Die Erziehung des Menschengeschlechts. omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt. Augustinus. Herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing. Berlin, 1780. Bey Christian Friedrich Voß und Sohn. Vorbericht des Herausgebers. I ch habe die erste Haͤlfte dieses Aufsatzes in meinen Beytraͤ¬ gen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu lassen. A 2 Der Der Verfasser hat sich darinn auf einen Huͤgel gestellt‚ von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu uͤber¬ sehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wan¬ derer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wuͤnscht‚ von seinem Pfa¬ de. Er verlangt nicht‚ daß die Aus¬ sicht‚ die ihn entzuͤcket, auch jedes an¬ dere Auge entzuͤcken muͤsse. Und so‚ daͤchte ich‚ koͤnnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen‚ wo er steht und staunt! Wenn Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendroth sei¬ nem Blicke weder ganz verhuͤllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Finger¬ zeig mitbraͤchte, um den ich oft ver¬ legen gewesen! Ich meyne diesen. — Warum wollen wir in allen positiven Religio¬ nen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln koͤnnen, und noch ferner entwickeln soll; als uͤber eine derselben entweder laͤ¬ cheln, A 3 cheln‚ oder zuͤrnen? Diesen unsern Hohn‚ diesen unsern Unwillen‚ ver¬ diente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdie¬ nen? Gott haͤtte seine Hand bey al¬ lem im Spiele: nur bey unsern Irr¬ thuͤmern nicht? Die Die Erziehung des Menschengeschlechts. A 4 §. 1. W as die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bey dem ganzen Menschengeschlechte. §. 2. Erziehung ist Offenbarung, die dem ein¬ zeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht. §. 3. Ob die Erziehung aus diesem Gesichts¬ punkte zu betrachten, in der Paͤdagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht un¬ ter¬ A 5 tersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Men¬ schengeschlechts vorstellet. §. 4. Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben koͤnnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben koͤnnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offen¬ barung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst uͤberlassen, nicht auch kommen wuͤr¬ de: de: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur fruͤher. §. 5. Und so wie es der Erziehung nicht gleichguͤltig ist, in welcher Ordnung sie die Kraͤfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal bey¬ bringen kann: eben so hat auch Gott bey seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maaß halten muͤssen. §. 6. Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mit¬ mitgetheilte, und nicht erworbene Begriff, unmoͤglich lange in seiner Lauterkeit beste¬ hen. Sobald ihn die sich selbst uͤberlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem die¬ ser Theile ein Merkzeichen. §. 7. So entstand natuͤrlicher Weise Vielgoͤt¬ terey und Abgoͤtterey. Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die mensch¬ liche Vernunft noch in diesen Irrwegen wuͤrde herumgetrieben haben; ohngeachtet uͤberall und zu allen Zeiten einzelne Men¬ schen schen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen haͤtte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Rich¬ tung zu geben. §. 8. Da er aber einem jeden einzeln Men¬ schen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so waͤhlte er sich ein einzel¬ nes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwil¬ dertste, um mit ihm ganz von vorne an¬ fangen zu koͤnnen. §. 9. §. 9. Dieß war das Israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, was es fuͤr einen Gottesdienst in Aegypten hatte. Denn an dem Gottesdienste der Aegyptier durften so verachtete Sklaven nicht Theil nehmen: und der Gott seiner Vaͤter war ihm gaͤnzlich unbekannt ge¬ worden. §. 10. Vielleicht, daß ihm die Aegyptier allen Gott, alle Goͤtter ausdruͤcklich untersagt hatten; es in den Glauben gestuͤrzt hatten, es habe gar keinen Gott, gar keine Goͤt¬ ter; ter; Gott, Goͤtter haben, sey nur ein Vorrecht der bessern Aegyptier: und das, um es mit so viel groͤßerm Anscheine von Billigkeit tyrannisiren zu duͤrfen. — Ma¬ chen Christen es mit ihren Sklaven noch itzt viel anders? — §. 11. Diesem rohen Volke also ließ sich Gott anfangs blos als den Gott seiner Vaͤter an¬ kuͤndigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm zustehenden Gottes bekannt und vertraut zu machen. §. 12. §. 12. Durch die Wunder, mit welchen er es aus Aegypten fuͤhrte, und in Kanaan ein¬ setzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der maͤchtiger sey, als ir¬ gend ein andrer Gott. §. 13. Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Maͤchtigsten von allen zu bezeugen — wel¬ ches doch nur einer seyn kann, — ge¬ woͤhnte er es allmaͤlig zu dem Begriffe des Einigen . §. 14. §. 14. Aber wie weit war dieser Begriff des Ei¬ nigen, noch unter dem wahren transcen¬ dentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spaͤt erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen! §. 15. Zu dem wahren Begriffe des Einigen — wenn sich ihm auch schon die Besserern des Volks mehr oder weniger naͤherten — konnte sich doch das Volk lange nicht er¬ heben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen Einigen Gott verließ, und den Einigen, d. i. Maͤch¬ tig¬ B tigsten, in irgend einem andern Gotte ei¬ nes andern Volks zu finden glaubte. §. 16. Ein Volk aber, das so roh, so unge¬ schickt zu abgezognen Gedanken war, noch so voͤllig in seiner Kindheit war, was war es fuͤr einer moralischen Erziehung faͤ¬ hig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen. §. 17. Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte Gott Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als eines, durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden gluͤcklich oder ungluͤcklich zu werden hoffte oder fuͤrchtete. Denn weiter als auf dieses Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wußte von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem kuͤnftigen Leben. Ihm aber nun schon diese Dinge zu offenbaren, wel¬ chen seine Vernunft noch so wenig gewach¬ sen war: was wuͤrde es bey Gott anders gewesen seyn, als der Fehler des eiteln Paͤdagogen, der sein Kind lieber uͤbereilen und B 2 und mit ihm prahlen, als gruͤndlich unter¬ richten will. §. 18. Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen mußte? Ich antworte: um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller uͤbrigen Voͤlker brauchen zu koͤnnen. Er erzog in ihm die kuͤnftigen Erzieher des Men¬ schengeschlechts. Das wurden Juden, das konnten nur Juden werden, nur Maͤnner aus einem so erzogenen Volke. §. 19. §. 19. Denn weiter. Als das Kind unter Schlaͤgen und Liebkosungen aufgewachsen und nun zu Jahren des Verstandes gekom¬ men war, stieß es der Vater auf einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte. §. 20. Waͤhrend daß Gott sein erwaͤhltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erzie¬ hung fuͤhrte: waren die andern Voͤlker des Erdbodens bey dem Lichte der Vernunft ih¬ ren Weg fortgegangen. Die meisten der¬ selben B 3 selben waren weit hinter dem erwaͤhlten Volke zuruͤckgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen. Und auch das ge¬ schieht bey Kindern, die man fuͤr sich auf¬ wachsen laͤßt; viele bleiben ganz roh; eini¬ ge bilden sich zum Erstaunen selbst. §. 21. Wie aber diese gluͤcklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die Nothwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen heidnischen Voͤlker, die selbst in der Erkenntniß Gottes vor dem erwaͤhlten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu ha¬ ben schienen, nichts gegen die Offenba¬ rung. rung. Das Kind der Erziehung faͤngt mit langsamen aber sichern Schritten an; es hohlt manches gluͤcklicher organisirte Kind der Natur spaͤt ein; aber es hohlt es doch ein, und ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen. §. 22. Auf gleiche Weise. Daß, — die Lehre von der Einheit Gottes bey Seite gesetzt, welche in den Buͤchern des Alten Testaments sich findet, und sich nicht findet — daß, sage ich, wenigstens die Lehre von der Un¬ sterblichkeit der Seele, und die damit ver¬ bundene Lehre von Strafe und Belohnung in B 4 in einem kuͤnftigen Leben, darinn voͤllig fremd sind: beweiset eben so wenig wider den goͤttlichen Ursprung dieser Buͤcher. Es kann dem ohngeachtet mit allen darinn ent¬ haltenen Wundern und Prophezeyungen seine gute Richtigkeit haben. Denn laßt uns setzen, jene Lehren wuͤrden nicht allein darinn vermißt , jene Lehren waͤren auch sogar nicht einmal wahr ; laßt uns se¬ tzen, es waͤre wirklich fuͤr die Menschen in diesem Leben alles aus: waͤre darum das Daseyn Gottes minder erwiesen? stuͤnde es darum Gotte minder frey, wuͤrde es dar¬ um Gotte minder ziemen, sich der zeitli¬ chen chen Schicksale irgend eines Volks aus die¬ sem vergaͤnglichen Geschlechte unmittelbar anzunehmen? Die Wunder, die er fuͤr die Juden that, die Prophezeyungen, die er durch sie aufzeichnen ließ, waren ja nicht blos fuͤr die wenigen sterblichen Juden, zu deren Zeiten sie geschahen und aufgezeich¬ net wurden: er hatte seine Absichten damit auf das ganze Juͤdische Volk, auf das ganze Menschengeschlecht, die hier auf Er¬ den vielleicht ewig dauern sollen, wenn schon jeder einzelne Jude, jeder einzelne Mensch auf immer dahin stirbt. B 5 §. 23 §. 23. Noch einmal. Der Mangel jener Leh¬ ren in den Schriften des Alten Testaments beweiset wider ihre Goͤttlichkeit nichts. Mo¬ ses war doch von Gott gesandt, obschon die Sanktion seines Gesetzes sich nur auf dieses Leben erstreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das Israelitsche Volk, an das damalige Israelitische Volk ge¬ sandt: und sein Auftrag war den Kennt¬ nissen, den Faͤhigkeiten, den Neigungen die¬ ses damaligen Israelitischen Volks, so wie der Bestimmung des kuͤnftigen , voll¬ kommen angemessen. Das ist genug. §. 24. §. 24. So weit haͤtte Warburton auch nur gehen muͤssen, und nicht weiter. Aber der gelehrte Mann uͤberspannte den Bogen. Nicht zufrieden, daß der Mangel jener Leh¬ ren der goͤttlichen Sendung Mosis nichts schade: er sollte ihm die goͤttliche Sendung Mosis sogar beweisen. Und wenn er die¬ sen Beweis noch aus der Schicklichkeit ei¬ nes solchen Gesetzes fuͤr ein solches Volk zu fuͤhren gesucht haͤtte! Aber er nahm seine Zuflucht zu einem von Mose bis auf Chri¬ stum ununterbrochen fortdaurenden Wun¬ der, nach welchem Gott einen jeden ein¬ zeln zeln Juden gerade so gluͤcklich oder ungluͤck¬ lich gemacht habe, als es dessen Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Gesetz verdiente. Dieses Wunder habe den Mangel jener Leh¬ ren, ohne welche kein Staat bestehen koͤn¬ ne, ersetzt; und eine solche Ersetzung eben beweise, was jener Mangel, auf den er¬ sten Anblick, zu verneinen scheine. §. 25. Wie gut war es, daß Warburton dieses anhaltende Wunder, in welches er das Wesentliche der Israelitischen Theokra¬ tie setzte, durch nichts erhaͤrten, durch nichts wahrscheinlich machen konnte. Denn haͤtte haͤtte er das gekonnt; wahrlich — als¬ denn erst haͤtte er die Schwierigkeit unauf¬ loͤslich gemacht. — Mir wenigstens. — Denn was die Goͤttlichkeit der Sendung Mosis wieder herstellen sollte, wuͤrde an der Sache selbst zweifelhaft gemacht haben, die Gott zwar damals nicht mittheilen, aber doch gewiß auch nicht erschweren wollte. §. 26. Ich erklaͤre mich an dem Gegenbilde der Offenbarung. Ein Elementarbuch fuͤr Kin¬ der, darf gar wohl dieses oder jenes wich¬ tige Stuͤck der Wissenschaft oder Kunst, die es vortraͤgt, mit Stillschweigen uͤbergehen, von von dem der Paͤdagog urtheilte, daß es den Faͤhigkeiten der Kinder, fuͤr die er schrieb, noch nicht angemessen sey. Aber es darf schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den zuruͤckbehaltnen wichtigen Stuͤcken versperre oder verlege. Vielmehr muͤssen ihnen alle Zugaͤnge zu den¬ selben sorgfaͤltig offen gelassen werden: und sie nur von einem einzigen dieser Zugaͤnge ableiten, oder verursachen, daß sie densel¬ ben spaͤter betreten, wuͤrde allein die Un¬ vollstaͤndigkeit des Elementarbuchs zu einem wesentlichen Fehler desselben machen. §. 27. §. 27. Also auch konnten in den Schriften des Alten Testaments‚ in diesen Elementarbuͤ¬ chern fuͤr das rohe und im Denken un¬ geuͤbte Israelitische Volk‚ die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und kuͤnftigen Vergeltung gar wohl mangeln: aber ent¬ halten durften sie schlechterdings nichts‚ was das Volk‚ fuͤr das sie geschrieben wa¬ ren‚ auf dem Wege zu dieser großen Wahr¬ heit auch nur verspaͤtet haͤtte. Und was haͤtte es‚ wenig zu sagen‚ mehr dahin verspaͤtet , als wenn jene wunderbare Vergeltung in diesem Leben darinn waͤre ver¬ versprochen, und von dem waͤre verspro¬ chen worden, der nichts verspricht, was er nicht haͤlt? §. 28. Denn wenn schon aus der ungleichen Austheilung der Guͤter dieses Lebens, bey der auf Tugend und Laster so wenig Ruͤck¬ sicht genommen zu seyn scheinet, eben nicht der strengste Beweis fuͤr die Unsterblichkeit der Seele und fuͤr ein anders Leben, in welchem jener Knoten sich aufloͤse, zu fuͤh¬ ren: so ist doch wohl gewiß, daß der menschliche Verstand ohne jenem Knoten noch lange nicht — und vielleicht auch nie nie — auf bessere und strengere Beweise gekommen waͤre. Denn was sollte ihn antreiben koͤnnen, diese bessern Beweise zu suchen? Die blosse Neugierde? §. 29. Der und jener Israelite mochte freylich wohl die goͤttlichen Versprechungen und An¬ drohungen, die sich auf den gesammten Staat bezogen, auf jedes einzelne Glied desselben erstrecken, und in dem festen Glauben stehen, daß wer fromm sey auch gluͤcklich seyn muͤsse, und wer ungluͤcklich sey, oder werde, die Strafe seiner Misse¬ that trage, welche sich sofort wieder in C Se¬ Segen verkehre, sobald er von seiner Mis¬ sethat ablasse. — Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu haben; denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste. — §. 30. Aber unmoͤglich durfte die taͤgliche Er¬ fahrung diesen Glauben bestaͤrken: oder es war auf immer bey dem Volke, das diese Erfahrung hatte, auf immer um die Erkennung und Aufnahme der ihm noch ungelaͤufigen Wahrheit geschehen. Denn wenn der Fromme schlechterdings gluͤcklich war, und es zu seinem Gluͤcke doch wohl auch mit gehoͤrte, daß seine Zufriedenheit keine keine schrecklichen Gedanken des Todes un¬ terbrachen, daß er alt und lebenssatt starb: wie konnte er sich nach einem an¬ dern Leben sehnen? wie konnte er uͤber et¬ was nachdenken, wornach er sich nicht sehnte? Wenn aber der Fromme daruͤber nicht nach¬ dachte: wer sollte es denn? Der Boͤse¬ wicht? der die Strafe seiner Missethat fuͤhlte, und wenn er dieses Leben ver¬ wuͤnschte, so gern auf jedes andere Leben Verzicht that? §. 31. Weit weniger verschlug es, daß der und jener Israelite die Unsterblichkeit der See¬ C 2 Seele und kuͤnftige Vergeltung, weil sich das Gesetz nicht darauf bezog, gerade zu und ausdruͤcklich leugnete. Das Leugnen eines Einzeln — waͤre es auch ein Sa¬ lomo gewesen, — hielt den Fortgang des gemeinen Verstandes nicht auf, und war an und fuͤr sich selbst schon ein Beweis, daß das Volk nun einen großen Schritt der Wahrheit naͤher gekommen war. Denn Einzelne leugnen nur, was Mehrere in Ueberlegung ziehen; und in Ueberlegung ziehen, warum man sich vorher ganz und gar nicht bekuͤmmerte, ist der halbe Weg zur Erkenntniß. §. 32. §. 32. Laßt uns auch bekennen, daß es ein he¬ roischer Gehorsam ist, die Gesetze Gottes beobachten, blos weil es Gottes Gesetze sind, und nicht, weil er die Beobachter derselben hier und dort zu belohnen ver¬ heissen hat; sie beobachten, ob man schon an der kuͤnftigen Belohnung ganz verzwei¬ felt‚ und der zeitlichen auch nicht so ganz gewiß ist. §. 33. Ein Volk‚ in diesem heroischen Gehor¬ same gegen Gott erzogen‚ sollte es nicht bestimmt‚ sollte es nicht vor allen andern faͤ¬ C 3 faͤhig seyn, ganz besondere goͤttliche Ab¬ sichten auszufuͤhren? — Laßt den Sol¬ daten, der seinem Fuͤhrer blinden Gehor¬ sam leistet, nun auch von der Klugheit sei¬ nes Fuͤhrers uͤberzeugt werden, und sagt, was dieser Fuͤhrer mit ihm auszufuͤhren sich nicht unterstehen darf? — §. 34. Noch hatte das Juͤdische Volk in seinem Jehova mehr den Maͤchtigsten, als den Weisesten aller Goͤtter verehrt; noch hatte es ihn als einen eifrigen Gott mehr ge¬ fuͤrchtet, als geliebt: auch dieses zum Be¬ weise, daß die Begriffe, die es von seinem hoͤch¬ hoͤchsten einigen Gott hatte, nicht eben die rechten Begriffe warm, die wir von Gott haben muͤssen. Doch nun war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natuͤrlichen Mittels bediente; eines bessern richtigern Maaßstabes, nach welchem es ihn zu schaͤtzen Gelegenheit bekam. §. 35. Anstatt daß es ihn bisher nnr gegen die armseligen Goͤtzen der kleinen benachbarten rohen Voͤlkerschaften geschaͤtzt hatte, mit welchen es in bestaͤndiger Eifersucht lebte: fing C 4 fing es in der Gefangenschaft unter dem wei¬ sen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das eine geuͤbtere Vernunft erkannte und verehrte. §. 36. Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung. §. 37. Das war der erste wechselseitige Dienst, den beyde einander leisteten; und dem Ur¬ heber beyder ist ein solcher gegenseitiger Ein¬ fluß so wenig unanstaͤndig, daß ohne ihm eines von beyden uͤberfluͤssig seyn wuͤrde. §. 38. §. 38. Das in die Fremde geschickte Kind sahe andere Kinder, die mehr wußten, die an¬ staͤndiger lebten, und fragte sich beschaͤmt: warum weiß ich das nicht auch? warum lebe ich nicht auch so? Haͤtte in meines Va¬ ters Hause man mir das nicht auch bey¬ bringen; dazu mich nicht auch anhalten sollen? Da sucht es seine Elementarbuͤcher wieder vor, die ihm laͤngst zum Ekel ge¬ worden, um die Schuld auf die Elemen¬ tarbuͤcher zu schieben. Aber siehe! es er¬ kennet, daß die Schuld nicht an den Buͤ¬ chern liege, daß die Schuld ledig sein ei¬ gen C 5 gen sey, warum es nicht laͤngst eben das wisse, eben so lebe. §. 39. Da die Juden nunmehr, auf Veran¬ lassung der reinern Persischen Lehre, in ih¬ rem Jehova nicht blos den groͤßten aller Nationalgoͤtter, sondern Gott erkannten; da sie ihn als solchen in ihren wieder her¬ vorgesuchten heiligen Schriften um so eher finden und andern zeigen konnten, als er wirklich darinn war; da sie vor allen sinnlichen Vorstellungen desselben einen eben so großen Abscheu bezeugten, oder doch in diesen Schriften zu haben angewiesen wur¬ den, den, als die Perser nur immer hatten: was Wunder, daß sie vor den Augen des Cyrus mit einem Gottesdienste Gnade fan¬ den, den er zwar noch weit unter dem reinen Sabeismus, aber doch auch weit uͤber die groben Abgoͤttereyen zu seyn er¬ kannte, die sich dafuͤr des verlaßnen Lan¬ des der Juden bemaͤchtiget hatten? §. 40. So erleuchtet uͤber ihre eignen uner¬ kannten Schaͤtze kamen sie zuruͤck, und wurden ein ganz andres Volk, dessen erste Sorge es war, diese Erleuchtung unter sich dauerhaft zu machen. Bald war an Ab¬ Abfall und Abgoͤtterey unter ihm nicht mehr zu denken. Denn man kann ei¬ nem Nationalgott wohl untreu werden, aber nie Gott, so bald man ihn einmal erkannt hat. §. 41. Die Gottesgelehrten haben diese gaͤnz¬ liche Veraͤnderung des juͤdischen Volks ver¬ schiedentlich zu erklaͤren gesucht; und Ei¬ ner, der die Unzulaͤnglichkeit aller dieser verschiednen Erklaͤrungen sehr wohl ge¬ zeigt hat, wollte endlich „die augenschein¬ „liche Erfuͤllung der uͤber die Babylonische „Gefangenschaft und die Wiederherstellung „aus „aus derselben ausgesprochnen und aufge¬ „schriebnen Weissagungen,“ fuͤr die wahre Ursache derselben angeben. Aber auch diese Ursache kann nur in so fern die wahre seyn, als sie die nun erst veredelten Be¬ griffe von Gott voraus setzt. Die Juden mußten nun erst erkannt haben, daß Wun¬ derthun und das Kuͤnftige vorhersagen, nur Gott zukomme; welches beydes sie sonst auch den falschen Goͤtzen beygeleget hatten, wodurch eben Wunder und Weissagungen bisher nur einen so schwachen, vergaͤngli¬ chen Eindruck auf sie gemacht hatten. §.42. §. 42. Ohne Zweifel waren die Juden unter den Chaldaͤern und Persern auch mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele be¬ kannter geworden. Vertrauter mit ihr wurden sie in den Schulen der Griechischen Philosophen in Aegypten. §. 43. Doch da es mit dieser Lehre, in Anse¬ hung ihrer heiligen Schriften, die Bewand¬ niß nicht hatte, die es mit der Lehre von der Einheit und den Eigenschaften Gottes gehabt hatte; da jene von dem sinnlichen Volke darinn war groͤblich uͤbersehen wor¬ den, den, diese aber gesucht seyn wollte; da auf diese noch Voruͤbungen noͤthig ge¬ wesen waren, und also nur Anspielun¬ gen und Fingerzeige Statt gehabt hat¬ ten: so konnte der Glaube an die Unsterb¬ lichkeit der Seele natuͤrlicher Weise nie der Glaube des gesammten Volks werden. Er war und blieb nur der Glaube einer gewis¬ sen Sekte desselben. §. 44. Eine Voruͤbung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nenne ich z. E. die goͤttliche Androhung, die Misse¬ that des Vaters an seinen Kindern bis ins dritte dritte und vierte Glied zu strafen. Dieß gewoͤhnte die Vaͤter in Gedanken mit ihren spaͤtesten Nachkommen zu leben, und das Ungluͤck, welches sie uͤber diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu fuͤhlen. §. 45. Eine Anspielung nenne ich, was blos die Neugierde reizen und eine Frage veranlassen sollte. Als die oft vorkom¬ mende Redensart, zu seinen Vaͤtern versammlet werden , fuͤr sterben. §. 46. Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgend einen Keim enthaͤlt, aus wel¬ chem chem sich die noch zuruͤckgehaltne Wahr¬ heit entwickeln laͤßt. Dergleichen war Christi Schluß aus der Benennung Gott Abrahams, Isaacs und Jacobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen Beweis ausgebildet werden zu koͤnnen. §. 47. In solchen Voruͤbungen, Anspielungen, Fingerzeigen besteht die positive Voll¬ kommenheit eines Elementarbuchs; so wie die oben erwaͤhnte Eigenschaft, daß es den Weg zu den noch zuruͤckgehaltenen Wahrheiten nicht erschwere, oder ver¬ D sperre, sperre, die negative Vollkommenheit des¬ selben war. §. 48. Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil — 1) die Einkleidung der nicht wohl zu uͤbergehenden abstrakten Wahr¬ heiten in Allegorieen und lehrreiche einzelne Faͤlle, die als wirklich geschehen erzaͤhlet werden. Dergleichen sind die Schoͤpfung, unter dem Bilde des werdenden Tages; die Quelle des moralischen Boͤsen, in der Er¬ zaͤhlung vom verbotnen Baume; der Ur¬ sprung der mancherley Sprachen, in der Ge¬ schichte vom Thurmbaue zu Babel, u. s. w. §. 49. §. 49. 2) den Stil — bald plan und einfaͤl¬ tig, bald poetisch, durchaus voll Tavto¬ logieen, aber solchen, die den Scharf¬ sinn uͤben, indem sie bald etwas anders zu sagen scheinen, und doch das nehmliche sagen, bald das nehmliche zu sagen schei¬ nen, und im Grunde etwas anders bedeu¬ ten oder bedeuten koͤnnen: — §. 50. Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowol fuͤr Kinder, als fuͤr ein kindisches Volk. D 2 §. 51. §. 51. Aber jedes Elementarbuch ist nur fuͤr ein gewisses Alter. Das ihm entwachsene Kind laͤnger, als die Meinung gewesen, dabey zu verweilen, ist schaͤdlich. Denn um dieses auf eine nur einigermaassen nuͤtz¬ liche Art thun zu koͤnnen, muß man mehr hineinlegen, als darinn liegt; mehr hin¬ eintragen, als es fassen kann. Man muß der Anspielungen und Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorieen zu ge¬ nau ausschuͤtteln, die Beyspiele zu um¬ staͤndlich deuten, die Worte zu stark pres¬ sen. Das giebt dem Kinde einen kleinli¬ chen, chen, schiefen, spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnißreich, aberglaͤubisch, voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte. §. 52. Die nehmliche Weise, wie die Rabbi¬ nen ihre heiligen Buͤcher behandelten! Der nehmliche Charakter, den sie dem Geiste ihres Volks dadurch ertheilten! §. 53. Ein bessrer Paͤdagog muß kommen, und dem Kinde das erschoͤpfte Elementar¬ buch aus den Haͤnden reißen. — Chri¬ stus kam. D 3 §. 54. §. 54. Der Theil des Menschengeschlechts, den Gott in Einen Erziehungsplan hatte fas¬ sen wollen. — Er hatte aber nur den¬ jenigen in Einen fassen wollen, der durch Sprache, durch Handlung, durch Regie¬ rung, durch andere natuͤrliche und politi¬ sche Verhaͤltnisse in sich bereits verbunden war — war zu dem zweyten großen Schritte der Erziehung reif. §. 55. Das ist: dieser Theil des Menschenge¬ schlechts war in der Ausuͤbung seiner Ver¬ nunft so weit gekommen, daß er zu seinen mora¬ moralischen Handlungen edlere, wuͤrdigere Bewegungsgruͤnde bedurfte und brauchen konnte, als zeitliche Belohnung und Stra¬ fen waren, die ihn bisher geleitet hatten. Das Kind wird Knabe. Leckerey und Spielwerk weicht der aufkeimenden Be¬ gierde, eben so frey, eben so geehrt, eben so gluͤcklich zu werden, als es sein aͤlteres Geschwister sieht. §. 56. Schon laͤngst waren die Bessern von je¬ nem Theile des Menschengeschlechts ge¬ wohnt, sich durch einen Schatten solcher edlern Bewegungsgruͤnde regieren zu las¬ sen. D 4 sen. Um nach diesem Leben auch nur in dem Andenken seiner Mitbuͤrger fortzuleben, that der Grieche und Roͤmer alles. §. 57. Es war Zeit, daß ein andres wah ¬ res nach diesem Leben zu gewaͤrtigendes Le¬ ben Einfluß auf seine Handlungen ge¬ woͤnne. §. 58. Und so ward Christus der erste zuver¬ laͤssige, praktische Lehrer der Unsterb¬ lichkeit der Seele. §. 59. §. 59. Der erste zuverlaͤssige Lehrer. — Zuverlaͤssig durch die Weissagungen, die in ihm erfuͤllt schienen; zuverlaͤssig durch die Wunder, die er verrichtete; zuver¬ laͤssig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem Tode, durch den er seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch itzt diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen koͤnnen: das lasse ich dahin gestellt seyn. So, wie ich es dahin gestellt seyn lasse, wer die Person dieses Christus gewesen. Alles das kann damals zur Annehmung seiner Lehre wichtig gewesen seyn: itzt ist es D 5 zur zur Erkennung der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr. §. 60. Der erste praktische Lehrer. — Denn ein anders ist die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Speculation, ver¬ muthen, wuͤnschen, glauben: ein anders, seine innern und aͤussern Handlungen dar¬ nach einrichten. §. 61. Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bey manchen Voͤlkern auch schon vor ihm eingefuͤhrter Glaube war, daß boͤse Handlungen noch in in jenem Leben bestraft wuͤrden: so waren es doch nur solche, die der buͤrgerlichen Gesellschaft Nachtheil brachten, und da¬ her auch schon in der buͤrgerlichen Gesell¬ schaft ihre Strafe hatten. Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu empfehlen, war ihm al¬ lein vorbehalten. §. 62. Seine Juͤnger haben diese Lehre getreu¬ lich fortgepflanzt. Und wenn sie auch kein ander Verdienst haͤtten, als daß sie einer Wahrheit, die Christus nur allein fuͤr die Juden bestimmt zu haben schien. ei¬ einen allgemeinern Umlauf unter mehrern Voͤlkern verschaft haͤtten: so waͤren sie schon darum unter die Pfleger und Wohlthaͤter des Menschengeschlechts zu rechnen. §. 63. Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war: wie konnte das anders seyn? Laßt uns sie darum nicht schelten, sondern vielmehr mit Ernst untersuchen: ob nicht selbst diese beyge¬ mischten Lehren ein neuer Richtungs ¬ stoß stoß fuͤr die menschliche Vernunft ge¬ worden. §. 64. Wenigstens ist es schon aus der Erfah¬ rung klar, daß die Neutestamentlichen Schriften, in welchen sich diese Lehren nach einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweyte beßre Elementarbuch fuͤr das Men¬ schengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben. §. 65. Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle andere Buͤcher beschaͤftiget; mehr als alle an¬ andere Buͤcher erleuchtet, sollte es auch nur durch das Licht seyn, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug. §. 66. Unmoͤglich haͤtte irgend ein ander Buch unter so verschiednen Voͤlkern so allgemein bekannt werden koͤnnen: und unstreitig hat das, daß so ganz ungleiche Den¬ kungsarten sich mit diesem nehmlichen Buche beschaͤftigten, den menschlichen Ver¬ stand mehr fortgeholfen, als wenn jedes Volk fuͤr sich besonders sein eignes Elemen¬ tarbuch gehabt haͤtte. §. 67. §. 67. Auch war es hoͤchst noͤthig, daß jedes Volk dieses Buch eine Zeit lang fuͤr das Non plus ultra seiner Erkenntnisse halten mußte. Denn dafuͤr muß auch der Knabe sein Elementarbuch vors erste ansehen; da¬ mit die Ungeduld, nur fertig zu werden, ihn nicht zu Dingen fortreißt, zu welchen er noch keinen Grund gelegt hat. §. 68. Uud was noch itzt hoͤchst wichtig ist: — Huͤte dich, du faͤhigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elemen¬ tarbuches stampfest und gluͤhest, huͤte dich, es es deine schwaͤchere Mitschuͤler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehn beginnest. §. 69. Bis sie dir nach sind, diese schwaͤchere Mitschuͤler; — kehre lieber noch einmal selbst in dieses Elementarbuch zuruͤck, und untersuche, ob das, was du nur fuͤr Wen¬ dungen der Methode, fuͤr Luͤckenbuͤsser der Didaktik haͤltst, auch wohl nicht etwas Mehrers ist. §. 70. Du hast in der Kindheit des Menschen¬ geschlechts an der Lehre von der Einheit Got¬ Gottes gesehen, daß Gott auch bloße Ver¬ nunftswahrheiten unmittelbar offenbaret; oder verstattet und einleitet, daß bloße Vernunftswahrheiten als unmittelbar geof¬ fenbarte Wahrheiten eine Zeit lang gelehret werden: um sie geschwinder zu verbreiten, und sie fester zu gruͤnden. §. 71. Du erfaͤhrst, in dem Knabenalter des Menschengeschlechts, an der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, das Nehmliche. Sie wird in dem zweyten bessern Elementarbuche als Offenbarung E ge¬ geprediget ‚ nicht als Resultat menschli¬ cher Schluͤsse gelehret . §. 72. So wie wir zur Lehre von der Einheit Gottes nunmehr des Alten Testaments entbehren koͤnnen; so wie wir allmaͤlig‚ zur Lehre von der Unsterblichkeit der Seele‚ auch des Neuen Testaments entbehren zu koͤnnen anfangen: koͤnnten in diesem nicht noch mehr dergleichen Wahrheiten vorge¬ spiegelt werden, die wir als Offenbarun¬ gen so lange anstaunen sollen‚ bis sie die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahr¬ Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbin¬ den lernen? §. 73. Z. E. die Lehre von der Dreyeinig¬ keit. — Wie, wenn diese Lehre den menschlichen Verstand, nach unendlichen Verirrungen rechts und links, nur endlich auf den Weg bringen sollte, zu erkennen, daß Gott in dem Verstande, in welchem endliche Dinge eins sind, unmoͤglich eins seyn koͤnne; daß auch seine Einheit eine transcendentale Einheit seyn muͤsse, welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt? — E 2 Muß Muß Gott wenigstens nicht die vollstaͤn¬ digste Vorstellung von sich selbst haben? d. i. eine Vorstellung, in der sich alles be¬ findet, was in ihm selbst ist. Wuͤrde sich aber alles in ihr finden, was in ihm selbst ist, wenn auch von seiner nothwendi¬ gen Wirklichkeit , so wie von seinen uͤbrigen Eigenschaften, sich blos eine Vor¬ stellung, sich blos eine Moͤglichkeit faͤnde? Diese Moͤglichkeit erschoͤpft das Wesen sei¬ ner uͤbrigen Eigenschaften: aber auch sei¬ ner nothwendigen Wirklichkeit? Mich duͤnkt nicht. — Folglich kann entweder Gott gar keine vollstaͤndige Vorstellung von sich sich selbst haben: oder diese vollstaͤndige Vorstellung ist eben so nothwendig wirklich‚ als er es selbst ist ꝛc. — Freylich ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von mir‚ weil es nur das von mir hat‚ wovon Lichtstrahlen auf seine Flaͤche fallen. Aber wenn denn nun dieses Bild alles , alles ohne Ausnahme haͤtte‚ was ich selbst habe: wuͤrde es so¬ dann auch noch eine leere Vorstellung‚ oder nicht vielmehr eine wahre Verdopplung meines Selbst seyn? — Wenn ich eine aͤhnliche Verdopplung in Gott zu erkennen glaube: so irre ich mich vielleicht nicht so E 3 wohl‚ wohl, als daß die Sprache meinen Be¬ griffen unterliegt; und so viel bleibt doch immer unwidersprechlich, daß diejenigen, welche die Idee davon populaͤr machen wollen, sich schwerlich faßlicher und schick¬ licher haͤtten ausdruͤcken koͤnnen, als durch die Benennung eines Sohnes , den Gott von Ewigkeit zeugt. §. 74. Und die Lehre von der Erbsuͤnde. — Wie, wenn uns endlich alles uͤberfuͤhrte, daß der Mensch auf der ersten und nie¬ drigsten Stufe seiner Menschheit, schlech¬ ter¬ terdings so Herr seiner Handlungen nicht sey, daß er moralischen Gesetzen folgen koͤnne? §. 75. Und die Lehre von der Genugthuung des Sohnes. — Wie, wenn uns endlich alles noͤthigte, anzunehmen: daß Gott, ungeachtet jener urspruͤnglichen Unvermoͤ¬ genheit des Menschen, ihm dennoch mo¬ ralische Gesetze lieber geben, und ihm alle Uebertretungen, in Ruͤcksicht auf seinen Sohn , d. i. in Ruͤcksicht auf den selbst¬ staͤndigen Umfang aller seiner Vollkommen¬ hei¬ E 4 heiten, gegen den und in dem jede Unvoll¬ kommenheit des Einzeln verschwindet, lie¬ ber verzeihen wollen; als daß er sie ihm nicht geben, und ihn von aller morali¬ schen Gluͤckseligkeit ausschliessen wollen, die sich ohne moralische Gesetze nicht den¬ ken laͤßt? §. 76. Man wende nicht ein, daß dergleichen Vernuͤnfteleyen uͤber die Geheimnisse der Religion untersagt sind. — Das Wort Geheimniß bedeutete, in den ersten Zei¬ ten des Christenthums, ganz etwas an¬ ders, ders, als wir itzt darunter verstehen; und die Ausbildung geoffenbarter Wahr¬ heiten in Vernunftswahrheiten ist schlecht¬ terdings nothwendig, wenn dem mensch¬ lichen Geschlechte damit geholfen seyn soll. Als sie geoffenbart wurden, waren sie freylich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam das Facit , welches der Rechenmeister seinen Schuͤlern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten koͤnnen. Wollten sich die Schuͤler an dem vor¬ aus gesagten Facit begnuͤgen: so wuͤr¬ den E 5 den sie nie rechnen lernen, und die Ab¬ sicht‚ in welcher der gute Meister ihnen bey ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfuͤllen. §. 77 Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren histori¬ schen Wahrheit, wenn man will‚ es so mißlich aussieht‚ gleichwohl auf naͤhere und bessere Begriffe vom goͤttli¬ chen Wesen‚ von unsrer Natur‚ von un¬ sern Verhaͤltnissen zu Gott‚ geleitet wer¬ den koͤnnen‚ auf welche die menschliche Ver¬ Vernunft von selbst nimmermehr gekom¬ men waͤre? §. 78. Es ist nicht wahr, daß Speculationen uͤber diese Dinge jemals Unheil gestiftet, und der buͤrgerlichen Gesellschaft nachtheilig geworden. — Nicht den Speculationen: dem Unsinne, der Tyranney, diesen Spe¬ culationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu goͤn¬ nen, ist dieser Vorwurf zu machen. §. 79. §. 79. Vielmehr sind dergleichen Speculatio¬ nen — moͤgen sie im Einzeln doch aus¬ fallen, wie sie wollen — unstreitig die schicklichsten Uebungen des menschlichen Verstandes uͤberhaupt, so lange das menschliche Herz uͤberhaupt, hoͤchstens nur vermoͤgend ist, die Tugend wegen ihrer ewi¬ gen gluͤckseligen Folgen zu lieben. §. 80. Denn bey dieser Eigennuͤtzigkeit des menschlichen Herzens, auch den Verstand nur allein an dem uͤben wollen, was un¬ sere sere koͤrperlichen Beduͤrfnisse betrift, wuͤrde ihn mehr stumpfen, als wetzen heissen. Er will schlechterdings an geistigen Ge¬ genstaͤnden geuͤbt seyn, wenn er zu seiner voͤlligen Aufklaͤrung gelangen, und dieje¬ nige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, faͤhig macht. §. 81. Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese hoͤchste Stufen der Aufklaͤrung und Reinigkeit nie kommen? Nie? §. 82. §. 82. Nie? — Laß mich diese Laͤsterung nicht denken, Allguͤtiger! — Die Erzie¬ hung hat ihr Ziel ; bey dem Geschlechte nicht weniger als bey dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen. §. 83. Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Juͤnglinge eroͤfnet; die Ehre, der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was sind sie mehr, als Mittel, ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu thun vermoͤ¬ gend sey. §. 84. Darauf zwecke die menschliche Erzie¬ hung ab: und die goͤttliche reiche dahiu nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Laͤsterung! Laͤ¬ sierung ! §. 85. Nein; sie wird kommen, sie wird ge¬ wiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der der Mensch, je uͤberzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fuͤhlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungs¬ gruͤnde zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht noͤthig haben wird; da er das Gute thun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkuͤhrliche Belohnungen darauf ge¬ setzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem blos heften und staͤrken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu er¬ kennen. §. 86. Sie wird gewiß kommen, die Zeit ei¬ nes neuen ewigen Evangeliums , die die uns selbst in den Elementarbuͤchern des Neuen Bundes versprochen wird. §. 87. Vielleicht, daß selbst gewisse Schwaͤr¬ mer des dreyzehnten und vierzehnten Jahr¬ hunderts einen Strahl dieses neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten; und nur darinn irrten, daß sie den Ansbruch dessel¬ ben so nahe verkuͤndigten. §. 88. Vielleicht war ihr dreyfaches Alter der Welt keine so leere Grille; und F ge¬ gewiß hatten sie keine schlimme Absichten, wenn sie lehrten, daß der Neue Bund eben so wohl antiquiret werden muͤsse, als es der Alte geworden. Es blieb auch bey ihnen immer die nehmliche Oe¬ konomie des nehmlichen Gottes. Im¬ mer — sie meine Sprache sprechen zu lassen — der nehmliche Plan der all¬ gemeinen Erziehung des Menschenge¬ schlechts. §. 89. Nur daß sie ihn uͤbereilten; nur daß sie ihre Zeitgenossen, die noch kaum der Kind¬ Kindheit entwachsen waren, ohne Auf¬ klaͤrung, ohne Vorbereitung, mit Eins zu Maͤnnern machen zu koͤnnen glaub¬ ten, die ihres dritten Zeitalters wuͤr¬ dig waͤren. §. 90. Und eben das machte sie zu Schwaͤr¬ mern. Der Schwaͤrmer thut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wuͤnscht diese Zukunft beschleuniget; und wuͤnscht, daß sie durch ihn beschleu¬ niget werde. Wozu sich die Natur Jahr¬ tau¬ F 2 tausende Zeit nimmt, soll in dem Augen¬ blicke seines Daseyns reifen. Denn was hat er davon, wenn das, was er fuͤr das Bessere erkennt, nicht noch bey sei¬ nen Lebzeiten das Bessere wird? Koͤmmt er wieder? Glaubt er wieder zu kom¬ men? — Sonderbar, daß diese Schwaͤr¬ merey allein unter den Schwaͤrmern nicht mehr Mode werden will! §. 91. Geh deinen unmerklichen Schritt, ewi¬ ge Vorsehung! Nur laß mich dieser Un¬ merklichkeit wegen an dir nicht verzwei¬ feln. feln. — Laß mich an dir nicht ver¬ zweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zuruͤck zu gehen! — Es ist nicht wahr, daß die kuͤrzeste Linie im¬ mer die gerade ist. §. 92. Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! so viel Seitenschritte zu thun! — Und wie? wenn es nun gar so gut als ausgemacht waͤre, daß das große langsame Rad, welches das Ge¬ schlecht seiner Vollkommenheit naͤher bringt, nur durch kleinere schnellere Raͤder in Be¬ we¬ F 3 wegung gesetzt wuͤrde, deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert? §. 93. Nicht anders! Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkom¬ menheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der fruͤher, der spaͤter) erst durchlaufen haben. — „In einem und „eben demselben Leben durchlaufen haben? „Kann er in eben demselben Leben ein „sinnlicher Jude und ein geistiger Christ „gewesen seyn? Kann er in eben demsel¬ „ben Leben beyde uͤberhohlet haben?“ §. 94. §. 94. Das wohl nun nicht! — Aber warum koͤnnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen seyn? §. 95. Ist diese Hypothese darum so laͤcherlich, weil sie die aͤlteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterey der Schule zerstreut und geschwaͤcht hatte, sogleich darauf verfiel? F 4 §. 96. §. 96. Warum koͤnnte auch Ich nicht hier be¬ reits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommung gethan haben, welche blos zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen koͤnnen? §. 97. Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun, uns die Aussich¬ ten in ewige Belohnungen, so maͤchtig helfen? §. 98. §. 98. Warum sollte ich nicht so oft wieder¬ kommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf Einmal so viel weg, daß es der Muͤhe wieder zu kommen etwa nicht lohnet? §. 99. Darum nicht? — Oder, weil ich es vergesse, daß ich schon da gewesen? Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustaͤnde, wuͤrde mir nur einen schlechten Gebrauch des des gegenwaͤrtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen muß , habe ich denn das auf ewig vergessen? §. 100. Oder, weil so zu viel Zeit fuͤr mich verloren gehen wuͤrde? — Verloren? — Und was habe ich denn zu versaͤumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?