geboten und es ist dem entsprechend in dem Bayr. Schlußprotok. v. 23. Nov. 1870 . 16* §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Neben dieser ausschließlichen Kompetenz der Reichsge- sandten steht denselben eine subsidiäre oder eventuelle zu, in- dem sie die Sonder-Interessen aller Bundesglieder und die Privat- rechte aller Reichs-Angehörigen wahrzunehmen haben, wofern nicht durch eine Landesgesandtschaft für die Vertretung derselben ge- sorgt ist. d ) Aus den vorstehenden Erörterungen ergiebt sich die Folge- rung, daß wenn eine Landes gesandtschaft aufgehoben oder zeit- weilig außer Wirksamkeit getreten ist, die an demselben Hofe be- stehende Reichsgesandtschaft kraft der ihr zustehenden allgemeinen subsidiären Kompetenz ipso iure den Geschäftskreis der Landes- gesandtschaft überkömmt, ohne daß sie dazu besonders ermächtigt und beauftragt zu werden braucht; es sei denn, daß die Gesandt- schaft eines anderen Bundesgliedes mit der interimistischen Ver- tretung beauftragt und dadurch die subsidiäre Kompetenz des Reichsgesandten ausgeschlossen wird. Wenn dagegen ein Reichs - gesandter abberufen wird oder zeitweilig an der Wahrnehmung seiner Geschäfte verhindert ist, so ist ein an demselben Hofe be- glaubigter Landesgesandter nicht befugt, den Reichsgesandten zu vertreten und an Stelle desselben die zu dessen Geschäftskreise ge- hörenden Angelegenheiten zu besorgen. Er bedarf vielmehr dazu einer besonderen Vollmacht und Beauftragung des Kaisers einer- seits und der Erlaubniß seines Landesherrn zur Uebernahme die- ser Geschäfte andererseits. In dieser Beziehung ist nun in dem Bayrischen Schlußprotok. v. 23. Nov. 1870 Art. VII. festgesetzt, daß der Kaiser mit Zustimmung des Königs von Bayern den Königl. Bayerischen Gesandten an den Höfen, an welchen solche beglaubigt sind, Vollmacht ertheilen werde, die Reichsgesandten in Verhinderungsfällen zu vertreten. Ohne Zustimmung Bayerns darf daher an den Höfen, an welchen Bayerische Gesandte beglaubigt sind, der Gesandte eines andern Staates mit der Vertretung des Reichsgesandten nicht beauftragt werden. e ) Hinsichtlich des passiven Gesandtschaftsrechts bestehen völlig analoge Rechtssätze. Die Landesherren der zum Reiche gehörenden Staaten haben das unbeschränkte Recht, Gesandte auswärtiger Abs. 2 von Seiten Bayerns die Zusicherung ertheilt worden, daß die Baye- rischen Gesandten angewiesen sein würden, in einem solchen Falle den Reichs- gesandten ihre Beihülfe zu leisten. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Staaten zu empfangen; sie dürfen aber mit denselben nur über die besonderen Angelegenheiten ihres Landes und Hauses, dagegen über die gemeinsamen Angelegenheiten des Reiches nur mit Wissen und Willen des Kaisers, resp. Reichskanzlers, Verhandlungen führen. 2. Amtsgeschäfte . Die Gesandten und die bei Gesandtschaften verwendeten Be- amten haben obrigkeitliche Rechte der Natur der Sache nach in der Regel nicht auszuüben, da ihre Thätigkeit im Auslande, also außerhalb des Herrschafts-Gebietes des Reiches sich vollzieht Allenfalls kann man eine Ausnahme erblicken in der Befugniß der Ge- sandten zur Beglaubigung von Vollmachten, welche Inländer im Auslande ausstellen. Vgl. darüber Anhang §. 46 zum Preuß. Allg. Landr . (zu I. 13 §. 117). Preuß. Cab.-Ordre v. 11. Nov. 1829 (Ges.-Samml. 1830 S. 2). Ueber die Ertheilung der Ermächtigung zur Vornahme von Ehe- schließungen und zur Beurkundung von Geburts- und Todesfällen vgl. unten S. 254. Ihre Befugniß, öffentliche Urkunden, welche in dem Staate ihrer Residenz ausgestellt sind, zu legalisiren, ist in der Civilproc.-Ordn . §. 403 anerkannt. . Verfügungen, durch welche Handlungen oder Unterlassungen anbefohlen werden, können Gesandte demnach nicht erlassen, da sie nicht in der Lage sind, die Befolgung ihrer Befehle zu erzwingen. Aber auch im Uebrigen ist ihre Thätigkeit durch Rechtssätze nicht geregelt. Bei keinem Zweige der gesammten Staatsverwal- tung tritt die Freiheit derselben von gesetzlichen Vorschriften deut- licher vor Augen als bei der Verwaltung der auswärtigen An- gelegenheiten; dieselbe ist an keinem Punkte Ausführung von Gesetzen, sondern sie ist durchweg vom freien Ermessen, von Er- wägungen der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit geleitet. Je weni- ger aber das Gesetz die Thätigkeit der Gesandten regelt, desto be- deutungsvoller wird die Leitung dieser Thätigkeit durch die vor- gesetzte Behörde, also durch den Reichskanzler. Die strenge Ge- horsamspflicht gegen dienstliche Befehle, die vollkommene Beherrschung der Thätigkeit der einzelnen Beamten durch den leitenden Chef, also die strenge Ordnung innerhalb des Verwaltungs-Apparats ist das Correlat der Ungebundenheit dieser Verwaltung als Gan- zes. Das Auswärtige Departement steht in dieser Hinsicht unter allen Verwaltungszweigen dem Militair-Wesen am nächsten. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Die Thätigkeit der Gesandten wird demnach geregelt durch die Instruktionen oder Anweisnngen , welche der Reichskanzler ihnen ertheilt. Außer der möglichst getreuen und geschickten Aus- führung derselben liegt den Gesandten ferner ob die zuverlässige und wahrheitsgetreue Berichterstattung an den Reichskanzler sowohl über die Ausführung der ihnen aufgetragenen Geschäfte als auch über alle Verhältnisse, deren Kenntniß für das Aus- wärtige Amt von Werth sein kann. Im Zusammenhange mit dieser strengen Centralisation des auswärtigen Dienstes steht der Grundsatz, daß die Gerichts- und Verwaltungsbehörden in der Regel nicht direct mit den Gesandtschaften in Schriftwechsel treten und deren Dienste beanspruchen dürfen, sondern daß alle Requi- sitionen durch Vermittelung des Auswärtigen Amtes erledigt wer- den müssen Preuß. Minist.-Rescript v. 16. September 1844 (Justiz-Minist.-Bl. S. 207 ff.) und v. 8. Juli 1852 (Justiz-Minist.-Bl. S. 275). — Allgemein ist der Grundsatz bereits ausgesprochen in der Verordn. über die Verfassung der Staatsbehörden v. 27. Oktob. 1810 (Preuß. Ges.-Samml. 1810 S. 22). . Da die amtliche Thätigkeit der Gesandten nicht durch Gesetze, sondern lediglich durch die Dienstordnung geregelt ist, so ist die treue, zuverlässige und vollständige Erfüllung der Dienstpflicht und der Gehorsam gegen die Instruktionen und anderen dienstlichen Befehle der vorgesetzten Behörde in diesem Dienstzweige rechtlich besonders geschützt und zwar durch folgende Sätze: a ) Alle diplomatischen Agenten können durch kaiserliche Ver- fügung jederzeit mit Gewährung des gesetzlichen Wartegeldes einst- weilig in den Ruhestand versetzt werden Reichsges. v. 31. März 1873 §. 25. Vgl. Bd. I. S. 481 ff. . Dadurch ist der Re- gierung ein Mittel gegeben, auch in denjenigen Fällen, in welchen weder ein disciplinarisches noch ein strafrechtliches Verfahren ein- geleitet werden kann, diplomatische Agenten ihrer Dienstfunctionen zu entheben. b ) Gefängniß oder Geldstrafe bis zu 5000 Mark trifft einen mit einer auswärtigen Mission betrauten oder bei einer solchen beschäftigten Beamten, welcher den ihm durch seinen Vor- gesetzten amtlich ertheilten Anweisungen vorsätzlich zuwider- handelt, oder welcher in der Absicht, seinen Vorgesetzten in dessen §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. amtlichen Handlungen irre zu leiten, demselben erdichtete oder ent- stellte Thatsachen berichtet Reichs-Strafgesetzb. §. 353 a Abs. 2 (Nov. vom 26. Febr. 1876). Vgl. hierzu Meves in Holtzendorff’s Handb. d. D. Strafr. IV. S. 346 ff. . Für die Gesandten und anderen Missionschefs ist der Reichs- kanzler oder der ihn vertretende Staatssekretair im Auswärtigen Amte der „Vorgesetzte“, für das übrige Gesandtschafts-Personal ist der Missionschef der unmittelbare Vorgesetzte Vgl. auch R.-G.-Bl. v. 1874 S. 138. III. A. S. 141. Die Behaup- tung von Oppenhoff , Strafgesetzbuch (5. Ausg. 1876) Note 2 zu §. 353 a , daß unter dem Vorgesetzten nur der Chef des Auswärtigen Amtes zu verstehen sei, widerspricht dem Wortlaut des Gesetzes und ist durch Nichts begründet. . Nicht jeder Ungehorsam eines im Gesandtschafts-Dienste an- gestellten Beamten fällt unter diese Strafsatzung wie dies in dem ursprünglichen Regierungs-Entwurf vorgeschlagen worden war (Drucks. des Reichstages 1875/76 Nro. 54). , sondern nur die „vorsätzliche Zuwiderhandlung“. Von dem Thatbestande des Landesverrathes aber unterscheidet sich das im §. 353 a normirte Vergehen dadurch, daß bei dem Landesverrath die Absicht erfor- derlich ist, das Wohl des Deutschen Reiches zu gefährden oder ein Staatsgeschäft zum Nachtheil des Reiches zu führen (R.-St.- G.-B. §. 92), während der §. 353 a nur den Vorsatz verlangt, dem amtlichen Befehle des Vorgesetzten zuwider zu handeln, mag dies auch vielleicht in der Meinung geschehen, das Wohl des Rei- ches dadurch zu fördern. Der §. 353 a sichert den „diplomatischen Gehorsam“ in einer ähnlichen, wenngleich weniger strengen Art, wie die Anordnungen des Militair-Strafgesetzbuches den militäri- schen Gehorsam sichern. 3. Leitung der Thätigkeit . Die oberste Leitung des gesammten diplomatischen Dienstes der Gesandtschaften steht dem Kaiser ganz selbstständig zu. Man kann dieses Recht des Kaisers als den diplomatischen Oberbefehl dem ihm gebührenden militairischen Oberbefehl an die Seite stellen. Beide sind durch Gesetze nicht geregelt, sondern nach seinem per- sönlichen Ermessen zu handhaben. a ) Dem Bundesrath steht keinerlei Mitwirkung zu, weder bei der Ernennung und Abberufung von Gesandten noch bei der Ertheilung von Instruktionen an dieselben. Namentlich hat der §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Bundesraths-Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten keinen Antheil an der Verwaltung Vgl. Bd. I. S. 248 ff. . Nur soweit es sich um die Er- richtung von neuen oder um die Einziehung von bestehenden Ge- sandtschaften handelt, ist dem Bundesrathe und dem Reichstage durch das Budgetrecht indirect eine Mitbestimmung gesichert. b ) Der Reichskanzler ist verpflichtet, bei allen wichtigeren Geschäften des auswärtigen Dienstes deu Befehl Sr. Majestät einzuholen. Maaßgebend dafür sind die in der Preuß. Verord- nung vom 27. Oktober 1810 über die Verfassung der Staatsbe- hörden enthaltenen Vorschriften Preuß. Ges.-Samml. v. 1810 S. 3 ff. bes. S. 20. . Nach denselben ist der Chef des Auswärtigen Amtes verpflichtet, dem Kaiser die genaueste Uebersicht und Kenntniß sämmtlicher auswärtigen Verhältnisse zu verschaffen, demselben alle Berichte der Gesandten und Geschäfts- träger, sowie die von Fremden übergebenen Noten oder gemachten Eröffnungen vorzulegen oder Vortrag über dieselben zu halten. Nach den Entschließungen des Kaisers hat der Reichskanzler die Geschäfte des Auswärtigen Amtes zu leiten, den fremden Ge- sandten Antwort, den Reichsgesandten Instruktionen zu ertheilen. „Sobald es darauf ankommt, den kaiserlichen Gesandten Abweichun- gen von den ihnen früher gegebenen Vorschriften über politische Verhältnisse oder die Verfolgung wichtiger Gegenstände aufzugeben, muß die Ausfertigung der Regel nach vom Kaiser selbst vollzogen werden .“ In andern Fällen erläßt der Reichskanzler die Verfügungen in seinem Namen, ebenso in wich- tigeren dringenderen und eilenden Fällen, wenn die Genehmigung des Kaisers nicht eingeholt werden kann. Wenn jedoch der Gegen- stand der Regel nach die kaiserliche Vollziehung des Befehls er- fordert hätte, ist dem Kaiser sogleich Anzeige zu machen. Ueber die Ernennung des gesammten Gesandtschafts-Personals muß die Genehmigung des Kaisers eingeholt werden Preuß. Ges.-Samml. 1810 S. 21 a. E. , auch wenn die Be- amten nicht nach der Verordn. v. 23. Nov. 1874 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 135) eine kaiserliche Bestallung, sondern nur eine vom Reichs- kanzler ausgefertigte Anstellungs-Urkunde enthalten Vgl. Bd. I. S. 405. . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. II. Konsulate Gesetzgebung: Gesetz, betreffend die Organisation der Bundeskonsulate , sowie die Amtsrechte und Pflichten der Bun- deskonsuln, vom 8. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. 1867 S. 137). Eingeführt in Baden und Südhessen (B.-G.-Bl. 1870 S. 647), in Württemberg (B.-G.-Bl. 1870 S. 654), in Bayern (R.-G.-Bl. 1871 S. 88). In Elsaß-Lothringen ist eine besondere Einführung dieses Gesetzes nicht er- folgt. Es wird im Folgenden als Konsulatsgesetz citirt. Zu diesem Gesetze ist ergangen die Allgemeine Dienst-In- struction für die Konsuln des Deutschen Reichs vom 6. Juni 1871 und die Nachtrags-Instruction v. 22. Febr. 1873. Beide sind erschienen in der Decker’schen geheimen Ober-Hofbuchdruckerei und abgedruckt in dem unten citirten Werke von Hänel u. Lesse; die erstere auch in Hirth’s Annalen 1871 S. 607 ff. und bei Döhl. Gesetz , betreffend die Gebühren und Kosten bei den Konsulaten des Deutschen Reichs. Vom 1. Juli 1872. R.-G.-Bl. 1872 S. 245 ff. Gesetz , betreffend Eheschließung und Beurkundung des Personenstandes von Bundes-Angehörigen im Auslande. Vom 4. Mai 1870. B.-G.-Bl. 1870 S. 599. Eingef. in Baden und Süd- hessen (B.-G.-Bl. 1870 S. 647), in Württemberg (B.-G.-Bl. 1870 S. 654), in Bayern (R.-G.-Bl. 1871 S. 87), in Elsaß-Lothringen (R.-G.-Bl. 1875 S. 69. G.-Bl. f. E.-L. 1875 S. 9). Dazu die Instruktion des Reichskanzlers v. 1. März 1871; gedruckt bei Hänel u. Lesse S. 93 fg. Seemanns-Ordnung vom 27. Dezember 1872. R.-G.-Bl. 1872 S. 409 ff. Literatur: Döhl , das Konsularwesen des Deutschen Reiches. Bremen 1873. (Ist im Wesentlichen nur ein Abdruck der das Konsulatwesen betreffenden Reichsgesetze mit Hinzufügung der Instruktion, einem Ver- zeichniß der Konsulate, Missionen u. s. w.) König , Preußens Consular-Reglement. 2. Aufl. Berlin 1866. Der- selbe , Handbuch des Deutschen Consulatwesens. Berlin 1875. (Ein populärer Auszug aus diesem Werk ist von dem Verf. herausgegeben worden unter dem Titel: Die Deutschen Konsuln in ihren Beziehungen zu den Reichsangehörigen. Bremen 1876.) F. Martens , das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient (übersetzt von Skerst). Berlin 1874. P. Esperson , Diritto diplomatico. Vol. II. Mailand 1874. (Dieses Werk behandelt zwar fast ausschließlich das italienische Recht, das letz- letztere ist aber in allen wesentlichen Punkten mit dem Deutschen Recht übereinstimmend.) . 1. Kompetenz des Reichs und der Einzelstaaten . Art. 4. Z. 7 und Art. 56 der R.-V. weisen dem Reiche nicht nur die unmittelbare , sondern auch die ausschließliche §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Verwaltung des Konsulatswesens zu, so daß hier ein anderes Prinzip wie bei der eigentlichen diplomatischen Vertretung ent- scheidet. a ) Art. 4 führt unter den Gegenständen, auf welche die Kom- petenz des Reiches sich erstreckt unter Nro. 7 auf: „Die Organi- sation eines gemeinsamen Schutzes des Deutschen Handels im Auslande, der deutschen Schifffahrt und ihrer Flagge zur See und die Anordnung gemeinsamer konsularischer Vertretung, welche vom Reiche ausgestattet wird.“ Art. 56 Abs. 1 überträgt dem Kaiser die Aufsicht über das gesammte Konsulatwesen des Deutschen Reiches; das Konsulatsgesetz §. 3 unterwirft die Bundes- konsuln der Aufsicht des Bundeskanzlers. Die Verwaltung des Kon- sulatwesens erfolgt demnach nicht durch Vermittlung der Einzel- staaten. b ) Den Einzelstaaten ist die Befugniß, mit der konsularischen Vertretung des Reiches zu konkurriren, entzogen. Abs. 2 des Art. 56 enthält das durchgreifende Verbot: „In dem Amtsbezirk der Deutschen Konsuln dürfen neue Landeskonsulate nicht errichtet werden“ Daß innerhalb des Reichsgebietes die einzelnen Bundesstaaten Konsulate errichten dürfen, ist zweifellos. Dieselben sind aber ohne alle rechtliche und politische Bedeutung. . Die bereits bestehenden Landeskonsulate wurden nur interimistisch noch geduldet; „sie werden sämmtlich aufgehoben, so- bald die Organisation der Deutschen Konsulate dergestalt vollendet ist, daß die Vertretung der Einzel-Interessen aller Bundesstaaten als durch die Deutschen Konsulate gesichert von dem Bundesrathe anerkannt wird“ (Art. 56 Abs. 2). Dies ist längst erfolgt; schon am 6. Dezember 1869 beschloß der Bundesrath des Nordd. Bun- des die Regierungen zur Aufhebung der Landeskonsulate an allen Plätzen, an welchen Bundeskonsulate bestehen, aufzufordern. Auch in der Zwischenzeit, in welcher an demselben Platze neben dem Lammers in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 239 ff. Reitz in Hirth’s Annalen 1874 S. 70 ff. Thudichum , Verf.-Recht S. 256 ff. Riedel , S. 139. Seydel S. 210 fg. v. Rönne II. 1. S. 224. Hänel u. Lesse , die Gesetzgebung des Deutschen Reiches über Consu- larwesen und Seeschifffahrt. Berlin 1875. Eine gute Uebersicht der Amtsgeschäfte der Deutschen Konsulate giebt der (anonyme) Aufsatz in Hartmann ’s Zeitschr. f. Gesetzgeb. u. Praxis Bd. II. S. 16 ff. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Bundeskonsulate Landeskonsulate noch geduldet waren, durften die deutschen Staaten, welche keine eigenen Konsulate hatten, die Vertretung ihrer Interessen nicht dem Landeskonsulat eines ande- ren Bundesgliedes übertragen, sondern „die Deutschen Konsuln übten für die in ihrem Bezirke nicht vertretenen Bundesstaaten die Funktionen eines Landeskonsuls aus.“ (Art. 56 Abs. 2.) Diesem ausschließlichen Rechte des Reiches entspricht die Pflicht desselben, überall da Konsulats-Vertretungen einzurichten, wo dies durch das Interesse auch nur eines Bundesstaates geboten ist. Es folgt dies aus dem im Art. 3 Abs. 6 der R.-V. ausgesprochenen Grundsatz, daß dem Auslande gegenüber alle Deutschen gleich- mäßig Anspruch auf den Schutz des Reichs haben und ist aus- drücklich anerkannt worden in den Bündniß-Verträgen des Nordd. Bundes mit den süddeutschen Staaten Badisch-Hessischer Vertrag Nro. 6. Württemberg . Ver- trag Nro. 1. e). Bayr. Schlußprotok . XII. Abs. 2. „Ferner wurde die Zusicherung gegeben, daß Bundeskonsuln an auswärtigen Orten auch dann aufgestellt werden sollen, wenn es nur das Interesse eines einzelnen Bundes- staates als wünschenswerth erscheinen läßt, daß dies geschehe.“ — Ueber das Recht der Einzelstaaten, den von auswärtigen Staaten bestellten Konsuln für ihr Gebiet das Exequatur zu ertheilen, vgl. Bd. I. S. 205 und Thudichum in v. Holtzendorff’s Jahrbuch IV. (1876) S. 346. . 2. Hoheitsrechte . Konsuln können im Allgemeinen eben so wenig wie Gesandte obrigkeitliche Befugnisse ausüben, da auch ihre Wirksamkeit außerhalb des Herrschaftsgebietes des Reiches sich vollzieht. Sie sind vielmehr im Wesentlichen darauf angewiesen, als Rathgeber und Vertreter der Reichs-Angehörigen die Interessen derselben wahrzunehmen, mit ihrer Kenntniß des am Ort ihrer Thätigkeit geltenden Rechts, der Behörden-Verfassung, der Sprache, Sitten und Lebensverhältnisse den Reichsangehörigen, welche als Fremde mit diesen Dingen nicht vertraut zu sein pflegen, behülflich zu sein, die Beobachtung völkerrechtlicher Verträge, welche das Reich oder die Gliedstaaten desselben abgeschlossen haben, zu überwachen, Hülfs- bedürftige im Nothfalle zu unterstützen und die Reichsregierung durch Berichte von Allem in Kenntniß zu erhalten, was die Inte- ressen des Reiches, namentlich in Bezug auf Handel, Verkehr und Schifffahrt, betrifft Konsulatsgesetz §. 1. . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Diese Thätigkeit ist ihrer Natur nach durch Rechtssätze über- haupt nicht geregelt, da sie eine Ausübung von Rechten gar nicht in sich schließt, sondern nur durch Verwaltungs-Vorschriften Dies schließt nicht aus, daß diese Vorschriften in der Form des Ge- setzes erlassen werden, was z. Th. in dem Konsulatsgesetz geschehen ist. ; sie findet ihre Schranken in den Gesetzen und Gewohnheiten des Lan- des, in welchem die Konsuln fungiren und unter deren Herrschaft sie ihre Thätigkeit entfalten Konsulatsges. §. 1 a. E. „Sie müssen … die durch die Gesetze und die Gewohnheiten ihres Amtsbezirkes gebotenen Schranken einhalten.“ . Indeß wird den amtlichen Hand- lungen der Reichskonsuln theils eine rechtliche Wirksamkeit im In- lande beigelegt Ob diese Handlungen, wie Notariats-Akte, Eheschließungen u. s. w. auch im Auslande als rechtlich wirksame behandelt werden, richtet sich nach den Grundsätzen des sogenanten internationalen Privatrechts. Das Reichsgesetz kann ihnen nur für das Reichsgebiet Rechtswirkungen beilegen. , theils sind sie in einigen Beziehungen gegen die Reichsangehörigen, welche sich innerhalb ihres Amtsbezirkes auf- halten, mit Hoheitsrechten ausgestattet, deren Schutz allerdings in der Regel nur verwirklicht werden kann, wenn der Reichsange- hörige, der sie verletzt hat, in das Reichsgebiet zurückkehrt. Ueberall, wo die Consuln gegen Reichsangehörige Hoheitsrechte, d. h. in der Staatsgewalt enthaltene Herrschaftsbefugnisse ausüben, ist eine reichsgesetzliche Bestimmung erforderlich, welche die Konsuln mit dieser Amtsgewalt ausstattet. Eine weitere Voraussetzung für die Ausübung jeder amtlichen Thätigkeit des Konsuls ist, daß der Staat, in dessen Gebiet der Konsul thätig sein soll, sie duldet und den Konsul als solchen an- erkennt. Es geschieht dies durch die Ertheilung des sogen. Placet oder Exequatur ; bevor dieselbe erfolgt ist, darf der ernannte Konsul seine amtliche Wirksamkeit nicht beginnen. Dies gilt auch in solchen Staaten, in welchen dem deutschen Reich vertragsmäßig die Befugniß zur Errichtung von Konsulaten zugesichert ist Vgl. Instruktion v. 6. Juni 1871 zu §. 1. Ziff. 5. . Durch die Ertheilung des Exequatur wird der Konsul aber nicht ermächtigt, alle diejenigen Rechte auszuüben, welche das Deutsche Konsulatsgesetz den Konsuln beilegt, sondern nur diejenigen, welche der Staat, der das Exequatur ertheilt, den Konsuln fremder Staaten einräumt König , Handbuch S. 27. 31. . Deshalb kann der Deutsche Konsul auch §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. gegen Reichsangehörige nur solche, in der Staatsgewalt enthaltene Rechte ausüben, welche der Staat, in dessen Gebiet er seinen Amtsbezirk hat, nicht ausschließlich für sich selbst beansprucht. In vielen Fällen besteht eine völkerrechtliche Uebung, durch die der Kreis der obrigkeitlichen Rechte, welche fremde Konsuln handhaben dürfen, bestimmt wird. Mit mehreren Staaten hat aber das Deutsche Reich Verträge abgeschlossen Die ältesten Konsularverträge sind die von Frankreich mit Spanien 1769 und mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika 1788 abgeschlossenen. Sie sind gedruckt bei de Cussy , Réglements consulaires (Leipzig 1851) S. 26 ff. , durch welche die Aus- übung der den Deutschen Konsuln übertragenen staatlichen Befug- nisse sicher gestellt worden ist Ueber die Konsular-Verträge des Deutschen Reiches vgl. Reitz in Hirth’s Annalen V. (1872) S. 1281 ff. und besonders König , Handbuch S. 16 ff. In einigen Handels- und Schifffahrts-Verträgen des Reiches ist demselben lediglich die Befugniß, Konsulate zu errichten, zugesichert, mit der Maßgabe, daß die Deutschen Konsuln alle Vorrechte und Freiheiten genießen sollen, welche den Konsuln anderer Staaten zugestanden werden. So in den Verträgen mit Liberia v. 31. Oktober 1867 Art. 7 (B.-G.-Bl. v. 1868 S. 201), mit Oesterreich v. 9. März 1868 Art. 20 (B.-G.-Bl. v. 1868 S. 247), mit Mexiko v. 28. Aug. 1869 Art. 22 (B.-G.-Bl. v. 1870 S. 537). Eigentliche Konsular-Verträge , welche die Befugnisse der Konsuln im Einzelnen regeln, sind mit folgenden Staaten abgeschlossen worden: Der Preußisch- Niederländische (Kolonien) Vertrag v. 16. Juni 1856 ist ausgedehnt worden auf das Deutsche Reich durch Vertrag v. 11. Januar 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 67 ff.). Der Vertrag des Nordd. Bundes mit Italien v. 21. Dez. 1868 (B.-G.-Bl. 1869 S. 113), ausgedehnt auf das Deutsche Reich durch Vertr. v. 7. Febr. 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 134). Der Vertrag mit Spanien v. 22. Febr. 1870 (B.-G.-Bl. 1870 S. 99 ff.), ausgedehnt auf das Deutsche Reich durch V. v. 12. Jan. 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 211); mit den Vereinigten Staaten von Amerika v. 11. Dez. 1871 (R.-G.-Bl. 1872 S. 95); mit Rußland v. 12. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 145). Verabredungen über die den Konsuln zustehenden Befugnisse enthalten ferner die Verträge mit Japan v. 20. Febr. 1869 (B.-G.-Bl. 1870 S. 1 ff.) Art. 5 fg.; mit Persien v. 11. Juni 1873 (R.-G.-Bl. 1873 S. 351 ff.) Art. 10. 13—15; mit Salvador v. 13. Juni 1870 (R.-G.-Bl. 1872 S. 377); mit Portugal v. 2. März 1872 (R.-G.-Bl. 1872 S. 254 ff.) Art. 17—19; mit Costa Rica v. 18. Mai 1875 (R.-G.-Bl. 1877 S. 13 ff.) Art. 27 ff. Soweit diese Verträge den Deutschen Konsuln eine amtliche Wirksamkeit zuweisen, begründen sie zunächst nur internationale Rechte des Reiches gegen- über dem Staate, mit welchem der Vertrag geschlossen worden ist, während . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Die obrigkeitlichen Rechte der Konsuln lassen sich unter fol- gende Kategorien bringen: a ) Befugnisse der Standes-Beamten . Der Reichskanzler kann einem Konsul des Deutschen Reiches für dessen Amtsbezirk die allgemeine Ermächtigung zur Vornahme von Eheschließungen und zur Beurkundung der Geburten, Heirathen und Sterbefälle von Reichsangehörigen und Schutzgenossen erthei- len Konsulatsges. §. 13. Reichsges. v. 4. Mai 1870 §. 1. Ges. v. 6. Febr. 1875 §. 85. Dieselbe Ermächtigung kann auch einem diplomatischen Ver- treter (Gesandten) für das ganze Gebiet des Staates, bei dessen Hofe oder Regierung derselbe beglaubigt ist, ertheilt werden. Die Befugniß zur Vor- nahme von Eheschließungen greift auch dann Platz, wenn nur einer der beiden Verlobten ein Reichsangehöriger oder Schutzgenosse ist. Ges. v. 4. Mai 1870 §. 10. Ges. v. 6. Febr. 1875 §. 85 Abs. 2. — Ueber den Begriff der Schutz- genossen siehe unten. . Die Rechtsvorschriften über die Ausübung dieser Befug- nisse sind in dem Ges. v. 4. Mai 1870 enthalten; sie übertragen dem Konsul dieselben amtlichen Rechte und Pflichten, wie sie inner- halb des Bundesgebietes den Standesbeamten durch das Gesetz v. 6. Februar 1875 zugewiesen sind Zu dem Gesetze vom 4. Mai 1870 hat der Reichskanzler eine Instruk- tion v. 1. März 1871 erlassen. Dieselbe ist gedruckt bei Hänel u. Lesse S. 93 ff. und bei König , Handbuch S. 513. . Jedoch sind die Konsuln befugt für die von ihnen bewirkten Einträge und ertheilten Ur- kunden Gebühren zu erheben Ges. v. 4. Mai 1870 §. 14. Ges. v. 1. Juli 1872 Tarif Nro. 4. 14. 17. 31 (R.-G.-Bl. S. 245). , während die Standesregister im Reichsgebiet kostenfrei geführt werden Ges. v. 6. Febr. 1875 §. 16. . In strafrechtlicher Hin- sicht ferner besteht ein eigenthümlicher Unterschied. §. 69 des Ges. v. 6. Febr. 1875, welcher Standesbeamte mit Geldstrafe bis zu 600 Mark bedroht, wenn sie unter Außerachtlassung der in diesem Gesetze gegebenen Vorschriften eine Eheschließung vollziehen, ist auf Konsuln und diplomatische Vertreter nicht anwendbar, da §. 85 Abs. 1 erklärt, daß durch dieses Gesetz die Bestimmungen des Ge- setzes vom 4. Mai 1870 nicht berührt werden, das letztere Gesetz aber eine Strafbestimmung nicht enthält. Konsuln und Gesandte, welche unter Verletzung der in den §§. 3 ff. des Ges. v. 4. Mai das Reichskonsulatsgesetz die staatsrechtliche Norm für die Befugnisse und Pflichten der Konsuln bildet. Vgl. König S. 27. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. 1870 enthaltenen Vorschriften Eheschließungen vornehmen, können daher strafrechtlich nicht verfolgt werden, falls nicht der Thatbe- stand des §. 348. 349 des R.-St.-G.-B.’s vorliegt. Auch §. 338 des St.-G.-B.’s, welcher einen „Personenstandsbeamten“ mit Zucht- haus bis zu 5 Jahren bedroht, wenn er wissend, daß eine Person verheirathet ist, eine neue Ehe derselben schließt, ist auf Konsuln und diplomatische Vertreter, denen vom Reichskanzler die Ermäch- tigung zur Vornahme von Eheschließungen ertheilt ist, anwendbar, da sie unter die Kategorie von „Personenstandsbeamten“ fallen Daß die Handlung im Auslande begangen und der Thäter — wenn er Wahlkonsul ist — möglicher Weise kein Reichsangehöriger ist, schließt seit der Novelle zum St.-G.-B. v. 26. Febr. 1876 die Strafverfolgung nicht aus, da nach §. 4 Ziff. 1 die im Auslande von Reichsbeamten verübten Ver- brechen und Vergehen im Amte verfolgt werden können. . Die Ausübung dieses Hoheitsrechtes setzt voraus, daß der Staat, in dessen Gebiet der Konsul seinen Amtsbezirk hat, die Vornahme von Eheschließungen und die Beurkundung des Per- sonenstandes durch Vertreter auswärtiger Staaten überhaupt dul- det . Denn der Grundsatz locus regit actum findet auch auf die Eheschließung Anwendung Vgl. v. Bar , Internat. Privat- und Strafrecht S. 324 fg. Esper- son II. Nro. 207 S. 127 fg. Hinschius , Kommentar (2. Aufl.) S. 158. . Wenn ein Staat für alle inner- halb seines Gebietes zu schließenden Ehen, gleichviel ob die Ver- lobten Staats-Angehörige oder Ausländer sind, eine bestimmte Form der Eheschließung obligatorisch vorschreibt, so kann das Ge- setz eines anderen Staates daran Nichts ändern Das Deutsche Reich selbst hat diesen Grundsatz im §. 41 des Ges. v. 6. Febr. 1875 sanctionirt: „ Innerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches kann eine Ehe rechtsgültig nur vor dem Standesbeamten geschlossen werden“. Vgl. auch Hinschius a. a. O. S. 477 a. E. Eine Ausnahme ist indessen durch einige Konsular-Verträge geschaffen. Siehe unten S. 256 Note 1. . Ebensowenig kann die Anmeldung einer Geburt oder eines Sterbefalles bei dem Gesandten oder Konsul des Deutschen Reiches von der landesge- setzlich vorgeschriebenen Pflicht, den Fall bei dem Standesbeamten des Bezirks anzuzeigen, Jemanden befreien Auch das Deutsche Recht läßt keine solche Ausnahme zu. Gesetz vom 6. Febr. 1875 §, 17. 56. . Die gleichzeitige Ausübung der Standesamts-Funktionen sowohl durch die territo- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. rialen Behörden als auch durch die auswärtigen Konsuln oder Gesandten hinsichtlich derselben Personen müßte aber zu den schlimmsten Mißständen führen und namentlich in Hinsicht auf die Eheschließung in dem Falle einen fast unerträglichen Rechtszustand bewirken, wenn die vor dem Deutschen Konsul nach Maßgabe des Gesetzes vom 4. Mai 1870 geschlossene Ehe in dem Ort der Ehe- schließung selbst, also in den meisten Fällen an dem Wohnort der Eheleute, nichtig und unwirksam wäre Der Vertrag mit Salvador Art. VIII. bestimmt, daß die Ehe eines Deutschen in Salvador (und vice versa ) für gültig angesehen werden soll, wenn sie gemäß den Gesetzen seines Heimathlandes geschlossen ist. Zu diesen Gesetzen gehört auch das vom 4. Mai 1870. Ausdrücklich ist die Gültig- keit der vor diplomat. oder konsular. Vertretern geschlossenen Ehen stipulirt in dem Vertrage mit Costa Rica Art. IX. und Schluß-Protokoll dazu (R.-G.-Bl. 1877 S. 37). . Auch liegt ein Be- dürfniß für eine Ausnahmestellung der Reichsangehörigen in den- jenigen Gebieten nicht vor, in welchen eine staatliche Form der Eheschließung und eine staatliche Führung der Standesregister ein- gerichtet ist. Endlich wird die Ermächtigung zur Vornahme so wichtiger Akte nur denjenigen Konsuln ertheilt werden können, deren Persönlichkeit dafür eine Bürgschaft bietet, daß die in Be- tracht kommenden Rechtsvorschriften mit richtigem Verständniß und gewissenhaft beobachtet werden. Darauf beruht es, daß das aus- wärtige Amt des Deutschen Reiches zunächst zu prüfen hat, ob in einem gewissen Staate die Ausübung der Funktionen von Per- sonenstands-Beamten durch die diplomatischen Vertreter und Kon- suln des Reiches zulässig und wüuschenswerth ist, und daß deshalb die Ermächtigung zur Ausübung dieser Befugnisse nur denjenigen diplomatischen Vertretern und Konsuln zusteht, denen sie der Reichs- kanzler besonders und ausdrücklich ertheilt hat Das Ges. v. 4. Mai 1870 §. 13 hat jedoch den Einzelstaaten die Be- fugniß zugesprochen, durch Gesetz den diplomatischen Vertretern und Konsuln die Funktionen der Standesbeamten zu übertragen, ohne daß sie beson- ders dazu ermächtigt werden, und hat die darüber bereits ergangenen Landesgesetze in Kraft erhalten. Ein solches Landesgesetz ist nur ergangen in Baden am 21. Dezember 1869 (§. 32). Zu demselben ist vom Badischen Ministerium eine Instruction v. 22. Okt. 1872 erlassen worden, welche der Reichskanzler allen Gesandtschaften und Konsulaten des Reiches zugefertigt hat. Sie ist gedruckt im Badischen Gesetzes- und Verordnungsblatt von 1872 S. 345 ff. Das Preuß . Ges. v. 3. April 1854 (Ges.-Samml. S. 469) und . Diese Ermäch- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. tigung muß aber eine allgemeine sein, d. h. sie darf nicht auf die Vornahme einer oder mehrerer einzelner Eheschließungen u. s. w. beschränkt werden. Es ist ferner erforderlich, daß die Ertheilung dieser Befugniß amtlich bekannt gemacht wird. Denn da die Rechtsgültigkeit der Ehe und die Beweiskraft der Geburts- und Todes-Atteste von dieser Ermächtigung abhängig ist, so muß das Vorhandensein der- selben allgemein erkennbar sein Die Veröffentlichung ist bis 1872 im Reichsgesetzblatt erfolgt; seit 1873 geschieht sie vermittelst des Centralblattes für das Deutsche Reich. . Die Ermächtigung wird nicht den Konsulaten , sondern den Konsuln persönlich ertheilt. Der Stellvertreter eines abwesen- den oder verhinderten Konsuls darf daher Akte der Standesbe- amten nur dann vornehmen, wenn er vom Reichskanzler die Er- mächtigung dazu erhalten hat König , Handb. S. 109. . b ) Befugnisse der Seemanns-Aemter . Im Auslande versehen die Konsulate des Deutschen Reiches die Funktionen der Seemannsämter Seemanns-Ordnung v. 27. Dez. 1872 §. 4 Abs. 1 (R.-G.-Bl. S. 409). Durch dieses Gesetz hat der §. 32 des Konsulatsgesetzes theils einen fester be- stimmten, theils einen sehr erweiterten Inhalt bekommen. . Ihre Befugnisse erstrecken sich in dieser Eigenschaft auf alle Kauffahrteischiffe, welche das Recht, die Reichsflagge zu führen, ausüben dürfen Die Vorschriften darüber enthält das Ges. v. 25. Okt. 1867 (B.-G.-Bl. S. 35). und auf die Führer und Mannschaft dieser Schiffe ohne Rücksicht auf die Reichsangehörig- keit. In ihrer Eigenschaft als Seemanns-Aemter liegt den Kon- sulaten die Anmusterung und die Ausfertigung der Musterrolle Seemanns-Ordn. §. 11 fg. Bgl. König , Handb. S. 214 ff. , sowie die Abmusterung, die Vermerkung derselben in dem See- fahrtsbuche und in der Musterrolle, und event. die Uebersendung der Musterrolle an das Seemannsamt des Heimatshafens ob Seemanns-Ordn. §. 16. 20. 21 Abs. 2. Die näheren Vorschriften über das von den Konsuln bei der Musterung inne zu haltende Verfahren gibt die Nachtrags-Instruction v. 22. Febr. 1873 zu §. 32 des Konsnlatsgesetzes. . das Hamburgische Ges. v. 17. Nov. 1865 §. 43 (Lappenberg, Samml. der Verordn. Bd. 33 S. 396) erforderten die besondere Ermächtigung durch den Minister resp. Senat. Laband , Reichsstaatsrecht. II. 17 §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Schiffer und Schiffsleute sind verpflichtet, sich zum Zwecke der Anmusterungs- und Abmusterungs-Verhandlung in dem Konsulate zu stellen und die Erfüllung dieser Pflicht ist durch Strafdrohungen gesichert Seemanns-Ordn. §. 93. 99. . Entzieht sich ein Schiffsmann nach der Anmusterung dem Antritt oder der Fortsetzung des Dienstes, so kann ihn das Seemannsamt auf Antrag des Schiffers zwangsweise zur Erfül- lung seiner Pflicht anhalten Seemanns-Ordn. §. 29. . Auch den Konsuln steht diese Be- fugniß zu, jedoch können sie einen Zwang nicht direct ausüben, sondern sie sind darauf beschränkt, bei den Lokalbehörden die er- forderlichen Anträge zu stellen Konsulats -Gesetz §. 34 und dazu die Instruction v. 22. Febr. 1873. Ueberdies unterliegt ein Schiffsmann, welcher es unterläßt, im Falle eines dem Dienstantritt entgegenstehenden Hindernisses sich gegen das See- mannsamt (Konsulat) auszuweisen, der Bestrafung nach §. 93 Z. 3 der See- manns-Ordnung. Entläuft ein Schiffsmann mit der Heuer , so ist er nach R.-St.-G.-B. §. 298 strafbar. Die internationalen Verträge sichern den Kon- sulaten die Unterstützung der Landesbehörden zu. Italien Art. 15 a. E. 16. Spanien Art. 15 Abs. 4, Art. 16 Abs. 1. Salvador Art. 28. 29. Vereinigte Staaten Art. 13 Abs. 2 u. Art. 14. Rußland Art. 11. Costa Rica Art. 32. . Die Konsuln können ferner auf Antrag eines Schiffsoffiziers oder von mindestens drei Schiffsleuten das Schiff einer Untersuchung unterziehen, ob das Schiff seetüchtig und mit den erforderlichen Vorräthen an Lebensmitteln versehen ist. Sie haben das Ergebniß in das Schiffsjournal einzutragen und erforderlichen Falles für die geeignete Abhülfe der Mängel Sorge zu tragen Seemanns-Ordnung §. 47. Wer die Untersuchung leichtfertig oder wider besseres Wissen durch eine auf unwahre Behauptungen gestützte Be- schwerde veranlaßt, wird nach §. 94 eod. bestraft. Das Verfahren, welches die Konsuln zu beobachten haben, ist vom Reichskanzler im Einvernehmen mit den betreffenden Ausschüssen des Bundesrathes geregelt worden durch die Nachtrags-Instruct. v. 22. Febr. 1873 zu §. 37 des Kon- sulatsges. (bei Hänel u. Lesse S. 88.) . Die Konsuln sind befugt, den Führern deut- scher Kauffahrteischiffe den Befehl zu ertheilen, deutsche Seeleute, welche im Auslande sich in hülfsbedürftigem Zustande befinden, behufs ihrer Rückbeförderung nach Deutschland nach dem Bestim- mungshafen mitzunehmen Die näheren Anordnungen über die Voraussetzungen, das Verfahren und die zu leistende Entschädigung sind in dem Reichsges. v. 27. Dez. 1872 . Ihnen liegt die Entscheidung ob, §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. wenn der Schiffsführer Weigerungsgründe vorschützt. Die Nicht- befolgung des ordnungsmäßig (schriftlich) ertheilten Befehles des Seemanns-Amtes (Konsulates) wird mit einer Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft bestraft Gesetz v. 27. Dez. 1872 §. 8 (R.-G.-Bl. S. 434). . Hoheitsrechte des Reiches haben die Konsulate in ihrer Eigen- schaft als Seemannsämter ferner insofern auszuüben, als ihnen eine vorläufige Entscheidung sowohl bei bürgerlichen Strei- tigkeiten als in gewissen Straffällen zusteht Abgesehen von der ihnen obliegenden gütlichen Vermittlung bei Strei- tigkeiten, welche bei Gelegenheit der Abmusterung zur Sprache kommen. See- manns-Ordn. §. 104. und zwar nach fol- genden Grundsätzen: α) Dem Schiffsmann ist es reichsgesetzlich verboten, den Schiffer vor einem fremden Gericht zu belangen; ausgenommen ist allein die Geltendmachung von Forderungen aus dem Dienst- oder Heuervertrage im Falle eines Zwangsverkaufs des Schiffes. Der Schiffer, welcher diesem Verbote zuwiderhandelt, ist nicht nur für den daraus entstehenden Schaden verantwortlich, sondern er wird außerdem der bis dahin verdienten Heuer ver- lustig. Wenn der Streitfall von solcher Beschaffenheit ist, daß er keinen Aufschub erleidet, so ist der Schiffsmann befugt, die vor- läufige Entscheidung des Seemannsamtes nachzusuchen, und der Schiffer ist verpflichtet, die Gelegenheit dazu ohne dringenden Grund nicht zu versagen Ebenso ist der Schiffer befugt, die Entscheidung des Konsulates gegen den Matrosen anzurufen. Urth. des Reichs-Oberhandelsgerichts v. 17. Febr. 1874 (Entsch. Bd. 12 S. 419. 420). . Die Entscheidung des Seemanns- amtes (Konsulates) muß von beiden Theilen vorläufig befolgt werden; es bleibt ihnen aber unbenommen, nach Beendigung der Reise ihre Rechte vor der zuständigen Behörde geltend zu machen Seemanns-Ordn . §. 105. Diese Bestimmung ist im Wesentlichen dem Handels-Gesetzb . Art. 537 entnommen. Eine wirkliche Gerichts- barkeit ist in dieser Funktion nicht enthalten; denn der Zweck dieser Be- . (R.-G.-Bl. S. 432 fg.) enthalten. In dem im §. 1 Abs. 2 dieses Gesetzes vor- gesehenen Falle besteht die gleiche Befugniß auch hinsichtlich hülfsbedürftiger ausländischer Seeleute behufs der Rückbeförderung derselben in ihr Heimaths- land. — Die Instruction v. 22. Febr. 1873 zu §. 26 des Konsulats-Gesetzes enthält die näheren Vorschriften über das vom Konsul zu beobachtende Ver- fahren. Hänel und Lesse S. 68. 17* §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. β) In den im §. 101 der Seemanns-Ordnung und im §. 8 des Ges. v. 27. Dezember 1872 aufgeführten Criminalfällen er- folgt die Untersuchung und Entscheidung durch das Seemannsamt. Gegen den Bescheid kann der Beschuldigte innerhalb einer zehn- tägigen Frist von der Verkündigung oder der Zustellung ab auf gerichtliche Entscheidung antragen. Für das weitere Verfahren ist dann das inländische Gericht des Heimatshafens und event. des deutschen Hafens, welchen das Schiff nach der Straffestsetzung zu- erst erreicht, zuständig Auf das Verfahren finden in diesem Falle die §§. 455—458 der Straf- proceß-Ordn. Anwendung. Vgl. Einf.-Ges. zur St.-Pr.-Ordn. §. 5. . Lautet der Bescheid des Konsulates aber auf eine Geldstrafe, so ist er vorläufig vollstreckbar Ueber das von den Konsuln zu beobachtende Verfahren enthält die Nachtrags-Instr . v. 22. Febr. 1873 zu §. 33 des Kons.-Ges. ausführliche Vorschriften. Hänel und Lesse S. 78. . c ) Polizeiliche Befugnisse . Die Reichskonsuln sind befugt, über die Schiffe der Deutschen Handelsmarine die Polizeigewalt auszuüben Konsulatsges . §. 33. Vgl. König , Handb. S. 270 ff. . Auch diese Be- stimmung versteht sich mit der Einschränkung, daß die Konsuln nicht in die Hoheitsrechte des Staates eingreifen dürfen, in dessen Gebiet sie residiren. Das Reich kann seinen Konsuln nicht die Polizeigewalt des fremden Staates, sondern nur seine eigenen Rechte zur Ausübung übertragen. Dem Konsul steht es demge- mäß zu, eine Kontrolle über die Befolgung der in der Seemanns- Ordnung und den anderen auf die Seeschifffahrt bezüglichen Ge- setzen des Deutschen Reiches und der Bundesstaaten enthaltenen Vorschriften auszuüben; insbesondere darauf zu achten, daß die auf die Gesundheit und die Sicherheit der Schiffsleute bezüglichen Vorschriften nicht verletzt werden. Er wird Klagen der Schiffs- stimmungen ist nicht, die Kompetenz der inländischen Gerichte durch Be- gründung eines forum speciale zu beschränken, sondern die Einmischung der ausländischen Gerichte auszuschließen; das Seemanns-Amt und bezw. Konsulat bildet deshalb keine eigentliche Instanz im Sinne der Civilproceß- Ordnung und die Beschreitung des Rechtsweges im Inlande ist keine Appella- tion. — Die Konsular-Verträge haben meistens die Schlichtung der Rechts- streitigkeiten, welche zwischen dem Schiffer und den Schiffsleuten entstehen, durch die Konsuln ausdrücklich zugelassen. Niederlande Art. 12. Ita- lien 15. Spanien 15. Vereinigte Staaten 13. Rußland 11. Vgl. Esperson II. Nro. 267 ff. S. 152. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. leute über schlechte oder mangelhafte Beköstigung, ordnungswidriges Logis, gesundheitsgefährdende Unsauberkeiten u. s. w. abzustellen und andererseits die dem Schiffer zustehende Disciplinargewalt zu schützen haben; dagegen steht ihm eine Polizei- Strafg ewalt über Handlungen der Schiffsleute außerhalb des Schiffes nicht zu; ebensowenig eine Einmischung in die eigentliche Hafenpolizei. Wo die territoriale Staatsgewalt entweder allgemein den ausländischen Konsuln eine Polizeigewalt über die unter der Flagge ihres Staates fahrenden Schiffe zugesteht oder vertragsmäßig dem Deutschen Reich ein solches Recht eingeräumt hat Vgl. Konsularvertrag mit Italien Art. 15. Spanien Art. 15. Salvador Art. 28. Rußland Art. 11. Costa Rica Art. 31. , sind die Deutschen Kon- suln ermächtigt und verpflichtet, diese Befugnisse in dem durch die Verträge normirten Umfange auszuüben. Mit der Polizei-Gewalt der Konsuln steht im Zusammenhange die Meldepflicht der Schiffsführer. Das Konsulatsgesetz setzt dieselbe voraus, indem es den Konsuln die Pflicht auferlegt, die Meldung der Schiffsführer entgegen zu nehmen und an den Bundeskanzler über Unterlassung dieser Meldung zu berichten Konsulatsgesetz §. 31. . Die Dienst-Instruktion vom 6. Juni 1871 enthält sehr genaue Vorschriften über die Meldung der Schiffsführer; sie zählt die Fälle auf, in denen die Meldung nicht erforderlich ist, wann schrift- liche Meldung genügt, wann persönliche Meldung geschehen müsse. Sie schreibt den Konsuln vor, wenn ein Schiffer die vorgeschriebene Meldung unterläßt, unverweilt an den Reichskanzler zu berichten, damit dieser wegen Einleitung des Strafverfahrens gegen denselben das Erforderliche veranlassen kann. Diese Bestimmungen sind aus der früheren Preußischen allgemeinen Dienstinstruktion v. 1862 entnommen Vgl. König , Preußens Konsular-Reglement. 2. Ausg. 1866 S. 44. Ihr erster Ursprung ist eine Preußische Verordnung v. 8. Dezember 1781 und die Preußische Ordonnance circulaire pour les consuls ainsi que pour les navigateurs prussiens v. 1. Sept. 1783. . Es ist nun aber einleuchtend, daß eine Dienstinstruktion des Reichskanzlers für die Konsuln keine Ver- pflichtung für die Kapitäne Deutscher Kauffahrtei-Schiffe begrün- den kann, und daß eine Bestrafung derselben nicht erfolgen kann, ohne ein Gesetz, welches die Unterlassung der An- und Abmeldung §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. bei den Reichskonsuln mit Strafe bedroht Auch ist die Allgem. Dienst-Instruktion nicht im Reichsgesetzblatt ver- kündet. Es fehlen ihr überhaupt materiell und formell alle Crfordernisse einer Rechtsverordnung; sie ist nicht mehr als sie selbst von sich aussagt, nämlich eine Dienst-Instruktion. Der Ansicht von König , Handb. S. 210 und die Deutschen Konsuln S. 61, daß die Vorschriften der Allgem. Dienst-Instr. über die Meldepflicht der Schiffsführer in allgemeiner Gültigkeit stehen, muß daher entschieden widersprochen werden. Auch daß in dem Gebührengesetz v. 1. Juli 1872 Tarif §. 30 b für die An- und Abmeldung Kosten festgesetzt und dabei die Vorschriften der Allgem. Dienst-Instr. theilweise in Bezug genommen sind, kann keinen gesetzlichen Grund abgeben, um Schiffer wegen unterlassener An- und Abmeldung mit Strafe zu belegen. . Weder das Reichs- strafgesetzbuch noch die Seemanns-Ordnung noch ein anderes Reichs- gesetz enthält eine Straf-Androhung dieser Art; Führer von See- schiffen können daher wegen unterlassener Meldung nur auf Grund landesgesetzlicher Anordnungen, falls solche bestehen Für die alten Provinzen Preußens kommt in dieser Hinsicht das Consular-Reglement v. 18. Sept. 1796 §. 2 zur Anwendung, welches eine (für jetzige Verhältnisse ganz unzureichende) Geldstrafe von 5 Rthlrn. fest- setzt. Es ist gedruckt in der Mylius’schen Edicten-Sammlung v. 1796 S. 651, ferner bei Miruß , Europ. Gesandtschaftsr. II. S. 338. König , Preuß. Consularregl. S. 481. de Cussy , Réglements Consulaires S. 265 und sonst mehrfach. , zur Bestra- fung gezogen werden. Die Meldung ist aber — auch abgesehen von der etwaigen Bestrafung ihrer Unterlassung, — allgemein üblich, für die von den Consuln anzufertigenden statistischen Zusammen- stellungen unentbehrlich, und für die Schiffsführer selbst wegen Visirung der Schiffspapiere, Ertheilung von sogenannten Gesund- heitspässen, und wegen des ihnen zu gewährenden consularischen Schutzes von Nutzen, so daß sie thatsächlich wohl nicht häufig ver- absäumt wird. Ferner haben die Konsuln die Innehaltung der wegen Füh- rung der Reichsflagge bestehenden Vorschriften zu überwachen Konsulatsges. §. 30. Diese Vorschriften sind enthalten in dem Gesetz v. 25. Oktober 1867 (B.-G.-Bl. S. 35) und in der Verordn. vom selben Tage (B.-G.-Bl. S. 39). Das Verfahren, welches die Konsuln zu beobachten haben, ist in der Dienst-Instruction zu §. 30 näher geregelt. . Zu den polizeilichen Befugnissen der Konsuln gehört endlich das ihnen zustehende Recht, Reichsangehörigen, welche sich in ihrem Amtsbezirke aufhalten, Pässe zu ertheilen und zu visiren, sowie §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. die von fremden Behörden ausgestellten Pässe zum Eintritt in das Bundesgebiet zu visiren Konsulatsges. §. 25. Vgl. das Gesetz über das Paßwesen v. 12. Okt. 1867 (B.-G.-Bl. S. 33) §. 6. 8. König , Handb. S. 163 fg. . Den Reichsangehörigen dürfen Pässe oder sonstige Reisepapiere, wenn sie die Ertheilung derselben be- antragen, nicht verweigert werden, sofern ihrer Befugniß zur Reise gesetzliche Hindernisse nicht entgegenstehen Gesetz v. 12. Okt. 1867 §. 1 Abs. 2. Als gesetzliche Hindernisse sind namentlich zu erachten die Militairpflicht, Polizeiaufsicht, gerichtliche Unter- suchung, berechtigte Einsprache der Landesbehörden. Vgl. Instruction zu §. 25 des Konsulatsgesetzes. . d ) Vormundschaftliche Befugnisse. Cura absentis . In einer Reihe von Fällen liegt den Konsuln eine Fürsorge für Vermögens-Interessen von Reichsangehörigen ob und sie haben dem entsprechend die Befugniß, in diese Vermögens-Angelegenheiten einzugreifen. Diese Thätigkeit fällt durchweg unter den juristischen Begriff der cura absentis Vgl. de Cussy , Réglements consulaires S. 19. Unrichtig würde es sein, den Konsul als einen negotiorum gestor im gewöhnlichen Sinne des Privatrechts anzusehen, welcher sich aus eigener Initiative in fremde Ver- mögens-Angelegenheiten einmengt. Der Konsul hat vielmehr einen staat- lichen Auftrag . Er ist dazu berufen, die dem Staate gestellte Aufgabe zum Schutz und zur Wohlfahrtspflege seiner Angehörigen, außerhalb des Staatsgebiets in dem Umfange zu erfüllen, als das Völkerrecht es zuläßt. Dieser Gesichtspunkt ist hinsichtlich der civilrechtlichen Verantwort- lichkeit des Konsuls gegenüber denjenigen Personen, deren Vermögensinte- ressen er wahrzunehmen hat, von Wichtigkeit. ; es ergeben sich hieraus die rechtlichen Voraussetzungen und Schranken. Der Konsul kann nur eingreifen, wenn die Betheiligten weder selbst zur Stelle sind noch für eine anderweitige Vertretung ihrer Interessen Sorge tragen. Sobald die Betheiligten in der Lage sind, ihre Rechte selbst wahrzunehmen, steht es dem Konsul nicht zu, sie in der Verfügung über ihre Vermögensstücke zu bevormunden resp. zu beschränken. Eine fernere Voraussetzung ist, daß nicht die territoriale Staatsgewalt die Für- sorge für die unvertretenen Vermögensinteressen Abwesender sich selbst und ihren eigenen Behörden ausschließlich beilegt. Die Konsular- Verträge haben jedoch gerade in dieser Beziehung die Befugnisse der Deutschen Konsuln gesichert Der Konsular-Vertrag mit den Vereinigten Staaten Art. 8 (R.-G.-Bl. 1872 S. 99) erklärt ausdrücklich, daß die Konsuln „als die gesetz- und in vielen Staaten wird allgemein §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. die Fürsorge der ausländischen Konsuln für die vermögensrechtlichen Angelegenheiten ihrer Schutzbefohlenen geduldet. Die einzelnen Fälle einer solchen konsularischen cura absentis sind folgende: α) Die in ihrem Amtsbezirk befindlichen Verlassenschaf- ten von Reichsangehörigen unterliegen der Fürsorge der Reichs- konsuln, wenn dieselbe wegen Abwesenheit der nächsten Erben oder aus ähnlichen Gründen geboten erscheint. Unter dieser Voraus- setzung sind sie befugt, den Nachlaß zu inventarisiren, zu versiegeln und, wenn es die Umstände erfordern, in Besitz zu nehmen Die ausführlichste Darstellung bei Esperson II. Nr. 154 fg. S. 94. Vgl. auch König , Handbuch S. 134 fg. . Sie sind sogar ermächtigt, Nachlaßgegenstände öffentlich zu verkaufen, insbesondere wenn dieselben dem Verderben oder der Entwerthung ausgesetzt oder schwer aufzubewahren sind, und die vorhandenen Gelder zur Tilgung der feststehenden Schulden zu verwenden Konsulatsges . §. 18. Abgesehen von den in diesem §. 18 erwähn- ten Fällen gehört die Erhebung oder Verwahrung von Geldern für Privat- personen nur dann zu den amtlichen Obliegenheiten eines Konsuls, wenn er von dem Auswärtigen Amte oder der ihm unmittelbar vorgesetzten Dienst- behörde ausdrücklich Auftrag dazu erhalten hat. Cirkular-Erlaß des Reichskanzlers v. 6. Dez. 1875 (Centralbl. 1875 S. 817). . Es liegt ihnen ferner ob, die Erben und, falls dieselben oder deren Aufenthalt nicht bekannt sind, das Reichskanzleramt von dem Todesfall in Kenntniß zu setzen und den Nachlaß, sobald es thun- lich ist, an die legitimirten Erbfolger oder an die kompetente ein- heimische Behörde zu senden Der Umfang der den Deutschen Konsuln zustehenden Befugnisse ist in den Konsular-Verträgen verschieden begränzt. Am engsten beschränkt ist er in dem Vertrage mit den Niederlanden Art. 11, etwas weiter geht der Vertrag mit den Vereinigten Staaten Art. 10. Alle wesentlichen Sicherungs-Maßregeln sind den Konsuln eingeräumt in Italien und Spa- nien Art. 11 u. 12, Salvador Art. 27, Costa Rica Art. 30. Mit Rußland ist ein besonderer Vertrag über die Regulirung von Hinterlassen- schaften geschlossen worden am 12. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 136). Die ausgedehntesten Befugnisse haben die Konsuln in denjenigen Gebieten, in denen . Auch der Nachlaß eines auf einem deutschen Schiffe verstor- lichen Vertreter der abwesenden Landsleute angesehen werden sollen“. Der Vertrag mit Salvador Art. 27 a. E. (1872 S. 394) überträgt ihnen sogar die Führung der Vormundschaft über Waisen und Minderjährige. Ebenso Vertrag mit Costa Rica Art. 30 a. E. Vgl. auch den Vertrag mit Italien Art. 11 Nro. 7 und mit Spanien Art. 11 Nr. 8. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. benen Schiffmannes kann von dem Schiffer einem Reichskonsulat übergeben werden. Der Konsul kann jedoch die Uebernahme der Nachlaßgegenstände „aus besonderen Gründen“ ablehnen Seemanns-Ordnung §. 52 Abs. 3. , d. h. wenn die Uebernahme zu unnöthigen und weitläufigen Schwierig- keiten führen würde, insbesondere wenn der Schiffer auf der Reise nach einem Deutschen Hafen sich befindet und die Nachlaßgegen- stände dorthin mitnehmen kann Die Konsular-Verträge räumen den Konsuln in Ansehung der Hinter- lassenschaften von Schiffsleuten und Schiffspassagieren in der Regel das aus- schließliche Recht der Inventarisirung und Sicherstellung ein. Italien und Spanien Art. 13. Vereinigte Staaten Art. 11. Vgl. die Kon- vention mit Rußland Art. 13. . β) Bei Unfällen , von welchen Deutsche Schiffe betroffen werden, haben die Konsuln die erforderlichen Bergungs - und Rettungsmaaßregeln einzuleiten und zu überwachen Konsulatsges. §. 36. . Wider den Willen des Schiffsführers sind — so wenig wie an den Deutschen Küsten Strandordnung v. 17. Mai 1874 §. 7 (R.-G.-Bl. S. 74). — an Deutschen Schiffen im Auslande Maßregeln zum Zweck der Bergung oder Hilfsleistung zu ergrei- fen. Wird der Konsul aber von dem Schiffer zur Leistung von Hülfe aufgefordert oder erfährt er, daß in der Nähe seines Wohn- sitzes ein deutsches Schiff in Noth ist, so hat er sofort sich zu ver- wenden, daß die zur Hülfeleistung erforderlichen Anstalten schleu- nigst getroffen werden. Es liegt ihm namentlich ob, auf Erfüllung der etwa durch völkerrechtliche Verträge übernommenen Zusiche- rungen zu dringen Alle Schifffahrts- und Konsular-Verträge enthalten solche Zusicherungen: Italien Art. 18. Spanien Art. 18. Salvador Art. 31. Nieder- lande Art. 9. Vereinigte Staaten Art. 16. Portugal Art. 19. Persien 10. Rußland 14. Costa Rica 34. — Vgl. Esperson II. Nro. 167 ff. S. 102. . Wenn der Konsul Grund hat, anzunehmen, daß an Gegen- ständen, welche von der See auf den Strand geworfen oder die aus dem Meeresgrunde heraufgebracht werden, Reichsangehörige einen vermögensrechtlichen Anspruch haben, so ist er zur Wahrung dieser Interessen befugt und verpflichtet. ihnen die Gerichtsbarkeit zusteht. Vgl. den Vertrag mit Persien Art. 15 und die Darstellung bei F. Martens , das Konsularwesen im Orient S. 489 ff. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. γ) Bei dem Verkaufe eines Schiffes durch den Schiffer ist der Konsul berufen, die Vermögens-Interessen des betreffenden Rheders wahrzunehmen Handelsgesetzb. Art. 499. Konsulatsges. §. 37. . Es handelt sich hier nur um den Fall, wenn der Schiffer von dem Rheder zum Verkaufe keine Vollmacht hat und nicht in der Lage ist, die Anordnung des Rheders oder Korrespondent-Rheders einzuholen, sondern kraft seiner gesetzlichen Stellvertretungsbefugniß zum Verkauf des Schiffes schreitet. Dazu ist er nur im Falle „dringender Nothwendigkeit“ ermächtigt und nachdem dieselbe durch das Gericht des Ortes nach Anhörung von Sachverständigen festgestellt ist. Bei dieser Feststellung ist der Reichskonsul, wo ein solcher vorhanden ist, zuzuziehen und derselbe hat dabei als Abwesenheits-Kurator des Schiffseigenthümers dessen Interesse zu vertreten. Auch wenn der Schiffer eine Bodmerei-Schuld aufneh- men will, kann er vor Ausstellung des Bodmereibriefs die Noth- wendigkeit der Eingehung des Geschäfts durch den Konsul beglau- bigen lassen Handelsgesetzb. Art. 686. Konsulatsges. §. 37. . Bei der dem Konsul hierbei obliegenden caussae cognitio handelt derselbe als curator absentis theils des Rheders theils der Ladungsbetheiligten Wenn der Eigenthümer des Schiffs oder der Ladung in die Verpfän- dung eingewilligt oder den Schiffer dazu bevollmächtigt hat, liegt ein Bodmerei- Vertrag im Sinne des H.-G.-B.’s überhaupt nicht vor. H.-G.-B. Art. 680. . Die vom Konsul ertheilte Be- scheinigung begründet die Vermuthung, daß der Schiffer zur Ein- gehung des Geschäfts in dem vorliegenden Umfang befugt gewesen sei; der Gegenbeweis ist jedoch zugelassen H.-G.-B. Art. 686. . δ) Die Reichskonsuln sind befugt, an Stelle eines verstorbe- nen, erkrankten oder sonst zur Führung des Schiffes untauglich gewordeuen Schiffers auf den Antrag der Betheiligten einen neuen Schiffsführer einzusetzen Konsulatsges. §. 35. Vgl. König , Handb. S. 235. . Wenn der Rheder oder Korrespondent-Rheder selbst für die Bestellung eines andern Schiffs- führers sorgt oder dazu in der Lage ist, fällt dieses Recht des Konsuls weg; zunächst wird derselbe daher, wenn es thunlich ist, den Rheder benachrichtigen und die Anweisung desselben einholen §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. müssen Ebenso ist die Befugniß des Konsuls ausgeschlossen, wenn der Schiffer selbst für einen Stellvertreter sorgt. H.-G.-B. Art. 483 Abs. 2. . Beauftragt der Rheder den Konsul mit der Ernennung eines Schiffsführers, so kommt der §. 35 cit. nicht zur Anwen- dung, sondern der Konsul handelt als Mandatar des Rheders. Das Konsulatsgesetz aber ermächtigt den Konsul, für den abwe- senden Rheder in dessen Interesse auch ohne dessen Auftrag zu handeln, wenn die Betheiligten (z. B. der erkrankte Schiffer, die Schiffsleute, die Ladungs-Eigenthümer u. s. w.) es beantragen Die Dienst-Instruction zu §. 35 des Kons.-Ges. enthält die näheren Vorschriften, nach welchen Rücksichten der Konsul bei Auswahl des Schiffsführers zu handeln hat. . Von den von ihm getroffenen Maßregeln hat er die Rheder oder die Rhederei (Korrespondent-Rheder) und event. die Regierung des Staates, dem das Schiff angehört, zu benachrichtigen. e ) Konsuln als Urkundspersonen . Eine der wichtigsten Funktionen der Konsulate besteht darin, daß sie über Thatsachen oder Rechtsgeschäfte, welche im Auslande stattgefunden haben, den Angehörigen des Reiches Beweismittel verschaffen oder sichern, welche vor den inländischen Behörden Be- weiskraft haben. Mit der Beseitigung oder Einschränkung der formellen Beweistheorie im Prozeß hat diese Funktion ihre Wich- tigkeit keineswegs verloren, denn theils ist in der Civilproceß-Ordn. §. 380 der Satz, daß öffentliche Urkunden vollen Beweis erbringen, ausdrücklich beibehalten worden, theils ist bei allen Urkunden, gleich- viel eine wie große Beweiskraft ihnen zukömmt, die Bescheinigung ihrer Echtheit von Belang; theils endlich haben Urkunden nicht blos die Bedeutung von Beweismitteln, sondern sie können eine wesentliche Form für die Rechtsgültigkeit eines Rechtsgeschäftes, eine rechtlich erforderte Voraussetzung seiner Wirksamkeit oder Klag- barkeit sein. Demgemäß ist den Konsuln als Urkundspersonen in drei verschiedenen Richtungen eine Thätigkeit zugewiesen: α) Sie können öffentliche Urkunden ausstellen . Als solche gelten alle schriftlichen Zeugnisse der Konsuln über ihre eigenen amtlichen Handlungen und über die bei Ausübung ihres Amtes wahrgenommenen Thatsachen, welche sie unter ihrem Siegel und unter ihrer Unterschrift ertheilen Konsulatsges. §. 15. Vgl. Civilproceß-Ordn. §. 380 ff. . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. β) Sie können Urkunden legalisiren , welche in ihrem Amtsbezirke ausgestellt oder beglaubigt sind Konsulatsges. §. 14. Durch die Civilproceß-Ordn. §. 403 Abs. 2 ist dieselbe Befugniß auch für die Gesandten anerkannt worden. . Die Legalisation bekundet zweierlei, nämlich daß die Person, welche die Urkunde ausgestellt hat, zur Zeit der Ausstellung diejenige Eigenschaft hatte, welche sie sich in der Urkunde beilegt, z. B. als Notar, Richter u. s. w., und ferner, daß ihre Unterschrift nach der Ueberzeugung des Kon- suls echt ist Die Legalisation bezieht sich demnach nur auf Urkunden, welche von ausländischen Behörden oder von Personen, die mit öffentlichem Glauben aus- gestattet sind, amtlich ausgestellt worden sind. Civilproceß-Ordn. §. 403 Abs. 1. — Von eigentlichen Notariats-Akten sind die Legalisationen zu unterscheiden. Vgl. die Instruktion zu §. 14 des Konsulatsgesetzes. . γ) Sie können Notariats-Urkunden aufnehmen in An- sehung aller Rechtsgeschäfte, welche Angehörige des Reichs errichten oder welche sie unter einander oder mit Fremden schließen Konsulatsges. §. 16. . Diese Befugniß erstreckt siich auf alle Verträge und einseitigen Rechts- geschäfte, insbesondere auch auf Testamente und andere Willenser- klärungen von Todeswegen Ob Konsuln rechtswirksam Wechselproteste aufnehmen können, bestimmt sich nach dem Rechte des Ortes . Wechsel-Ordn. §. 86. Ebenso ist die Frage, ob ein Testament rechtswirksam vor einem Notar und mithin auch vor einem Reichskonsul errichtet werden kann, nach der lex loci zu beurtheilen. . Die Form der konsularischen No- tariats-Akte ist im Konsulatsgesetz §. 16 und §. 17 vorgeschrieben Diese Vorschriften sind ausführlich erläutert in der allgemeinen Dienst- Instruktion. Eine sehr eingehende Darstellung der Notariats-Verrichtungen der Konsuln giebt Esperson II. Nro. 332—262 S. 139 ff. Vgl. auch König , Handb. S. 117 fg. ; ihre Beweiskraft ist der gleichgestellt, welche den innerhalb des Bundesgebietes aufgenommenen Notariats-Urkunden zukömmt. Die Befugniß als Notare zu fungiren, ist davon abhängig, daß die Staatsgewalt des Ortes dies duldet. Die Konsularver- träge haben diese Duldung zugesichert, bei allen einseitigen Rechts- geschäften von Reichsangehörigen, ferner bei allen Verträgen unter Reichsangehörigen, sowie zwischen Reichsangehörigen und anderen Einwohnern des Amtsbezirkes der Konsuln, endlich sogar zwischen fremden (d. h. nicht reichsangehörigen) Einwohnern des Amtsbe- zirkes, falls die Verträge auf ein im Bundesgebiet belegenes Grund- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. eigenthum oder auf ein daselbst abzuschließendes Geschäft sich be- ziehen Vertrag mit Italien Art. 10, Spanien Art. 10, Vereinigte Staaten Art. 9. Noch weiter gehend sind die Bestimmungen in dem Ver- trage mit Rußland Art. 9, welcher zwischen unbeweglichen und beweglichen Vermögensstücken nicht unterscheidet. Dagegen hebt dieser Art. ausdrücklich hervor, daß wenn der Vertrag ein Grundstück betrifft, das in dem Lande, in welchem der Konsul seinen Amtssitz hat, belegen ist, der Notariatsakt in der Form und nach Maßgabe der besonderen Bestimmungen, welche die Gesetze dieses Landes vorschreiben, abgefaßt sein muß. . Die im Amtsbezirk bestehenden Vorschriften über Stempel- abgaben oder Registrirung von Notariatsakten sind auch auf die Notariatsakte der Konsuln anwendbar. Die Reichs gesetzgebung kann den von den Konsuln aus- gestellten Urkunden nur im Herrschaftsgebiete der deutschen Reichs- gesetze Beweiskraft ertheilen; die Konsular- Verträge haben aber auch für das Staatsgebiet, in welchem die Konsuln ihren Amtsbe- zirk haben, den von denselben beglaubigten oder ausgestellten Ur- kunden die gleiche Kraft beigelegt, als wenn sie von den kompetenten Behörden oder den Notaren des Inlandes beglaubigt oder aufge- nommen wären Vrgl. die in der vorigen Anmerk. citirten Stellen der Konsular-Ver- träge. Bei den Notariats-Akten kömmt die staatliche Gewalt nicht den Con- trahenten gegenüber zur Anwendung; denn es besteht ihnen gegenüber kein Zwang; sie beantragen freiwillig die Aufnahme des Notariats-Aktes. Des- halb ist auch diese Funktion der Konsuln zugelassen, wenn Nichtangehö- rige ihres Staates vor ihnen Geschäfte abschließen. Die Staatsgewalt äußert sich allein in der Ausstattung der consularischen Notariats-Urkunden mit öffent- lichem Glauben, d. h. in dem Befehle an die Gerichte und anderen Be- hörden, diese Urkunden als vollgültige Beweismittel zu betrachten. Dieser Befehl kann natürlich nur den eigenen Behörden von jedem Staate ertheilt werden. Dasselbe gilt von dem Falle, wenn die Gesetzgebung die Gültigkeit oder Klagbarkeit eines Rechtsgeschäftes von dem notariellen Abschluß desselben abhängig macht. . f ) Richterliche Befugnisse . Daß ein Staat in dem Gebiete des andern der Regel nach keine Gerichtsbarkeit ausüben darf, daß demnach auch die Konsuln des Deutschen Reiches in ihren Amtsbezirken keine Jurisdiktion haben, bedarf keiner Ausführung. Damit ist es aber vereinbar, daß die Konsuln, wofern das Landesrecht dies nicht untersagt, einzelne Rechtsakte vornehmen können, welche in Deutschland zur §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Kompetenz der Gerichtsbehörden gehören, und daß diesen Rechts- akten der Reichskonsuln im Bundesgebiete die gleiche Wirk- samkeit beigelegt wird, als wären sie von inländischen Gerichten vollzogen worden. Dazu kömmt, daß ausnahmsweise in einigen orientalischen Staatsgebieten den Konsuln des Deutschen Reiches auf Grund des Herkommens oder besonderer völkerrechtlicher Ver- träge die volle Gerichtsbarkeit zugestanden worden ist. α) Die Konsuln können innerhalb ihres Amtsbezirks an die dort sich aufhaltenden Personen auf Ersuchen der Behörden eines Bundesstaates Zustellungen jeder Art bewirken ; insbe- sondere also auf Requisition Deutscher Gerichte Klagen behändigen und Vorladungen insinuiren. Durch das schriftliche Zeugniß des Konsuls über die erfolgte Zustellung wird diese nachgewiesen Konsulatsges. §. 19. Civilproceß-Ordn. §. 182. 185 Abs. 2. . β) Die Konsuln sind befugt, Verklarungen aufzunehmen und in Fällen der großen Haverei auf Antrag des Schiffsführers die Dispache aufzumachen Konsulatsges. §. 36. Im Bundesgebiete muß die Verklarung bei dem zuständigen Gerichte aufgenommen werden, H.-G.-B. Art. 492, die Dispache wird durch die dazu ein für allemal obrigkeitlich bestellten oder in deren Er- mangelung durch die vom Gerichte besonders ernannten Personen (Dispacheure) aufgemacht, H.-G.-B. Art. 731. Die Befugniß der Konsuln ist anerkannt in den Verträgen mit Italien Art. 17, Spanien 17, Salvador 30, Vereinigte Staaten 15, Rußland 13, Costa Rica 33, falls nicht Angehörige des eigenen Staates oder eines dritten Staates an der Ha- varegrosse betheiligt sind. . Ferner können sie in dem, im §. 16 des Reichsgesetzes v. 25. Okt. 1867 vorgesehenen Falle interimistische Schiffscertifikate (Flaggen-Atteste) ertheilen. γ) Der Reichskanzler kann Bundeskonsuln die Ermächtigung ertheilen zur Abhörung von Zeugen und zur Abnahme von Eiden . Die von diesen Konsuln aufgenommenen Verhand- lungen stehen den Verhandlungen der zuständigen inländischen Be- hörden gleich Konsulatsges. §. 20. Nach der Instruktion zu diesem Paragraphen bezieht sich derselbe nur auf Handlungen der Gerichtsbarkeit und die Thätigkeit der Konsuln kann nur auf Ersuchen inländischer Be- hörden stattfinden. — Durch das Reichsges. v. 27. Juli 1877 §. 15 (R.-G.-Bl. S. 552) sind die Konsulate jetzt auch verpflichtet, bei Seeunfällen zur vorläu- figen Feststellung des Thatbestandes Beweiserhebungen vorzunehmen, welche keinen Aufschub dulden. . Die Ermächtigung wird den Konsuln persön- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. lich ertheilt; sie ist für die rechtliche Wirksamkeit der vom Konsul aufgenommenen Verhandlungen eiue wesentliche Voraussetzung Es ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, daß die Ermächtigung einem Kon- sul generell ertheilt werden muß; sie kann auch auf einen einzelnen Fall beschränkt sein. Die näheren Vorschriften über das von den Justizbehörden einzuhaltende Verfahren, wenn sie eine solche spezielle Ermächtigung eines Konsuls zur Abnahme eines Eides oder zur eidlichen Vernehmung eines Zeu- gen herbeiführen wollen, sind enthalten in den Verfügungen des Preuß. Justiz- Ministers v. 20. Nov. 1869 und vom 10. April 1870 (Justiz-Ministerial-Bl. 1869 S. 230. 1870 S. 111). . δ) Eine volle, auf Civil- und Strafsachen sich erstreckende Jurisdiktion über Reichsangehörige und Schutzgenossen steht den Konsuln in der Türkei und einigen Staaten Asiens zu (vgl. Bd. I. S. 366 ff.). g ) Führung der Matrikel . Jeder Reichskonsul hat ein Verzeichniß der in seinem Amts- bezirke wohnenden und zu diesem Behufe bei ihm angemeldeten Reichsangehörigen zu führen Konsulatsges. §. 12 Abs. 1. . Hierin liegt ursprünglich keine Ausübung einer obrigkeitlichen Funktion; es gibt keine juri- stische Pflicht der Reichsangehörigen zur Meldung und die Ein- tragung hat in sehr vielen Fällen gar keine juristische Wirkung Vgl. über die Frage nach der fakultativen oder obligatorischen An- meldepflicht und über die im Orient bestehenden Einrichtungen und Vorschriften F. Martens S. 555 ff. . Es kann aber eine solche mit derselben verknüpft sein und in der Eintragung in die Matrikel eine Aeußerung der Reichsgewalt verwirklicht werden, indem einem Reichsangehörigen, so lange er in die Matrikel eingetragen ist, sein heimathliches Staatsbürger- recht erhalten bleibt Konsulatsges. §. 12 Abs. 2. Ges. v. 1. Juli 1870 §. 21. Vgl. dar- über Bd. I. S. 173 fg. . Da durch die Eintragung das Staats- bürgerrecht und die Reichs-Angehörigkeit nicht erworben werden kann, so muß der Konsul, bevor er die Eintragung vornimmt, prüfen, ob der sich Meldende auch in der That ein Reichsange- höriger ist. Gewöhnlich wird dieser Nachweis durch Heimaths- scheine oder Pässe erbracht werden Nähere Angaben enthält die Instruktion zu §. 12 cit. Vgl. auch König , Handb. S. 91 fg. . Ueber die erfolgte Ein- tragung erhält der Eingetragene auf sein Verlangen ein vom Kon- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. sul ausgestelltes Attest (Matrikelschein, Patent); dasselbe wird aber der Regel nach nur für die Dauer des laufenden Kalenderjahres ausgestellt, ist also nach Ablauf desselben zu erneuern. In die Matrikel sind nur die in dem Amtsbezirke des Konsuls wohnen- den Reichsangehörigen einzutragen, nicht vorübergehend sich da- selbst aufhaltende; und die ansässigen auch nur dann, wenn sie es verlangen („sich zu diesem Behufe bei ihm anmelden“). Die Löschung erfolgt, wenn der Eingetragene die Reichsangehörigkeit verliert, wenn er aus dem Amtsbezirke seinen Wohnsitz verlegt, und wenn er stirbt. Auch auf Antrag des Reichsangehörigen (Ab- meldung) muß die Löschung vorgenommen werden, wenngleich er im Bezirke wohnen bleibt Wird die Erneuerung des Matrikelscheines nach Ablauf des Kalender- jahres, für welches derselbe ausgestellt wird, unterlassen, so findet die Löschung in der Matrikel lediglich aus diesem Grunde nicht statt. Verf. des Reichs- kanzlers v. 5. Nov. 1872. König , Handb. S. 98. . Der von dem Konsul zu ertheilende Schutz und die Geltend- machung der ihm zustehenden obrigkeitlichen Befugnisse sind in An- sehung der Reichsangehörigen völlig unabhängig davon, ob die letzteren in der Matrikel des Konsuls eingetragen sind oder nicht. Abweichende Vorschriften bestehen für die Konsularbehörden im Türkischen Reiche nebst Aegypten, Rumänien und Serbien, sowie in China und Japan Diese Vorschriften sind enthalten in der Instruktion des Reichs- kanzlers v. 1. Mai 1872 (abgedruckt in Hirth ’s Annalen 1872 S. 1263 fg.; bei Hänel und Lesse S. 103 fg.; bei König , Handb. S. 434 fg.). . In diesen Gebieten ist eine Matrikel über sämmtliche , dauernd in dem Consularbezirke anwesenden Schutz- genossen zu führen. Die Schutzgenossen zerfallen in drei Klassen, für welche verschiedene Bestimmungen gelten: α) Reichsangehörige . Dieselben sind verpflichtet, unter dem deutschen Schutze zu stehen §. 2 a. a. O. ; sie sind demgemäß verbunden, in den ersten 3 Monaten ihres Aufenthaltes im Amtsbezirke des Konsuls sich bei demselben zu melden und unter Vorlegung ihrer Legitimationspapiere ihre Eintragung in die Matrikel zu erwirken, oder wenn dies ausnahmsweise nicht erreichbar ist, die Ausstellung provisorischer Schutzscheine zu beantragen §. 10 Abs. 1 a. a. O. . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. β) Angehörige solcher Staaten , welchen durch Staats- verträge oder sonstige Verabredungen mit dem deutschen Reiche oder einem der zu demselben gehörigen Staaten der Schutz der deutschen Konsularbehörden für ihre Nationalen zugesagt ist §. 1 Nro. 2 a. a. O. Solche Verträge sind geschlossen worden mit Oesterreich und der Schweiz. . Diese Personen werden nur auf ihren Antrag in den Schutz aufgenommen und nur in dem Falle, daß nicht der Staat, dem sie angehören, selbst eine eigene konsularische Vertretung hat. Wird eine solche errichtet, so scheiden sie aus der deutschen Schutzgenossenschaft aus §. 18 Nro. 6 a. a. O. . Auch wird es nicht gestattet, daß sie gleichzeitig unter dem consu- larischen Schutze eines andern Staates stehen; sind sie demselben unterworfen oder haben sie sich ausdrücklich unter den Schutz der Lokalbehörde gestellt, so muß dieses Schutzverhältniß erst gelöst werden, bevor sie der deutsche Konsul in die Matrikel eintragen darf a. a. O. §. 17. . γ) Sogenannte de facto Unterthanen . Als solche können aufgenommen werden Personen deutscher Nationalität, welche die Reichsangehörigkeit verloren haben oder welche von solchen Personen abstammen „falls die Aufzunehmenden in der That die Deutsche Nationalität noch bewahrt haben, was an der Sprache, deren sie sich bedienen und an ihren sonstigen Verhältnissen leicht zu erkennen sein wird“ a. a. O. §. 13 Abs. 3. , oder Deutsche, welche den Schutz nicht auf Grund von Staatsverträgen in Anspruch nehmen können, und ferner die Dra- gomans, Kawassen, Jassakdschis und sonstigen Unterbeamteu der Gesandschaften und Konsulate, die Familien derselben und Indi- viduen, welche früher ein solches Amt bekleidet haben. Die Auf- nahme einer Person in den Schutz ist ein zweiseitiges Rechtsge- schäft, welches der Verleihung der Staatsangehörigkeit ganz analog ist Vgl. Bd. I. S. 166 ff. . Es ist in jedem einzelnen Falle ein Konsens erforderlich, nämlich einerseits der Antrag dessen, der den Schutz zu haben wünscht, andererseits die Bewilligung des diplomatischen Ver- treters des Reiches (Gesandten) Instruktion v. 1. Mai 1872 §. 13. Nur bei den Beamten der Ge- sandtschaften und Konsulate ist, so lange sie im Amte stehen, die Genehmigung . Laband , Reichsstaatsrecht. II. 18 §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. Sämmtliche Schutzgenossen, gleichviel welcher dieser drei Klassen sie angehören, werden in dieselbe Matrikel unter fortlau- fenden Nummern eingetragen; sie erhalten über die erfolgte Ein- tragung einen Schutzschein und müssen denselben im Monat Januar jedesmal für das laufende Kalenderjahr erneuern lassen a. a. O. §. 5. 6. 8. 10 Abs. 2. . Die Löschung erfolgt, wenn die rechtlichen Voraussetzungen der Schutzgenossenschaft wegfallen, ferner durch den Uebertritt des Schutz- genossen zum Islam Die Fälle, in denen das Schutzverhältniß endet, sind im §. 18 der citirten Instruktion unter 9 Nummern aufgeführt. . Schutzgenossen, welche nicht Reichsange- hörige sind, werden auf ihren Antrag entlassen, sofern sie nicht noch Verbindlichkeiten zu erfüllen haben, insbesondere bei schweben- den Rechtsangelegenheiten betheiligt sind Wenn der Konsul gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet hat, so kön- nen sie sich demselben nicht durch Aufgeben der Schutzgenossenschaft entziehen. Vgl. das Urtheil des Reichs-Oberhandelsger . vom 2. Febr. 1875. Entsch. Bd. 16 S. 17 ff. ; sie können aber auch von dem Konsul der Eigenschaft als Schutzgenosse für verlustig er- klärt werden, wenn sie durch bescholtenen, mit Vergehen oder Ver- brechen befleckten Lebenswandel oder durch wiederholte Nichterfül- lung ihrer Pflichten gegen die Schutzbehörde sich des Schutzes un- würdig machen Gegen die Entscheidung des Konsuls steht innerhalb 10 Tagen der Rekurs an die Kaiserl. Mission zu; bis deren Entscheidung erfolgt, ist der Schutz zu versagen. a. a. O. §. 18 Nr. 9. . Ueber die Führung der Matrikel und die in derselben vor- genommenen Veränderungen hat der Konsul im Februar jeden Jahres einen Bericht an die Kaiserliche Gesandschaft zu erstatten a. a. O. §. 20. . Allen Schutzgenossen wird der consularische Schutz in dem durch Gesetze, Verträge und Herkommen begründeten Umfange gleich- mäßig gewährt a. a. O. §. 4. , dafür sind sie auch gleichmäßig der vollen Ge- richtsbarkeit des Konsuls unterworfen Konsulatsges. §. 22 Abs. 2. . 3. Amtsgeschäfte ohne obrigkeitlichen Charakter . Den Konsuln liegt eine vielseitige amtliche Thätigkeit ob, bei des Gesandten nicht erforderlich, wohl aber für die Familie der Beamten, §. 14. 15 eod. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. welcher die staatliche Gewalt des Reiches über seine Angehörigen nicht zur Geltung kömmt, die demnach nicht als Ausübung einer obrigkeitlichen Herrschaft, sondern nur als thatsächliche Dienstleistung zu Gunsten des Reiches und seiner Angehörigen erscheint. Die staatsrechtliche Bedeutung dieser Dienstleistung beschränkt sich allein darauf, daß die letztere einen Bestandtheil der amtlichen Pflichten des Konsuls bildet, deren Verletzung ein disciplinarisches Einschrei- ten begründen kann Vgl. Bd. I. S. 447 ff. . Amtsgeschäfte dieser Art können den Kon- suln theils durch den Befehl der vorgesetzten Behörde, sei es für den einzelnen Fall durch spezielle Anweisung, sei es im Allgemeinen durch Dienst-Instruktion auferlegt werden, theils auch durch gesetz- liche Anordnungen. Ihrem Inhalte nach sind auch die letzteren keine Rechtssätze, sondern Verwaltungsvorschriften. Diese Amtsge- schäfte lassen sich auf folgende Kategorien zurückführen. a ) Die Konsuln haben den Angehörigen des Reiches und den Schutzgenossen desselben in ihren Privat-Angelegenheiten Rath und Beistand zu gewähren Konsulatsges. §. 1. Eine Pflicht der Reichsangehörigen, dem Rathe des Konsuls Folge zu leisten, besteht aber nicht. . Es versteht sich von selbst, daß diese Pflicht nicht auf diejenigen Reichsangehörigen beschränkt ist, welche sich im Amtsbezirke des Konsuls aufhalten, sondern daß sie sich auf alle Reichsangehörigen bezieht, welche Interessen daselbst wahrzunehmen haben. b ) Wenn Angehörige des Reiches unter sich oder mit Fremden Rechtsstreitigkeiten haben, so sind die Konsuln „berufen“, auf den Antrag der Parteien den Abschluß von Vergleichen zu vermitteln und, falls die Parteien sie in der durch die Ortsgesetze vorgeschriebenen Form zu Schiedsrichtern ernannt haben, das Schiedsrichteramt zu übernehmen Konsulatsges. §. 21. . Hierdurch ist den Konsuln keinerlei richterliche Gewalt beigelegt; kein Reichsangehöriger ist verpflichtet, die Vergleichsvermittelung oder den Schiedsspruch des Konsuls sich gefallen zu lassen. Die Konsuln sollen nicht von Amtswegen sich einmengen, sondern nur dann, wenn die Parteien ihre Vermittlung beantragen, und sie sollen nur dann als Schieds- richter urtheilen, wenn ein nach dem Landesrecht rechtswirksamer Schiedsvertrag unter den Parteien abgeschlossen worden ist, durch 18* §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. welchen der Konsul zum Schiedsrichter eingesetzt worden ist Die Konsuln müssen darauf achten, daß der Schiedsvertrag auch wirk- lich rechtsbeständig abgeschlossen ist, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, daß die Gerichte des Ortes ihren Spruch für nichtig erklären. . Dem Konsul wird lediglich die dienstliche Pflicht auferlegt, das ihm angetragene Amt eines Vermittlers oder Schiedsrichters an- zunehmen In den Konsular-Jurisdictions-Bezirken gelten selbstverständlich andere Regeln. Vgl. ferner hinsichtlich der Schiffsleute oben S. 259. . c ) Hülfsbedürftigen Reichsangehörigen haben die Reichskonsuln nach Maßgabe der ihnen ertheilten Amtsinstruk- tion Unterstützungen zur Milderung augenblicklicher Noth oder zur Rückkehr in die Heimath zu gewähren Konsulatsges. §. 26. . Für den zuletzt gedachten Zweck können sie die Mithülfe der Befehlshaber Deutscher Kriegs- schiffe in Anspruch nehmen Konsulatsges. §. 29. Für die Mitnahme hülfsbedürftiger Seeleute kommen die Vorschriften des Reichsgesetzes v. 27. Dez. 1872 zur Anwendung. Siehe oben S. 258. . Ein Recht auf Unterstützung aus Mitteln des Reiches hat ein Reichsangehöriger, welcher im Aus- lande hülfsbedürftig wird, in keinem Falle; der Reichskonsul hat daher niemals gegen den hülfsbedürftigen Angehörigen des Reiches eine rechtliche Verpflichtung, ihn zu unterstützen, sondern er erfüllt lediglich eine amtliche Pflicht gegen das Reich. Wenn der Hülfs- bedürftige bei den Behörden oder Wohlthätigkeits-Anstalten des Ortes Unterstützung finden kann oder wenn alimentationspflichtige Verwandte desselben am Orte sind, so muß der Konsul ihn zu- nächst auf diese Hülfsquellen verweisen und in allen Fällen hat der Konsul seine Ausgaben auf das nothwendigste Maß zu beschränken Gänzlich zn versagen ist die Unterstützung Deserteuren, ausgetretenen Militärpflichtigen, offenbar unwürdigen Individuen, ingleichen solchen Reichs- angehörigen, welche die Staatsangehörigkeit eines andern Landes erworben haben oder ohne Erlaubniß in fremde Militär- oder Civildienste getreten sind. — Instruktion zu §. 26. . Die von ihm gemachten Auslagen kann der Konsul entweder direkt von dem zum Ersatz Verpflichteten einziehen oder sie beim Aus- wärtigen Amte des Reiches liquidiren Die Instruktion zum §. 26 v. 22. Febr. 1873 enthält die näheren, sehr ausführlichen Anweisungen (Hänel u. Lesse S. 65—69). Ueber die Vor- aussetzungen der Klage des Konsuls oder Fiskus auf Erstattung der von . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. d ) Den Schiffen der Kriegsmarine des Reiches und der Besatzung derselben haben die Konsuln Beistand zu gewähren. Außer der gegen alle Reichsangehörigen in dieser Hinsicht ihnen obliegenden Pflicht ist den Konsuln besonders vorgeschrieben, die Befehlshaber dieser Schiffe von den in ihrem Amtsbezirke in Be- zug auf fremde Kriegsschiffe bestehenden Vorschriften und Ortsge- bräuchen zu unterrichten Vgl. darüber König , Handb. S. 177 fg. ; ferner ihnen von etwa dort herrschen- den epidemischen und ansteckenden Krankheiten Mittheilung zu machen; endlich ihnen zur Wiederhabhaftwerdung desertirter Mann- schaften behülflich zu sein Konsulatsges. §. 27. 28. Ueber die Mitwirkung der Landesbehörden zur Ergreifung von Deserteuren und über die Pflicht zur Auslieferung der- selben enthalten alle Konsulats-Verträge detaillirte Vorschriften: Italien 16, Spanien 16, Mexiko 24, Salvador 29, Niederlande 10, Ver- einigte Staaten 14, Portugal 18, Rußland 12, Costa Rica 32. . e ) Endlich haben die Konsuln das Interesse des Reiches , namentlich in Bezug auf Handel, Verkehr und Schifffahrt thun- lichst zu schützen und zu fördern, die Beobachtung der Staatsver- träge zu überwachen, und insbesondere dem Reichskanzler über diese Angelegenheiten Berichte zu erstatten Konsulatsgesetz §. 1 u. §. 3. . Wenn sich Vorfälle ereignen, deren sofortige Kenntniß von Interesse ist, oder wenn der Konsul besonderer Verhaltungsmaßregeln bedarf, so ist sofort zu berichten. Hinsichtlich der laufenden Verwaltung aber hat der Konsul möglichst bald nach dem Schlusse des Kalenderjahres einen Generalbericht über seine gesammte Thätigkeit an den Reichs- kanzler einzusenden. In demselben ist eine statistische Zusammen- stellung über den Handels- und Schifffahrtsverkehr mit Deutsch- land nach den näheren Anweisungen der Dienst-Instruktion zu geben Nach einem Cirkular v. 14. März 1874 sind die jährlich zu er- stattenden Handelsberichte abgesondert einzureichen, während weiter- gehende Mittheilungen, Urtheile über Personen und Verhältnisse u. s. w. und die Darstellung der gesammten Amtsthätigkeit der Konsulate in einem beson- deren Bericht zu behandeln sind. König , Handbuch S. 68. und eine gutachtliche Aeußerung beizufügen, welche Aus- ihm gemachten Auslagen gegen alimentationspflichtige Verwandte, namentlich den Vater, des Unterstützten, vgl. das Urtheil des Reichs-Oberhandels- gerichts v. 18. Nov. 1871 (Entscheid. Bd. IV. S. 39). §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. sichten für den Deutschen Handel und die Deutsche Schifffahrt im Amtsbezirke des Konsuls für das nächste Jahr sich eröffnen und in welcher Weise auf die Hebung derselben hinzuwirken sein dürfte Dienstinstruktion zu §. 3. . 4. Leitung der konsularischen Verwaltung . a ) Dem Kaiser steht die Aufsicht über das gesammte Kon- sulatwesen des deutschen Reiches zu; er ernennt daher die Konsuln R.-V. Art. 56 Abs. 1. und fertigt ihre Bestellung aus V. v. 23. Nov. 1874 §. 2. Siehe Bd. I. S. 405. ; er verfügt ihre Entlassung oder Versetzung in den einstweiligen Ruhestand Reichsbeamtengesetz v. 31. März 1873 §. 25. . b ) Dem Bundesrathe ist eine Theilnahme an dieser obersten Leitung der Konsulatsverwaltung zunächst ausdrücklich zugesichert im Art. 56 der R.-V., wonach der Kaiser die Konsuln „nach Ver- nehmung des Ausschusses des Bundesrathes für Handel und Ver- kehr“ anstellt Diese Bestimmung fehlte in dem Preuß. Entw. der Bundesverfassung. Auch nach dem früheren Preuß. Recht nahm der „Chef der Abtheilung für Gewerbe“ d. i. der Handelsminister an der Besetzung der Konsulate Theil. V. v. 27. Oktober 1810 (G.-S. S. 22 Ziff. 2). ; ferner im §. 23 des Konsulatsgesetzes, welcher bestimmt, daß die Jurisdiktionsbezirke der einzelnen Konsuln vom Reichskanzler nach Vernehmung desselben Bundesraths-Ausschusses abgegränzt werden. Außerdem findet aber das im Art. 7 Z. 2 der R.-V. dem Bundesrathe zugewiesene Recht der Beschlußfassung über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Ver- waltungsvorschriften und Einrichtungen auch hinsicht- lich der Konsulatsverwaltung Anwendung, da weder die Reichsver- fassung noch das Konsulatsgesetz hiervon eine Ausnahme anerkennen Eine Ausnahme besteht nur hinsichtlich der Konsular-Gerichts- barkeit . Das Preuß. Gesetz v. 29. Juni 1865 §. 60 überträgt den Er- laß der Ausführungs-Bestimmungen den Ministern der Auswärtigen Angelegen- heiten und der Justiz. Das Konsulatsges. §. 24 erhebt dieses Gesetz zum Reichsgesetz, indem es die nach Maßgabe desselben den Preuß. Ministern zu- stehenden Befugnisse dem Reichskanzler überträgt. . Zu den „Einrichtungen“ gehört die Errichtung neuer Konsulate, zu den „allgemeinen Verwaltungsvorschriften“ die allgemeine Dienst- instruktion Die Dienst-Instruktion v. 6. Juni 1871 ist lediglich vom Reichskanzler . §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. c ) Der Reichskanzler hat die dem Kaiser zustehende Auf- sicht über das Konsulatswesen auszuüben. Er überwacht die Ge- schäftsführung der Konsulate, er ertheilt den Konsuln die erforder- lichen Anweisungen in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse und an ihn haben die Konsuln ihre Berichte zu senden Konsulatsges. §. 3. Das Verhältniß des Reichskanzlers zu dem Bun- desrath hinsichtlich der Instruktion der Konsuln ist demnach dahin zu bestim- men, daß die Spezial-Anweisungen in den einzelnen Fällen vom Reichs- kanzler selbstständig ertheilt, die allgemeinen Verwaltungsvorschriften da- gegen vom Bundesrath beschlossen und vom Reichskanzler den Konsuln zur Nachachtung mitgetheilt werden, dem dann die Kontrole ihrer Befolgung obliegt. . Diese Geschäftsthätigkeit des Kanzlers gehört zum Ressort des Auswär- tigen Amtes und zwar zur zweiten Abtheilung desselben, mit welchem die Konsulate in direktem Schriftenwechsel stehen und dem sie dienstlich unmittelbar untergeordnet sind. Indessen stehen die Konsulate in allen Angelegenheiten, denen ein politisches Interesse zukömmt, auch in einem gewissen Unterordnungs-Verhältniß zu den Kaiserlichen Gesandtschaften , welche in dem Staate ihres Amts- bezirkes errichtet sind König , Handb. S. 34. Vgl. auch Esperson II. Nro. 23 S. 22. Wo General-Konsulate bestehen, hat der General-Konsul über die Thätigkeit der zu seinem Sprengel gehörigen Konsuln und Vicekonsuln eine Ueberwachung und Leitung auszuüben. (Motive zum Konsulatsges. §. 2. Druck- sachen des Reichst. 1867 Nro. 79 S. 138.) . Berichte allgemeinen Inhaltes sind durch die Hand des Gesandten dem auswärtigen Amte einzureichen oder dem Gesandten abschriftlich oder auszugsweise mitzutheilen Allgem. Dienst-Instrukt. zu §. 3. . Zur Wahrung völkerrechtlicher Befugnisse und politischer Interessen des Reiches sind in erster Linie die Gesandtschaften berufen; die Kon- suln dürfen denselben niemals entgegen handeln, sondern nur, so- weit ihre Dienste in Anspruch genommen werden, sie unterstützen; sie müssen daher den ihnen in dieser Beziehung ertheilten Anwei- sungen Folge leisten. d ) Da zahlreiche von den Konsuln zu bearbeitende Angelegen- erlassen. Nur bei dem ihr angehängten, durch das R.-G. v. 1. Juli 1872 außer Wirksamkeit gesetzten, provisorischen Gebühren-Tarif ist bemerkt, daß derselbe im Einvernehmen mit dem Ausschusse für Handel und Verkehr erlassen worden ist (Konsulatsges. §. 38). Dasselbe gilt von den Bestimmungen der Nachtrags-Instruktion v. 23. Febr. 1873 §. 37 zur Ausführung des §. 47 der Seemanns-Ordnung. §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. heiten ohne alles politische Interesse sind, sondern lediglich die Privatverhältnisse einzelner Reichs-Angehörigen betreffen oder auf die Erledigung von Requisitionen, welche Landesbehörden an das Konsulat gerichtet haben, sich beziehen, so besteht hinsichtlich der Geschäftsleitung der Konsulate keine so streng durchgeführte Cen- tralisation wie hinsichtlich der Gesandtschaften. Es ist vielmehr bei allen Angelegenheiten ohne allgemeines Interesse den Reichskonsu- laten eine direkte Korrespondenz gestattet mit den Privatper- sonen , deren Angelegenheiten die Konsuln zu fördern haben, ferner mit den Behörden des Reichs und der Einzelstaaten, welche eine amtliche Thätigkeit oder Auskunft von dem Konsul erfordern Instruktion zu §. 3 (S. 15 der offiz. Ausgabe). Vgl. auch Civilproc.- Ordn. Art. 328 Abs. 2 und Art. 700 Abs. 2. , endlich mit den Regierungen der Deutschen Bundesstaaten. In Beziehung auf die letzteren ist den Konsuln im Konsulats- gesetz §. 3, in gewissen Fällen die direkte Berichterstattung zur Pflicht gemacht Wenn die Angelegenheit von allgemeinem Interesse ist, so ist der Bericht in der Regel an das Auswärtige Amt zu senden und nur in dring- lichen Fällen ist gleichzeitig die erforderliche Anzeige über erhebliche That- sachen unmittelbar an die zunächst betheiligte Regierung zu erstatten. Wenn die Angelegenheit dagegen nur das Interesse eines einzelnen Bundesstaates oder einzelner Reichsangehöriger angeht, so ist der Bericht an die Regierung des in Betracht kommenden Bundesstaates zu senden. , und es ist den Regierungen der einzelnen Bundes- staaten gestattet, in Angelegenheiten, welche ihr Sonderinteresse oder das ihrer Angehörigen betreffen, den Reichskonsulaten Aufträge zu ertheilen Ueber speziell Preuß. Angelegenheiten ist jedoch nicht an das Preuß. Ministerium, sondern an das Auswärtige Amt des Deutschen Reiches zu be- richten. König , Handbuch S. 37. . e ) Die Sicherung des dienstlichen Gehorsams der Konsuln ist nicht wie bei den Gesandten durch eine besondere Straf - androhung gegen amtliche Befehle des Vorgesetzten erfolgt; §. 353 a Abs. 2 des Strafgesetzb. bezieht sich auf Konsnln nicht; aber einige verwaltungsrechtliche Sätze dienen diesem Zwecke. Da die Thätig- keit der Konsuln nur zum Theil durch Gesetze geregelt ist, zum an- dern Theil dagegen durch das freie Ermessen der Verwaltungs- Organe bestimmt wird, so ist der von den Konsuln vor Antritt ihres Amtes zu leistende Eid darauf gerichtet, „daß sie ihre Dienst- §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. pflichten nach Maaßgabe des Gesetzes und der ihnen zu er- theilenden Instruktionen treu und gewissenhaft erfüllen wollen“ Konsulatsges. §. 4. Diese, durch Gesetz vorgeschriebene Formel ist von der Verordn. v. 29. Juni 1871 (R.-G.-Bl. S. 303) unberührt geblieben. . Es können ferner die Wahlkonsuln jeder Zeit ohne Entschädigung aus ihrem Amt entlassen werden Konsulatsges. §. 10 Abs. 3. , während die Be- rufskonsuln zu denjenigen Beamten gehören, welche jeder Zeit gegen Wartegeld einstweilig in den Ruhestand versetzt werden können Reichsbeamtenges. §. 25. . Wenn Berufskonsuln sich von ihrem Amte entfernt halten, so werden sie so angesehen, als ob sie die Enthebung von ihrem Amte nach- gesucht hätten Konsulatsges. §. 6. Eine kurze Abwesenheit des Konsuls von seinem dienstlichen Wohnsitz ist von dem Falle zu unterscheiden, daß sich der Konsul „von seinem Amte entfernt hält“. Vgl. die Allgem. Dienst-Instrukt. zu §. 6. . 5. Das Kostenwesen . a ) Gebühren . Das Gesetz vom 1. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 245) hat die Gebühren, welche bei den Deutschen Konsulaten zu erheben sind, geregelt Bis zu dem Eintritt der Rechtskraft dieses Gesetzes (1. Oktober 1872) galt ein provisorischer Gebühren-Tarif v. 15. März 1868. Für die mit Ge- richtsbarkeit versehenen Konsuln ist der (Preußische) Tarif v. 24. Oktober 1865 in Kraft erhalten worden hinsichtlich derjenigen Amtsgeschäfte, für welche der dem Gesetz vom 1. Juli 1872 angehängte Tarif keine Ansätze enthält. §. 8 dieses Gesetzes. . Es besteht in dieser Hinsicht ein durchgreifender Unter- schied zwischen Berufs-Konsuln und Wahlkonsuln, indem die ersteren die Gebühren für das Reich, also für fremde Rechnung, die letzteren dagegen für sich selbst erheben Konsulatsges. §. 8 Abs. 4, § 10 Abs. 1. . Insofern die Wahlkonsuln aber Ersatz ihrer dienstlichen Aus- lagen aus Reichsmitteln verlangen Konsulatsges. §. 10 Abs. 2. , kommen die von ihnen ver- einnahmten Gebühren in Abrechnung, erfolgen also in Wahrheit für Rechnung des Reiches Instruktion vom 6. Juni 1871 zu §. 10. . Berufskonsnln und Wahlkonsuln der zuletzt erwähnten Art dürfen deshalb die Gebühren nur im Falle der Dürftigkeit der Betheiligten erlassen, während es den übrigen Wahlkonsuln freigestellt ist, die Gebühren zu ermäßigen oder ganz §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. zu erlassen Gesetz vom 1. Juli 1872 §. 2 Abs. 1. . Eine Anzahl von Amtshandlungen müssen im Falle der Bedürftigkeit der Betheiligten sowohl von Berufskonsuln als von Wahlkonsuln gebührenfrei verrichtet werden Dieselben sind im §. 2 Abs. 2 aufgeführt. Außerdem besteht der Grund- satz, daß für diejenigen Amtshandlungen, welche im Tarife nicht vorgesehen sind, Gebühren nicht erhoben werden dürfen. Die Anwendung der einzelnen Positionen auf analoge Fälle ist nicht zulässig. König , Handb. S. 284. . Der Gebühren- Tarif hat zwei verschiedene Ansätze, die einen für die Konsulate in Europa ausschließlich der Türkei nebst ihren Vasallenstaaten, die anderen für die Konsulate außerhalb Europa’s und in der Türkei nebst Vasallenstaaten. Außer den Gebühren sind den Konsuln baare Auslagen be- sonders zu erstatten und die Wahlkonsuln können für dienstlich ver- ausgabte Gelder ortsübliche Zinsen berechnen Gesetz vom 1. Juli 1872 §. 6 u. 7. Ueberdies ist im §. 7 cit. aner- kannt, daß wenn ein Wahlkonsul Geschäfte besorgt, die nicht zu seinen amt- lichen Obliegenheiten gehören, er von dem Auftraggeber die ortsübliche Ver- gütung (Provision) beanspruchen darf. . Ueber den Ansatz der Gebühren und Kosten steht den Bethei- ligten die Beschwerde an den Reichskanzler, das heißt an das Aus- wärtige Amt zu §. 9 eod. . Die Berufskonsuln sind verpflichtet, alle von ihnen erhobenen Einnahmen in ein foliirtes Journal einzutragen, für welches ein Formular ihnen vorgeschrieben ist Die Dienst-Instruktion v. 6. Juni 1871 zu §. 8 des Konsulatsgesetzes enthält dieses Formular sowie die näheren Vorschriften über die Buchführung. . b ) Ausgaben . Die Berufskonsuln haben über alle von ihnen geleisteten dienst- lichen Ausgaben gleichfalls ein Journal zu führen, in welches sie dieselben unter fortlaufenden Nummern eintragen. Zur Gewäh- rung von Vorschüssen oder Darlehen sind sie in keinem Falle ohne Genehmigung des Reichskanzlers ermächtigt. Auch Ausgaben, welche dauernde Einrichtungen betreffen, müssen vorher bei dem Ausw. Amte beantragt und von diesem genehmigt worden sein Vgl. König , Handb. S. 296. . Wahl- konsuln können für die von ihnen geleisteten Ausgaben Ersatz aus der Reichskasse nur dann beanspruchen, wenn die Ausgabe vor - §. 70. Die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten. her vom Reichskanzler genehmigt worden war und wenn der Nach- weis geführt wird, daß diese Ausgaben durch die eingenommenen Gebühren nicht haben gedeckt werden können Instruktion zu §. 10. . c ) Rechnungslegung . Die Berufskonsuln haben nach dem Schlusse jeden Viertel- jahres, wenn nicht für einzelne Konsulate abweichende Bestimmungen getroffen worden sind, eine Rechnung über alle stattgefundenen Ein- nahmen und Ausgaben dem Auswärtigen Amte einzureichen. Der Rechnung sind die Beläge beizufügen; ist dies ausnahmsweise nicht thunlich, so ist dies mit dem Bemerken zu bescheinigen, daß die in Rechnung gestellten Beiträge in der angegebenen Höhe und zu dem bezeichneten Zwecke wirklich gezahlt worden sind. Angekaufte Inventarienstücke sind in das Konsulats-Inventar einzutragen und auf der Quittung ist zu bescheinigen, daß diese Eintragung erfolgt ist Instrukt. zu §. 8. Daselbst ist das Rechnungs-Formular vorgeschrieben. . Alle Wahlkonsuln haben nach Schluß des Jahres eine sum- marische Uebersicht der von ihnen während dieses Zeitabschnittes erhobenen Gebühren dem Auswärtigen Amte einzureichen Instrukt. zu §. 10. Cirkular v. 30. Dez. 1874. König S. 300. . 6. Bedingungen der Zulassung zum Konsulats- dienst . Hinsichtlich der Wahlkonsuln sind bestimmte Erfordernisse der Qualifikation weder durch Gesetz noch durch Verwaltungs-Ver- ordnung aufgestellt; das Konsulatsges. §. 9 beschränkt sich auf die allgemeine Hinweisung, daß dazu vorzugsweise Kaufleute, welchen das Bundesindigenat zusteht, (das soll heißen: welche reichsange- hörig sind), ernannt werden sollen. Dagegen ist die Qualifikation zum Berufskonsul gesetz- lich Konsulatsges. §. 7. normirt. Zum Berufskonsul kann nur derjenige ernannt werden, welcher reichsangehörig ist und welcher zugleich a ) entweder die zur juristischen Laufbahn in den einzelnen Bundesstaaten erforderliche erste Prüfung bestanden hat und außerdem mindestens drei Jahre im inneren Dienste oder in der Advokatur und mindestens zwei Jahre im Konsulatsdienste des Reiches oder eines Bundesstaates beschäftigt gewesen ist, oder §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. b ) die besondere Konsulats-Prüfung bestanden hat. Der Erlaß der näheren Bestimmungen über diese Prüfung ist im Kon- sulatsges. dem Reichskanzler übertragen worden. Sie sind in dem Regulativ über die Konsulatsprüfung vom 28. Februar 1873 Abgedruckt bei König S. 39. ergangen. Die Meldung ist unter Einreichung eines aus- führlichen curricul. vitae an das Auswärtige Amt zu richten. Die Prüfung erfolgt durch eine vom Reichskanzler zusammengesetzte Kommission, besteht aus einem schriftlichen und einem nachfolgen- den mündlichen Examen und erstreckt sich auf Sprachen, Konsulats- wesen, Geschichte, Geographie und Statistik, Rechtswissenschaft, Volkswirthschaft und Handelswissenschaft. Ueber die Vorbedingungen, welche zu erfüllen sind um das Amt eines Kanzlers, Sekretairs oder Büreaubeamten bei einem Reichskonsulate zu erlangen, sind besondere Vorschriften nicht er- gangen König S. 59. . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie Gesetzgebung . Hinsichtlich der Post : Gesetz über das Postwesen des Deutschen Reiches. Vom 28. Okt. 1871 (R.-G.-Bl. 347). In Elsaß-Lothringen eingeführt durch Ges. v. 4. November 1871 (Gesetzbl. f. E.-L. S. 348). Dieses Gesetz ist seit dem 1. Januar 1872 an Stelle des Gesetzes über das Postwesen des Nordd. Bundes v. 2. Nov. 1867 (B.-G.-Bl. S. 61) getreten. Motive Drucks. des Reichstages 1871 I. Sess. Bd. I. Nro. 87. 1871 II. Sess. Bd. I. Nro. 9. Gesetz, betreffend die Abänderung des §. 4 des Post- gesetzes . Vom 20. September, 1875 (R.-G.-Bl. S. 318). Motive Drucks. 1875/76 III. Sess. Bd. I. Nro. 4. Kommissionsbericht ebendas. Nro. 58. Gesetz über das Posttaxwesen . Vom 28. Oktober 1871 (R.- G.-Bl. S. 358). In Els.-Lothr. eingeführt durch Ges. v. 4. Nov. 1871 (G.-Bl. f. E.-L. S. 348). Gesetz , betreffend einige Abänderungen dieses Gesetzes. Vom 17. Mai 1873 (R.-G.-Bl. S. 107). In Elsaß- Lothr. eingeführt durch Ges. v. 8. Febr. 1875 (G.-Bl. f. E.-L. S. 9). . I. Die Kompetenz des Reiches . Art. 48 Abs. 1 der Verf. des Nordd. Bundes bestimmte: „Das Postwesen und das Telegraphenwesen werden für das ge- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. sammte Gebiet des Norddeutschen Bundes als einheitliche Staats- verkehrs-Anstalten eingerichtet und verwaltet“. Dadurch wurde der Gesetz , betreffend Abänderung desselben Gesetzes. Vom 3. November 1874 (R.-G.-Bl. S. 127). Gesetz, betreffend die Portofreiheiten . Vom 5. Juni 1869 (B.-G.-Bl. S. 141). Eingeführt in Baden v. 1. Januar 1872 ab (Bundesverf. Art. 80 II. Nro. 4. B.-G.-Bl. 1870 S. 649); in El- saß-Lothringen durch Gesetz vom 1. März 1872 (G.-Bl. f. E.-L. S. 150); in Südhessen durch Ges. v. 20. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 323); in Bayern und Württemberg für den Wech- selverkehr durch Gesetz v. 29. Mai 1872 (R.-G.-Bl. S. 167). Postordnung vom 18. Dez. 1874 (Centralbl. des Deutschen Reichs 1875 S. 6 ff.). Ist an die Stelle der älteren Postreglements getreten. Hinsichtlich der Telegraphie : Telegraphen-Ordnung für das Deutsche Reich. Vom 21. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 213). Verordnung , betreffend Abänderungen und Ergänzungen der Telegr.- Ordn. Vom 24. Januar 1876 (Centralbl. S. 101 ff.). Gesetz , betreffend die Einführung von Telegraphen-Freimarken. Vom 16. Mai 1869 (B.-G.-Bl. S. 377). Eingeführt in Baden und Süd- hessen durch die Bundesverf. Art. 80 (B.-G.-Bl. 1870 S. 649), in Elsaß-Lothringen durch Ges. v. 8. Febr. 1875 (G.-Bl. f. E.-L. S. 9). Literatur über das Postwesen: Fischer in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 409 ff. II. 211 ff. Derselbe , die Deutsche Postgesetzgebung. Berlin 1872. Dambach , das Gesetz über das Postwesen. (3. Aufl.) Berlin 1872. (Die Darstellung in v. Rönne ’s Staatsrecht II. 1. S. 289 ff. enthält zahlreiche, meistens wörtliche, Excerpte aus diesen Schriften.) Die strafrechtlichen Bestimmungen in dem Postgesetz sind erläutert von Meves in Bezold’s Gesetzgeb. des Deutschen Reiches. Dritter Theil. Bd. I. Heft 4. Erlangen 1876. Rösler , Deutsches Verwaltungsrecht I. 2. S. 461 ff. (Post), S. 478 ff. (Telegraphie). Endemann , das Deutsche Handelsrecht (3. Aufl. 1876) § 160 (Post), §. 162 (Telegraphie). Mandry im Archiv f. d. civil. Praxis Bd. 60 S. 197 ff. (1877). Ueber die Haftpflicht der Postanstalten sind noch zu nennen: Kompe , vom Posttransportvertrage. In der Zeitschrift für Deutsches Recht Bd. XVIII. S. 301—388 (Tübingen 1858). Gad , die Haftpflicht der Deutschen Postanstalten. Berlin 1863. Wolff in der Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen. Bd. IV. S. 130 ff. (Berlin 1870) und namentlich Meili , Haftpfl. der Post- anstalten. Leipzig 1877. Literatur-Angaben über das Telegraphenwesen in der Zeitschrift f. das ges. Handelsr . Bd. VI. S. 625, XIII. S. 351, XVIII. S. 291 ff. Hervorzuheben sind: Reyscher , das §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Selbstständigkeit der Post- und Telegraphen-Verwaltungen, welche in mehreren Staaten des Norddeutschen Bundes bestanden, ein Ende gemacht Selbstständige Postverwaltungen bestanden in Preußen , welches auf Grund besonderer Staatsverträge auch in Anhalt, Waldeck und in Theilen der beiden Schwarzburgischen Fürstenthümer, in den Oldenburgischen Fürsten- thümern Birkenfeld und Lübeck und in der Großherzogl. Sächs. Enclave All- stedt die Post verwaltete. Außerdem hatte Preußen durch Vertrag v. 28. Jan. 1867 dem Fürsten v. Thurn und Taxis die gesammten, demselben zustehenden Postrechte abgekauft; dieselben erstreckten sich, abgesehen von den im Jahre 1866 mit Preußen vereinigten Landestheilen, auf das Großherz. Hessen, die Sächsisch-Thüringischen Fürstenthümer und beide Lippe. Eigene Postverwal- tungen bestanden überdies im Königreich Sachsen , welches zugleich für Sachsen-Altenburg die Post verwaltete, in beiden Mecklenburg, Olden- burg, Braunschweig und den Hansestädten . In den drei Hanse- städten bestanden überdies Postämter des Fürsten Thurn u. Taxis, in Ham- burg und Lübeck Dänische Postämter und in Hamburg ein Schwedisches Post- amt. Durch die Verträge mit Dänemark v. 7. April 1868 (B.-G.-Bl. S. 157) und mit Schweden v. 23. Febr. 1869 (B.-G.-Bl. S. 73) wurden diese aus- ländischen Postämter beseitigt. Die in den Hansestädten befindlichen Deutschen Anstalten wurden nach Vorschrift des Art. 51 der Verf. des Nordd. Bundes vereinigt. Vgl. Timm im Amtsblatt der Reichspostverw. 1872 S. 115 fg. . Der Norddeutsche Bund hatte nicht nur die Gesetzge- bung über das gesammte Post- und Telegraphenwesen und die Be- aufsichtigung desselben der Bundeskompetenz zugewiesen (Verf. Art. 4 Nro. 10), sondern Post und Telegraphie wurden der Verwaltung der einzelnen Staaten entzogen und der unmittelbaren Verwaltung des Bundes unterstellt. Dem Bundespräsidium gehört nach Art. 50 der Nordd. Bundesverfassung die obere Leitung der Post- und Telegraphen-Verwaltung. Dasselbe hat die Pflicht und das Recht, dafür zu sorgen, daß Einheit in der Organisation der Verwaltung und im Betriebe des Dienstes, sowie in der Qualifikation der Be- amten hergestellt und erhalten wird. Ihm ist der Erlaß der regle- mentarischen Festsetzungen und allgemeinen administrativen Anord- nungen übertragen und sämmtliche Beamte der Post- und Tele- Telegraphenrecht. In der Zeitschr. f. Deutsches Recht Bd. XIX. S. 271 —320 (Tübingen 1859). Serafini , Il telegrafo. Pavia 1862. Meili , das Telegraphen-Recht. 2. Aufl. Zürich 1873 (woselbst S. 5 ff. zahlreiche Literatur-Angaben). Ludewig , die Telegraphie. Leipzig 1872. Vgl. auch Dambach , das Telegraphen-Strafrecht, im Ge- richtssaal Bd. XXIII. 1871 S. 241 ff. (auch im Separat-Abdruck 1872 erschienen) und Fischer , Telegraphie u. Völkerr. Leipz. 1876. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. graphenverwaltung sind verpflichtet, seinen Anordnungen Folge zu leisten. Einnahmen und Ausgaben des Post- und Telegraphen- wesens sollten nach Art. 49 der Nordd. B.-V. für den ganzen Bund gemeinschaftlich sein. Dem Gebiete der Norddeutschen Post- und Telegraphen-Verwaltung trat außerdem der südliche Theil des Großherzogthums Hessen hinzu, da Hessen in dem Friedensver- trage v. 3. September 1866 Art. 10 sich im Voraus mit den Ab- reden einverstanden erklärt hatte, welche Preußen mit dem Hause Taxis wegen Beseitigung des Thurn und Taxis’schen Postwesens treffen würde und dem Uebergang des gesammten Postwesens im Großherzth. Hessen an Preußen zugestimmt hatte. Ebenso hatte Hessen in Art. 11 desselben Friedensvertrages der Preuß. Regierung das Recht zur unbeschränkten Anlegung und Benutzung von Tele- graphenlinien und Telegraphenstationen eingeräumt. Durch die Auf- nahme Südhessens in den Deutschen Bund wurden diese vertrags- mässigen, vom Norddeutschen Bunde ausgeübten Rechte Preußens staatsrechtlich auf den Bund übertragen und die Kompetenz des- selben zur Verwaltung der Post und Telegraphie in Hessen ver- fassungsmäßig begründet Die besonderen Abreden in dem Protok. v. 15. November 1870 Ziff. 4 B.-G.-Bl. S. 650) sind lediglich finanzieller Natur und von nur vorüber- gehender Bedeutung gewesen. . Bei der Gründung des Deutschen Reiches trat ferner das Großherzogth. Baden dem Gebiete der Deutschen Post- und Telegraphen-Verwaltung hinzu Auch für Baden wurden in dem Protok. v. 15. Novemb. 1870 Ziff. 5 für eine gewisse Uebergangszeit finanzielle Sonderrechte verabredet. und in El- saß-Lothringen wurden die Bestimmungen der Reichsverfassung über das Post- und Telegraphen-Wesen durch Verordn. v. 14. Okt. 1871 (R.-G.-Bl. 1871 S. 443) eingeführt. Besondere Postver- waltungen wurden dagegen Bayern und Württemberg in den mit diesen Staaten abgeschlossenen Verfassungsbündnissen gelassen und diese Sonderrechte im Art. 52 der R.-V. anerkannt. Darnach gelten hinsichtlich der Kompetenz des Reiches in An- gelegenheiten des Post- und Telegraphen-Wesens zur Zeit folgende Grundsätze: 1. Dem Reiche steht für das ganze Reichsgebiet ausschließ- lich die Gesetzgebung über die Vorrechte der Post In dem Schlußprotokoll v. 25. Nov. 1870 (B.-G.-Bl. S. 657) wurde und Telegraphie, §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. über die rechtlichen Verhältnisse beider Anstalten zum Publikum, über die Portofreiheiten und das Posttaxwesen zu, mit Ausnahme der reglementarischen und Tarifbestimmungen für den internen Ver- kehr innerhalb Bayerns, beziehungsweise Württembergs. R.-V. Art. 4 Z. 10. Art. 52 Abs. 2 Postges. v. 28. Oktob. 1871 §. 50 letzter Abs. Posttaxgesetz §. 13. 2. Dem Reiche steht für das ganze Reichsgebiet mit Aus- nahme von Bayern und Württemberg die unmittelbare Ver- waltung der Post und Telegraphie zu, welche für Rechnung des Reiches geführt wird Die finanziellen Uebergangsbestimmungen im Art. 51 der R.-V. und im Gesetz v. 5. Juni 1869 §. 13 sind nicht mehr von Belang. Vgl. über die- selben meine Erörterungen in Hirth ’s Annalen 1873 (Bd. 6) S. 513 fg. . R.-V. Art. 48 Abs. 1. 49. Nur hin- sichtlich der Anstellung der Beamten ist im Art. 50 der R.-V. den Einzelstaaten ein Antheil zugestanden. Vom Kaiser erfolgt die Anstellung der oberen Beamten (z. B. der Direktoren, Räthe, Ober-Inspektoren), ferner der zur Wahrnehmung des Aufsichts- u. s. w. Dienstes in den einzelnen Bezirken als Organe der erwähnten Be- hörden fungirenden Post- und Telegraphenbeamten (z. B. Inspek- toren, Kontroleure Die Beamten, welche vom Kaiser gemäß der R.-V. ernannt werden und den Diensteid der unmittelbaren Reichsbeamten zu leisten haben, sind die Oberpostdirektoren, Oberposträthe, Posträthe, Postbauräthe, Postinspek- toren und Ober-Postkassen-Rendanten. . Von der Kaiserlichen Ernennung dieser Be- amten wird den einzelnen Landesregierungen, soweit dieselben ihre Gebiete betreffen, behufs der landesherrlichen Bestätigung und Publi- kation rechtzeitig Mittheilung gemacht werden. (Art. 50 Abs. 4.) Die Landesregierungen sind befugt, die andern bei den Ver- waltungsbehörden der Post und Telegraphie erforderlichen Beamten, sowie alle für den lokalen und technischen Betrieb bestimmten, mit- hin bei den eigentlichen Betriebsstellen fungirenden Beamten u. s. w., anzustellen. (Art. 50 Abs. 5). Auch diese Beamten sind verpflichtet, vereinbart, „daß die Ausdehnung der im Nordd. Bunde über die Vorrechte der Post geltenden Bestimmungen auf den internen Verkehr Württembergs in- soweit von der Zustimmung Württembergs abhängen soll, als diese Bestim- mungen der Post Vorrechte beilegen, welche derselben nach der gegenwärtigen Gesetzgebung in Württemberg nicht zustehen“. Dieser Vorbehalt ist erledigt, indem das die Vorrechte der Post regelnde Reichsgesetz v. 28. Okt. 1871 unter Zustimmung Württembergs für das ganze Reichsgebiet in Geltung getreten ist. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. den Kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten (Art. 50 Abs. 3) und sie sind den Vorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes unter- worfen Vgl. Bd. I. §. 37 S. 398 fg. . Diese, den einzelnen Staaten eingeräumten Befugnisse sind indeß eingeschränkt durch den Grundsatz: „Wo eine selbstständige Landespost- resp. Telegraphenverwaltung nicht besteht, entscheiden die Bestimmungen der besonderen Verträge“ (R.-V. Art. 50 Abs. 6). Wahrhaft „selbstständige“ Verwaltungen giebt es nun außer in Bayern und Württemberg in keinem deutschen Staate; es kann überall nur Reste einer ehemals selbstständigen Verwaltung geben. Würde man aus der angeführten Bestimmung die Folgerung her- leiten wollen, daß die Fortdauer selbstständiger Landesposten und Landestelegraphen-Anstalten von der R.-V. als zulässig voraus- gesetzt und anerkannt sei, so würde man dieselbe in unlösbaren Widerspruch mit allen andern Bestimmungen des VIII. Abschnittes der R.-V. bringen. Durch den Schlußsatz des Art. 50 soll viel- mehr nur gesagt werden, daß keinem Staate Rechte hinsichtlich der Post- und Telegraphen-Verwaltung durch die Bestimmungen der Verfassung beigelegt werden, die er nicht bei Gründung des Nordd. Bundes resp. Deutschen Reiches besessen hat. Soweit ein Staat schon vorher sich der Verwaltung des Post- und Tele- graphenwesens begeben hatte, sollte er nicht in Verwaltnngsbefug- nisse wieder eingesetzt werden. Ebenso ist es keinem Staate ver- wehrt, auf die nach der Verfassung ihm verbliebenen Befugnisse vertragsmäßig zu verzichten. In Folge dieses Grundsatzes sind die Verwaltungsbefugnisse des Reiches thatsächlich bei weitem um- fassender als es nach dem Wortlaut der R.-V. scheint und die den einzelnen Staaten im Art. 50 zugestandenen Ernennungsrechte von Post- und Telegraphen-Beamten bestehen nnr in sehr beschränktem Umfange. Der gegenwärtige Rechtszustand ist folgender: a ) In Elsaß-Lothringen ist die Unterscheidung der Ver- waltungskompetenz des Reiches und der Einzelstaaten hinsichtlich des Post- und Telegraphenwesens ganz gegenstandslos, da dem Kaiser die Ausübung der Territorial-Staatsgewalt zusteht; die ge- sammte Post- und Telegraphen-Verwaltung ist daher im Reichs- lande ungetheilt und unbeschränkt Reichsangelegenheit Vgl. mein Reichsfinanzrecht in Hirth’s Annalen 1873 S. 466. . Laband , Reichsstaatsrecht. II. 19 §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. b ) In den Hansestädten Hamburg, Bremen und Lü- beck bestanden vor Errichtung des Norddeutschen Bundes höchst anomale Posteinrichtungen, indem daselbst neben den eigenen Post- anstalten dieser Staaten noch mehrere deutsche und ausländische Postanstalten etablirt waren. Der Art. 51 der Nordd. Bundes- verfassung ermächtigte deshalb das Bundespräsidium „die Ver- waltung und den Betrieb der verschiedenen dort befindlichen staat- lichen Post- und Telegraphen-Anstalten zu vereinigen “ Für die finanzielle Uebergangsperiode wurde zugleich dem Bundesprä- sidium die Hälfte der auf die Hansestädte entfallenden Quote zur Disposition gestellt, zu dem Zwecke, daraus zunächst die Kosten für die Herstellung nor- maler Posteinrichtungen in den Hansestädten zu bestreiten. Nordd. Bundes- verfass. Art. 52 Abs. 5. . In Ausführung dieser Bestimmung hat der Nordd. Bund beziehentl. das Reich die gesammte Postverwaltung in den Hansestädten über- nommen, so daß dort derselbe Umfang der Reichskompetenz wie im Reichslande besteht. c ) Preußen hat die Ausübung der ihm zustehenden Rechte hinsichtlich der Verwaltung des Post- und Telegraphen- wesens auf den Nordd. Bund, resp. das Reich übertragen, indem der Allerh. Erlaß v. 28. September 1867 bestimmte, „daß die Verwaltung des Post- und Telegraphenwesens vom 15. Oktob. 1867 ab von dem Minister für Handel ꝛc. mit den von demselben als Chef des Post- und Telegraphenwesens bisher geübten Befugnissen auf den Präsidenten des Staatsministeriums übergehe und unter dessen Verantwortlichkeit im Zusammenhange mit der vom 1. Ja- nuar 1868 ab dem Bundeskanzler zustehenden Verwaltung des Post- und Telegraphenwesens des Norddeutschen Bundes bearbeitet werde.“ Rechtlich ist demnach die Sphäre der Verwaltungskompe- tenz Preußens von der Sphäre der dem Reiche zustehenden Ver- waltungskompetenz geschieden; thatsächlich aber sind beide mit ein- ander verschmolzen, indem die Preußen zustehenden Rechte vom Reiche ohne Mitwirkung Preußischer Behörden ausgeübt werden Vgl. die näheren Ausführungen in meinem Reichsfinanzrecht a. a. O. S. 466 ff. . In Wirklichkeit besteht demnach in Preußen dieselbe Ausschließlich- keit der Reichsverwaltung wie im Reichslande und in den Hanse- städten Jedoch sind die Beamten Preußische Staatsbeamte und mittelbare . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. d ) Was von Preußen gilt findet nicht nur auf das Preuß. Staatsgebiet Anwendung, sondern auch auf alle diejenigen Gebiete, in denen Preußen vor Errichtung der Norddeutschen Post- und Telegraphen-Verwaltung das Post- und Telegraphen-Regal erwor- ben hatte, d. h. in Hessen, Anhalt, Waldeck, beiden Lippe , sämmtlichen Thüringischen Staaten In den Sächsischen Herzogthümern und in Reuß j. L. hatte Preußen nur das Postwesen, nicht die Telegraphie. Diese Staaten haben aber durch besondere Staatsverträge die ihnen verfassungsmäßig zustehenden Befugnisse hinsichtlich der Telegraphen-Verwaltung auf das Reich übertragen. , mit Aus- nahme von Sachsen-Altenburg, und in den Oldenburgischen Fürstenthümern Lübeck und Birkenfeld. e ) Oldenburg hat, soweit das Postregal nicht bereits an Preußen übergegangen war, die ihm verfassungsmäßig zustehenden Rechte dem Bundes-Präsidium durch eine im Januar 1868 ge- troffene Vereinbarung abgetreten, so daß dort die Anstellung aller Post- und Telegraphenbeamten vom Reiche ausgeht, ebenso wie in den Hansestädten und in Elsaß-Lothringen. f ) Im Königreich Sachsen , in beiden Mecklenburg und in Braunschweig erfolgt auf Grund von Vereinbarungen, welche im Jahre 1868 zwischen dem Reichskanzler und den be- treffenden Landesregierungen getroffen worden sind, die Annahme und Entlassung der im Vorbereitungsdienste befindlichen Beamten (Posteleven, Postpraktikanten und Postgehülfen), sowie die Anstel- lung sämmtlicher Unterbeamten durch die Organe des Reiches; dagegen erfolgt die Anstellung, Beförderung und Entlas- sung der oberen Beamten , soweit sie nicht nach der Verfassung dem Kaiser übertragen ist, Namens der Landesregierungen, denen die betreffenden Anträge von den Reichsverwaltungsbehörden zu- gehen. Wesentlich auf der gleichen Grundlage sind die Verhält- nisse in Baden nach dem Eintritte des Großherzogthums in die Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung zu Folge einer im August 1871 getroffenen Vereinbarung geregelt Die sämmtlichen Verträge sind im Verwaltungswege zwischen dem Reichskanzler und den Centralstellen der betreffenden Staaten abgeschlossen und weder publicirt noch durch den Druck veröffentlicht worden. Ihre Kennt- . Reichsbeamte und leisten den dieser Stellung entsprechenden Diensteid. Vrgl. Allgem. Postdienst-Anweisung Bd. IV. Abschn. X. Abth. 2. §§. 8. 9. 19* §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. 3) In Württemberg steht gemäß der Militär-Convention vom 21./25. November 1870 Art. 11 B.-G.-Bl. 1870 S. 661. im Falle eines Krieges von dessen Ausbruch bis zu dessen Beendigung die obere Leitung des Telegraphenwesens, soweit solches für die Kriegs- zwecke eingerichtet ist, dem Bundesfeldherrn d. h. dem Kaiser zu. Die Württembergische Regierung hat sich demgemäß verpflichtet, bereits während des Friedens die bezüglichen Einrichtungen in Uebereinstimmung mit denjenigen des Nordd. Bundes (Reiches) zu treffen und insbesondere bei dem Ausbau des Telegraphennetzes darauf Bedacht zu nehmen, auch eine der Kriegsstärke ihres Armeekorps entsprechende Feldtelegraphie zu organisiren. Die Be- deutung dieser Bestimmung liegt mehr auf dem Gebiete des Heer- wesens, als auf dem der Telegraphie als Verkehrsanstalt. 4. Dem Reiche steht die Regelung des Post- und Telegra- phen-Verkehrs mit dem Auslande zu. Auf Bayern und Württem- berg als Glieder des Reiches findet dieser Satz im Allgemeinen ebenfalls Anwendung, da dem Auslande gegenüber Deutschland in allen Beziehungen als Einheit handelt. Die Wahrnehmung der Beziehungen zu anderen Post- und Telegraphen-Verwaltungen steht nach Art. 50 Abs. 2 der R.-V. dem Kaiser zu. Die Bay- rische und die Württembergische Postverwaltung haben jedoch die Befugniß, ihren eigenen unmittelbaren Verkehr mit ihren dem Reiche nicht angehörenden Nachbarstaaten zu regeln unter Beob- achtung der im Art. 49 des Postvertrages v. 23. November 1867 getroffenen Bestimmungen B.-G.-Bl. 1868 S. 63. Die hier in Betracht kommenden Bestimmun- gen dieses Vertrages gehen dahin, daß bei den Verhandlungen mit fremden Regierungen, welche eine Postverwaltung einleitet oder führt, die andern ver- bündeten Postverwaltungen in Kenntniß gesetzt werden sollen, ferner daß der Abschluß des Vertrages, soweit es thunlich ist, gemeinschaftlich bewirkt wird, und endlich daß jedenfalls durch die Verträge dahin Vorsorge getroffen wird, daß die der einen Deutschen Verwaltung zugebilligten Erleichterungen des Ver- kehrs in gleicher Weise und unter denselben Bedingungen auch auf den durch diese Verwaltung stückweise vermittelten Korrespondenzverkehr der andern Deutschen Postgebiete zur Anwendung gelangen. . R.-V. Art. 52 Abs. 3. Im dem Art. 52 des Postvertrages zwischen Deutschland und Oesterreich- niß verdanke ich der gütigen Mittheilung des Herrn Geheimen Oberpostrathes Dr. Fischer in Berlin. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Ungarn vom 7. Mai 1872 (R.-G.-Bl. 1873 S. 33) ist ein dieser Befugniß Bayerns und Württemberg’s entsprechender Vorbehalt gemacht und auch Art. 14 des Allgem. Postvereins-Vertrages vom 9. Okt. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 231) hat die Befugniß zum Ab- schluß besonderer Verträge und zur Errichtung engerer Postvereine aufrecht erhalten. Ebenso finden die Bestimmungen der Reichs- Telegraphen-Ordnung v. 21. Juni 1872 R.-G.-Bl. 1872 S. 213 ff. nur auf diejenige Korre- spondenz Anwendung, welche die Linien mindestens zweier der 3 dem deutschen Reiche angehörigen Verwaltungen berührt, gleichviel ob die Depesche im deutschen Reiche verbleibt oder mit dem Aus- lande gewechselt wird. 5) Die Selbstständigkeit der Verwaltungen Bayern’s und Württemberg’s hat die Folge, daß der Verkehr zwischen diesen Gebieten untereinander sowie zwischen diesen Gebieten und dem übrigen Reichsgebiet und die rechtlichen Beziehungen unter diesen Verwaltungen nicht staatsrechtlich, sondern vertragsmäßig geregelt sind, wobei selbstverständlich die in den Postgesetzen des deutschen Reiches aufgestellten Regeln die rechtlichen Grenz- linien für die Vertragsfreiheit der Verwaltung abgeben. Die Grundlage für diese Vereinbarungen bilden noch gegenwärtig der zwischen dem Nordd. Bunde und den süddeutschen Staaten abge- schlossene Postvertrag vom 23. November 1867 B.-G.-Bl. 1868 S. 41 ff. , welcher nach der Gründung des Reiches eine Abänderung und Ergänzung durch die Uebereinkunft v. 9. November 1872 erhalten hat Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1873 S. 1257 ff. aus dem amtlichen „Handbuch für den Wechselverkehr ꝛc. ꝛc.“ Berlin 1872 (Decker). , und der Telegraphen-Vereinsvertrag vom 25. Oktober 1868, welcher vom 1. Januar 1872 an eine erhebliche Verände- rung, insbesondere hinsichtlich der Tarifsätze erfuhr Telegraphen-Amtsbl. v. 1871 S. 137. Vgl. Fischer in v. Holtzen- dorff’s Jahrb. II. S. 253. . Hinsichtlich des Postverkehres besteht demgemäß eine 3fache Unterscheidung: a ) Der innere Verkehr , wofern die Postsendung nur das Gebiet einer der drei Verwaltungen berührt. b ) Der Wechselverkehr , wenn der Transport der Post- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. sendung innerhalb des Reichsgebietes (Reichspostgebiet, Bayern, Würtemberg) ausgeführt wird, aber das Gebiet von mindestens zwei Verwaltungen berührt. Jedoch werden auch die Oesterreichisch- Ungarische Monarchie Oesterr.-Ungar. Postvertrag v. 7. Mai 1872 Art. 1. und das Großherzogthum Luxemburg Postvertrag mit Luxemburg v. 12. Juni 1872 Art. 1 (R.-G.-Bl. 1872 S. 339). als Gebiete des Wechselverkehrs angesehen; auch hinsichtlich der Telegraphie besteht mit den erwähnten Staaten eine engere Ver- einigung Berner Telegraphen-Vertrag mit Oesterreich-Ungarn und mit den Niederlanden vom 5. Oktober 1871 (Telegr.-Amtsbl. 1872 S. 27 ff. S. 30 ff.) und Telegraphen-Vertrag mit Luxemburg v. 20. Juni 1872 (ebend. S. 93). . c ) Der Durchgangsverkehr , umfaßt die Postsendungen, welche zwischen den Gebieten des Wechselverkehrs und fremden Staaten oder im Verkehr fremder Staaten unter sich vorkommen, insofern die Sendungen mindestens zwei Gebiete des Wechsel- verkehrs berühren. Durch Errichtung des „allgemeinen Postvereines“ ist hinsichtlich der im Art. 2 des Berner Vertrages v. 9 Oktob. 1874 aufgeführten Sendungen der Unterschied zwischen dem Durch- gangsverkehr und dem Wechselverkehr außerordentlich vermindert worden Der internationale Telegraphen-Verkehr ist durch den auf der Tele- graphen-Conferenz zu Rom vereinbarten Vertrag vom 14. Januar 1872 und den Petersburger Vertrag von 10./22. Juli 1875 geregelt. . II. Allgemeine Gesichtspunkte . Der Betrieb der Post und Telegraphie Seitens des Reiches enthält an und für sich keine Bethätigung eines staatlichen Hoheits- rechtes d. h. einer Herrschaft über Land und Leute. Es giebt Staaten, in welchen gewisse Zweige der Geschäftsthätigkeit, die in Deutschland die Post betreibt, von der öffentlichen Post ganz aus- geschlossen sind, z. B. die Beförderung von Personen und von Packeten. Begrifflich könnte der Staat auch die Beförderung von Briefen und Zeitungen der Privatindustrie überlassen, d. h. auf den Betrieb des Postgewerbes ganz verzichten, ohne daß er da- durch ein staatliches Hoheitsrecht aufopferte Dasselbe gilt von der Telegraphie. So ist z. B. in England erst durch . Damit soll nicht §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. gesagt werden, daß der Staat durch den Betrieb der Post und Telegraphie den aus seinem Begriff sich ergebenden Kreis von Aufgaben überschreitet. Der Staat hat die Pflege der Wohlfahrt des Volkes zur wesentlichen Aufgabe; wenn es demnach zur Er- reichung dieser Aufgabe geboten erscheint, Anstalten für den Ver- kehr von Staatswegen zu errichten, so handelt der Staat durch Erfüllung dieses Gebotes innerhalb seiner begriffsmäßigen Zwecke. Es verhält sich damit ganz ähnlich wie mit dem Betriebe von Eisenbahnen, von Bankgeschäften, von Versicherungs- und Versor- gungs- (Pensions-) Anstalten durch den Staat. Der Staat hält die Post- und Telegraphen-Anstalten nicht ausschließlich im fiska- lischen Finanz-Interesse; er betreibt in denselben nicht ein Gewerbe im gewöhnlichen Sinne d. h. eine ausschließlich oder vorzugsweise auf Vermögenserwerb gerichtete Thätigkeit; es sind vielmehr zugleich öffentliche Interessen, welche er dabei verfolgt; er befriedigt ein unabweisbares Bedürfniß sowohl des Staats selbst, als der ein- zelnen Angehörigen desselben. Post und Telegraphie sind deshalb nicht einfache und gewöhnliche Handelsgewerbe, welche schlechthin unter den Regeln des Privatrechtes stehen, sondern sie sind öffent- liche Verwaltungszweige, die nach Grundsätzen des öffentlichen Rechtes zu beurtheilen sind. Aber während der Staat durch Aus- übung der Militär-, Gerichts-, Polizei- und Finanzhoheit seine An- gehörigen beherrscht, dient er ihnen durch den Betrieb der Post und Telegraphie; er übt gegen sie keinen Zwang aus; er fordert keine Leistungen und Unterlassungen; er tritt mit dem einzelnen Staatsunterthanen nur auf Wunsch und Willen des letzteren in ein rechtliches Verhältniß; er begründet dasselbe durch Vertrag und zwar stets nur auf Antrag des Einzelnen, der vom Staate die Ausführung eines Transportes verlangt; niemals dagegen durch Befehl, dem der Unterthan auch wider oder ohne seinen Willen gehorchen müßte. Bei allen von der Post- und Telegraphen- Anstalt zu verrichtenden Leistungen steht deshalb der Staat dem Einzelnen nicht als übergeordneter Herr, sondern als gleichbe- rechtigter Contrahent gegenüber Vgl. Schellmann , Rechtl. Natur des Postbeförderungs-Vertrages . Das allgemeine Privatrecht Parlamentsacte v. 31. Juli 1868 beschlossen worden, die Telegraphen durch Ankauf oder Expropriation zu erwerben und die Verwaltung der Telegraphie dem Staate zu übertragen. Meili S. 23. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. und Prozeßrecht findet daher auf das Verhältniß zwischen der Post- und Telegraphen-Anstalt eine sehr ausgedehnte Anwendung und es wäre an sich völlig denkbar, daß sich der Staat mit diesem allgemeinen Recht begnügte und auf die Aufstellung eigenthüm- licher Rechtsregeln für den Betrieb der Post- und Telegraphen- Geschäfte ganz verzichtete. In diesem Falle gäbe es ein besonderes Verwaltungsrecht für Post- und Telegraphie überhaupt nicht. In Wirklichkeit aber hat der Staat (das Reich) für den Betrieb der Post- und Telegraphen-Anstalt ein Spezialrecht geschaffen, welches die Verwaltung dieser Anstalten theils mit Rechten ausstattet, wie sie der ein Handelsgewerbe betreibende Private nicht hat, theils ihre Handlungsfreiheit sehr erheblich einschränkt und ihr Pflichten auferlegt, von denen der Transport-Unternehmer im All- gemeinen frei ist. Diese besonderen Rechte und Pflichten bilden das Post- und Telegraphenrecht als Bestandtheil des Verwaltungs- rechts; sie finden ihre sehr wesentliche und umfangreiche Ergänzung in dem allgemeinen Privat- und Handelsrecht, Prozeßrecht, Straf- recht, ohne welches sie zusammenhangloses Stückwerk sein würden. Der Grund, auf welchem die Nothwendigkeit zur Schaffung dieses Spezialrechtes beruht, und aus welchem sich zugleich die verschie- denen Richtungen, in denen die Aufstellung besonderer Rechtsvor- schriften erforderlich ist, herleiten lassen, ist in einem einzigen Satz enthalten, nämlich darin, daß Post und Telegraphie kein freies Gewerbe des Fiskus, sondern öffentliche Verkehrs-Anstalten des Staates sind. Aus diesem Grundprinzip leiten sich nämlich folgende Sätze ab: 1. Die Benutzung der Post- und Telegraphen-Anstalt steht Jedem frei; sie darf Niemandem verweigert werden, der sich den allgemeinen Vorschriften für Benutzung derselben unterwirft, und darf für Niemanden an erschwerende Bedingungen geknüpft werden. Das ist der Cardinal-Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Transport-Unternehmer, der mit Niemandem zu kontrahiren ge- nöthigt ist, mit dem er nicht kontrahiren will, und den öffent- lichen Verkehrs-Anstalten , welche zum Dienste des Publi- kums bestimmt sind. (Marburg 1861) S. 5 ff. Kompe , Zeitschrift f. das ges. Handelsr. Bd. XI. S. 38 fg. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. 2. Daraus ergiebt sich als nothwendige Consequenz, daß die Vertragsbedingungen, unter welchen die Post und Telegraphen- Anstalt kontrahirt, ein für alle Mal feststehen und in allen Fällen gleichmäßig zur Anwendung kommen müssen, während derjenige, welcher ein freies Transportgewerbe betreibt, in jedem einzelnen Falle die Bedingungen besonders festsetzen oder vereinbaren kann. Demgemäß ist die Taxe für jede Art von Beförderung, die Art der Erfüllung der übernommenen Transport-Verpflichtung, und die Ersatzpflicht für Nichterfüllung oder nicht ordnungsmäßige Er- füllung allgemein zu regeln. Für alle Verträge, welche die Post- und Telegraphen-Verwaltung in Ausübung ihres öffentlichen Geschäftsbetriebes abschließt Soweit die Postverwaltung nicht als öffentliche Verkehrsanstalt in Be- tracht kömmt, sondern Hülfsgeschäfte zum Betriebe des Transportunternehmens abschließt, z. B. Gebäude, Wagen, Pferde, Schreibmaterial u. drgl. anschafft oder veräußert, genießt sie volle Handlungsfreiheit und steht lediglich unter den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. , müssen Normal-Bedingungen fest- gestellt sein, von denen sie bei den einzelnen Geschäften weder zu Gunsten noch zu Ungunsten des andern Contrahenten abweichen darf. 3. Um diese Bedingungen möglichst günstig gestalten zu kön- nen, um die Ansprüche des Publikums auf billige, sichere und schnelle Ausführung des Transportes mit den finanziellen Inter- essen des Staates auszugleichen, sind der Post- und Telegraphen- Anstalt gewisse Vorrechte beigelegt. Dahin gehört vor Allem das Monopol der Post auf gewisse Transportgeschäfte oder der so- genannte Postzwang . In der Anerkennung desselben äußert sich allerdings ein Hoheitsrecht des Staates, aber nicht positiv d. h. in dem Betrieb der Postgeschäfte, sondern negativ d. h. in der Untersagung der der Post vorbehaltenen Geschäfte für alle Andern, in der Beschränkung der allgemeinen Gewerbe- und Handlungs- freiheit. Der Postzwang reicht auch keineswegs so weit wie der Geschäftsbetrieb der Post. Für den Transport von Personen, Paketen, Geldsendungen, Drucksachen und offenen Briefen besteht kein Postzwang, sondern es ist die freie Concurrenz mit der Post- anstalt Jedem gestattet; aber auch für diese Zweige ihres Ge- schäftsbetriebs hat die Post den Charakter der öffentlichen Verkehrsanstalt. Nur für verschlossene Briefe, Zeitungen, Tele- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. gramme ist die Post zugleich öffentliche und monopolisirte Verkehrs- anstalt. Außer dem Monopol und dem Schutz desselben durch Straf- bestimmungen sind der Postanstalt gewisse Vorrechte hinsichtlich der Benutzung der Eisenbahnen, der öffentlichen Wege, der Privat- grundstücke im Falle eines außergewöhnlichen Bedürfnisses einge- räumt; es sind ferner eine Anzahl von Vorschriften polizeilichen Charakters getroffen, um die ungehinderte und schnelle Ausführung des Transports zu sichern; und aus demselben Grunde sind die zum Betriebe der Post erforderlichen Gegenstände vor Beschlag- nahme und Pfändung gesichert. 4. Der innere Betrieb der Post- und Telegraphen-Anstalt, die Organisation und Gliederung der Verwaltung, die Pflichten der bei ihr beschäftigten Beamten müssen, da es sich um eine öffentliche Einrichtung des Reiches handelt, von Reichswegen geregelt sein; ebenso ist die Erfüllung der amtlichen Pflichten der Post- und Telegraphen-Beamten durch Strafgesetze gewährleistet, wie dies bei anderen Zweigen des Staatsdienstes in ähnlicher Weise ge- schehen ist. 5. Endlich sind Defraudationen von Gebühren, welche die Post- und Telegraphen-Anstalt zu erheben hat, mit Strafe bedroht und es ist das in diesen Fällen zu beobachtende Verfahren besonders d. h. abweichend von den allgemeinen Vorschriften der Strafproceß- Ordnung geregelt. Auch diese Bevorzugung der Post im Vergleich mit andern Transport-Unternehmern ergiebt sich aus dem Charakter der Post als einer öffentlichen Anstalt des Staates, der es gestat- tet, der Postverwaltung ähnliche Befugnisse einzuräumen, wie sie den Steuer- Zoll- und anderen Finanzbehörden zustehen. In den angegebenen fünf Richtungen besteht ein besonderes Recht für die Post- und Telegraphen-Anstalt, und es ist dadurch der Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen vorgezeichnet. III. Post und Telegraphie als öffentliche Anstalten . 1. Der Umfang des Geschäfts-Betriebes der Post ist gesetzlich nicht fixirt. Er beruht auf dem Herkommen und auf den von der Verwaltung der Postanstalt selbst getroffenen Anordnungen. Es giebt insbesondere kein, mit dem allgemeinen Zweck der Postanstalt, nämlich Beförderung und Erleichterung des Verkehrs, in Zusammen- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. hang stehendes Geschäft, dessen Betrieb der Post gesetzlich verwehrt wäre. Andererseits ist die Postanstalt keineswegs gesetzlich ver- pflichtet, alle diejenigen Geschäfte, denen sie sich thatsächlich unter- zieht, zu betreiben. Indessen giebt es für einige Zweige des post- mäßigen Geschäftsbetriebes in der That eine ausdrückliche oder still- schweigende gesetzliche Grundlage. Soweit nämlich der Postzwang besteht, ist die Post verpflichtet , das ihr beigelegte Monopol auch wirklich auszuüben, denn diese Pflicht ist das selbstverständ- liche und nothwendige Correlat des Rechts auf ausschließlichen Ge- werbebetrieb Ganz bestimmt ausgesprochen ist dieser Grundsatz hinsichtlich des Zei- tungsdebits im Posttaxgesetz §. 3. Andererseits ruht der Postzwang , so lange die Postverwaltung in Fällen des Kriegs und gemeiner Gefahr jede Vertretung ablehnt und Briefe nur auf Gefahr des Absenders zur Beförderung übernimmt. Postges. §. 15. . Für einige andere Leistungen der Post ist ferner die dafür zu bezahlende Gebühr gesetzlich normirt, dadurch also gesetzlich anerkannt, daß sich die Postanstalt mit der Uebernahme solcher Leistungen zu beschaffen hat. Dies gielt von dem Trans- port von Packeten Posttaxgesetz §. 2. und von der Uebernahme von Versicherungen Posttaxgesetz §. 3. . Sodann enthält das Postgesetz §. 50 die Ermächtigung für den Reichs- kanzler durch ein Reglement die Gebühren für gewisse Transport- Geschäfte zu bestimmen, wodurch, wenn auch nicht die gesetzliche Verpflichtung, so doch die gesetzliche Billigung ausgesprochen ist, daß die Post mit diesen Geschäften sich befaßt. Dahin gehört die Beförderung von Reisenden mit den ordentlichen Posten oder mit Extrapost Postges. §. 50 Z. 8. Auch enthält das Postges. §. 29 eine Strafbe- stimmung wegen Defraudation des „Personengeldes“. ; die Beförderung von unverschlossenen Briefen (Korre- spondenz- oder Postkarten), ferner von Drucksachen, Waarenproben und Mustern, sodann von eingeschriebenen (rekommandirten) Sen- dungen und von Sendungen, welche gegen Behändigungsschein zu- zustellen sind, endlich von Geldübermittelungen durch Postanwei- sungen, Vorschuß-Sendungen, Postaufträge u. s. w. Postges. §. 50 Z. 6. . Auch durch die Postverträge, welche das Reich abgeschlossen hat, ergiebt sich die Verpflichtung der Postverwaltung, mit gewissen Arten von Transportgeschäften sich zu befassen. So wenig aber die Postver- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. waltung durch alle diese Vorschriften gehindert ist, ihren Geschäfts- betrieb auch auf andere Transportgegenstände z. B. Reisegepäck, lebende Thiere, Leichen u. s. w. oder auf andere Beförderungsarten z. B. durch die Rohrpost, durch Luftballons, durch Tauben. auszudehnen, ebenso wenig ist es ihr verwehrt, die Uebernahme von Postsendungen durch reglementarische Anord- nungen oder Einrichtungen allgemein einzuschränken oder abzu- lehnen. Hinsichtlich der Telegraphie ist die Sachlage insofern eine ein- fachere und abweichende, als durch den Telegraphen überhaupt keine andere Verrichtung als die Uebermittelung einer Nachricht vorge- nommen werden kann; indeß giebt es auch hier verschiedene Arten der Beförderung oder Bestellung Man kann die verschiedenen von der Postanstalt betriebenen Geschäfte eintheilen in die Brief post (Briefe, Postkarten, Drucksachen, Zeitungen, Waarenproben und Muster), in die Fahr post (Packete, Einschreibsendungen, Briefe mit Werthangabe, Postanweisungen), in die Personen post (Beför- derung von Reisenden und Reiseeffekten) und in die Telegraphie . Von juristischer Bedeutung ist diese Eintheilung, die übrigens nicht erschöpfend ist, aber nicht. In demselben Sinne äußert sich auch Meili , Haftpflicht S. 28. . 2. Auch in anderer Beziehung ist der Umfang des Geschäfts- betriebes der Post gesetzlich nicht normirt und der Postverwaltung ein gewisses Maaß weder als Minimum noch als Maximum vor- geschrieben, nämlich rücksichtlich der Etablirung von Postanstalten. Dem Ermessen der Verwaltung ist es völlig überlassen, an welchen Orten sie Expeditionen (Postämter) errichten will; sie ist nirgends dazu verpflichtet und es ist ihr dies an keinem Orte verwehrt. Ebenso steht es ihr frei, an gewissen Orten einzelne Geschäftszweige zu betreiben, andere dagegen auszuschließen z. B. Beförderung von Stadtbriefen, Beförderung durch Estafetten, Einrichtung von Personenposten, Gestellung von Extraposten, Herstellung von Telegraphenstationen u. s. w. . Niemand hat dem- gemäß ein Recht, von der Postverwaltung die Errichtung derjenigen Anstalten zu verlangen, die ihm die Benutzung der Post ermöglichen oder erleichtern. Indeß bietet die Feststellung des Reichshaushalts- Gesetzes Gelegenheit, das Verfahren der Postverwaltung zu kriti- siren und auf die Abhülfe von Mängeln hinzuwirken. 3. Die Annahme nnd Beförderung von Postsendungen darf von der Post nicht verweigert werden, sofern die Bestimmungen §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. des Postgesetzes und des Reglements beobachtet sind Postgesetz §. 3. . Der Aus- druck Postsendungen umfaßt alle Transporte, mit denen sich die Post überhaupt befaßt, ausgenommen die Beförderung von Reisen- den. Aber auch hinsichtlich der Reisenden besteht derselbe Grund- satz, wenngleich er im Gesetz nicht ausgesprochen ist; jedoch mit der Beschränkung, daß die Annahme von Reisenden wegen mangelnden Platzes verweigert werden darf Postordnung §. 45 Nro. V. (Centralbl. 1875 S. 31). Die Zurückwei- sung von Reisenden, wenn noch verfügbare Plätze vorhanden sind, oder die Bevorzugung von Reisenden, die sich später gemeldet haben, vor früher Ange- meldeten ist unstatthaft (vgl. Postordnung §. 47 Nro. III. ) und würde einen Anspruch auf Schadensersatz begründen. . Ebenso steht die Benutzung der für den öffentlichen Verkehr bestimmten Telegraphen Jedermann zu Telegraphen-Ordn. v. 21. Juni 1872. Die Reihenfolge der Beförde- rung richtet sich nach der Zeit der Aufgabe, vorbehaltlich der reglementsmäßig angeordneten Bevorzugung der Staatsdepeschen und der als „dringlich“ be- zeichneten Depeschen. . Diese Grundsätze beruhen auf der Oeffentlichkeit der Post- anstalt und haben keinen Zusammenhang mit dem Postzwang. Der Rechtssatz beschränkt sich aber auf die Vorschrift, daß die Benutzung der Postanstalt Niemandem verwehrt oder im einzelnen Falle an erschwerte Bedingungen geknüpft werden darf. Dagegen ist es der Postverwaltung überlassen, durch Reglement allgemein die Vor- aussetzungen für Uebernahme von Beförderungen zu bestimmen Postgesetz §. 50 Z. 1. und zwar auch hinsichtlich der dem Postzwange unterworfenen Ge- genstände z. B. Maximalgewicht, Format, Adresse, Art des Verschlusses der Briefe. Vgl. Postordnung §. 1 ff. Abfassung telegraphischer Depeschen. Tele- graphen-Ordn. §. 6. . Die Post steht in dieser Hinsicht einem Privat-Unter- nehmer gleich, der die Bedingungen, unter denen er zum Abschluß von Geschäften bereit ist, nach eigenem Ermessen bestimmen kann; und nur darin ist sie von ihm verschieden, daß sie alle auf Grund der von ihr aufgestellten Bedingungen ihr offerirten Geschäfte ab- schließen muß . Eine ausdrückliche gesetzliche Anerkennung hat dieser Grund- satz im §. 3 des Postgesetzes hinsichtlich des Vertriebes politischer Zeitungen gefunden. Keine im Gebiete des deutschen Reiches §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. erscheinende politische Zeitung darf vom Postdebit ausgeschlossen werden; für alle diese Zeitungen müssen hinsichtlich Berechnung der Gebühren, welche für die Beförderung und Debitirung zu erheben sind, gleichmäßige Grundsätze angewendet werden und die Post ist verpflichtet, sowohl die Pränumeration anzunehmen wie den ge- sammten Debit derselben zn besorgen Aus dieser Gesetzesbestimmung übrigens herleiten zu wollen, daß die Postverwaltung einer landesgesetzlich zulässigen Anordnung der Landespolizei- behörde, welche die Ausgabe und Verbreitung einer gewissen Zeitung verbietet, nicht Folge leisten dürfe, ist eine Verkennung des Sinnes des §. 3 des Post- gesetzes. Denn dieser Paragraph regelt lediglich die Verpflichtung der Post zur Uebernahme der von ihr betriebenen Geschäfte . Die Postverwaltung ist daher allerdings nicht befugt, aus eigener Initiative gewissen Zeitungen die Beförderung oder Vertheilung an die Abonnenten zu versagen; im postmäßigen Betriebe muß sie alle ihr aufgetragenen Geschäfte nach gleichen Grundsätzen ausführen. In die preß polizeilichen Befugnisse greift dagegen der §. 3 des Postgesetzes gar nicht ein. Ist die Verbreitung einer Zeitung in einem Lande polizeilich verboten, so wird die Postverwaltung denjenigen, der diese Zeitung bestellen will, davon zu verständigen haben. Besteht derselbe auf der Bestellung, so muß sich die Post diesem Auftrage zwar unterziehen und die einzelnen Nummern in der für alle Zeitungen üblichen Weise befördern, aber die eingetroffenen Exemplare sind zunächst nicht auszugeben, sondern für die Abonnenten bis zu dem Zeitpunkt aufzuheben, wo das Verbot der Verbreitung zurückgenommen wird. Im Gebiete des Reichspreßgesetzes vom 7. Mai 1874 kann dieser Fall nicht vorkommen, praktisch ist die Frage dagegen in Elsaß- Lothringen, so lange das Reichspreßgesetz daselbst nicht zur Einführung ge- langt. Eine Erörterung darüber findet sich in den Verhandl. des Reichstages vom 26. April 1877. Stenogr. Berichte S. 803 ff. . 4. Auf der Eigenschaft der Post als einer öffentlichen Ver- kehrsanstalt beruht die Verpflichtung derselben zur Bewahrung des sogenannten Briefgeheimnisses . Dieser Ausdruck, der für den Inhalt der in Rede stehenden Verpflichtung eine keineswegs zutreffende Bezeichnung ist, könnte den Gedanken erwecken, als sei das Briefgeheimniß das Correlat des Briefmonopols. Dies ist aber in keiner Beziehung der Fall; weder der Umfang des Brief- geheimnisses noch die davon bestehenden Ausnahmen noch die Rechts- folgen der Verletzung desselben stehen in irgend einem logischen oder juristischen Zusammenhange mit dem Postzwange, sondern sie beruhen lediglich auf dem Prinzip, daß Post und Telegraphie nicht Privatunternehmungen des Fiskus, sondern Zweige des öffent- lichen Staatsdienstes sind. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. a ) Der Umfang des Briefgeheimnisses umfaßt alle Arten von Postsendungen und telegraphischen Depeschen. Die Verpflich- tung bezieht sich also nicht blos auf verschlossene Briefe und auf Telegramme, d. h. auf die dem Postzwange unterworfenen Gegenstände, sondern auch auf unverschlossene Briefe (Postkarten), Postanweisungen, Packete u. s. w. Den Postbeamten ist ferner nicht nur untersagt, über den Inhalt der Briefe, Packete u. s. w. Nach- forschungen anzustellen und Mittheilungen darüber zu machen, son- dern sie sind auch nicht befugt, die Thatsache, daß eine gewisse Correspondenz überhaupt stattgehabt hat, unberufenen Personen zu verrathen. Sie müssen also darüber Stillschweigen beobachten, daß Jemand einen Brief, eine Postkarte, Postanweisung, Packet, De- pesche u. s. w. erhalten hat, ebenso darüber, wie die Adresse oder Wohnung auf der Postsendung angegeben war Dambach S. 20. Vgl. auch Hepp , De la correspond. privée (Paris 1864) pag. 29 nro. 40. Telegraphen-Betriebs-Ordnung 1876 §. 4. oder daß eine gewisse Person postlagernde Briefe oder andere Postsendungen ab- geholt habe u. s. w. Auch zu Mittheilungen darüber, welche Zei- tungen Jemand bei der Post bestellt habe, sind die Postbeamten für nicht befugt zu erachten Vgl. Stenogr. Berichte des Reichstages 1873 ( I. Legislat. 4. Sess.) S. 1419. Dagegen ist in der Veröffentlichung statistischer Notizen über die Anzahl von Bestellungen auf die einzelnen Zeitungen eine Verletzung des Briefgeheimnisses nicht zu erblicken. . b ) Verpflichtet zur Bewahrung des Geheimnisses sind alle im Dienste der Post und Telegraphie angestellten Beamten mit Ein- schluß der Postagenten, gleichviel ob die Anstellung eine dauernde oder widerrufliche ist. Dagegen kann Niemand, der bei dem Be- triebe der Postanstalt nicht amtlich beschäftigt ist, das Briefgeheim- niß im Sinne des Postgesetzes verletzen Hinsichtlich der Telegraphie sind den „Telegraphenbeamten“ im §. 355 des Strafgesetzb. gleichgestellt: „andere mit der Beaufsichtigung und Bedienung einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphen-Anstalt betraute Personen“; hierhin gehören zunächst Eisenbahn-Beamte , welche im Betriebe der Telegraphie beschäftigt werden, sodann aber auch Ehefrauen oder andere Fa- miliengenossen eines Telegraphenbeamten, welche als Gehülfen oder Vertreter der letzteren dienstlich verwendet (mit der Bedienung betraut ) werden. Vgl. Ludewig , die Telegraphie S. 66. . Insbesondere hat die Anordnung des §. 299 des Strafgesetzbuches, daß derjenige be- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. straft wird, welcher einen verschlossenen Brief oder eine andere ver- schlossene Urkunde, die nicht zu seiner Kenntnißnahme bestimmt ist, vorsätzlich und unbefugter Weise eröffnet, gar keinen Zusammen- hang mit dem für die Post bestehenden Recht Thatsächlich erleichtert er in hohem Grade die Bestellung der Briefe an Angehörige, Hausgenossen u. s. w. des Adressaten. Vrgl. Postordnung §. 34 Z. III. . Denn er be- schränkt sich nicht auf den Schutz der mit der Post versendeten Briefe, sondern sichert alle verschlossenen Briefe oder andere Ur- kunden; und er ist andererseits in vielen Fällen unanwendbar, in welchen der Postbeamte als solcher zur Bewahrung des Ge- heimnisses verpflichtet ist So kann unter Umständen ein Ehemann für befugt erachtet werden, die von seiner Frau geschriebenen oder an sie gerichteten Briefe zu eröffnen, ebenso Eltern oder Vormünder hinsichtlich der Correspondenz ihrer Kinder oder Mündel; dagegen würde ein Postbeamter seine amtliche Pflicht zur Bewahrung des Briefgeheimnisses unzweifelhaft verletzen, wenn er dem Ehemann, Vater oder Vormund eine Mittheilung machen würde, daß die seiner Gewalt unter- worfenen Personen Postsendungen erhalten oder aufgegeben haben. — Auf andere Postsendungen als verschlossene Briefe kann §. 299 des St.-G.-B.’s überhaupt nicht zur Anwendung kommen, wohl aber §. 5 des Postgesetzes. . Ebenso wenig besteht für andere Be- hörden des Staates oder Reiches eine Pflicht zur Wahrung des Briefgeheimnisses; dasselbe kann daher von ihnen auch niemals ver- letzt werden. Wohl aber besteht der Satz des öffentlichen Rechts, daß die Postverwaltung von keiner andern Behörde, weder einer richterlichen noch einer Verwaltungsbehörde, zur Verletzung des Briefgeheimnisses gezwungen werden darf, abgesehen von den ge- setzlich anerkannten Ausnahmefällen. Denn das Reich kann nicht zugleich die Pflicht der von ihm selbst betriebenen Postanstalt zur Bewahrung des Briefgeheimnisses anerkennen und andere Behörden ermächtigen, die Postverwaltung zur Verletzung desselben anzu- halten. Auch der Postverwaltung selbst steht es nicht zu, die bei ihr angestellten Beamten von der Erfüllung der Pflicht zur Beobach- tung des Briefgeheimnisses sei es für einzelne Fälle sei es allge- mein unter gewissen Umständen zu dispensiren. c ) Ausnahmen von der Unverletzlichkeit des Briefgeheim- nisses sind einzig und allein im Interesse der Rechtspflege zulässig Nicht zu diesen Ausnahmen ist die Eröffnung unbestellbarer Postsendungen durch die Ober-Postdirektion zu rechnen, um den Absender zu . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Diese Fälle sind durch Reichsgesetz festzustellen. Nur bis zum Er- laß desselben blieben die Landesgesetze maßgebend Postgesetz §. 5. . Ausgeschlossen ist demnach eben so wohl die Form der Reichs-Verordnung als die Autonomie der Einzelstaaten, seitdem die reichsgesetzlichen Anord- nungen ergangen sind. Diese Ausnahmefälle sind folgende: α) in strafgerichtlichen Untersuchungen. Die an den Be- schuldigten gerichteten Briefe und Sendungen, sowie die an ihn gerichteten Telegramme können auf den Post- und Telegraphen-An- stalten in Beschlag genommen werden. Ebenso ist es auch für zu- lässig erklärt worden, Briefe und Telegramme, welche nicht an den Beschuldigten gerichtet sind, in Beschlag zu nehmen, wenn That- sachen vorliegen, aus welchen zu schließen ist, daß sie von dem Be- schuldigten herrühren oder für ihn bestimmt sind und daß ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung habe Strafproc.-Ordn. §. 99. . Der Richter allein ist zur Beschlagnahme befugt; die Staatsanwaltschaft nur bei Gefahr im Verzuge und auch dann nicht, wenn die Untersuchung blos eine Uebertretung betrifft. Auch muß die Staatsanwaltschaft Briefe und andere Postsendungen uneröffnet sofort dem Richter vorlegen. Wird die von der Staatsanwaltschaft verfügte Beschlagnahme nicht binnen 3 Tagen von dem Richter bestätigt, so tritt sie von selbst außer Kraft Strafproc.-Ordn. §. 100 Abs. 1 u. 2. . Die Betheiligten (d. h. Adressat und Absender) sind von der verfügten Beschlagnahme der Postsendung Seitens des Richters oder Staatsanwalts zu benachrichtigen, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszweckes geschehen kann. Sendungen, deren Eröffnung überhaupt nicht angeordnet wird oder deren Zu- rückbehaltung nach der Eröffnung nicht erforderlich ist, sind den Betheiligten sofort auszuantworten Strafproc.-Ordn. §. 101. Die Erfüllung dieser Obliegenheit liegt den Justizbehörden ob; die Postverwaltung ist von jeder weiteren Verantwortlich- keit hinsichtlich der in Beschlag genommenen Postsendungen frei. . Wird der Brief zurückbe- halten, so ist dem Empfangsberechtigten derselbe abschriftlich mit- ermitteln und ihm die Sendung wieder zuzustellen. Die Vorschriften hierüber sind gemäß §. 50 Z. 3 des Postgesetzes vom Reichskanzler zu erlassen. Sie sind getroffen in der Postordnung §. 40. Laband , Reichsstaatsrecht. II. 20 §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. zutheilen, insofern nicht dessen Vorenthaltung durch die Rücksicht auf die Untersuchung geboten ist Strafproc.-Ordn. §. 101 Abs. 3. . β) in Konkursen . Auf Anordnung des Konkursgerichts haben die Post- und Telegraphen-Anstalten alle für den Gemein- schuldner eingehenden Sendungen, Briefe und Depeschen dem Ver- walter auszuhändigen, welcher zur Eröffnung derselben berechtigt ist Konkurs-Ordn. §. 111 Abs. 1. . Diese Anordnung kann das Konkursgericht auf Antrag des Gemeinschuldners nach Anhörung des Verwalters aufheben oder beschränken ebendas. Abs. 2. . γ) In civilprozessualischen Fällen hat das Postges. §. 5 ebenfalls Beschränkungen des Briefgeheimnisses vorbehalten. Die Reichs-Civilproceß-Ordnung hat indessen die Beschlagnahme von Briefen, telegraphischen Depeschen und anderen Postsendungen nicht zugelassen. Nur in denjenigen Fällen, welche nach §. 3 des Einf.-Gesetzes zur Civiproceß-Ordnung nicht nach den Vorschriften der letzteren zu behandeln sind, weil sie nicht vor die ordentlichen Gerichte gehören, könnte auch nach dem Inkrafttreten der Civil- proceß-Ordnung eine richterliche Beschlagnahme von Briefen, De- peschen und Postsendungen stattfinden, wofern dieselbe nach den Bestimmungen der Landesg esetze gestattet ist. In Wirklichkeit dürfte dies kaum irgendwo der Fall sein Insbesondere kann §. 91 I. 10 der Preuß. Allgem. Gerichts-Ordnung nicht mehr Anwendung finden. Ebensowenig das Rescript v. 31. Oktob. 1791 ( Gad , Haftpflicht S. 36 Note 22). Sie sind bereits durch Art. 33 der Preuß. Verf.-Urkunde für beseitigt anzusehen. . d ) Die Rechtsfolgen einer widerrechtlichen Verletzung des Briefgeheimnisses bestimmen sich nach den Bd. I. §. 41 entwickelten Grundsätzen, welche auf diesen Fall einfach Anwendung finden. Die Folgen sind theils disciplinarische, theils privatrechtliche, theils strafrechtliche. α) Jeder Post- und Telegraphenbeamte, welcher das Brief- geheimniß in dem oben dargelegten Umfange verletzt, verübt eine Verletzung seiner Amtspflicht und setzt sich dadurch einer Disci- plinarbestrafung aus. Zum Thatbestande gehört Nichts weiter als die Verletzung der Dienstpflicht; es ist nicht erforderlich, daß §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. irgend ein Schaden oder Nachtheil durch dieselbe herbeigeführt worden ist. Für die Verfolgung des Beamten kommen die Vor- schriften des Reichsbeamtengesetzes zur Anwendung Vgl. Bd. I. S. 447 ff. . β) Wenn die Verletzung des Briefgeheimnisses einen in Geld schätzbaren Schaden verursacht hat, so ist der schuldige Post- und Telegraphenbeamte verpflichtet, dem Beschädigten Ersatz zu leisten Vgl. Bd. I. S. 440 ff. . γ) Einige besonders schwere Fälle der Verletzung des Brief- geheimnisses sind als Verbrechen oder Vergehen im Amte mit öffent- licher Strafe bedroht Vgl. Bd. I. S. 434 ff. ; nämlich die Eröffnung Wesentliche Voraussetzung ist sonach ein Verschluß . Die Kenntniß- nahme oder Mittheilung des Inhaltes ist zur Vollendung des Vergehens nicht erforderlich. Oppenhoff , Strafgesetzb. Note 5 zu §. 354. eines der Post anvertrauten Briefes oder Packetes sowie die Eröffnung einer tele- graphischen Depesche oder die rechtswidrige Mittheilung ihres In- halts an Dritte R.-St.-G.-B. §. 354. 355. . Die Strafe ist Gefängniß nicht unter drei Monaten Auch kann auf Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter auf die Dauer von Einem bis zu fünf Jahren erkannt werden. R.-St.-G.-B. §. 358. . Der Verübung der That steht es gleich, wenn ein Post- oder Telegraphen-Beamter einem Andern wissentlich eine solche Handlung gestattet oder ihm dabei wissentlich Hülfe leistet. Aus- genommen sind selbstverständlich die im Gesetze vorgesehenen Fälle im Interesse der Rechtspflege. 5. Der Verletzung des Briefgeheimnisses steht in allen Bezieh- ungen völlig gleich die absichtliche rechtswidrige Vernichtung, Unter- drückung oder Vorenthaltung einer der Post anvertrauten Sendung oder Depesche Nicht blos der verschlossenen Briefe oder Packete. Keine „rechts- widrige Vorenthaltung“ ist die Ausübung des Retentionsrechts an Postsen- dungen und telegraphischen Depeschen wegen Verweigerung der Gebührenzahlung. . Bei den letzteren kömmt noch wegen der thatsächlichen Art und Weise der Beförderung der Fall der Verfälschung der Depesche hinzu. Auch dies beruht auf dem Charakter der Post als öffentlicher Verkehrsanstalt, demzufolge die getreue Ausführung des übernommenen Transportes nicht blos 20* §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. eine privatrechtliche, aus dem Contrakte hervorgehende Obligation, sondern eine öffentlich rechtliche , staatlich gewährleistete Ver- pflichtung ist. In denselben Fällen, welche gesetzliche Ausnahmen von der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses bilden, ist auch die Vorenthaltung von Postsendungen und Telegrammen gestattet Nicht zu diesen Ausnahmen gehört die Vernichtung oder der Verkauf unbestellbarer Postsendungen, deren Absender nicht ermittelt werden kann. Postordn. §. 40. ; ihnen tritt noch hinzu bei Postsendungen der im §. 32 des Post- gesetzes erwähnte Fall der Post- oder Porto-Defraudation Die bei Entdeckung einer solchen vorgefundenen Briefe oder anderen Sachen, welche Gegenstand der Uebertretung sind, können von den Postbehör- den in Beschlag genommen und so lange ganz oder theilweise zurückge- halten werden, bis entweder die defraudirten Postgefälle, die Geldstrafe und die Kosten gezahlt oder durch Kaution sichergestellt sind. . Auch die Rechtsfolgen der Verletzung dieser Pflicht sind völlig entsprechend denen der Verletzung des Briefgeheimnisses; insbesondere hat das St.-G.-B. §§. 354. 355 die Erfüllung dieser Amtspflicht durch die- selbe Strafandrohung gesichert, welche gegen die Eröffnung eines Briefes oder Packetes gerichtet ist. IV. Die Vorrechte der Post- und Telegraphen-Anstalt . Die hier in Betracht kommenden Rechtssätze betreffen nicht die im Betriebe der Post- und Telegraphie geschlossenen Transport- Geschäfte , sie regeln nicht das Rechtsverhältniß der Postanstalt zu denjenigen Personen, welche mit ihr contrahiren, sondern sie dienen dazu, den Betrieb selbst zu ermöglichen und zu erleichtern. Die der Postanstalt beigelegten Vorrechte sind nicht gegen bestimmte einzelne Personen gerichtet, sondern sie sind sogen. absolute Rechte, deren Wirkung sich gegen Jedermann erstreckt. Sie sind insbe- sondere außerkontraktliche Rechte, die gegen solche Personen geltend gemacht werden können, welche mit der Postanstalt kein Vertrags- verhältniß eingegangen sind. 1. Das Monopol der Post- und Telegraphen- Anstalt . a ) Der Postzwang Postges. §. 1. oder das Postmonopol ist eine Be- schränkung der allgemeinen Gewerbe- und Handlungsfreiheit zu §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Gunsten der Postanstalt. Dem Postzwange unterworfen sind ledig- lich folgende Gegenstände: α) Verschlossene Briefe Die Art des Verschlusses macht keinen Unterschied. Was ein „Brief“ sei, ist im Gesetz absichtlich nicht definirt worden. Vgl. Dambach S. 5. Der- selbe hebt mit Recht hervor, daß auch ein verschlossenes adressirtes Couvert, in welchem sich ein Stück unbeschriebenes Papier befindet [oder das ganz leer ist], im Sinne des §. 1 des Postgesetzes ein „Brief“ ist. Vgl. auch Meves a. a. O. S. 366 Nro. 5. . β) Zeitungen politischen Inhalts, welche öfter als einmal wöchentlich erscheinen. Das Monopol der Post erstreckt sich nur soweit, als die Post- verwaltung selbst den Umfang ihres Geschäftsbetriebes ausdehnt, d. h. es ist die Beförderung von Briefen und Zeitungen nur un- tersagt von Orten mit einer Postanstalt nach anderen Orten mit einer Postanstalt des In- oder Auslandes. Wo die Postverwaltung eine Postanstalt nicht errichtet, verzichtet sie auf die Ausübung des Monopols und giebt dadurch Briefbeförderung und Zeitungsdebit frei Dasselbe gilt, wenn die Postverwaltung in Zeiten des Krieges oder gemeiner Gefahr von dem im §. 15 des Postges. ihr beigelegten Rechte Ge- brauch macht. . „Unter Postanstalt ist jede Posteinrichtung zu verstehen, welche mindestens Briefe sammelt und vertheilt“ Motive zum Postges. v. 2. Novemb. 1867 S. 22. Dambach S. 9. Nro. 16. In keinem Falle sind bloße Briefsammelkasten als Postanstalten zu erachten. ; d. h. ein Postamt oder eine Post-Agentur, da eine Person er- forderlich ist, welche die Annahme und Ausgabe der Briefe und Zeitungen, die Erhebung der Gebühren, die Einschreibung und die Ertheilung von Empfangsbescheinigungen u. s. w. besorgt. Freige- geben vom Postzwang ist ferner die Beförderung der Briefe an demselben Orte, auch wenn eine Stadtpost daselbst besteht, und hinsichtlich der politischen Zeitungen ist dieser vom Postzwange eximirte Bezirk auf den zweimeiligen Umkreis ihres Ursprungsortes d. h. des Ortes, an welchem sie herausgegeben wird, ausgedehnt Bei Berechnung der zweimeiligen Entfernung ist nicht das Haus, in welchem die Zeitung herausgegeben wird, sondern die politische Ortsgrenze als Anfangspunkt und die politische Ortsgrenze des Bestimmungsortes als End- punkt zu Grunde zu legen. Dambach S. 7 Nro. 11. . Verboten ist nur die Beförderung der Briefe und Zeitungen §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. gegen Bezahlung ; die unentgeldliche Besorgung des Transportes steht jedem frei. Ob die Bezahlung in baarem Gelde oder in an- deren Werthgegenständen geleistet wird, macht keinen Unterschied; auch ist das Verbot nicht auf die gewerbemäßige Uebernahme von Brief- und Zeitungstransporten beschränkt; die einzelne und gelegentliche Beförderung gegen Entgeld ist ebenfalls eine Verletzung des Postmonopols. Eine Ausnahme hiervon ist jedoch für den Fall gemacht, daß Briefe und politische Zeitungen gegen Bezahlung durch expresse Boten oder Fuhren befördert werden, wofern ein solcher Expresser nur von Einem Absender abgeschickt wird und dem Postzwange unterliegende Gegenstände weder von Anderen mit- nimmt, noch für Andere zurückbringt Postges. §. 2. Ueber die casuistischen Fragen, zu denen dieser Para- graph den Anlaß bietet, vgl. Dambach S. 10 fg. Hervorzuheben ist insbe- sondere, daß der Expresse Gegenstände, welche dem Postzwang unterliegen, für Andere auch unentgeldlich nicht mitnehmen oder zurückbringen kann; dagegen kann er andere Gegenstände, z. B. unverschlossene Briefe oder Packete, ohne Beschränkung sowohl entgeldlich als unentgeldlich befördern. Immerhin muß er aber den Charakter eines expressen Boten bewahren, d. h. der eigentliche und wesentliche Zweck muß die Abtragung oder Abholung der Briefe seines Absenders sein. Daher würde z. B. der Milchpächter, welcher mit seiner Waare in die Stadt fährt und für den Gutsherrn Briefe und Zeitungen gegen Entgeld mitnimmt oder zurückbringt, nicht als expresser Bote zu erach- ten sein. . Unverschlossene Briefe und Packete unterliegen dem Postzwange nicht. Wenn jedoch unverschlossene Briefe in versiegelten, zuge- nähten oder sonst verschlossenen Packeten befördert werden, so sind sie den verschlossenen Briefen gleich zu achten, unterliegen also dem Postzwange. Ausgenommen hiervon sind solche unverschlossene Briefe, Fakturen, Preiskurante und ähnliche Schriftstücke, welche den Inhalt des Packets betreffen Postges. §. 1 Abs. 3. . Nach dem Wortlaute des Postgesetzes ist es keine Verletzung des Postzwanges, wenn ein Packet, welches verschlossene Briefe und Zeitungen enthält, der Post zur Beförderung übergeben wird; eine strafbare Portodefraudation wird nicht verübt, wenngleich das für das Packet zu entrichtende Porto geringer ist als das Brief-Porto, welches für die einzelnen in dem Packete enthaltenen Briefe erhoben worden wäre Vgl. auch Postges. §. 27. Es wäre also z. B. nicht strafbar, wenn . Denn §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. die Beförderung von einem Orte zum andern geschieht auch in diesem Falle nicht „auf andere Weise, als durch die Post“. Der Postzwang erstreckt sich auch auf diejenigen verschlossenen Briefe und politischen Zeitungen, welche vom Auslande eingehen und nach einem inländischen Ort mit Postanstalt bestimmt sind, oder durch das Gebiet des deutschen Reiches transitiren sollen. Dieselben müssen bei der nächsten inländischen Postanstalt zur Weiterbeförderung eingeliefert werden Postges. §. 1 Abs. 2. . Die Verletzung des Postmonopols wird mit dem vierfachen Betrage des defraudirten Portos, jedoch mindestens mit einer Geld- strafe von drei Mark bestraft Postges. §. 27 Z. 1 und dazu Dambach S. 72—81. Meves S. 365 ff. . b ) Der Telegraphen-Zwang besteht nur thatsächlich, die rechtliche Anerkennung fehlt zur Zeit noch. Man hat zwar versucht, aus dem Art. 48 Abs. 1, wonach das Telegraphenwesen für das gesammte Reichsgebiet als einheitliche Staatsverkehrs- Anstalt eingerichtet und verwaltet wird, eine solche Anerkennung herzuleiten Dambach im Gerichtssaal Bd. XXIII. (1871) S. 248. Fischer in Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 440 fg. . Allein mit Unrecht. Der Art. 48 spricht hinsicht- lich der Telegraphie und der Post nur aus, daß die bis dahin selbstständigen Verwaltungen zu einer einheitlichen Verwaltung des Reiches verbunden werden; aber so wenig wie er den Postzwang sanctionirt und so wenig er irgend Jemandem verbietet, Briefe, Packete, Personen gegen Entgelt zu befördern und als Privat- Unternehmer der Reichspost Concurrenz zu machen, eben so wenig enthält der Art. 48 Abs. 1 ein Verbot, telegraphische Leitungen anzulegen und Telegramme gegen Entgeld zu befördern. Der Art. 48 verfügt, daß die Post und Telegraphie als Staats - Verkehrs-Anstalten einheitlich vom Reich verwaltet werden, aber er sagt nicht, daß die Geschäfte, denen sich diese Anstalten widmen, nur von Staats-Anstalten betrieben werden dürfen und Privat- Jemand gegen Bezahlung in Hamburg Briefe nach Berlin sammelt, dieselben täglich in einem verschlossenen Packet per Post nach Berlin an einen Geschäfts- freund schickt und sie durch Vermittlung des letzteren den Adressaten zustellt. Der Schutz gegen eine solche Concurrenz, die überhaupt nur zwischen großen Städten mit Aussicht auf Erfolg betrieben werden könnte, liegt in der Billig- keit, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit der Briefbeförderung mittelst der Post. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Unternehmern untersagt seien. Auch aus allgemeinen Gründen läßt sich ein Telegraphen-Regal, wo es nicht durch positives Ge- setz eingeführt ist, nicht darthun Die Annahme eines Telegraphenregals wird vertheidigt von Reyscher , Zeitschrift f. Deutsches R. Bd. XIX. S. 282 ff. Bluntschli , Allgem. Staatsrecht. 5. Aufl. S. 510 (Lehre vom modernen Staat Bd. II. ). Meili S. 11 ff. — Vgl. dagegen die sehr treffenden Ausführungen von Ludewig , die Telegr. S. 12 ff. 52 fg. ; denn daß der Telegraph dem Publikum dient, zur öffentlichen Benutzung bestimmt ist und eine staatliche Controle seines Betriebes wünschenswerth erscheint, sind — wenn überhaupt Gründe — jedenfalls nur Gründe de lege ferenda. Wenn man aber auch annehmen wollte, daß in der That im Deutschen Reich die Anlage und der Betrieb von Telegraphen durch Privatpersonen verboten sei, so wäre dieses Verbot dennoch eine lex imperfecta; denn es fehlt an jeglicher Strafbestimmung für eine Verletzung desselben Vgl. auch Dambach a. a. O. S. 247. 249. . Eine Ausnahme hievon macht lediglich das Königreich Sachsen , welches für sein Gebiet durch das Gesetz v. 21. Sept. 1855 Das Gesetz ist abgedruckt bei Ludewig a. a. O. S. 16 fg. die Anlegung eines Telegraphen von der staatlichen Erlaubniß abhängig machte und die Verletzung dieser Anordnung mit Geldstrafe, sowie mit Confiskation der Ap- parate und Leitungen bedrohte Daß diese Strafbestimmungen gemäß Art. 2 des Einf.-Ges. zum R.- St.-G. B. in Geltung geblieben sind, unterliegt keinem Zweifel. Vgl. Dam- bach a. a. O. . Ferner ist in Elsaß-Loth- ringen das Französ. Decret v. 27. Dezember 1851 in Geltung, wonach ebenfalls eine Telegraphen-Leitung nur von der Regierung oder unter ihrer Genehmigung angelegt oder zur Beförderung von Depeschen benutzt werden darf Das Telegraphen-Regal wurde in Frankreich durch das Ges. v. 2. Mai 1837 eingeführt und mit strengen Strafen geschützt. Das Ges. v. 29. Nov. 1850 gab zuerst die Staatstelegraphen der Benutzung des Publikums frei, das Monopol selbst aber wurde durch das Decret v. 27. Dez. 1851 beibehalten. Vgl. Hepp , de la Correspond. privée postale ou télégraphique. Paris 1864. S. 21 ff. . Von diesen Gebieten abgesehen fehlt es im Deutschen Reiche an einer rechtlichen Grundlage, um ein ausschließliches Recht des Staates auf die Telegraphie in Anspruch zu nehmen. Thatsächlich aber sind die großen Telegraphen- Linien vom Staate oder den vom Staate dazu ermächtigten Eisen- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. bahn-Unternehmern angelegt und betrieben worden und der Staat allein ist im Stande, auf große Strecken hinaus solche Anlagen zu machen und zu unterhalten. Rechtlich steht es Jedem frei, auf seinem eigenen Gebiete electro-magnetische Telegraphen anzulegen und sie im eigenen Geschäftsbetriebe zu benutzen; in großen Pri- vathäusern, Hotels, Fabriken und anderen industriellen Etablisse- ments wird von dieser Befugniß häufig Gebrauch gemacht; den großartigsten Anwendungsfall bieten die Betriebs-Telegraphen der Eisenbahnen. Wenn der Einzelne diese Befugniß auf seinem Grundstück hat, so kann er auch einem Fremden die Erlaubniß ertheilen, eine Telegraphen-Leitung über das Grundstück zu legen, und so wäre es in der That denkbar, daß ein Unternehmer zwi- schen zwei Orten eine telegraphische Leitung herstellt, indem die Besitzer sämmtlicher Grundstücke, über welche er die Telegraphen- Linie zieht, ihm die Befugniß dazu einräumen. Ebenso wenig be- steht ein rechtliches Hinderniß, daß der Unternehmer den ihm ge- hörigen Telegraphen Anderen gegen Entgeld zur Benützung gestattet und sonach aus der Beförderung telegraphischer Depeschen ein Pri- vat-Gewerbe macht. Ein wirkliches Telegraphennetz von großen Dimensionen und mit einem geordneten Anschluß an andere Linien gegen den Willen und ohne die Mithülfe des Staates herzustellen, ist aber einem Privat-Unternehmer wegen der thatsächlichen Schwie- rigkeiten kaum möglich und so besteht, wenn auch nicht de jure, so doch de facto ein Telegraphen-Monopol des Reiches Kaum als eine Ausnahme hievon kann es angesehen werden, daß es Kommunen, in denen keine Reichstelegraphen-Anstalt besteht, gestattet ist, nach näherer Anordnung der Telegraphen-Direktion Anschluß-Leitungen herzustellen und auf eigene Rechnung unter Befolgung der Telegraphen-Ordnung zu be- treiben. Denn das Reich kann jeder Zeit gegen Erstattung der Hälfte der An- lagekosten die Telegraphen-Anlage erwerben und in eigene Verwaltung nehmen. Bekanntmachung v. 2. März 1869. Preuß. Minist.-Bl. d. i. V. 1869 S. 61. . Eine Ausnahme hiervon machen lediglich die Betriebs-Telegraphen der Eisenbahnen , indem es den Eisenbahn-Unternehmern ge- stattet ist, auch solche Telegramme anzunehmen und zu befördern, welche nicht den Eisenbahndienst betreffen Die näheren Vorschriften hierüber enthält das Reglement des Reichskanzlers vom 7. März 1876. Centralbl. 1876 S. 155 ff. Für die Zeit vor dem Erlaß dieses Reglements entschieden über die Befugniß der Eisen- bahnen zur Beförderung von Privattelegrammen die Bestimmungen der ein- . Die Eisenbahn-Tele- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. graphenstationen dürfen jedoch nur dann von Jedermann Telegramme annehmen, wenn keine Reichs-Telegraphenanstalt an demselben Orte ist; befindet sich eine Reichs-Telegraphenanstalt an demselben Orte, so dürfen sie Telegramme nur von solchen Personen annehmen, die mit den Eisenbahnzügen ankommen, abreisen oder durchreisen Das angef. Reglement §. 2. . Die Eisenbahn-Telegraphen sind, sofern sie die Korrespondenz ver- mitteln, der für die Reichstelegraphen geltenden Telegraphen-Ord- nung unterworfen ebendas. §. 3. ; insbesondere haben sie für diesen Wirkungs- kreis den Charakter der öffentlichen Verkehrsanstalten, d. h. sie dürfen ordnungsmäßig formulirte Telegramme nicht von der Annahme und Beförderung zurückweisen Die auf den Eisenbahn-Betriebsdienst bezüglichen Telegramme haben jedoch in der Beförderung den Vorzug vor allen anderen Telegrammen. eben- das. §. 4. und sie müssen zur Bedienung des telegraphirenden Publikums während der vorschriftsmäßigen Dienststunden bereit sein Der Regel nach gehören die Eisenbahn-Telegraphenstationen zu den Stationen mit vollem Tagesdienst. ebendas. §. 5. . Der Geschäfts- Umfang der Eisenbahn-Telegraphen erleidet dadurch eine erhebliche Einschränkung, daß sie der Regel nach die ihnen aufgegebenen Tele- gramme an die nächste zur Vermittelung geeignete Reichs-Tele- graphenanstalt behufs der Weiterbeförderung zu überweisen haben; nur wenn das Telegramm von der Aufgabe- an die Adreßstation direct d. h. ohne jede Umtelegraphirung gegeben werden kann, oder wenn das Telegramm auf dem Wege von der Aufgabe- bis zur Adreßstation nicht mehr als eine Umtelegraphirung zu erleiden hat und am Orte der Adreßstation eine Reichstelegraphenanstalt nicht besteht, findet die Beförderung ausschließlich mittelst des Bahn- telegraphen statt Reglement §. 6. . Um die Auswechselung der Telegramme zu be- schleunigen und zu erleichtern, sind an geeigneten Orten die Bahntele- graphen mit den Reichstelegraphen durch Leitungen zu verbinden Die näheren Anordnungen enthält das Reglement §§. 7 u. 8. . Für diejenigen Telegramme, deren Beförderung ausschließlich mit dem Bahntelegraphen erfolgt ist, fällt die dafür erhobene Gebühr unge- zelnen Concessions-Urkunden. Vgl. über dieselben — soweit sie Preußen be- treffen — Ludewig a. a. O. S. 44 ff. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. theilt der Eisenbahnkasse zu; in allen anderen Fällen tritt eine Theilung zwischen der Eisenbahnkasse und der Reichstelegraphen-An- stalt ein Die Vertheilungs-Grundsätze, die Vorschriften über Abrechnung, Ge- bührenfreiheit, Haftung für Defecte u. s. w. sind in dem Reglem. §§. 9—13 festgesetzt. . 2. Rechte an den Eisenbahnen . A. Rechte der Postverwaltung Eine Zusammenstellung der hierüber erlassenen Vorschriften in der Schweiz, Deutschland, Oesterreich, Frankreich, England u. Nordamerika findet sich bei Meili , Haftpflicht S. 122 ff. . Als man in Deutschland den Bau von Eisenbahnen begann, hatte der Postzwang hinsichtlich der Beförderung von Sachen und Personen einen solchen Umfang, daß der Eisenbahn-Betrieb durch Privatunternehmer mit demselben unvereinbar gewesen, jedenfalls durch ihn erheblich erschwert und beschränkt worden wäre. Anderer- seits boten die Eisenbahnen für den Betrieb der Postanstalt ein vorzügliches und sehr bald unentbehrliches Hülfsmittel dar. Es wurde daher eine Ausgleichung zwischen den Bedürfnissen der Post und der Eisenbahn, wo die letztere nicht ganz und gar Staatsver- kehrsanstalt war, in der Art gefunden, daß man die Eisenbahnen von dem aus dem Postregal sich ergebenden Beschränkungen befreite und sie dafür verpflichtete, der Postverwaltung die für dieselben erforderlichen Leistungen zu gewähren. Der Umfang derselben und die den Eisenbahnen etwa zu zahlenden Vergütungen wurden in den Konzessionen , welche den einzelnen Eisenbahn-Unternehmern er- theilt wurden, vertragsmäßig festgestellt. In größeren Staaten mußten hierbei aber gleichmäßige Grundsätze befolgt werden und es stellte sich in Folge dessen das Bedürfniß heraus, dieselben ge- setzlich zu normiren. Dies ist zuerst geschehen in dem Preußi- schen Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen v. 3. Novemb. 1838 §. 36 Preuß. Ges.-Samml. 1838 S. 505. , dessen Vorschriften nicht nur historisch sondern auch in ihren wichtigsten Bestimmungen materiell dem gegen- wärtigen Rechte zu Grunde liegen. Die Preuß. Postgesetze v. 5. Juni 1852 §. 9 und v. 21. Mai 1860 §. 5 haben den §. 36 des Eisenbahngesetzes v. 1838 aufrecht erhalten, in den im Jahre 1866 erworbenen Gebieten ist er durch V. v. 19. Aug. 1867 eingeführt §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. worden Preuß. Ges.-Samml. 1867 S. 1426. , so daß er bei Gründung des Nordd. Bundes in dem weitaus größten Theile des Bundesgebietes gesetzliche Geltung hatte. Auch das Postges. v. 2. Nov. 1867 §. 5 Bundesgesetzbl. 1867 S. 62. erhielt ihn in Kraft und bestimmte zugleich, daß bei neu zu konzessionirenden Eisenbahn-Unternehmungen das Bundespräsidium die erforderlichen Anordnungen wegen gleichmäßiger Bemessung der den Eisenbahnen im Interesse der Post aufzuerlegenden Verpflichtungen treffen werde und daß diese Verpflichtungen nicht über das Maaß derjenigen Ver- bindlichkeiten hinausgehen sollen, welche den neu zu erbauenden Eisenbahnen nach den bisher in den älteren östlichen Landestheilen Preußens geltenden Gesetzen obliegen. Diese Anordnungen sind vom Bundes-Präsidium ergangen; sie schließen sich mit einigen Ab- änderungen sehr eng an die Vorschriften des §. 36 des Eisenbahn- gesetzes v. 3. Nov. 1838 an Sie sind abgedruckt als Anlage B zu den Motiven des Reichsgesetzes v. 20. Dez. 1875. Drucks. des Reichstages 1875/76 Bd. I. Nro. 4 S. 16. 17. . Da die Post nun aber für Rech- nung des Bundes, die Staatsbahnen dagegen für Rechnung der Einzelstaaten betrieben wurden, so genügte es nicht, die Rechte der Post gegen die Privat-Eisenbahnen festzustellen; sondern es mußten auch die von den Staats -Eisenbahnen der Post zu leistenden Dienste normirt werden. Dies ist erfolgt durch ein im Bundesrathe ver- einbartes Reglement v. 1. Januar 1868, das ebenfalls mit den Vorschriften des Preußischen Rechtes im Wesentlichen übereinstimmt und gemäß Bundes-Beschlusses v. 4. Dezemb. 1867 bis zum 31. Dezember 1875 Geltung haben sollte Vgl. die angeführten Motive S. 1. . Bei dem Eintritt Badens in die Reichspostverwaltung am 1. Januar 1872 wurde für einen Zeitraum von 8 Jahren, also bis zum Ablaufe des Jahres 1879, dieses Reglement auf die Badischen Staatsbahnen ausgedehnt und der Badischen Regierung für die Leistungen ihrer Staatsbahnen zu Postzwecken eine jährliche Vergütung von 48,900 Thlr. für diesen Zeitraum zugesichert Vertrag v. Karlsruhe v. 6. Juli 1871 und nachträgliche Uebereinkunft d. d. 1871. Motive zu Art. 12 des Reichsges. vom 20. Dezemb. 1875 a. a. O. S. 13. . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Das Postgesetz vom 28. Oktob. 1871 §. 4 hat die Bestim- mungen des Postges. des Nordd. Bundes vom 2. Nov. 1867 §. 6 wiederholt; ihre Geltung auf Bayern und Württemberg mit Rück- sicht auf Art. 52 der R.-V. aber nicht ausgedehnt. Da das Reglement v. 1. Januar 1868 mit dem Ablauf des Jahres 1875 außer Geltung trat, so wurde dem Reichstag v. 1875 ein Gesetzentwurf vorgelegt, welcher das Rechtsverhältniß der Post zu den Eisenbahnen, sowohl den Staats- wie den Privatbahnen einheitlich und mit gesetzlicher Kraft regeln sollte. Das in Folge dessen erlassene Reichsgesetz vom 20. Dezemb . 1875 R.-G.-Bl. 1875 S. 318. ist seit dem 1. Januar 1876 an die Stelle des §. 4 des Postgesetzes v. 28. Oktob. 1871 getreten Vollzugsbestimmungen zu diesem Gesetz hat der Reichskanzler unter Zustimmung ges Bundesrathes unter dem 9. Febr. 1876 erlassen. Sie sind gedruckt im Centralblatt des D. R. 1876 S. 87 und in der Allge- meinen Post-Dienstanweisung Bd. I. Abschn. II. S. 29. . Dieses Gesetz gilt ebenfalls in Bayern und Württemberg nicht Art. 13 des in Rede stehenden Gesetzes. , da diese beiden Staaten die Post selbstständig und auf eigene Rechnung verwalten. Das Gesetz hat ferner die auf speziellem Rechtstitel beruhenden Rechte, insbe- sondere die durch Konzessionen oder Verträge begründeten Rechts- verhältnisse zwischen der Post und den Eisenbahnen unberührt ge- lassen Zu diesen vertragsmäßigen Verhältnissen gehört auch das zwischen der Badischen Staatsbahn und der Reichspost bestehende. Bis zum Ende des Jahres 1879 gilt daher für Baden noch das Reglement v. 1. Jannar 1868 und Baden erhält seine vertragsmäßige Vergütung, falls nicht im Wege der Vereinbarung etwas Anderes festgesetzt wird. Es ist dies ausdrücklich aner- kannt im Art. 12 Abs. 1 des Ges. ; es findet auf solche Bahnen oder ihre zukünftig konzessio- nirte Erweiterungen durch Neubauten nur insoweit Anwendung, als dies nach den Konzessionsurkunden zulässig ist. Den konzessionirten Eisenbahn-Unternehmern steht jedoch das Recht zu, an Stelle der ihnen konzessionsmäßig obliegenden Verpflichtungen für die Zwecke des Postdienstes die durch das gegenwärtige Gesetz angeordneten Lei- stungen zu übernehmen; sie haben also ein Wahlrecht zwischen den vertragsmäßigen (konzessionsmäßigen) und den gesetzmäßigen Lei- stungen Art. 11 ebendas. . Im Uebrigen kommt das Gesetz nicht blos gegenüber §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. den Privatbahnen zur Anwendung, sondern auch hinsichtlich der im Eigenthum des Reiches oder eines Bundesstaates befindlichen, so- wie auf die in das Eigenthum des Reiches oder eines Bundes- staates übergehenden Eisenbahnen Art. 12 Abs. 2. Erwirbt ein Bundesstaat eine konzessionirte Eisen- bahn, so treten mit dem Uebergang derselben in das Eigenthum des Staates die gesetzlichen Leistungen für die Post an die Stelle der konzessions - mäßigen. . Für schmalspurige Eisenbahnen und für Eisenbahnen von un- tergeordneter Bedeutung kann der Reichskanzler die gesetzlichen Ver- pflichtungen für die Zwecke des Postdienstes ermäßigen oder ganz erlassen Art. 9. . Die Rechte der Post beziehen sich auf die Betriebs-Einrich- tungen, auf die unentgeldliche Beförderung von Posttransporten, auf die Gewährung von Transportmitteln, sowie auf die Berechnung oder Vergütung für die gegen Entgeld zu gewährenden Leistungen. a ) Die Eisenbahnen sind verpflichtet, ihren Betrieb, soweit es die Natur und die Erfordernisse desselben gestatten, so einzurichten, daß er den Bedürfnissen des Postdienstes entspricht. Dahin gehört z. B. die Anordnung des Fahrplanes in der Art, daß einerseits die Post Anschluß findet und daß sie andererseits an den Stationen die genügende Frist für die Ein- und Ausladung der Postsendungen hat. Die Einlegung besonderer Züge für die Zwecke des Post- dienstes kann jedoch von der Postverwaltung nicht beansprucht wer- den Art. 1 Abs. 1: 2. . Auch kann die Mitbeförderung solcher Päckereien, welche nicht zu den Brief- und Zeitungspacketen gehören, bei Zügen, deren Fahrzeit besonders kurz bemessen ist, beschränkt oder ausgeschlossen werden, wenn dies von der Eisenbahn-Aufsichtsbehörde zur Wah- rung der pünktlichen und sicheren Beförderung der betreffenden Züge für nothwendig erachtet wird und andere zur Mitnahme der Päckereien geeignete Züge auf der betreffenden Bahn eingerichtet sind Art. 2 Abs. 3. . Bei der Errichtung oder bei dem Um- oder Erweiterungs- bau von Stationsgebäuden sind auf Verlangen der Postverwaltung die durch den Eisenbahnbetrieb bedingten für den Postdienst erfor- derlichen Diensträume herzustellen; falls in der Nähe der Bahn- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. höfe geeignete Privatwohnungen nicht vorhanden sind, auch Dienst- wohnungsräume für diejenigen Postbeamten, welche zur Verrichtung des durch den Eisenbahnbetrieb bedingten Postdienstes erforderlich sind. Die Herstellung und Unterhaltung dieser Räume liegt der Eisenbahn ob; die Post hat dafür eine Miethsentschädigung zu be- zahlen Auf Verlangen der Post können auch besondere Gebäude für den Post- dienst auf den Bahnhöfen hergestellt werden. Alsdann hat die Eisenbahn den erforderlichen Bauplatz gegen Erstattung der Selbstkosten zu beschaffen, während die Bau- und Unterhaltungskosten von der Post bestritten werden. Art. 7 Abs. 5. Die Eisenbahnen sind durch das ihnen zustehende Enteigungs- recht in der Lage, dieser Pflicht in allen Fällen zu genügen. . Das Miethsverhältniß ist unkündbar und kann nur im Einverständniß beider Verwaltungen aufgelöst werden Art. 7 des Gesetzes. . Besteht zwischen der Postverwaltung und einer Eisenbahn-Ver- waltung eine Meinungsverschiedenheit über die Bedürfnisse des Post- dienstes und über die Natur und die Erfordernisse des Eisenbahn- betriebes, so ist der Rechtsweg zur Entscheidung des Streites ausgeschlossen . Die Postverwaltung hat sich zunächst an die der Eisenbahn-Verwaltung vorgesetzte Landes-Aufsichtsbehörde zu wenden; will sie sich bei dem Ausspruche derselben nicht beruhigen, so entscheidet der Bundesrath nach Anhörung der Reichs-Post- Verwaltung und des Reichs-Eisenbahn-Amtes Art. 1 Abs. 3 ebendas. . b ) Die Pflicht der Eisenbahnen zur unentgeldlichen Beförderung erstreckt sich auf die Briefpostsendungen, Zeitungen, Gelder mit Ein- schluß des ungemünzten Goldes und Silbers, Juwelen und Pretiosen ohne Unterschied des Gewichts; ferner auf sonstige Poststücke bis zum Einzelngewichte von 10 Kilogramm einschließlich. Diese Ver- pflichtung der Eisenbahnen entspricht sonach durchaus nicht dem Umfange des Post zwangs , reicht vielmehr viel weiter; anderer- seits erstreckt sie sich nicht soweit, wie der Geschäftsumfang der Post. Außer den Postsendungen müssen unentgeldlich befördert werden die zur Begleitung der Postsendungen, sowie zur Verrich- tung des Dienstes unterwegs erforderlichen Postbeamten, auch wenn dieselben vom Dienste zurückkehren, sowie die Geräthschaften, deren die Postbeamten unterwegs bedürfen. Diese Verpflichtung der Eisenbahnen findet aber dadurch eine §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Begränzung, daß dieselben mit jedem für den regelmäßigen Beför- derungsdienst der Bahn bestimmten Zuge nur Einen Postwagen unentgeldlich zu befördern brauchen Art. 2 des Gesetzes. . Eine Vergütung haben die Eisenbahnen daher zu verlangen für Poststücke, welche nicht unentgeldlich zu befördern sind, auch wenn sie in dem Einen Postwagen untergebracht werden, und zwar berechnet sich die Frachtvergütung nach der Gesammtmenge der auf der betreffenden Eisenbahn sich bewegenden zahlungspflichtigen Post- stücke für den Achskilometer Art. 2 Abs. 2. Ueber das Verfahren bei der Ermittelung des Ge- wichts der zahlungspflichtigen Eisenbahn-Postsendungen ist eine besondere An- weisung ergangen. Sie bildet die Anlage 50 zu Abschn. V. Abth. 2 der Allgem. Postdienstanweisung. . Ebenso ist den Eisenbahnen eine Vergütung zu bezahlen, wenn sie in einem Zuge mehr als Einen Postwagen befördern, wenngleich dieselben mit Poststücken, die un- entgeldlich zu befördern sind, befrachtet werden; die Vergütung wird nach den Achskilometern berechnet, welche die mehr beförder- ten Postwagen auf der Eisenbahnstrecke zurückgelegt haben. Für das Post-Begleitungspersonal und die für den Dienst erforderlichen Geräthschaften wird eine Vergütung nicht gezahlt Art. 5 Abs. 3. . Die Eisen- bahnen sind verpflichtet, auf rechtzeitige Anmeldung mehrere Post- wagen zur Beförderung zuzulassen Art. 5 Abs. 1. . c ) Die für den regelmäßigen Dienst erforderlichen Eisenbahn- Postwagen werden zwar auf Kosten der Postverwaltung angeschafft und unterhalten Art. 2. Art. 6 Abs. 1 u. 2. Statt eines besonderen Postwagens kann auch auf Grund vorangegangener Verständigung eine Abtheilung eines Eisen- bahnwagens für den Postdienst hergerichtet werden. Die Post trägt alsdann die Kosten der Einrichtung und Wiederherstellung und zahlt eine Miethsent- schädigung. Art. 3. , die Eisenbahn-Verwaltungen sind aber ver- pflichtet, im Falle des Mehrbedürfnisses oder falls die der Post gehörigen Wagen beschädigt oder laufunfähig werden, der Postver- waltung geeignete Güterwagen oder einzelne geeignete Abtheilungen von Personenwagen zur Aushülfe gegen die übliche Wagenmieths- Entschädigung zu überlassen Art. 5. Art. 6 Abs. 5. . Auch sind die Eisenbahn-Verwal- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. tungen verbunden, die Unterhaltung, äußere Reinigung, das Schmieren und das Ein- und Ausrangiren der Postwagen gegen eine den Selbstkosten entsprechende Vergütung zu bewirken Art. 6 Abs. 2. . Der Postverwaltung steht es auch frei, statt die Stellung von Trans- portmitteln zu verlangen, der Eisenbahn-Verwaltung Postsendungen, mit Ausnahme von Geld- oder Werthsendungen, zur eigenen Beförderung zu überweisen, wofern bei dem betreffenden Zuge überhaupt Güter (Eil- oder Frachtgüter) befördert werden Art. 5 Abs. 2. . d ) Für die von der Post an die Eisenbahnen zu leistenden Vergütungen ist das Prinzip entscheidend, daß keine der beiden Verwaltungen auf Kosten der andern sich bereichern soll. Die Eisenbahn muß sich daher für die von ihr für Zwecke des Post- dienstes gemachten Auslagen und Verwendungen mit Erstattung der Selbstkosten oder der üblichen Miethsentschädigung begnügen Art. 3. Art. 6 Abs. 2 u. 5. Art. 7. , für die von ihr ausgeführten entgeldlichen Transportdienste aber die Gesammtmasse ihrer Leistungen für Postzwecke der Berechnung zu Grunde legen Art. 2 Abs. 2. Art. 5 Abs. 3. . Die näheren Anordnungen über die Festsetzung und die Be- rechnung der zu zahlenden Vergütung sind von dem Reichskanzler nach Anhörung der Reichs-Postverwaltung und des Reichs-Eisen- bahn-Amts unter Zustimmung des Bundesrathes zu erlassen Art. 10. Dieselben sind ergangen unter dem 9. Febr. 1876 und im Centralblatt 1876 S. 87 ff abgedruckt. . Wenn bei dem Betriebe einer Eisenbahn ein im Dienst befind- licher Postbeamter getödtet oder verletzt worden ist und die Eisen- bahn-Verwaltung auf Grund des Haftpflicht-Gesetzes vom 7. Juni 1871 Schadensersatz dafür geleistet hat, so steht ihr der Regreß an die Postverwaltung zu, falls nicht der Tod oder die Körper- verletzung durch ein Verschulden des Eisenbahnbetriebs-Unterneh- mers oder einer der im Eisenbahnbetrieb verwendeten Personen herbeigeführt worden ist Art. 8. Werden die Ansprüche gegen die Eisenbahn-Verwaltung im Wege des Prozesses verfolgt, so hat die Eisenbahn-Verw. derjenigen Ober- Postdirektion, in deren Bezirk der Unfall sich ereignet hat, nach Zustellung der Klage eine Abschrift derselben mitzutheilen. Reglem. v. 9. Febr. 1876 a. a. O. . Laband , Reichsstaatsrecht. II. 21 §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. B. Rechte der Telegraphen-Verwaltung . Durch Beschluß des Bundesrathes des Nordd. Bundes v. 21. Dezember 1868 Abgedruckt in der Allgem. Dienstanweisung für Post und Telegraphie Bd. I. (Berlin 1876) Abschn. II. S. 22. Auch bei Ludewig a. a. O. S. 57. sind den Eisenbahn-Verwal- tungen im Interesse der Telegraphen-Anstalten Verpflichtungen auf- erlegt, deren wesentlicher Inhalt in Folgendem besteht: a ) Das Eisenbahnterrain, welches außerhalb des vorschrifts- mäßigen freien Profils liegt und soweit es nicht zu Seitengräben, Einfriedigungen u. s. w. benutzt wird, ist zur Anlage von ober- irdischen und unterirdischen Reichs-Telegraphen-Linien unentgeld- lich zu gestatten. Dafür ist der Eisenbahn-Verwaltung die un- entgeldliche Mitbenutzung der von der Telegraphen-Verwaltung errichteten Stangen gestattet. b ) Den Telegraphenbeamten und deren Hülfsarbeitern ist be- hufs Ausführung ihrer Geschäfte das Betreten der Bahn unter Beachtung der bahnpolizeilichen Bestimmungen gestattet. Den Be- amten ist auf allen Zügen, einschließlich der Güterzüge, die Be- nutzung eines Schaffnersitzes oder Dienstcoup é s gegen Lösung von Fahrbillets der III. Wagenklasse gestattet. Zum Transport von Leitungs-Materialien ist die Benutzung von Bahnmeisterwagen unter bahnpolizeilicher Aufsicht gegen eine Vergütung von 50 Pf. für Wagen und Tag und von 2 Mark pro Tag der Aufsicht zu gestatten. Die Lagerung der Vorräthe von Telegraphen-Stangen auf den dazu geeigneten Bahnhöfen ist unentgeldlich zu gestatten. c ) Die Eisenbahn-Verwaltung hat die Reichs-Telegraphen- Anlagen an der Bahn gegen eine Entschädigung bis zur Höhe von 30 M. (nach besonderem Uebereinkommen) pro Jahr und Meile durch ihr Personal bewachen und in Fällen der Beschädigung nach Anleitung der von der Telegraphen-Verwaltung erlassenen In- struktion provisorisch wieder herstellen, auch von jeder wahrgenom- menen Störung der Linien der nächsten Reichs-Telegraphen- Station Anzeige machen zu lassen. d ) Die Eisenbahn-Verwaltung hat bei vorübergehenden Unter- S. 92. Vgl. Civilproceß-Ordn. §§. 69—71. — Ueber den Aufenthalt der Post- beamten in den Eisenbahnwagen während der Ausführung von Zugrangirbe- wegungen vgl. den Bundesraths-Beschluß v. 27. März 1877 und den Erlaß des Preuß. Handelsministers v. 25. September 1877. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. brechungen und Störungen des Reichs-Telegraphen alle Depeschen der Reichs-Telegraphen-Verwaltung mittelst ihres Telegraphen, so- weit derselbe nicht für den Eisenbahnbetriebsdienst in Anspruch genommen ist, unentgeldlich zu befördern, wofür die Reichs- Telegraphen-Verwaltung in der Beförderung von Eisenbahn-Dienst- depeschen Gegenseitigkeit ausüben wird. 3. Rechte an öffentlichen Straßen . a ) Die Postverwaltung ist von der Entrichtung von Chaus- seegeldern und anderen Kommunikations-Abgaben Das Postges. v. 1867 §. 16 spezialisirt dieselben als Wege-, Brücken-, Damm-, Pflaster-, Prahm- und Fährgelder. befreit für die ordentlichen Posten Den Gegensatz dazu bilden die Extraposten. Vgl. die Postordnung v. 18. Dez. 1874 §. 58 lit. f. (Centralbl. 1875 S. 36.) nebst deren Beiwagen, die auf Kosten des Staates beförderten Kuriere und Estafetten, die von Postbeförde- rungen ledig zurückkommenden Postfuhrwerke und Postpferde, die Briefträger und die Postboten. Diese Befreiung findet nicht blos an den Staatsstraßen statt, sondern auch gegen die zur Erhebung solcher Abgaben berechtigten Korporationen, Gemeinden oder Privat- personen, jedoch unbeschadet wohlerworbener d. h. auf speciellem Rechtstitel beruhender Rechte Postges. v. 28. Okt. 1871 §. 16. Den ordentlichen Posten gleichgestellt sind Personen fuhrwerke, welche durch Privatunternehmer eingerichtet und als Ersatz für ordentliche Posten ausschließlich zur Beförderung von Rei- senden und deren Effekten und von Postsendungen (also nicht von andern Frachtgütern) benutzt werden. Vgl. Dambach S. 58. . b ) Die Telegraphen-Verwaltung ist berechtigt, das Terrain der öffentlichen, unter staatlicher Verwaltung stehenden Straßen zur Anlage von oberirdischen und unterirdischen Telegraphen- linien unentgeldlich zu benützen, soweit dies ohne Behinderung des Staßenverkehrs thunlich ist. Jedoch muß die Telegraphen-Verwal- tung die bei Anlage der Telegraphen-Leitungen erfolgten Beschä- digungen des Straßenkörpers (Planum, Böschungen, Gräben) auf eigene Kosten nach Anweisung der Straßenbau-Verwaltung wieder herstellen. Die Letztere ist verpflichtet, durch ihr Straßen-Aufsichts- personal die Telegraphen-Anlagen bewachen, im Falle der Beschä- digung sie provisorisch wieder herstellen und die nächste Telegraphen- Station benachrichtigen zu lassen, auch bei den Anpflanzungen, Aus- ästungen u. s. w. auf die Bedürfnisse der Telegraphie Rücksicht zu 21* §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. nehmen. Dieselben Verpflichtungen sollen bei Konzessionsertheilungen für den Bau neuer Kunststraßen den Unternehmern auferlegt und für die bereits konzessionirten Kunststraßen insoweit eingeführt werden, als die Reichstelegraphen-Verwaltung es beantragt und die Be- stimmungen der Konzessions-Urkunden es gestatten. Auf die Straßen innerhalb der Städte finden diese Vorschriften keine Anwendung. Diese Verpflichtungen der öffentlichen Straßenbauverwaltungen beruhen auf dem unter den Regierungen des Norddeutschen Bundes vereinbarten Bundesrathsbeschluß v. 25. Juni 1869 Abgedruckt in der Allgemeinen Dienst-Anweisung für Post und Telegraphie Bd. I. (1876) Abschn. II. S. 23 fg. ; durch denselben sind aber die zwischen der Reichstelegraphen-Ver- waltung und den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Verträge über den in Rede stehenden Gegenstand unberührt geblieben. 4. Vorschriften zur Sicherung des Betriebes der Postanstalt . Das Postgesetz enthält einige Anordnungen, welche die Wege- polizei, Pfändung, Beschlagnahme u. s. w. betreffen, um die Post- anstalt vor plötzlichen und unvorhergesehenen Störungen, Hemmnissen und Unterbrechungen ihres Geschäftsbetriebes zu sichern. a ) Jedes Fuhrwerk muß den ordentlichen Posten, sowie den Extraposten, Kurieren und Estafetten auf das übliche Signal aus- weichen Postges. §. 19. . Die Thorwachen, Thor-, Brücken- und Barri è re-Beamten sind verbunden, die Thore und Schlagbäume schleunigst zu öffnen, so- bald der Postillon das übliche Signal giebt; ebenso müssen auf dasselbe die Fährleute die Ueberfahrt unverzüglich bewirken Postges. §. 23. . Die Befol- gung dieser Vorschriften ist durch Androhnng einer Strafe von 1—30 Mark gesichert Vgl. darüber Meves a. a. O. S. 361 ff. . b ) Wenn die gewöhnlichen Postwege gar nicht oder schwer zu passiren sind, können die ordentlichen Posten, die Extraposten, Kuriere und Estafetten sich der Neben- und Feldwege, sowie der ungehegten Wiesen und Aecker bedienen, unbeschadet jedoch des Rechts der Eigenthümer auf Schadenersatz Postges. §. 17. . Hieraus ergiebt sich zugleich, daß wenn Posten von diesem Rechte Gebrauch machen, sie §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. von dem Besitzer des Grundstücks oder seinen Leuten nicht gepfändet werden dürfen, da die Pfändung nur wegen unbefugten und widerrechtlichen Betretens gestattet ist. Das Postgesetz hat diese Folgerung ausdrücklich gezogen und überdies die Pfändung gegen ordentliche Posten, Extraposten, Kuriere, Estafetten und Postillone, welche mit dem ledigen Gespann zurückkehren, mit einer Geldstrafe von 1—30 Mark bedroht Postges. §. 18. Meves S. 360. . c ) Wenn den ordentlichen Posten, Extraposten, Kurieren oder Estafetten unterwegs ein Unfall begegnet, so sind die Anwohner der Straße verbunden, denselben die zu ihrem Weiterkommen er- forderliche Hülfe gegen vollständige Entschädigung schleunigst zu ge- währen Postges. §. 21. . Einen Rechtsschutz erhält diese Anordnung durch das R.-St.-G.-B. §. 360 Z. 10, wonach mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft derjenige bedroht wird, welcher bei Unglücksfällen von der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter zur Hülfe aufgefordert, keine Folge leistet, obgleich er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Gefahr genügen konnte. Die Postbeamten oder Postillone müssen daher, wenn die Anwohner der Straße die von ihnen verlangte Hülfeleistung verweigern, sich an die Ortspolizeibe- hörde wenden und durch diese die Anwohner zur Hülfeleistung auf- fordern lassen Vgl. Dambach S. 64. . d ) Das Inventarium der Posthaltereien darf im Wege des Arrestes oder der Exekution nicht mit Beschlag belegt werden Postges. §. 20. Ausgenommen jedoch im Konkurse. Reichs-Konkurs- Ordn. §. 1 Abs. 3. . Die vorschriftsmäßig zu haltenden Postpferde und Postillone dürfen zu den behufs der Staats- und Communalbedürfnisse zu leistenden Spanndiensten nicht herangezogen werden Postges. §. 22. Dagegen findet die eben erwähnte Vorschrift in §. 360 Z. 10 des Strafgesetzb. auch auf die Posthalter Anwendung, wenn sie in Noth- fällen die Hülfeleistung verweigern. . Die von den Post- haltern kontraktmäßig zu haltenden Pferde brauchen bei Mobil- machung der Armee nicht der Militairbehörde überlassen zu werden Reichsges. über die Kriegsleistungen v. 13. Juni 1873 §. 25 Z. 4 (R.-G.-Bl. S. 135). . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. e ) Das R.-Strafgesetzb. §. 317. 318 bedroht denjenigen mit Strafe, der vorsätzlich oder fahrlässigerweise Handlungen begeht, durch welche die Benutzung einer zu öffentlichen Zwecken dienenden Telegraphen-Anstalt verhindert oder gestört wird Ueber die Verpflichtung der Oberpostdirektionen zur Verhütung und Ermittelung solcher Beschädigungen vgl. die Allgem. Dienstanweisung Bd. I. Berlin 1876. Abschn. II. S. 20. . 5. Rechte an unbestellbaren Postsendungen und zurückgelassenen Passagier-Effekten . Beträge, welche in einer Postsendung enthalten sind, die weder an den Adressaten bestellt, noch an den Absender zurückgegeben werden kann, oder welche aus dem Verkaufe der vorgefundenen Gegenstände gelöst werden Vgl. Postordnung §. 39 Nro. III. §. 40 Nro. V—VII. Centralblatt 1875 S. 26. 27. , ferner Postanweisungsbeträge, welche der Absender eingezahlt hat, Postvorschußbeträge, welche der Adressat entrichtet hat, und Geldbeträge, welche auf Grund eines Postauf- trages eingezogen worden sind, falls diese Beträge weder dem Ab- sender noch dem Adressaten ausgezahlt werden können, endlich zu- rückgelassene Passagier-Effekten oder die aus dem Verkaufe derselben erzielten Beträge sind nach Abzug des Porto’s und der sonstigen Kosten der Postarmen - oder Unterstützungskasse zu über- weisen. Meldet sich später der Absender oder der Adressat, be- ziehentl. der Verlierer der Passagier-Effekten, so ist die Postarmen- oder Unterstützungskasse verpflichtet, demselben die ihr zugeflossenen Summen, jedoch ohne Zinsen, zurückzuerstatten Postges. §. 26. . Wesentliche Voraussetzung dieses Rechtes ist, daß die Post den Besitz der unbestellbaren Geldbeträge oder Sachen auf Grund eines Beförderungs-Vertrages erhalten hat, daß sie ihr also zum Zwecke der Beförderung übergeben worden sind Auf Passagier-Effekten paßt dies allerdings nur dann, wenn das Pas- sagiergut der Post eingeliefert worden ist, nicht wenn der Reisende die Effekten unter eigener Aufsicht behalten und sie im Wartezimmer oder im Postwagen zurückgelassen hat. Das Postges. §. 26 Abs. 2 unterscheidet aber nicht, sondern spricht allgemein von „zurückgelassenen Passagier-Effekten“. . Gegenstände, welche in den Diensträumen der Postanstalt oder in Brief-Sammel- kasten oder sonst bei Gelegenheit des Betriebes der Postgeschäfte §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. von den Postbeamten gefunden werden, sind nach den Vorschriften der Landesgesetze über gefundene Sachen zu behandeln Dambach S. 71. Es würde demnach z. B., wenn in dem Passagier- Wartesaal eines Postgebäudes ein Plaid, Regenschirm, Stock oder drgl. ge- funden wird, ein verschiedenes Verfahren einzuschlagen sein, je nachdem ein Postreisender den Gegenstand zurückgelassen hat oder eine andere Person, da die gefundene Sache im ersteren Falle zu den Passagier-Effekten gehören würde, im letzteren Falle nicht. Woran soll man dies aber erkennen, wenn sie nicht zufällig reisemäßig verpackt ist? . Auch hinsichtlich des formellen Verfahrens ist zwischen den der Post übergebenen , unanbringlichen Sendungen und den gelegent- lich beim Betrieb des Postgeschäftes gefundenen Sachen zu un- terscheiden. Die Vorschriften über das Verfahren mit unanbring- lichen Postsendungen hat auf Grund des Postgesetzes §. 50 Nr. 4 der Reichskanzler zu erlassen; sie sind in der Postordnung §. 40 enthalten Die Detailbestimmungen enthält die Allgem. Post-Dienstanweisung Ab- schnitt XI. Abth. 2. . Für das gerichtliche Aufgebot der von Postbeamten bei Gelegenheit ihrer Dienstverrichtungen gefundenen Sachen kommen dagegen die Regeln der Civilproceß-Ordnung §§. 823 ff. zur An- wendung; jedoch steht es den Einzelstaaten frei, im Wege der Lan- desgesetzgebung die Anwendnng dieser Vorschriften auf das Aufgebot gefundener Sachen auszuschließen oder durch andere Be- stimmungen zu ersetzen Einf.-Ges. zur Civilproc.-Ordn. §. 11. . V. Das Rechtsverhältniß aus den von der Post- und Telegraphen-Verwaltung abgeschlossenen Beförde- rungs-Verträgen . Das Rechtsverhältniß der Post- und Telegraphen-Verwaltung hinsichtlich der Ausführung eines Transportes irgend welcher Art ist in allen Fällen ein vertragsmäßiges , gleichviel ob der Transport entgeldlich und unentgeldlich ausgeführt wird und gleich- viel ob dem andern Contrahenten die Wahl zwischen mehreren Transport-Unternehmern freistand oder der Postzwang diese Wahl ausschloß Denn der Postzwang ist kein Zwang, sich der Post zu bedienen , son- dern ein Zwang, sich des Betriebes der der Post vorbehaltenen Transport- Geschäfte zu enthalten . . Ausgenommen sind allein diejenigen Fälle, in denen das Reich sich seiner eigenen Post- und Telegraphen-Anstalt zur §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Ausführung von Transporten bedient, da der Reichsfiskus, sowenig wie irgend ein anderes Rechtssubjekt, mit sich selbst contrahiren kann. Soweit die Post- und Telegraphen-Anstalt Transporte von Briefen und anderen Postsendungen oder von telegraphischen Depeschen für das Reich ausführt, sind ihre Dienste rein thatsächlicher Natur; ein Rechtsv erhältniß zwischen der Post und dem Reiche oder den absendenden Reichsbehörden wird dadurch nicht begrün- det Dasselbe gilt natürlich von den Diensten der Bayerischen Postanstalt für den Bayerischen Staat und von den Diensten der Württemb. Postanstalt für den Württemb. Staat. . Dagegen stehen die Einzelstaaten, welche sich der Reichs- Post- und Telegraphen-Anstalt bedienen, derselben wie andere Per- sonen als Contrahenten obligatorischer Verträge gegenüber. Aus dem an die Spitze gestellten Prinzip ergiebt sich, daß die Entrichtung des Porto’s u. s. w. nicht unter den Gesichtspunkt der Steuerzahlung gebracht werden darf, sondern juristisch die Leistung einer vertragsmäßigen Geldschuld ist Kompe , Zeitschr. f. das ges. Handelsr. Bd. XI. S. 55 ff. Schell- mann a. a. O. S. 18. , und daß ebenso die von der Post zu gewährenden Leistungen nicht beurtheilt werden dürfen, wie Leistungen, die der Staat als solcher (d. h. im publizistischen Sinne) zur Führung der Regierungsgeschäfte oder zur Hebung der Volkswohlfahrt macht Die Einrichtung und Erhaltung der Postanstalt als Ganzes gehört allerdings hierher, nicht aber das einzelne von der Postanstalt innerhalb ihres Ressorts geschlossene Geschäft. , sondern als Leistungen des Fiskus be- hufs Erfüllung von ihm contrahirter Verpflichtungen. Daraus folgt ferner, daß prinzipiell die Postanstalt mit Demjenigen, der mit ihr contrahirt, die Vertragsbedingungen ver- einbaren kann, soweit nicht verbietende Rechtsgrundsätze entgegen- stehen, und daß zur Ergänzung der vertragsmäßig getroffenen Be- stimmungen die Vorschriften des Privatrechts zur Anwendung kom- men. Wie aber bereits in anderem Zusammenhange dargethan worden ist, kann es den Postanstalten nicht in jedem einzelnen Falle überlassen sein, die Bedingungen des Vertrages zu verab- reden, abgesehen von einigen nicht wichtigen und minder häufigen Ausnahmefällen; sondern die Post muß als öffentliche Verkehrsanstalt Normalbestimmungen aufstellen, unter denen sie gleichmäßig mit §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Allen zu contrahiren bereit ist. Dadurch wird die Vertrags- freiheit der Post als einheitliches Institut nicht aufge- hoben, sondern nur die Befugniß der einzelnen Postämter und Post- beamten zur Vertretung der Postanstalt beim Abschluß der Verträge beschränkt. Und zwar in doppelter Beziehung; die Postbeamten dürfen von den Spezialb estimmungen, welche für die Geschäfte der Post erlassen sind, bei dem Abschluß dieser Geschäfte nicht ab- weichen; sie dürfen aber auch andererseits, soweit keine Spezial- bestimmungen erlassen sind, von den allgemeinen , zur Ergänzung, der Spezialbestimmungen dienenden Rechtsvorschriften nicht ab- weichen Nach der Ausdrucksweise der älteren scholastischen Jurisprudenz kann man dies so formuliren, daß die Beamten der Post im einzelnen Falle keine Accidentalia negotii verabreden dürfen, sondern daß die Naturalia negotii (das bürgerliche resp. Handelsrecht) Anwendung finden, soweit sie nicht durch Spezial-Vorschriften ausgeschlossen sind. . Faßt man die einzelnen, von den Postämtern geschlos- senen Geschäfte in das Auge, so kehrt sich allerdings der Grund- satz des Privatrechts, daß die Parteien beim Abschluß von ver- mögensrechtlichen Verträgen volle Dispositionsfreiheit haben, so weit nicht ausnahmsweise ein Rechtssatz zum ius cogens erklärt ist, in das Gegentheil um. Bei den einzelnen Geschäften der Postan- stalt können Abweichungen von den dafür ergangenen allgemeinen Vorschriften und den Anordnungen des Privatrechts nicht ver- abredet werden, so weit nicht ausnahmsweise für besondere Fälle dies für statthaft erklärt ist So z. B. Vereinbarungen über das Abholen von Postsendungen, über Einrichtung von Postfächern, über Kreditirung und Kontirung von Porto u. dgl. . Die Postverwaltung als solche aber kann durch Erlaß allgemeiner Anordnungen Spezialvorschriften für die Geschäfte aufstellen, d. h. die naturalia negotii (das bürger liche Recht) ausschließen. Nach den oben S. 214 ff. gegebenen Ausführungen ist die Auf- stellung solcher allgemeiner Normativ-Bestimmungen für die Ver- träge ein Verwaltungsa kt; denn es handelt sich dabei um eine Bethätigung der allgemeinen Handlungs- (Vertrags-) freiheit intra legem (d. h. unter Beobachtung des ius cogens ). Der Regel nach wird also die Regierung diese Bedingungen in der Form des Verwaltungsaktes d. h. durch Reglement, Instruktion, Verordnung erlassen können. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Bei der großen Bedeutung dieser Anordnungen für den Ver- kehr, die Volkswohlfahrt und die Staatsfinanzen ist es aber er- klärlich, daß man die wichtigsten Bestimmungen unter Zustimmung der Volksvertretung d. h. in der Form und mit der Kraft des Gesetzes zu erlassen pflegt. Soweit dies der Fall ist, hat dies eine dreifache Wirkung. Erstens bildet das ius cogens keine Schranke, es kann durch ein Spezialgesetz für die Geschäfte der Post beseitigt werden. Zweitens ist die Freiheit der Verwaltung in der Normirung der Bedingungen ausgeschlossen, soweit die im Wege des Gesetzes erlassenen Vorschriften reichen. Drittens haben diese Vorschriften die Natur von Rechtsnormen, sie bilden ein Spe- zialrecht für die Geschäfte der Post. Diejenigen Bedingungen da- gegen, deren Feststellung der Verwaltung überlassen ist, dürfen nicht gegen das ius cogens vorstoßen, sie können im Wege der Verordnung abgeändert werden und sie haben den Charakter von Vertragsnormen Vrgl. das Erk. des O.-A.-G. zu Dresden in Seuffert’s Archiv VI. 58 und namentlich die Ausführungen von Goldschmidt in der Zeitschrift f. das ges. Handelsr. Bd. IV. S. 585 ff. . Das Reichspostgesetz §. 50 Abs. 2 hat dies anerkannt, indem es bestimmt: „Diese Vorschriften (nämlich das von dem Reichskanzler zu erlassende Reglement) gelten als Bestandtheil des Ver- trages zwischen der Postanstalt und dem Absender, beziehungs- weise Reisenden“ Nur insofern ist dies nicht ganz richtig, als das im §. 50 cit. vorbe- haltene Reglement auch auf solche Gegenstände sich erstreckt, die mit dem Post- Transport-Vertrage Nichts zu thun haben, z. B. Anordnungen zur Aufrechthal- tung der Ordnung, der Sicherheit und des Anstandes auf den Posten, in den Postlokalen und Passagierstuben. §. 50 Z. 10. . Derselbe Satz findet auch auf die Telegraphen-Ordnung An- wendung, obgleich er in derselben nicht ausdrücklich ausgesprochen ist. Sie ist, soweit sie die interne Korrespondenz im Gebiete der Reichstelegraphen-Verwaltung betrifft, in allen Beziehungen dem Postreglement gleich zu stellen Die Ansicht von Ludewig S. 97, daß die Telegraphen-Ordnung auf Grund des Art. 48 der R.-V. „Gesetzeskraft“ habe, ist demnach nicht zutref- fend; daraus folgt aber nicht , daß sie überhaupt nicht gelte, weil die Ver- waltung bestehende Rechtssätze nicht aufheben könne. Rechtssätze kann die Verwaltung allerdings nicht aufheben, wohl aber, soweit sie nicht ius cogens . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Die Abgränzung derjenigen Bestimmungen, welche in der Form des Gesetzes zu erlassen sind, von denjenigen, die durch Verwal- tungsakte getroffen werden können, ist nicht prinzipiell zu gewinnen, sondern nach finanziellen, politischen, technischen und anderen Er- wägungen. Die Verf. des Nordd. Bundes Art. 48 Abs. 2 be- stimmte, daß für diese Abgränzung diejenigen Grundsätze maaßge- bend sein sollten, die damals in der Preußischen Post- und Tele- graphen-Verwaltung galten. Das Postges. v. 2. Nov. 1867 hat diese Gränzen etwas anders gezogen. In der Reichsverf. Art. 48 Abs. 2 sind die im Norddeutschen Bunde maßgebend gewesenen Grundsätze auf das Reich übertragen worden; das Postgesetz v. 28. Oktob. 1871 hat aber wieder die Anordnungen des Postges. v. 2. Nov. 1867 theils ergänzt theils abgeändert. Nach Art. 50 Abs. 2 der R.-V. steht dem Kaiser der Erlaß der reglementarischen Festsetzungen zu; das Postgesetz v. 28. Oktob. 1871 §. 50 überträgt aber den Erlaß des Reglements dem Reichs- kanzler und erfordert für die unter Z. 2. 4. u. 6. bezeichneten Gegenstände die Beschlußfassung des Bundesrathes . Insoweit weder die Spezial-Postgesetze noch die auf Grund der vorstehenden Bestimmungen erlassenen Reglements Vorschriften über die Geschäfte der Postanstalt enthalten, kommen die Anord- nungen des Handelsgesetzbuchs in Anwendung Daß die Geschäfte der Post, welche die Packet- und Geldsendungen be- treffen, Handelsgeschäfte sind, ist unstreitig; sehr bestritten ist dagegen die Frage, ob die Postanstalt mit Rücksicht auf diese Geschäfte als Kauf- mann anzusehen ist. Dagegen erklären sich unter Anderen: Gold- schmidt , Handelsr. I. S. 490 (2. Aufl.). Dambach S. 4. Volkmann im Postarchiv 1874 Nro. 11 S. 321 ff. Urth. des O.-A.-G. zu München v. 28. Dez. 1869 (Zeitschr. f. Handelsr. XX. S. 604). Für die bejahende Meinung sind anzuführen: Kompe , Zeitschrift f. Handelsr. Bd. XI. S. 63. v. Hahn , Kommentar zum H.-G.-B. I. S. 26 (2. Aufl.) Endemann , Handelsr. S. 745. Thöl , Handelsr. I. S. 111 (5. Aufl.) und namentlich der Plenar-Beschluß des R.-O.-H.-G. v. 2. Januar 1874 (Entscheid. Bd. XII. S. 311). , und zwar sind, ihre Anwendung ausschließen durch Vertragsfestsetzungen. Die Telegraphenordnung gilt nicht als Gesetz, sondern als Vertragsberedung. Es bedarf für Sachverständige keiner Ausführung, daß dies nicht einerlei ist, son- dern sehr erhebliche praktische Consequenzen hat. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. für den Post-Transport von Gütern zu Lande oder auf Flüssen und Binnengewässern H.-G.-B. Buch IV. Titel 5 H.-G.-B. Art. 421 Abs. 2. für den Post-Transport von Gütern zur See und für die Be- förderung von Reisenden über See H.-G.-B. Buch V. Titel 5 und 6 H.-G.-B. Art. 449. . Auf die Rechtsgeschäfte der Telegraphen-Anstalt lassen sich diese Anordnungen nicht analog anwenden, da weder eine Depesche ein „Gut“, noch das Telegraphiren ein „Transport“ im Sinne des Handelsgesetzbuches ist. Vielmehr hat der Vertrag, welchen der Absender einer Depesche mit der Telegraphen-Anstalt abschließt, die Leistung einer Arbeit gegen Entgeld zum Gegenstand, die nicht nur von der Arbeitsleistung des Frachtführers spezifisch verschieden, sondern überhaupt durchaus eigenartig ist und eine Species für sich bildet. Der Telegraphen-Vertrag fällt unter die allgemeine Kategorie der locatio conductio operis (Werkverdingung, Arbeits- vertrag, Vertrag über Handlungen Vgl. Asser , de Telegraphie in hare rechtsgevolgen. To s’Graven- hage 1867. III. §. 1. Reuling , Zeitschr. f. Handelsr. Bd. 18. S. 294. Ludewig S. 90 ff. und besonders Meili S. 26 ff. 34. 90 ff. (2. Aufl.), woselbst andere Auffassungen widerlegt werden. . Da weder das Handelsge- setzbuch noch ein anderes Reichsgesetz diesen Vertrag gemeinrechtlich geregelt hat, so kommen die Vorschriften der partikulären Landes- gesetze (preußisches, rheinisches, römisches, sächsisches Recht u. s. w.) zur Anwendung, soweit nicht die Bestimmungen der Telegraphen- Ordnung als Vertragsfestsetzungen das Zurückgreifen auf die Rechts- sätze überhaupt ausschließen Vrgl. S. 330 Note 3. . Diesen allgemeinen Erörterungen gemäß gelten über das Rechts- verhältniß der Post- und Telegraphen-Anstalt folgende Regeln: A. Verpflichtungen der Postanstalt . 1. Die Postanstalt ist verpflichtet, die von ihr übernommenen Transporte ordnungsmäßig und rechtzeitig auszuführen. Dahin gehört die Absendung der zu befördernden Gegenstände mit der nächsten, reglementsmäßigen Gelegenheit, die ununterbrochene Fort- setzung des Transports, sofern die vorhandenen und üblichen Trans- portmittel dies gestatten, die Bewahrung der ihr übergebenen Ge- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. genstände vor Beschädigung und Verlust, und die ordnungsmäßige Ablieferung an den auf der Adresse oder dem Frachtbrief (Begleit- adresse) genannten Destinatair Vgl. Gad , Haftpflicht S. 24—40. Endemann , Handelsr. S. 748 (3. Aufl.). . Die Postanstalt contrahirt mit dem Absender ; sie ist daher nur diesem, nicht dem Destinatair (Adressaten) gegenüber zur Erfüllung der aufgeführten Verpflich- tungen obligirt. Der Adressat kann die Rechte des Absenders nur geltend machen, wenn der Absender ihm dieselben cedirt hat. Eine solche Cession liegt in der bloßen Adressirung nicht; die letztere ist lediglich die Erklärung des Absenders, an wen die Postanstalt den von ihr zu befördernden Gegenstand abzuliefern hat; sie ist Bestandtheil des zwischen dem Absender und der Postanstalt ab- geschlossenen Vertrages, weiter Nichts Eine Andeutung dieses — meines Ermessens allein richtigen — Ge- sichtspunktes findet sich hinsichtlich der Telegramme bei Ludewig , die Tele- graphie S. 89. . Wenn jedoch der Frachtführer am Ort der Ablieferung ange- kommen ist, d. h. mit Beziehung auf die Post, wenn die Postsen- dung am Bestimmungsort angelangt ist Protokolle zum H.-G.-B. S. 5099. Vgl. v. Hahn , Kommentar zum H.-G.-B. II. S. 474. 478. Makower , Komment. S. 402 (7. Aufl.) , so steht dem Adressaten das Recht zu, in eigenem Namen den Frachtführer auf Uebergabe des Frachtbriefes und Ablieferung des Gutes zu belangen, sofern nicht der Absender demselben vor Anstellung der Klage eine nach Maßgabe des Gesetzes noch zulässige entgegenstehende An- weisung gegeben hat H.-G.-B. Art. 405. Vgl. dazu Gad , Haftpflicht S. 87 ff. . Dieser Grundsatz findet auch der Postver- waltung gegenüber Anwendung Dambach S. 24. 25 ist der entgegengesetzten Ansicht unter Berufung auf §. 6 Abs. 1 des Postgesetzes. Dieses Gesetz spricht aber nur von dem Anspruch des Absenders auf Ersatz im Falle des Verlustes oder der Be- schädigung und kann daher höchstens dahin interpretirt werden, daß es diesen Anspruch dem Adressaten versagt. Den Anspruch des Adressaten auf Aus- lieferung der für ihn angelangten Postsendungen läßt es dagegen unberührt. Nach Art. 421 des H.-G.-B.’s muß daher die Vorschrift des Art. 405 ebendas. Anwendung finden. Eine Anerkennung hat dies übrigens gefunden in der Postordnung §. 43 Abs. 2. . 2. Der Frachtführer haftet für den Schaden, welcher durch Verlust oder Beschädigung des Frachtgutes oder durch Verzögerung §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. des Transportes entstanden ist. Die über diese Verpflichtung im H.-G.-B. Art. 395—399 aufgestellten Rechtsregeln sind jedoch durch Abschnitt II. des Postgesetzes v. 28. Oktober 1871 beseitigt und durch ein Spezialrecht ersetzt worden Der Abschnitt II. führt die nicht passende Ueberschrift „Garantie“. Es handelt sich hier nicht um eine Gewährleistung, sondern um Erfüllung resp. um Schadensersatz für Nichterfüllung oder nicht ordnungsmäßige Erfüllung des Vertrages. Besser wäre die Ueberschrift „Haftpflicht“. . Die Ersatzpflicht der Post ist theils ganz ausgeschlossen, theils ihrem Umfange nach sehr be- schränkt, theils an andere Voraussetzungen geknüpft. a ) Die Haftpflicht der Postanstalt ist ganz ausgeschlossen für alle Gegenstände, für welche sie im Gesetz nicht ausdrücklich aner- kannt ist, so daß formell die Haftung die Ausnahme, die Befreiung von der Haftpflicht die Regel ist Postges. §. 12. . Insbesondere ist die Post be- freit von jeder Schadensersatzleistung im Falle eines Verlustes, einer Beschädigung oder verzögerten Beförderung oder Bestellung von gewöhnlichen Briefen, Postkarten, Kreuzband-, Muster- und Proben-Sendungen, Zeitungen u. s. w. Postges. §. 6 Abs. 5. . b ) Für eine rekommandirte Sendung, der eine zur Beför- derung durch Estafette eingelieferte Sendung gleichsteht, wird dem Ab- sender im Falle des Verlustes ohne Rücksicht auf den Werth der Sen- dung ein Ersatz von 42 Mark gezahlt Postges. §. 10. . Im Falle der Beschädigung oder Verzögerung ist die Postanstalt von jeder Ersatzleistung frei Vrgl. Dambach S. 41. . c ) Für Packete ohne Werthangabe vergütet die Post- verwaltung im Falle eines Verlustes oder einer Beschädigung den wirklich erlittenen Schaden, jedoch nur unter der Beschränkung, daß sie niemals mehr als drei Mark für jedes Pfund (500 Gramm) der ganzen Sendung bezahlt Postges. §. 9. Ist die Sendung theilweise verloren oder beschädigt, so berechnet sich die Maximalgrenze der Entschädigung nach dem Gesammtgewicht des ganzen Packets. Dambach S. 39 Note 3. Packete von weniger als einem Pfund und überschießende Pfundtheile des Gewichts werden für ein Pfund gerechnet. Postges. §. 9 a. E. Für Packete ohne Werthangabe, die recommandirt sind, beträgt die Entschädigung gemäß §. 10 des Postges. min- destens 42 Mark, während die Maximalgränze sich nach §. 9 berechnet. Dambach S. 42. . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Im Falle der verzögerten Beförderung oder Bestellung leistet die Postverwaltung diesen Ersatz nur dann, wenn die Sache durch die verzögerte Beförderung oder Bestellung verdorben ist oder ihren Werth bleibend ganz oder theilweise verloren hat, wobei überdies auf eine Veränderung des Kurses oder marktgängi- gen Preises keine Rücksicht genommen wird Postges. §. 6 Abs. 2. Dambach S. 27 Anm. 8 behauptet auf Grund dieses Artikels unter Berufung auf ein Urtheil des Kammergerichts zu Berlin von 1863, daß wenn die Postsendung beim Adressaten verspätet, aber in guter Beschaffenheit anlangt, der Adressat jedoch die Annahme wegen Verzögerung ablehnt und auf dem Rückwege nach dem Absendungsorte die Sendung ver- dorben ist, die Postverwaltung von der Ersatzpflicht frei sei. Dem ist kaum beizupflichten; denn die Nothwendigkeit der Rückbeförderung ist durch die Ver- zögerung des Transports entstanden und mithin auch der durch die Rückbe- förderung herbeigeführte Verderb. Wenn z. B. Jemand zu einer großen Fest- lichkeit frische Blumen oder Delikatessen bestellt, dieselben durch verzögerte Be- förderung verspätet, aber in noch gutem Zustande, bei ihm eintreffen, er die Annahme verweigert, weil er für die Waaren keine Verwendung mehr hat, und dieselben nun auf dem Rücktransport zum Aufgabeort verwelken oder ver- derben, so ist der Schaden doch zweifellos „durch die verzögerte Beförderung“ verursacht worden. . d ) Für Briefe mit Werthangabe und für Packete mit Werthangabe leistet die Post im Falle des Verlustes und der Beschädigung dem Absender Schadensersatz unter Zugrunde- legung des Betrages, der als Werth angegeben ist. Der Postver- waltung bleibt jedoch der Beweis vorbehalten, daß der angegebene Werth den gemeinen Werth der Sache übersteigt, und wenn sie diesen Beweis erbringt, so braucht sie nur den gemeinen Werth zu ersetzen Die praktische Bedeutung des Satzes liegt vornämlich in der Normi- rung der Beweislast. Wolff S. 133. . Wenn in betrüglicher Absicht zu hoch deklarirt worden ist, so verliert der Absender jeden Anspruch auf Schadensersatz Postges. §. 8. Dadurch werden die Vorschriften des H.-G.-B. Art. 396 modifizirt. — Die Werthdeclaration ist nicht — wie dies gewöhnlich geschieht — als eine Assecuranz aufzufassen, welche als Nebenvertrag mit dem Post- Transportvertrag verbunden ist, sondern als aestimatio des id quod interest, als Schätzung des bei Nichterfüllung der loc. cond. operis zu vergütenden Schadens; und ebenso ist das Zuschlagsporto, das für declarirte Werthsen- dungen erhoben wird, keine Assecuranzprämie, sondern ein Theil des zu ent- richtenden Lohnes. Es wird dies sehr treffend hervorgehoben von Meili , Haftpflicht S. 76 ff. Die weitere Entwicklung der hieraus sich ergebenden . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Im Falle verspäteter Ablieferung findet dieselbe Regel wie bei Packeten ohne Werthangabe Anwendung Postges. §. 6 Abs. 2. . e ) Für die auf Postanweisungen eingezahlten Beträge haftet die Postverwaltung unbedingt ebendas. §. 6 Abs. 4. , da hier die Post nicht den Transport bestimmter Geldstücke, einer res individua übernimmt, sondern das Eigenthum an den eingezahlten Geldstücken erwirbt und zur Auszahlung derselben Gel dsumme an den Adressaten sich obligirt. Von Tragung der Gefahr hinsichtlich des Verlustes oder der Beschädigung einer speziellen Sache kann daher hier keine Rede sein. Im Falle schuldbarer Verzögerung der Auszahlung ist die Postverwaltung nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen zur Zahlung von Verzugszinsen verpflichtet. Wegen völliger Gleichheit des Grundes greifen dieselben Regeln auch bei den von der Post auf Grund eines Postauftrages eingezogenen Beträgen Platz. f ) Bei Reisen mit den ordentlichen Posten Bei der Extrapost-Beförderung ist jede Ersatzpflicht der Postverwaltung ausgeschlossen. Postges. §. 11 Abs. 2. leistet die Postverwaltung für das reglementsmäßig eingelieferte Passagiergut nach denselben Regeln Ersatz, welche für Packete gelten Die Regeln von Frachtgütern finden auf das eingelieferte Reisegepäck der Passagiere aller öffentlichen Transport-Anstalten Anwendung. Erk. des Ober-Trib. zu Berlin v. 12. Sept. 1865 (Striethorst’s Arch. Bd. 61 S. 21. Zeitschr. f. Handelsr. XII. S. 581). Vgl. auch H.-G.-B. Art. 674. . Außer- dem ersetzt die Postverwaltung die erforderlichen Kur- und Verpfleg- ungskosten im Falle der körperlichen Beschädigung eines Reisenden, wenn dieselbe nicht erweislich durch höhere Gewalt oder durch eigene Fahrlässigkeit des Reisenden herbeigeführt ist Postges. §. 11 Abs. 1. . g ) Die Telegraphen-Verwaltung leistet für Nachtheile, welche durch Verlust, Verstümmelung oder Verspätung der Depeschen ent- stehen, keinerlei Ersatz. Jedoch erstattet sie in gewissen Fällen die für die Depesche erhobenen Gebühren ganz oder theilweise zurück Die näheren Bedingungen enthält die Telegraphen-Ordnung §. 26. 27 (R.-G.-Bl. 1872 S. 226). Vgl. auch die Telegraphen-Betriebs- Ordnung (Berlin 1876) §. 71 fg. . Folgerungen kann hier übergangen werden, da dieselben rein civilrechtlicher Natur sind. Unerheblich ist es keineswegs, ob man diese oder jene Con- struktion zu Grunde legt. Vgl. z. B. Meili a. a. O. S. 85. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. 3. Soweit nach den vorstehenden Regeln eine Schadensersatz- pflicht der Postverwaltung besteht, ist dieselbe an die Bedingung der reglementsmäßigen Einlieferung geknüpft Postges. §. 6 Abs. 1. . Da dies eine Vor- aussetzung für den von dem Absender zu erhebenden Anspruch bil- det, so trifft ihn die Beweislast Uebereinstimmend Dambach S. 25. Anderer Ansicht Meili , Haft- pflicht S. 38. . Ausgeschlossen Postges. §. 6 Abs. 3. ist ferner die Ersatzpflicht der Postverwaltung, wenn sie den Beweis erbringt, daß der Verlust, die Beschädigung oder die verzögerte Beförderung oder Bestellung herbeigeführt worden ist: a ) durch die eigene Fahrlässigkeit des Absenders Dahin gehören insbesondere äußerlich nicht erkennbare Mängel der Verpackung (vgl. H.-G.-B. Art. 395); ferner unrichtige Adressirung u. s. w. , oder b ) durch die unabwendbaren Folgen eines Natur-Ereignisses Art. 395 des H.-G.-B. befreit den Frachtführer, wenn die Beschädigung „durch höhere Gewalt ( vis major )“ entstanden ist. Dieser vieldeutige, unklare und höchst bestrittene Begriff, der aus dem Röm. Rechte herstammt, ist für die Haftung der Postverwaltung nicht mehr von Belang, ausgenommen bei der Beförderung von Reisenden. Postges. §. 11. Der Einrede-Beweis der Postverwaltung muß dreierlei umfassen: 1) das Natur-Ereigniß, 2) den Cau- salzusammenhang zwischen demselben und der Beschädigung des Post-Fracht- guts, 3) daß diese Folge nach Lage des concreten Falles unabwendbar ge- wesen ist. , oder c ) durch die natürliche Beschaffenheit des Gutes. Es fällt ferner die Haftung der Postverwaltung für theilweisen Verlust der beförderten Güter fort, wenn der Verschluß und die Verpackung der Postsendung bei der Aushändigung an den Empfänger äußerlich unverletzt und zugleich das Gewicht mit dem bei der Einlieferung ermittelten übereinstimmend gefunden wird Postges. §. 7. Vgl. Wolff S. 147. Ueberdies wird im §. 7 die Rechtsvermuthung aufgestellt, daß wenn die Sendung ohne Erinnerung angenommen worden ist, Verschluß und Verpackung unverletzt und das Ge- wicht mit dem bei der Einlieferung ermittelten übereinstimmend gewesen sei. Vgl. H.-G.-B. Art. 408 Abs. 2. Die Vermuthung kann durch Gegenbeweis widerlegt werden. Urth. des R.- Oberhandelsgerichts v. 2. Dez. 1874. Entscheidungen Bd. 17 S. 126. . 4. Nach dem gemeinen Handelsrecht haftet der Frachtführer, Laband , Reichsstaatsrecht. II. 22 §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. welcher zur gänzlichen oder theilweisen Ausführung des von ihm übernommenen Transports das Gut einem andern Frachtführer übergiebt, für diesen und die etwa folgenden Frachtführer bis zur Ablieferung H.-G.-B. Art. 401 Abs. 1. . Das Postges. schließt jedoch die Haftung der Post- verwaltung aus, wenn der Verlust, die Beschädigung oder Verzöge- rung auf einer auswärtigen d. h. außerdeutschen . Die Postverwaltungen des Reiches, Bayerns und Württembergs haften für einander. Beförderungsanstalt gleichviel ob dieselbe eine Staatsanstalt oder ein auf Privatrechnung betriebenes Transport-Unternehmen ist. Vgl. hierzu Wolff S. 137 ff. sich ereignet hat, für welche die Postverwaltung nicht durch Konvention die Er- satzleistung ausdrücklich übernommen hat, und verpflichtet nur die Deutsche Postanstalt, bei welcher die Einlieferung erfolgt ist, dem Absender Beistand zu leisten, wenn er seine Ansprüche gegen die auswärtige Beförderungsanstalt geltend machen will Postges. §. 6 Abs. 3 Z. c. . 5. Der Frachtführer ist verpflichtet, das Frachtgut dem rich- tigen Adressaten auszuhändigen; er muß also die Identität der- jenigen Person, welcher er die Güter ausliefert, mit dem Adressaten, resp. ihre Legitimation zur Vertretung der letzteren prüfen H.-G.-B. Art. 403. Das Postges. §. 50 Ziff. 7 ermächtigt den Reichs- kanzler, Anordnungen über die Art der Bestellung der durch die Post beförderten Gegenstände zu treffen. Demgemäß hat der Reichskanzler in der Postordn. §. 32 Vorschriften erlassen, welche Gegenstände den Adressaten ins Haus zu senden sind und welche von der Postanstalt abgeholt werden müssen, und im §. 34, an welche Personen die Bestellung geschehen darf. In den Ausführungs-Bestimmungen hierzu in der Allgem. Dienstanweisung Abschn. V. Abth. 1 sind zahlreiche und sehr detaillirte Erläuterungen dazu ertheilt worden. . Für die Post besteht auch in dieser Hinsicht ein abweichendes Recht; sie ist nur verpflichtet, das Formular zum Ablieferungsschein oder den Be- gleitbrief dem Adressaten regelmäßig auszuliefern und darauf zu ach- ten, daß dieser Schein mit dem Namen des Adressaten versehen werde, dagegen braucht sie weder die Aechtheit der Unterschrift und des etwa hinzugefügten Siegels noch die Legitimation des Ueberbringers des vollzogenen Ablieferungsscheines oder Begleitbriefes zu prüfen Postges . §. 49. Vgl. Postordnung §. 37. Den Beweis, daß die Bestellung ordnungsmäßig erfolgt ist, hat im Bestreitungsfalle die Postver- waltung zu führen. Dies ist ihr wesentlich erleichtert durch die Bestimmung . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Von der Verantwortlichkeit für richtige Bestellung ist die Postver- waltung ganz frei, wenn der Adressat erklärt hat, die an ihn ein- gehenden Postsendungen selbst abzuholen oder abholen zu lassen Postges . §. 48. Die näheren Vorschriften enthält die Postordnung §. 36 und dazu die Allgem. Dienstanweisung Abschn. V. Abth. 1. (Bd. II. S. 57 ff.) Eine scharfe Verurtheilung dieser Vorschriften bei Meili , Haftpfl. S. 42 ff. . 6. Nach dem H.-G.-B. Art. 408 Abs. 3 verjähren die Klagen gegen den Frachtführer wegen Schadensersatz für Verlust, Beschä- digung und verzögerte Ablieferung in einem Jahre von dem Tage, an welchem die Ablieferung erfolgt ist resp. hätte er- folgen sollen. Der Anspruch auf Entschädigung an die Postver- waltung erlischt dagegen mit Ablauf von 6 Monaten vom Tage der Einlieferung der Sendung oder vom Tage der Beschädigung des Reisenden an gerechnet Postges. §. 14 Satz 1. . Der Anspruch auf Schadloshaltung muß in allen Fällen gegen die Ober-Postdirektion gerichtet werden, in deren Bezirk der Ort der Einlieferung der Sendung oder der Ort der Einschreibung des Reisenden liegt Postges. §. 13. Wird der Anspruch bei einer Postanstalt angebracht, so hat ihn dieselbe an die competente Oberpostdirektion abzugeben. Motive zu §. 13 des Postges. v. 1867. Vgl. Wolff S. 136. . Die sechsmonatliche Verjährung des Anspruches wird unterbrochen, wenn entweder die Klage gegen die kompetente Postbehörde erhoben wird Das Postges. §. 14 ließ die Unterbrechung der Verjährung durch An- meldung einer Klage eintreten. Diese Vorschrift ist aufgehoben durch das Einf.-Ges. zur Civilproceß-Ordn. §. 13 Z. 4. oder wenn bei der kompetenten Postbehörde eine Reklamation angebracht d. h. ohne Klageerhebung ein Ersatzanspruch geltend gemacht wird Wird die Klage gegen eine inkompetente Postbehörde erhoben oder die Reklamation bei einer inkompetenten Postbehörde angebracht, so bewirkt dies die Unterbrechung der Verjährung nicht. . Er- geht auf die Reklamation eine abschlägige Bescheidung, so beginnt vom Empfange derselben eine neue Verjährung von 6 Monaten, welche durch eine Reklamation gegen jenen Bescheid nicht unter- brochen wird Postges. §. 14. . des Postges . §. 47, daß was ein Briefträger oder Postbote über die von ihm geschehene Bestellung auf seinen Diensteid anzeigt, so lange für wahr und richtig anzunehmen ist, bis das Gegentheil überzeugend nachgewiesen ist. 22* §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. 7) Ueber das von den Ober-Postdirektionen bei Ersatz-Leistungen zu beobachtende Verfahren ist eine besondere Dienst-Anweisung er- gangen Dieselbe ist gedruckt als Anlage 4 zu Abschn. II. der Allgem. Post- Dienst-Anweisung. . B. Verpflichtungen des Absenders . 1. Der Absender ist verpflichtet, an die Postanstalt das tarif- mäßige Porto zu entrichten. Die Höhe desselben Der Gebühren-Tarif für den Postverkehr ist abgedruckt in der Allgem. Dienstanweisung Abschnitt III. Abth. 1. ist normirt a ) durch Gesetz für Briefe, Packete, Werthsendungen und Zeitungen Gesetz über das Posttaxwesen v. 28. Oktober 1871 (R.-G.-Bl. S. 358) und das dasselbe abändernde Ges. v. 17. Mai 1873 (B.-G.-Bl. S. 107). Vgl. auch das Gesetz v. 3. Nov. 1874 (R.-G.-Bl. S. 127). . b ) durch Reglement , welches der Reichskanzler unter Zu- stimmung des Bundesraths zu erlassen hat, für Postanweisungen, Vorschußsendungen und sonstige Geldübermittelungen, Drucksachen, Waarenproben und Muster, Postkarten, eingeschriebene Sendungen, für Zustellung von Sendungen mit Behändigungsscheinen, für Lauf- schreiben wegen Postsendungen und Ueberweisung der Zeitungen. Der Zustimmung des Bundesrathes bedarf es nicht bei Fest- stellung der Gebühren für die Ortsbestellung, Estafettenbeförderung, für die Beförderung von Reisenden und Passagiergut und für die Kreditirung und Kontirung von Porto Postges. §. 50 Z. 7. 8. 9. Der Grund für die Unterscheidung der Fälle, in denen die Zustimmung des Bundesrathes erfordert wird und in denen dies nicht geschieht, beruht darauf, daß die ersteren den Wechselverkehr zwischen der Reichspost und der Bayer. und Württemberg. Post mit berühren und daher den Vertretern dieser Staaten eine Theilnahme an der Beschluß- fassung eingeräumt werden mußte, während die letzteren nur den Lokalverkehr betreffen und deshalb von jeder der drei Verwaltungen selbstständig geregelt werden können. . c ) Durch internationalen Vertrag bei dem Postverkehr mit außerdeutschen Postgebieten Posttaxges. §. 11. Für Briefe, Postkarten, Zeitungen, Drucksachen, Waarenproben u. dgl. kommen die Bestimmungen bes Allgemeinen Post- vereins-Vertrages v. 9. Okt. 1874 (R.-G.-Bl. 1875 S. 223) zur An- wendung. . Abweichungen von den tarifmäßigen Sätzen sind den Postan- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. stalten nicht gestattet, eben so wenig Erhöhungen als Ermäßigungen oder Gewährung von Portofreiheiten Portofreiheitsges. v. 5. Juni 1869 §. 10. . Nur mit den Staatsbe- hörden der Bundesstaaten kann die Postverwaltung Abkommen da- hin treffen, daß an Stelle der Porto- und Gebührenbeträge für die einzelnen Sendungen Aversionalsummen an die Postver- waltung gezahlt werden Portofreiheitsgesetz §. 11. Das Verfahren ist geregelt durch eine Verf. des General-Postamts v. 15. Dec. 1869. Fischer , Postgesetzgebung S. 72. 73. Sie ist abgedruckt als Anlage 7 zu Abschn. III. Abth. 1 der Allgem. Dienstanweisung. . Die Zahlung kann nach Wahl des Absenders erfolgen entweder baar oder durch Verwendung von Postwerthzeichen, mit deren Ver- kauf sich die Postanstalten nach näherer Anordnung der Reichspost- verwaltung zu befassen haben Posttaxges. §. 9. . Ebenso kann die Bezahlung der Gebühren für die Beförderung telegraphischer Depeschen anstatt in baarem Gelde auch durch Telegraphen-Freimarken erfolgen, zu deren Anfertigung und Verkauf die Reichstelegraphen-Verwaltung ermächtigt ist Ges. v. 16. Mai 1869 (B.-G.-Bl. S. 377). . Die Fälschung und unbefugte Anfertigung von Post- und Telegraphen-Werthzeichen, sowie der wissentliche Gebrauch von falschen oder gefälschten Werthzeichen werden mit Gefängniß nicht unter 3 Monaten bestraft Strafgesetzb. §. 275. ; der Gebrauch entwertheter Post- oder Telegraphen-Werthzeichen zur Frankirung wird als Porto- defraudation mit dem vierfachen Betrage des defraudirten Porto’s bestraft Postges. §. 27 Nro. 3. Ges. v. 16. Mai 1869 §. 2. Die Strafan- drohung des §. 276 des St.-G.-B.’s ist auf diesen Fall unanwendbar, da sie nur Stempelmarken betrifft. Auch die Vertilgung des Ent- werthungszeichens ist nach der gegenwärtigen Strafgesetzgebung nicht strafbar; vgl. Dambach , Telegraphen-Strafrecht §. 12. Jedoch können unter Umständen wol die Voraussetzungen des §. 263 des St.-G.-B.’s (Be- trug) gegeben sein. Daß das Entwerthungs-Zeichen eine Urkunde ist, kann nicht bezweifelt werden, §. 267 bedroht aber nur die Verfertigung und fälschliche Anfertigung einer Urkunde mit Strafe, die Entfernung des Ent- werthungs-Stempels dagegen ist Vernichtung einer öffentlichen Urkunde. Andererseits bedroht §. 274 zwar die Vernichtung einer Urkunde in böswilliger Absicht mit Strafe, aber nur dann, wenn die Urkunde dem Thäter überhaupt . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Befreit von der Zahlung des Porto’s sind lediglich die regie- renden Fürsten des Deutschen Reiches, deren Gemahlinnen und Witt- wen in dem Umfange, in welchem ihnen bei Einführung des Ges. v. 5. Juni 1869 die Befreiung von Portogebühren zugestanden hat. Ferner sind einstweilen aufrecht erhalten worden die Porto- Vergünstigungen , welche den Personen des Militärstandes und denen der Bundes-Kriegsmarine bewilligt sind. Dem Kaiser ist aber die Ermächtigung ertheilt, diese Porto-Vergünstigungen aufzu- heben oder einzuschränken (nicht sie auszudehnen) Portofreiheitsges. §. 1. §. 5 und zu letzterem Paragraphen die Ueber- sicht der einstweilen aufrecht erhaltenen Porto-Begünstigungen bei Fischer , Postgesetzgebung S. 69. Dieselben sind offiziell zusammengestellt in der All- gemeinen Dienstanweisung Abschn. III. Abth. 1. §. 35. 36. . Außerdem wird kein Porto erhoben in reinen Reichsdienst - Angelegenheiten, und zwar in Bundesraths-Sachen, sowie in Mili- tair- und Marine-Angelegenheiten ohne Einschränkung, in anderen Reichs-Dienst-Angelegenheiten, wenn die Sendungen von einer Reichs- behörde abgeschickt oder an eine Reichsbehörde gerichtet sind und die äußere Beschaffenheit ꝛc. den reglementsmäßigen Bestimmungen entspricht. Der Reichstag ist in dieser Hinsicht den Reichs-Behörden gleichgestellt Portofreiheitsges. §. 2 u. §. 4. Vrgl. dazu das Regulativ über die Portofreiheiten. Allgem. Dienstanweisung Abschn. III. Abth. 1. Anlage 6. S. 28 ff. . Von einer Befreiung von der Zahlungs pflicht kann in diesen Fällen im jurist . Sinne nicht gesprochen werden, da die Zahlung doch nur eine Zahlung des Reichsfiskus an sich selbst wäre Vgl. oben S. 328. Zwischen dem Reich und der Reichspost kann es keine vermögensrechtlichen Verpflichtungen geben. Wohl aber können thatsäch- lich aus den etatsmäßigen Fonds der Reichsbehörden Portogebühren an die Postkasse gezahlt werden. . In Bayern und Württemberg aber hat der Reichsfiskus in dem angegebenen Umfange allerdings ein Privilegium auf unentgeldliche Benutzung der Postanstalten dieser beiden Staaten R.-Ges. v. 29. Mai 1872 (R.-G.-Bl. S. 167). . Der Mißbrauch einer von der Entrichtung des Portos be- freienden Bezeichnung oder die Verpackung einer portopflichtigen nicht oder nicht ausschließlich gehört, so daß diese Bestimmung unanwendbar ist auf den Eigenthümer entwertheter Post- und Telegraphen-Freimarken, welcher das Entwerthungszeichen von denselben entfernt. Vgl. Oppenhoff , Komment. (5. Ausg.) Note 11 zu §. 274. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Sendung in eine andere, welche bei Anwendung einer vorgeschrie- benen Bezeichnung portofrei befördert wird, ist mit dem vierfachen Betrage des defraudirten Portos, mindestens aber mit einer Geld- strafe von drei Mark, zu bestrafen Postges. §. 27 Z. 2. . Hinsichtlich der telegraphischen Correspondenz bestehen weder hinsichtlich der Höhe der zu zahlenden Gebühren Der Gebühren-Tarif für den Telegraphen-Verkehr bildet die Abth. 2 des III. Abschnitts der Allgem. Dienstanweisung. noch über die Gebührenfreiheit gesetzlich anerkannte Regeln. Doch kann auf Grund des Art. 50 Abs. 2 der Kaiser durch Reglement der Reichs- Telegraphen-Verwaltung Anweisung ertheilen, welche Depeschen auf den Reichs-Telegraphen gebührenfrei zu befördern sind Diese Bestimmungen hat ursprünglich der Reichskanzler erlassen am 8. Nov. 1872. Sie sind abgedruckt in der Allgem. Dienstanweisung a. a. O. S. 8 ff. Seit dem 1. Juli 1877 sind sie ersetzt durch die Kaiserl. Ver- ordnung v. 2. Juni 1877. R.-G.-Bl. S. 524. Darnach ist die Gebühren- freiheit beschränkt auf die telegraph. Korrespondenz der regierenden Fürsten, deren Gemahlinnen und Wittwen; der Bevollmächtigten zum Bundesrath in Bundesraths-Angelegenheiten; des Reichstages und der Reichsbehörden in reinen Reichs-Dienst-Angelegenheiten; der Deutschen Militär- und Marine- behörden in reinen Militär- und Marine-Dienstangelegenheiten; endlich Tele- gramme der Eisenbahn-Verwaltungen und Beamten an vorgesetzte Beamte über vorgekommene Unglücksfälle und Betriebsstörungen. — Die Gebührenfreiheit erstreckt sich nicht auf die baaren Auslagen für Weiterbeförderung über die Telegraphen-Linien hinaus. . Dieselben Vorschriften finden auch auf die Eisenbahn-Telegraphen hinsichtlich der den Eisenbahndienst nicht betreffenden Telegramme Anwendung Reglement v. 7. März 1876 §. 10. Centralbl. 1876 S. 158. . 2. Mit der Verpflichtung des Absenders zur Zahlung des Porto’s und anderer Gebühren ist nicht zu verwechseln der Fran- kirungszwang . Es ist im Allgemeinen gestattet, der Postver- waltung die Einziehung der Gebühren vom Adressaten zu über- tragen Vgl. auch Post-Ordn. §. 43. I. . In diesem Falle ertheilt der Absender der Postverwal- tung den Auftrag , den Gebührenbetrag beim Adressaten zu er- heben und mit der erhobenen Summe sich für ihre Forderung gegen den Absender bezahlt zu machen. Es wird daher — ganz ebenso wie dies beim Frachtvertrag zu geschehen pflegt — mit §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. dem eigentlichen Transport-Vertrag ein Nebenvertrag verbun- den, der in allen wesentlichen Stücken der Anweisung (Assignation) entspricht. Er braucht nicht ausdrücklich erklärt zu werden, da sich sowohl die in Betracht kommenden Personen als der Inhalt aus den concreten Umständen des Falles mit vollkommener Gewißheit ergeben Der Absender ist Assignant, der Adressat Assignat, die Postverwaltung Assignatar; der angewiesene Betrag bestimmt sich nach dem Portotarif; die Zahlungszeit nach dem Zeitpunkt der Ablieferung. . Der Abschluß dieses Nebenvertrages vollzieht sich durch das Aufgeben der unfrankirten Postsendung und die Annahme der- selben Seitens der Postanstalt Ist die Sendung unzureichend frankirt, so beschränkt sich die an- gewiesene Summe auf den Ergänzungsbetrag. . Die Post ist zum Abschluß eines derartig modifizirten Trans- port-Vertrages mit Jedermann hinsichtlich der Briefe und Packete, mit und ohne Werthangabe, gesetzlich verpflichtet , da die Posttaxgesetze das für unfrankirte Briefe und Packete zu ent- richtende Porto bestimmen Posttaxgesetz v. 28. Okt. 1871 §. 1 Abs. 2. Gesetz v. 17. Mai 1873 §. 1 u. 2. Allgemeiner Postvereins-Vertrag v. 9. Okt. 1874 Art. 3 Abs. 4. . Für jede unfrankirte oder unge- nügend frankirte Sendung wird ein sogen. Zuschlagsporto von 10 Pfennigen erhoben; ausgenommen sind allein portopflichtige Dienstb riefe, wenn die Eigenschaft derselben als Dienstsache auf dem Kouvert vor der Postaufgabe erkennbar gemacht wor- den ist Posttaxges. § 1 Abs. 3. Ges. v. 17. Mai 1873 §. 3. Vgl. auch Post- Ordn. §. 19. IX. . Soweit der Postverwaltung aber die Befugniß eingeräumt worden ist, für gewisse Gegenstände oder Beförderungs-Arten die Bedingungen des Vertrags durch Reglement zu normiren, ist sie in der Lage, die Vorausbezahlung der Gebühren zu verlangen, d. h. den Frankirungszwang einzuführen. Die Postverwaltung hat hiervon Gebrauch gemacht für Postkarten Post-Ordnung §. 13. V. Vgl. Allg. Postvereins-Vertr. Art. 3 Abs. 5. , für Drucksachen P.-O. §. 14. IX. Vgl. Allg. Postver.-Vertr. Art. 6 Abs. 2. , für Waarenproben P.-O. §. 15. VI. , für sogen. Rückscheine P.-O. §. 16. IV. , für Post-Anweisun- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. gen P.-O. §. 17. II. , Depeschen-Anweisungen P.-O. §. 18. III. , Postauftragsbriefe P.-O. §. 20. XI. , für Esta- fetten-Sendungen (mit Ausnahme des Ortsbestellgeldes) P.-O. §. 44. XIX. , für telegraphische Depeschen Tel.-Ordn. §. 11. . Für Drucksachen und Waarenproben besteht der Frankirungszwang jedoch nur in dem Sinne, daß für dieselben, wenn sie unfrankirt oder unzureichend frankirt eingelie- fert werden, das Briefporto erhoben wird P.-O. §. 14. IX. §. 15. VII. Sie werden also befördert, nur nicht zu dem ermäßigten Satze. . Eine rechtliche Verpflichtung des Adressaten, das Porto und die übrigen Gebühren zu entrichten, besteht nicht, da er mit der Postverwaltung nicht contrahirt hat und er durch den Vertrag des Absenders nicht verpflichtet werden kann. Wenn jedoch der Adres- sat die Postsendung annimmt, so verpflichtet er sich dadurch zur Zahlung des Porto’s und der Gebühren und kann sich davon durch spätere Rückgabe der Sendung nicht befreien Handelsgesetzb. Art. 406. Post-Ordn. §. 43. VI. Staatsbehörden sind jedoch befugt, Briefumschläge oder Begleitadressen an die Postanstalt zurück- zugeben, um das Porto nachträglich vom Absender einziehen zu lassen. . In der Annahme der unfrankirten Sendung liegt zugleich das Accept der vom Absender auf den Adressaten gezogenen Anweisung gegenüber dem Assignatar (der Postverwaltung), also ein verpflichtendes Rechtsgeschäft zwischen dem Adressaten und der Postverwaltung Vgl. Handelsgesetzb. Art. 300. — Sowie die Anweisung nicht durch eine besondere Urkunde ausgestellt wird, sondern in dem Frachtvertrage im- plicite als Nebenberedung enthalten ist, so braucht auch das Accept nicht aus- drücklich oder gar schriftlich ertheilt zu werden, sondern es wird durch An- nahme des Frachtgutes (Brief, Packet) stillschweigend erklärt. . Durch die Auslieferung der Postsendung an den Adressaten wird der Absender von seiner Verpflichtung zur Portozahlung frei; und zwar auch dann, wenn die Postanstalt etwa dem Adressaten das Porto stundet. Denn durch den freiwilligen Erwerb der Forde- rung gegen den Adressaten auf Zahlung des creditirten Porto’s wird die Postverwaltung wegen ihrer Forderung gegen den Ab- sender befriedigt Vgl. Handelsgesetzb. Art. 412. . Den Postanstalten ist es daher gesetzlich unter- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. sagt, falls nicht eine terminweise Abrechnung über die Postgefälle zwischen der Postanstalt und dem Adressaten verabredet ist, die Postsendungen auszuhändigen, bevor die Zahlung der Postgefälle erfolgt ist Posttaxgesetz §. 6. . Wenn der Adressat die Annahme einer Postsendung verwei- gert (oder die Zahlung der Postgefälle verweigert, was der Ver- weigerung der Annahme gleichsteht Aus Billigkeitsrücksichten ist nur eine Ausnahme anerkannt bei unzu- reichend frankirten Sendungen aus dem Inlande, wenn dieselben nicht ge- wöhnliche Briefe, Waarenproben und Drucksachen sind. Post-Ordn. §. 43. II. Uebrigens kann die Zulässigkeit dieser Vorschrift gegenüber der bestimmten ge- setzlichen Anordnung in §. 6 des Posttaxgesetzes wohl zweifelhaft sein. ), oder nicht zu ermitteln ist, so steht der Postverwaltung der Regreß gegen den Absender zu. Der Regreß ist aber an die Voraussetzung geknüpft, daß die Post- verwaltung die Unbestellbarkeit der Sendung bescheinigt und daß sie dem Absender die Postsendung wieder zurückliefert Die näheren Anordnungen über die Fälle, in denen Postsendungen für unbestellbar zu erachten sind, und über das zu beobachtende Verfahren enthält die P.-O. §. 39. Bei Sendungen, die einem schnellen Verderben ausgesetzt sind und deren Verderben während des Rücktransportes zu befürchten ist, kann die Veräußerung für Rechnung des Absenders erfolgen. P.-O. §. 39. III. . Von der Verpflichtung, sämmtliche für den Hin- und Hertransport zu er- hebende Gebühren zu bezahlen, kann sich der Absender dadurch nicht befreien, daß er die Zurücknahme der von ihm eingelieferten Postsendung verweigert P.-O. §. 43. IV. . Ist der Absender nicht zu ermitteln oder verweigert oder ver- zögert er die Annahme, so ist die Postanstalt berechtigt, die Gegen- stände zu verkaufen Die Vorschriften des H.-G.-B. über die Geltendmachung des gesetzlichen Pfandrechts des Frachtführers sind für die Post ausgeschlossen durch die auf Grund des Postgesetzes §. 50 Nro. 3 u. 4 vom Reichskanzler erlassenen Vorschriften der Post-Ordnung §. 39. 40. . Aus dem Erlöse werden die Gebühren und Kosten bestritten. Reicht der Erlös dazu nicht hin, so bleibt der Absender zur Zahlung des fehlenden Betrages verpflichtet; ergiebt der Verkauf einen Ueberschuß, so wird derselbe der Post- armen- und Unterstützungskasse überwiesen Vgl. oben S. 326. . Briefe müssen mit §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Rücksicht auf das Briefgeheimniß vernichtet werden; dasselbe ge- schieht mit werthlosen zum Verkauf nicht geeigneten Gegenständen. 3. Der Anspruch der Postverwaltung auf Zahlung von Ge- bühren erlischt , wenn die Postsendung erweislich auf der Post verloren gegangen ist oder wenn die Annahme der Sendung vom Adressaten wegen einer von der Postverwaltung zu vertretenden Beschädigung verweigert wird P.-O. §. 43. V. Vgl. Telegraphen-Ordn. §. 26 Abs. 2. . Er erlischt ferner durch Verjäh- rung Posttaxgesetz §. 7. , deren Frist ein Jahr von dem Tage der Aufgabe der Sendung an beträgt Dieselbe Frist — vom Tage der Aufgabe an — läuft auch zu Gunsten des Adressaten , wenn von ihm zu wenig oder gar kein Porto bei Aushändigung der Postsendung erhoben worden ist. Das cit. Ges. §. 7 unterscheidet nicht zwischen Absender und Adressaten, sondern faßt beide unter dem Ausdruck „Correspondent“ zusammen. , und welche durch Anmeldung der Nach- forderung unterbrochen wird. 4. Die Postanstalten sind berechtigt, unbezahlt gebliebene Be- träge an Personengeld, Porto und Gebühren nach den für die Beitreibung öffentlicher Abgaben bestehenden Vorschriften exekutorisch einziehen zu lassen Postges . §. 25 Abs. 1. Für zu wenig erhobene oder unbezahlt ge- bliebene Gebühren für telegraphische Depeschen besteht dieses Privile- gium nicht. . Dieses Recht kann entweder gegen den Adressaten oder gegen den Absender ausgeübt werden, je nachdem der Eine oder Andere nach den vorstehenden Erörte- rungen den Betrag schuldig geblieben ist. Dem Exequirten steht jedoch die Betretung des Rechtsweges offen, d. h. er kann gegen die kompetente Postbehörde (Ober-Postdirektion) auf Rückzahlung des von ihm beigetriebenen Betrages die gerichtliche Klage er- heben Postges . §. 25 Abs. 3. . VI. Das Straf-Verfahren bei Post- und Porto-Defrau- dationen . Unter den Begriff der Post-Defraudation fallen die Verletzung des Postzwanges, der Mißbrauch der gesetzlichen Portofreiheit, die Verwendung entwertheter Postwerthzeichen zur Frankirung, die Um- gehung der Portogefälle dadurch, daß man Briefe oder andere §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Sachen einem Postbeamten oder Postillon zur Mitnahme über- giebt Postges . §. 27. Im Rückfalle wird die Strafe verdoppelt, resp. auf das Vierfache erhöht. eod. §. 28. , und die Hinterziehung des Personengeldes dadurch, daß man wissentlich uneingeschrieben mit der Post reist Postges. §. 29. Eine Straferhöhung wegen Rückfalls findet bei der Hinterziehung von Personengeld nicht Statt. Ueber die Voraussetzungen des strafbaren Thatbestandes vgl. Meves S. 379 fg. . Die Post- Defraudation wird bestraft mit dem vierfachen Betrage des defrau- dirten Portos oder Personengeldes; überdies muß das Porto oder Personengeld, welches für die Beförderung zu entrichten gewesen wäre, nachgezahlt werden Postges. §. 30. . Ist die Geldstrafe nicht beizutreiben, so tritt Haft an die Stelle. Die Dauer derselben muß vom Rich- ter festgesetzt werden und darf 6 Wochen nicht übersteigen Postges. §. 31. Auf Gefängniß darf nicht erkannt werden. Vgl. Mo- tive S. 19. Dambach S. 96. Meves S. 381 fg. . Die Festsetzung und Beitreibung der Geldstrafen aber kann anstatt durch gerichtliches Verfahren im Verwaltungswege nach folgenden Regeln erfolgen Die Vorschriften des Postgesetzes bleiben durch das Inkrafttreten der Strafproceß-Ordnung unberührt. Einf.-Ges . zur St.-P.-O. §. 5 Abs. 1. . 1. Straf-Verfügung ohne Untersuchung Postges. §. 34. . Nach Entdeckung einer Postdefraudation hat die Ober-Postdirektion mittelst besonderer Verfügung dem Angeschuldigten mitzutheilen, welche Geldstrafe er verwirkt habe und ihm frei zu stellen, das fernere Verfahren und die Ertheilung eines Strafbescheides durch Bezah- lung der Strafe und Kosten innerhalb einer präklusivischen Frist von 10 Tagen zu vermeiden Dieses Verfahren muß beobachtet werden, bevor eine Untersuchung im administrativen oder im gerichtlichen Verfahren stattfinden darf; es ist nicht in das Ermessen der Postbehörde gestellt. Vgl. Meves S. 389 Nro. 11. . Wenn der Angeschuldigte die Zah- lung ohne Einrede, d. h. ohne Vorbehalt der Rückforderung im Prozeßwege Strenger interpretirt Dambach S. 99 Note 2 diesen Ausdruck. Allein die bloße Betheuerung des zahlenden Defraudanten, daß er unschuldig sei, muß als rechtlich unerheblich pro non scripto angesehen werden. , leistet, so gilt die Verfügung als rechtskräftiger Strafbescheid und das Verfahren ist beendet; im entgegengesetzten Falle ist eine Untersuchung erforderlich. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. 2. Straf-Bescheid nach erfolgter Untersuchung Postges. §§. 35—41. . Die Untersuchung wird von den Postanstalten (Postämtern) oder Bezirks-Aufsichtsbeamten summarisch geführt Die Ober-Postdirektionen sind nicht befugt, die Untersuchungen selbst zu führen, sondern nur die Postanstalten oder die Aufsichtsbeamten auszu- wählen, denen die Führung der Untersuchungen aufgetragen wird. Meves S. 390. . Die Betheiligten werden mündlich zu Protokoll verhört; die Zustellungen und Vorla- dungen geschehen durch die Postanstalten oder auf deren Requisition nach den für gerichtliche Insinuationen bestehenden Vorschriften; die Zeugen sind verbunden, den Vorladungen Folge zu leisten, jedoch steht den Postbehöden das Recht der Vereidigung von Zeugen nicht zu. In Sachen, in denen die zu verhängende Geldstrafe den Be- trag von 150 Mark übersteigt, ist dem Angeschuldigten auf Ver- langen eine Frist von 8 Tagen bis 4 Wochen zur Einreichung einer schriftlichen Vertheidigung zu gestatten. Die Entscheidung erfolgt von der Ober-Post-Direktion Nach einer Verf. des General-Postamts hat in der Regel diejenige Ober-Postdirection die Entscheidung zu treffen, in deren Bezirk die Defrauda- tion verübt worden ist. Dambach S. 100. Vgl. Meves S. 387. . Findet dieselbe die Verhängung einer Strafe nicht begründet, so wird die Zurücklegung der Akten verfügt und der Angeschuldigte davon benach- richtigt; wird auf eine Strafe erkannt, so müssen die Entscheidungs- gründe beigefügt sein und der Angeschuldigte ist zugleich über die ihm zustehenden Rechtsmittel, sowie über die Bestrafung, welche er im Rückfalle zu erwarten hat, zu belehren. Die Insinuation er- folgt entweder zu Protokoll oder in der für Vorladungen vorge- schriebenen Form. Bis zum Erlaß des Strafbescheides kann die Oberpostdirektion die Sache zum gerichtlichen Verfahren verweisen Es muß dies namentlich dann geschehen, wenn sich die Vereidigung von Zeugen als erforderlich erweist oder weitläufige Ermittelungen nothwendig sind. Vgl. Allgem. Dienstanweisung II. §. 35. . Ebenso kann der Angeschuldigte während der Untersuchung und binnen 10 Tagen präclusivischer Frist nach Eröffnung des Strafbescheides auf rechtliches Gehör antragen Für das gerichtliche Verfahren kommen die Vorschriften der Strafproc.- Ordn. §§. 460—469 zur Anwendung. Dagegen ist die zehntägige Frist des . Der Antrag ist an die Postbe- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. hörde zu richten. Dem ausdrücklichen Antrage steht es gleich, wenn der Angeschuldigte auf die Vorladung der Postbehörde nicht erscheint oder die Auslassung vor derselben verweigert Wenn der Angeschuldigte, anstatt persönlich zu erscheinen, eine schrift- liche Erklärung einsendet, so braucht die Sache nicht an das Gericht abgegeben zu werden. Dambach S. 101 Nro. 4. . Wird gegen einen erlassenen Strafbescheid die Berufung auf rechtliches Gehör rechtzeitig angemeldet, so ist der Strafbescheid als nicht er- gangen anzusehen. 3. Rekurs-Resolut Postges. §§. 42—44. . Der Angeschuldigte hat binnen 10 Tagen präklusivischer Frist nach Eröffnung des Strafbescheides die Wahl, entweder auf richterliches Gehör anzutragen, oder an die der Ober-Postdirektion vorgesetzte Behörde den Rekurs zu ergreifen Ein Recht, die getroffene Wahl wieder zu verändern, steht dem Ange- schuldigten nicht zu; insbesondere ist in der Einlegung des Rekurses ein Ver- zicht auf richterliches Gehör enthalten. Meves S. 392. 400. . Der Rekurs ist durch Anmeldung bei jeder beliebigen inländischen Postbehörde gewahrt. Er schließt fernerhin jedes gerichtliche Ver- fahren aus. Für die Rechtfertigung des Rekurses ist eine Frist von höchstens vier Wochen zu gewähren; sie ist in dem anzusetzenden Termin zu Protokoll zu erklären oder bis dahin schriftlich einzu- reichen. Führt der Angeschuldigte neue Thatsachen oder Beweis- mittel an, deren Aufnahme erheblich befunden wird, so wird mit der Instruktion nach den für die erste Instanz gegebenen Bestim- mungen verfahren. Das Rekursresolut ist von der obersten Post- behörde abzufassen, mit Entscheidungsgründen zu versehen, an die betreffende Postbehörde zur Publikation oder Insinuation zu be- fördern und vollstreckbar. 4. Die Vollstreckung der Strafbescheide und Re- kursresolute Postges. §. 46. Die Vollstreckung richterlicher Erkenntnisse in Post- defraudations-Fällen ist Sache der Gerichte. geschieht von der Postbehörde nach denjenigen landesgesetzlichen Vorschriften, welche für die Exekution der im Ver- waltungswege festgesetzten Geldstrafen bestehen. Nach den Landes- gesetzen ist demnach auch die Frage zu entscheiden, ob die Voll- streckung durch die eigenen Beamten der Postverwaltung erfolgen Postgesetzes durch die im §. 459 erwähnte Frist von einer Woche nicht aufge- hoben. Einf.-Ges. zur St.-Pr.-Ordn. §. 5. §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. darf oder ob die Requisition der Gerichte erforderlich ist. Können die Geldstrafen nicht beigetrieben werden, so sind die Akten dem Gericht zu übersenden mit dem Antrage, die erkannte Geldstrafe in Haft umzuwandeln Postges. §. 31. Strafroceß-Ordn. §. 463. . VII. Ordnung, Leitung und Sicherung des inneren Dienstes . 1. Die Behörden-Organisation der Post- und Telegraphenver- waltung ist gesetzlich nicht geregelt, abgesehen davon, daß den Auf- stellungen im Etatsgesetz eine bestimmte Organisation nothwendiger Weise zu Grunde liegt. Ja es ist eine gesetzliche Regelung durch Art. 48 Abs. 2 prinzipiell ausgeschlossen und dieselbe für das Ge- biet der Reichspostverwaltung durch Art. 50 dem Kaiser über- tragen, für Bayern und Württemberg durch Art. 52 diesen beiden Staaten überlassen. Durch Kaiserl. Erlaß kann demnach, so weit der Inhalt des Etatsgesetzes kein Hinderniß bietet, der Geschäfts- kreis der einzelnen Post- und Telegraphen-Behörden sowohl in räumlicher als sachlicher Beziehung verändert werden Vgl. Bd. I. S. 301 ff. . Die ge- genwärtige Organisation beruht im Wesentlichen auf dem System, welches in Preußen durch die Verordn. v. 19. Septemb. 1849 ein- geführt wurde Vgl. Stephan , Geschichte der Preuß. Post. Berlin 1859. S. 698 ff. ; d. h. auf einer Dreigliederung der Ämter. Zwi- schen der obersten Centralstelle und den für den lokalen Betrieb und die Expedition der Postsendungen und Postreisenden bestimmten Postämtern stehen für größere Bezirke, in Preußen ursprünglich für jeden Regierungsbezirk, Mittelbehörden unter dem Namen Ober- Postdirekionen , welche theils die Aufsicht über die Postämter und Beamten zu führen, theils die Anordnungen über den lokalen Dienstbetrieb zu erlassen haben, und denen die Vertretung des Post- fiskus, die Erledigung der Beschwerden, die Bearbeitung der Rechts- Angelegenheiten, die Kontrole des Kassen- und Rechnungswesens u. s. w. obliegt Eine genaue Aufzählung der den Ober-Postdirektionen übertragenen Geschäfte giebt die Allgemeine Dienstanweisung I. Bd. (1876) Abschn. I. §. 7. Vgl. auch Stephan a. a. O. S. 704 ff. Der Geschäfts- betrieb ist geregelt in der Allgem. Dienstanweisung Abschn. XI. Abth. 1. . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Die Telegraphen-Verwaltung war in Preußen von der Post- verwaltung gänzlich getrennt und in eine nähere Verbindung mit der Armee-Verwaltung gebracht. Im Nordd. Bunde wurde sie neben der Postverwaltung als selbstständiges Ressort dem Bundes- kanzler-Amte unterstellt Vgl. Bd. I. S. 326. . Erst seit dem 1. Januar 1876 sind beide Verwaltungen aus dem Ressort des Reichskanzler-Amtes aus- geschieden und vereinigt worden Verordn . v. 22. Dez . 1875 (R.-G.-Bl. S. 379). Die näheren An- ordnungen über die Behörden-Organisation dieser Verwaltung siehe Bd. I. S. 615 ff. . In dem General-Postmeister haben beide Verwaltungen ihren gemeinsamen Chef, dem die oberste Leitung unter Verant- wortlichkeit des Reichskanzlers obliegt Die dem General-Postmeister vorbehaltenen Angelegenheiten führt die Allgem. Dienstanw . Abschn. I. §. 4 (Bd. I. S. 7) auf. . Die Centralbehörde zer- fällt zwar in 2 Abtheilungen, von denen die eine als General-Post- amt, die andere als das General-Telegraphenamt ist Ueber den Geschäftskreis derselben vgl. die Allgem. Dienstanweis. I. §. 5. , bei den Oberpostdirektionen aber sind die Post- und Telegraphen-Angelegen- heiten vereinigt und ebenso bei den für den unmittelbaren Dienst bestimmten Postämtern, soweit nicht die örtlichen Verhältnisse und der Umfang des Geschäftsbetriebes die Trennung in Postämter und Telegraphenämter erfordern. 2. Durch die im Art. 50 der R.-V. sanctionirten Grundsätze ist die Kompetenz des Bundesrathes hinsichtlich der Verwaltung des Post- und Telegraphen-Wesens wesentlich beschränkt. Die Be- schlußfassung über die allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Ein- richtungen, welche nach Art. 7 Z. 2 der Regel nach dem Bundes- rath zusteht, ist ausgeschlossen und durch das Recht des Kaisers zum Erlaß der reglementarischen Festsetzungen und allgemeinen ad- ministrativen Anordnungen ersetzt, dem in Bayern und Württemberg das Recht der Landesregierungen zur Leitung der Post- und Tele- graphen-Verwaltung entspricht. Die Wirksamkeit des Bundesrathes beschränkt sich daher, soweit nicht die Form der Gesetzgebung für Verwaltungs-Vorschriften und Einrichtungen Verwendung findet, vorzüglich auf diejenigen Post- und Telegraphen-Angelegenheiten, welche andere Verwaltungszweige, z. B. Eisenbahnen, Militär- §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. wesen, Zollwesen u. s. w. mit berühren, und auf diejenigen Gegen- stände, welche für alle drei Postverwaltungen gemeinsam geregelt werden müssen, insbesondere auf den Wechselverkehr. Anstatt eines Bundesrathsbeschlusses ist in den zuletzt erwähnten Angelegenheiten aber auch ein vertragsmäßiges Abkommen zwischen den drei Ver- waltungen zulässig. Im Bundesrath besteht ein dauernder Aus- schuß für Eisenbahnen, Post und Telegraphen Vgl. Bd. I. §. 31. . 3. Die Beamten der Reichs-Post- und Telegraphen-Verwal- tung sind verpflichtet, den Kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten. Die Anordnungen des Kaisers werden in seinem Auftrage und Ver- tretung von den von ihm bestellten Behörden nach Maßgabe ihrer Stellung im Behörden-System erlassen. Diese Behörden haben die Pflicht und das Recht, dafür zu sorgen, daß Einheit in der Organisa- tion der Verwaltung und im Betriebe des Dienstes hergestellt und erhalten wird R.-V. Art. 50. . Die Form, in welcher die Anordnungen erlassen werden, ist die Verfügung des General-Postmeisters resp. des General-Postamts oder General-Telegraphen-Amts, sowie der Ober- postdirektionen innerhalb des den letzteren zugewiesenen Geschäfts- kreises Diese Verfügungen, Bescheide und für den Dienst erhebliche Mitthei- lungen werden veröffentlicht in dem Amtsblatt der Reichs-Post- und Telegraphen-Verwaltung . Berlin, Decker. Redigirt im General-Post- und Telegraphenamt. Bis 1875 incl. bestand für jede der beiden Verwaltungen ein besonderes Amtsblatt. . Eine Zusammenstellung der bestehenden Dienstvorschriften enthält die Allgemeine Dienst-Anweisung Ueber die Abfassung der Preuß. Postdienst-Instruktion von 1854, welche die Grundlage der jetzt geltenden bildet, vgl. Stephan a. a. O. S. 715 fg. Eine erneute Redaktion in 3 Bänden ist 1863 erschienen. Die neueste, seit 1875 in einzelnen Abschnitten veröffentlichte Fassung führt den Titel: Allge- meine Dienst-Anweisung für Post und Telegraphie in vier Bänden (zwölf Abschnitten). . Auf die Beamten der Reichs-Post- und Telegraphen-Verwal- tung findet das Reichsbeamten-Gesetz Anwendung (vgl. Bd. I. S. 398 ff.); nach den Vorschriften dieses Gesetzes bestimmen sich da- her die Rechtsfolgen einer Verletzung der Dienstpflicht Vgl. Bd. I. §. 41. . Durch besondere strafrechtliche Sätze ist die Erfüllung der Dienstpflicht Laband , Reichsstaatsrecht. II. 23 §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. der Post- und Telegraphen-Beamten im Allgemeinen nicht geschützt abgesehen von den Strafen, welche auf Verletzung des Brief- geheimnisses und Unterdrückung der der Post anvertrauten Briefe oder Packete und Telegramme gesetzt sind R.-St.-G.-B. §. 354. 355. Vgl. oben S. 307. . Eine bedeutsame Aus- nahme besteht jedoch hinsichtlich einiger Klassen von Telegraphen- Beamten. Denn Gefängniß bis zu einem Jahre oder Geldstrafe bis zu 900 Mark ist gegen die zur Beaufsichtigung und Bedienung der Telegraphenanstalten und ihrer Zubehörungen angestellten Per- sonen Also nicht blos gegen die Beamten der Reichstelegraphie, resp. der Bayer. und Württemb. Telegraphen-Anstalten, sondern auch gegen die Tele- graphen-Beamten der Eisenbahnen. Abs. 1 des Art. 318 erfordert nur: „eine zu öffentlichen Zwecken dienende Telegraphen-Anstalt“. Vgl. Dambach , Telegraphen-Strafrecht §. 4 (Gerichtssaal 1871 S. 250 ff.). Oppenhoff Note 2 zu §. 317. angedroht, wenn sie durch Vernachlässigung der ihnen obliegenden Pflichten die Benutzung der Anstalt ver- hindern oder stören R.-St.-G.-B. §. 318 Abs. 2. Auch kann auf Unfähigkeit zur Beschäf- tigung im Telegraphendienste erkannt werden. St.-G.-B. §. 319. . In diesem einen Falle ist die bloße Thatsache der „Pflicht-Vernachlässigung“; welche im Uebrigen lediglich die Voraussetzung disciplinarischen Einschreitens bildet Vgl. oben Bd. I. S. 447 ff. bes. S. 451. , zum Thatbestand eines strafrechtlichen Delicts erklärt worden, wenn sie einen gewissen Erfolg, nämlich die Verhinderung oder Störung der Benutzung der Telegraphen-Anstalt, hervorbringt Ueber die unbilligen Härten, zu welchen die Anordnung des Art. 318 Abs. 2 führen kann, vgl. Dambach a. a. O. S. 277 ff. . 4. Behufs Beaufsichtigung und Kontrole der unteren Beamten ist für jeden Bezirk einer Oberpostdirektion ein Post-Inspektor und ein Telegraphen-Inspektor angestellt. Sie haben den Dienst in allen seinen Theilen persönlich zu beaufsichtigen, insbe- sondere auch die gesammten Rechnungs- und Kassengeschäfte bei den Post- resp. Telegraphen-Anstalten zu überwachen, und zu diesem Zwecke regelmäßige Inspektionsreisen in ihrem Gebiete vorzunehmen. Sie sind dem Ober-Postdirektor des Bezirks, für welchen sie an- gestellt sind, unmittelbar untergeordnet und gelten als beständige Beauftragte des Ober-Postdirektors Sehr detaillirte Vorschriften über ihren Geschäftskreis enthalten die . Alle Beamten des Bezirks §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. müssen den dienstlichen Anordnungen der Inspektoren Folge leisten. Ihre Ernennung steht verfassungsmäßig dem Kaiser zu. Die Thätigkeit der Ober-Postdirektionen wird durch die oberste Post- und Telegraphenbehörde überwacht, deren Mitglieder zur Förderung dieses Zweckes von Zeit zu Zeit in die Bezirke entsen- det werden. Den dienstlichen Aufforderungen der entsendeten Kom- missare muß Folge geleistet werden Allgem. Dienstanweisung I. §. 6. . 5. Die Einheit in der Organisation der Verwaltung und im Betriebe des Dienstes kann nur erhalten werden, wenn gleichmäßige Vorschriften hinsichtlich der Qualifikation der Beamten bestehen. Demgemäß ist dem Kaiser und den von ihm bestellten Behörden die Fürsorge hierfür übertragen Reichsverf. Art. 50 Abs. 1. . Auf Grund dieser Ermächtigung sind die Vorschriften über das Prüfungswesen der Postbeamten und über die durch dasselbe bedingten Stufen des Postdienstes von der Centralbehörde erlassen worden Ueber die Beamten-Verhältnisse der Post ist ein sehr lehrreiches und wichtiges Material enthalten in dem Kommissions-Bericht des Reichstages v. 13. Mai 1871. Drucks. I. Sess. 1871 Nro. 112. Als Bei- lage A. zu demselben (S. 29 ff.) ist ein Auszug aus dem neuen Regle- ment über die Annahme und Anstellung von Civil- und Militär-Anwärtern im Postdienste abgedruckt. Dasselbe bildet Abth. 1 des X. Abschnittes der Allgem. Dienstanweisung (Bd. IV. ). Vgl. auch Hirth’s Annalen 1871 S. 733 ff. . Die Stufen des Postdienstes sind folgende: a ) Der Vorbereitungsdienst als Posteleve . Zur Zulassung zu diesem Dienste ist erforderlich, daß der Bewerber das Zeugniß der Reife zur Universität von einem Gymnasium oder von einer Realschule erster Ordnung erlangt hat Ausnahmsweise können auch Bewerber von ausreichender Schulbildung, welche dieses Zeugniß nicht haben, angenommen werden. P.-D.-A. a. a. O. §. 2 Ziff. 2. , daß er nicht jünger als 17 Jahre und nicht älter als 25 Jahre ist, daß er körperlich gesund, persönlich für den Postdienst geeignet, von un- bescholtenem Lebenswandel und frei von Schulden ist. Er muß eine Kaution von 900 Mark hinterlegen und im Allgemeinen im Stande „Dienstanweisung für Postinspectoren“ und die „Dienstanweisung für Tele- graphen-Inspectoren“, Anlage 3 und Anlage 4 zur Allgemeinen Dienst- anweisung Abschn. I. §. 8 (Bd. I. S. 31—54). 23* §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. sein, sich während der Ausbildungszeit ohne Beihülfe aus der Post- kasse zu unterhalten Die Gewährung von mäßigen Beihülfen und, im Falle der Eleve zum Dienste eines vollbeschäftigten Hülfsarbeiters herangezogen wird, von Tage- geldern ist jedoch nicht ausgeschlossen. Vgl. P.-D.-A. a. a. O. §. 8. . Die Entscheidung über die Zulassung und Beschäftigung erfolgt durch die Oberpostdirektion, jedoch ist der Wunsch des Eleven, bei welchem Postamt er den Dienst zuerst er- lernen will, thunlichst zu berücksichtigen. Durch Verf. der Oberpost- direktion kann der Posteleve, „weil er für den Postdienst sich nicht eigne“, entlassen werden. b ) Die Qualifikation zum Postsekretair wird er- worben durch Ablegung einer Prüfung, zu welcher der Post-Eleve nach 3 Postdienstjahren zugelassen wird Wenn der Posteleve das Zeugniß der Reife nicht hat, so wird die Frist entsprechend verlängert. a. a. O. §. 11 Abs. 2. . Die Prüfung wird bei der Ober-Postdirektion vor einem dazu eingesetzten Prüfungsrathe abgelegt und zerfällt in eine technische, schriftliche und mündliche Prüfung Das Prüfungs-Reglement ist als Anl. 3 zu Abschn. X. Abth. 1 der A. P.-D.-Anw. abgedruckt. Analoge Bestimmungen gelten für die Tele- graphensekretär -Prüfung. . Posteleven, welche die Postsekretair-Prüfung bestanden haben, erhalten die Amtsbezeichnung „ Postpraktikant “; sie werden grundsätzlich als unentbehrliche Hülfsarbeiter und zu Stell- vertretungen verwendet und empfangen dafür fortlaufende Tagegelder; bei befriedigender Führung werden sie nach Maßgabe ihres Dienst- alters als Postpraktikanten etatsmäßig als Postsekretaire angestellt Allg. P.-D.-Anw. a. a. O. §. 14. 15. . c ) Die Qualifikation zum höheren Postverwal- tungsdienst ist bedingt durch Ablegung einer zweiten Prüfung, zu der sich solche Beamte, welche in allen Theilen der Postsekretair- Prüfung mindestens die Censur „gut“ erhalten haben, frühestens 2 Jahre, die andern Beamten frühestens 3 Jahre nach bestandener Sekretair-Prüfung melden dürfen. Die. Anmeldung erfolgt durch die Ober-Postdirektion; die Prüfung wird vor dem beim General- Postamte eingesetzten Prüfungsrathe abgelegt und zerfällt in die Ausführung eines praktischen Auftrages, in die Anfertigung zweier schriftlicher Arbeiten und in die mündliche Prüfung Das Prüfungs-Reglement bildet Anlage 5 u. 6 zu Abschn. X. Abth. 1 der A. P.-D.-A. . §. 71. Die Verwaltung der Post und Telegraphie. Abgesehen von dieser regelmäßigen Beamten-Laufbahn des eigentlichen Postdienstes werden junge Männer von genügender Schulbildung Ueber den erforderlichen Grad vgl. §. 18 a. a. O. als Postgehülfen zugelassen und nach voran- gegangener Kautionsleistung bei einem Postamte II. oder III. als Privatgehülfen, ausnahmsweise auch bei einem Postamte I. als überzählige Arbeiter zur Erlernung des Dienstes beschäftigt. Die Beschäftigung des Gehülfen bei den Postämtern II. und III. be- ruht auf einem Privat-Dienstverhältniß mit dem Vorsteher der betreffenden Postanstalt; die Bedingungen dieses Verhältnisses, namentlich die Bezahlung des Gehülfen, sind Gegenstand der Ver- einbarung zwischen dem Vorsteher der Postanstalt und dem Post- gehülfen a. a. O. §. 24. 25. . Als stillschweigend vereinbart ist ein gegenseitiges Kündigungsrecht mit dreimonatlicher Frist anzusehen. Trotzdem ist der Postgehülfe den für Post beamte bestehenden Gesetzen und Disciplinar-Bestimmungen unterworfen und kann aus dienstlichen Gründen ohne weiteres Verfahren und zu jeder Zeit von der vor- gesetzten Ober-Postdirektion aus dem Postdienste entlassen werden a. a. O. §. 27. . Nach vierjähriger Dienstzeit werden Postgehülfen zur Post- assistenten-Prüfung zugelassen, welche ebenfalls in eine prak- tische, schriftliche und mündliche zerfällt und vor einem Prüfungs- rath der Ober-Postdirektion abgelegt wird Das Prüfungs-Reglement bildet die Anlage 7 zu Abschn. X. Abth. 1 der A. P.-D.-Anw. . Der Postgehülfe, welcher die Prüfung besteht, wird nach erfolgter Kautionsbestellung zum Postassistenten ernannt und bezieht als solcher zunächst Tage- gelder Ihre Anstellung erfolgt auf dreimonatliche Kündigung. Vgl. Druck- sachen des Reichstages 1872. Nro. 144 S. 8. ; er ist befähigt definitiv angestellt zu werden als Post- verwalter (Vorstand eines Postamts III. ), als Postassistent bei einem Postamte I. oder II. oder als Büreau-Assistent bei einer Ober-Postdirektion. Endlich können Militär-Anwärter Hiervon sind zu unterscheiden diejenigen Militär-Anwärter, welche als Unterbeamte (Briefträger, Postschaffner, Packmeister, Hausdiener u. s. w.) Anstellung fordern können. Gemäß §. 77 des Ges. v. 27. Juni 1871 (R.-G.- Bl. S. 293) und den auf Grund desselben vom Bundesrathe erlassenen Vor- , welche den Anspruch §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. auf Versorgung oder Anstellung im Civildienste erworben haben, körperlich zum Postdienst geeignet und im Besitze der erforderlichen Kenntnisse sind, als Post-Anwärter zur Ableistung des Probedienstes gegen Gewährung einer Beihülfe zugelassen und nach Ablauf eines Jahres, wenn sie ihre Brauchbarkeit erwiesen haben, zu Postassisten- ten ernannt werden. Es steht ihnen frei, durch Ablegung der Postsekretair-Prüfung sich den Eintritt in die höhere Laufbahn zu erschließen Vgl. die näheren Anordnungen in der A. P.-D.-Anw. a. a. O. §§. 29—38. . §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens Literatur . Hervorzuheben sind die Aufsätze von Fischer in v. Holtzendorff’s Jahrb. I. S. 412 ff. II. S. 211 ff. IV. S. 421 ff. Vrgl. ferner Hiersemenzel S. 116 ff. Thudichum S. 344 ff. Riedel S. 125 fg. Seydel S. 69 fg. 188 ff. v. Rönne II. 1. S. 314 ff. L. v. Stein , Handbuch der Verwaltungslehre S. 402 ff. (2. Aufl. 1876). Rösler , Sociales Verwaltungsr. I. 2. §. 419 ff. (S. 431 ff.). Schmeidler , Geschichte des Deutschen Eisenbahnwesens. Leipzig 1871. S. 249 ff. . Die staatsrechtliche Ordnung des Eisenbahnwesens befindet sich im Deutschen Reiche gegenwärtig in einem Uebergangszustand, welcher nicht nur der Darstellung große Schwierigkeiten bereitet, sondern auch die Erwartung berechtigt, daß binnen kurzer Zeit theils eine tief eingreifende Veränderung theils eine nähere Präcisirung erfolgen werde. Nachdem der Reichstag wiederholt durch Beschlüsse vom 5. Mai 1869, 21. April 1870 und 14. Juni 1871. den Erlaß eines Reichs-Eisenbahngesetzes angeregt hatte, wurde von dem Reichs- Eisenbahn-Amt zuerst der Entwurf eines solchen im März 1874 veröffentlicht Derselbe ist in Hirth’s Annalen 1874 S. 891 ff. abgedruckt. und auf Grund der zahlreichen Bemerkungen, welche über denselben eingegangen sind, vollständig umgearbeitet. Dieser zweite Entwurf ist im April 1875 fertig gestellt worden Abgedruckt in Hirth’s Annalen 1875 S 1225 ff., ferner in der Zei- tung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen 1875 Nro. 34 und sonst mehrfach. ; er fand aber bei einer informatorischen Vorberathung mit Kommissarien der- jenigen Bundesstaaten, welche an der Entwicklung des Eisenbahn- schriften sind sämmtliche Unterbeamtenstellen der Postverwaltung, mit Aus- nahme eines Drittels der Stellen für Briefträger und für Postschaffner im innern Dienst, mit civilversorgungsberechtigten Militäranwärtern zu besetzen. Vgl. Reglement v. 20. Juni 1867 (Preuß. Justiz-Minist.-Bl. 1867 S. 229 ff.) §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. wesens vorzüglich interessirt sind, einen so lebhaften Widerspruch, daß vorläufig davon Abstand genommen werden mußte, ihn die Stadien des Gesetzgebungsweges durchlaufen zu lassen, und die weitere Entwicklung der Angelegenheit zur Zeit in völliger Unge- wißheit schwebt Vgl. den Bericht des Reichs-Eisenbahn-Amtes über seine Geschäftsthä- tigkeit bis Ende des Jahres 1876 (Hirth’s Annalen 1877 S. 683 fg.). Unter den Erörterungen über die Entwürfe ist besonders hervorzuheben die Abhand- lung von Fischer in v. Holtzendorff’s Jahrbuch IV. 1876 S. 446 ff. . Gegenwärtig befinden sich die Einzelstaaten noch fast in der ausschließlichen Ausübung der auf das Eisenbahnwesen bezüglichen Hoheitsrechte und wenngleich die Reichsverfassung im Art. 4 Z. 8 das Eisenbahnwesen unter den der Beaufsichtigung und Gesetzge- bung des Reiches unterstellten Angelegenheiten aufzählt und im VII. Abschnitt eine Anzahl höchst wichtiger Grundsätze über die Herstel- lung einer einheitlichen Ordnung des Eisenbahnwesens im Reichs- gebiete Anerkennung gefunden hat, so sind doch die Gesetze selbst, nach welchen die Beaufsichtigung geführt und diese einheitliche Ord- nung verwirklicht werden soll, vom Reiche noch nicht erlassen Die Kompetenz des Reiches zur Gesetzgebung in Eisenbahn-Ange- legenheiten ist nicht auf die in den Artikeln 41—47 der R.-V. aufgeführten Gegenstände beschränkt; sie normirt sich vielmehr nach Art. 4 Ziff. 8 der R.-V. und hat demnach, abgesehen von Bayern, keinerlei andere Schranken, als daß sie „im Interesse der Landesvertheidigung und des allgemeinen Verkehrs“ aus- geübt werden soll. Ob ein solches Interesse vorhanden sei, können nur die zur Mitwirkung an der Gesetzgebung berufenen Organe des Reiches entscheiden. Auch sogen. Lokalbahnen und Secundärbahnen können für die Landesverthei- digung und den allgemeinen Verkehr von Interesse sein, sind daher verfassungs- mäßig der Gesetzgebungs-Befugniß des Reiches nicht unbedingt entzogen. — Ueber das Verhältniß des Art. 4 Ziff. 8 zu den Artik. 41 ff. der R.-V. ist namentlich hinzuweisen auf die Rede des Abg. Miquel in der Sitzung des Reichstages v. 21. April 1870 (Stenogr. Berichte S. 784 ff.). . In Folge dessen ist in dem jetzigen Stadium das Eisenbahn-Verwal- tungsrecht, d. h. der Inbegriff derjenigen Rechtssätze, welche über die staatlichen Hoheitsrechte an Eisenbahnen bestehen, seiner überwiegenden Masse nach ein Theil des Landes staatsrechts. Die Reichsgesetze enthalten vorläufig in dieser Materie nur fragmen- tarische und zusammenhangslose Sätze, welche zu einer umfassenden und wissenschaftlich abgeschlossenen Erörterung ungeeignet sind. Aus diesen Gründen beschränkt sich die hier folgende Darstellung §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. auf eine kurze Aufzählung der Hauptpunkte, welche durch die Reichs- verfassung gegeben sind, während eine befriedigendere und eingehen- dere Behandlung dieser Lehre einem dafür geeigneteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben muß. I. Die Grundsätze über die Bedingungen, unter welchen die Herstellung einer Eisenbahn rechtlich erlaubt ist, entbehren bis jetzt jeder reichsgesetzlichen Regelung. Jeder Einzelstaat hat für sein Gebiet zu befinden über die Ertheilung der Erlaubniß zur Vornahme der allgemeinen und speziellen Vorarbeiten, über die Ge- nehmigung der vorgelegten Baupläne, er ertheilt die Conzession zur Herstellung der Eisenbahnbauten und er führt die Controle über dieselbe aus. Ein Mitwirkungsrecht des Reiches hierbei ist ver- fassungsmäßig nicht begründet; das Reich ist insbesondere nicht befugt, die Ausführung einer projektirten Bahn zu untersagen oder eine andere Führung der Linie zu verlangen oder die Zwischen- stationen zu bestimmen oder eine gewisse Art der Bauausführung vorzuschreiben, oder auf die Concessions-Bedingungen einzuwirken. Der Gedanke, daß das Interesse der Landesvertheidigung oder des gemeinsamen Verkehrs oder der Finanzwirthschaft u. s. w. auch gegen die Herstellung einer gewissen Eisenbahn oder gegen eine gewisse Art und Weise dieser Herstellung ins Gewicht fallen kann, ist in der R.-V. überhaupt nicht zur Würdigung gelangt. Dagegen sind zu Gunsten der Herstellung von Eisenbahnen in Art. 41 der R.-V. drei Rechtssätze sanctionirt worden, durch welche gewisse Hindernisse beseitigt sind, an denen neue Eisenbahn-Anlagen scheitern könnten. 1. Dem Reiche selbst ist die Befugniß beigelegt, auch gegen den Widerspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die Eisenbahnen durchschneiden, Eisenbahnen entweder für Rechnung des Reiches anzulegen oder an Privatunternehmer zur Ausführung zu konzes- sioniren und mit dem Expropriationsrecht auszustatten. Diese Be- fugniß ist aber an folgende Bedingungen geknüpft: a ) Dieselbe kann nur ausgeübt werden kraft eines Reichs- gesetzes, also unter Zustimmung des Bundesraths und des Reichs- tages. Wenn das Gesetz, welches den Reichshaushalts-Etat fest- stellt, die Herstellung einer Eisenbahn für Rechnung des Reiches genehmigt, so ist dem Erforderniß des Art. 41 Abs. 1 der R.-V. §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. genügt; eines besonderen Spezialgesetzes bedarf es in diesem Falle nicht. b ) Das Reich soll von dieser Befugniß nur dann Gebrauch machen, wenn die Eisenbahnen im Interesse der Vertheidigung Deutschlands oder im Interesse des gemeinsamen Verkehrs für nothwendig erachtet werden. Da der Entschluß des Reiches, sich der im Art. 40 Abs. 1 eingeräumten Machtvollkommenheit zu be- dienen, aber an die Form des Gesetzes geknüpft ist, so kann die Prüfung und Feststellung, ob diese Voraussetzung thatsächlich vor- handen ist, nur bei der Berathung und Beschlußfassung des Bun- desraths und Reichstags von Belang werden. Ist das Gesetz formell ordnungsmäßig zu Stande gekommen, so ist dadurch auch formell festgestellt, daß ein Interesse der Landesvertheidigung oder des gemeinsamen Verkehrs an der Herstellung der Eisenbahn vor- handen ist, und jeder weitere Widerspruch wegen Mangels dieser verfassungsmäßigen Vorbedingung ist ausgeschlossen. c ) Die Ausübung des dem Reiche zustehenden Rechtes erfolgt „unbeschadet der Landeshoheitsrechte“. Dies ist wörtlich genommen ein vollständiger Widerspruch mit sich selbst, denn die Ausübung der Befugniß ist eben nichts Anderes als ein Eingriff in die Lan- deshoheitsrechte, oder vielmehr Art. 41 Abs. 1 enthält eine Be- schränkung der Landeshoheit In dem ursprünglichen Entwurf der Verf. fehlten die Worte; sie sind auf den Antrag der Regierungskommissare eingeschaltet worden. Anlage zum zweiten Protokoll v. 28. Januar 1867. Stenogr. Berichte des verfas- sungber. Reichstages. Aktenstück Nro. 10 S. 20. . Der Sinn der Anordnung kann nur der sein, daß dem Einzelstaat alle diejenigen Landeshoheits- rechte verbleiben, welche das Reich nicht durch das die Eisenbahn- Anlage genehmigende Gesetz ausdrücklich oder nach der Natur der Sache auf sich selbst oder den Privatunternehmer überträgt. Zu diesen Hoheitsrechten gehört namentlich das im Art. 41 selbst er- wähnte Expropriationsrecht Außer der eigentlichen Expropriation gehört hierher auch die Befugniß des Unternehmers, behufs der erforderlichen Vorarbeiten zum Zweck der Anfertigung genauer Karten, Pläne, Kostenvoranschläge u. s. w. das Privat- eigenthum zu betreten und andere Eingriffe in dasselbe vorzunehmen. Es er- giebt sich hieraus ein eigenthümlicher circulus vitiosus. Denn dieses Recht setzt, wenn der Einzelstaat die Verleihung desselben ablehnt, zu seiner Ent- , sowie die Handhabung der Bahn- polizei durch Beamte des Betriebs-Unternehmers. §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. 2. „Jede bestehende Eisenbahn-Verwaltung ist verpflichtet, sich den Anschluß neu angelegter Eisenbahnen auf Kosten der letzteren gefallen zu lassen.“ Art. 41 Abs. 2. Diese Vorschrift gilt auch von den Staatsverwaltungen und sie enthält ebenfalls eine Be- schränkung der Landeshoheit der Einzelstaaten, nicht blos eine Ver- pflichtung der Eisenbahn-Unternehmer. Denn wenn die neu ange- legte Eisenbahn auf dem Gebiete eines Nachbarstaates liegt und von dem letzteren konzessionirt worden ist, so darf der Staat, wel- chem die Anschlußstation zugehört, die Konzession zur Herstellung und zum Betriebe der Anschlußstrecke, soweit dieselbe in seinem eigenen Gebiete liegt, nicht versagen oder an erschwerende Be- dingungen knüpfen. Eine Verpflichtung bereits bestehender Bahnen, die Mitbe- nutzung einzelner Strecken, Bahnhöfe u. s. w. Seitens der neu anzulegenden Anschlußbahnen zu gestatten, ist durch den Art. 41 Abs. 2 nicht begründet. 3. Kein Einzelstaat ist befugt, einem Eisenbahn-Unternehmer ein Widerspruchsrecht gegen die Anlegung von Parallel- oder Kon- kurrenzbahnen zu verleihen. Alle gesetzlichen Bestimmungen der Einzelstaaten, welche bestehenden Eisenbahn-Unternehmungen ein solches Recht einräumen, sind durch die Verfassung aufgehoben. Soweit jedoch ein solches Widerspruchsrecht die Eigenschaft eines erworbenen Rechtes hat, d. h. auf speziellem Rechtstitel (Pri- vileg, Vertrag) beruht, bleibt es in Kraft. Art. 41 Abs. 3. Diese drei im Art. 41 enthaltenen Rechtssätze haben auch für Bayern Geltung. II. Neben der Tendenz, die Anlage neuer Bahnstrecken im stehung ein auf Grund des Art. 41 erlassenes Reichsgesetz voraus, welches den Unternehmer mit demselben ausstattet; andererseits kann der Natur der Sache nach das Gesetz, welches die Anlage der Bahn gestattet, die erforderlichen Geld- mittel bewilligt u. s. w., in der Regel doch erst auf Grund spezieller Vorar- beiten formulirt werden. — Was das eigentliche Expropriationsrecht anlangt, so versteht es sich von selbst, daß, wofern das Reichsgesetz die Normen, nach denen dasselbe ausgeübt werden soll, für die spezielle Eisenbahn-Anlage nicht besonders aufstellt, die Gesetze des Bundesstaates, in dessen Gebiet die Eisen- bahn hergestellt wird, Anwendung finden. Die Behauptung Seydel ’s (Kom- mentar S. 189) aber, daß das Reich zur Erlassung eines Zwangsenteigungs- Gesetzes überhaupt nicht kompetent sei, ist im Hinblick auf Art. 4 der R.-V. gänzlich unhaltbar. §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. Bundesgebiete zu erleichtern, wurde bei Abfassung der Nordd. Bundes- (resp. Reichs-) Verfassung vorzüglich das Ziel verfolgt, die Einheitlichkeit des Betriebes auf sämmtlichen Bahnen Deutsch- lands herzustellen. Eine nothwendige Vorbedingung zur Erreichung dieses Zieles besteht darin, daß die Bahnen nach gleichmäßigen Normen angelegt und ausgerüstet werden und daß die technische Verwaltung (der Betrieb) nach übereinstimmenden Grundsätzen ge- führt wird. Dieser oberste Grundsatz, der von weitreichender Be- deutung ist und in seinen letzten Consequenzen dazu führen muß, die Oberleitung der gesammten Eisenbahn-Verwaltung völlig auf das Reich zu übertragen, hat im Art. 42 der R.-V. einen sehr sonderbaren Ausdruck erhalten. Der Artikel lautet nämlich: „ Die Bundesregierungen verpflichten sich , die Deutschen Eisenbahnen im Interesse des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten und zu diesem Behuf auch die neu herzustellenden Bahnen nach einheitlichen Normen an- legen und ausrüsten zu lassen“. Diese Fassung erinnert an die alten Zollvereins-Verträge oder an die Privatverträge der Eisenbahn-Verwaltungen, durch welche sie Eisenbahn-Verbände errichtet haben. Die Verfassung fällt voll- kommen aus der Ausdrucksweise des Gesetzgebers heraus; sie be- fiehlt nicht, sie sanctionirt keine Regel, sondern sie enthält ein Ver- sprechen der Einzelstaaten. Das Reich legt nicht den Bundesstaaten eine Pflicht auf, sondern die Bundesregierungen „verpflichten sich“, sie leisten und acceptiren gegenseitige Zusicherungen. Diese Aus- drucksweise ist aber kein bloßes Redaktionsversehen; ihr liegt viel- mehr der Gedanke zu Grunde, daß das Eisenbahnwesen der Selbst- verwaltung der Einzelstaaten überlassen bleiben soll; daß nicht das Reich, sondern die Bundesstaaten kraft eigenen Rechts die Hoheits- rechte über die Eisenbahnen auszuüben haben. Die Bundesstaaten sollen nur nach übereinstimmenden Grundsätzen und in gleicher Art und Weise ihre Verwaltungsbefugnisse ausüben. Den Vorschriften der R.-V. über das Eisenbahnwesen, die sich unmittelbar an den Abschnitt über das Zollwesen anschließen, liegt in manchen Beziehungen eine ähnliche Anschauung von dem Verhältniß der Einzelstaaten zu einander und zu dem Reiche zu Grunde, wie sie hinsichtlich des Zollwesens Anerkennung gefunden hat. Während aber die Anordnungen der R.-V. über das Zoll- §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. wesen klar und bestimmt sind und überdies durch den im Art. 40 aufrecht erhaltenen Zollvereins-Vertrag eine bis auf die Einzel- heiten sich erstreckende Ergänzung erhalten, zeichnen sich die Vor- schriften der R.-V. über das Eisenbahnwesen hinsichtlich aller Kom- petenzverhältnisse durch eine vage Unbestimmtheit aus, die fast absichtlich darauf berechnet zu sein scheint, der weiteren Entwicklung des öffentlichen Rechts in Angelegenheiten der Eisenbahnen einen möglichst freien Spielraum zu gewähren. Aus der im Art. 42 der R.-V. anerkannten Verpflichtung der Bundesregierungen, „die Deutschen Eisenbahnen wie ein einheitliches Netz zu verwalten“, kann man einerseits jeden Eingriff des Reiches in die selbstständige Verwaltung der Einzelstaaten herleiten und für das Reich eine nicht viel geringere Kompetenz in Anspruch nehmen, wie sie hin- sichtlich der Post und Telegraphie anerkannt ist, die nach Art. 48 auch „als einheitliche Staats-Verkehrsanstalten eingerichtet und verwaltet werden“. Andererseits kann man aus den Vorschriften der Reichsverfassung darthun, daß dem Reich keinerlei Verwal- tungsbefugnisse hinsichtlich der Eisenbahnen zugewiesen sind, daß das Reich an dem finanziellen Erträgniß der Eisenbahn-Unterneh- mungen (abgesehen vom Reichslande) unbetheiligt ist und daher jeder Eingriff in die Selbstbestimmung der Eisenbahn-Verwaltungen eine Verfügung über fremde Kassen wäre, und daß die Aufsicht , welche nach Art. 4 dem Reiche zusteht, nicht die Befugniß in sich schließt, nach Belieben und Willkühr Anordnungen zu treffen, son- dern nur die Befolgung der in Geltung stehenden Vorschriften zu controliren, so daß ihr bis zum Erlaß eines Reichseisenbahnge- setzes jede rechtliche Grundlage fehlt. Insbesondere läßt Art. 42 es auch ganz unbestimmt, in welcher Form und durch welches Organ, resp. mit welchen Mitteln das Reich befugt ist, die einzelne Bundesregierung zu zwingen, die Verpflichtung, welche sie nach Art. 42 übernommen hat, zu erfüllen. Eine nähere Bestimmung hat der Art. 42 jedoch erhalten durch Art. 43 und Art. 46 Abs. 3, welche folgende 3 Rechtssätze aufstellen: 1) „Es sollen demgemäß in thunlichster Beschleunigung über- einstimmende Betriebseinrichtungen getroffen, insbesondere gleiche Bahnpolizei-Reglements eingeführt werden“. Dieser Satz schließt sich unmittelbar an Art. 42 an und durch das Wort „demgemäß“ §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. wird in unzweideutiger Weise hervorgehoben, daß er eine Folgerung oder nähere Ausführung des im Art. 42 ausgesprochenen Grund- prinzips enthält. Hierdurch gewinnt er eine unentbehrliche Ergän- zung; es fehlt ihm nämlich die Hauptsache, nämlich das Subject. „Es sollen“ übereinstimmende Betriebseinrichtungen u. s. w. „ge- troffen werden“. Von wem? Vom Reich oder von den Einzel- staaten? Durch Reichsgesetz, durch Beschluß des Bundesrathes oder durch Anordnung des Kaisers? Aus dem Zusammenhang mit dem Art. 42 ergiebt sich, daß „die Bundesregierungen“ als das Subjekt zu ergänzen sind; ihre Verpflichtung, die ihnen unterstellten Eisen- bahnen wie ein einheitliches Netz verwalten und nach einheitlichen Normen anlegen und ausrüsten zu lassen, sollen sie unter Anderem dadurch erfüllen, daß sie übereinstimmende Betriebseinrich- tungen treffen und gleiche Bahnpolizei-Reglements einführen. Daß die Einrichtungen übereinstimmend und die Reglements gleich sein sollen, setzt eine Mehrheit von Anordnungen mit identischem Inhalt voraus; wenn bei der Abfassung des Art. 43 der Gedanke vorge- schwebt hätte, daß das Reich für das ganze Reichsgebiet ( excl. Bayern) die Betriebs-Einrichtungen und das Polizeireglement er- lassen soll, so wäre es sinnlos gewesen, anzuordnen, daß die Ein- richtungen übereinstimmend und die Reglements gleich sein sollen. Der formelle Erlaß dieser Anordnungen gehört demnach nicht zur Kompetenz des Reiches, sondern zu derjenigen der Einzel- staaten Dies ist in anderem Zusammenhange bereits oben S. 89 ausgeführt worden. . Auf welchem Wege ist aber die Uebereinstimmung der Einzelstaaten über einen gleichartigen oder identischen Inhalt zu erzielen? Hierüber giebt der Art. 43 ebenso wenig eine bestimmte Auskunft, wie Art. 42 und es bleibt nur die bis zum Erlaß eines Reichseisenbahngesetzes übrigens ebenfalls anfechtbare und zweifel- hafte Zuflucht zu Art. 7 Abs. 2 übrig, wonach der Bundesrath „über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allge- meinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen“ beschließt. Ab- gesehen davon, daß der Bundesrath hiernach zur Anordnung von Rechtssätzen, z. B. Strafandrohungen, nicht befugt ist, kann man auch die Frage aufwerfen, ob die den Einzelstaaten obliegende Ver- pflichtung, sich über einen gleichartigen Inhalt der von ihnen zu §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. erlassenden Vorschriften über den Eisenbahnbetrieb zu verständigen, als ein Reichsgesetz angesehen werden dürfe, dessen „Ausführung“ der Beschlußfassung des Bundesrathes unterliegt, zumal die Ver- fassung des Nordd. Bundes, aus welcher die Artikel 42 und 43 der R.-V. mit nur unwesentlichen Fassungsänderungen entnommen sind, eine dem Art. 7 Abs. 2 der R.-V. entsprechende Bestimmung überhaupt nicht hatte. Zu praktischen Mißständen hat die Unklar- heit, welche in der Fassung der Art. 42 und 43 zu beklagen ist, nur deshalb nicht geführt, weil glücklicher Weise sämmtliche Bun- desstaaten dem vom Bundesrath beschlossenen Reglement zugestimmt und dasselbe bei der ihnen zustehenden Verwaltung in Eisenbahn- Angelegenheiten zur Anwendung gebracht haben Das Bahnpolizei-Reglement und die demselben beigefügte Signal-Ordnung sind vom Bundesrath am 4. Januar 1875 beschlossen und im Centralblatt 1875 S. 57 ff. 73 ff. abgedruckt worden. . Der rechtliche Bestand dieses Verhältnisses ist aber ein so unsicherer, daß auch hieraus ein Motiv zum Erlaß eines Reichs-Eisenbahngesetzes ent- springt. Auch in anderer Beziehung leidet die Fassung des in Rede stehenden Satzes des Art. 43 an einem Mangel an Klarheit, der nicht ohne nachtheilige Folgen ist. Indem nämlich den Einzelstaaten auferlegt wird, „übereinstimmeude Betriebseinrichtungen “ zu treffen, wird ihnen „insbesondere die Einführung gleicher Bahn- polizei-Reglements“ zur Pflicht gemacht. Hiernach erscheint also das Bahn polizei -Reglement als eine „Betriebs-Einrichtung“, während im Gegensatz dazu Art. 45, welcher vom Tarif wesen handelt, die Einführung „übereinstimmender Betriebsreglements“ verlangt. Zunächst sollte man doch wohl die Vorschriften über die Einrichtungen des Betriebs im Betriebsreglement, die bahnpolizei- lichen Anordnungen im Bahnpolizeireglement, und die Bedingungen, unter welchen der Transport von Personen und Gütern übernom- men wird, im Transportreglement vermuthen. In Wahrheit aber kann man sich leicht überzeugen, daß sowohl das sogen. Polizei- Reglement wie das sogenannte Betriebs-Reglement einen bunt zu- sammengewürfelten Inhalt haben. So finden sich in dem Betriebs- Reglement, welches vorwiegend ein Transport-Reglement ist und die Bedingungen des Passagier- und Fracht-Vertrages innerhalb §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. der durch das H.-G.-B. gestatteten Gränzen der Vertragsfreiheit normirt, sehr zahlreiche Anordnungen rein polizeilichen Charak- ters z. B. Verbote, die Bahn zu betreten, während der Fahrt einzusteigen oder auszusteigen, sich seitwärts aus dem Wagen zu biegen, gegen die Thür anzulehnen oder auf die Sitze zu treten, u. drgl. Vorschriften mehr. , dagegen enthält andererseits das Bahnpolizei-Reglement ein- gehende Bestimmungen über die Ausrüstung, die Unterhaltung und Bewachung der Bahn, über Einrichtung und Zustand der Betriebs- mittel, über die Handhabung des Betriebes, die Signale, u. s. w., lauter Gegenstände, welche mit der Bahnpolizei Nichts zu thun haben, und nur die §§. 53—71 sind in der That ein Polizeiregle- ment. Das Recht des Staates für den Betrieb der Eisenbahnen im Interesse der öffentlichen Sicherheit und um die Ordnung und Pünktlichkeit dieses Betriebes selbst aufrecht zu erhalten, Vorschriften zu erlassen, d. h. die Ausübung der sogenannten Landespolizei gegen den Betriebsunternehmer , wird hier völlig vermengt mit der Handhabung der Bahnpolizei durch den Betriebsunternehmer und seine Beamten und mit den für das Publikum ertheilten Vor- schriften zum Schutz des Eisenbahn-Betriebes. Die erste Kategorie von Vorschriften enthält Beschränkungen des Betriebs-Unternehmers, Bedingungen, welche er bei dem Betriebe erfüllen muß; die zweite Kategorie enthält Begünstigungen des Betriebs-Unternehmers, Be- schränkungen des Publikums im Interesse des Eisenbahnbetriebes. Diese Bahnpolizei im eigentlichen Sinne des Wortes ist keine Be- triebs-Einrichtung So gehören z. B. die Anordnungen über die Anlage und den Verschluß von Barri è ren an den Uebergängen zu den Vorschriften über den Betrieb, die Anordnungen von Strafen dagegen für das Ueberschreiten der Bahn, wenn die Barri è re geschlossen ist, sind keine „Betriebs-Einrichtung“, sondern Polizei- Strafgesetze. . 2) Der zweite im Art. 43 enthaltene Satz lautet: „Das Reich hat dafür Sorge zu tragen, daß die Eisenbahn- Verwaltungen die Bahnen jederzeit in einem die nöthige Sicher- heit gewährenden baulichen Zustande erhalten und dieselben mit Betriebsmaterial so ausrüsten, wie das Verkehrsbe- dürfniß es erheischt“. Im Gegensatz zu dem vorhergehenden Passus zeichnet sich dieser durch vollkommene Bestimmtheit sowohl hinsichtlich des Subjekts §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. als Objekts aus. Dem Reich ist die Controle über den baulichen Zustand der Bahnen und über das Betriebsmaterial derselben über- tragen; es hat also zunächst die Befugniß, sich jeder Zeit von dem Zustande der Bahn zu überzeugen, durch Kommissare Besichtigungen und Aufnahmen vornehmen zu lassen, die Einreichung von Berich- ten, Inventaren u. s. w. von den Verwaltungen zu verlangen, die Brauchbarkeit und Haltbarkeit des zu den Bauten, Fahrzeugen u. s. w. verwendeten Materials zu prüfen, überhaupt eine voll- kommene und umfassende Revision der gesammten Eisenbahn-Anlage und Ausrüstung vorzunehmen. Der Gegensatz zwischen dem ersten und dem zweiten Satze besteht also darin, daß den Betriebs ein- richtungen das Betriebs material und der Bahnkörper gegen- übergestellt wird. Die Betriebseinrichtungen betreffen die Thätig- keit zum Zwecke des Betriebs, die Organisation der Verwaltung und des Dienstes, die Funktionen der beim Betriebe verwendeten Beamten, die Signale, Fahrordnung u. s. w.; der zweite Satz da- gegen betrifft das Material, welches zum Betriebe dient, und das wieder in die Bahnbauten und das Betriebsmaterial eingetheilt wird. Während die Betriebs-Einrichtungen von den einzelnen Eisen- bahn-Verwaltungen, beziehentlich von den Bundesregierungen, an- geordnet werden, wird dem Reiche über den Zustand der Bauten und über die Ausrüstung mit Betriebsmaterial nicht nur eine In- spectionsbefugniß zugewiesen, sondern „es hat dafür Sorge zu tragen“, daß die Eisenbahnverwaltungen das liegende und beweg- liche Inventar in dem durch die Sicherheit und das Verkehrsbe- dürfniß gebotenen Zustande erhalten. Die Eisenbahn-Verwaltungen sind demnach verpflichtet, den in dieser Hinsicht an sie ergehenden Befehlen Folge zu leisten. Hieraus ergiebt sich zugleich, daß das Reich befugt ist, Nor- malbestimmungen über die Eisenbahnbauten und über die Ausrüstung der Bahnen mit Betriebsmaterial zu erlassen und durch Revisionen feststellen zu lassen, ob die einzelnen Verwaltungen diesen Normalbestimmungen vollkommen genügen. Auch die Organe, mittelst deren das Reich diese Befugnisse aus- übt, sind nicht zweifelhaft. Die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze steht nach Art. 17 dem Kaiser zu; er hat daher durch Inspektion den Zustand der Bahnen feststellen zu lassen und die dadurch veranlaßten Anordnungen wegen Abstellung von Mängeln §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. zu erlassen. Zur Wahrnehmung und Ausübung dieser Aufsichts- rechte ist das Reichs-Eisenbahnamt bestellt Ges. v. 27. Juni 1873 §. 4. . Die allge- meinen Anordnungen über die Konstruktion und Beschaffenheit der Bahnbauten (das Eisenbahn- Bau reglement) und über die Aus- stattung mit Betriebsmaterial (Ausrüstungs-Reglement), hat der Bundesrath gemäß Art. 7 Abs. 2 der R.-V. zu erlassen. Wird gegen eine von dem Reichs-Eisenbahnamt verfügte Maßregel von der davon betroffenen Verwaltung aus dem Grunde Einspruch er- hoben, weil jene Maßregel in den Gesetzen und rechtsgültigen Vor- schriften nicht begründet sei, so erfolgt die Entscheidung durch das durch richterliche Beamte verstärkte Reichs-Eisenbahn-Amt Ges. v. 27. Juni 1873 §. 5 Ziff. 4. Vgl. oben Bd. I. S. 380. . 3) Die beiden im Vorstehenden erörterten, im Art. 43 der R.-V. enthaltenen Sätze finden auf Bayern keine Anwendung; dagegen steht nach Art. 46 Abs. 3 dem Reiche auch Bayern gegenüber das Recht zu, „ im Wege der Gesetzgebung einheitliche Nor- men für die Konstruktion und Ausrüstung der für die Landesver- theidigung wichtigen Eisenbahnen aufzustellen“. Der Ausdruck „ ein- heitliche Normen“ bedeutet, daß die für das übrige Bundesge- biet in dieser Hinsicht aufgestellten Normen auch für Bayern in Kraft gesetzt werden können Aus diesem Grunde ist es zweifelhaft, ob bei einer Beschlußfassung des Bundesrathes über die Konstruktion und Ausrüstung der Eisenbahnen mit Aus- schluß Bayerns die im letzten Satz des Art. 7 der R.-V. aufgestellte Regel Platz greift d. h. die Bayrischen Stimmen nicht mitgezählt werden. Denn theils ist die Landesvertheidigung in allen Beziehungen eine allen Staaten gemeinschaftliche Angelegenheit, theils ist Bayern an den für das übrige Ge- biet zu erlassenden Vorschriften deshalb mitinteressirt, weil dieselben ungeachtet seines Widerspruchs durch Reichsgesetz auch auf Bayern ausgedehnt werden können. ; sonach ist das Reich nicht befugt, für Bayern besondere, erschwerende Vorschriften zu erlassen. III. Da die Eisenbahnen öffentliche Verkehrsanstalten sind und sie wie ein „einheitliches Netz“ verwaltet werden sollen, so sind die Eisenbahnverwaltungen verpflichtet, ihrem Betriebe einen dem Ver- kehrsinteresse entsprechenden Umfang und wechselseitigen Zusammenhang zu geben. Dem entsprechend sind ihnen im Art. 44 der R.-V. drei Verpflichtungen auferlegt: Laband , Reichsstaatsrecht. II. 24 §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. 1) Es sollen die für den durchgehenden Verkehr und zur Her- stellung in einander greifender Fahrpläne nöthigen Personenzüge mit entsprechender Fahrgeschwindigkeit eingerichtet werden. 2) Die Eisenbahnverwaltungen haben die zur Bewältigung des Güterverkehrs nöthigen Güterzüge einzuführen. 3) Jede Eisenbahnverwaltung hat die direkte Expedition im Personen- und Güterverkehr, unter Gestattung des Ueberganges der Transportmittel von einer Bahn auf die andere, gegen die übliche Vergütung einzurichten. Die Ueberwachung der Ausführung dieser reichsgesetzlichen An- ordnungen liegt dem Kaiser ob, welche er vermittelst des Reichs- Eisenbahn-Amtes ausübt. Demgemäß sind dieser Reichsbehörde rechtzeitig die Fahrpläne einzureichen und alle an denselben vorzuneh- menden Abänderungen anzuzeigen und die Eisenbahn-Verwaltungen sind verpflichtet, den Anordnungen des Reichs-Eisenbahn-Amtes be- hufs Erfüllung der im Art. 44 anerkannten Verpflichtungen, vor- behaltlich des Rekurses an das durch richterliche Mitglieder ver- stärkte Reichs-Eisenbahn-Amt, nachzukommen. Auf Bayern finden diese Vorschriften keine Anwendung. IV. Art. 45 der R.-V. überträgt dem Reiche die Kontrole über das Tarifwesen . Daß dem Reiche die Normirung der Tarife zusteht, sagt der Artikel nicht; noch viel weniger, daß der Bundesrath oder der Kaiser (das Reichs-Eisenbahn-Amt) den Eisen- bahn-Verwaltungen die Tarife vorschreiben dürfe. Die „Kontrole“ enthält lediglich die Befugniß, von den bestehenden Tarifen in Kenntniß gesetzt zu werden Demgemäß hat das Reichs-Eisenbahn-Amt durch Verf. v. 24. Dezemb. 1874 und vom 30. Sept. 1875 Vorschriften über die Anzeigen erlassen, welche die Bahnverwaltungen von allen Tarif-Erhöhungen und von allen Einschrän- kungen der direkten Expedition an das Reichs-Eisenbahnamt erstatten müssen. Centralbl . 1875 S. 79. 657. , und das Recht der Ueberwachung, daß die Eisenbahnverwaltungen theils bei Aufstellung und Veröf- fentlichung der Tarife den für sie bestehenden landesgesetzlichen oder konzessionsmäßigen Vorschriften genügen theils bei dem Ab- schluß der Transportverträge die bestehenden Tarife inne halten. Eine reichsgesetzliche Grundlage für die Handhabung dieser Kontrole fehlt zur Zeit; ja die Anordnung der Verfassung hindert nicht ein- mal die Einzelstaaten, die ihnen zustehenden Befugnisse hinsichtlich §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. der Festsetzung oder Abänderung der Tarife aufzuopfern und den Privat-Eisenbahn-Unternehmern eine größere Freiheit als bisher zu gestatten, und noch viel weniger, für die Staats-Eisenbahnen nach Belieben Tarife einzuführen oder abzuändern. Durch die bloße Kontrole über das Tarifwesen wird weder dem Reiche irgend ein Zwangsmittel beigelegt, um die Einzelstaaten zu Abänderungen be- stehender Tarife und zur Einführung eines einheitlichen Tarifsystems zu nöthigen, noch ein Veto oder Zustimmungsrecht des Reiches zur Veränderung bestehender Tarife begründet. Man trug offenbar und mit Recht bei Abfassung des Art. 45 Bedenken, dem Reiche, welches bei den finanziellen Erträgnissen der Eisenbahnen gänzlich unbetheiligt war und zur Zeit nur hinsichtlich der Reichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen betheiligt ist, die Befugniß zur Festsetzung der Tarife einzuräumen, d. h. ihm eine Verfügung über die Einnahmen der Staatskassen und Eisenbahn-Aktienvereine zu gewähren. Es frägt sich daher, welchen Zweck die Kontrole des Reiches über das Tarifwesen hat. Abgesehen nun von der Garantie gegen Willkühr- lichkeiten und Ungesetzlichkeiten der Eisenbahn-Verwaltungen, welche durch die Kontrole des Reiches gegeben ist, sollte dieselbe eine Handhabe sein, mittelst deren das Reich auf die Fortentwickelung und Umgestaltung des Tarifwesens einwirken könne; sie sollte dem Reich einen Einfluß auf die sogenannte Tarifpolitik sichern Bei den Verhandlungen des verfassungsberath. Reichstages von 1867 gab Minister Delbrück über den Sinn dieses Artikels folgende Erklärung ab: „In dem Entwurfe ist eine Controlle der Tarife durch den Bund in Aus- sicht genommen und der Gedanke dabei ist der, daß der Ausschuß des Bundes- rathes, welcher nach Art. 8 des Entw. für das Eisenbahnwesen zu bilden ist, durch die vorliegende Bestimmung die Befugniß erhält, von den Ta- rifen Kenntniß zu nehmen (!) und mit der Tendenz , welche in dem weiteren Verlaufe des Art. 42 [45] ausgedrückt ist, wenn es ihm geeignet scheint, die betheiligten Regierungen zu einer Einwirkung, soweit sie ihnen gesetzlich zusteht, auf ihre Eisenbahnen im Sinne des Artikels 42 [45] zu ver- anlassen“. Der Abgeordn. Michaelis , von welchem die zum Gesetz erhobene Fassung herrührt, fügte hinzu, daß er in der Controle der Tarife „durchaus nicht eine Thätigkeit sehen könne, welche auf einen Zwang gegenüber den ein- zelnen Eisenbahnen, ihren Tarif herabzusetzen, hinauslaufen könnte“. .... „Daß der Ausdruck Controlle die Bedeutung habe, daß er Zwangsmaßregeln gegen die Eisenbahnen involvire, das kann ich meinerseits nicht annehmen.“ . Dies 24* §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. wird bestätigt durch zwei Sätze, welche im Art. 45 der R.-V. dem an die Spitze gestellten Grundsatz zur Erläuterung und näheren Bestimmung hinzugefügt worden sind. Diese beiden Sätze sind folgende: 1. „Das Reich wird namentlich dahin wirken, daß baldigst auf allen Deutschen Eisenbahnen übereinstimmende Betriebsregle- ments eingeführt werden“. Zum Verständniß dieser Bestimmung ist zunächst zu bemerken, was bereits oben berührt worden ist, daß nach einem bei den Eisenbahnverwaltungen Deutschlands bestehenden, sonderbaren Sprachgebrauch das Betriebsreglement keineswegs, wie man erwarten sollte, den Betrieb regelt, sondern die Transport- Bedingungen festsetzt und zwar gerade mit Ausnahme der Tarife. Das Betriebsreglement hat daher ebenso wenig eine Beziehung auf den Betrieb des Eisenbahndienstes, was sein Wortlaut sagt, noch auf die Tarife, d. h. die Höhe der Frachtsätze, was man nach der Erwähnung desselben im Art. 45 der R.-V. erwarten sollte, da derselbe die Kontrole über das Tarifwesen behandelt. Zwischen dem Inhalt des Betriebs-Reglements und den Tarifen besteht nur insofern ein enger juristischer und thatsächlicher Zusammenhang, als auch die Tarife zu den Vertragsbedingungen gehören, unter welchen die Eisenbahn-Betriebsunternehmer Transportgeschäfte abschließen. Daß diese Bedingungen auf allen Deutschen Bahnen, und womög- lich darüber hinaus auf allen Bahnen des Continents, einen mög- lichst übereinstimmenden Inhalt haben, liegt ebenso wohl im In- teresse des Verkehrs und der Rechtssicherheit als im Interesse der Eisenbahnverwaltungen. Die Erreichung dieses Zieles wurde auch seit langer Zeit durch die unter den Eisenbahnverwaltungen besteh- enden Verbände mit Erfolg angestrebt. Zur vollständigen Durch- führung wird dem Reiche die Aufgabe zugewiesen, dahin zu wirken , daß baldigst auf allen Deutschen Eisenbahnen überein- stimmende Betriebsreglements eingeführt werden. Mit welchen Mitteln aber das Reich „wirken“ soll, wird nicht gesagt; das Recht, den Eisenbahnverwaltungen ein Betriebsreglement vorzuschrei- ben , ist dem Reiche nicht beigelegt, insbesondere auch nicht dem Stenogr. Berichte des verfass. Reichst. S. 507. — Vgl. Perrot in Hirth’s Annalen 1874 S. 1087 ff. und Derselbe in Holtzendorff’s Jahrb. IV. (1876) S. 266 ff. §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. Bundesrath Aus den Verhandlungen des verfassungberath. Reichstages ergiebt sich dies zweifellos. Der Regierungsentwurf Art. 40 lautete: „Es sollen dem- gemäß in thunlichster Beschleunigung gleiche Betriebs-Einrichtungen getroffen, insbesondere gleiche Bahnpolizei- und Betriebs-Reglements für Personen- und Güter-Transport eingeführt werden.“ Die jetzige Fassung, welche im Wesentlichen von dem Abg. Michaelis herrührt, motivirte derselbe damit, daß da, „wo die Interessen der Eisenbahnen zu unbedingt der Reglementirung des Bundes unterworfen worden waren“, ihnen eine gewisse Sicherheit gewährt werden sollte „gegen unberechtigte Willkühr“. „Wir haben zunächst — sagt er — im Art. 40 das Wort „ gleiche Betriebseinrichtungen“ in „ überein- stimmende Betriebseinrichtungen“ umgewandelt. Sie sehen, es sind leichte Umwandlungen, welche indeß den Anforderungen des Bundes, soweit sie nicht in der Natur der Sache begründet wären, die Spitze abbrechen .“ (!) Stenogr. Berichte S. 504. . Während sonst Gesetze die Rechtsbefugnisse der Be- hörden oder die Rechtspflichten der Angehörigen des Staates be- gründen und begränzen, oder, wie dies oben näher dargethan wurde, einen Befehl enthalten, spricht Art. 45 Z. 1 der R.-V. einen Wunsch aus, sie steckt ein Ziel, auf dessen Erreichung das Reich hinstreben soll Der Abg. Michaelis bezeichnet a. a. O. die von ihm formulirten Verfassungsbestimmungen selbst „als eine Instruktion für das Eisenbahn- Commissariat des Bundes, dahin gehend, auf Herstellung und Aufrechterhaltung übereinstimmender Betriebs-Reglements hinzuwirken“. . In Wirklichkeit ist die Erreichung dieses Zieles gelungen. Der Bundesrath hat ein Betriebs-Reglement beschlossen, welches auf allen Eisenbahnen Deutschlands, auch auf denjenigen Bayern’s, in Kraft getreten ist Dasselbe ist vom 11. Mai 1874 datirt und im Centralblatt S. 179 gedruckt. Abänderungen desselben werden ebenfalls im Centralblatt veröffent- licht; vgl. daselbst 1876 S. 223, 1877 S. 7. . Seine Geltung aber beruht staatsrechtlich nicht auf dem Befehl des Reiches, sondern auf dem Willen der ein- zelnen Staaten und Eisenbahn-Verwaltungen. Ueber die juristische Bedeutung dieses Betriebs-Reglements ist noch Folgendes zu bemerken. Die Rechtsregeln über das Fracht- geschäft der Eisenbahnen bilden einen Theil des Handelsrechts; ihre Normirung gehört daher unzweifelhaft zur Kompetenz des Reiches und muß im Wege der Gesetzgebung erfolgen, soweit nicht der Ver- ordnungsweg ausdrücklich vorbehalten ist. Diese gesetzliche Rege- lung ist erfolgt im Handelsgesetzbuch; soweit dasselbe keine Bestim- mungen enthält kommen nach Art. 1 desselben die Handelsgebräuche §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. und in Ermangelung derselben die Vorschriften des bürgerlichen Rechts zur Anwendung. Der Bundesrath kann das Handels- gesetzbuch weder abändern noch ergänzen, und ebenso wenig ist hier- zu der Minister eines Einzelstaates oder die Verwaltung einer Eisenbahn im Stande. Das Handelsgesetzbuch enthält aber im Allgemeinen nur jus dispositivum; es gestattet den Parteien, ihren Verträgen auch einen anderen Inhalt zu geben. Diese Befugniß haben auch die Betriebs-Unternehmer von Eisenbahnen, wenngleich nicht in demselben Maße und mit derselben Freiheit wie andere Frachtführer. Das Betriebs-Reglement stellt die Bethätigung dieser Vertragsfreiheit dar; es enthält die Bedingungen für den Trans- port von Personen und Gütern, zu deren Vereinbarung die Eisen- bahn-Betriebsunternehmer (Frachtführer) nach dem H.-G.-B. be- fugt sind. Hieraus ergeben sich folgende Sätze: a ) Das Betriebs-Reglement hat keine rechtliche Wirksamkeit, soweit es mit zwingenden Vorschriften des H.-G.-B.’s im Wider- spruch steht. b ) Auch soweit ein solcher Widerspruch nicht vorhanden ist, haben die Vorschriften des Betriebs-Reglements nicht die rechtliche Wirksamkeit von Rechtsregeln, sondern diejenige von Vertrags- festsetzungen und sind als solche zu beurtheilen Vgl. oben S. 89 Note 2. v. Rönne , Staatsr. II. 1. S. 321 Note 6 freilich meint, das Reglement enthalte „eine weitere Ausführung der Art. 422 —431 des H.-G.-B.’s“ und es wolle (?) als gesetzliche Norm an die Stelle der früher von den Eisenbahnen selbst in ihren Reglements getroffenen Bestimmungen treten (!). . c ) Der Erlaß des Betriebs-Reglements stellt sich juristisch dar als ein Verwaltungsbefehl an die Eisenbahn-Unternehmer resp. an die Eisenbahn-Verwaltungen, alle Transportverträge nach den im Betriebs-Reglement formulirten Bedingungen abschließen Wenn im einzelnen Falle nach anderen Bedingungen der Vertrag ab- geschlossen worden ist, sei es ausdrücklich sei es stillschweigend nach dem aus den Umständen zu entnehmenden Consens, so kann der betreffende Eisenbahn- beamte resp. die Verwaltung sich der vorgesetzten Instanz gegenüber dadurch verantwortlich machen, dem Dritten gegenüber ist der Vertrag so zu erfüllen, wie er in concreto geschlossen worden ist. Ueberdies ist wohl zu beachten, daß das Betriebs-Reglement die Bahnverwaltungen nicht hindert, dem Publi- kum günstigere Bedingungen zu gewähren; es schreibt den Bahnverwal- tungen nur das Minimum der Haftung vor, welches sie übernehmen sollen. . §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. In Wirklichkeit hebt dieser Erlaß eines obligatorischen Betriebs- (d. h. Transport-) Reglements die im Handelsgesetzbuch gewährte Vertragsfreiheit wieder auf und wenn nun Art. 45 der R.-V. die gesetzliche Handhabe dafür liefert, daß das Reich ein einheitliches und für die Eisenbahn-Verwaltungen verbindliches Reglement er- läßt, so entsteht der eigenthümliche Contrast, daß das Reich durch einen seiner Willensakte den andern vernichtet. Wenn die im H.-G.-B. gewährte Vertragsfreiheit einen zn großen Spielraum hat und sich als schädlich erweist, so ist eine gesetzliche Abänderung und Ergänzung des H.-G.-B.’s der geeignete Weg der Abhülfe; wenn man aber diesen Weg deshalb nicht für vollständig passend hält, weil dadurch Abänderungen des Transport-Reglements nach jeweiligen Zeitverhältnissen und örtlichen Umständen zu sehr er- schwert werden, so giebt die Ordnung des Postwesens, die in dieser Hinsicht eine völlige Analogie darbietet, ein Muster, wie man diese Schwierigkeiten beseitigen kann. Es ist den gesetzlichen Regeln über das Transportgeschäft und die Haftpflicht der Eisenbahn-Betriebsunternehmer einer dem §. 50 des Postgesetzes entsprechende Bestimmung hinzuzufügen, welche den Reichskanzler ermächtigt, (mit Zustimmung des Bundesraths und nach Anhörung des Reichs-Eisenbahn-Amtes) ein Reglement zu erlassen und durch dasselbe bestimmte, einzeln aufzuzählende Gegenstände zu normiren. Gleichzeitig müßte — wie dies in §. 50 Abs. 2 des Postgesetzes geschehen ist — gesetzlich ausgesprochen werden, daß die Bestimmungen des Eisenbahn-Transport- Regle- ments als Bestandtheil des Vertrages zwischen der Eisenbahn- Verwaltung und dem Absender, beziehungsweise Reisenden gelten. 2. Der Art. 45 der R.-V. enthält ferner den Satz: „Das Reich wird namentlich dahin wirken, daß die möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Tarife erzielt, insbesondere, daß bei größeren Entfernungen für den Transport von Kohlen, Koaks, Holz, Erzen, Steinen, Salz, Roheisen, Düngungsmitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Bedürfniß der Landwirthschaft und Industrie entsprechender ermäßigter Tarif, und zwar zunächst thunlichst der Einpfennig-Tarif eingeführt werde“. Diese Bestimmung ist der vorangehenden völlig gleichartig. Sowie das Reich dahin wirken soll, daß übereinstimmende Betriebs- §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. Reglements eingeführt werden, so soll es auch dahin wirken , daß die möglichste Gleichmäßigkeit der Tarife erzielt wird. Auch hier schließt die Fassung des Artikels die Annahme aus, daß das Reich die Befugniß habe, den Eisenbahu-Verwaltungen weder im Allgemeinen noch für einzelne Klassen von Transport- Gegenständen Tarife vorzuschreiben ; durch ein auf Grund des Art. 4 Z. 8 ergehendes Eisenbahn- Gesetz könnte zwar dem Bun- desrath oder dem Kaiser eine solche Befugniß beigelegt werden, auf Grund der R.-V. und der gegenwärtigen Gesetzgebung besteht sie dagegen nicht Dies ist wiederholt anerkannt worden. Vgl. außer den oben S. 371 mitgetheilten Auszügen aus den Verhandlungen des verfassungberath. Reichs- tages, den Petitionsbericht in den Drucksachen des Deutschen Reichstages 1872 Bd. II. Nro. 100 S. 8 ff. Vgl. ferner Stenogr. Berichte des Reichstages 1869 Bd. II. S. 823 ff. 1872 S. 858 (Minister Delbrück). 1874/75 S. 1119 ff. Auch das Reichseisenbahnamt hat dies in einer von ihm verfaßten und vom Reichs- kanzler am 5. Mai 1874 dem Bundesrathe vorgelegten Denkschrift ausführlich dargethan. . Als Ziel der vom Reiche zu befolgenden, verfassungsmäßigen „Tarif-Politik“ wird aber nicht nur die Gleichmäßigkeit , son- dern auch die Herabsetzung der Tarife hingestellt und es wird sogar ein ganz bestimmter Tarifsatz für gewisse Gegenstände als Ziel der verfassungsmäßigen Wünsche des Deutschen Reichs ange- geben Die Fassung des Art. 45 Z. 2 ist in vielfacher Hinsicht mißglückt. Ab- gesehen davon, daß ein bestimmter Rechtsinhalt fehlt und statt dessen eine Ten- denz ausgesprochen ist, der die Tarifpolitik des Reiches folgen soll, erhebt sich die Frage, worin die „möglichste“ Gleichmäßigkeit bestehe, was eine „größere“ Entfernung sei, welche Gegenstände Kohlen, Holz, Erzen, Salz, Düngungsmit- teln u. s. w. „ähnlich“ seien, wem die Entscheidung darüber zustehe, ob ein Tarif „dem Bedürfniß der Landwirthschaft und Industrie entspreche“ und, was es bedeute, daß der Einpfennig-Tarif „zunächst thunlichst“ eingeführt wer- den soll. Vgl. auch Seydel , Kommentar S. 192 und namentlich die Rede des Abg. Berger v. 20. Januar 1875. Stenogr. Berichte 1874/75 S. 1122. . Bei dem Mangel an Zwangsmitteln, durch welche das Reich die Erzielung gleichmäßiger und herabgesetzter Tarife u. s. w. er- wirken kann, verliert auch die Bestimmung des Potokolls vom 25. November 1870 Ziff. 2, (B.-G.-B. S. 657) durch welche „an- erkannt wurde, daß auf den Württembergischen Eisenbahnen bei ihren Bau-, Betriebs- und Verkehrsverhältnissen nicht alle im §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. Art. 45 aufgeführten Transportgegenstände in allen Gattungen von Verkehren zum Einpfennig-Satz befördert werden können, einen großen Theil ihrer juristischen Bedeutung. So wie es nun aber thatsächlich gelungen ist, ein allgemeines Einverständniß der Bundesregierungen über das Betriebs-Reglement zu erreichen, so ist es — allerdings unter großen Schwierigkeiten — auch geglückt, eine Verständigung der Deutschen Staats- und Privat-Eisenbahn-Verwaltungen über ein gemeinsames Tarifsystem zu erzielen, das freilich nicht mit der „möglichsten Herabsetzung“, von welcher Art. 45 der R.-V. spricht, sondern mit einer durch- schnittlichen Erhöhung der Tarife verbunden ist Bereits durch Beschluß vom 11. Juni 1874 hat der Bundesrath aus- gesprochen, „daß vom Standpunkt des Reiches gegen eine mäßige, im Durchschnitt den Betrag von 20 Procent nicht übersteigende Erhöhung der Eisenbahn-Frachttarife unter der Voraussetzung Nichts zu erinnern sei, daß ein gewisses, näher angegebenes, Tarifsystem zur Einführung gelange“. Der Wortlaut ist abgedruckt in Hirth’s Annalen 1874 S. 1528. . Der Bundes- rath hat in seiner Sitzung vom 14. Dezember 1876 beschlossen, daß gegen dessen Einführung unter gewissen Einschränkungen vom Standpunkte des Reichs nichts zu erinnern sei und hat angeordnet, daß ihm bis zum 1. Januar 1880 Behufs weiterer Beschlußnahme eingehende Mittheilung über den praktischen Erfolg des neuen Systems gemacht werden soll Ueber die Entwicklung der sogenannten Tarifreform ist zu vrgl. die Denkschrift des Reichs-Eisenbahn-Amtes vom Januar 1877 I. 9. (Hirth’s An- Annalen 1877 S. 688 ff.) Ferner Fischer in v. Holtzendorff’s Jahrbuch Bd. IV. S. 456 ff. Die definitive Festsetzung der neuen Gütertarife wurde erst auf der General-Tarif-Conferenz der Deutschen Eisenbahn-Verwaltungen zu Berlin im Februar 1877 vereinbart. Vgl. Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen 1877 Nro. 16. . Die Geltung des neuen Tarif- systems beruht daher nicht auf der Autorität des Reiches oder dem Beschluß des Bundesrathes, sondern auf der Vereinbarung der Deutschen Staats- und Privat-Eisenbahn-Verwaltungen und auf den Rechtsbefugnissen, welche den einzelnen Bundesregierungen auf Grund der Landesgesetze oder Konzessionen den Eisenbahn-Unter- nehmern gegenüber zustehen. Diese partikuläre und conventionsmäßige Grundlage für die Geltung des jetzt zur Einführung gelangenden Tarifsystems birgt nicht nur die Gefahr in sich, daß dasselbe in sehr verschiedener §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. Weise gehandhabt und im Einzelnen ausgeführt werde, so daß es doch wieder zu neuer Zersplitterung und Verwirrung führen kann, sondern sie läßt auch das Bedürfniß nach einem Organ, von welchem die einheitliche und planmäßige Weiterbildung und Fortentwicklung des Tarifwesens geleitet werde, unbefriedigt. Eine durchgreifende Abhülfe kann auch hier nur ein Reichsgesetz gewähren, welches dem Reich festumgränzte aber wirksame Befugnisse hinsichtlich der Tarif- festsetzungen überträgt. V. Im Gegensatz zu der unbestimmten und staatsrechtlich wenig belangreicheu Kontrole über das Tarifwesen, welche Art. 45 dem Reiche zuweist, sind dem Reiche zwei höchst eingreifende und inhaltsvolle Befugnisse in den Art. 46 und 47 der R.-V. zuge- sprochen. 1) Nach Art. 46 sind die Eisenbahnverwaltungen mit Ausschluß Bayerns verpflichtet , bei eintretenden Nothständen, insbesondere bei ungewöhnlicher Theuerung der Lebensmittel, für den Trans- port, namentlich von Getreide, Mehl, Hülsenfrüchten und Kartoffeln, zeitweise einen dem Bedürfniß entsprechenden niedrigen Spezialtarif einzuführen. Dieser Spezialtarif wird von dem Kaiser auf Vorschlag des betreffenden Bundesraths-Ausschusses (für Eisenbahnen, Post und Telegraphen) festgestellt, darf jedoch nicht unter den niedrigsten auf der betreffenden Bahn für Rohprodukte geltenden Satz herabgehen. 2) Den Anforderungen der Behörden des Reiches in Betreff der Benutzung der Eisenbahnen zum Zweck der Vertheidigung Deutsch- lands haben sämmtliche Eisenbahnverwaltungen unweigerlich Folge zu leisten. Insbesondere ist das Militair und alles Kriegsmaterial zu gleichen ermäßigten Sätzen zu befördern. Art. 47. Diese Verfassungsbestimmung gilt auch für Bayern . Ihre Geltung ist nicht auf den Fall des Krieges oder der Kriegsvorbe- reitungen beschränkt, sondern sie findet auch im Frieden Anwendung, da sie nur eine Benutzung der Eisenbahnen zum Zweck der Ver- theidigung Deutschlands voraussetzt, diesem Zwecke aber das Kriegs- heer und die Marine auch im Frieden dienen Vgl. auch Seydel , Kommentar S. 194. . Durch diese Vor- schrift sind sämmtliche Eisenbahnen Deutschlands zur vollen und un- eingeschränkten Disposition für Militairzwecke gestellt und zwar §. 72. Die Verwaltung des Eisenbahnwesens. steht den Eiseubahnverwaltungen gegen die Verfügungen der Reichs- behörden keinerlei Beschwerde- oder Rekursrecht mit aufschiebender Wirkung zu, sie müssen vielmehr „unweigerlich“ Folge leisten. Eben- so wenig haben sie ein Mitbestimmungsrecht über die Tarife für die Transporte von Truppen und Kriegsmaterial; die Entschädigung soll vielmehr für sämmtliche Eisenbahnen die gleiche sein In dieser Weise ist der Ausdruck bei den Berathungen des konstitui- renden Reichstags von 1867 von dem Minister Delbrück interpretirt worden. Stenogr. Berichte S. 509. und ist vom Reich festzustellen. Eine nähere Präzisirung haben die im Art. 47 der R.V. ent- haltenen Grundsätze hinsichtlich des Maaßes der Leistungen, welche von den Eisenbahn-Verwaltungen gefordert werden dürfen, durch die Reichsgesetze über die Militairlasten erhalten. Diese Gesetze unterscheiden zwischen Kriegsl eistungen und zwischen Natural- leistungen für die bewaffnete Macht im Frieden ; jene sind normirt in dem Reichsgesetz v. 13. Juni 1873 §§. 28—31 R.-G.-Bl. 1873 S. 136. ; diese durch das Reichsgesetz vom 13. Febr. 1875 §. 15 R.-G.-Bl. 1875 S. 57. , welches die Fest- stellung des Tarifs für Militairtransporte dem Bundesrath über- trägt. Die nähere Darstellung der den Eisenbahn-Verwaltungen für militairische Zwecke obliegenden Verpflichtungen wird unten bei der Erörterung des Heerwesens im Zusammenhange mit den andern finanziellen Militairlasten gegeben werden. VI. Das Verhältniß der Eisenbahn-Verwaltungen zur Post- und Telegraphen-Verwaltung ist im vorhergehenden Paragraphen erörtert worden. Die den Eisenbahn-Verwaltungen im Interesse der Zollverwaltung obliegenden Verpflichtungen werden bei dem Reichsfinanzwesen zur Darstellung kommen; eben dahin gehört die Besprechung der im Eigenthum und Betrieb des Reichsfiskus befindlichen Bahnen. Ueber die Einrichtung und Kompetenz des Reichs-Eisen- bahn-Amts vgl. Bd. I. S. 341 ff. 380 fg. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens Gesetzgebung. Gesetzüber die Ausgabe von Banknoten . Vom 27. März 1870 (R.-G.-Bl. S. 15). Dieses Gesetz bestimmt, daß vom Tage seiner Verkündigung an bis zum 1. Juli 1872 die Befugniß zur Ausgabe von Banknoten nur durch ein Bundesgesetz erworben (resp. erweitert und verlängert) werden kann. Eingeführt in Baden, Württemberg und Südhessen vom 1. Januar 1872 ab (Art. 80 der vereinbarten Verfassung R.-G.-Bl. S. 648. 656); in Bayern durch Reichsges. v. 22. April 1871 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 88), ebenfalls vom 1. Januar 1872 ab. Die Wirksamkeit dieses Gesetzes wurde verlängert durch die Gesetze v. 16. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 169), vom 30. Juni 1873 (R.-G.-Bl. S. 159) und vom 21. Dezember 1874 (R.-G.-Bl. S. 193). Bankgesetz vom 14. März 1875 (R.-G.-Bl. S. 177) und Statut der Reichsbank vom 21. Mai 1875 (R.-G.-Bl. S. 203). Dem Entwurf des Bankgesetzes (vom 5. Nov. 1874) sind sehr ausführliche Motive beigegeben. Drucksachen des Deutschen Reichstages II. Sess. 1874 Nro. 27). Die vom Reichstag eingesetzte Kommission erstattete ebenfalls einen sehr ausführlichen und beachtenswerthen Be- richt , welcher in den Drucksachen a. a. O. Bd. IV. Nro. 195 enthalten ist. Die Verhandlungen des Reichstages Stenograph. Berichte 1874/75 S. 1265 ff. 1435 ff. Literatur . Die meisten Schriften über das Bankwesen sind volkswirth- schaftlichen, nicht juristischen Charakters. Einige Ausgaben des Bank- gesetzes sind mit Auszügen aus den Motiven, dem Kommissionsbericht und den Reichstags-Verhandlungen versehen, so von M. Ströll , Nörd- lingen 1875; Gerothwohl , Frankfurt a. M. 1875; Stommel , Berlin 1875. Die Materialien des Bankgesetzes finden sich auch in Hirth ’s Annalen 1874 S. 1611 ff. 1875 S. 835 ff. 945 ff. 1563 ff. Die beste Ausgabe der über das Bankwesen erlassenen Reichsgesetze mit ausführlichen Mittheilungen aus den Gesetzgebungs-Materialien, jedoch ohne juristische Erörterungen, ist von Adolf Soetbeer veranstaltet unter dem Titel Deutsche Bankverfassung . Erlangen 1875. (Daselbst S. 401 Literatur über das Bankwesen in Deutschland.) Die Darstellung in v. Rönne ’s Staatsrecht des Deutschen Reichs II. 1. S. 268 besteht, soweit sie nicht einfach Abdruck der Reichsgesetze ist, zum größten Theil aus ziemlich wörtlichen Excerpten aus dieser Schrift . A. Die Verwaltung der Reichsbank. I. Allgemeine Grundsätze . Auf Grund des Reichsgesetzes v. 14. März 1875 (R.-G.-Bl. S. 177) ist unter dem Namen „ Reichsbank “ eine Bank mit dem §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. Hauptsitz in Berlin errichtet worden, welche unter Aufsicht und Leitung des Reiches steht und durch Organe des Reiches verwaltet wird Bankges. §. 12. §. 26 ff. . Von den Geschäften derselben gilt im Allgemeinen dasselbe, was von denen der Post ausgeführt wurde. Ein Hoheitsrecht des Reiches wird durch den Betrieb von Bankgeschäften nicht aus- geübt; vielmehr steht das Reich bei dem Abschluß von Geschäften dieser Art dem Publikum in derselben Stellung wie eine Privat- bank gegenüber. Der Staat macht, wenn er Banquiergeschäfte über- nimmt, von seiner Staatsgewalt keinerlei Anwendung, sondern er contrahirt als Subject des Privatrechts, als Fiskus. Zu den wesentlichen Funktionen des Staates gehört daher der Betrieb von Bankgeschäften irgend welcher Art nicht. Aber die Geschäfte der Bank dienen zugleich zur Förderung der öffentlichen Wohlfarth indem sie den Geldumlauf regeln, die Zahlungsausgleichungen er- leichtern und für die Nutzbarmachung verfügbaren Kapitals sorgen. Der Staat überschreitet daher die aus seinem Begriffe sich ergebende Aufgabe uicht , wenn er eine öffentliche Anstalt zur Erreichung dieses Zweckes errichtet. Der Geschäftsbetrieb einer solchen Staatsanstalt ist kein gewöhnliches Gewerbe, wie das eines Banquiers oder einer Privatbank, da es nicht vorzugsweise oder ausschließlich zum Zweck des Vermögenserwerbes, sondern in erster Reihe zur Förderung der allgemeinen staatlichen Aufgaben und der öffentlichen Wohlfahrt dienen soll. Ein finanzieller Gewinn ist selbstverständlich bei der Verwaltung der Reichsbank ebenso wie bei dem Betriebe der Post weder ausgeschlossen noch als unwesentlich zu betrachten, aber die Erzielung eines Ueberschusses soll und darf nicht auf Kosten der allgemeinen volkswirthschaftlichen und handelspolitischen Zwecke an- gestrebt werden. Um die Erreichung dieser Zwecke der Reichsbank zu ermög- lichen und zu erleichtern, und um die Interessen des Publikums, welches sich der Bank bedient, mit denen des Reichsfiskus auszu- gleichen, ist die Geschäftsthätigkeit der Reichsbank nicht einfach den von Soetbeer. — Berücksichtigt ist das Bankgesetz auch in Ende- mann ’s Handelsrecht. 3. Aufl. §. 82 u. §. 141. Ueber die Verfas- sung der Reichsbank ist zu vergleichen der (anonyme) Aufsatz in Hartmann ’s Zeitschr. f. Gesetzgeb. u. Praxis auf dem Gebiet des öffentl. Rechts. Bd. I. (Berlin 1875) S. 590 ff. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. allgemeinen Grundsätzen des Privat- und Handelsrechts unterworfen worden, sondern es ist in einzelnen Beziehungen für die Reichs- bank ein Sonderrecht geschaffen worden, durch welches sie theils günstiger theils ungünstiger wie Privatbanquiers gestellt worden ist. In allen diesen Beziehungen gelten hinsichtlich der Reichsbank ganz dieselben prinzipiellen Erwägungen wie hinsichtlich der Reichs- post und nur die thatsächliche Gestaltung und Anwendung ist eine verschiedene, indem es sich bei der Post um Transportgeschäfte, bei der Bank um Geldgeschäfte handelt Beide Geschäftskreise berühren sich übrigens einander sehr nahe, da der ganze Verkehr mit Postanweisungen und Postaufträgen in das Gebiet des Bankgeschäfts hineinragt. . Die Aehnlichkeit wird aber durch einen tiefgreifenden Unter- schied erheblich verringert, der gerade für die staatsrechtliche Stel- lung der Reichsbank von der größten Wichtigkeit ist. Während nämlich die Reichspost eine Anstalt des Reiches in der Art ist, daß der Reichsfiskus als der Prinzipal derselben durch alle ihre Ge- schäfte berechtigt und verpflichtet wird, ist die Reichsbank eine vom Reichsfiskus verschiedene, selbstständige juristische Person des Privat- rechts. Der Reichsfiskus ist an derselben nur als das geschäfts- führende Mitglied betheiligt Vgl. Bd. I. S. 344 ff. . Das Vermögen der Reichsbank ist demnach nicht Reichsvermögen und die Geschäfte der Reichsbank sind in allen privatrechtlichen Beziehungen nicht als Geschäfte des Reiches, sondern als Geschäfte einer Privatperson anzusehen. Die dem Reiche zustehende Verwaltungsthätigkeit bei der Reichsbank ist nicht Verwaltung eigner, sondern Verwaltung fremder Geschäfte und dadurch von der eigent- lichen Finanzverwaltung des Reiches wesentlich verschieden. Aller- dings geschieht diese Verwaltung fremder Geschäfte zugleich im eigenen Interesse des Reiches, da der Reichsfiskus an dem Ergeb- nisse derselben mit einer bedeutenden Quote betheiligt ist. Eine Folge hiervon ist, daß zwischen dem Reichsfiskus und der Reichsbank alle denkbaren vermögensrechtlichen Verhältnisse be- stehen, insbesondere obligatorische Verträge geschlossen werden können, während dies zwischen der Reichs-Post und dem Reiche unmöglich ist, da der Reichsfiskus und der sogenannte Postfiskus identisch §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. sind. Ja die Reichsbank kann sogar vom Reiche besteuert werden, was in der That geschieht. Die Constituirung der Reichsbank als selbstständiger Person des Privatrechts hat die weitere Folge, daß obrigkeitliche Rechte ihr ganz und gar fehlen und die Reichsbankbe- hörden zur Ausübung von irgend welchen Hoheitsrechten durchaus incompetent sind, während solche Rechte der Post- und Telegraphen- behörde in gewissem Umfange zustehen. Endlich beruht auf diesem Charakter der Reichsbank die Thatsache, daß die Reichsbank hin- sichtlich ihrer Geschäfte dem allgemeinen Recht fast ganz und gar unterworfen ist und daß nur in sehr wenigen Punkten Abweichungen von demselben anerkannt sind, welche das singuläre Recht der Reichs- bank bilden. II. Juristische Natur und Verfassung der Reichsbank . Die Reichsbank entspricht dem Begriff des Aktienvereins . Sie hat ein Grundkapital von 120 Mill. Mark, welches in 40,000 auf Namen lautende Antheile von je 3000 Mark getheilt ist. Die Antheilseigner sind von der persönlichen Haftung für die Verbind- lichkeiten der Reichsbank frei , sie haben einen Anspruch auf eine Dividende aus dem sich ergebenden Reingewinn, sie sind befugt, an der Verwaltung durch die General-Versammlung und den Centralausschuß sich zu betheiligen; sie erhalten bei der Auf- lösung des Vereins das Vermögen desselben, wenigstens zum größ- ten Theile. Alles, was für den Aktienverein wesentlich ist, findet sich auch bei der Reichsbank wieder und ihre durch Gesetz und Statut bestimmte Verfassung hat dieselben Grundformen, welche den Aktienvereinen mit Namensaktien eigenthümlich sind. Dessen- ungeachtet sind die Vorschriften des Handelsgesetzbuches und des Ges. v. 11. Juni 1870 auf die Reichsbank im Allgemeinen unan- wendbar und durch die ausschließenden Bestimmungen des Bankgesetzes und des Status der Reichsbank ersetzt, und zwar des- halb, weil das Reich sich bei der Reichsbank eine Stellung zuge- wiesen hat, welche bei den nach den Vorschriften des H.-G.-B.’s constituirten Aktienvereinen unmöglich ist. Diese Betheiligung des Reiches begründet nach allen Richtungen hin für die Reichsbank Abweichungen von dem gemeinen für Aktienvereine geltenden Rechte und macht die Reichsbank zu einer anormalen Rechtsschöpfung, die zwar dem allgemeinen Begriff der Aktienvereiue sich subsumirt, §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. die aber im ganzen Bereiche des Rechtes ihres Gleichen nicht hat Die Verfassung und Einrichtung der Reichsbank schließt sich durchweg sehr eng an die der ehemal. Preußischen Bank an, welche durch die Bank-Ordnung v. 5. Oktober 1846 und das Gesetz v. 7. Mai 1856 geregelt war, also aus der Zeit vor Abfassung des Allg. D. H.-G.-B.’s stammt. Dar- aus erklärt sich wohl z. Th. die Thatsache, daß die Vorschriften des letzteren im Bankgesetz und Bankstatut wenig Berücksichtigung gefunden haben. . 1) Zunächst übernahm das Reich die Gründung . Dieselbe erfolgte in der Art, daß das Reich von der Preußischen Regierung die Preußische Bank erwarb Vertrag v. 17./18. Mai 1875. R.-G.-Bl. S. 215 ff. , den Preußischen Fiskus und die Antheilseigner der Preuß. Bank abfand, die Preußische Bank mit allen Rechten und Verpflichtungen an die zu errichtende Reichsbank abtrat und das Grundkapital der Reichsbank durch Aktienzeichnung aufbrachte, zu welcher das Publikum unter Ausbedingung eines erheblichen Agios aufgefordert wurde Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 24. Mai 1875 betreffend die Begebung von 20,000 Stück Reichsbank-Antheilsscheinen. Der Subscriptions- preis war 130 %. . Aber das Reich dispensirte sich bei dieser Gründung von allen Vorschriften, welche das H.-G.-B. Art. 209 fg. für die Errichtung von Aktienvereinen aufgestellt hat; insbesondere auch von der Eintragung der Reichsbank und ihrer Zweiganstalten in das Handelsregister Bankges. §. 66. . 2) Das Reich legte sich die Rechte bei, welche die Mit- glieder von Aktienvereinen haben, nämlich einen Antheil am Reingewinn und im Falle der Auflösung einen Antheil am Kapital (Reservefond) Bankges. §. 24. 41. ; dagegen leistete das Reich weder eine Einzahlung zum Grundkapital der Reichsbank noch übernahm es eine Haftung für die Schulden der letzteren, ja es verpflichtete nicht einmal die Reichskassen zur Annahme der von der Reichsbank ausgegebenen Banknoten Die Behauptung Thöl’s , Handelsr. (5. Aufl. 1876) I. 2. S. 54, daß die Reichsbanknoten und sonstigen Schuldscheine der Reichsbank Schuldscheine des Reichsfiskus seien, steht mit dem Bankgesetz im Widerspruch. . Die Leistung, die das Reich zu Gunsten der Reichs- bank machte, bestand nicht in der Hergabe von Kapital, sondern in der Ertheilung des Rechts zur unbeschränkten Ausgabe von Bank- §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. noten Bankges. §. 16. Vgl. unten sub IV. , war also von ganz anderer Natur wie die Leistungen, die von Privatpersonen bei Errichtung eines Aktienvereins gemacht werden können. 3) Ferner hat das Reich sich alle diejenigen Rechte vorbe- halten, welche in einem Aktienverein dem Vorstande zustehen und dadurch jeden Einfluß der Antheilseigner (Aktionäre) auf Er- nennung des Vorstandes und der Beamten, sowie auf Entlassung derselben vollständig ausgeschlossen. Die Rolle des Direktors der Reichsbank ist dem Reichs- kanzler zugewiesen. Er leitet die gesammte Bankverwaltung in- nerhalb der Bestimmungen des Bankgesetzes und Statuts. Er er- läßt die Geschäftsanweisungen für das Reichsbank-Direktorium und für die Zweiganstalten, sowie die Dienstinstruktionen für die Be- amten der Bank, und verfügt die erforderlichen Abänderungen der bestehenden Geschäftsanweisungen (Reglements) und Dienstinstruk- tionen Bankges. §. 26 Abs. 2. . Ist der Reichskanzler verhindert, so werden diese Be- fugnisse von einem Stellvertreter ausgeübt, den der Kaiser hiefür ernennt Vgl. Bd. I. S. 348. . Alle für den Geschäftsbetrieb der Bank erforderlichen Beamten werden vom Reich ernannt, und wenngleich dieselben auf Kosten der Bank ihre Besoldungen, Pensionen und sonstigen Dienst- bezüge erhalten, so haben sie doch die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten Bankges. §. 28. , sind also auch der Disciplinargewalt des Reiches unterworfen. Das vom Reich eingesetzte, dem Reichskanzler unter- geordnete Reichsbank-Direktorium hat die gesammte Geschäftsführung und die unbeschränkte Vertretungsbefugniß für die Reichsbank Bankges. §. 27 Abs. 1. §. 38 Abs. 1. . Der Besoldungs- und Pensions-Etat der Reichsbank wird vom Reiche nach Maßgabe der im §. 28 des Bankges. enthaltenen näheren Anordnungen festgesetzt; die Revision der Rechnungen er- folgt durch den Rechnungshof des Deutschen Reiches Bankges. §. 29. . 4. Es besteht zwar eine Generalversammlung der Aktionäre der Reichsbank, welche äußerlich der Generalversammlung jedes andern Aktienvereins völlig gleichartig ist, deren rechtliche Be- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 25 §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. fugnisse aber auf ein sehr geringfügiges Maß herabgesetzt sind. Sie beschränken sich auf die Entgegennahme des jährlichen Verwaltungs- berichts und die Wahl des Central-Ausschusses Bankges. §. 21 Abs. 1. . Weder über die Geschäftsleitung der Reichsbank noch über die Vertheilung der Dividende kann die Generalversammlung Beschlüsse fassen, welche für das Bankdirektorium verbindlich wären. Insbesondere aber ist die Generalversammlung nicht befugt, eine Aende- rung des Bankstatuts zu beschließen . Das Bankstatut ist vielmehr theils in dem Bankgesetz selbst enthalten, theils auf Grund des §. 40 dieses Gesetzes vom Kaiser im Einvernehmen mit dem Bundesrath erlassen worden; es kann daher auch nur abgeändert werden durch Reich sgesetz , soweit es in der Form des Gesetzes ergangen ist, und durch kaiserl. mit Zustimmung des Bundesrathes erlassene Verordnung , soweit es in dieser Form erlassen ist. Wenn in dem Bankstatut §. 21 die Beschlußfassung über Abände- rung des Statuts der Generalversammlung zugewiesen ist, so bedeutet dies nicht, daß ein solcher Beschluß eine Abänderung des Statuts bewirkt , sondern nur, daß vor der Abänderung des Statuts durch Reichsges. oder Verordnung die Ansicht der Generalversamm- lung eingeholt werden soll Vgl. auch Bankstatut §. 2 Abs. 2. . Die Reichsbank-Aktionäre haben da- durch eine Garantie, daß das Statut nicht ohne ihre Mitwirkung abgeändert werde. Dieser Stellung der Generalversammlung ent- spricht es, daß das Reich in derselben nicht stimmberechtigt ist; die Mitglieder des Reichsbank-Direktoriums sind jedoch verpflichtet, der Generalversammlung beizuwohnen und dürfen sich an der Berathung betheiligen. 5. Die Funktionen, welche bei gewöhnlichen Aktienvereinen der Aufsichtsrath wahrzunehmen hat, sind bei der Reichsbank dem Central-Ausschuß übertragen. Er besteht aus 15 Mitgliedern und eben so vielen Stellvertretern, welche von der Generalversamm- lung aus der Zahl der Aktionäre gewählt werden Die näheren Anordnungen trifft das Bankges. §. 31. Statut §. 22 ff. . Er versam- melt sich unter dem Vorsitz des Präsidenten des Bankdirektoriums wenigstens einmal monatlich, empfängt Berichte über die Geschäfte der Bank und über die Ergebnisse der Kassenrevisionen, Mitthei- lungen über die Ansichten des Reichsbank-Direktoriums hinsichtlich §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. des Ganges der Geschäfte im Allgemeinen und über die etwa er- forderlichen Maßregeln und er ist über die im Bankgesetz §. 32 unter a ) bis f ) aufgeführten Angelegenheiten gutachtlich zu hören. Eine entscheidende Stimme steht ihm nicht zu; ausgenom- men sind allein die im §. 35 des Bankgesetzes erwähnten Geschäfte mit den Finanzverwaltungen des Reichs oder Deutscher Bundes- staaten, gegen deren Abschluß dem Zentralausschusse ein Veto ein- geräumt ist Die Zustimmung des Centralausschusses ist außerdem erforderlich, um die Höhe des Betrages festzusetzen, der zum Ankauf von Effekten für Rech- nung der Bank verwendet werden darf; Bankges. §. 32 lit. d , und zur Lei- stung von Abschlagszahlungen auf die Dividende, Bankstatut §. 15 Abs. 2. . Der Zentralausschuß übt eine fortlaufende spezielle Kontrole über die Verwaltung der Reichsbank aus durch drei aus der Zahl seiner Mitglieder auf ein Jahr gewählte Deputirte , denen es zusteht allen Sitzungen des Reichsbank-Direktoriums mit berathender Stimme beizuwohnen und welche berechtigt und ver- pflichtet sind, in den gewöhnlichen Geschäftsstunden und im Beisein eines Mitglieds des Reichsbank-Direktoriums von dem Gange der Geschäfte Kenntniß zu nehmen, die Bücher und Portefeuilles der Bank einzusehen und den Kassenrevisionen beizuwohnen. Ueber ihre Wirksamkeit erstatten sie in den monatlichen Versammlungen des Zentralausschusses Bericht Bankges. §. 34. . Entsprechend dem Zentralausschuß werden außerhalb Berlins an denjenigen Orten, an welchen Reichsbank-Hauptstellen etablirt werden, Bezirksausschüsse errichtet, die für den Geschäfts- kreis der Bank-Hauptstelle eine ganz analoge Thätigkeit zu ent- wickeln haben, wie sie dem Zentralausschuß dem Bankdirektorium gegenüber zukömmt. Die von den Bezirksausschüssen gewählten Deputirten heißen Beigeordnete Vgl. die näheren Vorschriften im Bankges. §. 36 und Bankstatut §§. 27 ff. . Die Bundesregierungen üben eine Aufsicht über die Leitung der Reichsbank aus durch das Bank-Kuratorium Bankges. §. 25. Vgl. Bd. I. S. 345. . 6. Der Regel nach ist die Generalversammlung eines Aktien- vereins befugt, die Fortsetzung des Vereins oder die Auflösung desselben zu beschließen. H.-G.-B. 214. 242. Den Antheilseig- nern der Reichsbank steht weder das Eine noch das Andere zu; 25* §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. die Reichsbank ist vielmehr bis zum Ende des Jahres 1890 er- richtet; nach Ablauf dieser Zeit steht es im alleinigen Belieben des Reiches, ob die Reichsbank fortbestehen oder aufhören soll, ohne daß die Antheilseigner dabei ein Zustimmungsrecht haben Bankges. Art. 41. . Dem Reiche ist nur die Beschränkung auferlegt, daß es die Auf- hebung ein Jahr vorher ankündigen muß, zuerst am 1. Januar 1889, und daß, wenn die Ankündigung unterbleibt, die Reichsbank immer um 10 Jahre prolongirt wird. Die Prolongirung kann daher stillschweigend geschehen, d. h. ohne Gesetz, Verordnung oder Verfügung des Reichs. Jedoch ist die Zustimmung des Reichstages dazu erforderlich Bankges. §. 41 Abs. 3. , weil in der Verlängerung der Existenz der Reichsbank zugleich eine Ver- längerung des ihr ertheilten Privilegs zur Ausgabe von Bank- noten enthalten ist, die ohne Genehmigung des Reichstages nicht erfolgen soll. Die Auflösung muß ausdrücklich angekündigt werden. Die hierfür vorgeschriebene Form ist eine, im Einvernehmen mit dem Bundesrath erlassene Verordnung des Kaisers, welche dem Reichs- kanzler die Kündigung aufträgt Die Zustimmung des Reichstages braucht nicht eingeholt zu werden; der Kaiser und der Bundesrath sind im Voraus gesetzlich zur Kündigung er- mächtigt. Wenn der Reichstag der Verlängerung der Frist nicht zustimmt, muß die Kündigung erfolgen; der Bundesrath ist daher gesetzlich verpflichtet, die Zustimmung zu der Kaiserl. Verordnung zu ertheilen, die dem Reichs- kanzler die Kündigung aufträgt. . Der Reichskanzler richtet die- selbe an das Reichsbank-Direktorium und das letztere hat sie zu veröffentlichen. Die Auflösung kann auf zwei verschiedene Arten bewirkt wer- den, entweder durch formelle Aufhebung und Liquidation, wobei dem Reiche die Befugniß zusteht, die Grundstücke der Reichsbank gegen Erstattung des Buchwerthes zu erwerben, oder durch schein- bare Fortführung der Reichsbank unter Enteignung sämmtlicher Reichsbank-Antheile zum Nennwerthe, so daß der Reichsfiskus der alleinige Eigenthümer des gesammten Geschäftes wird Dadurch hört die Reichsbank selbstverständlich auf, eine vom Reichs- fiskus verschiedene, selbstständige vermögensrechtliche Person zu sein. . In bei- den Fällen wird der bilanzmäßige Reservefonds, soweit derselbe §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. nicht zur Deckung von Verlusten in Anspruch zu nehmen ist, in der Art getheilt, daß die Antheilseigner die eine Hälfte, der Reichs- fiskus die andere erhält Bankges. §. 41. . 7. Endlich sind die Vorschriften des H.-G.-B.’s Art. 244 ff. über die Liquidation eines aufgelösten Aktienvereins hinsichtlich der Reichsbank ausgeschlossen. Die Anordnungen darüber sind auf Grund des Bankgesetzes §. 40 Nro. 9 durch das Bankstatut er- lassen und gehen dahin, daß die Liquidation der Reichsbank und die schließliche Auseinandersetzung zwischen dem Reiche und den Antheilseignern, sowie unter diesen, durch das Reichsbank-Direkto- rium unter Leitung des Reichskanzlers erfolgt. Den Aktionären steht eine Mitwirkung dabei nicht zu Bankstatut §. 31. 32. . III. Die Reichsbank als öffentliche Anstalt . 1. Der Umfang des Geschäftsbetriebes der Bank ist gesetz- lich fixirt; die Reichsbank ist nur befugt, die im §. 13 des Bank- gesetzes aufgeführten Geschäfte zu betreiben. Sie soll dadurch vor Ertheilung ungedeckten oder ungenügend gedeckten Credits und vor Betheiligung am Börsenspiel und Differenzhandel gewahrt werden. Diese Beschränkungen des Geschäftsbetriebes sind das Correlat des Notenprivilegiums. Der Bank ist es aber keineswegs untersagt, auch andere als die im §. 13 des Gesetzes genannten Geschäfte abzuschließen ; nur betreiben darf sie dieselben nicht, d. h. der gewerbemäßige Abschluß darf auf dieselben nicht ausgedehnt werden. Die Bank könnte die ihr im §. 13 zugewiesenen Ge- schäftszweige gar nicht betreiben ohne zahllose andere Geschäfte, sogen. Hülfs- oder Nebengeschäfte, abzuschließen, z. B. Anschaffung von Grundstücken, von Bureau-Ausstattungs-Gegenständen, von Schreibmaterialien, Miethsverträge aller Art u. s. w. Daß die Reichsbank zum Abschluß aller dieser Geschäfte befugt ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Aber auch dann, wenn die Reichs- bank mit Ueberschreitung des ihr gesetzlich gestatteten Geschäfts- betriebes Verträge eingeht, sind dieselben nicht deshalb nichtig , weil sie unbefugter Weise abgeschlossen worden sind. Die Reichs- bank kann vielmehr in demselben Umfange wie jede juristische Per- §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. son, insbesondere wie jeder Aktienverein, vermögensrechtliche Ver- pflichtungen übernehmen und Befugnisse erwerben. Die civilrecht- liche Gültigkeit und Wirksamkeit eines Rechtsverhältnisses bleibt davon ganz unberührt, daß die Eingehung desselben unter Ver- letzung einer Vorschrift des Verwaltungsrechts geschehen ist. Der Beamte, der ein derartiges Geschäft abschließt, begeht aber eine Pflichtverletzung ; er kann daher disciplinarisch bestraft wer- den und, falls das Geschäft der Reichsbank Schaden gebracht hat, zum Ersatz desselben angehalten werden. Es treten ganz dieselben Privatrechtsfolgen ein, als wenn der Vorstand eines gewöhnlichen Aktienvereins Geschäfte abschließt, welche nicht zu dem statuten- mäßigen Geschäftsbereiche gehören Vgl. H.-G.-B. Art. 231. Dies gilt auch von solchen Geschäften der Reichsbank, welche unter Verletzung des §. 35 des Bankgesetzes abgeschlossen worden sind. . 2) Die räumliche Ausdehnung des Geschäftsbetriebes d. h. die Etablirung von Zweig-Niederlassungen ist durch das Gesetz nicht normirt, abgesehen davon, daß die Reichsbank ihren Hauptsitz in Berlin hat. Die Reichsbank ist berechtigt, aller Orten im Reichs- gebiete Zweiganstalten zu errichten Bankges. §. 12 Abs. 2. . Dadurch ist es ihr zugleich untersagt, im Auslande eine Zweigniederlassung zu etabliren Einzelne Geschäfte im Auslande oder mit ausländischen Handelshäusern oder Geldinstituten abzuschließen, ist ihr unverwehrt. . An welchen Orten des Reichsgebiets die Reichsbank Zweiganstalten einrichten will, ist im Allgemeinen ihr selbst überlassen; sie kann aber vom Bundesrath gezwungen werden, an bestimmten Orten Zweigniederlassungen zu errichten Bankges. §. 12 Abs. 3. . Insbesondere hat der Bun- desrath diejenigen größeren Plätze zu bestimmen, an welchen „Hauptstellen“ zu errichten sind Bankges. §. 36 Abs. 1. . Die Errichtung von Zweigan- stalten, welche dem Reichsbank-Direktorium unmittelbar unterge- ordnet werden (Reichsbankstellen) steht dem Reichskanzler zu; die Errichtung von Niederlassungen, welche einer andern Zweiganstalt untergeordnet werden (Reichsbank-Nebenstellen, Kommanditen oder Agenturen), erfolgt Seitens des Bankdirektoriums Bankges. §. 37. Ein Verzeichniß sämmtlicher Orte, an denen Nieder- lassungen der Reichsbank sich befinden, ist in dem ersten Jahresbericht der . §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. 3) Eine Verpflichtung der Bank, die Geschäfte, auf welche ihr Gewerbe sich erstreckt, mit Jedem abzuschließen, welcher sich den bankmäßigen Bedingungen unterwirft, besteht im Allgemeinen nicht. Denn theils ist im einzelnen Falle die Creditwürdigkeit des Con- trahenten oder die Sicherheit der angebotenen Deckung zu prüfen, theils legt die Höhe der der Bank zur Verfügung stehenden Betriebs- mittel dem Umfange des Geschäftes gewisse Schranken auf. Nur in einem Falle besteht eine absolute gesetzliche Verpflichtung; die Bank muß nämlich Barrengold zum festen Satze von 1392 Mark für das Pfund fein gegen ihre Noten umtauschen, wobei es ihr freisteht, solches Gold auf Kosten des Abgebers durch die von ihr zu bezeichnenden Techniker prüfen und scheiden zu lassen Bankges. §. 14. Aus einem Pfunde feinen Goldes werden 139½ Stück Kronen (1395 Mark) ausgeprägt. Reichsges. v. 4. Dez. 1871 §. 1. Die Bank kann also, wenn sie das Gold in Barren nicht wieder verwendet, sondern Reichsgoldmünzen daraus anfertigen läßt, eine Prägegebühr von 3 Mark für jedes Pfund fein Gold zahlen, ohne Schaden zu leiden. Ueber die volkswirth- schaftliche Bedeutung der im Bankges. §. 14 ausgesprochenen Verpflichtung vgl. Bamberger , Reichsgold S. 78 ff. Soetbeer , Bankverf. S. 287 ff. . Wenn- gleich daher bei der Reichsbank der Charakter der öffentlichen An- stalt nicht in gleichem Grade ausgeprägt erscheint, wie bei den Ver- kehrsanstalten, so besteht doch auch bei der Bank die Regel, daß die Bedingungen für die von der Bank zu betreibenden Ge- schäfte allgemein im Voraus festgestellt werden, und daß that- sächlich mit Jedem , der es verlangt, alle diejenigen Geschäfte ab- geschlossen werden, welche nicht mit der Ertheilung eines ungedeck- ten Credits oder mit einem durch Kursschwankungen begründeten Risiko verknüpft sind. Diese Geschäfte sind folgende: a ) Lombardgeschäfte d. h. verzinsliche Darlehen gegen bewegliche Pfänder. Welche Werthgegenstände als Pfand ver- wendbar sind und in welchem Betrage sie „beliehen“ werden dürfen, ist im Bankgesetz §. 13, Nr. 3 Lit. a)—e) gesetzlich bestimmt Jedoch ist die Bank selbstverständlich nicht verpflichtet , alle Pa- piere, welche unter die sehr umfassenden Kategorieen des §. 13 cit. fallen, zu beleihen. Der §. 13 hat nur den Sinn, daß die Bank andere als die da- selbst genannten Objecte nicht beleihen darf. . Die Bank muß jeweilig den Prozentsatz öffentlich bekannt machen, Reichsbank für 1876 enthalten. Derselbe ist abgedruckt in Hirth ’s Annalen 1877 S. 736 ff. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. zu welchem sie lombardirt d. h. die Darlehen ertheilt Bankges. §. 15. Das Gleiche gilt von dem Prozentsatz für die Dis- kontirung von Wechseln. . Dieser Bestimmung liegt die Voraussetzung zu Grunde, daß der Zinssatz nicht in jedem einzelnen Falle verabredet und je nach der Person des Darlehensnehmers verschieden normirt wird, sondern daß er für alle Lombardgeschäfte oder für bestimmte Arten derselben ein und derselbe ist Die vom Bankdirektorium festgesetzten näheren Bedingungen für den Lombardverkehr sind auf den vom Darlehensnehmer zu unterschreibenden Pfandscheinen abgedruckt. . b ) Kommissionsgeschäfte . Die Reichsbank besorgt für Rechnung von Privatpersonen, Anstalten und Behörden die Einzieh- ung von Forderungen (Inkasso’s) und nach vorheriger Deckung die Leistung von Zahlungen, sowie die Ertheilung von Anweisungen oder Ueberweisungen auf ihre Zweiganstalten oder Korrespondenten Bankges. §. 15 Z. 5. Für das Reich muß die Reichsbank unent- geldlich Zahlungen annehmen und bis auf Höhe des Reichsguthabens Zah- lungen leisten. Bankges . §. 22 Abs. 1. Im Zusammenhange hiermit steht ihre Verpflichtung, das Guthaben des Reiches unentgeldlich zu verwalten und über die für Rechnung des Reiches angenommenen und geleisteten Zah- lungen Buch zu führen und Rechnung zu legen. Bankstatut §. 11. Dieses Recht des Reiches auf die unentgeldlichen Dienste der Reichsbank entspricht der Portofreiheit des Reiches, dem Recht auf die unentgeldlichen Dienste der Post- anstalt in Bayern und Württemberg. Vrgl. S. 342. . Sie übernimmt es ferner, für fremde Rechnung Effekten aller Art sowie Edelmetalle nach vorheriger Deckung zu kaufen und nach vor- heriger Ueberlieferung zu verkaufen Bankges. §. 13 Z. 6. Bankstatut §. 10. . Die Bedingungen, unter denen sie diese Kommissions-Aufträge übernimmt, insbesondere die Provision, welche sie beansprucht, werden allgemein festgesetzt und öffentlich bekannt gemacht Nach einer Anordnung des Bankdirektoriums v. Febr. 1876 beträgt die Provision ⅙ % und, falls die zu verkaufenden Effekten im Depot der Bank sich befinden, ⅛ % vom Nominalbetrage, jedoch wenigstens Mark 0,50. — Die „Bedingungen für den Giro-Verkehr der Reichsbank“ sind vom Direktorium unter dem 25. Februar 1876 festgesetzt worden; Abänderungen haben dieselben im Juni 1877 erfahren. . Soweit Abweichungen nicht verein- bart sind, finden die Vorschriften des H.-G.-B.’s Art. 360 ff. An- wendung. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. c ) Depositengeschäfte . Dieselben sind von dreierlei Art; entweder übernimmt die Bank Werthgegenstände lediglich in Ver- wahrung (sogen. geschlossene Deposita), oder sie übernimmt sie zu- gleich in Verwaltung (offene Deposita) oder endlich sie empfängt Gelder unverzinslich oder gegen Zins mit der Verpflichtung, die empfangene Summe ohne oder mit Kündigungsfrist zurückzuzahlen (irreguläres Depositum Bankges. §. 13 Z. 8. Die Bedingungen über die Annahme, Verwal- tung und Rückgabe von Depositen sind vom Reichsbank-Direktorium im Februar 1876 festgestellt worden und in den Komptoirs der Reichsbank zu erhalten. . Das letzte dieser Geschäfte ist ein Creditgeschäft, welches sich vom Gelddarlehen nur wenig unterschei- det; der Bank ist deshalb die Beschränkung auferlegt worden, daß die Summe der verzinslichen Depositen diejenige des Grundkapitals und des Reservefonds der Bank nicht übersteigen darf ebendas. Z. 7. . Da die Depositengeschäfte der Banquiers weder im Handels- gesetzbuch noch in einem andern Reichsgesetz gemeinrechtlich geregelt sind, so kommen bei Beurtheilung derselben, soweit die Parteien keine Verabredungen getroffen haben, die Handelsgebräuche und in deren Ermangelung das allgemeine bürgerliche Recht zur Anwendung H.-G.-B. Art. 1. . 4) Auf der Eigenschaft der Reichsbank als einer öffentlichen Anstalt beruht das sogenannte Bankgeheimniß , welches mit dem Briefgeheimniß in Parallele gestellt werden kann Bankges. §. 39. . a ) Dasselbe bezieht sich auf alle einzelnen Geschäfte der Bank, besonders auf die mit Privatpersonen abgeschlossenen, und auf den Umfang des den letzteren gewährten Credits. Völlig ver- einbar damit ist demnach die vollständigste Oeffentlichkeit in Betreff der allgemeinen Geschäftslage der Bank und die Bekanntmach- ung statistischer Erhebungen über den Umfang der einzelnen Ge- schäft szweige , zu welcher alle Notenbanken gesetzlich verpflichtet sind Bankges. §. 8. 59 Ziff. 1. . Nicht die Geschäfte der Bank sollen in Geheimniß gehüllt werden, sondern die Geschäfte derjenigen Personen, welche mit der Reichsbank in Verbindung treten, sollen vor unbefugter Mittheilung geschützt werden. b ) Verpflichtet zur Bewahrung des Geheimnisses sind §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. sämmtliche bei der Verwaltung der Bank als Beamte, Ausschuß- mitglieder oder Beigeordnete betheiligte Personen. Für die Be- amten der Bank ergiebt sich diese Verpflichtung überdies aus §. 11 des Reichsbeamten-Gesetzes, dem dieselben unterworfen sind; ihre Erfüllung wird daher durch den Diensteid angelobt. Die Deputir- ten des Zentralausschusses und deren Stellvertreter, sowie die Bei- geordneten bei den Reichsbankhauptstellen werden vor Antritt ihrer Funktionen mittelst Handschlags an Eidesstatt besonders dazu ver- pflichtet. Bei den anderen Ausschußmitgliedern findet eine besondere Angelobung, das Bankgeheimniß zu wahren, nicht statt, da sie in der Regel von den einzelnen Geschäften der Bank keine Kenntniß erlangen Vgl. oben S. 386. . c ) Ueber die Ausnahmen von der Bewahrung des Bankge- heimnisses im Interesse der Rechtspflege sind besondere Vorschriften nicht erlassen. Es müssen daher die allgemeinen Regeln über die Zeugnißpflicht zur Anwendung kommen. Darnach sind folgende Fälle zu unterscheiden: α) In Strafprozessen dürfen die Ban kbeamten , auch wenn sie nicht mehr im Dienste sind, über Umstände, auf welche sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, als Zeugen nur mit Genehmigung ihrer vorgesetzten Dienstbehörde oder der ihnen zuletzt vorgesetzt gewesenen Dienstbehörde vernommen werden Reichsbeamten-Ges. §. 12 Abs. 2. Strafproc.-Ordn. §. 53 Abs. 1. . Diese Genehmigung darf aber nur versagt werden, wenn die Ab- legung des Zeugnisses dem Wohle des Reiches oder eines Bundesstaates Nachtheil bereiten würde Strafproc.-Ordn. §. 53 Abs. 2. ; nicht um einen Angeschuldigten vor der Enthüllung seiner mit der Bank geschlossenen Geschäfte zn schützen. Hinsichtlich der Ausschußmitglieder, Deputir- ten und Beigeordneten sind diese Bestimmungen nicht anwendbar, da diese Personen nicht Beamte sind; ihnen liegt vielmehr in Straf- prozessen die Zeugnißpflicht ohne Einschränkungen ob. β) In Civilprozessen sind zur Verweigerung des Zeug- nisses berechtigt : Personen, welchen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes Thatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch die Natur derselben oder durch gesetzliche Vorschrift ge- boten ist, in Betreff der Thatsachen, auf welche die Verpflichtung §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. zur Verschwiegenheit sich bezieht Civilproceß-Ordn. §. 348 Abs. 1 Ziff. 5. . Die Vernehmung dieser Per- sonen ist, auch wenn das Zeugniß nicht verweigert wird , auf Thatsachen nicht zu richten, in Ansehung welcher erhellt, daß ohne Verletzung der Verpflichtung zur Verschwiegenheit ein Zeug- niß nicht abgelegt werden kann Civilproc.-Ordn. §. 348 Abs. 3. . Diese Vorschriften kommen auf sämmtliche Personen zur Anwendung, denen gemäß §. 39 des Bankgesetzes die Pflicht zur Bewahrung des Bankgeheimnisses ob- liegt, auch auf die Ausschußmitglieder, Deputirten und Beigeordne- ten. Für die Bankbeamten besteht außerdem die im §. 12 des Reichs-Beamtengesetzes begründete Zeugnißverweigerungs-Pflicht. γ) In Konkursen fällt die Pflicht zur Bewahrung des Bank- geheimnisses in so weit fort, als dies durch den Grundsatz be- dingt wird, daß mit der Eröffnung des Konkurses der Gemein- schuldner die Befugniß verliert, sein zur Konkursmasse gehöriges Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen, und daß diese Befugniß durch den Konkursverwalter ausgeübt wird Konkurs-Ordnung §. 5. . d ) Die Verletzung des Bankgeheimnisses hat für die Bank- beamten disciplinarische Bestrafung gemäß den Vorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes, für die Mitglieder der Ausschüsse, die De- putirten und Beigeordneten Entfernung aus ihren Stellen zur Folge Ueber die Ausschließung eines Mitgliedes des Zentral-Ausschusses ent- scheidet die Generalversammlung; Bankges . §. 33 Abs. 2; ein Deputirter kann schon vorher durch den Zentral-Ausschuß suspendirt werden; Bankges . §. 34 Abs. 4. Diese Vorschrift ist analog auch auf die Beigeordneten der Bezirks-Ausschüsse anzuwenden. . Außerdem kann sie die Verpflichtung zum Schadenser- satz begründen, sofern der Kläger nachzuweisen vermag, daß sie ihm einen in Geld schätzbaren Schaden verursacht hat. Strafrecht- liche Folgen hat die Verletzung des Bankgeheimnisses nicht; dieselbe kann auch landesgesetzlich nicht mit Strafe bedroht werden, da §. 300 des Reichsstrafgesetzb. in ausschließender Weise diejenigen Personen aufzählt, welche wegen unbefugter Offenbarung von an- vertrauten Geheimnissen bestraft werden. Weder in dem §. 300 noch in den von den Vergehen im Amte handelnden Paragraphen werden aber die Beamten der Reichsbank erwähnt. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. IV. Die Vorrechte der Reichsbank . 1. Das Notenprivilegium . „Die Reichsbank hat das Recht, nach Bedürfniß ihres Ver- kehrs Banknoten auszugeben. Die An- und Ausfertigung, Ein- ziehung und Vernichtung derselben erfolgt unter Kontrole der Reichs- schulden-Kommission Vgl. Bd. I. S. 354. , welcher zu diesem Zwecke ein vom Kaiser er- nanntes Mitglied hinzutritt“. Bankgesetz §. 16. Hinsichtlich dieses Vorrechtes gelten folgende Regeln: a ) Dem Umfange nach ist das Privilegium un- beschränkt ; die Reichsbank kann so viele Banknoten ausgeben, als das Bedürfniß ihres Verkehrs verlangt. Die Ausübung dieses Rechtes ist aber durch zwei Verpflichtungen erschwert, welche thatsächlich eine Beschränkung der Banknoten-Emission (sogenannte indirekte Kontigentirung) bewirken, nämlich durch die Deckung und durch die Besteuerung. α) Die Banknoten-Deckung . Von dem Gesammtbetrage der im Umlauf befindlichen Reichsbanknoten muß mindestens ein Drittel jederzeit durch kursfähiges deutsches Geld mit Einschluß der Reichskassenscheine oder durch Gold entweder in Barren oder in ausländischen Münzen, das Pfund fein zu 1392 Mark gerechnet. und der Rest durch dis- kontirte Wechsel, welche eine Verfallzeit von höchstens drei Monaten haben, und aus welchen in der Regel drei, mindestens aber zwei als zahlungsfähig bekannte Verpflichtete haften, in den Kassen der Reichsbank gedeckt sein Bankges. §. 17. . Dieser Satz ist eine Verwaltungsvorschrift, die ihre Sicherung lediglich in der Verantwortlichkeit der Bankbeamten und des Reichs- kanzlers findet. Die von dem Zentral-Ausschuß und dem Bank- kuratorium Vgl. Bd. I. S. 345. geübte Aufsicht, sowie die gesetzlich vorgeschriebene Veröffentlichung des Standes der Bankgeschäfte Bankges. §. 8. Die Verletzung dieser Vorschrift durch unwahre Dar- stellungen oder Verschleierung des Standes der Verhältnisse der Bank ist mit Gefängnißstrafe bis zu 3 Monaten bedroht. Bankges. §. 59 Z. 1. und die dadurch ermöglichte Kontrole der Bank durch das Publikum bieten that- §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. sächliche Garantien für ihre Befolgung. Rechtswirkungen sind aber mit der Verletzung der über die Deckung erlassenen Vor- schriften nicht verbunden; Art. 17 des Bankgesetzes ist, wenn er überhaupt als Rechtsvorschrift anzuseheu wäre, immer nur eine lex imperfecta. β) Die Banknoten-Besteuerung . Wenn der Umlauf von Reichsbanknoten den Baarvorrath der Reichsbank um mehr als 250 Millionen Mark übersteigt, so ist von dem Mehrbetrage eine Steuer von jährlich fünf Prozent an die Reichskasse zu ent- richten Bankges. §. 9 Abs. 1. Zum Baarvorrath werden hier außer deutschem Gelde und Gold auch noch die Noten deutscher Privatbanken gerechnet. . Der Betrag der Steuer wird am Schlusse des Jahres auf Grund der von der Verwaltung viermal monatlich zu ver- öffentlichenden Nachweisungen festgestellt und ist spätestens am 31. Januar des folgenden Jahres zur Reichskasse abzuführen Bankges. §. 10. . Wenn die Befugniß einer Privatbank zur Notenausgabe er- lischt, so wächst der derselben zustehende Betrag an steuerfreien ungedeckten Noten dem Antheile der Reichsbank zu Bankges. §. 9 Abs. 2. , und es ist der Reichsbank gestattet, mit anderen deutschen Banken Vereinba- rungen über Verzichtleistung der letzteren auf das Recht zur Noten- ausgabe abzuschließen Bankges. §. 19 Abs. 2. — Der Zweck der Banknotensteuer besteht nicht darin, für den Reichsfiskus eine Einnahmequelle zu schaffen, sondern das über- mäßige Anwachsen der umlaufenden Geldwerthzeichen zu verhüten. Die Bank- notensteuer läßt sich mit einem Ausfuhrzoll auf das Kapital vergleichen, indem sie durch Vertheuerung der Banknoten den Export von Gold erschwert. . In Folge dieser Bestimmung hat sich der steuerfreie Betrag, um welchen die Reichsbanknoten den Baar- vorrath der Bank übersteigen darf, um 23,875,000 M. erhöht, in- dem 15 Banken, denen zusammen dieser Betrag nach dem Bank- gesetz zugestanden worden war, auf ihr Noten-Ausgaberecht ver- zichtet haben Bekanntmachungen v. 1. April und 23. Juli 1876. R.-G.-Bl. 1876 S. 124. 176 und v. 13. Oktober 1877. R.-G.-Bl. S. 567. . b ) Die Reichsbank ist verpflichtet, ihre Noten bei ihrer Haupt- kasse in Berlin sofort auf Präsentation dem Inhaber gegen kursfähiges deutsches Geld einzulösen Bankges. §. 18. . Diese Verpflichtung ist §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. eine unbedingte; ihre Nichterfüllung würde eine Klage auf Schadens- ersatz nicht nur gegen die Reichsbank begründen, sondern auch gegen den Bankbeamten , welcher die Einlösung verweigert, ob- wohl er durch die vorhandenen Baarbestände zur Einlösung im Stande ist, sowie gegen die Mitglieder des Bankdirektoriums oder den Reichskanzler , wenn sie den ihnen untergebenen Beamten die Einlösung der Banknoten in Berlin untersagen oder unmöglich machen Reichsbeamtengesetz §. 13. 154. Vgl. oben Bd. I. S. 441. . Sollte die Reichsbank in die Lage kommen, dem An- drange des Publikums, welches die Einlösung der Banknoten ver- langt, nicht genügen zu können, und wird in einem solchen Falle nicht durch ein Reichsgesetz der §. 18 des Bankgesetzes aufgehoben oder suspendirt, so muß der Konkurs über das Vermögen der Reichsbank auf Antrag des Reichskanzlers oder eines Gläubigers, z. B. des Inhabers einer Reichsbanknote, eröffnet werden Vgl. Konkurs-Ordn. §. 94. 95. . Bei den Zweiganstalten besteht die Verpflichtung zur Einlösung nur, „soweit es deren Baarbestände und Geldbedürfnisse gestatten“ Bankges. §. 18 lit. b. . Die Einlösung ist auch hier keine bloße Gefälligkeit, sondern Er- füllung einer Verpflichtung und ein Bankbeamter kann durch un- begründete Verweigerung der Einlösung eine Verletzung seiner Amts- pflicht verüben. Aber die Reichsbank als solche, d. h. die oberste Verwaltung derselben, kann durch Beschränkung der Baarbestände an einer Zweiganstalt auf das nothdürftige Maaß die Einlösung der Banknoten an dieser Anstalt in Wegfall bringen; oder mit an- dern Worten: es hängt von dem Belieben der Reichsbank ab, in welchem Umfange sie an den Zweiganstalten ihre Noten einzulösen bereit ist; sie ist nur verpflichtet, wenn sie will Durch diese Bestimmung wird ebenfalls die Ausfuhr von Edelmetall aus dem Reichsgebiet erschwert. Würde die Bank an allen Zweiganstalten zur unbeschränkten Einlösung verpflichtet sein, so würde der Banquier, welcher Gold nach England oder Frankreich ausführen will, die Banknoten in Ham- burg oder Metz zur Einlösung präsentiren, d. h. der Reichsbank Gefahr und Kosten des Transportes bis zur Reichsgränze auflegen. . Unzweifelhaft aber muß die Reichsbank an allen ihren Kassen die von ihr aus- gegebenen Noten in Zahlung nehmen. Ueber die Verpflichtung der Reichsbank auch die Noten der §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. Deutschen Privatbanken in Zahlung zu nehmen gemäß §. 19 Abs. 1 des Bankgesetzes vgl. unten. 2. Das Pfandprivilegium Bankges. §. 20. . Die Reichsbank ist befugt, wenn der Schuldner eines im Lom- bardverkehr gewährten Darlehens im Verzuge ist, das bestellte Faustpfand ohne gerichtliche Ermächtigung oder Mitwirkung nach den im Art. 311 des H.-G.-B.’s aufgestellten Vorschriften d. h. der Verkauf ist durch öffentliche Versteigerung zu bewirken; wenn aber der verpfändete Gegenstand einen Börsenpreis oder Marktpreis hat, so kann der Verkauf auch nichtöffentlich zum laufenden Preise bewirkt werden. ver- kaufen zu lassen und sich aus dem Erlöse wegen Kapital, Zinsen und Kosten bezahlt zu machen. Zwischen den allgemeinen Vor- schriften des H.-G.-B.’s und den besonderen Vorschriften des Bank- gesetzes bestehen jedoch folgende Unterschiede: a ) Die im Art. 311 des H.-G.-B.’s gewährte Befugniß ist davon abhängig gemacht, daß das Faustpfand unter Kaufleu- ten für eine Forderung aus beiderseitigen Handelsgeschäften er- folgt ist und daß schriftlich vereinbart ist, daß der Gläubiger ohne gerichtliches Verfahren sich aus dem Pfande befriedigen könne. Beide Voraussetzungen kommen für die Reichsbank in Wegfall; sie hat das im §. 20 des Bankges. gewährte Recht auch dann, wenn das Faustpfand von einem Nichtkaufmann bestellt worden ist und wenn die im Art. 311 des H.-G.-B.’s erforderte schriftliche Vereinbarung mangelt. Dagegen ist das der Bank gewährte Recht an die Voraussetzung geknüpft, daß das Faustpfand für ein Lom- barddarlehen bestellt worden ist. Hinsichtlich aller Pfandrechte, welche der Reichsbank für andere Forderungen eingeräumt werden, insbesondere hinsichtlich ihres gesetzlichen Pfandrechtes am Kommis- sionsgut für ihre Forderungen aus Kommissionsgeschäften, kommen die Vorschriften des H.-G.-B.’s zur Anwendung. b ) Die Reichsbank kann den Verkauf durch einen ihrer Be- amten bewirken lassen und zwar auch dann, wenn der verpfändete Gegenstand, weil er einen Markt- oder Börsenpreis hat, nicht öffentlich zum laufenden Preise verkauft wird. Das H.-G.-B. da- gegen verlangt, daß der nicht-öffentliche Verkauf durch einen Han- delsmäkler oder in Ermangelung eines solchen durch einen zu Ver- steigerungen befugten Beamten bewirkt wird. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. c ) Das H.-G.-B. Art. 311 legt dem Gläubiger die Pflicht auf, von der Vollziehung des Verkaufs den Schuldner, soweit es thunlich, sofort zn benachrichtigen, und macht ihn bei Unterlassung der Anzeige schadensersatzpflichtig; das Bankgesetz §. 20 schweigt hiervon und schließt hierdurch, da es im Uebrigen dem Wortlaut des Art. 311 des H.-G.-B.’s folgt, diese Verpflichtung für die Reichsbank aus. 3. Das Steuerprivilegium . „Die Reichsbank und ihre Zweiganstalten sind im gesammten Reichsgebiete frei von staatlichen Einkommen- und Gewerbesteuern.“ Bankges. §. 21. Die Reichsbank ist demnach allen gesetzlich bestehenden Kom- munal steuern unterworfen, trotzdem sie vom Bundesrath ange- halten werden kann, an einem bestimmten Orte eine Zweignieder- lassung zu errichten. Ferner ist die Reichsbank aber auch keines- wegs von der Besteuerung durch die Einzelstaaten völlig befreit; insbesondere nicht von der Grundsteuer . Das Reichsgesetz v. 25. Mai 1873 §. 1 Abs. 2 R.-G.-Bl. S. 113. kann auf die Grundstücke der Reichs- bank keine Anwendung finden, weil der Reichsfiskus nicht der Eigenthümer derselben ist. Ebenso ist die Reichsbank allen gesetz- lichen Vorschriften über Stempelabgaben und Registrirungs- gebühren unterworfen. Nur die Erhebung einer Einkommen- und Gewerbesteuer Seitens der Bundesstaaten ist ausgeschlossen, da das Reich von dem Reingewinn der Reichsbank ohnedies einen erheblichen Antheil für sich nimmt Bankges. §. 24 Abs. 1 Ziff. 3. . B. Die Beaufsichtigung der Privat-Notenbanken. I. Die Befugniß zur Ausgabe von Banknoten kann seit Er- laß des Bankgesetzes nur erworben werden durch ein vom Reich ertheiltes Privilegium ; für die Ertheilung eines solchen Privi- legiums ist die Form des Reichsgesetzes erforderlich Bankges. §. 1 Abs. 1. — Abs. 2. fügt hinzu, daß den Banknoten im Sinne dieses Gesetzes dasjenige Staatspapiergeld gleich geachtet wird, dessen Ausgabe einem Bankinstitute zur Verstärkung seiner Betriebsmittel übertragen ist. Diese Anordnung bezieht sich auf die Oldenburgische Landesbank, welcher ein Betrag von zwei Millionen Thaler Oldenburg. Staatspapiergeld für ihren . Soweit §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. vor Erlaß des Bankgesetzes aber das Recht zur Ausgabe von Banknoten bereits erworben war, ist dieses Recht in Kraft geblieben, da das Reich iura quaesita durch das Bankgesetz nicht beseitigen wollte. Eine Erweiterung der Befugniß zur Notenausgabe über den bei Erlaß des Bankgesetzes zulässigen Betrag hinaus, steht selbstverständlich der Ertheilung dieser Befugniß gleich, bedarf da- her ebenfalls eines Reichsgesetzes Bankgesetz a. a. O. . Den Bundesstaaten ist es fortan untersagt, Banknoten-Privilegien zu ertheilen; die Kompe- tenz des Reiches ist eine ausschließliche Nur die Bayerische Regierung ist ermächtigt worden, bis zum Höchstbetrage von 70 Mill. Mark die Befugniß zur Ausgabe von Banknoten für die in Bayern bestehende Notenbank zu erweitern oder diese Befugniß einer andern Bank zu ertheilen, sofern die Bank sich den Bestimmungen des §. 44 des Bankgesetzes (siehe unten) unterwirft. Bankges . §. 47 Abs. 3. Von dieser Befugniß hat Bayern Gebrauch gemacht zu Gunsten der Bayerischen Privat-Notenbank , welche von der Bayr. Hypotheken- und Wechsel- bank auf Grund eines mit der Bayr. Regierung geschlossenen Vertrages vom 20. März 1875 gegründet worden ist. Der Vertrag ist abgedruckt bei Soet- beer S. 361. . Wer im Reichsgebiet unbefugt, d. h. ohne ein diesen Grund- sätzen gemäß ertheiltes Privilegium, Banknoten oder sonstige auf den Inhaber lautende unverzinsliche Schuldverschreibungen (welche auf eine bestimmte Geldsumme lauten) ausgiebt, wird mit einer Geldstrafe bestraft, welche dem Zehnfachen des Betrages der von ihm ausgegebenen Werthzeichen gleichkommt, mindestens aber 5000 Mark beträgt Bankges . §. 55. Dieselbe Strafe trifft die Mitglieder des Vorstandes einer Bank, wenn die letztere mehr Noten ausgiebt, als sie auszugeben befugt ist. Bankges. §. 59 Z. 3. . Ebenso ist die Verwendung ausländischer Banknoten und ihnen gleichzuachtender Geldwerthzeichen, welche auf Reichswährung oder eine deutsche Landeswährung ausgestellt sind, zu Zahlungen verboten und mit einer Geldstrafe von 50 bis zu 5000 M. und, falls die Verwendung gewerbemäßig geschieht, neben der Geldstrafe mit Gefängniß bis zu einem Jahre bedroht Bankges. §. 57. . Mit dem in dieser Art geschützten Privilegium sind Verpflich- Betrieb überwiesen worden ist. Da diese Bank aber auf das Recht zur Noten- ausgabe verzichtet hat (R.-G.-Bl. 1876 S. 124), so ist diese Gesetzesbestimmung gegenstandslos geworden. Laband , Reichsstaatsrecht. II. 26 §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. tungen und Einschränkungen verknüpft, welche in zwei, begrifflich sehr verschiedene Klassen zerfallen; die eine derselben betrifft die Ausübung des Privilegs selbst, d. h. Ausgabe, Einlösung, Ein- ziehung u. s. w. der Banknoten, die andere umfaßt Vorschriften über den Gewerbebetrieb des Privilegirten, die zwar die Ausübung des Privilegs unmittelbar nicht betreffen, aber mit Rücksicht auf dasselbe zur Sicherung des Publikums erlassen sind. 1. Die Normativbestimmungen über Ausübung des Banknoten- Privilegs bestehen in folgenden Sätzen: a ) Banknoten dürfen nur auf Beträge von 100, 200, 500 und 1000 Mark oder von einem Vielfachen von 1000 Mark ausgefertigt werden Bankges . §. 3. Die älteren in Umlauf befindlich gewesenen Bank- noten, welche auf niedrigere Beträge oder auf die früheren Landeswährungen lauteten, mußten von den Banken eingezogen und vernichtet werden. Das Reichsges . v. 21. Dezemb . 1874 (R.-G.-Bl. S. 193) verbot den Banken, vom 1. Juli 1875 ab Banknoten, welche auf Beträge von 50 M. oder darunter lauten, auszugeben und verpflichtete sie, bis spätestens den 30. Juni 1875 dem Reichskanzler nachzuweisen, daß sie alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen haben, um die Einziehung ihrer sämmtlichen nicht auf Reichswährung, sowie ihrer auf Reichswährung in Beträgen von weniger als 100 M. lautenden Noten spätestens bis zum 31. Dez. 1875 herbeizuführen. . Dadurch ist die Stückelung der Banknoten in Zusam- menhang und Uebereinstimmung mit dem Münzensystem gebracht worden. Sollte eine Bank diese Vorschriften verletzen, indem sie z. B. Banknoten in Umlauf setzt, welche auf einen geringeren Be- trag als 100 M. lauten, so würden die Vorstände der Bank wegen „unbefugter“ Banknoten-Ausgabe nach §. 55 des Bankgesetzes straf- bar sein. b ) Jede Bank ist verpflichtet, ihre Noten sofort auf Präsen- tation zum vollen Nennwerthe einzulösen und sie nicht nur an ihrem Hauptsitz, sondern auch bei ihren Zweiganstalten jederzeit zum vollen Nennwerthe in Zahlung zu nehmen Bankges . §. 4 Abs. 1. Auch für beschädigte Noten ist Ersatz zu leisten, wenn der Inhaber entweder ein Stück der Note präsentirt, welches größer ist als die Hälfte, oder wenn er den Nachweis führt, daß der Rest der Note, von welcher er die Hälfte oder weniger präsentirt, vernichtet ist. eod. §. 4 Abs. 4. . Die baare Ein- lösung muß an dem Hauptsitz unbedingt sofort, d. h. am Tage der Präsentation geschehen; an den übrigen durch die Statuten be- §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. stimmten Einlösungsstellen bis zum Ablauf des dritten Tages nach dem Tage der Präsentation Bankges . §. 50 Ziff. 3 Lit. c. . Die Bank darf Noten nicht wieder ausgeben, welche in be- schmutztem oder beschädigtem Zustande in ihre Kassen zurückkehren Bankges . §. 5. Eine Ordnungsstrafe für Verletzung dieser Vorschrift anzudrohen, ist versäumt worden. . c ) Die Bank darf ihre Noten oder einzelne Gattungen der- selben nicht aufrufen oder einziehen, als mit Genehmigung des Bundesrathes und diese Genehmigung darf vom Bundes- rath nur in dem Falle ertheilt werden, wenn nachgewiesen wird, daß Nachahmungen der aufzurufenden Noten in den Verkehr ge- bracht sind Bankges. §. 6 Abs. 3. . Die Bank muß ihre Noten oder einzelne Gattungen derselben aufrufen und einziehen auf Anordnung des Bun- desrathes , welche jedoch nur erlassen werden darf, wenn ein größerer Theil des Umlaufs sich in beschädigtem oder beschmutztem Zustande befindet, oder wenn die Bank die Befugniß zur Noten- ausgabe verloren hat Bankges. §. 6 Abs. 2. . Die Vorschriften über das bei der Aufrufung und Einziehung zu beobachtende Verfahren sind in allen Fällen vom Bundes- rath zu erlassen und durch das Reichs-Gesetzblatt zu veröffent- lichen Bankges. §. 6 Abs. 4. 5. Ein Beispiel liefert die Bekanntmachung v. 7. Juni 1877. R.-G.-Bl. S. 527. . 2) Die mit der Ausübung des Banknoten-Privilegs verbun- denen Beschränkungen und Verpflichtungen sind folgende: a ) Den Notenbanken ist es untersagt, Wechsel zu akzeptiren und Waaren oder kurshabende Papiere für eigene oder für fremde Rechnung auf Zeit zu kaufen oder zu verkaufen oder für die Er- füllung solcher Kaufs- oder Verkaufsgeschäfte Bürgschaft zu über- nehmen Bankges. §. 7. . Die Uebertretung dieser Vorschrift hat keine civilrecht- lichen Wirkungen; die Gültigkeit und Klagbarkeit der von den Notenbanken abgeschlossenen Geschäfte wird davon nicht berührt; die Vorstandsmitglieder aber, welche diesem Verbote zuwiderhan- deln, werden mit Geldstrafe bis zu 5000 M. bestraft Bankges. §. 58 Abs. 2. . 26* §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. b ) Notenbanken müssen nach näherer Vorschrift des Bankge- setzes §. 8 viermal monatlich den Stand ihrer Aktiva und Passiva, und spätestens 3 Monate nach dem Schlusse jedes Geschäftsjahres eine genaue Bilanz ihrer Aktiva und Passiva nach näherer Anord- nung des Bundesrathes Diese Vorschriften hat der Bundesrath am 15. Januar 1877 erlassen. Sie sind veröffentlicht im Centralblatt f. d. Deutsche Reich 1877 S. 24 fg. , sowie den Jahresabschluß des Gewinn- und Verlustkonto’s durch den Reichsanzeiger auf ihre Kosten ver- öffentlichen. Auch sind in beiden Veröffentlichungen die eventuellen Verbindlichkeiten der Bank, die aus dem Indossament im Inlande zahlbarer Wechsel entspringen, ersichtlich zu machen Bankges. §. 8. . Die Mitglieder des Vorstandes werden mit Gefängniß bis zu 3 Monaten bestraft, wenn sie in diesen Veröffentlichungen wissent- lich den Stand der Verhältnisse der Bank unwahr darstellen oder verschleiern Bankges. §. 59. Ziff. 1. . c ) Wenn der Notenumlauf einer Bank den Baarvorrath der- selben und den ihr nach dem Bankgesetz Anlage zu §. 9. R.-G.-Bl. 1875 S. 198. zugewiesenen Betrag übersteigt, so muß die Bank von dem Ueberschusse eine Steuer von jährlich fünf Procent an die Reichskasse entrichten Bankges. §. 9 Abs. 1. Vgl. oben S. 397. . Zum Zwecke der Feststellung der Steuer ist von der Verwaltung der Bank vier- mal in jedem Monat der Betrag des Baarvorraths und der um- laufenden Noten der Bank festzustellen und der Aufsichtsbehörde einzureichen Bankges. §. 10. . Vorstandsmitglieder, welche durch unrichtige Auf- stellung dieser Nachweisungen den steuerpflichtigen Notenumlauf zu gering angeben, werden mit einer Geldstrafe bestraft, welche dem Zehnfachen der hinterzogenen Steuer gleichsteht, mindestens aber 500 Mark beträgt Bankges. §. 59 Ziff. 2. . II. Banken, welche von den einzelnen Bundesstaaten (also vor Erlaß des Bankgesetzes) beziehentl. vor Verkündigung des Gesetzes v. 27. März 1870 die Befugniß zur Notenausgabe er- langt haben, dürfen unter Beobachtung der vorstehend aufgeführ- ten reichsgesetzlichen Vorschriften das ihnen ertheilte Privilegium, §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. so wie es ihnen ertheilt ist , auch ferner ausüben, d. h. alle Beschränkungen und Verpflichtungen, welche in dem ihnen ertheilten Privilegium oder in ihrem von der Landesregierung bestätigten Statut enthalten sind, z. B. über die Höhe des Notenumlaufes, über die Zeitdauer des Privilegiums, über die Beschränkungen ihres Geschäftsbetriebes, über die Deckung und Einlösung der Noten u. s. w. bleiben in Kraft . Die Beschränkungen des Reichs- bankgesetzes treten nicht an ihre Stelle, sondern, soweit sie bisher für einzelne Bankinstitute noch nicht bestanden haben, treten sie zu den bereits begründeten Beschränkungen und Verpflichtungen hin- zu . Denn das Bankgesetz wollte das wohlerworbene Recht auf Ausgabe von Noten zwar anerkennen, aber nicht erweitern . Es versteht sich nun von selbst, daß jeder Staat das Privi- legium zur Ausgabe von Banknoten nur für sein Gebiet rechts- wirksam ertheilen konnte. Wenngleich thatsächlich die Banknoten über das Gebiet des Staates, welcher das Privilegium zur Emission derselben gewährt hat, sich verbreiteten und als Zahlungsmittel ver- wendet wurden, so hatte doch keine Bank ein Recht auf die Fort- dauer dieses Zustandes. Die Gestattung der Umlaufsfähigkeit der Noten außerhalb des Staatsgebietes, für welches das Banknoten- Privileg ertheilt ist, im ganzen Reichsgebiete wäre eine Erweiterung des Noten-Privilegs gewesen. Diese ist von dem Reichsbankgesetz prinzipiell verweigert worden. Das Bankgesetz hat das Verbot aufgestellt, Noten einer Bank außerhalb desjenigen Staates, welcher der Bank die Befugniß zur Notenausgabe ertheilt hat, zu Zahlungen zu gebrauchen Bankges. §. 43. und es hat denjenigen, der dieses Verbot über- tritt, mit Geldstrafe bis zu 150 Mark bedroht Bankges. §. 56. . Um dieses Verbot wirksamer zu machen und den Umlauf von Privatbanknoten außerhalb des Gebietes des konzessionirenden Staates möglichst zu verhindern, hat das Reich den Privat-Noten- banken noch eine weitergehende Beschränkung auferlegt, welche für sie eine empfindliche Ausnahme von der allgemeinen Niederlassungs- und Gewerbefreiheit begründet. Es ist nämlich den Privat-Noten- banken nicht gestattet, außerhalb desjenigen Staates, welcher ihnen das Notenprivilegium ertheilt hat, Bankgeschäfte durch Zweig- §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. anstalten zu betreiben oder durch Agenten für ihre Rechnung be- treiben zu lassen oder als Gesellschafter an Bankhäusern sich zu betheiligen Bankgef. §. 42. . Die Uebertretung dieses Verbotes ist mit einer Geld- strafe bis zu 5000 Mark bedroht Bankges. §. 58. Der Strafe verfallen nicht blos die Mitglieder des Vorstandes, welche Zweiganstalten oder Agenturen bestellen oder die von ihnen vertretene Bank als Gesellschafter an Bankhäusern betheiligen, sondern auch diejenigen Personen, welche als Agenten oder Vorsteher von Zweiganstalten oder durch Eingehung von Gesellschaftsverträgen mit Privatnotenbanken den §. 42 des Bankgesetzes verletzen. . Das Reich hat sich nun aber im §. 44 des Bankgesetzes be- reit erklärt, den Banken den Umlauf der von ihnen ausgegebenen Noten im ganzen Reichsgebiet freizugeben und ihnen unter gewissen Bedingungen auch den Betrieb von Bankgeschäften durch Zweig- anstalten oder Agenturen außerhalb des im §. 42 bezeichneten Ge- bietes zu gestatten, wenn sie bis zum 1. Januar 1876 eine Anzahl von Voraussetzungen erfüllen, welche im §. 44 des Bankgesetzes aufge- führt sind. Diese Voraussetzungen lassen sich auf folgende Gesichts- punkte zurückführen: 1) Die Privatbank unterwirft sich den für die Reichsbank erlassenen Vorschriften hinsichtlich der Anlegung ihrer Be- triebsmittel d. h. den Bestimmungen in §. 13 Nro. 1—4. Nur über die Höhe des Betrages, welcher in Effekten angelegt werden darf, besteht eine Abweichung; bei den Privatbanken darf höchstens die Hälfte des Grundkapitals und des Reservefonds dazu verwendet werden; bei der Reichsbank ist der Betrag ge- setzlich nicht normirt, sondern wird durch die Geschäfts-Anweisung für das Reichsbank-Direktorium festgestellt. , der Ansammlung eines Reservefonds und der Noten- Deckung. 2) Sie verpflichtet sich, eine Einlösungsstelle in Berlin oder Frankfurt a. M., deren Wahl der Genehmigung des Bundesrathes unterliegt, einzurichten und an derselben die von ihr ausgegebenen Noten spätestens vor Ablauf des auf den Tag der Präsentation folgenden Tages gegen kursfähiges deutsches Geld einzulösen. 3. Sie verpflichtet sich, alle deutschen Banknoten, deren Um- lauf im gesammten Reichsgebiete gestattet ist, an ihrem Sitze so- wie bei denjenigen ihrer Zweiganstalten, welche in Städten von mehr als 80,000 Einwohnern ihren Sitz haben, zu ihrem vollen §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. Nennwerthe in Zahlung zu nehmen, so lange die Bank, welche die Noten ausgegeben hat, ihrer Einlösungspflicht pünktlich nachkommt. Die bei einer Bank eingenommenen Noten einer andern Bank, mit alleiniger Ausnahme der Reichsbanknoten, dürfen aber nur entweder zur Einlösung präsentirt oder zu Zahlungen an diejenige Bank, welche dieselben ausgegeben hat, oder zu Zahlungen an dem Orte, wo letztere ihren Hauptsitz hat, verwendet werden §. 44 Nro. 5. Dieselbe Annahme- und Schubpflicht besteht auch für die Reichsbank. Bankges. §. 19. Durch diese Anordnungen wird ein zweifacher Vortheil erreicht; einmal wird die Verwendbarkeit aller gestatteten Banknoten im ganzen Reichsgebiet erhöht, da alle Zweiganstalten sämmtlicher Banken als eben so viele Einlösungsstellen jeder einzelnen Bank functioniren, indem man ihnen die Noten in Zahlung geben kann; sodann werden die Noten jeder Pri- vatbank immer wieder in das Gebiet zurückgeschoben, in welchem die Bank ihren Hauptsitz hat. . 4) Ferner verzichtet die Bank auf ein ihr etwa zustehendes Widerspruchsrecht gegen die Ertheilung der Befugniß zur Ausgabe von Banknoten und gegen die Aufhebung eines ihr etwa zustehen- den Anspruches, daß ihre Noten an öffentlichen Kassen statt baaren Geldes in Zahlung genommen werden müssen. 5) Endlich unterwirft sich die Bank den für die Reichsbank bestehenden Vorschriften über die Kündigung des Banknoten-Privi- legs ohne Anspruch auf irgend welche Eutschädigung, mit der Maß- gabe, daß die Kündigung entweder von der Landesregierung oder vom Bundesrath erfolgen kann. Von Seiten des Bundesrathes darf eine Kündigung aber nur erfolgen zum Zwecke weiterer einheit- licher Regelung des Notenbankwesens oder wenn eine Notenbank den Anordnungen der Bankgesetzes zuwidergehandelt hat. Ueber die Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist der Rechtsweg aus- geschlossen; die Entscheidung erfolgt durch Beschluß des Bundes- rathes. Einer Bank, deren Noten im ganzen Reichsgebiet umlaufen dürfen, kann es vom Bundesrath gestattet werden, außerhalb des Staatsgebietes, für welches sie concessionirt ist, Bankgeschäfte durch Zweiganstalten und Agenturen zu betreiben, jedoch nur auf Antrag der Landesregierung, in deren Gebiet die Zweigniederlassung er- richtet werden soll Wenn eine Bank bis zum 1. Januar 1876 dem Reichskanzler den Nach- weis lieferte, daß sie den Betrag der ihr gestatteten Notenausgabe auf den . §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. Die bei Erlaß des Bankgesetzes bestehenden Notenbanken hatten bis zum 1. Januar 1876 demnach die Wahl entweder unter den bisher für sie bestehenden Vorschriften, aber unter Beschränkung auf das Gebiet des Staates, der sie privilegirt hat, ihr Geschäft fortzubetreiben, oder für ihre Noten die Umlaufsfähigkeit im ganzen Reichsgebiete zu erlangen, dafür aber sich den Beschränkungen des §. 44 des Bankgesetzes zu unterwerfen. Von den 32 Privatnotenbanken, welche bei Erlaß des Bank- gesetzes bestanden, haben 14 Banken auf das Recht zur Ausgabe von Banknoten ganz verzichtet Reichsgesetzbl. 1876 S. 124. 170. ; von den übrigen 18 Banken haben sich 16 den Vorschriften des §. 44 des Bankgesetzes unterworfen Bekanntmachungen des Reichskanzlers v. 29. Dez. 1875 (R.-G.-Bl. S. 390) und vom 7. Januar 1876 (R.-G.-Bl. S. 2). , so daß nur zwei Banken, nämlich die Rostocker und die Braun- schweigische, sich für die erste der beiden Alternativen erklärt haben Die Rostocker Bank hört statutenmäßig am 1. Juli 1885 auf, die Braunschweigische dagegen erst am 10. Mai 1952. (Motive zum Bankgesetz- Entw. S. 61. 63.) Nachträglich hat nun auch die Rostocker Bank auf das Recht zur Ausgabe von Banknoten verzichtet . Bekanntmachung des Reichs- kanzlers vom 13. Oktob. 1877. R.-R.-Bl. S. 567. . III. Aus den vorstehenden Erörterungen ergeben sich nun die Prinzipien, aus denen sich die dem Reiche gegen die Privat- banken zustehenden Hoheitsrechte ableiten und erklären. Sie beruhen auf zwei staatsrechtlichen Grundsätzen. Der erste derselben besteht in dem Verbot an die Einzelstaaten , No- tenprivilegien zu ertheilen oder die bestehenden zu erweitern, zu verlängern, von Beschränkungen und Bedingungen zu befreien, sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend durch Nichtausübung des Auf- sichtsrechtes. Der zweite besteht darin, daß alle Banken, deren Noten im ganzen Reichsgebiet umlaufen dürfen, nicht blos von dem Einzelstaat, in dem sie ihren Sitz haben, sondern zugleich von dem Reich ihr Notenprivilegium erhalten haben ; denn der Einzelstaat konnte dieses Privilegium nur für sein Gebiet er- theilen; die Erweiterung des Umlaufsgebietes ist eine Erweiterung Betrag des Grundkapitals eingeschränkt hat, welcher am 1. Januar 1874 eingezahlt war, so ist ihren Noten der Umlauf und ihr der Betrieb von Bankgeschäften im ganzen Reichsgebiet unter erleichterten Bedingungen gestattet. Bankges. §. 44 Abs. 4. §. 73. Die Verwaltung des Bankwesens. des Privilegiums, oder vielmehr die Verleihung eines erweiterten Privilegiums von Seiten des Reiches. Deshalb stehen dem Reiche den Privatbanken gegenüber diejenigen Befugnisse zu, welche nach allgemeinen Grundsätzen dem Staat, der ein Privileg ertheilt hat, gegen den Privilegirten zukommen, nämlich die Beaufsichtigung des Gebrauches und die Entziehung des Privilegs wegen Miß- brauches. Zugleich bestimmt sich hiernach auch das Kompetenz-Ver- hältniß zwischen Reich und Einzelstaat rücksichtlich der Hoheitsrechte über die Privatnotenbanken. Im Einzelnen gelten demgemäß folgende Sätze: 1. Den Einzelstaaten verbleibt die Aufsicht über die von ihnen privilegirten Notenbanken nach Maßgabe der Landesgesetze, Bank- statuten und Privilegien Bankges. §. 48 Abs. 2. . Außerdem aber ist das Reich ebenfalls zur Ausübung einer Kontrole befugt. Der Reichkanzler kann jederzeit durch Kommissare die Bücher, Geschäftslokale und Kassen- bestände der Notenbanken revidiren, um sich die Ueberzeugung zu verschaffen, daß dieselben die für sie bestehenden Vorschriften befolgen, die ihnen auferlegten Bedingungen und Beschränkungen innehalten und die vorgeschriebenen Wochen- und Jahresüber sichten und Nachweisungen der wirklichen Sachlage entsprechend anfertigen Bankges. §. 48 Abs. 1. . 2. Die Einzelstaaten dürfen die Grundgesetze, Statuten oder Privilegien der Notenbanken nur mit Genehmigung des Bundesrathes abändern, sofern die Abänderung das Grund- kapital, den Reservefonds, den Geschäftskreis oder die Deckung der auszugebenden Noten oder die Dauer der Befugniß zur Noten- ausgabe zum Gegenstande hat. Soll eine derartige Abänderung getroffen werden, so hat die Landesregierung den Antrag auf Ge- nehmigung im Bundesrath zu stellen; der Bundesrath darf dieselbe aber nicht ertheilen, wenn die Bank nicht den Bestimmungen des § 44 des Bankgesetzes sich unterworfen hat Bankges. §. 47. Wenn sich die Bank diesen Vorschriften unterworfen hat, so kann sie von solchen landesgesetzlich bestehenden Beschränkungen, welche das Bankgesetz nicht enthält, vom Bundesrath auf Antrag der Landes- regierung befreit werden. . 3. Den Einzelstaaten verbleibt das Recht, die Dauer einer be- reits erworbenen Befugniß zur Notenausgabe durch Kündigung §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. auf eine bestimmte Zeit zu beschränken, wenn durch das Statut oder Privileg ein solches Recht begründet ist. Diese Kündigung tritt aber kraft des Bankgesetzes also auf Befehl des Reiches zu dem frühesten zulässigen Termin ein, falls nicht die Bank den Maximalbetrag ihrer Notenausgabe auf den am 1. Januar 1874 eingezahlten Betrag ihres Grundkapitals beschränkt und sich den Bestimmungen des § 44 unterworfen hat Bankges. §. 46. Abs. 1. — Ausgenommen ist §. 44 Abs. 1 Z. 2, da diese Verpflichtung auf Banken keine Anwendung findet, die ihren Notenumlauf auf den Betrag ihres Grundkapitals beschränken. Vgl. §. 44 Abs. 4. . 4. Durch richterliches Urtheil kann die Entziehung der Befug- niß zur Noten-Ausgabe ausgesprochen werden. Zur Anstellung der Klage berechtigt ist ebensowohl die Regierung des Bun- desstaates , in welchem die Bank ihren Sitz hat, als auch der Reichskanzler Bankges. §. 50. . Die Entziehung des Notenprivilegiums wird ausgesprochen wegen Mißbrauchs desselben d. h. wegen Nichtbe- folgung der Vorschriften über die Deckung und über die Grenzen des Notenumlaufes und wegen Verletzung der den Notenbanken auferlegten Geschäftsbeschränkungen, ferner wegen Nichterfüllung der Einlösungspflicht und endlich sobald das Grundkapital sich durch Verluste um ein Drittheil vermindert hat. Die Klage ist im ordent- lichen Verfahren zu verhandeln; der Rechtsstreit gilt als Handels- sache. Die Vollstreckung des Urtheils erfolgt auf Verfügung des Prozeßgerichtes; dem Reichskanzler steht aber hinsichtlich der Ein- ziehung und Vernichtung der Banknoten eine Kontrole zu Die näheren Vorschriften sind in den §§. 51—53 des Bankgesetzes ent- halten. . §. 74. Die Verwaltung des Müuzwesens (mit Einschluß des Papiergeldes) Gesetzgebung. Gesetz betreffend die Ausprägung von Reichsgoldmünzen . Vom 4. Dezember 1871. R.-G.-Bl. S. 404. Die Motive dazu in den Drucksachen des Reichstages 1871. II. Session. Aktenstück Nro. 50. Die Verhandlungen des Reichstages: Stenogr. Ber. Bd. 1. S. 225 ff. 317 ff. 453 ff. . I. Allgemeine Gesichtspunkte . Um die staatsrechtlichen Prinzipien, auf denen die Ordnung des Münzwesens im deutschen Reiche beruht, zu erkennen, ist es §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. erforderlich zwei Begriffe auseinander zu halten, welche die ältere Theorie unter dem Namen Münzregal durcheinander geworfen hat. Münzgesetz . Vom 9. Juli 1873. R.-G.-Bl. S. 233. Die Motive da- zu in den Drucksachen des Reichstages 1873 Aktenstück Nr. 15. Die Verhandlungen des Reichstages: Stenogr. Berichte S. 117 ff. 241 ff. 521 ff. u. 1352 ff. (Art. 15 des Münzges. ist ergänzt worden durch das Reichsges. v. 20. April 1874 R.-G.-Bl. S. 35 und durch das Reichsges. v. 6. Januar 1876. R.-G.-Bl. S. 3.). Die Münz-Gesetze wurden in Elsaß-Lothringen eingeführt durch das Reichsges. v. 15. November 1874. R.-G.-Bl. S. 131. Die zur Ausführung der Münzgesetze gefaßten Bundesraths-Be- schlüsse sind veröffentlicht in den Denkschriften , welche der Reichs- kanzler nach §. 11 Abs. 3 des Ges. v. 4. Dez. 1871 dem Reichstage all- jährlich vorzulegen verpflichtet ist. Dieselben sind abgedruckt in den Drucksachen des Reichstages und zwar: die erste Denkschrift v. 4. Mai 1872 in den Drucksachen 1872 III. Sess. Bd. I. Nro. 52. Die zweite Denkschr. v. 5. April 1873 in den Drucks. v. 1873. IV. Sess. Bd. I. Nro. 39. Die dritte Denkschr. v. 20. März 1874 in den Drucks. v. 1874. I. Sess. Nro. 105. Die vierte Denkschrift v. 30. Nov. 1875. Drucks. III. Sess. 1875 Bd. I. Aktenst. Nro. 70. Die fünste Denkschr. v. 11. Nov. 1876 in den Drucksachen IV. Sess. 1876. Bd. II. Nro. 32. Gesetz über die Ausgabe v. Papiergeld. Vom 16. Juni 1870. B.-G.-Bl. S. 507 (Verbot der Ausgabe von Staats-Papiergeld) und Reichsgesetz be- treffend die Ausgabe von Reichskassenscheinen . V. 30. April 1874. R.-R.-Bl. S. 40. Die Motive dazu in den Drucksachen des Reichstages. I. Sess. 1874. Bd. II. Aktenst. Nro. 70. Die Ver- handl. des Reichstages Stenogr. Berichte 1874 S. 557 ff. 651 ff. 923 ff. Literatur . Das Gesetzgebungs-Material findet sich ziemlich vollständig abgedruckt in Hirth ’s Annalen. 1872. 1874. 1876 (S. 180 ff.) 1877 (S. 353). Eine Verarbeitung desselben in Form eines Commentars zu den beiden Münzgesetzen enthält die Schrift von Soetbeer . Deutsche Münzverfassung. Erlangen 1874. Eine ähnliche, jedoch weniger aus- führliche Bearbeitung des Münzgesetzes ist in Hirth’s Annalen 1874 S. 546 ff. erschienen. Vgl. auch Mandry im Arch. f. civil. Praxis Bd. 60 S. 10 fg. (1877). Die volkswirthschaftliche und technische Seite des Münzwesens hat in neuerer Zeit überaus zahlreiche Bearbeitungen gefunden (Literatur-Nachweisungen giebt Soetbeer a. a. O. S. 136 ff.); auch die privatrechliche Lehre vom Gelde ist mehrfach gründ- lich erörtert worden, z. B. von G. Hartmann . Ueber den rechtl. Be- griff des Geldes. Braunschw. 1868 und von Goldschmidt , Handb. des Handelsr. I. 2. S. 1060. (Zu nennen ist auch der Aufsatz von Voigtel in der Zeitschrift f. Gesetzgeb. und Rechtspfl. in Preußen Bd. I. S. 445 ff. Berlin 1867). Dagegen fehlt es an einer Erörterung der staatsrecht- lichen Seite des Münzwesens in der neueren Literatur gänzlich , §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Der eine dieser Begriffe, den man mit dem Namen Münzho- heit bezeichnen kann, ist das in der Staatsgewalt enthaltene Recht, das Münzsystem zu regeln; der andere ist die Ausmünzung oder Münzprägung d. h. die Herstellung von Münzen, welche einem gewissen Münzsystem entsprechen. 1. Die Regelung des Münzsystems ist ein Hoheitsrecht, durch dessen Ausübung sich die Staatsgewalt bethätigt; denn es besteht in der Sanctionirung von Rechtssätzen . Den Inhalt dieser Rechtssätze darf man freilich nicht, wie dies bei oberfläch- licher und unjuristischer Betrachtung zu geschehen pflegt, darin suchen, daß Goldstücke oder Silberstücke von dem oder jenem Ge- wichte und Durchmesser unter dem oder jenem Namen fabrizirt werden sollen. Der Rechtssatz besteht vielmehr darin, daß der Ge- setzgeber erklärt, die gesetzlich näher bezeichneten Münzen sollen Zahlungsmittel sein; sie sollen dazu dienen, Schulden zu tilgen Damit hängt es unzertrennlich zusammen, daß Forderungen und Schul- den nach dem Münzsystem bemessen d. h. quantitativ bestimmt werden. Daß das Geld zur „Abschätzung“, als „Werthmaaßstab“ dient, vgl. Gold- schmidt , Zeitschr. f. Handelsr. Bd. XIII. S. 317 ff. und Knies , Das Geld (Berlin 1873) S. 259 ff., ist juristisch nicht als eine selbstständige und eigenthümliche Funktion desselben anzuerkennen, sondern durch seine Eigen- schaft als gesetzliches Zahlungsmittel bereits implicite gegeben. Um eine Schuld irgend welcher Art in Geld zu tilgen, muß man sie, — wenn sie nicht auf Geld schon lautet — auf eine Geldschuld reduziren. Durch die Abschätzung wird die Verpflichtung zu einer zahlbaren Schuld gemacht. . Die Regelung des Münzsystems besteht darin, daß der Gesetzgeber erklärt, was in dem ihm unterworfenen Gebiet Geld sein soll. Im volkswirthschaftlichen Sinn versteht man unter diesem Ausdruck zwar sehr verschiedenartige Dinge; im juristischen Sinn aber ist Geld ganz gleichbedeutend mit gesetzlich anerkanntem Zah- lungsmittel. Zahlen kann man allein mit Geld; alle anderen Werthgegenstände kann man nur zur Hingabe an Zahlungsstatt verwenden. Die Befriedigung mit Geld muß sich jeder Gläubiger von Rechts wegen gefallen lassen; die Befriedigung mit anderen während die früheren Arbeiten darüber vollkommen veraltet sind. Die Darstellung in v. Rönne ’s Staatsrecht des D. R. II. 1. S. 248 ff. ist lediglich eine Sammlung von Excerpten aus den Münzgesetzen und dem Gesetzgebungsmaterial, zwischen welche auf S. 252 eine ziemlich wört- liche Abschrift des §. 198 des Staatsrechts von Zachariä (Bd. II. S. 372 ff.) eingeschaltet ist. §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Werthobjecten braucht er nur anzunehmen, wenn er will . Die Eigenschaft einer Sache als Geld ist eine rein juristische und beruht deshalb auch ausschließlich auf einer Rechtsregel (Ge- setz oder Gewohnheitsrecht). Der wirthschaftliche Werth, die so- genannte Kaufkraft oder der Tauschwerth, kommt bei dem Rechts- begriff des Geldes gar nicht in Betracht. Der Gesetzgeber kann ihn gar nicht normiren; er kann ihn bei keiner Sache erhöhen oder ver- mindern, auch nicht bei dem Edelmetall durch Aufdrücken des Präge- stempels; denn dieser Werth wird durch thatsächliche Verhält- nisse, nicht durch Rechtssätze bestimmt Der Tauschwerth des inländischen Geldes kommt zur Erscheinung theils durch den Kurs desselben im Auslande, theils durch den Preis der Waaren , zu welchen auch ausländische Münzen gehören, im Inlande. Die Vorstellung, als könnte der Staat den Tauschwerth irgend einer Sache durch seinen Willen fixiren, ihn z. B. einem Stücke Gold beilegen, ist eine sehr naive, trotzdem aber in der Literatur über das Geldwesen noch immer sehr ver- breitete. Sie trägt ganz besonders die Schuld an der Verwirrung dieser Theorie. . Der Gesetzgeber kann und will vielmehr nur den Zahlungswerth im Inlande fest- setzen. Die Eigenschaft eines Zahlungsmittels kann der Gesetzgeber aber andererseits an jedes beliebige Substrat anknüpfen; er kann zum Gelde erklären, was er will; wenn in den Kulturstaaten regel- mäßig nur edle Metalle mit dieser rechtlichen Eigenschaft ausgestattet werden, so beruht dies nicht auf dem juristischen Begriffe des Geldes, sondern auf volkswirthschaftlichen und technischen Gründen. Zum Begriffe des Geldes gehört deshalb ebensowenig die staatliche Beglaubigung des Metallgehaltes eines Stückes. Ein geeichter Goldbarren ist kein Geld und andererseits sind Münzen mit sehr ausgedehnter Toleranz d. h. gestattete Abweichungung vom Normalgewichte. , bei denen der Metallgehalt der einzelnen Stücke ein sehr verschiedener sein kann, dennoch Geld, wofern sie nur gesetzliches Zahlungsmittel sind Ob ein Thaler seinem Normalgewichte genau entspricht oder ob er 10 Promille mehr oder weniger wiegt — sein Geldwerth, d. h. gesetzlicher Zah- lungswerth ist derselbe. . Ganz und gar nicht entscheidend ist ferner die thatsäch- liche Cirkulation und Verwendung zu Zahlungen. Die Goldkro- nen waren Geld, obgleich sie nicht cirkulirten, und ausländische Münzen sind im Inlande kein Geld, wenngleich sie thatsächlich vielfach als Zahlungsmittel Verwendung finden. Nicht das, was §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. man solutionis caussa giebt und nimmt, ist Geld; sondern das, was man kraft Rechtssatzes in Zahlung geben soll und nehmen muß , ist Geld. Was in concreto Geld sei, ist eine Frage des positiven Rechtes ; sie kann nur für jeden Staat, für jedes Rechts- gebiet beantwortet werden. Kein Staat von einiger Kultur kann Rechtssätze über das Münzsystem entbehren, auch wenn er selbst Münzen nicht ausprägt. Der wirthschaftliche Verkehr, die Eingehung und Tilgung von Schulden, das Finanzwesen des Staates selbst und nicht minder die Handhabung des Strafrechts und der Rechtsschutz in Civilsachen setzen ein bestimmtes Münzsystem voraus. Wo der Staat es unter- läßt, diese Rechtssätze zu sanctioniren, tritt sofort ergänzend das Gewohnheitsrecht ein; insbesondere durch Anschluß an das Münz- system eines benachbarten Rechtsgebietes. Auch ausländische Mün- zen können Geld sein, wenn ein Rechtssatz sie dazu erklärt; ein Staat aber ohne Rechtssätze darüber, was in seinem Gebiete Geld sei, wäre ein Staat ohne Geld . 2. Dagegen die Herstellung von Münzen ist nicht die Ausübung eines Hoheitsrechts, ist keine Bethätigung der Staatsgewalt, keine Normirung des Rechtszustandes, sondern ein industrielles Unter- nehmen, eine mit Gewinn verbundene Arbeitsleistung, welche man im Allgemeinen dem Betriebe jeder beliebigen Metallwaaren-Fabrik gleichstellen kann. Sowie der Staat im Betriebe der Post ein Frachtführer und im Betriebe der Bank ein Bankier ist, so ist er bei dem Betriebe der Münzprägeanstalten ein Fabrikant von Gold- und Silberwaaren. Gerade diese Seite des Münzwesens ist aber in den früheren Zeiten und bis zur Gegenwart als die wesentliche angesehen worden, weil sie ein finanzielles Interesse darbot. Die Münzprägung wurde in erster Reihe als Einnahmequelle angesehen; deshalb legte sich der Staat das ausschließliche Recht bei, Münzen zu fabriziren und in den Verkehr zu bringen, er begründete für den Fiskus das Münz regal oder Münz monopol . Die Rege- lung des Münzsystems erschien im Vergleich hierzu als untergeord- nete Nebensache, gleichsam nur als die Art und Weise, wie der Staat sein Monopol auf Ausprägung von Münzen verwirklicht und ausübt. Sobald man aber von dem verkehrten Beginnen abläßt, aus der Ausprägung von Münzen eine unsolide Bereicherung der §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Staatskasse zu erzielen, tritt das wahre Verhältniß trotz aller an hergebrachten scholastischen Begriffen hängenden Theorien zu Tage. Der Staat kann auf die Herstellung vou Münzen ver- zichten, ohne ein Hoheitsrecht Preis zu geben und ohne irgend eine seiner Aufgaben unerfüllt zu lassen. Der Staat kann sich darauf beschränken, fremde Münzen zum gesetzlichen Zahlungs- mittel, also zum Gelde, zu erklären, was in Deutschland vielfach geschehen ist, besonders durch Gewohnheitsrecht. Es hat ferner in Deutschland zahlreiche Staaten gegeben, welche keine Münzfabriken hatten, sondern welche entweder zeitweise gar nicht ausmünzen ließen, oder welche die Herstellung von Münzen bei auswärtigen Prägeanstalten gegen Bezahlung bestellten. Dagegen hat es keinen deutschen Staat gegeben ohne Münzsystem, d. h. ohne Regelung der Währung u. s. w. durch Rechtssätze. Der Staat könnte es der Privat-Industrie überlassen Münzen herzustellen, wie er es ihr überläßt, Maaße und Gewichte herzustellen, und sich auf eine Eichung der Münzen oder auf eine Controle der Münzfabriken beschränken. Der Staat kann andererseits im Auftrage von Privatpersonen und gegen Bezahlung die Herstellung von Münzen übernehmen, wie er für sie Güter befördert oder ihre Wechsel diskontirt; wäh- rend er seine Hoheitsrechte doch nur im öffentlichen und staatlichen Interesse, nicht auf Bestellung von Privatpersonen gegen Vergü- tung auszuüben vermag. 3. Auf dem Gegensatz der beiden einander gegenüberstehenden Begriffe beruht die staatsrechtliche Gestaltung des heutigen deutschen Münzwesens und ihre Eigenartigkeit; auf ihm die Ab- gränzung der Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten. Man kann das oberste Prinzip in dem einen Satz zusammenfassen: Das Reich hat die ausschließliche Befugniß zur Rege- lung des Münzsystems (Münzhoheit), die Einzel- staaten haben dagegen die Befugniß zur Prä- gung von Reichsmünzen (Münzmonopol) . Diese Trennung von Münzhoheit und Münzmonopol ist für die Münzverfassung des deutschen Reiches charakteristisch und findet vielleicht in keinem andern Staate ihres Gleichen. Auf ihr beruht es, daß es in Deutschland im juristischen Sinne keine Landes- münzen, sondern nur Reichsmünzen giebt, daß Deutschland ein §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. einheitliches Münzgebiet im Sinne von Rechtsgebiet ist, daß der Charakter eines gemünzten Metallstücks als Geld durch die An- ordnung und Anerkennung des Reiches begründet ist, daß die innere und äußere Beschaffenheit der Münzen durch das Reich aus- schließlich festgesetzt wird. Auf ihr beruht es aber zugleich, daß das Reich keine Münzen prägt und keine Anstalt dafür hat, daß vielmehr diejenigen Einzelstaaten, welche sich mit dem Betriebe von Münzfabriken befassen wollen, die Herstellung von Reichsmünzen übernehmen und zwar nicht nur im Auftrage und für Rechnung des Reiches, sondern auch auf Bestellung von Privatpersonen. Endlich ergiebt sich hieraus, daß zwischen dem Reich und den Einzelstaaten Verhältnisse entstehen, welche die Herstellung von Reichsmünzen für Rechnung des Reiches auf den Landes-Präge- anstalten und die Stellung des Reiches gegenüber dem den Ein- zelstaaten gewährten Präge-Recht zum Gegenstand haben. In der folgenden Darstellung sollen diese rechtlichen Verhält- nisse näher dargelegt werden Dagegen bieten Durchmesser, Gewicht, Randverzierung, Inschriften der Münzen u. s. w. in keiner Beziehung ein staatsrechtliches Interesse, so wenig wie die Farbe der Briefmarken oder das Format der Banknoten. . II. Die Regelung des Münzwesens Seitens des Reiches . 1. Die Reichsverf. Art. 4 Nro. 3 erklärt das Reich für zu- ständig „zur Ordnung des Münzsystems“. Von dieser Kompetenz hat das Reich den einschneidendsten Gebrauch gemacht, indem es an der Spitze des Münzgesetzes den Grundsatz sanctionirt hat: „ An die Stelle der in Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung “. Der Zeitpunkt, an welchem die Reichswährung im gesammten Reichsgebiete in Kraft treten sollte, war durch eine mit Zustim- mung des Bundesrathes zu erlassende Verordnung des Kaisers zu bestimmen; er ist auf den ersten Januar 1876 festgesetzt wor- den Verordn. v. 22. Septemb. 1875. R.-G.-Bl. S. 303. . Den Einzelstaaten war es aber gestattet, schon vor diesem Zeitpunkte für ihr Gebiet die „Reichsmarkrechnung“ im Verord- nungswege einzuführen Münzges. Art. 1 Abs. 2 a. E. und viele Staaten haben von dieser Be- fugniß Gebrauch gemacht Die Verordnungen sind abgedruckt bei Soetbeer Münzverf. S. 123 ff. . Mit dem gesetzlichen Eintritt der §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Reichswährung sind alle landesgesetzlichen und ge- wohnheitsrechtlichen Rechtssätze über das Münz- system aufgehoben. Die Frage, was gesetzliches Zahlungs- mittel sei, ist ausschließlich nach dem Reichsmünzgesetz und den auf Grund desselben erlassenen Verordnungen zu beantworten. Im ganzen Reichsgebiet als einem einheitlichen Rechts- und Wirth- schaftsgebiet ist nur derjenige Gegenstand „Geld“ im Rechtssinne d. h. gesetzlich anerkanntes und das Rechnungswesen des allgemei- nen Verkehrs bestimmendes Zahlungsmittel, den das Reich dazu erklärt. Diese Befugniß des Reiches ist eine ausschließliche Das Reich kann aber bis zur thatsächlichen Durchführung der Reichs- währung interimistisch Münzen der Landes währung als gesetzliches Zahlungs- mittel erklären, wie dies in den Artikeln 15 und 16 des Münzgesetzes geschehen ist. Andererseits waren bereits vor der Aufhebung der Landeswährungen die Reichsgoldmünzen gesetzliches Zahlungsmittel. Ges. v. 4. Dezember 1871 §. 8. . Nicht nur die bis zur Einführung der Reichswährung in Geltung gewesenen Landeswährungen sind abgeschafft, sondern die Einzel- staaten können auch fortan kein Geld schaffen, insbesondere nicht neben der für das ganze Reichsgebiet geltenden Reichswährung eine für ihr Landesgebiet geltende Landeswährung einführen Hiervon gibt es nur eine einzige Ausnahme. Im Gebiete des Königr. Bayern ist für den Bedürfnißfall die Untertheilung des Pfennigs in zwei Halbpfennige (Heller) gestattet. Diese clausula bavarica ist sonder- barer Weise in das Reichsges. über Ausprägung von Reichsgoldmünzen (§. 13) gerathen. . 2. In Folge der Beseitigung der Landeswährungen wurde es den Einzelstaaten untersagt, Münzen dieser Währungen noch ferner auszuprägen oder ausprägen zu lassen. Schon das Reichsgesetz v. 4. Dezemb. 1871 §. 10 verbot die Ausprägung von anderen als den durch dieses Gesetz eingeführten Goldmünzen, sowie von groben Silbermünzen mit Ausnahme von Denkmünzen; das Münz- gesetz Art. 11 dehnte dieses Verbot auf sämmtliche Münzen aus, welche nicht durch dieses Gesetz eingeführt worden sind, und setzte der Befugniß, Silbermünzen als Denkmünzen auszuprägen, mit dem 31. Dezemb. 1873 ein Ende. 3. Die Abschaffung der Landeswährungen machte es noth- wendig, die vorhandenen Münzen derselben außer Kurs zu setzen . Die Außerkurssetzung ist die Bethätigung eines Hoheits- rechts; sie ist der Befehl der Staatsgewalt, durch welchen dem Laband , Reichsstaatsrecht. II. 27 §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. bisherigen Gelde die Eigenschaft des gesetzlichen Zahlungsmittels, also die Geldqualität, entzogen wird. Die Außerkurssetzung ist die Aufhebung oder Veränderung eines bestehenden Rechtssatzes, sie hat also selbst einen Rechtssatz zum Inhalt; sie ist ein Gesetz im materiellen Wortsinne. Da das Reich die Landeswährungen im Allgemeinen beseitigte, so ging auch die Außerkurssetzung der einzelnen Münzsorten von demselben aus. Nicht die Einzelstaaten waren nach Erlaß des Münzgesetzes befugt, den in ihren Gebieten als gesetzliches Zahlungsmittel umlaufenden Münzen diese Eigen- schaft zu nehmen, sondern das Reich In Bremen war bereits vor Erlaß des Münzgesetzes die Außerkurs- setzung der bremischen Silber- und Kupfermünzen erfolgt durch Ges. v. 30. April 1872. und zwar hat das Münz- gesetz Art. 8 dem Bundesrath die Anordnung der Außer- kurssetzung von Landesmünzen und die Feststellnng der für dieselben erforderlichen Vorschriften übertragen. Es wurde zugleich vorge- schrieben, daß diese Verordnungen sowohl in den zur Veröffent- lichung von Landesverordnungen bestimmten Blättern als auch durch das Reichs-Gesetzblatt zu veröffentlichen sind Münzges. Art. 8 Abs. 2. Die Außerkurssetzung ist eine Rechtsver- ordnung ; sie bedarf zu ihrer Gültigkeit daher der Publikation durch das Reichsgesetzblatt. Vgl. oben S. 90 fg. . Der Zeit- punkt der Außerkurssetzung war der Bestimmung des Bundesrathes überlassen; nur hinsichtlich der im Art. 6 des Münzgesetzes auf- geführten Scheidemünzen war angeordnet, daß sie mit dem Ein- tritt der Reichswährung außer Kurs treten Art. 6 Abs. 2. „Nach diesem Zeitpunkte ist Niemand verpflichtet , diese Scheidemünzen in Zahlung zu nehmen, als die mit der Einlösung der- selben beauftragten Kassen“. Eine Ausnahme von der Außerkurssetzung macht der Bayerische Heller. . Die Außerkurssetzung betrifft nicht nur die von den Einzel- staaten geprägten Münzen, sondern alle in den Gebieten der Bundesstaaten als Zahlungsmittel anerkannten Münzen; also auch alle Münzen ausländischen Gepräges, welche kraft Gesetzes oder Gewohnheitsrechtes in einzelnen Theilen des Bundesgebietes Geldqualität hatten; denn die Außerkurssetzung steht in keinem be- grifflichen Zusammenhange mit der Prägung und Ausgabe von Münzen, sondern nur mit ihrer Anerkennung als Geld. Dagegen ist aus demselben Grunde die Außerkurssetzung ausländischer Mün- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. zen, welchen die Geldeigenschaft im Inlande gesetzlich oder ge- wohnheitsrechtlich überhaupt mangelt, sinnlos. Der Bundesrath hat vom 1. April 1874 an sämmtliche bis zum Inkrafttreten des Gesetzes v. 4. Dezemb. 1871 geprägten Gold münzen der deutschen Bundesstaaten und sämmtliche landes- gesetzlich den inländischen Münzen gleichgestellten ausländischen Gold münzen der Eigenschaft als gesetzliches Zahlungsmittel (Geld) entkleidet Verordn. v. 6. Dezemb. 1873 §. 1. R.-G.-Bl. S. 375. . Er hat ferner nach und nach fast alle andern Münzsorten, welche in dem Reichsgebiet oder einzelnen Theilen desselben, die Eigenschaft gesetzlicher Zahlungsmittel hatten, außer Kurs gesetzt Die betreffenden Verordnungen sind publicirt im Reichsgesetzblatt 1874 S. 21. 111. 149. 1875 S. 247. 304. 307. 311. 415. 1876 S. 162. 221. . Verschont von der Außerkurssetzung sind bis jetzt nur noch die Einthalerstücke und Einsechstel-Thaler-Stücke deutschen Gepräges Ueber die Oesterreichischen „Vereinsthaler“ siehe unten. geblieben. 4. Von der Außerkurssetzung ist ganz verschieden das Ver- bot des Umlaufes gewisser Münzen, d. h. das Verbot sie in Zahlung zu geben. Die Außerkurssetzung von Münzen hebt nur den Rechtssatz auf, daß sie in Zahlung genommen werden müssen, aber sie stellt nicht das Verbot auf, daß sie nicht als Zahlungsmittel verwendet werden dürfen . Münzen, die ent- weder niemals als Geld rechtlich anerkannt waren oder denen diese Eigenschaft durch Außerkurssetzung entzogen worden ist, können dessen ungeachtet ein sehr beliebtes Zahlungsmittel sein; nament- lich in den Grenzgebieten werden immer gewisse Mengen von Münzen der Nachbarländer im Verkehr sich erhalten. Im juristi- schen Sinne sind sie allerdings nicht Geld, sondern Geld-Surrogat; ihre Hingabe zur Tilgung einer Schuld ist nicht Zahlung (solu- tio) , sondern Hingabe an Zahlungsstatt (datio in solutum) ; ihre Zurückweisung steht dem Gläubiger frei; aber thatsächlich fungiren sie wie Geld. Aus Gründen der Volkswirthschaft oder Münzpo- litik oder im Interesse der Verkehrssicherheit kann es sich aber als nothwendig erweisen, gewisse Münzen aus dem Verkehr ganz aus- zuschließen; in diesem Falle wird das Verbot erlassen, sie in Zah- lung zu geben. Auch der Erlaß eines derartigen Rechtssatzes ist den Einzel- 27* §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. staaten entzogen und dem Reich vorbehalten. Der Bun- desrath ist befugt, den Umlauf fremder Münzen entweder gänzlich zu untersagen oder sie zu tarifiren, d. h. einen Maximalwerth zu bestimmen, über welchen hinaus sie nicht in Zahlung angeboten und gegeben werden dürfen Münzges. Art. 13 Ziff. 1. . Gewohnheitsmäßige oder gewerbs- mäßige Zuwiderhandlungen gegen die vom Bundesrath getroffenen Anordnungen werden mit Geldstrafe bis zu 150 M. oder mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft. Die vereinzelte gelegentliche Ver- wendung einer verbotenen Münze als Zahlungsmittel ist nicht strafbar. Das Verbot bezieht sich ferner nur auf diejenigen Fälle, in welchen die verbotene Münze anstatt Geldes angeboten und gegeben wird; dagegen bleiben alle Geschäfte, in welchen die Münze als Waare behandelt wird, von demselben ganz unberührt Von dem Verbote sind nur folgende Münzen betroffen worden: die österreichischen und ungarischen Ein- und Zweiguldenstücke, sowie die nieder- ländischen Ein- und Zweieinhalb-Guldenstücke (V. v. 22. Januar 1874. R.G.Bl. S. 12); die niederländischen Halbguldenstücke, sowie die österreichischen und ungarischen Viertelguldenstücke (V. v. 29. Juni 1874 R.-G.-Bl. S. 111); die polnischen eindrittel und einsechstel Talarastücke (V. v. 26. Febr. 1875. R.-G.-B. S. 134); die Münzen des Konventionsfußes österreichischen Gepräges und die Silber- und Kupfermünzen dänischen Gepräges (V. v. 19. Dezemb. 1874 R.-G.-Bl. S. 152); die finnischen Silbermünzen (V. v. 16. Oktob. 1874 R.-G.-Bl. S. 126). Vgl. die vierte Denkschrift des Reichskanzlers 1875. S. 7. . Diejenigen fremden Münzen, deren Umlauf nicht verboten ist, können nun auch bei Reichs- oder Landeskassen in Zahlung angeboten werden, was namentlich bei Eisenbahn- und Postkassen an Grenzstationen von Reisenden, die aus dem Auslande kommen, bei Zoll- und Steuerkassen u. s. w. nicht selten vorkommt. In einem solchen Falle steht es dem Fiskus, wie jedem andern Zah- lungsempfänger, dem Rechte nach frei, nach Belieben zu bestim- men, ob er eine solche Münze überhaupt annehmen wolle und zu welchem Werthe. Denn es handelt sich dabei um ein Geschäft, dessen Bedingungen von den Parteien vereinbart werden, nicht um Anwendung eines Rechtssatzes oder Erfüllung einer Rechts- pflicht. Die Verwaltung befindet sich daher hier auf dem Ge- biete der Handlungsfreiheit. Wie aber bereits oben S. 222 aus- geführt wurde, besteht die Handlungsfreiheit der Verwaltung nicht darin, daß jeder einzelne Beamte nach eigenem Ermessen han- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. deln kann, sondern daß das Verhalten der Beamten und Behörden durch Instruktionen oder Dienstanweisungen, d. h. nicht durch Rechtsvorschriften sondern durch Verwaltungsvorschriften, geregelt wird. Gerade in dem erwähnten Falle würde es von den äußer- sten Uebelständen begleitet sein, wenn jeder einzelne Kassenbeamte darüber zu befinden hätte, ob er eine ausländische Münze anneh- men oder zurückweisen und zu welchem Betrage er sie annehmen wolle. Es bedarf vielmehr hierüber einer allgemeinen Instruktion. Der Erlaß dieser Verwaltungs vorschriften ist nun ebenfalls den Einzelstaaten entzogen und ausschließlich dem Bundesrath vor- behalten, damit in den Gebieten sämmtlicher Bundesstaaten und bei allen öffentlichen Kassen, sowohl denen des Reiches als der Ein- zelstaaten, ein übereinstimmendes Verfahren befolgt werde Münzges. Art. 13 Ziff. 2. . 5. Die Beseitigung der Landeswährungen hatte die Einlö- sung der in diesen Währungen ausgeprägten Münzen zur Folge. In rechtlicher Beziehung besteht aber zwischen der Außerkurssetzung und der Einlösung von Münzen ein erheblicher Unterschied und es ist nicht nothwendig, daß beide Maßregeln immer mit einander verbunden sind. Eine Einlösung kann auch erfolgen ohne Außer- kurssetzung dadurch, daß die öffentlichen Kassen eingehende Stücke nicht wieder ausgeben und die ihnen präsentirten Stücke umtauschen, z. B. wegen fehlerhafter oder häßlicher Prägung; und ebenso kann eine Außerkurssetzung erfolgen ohne Einlösung. Während die Außerkurssetzung ein Gesetzgebungsakt, eine Bethätigung der Staatsgewalt ist, kömmt in der Einlösung kein staatliches Hoheits- recht zur Anwendung, sie ist vielmehr ein Geschäft des Privat- rechts , die Erfüllung einer vermögensrechtlichen Verpflichtung des Fiskus. Sie hat ihr Analogon in der Pflicht desjenigen, der In- haberpapiere ausgegeben hat, dieselben einzulösen. Der Staat, welcher Münzen prägt und mit der rechtlichen Eigenschaft des Geldes versieht, giebt dieselben nicht nach ihrem Metallwerthe aus, son- dern nach ihrem Geld werthe d. h. gesetzlich fixirten Zah- lungs werth Derselbe kann sehr verschieden sein von ihrem Tauschwerthe. Siehe oben S. 413. . Durch die Außerkurssetzung entzieht er ihnen den letzteren für den allgemeinen Verkehr; dadurch entsteht für ihn die Verpflichtung, sie zu dem gesetzlichen Zahlungswerthe §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. (Geldwerth) zurückzunehmen d. h. sie gegen Münzen der neuen oder in Geltung erhaltenen Währung von gleichem Geldbetrage umzutauschen. Die Einlösungspflicht besteht daher für jeden Staat nur hinsichtlich der von ihm ausgegebenen Münzen, während die Außerkurssetzung auch Münzen fremden Gepräges betreffen kann. Sie erstreckt sich ferner auf die durch den gewöhnlichen Umlauf abgenutzten, im Gewicht verringerten Münzstücke, dagegen nicht auf durchlöcherte, beschnittene oder sonst gewaltsam beschädigte oder verfälschte Münzstücke Vgl. Münzges. Art. 10 Abs. 1. V. v. 6. Dezember 1873 §. 5. v. 7. März 1874 §. 4. v. 2. Juli 1874 §. 3, v. 19. Dez. 1874 §. 4 u. s. w. . Behufs leichterer und schnellerer Abwick- lung des Einlösungs-Geschäftes, auf welches im Allgemeinen die Grundsätze des bürgerlichen Rechtes Anwendung finden, werden die letzteren durch Aufstellung von zwei speziellen Rechts-Vorschriften modifizirt, nämlich durch Fixirung des Umrechnungs-Maßstaabes, um geringfügige Bruchtheile zu vermeiden und Streitigkeiten wegen des Werthverhältnisses auszuschließen, und durch Anordnung eines Aufgebots-Verfahrens , das ist die öffentliche Aufforderung der Inhaber der Münzen, sie zur Einlösung zu präsentiren, mit Festsetzung einer Präclusivfrist. Auch diese Rechtsvorschriften sind vom Reich erlassen und der Kompetenz der Einzelstaaten entzogen. Das Münzgesetz untersagt jede Außerkurssetzung von Münzen deutschen Hinsichtlich der Münzen der Frankenwährung besteht keine Einlösungs- pflicht. Ges. v. 15. Novemb. 1874 §. 2 u. 3. R.-G.-Bl. S. 131. Ebenso wenig hinsichtlich der in der Thalerwährung geprägten Oesterreichischen Münzen. Gepräges ohne Einlösung ; es erfordert eine Einlösungsfrist von mindestens vier Wochen und es verlangt, daß dieselbe mindestens drei Monate vor ihrem Ablaufe durch das Reichsgesetzblatt und in den zur Ver- öffentlichung von Landesverordnungen bestimmten Blättern bekannt gemacht worden sei Münzges. Art. 8 Abs. 3. . Es überträgt ferner dem Bundesrath die Feststellung des Werthverhältnisses und der erforderlichen Verwal- tungsvorschriften Münzges. Art. 8 Abs. 1. Für die Feststellung des Einlösungs-Werthes sind jedoch für die im Art. 15 des Münzges. aufgeführten Münzsorten die- jenigen Werthe maßgebend, welche daselbst diesen Münzen bis zu ihrer Außerkurssetzung bei allen Zahlungen gesetzlich beigelegt worden sind. . Es ist ferner der für die Finanzwirthschaft wichtige Grund- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. satz angenommen worden, daß die Einlösung aller Münzen deutschen Gepräges für Rechnung des Reiches erfolgt Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 11. Münzges. Art. 7. Die Gründe dieser Anordnungen sind in den Motiven zum Münzgesetz S. 75 fg. auseinander- gesetzt. ; ein Satz der selbstverständlich die Einzelstaaten von der Einlösungspflicht der von ihnen geprägten Münzen gegen die Inhaber derselben rechtlich nicht befreit, ihnen aber den Anspruch auf Kostenersatz gegen die Reichskasse gewährt. Die Abwicklung des Einlösungsgeschäfts selbst dagegen ist den Einzelstaaten hinsichtlich der von ihnen geprägten oder in ihren Gebieten als gesetzliches Zahlungsmittel anerkannten deutschen Mün- zen übertragen; sie haben demnach die mit der Einlösung beauf- tragten Kassen zu bezeichnen und mit den erforderlichen Anwei- sungen zu versehen Einige dieser einzelstaatl. Anordnungen sind abgedruckt bei Soetbeer S. 151 fg. ; sie haben ferner die eingezogenen Beträge an das Reich abzuliefern und Rechnung zu legen Uebersichten über die für Rechnung des Reiches zur Einziehung ge- langten Landes-Silber- und Kupfermünzen werden allmonatlich im Centralblatt für das Dentsche Reich veröffentlicht. Ueber die Resultate des Einlösungs-Ge- schäftes geben die Denkschriften des Reichskanzlers eingehende Mitthei- lungen. . 6. Die vom Reiche an Stelle der Landeswährung eingeführte Reichswährung besteht aus zwei Gattungen von Münzen, Reichs- Goldmünzen und Reichs-Scheidemünzen Die Reichs-Goldmünzen sind Kronen (zu 10 Mark, 139 ½ Stück aus Einem Pfunde feinen Goldes), Doppelkronen und halben Kronen . Allerh. Erl. v. 17. Febr. 1875. R-.G.-Bl. S. 72. Die näheren Anordnungen über Gewicht, Mischungsverhältnisse und Ausprägung sind enthalten in dem Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §§. 1—5 und in dem Münzgesetz Art. 2. Die Reichs- Scheidemünzen sind entweder Silber münzen oder sie sind Nickel - oder Kupfer münzen nach näherer Anordnung des Art. 3 des Münzgesetzes. . Nur den Reichs-Goldmünzen kömmt der Charakter als Geld d. h. als ge- setzliches Zahlungsmittel vollständig und unbedingt zu; Reichs- Scheidemünzen dagegen sind grundsätzlich nur zu Zahlungen von geringfügigen Beträgen und zur Ausgleichung der in Goldmünzen nicht zahlbaren Restbeträge bestimmt. Die Reichswährung ist dem- nach eine einheitliche, nämlich reine Goldwährung; alle Münzen aus anderem Metall sind vom Reiche zwar zu ihrem Nennwerthe §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. wie die Goldmünzen ausgegeben, ohne daß ihnen aber die Geld- eigenschaft absolut beigelegt ist. Hieraus ergeben sich zwei Rechts- sätze, welche den juristischen Charakter der Scheidemünzen im Gegensatz zu den Goldmünzen bestimmen, nämlich. a ) Niemand ist verpflichtet, Reichs silber münzen im Betrage von mehr als 20 Mark und Reichs- Nickel - und Kupfer münzen im Betrag von mehr als einer Mark in Zahlung zu nehmen Münzges. Art. 9 Abs. 1. . b ) Das Reich ist verpflichtet, Reichs-Scheidemünzen gegen Reichs-Goldmünzen umzutauschen. Hinsichtlich dieser Verpflichtung ist die Anordnung getroffen, daß zunächst von allen Reichs- und Landeskassen Reichs- Silber münzen in jedem Betrage in Zah- lung genommen werden; ferner daß an gewissen, vom Bundes- rath zu bezeichnenden Kassen Dieselben sind auf Grund eines Bundesrathsbeschlusses vom Reichskanzler in der Bekanntmach. v. 19. Dezemb. 1875 aufgeführt. Centralblatt 1875 S. 802. , Reichssilbermünzen in Beträgen von mindestens 200 Mark und Reichs- Nickel- und Kupfermünzen in Beträgen von mindestens 50 M. auf Verlangen gegen Reichs- goldmünzen umgetauscht werden Mit Rücksicht auf diese jurist. und wirthschaftliche Bedeutung der Scheide- münzen ist in das Münzgesetz Art. 4 und Art. 5 die Verwaltungs-Vor- schrift aufgenommen, daß der Gesammtbetrag der Reichssilbermünzen bis auf Weiteres 10 Mark und der Gesammtbetrag der Nickel- und Kupfermünzen 2½ M. für den Kopf der Bevölkerung des Reiches nicht übersteigen soll. . Der Bundesrath ist er- mächtigt, die näheren Bedingungen des Umtausches festzusetzen Münzges. Art. 9 Abs. 2. . Von diesen Grundsätzen besteht aber gegenwärtig noch eine Ausnahme, indem die Thalerstücke deutschen Gepräges im gesammten Bundesgebiete den Reichs- Gold münzen unter Berech- nung des Thalers zu drei Mark gleichgestellt sind, so lange sie nicht außer Kurs gesetzt werden Münzges. Art. 15 Ziff. 1. Daselbst sind auch die Zweithaler-Stücke genannt, dieselben sind aber auch seit dem 15. Nov. 1876 außer Kurs gesetzt. V. v. 2. Nov. 1876. R.-G.-Bl. S. 221. . Den Thalerstücken deutschen Gepräges stehen die in Oesterreich bis zum Schlusse des Jahres 1867 geprägten Vereinsthaler gleich Ges. v. 20. April 1874. R.-G.-Bl. S. 35. . Der Bundesrath ist nach dem Münzgesetz Art. 8 zur Außerkurssetzung aller Landesmünzen, also auch der Thaler befugt; dies ist nachträglich durch die An- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. ordnung ergänzt worden, daß der Bundesrath auch befugt ist, zu bestimmen, daß die Einthalerstücke deutschen Gepräges sowie die in Oesterreich bis zum Schlusse des Jahres 1867 geprägten Ver- einsthaler bis zu ihrer Außerkurssetzung nur noch an Stelle der Reichs silber münzen, unter Berechnung des Thalers zu drei Mark, in Zahlung anzunehmen sind Ges. v. 6. Januar 1876. R.-G.-Bl. S. 3. Wenn der Bundesrath von dieser Befugniß Gebrauch macht, entsteht hinsichtlich der Thalerstücke deutschen Gepräges für die Reichskassen die Verpflichtung zum Umtausch gegen Reichs- Goldmünzen in demselben Umfange, wie dies im Art 9 Abs. 2 des Münz- gesetzes hinsichtlich der Reichssilbermünzen angeordnet ist; hinsichtlich der Ver- einsthaler Oesterreich. Gepräges besteht dagegen für das Reich weder eine Ver- pflichtung zur unbeschränkten Annahme noch zum Umtausch (Einlösung). . So lange der Bundesrath die Einthalerstücke weder den Reichssilbermünzen gleichgestellt noch gänzlich außer Kurs gesetzt hat, ist in Deutschland die reine Goldwährung nicht völlig durch- geführt; es besteht vielmehr interimistisch eine sogen. Doppelwäh- rung, indem sowohl die goldenen Reichsmünzen als die silbernen Thalerstücke uneingeschränkt die rechtliche Eigenschaft des Geldes haben. 7. Die einzelnen Stücke der als gesetzliche Währung an- erkannten Münzsorten haben den Charakter als Geld nur unter der Voraussetzung, daß ihr Gewicht und Gehalt unversehrt und ihr Gepräge erkennbar ist. Verlieren sie diese Eigenschaften, so braucht sie Niemand mehr in Zahlung zu nehmen; sie hören auf „Geld“ zu sein und es kann für den Staat, welcher sie ausge- geben hat, die Verpflichtung zur Einlösung begründet sein. Hier ist nur aber zu unterscheiden zwischen der Abnutzung der Münzen durch den gewöhnlichen Umlauf, welche unvermeidlich mit dem Dienste, den die Münzen zu leisten haben, verbunden ist, und anderweitigen Beschädigungen z. B. durch Beschneidung, Ab- feilen, Durchlöcherung u. s. w. Im letzteren Fall findet weder eine Verpflichtung, im Gewicht verringerte oder verfälschte Münz- stücke in Zahlung zu nehmen, noch ein Anspruch gegen das Reich oder die Einzelstaaten auf Umtausch statt Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 9. (Goldmünzen). Münzgesetz Art. 10 Abs. 1. (Scheidemünzen). , gleichviel ob die Be- schädigung auf einem Verschulden oder auf einem zufälligen Ereig- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. nisse beruht „Wer echte, zum Umlauf bestimmte Metall-Geldstücke durch Beschneiden, Abfeilen oder auf andere Art verringert und als vollgültig in Verkehr bringt, oder wer solche verringerte Münzen gewohnheitsmäßig oder im Einverständnisse mit dem, welcher sie verringert hat, als vollgültig in Verkehr bringt, wird mit Gefängniß bestraft, neben welchem auf Geldstrafe bis zu 3000 Mark, sowie auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Der Versuch ist strafbar“. Reichs- Strafgestzb . §. 150. Nach einer auf Grund des Art. 7 der R.-V. erlassenen Verordnung des Bundesrathes v. 24. März 1876 sind gewaltsam beschädigte Reichsmünzen von allen Reichs- und Landes- kassen anzuhalten und entweder den zuständigen Behörden behufs Einleitung des Strafverfahrens einzusenden oder — falls der Verdacht eines Münzvergehens gegen eine bestimmte Person nicht vorliegt — durch Zerschlagen oder Einschnei- den für den Umlauf unbrauchbar zu machen und dem Einzahler zurückzugeben. Centralblatt 1876 S. 260. . Dagegen hat das Reich die mit dem ordnungs- mäßigen Gebrauch der Reichsmünzen verbundene Gefahr der Abnutzung übernommen und eine Einlösungspflicht derselben aner- kannt. Dabei besteht aber zwischen Goldmünzen und Scheidemün- zen eine rechtliche Verschiedenheit, die auf der Verschiedenheit des Materialwerthes beruht. a ) Bei Goldmünzen besteht ein sogenanntes Passir- gewicht . Wenn das Gewicht der Kronen und Doppelkronen um nicht mehr als 5 Tausendtheile und das Gewicht der halben Kronen nicht mehr als 8 Tausendtheile hinter dem gesetzlichen Normalgewicht zurückbleibt und die Verringerung des Gewichtes nicht durch gewaltsame oder gesetzwidrige Beschädigung hervorge- bracht ist, so sollen sie bei allen Zahlungen als vollwichtig gelten Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 9 Abs. 1. Münzgesetz Art. 2. Um das Normalgewicht und das Passirgewicht der Reichsgoldmünzen leicht feststellen zu können, sollen Gewichtsstücke zur Eichung und Stempelung zugelassen werden, welche diesen Gewichten oder einem Vielfachen derselben entsprechen. Ges. vom 4. Dezemb. 1871 §. 12 und dazu die Bekanntmachung der Normal-Eichungs- Kommission vom 31. Januar 1872. (Beilage zu Nr. 12 des R.-G.-Bl. 1872 S. III. ) . Sie dürfen daher weder von öffentlichen Kassen noch von Privatpersonen, denen sie in Zahlung angeboten werden, zurückge- wiesen werden und sie können von Neuem in Cirkulation gesetzt werden Das Gesetz sagt: sie gelten als vollwichtig; es schafft also eine Rechts- fiction; der Beweis, daß die Münze das Normalgewicht nicht habe, ist uner- heblich und befreit nicht von der Verpflichtung, sie anzunehmen. . §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Goldmünzen dagegen, welche das Passirgewicht nicht erreichen, brauchen von Niemandem in Zahlung angenommen zu werden; ihre Cirkulation (Verausgabung) zum vollen Nennwerthe ist indeß nicht untersagt. Nur den Reichs-, Staats-, Provinzial- oder Kommunal- kassen, ferner den Geld- und Kreditanstalten und den Banken ist es verboten, wenn sie Goldmünzen dieser Art in Zahlung empfangen haben, dieselben wieder auszugeben Ges. v. 4. Dez. 1871 §. 9 Abs. 2. . Alle Kassen des Reichs und der Bundesstaaten sind verpflichtet, abgenutzte Reichsgoldmünzen, welche das Passirgewicht nicht mehr erreichen, zu dem vollen Werthe, zu welchem sie ausgegeben worden sind, anzunehmen; sie werden für Rechnung des Reiches zum Ein- schmelzen eingezogen §. 9 Abs. 3 ebendas. Die näheren Anordnungen über das von den Reichs- und Landeskassen zu befolgende Verfahren sind in dem Beschluß des Bundesrathes vom 24. März 1876 Centralbl. S. 260 getroffen. . b ) Bei den Reichs-Scheidemünzen ist ein Passirgewicht gesetzlich nicht fixirt; sie können trotz der Abnutzung auch von öffent- lichen Kassen, welche sie in Zahlung genommen haben, wieder in den Verkehr gebracht werden. Eine rechtliche Verpflichtung, unter bestimmt gegebenen Voraussetzungen, sie aus dem Verkehr zu ziehen oder sie umzutauschen, besteht nicht; dagegen ist die all- gemeine Anordnung getroffen worden, daß Reichs-Scheidemünzen (Silber-, Nickel- und Kupfermünzen), welche in Folge längerer Cirkulation und Abnutzung an Gewicht oder Erkennbarkeit erheb- lich eingebüßt haben, auf Rechnung des Reiches einzuziehen sind Münzges. Art. 10 Abs. 2. Bundesrathsbeschl. vom 24. März 1876 a. a. O. . III. Die Herstellung der Reichsmünzen . 1. Die Einzelstaaten haben vor Errichtung des Reiches neben der Münzhoheit und im engsten Zusammenhange mit derselben das Münzmonopol d. h. die ausschließliche Befugniß zur Herstellung der Metall-Geldstücke gehabt. Das Reich hat den Einzelstaaten die Münzhoheit entzogen, die Ausprägung der Reichsmünzen da- gegen gelassen. Das Reich hat keine Münzpräge-Anstalt errichtet oder die von den Einzelstaaten betriebenen in Reichsverwaltung übernommen, sondern es hat gesetzlich den Grundsatz sanctionirt, §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. daß die Reichsmünzen auf den Münzstätten der Bundes- staaten , welche sich dazu bereit erklären, ausgeprägt werden Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 6 Abs. 1. Münzges. Art. 3 §. 4. . Auch ist der Privat-Industrie die Ausprägung nicht freigegeben worden; das Monopol der Bundesstaaten ist vielmehr anerkannt und durch eine sehr strenge Straf-Androhung gegen Verletzung ge- schützt Das Strafgesetz b. §. 146 bedroht mit Zuchthaus nicht unter 2 Jahren Jeden, der inländisches oder ausländisches Metallgeld „ nachmacht “, ohne zu unterscheiden, ob das nachgemachte Geld dem echten an Gehalt gleich- steht, oder ob es hinter ihm zurückbleibt. Es bestraft die Privat-Herstellung vollwerthigen Geldes (sog. Nachprägung) ganz so wie die eigentliche Münz- fälschung. . Eine Verpflichtung einzelner Staaten, Münzanstalten zu be- treiben und Reichsmünzen auf denselben anzufertigen, besteht nicht; die Ausprägung wird nur denjenigen Staaten übertragen, welche sich zur Uebernahme derselben bereit erklären. Die Errichtung von Münzstätten steht aber jedem deutschen Staate frei, auch den- jenigen, welche bei Erlaß des Münzgesetzes keine Münzstätten hatten Anwendung von dieser Befugniß hat Hamburg gemacht, welches seit Beginn des Jahres 1875 eine Münzstätte in Betrieb gesetzt hat. . 2. Die Münzstätten müssen die Münzen genau nach dem vom Reich aufgestellten Vorschriften ausprägen, sowohl in Beziehung auf Gewicht und Feingehalt, als auch hinsichtlich der Form, der Inschriften und Verzierungen, der Ränder u. s. w. Soweit diese Vorschriften nicht durch Reichsgesetz ertheilt sind, hat der Bundes- rath dieselben zu erlassen Ges. v. 4. Dez. 1871 §. 5. Münzges. Art. 3. Dies ist geschehen durch die Beschlüsse des Bundesrathes v. 7. Dezemb. 1871 und vom 8. Juli 1873. . Jedes Münzstück muß mit dem Münzzeichen versehen sein Das Münzzeichen besteht in einem großen lateinischen Buchstaben; die für die einzelnen Münzstätten bestimmten Buchstaben richten sich nach der im Art. 6 der R.-V. festgestellten Reihenfolge der Staaten, so daß die Buchstaben A B C den 3 preußischen Münzstätten, D Bayern, E Sachsen u. s. w. zu- kommen. Bundesraths-Beschluß v. 7. Dezemb. 1871 Ziff. 1 und v. 16. Oktob. 1874. . Auf den Goldmünzen und auf den Silbermünzen über 1 Mark ist auf der einen Seite der Münzen (Avers) das Bildniß des Landesherrn beziehungsweise das Hoheits- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. zeichen der freien Städte mit einer entsprechenden Umschrift anzu- bringen Ges. v. 4. Dez. 1871 §. 5. Münzges. Art. 3 §. 2. . Welche Landesherren auf den Münzen abzubilden seien, ist in den Münzgesetzen nicht bestimmt; es versteht sich von selbst, daß jede Münzanstalt mit dem Bildniß des Landesherrn prägt, dem sie angehört Mit der Souveränetät der Deutschen Staaten hat das Bildniß der Fürsten auf den Münzen nichts zu thun; diejenigen Staaten, welche keine Münzstätten haben, sind genau eben so sehr oder eben so wenig souverain wie die andern. Eher könnte man das Bildniß der Landesherrn mit der Ausübung des Münzmonopols in Verbindung bringen. Die volksthümliche Anschau- ung hat sich freilich seit Jahrhunderten daran gewöhnt, in dem Bildniß des Fürsten ein Symbol der Münzhoheit d. h. der Staatsgewalt zu erblicken und mit Rücksicht auf diese, den früheren Rechtszuständen Deutschlands entstammende, volksthümliche, aber staatsrechtlich nicht mehr zutreffende, An- schauung hat die Reichsgesetzgebung gestattet, daß die Reichsmünzen mit den Bildnissen der Landesherren bestempelt werden. Erörterungen darüber, welche aber das Wesen der Sache nicht treffen, finden sich in den Verhandlungen des Reichstages 1871 II. Session Stenogr. Berichte Bd. I. S. 335 ff. ; die Fassung der Gesetze läßt es aber zu, daß eine Münzanstalt aus Gefälligkeit auch Münzen mit dem Bildniß ande- rer deutschen Landesherren oder dem Hoheitszeichen einer freien Stadt prägt. Bei den Goldmünzen und Silbermünzen über 1 Mark sind demnach die Reversseite und der Rand bei sämmtlichen Stücken derselben Sorte gleich, die Aversseite dagegen ist nach den Münzstätten verschieden; bei den übrigen Scheidemünzen sind beide Seiten gleich. Um die möglichste Gleichförmigkeit des Ge- präges zu sichern, sind die Urmatrizen für die übereinstimmend auf allen Münzstätten zu prägenden Seiten der Reichsmünzen, für den Rand und die Zahlen in der Münzstätte zu Berlin angefertigt worden und allen übrigen Münzanstalten werden Matrizen, welche mittelst dieser Urmatrize hergestellt sind, überwiesen Bundesraths-Beschl. v. 7. Dezemb. 1871 Ziff. 4 und v. 8. Juli 1873 Z. 20 (Abgedruckt in der I. und III. Denkschrift von 1872 und 1874). . Nicht nur das Gepräge, sondern auch das von den Münz- stätten zu beobachtende Verfahren bei der Ausprägung wird vom Bundesrath festgestellt und von Seiten des Reiches beaufsichtigt Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 7. Münzges. Art. 3 §. 1 Abs. 3 und §. 4. Der Bundesrath hat das zu beobachtende Verfahren geregelt durch die Be- schlüsse v. 7. Dezemb. 1871 (Ziff. 7—13) und v. 8. Juli 1873 Ziff. 5—17. . §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Die Münzstätten dürfen keine Gold- oder Silber-Münzen zur Ver- ausgabung abliefern, welche von dem gesetzlichen Normalgewicht im Mehr oder Weniger weiter abweichen, als es in den Münzge- setzen für die einzelnen Münzsorten vorgeschrieben ist Diese sogenannte „ Toleranz “ beträgt für Doppelkronen und Kronen 2½ Promille des Gewichts und 2 Promille des Feingehaltes (Ges. v. 4. Dez. 1871 § 7); für halbe Kronen 4 Promille des Gewichts (Münzges. Art. 2); für Silbermünzen im Feingehalt 3 Promille, im Gewichte — mit Ausnahme der 20 Pf.-Stücke — 10 Promille. (Münzges. Art. 3 §. 1 Abs. 3). . Für die Gewichts- und Gehaltsprüfung der Gold- und Silbermünzen (sogen. Justirung) ist durch die vom Bundesrath erlassenen Vor- schriften ein sorgfältiges Verfahren und eine strenge Kontrole vor- geschrieben Vgl. darüber Soetbeer S. 47 ff. 73 ff. . 3. Die Beaufsichtigung der Landes-Münzstätten Seitens des Reiches erfolgt durch Kommissare , welche der Reichs- kanzler ernennt. Dieselben haben örtliche Revisionen der Münz- stätten vorzunehmen und dabei über die Befolgung der vom Bun- desrath erlassenen Vorschriften und über das gesammte Verfahren bei der Ausprägung sich Kenntniß zu verschaffen. Sie sind be- fugt die Register und Journale, die im Betriebe befindlichen Gold- bestände nnd neugeprägten Reichsmünzen zu untersuchen. Die Münzbeamten müssen sie bei den Revisionsgeschäften unterstützen Bundesrathsbeschluß v. 7. Dezemb. 1871 Ziff. 14 und vom 8. Juli 1873 Nro. 21. . Auch muß jede Münzstätte alljährlich über die bei ihr erfolgten Geldausprägungen an das Reichskanzler-Amt einen amtlichen Be- richt abstatten Nach näherer Anordnung des Bundesbeschl. v. 7. Dez. 1871 Ziff. 13. . 4. Die Einzelstaaten prägen die Münzen auf Bestellung und auf Kosten des Reiches Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 6 Abs. 1. Münzges. Art 7. . Durch Ertheilung und Annahme einer Bestellung wird zwischen dem Reich und dem Einzelstaat ein Ver- trag privatrechtlichen Inhaltes abgeschlossen, der die entgeltliche Leistung einer Arbeit zum Gegenstande hat. Ueber den Abschluß und Inhalt dieses Vertrages gelten folgende Rechtsregeln: a ) Der Reichskanzler bestimmt unter Zustimmung des Bundes- rathes, wie große Beträge in jeder einzelnen Münzsorte für Rech- §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. nung des Reiches ausgeprägt werden sollen und wie diese Beträge auf die einzelnen Münzstätten vertheilt werden Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 6 Abs. 2. Münzges. Art. 3 §. 4. Den Maßstab für die Vertheilung bildet nach der vom Bundesrath befolgten Praxis die Leistungsfähigkeit der einzelnen Münzstätten, wie diese sie selbst angeben. . b ) Die Münzstätten liefern das Material zu den Münzen nicht; ihre Leistung beschränkt sich ausschließlich auf die Präge-Ar- beit; die Münzmetalle schafft der Reichskanzler an und liefert die erforderlichen Mengen den einzelnen Münzstätten Ges. v. 4. Dez. 1871 und Münzges. a. a. O. Für die Ausprägung der Nickel- und Kupfermünzen wird den Münzstätten das Metall in Form von Münzplättchen, also schon vorbereitet, geliefert. Bundesraths-Beschluß v. 8. Juli 1873 Ziff. 18 Abs. 2. . c ) Die Einzelstaaten tragen sämmtliche Kosten, welche mit der Einrichtung, der Erhaltung und dem Betriebe der Münz-Präge- anstalten verbunden sind, insbesondere auch die Bezahlung der Arbeiter und Beamten; sie tragen ferner allemeinen Rechtsgrund- sätzen gemäß die Gefahr für das von ihnen übernommene Münz- metall und haften für die in den Münzstätten beschäftigten Arbeiter und Beamten. d ) Das Reich bezahlt den Einzelstaaten einen Prägelohn als Vergütung für die sämmtlichen Kosten der Prägung, welcher vom Reichskanzler unter Zustimmung des Bundesrathes gleichmäßig für sämmtliche Münzstätten festgestellt wird Ges. v. 4. Dezemb. 1871 §. 6 Abs. 2. Münzgesetz Art. 3 §. 4. . Die Bevorzugung einer Münzstätte vor einer andern ist unzulässig. Die Prägege- bühr ist für die einzelnen Münzsorten nach Verhältniß der zur Ausprägung erforderlichen Arbeitsleistung abgestuft Die ursprünglich vom Bundesrath durch die Beschlüsse vom 7. Dez. 1871 und v. 8. Juli 1873 festgesetzten Gebühren sind später verändert worden und zwar sind die Prägegebühren für Goldmünzen sehr erheblich herabgesetzt, die für Kupfermünzen dagegen erhöht worden. Gegenwärtig kommen die Gebühren in Ansatz, welche der Bundesrath durch Beschluß v. 29. Mai 1875 (Vierte Denkschrift S. 4) festgesetzt hat. Danach beträgt die Gebühr für Ausmünzung eines Pfundes Feingold in Doppelkronen 2,75 M., in Kronen 4,75 M., in Halbkronen 6,75 M. Für die Silbermünzen steigt die Prägegebühr von ¾ % (bei den Fünfmark-Stücken) bis zu 4 % (bei den Zwanzigpfennigstücken) und bei den Rickel- und Kupfermünzen von 3 % bis zu 30 % des ausgeprägten Nominalwerthes. . 5. Die Ausgabe von Scheidemünzen , mit Einschluß §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. der Silbermünzen, ist ein Monopol des Reiches . Es ist dies die nothwendige Folge der Unterwerthigkeit der Scheidemünzen und der im Art. 9 Abs. 2 des Münzgesetzes anerkannten Verpflichtung des Reiches, gegen Einlieferung von Reichsscheidemünzen Reichs- goldmünzen zu verabfolgen. Die Einzelstaaten dürfen daher auf ihren Münzstätten Silber- Nickel- und Kupfermünzen nur im Auf- trage d. h. auf Bestellung des Reiches ausprägen und dieselben nur für Rechnung des Reiches in Cirkulation setzen. Weder dürfen sie für eigene Rechnung Reichsscheidemünzen anfertigen und ver- ausgaben, noch die Ausprägung auf Bestellung von Privatpersonen übernehmen Münzges. Art. 7. . 6. Dagegen besteht hinsichtlich der Reichsgoldmünzen , also der eigentlichen vollwerthigen Geldstücke, weder für das Reich noch für die Einzelstaaten die ausschließliche Befugniß, dieselben in Umlauf zu setzen. Das Münzgesetz hat im Gegentheil das Prinzip sanctionirt, daß, sobald das Reich für den zunächst erfor- derlichen Vorrath gesorgt haben wird, es der Privatindustrie über- lassen bleiben soll, dem Bedürfniß nach Goldmünzen zu genügen. Demgemäß sind die Münzstätten der Einzelstaaten berechtigt und verpflichtet, für Rechnung und auf Bestellung von Privatper- sonen die Ausprägung von Reichsgoldmünzen zu übernehmen Münzges . Art. 12 Abs. 2. Das Gesetz erwähnt nur die Ausprägung von Zwanzigmark-Stücken. Dies ist aber nicht mit Soetbeer S. 93 (ebenso der Bearbeiter des Münzgesetzes in Hirth’s Annalen 1874 S. 593) dahin aus- zulegen, daß dem Besteller ausschließlich Doppelkronen geliefert werden müssen und er befugt sei, andere Goldmünzen zurückzuweisen. Der Besteller ist viel- mehr verpflichtet, sich die Lieferung von Doppelkronen, deren Ausprägung am wenigsten Kosten macht, gefallen zu lassen; er ist nicht befugt, Kronen oder Halbkronen zu verlangen . Wenn ihm ohne Erhöhung der Prägege- bühr Kronen geliefert werden, so kann er sie nicht zurückweisen; seiner Verufung auf Art. 12 des Münzges. würde die exceptio »tua non interest« entgegen- stehen. Vgl. auch Bundesrathsbeschluß v. 29. Mai 1876. II. Ziff. 5. . Zwischen der Privatperson, welche die Fabrikation von Reichs- goldmünzen bestellt, und der Münzstätte, welche die Bestellung angenommen hat, wird ein Vertrag abgeschlossen, welcher nach Art. 272 Ziff. 1. des Handelsgesetzbuchs ein Handelsgeschäft ist Wenn über die Erfüllung oder Nichterfüllung desselben ein Rechtsstreit entsteht, so müssen die Vorschriften in Buch IV. Titel 1 des H.-G.-B.’s An- wendung finden. . §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Das Reich hat aber eine Anzahl von Vorschriften erlassen, durch welche die Vertragsfreiheit der Einzelstaaten bei Abschluß dieser Geschäfte erheblich eingeschränkt wird, damit die Privatpersonen dem Reiche nicht auf dessen eigene Kosten hinsichtlich der Münz- prägung Concurrenz machen können und damit unter den Einzel- staaten selbst keine unpassende Concurrenz stattfinde. Diese Vor- schriften sind folgende: a ) Keine Münzstätte darf die Prägung für Privatpersonen übernehmen, wenn sie sich nicht zur Ausprägung auf Reichsrechnung bereit erklärt hat Praktisch ist dies ohne Belang, da sämmtliche in Deutschland be- stehenden Münzstätten (9) sich zur Ausprägung sowohl für Reichsrechnung als für Privatrechnung bereit erklärt haben. , und sie darf die Bestellung für Privatpersonen nur ausführen, soweit sie nicht für das Reich beschäftigt ist. Die Bestellungen des Reiches haben also den Vorrang Münzges. Art. 12 Abs. 2. b ) Die Gebühr, welche für solche Ausprägungen zu erheben ist, wird vom Reichskanzler unter Zustimmung des Bundesrathes festgestellt, darf aber das Maximum von 7 Mark auf das Pfund sein Gold nicht übersteigen ebendas. Art. 12 Abs. 3. Durch den Bundesrathsbeschl . vom 29. Mai 1875 ist die Prägegebühr auf drei Mark normirt worden. Dieser Satz er- giebt sich von selbst durch die Anordnung des Bankgesetzes §. 14, wonach die Reichsbank verpflichtet ist, Barrengold zum festen Satze von 1392 Mark zu kaufen. Vgl. oben S. 391. . c ) Diese Gebühr wird unter das Reich und den Einzelstaat, welcher die Münzfabrik betreibt, in der Art vertheilt, daß der Einzelstaat für die Ausprägung für Privatrechnung ebensoviel er- hält, als das Reich für die Ausprägung bezahlt, während der Ueberschuß in die Reichskasse fließt. Der Einzelstaat hat demnach kein Interesse daran, ob er für Reichsrechnung oder für Privat- rechnung die Prägung besorgt; er erhält in beiden Fällen die gleiche Vergütung Dieselbe beträgt nach dem Bundesraths-Beschl. v. 29. Mai 1875 (siehe oben S. 431 Note 4) 2,75 M. für das Pfund sein Gold in Doppelkronen. Falls die Münzstätten mit Genehmigung des Bundesrathes (resp. Reichskanz- lers) die Ausprägung in Zehnmarkstücken vornehmen, so wird ihnen das dafür gebührende Mehr des Prägelohnes zum Betrage von 2 Mark für das Pfund Feingold aus der Reichskasse vergütet. Vgl. Bundesraths-Beschl. v. 13. Novemb. 1875 Ziff. 3 a. ( Fünfte Denkschrift S. 4). Auch wurde beschlossen, . Der dem Reiche verbleibende Ueberschuß, Laband , Reichsstaatsrecht. II. 28 §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. welcher für das Pfund Gold (1395 M.) nur noch 25 Pfennig beträgt, bildet ein Aequivalent für die Verpflichtung des Reiches, die durch den Gebrauch abgenutzten und unter das Passirgewicht verringerten Goldmünzen zum vollen Nennwerthe in Zahlung zu nehmen und einzuziehen. (Vergl. oben S. 427.) d ) Die Ermittelung des Feingehaltes erfolgt auf Kosten des Einlieferers; von jedem Barren werden 2 Proben gemacht, wofür zusammen 3 Mark zu entrichten sind Die näheren Anordnungen enthält der Bundesraths-Beschl. vom 29. Mai 1875. (Bekanntmach. des Reichskanzlers v. 8. Juni 1875 im Centralbl. 1875 S. 349.) . IV. Die Ausgabe von Papiergeld . 1. Der Ausdruck Papiergeld wird in einem doppelten Sinne verstanden, einem juristischen und einem unjuristischen (volkswirth- schaftlichen). Im juristischen Sinne ist Papiergeld das, was der Wortlaut aussagt: Geld aus Papier, also Geld d. h. ein durch Rechtssatz als allgemeines Zahlungsmittel anerkanntes Werth- zeichen. Für den Begriff des Geldes ist es ganz unerheblich, woraus das Material dieses Werthzeichens besteht, ob aus Gold oder Kupfer oder Papier; rechtlich kommt allein der Rechtssatz in Betracht, durch welchen das Werthzeichen zum allgemeinen Zahlungsmittel von einem abstracten Werthe erklärt wird Der richtige Begriff des Papiergeldes wird am besten entwickelt von E. J. Bekker im Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts. Bd. I. S. 321 ff. und von Thöl , Handelsr. 5. Aufl. I. 2. S. 35. Vgl. auch Hartmann , Begriff des Geldes S. 55 ff. Stein , Handb. der Verwaltungslehre (2. Aufl.) S. 446 ff. . Im volkswirthschaftlichen Sinne versteht man dagegen unter Papiergeld außer dem wirk- lichen Gelde aus Papier auch alle auf eine bestimmte Geldsumme lautenden Inhaberpapiere, welche im Publikum thatsächlich an daß falls sich am Ende des Jahres (1875) ergibt, daß die gesammten , in diesem Jahre auf Reichs - und Privatr echnung erfolgten Goldausprägungen der Deutschen Münzstätten sich auf diese Münzstätten in einem andern als dem vom Bundesrath festgestellten Verhältnisse vertheilt haben, eine Ausgleichung entweder durch Anrechnung der Mehrleistungen auf die künftig von Reichswegen zu vertheilenden Goldmengen oder in anderer Weise herbeigeführt werden soll. Dies Alles führt auf das Prinzip zurück, daß verwaltungsrechtlich die Ausprägungen auf Privatrechnung ganz ebenso behandelt werden als wenn sie auf Bestellung des Reiches erfolgten . §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Stelle des Geldes cirkuliren, d. h. die man behufs Begründung oder Tilgung von Schuldverhältnissen an Zahlungsstatt giebt und nimmt. Papiergeld im Rechtssinn ist eine Sache wie Metallgeld, keine bloße Urkunde über eine Forderung; ihr Werth beruht nicht auf dem Material und ebensowenig auf dem „Credit“ des Emittenten, sondern auf dem Rechtssatz , der ihr die Geld- qualität verleiht. Papiergeld repräsentirt im Rechtssinne niemals eine Obligation; der Inhaber hat kein Forderungsrecht gegen irgend Jemanden auf Einlösung; er ist nicht Gläubiger und der Staat, welcher das Papiergeld ausgegeben hat, ist nicht Schuldner; der Inhaber ist vielmehr Eigenthümer des papiernen Geld- stücks ganz in derselben Art wie er Eigenthümer eines gol- denen Geldstückes von gleichem Betrage wäre Vgl. Thöl a. a. O. und die treffenden Bemerkungen von Knies Das Geld. Berlin 1873 S. 266. . Der volks- wirthschaftliche Begriff von Papiergeld dagegen ist überhaupt gar kein Rechtsb egriff und es ist ein ganz vergebliches Bemühen, Rechtssätze, unter welchen er steht, aufzustellen Dies ist freilich sehr oft versucht worden, so namentlich mit dem größten Aufwande von Gelehrsamkeit von Goldschmidt , Handbuch des Handelsr. I. 2. S. 1061—1231, besonders S. 1197 ff. . Er umfaßt einerseits Geld, andererseits Schuldscheine der verschiedensten Art, welche nur das gemein haben, daß sie darauf eingerichtet sind, leicht cirkuliren zu können, d. h. daß sie auf Inhaber ge- stellt sind, auf eine festbestimmte (unverzinsliche) Geldsumme lauten, und daß sie nicht an einem bestimmten Tage fällig werden, son- dern daß der Emittent verspricht, sie jeder Zeit an gewissen Kassen entweder in Zahlung zu nehmen oder gegen Geld umzutauschen Bekker und Thöl nennen diese Papiere im Unterschied vom Papier- geld im juristischen Sinne ganz treffend: „Geldpapiere“. . Auf dem Glauben und der Hoffnung, daß dies wirklich geschehen werde, beruht die Geneigtheit des Publikums sie anstatt Gel- des in Zahlung zu nehmen und darauf wieder beruht ihre that- sächliche Verwendung an Stelle des Geldes. Sie repräsentiren Forderungsrechte resp. Schuldversprechungen; ihr Werth beruht nicht auf einem Rechtssatz, sondern auf der Zahlungsfähigkeit des Schuldners, also auf einer Thatsache. Zu dem Papiergelde in diesem Sinne gehören insbesondere auch die Banknoten. 28* §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. Die Gesetzgebung hat den Ausdruck Papiergeld aber vielfach nicht bloß in dem juristischen, sondern auch in dem unjuristischen Sinne angewendet, freilich stets auf Kosten der Klarheit und Deutlichkeit. Dies gilt auch von der Reichsgesetzgebung Vgl. auch Thöl a. a. O. S. 36. 37. . Die R.-V. Art. 4 Z. 3. überweist dem Reiche: „Die Feststellung der Grundsätze über die Emission von fundirtem und unfundirtem Papiergelde“. Die Zusammenstellung mit der Ordnung des „Maaß- Münz - und Gewichtssystems“ Mit welchem Mangel an Redactions-Kunst die R.-V. formulirt ist, kann man auch an dieser Stelle sehen, wo das „Maaß- und Gewichtssystem“ durch das dazwischen eingesprengte Münzsystem auseinander gerissen ist. in derselben Ziffer des Ar- tikels und die Trennung von dem Bankwesen (Banknoten) lassen darauf schließen, daß das Papiergeld mit dem Münzsystem in Zusammenhang gedacht werden soll, daß das Wort also im juristischen Sinne zu verstehen sei; die Hinzufügung der Worte „fun- dirt und unfundirt“, die für wirkliches Papiergeld keinen Sinn haben, deutet aber darauf hin, daß das Wort Papiergeld an dieser Stelle auch gewisse Inhaberobligationen (Geldpapiere) mit umfassen soll, und die vom Reiche auf Grund dieser Bestimmung erlassenen Gesetze betreffen auch in der That nicht blos das Pa- piergeld, sondern auch die Emission von Schuldscheinen. 2. Das Reich hat durch das Gesetz vom 16 Juni 1870 B.-G.-Bl. S. 507. , — zunächst vorläufig bis zur gesetzlichen Feststellung der Grundsätze über die Emission von Papiergeld, — den Einzelstaaten die Aus- gabe von Papiergeld untersagt , wenn nicht die Erlaubniß dazu dem Einzelstaat auf seinen Antrag vom Reich in der Form eines Reichsgesetzes ertheilt wird. Das Reich hat ferner durch das Münzgesetz Art. 18 Art. 3 den einzelnen Bundesstaaten die Verpflichtung auferlegt, das von ihnen ausgegebene Papiergeld spätestens bis zum 1. Januar 1876 einzuziehen und spätestens 6 Monate vor diesem Termin öffentlich aufzurufen. Das Ges. v. 30 April 1874 § 2 hat diese Vor- schrift in der Art verschärft, daß die Staaten das von ihnen ausgegebene Papiergeld spätestens bis zum 1. Juli 1875 zur Einlösung öffentlich aufzurufen und thunlichst schnell einzuziehen §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. haben Die Aufrufung selbst und die Anordnungen über die Einlösung ist den Einzelstaaten überlassen. Die von denselben erlassenen Verordnungen sind nur dem Bundesrath zur Kenntnißnahme vorgelegt worden. Vgl. Protokolle des Bundesraths 1875 §. 193. und daß zur Annahme von Staatspapiergeld vom 1. Januar 1876 an nur die Kassen desjenigen Staates verpflichtet sind, welcher das Papiergeld ausgegeben hat. Endlich hat das Reich den Bundesstaaten definitiv die Aus- gabe von Papiergeld untersagt, wofern ihnen nicht durch ein Reichs- gesetz die Erlaubniß dazu ertheilt wird Reichsges. v. 30. April 1874 §. 8. . Durch diese Bestimmungen ist es zunächst zweifellos, daß wirkliches Papiergeld im juristischen Sinne seit dem 1. Januar 1876 im Deutschen Reiche nicht mehr existirt und von den Einzel- staaten nicht mehr emittirt werden kann; d. h. daß Niemand, außer der Kasse des ausgebenden Staates rechtlich gezwungen werden kann, es in Zahlung zu nehmen Soweit solches Papiergeld cirkulirte, verlor es mit dem 1. Jannar 1876 die rechtliche Eigenschaft eines gesetzlich anerkannten Zahlungsmittels. . Die Motive des Gesetzes, die Verhandlungen des Reichstages, das gesammte Auslegungs-Material und die thatsächlich ausnahms- los und übereinstimmend befolgte Praxis weisen aber darauf hin, daß das Gesetz in dem Sinne zu verstehen ist, daß die Einzelstaaten auch Geld surrogate , denen die Eigenschaft des Geldes rechtlich fehlt, nicht ferner verausgaben dürfen resp. sie einlösen müssen Dies ergiebt sich namentlich aus der den Motiven beigefügten „Nach- weisung der Papiergeld-Emissionen des deutschen Reiches“. Alle hier aufge- führten Papiere sollten von den deutschen Staaten eingezogen werden und sind auch von ihnen eingezogen worden, obwohl der größte Theil derselben von Privatpersonen in Zahlung nicht genommen zu werden brauchte, also kein wirkliches Papiergeld war. . Das Verbot der Papiergeld-Ausgabe ohne Erlaubniß des Reiches hat seine juristische Analogie in dem Verbot der Banknoten- Ausgabe. Die Befuguiß, Inhaberpapiere , welche ihrer äußeren Beschaffenheit nach wie Geld cirkuliren können, ( Geldpapiere ) zu emittiren, kann nur durch ein vom Reich im Wege der Ge- setzgebung ertheiltes Privilegium erworben werden; und dieser Satz ist ganz unabhängig davon, ob die emittirten Inhaberpapiere §. 74. Die Verwaltung des Münzwesens. durch einen Rechtssatz zum allgemeinen Zahlungsmittel (Papiergeld) erklärt sind, oder ob ihnen die Geldeigenschaft mangelt Man kann dies auch so ausdrücken: Die deutschen Einzelstaaten können kein Papiergeld ausgeben (denn sie sind außer Stande ihren Zetteln die Eigenschaft eines allgemeinen Zahlungsmittels beizulegen) und sie dürfen keine Geldpapiere ausgeben (denn es ist ihnen dies vom Reich gesetzlich ver- boten ). . 3. Das Reich selbst hat Reichskassenscheine ausgegeben, welche im juristischen Sinne kein Papiergeld, sondern auf den In- haber lautende Schuldscheine des Reiches sind. Dieser rechtliche Charakter derselben ergiebt sich aus 2 Sätzen: a ) Im Privatverkehr findet ein Zwang zu ihrer Annahme nicht statt Ges. v. 30. April 1874 §. 5 Abs. 2. (R.-G.-Bl. S. 40.) . Es fehlt ihnen also die Geldqualität; sie sind kein ge- setzliches Zahlungsmittel. b ) Bei den Kassen des Reiches und sämmtlicher Bundesstaaten werden sie nicht blos nach ihrem Nennwerthe in Zahlung ange- nommen, sondern auch von der Reichs-Hauptkasse für Rechnung des Reichs jederzeit auf Erfordern gegenbaares Geldeingelöst a. a. O. §. 5 Abs. 1. . Sie enthalten also ein Schuldversprechen, welches durch Geldzah- lung erfüllt werden muß; folglich können sie selbst nicht Geld sein Die Scheidemünzen stehen zwischen wahrem Gelde und Reichskassen- scheinen in der Mitte. Bei Zahlungen bis zu einem gewissen Betrage haben sie die rechtliche Eigenschaft des Geldes , darüber hinaus nicht . Soweit sie als Geld nicht Verwendung finden können, sind sie wie die Reichskassenscheine von dem Reiche gegen vollgültiges Geld einzulösen. Vgl. oben S. 424. Sie ent- halten also zugleich ein eventuelles Zahlungsversprechen des Reiches; sie sind „metallene Geldpapiere“, die in gewissen Gränzen vom Reich mit der recht- lichen Eigenschaft des Geldes versehen worden sind. . Die Ausfertigung der Reichskassenscheine ist der „Reichsschul- den-Verwaltung“ übertragen Ges. v. 30. April 1874 §. 6. Vgl. Bd. I. S. 349 ff. ; die Kontrole über die Ausfertigung und Ausgabe der Reichskassenscheine übt die „Reichsschulden-Kom- mission“ §. 7 Abs. 2. eod. Vgl. Bd. I. S. 354. . Die Reichskassen-Scheine sind an die einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe der Bervölkerung vertheilt worden; an diejenigen, welche Papiergeld (oder Geldpapiere) in Umlauf gesetzt hatten, mit §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. der Verpflichtung, die Reichskassen-Scheine zur Einziehung des Staatspapiergeldes zu verwenden §. 3 u. §. 4 eod. Diese Vorschriften enthalten keine Rechtssätze, welche die Emission von Papiergeld betreffen, sondern volkswirthschaftliche und staats- wirthschaftliche Maßregeln. . §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens Gesetzgebung. Maß- und Gewichts-Ordnung f. den Nordd. Bund v. 17. August 1868. B.-G.-Bl. S. 473. Motive dazu in den Drucksachen des Reichstages 1868. Aktenstück Nro. 76. Kommissions- Bericht ebendas. Nro. 107. Verhandlungen des Reichstages Stenogr. Berichte S. 397 ff. 430. Sie ist mit dem 1. Januar 1872 in Kraft getreten. Inzwischen hat sie für Baden, Südhessen und Württemberg Gesetzeskraft erhalten durch die vereinbarte Verfassung Art. 80 I. Nro. 11. (B.-G.-Bl. 1870 S. 647. 654); in Bayern durch das R.-G. v. 26. Nov. 1871 (R.-G.-Bl. S. 397). In Elsaß-Lothringen ist sie am 1. Juli 1875 in Kraft ge- treten in Folge des R.-G. v. 19. Dezember 1874 (R.-G.-Bl. 1875 (S. 1). Art. 4 der M.- u. Gew.-Ordn. ist aufgehoben worden durch das R.-G. v. 7. Dezemb. 1873. (R.-G.-Bl. S. 377). Eichordnung v. 16. Juli 1869. (B.-G.-Bl. 1869 Beilage zu Nro. 32.) Eichgebührentaxe v. 12. Dezember 1869. (B.-G.-Bl. 1869 Beilage zu Nro. 40). Vom 24. Dezember 1874 (Centralbl. 1875 S. 94). Schiffsvermessungs-Ordnung vom 5. Juli 1872. (R.-G.-Bl. S. 270). Literatur . Eine Ausgabe der M.- u. Gew.-Ordn. mit Auszügen aus dem Gesetzgebungs-Material nebst der Eichordnung ist besorgt von Kletke . (2. Aufl. Berlin 1871). Eine ähnliche Ausgabe erschien im Kortkampf’- schen Verlage in Berlin. 2. Auflage 1873. — Vgl. ferner Thudichum Verf. des Nordd. Bundes S. 356 ff. Rösler , Deutsches Verwaltungsr. I. 2. S. 317 ff. v. Rönne , Staatsr. des D. R. II. 1 S. 241 ff. v. Stein , Handbuch der Verwaltungslehre. 2. Aufl. S. 429 ff. Keine dieser Schriften enthält eine juristische Behandlung des Gegenstandes. . I. Allgemeine Grundsätze . Zwischen dem Maß- und Gewichtswesen und dem Münzwesen besteht hinsichtlich ihrer wirthschaftlichen und rechtlichen Bedeutung eine unverkennbare Analogie, indem Maß und Gewicht zur quan- titativen Bestimmung von Waaren, Arbeit oder Leistungen, Geld zur quantitativen Bestimmung des Preises oder Lohnes dient. In der staatsrechtlichen Gestaltung findet diese Analogie ihren Aus- druck. Sowie bei dem Münzwesen zu unterscheiden ist zwischen dem Münzsystem und der Münzprägung, so auch bei dem Maß- und §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. Gewichtswesen zwischen der Ordnung des Maß- und Gewichts- systems und der Herstellung der Maße und Gewichte. Die Ordnung des Maß- und Gewichts-Systems ist in gleicher Weise wie die Ordnung des Münzsystems die Ausübung eines Hoheits- rechtes, welche in der Schaffung von Rechtssätzen besteht; dagegen ist die Herstellung von Maßen und Gewichten, die dem gesetzlichen System entsprechen, eine thatsächliche Verrichtung, die an sich ohne allen rechtlichen Inhalt ist, aus Gründen des öffentlichen Wohles aber polizeilich geregelt oder staatlich contro- lirt werden kann, und die ebenso wie die Herstellung der Geld- stücke vom Staate selbst ausschließlich übernommen (monopolisirt) werden könnte. 1. Das Maß- und Gewichtssystem besteht aus einer Reihe von Definitionen ; es erklärt, welchen Sinn gewisse Maß- und Gewichtsbezeichnungen haben Maß- u. Gew.-Ordn. Art. 1—8. . An und für sich sind diese Definitionen keine Rechtssätze . Welche Dimensionen und Gewichtsmengen mit dem Namen Meter, Schoppen, Scheffel, oder Kilogramm, Pfund, Zentner, bezeichnet werden, ist ebenso- wenig Gegenstand eines Rechtssatzes, wie die Bedeutung von Aus- drücken, welche die Qualität von Waaren bezeichnen. Die ge- setzliche Ordnung des Maß- und Gewichtssystems kann aber zugleich die Sanction von Rechtssätzen enthalten, durch welche jene Definitionen rechtliche Bedeutung erlangen, und zwar kann dies in zwiefacher Weise geschehen, indem entweder der Rechtssatz ein blos dispositiver, erläuternder ist, oder indem er mit der Kraft des ius cogens ausgestattet wird, also einen Befehl (Ver- bot) enthält. a ) Die Einführung des Maß- und Gewichtssystems enthält zunächst den Erlaß eines dispositiven Rechtssatzes. Die Maß- und Gewichts-Ordnung erklärt, welchen Sinn sowohl in Gesetzen als in Rechtsgeschäften gewisse Maß- und Gewichts-Bezeichnungen haben, vorausgesetzt daß nicht aus den ausdrücklichen Erklärungen des Gesetzgebers oder der Parteien, beziehentlich aus concluden- ten Umständen sich ergiebt, daß der Gesetzgeber oder die Parteien mit jenen Ausdrücken einen andern Sinn verbinden wollten . Die Maß- und Gewichts-Ordnung erfüllt diese Aufgabe, wie sie §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. das ius dispositionen überhaupt erfüllt; es dient dazu den un- vollständig erklärten Parteiwillen zu ergänzen und zu erläutern. Die Maß- und Gewichts-Ordnung hindert demnach im Allgemeinen die Parteien nicht, mit denselben Ausdrücken, denen sie einen ge- wissen Sinn beilegt, einen andern Sinn zu verbinden; nur muß dies in deutlicher Weise erkennbar gemacht werden. Von Wichtig- keit ist dieser Satz namentlich in privatrechtlicher Beziehung. Wenn aus den Erklärungen der Parteien beim Abschluß eines Vertrages sich ergiebt, daß sie darüber einverstanden waren, mit dem Aus- druck „Zentner“ etwas Anderes zu bezeichnen, als die Maß- und Gewichts-Ordnung mit diesem Worte bezeichnet, so muß bei der Erfüllung des Geschäftes der Ausdruck in dem Sinne des Ver- trages, nicht des Gesetzes, ausgelegt werden. Insbesondere hindert der, durch Erlaß der Maß- und Ge- wichts-Ordnung sanctionirte dispositive Rechtssatz Niemanden, in dem Geltungsbereich der Maß- und Gewichts-Ordnung auch andere Maß- und Gewichts-Größen bei Rechtsgeschäften in Anwendung zu bringen, z. B. Waaren, welche aus dem Auslande bezogen oder zum Export dahin bestimmt sind, nach einem ausländischen Maß oder Gewicht der Quantität nach zu bestimmen. Man kann dies in dem Satz formuliren: Die Einführung eines Maß- und Gewichtssystems schließt die Verwendung von anderen Maß- und Gewichts-Systemen im geschäftlichen Verkehr nicht aus, ebensowenig wie die gesetzliche Anerkennung eines Münz- systems die Parteien hindert, Preisverabredungen nach einer aus- ländischen oder gesetzlich außer Kurs gesetzten Währung zu treffen. b ) Mit dem Erlaß der Maß- und Gewichts-Ordnung kann aber ferner die Sanction eines zwingenden Rechtssatzes ver- bunden werden, indem der Gebrauch von Maßen und von Ge- wichten und Waagen, welche den Anordnungen des Gesetzes nicht entsprechen, verboten ist. Es bezieht sich dies aber nicht auf Vereinbarungen über Quantitäten, sondern auf das Zu- messen und Zuwägen derselben; sowie die gesetzliche Regelung des Münzsystems nicht die Verabredung des Preises oder der Schuldsummen, sondern deren Zahlung betrifft. Das Zumessen und Zuwägen entspricht der Zahlung (Zuzählen); sowie letztere nicht in Geldstücken angeboten und geleistet werden darf, deren Umlauf verboten ist, so darf das Zumessen und Zuwägen nicht §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. durch Maße oder Gewichte und Waagen erfolgen, deren Gebrauch untersagt ist. Während aber bei den nicht zur gesetzlichen Wäh- rung erklärten Münzen das Verbot des Umlaufes die Ausnahme ist, welche vom Gesetzgeber besonders ausgesprochen werden muß, ist bei den Maßen und Gewichten die Regel anerkannt, daß nur die der Maß- und Gewichts-Ordnung entsprechenden Stücke im öffentlichen Verkehr gebraucht werden dürfen Maß- u. Gew.-Ordn. Art. 10 ff. , der Gebrauch aller andern Stücke dagegen untersagt ist, falls er nicht ausnahms- weise gestattet wird Vgl. (das nicht mehr anwendbare) Nordd. Bundesgs. v. 10. März 1870 (B.-G.-Bl. S. 46). . Es beruht dieser Gegensatz auf der Ver- schiedenheit der Vorschriften über Herstellung von Münzen und von Maß- und Gewichts-Apparaten. 2. Die Herstellung der Maße, Gewichte und Waagen ist der Privat-Industrie freigegeben. Dagegen sind Maße, Gewichte nnd Waagen einer obrigkeitlichen Controle hinsichtlich ihrer Richtigkeit unterworfen, indem ihr Gebrauch nur gestattet ist, wenn sie gehörig gestempelt sind. Die Prüfung und Stempe- lung (Eichung) der Maße und Gewichte ist ein Akt staatlicher Polizeithätigkeit, welcher den Einzelstaaten überlassen ist, jedoch nach Vorschrift und Controle des Reiches Maß- u. Gew.-Ordn. Art. 15 ff. . Aus diesen Erörterungen ergeben sich die Rechtsfragen, zu welchen die Ordnung des Maß- und Gewichtssystems im deutschen Reiche Veranlassung bietet; für das Staatsrecht von Belang ist namentlich die Abgränzung der Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten und ihr Zusammenwirken bei der Verwaltung der Eichungsgeschäfte. II. Die rechtliche Bedeutung des Maß- und Gewichts-Systems . 1. Durch die Einführung der Maß- und Gewichtsordnung ist eine reichsgesetzliche Regel des ius dispositi- vum geschaffen, welche alle damit in Widerspruch stehenden landesgesetzlichen und gewohnheitsrechtlichen Rechtsregeln aufhebt und die durch landesgesetzliche Anordnungen nicht aufgehoben werden §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. kann. In allen Gesetzen, Erlassen und Verordnungen der Einzel- staaten, welche nach Einführung der Maß- und Gewichts-Ordn. ergangen sind, haben daher die zur Bezeichnung der Maß- und Gewichts-Größen verwendeten Ausdrücke kraft Rechtssatzes den- jenigen Sinn, welchen das Reichsges. ihnen beilegt. Ebenso kann für die Beurtheilung von Rechtsgeschäften nicht eine partikuläre Rechts- regel erlassen werden, welche neben den Definitionen des Reichs- gesetzes noch andere Definitionen von Maß- und Gewichtsbezeich- nungen aufstellt; die Rechtsgeschäfte sind vielmehr hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Maß- und Gewichts-Bezeichnungen auszulegen in erster Reihe nach dem Willen der Parteien, sei es daß derselbe ausdrücklich erklärt oder nach Handelsgebrauch oder den thatsächlichen Umständen deutlich erkennbar ist, in zweiter Reihe nach der vom Reich erlassenen Maß- und Gewichts-Ordnung. 2. Die Verwaltungsbehörden der Einzelstaaten haben in ihrer amtlichen Thätigkeit das vom Reiche anerkannte Maß- und Gewichtssystem zur Anwendung zu bringen; so müssen z. B. die Wege-Verwaltungen die Entfernungs-Angaben in Kilometern, die Kataster-Behörden die Grundstücks-Größen in Aren aus- drücken u. s. w. Eine Ausnahme hiervon — welche als solche die Regel bestätigt — ent- hält das R.-G. v. 26. Nov. 1871 §. 2 (R.-G.-Bl. S. 397), wonach in Bayern die dort bestehenden Feldmaße bis zum 1. Januar 1878 noch in Geltung bleiben können. . 3. Die Eichungsämter der Einzelstaaten dürfen Maße und Gewichte nicht stempeln , wenn diese nicht den in der Maß- und Gewichts-Ordnung zugelassenen Größen entsprechen M.- u. G.-O. Art. 14. . Dieser Satz, verbunden mit dem Verbot ungestempelter Maße und Gewichte, enthält den Schwerpunkt der reichsgesetzlichen Regelung des Maß- und Gewichtswesens. Die Einführung und Sicherung der Maß- und Gewichts-Einheit beruht juristisch auf der Kombination zweier Verbote ; das eine Verbot ist an die Einzelstaaten gerichtet und untersagt denselben die Eichung anderer als in der M.- und Gew.-Ordn. zugelassener Maße und Gewichte; das andere Verbot ist an die Unterthanen gerichtet und untersagt denselben den Gebrauch anderer als obrigkeitlich geeichter Maße und Gewichte. Das an die Einzel- §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. staaten gerichtete Verbot findet seine rechtliche Garantie in der dem Reiche zustehenden Oberaufsicht und in der Verantwortlichkeit der Beamten für die Gesetzmäßigkeit ihrer amtlichen Handlungen. 4. Das Verbot ungestempelter Maße und Ge- wichte betrifft nur den Gebrauch derselben zum Zuwägen und Zumessen im öffentlichen Verkehr M.- u. G.-O. Art. 10 Abs. 1. . Der Begriff des Zuwägens und Zumessens hat aber folgende Voraussetzungen: a ) Er erfordert eine Handlung . Es ist demnach nur ver- boten, bei dieser Handlung sich ungestempelter Maße und Gewichte zu bedienen. Dagegen ist es nicht untersagt, Waaren zu liefern, welche nach andern Qualitätsbestimmungen bereits ab - gemessen oder abg ewogen sind Die Bezeichnung einer solchen Quantität mit einem in der M.- u. Gew.-Ordn. definirten Ausdruck, welche in Wirklichkeit geringer ist als das reichsges. normirte Maß, kann den Thatbestand eines Betruges darstellen. R.-St.-G.-B. §. 263. . Dies findet namentlich Anwen- dung auf Waaren, welche nach Handelsgebrauch in bestimmter Verpackung im Verkehr sind; das durch diese Verpackung bestimmte Quantum braucht nicht nach Maßgabe des gesetzl. Maß- und Ge- wichtssystems festgestellt oder angegeben zu werden. Nur wenn Wein in Fässern zum Verkauf kommt, muß die den Raum- gehalt der Fässer bildende Zahl der Liter durch Stempelung be- glaubigt sein, ausgenommen wenn ausländischer Wein in den Originalgebinden weiter verkauft wird M.- u. G.-O. Art. 12. . b ) Der Begriff des Zu messens und Zu wägens erfordert zwei Personen wie die Zahlung. Zum Messen und Wägen kann man sich jedes beliebigen Hülfsmittels bedienen; wenn dagegen dem Empfänger einer Waare gegenüber Dem Empfänger steht derjenige gleich, der an der Feststellung der Quan- tität ein rechtliches Interesse hat, weil sich das Maß seiner Verpflichtungen oder Rechte darnach bestimmt. Größe oder Gewicht derselben festgestellt oder abgegränzt werden soll, ist der Gebrauch ungestempelter Maße und Gewichte untersagt. Auch hier giebt es aber einen Fall, in welchem beim Wägen, obwohl es kein Zu- wägen ist, gestempelte Waagen und Gewichte verwendet werden müssen; nämlich bei der Bereitung der Arzneien in den Apotheken Die Verpflichtung der Apotheker zum Gebrauch gestempelter Waagen . §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. c ) Messen und Wägen bedeuten nach allgemeinem Sprachge- brauch nur die Feststellung räumlicher Dimensionen beziehungs- weise der Schwere eines Gegenstandes. Die M.- u. Gew.-Ordu. hat aber außerdem in zwei Fällen den Gebrauch gestempelter Apparate angeordnet, nämlich um bei dem Verkaufe weingeistiger Flüssigkeiten nach Stärkegraden den Alkoholgehalt zu ermitteln, und für Gasmesser, nach welchen die Vergütung für den Verbrauch von Leuchtgas bestimmt wird M.- u. G.-O. Art. 11. 13. . 5. Die Verletzung des vorstehend erwähnten Verbotes ist in der Maß- und Gewichts-Ordnung mit Rechtsfolgen nicht be- droht; dagegen enthält das R.-St.-G.-B. § 369 § 2 folgenden Satz In der Fassung v. 26. Febr. 1876. : „Gewerbetreibende, bei denen zum Gebrauche in ihrem Ge- werbe geeignete, mit dem gesetzlichen Eichungsstempel nicht ver- sehene oder unrichtige Maße, Gewichte oder Waagen vorgefunden werden, oder welche sich einer anderen Verletzung der Vorschriften über die Maß- und Gewichtspolizei schuldig machen — werden mit Geldstrafe bis zu 100 M. oder mit Haft bis zu vier Wochen bestraft. Neben der Geldstrafe ist auf die Einziehung der vor- schriftswidrigen Maaße, Gewichte, Waagen oder sonstigen Meßwerk- zeuge zu erkennen.“ Der Thatbestand dieser Uebertretung unter- scheidet sich von dem Thatbestand des in der M.- und Gew.-Ordn. enthaltenen Verbotes in drei Beziehungen: a ) Die M.- u. Gew.-Ordn. verbietet allgemein den Gebrauch ungestempelter Maße und Gewichte im öffentlichen Verkehr, das Strafgesetzb. dagegen bedroht nur Gewerbetreibende mit Strafe. Wenn daher öffentliche Behörden (z. B. Postanstalten) sich ungestempelter Waagen und Gewichte bedienen sollten, so würden die Beamten im Verwaltungswege dafür zur Verantwor- bei der Zubereitung der Arzneien beruht bis jetzt nicht auf einem gemeinrecht- lichen Gesetz sondern auf den partikulären Apotheker-Ordnungen. Vgl. f. Preußen die Nachweisungen in v. Rönne’s Preuß. Staatsr. II. 2. S. 236. — Die Maß- u. Gew.-Ordn. Art. 7 hat aber die partikulären Medizinal-Gewichte durch das Reichs-Gewichtssystem ersetzt und ein Erl. der Normal-Eichungskomm. v. 1. Mai 1872 R.-G.-Bl. 1872 Beilage zu Nro. 14 hat angeordnet, daß die Apotheker sowohl für die Rezeptur als auch für den Handverkauf von Medizinal- waaren sich geeichter Präzisionswaagen bedienen müssen. §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. tung gezogen werden können und der Reichskanzler würde nach Art. 4. und 17 der Reichsverf. auch den Einzelstaaten gegenüber befugt sein, die Beobachtung des Art. 10 der M.- u. Gew.-Ordn. seitens der Staatsbehörden und landesherrl. Beamten zu über- wachen; ein strafrechtliches Einschreiten dagegen auf Grund des § 369 cit. wäre nicht statthaft. b ) Die M.- u. Gew.-Ordn. verbietet die Anwendung un- gestempelter Maße, Gewichte und Waagen zum Zumessen und Zuwägen, das St.-G.-B. dagegen bestraft die Innehabung von ungestempelten oder unrichtigen Maßen, Gewichten und Waagen, wofern nur dieselben zum Gebrauche im Gewerbebetriebe des In- habers geeignet sind. Der Nachweis, daß er sich derselben wirk- lich bedient habe, ist nicht erforderlich Vgl. Oppenhoff , St.-G.-B. (5. Ausgabe). Note 12. 16—19 zu dieser Stelle. (S. 745 fg.) . c ) Das Str.-G.-B. bedroht mit Strafe auch jede andere Ver- letzung der Vorschriften über die Maß- und Gewichtspolizei. Dahin gehört z. B. die Verletzung der von der Normal-Eichungs-Kom- mission zur Ausführung der M.- u. Gew.-Ordn. erlassenen Vorschriften z. B. wenn in Fällen, in welchen Präzisionswaagen und Präzisionsge- wichte vorgeschrieben sind, Gewerbetreibende Waagen und Gewichte verwenden, die mit dem einfachen Eichungsstempel versehen sind. Vgl. Oppenhof a. a. O. Note 23. , sowie der Verstoß gegen Markt-Ordnungen oder andere Polizei-Verordnungen, welche das Zumessen oder Zu- wägen der Waaren im Marktverkehr oder Kleinhandel anbefehlen. Insbesondere gehört dahin die Verletzung der landesgesetzlichen Vorschriften über die sogen. „ Nacheichung “ Vgl. für Elsaß-Lothringen das R.-G. v. 19. Dez. 1874 §. 2 (R.-G.-Bl. 1875 S. 1). . III. Die Eichung der Meß- und Wäge-Werkzeuge . 1. Die Eichung besteht in der amtlichen Prüfung und Be- glaubigung der Richtigkeit der Maße, Gewichte und Waagen. Die Prüfung ist eine technische Verrichtung ohne obrigkeitlichen Charak- ter Um die vollständige Einheit und Gleichheit des metrischen Maß- und Gewichtssystems zu sichern haben zahlreiche Staaten, darunter auch das Deutsche Reich, die internationale Meterkonvention v. 20. Mai 1875 (R.-R.-G. , die Stempelung dagegen ist die Ausstellung einer öffent- §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. lichen Urkunde, durch welche die Richtigkeit des Maßes oder Ge- wichtes beglaubigt wird. Die unbefugte Nachahmung des Eichungs- stempels ist daher nach § 267 ff. des St.-G.-B’s als Urkunden- fälschung zu bestrafen, wenn die übrigen Erfordernisse dieses Ver- gehens (rechtswidrige Absicht und Gebrauch zum Zwecke einer Täu- schung) vorhanden sind. 2. Die Eichung und Stempelung wird ausschließlich durch Eichungsämter ausgeübt M.- u. Gew.-O. Art. 15. . Die Errichtung und Besetzung dieser Aemter steht den Regierungen der Einzelstaaten zu; durch Landes- gesetze ist demnach die Organisation dieses Behörden-Ressorts, die Vertheilung der Eichungsgeschäfte, der Gehalt der dabei beschäf- tigten Beamten u. s. w. zu regeln M.- u. Gew.-O. Art. 16. . Den Regierungen der Einzel- staaten liegt es deshalb ob, die Thätigkeit der Eichungsämter zu beaufsichtigen, dieselben mit Instruktionen zu versehen, von ihnen Berichte zu erfordern und die Disciplin über die bei den Eichungs- behörden angestellten Beamten auszuüben M.- u. G.-O. Art. 17. Die Instruktionen und die Anordnungen be- hufs der Beaufsichtigung (Inspectionen u. s. w.) der Eichungsämter können auch von mehreren Bundesstaaten gemeinschaftlich getroffen werden. . 3. Das Reich hat die Fürsorge für die gleichmäßige Aus- übung der Eichungsgeschäfte Seitens der landesherrlichen Eichungs- ämter und die Oberaufsicht über dieselben. Zu diesem Zweck hat 1876 S. 191 fg.) abgeschlossen, durch welche die Errichtung eines „Internatio- nalen Maß- und Gewichtsbüreau’s“ mit dem Sitze in Paris auf gemeinschaft- liche Kosten vereinbart wurde. Die Aufgabe dieses Büreau’s ist eine rein wissenschaftliche und technische; irgend welche Hoheitsrechte kommen bei der Thätigkeit desselben nicht zur Ausübung. Noch viel weniger hat die inter- nationale Meterkonvention etwas zu thun mit der reichsgesetzlichen Ordnung des Maß- und Gewichtssystems für das Gebiet des Deutschen Reiches. Die Be- hauptung von Rönne ’s, Staatsr. II. 1. S. 247 Note 4, daß nach Art. 11 Abs. 3 der R.-V. die Konvention dem Reichstage zur ausdrücklichen Genehmig- ung hätte vorgelegt werden müssen, ist daher grundlos. Die Genehmigung des Reichstages war nur erforderlich zur Bewilligung der Kosten, welche mit der Ausführung der Konvention verbunden sind. Vgl. oben S. 185 fg. Auch dem Bundesrathe ist die Konvention nur mit dem Antrage vorgelegt worden, sich mit der Einstellung der zur Ausführung erforderlichen Summen in den Etat für 1876 einverstanden zu erklären. Protokolle des Bundesraths. 1875 §. 231. 411. (S. 203. 383). §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. das Reich eine eigene ständige Behörde eingerichtet, welche die amtliche Bezeichnung: Normal-Eichungskommission führt. Dieselbe hat ihren Sitz in Berlin M.- u. Gew.-O. Art. 18 Abs. 1. Vgl. über die Ressortverhältnisse und die Einrichtung dieser Behörde Bd. I. S. 318 ff. . Die dem Reiche zustehenden und durch die Normal-Eichungs- kommission auszuübenden Befugnisse sind folgende: a ) Ihr liegt es ob, nach beglaubigten Kopien des Urmaßes M.- u. Gew.-O. Art. 2. und des Urgewichtes ebendas. Art. 5. die Normalmaße und Normalge- wichte herzustellen und richtig zu erhalten und dieselben, sowie die von den einzelnen Eichungsämtern bei ihrem Geschäftsbetriebe zu verwendenden Eichungsnormale und Normalapparate an die Eichungsstellen der Bundesstaaten zu verabfolgen M.- u. Gew.-Ordn. Art. 9. 15. 18 Abs. 2. . b ) Die Normal-Eichungskommission hat die näheren Vor- schriften über Material, und Gestalt, Bezeichnung und sonstige Beschaffenheit der Maße und Gewichte, sowie über die von Seiten der Eichungsstellen innezuhaltenden Fehlergrenzen zu erlas- sen Die Bestimmungen über die äußersten Grenzen der im öffentlichen Ver- kehr noch zu duldenden Abweichungen von der absoluten Richtigkeit erfolgen jedoch nach Vernehmung der Normal-Eichungskommission durch den Bun- desrath . M.- u. Gew.-Ordn. Art. 10 Abs. 2. Dieselben sind veröffentlicht im R.-G.-Bl. 1869 S. 698 ff. 1871 S. 328. 1875 S. 257 (Centralbl. S. 436). Vgl. auch R.-G.-Bl. 1876 S. 123 (Centralbl. S. 185). . Sie ist befugt, Anordnungen darüber zu treffen, daß zu besonderen gewerblichen Zwecken besondere Arten von Waagen, Gewichten und Meßwerkzeugen verwendet werden müssen, und sie setzt die Bedingungen ihrer Stempelfähigkeit fest. Sie hat über- haupt alle die technische Seite des Eichungswesens betreffenden Gegenstände und das bei der Eichung und Stempelung zu beob- achtende Verfahren zu regeln M.- u. Gew.-O. Art. 18 Abs. 3. Diese Vorschriften sind erlassen in der Eichordnung f. den Nordd. Bund v. 16. Juli 1869. (B.-G.-Bl. 1869 Beilage zu Nro. 32). Zu derselben sind zahlreiche Nachträge erschienen, welche bis 1872 im Reichs-Gesetzblatt, von 1873 an im Centralblatt des D. R. ver- öffentlicht worden sind. Eine Aufzählung derselben findet sich bei v. Rönne a. a. O. S. 246. Vgl. auch Bekanntm. v. 26. März 1877 R.-G.-Bl. S. 408. . c ) Die Eichung erfolgt bei sämmtlichen Eichungsstellen des §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. Bundesgebietes vermittelst eines übereinstimmenden Stempelzeichens und daneben vermittelst eines jeder Stelle eigenthümlichen Zeichens. Die Bestimmung dieser Stempelzeichen liegt der N.-E.-Komm. ob M.- u. Gew.-Ordn. Art. 19. Diese Bestimmungen finden sich in der Eichordnung §. 72 ff. und in dem 2. Nachtrage v. 6. Mai 1871. (R.-G.-Bl. 1871 Beilage zu Nro. 23. S. III. ) . d ) Die Normal-Eichungskommission hat die Taxen für die von den Eichungsstellen zu erhebenden Gebühren festzusetzen M.- u. Gew.-Ordn. Art. 18 Abs. 3. Die Eichgebührentaxe ist am 12. Dezember 1869 erlassen. (B.-G.-Bl. 1869. Beilage zu Nro. 40.) Zu derselben sind mehrere Nachträge ergangen. Nach Einführung der Mark- rechnung ist sie neu redigirt worden. Diese vom 24. Dezemb . 1874 datirte Redaktion ist abgedruckt im Centralbl. 1875 S. 94 ff. Abänderungen und Nachträge zu derselben werden im Centralblatt bekannt gemacht. . e ) Der Normal-Eichungskommission liegt die Pflicht ob, da- rüber zu wachen, daß im Reichsgebiete das Eichungswesen nach übereinstimmenden Regeln und dem Interesse des Verkehrs ent- sprechend gehandhabt werde; sie steht deshalb mit den oberen Eichungsbehörden der Staaten in direktem amtlichen Verkehr und sie ist befugt, dieselben mit Anweisungen zu versehen Die näheren Vorschriften über diesen geschäftlichen Verkehr der N.-E.-K. mit den Landesbehörden, resp. mit den Bundesregierungen, sind enthalten in der Instruction des Reichskanzlers für die Normal.-E.-K. v. 21. Juli 1869 §. 7 (abgedruckt bei v. Rönne I. S. 309). . 4. In Bayern ist die Verwaltungs-Kompetenz der Nor- mal-Eichungs-Kommission vollständig ausgeschlossen. Bayern hat vielmehr seine eigene Normal-Eichungs-Komm., welche für das Gebiet des Königreiches diejenigen Befugnisse auszuüben hat, welche in dem übrigen Reichsgebiet der Reichsbehörde zustehen R.-G. v. 22. Nov. 1871 §. 3. R.-G.-Bl. S. 397. . Demgemäß ist es der Bayer. Regierung überlassen, die Anord- nungen über die innere Einrichtung, den Geschäftsbetrieb und den Wirkungskreis der Bayer. Normal-Eichungskommiss. zu erlassen Bayer. Maß- u. Gew.-Ord. v. 29. April 1869. Art. 11 u. 12. (Ab- gedruckt im R.-G.-Bl. a. a. O.). Pözl . Bayer. Verwaltungsr. S. 74. (3. Aufl.) . Eine Kontrole über die Thätigkeit der bayerischen Eichungsämter steht der Normal-Eichungskommiss. des Reiches nicht zu. Dagegen ist Bayern reichsgesetzlich verpflichtet, nicht nur die Normale von der Reichsbehörde zu beziehen, sondern auch die technischen Eichungs-Vorschriften in Uebereinstimmung mit den von der Reichs- Laband , Reichsstaatsrecht. II. 29 §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. Normaleichungskommiss. getroffenen Anordnungen zu erlassen. Die Ueberwachung der vollständigen und genauen Ausführung dieser reichsgesetzlichen Vorschrift steht nach Art. 17 der R.-V. dem Kaiser, d. h. im Auftrage und in Vertretung desselben seinem Reichsmi- nister, dem Reichskanzler, zu. 5. Die übereinstimmende Normirung des Maß- u. Gewichts- systems und des bei der Eichung und Stempelung zu beobachten- den Verfahrens für das ganze Reichsgebiet hat die Wirkung, daß die von den Eichungsämtern durch die Stempelung ertheilte Be- glaubigung der Maße, Gewichte, Waagen u. s. w. nicht blos für das Gebiet des Staates, welchem die Eichungsstelle angehört, son- dern für das gesammte Reichsgebiet Wirksamkeit hat. Die von einer Eichungsstelle des Bundesgebietes mit dem vorschriftsmäßigen Stempelzeichen beglaubigten Maße, Gewichte und Maßwerkzeuge dürfen im ganzen Bundesgebiete im öffentlichen Verkehr angewen- det werden M.- u. Gew.-Ord. Art. 20. . IV. Die Vermessung von Seeschiffen ist speziell geregelt durch die Schiffsvermessungs-Ordnung vom 5. Juli 1872, welche mit dem 1. Januar 1873 in Kraft getreten ist R.-G.-Bl. S. 270 ff. . Dieselbe ist vom Bundesrath auf Grund des Art. 54 der Reichsverf. erlassen worden. Art. 54 Abs. 2 lautet: „Das Reich hat das Verfahren zur Ermittelung der Ladungsfä- higkeit der Seeschiffe zu bestimmen, die Ausstellung der Meßbriefe, sowie der Schiffscertifikate zu regeln“. Diese Verfassungsbestimmung erkennt die Kompetenz des Reiches im Gegensatz zur Kompetenz der Einzelstaaten an, enhält aber keine Vorschrift über die Form , in welcher die Anordnungen zu ergehen haben. Der Art. 54 Abs. 2 sagt nicht: der Bundesrath hat das Verfahren u. s. w. zu bestimmen, sondern schweigt über die Organe, durch welche das Reich seine Anordnungen zu erlassen hat. Es kommen sonach die allgemeinen Vorschriften der R.-V. zur Anwendung. Dem Bun- desrath steht nach Art. 7 Z. 2 nur der Erlaß von allgemeinen Ver- waltungs vorschriften zu. Die Schiffsvermessungs-Ordnung geht aber darüber hinaus, sie enthält Rechts vorschriften Dieser Punkt ist allein entscheidend für die Frage, ob die Form des ; denn sie §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. begründet rechtliche Verpflichtungen der Erbauer, Rheder und des Führers eines Schiffes in Bezug auf die Vermessung desselben (§. 27 ff.), sie regelt das Vermessungs system und sie normirt indirect die Berechnung gewisser Schifffahrts-Abgaben; sie charak- terisirt sich überhaupt als ein Specialgesetz zur Ergänzung der Maß- und Gewichts-Ordnung und hätte deshalb wie diese im Wege der Gesetzgebung erlassen werden sollen Vgl. oben §. 59. Der Sch.-V.-O. mangelt daher die Rechtsverbindlich- keit, soweit sie nicht bloße Verwaltungsvorschriften für die Schiffsvermessungs- Behörden enthält. . Die Vorschriften der Schiffsvermessungs-Ordnung, soweit die- selben von rechtlicher Erheblichkeit sind, bestehen in folgenden Sätzen: 1. Alle Schiffe, Fahrzeuge und Boote, welche nach ihrer Bauart ausschließlich oder vorzugsweise zum Verkehr auf See , oder auf den Buchten, Haffen und Watten derselben bestimmt sind, mit alleiniger Ausnahme derjenigen ausschließlich zur Fischerei bestimmten Fahrzeuge, welche mit durchlöchertem Fischbehälter ver- sehen sind, unterliegen der Vermessungspflicht Sch.-V.-O. §. 1. . Die Vermessung erfolgt nach metrischem Maße und ist darauf gerichtet, den Raumgehalt des Schiffes zu ermitteln ebendas. §. 2. Der gesammte Rauminhalt des Schiffes heißt der Brutto -Raumgehalt und nach Abzug der Logisräume der Schiffsmannschaft (§. 15), sowie der etwa vorhandenen Maschinen-, Dampfkessel- und Kohlen- räume (§. 16), der Netto -Raumgehalt. . Das Vermessungs- Verfahren ist das von Moorsom angegebene, seit 1854 in England eingeführte und seitdem von vielen Staaten angenommene Es ist in der Sch.-V.-O. §§. 4—11 beschrieben. Vgl. über dasselbe Romberg in v. Holtzendorff’s Jahrbuch Bd. III. S. 313 ff. Ausnahmsweise kann ein abgekürztes Verfahren nach Maßgabe der §§. 12 u. 13 stattfinden, wenn das Schiff ganz oder theilweise beladen ist oder Umstände anderer Art die Vermessung nach dem vollständigen Verfahren verhindern. Sch.-V.-O. §. 3 Abs. 2. . Neue , im Bau begriffene Schiffe sind zu vermessen sobald das Deck gelegt ist und bevor irgend eine Einrichtung im Innern des Gesetzes oder die Form der Bundesrathsverordnung anzuwenden ist. Er wird weder von Hiersemenzel I. , 148, der sich für die erstere Ansicht ausspricht, noch von Seydel , Komment. S. 208, der sich für die letztere erklärt, berück- sichtigt. 29* §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. Schiffes angebracht ist, welche die Aufnahme der vorgeschriebenen Maße verhindern könnte. Die Erbauer des Schiffes sind ver- pflichtet , eine schriftliche Anzeige hiervon der zuständigen Ver- messungs-Behörde rechtzeitig zugehen zu lassen. Die Vermessung der Aufbauten auf dem obersten Deck und der Räume im Innern des Schiffes erfolgt nachträglich Sch.-V.-O. §. 27. . Die Rheder und der Führer eines jeden Schiffes sind verpflichtet , bei der Ver- messung entweder selbst oder durch ihre Leute der Vermessungs- behörde jede Hülfe und jeden Aufschluß zu gewähren, welche diese für die Ausführung des Vermessungsgeschäftes von ihnen zu be- anspruchen sich veranlaßt sehen; dies gilt insbesondere von den etwaigen Aufforderungen der Vermessungs-Behörde behufs Auf- räumung des inneren Schiffsraumes zum Zwecke der Vermessung. Ladung oder Ballast darf vor beendeter Vermessung ohne vorherige Zustimmung der Vermessungs-Behörde nicht eingenommen werden Sch.-V.-O. §. 28. . Werden an einem Schiff durch Umbau Veränderungen vor- genommen, welche bei Ausstellung des Meßbriefes nicht berück- sichtigt sind, oder werden diejenigen Räume verändert, welche von dem Brutto-Raumgehalt zur Ermittelung des Netto-Raumge- haltes in Abzug gebracht worden sind oben S. 451 Note 4. , so hat derjenige, welcher den Umbau ausführt, der zuständigen Vermessungsbehörde, oder — falls der Umbau im Auslande ausgeführt wurde, der Schiffs- führer der Vermessungs-Behörde in dem ersten inländischen Hafen, in welchen das Schiff einläuft, — eine schriftliche Anzeige von dem stattgehabten Umbau zu machen, und zwar so zeitig, daß die Vermessung ungehindert stattfinden kann Sch.-V.-O. §§. 29. 30. . Die Vermessungs-Behörden sind überdies befugt, auch unauf- gefordert ein Schiff der Kontrole wegen zu vermessen und es stehen ihnen dabei gegen Rheder und Schiffsführer dieselben Rechte zu, als wenn die Vermessung auf Antrag erfolgt Sch.-V.-O. §. 31. . 2. Die Vermessungsbehörden sind ebenso wie die Eichungsämter Landesbehörden . Die Mitglieder derselben §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. werden von den Einzelstaaten ernannt und besoldet; jeder Behörde muß ein Schiffsbau-Techniker als Mitglied zugeordnet werden. Ueber diesen Behörden stehen die Revisions-Behörden , welche ebefalls Landesbehörden sind Verzeichnisse der Vermessungs- und Revisions-Behörden werden im Centralbl. des Deutschen Reiches veröffentlicht. (1873 S. 36 fg. 1876 S. 474 fg.) . Das eigentliche Ver- messungsgeschäft liegt den zuerst erwähnten Behörden hinsichtlich der in ihrem Bezirke sich aufhaltenden Schiffe ob; den Revisions- behörden dagegen liegt ob die Prüfung und Berichtigung der von den Vermessungsbehörden vorgenommenen Berechnungen, nach Be- finden auch der Messungen Abgesehen von denjenigen Deutschen Schiffen von geringer Trag- fähigkeit, welche nach dem R.-G. v. 25. Oktob. 1867 (B.-G.-Bl. S. 35) nicht in das Schiffs-Register einzutragen sind, und von den nach dem abgekürzten Verfahren vorläufig vermessenen Schiffen. Bei solchen Vermessungen findet ein Verfahren der Revisionsbehörde nicht statt. Sch.-V.-O. §. 19. Von der Eintragung in das Schiffsregister befreit sind Schiffe von nicht mehr als 50 Kubikmeter Brutto-Raumgehalt. R.-G. v. 28. Juni 1873 §. 1. (R.-G.-Bl. S. 184.) , sowie die Prüfung und Berichtigung der anzuwendenden Meßinstrumente nach den Probemaßen Sch.-V.-O. §. 20 Z. 1 u. 4. . 3. Ueber jede Vermessung wird ein Meßbrief ausgefertigt, welcher den Brutto- und Netto-Raumgehalt des Schiffes angiebt Sch.-V.-O. §. 24. Neben der Zahl der Kubikmeter ist zugleich die ent- sprechende Zahl britischer Register-Tons anzugeben. . Der Meßbrief wird von den Revisions behörden — und in den- jenigen Fällen, in denen das Vermessungsgeschäft ausnahmsweise (nach §. 19) von den Vermessungsbehörden erledigt wird, von diesen — ausgestellt. Die Formulare, deren sich die Bundesbehörden zu bedienen haben, sind in der Sch.-V.-O. vorgeschrieben. Die Meß- briefe lassen sich in juristischer Hinsicht dem Eichungsstempel ver- gleichen; da sie aber Urkunden sind, welche mit dem Schiff selbst körperlich nicht verbunden sind, so müssen sie diejenigen Thatsachen enthalten, welche zur Feststellung der Identität der Schiffe dienen Sch.-O.-O. §. 22. . Betrifft die Vermessung ein deutsches Schiff, so wird der Meßbrief erst ausgestellt, wenn die Behörde sich vergewissert hat, daß die den Netto-Raumgehalt des Schiffes bezeichnende Kubikmeterzahl auf einem der Deckbalken des Schiffes eingeschnitten, eingebrannt oder §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. in anderer Art gut sichtbar gemacht und fest angebracht ist Sch.-V.-O. §. 23 Z. 2. Diese Angabe hat jedoch nicht den Charakter einer öffentlichen Urkunde, da sie nicht von der Vermessungsbehörde beglaubigt wird. Nur der Meßbrief selbst ist eine öffentliche Urkunde. . Ist für das Schiff bereits ein älterer deutscher Meßbrief ausge- stellt worden, so wird der neue Meßbrief erst dann ausgefertigt, wenn der ältere Meßbrief zurückgeliefert oder dessen Verlust glaub- haft nachgewiesen ist Sch.-V.-O. §. 23 Z. 3. Ist das Schiff in seinem gegenwärtigen Zu- stande bereits bei einer andern Deutschen Vermessungs-Behörde nach dem in den §§. 4—11 vorgeschriebenen vollständigen Verfahren vermessen worden, so ist der Antrag auf Vermessung abzulehnen. Verordn. des Bundesrathes v. 24. Oktober 1875. (Centralbl. S. 718.) . Die zurückgelieferten Meßbriefe sind bei den Akten der Vermessungs- und Revisionsbehörde aufzubewahren Sch.-V.-O. §. 26. . Die nach dem älteren Verfahren (vor dem 1. Januar 1873) aus- gefertigten Meßbriefe verlieren mit dem 1. Januar 1878 ihre Gültigkeit Sch.-V.-O. §. 34. . Die Revisionsbehörden haben die von ihnen für deutsche Schiffe ausgefertigten Meßbriefe an die Schiffsregister- Behörden mitzutheilen, in deren Register die Schiffe eingetragen sind oder eingetragen werden sollen Sch.-V.-O. §. 20 Z. 3. Die Register-Behörden haben in die von ihnen auszufertigenden Schiffscertifikate das Ergebniß der Schiffsvermessung einzu- tragen. Die näheren Vorschriften dafür ertheilt die Anweisung des Reichs- kanzler-Amtes v. 5. Januar 1873. (Centralbl. S. 156.) . 4. Für die Vermessung und Ausfertigung des Meßbriefes werden von den Einzelstaaten Gebühren erhoben, welche 5 Pf. für jedes angefangene Kubikmeter des Brutto-Raumgehalts des Schiffes, mindestens aber 2 Mark, betragen, wenn die Vermessung nach dem vollständigen Verfahren ausgeführt wurde und ein frü- herer deutscher Meßbrief nicht vorgezeigt werden konnte. In allen andern Fällen wird nur die Hälfte dieser Gebühren erhoben Sch.-V.-O. §. 32 Z. 1 u. 3. . Wenn jedoch die Erbauer, Rheder oder Führer des Schiffes den ihnen nach §. 27 ff. der Sch.-V.-O. obliegenden Verpflichtungen nicht nachgekommen sind oder wenn bei einer von der Vermessungs- behörde veranlaßten Nachvermessung sich ergiebt, daß unangemeldete räumliche Veränderungen im Bau des Schiffes vorgenommen worden sind, so werden die Vermessungsgebühren auf das Doppelte er- §. 75. Die Verwaltung des Maß- und Gewichtswesens. höht Sch.-V.-O. §. 11. 32 Z. 2. Ergiebt eine von der Behörde unaufgefordert vorgenommene Nachvermessung, daß räumliche Veränderungen nicht stattge- funden haben, so werden Gebühren für die Nachvermessung nicht erhoben. . Diese Erhöhung der Gebühren hat den Charakter einer polizeilichen Ordnungsstrafe. 5. Dem Reiche steht die Aufsicht über das Schiffsvermes- sungswesen zu. Dieselbe wird vom Reichskanzler ausgeübt durch Inspektoren, welche er nach Anhörung der Bundesraths-Aus- schüsse für das Seewesen und für Handel und Verkehr bestellt Sch.-V.-O. §. 21 Abs. 1. . Der Normal-Eichungs-Kommission steht hinsichtlich der Schiffsver- messung keinerlei Kompetenz zu. Die Inspektoren sind befugt, der Aufnahme der Mes- sungen beizuwohnen, die Richtigkeit der Maße zu prüfen, von den Aufzeichnungen und Berechnungen der Vermessungs- und Revisions-Behörden Einsicht zu nehmen und auf vorgefundene Mängel aufmerksam zu machen Sch.-V.-O. §. 21 Abs. 2. . Dieselben gehören in ihrer dienstlichen Stellung zum Ressort des Reichskanzler-Amtes Vgl. Bd. I. S. 323 fg. . Der Reichskanzler ist ermächtigt, die zur Ausführung der Vermessungs-Ordnung erforderlichen Bestimmungen nach Anhörung der Bundesraths-Ausschüsse für das Seewesen und für Handel und Verkehr zu erlassen Sch.-V.-O. §. 35. Auf Grund dieser Ermächtigung ist vom Reichskanz- leramt eine Instruktion v. 23. Nov. 1872 erlassen, zu welcher einige Ab- änderungen und Ergänzungen hinzugekommen sind. Vgl. v. Rönne II. 1. S. 213 Note 3. Eine Sammlung der über die Registrirung und Vermessung der Deutschen Kauffahrteischiffe erlassenen Gesetze, Verordnungen, Instruktionen u. s. w. ist 1874 im Reichskanzer-Amte herausgegeben worden. (Centralbl. 1874 S. 333.) . 6. Mit denjenigen Staaten, welche für die Schiffsvermessung ein Verfahren eingeführt haben, das dem vom Deutschen Reich an- geordneten gleich oder ähnlich ist, sind Vereinbarungen über die gegenseitige Anerkennung der amtlich ausgestellten Schiffsvermes- sungs-Urkunden abgeschlossen worden Vereinbarungen dieser Art sind bis jetzt getroffen mit England, Frank- reich, Dänemark, Oesterr., Ungarn, den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Italien, Chile, Norwegen und den Niederlanden. (Centralblatt 1873 S. 163. 316. von 1874 S. 323. v. 1875 S. 324. 1876 S. 26. 221. 1877 S. 184). Für Segel schiffe auch mit Schweden. (Centralbl. 1875 S. 688.) . §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. I. Die Gewerbe-Polizei Gewerbe-Ordnung v. 21. Juni 1869. B.-G.-Bl. S. 245. Motive in den Drucksachen des Reichstages 1869 Bd. I. Nro. 13. Verhand- lungen in den Stenogr. Berichten 1869 S. 114 ff. 236 ff. 470 ff. 605 ff. 1054 ff. Eingeführt in Südhessen durch Art. 80 der vereinbarten Bundes- verf. (B.-G.-Bl. S. 647); in Württemberg und Baden durch Gesetz v. 10. Novemb. 1871 (R.-G.-Bl. S. 392); in Bayern durch Ges. vom 12. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 170). In Elsaß-Lothringen ist bis jetzt nur §. 29 zur Einführung gelangt durch das Ges. v. 15. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 350). Einige Strafbestimmungen der Gewerbe-Ordnung sind abgeändert worden durch das Ges. v. 12. Juni 1872 §. 2. (R.-G.-Bl. S. 170); Titel VIII. (Gewerbliche Hülfskassen) ist abgeändert worden durch das Ges. v. 8. April 1876 (R.-G.-Bl. S. 134). Literatur . Unter den zahlreichen Bearbeitungen der Gewerbe-Ordnung ist weit hervorragend das Werk von L. Jacobi , Die Gewerbe-Gesetz- gebung im Deutschen Reiche. Berlin 1874. Eine Ausgabe, in welcher die Gesetzgebungsmaterialien, namentlich die Reichstagsverhandlungen, bei den einzelnen Paragraphen abgedruckt sind, ist von Koller ver- faßt worden. (2. Aufl. Berlin 1870.) Zu erwähnen sind ferner noch die Erläuterungen zur Gew.-Ordn. in Hirth’s Annalen Bd. II. S. 480 ff. und die Ausgaben des Gesetzes von Schow (Hannover 1870), v. Berne- witz (Dresden 1870), Berger (Berlin 1872), Kah (Würzburg 1873) und von Turban (Karlsruhe 1872). Vrgl. auch Thöl , Handels- recht (5. Aufl. 1875) Bd. I. S. 145 ff. . 1. Die gewerbliche Thätigkeit der dem Staate angehörenden oder im Staatsgebiete sich aufhaltenden Privatpersonen ist an und für sich kein Gegenstand der staatlichen Geschäftsführung oder Ver- waltung; der Staat ist vielmehr im Allgemeinen darauf beschränkt durch Normirung des Strafrechts, Privatrechts und Prozeßrechts die rechtliche Ordnung herzustellen, innerhalb deren sich die Hand- lungsfreiheit der Einzelpersonen in ihrem Gewerbebetriebe entfaltet und verwirklicht. Dem Gedeihen und Blühen der Gewerbe kann der Staat zwar nicht theilnahmlos und gleichgültig gegenüber stehen, aber er kann dasselbe nicht unmittelbar fördern, indem er die Geschäftsthätigkeit der Einzelpersonen verwaltet d. h. leitet und §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. regelt, sondern nur indirect, indem die Bedürfnisse der Gewerbe für den Staat schwerwiegende Motive bei der Normirung der Rechtsordnung, bei dem Abschluß von Staatsverträgen, bei der Regelung des Steuersystems u. s. w. bilden, und indem der Staat Anstalten errichtet und erhält, welche die Gewerbethätigkeit der Einzelnen erleichtern und fördern. Da die Wohlfahrtspflege des Volkes ein wesentlicher Staatszweck ist, so bildet die Unterstützung und Förderung der Gewerbe für den Staat bei Handhabung seiner Hoheitsrechte und bei Entfaltung seiner Verwaltungsthätigkeit ein von selbst gegebenes Ziel. Dieses allgemeine Prinzip erleidet nun aber erhebliche Aus- nahmen, indem der Staat den Betrieb gewisser Gewerbe an er- schwerende Bedingungen knüpft oder einschränkt und demgemäß eine Controle über die Befolgung dieser einschränkenden Vorschriften führen muß. Die Motive für diese Beschränkungen sind sehr ver- schiedener Art; sie liegen theils in der Gefährlichkeit gewisser Ge- werbe für die Sicherheit der Personen und des Eigenthums, theils in den Bedürfnissen des allgemeinen Verkehrs, theils in der Rück- sicht auf die finanziellen, militairischen und politischen Bedürfnisse des Staates. Aber auch die Rücksicht auf die Entwicklung der Gewerbethätigkeit selbst kann es geboten erscheinen lassen, einzel- nen Gewerbetreibenden einen besonderen Schutz und besondere Begünstigungen zu ertheilen, namentlich durch Verhinderung oder Erschwerung der Concurrenz, d. h. durch Beschränkung der allge- meinen Gewerbefreiheit. Hierdurch entsteht eine Verwaltungs- thätigkeit des Staates, für welche der Gewerbe-Betrieb der Ein- zelnen nicht blos Motiv und Zweck, sondern unmittelbares Object ist. Man faßt dieselbe unter der Bezeichnung Gewerbepoli- zei zusammen. Sie bildet den Gegensatz und die Einschränkung der Gewerbefreiheit Die Beschränkungen der allgemeinen Gewerbefreiheit können zugleich Untersagungsrechte von vermögensrechtlichem Inhalte zu Gunsten einzelner Gewerbetreibenden bilden (Zwangsrechte, Bannrechte, Monopole, Zunftprivi- legien, Realgewerberechte, u. s. w.); deren Verletzung im Wege des Civilpro- zesses verfolgt werden kann. Es ist aber unrichtig, das Wesen der Gewerbe- freiheit lediglich in der Aufhebung solcher Beschränkungen, welche die Gestalt subjectiver Privatrechtsbefugnisse gewonnen haben, zu erblicken. Gewerbefrei- heit ist überhaupt kein Begriff von positivem Rechtsinhalt und noch vielweniger . Soweit der Grundsatz der Gewerbefrei- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. heit anerkannt ist, giebt es keine staatliche Gewerbeverwaltung; die letztere hat es ausschließlich mit Beschränkungen der Gewerbefrei- heit zu thun, sowie das Wesen der Polizei überhaupt darin be- steht, daß die natürliche Handlungsfreiheit des Einzelnen im In- teresse der Gesellschaft oder des Staates Beschränkungen unter- worfen wird. Da nun durch die Gewerbe-Gesetzgebung des Reiches das Prinzip der Gewerbefreiheit im Allgemeinen anerkannt und die im früheren Rechte begründeten Beschränkungen zum größ- ten Theile beseitigt worden sind, so ist der Kreis der für die staatliche Verwaltung des Gewerbewesens geeigneten Angelegen- heiten überaus verkleinert worden. Soweit der Grundsatz der Ge- werbefreiheit durchgeführt worden ist, steht weder dem Reich noch den Einzelstaaten eine Gewerbe-Verwaltung zu. 2. Die Reichsverf. hat der Gesetzgebung und Beaufsichtigung Seitens des Reiches zugewiesen „die Bestimmungen über den Gewerbebetrieb, einschließlich des Versicherungswesens“ (Art. 4 Z. 1.) Bayern hat in dem Vertrage v. 23. Nov. 1870 Ziff. IV. die Zu- sicherung erhalten, daß wenn sich die Reichsgesetzgebung mit dem Immobiliar- Versicherungswesen befassen sollte, die vom Reiche zu erlassenden gesetzlichen Bestimmungen in Bayern nur mit Zustimmung der Bayerischen Regierung Geltung erlangen können. . Nachdem der Nordd. Bund durch das Gesetz v. 8. Juli 1868 (B.-G.-Bl. S. 406) zunächst vorläufig die wesentlichsten Beschränkungen der Gewerbefreiheit beseitigt hatte, wurde eine um- fassende Codifikation des polizeilichen Gewerberechts durch die Ge- werbe-Ordnung v. 21 Juni 1869 erzielt. An der Spitze dieses Gesetzes steht der Grundsatz: „Der Betrieb eines Gewerbes ist Jedermann gestattet, soweit nicht durch dies Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorge- schrieben oder zugelassen sind.“ Hierdurch sind nicht nur alle landesgesetzlichen und gewohn- heitsrechtlichen Beschränkungen der Gewerbefreiheit aufgehoben Unberührt hiervon bleiben diejenigen landesgesetzlichen Bestimmungen privatrechtlichen und strafrechtlichen Inhalts mit Einschluß der Polizeiverord- nungen, welche den Gewerbebetrieb zwar Beschränkungen unterwerfen, welche aber allgemeine Geltung auch für solche Personen haben, die kein Gewerbe betreiben. Denn solche Gesetze sind Beschränkungen der allgemeinen Handlungs- , ein subjectives Recht, sondern die Negation gesetzlicher Beschränkungen der allgemeinen Handlungsfreiheit in Bezug auf die gewerbliche Thätigkeit. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. sondern es ist auch den Einzelstaaten die Befugniß entzogen, durch autonomische Anordnungen solche Beschränkungen einzuführen, wo- fern nicht die Gewerbe-Ordnung selbst auf die Landesgesetze ver- weist. Aufrecht erhalten sind insbesondere die Bestimmungen der Landesgesetze hinsichtlich des Gewerbe-Betriebes der juristischen Personen des Auslandes Gew.-Ord. §. 12 Abs. 1. sowie diejenigen Beschränkungen, welche in Betreff des Gewerbe-Betriebes für Personen des Soldaten- und Beamtenstandes, sowie deren Angehörigen bestehen Gew.-Ordn. §. 12 Abs. 2. Diese Ausnahme bezieht sich gleichmäßig auch auf die reichsgesetzlichen Bestimmungen, nämlich Reichsbeamten -Ge- setz §. 16 (vgl. Bd. I. S. 431 und die daselbst Note 2 angeff. Anordnungen der Reichsgesetze) und Reichsmilitair gesetz v. 2. Mai 1874 §. 43 (R.-G.-Bl. S. 56). Hinsichtlich dieser Reichsgesetze ist Gew.-Ordn. §. 12 übrigens ohne Belang, da sie ihr schon deshalb derogiren, weil sie späteren Datums sind. . Die Ge- werbe-Ordnung hat ferner Nichts geändert in denjenigen Beschrän- kungen des Betriebes einzelner Gewerbe, welche auf den Zoll- Steuer- und Postgesetzen beruhen Gew.O. §. 5. . Unter den hier genannten Gesetzen kommen die Zoll- und Postgesetze nicht in Betracht, weil sie der Autonomie der Einzelstaaten entzogen sind, wol aber die Steuergesetze Hinsichtlich der Besteuerung der Gewerbe ist indeß die Autonomie der Einzelstaaten beschränkt durch das R.-G. v. 13. Mai 1870 §. 3 (B.-G.-Bl. S. 119), welches die Besteuerung eines Gewerbetriebes und des aus diesem Betriebe herrührenden Einkommens nur demjenigen Bundesstaate gestattet, in dessen Gebiete das Gewerbe betrieben wird, und sie ist ausgeschlossen hin- sichtlich derjenigen Erzeugnisse, deren Besteuerung nach Art. 35 der R.-V. aus- schließlich dem Reiche zusteht. . Endlich hat die Gew.-Ordn. §. 6 eine Reihe von Gewerben aufgeführt, auf welche sie keine Anwendung findet. Es schließt dies zwar nicht aus, daß das Reich den Betrieb dieser Gewerbe durch andere spezielle Gesetze regelt, so lange dies aber nicht geschehen ist, bleiben hinsichtlich dieser Gewerbe die bestehen- den Landesgesetze in Kraft und unterliegen der Fortbildung durch die Autonomie der Einzelstaaten. 3. Der Grundsatz der Gewerbefreiheit ist in der Gewerbe- Ordnung zwar zum Ausgangspunkt genommen, aber nicht unbe- freiheit, von welcher die Gewerbefreiheit nur ein Theil oder Anwendungsfall ist. Beschränkungen der Gewerbefreiheit sind nur diejenigen Rechtsvorschriften, welche den Betrieb eines Gewerbes zur Voraussetzung haben. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. dingt und uneingeschränkt durchgeführt worden. Die in der Ge- werbe-Ordnung aufrecht erhaltenen oder neu eingeführten Gewerbe- Beschränkungen lassen sich unter folgende Kategorien zusammen- fassen: a ) Hinsichtlich aller Gewerbe besteht die Vorschrift, daß der- jenige, welcher den selbständigen Betrieb eines Gewerbes anfängt, der für den Ort, wo solches geschieht, nach den Landesgesetzen zu- ständigen Behörde gleichzeitig Anzeige davon machen muß Gewerbe-Ordn. §§. 14—15. , und daß überdies derjenige, welcher außerhalb seines Wohnorts ohne Begründung einer gewerblichen Niederlassung und ohne Bestellung (im Umherziehen) ein Gewerbe betreibt, sich einen Legitimations- schein ertheilen lassen muß Gew.-Ordn. §§. 55 ff. , der in gewissen, gesetzlich bestimmten Fällen verweigert werden kann ebendas. §. 57. 59. . b ) Die obrigkeitliche Genehmigung ist erforderlich zur Errich- tung gewisser Anlagen , welche durch die örtliche Lage oder durch die Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachtheile, Gefahren oder Belästigungen herbeiführen können Gew.-O. §. 16. . Die Gew.-Ordnung enthält ein Verzeichniß dieser An- lagen, welches durch Beschluß des Bundesrathes vorbehaltlich der Genehmigung des nächstfolgenden Reichstages abgeändert werden kann Von dieser Ermächtigung hat der Bundesrath Gebrauch gemacht in der V. v. 20. Juli 1873. (R.-G.-Bl. S. 299). Vgl. R.-G. vom 2. März 1874. (R.-G.-Bl. S. 19.) . Das Verfahren behufs Ertheilung der obrigkeitlichen Er- laubniß ist in den §§. 17—22 der Gew.-Ordn. geregelt. Be- sondere Vorschriften bestehen überdies für Neu-Anlagen von Wasser- triebwerken Gew.-O. §. 23 Abs. 1. und für die Anlegung und den Betrieb von Dampf- kesseln Gew.-O. §. 24. Die in diesem Paragraphen vorbehaltenen allgemeinen Bestimmungen des Bundesrathes hat derselbe erlassen. Vgl. die Bekanntmach- ung des Reichskanzlers v. 29. Mai 1871. R.-G.-Bl. S. 122. . Endlich kann für die Errichtung von durch Wind be- wegten Triebwerken die von benachbarten fremden Grundstücken und von öffentlichen Wegen inne zu haltende Entfernung durch §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Polizei-Verordnungen der höheren Verwaltungsbehörden bestimmt werden Gew.-O. §. 28. . c ) Für eine Anzahl von Gewerben ist die Ertheilung einer obrigkeitlichen Erlaubniß gesetzliche Vorbedingung des Betriebes, nämlich für Unternehmer von Privat-Kranken-, Privat-Entbindungs-, und Privat-Irren-Anstalten Gew.-O. §. 30 Abs. 1. ; für Schauspiel-Unternehmer Gew.-O. §. 32. ; für den Betrieb einer Gastwirthschaft, Schenkwirthschaft oder des Klein- handels mit Branntwein oder Spiritus Gew.-O. §. 33. ; für den Straßenverkauf oder das Anschlagen von Druckschriften oder anderen Schriften und Bildwerken Gew.-O. §. 43. Preßgesetz v. 7. Mai 1874 §. 4 u. 5. (R.-G.-Bl. S. 65.) , und — wofern die Landesgesetze dies anordnen — für den Handel mit Giften und für das Lootsen Gewerbe und das Gewerbe der Markscheider Gew.-O. §. 34. . Oder es kann der Betrieb gewisser Gewerbe Personen untersagt werden, welche wegen solcher Ver- gehen oder Verbrechen bestraft worden sind, zu deren Verübung der Gewerbebetrieb Veranlassung bieten kann Gew.-O. §. 35. . d ) Die Straßengewerbe (der Droschkenkutscher, Dienstmänner u. s. w.) sind gänzlich der Regelung durch die Ortspolizeibehörde unterworfen Gew.-O. §. 37. 76. ; ferner sind die Ortsbehörden innerhalb der durch die Gew.-Ordnung gezogenen Gränzen zum Erlaß von Markt-Ord- nungen befugt Gew.-O. §. 69. . In einigen Fällen ist auch der Erlaß obrigkeit- licher Taxen gestattet Gew.-O. §. 72 fg. . e ) Zum Betriebe gewisser Gewerbe sind nur diejenigen Per- sonen befugt, welche eine Approbation auf Grund eines Nachweises der Befähigung erlangt haben. Eine solche Approbation gilt nicht nur für das Gebiet des Staates, dessen Behörde sie ausgestellt hat, sondern für das ganze Bundesgebiet. Aus diesem Grunde müssen die Vorschriften über den Nachweis der Befähigung für alle Bun- desstaaten die nämlichen sein und es ist deshalb der Erlaß derselben §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. dem Bundesrath übertragen. Eine Approbation ist erforder- lich für folgende 3 Klassen von Gewerbetreibenden: α) Für Apotheker Gew.-Ordn. §. 29. Die Approbation als Apotheker gewährt aber nur die persönliche Qualifikation, im ganzen Bundesgebiete das Apotheker-Ge- werbe zu betreiben; die landesgesetzlichen Vorschriften über Errichtung und Verlegung der Apotheken, über die Geschäftsführung, Visitationen u. s. w. sind vorläufig in Kraft erhalten worden. Gew.-Ordn. §. 6. . Die Vorschriften über die Behörden, welche zur Ertheilung der Approbation befugt sind, und über die Prüfung, von deren Ablegung die Ertheilung der Approbation ab- hängig ist, sind vom Bundesrath erlassen für Apotheker am 5. März 1875 Centralbl. f. d. Deutsche Reich 1875 S. 167 ff. und für Apothekergehilfen am 13 November 1875 Centrlbl. 1875 S. 761 ff. . Durch diese Anordnungen sind die älteren, über denselben Gegen- stand erlassenen Vorschriften aufgehoben worden. Die Abgränzung derjenigen Zubereitungen, Droguen und chemischen Präparate, deren Feilhaltung und Verkauf nur in Apotheken gestattet ist, von den- jenigen, welche auch anderweitig in Verkehr gebracht werden dürfen, ist in §. 6 Abs. 2 der Gew.-Ordn. einer Kaiserl. Verordnung übertragen, welche am 4. Januar 1875 ergangen ist R.-G.-Bl. 1875 S. 5. Durch dieselbe ist die ältere Kaiserl. Verordn. v. 25. März 1872 (R.-G.-Bl. 85) aufgehoben worden. . β) Für diejenigen Personen, welche sich als Aerzte , (Wund- ärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Thierärzte) oder mit gleichbedeutenden Titeln bezeichnen oder Seitens des Staates oder einer Gemeinde als solche anerkannt oder mit amt- lichen Funktionen betraut werden sollen Gew.-Ordn. §. 29. . Die Vorschriften über die Behörden, welche in den einzelnen Bundesstaaten zur Ertheilung der Approbation befugt sind und über die Prüfung der Aerzte, Zahnärzte und Thierärzte sind nach Maßgabe der Bundes- rathsbeschlüsse vom Reichskanzler am 25. Septemb. 1869 verkündet worden B.-G.-Bl. 1869 S. 635 ff. Ergänzt für Hessen durch Bekanntm. v. 9. Dezemb. 1869 (B.-G.-B. S. 688); für Württemberg und Baden durch Bekanntm. v. 21. Dezemb. 1871 (R.-G.-Bl. S. 472) und v. 17. Mai 1872 (R.-G.-Bl. S. 151); für Bayern durch Bekanntmachung vom 28. Juni 1872 (R.-G.-Bl. S. 243); für Elsaß-Lothringen durch die Bekanntm. vom 19. Juli 1872 (R.-G.-Bl. S. 351). ; die Vorschriften über die Fälle, in welchen eine Dis- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. pensation von der Prüfung zulässig ist, und über das in solchen Fällen zu beobachtende Verfahren sind in der Bekanntmach. v. 9. Dezemb. 1869 enthalten B.-G.-Bl. 1869 S. 687. . Auch für Hebammen ist das Erforderniß einer Approbation reichsgesetzlich aufgestellt, die Regelung des Verfahrens aber den Einzelstaaten überlassen Gew.-O. §. 30 Abs. 2. . γ) Für Seeschiffer, Seesteuerleute und Lootsen Gew.-O. §. 31. Das Gewerbe der Schiffer und Lootsen auf Strömen ist frei, soweit nicht in Folge von Staatsverträgen besondere Anord- nungen getroffen sind. Die letzteren hat die Gew.-O. aufrecht erhalten. Ver- träge dieser Art, durch welche die Ausstellung von Schifferpatenten vereinbart wird, sind abgeschlossen worden hinsichtlich der Schifffahrt auf dem Rhein, der Weser, der Elbe. Sie sind mitgetheilt bei Jacobi Gewerbegesetzb. S. 456 ff. . Durch Bekanntmachung v. 25. Septemb. 1869 sind die vom Bundes- rath beschlossenen Vorschriften über den Nachweis der Befähigung als Seeschiffer und Seesteuermann erlassen worden B.-G.-Bl. 1869 S. 660 ff. . Dieselben unterscheiden die Schifferprüfung für kleine Fahrt, worunter die Fahrt in der Nordsee bis zum 61 Grad nördlicher Breite und in der Ostsee mit Seeschiffen vom 30 bis ausschl. 100 Tonnen (zu 1000 Kilogr.) Tragfähigkeit verstanden wird; ferner die Steuer- mannsprüfung, durch deren Ablegung die Zulassung als Steuer- mann auf großer Fahrt und, nach Zurücklegung einer gewissen Fahrzeit zur See als Steuermann Bekanntm. v. 25. Septemb. 1869 §. 11. , die Zulassung als Schiffer auf Europäischer Fahrt (d. h. Europäische Häfen und Häfen des Mittelländischen, Schwarzen und Azow’schen Meeres) bedingt ist; und endlich die Schifferprüfung für große Fahrt. Die Be- stimmungen über den Nachweis der Befähigung, welcher erforder- lich ist um als Führer von Küstens chiffen zugelassen zu werden, sind einstweilen den Landesregierungen überlassen a. a. O. §. 4. ; die Vorschrif- ten des Bundesrathes über die Prüfung der Lootsen sind noch nicht ergangen, so daß inzwischen ebenfalls noch die in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Vorschriften Anwendung finden. Spezielle Anordnungen über das Prüfungsverfahren und über die Zusammensetzung der Prüfungskommissionen für die Schiffer- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. und Steuermanns-Prüfungen sind auf Grund der vom Bundesrath ge- faßten Beschlüsse durch die Bekanntmachung vom 30. Mai 1870 publi- zirt worden B.-G.-Bl. 1870 S. 314 ff. . Darnach wird eine Prüfungs-Kommission am Sitze je- der öffentlichen Navigationsschule von der Landesregierung einge- setzt Das Verzeichniß der Kommissionen wird im Centralbl. des Deutschen R. bekannt gemacht; vgl. z. B. 1877 S. 105; ebenso der Beginn der Prüfungen. ; das Prüfungswesen wird aber von Reichswegen beaufsichtigt ver- mittelst Prüfungs-Inspektoren, welche der Reichskanzler nach An- hörung des Bundesraths-Ausschusses für Handel und Verkehr bestellt Vgl. über die Befugnisse deselben Bd. I. S. 322 fg. . Die Befugniß zur Ausübung des Gewerbes kann einem deutschen Schiffer oder Steuermann entzogen werden durch den Spruch eines Seeamtes oder des Ober-Seeamtes Reichsgesetz, betreffend die Untersuchung von See- unfällen , vom 27. Juli 1877 §. 26. 29. (R.-G.-Bl. S. 554. 555.) Das Gesetz tritt am 1. Januar 1878 in Kraft. Motive Drucks. des Reichstages 1877 Bd. I. Nro. 4. Kommissionsbericht ebendas. Nro. 95. Ver- handlungen Stenogr. Berichte S. 16. 864 fg. 877 fg. . Die Seeämter sind Lan- desbehörden, deren Errichtung und Beaufsichtigung den Einzelstaaten zusteht; die Abgrenzung ihrer Bezirke aber erfolgt durch den Bun- desrath und die Oberaufsicht über die Seeämter führt das Reich §. 6 a. a. O. Streitigkeiten oder Zweifel über die Zuständigkeit der einzelnen Seeämter entscheidet das Reichskanzler-Amt. §. 5 Abs. 3. . Die Aufgabe des Seeamtes besteht in der Unter- suchung von Seeunfällen deutscher Kauffahrteischiffe und von See- unfällen, welche ausländische Kauffahrteischiffe innerhalb der deut- schen Küstengewässer betroffen haben oder deren Untersuchung vom Reichskanzler angeordnet worden ist R.-G. §. 1 bis 3. . Durch die Unter- suchung sollen die Ursachen des Seeunfalles, sowie alle mit den- selben zusammenhängenden Thatumstände ermittelt werden; insbe- sondere ob der Schiffer oder der Steuermann durch Handlungen oder Unterlassungen den Unfall oder dessen Folgen verschuldet hat a. a. O. §. 4 Z. 1 . Das Seeamt bildet eine kollegiale Behörde und besteht aus einem Vorsitzenden, der die Fähigkeit zum Richteramt haben muß, und aus vier Beisitzern, von denen mindestens zwei die Be- fähigung als Seeschiffer besitzen und als solche gefahren haben Die näheren Vorschriften über die Bildung und Zusammensetzung des . §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Der Reichskanzler bestellt für jedes Seeamt einen Kommis- sar , welcher Anträge an das Seeamt oder seinen Vorsitzenden zu stellen, den Verhandlungen des Seeamtes beizuwohnen, Einsicht von den Akten zu nehmen und für den Fall, daß der Vorsitzende die Einleitung einer Untersuchung verweigert, Anträge auf Anord- nung einer Untersuchung bei dem Reichskanzler zu stellen, berechtigt ist. Dieselbe Person kann für mehrere Seeämter als Kommissar bestellt werden a. a. O. §. 13. . Auf Antrag des Reichskommissars kann, wenn sich ergiebt, daß ein deutscher Schiffer oder Steuermann in Folge des Mangels solcher Eigenschaften, welche zur Ausübung seines Ge- werbes erforderlich sind, den Unfall oder dessen Folgen verschuldet hat, demselben durch den Spruch des Seeamtes über die Ursachen des Seeunfalles zugleich die Befugniß zur Ausübung seines Ge- werbes entzogen werden. Einem Schiffer, dem die Befugniß ent- zogen wird, kann nach Ermessen des Seeamtes auch die Ausübung des Steuermannsgewerbes untersagt werden a. a. O. §. 26. Wegen dieses Resultates, zu welchem die Untersuchung des Seeamtes führen kann, ist dem Schiffer und dem Steuermann während des Verfahrens eine Rolle zuertheilt, welche ihnen die Möglichkeit einer Ver- theidigung gewährt und die deshalb mit der des Beschuldigten im Strafver- fahren einige Aehnlichkeit hat. Insbesondere können sie Anträge stellen, über welche das Seeamt zu befinden hat, an die zur Vernehmung erschienenen Per- sonen unmittelbar Fragen richten, auch sich eines rechts- oder sachkundigen Bei- standes bedienen. Ges. §. 22. Vgl. Kommissionsbericht S. 3 fg. 14 fg. . Gegen den Spruch des Seeamtes steht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Ober-Seeamt dem Schiffer oder Steuermann zu, wenn der Spruch auf Entziehung der Befugniß zur Ausübung des Gewerbes lautet; andererseits dem Reichskommissar, wenn das Seeamt einem hierauf gerichteten Antrage desselben nicht Folge gegeben hat §§. 27. 28 des Gesetzes enthalten die näheren Vorschriften über Ein- legung und Rechtfertigung der Beschwerde, welche der Regel nach eine auf- schiebende Wirkung nicht hat. . Das Ober-Seeamt ist eine kollegiale Reichsbehörde . Es Seeamtes enthält das Gesetz in den §§. 7—12. Auf das Verfahren finden im Allgemeinen die Bestimmungen des Gerichtsverfassungs-Gesetzes und der Strafproceß-Ordn. Anwendung. §. 19. Jedoch findet die Anordnung der Haft zur Erzwingung eines Zeugnisses nicht statt. Vgl. Stenogr. Ber. a. a. O. S. 878 fg. Laband , Reichsstaatsrecht. II. 30 §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. besteht aus einem Vorsitzenden, welcher zum Richteramt befähigt ist, und 6 Mitgliedern, von denen wenigstens drei der Schifffahrt kundig sein müssen. Der Kaiser ernennt den Vorsitzenden und einen schifffahrtskundigen Beisitzer. Für das Amt der übrigen Bei- sitzer bringen die Regierungen der Bundes- Seestaaten je drei sachkundige Personen in Vorschlag und zwar immer für einen Zeit- raum von 3 Jahren. Aus der Gesammtzahl der Vorgeschlagenen wählt der Vorsitzende für jeden Beschwerdefall fünf Beisitzer aus, beruft dieselben ein und beeidigt sie auf die Erfüllung der Obliegen- heiten ihres Amtes. Sie erhalten aus der Reichskasse Ersatz ihrer Reisekosten und Tagegelder, deren Höhe der Reichskanzler bestimmt Ges. §. 29. Diese Beisitzer des Ober-Seeamtes sind keine Reichs- beamten , da sie in keinem Dienstverhältniß zum Reiche stehen; gleichwohl verwalten sie ein Reichsamt , da das Oberseeamt eine Reichsbehörde ist. Sie treten demnach den Bd. I. S. 397 aufgeführten Kotegorien hinzu. . Die Geschäfts-Ordnung bei dem Ober-Seeamt wird vom Bundes- rath festgestellt Ges. §. 33. Bis jetzt ist dieses Reglement noch nicht erlassen. . Das Ober-Seeamt faßt seine Beschlüsse nach Stimmenmehrheit; auf das Verfahren finden im Allgemeinen die- selben Vorschriften Anwendung, welche für das Verfahren bei den Seeämtern gelten; die Verhandlung und Entscheidung erfolgt in öffentlicher Sitzung nach erfolgter Ladung und Anhörung des Be- schwerdeführers und seines Gegners. Die Entscheidung muß mit Gründen versehen sein und ist dem Beschwerdeführer und seinem Gegner in Ausfertigung zuzustellen Gesetz §§. 29 Abs. 2—32. . Einem Schiffer oder Steuermann, dem die Befugniß zur Aus- übung seines Gewerbes entzogen ist, kann dieselbe nach Ablauf eines Jahres durch das Reichskanzler-Amt wieder eingeräumt werden, wenn anzunehmen ist, daß er fernerhin den Pflichten seines Gewerbes genügen wird Ges. §. 34. . f ) Ueber die Innungen ist theils den Gemeindebehörden theils den staatlichen Verwaltungsräthen ein Recht der Aufsicht eingeräumt, durch welches Verträge, Statutenveränderungen, Auflösungsbe- schlüsse u. s. w. an die Ertheilung der Genehmigung gebunden sind Gewerbe-Ordn. §§. 88 Abs. 2. 89. 92 bis 96. 103. . g ) Jeder Gewerbeunternehmer ist verpflichtet, auf seine Kosten §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche zur thunlichsten Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind Gew.-Ord. §. 107. . Bei der Beschäftigung der Lehrlinge ist die gebührende Rücksicht auf Gesundheit und Sittlich- keit zu nehmen und denjenigen Lehrlingen, welche des Schul- und Religionsunterrichtes noch bedürfen, muß Zeit dazu gelassen wer- den ebendas. §. 106. Auch kann durch Ortsstatut für Gesellen, Gehülfen und Lehrlinge, sofern sie das 18. Lebensjahr nicht überschritten haben, der obligatorische Besuch einer Fortbildungsschule des Ortes angeordnet werden, woraus für die Arbeitgeber die Verpflichtung entsteht, die für diesen Besuch erforderliche Zeit zu gewähren. . Namentlich aber ist die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken im Interesse der Gesundheit, Schulbildung, und Sitt- lichkeit erheblichen Beschränkungen und einer obrigkeitlichen Controle unterworfen Gew.-Ordn. §. 128—133. . h ) Endlich kann durch Ortsstatut die Bildung von Hülfskassen angeordnet, für Gesellen, Gehülfen und Fabrikarbeiter die Be- theiligung an denselben zur Pflicht gemacht und den Arbeitsgebern auf diese Beiträge die Leistung von Vorschüssen bis auf die Hälfte des verdienten Lohnes, den Fabrikinhabern auch die Leistung von Zuschüssen zu den Beiträgen ihrer Arbeiter bis auf Höhe der Hälfte dieser Beiträge auferlegt werden Ges. v. 8. April 1876. R.-G.-Bl. S. 134. . 4. In den genannten Beziehungen besteht noch gegenwärtig eine gewerbepolizeiliche Verwaltungsthätigkeit. Dieselbe ist aber durchweg den Behörden der Einzelstaaten oder den Gemeinde - behörden übertragen, mit alleiniger Ausnahme der für die Prü- fung der Seeschiffer und Steuerleute und für die Untersagung und Wiederverleihung der Befugniß zur Ausübung ihres Gewerbes be- stehenden Vorschriften, an deren Handhabung das Reich einen un- mittelbaren Antheil hat. Hiervon abgesehen giebt es keine un- mittelbare Reichsverwaltung in gewerbepolizeilichen Angelegenheiten. Das Reich ist beschränkt auf die Führung der Oberaufficht über die Thätigkeit der Behörden der Einzelstaaten und Gemeinden, welche nach Art. 17 der Kaiser mittelst des Reichskanzler-Amtes führt. Der Erlaß allgemeiner Verwaltungsvorschriften zur Aus- 30* §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. führung der Gewerbe-Ordnung und der andern den Gewerbebetrieb betreffenden Reichsgesetze steht, soweit derselbe nicht ausdrücklich den Einzelstaaten vorbehalten ist, nach Art. 7 Z. 2 der R.-V. dem Bundesrathe zu. II. Der Patentschutz Patentgesetz v. 25. Mai 1877. (R.-G.-Bl. S. 501); ist am 1. Juli 1877 in Kraft getreten. Motive dazu in den Drucksachen des Deutschen Reichstages 1877 Bd. I. Nro. 8. Kommissionsbericht ebendas. Bd. II. Nro. 144. Verhandlungen in den Stenogr. Berichten S. 25 ff. 915 bis 1011 ff. Literatur . Aus der Zeit vor Erlaß des Patentgesetzes ist das Haupt- werk: Klostermann . Die Patentgesetzgebung aller Länder. 2. Aufl. Berlin 1876. Daselbst sind S. 108 ff. zahlreiche Literatur-Angaben. Ueber die Vorarbeiten des Reichspatentgesetzes und die Schicksale desselben handelt Gensel im Jahrbuch von v. Holtzendorff und Brentano Bd. I. Heft 3 S. 503 ff. und besonders ausführlich Grothe Das Patentgesetz Berlin 1877. Die Schrift enthält zugleich einen Kommentar des Patent- gesetzes. Kommentare zum Patentgesetz sind außerdem ver- öffentlicht worden von Dambach , Berlin 1877. J. Landgraf , Stuttgart 1877. Gareis , Berlin 1877 und Klostermann , Berlin 1877. . 1. Rechtliche Natur des Patentschutzes . Die allgemeine Gewerbefreiheit ist in sehr eingreifender Weise dadurch beschränkt, daß die gewerbemäßige Verwerthung von Produkten geistiger Ar- beit nicht freigegeben, sondern innerhalb gewisser Gränzen zu Gunsten des Autors monopolisirt ist. Das hieraus sich ergebende Gewerbe-Privilegium nennt man mit einem bildlichen Ausdruck das geistige Eigenthum und auch die Reichsverfassung bedient sich desselben, indem sie in Art. 4 Z. 6 der Kompetenz des Reiches „den Schutz des geistigen Eigenthums“ zuweist. Diese Bezeichnung ist aber eine juristisch unrichtige, denn das Wesen des Eigenthums im Rechtssinne besteht in der physischen Herrschaft über eine Sache, so daß geistiges Eigenthum eine contradictio in adjecto ist Daß der erwähnte Ausdruck der Reichsverf. nicht die Tendenz hat, die juristische Construktion des Schutzes gegen Nachdruck ꝛc. zu fixiren, wird auch von Dambach das Urheberrecht. (Berlin 1871) mit Recht hervorge- hoben. . Das Recht, welches man damit bezeichnen will, hat auch mit dem Eigen- thum durchaus Nichts gemein, ausgenommen daß es einen Ver- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. mögenswerth hat; sobald man die Rechts-Grundsätze von ding- lichen Rechten überhaupt oder vom Eigenthum insbesondere auf dasselbe anwenden will, gelangt man zu absurden Resultaten und in zahlreiche Widersprüche mit den positiven Vorschriften der Gesetze Die weitere Ausführung dieses Satzes gehört lediglich der Theorie des Privatrechts an und kann daher hier übergangen werden, um so mehr als die Theorie vom geistigen Eigenthum bereits vielfach widerlegt worden ist. Vgl. v. Gerber , Jurist. Abhandlungen S. 302 ff., Mandry , das Urheberrecht, Erlangen 1867 S. 33 ff., Beseler , Deutsches Privatrecht (1873) I. S. 321. Osc. Wächter , Das Autorrecht S. 12 ff. . Das sogen. Urheberrecht ist vielmehr seinem rechtlichen Wesen nach ein zeitlich beschränktes und an gewisse Bedingungen geknüpftes Monopol ; es ist eine Beschränkung der allgemeinen Gewerbe- freiheit, indem die gewerbliche Verwerthung der geistigen Arbeit Allen außer dem Autor oder seinem Rechtsnachfolger untersagt und an die Verletzung dieses Verbotes eine Strafe und eine Schaden- ersatzpflicht oder eine Buße geknüpft ist. Der Nachdruck oder die Nachbildung ist eine Delictsobligation, deren juristischer Thatbestand und Begriff in der Verletzung dieser der allgemeinen Gewerbefreiheit gezogenen Schranke besteht; das Urheberrecht ist ebenso wie ein dem Fiskus gewährtes Monopol lediglich der Reflex oder das wirthschaftliche Resultat dieser Be- schränkung der Gewerbefreiheit Vgl. die Ausführungen v. Gerber ’s in seinen und v. Ihering ’s Jahr- büchern Bd. 3 S. 359 ff. 1859 (in seinen Gesammelten Jurist. Abhandlungen S. 261 ff.). Sie sind zwar oft angegriffen, aber nicht widerlegt worden. . Sowie das Wesen des Mono- pols nicht darin besteht, daß der Fiskus ein gewisses Gewerbe be- treiben darf, wozu es keines besonderen Rechtssatzes bedarf, son- dern darin, daß der Betrieb dieses Gewerbes Allen mit Ausnahme des Fiskus verboten ist, so besteht auch das Wesen des soge- nannten Urheberrechts nicht darin, das der Autor seine Geistes- arbeit verwerthen darf, was ihm innerhalb der durch die Straf- gesetze gezogenen Schranken auch ohne ausdrückliche gesetzliche An- erkennung freisteht, sondern es besteht in der Ausschließlich- keit dieser Befugniß d. h. in dem an alle anderen Personen ge- richteteten Verbot, fremde Geistesarbeit gewerblich auszubeuten. Das Reich hat das Verbot der gewerblichen Verwerthung fremder Geistesarbeit nicht in einem einheitlichen und consequent §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. durchgeführten Rechts-Grundsatz ausgesprochen, sondern es hat in einer Reihe von Spezialgesetzen für verschiedene Arten von Pro- dukten geistiger Arbeit in mannigfacher Art die Voraussetzungen, den Umfang und die Wirkungen des Verbotes ihrer gewerblichen Ausnützung normirt. Diese Reichsgesetze sind folgende fünf: a ) vom 11. Juni 1870 betreffend das Urheberrecht an Schrift- werken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dra- matischen Werken. (B.-G.-Bl. S. 339.) b ) vom 9. Januar 1876 betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste. (R.-G.-Bl. S. 4.) c ) vom 10. Januar 1876 betreffend den Schutz der Photo- graphien gegen unbefugte Nachbildung. (R.-G.-Bl. S. 8.) d ) vom 11. Januar 1876 betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen. (R.-G.-Bl. S. 11.) e ) vom 25. Mai 1877 das Patentgesetz, betreffend den Schutz neuer Erfindungen, welche eine gewerbliche Verwerthung gestatten. (R.-G.-Bl. S. 501.) Von diesen Gesetzen bietet nur das letzte Veranlassung zu einer Verwaltungsthätigkeit des Reichs. Die vier erstgenannten setzen eine obrigkeitliche Thätigkeit zur Entstehung des Gewerbe- privilegiums des Urhebers überhaupt nicht voraus oder sie be- schränken dieselbe auf die Eintragung des zu schützenden Geistes- produktes in eine Eintragsrolle, welche hinsichtlich der Schrift- und Kunstwerke Bei Schrift- und Kunstwerken finden Eintragungen regelmäßig gar nicht statt; sie sind nur erforderlich resp. zulässig in den in §. 6 Abs. 4; §. 11 Abs. 4; §. 52 Abs. 3 und §. 60 Abs. 4 des Ges. v. 11. Juni 1870 erwähnten Fällen. Ihnen entsprechen §. 9 Abs. 3 und §. 19 Abs. 4 des Ges. v. 9. Januar 1876. Die Rechtsgrundsätze über die Eintragung sind in den §§. 39 ff. des Ges. vom 11. Juni 1870 enthalten; §. 41 daselbst ermächtigt das Reichskanzleramt zum Erlaß einer Instruktion . Dieselbe ist am 7. Dezemb. 1870 erlassen und nebst einer Ergänzung vom 29. Febr. 1876 im Centralbl. des Deutschen Reiches v. 1876 S. 119 fg. abgedruckt. Vgl. Klostermann , Urheberrecht (Berlin 1876) S. 188 ff. vom Stadtrath zu Leipzig, hinsichtlich der Muster und Modelle von den mit Führung des Handelsregisters beauftragten Gerichtsbehörden geführt wird Für den Schutz der Muster und Modelle ist die Eintragung eine wesent- liche Vorbedingung. Ges. v. 11. Januar 1876 §. 7. Die näheren Vorschriften über die Führung des Musterregisters sind nach §. 9 Abs. 4 dieses Gesetzes vom . Dagegen ist der §. 76 Die Verwaltung des Gewerbewesens. Schutz neuer Erfindungen von gewerblicher Verwerthbarkeit in jedem einzelnen Falle von der Ertheilung eines Patentes , also einem Verwaltungsakt, abhängig gemacht und zur Führung dieser Geschäfte eine besondere Reichsbehörde, das Patentamt, errichtet worden. 2. Die Organisation des Patentamtes . Das Pa- tentamt ist eine ständige Reichsbehörde, welche ihren Sitz in Berlin hat. Es besteht aus Mitgliedern, welche vom Kaiser er- nannt werden, und aus Büreau- und Unterbeamten, deren Ernen- nung dem Reichskanzler übertragen ist. Die Mitglieder zerfallen in zwei Klassen, ständige und nicht ständige Außerdem können zu den Berathungen Sachverständige, welche nicht Mitglieder sind, zugezogen werden; an den Abstimmungen dürfen dieselben aber nicht Theil nehmen. Patentgesetz. §. 14 Abs. 5. . Die ständigen Mitglieder werden auf Vorschlag des Bundesrathes ernannt und zwar, wenn sie im Reichs- oder Staatsdienste ein Amt bekleiden, auf die Dauer dieses Amtes, anderen Falls auf Lebenszeit; min- destens drei derselben müssen die Befähigung zum Richteramte oder zum höheren Verwaltungsdienste besitzen. Die nicht ständigen Mitglieder werden auf fünf Jahre ernannt Nach Ablauf der 5 Jahre können sie von Neuem berufen werden. Motive S. 29. ; sie müssen in einem Zweige der Technik sachverständig sein; sie sind zwar Reichsbeamte und den Vorschriften des Reichsbeamten-Gesetzes v. 13. März 1873 unterworfen, aber von dem im §. 16 dieses Gesetzes enthaltenen Verbot, ohne vorgängige Genehmigung der obersten Reichsbehörde ein Nebenamt oder eine mit fortlaufender Remuneration verbun- dene Nebenbeschäftigung zu übernehmen oder ein Gewerbe zu be- treiben Vgl. Bd. I. S. 431. , ausgenommen Patentges. §. 13 Abs. 2. . Das Patentamt besteht aus mehreren Abtheilungen , welche im Voraus auf mindestens ein Jahr gebildet werden. Ein Mitglied kann mehreren Abtheilungen angehören Patentges. §. 14 Abs. 1. . Die Bildung der Abtheilungen, die Bestimmung ihres Geschäftskreises, die For- men des Verfahrens und der Geschäftsgang des Patentamtes Reichskanzleramt zu erlassen. Sie sind am 29. Febr. 1876 ergangen und im Centralblatt von 1876 S. 123 ff. veröffentlicht. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. werden, insoweit das Patentgesetz nicht Bestimmungen darüber trifft, durch Kaiserliche Verordnung unter Zustimmung des Bundesraths geregelt ebendas. §. 17. . Dieselbe ist am 18 Juni 1877 ergangen R.-G.-Bl. 1877 S. 533 fg. . Ihr zufolge zerfällt das Patentamt in sieben Abthei- lungen, von denen zuständig sind: die Abtheilungen I u. II für die Beschlußfassung über Patentgesuche ausschließlich aus dem Ge- biete der mechanischen Technik; die Abtheilungen III und IV für die Beschlußfassung über Patentgesuche ausschließlich aus dem Gebiete der chemischen Technik; die Abtheilungen V u. VI für die Beschlußfassung über solche Patentgesuche, welche das Gebiet der chemischen und der mechanischen Technik zugleich berühren, sowie über alle sonstigen Pa- tentgesuche; die Abtheilung VII für die Beschlußfassung und Ent- scheidung in dem Verfahren wegen Erklärung der Nichtigkeit und wegen Zurücknahme ertheilter Patente Verordn. §. 1. — Den Abtheilungen I. u. II. müssen mindestens je 5, den Abtheilungen III. u. IV. mindestens je 3, den Abtheilungen V. u. VI. mindestens je 4 und der Abtheilung VII. mindestens 6 nicht ständige Mit- glieder angehören. Von den Mitgliedern der Abtheilung V. und der Abthei- lung VI. muß mindestens je eins aus jeder der ersten vier Abtheilungen, von den Mitgliedern der Abtheilung VII. muß mindestens je eins aus jeder der ersten sechs Abtheilungen entnommen sein. Jeder Abtheilung muß mindestens ein ständiges Mitglied, der Abtheilung VII. außerdem der Vorsitzende des Patentamtes angehören. Die Abtheilungen werden durch eine Verfügung des Vorsitzenden des Patentamtes auf die Dauer von mindestens einem Jahre ge- bildet. An den Verhandlungen einer Abtheilung können nur solche Mitglieder theilnehmen, welche der Abtheilung angehören; der Vorsitzende kann jedoch im Falle des Todes, der Erkrankung oder der längeren Abwesenheit eines Mit- glieds, soweit und so lange das Bedürfniß es erfordert, Mitglieder anderer Abtheilungen zur Aushülfe berufen. Verordn. §. 4 u. 5. . Die näheren Bestim- mungen über die Vertheilung der Geschäfte an die einzelnen Ab- theilungen hat der Vorsitzende des Patentamtes zu treffen; ebenso hat er das Mitglied zu bestimmen, welches die Geschäftsleitung in den einzelnen Abtheilungen führt; in der Abtheilung VII führt er sie selbst; auch verfügt er über die Vertretung im Vor- sitz des Patentamtes und über die Vertretung in der Geschäfts- leitung der Abtheilungen Verordn. §§. 3. 6. . Dem Vorsitzenden liegt es ob, auf eine gleichmäßige Behand- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. lung der Geschäfte und auf die Beobachtung gleicher Grundsätze Seitens der einzelnen Abtheilungen hinzuwirken. Zu diesem Be- hufe ist er befugt, den Berathungen aller Abtheilungen beizuwoh- nen, auch sämmtliche Mitglieder zu Plenarversammlungen zu ver- einigen und die Berathung des Plenums über die von ihm vor- gelegten Fragen herbeizuführen ebendas. §. 10. . Er hat ferner die Einrichtung des Büreaus, die Verwaltung der Kasse, der Bibliothek und der Sammlungen zu ordnen und die für die Beamten erforderlichen Geschäftsanweisungen zu erlassen; ihm steht die Leitung und Be- aufsichtigung des gesammten Geschäftsbetriebes zu; er verfügt in allen Verwaltungsangelegenheiten; er ist der Dienstvorgesetzte der Subaltern- und Unterbeamten ebendas. §§. 14. 15. . 3. Zuständigkeit und Geschäftskreis des Patent- amtes . Das Patentamt ist kein Spezial-Gerichtshof, welcher in Rechtsstreitigkeiten zu urtheilen hat; es steht ihm insbesondere keine Entscheidung zu über die Bestrafung und Entschädigungspflicht wegen Verletzung eines Patentes, über die Rechtsverhältnisse, welche aus der Abtretung eines Patentes entstehen, über die Entschädi- gung des Patentinhabers, dem der Reichskanzler im öffentlichen Interesse den Patentschutz ganz oder theilweise entzieht Vgl. Patentges. §. 5 Abs. 2. , und über andere Rechtsstreitigkeiten civilrechtlichen oder strafrechtlichen Charakters, welche sich auf den Patentschutz beziehen. Das Pa- tentamt hat vielmehr lediglich darüber zu befinden, ob die Vor- aussetzungen vorhanden sind, unter welchen das Reich den Patentschutz ertheilt, resp. fortgewährt, und diejenigen Geschäfte zu erledigen, welche hiermit in unterennbarem Zusammenhange stehen. Im Einzelnen gehört hierher: a ) Die Beschlußfassung über die Ertheilung, die Erklärung der Nichtigkeit und die Zurücknahme der Patente Patentges. §. 13 Abs. 1. . b ) Die Ausfertigung der Patenturkunde ebendas. §. 26 Abs. 1. Dieselben werden nicht von dem Vorsitzenden des Patentamtes oder von dem geschäftsleitenden Mitgliede der Abtheilung vollzogen (unterschrieben), sondern nur beglaubigt. Die Beglaubigung geschieht unter der Unterschrift des von dem Vorsitzenden des Patentamtes dazu be- . §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. c ) Die Führung der Patentrolle. In dieselbe sind der Gegen- stand und die Dauer der ertheilten Patente, Namen und Wohn- ort der Patentinhaber und ihrer bei Anmeldung der Erfindung etwa bestellten Vertreter, sowie eine Aenderung dieser Personen, wenn sie in beweisender Form zur Kenntniß des Patentamtes gebracht ist, ferner der Anfang, der Ablauf, das Erlöschen, die Erklärung der Nichtigkeit und die Zurücknahme der Patente einzutragen Patentges. §. 19. Abs. 1 u. 2. . Die Patentrolle ist öffentlich; ihre Einsicht steht jedem frei, soweit es sich nicht um ein im Namen der Reichsverwaltung für die Zwecke des Heeres oder der Flotte genommenes Patent handelt ebendas. §. 19. Abs. 3. . Mit der Führung der Patentrolle ist verbunden die Aufbe- wahrung, Aufstellung und Registrirung der Beschreibungen, Zeich- nungen, Modelle und Probestücke, auf Grund deren die Ertheilung der Patente erfolgt ist. Die Einsicht dieser Sammlungen steht unter derselben Einschränkung jedermann frei, wie die Einsicht der Rolle Auch kann das Patentamt nach seinem Ermessen von den bei ihm beruhenden Eingaben und Verhandlungen, soweit deren Einsichtnahme gesetzl. nicht beschränkt ist, auf Antrag an jedermann Abschriften und Auszüge gegen Einzahlung der Kosten ertheilen. Verordn. §. 18. . Das Patentamt ist indeß befugt Anordnungen zu treffen, um den Mißbrauch der Oeffentlichkeit zum Schaden des Patent- suchers oder Patentinhabers zu verhüten Bestimmungen, welche diesen Zweck verfolgen, sind vom Patentamt in der Bekanntmachung v. 13. Nov. 1877 getroffen und im Reichsanzeiger veröffentlicht worden. . d ) Veröffentlichungen. Dieselben sind von zweierlei Art. Das Patentamt ist gesetzlich verpflichtet, im Reichsanzeiger bekannt zu machen: die Anmeldung des Patentsuchers Gesetz §. 22. 23. Hiermit ist die Anzeige zu verbinden, daß der Gegen- stand der Anmeldung einstweilen gegen unbefugte Benutzung geschützt sei. , den Beschluß, daß das Patent ertheilt sei oder daß die Ertheilung versagt sei ebendas. §. 26 Abs. 1. 2. , den Anfang, den Ablauf, das Erlöschen, die Erklärung der Nichtigkeit und die Zurücknahme der Patente, sowie den Namen und Wohn- ort des Patentinhabers und seines etwa bestellten Vertreters §. 19 Abs. 1. 2. . stimmten Beamten und unter Beifügung des Siegels des Patentamtes. Verordn. v. 18. Juni 1877 §. 19. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Außerdem liegt dem Patentamt die Herausgabe eines amtlichen Blattes ob, in welchem außer denjenigen Bekanntmachungen, welche durch den Reichsanzeiger erfolgen, die Beschreibungen und Zeich- nungen, soweit deren Einsicht jederman freisteht, in ihren wesent- lichen Theilen veröffentlicht werden §. 19 Abs. 4. Dasselbe erscheint unter dem Titel: „Patentblatt“ in Berlin (Carl Heymann’s Verlag). . e ) Die Einziehung der Gebühren §. 8 des Ges. und Kosten §. 20. 25. 30 ebendas. und die hiermit verbundenen Kassengeschäfte, Buchführung und Rechnungs- legung. f ) Das Patentamt ist verpflichtet, auf Ersuchen der Gerichte über Fragen, welche Patente betreffen, Gutachten abzugeben. Es hat demnach bei denjenigen Prozessen, welche den Patentschutz be- treffen, dieselbe Aufgabe zu erfüllen, welche bei Prozessen wegen Nachdrucks oder wegen unbefugter Nachbildung den Sachverstän- digen-Vereinen obliegt Ges. v. 11. Juni 1870 §. 30. Vgl. Dambach Patentges. S. 50. . Im Uebrigen ist das Patentamt nicht befugt, ohne Genehmigung des Reichskanzlers außerhalb seines gesetzlichen Geschäftskreises Beschlüsse zu fassen oder Gutachten ab- zugeben Patentges. §. 18. . 4. Die Ertheilung eines Patentes erfolgt unter folgenden Voraussetzungen und nach folgendem Verfahren: a ) Patente werden ertheilt für neue Erfindungen, welche eine gewerbliche Verwerthung gestatten Patentges. §. 1 Abs. 1. . Er- findungen stehen im Gegensatz zu Entdeckungen Dambach S. 2 definirt eine Erfindung als die Schaffung und Her- vorbringung eines neuen, bisher nicht vorhanden gewesenen Gegenstandes oder Productionsmittels zu materiellen Gebrauchszwecken. Vgl. über andere Defini- tionsversuche Gareis S. 25 fg. ; ausgeschlos- ten von dem Patentschutze sind deshalb „rein wissenschaftliche Ent- deckungen, die Auffindung unbekannter Naturprodukte, die Ent- deckung unbekannter Produktivkräfte, die Aufstellung neuer Me- thoden des Ackerbaues oder Bergbaues u. s. w., die Kombination neuer Pläne für Unternehmungen auf dem Gebiete des Handels Motive S. 17. “. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Die Erfindung wird nur dann patentirt, wenn sie eine gewerb- liche Verwerthung gestattet; da der Patentschutz in Nichts Anderem besteht, als in der Monopolisirung der gewerblichen Verwerthung einer Erfindung, so ist die Möglichkeit der ge- werblichen Verwerthung ein durch den Begriff selbst gegebenes Er- forderniß, eine logische Vorbedingung der Patentirung Dies darf man jedoch nicht verwechseln mit der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit, daß die Erfindung wirklich eine gewerbliche Verwerthung finden werde, d. h. mit dem Urtheil über die wirthschaftliche Nützlichkeit oder Brauchbarkeit einer Erfindung. Vgl. Gareis S. 34. . Eine Erfindung von gewerblicher Verwerthbarkeit wird nur dann patentirt, wenn sie neu ist. Unter welchen Voraussetzungen die Neuheit einer Erfindung anzuerkennen sei, hat das Gesetz nicht bestimmt; es unterliegt dies dem technischen Urtheil des Patent- amtes. Dagegen hat das Patentgesetz erklärt, daß eine Erfindung in zwei Fällen nicht neu sei, nämlich wenn sie bereits vor der Anmeldung des Patentsuchers in öffentlichen Druckschriften so genau beschrieben oder im Inlande so offenkundig benutzt ist Hinsichtlich der offenkundigen Benutzung ist das Erforderniß aufgestellt, daß dieselbe im Inlande geschehen ist, hinsichtlich der Beschreibung in öffent- lichen Druckschriften nicht. Die Neuheit einer Erfindung ist daher auch zu ver- neinen, wenn die Erfindung in ausländischen amtlichen Patentbeschreibungen veröffentlicht ist. Der Regierungs-Entw. §. 2 wollte für diesen Fall eine Aus- nahme anerkennen; der Reichstag lehnte dies aber ab. Vgl. darüber Kloster- mann S. 127. , daß dar- nach die Benutzung durch andere Sachverständige möglich erscheint Ges. §. 2. Die Bedeutung dieser Bestimmung ist streitig. Nach der einen Ansicht will das Gesetz aussprechen, daß nur in den beiden, im §. 2 erwähnten Fällen, der Charakter der Neuheit mangle, also in allen anderen Fällen eine Erfindung als neu anzuerkennen sei. So Dambach S. 11. Nach der andern Ansicht spricht das Gesetz nicht positiv aus, unter welchen Voraus- setzungen eine Erfindung als neu zu erachten sei, sondern hebt nur 2 Fälle hervor, in denen dies unbedingt ausgeschlossen ist. Vgl. Landgraf S. 15. Klostermann S. 123. Gareis S. 56 ff. Nach der Fassung des Gesetzes ist die letztere Ansicht für die richtige zu erachten. . Ausgeschlossen von dem Patentschutz sind Erfindungen von Nahrungs- Genuß- und Arznei mitteln, sowie von Stof- fen , welche auf chemischem Wege hergestellt werden, soweit die Erfindungen nicht ein bestimmtes Verfahren zur Herstellung der §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Gegenstände betreffen §. 1 Abs. 2 Ziff. 2. Ausführliche Erläuterungen hierzu finden sich in allen Kommentaren des Patengesetzes. . Ueberdies alle Erfindungen, deren Ver- werthung den Gesetzen oder guten Sitten zuwiderlaufen würde §. 1 Abs. 1. Während die erste Ausnahme auf dem Bestreben beruht, die in Folge des Patentschutzes zu befürchtende Vertheuerung der Nahrungs- mittel u. s. w. zu vermeiden, ergiebt sich die zweite Ausnahme aus dem Charak- ter des Patentschutzes als einer vom Staat gewährten Begünstigung oder Be- lohnung für die Erfindung. . b ) Berechtigt, die Ertheilung eines Patentes zu erlangen, ist derjenige, „ welcher die Erfindung zuerst nach Maßgabe dieses Gesetzes angemeldet hat §. 3 Abs. 1 “. Es ist nicht erforder- lich, daß der Patentsucher die Erfindung selbst gemacht oder durch ein Rechtsgeschäft die Befugniß zur gewerblichen Ausbeutung der Erfindung von dem Erfinder erworben hat. Der Patentschutz ist in dieser Beziehung wesentlich verschieden von dem Urheberrecht an Schriftwerken, Kompositionen u. s. w. Vgl. darüber Motive S. 18. 19. . Es ist sehr wohl möglich, daß der Eine eine Erfindung macht, während der Andere die gewerbliche Verwerthbarkeit derselben erkennt oder das dazu erforderliche Kapital aufzuwenden bereit ist und ein Patent dafür nachsucht. Deshalb würde auch die Auffassung unhaltbar sein, daß der erste Anmelder die Rechtsvermuthung für sich habe, der Erfinder zu sein, und daß aus diesem Grunde ihm das Patent verliehen werde Diese Anschauung wurde bei den legislatorischen Vorarbeiten des Pa- tentgesetzes wiederholt geltend gemacht. Vgl. die Angaben bei Klostermann S. 134. Sie kehrt wieder bei Gareis S. 72. . Auch wenn in der Anmeldung ausdrücklich angegeben wird, daß das Patent für die von einem Andern ge- machte Erfindung verlangt werde, ist dem Patentgesuch zu will- fahren. Dessen ungeachtet ist der Patentschutz seinem Wesen nach keine Belohnung für die Anmeldung einer Erfindung, sondern für die Erfindung selbst und es ist nur die Aktivlegitimation aus Gründen der Zweckmäßigkeit in einer von diesem Grundmotiv ab- weichenden Weise normirt. Der Patentsucher ist von dem Be- weise befreit, daß er der Erfinder und insbesondere daß er der erste Erfinder sei, und ebenso ist er, wenn er vom Erfinder die Befugniß zur Ausbeutung der Erfindung erworben hat, nicht ge- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. nöthigt, die Verhältnisse und Bedingungen, unter denen dies ge- schehen ist, darzulegen. Das Patentgesetz gestattet, daß über die zwischen dem Erfinder und dem Patentsucher bestehenden Rechtsbe- ziehungen die vollkommenste Discretion gewahrt werde. Der erste Erfinder hat aber nicht nur thatsächlich einen Vorsprung vor Jedem Andern in Beziehung auf die Anmeldung des Patentgesuches, son- dern es ist ihm auch rechtlich ein Schutz dagegen gewährt, daß seine Erfindung wider seinen Willen einem Andern patentirt werde. Das Patentgesetz versagt nämlich den Anspruch des Patentsuchers auf Ertheilung des Patentes, „wenn der wesentliche Inhalt seiner Anmeldung den Beschreibungen, Zeichnungen, Modellen, Geräth- schaften, oder Einrichtungen eines Anderen oder einem von diesem angewendeten Verfahren ohne Einwilligung desselben entnommen und von dem letzteren aus diesem Grunde Einspruch erhoben ist“ Patentges. §. 3 Abs. 2. , und wenn in einem solchen Falle das Patent ertheilt worden ist, kann dasselbe für nichtig erklärt werden ebendas. §. 10 Z. 2. . In diesem Einspruchs- recht des Erfinders oder seines Rechtsnachfolgers gegen die Er- theilung und in diesem Antragsrecht auf Nichtigkeitserklärung des Patentes macht sich die wahre Natur des Patentschutzes als einer Prämie für Erfindungen geltend. Daß der Patentsucher ein Reichsangehöriger ist oder im Bun- desgebiet wohne, ist nicht erforderlich; der Anspruch auf Patentschutz hat das Reichsbürgerrecht nicht zur Voraussetzung. Wenn jedoch der Patentsucher nicht im Inlande wohnt , so muß er einen, im Inlande wohnenden Vertreter bestellen, welcher in dem Ver- fahren behufs Erlangung des Patentes sowie in allen das Patent betreffenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zur Vertretung befugt ist und nach dessen Wohnsitz sich bei allen gegen den Patentin- haber anzustellenden Klagen die Gerichts-Zuständigkeit bestimmt ebendas. §. 12. Vgl. Gareis S. 163. . c ) Das Verfahren bestimmt sich nach den im Vorhergehen- den erörterten, objectiven und subjectiven Voraussetzungen und der juristischen Natur der Patentertheilung. Das Patentamt muß von Amtswegen prüfen , ob das Patent für eine Erfindung nach- gesucht wird, welche nach den Anordnungen der §.§. 1 u. 2 des Gesetzes patentfähig ist, da nur unter dieser Bedingung das §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Gesetz die Beschränkung der allgemeinen Gewerbefreiheit durch den Patentschutz überhaupt gestattet. Außerdem aber kann Einspruch gegen die Ertheilung eines Patentes an den Patentsucher aus einem doppelten Grunde erhoben werden; entweder wegen Mangels der Neuheit der Erfindung (objectiven Voraussetzung) oder wegen Mangels des Patentanspruchs (subjectiven Boraussetzung) Patentges. §. 24 Abs. 1. . Der erste Einspruch kann von Jedermann erhoben werden; denn durch die Ertheilung des Patentes würde die allgemeine Gewerbefreiheit beschränkt werden und demnach Jeder an der gesetzlich gestatteten Handlungsfreiheit eine Einbuße erleiden; es bedarf daher keiner besonderen Aktivlegitimation. Der andere Einspruch dagegen kann nur von demjenigen erhoben werden, welcher nachweist, daß die Anmeldung des Patentgesuches seinen Beschreibungen, Zeichnungen u. s. w. ohne seine Einwilligung entnommen worden ist. Dieser Einspruch kann mit dem Gesuch um Ertheilung eines Patentes verbunden sein; er kann sich aber auch auf den negativen Antrag der Versagung des Patentes an den Andern beschränken. Dem- gemäß ist das Verfahren in der Art geordnet, daß die Prüfung der Patentfähigkeit Seitens des Patentamtes sowie die Erhebung des Einspruches und die Beurtheilung desselben ermöglicht ist und daß die Ertheilung des Patentes öffentlich beurkundet und bekannt gemacht wird. Daraus ergeben sich folgende Bestandtheile des Verfahrens. α) Die Anmeldung . Dieselbe geschieht schriftlich bei dem Patentamte; sie kann nur eine Erfindung zum Inhalt haben und muß eine so genaue Beschreibung derselben enthalten, daß danach die Benutzung derselben durch andere Sachverständige möglich er- scheint. Die erforderlichen Zeichnungen, bildlichen Darstellungen, Modelle und Probestücke sind beizufügen. Gleichzeitig mit der An- meldung sind für die Kosten des Verfahrens 20 Mark zu zahlen. Das Patentamt ist ermächtigt, über die sonstigen Erfordernisse der Anmeldung Bestimmungen zu erlassen Patentges. §. 20. Diese Bestimmungen sind in einer Bekanntmachung des Patentamtes v. 11. Juli 1877 enthalten, welche im Reichsanzeiger 1877 und bei Klostermann S. 228 fg. veröffentlicht worden ist. Sie ist abge- druckt bei Gareis S. 209. . Das Patentamt hat zunächst zu prüfen, ob die Anmeldung §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. diesen formellen Erfordernissen genügt, und wenn dies nicht der Fall ist, dem Patentsucher unter Angabe der Mängel deren Besei- tigung innerhalb einer bestimmten Frist aufzugeben. Wird dieser Aufforderung bis zu dem festgesetzten Termin nicht genügt, so ist die Anmeldung ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen Ges. §. 21. Wird nach Ablauf der Frist die Anmeldung unter Er- ledigung der Mängel wiederholt, so gilt sie als neue Anmeldung, deren Datum nicht auf den Tag der ersten Anmeldung zurückbezogen werden kann und für welche die Gebühren von 20 Mark nochmals zu entrichten sind. . β) Die materielle Vorprüfung . Wenn die Anmel- dung formell ordnungsmäßig erfolgt ist, so prüft diejenige Abthei- lung des Patentamtes, zu deren Geschäftskreis das Gesuch gehört, ob die materiellen Voraussetzungen des Patentschutzes, welche die §§. 1 u. 2 des Patentgesetzes erfordern, vorhanden sind. Für jede Sache wird von dem geschäftsleitenden Mitglied der Abthei- lung ein Berichterstatter bezeichnet, welchem allein oder unter Mit- wirkung eines zweiten Mitglieds die Prüfung der Sache zunächst zufallen soll. Der Berichterstatter hat den mündlichen Vortrag in den Sitzungen zu halten Verordn. v. 18. Juni 1877 §. 7. . Wenn eine patentfähige Erfindung nach der Ansicht des Patentamtes nicht vorliegt, so weist dasselbe das Gesuch zurück Gesetz §. 22 Abs. 2. . γ) Das Aufgebots-Verfahren . Dasselbe tritt ein, wenn das Patentamt die Ertheilung eines Patentes nicht für ausge- schlossen erachtet. Es beginnt mit der Bekanntmachung des Namens des Patentsuchers und des wesentlichen Inhaltes seiner Anmeldung durch den Reichsanzeiger. Gleichzeitig ist die Anmeldung mit sämmt- lichen Beilagen bei dem Patentamte zur Einsicht für jedermann auszulegen, soweit es sich nicht um ein im Namen der Reichsverwal- tung für die Zwecke des Heeres oder der Flotte nachgesuchtes Patent handelt Ges. §. 23. . Die öffentliche Bekanntmachung hat die Rechts- wirkung, daß für den Gegenstand der Anmeldung der Patentschutz zu Gunsten des Patentsuchers einstweilen eintritt §. 22 Abs. 1 a. a. O. Ohne diesen provisorischen Schutz könnte die öffentliche Bekanntmachung für den Patentsucher die nachtheiligsten Folgen haben. Die Rechtswirkung des provisorischen Schutzes besteht darin, daß, wenn der . §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Die Frist für Erhebung des Einspruchs beträgt acht Wochen seit dem Tage der Veröffentlichung; der Einspruch muß schrift- lich erfolgen und mit Gründen versehen sein. Nach Ablauf der achtwöchentlichen Frist hat das Patentamt über die Ertheilung des Patentes Beschluß zu fassen; es ist befugt, vor der Beschluß- fassung die Ladung und Anhörung der Betheiligten, sowie die Be- gutachtung des Antrages durch geeignete, in einem Zweige der Technik sachverständige Personen und sonstige zur Aufklärung der Sache erforderliche Ermittelungen anzuordnen §. 24 a. a. O. . δ) Das Beschwerde-Verfahren . Die Einlegung der Beschwerde steht dem Patentsucher zu: gegen den Beschluß des Pa- tentamtes, durch welchen vor Einleitung des Aufgebots-Verfahrens die Anmeldung zurückgewiesen wird, und sowohl dem Patentsucher wie dem Einsprechenden: gegen den Beschluß, durch welchen über die Ertheilung des Patentes entschieden wird. Die Frist für die Einlegung der Beschwerde beträgt vier Wochen von dem Tage der Zustellung des angegriffenen Beschlußes an. Bei Einlegung der Beschwerde sind für die Kosten des Beschwerde-Verfahrens 20 Mark zu zahlen, widrigenfalls die Beschwerde als nicht erhoben gilt §. 25 a. a. O. . Ueber die Beschwerde entscheidet das Patentamt selbst; der Rechtsweg ist völlig ausgeschlossen. Die Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluß einer Abtheilung erfolgt von der- jenigen Abtheilung, welche neben der ersteren über Patentgesuche aus demselben Gebiete der Technik zu beschließen hat V. v. 18. Juni 1877 §. 2 Abs. 1. Es bilden demnach die Abtheilungen I. u. II. gegenseitig die Beschwerde-Instanz für einander; ebenso die Abthei- lungen III. und IV. und die Abtheilungen V. u. VI. . Die Be- Patentsucher später ein Patent wirklich erlangt, die gewerbliche Ausbeutung seiner Erfindung durch Andere auch in dem Falle als Patentverletzung behandelt wird, wenn sie vor der Ertheilung des Patents geschehen ist. Wenn dagegen der Antrag auf Patentertheilung zurückgewiesen wird, so erscheint der in der Zwischenzeit seit der Bekanntmachung der Patentanmeldung geschehene Gebrauch der Erfindung als nicht rechtswidrig. Juristisch ist demnach der „einstweilige“ Patentschutz des §. 22 Abs. 1 ein resolutiv bedingter . Schwebt ein Prozeß wegen Verletzung des einstweiligen Patentschutzes, so wird das Gericht die Entscheidung auszusetzen haben, bis das Patentamt über die Ertheilung oder Versagung des Patentes Beschluß gefaßt hat. Klostermann S. 235. Laband , Reichsstaatsrecht. II. 31 §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. schlußfassung kann nur auf Grund mündlichen Vortrags in der Sitzung erfolgen ebendas. §. 8 Ziff. 1. . Vor der Beschlußfassung kann die Vernehmung der Betheiligten oder technischer Sachverständiger stattfinden Ges. §. 25 Abs. 2. . ε) Wenn endgültig die Ertheilung des Patentes beschlossen ist, so erläßt das Patentamt darüber durch den Reichsanzeiger eine Bekanntmachung und ertheilt dem Patentinhaber eine Urkunde Ges. §. 26 Abs. 1. . Auch die Versagung des Patentes ist bekannt zu machen. In die- sem Falle gelten die Wirkungen des einstweiligen Schutzes, der mit der Bekanntmachung der Anmeldung verknüpft ist, als nicht einge- treten ebendas. Abs. 2. ; es können daher Personen, welche vorher den provisori- schen Patentschutz verletzt haben, dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden Vgl. oben S. 480 Note 5. . 5. Die Wirkungen des Patentes . Der Patentschutz ist, wie oben ausgeführt wurde, eine Beschränkung der allgemeinen Gewerbefreiheit zu Gunsten des Patentinhabers. Demgemäß be- stimmt das Patentgesetz im §. 4 die Wirkung des Patentes dahin, „daß Niemand befugt ist, ohne Erlaubniß des Patentinhabers den Gegenstand der Erfindung gewerbsmäßig Vgl. Landgraf S. 34. 36. herzustellen, in Verkehr zu bringen oder feilzuhalten“. Bildet ein Verfahren oder eine Maschine, eine Betriebsvor- richtung, ein Werkzeug oder ein sonstiges Arbeitsgeräth den Ge- genstand des Patentes, so darf überdies Niemand ohne Erlaub- niß des Patentinhabers das Verfahren anwenden oder den Gegen- stand der Erfindung gebrauchen Da in dem zweiten Abs. des §. 4 das Wort „gewerbsmäßig“ — welches im ersten Absatz von der Commission des Reichstages eingeschaltet worden ist — fehlt, so hat man daraus geschlossen, daß der Gebrauch paten- tirter Werkzeuge u. s. w. auch zu nicht gewerblichen Zwecken, z. B. in der Führung des Haushaltes, untersagt sei. Dambach S. 19. Diese dem Be- griff des Patentschutzes widersprechende Auslegung ist bereits von Kloster- mann S. 143 fg. als unrichtig dargethan worden, dessen Ausführung durch das, was Gareis S. 91 dagegen einwendet, meines Ermessens nicht wider- legt wird. . Diese Wirkungen sind räumlich beschränkt auf das Reichs- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. gebiet; denn das Reich kann nur innerhalb seines Gebietes die rechtlichen Grenzen und Schranken der Gewerbefreiheit bestimmen Klostermann S. 140 fg. . Gegenstände, welche im Reichsgebiet den Patentschutz genießen, kann man unbehindert durch denselben vom Auslande beziehen; nur darf man sie nicht gewerbsmäßig in Verkehr bringen oder feilhalten Motive S. 21. Aus demselben Grunde ist der Transit von patent- widrig Waaren durch deutsches Reichsgebiet nicht für verboten zu erachten, wie Gareis S. 98 und Klostermann S. 156 annehmen; denn die Durch- fuhr von Waaren bringt dieselben nicht im Reichsgebiet in Verkehr; sie vermittelt nur den Verkehr zwischen zwei ausländischen Gebieten. . Sie sind ferner zeitlich beschränkt auf die Dauer von fünfzehn Jahren von dem Tage an, welcher auf die Anmeldung der Er- findung folgt Patentges. §. 7. Also nicht von dem Tage der Ausfertigung des Pa- tentes an. . Der Patentschutz wird aber auch für diese Zeit nur gewährt, wofern der Berechtigte mit Beginn des zweiten und jeden folgenden Jahres eine Gebühr entrichtet, welche das erste Mal 50 Mark beträgt und weiterhin jedes Jahr um 50 Mark steigt ebendas. §. 8 Abs. 2. Im Falle der Bedürftigkeit können die Gebühren für die ersten beiden Jahre bis zum dritten Jahre gestundet, und wenn das Patent im dritten Jahre erlischt, erlassen werden. Ein rechtlicher Anspruch auf Erlaß oder Stundung ist auch im Falle der Bedürftigkeit nicht begründet. Gareis S. 135. . Es wird dadurch verhütet, daß Beschränkungen der Ge- werbefreiheit fortdauern, welche für den Patentinhaber einen ge- ringen oder gar keinen Vermögenswerth haben. Wenn der Patentinhaber die für ihn geschützte Erfindung durch eine andere verbessert, so hat er die Wahl, entweder ein Zusatz- patent zu nehmen, für welches er außer den Kosten für die An- meldung keine Gebühren zu entrichten hat, welches aber mit dem Patente für die ältere Erfindung sein Ende erreicht Patentges. §. 7. ; oder für die Verbesserung ein selbstständiges Patent zu nehmen und dafür die vollen Gebühren zu entrichten. Die Wirkungen des Patentes sind ferner ausgeschlossen gegen denjenigen, welcher bereits zur Zeit der Anmeldung des Patent- inhabers die Erfindung im Inlande in Benutzung genommen oder die zur Benutzung erforderlichen Veranstaltungen getroffen hatte Patentges. §. 5 Abs. 1. War die Benutzung bereits eine verbreitete . 31* §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Durch spezielle Anordnung des §. 5 Abs. 3 sind endlich Einrich- tungen an Fahrzeugen, (Schiffen, Lokomotiven, Eisenbahnwagen), welche nur vorübergehend in das Inland gelangen, von den Wir- kungen des Patentes befreit, um den internationalen Verkehr vor lästigen Beschränkungen zu schützen. Das Recht aus dem Patente (der Patentschutz) und ebenso der durch die erste Anmeldung der Erfindung begründete Anspruch auf Ertheilung eines Patentes sind vererblich und veräußerlich Patentges. §. 6. . Wissentliche Verletzungen des Patentschutzes ziehen theils strafrechtliche, theils civilrechtliche Folgen nach sich; in dieser Beziehung gelten von dem Patentschutz gleichartige Rechtssätze wie von dem Schutze des Urheberrechts an Schriftwerken u. s. w., ab- gesehen davon, daß das letztere auch gegen fahrlässige Verletzungen geschützt ist. a ) Die Strafverfolgung tritt nur auf Antrag ein. Die Strafe ist Geldstrafe bis zu 5000 Mark oder Gefängniß bis zu einem Jahre Patentges. §. 34. ; auch ist dem Verletzten die Befugniß zuzusprechen, die Verurtheilung auf Kosten des Verurtheilten öffentlich bekannt zu machen, in einer im Urtheil zu bestimmenden Art der Bekannt- machung und Frist ebendas. §. 35. . Neben der Strafe kann auf Verlangen des Beschädigten auf eine an ihn zu erlegende Buße bis zum Betrage von 10,000 Mark erkannt werden, für deren Zahlung die zu der- selben Verurtheilten als Gesammtschuldner haften. Eine erkannte Buße schließt die Geltendmachung eines jeden andern Entschädi- oder öffentlich bekannte, so wird ein Patent überhaupt nicht ertheilt, weil die Erfindung nicht als neu zu erachten ist; es kann aber Jemand die Erfindung bereits im Geheimen benutzt haben, ohne ein Patent nachzusuchen. Wenn dann später ein Anderer auf dieselbe Erfindung ein Patent nimmt, so soll durch §. 5 Abs. 1 — wie die Motive S. 21 sagen — „der berechtigte Besitzstand gegen die Einwirkung des später verliehenen Privilegiums gesichert werden.“ Juristisch ist dies eine gesetzliche Einschränkung des Patentschutzes, die der ältere Erfinder, wenn er von dem Patentnehmer wegen Patent-Verletzung be- langt wird, einredeweise entgegenhalten kann, aber kein selbstständiges Recht von positivem Inhalt, das eine active Geltendmachung zuläßt. Der von Gareis erfundene „Erfindungsbesitz“ ist schwerlich als ein Rechtsbegriff anzuerkennen. Die richtige Auffassung findet sich bei Landgraf S. 49. §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. gungsanspruches aus a. a. O. §. 36. . Kompetent zur Entscheidung sind die ordentlichen Gerichte nach Maßgabe der Strafproceß-Ordnung. b ) Die bürgerlichen Klagen wegen Verletzung des Patentrech- tes verjähren rücksichtlich jeder einzelnen dieselbe begründenden Hand- lung in drei Jahren. Das Gericht entscheidet sowohl darüber, ob ein Schaden entstanden ist, als auch über die Höhe desselben unter Würdigung aller Umstände nach freier Ueberzeugung Die Kompetenz bestimmt sich nach den allgemeinen Grundsätzen; bis zum Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze ist die Kompetenz des Reichs-Oberhandels- gerichts auf bürgerl. Rechtsstreitigkeiten auf Grund des Reichs-Patentgesetzes erstreckt worden. §. 37 des Gesetzes. Vgl. dazu Dambach Patentges. S. 81. . 6. Beendigung des Patentschutzes . Der Patentschutz hört auf durch Erlöschen, durch Nichtigkeitserklärung und durch Zurücknahme des Patents; er kann beschränkt werden durch Ab- lösung. a ) Das Patent erlischt , wenn die Zeit, für welche es er- theilt ist, abgelaufen ist, wenn die alljährlich für die Fortdauer zu entrichtenden Gebühren nicht spätestens drei Monate nach der Fällig- keit bezahlt werden, oder wenn der Patentinhaber auf dasselbe ver- zichtet Patentges. §. 9. . Das Erlöschen tritt ipso iure ohne Verfahren ein; es wird aber in der vom Patentamt geführten Rolle vermerkt und durch den Reichsanzeiger bekannt gemacht ebendas. §. 19 Abs. 1. . b ) Das Patent wird für nichtig erkärt , wenn sich er- giebt, daß die Erfindung nicht patentfähig war oder daß der we- sentliche Inhalt der Anmeldung den Beschreibungen ꝛc. eines Andern oder einem von diesem angewendeten Verfahren ohne Einwilligung desselben entnommen war a. a. O. §. 10. . Die Nichtigkeits-Erklärung macht das Patent von Anfang an unwirksam; nachdem die Nichtigkeits-Erklärung definitiv ausge- sprochen worden ist, können daher weder Strafen noch Entschädi- gungsverpflichtungen wegen der vor der Nichtigkeits-Erklärung verübten Verletzungen des Patentes von den Gerichten verhängt werden. Wird im Laufe eines Prozesses wegen Patentverletzung §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. die Nichtigkeit des Patentes behauptet, so ist das Verfahren vor- läufig auszusetzen Kommissionsbericht S. 43. . Die Nichtigkeits-Erklärung kann nur auf Antrag erfolgen; über die Aktivlegitimation zur Stellung eines solchen Antrages gelten dieselben Regeln wie über die Aktivlegitimation zur Erhebung des Einspruchs gegen die Patent-Ertheilung Ges. §. 27. . An eine bestimmte Frist ist der Antrag nicht geknüpft; er ist schriftlich an das Patentamt zu richten und muß die Thatsachen enthalten, auf welche er gestützt wird. Eine Zurückweisung des Antrages a limine wegen Unzuläs- sigkeit oder unzulänglicher Begründung ist unstatthaft Kommissionsbericht S. 35. ; das Pa- tentamt muß die Einleitung des Verfahrens verfügen und den Pa- tentinhaber unter Mittheilung des Antrages auffordern, sich über denselben binnen vier Wochen zu erklären Patentges. §. 28 Abs. 1. . Unterläßt der Patentinhaber die Erklärung, so kann das Pa- tentamt ohne Ladung und Anhörung der Betheiligten sofort nach dem Antrage entscheiden und dabei die von dem Antragsteller be- haupteten Thatsachen für erwiesen annehmen §. 28 Abs. 2. ; das Patentamt kann aber auch, bevor es entscheidet, noch weitere Ermittelungen zur Aufhellung des Sachverhaltes veranlassen. Wenn der Patent- inhaber rechtzeitig widerspricht, so findet ein contradiktorisches Ver- fahren statt, auf welches die Vorschriften der Civilprozeß-Ordnung entsprechende Anwendung finden a. a. O. §. 29 Abs. 1. . Die Gerichte sind verpflichtet, dem Patentamte Rechtshülfe zu leisten a. a. O. §. 31. . Die Entscheidung erfolgt nach Ladung und Anhörung der Betheiligten §. 29 Abs. 2. ; in derselben wird zugleich nach freiem Ermessen des Patentamtes bestimmt, zu wel- chem Antheil die Kosten des Verfahrens den Betheiligten zur Last fallen §. 30. . Zur Beschlußfassung und Entscheidung ist zuständig die Abtheilung VII. des Patentamtes; über Beschwerden gegen Be- schlüsse derselben entscheiden diejenigen beiden Abtheilungen ge- meinsam, welche über die Ertheilung von Patenten aus demjenigen §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. Gebiete der Technik, welchem das angefochtene Patent angehört, zu entscheiden haben V. v. 18. Juni 1877 §. 2 Abs. 2. Ob auch Entscheidungen der VII. Abth. „Beschlüsse“ sind, welche im Wege der Beschwerde angefochten werden können, ist übrigens zweifelhaft. Vgl. Dambach S. 70. Gareis S. 176. Klostermann S. 207. 213. 250. . Gegen die Entscheidung des Patentamtes ist die Berufung an das Reichs-Oberhandelsgericht zulässig; sie ist binnen sechs Wochen nach der Zustellung bei dem Patentamte schriftlich anzumelden und zu begründen Patentges. §. 32 Abs. 1. . Ueber das Verfahren vor dem Gerichtshofe soll ein Regulativ die näheren Bestimmungen enthal- ten; dasselbe ist von dem Gerichtshofe zu entwerfen und durch eine vom Kaiser unter Zustimmung des Bundesrathes zu erlassende Verordnung festzustellen §. 32 Abs. 3. . c ) Das Patent kann zurückgenommen werden, wenn drei Jahre seit Ertheilung desselben verflossen sind und der Patentinhaber es unterläßt, im Inlande die Erfindung in angemessenem Umfange zur Ausführung zu bringen oder doch Alles zu thun, was erfor- derlich ist, um diese Ausführung zu sichern Patentges. §. 11 Ziff. 1. . Dem durch das Patent gewährten Monopol entspricht die Verpflichtung, soweit die Verwerthung der patentirten Erfindung einem Bedürfniß der In- dustrie entspricht, von dem verliehenen Rechte auch thatsächlich Ge- brauch zu machen. Darnach ergiebt sich, was unter einem „ange- messenen Umfange“ zu verstehen ist; der Patentinhaber soll nicht in der Lage sein, nachdem Andere von der Ausbeutung der von ihm angemeldeten Erfindung ausgeschlossen sind, die Benutzung die- ser Erfindung für die inländische Industrie ganz unmöglich zu machen oder zu verkümmeru Ueber die Gründe, welche zur Aufnahme dieser Bestimmung geführt haben und aus denen sich die Gesichtspunkte für die Auslegung der etwas un- bestimmten Fassung des Gesetzes gewinnen lassen, ist der Kommisssions - bericht S. 21 ff. zu vergleichen, sowie die ausführliche Erörterung bei Land- graf S. 72 fg. . Die Zurücknahme des Patentes kann ferner nach Ablauf von drei Jahren erfolgen, wenn im öffentlichen Interesse die Ertheilung der Erlaubniß zur Benutzung der Erfindung an Andere §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. geboten erscheint, der Patentinhaber aber gleichwohl sich weigert, diese Erlaubniß gegen angemessene Vergütung und ge- nügende Sicherstellung zu ertheilen §. 11 Z. 2. Man nennt die Verpflichtung eines Patentinhabers, auch Anderen gegen Entschädigung die Mitbenutzung der Erfindung zu gestatten, den Licenzzwang . Vgl. über die jurist. Natur desselben Klostermann S. 161. . Die Frage, ob ein öffent- liches Interesse vorhanden sei, welches die Mitbenutzung der paten- tirten Erfindung durch einen Andern als geboten erscheinen läßt, und ob derjenige, der diese Mitbenutzung in Anspruch nimmt, dem Patentinhaber eine Vergütung und Sicherstellung angeboten habe, welche für angemessen und genügend zu erachten ist, hat das Pa- tentamt nach seinem Ermessen zu entscheiden Vgl. über die Stellung des Patentamtes bei Beurtheilung der Ange- gemessenheit der angebotenen Vergütung den Kommissionsbericht S. 38 fg. ; bevor aber aus diesem Grunde die Zurücknahme des Patentes erfolgen kann, muß das Patentamt dieselbe dem Patentinhaber unter Angabe von Gründen und unter Festsetzung einer angemessenen Frist androhen §. 29 Abs. 3. . Die Zurücknahme kann nur auf Antrag erfolgen. Ueber den Antrag, über das von dem Patentamt zu beobachtende Verfahren und über die Berufung gegen die Entscheidung des Patentamtes an das Reichs-Oberhandelsgericht gelten dieselben Regeln, welche bei der Nichtigkeits-Erklärung eines Patentes Anwendung finden. d ) Der Patentschutz kann beschränkt resp. aufgehoben werden, wenn die Erfindung für das Heer oder für die Flotte oder sonst im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll. Dieser Fall ist nach seiner juristischen Natur eine Art von Expro- priation Vgl. auch Landraf S. 44. 45 und Gareis S. 107. und entspricht der Ablösung von Gewerbe-Privilegien und anderen Untersagungs-Rechten. Der Patentinhaber muß sich die Einschränkung oder Aufhebung seines Monopols zwar wider seinen Willen gefallen lassen; er hat aber Anspruch auf angemessene Vergütung gegenüber dem Reiche oder dem Staate, welcher in seinem besonderen Interesse die Beschränkung des Patentes beantragt hat. Ueber die Frage, ob ein Interesse des Heeres, der Flotte oder der öffentlichen Wohl- fahrt vorhanden ist, sowie über den Umfang, in welchem der Pa- tentschutz zu beschränken oder aufzuheben ist, entscheidet ausschließ- §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. lich der Reichskanzler ; weder ein Verfahren vor dem Patent- amt noch ein Verfahren im Rechtswege ist darüber zulässig. Da- gegen ist die Höhe der Entschädigung des Patentinhabers in Er- mangelung einer Verständigung im Rechtswege, d. h. im Wege des Civilprozesses festzusetzen Patentges. §. 5 Abs. 2. . Diese Grundsätze finden nicht nur Anwendung, wenn das Pa- tent bereits ertheilt ist, sondern auch in dem Verfahren behufs Er- langung eines Patentes. 7. Simulirung des Patentschutzes . Da die Verlei- hung eines Patentes eine eingreifende Beschränkung der Gewerbe- freiheit enthält, deren Verletzung schwere strafrechtliche und civil- rechtliche Folgen nach sich zieht, so ist die Irreführung des Publikums über das Vorhandensein eines Patentschutzes, während in Wahrheit ein solcher nicht ertheilt ist, unter Strafe gestellt. Das Patentgesetz §. 40 hat demgemäß mit Geldstrafe bis 150 Mk. oder mit Haft denjenigen bedroht, welcher Gegenstände oder deren Verpackung mit einer Bezeichnung versieht, welche geeignet ist, den Irrthum zu erregen, daß die Gegenstände durch ein Patent nach Maßgabe dieses Gesetzes Mit Strafe bedroht ist demnach nur die Simulirung eines Reichs - patentes, nicht die fälschliche Angabe, daß für die Gegenstände ein ausländisches Patent oder ein noch wirksames Patent eines Deutschen Einzelstaates ertheilt sei. geschützt seien, oder welcher eine solche Bezeichnung in öffentlichen Anzeigen, auf Aushängeschildern, auf Empfehlungskarten oder in ähnlichen Kundgebungen anwendet. 8. Landespatente . Seit dem Inkrafttreten des Patent- gesetzes (1. Juli 1877) sind die deutschen Einzelstaaten nicht mehr befugt, Patente zu ertheilen oder die Dauer ertheilter Patente zu verlängern. Dagegen sind die vorher verliehenen Patente in Kraft geblieben Patentges. §. 41. . Ihre Wirkung normirt sich nach den Bestimmungen, auf Grund deren sie ertheilt worden sind. Prinzipiell begründen sie daher ein ausschließliches Recht zur Ausbeutung einer gewerblichen Erfindung nur für das Gebiet desjenigen Staates, welcher sie er- theilt hat, insofern nicht durch Verträge unter den deutschen Staaten die gegenseitige Anerkennung der Patente vereinbart ist Dies ist geschehen durch die Uebereinkunft der zum Zoll- und Handels- vereine verbundenen Regierungen wegen Ertheilung von Erfindungs-Patenten und Privilegien v. 21. September 1842. (Preuß. Ges. Samml. 1843 S. 265 fg.) . Ebenso 31* §. 76. Die Verwaltung des Gewerbewesens. richten sich die strafrechtlichen und civilrechtlichen Folgen der Pa- tentverletzung nach den landesgesetzlichen Vorschriften. Endlich sind die in den Einzelstaaten bestehenden Bestimmungen maßgebend für das Erlöschen, die Aufhebung oder Beschränkung des Patentrechtes. Das Reichsgesetz hat indeß die Umwandlung der bestehenden Landespatente in Reichspatente gestattet und dabei die für die Ertheilung eines Reichspatentes aufgestellten Erfordernisse insofern modifizirt, als bei Prüfung der Neuheit der Erfindung derjenige Zeitpunkt in Betracht gezogen werden soll, in welchem sie im In- lande zuerst einen Schutz erlangte Patentges. §. 42. . Für die Dauer eines solchen Reichspatentes und für die Berechnung des Fälligkeitstages und des Jahresbetrages der Gebühren wird die Zeit in Anrechnung gebracht, während deren die Erfindung nach dem ältesten der be- stehenden Patente im Inlande bereits geschützt gewesen ist Patentges. §. 43. . und den Zollvereins-Vertrag v. 8. Juli 1867 Art. 21 (B.-G.-Bl. S. 103). Vgl. darüber Klostermann S. 104. 271. und Gensel im Jahrbuch von v. Holtzendorff und Brentano Bd. I. S. 503. Berichtigungen . S. 18 Z. 2 ist anstatt „Tribunal“ zu lesen „Tribunat“ S. 19 Note 1 „ „ „Tribunals“ „ „ „Tribunats“ S. 90 Note 3 „ „ „§. 74“ „ „ „§. 75“