N ovellen aus O esterreich. Bei Georg Weiß in Heidelberg erschien: Saar, Ferd. v., Kaiser Heinrich IV . Dramatisches Gedicht in zwei Ab¬ theilungen. Zweite verbesserte Auflage in einem Bande. I. Hildebrand. II. Heinrich's Tod. eleg. geh. 4 Mark. Innocens. Novellen aus Oesterreich von Ferdinand von Saar. Innocens. Marianne. Die Steinklopfer. Die Geigerin. Das Haus Reichegg. Heidelberg. Verlag von G. Weiß . 1877 . Uebersetzungsrecht vorbehalten. Seiner Excellenz dem k. k. österreichischen Minister Leopold Freiherrn von Hofmann zugeeignet. A m südlichen Ende Prags, auf einem gegen die Moldau felsig abstürzenden Hügel, erhebt sich ernst und düster die Wyschehrader Citadelle. Es läßt sich im Umkreise einer großen, volk¬ reichen Stadt nichts einsam Abgeschiedeneres denken, als dieses alte, ziemlich ausgedehnte Fort. Denn die Besatzung beschränkt sich in Friedenszeiten auf eine Officierswache von geringer Stärke, die nur den allernöthigsten Sicherheitsdienst an den Thoren und auf den Wällen versieht. Die Casematten und Block¬ häuser im Innern stehen leer und verödet, und die spärlich gefüllten Pulvermagazine scheinen wie die Belagerungsgeschütze nur da zu sein, um einem invaliden Unteroffizier der Artillerie zur Sinecure eines Zeugwartes zu verhelfen. Auch die Post¬ straße, welche durch die Citadelle über den Rücken des Hügels nach Budweis führt, wird nur wenig benützt. Harmlose Spa¬ ziergänger nach dem nahen anmuthigen Dorfe Podol, Landleute aus der Umgegend, welche Lebensmittel zum Prager Markt brin¬ gen, und hin und wieder ein bestäubter Wanderbursche sind fast Saar, Novellen aus Oesterreich. 1 die einzigen Passanten der Festungsthore. So herrscht innerhalb der Wälle gewöhnlich die tiefste Stille, die nur selten durch das Rollen eines Wagens, regelmäßig aber früh, Mittags und Abends durch den Wachetambour mit rasselnden Trommelsig¬ nalen unterbrochen wird. Zumal im Winter ist es hier oben traurig und ausge¬ storben. Kalt und schneidend saus't der Wind um die ver¬ lassene Höhe, und mißmuthig, dicht in ihre Mäntel gehüllt, gehen die Schildwachen auf den eingeschneiten, von krächzenden Dohlen beflogenen Wällen auf und nieder. Aber wenn der Schnee in's Schmelzen kommt und die Moldau unten wieder blau und schimmernd vorüberwallt, da entfaltet sich in dieser Abgeschiedenheit ein wunderbarer Lenz. Dichter, glänzender Graswuchs überkleidet alle Gräben und Böschungen, und um die eingesunkenen Kanonenlafetten sprießen Veilchen und Pri¬ meln. Immer bunter schmückt sich der Rasen, und manche Schießscharte wird durch einen wilden, in voller Blüthe stehen¬ den Rosenbusch verdeckt, den ein langjähriger Friede hart am Gemäuer wachsen ließ. Selbst aus den Kugelpyramiden, die der Zeugwart so zierlich zu errichten versteht, sprießt und blüht es: denn der Wind hat Erdreich und Samen in den Fugen abgelagert, und nun duften und schwanken über den furchtbaren Geschossen die blaßgelbe Reseda, der dunkelblaue Rittersporn und die röthliche, langgestielte Steinnelke. Bienen und gepanzerte Käfer summen und schwirren durch die heiße, zitternde Luft; zutraulich zwitschernd lassen sich Hänfling und Rothkehlchen auf die wuchtigen Feuerrohre nieder, und an den Mauerabhängen der Wällen klettert und sonnt sich die gold¬ grüne, funkelnde Eidechse. — In solcher Zeit war es, als ich in der Citadelle die Wache bezog. Erst vor Kurzem mit meinem Regimente in Prag eingerückt und mit der Oertlichkeit noch nicht vertraut, betrat ich, neugierig und befangen zugleich, an der Spitze mei¬ ner Abtheilung die weite schattige Thorhalle, wo die Mann¬ schaft der alten Wache bereits unter Gewehr stand. Ihr Commandant, ein mir unbekannter Officier von junkerhaftem Aussehen, kam, als die Förmlichkeiten der dienstlichen Begrüßung abgethan waren, nachlässig auf mich zugeschritten. „Oberlieu¬ tenant Baron Hohenblum,“ sagte er, den Schirm seines Tscha¬ kos flüchtig berührend. Er schien meinen Namen, den ich nun auch nannte, zu überhören, und fuhr mit leichtem Gähnen fort: „die vier und zwanzig Stunden werden Einem rein zur Ewigkeit in dieser alten, unnützen Kanonenbewahranstalt. Es kann keine langweiligere Wache mehr geben.“ Ich warf hin, daß man eben auf keiner besondere Unter¬ haltung fände. „Je nun, nach Umständen,“ erwiederte er, indem er den feinen blonden Schnurrbart leicht emporstrich. „Zum Beispiel die Hauptwache am Ring ist ganz amüsant. Man setzt sich mit seiner Cigarre vor die Thür und mustert die Vorüber¬ 1* gehenden. Es gibt ganz nette Gesichter unter den hiesigen Mädchen. Auch fehlt es nicht an Besuch von Cameraden, und nach der Retraite wird gewöhnlich ein kleines Spiel arran¬ girt. Hier oben aber ist man von aller Welt abgeschnitten, wie auf einer wüsten Insel. Du hast es übrigens,“ setzte er nach kurzem Besinnen hinzu, „doch etwas besser getroffen, als ich. Denn morgen ist Sonntag, und da kommen wenigstens Leute in die Messe herauf.“ „In die Messe? Ist denn hier eine Kirche?“ fragte ich überrascht. „Allerdings. Etwa tausend Schritte von hier, gegen die Moldau zu,“ sagte er, während ich unwillkürlich nach dem Innern des Forts blickte. Aber die Aussicht war durch eine nahe, ziemlich hohe Schanze benommen, hinter welcher nur die Wetterstangen und spitzen Bedachungen der Pulvermagazine hervorragten. „Um sie zu sehen,“ fuhr der Baron fort, „müßtest Du dort auf die Schauze hinauf. Dazu hast Du später Muße genug. Ein kleiner Friedhof ist auch dabei, wo ich mich gleich würde begraben lassen, wenn ich beständig hier oben leben sollte, wie der Pfaff', der ganz allein in einer Art Kloster neben der Kirche wohnt. Ein seltsamer Kauz! Man muß lachen, wenn man ihn mit seinen langen Beinen und der schlenkernden Kutte, beständig ein Buch unter dem Arm, ein¬ hersteigen sieht. Dabei schaut er immer in's Blaue, und thut, als bemerke er Einen gar nicht, wenn man an ihm vorüber kommt.“ „Ein so abgeschiedenes, stilles Leben mag auch seinen eigenen Reiz haben,“ sagte ich nachdenklich, während wir in das düstere Officierswachtzimmer traten, wo mich mein Vor¬ gänger mit den üblichen Dienstvorschriften bekannt machte. Dann zog er sich den etwas zerknitterten Uniformrock an den Hüften glatt, schnallte die Feldbinde fester und reichte mir mit kühler Freundlichkeit die Hand zum Abschied. Ich verließ mit ihm das Zimmer und trat, während er flüchtig seine Leute musterte und unter lustigem Trommelschall abmarschirte, in die sonnige Stille hinaus, die über dem Fort lagerte. Als ich die Schanze erstiegen hatte, that sich hinter den Pulver¬ magazinen ein freier Wiesengrund meinen Blicken auf. Dort erhob sich, ziemlich zurückgezogen, die Kirche, das blinkende Messingkreuz auf dem Giebel von weißen Tauben umflattert. Den Friedhof konnte ich nicht gewahr werden; er mußte durch das angrenzende Priesterhaus verdeckt sein, das ziemlich düster aus einer niederen Lindenumpflanzung hervorsah. In einiger Entfernung schräg gegenüber stand ein ebenerdiges Häuschen. Die gelb angestrichenen Thüren und Fensterrahmen kennzeich¬ neten es als militärisches Gebäude; im Uebrigen sah es ganz wie eine kleine Bauernwirthschaft aus. Schiebkarren, Hauen und Schaufeln lehnten in der Nähe einer Cisterne an der Mauer, und rückwärts war, kunstlos umzäunt, ein Gärtchen angelegt, in welchem roth und weiß die Apfelblüthen schim¬ merten. Zwischen diesem Häuschen und der Kirche schlängelte sich ein breiter Fußpfad hin. Er schien zu den äußersten Werken des Forts zu führen, über welchen, verhüllend, tief¬ gelber Sonnenduft lag. Ich verließ die Schanze und ging dem Wiesengrunde zu. Als ich an dem kleinen Hause vorüber kam, stand ein junges Weib in der offenen Thüre. Sie hielt ein Kind säugend an der Brust und sah einem kleinen, etwa sechsjährigen Mädchen zu, wie es draußen mit einem munteren Zicklein spielte, dessen Sprünge eine scharrende Hühnerfamilie in Angst und Ver¬ wirrung setzten. Bei dem Geräusch meiner Schritte blickte sie auf und eine dunkle Röthe schoß in ihr Antlitz. Dann wandte sie sich rasch und ging hinein, wobei sie mir eine reiche Fülle blonden Haares wies, das ihr in ungekünstelten Flechten weit über den Nacken hinabhing. Drüben um das Priesterhaus wehte eine melancholische Ruhe. Das Thor mit dem geistlichen Wappen darüber war zu, und man hätte das ziemlich weitläufige Gebäude für gänzlich unbewohnt gehalten, wären nicht einige Fenster im ersten Stockwerke offen und mit Blumentöpfen bestellt gewesen. Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geschlossen war, hatte ich den Friedhof voll schattender Weiden und Sebenbäume zur Seite. Die Hügel waren dicht gereiht, aber sorglich ge¬ halten und auf das schönste bepflanzt. Da die Thüre des Eisengitters halb offen stand, so trat ich in die duftige Kühle hinein und schritt langsam auf dem schmalen, mit feinem Sande bestreuten Wege zwischen den Gräbern hin. Ein einsamer Falter flatterte mir still über den Blumen voran, während ich hier und dort die Inschriften und Namen auf den schlichten Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Ein¬ fachheit besonders an. Es war ein kleiner Obelisk von weißem Marmor und stand, etwas abseits von den übrigen, unter einer herrlichen breitästigen Thränenweide. Die Inschrift war in römischen Lettern, deren Vergoldung schon etwas gelitten hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim. geb: 16ten Januar 1829, gest: 30ten Mai 1846 . Vor diesem Grabe stand ich lange. Wer war dieses Mädchen, das der Tod so früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahr¬ zehend hier bestattet hatte? Lebte ihr Andenken fort im Her¬ zen trauernder Eltern, im Geiste eines Mannes, dessen Jüng¬ lingsideal sie gewesen? Oder war sie verweht, wie ein Duft, ein Klang im Gewühl und im Lärm des rastlos vorwärts drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren Namen? Solche Gedanken und Empfindungen klangen noch in mir nach, als ich schon wieder draußen auf dem Pfade hinschritt und mich einer Bastei näherte, die als äußerster Punkt des Forts in einem stumpfen Winkel gegen den Fluß zu aussprang. Still und verlassen lag sie da, fast ganz von Schleh- und Hagedorn überwuchert. Ein verfallenes Blockhaus erhob sich darin, an dessen röthlich-grauem Mauerwerke einige hohe Flie¬ derbüsche in voller Blüthe standen, was sich ebenso lieblich als überraschend ausnahm. Selbst zwei verkrüppelte Obst¬ bäume hatten sich in dieses entlegene Werk verirrt. Sie wur¬ zelten dicht an der Brustwehr und streckten ihre knorrigen Aeste über eine Kanone, die wie vergessen zwischen ihnen stand und die Mündung harmlos in die sonnige Gegend hinaus¬ richtete. Tief unten, an den freundlichen Häusern von Podol und an den bröckelnden Mauerresten der Libussaburg vorüber, zog die Moldau schimmernd nach dem braunen, rauchaufwir¬ belnden Häusermeere der alten böhmischen Königsstadt. Von dort her grüßte mit funkelnden Zinnen der Hradschin, wäh¬ rend stromaufwärts, über die ansteigenden, wohlbebauten Ufer hinweg, sich eine weite Landschaft aufthat und endlich in dem fernen Dufte der Königsaaler Berge verschwamm. Ich war von dieser reizenden Einsamkeit zu sehr ange¬ muthet, als daß ich sobald daran gedacht hätte, sie wieder zu verlassen; ich sah mich vielmehr nach einer schattigen Stelle um, wo ich mich, bequem hingestreckt, ganz in den eigenthüm¬ lichen Zauber des Ortes und der Fernsicht versenken konnte. Eine solche bot sich mir alsbald in der Nähe des Blockhauses dar, wo sich die Zweige zweier nachbarlichen Fliederbüsche zu einer Art Laube wölbten. Auch kam mir dort, als ich mich niederließ, eine muldenförmige Vertiefung im Erdreiche, wel¬ ches mit kurzem, aber dichtem Grase bewachsen war, vortrefflich zu Statten. So lag ich in der stillen Kühle, sog den Duft des Flieders ein und lauschte dem Zwitschern eines Vogels über meinem Haupte, als ich plötzlich in einiger Entfernung hinter mir nahende Schritte vernahm, und bald ging eine hohe Gestalt in geistlicher Ordenstracht ohne mich zu bemerken an mir vorüber. Es mußte, wie mein Vorgänger gesagt hatte, der Pfaffe sein, der neben der Kirche wohnte. Das waren ja die langen Beine und die schlenkernde Soutane, welche dem Baron so lächerlich erschienen; selbst das Buch unter dem Arme fehlte nicht. Der Priester war an die Brustwehr getreten. Dort nahm er sein schwarzes Sammtkäppchen ab; man wußte nicht, that er es aus Andacht vor der Natur, in die er hinausblickte, oder um sein Haupt der Luft preiszugeben, die über die Bastei strich und mit seinen leicht ergrauten Haaren spielte. Nach einer Weile wandte er sich und schlug die Richtung gegen das Blockhaus ein. Er schien mich noch immer nicht zu bemerken, obgleich er gerade auf die Stelle losging, wo ich lag. Ich erinnerte mich unwillkürlich an die Aeußerung des Barons, daß der Priester beständig in's Blaue sähe, ob¬ gleich er gegenwärtig mehr in sich hineinzublicken schien. End¬ lich gewahrte er mich. Er schrack leicht zusammen und eine feine Röthe flog über sein schmales, blasses Gesicht. Aber diese Verwirrung dauerte nur einen Augenblick. Gleichgültig, ohne mich mehr mit einem Blicke zu streifen, ging er an mir vorüber, brach sich ein Zweiglein vom Flieder und verließ, still wie er gekommen, die Bastei. Mich aber überkam jetzt eine eigenthümliche Unruhe. Es war mir, als hätte ich den Priester durch meine Anwesenheit von hier vertrieben. Er pflegte gewiß täglich um diese Zeit einige Stunden lesend in der Fliederlaube zuzubringen; de߬ halb war er auch so unbekümmert und in sich versunken dar¬ auf zugegangen. Und nun nahm ich den traulichen Platz ein, der ihm schon aus Gewohnheit lieb sein mußte. Mit einem Male erschien mir auch alles Bequeme daran, das ich früher für ein Zusammentreffen günstiger Umstände gehalten hatte, als ein Werk anordnender Absichtlichkeit. Die Laube, das sah man, war durch Beschneiden der Zweige hergestellt, und der Rasensitz wäre ohne Nachhilfe eines Spatens gewiß nicht zu Stande gekommen. Rasch sprang ich auf. Der Pater konnte noch nicht weit sein; ich wollte ihn einholen, auf daß er sähe, er könne ungestört wieder nach der Bastei zurückkehren. Bald gewahrte ich ihn auch in einiger Entfernung von mir auf dem Pfade hinschreiten. Ich fürchtete, er würde, eh' er mich noch bemerken konnte, sein Haus erreichen, und verdoppelte meine Schritte. Da kam von drüben das kleine Mädchen mit freu¬ digen Geberden auf ihn zugelaufen. Er ging dem Kinde ent¬ gegen, beugte sich zu ihm nieder und küßte es auf die Stirn. Hierauf ließ er sich von der Kleinen zur Mutter führen, die ihm von der Schwelle aus entgegen kam. Ihr folgte ein Mann, der eben noch im Gärtchen mußte gearbeitet haben; denn er hatte eine Haue in der Hand, auf welche er sich, wie es schien mehr aus Bedürfniß als aus Bequemlichkeit, im Gehen stützte. Drei weiße Tuchsternchen auf den rothen Kragenvorstößen einer leinenen, über der Brust offenen Mi¬ litärjacke ließen in ihm den Zeugwart erkennen, mit welcher Eigenschaft seine noch jugendlich kräftige Gestalt einigermaßen im Widerspruche stand. Als ich näher kam, gewahrte ich in seinem Antlitz eine tiefe Narbe, die von einem Säbelhiebe herrühren mochte und sich von der Schläfe bis zum Kinn er¬ streckte. Der Pater sprach freundlich mit den Leuten und reichte dem Jüngsten auf dem Arme der Mutter, da es mit den kleinen Händchen begehrlich darnach langte, die duftige Flieder¬ blüthe. Er wandte sich nicht um, als ich vorüberging und der Zeugwart, militärisch grüßend, die Hand an die Mütze brachte. Es kostete mir einige Ueberwindung, wieder in das un¬ erquickliche Wachtzimmer zurückzukehren. Dort ließ ich mich auf das alte, harte Ledersopha nieder und nahm ein Buch zur Hand. Aber meine Gedanken wollten nicht an den Zeilen haften; denn die Eindrücke, die ich auf meiner kleinen Wande¬ rung empfangen, wirkten zu mächtig in mir nach. Vor allem war es das Wesen des Paters, was mich mit tiefer, geheim¬ nißvoller Macht anzog. Wie glücklich erschien mir sein stilles Dasein auf diesem wallumschlossenen Fleck Erde. Abgeschieden von dem Treiben der Welt, konnte er hier ganz sich selbst angehören, und war nur den milden Pflichten seines Standes unterthänig, die ihm nichts auferlegten, was er nicht gerne er¬ füllte, die ihm nichts verwehrten, was er, das sah man ihm an, nicht freudig entbehrte. Und die Menschen in dem kleinen Hause! Welch' ein reizendes Gegenbild boten sie dar in ihrem heiteren Familienglücke! Dann aber dachte ich wieder an den weißen Obelisk auf dem Friedhof und murmelte unwillkürlich den Namen der Todten vor mich hin. Ueber solchem Denken und Sinnen war der Abend herein¬ gebrochen. Bald erklang draußen der Zapfenstreich und die wuchtigen Festungsthore fielen mit dumpfen Gepolter in's Schloß. Ich aber ging noch einmal auf die Schanze hinaus. Dort stand ich, während die Sterne auf den tiefen Frieden niederfunkelten, der sich über das Fort breitete, und hier und dort, bald näher, bald entfernter, in den dunklen Büschen eine Nachtigall schlug. — Es war noch ziemlich früh am andern Vormittage, als schon eine Schaar Landleute im Sonntagsstaat durch das süd¬ liche Thor der Citadelle gegen die Kirche strömte. Nach und nach erschienen Andächtige aus den nächsten Stadttheilen; meist gesetzte Männer und Frauen, in reinlicher, altbürgerlicher Kleidung. Aber auch schmucke Mädchengestalten waren dar¬ unter, deren rosige Gesichter in der heitersten Feiertagsstimmung erglänzten. So bewegte sich, während von der Kirche aus schon versprengte Orgeltöne durch die Luft irrten, eine bunte Menge in den Räumen des Forts, was ihm einen fremdarti¬ gen, feierlichen Anstrich gab. Das Verlangen, den Pater in der Ausübung seines Am¬ tes wiederzusehen, trieb auch mich der Kirche zu. Als ich eintrat, verstummte eben die Orgel, die einen Choral begleitet hatte. Alle Anwesenden wandten jetzt ihre Blicke nach der Kanzel, wo der Prediger erscheinen sollte. Ich betrachtete unterdessen, an einen Pfeiler gelehnt, den Bau und seine freundliche Ausschmückung, die sich durch geschmackvolle Ein¬ fachheit wohlthuend von dem üblichen schwerfälligen Prunk und Aufputz unterschied. Als ich wieder nach der Kanzel sah, stand der Priester schon oben. Sein Auge begegnete dem meinen und blieb eine Zeit lang auf mir ruhen, so daß ich fast erröthend den Blick senkte. Jetzt schlug er das Buch auf, das er in der Hand hatte, und begann das Evangelium zu lesen. Bei den ersten Worten, die ich vernahm, war ich fast unangenehm enttäuscht; er las in czechischer Sprache. Ich hatte ganz vergessen, daß ich mich in Prag befand, und den vertrauten Klang der Muttersprache von ihm zu hören er¬ wartet. Bald aber versöhnte mich der Wohllaut seiner Stimme mit dem fremden Idiome, so daß ich seinem Vortrage, trotz¬ dem ich nichts davon verstand, mit regem Interesse folgte. Er begann, als er zur Predigt selbst überging, ruhig und ganz ohne alles Pathos, das die meisten Prediger so unleidlich macht; es war, als spräche er in vernünftig belehrendem Tone zu Kindern. Nach und nach wurde er wärmer. Ohne daß er dabei nach der Schauspielerart mit den Händen in der Luft gefochten hätte, schwoll seine Stimme zu einer mächtigen Fülle an und ging endlich, während er sich liebreich zu den Hörern herabneigte, in den tiefen, zitternden Ton einer weh¬ müthigen Klage über. Es mußten erschütternde Worte gewe¬ sen sein; denn ich sah in mehr als einem Auge Thränen, und als er jetzt schwieg, schimmerte auch seines in feuchtem Glanze. Ich selbst war bewegt, wie von den Klängen einer räthsel¬ haften Musik. Nach dem üblichen kurzen Gebete verließ er die Kanzel. Die Orgel ertönte wieder und kurz darauf trat er im Meßgewande an den Hochaltar, wo schon früher ein alter, weißhaariger Kirchendiener die Lichter angezündet hatte. Nach beendetem Gottesdienste strömten die Andächtigen aus der Kirche und bald herrschte im Fort wieder die gewohnte Einsamkeit und Stille. Als ich später abgelös't wurde und mich wieder den menschenvollen Gassen der Hauptstadt näherte, war es mir, als kehrte ich aus einem reineren Elemente zu dem ganzen beengenden Qualm und Dunst der Erde zurück. Einige Zeit darauf ersuchte mich ein befreundeter Offizier, für ihn die Wache auf dem Wyschehrad zu beziehen. Er wollte ein Fest, zu dem er geladen war, nicht gerne versäumen und versprach, den Dienst in meiner Tour nach¬ zutragen. Ich enthob ihn dieser Verpflichtung und sagte freudig zu. Es heimelte mich wohlthuend an, als ich mich wieder innerhalb der Wälle befand. Während der ersten schwülen Nachmittagsstunden verblieb ich im Wachtzimmer; dann aber nahm ich ein Buch und ging in's Freie. Die heißen Strah¬ len der Junisonne hatten das schwellende Grün der Schanzen schon etwas ausgetrocknet, und der würzige Geruch des Thy¬ mians, der überall in dichten Büscheln wucherte, schwamm in der Luft. Ohne es eigentlich zu wollen, schritt ich der Bastei zu. Etwas in meinem Innern sagte mir, ich würde jetzt den Pater dort treffen; und der Wunsch, mit diesem eigenthüm¬ lichen Manne bekannt zu werden, überwand in mir nach und nach die Bedentlichkeit, ihm durch mein Erscheinen eine un¬ willkommene Störung zu bereiten. Ich nahm mir sogar vor, ihn zu grüßen, eine Höflichkeitsbezeugung, die, seinem Stande gegenüber, eben nichts Befremdendes oder Auffallendes haben konnte. Vielleicht erwiederte er meinen Gruß mit einigen freundlichen Worten und der erste Schritt zur gegenseitigen Annäherung war gethan. Mein Herz schlug erwartungsvoll, als ich die Bastei be¬ trat. Ich hatte mich nicht getäuscht; dort lag er, in ein Buch vertieft, unter den abgeblühten Fliederbüschen. Nun aber überkam mich eine Art Blödigkeit, jener eines Verliebten nicht unähnlich, der, mit dem festen Vorsatze, sich heute oder nie mehr zu erklären, scheu und verwirrt an dem Gegenstande seiner Sehnsucht vorüberschleicht. Ich trat unwillkürlich so leise auf, daß mich der Priester gar nicht hören konnte, und als er jetzt doch aufsah und mich, wie es schien, mit wohl¬ wollender Ueberraschung betrachtete, hatte ich schon den rechten Moment, ihn zu grüßen, versäumt. Ich trat an die Brust¬ wehr, um meine Verlegenheit hinter dem Bewundern der Aus¬ sicht zu verbergen. Als ich so dastand, wurde es mir immer klarer, wie wenig es mir ziemen mochte, meine Person dem stillen, in sich abgeschlossenen Manne aufzudringen; und mit dem beschämenden Gefühle, bald eine Taktlosigkeit begangen zu haben, schickte ich mich wieder zum Fortgehen an. Da hörte ich mich plötzlich von dem Pater im reinsten, nur etwas hart klingenden Deutsch angesprochen. „Herr Officier,“ sagte er, indem er aufstand, „beliebt es Ihnen nicht, den Platz hier im Schatten einzunehmen. Die Sonne verweilt bis zum Unter¬ gange über diesem Theil des Forts; Sie würden nirgend eine Stelle finden, die Ihnen, gleich dieser, den behaglichen Genuß, der Aussicht auf die Dauer gestattet.“ „Sie sind sehr gütig, geistlicher Herr,“ erwiederte ich, noch immer befangen, „daß Sie meinetwegen auf diesen Genuß verzichten wollen.“ „Er steht mir ja jederzeit zu Gebote. Ein um so größeres Vergnügen muß es für mich sein, Jemandem, der sich, wie ich schon unlängst zu bemerken Gelegenheit hatte, in dieser Einsamkeit wohl fühlt, mein gewöhnliches Leseplätzchen über¬ lassen zu können.“ „Von welchem ich Sie schon damals, freilich ohne es zu wollen, vertrieben habe,“ sagte ich, im Innersten erfreut, daß er sich meiner erinnerte. „Oder ich Sie,“ entgegnete er lächelnd. „Sie sind ja gleich nach mir weggegangen.“ „Um Ihnen zu zeigen, daß ich meinen Mißgriff ein¬ gesehen.“ „Ich weiß es; und Sie haben mir Ihres Zartgefühles wegen herzlich leid gethan. Aber ich denke, wir sollten uns nicht länger mit der Erörterung mühen, wer von uns Beiden eigentlich den Andern aus dieser Laube vertrieben, sondern uns vielmehr einträchtig in der unschuldigen Urheberin unseres kleinen freundschaftlichen Streites niederlassen, die wohl Raum genug dazu bietet. Zwei Lesende,“ setzte er mit einem Blicke auf das Buch unter meinem Arme hinzu, „vertragen sich ja leicht und stören einander nicht.“ Mit einer Handbewegung, die mich zu folgen einlud, lagerte er sich wieder in den Schat¬ ten und nahm sein Buch vor. Ich that ein Gleiches; aber mein Blick schweifte beständig über die Seiten nach meinem Nachbar hinüber, in dessen Gesichtsbildung etwas wunderbar Anziehendes lag. Die Stirn war gerade nicht hoch zu nennen, Saar , Novellen aus Oesterreich. 2 trat jedoch über der schmalen Nasenwurzel frei und schön ge¬ wölbt aus den Haaren hervor. Um den etwas großen, leicht eingekniffenen Mund lag ein feiner Schmerzenszug, der eigen¬ thümlich von der milden Heiterkeit der graublauen Augen ab¬ stach. Mit Ausnahme einer tiefen Furche zwischen den Brauen, war noch keine Falte in diesem edlen Antlitze zu sehen, das den Pater bei näherer Betrachtung jünger erscheinen ließ, als man sonst denken mochte. Er konnte das vierzigste Lebens¬ jahr noch nicht lange überschritten haben. Es war, als ob auch sein Auge von einem gleichen Beobachtungsdrange gelenkt würde; denn plötzlich begegneten sich unsere Blicke. „Wir stören uns doch,“ sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. „Es ist aber auch unverantwortlich, daß wir uns an das ge¬ druckte Wort halten und das lebendige, das uns doch eigent¬ lich zunächst geboten ist, verschmähen.“ Dabei klappte er sein Buch zu und legte es neben sich hin. Mein Blick streifte den Titel auf dem Umschlage; es war eine zu jener Zeit vieler¬ wähnte materialistische Schrift. Er mußte in meinen Zügen ein gewisses Befremden darüber wahrnehmen, denn er fragte: „Kennen Sie dieses Buch?“ Ich bejahte es. „Und Sie scheinen sich zu wundern, daß ich es lese,“ fuhr er fort. „Es mag sich allerdings etwas seltsam bei mir ausnehmen; man müßte denn voraussetzen, daß ich es mit dem empörten Feuereifer eines Inquisitors durchstöbre. Ich gestehe, dies ist nicht der Fall. Ich bin vielmehr dieser Schrift bis jetzt mit vielem Vergnügen gefolgt; denn ich interessire mich für jede wissenschaftliche Leistung, wiche sie auch noch so sehr von meinen eigenen Ansichten und Ueberzeugungen ab. Ich habe seit jeher dem Satze gehuldigt: Prüfe Alles und behalte von Jedem das Beste.“ „Und hiezu,“ sagte ich von dem warmen und dabei schlichten Ton seiner Worte hingerissen, „hiezu ist auch die glückliche Einsamkeit, in der Sie leben, wie geschaffen. Hier ist es Ihnen vergönnt, in erhabener Ruhe an Alles, was im Lärm des Tages hervorgebracht wird, und daher fast ohne Ausnahme mehr oder minder von Parteileidenschaften gefärbt und verfälscht ist, den Prüfstein des reinen Erkennens zu legen, und so recht eigentlich die Spreu vom Weizen zu sondern.“ Er sah mich etwas überrascht an. „Nun, dieser Vorzug erscheint mir denn doch kein so besonderer und wünschens¬ werther. Er ist das gewöhnliche Attribut müßiger Beschaulichkeit.“ „Deren Sie sich doch nicht selbst anklagen werden?“ rief ich aus. „Muß es denn nicht Jeder, dessen Leben ohne bestimmtes, in irgend einer Richtung förderliches Wirken oder Hervorbrin¬ gen verläuft?“ fragte er ruhig. 2* „Wirken Sie denn nicht, indem Sie die Pflichten Ihres Amtes erfüllen?“ „Ich bin nichts als eine Art Guardian unserer Kirche auf dem Wyschehrad, und meines Amtes ist, jeden Sonntag eine Messe zu lesen und dann und wann einen Todten zu begraben.“ „Und Betrübte aufzurichten, Verirrte zu ermahnen, und Schuldige zu bessern,“ setzte ich hinzu. „Ich wollte, daß ich es könnte,“ sagte er still vor sich hin. „Sie haben keinen Grund, daran zu zweifeln,“ versetzte ich warm. „Ich habe letzthin nur zu gut wahrgenommen, wie sehr Ihre Predigten die Zuhörer ergreifen.“ „Auf wie lange? Die Luft vor der Kirche bläs't wieder Alles weg. Und so kommt Jeder am nächsten Sonntage ganz als derselbe herauf, der er vor acht Tagen gewesen. Es ist dies auch natürlich, denn was sollen Worte dort ausrichten, wo nur ein thätiges, liebevolles Eingreifen in die Verhältnisse des Einzelnen Hilfe und somit Trost bringen könnte. Ich habe, so lange ich Priester bin, blos ein einziges Mal Jemand durch meine Worte wahrhaft getröstet, und auch das nur, weil ein eigenthümlicher Zufall dabei im Spiele war. Und dann,“ setzte er rasch, wie um eine Erinnerung zu verdrängen, hinzu, „was vermögen leere Ermahnungen gegen den nun einmal in jeder Menschenbrust wurzelnden Hang zum Bösen! Man sollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht blos weisen, sondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die wahre Aufgabe des Priesters. Wie soll er aber dieser Auf¬ gabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion fast ganz zu einer politischen Formel herabgesunken ist, wo ihre Vertreter in hartnäckiger Abgeschlossenheit einen Staat im Staate bilden. Einen wahrhaft segensreichen Wirkungskreis kann der Priester nur unter patriarchalischen Zuständen gewinnen. So kommt es, daß noch hier und dort auf dem Lande sich der Pfarrer einer kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten nennen kann. Die Verhältnisse der Gemeindemitglieder liegen offen vor ihm da; er hat es nicht erst nöthig, auf eine zwei¬ deutige Art in sie eindringen zu müssen. Er ist in der Lage, nach und nach jeden Einzelnen mit seinen Vorzügen und Fehlern kennen zu lernen. Wie leicht wird es da einem ein¬ sichtsvollen, von wahrer Menschenliebe beseelten Manne — einem andern würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten, Unheil zu stiften — durch milde Werkthätigkeit und durch die Macht des Beispieles tröstend, helfend, belehrend und anregend Aufzutreten, und so das Wort Gottes nicht blos zu predigen, sondern auch darzuleben. Mir fällt bei dieser Gelegenheit der ehemalige Pfarrer meines heimathlichen Dorfes ein. Es war ein Mann von energischem, fast strengem, aber keineswegs bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte er nur wenig in den Kirchenvätern gelesen: aber er hielt oft über einem Glase Wein den Bauern in der Schenke eindring¬ lichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel gesprochen wurden. Rechtshändel und Streitsachen ließ er selten vor die Gerichte kommen, sondern schlichtete das Meiste selbst auf eine verständige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er mit eigenen Händen und war immer der Erste bei der Arbeit; denn er wußte, daß die Menschen eine Ermahnung dazu nicht gerne von Einem annehmen, der selbst müßig geht. Oft er¬ schien er unvermuthet in der Schule, unterbrach den Vortrag des Lehrers und stellte einige Fragen an die Kinder. War er mit dem Examen zufrieden, so holte er Aepfel und Nüsse aus der Tasche seiner groben abgenützten Soutane hervor, be¬ schenkte die Kleinen damit und ließ sie vor der Zeit auf den Spielplatz hinaus. Dort sah er ihnen eine Weile zu und erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er sich selbst anordnend und belebend in's Spiel mischte. So war er bei Alt und Jung beliebt, ein wahrer Vater seiner Gemeinde, die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, sondern als den besten und weisesten Menschen in ihrer Mitte verehrte. — Wie ganz anders, wie vereinsamt nimmt sich dagegen der Priester in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebil¬ deten ob seiner falschen Stellung bemitleidet, von den soge¬ nannten Aufgeklärten als Heuchler verschrieen und an seinen menschlichen Schwächen und Fehlern schonungslos controllirt, erscheint er der Mehrzahl der Bevölkerung nur als der zu¬ fällige Träger eines gedankenlos überkommenen und ausgeübten Cultus.“ Ich glaubte zu träumen. Diese Worte klangen so außer¬ ordentlich, so überraschend aus dem Munde eines katholischen Priesters; waren in einem so ruhigen Tone tiefer, im Inner¬ sten wurzelnder Ueberzeugung gesprochen, daß ich in schweigende Bewunderung versank. So trat eine Pause ein, während welcher wir Beide nach der Sonne blickten, die uns gegenüber, in einem Meere von Glanz schwimmend, langsam hinter den Höhen hinabtauchte. „Ich denke, wir gehen, eh' es völlig Nacht wird,“ sagte endlich der Pater. Wir erhoben uns und schritten still neben einander hin. Als wir uns der Kirche näherten, suchten meine Augen unwillkürlich den weißen Obelisk im Dämmerdunkel des Friedhofes. Dabei erwähnte ich des tiefen Eindruckes, den dieser Grabstein letzthin in mir hervorgebracht. Etwas wie der Schatten einer Erinnerung legte sich über das Antlitz meines Begleiters; und als ich fragte, ob er mir vielleicht Näheres über die Todte mittheilen könnte, sagte er, indem er gedankenvoll vor sich hinsah: „Sie war das einzige Kind eines Großhändlers und die erste Leiche, die ich hier oben bestattete.“ Wir waren mittlerweile vor dem Priesterhause angelangt. Drüben saß der Zeugwart zwischen Weib und Kind vor der Thür und rauchte seine Abendpfeife. „Ich bin daheim,“ sagte der Pater. „Wenn es Ihnen gefällt, bei mir einzutreten, so sind Sie herzlich willkommen.“ Da ich mich verbindlich verneigte, öffnete er das Thor und führte mich über den einsamen Flur eine breite, dunkelnde Treppe hinan. Oben schloß er eine von den Thüren auf, die in einer Reihe den Corridor hinliefen, und ließ mich in ein ziemlich weitläufiges Gemach treten. „Nehmen Sie indessen nur hier Platz,“ sagte er und wies auf ein bequemes Sopha. „Ich werde sogleich Licht machen.“ Während er an einer großen Kugellampe hanthierte, sah ich im dämmerigen Raume umher. Die Wände waren zum Theil von oben bis unten durch dichtbestellte Bücherrepositorien verdeckt; dazwischen erhoben sich hohe Glasschränke, welche naturwissenschaftliche Sammlungen zu enthalten schienen. Auf einem geräumigen Tische in der Nähe der Fenster standen und lagen chemische und physikalische Instrumente umher; ein zwei¬ ter Tisch war ganz mit Papieren und Schriften bedeckt. Trotz¬ dem wehte mir von allen Seiten wohnliches Behagen entgegen und gab sich, als jetzt das milde Lampenlicht das weite Gemach durchfluthete, immer deutlicher kund. Die Fenstergardinen, hinter welchen das dunkle Grün tropischer Gewächse hervor¬ lugte, waren von tadelloser Frische, und an den Büchereinbänden, sowie auf dem krausgeformten und wunderlich blinkenden Gläser¬ werk war kein Stäubchen zu sehen. An der rückwärtigen Wand gewahrte ich ein großes, wohlgebautes Harmonium; eine Copie der sixtinischen Madonna, in Kupfer gestochen, hing schlicht eingerahmt darüber. Der Pater versah die Lampe mit einem Schirme, stellte sie auf den Tisch vor dem Sopha und ließ sich neben mir nieder. „Es ist eigenthümlich,“ begann er, „wie sich Menschen, die unter ganz verschiedenartigen Verhältnissen leben, manchmal rasch und unvermuthet zusammenfinden. Wie hätt' ich mir's jemals träumen lassen, einen jungen Offizier in meiner ein¬ samen Behausung zu empfangen.“ „Auch ich hatte nicht gehofft, als ich das erste Mal an diesen stillen Mauern vorüberging, daß ich mir sobald das Wohlwollen des Mannes erwerben würde, der hier seine Tage, wie ich jetzt sehe, in nichts weniger als müßiger Beschaulichkeit verbringt.“ „Also in müßiger Thätigkeit, wenn Sie schon nicht anders wollen,“ sagte er lächelnd. „Ich treibe zu meinem Vergnügen etwas Naturwissenschaften; das ist das Ganze.“ „Je nun, erwiederte ich, „wer weiß, ob Ihre Studien nicht einem ernsteren Antriebe entspringen, als Sie selbst gestehen wollen. In den Heften und Convoluten dort,“ fuhr ich mit einem Blick nach dem Schreibtische fort, „scheint bereits manches Ergebniß einer tieferen Forschung niedergelegt zu sein.“ „Es sind bloße Excerpte,“ sagte er hastig, indem er leicht erröthete. „Aufzeichnungen, wichtig für mich, unbedeutend für Andere. Ich fühle mich nicht berufen, die Wissenschaft durch Entdeckungen zu bereichern, oder auch nur die Zahl der schwe¬ benden Hypothesen durch Aufstellung einer neuen zu vermehren. Ich bin, wie gesagt, ein bloßer Dilettant. Ich nehme Pflanzen in meine Herbarien auf, wegen deren sich ein Anderer schwerlich mehr bücken möchte, und ergötze mich an Experimenten die jeder Quartaner als längst abgethanen Schulkram verächtlich belächeln würde. Die mikroscopische Untersuchung des Wassers, das einer in's Glas gestellten harmlosen Blume einen Tag lang das Leben gefristet, erfüllt mich mit derselben Forscher¬ freudigkeit und wissenschaftlichen Ueberraschung, mit welcher irgend ein berühmter Mann die Infusorienwelt des stillen Oceans ergründet; und wenn ich zuweilen, mit Hammer und Botanisirkapsel ausgerüstet, einen Ausflug längs der Flußufer oder nach den umliegenden Höhen unternehme, so ist mir dabei zu Muthe, wie es Humboldt gewesen sein mußte, als er das Gebiet des Orinoco durchstreifte und die Cordilleren bestieg. Und so wird mir das Stückchen Natur um mich her zum Teiche Bethesda, in dem ich die Seele bade und erfrische, um sie vor den Einflüssen der Langweile zu schützen, die sonst unfehlbar mein einfaches Leben beschleichen müßte.“ „Was um so weniger der Fall sein wird, als Sie, wie ich sehe, noch ein zweites Gegenmittel in Bereitschaft haben.“ „Ja,“ sagte er, „mein Harmonium.“ Ich hatte dieses Instrumentes wohl schon öfter erwähnen, aber noch nie darauf spielen hören, und bemerkte dies dem Priester. „Ich selbst besitze es noch nicht lange,“ erwiederte er, in¬ dem er den Schirm auf der einen Seite empor schob, so daß der volle Lichtstrom gegen die rückwärtige Wand fiel. „Ich pflegte früher die Orgel zu spielen. Da ich aber dazu immer erst in die Kirche gehen und die Hilfe eines Zweiten in An¬ spruch nehmen mußte, so schaffte ich mir endlich dieses Instru¬ ment an, das in Hinsicht auf Construction und Klang der Orgel am nächsten kommt und dabei eine größere Bequem¬ lichkeit gestattet.“ Ich hatte inzwischen unverwandt nach dem Bilde gesehen, dessen ewig neuen Zauber ich hier wieder auf das tiefste empfand. Und je länger ich das Antlitz der Gottesmutter betrachtete, die mit ihren großen, unergründlichen Augen wie verwundert auf den faustischen Apparat im Zimmer zu blicken schien, je mehr fiel mir die Aehnlichkeit desselben mit dem einer Person auf, deren ich mich aber, wie dies oft der Fall zu sein pflegt, nicht gleich entsinnen konnte. Der Priester war aufgestanden, hatte sich an das Har¬ monium gesetzt und legte die Spitzen seiner langen weißen Finger auf die Tasten. „Nicht wahr, ein wunderbares Bild?“ sagte er. „Man kann sich nicht satt schauen daran. Das kommt aber daher, weil man seine eigentliche Schönheit mit den Blicken gleichsam erst aus der Tiefe an die Oberfläche saugen muß. Beim ersten Hinsehen erscheint es fast leer und läßt kalt. Solchen, die kein geistiges Auge besitzen, wird es niemals ein rechtes Wohlgefallen abgewinnen. Ich möchte das Original vor mir haben können.“ „Der Ausdruck im Gesichte der Madonna ist einzig in seiner Art,“ erwiderte ich nachdenklich. „Und doch findet man zuweilen Köpfe, besonders bei Frauen im Volke, die mehr oder minder jenen kindlich erhabenen und, wenn ich so sagen darf, rührend unfertigen Zug aufweisen, der uns hier so sehr entzückt. So ist es mir, als hätte ich erst unlängst ein der¬ artiges Gesicht gesehen; ich weiß nur nicht wo.“ „Ich weiß es,“ sagte er. „Hier in der Citadelle.“ Nun war ich darauf gebracht. „Richtig!“ rief ich aus, „an das junge Weib Ihnen gegenüber hat mich das Bild gemahnt.“ „Es freut mich, durch Sie meine eigene Ansicht bestätigt zu finden, die vielleicht eine rein subjective hätte sein können. Denn im Grunde genommen, sind die Züge doch ganz ver¬ schieden, und die Aehnlichkeit liegt wohl nur in dem eigen¬ thümlichen Schnitt und Blick der Augen. Beweis dessen, daß der Zeugwart, als ich ihn einmal vor das Bild führte, an¬ fangs auch nicht die geringste Aehnlichkeit mit seinem Weibe finden wollte, und erst nach und nach, und das nur, wie es mir schien, mehr aus pflichtschuldiger Höflichkeit, als aus Ueberzeugung miteinstimmte.“ Er hatte schon während dieser letzten Worte zu spielen, begonnen. Es waren zuerst leise Töne, die er anschlug; aber immer voller, immer mächtiger rauschten sie unter seinen Hän¬ den auf. Er schien kein bestimmtes Musikstück vorzutragen, sondern ganz einer innern Eingebung zu folgen. Sein Haupt war leicht zurückgebogen, den Blick halb durch die gesenkte Wimper verschleiert; auf seiner blassen Stirn lag der Reflex des Lampenlichtes wie ein Glorienschein. In tiefes Lauschen versunken, saß ich da. Von draußen drang der Duft der Lindenblüthen in's Gemach herein und quoll mit den feierlichen Schwingungen der Töne zusammen. Als jetzt der Pater mit einer lang nachhallenden Cadenz schloß, machte ich meinen Gefühlen in den Worten Luft: „Wahrlich, Sie sind beneidenswerth! Welch' ein herrliches, reiches Dasein führen Sie in ihrer Abgeschiedenheit. Gestehen Sie,“ fuhr ich, mich erhebend, fort, „daß Sie glücklich sind, so glücklich, als es nur irgend eine stillbegnügte Menschenseele sein kann!“ „Ja,“ sagte er, indem er gleichfalls aufstand und mich mit leuchtenden Augen ansah, „ich bin glücklich. Aber auch ich war es nicht immer. Denn das Kleid, das ich trage, ist kein dreifaches Erz und wappnet die Brust nicht immer gegen die Gewalten des Lebens. Wenn wir, wie ich hoffe, näher mit einander bekannt werden,“ setzte er hinzu, da er sah, daß ich mich zum Fortgehen anschickte, „so will ich Ihnen einmal bei Gelegenheit Etwas aus früheren Tagen erzählen, zum Beweise, daß auch mein stilles, unbeachtetes Dasein nicht ganz ohne Prüfungen, ohne Kampf und Qual gewesen.“ Er geleitete mich zum Thore hinab. „Leben Sie wohl,“ sagte er, „auf Wiedersehen!“ So entspann sich zwischen mir und dem Pater eine jener Freundschaften, wie sie zuweilen unter Männern von ungleichem Alter vorkommen, und welche dann mit zu den edelsten Ver¬ hältnissen gehören, in denen ein Mensch zum andern stehen kann. In gewöhnlichen Lebensbeziehungen durch die Verschie¬ denheit des Standes auseinander gehalten, wurden wir desto fester durch das geistige Interesse, das wir an einander fanden, verbunden. Ich besuchte ihn nun wöchentlich in seiner einsamen Stube, wo wir den Nachmittag unter anregenden wissenschaft¬ lichen Gesprächen, noch öfter aber über seinen Büchern und Sammlungen oder am Experimentirtische zubrachten; denn er hatte es unternommen, mich in die Naturwissenschaften, darin er eben so tiefe als ausgebreitete Kenntnisse besah, einzuführen. Gegen Abend gingen wir gewöhnlich auf eine Stunde in's Freie, und nahmen dann ein bescheidenes Mahl ein, das uns der alte Kirchendiener nebst einem Kruge leichten Landbieres oder einer Flasche Melniker auftrug. Der Pater machte dabei mit stiller Zuvorkommenheit den Wirth; ihm selbst merkte man es beinahe nicht an, daß er aß oder trank, so flüchtig weg, so ganz ohne alles Behagen that er es. Trotz dieses vertrauten Umganges wurden persönliche Angelegenheiten oder Verhält¬ nisse zwischen uns fast niemals berührt. Ich wußte von ihm nicht mehr, als daß er einem in der Stadt befindlichen Stifte angehörte, mit seinem Ordensnamen Innocens heiße, und der Sohn armer Landleute sei, die schon lange gestorben waren. Er hingegen mochte in mir einen Menschen erkennen, der sich in einer ihm wenig zusagenden Lebensstellung befand; aber er vermied es, mich in dieser Hinsicht irgendwie auszuforschen. Auch von dem, was er mir damals zu erzählen versprochen hatte, that er keine Erwähnung mehr. Vielleicht hatte er seine Zusage vergessen: vielleicht erwartete er, ich würde ihn daran erinnern, was ich jedoch, um nicht zudringlich zu erscheinen, unterließ. Von Zeit zu Zeit traf ich bei ihm mit einem be¬ scheidenen, wohlgebildeten Jüngling zusammen, in dem man beim ersten Blick einen Bruder des jungen Weibes erkennen mußte. Wie aus seinen Reden hervorging, hatte er erst vor kurzen, die ärztlichen Prüfungen abgelegt und stand an einer öffentlichen Heilanstalt in Verwendung. Gegen Innocens legte er eine tiefe und, wie es schien, mit Dankbarkeit verbundene Ehrerbietung an den Tag. Inzwischen war der Sommer, war der Herbst vergangen und endlich der Winter gekommen, dessen Stürme und Schnee¬ gestöber mich nicht abhielten, nach wie vor das Priesterhaus auf dem Wyschehrad aufzusuchen. Aber der wieder erwachende Lenz setzte eine schlimme Zeitung in die Welt: die Kriegser¬ klärung Piemonts. Dieses Ereigniß überfiel mich um so un¬ vorbereiteter und gewaltsamer, als ich während der schönen Zeit des Verkehrs mit Innocens die Politik ganz und gar ver¬ gessen hatte, und mein Regiment die Weisung erhielt, nach Italien abzurücken. Da sich bei ähnlicher Gelegenheit Befehle und Anordnungen überstürzen, so fand ich im Drange einer hastigen und verworrenen Dienstesthätigkeit kaum noch Zeit, meinen geistlichen Freund von unserer so bald bevorstehenden Trennung persönlich in Kenntniß zu setzen und noch einige Stunden bei ihm zuzubringen. Als ich mit beklommenem Herzen bei ihm eintrat, betrachtete er eben mit erhabener, geistvollen Naturfreunden eigenthümlicher Naivetät ein paar Schneeglöckchen, die er in der Hand hielt. Er stand auf und schwenkte mir, gleichsam im stillen Triumphe, diese ersten Boten des Frühlings entgegen. Als ich ihm aber jetzt die Vorfallenheiten erzählte, da senkte sich seine Hand all¬ mälig und sein Mund kniff sich immer tiefer und schmerzlicher ein. „Das ist rasch über uns hereingebrochen“, sprach er ton¬ los vor sich hin. Wir blieben uns eine Zeit lang schweigend gegenüber. Endlich sagte er: „Der Nachmittag ist schön. Lassen Sie uns zum letzten Male miteinander einen Gang nach der Stelle thun, wo wir uns kennen gelernt.“ So verließen wir das Haus und begaben uns langsam und nachdenklich auf die Bastei. Kahl und öde lag noch die Gegend da; aber einige frühblühende Obstbäume standen schon in ihrem weißen Schmucke, die Luft roch nach Veilchen und in geheimnißvoller Triebkraft schien die Erde leise zu beben. Hier und dort stieg von den braunen Feldern schmetternd eine Lerche empor. Innocens deutete über die Brustwehr hinaus: „Welch' ein tiefer Gottesfriede liegt über der Gegend!“ sagte er. „Sehen Sie nur dort das lässig schreitende Zwiegespann vor dem Pfluge und hintendrein den arbeitsfrohen Landmann! Und hier unten den schaukelnden Kahn und den Schiffer darin, der das Ruder weggelegt hat, weil ihn die glatte Fluth schnell und sicher zum Ziele trägt! Wahrlich, wenn man die Welt so vor sich sieht im Sonnenschein, und die harmlosen Thier- und Menschengestalten darauf, man sollte glauben, sie sei ein Eden, dessen heitere Ruhe niemals durch das wüste Geschrei kämpfender Schaaren wäre gestört, dessen Fluren niemals mit argvergossenem Blute wären getränkt worden.“ „Und unter solchen Umständen“, fuhr ich fort, „muß ich Italien kennen lernen! Es war seit jeher mein schönster Traum, dieses Land mit den heiligen Schauern, mit der ge¬ nießenden Freiheit und Ruhe eines fahrenden Schülers be¬ Saar , Novellen aus Oesterreich. 3 treten zu können. Und jetzt soll ich als ein rauher Kriegs¬ knecht, bereit zu morden und zu verwüsten, über die Alpen ziehen!“ „Wie einst unsere Vorfahren unter den Ottonen und Heinrichen, und unter den Hohenstaufen“, erwiederte er. „So pflanzen sich die Wellenkreise, die der Sturz des römischen Kolosses hervorgebracht, noch nach einem Jahrtausende fort, und wir sind eigentlich auf unserem Welttheile noch immer Barbaren, so sehr wir uns auch mit den Fortschritten unserer Civilisation brüsten mögen. Aber“, setzte er nach einem kurzen Besinnen hinzu, indem er mich rasch ansah, „der Zwang der Lehenspflicht und Hörigkeit ist glücklicher Weise, wenn auch nur in seiner bindendsten Bedeutung vorüber. Ich weiß, daß Sie sich schon lange im Stillen mit dem Gedanken tragen, den Militärdienst zu verlassen. Thun Sie es jetzt; man kann, glaub' ich, einem Offizier den Abschied nicht verweigern, wenn er darum ansucht.“ „Allerdings nicht. Allein man würde mich für einen Feigling halten, dem um sein Leben bangt. Gerade jetzt kann und darf ich den Abschied nicht fordern.“ „Sie haben Recht,“ sagte er mit einem leichten Seufzer; „es geht nicht. Man kann sich über gewisse herrschende Mei¬ nungen und Ansichten, ohne sich oft sein ganzes Leben zu ver¬ derben, nicht hinwegsetzen.“ Die Sonne war indessen tiefer gesunken, und vom Fluß herauf wehte es feucht und kühl; so kehrten wir wieder nach Hause zurück. Die Lampe ward angezündet und wir ließen uns auf das Sopha nieder. Dort saßen wir schweigend, die Blicke auf einander geheftet, als wollte Jeder sich noch einmal das Bild des Andern so recht tief in's Herz prägen. Um die gewohnte Stunde kam der Alte mit dem Abend¬ essen, an das wir einsylbig und gedankenvoll gingen. Zuletzt schenkte Innocens die Gläser voll und sagte: „So müssen wir denn scheiden. Wer am meisten dabei verliert, bin ich. Denn,“ fuhr er, meine Einwendung abschneidend, fort, „so unangenehm Ihnen die Ereignisse, denen Sie folgen müssen, auch sein mögen; das Ungewohnte und Wechselvolle daran wird Sie doch gewaltsam über das Schmerzliche unserer Trennung hin¬ wegreißen. Und wenn alles überwunden und abgethan ist, dann liegt das Leben wieder in einer neuen Bedeutung, mit frischen Hoffnungen vor Ihnen. Sie sind noch jung; welche Erlebnisse, welche Eindrücke harren noch Ihrer, mit was für Menschen können Sie noch bekannt und befreundet werden! Ich aber bleibe in meiner Einsamkeit zurück. Ich werde Sie jeden Tag, zu jeder Stunde vermissen. Selbst meine gewohnte Thätigkeit wird mir verwais't erscheinen, da Sie schon so innig damit verknüpft waren — und so bleibt mir kein anderer Trost, als der der Erinnerung.“ Er hielt mir bei diesen Worten sein Glas entgegen, in welchem der flüssige Rubin des Weines wundersam funkelte. Wir stießen an und tranken, worauf er 3* fortfuhr: „Ich habe noch Etwas auf dem Herzen, das ich Ihnen schon vor fast einem Jahre einmal mitzutheilen ver¬ sprochen. Ich will es jetzt thun, denn mir ist, . als sollt' ich Ihnen beim Scheiden das Bild ergänzen, welches Sie von mir, ich weiß es, freundlich im Gedächtnisse bewahren werden.“ Er stützte das Haupt auf die Hand und sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. „Wie Sie wissen,“ begann er, „bin ich der Sohn armer Landleute. Meine Kindheit war im Ganzen eine ziemlich freud¬ lose. Ich mußte schon früh meinen Eltern bei der Feldarbeit an die Hand gehen und überdieß fleißig die Schule besuchen; denn es hieß, ich sollte einmal studiren. Wirklich wurde ich später, obwohl man mich zu Hause schwer entbehrte, nach der Hauptstadt gethan, um das Gymnasium zu besuchen. Dort wurde ich bald das Stichblatt meiner Mitschüler, die boshaft genug waren, sich über meine langen Beine, mein schüchternes, linkisches Benehmen, über meinen altväterischen Anzug lustig zu machen und mir allerlei muthwillige Streiche zu spielen. Obgleich mir dies auch anfangs viele trübe Stunden bereitete, so hatte es doch das Gute, daß ich mich nach und nach ganz von ihrem Umgange zurückzog und somit nie in die Versuchung kam, an dem sonstigen Treiben dieser frühreifen Knaben theil¬ zunehmen. Ich lebte damals in einer ärmlichen Dachstube auf der Kleinseite, wo mich ein entfernter Anverwandter bereit¬ willigst aufgenommen hatte. Er war schon ziemlich bejahrt, weib- und kinderlos und bekleidete die Stelle eines Aufsehers am zoologischen Museum der Stadt. Er brachte öfter seltene Thiere mit nach Hause; denn zu seinen Obliegenheiten gehörte es, dieselben auszubälgen oder in Weingeist zu setzen. Dabei mußt' ich ihm nun helfen, und auf diese Art erwachte in mir der Hang zum Studium der Natur und schlug immer tiefer in meinem Gemüthe Wurzel. Da an unseren Gymnasien zu jener Zeit selbst die Anfangsgründe der Naturwissenschaften engherziger Rücksichten halber von den Lehrgegenständen noch ausgeschlossen waren, so wendete ich meinen geringen Spar¬ pfennig daran, mir einige einschlägige und leichtfaßliche Bücher zu erwerben. Oft verweilte ich stundenlang in den lautlosen Sälen des Museums, zu denen mein Pflegevater die Schlüssel hatte und wo mich die bunte Thierwelt in den verschieden¬ artigsten Stellungen und Lagen regungslos, und doch wie lebendig, mit seltsam stieren Blicken anzusehen schien, so daß ich mich anfangs eines leisen Schauders nicht hatte erwehren können. Bald aber war ich mit ihr ganz vertraut geworden und meine kindliche Phantasie brachte Athem und Bewegung in die starren Gestalten. Ich ließ den breitmähnigen Löwen und den schön gefleckten Königstiger aus ihrem gläsernen Ge¬ fängniß heraustreten und majestätisch einen hohen Palmenwald durchschreiten, wo die Abgottschlange zwischen leuchtenden Blumen den furchtbaren Leib emporringelte, zähnefletschende Affen an den Stämmen auf- und abkletterten, krummschnäblige Papageien in den Wipfeln kreischten und Colibri gleich farbigen Funken die Luft durchschossen. Oder ich tauchte mit den plumpen, abenteuerlichen Fischungethümen zu dem zahllosen Gewimmel in den Abgründen des Meeres hinunter, sah über mir die Kiele der Schiffe wegfahren, und die Polypen still an den Riffen bauen. An schönen Ferientagen aber verließ ich schon mit dem Frühesten die Stadt und ging auf's Gerathewohl in's Land hinein, nur gelenkt durch den Flug der Schmetterlinge und Käfer, auf deren Jagd ich auszog. Dabei las ich in der Eile auf, was mir gerade an Pflanzen oder Steinen in die Augen fiel und belud mich damit. Wenn ich mich dann recht warm und müde gelaufen hatte, ruhte ich irgendwo im Schatten aus; am liebsten bei unbewegten, von Erlen und Weiden um¬ düsterten Wassern, über deren Spiegel blitzende Libellen schwirr¬ ten, zartbeinige Spinnen hintanzten, während dann und wann aus der Tiefe ein schnappender Frosch ausgluckste. — So wuchs ich allmälig zum Jüngling heran und trat endlich, da mich meine Eltern zum geistlichen Stande bestimmt hatten, als Noviz in unseren Orden, der mich nach vollendeten Studien und zurückgelegter Probezeit als Pater aufnahm. Durch bescheidene Dienstwilligkeit und eine gewisse Unverdrossenheit des Gemüthes, hatte ich mir bald bei meinen geistlichen Vor¬ gesetzten Liebe und Zutrauen erworben; aber plötzlich wurde meinem Ansehen ein schwerer Stoß versetzt: man begann meine Frömmigkeit in Zweifel zu ziehen. Neid und Mißgunst waren, wie überall in der Welt, so auch in unserem Kloster anzu¬ treffen, und hatten die Gelegenheit wahrgenommen, meine harm¬ losen Naturstudien zu verdächtigen und anzuschwärzen. Es verlautete nämlich, daß ich die Zeit, während welcher die an¬ dern Patres im schattigen Garten beschaulicher Muße oblagen, ein Spielchen machten oder Spaziergänge in der Stadt unternahmen, mit verruchten, allen kirchlichen Dogmen hohnsprechenden Experimenten hinbringe, zu welchem Zwecke ich eine ganze Teufelsküche und die Werke aller alten und modernen Atheisten in einem Wandschranke meines Zimmers verborgen halte. Der damalige Abt, eine ängstliche, etwas beschränkte Natur, fand sich durch dieses Gerede veran¬ laßt, mich eines Tages in Begleitung noch zweier Mitglieder bei meinen einsamen Studien zu überraschen, alles dazu Ge¬ hörige in Beschlag zu nehmen und mir nach einem Verweise anzurathen, meine Fähigkeiten künftighin einer besseren Sache zuzuwenden. Es war ein tiefer Schmerz, den ich empfand, als man mir meine Apparate und Bücher forttrug. Ein bitteres, niederdrückendes Gefühl überkam mich; aber ich er¬ duldete Alles mit christlicher Ergebung, wie es meinem Stande ziemte. Die Unthätigkeit, zu welcher ich mich jetzt verurtheilt sah, lastete in den ersten Tagen schwer auf mir. Aber ich bedachte, wie Vieles, das mit den Anschauungen meiner Vorge¬ setzten nicht im Widerspruche stand, ich noch zu lernen hatte; und so fand ich bald in eifrigen philologischen Studien Trost und Beruhigung. Ich ging nach wie vor fast niemals aus, und meine Erholung war, hie und da eine Stunde auf der Orgel unserer Hauskapelle zu spielen. Ich hatte die erste An¬ leitung dazu schon von meinem Schullehrer im Dorfe erhalten und benützte nun die Gelegenheit, diese Vorkenntnisse zu er¬ weitern und auszubilden. Wenn ich so in der verlassenen Kapelle saß, und die Töne unter meinen Händen aufquollen, da zog ein tiefer Friede, eine lichte Seligkeit in meine Brust, und auch nicht ein Schatten dieser Welt fiel hinein. So war mir manches Jahr in sanfter Gleichförmigkeit vorübergegangen, als der Abt plötzlich starb. Sein Nachfolger, ein wohldenkender, vorurtheilsfreier Mann, der mich stets mit vieler Nachsicht behandelt und warm vertheidigt hatte, ließ mich eines Tages zu sich bescheiden. „Wissen Sie,“ sagte er, als ich bei ihm eintrat, „daß der Verweser unserer Kirche auf dem Wyscherad wegen andauernder Kränklichkeit um Amts¬ enthebung nachgesucht hat?“ Ich bejahte es, da ich davon ge¬ hört hatte. „Möchten Sie wohl,“ fuhr er fort, indem er mich forschend ansah, „seine Stelle übernehmen?“ Er mußte in meinen Zügen sogleich eine freudige Zustimmung wahrge¬ nommen haben, denn er klopfte mir schnell auf die Schulter und sagte: „Nun, so gehen Sie mit Gott. Es wird Sie Niemand darum beneiden; der Ort ist gar zu einsam und abgeschieden, wenn auch das Amt eine gewisse Selbstständig¬ keit und Freiheit gewährt, die Sie, das weiß ich, nicht mi߬ bauchen werden.“ Mit welch' wohlthuenden Gefühlen ich das stille Haus hier oben bezog, können Sie sich vorstellen. Ich war der hä¬ mischen, spähenden, zischelnden Klostercameradschaft los und konnte wieder unbehelligt meine geliebten, langentbehrten Ar¬ beiten aufnehmen, wozu mir der neue Abt Bücher und Ap¬ parate von selbst hatte zurückstellen lassen. Als ich nach der ersten Nacht, die ich hier oben zuge¬ bracht hatte, am frühen Morgen an's Fenster trat, fiel mein Blick auf das kleine Haus gegenüber. Mit dem Einrichten meiner neuen Wohnung beschäftigt, hatte ich es Tags vorher kaum beachtet; jetzt aber zog es meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Thür und Fenster waren geschlossen; Alles schien drinnen noch im tiefen Schlaf zu liegen. Nur die Hühner und Gänse trieben schon vor der Schwelle ihr Wesen und die Tauben trippelten unruhig auf dem Dachfirste umher. Wie ich so hinsah, überkam mich eine Art Heimweh. Es war mir, als säh' ich das niedere, vom Dorfe etwas abgeschiedene Häuschen vor mir, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, und als müsse sich jetzt und jetzt die Thüre öffnen und meine Mutter selig heraustreten. Und die Thüre öffnete sich auch, aber die heraustrat, war ein junges Mädchen. Sie hatte ein weißes Tüchlein um den Kopf geworfen, und streute aus der aufgenommenen Schürze Futter zu Boden. Ohne sich wei¬ ter um das rasch hinzustürzende Geflügel zu kümmern, schöpfte sie Wasser aus der Cisterne und begab sich wieder in das Haus zurück, aus dessen Schornstein alsbald ein leichter Rauch in die heitere Morgenluft aufstieg. Mittlerweile war auch ein munter aussehender Knabe über die Schwelle gehüpft, der nun mit dem Muthwillen seines Alters die emsig pickende Schaar von den reichlich zugemessenen Körnern zu verscheuchen begann, wobei er sich an dem Geschrei und an der verwor¬ renen Flucht der furchtsamen Thiere weidlich zu ergötzen schien. Plötzlich aber wurde er von dem Mädchen, das rasch aus der Thüre eilte, beim Arme gefaßt und hineingezogen. Drüben hatten sich die versprengten Gäste allmälig wieder eingefunden, als es an meine Thüre klopfte. Es war der Kirchendiener, um mich zur Messe abzuholen, mit welcher ich mein Amt einweihen wollte. Bevor wir gingen, fragte ich den Mann, wer dort drüben wohne. „Der Zeugwart,“ er¬ wiederte er, „mit Weib und Kindern. Ein alter Knasterbart, der die Franzosenkriege mitgemacht und sich den ruhigen Posten hier oben durch manche Blessur verdient hat.“ In der Kirche, welche gewöhnlich nur an Sonn- und Feiertagen offen ist, war kein Beter anwesend. Als ich mich beim Evangelium umwandte, sah ich das Mädchen herein¬ treten. Sie trug einen Korb am Arme und kniete in der Nähe des Altares nieder, an welchem ich die Messe las. Nach einem kurzen Gebete erhob und bekreuzte sie sich und ging wieder. Als ich am nächsten Sonntage zum ersten Male die Kanzel bestieg, gewahrte ich sie gleich beim ersten Hinsehen auf die Menge unter mir. Sie hatte ein blaues, bis an den Hals hinauf geschlossenes Kleid an, das ihr gar wohl zu den goldenen, schlichtgescheitelten Haaren ließ. Neben ihr im Bet¬ stuhle saß eine schon ziemlich bejahrte Frau, die man sogleich für die Mutter erkannte. Während ich predigte, fühlte ich beständig ihren Blick aus den vielen heraus, die auf mich ge¬ richtet waren, und in dem Bestreben, ihm auszuweichen, und doch wunderbar davon angezogen, irrte mein Auge scheu um die liebliche Gestalt herum, ohne daß ich den Muth gehabt hätte, sie anzusehen. Desto öfter jedoch blickte ich in den Tagen, die nun folgten, nach dem kleinen Hause hinüber, und bald paßte ich sogar jeden Morgen den Augenblick ab, wo die Jungfrau vor der Thüre erschien. So trat ihr Bild unver¬ merkt immer tiefer in mein Leben hinein, und verwuchs da¬ mit, eine holde Nothwendigkeit, wie Luft und Licht. Es fachte keinen Wunsch in mir an; aber wie an trüben sonnenlosen Tagen ein dumpfer Druck auf Einem liegt, so überkam mich, wenn ich sie zur gewohnten Stunde nicht sah, ein geheimes Mißbehagen, das nicht eher wich, als bis sich die schlanke Ge¬ stalt, wenn auch noch so flüchtig, vor dem Hause, am Fenster oder im Gärtchen gezeigt hatte. Dann aber war es mir, als sei es erst jetzt vollends Tag geworden, dessen helles Licht mich mit sanfter Wärme und Heiterkeit durchströme. — Eines Abends spät hatte ich eben die Lampe angezündet und mich über ein Buch gebeugt, als die Klingel am Thore ziemlich hastig gezogen wurde. Ich erhob mich und trat an's Fenster. Unten im Dunkel der Bäume stand das Mädchen Ein jäher, freudiger Schreck durchzuckte mich, und unwillkür¬ lich trat ich einen Schritt zurück. Inzwischen hatte der Kirchendiener das Thor geöffnet und fragte jetzt nach ihrem Begehren. „Um Gottes willen,“ sagte sie mit ängstlicher Hast und unterdrücktem Weinen, „meine Mutter ist schwer krank; der geistliche Herr möchte sie versehen kommen.“ Ich erbebte im Innersten bei dem Klang dieser Stimme, die ich nun zum ersten Male hörte. Ich fühlte das tiefste Mitleid mit dem armen Kinde; eine fieberhafte Angst und Sorge um die Kranke überfiel mich, und dennoch hätte ich zugleich aufjubeln können vor Freude. Rasch eilte ich die Treppe hinunter und begab mich mit dem Kirchendiener, der mir im Flure entgegen kam, in die Sakristei, um alles Noth¬ wendige zu holen. Als ich damit aus dem Hause trat, war das Mädchen am Thore niedergekniet. Ich bewegte mit zit¬ ternden Händen den Kelch segnend über ihrem Haupte; dann stand sie auf und eilte mir rasch voran. In einer ärmlichen, aber rein und sorgsam gehaltenen Stube kniete der Zeugwart am Krankenbette, eine breitschul¬ terige alte Soldatengestalt mit dem Kanonenkreuze auf der Brust; ihm gegenüber der Knabe, das große Kindesauge ängstlich und verschüchtert auf mich richtend. Ich segnete die Anwesenden und trat dann zur Kranken, die, wie es schien, bewußtlos, im heftigen Fieber lag. Sie bewegte unruhig Kopf und Arme, und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Es fiel mir auf, daß man fast gewaltsam eine Menge Bettzeug auf sie gehäuft hatte, was die verzehrende Fieber¬ gluth des Weibes nur noch steigern mußte. Auch waren die Fenster geschlossen und in der Stube lagerte die Luft schwül und dunstig. Ich wandte mich an den Zeugwart mit der Frage, wann und unter welchen Umständen die Krankheit ausgebrochen sei, und ob man keinen Arzt zu Rathe gezogen? Hierauf nahm aber gleich das Mädchen das Wort und sagte unter leisem Schluchzen, daß die Mutter schon gestern über Mattigkeit und Kopfschmerz geklagt und die Nacht sehr un¬ ruhig zugebracht habe. Sie hätten einen Chirurgen holen lassen; dieser habe schweißbringende Mittel und Verwahrung vor Luftzug verordnet und schon für den nächsten Tag Besse¬ rung in Aussicht gestellt. Statt dessen sei jedoch die Mutter von Stunde zu Stunde kränker geworden, und sie hätten sich nicht zu rathen noch zu helfen gewußt. Da ich in dem Zustande der Kranken typhöse Erschei¬ nungen erkannte, so machte ich Vater und Tochter auf das Verkehrte dieser Behandlungsweise aufmerksam und erbot mich, falls man mir Vertrauen schenkte, der Kranken Erleich¬ terung zu verschaffen. Zugleich versprach ich, morgen mit dem Frühesten aus der Stadt einen Arzt holen zu lassen. Ein Strahl freudiger Hoffnung flog bei meinen Worten über das düstere, gebräunte Antlitz des Alten und schimmerte um so heller hinter den Thränen des Mädchens auf, als ich das Versehen mit den Sterbesakramenten für unnöthig erklärte und bat, mich nur als Arzt zu betrachten und alle meine An¬ ordnungen zu befolgen. Das Mädchen faltete still die Hände vor der Brust und sah mich fragend und erwartungsvoll an. Ich befahl für's Erste, die schweren, dicken Hüllen von dem Körper der Frau zu entfernen, dann Thür und Fenster zu öffnen, auf daß die reine, frische Nachtluft durch die Stube streiche. Sie thaten es schweigend und eilig; aber ein leiser Zug ungläubiger Aengstlichkeit lag dabei in allen Gesichtern. Diese Anord¬ nungen waren ja so ganz jenen des Chirurgen entgegenge¬ setzt und die Menschen sind in Allem und Jedem zu sehr an langsame Uebergänge gewöhnt, als daß sie zu einem plötzlichen Wechsel unbedingtes Vertrauen fassen sollten. Ich hatte inzwischen von dem Knaben ein Becken mit frischem Wasser füllen lassen. Dann begehrte ich Linnen, tauchte es ein und legte es auf die brennende Stirn der Kranken, die dabei, wie neubelebt, tief aufseufzte. Hierauf entfernte ich mich, um einiges aus meiner kleinen Handapo¬ theke herüberzuholen. Als ich wieder in die Stube trat, hörte ich, wie eben der Knabe sagte: „Wie wohl der Mutter die kalten Umschläge thun! Der dumme Chirurg! Das hätte er auch wissen sollen“. „Siehst du, Ludmilla“, sagte jetzt der Zeugwart, „wie gut es war, daß ich darauf bestand, du solltest den geistlichen Herrn rufen.“ „Ach ja;“ erwiederte sie indem sie mich mit ihren großen nußbraunen Augen tief ansah, „aber es that mir so weh, daran zu glauben, daß es mit der Mutter schon so schlimm stehe.“ Ich hatte kühlende Pflanzensäfte mitgebracht und goß davon in ein Glas Wasser, das ich an den lechzenden Mund der Kranken brachte. Kaum spürte diese das Naß an den Lippen, als sie es, obgleich noch immer bewußtlos, instinkt¬ mäßig mit gierigen Zügen einschluckte. Mittlerweile hatte der Zeugwart nach der Uhr gesehen, zögernd seine Uniform zugeknöpft und den Säbel umgeschnallt. „Der Dienst ruft mich,“ sagte er, als ich ihm einen Blick zuwarf. Ich muß die Nachtrunde um das Fort und die Pulvermagazine machen. Es ist mir noch nie so schwer ge¬ fallen wie heute.“ „Gehen Sie unbesorgt“, erwiederte ich, „ich will ihre Zurückkunft hier abwarten. Bis dahin soll sich, wie ich hoffe, Ihre Frau schon merklich besser befinden.“ Der alte Soldat beugte sich über die Kranke und horchte auf ihren Athem. Dann zündete er das Licht einer Laterne an und ging. Wirklich wurde die Kranke von Minute zu Minute ruhiger. Die Delirien hörten auf; das Bewegen und Zucken der Arme wurde seltener, und die wüste Bewußtlosigkeit schien einem tiefen, wohlthätigen Schlummer zu weichen. Ich hatte mich ihr zu Häupten gesetzt und hielt ihren Puls leicht umfaßt. Ludmilla war hart am Bette niederge¬ kniet und schien mit aufgestützten Armen und gefalteten Hä¬ den zu einem Heiligenbilde an der Wand zu beten. Der Knabe lag, von dem bleiernen Schlafe der frühen Jugend be¬ wältigt, mit überhangendem Haupte in einem alten Lehnstuhl. Still quoll die Nachtluft durch das geöffnete Fenster herein und spielte mit der gedämpften Flamme der Lampe, um welche, vom trügerischen Schein in die Stube gelockt, ein schwerfäl¬ liger Falter in immer engeren Kreisen schwirrte. Da ward es mir, als neige sich das Haupt des knieen¬ den Mädchens der Seite zu, wo ich saß. Und wie es jetzt tiefer und tiefer sank, lösten sich langsam die gefalteten Hände, die Arme fielen schlaff an den Hüften hinunter, und eh' ich mich dessen versah, glitt der Oberleib der vom Schlafe Ueber¬ mannten sanft in meinen Schooß herüber. Eine nie gekannte Empfindung durchzuckte mich, als die holde Last plötzlich auf meinen Knieen lag, All' mein Blut schoß zum Herzen; ich fühlte, wie ich erblaßte. Was sollte ich beginnen? Sollte ich sie wecken? Und wenn ich es that, mußte sie nicht gewahren, daß sie in meinem Schooße lag? Ein tiefes Schaamgefühl überkam mich und trieb mir das Blut, heiß zum Versengen, in die Wangen zurück. Ich wagte mich nicht zu rühren. Ich spürte, wie sich die Brust der Jungfrau im festen Schlummer gleichmäßig hob und senkte, und lauschte auf ihre Athemzüge, die sich mit den leisen des Knaben und den schnellen, stoßweisen der Kranken vermisch¬ ten. Mein Herz schlug hörbar; der Falter schwirrte noch immer um's Licht; draußen zirpten die Grillen. Plötzlich erlosch knisternd die Lampe. Der Falter hatte das Flämmchen, endlich hineinflatternd, erstickt. Ludmilla wachte im Schlafe eine Bewegung. Dabei berührte ihr war¬ mer Hauch meine Hand. Ein heißer Schauer durchrieselte mich, meine Pulse flogen, und in der Verwirrung meiner Sinne beugte ich mich nieder und mein Mund streifte zitternd das weiche, duftige Haar der Schläferin. Aber gleichzeitig, wie von einer inneren Angst getrieben, schob ich sie sanft von mir und erhob mich. Ludmilla erwachte und schien sich lange nicht besinnen zu können, als sie sich am Boden und im Dunkeln befand. Ich sagte mit bebender Stimme, sie möge die Lampe anzünden, die eben erloschen sei. Sie that es schämig verwirrt und er¬ wiederte, indem sie mit den Händen über das rosige Gesicht fuhr: „Mein Gott, mir scheint, ich habe gar geschlafen.“ Saar , Novellen aus Oesterreich. 4 Ich schwieg und wechselte den Umschlag der Kranken. Es that mir wohl, die fiebernden Hände in's Wasser zu tau¬ chen; doch kühlte es nicht die Gluth, die mich noch immer durchtobte. Bald darauf trat der Zeugwart ein. Ich wies auf die ruhig schlummernde Kranke und unterbrach erröthend die schlichten Dankesworte des Mannes, indem ich mich mit dem Bemerken verabschiedete, daß für heute Nacht nichts mehr zu befürchten sei. Ludmilla hatte die Lampe ergriffen, um mir hinaus zu leuchten. Ich winkte ihr zu bleiben, zog meine Hand, die sie ehrerbietig zum Kusse ergreifen wollte, zu¬ rück und eilte fort. Draußen war eine herrliche Nacht. Die Sterne flim¬ merten und zuckten, und der Mond goß sein feuchtes Licht über die Erde. Ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen, stand ich plötzlich auf der Bastei, deren Brustwehr meinen wahl¬ los stürmenden Schritten Einhalt that. Schwüle Fliederdüfte umquollen mein Antlitz; in der Runde schmetterten die Nach¬ tigallen. Horch! ferner Lärm, wie von verworrenen Stimmen, von Scherzen und Gelächter. Ein Kahn kam den glitzernden Strom herabgefahren, voll fröhlicher Menschen, die gewiß bis jetzt in Podol gezecht hatten und sich in der stillen Mond¬ nacht auf der schaukelnden Fluth bis zur Prager Brücke ru¬ dern ließen. Immer näher kam der Kahn; immer lauter scholl die Lustbarkeit der Menschen, deren Gestalten ich deutlich erkennen konnte, wie sie, Männer und Frauen, dichtgedrängt in dem kleinen Fahrzeuge saßen und standen. Plötzlich verstummte Plaudern und Lachen, und eine weiche, schmelzende Tenorstimme begann in die schimmernde Nacht hinaus zu singen: „Sei in Tönen, weich und linde, Mir, o Frühlingsnacht, gegrüßt! Glücklich, wer mit seinem Kinde, Schlummerlos, dich still verküßt! Wie ein heimliches Gewittern Geht's durch deine milde Pracht: Es ist rings der Herzen Zittern, Hold bedrängt von Liebesmacht.“ Ein schneidendes Weh drängte sich durch meine Seele und athemlos, wie von einem Zauber berührt, lauschte ich dem Gesange. „Es ist rings der Herzen Zittern, Hold bedrängt von Liebesmacht!“ scholl es, im lauten Chor wiederholt, herauf. Jetzt glitt der Kahn gerade unterhalb des Forts vorüber und mit kräftiger, rasch empor geschnellter Stimme fuhr der Sänger fort: „Aber wecken alle Träumer, Möcht' ich jetzt mit hellem Sang, Treiben möcht' ich alle Säumer Vor mir her mit Becherklang! 4* Denn mich wurmet das Genippe. Wo ein Trunk nur kühlt und stillt, Und mich wurmet jede Lippe, Die nicht heißverlangend schwillt!“ „Und mich wurmet jede Lippe, Die nicht heißverlangend schwillt'“ tönte es im Chor. Ich beugte mich weit über die Brustwehr hinaus; denn immer ferner und schwächer klang es: „Und so wie der echte Zecher Keinen Tropfen je vergißt, So verschmäh' ich rascher Brecher Keine Blüthe, die da sprießt —“ ich hörte nur mehr die immer leiser tönende Melodie des Liedes; noch einmal den Chor fern aufrauschen; dann war alles still. Jetzt überkam mich eine tiefe, wilde Sehnsucht und drohte mir die Brust zu zersprengen. Es war mir, als wäre mein Glück an mir vorübergezogen und rufe und winke durch die Nacht nach mir zurück mit geheimnißvollen Stimmen und leuchtenden Händen. In unsäglichem Drange breitete ich die Arme in der Richtung aus, in welcher der Kahn meinen Blicken entschwunden war. Dann warf ich mich nieder auf das feuchte Gras, und eine glühende Thräne rann aus meinem Auge mit dem kühlen Thau des Himmels zusammen.“ Er schwieg einen Augenblick, wie um eine innere Erre¬ gung auszittern zu lassen und fuhr dann in etwas gedämpftem Tone fort: „Am Horizont stand schon ein blaßgelber Streif, als ich nach Hause zurückkehrte. Ich warf mich angekleidet auf's Bett und versank in einen kurzen, von wüsten Traum¬ bildern geängstigten Schlummer. Beim Erwachen lag das Dasein fremdartig vor mir, ein einziger großer Schmerz. Der Arzt erschien und ich ging zögernd mit ihm hinüber. Er er¬ klärte den Zustand der Kranken für keinen sehr gefährlichen und verordnete einiges, während ich mit bebender Seele abseits stand und den Blicken Ludmilla's auswich, die sie, um die Mutter beschäftigt, voll innigen Dankes gegen mich aufschlug. Ich war froh, als ich mich mit dem Arzte wieder entfernen konnte. Es litt mich aber nicht zu Hause, sondern ich irrte zeitvergessen in der Citadelle umher, warf mich hier und da erschöpft auf eine Schanze nieder und brütete vor mich hin. In dieser dumpfen, ruhelosen Unthätigkeit vergingen die näch¬ sten Tage. Ein schleichendes, markverzehrendes Feuer war in meinem Innern entglommen und lohte oft in so wilden, niege¬ kannten Wünschen auf, daß ich vor mir selbst erschrack. In meiner Seelenangst schloß ich mich dann oft stundenlang in der kühlen, dunklen Kirche ein, um durch reumüthiges Gebet mein Inneres zu läutern und der schwülen Traumhaftigkeit meiner Sinne Herr zu werden. Aber umsonst: auf der Lippe die das peccavi sprach, zitterte die wonnige Berührung mit den blonden Haaren Ludmilla's nach, und wie geisterhaft fühlte ich mich von Sirenenklängen jenes Liedes umweht. Selbst an der Orgel, deren Töne mich sonst über alles Irdische hin¬ ausgehoben, fand ich keine Beruhigung, keinen Trost. Ihr feierlich-ernstes, gleichmäßiges Rauschen stimmte nicht zu dem Zwiespalte meiner Brust, der, das fühlte ich, nur auf einer Geige in wildklagenden Accorden, grellen Läufen und schnei¬ denden Cadenzen hätte ausklingen können. Ein Opfer dieses Zwiespaltes, nannte ich mich selbst einen pflichtvergessenen Priester, der mit unwürdiger Hand den Kelch erhebe, und dessen befleckte Lippe das Wort Gottes entheilige. Und dann nahm ich mir vor, nie mehr die Schwelle des Zeugwartes zu betreten, was ich doch schon der Kranken halber von Zeit zu Zeit thun mußte, hätte mich auch nicht die Sehnsucht, Ludmilla zu sehen, hingetrieben. Gleich darauf aber beklagte ich mich wieder als einen unglückseligen Menschen, der inmitten der holden Freuden und Genüsse dieser Welt an einen düsteren Fels¬ block geschmiedet sei, und weinte heiße Thränen darüber, daß ich das unauflösbare Gelübde abgelegt. — Fast eine Woche lang war es mir gelungen, die drängende Sehnsucht zurückzu¬ dämmen; länger aber ertrug ich's nicht. Ich umkreiste, wie damals der Falter die Lampe, immer enger das kleine Haus und trat endlich hinein. Ich fand die Kranke schon im Gärtchen. Man hatte ihr den alten Lehnstuhl unter einen breitästigen Apfelbaum getra¬ gen, in dessen Schatten sie des herrlichen Nachmittags genoß. Neben ihr auf einer in der Erde festgerammten Bank saß Ludmilla. Diese sprang, als ich eintrat, hastig auf, wobei ihrem Schooße ein buntes Chaos von Wiesenblumen entglitt. Die Frau machte einen Versuch, sich zu erheben, sank aber alsbald wieder kraftlos in den Stuhl zurück. So be¬ gnügte sie sich, mir ihre welke, abgemagerte Hand entgegen zu strecken. „Wie schön, hochwürdiger Herr“, sagte sie, „daß Sie heute herüberkommen, wo ich zum ersten Male wieder die freie Gottesluft athme.“ „Es freuet mich, Sie schon so wohl zu sehen‛“ erwiederte ich mit gepreßter Stimme; denn ich bemerkte daß mich Lud¬ milla mit ängstlicher Freude betrachtete. „Gerade haben wir von Ihnen gesprochen, nicht wahr, Mutter?“ sagte sie. „Wir fürchteten schon, Sie wären krank. Sie sahen, als sie das letzte Mal bei uns waren, gar so blaß und leidend aus.“ Ich fühlte, wie ich bei diesen Worten noch bleicher wurde als ich es vieleicht schon war. „Und Sie waren auch gewiß krank,“ fuhr Ludmilla fort, während sie besorgt die Hände faltete. „Man sieht es Ihnen an, daß Sie sich selbst jetzt noch nicht ganz wohl fühlen“. „Wahrlich“, bekräftigte die Mutter, „jetzt merk' ich es erst, wie übel sie aussehen. Was fehlt Ihnen, geistlicher Herr? Reden Sie, um Gotteswillen!“ Ich drohte umzusinken. Bei dieser ängstlichen Musterung kam mir in den Sinn, wie verstört ich aussehen mußte; ich empfand es deutlich, wie mir das Haar wirr um die Schläfen hing, und meine Augen eine düstere Fiebergluth ausstrahlten. Dennoch faßte ich mich und erwiederte, indem ich mich zu lächeln zwang: „Mir fehlt nichts; ich fühle mich ganz wohl.“ „Wirklich? wirklich?“ forschten die Frauen, „Sie wollen es uns nur verheimlichen“, setzte Ludmilla hinzu. „Warum sollt ich das,“ sagte ich, das Zittern meiner Stimme gewaltsam unterdrückend. „Beruhigen Sie sich, es ist nichts. Die Tage sind jetzt nur so unerträglich schwül,“ setzte ich hinzu, indem ich unwillkürlich meinen Empfindungen nach¬ gab und mit der Hand über die Stirn fuhr. „So setzen Sie sich doch hierher in den Schatten! rief das Mädchen und zwang mich mit sanfter Gewalt auf die Bank nieder. „Prokop!“ rief sie dann dem Knaben zu, der, ohne mein Kommen bemerkt zu haben, weiter rückwärts im Gärtchen herumsprang, „Prokop, siehst du denn nicht, daß der geistliche Herr da ist?“ Alsbald kam der Kleine auf mich zuge¬ laufen. Froh, die Verwirrung meiner Seele hinter einem Gespräch mit dem Kinde verbergen zu können, streichelte ich ihm das erhitzte Gesicht und das lichtblonde, kurzgeschnittene Haar, während ich hastig hintereinander eine Menge Fragen an ihn stellte, die er alle bescheiden und aufgeweckt beant¬ wortete. Ludmilla hatte inzwischen langsam die Blumen vom Boden aufgelesen und machte jetzt Miene, sich neben mir auf der Bank niederzulassen. Ich erhob mich unwillkürlich. „Wie Sie wollen schon wieder fort?“ hieß es, „Ich muß“, stam¬ melte ich, obgleich es sich wie unsichtbare Banden um mich legte. „O, nur einen Augenblick!“ bat Ludmilla, bis ich den Strauß hier fertig habe. Sie können sich ihn zu Hause in's Wasser stellen.“ Ich machte verwirrt eine ablehnende Geberde. „Geh mit diesen Blumen!“ sagte die Mutter. „Da gibst Du dem geistlichen Herrn was Rechtes.“ „Also wollen Sie sie nicht?“ fragte Ludmilla kleinlaut. „Sie duften doch recht lieblich.“ Mir wollte das Herz darüber zerspringen, daß ich ihr weh gethan. „So war es nicht gemeint,“ sagte ich. „Ich liebe ja die Blumen, die draußen frei und ungepflegt sprießen, gar sehr. Ich wollte nur nicht, daß Sie sich meinetwegen mühten.“ „Mühten?“ fragte sie. „Mein Gott, wie gerne thät ich's! Aber was ist es denn, einen Strauß zu binden.“ Und indem sie die Blumen auf die Bank legte, und rasch wieder eine nach der andern aufnahm, fuhr sie fort: „Die Schanzen sehen jetzt gar so schön aus. Alles steht bunt von Stern- und Glocken¬ blumen, von Gelbveiglein und Hahnenfuß. Da pflück' ich nun, so viel ich kann. Denn hier haben wir auch gar zu wenig Raum, um Blumen zu halten. Mein Rosenbäumchen dort ist außer den Aepfeln und Bohnen das Einzige, was bei uns blüht. Sie deutete darauf hin. Es war wirklich die alleinige Zierde des Gärtchens, wo jedes Fleckchen Erde mit einem nütz¬ lichen Gewächse bepflanzt war, und stand bis auf eine halb¬ aufgeblühte Rose noch in Knospen. Sie hatte den Strauß fertig und hielt ihn in der ge¬ bräunten, aber wohlgeformten Hand prüfend vor sich hin. „Es sind doch gar zu unscheinbare Blumen“, sagte sie nieder¬ geschlagen, „sie nehmen sich im Rasen zerstreut viel besser aus als so. Aber warten Sie, ich will noch etwas hinzu thun!“ rief sie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, und eilte auf das Bäumchen los. Dort pflückte sie die Rose und steckte dieselbe in die Mitte des Straußes, wo sie, von weißzackigen Sternblumen umgeben, gar lieblich aussah. „So“, sagte Lud¬ milla, indem sie zurückkehrte und mir anmuthig den Strauß überreichte. „Es war die Einzige. In ein paar Tagen aber werden alle Knospen aufgegangen sein, und dann sollen sie die schönsten Rosen haben.“ Ich stammelte einige unzusammenhängende Worte und verabschiedete mich; Ludmilla ging noch mit mir bis zu dem Pförtchen im Zaune. Draußen athmete ich tief auf. Ein schmerzlichsüßes Weh hatte mir drinnen das Herz zusammengepreßt und eine dumpfe Hitze in's Antlitz getrieben. Nun suchte ich Luft, Kühlung. Aber die Sonne schien heiß auf meinen Scheitel nieder; kein Blatt, kein Halm regte sich. Unwillkürlich brachte ich den Strauß, um mich zu erfrischen, vor's Antlitz. Dadurch wurde ich mir erst des duftigen Geschenkes bewußt und eine seltsame Verwirrung und Beängstigung überkam mich. Es war mir, als hefteten sich rings tausend Augen auf mich und auf die Blumen in meiner Hand. Und da fingen die Stengel zwischen meinen Fingern zu glühen an und aus jedem Kelche schien eine Flamme zu schlagen. Scheu blickte ich umher; es war Niemand zu sehen, außer einer Schildwache, die hoch oben auf dem Wall, ohne mich zu beachten, träg auf und nieder ging. Ich nahm den Strauß unter mein Scapulier und eilte zu mir hinüber. Geräuschlos, mit hochklopfendem Herzen, huschte ich über den Flur und die Treppe hinauf und schloß die Thüre hinter mir ab. Hier im kühlen, einsamen Zimmer drückte ich den Strauß an die Brust, an die Augen, an den Mund. Ich gab ihm die zärtlichsten Schmeichelnamen, wühlte mit zitternden Fingern darin und bedeckte die Stengel mit zahllosen Küssen. Plötzlich aber zuckte wieder das ganze fürchterliche Bewußtsein meiner Lage in mir auf; entsetzt schleuderte ich den Strauß vor mich auf den Tisch hin, schlug mir die Hände vor's Ge¬ sicht und sank laut stöhnend in einen Stuhl. Ich weiß nicht, wie lange ich so, eine Beute der wider¬ streitendsten Gefühle, mochte dagesessen haben, als es an die Thüre klopfte. Erschreckt fuhr ich empor, warf ein Tuch über den Strauß und öffnete. Es war der Kirchendiener in Begleitung eines Mannes, der einige Papiere in der Hand hatte. „Der Sakristan von Sankt Carl wünscht Euer Hochwürden im Auftrage seines Herrn Pfarrers zu sprechen“, sagte der Kirchendiener. „Wir haben morgen eine Leiche.“ „Eine Leiche?“ fragte ich mechanisch. „Eine vornehme Leiche“, bekräftigte der Kirchendiener mit einem gewissen Behagen. „Die Tochter des reichen Gro߬ händlers Friedheim. Ich habe sie gut gekannt; denn sie kam fast jeden Sonntag in unsere Kirche herauf. Ein schönes schlankes Fräulein mit blonden Haaren. Sie müssen sie ja auch schon gesehen haben. Sie saß immer im ersten Betstuhle rechts, wo ich jedesmal für sie und die alte Dame, die sie be¬ gleitete, Plätze aufhob.“ „Ich entsinne mich nicht“, sagte ich, ohne daß ich dabei nur an etwas gedacht hätte, und wandte mich an den Sa¬ kristan mit der Frage, warum die Todte nicht bei Sankt Carl, wohin sie doch eigentlich zu gehören scheine, begraben würde. „Damit hat es ein eigenes Bewenden“, antwortete der Mann. „Die ganze Stadt ist voll davon. Das Fräulein war mit einem jungen Rechtsgelehrten verlobt und die Trauung sollte schon in der nächsten Zeit stattfinden. Wie es heißt, hatte man sich kein ungleicheres Paar denken können, als die Beiden. Er — heiter, lebenslustig, zuweilen ausgelassen, wenn auch nicht mehr, als es jungen Leuten eben wohl ansteht. Sie hingegen still, nachdenklich, fast schwermüthig. Dennoch sollen sie sterbensverliebt in einander gewesen sein. Als das Fräu¬ lein zum letzten Mal die Kirche hier oben besuchte, war auch der Bräutigam mit. Nach der Messe kommt es ihr in den Sinn, in den Friedhof hineinzugehen. Der Bräutigam will anfangs nicht; endlich gibt er nach. Wie sie so Arm in Arm langsam zwischen den Hügeln und Kreuzen hingehen, sagt sie: wie still, wie schön es hier ist! Wenn ich einmal sterbe, möcht' ich hier begraben sein. Ei, erwiedert der Bräutigam scherzend, bis dahin ist hier kein Platz mehr. Siehst du denn nicht, wie jetzt schon die Gräber dicht aneinander gedrängt sind. Sie werden bald zu einem einzigen großen Blumen¬ hügel zusammenwachsen. — Aber nach vierzehn Tagen war sie todt. Eine entzündliche Krankheit, die sie sich bei einem Aus¬ fluge geholt haben soll, raffte sie so schnell dahin. Der junge Rechtsgelehrte ist aus Schmerz darüber fast wahnsinnig. Nun will man sie, wie es ihr Wunsch war, hier oben begraben lassen.“ Er hatte mir bei diesen letzten Worten die Papiere überreicht und setzte hinzu, der Pfarrer von Sankt Carl ließe mich bitten, ich möchte Alles Nöthige veranlassen und mich morgen Nachmittags zur Begräbnißstunde im Hause des Gro߬ händlers einfinden. Er selbst würde auch dort sein, da die Leiche vorher bei Sankt Carl eingesegnet werden müsse. Als ich wieder allein war, legte ich die Hand auf die Stirne. Es war mir, als erwache ich aus einem schweren Traum. Wie Schatten löste es sich nach und nach von allen Dingen im Zimmer, das mir schon ganz fremd geworden war. Jeder Stuhl, jeder Schrank, jedes Buch auf den Gestellen schien mich vertraut anzulächeln, und über dem Tische dort am Fenster lag es wie ein Sonnenstrahl aus früheren, glücklichen Tagen. Ich überlas aufmerksam die Sterbedocumente und dachte, während ich auf- und abschritt, den Fall in seiner Besonder¬ heit durch. Und je mehr mir die volle Bedeutung desselben klar wurde, desto leichter und freier fühlte ich mich, ich wußte selbst nicht warum. Ich bemühte mich jetzt, mich aus die Ver¬ storbene zu besinnen, mir nach den Andeutungen des Kirchen¬ dieners ein Bild von ihr zu entwerfen: aber seltsam, es floß mir immer mit jenem Ludmilla's zusammen. Ein leiser Duft, der sich im Zimmer verbreitet hatte, mahnte mich endlich wieder an den Strauß. Ich nahm das Tuch davon, füllte ein Glas und stellte ihn hinein. Draußen lagerte eine dumpfe Schwüle, die sich still zu schweren Wolken zusammenballte. Eine süße Müdigkeit überkam mich; ich hatte so viele Nächte bloß im wüsten, entnervenden Halbschlummer zugebracht. Nun gab ich der Schläfrigkeit, die sich wohlthuend auf meine Au¬ genlider senkte, nach und ging zu Bette, während draußen die Donner zu rollen anfingen und ein erquickender Regen über die Erde niederging. — Der folgende Tag ließ sich recht unfreundlich an und blieb es. Ich aber fühlte mich nach einem langen und tiefen Schlafe wunderbar gestärkt und ging in den Friedhof hinab, wo ich dem Kirchendiener, der hier zugleich Todtengräber ist, zusah, wie er für die Verstorbene ein Grab aufwarf. Zur bestimmten Stunde fand ich mich in dem Hause des Gro߬ händlers ein. Dort wurde ich in einen schwarzausgeschlagenen Empfangssaal geführt, wo bereits eine Menge von Leidtragen¬ den versammelt war. In der Mitte des Saales, vom Scheine leis flackernder Wachskerzen beleuchtet, lag die Todte in einem offenen Sarge, weißgekleidet, den Brautkranz im Haar. Ein junger Mann hatte sich mit verstörten Mienen über sie ge¬ worfen und benetzte ihr bleiches Antlitz und ihre starren Hände mit heißen Thränen und Küssen. Als man jetzt Anstalten traf, den Sarg zu schließen, wollte er dies durchaus nicht zu¬ geben. Er wehrte die Männer, die mit dem Deckel nahten, ab und rief mit herzzerreißender Stimme: „Nein! Ich lasse sie nicht forttragen! Ich lasse sie nicht in die kalte, finstere Erde versenken!“ Umsonst beschworen ihn seine Angehörigen und Freunde, sich zu fassen; umsonst sprach ihm der Pfarrer von Sankt Carl, ein kleiner, wohlbeleibter Herr, in salbungs¬ vollen Worten Trost zu: er wollte nichts hören und mußte endlich mit Gewalt von der Leiche entfernt werden. Während dieser erschütternden Scene stand ich abseits mit gesenktem Haupte da. War es eine zufällige Aehnlichkeit, war es ein Spiel meiner Phantasie — ich glaubte Ludmilla dort im Sarge zu sehen. Das waren dieselben fein geschnittenen Züge, war dasselbe blonde, schlichtgescheitelte Haar, dieselbe schlanke, zart¬ busige Gestalt; nur der entstellende Hauch des Todes lag da¬ rüber und der fremdartige Prunk und Schimmer der kostbaren Sterbegewänder. Ich verstand den Schmerz des Jünglings, als wär' er mein eigener und doch war es wiederum nur eine stille, süße Wehmuth, was mich durchzitterte. Jetzt ertönten schaurig dumpf die Schläge des Hammers. Die Träger hoben den Sarg und unter den Klängen eines Chorals wurde die Leiche zur Einsegnung in die Carlskirche gebracht. Von dort aus bewegte sich der Zug, dem eine lange Wagenreihe folgte, gegen den Wyschehrad. Ein kalter Wind jagte dabei graues, zerrissenes Gewölk mit flüchtigen Regen¬ schauern am Himmel hin und her und löschte fast die qual¬ menden Leichenfackeln aus. Endlich waren wir auf dem Friedhofe angelangt und die nächsten Angehörigen traten laut schluchzend an den Rand des Grabes. Nur der Bräutigam schien schon alle seine Thränen verweint zu haben, denn er starrte jetzt mit trockenem Auge in die moderige Grube. Als man aber den Sarg hineinsenkte da machte er eine Bewegung, als wollte er sich mit den dumpf niederpolternden Schollen nachstürzen, so daß ihn ein alter Herr, augenscheinlich sein Vater, erschreckt beim Arm faßte. Er konnte ihn jedoch nicht daran verhindern, daß er sich, als das Grab geschlossen war, auf den frischen Hügel niederwarf, wo er sich, ohne auf die Umstehenden zu achten, ganz einem stum¬ men, verzweiflungsvollen Schmerze überließ. So verweilte er lange. Allmälig entfernten sich die Anwesenden, indem sie sich noch öfter mit bedauernden Blicken nach ihm umwandten. Nur sein Vater und ein junger Mann blieben bei ihm zurück. „Arthur“, sagte endlich der Erstere, „laß es jetzt genug sein. Bedenke, wie mir beim Anblick eines solchen, alles Maaß überschreitenden Schmerzes zu Muthe sein muß. Ich bitte dich, mein Kind, steh' auf!“ Der Jüngling hörte nicht, oder wollte nicht hören. „Wahrlich, Arthur“, nahm jetzt der Andere das Wort, indem er dem alten Herrn einen bedeutungsvollen Blick zu¬ warf, „wahrlich, ich hätte nicht gedacht, daß du so wenig See¬ lenstärke besäßest. Du schwelgst in deinem Schmerze wie ein nervöses Weib. Ich kenne dich gar nicht mehr.“ Arthur schnellte mit halbem Leibe empor und sah ihn mit wilden Blicken an. „So sprichst du, Richard? Du, mein Freund, von dem ich glaubte, er sei der Einzige, der meinen Verlust in seiner ganzen Größe ermessen und mit empfinden könnte!? Ich möchte dich an meiner Stelle sehen! Aber freilich“, fuhr er mit grellem Hohngelächter fort, „deine Elise Saar , Novellen aus Oesterreich. 5 lebt ja noch! O pfui, über den Egoismus, über die Theil¬ nahmslosigkeit der Welt!“ Und er warf sich wieder auf's Antlitz. Betroffen über das Mißlingen seiner List, schlug Richard die Augen zu Boden. „Ich bitte Sie, hochwürdiger Herr“, wandte sich der Vater an mich, „helfen Sie uns doch den Unseligen trösten, auf daß er diesen Ort verlasse, der seiner verzweiflungsvollen Stim¬ mung nur immer neue Nahrung gibt.“ Arthur erhob abwehrend die Hand. „Ich brauche keine leeren Worte. Der geistliche Herr soll sich keine Mühe geben. Seine Vertröstungen auf ein Wiedersehen im Jenseits erinnern mich nur daran, daß ich hier auf Erden Alles verloren und daß mir nichts anderes übrig bleibt, als auf diesem Grabe zu sterben!“ „Arthur, du versündigst dich!“ rief der alte Herr und warf mir einen Blick zu, der für die Worte des Sohnes um Entschuldigung bat. „Lassen Sie ihn“, sagte ich. „Ich fühle es ja nur zu gut, daß ihm jeder Trost leer und ungenügend erscheinen muß.“ Diese Worte, die mir aus der tiefsten Seele kamen, schien der Jüngling nicht erwartet zu haben. Er hob das Haupt empor und sah mich lange und schweigend an. „Das sagen Sie “, sprach er endlich, „ Sie , der Sie nie geliebt?“ „Warum verneinen Sie dies so bestimmt?“ erwiederte ich mit bebender Stimme. „Ich bin ein Mensch wie Sie. Aber“, fuhr ich fort, indem ich mir mit diesen Worten gleich¬ sam selber Muth zusprach, „fassen Sie sich jetzt. Gedenken Sie der Pflichten, die Ihnen das Leben noch auferlegt und es wird Ihnen freier und leichter zu Muthe werden.“ „O nichts davon!“ entgegnete er hastig. „Ich habe jetzt keine Pflichten mehr. Und wenn auch, wie vermöcht' ich es, sie zu erfüllen! Die Thatkraft, die noch vor kurzem meine Brust geschwellt, ist erloschen, und der Flug meines Geistes auf immer gelähmt.“ „Das scheint Ihnen jetzt so“, sagte ich ruhig. „Ich bin überzeugt, daß Alles, was an edlen Kräften in Ihrem Wesen liegt, sich über kurz oder lang wieder regen und sich reiner und herrlicher entfalten wird, als dies vielleicht bei dem Be¬ sitze Ihrer Geliebten der Fall gewesen wäre. Denn“, setzte ich hinzu und fühlte mich durch die Zuversicht meiner Rede selbst wunderbar getröstet und erhoben, „ein großer Schmerz läutert, indem er die Seele zwingt, ihr Tiefstes zu sammeln. Er reift in uns die Erkenntniß, daß nur jenes Glück, welches wir ganz in uns selbst finden, Dauer verspricht und jedes andere, so schön es auch sei, vor einem Hauche in Nichts zer¬ stieben kann.“ Arthur blickte vor sich hin. „Aus Ihnen spricht der Geist der Entsagung“, erwiederte er endlich. „Es ward Ihnen schon 5* von jeher nahegelegt, so zu denken und den Blick auf die Kehr¬ seiten aller irdischen Freuden zu richten. Wie hätten Sie auch sonst stark genug sein können, Ihr Gelübde zu tragen.“ Er bemerkte nicht, wie ich im Innersten zusammenzuckte und fuhr fort: „Ich aber war stets ein Kind des Lebens. Ich freute mich der Blüthen, ohne zu bedenken, wie rasch sie welken sollen, und genoß in vollen Zügen die Gaben der Stunde, ohne mich darum zu kümmern, was die nächste mir rauben könne. Und dann“, setzte er hinzu, indem er wieder hastig nach seinem Schmerze griff, „mich hatte, was auch finstere Asceten dawider sagen mögen, schon die höchste Erdenseligkeit verheißend gestreift! O, Sie wissen nicht, was es ist, eine geliebte Braut an's Herz zu drücken!“ Er sprang, von der Erinnerung gestachelt, auf. „Diesen Boden, in dem sie jetzt modern soll, betrat ich noch vor kurzem an ihrer Seite. Wie reizend erschien sie mir damals in ihrer milden Schönheit und still aufknospenden Lebensfülle! Wie weich lag ihr Arm in dem meinen, wie lind schmiegte sich ihr Haupt an meine Schul¬ ter, als sie die verhängnißvollen, ahnungsreichen Worte sprach! — Sie werden vielleicht davon gehört haben?“ Ich bejahte es schweigend. „Wie hätt' ich mir träumen lassen, daß diese Worte sich so bald erfüllen würden!“ Und wild um sich blickend, fragte er plötzlich: „Von wo aus sieht man hier auf die Moldau hinab?“ „Gleich von jener Bastei aus,“ erwiederte ich. „Aber warum fragen Sie?“ fuhr ich fort, da ich bemerkte, daß der alte Herr und Richard einander ängstlich ansahen. „Sie sollen es erfahren. Kommen Sie!“ Und er ergriff mich, da ich zögerte, beim Arme und eilte mit mir, während die Andern uns auf dem Fuße folgten, nach der Bastei. Dort stützte er sich mit beiden Händen auf die Brustwehr und sah schweigend hinab. „Wie trüb und schlammig heute der Fluß vorüberzieht, als verschmäh' er es, den grauen, unfreundlichen Himmel zu spiegeln,“ sagte er endlich tonlos. „Es ist noch nicht lange her, daß dort unten in einer duftigen Mondnacht ein Kahn voll heiterer, lebensfroher Menschen vorüber fuhr. Mein Vater, mein Freund waren darunter — und ich und meine Braut.“ „Wozu dieses beständige Wühlen in deiner Wunde,“ fiel ihm der Vater in's Wort, während ich athemlos auf¬ horchte. Arthur warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu und fuhr fort: „Wir kehrten von Podol zurück, wo wir uns unter Scherzen, anmuthigen Spielen und frohen Wechselgesängen bis tief in die Nacht hinein aufgehalten hatten. Alles war vom Geiste der Laune und des Weines hold angeregt; selbst meine sonst so stille Friedrike war heiter, beinahe übermüthig. Als wir in diese Nähe kamen und das alte Fort mit düsteren Umrissen still im Mondlichte aufragen sahen, rief Einer von der Gesellschaft: laßt uns doch den alten Wyschehrad mit einem Lied begrüßen! Dieser Vorschlag fand lebhaften Anklang und man drängte mich von allen Seiten, einen Gesang anzu¬ stimmen. Gut, erwiederte ich, wir wollen die Schläfer hinter den Wällen wach singen. Und rasch mich besinnend, hob ich mit einem Lied an, dessen Worte mir der Augenblick eingab, und welche ich einer bekannten Melodie unterschob.“ „Sie sangen das Lied?“ fragte ich. „Ja, ich;“ erwiederte er, mein Erstaunen nicht in seiner eigentlichen Bedeutung fassend. „Jetzt ist es mir, ich hätte mich damit versündigt. Es war ein echtes Lebenslied, begann weich und schmelzend, schwoll aber rasch zum Ausdrucke des frohesten Uebermuthes an. In welchem Vollgefühle des Glückes, wie zukunftstrunken sang ich es! Mir war, es müsse durch die Stille der Nacht über die ganze Erde erklingen und in jeder Brust einen Wiederhall meiner Seligkeit wachrufen.“ „Ich habe Sie singen hören und den Kahn vorüberfahren sehen,“ sagte ich. Arthur sah mich überrascht an. „Erinnerst du dich nicht mehr,“ bemerkte Richard, „daß uns Jemand auf eine dunkle Gestalt aufmerksam machte, die er hinter dem äußersten Mauervorsprung der Citadelle zu er¬ kennen glaubte. Vielleicht war es der geistliche Herr.“ „Ich war es,“ entgegnete ich. „Und vielleicht,“ fuhr ich gegen Arthur fort, „kann es etwas zu Ihrem Troste bei¬ tragen, wenn ich Ihnen bekenne, daß mir damals Ihr Lied sehr weh gethan. Während Sie dort unten an der Seite Ihrer Geliebten und von froher Gesellschaft umringt, vorüberfuhren, stand ich hier oben allein, einsam, die Brust voll namenloser Sehnsucht nach den Freuden, davon Sie sangen, und die mir verwehrt waren, ewig verwehrt bleiben müssen. Wenn Sie der Schmerz über Ihren Verlust wieder mit seiner ganzen Wucht befällt und Sie zu überwältigen droht, dann denken Sie derer, die an den schönsten Verheißungen, an den holde¬ sten Genüssen dieser Welt bebenden Herzens und mit dem Entsagungsworte auf den Lippen vorübergehen müssen.“ Ich hatte bei diesen Worten die Hand des Jünglings ergriffen, der sich willig und fügsam von mir fortführen ließ. Als wir an dem Friedhofe vorbei kamen, wollte er nochmals hineingehen. „Nicht doch,“ bat der alte Herr, der schon froh war, seinen Sohn gefaßter zu sehen, und stellte sich ihm in den Weg. „Nur noch den letzten Abschied, Vater,“ sagte Arthur, indem er ihn sanft bei Seite schob und durch das Gitter trat. Wir Andern folgten. Er blickte eine Zeit lang mit gesenktem Haupte schweigend auf den Hügel nieder, dann nahm er den Arm seines Vaters und ging. Ich begleitete sie noch bis an ihren Wagen, der in der Nähe hielt. Beim Abschiede sagte der Jüngling: „Leben Sie wohl, ich werde Sie und Ihre Worte niemals vergessen.“ Die beiden Andern drückten mir mit stummem Danke die Hand. Ich sah eine Weile dem fortrollenden Wagen nach; dann kehrte ich langsam zurück. Eine geheimnißvolle Macht trieb mich noch einmal in den Friedhof. Da stand ich nun allein inmitten der Gräber. Wie still war es um mich her! Nur manchmal rauschte ein kühler, feuchter Windstoß in den Trauer¬ weiden und Cypressen und strich mit leisem Klingen durch die metallenen Kreuze. Die Schauer der Vergänglichkeit quollen und rieselten durch die Luft und aus allen Hügeln schwieg mich das große Räthsel des Todes an. Ein tiefes, wohl¬ thuendes Gefühl von der Nichtigkeit des Daseins überkam mich und eine hehre Freude zitterte in meiner Brust auf. „Ja,“ rief ich und breitete die Arme aus: „Zweifach wird die Welt überwunden: entweder grausam durch den Tod, der alles Irdische des gleißenden Schimmers entkleidet und Moder und Verwesung bloßlegt, oder schön und herrlich durch den Muth der Entsagung, den Christus gepredigt und auf Golgatha be¬ siegelt.“ Und immer freier, immer leichter wurde mir; wie stückweis fiel es von mir ab, und gleich Flügeln fühlt' ich es an den Schultern. Als ich mich später, einem innern Drange folgend, an die Orgel setzte, da stimmten die rauschenden, langgezogenen Töne wieder ganz zu dem feierlichen Ernste, zu der tiefen Ruhe meiner Seele. — „Und so,“ fuhr er fort, während sich noch der Nach¬ glanz jener erhabenen Stunde in seinen Augen spiegelte, „so lebte ich wieder, mit dem stärkenden Bewußtsein meiner Pflicht mein stilles Leben fort; mehr und mehr verblaßte und ver¬ flüchtigte in mir die Erinnerung an jene Nacht, und immer seltener und schwächer zuckte mein Herz beim Anblicke des Mädchens, dessen blondes Haar ich einst mit brennender Lippe gestreift.“ „Und welches nun schon lange eine glückliche Gattin und Mutter ist,“ sagte ich leise. „Ja,“ erwiederte er; „ich habe sie getraut und ihre Kin¬ der getauft. Und da fällt mir ein, daß es gerade die Schrecken des Krieges waren, was ihr Glück begründete oder doch be¬ schleunigte. Sie hatte ihr Herz einem jungen Soldaten ge¬ schenkt. Jedoch konnte, wie dies meistens unter ähnlichen Umständen der Fall ist, an eine Verbindung kaum gedacht wer¬ den. Beide waren arm, und der Geliebte hatte keine Aussicht, sobald vom Militär loszukommen und sich eine andere Lebens¬ stellung zu erwerben. Da geschah es noch, daß er plötzlich versetzt wurde, und so brach nun auch über Ludmilla das Leid des Lebens herein. Man sah es, wie sie sich still härmte und die Tage ihrer schönsten Jugend in öder, hoffnungsloser Sehn¬ sucht verlebte. Ich hatte inzwischen angefangen, von meinen geringen Ordensbezügen das Möglichste zurückzulegen, um den liebenden doch wenigstens nach Jahren eine gewisse Summe zur ersten Beschaffung eines einfachen Hauswesens übergeben zu können. Da kam das Jahr achtundvierzig mit seinen Re¬ volutionsstürmen, und der Entfernte zeichnete sich auf dem italienischen Schlachtfelde derart aus, daß er dekorirt und zu einer Beförderung in Vorschlag gebracht wurde. Da er aber auch einige schwere Verwundungen erlitten hatte, die ihn, wie sich später erwies, zum activen Dienste untauglich machten, so willigte man um so eher in seine Bitte, ihn als Zeugwart auf dem Wyschehrad anzustellen, als der Vater Ludmilla's mit zunehmenden Jahren zu kränkeln begonnen hatte. So be¬ durften die Beiden meiner Hilfe nicht mehr, und meine kleinen Ersparnisse kamen Prokop zu Gute, dem sich damit unter meiner Anleitung eine wissenschaftliche Laufbahn erschloß. Die Alten lebten noch ein paar Jahre still und zufrieden bei den Neuvermählten; endlich starb der Vater — und bald darauf folgte die Mutter in's Grab. „Und was ist aus Arthur geworden?“ fragte ich. „Errathen Sie es nicht?“ antwortete er lächelnd. „Er ist wieder im Besitze einer vortrefflichen Gattin und einer gan¬ zen Reihe von allerliebsten Kindern. Und so bin nur ich, weil ich es eben mußte, einsam geblieben und werde es sein bis an mein Ende.“ Er hatte bei diesen Worten, in deren stiller Heiterkeit ein leiser, feiner Schmerzenston wunderbar vibrirte, die Gläser gefüllt. „Auf Ihr Glück!“ sagte er und trank. Dann legte er mir die Hand wie zum Segen auf's Haupt: „Der Himmel schütze Sie vor den feindlichen Kugeln.“ Es war spät geworden und ich mußte fort. Er geleitete mich zum Doppelthore der Citadelle, das mir der verschlafene Wachegefreite aufschloß. Wir umarmten uns und drückten ein¬ ander zum letzten Male die Hand. Dann riß ich mich los, eilte durch die Halle und auf der Straße fort, die in einer scharfen Krümmung die Höhe hinab und der Stadt zuführt. Am Buge hielt ich an und blickte nach der Citadelle zurück. Hoch oben auf der Plattform über dem Thore stand Innocens und winkte noch einmal zum Abschiede. Sein Antlitz schim¬ merte im Strahl des Mondes, der durch das leichte Gewölk der Frühlingsnacht brach, wie verklärt. Marianne. D ie folgenden Mittheilungen rühren von einem Poeten her, welcher seinerzeit Einiges von sich reden gemacht, nun¬ mehr aber, wie so mancher Andere, verschollen und vergessen ist. Das Wenige, das er geschrieben, mag noch hie und da im Bücherschranke eines Literaturfreundes oder in dem bestäub¬ testen Fache einer Leihbibliothek zu finden sein, und der Zukunft bleibt es anheim gestellt, ob sein Name noch einmal genannt werden wird oder nicht. Am 15. April .... Ostern ist vorüber, theuerster Fritz, und allmälig schließen sich die Salons der Residenz. Ach, wie oft hab' ich im Laufe dieses Winters Deiner und der stillen Universitätsstadt gedacht, wo Du mit einer kleinen Schaar begeisterter Hörer ganz Deiner Wissenschaft lebtest, während ich hier von Einladungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen aller Art im Kreise herum¬ gejagt, zu keiner Ruhe und Sammlung des Geistes, zu keiner gleichmäßigen Thätigkeit gelangen konnte. Und dabei noch das hohle ästhetische Gewäsch, die anspruchsvolle Aufgeblasen¬ heit der Mitstrebenden und das drückende Gefühl, daß man all' den Leuten, die Einem ihre schimmernden Prunkgemächer öffnen, doch eigentlich nichts ist — und auch nichts sein kann! Wenn ich so in später Nacht mißmuthig und abgespannt aus irgend einer glänzenden Gesellschaft in meine entlegene Vorstadt zurückkehrte, da fiel mir dieser leidige Müßiggang stets schwer auf's Herz, und mehr als einmal nahm ich mir vor, alle Be¬ ziehungen abzubrechen, in welche ich durch meine ersten Erfolge so plötzlich hineingerathen war. Aber um diesen Ent¬ schluß auszuführen, hätt' ich geradezu rücksichtslos sein müssen, und da dies nicht in meinem Wesen liegt, so blieb mir nichts übrig, als wohl oder übel bis an's Ende auszuharren. — Doch nun will ich mit doppeltem Behagen wieder ganz mir selbst angehören und mich gleich einer Raupe in dem kleinen Hause der guten Frau Heidrich einspinnen, deren Sohn noch immer als Ingenieur an der fernen Bahnstrecke weilt, wohin er sich im vorigen Sommer mit seiner Gattin, der Tochter eines hiesigen Kaufmannes, gleich nach der Hochzeit begeben hatte. Alles um mich her sieht mich wieder so bekannt und vertraut an: die Bilder an den Wänden, die vergilbten Schiller- und Göthe-Büsten, das alle treue Tintenfaß auf dem Schreibtische — und es weht durch meine Stube wie ein Hauch aus jenen Tagen, wo ich noch in seliger Verborgenheit über meinen Arbeiten saß. So hell und freundlich wie damals ist es nun allerdings bei mir nicht mehr. Denn man hat meinen Fen¬ stern gegenüber, an der Stelle des Holzplatzes mit den präch¬ tigen Nußbäumen, ein hohes palastähnliches Gebäude aufge¬ führt, das mir Luft und Sonne nimmt; wie denn überhaupt die weitläufige Gasse, in der es, wie Du weißt, vor einigen Jahren noch ganz ländlich aussah, mehr und mehr durch gro߬ städtische Wohnkasernen verengt und verdüstert wird. Doch dafür entschädigt mich ja unser Hausgarten, welcher bis jetzt — dem Himmel sei Dank! — der allgemeinen Bauwuth ent¬ gangen ist. Ich habe dort stets meine glücklichsten Schaffens¬ stunden gehabt, und schon beginnt der Lenz in dem kleinen Stückchen Natur seine ersten Reize zu entfalten. In hellem Grün schimmert der Rasen; das Aprikosenspalier ist mit weißen Blüthen bedeckt — selbst der alte Apfelbaum, auf dessen Stamm ich heute einen goldbraunen Schmetterling sitzen sah, treibt breite Knospen. Den Dir wohlbekannten verwit¬ terten Pavillon mit dem schmalen Rohrsopha und den gebrech¬ lichen Stühlen will ich auch diesmal wieder in Beschlag nehmen, und so hoff' ich bald alles Versäumte nachholen und so man¬ chem mißgünstigen Zweifler und Kopfschüttler erweisen zu können, daß ich mein Tiefstes und Bestes noch lange nicht gebracht! Saar , Novellen aus Oesterreich. 6 Anfang Mai . Nun bin ich wieder so recht in meinem Elemente! Rings um mich her blühen Flieder und Goldregen, und fast kein Laut menschlicher Nähe dringt in den Garten, der frisch und duftig gleich einer weltvergessenen Oase zwischen stauberfüllten Gassen und Gäßchen mitten inne liegt. Einige Baumwipfel sind während der letzten Jahre so mächtig geworden, daß sie den Horizont an vielen Stellen ganz abschließen; nur die allernächsten Dächer kommen hie und da zum Vorschein, und wie meilenweit entfernt ragt die Thurmspitze des Stephans¬ domes in den blauen Himmel hinein. Zuweilen tönt das dumpfe Rollen eines Wagens an mein Ohr, der helle Ruf einer Kinderstimme — dann wieder stundenlang nichts, als das Summen wühlender Bienen und das Gezwitscher der Sperlinge, auf welche die Hauskatze in ihrer versteckten Weise Jagd macht. Wie wohl thut mir diese Ruhe, diese Ab¬ geschiedenheit! Einem Traume gleich verdämmert in mir die Er¬ innerung an all' die ungewohnten Zerstreuungen und Festlichkeiten, und schaffensfroh, in holder Gleichmäßig¬ keit fließen meine Tage dahin. Das unselige Werk, das mir schon so viele fruchtlose Mühe, so viele herbe Qualen und Zweifel bereitet, wächst allmälig seiner Vollendung ent¬ gegen; alte, längst aufgegebene Entwürfe treten wieder mit frischem Reiz an mich heran und neue Ideen leuchten in mir auf. Was brauch' ich mehr, um glücklich zu sein?! Nur Du fehlst mir, Theuerster, und ich möchte, wie einst, die Abend¬ stunden mit Dir in der traulichen Weinlaube verplaudern können. Statt dessen unternehme ich nun hin und wieder nach gethaner Arbeit einen einsamen Spaziergang; zumeist vor den nahen Linienwall hinaus, wo die schweigenden Friedhöfe liegen und das Arsenal in ernster, düsterer Pracht aufragt. Dort schreit' ich hinan zu dem alten Wahrzeichen, zur „Spinnerin am Kreuz“, lasse die Blicke über die weithin ausgedehnte Stadt bis zu den grünen Höhen an der Donau schweifen; sehe die Sonne versinken und vom Bahnhof aus lange Züge dem schönen Süden zubrausen. Wenn ich dann in der Däm¬ merung heimkehre und wieder die menschenvollen Gassen be¬ trete; wenn ich die Kinder gewahre, die vor den Thüren spielen oder mit ängstlicher Vorsicht das Abendbrod aus den nächsten Schenken und Kramläden nach Hause tragen, und vorüberkomme an den dicht belagerten Brunnen, wo Bursche und Mägde mit einander schäckern, während die Arbeiter aus den Fabriken strömen, Taglöhner mit Gesang den Bau ver¬ lassen und von Zeit zu Zeit eine stolze Carosse mit geputzten Herren und Frauen durch das abendliche Gewühl rollt: da durchschauert es mich wundersam. Ich fühle mich mit Allem, was da lebt und athmet, so innig verwachsen und Eins — 6* und doch wieder so erdenfremd, so emporgehoben über das Treiben und Trachten, über die Sorgen und Hoffnungen, über die Leiden und Freuden dieser Welt! Ende Mai. „Wer sich der Einsamkeit ergiebt, ist bald allein,“ singt Göthe's Harfner. In gewissem Sinne ist es wahr; aber eigentlich hab' ich mein Leben lang gerade das Gegentheil er¬ fahren. Denn so oft ich jeden Verkehr abgebrochen hatte und mich durch die Umstände wohl verschanzt und geborgen glaubte, traten auch bald wieder Ereignisse ein, die mich, entweder rasch und gewaltsam, oder leise und unmerklich zur Gesellig¬ keit zurückführten. So ist auch jetzt mein still vergnügtes Dasein nicht mehr ganz so einsam und abgeschieden, wie ich es mir für diesen Sommer erwarten durfte. Der Sohn des Hauses ist nämlich mit seiner Frau, die eben erst Mutter ge¬ worden, und dem sechsjährigen Töchterchen eines verstorbenen Amtscollegen hier eingetroffen. Er hat seine Aufgabe an der Strecke gelös't und wird nun wieder im Bureau verwendet. Da ging es sogleich lebhaft und geräuschvoll in meiner Nähe zu. Kisten und Kasten waren abgeladen worden; man brachte a llerlei Möbel und Geräthschaften zum Lüften und Scheuern in den Hof, und in den Garten kam die Kleine gelaufen, wo sie alsbald daran ging, den letzten Fliederschmuck zu verwüsten. Ich räumte ihr das Feld und begab mich hinauf in meine Stube. Und je länger ich dort alle muthmaßlichen Folgen dieses Zwischenfalles erwog, desto gewisser schien es mir, daß nun meine ungestörten Tage gezählt seien. Aber meine Phan¬ tasie hatte wieder einmal zu schwarz gesehen. Denn sobald Alles unter Dach und Fach gebracht war, kehrte auch die frü¬ here Ruhe in's Haus zurück und man bemerkt jetzt kaum, daß es einen Zuwachs an Bewohnern erhalten. Heidrich, dessen heiteres, offenes Wesen Dir noch in guter Erinnerung sein wird, geht schon des Morgens seinen Berufsgeschäften nach, und Frau Louise, eine hochgewachsene schmächtige Brünette, wird ganz von der Wartung und Pflege ihres Knäbleins in Anspruch genommen, das seit seiner Geburt hoffnungslos dahin kränkelt. Zuweilen bringt sie den armen Wurm auf eine Stunde in den Garten herab, damit er etwas Luft und Son¬ nenschein genieße. Dann ist es gar rührend mit anzusehen, wie die junge Mutter seinen Schlaf überwacht und ihm, wenn er die Augen aufschlägt, ein Zweiglein oder eine Blume ent¬ gegenhält, damit er nur ein wenig lächle und mit den abge¬ zehrten Händchen danach lange. Auch die kleine Erni, welche im Hause erzogen wird, stört mich nicht. Sie besucht eine nahe Schule, und da ich die Kinder seit jeher geliebt, so mag ich es gerne leiden, daß das muntere pausbäckige Geschöpfchen in den Erholungsstunden um mich herumspringt und zutrau¬ lich in meinen Büchern und Schriften kramt. Des Abends pflegt sich die ganze Familie unter dem Vorsitze der alten Frau, welche früher nur selten das Zimmer verlassen hatte, in der Weinlaube zum Vesperbrode zu versammeln. Manchmal ge¬ selle auch ich mich dem kleinen Kreise und erfreue mich am Anblick eines Glückes, das ich so oft für mich selbst ersehnt. Unlängst erschien auch eine jüngere Schwester der Frau Louise; ein hübsches, schlankes, kaum den Kinderschuhen entwachsenes Mädchen. Ein stattlicher Jüngling, begleitete sie; er soll be¬ reits ihr Verlobter und der Sohn eines wohlhabenden Fabrikherrn aus der Umgegend sein. Eine andere Schwester ist, wie ich höre, in der Provinz verheirathet. — Und so bin ich, siehst Du, wieder schlichten Menschen nahegerückt worden, wie sie mich stets am meisten angezogen und bei denen mir das Herz auf¬ geht, während ich der literarischen sowohl, als auch der vor¬ nehmen Welt gegenüber, eine gewisse Scheu niemals habe los werden können. Am 18. Juni. Ich wollte, Du könntest jetzt den Garten sehen! Die beiden alten Rosenbüsche am Eingang, die in den letzten Jah¬ ren nicht mehr hatten treiben wollen, scheinen plötzlich wieder jung geworden zu sein: denn sie stehen über und über in Blüthen und Knospen und senden, von einem Heer goldgrüner Käfer umschwärmt, ganze Wolken von Wohlgeruch in die heiße zitternde Luft. In den Beeten blüht es gelb, blau und roth; Lilien haben ihre weißen Kelche erschlossen, und dabei blitzt und funkelt der goldene Sonnenschein mit den wunderbarsten Lichtern und Reflexen auf dem Rasen und in dem üppigen Grün der Wipfel, daß Einem vor seliger Sommerfreude das Herz im Leibe lacht. Was aber dem Allem den letzten, ab¬ schließenden Zauber verleiht: das ist ein holdes Wesen, das nun, halb Frau, halb Jungfrau, fast täglich im Garten er¬ scheint und sich inmitten des traumhaften Blühens und Leuch¬ tens wie eine Märchengestalt ausnimmt. Du lächelst, Lieber? Ach, lies nur weiter und sieh, welch' ein seltsamer Zustand die Seele Deines Freundes überkommen hat. — Pfingsten, das Weihefest des Sommers, war herangerückt. Tags zuvor hatte ich mich nach Tisch länger als sonst in mei¬ ner Stube verweilt; um es nur zu gestehen: ich war über dem Werke eines neu aufgetauchten Poeten ein wenig einge¬ dämmert. Als ich später hinabging und den Hof durchschritt, klang mir aus dem Garten eine fremde weibliche Stimme ent¬ gegen. Behutsam näherte ich mich dem Gitter und blickte durch das dichte Laubwerk hinein. Welch' ein lieblicher Anblick bot sich mir dar! Auf dem mittleren Rasenplatze, unter dem alten Apfelbaume, stand ein schlankes jugendliches Frauenbild und wiegte das Knäblein der Gattin Heidrichs, welche mit Erni auf einer nahen Bank saß, in den Armen. Der Sonnenstrahl, der durch die Zweige brach, umschimmerte ihr dunkelblondes Haar und ihr rosiges Antlitz, das sie mit schalkhafter Zärtlichkeit zu dem blassen, verfallenen Gesichtchen des Kleinen hinabneigte. Sie gab ihm die wunderlichsten Schmeichelnamen, küßte ihn, und fing endlich, indem sie ihn mit reizender Geberde gegen die Brust drückte, ein leichtes Getänzel an, wobei zwei schmale, längliche Füßchen unter dem Saume ihres hellfarbigen Kleides zum Vorschein kamen. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und eine dunkle Röthe schoß ihr in's Gesicht. Sie mußte offenbar den Späher bemerkt haben, und schon im näch¬ sten Augenblick war sie auf Frau Louise zugeeilt und hatte ihr das Kind in den Schooß gelegt. Nun überkam mich eine sonderbare Verlegenheit; ich wußte nicht, ob ich mich zurückziehen, ob ich eintreten sollte. Endlich entschloß ich mich zu letzterem und ging rasch, wie um etwas zu holen, an den Frauen vor¬ über. Als ich mich gleich darauf mit einem Buche unter dem Arme wieder entfernen wollte, hielt mich Frau Louise mit den Worten an: „Wohin so eilig? Bleiben Sie doch ein wenig bei uns.“ Und mit einer Handbewegung fügte sie hinzu: „Herr A. — meine Schwester Marianne.“ Diese aber, nach¬ dem sie sich, noch immer flammend und verwirrt, ohne mich anzusehen, leicht verneigt hatte, langte ein rundes Hütlein herab, das an einem Baumzweige hing, stülpte es auf den Kopf und zog die Handschuhe an. „Wie, Du willst schon wieder fort?“ fragte Frau Louise erstaunt. „Ja, mein Mann erwartet mich —“ und schon hatte das anmuthige Geschöpf den Sonnenschirm ergriffen und die Schwester und die Kinder zum Abschied geküßt. „Also morgen, wie verabredet,“ rief noch Frau Louise, während die Andere mit einem hastigen Zeichen des Einverständnisses aus dem Garten eilte. Ich sah ihr nach wie im Traum. Frau Louise aber wandte sich lächelnd zu mir und sagte: „Wie Sie meine Schwester er¬ schreckt haben! Seltsam, sie war doch sonst nicht so menschen¬ scheu. Sollte sie es in der Provinz geworden sein?“ „Das ist also die Schwester, von der Sie mir sagten, daß sie in der Provinz verheirathet sei?“ fragte ich, noch immer ganz verloren. „Allerdings, dieselbe. Ihr Mann will sich jetzt, einer industriellen Unternehmung wegen, hier ansäßig machen. Sie sind gestern eingetroffen und im Gasthof abgestiegen; später werden sie in unserer Nähe eine Wohnung beziehen.“ „Und wie lange ist Ihre Schwester schon verheirathet?“ „Seit fünf Jahren. Aber sie sieht noch immer so jugend¬ lich und mädchenhaft aus, wie an dem Tage, wo sie mit Kranz und Schleier an den Altar trat. Wer würde denken, daß sie älter ist als ich? Freilich hat sie keine Kinder;“ und dabei sah Frau Louise mit leichtem Erröthen auf das Knäblein nieder, das inzwischen in ihrem Schooße eingeschlummert war. Ich erwiederte nichts und spielte sinnend mit den krausen Locken Erni's, die sich an mich geschmiegt hatte. „Wir haben uns beide, wie jetzt Emilie, rasch zur Ehe entschlossen,“ fuhr Frau Louise fort; „denn wir bekamen eine Stiefmutter in's Haus, die uns Mädchen das Leben recht sauer machte. Namentlich hatte Marianne viel von ihr zu leiden, weil sie durch ihr liebenswürdiges Wesen alle Herzen anzog. Sie glauben gar nicht, wie heiter, wie erlustigend sie sein kann! Ich bin glücklich, sie wieder hier zu haben, und wir beabsichtigen, uns gleich morgen zur Feier ihrer Ankunft einen fröhlichen Pfingstsonntag zu machen. Wir wollen im Garten zu Mittag essen und uns dann vergnügen, wie wir können und mögen. Emilie und ihr Verlobter nehmen auch Theil; wenn es Ihnen angenehm ist, unser Gast zu sein, so werden Sie uns Alle sehr erfreuen und — wie ich hoffe — meine Schwester nicht mehr so verlegen und zurückhaltend finden.“ Ich war immer nachdenklicher geworden und ein dumpfer Schmerz hatte sich um mein Herz gelegt. Aber bei dem Ge¬ danken, die junge Frau morgen wieder zu sehen, drängte sich ein stiller Jubel durch die Beklommenheit meines Inneren. Ich nahm die Einladung freudig an und verbrachte den Rest des Tages voll süßer Unruhe, die mich auch des Nachts in halbwachen Träumen verfolgte, so daß ich erst gegen Morgen fest einschlief. Als ich erwachte und an's Fenster trat, stand die Sonne schon hoch. Es war ein prachtvoller Pfingsttag. Hell und blau spannte sich der Himmel über den funkelnden Dächern aus und lustig zwitschernd schossen die Schwalben hin und her. In den Gassen herrschte feierliche Stille; hier und dort traten schmuck gekleidete Frauen und Mädchen mit Gebetbüchern in der Hand aus den Häusern, während wohl ein großer Theil der Bevölkerung schon mit dem Frühesten das Weichbild der Residenz hinter sich gelassen und die grünen Fluren und Höhen, die rauschenden Wälder der Umgegend aufgesucht hatte. Auch ich nahm Hut und Stock und verließ das Haus. Die Aquarelle und Zeichnungen Genelli's waren eben zur öffentlichen Ausstellung gelangt; ihnen wollt' ich den langen Vormittag widmen. Aber die Gestalten und Intentio¬ nen des genialen Künstlers, welcher so eigenthümlich nach Schönheit gerungen hatte, waren nicht im Stande, meinen Geist zu fesseln. Das Bild Mariannens stieg beständig vor mir auf und verknüpfte sich mit einer unsicheren Vorstellung von ihrem Gatten, welchen kennen zu lernen ich eine geheime Scheu trug. So verließ ich, zerstreut, wie ich gekommen, das Ausstellungsgebäude und schritt, da es noch immer nicht Mit¬ tag war, eine Zeit lang in der Ringstraße auf und nieder. Ich hatte die Stadt schon lange nicht mehr betreten, und fremd und kalt mutheten mich die stolzen Palastreihen an; fremd und kalt wie die Menschen, die heute stiller und weni¬ ger zahlreich als sonst an mir vorüber kamen. Als ich endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war, fand ich die kleine Gesellschaft bereits im Garten versammelt. Erni sprang mir sogleich entgegen und ich näherte mich grüßend der Mutter Heidrichs, welche unter den blühenden Alazien an der Feuermauer des Nachbarhauses saß, während die beiden jungen Frauen in einiger Entfernung den Tisch deckten. Frau Louise lächelte mir freundlich zu; Marianne aber fuhr, ohne aufzublicken, in ihrer Beschäftigung fort. Nun trat das Lie¬ bespaar Hand in Hand aus der Laube und auch Heidrich kam mit seinem Schwager heran, den er Dorner nannte. Es war ein großer, hagerer Mann in den ersten Dreißigen mit regel¬ mäßigen, aber harten Gesichtszügen, bei deren Anblick ich eine wohlthuende Erleichterung empfand. Ich wechselte mit ihm einige Worte und dann irrte mein Blick unwillkürlich nach seiner Frau, die sich jetzt, halb von uns abgewandt, mit einem großen Blumenstrauße zu schaffen machte, der für die Tafel bestimmt schien. Sie trug diesmal ein weißes, bis an den Hals hinauf geschlossenes Kleid, das die jungfräuliche Zartheit ihrer Formen reizvoll hervortreten ließ. Ein breites, hellgrünes Seidenband umgürtete, nach rückwärts geknüpft, ihren schlanken Leib; ein schmäleres von gleicher Farbe hielt die Fülle des Haares zusammen, das ihr, tief in die kleine Stirne hinein gescheitelt, amnuthig Haupt und Nacken umquoll. Als wir zu Tisch gingen, sollte ich neben ihr meinen Platz erhalten; aber Erni verlangte durchaus bei Tante Marianne zu sitzen, und da sich Heidrich bereits dieser zur Linken niedergelassen hatte, so kam ich dem Wunsche des Kindes entgegen, indem ich mich rasch auf die andere Seite neben Frau Louise begab. Nun hatte ich sie mir gegenüber und ihr Antlitz vor Augen, in welchen mir erst jetzt die Aehnlichkeit mit dem ihrer Schwe¬ ster Emilie auffiel. Aber die Züge dieses jungen Mädchens erschienen in unangenehmer Deutlichkeit neben jenen Marian¬ nens, welche von einem weichen, vermittelnden Schmelz über¬ haucht waren, wie er die Frauenköpfe Greuze's kennzeichnet, hier jedoch von einer fast kindlichen Frische des Colorits durch¬ leuchtet wurde. Ihr Blick wich dem meinen aus; schweigend, aber mit inniger Sorgfalt legte sie der Kleinen an ihrer Seite von den Speisen vor und lächelte, während sie selbst zierlich und flüchtig aß, still zu den heiteren Bemerkungen, welche ihr Nachbar zur linken aufmunternd an sie richtete. Nach und nach wurde sie gesprächiger, wozu wohl der feurige Ungarwein, der in kleinen Gläsern gereicht worden war und von dem sie mehrmals genippt hatte, mochte beigetragen haben. Eine süße Selbstvergessenheit schien sie allmälig zu überkommen; ihre großen dunklen Augen begannen zu funkeln und mit heller Stimme und fröhlichem Lachen erwiederte sie die Scherze Heid¬ richs, dessen Munterkeit ebenfalls mehr und mehr zunahm. Und als der junge Mann nach beendeter Mahlzeit sich plötz¬ lich erhob und ein gemeinsames Spiel vorschlug, da sprang auch sie auf und blickte, indem sie zustimmend in die Hände klatschte, erwartungsvoll vor sich hin. Die Andern, selbst die alte Frau, folgten ihrem Beispiele; nur Dorner, der über Tisch ein fast verletzendes Schweigen beobachtet hatte, blieb sitzen. „Ich bin kein Freund von solchen Dingen“, sagte er und blies den Rauch seiner Cigarre in die Luft. „Ich will den Zuschauer machen.“ Indessen war schon allerlei in Vorschlag gebracht worden; allein die erregte Gesellschaft fand nichts lebhaft, nichts erlustigend genug. Endlich nannte Jemand „blinde Kuh“, und unter allseitigem Beifall entschloß man sich rasch zu diesem tollen Spiele. Ein Tuch wurde gebracht; man verband den Verlobten Emilien's, als dem Ersten, den das Loos getroffen, die Augen und das gegenseitige Fliehen und Haschen begann. Mir war dabei ganz eigenthümlich zu Muthe; Erinnerungen aus längstvergangenen Zeiten tauchten in mir auf, und während ich mich im Ganzen mehr betrachtend, als theilnehmend verhielt, erfreute ich mich an den Bewegun¬ gen der jugendlichen Gestalten, an dem Jubel des Kindes und der erzwungenen Rührigkeit der Matrone. Ueberaus lieblich aber war Marianne anzusehen, wie sie in ihrem weißen Ge¬ wande mit glühenden Wangen umherflatterte und die Geblen¬ deten mit holder Ausgelassenheit neckte, bis sie endlich selbst gefangen wurde. Nachdem man ihr die Binde um die Augen gelegt hatte, blieb sie noch eine Weile, tief aufathmend, mit ausgebreiteten Armen stehen; dann aber schoß sie pfeilschnell gleich einer Libelle im Zick-Zack bald hiehin, bald dorthin. Bei diesen anmuthigen Haschversuchen war sie endlich auch mir nahe gekommen; schon fühlte ich die Berührung ihrer Hände — als sie plötzlich, unter dem Tuche bis zum dunkeln Carmin des Pfirsichs erröthend, von mir abließ und mit einer raschen Wendung ihren Schwager zu fassen bekam, der ihr wohl nicht ganz ohne Absicht in die Arme lief. Während ihm die Augen verbunden wurden, sagte er, die Frauenzimmer möchten sich jetzt in Acht nehmen; denn er wäre gesonnen, keine von ihnen ohne herzhaften Kuß wieder loszulassen. Marianne schien sogleich verstanden zu haben, auf wen diese Rede eigentlich gemünzt war; denn sie legte bedeutsam den Finger an den Mund und huschte lautlos an das äußerste Ende des Gartens. Der Schalk aber, dem die Binde nicht allzu fest sitzen mochte, bewegte sich zum Schein noch ein wenig zwischen den Uebrigen hin und her; dann eilte er ihr nach, und da er, wie man bemerken konnte, recht wohl sah, so hatte die junge Frau Mühe, seinen Nachstellungen zu entkommen. Aber es gelang ihr doch, im entscheidenden Momente auszubiegen und, indem sie ein paar Blumenbeete und eine niedere Hecke von Stachelbeerstau¬ den übersprang, in den Kreis zurückzulaufen. Dort angelangt, erblaßte sie plötzlich, griff mit beiden Händen zum Herzen, wankte und fiel wie leblos zu Boden. Alles stürzte erschrocken auf sie zu; man löste ihr den Gürtel und benetzte ihre Schlä¬ fen mit Wasser. Sie kam auch alsbald wieder zu sich, fuhr mit der Hand über die Stirne und ließ sich, matt und kraft¬ los wie sie war, nach dem Pavillon bringen, der sich hinter den Frauen und Dorner schloß; so daß nur ich, die beiden jungen Männer und das vor Entsetzen noch immer ganz sprachlose Kind draußen zurückblieben, Heidrich, der sich als Urheber dieses peinlichen Vorfalles ansah, zeigte sich sehr ängst¬ lich und aufgeregt; nach einer Weile jedoch trat seine Frau mit beruhigendem Lächeln aus dem Pavillon. „Sie fühlt sich wieder ganz wohl“, sagte sie mit leiser Stimme, „und will jetzt nur ein Bischen schlummern.“ Auch die Anderen kamen mit heiterer Miene heraus; nur Dorner, dessen erste Bestür¬ zung sich schon früher rasch in Aerger und Verdruß aufgelöst zu haben schien, zog ein finsteres Gesicht und murmelte unver¬ ständliche Worte in den Bart. Eine langsame, erwartungs¬ volle Stunde verstrich. Endlich öffnete sich die Thüre des Pavillons und Marianne erschien auf der Schwelle. Sie sah zwar noch immer etwas blaß aus; aber sie versicherte, daß Alles vorüber sei und schnitt jede besorgte Frage, sowie die Entschuldigungen ihres Schwagers mit scherzenden Worten ab. Trotzdem wollte sich die frühere Behaglichkeit nicht mehr in dem kleinen Kreise einstellen, und nachdem man bei heran¬ nahender Dämmerung einige Erfrischungen genommen hatte, sah Dorner nach der Uhr und mahnte zum Aufbruch, da es spät sei und Emilie noch nach Hause gebracht werden müsse. Marianne stand auf, umarmte ihre Schwester und nahm den Arm ihres Gatten, worauf auch die Verlobten sich empfahlen und beide Paare den Garten verließen. Wir Hausgenossen verweilten noch kurze Zeit beisammen; dann gingen die Frauen mit Erni hinauf, Heidrich folgte ihnen bald und ich blieb allein zurück. Eine laue, mondlose Nacht breitete sich allmälig über die Wipfel. Geheimnißvoll schimmerten die Akazienblüthen; eine Fledermaus huschte mit leisem Fluge durch den Garten; von draußen herein scholl der Gesang fröhlich heimkehrender Menschen. Ich erhob mich und schritt langsam die verschlun¬ genen Pfade auf und nieder. Die Eindrücke des durchlebten Tages wirkten mit stiller Macht in mir nach, und es war mir, als säh' ich das weiße Kleid Mariannen's durch die Büsche leuchten und über den dunklen Rasen hinflattern. Endlich ging ich in den Pavillon, dessen Thüre nur wenig offen stand. Ein leichter Duft war im Raume verbreitet. Ich trat an das Sopha, wo die junge Frau geschlummert haben mußte; als ich mich darauf niederließ, faßte meine Hand etwas Glattes, Knisterndes: es war das Band, das sie in den Haaren ge¬ tragen. Eine süße Müdigkeit überkam mich; ich streckte mich aus — und eh' ich mich dessen versehen hatte, war ich, die kühle, duftende Seide zwischen Hand und Wange, eingeschlafen. — Am anderen Vormittage saß ich im Schatten der Laube. Ich hatte ein Buch vor mir; aber ich las nicht, sondern blickte hinaus in den goldenen Sonnenschein. Weiße Falter flatter¬ ten um die Blumen; ferne Glockenklänge zitterten durch die Luft; in den Zweigen des Apfelbaumes sang eine Meise, die Saar , Novellen aus Oesterreich. 7 sich vom Belvedere herüber verirrt haben mochte. Plötzlich war es mir, als vernähme ich leichte, zögernde Tritte und das Rauschen eines Kleides. Ich erhob mich und stand Mariannen gegenüber, die am Eingange der Laube erschien und ihre rei¬ zende Verlegenheit bei meinem Anblick hinter dem aufgespannten Sonnenschirm zu verbergen trachtete. „Entschuldigen Sie,“ sagte sie mit unsicherer Stimme, „ich dachte — ich suche meine Schwester — “ „Ihre Schwester ist heute noch nicht herabgekommen. — Aber es scheint, Frau Dorner, ich habe Sie wieder erschreckt“, fuhr ich fort, da ich sah, daß sie noch immer nach Fassung rang. „Wieder?“ fragte sie und sah mich an. Das Wort war mir unwillkürlich entschlüpft. „Ich glaube wenigstens, es schon einmal gethan zu haben; vorgestern, als Sie unter jenem Baume standen —“ Ein Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. „Ach ja!“ sagte sie leichthin. „Wie thöricht von mir, so plötzlich davon zu laufen! Louise hatte mir ja schon von Ihnen gesprochen. — Doch dafür hab' ich Sie gestern auch erschreckt.“ „Mehr als das. Sie glauben gar nicht, wie uns Allen zu Muthe war, als Sie so plötzlich zu Boden stürzten. Aber ich sehe, dieser Unfall hat keine weiteren Folgen gehabt;“ und dabei blickte ich ihr in's Antlitz, das wieder ganz frisch und rosig aussah. „Es war ja nichts von Bedeutung, Ich hatte gegen meine Gewohnheit Wein getrunken. — Auch war ich recht ausgelassen,“ setzte sie etwas kleinlaut hinzu. „Vielleicht; aber nur wie es Kinder zu sein pflegen. Wahrlich, Frau Dorner, wenn man nicht wüßte, daß Sie verheirathet sind —“ „So würde man mich nicht dafür halten,“ vollendete sie ganz unbefangen, da ich mitten in der Rede abbrach. „Mir ist oft selbst so zu Muthe!“ Und es klang wie ein leiser Seufzer durch diese Worte, die scherzhaft gesprochen waren. „Aber,“ fuhr sie mit plötzlichem Ernste fort, „ich muß jetzt meine Schwester aufsuchen.“ Und mit einer Verneigung wollte sie sich entfernen. „Noch einen Augenblick!“ bat ich. „Sie haben gestern im Pavillon Etwas vergessen.“ Und ich reichte ihr das grüne Band, das ich bei mir trug. Sie warf erröthend einen Blick darauf, nahm es mit einem dankenden Kopfnicken an sich und verließ, rasch und anmuthig schreitend, den Garten. — Und nun kommt sie, wie gesagt, fast täglich; zumeist in den frühen Nachmittagsstunden. Dann sitzt sie arbeitend in der Laube oder spielt mit Erni, welche mit der Leidenschaftlich¬ keit der Kinder an ihr hängt. Auch hilft sie ihrer Schwester das Knäblein betreuen, wobei sie fast noch mehr Zärtlichkeit und Sorgfalt an den Tag legt, als die Mutter selbst. Eine wahre Freude aber ist es, wenn sie auch beim Abendessen bleibt; denn sie weiß dann durch allerlei Scherz und eine köst¬ liche Plaudergabe stets die heiterste Stimmung hervorzurufen. Nur in Gegenwart ihres Gatten, der meistens, um sie abzu¬ 7 * holen, ziemlich spät erscheint, ist sie stiller und schweigsamer. Denn man kann deutlich merken, daß er nach Art trockener und halbgebildeter Menschen, ihr munteres und offenes Wesen als etwas Unziemliches empfindet und dasselbe, sowie die holde, echt weibliche Beschränktheit, welche Marianne in ge¬ wissen Dingen verräth, für Thorheit und Mangel an Verstand ansieht. So hatte er unlängst ein Kartenspiel (die einzige Unterhaltung nach seinem Geschmacke) in Vorschlag gebracht, bei welchem Jeder die Augen seiner Karten zu zählen hatte. Marianne konnte damit nie rasch genug zu Stande kommen und mußte oft die Spitze ihres Zeigefingers zu Hilfe nehmen, bis ihr endlich Dorner mit der Bemerkung: sie solle doch we¬ nigstens zählen lernen, die bemalten Blätter ziemlich unsanft aus der Hand nahm und auf den Tisch warf. Ich zuckte zu¬ sammen; Marianne schwieg; nach und nach aber kam eine glühende Schaamröthe in ihrem Antlitz zum Vorschein. Auch die Anderen waren betroffen und eine peinliche, unerquickliche Stimmung blieb zurück. Ueberhaupt wirkt die Anwesenheit Dorners stets lähmend und niederdrückend auf Alle: es wagt sich Niemand mit einem freien, fröhlichen Worte hervor. Selbst die Hauskatze, welche jeden Abend, um ein paar Bissen zu erhaschen, schnurrend den Tisch umkreist, ergreift bei seinem Erscheinen augenblicklich die Flucht, weil er gleich das erste Mal mit dem Stocke nach ihr geschlagen hatte. — Wenn die lebensfrohe junge Frau beim Abschied den Arm des harten, finsteren Mannes nimmt und dabei manchmal mit ihren wun¬ derbaren Augen nach mir zurückblickt: da, Theuerster, zieht sich mein Herz immer schmerzlich zusammen und es ist mir oft, als sollt' ich aufspringen und ihm das süße Geschöpf von der Seite reißen, für dessen Zauber seine schwunglose Seele so wenig Verständniß hat! Ende Juni . Du meinst, ich sei im besten Zuge eine Thorheit zu begehen und mich ernstlich in die junge Frau zu verlieben. Und wenn dies der Fall wäre? Wenn ich — aber fürchte nichts, Guter! Du solltest doch wissen, daß ich an Entsagung gewöhnt bin; ja noch mehr: ich habe — so seltsam dies auch klingen mag — bereits gelernt, ent¬ sagend zu genießen . Und es ist gut, daß es so ist; denn sonst — — Höre nur, was sich zwischen uns Beiden ereignet hat. Als ich gestern nach Tisch wie gewöhnlich in den Garten kam, fand ich Marianne mit den Kindern allein. Sie hatte sich, da über der Laube noch die volle Junisonne brannte, auf der Bank bei dem dichten Hollundergebüsch niedergelassen, welches mit dem nahen Pavillon im Schatten lag. Ihr zu Füßen saß Erni, in eifrige Betrachtung einer zierlichen Stickerei der Tante versunken; auf der andern Seite schlummerte das Knäblein im Wiegenkorbe, mit einem Fliegenschleier bedeckt. Marianne las in einem Büchlein, das sie, kaum meiner an¬ sichtig geworden, bei Seite brachte und unter ein Tuch schob, in welchem ich aber mit dem Scharfblicke des Autors sogleich eine kleine Erzählung erkannte, die ich vor Jahren geschrieben. Als ich grüßend an die junge Frau herantrat, sagte sie, daß die Andern eines dringenden Besuches wegen das Haus ver¬ lassen und sie gebeten hätten, einstweilen über den Kindern zu wachen. „Ich thu' es gern“, fuhr sie fort, indem sie die Hand schmeichelnd auf das Haupt Erni's legte, „Erni ist mein gutes, braves Mädchen, und den armen Kleinen dort lieb' ich, als wär' er mein eigenes Kind.“ Sie erröthete bei diesen Worten und hob vorsichtig ein Ende des grünen Schleiers empor. „Sehen Sie nur, wie sanft, wie ruhig er heute schläft, wie lieblich er trotz seiner Blässe aussieht! Aber ich fürchte, Louise wird ihn nicht aufbringen.“ Und dabei ließ sie traurig wieder den Flor sinken. Ich hatte mich neben ihr auf die Bank gesetzt und wir sahen eine Zeit lang schweigend in das sonnige Weben und Wallen hinein. „Ich habe bis jetzt gelesen,“ sagte sie endlich und zog in holder Verschämtheit das schlichte Bändchen hervor. Was blieb mir übrig, als mich überrascht zu stellen. „Wie, Sie lesen mein Buch?“ fragte ich also. „Ja, und nicht zum ersten Male. Es zieht mich immer von Neuem an, — Sie verwundern sich? Sie hätten mir nicht zugetraut — “ „O nicht doch — nicht so, Frau Dorner! Ich meinte nur — es ist eine gar zu stille, traurige Geschichte.“ „Eben deßhalb gefällt sie mir. Ich bin nicht immer so fröhlich, wie Sie mich zu sehen pflegen. Ich habe auch meine trüben Stunden, und mir ist eigentlich stets am wohlsten, wenn ich still für mich allein sein und meinen Gedanken nachhängen kann. Nur unter Menschen überkommt es mich. —“ „Dann ist es doch nur die Heiterkeit Ihrer innersten Natur, was sich da Bahn bricht.“ „Meinen Sie?“ sagte sie nachdenklich. „Gewiß. Und die Menschen sollten sich glücklich schätzen, daß sie so sprühende Lebensfunken in Ihnen zu wecken ver¬ mögen.“ Sie schüttelte leicht das Haupt. „Nun, ich habe meistens nur Tadel und Verweise zu hören bekommen. Von meinen Eltern und Lehrern, von —“ sie unterbrach sich. „Ich glaube, man hat mich seit jeher für leichtsinnig und einfältig gehalten“, setzte sie mit gedämpfter Stimme hinzu. „O wer könnte, wer dürfte so urtheilen“, sagte ich warm. Sie schien diesen Einwurf nicht zu beachten und fuhr, an ihre letzten Worte anknüpfend, mit gesenktem Haupte fort. „Vielleicht bin ich's auch. Kinder- und Mädchenjahre sind mir wie im Traume vergangen; selbst der Tod unserer Mut¬ ter, die uns freilich schon sehr früh entrissen wurde, hat mich nicht besonders schmerzlich ergriffen; es war mehr ein geheimes Grauen, was ich dabei empfand. Jedes Spielzeug, das ich erhielt, jedes neue Kleid, jeder Ausflug auf's Land, ein jedes Fest, bei welchem ich getanzt hatte, ließ mich noch lange nachher alles Andere vergessen, so daß ich gar nicht darauf achtete, was um mich her in der Welt vorging. Und auch jetzt ist es noch so. Wenn ich oft andere Frauen von Dingen reden höre, die mir ganz fremd sind, da fühle ich immer, wie weit ich zurückgeblieben bin und schäme mich meiner Unwissenheit,“ „Mit Unrecht“, rief ich aus, überwältigt von der schlich¬ ten Erhabenheit dieses Geständnisses, „mit Unrecht, Frau Dor¬ ner! Denn es ist Ihnen dafür jene Ursprünglichkeit bewahrt geblieben, die an Ihrem Geschlechte mehr entzückt als alle Kenntnisse der Erde.“ Sie sah mich zweifelnd an „Wie? das sagen Sie, ein Gelehrter — ein Dichter?“ „Warum nicht? Gerade wir, deren Dasein ganz in gei¬ stiger Thätigkeit aufgeht, werden von den Kundgebungen einer unbewußten Natur im Tiefsten erquickt. Glauben Sie mir, alles Wissen ist werthlos, wenn es nicht von einer mächtigen, eigenthümlichen Empfindungsweise getragen und durchdrungen wird, während ein tiefes Gemüth, ein warmes Herz jeder Formel entrathen kann: denn es überzeugt und gewinnt, indem es sich einfach im Thun und Lassen ausspricht. — Und Sie besitzen ein solches Gemüth, ein solches Herz, Frau Ma¬ rianne!“ Sie erwiederte nichts und brachte nur langsam die Hand vor die Brust. „Und auch Gefühl und Verständniß für so Manches, das unbeachtet und ungekannt an Ihnen vorüber zieht, liegt in Ihrem Wesen“, fuhr ich fort. „Aber es hat noch Niemand das lösende Wort zu sprechen gewußt, und so blieb Ihrem Sinne bis jetzt die Bedeutung des Lebens verschlossen und all Ihr innerer Reichthum Ihnen selbst ein Geheimniß.“ „Es ist wahr“, sagte sie, kaum vernehmlich, „ich fühle mich oft so beengt und ringe nach Etwas, das ich nicht nennen kann — —“ Ach Freund, es war wunderbar, wie sie da¬ saß, die schmale Hand am Herzen, den Blick zu Boden ge¬ richtet. Sie war ganz bleich geworden und ihr zarter Busen hob und senkte sich leise. Und mich überkam's, ihr zu sagen, daß es die Liebe sei, nach der sie ringe und die allein dem Weibe die Welt in ihrer Unendlichkeit erschließt — aber ein Blick auf das lauschende Kind zu ihren Füßen dämmte meine wogende Seele zurück und ich schwieg. So entstand eine tiefe Stille; Erni sah mit klugen braunen Augen forschend zu uns empor und man konnte das Summen einer Wespe vernehmen, die uns in immer engeren Kreisen umflog. Plötzlich stieß Marianne einen leichten Schrei aus und fuhr mit der Hand nach der Wange. Das geflügelte Thierchen war ihr nahe ge¬ kommen und hatte sie unterhalb des rechten Auges gestochen; ein kleines, rothumrändertes Bläschen zeigte sich. Ich eilte an das nächste Blumenbeet und grub etwas Erde auf. Ma¬ rianne wollte damit die schmerzende Stelle bedecken; aber die feuchte Masse zerbröckelte unter ihren bebenden Fingern und fiel zu Boden. „Lassen Sie es mich versuchen“, sagte ich und holte frische Erde herbei. Sie zog den schlanken Leib schaamhaft zurück und ich drückte ihr, während sie in holder Verwirrung die Augen schloß, das kühlende Element sanft gegen die Wange. Sie athmete tief auf und schien eine wohlthuende Linderung zu empfinden. So weilten wir; Beide, das fühlt' ich, süß und leise durchschauert. Da regte sich das Knäblein unter dem Schleier und fing nach Art erwachender Kinder laut zu weinen an. Marianne wurde immer unruhiger; endlich machte sie sich von mir los, sprang auf und nahm den Kleinen in die Arme, wo er auch alsbald still ward und zu lächeln begann. Nun schickte sie, von mir abgewendet, Erni um Wasser. Das Kind, welches Allem besorgt zugesehen hatte, eilte fort; wir aber sprachen nichts mehr; unsere Blicke mieden sich, und als Erni mit dem gefüllten Becken erschien, zog ich mich in den Pavillon zurück. Ich hörte, wie sich Marianne draußen wusch, dann einige Male durch den Garten ging und sich endlich wieder bei den Hollunderbüschen niederließ, wo sie von Zeit zu Zeit sanfte Worte an die Kinder richtete. So wurde es Abend und die Andern kamen nach Hause. Erni lief ihnen entgegen, und erzählte sogleich mit lauter Stimme den ganzen Vorfall. Ich vernahm, wie man darüber scherzte und lachte; als ich jedoch später hinaustrat, fand ich Marianne nicht mehr unter den Anwesenden. Es hieß, sie sei nach Hause ge¬ gangen, weil sie noch immer heftige Schmerzen empfunden habe. 20. Juli . Erspare Dir doch Deine langen Episteln, Theuerster, voll von Zweifeln an meiner gerühmten Entsagungskraft und son¬ stigen Besorgnissen! Die Gefahr, von der Du mich und die junge Frau bedroht siehst, ist im Vorüberziehen. Und zwar hat das Schicksal selbst Deine Rolle übernommen und, immer mächtiger als wir armen Menschenkinder, sich nicht bloß auf Ermahnungen und weise Rathschläge beschränkt, sondern gleich — nicht etwa mit rauher, nein: mit liebender Hand einge¬ griffen. Du erinnerst Dich, daß ich vor zwei Jahren den Sommer im südlichen Böhmen bei meinem Jugendfreunde Robert zu¬ gebracht habe, der seit dem letzten Feldzuge mit durchschossener Brust in fremder Erde vermodert. Wenn Du Dir die Mühe nehmen und meine Briefe aus jener Zeit hervorsuchen willst, so wird Dir daraus das grüne, freundliche Moldauthal, die herrliche Birken- und Tannenpracht des Böhmerwaldes ent¬ gegentreten und das alte Stammschloß der Rosenberge, auf stolzer Höhe gelegen, mit weit ausblickenden Zinnen vor Dir aufsteigen. Auch eines Mannes wirst Du erwähnt finden, der in diesem einsamen, jetzt dem Fürsten S . . . . gehörenden Prachtbau der Vergangenheit als Archivar lebt. Ich hatte ihn eines Tages mit der Bitte aufgesucht, mich in dem histo¬ risch merkwürdigen Archive und in der reichhaltigen Bibliothek ein wenig umsehen zu dürfen, und entsinne mich deutlich, daß ich Dir damals geschrieben habe, wie sehr ich ihn um sein stilles, abgeschiedenes Dasein beneide. Als ich aber näher mit ihm bekannt wurde, da merkte ich bald, daß ihm, was mir wünschenswerth erschien, Unmuth und Unzufriedenheit bereite. Er hatte früher ein öffentliches Lehramt bekleidet; war aber, mißliebiger Anschauungen wegen, von der Regierung entfernt und durch die Noth gezwungen worden, diese Stelle anzuneh¬ men, welche seinem lebhaften, auf erfolgreiches Wirken gerich¬ teten Geist ebenso wenig zusagen konnte, als sie ihm in ihrer geringen Ansehnlichkeit seiner Kenntnisse und Fähigkeiten wür¬ dig erschien. Er gestand mir offen, daß er Alles aufbiete, wieder los zu kommen; und da ich ihm hingegen meine Nei¬ gung zu einem solchen Posten mittheilte, so versprach er mir, mich dem Fürsten vorzuschlagen, sobald er eine passende Lebensstel¬ lung würde gefunden haben. Nun bekam ich dieser Tage (ich hatte seiner Zusage längst nicht mehr gedacht) von ihm einen Brief, worin er mir schreibt, daß er endlich einen ehrenvollen Ruf in's Ausland erhalten, und mich fragt, ob ich noch ge¬ sonnen wäre, sein Nachfolger zu werden. Er habe mit dem Fürsten bereits gesprochen; dieser sei ganz einverstanden und so hinge jetzt Alles nur von meinem raschen Entschlusse ab. Daß ich mit beiden Händen zugriff, kannst Du Dir denken! Wollte sich doch jetzt erfüllen, wonach ich mich so lange ge¬ sehnt: unbekümmert um literarischen Erwerb in gänzlicher Zurückgezogenheit meiner Kunst leben zu können. Gewisse Leute werden freilich die Köpfe schütteln. „Wie man nur daran denken könne, fern von aller Welt in einem alten Schlosse zu versauern“, hör' ich sie sagen; „daß der Dichter Anregung brauche —“ und was sonst noch an ähnlichen Gemeinplätzen vorzubringen sein wird. Als ob ich bis jetzt nicht gelebt hätte! An meinen Schläfen schimmern schon die ersten grauen Haare und ich müßte wirklich unsterblich sein, um auch nur die Hälfte meiner Erfahrungen künstlerisch zu verwerthen. Und so will ich nur noch meine Angelegenheiten ordnen, mich von einigen guten und edlen Menschen, denen ich so Manches zu danken habe, verabschieden und dann der Residenz Lebewohl sagen. Jetzt aber kann ich Dir auch gestehen: es ist hohe Zeit, daß ich fortkomme. Aus Folgendem magst Du es ent¬ nehmen. — Seit jenem denkwürdigen Nachmittage war Marianne nicht mehr so oft, wie sonst, und zumeist nur auf kürzere Zeit in den Garten gekommen. Dabei hatte es mir geschienen, als wiche sie einer Begegnung mit mir aus, so daß ich selbst ver¬ mied, mit ihr zusammen zu treffen und wieder häufiger meine Spaziergänge vor dem Linienwall aufnahm. Eines Tages war ich aber doch in dem unbestimmten Drange, die junge Frau wieder zu sehen, daheim geblieben. Es wurde Abend, sie er¬ schien nicht. Endlich gesellte ich mich zu meinen Hausgenossen, die ich ziemlich einsylbig in der Laube versammelt fand. Nach einer Weile sagte Heidrich: „Warum doch Marianne gar nicht mehr kommt! Es ist heute schon der vierte Tag, daß wir sie nicht gesehen haben.“ „Du weißt doch,“ erwiederte seine Frau mit einer gewissen Hast, „daß das Unternehmen Dorners bereits in vollem Gang ist; das macht auch ihr im Hauswesen viel zu schaffen.“ „Allerdings; das weiß ich. Aber sie ist auch sonst selt¬ sam verändert.“ „Findest Du?“ warf sie nachlässig hin, während mich ihr Blick unsicher streifte. „Ja; und ich glaube, sie ist nicht glücklich.“ „Und warum soll sie nicht glücklich sein?“ fragte Louise scharf und bedeutungsvoll. „Ach laß das!“ entgegnete er, offen und unbefangen wie immer. „Vor unserem Freunde kenn' ich keine Geheimnisse. Er wird sich schon selber seine Gedanken gemacht haben. Ich sage: Dorner ist kein Mann für Marianne.“ „Und weßhalb nicht?“ fuhr sie gereizt fort. „Er ist ein Ehrenmann, wenn auch ein wenig trocken und barsch im Um¬ gange. Aber gerade sein strenger Ernst passt für sie; denn er hält ihrem doch oft allzu kindischen Wesen das Gleichgewicht.“ „Aber ich bin überzeugt, daß sie ihn nicht liebt!“ stieß Heidrich hervor. „Ei was!“ rief die alte Frau in ihrer resoluten Weise dazwischen. „Ihr Männer habt es beständig nur mit der Liebe! Die entsteht und vergeht. Was den Beiden fehlt ist ein Kind; eine kinderlose Ehe ist keine Ehe!“ Ich schwieg; aber was in meinem Innern vorging, kannst Du Dir denken. — Um diese Zeit starb das Knäblein. Heftige, sich rasch wiederholende Krämpfe, hatten seinem kurzen Dasein ein Ende gemacht. Man nahm dieses traurige Ereigniß im Hause mit stiller Ergebung auf. War es doch längst vorauszusehen, ja bei dem hoffnungslosen Zustande des Kindes herbeizuwünschen gewesen; auch trägt Frau Louise schon ein neues Leben unter dem Herzen. So standen die jungen Eltern zwar bleich, aber ohne Klage an dem Särglein, in welchem der Kleine lag, von seinen Leiden befreit, wie lächelnd im Tode. Desto fassungs¬ loser klang das Schluchzen Mariannens, die sich mit noch anderen Verwandten eingefunden hatte. Ich sah zum ersten Male den Vater der Schwestern, einen bejahrten Mann mit einem scheuen kummervollen Zug im Antlitz; dann die Stief¬ mutter, eine stattliche, geputzte Frau im besten Alter. Auch die beiden Liebenden, deren Vermählung nahe bevorstand, waren zugegen. Man merkte, wie sie ihrem Glücke Gewalt anthun mußten, um die Trauer der Andern mitempfinden zu können. Dorner war nicht erschienen. Als man die Leiche forttrug, folgte ich auch zur Kirche. Nach der Einsegnung stiegen die Eltern mit dem Manne, der den Sarg trug, in einen bereit stehenden Wagen; Marianne leise in ihr Tuch weinend, setzte sich zu ihnen; die Uebrigen entfernten sich. Ich aber kehrte wieder nach Hause zurück und schritt einsam im Garten auf und nieder. Ein leichter Strichregen war gefallen und an den Blättern funkelten helle Tropfen im Strahl der späten Nachmittagssonne. Ein Nelkenbeet duftete scharf; am Himmel standen dunkle, feurig umsäumte Wolken; von Zeit zu Zeit ging ein leises Rauschen durch die Wipfel. Ueber eine Stunde mochte ich so in weh¬ müthigen Empfindungen versunken gewesen sein und hatte mich endlich im Pavillon niedergelassen, als der Wagen am Thore hielt, der die Leidtragenden vom Friedhof brachte. Ich ver¬ muthete, sie würden in den Garten kommen; aber sie gingen alle miteinander hinauf. Nach einer Weile jedoch wurde das Gitter geöffnet; Marianne trat ein, Erni an der Hand führend, und bewegte sich mit dem Kinde, das während des Begräbnisses oben bei der alten Frau geblieben war, langsam auf dem mittleren Pfade fort. Sie blickte nicht nach dem Pavillon; aber Erni that es und hatte mich auch gleich be¬ merkt. „Tante Marianne, Herr A. ist hier!“ rief sie und wiederholte diese Worte, da die junge Frau nicht darauf zu achten schien, sondern mit gesenktem Haupte vorwärts schritt, mehrere Male nach einander; so daß mir also nichts er¬ übrigte, als hinauszutreten und mich ihnen zu nähern. Das Kind wollte, um mich zu erwarten, stehen bleiben; aber Mari¬ anne ließ seine Hand los und ging immer weiter; erst als ich dicht hinter ihr war, hielt sie an und wandte mir ihr Antlitz zu. „Ich habe sie oben allein gelassen,“ begann sie langsam; „ich glaube, sie fühlen jetzt das Bedürfniß, sich un¬ gestört auszuweinen.“ Sie sah nach einer kleinen Uhr, die sie im Gürtel trug, „Es ist schon spät; mein Mann soll noch kommen. Er war heute Nachmittag sehr beschäftigt.“ „Wie ich höre, werden auch Sie jetzt von häuslichen Geschäften sehr in Anspruch genommen, Frau Dorner,“ sagte ich, um etwas zu sagen. Sie erröthete flüchtig. „Allerdings; und ich kann mich noch nicht ganz zurecht finden. Aber es ist gut; man vergißt so Manches darüber.“ Ich schwieg, und so gingen wir eine Zeit lang, ohne zu sprechen, neben einander hin. Es war schon dunkel geworden und durch die Bäume wehte es feucht und kühl. „Welch' eine rauhe Abendluft“, sagte sie endlich und zog ihr Tuch fröstelnd um die Schultern. „Man merkt, daß der Herbst bereits im Anzug ist. — Das arme Kind; heute liegt es in der kalten Erde.“ Saar , Novellen aus Oesterreich. 8 „Gönnen Sie dem Kinde die selige Ruhe, Frau Dorner“, sagte ich bewegt. „Sein Tod war seine Erlösung.“ Sie schauderte leicht. „Es ist wahr,“ sagte sie tonlos; „das Leben ist für die Glücklichen.“ Erni war indessen still hinter uns hergegangen; jetzt rief sie: „Tante, Du hättest Herrn A. heirathen sollen; dann wärest Du auch glücklich geworden.“ Ich sah wie sie erbleichend zusammenzuckte. Aber sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: „was doch das thörichte Mädchen spricht.“ Ich konnte nichts erwiedern; es lag mir wie Blei auf der Zunge, auf dem Herzen. So gingen wir wieder schweigend neben einander. Als wir uns dem Eingänge näherten, erblickten wir Dorner, der über das Gitter sah und ein befremdetes Gesicht machte, als er uns gewahr wurde. Er trat ein, und nachdem wir einige Worte getauscht, begab er sich mit seiner Frau und dem Kinde hinauf. Ich aber blieb zurück in der sinkenden Nacht, allein mit meinen Gefühlen, in welchen sich Schmerz und Seligkeit wunderbar verwoben. Schloß K . . . . in Böhmen, Mitte September . Warum ich so lange schweige, fragst Du? Und ob ich mich schon an den Ufern der Moldau befände? Ja, Theuerster, seit vier Wochen bin ich hier — doch in welchem Zustande! Ach Freund, was sind die Entschlüsse des Menschen! Vorüber¬ gehen wollt' ich an dem geliebten Weibe, das mir bestimmt schien, zugefallen durch einen holden Ausgleich der Natur — und nun! — — Aber ich will mich fassen, will Dir Alles niederschreiben und diese Blätter wie ein letztes Vermächtniß in deine Hände legen. — Der Tag, den ich mir zur Abreise festgesetzt, war immer näher gekommen. Ich hatte es, ohne zu wissen warum, stets hinausgeschoben, meinen Hausgenossen unsere bevorstehende Trennung mitzutheilen, und nun zeigte sich die alte Frau, die mir im Laufe der Jahre eine fast mütterliche Theilnahme und Fürsorge erwiesen, sehr ergriffen. Sie wischte sich die Augen, und sagte, sie wolle meine Stube gar nicht weiter vermiethen; denn sie würde keinen Fremden darin sehen können. Ihr Sohn bekräftigte dies, indem er mir wiederholt die Hände schüttelte und hinzufügte, sie hätten gehofft, mich nicht früher zu verlieren, als bis ich einmal des Hagestolzenlebens müde und Willens geworden sei, einen eigenen Heerd zu gründen. Und das sollt' ich auch: denn ich sei ganz der Mann, ein Weib glücklich zu machen. Nur Frau Louise, die gegen mich in letzter Zeit etwas zurückhaltend gewesen, schien wie erleich¬ tert aufzuathmen. Sie ward mit einem Male wieder herzlich und freundlich, und ermunterte mich sogar, die Hochzeit Emi¬ liens abzuwarten, zu deren Feier, wie ich nun hörte, der fünf¬ 8* zehnte August bestimmt war. Ich ließ mich bereit finden, von dem Gedanken verlockt, bei dieser festlichen Gelegenheit mit Mariannen zusammenzutreffen, welche ich seit jenem traurigen Abend nicht wieder gesehen hatte. Denn es war inzwischen trübes, regnerisches Wetter eingefallen, das den Garten verö¬ dete; auch hatte ich im Drange meiner Geschäfte und Abschieds¬ besuche, die meiste Zeit außer Hause zugebracht. Dadurch war sie mir etwas ferner gerückt worden, und wenn ich an sie dachte, geschah es mit einer Art süß-schmerzlicher Genugthuung und mit dem Gefühl, daß die Erinnerung an sie mein ganzes künftiges Dasein begleiten und verschönen würde. Ihre Zu¬ kunft — so eigensüchtig ist das menschliche Herz — erwog ich nicht; vielleicht war es eine geheime Angst, was mich davon abhielt. — Nun aber wollte ich noch einmal den Zauber ihres Wesens ganz und voll in mich aufnehmen — und dann schei¬ den für immer. — Der fünfzehnte August war da und mit ihm hatte sich der Himmel wieder aufgehellt. In den ersten Stunden des Nachmittags erschien ein Wagen, um mich zur Trauung zu fahren; die Andern hatten sich schon früher nach dem Hause der Braut begeben. Als ich vor der Kirche hielt, war diese bereits von vielen Neugierigen belagert und gleich darauf kam eine lange Reihe offener Wagen in Sicht, die auf raschen Rädern Brautleute und Hochzeitsgäste heranbrachten. Alles strahlte in Freude und Heiterkeit; beim Aussteigen gab es ein helles Gewirr von schimmernden Gewändern, wehenden Schleiern und duftenden Blumen; selbst die eintönige schwarze Tracht der Männer war durch farbige Sträußchen belebt. Das ganze hatte einen kräftigen, altbürgerlichen Anstrich, und mahnte an jene Zeit, wo man noch keine stillen, verschwiegenen Hochzeiten kannte, sondern sein Glück in seligem Uebermuthe offen zur Schau trug. Mein Blick suchte Marianne, die eigenthümlich bleich aussah und zu frösteln schien, trotz des kurzen, mit Schwan besetzten Mäntelchens, das sie um die entblößten Schultern ge¬ worfen hatte. Sie trug ein Kleid von perlgrauer Seide; ihr Haar war mit weißen Rosen geschmückt; in der Hand hielt sie einen Strauß von denselben Blumen. So schritt sie, meinen Gruß stumm erwiedernd, an mir vorüber in die Kirche. Während der Trauung, als der Priester über die Bedeutung und vom Glücke der Ehe sprach, arbeitete es heftig in ihrer Brust, und ich sah zwei große Thränen unter ihren Wimpern hervortreten und langsam über die Wangen hinabrollen. Nach beendeter Feierlichkeit stieg Alles wieder in die Gefährte, und im Fluge ging es, von den Blicken der Vorübergehenden ge¬ folgt, durch die belebten Straßen dem nahen, am Fuße des Kahlenberges gelegenen Orte G . . . zu. Ich fuhr mit Hei¬ drich und Dorner; im Wagen vor uns saßen die beiden jungen Frauen. Marianne wandte kein einziges Mal den Kopf, nur ihr goldig angehauchtes Haar und die weißen Ro¬ sen leuchteten vor meinen Augen. Endlich hatten wir das stattliche Fabriksgebäude erreicht, in welchem, wie es der Va¬ ter des Bräutigams gewünscht, das eigentliche Hochzeitsfest stattfinden sollte. Eine fröhliche Arbeiterschaar empfing uns, dann traten wir in einen großen, mit Laub- und Blumenge¬ winden reich ausgeschmückten Saal, wo uns ein wohlbesetztes Orchester mit einem lebhaften Tusch bewillkommte. Hierauf gingen wir zur Tafel, welche für die zahlreichen Gäste in einem weitläufigen Nebenraume gedeckt war. Ich hatte meinen Platz zwischen zwei jungen Frauenzimmern erhalten, welchen ich mich nun artig erweisen mußte; aber ich sah doch beständig zu Mariannen hinüber, die in sich versunken an der Seite Dorners neben der Braut saß. Sie berührte fast nichts und nippte nur manchmal von dem perlenden Schaumweine, den man credenzt hatte. Als auf das Wohl der Vermählten ein Toast ausgebracht wurde, fiel sie Emilien convulsivisch weinend an die Brust, und sie hörte es nicht, daß man nun auch das Ehepaar Dorner leben ließ. Darauf aufmerksam gemacht, schrack sie empor und es war, als durchbebe sie ein leiser Schauder, als sie ihr Glas mit dem ihres Gatten zusammen¬ klingen ließ. Inzwischen war es bereits ziemlich dunkel geworden. Im Saale wurden die Lichter angezündet und plötzlich erließ das Orchester mit einigen raschen Takten die Aufforderung zum Tanze. Diese Klänge wirkten elektrisch; Stühle wurden ge¬ rückt, Gewänder rauschten — und im Nu tanzte ein Paar nach dem andern in den Saal hinaus, wo schon ein beschwin¬ gender Walzer ertönte. Auch Dorner hatte zu meinem Erstau¬ nen den schlanken Leib seiner Frau umfaßt und die halb Wider¬ strebende mit sich fortgezogen. Ich folgte langsam nach und setzte mich in eine Fensternische. Und wie ich so dasaß, vor mir das bunte, schimmernde Gewühl der Tanzenden; hinter mir die schweigende, dunkelnde Landschaft: da wurde mir eigen¬ thümlich traumhaft zu Muth. Ein Heer von Erinnerungen stieg vor mir auf; die schönen leuchteten immer reiner und verklärter; die bösen vergingen und zerrannen und die ganze Wehmuth des Scheidens zog in mein Herz. Und es war mir, als könnt' ich nun nicht mehr die Stadt verlassen, in der ich gelebt, gestrebt, gerungen mit allen Leiden und Freuden einer Menschenseele; als könnt' ich mich nicht trennen von dem klei¬ nen Hause und seinen Bewohnern, von dem traulichen Garten — und von der jungen Frau, welche dort, schon mit andern Tänzern, zwischen den hin und her wogenden Paaren auf¬ tauchte und wieder verschwand. Aber der Würfel war ge¬ fallen, und ich mußte fort. Dem Walzer folgten rasch nach einander neue Tänze. Der süße Taumel des Vergessens, welcher im Tanze liegt und diesen für ihr Geschlecht so verlockend macht, schien dabei Ma¬ rianne mehr und mehr zu überkommen. Ihre Wangen glühten, ihr Haar hatte sich gelöst, ihre dunkel leuchtenden Augen schienen mich aus der Ferne zu suchen. Endlich trat eine Pause ein und die Paare machten Arm in Arm plaudernd und scherzend die Runde durch den Saal. Marianne jedoch hatte sich mit allen Zeichen der Ermüdung auf einen Stuhl niedergelassen; vor ihr, sichtlich bemüht, sie für sich einzunehmen, stand ein junger Mann mit lebhaften Blicken und Geberden, welchen ich mehrmals mit ihr hatte durch den Saal fliegen sehen. Sie aber achtete nicht auf das, was er sprach, sondern blickte, während sie manchmal gezwungen lächelte, mit wogen¬ der Brust zerstreut vor sich hin und nach der Fensternische, in der ich noch immer saß. Endlich zog sich der Enttäuschte zurück. Ich stand auf und trat vor sie hin. „Ich muß noch von Ihnen Abschied nehmen, Frau Dorner“, sprach ich mit zitternder Stimme. „Ich verlasse morgen die Residenz.“ Sie athmete schwer und brachte, wie um sich zu erquicken, ihren Strauß vor's Antlitz. „Ich weiß es; meine Schwester hat es mir mitgetheilt. — Und Sie kehren nie wieder?“ fragte sie nach einer Pause kaum hörbar. „Nein, Frau Dorner.“ Sie erwiederte nichts. „Leben Sie wohl“, sagte sie end¬ lich und reichte mir langsam die Hand. Im selben Augenblick begann die Musik wieder, einen Galopp intonirend. Ich war des Tanzens längst entwöhnt; aber diese Klänge durchzuckten mich seltsam. „Frau Marianne“, sagte ich, von einem plötzlichen Verlangen unwiderstehlich er¬ griffen, und hielt ihre bebende Hand fest, „Frau Marianne, lassen Sie uns, bevor ich scheide, noch mit einander tanzen — zum ersten und letzten Male!“ Sie sah mich wie erschreckt an; dann aber stand sie auf und sank mir in die Arme. — Ach, welche Wonne war es, mit ihr in dem beginnenden Wirbel hinzutreiben, der uns immer rascher, immer stürmischer mit sich fortriß! Wie ein Kind lag sie an meiner Brust: weich, hingebend, die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb durch die gesenkten Wimpern verschleiert. Ihr Herz pochte neben meinem; die Rosen in ihrem Haar umdufteten mein Antlitz. Und es war mir, als müsse es ewig so dauern — ewig! Aber die Musik verstummte. Ich reichte dem süßen Weibe den Arm. Sie nahm ihn und lehnte sich innig an mich. „Marianne!“ rief ich leise und bebend. Sie verstand mich; denn sie schwieg und blickte zu Boden. Inzwischen hatten mehrere Ungenüg¬ same mit lautem Rufen und Händeklatschen eine Wiederholung des Galopps verlangt und das Orchester fiel von neuem ein. „Noch einmal!“ flüsterte ich und umfaßte sie. Und als wir uns jetzt bei den rasenden Klängen zum zweiten Mal in den Armen lagen, da brach in mir die lang niedergehaltene Leiden¬ schaft gleich einer entfesselten Naturgewalt hervor. Ich zog Marianne an mich; ich beugte mein Haupt zu ihr nieder; mein Mund streifte ihre Haare, ihre Stirn. Sie ließ es ge¬ schehen und sah mich lächelnd an. Und fester und fester um¬ schlangen wir uns; unsere Wangen, unsere Lippen berührten sich; unser Odem floß in einen Hauch zusammen. So flogen wir hin, in seliger Trunkenheit, weltentrückt, zwischen Himmel und Erde! — Plötzlich war es mir, als strauchelte sie; mein Arm wollte sie halten; aber ich schwankte selbst — und schon sank sie mit nach rückwärts überhangendem Haupte und stierem Blick schwer an mir nieder. Ein jähes Entsetzen riß an mei¬ nem Herzen; ich hörte noch, wie man rings aufschrie, wie die Musik mit einem grellen Mißklang abbrach; sah, wie man von allen Seiten auf uns zustürzte — dann drehte sich Alles um mich und meine Sinne vergingen. — — Als ich wieder zu mir selber kam, lag ich auf einem Sopha in dem matt erhellten Nebenzimmer. Ein alter Herr, die Uhr in der Hand, saß vor mir. „Sie waren ziemlich lange bewußtlos“, sagte er. Ich starrte ihn an. „Ich bin der Arzt des Ortes“, setzte er leise hinzu. Ich sah um mich wie im Traum. Draußen strahlte der Saal in vollem Lichterglanz; aber es war Alles still, ganz still. — Er merkte, daß ich mich nicht zurecht fand und nahm meine Frage vorweg. „Die Gesellschaft hat sich bereits nach der Stadt begeben. Der Dame, mit der Sie getanzt haben, ist ein schwerer Unfall zugestoßen.“ Ich wollte aufspringen; aber meine Glieder waren erstarrt und das Herz lag mir wie Eis in der Brust. Er faßte meinen Arm. „Sie kommen zu spät. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll — — Die Dame ist —“ „Todt“, sagte ich; denn ich wußte es längst. „Eine plötzliche Herzlähmung —“ „Eine plötzliche Herzlähmung“, wiederholte ich dumpf, und erhob mich. Er trat mir in den Weg. „Fassen Sie sich, mein Herr. Sie können sich ja keine Schuld beimessen; es war ein bekla¬ genswerther Zufall. Wie ich höre, haben Sie vor, abzureisen; thun Sie es, ohne zu zögern. Ersparen Sie sich und An¬ dern —“ Ich verstand ihn. „Ich werde reisen“, sagte ich und wandte mich, um zu gehen. Er zuckte wie rathlos die Achseln und hielt mich nicht länger zurück. Draußen im Saal lag eine weise Rose auf dem Estrich; ich nahm sie auf, ohne etwas dabei zu denken, aber ich wußte, daß sie von Marianne war. Dann schritt ich hinaus in die Nacht. Der Mond war aufgegangen; über Busch und Wiesen schimmerten feine Nebel; die Gebäude auf dem Kahlen- und Leopoldsberge waren wie taghell beleuch¬ tet. Ich schritt immer weiter, ohne zu wissen wohin, die Rose in der Hand. Der Pfad führte mich an Gärten und dichten Weinpflanzungen vorüber; nach und nach wurde er steiler und endlich hatte ich ein freies Plateau erreicht, das eine weite Fernsicht über einen Theil des Marchfeldes, über die Auen der Donau und das Häusermeer der Stadt eröff¬ nete. Dort hielt ich an, setzte mich unter einen Baum, und blickte, die Brust noch immer leer und stumm, hinaus in die schweigende Unendlichkeit. Unten zog der glitzernde Strom mit leisem Rauschen durch die Nacht; von der Stadt her glänzten und flimmerten unzählige Lichter. Eine Grille zirpte in meiner Nähe; von Zeit zu Zeit schoß am Himmel eine Sternschnuppe vorüber. Die Stunden verrannen; ich merkte es nicht. Der Mond ging unter; die Lichter erloschen allmä¬ lig, und eine fahle, trübe Dämmerung hüllte Alles ein. Plötzlich ward ich durch einen gräßlichen Schrei aufgeschreckt, den ich selbst ausgestoßen; das volle Bewußtsein des Geschehe¬ nen hatte mich angefallen. In wildem Schmerz eilte ich den Abhang hinunter und der Stadt zu. Eine Stunde später fuhr ich hinter der brausenden Locomotive durch graue Morgennebel in's Land hinein. — Ich bin zu Ende. Du siehst, das Verhängniß hat uns erreicht. Leb' wohl! Leb' wohl! Die Steinklopfer. E ine der merkwürdigsten Eisenbahnbauten ist der Schienen¬ weg über den Semmering, einen Theil der norischen Alpen, welcher die Grenzscheide zwischen dem Erzherzogthum Oester¬ reich und der grünen Steiermark bildet. Wer in früherer Zeit — heutzutage ist der Eindruck nicht mehr so gewaltig — diese Bahn, die sich längs gähnender Abgründe und schroffer Felswände empor windet, zum ersten Male befahren hat: der wird, wenn der Zug über schwindelerregende Viaducte donnerte oder plötzlich mit schrillem Pfeifen in die Nacht endlos schei¬ nender Tunnels hinein braus'te, jene mit erhabenem Grauen gemischte Bewunderung empfunden haben, welche uns stets überkommt, wenn wir Etwas, das wir bisher für unmöglich gehalten, verwirklicht vor uns sehen. Und wenn dann die gekoppelte Wagenreihe, allmälig ebenen Boden erreichend, wie¬ der gefahrlos zwischen lachenden Triften forteilte, dann wird er sich voll Stolz, der Sohn eines Jahrhunderts zu sein, das solche Wunderwerke hervorbringt, in seinen Sitz zurückgelehnt und sich mit halb geschlossenen Augen hinüber geträumt haben in die Errungenschaften der Zukunft, welche in der Eröffnung des Suezcanals und dem Durchstich des Mont Cenis noch immer nicht ihre kühnste Bethätigung gefunden. An Eines aber, das kann man zuversichtlich annehmen, werden die We¬ nigsten gedacht haben: an die Tausende und aber Tausende von Menschen, welche im Schweiße ihres Angesichtes, allen Fährlichkeiten preisgegeben, Felsen gesprengt, Steinblöcke ge¬ wälzt, Abgründe überbrückt und so recht eigentlich jene geprie¬ sene Verkehrsstraße geschaffen, auf welcher Du, freundlicher Leser, wenn Du gleich mir in der unruhvollen, staubdurch¬ wirbelten Hauptstadt an der Donau lebst, fast so rasch wie Dein Gedanke an den Strand der blauen Adria versetzt wer¬ den kannst. Von zweien solcher armer Menschen, welche seit jeher, ohne daß ihnen selbst bis jetzt die Segnungen des Fort¬ schrittes zu Theil geworden wären, treulich mitgeholfen bei der großen Culturarbeit der Völker, will ich nun eine kleine Ge¬ schichte erzählen. Nicht etwa, um das harte Loos dieser Parias der Gesellschaft, die unsere Dome und Paläste, unsere Unter¬ richtsanstalten und Kunstinstitute bauen, in grellen Farben zu schildern oder darzuthun, welche Rolle der sogenannte fünfte Stand dereinst noch im Laufe der Begebenheiten zu spielen berufen sein dürfte; ein Unternehmen, das der Dichter, wie billig, dem Socialpolitiker überläßt: sondern nur, um ein schlichtes Lebensbild aus der großen Masse Derjenigen festzu¬ halten, deren Dasein, von schweren körperlichen Mühen über¬ bürdet, im Kampfe um das tägliche Stück Brod meist ungekannt und unbeachtet dahingeht, bis es zuletzt in irgend einem dum¬ pfen Winkel der Erde spurlos endet; — nur um zu zeigen, wie Leid und Lust jedes Menschenherz bewegen und daß sich überall im Kleinen abspielt die große Tragödie der Welt. — Die Bahn über den Semmering war hergestellt. Der cyklopische Lärm der Arbeit, das Donnern der Sprengschüsse war verhallt, und das zahl- und rastlose Menschengewirr, das sich aus dem entlegenen Böhmen, den mährisch-ungarischen Niederungen, aus dem steinigen Karst und dem gesegneten Friaul hier zusammen gefunden hatte, war weiter südwärts gezogen, um dort sein mühevolles Tagwerk fortzusetzen. Das tief in die Wälder hinein verscheuchte Wild kehrte allmälig wieder zurück und wagte sich, wie neugierig, auf den riesigen Höhenpfad, der, noch unbefahren, gleich einer vergessenen Spur menschlicher Thatkraft in dem stillen Frieden des Hochgebirges lag. Nur hier und dort, etwa zwei Wegstunden von einander entfernt, stand noch eine jener geräumigen Bretterhütten, welche die Nomaden der Arbeit in Schaaren bewohnt und bei ihrem Aufbruche wieder niedergerissen hatten. Sie beherbergten eine Anzahl von Zurückgebliebenen und späteren Nachzüglern, welche bestimmt waren, den Oberbau gänzlich zu vollenden. Denn noch galt es, an mancher Stelle Schienen zu legen, Geleise zu beschottern, Telegraphenstangen aufzurichten und Wächter¬ häuschen auszumauern, an deren Gesimse die zierlichen Schwalben, welche sich tagüber oft in langen Reihen auf Saar , Novellen aus Oesterreich. 9 den elektrischen Drähten niederließen, bereits ihre Nester ge¬ klebt hatten. Eines Nachmittags, es war Sonntag, saß vor einer sol¬ chen Hütte, welche sich, etwas abseits von der Bahn, mit ihrer Rückwand an schroffe Felsen lehnte, eine weibliche Gestalt auf der Schwelle. Sie war baarfuß, hatte um das Hinter¬ haupt ein grobes dunkles Tuch gebunden, und das Antlitz, das daraus hervorsah, war welk und von jener bräunlich fah¬ len Hautfarbe, welche der Sonnenbrand in blassen Gesichtern zu erzeugen pflegt. Die Stirne wies tiefe Furchen auf, und um den Mund lag ein Zug öder Traurigkeit, was die Sitzende älter erscheinen ließ, als sie sein mochte, und die verkümmerte Mädchenhaftigkeit ihres Leibes seltsam hervor hob. Die Sonne stand nicht mehr hoch; über die meisten Kuppen und Abhänge hatten sich bereits dunkle, schweigende Schatten gelagert. Aber auf dem Wiesengrunde vor der Hütte und in den Wipfeln des seitwärts ansteigenden Waldes blitzte und funkelte noch der helle Strahl, in welchem sich eine Schaar von Faltern, Bienen und Libellen über bunten Blumenkelchen tummelte. Die Ein¬ same jedoch achtete nicht der lieblichen Sommerpracht, die sich vor ihr ausbreitete, sondern hielt den Blick unverwandt auf eine schadhafte Männerjacke gerichtet, mit deren Wiederherstel¬ lung sie eifrig beschäftigt war. Diese Arbeit schien ihr recht sauer zu werden; denn ihre rauhe, schwielige Hand, welche die Nadel mühsam und ungelenk führte, hatte wohl sonst nur Haue und Schaufel anzufassen. Jetzt wurde sie durch nahende Schritte aufgestört, und als sie das Haupt hob, gewahrte sie, wie vom Bahngeleise her ein Mann auf die Hütte zuschritt, dessen Erscheinung einen kläglichen Anblick darbot. Klein und unansehnlich von Wuchs, trug er einen alten, zerschlissenen Soldatenkittel, welcher, zu lang und zu weit, seinen Körper wunderlich umschlotterte, während ihm eine blaue, abgegriffene Feldmütze tief über die Stirne herabfiel. Er wankte im Gehen, obgleich er sich auf einen knorrigen Baumast stützte und der kleine Sack von fadenscheinigem Zwillich, den er über die Schultern gehängt trug, ziemlich inhaltslos aussah. So nä¬ herte er sich, scheu und verlegen aus matten, farblosen Augen blickend, der Erwartungsvollen. „Ist das die Hütte Nummer sieben?“ fragte er mit unsicherer Stimme. „Ja, das ist sie;“ erwiederte die Andere in jenem eigen¬ thümlichen, hart klingenden Deutsch, wie es im südlichen Böh¬ men gesprochen wird, „Was willst Du?“ „Man hat mich zur Arbeit heraufgeschickt.“ Und dabei wies er einen Zettel vor, den er in der Hand hielt. Sie betrachtete noch immer seinen seltsamen Aufzug und sein dünnbärtiges Antlitz, das jämmerlich bleich und abgemagert aussah. „Der Aufseher ist nicht zu Hause“, sagte sie endlich. „Er ist mit den Andern nach Schottwien hinunter gegangen zum Wein. Setz' Dich einstweilen dort nieder, wenn Du müd bist.“ Und mit einem letzten Blick auf sein hinfälliges Wesen, 9* nahm sie, ihrer unterbrochenen Arbeit sich besinnend, rasch wieder Nadel und Faden auf. Der Ankömmling erwiederte nichts, sondern schleppte sich blos ein paar Schritte seitwärts, wo er sich mit allen Zeichen der Erschöpfung im Grase niederließ. Dort lag er, während die Sonne tiefer und tiefer sank, ihr letztes Gold verschüttend. Lautlose Stille herrschte ringsum; nur hoch im lichten Azur des Abendhimmels kreis'te mit lang gedehntem Schrei ein Geier. Plötzlich erklang in der Ferne ein wüster Männerchor. Die Emsige schrack auf. „Jesus, da sind sie schon“, sagte sie halblaut zu sich selbst, „und ich habe die Jacke noch nicht fertig.“ Immer näher, immer stärker scholl der Gesang, und es dauerte nicht lange, so kam eine Schaar verwildert aussehender Gesellen heran, aus deren Mitte, besser als die Andern geklei¬ det, ein Mann von herkulischem Wuchse empor ragte. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; sein breites, aufgedun¬ senes Gesicht war vom Weine geröthet und der Strohhut, der ihm tief im kurzen Genick saß, ließ graue, verworrene Haare sehen. Er hatte seinen Rock ausgezogen und über die linke Achsel geworfen; in der rechten Hand, die feist und stämmig aus dem losen Hemdärmel hervorsah, trug er einen großen Korb, welcher Lebensmittel aller Art enthielt. Zwei von den Uebrigen trugen schwere, mit Kartoffeln gefüllte Säcke auf dem Rücken. Tertschka!” rief der Mann mit dem Korbe in heiserem Tone, „mach' Licht drinnen, daß wir den Proviant in den Keller schaffen können!“ Und da er jetzt vor ihr stand und ihm die Jacke, die sie ängstlich an sich drückte, in die Augen fiel, fragte er barsch: „nun, ist sie fertig?“ „Noch nicht ganz;“ war die zaghafte Antwort. „Was? Nicht?“ kreischte er und sein Gesicht wurde blau¬ roth. „Hab' ich Dir nicht gesagt, daß ich sie morgen brauche?“ „Ich hab' mich den ganzen Nachmittag damit geplagt. Aber ich kann's nicht so schnell machen, wie Eine, die das Nähen gelernt hat.“ Der stille Vorwurf, der in diesen Worten lag, schien ihn noch mehr zu reizen. „Du weißt immer etwas zu erwiedern!“ schrie er. „Aber ich sage Dir nur, wenn ich die Jacke morgen früh nicht habe, so gieb Acht, was Dir geschieht!“ Und er drang, den Korb zu Boden stellend, auf die Zurückweichende ein, als wollte er schon jetzt seine Drohung zur Wahrheit werden lassen. Dabei fiel sein Blick auf die Gestalt im Sol¬ datenkittel, die sich inzwischen furchtsam genähert hatte. „Wer ist der da?“ fragte der Wüthende, indem er die erhobene Hand sinken ließ. „Er ist zur Arbeit her gewiesen“, sagte Tertschka, schwer athmend. Der Aufseher — denn er war es — trat mit der gan¬ zen Wucht seines vierschrötigen Wesens vor den Kleinen hin und musterte ihn von oben bis unten. „Zur Arbeit? Der Kerl kann ja kaum auf den Füßen stehen!“ „Ich hab' einen weiten Weg gemacht“, sagte der Andere schüchtern. „Vom Otterthal herüber.“ „Das ist auch was!“ höhnte der Aufseher, indem er beim Schein des Zwielichtes in den Zettel sah, der ihm mit beben¬ der Hand überreicht wurde. „Huber nennst Du Dich?“ fragte er nach einer Pause, aufblickend. „Ja; Georg Huber.“ „Wie kommst Du zu dem Soldatengewand?“ „Ich bin Urlauber.“ „Was? Du hast beim Militär gedient?“ „Sieben Jahre; im zwölften Regiment. Jetzt aber haben sie mich heimgeschickt, weil ich das böse Fieber nicht loskriegen kann, das ich mir bei der Belagerung von Venedig geholt.“ „So, das Fieber hast Du auch? Was die in der Bau¬ kanzlei für Leute aufnehmen! Lauter Krüppel, die man nur zum Steineklopfen verwenden kann; und da wundern sie sich, daß es nicht vorwärts geht. Aber merk' Dir's, Du“, fügte er mit einer drohenden Handbewegung bei, „wenn Du nicht täglich Deine zwei Fuhren Schotter zu Wege bringst, so jag' ich Dich fort! Hier ist kein Spital.“ Und damit langte er wieder nach dem Korbe, und ging, während die Andern folg¬ ten, in die Hütte, wo er an der Hinterwand eine mit Eisen beschlagene Thüre aufschloß. Diese führte in eine Höhlung, welche mehrere Stufen tief in den Felsen gesprengt war und als Keller benützt wurde. Tertschka leuchtete mit dem Kien¬ spane, den sie von einem weitläufigen Herde genommen und angezündet hatte, voran und die Lebensmittel wurden unter¬ gebracht. Hierauf schloß der Aufseher die Thüre wieder hinter sich ab und zog sich in eine Art Verschlag zurück; die Uebri¬ gen aber streckten sich, unter einander kauderwälschend und ohne ihren neuen Kameraden zu beachten, längs der Seiten¬ wand auf eine Schütte alten Strohes zur Nachtruhe hin. Georg stand noch immer scheu und verlegen unweit des Ein¬ ganges; endlich trat Tertschka an ihn heran. „Geh' schlafen“, sagte sie und deutete mit der Hand nach einer leeren Stelle des gemeinschaftlichen Lagers. Er folgte ihrem Winke, ängst¬ lich bedacht, so wenig Raum als möglich einzunehmen; schob er seinen Quersack unter den Kopf, breitete den abgelegten Kittel gleich einer Decke über sich und schlief mit einem tiefen Seuf¬ zer ein. Tertschka aber zündete noch eine kleine Oellampe an und begann, am Herde niedergekauert, wieder emsig zu nähen. Endlich ließ sie die Nadel sinken und unterzog die Jacke einer genauen Prüfung. Dann blies sie, mit der vollbrachten Arbeit zufrieden, das qualmende Flämmchen aus und legte sich, an¬ gekleidet, wie sie war, in einem Winkel neben dem Herde nieder. — Draußen duftete die blaue Sommernacht, und zur Dach¬ lucke der Hütte herein in den dunklen, vom Athemgeräusch der Schlafenden durchzogenen Raum sahen die zitternden Sterne. Der Morgen dämmerte kaum, als es in der Hütte leben¬ dig wurde und Georg aus dem Schlafe erwachte. Er sah, wie die Männer nach und nach das dürflige Lager verließen, allerlei Werkzeug ergriffen, das rings an den Wänden lehnte, und damit aus der Thüre gingen. Er hatte sich gleichfalls erhoben, war in seinen Kittel geschlüpft und stand unschlüssig und erwartungsvoll da, als sich Tertschka, einen schweren Hammer mit langem Stiel auf der Schulter, ihm näherte. „Der Aufseher schläft noch“, sagte sie. „Aber ich weiß, was Du zu thun hast. Nimm den Hammer dort; wenn Du willst, kannst Du mit mir an die Arbeit gehen.“ Er that, wie sie ihn hieß und trat mit ihr hinaus in die Frühe. Draußen war es kühl und still; nur hier und dort zwitscherte ein Vogel und auf der Wiese lag der helle Thau. Sie gingen schwei¬ gend an das Bahngeleise und längs desselben noch eine Strecke hinauf bis zu einem verödeten Steinbruch, wo sich bereits einige andere Arbeiter eingefunden hatten, während die Uebri¬ gen, mit Karren und Schaufeln ausgerüstet, an der Bahn ver¬ theilt waren. Tertschka schritt mit Georg an den Männern vorüber zu einer höher gelegenen flachen Mulde hinan. „Das ist mein Platz,“ sagte sie, indem sie sich mitten unter Bruch¬ steinen und Geröll auf den Boden niederließ. „Ich bin nicht gern bei denen dort. Sie sind ein wüstes, hämisches Volk. Aber Du kannst bei mir bleiben, wenn es Dir recht ist.“ Er erwiederte nichts und setzte sich still neben sie. „Siehst Du, diese Trümmer müssen in kleine Stücke zerschlagen werden. Das dort,“ setzte sie hinzu und deutete mit der Hand auf einen kleinen Berg von angehäuftem Schotter, „das hab' ich in dieser Woche zu Stande gebracht.“ Er zog einen größeren Kalkstein an sich heran und schlug mit dem Hammer darauf. Der Stein blieb ganz. „Stärker!“ rief Tertschka und führte nun selbst einen Streich, daß die Stücke umherflogen. Er sah sie verwundert an und erprobte noch einmal seine Kraft. Diesmal mit besserem Erfolg, und so begannen die Beiden, ohne mehr ein Wort zu wechseln, ihr Tagwerk. Der Ort, wo sie saßen, erschloß eine prachtvolle Fernsicht über die mäch¬ tigen Hebungen und Senkungen der weithin ausgebreiteten Gebirgsnatur. Hart an der Bahn und in gleicher Höhe mit ihr klebte die Burgruine Klamm wie ein Geiernest an einer bewaldeten Felsenzacke; tief unten in einer engen Thalschlucht, lang gestreckt und mit röthlichen Dächern, lag der Markt Schottwien. Dahinter ragte dunkel der Sonnwendstein auf und von den grünen Matten an seinem Fuße herüber schim¬ merte, mit Bäumen umpflanzt, die freundliche Kirche, „Maria Schutz“ genannt. Aber die Emsigen hatten kein Auge für das herrliche Bild; sie hämmerten und klopften, in dum¬ pfem Eifer tief zur Erde hinab gebeugt. Höher und höher stieg die Sonne und brannte schon heiß und sengend auf ihre Scheitel nieder. Die Schläge Georgs wurden immer schwächer, immer langsamer; endlich ließ er den Hammer sinken, lüftete die Mütze und trocknete sich den Schweiß ab, der in hellen Tropfen über sein Antlitz rann. Auch Tertschka hielt inne. „Bist Du schon müd?“ fragte sie, indem sie ihn theilnehmend ansah. „Weiß Gott, das bin ich“, antwortete er mit tonloser Stimme. „Jetzt spür' ich erst, wie arg mich das Fieber herunter gebracht hat.“ „Wie hast Du auch da herauf kommen können, krank und hinfällig, wie Du bist?“ fuhr sie fort. „Was hätt' ich Anderes thun sollen? Betteln vielleicht? Das vermag ich nicht. Handwerk hab' ich kein's gelernt. Vater und Mutter sind nur früh gestorben, und da hab' ich im Ort die Gänse hüten müssen und später die Kühe — bis in mein achtzehntes Jahr. Denn ich war immer an Kraft zurück und kein Bauer hat mich als Knecht nehmen mögen. Aber den Herren von der Assentirung war ich doch recht. „Im zweiten Glied kann er mitlaufen“, meinten sie und haben mir den weißen Rock angezogen. Und nun hat man mich krank und elend nach Hause geschickt. Eine Zeit lang wurd' ich von der Gemeinde erhalten; dann hieß es; ich solle gehen und Steine klopfen. Nun — und jetzt klopf' ich sie,“ schloß er mit bitterem Lächeln, während er wieder nach dem Ham¬ mer griff. Sie hatte schweigend das Haupt gesenkt. „Aber Du wirst es nicht aushalten“, sagte sie still. „Vielleicht doch; wenn ich nur wieder zu essen habe. Es ist mir recht schlecht gegangen in den letzten Tagen, und seit gestern früh hab' ich nicht einen Bissen über die Lippen ge¬ bracht.“ Sie antwortete nichts und zog langsam ein Stück schwar¬ zen Brodes hervor, das in ihre Schürze gewickelt war, brach es in zwei ungleiche Theile und reichte ihm den größeren hin. „Iß“, sagte sie. Er warf einen scheuen Blick auf das Gebotene. „Das ist Dein Brod“, erwiederte er leise und ablehnend. „Das thut nichts; ich hab' an dem da genug.“ Und da er noch immer keine Miene machte, es zu nehmen, so legte sie es dicht an seiner Seite auf den Boden nieder. „Du wirst auch durstig sein“, fuhr sie fort. „Ich will Dir einen Trunk Wasser holen; dort oben fließt eine Quelle.“ Und damit stand sie auf, bückte sich nach einem Krüglein, das halb zer¬ scherbt zwischen dem Geröll lag, und stieg bis zum Tannicht oberhalb des Steinbruchs hinauf, wo ein dünner Wasserstrahl unter dunklem Moose hervorrieselte. Sie füllte das Krüglein, trank, füllte es wieder und kehrte zurück. Das Brod lag noch immer unberührt neben Georg. Aber das Wasser nahm er. „Ich danke Dir“, sagte er innig, nachdem er getrunken hatte. „Weßhalb? Ich thu's ja gern. — Aber jetzt iß“, fuhr sie, sich wieder setzend, mit sanftem Drängen fort. „Von mir kannst Du's schon nehmen.“ Er langte verschämt nach dem Brode. „Du hast gewiß im Leben auch schon viel Noth gelitten, weil Du so gut bist“, sagte er, indem er, ohne sie anzusehen, ein Stückchen weg¬ brach. — „Ja, das hab' ich. Und ich spür' auch jetzt noch oft genug, wie weh der Hunger thut.“ Es war, als blieb' ihm der Bissen im Halse stecken. „Auch jetzt noch?“ fragte er endlich. „Wird denn die Arbeit gar so schlecht bezahlt?“ „Mir wird sie gar nicht bezahlt.“ „Was? Du bekommst keinen Taglohn?“ „Nein; den behält der Aufseher.“ „Der Aufseher?“ „Er ist mein Stiefvater.“ „Dein Stiefvater —“ wiederholte er, noch immer ganz gedankenlos vor Erstaunen. „Ja; mein rechter ist bei der Arbeit verunglückt, als ich noch ganz klein war; abstürzende Erde hat ihn verschüttet. Dann ist die Mutter bei dem Aufseher geblieben, der damals, wie mein Vater, Teichgräber war und mit ihm in Böhmen umherzog.“ „Also aus Böhmen bist Du? Darum red'st Du auch so fremd und hast einen so seltsamen Namen. Ter — ich kann ihn gar nicht nachsagen.“ „Tertschka“, ergänzte sie. „Deutsch heißt es Therese.“ „Hier zu Lande würden sie Dich Resi nennen. — Aber“, fuhr er fort, „wenn Dein Stiefvater Deinen Lohn behält, so muß er Dir doch zu essen geben.“ „Gerade so viel, daß ich nicht verhungere. Du glaubst nicht, wie geizig er ist. Sich selber läßt er's freilich wohl geschehen, und es vergeht fast kein Tag, an dem er sich nicht betrinkt. Aber den Andern gönnt er das Wasser nicht, wenn sie es ihm nicht bezahlen, und um ihn her könnt' Alles ver¬ hungern, eh' er aus freien Stücken die Hand aufthät'. So muß ich mich mit dem begnügen, was am Herd abfällt, und dabei behält er, wie gesagt, meinen Lohn und obendrein die vierzig Gulden in Silberstücken, die mir meine Mutter hinter¬ lassen hat. Das wäre jedoch Alles das Schlimmste nicht. Aber er ist auch ein boshafter Mensch, der mich oft schlägt. Du hast gestern gesehen, wie er mich wegen der Jacke anließ.“ „Ja, das hab' ich gesehen.“ „Und so war er auch stets mit meiner armen Mutter. Ich laß' mir's nicht nehmen, daß sie die Schwindsucht, an der sie gestorben ist, von einem Schlage bekam, den er ihr einst im Zorn und Rausch vor die Brust versetzt hat.“ Sie schwieg, in traurige Erinnerungen verloren. Endlich sagte Georg: „Wenn Dich Dein Stiefvater gar so übel be¬ handelt, warum bleibst Du bei ihm?“ „Weil ich weiß, daß er mich nicht fort ließe“, antwortete sie nach einer Pause. „Er braucht ein so armes, hilfloses Ding um sich, das er ungestraft quälen und martern kann. Denn er ist im Innersten feig, wenn er auch oft grimmig und wüthend wird. — Und wohin sollt' ich gehen?“ setzte sie mit einem Seufzer hinzu. „Es ist überall nicht gut in der Welt.“ Sie hatte bei diesen Worten wieder ihren Hammer ergriffen; Georg, etwas gestärkt, that desgleichen, und bald waren sie neuerdings in ihre harte Arbeit vertieft. So verrann Stunde um Stunde und die Mittagshitze lagerte sich glühend über Berg und Thal. Weithin regte sich nichts; nur der eintönige Fall der Hämmer war in der Stille zu hören und der Ruf des Spechtes. Von Zeit zu Zeit stimmten die Männer längs der Bahn einen kurzen rauhen Gesang an. Plötzlich ertönte der schrille Laut einer Glocke. „Was ist das?“ fragte Georg, der sah, daß die Andern ihre Werk¬ zeuge hinlegten und auf die Hütte zuschritten. „Der Aufseher hat zum Essen geläutet,“ erwiderte Tertschka. „Zum Essen —“ wiederholte er matt. „Und was giebt es denn bei Euch?“ „Heidegrütze und Kartoffeln. Heute wird auch Schweine¬ fleisch sein; denn das haben sie gestern mitgebracht.“ „Es ist schon lange, daß ich kein Fleisch mehr gegessen habe“, sagte er nachdenklich. „Iß auch heute keins, Du hast das Fieber; es könnte Dir schaden. Denn der Aufseher hat kein Gewissen und nimmt dem Metzger in Schottwien die schlechte, verdorbene Waare ab, und da er's bei der Bauleitung durchgesetzt hat, daß Jeder, was er zum Leben braucht, bei ihm kaufen muß, so schlägt er Alles theuer genug los und hat seinen sündhaf¬ ten Gewinn dabei. Drum kocht er auch selbst; denn er traut Keinem von uns.“ „Er kocht?“ „Ja. Um die Arbeit kümmert er sich wenig und läßt es gehen, wie's geht. Nur zuweilen einmal kommt er nach¬ sehen, und dann flucht und wettert er; freilich am meisten mit Solchen, die nicht den Muth haben, etwas zu erwiedern.“ „Seltsam; aber mit dem Fleisch hat es mir keine Ge¬ fahr“, sagte Georg bitter. „Denn da ich kein Geld habe, kann ich mir auch keines kaufen.“ „Je nun, er würde Dir schon borgen bis Samstag, wo der Lohn ausbezahlt wird. Aber weh' Dir, wenn er Dich einmal auf der Kreide hat! Nicht allein, daß er Dir Alles doppelt anrechnet: er zwingt Dich auch, mit ihm zu zechen und Karten zu spielen, damit er Dich ganz in die Klauen bekommt. Dann siehst Du von dem Deinigen keinen Kreuzer mehr und bleibst ihm verfallen wie die arme Seele dem Teufel.“ Er hatte ängstlich zugehört. „Aber wie stell' ich es an, bis Samstag zu leben“, sagte er kleinlaut. „Heut' ist erst Mittwoch. Wenn ich nichts von ihm auf Borg nehmen darf, so muß ich verhungern.“ Sie hatte sich schon früher am Saume ihres Rockes zu schaffen gemacht und einen kleinen Theil der Naht aufgetrennt. Jetzt zog sie ein zusammengewickeltes Stückchen Papier daraus hervor und entfaltete dasselbe. Es war eines jener Bank¬ notenfragmente, welche damals in Oesterreich unter dem Namen „Viertel“ im Umlaufe waren und die mangelnde Scheidemünze ersetzen mußten. Sie reichte es Georg hin. „Nimm“, sagte sie; „das langt bis Samstag, wenn Du recht sparsam bist. Du kannst es mir allwöchentlich kleinweise von Deinem Lohn zurückgeben.“ Er blickte sprachlos auf das abgegriffene Zettelchen in ihrer Hand. Überraschung, Rührung und verschämte Freude malten sich wundersam in seinem Antlitz. Er war wie betäubt und regte sich nicht. „Es ist mein Einziges“, fuhr sie treuherzig fort. „Unser Ingenieur hat mir's geschenkt, als er im vorigen Monate hier war. Er hatte seinen Mantel in der nächsten Hütte liegen lassen, und den mußt' ich ihm holen. Aber Du thust mir einen Gefallen, wenn Du das Geld nimmst. Ich fürcht' im¬ mer, ich könnt' es verlieren; deshalb hab' ich's auch in meinen Rock eingenäht. Wenn der Aufseher darum wüßte, hätt' er mir's längst abgefordert.“ Und damit legte sie es in seine Hand. „Aber jetzt komm', und laß uns zum Essen gehen. Vergiß nicht, was ich Dir wegen des Fleisches gesagt habe, und begnüg' Dich mit dem Uebrigen. Das Mehl ist zwar auch meistens dumpfig; aber gestern haben sie frische Kartoffeln gebracht. Und Abends kannst Du Dir ein Glas Branntwein gönnen; das wird Dir gut thun.“ Er stand auf und folgte ihr schweigend. Nach einigen Schritten blieb er stehen und blickte ihr tief in die sanften braunen Augen. „Wie soll ich Dir's vergelten, Tertschka“, sprach er mit zitternder Stimme. „So gut und lieb, wie Du, war noch kein Mensch mit mir.“ „Ach was“, erwiederte sie; „man muß sich gegenseitig helfen in der Welt. Und dann — Du bist ja auch gut. Das hab' ich Dir gleich gestern angesehen, als Du kamst.“ Sie hatten die Hütte erreicht. Drinnen umlagerten die Andern, aus schadhaften Näpfen essend, bereits den Herd, an welchem der Aufseher stand, die Aermel aufgekrämpelt und mit vorgebundener Schürze. Er war eben im Begriffe, ein mächtiges Bratenstück anzuschneiden, dessen brenzlicher Duft den Eintretenden entgegenschlug und Georg einen unwillkürlichen Saar , Novellen aus Oesterreich. 10 Seufzer entlockte. Auch die Uebrigen blickten gierig nach dem fetttriefenden Fleische und nahmen der Reihe nach ein Stück davon in Empfang, das sie von der Faust weg verzehrten. Einige legten Geld dafür nieder; bei den Meisten jedoch machte der Aufseher ein Zeichen in ein kleines Büchlein. Georg hatte von Tertschka einen Napf erhalten; damit näherte er sich nun dem Herde. Der Aufseher sah ihn befremdet an. Endlich entsann er sich. „Aha, der Knirps von gestern!“ rief er. „Nun, hast Du etwas gearbeitet?“ „Ja; Steine hab' ich zerschlagen.“ „Und nun hast Du Lust, zu essen. Was willst Du?“ „Ich möcht' Euch um Grütze und Kartoffeln bitten.“ Der Aufseher that ihm das Verlangte in den Napf und nahm das Papier in Empfang, das ihm Georg hinreichte. „Du wirst doch auch ein Stück Braten wollen“, sagte er dann. Das war nun eine gewaltige Versuchung für den Armen. Aber er gedachte der Warnung Tertschka's und erwiederte, während der Andere schon das Messer ansetzte: „Nein; ich esse kein Fleisch.“ „Was? Bist Du ein Knicker? Bei Deinem verhungerten Aussehen solltest Du froh sein, etwas Ordentliches in den Leib zu kriegen.“ „Er hat das Fieber; das fette Fleisch könnt' ihm übel bekommen“, sagte Tertschka hinzutretend; denn sie fühlte, daß es dieser barschen Aufdringlichkeit gegenüber die Willenskraft Georgs zu stützen galt. „Halt Dein Maul!“ schrie der Mann. „Wer hat Dir gesagt, was ihm wohl oder übel bekommt? Misch' Dich nicht in Dinge, die Dich nichts angehen!“ Und zu Georg gewen¬ det, fuhr er fort: „Also willst Du, oder willst Du nicht ?“ Diese Worte klangen wie ein Befehl, das lockende Ge¬ richt nicht zurückzuweisen. Aber der Schüchterne nahm all' seinen Muth zusammen und erwiederte: „Sie hat Recht; ich darf das Fleisch nicht essen.“ „Nun, so laß es sein!“ schrie der Andere giftig, indem er das Messer bei Seite warf. „Bitten werd' ich Dich nicht.“ Und da Georg vor ihm stehen blieb, fragte er: „Auf was wartest Du noch?“ „Ihr sollt mir herausgeben“, antwortete Jener stockend. „Ja, ja, ja!“ rief der Aufseher. „Glaubst Du, ich werde die lumpigen paar Kreuzer behalten?“ Und damit warf er ihm den Rest in Kupfermünze hin und drehte ihm verächtlich den Rücken. Georg, den Napf in der einen Hand, las mit der anderen mühsam die umher rollenden Geldstücke auf; dann setzte er sich in einen Winkel und begann sein karges Mahl zu verzehren, das mittlerweile schon ziemlich kalt geworden war. Er sah dabei, wie der Aufseher eine grünliche Flasche ergriff und einigen Verlangenden Branntwein in ein kleines Glas goß, welches, geleert und wieder gefüllt, von Mund zu 10* Mund wanderte. Er aber vertröstete sich auf den Abend, den Worten Tertschka's gemäß, welche inzwischen, dürftig genug, ebenfalls Mittag gehalten hatte und nun auf einen Wink des Stiefvaters daran ging, das Kochgeschirr zu scheuern. Die Andern lagerten sich draußen im Schatten der Hütte, um den Rest der Ruhestunde zu verschlafen. Der Aufseher jedoch nahm eine kleine Pfanne vom Herde, in welcher sich ein lecker zubereitetes Huhn befand, und stellte sie nebst Teller und Eßzeug und einer Flasche Wein auf den nahen Tisch. Als er sich eben anschicken wollte, behaglich zu schmausen, fiel sein Blick auf Georg, welcher, den leeren Napf zwischen den Knieen, still überlegte, ob er nicht Tertschka beim Scheuern helfen sollte, wovon ihn aber eine geheime Scheu vor dem grimmigen Manne abhielt. „Was sitz'st Du da und gaffst?“ schrie jetzt dieser. „Pack' Dich hinaus zu den Andern! Ich brauch hier keinen Spion, der mir den Bissen vom Maul wegguckt!“ Georg schrack empor, schlich aus der Hütte und legte sich draußen auf den sonnigen Boden nieder, da er im Schatten keinen Platz mehr fand. Nach einer Weile ließ der Aufseher wieder die Glocke zur Arbeit erschallen; er selbst begab sich in seinen Verschlag, um nun auch Siesta zu halten. Die Männer reckten und dehnten sich und folgten nur zögernd dem Rufe; einige drehten sich sogar auf die andere Seite und schliefen fort. Georg aber schritt mit Tertschka wieder zum Steinbruch hinan, wo sie, bis der Abend sank, ihrer harten Pflicht oblagen. Und auch in den Tagen, die nun folgten, saßen sie nebenein¬ ander. Denn die Kräfte Georgs hoben sich wirklich; die bitterste Noth war ja vorüber, zudem schien der frische Hauch der Ge¬ birgsluft heilend auf seinen fiebersiechen Körper zu wirken. Er schwang den Hammer schon ganz rüstig und erzählte dabei der armen Genossin allerlei aus seinen Militärjahren. Es waren freilich keine munteren Abenteuer und kecken Soldaten¬ streiche, was er vorbrachte; bei seinem scheuen und in sich selbst gedrückten Wesen hatte er ja nur die Schattenseiten eines Standes kennen gelernt, der so manchem Anderen den heitersten Genuß des Daseins eröffnet. So konnte er nur berichten von den Leiden der Rekrutenzeit, welche ihm die un¬ erbittliche Corporalsfaust zur Hölle gemacht; von langem Schildwachstehen im Schnee; von beschwerlichen Märschen und nächtlichen Campirungen im Regen und Sturm — und vor Allem, wie er bei der Belagerung Venedigs mit seinem Regimente vor dem Fort Malghera gestanden und dort ihrer Hunderte in der faulen Sumpfluft vom Typhus und von der Cholera hinweg gerafft wurden. Tertschka hörte still zu. Vieles faßte sie nur halb oder gar nicht; denn die Dinge, von denen er sprach, hatten ja stets so fremd, so fern ab von ihr gelegen, und vollends von einer Stadt, die mitten im Wasser erbaut sei, konnte sie sich keinen Begriff machen; wie ihr denn auch bei dem Worte „Meer“ nichts als eine undeutlich schimmernde Wolke vorschwebte. Aber sie fühlte heraus, wie schlecht es Georg all' seiner Tage ergangen sei, und erzählte hinwieder auch, was ihr Trübes und Trauriges aus ihrem trüben, ein¬ förmigen Dasein in der Erinnerung geblieben war. So trö¬ steten sie sich unbewußt gegenseitig und es that ihnen wohl, daß sie jeden Morgen, die Hämmer auf der Schulter, zum Steinbruch hinansteigen und die langen sonnigen Tage neben einander verbringen konnten, wobei sie oft den Ruf der Glocke überhörten oder darob erschracken, weil er sie aus ihrer weh¬ müthig trauten Einsamkeit in die wüste Gemeinschaft der Hütte zurück trieb. — Aber nicht lange sollte die Zeit dauern, wo sich die Bei¬ den in lang erduldeter Noth und still entsagendem Kummer, wie Andere in Lust und Fröhlichkeit und drängender Lebens¬ fülle, immer inniger zusammenfanden. Sei es, daß der Auf¬ seher durch die anderen Arbeiter von ihrem Einvernehmen übelwollende Kunde erhalten; sei es, daß er es mit dem In¬ stinkte der Bosheit von selbst errathen hatte — genug: er stand eines Tages hinter ihnen. „Was hockt Ihr da bei einander wie die Kröten?“ schrie er, während sie erschrocken aufsahen. „Marsch, Du Hungerleider, zu Deinen Kameraden, wo Du hingehörst!“ Und damit streckte er gebieterisch die Hand gegen den unteren Theil des Steinbruches aus. „Und Du, heimtückisches Aas“, wandte er sich zu Tertschka, während Georg betroffen und sprachlos dem Befehl Folge leistete, „mir scheint, Du hältst es mit dem elenden Krüppel da? Wart', das will ich Dir austreiben! Wenn ich Euch noch einmal beisammen seh', so ist der Kerl die längste Zeit hier gewesen, und Du erblickst mir kein Tageslicht mehr!“ — So wurden sie rauh und plötzlich aus einander gerissen. Georg mußte in den nächsten Tagen unten am Bahngeleise arbeiten, und wenn sie um die Mittagsstunde oder nach Son¬ nenuntergang in der Hütte zusammen trafen, so wagten sie kaum sich anzusehen, geschweige nur ein Wort mit einander zu reden. Denn der Aufseher behielt sie scharf im Auge und auch die Andern schienen mit stumpfer Schadenfreude über ihnen zu wachen. Eines Abends jedoch — es war Samstag — hatte sich der Aufseher mit einigen Zechgenossen in die Schenke einer nahen Ortschaft begeben, indeß die Zurückgebliebenen, wie ge¬ wöhnlich, den eben erhaltenen Wochenlohn an ein Spiel Kar¬ ten wagten, dessen beschmutzte Blätter in ihren Händen die Runde machten. Während es dabei immer wüster und lär¬ mender herging, faßte Georg Muth, sich verstohlen Tertschka zu nähern, die in ihrem Schlafwinkel auf einer alten Kiste saß, das Haupt auf die Hände gestützt. „Tertschka“, sagte er leise, indem er ein kleines ledernes Beutelchen aus der Tasche zog, „hier ist das Letzte von dem Gelde, das ich Dir schuldig bin.“ Und dabei legte er sachte einige Kreuzer in ihren Schooß. „Ach, laß' es“, erwiederte sie; „Du wirst es noch brauchen.“ „Wozu sollt' ich's brauchen?“ fuhr er niedergeschlagen fort. „Ich habe keine Freude mehr auf der Welt, seit ich nicht mehr mit Dir arbeiten kann.“ „Ich auch nicht“, sagte sie leise. „Weßhalb er uns nur auseinander gejagt hat?“ begann er nach einer Weile. „Ihm könnt' es doch Eins sein, ob wir beisammen sitzen oder nicht; wenn wir nur unser Tagwerk ordentlich verrichten.“ Sie blickte vor sich hin. „Er ist ein böser Mensch“, sagte sie endlich, „der nicht sehen kann, daß es einem Anderen wohl ist, und Jeden gern um sein Liebstes bringt.“ Tertschka war bei diesen Worten aufgestanden, hatte den Deckel der Kiste zurückgeschlagen und holte jetzt langsam eine wollene Jacke, einen Rock von Kattun und ein Paar schwerer Schuhe hervor. Dann noch ein verschossenes rothes Halstuch und einen alten Rosenkranz mit einem Kreuzlein von Messing daran, welche Gegenstände sie sammt und sonders auf dem wieder herabgelassenen Deckel der Kiste sorglich zurecht legte. „Was thust Du denn da?“ fragte Georg, der ihr zusah. „Ich will morgen nach Schottwien hinunter in die Kirche gehen“, erwiederte sie. „ Er kann's freilich nicht leiden, denn er kennt keinen Herrgott, und hat schon die Mutter immer gescholten, weil sie Sonntags niemals die Messe versäumen wollte und mich immer mit sich nahm. Er weiß mir immer etwas in den Weg zu legen, und ich bin schon zwei Monate nicht mehr von der Hütte weggekommen. Aber morgen geh' ich; er soll sich anstellen, wie er will. Ich mag nicht das Beten ganz verlernen unter dem Volk, das nur an's Trinken und Kartenspielen denkt.“ Georg sah vor sich hin. „Ich bin auch schon lang' in keiner Kirche mehr gewesen“, sagte er. „Wie schön wär' es, wenn ich morgen mit Dir gehen könnte.“ „Ja, es wär' schön; aber es kann nicht sein.“ „Je nun“, fuhr er fort, „der Aufseher müßt' es gerade nicht merken. Wir gingen ein Jedes für sich allein fort und wir fänden uns erst unten wo zusammen.“ Sie dachte nach. „Du hast Recht; so wär' es möglich. Aber Du müßtest lange vor mir aufbrechen. Gleich links von der Hütte führt ein schmaler versteckter Steig in's Thal hinab; unten steht ein hölzernes Kreuz — dort könntest Du mich er¬ warten. Aber jetzt geh',“ setzte sie ängstlich drängend hinzu, „damit die Andern nicht merken, daß wir mit einander ge¬ sprochen haben.“ Und so ging er und suchte das harte Lager auf, wo er mitten unter dem lauten Gezänk der Spielenden in froher Erwartung des kommenden Tages sanft einschlief. — Am andern Morgen funkelte die Welt in hellem Sonnen¬ glanze, als Georg den steilen Fußpfad hinabstieg, welchen ihm Tertschka bezeichnet hatte. Er lugte dabei nach dem Kreuz im Thale aus und gewahrte bald, wie es morsch und windschief aus jungen Fichtenschößlingen hervorsah. Nun hatte er es erreicht und setzte sich, da es noch früh war, auf den be¬ moos'ten Steinblock, der gleichsam als Betschemel davor lag. Tiefes, sonntägliches Schweigen umgab ihn; selbst die Bienen über den Gentianen, die hier in reicher Zahl ihre dunkelblauen Kelche erschlossen, schienen nicht zu summen. Georg kam ein unwillkürliches Lauschen an, und wie er so recht in die Stille hinein horchte, da ward es ihm, als vernähm' er ein leises, feierliches Gewoge von Glockentönen in der Luft. Nach und nach aber stellte sich die Ungeduld des Erwartens ein. Er erhob sich, schritt auf und nieder und pflückte einige Gentianen; auch weiße und gelbe Blumen, die hier und dort wucherten. „Die will ich der Tertschka geben, wenn sie kommt“, sagte er zu sich selbst, indem er auf den unbeabsichtigten Strauß sah, den er nun in der Hand hielt. Dann brach er noch ein lan¬ ges Farrenkraut ab und steckte es an seine Mütze, wo es sich, hin- und herschwankend, gleich einer Schwungfeder ausnahm. Endlich gewahrte er auf der Höhe ein flatterndes Gewand und bald war Tertschka bei ihm, welcher er bis zur Hälfte des Steiges hinauf entgegen geeilt war. „Da bin ich“, sagte sie rasch athmend. „Er hat mich diesmal ohne viel Worte gehen lassen.“ Georg stand vor ihr und sah sie an. Sie hatte heute ihr Kopftuch abgelegt, trug das schlichte Haar frei ge¬ scheitelt und ihr Antlitz wurde von dem verblichenen Roth des Halstuches sanft umleuchtet. Auch die dunkle Jacke, die freilich viel zu weit war, und der helle Kattunrock ließen ihr so übel nicht. „Wie schön Du heut' aussiehst!“ sagte er endlich. Sie schlug erglühend die Augen nieder. „Ich hab' das Alles noch von meiner seligen Mutter“, erwiederte sie, indem sie den bauschenden Rock zurecht drückte. „Ich trag' es so selten und da hält es sich.“ „Da hast Du Blumen“, fuhr Georg fort; „ich hab' sie unterdessen gepflückt.“ Sie nahm den Strauß, den er früher halb hinter sich verborgen hatte, und wollte ihn vor die Brust stecken. Aber er war zu groß und sie behielt ihn in der Hand, um welche sie den Rosenkranz gewunden hatte. So schritten die Beiden durch die grünen Gefilde und an schmalen Aeckern vorüber, wo das Korn be¬ reits geschnitten und aufgehäuft lag, bis sie den Markt Schott¬ wien erreicht hatten. Dort trafen sie Alles in Bewegung. Denn es war eben Kirchtag, und die lange breite Gasse, aus welcher der Ort besteht, wimmelte von festlich gekleideten Menschen und leichtem Fuhrwerk. Vor der Kirche aber hatte man Bretterbuden aufgeschlagen und dort war eine Menge der verschiedenartigsten Dinge bunt neben einander zum Ver¬ kauf ausgelegt. Tücher, Tabakpfeifen, Messer, Glasperlen und Wachskorallen; allerlei Kochgeschirr, Pfefferkuchen und Spiel¬ zeug für Kinder. Sie blieben eine Weile bewundernd vor all diesen Herrlichkeiten stehen und Georg bekam Lust, eine Pfeife zu kaufen. Als er noch Soldat war, hatte er geraucht; spä¬ ter, in seinem Elend, hatte er's aufgeben müssen: nun aber, da er sein Brod erwarb und weder trank noch spielte, wie die Andern, konnte er sich diesen Genuß wohl wieder gönnen. Er theilte seine Absicht Tertschka mit und diese sprach ihm zu, er möge nur Handel eins werden; sie selbst würde unterdessen langsam vorausgehen. „In der Ortskirche sind zu viele Men¬ schen“, sagte sie. „Eine halbe Wegstunde außerhalb des Mark¬ tes liegt eine einsame Kirche; in der bin ich schon ein¬ mal gewesen, und will auch heute wieder hineingehen.“ Sie meinte damit „Maria Schutz“ am Fuße des Sonnwendsteins. Georg drängte sich durch eine Gruppe von Gaffern und Feil¬ schenden und erstand eine hübsche Porcellanpfeife mit bunten Troddeln. Dabei fiel ihm ein funkelnder Schmuck von gelben Glasperlen in die Augen, und er dachte, wie schön sich der am Halse Tertschka's ausnehmen würde. Da der Preis, wel¬ chen der Händler forderte, nicht allzu hoch war, so ließ er sich das Geschmeide in Papier wickeln und steckte es zu sich. Mit den paar Kreuzern, die er auf eine Guldennote herausbekam, kaufte er in der anstoßenden Bude ein großes Herz aus Pfefferkuchen; dann sprang er noch um ein bischen Tabak in den nächsten Kramladen und eilte mit seinen Schätzen der Vorangegangenen nach. Er zeigte ihr zuerst die Pfeife, die ihr wohl gefiel. „Das ist für Dich“, sagte er hierauf und gab ihr das Herz. Es war mit einem farbigen Bildchen ge¬ schmückt, das ein zweites kleines Herz vorstellte, von einem Pfeile durchbohrt; ein Blumengewinde faßte das Ganze ein. Sie betrachtete es still und schob es mit dankendem Lächeln zwischen den Strauß und den Rosenkranz ein. „Ich habe noch etwas für Dich gekauft“, fuhr er nach einer Weile fort, indem er das kleine Päckchen langsam aus der Tasche zog und die Perlen durch die geöffnete Papierhülle blitzen ließ. Sie warf einen Blick darauf. „Wie kannst Du nur so viel Geld für mich ausgeben!“ sagte sie; aber ihre Miene strahlte von froher Ueberraschung und reinster Freude. „Für Dich möcht' ich Alles hingeben“, erwiederte er innig. „Aber nimm es gleich um; es wird Dir gut stehen!“ Sie reichte ihm, was sie in der Hand hatte, und legte dann den Schmuck um ihren Hals. Da er aber etwas eng und rückwärts fest zu machen war, so konnte sie damit nicht recht zu Stande kommen. „Laß das mich thun!“ rief er, gab ihr wieder Alles zurück, drückte, nachdem sie sich umgewendet, ihre braunen Haarflechten sanft empor und schob die beiden Theile der kleinen Schließe in einander. „So!“ sagte er, indem er mit zufrieden prüfendem Blick vor sie hin trat. Dann gingen sie fröhlich weiter und hatten bald die Kirche erreicht, die aus schattigen Linden her¬ vorsah. Sie trafen nur sehr wenige Beter an; ein alter Prie¬ ster mit grämlichen Gesichtszügen war eben zum Altar getreten und begann gleichgültig die Messe zu lesen. Tertschka kniete in der letzten Reihe der Bänke nieder, legte den Strauß und das Herz vor sich hin und faltete die Hände. Georg blieb hinter ihr stehen. Es wurde ihm ganz eigenthümlich zu Muth in dem stillen Raume. Durch die hohen schmalen Bogenfen¬ ster fiel das Licht sanft und mild herein; er hörte das Ge¬ murmel des Priesters, das Klingen des Ministrantenglöckleins und Andacht durchschauerte ihn. Aber beten konnte er nicht: er blickte nur unverwandt auf Tertschka, die vor ihm kniete und mit gesenktem Haupte leicht die Lippen bewegte. Die Messe war bald zu Ende; der Priester gab den Segen und die Anwesenden entfernten sich. Nur Tertschka verweilte noch. Endlich bekreuzte sie sich, stand auf und schritt, während Georg folgte, nach der Thür, wo der Küster bereits ungeduldig die Schlüssel klirren ließ. Draußen leuchtete der goldene Vor¬ mittag und nicht weit von der Kirche entfernt, streckte ein stattliches Wirthshaus einen Busch von Tannenreisern gar ein¬ ladend aus. „Willst Du Dich schon auf den Heimweg machen?“ sagte Georg, da Tertschka wieder schweigend den Weg nach dem Markte einschlug. „Wohin sollten wir denn?“ erwiederte sie und sah empor. „Dort drüben ist ein Wirthshaus. Ich glaube, wir könn¬ ten uns heut' etwas zu Gute thun, Tertschka. Wer weiß, ob wir wieder einmal mit einander gehen.“ „Nun, wenn Du Lust hast“, sagte sie und blieb stehen. „Der Aufseher wird freilich schelten, wenn ich so spät zurück¬ komme. Aber Du hast Recht: wer weiß, ob wir wieder ein¬ mal mit einander gehen.“ Sie schritten also auf das Haus zu, vor welchem sich ein sanfter Hügel erhob. Dort wurzelte eine alte, riesige Buche und breitete ihre Aeste über einer Anzahl roh behauener Tische und Bänke aus. Aber Niemand saß daran. Es war ganz still und einsam hier; nur drinnen schien sich geschäftiges Leben zu regen. Endlich sah der Wirth aus der Thüre, in schneeweißen Hemdärmeln, ein grünes Sammtmützchen auf dem Kopfe. Er trat, die ungewohnten Gäste von der Seite an¬ blickend, heraus und brachte auf das Begehren Georgs Wein in einem großen Henkelglase, Brod und Fleisch. Das setzte er ihnen auf den Tisch, an welchem sie sich niedergelassen hatten, verlangte gleich die Bezahlung und eilte wieder in's Haus zurück. Georg schob Tertschka den Teller zu und diese zerlegte nun das Fleisch in kleine Stücke. Dann brachen sie das Brod und begannen gemeinschaftlich zu essen, wobei sich Tertschka, da der Wirth nur für Einen gesorgt hatte, des Messers als Gabel bediente. Auch den Wein genossen sie zu¬ sammen, nach einander das Glas zum Munde führend. Nach beendetem Mahle brannte Georg seine Pfeife an und sah wohlgemuth dem Rauche nach, der sich leicht und bläulich in die sonnige Luft hinein kräuselte. „Schau, Tertschka“, sagte er, indem er seine Hand auf die ihre legte, „das hätten wir uns gestern früh nicht träumen lassen, daß wir heute so fröh¬ lich bei einander sitzen würden.“ „Ja“, erwiederte sie; „ich hätt' es nicht verhofft.“ Inzwischen war der Mittag heran gerückt und mit einem Male ertönten in der Ferne lustige Klänge von Hörnern und Clarinetten. Gleich darauf stürzte der Wirth aus der Thüre. „Die Hochzeiter sind da!“ rief er dem nachfolgenden Gesinde zu. „Sputet euch! die Tische sollten schon gedeckt sein.“ Der Befehl wurde rasch ausgeführt, und es war auch hohe Zeit; denn schon kam, von der lärmenden Ortsjugend umsprungen, ein stattlicher Zug in Sicht. Spielleute voran; dann ein jugendliches Brautpaar; hintendrein die ganze Sippschaft, zahl¬ reiche Hochzeitsgäste und ein Rudel Neugieriger. Im Nu waren die Tische besetzt und umlagert, und nun ging es an ein Schmausen, Trinken und Jubiliren, und die Musikanten, die auch Streichinstrumente mitgebracht hatten, fiedelten und bliesen dazu, daß ihnen fast der Odem ausging. Es waren seltsam wechselnde Empfindungen, die unser Paar inmitten die¬ ser lauten Lustbarkeit überkamen. Zuerst hatten sie erstaunt in das bunte Gewirr hineingeblickt; dann aber konnte Tertschka das Auge nicht mehr von der Braut abwenden. Die sah auch gar schön aus und mußte eine reiche Bauerstochter gewesen sein. Sie trug ein knappes Mieder von schwarzem Sammt, das ihren schlanken Wuchs deutlich hervortreten ließ; ein Kett¬ lein von eitel Gold war fünf- oder sechsmal um ihren Hals geschlungen und das hohe Myrtenkränzlein in dem blonden, hinten in zwei langen Zöpfen herabfallenden Haar stand ihr zu dem etwas stolzen und strengen Gesichte wie eine kleine Krone. Auch der Bräutigam war ein stattlicher Junge, dem gegen Bauernsitte ein Bärtchen auf der Oberlippe dunkelte und dessen schmucker, mit Gemsbart und Feder gezierter Jägerhut wohl im Stande war, die Bewunderung Georgs auf sich zu lenken. Nach und nach aber beschlich die Beiden ein banges, drücken¬ des Gefühl der Verlassenheit unter den vielen Menschen, davon gar Manche sie mit scheelen Blicken musterten, als wollten sie fragen: „was haben die hier zu schaffen?“ Endlich wandte sich Tertschka an Georg. „Komm, laß uns fortgehen. Wir taugen nicht unter die Leute. Wir wollen uns drüben am Waldrand niedersetzen. Dort können wir Alles von Weitem mit ansehen und der Musik zuhören.“ Er war es zufrieden und so schritten sie dem dunklen Fichtenwald entgegen, dessen Saum die helle Wiese begrenzte. Auf einem kleinen Abhange ließen sie sich nieder und lauschten den Klängen, die, lieblich gedämpft, zu ihnen hinüberzogen. Mit einem Male ward es still; sie sahen, wie drüben Alles von den Tischen aufstand und einen Halbkreis bildete. Gleich darauf begannen wieder die Geigen zu schwirren. „Die Brautleute tanzen!“ rief Tertschka. Und wirklich war es so. In gehaltenem Tempo und mit zierlichen Wen¬ dungen bewegten sich die hohen schlanken Gestalten auf dem grünen Plan. „Wie lustig sie sich dreh'n!“ fuhr Tertschka fort, indem sie sich unbewußt an die Schulter Georgs lehnte. „Schau nur!“ Saar , Novellen aus Oesterreich. 11 „Ja, es sind glückliche Leute“, sprach er, ohne hin zu sehen, wie im Traum. — „Wenn wir nur auch einmal Hoch¬ zeit haben könnten.“ „Ach geh',“ sagte sie leise und langte nach einer rothen Blume, die zu ihren Füßen blühte. „Resi“, fuhr er fort — es war das erste Mal, daß er sie so nannte — und legte seinen Arm scheu und bebend um ihren Leib, „Resi — ich hab' Dich so lieb!“ Sie erwiederte nichts; aber in dem Blicke, den sie zu ihm aufschlug, lag es für ihn wie ein wogendes Meer von Glück. Und als jetzt drüben die Geigen lauter jubelten und das Brautpaar, durch allseitiges Rufen und Händeklatschen angefeuert, sich im stürmischen Wirbel dahin schwang: da zog er sie fest an's Herz und ihre Lippen schlossen sich zu einem langen, tiefen Kusse zusammen. — Soll ich, der ich diese einfache Geschichte wahrheitsgetreu zu erzählen mir vorgesetzt, nun auch die Seligkeit zu schildern versuchen, welche die Beiden von jetzt an überkommen hatte? Ich glaube, daß ich darauf verzichten darf; und zwar nicht blos deshalb, weil keine Worte zu dem Gefühl hinanreichen, das ihnen mit einem Male den vollen Lichtglanz, den über¬ schwänglichen Reichthum des Daseins erschlossen hatte; sondern auch, weil wohl Jeder den Zauber der Liebe an sich selbst erfahren hat und so im Stande ist, sich das Glück Georgs und Tertschkas nach seinem eigenen Herzen auszumalen. Frei¬ lich mußten sie dieses Glück scheu und ängstlich geheim halten wie ein Verbrechen; aber es lebte und blühte desto schöner in der Tiefe ihres Inneren fort und bei der angeborenen und lang geübten Begnügsamkeit ihres Wesens waren sie zufrieden, wenn sie sich des Morgens, Mittags und Abends verstohlen entgegen lächeln oder zu einem flüchtigen Händedruck an einander vor¬ überstreifen konnten. Auch schien es, als ob der Aufseher immer weniger auf sie achte, daher sich ihre Besorgniß, er könnte vielleicht doch von ihrem gemeinsamen Gange nach Schottwien Kenntniß oder Vermuthung haben, mehr und mehr verlor. Ja, Georg wagte sich sogar, wenn er, um Schotter zu holen, mit seinem Schiebkarren nach dem Steinbruch mußte, manchmal rasch zu Tertschka hinauf, wo dann den Liebenden in einer kurzen Umarmung die Welt versank. In einem sol¬ chen Augenblick jedoch erschallten plötzlich nahende Tritte und als sie erschrocken aus einander fuhren, sahen sie den Aufseher, der mit hohn- und wuthverzerrtem Antlitz hinter ihnen stand. „Hab' ich Euch, Ihr Racker!“ schrie er. „So befolgt Ihr mein Gebot und meint, ich merke Euer Treiben nicht! Ich wußte recht gut, daß Ihr letzthin den ganzen Sonntag mit einander herumgezogen seid; aber ich wollt' Euch auf frischer That ertappen, und jetzt sollt Ihr mir's büßen!“ Und damit 11* ergriff er Georg rückwärts beim Halse und schleuderte ihn ein paar Schritte weit zu Boden, daß Sand und Geröll auf¬ stob. „Fahr' Deinen Schotter hinab, Du Galgenstrick, und dann schnürst Du Deinen Bündel und gehst! Wenn Du mir noch einmal unter die Augen kommst, so schlag' ich Dich krumm und lahm!‛ Bei diesen Worten stieß er den mühsam sich Aufrichtenden zu dem Schiebkarren und trieb ihn mit drohend geschwungener Faust den Abhang hinunter. Hierauf kehrte er zu Tertschka zurück und betrachtete sie lange mit einem bösen, grausamen Blicke. „Mit Dir“, sagte er endlich, „werd' ich später reden.“ Und er ging, unverständliche Worte in sich hinein murmelnd. Betäubt, seiner Sinne beraubt, war Georg bei seinen Genossen angelangt. Er hatte mechanisch den Schiebkarren ausgeleert; dann setzte er sich auf einen Stein und blickte ge¬ dankenlos in's Weite hinaus. Der Himmel war am Morgen schon leicht umwölkt gewesen; nun hatte sich ein trüber, grauer Tag zu¬ sammen gezogen. Herbstlicher Windhauch strich leise durch die Wipfel der Tannen und ein feiner kalter Regen fiel auf die Erde. Aber Georg empfand die Tropfen nicht, die scharf in sein Antlitz schlugen. Feurige Funken tanzten vor seinen Augen und ein heißer Schauer durchrieselte die Leere seiner Brust. Nach und nach jedoch drängte sich das Bewußtsein der erlitte¬ nen Schmach immer mächtiger in ihm hervor und mischte sich mit dem brennenden Gefühl des Unrechtes, das man an ihm und Tertschka zu begehrn im Begriffe stand. Fortjagen wollte man ihn und sie auseinander reißen, die so tief und innig verbunden waren? Wer durfte das? Niemand! Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr empörte sich seine sonst so verschüchterte und duldende Seele und eine hehre Kraft, ein heiliger Muth loh'ten darin auf, jeder Macht der Erde entgegen zu treten, die sich solcher Gewaltthat unterfinge. Seine unscheinbaren Züge nahmen allmälig den Ausdruck fester Entschlossenheit an und seine lichten Augen funkelten wunder¬ sam. Endlich erhob er sich und schritt, während ihm die An¬ dern verwundert nachsahen, zu Tertschka empor. Die saß da und weinte. „Weine nicht, Resi“, sagte er und seine Stimme klang ernst und tief. Sie antwortete nicht. Er hob ihr sanft das Haupt empor. Sie schluchzte noch lauter. „Weine nicht“, wiederholte er. „Es hat Alles so kom¬ men müssen. Aber es ist gut; wir wissen nun, was wir zu thun haben.“ Sie sah vor sich hin. „Er hat mich fortgejagt; ich muß gehen — und Du gehst mit mir.“ Es war, als hörte sie ihn nicht. „Unten in Krain bauen sie die Eisenbahn weiter“, fuhr er fort. „Dort finden wir Arbeit.“ Sie schüttelte langsam das Haupt. „Du willst nicht Resi? Und sieh', noch Eins. Ich hab' einmal gehört, daß ausgediente Soldaten, die im Krieg waren, Bahnwächter werden können. Ich laß' mir ein Gesuch schrei¬ ben; vielleicht glückt es mir und wir bekommen dann eines von den kleinen Häusern, wie sie unten am Geleise stehen, und können darin leben als Mann und Frau. — Und wenn es damit nichts ist“, setzte er rasch hinzu, da sie noch immer kein Zeichen der Beistimmung gab, sondern nur heftiger weinte, „wenn es damit nichts ist, so muß es auch recht sein. Wir wollen ein paar Jahre fleißig arbeiten und sparen, so viel wir können — Aber so sprich doch ein Wort, Resi!“ „Ach“, jammerte sie, „was Du da sagst, ist Alles schön und gut; aber Du bedenkst Ein's nicht: daß mich der Auf¬ seher nicht fortläßt.“ „Er muß Dich fortlassen. Du bist kein Kind mehr. Auch hat er sonst nichts mit Dir zu schaffen. Du bist eine Arbeiterin, wie jede andere, und kannst gehen, wann und wo¬ hin Du willst.“ „Glaub' mir, er läßt mich nicht gehen — und mit Dir schon gar nicht! — Ich hab' Dir's bis jetzt verschwie¬ gen“, fuhr sie nach einer Pause fort, während sich ihr Antlitz mit dunkler Röthe überzog, „aber nun muß ich Dir's sagen. Schon zur Zeit, da die Mutter noch lebte, wollte er oft zärt¬ lich mit mir thun; aber ich wich ihm aus und drohte, ich würd' es der Mutter klagen. Im vorigen Somrner jedoch kam er eines Abends allein aus dem Wirthshaus zurück und fing wieder an und sagte, er würde mich heirathen. Und da ich ihm kein Gehör gab, wollt' er Gewalt brauchen. Ich aber hab' mich seiner erwehrt und hab' ihm gesagt, was ich von ihm denke. Seitdem haßt er mich bis auf's Blut und rächt sich, wie er kann.“ Georg war bis in die Lippen hinein bleich geworden und seine Brust rang mühsam nach Athem. „Der Elende!“ stieß er endlich hervor. „Und bei dem solltest Du bleiben? Jetzt, da ich das weiß, noch weniger! Du ziehst mit mir, und er soll sehen, wie er's verhindern kann.“ „Trau' ihm nicht“, rief sie ängstlich. „Er ist im Stande Einen zu morden, der schwächer ist, als er,“ „Ich fürcht' ihn nicht“, erwiederte Georg und seine kleine Gestalt reckte sich scheinbar weit über ihr Maaß hinaus. „Er hat mich früher von hinten angefallen und ich war nicht dar¬ auf gefaßt. Aber er soll mir noch einmal kommen!“ „Jesus!“ klagte sie und rang die Hände; „ich könnt' es nicht sehen, daß Ihr aneinander geriethet.“ „Nun, es wird so arg nicht werden“, versetzte er, seine Erregung niederkämpfend. „Wir wollen zu ihm — jetzt gleich — und ihm ruhig und gemessen unseren Entschluß mittheilen. Du wirst sehen, daß er nichts erwiedert. Denn so schlecht, so niederträchtig er auch ist: erkennen muß er, daß er kein Recht und keine Macht hat, Dich zu halten.“ Sie rang noch immer verzweifelt die Hände. „Fasse Muth, Resi“, sagte er ernst. „Willst Du mich allein ziehen lassen?“ Sie flog ihm an die Brust und klammerte sich an seinem Halse fest. „Nun also“ fuhr er fort und strich ihr sanft das Haar aus der Stirne, „gehen wir.“ Und sie schritten langsam auf die Hütte zu: sie die Brust voll Bangen und Zagen vor den Dingen, die sie kommen sah; er unerschütterliche Kraft und Zuversicht im Herzen. — Als sie über die Schwelle traten, saß der Aufseher mit einem Messer in der Hand am Tische und schälte Kartoffeln. Er blickte etwas betroffen auf das Paar; aber seine Ueber¬ raschung schlug allsogleich in Zorn und Wuth um. „Was wollt Ihr Zwei da?“ schrie er, indem er sich halb erhob und den Griff des Messers wie kampfbereit auf den Tisch stützte. „Ihr habt mir die Arbeit gekündigt“, erwiederte Georg in ruhigem Tone. „Ich komme, um meine Sachen zu holen und Euch zu sagen, daß die Tertschka mit mir geht.“ Der Aufseher machte eine Bewegung, als wollte er auf ihn zustürzen; jedoch er fühlte sich durch die ernste, sichere Miene, mit welcher Georg vor ihm stand, wider Willen eingeschüchtert. „Darauf geb' ich gar keine Antwort“, knirschte er endlich. „Ihr braucht auch keine zu geben. Tertschka ist frei und ledig, und kann thun was sie will.“ Der Aufseher keuchte. „Nimm, was Dir gehört, Resi;“ fuhr Georg fort, indem er sich wandte, um seinen Quersack zu suchen, „und dann komm'.“ In der Brust des Anderen arbeitete es heftig. Er wußte augenscheinlich nicht, was er beginnen sollte. Aber in dieser Unentschlossenheit warf er einen Blick nach Tertschka, welche ihre Seelenangst nicht verbergen konnte. Und als sie jetzt auf die Kiste zuschritt, sprang er auf sie los und stieß die Ent¬ setzte in den Keller hinab, dessen Thüre halb offen stand. Dann schloß er dieselbe und steckte den Schlüssel in die Tasche. „So, das ist meine Antwort“, stammelte er, vor Aufregung am ganzen Leibe zitternd, während er sich wieder am Tische niederließ und mit erzwungener Ruhe seine Beschäftigung fort¬ zusetzen begann. Das war so rasch, so unvermuthet geschehen, daß es Georg nicht hatte verhindern können. Er faßte sich daher, hängte ohne jedes Zeichen der Eile seinen Sack über die Schulter und näherte sich mit langsamen Schritten dem Aufseher. „Laßt die Tertschka heraus“, sagte er ruhig. Der Aufseher schälte Kartoffeln. „Laßt die Tertschka heraus.“ Die Hände des Aufsehers zitterten. Und als Georg zum dritten Male, jedoch eindringlicher, seine Forderung wie¬ derholte, sprang er auf und ballte die Faust. „Geh' jetzt — geh'!“ rief er, „sonst — —“ „Was — sonst?“ erwiederte Georg gelassen. „Ich fürcht' Euch nicht, wenn Ihr auch stärker seid. Vorhin hattet Ihr leichtes Spiel mit mir; denn ich war wehrlos, wie jetzt die Tertschka. Aber Aug' in Aug' steh' ich Euch!“ Das Antlitz des Aufsehers war gräßlich anzusehen. Haß, Rachsucht und lähmende Feigheit wogten darin auf und nieder. Er rang nach Luft und seine Hände griffen unsicher vor sich hin. Georg gewahrte das Alles und seine Brust stählte sich mehr und mehr. „Drum rath' ich Euch“, fuhr er fort, „gebt gutwillig heraus, was mein ist; sonst nehm' ich mir's mit Gewalt.“ Während dieser Worte hatten sich einige Männer in der Hütte eingefunden; denn die Mittagsstunde nahte heran. Viel¬ leicht wollten sie auch, getrieben von dem Instinkte der Men¬ schen, derlei Vorgänge zu ahnen, Zeugen dieses Auftrittes sein. Ihre Anwesenheit wirkte stachelnd auf den Aufseher. Er fühlte sich sicherer, und seine Feigheit, die er selbst mit Wuth empfand, bäumte sich aus Furcht, von Anderen bemerkt zu werden, zu frecher Verwegenheit empor. „Habt Ihr gehört?“ rief er, gegen die Männer gewendet, „der Kerl wagt es, mir zu drohen, weil ich das schlechte Weibsbild, die Tertschka, ein¬ gesperrt hab', daß sie nicht mit ihm davon läuft.“ „Beschimpft uns nicht!“ rief Georg, dessen Blut unwill¬ kürlich höher aufwallte. „Wir sind zwei ehrliche Leute. Ihr habt kein Recht, die Tertschka einzusperren, wenn sie auch schlecht wär'.“ „Was? kein Recht hätt' ich?! Sie ist mein Stiefkind und bei mir aufgewachsen!“ „Leider Gottes! Mehr sag' ich nicht; ich will Euch schonen vor diesen da.“ Und dabei deutete er nach den Män¬ nern, die mit stumpfem Behagen dem wachsenden Streite zusahen. „Hört ihr den Hund? Schonen will er mich! Packt ihn und werft ihn hinaus!“ Die Männer blickten einander unschlüssig an; aber sie regten sich nicht. Hinter der Kellerthüre war lautes Aechzen vernehmbar. „Seht Ihr?“ fuhr Georg in steigender Erregung fort; „es fällt Keinem ein, mich anzurühren. Drum sag' ich Euch zum letzten Male: gebt die Tertschka frei, — oder ich nehm' den Hammer dort. Zwei Schläge damit, und die Thür' geht in Trümmer!“ „Was? die Thür' willst Du mir einschlagen? Du Räu¬ ber! Du Dieb! Hinaus! Sonst laß' ich die Gendarmen holen!“ „Laßt sie holen!“ rief Georg flammend. „Dann wird sich zeigen, wer im Recht ist! Dann wird sich zeigen, warum Ihr die Tertschka eingeschlossen habt! Dann wird zu Tage kommen, wie Ihr sie von klein auf mißhandelt, wie Ihr der Armen schändlich nachgestellt und ihr den sauer verdienten Taglohn und das Erbtheil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewissen brennt, vorenthalten habt! Dann wird zu Tage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehr¬ losen umgeht und wie Ihr Euch mästet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!“ — Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieser An¬ klagen hatten bei dem Aufseher das Maaß zu Rande und ihn selbst um alle Besinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, schäu¬ menden Mundes, die Augen weit vorgequollen — so stürzte er sich mit hochgeschwungenem Messer auf Georg. Dieser aber hatte den Hammer erfaßt und schwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufseher, vor die Brust getroffen, wankte — und taumelte, während sich ein Schwall dunklen Blutes aus seinem Munde ergoß, röchelnd zu Boden. Einen Augenblick herrschte lautlose Stille; stummes, ödes Grausen hatte die Anwesenden ergriffen, Georg aber stand da, wie David an der Leiche Goliaths. „Resi! Resi!“ rief er jetzt, indem er mit raschen Schlägen das Thürschloß auf¬ sprengte, „komm heraus, Resi! Du bist frei; unser Peiniger liegt zu Boden!“ „Jesus Maria!“ schrie sie, hervoreilend, und schlug mit einem Blick auf den Getroffenen die Hände zusammen. „Er ist todt! Georg! Georg! Was hast Du gethan! Jetzt wird man Dich fortführen und als Mörder vor's Gericht stellen!“ „Das soll man! Ich werde Red' und Antwort geben. Die dort müssen es bezeugen, daß er mir mit dem Messer an's Leben wollte. — Geht hinunter“, wandte er sich an die Männer, „und meldet, daß der Arbeiter Georg Huber den Aufseher erschlagen hat.“ Es dauerte lange, bis sich Einer dazu entschloß. Georg aber setzte sich mit Tertschka draußen vor der Hütte nieder. Sie weinte in einem fort; er, noch immer gehoben von dem Vollgefühle seiner That, die ihm ein vollstrecktes Richteramt erschien, streichelte ihr von Zeit zu Zeit sanft tröstend die Wangen. Endlich erschienen zwei Herren von der Bauleitung und ein Gendarm. Sie ließen sich Alles erzählen und sprachen dann eifrig unter einander. „Eingeliefert muß er werden“, sagte der Gendarm. „Er ist Urlauber und gehört vor das Militärgericht in Wiener-Neustadt.“ Da sich Georg willig und fügsam erwies, so wurde ihm mitgetheilt, daß man ihm keine Fesseln anlegen wolle; zu der jammernden Tertschka aber sprach der Gendarm, sie möge sich trösten; nach Allem, was er gehört, dürfte es so schlimm nicht werden. Ja, er gestattete ihr sogar, sich mit auf den Vorspannswagen zu setzen, der ihn und Georg später nach Wiener-Neustadt brachte — und so fuhren sie in den sinkenden Abend hinein und in die dunkelnde Nacht, während man oben die Leiche fortschaffte und ein end¬ loser Regen vom Himmel niederströmte. Ein sogenanntes Garnisons-Stockhaus, freundlicher Leser, ist ein Gefängniß wie jedes andere, nur mit dem Unterschiede, daß Diejenigen, welche sich darin befinden, alte, schadhafte Uniformen auf dem Leibe tragen. Man findet dort Soldaten von allen Farben und Abzeichen, und da sie sich sammt und sonders als Glieder eines Standes fühlen, so herrscht unter ihnen mehr Eintracht, als dies anders wo der Fall zu sein pflegt; wie denn auch bei dem Völklein eine gewisse, durch Aufrechthaltung der verschiedenen Rangsunterschiede bedingte Zucht und Ordnung nicht zu verkennen ist. Trotzdem bleibt ein solches Stockhaus immerhin ein gar wüster, trübseliger Ort, und es darf uns nicht Wunder nehmen, daß es Georg in jenem zu Wiener-Neustadt nicht allzu wohl um's Herz ward. Ein mürrischer Profoß, von einer Wache begleitet, hatte ihn bei später Nacht in dem dunklen, stark bevölkerten Raum ein¬ geschlossen, wo er sich, da für ihn noch kein Strohsack in Bereitschaft war, neben geräuschvoll athmenden Schläfern auf das blanke Holzlager hinstreckte. Aber schlafen konnte er nicht. Der gehobene Muth, die beschwingende Zuversicht, welche ihn erfüllt hatten, waren schon während der langen traurigen Fahrt einigermaßen in's Sinken gerathen; nun schlichen bange Zwei¬ fel und scheue Vorwürfe an ihn heran. Und als endlich ein bleicher Lichtschein durch die verschalten Fenster dämmerte, nach und nach die kahlen, schmutzigen Wände und die unerfreulichen Gesichter seiner Mitgefangenen beleuchtend: da fiel ihm die Erkenntniß seiner Lage immer deutlicher, immer schwerer auf die Seele. Nicht, daß er etwa die Folgen seiner That allzusehr gefürchtet hätte; war er doch angegriffen worden und hatte sich seines Lebens wehren müssen; aber er sah im Geiste das Bild des Erschlagenen vor sich, sah ihn bleich und regungslos im Blute liegen, und in seinem weichen, wohlempfindenden Gemüthe mischten sich jetzt mit dem schaudernden Bewußtsein, einen Menschen getödtet zu haben, Reue und Mitleid und ließen ihn tief beklagen, das Alles so habe kommen müssen. Dieser unfreie und gedankenvolle Zustand wurde noch dadurch gesteigert, daß Tage um Tage, Wochen um Wochen vergingen, ohne daß man Georg in's Verhör genommen oder sonst sich um ihn gekümmert hätte. Denn nun stellte sich auch die Sorge ein, wie sich die nächste Zukunft gestalten würde, und quälte ihn umsomehr, als er über das Schicksal Tertschka's, nach welcher er eine schmerzliche Sehnsucht empfand, in völliger Ungewißheit war. Das arme Geschöpf hatte wohl durch Vermittlung des wackeren Gendarmen ein Nachtlager und gleich in den nächsten Tagen beim Neubau eines Hauses Ar¬ beit gefunden; aber in ihrem Inneren sah es trostlos aus. Keiner von Denen, die an dem Baugerüste vorübergingen, und zufällig bemerkten, wie sie Backsteine oder mit Mörtel gefüllte Kübel hinanschleppte, hätte gedacht, mit welch' tiefem Gram und Herzeleid sie das Alles verrichtete. Abends jedoch, wenn die Arbeit eingestellt wurde, und an Sonn- und Feier¬ tagen umkreis'te sie scheu die Kaserne, in welcher sich das Stockhaus befand, und spähte zu jedem vergitterten und ge¬ blendeten Fenster empor, ob sie nicht irgendwo das Antlitz Georgs entdecken könne; so zwar, daß sie mehrmals von den Schildwachen hart angelassen und fortgescheucht wurde. In ihrer Noth wandte sie sich endlich an die Soldaten der Thor¬ wache, und bat sie, ihr zu sagen, wo sich der Gefangene Georg Huber befände; sie möchte gern mit ihm reden. Da bekam sie denn freilich nur rohes Gelächter und unziemliche Späße zu hören, bis sich endlich ein gutmüthig aussehender Unteroffizier ihrer erbarmte, indem er sich bereit erklärte, be¬ sagten Gefangenen ausfindig zu machen und demselben ihre Grüße zu bestellen; ihn zu sehen und mit ihm zu reden, könne ihr jedoch nicht verstattet werden; es wäre denn, daß sie vom Au¬ ditor hiezu die Erlaubniß bekäme. Den solle sie aufsuchen; aber sie müsse schon am Morgen zu ihm gehen; denn tagüber sei der Herr selten zu Hause anzutreffen. So suchte sie denn früh am nächsten Sonntage ihre wollene Jacke und den Kattun¬ rock hervor und begab sich, damit angethan, nach dem Hause, welches ihr der Unteroffizier bezeichnet hatte. Dort mußte sie eine lange Zeit im Flur warten; denn sie erhielt den Bescheid, der Herr Auditor schlafe noch. Endlich trat dieser, bereits völlig angekleidet, aus der Thüre und fragte sehr eilig, was sie wolle. Er ließ sie nicht ausreden und sagte, die Erlaubniß, mit den Arrestanten zu sprechen, könne nur in den seltensten Ausnahmsfällen ertheilt werden; sie solle sich übrigens beru¬ higen, denn die ganze Angelegenheit würde in Bälde ausge¬ tragen sein. Wenig getröstet ging sie wieder; und wirklich verstrich abermals Woche um Woche, ohne daß über Georg irgend eine Entscheidung erfolgt wäre. Denn, um es nur zu sagen, der Auditor war ein lebenslustiger junger Mann, dem die Schönen der Stadt näher am Herzen lagen, als seine Gerichts¬ acten, zumal Verhandlungen, welche beurlaubte Soldaten be¬ trafen und also in dienstlicher Hinsicht nicht so dringend waren, schob er gerne auf die lange Bank. In ihrer nunmehr ge¬ steigerten Sorge trachtete Tertschka wieder ihren Vertrauten aufzufinden, und dieser meinte, daß ihr jetzt nichts Anderes übrig bliebe, als sich an den Obersten des Platzkommandos zu wenden. Der sei zwar ein etwas ernster und strenger Herr; aber er habe schon vielen Menschen geholfen. Sie ent¬ schloß sich also auch dazu und mußte, ehe sie vorkam, wieder lange warten. Jedoch diesmal nicht im Flur, sondern in einem Saar , Novellen aus Oesterreich. 12 warmen Vorgemach; was ihr um so wohler that, als der Winter bereits in's Land gerückt war, Endlich hörte sie ein Geklirr von Säbeln; einige Offiziere traten aus den Ge¬ mächern des Obersten und gingen, wie es schien, etwas nieder¬ geschlagen fort. Nach einer Weile öffnete sich wieder die Thüre; ein stattlicher Herr mit leicht ergrautem Schnurrbart blickte heraus und fragte ziemlich barsch nach ihrem Begehren. Da sie aber gleich zu weinen anfing, wurde sein Antlitz mil¬ der; er hieß sie eintreten und hörte, nachdem er sich gesetzt hatte, schweigend an, was sie vorbrachte. Dann stellte er einige Fragen an sie und forderte sie endlich auf, den ganzen Hergang zu erzählen. Das that sie nun; freilich gar schlicht und unbeholfen; aber dabei so wahr, warm und innig, daß der Oberst, der dabei öfter seinen Schnurrbart leicht empor strich, sichtlich ergriffen wurde. Nachdem sie geendet hatte, stand er auf, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sagte, sie möge getrost von hinnen gehen. Er gäbe ihr sein Wort, daß nunmehr die ganze Angelegenheit in kürzester Frist und, wie er hoffe, zu Georgs Gunsten erledigt sein werde. Freien und gehobenen Herzens entfernte sie sich; der Oberst jedoch ging noch eine Weile sinnend im Gemache auf und nie¬ der, wobei er von Zeit zu Zeit die Sporen leise an einander schlug. Endlich ließ er durch eine Ordonnanz den Auditor zu sich bescheiden. Er mußte ziemlich lange warten, bis der junge Mann, ganz erhitzt, mit einer raschen Verbeugung herein trat. „Herr Auditor“, begann der Oberst, „es ist vor ungefähr vier Monaten ein Urlauber, Namens Georg Huber, behufs kriegsrechtlicher Untersuchung hier eingeliefert worden.“ Der Auditor fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Stirne. „Georg Huber — ja, ja, ganz recht. Es handelt sich, wie ich glaube, um einen Todtschlag —“ „Allerdings; darum handelt es sich. Und ich wünschte, die Untersuchung beendet zu sehen.“ „O nichts leichter, als das“, fuhr der Andere aufath¬ mend fort. „Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte, wie sie unter solchen Leuten nur zu oft vorkommt. Man läßt den Mann ein paarmal durch die Gasse laufen, und die Sache ist abgethan.“ „Nicht doch, Verehrtester“, erwiederte der Oberst. „Das wäre ein höchst oberflächliches, gewaltsames Verfahren. Es liegt mir im Gegentheile daran, daß diese Angelegenheit, wenn gleich möglichst rasch, so doch ohne jede Ueberstürzung mit größter Umsicht und Sorgfalt geprüft und verhandelt werde. Denn ich erlaube mir, ohne damit Ihrer richterlichen Einsicht vor¬ greifen zu wollen, die Bemerkung, daß hier, wie ich mich über¬ zeugt habe, sehr eigenthümliche Verhältnisse mit im Spiele sind.“ Der Oberst hatte bei diesen Worten ernst die Brauen zusam¬ men gezogen; der Auditor wußte, was das zu bedeuten habe, machte eine stramme Verbeugung und ging. Dann eilte er geraden Wegs in seine Kanzlei, und da es ihm keineswegs 12* an Scharfblick und Fertigkeit gebrach, so dauerte es wirklich nicht allzu lange, daß Georg und die Zeugen, unter welch' letzteren sich auch Tertschka befand, vernommen waren, und vor einem versammelten Kriegsrathe folgendes Urtheil geschöpft wurde: „Georg Huber, Urlauber des zwölften Regimentes, sei des verübten Todtschlages schuldig erkannt und zu einem Jahre schweren Kerker verurtheilt; in Erwägung des Umstan¬ des jedoch, daß er sich theilweise im Falle der Nothwehr be¬ funden, so wie anderer erheblicher Milderungsgründe und mit Hinblick auf seine tadellose Dienstzeit: sei ihm die ausgestan¬ dene längere Untersuchungshaft als Strafe anzurechnen.“ Der Auditor erröthete ein wenig vor sich selbst, als er diese letzten Zeilen niederschrieb; aber weit höher färbte sich sein Antlitz am nächsten Tage, als er dem Obersten das Urtheil zur Be¬ stätigung überbracht hatte, und dieser, nachdem er das Blatt gelesen, ihm lächelnd auf die Achsel klopfte und sagte: „Da sieht man, daß eine kleine Saumseligkeit im Dienste auch hin und wieder ihr Gutes haben kann.“ Aber er reichte ihm die Hand und verabschiedete ihn freundlich. Zwei Tage darauf ließ der Oberst Georg und Tertschka zu sich rufen. Er betrachtete sie lange und schweigend; dann fragte er nach diesem und jenem und schloß damit, daß er ihnen den Rath ertheilte, vor der Hand in der Stadt zu bleiben. Für ihren Unterhalt durch angemessene Arbeit wolle er Sorge tragen und sie würden noch später von ihm hören. Nachdem die Beiden mit scheuen Dankesworten das Zimmer verlassen hatten, ging der Oberst wieder mit leisem Sporen¬ geklirr auf und ab. Es waren seltsame Gedanken, die ihn bewegten. Er hatte vor vielen Jahren ein schlankes blondes Fräulein geliebt, und war sehr unglücklich gewesen. Nicht etwa, daß die Schöne seine Neigung zurückgewiesen hätte; darüber würde sich seine stolze, kräftige Jünglingsseele wohl bald getröstet haben: aber er war in seinen reinsten Empfin¬ dungen betrogen und mißbraucht worden, und das hatte ihn mit dauernder Bitterkeit und einer krankhaften Verachtung des weiblichen Geschlechtes erfüllt, die er gern offen zur Schau trug; wie er denn auch das Wesen der Liebe überhaupt an¬ griff und behauptete, dieselbe wäre zwar in den Romanen hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu finden. Und nun, nachdem er diese Meinung, einem leisen Widerspruche seines Innern zu Trotz, so lange und leiden¬ schaftlich vor sich selbst und Anderen aufrecht erhalten hatte: nun war ihm mit einem Male in diesem armen, verkümmer¬ ten Menschenpaare die Liebe mit all' ihrer Tiefe, Hingebung, Treue und Zärtlichkeit, in ihrer ganzen heiligen Kraft ent¬ gegengetreten — und stille Beschämung und unsägliche Rührung zogen in seine Brust. Auch ein klein wenig Neid mischte sich mit hinein; aber er beschloß, so weit dies von ihm abhinge, die Beiden glücklich zu machen für's ganze Leben. — — Dort, wo die schwärzlichen Schienen längs der rauschen¬ den Mur, an grünen Wiesen und anmuthigen Auen vorüber, sich hinziehen; im Umkreise des Schlosses Ehrenhausen, das von einem bewaldeten Hügel freundlich auf den Ort gleichen Namens hinab schaut: steht ein einsames Bahnwächterhaus. Ein winziges Stückchen Feld, mit Mais und Gemüse bepflanzt, liegt dahinter, und vor der Thüre, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, blühen röthliche Malven und großhäuptige Son¬ nenblumen. In diesem Häuschen, das den Vorüberfahrenden gar still und friedlich anmuthet, leben, wie sie es einst kaum zu hoffen gewagt, Georg und Tertschka seit mehr als fünfzehn Jahren als Mann und Frau, und es braucht wohl nicht eigens bemerkt zu werden, daß ihnen der gute Oberst zu dem kleinen Anwesen verholfen hatte. Man merkt kaum, daß sie älter geworden, und sie verrichten gemeinsam den Dienst, der ihnen bei Tag und Nacht schwere Verantwortlichkeit auf¬ erlegt. Aber sie finden dennoch nebenher Zeit und Gelegen¬ heit, ihr Streifchen Feld zu bebauen, eine Ziege sammt einigen gackernden Hühnern zu halten — und zwei flachshaarige Kin¬ der aufzuziehen, die sich als willkommene Spätlinge eingestellt haben und ganz munter hinter dem Bohnenzaune heranwachsen. Auch trauliche Abendstunden sind ihnen vergönnt, wo sie Hand in Hand vor der Thüre sitzen, der untergehenden Sonne nach¬ schauen und noch immer den Tag preisen, an welchem sie sich zum ersten Male auf der Höhe des Semmerings begegnet. Und dann zieht die Vergangenheit mit allen Leiden und Freu¬ den an ihnen vorüber — bis zu jenem Augenblicke, wo das Verhängniß schwer und furchtbar über sie hereingebrochen war — und doch ihr Glück begründet hatte. Und wenn dann in die Helle ihrer Brust ein trüber, dunkler Schatten fallen will — dann ziehen sie rasch die Kleinen heran, die sich liebkosend in die Arme der Eltern schmiegen und mit den großen Kinder¬ augen so harmlos in die Welt hinein blicken, als lebten sie nicht den wechselvollen Schicksalen entgegen, die sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht, so lange noch Menschen athmen auf der alternden Erde. Die Geigerin. I ch bin ein Freund der Vergangenheit. Nicht daß ich etwa romantische Neigungen hätte und für das Ritter- und Minnewesen schwärmte — oder für die sogenannte gute alte Zeit, die es niemals gegeben hat: nur jene Vergangenheit will ich gemeint wissen, die mit ihren Ausläufern in die Gegen¬ wart hineinreicht und welcher ich, da der Mensch nun einmal seine Jugendeindrücke nicht loswerden kann, noch dem Herzen nach angehöre. So kann ich niemals die prachtvolle Wiener- Ringstraße betreten, ohne die alten Basteien, den lauschigen Stadtgraben und das mit Kindern bevölkert gewesene Glacis zu vermissen, und es ergreift mich immer ganz seltsam, wenn irgend eine alte Baulichkeit, die sich hier und dort als Merk¬ zeichen meiner Knaben- und Jünglingszeit erhalten hat, nieder¬ gerissen wird. Daher bin ich noch zuweilen in jenen öffent¬ lichen Gärten zu finden, die in Folge neuerer Anlagen ihr Publikum verloren haben und nur mehr von verblühten Gou¬ vernanten, brodlosen Schreibern und ähnlichen Jammergestalten in lichtscheuer Kleidung tagüber als Versteck benützt werden; wie ich denn auch mit einer gewissen Vorliebe Gast- und Kaffeehäuser besuche, welche sich einst eines besonderen Rufes erfreuten, jetzt aber durch moderne Restaurationen in den Schatten gestellt und bloß von einer kleinen Schaar treuer Anhänger in Ehren gehalten werden. Mit den Menschen er¬ geht es mir ebenso. Ich fühle mich zu allen Denen hinge¬ zogen, deren eigentliches Leben und Wirken in frühere Tage fällt und die sich nun nicht mehr in neue Verhältnisse zu schicken wissen. Ich rede gern mit Handwerkern und Kauf¬ leuten, welche der Gewerbefreiheit und dem hastenden Wett¬ kampfe der Industrie zum Opfer gefallen; mit Beamten und Militärs, die unter den Trümmern gestürzter Systeme begra¬ ben wurden; mit Aristokraten, welche, kümmerlich genug, von dem letzten Schimmer eines erlauchten Namens zehren: durch¬ weg typische Persönlichkeiten, denen ich eine gewisse Theilnahme nicht versagen kann. Denn alles Das, was sie zurückwünschen oder mühsam aufrecht erhalten wollen, hat doch einmal bestan¬ den und war eine Macht des Lebens, wie so Manches, was heutzutage besteht, wirkt und trägt. Auch allerlei seltsame Ingenia und ruhelose Feuerseelen, in denen es vulkanisch gährt und zuckt, finden sich darunter. Wissenschaftliche Forscher, Er¬ finder, Philosophen und Künstler, die um ein halbes Jahr¬ hundert zu spät geboren wurden und der Welt ein Lächeln des Mitleids entlocken: tragikomische Widerspiele jener hohen, seltenen Menschen, die in der Gegenwart keinen Platz finden, weil sie bereits der Zukunft angehören und Vorläufer Derer sind, die da kommen werden. — Einen solchen, der aber jetzt nicht mehr unter den Leben¬ den weilt, hatte ich vor Jahren kennen gelernt; und zwar in einem Speisehause der inneren Stadt, das inzwischen ebenfalls verschwunden ist, und wo er, gleich mir, zu ziemlich später Stunde sein Mahl einzunehmen pflegte. Es war ein Mann in mittleren Jahren und von stattlichem Wuchse. Leicht zu körperlicher Fülle neigend, das Haar über der hohen, schim¬ mernden Stirne bereits gelichtet, saß er gewöhnlich in einer Ecke des Zimmers am Tische, aß und blickte dann, nachdem er mechanisch ein Zeitungsblatt zur Hand genommen, dem Rauche seiner Cigarre nach, wobei seine grauen Augen oft wundersam aufleuchteten, während um den fein geschnittenen Mund ein selbstvergessenes Lächeln spielte. Wochen um Wochen hatten wir uns so in einiger Entfernung schweigend gegenüber gesessen und nur beim Kommen und Gehen den üblichen kur¬ zen Gruß getauscht. Eines Tages jedoch waren wir plötzlich in ein Gespräch verwickelt, ohne daß Einer von uns hätte be¬ stimmen können, wer eigentlich den ersten Anstoß dazu gegeben. Nun wurden wir rasch mit einander bekannt, und es zeigte sich, daß er mir eigentlich nicht mehr ganz fremd gewesen. Es waren nämlich damals, unter offenbar fingirtem Namen, in einem großen Blatte mehrere Aufsätze erschienen, die mich durch die philosophische Tiefe ihres Inhaltes sehr überraschten. Ein reifer, außerordentlicher Geist hatte es hier unternommen, politische und sociale Verhältnisse in einer Weise zu beleuchten, welche mit den allgemeinen Anschauungen in directem Wider¬ spruche standen, und hatte Perspectiven in die Zukunft eröff¬ net, deren paradoxe Fassung das Befremden, ja den Unwillen der meisten Leser erregen mußte; so zwar, daß ich mich wun¬ derte, wie ein den augenblicklichen Tagesinteressen dienendes Organ derlei in seine Spalten habe aufnehmen können. In der That brachen auch jene Artikel plötzlich ab; tauchten noch hin und wieder in anderen Journalen auf, bis sie endlich ganz verschwanden. Es ging hervor, daß er der Verfasser sei, und ich fand durch ihn selbst meine Vermuthung bestätigt, daß sich die Zeitungen nicht länger mit ihm hatten compro¬ mittiren wollen. „Ich bin übrigens froh“, setzte er hinzu, „daß man mich der Mühe des Schreibens überhoben hat. Denn es bleibt doch immer eine Qual, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Und wozu den Leuten Wahrheiten sagen, die sie doch nicht hören wollen und an welchen sich dereinst ihre Enkel die Stirne blutig stoßen werden.“ Ich erfuhr auch, daß er seiner Zeit eine nicht unbedeutende öffentliche Stellung innegehabt. Leitende Persönlichkeiten waren auf seine Kennt¬ nisse und Fähigkeiten aufmerksam geworden und hatten diesel¬ ben in der redlichsten Absicht für ihre Zwecke ausnützen wollen. Aber es erwies sich gar bald, daß diese eigenthümliche Natur nicht geschaffen war, sich fremden Absichten unterzuordnen, und man ließ es sich gerne gefallen, daß er, nachgerade erst selbst zu dieser Erkenntniß gelangend, seine Entlassung nahm. In der großen Welt war er ebenfalls nicht fremd geblieben. Er hatte sich in den hervorragendsten Kreisen bewegt, wo er eine Zeit lang als liebenswürdiger Sonderling gesucht und wohl aufgenommen war; endlich aber, da sich weder innere noch äußere Anknüpfungspunkte ergeben wollten, übersah man, daß er wegblieb. Nun war er ganz in sich selbst zurückgesunken und hatte erreicht, was sein tief innerstes Wesen verlangte: Freiheit und Muße zu einsamen Studien und beschaulichem Denken, eine Bestimmung, welcher er sich um so getroster hin¬ geben konnte, als ihm eine kleine Rente bescheidene Unabhän¬ gigkeit sicherte. Und wie so ganz, wie erhaben erfüllte er diese Bestimmung! Scheinbar unthätig, war er vom Morgen bis tief in die Nacht hinein bemüht, alles Gewordene und Werdende in sich aufzunehmen. Kein Zweig der Wissenschaft, der Kunst und des öffentlichen Lebens lag ihm zu ferne; all überall suchte und fand er Material zu einem großen Werke, dessen Vorarbeiten ihn, wie er mir gestand, schon seit Jahren in Anspruch nahmen, und dessen Ausführung er den Rest sei¬ nes Lebens zu widmen gedachte. Er hatte nämlich im Sinne, eine Geschichte der Menschheit vom Standpunkte der Ethik aus zu schreiben, welche gewissermaßen die Kehrseite des be¬ rühmten Buches von Thomas Buckle werden sollte. Von einer glühenden Wahrheitsliebe beseelt, mit einem Blicke begabt, welcher bis zum geheimsten Innersten der Menschen und zum tiefsten Kernpunkte alles Bestehenden drang, haßte er nichts so sehr, wie die Lüge, den Schein und die Halbheit, und er konnte sich in dieser Hinsicht über Personen und Dinge mit einer zerschmetternden Rückhaltslosigkeit äußern, welche selbst Jene, die im Allgemeinen seine Ansicht theilten, befrem¬ den mußte und mit der man sich nur versöhnen konnte, wenn man vernahm, mit welcher Begeisterung er von allem Aechten, Guten und Schönen sprach und wie so ganz ohne Schonung er gegen seine eigenen Fehler und Schwächen zu Felde zog. Dabei war er harmlos wie ein Kind, nur fähig, in der Idee zu hassen und zu ver¬ folgen; in Wirklichkeit jedoch konnte es jeder menschlichen Ver¬ irrung gegenüber keinen einsichtsvolleren Beurtheiler, keinen milderen Richter geben, als ihn. Am deutlichsten trat diese Eigenthümlichkeit hervor, wenn er auf das andere Geschlecht zu sprechen kam. Ich habe Niemanden gekannt, der die weib¬ liche Natur tief, gleich ihm, erfaßt hätte. Wie er ein Auge besaß, das für die feinsten Reize und Abstufungen der Schön¬ heit empfänglich war, so entging ihm auch nicht der verbor¬ genste Zug des Herzens und der Seele, und wenn er sich auch hin und wieder über die Frauen im Allgemeinen zu einem Worte hinreißen ließ, das an die Aussprüche des Frankfurter Weltweisen erinnerte, so war er hinterher doch gleich bemüht, alles, was er an ihnen zu tadeln fand, auf die sociale Stellung zuschieben, welche sie seit jeher eingenommen. Wahrlich, wenn man ihn so von ihren Vorzügen und Tugenden, von ihren Kräften und Fähigkeiten reden hörte, man hätte glauben sollen, daß ihm die Herzen Aller zufliegen müßten. Aber seltsam, er war, wie er mit schmerzlichem Humor gestand, niemals geliebt wor¬ den, obgleich er seiner Zeit viel mit Frauen verkehrt hatte. „Um diese, so weit dies überhaupt möglich ist, kennen zu ler¬ nen“, pflegte er zu sagen, „darf man von ihnen nicht geliebt werden; denn man ist dann leicht geneigt, ihre Gunst als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und in Folge dessen geringer anzuschlagen. Man muß vielmehr durch sie schmerz¬ lich gelitten und gesehen haben, welchen Schatz von Treue, Hingebung und Opferwilligkeit sie anderen Männern, ja sogar solchen, die wir tief unter uns erblicken, entgegenbringen, um zu erkennen, welch' ein Geschenk des Himmels es sei, das Herz eines Weibes ganz und voll zu besitzen.“ — Trotz dieses lebhaften und unumwundenen Austausches von Gedanken und Empfindungen kam es zwischen mir und Walberg — wie ich den eigenthümlichen Mann, dessen Name in Wirklichkeit viel weniger stolz und anspruchsvoll klang, hier nennen will — zu keiner Freundschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Wir hatten hiezu Beide bereits die Geschmeidigkeit und Spannkraft der Jugend verloren, welche allein im Stande ist, solche Bünd¬ nisse für's Leben zu schließen. Unser Verkehr beschränkte sich auf anregende Tischgespräche und auf kürzere oder längere Saar , Novellen aus Oesterreich. 13 Besuche, die wir uns hin und wieder abstatteten, Zuweilen machten wir auch einen kleinen Ausflug in's Freie, wo ihm dann, von der Natur angeregt, das Herz vollends aufging und sein Geist geradezu Offenbarungen ausstrahlte. — So hatten wir auch einmal nach Tisch einen Gang in den Prater unternommen. Es war ein milder, sonniger Oc¬ tobertag und in der endlosen Hauptallee mit ihren alten, sich eben leise entblätternden Kastanienbäumen wogte ein mächtiger Menschenstrom. Eine Zeitlang schlenderten wir so im Ge¬ wühle hin und ließen die schönen stolzen Frauen zu Roß und Wagen an uns vorüberfliegen. Nach und nach aber fühlten wir uns beengt und gedrückt und schlugen, quer über die Wiesen schreitend, den Weg nach den einsameren Partien der stimmungs¬ vollen Aulandschaft ein. Man hatte damals bereits begonnen, hier und dort einige jener herrlichen Baumgruppen zu fällen, welche in der nächsten Nähe einer großen Residenz ihres Glei¬ chen suchen dürften, und hatte so den Anfang zu den Verwü¬ stungen gemacht, die später zur Zeit der Weltausstellung so große Ausdehnung gewannen. Vor zwei riesigen Buchen, welche mit ihren herbstlich gefärbten Wipfeln auf dem Boden lagen, blieben wir stehen. „Wie schade um die prachtvollen Bäume“, sagte ich. „Eine wahre Sünde“, erwiederte er, „das frische, blühende Leben zu verwüsten. Ich sehe schon im Geiste die ganze lieb¬ liche Wildniß ausgerodet, das letzte Stückchen Grün vertilgt und auf der trostlosen Ebene eine Masse nüchterner Häuser stehen, zwischen welchen ein qualmender Eisenbahnzug dahin¬ braust. — Aber“, fuhr er nach einer Weile fort, „das ist im Grunde doch nur Sentimentalität. Alles vollzieht sich nach dem eisernen Gesetze der Nothwendigkeit. Der Prater wird so lange erhalten bleiben, als er ein Bedürfniß ist. Eine Reit- und Fahrbahn wird sich überall finden lassen und das Volk kann sich auch anderswo beim Biere vergnügen!“ Wir waren wieder schweigend weiter geschritten. Rings¬ um herrschte tiefe Stille; nur ein kühler Windhauch schauerte leise durch die Zeitlosen, mit welchen der Grund wie übersät war. Endlich standen wir vor einem weitläufigen Sumpfe, aus dessen Schilf, von unseren Schritten aufgeschreckt, ein später Reiher in die sinkende Dämmerung emporrauschte. Wir machten uns auf den Heimweg. Als wir die Brücke über den Donaukanal betraten, gewahrte ich, wie unter den Jochen hervor ein dunkler Gegenstand auf den Fluthen trieb, in welchem ich die Umrisse einer weiblichen Gestalt zu erkennen glaubte. Gleichzeitig mit mir mußten ihn Andere bemerkt ha¬ ben; es entstand ein Zusammenlauf am Geländer; Rufe nach Rettung wurden laut, und wirklich stieß in einiger Entfernung ein Kahn ab, dessen Bemannung die Verunglückte mittelst langer Enterhaken an's Ufer zog und am Fuße eines Gas¬ candelabers niederlegte. Dorthin strömte jetzt eine zahlreiche Menschenmenge; ich und mein Begleiter wurden unwillkürlich 13* mit fortgerissen. Kaum aber hatte Walberg einen Blick in das bleiche Antlitz des Weibes gethan, als er mich mit einem unterdrückten Aufschrei beim Arm ergriff und fortziehen wollte. Er faßte sich aber gleich wieder, trat auf die Sicherheitswache zu, die sich eingefunden hatte und wechselte mit dem Manne einige Worte. Mittlerweile hatte man Vorkehrungen getrof¬ fen, die, wie es schien, bereits Entseelte in die nächste Ret¬ tungsanstalt zu bringen. Wir schloßen uns dem traurigen Zuge an und traten, indeß die Menge draußen zurückgehalten wurde, bei dem Wundarzte ein. Während dieser mit seinen Gehilfen im Nebenzimmer Belebungsversuche anstellte, sank Walberg erschöpft in einen Stuhl und schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, welches er aus seinem Notizbuche los¬ getrennt hatte. Der Arzt erschien bald und erklärte achsel¬ zuckend, daß Alles vergebens und das Frauenzimmer todt sei. Walberg erhob sich und trat, während ich folgte, noch einmal an die Leiche, welche im grellen Lichte einer von der Decke niederhängenden Lampe auf dem Sopha des Zimmers lag. Es war eine schlanke, zartbusige Gestalt; bereits über die eigentliche Jugend hinaus, aber selbst noch im Tode von jener Anmuth umflossen, welche nie altert. Die nassen, an den Formen klebenden Gewänder erschienen ziemlich abgetragen und auch die Handschuhe, sowie die knappen Stiefelchen wiesen leicht erkennbare Schäden auf. Der Arzt hatte das Hütchen, welches früher noch unter dem Kinne der Todten festgeknüpft war, entfernt, und so hing ihr lichtbraunes Haar in feuchten Locken und Strähnen gelöst, über die Schultern hinab. Die bläulichen Lippen waren weit geöffnet und große dunkle Au¬ gen starrten gebrochen unter den Wimpern hervor. Der An¬ blick war zu ergreifend, als daß wir ihn hätten ertragen können. „Die Unselige!“ murmelte Walberg, indem er sich, gleich mir, schaudernd abwandte; „so weit ist es mit ihr ge¬ kommen.“ Dann übergab er dem Wachmanne das beschriebene Blatt und wir traten auf die Gasse hinaus, wo wir stumm neben einander hergingen. Walberg schien ein Vorhaben zu überlegen; endlich winkte er einen Miethwagen heran und er¬ suchte mich, ihn zu begleiten. Wir fuhren in eine der nächsten und belebtesten Vorstädte. Bei einem stattlichen, hell erleuch¬ teten Kaufmannsladen ließ er halten und trat hinein. Ge¬ raume Zeit verstrich, bis er zurückkam. „Es ist Alles so, wie ich es mir gedacht habe“, sagte er beim Einsteigen mehr zu sich selbst, nachdem er dem Kutscher seine Wohnung bezeichnet hatte. Wir legten eine schweigsame Fahrt zurück und als der Wagen hielt, schrak Walberg aus trübem Sinnen empor. — „Kommen Sie mit mir hinauf“, bat er; „ich will jetzt nicht allein sein.“ In seinem einfachen Zimmer machte er Licht, zündete die Spirituslampe unter dem Theekessel an und reichte mir schweigend ein Kistchen mit Cigarren. Dann setzte er sich in einen Lehnstuhl und blickte nachdenklich vor sich hin. Es war mir, als hätte ich eine Mittheilung zu erwarten; aber ich wollte nicht drängen und nahm eines der vielen Bücher zur Hand, die überall umher lagen. Es wurde ganz still im Gemache; nur das Wasser im Kessel begann leise zu summen. Endlich wandte sich Walberg zu mir: „Soll ich Ihnen die Geschichte des armen Weibes erzählen, das sich heute in den Wellen der Donau den Tod gegeben?“ Und meine Zustim¬ mung vorweg nehmend, fuhr er fort: „Es ist eine traurige, ja vielleicht eine häßliche Geschichte. Es kommt auf den Ge¬ sichtspunkt an, von welchem aus man sie betrachtet. Sie ken¬ nen meine Art und Weise, die Dinge aufzufassen; sie stimmt mit der Ihrigen überein und so bin ich überzeugt, daß sie dem unglücklichen Geschöpfe, trotz Allem, was Ihnen jetzt zu hören bevorsteht, eine stille Thräne in Ihrem Herzen nicht werden versagen können.“ Er war aufgestanden, hatte mir eine Tasse gefüllt und sich dann wieder gesetzt. Sie wissen, begann er, wie zurückgezogen, wie einförmig ich lebe. Seit einer Reihe von Jahren verzichte ich auf Freu¬ den und Vergnügungen, welche Männern in unserem Alter, in unseren Verhältnissen, natürlich und angemessen sind. Ich sage absichtlich: daß ich verzichte; denn von Natur bin ich eigentlich volllebig und eher zur Ausschreitung, als zur Be¬ schränkung geneigt. Aber das geistige Bewußtsein ist in mir doch zu vorherrschend, als daß ich diesen Hang nicht als etwas Störendes, ja geradezu Feindseliges empfinden und nicht in jeder Weise bemüht sein sollte, ihn abzulenken und zu ersticken. Und so kann ich mich mit weit mehr Recht einen Asketen nennen, als die Meisten, welche vor der Welt die Abzeichen der Entsagung zur Schau tragen. Von Zeit zu Zeit jedoch bricht dieses niedergehaltene Element plötzlich mit aller Macht hervor und ich werde dann, wie ich überhaupt zu Extremen neige, unaufhaltsam getrieben, mich aus meiner stillen Einsam¬ keit heraus in den vollsten Strom, ja vielleicht auch ein wenig in den Pfuhl des Lebens zu stürzen; freilich nur, um allso¬ gleich wieder, ernüchtert und vor mir selbst beschämt, in den reinen Aether meiner Arbeiten zurückzukehren. So geschah es auch einmal im Carneval. Ich hatte mich an einigen halb¬ wahren Büchern, die eben großes Aufsehen erregten, müd und ärgerlich gelesen. Ich war geistig verstimmt und sehnte mich ordentlich nach Menschen, die nichts Höheres in's Auge fassen und, nur auf das Nächste beschränkt, gedankenlos in den Tag hineinleben. Es waren damals gerade die Maskenbälle bei uns in Schwung gekommen und ich hatte Manches von dem tollen Treiben gehört, das dabei herrsche. Namentlich sollten jene, die in einem großen, außerhalb der Linie gelegenen Ver¬ gnügungslocale stattfanden, in dieser Hinsicht alles Dagewesene überbieten. Dorthin wollte ich nun wollte mich unter die ausgelassene Menge mischen und, wenn es sich fügte, auch ein bischen ausgelassen sein. In einer sternhellen Februarnacht machte ich mich auf den Weg. Kaum aber hatte ich die er¬ leuchteten Säle einige Male durchschritten, als ich mich voll¬ ständig enttäuscht fühlte. Sprudelnde, entfesselte Lebensfreu¬ digkeit hatte ich erwartet und fand nichts als öde Stumpfheit, die sich zur Aufmunterung bisweilen selbst mit den Fäusten der Gemeinheit in die Rippen stieß. Nicht einmal die Strauß'¬ schen Walzer waren im Stande, die Tanzenden zu befeuern, deren größtentheils plumpe und ungelenke Bewegungen Lächeln und Mitleid erregten. Reizlose Weiber in verschossenen Mas¬ kenanzügen zwangen sich zu lahmen Spässen und wenn hier und dort ein feinerer Wuchs, ein geschmackvolleres Costüm im Gewühl auftauchte, so gehörten sie Frauen an, die sich, in männlicher Begleitung, mehr zusehend, als theilnehmend ver¬ hielten. Zudem war es unerträglich heiß und so suchte ich bald jene Nebenräume auf, welche theils als Speisezimmer, theils als Schauplätze für kleine dramatische Vorstellungen und sonstige Erlustigungen benutzt wurden. In einem derselben ließ sich vor nicht sehr zahlreichem, aber gewählterem Publicum ohne Maske ein sogenanntes Damentrio hören. Ich setzte mich an einen der Tische, die vor der niederen Bühne ange¬ bracht waren, bestellte eine Erfrischung und ließ mich, mi߬ muthig wie ich war, von den Klängen umrauschen, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Nach und nach aber wurde ich unwillkürlich gefesselt. Es waren Musikstücke edlerer Art, die hier mit so viel Ausdruck und Präcision vorgetragen wurden, daß sich der allgemeine Beifall oft und laut kundgab. Auch die Spielenden waren ganz geeignet, die Blicke auf sich zu ziehen. Sie trugen alle drei weiße Kleider mit Gürteln und Achselbändern von schwarzem Taft, welche einfache Tracht ihre jugendlichen Erscheinungen anmuthig hervorhob. Obgleich sie einander gar nicht ähnlich sahen, so konnte man sich doch des Eindruckes nicht erwehren, man habe drei Schwestern vor sich. Die Jüngste, welche am Claviere saß, war fast noch ein Kind. Aber die Kraft und Sicherheit, mit welcher sie trotz der zucken¬ den Unruhe ihres schmächtigen, halbwüchsigen Körpers spielte; die herausfordernde Art und Weise, wie sie, die krausen, blon¬ den Locken schüttelnd, ihr mehr reizendes als schönes Gesicht dem Publikum zukehrte, gab ihr etwas Frühreifes und Be¬ wußtes, das gleichzeitig anzog und abstieß. Die Mittlere mit dem Cello war ihr gerader Gegensatz. In voll entwickelter Jugendblüthe, die Wangen rosig, das glänzende schwarze Haar schlicht aus der Stirne gestrichen, saß sie gelassen da und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem ungelenken Instrumente zu, das sie handhabte. Einen wunderbaren Anblick aber bot die Aelteste dar, welche mit der Geige im Vordergrund der Bühne stand. Sie mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre zählen und war bereits von jenem schwermüthigem Reiz des Verblühens umhaucht, welcher manche Frauen so anziehend macht. Die zarte Wange leicht an das bräunliche Holz ge¬ schmiegt, das matt schimmernde Haar nachlässig gelockt, und mit dem schlanken, biegsamen Leibe den Bogenstrichen folgend, glich sie einer Camöne. Es entging mir nicht, daß sie bei ausdrucksvollen Stellen, zarten sowohl als leidenschaftlichen, ihre großen, etwas umschatteten Augen auf einen jungen Mann heftete, der in einiger Entfernung von mir saß, und den ich früher nicht beachtet hatte. Von hohem und schlankem Wuchse, sorgfältig, aber ohne Ziererei gekleidet, war er in seinen Stuhl zurückgesunken und schien die Aufmerksamkeit, welche ihm die Geigerin schenkte, gänzlich zu übersehen. Seine Blicke schweif¬ ten vielmehr, während er langsam ein Glas Punsch trank, nach dem Kinde am Claviere hin, welches ihm auch von Zeit zu Zeit wie verstohlen zulächelte. Sein Antlitz wies ein kühn geschnittenes, fremdländisches Profil, und die hohe, gerade Stirn leuchtete aus dunklen Haaren hervor; eine längliche Narbe auf der rechten Wange zierte ihn mehr, als sie ihn entstellte. Er war im eigentlichen Sinne des Wortes schön zu nennen. Das Geistige herrschte in seinen Zügen nicht vor; aber Alles war voll Leben und Ausdruck, und die hellen braunen Augen blickten stolz und einnehmend zugleich, wie die des Hirsches. Die Geigerin hatte inzwischen begonnen, ein Solo vorzutragen, das nur hin und wieder von dem Clavier begleitet wurde. Sie spielte mit so zartem Schmelze, mit so hinreißendem Feuer, daß, als sie geendet hatte, stürmischer Beifall losbrach. Sie verneigte sich leicht, aber ihr Blick ruhte, während die Töne noch immer in ihr nachzuzittern schienen, auf dem jungen Manne, der nun auch, wie aus einem Traume aufgeschreckt, durch leichtes Kopfnicken seine Anerkennung kund gab. Es schien jetzt eine längere Pause eintreten zu wollen; denn die Spielenden verließen ihre Plätze und zogen sich in den Hin¬ tergrund der Bühne zurück. Mein Nachbar war gleichfalls aufgestanden und begab sich mit vertraulichen Geberden zu den Frauen. Die Geigerin ging ihm mit erwartungsvollem Lächeln entgegen; er aber sah zerstreut über sie hinweg und reichte dem Kinde die Hand, welches, wiederum das Haar schüttelnd, auf ihn zusprang. Ich sah das Alles und fühlte mein Herz von einem seltsamen Schmerze zusammengepreßt. Ich besitze die unglückselige Gabe, ohne es eigentlich zu wollen, aus ge¬ ringfügigen Anzeichen, aus einem Blicke, einem Worte ganze Verhältnisse zu errathen und mir dieselben zurecht zu legen. So brachte ich denn gleich auch diese vier Personen in eine eigenthümliche Stellung zu einander, die mich bedrückte. Ich verlor alle Lust, weiter zuzuhören und entfernte mich, während die Cellistin langsam die Noten zu einem neuen Stücke auf¬ legte. Zu Hause angekommen, lag ich noch eine Zeitlang wach im Bette; endlich schlief ich ein und die drei Gestalten in weißen Kleidern und der junge Mann mit der Narbe auf der Wange zogen, wirr und phantastisch verschlungen, durch meine Träume. Auch in den folgenden Tagen wirkten diese Eindrücke nach, dann aber war Alles vergessen. — So kam der Frühling heran. An einem herrlichen April¬ morgen hatte ich ein entlegenes Maleratelier besucht und mich dort mehrere Stunden verweilt. Da ich den weiten Weg nach der Stadt zurück nicht zu Fuße machen wollte, stieg ich in einen gemeinschaftlichen Wagen und — befand mich der Geigerin gegenüber. Ich hatte sie auf den ersten Blick wieder erkannt, obgleich ihr das Licht des Tages und die veränderte Kleidung viel von dem idealen Schimmer jener Nacht nahm. Eine etwas fahle Gesichtsfarbe und leichte Fältchen um den blassen Mund traten deutlich hervor, aber sie sah noch immer schön und einnehmend genug aus, und ein Frühlingshütchen von weißem Mull, das frisch wie der gefallene Schnee von der übrigen, noch etwas winterlichen Tracht abstach, stand ihr reizend zu Gesicht. Mit aufrechtem Oberkörper saß sie da und hatte die schmalen Hände über einem Päckchen gekreuzt, das in ihrem Schooße lag. Zuweilen rückte sie unruhig auf ihrem Sitze hin und her und blickte durch die Scheiben, als dauerte ihr die Fahrt zu lange. Als wir endlich bei der Stadt angelangt waren, ließ sie halten und sprang aus dem Wagen. Ich that unwillkürlich dasselbe, aber ich konnte ihr nicht folgen; denn sie ging so rasch, daß ich, um nicht aufzu¬ fallen, nur mit den Blicken hinter ihr her bleiben konnte. Jetzt bog sie in die Gasse ein, in welcher sich die öffentliche Pfand¬ leihanstalt befindet, und als ich meinen Schritt beschleunigte, konnte ich noch gewahren, wie sie in dem Thore dieses Ge¬ bäudes verschwand. Ein tiefes Weh fiel mir auf's Herz. Also auch sie hatte mit der Noth des Lebens zu kämpfen, die mir hier wieder einmal als unzertrennliche Begleiterin der Kunst erschien, und mußte vielleicht irgend ein theures Ange¬ denken, einen liebgewordenen Schmuck verpfänden, um nicht unterzugehen! In solch' trübe Gedanken versunken, war ich halb unbewußt ebenfalls vor der Anstalt eingetroffen, als sie plötzlich, das Päckchen krampfhaft umklammernd, mit dem Aus¬ drucke tiefster Verzweiflung im Antlitz, wieder unter dem Thore erschien. Sie war offenbar zu spät gekommen oder man hatte sie auf morgen vertröstet; und nun stand sie da und blickte stumpfsinnig in das goldene Sonnenlicht hinein, das die gegen¬ über liegenden Häuser umfunkelte. Fröhliche Menschen schritten an ihr vorüber; ein kleines Mädchen bot ihr Veilchen zum Kaufe, aber sie sah und hörte nichts. Endlich ging sie und irrte, wie es mir schien, ohne Wahl und Ziel in den nächsten Gassen umher. Ich konnte es nicht länger mit ansehen und trat an ihre Seite. „Erlauben Sie, mein Fräulein“, — sagte ich, indem ich höflich den Hut abzog. Sie sah mich ausdruckslos an und eilte weiter. Ich hielt mich neben ihr. „Bemühen Sie sich nicht, mein Herr“, sagte sie endlich. „Ich wünsche keine Begleitung — ich muß Sie bitten —“ „Halten Sie mich für keinen Unverschämten, keinen Zu¬ dringlichen“, erwiederte ich fest. „Ich habe Ihnen eine wich¬ tige Mittheilung zu machen.“ Sie zuckte zusammen. „Eine wichtige Mittheilung —“ wiederholte sie tonlos und mußte sich, um nicht zu sinken, an die nächste Mauer lehnen. Ich war auf's Aeußerste bestürzt. „Erschrecken Sie nicht“, fuhr ich fort, „es handelt sich um etwas sehr Angenehmes — sehr Erfreuliches.“ Sie athmete auf. „Und was könnte das sein?“ fragte sie ungläubig. „Folgen Sie mir in jenes Durchhaus, wir können dort ungestörter sprechen.“ Sie betrachtete mich zögernd und mißtrauisch; aber sie folgte mir. „Mein Fräulein“, begann ich, „Sie befinden sich in die¬ sem Augenblicke in einer höchst peinlichen Verlegenheit.“ „Woher wissen Sie —?“ stammelte sie überrascht. „Ich sah Sie vorhin — doch das thut jetzt nichts zur Sache; genug, daß ich es weiß.“ Sie blickte zu Boden. „Nun, es ist wahr“, sagte sie und fuhr mit zitternder Hand über die Stirne, „ich bin in der größten Verzweiflung. Es gilt, eine mir sehr werthe und nahestehende Persönlichkeit aus einer drohenden Gefahr zu retten. Seit gestern müh' ich mich in jeder Weise, zu diesem Zwecke ein Darlehen aufzutreiben. Endlich habe ich von einer ehemaligen Freundin nach vielem Bitten und Flehen — nach vielfachen Erniedrigungen diese Diamanten erhalten, aber nur gegen das heilige Versprechen, dieselben blos in der öffentlichen Anstalt, um keinen Preis jedoch in einem jener Winkelämter zu ver¬ pfänden, die nicht genug Sicherheit bieten. Und nun —“ „Kamen Sie nicht mehr zur rechten Zeit —“ „Kam um fünf Minuten zu spät! das Bureau wird erst morgen wieder geöffnet — und wenn bis drei Uhr das Geld nicht beschafft wird, so ist Alles verloren!“ „Beruhigen Sie sich. Es soll Alles gut werden. Ich bin bereit, Ihnen das Nöthige ohne Pfand vorzustrecken.“ „O mein Herr“, sagte sie in einem Kampfe zwischen Freude und Schaam — „wie kann ich — wie darf ich — von einem ganz Unbekannten —“ „Hier ist meine Karte. Und wenn auch ich Ihnen unbe¬ kannt bin — Sie sind es mir nicht. Ich habe Sie spielen hören.“ Und während sie erröthend auf die Karte niedersah, fuhr ich dringend fort: „Besinnen Sie sich nicht länger! Wei¬ sen Sie die Hülfe nicht zurück, die ich Ihnen aus vollem Herzen anbiete. Nennen Sie mir den Betrag —“ „O“, sagte sie, wieder hoffnungslos, „es ist viel Geld.“ Und sie nannte eine Summe, über deren Höhe ich allerdings erschrak. Aber ich besaß diese Summe und konnte nicht zurück. „Sie begreifen“, sagte ich, „daß ich so viel nicht bei mir trage. Erwarten Sie mich in zehn Minuten vor dem Ste¬ phansdome; ich werde Ihnen das Gewünschte einhändigen.“ Und nach einem raschen Gruße eilte ich in meine Wohnung, das Geld zu holen. Als ich mich später am bezeichneten Orte einfand, ging sie unruhig auf und nieder. Sie mußte schwere Zweifel in die Wahrheit meiner Versprechung gesetzt haben; denn bei meinem Anblick schien es ihr wie eine Last von der Seele zu fallen. Ich lenkte sie in die dunkle, menschenleere Kirche hin¬ ein und überreichte ihr die erforderliche Summe. Sie zögerte noch einen Augenblick, dieselbe anzunehmen. Dann aber drückte sie mit ihren beiden Händen warm die meine. „O, mein Herr“, sagte sie, „wie soll ich Ihnen danken! Sie wissen nicht, welchen Dienst Sie mir erweisen. Sie sollen alsbald wieder im Besitze des Ihrigen sein — gleich morgen will ich den Schmuck verpfänden.“ „Thun Sie das nicht“, sagte ich. „Sie haben mir ja gestanden, daß Sie ihn nur gegen schwere Demüthigungen er¬ halten. Sie kämen vielleicht in eine unwürdige Abhängigkeit zu der Person, die Ihnen denselben anvertraut. Geben Sie die Juwelen sogleich wieder zurück. Mit meinem Gelde hat es keine Eile. Ich will zufrieden sein, wenn ich in Folge dieses Darlehens das Glück habe, Sie einmal wiederzusehen.“ Sie war durch diese letzten Worte offenbar peinlich be¬ rührt worden und hatte Mühe, eine ablehnende Geberde zu unterdrücken. Aber wie von einem plötzlichen Gedanken durch¬ zuckt, sagte sie rasch: „Allerdings; es wird mich unendlich freuen, meinen Retter näher kennen zu lernen. Hier ist meine Adresse, damit Sie mich zu finden wissen. Sie sollen übri¬ gens schon in den nächsten Tagen von mir hören.“ Und da ich sie nun selbst aufforderte, sich auf den Weg zu machen, so eilte sie, flüchtig wie ein Vogel, von dannen und verschwand im Menschengewühle. Ich hatte ihr eine Weile nachgesehen; dann senkte ich den Blick auf die Adresse und las: „Ludovica Mensfeld.“ Und wie ich jetzt so da stand, das kleine Kärtchen in der Hand, fühlte ich mich fremd und kühl berührt. Es war mir, als hätt' ich eine Thorheit begangen. Ich hatte mich nahezu von Allem entblößt, was ich augenblicklich besaß und war nun selbst für die nächste Zukunft der Sorge preisgegeben. Und für wen hatte ich Alles geopfert? Für ein Weib, das mir ferne stand. Und nicht einmal für sie selbst; sie wollte ja mit dem Gelde einen Anderen retten, und dieser Andere, darüber konnte kein Zweifel sein, war der junge Mann, welchen ich damals in ihrer Nähe gesehen — und den sie liebte! Aber kümmerte mich das? War es nicht ein beglückendes, erheben¬ des Gefühl, eine arme, zitternde Menschenseele aus der Nacht der Verzweiflung zu befreien? Hatte ich nicht Hilfsquellen genug? Konnte ich nicht arbeiten? — So trat ich meinen Egoismus siegreich mit Füßen und bald stand es bei mir fest, daß ich Recht gethan und keine weiteren Ansprüche mehr er¬ heben würde; selbst der Wunsch, die Geigerin wiederzusehen, Saar , Novellen aus Oesterreich. 14 war erloschen. So ging ich, mit mir selbst im Reinen, freien und fröhlichen Herzens zu Tische. — Nach kurzer Zeit erhielt ich durch die Post einen Brief mit gefälligen, etwas flüchtigen Schriftzügen. Er lautete: „Verehrter Herr! Wenn Sie morgen Abend nichts Besse¬ res vorhaben, so schenken Sie uns das Vergnügen Ihres Be¬ suches. Sie werden blos in einem Familienkreise sein. Ihre dankschuldigste Ludovica.“ Ich legte das Schreiben ruhig bei Seite, denn ich dachte gar nicht daran, der Einladung nachzukommen. Am andern Morgen jedoch fiel mir ein, daß es doch geradezu unartig wäre, dieselbe gänzlich zu ignoriren. Ich mußte mich mit einigen Zeilen entschuldigen und setzte mich an den Schreibtisch. Wie ich nun so nach einer landläufigen Ausflucht suchte, kam mir meine Wahrheitsliebe in die Quere, die es mir selbst in unbedeutenden Dingen schwer macht, eine Lüge zu ersinnen, und ich entschloß mich kurz und gut, hinzugehen. So suchte ich denn gegen Abend den Stadttheil auf, in welchem die Gei¬ gerin wohnte. Im dritten Stockwerk eines dichtbevölkerten Hauses schellte ich an der bezeichneten Thüre. Eine Magd öffnete und wies mich nach dem Empfangszimmer, wo mir Ludovica in schwarzem Seidenkleide, eine dunkelrothe Blume in's Haar gesteckt, mit graziösem Anstand entgegen kam und mich mit der versammelten Gesellschaft bekannt machte. Ich sah die zwei andern Spielerinnen und fand meine Vermuthung von damals bestätigt; denn Ludovica sagte: „Meine Schwe¬ stern Anna und Mimi.“ Dann vor einem jungen Manne mit klugen, offenen Gesichtszügen: „Herr Berger, Kaufmann.“ Zuletzt warf sie einen Blick auf den , welchen ich hier zu fin¬ den gewiß war, und fügte etwas undeutlich hinzu: „Herr Alexis.“ Dieser hatte sich bei meinem Eintritt vom Sitze er¬ hoben und kam jetzt, während er mir die Hand entgegen streckte, mit großer Freundlichkeit auf mich zu, wobei er jedoch eine gewisse Befangenheit nicht verbergen konnte. Man wies mir neben ihm einen Platz auf dem Sopha an und ich blickte nun, wie man dies an fremden Orten unwillkürlich zu thun pflegt, im Gemache umher. Es sah ziemlich kahl aus und in der Einrichtung gab sich eine gewisse Sorglosigkeit kund. Ein älteres, aber wohlgebautes Clavier, auf welchem die Geigen Ludovica's ruhten, fiel zuerst in die Augen, und an den Wän¬ den hingen die Bildnisse Mozart's und Beethoven's, sowie verschiedener anderer Tonkünstler und Virtuosen. In einem kleinem Nebenzimmer jedoch, dessen Thüre offen stand, schien eine bürgerliche, arbeitsame Hand zu walten, und den größten Raum nahm ein ausgedehnter Tisch ein, der mit angefangenen weiblichen Kleidungsstücken bedeckt war. Mimi, welche, wie ich bemerkte, meinen Blicken folgte, rief lachend: „Der Herr verwundert sich über Anna's Zimmer. Es sieht auch darin aus, wie in einer Schneiderwerkstätte.“ 14* Anna erröthete. „Nicht doch“, sagte ich; „es ist ein ansprechendes Bild häuslichen Fleißes.“ „Ja, fleißig ist sie, das muß man ihr lassen“, fuhr Mimi fort. „Sie ist unsere Mama; besorgt den Haushalt, fertigt uns Kleider und Hüte an —“ „Und ihr dankt es mir nicht“, sagte Anna ernst. „Nicht böse werden!“ lachte die Kleine, indem sie auf¬ sprang und die Schwester mehr muthwillig als herzlich umfing. „Du Grausame verlässest uns ohnehin bald — um Herrn Berger zu heirathen.“ Anna und der junge Kaufmann errötheten jetzt gemeinsam. „Nun, schämt euch nicht! Ich gebe euch meinen Segen!“ rief Mimi mit komischem Pathos und ausgebreiteten Armen. „Aber bedenkt, was wir und das Damentrio verlieren.“ „Ich bedenke nur, was ich gewinne“, sagte Berger, in¬ dem er die etwas große Hand seiner Verlobten zart an die Lippen führte. Das Gespräch nahm nun eine allgemeinere Wendung und gab Alexis Gelegenheit, sich als gebildeten und geistvollen Mann darzustellen. Obgleich er kaum über dreißig Jahre zählen konnte, schien er bereits doch so manche Lebenserfahrung hin¬ ter sich zu haben und viel in der Welt herumgekommen zu sein. Wie aus seinen Reden hervorging, hatte er sich in den verschiedenartigsten Berufszweigen, zuletzt auch in der Kunst versucht, und somit würde man ganz angenehm mit ihm haben verkehren können, wenn nicht einige cynische Bemerkungen, die er hin und wieder that, auf eine gewisse sittliche Verwilderung seines Charakters gedeutet hätten, welche neben den übrigen glänzenden Eigenschaften doppelt bedauerlich erschien. Man zog natürlich auch die Tonkunst in's Gespräch und ich ließ die Hoffnung auf einen musikalischen Genuß durchblicken. „Ich bin mit Vergnügen bereit, zu spielen“, sagte Ludovica zuvor¬ kommend, indem sie aufstand und sich ihren Geigen näherte. „Mimi wird mich begleiten.“ „Ludovica kann sich später hören lassen“, sagte Alexis abwehrend. „Jetzt soll uns Mimi ein paar ihrer reizenden Lieder zum Besten geben. — Sie glauben gar nicht, mein Herr“, wandte er sich an mich, „welch' ein Genie in der klei¬ nen Person steckt! Sie dichtet und componirt allerliebste Strophen, wie man sie sonst nur in Paris zu hören bekommt, Laß Dich nicht bitten, Mimchen, und singe!“ fuhr er fort, in¬ dem er ihre beiden Hände ergriff. Die Kleine warf einen lauernden Blick auf Ludovica. Diese war etwas bleich geworden; aber sie streichelte die Wange der Schwester und sagte: „Singe nur, mein Engel, Du machst Alexis eine Freude — und gewiß auch Herrn Walberg.“ Mimi hatte sich, wie gewöhnlich die Locken schüttelnd, an das Clavier gesetzt und begann, indem sie dazu leicht die Tasten berührte, mit biegsamer Stimme eine Reihe kleiner Couplets zu singen, welche zwar eben nichts Anstößiges ent¬ hielten, aber doch mit ihrem parodirenden Inhalt und sarkasti¬ schen Witz in dem Munde eines so jungen Geschöpfes um so befremdender klangen, als sie nebenher von allerlei vielsagenden Kopf- und Körperbewegungen begleitet waren. Alexis schwamm in Entzücken. „Herrlich! Göttlich!“ rief er ein über das an¬ dere Mal. „Nun, was sagen Sie, mein Herr? Hatt' ich nicht Recht?“ Durch diesen Beifall angefeuert, geberdete sich die Kleine immer toller und begann endlich, ihren Gesang abbrechend, einen Walzer zu spielen, so rauschend, so mächtig, mit einer solchen Fülle von Tönen, daß man ein ganzes Orchester zu hören meinte und selbst mir Tanzlust in die Glie¬ der schoß. Der junge Kaufmann aber konnte sich nicht halten. Er umfaßte seine Braut und walzte mit ihr durch das Zimmer. „Wie schade, daß man nicht zugleich spielen und tanzen kann!“ rief Mimi aus dem Gewoge heraus. „Das geht allerdings nicht“, sagte Alexis, indem er aufsprang. „Aber nicht wahr“ — und er legte dabei seine Hand schmeichelnd auf die Schulter Ludovica's — „Deine Schwester wird für Dich spielen? Und ich will mit Dir tanzen.“ Ludovica zuckte zusammen; aber sie setzte sich an den Platz Mimi's. Ihr Spiel klang nach dem früheren lahm und farblos. „Schneller! Stärker!“ schrie Alexis, der mit der Kleinen wie rasend im Zimmer umherflog. Ludovica preßte die Lippen zusammen und schlug mit aller Macht in die Tasten. Plötzlich jedoch hielt sie inne und drückte, in ein lautes Schluch¬ zen ausbrechend, die Hände vor das Antlitz. Alexis stampfte den Boden und blickte mit schlecht verhehltem Aerger nach ihr hin. Die Kleine zog die Brauen empor; Anna ging hinaus. Es war ein peinlicher, häßlicher Moment und ich hätte am liebsten nach meinem Hute gegriffen und mich still entfernt. Ludovica schien es zu bemerken. Sie stand auf und trat mir entgegen. „Stoßen Sie sich nicht daran, ich bitte“, sagte sie. „Es ist nichts; ein plötzlicher Weinkrampf. Das Geigenspielen greift die Nerven fürchterlich an. Ich habe oft solche Zufälle.“ Inzwischen war unter der Obsorge Anna's ein einfaches Mahl aufgetragen worden, an das wir verstimmt und einsilbig gingen. Berger und Alexis versuchten hin und wieder ein scherzhaftes Wort; aber es schlug nicht durch. Endlich war es Zeit, mich zu empfehlen. Ludovica zeigte sich beim Abschied zurückhaltend und zerstreut; Alexis jedoch überbot sich an Herz¬ lichkeit. „Es freut mich außerordentlich, Sie kennen gelernt zu haben“, sagte er. „Ich hoffe“, fuhr er mit einem raschen Blicke auf Ludovica fort, „Sie recht oft hier zu treffen.“ Un¬ ten am Thore athmete ich auf und trank in langen Zügen die klare Frühlingsnachtluft ein. Es stand bei mir fest, diese Schwelle nie mehr zu betreten. — Aber der Mensch ist ein seltsames Geschöpf. Nachdem eine gewisse Zeit verflossen war, erschien es mir unwürdig, so geradezu wegzubleiben. Mußte Ludovica nicht denken, ich sei verletzt, beleidigt, oder es geschähe in Folge jener Scene, bei welcher sie eine so ergreifende Rolle gespielt? War es nun wirklich diese Rücksicht oder eine geheime Sehnsucht, sie wiederzusehen — genug: ich ging an einem Vormittage zu ihr. Ich traf sie eben im Begriffe auszugehen, das Hütchen auf dem Kopfe.— „Ah, Sie, mein Herr?“ sagte sie, sichtlich über¬ rascht und befremdet. „Gut, daß Sie kommen. Ich habe soeben einen Brief für Sie zur Post geben wollen. Nehmen Sie Platz! Ich bin nämlich“, fuhr sie fort, „in der angeneh¬ men Lage, Ihnen jene Summe, die Sie mir so großmüthig vorgestreckt, zurück zu erstatten. Hier ist sie.“ Und sie öffnete eine Lade und reichte mir die bereits zurechtgelegten Banknoten. Ich nahm das Päckchen und steckte es in die Tasche. „Sehen Sie doch nach“, sagte sie. „O ich bin überzeugt. Aber“, setzte ich hinzu, da ich sah, daß sie sich unruhig hin und her bewegte, „ich störe vielleicht. Sie waren eben im Begriffe, das Haus zu ver¬ lassen.“ „Allerdings; ein wichtiger Gang — allein —“ „Ich bitte“, sagte ich und stand auf. „Nun denn“, erwiederte sie, „so leben Sie wohl. Noch einmal meinen innigsten Dank!“ Aber es klang wie ein un¬ geduldiges Drängen. Kein Wort, keine Andeutung, ich möchte wieder kommen. Mein Herz zog sich zusammen: ich war ent¬ lohnt. Als ich diesmal beim Thore anlangte, durchschauerte es mich heiß und schmerzlich; ich glaube sogar, daß meine Augen feucht geworden waren. Er schwieg, in Erinnerungen verloren. Nach einer Weile fuhr er fort: „Fast ein halbes Jahr war darüber hingegan¬ gen und alle diese Erlebnisse lagen bereits vergessen hinter mir. Nur zuweilen dämmerte noch wie im Traum die schlanke Gestalt der Geigerin vor mir auf, um alsbald wieder in Nichts zu zerfließen. Da wurde eines Tages ziemlich früh die Klingel meines Vorzimmers gezogen. Ich halte keinen Bedienten, und somit mußte ich selbst öffnen gehen. Nachdem ich es gethan, stand Ludovica vor mir. Ich war über ihren Anblick derart betroffen, daß ich alle Geistesgegenwart einbüßte und die Verlegene eine Zeit lang zwischen Thür und Angel stehen ließ. Endlich hatte ich mich gefaßt und führte sie rasch herein — nach jenem Sopha, auf welchem Sie jetzt sitzen. „Verzeihen Sie“, sagte sie mit einiger Anstrengung, „daß ich Sie störe. Sie haben mir einst einen solchen Beweis von Theilnahme gegeben, daß ich den Muth finde, noch einmal um ihre Hilfe zu bitten.“ „Verfügen Sie ganz über mich“, entgegnete ich erwar¬ tungsvoll. „Es handelt sich diesmal um etwas ganz Anderes“, fuhr sie rasch fort. „Es ist eine Angelegenheit, bei welcher mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht.“ „Sie erschrecken mich —“ „Um Ihnen meine Bitte vorzutragen, bin ich gezwun¬ gen, weiter auszuholen und ersuche Sie um freundliches Gehör.“ Ich nahm einen Stuhl und setzte mich ihr gegenüber. Sie that einen langen Athemzug, dann begann sie: „Wir sind die hinterlassenen Töchter eines Musiklehrers, der sich seiner Zeit eines besonderen Rufes erfreute und eine große Anzahl von Schülern aus den hervorragendsten Kreisen bei sich versammelte. Unter diesen befand sich auch ein junger Mann, Namens Alexis, der eine tiefe, wohlklingende Stimme besaß und zu seinem Vergnügen Unterricht im Singen nahm. Seine Familie, eigentlich russischen Ursprungs und in den Donaufürstenthümern zu Reichthum und Ansehen gelangt, war schon seit einigen Generationen hier ansässig, wo sie eine der bedeutendsten Großhandlungsfirmen vertrat. Als Jüngling, nach Paris geschickt, um sich dort unter der Aufsicht eines Geschäftsfreundes dem Handelsstande zu widmen, war er vor Kurzem zurückberufen worden; denn es hatte sich herausgestellt, daß er zu jenem Berufe durchaus keine Neigung besaß und sich vielmehr sorglos den Vergnügungen der Weltstadt über¬ lassen habe. Es sollte ihm nun eine andere Bahn eröffnet werden — und in dieser Zwischenzeit kam er in unser Haus. Ich zählte damals kaum sechszehn Jahre; meine Schwester Anna war bedeutend jünger; Mimi noch ganz klein. Seine außer¬ ordentliche Schönheit, sein stolzes und doch geschmeidiges Wesen, das Feuer seiner Blicke und Worte, mit welchen er mir als¬ bald eine lebhafte Neigung verrieth, nahmen mein eben auf¬ keimendes Herz derart gefangen, daß ich in kürzester Zeit mit Leib und Seele sein eigen war. Weit entfernt, das Verderb¬ liche eines solchen Verhältnisses damals auch nur zu ahnen, konnte ich mich um so mehr ganz diesem süßen Rausche über¬ lassen, als unsere Mutter früh gestorben war und mein Vater, welcher in solchen Dingen, wie ich jetzt erkenne, eine unglaub¬ liche Kurzsichtigkeit besaß, mich gar nicht überwachte. Eines Tages erschien Alexis plötzlich in glänzender Uniform und theilte mir mit, daß ihn seine Eltern bestimmt hätten, in den Militärstand zu treten. Er habe denn auch gleich eine Offi¬ ziersstelle in der Kavallerie erhalten und müsse nun zu seinem Regimente nach Ungarn abgehen. Das war unsere erste Trennung. Da wir aber täglich die glühendsten Briefe wech¬ selten und mein Geliebter, so oft es nur anging, hieher kam, so empfand ich dieselbe keineswegs schmerzlich; ja sie erhöhte vielleicht noch den Reiz unserer Liebe. Sogar als die Briefe, die ich von Alexis erhielt, kürzer und seltener wurden und er selbst nicht mehr so oft erschien, wurde das Gleichgewicht mei¬ ner Seele nicht erschüttert. Ich war gewiß, daß nur äußere Umstände daran Schuld trügen und erwartete ruhig den Tag, an welchem er wieder bei uns eintreten würde. Und das ge¬ schah auch. Er war wieder in bürgerlicher Kleidung gekommen und sagte, er sei des Militärdienstes satt und nunmehr geson¬ nen, sich der Künstlerlaufbahn zu widmen. Der wirkliche Sachverhalt war, daß er bei seinem Hange zur Verschwendung, den ich wohl an ihm bemerkt, aber auch nicht zu tadeln ge¬ funden, eine Schuldenlast aufgehäuft hatte, welche seine Ent¬ lassung nach sich zog. Ich wußte das nicht; aber wenn ich es auch gewußt hätte: es würde doch nichts an meiner Nei¬ gung zu ihm geändert haben. In der That bildete er sich nun unter der Leitung meines Vaters, welchem gegenüber er sich ohne weiteres als mein Verlobter benahm, für die Oper aus. Es gelang ihm bald, an einer kleineren Bühne Engage¬ ment zu finden, nach und nach auch in bedeutenderen Städten mit Glück aufzutreten; ja er wurde sogar einmal nach London berufen. Inzwischen hatte ich von mehreren Seiten Winke er¬ halten, mein Verhältniß zu Alexis abzubrechen. Er sei ein leichtsinniger, gewissenloser Mensch, hieß es, der seine Familie an den Bettelstab bringe, an jedem Orte Beziehungen zu Mädchen und Frauen unterhalte und überhaupt ein Leben führe, welches für seine Zukunft das Schlimmste befürchten lasse. Ich erkannte in all' diesen Warnungen bloße Verläum¬ dungen und niedrige Umtriebe einiger Bewerber um meine Hand, welche ich zwar nicht übermüthig, aber mit ruhigem Stolze abgewiesen hatte. Ich war von der Liebe des Ent¬ fernten, welcher zuweilen selbst in scherzhaften Briefen seiner Erfolge beim weiblichen Geschlechte erwähnte, um so mehr überzeugt, als er stets durchblicken ließ, wie er nur den Zeit¬ punkt einer sicheren und dauernden Stellung erwarte, um mich zu sich zu rufen. Da trat er, nachdem ich lange nichts von ihm gehört, plötzlich bei uns ein. Aber in welchem Zustande! Krank, gebrochen, herabgekommen — ein Bild männlichen Elends. Er hatte seine Stimme verloren, Gläubiger verfolg¬ ten ihn und da seine Eltern, welche ihm ihr ganzes Vermögen zum Opfer gebracht, gestorben waren, wußte er nicht, wohin er sein Haupt legen sollte. Ich liebte und liebe ihn so“, setzte sie mit zitternder Stimme hinzu, „daß ich auf all' das kein Gewicht legte und selig war, ihn wieder bei mir zu haben. Auch mein Vater hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet und Jeder von uns Einiges hinterlassen. So wenig es war, mein Theil genügte, ihn von den drückendsten Sorgen zu befreien. Er bezog eine Wohnung in unserer Nähe; ich pflegte ihn, ich sorgte für seine Bedürfnisse und legte auf seine abenteuerlichen Pläne, sich eine neue Existenz zu gründen, gar kein Gewicht. Durch meine Kunst, die ich nun mit den Schwestern öffentlich auszuüben begann, erschlossen sich mir neue Einnahmsquellen, und somit wäre Alles gut gewesen, wenn nicht, nachdem er genesen war, sein unvertilgbarer Leichtsinn wieder die Ober¬ hand gewonnen hätte. Er stürzte sich neuerdings in Schulden¬ die er mir anfänglich geheim hielt, welche ich aber im entschei¬ denden Augenblicke so lange bezahlte, bis ich es nicht mehr im Stande und er auf dem Punkte war, vor Gericht gezogen zu werden. In diesen entsetzlichen Tagen“, schloß sie aufathmend, „waren es Sie, mein Herr, der ihn gerettet.“ Es entstand eine Pause; dann fuhr sie in schmerzlich ge¬ dämpftem Tone fort: „Schon früher glaubte ich zu bemerken, daß sich zwischen Alexis und meiner jüngsten Schwester eine Neigung entspinne. Aber ich wollte es mir nicht eingestehen, und in meiner gewaltsamen Selbstverblendung begünstigte ich diese Umwandlung noch insofern, als ich Vieles absichtlich übersah, um dem Vorwurfe thörichter Eifersucht zu entgehen. Es wäre auch vielleicht nicht zum Aeußersten gekommen, wenn sich Alexis' Verhältnisse nicht plötzlich wie mit einem Schlage verändert hätten. Er war nämlich in Folge früherer Bekannt¬ schaften wieder in die Gesellschaft vornehmer junger Leute gerathen, die ihn nun als Vermittler hoher Darlehen zu be¬ nützen suchten. Da er mit der Zahlungsfähigkeit jedes Ein¬ zelnen so ziemlich vertraut war, fiel es ihm nicht schwer, Geld¬ speculanten zu finden, die sich gegen riesigen Gewinn auf derlei Unternehmungen einließen. Einige solcher Geschäfte hatten sich bald glänzend abgewickelt — und seit dieser Zeit ist Alexis ein von beiden Seiten gesuchter Mann. Sein Zim¬ mer wird nicht leer von Besuchern, die zu Roß und Wagen vor dem Hause anlangen; überraschend hohe Summen fliegen ihm zu, und wenn sein Hang zur Verschwendung nicht wäre, so müßte er sich bereits jetzt ein Vermögen erworben haben. Das Erste, was er that, war jedoch, sich in einem vornehmen Stadtviertel einzumiethen; im Interesse seiner Wirksamkeit, wie er sagte. Dabei vernachlässigte er mich auffallend, zog aber im Geheimen Mimi, mit welcher ich nun, da meine an¬ dere Schwester mittlerweile geheirathet hatte, allein lebte, mehr und mehr an sich. Eines Tages erklärte sie mir, sie werde mich verlassen; Alexis habe die Sorge für ihren Unterhalt übernommen. Vernichtet, außer mir vor Schmerz und Ver¬ zweiflung, eile ich zu ihm. Er empfängt mich kalt und ge¬ messen, erklärt mir, daß er mich nicht mehr liebe, mich längst nicht mehr geliebt habe und daß von einem innigeren Ver¬ hältnisse zwischen uns Beiden keine Rede mehr sein könne. Mein Freund wolle er bleiben und Alles für mich thun, was ich sonst von ihm verlangen würde. Und als ich mich, gelöst in Schmerz und Thränen, zu seinen Füßen werfe, seine Kniee umklammere und ihn beschwöre, mir sein Herz wieder zuzu¬ wenden und jenen schmählichen Erwerb, der ihn unfehlbar in's Verderben führen müsse, aufzugeben —: stößt er mich rauh von sich und droht endlich, mir die Thüre weisen zu lassen!“ Sie brach in ein fast schreiendes Weinen aus und sank in das Sopha zurück. „Das ist sehr traurig“, sagte ich nach einer Pause. „Aber was soll — was kann ich dabei thun?“ „O, Alles!“ rief sie, indem sie sich mit ihrem Tuche hastig Augen und Wangen trocknete, „Alles, wenn Sie nur wollen!“ Und da ich ungläubig vor mich hinblickte, fuhr sie warm fort: „Sehen Sie, trotz seiner scheinbaren Härte ist er doch eine weiche, lenksame Natur; trotz seines Leichtsinnes, seiner Verirrungen einer edleren Regung fähig, und ich bin überzeugt, daß ihn nur das Berauschende seiner neuen Lage und“ — fügte sie leiser hinzu — „die Verführungskünste meiner Schwester so weit gebracht. Wenn sich ein Mann findet, den er achtet, auf dessen Stimme er Gewicht legt, und dieser ihm das Unwürdige seiner Stellung, das Grausame sei¬ nes Handelns vorhält: so zweifle ich nicht, daß er in sich geht und zu mir zurückkehrt.“ „Glauben Sie? — Und wenn dem so wäre: woraus schließen Sie, daß ich der Mann sei, der so viel Gewalt über ihn hätte?“ „O ich weiß es! Ich habe ihn noch von Niemand mit so viel Wärme, Anerkennung — ja Bewunderung reden hören, wie von Ihnen. Er hat“, fuhr sie erröthend fort, „bei Ihnen sogleich Eigenschaften wahrgenommen, die ich damals in der Verwirrung meiner Seele nicht zu erkennen — nicht völlig zu würdigen im Stande war. — Und jetzt bin ich gezwungen, Ihnen ein Bekenntniß abzulegen, das für mich beschämend ist, welches ich aber in diesem Augenblicke nicht zurückhalten kann. Sie werden sich erinnern, daß ich damals, als Sie — ich will nicht sagen den Wunsch, so doch die Andeutung aus¬ sprachen, mich wieder sehen zu wollen, einigermaßen betroffen war. Ich durfte keine Hoffnungen erregen, die ich nicht er¬ füllen konnte. Aber im selben Momente zuckte in mir der Gedanke auf, Alexis durch Sie meinen Werth fühlen zu lassen, ihn — um es gerade heraus zu sagen, eifersüchtig zu machen. Als ich aber erkannte, daß gerade das Gegentheil eintrat, ver¬ wünschte ich im tiefsten Herzen diesen Winkelzug und faßte eine Art Abneigung gegen Sie, die um so stärker wurde, je aufrichtiger, je unberechneter seine Verehrung für Sie hervor¬ brach.“ Sie hatte, innehaltend, Haupt und Blick gesenkt, als erwartete sie das Urtheil eines Richters. Ich schwieg. „Sie verachten mich jetzt“, sagte sie kaum hörbar. „Nein“, erwiederte ich. „Im Gegentheile: ich achte Sie höher, als ich je vermocht.“ Es war keine bloße Phrase, was ich da aussprach. Man ist bei den Frauen im Allgemeinen so wenig Aufrichtigkeit zu finden gewohnt, daß ich mich durch die Wahrheit ihres Geständnisses, so unerfreulich dasselbe für meine Person war, im Tiefsten überrascht und ergriffen fühlte. „Ja, Ludovica“, fuhr ich fort, „ich achte Sie hoch und damit ich es Ihnen beweise, will ich mit Alexis reden.“ Sie machte eine Bewegung, als wollte sie mir dankend zu Füßen fallen. Ich sprang auf. „Erwarten Sie nicht zu viel! Sie Saar , Novellen aus Oesterreich. 15 begreifen, daß ich mich nicht ohne weiteres in fremde Verhält¬ nisse einmischen, daß ich nicht den Liebesvermittler spielen kann. Aber nach dem, was Sie mir gesagt haben, wird es mir mög¬ lich, Alexis als ernster Mahner und Warner zu nahen. Und das will ich thun.“ „O, jetzt ist Alles gut!“ rief sie in überquellender Freude, „jetzt bin ich gerettet! Aber noch Eins. Ich sagte vorhin, daß Alexis den Verführungskünsten meiner Schwester erlegen sei. Wenn ich gewiß wäre, daß sie ihn liebt, ihn treu, wahr und aufrichtig liebt — vielleicht — aber auch nur vielleicht — wäre ich im Stande, zurückzutreten. Ich sage Ihnen jedoch: sie liebt ihn nicht!“ „Ich glaub' es“, erwiederte ich. „Es wird mir schwer, es auszusprechen — aber so jung sie ist — so gefallsüchtig und herzlos, so falsch und tückisch ist sie auch. Sie wird ihn unglücklich machen, wird ihn auf der gefährlichen Bahn weiter und weiter treiben —“ „Ich bin davon überzeugt. Aber wird er sich überzeugen lassen?“ „Ich hab' es versucht; doch es hat ihn noch mehr gegen mich gereizt.“ „Das war unklug von Ihnen und deßhalb darf ich diesen Punkt nur mit äußerster Vorsicht berühren.“ „Reden Sie, handeln Sie, wie es Ihnen gut dünkt. Ich weiß, Sie werden Alles zum Besten lenken. Und — nicht wahr — Sie gehen gleich morgen zu ihm? Nicht zu spät, daß Sie ihn sicher zu Hause treffen — und dann geben Sie mir sogleich Nachricht.“ Sie hatte sich bei diesen Worten erhoben. „Ich werde es; aber noch einmal: erwarten Sie nicht zu viel!“ Und damit geleitete ich sie hinaus. Als ich wieder allein war, trat allmälig die Reaction bei mir ein. Ich sah mich da in einen Handel verstrickt, bei dem ich möglicher Weise in zweideutigem Lichte erscheinen konnte und welcher, das erkannte ich mehr und mehr, zu keinem guten Ende zu bringen war. Angenommen selbst, daß die früheren Verhältnisse wieder hergestellt wurden: wie lange konnten sie zwischen diesen Menschen vorhalten? — Aber ich hatte dem armen, verzweifelten Weibe meine Hilfe zugesagt und ging am nächsten Morgen zu Alexis. — Ich traf ihn, nachdem mich ein Diener angekündigt hatte, eben am Frühstückstische, eine türkische Pfeife mit langem Rohr in der Hand. Er sprang auf und kam mir, flammend vor Verlegenheit, entgegen. „Ah, mein Herr“, rief er, „was ver¬ schafft mir das Vergnügen, die besondere Ehre Ihres Besuches? — Sie sehen mich noch beim Frühstück — kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Oder Thee — Chocolade —“ Ich dankte. „Also doch wenigstens eine Cigarre“, und er öffnete eine 15* prächtige Ledercassette. „Directer Bezug von Havannah“, fuhr er fort, mehr aus Fassungslosigkeit, als um zu prahlen. Ich wollte ihn nicht verletzen und nahm von dem kost¬ baren Kraute, während er mir dienstbeflissen Feuer reichte. „Mein Herr“, begann ich, nachdem wir uns Beide gesetzt hatten, „ich glaube, mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Sie über den Grund meines Erscheinens so ziemlich im Klaren sind.“ „Nun — allerdings“; erwiederte er unruhig. „Ich ver¬ muthe, Sie kommen als Abgesandter —“ „Ja denn, wenn Sie es so nennen wollen. Doch besser gesagt: ich komme über Ersuchen des Fräuleins Ludovica Mens¬ feld. Sie ist sehr unglücklich.“ „Durch ihre eigene Schuld“, fuhr er auf. „Ich habe ihr Alles ruhig auseinander gesetzt, habe ihr die vernünftigsten Vorschläge gemacht. Aber sie will nichts hören, will nicht be¬ greifen, daß Gefühle vergänglich sind, daß neue Eindrücke ebenfalls ihre Rechte fordern —“ „Mein Herr“, warf ich ein, „Sie gehen zu weit. Einem liebenden Weibe zumuthen, daß es natürlich und begreiflich finden soll, was Ihnen und vielleicht auch mir so erscheint, heißt Uebermenschliches verlangen. Und Ludovica liebt Sie.“ „Ja, ja“, sagte er unwillig, „sie liebt mich, ich weiß es — und ich habe sie auch geliebt, heiß und glühend geliebt. O“, fuhr er, in Erinnerungen versinkend, fort, „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön, wie bezaubernd sie war. Ihre Augen, ihr Wuchs, ihre Hände und Füße — und sie ist jetzt noch schön und dabei ein gutes, vortreffliches Wesen — keine ihrer Schwestern kann eigentlich nur im entferntesten mit ihr verglichen werden —“ „Nun also —“ sagte ich. „Und dennoch — dennoch liebe ich sie nicht mehr, kann sie nicht mehr lieben! Sie ist immer dieselbe; immer die gleiche Hingebung, die gleiche Zärtlichkeit; immer die näm¬ lichen sanften Ansprüche. Diese Monotonie wirkt nachgerade erdrückend. Sehen Sie, da ist ihre Schwester Mimi — ein launenhaftes, bizarres Geschöpf. Aber voll Geist, voll Witz, voll Leben — ein reizender kleiner Teufel.“ „Diese Bezeichnung ist vielleicht nicht übel gewählt“, er¬ wiederte ich ruhig. — „Aber gibt Ihnen das ein Recht, ein Weib zu verlassen, das mit inniger Liebe und Treue an Ihnen hängt — das Ihnen Alles geopfert?“ Er schnellte, wie an einer Wunde berührt, vom Sitze empor. „Ja“, rief er, im Zimmer auf und ab eilend, „ja, sie hat mir viel, hat mir Alles geopfert. Ich weiß, was Sie meinen. Aber warum that sie es?! Ich hab' es nicht gefor¬ dert. Sie hätte mich meinem Schicksale überlassen sollen. Und dann — ich habe Alles geordnet, Alles beglichen, was sie von jener Zeit her noch bedrücken, noch beunruhigen könnte. Ich habe ihr die glänzendsten Anerbietungen gemacht. Aber sie weist Alles zurück und zieht es vor, von Musikstunden zu leben. Was sie fordert, ist Liebe und wieder Liebe — und die kann ich ihr nicht geben.“ „Nun, dann wäre es Ihre Pflicht, Ludovica zart und schonungsvoll nach und nach mit ihrer Lage vertraut zu machen, in welcher sie sich, von Schmerz und Leidenschaft verwirrt, nicht allsogleich zurecht finden kann. Keineswegs aber durften Sie die Aermste ungeduldig und grausam von sich stoßen und ihr auf's unwürdigste drohen.“ „Das that ich, weil sie nach unwürdigen Mitteln griff, mich wieder zu gewinnen. Sie hat ihre Schwester vor mir herabgesetzt, hat den Verdacht in mir erwecken wollen, daß mich Mimi nicht liebt.“ „Und wenn sie Recht hätte“, sagte ich ernst. Er zuckte zusammen und blieb stehen. „Sie sprechen in Ludovica's Interesse!“ rief er. „Mein Herr“, sagte ich, indem ich mich jetzt gleichfalls erhob und auf ihn zutrat, „es mag sein, daß der Schritt, den ich unternommen, Sie einigermaßen berechtigt, Zweifel in die völlige Aufrichtigkeit meiner Worte zu setzen. Allein, wenn Sie in meiner Seele lesen könnten, so würden Sie die Ueber¬ zeugung gewinnen, wie ehrlich, wie wahr ich es, nicht blos mit Ludovica, sondern auch mit Ihnen meine. Ich wieder¬ hole es: Marie Mensfeld liebt Sie nicht .“ Und da er schmerzlich betroffen zu Boden sah, fuhr ich rasch fort: „Nicht Sie — und auch keinen Anderen. Mimi gehört zu den Frauen, die erst dann lieben, wenn sie selbst nicht mehr fähig sind, Liebe zu erwecken.“ Er schritt langsam zu seinem Stuhl und setzte sich wieder. Schweigend, mit gesenktem Haupte schien er einem geheimni߬ vollen Echo zu lauschen, das meine Worte in seinem Innern wachgerufen. Er mußte bereits selbst schwer und oft gezwei¬ felt haben und kämpfte jetzt mit seinen Gedanken. „Ich bin nicht in der Absicht hiehergekommen“, fuhr ich, mich ihm nähernd, fort, „Gluthen anzufachen, die erloschen sind: das vermag keine Macht der Erde. Aber lassen Sie uns offen mit einander reden. Was Sie an Mimi fesselt, ist die Macht ihrer jugendlichen Reize. Sie finden bei ihr Freu¬ den und Genüsse, die Ihnen Ludovica nicht mehr zu bieten vermag. Allein bedenken Sie, daß das Dasein nicht blos im Genießen besteht, daß wir auch zu entbehren und so manches Opfer uns selbst und Anderen zu bringen haben. Bedenken Sie, daß es Pflichten gibt, die, sofern sie nicht mit unserem besseren Ich im Widerspruche stehen, unter allen Umständen erfüllt werden müssen. Erkennen Sie, daß man eine Ver¬ gangenheit nicht so leicht abschüttelt wie ein Kleid, das man wechselt. Und welchen Tausch wollen Sie treffen? Hier ein Weib, sanft und zärtlich, voll Hingebung und Treue; zu¬ frieden, mit Ihnen in ein und derselben Luft athmen zu kön¬ nen; dort ein Geschöpf, mehr stachelnd als anziehend; zwar voll Witz und Beweglichkeit, aber auch ohne Herz und Seele. Ein Geschöpf, das nur zur Maitresse geschaffen ist und Sie mit kaltem Blute verlassen wird, wenn Sie nicht mehr im Stande sind, jede ihrer Launen zu befriedigen. Wie lange aber — und um welchen Preis wird Ihnen dies möglich sein? Es steht mir vielleicht nicht zu, Sie auf das zum min¬ desten Unpassende Ihrer gegenwärtigen Verhältnisse aufmerk¬ sam zu machen, und ich maße mir nicht an, mit unerbetenen Rathschlägen in Ihr Leben eingreifen zu wollen — aber sagen Sie selbst: wohin soll das führen?“ Er hatte den Blick gesenkt; er war beschämt; aber auch bewegt und ergriffen. „Ja, es ist wahr“, rief er aus und faßte meine Hand, „Sie haben Recht! Allein, was soll ich thun? Der Ertrinkende greift nach Allem, was sich ihm dar¬ bietet. Mein Leben ist nun einmal ein verfehltes —“ „Nicht doch! Sie stehen in der Blüthe Ihrer Jahre. Einem Manne von Ihren Anlagen und Fähigkeiten wird und muß es bei redlichem Wollen gelingen, sich eine gesicherte, wohlanständige Stellung zu schaffen. Und gerade hiezu bietet Ihnen eine Vereinigung mit Ludovica die beste Aussicht. Sie selbst hat bereits erwerben gelernt; Sie werden sich gegenseitig stützen und fördern und nach allen Stürmen und Kämpfen in einer bescheidenen Häuslichkeit die höchsten Güter der Erde: Ruhe und Zufriedenheit finden.“ Er blickte vor sich hin. Rührung und Unentschlossenheit malten sich in seinen Zügen; es war, als wollte sich in seiner Brust ein Umschwung vorbereiten. „Und was sollte mit Mimi geschehen?“ fragte er dumpf. „Ueberlassen Sie sie ihrem Schicksale! Sie wird ihren Weg zu finden wissen!“ Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als draußen hef¬ tig an der Klingel gerissen wurde und fast gleichzeitig, mit Sammt und Seide angethan, ein schmuckes Federhütlein unter¬ nehmend auf die krausen Locken gestülpt, Mimi zur Thüre herein rauschte. Sie stand bei meinem Anblick betroffen still und ihre Oberlippe zog sich gehässig empor. Ihr Aeußeres hatte sich, seitdem ich sie nicht mehr gesehen, bedeutend verän¬ dert. Sie war mächtig aufgeschossen und ihre Gesichtszüge hatten eine scharfe Deutlichkeit angenommen. Alexis flog ihr wie verwandelt entgegen und ich erkannte, daß nun Alles verloren sei. „Du siehst, mein Engel“, stam¬ melte er, „ich habe Besuch; tritt einstweilen hier in's Neben¬ zimmer.“ Er geleitete sie und ich vernahm, wie sie drinnen miteinander flüsterten. Nach einer Weile kam er zurück. „Sie verzeihen“, sagte er mit einiger Verlegenheit, „daß ich nicht länger das Vergnügen haben kann — eine wichtige Angelegen¬ heit —“ Und während ich nach meinem Hute griff, fuhr er fort: „Seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Bemerkungen, Ihre Rathschläge zu würdigen weiß — daß ich sie auch zum Theile vollkommen anerkenne und Ihnen gewiß dankbar bin — es läßt sich jedoch in dieser Hinsicht so rasch kein Entschluß fassen. Was nun Ludovica betrifft, so bitte ich, ihr zu sagen, daß ich schon früher Alles wohl erwogen und überlegt habe, daß ich begreife, wie schmerzlich es für sie sein muß — aber ich kann nichts an den Beziehungen ändern, in welchen wir gegenwärtig zu einander stehen. Durchaus nichts!“ fügte er, die verletzende Hartnäckigkeit schwacher Naturen hervorkehrend, hinzu. Ich betrachtete ihn schweigend. „Ich werde es ihr sagen“, sprach ich endlich und ging. Ich begab mich geraden Weges zu Ludovica, die, seit sie von ihren Schwestern getrennt lebte, eine einfache Miethstube bewohnte und mir in höchster Spannung entgegenkam. „Nun, nun?“ fragte sie mit erwartungsvollen Blicken. „Es ist gekommen, wie ich es vorhergesehen.“ Und ich erzählte ihr Alles. Mir blutete das Herz, wie sie so vor mir saß und athem¬ los an meinem Munde hing, während jedes Wort wie ge¬ schmolzenes Blei in ihre Seele fiel. Wie sie schmerzlich auf¬ zuckte, wie sie nach Fassung rang, wie sich allmälig Rührung, Freude und Hoffnung in ihren Zügen malten — bis sie end¬ lich enttäuscht und verzweifelt unter einem Strome von Thränen zusammenbrach. Und doch, wenn es ein Mittel gab, sie aus diesen Wirrsalen zu befreien, ihr den Frieden der Seele wieder¬ zugeben: so konnte es nur geschehen, indem man sie zum kla¬ ren Bewußtsein ihrer Lage und zur Ueberzeugung brachte, daß sie nichts mehr erwarten, nichts mehr hoffen dürfe. Aber sie hoffte noch. Denn nachdem sie eine Zeitlang, von ihren wo¬ genden Gedanken und Gefühlen umbraust, geschwiegen hatte, versuchte sie es instinktmäßig, sich an den erfreulicheren Theil meiner Mittheilungen zu klammern. „Also er hat doch lieb und gut von mir gesprochen“, begann sie leise. „Sie sahen ihn gerührt, ergriffen. Er war auf dem Punkte —“ „Sich aus einer Schwachheit in die andere zu stürzen!“ fiel ich ihr in's Wort. „Er war auf dem Punkte einen Ent¬ schluß zu fassen, den er morgen oder übermorgen wieder bereut und rückgängig gemacht hätte. Er ist nicht der Mann, nach Grundsätzen zu handeln und ich habe gesehen, wie das bloße Erscheinen Ihrer Schwester auf ihn gewirkt hat. Mit einem Worte: Er liebt Sie nicht mehr und ist für Sie verloren!“ „O! o!“ jammerte sie und rang die Hände. „Fassen Sie sich, Ludovica“, fuhr ich fort. „Blicken Sie den Ereignissen fest und klar in's Auge und vergessen Sie einen Menschen, der nicht würdig ist, von Ihnen geliebt zu werden.“ „Nie! Nie!“ rief sie, sich verzweifelt hin und her wer¬ fend. „Ich kann — ich will ihn nicht vergessen; ich kann und will ihn nicht verlieren. Er ist mir Alles!“ „Alles?! Haben Sie nicht sich selbst? Haben Sie nicht Ihre Kunst?“ „O, sprechen Sie mir nicht von meiner Kunst! Dort liegen meine Geigen verstimmt und bestäubt; seit Monden spiel' ich nicht mehr. Ja früher — da gab es keine größere Seligkeit für mich, als die stille Sehnsucht, die jubelnde Freude, die süßen Schmerzen meiner Brust in den mitempfindenden Saiten austönen zu lassen. Aber jetzt hass' ich sie, und nur manchmal überkommt es mich, darin zu wüthen, daß sie zer¬ springen wie mein Herz!“ „Freveln Sie nicht“, sagte ich ernst und streng. „Wer¬ fen Sie nicht thöricht das göttliche Geschenk von sich, womit Sie das Schicksal vor Tausenden begnadet hat! Erwägen Sie, wie viele Menschen um Sie her unter der Last des Elends, des Kummers und der Verzweiflung seufzen und nichts besitzen, woran sie sich aufrecht halten, woran sie sich in eine freiere Atmosphäre emporringen könnten. Erwägen Sie, wie viele berechtigte Hoffnungen in diesem Leben scheitern, und ver¬ zichten Sie auf das, was Sie verloren haben.“ „O, Sie sind ein Mann!“ rief sie, „und wissen nicht, was dem Weibe die Liebe ist!“ „Ich weiß es. Die Liebe ist der Lebensinhalt des Wei¬ bes. Allein die ewigen Ideen, der Fortschritt im Ganzen und Großen, die Sorge für das allgemeine Wohl sind und waren bis jetzt der Lebensinhalt des Mannes. Und wie oft muß er, woran er den Schweiß und die ganze Kraft seines Daseins gewandt, über Nacht zusammenbrechen und sich mit Undank, Hohn und Spott, mit der öffentlichen Verachtung belohnt sehen. Und in dieser Welt der Enttäuschung und des Schmerzes, in dieser Welt, wo Nichts Bestand hat: will das Weib allein sein Glück dauernd und ungefährdet erhalten wissen?!“ — Und da sie nachdenklich vor sich hin sah, fuhr ich fort: „Und ist denn auch Ihr Loos ein so entsetzliches? Haben Sie nicht geliebt? Sind Sie nicht wieder geliebt worden? Können Sie nicht sagen: ich habe gelebt und genossen, wäh¬ rend andere Frauen niemals die Knospe ihres Herzens spren¬ gen durften und mit verhaltenen Gluthen zu Grabe gingen!“ Sie war in ein sanftes Weinen ausgebrochen. Ich erhob mich und trat vor sie hin. „Ludovica, lassen Sie mich Ihr Freund sein!“ Und da sie mir rasch abwehrend beide Hände entgegen streckte, sagte ich eindringlich: „Mißverstehen Sie mich nicht! Ich bin nicht der Mann, Ihnen in diesem Augenblicke mit Liebesanträgen zu nahen. — Noch einmal: lassen Sie mich Ihr Freund sein! Ich bin es gewohnt, den einsamen Pfad der Entsagung zu schreiten. Ich will Sie stützen, führen und lenken; ich will über Ihnen wachen, wie über einem kranken Kinde — bis Sie endlich, mit Ihrem Geschicke und Ihrer Kunst wieder versöhnt, jene Höhe des Daseins erreicht haben, von welcher aus Sie lächelnd auf die Vergangenheit zurück — und vielleicht einer schöneren Zukunft entgegenblicken können.“ Sie schien die Macht meiner Worte in tiefster Seele zu empfinden und darüber nachzusinnen. Plötzlich aber schauderte sie auf und rief, die Hände vor das Antlitz schlagend: „Nein! Nein! Ich kann ihm nicht entsagen! Und wenn er mich auch nicht mehr liebt — ich lasse ihn nicht! Seine Leiden¬ schaft für Mimi kann nicht dauern; er wird und muß wieder zu mir zurückkehren. Ich will Alles dulden, Alles ertragen. Er soll mich schelten, soll mir drohen, soll mich von sich stoßen: ich will selig sein, von seinen Füßen getreten zu werden, denn ich kann nicht leben ohne ihn!“ Ich trat einen Schritt zurück. Dieser wilde, rasende Ausbruch, dieser blinde Drang, auf dem kein Strahl der Er¬ kenntniß haften wollte, erkältete mich bis in's Herz hinein. „Nun denn“, sagte ich endlich, „so leben Sie wohl! Der Himmel sei Ihnen Allen gnädig!“ — Was nun die Ereignisse später mit sich brachten, kann ich Ihnen rasch und kurz erzählen. Ich habe es erfahren, wie man nachgerade Alles über Menschen erfährt, die man kennt. — Alexis' glänzende Verhältnisse waren, wie vorauszusehen, unhaltbar. Nach kurzer Zeit schon stockten einige bedeutende Zahlungen. Die Speculanten wurden mißtrauisch und schwie¬ rig und forderten die unglaublichsten Erstreckungssummen. Neue Termine wurden nicht eingehalten, Wucheranzeigen er¬ stattet und so kam das ganze Unternehmen, bei welchem sich auch einige arge Unredlichkeiten nachweisen ließen, in's Schwan¬ ken und Stürzen und brach endlich zusammen. Nur der Um¬ stand, daß selbst Persönlichkeiten höchsten Ranges mit verwickelt waren, rettete Alexis, der nun wieder in's tiefste Elend zurück¬ sank, vor gerichtlicher Verfolgung. In der Aufregung dieser Tage — Mimi war inzwischen mit einem Attach é der fran¬ zösischen Gesandtschaft nach Paris gereist — zog sich der Un¬ glückliche eine rasche Krankheit zu, die ihn auf's Todtenbett warf. Ludovica hat ihn in ihrer ärmlichen Stube gepflegt und mit dem Erlöse ihrer letzten Habseligteiten begraben lassen. Er ist in ihren Armen gestorben. — Es war wieder ganz still im Gemache; mir von der Straße herauf klang das dumpfe Rollen eiues verspäteten Wagens. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende“, sagte ich. „Nein; aber was jetzt folgt, ist nur ein kurzes Nachspiel oder vielmehr ein häßliches Seitenstück zu dem, was Sie bis jetzt gehört haben. Es müßte unbegreiflich erscheinen, wenn nicht gerade das Unbegreifliche die Natur des Weibes wäre. Und dennoch werden Sie darin das unerbittlich und gleich¬ mäßig waltende Geschick erkennen, welches Ludovica dem Ab¬ grunde zutrieb. — Drei Jahre waren vergangen und ich hatte sie nicht wieder gesehen. Da begegnete ich ihr eines Tages auf der Straße, wie sie am Arme eines Mannes einherschritt. Es war wohl nur gegenseitige Fassungslosigkeit, daß wir mit einem Gruße vor einander stehen blieben. Wir stammelten einige Worte, die freudig klingen sollten; endlich wies sie auf ihren Begleiter und sagte: „Mein Mann, Baron —“ sie nannte einen Namen, der nichts zur Sache thut. Ich warf, während er sich nachlässig verbeugte, einen Blick auf ihn. Er war nicht mehr jung, von hohem Wuchse und wohlbeleibt. Sein Antlitz mußte einst schön gewesen sein, jetzt aber zeigte es sich aufgedunsen und der Ausdruck niedriger Leidenschaften lag darin. Sein Anzug war eine Mischung von Sorgfalt und Verlotterung; auch Ludovica sah in ihrem Aeußern ziem¬ lich herabgekommen aus. Ich schützte Eile vor und empfahl mich. „Freut mich sehr, einen alten Freund meiner Frau kennen gelernt zu haben“, sagte der Baron in einem singenden mitteldeutschen Dialekte; „machen Sie uns einmal das Ver¬ gnügen — wir wohnen —“ Das Weitere vernahm ich nicht mehr. Ich konnte mich nicht enthalten, in einiger Entfernung stehen zu bleiben und dem Paare nachzublicken. Ein eigen¬ thümliches Gefühl überkam mich, als ich das Weib, das ich zwar nicht geliebt hatte, welches ich aber, wie ich noch jetzt fühlte, unsäglich hätte lieben können, mit diesem Manne vereint, dahin gehen sah. — Nach Verlauf einiger Wochen trat ich Abends in ein Kaffeehaus, um die Zeitungen zu durchblättern. Da gewahrte ich den Baron, der in einer Fensternische saß und mich offenbar nicht wieder erkannte. Er hatte ein geleertes Liqueurglas vor sich stehen und blickte von Zeit zu Zeit, wie Jemanden er¬ wartend, durch die Scheiben auf die Straße. Endlich zeigten sich vor dem Fenster die Umrisse einer weiblichen Gestalt. Der Baron erhob sich rasch, warf kleine Münze auf die Un¬ tertasse und eilte hinaus. Es trieb mich, ihm zu folgen und ich konnte noch gewahren, wie ihm Ludovica — denn sie war es — Etwas überreichte, womit er nicht zufrieden zu sein schien. Er gesticulirte heftig und seine Stimme klang laut und drohend. Endlich mußte sie ihn beschwichtigt haben, denn er gab ihr den Arm. Zuletzt bogen sie in eine Seitengasse ein, wo ich sie aus den Augen verlor. — Ich habe Ludovica erst heute wieder gesehen. Ich ahnte sogleich, wie Alles gekommen sei; denn seit jenem Abend hegte ich die traurigsten Vorstellungen. Aber ich wollte Gewißheit und fuhr mit Ihnen nach dem Laden des Kaufmanns Berger. Dort wurde mir Alles bestätigt. Sie hatte, weiß Gott, wie und wo, den Baron kennen gelernt, der sich unter dem Vor¬ wande, einen Erbschaftsprozeß durchzuführen, hier herumtrieb. Er drang in Ludovica, ihn zu heirathen — und sie that es, wie ich überzeugt bin, nicht aus Neigung — sondern nur von jenem beklagenswerthen Drang bestimmt, der endlich fast jedes Weib überkommt, wohl oder übel einem Manne dauernd an¬ zugehören. Sie unterhielt einstweilen sich — und ihn durch Saar , Novellen aus Oesterreich. 16 Musiklectionen, deren sie viele hatte; an die Ausübung ihrer Kunst dachte sie nicht mehr. Aber die Erbschaftshoffnungen zerflossen in nichts und der Baron, der dem Laster des Trunkes und des Spieles ergeben ist, brauchte Geld. Ludovica mußte es schaffen: durch Darlehen, die sie auftrieb, durch Geschenke, die sie erbettelte, und als es ihr nicht immer gelingen wollte, mißhandelte er sie — ja ging in seiner Niederträchtigkeit so weit, sie zwingen zu wollen, die letzten Reste ihrer Schönheit zu verkaufen. Das ertrug sie nicht. Heute morgens hatte er sie wieder fortgeschickt, eine Summe herbei zu schaffen — eine verschwindend kleine Summe: aber selbst ihre Schwester und ihr Schwager, welche der Unglücklichen bis jetzt, zwar ungern und mit Vorwürfen aller Art, aber dennoch in den äußersten Fällen stets geholfen hatten — verweigerten sie ihr diesmal. Sie mußte sich nicht nach Hause gewagt haben, mußte lange umhergeirrt sein und — das Uebrige wissen Sie.“ Wir schwiegen Beide. „Und nun sagen Sie mir“, fuhr er fort, „wie es kam, daß dieses holde Geschöpf, ausgestattet mit allen Vorzügen ihres Geschlechtes, welche Andere so vortrefflich zu verwerthen wissen, sich an Unwürdige weggeworfen; wie es kam, daß sie in thö¬ richter Umkehrung der Verhältnisse für Diejenigen zu sorgen bemüht war, welche für sie zu sorgen die Verpflichtung hatten — bis sie, noch in jungen Jahren, ein so trauriges Ende nahm? Warum war sie nicht so klug und brav wie ihre Schwester Anna, die nun eine glückliche Gattin und Mutter ist? Warum war sie nicht so klug und schlecht wie ihre Schwester Mimi, die gegenwärtig als Chansonettensängerin die Welt durchreist und mit Gold und Diamanten überschüttet wird? Warum ! Das ist die große Frage, auf welche weder unsere Philosophen und Moralisten, noch die stelzbeinigen Theaterfiguren unserer modernen Dramatiker eine Antwort zu geben wissen — und die selbst dann nicht gelöst sein wird, wenn die Physiologen jeden Gedanken, jedes Wort, jede That auf die entsprechende Faser des Gehirns, auf diesen oder jenen zuckenden Nerv und auf die mehr oder minder vollkommene Funktion eines bestimm¬ ten Organs zurückzuführen im Stande sein werden. Dann aber, wenn man erkennen wird, daß der Mensch nichts anderes ist, als eine Mischung geheimnißvoll wirkender Atome, die ihm schon im Keime sein Schicksal vorausbestimmen: dann wird man, glaube ich, auch dahinter gekommen sein, daß es, trotz aller geistigen Errungenschaften, besser ist, nicht zu leben! —“ Er war bei diesen Worten aufgestanden und reichte mir jetzt die Hand zum Abschied. Ich ging. Draußen schwieg die ausge¬ dehnte Residenz in tiefem Schlafe. Die Gasflammen waren schon zur Hälfte ausgelöscht; düstere Schatten umhüllten die Häuser und nur hier und dort schimmerte durch ein Fenster mattes Licht. Wie viele Herzen mochten in dieser Stille voll Kummer und Ver¬ 16* zweiflung schlagen! Wie vieles Elend lag unter der flüchtigen Hülle des Schlummers verborgen! Ich schauderte. Das ganze Weh der Erde stieg vor mir empor; es wogte wie ein dunkles Meer und obenauf schwamm mit blassem Antlitz und feuchten Locken die Leiche der Geigerin. — Das Haus Reichegg. I . E s war um die Mitte der Fünfziger-Jahre, im Hoch¬ sommer, als ich, damals noch in Militärdiensten stehend, mit einer Abtheilung meines Regimentes in dem mährischen Städt¬ chen K . . . einrückte. Wir waren schon vor Tag aufgebrochen; hatten, während die Sonne immer heißer niederbrannte, über vier Meilen auf der staubigen Heerstraße zurückgelegt, und so begrüßten wir den freundlichen Ort, wo uns nach mehrtägigen Eilmärschen ein Ruhetag gestattet war, auf's freudigste. Ein Theil der Einwohnerschaft war uns schon ein gutes Stück entgegen gekommen und schritt uns jetzt bei den lustigen Klän¬ gen unserer Musik voran. Reinlich und einladend lagen die Gassen da, viele Häuser von Bäumen beschattet oder mit netten Vorgärtchen versehen. Hier und dort lugte noch, halb versteckt, ein rosiges Mädchenantlitz hinter weißen Fenstergardinen her¬ vor, und auf dem Marktplatze, wo wir hielten, zeigten sich stattliche Gastwirthschaften, unseren ermatteten Leibern und verlechzten Kehlen Stärkung und Erquickung verheißend. Ich fühlte mich daher nicht sehr angenehm überrascht, als ich be¬ deutet wurde, daß mir und meiner Mannschaft zur Unterkunft ein Dorf angewiesen sei, welches noch eine Wegstunde entfernt lag. Selbst der Beisatz, der verheißend klingen sollte: daß ich für meine Person in einem freiherrlichen Schlosse Aufnahme finden würde, hatte eben nichts Tröstliches. War ich doch ge¬ wohnt, die Marschtage als ein willkommenes Aufathmen aus der Zwangsjacke des Garnisonsdienstes zu betrachten, wo ich mich in fröhlicher Ungebundenheit meinen Neigungen überlassen konnte — und nun drohte mir eine vornehme Gastfreundschaft, die mich vielleicht zu einem steifen gesellschaftlichen Verkehr mit unbekannten, mir gänzlich ferne stehenden Menschen ver¬ pflichtete. Indessen galt es, sich in das Unvermeidliche zu fügen, und so befahl ich meine Leute, die gleich mir verdrossen vor sich hinsahen, zum Abmarsch, indem ich die Trommel rühren ließ. Eine ziemlich breite Seitenstraße führte uns an¬ fänglich in einen scharf abgegrenzten Fichtenbestand, und nach¬ dem wir denselben durchschritten hatten, zog sie sich in mehr¬ fachen Krümmungen zwischen weit ausgebreiteten Kornfeldern hin. Still brütete die Mittagshitze über der schnittreifen Frucht, und am Ende der sonnigen Fläche ragte aus verfallenen Stroh¬ dächern der Kirchthurm des Dorfes empor, während uns das Schloß, auf einer mäßigen, dicht bewaldeten Höhe gelegen, hell und glänzend entgegenschimmerte. Endlich hatten wir das Dorf erreicht und ich war eben daran, einige letzte Befehle zu ertheilen und die Mannschaft in ihre Quartiere zu entlassen, als ein wohl gekleideter, behäbig aussehender Mann auf mich zu kam. Er gab sich, höflich grüßend, als Verwalter des Schlosses zu erkennen und hatte ein leichtes, mit kräftigen Braunen bespanntes Gefährt mitge¬ bracht, welches ich auf seine Einladung mit ihm und meinem Diener bestieg. Während er nun, an meiner Seite sitzend, den Pferden die Zügel schießen ließ, und wir auf einem be¬ quemen Parkwege die Höhe hinanrollten, fragte ich ihn, wer denn eigentlich der Herr des Schlosses sei. „Seine Excellenz, der Freiherr von Reichegg“, antwortete er mit einer gewissen bescheidenen Wichtigkeit. „ Der Staatsrath Reichegg ?“ fuhr ich überrascht fort. — „Ja wohl. Seine Excellenz sind auch gegenwärtig mit Gemahlin und Tochter hier anwesend.“ Ich versank in ein eigenthümlich bewegtes Schweigen; auf eine solche Begegnung war ich nicht vorbereitet gewesen. Der Freiherr gehörte zu den bekanntesten und genanntesten politischen Persönlichkeiten jener Zeit. Im Staatsdienste und in der Schule Metternich's ergraut, stand er mit an der Spitze aller rückläufigen Bestrebungen, welche in Oesterreich nach dem Jahre Achtundvierzig mehr und mehr Platz griffen. Seine streng aristokratischen und feudalen Grundsätze, so wie seine unter¬ würfige Hinneigung zu den Gewalten der Kirche waren sprich¬ wörtlich geworden und er wurde allgemein als einer der Haupturheber des Concordates bezeichnet, das man vor Kurzem mit dem päpstlichen Stuhle abgeschlossen hatte. Dabei war er ob seines verletzend stolzen und finsteren Wesens, das er wie absichtlich zur Schau trug, auch persönlich sehr unbeliebt; selbst bei Solchen, die seine Anschauungen theilten, und wenn er sich bei gewissen feierlichen Gelegenheiten öffentlich zeigte, so rief sein Erscheinen, da man sich damals nicht laut zu äußern wagte, stets das dumpfe Schweigen des Grolles und Mi߬ muthes hervor. Nicht minder als er — freilich in ganz an¬ derer Weise — war seine Gemahlin bekannt und berüchtigt. Einem alten Grafengeschlechte entstammend und von einer Schönheit, die in Folge höchst eigenthümlicher Verschmelzung des Hoheitsvollen mit dem Reizenden geradezu einzig genannt werden konnte: stand sie in dem Ruf, eine Art Messalina zu sein. Das Tagesgespräch wurde nicht müde, von ihren Aben¬ teuern das Unglaublichste in Umlauf zu bringen; ja man be¬ zeichnete sogar die Männer, welche sich, allen Schichten der Gesellschaft angehörend, ihrer Gunst sollten erfreut haben. Trotzdem war sie nicht etwa der Gegenstand sittlicher Ent¬ rüstung; sie zählte vielmehr zu den bewundertsten Frauen der Residenz. Wenn sie, und zwar in der Regel allein, oder doch nur an der Seite ihres Gatten, der sich mit seinen weißen Haaren und den harten, unfreundlichen Zügen seltsam genug neben ihr ausnahm, im offenen Wagen durch die Alleen des Praters fuhr: da bildeten die Fußgänger, wie gebannt, nur eine dichtgedrängte Reihe, um sich an dem unvergleichlichen Adel und Liebreiz ihrer Erscheinung, an ihrer ebenso geschmackvollen als kostbaren Kleiderpracht zu entzücken, und vorwiegend war es gerade das weibliche Geschlecht, das mit ihr einen fast schwärmerischen Cultus betrieb. Auch in der Oper und im Schauspiel waren Aller Augen auf sie gerichtet, und ein deut¬ lich vernehmbares Ah! befriedigter Erwartung ging durch das Haus, wenn sie, nachdem ihre Loge länger als sonst leer ge¬ blieben war, plötzlich an der Brüstung erschien. — Und dieser Frau, diesem Manne sollte ich nun als junger, kaum flügge gewordener Offizier, der sich niemals in der großen Welt bewegt hatte, entgegen treten! Es war ein in jeder Hinsicht beklemmender Gedanke, und ich schöpfte noch einigen Trost aus der naheliegenden Annahme, daß man mich vielleicht bloß der Sorge des Schloßverwalters überantworten und gar nicht an sich heranziehen würde. — Inzwischen hatten wir die Avenue erreicht, wo ein mäch¬ tiger Springbrunnen im Sonnenschein stäubte und glitzerte. Der Verwalter lenkte den Wagen rückwärts um das Schloß herum, hielt vor einem niederen Seitenthore und geleitete mich über eine vereinsamte Treppe in den Halbstock empor. Dort schloß er ein kühles, weitläufiges Gemach auf, wo ich schon Alles zu meinem Empfange vorgerichtet fand. „Ich bitte, es sich hier bequem zu machen“, sagte er. „Wenn Etwas fehlen sollte — diese Klingelschnur geht nach meiner Wohnung. Um fünf Uhr wird gespeist. Die Herrschaften erwarten Sie zu Tische. Dürfte ich einstweilen um Ihre Karte bitten, um die¬ selbe Seiner Excellenz überbringen zu lassen.“ Ich war also dem Geschicke verfallen. Widerstandslos übergab ich dem Manne die Karte und schritt, nachdem er sich entfernt hatte, im Zimmer auf und nieder, wobei ich gedankenlos die Land¬ schafts- und Schlachtenbilder im Geschmacke Salvator Rosa's betrachtete, die an den Wänden hingen. Dann trat ich an's nächste Fenster. Es ging auf das wohlgepflegte Parterre des Schloßparkes hinaus, in dessen Mitte ein hochstämmiger Rosen¬ flor seine duftige Pracht entfaltete. Nachdem ich eine Zeit lang in das funkelnde Farbengemisch von Blumen und Rasen, von Himmel und Baumwipfeln hinein geblickt hatte, nahm ich etwas von den bereitstehenden Erfrischungen und streckte mich endlich auf ein bequemes Sopha hin, zuvor noch meinem Die¬ ner auftragend, sich in einer Stunde wieder bei mir einzufin¬ den. Ich gedachte, ein wenig zu schlummern; aber war es nun Uebermüdung oder innere Erregung — es wollte mir nicht gelingen. Während ich mich so eine Weile unruhig hin und her bewegte, vernahm ich, wie über mir ein Flügel ange¬ schlagen wurde. Nach einem kurzen, ernsten Präludium begann eine klangvolle Altstimme ein Lied zu singen, in welchem ich alsbald, der Melodie und dem deutlich vernehmbaren lateini¬ schen Texte nach, ein geistliches erkannte. Mit jener tiefen, leidenschaftlichen Inbrunst, welche die katholische Kirchenmusik kennzeichnet, drangen die Töne in den Park hinaus und verzitterten mit leisem Wiederhall in der lautlosen Luft des Nachmittags. Das Lied war zu Ende; noch einige Accorde auf dem Clavier, dann wie ein nachzuckendes Gefühl die Wiederholung des Schlusses — und es herrschte wieder die frühere Ruhe. Seltsam ergriffen lag ich da und lauschte noch immer. Endlich sah ich nach der Uhr; die Stunde war fast abgelaufen. Ich sprang auf, und als ich einen Blick durch das Fenster that, gewahrte ich, wie unten eine hochgewachsene schlanke Mädchengestalt langsam um den kleinen Rosenwald herum schritt. Sie trug ein weißes Kleid, dem ein dunkles Band als Gürtel diente; ihre Gesichtszüge konnte ich nicht erspähen; aber ihr blondes Haar schimmerte mir wie helles Gold entgegen. Jetzt blieb sie vor einem Bäumchen mit weißen Rosen stehen, und nachdem sie eine davon gepflückt hatte, schlug sie langsam, das Haupt zur Blume in ihrer Hand niederneigend, einen Seitenpfad ein, der sie bald meinen Blicken entzog. Während sie verschwand, war es mir, als hätte sie die Rose an die Lippen gedrückt. — Mittlerweile hatte sich mein Diener eingefunden und da bereits die vierte Stunde heranrückte, so galt es, mit raschem Entschlusse den Dingen entgegen zu gehen, die da kommen sollten. Ich kleidete mich um und ließ anfragen, ob mich Seine Excellenz empfangen wolle. Eine bejahende Antwort erfolgte bald, und so begab ich mich, von einem Diener des Hauses geführt, in das obere Stockwerk und über einen langen, mit Jagdtrophäen geschmückten Gang nach dem Zimmer des Freiherrn. Dieser erhob sich bei meinem Eintritt am Schreib¬ tische, wo er gearbeitet zu haben schien, und trat mir in auf¬ rechter Haltung einen Schritt, aber nicht mehr entgegen. „Es freut mich“, sagte er mit fester, jedoch etwas bedeckter Stimme, nachdem ich einige passende Worte gesprochen und mich auf einen Wink von ihm niedergelassen hatte, „es freut mich immer, wenn ich einen kaiserlichen Offizier in meinem Schlosse beher¬ bergen kann. Umsomehr aber heute, als mir“ — er warf dabei einen Blick auf meine Karte, die neben zerstreuten Pa¬ pieren auf dem Tische lag — „der Name, den Sie führen, seit Langem bekannt ist. Ich entsinne mich nämlich“, fuhr er fort, indem er mich aufmerksam und forschend ansah, „aus der Zeit, wo ich als ganz junger Mann unter der Regierung des Kaisers Franz in Staatsdienste trat, mit Vergnügen eines höheren Vorgesetzten gleichen Namens.“ „Das dürfte mein Großvater gewesen sein.“ „Gewiß; und ich gebe mich wohl keiner Täuschung hin, wenn ich in Ihren Zügen eine gewisse Aehnlichkeit mit den seinen zu erblicken glaube. Der lebhafte alte Herr steht mir noch ganz deutlich vor Augen. Ein wahres Muster eines loyalen, pflichtgetreuen Staatsdieners, wenn auch sein Wirken über ein bloß bureaukratisches nicht weit hinaus ging. Es war damals“, setzte er nach kurzem Schweigen nachdenklich hinzu, „eine Zeit voll unerhörter, erschütternder Bewegungen. Die französische Revolution hatte die ganze Weltordnung um¬ zukehren gedroht, und nun machte der Corse Europa zittern. Vor Allem war es Oesterreich, auf dessen Erniedrigung, auf dessen Untergang er es abgesehen hatte. Aber im Rathe der Vorsehung war es anders beschlossen. Dynastie und Staat sind aus all diesen äußeren Gefahren nicht minder siegreich und glänzend hervorgegangen, als aus den fluchwürdigen Um¬ sturzbestrebungen, die man jüngster Zeit im Inneren zu be¬ kämpfen und — zu vernichten hatte. Und so wird sich der Spruch bewahrheiten: Austria erit in orbe ultima — durch den Schutz des Allmächtigen, seiner heiligen Kirche — und kraft unserer ruhmvollen Armee!“ Mir wurde ganz unheimlich zu Muthe. In das eherne Antlitz des Freiherrn war bei diesen Worten ein erschreckend finsterer und grausamer Zug getreten, und es schien, als wollte er jetzt und jetzt seine hagere, aber kräftig gebaute Ge¬ stalt wie zum Angriff emporrichten. Unwillkürlich kehrte sich mein Blick von ihm ab und den Gegenständen zu, womit das Gemach schlicht und bezeichnend ausgestattet war. Zwischen zahlreichen Bücherschränken stand ein einfacher Betschemel mit einem kleinen Cruzifix aus Ebenholz. An den Wänden sah man, sorgfältig gruppirt, in Lithographien die Bildnisse des Herrscherpaares, der Marschälle Windisch-Grätz und Radetzky; dann der Fürsten Metternich und Schwarzenberg, so wie an¬ derer hervorragender weltlicher und geistlicher Würdenträger. Auf dem Schreibtische aber, seltsam genug, hatte der Freiherr neben einem Miniaturportrait seiner Gemahlin und dem etwas verblaßten eines helllockigen Kindes den Büsten Schiller's und Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt nach meiner flüchtigen Rundschau das Auge auf ihnen haften ließ, und sagte etwas milder; „Das waren zwei große, gewal¬ tige Geister, und ich bin stets in Gesellschaft ihrer Werke.“ Dabei wies er auf einen der Bücherschränke, die ihm zunächst standen. „Aber man darf sich von ihren Ideen nicht fortreißen lassen; denn Phantasie und Wirklichkeit sind zweierlei.“ Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als sich leise eine Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengestalt, die ich früher vom Fenster aus gesehen, auf der Schwelle erschien. Sie blieb, als sie meiner ansichtig ward, einen Augenblick betroffen stehen, faßte sich jedoch allsogleich und schritt mit würdiger Haltung auf den Freiherrn zu, dessen Antlitz sich plötzlich wundersam erhellte und den Ausdruck tiefster Zärtlichkeit annahm. Ich hatte mich erhoben. „Meine Tochter Raphaela“, sagte der Freiherr, indem er mit seiner vertrockneten Hand kosend über das Haar der Eingetretenen strich, das jetzt in seiner reichen, blendenden Fülle fremdartig von den ernsten, fast schroffen Gesichtszügen abstach. Sie sah ganz ihrem Vater ähnlich. Das war dieselbe eckige Stirne, dieselbe weit und scharf ge¬ schwungene Nase; auch ihr Kinn war stark vorgeschoben; nur der Mund erschien voller und weicher, und die Augen strahlten im reinsten Blau des Himmels. „Wo ist Mama, mein Kind?“ fuhr der Freiherr schmei¬ chelnd fort. „Ich glaube, sie ist mit Egon im Salon“, antwortete sie mit tiefer, wohlklingender Stimme, die mich überzeugte, daß ich auch die Sängerin des Liedes vor mir hatte. Die Brauen des Freiherrn zogen sich leicht zusammen. Dann wandte er sich an mich und sagte förmlich: „Wenn es Ihnen gefällig ist, will ich Sie jetzt meiner Gemahlin vor¬ stellen.“ Er öffnete eine zweite Seitenthüre, und während seine Tochter voranging, durchschritten wir eine Flucht von reich ausgestatteten Gemächern, bis wir endlich in den Salon ge¬ langten. Mein Athem stockte ein wenig, als ich den weiten, dämmerigen Raum betrat, hinter dessen herabgelassenen Por¬ ti è ren der Altan des Schlosses lag. Auf einer niederen Otto¬ mane, weit zurückgelehnt und in leichte, schimmernde Gewänder gehüllt, saß die Dame des Hauses; neben ihr, in einem Fau¬ teuil, ein junger Mann, der sich bei unserem Erscheinen erhob und dabei durch seinen auffallend hohen Wuchs überraschte. Die Freifrau empfing mich, ohne ihre Lage zu verändern, freundlich vornehm, und half mir sogleich mit einigen aufmun¬ ternden Worten über die erste Befangenheit hinweg. Dann Saar , Novellen aus Osterreich. 17 wies sie flüchtig auf den jungen Mann und sagte: „Unser Vetter, Graf Rödern.“ „Attach é — einstweilen noch ohne Attachement“, setzte der Freiherr, während der Erwähnte und ich uns gegenseitig verneigten, wie scherzend hinzu; aber seine Stimme klang scharf. „Desto besser!“ lachte der Graf, indem er eine zierliche Reitgerte, die er in der Hand hielt, nachlässig hin und her¬ schwenkte. „Man kommt noch immer früh genug in's Joch — und ich liebe die Ungebundenheit.“ Die Freifrau warf einen raschen Blick auf ihn; dann zog sie mich angelegentlich in ein Gespräch, Dieses und Jenes, das eben nahe lag, ergreifend und eine Zeit lang festhaltend. Dabei hatte ich nun Gelegenheit, mich mehr und mehr in den Zauber ihrer Schönheit zu versenken. Was ich schon einst aus der Ferne an ihr hatte bewundern können: der volle und doch geschmeidige Wuchs; das lichte, von dunklen Haaren, wie von einer nächtigen Wolke umflossene Antlitz; die großen, langbewimperten Sammetaugen — das Alles trat mir jetzt in seiner ganzen Pracht entgegen, während zugleich die feinsten und individuellsten Reize sichtbar wurden. Um den zarten, rosigen Mund spielte, während sie sprach, ein berauschendes Lächeln, und dabei zuckten und zitterten ihre weiten Nasen¬ flügel manchmal ganz eigenthümlich, was ihren Zügen bei aller Weichheit einen höchst energischen Ausdruck verlieh. Wie sie so in nachlässiger Haltung vor mir saß und mit der perl¬ mutterartig schimmernden Hand den Fächer gegen den wogenden Schnee ihrer Brust bewegte: da fühlte ich, welch' verführerische, bezwingende Macht in dem Wesen dieser Frau lag, die über die eigentliche Jugend längst hinaus war und, wie ich bemer¬ ken konnte, schon zu allerlei kleinen Verschönerungskünsten griff. Im Vergleich mit ihrer von farbigster Lebensfülle ge¬ sättigten und durchleuchteten Erscheinung, wie sie nur Rubens und Murillo vereint hätten darstellen können, erschien die aufgeschossene, schmalschulterige Raphaela mit ihrem herben eintönigen Antlitz wie eine Gestalt von Lukas Cranach. Diese aber war inzwischen an ihren Vetter herangetreten und stand jetzt mit ihm in leiser Unterredung begriffen, wobei sich jedoch der junge Mann sehr zerstreut und innerlich ab¬ wesend zeigte. Endlich überreichte sie ihm mit einem vollen, innigen Blick die Rose, die sie im Parke gepflückt und später im Gürtel getragen hatte. Er nahm die weiße Blüthe gleich¬ giltig in Empfang, beroch sie flüchtig und befestigte sie dann an der Brustseite seines Rockes. Ein Kammerdiener trat leisen Schrittes ein und meldete, daß das Diner servirt sei. Ich bot der Freifrau den Arm; Rödern führte Raphaela und wir gingen zu Tische, wo auch eine französische Gouvernante mit blutlosen Zügen und gesenk¬ ten Augen erschien. Das Mahl ging rasch von statten. Rö¬ dern war sehr heiter und gesprächig, fast ausgelassen. Er neigte sich oft und vertraulich zur Freifrau, scherzte in unge¬ 17* zwungener, gleichsam überlegener Weise mit ihrem Gatten, der dabei ernst vor sich hinsah, wohl auch manchmal die Brauen runzelte, wenn der junge Mann mit leichtfertiger Ironie öffentliche Persönlichkeiten oder politische Ereignisse berührte. Selbst an die Gouvernante richtete Egon in nicht allzu reinem Französisch einige Stichelreden, die mit leicht abwehrendem Schweigen hingenommen wurden. Nur Raphaela beachtete er wenig, obgleich ihm diese ihre volle Aufmerksamkeit zuwandte und sogar zweimal sein Glas mit Bordeaux füllte, davon er reichlich und mit Behagen trank, so zwar, daß sich sein hüb¬ sches, fast mädchenhaftes Gesicht höher und höher färbte. Die Tafel war aufgehoben; die Französin hatte sich laut¬ los entfernt, und man nahm nun den Kaffee auf dem Altane, wo sich eine prachtvolle Fernsicht über die weite Ebene bis zu den duftverschwommenen Höhen der Sudeten aufthat. Nach einer Weile sagte Rödern, man solle doch jetzt einen Gang durch den Park unternehmen. Dieser Vorschlag fand allge¬ meinen Beifall; wir schritten also die breite Freitreppe hin¬ unter und immer tiefer in die stillen, wechselvollen Anlagen hinein. Die Sonne war bereits im Sinken. Goldig lagen ihre letzten Streiflichter über den Wipfeln; große Amseln flo¬ gen vor uns auf und durch die Luft quoll der süße Geruch des Jasmins. Nach und nach wurden die Pfade steiler und endlich standen wir vor einem großen Teiche, hinter welchem schweigend und dunkel der Wald aufragte. Zahllose Wasser¬ pflanzen schwammen auf der blaugrünen Fläche; zwei Schwäne zogen dazwischen ihre stillen Kreise; am Ufer war ein wohl¬ gebauter Kahn befestigt. „Wer hat Lust, mit mir auf dem Teiche zu fahren?“ rief Rödern, der mit der Freifrau Arm in Arm vorausgegan¬ gen war. „Ich nicht;“ sagte diese, indem sie sich von ihm los machte. „Sie treiben es zu toll, lieber Vetter. Es hat das letzte Mal wenig gefehlt, so wären wir Beide in's Wasser gefallen.“ „Kann ich nicht schwimmen?“ erwiederte er übermüthig. „Ich hätte Sie auf meinen Armen an's Land getragen.“ „Schön; aber ich pflege um diese Zeit nicht zu baden.“ Inzwischen hatte sich ihm Raphaela leise genähert. „Wenn es Dir recht ist, Egon“, sagte sie, „so will ich mit Dir fahren.“ „Was? Du?“ rief er halb erstaunt, halb spöttisch. „Du änderst Dich ja gewaltig und wirst zuletzt Deinem Thomas a Kempis noch ganz und gar untreu werden. — Nun, wenn Du willst — ich bin bereit.“ Die Freifrau hatte ihre Tochter mit einem eigenthümlichen Blicke betrachtet. „Wenn Raphaela mit Ihnen fährt“, warf sie jetzt rasch ein, „kann ich nicht zurückbleiben; hoffe aber, Sie werden vernünftig sein, Egon.“ So begaben sich die Drei in das zierliche Fahrzeug, welches alsbald, von Rödern kräftig gerudert, auf der Mitte des Teiches trieb. „Da sehen Sie unsere ländlichen Vergnügungen“, sagte der Freiherr, mit dem ich jetzt langsam am Rande hinging. „Wir führen hier ein sehr zurückgezogenes, gleichförmiges Da¬ sein; Graf Rödern allein bringt etwas Leben und Bewegung in unseren kleinen Kreis. Denn meine Tochter ist trotz ihrer Jugend sehr ernst und still, und sitzt am liebsten bei ihren Büchern oder am Clavier.“ Ich bemerkte hierauf, daß ich, allem Anscheine nach, die Baronesse kurz nach meinem Eintreffen singen gehört. „Haben Sie?“ erwiederte er mit väterlichem Stolz. „Nicht wahr, eine prachtvolle Stimme, wenn auch noch nicht völlig entwickelt. — Sie ist überhaupt ein einziges Kind!“ fuhr er fort, indem er mit jenem Ausdruck tiefster Zärtlichkeit, der mich früher so überrascht hatte, nach dem Kahne blickte. „Der Himmel hat mir einen Sohn versagt, aber mit dieser Toch¬ ter reichen Ersatz gewährt. Sie war bis jetzt“, wandte er sich mit herablassender Vertraulichkeit an mich, „in dem Er¬ ziehungsinstitute für adelige Fräulein in L . . . . Eine ausge¬ zeichnete Anstalt, die sie als vorzüglichste Schülerin verlassen hat. Es ist erstaunlich, welche ausgebreiteten Kenntnisse sie besitzt; offen gestanden: ich fühle mich ihr gegenüber oft un¬ wissend. Freilich verdankt sie Vieles, ja das Meiste nur sich selbst und ihrem unermüdlichen Fleiße. Und dabei — welch' ein Gemüth! Die Hingebung und Zärtlichkeit, die Güte und Frömmigkeit selbst! Wie gesagt: ein einziges Kind! Möge sie glücklich werden!“ fügte er, vor sich hinblickend, mit einem leisen Seufzer bei. Doch so, als hätte er mich zu tief in sein Herz blicken lassen, rückte er sich plötzlich in seiner stolzen Haltung zurecht und der gewöhnliche harte, finstere Zug trat allmälig wieder in sein Antlitz. Inzwischen aber hatte es Rödern nicht über sich gebracht, „vernünftig“ zu bleiben. Nachdem er eine Zeit lang den Kahn zu Aller Zufriedenheit gelenkt, dann eine Wasserlilie gepflückt und den schimmernden Kelch in das dunkle Haar der Freifrau gesteckt hatte, begann er allerlei gewagte Ruderkünste zu versuchen, wobei das Schifflein mehr als einmal in ein höchst bedenkliches Schwanken gerieth. Und als er endlich sei¬ ner Ausgelassenheit völlig die Zügel schießen ließ und, trotz der Bitten und Abmahnungen Raphaela's, trotz der Angstrufe ihrer Mutter, in raschen, immer engeren Kreisen einen Schwan verfolgte, der mit zornigen Flügelschlägen pfauchend vor dem Kiele herschoß: da war es in der That Zeit, daß sich der Freiherr in's Mittel legte und mit herrischem Tone befahl, an's Land zu stoßen. So erreichte man zuletzt doch wohlbe¬ halten das Ufer und trat nun vereint, jedoch ziemlich einsylbig beim röthlichen Scheine des Abends den Rückweg an. Vor dem Schlosse kehrte sich der Freiherr zu mir und sagte gemessen: „Sie dürften sich ermüdet fühlen und es vielleicht vorziehen, den Thee in Ihrem Zimmer zu nehmen. Wir wollen Sie nicht länger halten.“ Ich verneigte mich schweigend. Dann nahm ich von den Uebrigen Abschied und zog mich zurück. Obgleich ich in der That der Ruhe bedürftig war und auch alsbald zu Bette ging, sann ich doch unwillkürlich den Erlebnissen des Tages nach, und so hielten mich fragende Gedanken und leise Schauer der Seele noch lange wach. Endlich schlief ich ein. — Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich er¬ wachte. Frisch und würzig drang der Duft des Morgens mit dem Gezwitscher der Vögel durch die geöffneten Fenster herein, und ich machte mich fertig, meinen dienstlichen Verrich¬ tungen im Dorfe nachzukommen. Ueber diesen ging ein Theil des Vormittages hin; nunmehr aber sollte ich mich nach dem Städtchen begeben, wo ich weitere Befehle und Anordnungen für morgen entgegen zu nehmen hatte. Da ich voraussah, daß man mich dort an den Offizierstisch ziehen und so bald nicht wieder loslassen würde, so erschien es mir gerathen, mich schon jetzt bei dem Herrn des Schlosses zu verabschieden. Ich fand ihn diesmal sichtlich zerstreut und verstimmt; vielleicht durch den Inhalt mehrerer Briefe, die eben mit der Post ge¬ kommen zu sein schienen und erbrochen auf dem Schreibtische lagen. „Ich bedauere“, sagte er obenhin, „daß Sie heute nicht mehr unser Gast sein können. Setzen Sie Ihren Marsch glücklich und wohlbehalten fort. — Es wird auch den Andern leid thun, Sie nicht mehr zu sehen. Meine Frau ist mit dem Grafen Rödern ausgeritten — und meine Tochter weilt jetzt bei ihren Studien.“ Dabei machte er eine leichte Bewegung, als wollte er sagen: Sie sind entlassen. Aber nach kurzem Bedenken blickte er mich freundlicher an und fuhr mit einer gewissen Wärme fort: „Es war mir in der That eine Freude, Sie kennen gelernt zu haben. Leben Sie wohl!“ Und er reichte mir die Hand, die ich, unwillkürlich zögernd, mit der meinen berührte. Es war mir eine Erleichterung, als ich die Thüre hinter mir hatte, und wohlgemuth wanderte ich dem Städtchen zu, wo ich Alles in fröhlicher Bewegung fand. Denn man hatte uns zu Ehren die Anstalten zu einem Feste getroffen, welches schon früh am Nachmittage mit einem lärmenden Preisschießen begann und später in einen ländlichen Ball überging. Auch ich hatte mit allen Offizieren daran Theil genommen, hatte mit mancher Schönen des Ortes getanzt, und schon sank die Nacht schwül und dunkel auf die Gefilde nieder, als ich den Saal der Schießstätte verließ und mit pochenden Schläfen den Rückweg antrat. Kein Laut regte sich in den Fichten; schwer und betäubend schlug mir der Duft des Kornes ent¬ gegen, das jetzt die aufgesogene Gluth des Tages ausstrahlte; am Horizont zuckte von Zeit zu Zeit ein fahles Wetter¬ leuchten. Schweigend, in nächtlicher Ruhe lag endlich das Schloß vor mir; nur einige wenige Fenster waren noch erleuchtet. Ich fand das kleine Thor unverschlossen und begab mich in mein Zimmer. Da der Abmarsch um drei Uhr Morgens stattfinden sollte, so warf ich mich halb entkleidet auf das Sopha, wo ich mich einem leichten Schlummer überließ. Plötz¬ lich erwachte ich; es war wie taghell im Zimmer. Erschreckt richtete ich mich empor; ich glaubte schon weit in den Morgen hinein geschlafen zu haben. Aber es war nur der Mond, der sich inzwischen am Himmel erhoben hatte und mit seinem mil¬ den Lichte das Gemach durchfluthete. Ich blickte nach der Uhr; sie wies eine Stunde nach Mitternacht. Was sollte ich nun beginnen? An Schlaf und Ruhe war nicht mehr zu den¬ ken; ich beschloß daher, die Zeit bis zum Aufbruche im Parke zu verbringen, dessen mondbeglänzte Wipfel mich wundersam anlockten. Rasch kleidete ich mich völlig an, warf einen leichten Mantel über — und bald knisterte der feine Kies der Wege unter meinen Tritten. In hellem Thau schimmerte der Rasen, geisterhaft leuchteten die Blumen auf, und eh' ich es dachte, war ich bei dem Teiche angelangt, der mir glitzernd und flimmernd entgegensah. Mit weitgeöffneten Kelchen lagen die Wasser¬ lilien im feuchten Glanze, kaum unterscheidbar von dem Ge¬ fieder der Schwäne, die auf einer kleinen Insel schliefen und träumerisch die Flügel regten, während hin und wieder aus der Tiefe kurze, geheimnißvolle Laute heraufdrangen. Nachdem ich das schlummernde Wasserreich langsam um¬ schritten hatte, trat ich in ein nahes Bosquet, in welchem ich eine Bank vermuthete und auch wirklich am Sockel einer Na¬ jade aus Sandstein antraf. Und wie ich jetzt unter den schweigenden Wipfeln saß und dem leisen Weben der Nacht lauschte, da wurde, was ich vorgestern hier erlebt, wieder in meinem Geiste lebendig. Ich sah die Gestalten der Schlo߬ bewohner vor mir bis auf den kleinsten, feinsten Zug: den stolzen, finsteren Freiherrn; das schöne, blühende Weib mit den dunklen Sammetaugen; das ernste blonde Mädchen — und den jungen Grafen, der den Kahn dort auf der stillen Wasserfläche gelenkt hatte . . . . . Da glaubte ich mit einmal ferne Tritte zu hören. Ich hatte mich nicht getäuscht; sie kamen näher und näher — und schon klangen bekannte Stimmen an mein Ohr, zwar gedämpft, doch deutlich vernehmbar in der Stille der Nacht. „Ich sage Dir nur, daß sie Dich liebt!“ „Wenn auch. Meine Schuld ist es nicht; Du weißt doch, daß ich sie stets mit der größten Gleichgiltigkeit behan¬ delt habe.“ „Das ist wahr; aber mich dauert das arme Kind. Sie hat viel von ihrem Vater, nimmt Alles ernst und schwer; selbst kleine, unbedeutende Dinge. Sie kann nicht vergessen; ich fürchte, dieser Eindruck wird ihr für's Leben bleiben.“ „Ah pah! Mädchenträume! Sie wird sich schon zurecht finden; ihr Sinn ist ohnedies mehr auf's Ueberirdische gerich¬ tet. Ich jedoch halte mich an die volle, blühende Wirk¬ lichkeit!“ „Du liebst mich also?“ Und die Stimme der Freifrau klang weich und zärtlich. Es erfolgte keine Antwort; aber eine Stille trat ein, durchweht von den stürmischen Hauchen und Küssen einer lan¬ gen, leidenschaftlichen Umarmung. Zitternden Herzens preßte ich die Lippen zusammen. Ich hatte den günstigen Augenblick, mich zu entfernen versäumt — und nun stand die Freifrau mit Rödern in der Nähe des Bosquets; die leiseste Bewegung, ein Odemzug mußte meine Anwesenheit verrathen. „Und wie lange wirst Du mich lieben, Flattersinn?“ klang es endlich. „So lange ich athme!“ klang es berauscht entgegen. „Gedenke Deiner Worte!“ stieß jetzt die Freifrau mit wildem, fast unheimlichem Flüstern hervor. „Ich lasse Dich auch nicht mehr: Du bist mir verfallen mit Leib und Seele!“ Es war zu vernehmen, wie sie ihn umschlang; dann setzten sich die Schritte der Beiden wieder in Bewegung. Ich erstarrte. Wenn sie jetzt in das silberberieselte Dunkel traten — die Folgen waren undenkbar! Aber sie lenkten rechts ab und kehrten in einem Bogen langsam und schweigend nach dem Schlosse zurück. Je ferner, je schwächer ihre Tritte klangen, desto leichter, desto freier fühlte ich mich; als es jedoch wieder ganz still geworden war, da griff mir ein scharfes, eisiges Weh an's Herz. Was ich schon vordem über den Wandel der Freifrau vernommen, das floß jetzt mit den Eindrücken dieser Stunde zusammen, und obgleich ich, was jetzt plötzlich enthüllt vor mir lag, schon halb errathen hatte, so war es mir doch, als hätte ich in einen Abgrund geblickt. Endlich entriß ich mich der Stelle, suchte meinen schlafen¬ den Diener auf und begab mich in das Dorf hinunter, wo ich noch vor der Zeit Reveille schlagen ließ. Und fort zog ich in den grauenden Tag hinein, das Schloß, seine Menschen und ihre Schicksale hinter mir zurücklassend. — — II . Jahre waren dahin gegangen. Das Leben, immer ern¬ ster und vielgestaltiger mit strengen Forderungen an mich herantretend, hatte alle diese Eindrücke verwischt, und ich dachte kaum mehr meines kurzen Aufenthaltes im Schlosse Reichegg. In den öffentlichen Blättern hatte ich zwar gelesen, daß der Freiherr mit dem Tode abgegangen sei. Durch die Zeitereignisse gestürzt; den Untergang alles dessen erlebend, was er begründen half: war ihm bei dem großen Wandel der Dinge nichts übrig geblieben, als zu sterben. Von seiner Gemahlin und Raphaela jedoch vernahm ich nichts mehr. Neue Verhältnisse hatten neue Erscheinungen in den Vorder¬ grund gestellt; die schöne, einst so gefeierte Frau war ver¬ gessen und blieb mit ihrer Tochter verschollen — für Die¬ jenigen wenigstens, die mit ihren Kreisen nicht in Berührung kamen. — — Da traf es sich, daß ich bei einem kurzen Aufenthalte in der Lagunenstadt vor einem Kaffeehause des Marcusplatzes saß. Es war noch ziemlich früh am Tage und nur wenige Menschen beschritten die prächtigen Quadern, auf welche die Sonne hell und glänzend niederschien. Plötzlich zeigten sich, von der Stadtseite kommend, zwei hohe vornehme Gestalten in Reisekleidern; ein Herr und eine Dame, die Arm in Arm einher gingen und, da sie mich bekannt anmutheten, meine Aufmerk¬ samkeit fesselten. Als sie mir näher gekommen waren, trat ein Blumenmädchen mit erhobenem Korbe auf sie zu. Die Dame blieb stehen, hielt ihren Begleiter, der vorbeischreiten wollte, am Arme fest — und nun zuckte ich fast erschreckt zu¬ sammen: ich hatte endlich in dem Paare Rödern und die Freifrau erkannt! Die Letztere hatte sich zwar in ihrem Aeußeren nicht sonderlich verändert. Der tadellose Wuchs, die eigenthümlich stolzen und doch geschmeidigen Gliederbewe¬ gungen waren ihr geblieben; aber aus ihrem Antlitz, das trotz der weißen Schminke noch immer schön genannt werden konnte, war alles Milde und Liebliche verschwunden, und ein herrsch¬ süchtiger, rücksichtsloser, durch das herannahende Alter gereizter und erbitterter Wille hatte sich mit fast verletzender Schärfe in jedem einzelnen Theile ausgeprägt. Einen noch traurigern Anblick bot Rödern. Er war vor der Zeit grau geworden; seine Haltung erschien nachlässig und gebückt, während in seinen schlaffen Zügen ein unsäglich öder, trostloser Ausdruck von stummer Duldung und verbissenen Qualen lag, den der sorgfältig gepflegte dünne Bart und das kunstvoll gescheitelte Haar nur noch deutlicher hervorhoben. Mit scheuer, ver¬ drossener Lüsternheit blickte er von der Seite nach dem jungen großäugigen Geschöpfe, das, ein dünnes Korallenschnürchen um den bräunlichen Hals, vor seiner Begleiterin stand. Er schien froh zu sein, als diese endlich eine Anzahl kleiner Sträuße ausgewählt und mit unangenehmem Lächeln mehrere Silbermünzen in den Korb des Mädchens geworfen hatte. — Der Ausspruch von damals hatte sich also erfüllt: „er war ihr verfallen mit Leib und Seele!“ Wie ernst, wie furchtbar sind doch die Verkettungen des Lebens! So dacht' ich, während die Erinnerungen jener Mondnacht in mir auf¬ leuchteten, und konnte mich nicht enthalten, den Beiden bis auf die Riva zu folgen, wo sie eine Gondel heran winkten. Sie stiegen ein und ließen sich hinaus rudern in die blaue, schimmernde Wasserfläche, wie von einem dunklen Sarge um¬ schlossen. Es waren zwei Todte. — — Langsam kehrte ich über die Piazzetta wieder zurück. Düster und schweigend lagen die alten Paläste da und wehten mich in ihrer verfallenden Pracht mit den Schauern der Ver¬ gänglichkeit an. — Wie lange war es her, da umflatterte noch das schwarzgelbe Banner Oesterreichs den weit aus¬ blickenden Thurm, und unter den mächtigen Säulenhallen wogte das bewegte, glänzende Leben verhaßter Fremdherrschaft auf und nieder. Nun war Venedig frei — aber auch stiller, einsamer, öder geworden. Und wie hatte sich dieser Wandel vollzogen! Langsam, schrittweise; doch unaufhaltsam, trotz aller Gegenbestrebungen. Erschien es nicht wie tragische Ironie des Schicksals, als man zuletzt rathlos die Erfüllung in die Hand des Mannes legte, der damals an der Seine über das Loos der Völker entschied!? Unwillkürlich mußte ich des todten Freiherrn und seiner stolzen Ueberzeugungen gedenken; es war mir, als ginge sein Schatten neben mir her, scheu und finster. — Und seine Tochter? Wo weilte sie? Hatte sie sich, wie Rödern damals vorausgesetzt, zurechtgefunden , oder war sie ein einsamer Fremdling geblieben in dieser Welt voll Irr¬ thum und Schuld; in dieser Welt, wo nichts Bestand hat, als der Schmerz, und wo selbst das Höchste und Bedeutsamste allmälig vergeht und verweht, als wäre es nie gewesen!? — Auch diese Frage sollte mir endlich die Zeit , die Alles enthüllt und das Getrennteste nach und nach zusammenführt, beantworten. — Es war erst vor Kurzem, daß ich mich in eine größere, ob ihrer landschaftlichen Umgebung viel¬ gerühmte Provinzstadt begab, um eine schmerzliche Pflicht zu erfüllen. Einer meiner vertrautesten Freunde, welcher dort seinem wissenschaftlichen Berufe nachlebte, war nämlich von einem körperlichen Leiden befallen worden, das, anfänglich nicht beachtet, immer heftiger und gefährlicher hervortrat. Jeder häuslichen Pflege und Fürsorge entbehrend, sah er sich endlich gezwungen, in dem öffentlichen Krankenhause der Stadt Aufnahme zu suchen, wo man ihm ein abgesondertes, für solche Fälle bereit gehaltenes Zimmer zur Verfügung stellte. Auf die Nachricht hievon war ich also herbeigeeilt, um dem Einsamen in diesen schweren Tagen tröstend und vielleicht auch hilfreich zur Seite zu stehen; verweilte daher oft und lange in dem düsteren, schwermüthigen Gebäude, das, wie fast alle ähnlichen Anstalten, auf einem großen, verödeten Platze liegt, wo eine Kirche, eine Kaserne und ein altes, wüst aussehendes Gefangenhaus seine nächste Umgebung bilden. Das Zimmer des Kranken war klein und schmal und ging mit seinem einzigen Fenster auf einen stillen Nebenhof hinaus, in welchem ein bemooster Steinbrunnen leise plätscherte. In Saar , Novellen aus Oesterreich. 18 den Nachmittagsstunden vergoldete auf kurze Zeit ein herein¬ fallender Sonnenstrahl die kahlen Wände und umschimmerte einige Blumen, die in schlichten Töpfen auf dem Fensterbrette standen. Außer mir kamen nur wenige Besuche. Desto häu¬ figer aber fand sich der Arzt ein, der meinen Freund behan¬ delte. Es war ein älterer, behaglicher Junggeselle. Seine vollen Wangen zeigten das Roth der Gesundheit, und um die Lippen spielte ein feinsinnlicher Zug; aber seine Stirne war frei und hoch, und aus seinen hellen Augen strahlten Geist und Erkenntniß. Auf der Höhe des heutigen Wissens stehend und in seinem Fache selbst ein leidenschaftlicher Forscher, hatte er sich doch jene tieferen Gemüthslaute bewahrt, die bei einem Arzte dem Kranken gegenüber so wohlthuend wirken. Vor Allem aber war es sein köstlicher Humor, der ein Gespräch mit ihm als wahren Genuß empfinden ließ; wie denn auch mein armer Freund während seiner Anwesenheit stets ganz und gar des quälenden Leidens vergaß — freilich nur, um es später desto schmerzlicher zu empfinden. — So hatte ich denn eines Morgens wieder Himmel und Sonnenschein draußen zurückgelassen, um die düstere Treppe des Krankenhauses hinanzusteigen, in welchem ich ein außergewöhn¬ liches, stillbewegtes Treiben wahrnahm. In das bekannte. Zimmer tretend, fand ich den Doctor am Bette; jedoch eben im Begriffe, sich zu verabschieden. „Eilen Sie doch nicht so, bester Doctor“, sagte mein Freund; „bleiben Sie noch ein wenig bei uns.“ „Geht nicht. Wir haben heute große Visite. Die Oberin der Schwestern, die hier im Hause den Dienst der Kranken¬ pflege versehen — und zwar ganz tüchtig, wie ich bekennen muß. Denn dazu ist vor Allem Disciplin nothwendig, und diese läßt sich dem geistlichen Völklein nicht absprechen. Schwei¬ gen und gehorchen, das heißt, seinen Vorgesetzten gegenüber, hat es gelernt. Zudem ist die Oberin eine vortreffliche, ja geradezu wundervolle Persönlichkeit; sie hat sich schon im Directionszimmer eingefunden und ich lasse mir das Vergnü¬ gen nicht rauben, mich ihr als Begleiter durch die Krankensäle anzuschließen. Wissen Sie“, fuhr der Doctor nach einer klei¬ nen Pause fort, „wer sie eigentlich ist? Eine Tochter des alten Erzaristokraten und Finsterlings Reichegg, der ein so trauriges Andenken hinterlassen hat. Aber auf sie ist das Sprichwort nicht anwendbar, daß der Apfel nahe zum Stamme fällt. Keine Spur von Bigotterie oder Unduldsamkeit; eine ächte Frauenseele, voll Nachsicht und Menschenliebe — und jener Frömmigkeit, die Einen bedauern läßt, daß man sie selbst nicht mehr besitzen kann. Und auch da oben“ — er deutete mit dem Finger nach der Stirn — „sieht es sehr respectabel aus. So Mancher, der sich auf den Gelehrten hinaus spielt und Bücher schreibt, müßte sich vor ihr verkrie¬ chen. Schade, ewig schade, daß sie Nonne geworden. Es 18* heißt zwar, ihr Vater habe sie von Kind auf dazu erzogen; aber ich glaub's nicht. Wenn die Weiber in's Kloster gehen, steckt immer eine unglückliche Herzensgeschichte dahinter. Na, warten Sie: sobald der Cölibat aufgehoben ist, mach' ich es wett und halte um ihre Hand an. Vielleicht nimmt sie mich noch!“ Und damit eilte er lachend zur Thüre hinaus. — Was ich bei den Worten des Doctors empfunden hatte, läßt sich denken. Aber meine Ueberraschung ging sogleich in das wohlthuende Gefühl innerster Befriedigung über. Das war ja der nothwendige Ausgleich, der versöhnende Abschluß in dem Leben des ernsten blonden Mädchens, das ich einst in seiner ahnungslosen Hoheit so tief beklagt hatte. Und so war es auch mehr als bloße Neugierde, wenn mich ein unwider¬ stehliches Verlangen faßte, die Oberin zu sehen. In Folge dessen trat ich nach einiger Zeit aus dem Zimmer, um Er¬ kundigungen einzuziehen, wann sie die Anstalt verlassen würde; ich wollte sie unten in dem großen, mit Bäumen bepflanzten Hofe erwarten, den sie beim Weggehen durchschreiten mußte. Als ich mich später dorthin begab, traf ich viele Kranke und Genesende, die sich wohl in gleicher Absicht eingefunden hatten. Wir mußten lange warten. Endlich kam sie, von einer jün¬ geren Schwester, dem Director der Anstalt und unserem Doc¬ tor begleitet, langsam die Treppe herunter. Ruhig und wür¬ devoll, die ernsten blauen Augen vor sich hin gerichtet, durch¬ schritt sie den Hof, hier und dort mit leisem Senken des Hauptes dargebrachte Grüße erwiedernd. Die Flucht der Jahre hatte ihrem Antlitz, bis auf einige feine Fältchen um den Mund, keinerlei Spuren aufgedrückt; vielmehr erschien sie jetzt in erhabener, vergeistigter Schönheit, mit welcher die weiße Beguine, der dunkle Faltenwurf der Gewänder und das goldene Kreuz vor der Brust in ergreifendem Ein¬ klange standen. Draußen am Thore harrte eine große schwer¬ fällige Kutsche; der schwarz gekleidete Diener öffnete den Schlag — und die Oberin fuhr an der Seite der Schwester in das fröhliche Menschengewühl belebter Gassen hinein — ihrem Kloster zu, das, wie ich später sehen konnte, am äußersten Ende der Stadt auf einer sanften, wipfelbeschatteten An¬ höhe lag. Inhalts-Verzeichniß. Seite Innocens 1. Marianne 77. Die Steinklopfer 125. Die Geigerin 185. Das Haus Reichegg 245.