Anton Reiser . Ein psychologischer Roman . Herausgegeben von Karl Philipp Moritz . Vierter Theil . Berlin, 1790 . Bei Friedrich Maurer . D ieser vierte Theil von Anton Reisers Lebensgeschichte handelt, so wie die vori¬ gen, eigentlich die wichtige Frage ab, in wie fern ein junger Mensch sich selber seinen Beruf zu waͤhlen im Stande sey ? Er enthaͤlt eine getreue Darstellung von den mancherlei Arten von Selbst¬ taͤuschungen, wozu ein mißverstandener )( 2 Trieb zur Poesie und Schauspielkunst den Unerfahrnen verleitet hat. Dieser Theil enthaͤlt auch einige viel¬ leicht nicht unnuͤtze und nicht unbedeuten¬ de Winke, fuͤr Lehrer und Erzieher so¬ wohl, als fuͤr junge Leute, die ernsthaft genug sind, um sich selbst zu pruͤfen, durch welche Merkzeichen vorzuͤg¬ lich der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet? Man sieht aus dieser Geschichte, daß ein mißverstandener Kunsttrieb, der bloß die Neigung ohne den Beruf vor¬ aussetzt, eben so maͤchtig werden und eben die Erscheinungen hervorbringen kann, welche bei dem wirklichen Kunst¬ genie sich aͤußern, welches auch das Aeußerste erduldet, und alles aufopfert, um nur seinen Endzweck zu erreichen. Aus den vorigen Theilen dieser Ge¬ schichte erhellet deutlich: daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft fuͤr das Theater eigentlich ein Resultat seines Le¬ bens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdraͤngt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasieen, als in der Wirklich¬ keit lebte — das Theater als die eigent¬ X 3 liche Phantasieenwelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwaͤrtig¬ keiten und Bedruͤckungen seyn. — Hier allein glaubte er freier zu athmen, und sich gleichsam in seinem Elemente zu be¬ finden. Und doch hatte er hiebei ein gewisses Gefuͤhl von den reellen Dingen in der Welt, die ihn umgaben, und worauf er auch ungern ganz Verzicht thun wollte, da er doch einmal, so gut wie die andern Menschen, Leben und Daseyn fuͤhlte. Dieß machte, daß er mit sich selbst im immerwaͤhrenden Kampfe war. Er dachte nicht leichtsinnig genug, um ganz den Eingebungen seiner Phantasie zu folgen, und dabei mit sich selber zu¬ frieden zu seyn; und wiederum hatte er nicht Festigkeit genug, um irgend einen reellen Plan, der sich mit seiner schwaͤr¬ merischen Vorstellungsart durchkreuzte, standhaft zu verfolgen. Eigentlich kaͤmpften in ihm, so wie in tausend Seelen, die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum mit der Wirk¬ lichkeit, und es blieb unentschieden, welches von beiden obsiegen wuͤrde, wor¬ aus sich die sonderbaren Seelenzustaͤnde, in die er gerieth, zur Genuͤge erklaͤren lassen. Widerspruch von außen und von in¬ nen war bis dahin sein ganzes Le¬ ben. — Es koͤmmt darauf an, wie diese Widerspruͤche sich loͤsen werden! S o wie nun Reiser die Thuͤrme von H. . . aus dem Gesicht verlohren hatte, und mit schnellen Schritten vorwaͤrts ging, athmete er freier, seine Brust erweiterte sich — die ganze Welt lag vor ihm — und tausend Aussichten er¬ oͤfneten sich vor seiner Seele. Er dachte sich den Faden seines bisherigen Lebens gleichsam wie abgeschnitten — er war nun aus allen Verwickelungen auf einmal be¬ freiet — denn haͤtte er auch die Universitaͤt in G. . . bezogen, so haͤtte ihn auch dort sein Schicksal hin verfolgt; die ganze Zeitgenossen¬ schaft seiner Jugend haͤtte auch dort wieder auf ihn gedruͤckt, und sein Muth haͤtte ganz erlie¬ gen muͤssen. Denn so lange wie er in jenen Kreis hinge¬ bannt war, konnte er kein Zutrauen zu sich selber fassen — und wenn sein Muth sich erholen sollte, so mußte er sobald die Menschen nicht 4ter Theil. A wieder sehen, die vielleicht unvorsetzlich ihm die Tage seiner Jugend verbittert hatten. Nun war er aus diesem Kreise ganz geschie¬ den. — Der Schauplatz seiner Leiden, die Welt, worin er die Schicksale seiner Jugend durchlebt hatte, lag hinter ihm — er entfernte sich mit jedem Schritt von ihr, und konnte, so wie er sich eingerichtet hatte, acht Tage wan¬ dern, ohne daß ihn ein Mensch vermißte. Nun fand er eine unbeschreibliche Suͤßigkeit in dem Gedanken, daß außer Philipp Reiser niemand um sein Schicksal, und um den Ort seines Aufenthalts wußte, daß selbst dieser einzige Freund sich bei seinem Ab¬ schiede nicht sehr bekuͤmmert hatte; daß er nun außer allen Verhaͤltnissen, und al¬ len Menschen zu denen er kam , voͤllig gleichguͤltig war. Wenn das gaͤnzliche Hinscheiden aus dem Leben durch irgend einen Zustand kann vorge¬ bildet werden, so muß es dieser seyn. — So wie nun die Hitze des Tages sich legte, die Sonne sich neigte, und die Schatten der Baͤume laͤnger wurden, verdoppelte er seine Schritte, und machte denselben Nachmittag die drei Meilen bis Hildesheim ununterbrochen, wie einen Spatziergang; auch betrachtete er es voͤllig, wie einen Spatziergang; denn er war nun in Hildesheim, so gut, wie in H. . . zu Hause. Als er an das Stadtthor kam, schlug er sich vorher den Staub von den Schuhen, brachte sein Haar in Ordnung, nahm eine kleine Gerte in die Hand, mit der er im Gehen spielte, und schlenderte auf die Weise langsam uͤber die Bruͤcke, auf der er zuweilen stehen blieb, als ob er jemanden erwartete; oder nach etwas sich um¬ sah. — Und da er uͤberdem in seidenen Struͤm¬ pfen ging, so hielt ihn niemand in diesem Auf¬ zuge fuͤr einen Reisenden, der uͤber vierzig Mei¬ len zu Fuß zu wandern im Begrif ist. Keine Schildwache fragte ihn, und er wan¬ derte mit den Einwohnern der Stadt, die auch von ihren Spatziergaͤngen zuruͤckkehrten, in die Thore von Hildesheim. — Und der Gedanke war ihm wiederum aͤußerst beruhigend und an¬ genehm, daß er diesen Leuten gar nicht als fremd auffiel, niemand nach ihm sich umsah, A 2 sondern daß er gleichsam zu ihnen mitgerechnet wurde, ohne doch zu ihnen zu gehoͤren. — Da ihn nun niemand von allen diesen Men¬ schen kannte, und niemand sich um ihn bekuͤm¬ merte, so verglich er sich auch mit keinem mehr; er war, wie von sich selbst geschieden; seine In¬ dividualitaͤt, die ihn so oft gequaͤlt und gedruͤckt hatte, hoͤrte auf, ihm laͤstig zu seyn; und er haͤtte sein ganzes Leben auf die Weise ungekannt und ungesehen unter den Menschen herumwan¬ deln moͤgen. Als er nicht weil vom Thore einen Gasthof suchte, kam ihm die Straße bekannt vor, und er erinnerte sich wieder an die Zeit als er vor vier Jahren, mit dem Rektor bei dem er wohnte, am Frohnleichnamsfeste hier war, und an die aͤngstliche und peinliche Lage in der er sich da¬ mals befand, weil er von der Gesellschaft mit der er ging weder ausgeschlossen war, noch ei¬ gentlich dazu gehoͤrte. — Es waͤlzte sich ihm wie ein Stein vom Herzen weg, da er sich das alles nun als gaͤnzlich vergangen dachte. In dem Gasthofe, worin er nun einkehrte, empfing und bewirthete man ihn nach seiner Kleidung, und er hatte nicht den Muth es von sich abzulehnen, sondern ließ es sich gefallen, daß man ihm ein Abendessen zubereitete, ein Bette zum Schlafen anwies, und ihm am an¬ dern Morgen seinen Kaffee brachte. — Den trank er noch in Ruhe und las im Homer dazu, als er auf einmal, wie aus einer Art von Be¬ taͤubung erwachte, da er sich lebhaft vorstellte, daß er mit seiner Baarschaft, die aus einem einzigen Dukaten bestand, nicht nur uͤber vier¬ zig Meilen weit reisen, sondern nothwendig an Ort und Stelle noch etwas davon uͤbrig haben muͤßte. Er bezahlte schnell seine Zeche, die ihn um nicht weniger als den sechsten Theil seines gan¬ zen Vermoͤgens aͤrmer machte; erkundigte sich nach der Straße, die auf Seesen fuͤhrte, und wanderte mit sorgenvollen Gedanken, und schwe¬ rem Herzen aus dem Thore von Hildesheim. Es war noch fruͤh am Tage — der Weg fuͤhrte ihn durch eine angenehme Gegend, wo Wald und Flur miteinander abwechselten, und der Gesang der Voͤgel ihm entgegen toͤnte, in¬ deß die Morgensonne auf die gruͤnen Wipfel der Baͤume schien. — A 3 So wie er nun schneller vorwaͤrts ging, fuͤhlte er auch nach und nach wieder sein Gemuͤth erleichtert, heitere Gedanken, reizende Aussich¬ ten, und kuͤhne Hoffnungen stiegen allmaͤhlig wieder in seiner Seele auf, und nun entstand in ihm ein Vorsatz, der ihn auf einmal uͤber alle Sorgen hinwegsetzte, und der ihn auf seiner ganzen Wanderung reich und unabhaͤngig machte. Er durfte nur seine ganze Nahrung auf Brodt und Bier einschraͤnken, auf der Streu schlafen, und niemals wieder in einer Stadt uͤbernachten, um seinen Unterhalt waͤhrend der Reise mit wenig mehr als einem Groschen taͤg¬ lich zu bestreiten. Auf die Weise konnte er laͤn¬ ger als einen Monat unterwegens seyn, und war am Ende der Reise doch noch nicht ganz entbloͤßt. Sobald er diesen Vorsatz, den er von dem Tage an standhaft ausfuͤhrte, gefaßt hatte, fuͤhlte er sich wieder frei und gluͤcklich wie ein Koͤnig — selbst diese freiwillige Entsagung aller Bequemlichkeiten, und diese Einschraͤnkung auf die allernoͤthigsten Beduͤrfnisse — gab ihm eine Empfindung ohne Gleichen; er fuͤhlte sich nun beinahe wie ein Wesen, das uͤber alle irdische Sorgen hinweggeruͤckt ist; und lebte deswegen auch ungestoͤrt in seiner Ideen- und Phanta¬ sienwelt, so daß dieser Zeitpunkt, bei allem an¬ scheinenden Ungemach, einer der gluͤcklichsten Traͤume seines Lebens war. Unmerklich aber schlich sich denn doch ein Gedanke mitunter, der sein gegenwaͤrtiges Da¬ seyn, damit es nicht ganz zum Traume wuͤrde, wieder an das vorige knuͤpfte. Er stellte sich vor, wie schoͤn es seyn wuͤrde, wenn er nach einigen Jahren in dem Andenken der Menschen, worin er nun gleichsam gestorben war, wieder aufleben, in einer edlern Gestalt vor ihnen er¬ scheinen, und der duͤstere Zeitraum seiner Ju¬ gend alsdann vor der Morgenroͤthe eines bessern Tages verschwinden wuͤrde. Diese Vorstellung blieb immer fest bei ihm — sie lag auf dem Grunde seiner Seele, und er haͤtte sie um alles in der Welt nicht aufgeben koͤnnen; alle seine uͤbrigen Traͤume und Phan¬ tasien hielten sich daran, und bekamen dadurch ihren hoͤchsten Reiz. — Der einzige Gedanke, daß dieselben Menschen, die ihn bis jetzt A 4 gekannt haͤtten, niemals wiedersehen wuͤrde, haͤtte damals alles Interesse aus seinem Leben hinweggenommen, und ihm die suͤßesten Hof¬ nungen geraubt. Als nun der Mittag herannahte, so kehrte er in einem Dorfe in einem geringen Wirths¬ hause ein, wo er ohnedem ausser Bier und Brodt auch fuͤr Geld nichts haͤtte haben koͤn¬ nen, und also der Fall nicht eintrat, daß man ihm eine bessere Bewirthung angeboten, und er sie haͤtte ablehnen muͤssen. Es machte ihm nun unbeschreiblich Vergnuͤ¬ gen, daß er fuͤr wenige Pfennige ein so großes Stuͤck schwarzes Brodt erhielt, welches ihn den ganzen Tag gegen den Hunger sicher stellte. Er brockte sich einen Theil davon ins Bier, und hielt auf die Weise das erste Mittagsmahl nach sei¬ nen eigenen strengen Gesetzen, von welchen er von nun an, waͤhrend der Reise, nicht abging. Er eilte denn aber, daß er schnell wieder aus der dumpfigen Gaststube ins Freie kam, wo er unter einem schattigten Baum sich niedersetzte, und zur Mittagserholung in Homers Odyssee las. — Mochte nun dies Lesen im Homer eine zuruͤckgebliebene Idee aus Werthers Leiden seyn, oder nicht, so war es doch bei Reisern ge¬ wiß nicht Affektation, sondern machte ihm wuͤrk¬ liches und reines Vergnuͤgen — denn kein Buch paßte ja so sehr auf seinen Zustand, als grade dieses, welches in allen Zeilen den vielgewan¬ derten Mann schildert, der viele, Menschen, Staͤdte und Sitten gesehen hat, und endlich nach langen Jahren in seiner Heimath wieder anlangt, und dieselben Menschen , die er dort verlassen hat, und nimmer wieder zu sehen glaubte, auch endlich noch wieder findet. Der Weg ging nun immer Berg auf, Berg ab. — Die Hitze war ziemlich groß, und Rei¬ ser loͤschte seinen Durst, so oft er einen klaren Bach antraf, aus welchem ihm umsonst zu schoͤ¬ pfen frei stand. In dem Dorfe, wo er die erste Nacht blieb, war die Gaststube voller Bauern, die einen großen Lerm machten, so daß es ihm nicht moͤglich war, zu lesen; er beschaͤftigte sich also mit seinen Ge¬ danken; und eine steinalte Frau, die im Lehn¬ stuhle saß, und mit dem Kopfe bebte, zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. — A 5 Diese Frau war hier erzogen, hier gebohren, hier alt geworden, hatte immer die Waͤnde dieser Stube, den großen Ofen, die Tische, die Baͤnke gesehen — nun dachte er sich nach und nach in die Vorstellungen und Gedanken dieser alten Frau so sehr hinein, daß er sich selbst dar¬ uͤber vergaß, und wie in eine Art von wachen¬ den Traum gerieth, als ob er auch hier bleiben muͤste, und nicht aus der Stelle koͤnne. — Ein solcher Traum war bei der ploͤtzlichen Veraͤnde¬ rung, die sein Zustand gelitten hatte, sehr na¬ tuͤrlich — und als seine Gedanken sich sammle¬ ten, fuͤhlte er das Vergnuͤgen der Abwechse¬ lung, der Ausdehnung, der unbegrenzten Frei¬ heit doppelt wieder — er war wie von Fesseln entbunden, und die alte Frau, mit bebendem Haupte, war ihm wieder ein gleichguͤltiger Ge¬ genstand. Diese Art aber sich in die Vorstellungen an¬ derer Menschen hineinzudenken, und sich selbst daruͤber zu vergessen, klebte ihm von Kindheit an — es war einer seiner kindischen Wuͤnsche, daß er nur einen Augenblick aus den Augen eines andern Menschen, den er vor sich sahe, moͤchte heraussehen, und wissen koͤnnen, wie dem die umstehenden Sachen vorkaͤmen. Zum erstenmale legte er mit weitaussehen¬ den Gedanken auf die Streu sich nieder; seinen Degen legte er neben sich, und deckte sich mit seinen Kleidern zu. — Seine Gedanken aber ließen ihm keine Ruh, die Zukunft wurde immer glaͤnzender und schimmernder vor seinen Bli¬ cken; die Lampen waren schon angezuͤndet, der Vorhang aufgezogen, und alles voll Erwartung, der entscheidende Moment war da. — Daruͤber kam bis nach Mitternacht kein Schlaf in seine Augen, und als er am Morgen erwachte, war auf einmal der Schauplatz ganz veraͤndert; die oͤde Gaststube, die Bierkruͤge, das schwarze Brodt, und erschlaffende Muͤdig¬ keit — hier raͤchten sich seine reizenden Phanta¬ sien an ihm mit schrecklichem Unmuth und Le¬ bensuͤberdruß, der uͤber eine Stunde waͤhrte. Er legte sich mit dem Kopf auf den Tisch, und suchte vergeblich wieder einzuschlummern, bis die ermunternden Strahlen der Sonne, die ins Fenster schienen, ihn wieder zum Leben weck¬ ten, und sobald er sich nur erst auf den Weg ge¬ macht hatte, und aus der dumpfigen Gaststube war, verschwand auch schnell sein Unmuth wieder, und das reizende Ideenspiel begann von neuem. Er lebte auf die Weise gleichsam ein doppel¬ tes Leben, eins in der Einbildung und eins in der Wirklichkeit. Das Wirkliche blieb schoͤn und harmonirte mit dem Eingebildeten, bis auf die Gaststube, das Gelerm der Bauern, und die Streu — dieß aber wollte sich nicht recht dazu reimen — denn es war auf die unbegrenzte Freiheit am Tage, eine zu große Beschraͤnkung am Abend; weil er doch nun bis zum andern Morgen in keiner andern Umgebung seyn konnte, als in dieser. Freilich hatten die aͤußern Gegenstaͤnde einen immerwaͤhrenden Einfluß auf die inneren Gedan¬ kenreihen; mit dem Horizonte erweiterten sich auch gemeiniglich seine Vorstellungen, und an die Aussicht in eine neue Gegend knuͤpfte sich immer gern eine neue Aussicht in das Leben. Einmal war er lange muͤhsam bergan gestie¬ gen, als auf einmal eine weite Ebene vor ihm da lag, und er in der Ferne ein Staͤdtchen, an einem See erblickte — dieser Anblick frischte auf einmal alle seine Gedanken und Hoffnungen wie¬ der auf. — Er konnte seine Augen von dem Gewaͤsser in der Ferne nicht verwenden, das ihn mit neuem Muth beseelte, die Ferne auf¬ zusuchen. — Seine Reiseroute von Hildesheim ging nehmlich uͤber Salzdethfurth, Bockenem, und Seesen, auf Duderstadt, von wo er denn uͤber Muͤhlhausen geradezu nach Erfurt, und von dort auf Weimar gehen wollte, welches das Ziel seiner Wuͤnsche war. Dort glaubte er nehmlich die Eckhoffsche Schauspielergesellschaft vorzufinden, und seine Schauspielerlaufbahn sollte dort beginnen. — Nun spielte er unterwegens auf seinen Wande¬ rungen alle die Rollen in Gedanken durch, die ihn dereinst mit Ruhm und Beifall kroͤnen, und seinen mannigfaltigen Kummer belohnen sollten. — Er glaubte es koͤnne ihm nicht fehlschlagen, weil er jede Rolle tief empfand, und sie in seiner eigenen Seele vollkommen darzustellen und aus¬ zufuͤhren wußte — er konnte nicht unterscheiden, daß dies alles nur in ihm vorging, und daß es an aͤußerer Darstellungskraft ihm fehlte. — Ihm daͤuchte, die Staͤrke womit er seine Rolle empfand, muͤsse alles mit sich fortreißen, und ihn seiner selbst vergessen machen. — Dies geschahe auch wirklich, wenn waͤhrend dem Gehen seine Einbildungskraft immer er¬ hitzter wurde — und er denn endlich auf dem Felde, wo er sich ganz allein glaubte, mit Beau¬ marchais laut zu toben, mit Guelfo zu rasen anfing. Dieser Guelfo aus Klavigo's Zwillingen war vor seiner Abreise aus H... eine seiner Lieb¬ lingsrollen geworden; denn er fand sein Hohn¬ gelaͤchter uͤber sich selber, seinen Selbsthaß, seine Selbstverachtung und Selbstvernichtungssucht, dennoch mit Kraft vereint, in dem Guelfo wie¬ der. Und der Akt, wo Guelfo nach dem Bru¬ dermord, den Spiegel in welchem er sich sieht, zerschmettert, war Reisern ein wahres Fest. — Alle dies uͤberspannte Schreckliche hatte ihn gleichsam berauscht — er taumelte in dieser Trunkenheit uͤber Berg und Thal — und wo er ging, da war sein Schauplatz unbegrenzt. — Klavigo, der ihm so viel Thraͤnen gekostet hatte, war ihm nun zu kalt, und Beaumar¬ chais trat an seine Stelle. — Dann kamen Hamlet, Lear, Othello, an die Reihe, die damals noch auf keiner deutschen Buͤhne vorge¬ stellt wurden, und die er seinem Philipp Reiser ganz allein in schauervollen Naͤchten vorgele¬ sen, und alle diese Rollen selbst durchgespielt, selbst durchempfunden hatte. Nun gesellte sich hierzu die Dichtkunst; so sanft und melodisch floß sein Vers dahin, und so bescheiden und doch voll edlen Stolzes war seine Muse, daß sie die Zuneigung aller Herzen ihm sicher gewinnen mußte. — Er wußte zwar noch nicht eigentlich, was dieß nun fuͤr ein Ge¬ dicht seyn sollte, aber im Ganzen war es das schoͤnste und harmonischste, was er sich denken konnte, weil es getreuer Abdruck seiner vollen Empfindung war. Mitten in einem solchen lyrischen Schwunge seiner Gedanken war es, als er dicht bei See¬ sen, einen Fußpfad ging, der ihn von der Straße ab, uͤber eine Wiese fuͤhrte, wo gerade ein Schei¬ benschießen war, das allen seinen schimmernden Aussichten in die Zukunft beinahe ein ploͤtzliches Ende gemacht haͤtte: denn eine Flintenkugel saußte ihm dicht vor dem Kopfe vorbei, waͤh¬ rend daß alles ihm zuschrie, er solle von dort weggehen — er eilte schnell durch Seesen durch, und wanderte ruhig weiter, bis er in einem klei¬ nen Dorfe wieder uͤbernachtete. Am zweiten Tage seiner Wanderung kam nun Reiser uͤber einen Theil des Harzgebuͤrges, und es war noch fruͤh am Tage, als er zur Rechten an der Heerstraße, die Mauren einer zerstoͤrten Burg auf einer Anhoͤhe liegen sah; er konnte sich nicht enthalten hier hinauf zu steigen, und als er oben war, verzehrte er sein Stuͤck schwarzes Brodt, das er sich zum Fruͤh¬ stuͤcke mitgenommen, in den Ruinen dieses alten Rittersitzes, und sah dabei auf die Heer¬ straße durch den Wald hinunter. — Daß er nun als ein Wanderer in diesem al¬ ten zerstoͤrten Gemaͤuer wieder sein Morgenbrodt verzehrte, und an die Zeiten dachte, wo hier noch Menschen wohnten, die auch auf diese Heer¬ straße durch den Wald hinunter sahen — dieß machte ihm einen der gluͤcklichsten Momente — es es schallte ihm immer wie eine Prophezeihung aus jenen Zeiten, daß diese Mauren einst oͤde stehen, daß der Wanderer sich dabei ausruhen, und an die Tage der Vorzeit sich erinnern wuͤrde. Sein Stuͤck schwarzes Brodt, war ihm hier oben eine festliche Mahlzeit — er stieg gestaͤrkt wieder hinunter, und wanderte frohen Muthes seine Straße fort, indem er die hoͤhern Harzge¬ buͤrge linker Hand liegen ließ. Das Wandern ward ihm nun so leicht, daß der Boden unter ihm eine Welle schien, auf der er sich hob, und sank, und daß er so von einem Horizont zum andern sich fortgetragen fuͤhlte — er verhielt sich bloß leidend, und immer stieg eine neue Scene vor seinem Blick empor. Die Mittagseinkehr in der unangenehmen Gaststube war bald voruͤber, und er befand sich wieder in der freien offenen Natur. — Diese Einkehr aber war ihm doch beschwerlich, und er dachte schon darauf, sich auch von dieser zu befreien, als er einmal uͤber ein Kornfeld ging, und ihm die Juͤnger Christi einfielen, welche am Sonntage Aehren aßen. 4ter Theil . B Er machte sogleich den Versuch eine Hand¬ voll Koͤrner aus den Aehren herauszustreifen, aus welchen Koͤrnern er das Mehl sog, und die Huͤlsen ausspuckte. Indes aber blieb das Nah¬ rungsmittel doch immermehr ein Zeitvertreib, als daß es ihm eigentlich das Einkehren haͤtte ersparen sollen — Das Angenehme dieses Nah¬ rungsmittels lag vorzuͤglich in der Idee davon, welche den Begriff von Freyheit und Unabhaͤn¬ gigkeit noch vermehrte. Da er nun wieder eine Tagereise vollendet hatte, kehrte er ohnweit Duderstadt in einem kleinem Dorfe ein, wo in dem Wirthshause niemand zu Hause war. Es war noch vor der Daͤmmerung — der Thorweg zum Hofe bei dem Wirthshause stand offen — und auf dem Hofe war eine Laube, in welcher ein Tisch aber weder Stuhl noch Bank stand. — Reiser, um sich auszuruhen, legte sich also auf den Tisch, und weil er zum lesen noch sehen konnte, so laß er in der Odyssee die Stelle von den Menschenfressern, die in dem ruhigen Ha¬ fen, die Schiffe des Ulysses zerschmettern, und seine Gefaͤhrten ergreifen und verzehren. — Auf einmal war der Wirth zu Hause gekom¬ men, und sahe, da es schon anfing dunkel zu werden, einen Menschen in seinem Hofe in der Laube auf dem Tische liegen, und in einem Buche lesen. Er redete Reisern erst ziemlich unsanft an, da dieser sich aber aufrichtete, und der Wirth in ihm einen wohlgekleideten Menschen sah, so fragte er ihn sogleich, ob er ein Jurist sey, welches in diesen Gegenden die gewoͤhnliche Be¬ nennung fuͤr einen Studenten ist, weil die Theologen groͤßtentheils in Kloͤstern studiren, und schon als Geistliche betrachtet werden. Dem Wirth war seine Frau gestorben, und außer ihm war niemand im ganzen Hause. Der Mann war aber gespraͤchig, und Reiser hielt seine Abendmahlzeit, die wie gewoͤhnlich aus Bier und Brodt bestand, in seiner Gesellschaft. Der Mann erzaͤhlte ihm von vielen soge¬ nannten Juristen, die bei ihm logirt haͤtten, und Reiser ließ ihn dabei, daß er auch im Begriff sey nach Erfurt zu gehen, um dort zu studiren. B 2 Alle dergleichen Unterredungen, die an sich unbedeutend gewesen waͤren, erhielten in Rei¬ sers Idee einen poetischen Anstrich, durch das Bild von dem homerischen Wanderer, welches ihm immer vor der Seele schwebte, und selbst die Unwahrheiten in seinen Reden hatten etwas Uebereinstimmendes mit seinem poetischen Vor¬ bilde, dem Minerva zur Seite steht und wegen seiner wohl uͤberdachten Luͤge ihm Beifall zu¬ laͤchelt. Reiser dachte sich seinen Wirth nicht bloß als den Wirth einer Dorfschenke, sondern als einen Menschen, den er nie gekannt, nie gesehen hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm zusammentraf, an einem Tische mit ihm saß, und Worte mit ihm wechselte. Dasjenige, was durch die menschlichen Ein¬ richtungen und Verbindungen gleichsam aus dem Gebiete der Aufmerksamkeit herausgedraͤngt, gemein und unbedeutend geworden ist, trat, durch die Macht der Poesie, wieder in seine Rechte, wurde wieder menschlich , und erhielt wieder seine urspruͤngliche Erhabenheit und Wuͤrde. Der Mann war nicht einmal eingerichtet, eine Streu zu machen, weil selten jemand hier uͤbernachtete; und Reiser schlief auf dem Heu¬ boden, der ihm ein angenehmes Lager gewaͤhrte. Am andern Morgen fruͤh setzte er seine Reise weiter fort, und der Auffenthalt in diesem Hause mit dem Wirth ganz allein , blieb ihm eine seiner angenehmsten Erinnerungen. An diesem Tage gieng es in seiner innern Gedankenwelt besonders lebhaft zu — Er hatte sich nun um ein merkliches seinem Ziele genaͤ¬ hert, und die Besorgniß trat doch nun bei ihm ein, was er auf den Fall thun wuͤrde, wenn seine Aussichten zu unmittelbaren Ruhm und Beifall ihm mißlingen, und die Entwuͤrfe zu seiner theatralischen Laufbahn gaͤnzlich scheitern sollten. Nun traten auf einmal die Extreme auf, ein Bauer oder Soldat zu werden, und auf ein¬ mal war das poetische und theatralische wieder da, denn seine Ideen vom Bauer und Soldat wurden wieder zu einer theatralischen Rolle, die er in seinen Gedanken spielte. B 3 Als Bauer entwickelte er nach und nach seine hoͤhern Begriffe, und gab sich gleichsam zu erkennen; die Bauern horchten ihm aufmerk¬ sam zu, die Sitten verfeinerten sich allmaͤlig, die Menschen um ihn her wurden gebildet. Als Soldat fesselte er die Gemuͤther seiner Schicksalsgenossen allmaͤlig durch reizende Er¬ zaͤhlungen; die rohen Soldaten fingen an, auf seine Lehren zu horchen: das Gefuͤhl der hoͤhern Menschheit entwickelte sich bei ihnen; die Wacht¬ stube ward zum Hoͤrsaale der Weisheit. Indem er also glaubte, daß er gerade auf das Entgegengesetzte vom Theater sich gefaßt gemacht habe, war er erst recht in vollkommen theatralische Aussichten und Traͤume wieder hineingerathen. Es lag aber fuͤr ihn eine unbeschreibliche Suͤßigkeit in dem Gedanken, wenn er Bauer oder Soldat werden muͤßte, weil er in einem solchen Zustande weit weniger zu scheinen glaubte, als er wirklich waͤre . Waͤhrend er sich mit diesen Gedanken be¬ schaͤftigte, kam er durch Stadt Worbes, w o ihm einige Franziskanermoͤnche aus dem dasigen Kloster begegneten, die ihn freundlich gruͤßten. Als er vor dem Kloster vorbeiging, hoͤrte er inwendig den Gesang der Moͤnche, die da nun von der Welt abgeschieden, ohne Sorgen, Plaͤne und Aussichten lebten, und alles das, was sie seyn wollten, auf einmal waren. Dieß machte zwar einigen Eindruck auf sein Gemuͤth, aber lange nicht so stark, als nach¬ her der erste Anblick eines Kartheuserklosters, dessen Einwohner durch ihre Mauern gaͤnzlich von der Welt geschieden, auch nie mit einem Fuße den Schauplatz wieder betreten, den sie einmal verlassen haben. Durch die wandernden Franziskanermoͤnche aber wurde die Idee von Abgeschiedenheit klein¬ licht und abgeschmackt. — Der schnelle Gang vertrug sich nicht mit dem Ordenskleide, und das Ganze hatte auch nicht einmal poetische Wuͤrde. Uebrigens toͤnte die hochdeutsche Sprache der Leute in diesen Gegenden immer angenehm in Reisers Ohren, weil dadurch die Idee seiner nunmehrigen Entfernung von dem plattdeut¬ B 4 schen Lande immer lebhaft wieder in ihm er¬ weckt wurde. Nun war diesen Tag auch sehr schoͤnes Wet¬ ter gewesen, und Reiser kehrte den Abend in einem Dorfe, Nahmens Orschla ein, um den andern Morgen von dort aus nach der Reichs¬ stadt Muͤhlhausen seinen Weg fortzusetzen. Das Dorf ist katholisch; und als er an den Gasthof kam, stand eine Menge Leute vor der Thuͤre, unter denen sich der Schulmeister des Orts befand, welcher ihn mit den Worten anredete: esne litteratus ? ( ob er nicht ein Ge¬ lehrter waͤre? ) Reiser bejahte dieß wieder in lateinischer Sprache, und auf befragen wohin er ginge, sagte er wieder: er ginge nach Erfurt, um dort die Theologie zu studiren; denn dieß schien ihm immer das sicherste zu seyn. Waͤhrend der Zeit standen die Bauern um¬ her, und horchten zu, wie ihr Schulmeister mit dem fremden Studenten lateinisch sprach. Der Sohn des Schulmeisters kam auch dazu, der in Hildesheim studirt hatte, und jetzt seinem Vater adjungirt war. Reiser ging nun in die Stube, und legte zu noch mehrerem Beweise, daß er ein Litteratus sey, seinen Homer auf den Tisch, welchen denn auch der Schulmeister gleich kannte, und den Bauern auf deutsch sagte, daß das der Ho¬ mer waͤre. Mit Reisern aber fuhr er immer fort Latein zu sprechen, so gut es gehen wollte, wobei denn viel komisches mit unter lief; da er sehr viel von seinem gelehrten Unterricht sprach, so fragte ihn Reiser, ob er auch mit seinen Schuͤ¬ lern die Kirchenvaͤter laͤse? woruͤber er erst ein wenig in Verlegenheit gerieth, sich aber doch bald wieder faßte, und sagte: alternatim . Er nahm nun Abschied von Reisern, der den andern Morgen fruͤh schon weiter gehen wollte, und warnte ihn, sich vor den Kaiser¬ lichen und Preußischen Werbern in diesen Ge¬ genden in Acht zu nehmen, und sich durch keine Drohungen schrecken zu lassen, wenn sie etwa aͤußerten, daß sie ihn mit Gewalt nehmen wollten. Reiser legte sich auf seine Streu ruhig schla¬ fen — als er aber am andern Morgen erwachte, B 5 regnete es so stark, daß er in seiner Kleidung mit Schuhen und seidenen Struͤmpfen, nicht aus dem Hause gehen, viel weniger seine Reise fortsetzen konnte; da uͤberdem hier ein leimigter Bogen ist, der bei jeder Naͤsse das Gehen auf der Landstraße ganz außerordentlich beschwer¬ lich macht. Dieß war nun freilich etwas Unvermuthetes fuͤr Reisern — er hatte dem Wetter in dieser Jahrszeit zuviel zugetrauet, und war auf diesen Fall nicht vorbereitet, da er weder mit Stie¬ feln, noch sonst mit Kleidung zum Regenwetter versehen war, und sein bestaͤndiger Anzug auch seinen ganzen Kleidervorrath ausmachte. Hier war also nichts zu thun, als auszu¬ harren, bis der Himmel sich wieder aufklaͤren, und das Erdreich sich wieder trocknen wuͤrde. — Es hoͤrte aber diesen und den folgenden Tag nicht auf, zu regnen. — Nun kam schon in aller fruͤhe ein Kaiserli¬ cher Unteroffizier in die Gaststube, der in diesem Orte auf Werbung lag, sich mit seinem Krug Bier ganz vertraulich neben Reisern an den Tisch setzte, und vom Soldatenleben erst von weitem mit ihm zu sprechen anfing, bis er nach und nach immer zudringlicher wurde, und ihm endlich geradezu versicherte, daß er doch vor den Preußischen und Kaiserlichen Werbern nicht uͤber Muͤhlhausen kommen wuͤrde, und sich also lieber nur gleich von ihm fuͤr sieben Gulden Handgeld anwerben lassen moͤchte — so daß es den An¬ schein hatte, als wenn nun der Soldat in Rei¬ sers Phantasie, eher als er gedacht hatte, rea¬ lisirt werden koͤnnte. Als der Soldat hinausgegangen war, trat der Schulmeister wieder herein, der Reisern einen guten Morgen bot, und ihn heimlich warnte, sich vor dem Werber in Acht zu neh¬ men, ob er gleich selbst das Soldatenleben fuͤr so schlimm nicht hielte; denn sein Sohn sey auch zwei Jahr in Maynzischen Diensten gewesen, und wer keinen Paß habe, koͤnne hier schwer¬ lich durchkommen. Reiser versicherte ihm, daß er alles Noͤthige um sich zu legitimiren bei sich habe. Dieß war nehmlich der lateinische Anschlagbogen, von dem Schulaktus in Hannover, da er am Geburts¬ tage der Koͤnigin von England eine Rede hielt. und worauf sein Nahme nicht Reiser sondern Reiserus gedruckt stand. Und außerdem noch den gedruckten Prolog zu dem Deserteur aus Kindesliebe, worauf sein Nahme als Verferti¬ ger stand, nebst einem Gedicht auf die Einfuͤh¬ rung eines Lehrers, wo sein Nahme unter den uͤbrigen Primanern gedruckt mit aufgefuͤhrt war. Er wollte diese sonderbaren Dokumente zu¬ erst nicht gerne vorzeigen, bis es ihm aͤußerst nahe gelegt wurde, und man ihm nicht undeut¬ lich merken ließ, daß man ihn fuͤr einen Land¬ streicher hielte. Nun brachte er seine gedruckten Zeugnisse zum Vorschein, die eine bessere Wirkung tha¬ ten, als er anfaͤnglich geglaubt hatte, weil er sie nach und nach vorlegte. Zuerst legte er den großen lateinischen An¬ schlagbogen auseinander, und zeigte auf seinen Nahmen Reiserus. — Der Schulmeister hatte hier wieder Gelegenheit, seine Staͤrke in der Latinitaͤt zu zeigen, indem er den Anschlagbogen ins Deutsche uͤbersetzte; und so hatte Reiser schon viel bei ihm gewonnen. Darauf zog er den Prolog hervor, und wieß die Anwesenden auf seinen deutsch gedruck¬ ten Nahmen; dieß stimmte also uͤberein, und der Schulmeister erzaͤhlte bei der Gelegenheit, daß er auch auf der Jesuitenschule mit Komoͤdie gespielt, und sein Nahme gedruckt worden sey. Zuletzt legte Reiser noch das Gedicht vor, wo sein Nahme aufs Neue in der Liste aller seiner Mitschuͤler gedruckt erschien, und nun vollends aller Zweifel verschwand, daß er der nicht wirklich waͤre, der seinen Nahmen so oft, und auf so verschiedene Weise gedruckt aufzeigen konnte. Der Werber selbst wurde stille, und schien vor Reisern einigen Respekt zu bekommen. Dieß verschafte ihm Ruhe. Er ließ sich Fe¬ der und Papier geben, und fing an, eine von den Hymnen des Homers in deutsche Hexame¬ ter zu uͤbersetzen. Den Abend kam der Schul¬ meister wieder, und unterhielt sich mit ihm: so ging dieser Tag voruͤber, und Reiser legte sich ruhig schlafen. Als er aber am andern Morgen erwachte, den Himmel wieder eben so truͤbe wie gestern sahe, und den Regen ans Fenster schlagen hoͤrte, fing ihm an der Muth zu sinken — Er stand von seiner Streu auf, und setzte sich traurig an den Tisch; es wollte mit den homerischen Hymnen nicht vorwaͤrts gehen — er stellte sich ans Fenster, und sahe zu, ob der Himmel sich noch nicht ein wenig aufklaͤren wollte, als der Soldat schon wieder hereintrat, um ihm seine Morgenvisite zu machen. Da nun Reiser sich ankleidete, und sein Haar in einen Zopf flochte, fing der Krieges¬ mann wieder an, ihm uͤber seine Groͤße, und uͤber die Laͤnge seines Haars sehr viele Kompli¬ mente zu machen, und wie Schade es um ihn sey, daß er nicht in den Kriegsstand treten wolle. Der Schulmeister kam nun auch dazu; sie hatten seit gestern uͤberlegt, daß alle die vorge¬ zeigten Dokumente kein Siegel gehabt hatten, und brachten nun diesen Umstand gegen Reisern vorzuͤglich in Anregung, daß er doch vor den Werbern nicht durchkommen wuͤrde, und daß er sich also lieber dem goͤnnen sollte, der doch die ersten Anspruͤche auf ihn haͤtte. So dauerte es nun den ganzen Tag uͤber, welcher fuͤr Reisern, der nicht fort konnte, einer der traurigsten war, bis es gegen Abend sich aufklaͤrte, und auf einmal sein Muth wieder erwachte. Er nahm alle seine Ueberredungskraft zu¬ sammen, um die Leute durch die nachdruͤcklich¬ sten Vorstellungen zu uͤberzeugen, daß es wirk¬ lich sein Vorsatz sey, in Erfurt zu studiren, wo¬ von ihn nichts in der Welt abbringen koͤnne, daß diese ihm endlich zu glauben schienen. Der Schulmeister sagte ihm auf lateinisch, wenn er Morgenfruͤh auf Muͤhlhausen zureißte, so wuͤrde ihm der Wirth von diesem Gasthofe begegnen, der auch lateinisch spraͤche, und ver¬ reißt gewesen sey, um die seinigen ( fuos ) zu hohlen. Der Soldat aber versprach Reisern, zu sei¬ nem Schrecken, ihn den andern Morgen zu begleiten, und ihn durch ein Gehoͤlz auf den Weg zu bringen. Den andern Morgen in aller Fruͤhe war der Soldat schon wieder da, um ihn zu beglei¬ ten, und wollte im Gasthofe Reisers Zeche be¬ zahlen, welches dieser aber mit Gewalt nicht zugab. Sie gingen nun aus dem Dorfe Orschla auf Haͤhnichen zu eine Anhoͤhe herauf, der Soldat sprach kein Wort, und da sie durch ein Gehoͤlz kamen, so erwartete nun Reiser jeden Augen¬ blick die Entscheidung seines Schicksals, dent er doch nicht entgehen koͤnnte. Auf einmal stand der Soldat still, und hielt an Reisern eine ordentlich pathetische Anrede, er sollte sich noch einmal pruͤfen, ob er sich wirk¬ lich getraute, nicht in die Haͤnde anderer Wer¬ ber zu fallen; denn das Einzige wuͤrde ihm nur aͤrgern, wenn er hoͤrte. daß Reiser doch Soldat geworden waͤre, und ihn also gleichsam betro¬ gen haͤtte: wenn es aber sein wirklicher Vorsatz sey zu studiren, und nicht Soldat zu werden, so wuͤnsche er ihm Gluͤck zu seinem Vorhaben, und eine gluͤckliche Reise. Hiermit ging er fort, und Reiser traute immer noch nicht recht, bis er erst eine ganze Strecke gegangen war, und ihm nichts auffal¬ lendes begegnete, ausser einem pucklichten Mann, der zwei Schweine vor sich hertrieb, und ihn lateinisch lateinisch anredete, weil er ihn fuͤr einen Stu¬ denten hielt. Dieß war der Gastwirth aus Orschla, wo¬ von der Schulmeister gesagt hatte, daß er ( fuos ) die Seinigen holte, welcher aber ( fues ) Schweine geholt hatte, die der Schulmeister in Orschla nach der zweiten Deklination deklinirt, und sie dadurch zu den Seinigen erhoben hatte. Sobald sich nun Reiser wieder im Freien sahe, und niemand gewahr wurde, der ihm auf¬ gelauert haͤtte, so war ihm dieß ein unerwarte¬ tes Gluͤck — die Gefahr aber, welcher er ent¬ ronnen war, machte doch, daß er im Gehen sehr ernsthaft uͤber sein kuͤnftiges Leben nach¬ dachte. Er erwog, daß es ihm bei allen Leuten ein ehrliches Ansehn gab, wenn er sagte, daß er auf die Universitaͤt gehen und studiren wolle. Die Idee war ihm auch selber nicht zuwider; dieß dauerte aber nur so lange, bis die Kulissen mit den Lichtern in seiner Einbildungskraft wie¬ der hervortraten, und alle andern Aussichten weichen mußten. 4ter Theil . C Er wanderte bis gegen Mittag auf eine ziemlich unbequeme Weise, weil der Boden noch nicht trocken war, wobei nun zu seinem Schrek¬ ken seine Schuh zu leiden anfingen, die unter seinen Umstaͤnden gewissermaßen einen unersetz¬ lichen Theil seines Selbst ausmachten. Er fuͤhlte den drohenden Verlust mit jedem Schritte den er that, als um die Mittagsstunde der Himmel sich wieder mit Wolken umzog, die einen neuen Regenguß prophezeieten, welcher sich auch sehr bald einstellte, und Reisers Wan¬ derschaft zum zweitenmal unterbrach. Zum Gluͤck erreichte er bald ein Jaͤgerhaus, das mitten auf einem rund umher mit Wald umgebenen Felde lag, und wo er eben so voller Zutraun einkehrte, als er hoͤflich und gut auf¬ genommen und bewirthet wurde. Es war, als ob sein Empfang schon vorbe¬ reitet waͤre, so freundschaftlich nahmen ihn die Leute in dieser einsamen Wohnung auf. Es war, als ob es sich bei diesen Leuten von selbst verstaͤnde, daß man in einem solchen Wet¬ ter einen Wanderer aufnehmen muͤsse. Es hoͤrte den ganzen Tag nicht auf zu regnen, und die Leute noͤthigten ihn selber, die Nacht zu bleiben. Als sie ihn nun zum Abendessen noͤthigten, verbat es sich Reiser, weil er nicht hinlaͤnglich mit Gelde versehen sey, um diese Bewirthung zu bezahlen; indem er eine weite Reise vor sich habe, und sich außerordentlich einschraͤnken muͤsse; worauf der Jaͤger aber mit einer Art von Unwillen ihn an den Tisch zog. Es war fuͤr Reisern ein Gefuͤhl ohne Glei¬ chen, sich von ganz unbekannten Menschen so wohl aufgenommen zu sehen. Er fand sich hier, wie zu Hause; man wieß ihm die Nacht ein gutes Bette an, das ihm nun zum erstenmale auf seiner Wanderung wie¬ der geboten wurde. Am andern Morgen weckte man ihn zum Fruͤhstuͤck, und noͤthigte ihn, den ganzen Tag da zu bleiben, weil es noch immerfort regnete. Der Mann ging ins Holz, und verwieß Reisern auf seine Bibliothek, daß er sich waͤh¬ rend der Zeit damit unterhalten sollte. Diese Bibliothek bestand aus einer großen Sammlung von alten Kalendern, Todtenge¬ C 2 spraͤchen, der Geschichte eines goͤttingschen Stu¬ denten, und einem Erfurtischen Wochenblatt, der Buͤrger und der Bauer, wo der Bauer im Thuͤringschen Dialekt sprach, und der Buͤrger ihm in hochdeutscher Sprache antwortete. Reiser amuͤsirte sich herrlich mit diesen Sa¬ chen, und gab von Zeit zu Zeit wieder seinen Gedanken Raum; denn sein guͤtiger Wirth und Wirthin waren von wenigen Worten, und nicht im Geringsten neugierig, sondern fragten ihn nicht einmal, wohin er ginge, und woher er kaͤme, so daß er also durch nichts in seinen Ge¬ danken gestoͤrt wurde. Diese gastfreundliche Stube mit dem kleinen Fenster, wodurch man weit uͤbers Feld nach dem Holze sahe, indeß der Regen sich draußen stromweise ergoß, blieb eins der angenehmsten Bilder in Reisers Gedaͤchtniß. Am dritten Morgen hatte sich der Himmel aufgeklaͤrt; und als Reiser nun von seinen Wohlthaͤtern Abschied nahm, suchten sie ihm sogar noch den Dank zu ersparen, indem sie eine nicht nennenswerthe Kleinigkeit an Gelde, als eine Bezahlung fuͤr die dreitaͤgige Bewir¬ thung von ihm annahmen, und da er wegging nicht einmal nach seinem Nahmen fragten. Das Andenken an diese Leute machte Rei¬ sern waͤhrend dem Gehen noch manche frohe Stunde, und gab ihm zugleich wieder Muth und Zutrauen zu den Menschen, unter die er sich nun, wie in einem Ocean, verlor. Der Weg war zuerst von dem gestrigen Re¬ gen noch ziemlich beschwerlich; weil aber die Sonne heiß schien, so trocknete der Boden bald wieder, und Reiser erreichte noch gegen Mittag die Reichsstadt Muͤhlhausen, welche nun als ein neuer ungewohnter Anblick, mit ihren Thuͤr¬ men vor ihm lag. Hier stand ihm nun, wie er gewarnt war, die meiste Gefahr von den Werbern bevor. — Er gab sich also diesmal alle moͤgliche Muͤhe, ehe er ins Thor ging, sorgfaͤltig seine Toilette zu machen; und die schon einmal versuchte Rolle eines unbefangnen Spatziergaͤngers gelang ihm auch dießmal wieder eben so gut, wie in Hildes¬ heim, so daß er, ohne von einer Schildwache befragt zu werden, gluͤcklich durchs Thor in die Stadt kam. C 3 Durch die Stadt eilte er so schnell wie moͤg¬ lich, erkundigte sich nach dem Thore aus wel¬ chem der Weg nach Erfurt geht, und verdop¬ pelte seine Schritte, so oft er etwas einer Sol¬ datenkleidung Aehnliches nur von fern erblickte. Wie froh schuͤttelte er den Staub von seinen Fuͤßen uͤber diese Stadt, als er den letzten Schlagbaum zuruͤckgelegt hatte, und keinen preußischen Werber hinter noch neben sich sahe. Die gruͤnen Thurmspitzen blieben das einzige Bild, was er von diesem Haͤuserhaufen mit sich nahm; alles uͤbrige war verloschen; so schnell war seine Einbildungskraft uͤber die Gegen¬ staͤnde hinweggegleitet. Er naͤherte sich nun immer mehr dem Ziele seiner Reise, und betrachtete das Zuruͤckgelegte mit stillem Vergnuͤgen, wobei ihm besonders seine Sparsamkeit und harte Lebensart einen suͤßen Triumph gewaͤhrten, da nun die Beschwer¬ lichkeiten beinahe uͤberstanden waren. Demohn¬ geachtet aber fuͤhlte er wiederum eine Art von Aengstlichkeit, je kleiner der Zwischenraum zwi¬ schen ihm und seinen ungewissen Aussichten wurde. Denn das, was in der Einbildungskraft keinen Anstoß gelitten hatte, sollte nun zur Wirklichkeit kommen, und mit Hindernissen kaͤm¬ pfen, die sich schon im Voraus darstellten. Es daͤuchte Reisern nun viel leichter, mit schoͤnen und angenehmen Aussichten in die weite Welt zu wandern, als an Ort und Stelle selbst zu seyn, und diese Aussichten wahr zu machen. Drum haͤtte sich nun Reiser gerne das Ziel noch weiter weggewuͤnscht, wenn er im Stande gewesen waͤre, seine Wanderung weiter fortzu¬ setzen. Eine traurige Bemerkung aber, die er an seinen Schuhen machte, deren Verlust fuͤr ihn, in den Umstaͤnden, worin er sich befand, uner¬ setzlich war, hemmte auf einmal alle seine wei¬ ten Aussichten wieder, und machte, daß er ernsthaft uͤber seinen Zustand nachdachte. Es ist merkwuͤrdig, wie die veraͤchtlichsten wirklichen Dinge, auf die Weise in die glaͤn¬ zendsten Gebaͤude der Phantasie eingreifen und sie zerstoͤren koͤnnen, und wie auf eben diesen veraͤchtlichen Dingen eines Menschen Schicksal beruhen kann. C 4 Reisers Gluͤck, das er in der Welt machen wollte, hing jetzt im eigentlichen Sinne von sei¬ nen Schuhen ab; denn von seinen uͤbrigen Klei¬ dungsstuͤcken durfte er nichts veraͤußern, wenn er mit Anstande erscheinen wollte: und doch machten zerrissene Schuhe, die er durch neue nicht ersetzen konnte, seinen ganzen uͤbrigen An¬ zug unscheinbar und veraͤchtlich. Dieß versetzte ihn, indem er auf dem Wege nach Langensalza begriffen war, in traurige und schwermuͤthige Gedanken, bis ein Bauer und ein Handwerksbursch, die eben desselben Weges giengen, sich zu ihm gesellten, und ihn mit Gespraͤchen unterhielten. Der Handwerksbursch erzaͤhlte von seinen Reisen in Chursachsen, und der Bauer hatte eine Klagesache, die er selbst in Dresden bei dem Churfuͤrsten anbringen wollte. Es war kurz nach Mittag und eine druͤckende Hitze. Dem Handwerksburschen druͤckten seine Stiefeln — Reiser sahe mit jedem Tritte seine Schuhe sich verschlimmern, und der Bauer klagte uͤber entsetzlichen Durst, als sie auf dem Felde einige Arbeitsleute antrafen, die einen Eimer Wasser neben sich stehen hatten, und den drei ermuͤdeten Wanderern zu trinken gaben. Eine solche Scene, wo unbekannte, vonein¬ ander entfernte Menschen auf einmal sich nahe zusammenfinden, gemeinschaftliches Beduͤrfniß, und gemeinschaftlichen Trost und Zuspruch an¬ einander haben, als ob sie nie unbekannt und entfernt voneinander gewesen waͤren; so etwas hielt Reisern fuͤr alles Unangenehme auf seinen Wanderungen wieder schadlos, und er konnte sich mit innigem Vergnuͤgen daran zuruͤckerinnern. Seine Gefaͤhrten verließen ihn vor der Stadt Langensalza, in der er sich nicht aufhielt, son¬ dern noch den naͤchsten Ort zu erreichen suchte, wo er uͤbernachten wollte. Er kam spaͤt in dem Gasthofe an, wo er nun die letzte Nacht vor seiner Ankunft in Er¬ furt zubrachte. — Als er am andern Morgen erwachte, so war sein erster Gedanke an einen Schuster; und wie groß war nun seine Freude, als er an diesem Orte einen fand, der um we¬ nige Groschen, waͤhrend daß er darauf wartete, seine Schuh wieder in dauerhaften Stand setzte, C 5 und er dadurch auf einmal aus der groͤßten Ver¬ legenheit befreit war. Nun gieng er also rasch auf Erfurt zu. — So wie er gekleidet war, durfte er nun vor ie¬ dermann erscheinen, und so hatte er wieder Muth und Zutrauen zu sich selber. In dem letzten Dorfe vor Erfurt ließ er sich einen Trunk Bier geben. — In dem Gasthofe war es sehr lebhaft. Man bemerkte schon die Naͤhe der Stadt, aus welcher sich viele Ein¬ wohner hier befanden, unter denen auch ein Ge¬ lehrter war, mit dem die andern von seinen Werken sprachen. Von diesem Dorfe aus bekam denn Reiser endlich die Stadt Erfurt zu Gesichte, mit dem alten Dom, den vielen Thuͤrmen, den hohen Waͤllen, und dem Petersberge. — Das war nun die Vaterstadt seines Freundes Philipp Reisers, wovon ihm dieser so viel erzaͤhlt hatte. — Auf dem Wege nach der Stadt zu waren Kirschbaͤume gepflanzt. — Die Hitze der Mit¬ tagssonne hatte sich schon gelegt — die Leute giengen vor dem Thore spatzieren — und als Reiser auf diesem Wege an Hannover zuruͤck¬ dachte, so war es ihm auch gerade, als habe er von dort bis hieher einen leichten Spatzier¬ gang gemacht, so klein daͤuchte ihm nun der Zwischenraum, den er zuruͤckgelegt hatte. Eine so große Stadt wie diese hatte er nun noch nicht gesehen; der Anblick war ihm neu und ungewohnt; er kam durch die breite und schoͤne Straße, welche der Anger heißt, und konnte sich nicht enthalten, noch ein wenig in der Stadt umherzugehen, ehe er seinen Stab weiter setzte; denn er wollte noch bis zum naͤch¬ sten Dorfe gehen, das auf dem Wege nach Wei¬ mar liegt. Bei diesen Wanderungen durch die Straßen von Erfurt kam er in eine der Vorstaͤdte, und kehrte, weil es noch nicht spaͤt war, in einem Gasthofe ein. Hier saß der Wirth, ein dicker Mann, am Fenster, und Reiser fragte ihn, ob die Eck¬ hoffsche Schauspielergesellschaft noch in Weimar waͤre? Nichts! antwortete er, sie ist in Gotha! Reiser fragte weiter, ob Wieland noch in Er¬ furt waͤre? Nichts! antwortete jener wieder, er ist in Weimar! Das Nichts! sprach er jedes¬ mal mit einer Art von Unwillen aus, als ob es ihn verdroͤsse, Nein! zu sagen. Und dieß harte Nichts in der Antwort des dicken Wirthes, verruͤckte auf einmal Reisers ganzen Plan. — Nach Weimar war eigentlich sein Sinn gerichtet — da glaubte er, wuͤrden sich unerwartete Kombinationen finden — er wuͤrde da den angebeteten Verfasser von Wer¬ thers Leiden sehen — Und nun klang auf ein¬ mal Gotha statt Weimar in seinen Ohren. Er ließ sich aber auch dieß nicht irren, son¬ dern stand eilig auf, um sich noch denselben Abend auf den Weg nach Gotha zu begeben, und, um von seiner strengen Regel nicht abzu¬ weichen, im naͤchsten Dorfe zu uͤbernachten. Ehe die Sonne unterging, hatte er Erfurt schon wieder im Ruͤcken, und ehe es ganz Nacht wurde, erreichte er noch das erste Dorf auf dem Wege nach Gotha. — Der Dom und die alten Thuͤrme von Erfurt machten nun ein neues Bild in seiner Seele, das er mit sich heraus¬ trug, und das ihn zur Wiederkehr in diesen Ort einzuladen schien. In dem Dorfe aber, wo er einkehrte, hatte er noch zu guter Letzt uuf seiner Streu sehr un¬ ruhige Nachbaren. Dieß waren nehmlich Fuhr leute, die von Zeit zn Zeit aufstanden, und sich in einem sehr groben Dialekt miteinander unter¬ hielten, worin besonders ein Wort vorkam, das hoͤchst widrig in Reisers Ohren toͤnte, und im¬ mer mit einer Menge von haͤßlichen Nebenideen fuͤr ihn begleitet war: die Bauern sagten nehm¬ lich immer: er quam anstatt er kam . Dieses quam schien Reisern ihr ganzes Wesen auszu¬ druͤcken; und alle ihre Grobheit war in diesem quam , das sie immer mit vollen Backen aus¬ sprachen, gleichsam zusammengedraͤngt. Kaum daß Reiser ein wenig eingeschlummert war, so weckte ihn dies verhaßte Wort wieder auf, so daß diese Nacht eine der traurigsten war, die er je auf einer Streu zugebracht hatte. Als der Tag anbrach, sahe er die schwammigten auf¬ gedunsenen Gesichter seiner Schlafkameraden, welche vollkommen mit dem quam uͤberein¬ stimmten, das ihm noch in den Ohren gellte, als er den Gasthof schon verlassen hatte, und nun am fruͤhen Morgen mit starken Schritten auf Gotha zuwanderte. Weil er die Nacht wenig geschlafen hatte, waren seine Gedanken auf dem Wege nach Go¬ tha eben nicht sehr heiter, wozu noch kam, daß mit jedem Schritte seine Aussicht nun enger wurde, und seine Phantasie weniger Spiel¬ raum hatte. Es war an einem Sonntage, und ein Schu¬ ster, der die Woche aufs Land gegangen war, um Schulden einzufordern, kehrte mit ihm nach Gotha, und sagte ihm unter andern, daß es dort sehr theuer zu leben sey. Diese Nachricht war fuͤr Reisern sehr be¬ denklich, der nun ohngefaͤhr noch einen Gulden im Vermoͤgen hatte, und dessen Schicksal in Gotha sich also sehr bald entscheiden mußte. — Das Gespraͤch mit dem Schuster, der ihm als ein Einwohner von Gotha seine Noth klagte, war fuͤr ihn gar nicht unterhaltend, und stimmte seine Ideen sehr herab, da er nun das wirkliche Leben in so einer Stadt sich dachte, wo noch kein Mensch ihn kannte, und wo es noch sehr zweifelhaft war, ob irgend jemand an seinem Schicksal Theil nehmen, und auf seine Wuͤnsche merken wuͤrde. Diese unangenehmen Reflexionen machten, daß ihm der Weg noch beschwerlicher, und er mit jedem Schritt muͤder wurde, bis sich die beiden kleinen Thuͤrmchen von Gotha zeigten, wovon ihm der Schuster sagte, daß der eine auf der Kirche, und der andre auf dem Komoͤ¬ dienhause staͤnde. Dieser angenehme Kontrast und lebhafte sinnliche Eindruck machte, daß sein Gemuͤth sich allmaͤlig wieder erheiterte, und er durch verdop¬ pelte Schritte seinen Gefaͤhrten wieder in Athem setzte. Denn das Thuͤrmchen bezeichnete ihm nun deutlich den Fleck, wo der unmittelbare laute Beifall eingeerndtet, und die Wuͤnsche des ruhm¬ begierigen Juͤnglings gekroͤnt wuͤrden. Dieser Platz behauptete dort seine Rechte neben dem geweihten Tempel, und war selbst ein Tempel, der Kunst und den Musen gewei¬ het, in welchem das Talent sich entwickeln, und alle und jede Empfindungen des Herzens aus ihren geheimsten Falten vor einem lauschenden Publikum sich enthuͤllen konnten. — Da war nun der Ort, wo die erhabene Thraͤne des Mitleids bei dem Fall des Edlen geweint, und lauter Beifall dem Genius zuge¬ jauchzt wurde, der mit Macht die Seelen zu taͤuschen, die Herzen zu schmelzen wußte. Mitleid den Todten und Ehre den Lebenden war hier die schoͤne Loͤsung — und Reiser lebte und webte schon in diesem Elemente, wo alles das, was die Vorwelt empfand, noch einmal nachempfunden, und alle Scenen des Lebens in einem kleinen Raume wieder durchlebt wurden. Kurz, es war nichts weniger als das ganze Menschenleben, mit allen seinen Abwechselun¬ gen und mannichfaltigen Schicksalen, das bei dem Anblick des Thuͤrmchens vom Gothaischen Komoͤdienhause, sich in Reisers Seele wie im Bilde darstellte, und worin sich die Klagen des Schusters, der ihn begleitete, uud seine eigenen Sorgen, wie in einem Meere verlohren. — Mit seinem einzigen Gulden in der Tasche fuͤhlte sich Reiser begluͤckt wie ein Koͤnig, so lange dieser Reichthum von Bildern ihm vor¬ schwebte, schwebte, die die Spitze des Thuͤrmchens in Gotha umgaukelten, und Reisern einen schoͤnen Traum in die Zukunft aufs neue vorspiegelten. Da sie nicht mehr weit von der Stadt wa¬ ren, ließ Reiser seinen Gefaͤhrten voran gehen, und setzte sich gemaͤchlich unter einen Baum, um so gut wie nur irgend moͤglich, seine Kleidung in Ordnung zu bringen, und auf eine stattliche Weise in Gotha seinen Einzug zu halten. Dieß gelang ihm so gut, daß einige Hand¬ werksleute, die eben vor dem Thore vor Gotha spatzieren giengen, wie vor einem vornehmen Manne den Hut vor ihm abzogen, welches Rei¬ sern nicht wenig in Verwunderung setzte, der auf seiner ganzen Reise mit den Fuhrleuten auf der Streu geschlafen, und eine gar nicht glaͤn¬ zende Figur gespielt hatte. Er kam nun durch das alte Thor von Gotha in eine etwas dunkle Straße, die er hinauf¬ gieng, und bald zur rechten Seite den Gasthof zum goldnen Kreuze ansichtig wurde, wo er denn einkehrte, weil dieser Gasthof ihm keiner der glaͤnzendsten zu seyn schien. 4ter Theil . D Als er eben hereintrat, fand er gleich vorn in der Gaststube einen Schwarm von Hand¬ werksburschen, die schrien und lermten; und er wollte schon wieder umkehren, als der alte Wirth zu ihm kam, der ihn freundlich anredete und fragte, ob er etwa hier logieren wolle? Reiser erwiederte: dieß sey wohl eine Herberge fuͤr Handwerksburschen? Das thaͤte nichts, sagte der Wirth, er solle mit seinem Logis schon zu¬ frieden seyn, und hierauf noͤthigte er Reisern in seine eigene wohleingerichtete Stube, wo ein alter Hauptmann, ein Hoflaquai, und noch einige andere wohlgekleidete Leute waren, in deren Gesellschaft Reiser von dem Wirth intro¬ duciret, und auf das hoͤflichste behandelt wurde. Denn man that keine einzige unbescheidene oder neugierige Frage an ihn, und bewieß ihm doch dabei eine schmeichelnde Aufmerksamkeit. In diesem Zimmer stand ein Fluͤgel, auf welchem ein junger Mann Nahmens Liebetraut sich hoͤren ließ. Dieser Liebetraut war auch erst vor kurzem zufaͤlliger Weise in eben diesen Gast¬ hof eingekehrt, und mit den alten Wirthsleuten bekannt geworden, auf deren Zureden, weil sie sich gerne in Ruhe setzen wollten, er den Gast¬ hof in Pacht uͤbernommen hatte, so daß er also eigentlich der Wirth war, obgleich die Alten ihm noch immer Anweisung geben, und sich mit um die Wirthschaft bekuͤmmern mußten. Dieser junge Liebetraut ließ sich sehr bald mit Reisern in ein Gespraͤch uͤber schoͤne Wissen¬ schaften und Dichtkunst ein, und zeigte sich als ein Mann von feinem Geschmack und Bildung, und was das sonderbarste war, so schien er nicht undeutlich darauf anzuspielen, daß Reiser wohl hieher gekommen sey, um sich dem Theater zu widmen. Dieser ließ sich fuͤr ietzt nicht weiter aus, und ihm wurde nun auch eine Stube angewie¬ sen, wo er allein seyn konnte. Hier sammelten sich nun seine Gedanken wieder, und er machte sich nun einen Plan, wie er am andern Tage seinen Besuch bei dem Schauspieler Eckhof ma¬ chen, und dem sein Anliegen vortragen wollte. Waͤhrend er auf seiner Stube allein mit die¬ sen Gedanken beschaͤftigt war, und am Fenster stand, kamen die Chorschuͤler vor das Haus und sangen eine Motette, die Reiser waͤhrend D 2 seiner Schuljahre in Wind und Regen oft mit¬ gesungen hatte. Dieß erinnerte ihn an jenen ganzen truͤben Zeitraum seines Lebens, wo immer Mißmuth, Selbstverachtung und aͤußerer Druck ihm ieden Schimmer von Freude raubte, wo alle seine Wuͤnsche fehlschlugen, und ihm nichts als ein schwacher Strahl von Hofnung uͤbrig blieb. Sollte denn nun, dachte er, nicht endlich einmal die Morgenroͤthe aus jenem Dunkel her¬ vorbrechen? — Und eine truͤgerische taͤuschende Hofnung schien ihm zu sagen, daß er dafuͤr, daß er so lange sich selber zur Quaal gewesen, nun auch einmal werde Freude an sich selber haben, und daß die gluͤckliche Wendung seines Schick¬ sals nicht weit mehr entfernt sey. Sein hoͤchstes Gluͤck aber war nun einmal der Schauplatz; denn das war der einzige Ort wo sein ungenuͤgsamer Wunsch, alle Scenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befrie¬ digt werden konnte. Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte , so zog ihn jedes Schick¬ sal, das außer ihm war, desto staͤrker an; daher schrieb sich ganz natuͤrlich waͤhrend seiner Schul¬ jahre, die Wuth, Komoͤdien zu lesen und zu sehen. — Durch jedes fremde Schicksal fuͤhlte er sich gleichsam sich selbst entrissen, und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war. Es war also kein aͤchter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Scenen des Lebens in sich, als außer sich darzustellen. Er wollte fuͤr sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert. Um seinetwillen wollte er die Lebensscenen spielen — sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. — Er taͤuschte sich selbst, indem er das fuͤr aͤchten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufaͤlligen Umstaͤnden seines Le¬ bens gegruͤndet war. — Und diese Taͤuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt! Haͤtte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß wer nicht D 3 uͤber der Kunst sich selbst vergißt, zum Kuͤnstler nicht gebohren sey, wie manche vergebene An¬ strengung, wie manchen verlohrnen Kummer haͤtte ihm dieß erspart! Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem wuͤrklichen Zustande ein immerwaͤhrender Mißlaut herrschte, und die sich fuͤr jeden schoͤnen Traum nachher mit bittern Quaalen raͤchte. Nach seiner langen Wanderschaft brachte nun Reiser wieder die erste Nacht in Gotha in sanftem Schlummer zu, und als er am an¬ dern Morgen fruͤh erwachte, so war es als ob aus Lisuart und Dariolette ihm der Schluß aus einer Arie, welche die verwuͤnschte Alte singt, entgegen toͤnte: Vielleicht ist dieß der Morgen, Der aller meiner Sorgen Erwuͤnschtes Ende bringt. Waͤhrend daß diese Zeilen ihm immer in Gedanken schwebten, zog er sich an, und erkun¬ digte sich bei seinem jungen Wirth, wo Eckhof wohnte, dem er nun diesen Vormittag seinen Besuch machen wollte. Zu dem Ende hielt er nun seinen gedruckten Prolog in Bereitschaft, den er in Hannover verfertigt und Island gesprochen hatte, und durch welchen er hier vorzuͤglich Eingang zu fin¬ den hoffte. Der junge Gastwirth Liebetraut noͤthigte ihn noch vorher mit ihm zu fruͤhstuͤcken, und schien an seinem Umgange ein besonderes Vergnuͤgen zu finden, indem er zugleich anfing, ihn zum Vertrauten seiner Herzensgeschichte zu machen, welche darin bestand, daß er den Gasthof ge¬ pachtet habe, um ein junges Frauenzimmer, das er liebte, je eher je lieber heirathen zu koͤnnen. Reiser gieng nun zu Eckhof, und auf dem Wege dahin draͤngten sich alle seine Entwuͤrfe, die er vom Anfang seiner Wanderung an ge¬ macht, noch einmal wieder in seine Seele zu¬ sammen, da er sich so nahe am Ziel seiner Reise sahe; die Melodie und der Vers aus Lisuart und Dariolette toͤnten noch immer in seine Oh¬ ren, und dießmal wenigstens taͤuschte ihn seine Hofnung nicht. — Eckhof empfing ihn uͤber D 4 Erwartung gut, und unterhielt sich beinahe eine Stunde mit ihm. Reisers jugendlicher Enthusiasmus fuͤr die Schauspielkunst schien dem Greise nicht zu mi߬ fallen — er ließ sich mit ihm uͤber Gegenstaͤnde der Kunst ein, und mißbilligte es gar nicht, daß er sich dem Theater widmen wollte, wobei er hinzufuͤgte, daß es freilich gerade an solchen Menschen fehlte, die aus eigenem Triebe zur Kunst, und nicht durch aͤußere Umstaͤnde bewo¬ gen wuͤrden, sich der Schaubuͤhne zu widmen. Was konnte wohl aufmunternder fuͤr Rei¬ sern seyn, als diese Bemerkung — er dachte sich schon im Geist als einen Schuͤler dieses vor¬ trefflichen Meisters. Nun zog er auch seinen gedruckten Prolog hervor, der Eckhoffs vollkommnen Beifall er¬ hielt, und den sich derselbe sogar von ihm aus¬ bat, und bemerkte, wie nahe das Talent zum Schauspieler und zum Dichter miteinander ver¬ wandt sey, und wie eins gewissermaßen das andere voraussetze. Reiser fuͤhlte sich in diesem Augenblick so gluͤcklich, als sich ein junger Mensch nur fuͤhlen konnte, der vierzig Meilen weit bei trockenem Brodte zu Fuße gereißt war, um Eckhof zu sehen und zu sprechen, und unter seiner Anfuͤh¬ rung Schauspieler zu werden. Was nun sein Engagement anbetraͤfe, sagte Eckhof, so muͤsse er sich deswegen vorzuͤglich bei dem Bibliothekarius Reichardt melden, mit welchem er selbst auch Reisers wegen sprechen wolle. Reiser versaͤumte keinen Augenblick dieser Anweisung zu folgen, und gieng von Eckhof, der in einem Beckerhause wohnte, nach dem Hause des Bibliothekarius Reichardt, der ihn zwar auch hoͤflich empfing, aber sich doch nicht so viel wie Eckhof mit ihm einließ. Indes machte er ihm zu einer Debuͤtrolle Hofnung, welches Reisers hoͤchster Wunsch war, denn wenn er nur dazu kaͤme, zweifelte er nicht, sei¬ nen Endzweck zu erreichen. Mit Heiterkeit im Gesichte kehrte er nun zu Hause, weil er diesen Anfang seiner Unterneh¬ mung fuͤr hoͤchst gluͤcklich hielt, und unter diesen guͤnstigen Umstaͤnden sich so viel zutraute, daß nun sein Wunsch ihm nicht mehr fehlschlagen koͤnne. D 5 Und ob er sich gleich seinem Wirth nicht ganz entdeckte, so schien dieser doch gar nicht mehr daran zu zweifeln, daß er nun in Gotha bleiben, und seine theatralische Laufbahn hier antreten wuͤrde. Voller Zutrauen zu sich selbst und seinem Schicksale, brachte nun Reiser in der Gesell¬ schaft des alten Hauptmanns, des Hoflaquaien und seines Wirths den Mittag hoͤchst angenehm zu; und voll von schimmernden Aussichten, wor¬ in ihn alles bestaͤrkte, uͤberschritt er durch dieß Mittagsessen zum erstenmal im Tanmel der Freude, den Bestand seiner Kasse, und duͤnkte sich nun dadurch um desto fester an diesen Ort und an die hartnaͤckigste Verfolgung seines Plans gebunden. Er machte nun fast taͤglich bei Eckhof seinen Besuch, und dieser rieth ihn, fuͤrs erste die Pro¬ ben im Schauspielhause fleißig zu besuchen, wel¬ ches Reiser that, und den alten Eckhof hier ganz in seinem Elemente sahe, wie er auf jede Kleinigkeit aufmerksam war, und auch den er¬ sten Schauspielern noch manche Erinnerung gab. Auch wurde Reisern erlaubt, die Komoͤdie un¬ entgeldlich zu besuchen, wo das erstemal ein gewisser Bindrim mit dem Vater in der Zaire debuͤtirte. Weil nun dieser keinen besondern Beifall fand, und Reiser in sich fuͤhlte, wie bei den meisten Stellen der Ausdruck haͤtte ganz anders seyn muͤssen, so spornte ihn dieß noch mehr an, nun selber so bald wie moͤglich in einer Debuͤt¬ rolle den Schauplatz zu betreten, und er lag Eckhof dringend an, daß in einem der naͤchst¬ aufzufuͤhrenden Stuͤcke ihm eine Rolle moͤchte zugetheilt werden. Und da das naͤchstemal die Poeten nach der Mode aufgefuͤhrt wurden, so that Reiser den Vorschlag die Rolle des Dunkel zu uͤberneh¬ men, welches ihm Eckhof aber aus dem Grunde widerrieth, weil er selbst diese Rolle spiele, und es fuͤr einen angehenden Schauspieler nicht rath¬ sam sey, sich gerade in einer Rolle zuerst zu zeigen, die man schon von einem alten geuͤbten Schauspieler zu sehen gewohnt waͤre. So verschob sich nun sein Debuͤt von einem Spieltage bis zum andern, waͤhrend daß seine Hofnung dazu immer genaͤhrt wurde, und auf dieser Entscheidung nun sein ganzes Schicksal beruhte. Bei Eckhof hohlte sich nun Reiser immer Trost und neue Hofnung, so oft er anfing ver¬ zagt zu werden; denn daß dieser sich gerne mit ihm unterhielt, floͤßte ihm wieder Selbstzutrauen und neuen Muth ein. Demohngeachtet aber waren auch ein paar Aeusserungen von Eckhof aͤusserst niederschla¬ gend fuͤr ihn; denn als einmal von seinem En¬ gagement die Rede war, und Reiser sich auf einen jungen Menschen berief, der in den Poe¬ ten nach der Mode die Rolle des Reimreich ge¬ spielt hatte, so sagte Eckhof, man habe diesen vorzuͤglich seiner Jugend wegen angenom¬ men, und schien dadurch zu verstehen zu geben, daß dieser Beweggrund bei Reisern nicht mehr statt finde; der damals doch auch erst neunzehn Jahr alt war, aber wie es schien, von jeder¬ mann fuͤr weit aͤlter gehalten wurde; so daß bei dem Verlust aller Freuden der Jugend, auch nicht einmal der Anschein der Jugend ihm ge¬ blieben war. Und ein andermal, als von Goͤthen gespro¬ chen wurde, sagte Eckhoff, er sey ohngefaͤhr von Reisers Statur, aber gut physionomirt, welches aber allein schon den Schauspieler in Reisern ganz vernichtet haben wuͤrde, wenn nicht Eckhof gleich darauf zufaͤlliger Weise ihm wieder etwas Aufmunterndes gesagt haͤtte, in¬ dem er ihn fragte, ob er außer dem Prolog sonst nichts gedichtet habe? welches Reiser be¬ jahte, und sobald er zu Hause kam, seine Verse, die er auswendig wußte, niederschrieb, um sie Eckhof zu uͤberbringen. Er brachte wohl ein paar Tage mit dieser Arbeit zu, und sein Wirth gerieth auf den Ge¬ danken, daß Reiser ein dramatisches Werk fuͤr die Schaubuͤhne verfertigte. — Dieß ließ er sich auf keine Weise ausreden, und wuͤnschte Rei¬ sern schon im voraus Gluͤck zu der glaͤnzenden Laufbahn, die er nun betreten wuͤrde. Als Eckhof die Gedichte gelesen hatte, be¬ zeigte er Reisern seinen Beifall daruͤber, und sagte, er wolle sie auch dem Bibliothekarius Reichardt zu lesen geben. Dieß war fuͤr Rei¬ sern eine Aufmunterung ohne Gleichen, weil er sich immer noch an Eckhoffs ersten Ausspruch erinnerte, wie nahe der Schauspieler und der Dichter aneinander grenzten. Er zweifelte nun nicht, daß diese Gedichte ihm seinen Weg zum Theater noch mehr bahnen, und ihn bald seinem Ziele naͤher bringen wuͤrden. Dazu kam noch, daß der Schauspieler Gro߬ mann, welcher sich damals in Gotha aufhielt, und Reisern, einmal auf der Straße begegnete, ihm neuen Muth zusprach, indem er den Grund anfuͤhrte, daß man ihn gewiß nicht wuͤrde so¬ lange aufgehalten haben, wenn man nicht ge¬ sonnen sey, ihn, vielleicht ohne Debuͤt, fuͤr das Theater zu engagiren; denn es war nun schon in die dritte Woche, daß Reiser sich hier aufhielt. Diese troͤstenden Worte und die freundliche Anrede von Großmann waren damals ein wah¬ rer Balsam fuͤr Reisern, der bei dem Schlosse, wo gebauet wurde, einsam auf und nieder ging, und gerade mit finsterm Unmuth uͤber sein noch ungewisses Schicksal nachdachte. Reiser ging nun mit guter Hofnung zu Hause, und brachte den Tag bei seinem Wirth noch sehr vergnuͤgt zu. Am andern Morgen ging er in die Probe, und man fuͤhrte den Tag gerade die Operette, der Deserteur, auf, worin ein fremder Schau¬ spieler, Nahmens Neuhaus, den Deserteur, und dessen Frau die Lilla spielte. Eckhof bewieß sich bei der Probe besonders geschaͤftig, und Reiser stand hinter den Kulissen, und sahe mit Vergnuͤgen zu, wie durch An¬ strengung und Aufmerksamkeit eines jeden Ein¬ zelnen das schoͤne Werk entstand, das am Abend die Zuschauer vergnuͤgen sollte. Er dachte sich lebhaft die Naͤhe in der er sich nun bei diesen reizenden Beschaͤftigungen fand, und daß auf eben diesem Schauplatze mit seinem Spiele sich auch zugleich sein Schicksal entschei¬ den, und seine Existenz auf diesem Fleck sich entwickeln wuͤrde. — Denn auf diesen engumschraͤnkten Schau¬ platz waren nun nach der weiten Reise alle seine Wuͤnsche beschraͤnkt; hier sah' er sich, hier fand er sich wieder — Hier schloß die Zukunft ihren ganzen reichen Schatz von goldnen Phantasien fuͤr ihn auf, und ließ ihn in eine schoͤne und immer schoͤnere Ferne blicken — — So hatte er schon oft zwischen den Kulissen in Gedanken vertieft gestanden, und stand auch diesmal wieder so, als er auf einmal den Bi¬ bliothekarius Reichardt auf sich zukommen sah, von dem er schon seit einigen Tagen eine ent¬ scheidende Antwort erwartet hatte. Die Miene desselben verkuͤndigte schon nichts Gutes, und er redete Reisern mit den trocknen Worten an, es thaͤte ihm leid, ihm sagen zu muͤssen, daß aus seinem Engagement beim Theater nichts werden, und daß er auch zur Debuͤtrolle nicht kommen koͤnne — Mit diesen Worten gab er Reisern die geschriebenen Ge¬ dichte zuruͤck, indem er gleichsam zum Trost hin¬ zufuͤgte, es herrsche eine leichte Versifikation darin, und er solle dieß Talent ja nicht vernach¬ laͤssigen. Reiser der an Leib und Seele gelaͤhmt war, konnte kein Wort hierauf antworten, sondern ging hin, wo das Theater mit seinem letzten Vorhange ganz am Ende an die kahle Mauer grenzt, und stuͤtzte sich verzweiflungsvoll mit dem Kopfe an die Wand. Denn er war nun wirklich ungluͤcklich, und doppelt ungluͤcklich — Der Der eingebildete und der wuͤrkliche Mangel traten in fuͤrchterlicher Eintracht zusammen, um sein Gemuͤth mit Schrecken und Grauen vor der Zukunft zu erfuͤllen. Er sahe nun keinen Ausweg aus diesem La¬ byrinthe, in welchs seine eigene Thorheit ihn geleitet hatte — hier war nun die kahle oͤde Mauer, das taͤuschende Schauspiel war zu Ende. Er eilte vors Thor hinaus, und ging in der Allee, wo er sich schon oft mit den angenehmsten Vorstellungen beschaͤftiget hatte, verzweiflungs¬ voll auf und nieder; die Menschen gingen kalt vor ihm vorbei; niemand wußte, daß er in die¬ sem Augenblick die einzige Hoffnung seines Le¬ bens verlohren hatte, und einer der verlassensten Menschen war. Und sonderbar war es, daß gerade in die¬ sem allerverlassensten Zustande, sich ein unbe¬ kanntes Gefuͤhl von Liebebeduͤrfniß in ihm regte, da seine Verzweiflung in Mitleid mit seinem ei¬ genen Zustande sich verwandelte, und ihm nun ein Wesen fehlte, das dieses Mitleid mit ihm haben koͤnnte. 4ter Theil . E Er getrauete sich den Mittag nicht, zu Hause zu gehen, sondern aß nicht, und kehrte erst den Nachmittag wieder zuruͤck — und am Abend ging er in die Komoͤdie, wo nun die Operette, der Deserteur aufgefuͤhrt wurde, die ihm den Tod seiner Hoffnungen bezeichnete. Nie aber in seinem Leben ist seine Theilnah¬ me an einem fremden Schicksale staͤrker gewesen, als sie es gerade diesen Abend an dem Schick¬ sale der Liebenden war, welche durch den dro¬ henden Todesstreich getrennt werden sollten. Es traf bei ihm zu, was Homer von den Maͤdgen sagt, die um den erschlagenen Patroklius wein¬ ten, sie beweinten zugleich ihr eigenes Schicksal. Selbst die Musik ruͤhrte ihn bis zu Thraͤnen, und jeder Ausdruck erschuͤtterte sein Innerstes. Am staͤrksten aber fuͤhlte er sich durch die Scene bewegt, wo der Deserteur, der schon sein To¬ desurtheil weiß, im Gefaͤngniß an seine Geliebte schreiben will, und sein betrunkener Kamerad ihm keine Ruhe laͤßt, weil er ihn ein Wort soll Buchstabiren lehren. Reiser fuͤhlte es hier tief, wie wenig ein Mensch den andern Menschen ist, wie wenig den andern an seinem Schicksal liegt; und sein Freund mit der Hutkokarde stand wieder vor sei¬ ner Seele da. Weswegen putzte aber jener seine Hutkokarde, als um seinem Maͤdgen, der Ein¬ zigen zu gefallen, die damals seine Goͤttin war, in der er sich wiederfinden, und wieder von ihr geliebt seyn wollte. Das Schauspiel endigte sich froh, die Un¬ gluͤcklichen wurden getroͤstet, das Weinen ver¬ wandelte sich in Lachen, das Trauren in Froͤ¬ lichkeit — aber betruͤbt und mit schwerem Herzen ging Reiser in seine Wohnung — vor ihm war alles dunkel, und er sahe nun keinen Strahl von Hoffnung mehr. Als er zu Hause kam, legte er sich sogleich zu Bette — seine Sinne waren stumpf — seine Gedanken wußten keinen Ausweg mehr zu fin¬ den — und der Schlaf war das einzige, was ihm uͤbrig blieb — Es war ihm, als ob er aus die¬ sem Schlafe nicht wieder erwachen wuͤrde — denn alle Lebensaussichten waren ihm abgeschnit¬ ten, und er hatte keine Hoffnung mehr, wozu er erwachen sollte, E 2 Der Gedanke von Aufloͤsung, von gaͤnzlichem Vergessen seiner selbst, von Aufhoͤren aller Er¬ innerung und alles Bewußtseyns war ihm so suͤß, daß er diese Nacht die Wohlthat des Schla¬ fes im reichsten Maaße genoß — denn kein lei¬ ser Wunsch hemmte mehr die gaͤnzliche Abspan¬ nung aller seiner Seelenkraͤfte; kein Traum von taͤuschender Hoffnung schwebte ihm mehr vor — alles war nun vorbei, und endigte sich in die ewigstille Nacht des Grabes. So wohlthaͤtig reicht die Natur den Hoff¬ nungslosen auch schon die Schale dar, aus der er Vergessenheit seiner Leiden trinken, und alle Erinnerungen an irgend etwas, das er wuͤnschte, oder wornach er strebte, aus der Seele ver¬ wischt werden sollen. Als Reiser am andern Morgen spaͤt aus sei¬ nem tiefem Schlafe erwachte, fuͤhlte er sich wun¬ derbar an Leib und Seele gestaͤrkt — er fuͤhlte Kraft in sich, alles zu unternehmen, um auch selbst unter diesen Umstaͤnden noch zum Ziel seiner Wuͤnsche zu gelangen. Es stieg ein Gedanke in ihm auf, sich hier um Unterrichtsstunden zu bewerben; sich durch seinen eigenen Fleiß zu naͤhren, und auf dem Theater umsonst zu dienen. — Dieser Entschluß wurde immer lebhafter bei ihm, und er traute seinen Kraͤften alles zu, sobald er nur wieder einen Schimmer von Hoffnung vor sich sahe, sein Ziel zu erreichen. Waͤhrend dieser Gedanken zog er sich an, und ging zu Eckhof, dem er seinen Entschluß entdeckte, und dessen Rath er sich ausbat, in¬ dem er versicherte, daß er fuͤr sich selbst leben koͤnne, ohne doch von der Art, wie er zu leben daͤchte, sich etwas merken zu lassen. Eckhof lobte und billigte seine Standhaftig¬ keit, und sagte ihm, er zweifle nicht, daß dieß Anerbieten werde angenommen werden. Der Bibliothekarius Reichardt, welchem Reiser eben diesen Entschluß bekannt machte, versprach, ihm den andern Tag Bescheid darauf zu geben. Und nun kehrte Reiser voll neuer Hoffnung wieder zu Hause — sein ganzes Beginnen kam ihm nun selber noch ehrenvoller vor, weil er mit der Kunst zugleich den Fleiß in nuͤtzlichen Geschaͤften und naͤhrendem Erwerb verband — E 3 und alle seine uͤbrigen Stunden der Kunst zum Opfer brachte. Er aß nun diesen Mittag wieder voll Zu¬ trauen bei seinem Wirth — und fuͤhlte in sich einen unwiderstehlichen Muth, der Kunst zu Liebe, das Haͤrteste im Leben zu ertragen, sich auf die nothwendigsten Beduͤrfnisse einzuschraͤn¬ ken, und Tag und Nacht nicht zu ruhen, um sich in der Kunst zu uͤben, und zugleich seine Un¬ terrichtsstunden gehoͤrig abzuwarten. Mit diesen Entschluͤssen, die ihm einem recht heroischen Muth einfloͤßten, kam er am andern Morgen wieder zu Reichardt, und hoͤrte nun sein Endurtheil, daß man sich auch auf sein An¬ erbieten, umsonst auf dem Theater zu dienen, nicht einlassen koͤnne, und jezt schlechterdings kein neues Engagement bei diesem Theater mehr statt finden solle. — Wenn Reiser einige Wo¬ chen eher gekommen waͤre, so haͤtte sich etwas fuͤr ihn thun lassen, nun aber sey alles vergeblich. — Diese ganz unerwartete zweite abschlaͤgli¬ che Antwort versetzte Reisern in eine Art von innerer Erbitterung — er fing in diesem Augen¬ blicke an, sich selbst zu hassen, und zu verachten, und fragte: ob er denn nicht etwa Soufleur, oder Rollenschreiber, oder Lichtputzer beim Theater werden koͤnne? — Reichardt antwor¬ tete: es thaͤte ihm Leid, da Reiser so viel Feuer fuͤrs Theater verriethe, daß sein Unternehmen ihm hier mißlungen waͤre, indes wuͤrde es ihm vielleicht anderwaͤrts gelingen. Reiser ging nun in tiefen Gedanken von Rei¬ chard weg, und ging bei dem Bau am Schlosse auf und nieder, wo einige in Schiebkarren Steine zufuͤhrten, andere sie ordneten. — Er stand wohl an eine Stunde da, und sahe im¬ mer dieser Arbeit zu — dabei entstand eine son¬ derbare Begierde in ihm, sein gutes Kleid aus¬ zuziehen, und mit den uͤbrigen Tageloͤhnern auch Steine zu diesem Bau auf den Schiebkar¬ ren herbei zu fuͤhren. Es war schon gegen Mittag, und die Sonne schien immer heißer. — Die Haͤnde der Arbei¬ ter wurden laß — sie ruheten sich aus, und ver¬ zehrten auf der Erde ihr Mittagsmahl. — Rei¬ ser gab sich mit dem einen ins Wort, und fragte ihn, wie viel sein Tagelohn betruͤge. Es war eine Anzahl Groschen, die Reiser nicht mehr in E 4 seinem Vermoͤgen hatte; und das Geld konnte in einem Tage verdient werden. Der Entschluß, um diesen Tagelohn zu ar¬ beiten, war in dem Augenblicke bei Reisern schon so gewiß, daß er innerlich lachen mußte, daß der Arbeiter, waͤhrend er mit ihm sprach, die Muͤtze vor ihm abnahm, und nicht wußte, daß sie vielleicht Morgen Kameraden seyn wuͤrden. Das einzige, was seine Erbitterung, und Selbsthaß und Selbstverachtung mildern konnte, war dieser Entschluß, worinn er sich selbst wie¬ der ehrte. Denn nun wollte er seinen wahren Zustand seinem Wirth entdecken, seinen Degen, sein Kleid ihm fuͤr die Bezahlung lassen, und dann beim Schloßbau Steine zufuͤhren. Waͤhrend nun dies in seinen Gedanken vor¬ ging, glaubte er selbst, es sey sein wahrer Ernst, und wußte nicht, daß seine Einbildungskraft ihn wieder taͤuschte, und daß er schon wieder in Gedanken eine Rolle spielte. Denn als Handlanger beim Schloßbau war er nun das Niedrigste, was er nur seyn konnte; diese selbst gewaͤhlte freiwillige Niedrigkeit hatte einen außerordentlichen Reiz fuͤr ihn — er lebte nun wie die uͤbrigen von seinem Stande, ging des Sonntags fleißig in die Kirche, und war ein stiller religioͤser Mensch — in einsamen Stunden ergoͤtzte er sich denn mit Shakespear und Homer, und hatte dasjenige reelle Leben in sich, was er nicht außer sich haben konnte. Besonders ruͤhrend war ihm bei dergleichen Vorstellungen immer der Gedanke, daß er am Sonntage fleißig in die Kirche gehen, und dem Prediger recht aufmerksam zuhoͤren wuͤrde . — Denn hierdurch vernichtete er gleichsam sich selbst, weil er alles, was auch der schlechteste Prediger ihm sagen wuͤrde, doch fuͤr sich noch sehr lehrreich hielt, und nicht kluͤger als der einfaͤltigste Mensch seyn wollte. Er dachte sich nun wieder in dem Zustande, worin er als Hutmacherbursch gewesen war, wo er den Prediger, der ihm gefiel, wie ein Wesen hoͤherer Art, und selbst die Chorschuͤler auf der Straße mit Ehrfurcht betrachtete. Vom Theater durfte er in diesem Zustande kaum einen Begriff haben — und doch war es ihm wieder, als ob eben dieser Zustand auf eine wunderbare E 5 Weise ihn seinem ersten Wunsche vielleicht wie¬ der naͤher bringen koͤnnte. Ehe er sich nun aber um die Stelle eines Ta¬ geloͤhners bei dem Bau am Schlosse wirklich bewarb, konnte er doch nicht unterlassen, noch einmal zu Eckhof zu gehen, um ihm Lebewohl zu sagen, und ihm zugleich zu erzaͤhlen, daß auch seine letzte Hoffnung gescheitert sey. Er konnte diese Erzaͤhlung nicht ohne Be¬ klemmung und Ruͤhrung vorbringen, weil er sich seinen ganzen nunmehrigen Zustand, und also weit mehr dabei dachte, als er sagte. — Der gute Eckhof redete ihm zu: er solle den Muth nicht sinken lassen; drei Meilen von hier in Eisenach sey jetzt die Barzantische Truppe; es wuͤrde ihm nicht fehlen, bei dieser Truppe angenommen zu werden; er solle sich bei dersel¬ ben nur erst eine Weile zu uͤben suchen, und dann wieder nach Gotha kommen, wo vielleicht guͤnstigere Umstaͤnde sich fuͤr ihn ereignen, und seine Aufnahme desto leichter seyn wuͤrde, wenn er schon eine Zeitlang bei einer Truppe gestan¬ den haͤtte, — er koͤnne dieß ja leicht versuchen, und den Weg von Gotha bis Eisenach auf der Chaussee wie einen Spatziergang machen. Mit dieser Anrede von Eckhof war auf ein¬ mal das ganze Projekt mit dem Steine zufuͤh¬ ren, und dem Arbeiten ums Tagelohn aus Reisers Gedanken verschwunden. — Denn das Ziel, wohin er doch am Ende wollte, sahe er auf einmal wieder nahe vor sich, und alle Be¬ denklichkeiten hoͤrten auf, da er sich den Weg von Gotha nach Eisenach wie einen Spatzier¬ gang dachte, wodurch er gar keine Untreue an seinem Wirth begieng, dem er von Eisenach als Schauspieler, doch eher und leichter, wie von seiner Tageloͤhnerarbeit bezahlen konnte. Er gieng also, da es hoch Mittag war, aus Eckhofs Hause, so wie er war, und ohne sich umzusehen, gerade auf Eisenach zu. Und die¬ ser Weg wurde ihm nun auch wuͤrklich so leicht, wie ein Spatziergang. Denn alle die erstor¬ benen Hoffnungen waren nun auf einmal in sei¬ ner Seele wieder erneuert, und machten einen lebhaften und angenehmen Kontrast gegen die melancholischen Ideen, womit er sich an diesem Vormittage noch zum Tageloͤhner hatte verdin¬ gen wollen. Er dachte sich immer nahe bei Gotha, und wie er am andern Tage zuruͤckkehren, und sei¬ nem Wirth eine angenehme Nachricht bringen wuͤrde. Dies machte, daß die Schoͤnheiten der Natur ihn wieder ergoͤtzten; er wandelte mit innigem Vergnuͤgen durch die romantischen Thaͤler zwischen den Bergen hin, und als er die Thuͤrme der alten Wartenburg, von der er schon in seiner Kindheit gehoͤrt hatte, zuerst er¬ blickte, so umfaßte sein Gemuͤth die Gegenstaͤn¬ de umher mit einer Waͤrme und Anschließung, die ihm alles doppelt schoͤn machte; es war ihm, als ob er in einem suͤßen Traume schwebte, worin, was er ehmals gedacht hatte, eins nach dem andern sich ihm nun wuͤrklich darstellte. Es war ihm, als ob er allenthalben seyn koͤnnte, wo er wollte, da er sich so auf einmal in wenigen Stunden von Gotha nach Eisenach versetzt sahe, woran er den Morgen desselbigen Tages noch gar nicht gedacht hatte. Seinen Ueberrock und andre Sachen, die er sonst bei sich trug, hatte er zu Hause gelassen, und wanderte, in seinem besten Anzuge, mit dem Degen an der Seite, so wie er bei Reichardt und Eckhof seinen Besuch gemacht hatte, in Ei¬ senach ein. Zufaͤlliger Weise steckten seine ge¬ schriebenen Gedichte, und der lateinische An¬ schlagbogen, worauf sein Nahme stand, noch in seiner Rocktasche, der Homer aber, und ein Theil der Waͤsche, die er bei sich trug, war samt dem Ueberrocke zuruͤckgeblieben. Als er in die Stadt kam, schien ihm alles ein frohes und heiteres Ansehn zu haben; die Menschen schienen gleichsam zur Freude gestimmt zu seyn, so daß er mit lauter frohen Ahndun¬ gen in den Gasthof trat, wo er die Nacht blei¬ ben wollte, und sich, nachdem er sich kaum nie¬ dergesetzt hatte, erkundigte, ob diesen Abend nicht etwa Komoͤdie gespielt wuͤrde? Welch ein Donnerschlag war es fuͤr ihn, als man ihm antwortete: Die Barzantische Schauspielergesellschaft sey gerade diesen Morgen nach Muͤhlhausen abgereist ! — Also war es nun, als ob ein feindseeliges Schick¬ sal ihm immer auf dem Fuße nachfolgte, und ordentlich wie mit Absicht alle seine Hoffnungen vereitelte. Dazu kam nun wieder, daß er nicht nur in der Einbildung, sondern wirklich und doppelt ungluͤcklich war, weil die einzige Hoffnung, seinen Unterhalt zu finden, und zugleich seine Schuld in Gotha zu tilgen, auf seiner Annah¬ me bei der Barzantischen Truppe in Eisenach beruhte, und diese nun gerade an demselben Tage ihren Weg eben dahin genommen hatte, wo er hergekommen war. Sein Zustand brachte ihn der Verzweiflung nahe, und machte, daß er zum erstenmal sich uͤber sein Schicksal wegsetzte, und in eine Art von Vergessenheit seiner selbst gerieth, welche ihn dem Anscheine nach froh und aufgeraͤumt machte — Dabei war es ihm, als ob er durch diesen gar zu unerwarteten und haͤmischen Streich des Schicksals von allen Verbindungen loßge¬ sprochen waͤre, und sich nun selbst wie ein ver¬ nachlaͤssigtes und verworfenes Wesen ansehen duͤrfe, das in gar keinen Betracht mehr koͤmmt. Er hatte den ganzen Tag nichts genossen, und ließ sich den Abend Bier und Brodt, und auf die Nacht ein Bette geben, wo er des sanf¬ testen Schlafes genoß, weil er auf keine Zu¬ kunft mehr rechnete, und von keinem einzigen Gedanken an die Zukunft oder an sein eigenes Schicksal mehr gestoͤrt wurde, denn nun war er mit seinen Aussichten ganz am Ende. Am andern Morgen aber fuͤhlte er, daß dieser wohlthaͤtige Schlaf aufs neue seine schlum¬ mernden Kraͤfte erweckt hatte — er fuͤhlte wie¬ der statt der Laͤhmung einen gewissen Trotz und Erbitterung gegen das Schicksal, wodurch er Muth bekam, noch einmal alles zu dulden, und alles zu wagen, um seinen Endzweck dennoch zu erreichen: er entschloß sich, der Barzanti¬ schen Schauspielergesellschaft nachzureisen, und von Eisenach bis Muͤhlhausen denselben Weg, den er gekommen war, wieder zuruͤckgehn. Nachdem er nun in dem Gasthofe seine Zeche bezahlt hatte, so blieben ihm von seinem ganzen Vermoͤgen noch fuͤnf oder sechs Dreier uͤbrig, womit er auf die Wartenburg stieg, und von da die weite und schoͤne Gegend vor sich uͤbersahe. Der Unteroffizier auf der Wartenburg redete Reisern sehr hoͤflich an, und fragte ihn, ob er nicht die Merkwuͤrdigkeiten besehen wollte? worauf Reiser erwiederte: er wuͤrde den Nach¬ mittag mit einer Gesellschaft wieder kommen, jetzt wolle er sich nur in der Gegend ein wenig umsehen. Er fuͤhlte sich, indem er um sich her blickte, auf diesem Standpunkte, uͤber sein Schicksal erhaben: denn aller Widerwaͤrtigkeiten ohn¬ geachtet war er doch bis auf diesen Fleck gekom¬ men, und diesen schoͤnen Moment einer reizen¬ den Aussicht in die umgebende Natur konnte ihm doch niemand rauben. Er sammlete sich gleichsam Staͤrke zu der Muͤhe und sorgenvollen Wanderschaft, die er nun aufs neue wieder an¬ treten wollte. Sein Plan, den er sich hiezu entworfen hatte, bestand in nichts Geringerm, als die wenigen Dreier, die ihm noch uͤbrig waren, bloß zu Schlafgeld anzuwenden, und bei Tage sich von den Wurzeln auf dem Felde zu naͤhren, denn er hatte es auf dem Herwege von Gotha schon einmal versucht, ein paar Wurzeln auf dem dem Felde auszuziehen, die ihm, da er den gan¬ zen Tag nichts genossen hatte, eine sehr ange¬ nehme Erquickung gewaͤhrten. Hieran hatte er sich hier gleich den Morgen beim Erwachen erinnert, und dieß war es vor¬ zuͤglich, was ihm den Trotz gegen das Schick¬ sal einfloͤßte, von dem er sich nun beinahe ganz unabhaͤngig dachte. Er fing noch an diesem Tage an, seinen Ent¬ schluß mit eben dem Selbstgefuͤhl durchzusetzen, womit er auf seiner ersten Wanderung sich auf den bloßen Genuß von Bier und Brodt be¬ schraͤnkte, und fuͤhlte sich nun doppelt so unab¬ haͤngig wie damals; denn waͤhrend, daß der Unterofficier auf der Wartenburg ihn mit der Gesellschaft zuruͤckerwarten mochte, um ihm die Merkwuͤrdigkeiten des Schlosses zu zeigen, verzehrte Reiser schon auf dem Felde sein Mahl von rohen Wurzeln, die er sich mit einem alten Einlegemesser, das er noch von seinem Freunde Philipp Reisern besaß, in Scheiben schnitt, und sie mit dem groͤßten Wohlgeschmack verzehrte. Nun war er aber, weil er sich zu lange auf der Wartenburg aufgehalten hatte, kaum erst 4ter Theil . F eine Meile von Eisenach, und ihn uͤberfiel, da er seine Wurzeln verzehrt hatte, eine unwider¬ stehliche Traͤgheit, so daß er mitten auf dem Felde einschlief, und erst am Abend bei Son¬ nenuntergang wieder erwachte. Da er nun nach dem naͤchsten Dorfe zuge¬ hen wollte, so kam er vom rechten Wege ab, und erreichte erst spaͤt einen Gasthof, wo er nichts verzehrte, sondern am andern Morgen bloß die Streu bezahlte. Von diesem Dorfe aus verirrte er sich am andern Tage wieder zwischen den Feldern, wo er Wurzeln suchte, die gestrige Traͤgheit uͤber¬ fiel ihn wieder, die Hitze war druͤckend, und wo er den Schatten eines Baumes fand, da legte er sich nieder, und sogleich uͤberfiel ihn der Schlaf; so daß er auf dem Wege von Ei¬ senach bis Gotha, den er auf der Hinreise in wenigen Stunden zuruͤckgelegt hatte, beinahe vier Tage zubrachte. So labyrinthisch wie sein Schicksal war, wurden auch nun seine Wanderungen, er wußte sich aus beiden nicht mehr herauszufinden; vor Gotha schien sich seine Straße zuruͤckzubiegen, und er mußte doch wieder durch, wenn er seinen Weg nach Muͤhlhausen fortsetzen wollte; und weil er nun die gerade Straße scheute, so war es ihm gewissermaßen lieb, wenn er sich verirrte. Sein lateinischer Anschlagbogen half ihn auf diesem Wege zweimal durch; einmal, da man ihn fuͤr eine verdaͤchtige Person hielt, weil er keinen Paß vorzeigen koͤnnte; und ein andermal, da man einen Paß von ihm verlangte, daß er nicht aus einer Gegend kaͤme, wo damals die Viehseuche herrschte; er zeigte seinen lateini¬ schen Anschlagbogen vor, und fuͤgte hinzu, daß er ein Student sey, und deswegen einen latei¬ nischen Paß bei sich fuͤhre. — Der Dorfrichter oder Schulze des Orts, welcher sich gegen seine Frau, und die andern Bauren, das Ansehen geben wollte, als ob er Latein verstaͤnde, laß mit einer wichtigen Miene den Anschlagbogen durch, und sagte, es sey recht gut! Waͤhrend nun Reiser diese Tage in einer Art von Betaͤubung, gleichsam wie in der Irre um¬ hergieng, herrschte bloß die Imagination in ihm; denn da er nun auf dem Felde lebte, so F 2 schien er sich an gar nichts mehr gebunden, und ließ seiner Einbildungskraft den Zuͤgel schießen. Nun war ihm aber sein Schicksal nicht ro¬ manhaft genug. Daß er hatte Schauspieler wer¬ den wollen, und sein Wunsch ihm mißlungen war, das war eine abgeschmackte Rolle, die er spielte — er mußte irgend ein Verbrechen be¬ gangen haben, das ihn in der Irre umhertrieb; ein solches Verbrechen dachte er sich nun aus: er stellte sich vor, daß er mit dem jungen Edel¬ mann, den er in H.... unterrichtete, die Universitaͤt in Goͤttingen bezogen, und von die¬ sem im Trunk zum Zweikampf genoͤthigt worden waͤre, wo er sich bloß vertheidigt, und jener wuͤthend in seinen Degen gerannt sey, worauf er die Flucht genommen habe, ohne zu wissen, ob jener todt oder lebend sey. Diese von ihm selbst gemachte Erdichtung draͤngte sich ihm bei seinem Herumirren im Fel¬ de, fast wie eine Wahrheit auf, er traͤumte davon, wenn er einschlief; er sah seinen Geg¬ ner im Blute liegen, er deklamirte laut, wenn er erwachte, und spielte auf die Weise mit seiner Phantasie mitten auf dem Felde zwischen Gotha und Eisenach die Rollen durch, welche man ihm auf dem Theater verweigert hatte. Und dieß allein war es, was ihn von der Verzweiflung rettete, denn haͤtte er sich seinen Zustand voͤllig so leer und abgeschmackt gedacht, wie er wirklich war, so wuͤrde er sich selbst ganz weggeworfen haben, und in Schmach versun¬ ken seyn. Nun aber wurde ihm das Bitterste ertraͤg¬ lich: am zweiten Tage, auf seiner Ruͤckkehr von Eisenach nach Gotha, war es gerade Sonn¬ tag, und eine druͤckende Hitze. Reiser kam vom Felde durch ein Dorf und suchte Schatten, den er nicht anders finden konnte, als auf einem gruͤ¬ nen mit Baͤumen bepflanzten Platze gerade der Kirche gegenuͤber. Er ließ sich in einem Bauer¬ hause erst ein Glas Wasser geben; dann legte er sich unter den Baͤumen nieder, waͤhrend daß in der Kirche gegenuͤber gesungen wurde; unter dem Singen schlief er ein, und wachte nicht eher wieder auf, als bis der Prediger aus der Kirche kam, mit dem sein Sohn gieng, der auch erst von der Universitaͤt zuruͤckgekommen war. Beide gingen auf Reisern zu, und fragten ihn, woher F 3 er kaͤme, und wohin er ginge? er gab verwirrte Antworten, und gestand endlich, daß er wegen eines Duells, das er in Goͤttingen gehabt habe, fluͤchtig sey. Es war ihm selber, als ob ihm dieß Gestaͤndniß aͤußerst schwer wuͤrde, und der Gedanke an die Unwahrheit der Sache fiel ihm fast gar nicht mehr bei: denn da er einmal bloß in der Ideenwelt lebte, so war ihm ja alles das wirklich, was sich einmal fest in seine Einbil¬ dungskraft eingepraͤgt hatte, ganz aus allen Verhaͤltnissen mit der wirklichen Welt hinaus¬ gedraͤngt, drohte die Scheidewand zwischen Traum und Wahrheit bei ihm den Einsturz. Der Prediger noͤthigte ihn in sein Haus, und wollte ihn bewirthen. — Reiser aber, gleichsam wie von Angst getrieben, entfernte sich sobald wie moͤglich wieder. — Denn er mußte in seinem imaginirten Zustande die Ge¬ sellschaft der Menschen fliehen. — Nahe vor Gotha noͤthigte ihn wiederum ein Prediger in sein Haus, der sich wohl einen halben Tag lang mit ihm unterhielt, und ihm erzaͤhlte, daß vor ein paar Jahren auch so zu Fuße, und wohlgekleidet, ein reisender Gelehr¬ ter hier durchgekommen, der sich lange mit ihm unterhalten, er habe sich den Tag im Kalender bemerkt, und zweifele fast nicht, daß es der Doktor Barth gewesen sey. Nun erzaͤhlte dieser Prediger Reisern seine Geschichte, wie er sich erst lange als Hofmeister herumgetrieben, und hier nun endlich in dieser alten Pfarre eine Ruhestaͤtte gefunden habe, wo er dem, was in der Welt vorginge, nur so ganz von ferne zusaͤhe. Reiser erzaͤhlte nun dem Prediger auch seine eigene imaginirte ungluͤckliche Geschichte, wobei ihm der Prediger in einem Caffeeschaͤlchen einige Erfrischungen von eingemachtem Obst vorsetzte; und ihm dabei Muth zusprach, daß er sein Ver¬ brechen vielleicht noch wieder gut machen koͤnne; dabei sah er auf die weisse Scheide von dem De¬ gen, welchen Reiser trug, und fragte ihn, ob eine solche Degenscheide denn wirklich das Zei¬ chen der Freimaͤurer, und ob Reiser nicht in die¬ sem Orden sey? — Jemehr dieser es verneinte, desto fester glaubte der Prediger, demohngeach¬ tet einen Freimaurer vor sich zu sehen, der sich ihm nur in diesem Punkt nicht entdecken wollte. F 4 Dieser Prediger betrachtete Reisern manch¬ mal vom Kopf bis zu Fuß, und schien sich uͤber¬ haupt sonderbare Vorstellungen von ihm zu ma¬ chen. — Er hielt ihn fuͤr einen Menschen, der viel mehr verschwieg, als er sagte, und mit dem er nicht recht wußte, wie er dran war. — Demohngeachtet konnte er nicht unterlassen, immer noch Fragen an ihn zu thun, bis Rei¬ ser endlich, da die Sonne sich schon zum Unter¬ gange neigte, von ihm Abschied nahm, und der Prediger ihm noch die Ermahnung mit auf den Weg gab, vorzuͤglich sein Verbrechen durch Reue zu buͤßen. Durch die lange Unterhaltung mit dem Pre¬ diger und durch dessen Ermahnungen war Rei¬ sers Imagination noch mehr erhitzt. — Er kam in der Abenddaͤmmerung in Gotha an, und ging in einer Art von hartnaͤckiger Betaͤu¬ bung und Fuͤhllosigkeit, dicht vor dem goldnen Kreuze vorbei, wo er logirt hatte, aus dem Thore wieder heraus, in welches er das erste¬ mal nach Gotha gekommen war, und nahm wieder den Weg auf Erfurt zu, um dann von da nach Muͤhlhausen zu gehen, und endlich die Barzantische Schauspielergesellschaft zu er¬ reichen. Denn als er nur erst wieder durch Gotha war; verschwand auch allmaͤlig die imaginirte Geschichte, die ihn drei Tage vor Gotha in der Irre herumgetrieben hatte, die erste Aussicht oͤfnete sich noch einmal wieder; Gotha lag wie¬ der hinter ihm, und war wieder der Mittel¬ punkt seiner Bestrebungen; so wie von Eisenach, hoffte er auch von Muͤhlhausen, und zwar mit besserm Gluͤck, dorthin zuruͤckzukehren. Nun war es aber schon dunkel, ehe er ein Dorf erreichen konnte, und er verirrte sich, und ging beinahe eine Meile um, indes kam er zu¬ letzt doch wieder auf die rechte Straße, und langte in demselben Gasthofe an, wo er auf seiner Hinreise von Erfurt nach Gotha, eine der widerwaͤrtigsten Naͤchte, in der Gesellschaft von den groben Fuhrleuten zugebracht hatte, deren Quam ihm noch in frischem Andenken war. In diesem Gasthofe fand er noch alles leb¬ haft, und einen Handwerksburschen unter den Bauern auf dem Flur sitzend, denen er seine Reisen in Chursachsen erzaͤhlte. Gerade als F 5 Reiser in den Gasthof kam, trat der Wirth her¬ zu, und gebot dem Erzaͤhler Stillschweigen, weil es schon spaͤt in die Nacht, und Zeit sey, sich schlafen zu legen. Der Handwerksbursch und die Bauern leg¬ ten sich nun auf die Streu, die schon zubereitet war, und worauf auch Reiser Platz nahm. — Der Handwerksbursch konnte sich uͤber die Grobheit des Wirths gar nicht zufrieden geben, und gar nicht daruͤber einschlafen, indem er un¬ zaͤhligemal versicherte, das ihm in ganz Chur¬ sachsen noch keine solche Grobheit von irgend einem Wirth wiederfahren sey. Als Reiser nun hier am andern Morgen sei¬ nen Dreier Schlafgeld bezahlt hatte, war sein Vermoͤgen bis auf neun Pfennige geschmolzen; und nun fieng er an, auf einmal sich so erschoͤpft zu fuͤhlen, da rohe Wurzeln schon seit mehrern Tagen seine einzige Kost gewesen waren, daß der Gedanke an eine Meile, die er gehen sollte, ihn mit Schrecken erfuͤllte; denn er fuͤhlte sich diesen Morgen wie gelaͤhmt, und der Raum zwischen Muͤhlhausen und hier kam ihm wie eine furchtbare Wuͤste vor, durch die er ohne einen Labetrunk und ohne Staͤrkung reisen sollte. Der Handwerksbursch, der den Abend vor¬ her von seinen Reisen in Chursachsen bis in die spaͤte Nacht erzaͤhlt hatte, machte sich nun auf den Weg nach Erfurt, und fragte Reisern ob er auch des Weges ginge? dieser bejahte es, und sie wanderten in einem nicht uͤbereilten Schritt mit einander fort. Der Handwerksbursch, welcher ein Buch¬ bindergeselle und schon ziemlich betagt war, fragte Reisern nach seiner Profession, und die¬ ser antwortete: er sey ein Schuhknecht, und fand ordentlich eine Art von Wuͤrde darin, in¬ dem er sich einen Schuhknecht nannte; denn als ein solcher war er doch etwas, als einer der ein bloßes Blendwerk seiner Phantasie verfolgte, war er nichts. Der Buchbindergeselle schien seiner Erzaͤh¬ lung nach schon seit vielen Jahren, aus dem Reisen ein eigenes Geschaͤft gemacht zu haben, und war gegen seinen Gefaͤhrten mit seinen Er¬ fahrungen nicht zuruͤckhaltend, indem er ihn unterrichtete, wie man, besonders im Sommer und in der Obstzeit, mit einem halben Gulden sehr weite Touren machen koͤnne, ohne doch da¬ bei Noth zu leiden. Obst, meinte er, wuͤrde einem nirgends versagt, und Brodt auch nicht leicht, auf die Weise brauche man des Tages oft nur wenige Pfennige zu verzehren. — So sey er schon mehrmalen ganz Chursachsen durchgereist, und habe sich wohl dabei befunden; kurz er hielt Reisern wuͤrdig, in seinen Orden initiirt zu werden, dessen Vorzuͤge und Annehmlichkeiten er ihm auf die reizendste Art beschrieb, weil es ein Leben voll immerwaͤhrender Veraͤnderung und Unabhaͤngigkeit war. — Reiser aber fuͤhlte seine Knie wanken, und seine Muͤdigkeit nahm so sehr bei jedem Schritte zu, daß er in diesem Augenblick, das einfoͤr¬ migste und abhaͤngigste Leben sich gerne haͤtte gefallen lassen, wenn sich ein ruhiger Aufent¬ halt ihm dargeboten haͤtte. Sein Gefaͤhrte schien seinen Kummer zu merken, und suchte ihm Muth und Trost einzu¬ sprechen, als sie schon nahe vor Erfurt an einen kuͤhlen und klaren Quell kamen, der dem Buch¬ bindergesellen schon bekannt war, und wo sie bei der druͤckenden Hitze beide ihren Durst loͤschten. Nicht leicht kann diese wohlthaͤtige Quelle, die den Einwohnern von Erfurt wohl bekannt ist, fuͤr einen Wanderer erquickender gewesen seyn, als sie es fuͤr Reisern war, der sich ganz erschoͤpft daran niederwarf, und den Labetrunk, den er oft von Menschen kaum zu fordern wagte, nun unmittelbar, aus dem Schatz der Natur empfing. — Und dann erhielt so etwas fuͤr Reisern einen doppelten Werth, weil er das Poetische mit hinzutrug, das nun bei ihm wirklich wurde, und wovon man sagen koͤnnte, daß es die einzige Schadloshaltung fuͤr die nothwendigen Folgen seiner Thorheit war, fuͤr die er selbst nicht konnte, weil sie nach natuͤrlichen Gesetzen in sein Schicksal von Kindheit auf sich nothwendig einflechten mußte. — Als nun die alten Thuͤrme von Erfurt wie¬ der aus dem Thale emporstiegen, und Reiser nun hoffnungslos dahin zuruͤckwanderte, wo er noch vor kurzem mit dem jugendlichen Schim¬ mer der ersten Hoffnung ausgereist war, so fiel es ihm sonderbar auf, da sein Gefaͤhrte der Buchbindergeselle auf einmal zu ihm sagte: er glaube nicht, daß Reiser ein Schuhknecht sey, sondern hielte ihn fuͤr einen Studenten, der auf der Universitaͤt in Erfurt studiren wolle. Reiser der schon wieder bis zum Hinsinken ermattet war, fuͤhlte sich durch diese zufaͤlligen Worte des Buchbindergesellen wie ins Leben zuruͤckgerufen. Sobald er in dieser Stadt, die so nahe vor ihm lag, studiren und bleiben wollte, war sie das Ende seiner muͤhseeligen Wanderung; sie war der Endzweck, das Ziel seiner Reise, das er nun so nahe vor sich sahe, und wo er noch dazu auf eine ehrenvolle Weise, mit seinem Plane umwechseln konnte. Jemehr seine Muͤ¬ digkeit zunahm, je reizender und wuͤnschens¬ werther wurde ihm der Gedanke an den Auf¬ enthalt in dieser weiten Stadt, worin doch auch, wie er dachte, noch wohl ein Plaͤtzchen fuͤr ihn sich finden wuͤrde. Dieser hoffnungslose traurige Zustand des Umherirrens, worin er sich nun schon seit meh¬ rern Tagen befand, konnte durch keinen Reiz einer angespannten erhitzten Einbildungskraft mehr uͤbertragen werden, sondern der Gedanke der gaͤnzlichen Huͤlflosigkeit ermuͤdete ihn mit je¬ dem Schritte noch mehr, und die Muͤdigkeit ver¬ mehrte wieder den Gedanken der Huͤlflosigkeit, die vorzuͤglich aus dem Sinken seines Muthes und aus der Erschoͤpfung seiner Kraͤfte entstand. Sie kamen nun in die Stadt, vor einem Baͤckerhause vorbei, wo auf dem Laden eine Menge Brodte aufgethuͤrmt lagen: Reiser wollte sich eins darunter aussuchen, und als er es kaum beruͤhret hatte, schoß beinahe der ganze Haufe von Brodten auf die Straße herunter. — Die Leute im Hause fingen einen großen Laͤrm an, und Reiser mußte mit seinem Gefaͤhrten sich nur schnell um eine Ecke wenden, um den Schmaͤhungen zu entgehen. So verfolgte Rei¬ sern sein widriges Geschick bis aufs aͤußerste. Sie kehrten nun in einem Gasthofe ein, wo Reiser dem Durst nicht widerstehen konnte und fuͤr die letzten neun Pfennige, die er noch uͤbrig hatte, sich Bier geben ließ. Fuͤr diesen einen Trunk hatte er also sein Schlafgeld auf noch drei kuͤnftige Naͤchte ausgegeben, und ihm blieb nichts weiter uͤbrig, als ganz unter freiem Himmel zu wohnen. Bei diesem Gedanken war es ihm, als ob er nun mit dem Trunk Bier die Vergessenheit alles Kuͤnftigen und Vergangenen trinke, und von allem Kummer auf einmal befreiet werden sollte. Denn nun gab er sich ganz seinem Schicksale hin, und betrachtete sich wieder wie ein fremdes Wesen, fuͤr das er nicht mehr den¬ ken koͤnnte, weil es unwiederbringlich verlohren war; so schlummerte er ein, und schlief eine Stundelang. Als er erwachte, war es noch eine Stunde vor Mittage, sein Gefaͤhrte war weggegangen, und er saß, den Kopf auf die Hand gestuͤzt, in stummer Verzweiflung da, als ein Mann, der gerade gegen ihm uͤber saß, ihn anredete, und sich erkundigte, ob er nicht ein fremder Stu¬ dent sey? Als dies bejahet wurde, erzaͤhlte der Mann, gleichsam, als ob er um Reisers Zustand ge¬ wußt haͤtte; daß der jetzige Prorektor der Uni¬ versitaͤt, der Abt vom Benediktinerkloster auf dem dem Petersberge ein aͤußerst menschenfreundli¬ cher Mann sey, der erst vor Kurzem, einem jungen Manne, der auch mit Nichts hieher¬ gekommen sey, sogleich Unterstuͤtzung verschaft, und sich seiner auf das menschenfreundlichste an¬ genommen habe. Wenn Reiser diesen Praͤlaten besuchen wollte, so solle er nur dreist zu ihm ge¬ hen; er wuͤrde gewiß eine guͤtige Aufnahme bei ihm finden. Hierauf kamen andere Leute, mit denen der Mann sich ins Gespraͤch gab. Reiser aber, den die gaͤnzliche Erschlaffung aller seiner Seelen- und Koͤrperkraͤfte, und der wohlthaͤtige Schlummer, der hievon eine Folge war, schon wieder etwas gestaͤrkt hatten, fuͤhlte sich auf einmal wieder mit neuer Hoffnung und neuem Muth beseelt, da er sich den Praͤlaten im Benediktinerkloster auf dem Petersberge dachte. Er machte sich sogleich auf den Weg, und erkundigte sich nach dem Petersberge; ein jun¬ ger Student der ihm begegnete; gab ihm nicht nur hoͤflich Bescheid, sondern begleitete ihn so¬ gar eine Strecke, um ihn gehoͤrig zurechtzu¬ weisen. Dieß war ihm ein gutes Omen. Er 4ter Theil . G stieg den befestigten Petersberg hinauf, und die Wachen ließen ihn ungehindert durch. — Er kam in der Wohnung des Praͤlaten an, dessen Bedienter ihn mit einem freundlichen Ge¬ sicht empfing, und sobald er sagte, daß er ein Student sey, ihn sogleich bei dem Praͤlaten zu melden versprach. — Er ward eine Treppe hoch in einen großen Saal gefuͤhrt, in welchem Gemaͤhlde hingen, unter denen das eine den Petrus vorstellte, wie er sich in des Hohenpriesters Hause am Feuer waͤrmt. — Indem Reisers Blicke noch auf dies Gemaͤhlde geheftet waren, trat der Praͤlat in seiner schwarzen Ordenskleidung mit dem Brevier in der Hand heraus, und Reiser rich¬ tete eine kurze lateinische Anrede an ihn, die er sich beim Hinaufsteigen auf den Petersberg aus¬ gedacht hatte, und deren Inhalt war, daß er vom widrigen Gluͤck umhergetrieben, nach Er¬ furt gekommen sey, und hier einige Unterstuͤ¬ tzung zu finden hofte, um auf irgend eine Weise sein angefangenes Studium hier fortzusetzen. Der Praͤlat fragte ihn mit großer Leutsee¬ ligkeit wieder in lateinischer Sprache, ob er katholisch sey oder sich zur Augspurgischen Kon¬ fession bekenne, und als Reiser das letztere be¬ jahte, so antwortete ihm der Praͤlat fast mit seinen eigenen Worten wieder: es thaͤte ihm zwar leid, daß Reiser vom widrigen Gluͤck um¬ hergetrieben sey, doch saͤhe er noch kein Mittel, wie er gerade auf dieser Universitaͤt Unterstuͤ¬ tzung finden wuͤrde? Indes wolle er ihm die Hoffnung nicht dazu benehmen. Hierauf fragte er nach Reisers Geburtsort, und da dieser Hannover nannte, so fuhr der Praͤlat fort: er gaͤbe ihm den Rath sich an den Doktor Froriep zu wenden, weil dieser gewisser¬ maßen sein Landsmann sey. Bei dem moͤchte er sich also melden, und dann wieder zu ihm kommen. Mit diesen Worten druͤckte er Rei¬ sern ein Stuͤck Silbergeld in die Hand, und fuͤgte hinzu: er moͤchte mit diesem kleinen Mit¬ tagsmahl vorlieb nehmen. Wenn ja etwas den Muth des Zerschlagenen wieder aufrichten, und den voͤllig Gesunkenen von der Verzweiflung retten kann, so ist es die Mine und der Ton, womit der Praͤlat Guͤn¬ G 2 ther damals Reisers Bitte beantwortete, und ihm seinen Rath ertheilte. Von dieser Behandlung beinahe bis zu Thraͤnen geruͤhrt, eilte Reiser fort, und glaubte zu traͤumen, da er wieder draussen vor der Thuͤre stand, sein Stuͤck Geld besahe und sich auf einmal wieder im Besitz von einem halben Gulden sahe; da es ihm kurz vorher noch an einem Dreier fuͤr ein Nachtlager fehlte. — Dieser halbe Gulden duͤnkte ihm jezt ein unschaͤtz¬ barer Reichthum, und war es auch wuͤrklich fuͤr ihn, weil er ihm wieder den Muth einfloͤßte, woran sein ganzes Schicksal hing. Er ging nun nach einem Speisehause, und genoß zum erstenmale wieder warmes Essen. Gleich nach Tische aber erkundigte er sich nach der Kaufmannskirche, bei welcher der Doktor Froriep wohnte. Er traf ihn gerade, da er eben um zwei Uhr des Nachmittags ein Kolle¬ gium lesen wollte, und redete ihn auf eine aͤhn¬ liche Weise, wie den Abt Guͤnther, lateinisch an. Da der Doktor Froriep von Reisern hoͤrte, daß er aus Hannover sey, nahm er ihn außer¬ ordentlich freundlich auf, und fuͤhrte ihn mit sich in seinen Hoͤrsaal, wo die Studenten schon mit den Huͤten auf den Koͤpfen saßen, welches fuͤr Reisern ein ganz ungewohnter Anblick war; um so vielmehr, da er merkte, daß man sich uͤber ihn aufhielt, weil er nicht auch bedeckt blieb. Er sahe sich also nun auf einmal in Erfurt, in dem Hoͤrsaale eines Professors, mitten unter Studenten sitzen, da er am Morgen eben dieses Tages noch weiter nichts als das offne Feld, das er durchwanderte, zu seinem Aufenthalt vor sich sahe. Der Doktor Froriep las Kirchengeschichte, wobei auch manche lustige Anekdote mit unter¬ lief, die das Auditorium aufmunterte, und von den Musensoͤhnen oft mit einem schallenden Ge¬ laͤchter begleitet wurde. Dieß alles war Rei¬ sern noch wie ein Traum. Er erinnerte sich an die Jahre seiner Kindheit, wo ihm der Hoͤrsaal der Schule schon heilig war, und itzt fand er sich auf einmal in einem akademischen Hoͤrsaale, uͤber dem nun nichts Hoͤhers mehr war. Als das Kollegium zu Ende war, nahm der Doktor Froriep Reisern mit sich auf seine Stube, und fragte ihn um seine Geschichte. G 3 der er nun die neue Wendung gab, daß er sich in Hannover durch eine Schrift, die uͤbel aus¬ gedeutet sey, den Haß eines vornehmen Man¬ nes zugezogen, und von dort habe weggehen muͤssen. — Da er nun weiter keine Aussicht gehabt, so sey er auf die Gedanken gekommen sich dem Theater zu widmen, nach reiflicher Ueberlegung aber habe er diesen Entschluß fah¬ ren lassen, weil er wohl einsehe, daß er sich auf immer fuͤr die Zukunft durch diesen Schritt schaden wuͤrde; und darum habe er nun ge¬ dacht, sich in Erfurt aufs neue dem Studiren zu widmen. Nun war es merkwuͤrdig, wie Reiser diese Luͤge, die er sich waͤhrend dem Kollegium des Doktor Frorieps ausgedacht, sich selbst, ehe er sie sagte, in Wahrheit zu verwandeln suchte, und wie jesuitisch er dabei sich selber taͤuschte. Er suchte sich nehmlich in seinen Gedanken zu uͤberzeugen, daß er nun wirklich die Thorheit seines Unternehmens vollkommen einsehe, und daß er nun ganz freiwillig seinen Entschluß geaͤndert habe, und fest bei diesem Vorsatz blei¬ ben wuͤrde, wenn sich ihm auch gleich jetzt die beste Gelegenheit, den Schauplatz zu betreten von selbst darboͤte. Und was die erste Haͤlfte seiner Luͤge anbe¬ traf, so suchte er sich einzubilden, daß in seiner Rede, die er an der Koͤnigin Geburtstage ge¬ halten, wirklich einige verfaͤngliche Stellen waͤ¬ ren, die wohl jemand zu seinem Nachtheil aus¬ gedeutet haben koͤnnte. Ob dieß nun wirklich geschehen sey, das beruͤhrte er nun nicht weiter, sondern beruhigte sich dießmal bei der Moͤglich¬ keit, weil er sich nicht anders zu helfen wußte. Denn er durfte nicht sagen, daß er aus Nei¬ gung zum Theater aus Hannover gegangen sey, wenn sein Trieb zum Studiren wahrscheinlich bleiben sollte, und die Duellgeschichte paßte hier auch nicht her. Der Doktor Froriep schien ihm zwar nicht recht zu glauben, allein er faßte eine hoͤhere Idee von Reisern, als dieser erwarten konnte, lndem er ihn fuͤr einen Sohn angesehener Eltern hielt, mit denen er sich entzweiet habe, und de¬ ren Nahmen er nur verschwiege. Reiser fand es fuͤr sich schmeichelhaft, daß man eine solche Meinung von ihm hegen konnte, die ihm um G 4 desto lieber war, weil sie auf die gefaͤlligste Art seine Luͤge zudeckte, indem der Doktor Froriep die Unwahrheit, welche er selbst nicht glaubte, doch am besten entschuldigte. Und was nun kam, war uͤber alle seine Er¬ wartung. — Der Doktor Froriep redete ihm zu, er moͤchte nur gutes Muthes seyn; er wolle fuͤrs erste Tisch und Wohnung fuͤr ihn besorgen. Reiser der am Morgen eben dieses Tages sich noch von aller Welt verlassen sahe, trauete den troͤstenden Worten kaum, die er jetzt vernahm, und glaubte in dem Doktor Froriep in dem Au¬ genblick seinen Schutzengel vor sich zu sehen. — Dieser schrieb ihm nun ein paar Zeilen, wo¬ mit er am andern Morgen wieder zu dem Abt Guͤnther gehen sollte, der ihn auf Frorieps Bitte, umsonst als Student immatrikuliren wuͤrde. Ein so gluͤcklicher Wechsel des Schicksals ver¬ setzte Reisern in einen Zustand, der ihn aller seiner Widerwaͤrtigkeiten vergessen machte, so daß ihn seine Wanderung auf das Ungewisse gar nicht mehr gereuete, da sie ihn einen solchen Zeitpunkt erleben ließ, von dem sich wohl nie¬ mand eine vollkommne Vorstellung machen kann, der nicht auch einmal in seinem Leben von aller Huͤlfe entbloͤßt, und an Koͤrper und Seele ge¬ laͤhmt ohne Aussicht und ohne Hoffnung war. In der Freude seines Herzens eilte er in den Gasthof, wo er die Nacht bleiben wollte, ließ sich Papier holen, und fing an, seine eigenen Gedichte, die er auswendig wußte, nacheinan¬ der wieder aufzuschreiben, um sie am andern Tage dem Doktor Froriep zu bringen, und sich dadurch einigermaßen seiner Aufmerksamkeit werth zu zeigen. Er schrieb bis in die Nacht, und wurde mit einigen Heften fertig. Am andern Morgen fruͤh stieg er nun wieder voll ganz anderer Ge¬ danken, als gestern, den Petersberg hinauf; und der gutmuͤthige Abt Guͤnther freute sich, ihn wieder zu sehen, gewaͤhrte ihm gern seine Bitte, und fertigte ihm sogleich die Matrikel aus, wobei er ihm die akademischen Gesetze ge¬ druckt uͤbergab, und deren Befolgung durch einen Handschlag sich angeloben ließ. Diese Matrikel, worauf stand: Universitas perantiqua , die Gesetze, der Handschlag, waren G 5 fuͤr Reisern lauter heilige Dinge, und er dachte eine Zeitlang, dieß wolle doch weit mehr sagen, als Schauspieler zu seyn. Er stand nun wieder in Reihe und Glied, war ein Mitbuͤrger einer Menschenklasse, die sich durch einen hoͤhern Grad von Bildung vor allen uͤbrigen auszuzeich¬ nen streben. Durch seine Matrikel war seine Existenz bestimmt: kurz er betrachtete sich, als er wieder vom Petersberge hinunterstieg, wie ein anderes Wesen. Gegen Mittag zeigte er dem Doktor Froriep die erhaltene Matrikel vor, und brachte ihm zu¬ gleich seine Gedichte, die dießmal weit mehr Gluͤck machten, als er erwartet hatte. In Er¬ furt war nehmlich das Studium der schoͤnen Wissenschaften unter den Studenten noch etwas seltenes, und dem Doktor Froriep war es lieb, einen mehr zu haben, der in diesem Fache den andern einigermaßen zum Beispiel diente. Diese Gedichte bewuͤrkten also, daß Reisers neuer Goͤnner sich nun noch weit mehr fuͤr ihn interessirte, und ihn keine Nacht mehr im Gast¬ hofe ließ, sondern sogleich dem Universitaͤtsquar¬ tiermeister, der zugleich Fechtmeister war, den Auftrag gab, ihm ein Logis zu verschaffen. Dieser quartierte ihn dann fuͤrs erste bei einem alten Studiosus Medicinaͤ ein, welcher bei ihm im Hause wohnte, und weil er zugleich die Be¬ sorgung des Freitisches fuͤr die Studenten hatte, so zog er ihn fuͤrs erste an seinen eigenen Tisch. Bei diesen gluͤcklichen Umstaͤnden wurde nun Reiser wieder auf manche Stunde lang, der un¬ gluͤcklichste Mensch von der Welt, weil ihn seine Erziehung, und der Kummer von seinen Schul¬ jahren druͤckten. Die Idee von den Freitischen, die er als Schuͤler hatte genießen muͤssen, lag wie eine Last auf ihm, und er fuͤhlte sich im Grunde weit ungluͤcklicher, wie er nun an den Tisch des Fechtmeisters gehen sollte, als wie er auf dem Felde zwischen Gotha und Eisenach rohe Wurzeln aß. Dieß machte, daß er bei den Studenten, welche auch mit ihm bei dem Fechtmeister aßen, fuͤr einen timiden und bloͤden Menschen gehalten wurde; und da sein Wirth, der mit Studenten nach ihrer Art umging, auch nicht viel Um¬ staͤnde mit ihm machte, so wurde dadurch sein Zustand noch unertraͤglicher; er schien sich auf einmal aus der unbegrenzten Freiheit in die nie¬ dertraͤchtigste Abhaͤngigkeit wieder versunken zu seyn. Ohngeachtet seines scheuen Wesens aber war man schonend gegen ihn, und dieß hatte er wie¬ derum seinen aufgeschriebenen Gedichten zu dan¬ ken, wovon der Doktor Froriep zu verschiede¬ nen Leuten gesprochen hatte, und die ihm, ohne daß er selbst es wußte, unter den Studenten in Erfurt schon einen gewissen Nahmen gemacht hatten, so daß man nun sein sonderbares We¬ sen auf Rechnung seiner Dichtergabe schrieb. Es fehlte ihm nun gaͤnzlich an Waͤsche, und haͤtte er einiges Zutrauen zu den Menschen ge¬ habt, so haͤtte er auch itzt diesen Mangel sehr leicht ersetzen koͤnnen. Allein es war ihm un¬ moͤglich diesen Mangel zu gestehen, der ihm am druͤckendsten war, und im Grunde seine meiste Traurigkeit verursachte, die er aber immer selbst auf etwas anders schob, woruͤber er zu trauren gegen sich selbst affektirte, weil ihm der Mangel an Waͤsche ein zu kleiner und unpoetischer Ge¬ genstand schien. Der Fechtmeister wieß ihm nun ein bleiben¬ des Quartier bei einem Studenten Nahmens R. . . an, bei dem er auch auf der Stube woh¬ nen mußte, und der sogleich eine Wochenschrift mit ihm gemeinschaftlich herausgeben wollte, weil er sich von Reisers Dichter- und Schrift¬ stellertalent schon große Vorstellungen gemacht hatte. Reiser dachte auch bald einen Plan zu einer Wochenschrift aus, welche sich mit einer Satyre auf diese Art Schriften anheben, und die lezte Wochenschrift heissen sollte; als aber sein neuer Stubengenosse merkte daß er kein Geld bei sich fuͤhre, und auch keine sehr be¬ stimmte Aussicht habe, welches zu erhalten, fing er an ziemlich kalt gegen ihn zu werden, und rieth ihm fuͤrs erste seinen Degen zu verse¬ tzen, welches Reiser that, und nun auf einmal wieder freundlichere Blicke erhielt. Denn der Hr. N. . ., der ein sehr ordentlicher Mann war, wollte bei ihrer beiderseitigen litterarischen Unternehmung nicht gerne Auslagen machen. Sie gingen nun beide hin zu einem Buch¬ drucker in Erfurt, Nahmens G. . . und brach¬ ten den Plan ihrer neuen Wochenschrift zum Vorschein: Dieser stellte ihnen aber sehr nach¬ druͤcklich vor, wie mißlich ein solches Unterneh¬ men, und wie viel sicherer es sey, seine Auf¬ saͤtze in ein Blatt zu geben, welches schon ein¬ mal bekannt und vom Publikum beliebt waͤre, wie z. E. die Wochenschrift der Buͤrger und der Bauer, welche er selbst herausgab, und die von Betteljungen in den Bierhaͤusern in Erfurt herumgetragen wurde. Das war also eben der Buͤrger und Bauer, den Reiser auf seiner ersten Wanderung bei dem Jaͤger nicht weit von Muͤhlhausen vorgefunden hatte, und zu dessen Mitarbeiter er nun nebst seinem Stubengenossen von dem Verleger und Herausgeber erwaͤhlt wurde. Beide mußten nun den Abend bei dem Buchdrucker speisen, und es wurden Rettig und eine Art sehr harter laͤnglichter kleiner Kaͤse, die in Erfurt gewoͤhn¬ lich sind, aufgetragen, wovon die beiden Mit¬ arbeiter unaufhoͤrlich aßen, waͤhrend daß die Frau des Buchdruckers manchmal darzu sehr sauer sahe. Der erste Aufsatz, den nun der Student R. . . in die Wochenschrift der Buͤrger und der Bauer lieferte, war eine prosaische Nachah¬ mung von dem Beatus ille des Horaz. Und der erste Aufsatz von Reiser, war sein steifes Ge¬ dicht uͤber die Welt, das er schon in Hannover auf der Schule gemacht hatte. Da nun aber fuͤr diese Aufsaͤtze weiter kein Honorar erfolgte, und der Plan des Studenten R... durch eine Wochenschrift, die er mit Reisern herausgeben wollte, ein Ansehnliches zu gewinnen, auf die Weise ins Stecken gerieth, so hatte auch Reiser weiter kein Interesse mehr fuͤr ihn; welches ihm nicht zu verdenken war, da Reiser wegen seiner Melancholie, die vor¬ zuͤglich bei ihm aus dem Mangel an Waͤsche, und nun auch wieder von dem schlechten Zustan¬ de seiner Schuhe entstand, nur ein trauriger Gesellschafter seyn konnte. Der Student R... suchte also Reisern nach Verlauf von acht Tagen, die er bei ihm ge¬ wohnt hatte, schon wieder in einem andern Lo¬ gis unterzubringen. — Dieß war auf der Kirschlache, in der Wohnung eines Brauers, wo noch ein Student logirte, und der Sohn im Hause ebenfalls die Schule besuchte. Hier bekam Reiser nun wiederum kein Zim¬ mer fuͤr sich allein, sondern mußte, so wie der andre Student mit der Familie zusammenwoh¬ nen. — Das Haus aber hatte eine angenehme Lage — es stand in einer Reihe kleiner Haͤuser, vor denen ein schmales Gewaͤsser vorbeifließt, dessen diesseitiges Ufer mit Baͤumen bepflanzt ist. Es war also keine ganz eingeengte Straße, sondern das voruͤberfließende Wasser, und selbst die Kleinheit der Haͤuser trugen dazu bei, dieser Gegend der alten Stadt ein freies laͤndliches Ansehn zu geben. Hinter dem Hause war gleich die alte Stadt¬ mauer, von welcher man die Aussicht nach dem Kartheuserkloster hatte. Die Mauer war oben zum Theil mit Gras bewachsen, und an ver¬ schiedenen Orten halb eingefallen, so daß man bequem hinaufsteigen, und alsdann die große Plaͤne von Gaͤrten, womit Erfurt noch innerhalb seiner Mauren umgeben ist, uͤbersehen konnte. Waͤhrend dieser Zeit erhielt nun Reiser auch den ordentlichen Freitisch von der Universitaͤt, und die Idee des ruhigen Bleibens behielt nun auf einmal wieder so sehr bei ihm die Oberhand, daß daß er jetzt, da er neunzehn Jahr alt war, an seinen Freund in H. . . . schrieb, er hoffe und wuͤnsche nunmehr den Rest seiner Tage in Er¬ furt zu beschließen. Seine lernende Laufbahn sollte nehmlich hier unmittelbar in die lehrende uͤbergehn, und so sollte daß Ziel aller seiner Wuͤnsche und Hoff¬ nungen dann erreicht seyn. — Auf alles uͤbrige Glaͤnzende glaubte er nun Verzicht gethan zu haben, und alle die schimmernden Theaterphan¬ tasien schienen auf eine Zeitlang aus seinem Kopfe verschwunden zu seyn. Er war nun doch auf einmal in eine neue Welt versetzt, und hatte gegen seinen Aufent¬ halt in H. . . . immer erstaunlich viel gewonnen. Wenn er auf den Waͤllen von Erfurt um die Stadt spatzieren gieng, so fuͤhlte er lebhaft, daß er durch eigne Anstrengung sich aus seinem uneretaͤglichen Zustande gerissen, und seinen Standpunkt in der Welt aus eigner Kraft ver¬ aͤndert hatte. Wenn er dann die Glocken von Erfurt laͤuten hoͤrte, so wurden allmaͤlig alle seine Erinnerun¬ gen an das Vergangene rege — der gegenwaͤr¬ 4ter Theil . H tige Moment beschraͤnkte sein Daseyn nicht — sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war. Und dies waren die gluͤcklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Daseyn erst an¬ fing ihn zu interessiren, weil er es in einem ge¬ wissen Zusammenhange, und nicht einzeln und zerstuͤckt betrachtete. Das Einzelne, Abgerissene und Zerstuͤckte in seinem Daseyn, war es immer, was ihm Ver¬ druß und Ekel erweckte. Und dieß entstand so oft, als unter dem Druck der Umstaͤnde seine Gedanken sich nicht uͤber den gegenwaͤrtigen Moment erheben konn¬ ten. — Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken, und nicht der Muͤhe des Denkens werth. — Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gaͤnz¬ liches Vergessen seiner Selbst wuͤnschen — ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten, fort — und er konnte sich nie erklaͤren, warum er in diesem Augenblicke lebte. Im Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige — er uͤbersah das Leben immer mehr im Ganzen — die Ortsveraͤnderung war noch neu — seine Einbildungskraft war durch das Immerwie¬ derkehrende noch nicht gefesselt. — Dies Immerwiederkehrende in den sinnli¬ chen Eindruͤcken scheint es vorzuͤglich zu seyn, was die Menschen im Zaum haͤlt, und sie auf einen kleinen Fleck beschraͤnkt. — Man fuͤhlt sich nach und nach selbst von der Einfoͤrmigkeit des Kreises, in welchem man sich umdreht, un¬ widerstehlich angezogen, gewinnt das Alte lieb, und flieht das Neue — Es scheint eine Art von Frevel, aus dieser Umgebung hinauszutreten, die gleichsam zu einem zweiten Koͤrper von uns geworden ist, in welchen der erstere sich ge¬ fuͤgt hat. Reisers Wohnung auf der Kirschlache schien auch gerade dazu gemacht zu seyn, um seine Ein¬ bildungskraft aufs neue wieder zu fesseln. Die Aussicht uͤber die Gaͤrten nach dem Karthaͤuserkloster hin hatte nehmlich so etwas Romantisches, das Reisern unwiderstehlich an¬ H 2 zog, und seine Blicke auf jenen stillen Sitz der Einsamkeit heftete, nach welcher er eine heim¬ liche Sehnsucht empfand. — Da das Gebaͤude seiner Phantasie geschei¬ tert war, und er die geraͤuschvollen Weltscenen weder im wirklichen Leben, noch auf dem Thea¬ ter hatte durchspielen koͤnnen, so fiel er nun, wie es gemeiniglich zu geschehen pflegt, mit sei¬ ner ganzen Empfindung auf das andere Extrem. Ganz von der Welt vergessen, von Men¬ schen abgeschieden, in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reiz fuͤr ihn — und diese Abgeschiedenheit er¬ hielt in seinen Gedanken einen desto hoͤhern Werth, je groͤßer das Opfer war, das er brachte. — Denn das worauf er Verzicht that, waren seine liebsten Wuͤnsche, die in sein We¬ sen eingewebt schienen. — Die Lampen und Kulissen, das glaͤnzende Amphitheater war verschwunden, die einsame Zelle nahm ihn auf. — Die hohe Mauer welche das Karthaͤuserklo¬ ster umschließt, das Thuͤrmchen auf der Kirche, die einzelnen Haͤuschen, die innerhalb der Mauer in einer Reihe nacheinander stehn, und wovon jedes durch eine Mauer vom andern ab¬ gesondert, ein eigenes Fleckchen zum Garten hat; dieß alles macht einen sehr interessanten Anblik, und diese Hoͤhe der Mauer, diese ein¬ zelnen Haͤuser, und diese Gaͤrtchen dazwischen, bezeichnen sehr auffallend und bedeutend die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Bewohner dieses Orts. So oft die Glocke auf dem Thuͤrmchen an¬ gezogen wurde, toͤnte sie in Reisers Ohren, wie die Sterbeglocke aller irrdischen Wuͤnsche und Aussichten, in die Zukunft dieses Lebens. — Denn hier war nun das Ziel von allem — nie durfte der Fuß des Eingeweihten wieder aus dem Bezirk dieser Mauren treten — er fand hier seine immerwaͤhrende Wohnung, und sein Grab. — Das Gelaͤute der Karthaͤuser wird noch mehr durch die Art mit der es geschieht, und durch seine Langsamkeit traurig und melan¬ cholisch. — So wie nehmlich die Karthaͤuser sich auf dem Chor versammlen, thut jeder nach der H 3 Reihe einen Zug an der Glocke, und nimmt darauf seinen Platz ein, bis alle, vom Aeltesten bis zum Juͤngsten hereingetreten sind. Nun horchte Reiser auf den Schall dieser Glocke zuweilen in der stillen Mittagsstunde, zuweilen um Mitternacht, oder bei fruͤhem Morgen, und jedesmal erneuerte sich der Ein¬ druck davon so lebhaft in seinem Gemuͤthe, daß immer das ganze Bild der Einsamkeit und Stille des Grabes mit erwachte. — Es kam ihm vor, als ob diese abgeschiede¬ nen Menschen ihren eigenen Tod uͤberlebten, in ihren Graͤbern umherwandelten, und sich ein¬ ander die Haͤnde reichten. — Mit dieser Idee wurde er nach und nach so vertraut, und sie wurde ihm so lieb, daß er sie manchmal um die angenehmsten Aussichten in das Leben nicht haͤtte vertauschen moͤgen. Er hatte nun auch wieder einen Brief von Philipp Reiser aus Hannover erhalten, der eben so, wie ehemals die Gespraͤche desselben, statt einer besondern Theilnehmung an seines Freundes Schicksale, eine etwas weitlaͤuftige Schilderung seiner damaligen Liebe enthielt, und wie weit er nun schon in dieser Liebe gekom¬ men sey, und was ihm noch fuͤr Hindernisse im Wege staͤnden. Demohngeachtet trug Reiser diesen Brief bestaͤndig bei sich, und las ihn zum oͤftern durch, weil Philipp Reiser doch sein einziger Freund war. Ohnweit der Kirschlache war ein angeneh¬ mer Spatziergang, wo zwischen gruͤnem Ge¬ buͤsch im Thale sich ein klarer Bach ergoß. — Die Aussicht war rund umher gehemmt, und man befand sich in einer reizenden Einsamkeit. — Hier brachte Reiser manche Stunde auf dem gruͤnen Rasen am Ufer des Baches zu, und dachte uͤber sein Schicksal nach, und wenn er zu denken muͤde war, so las er den Brief seines Freundes durch, den er, so wenig ihn auch der Inhalt interessirte, am Ende fast auswendig lernte — denn er hatte doch einmal nichts zu lesen, was ihm naͤher gewesen waͤre, als dieser Brief. Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebuͤrtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstaͤdte vertauscht — und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, H 4 wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt, und die ersten Eindruͤcke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte. Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre, und verdoppelte sich in ihm, wenn er in dem Thal am Bache saß, und seinen Brief las, der ihm denn sein ganzes We¬ sen wieder in Erinnerung brachte. Darum war ihm unter den Studenten auch O. . . . so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am oͤftersten von ihm unterredete. Dieser O. . . . war damals ein junger lie¬ benswuͤrdiger Schwaͤrmer, vor seiner Phanta¬ sie schwebte noch der jugendliche Lebensreiz, und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefuͤhle — zu¬ weilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefuͤhl¬ volles Herz. An ihm fand Reiser seinen Mann, und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Karthaͤuserkirche gieng; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut, hereinzugehen. Sie hatten sich unterwegens von der Nich¬ tigkeit und Kuͤrze des Lebens unterhalten, wo¬ bei zu bemerken ist, daß Reiser damals neun¬ zehn und O. . . . zwanzig Jahr alt war, und wusten nicht, was sie mit dem Rest ihrer Tage anfangen sollten, als sie in dem Kloster anlang¬ ten, und in die Kirche traten, welche schon durch ihre leeren weißen Waͤnde, und den ein¬ samen Chor die Stille des Grabes predigte. Die Kirche wird nehmlich außer den Kar¬ thaͤusern selber fast von niemand besucht, und weil keine Gemeinde dazu gehoͤrt, so ist hier weder Kanzel noch Stuͤhle oder Baͤnke, sondern nichts als die leeren Waͤnde und der flache Bo¬ den, welches dieser Kirche, bei dem daͤmmern¬ den Lichte, das von oben durch die Fenster faͤllt, ein sehr ernstes und melancholisches Ansehn giebt. O. . . . und Reiser knieten ganz allein an ei¬ nem Pult vor dem Chore, als die weißgeklei¬ deten Moͤnche einer nach dem andern hereintra¬ ten, und jeder sich buͤckend seinen Zug an der Glocke that. H 5 Sie setzten sich an ihre Pulte auf dem Chor und stimmten ihren Bußgesang in tiefen, trau¬ rigen Toͤnen an — bald standen sie auf und sangen Hymnen, die traurig zuruͤck erschallten; dann fielen sie auf ihr Angesicht, und flehten in tiefen klagenden Toͤnen um Erbarmung. — Ganz an den einem Ende des halben Zir¬ kels stand ein Juͤngling mit blassen Wangen von ausnehmend schoͤner Bildung. — Reiser konnte seine Augen nicht von den seinigen wenden, die er andachtsvoll gen Himmel schlug. — O. . . . kannte diesen Ungluͤcklichen, der in den Orden der Karthaͤuser getreten war, weil der Blitz seinen Jugendfreund an seiner Seite erschlagen hatte — und Reisern schwebte das Bild dieses Juͤnglings von nun an bestaͤndig vor der Seele. — Halbe Tage brachte er auf der alten Mauer hinter seiner Wohnung zu, und sehnte sich in den Bezirk jener stillen Mauren hin, die seiner Meinung nach eine ganze Welt mit allen ihren Taͤuschungen und Blendwerken ausschlossen. — Mit jenem Juͤngling wollte er dort verbluͤ¬ hen, und dem Grabe zuwelken — dort wollte er selber sein einsames Gaͤrtchen bauen, — den sanften Strahl der Abendsonne in seiner Zelle begruͤßen — und allen irrdischen Wuͤnschen und Hoffnungen entnommen mit Ruhe und Heiter¬ keit dem Tode entgegen sehen. In dieser Stimmung machte er nun auf den alten eingefallnen Mauern hinter seiner Woh¬ nung, folgendes Gedicht: Du stille geweihte Behausung, des Grabes ruͤhrendes Vorbild, Welch eine geheime Empfindung heftet mein Auge voll Thraͤnen, Auf deine einsamen Huͤtten? Ehrwuͤrd'ger Greis, du Bewohner Des Orts der Stille und der Andacht, Heil dir! vom leeren Gewimmel Der gaukelnden Eitelkeit fern, und fern vom Geraͤusche des Stolzes, Kannst du mit eignen Haͤnden dein einsames Gaͤrtchen dir bauen, Und deine Seele, die oft, mit edlem Unwil¬ len strebet, Aus ihrem Kerker zu fliehen, mit jedem kom¬ menden Tage, Dem Himmel wuͤrdiger machen — Heil dir! genieße die Seegen Der goͤttlichen Einsamkeit ganz, daß dein von Erdegedanken Schon lang entwoͤhnter Geist, in Engelge¬ fuͤhlen zerfliesse Und zu seinem ewigen Ursprung sich jauchzend emporschwinge — herrlich, O Greis, war so das Loos deiner Tage! Du aber, den Jahre, Voll Kummer des Lebens durchlebt, noch nicht die sinkende Scheitel Bereisten, ruͤst'ger Mann, und du starker, bluͤhender Juͤngling, Der, fuͤr die Freuden des Lebens, die einsa¬ me Zelle sich waͤhlte; O warst du vielleicht das Ziel der Verachtung des hoͤhnenden Stolzes? Betrog dich vielleicht ein falscher Freund? oder fuͤhltest du lebhaft, Wie alle die Wuͤnsche der Menschen und ihre Hoffnungen alle So nichtig und doch so stolz sind? War's ver¬ bitternder Ekel Vor diesen schaalen unschmackhaften Freuden des Lebens, der dir einst Den blumigten Schauplatz der Welt zur trau¬ rigen Einoͤde machte; Dann wohl auch dir! daß du eine sichere Freistadt vor allen Den list'gen Raͤnken der Bosheit fand'st, und vor dem Geraͤusche Der Thoren, und vor der Verfuͤhrung des schoͤn gleißenden Lasters, Und vor des Lebens betruͤglichen Freuden fand'st! — Doch was seh ich? Im Aug' eine stumme Zaͤhre, zittert langsam die Wange Des Juͤnglings herab, der abgehaͤrmt und bleich sein gebrochnes, Hinsterbendes Leben verweinet, und wie die lechzende Blume In schwuͤlen Tagen dahinwelkt.— Der du im geheiligten Kerker, Von keinem Strahl erquickt, aus Zwang oder Unbedacht schmachtest, O weine, Juͤngling, weine! Dein Gott ver¬ giebt dir die Zaͤhren, Die der unschuldige Wunsch der Natur aus der Seele dir preßte! O koͤnnt' ich doch meine Thraͤnen mit deinen Thraͤnen vermischen, Und sanften lindernden Trost in deine Seele hinweinen! Sanftlaͤchelnd geht die Sonn' am Fruͤhlings¬ abend dir unter, Noch roͤthet ihr letzter Strahl mitleidig dein einsames Fenster, Du legst dich hin auf dein Lager, und traͤumst von kuͤnftigen Tagen, Voll glaͤnzender Aussichten, schwimmst in Wonnegefuͤhlen, verlierst dich In Labyrinthen von Freuden, erwachst vom gluͤcklichen Schlummer, Und siehest — ach, deiner traurigen Zelle oͤde vier Waͤnd', und Kein Strahl von Hoffnung laͤchelt hinein — o saͤuselt Zephire Um dieses Juͤnglings Haus, liebkoset und trocknet mitleidig Vom Aug' die Zaͤhr' ihm! Bluͤhet ihr Blu¬ men, in seinem Garten, Und um seine Fenster erschalle, dein troͤsten¬ des Lied, Philomele! Bis der Allliebende einst, von des Lebens quaͤlenden Banden Die leidende Seele befreit, dann wirst du voll zaͤrtlicher Wehmuth, Noch oft in durchthaueten Naͤchten um seine Grabstaͤtte klagen. Reiser war wirklich so mit ganzer Seele bei den Karthaͤusern, daß er anfing im Ernst darauf zu denken, wie er auch so abgeschieden von der Welt seine Tage zubringen koͤnnte, und dann von allem was ihn druͤckte, von seinen Wuͤn¬ schen und Begierden, die ihn quaͤlten, auf ein¬ mal und auf immer befreit seyn wuͤrde. — Als er schon einige Tage in diesen Gedanken vertieft gewesen war, kam O. . .. . zu ihm und sagte, daß die Studenten in Erfurt willens waͤren eine Komoͤdie zu spielen, und daß einige Rollen noch unbesetzt waͤren. — — Diese Anrede wirkte so maͤchtig auf Reisers Phantasie, daß auf einmal das Karthaͤuserklo¬ ster mit seinen hohen Mauren tief im Hinter¬ grunde stand, und die Kulissen mit den Lich¬ tern sich ploͤtzlich wieder vordraͤngten; da nun O. . . . uͤberdem noch hinzufuͤgte, daß man da¬ mit umgehe, in dem Stuͤcke, das man aufzu¬ fuͤhren Willens sey, Reisern eine Rolle anzu¬ tragen; so war vollends jeder ernste und me¬ lancholische Gedanke, wie verschwunden. Das Stuͤck nehmlich, was die Studenten in Erfurt auffuͤhren wollten, hieß Medon oder die Rache des Weisen, und man koͤnnte davon sagen, daß es die ganze Moral in sich enthielt, so erstaunlich viel Tugend wurde von allen Per¬ sonen darin gepredigt. In diesem Stuͤcke nun sollte Reiser die Rolle der Clelie, der Geliebten des Medon, uͤberneh¬ men, weil sich an seinem Kinne noch die wenig¬ ste Spur von einem Barte zeigte, und weil auch seine Laͤnge als Frauenzimmer eben nicht auffiel, da der, welcher den Medon spielte, von einer fast riesenmaͤßigen Groͤße war. Ohngeachtet der auffallenden Sonderbar¬ keit dieser Rolle, konnte Reiser dennoch seinem Hange, das Theater auf irgend eine Weise zu betreten nicht widerstehen, um so weniger, da sich ihm die Gelegenheit dazu, so ganz unge¬ sucht und von selbst darbot. Waͤhrend der Zeit hatte nun der Doktor Froriep nach Hannover geschrieben, und sich wegen Reisers Auffuͤhrung bei seinem ehemaligen Lehrer, Lehrer dem Rektor S. . ., wo er im Hause ge¬ wohnt hattte , erkundigt, und dieser hatte ihm ganz wider Reisers Vermuthen, ein Zeugniß gegeben, welches ihm bei dem Doktor Froriep noch weit mehr in Gunst brachte. Der Rektor S. . . hatte nehmlich geschrie¬ ben, daß man allerdings von den Anlagen die¬ ses jungen Menschen sich viel versprochen haͤtte. Und dieß war fuͤr den Doktor Froriep genug, um das Nachtheilige, was dieß Zeugniß enthielt, mit Schonung und Nachsicht zu betrachten, und sich nun Reisers mit verdoppeltem Eifer anzu¬ nehmen, um ihm, wo moͤglich, auch die Gna¬ de des Prinzen wieder zu verschaffen. Das Zeugniß selbst aber war auch schonend und nachsichtsvoll abgefaßt, ausgenommen einen Punkt, wo man Reisern, wegen seiner naͤcht¬ lichen Spatziergaͤnge, im Verdacht der Lieder¬ lichkeit gehabt hatte, und ihn also gerade einer Sache beschuldigte, wovon er am weitesten ent¬ fernt war, weil er schon durch das Druͤckende seines Zustandes, durch seine Selbstverachtung, und selbst durch seine Schwaͤrmereien davon ab¬ gehalten wurde. 4ter Theil . I Dann war sein Hang zum Theater, dasje¬ nige, worauf man nicht ohne Grund, seine uͤbrigen Unregelmaͤßigkeiten schob, und wodurch damals so viele junge Leute auf der Schule in H. . . . waren hingerissen worden. — Und gerade indem nun dieser Brief ankam, war Reiser schon wieder im Begriff mit den Studenten in Erfurt Komoͤdie zu spielen. — Der Doktor Froriep widerrieth es ihm zwar; da er aber sahe, wie sehr sein Herz daran hieng, sahe er ihm auch noch diese Thorheit nach, und entzog ihm daruͤber nichts von seiner Gunst. Die Vorbereitungen zu der Komoͤdie wur¬ den nun gemacht; Reiser lernte die Rolle der Klelie auswendig, und nun wurden haͤufige Proben gehalten, wodurch Reiser mit dem groͤ߬ ten Theil der Studenten in Erfurt bekannt wur¬ de, die sich alle gegen ihn sehr hoͤflich betrugen, und alle eine vortheilhafte Meinung von ihm hegten, wodurch er sich in eine Welt versetzt fand, die von derjenigen ganz verschieden war, worin er von Kindheit auf gelebt hatte. Zwischen diesen Komoͤdienproben versaͤumte nun Reiser nicht, des Doktor Frorieps Prediger kollegium fleißig zu besuchen. Dies bestand aus einer Anzahl Studenten, die sich in der Kauf¬ mannskirche, in Gegenwart des Doktor Fro¬ riep und der uͤbrigen Studenten, bei verschlo߬ nen Thuͤren, im Predigen uͤbten. Hier wuͤnschte nun Reiser ebenfalls auftreten zu koͤnnen, um seine Deklamation hier hoͤren zu lassen, und es war ihm immer eine der rei¬ zendsten Aussichten, wenn der Doktor Froriep ihm einmal verstatten wuͤrde, hier die Kanzel zu besteigen. Auch hatte er sich schon ein Thema ausgedacht, worin er die Schoͤnheiten der Na¬ tur, den Wechsel der Jahreszeiten mit poetischen Farben schildern, und mit den glaͤnzenden und schimmernden Aussichten in die Ewigkeit auf eine pathetische Weise seine Predigt beschließen wollte. Allein es kamen immer Hindernisse da¬ zwischen, daß ihm dieser Wunsch in Erfurt nicht gewaͤhrt wurde. So wie man nun an allem zweifelt, was man heftig wuͤnscht, so zweifelte er auch immer, ob die wirkliche Auffuͤhrung der Komoͤdie zu Stande kommen, und er seine Rolle darin be¬ halten wuͤrde. Dieser Wunsch wurde ihm J 2 dann gewaͤhrt. Er wurde mit aller Sorgfalt als Klelie geschmuͤckt. Die Lichter wurden an¬ gezuͤndet, der Vorhang rauschte empor, und er stand nun da vor einem zahlreichen Audito¬ rium, und spielte ganz unbefangen seine lange Rolle durch, ohne daß ihm ein einzigesmal das Unnatuͤrliche davon eingefallen waͤre, so sehr war er in dem Gedanken vertieft, daß er in ei¬ ner theatralischen Darstellung nun wirklich mit begriffen, und daß seine Mitwirkung in jedem Augenblick dazu nothwendig war. — Dieß Vertiefen in seinen Gegenstand machte, daß er sich selbst vergaß, und daß auch die Zu¬ schauer das Unnatuͤrliche der Rolle weniger be¬ merkten, und er uͤber sein Spiel sogar noch Beifall erhielt. Da er also nun den Schau¬ platz betreten hatte, und doch dabei Student blieb, so machte ihm dies doppeltes Vergnuͤgen, und er fuͤhlte sich in der Wiedererinnerung an diesen Abend ein paar Tage uͤber so gluͤcklich, daß ihm alles das, was ihm in den wenigen Wochen, die er nun in Erfurt zugebracht hatte, schon begegnet war, halb wie im Traume vorkam. Er ruͤckte nun auch in die Wochenschrift der Buͤrger und der Bauer von Zeit zu Zeit Gedich¬ te ein, wodurch sein Nahme als Schriftsteller unter den Erfurtischen Buͤrgern bekannt wurde. Dabei besorgte er Korrekturen fuͤr den Buch¬ drucker G...., und wurde durch diesen mit einem Gelehrten bekannt, den, bei den groͤßten Vorzuͤgen des Geistes und Herzens bis an seinen Tod, ein widriges Schicksal verfolgte, weil er durch den langwierigen ununterbrochenen Druck der Umstaͤnde, verlernt hatte, seinen Werth geltend zu machen, und gerade die Kraft, wo¬ durch er in der Welt festen Fuß fassen, und sei¬ nen Platz behaupten mußte, bei ihm ge¬ laͤhmt war. Dieser Doktor Sauer hatte fuͤr den Buch¬ drucker G.... eine Wochenschrift geschrieben, unter dem Titel Medon oder die drei Freunde, wovon ein Jahrgang herausgekommen war. Man sahe auch hieran, wie er mit dem Druck der Umstaͤnde hatte kaͤmpfen muͤssen; wie schwer es ihm mußte geworden seyn, eine Anzahl tri¬ vialer Aufsaͤtze niederzuschreiben, wobei noch J 3 immer die Funken des unterdruͤckten Genies hervorspruͤhten. So aber mußte er schreiben, und woͤchent¬ lich seinen Bogen liefern, um wiederum ein Jahr¬ lang von seinem muͤhseeligen Leben zu athmen. — Da nun die Wochenschrift aufhoͤrte, so war er genoͤthigt, wieder von Korrekturen sein Da¬ seyn zu erhalten. Und da er selber dramatische Ausarbeitungen von vielem Werth in seinem Pulte liegen hatte, die er nicht wagte, zum Vorschein zu bringen, mußte er fuͤr einen vor¬ nehmen Herrn in Erfurt, mit aller Sorgfalt und Korrektheit eines Kopisten ein Trauerspiel fuͤr Geld abschreiben, um mit dem Abschreiber¬ lohn wiederum einige Tage lang sein Leben zu fristen. Als Arzt verdiente er nichts: Denn er fuͤhl¬ te einen besondern Hang in sich, gerade den Leu¬ ten zu helfen, die der Huͤlfe am meisten beduͤr¬ fen, und denen sie am wenigsten geleistet wird. Und weil dieß nun gerade diejenigen sind, welche die Huͤlfe nicht zu bezahlen vermoͤgen, so gerieth der Arzt selber in große Gefahr zu verhungern, wenn er nicht Wochenschriften herausgegeben, Korrekturen besorgt, und Trauerspiele abge¬ schrieben haͤtte. Kurz, er ließ sich fuͤr seine Kuren nichts be¬ zahlen, und brachte auch dazu den armen Leu¬ ten noch die Arzenei ins Haus, die er selbst ver¬ fertigte, und das wenige was ihm uͤbrig oder nicht uͤbrig blieb, darauf verwandte. Weil er sich nun dadurch gleichsam weggeworfen hat¬ te, so hatten die Leute aus der großen und vor¬ nehmen Welt kein Zutrauen zu ihm; niemand zog ihn zu Rathe, und unter den meisten war sogar sein Nahme nicht einmal bekannt, ob er sich gleich als Arzt schon keine geringe Erfah¬ rung und Geschicklichkeit erworben hatte. Er hatte auch in diesem Fache schon eigene vortrefliche Ausarbeitungen geliefert, die aber das Ungluͤck hatten, sich unter der Menge zu verlieren, und eben so wie ihr Verfasser, von den Zeitgenossen nicht bemerkt zu werden. Und waͤhrend, daß er nun seine uͤbrigen medizini¬ schen Ausarbeitungen in seinem Pulte verschlos¬ sen hielt, mußte er die Schrift eines franzoͤsi¬ schen Arztes, der nach Erfurt kam, und besser, als der Doktor Sauer, sich wußte bemerken zu J 4 machen, ins Lateinische uͤbersetzen, um von dem Uebersetzerlohne zu leben, und fuͤr seine huͤlflo¬ sen und armen Kranken neue Arzeneimittel zuzu¬ bereiten. Der muͤßte ganz abgestumpft seyn, der diese Unwuͤrdigkeiten und Demuͤthigungen vom Schicksal nicht fuͤhlen sollte. Der Doktor Sauer machte eine laͤchelnde Mine dazu, allein im Innersten seiner Seele untergrub doch jede dieser Demuͤthigungen und Herabwuͤrdigungen seine Thatkraft, und laͤhmte seinen Muth. Wie konnte er seinem innern Werthe noch trauen, da die ganze Welt ihn verkannte. Wegen der Konnexion mit dem Buchdrucker G. . . . fuͤr welchen er die Korrekturen besorgte, gab er nun auch zuweilen Aufsaͤtze in die be¬ ruͤhmte Erfurtische Wochenschrift der Buͤrger und der Bauer; und da las Reiser einmal ein Gedicht von ihm, auf die freigewordenen Ame¬ rikaner, welches wohl verdient haͤtte, in einer Sammlung von den vorzuͤglichsten Poesien der Deutschen zu stehen, und nun in einem Blatte sich verlohr, das in den Bierhaͤusern von Erfurt feil geboten wurde. Es war als ob in diesem Gedichte sein un¬ terdruͤckter Geist alle sein Freiheitsgefuͤhl noch einmal ausgehaucht haͤtte, ein solcher Schwung und feurige Theilnehmung herrschte, in den Gedanken. Ganz entzuͤckt durch dies Gedicht konnte Reiser nicht ruhen, bis er die Bekanntschaft ei¬ nes so vorzuͤglichen Mitarbeiters an der Wo¬ chenschrift der Buͤrger und der Bauer gemacht hatte. Es hielt aber schwer, bis er diesen Wunsch erreichte, weil der Doktor Sauer eben keinen großen Hang in sich fuͤhlen konnte, sich noch ferner an irgend einen aus der Klasse von Wesen anzuschließen, die ihn gleichsam ausge¬ stoßen hatte. Indes fand sich doch ein Weg dazu, weil Reiser sein Studium der englischen Sprache auch in Erfurt fortgesetzt hatte, daß er sich er¬ bot, dem Doktor Sauer Englisch zu lehren, weil dieser schon einigemale den Wunsch geaͤußert hatte, mit dieser Sprache bekannt zu seyn. Dies Anerbieten wurde dann angenommen, und so erhielt Reiser Gelegenheit woͤchentlich wenigstens ein paarmal mit diesem Mann zu¬ J 5 sammenzukommen, an den er sich nun so nahe wie moͤglich anzuschliessen wuͤnschte. Bei dieser Gelegenheit wurde er nun immer offner gegen Reisern, und erzaͤhlte ihm von den mannichfaltigen Unterdruͤckungen, denen er von seiner Kindheit an, von seinen Anverwandten und von seinen Lehrern ausgesetzt war, und nach¬ her alle die Streiche des Schicksals nacheinan¬ der, die ihn bis in den Staub darniedergebeugt hatten; so daß Reiser im auffahrenden Unwil¬ len sich nicht enthalten konnte, die Verkettung haͤmisch zu nennen, worin ein denkendes und empfindendes Wesen gleichsam absichtlich so ein¬ geengt und gequaͤlt wird. Waͤhrend daß nun Reiser auf diese Art sei¬ nen Unwillen aͤußerte, verzog sich Sauers Mund zu einem sanften Laͤcheln, wodurch er freilich uͤber diesen Unwillen erhaben, aber auch zugleich von den irrdischen Banden schon geloͤßt war, und seiner baldigen vollkommnen Be¬ freiung ahndungsvoll entgegen sahe. — Sein Kampf war beinahe durchgekaͤmpft, er brauchte weiter keine widerstehende Kraft, keinen Trotz gegen das Schicksal. Demohngeachtet loderte die Lebensflamme noch manchmal wieder in ihm auf. Er hoffte zuweilen noch gluͤckliche Tage zu sehen, und hatte einen großen Eifer zur Erlernung des Eng¬ lischen, weil er sich von diesem seinem Studium viel versprach, um vorzuͤglich die in der engli¬ schen Sprache geschriebenen medizinischen Werke zu nutzen, und dann auch durch Uebersetzungen aus dem Englischen Geld zu erwerben. Dann bot sich ihm auch sogar eine kleine Aussicht zu einer Art von Versorgung in Er¬ furt dar — und dies war ihm nun schon eine sehr gluͤckliche Wendung, die er besonders sei¬ nem Ausharren zuschrieb. Wer in Erfurt zu etwas kommen wolle, pflegte er nun oft zu Rei¬ sern zu sagen, der muͤsse nur lange Zeit aushar¬ ren, und die Gedult nicht verlieren! so beschei¬ den und maͤßig war er in seinen Wuͤnschen, und so sehr war jeder Schimmer eines bessern Gluͤcks ihm schon aufmunternd. Er wußte nicht, daß alles aͤußere Gluͤck ihm nicht mehr helfen konnte, weil der Quell des Gluͤcks in ihm selber versiegt, und die Blume seines Lebens zerknickt war, so daß ihre Blaͤtter nothwendig welken mußten. Reiser fuͤhlte sich von einer solchen Theilneh¬ mung angezogen, als ob das Schicksal dieses Mannes sein eigenes, oder mit dem seinigen doch unzertrennlich verknuͤpft gewesen waͤre. Es war ihm als muͤßte dieser Mann noch gluͤcklich werden, wenn die Dinge in ihrem Gleise blei¬ ben sollten. Reisern trog aber diesmal, so wie nachher noch oft seine Ahndung, und sein Glaube an eine Entschaͤdigung fuͤr erlittenen Kummer, die nothwendig noch auf Erden statt finden muͤsse. — Sauer entschlummerte nach wenigen Jah¬ ren, ohne beßre Tage gesehn zu haben. Da ihn von außen das Gluͤck ein wenig anlaͤchelte, waren seine innern Kraͤfte zerstoͤrt; und er blieb unbemerkt und unbekannt bis an seinen Tod; so daß in der kleinen Gasse, wo er wohnte, seine naͤchsten Nachbaren, als man den Sarg hinaustrug, fragten: wer denn da begraben wuͤrde? Ein Grad des Nichtbemerktwerdens, der in einer so unbevoͤlkerten Stadt, wie Er¬ furt, hoͤchst auffallend ist. Die wenigen Tage nun, welche Reiser mit dem Doktor Sauer in Erfurt verlebte, waren fuͤr ihn hoͤchst wichtig, weil sie seiner Seele ei¬ nen gewissen neuen Anstoß gaben: Er rafte sich gegen alle die Unterdruͤckungen zusammen, wel¬ che jenen Geist so sehr hatten laͤhmen koͤnnen. Und der Unwille, den er daruͤber empfand, floͤßte ihm einen gewissen Trotz ein, auch dem Schwersten nicht zu unterliegen, und das ge¬ wissermaßen durch Widerstand zu raͤchen, was jener gelitten hatte. Sie waren eines Tages nach einem Dorfe vor Erfurt zusammen spazieren gegangen, und O.... war mit von der Gesellschaft. — Als sie gegen Abend zuruͤckkehrten, kamen sie an ein Gewaͤsser, das mit dickem Gebuͤsch umgeben war, und schwarz zwischen seinen Ufern hin¬ kroch. Hier blieb Sauer stehen, und suchte mit dem Stocke die Tiefe zu messen, die er aber nicht abreichen konnte. Er blieb stehen, und sahe mit untergeschlagenen Armen in das Wasser, und bemerkte die schwarze Flaͤche, und wie langsam fließend es dahin kroͤche. — Das Bild wie Sauer mit blassen Wangen, und untergeschlagenen Armen, bedeutungsvoll in diesen Stygischen Fluß herunter blickte, kam Reisern lebhaft wieder vor die Seele, als er einige Jahre nachher die Nachricht von seinem Tode vernahm. — Denn wenn irgend ein be¬ deutendes Bild sich formte, wo Zeichen und Sache eines wurden, so war es hier. Fuͤr Reisern aber eroͤfneten sich wieder froͤ¬ liche Aussichten: denn die Studenten kamen auf den Einfall noch eine Komoͤdie aufzufuͤhren, weil sie an diesem Vergnuͤgen nun einmal Ge¬ schmack bekommen hatten. Die Stuͤcke welche man waͤhlte, waren der Argwoͤhnische und der Schatz von Lessing: in dem ersten erhielt Reiser wiederum zwei Frauen¬ zimmerrollen, die er mit Umkleidung spielen mußte, und in dem andern die Rolle des Mas¬ karil, und nun war sein Schauspielerkredit un¬ ter den Studenten schon so befestiget, daß man es als eine Gefaͤlligkeit von ihm ansahe, wenn er diese Rollen uͤbernehmen wollte, und er sich also auf keine Weise dazu draͤngen durfte. Waͤhrend daß nun die Veranstaltungen zu dieser zweiten theatralischen Vorstellung gemacht wurden, fieng Reiser zu gleicher Zeit eine Aus¬ arbeitung uͤber die Empfindsamkeit an, womit er zuerst als Schriftsteller auftreten wollte. In dieser Schrift sollte die affektirte Empfindsam¬ keit laͤcherlich gemacht, und die wahre Em¬ pfindsamkeit in ihr gehoͤriges Licht gestellt werden. Die seynsollende Satire gegen die Empfind¬ samkeit gerieth nun freilich ziemlich grob, indem er sie mit einer Seuche verglich, vor der man sich zu huͤten habe, und jedweden der aus einer Gegend kaͤme, wo die Empfindsamkeit herrsch¬ te, den Eingang in Staͤdte und Doͤrfer ver¬ sperren muͤsse. Dieser Unwille war vorzuͤglich durch die em¬ pfindsamen Reisen, die nach und nach in Deutsch¬ land erschienen, und durch die vielen affektirten Nachahmungen von Werthers Leiden, bei Rei¬ sern erweckt worden, ob er sich gleich selber auch heimlich dieser Suͤnde anklagen mußte; um de¬ sto heftiger suchte er nun auch zugleich zu seiner eigenen Besserung, dagegen zu eifern. Gerade, da er eines Abends an dieser Ab¬ handlung schrieb, trat der Buchdrucker P. . . . aus Hannover in die Stube, und brachte ihm einen Brief von Philipp Reisern. Dies war eben der Buchdrucker, fuͤr den er in Hannover eine Anzahl kleiner Neujahrwuͤnsche verfertigt, und sich zum erstenmal in denselben gedruckt ge¬ sehen hatte. Als Reiser den Buchdrucker vor die Thuͤre hinausbegleitete, druͤckte ihm dieser ein kleines Goldstuͤck in die Hand, welches hinlaͤnglich war, einen Menschen, der nun seit einigen Wochen schon ganz von Gelde entbloͤßt war, und sich doch seinen Mangel nicht wollte merken lassen, auf einmal aus dem Staube zu heben. Dies unvermuthete Geschenk erhielt noch ei¬ nen groͤßern Werth durch die Art, womit es gegeben wurde, indem der Buchdrucker P. . . . die Worte hinzufuͤgte: es sey diese Kleinigkeit eine alte Schuld, die er abtruͤge, weil nehmlich Reiser Neujahrwuͤnsche, Gedichte u. s. w. bloß der Ehre wegen in Hannover fuͤr ihn verfer¬ tigt hatte. In In Reisers Umstaͤnden hatte ein Goldgul¬ den, woraus dies Geschenk bestand, fuͤr ihn ei¬ nen unschaͤtzbaren Werth, und riß ihn auf ein¬ mal aus einer Menge kleiner Verlegenheiten, die er keinem Menschen haͤtte sagen duͤrfen. Dies machte, daß er nun in Erfurt wirklich einige gluͤckliche Tage erlebte, wo er eben durch nichts weder von innen noch außen gedruͤckt wurde, und auch in die Zukunft keine truͤbe Aussich¬ ten hatte. Der Brief von Philipp Reisern war auch in¬ teressanter als der vorhergehende; denn er ent¬ hielt die Nachricht daß verschiedene von Rei¬ sers Mitschuͤlern, welche mit ihm zugleich in Hannover Komoͤdie gespielt hatten, seinem Bei¬ spiele gefolgt, und auch zum Theil heimlich fort¬ gegangen waͤren, um sich dem Theater zu widmen. Darunter war vorzuͤglich I. . . der im Klavigo den Beaumarchais gespielt hatte; der Sohn des Kantor W . . . . — der Praͤfektus aus dem Chore, Nahmens O . . . und ein gewis¬ ser T. . ., eines Predigers Sohn, mit dem Reiser kurz vor seinem Abschiede, noch einige romantische Spatziergaͤnge bei Hannover ge¬ 4ter Theil . K macht hatte. Nun fand Reiser eine sonderbare Art von Stolz darin, da er doch von allen diesen nachgeahmt war, daß er zuerst den Muth gehabt hatte, einen solchen Schritt zu thun. Dann schrieb ihm Reiser in seinem uͤber¬ spannten Stiele, daß der Dichter Hoͤlty in Hannover gestorben sey, und schloß am Ende mit den Worten: freue dich Dichter! weine Mensch! — Von dem Fortgange seines Liebes¬ romans enthielt dieser Brief nur wenig. Waͤhrend daß nun Reiser mit den Rollen in der zweiten Komoͤdie beschaͤftigt war, fand er einen neuen Freund in Erfurt, einen Stu¬ denten Nahmens N. . . aus Hamburg gebuͤr¬ tig, der bei dem Doktor Froriep im Hause wohnte, welcher ihm eine Abschrift von Reisers Gedichte, das Karthaͤuserkloster gezeigt, und dadurch dem Verfasser auf einmal einen neuen Freund verschaft hatte. Dies wurde nun eine Freundschaft gerade von der empfindsamen Art, wogegen Reiser eine Abhandlung zu schreiben im Begriff war. Der junge N. . . hatte wirklich ein gefuͤhl¬ volles Herz, er ließ sich aber auch durch den Strom hinreißen, und spielte bei jeder Gele¬ genheit den Empfindsamen, ohne es selbst zu wis¬ sen; denn er eiferte sehr oft mit Reisern gegen das Laͤcherliche einer affektirten Empfindsamkeit — weil er aber nicht bloß vor andern empfind¬ sam zu scheinen, sondern es fuͤr sich selber wirk¬ lich zu seyn suchte, so deuchte ihm das keine Affektation mehr, sondern er trieb dieß nun als eine ganz ernsthafte Sache, die keinen Spott auf sich leidet, und zog Reisern allmaͤ¬ lig mit in diesen Wirbel hinuͤber, der die Seele so lange hinaufschraubt, bis sie in den abge¬ schmacktesten Zustand geraͤth, den man sich den¬ ken kann. Reisern war es schon aufmunternd, daß ohngeachtet seiner duͤrftigen Umstaͤnde sich je¬ mand an ihn schloß, dem es nicht an aͤußern Gluͤcksguͤtern fehlte. — Nach und nach aber bildete sich bei ihm eine ordentliche Liebe und Anhaͤnglichkeit an den jungen N. . . ., welche durch dessen wahre Freundschaft fuͤr Reisern im¬ mer vermehrt wurde, so daß sie sich immer mehr, auch in ihren Thorheiten, einander naͤ¬ herten, und von ihrer Melancholie und Em¬ K 2 pfindsamkeit sich wechselsweise einander mit¬ theilten. Dieß geschahe nun vorzuͤglich auf ihren ein¬ samen Spaziergaͤngen, wo sie nur gar zu oft zwischen sich und der Natur eine Scene veran¬ stalteten, indem sie etwa bei Sonnenuntergang die Juͤnger von Emaus aus dem Klopstock la¬ sen, oder an einem truͤben Tage, Zachariaͤs Schoͤpfung der Hoͤlle, u. s. w. Vorzuͤglich lagerten sie sich oft am Abhange des Steigerwaldes, von welchem man die Stadt Erfurt, mit ihren alten Thuͤrmen und ihrem ganzen Umfange von Gaͤrten, kann liegen sehen. Da hinauf gehen die Einwohner von Erfurt haͤufig spazieren, machen sich auch wohl oben selbst ein kleines Feuer an, und kochen sich den Kaffe, um die patriarchalischen Ideen wie¬ der zu erneuern. Hier saßen nun auch N. . . . und Reiser oft Stunden lang, und lasen sich aus irgend einem Dichter wechselsweise vor; welches die meiste Zeit eine wahre Muͤhe und Arbeit, und ein peinlicher Zustand fuͤr sie war, den sie sich aber einander nicht gestanden, um nur am Ende die Idee mit sich zu nehmen: „Wir haben am „Steigerwalde freundschaftlich beieinander ge¬ „sessen, haben von da in das anmuthsvolle „Thal hinuntergeblickt, und dabei unsern Geist „mit einem schoͤnen Werke der Dichtkunst „genaͤhrt.“ Wenn man erwaͤgt, wie viele kleine Um¬ staͤnde sich ereignen muͤssen, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken, mit wie vie¬ len kleinen Unannehmlichkeiten N. . . . und Rei¬ ser bei diesen empfindsamen Scenen kaͤmpfen mußten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt verschlug, u. s. w. N. . . . fand nun einen vorzuͤglichen Gefal¬ len daran, Klopstocks Messiade Reisern ganz vorzulesen; bei der entsetzlichen Langenweile nun, die diese Lektuͤre beiden verursachte, und die sie sich doch einander, und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte N. . . . doch noch den Vortheil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit vergieng: Reiser aber war verdammt zu hoͤren, und uͤber das Gehoͤrte entzuͤckt zu seyn, welches K 3 ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Le¬ ben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß, und welche ihn am meisten zuruͤckschrecken wuͤr¬ den, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen. Denn keine groͤßere Quaal kann es wohl geben, als eine gaͤnzliche Leer¬ heit der Seele, welche vergebens strebt, sich aus diesem Zustande herauszuarbeiten, und un¬ schuldigerweise sich selber in jedem Augenblicke die Schuld beimißt, und sich selber ihres Stumpf¬ sinns anklagt, daß sie von den erhabenen Toͤ¬ nen, die unaufhoͤrlich in ihre Ohren klingen, nicht geruͤhrt und erschuͤttert wird. Ob nun gleich N. . . und Reiser fast unzer¬ trennlich beisammen waren, so sehnte sich der Letztre doch wieder nach einsamen Spatziergaͤngen, die ihm immer das reinste Vergnuͤgen gewaͤhret hatten; allein dieß hatte er sich nun auch verleidet; denn gemeiniglich versprach er sich von einem solchen Spatziergange zu viel, und kehrte ver¬ drießlich wieder zu Hause, wenn er nicht gefun¬ den hatte, was er suchte; sobald das Dort nun Hier wurde, hatte es auch alle seinen Reiz ver¬ loren, und der Quell der Freude war versiegt. — Der Verdruß, der dann in die Stelle der gereizten Hoffnung trat, war von einer so gro¬ ben, gemeinen, und niedrigen Art, daß auch nicht der mindeste Grad von einer sanften Me¬ lancholie oder etwas dergleichen damit bestehen konnte. Es war ohngefaͤhr die Empfindung ei¬ nes Menschen, der ganz vom Regen durchnaͤßt ist, und indem er vor Frost schaudernd zu Hau¬ se kehrt, auch noch eine kalte Stube findet. Ein solches Leben fuͤhrte Reiser, und schrieb dabei immer an seiner Abhandlung gegen die falsche Empfindsamkeit fort, wobei er denn bei seinen einsamen Spaziergaͤngen einmal eine son¬ derbare Aeußerung von Empfindsamkeit bei ei¬ nem gemeinen Menschen bemerkte, bei dem er dieselbe am wenigsten erwartet haͤtte. Er gieng nehmlich zwischen den Gaͤrten von Erfurt spazieren, und da es gerade in der Pflau¬ menzeit war, so konnte er sich nicht enthalten, von einem uͤberhangenden Aste, eine schoͤne reife Pflaume abzupfluͤcken, welches der Eigenthuͤ¬ mer des Gartens bemerkte, der ihn sehr un¬ sanft mit den Worten anfuhr, ob er wohl wisse, K 4 daß die Pflaume, die er da abgepfluͤckt haͤtte, ihm einen Dukaten kosten wuͤrde. Reiser suchte abzudingen, mußte aber zu¬ gleich gestehen, daß er keinen Heller Geld bei sich habe. Um nun aber den Eigenthuͤmer des Gartens wegen der geraubten Pflaume einiger¬ maaßen zu befriedigen, mußte er ihm sein ein¬ ziges gutes Schnupftuch aus der Tasche geben, dessen Verlust ihm sehr leid that. Als er nun traurig weggieng, sah er, nach¬ dem er nur wenige Schritte gethan hatte, ein schoͤnes Einlegemesser vor sich auf der Erde lie¬ gen; er hob es geschwind auf, und rief den Gaͤrtner wieder zuruͤck, dem er einen Tausch antrug, ob er nicht fuͤr das gefundene Messer, ihm sein Schnupftuch zuruͤck geben wolle? Wie erstaunte Reiser, als nun der Gaͤrt¬ ner, der vorher so grob gegen ihn gewesen war, ihm auf einmal um den Hals fiel und kuͤßte, und sich seine Freundschaft ausbat; weil Reiser nothwendig ein Guͤnstling der Vorsehung seyn muͤsse, da sie ihn gerade das Messer habe fin¬ den lassen, welches niemand anders als der Gaͤrtner selbst verlohren hatte, der nun Rei¬ ser sein Schnupftuch mit Freuden wieder gab, und ihn zugleich versicherte, daß sein Garten ihm zu jeder Zeit offen staͤnde, um so viel Pflau¬ men, wie er wollte, zu pfluͤcken, und daß er ihm in jeder Sache dienen wuͤrde, wo er nur koͤnnte; denn ein so außerordentlicher Fall sey ihm noch nicht vorgekommen. Als Reiser im Weggehen uͤber diesen sonder¬ baren Zufall nachdachte, fiel er ihm um so mehr auf, weil dieß das erstemal in seinem Leben war, daß ihm ein eigentlich gluͤckliches Ereigniß be¬ gegnete, wobei mehrere Umstaͤnde sich verei¬ nigen mußten, die sich sonst selten zu vereini¬ gen pflegen. Sein Gluͤck scheinet sich in dieser Kleinigkeit gleichsam ganz erschoͤpft zu haben, um ihn im Großen wieder destomehr buͤßen zu lassen, was er auf keine andre Weise, als durch sein Da¬ seyn verschuldet hatte. Es war, wie bei dem Landprediger von Wa¬ kefield, der einen ganz ungewoͤhnlich gluͤcklichen Wurf mit den Wuͤrfeln that, indem er mit sei¬ nem Freunde um wenige Pfennige spielte, kurz vorher, ehe er die Nachricht von dem Banque¬ K 5 rot des Kaufmanns erhielt, durch welchen er sein ganzes Vermoͤgen verlohr. Noch eine kleine Weile hielt das Schicksal die Demuͤthigungen zuruͤck, welche es Reisern zugedacht hatte, und ließ ihn noch ungestoͤrt in seinem Vergnuͤgen, daß ihm nnn die zweite Ko¬ moͤdien-Auffuͤhrung gewaͤhrte, und worin ihm drei Rollen zu Theil geworden waren. Sein sehnlichster Wunsch war doch also nun einigermaaßen erfuͤllt, ob er gleich in keiner tra¬ gischen Rolle hatte glaͤnzen koͤnnen. Und was noch mehr war, so hatte man eine Art von Zu¬ trauen zu seinen theatralischen Einsichten, man fragte ihn um Rath, und er wurde nun durch seine Theilnehmung an der Komoͤdie sowohl, als durch seine geschriebenen Gedichte, unter den Studenten noch mehr bekannt, die ihn mit Hoͤflichkeit begegneten, welches ihm fuͤr seine Lage auf der Schule in H. . . . . . ein angeneh¬ mer Ersatz war. Dabei besuchte er nun fleißig die Universi¬ taͤtsbibliothek, wo er einen besondern Gefallen daran fand, des Du Halde Beschreibung von China zu studiren, und sehr viele Zeit damit verschwendete. Grade damals erschien auch: Siegwart eine Klostergeschichte, und er las mit seinem Freun¬ de R. . .s das Buch zu mehrerenmahlen durch, und beide thaten sich bei der entsetzlichsten Lan¬ genweile Zwang an, in der einmal angefange¬ nen Ruͤhrung, alle drei Baͤnde hindurch zu bleiben. Am Ende hatte Reiser nichts weniger im Sinne, als die ganze Geschichte in ein histori¬ sches Trauerspiel zu bringen, wozu er wuͤrklich allerlei Entwuͤrfe machte, und die schoͤne Zeit damit verschwendete. Wenn es ihm dann nicht, wie er wuͤnschte, gerathen wollte, so hatte er nach jeder vergeb¬ nen Anstrengung dieser Art, die truͤbseeligsten und widrigsten Stunden, die man sich nur den¬ ken kann. Die ganze Natur und alle seine eige¬ nen Gedanken hatten dann ihren Reiz fuͤr ihn verlohren, jeder Moment war ihm druͤckend, und das Leben war ihm im eigentlichen Ver¬ stande eine Quaal. Die Leiden der Poesie Koͤnnen daher wohl in jedem Betracht eine eigene Rubrik in Reisers Leidensgeschichte aus¬ machen, welche seinen innern und aͤußern Zu¬ stand in allen Verhaͤltnissen darstellen sollen, und wodurch dasjenige gewiß werden soll, was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewußt, und im Dunkeln verbor¬ gen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zuruͤckzugehen. Diese geheimen Leiden waren es, womit Reiser beinahe von seiner Kindheit an, zu kaͤm¬ pfen hatte. Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwill¬ kuͤhrlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmuͤthige Empfindung in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst ver¬ lohr, wogegen alles, was er je gehoͤrt, gele¬ sen oder gedacht hatte, sich verlohr, und des¬ sen Daseyn, wenn es nun wuͤrklich von ihm dargestellt waͤre, ein bisher noch ungefuͤhltes, unnennbares Vergnuͤgen verursachen wuͤrde. Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dieß ein Trauerspiel, oder eine Romanze, oder ein Elegisches Gedicht werden sollte; genug, es mußte etwas seyn, das wuͤrklich eine solche Empfindung erwekte, wovon der Dichter gewis¬ sermaaßen schon ein Vorgefuͤhl gehabt hatte. In den Momenten dieses seeligen Vorge¬ fuͤhls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervor bringen. Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Luͤcken des Ausdrucks mit Punkten ausgefuͤllt sind. Diese einzelnen Laute aber bezeichneten denn immer das Allgemeine von Groß , erhaben , Wonnethraͤnen , und dergleichen. — Dieß dauerte denn so lange, bis die Empfindung in sich selbst wieder zuruͤcksank, ohne auch nur ein paar vernuͤnftige Zeilen, zum Anfange von et¬ was Bestimmten, ausgebohren zu haben. Nun war also waͤhrend dieser Krisis nichts Schoͤnes entstanden, woran sich die Seele nach¬ her haͤtte festhalten koͤnnen, und alles andre, was wuͤrklich schon da war, wurde nnn keines Blicks mehr gewuͤrdiget. Es war, als ob die Seele eine dunkle Vorstellung von etwas ge¬ habt haͤtte, was sie selbst nicht seyn konnte, und wodurch ihr eigenes Daseyn ihr veraͤchtlich wurde. Es ist wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die schon bestimmte Scene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung, oder we¬ nigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht waͤhrend der Em¬ pfindung zugleich einen Blick in das gan¬ ze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dich¬ tungsvermoͤgen. Und gewiß ist nichts gefaͤhrlicher, als einem solchen taͤuschenden Hange sich zu uͤberlassen; die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug dem Juͤngling zurufen, sein Innerstes zu pruͤ¬ fen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stel¬ le der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt. Dieß war der Fall bei Reisern, der die be¬ sten Stunden seines Lebens durch mißlungene Versuche truͤbete, durch unnuͤtzes Streben, nach einem taͤuschenden Blendwerke, daß immer vor seiner Seele schwebte, und wenn er es nun zu umfassen glaubte, ploͤtzlich in Rauch und Nebel verschwand. Wenn nun je der Reiz des Poetischen bei einem Menschen mit seinem Leben und seinen Schicksalen kontrastirte, so war es bei Reisern, der von seiner Kindheit an in einer Sphaͤre war, die ihn bis zum Staube niederdruͤckte, und wo er bis zum Poetischen zu gelangen, im¬ mer erst eine Stuffe der Menschenbildung uͤber¬ springen mußte, ohne sich auf der folgenden er¬ halten zu koͤnnen. So gieng es ihm nun jetzt wieder in seiner aͤußerlichen Lage; er hatte eigentlich keine Stube fuͤr sich, sondern mußte, da es nun anfieng kaͤlter zu werden, mit in der gemeinschaftlichen Stube wohnen, deren Einwohner, wenn aus¬ gefegt wurde, so lange herausgehen mußten. In dieser Stube wohnte die ganze Familie, nebst Reisern und noch einem Studenten, und jeder nahm seine Besuche von Fremden darin an; es wurde dann erzaͤhlt, von Kindern ge¬ laͤrmt, gesungen, gezankt und geschrieen; und dieß war nun die naͤchste Umgebung, worin Reiser seine philosophische Abhandlung uͤber die Empfindsamkeit schreiben, und seine poetischen Ideale außer sich darstellen wollte. Hier sollte also nun das Trauerspiel Siegwart geschrieben werden, das sich mit seiner Einkehr bei dem Einsiedler anhub, welches immer Rei¬ sers Lieblingsidee, und die Lieblingsidee fast al¬ ler jungen Leute zu seyn pflegt, welche sich ein¬ bilden, einen Beruf zur Dichtkunst zu haben. Dieß ist sehr natuͤrlich, weil der Zustand eines Einsiedlers gewissermaßen an sich selber schon Poesie ist, und der Dichter seinen Stoff schon beinahe vorgearbeitet findet. Wer aber zuerst auf solche Gegenstaͤnde faͤllt, bei dem ist es auch fast immer ein Zeichen, daß bei ihm keine aͤchte poetische Ader statt finde, weil er die Poesie in den Gegenstaͤnden sucht, die in ihm selber schon liegen muͤßte, um jeden Gegenstand, der sich seiner Einbildungskraft darbietet, zu verschoͤnern. S o So ist die Wahl des Schrecklichen ebenfalls ein schlimmes Zeichen, wenn das vermeinte poe¬ tische Genie gleich zuerst darauf verfaͤllt; denn freilich macht sich hier das Poetische auch schon von selber, und die innere Leerheit und Unfrucht¬ barkeit soll durch den aͤußern Stoff ersetzt werden. Dieß war der Fall bei Reisern schon in H. . . . auf der Schule, wo er Meineid, Blutschande und Vatermord, in einem Trauerspiele zusam¬ menzuhaͤufen suchte, das der Meineid heißen sollte, und wobei er sich dann immer die wirk¬ liche Auffuͤhrung des Stuͤcks, und zugleich den Effekt dachte, den es auf die Zuschauer machen wuͤrde. Dieß zweite Zeichen sollte ebenfalls jeden, der sich wegen seines poetischen Berufes sorgfaͤl¬ tig pruͤft, schon abschreckend seyn. Denn der wahre Dichter und Kuͤnstler findet und hofft seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Ar¬ beit selbst Vergnuͤgen, und wuͤrde dieselbe nicht fuͤr verloren halten, wenn sie auch niemanden zu Gesicht kommen sollte. Sein Werk zieht ihn un¬ willkuͤhrlich an sich, in ihm selber liegt die Kraft 4ter Theil . L zu seinen Fortschritten, und die Ehre ist nur der Sporn, der ihn antreibt. Die bloße Ruhmbegier kann wohl die Begier einhauchen, ein großes Werk zu beginnen, allein die Kraft dazu kann sie dem nie gewaͤhren, der sie nicht schon besaß, ehe er selbst die Ruhmbe¬ gier noch kannte. Noch ein drittes schlimmes Zeichen ist, wenn junge Dichter ihren Stoff sehr gerne aus dem Entfernten und Unbekannten nehmen; wenn sie gern morgenlaͤndische Vorstellungsarten, und dergleichen bearbeiten, wo alles von den Scenen des gewoͤhnlichen naͤchsten Lebens der Menschen ganz verschieden ist; und wo also auch der Stoff schon von selber poetisch wird. Dieß war denn auch der Fall bei Reisern; er gieng schon lange mit einem Gedicht uͤber die Schoͤpfung schwanger, wo der Stoff nun frei¬ lich der allerentfernteste war, den die Einbil¬ dungskraft sich denken konnte, und wo er statt des Detail, vor dem er sich scheute, lauter große Massen vor sich fand, deren Darstellung man denn fuͤr die eigentlich erhabene Poesie haͤlt, und wozu die unberufenen jungen Dichter immer weit mehr Lust haben, als zu dem, was dem Menschen nahe liegt; denn in dieß letztere muß freilich ihr Genie die Erhabenheit erst hereintragen, welche sie in jenem schon vor sich zu finden glauben. Reisers aͤußere Lage wurde hiebei mit jedem Tage druͤckender, weil die gehofte Unterstuͤtzung aus H..... nicht erfolgte, und seine Hausleute ihn immer mehr mit scheelen Blicken ansahen, je mehr sie inne wurden, daß er weder Geld be¬ sitze, noch welches zu hoffen habe. Sein Fruͤh¬ stuͤck und Abendbrodt, was er hier genoß, war er nicht mehr im Stande zu bezahlen, und man ließ ihm deutlich merken, daß man nicht laͤnger Willens sey, ihm zu borgen; da man also keinen Nutzen von ihm ziehen konnte, und er uͤberdem ein trauriger Gesellschafter war, so war es na¬ tuͤrlich, daß man seiner loß zu seyn wuͤnschte, und ihm die Wohnung aufkuͤndigte. So wenig auffallend dieß nun an sich war, so tragisch nahm es Reiser. Der Gedanke des Laͤstigseyns, und daß er von den Leuten, unter denen er lebte, gleichsam nur geduldet wuͤrde, machte ihm wiederum seine eigene Existenz ver¬ haßt. Alle Erinnerungen aus seiner Jugend L 2 und Kindheit draͤngten sich zusammen. Er haͤufte selber alle Schmach auf sich, und wollte ver¬ zweiflungsvoll sich einem blinden Schicksal aufs neue uͤberlassen. Er wollte noch an diesem Tage wieder aus Erfurt gehen, und tausenderlei romanhafte Ideen durchkreuzten sich in seinem Kopfe, wor¬ unter eine ihm besonders reizend schien, daß er in Weimar bei dem Verfasser von Werthers Lei¬ den wollte Bedienter zu werden suchen, es sey unter welchen Bedingungen es wolle; daß er auf die Art gleichsam unerkannter Weise, so nahe um die Person desjenigen seyn wuͤrde, der un¬ ter allen Menschen auf Erden den staͤrksten Ein¬ druck auf sein Gemuͤth gemacht hatte; Er gieng vors Thor und blickte nach dem Ettersberge hin¬ uͤber, der wie eine Scheidewand zwischen ihm und seinen Wuͤnschen lag. Nun gieng er zu Froriep, um Abschied von ihm zu nehmen, ohne ihm eine eigentliche Ur¬ sache sagen zu koͤnnen, weswegen er Erfurt wie¬ der verlassen wolle. Der Doktor Froriep schob diesen Entschluß auf seine Melancholie, redete ihm zu, daß er bleiben solle, und entließ ihn nicht eher, bis Reiser ihm versprochen hatte, wenigstens heute und morgen noch nicht ab¬ zureisen. Diese Theilnehmung an seinem Schicksale war nun zwar fuͤr Reisern wieder sehr schmei¬ chelhaft; sobald er sich aber wieder allein fand, verfolgte der Gedanke des Laͤstigseyns in seiner naͤchsten Umgebung ihn wie ein quaͤlender Geist, er hatte nirgends Ruhe noch Rast; streifte in den einsamsten Gegenden von Erfurt umher, in der Gegend des Karthaͤuserklosters, wohin er sich nun im Ernst, wie nach einem sichern Zu¬ fluchtsorte sehnte, und wehmuͤthig nach den stil¬ len Mauern hinuͤberblickte. Dann irrte er weiter umher, bis es Abend wurde, wo der Himmel sich mit Wolken uͤber¬ zog, und ein starker Regen fiel, der ihn bald bis auf die Haut durchnetzte. Der Fieberfrost, welcher sich nun zu den innern Unruhen seines Gemuͤths gesellte, trieb ihn in Sturm und Re¬ gen umher, bei altem Gemaͤuer und durch ein¬ same oͤde Straßen; denn in seine bisherige Woh¬ nung zuruͤckzukehren, davon konnte er den Gedanken nicht ertragen. L 2 Er stieg die hohe Treppe zu dem alten Dom hinauf, band sich ein Tuch um den Kopf, und suchte sich unter altem Gemaͤuer eine Weile vor dem Regen zu schuͤtzen. Vor Muͤdigkeit fiel er hier in eine Art von betaͤubendem Schlummer, aus dem er durch einen neuen Regenguß, und durch das Getoͤse des Windes wieder erweckt wurde, und aufs neue durch die Straßen irrte. Indem ihm nun der Regen ins Gesicht schlug, fiel ihm die Stelle aus dem Lear ein: to shut me out, in such a night as this! (Die Thuͤren vor mir zu verschließen, in einer Nacht, wie diese!) Und nun spielte er die Rolle des Lear in seiner eigenen Verzweiflung durch, und ver¬ gaß sich in dem Schicksale Lears, der von seinen eigenen Toͤchtern verbannt, in der stuͤrmischen Nacht umherirrt, und die Elemente auffordert, die entsetzliche Beleidigung zu raͤchen. Diese Scene hielt ihn hin, daß er sich eine Zeitlang den Zustand, worin er war, mit einer Art von Wollust dachte, bis auch dieß Gefuͤhl abgestumpft wurde, und ihm nun am Ende nichts als die leere Wirklichkeit uͤbrig blieb, welche ihn in ein lautes Hohngelaͤchter uͤber sich selbst ausbrechen ließ. In dieser Stimmung kehrte er wieder zu dem alten Dom zuruͤck, der nun schon eroͤfnet war, und wo die Chorherren sich zur Fruͤhmette bei Licht versammleten. Das alte gothische Ge¬ baͤude, die wenigen Lichter, der Widerschein von den hohen Fenstern, machten auf Reisern, der die ganze Nacht umher geirrt war, und sich hier auf eine Bank niedersetzte, einen wunderbaren Eindruck. Er war, wie in einer Behausung, vor dem Regen geschuͤtzt, und doch war dies keine Wohnung fuͤr die Lebenden. Wer vor dem Leben selber eine Freystatt suchte, den schien dies dunkle Gewoͤlbe einzuladen, und wer eine Nacht, wie Reiser die vergangene, durchlebt hatte, konnte wohl geneigt seyn, diesem Rufe zu fol¬ gen. Reiser fuͤhlte sich auf der Bank im Dom in eine Art von Abgeschiedenheit und Stille ver¬ setzt, die etwas unbeschreiblich Angenehmes fuͤr ihn hatte, die ihn auf einmal allen Sorgen und allem Gram entruͤckte, und ihn das Vergangene vergessen machte. Er hatte aus dem Lethe ge¬ trunken, und fuͤhlte sich in das Land des Frie¬ L 4 dens sanft hinuͤber schlummern. Dabei heftete sich immer sein Blick auf den blassen Wider¬ schein von den hohen Fenstern, und dieser war es vorzuͤglich, welcher ihn in eine neue Welt zu versetzen schien: es war dieß eine majestaͤtische Schlafkammer, in welcher er seine Augen auf¬ schlug, nachdem er wild die Nacht durchtraͤumt hatte. Denn wie Traͤume eines Fieberkranken, wa¬ ren freilich solche Zeitpunkte in Reisers Leben, aber sie waren doch einmal darin, und hatten ihren Grund in seinen Schicksalen von seiner Kindheit an. Denn war es nicht immer Selbst¬ verachtung, zuruͤckgedraͤngtes Selbstgefuͤhl, wo¬ durch er in einen solchen Zustand versetzt wurde? Und wurde nicht diese Selbstverachtung durch den immerwaͤhrenden Druck von außen bei ihm bewirkt, woran freilich mehr der Zufall schuld war, als die Menschen. Als der Tag angebrochen war, kehrte Rei¬ ser mit ruhigerm Gemuͤthe aus dem Dom zuruͤck, und begegnete auf der Straße seinem Freunde N. . ., der schon fruͤh ein Collegium besuchte, und welcher erschrak, da er Reisern ins Gesicht sahe, so sehr hatte diese Nacht ihn abgemattet und entstellt. N. . . ruhete nicht eher, bis Reiser ihm sei¬ nen ganzen Zustand entdeckt hatte. Nach freund¬ schaftlichen Vorwuͤrfen, daß Reiser nicht mehr Zutrauen zu ihm gehabt, brachte er ihn wieder nach seiner alten Wohnung, suchte ihn dort den Leuten in einem andern Lichte darzustellen, und tilgte die geringe Schuld seines Freundes. Diese aufrichtige Theilnehmung seines Freun¬ des staͤrkte bei Reisern wieder das erkrankte Selbstgefuͤhl; er war gewissermaßen stolz auf seinen Freund, und ehrte sich in ihm. Nun bedung er sich aus, um allein seyn zu koͤnnen, einen Verschlag auf dem Boden des Hauses zu beziehen, wohin man ihm auch ein Bette gab, und wo er nun wieder, ganz sich selbst gelassen, ein paar nicht unangenehme Wo¬ chen zubrachte. Er laß und studirte hier oben, und wuͤrde in dieser Abgezogenheit voͤllig gluͤcklich gewesen seyn, wenn ihn sein Gedicht uͤber die Schoͤpfung nicht gequaͤlt haͤtte, welches machte, daß er oft wieder in eine Art von Verzweiflung gerieth, L 5 wenn er Dinge ausdruͤcken wollte, die er zu fuͤhlen glaubte, und die ihm doch uͤber allen Aus¬ druck waren. Was ihm die meiste Qual machte, war die Beschreibung des Chaos, welche beinahe den ganzen ersten Gesang seines Gedichts einnahm, und worauf er mit seiner kranken Einbildungs¬ kraft am liebsten verweilen mochte, aber immer fuͤr seine ungeheuren und grotesken Vorstellun¬ gen keine Ausdruͤcke finden konnte. Er dachte sich eine Art von falscher taͤuschender Bildung in das Chaos hinein, welche im Nu wie¬ der zum Traum und Blendwerk wurde; eine Bil¬ dung die weit schoͤner, als die wirkliche, aber eben deswegen von keinem Bestand, und keiner Dauer war. Eine falsche Sonne stieg am Horizont herauf und kuͤndigte einen glaͤnzenden Tag an. — Der bodenlose Morast uͤberzog sich unter ihrem truͤ¬ gerischen Einfluß mit einer Kruste auf welcher Blumen sproßten, Quellen rauschten; ploͤtzlich arbeiteten sich die entgegenstrebenden Kraͤfte aus der Tiefe empor, der Sturm heulte aus dem Ab¬ grunde, die Finsterniß brach mit allen ihren Schrecknissen aus ihrem verborgenen Hinterhalt hervor, und verschlang den neugebornen Tag wie¬ der in ein furchtbares Grab. Die immer in sich selbst zuruͤckgedraͤngten Kraͤfte bearbeiteten sich mit Grimm nach allen Seiten sich auszudehnen, und seufzten unter dem lastenden Widerstande. Die Wasserwogen kruͤmmten sich und klagten un¬ ter dem heulenden Windstoß. In der Tiefe bruͤll¬ ten die eingeschlossenen Flammen, das Erdreich das sich hob, der Felsen der sich gruͤndete, ver¬ sanken mit donnerndem Getoͤse wieder in den al¬ les verschlingenden Abgrund. — Mit dergleichen ungeheuren Bildern, zerar¬ beitete sich Reisers Phantasie in den Stunden, wo sein Innres selber ein Chaos war, in wel¬ chem der Strahl des ruhigen Denkens nicht leuchtete, wo die Kraͤfte der Seele ihr Gleichge¬ wicht verlohren, und das Gemuͤth sich verfin¬ stert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand, und Traum und Wahn ihm lieber war, als Ordnung, Licht und Wahrheit. Und alle diese Erscheinungen gruͤndeten sich gewissermaßen wieder in dem Idealismus, wo¬ zu er sich schon natuͤrlich neigte, und worin er durch die philosophischen Systeme, die er in H... studierte sich noch mehr bestaͤrkt fand. Und auf diesem bodenlosen Ufer fand er nun keinen Platz wo sein Fuß ruhen konnte. Angstvolles Stre¬ ben und Unruhe verfolgten ihn auf jedem Schritte. Dieß war es, was ihn aus der Gesellschaft der Menschen auf Boͤden und Dachkammern trieb, wo er oft in phantastischen Traͤumen noch seine vergnuͤgtesten Stunden zubrachte, und dieß war es was ihm zugleich fuͤr das Romantische, und Theatralische, den unwiderstehlichen Trieb einfloͤßte. Durch seinen gegenwaͤrtigen innern und aͤußern Zustand, war er nun wiederum ganz und gar in der idealischen Welt verlohren, was Wun¬ der also, daß bey der ersten Veranlassung seine alte Leidenschaft wieder Feuer fing, und er wie¬ derum seine Gedanken auf das Theater heftete, welches bey ihm nicht sowohl Kunstbeduͤrfniß, als Lebensbeduͤrfniß war. Diese Veranlassung ereignete sich sehr bald, da die Sp... sche Schauspielertruppe nach Er¬ furt kam, und Erlaubniß erhielt, auf dem Ball¬ hause zu spielen, wo auch die Studenten ihre Komoͤdien aufgefuͤhrt hatten. Reiser war hier schon einmal bekannt, und hatte sogar einen gewissen Ruf wegen seiner Schauspielertalente erhalten, wodurch er dem Principal dieser kleinen Truppe sogleich bekannt wurde, der ihn engagiren wollte, so bald er Lust haͤtte Schauspieler zu werden. Diese Versuchung, daß ihm das, wornach er mit allen Muͤhseeligkeiten des Lebens kaͤmpfend vergeblich gestrebt hatte, nun auf einmal wie von selbst sich anbot, war fuͤr Reisern zu stark. Er setzte jede Ruͤcksicht aus den Augen, und lebte und webte nur in der Theaterwelt, fuͤr die er nun wieder wie in H. . . bis auf den Komoͤdien¬ zettel enthusiastische Verehrung hegte, und die Mitglieder bis auf den Soufleur und Rollen¬ schreiber mit einer Art von Neid betrachtete. Einer Nahmens B. . . der sich damals un¬ ter dieser Truppe befand, und nachher ein be¬ ruͤhmter Schauspieler geworden ist, zog am mei¬ sten seine Neugier auf sich. Er zeichnete sich un¬ ter den Mitgliedern dieser Truppe am vorzuͤg¬ lichsten aus, und Reiser wuͤnschte nichts sehnli¬ cher als seine Bekanntschaft zu machen, welches ihm auch nicht schwer wurde; er entdeckte die¬ sem B... seinen Wunsch, der ihn denn auch in seinem Entschluß, sich dem Theater zu widmen, bestaͤrkte, und an welchem Reiser nun zugleich ei¬ nen Freund zu finden hofte. Er setzte nun jede Ruͤcksicht bei Seite; suchte den Gedanken an den D. Froriep und an seinen Freund N..., so viel wie moͤglich vor sich selber zu verbergen; und engagierte sich, ohne jeman¬ den etwas davon zu sagen, bey dem Prinzipal der Truppe; er hatte den Muth und die Hofnung in der ersten Rolle sich so zu zeigen, daß jeder¬ mann seinen Entschluß billigen wuͤrde. Nun kam es auf die erste Rolle an, worin er auftreten sollte; und zufaͤlliger Weise traf es sich, daß in einigen Tagen die Poeten nach der Mode gespielt werden sollten, worin man ihm eine Rolle antrug. Er wuͤnschte sich, den Dunkel zu spielen, und hatte die Rolle schon auswendig gelernt, als sein neuer Freund, der Schauspieler B... ihn davon abrieth, weil er selbst immer diese Rolle gespielt habe, und sie ihm vorzuͤglich gut gelun¬ gen sey, Reiser moͤchte also lieber den Reimreich uͤbernehmen, weil ein wenig bedeutender Schau¬ spieler diese Rolle besitze. Reiser ließ sich auch dieß sehr gern gefallen‚ weil er durch den Maskaril und den Magister Blasius, welche Rollen er doch beide mit Bei¬ fall gespielt, sich auch einige Staͤrke im Komi¬ schen zutrauete. Er schrieb sich also seine Rolle auf, und lernte sie auswendig. Er war wirklich in der Aussicht auf seine theatralische Laufbahn vollkommen gluͤcklich, als eine Bemerkung, die unter diesen Hofnungen die fuͤrchterlichste fuͤr ihn war, ihn mit Angst und Schrecken erfuͤllte. Ihm war es, wie einem, den des Satans Engel mit Faͤu¬ sten schluͤge: er bemerkte, daß ihm der Verlust seines Haars drohte. Gerade jetzt also, da er einen Koͤrper ohne Fehl am nothwendigsten brauchte, betraf ihn dieser Zufall, der ihn schon im Voraus gegen sich selber mit Abscheu erfuͤllte. Er eilte in dieser Noth zu seinem treuen Freunde, dem Doktor Sauer, der ihm zu der Erhaltung seiner Haare wieder Hofnung mach¬ te; und so fand er sich denn am Abend, wo die Poeten nach der Mode aufgefuͤhrt werden soll¬ ten, in der Garderobe hinter den Kulissen ein, und kleidete sich komisch genug, um den Reim¬ reich, in seinem laͤcherlichsten Lichte darzustellen; sein Name stand an diesem Tage schon auf dem Komoͤdienzettel an allen Ecken mit angeschlagen. Als das Schauspiel bald angehen sollte, kam sein Freund N. . . auf das Theater, und machte ihm die bittersten Vorwuͤrfe; Reiser ließ sich durch nichts in dem Taumel seiner Leidenschaft stoͤren, und war ganz in seiner Rolle vertieft, woran sogar sein Freund N... zuletzt mit Theil nahm, und uͤber seinen komischen Anzug lachte, als auf einmal ein Bote erschien, welcher dem Prinzipal ankuͤndigte, daß der Doktor Froriep sogleich zum Stadthalter fahren, und Beschwerde uͤber ihn fuͤhren wuͤrde, wofern er es wagte, den Studenten, dessen Nahme auf dem Komoͤ¬ dienzettel gedruckt staͤnde, das Theater be¬ treten zu lassen; Verlust seiner Konzession hier zu spielen, wuͤrde die unausbleibliche Folge da¬ von seyn. Reiser Reiser stand wie versteinert da, und der Prinzipal wußte in der Angst nicht, wozu er greifen sollte, bis sich ein Schauspieler erbot, die Rolle des Reimreich, so gut es gehen wollte, nach dem Soufleur zu spielen; denn man pochte schon im Parterre, daß der Vorhang sollte auf¬ gezogen werden. Wuͤthend gieng Reiser hinter den Kulissen auf und ab, und zernagte seine Rolle, die er in der Hand hielt. Dann eilte er, so schnell wie moͤglich, aus dem Schauspielhause, und durch¬ irrte wieder alle Straßen bei dem stuͤrmischen und regnigten Wetter, bis er gegen Mitter¬ nacht auf einer bedeckten Bruͤcke, die ihn vor dem Regen schuͤtzte, vor Mattigkeit sich nieder¬ warf, und eine Weile ausruhte, worauf er wie¬ der umherirrte, bis der Tag anbrach. Diese aͤußersten Anstrengungen der Natur, waren das einzige, was ihm das Verlohrne in dem ersten bittersten Schmerz daruͤber einiger¬ maßen ersetzen konnte. Das fortdauernde Lei¬ denschaftliche dieses Zustandes hatte in sich et¬ was, das seiner unbefriedigten Sehnsucht wie¬ der neue Nahrung gab. Sein ganzes mißlun¬ 4ter Theil . M genes theatralisches Leben draͤngte sich gleichsam in diese Nacht zusammen, wo er alle die leiden¬ schaftlichen Zustaͤnde in sich durchgieng, die er außer sich nicht hatte darstellen koͤnnen. Am andern Tage ließ ihn der Doktor Fro¬ riep zu sich kommen, uud redete ihm, wie ein Vater zu. Er bediente sich des schmeichelhaften Ausdrucks, daß Reisers Anlagen ihn zu etwas Besserm als zu einem Schauspieler bestimmten, daß er sich selbst verkennte, und seinen eigenen Werth nicht fuͤhlte. — Da nun Reiser doch die Unmoͤglichkeit ein¬ sah, seinen Wunsch in Erfurt zu befriedigen, so taͤuschte er sich wiederum, und uͤberredete sich selber, daß er freiwillig der Idee sich dem Thea¬ ter zu widmen entsage, weil sich alles gleichsam vereinigte, um seinen Entschluß zu hintertreiben, und die Art, wie der Doktor Froriep ihn davon abmahnte, zugleich so viel Schmeichelhaftes fuͤr ihn hatte. Kaum aber war er wieder fuͤr sich allein, so raͤchte sich seine Selbsttaͤuschung durch erneuerten bittern Unmuth, Unentschlossenheit, und Kampf mit sich selber, bis nach einigen Tagen, ihn der haͤrteste Schlag traf, den er noch immer zu vermeiden hofte, er mußte sein Haar verlieren. Der Gedanke nunmehro in einer Perucke, welches unter den Erfurter Studenten ganz et¬ was Ungewoͤhnliches war, erscheinen zu muͤssen, war ihm unertraͤglich. Mit dem wenigen Gelde, was er noch uͤbrig hatte, gieng er an das aͤußerste Ende der Stadt, wo er sich in einem Gasthof einquartierte, in welchem er aber nur schlief, und des Abends sich etwas Bier und Brodt ge¬ ben ließ, um desto laͤnger mit seinem Gelbe zu reichen. Bei Tage gieng er groͤßtentheils in oͤden Ge¬ genden umher, suchte, wenn es regnete, in den Kirchen Schutz, und brachte auf die Weise beinahe vierzehn Tage zu, in welcher Zeit nie¬ mand wußte, wo er geblieben war; bis endlich denn doch einer seiner Freunde ihn ausspaͤhte, und er auf einmal von N. . . O. . . W. . . und noch einigen, die sich fuͤr ihn interessirten, in dem Gasthofe unvermuthet uͤberrascht, und uͤber seine Entfernung ihm freundschaftliche Vorwuͤrfe gemacht wurden. M 2 Er konnte nun sein Haar vor der Stirn uͤber die Perucke schon etwas uͤberkaͤmmen, und wenn er sich dann stark puderte, so hatte es einiger¬ maßen den Anschein, als ob er eigenes Haar truͤge. Er entschloß sich also mit den Freunden, die ihn abholten, wieder in die menschliche Gesell¬ schaft zu gehen, aber er wollte auch so viel wie moͤglich, nur unter ihnen seyn, und wuͤnschte auch auf alle Weise entfernt und einsam zu wohnen. Auch diesen Wunsch suchte man ihm zu ge¬ waͤhren. Der gutmuͤthige W... sprach gleich mit seinem Onkel, dem damaligen Regierungs¬ rath und Professor Springer in Erfurt, und stellte ihm Reisers Zustand, und sein Beduͤrfniß einer einsamen Wohnung lebhaft vor. Der Regierungsrath Springer ließ Reisern zu sich kommen, und wenn dieser jemals auf¬ munternd angeredet, und mit wahrer Theilneh¬ mung aufgenommen wurde, so war es von die¬ sem Manne, gegen welchen Reiser die innigste Zuneigung und Verehrung faßte. Er las damals ein statistisches Kollegium, welches Reiser ein paarmal mit anhoͤrte, und da ihn die Sache sehr interessirte, vom R. Sprin¬ ger aufgefordert wurde, sich diesem Fache zu widmen, wobei er ihn auf alle moͤgliche Weise unterstuͤtzen wolle. Den Anfang dieser Unterstuͤtzung machte nun der R. Springer sogleich damit, daß er Reisern, seinem Wunsche gemaͤß, eine einsame Wohnung gab, indem er ihm sein eigenes Gar¬ tenhaus einraͤumte, wozu Reiser den Schluͤssel bekam, und wo er aus seinem Fenster die schoͤnste Aussicht uͤber einen Theil der aneinandergraͤn¬ zenden Gaͤrten hatte, welche ganz Erfurt um¬ gaben. Reiser genoß auch wieder seinen Freitisch, der Doktor Froriep nahm sich seiner auf das thaͤ¬ tigste an, und suchte ihm auf alle Weise Unter¬ stuͤtzung zu verschaffen; er fing sogar an mathe¬ matische Kollegia zu hoͤren, seine guten Freunde zo¬ gen ihn mit zu allen ihren litterarischen Zusammen¬ kuͤnften, und lasen ihm zum Theil ihre Ausar¬ beitungen vor, so daß die Sache nunmehro im besten Gange war, wenn ein neuer ungluͤcklicher M 3 Anfall von Poesie nicht alles wieder verdor¬ ben haͤtte. Zuerst mochte wohl sein neuer Aufenthalt in der einsamen romantischen Wohnung nicht we¬ nig dazu beitragen, seine Einbildungskraft aufs neue zu erhitzen. Dann kam ein Brief dazu, den er an Philipp Reisern in Hannover schrieb, und welcher seinen Ruͤckfall beschleunigte. Dieß Schreiben war denn ganz im Tone der Wertherschen Briefe abgefaßt. Die patriarcha¬ lischen Ideen mußten auch auf alle Weise wieder erweckt werden, nur Schade, daß es hier nicht wohl ohne Affektation geschehen konnte. Denn um diesen Brief schreiben zu koͤnnen, schafte sich Reiser erst einen Theetopf an, und lieh sich eine Tasse, und weil er kein Holz im Hause hatte, kaufte er sich Stroh, welches man in Erfurt zum Brennen braucht, um sich selber in seinem Stuͤbchen, in dem kleinen Oefchen seinen Thee zu kochen, womit er endlich, nach¬ dem er vor Rauch beinahe erstickt war, zu Stande kam. Und als dieß nun nur erst einmal geschehen war, so schrieb er gleichsam triumphirend an Philipp Reisern. Jetzt, mein Lieber! bin ich in einer Lage, welche ich mir nicht reitzender wuͤnschen koͤnnte. Ich blicke aus meinem kleinen Fenster uͤber die weite Flur hinaus, sehe ganz in der Ferne eine Reihe Baͤumchen auf einem kleinen Huͤgel her¬ vorragen, und denke an Dich, mein Lieber u. s. w. Ich habe die Schluͤssel dieser einsamen Woh¬ nung, und bin hier Herr im Haus' und Garten, u. s. w. Wenn ich denn manchmal so da sitze, an dem kleinen Oefchen, und mir selbst meinen Thee koche, u. s. w. In dem Tone gieng es fort, und ward ein stattlicher und langer Brief; und als nun Rei¬ ser es nicht uͤber das Herz bringen konnte, die¬ sen schoͤnen Brief nicht auch seinem kritischen Freunde, dem Doktor Sauer zu zeigen: so verdarb dieser vollends die Sache, indem er ihm nach seiner gutmuͤthigen Hoͤflichkeit das Kompliment machte: wenn ihm Reisers Gegen¬ wart nicht selbst zu lieb waͤre, so wuͤrde er wuͤn¬ M 4 schen, entfernt zu seyn, um nur solche Briefe von Reisern zu erhalten. Und nun war auf einmal, der beinahe zur Ruhe gebrachte Dichtungstrieb bei Reisern wieder angefacht. Er suchte nun zuerst sein Gedicht uͤber die Schoͤpfung vollends durch das Chaos durch¬ zufuͤhren, und hub mit neuer Quaal an, in der Darstellung von graͤßlichen Widerspruͤchen und ungeheuren labyrinthischen Verwickelungen der Gedanken sich zu verlieren, bis endlich folgende beide Hexameter, die er aus der Bibel nahm, ihn aus einer Hoͤlle von Begriffen erloͤßten. Auf dem stillen Gewaͤsser rauschte die Stimme des Ewigen Sanft daher, und sprach: es werde Licht! und es ward Licht. Merkwuͤrdig war es, daß ihm nun die Lust ver¬ gieng, dieß Gedicht weiter fortzufuͤhren, sobald der Stoff nicht fuͤrchterlich mehr war. Er suchte also nun einen Stoff aus, der immer fuͤrchter¬ lich bleiben mußte, und den er in mehreren Ge¬ saͤngen bearbeiten wollte; was konnte dieß wohl anders seyn, als der Tod selber! Dabei war es ihm eine schmeichelhafte Idee, daß er, als ein Juͤngling, sich einen so ernsten Gegenstand zu besingen waͤhlte; daher hub er denn auch sein Gedicht an: Ein Juͤngling, der schon fruͤh den Kelch der Leiden trank, u. s. w. Als er nun aber zum Werke schritt, und den ersten Gesang seines Gedichts, wovon er den Titel schon recht schoͤn hingeschrieben hatte , wirklich bearbeiten wollte, fand er sich in seiner Hofnung einen Reichthum von fuͤrch¬ terlichen Bildern vor sich zu finden, auf das Bit¬ terste getaͤuscht. Die Fluͤgel sanken ihm, und er fuͤhlte seine Seele wie gelaͤhmt, da er nichts, als eine weite Leere, eine schwarze Oede vor sich erblickte, wo sich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende Leben, wie bei der Schilderung des Chaos an¬ bringen ließ, sondern eine ewige Nacht alle Ge¬ stalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle Bewegungen fesselte. Er strengte mit einer Art von Wuth seine Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bil¬ M 5 der hineinzutragen, allein sie schwaͤrzten sich, wie auf Herkules Haupte die gruͤnen Blaͤtter seines Pappelkranzes, da er sich, um den Cerberus zu fangen, dem Hause des Pluto nahte. Alles was er niederschreiben wollte, loͤste sich in Rauch und Nebel auf, und das weiße Papier blieb unbeschrieben. Ueber diesen immer wiederholten vergeblichen Anstrengungen eines falschen Dichtungstriebes, erlag er endlich, und verfiel selbst in eine Art von Lethargie und voͤlligem Lebensuͤberdruß. Er warf sich eines Abends mit den Kleidern aufs Bette, und blieb die Nacht und den ganzen folgenden Tag in einer Art von Schlafsucht lie¬ gen, aus der ihm erst am Abend des folgenden Tages, wo es gerade Weihnachten war, ein Bote von seinem Goͤnner dem Regierungsrath Sprin¬ ger weckte, dessen Frau an Reisern ein sehr gro¬ ßes Weihnachtsbrodt zum Geschenk uͤbersandte. Dieß war nun gerade, was ihn in seiner un¬ widerstehlichen Schlafsucht noch bestaͤrkte. Er schloß sich mit diesem großen Brodte ein, und lebte vierzehn Tage davon, weil er nur wenig genoß, indem er Tag und Nacht, wo nicht in einem im¬ merwaͤhrenden Schlafe, doch, die letzten Tage ausgenommen, in einem bestaͤndigem Schlummer, im Bette zubrachte. Hiezu kam nun freilich der Umstand, daß er kein Holz hatte, um einzu¬ heizen: er haͤtte aber auch nur ein Wort sagen duͤrfen, um dies Beduͤrfniß zu befriedigen, wenn es ihm nicht gewissermaßen selbst lieb gewesen waͤre, den Mangel des Holzes als einen Be¬ weggrund zu dieser sonderbaren Lebensart vor¬ schuͤtzen zu koͤnnen. Reiser wurde in diesem Zustande auch von seinen Freunden nicht gestoͤrt, weil er gegen diese oft den Wunsch geaͤußert hatte, daß er nur ein¬ mal ein paar Wochen lang ganz einsam zu seyn wuͤnschte. Nun hatte aber dieser Zustand eine sonderbare Wirkung auf Reisern: die ersten acht Tage brach¬ te er in einer Art von gaͤnzlicher Abspannung und Gleichguͤltigkeit zu, wodurch er den Zustand, den er vergeblich zu besingen gestrebt hatte, nun gewissermaßen in sich selber darstellte. Er schien aus dem Lethe getrunken zu haben, und kein Fuͤnckchen von Lebenslust mehr bei ihm uͤbrig zu seyn. Die letztern acht Tage aber, war er in einem Zustande, den er, wenn er ihn isoliert betrach¬ tet, unter die gluͤcklichsten seines Lebens zaͤhlen muß. Durch die lange fortdaurende Abspannung hatten sich allmaͤlig die schlafenden Kraͤfte wie¬ der erholt. Sein Schlummer wurde immer sanf¬ ter; durch seine Adern schien sich ein neues Leben zu verbreiten; seine jugendlichen Hofnungen er¬ wachten wieder eine nach der andern; Ruhm und Beifall kroͤnten ihn wieder; schoͤne Traͤume lie¬ ßen ihn in eine goldne Zukunft blicken. Er war von diesem langen Schlafe wie berauscht, und fuͤhlte sich in einem angenehmen Taumel, so oft er von dem suͤßen Schlummer ein wenig auf¬ daͤmmerte. Sein Wachen selber war ein fortge¬ setzter Traum; und er haͤtte alles darum gege¬ ben in diesem Zustande ewig bleiben zu duͤrfen. Wenn er daher die gefrornen Fenster ansah, so war ihm dieß der angenehmste Anblick, weil er dadurch genoͤthigt wurde, immer noch einen Tag laͤnger im Bette zu bleiben. Sein großes Brodt auf dem Tische betrachtete er wie ein Hei¬ ligthum, daß er so sehr wie moͤglich schonen mu߬ te, weil von der Dauer dieses Brodts mit die Dauer seines gluͤcklichen Zustandes abhing. Nun fuͤhlte er sich aber auch wieder, sobald es gelten sollte, zu nichts zu schwach. Das Thea¬ ter stand wieder so glaͤnzend wie jemals vor ihm da; alle die theatralischen Leidenschaften durch¬ stuͤrmten wieder eine nach der andern seine Seele, und die Gemuͤther der Zuschauer wurden durch sein Spiel erschuͤttert. Als nun sein Brodt verzehrt war, stand er gegen Abend auf, ordnete seinen Anzug so gut wie moͤglich, und sein erster Gang war ins Theater, wo er sich in einen Winkel setzte, und erstlich ein Stuͤck Namens Inkle und Yariko, alsdann aber die Leiden des jungen Werthers auf¬ fuͤhren sahe. Der Verfasser des letztern hatte fast nichts gethan, als die wertherschen Briefe in Dia¬ logen und Monologen verwandelt, die denn frei¬ lich sehr lang wurden, aber doch das Publikum sowohl als die Schauspieler wegen des ruͤhren¬ den Gegenstandes, außerordentlich interessirten. Nun ereignete sich aber gerade bei der tragischen Katastrophe des letztern Stuͤcks ein sehr komi¬ scher Zufall. Man hatte sich nehmlich irgendwo ein paar alte verrostete Pistolen geliehen, und war zu nachlaͤßig gewesen, sie vorher zu pro¬ biren. Der Akteur, welcher den Werther spielte nahm sie vom Tische auf, und sagte denn alles, wie es im Werther steht, buchstaͤblich dabei; „Deine „Haͤnde haben sie beruͤhrt; du hast selber den „Staub davon abgeputzet, u. s. w. Dann hatte er sich auch, um alles genau und vollstaͤndig darzustellen, einen Schoppen Wein und Brodt bringen lassen, wozu denn der Auf¬ waͤrter nicht ermangelte auch ein Brodtmesser auf den Tisch zu legen. Am Ende aber war das Stuͤck so eingerich¬ tet, daß Werthers Freund Wilhelm, indem er den Schuß fallen hoͤrte, hereinstuͤrzen, und ausrufen mußte: Gott! ich hoͤrte einen Schuß fallen! Dieß war alles recht schoͤn; als aber Wer¬ ther das ungluͤckliche Pistol ergrif, es an die rechte Stirne hielt, und auf sich losdruͤckte, so versagte es ihm in seiner Hand. Durch diesen widrigen Zufall noch nicht aus der Fassung gebracht, schleuderte der entschlos¬ fene Schauspieler das Pistol weit von sich weg, und rief pathetisch aus: auch diesen traurigen Dienst willst du mir versagen? Dann ergrif er ploͤtzlich die andere, druͤckte sie wie die erste loß, und o Ungluͤck! auch diese versagte ihm. Nun erstarb ihm das Wort im Munde; mit zitternden Haͤnden ergrif er das Brodmesser das zufaͤlliger Weise auf dem Tische lag, und durchstach sich damit zum Schrecken aller Zu¬ schauer Rock und Weste. — Indem er nun fiel, stuͤrzte sein Freund Wilhelm herein, und rief — „Gott! ich hoͤrte einen Schuß fallen!“ Schwerlich kann wohl eine Tragoͤdie sich ko¬ mischer wie diese schließen. — Dieß brachte aber Reisern nicht aus seiner hochschwebenden Phantasie, vielmehr bestaͤrkte es ihn darin, weil er so etwas Unvollkommenes vor sich sahe, das durch etwas Vollkommenes ersetzt werden mußte. Er hoͤrte, daß in acht Tagen die Schauspie¬ ler von Erfurt abreisen, und nach Leipzig gehen wuͤrden, er hoͤrte ferner daß der geschickteste Schauspieler unter dieser Truppe Nahmens B. . . einen Ruf nach Gotha erhalten haͤtte; er hatte also nun keinen Nebenbuhler mehr zu fuͤrchten; Leipzig war der Ort um zu glaͤnzen; seine Pe¬ rucke konnte er sehr geschickt unter den wiederge¬ wachsenen Haaren verbergen. Wie viele neue Gruͤnde nm der Leidenschaft, die schon vorher da war, und nur eine Weile geschlummert hatte, aufs neue uͤber die Vernunft den Sieg zu geben. Er machte seinen Freunden sogleich den Entschluß bekannt, daß er gesonnen sey, mit der Sp. . .schen Truppe nach Leipzig zu gehen, daß er einen unwiderstehlichen Trieb in sich fuͤhle, der ihn ungluͤcklich machen wuͤrde, wenn er ihn uͤberwinden wollte, und der ihn in allen seinen Unternehmungen doch immerfort hindern wuͤrde. Er stellte seine Gruͤnde so leidenschaftlich und stark vor, daß selbst sein Freund N. . . ihm nichts dagegen sagen konnte, der ihm sonst schon die rei¬ zendsten Schilderungen gemacht hatte, wie sie im kuͤnftigen Fruͤhling wieder auf dem Steiger¬ walde den Klopstock lesen wuͤrden u. s w. Reiser hielt sich nun schon bei den Schau¬ spielern auf, und brachte dem Regierungsrath Springer den Schluͤssel zu dem Gartenhause wieder, indem er ihm auf das Lebhafteste seinen ungluͤcklichen Zustand schilderte, wenn er den Trieb zum Theater unterdruͤcken wollte. Der R. Springer behandelte Reisern auch hier noch auf die toleranteste Art. Er rieth ihm selber, wenn der Trieb bei ihm so unwidersteh¬ lich sey, demselben zu folgen, weil dieser Trieb, der immer wiedergekehrt war, vielleicht einen wahren Beruf zur Kunst in sich enthielte, dem er sich alsdann nicht entziehen solle. Waͤre aber das Gegentheil, und sollte Reiser sich selber taͤu¬ schen, und in seiner Unternehmung nicht gluͤck¬ lich seyn, so moͤchte er sich unter jeden Umstaͤn¬ den und in jeder Lage, dreist wieder an ihn wen¬ den, und seiner Huͤlfe versichert seyn. Reiser nahm mit so geruͤhrtem Herzen Ab¬ schied, daß er kein Wort vorbringen konnte, so sehr hatte die Großmuth und Nachsicht dieses Mannes sein Gemuͤth bewegt. Er machte sich selber beim Weggehen die bittersten Vorwuͤrfe, daß er sich einer solchen Liebe und Freundschaft jetzt nicht wuͤrdiger zeigen konnte. Als nun Reiser um Abschied zu nehmen, zum Doktor Froriep kam, welcher seinen Entschluß durch N. . . schon wußte, so wurde er von die¬ 4ter Theil N sem eben so nachsichtsvoll, wie von seinem an¬ dern Goͤnner behandelt; und der Doktor Froriep erklaͤrte sich, daß er seinen Entschluß ihm nicht nur nicht widerrathen, sondern ihn vielmehr darin bestaͤrken wuͤrde, wenn die Schaubuͤhne schon in dem Maße eine Schule der Sitten waͤ¬ re, als sie es eigentlich seyn koͤnnte, und seyn sollte. Eine kleine Ironie fuͤgte er denn doch am En¬ de nicht ohne Grund hinzu, indem er zu seiner kleinen Tochter, die er auf dem Arme trug, sag¬ te; wenn du groß bist, so wirst du denn auch einmal von dem beruͤhmten Schauspieler Reiser hoͤren, dessen Nahme in ganz Deutschland be¬ ruͤhmt ist! Aber auch diese sehr wohlgemeinte Ironie blieb bei Reisern fruchtlos, der sich dem¬ ohngeachtet mit inniger Ruͤhrung und bittern Vorwuͤrfen gegen sich selber an alles das erin¬ nerte, was der Doktor Froriep fuͤr ihn schon ge¬ than hatte, und wovon er nun selbst den End¬ zweck vereitelte. Allein es schien ihm nunmehro Pflicht der Selbsterhaltung, allen diesen innern Vorwuͤr¬ fen kein Gehoͤr zu geben, weil er sich fest uͤber¬ zeugt glaubte, daß er der ungluͤcklichste Mensch seyn wuͤrde, wenn er seiner Neigung nicht folgte. Die Sp. . . sche Truppe aber war die letzten Wochen, wegen Mangel an Einnahme in die aͤußerste Armuth gerathen. Der Direktor Sp. . . reißte mit der Garderobe allein nach Leipzig vor¬ aus, und von den uͤbrigen Schauspielern mußte ein jeder selbst zusehen, daß er so gut wie moͤg¬ lich den Ort seiner Bestimmung erreichte, einige reisten zu Pferde, andere zu Wagen, und noch an¬ dere zu Fuß, nachdem es die Umstaͤnde eines jedeu erlaubten, denn die gemeinschaftliche Kasse war laͤngst erschoͤpft: in Leipzig aber hofte man nun, bald sich wieder zu erholen. Reiser machte sich denn auch denselben Nach¬ mittag, wo er Abschied genommen hatte, zu Fuß auf den Weg, und sein Freund N. . . be¬ gleitete ihn zu Pferde bis nach dem naͤchsten Dorfe auf dem Wege nach Leipzig, wo N. . . am kuͤnftigen Sonntage predigen wollte. Nachdem sie im Gasthofe eingekehrt waren, und sich noch einmal aller der seligen Scenen er¬ innert hatten, die sie genossen haben wollten, wenn sie am Abhange des Steigers Klopstocks N 2 Messiade zusammen lasen, so machte sich Reiser wieder auf den Weg, und N... begleitete ihn noch eine ganze Strecke hin, bis es dunkel wurde. Da umarmten sie sich, und nahmen auf die ruͤhrendste Weise von einander Abschied, indem sie sich bei diesem Abschiede zum erstenmal Bru¬ der nannten. Reiser riß sich loß, und eilte schnell fort, indem er seinem Freunde zurief: nun reit zuruͤck! Als er aber schon in einiger Entfernung war, sah er sich wieder um, und rief noch einmal: gute Nacht ! Sobald er dieß Wort gesagt hatte, war es ihm fatal, und er aͤrgerte sich daruͤber, so oft es ihm wieder einfiel. Denn die ganze empfindsame Scene hatte selbst in der Erinnerung dadurch einen Stoß erlitten, weil es komisch klingt, einem, den man auf lange Zeit oder vielleicht auf immer schon lebe wohl ge¬ sagt hat, nun noch einmal ordentlich eine gute Nacht zu wuͤnschen, gleichsam als wenn man am andern Morgen wieder einen Besuch bei ihm ablegen wuͤrde. — Es war eine schneidende Kaͤlte. Reiser aber wanderte nun, ohne irgend eine Buͤrde zu tra¬ gen, mit reitzenden Aussichten auf Ruhm und Beifall seine Straße fort. Oft, wenn er auf eine Anhoͤhe kam, stand er ein wenig still, und uͤbersah die beschneiten Fluren, indem ihm auf einen Augenblick ein sonderbarer Gedanke durch die Seele schoß, als ob er sich wie einen Fremden hier wandeln, und sein Schicksal wie in einer dunkeln Ferne saͤhe — Diese Taͤuschung verschwand aber eben so bald, wie sie entstand; und er dachte dann wieder im Gehen vor sich, wie Leipzig aussehen, in was fuͤr Rollen er auftreten wuͤrde u. s. w. Auf die Weise legte er den Weg von Erfurt nach Leipzig sehr vergnuͤgt zuruͤck; im Gehen aber sprach er haͤufig den Namen N. . . aus, den er wirklich liebte, und weinte heftig dabei bis ihm das komische gute Nacht einfiel, wel¬ ches er gar nicht in den Zusammenhang dieser ruͤhrenden Erinnerung mit zu bringen wußte. In Erfurt hatte man ihm schon gesagt, daß er in Leipzig in dem Gasthofe zum goldenen Herzen einkehren muͤsse, wo die Schauspieler immer logierten, und gleichsam dort ihre Nie¬ derlage haͤtten. Als er in die Stube trat, fand er denn auch schon eine ziemliche Anzahl von den Mitgliedern der Sp. . schen Truppe vor, die er als seine kuͤnftigen Kollegen begruͤßen wollte, indem er an allen eine außerordentliche Niedergeschlagen¬ heit bemerkte, welche sich ihm bald erklaͤrte, als man ihm die troͤstliche Nachricht gab, daß der wuͤrdige Principal dieser Truppe gleich bei sei¬ ner Ankunft in Leipzig, die Theatergarderobe verkauft habe, und mit dem Gelde davon ge¬ gangen sey. — Die Sp. . . sche Truppe war also nun eine zerstreuete Heerde.