Aus der Werkstatt eines W örterbuchschreibers. Plaudereien von D aniel S anders. Berlin. Verlag von Hans Lüstenöder. 1889. Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. Plaudereien von Daniel Sanders. Berlin. Verlag von Hans Lüstenöder. 1889. Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. 1* Meinem lieben „Erbfreunde“, Herrn Sanitätsrath Dr. Eduard Mayer in Halle a/S. Ἦ ῥά μοι ξεῖνος πατρώϊός ἐσσι παλαιός. .... ὄφρα καὶ οἵδε γνῶσιν, ὅτι ξεῖνοι πατρώϊοι εὐχόμεθ' εἶναι. Vorwort. S eit einiger Zeit ist der Abenheim’sche Verlag — und damit sind auch einige Bücher von mir, insonder- heit auch mein „Ergänzungs-Wörterbuch der deutschen Sprache“, — in die Hände eines andern Besitzers über- gegangen. Dieser, Herr Hans Lüstenöder in Berlin, hat nun bei mir angefragt, ob ich nicht meine Schrift: „Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers“, welche ich in der Vorrede zu dem genannten Ergänzungs- Wörterbuche als eine in nicht allzulanger Frist zu ver- öffentlichende angekündigt und welche er gern in seinem Verlage zu meinem siebzigsten Geburtstage mit einem Bildnis von mir und mit einem sich auf meine, des Wörterbuchschreibers, Thätigkeit beziehenden Spruche in meiner Handschrift erscheinen lassen möchte, über- lassen könne und wolle. Auf diese Anfrage musste ich erwiedern, dass ich auf ein so freundliches Entgegenkommen sehr gern und bereitwillig eingehen würde, wenn es mir bei den be- reits übernommenen Verpflichtungen nicht gradezu un- möglich wäre, die gewünschte Schrift rechtzeitig für das Erscheinen zu dem angegebnen Zeitpunkte fertig zu stellen. „Sie wissen wohl,“ — schrieb ich —, „dass ich die den Anfang meiner Schrift bildenden beiden ersten Plaudereien 1888 in dem Maiheft der von Paul Lindau herausgegebnen Monatsschrift: ‚Nord und Süd‘ veröffentlicht habe; aber ich muss hinzufügen, dass ich zu der weitern Ausarbeitung des Übrigen bisher die Zeit noch nicht gefunden habe und auch jetzt noch nicht finden kann. Da Sie nun aber Gewicht auf den angegebnen Zeitpunkt legen, so möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Die in Lindau’s ‚Nord und Süd‘ erschienenen beiden ersten Plaudereien bilden ja auch schon an und für sich ein kleines, einigermaßen in sich abgeschlossenes Ganze, als welches ich sie eben auch den Lesern jener Zeitschrift bieten konnte. Lassen Sie uns also diese beiden Plaudereien als eigenes Büchlein in einem Neudruck veröffentlichen. Ihrem Wunsche gemäß will ich gern für ein demnächst auf- zunehmendes Lichtbild von mir Sorge tragen, das als Grundlage meines dem Büchlein beizugebenden Bild- nisses dienen kann, und auch ein Spruch dazu — ganz wie Sie ihn wünschen — liegt schon in Bereit- schaft. In einem Vorwort aber“ — ich dachte dabei an das, auf welchem jetzt das Auge des geneigten Lesers ruht — „will ich als eine kleine Zugabe einen Bericht über die eigenthümlichen Umstände hinzufügen, durch welche der angesponnene Faden meiner Plau- dereien am Schluss der zweiten abgerissen worden ist, einen Bericht, für den ich auf die Theilnahme der Leser rechnen zu dürfen glaube, und außerdem will ich mittheilen, in welcher Beziehung der meinem Bilde beizugebende Spruch zu meinem Wörterbuch steht. Zu Weiterem fehlt mir, wie gesagt, augenblicklich die nöthige Muße und damit auch die rechte Stim- mung. Wollte ich jetzt daran gehen, Ihrem Wunsche gemäß die Plaudereien fortzuführen und zum Abschluss zu bringen: ich müsste — selbst wenn bei der äußersten Anspannung meiner Kräfte es mir gelänge, die Frist inne zu halten — doch immer befürchten, etwas Über- hastetes und nicht voll Ausgereiftes darzubieten; und Das möchte ich niemals und unter keiner Bedingung, natürlich am wenigsten aber zu dem Eintritt in einen für mich so bedeutsamen Lebensabschnitt. Lassen wir es also zunächst bei der Buchausgabe der bereits veröffentlichten beiden Plaudereien und warten wir den Erfolg ab. Ist dieser der von uns gewünschte und gehoffte, so wird, falls ein gütiges Geschick mir weiter Leben und Kraft bewahrt, es mir sicher an dem Willen und an der Lust nicht fehlen, an den abgerissenen Faden neu anzuknüpfen und ihn fort und bis zu Ende zu spinnen. Mit der Zeit wird sich dazu dann auch die nöthige Muße und damit auch die jetzt fehlende richtige Stimmung finden.“ In seiner Antwort hierauf hat Herr Lüstenöder meinen Vorschlag angenommen, da er — obgleich er es anders gewünscht hätte — doch die volle Berech- tigung meiner Auseinandersetzung nicht in Abrede stellen könne. Und so erscheint denn dieses Büchlein zu der von dem Verleger gewünschten Zeit, wenn auch zunächst noch nicht in dem von ihm gewünschten Umfange. Ich lasse nun ohne Weiteres die oben angekün- digten, dem Verleger für die Buchausgabe versprochenen Zugaben folgen. Habent sua fata libelli oder, wie es in Goethe’s Sprüchen heißt, auch Bücher haben ihr Erlebtes. Das ist mir bei keiner meiner Schriften so auffällig und eindringlich zum Bewusstsein gekommen, wie bei der vorliegenden, die zum Abschluss und bis zum Ende zu bringen, mir bis heute noch nicht vergönnt war. Der Herausgeber einer neu zu begründenden Zeitschrift hatte mich um einen Beitrag ersucht und dazu hatte ich die im raschen Zuge unmittelbar hinter einander niedergeschriebenen beiden ersten Plaudereien bestimmt. Ich rechnete auf sofortigen Abdruck und meine Absicht war, unmittelbar nachdem mir die ge- druckten Bogen zugegangen sein würden, die im Kopf ziemlich fertige Fortsetzung ununterbrochen hinter ein- ander niederzuschreiben; aber Woche auf Woche und nachher Monat auf Monat verging, ohne dass mir die Aushängebogen zugesandt wurden. Auf meine Mahnung empfing ich die Mittheilung, dass unvorher- zusehende Hindernisse, namentlich eine schwere Erkran- kung des Herausgebers, das Erscheinen der neuen Zeitschrift um ein viertel Jahr hinausgeschoben hätten, und daran schloss sich die Bitte, mich demgemäß zu gedulden. Das wiederholte sich mehrmals, da die Krankheit des Herausgebers sich sehr in die Länge zog. Endlich aber wurde sie doch gehoben und nun erfolgte die öffentliche Ankündigung der neuen Zeit- schrift und namentlich auch meines dabei in erster Stelle genannten Aufsatzes. „Endlich!“ — dachte ich bei mir — und: „Was lange währt, wird gut“. Die angekündigte Zeit des Erscheinens rückt näher und näher; da erhalte ich urplötzlich — es war grade an meinem Geburtstag — als eine keineswegs angenehme Überraschung eine Drahtbotschaft, ich möchte meinen Aufsatz doch schleu- nigst noch einmal einsenden, da er auf räthselhafte und unerklärliche Weise in der Druckerei spurlos ver- schwunden und trotz des eifrigsten Nachsuchens nicht wieder aufzufinden sei. Darauf musste ich aber antworten: Ich kann den Aufsatz — namentlich so urplötzlich — nicht noch ein- mal einsenden, da ich weder eine Abschrift noch einen Entwurf besitze, und so erschien denn der erste Band der Zeitschrift ohne meinen Aufsatz, aber mit der — den Uneingeweihten wohl schwer verständlichen — Be- merkung im Briefkasten: „Die verehrten Leser, welchen wir im ersten Bande eine Arbeit des .... Sprachforschers Daniel Sanders versprachen, bitten wir um Entschuldigung, dass wir die Erfüllung dieses Versprechens beson- derer Gründe halber aufschieben mussten.“ Ein zweiter Band der Zeitschrift aber ist niemals erschienen; und die Leser werden begreiflich finden, dass ich nicht daran dachte, die verlorene Arbeit, deren Er- scheinen sich so viele widrige Zwischenfälle in den Weg gestellt hatten, noch einmal zu schreiben und zu Ende zu führen, zumal ich durch andere inzwischen auf- genommene Arbeiten mehr als hinreichend in Anspruch genommen war. „Es hat eben nicht sein sollen!“ — dachte ich bei mir selbst, bis mir — wiederum ganz unerwartet — die Nachricht zuging, mein Aufsatz habe sich in der Druckerei, eben so urplötzlich, wie er ab- handen gekommen, wieder angefunden; und einige Zeit darauf hatte ich ihn wirklich wieder in meinen Händen. Da beschloss ich denn, ihn ganz unverändert — so wie er den Lesern von „Nord und Süd“ im Maiheft 1888 vorgelegt worden ist — zu veröffent- lichen und abzuwarten, ob ich später Zeit und Stim- mung finden würde, ihn fort und zu Ende zu führen, und Das will und muss ich auch jetzt noch abwarten, wo die beiden Plaudereien aufs Neue in dieser Buch- ausgabe veröffentlicht werden. Schließlich nun noch über den Spruch unter meinem Bildnis! Als der Verleger mir seinen Wunsch zu erkennen gab, dem Buche das Bild des Siebzigjährigen bei- zugeben mit einem Spruche in meiner Handschrift, der sich auf meine langjährige rastlose Wirksamkeit in der „Werkstatt des Wörterbuchschreibers“ bezöge, dachte ich im ersten Augenblick an den 134sten Spruch im 10ten Buche von Rückert ’s „Weisheit des Brah- manen“: „Wenn du dich lebenslang beschäftigest mit Wörtern, Verachten dich mit Recht, die lieber Ding’ erörtern. Wenn du dich wenigstens beschäftigtest mit Worten, Aus welchen aufgebaut sind der Begriffe Pforten! Doch, wenn du wirklich dich beschäftigst mit dem Wort, Es ist nichts Höheres zu finden hier noch dort.“ Dann aber sagte ich mir sofort, nicht bloß, dass dieser sechszeilige Spruch schon durch seinen Umfang nicht zu der von dem Verleger gewählten Buchgröße passe, sondern auch, dass er leicht eine falsche Meinung über den Werth erwecken könne, welcher nach meiner Schätzung der Thätigkeit des Wörterbuchschreibers zu- kommt. Ich verkenne einerseits nicht und habe nie ver- kannt, wie unendlich höher das oft wie mühelos mit der Gewalt und Schnelle des Blitzes zu Tage tretende Thun der von göttlichem Geiste erleuchteten und durch- drungenen wahren Wortschöpfer steht als die mühe- volle, still und langsam, aber stetig wirkende Arbeit der kleinern Geister, welche die von der Gesammtheit aller schöpferischen Geister eines Volkes in den Wör- tern seiner Sprache niedergelegten Schätze möglichst vollständig und erschöpfend zu sammeln, übersichtlich zu ordnen und den über die ungeahnte und in der stetigen Fortentwicklung gradezu unerschöpflichen Fülle seines unermesslichen Reichthums staunenden Blicken des Volkes zu erschließen bemüht sind; aber ich bin andrerseits doch auch, so sehr ich mir in aller Be- scheidenheit bewusst bin, nicht zu den schöpferischen Mehrern unserer Sprache zu gehören, weit davon entfernt, von der meinem innern Trieb angemessenen Thätigkeit und Wirksamkeit eines Sammlers, Ordners, Hüters und Wächters des deutschen Sprachschatzes ge- ringschätzig zu denken; und so hätte ich denn zur Ver- hütung von Missverständnissen jenem oben angeführten sechszeiligen Spruche aus Rückert ’s „Weisheit des Brahmanen“ etwa einen andern aus derselben Quelle geschöpften, den 15ten des dritten Buches, hinzufügen müssen: „Was deinem innern Trieb ist angemessen, treibe, Nur dass fein auch der Trieb ein angemessner bleibe! Und, was du liebend treibst, lass dir das Höchste gelten, Ohn’ Anderstreibende missliebig drum zu schelten. Sei doch in jeder Art ein Höchstes offenbart; Du offenbare dein Höchstes in deiner Art!“ — oder ich hätte auch, falls mir der Raum dafür zu Gebote gestanden hätte, eingedenk des Wortes, welches Lessing am Schlusse seiner „hamburgischen Dramaturgie“ ausgesprochen, dass seines Fleißes sich Jedermann rühmen dürfe, vielleicht die beiden letzten Versgebinde aus Schiller’s „Idealen“ wählen dürfen: „Von all dem rauschenden Geleite Wer harrte liebend bei mir aus? Wer steht mir tröstend noch zur Seite Und folgt mir bis zum finstern Haus? Du, die du alle Wunden heilest, Der Freundschaft leise, zarte Hand, Des Lebens Bürde liebend theileft, Du, die ich frühe sucht’ und fand, Und du, die gern mit ihr sich gattet, Wie sie, der Seele Sturm beschwört, Beschäftigung, die nie ermattet, Die langsam schafft, doch nie zerstört, Die zu dem Bau der Ewigkeiten Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, Doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht.“ Doch alle diese sich mir aufdrängenden und doch schon aus Rücksicht auf den Raum unausführbaren Erwägungen waren unnöthig, da vor fast 24 Jahren, in demselben Augenblicke, wo ich das letzte Wort meines großen „Wörterbuches der deutschen Sprache“ nieder- geschrieben, ich im Rückblick auf die abgeschlossene Arbeit und die Zeit, in welcher dieser Abschluss er- folgte, unter die letzte Zeile meiner Handschrift für mich die Bemerkung gesetzt: „beendet den 11. Juli 1865, Nachmittag 5 Minuten vor halb 2 Uhr. EST DEUS IN NOBIS, AGITANTE CALESCI- MVS ILLO.“ Ich entsinne mich des Augenblicks noch sehr genau, es war in der glühendsten Mittagshitze des brennend heißen Sommertages. Wohl empfand ich hohe Freude darüber, dass nach jahrelanger rastloser, mühevoller Arbeit das Werk, zu welchem der Gott in meiner Brust mich nicht nur angeregt, sondern auch mir die Ausdauer und die Kraft verliehen, zum glücklichen Abschluss gediehen sei; aber in das Gefühl dieser Freude mischte sich doch — wohl mit unter dem Ein- fluss der drückenden Schwüle — zunächst nicht (wie ich es mir vorher wiederholt ausgemalt) das Wohl- gefühl der wohlverdienten Muße, die ich mir nun einige Zeit hindurch gönnen könnte, sondern ein ge- wisses beklemmendes Angstgefühl, ähnlich, wie es der Chor in Schiller’s „Braut von Messina“ ausspricht: 2 „Sage, was werden wir jetzt beginnen, … Auszufüllen die Leere der Stunden Und die lange unendliche Zeit?“ u. s. w. Nun, auch darüber bin ich sehr bald hinweg- gekommen, da es mir auch seitdem niemals an Be- schäftigung und Arbeit gefehlt hat, die Schwere des Daseins und das ermüdende Gleichmaß der Tage zu ertragen. Nun aber muss ich noch auf den oben angegebenen bekannten, oft und viel angeführten lateinischen Vers aus Ovid’s „Fasten“ oder „Festkalender“ (Buch VI, V. 5) zurückkommen. In welcher Beziehung ich diesen Vers seinem Inhalt nach zu meinen Arbeiten auf dem Gebiete unserer Muttersprache aufgefasst sehen möchte, bedarf keiner Erörterung, nur will ich für den des Latein unkundigen Leser eine deutsche Übersetzung hin- zufügen: In uns lebet ein Gott: er erregt uns und wir erglühen; aber, dass der lateinische Vers auch zugleich ein soge- nanntes Chronostichon oder Eteostichon ist, d. h. in seinen Zahlbuchstaben das Jahr ergiebt, in welchem ich mein Wörterbuch der deutschen Sprache zum Ab- schluß gebracht, würden vielleicht die wenigsten Leser bemerken, wenn ich hier nicht eigens auf diese in früheren Zeiten vielgeübte Zahlspielerei aufmerksam machte und sie in der nachfolgenden Darstellungsweise veranschaulichte: est DeVs In nobIs, agItante CaLesCIMVs ILLo. Und hiermit empfehle ich mich nun dem Wohl- wollen der geneigten Leser, bis ich — wenn es ihrem Wunsche so entspricht und ich die Zeit dazu finde — an den abgerissenen Faden meiner Plaudereien an- knüpfend, später einmal ihn vielleicht werde fortspinnen und zu Ende führen können. Gott befohlen! Altstrelitz (Meklbg.), am Pfingst- sonntag, den 9. Juni 1889. Dan. Sanders. 2* I n dem kurzen Vorwort, das ich meinem 1885 voll- ständig erschienenen „Ergänzungs-Wörterbuch der deutschen Sprache“ vorgesetzt, habe ich mich auf das unumgänglich Nothwendige beschränkt, hier, wie bei meinem zwanzig Jahr früher vollendeten dreibändigen „Wörterbuch der deutschen Sprache“, den mir für die Ausarbeitung beider Werke als Richtschnur dienenden und nach Kräften getreulich durchgeführten Satz auf die Vorrede ausdehnend, dass grade derartige Nach- schlagebücher am besten und sichersten für sich selbst sprechen, wenn sie nämlich den Nachschlagenden die gesuchte Auskunft in übersichtlicher Weise jedes Mal möglichst leicht und schnell und dabei möglichst voll- ständig und erschöpfend finden lassen, und dass sie ihrem Zweck und ihrer Bestimmung auch am besten und sichersten entsprechen, je weniger der Verfasser darin mit seinen besonderen Ansichten und Meinungen her- vortritt und je mehr seine Person hinter dem für sich selbst sprechenden sachlichen Inhalt zurücktritt oder am besten verschwindet. In dem Vorwort zu dem zuletzt erschienenen Er- gänzungs-Wörterbuch jedoch habe ich geglaubt, mir wenigstens die mehr persönliche Bemerkung gestatten zu dürfen: Was ich noch weiter über das vorliegende Werk und über deutsche Wörterbücher überhaupt zu sagen habe, überschreitet bei Weitem den Raum einer Vorrede; und ich verspare es mir für eine eigene Schrift, die ich, etwa unter dem Titel: „Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers“ in nicht all- zulanger Frist zu veröffentlichen gedenke, und es ist mir zu meiner Freude und Genugthuung, wie in öffentlichen Besprechungen, so auch in Briefen von den verschiedensten Seiten die Aufforderung zu- gegangen, die angekündigte Schrift, der man gespannt und erwartungsvoll entgegensehe, möglichst bald er- scheinen zu lassen. So ersuche ich denn den geneigten Leser, in meine, des Wörterbuchschreibers, Werkstatt einzutreten und sich hier meine Mittheilungen und Plaudereien gefallen zu lassen. I. I ch bitte, machen Sie es Sich gefälligst zunächst in diesem Zimmer vor der eigentlichen Werkstatt bequem und lassen Sie mich Ihnen hier in einer einleitenden Plauderei berichten, wie ich dazu gekommen, ein deutscher Wörterbuchschreiber zu werden. Ob überhaupt jemals Jemand bei der Berufs- wahl von vorn herein zu dem Entschluss gekommen ist, ein Wörterbuchschreiber zu werden, — ich weiß es nicht und ich bezweifle es; jedenfalls bei mir ist es nicht der Fall gewesen, so wenig wie bei den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm und bei Littr é . Dieser letztere eröffnet seine bekannte anmuthige Plauderei: „Wie ich mein Wörterbuch der französischen Sprache zu Stande gebracht habe“ mit den allerdings auf die Spitze getriebenen Worten: „Nichts hatte mich eigentlich zu einer Unter- nehmung der Art vorbereitet“ und Jakob Grimm, in der Vorrede zu dem von ihm und seinem Bruder Wilhelm begonnenen „Deutschen Wörterbuch“, berichtet, als ihnen die erste Anregung zu dem genannten Werke 1837, wo sie ihres Amtes in Göttingen entsetzt wurden, durch den Antrag der Weidmann’schen Buchhandlung gegeben worden, ihre unfreiwillige Muße durch die Abfassung eines neuen großen Wörterbuches der deutschen Sprache auszu- füllen, da hätten sie zunächst einerseits sich dagegen als gegen etwas ihnen Fremdes und fern Liegendes gesträubt — „den Gedanken, den unermessenen Wort- vorrath der deutschen Sprache selbst einzutragen, hatten wir nie gehegt und schon der mühsamen Zurüstungen sich zu unterfangen, konnte den für die Ausdauer un- entbehrlichen Muth auf die Probe stellen“, so lauten Jakob Grimm’s Worte —, andererseits aber hätte auch der in dem Vorschlag liegende unwiderstehliche Reiz allen von vorn herein klar erkannten oder nur dunkel geahnten Schwierigkeiten die Spitze geboten, so dass schließlich die beiden Brüder „williges und beherztes Entschlusses ohne langes Fackeln das dar- gereichte Geschäft übernahmen.“ Soll ich nun aber weiter von mir selbst berichten, wie ich allmählich dazu gekommen, ein deutscher Wörter- buchschreiber zu werden, so muss ich schon ein wenig weiter ausholen. Ich habe das Glück gehabt, meine erste Jugend- bildung in der Schule meines Geburtsortes Altstrelitz zu empfangen, an deren Spitze damals als Leiter Dr. J. Lehfeldt (später mit seinem Schwager Dr. Moritz Veit, Begründer und Besitzer der Veit’schen Verlags- buchhandlung) und neben ihm als zweiter Lehrer J. Zedner (später Bibliothekar an dem brittischen Museum in London) standen. So weit ich aus meiner Erinnerung über mich selbst in jenen Kinderjahren urtheilen kann, war ich ein Knabe, der allerdings das in der Schule Gelehrte ziemlich schnell, leicht und sicher erfasste, aber namentlich bei den häuslichen Arbeiten sich gar manche Flüchtigkeiten und Nachlässigkeiten zu Schulden kommen ließ und der nach Kinderart viel mehr ans Spielen und Tollen als ans Lernen dachte. Wenn ich gefragt wurde, was ich dereinst werden wolle, lautete die Antwort: „Natürlich Kaufmann, wie mein Vater.“ Und was hätte der Knabe anders ant- worten können und sollen, der mit vollstem Rechte in seinem Vater das beste Musterbild sah und verehrte, wie er ihn in der ganzen Stadt, bei Hoch und Niedrig, bei Arm und Reich verehrt sah? Kannten diesen doch Alle hier als den besten Sohn gegen seine armen Eltern, als den gütigsten und liebevollsten Vater gegen seine beiden Kinder, meinen um zwei Jahr ältern Bruder und mich, dessen Geburt meiner Mutter das Leben gekostet hatte. Kannte doch die ganze Stadt ihn als bieder und rechtschaffen, als anspruchs- und bedürfnis- los für sich, als milde und freigebig gegen Noth- leidende, als nach Kräften hilfsbereit gegen Alle in allen Lagen. Ich bin auf meinem Lebenswege sehr vielen Männern begegnet, die meinen Vater an Gaben des Geistes und an geistiger Ausbildung weit, weit überragt haben, aber keinem einzigen, der ihn an Herzensbildung, an Wohlwollen gegen alle Menschen, an Bieder- und Gradsinn übertroffen hätte, keinem, in dem mehr die Goethe’sche Forderung verkörpert zu Tage getreten wäre: „Der edle Mensch Sei hilfreich und gut! Unermüdet schaff’ er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahneten Wesen!“ Als Kind hätte ich natürlich Das, was ich hier über meinen Vater gesagt, nicht in Worte zu fassen vermocht und auch von Andern habe ich, so viel ich weiß, es so im Zusammenhang nicht gehört, sondern mehr nur gelegentlich in einzelnen zerstreuten und ab- gerissenen Ausrufen und Andeutungen; aber gefühlt habe ich es, so lange ich denken kann, wie im eigenen Herzen, so in dem von allen Bewohnern unseres Städtchens gegen meinen Vater unwillkürlich sich kund- gebenden Benehmen deutlich ausgesprochen. Und heute glaube ich, zu erkennen, dass ich, wenn ich als Kind auf die Frage: „Was willst du werden?“ die zuver- sichtliche Antwort gab: „Natürlich Kaufmann, wie mein Vater“, eigentlich und im Grunde nicht den Wunsch damit ausdrücken wollte, den Beruf meines Vaters zu ergreifen, sondern vielmehr — obgleich mir Das auch im späteren Lebensalter noch lange nicht zum klaren Bewusstsein gekommen — den Wunsch, ich möchte, es sei, in welchem Beruf es wolle, meinem Vater, wenn nicht gleich, doch einigermaßen ähnlich werden, wie in der That mein Bruder, der meines Vaters Geschäft übernommen und noch heute fort- führt, ihm ähnlich geworden ist. Doch Dem sei, wie ihm wolle, meine Umgebung und ich selbst fassten meinen wieder und immer wie- der ausgesprochenen Wunsch, einmal Kaufmann, wie mein Vater, zu werden, so, wie er nach dem Wort- laut allerdings einzig und allein aufzufassen war: nur mein Vater selbst hatte, bestimmt durch das Urtheil meiner beiden oben genannten Lehrer über meine Be- gabung, einen andern Lebensberuf für mich ins Auge gefasst, und wünschte, dass ich studieren solle. Ich be- wundere noch heute den erzieherischen Scharfblick meiner beiden Lehrer, die trotz meiner oben erwähnten Flüchtig- keit und des Mangels an dem zum erfolgreichen Stu- dium so unumgänglich nothwendigen ernsten und aus- dauerndem Fleiße, von welchem sie doch wohl einen, wenn auch höchst winzigen und noch sehr eingehüllten und versteckten Keim bei mir mussten entdeckt haben, mich meinem Vater wiederholt als zum Studium ge- eignet und berufen, bezeichnet hatten. Die Sache kam für mich zum ersten Mal zur Sprache, als meine beiden mehr genannten Lehrer von der Schule abgingen und ich gleichzeitig auf eine andere Lehranstalt geschickt werden sollte. Als ich bei dieser Gelegenheit meinen Wunsch aussprach, Kaufmann zu werden, sagte mir mein Vater in seiner gewohnten liebevollen Weise und auch mir vollkommen einleuchtend: „Bei einem zwölfjährigen Knaben ist es natürlich noch nicht an der Zeit, über seinen Lebenberuf zu ent- scheiden. Es ist mein Wunsch, dass du studierst, und ich werde dich desshalb nach Neustrelitz aufs Gymna- sium geben, wo du, wie ich höre, nach Tertia kommen wirst. Sei dort recht fleißig und, wenn du dann nach Sekunda gekommen und in dieser Klasse ein Jahr ge- wesen sein wirst, ist es immer noch Zeit genug, eine Berufswahl für dich zu treffen.“ So kam ich denn auf das Neustrelitzer Gymna- sium nach Tertia. Vor meinen neuen Mitschülern hatte ich eine tüchtige Grundlage im Englischen und im Französischen voraus, welche beiden Sprachen auf der Altstrelitzer Schule mit als Hauptgegenstände behandelt worden waren, während auf dem Gymnasium damals vom Englischen überhaupt nicht die Rede war und im Französischen auch nur Privatunterricht ertheilt wurde, an welchem nur Einzelne theilnahmen, und auch diese meistens mehr, um allerlei Ungehörigkeiten und Unfug zu treiben, als um wirklich die Sprache zu erlernen. Dagegen war in der Altstrelitzer Schule das Griechische gar nicht gelehrt worden, allerdings hatte mein Vater mir in der letzten Zeit bei einem tüchtigen Primaner Privatunterricht im Griechischen ertheilen lassen; aber Das, was ich mir hier in den verhältnismäßig we- nigen Stunden hatte aneignen können, reichte doch für das in Tertia Geforderte nicht aus und hier hatten meine neuen Mitschüler einen bedeutenden Vor- sprung vor mir. Das fühlte und merkte ich bald und ich sagte mir, dass ich sehr tüchtig nacharbeiten müsse, um sie hier einzuholen und dann, gleichen Schritt mit ihnen haltend, vorwärts zu kommen. Ich sagte mir, dass ich es müsse, und, weil ich es musste, wollte ich es auch und in der That war ich nach nicht gar langer Zeit auch hier mit in der Reihe und konnte ohne Schwierigkeit mit fortschreiten. Dieser zum ersten Mal mir deutlich erkennbar durch ernsten Willen errungene Fortschritt kam mir auch ferner für mein ganzes Leben zu Gute. Ich hatte zum ersten Mal nicht bloß begriffen, sondern auch an mir selbst er- probt, dass der Mensch, was er seinen Fähigkeiten gemäß ernstlich will, auch wirklich kann und wie viel ein solcher ernstlicher Wille und, ihm entsprechend, un- verrückt aufs Ziel blickende, stetig und unverdrossen schrittweise vorrückende Arbeit vermag. Von einem Lehrfach muss ich nun noch beson- ders sprechen, von der Mathematik. Es herrschte da- mals — und herrscht vielleicht noch — bei den Schü- lern und auch bei einem großen Theil der Lehrer die Ansicht, es bedürfe für dieses Fach einer ganz beson- deren eigengearteten Anlage und, wem diese einmal von der Natur versagt sei, Der komme auch bei an- gestrengtem Fleiße darin niemals recht vorwärts. Nach meiner Überzeugung war es eben diese fast als ein keines Beweises bedürfender Grundsatz geltende An- sicht, welche in der That viele durchaus begabte Schüler verhinderte, sich in den ersten Anfängen gründlich und lückenlos zu befestigen, um dann auf der so gewonnenen festen Grundlage schritt- und stufenweise sicher immer weiter fortbauen zu können, was freilich bei dieser aus folgerechten Schlüssen und Ketten von Schlüssen bestehenden Wissenschaft vor Allem ganz unerlässlich ist. Wenn ihnen dann aber bei dem ihnen zugemutheten Fortschreiten zum Be- wusstsein kam, dass die ihnen als bündig vorgetra- genen Schlussfolgerungen für sie so zu sagen in der Luft schwebten und darum haltlos sofort in sich zu- sammenstürzten, so suchten sie den gut zu machenden Fehler nicht darin, dass sie versäumt hatten, die noth- wendige Grundlage in sich fest zu legen, sondern in einem ihnen angeborenen Mangel der besonderen und eigenartigen Begabung für Mathematik. Doch Dem sei, wie ihm wolle, jedenfalls war damals auf dem Neustrelitzer Gymnasium die Zahl der Schüler, die in der Mathematik wirklich Genügendes leisteten, eine nur sehr mäßige und, da ich fortwährend an der Spitze derselben stand, so galt ich bald nach dem da- mals dort herrschenden Sprachgebrauch als „ der Mathematiker“ κατ' ἐξοχήν . Ich komme nun auf die Wahl meines Lebens- berufes zurück. Nachdem ich ein Jahr in Sekunda gewesen, fragte mich mein Vater, ob ich nun noch nicht dem Gedanken an das Studium, für welches auch meine jetzigen Lehrer mich geeignet und berufen hielten, mehr Geschmack abgewonnen hätte. Ich erklärte meinem Vater, dass ich allerdings noch immer lieber Kaufmann werden als studieren, aber auch ohne Wider- streben und bereitwillig mich seiner Bestimmung fügen würde, wenn er das Studium für mich vorzöge. Ähnliches wiederholte sich dann noch öfter, namentlich, als ich nach Prima versetzt worden, und schließlich, als ich ein gutes Zeugnis der Reife für die Hochschule in der Tasche hatte. Ich erfuhr nun, dass es immer meines Vaters Lieblingswunsch gewesen, mich dereinst als einen tüch- tigen Arzt zu sehen. Sehr begreiflich; denn mein Vater war von der Natur mit einem scharfen und klaren ärztlichen Blick ausgerüstet und er hatte sich im innigen Umgange mit einem befreundeten Arzte Dr. Ascher, gestorben in Orenburg. und einem befreundeten Apotheker Friedrich Mayer, gestorben in Friedland, Vater des Dr. Eduard Mayer in Halle, dem ich diese Plaudereien ge- widmet, „dass auch die Andern Schaun, dass wir Freunde zu sein aus Väterzeiten uns rühmen“. auch eine unverächtliche ärzt- liche Kenntnis angeeignet und ich bin überzeugt, dass er, wenn es die Verhältnisse in seiner Jugend ihm ge- stattet hätten, zu studieren, gewiss ein sehr tüchtiger Arzt geworden wäre. Als ich nun aber meinem Vater sagte, dass ich zu dem Beruf eines Arztes in mir durch- aus keine Neigung verspürte, wohl aber eine bestimmt ausgesprochene zu dem eines Lehrers und Jugend- bildners, war er auch damit sofort zufrieden und ein- verstanden und so bezog ich denn die Hochschule mit dem auch von meinem Vater gut geheißenen Vorsatz, mich für den jetzt erwählten Beruf möglichst vielseitig aus- und vorzubilden, wobei mein Hauptaugenmerk einerseits auf Mathematik und Naturwissenschaften, andererseits auf Sprachen gerichtet war. Ich darf sagen, dass ich auf der Hochschule, wie ich es schon auf dem Gymnasium gethan, meine Zeit gehörig ausgenutzt. Zu besonderer Freude und zum großen Vortheil für meine Beschäftigung mit dem Griechischen gereichte mir der rege freundschaftliche Ver- kehr mit den damals in Berlin studierenden Griechen, aus deren Munde ich gelegentlich eine ziemlich ansehn- liche Menge von Volks-Liedern und -Sagen hervor- zulocken und aufzuzeichnen wusste. Ich fand Gelegen- heit, noch vor dem Abschluss meiner Studentenzeit wenigstens einen Theil davon in Übersetzungen in einem Büchlein zu veröffentlichen, das ich in Gemein- schaft mit zwei auf der Hochschule gewonnenen Freun- den, Moritz Carriere (jetzt in München) und dem treff- lichen, leider zu früh dahingeschiedenen Heinr. Bernh. Oppenheim, unter dem Titel: „Neugriechische Volks- und Freiheitslieder. Zum Besten der unglücklichen 3 Candioten. Grünberg und Leipzig, 1842. Verlag von W. Levysohn“ herausgab. Kurz darauf, nachdem ich auch die Doktorwürde erworben, wurde mir in meiner Vaterstadt die Leitung derselben Schule übertragen, in der ich selbst, wie oben berichtet, meine erste Jugend- bildung empfangen hatte. In diesem Amte, dem ich mich mit Lust und Liebe, mit dem größten Eifer und mit der vollsten Hingebung widmete, habe ich dann nahe zehn der schönsten Jahre meines Lebens, bis zum Eingehen der trefflich ge- deihenden Schule, zugebracht. In dieser ganzen Zeit bildete meine Schule und die Sorge für die mir an- vertraute Jugend den Mittelpunkt meines Denkens, Lebens, Webens, Wirkens und Schaffens. Die wenigen mir frei bleibenden Stunden wurden zum größten Theil durch schriftstellerische Thätigkeit ausgefüllt. So erschien 1844 mein „Volksleben der Neugriechen, dargestellt und erklärt aus Liedern, Sprichwörtern und Kunstgedichten“ in Mannheim bei Bassermann und ferner war ich als Mitarbeiter an verschiedenen Zeitschriften thätig, na- mentlich an dem Herrig’schen „Archiv für das Studium der neueren Sprachen“, an den (Berliner) „Jahr- büchern für wissenschaftliche Kritik“, wie an den da- mals von Fleckeisen und Klotz geleiteten „Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik“. Für diese letzte Zeitschrift hatte ich auch eine ein- gehende Beurtheilung des Grimm’schen „deutschen Wörterbuches“ bestimmt, von welchem eben die beiden ersten Lieferungen erschienen waren. Meine Arbeit wurde mir, nachdem sie ungebührlich lange Zeit zu- rückgehalten worden war, unter einem nichtigen und leicht durchsichtigen Vorwande zurückgeschickt und ich ließ sie nun als eigenes Heft in Hamburg bei Hoff- mann und Campe erscheinen, wo schon früher die von Adolf Glaßbrenner und mir gemeinschaftlich verfassten „Xenien der Gegenwart“ erschienen waren. Meine Be- urtheilung erregte Aufsehen, sie wurde vielfach heftig angegriffen und geschmäht, aber, da ich nirgend einen Tadel ausgesprochen, ohne ihn sachlich auf gute, ein- leuchtende und schwer widerlegbare Gründe gestützt zu haben, so wurde meines Wissens nirgend auch nur der Versuch einer wirklichen Widerlegung gemacht und manche unabhängigen Blätter hatten den Muth, unverblendet, durch die — wie auch ich rückhaltlos ausgesprochen hatte — mit vollstem Recht gefeierten Namen, die Stichhaltigkeit meiner gegen das Grimm’- sche Wörterbuch gemachten Ausstellungen anzuerkennen. Inzwischen waren zwei neue Lieferungen des Grimm’- schen Wörterbuches erschienen, die zu einer weiteren Beleuchtung und Beurtheilung anzuregen, wohl geeignet 3* waren, und so ließ ich denn auf die Aufforderung meines Verlegers dem ersten Hefte ein zweites folgen, das die gleiche Aufnahme fand. Die beiden Hefte hatten auf mich unter Anderen auch das Augenmerk der J. J. Weber’schen Verlags- buchhandlung in Leipzig gerichtet, die seit Jahren den Wunsch und die Absicht gehegt, ein deutsches Wörter- buch nicht für den ausschließlichen Kreis der Sprach- gelehrten, sondern zum Gebrauch für alle gebildeten und bildungsbeflissenen Deutschen zu verlegen. Durch die Vermittelung des Verlagsbuchhändlers Otto Wigand in Leipzig ging mir die Anfrage zu, ob ich geneigt wäre, die Ausarbeitung eines derartigen Werkes zu übernehmen. Es war eben damals die Schule, an deren Spitze ich bis dahin als Leiter gestanden hatte, eingegangen, aber gleichzeitig war mir von Frank- furt a. M. aus die Leitung einer ähnlichen, nur viel größeren Anstalt angetragen worden, und so war ich denn vor eine für mein künftiges Leben ausschlag- gebende und entscheidende Zwiewahl gestellt. Beide sich mir so eröffnenden Aussichten hatten für mich ihr sehr An- und Verlockendes. Leichter, bequemer und sicherer war für mich jedenfalls die Frankfurter Stel- lung, in der ich auf der bereits von mir bis dahin mit gutem und anerkanntem Erfolge beschrittenen Bahn nur gleichmäßig fortzuschreiten hatte; außerdem bot sie nicht nur mir selbst für meine Lebenszeit ein sicheres Auskommen, sondern auch eine Versorgung für meine Hinterbliebenen. Andrerseits aber war, während ich mich eingehend mit der Beurtheilung des Grimm’schen Werkes beschäftigt hatte, vor meinen Geist in immer schärferen, bestimmteren und klareren Umrissen, das Bild eines deutschen Wörterbuches getreten, wie ich es nach Maßgabe meiner Kräfte zu Nutzen und Frommen meines Volkes ihm als eine hoffentlich will- kommene Gabe darbringen zu können hoffen durfte, und dieses Bild stimmte im Großen und Ganzen mit dem Bilde überein, das sich unabhängig von mir die Weber’sche Verlagsbuchhandlung für das von ihr lange gewünschte und geplante Wörterbuch entworfen hatte, ein Werk, zu dessen Ausführung nach vielfachen, oft wiederholten und erneuerten Fehlversuchen sie endlich in mir den rechten Mann gefunden zu haben hoffte oder, wie sie sagte, überzeugt war, wie denn auch alle Einzelheiten, die ich in späteren Verhandlungen bei der näheren Auseinandersetzung und Entwickelung meines Planes ihr darlegte, schließlich ihre volle Zu- stimmung und Billigung fanden. Der Gedanke, ein für mein Volk nützliches Werk schaffen zu können, hatte es mir angethan und fiel bei meinem Hin- und Herwägen schwer in die Wagschale zu Gunsten des Wörterbuches, während für die Gegenschale sich die Erwägung geltend machte, dass ich nach den bis- herigen Erfahrungen und Erfolgen ganz zweifellos mich der Frankfurter Stelle vollkommen gewachsen fühlen durfte, dass ich in derselben nur eine mir ihrer Art nach bereits bekannte und jedenfalls weit weniger schwere und drückende Last auf die Schulter nahm und dass sie, wie gesagt, mir und den Meinen eine sichere Zukunft verbürgte. Ich habe lange hin- und hergeschwankt und in jener Zeit gründlich das horazische: Versate diu, quid ferre recusent, quid valeant humeri Wäget wohl vorher, was eure Schultern Vermögen oder nicht, eh’ ihr die Last Zu tragen übernehmt. Übersetzung von Wieland. erkennen und würdigen gelernt, und, als ich mich schließlich entscheiden musste, entschied ich mich, zwar nicht leichten Herzens, aber doch getrosten Muthes für das Wörterbuch. Bei einem derartigen Entschluss wirken in der Regel eine Menge verschiedenartige, dem Menschen selbst nicht alle zum klaren Bewusstsein kommende Gründe zusammen und gewiss war es auch bei mir der Fall; schwerlich hätte ich sie damals alle namhaft machen können und kann es heute noch weniger. Doch glaube ich, dass zu den ausschlaggebenden Etwas ge- hörte, das manchen Andern grade eher zurückge- schreckt hätte. Αὐτὸς γὰϱ ἐφέλκεται ἄνδϱα σίδηϱος, das Schwert selbst ziehet den Mann an, wie es bei Vater Homer heißt. Ich musste von vorn herein sehr wohl und hatte es mir von vorn herein sehr klar gemacht, dass, sobald ich die Verpflichtung übernahm, das Wörterbuch nach dem von mir entworfenen und festgesetzten Plan inner- halb eines bestimmten absehbaren Zeitraums voll- ständig von A bis Z auszuarbeiten, ich mir damit eine Bürde auflud, die ungebeugt und ungebrochen bis ans Endziel zu tragen, nicht allzuviele Schultern kräftig und stark genug sein würden; aber ich hatte bei meinem bisherigen Wirken erprobt, dass ich meiner Kraft ein nicht gewöhnliches Maß von Arbeit zu- muthen dürfte; ich wusste, dass ich in Dem, was ich ernstlich wollte, nicht leicht ermatten, dass es mir an unverdrossenem Fleiß und zäher Ausdauer nicht fehlen würde, und so durfte nach redlicher Selbstprüfung ich hoffen, dass mit Gottes Hilfe bei voller Anspannung meiner ganzen Arbeitskraft ich das Werk, dessen Schwierigkeit mich eben reizte, in der festgesetzten Frist glücklich werde zu Ende führen können. Gott hat mir beigestanden und der Erfolg hat bewiesen, dass mein allerdings kühnes Vertrauen auf die eigene Kraft doch kein vermessenes gewesen. Die freundlichen Leser, die bis hierher meinen Mittheilungen gefolgt, wissen nun, wie ich keineswegs von vorn herein aus eigenem, innerem Triebe, — sondern vielmehr allmählich durch die Bestimmung und die Einwirkung anderer Personen und der Ver- hältnisse zu einem deutschen Wörterbuchschreiber ge- worden. Macht doch in der Regel überhaupt nicht der Mensch die Verhältnisse, sondern die Verhältnisse machen ihn. Ich weiß sehr wohl, dass ich in dieser meiner ersten Mittheilung mich etwas kürzer hätte fassen können; aber, wenn ich hier von der Freiheit der Plauderei Gebrauch — doch hoffentlich keinen Miss- brauch — gemacht, so leitete mich dabei nicht bloß der leicht begreifliche Wunsch, die sich hier ungesucht bietende und gern ergriffene Gelegenheit zu benutzen und meinem trefflichen Vater ein kleines Gedächtnis zu stiften, sondern ich hoffte auch zugleich, durch meine Erzählung manchen Eltern einen bei der Berufswahl ihrer Kinder beherzigenswerthen Wink und Rath zu geben. Ich habe im Leben nur zu oft gesehen, dass liebevolle Eltern auf die Antwort, welche ein Kind auf die Frage: „Was willst du werden?“ giebt, zumal wenn es heranwachsend dieselbe mit einer gewissen Zähigkeit festhält und wiederholt, ein gar zu großes und unverhältnismäßiges Gewicht legen, als spräche sich in einer solchen Antwort in der That immer eine bestimmte Neigung und eine besondere Begabung für den von dem Kinde genannten Beruf aus. Man sollte doch aber wohl erwägen, dass, wenn ein Knabe auf die Frage, was er werden wolle, den Beruf seines Vaters nennt, sich darin oft nur der kindische oder kindliche Nachahmungstrieb äußert, dass der Knabe, der erhitzt und aufgeregt durch das Lesen seines Robinson und wunderbarer, abenteuerlicher Seereisen, es als seinen höchsten Wunsch bezeichnet, ein Seemann zu werden, meist nicht die geringste Ahnung von diesem Berufe, seinen Beschwerden und Gefahren hat, — dass überhaupt Kinder über einen Beruf fast immer nur nach Äußerlichkeiten urtheilen und urtheilen können, ohne die Licht- und Schatten- seiten zu kennen und ohne zu einem wirklichen Urtheil über ihre Befähigung für den Beruf irgend berechtigt zu sein. Sorgfältige Eltern und Erzieher werden in der Regel besser und richtiger erkennen, wozu ein Kind wirklich befähigt und berufen ist, und, wenn sie unter Berücksichtigung aller einschlägigen Verhältnisse es dazu hinleiten und vernünftig des Kindes Wahl lenken und bestimmen, so verfahren sie liebevoller und erweisen dem Kinde eine größere Wohlthat, als wenn sie den oft unverständigen Wunsch eines unreifen Knaben als ausschlag- und maßgebend ansehen und ihn, weil er es urtheillos und unbedacht wünscht, einen Beruf er- greifen lassen, der nicht für ihn und für den er nicht passt und den ergriffen zu haben, er im späteren Leben oft bitter bereut. II. „ D u hast die Leser in deine Werkstatt eintreten heißen, um ihnen dort Mittheilungen aus der Werk- statt zu machen, aber, was wir bisher von dir gehört, war doch eigentlich nur ein Bericht, wie du überhaupt dazu gekommen, ein Wörterbuch zu schreiben. So führe uns doch endlich in deiner Werkstatt selbst umher, zeige und erkläre uns deren Einrichtung, dein Handwerkszeug u. s. w. Du hast zu deinem Werk offenbar mancherlei Stoff gebraucht. Wer hat ihn dir geliefert oder woher hast du ihn genommen? Welche Anordnung hast du getroffen, um aus der — wie man sich ohne Weiteres denken kann — ver- wirrenden, kaum zu bewältigenden und zu übersehen- den Fülle des Stoffes den für die Verarbeitung im Augenblick grade erforderlichen und nothwendigen immer gleich zur Hand zu haben? Und wenn du dann alle grade nöthigen Stoffe zur Hand hattest, welches Verfahrens bedientest du dich, um aus den vielerlei verschiedenartigen, die doch wohl jedenfalls noch einer Vorbereitung und Vorbearbeitung bedurften, auf deinem — darf ich sagen? — Webstuhle ein gleich- mäßiges Gespinnst und Gewebe herzustellen, das sich im gehörigen Verhältnis dem Ganzen deines Wörter- buches richtig einfügte? u. s. w. Siehst du, Herr Wörter- buchschreiber, Das sind Fragen, auf die wir von dir gehörige Antwort und Auskunft haben möchten.“ Wenn so oder in ähnlicher Weise ein minder ge- duldiger Leser das Wort nimmt, so muss ich ihm frei- lich vollkommen Recht geben; aber er wird mir wohl auch zugestehen, dass sich nicht alle seine Fragen gleich- zeitig und auf einmal beantworten lassen, und ich hoffe, er und alle meine Leser räumen mir bereitwillig das Recht ein, bei meinen weitern Plaudereien gelegentlich und, ohne dass ich mich an eine allzustrenge Ordnung und Reihenfolge binde, eine Frage nach der anderen, bald mehr, bald minder eingehend zu beantworten, etwa wie es der Werkführer thut, wenn er werthe Gäste in der Werkstatt umherführt und an irgend einen Gegenstand, der sich ihnen grade zum Anblick darbietet, Mittheilungen anknüpft, von denen er an- nimmt, dass sie den Antheil der den Werkraum Durch- musternden erregen könnten. Treten wir also nun in die Arbeitsstätte selbst ein und sprechen wir zunächst von den ersten und nothwendigsten Hilfsmitteln des Wörterbuchschreibers. Sie denken Sich ohne Weiteres und begreifen sofort, dass er sich, wenn es sich nicht etwa um eine Sprache handelt, in der es überhaupt noch kein Wörter- buch giebt, zunächst alle seine selbständigen Vorgänger möglichst vollständig zu verschaffen suchen wird, da es sich eigentlich doch nur darum handeln kann, den be- reits von diesen zusammengebrachten und in bestimmter Ordnung eingereiheten Stoff zu ergänzen, zu vervoll- ständigen, zu erweitern, zu berichtigen u. s. w., indem man Fehlendes hinzufügt, namentlich übersehene oder neu hinzugekommene Wörter, Wortverbindungen, Redensarten und eigenartige Anwendungen, wie auch den früheren Sammlern entgangene oder erst nach ihrer Zeit ausgebildete eigenthümliche und besondere Bedeutungen von Wörtern ein- und nachträgt, irrige und falsche oder doch aus einseitigen, beschränkten und unzureichenden Beobachtungen abgezogene Bemer- kungen, Regeln und Vorschriften über den Sprach- gebrauch verbessert und umgestaltet u. ä. m. Nehmen nun schon die Wörterbücher meiner selb- ständigen Vorgänger in meiner Werkstatt einen immer- hin ansehnlichen Raum ein, so verschwinden sie doch gegen die übrigen Bücher und Schriften, aus welchen ich den im heutigen Gebrauch lebenden Wortschatz unserer unerschöpflich reichen Muttersprache möglichst vollständig zu gewinnen und mit den nöthigen Be- legen in mein Wörterbuch einzutragen beflissen war. „Wörterbuch der deutschen Sprache. Mit Be- legen von Luther bis auf die Gegenwart“, hatte ich auf den Titel meines Werkes gesetzt und so handelte es sich also um das Schriftthum von reichlich vierte- halb Jahrhunderten. Natürlich ist Das nicht so zu verstehen, als ob ich — oder als ob überhaupt irgend Jemand — alles das in diesem weiten Zeitraume in deutscher Sprache Erschienene oder auch nur das von dem Erschienenen in irgend einem Abdruck Erhaltene — in stetigem Rückblick auf das daraus für das Wörterbuch zu Gewinnende — von A bis Z hätte durch- lesen, ausziehen und ausnützen können. Es bleibt immerhin noch eine Riesenaufgabe, wenn man aus diesem ungeheuren Wust auch nur die hervorragen- deren Schriften auswählt, die durch ihre Bedeutsam- keit und ihren inneren Werth es verdienen, als gültige Zeugen und Gewährsmänner für das Vorkommen von Ausdrücken, Redewendungen und Redensarten, Wort- fügungen und Wortbedeutungen aufgerufen zu werden oder die selbst nachweisbar auf die Aus- und Fort- bildung der Sprache einen namhaften und beachtens- werthen Einfluss geübt. Es soll damit durchaus nicht gesagt sein, dass nicht auch in den unbeachtet ge- bliebenen Schriften sich manches für das Wörterbuch Beachtenswerthe und wohl zu Verwerthende findet, aber welcher Bergmann würde daran gehen, Schutt- halden auszuklauben, so lange sich ihm noch reiche und ergiebige edle Erzadern zur Ausbeutung darbieten? Dazu kommt noch, dass Demjenigen, welcher die Fülle der mit gutem Bedacht ausgewählten Schriften sorg- sam und getreulich zur möglichst vollständigen und er- schöpfenden Ausnutzung für das Wörterbuch durch- mustert, fast ganz von selbst der Zufall auch eine nicht geringe Anzahl anderer, ursprünglich nicht mitgewählter Schriften in die Hände spielt, in denen er mit geschärftem Blick oft sehr wohl verwerthbare und werthvolle Be- lege entdeckt, die er, sich seines guten Finderglückes freuend, in die für das Wörterbuch angelegten Vor- rathsbehälter einträgt. Auch hatte ich mich des Glückes zu erfreuen, dass, sowohl bei meinem Wörterbuche der deutschen Sprache, wie späterhin bei meinem Ergän- zungs-Wörterbuche, persönlich mir ganz Fernstehende mir unaufgefordert und aus eigenem Antriebe reiche Bei- steuern von höchst erwünschten Belegstellen zusandten, die zur wesentlichen Bereicherung meiner eigenen Sammlungen dienten. Besonders hervorheben muss ich es, dass ich bei den von mir ausgewählten Schriften mich durchaus nicht bloß auf die wissenschaftlichen und schönwissenschaftlichen beschränkt, sondern ganz eigens und geflissentlich auch die fachwissenschaftlichen mit in den Kreis hineingezogen, wie ich es denn in noch weiterem Umfange als eine meiner Hauptaufgaben ansah, in meinem Wörterbuche nicht nur die Bücher- sprache, sondern zugleich auch die Sprache des gewöhn- lichen Lebens, des Handels und Wandels, des allge- meinen Verkehrs, der Handwerke, Künste, Fabriken und der verschiedenen Berufsarten mit aufzunehmen, zu wür- dern und zu erklären, wofür, wo die Bücher nicht aus- reichten, aus mündlicher Unterhaltung mir Belehrung und Auskunft zu verschaffen, ich mir angelegen sein ließ. Welche Masse von Büchern mir den Stoff ge- liefert, mag man annähernd erkennen, wenn man sich die Mühe nehmen will, das am Schluss meines „Wörter- buches der deutschen Sprache“ (in der zweiten Hälfte des zweiten Bandes, S. 1816 ff.) enthaltene und hier 30 Spalten, jede zu etwa 80 Zeilen, füllende „Quellen- verzeichnis“ etwas genauer anzusehen. Absichtlich sind darin, wie dort eigens hervorgehoben ist, Werke, aus denen nur vereinzelte Belegstellen entnommen sind, nicht besonders — und eben so wenig die in den Sammelwerken enthaltenen Schriftsteller einzeln — auf- geführt. Man erwäge dabei, was in einem der- artigen Quellenverzeichnis oft eine oder zwei Zeilen für eine Fülle des durchzuarbeitenden Stoffes in sich schließen, was es Beispiels halber besagen will, wenn es hier heißt: „ Goethe , J. W., 1749—1832. Sämmtliche Werke in 40 Bdn. ꝛc. — oder: „ Luther , Mart., 1483—1546. Die Bibel nach der letzten von Luther selbst revidierten Ausg., ge- druckt zu Wittenberg durch Hans Lufft. 1545. — Bücher und Schriften nach der Jenaer Folio-Aus- gabe, angeführt nach Band und Blattzahl“ u. A. m. Die für das „Ergänzungs-Wörterbuch“ hinzu- gekommenen Schriften würden außerdem für sich noch einen ziemlich bedeutenden Umfang in Anspruch nehmen. Diese große Menge von Schriften aus mehr als viertehalb Jahrhunderten war natürlich niemals gleich- zeitig auf einem Haufen in meiner Werkstatt oder, wie man sonst mein mäßig großes Arbeitszimmer nennen will. Sie hätten darin, so sehr es auch zu Zeiten mit Büchern angefüllt und überfüllt war, nimmermehr zu- gleich Raum gefunden. Vielmehr behielt ich in meinem eigentlichen Arbeitsraume größtentheils nur die Bücher, die ich eben unausgesetzt und fortwährend gleich zur Hand haben wollte und musste; die übrigen Bände wanderten, sobald die daraus für das Wörterbuch zu benutzenden Belegstellen möglichst vollständig entnommen waren, hinaus, um anderen eben so für das Wörter- buch auszuziehenden Platz zu machen. Diejenigen, die bis hierher meiner Plauderei zu folgen die Freundlichkeit und Geduld gehabt, werden daraus, denke ich, eine genügende Übersicht gewonnen haben über die Menge von Schriften, aus denen ich den im Wörterbuch weiter zu verarbeitenden Stoff ge- zogen. Ich möchte hier nun die Mittheilung anreihen, auf welche Weise dieser Stoff aus den Schriften aus- gezogen worden und wie dann die auf solche Weise aus den verschiedenen Werken zusammengebrachte Fülle 4 der später als Beispiele und Belege zu benutzenden Stellen, wenn auch nicht endgültig, so doch wenigstens vorläufig in einer einigermaßen übersichtlichen und die Möglichkeit einer weiteren Ordnung gewährenden An- ordnung zusammengestellt und eingefacht worden sind. Ich glaube, ich komme am schnellsten und kürzesten zum Ziel und mache mich auch den meiner Plauderei Folgenden am deutlichsten, wenn ich sie einlade, gemein- sam mit mir etwa das erste kleine Gedicht unter Goethe’s Liedern in möglichster Vollständigkeit für das Wörterbuch auszuziehen. Ich darf, wie bisher, auch hier wohl von der Freiheit der Plauderei Gebrauch machen, gelegentlich einzelne mir wünschenswerth oder nothwendig erscheinende Abschweifungen einzuflechten. Das kleine zwölfzeilige Gedicht, das in der von mir zu Grunde gelegten vierzigbändigen Ausgabe sich im ersten Bande, Seite 10 findet, hat den Titel: „ Vor- klage “ und lautet: Wie nimmt ein leidenschaftlich Stammeln Geschrieben sich so seltsam aus! Nun soll ich gar von Haus zu Haus Die losen Blätter alle sammeln. Was eine lange, weite Strecke Im Leben von einander stand, Das kommt nun unter einer Decke Dem guten Leser in die Hand. Doch schäme dich nicht der Gebrechen, Vollende schnell das kleine Buch; Die Welt ist voller Widerspruch: Und sollte sich’s nicht widersprechen? Sehen wir uns nun das Gedicht in Bezug auf die daraus für das Wörterbuch zu gewinnende Aus- beute recht sorgfältig an, so drängt sich uns gleich bei der Überschrift die Frage auf: warum hat der Dichter diese Überschrift gewählt? und in welchem Sinne ist das Wort „Vorklage“ hier zu fassen? Lassen wir zu- nächst die Antwort auf sich beruhen und schreiben wir auf einen Zettel: Vorklage . G. 1, 10 (d. h. so viel wie: Goethe, Band 1, Seite 10). Davon, dass das mittlere Versgebinde in seiner Reimstellung mit den beiden anderen nicht überein- stimmt, sehen wir hier natürlich ab, als ohne Belang für das Wörterbuch, und machen uns zunächst den Gedankengang des Dichters klar. Er ist zu dem Entschluss gekommen, seine bisher zerstreuten Lieder zu sammeln; aber nun kommt ihm ein Bedenken: er fühlt, seine bei den verschiedensten Gelegenheiten entstandenen Lieder waren der ungesucht hervorbrechende Ausdruck seiner jedesmaligen augen- blicklichen Stimmung, er hat darin nicht seine Ge- 4* danken in wohlgeordneter Fassung ausgesprochen, son- dern, von seinen Gefühlen leidenschaftlich erregt und überwältigt, sie, seiner kaum selbst vollbewusst, gleich- sam stammelnd hervorgestoßen; und darum nahm sich schon das einzelne Lied, wie es schriftlich aufgezeichnet worden, seltsam und befremdlich genug aus. Das Befremden muss sich aber noch in hohem Grade stei- gern, wenn die bei den verschiedensten, zeitlich weit aus einander liegenden Gelegenheiten und unter den widersprechendsten und wechselndsten Stimmungen ent- standenen Lieder, zu einem Buche vereinigt, unver- mittelt neben einander —, als ständen sie, eine hinter einander fortlaufende Reihe bildend, in unmittelbarem Zusammenhange, — wenn sie, sag’ ich, so mit all ihren Widersprüchen dem Leser vor die Augen kom- men; aber der Dichter weiß sich über die ihm auf- steigenden Zweifel hinwegzuhelfen und ermannt sich zu dem Entschlusse, ohne langes Bedenken sein kleines Buch fertig zu stellen. Sei doch, sagt er, die ganze Welt in sich voller Widersprüche: warum solle denn nicht auch sein Büchlein sich widersprechen dürfen? Damit ist auch der Titel des von dem Dichter seinem Liederbuch voraufgeschickten Gedichtes erklärt, in welchem er Das, was die Leser seinem Buche vor- werfen können, es selbst beklagend, bereitwillig zugesteht, aber nach Möglichkeit zu entschuldigen sucht, so der An- klage und Beschuldigung seitens der Leser zuvorkom- mend und vorbauend. Gehen wir nun aber ins Einzelne und fragen uns, für welche im Wörterbuch zu behandelnden Aus- drücke zunächst die beiden ersten Zeilen des Gedichtes passende und verwerthbare Beispiele oder Belege lie- fern können. Zuerst finden wir: „ ausnehmen “, als rückbezügliches Zeitwort, in der Wendung: „Etwas nimmt sich so und so aus.“ Wir setzen also auf einen auszufüllenden Zettel als Stichwort oben: Ausnehmen refl. [d. h. verbum reflexivum oder rückbezügliches Zeitwort] und darunter die Belegstelle: Wie nimmt ein leidenschaftlich Stammeln | ge- schrieben sich so seltsam aus ! G. 1, 10. Dieselbe Belegstelle setzen wir auf einen folgenden Zettel, nur dass wir diesmal nicht ausnehmen durch Unterstreichen hervorheben, sondern „ leidenschaftlich “, das wir auch als doppelt unterstrichenes Stichwort zur Überschrift wählen, mit hinzugefügtem a. [d. h. Adjectiv und Adverb oder: Eigenschafts- und Umstandswort]. Auf dem folgenden Zettel gestaltet sich die Über- schrift etwa so: Schreiben tr. [d. h. verbum transitivum oder zielendes Zeitwort], im Gegensatz zu sprechen ꝛc. und auf einem weiteren Zettel fügen wir zu dem Stich- wort ꝛc. seltsam außer der Bezeichnung a. (s. o.) etwa noch einige erklärende oder sinnverwandte Ausdrücke, wie: „befremdend, befremdlich, sonderbar, eigenartig, eigenthümlich“. Da ich planmäßig in meinem Wörterbuch die Formwörter nur kurz berührt habe, ihre ausführliche Erörterung einem eigenen Buche vorbehaltend, so bin ich auch hier über das an der Spitze des Gedichtes stehende ausrufende Fürwort „wie“ hinweggegangen, obgleich für das Wörterbuch der Formwörter unter diesem Stichwort die beiden ersten Verse wohl als Beleg verzeichnet zu werden verdient hätten, in so fern der Ausruf eine verschiedene Abschattung des Sinnes zeigt, je nachdem das sich anschließende Ad- verb unmittelbar auf das „ wie “ folgt oder — wie in dem Gedichte — davon getrennt ist, vgl.: „ Wie (so) seltsam nimmt sich das Stammeln aus!“ und: „ Wie nimmt es sich (so) seltsam aus!“ Doch für uns hier kommt es ja überhaupt nicht darauf an, ob wir aus einem Gedichte für das Wörter- buch einen Zettel mehr oder weniger gewinnen, son- dern vielmehr nur, beispielsweise zu zeigen, wie sich die auszuziehenden Zettel gestalten. So übergehe ich denn auch unter den aus dem dritten und vierten Verse für das Wörterbuch zu gewinnenden Zetteln diejenigen, an deren Spitze als Stichwörter „ nun “ und „ gar “ zu setzen wären, und begnüge mich, hier folgende Stichwörter herzusetzen: Haus n.: von Haus zu Haus = von einem Haus zum andern [gehend] ꝛc. — lose a. — Blatt n. zum Schreiben, zu Aufzeich- nungen dienendes — oder: damit versehenes, beschrie- benes; — sammeln tr. Die aus dem zweiten Versgebinde zu gewinnen- den Belegstellen stehen bezüglich unter den Stich- wörtern: lang a.; weit a.; Strecke f.; Leben n.; stehen intr[ansit].; von (oder aus) einander stehen , entfernt sein ꝛc. — kommen intr.: Einem in die Hand (vergl. in Jemandes Hand) kommen ; Decke f.: eines Buches = Umschlag, Einband, Deckel; gut a.: der gute Leser, vergl. gütig, geneigt, wohlwollend. — Leser m.; Hand f.: Einem in die Hand kommen (s. d.). Schließlich finden sich die aus den letzten 4 Zeilen zu ziehenden Zettel unter den Stichwörtern: schämen, refl., mit Genit. — Gebrechen n., vgl. Fehler, Mangel, Unvollkommenheit ꝛc. — vollenden tr.; schnell a. = ohne langes Bedenken ꝛc., vgl. schnell entschlossen ꝛc.; — Buch n.; West f.; voll a. ( voller , im Positiv); Widerspruch m.; widersprechen intr. In dem Goethe’schen Gedicht wird das geschrie- bene Lied dem sich der Brust unwillkürlich, wenn auch in gestammelten Lauten, entringenden entgegenge- stellt. Das erinnert mich an ein Rückert’sches Sinn- gedicht, aus welchem wir noch einige weitere Beleg- stellen für das Wörterbuch ausheben und auf Zetteln verzeichnen wollen. Das Gedicht findet sich als Rückert’s Beisteuer in dem 1840 von Dr. Heinrich Meyer herausgegebenen Guttenbergs-Album S. 106 und lautet: Vier Jahrhunderte sind geschwunden, Seit du die schwarze Kunst erfunden; Was hat sie der Welt für Gewinn gebracht? Den Bücherhaufen größer gemacht. Dir mögen die Wissenschaften danken Für die Erweitrung der Geistesschranken, Die Weltverbreitung der Gedanken. Die Poesie steht gedankenvoll Und weiß nicht, was sie sagen soll. Als sie, statt gesungen, ward gesprochen, War ihr der eine Fittig gebrochen; Als sie, statt gesprochen, ward geschrieben, Ist im andern Fittig kein Kiel geblieben. Nun, statt geschrieben, sie wird gedruckt, Hat sie des Todes Krampf durchzuckt. Nur die Kritik Und die Politik, Die beiden Tode der Poesie, Ohne Druckerschwärze, was wären sie? Drum mögen dir diese beiden huldigen, Die Poesie lässt sich entschuldigen. Man sieht sofort, dass ich zunächst die Verse 10 bis 15 im Auge hatte, und diese liefern uns auch für unsere Sammlung Zettel, je mit den an die Spitze zu stellenden zielenden Zeitwörtern: singen; sprechen; schreiben; drucken als Stichwörtern. Andere daraus für das Wörterbuch zu verwerthende Zettel führen als Überschrift die Stichwörter: Fittig m.; Kiel m. blei- ben intr.; Krampf m. (Todeskrampf); durchzucken tr. — Zettel, die sich aus andern Versen des Gedichtes für das Wörterbuch gewinnen lassen, fallen z. B. unter die Stichwörter: Jahrhundert n. und schwinden, intr. (V. 1). — schwarz a. und Kunst f. (V. 2). — Gewinn m. und bringen tr. (V. 3). — Bücherhaufen m.; groß a. (größer machen, vgl. vergrößern) (V. 4). — Wissen- schaft f., im Gegensatz zur Poesie, vgl.: schöne Wissen- schaften , und danken intr. (V. 5). — Erweitrung f. und Geistesschranke f. (V. 6). — Weltverbreitung f. und Gedanke m. (V. 7). — gedankenvoll a. (V. 8). Ferner z. B.: Tod m., Mehrzahl: die Tode (V. 18). — Druckerschwärze f. (V. 19). — huldigen intr. (V. 20). — entschuldigen tr., refl.: sich entschuldigen = sein Nicht-Erscheinen, sein Ausbleiben entschuldigen (V. 21). Aus dem Gesagten wird, denke ich, vollständig klar geworden sein, auf welche Weise die Zettel für das Wörterbuch aus den Schriften ausgezogen und hergestellt werden, — natürlich nicht, um sammt und sonders vollständig an ihrer Stelle ins Wörterbuch aufgenommen zu werden, sondern vielmehr, um die nothwendige oder doch wünschenswerthe Fülle des Stoffes zu bieten, aus welcher dann jedes Mal nur die bedeutsamsten, beweiskräftigsten und schlagendsten Belege auszuheben und auszuwählen sind. Die an- deren Zettel sind darum doch nicht nutzlos, sie liefern die Beispiele für die keiner besondern Belege bedür- fenden und doch so nothwendigen, möglichst vollständig aufzuführenden allgemein üblichen Bedeutungen, An- wendungen, Verbindungen und Fügungen der einzelnen Wörter; und eine reiche Fülle, selbst Überfülle von Zetteln erweist sich als vortheilhaft, weil in einer der- artigen Zettelwirthschaft auch bei der aufmerksamsten Sorgfalt und größten Achtsamkeit man kaum je ganz wird vermeiden können, dass sich Manches — ver- zettele, sei es, dass einzelne Zettel ganz verloren gehen oder doch wenigstens verkramt werden, in ein falsches Fach hineingerathen oder Ähnliches mehr, so dass, wenn nicht mehrere Zettel für Ein und Dasselbe vor- handen sind, die Gefahr nahe liegt, etwas Beachtens- und Erwähnenswerthes an der richtigen Stelle zu übersehen und auszulassen. Dass sich in der Her- stellung der Zettel manche Abkürzungen und Verein- fachungen bei der Ausführung fast von selbst ergeben, mag hier wenigstens im Vorübergehen erwähnt werden. Aber wie werden nun diese Zettel, jeder an der gehörigen Stelle, untergebracht, so dass man bei der Ausarbeitung eines bestimmten Wortes die dafür ge- sammelten und zu verwerthenden Aufzeichnungen alle übersichtlich zur Hand hat? Die erste vorläufige Sonderung und Ordnung der Zettel geschieht nach dem Anfangsbuchstaben der Stich- wörter. Man braucht ein besonderes Behältnis für A als Anfangsbuchstaben, ein anderes für B u. s. w. Der Umfang dieser Behältnisse ist verschieden, ähnlich wie der für die Fächer in einem Setzkasten, und richtet sich danach, wie häufig ein bestimmter Buchstabe im Anfange deutscher Wörter etwa auftritt. Man sieht von vorn herein, dass man für C und Q als An- fangsbuchstaben mit einem geringen Raum ausreicht, dass dagegen S einen ganz unverhältnismäßig großen Raum in Anspruch nimmt, so dass man sich veranlasst findet, wenn nicht von vorn herein, doch jedenfalls sehr bald Unterabtheilungen zu machen und statt eines einzigen Behälters für S mehrere zu wählen, etwa einen eigenen für Sa und eigene andere für Sch, Se, Si, Sk, So, Sp, St, Su u. ä. m. Hätte ich mich nun dafür entschieden, wie es die Grimm und die meisten Verfasser deutscher Wörter- bücher gethan, die aufzunehmenden Wörter — gleich- viel, ob es Grundwörter oder Zusammensetzungen sind — unterschiedlos und gleichmäßig hinter einander, rein nach ihrer Reihenfolge im Abece, aufzuführen, so würde z. B. der erste der hier von uns gewonnenen Zettel, mit dem Stichworte: Vorklage in das Behältnis für V gelegt worden sein, der zweite mit dem Stichworte: ausnehmen in das für A u. s. w. Ich aber bin nach allseitiger Prüfung und Erwägung aller einschlägigen Verhältnisse zu der unerschütterlichen Überzeugung ge- langt, dass nach der Eigenart unserer Sprache eine innere Vollständigkeit des Wörterbuches nur erreichbar ist, wenn hier die Zusammensetzungen unter den Grund- wörtern behandelt werden, allerdings aber — so weit sie eine besondere Besprechung erheischen — der schnellen Übersichtlichkeit halber streng nach der Reihen- folge des Abece. Darauf werde ich an anderer Stelle noch ausführlich und eingehend zurückkommen. Jeden- falls aber folgt daraus, dass nach der Anordnung, die ich für das Wörterbuch als die zweckmäßigste erkannt und gewählt, Vorklage unter Klage, ausnehmen unter nehmen zu behandeln ist und dass demgemäß hier die beiden Zettel bezüglich nicht in die Behälter für V und A , sondern in die für K und N zu legen sind. Ähnliches gilt für alle Zusammensetzungen über- haupt, auch da, wo das Grundwort allein an und für sich wenig oder nicht üblich ist. Sehen wir uns z. B. die Zusammensetzungen in unserer bisherigen kleinen Zettelsammlung an. Wir werden hier aus dem Goethe’schen Gedicht Gebrechen als zusammen- gesetzt aus brechen (mit der Vorsilbe ge- ) in das Behältnis für B legen, Widerspruch nach dem Grundwort Spruch in das Fach für Sp und eben so widersprechen nach dem Grundwort sprechen ; ferner aus dem Rückert’schen Gedicht: Jahrhun- dert n. nach dem Grundwort: das Hundert in den Behälter für H ; Gewinn m. nach dem allerdings für sich allein nur selten noch vorkommenden Grund- wort: der Winn dem W zutheilen; Bücherhaufen (Grundwort: Haufen ) dem H , Erweit(e)rung nebst erweitern (Grundwort: weitern ) dem W , Geistes- schranke (Grundwort: Schranke ) dem Sch. Ferner ist für Weltverbreitung das Grundwort: Ver- breitung , das nach der Einrichtung meines Wörter- buches unter verbreiten zu besprechen ist, wie dieses selbst wieder unter dem Grundworte breiten . Dem- gemäß legen wir den Zettel mit dem Belege für Weltverbreitung in das für B bestimmte Behält- nis u. s. w. Wie nun die weitere Sonderung und Vertheilung der Zettel vor sich geht, begreift sich ohne Weiteres. Nimmt man z. B. das geräumige Behältnis vor, welches alle für die Ausarbeitung des Buchstaben A im Wörterbuch bestimmten Zettel in sich schließt, so richtet man bei den Stichwörtern das Augenmerk auf die dem A unmittelbar folgenden Buchstaben. Man hat eine genügende Anzahl kleinerer Behälter, die den Anfängen: A, Aa, Ab, Ach, Ack, Ad, Ae, Af, Ag, Ah, Ai, Ak, Al u. s. w. entsprechen. In diese ordnet man ohne Schwierigkeit sämmtliche Zettel für A ein. Die weitere Sonderung erfolgt in ganz gleicher Weise, nur dass man jetzt das Augenmerk bezüglich auf den dritten ꝛc. der Anfangsbuchstaben im Stichworte richtet, und so gewinnt man z. B. aus dem Behälter für Aa die weiter geordneten Zettel für Aa, Aach, Aak, Aal, aalen, aalicht, Aam, Aap, Aar, aasen, Aaser, aashaft, aasig u. s. w. Kommen wir nun zu den mit Ab beginnenden Zetteln, so tritt hier besonders scharf der Unterschied in der Anordnungsweise der Zusammensetzungen bei mir und bei Andern hervor. Da, wo die Zusammensetzungen mit den Grund- wörtern unterschiedlos, als wären sie gleichberechtigt, in ganz gleicher Reihe nach der Folge des Abece auf- marschieren, folgen unmittelbar auf Ab (als Adverb), die mit dieser Vorsilbe gebildeten Zusammensetzungen, die bei mir den bezüglichen Grundwörtern zugeordnet sind. So folgen dort auch auf das Hauptwort Abend die Zusammensetzungen, in welchen dieses Wort als Bestimmungswort die erste Hälfte bildet. In dem Grimm’schen Wörterbuch z. B. sind derartiger Zu- sammensetzungen etwa 100 aufgeführt. Welche Will- kürlichkeit und Lückenhaftigkeit aber hierbei herrscht, zeigt sich unwiderleglich, wenn man sieht, dass ich in meiner kritischen Beleuchtung des Grimm’schen Wörter- buchs (Heft I , S. 24 ff. und Heft II , S. 229 ff.) und in meinem Programm eines neuen deutschen Wörterbuches S. 17 eine größere Zahl eben so zur Aufnahme be- rechtigter, aber bei Grimm fehlender derartiger Zu- sammensetzungen habe nachtragen können. In meiner Zettelsammlung haben diese mehr als 200 mit „Abend“ beginnenden Zusammensetzungen ihre Stelle nicht unter „ Abend “ gefunden, sondern, wie gesagt, jedes Mal unter dem betreffenden Grundworte. Sehen wir uns im Grimm’schen Wörterbuch wenigstens die ersten vier der unmittelbar hinter „Abend“, eben so wie dieses, als eigene, selbständige Artikel aufgeführten Wörter an. Da treffen wir zuerst: ABENDANDACHT, f. seine abendandacht halten. Das ist Alles, was der Nachschlagende hier findet, und, wenn er über die Bedeutung des Wortes Weiteres er- fahren will, bleibt ihm Nichts übrig, als das Wort Andacht nachzuschlagen. Hier findet er denn auch in der That unter Anderem: „Zumal wird unter Andacht das Gebet ver- standen, seine Andacht verrichten, solche Gebete heißen Morgen- und Abendandachten “. Ist es da nicht viel einfacher, gleich eine Anord- nung zu treffen, nach welcher der Nachschlagende von vorn herein weiß, dass er die Auskunft über Abend- andacht unter dem Grundwort Andacht zu suchen hat, welches, als selbst zusammengesetzt, er in D unter dem „außer in Zusammensetzungen ungewöhnlichen“ weiblichen Hauptwort Dacht findet, wie Das in meinem Wörterbuch der Fall ist? Auf diese Weise gewinnt man nicht nur an Raum und erspart gleichzeitig dem Suchenden die Mühe eines vergeblichen und unnützen Nachschlagens, sondern es fällt auch auf das gesuchte Wort durch die Stelle, an der es beispielsweise neben anderen ähnlichen und in unerschöpflicher Anzahl nach Ähnlichkeit zu bildenden Zusammensetzungen steht, so- fort die richtige und gehörige Beleuchtung, s. mein Wörterbuch, wo unter Andacht in der engern Be- deutung: Gebet, anbetende Verehrung, Religions- übung u. s. w. beispielsweise meiner Zettelsammlung auch folgende Belege entnommen sind: Den … Kopf eines Jupiters … Meine Morgen -A. an ihn richten. Goethe 23, 181 … Gebetformel zu Morgen- und Abend-A—en . Klencke, Parnass zu Braunschweig 1, 15 ꝛc. Nach dieser Anordnung begreift man an dieser Stelle sofort, ohne dass es besonders einer Einzel-Ausführung und -Aufzählung bedürfte, dass sich zahlreiche ähnliche Zusammensetzungen bilden lassen, z. B.: Mittags-, Vesper-, Sonntags-, Werktags-, Fest-, Oster-, Weihnachts-Andacht u. s. w. und welches ihre Bedeutung ist. Wenn aber diese und ähnliche Zusammensetzungen nach ihren Anfangsbuch- staben in alphabetischer Reihe aus einander gerissen und zerstreut sämmtlich — eben so wie Abendandacht — im Wörterbuch aufgeführt werden sollen: wie will man da auf eine auch nur einigermaßen erschöpfende Vollständigkeit rechnen? (So fehlen z. B. in den bis jetzt erschienenen Bänden des Grimm’schen Wörter- buches: Dinstags-, Fest-, Freitags-, Karfreitags- 5 Andacht ) und, wenn willkürlich nur die von den Sammlern zufällig aufgezeichneten Zusammensetzungen dieser Art dem Wörterbuch einverleibt werden, ist diese die Auskunftsuchenden in andern Fällen zum vergeb- lichen Nachschlagen verlockende Weise nicht die un- nützeste Raumverschwendung? Auf Abendandacht folgt im Grimm’schen Wörterbuch: „ABENDBESUCH, m. nnl. [= neuniederländisch] avondbezoek, den man abends macht oder empfängt.“ Bei mir steht dies Wort nicht als eigener, beson- derer Artikel, sondern unter Besuch (s. Such ) in der Bedeutung Visite ꝛc. (mit einem Belege aus Goethe), als Beispiel der Zusammensetzungen, von denen ich hier mit Rücksicht auf den Raum nur die andern mit dem Buchstaben A beginnenden hersetzen will: Abschieds-, Anstands-, Antritts-Besuch . Diese gewiss eben so zur Aufnahme berechtigten Zusammensetzungen fehlen im Grimm’schen Wörterbuch. Es wird vergönnt sein, aus dem Vorwort zu meinem Ergänzungs-Wörterbuch hier einen Satz zu wiederholen. „Ich habe,“ heißt es dort, „in Betreff der Zusammensetzungen, die aus dem Wesen unserer Sprache selbst geschöpfte und durch den Erfolg meines großen Wörterbuches bewährte Anordnungsweise fest haltend, von vorn herein auf eine rein äußerliche und dabei doch nie ganz zu er- reichende Vollständigkeit verzichten können, mich auf eine sorgfältige Auswahl wirklich bezeichnender und maßgebender Zusammensetzungen beschränkend, nach deren Ähnlichkeit man jedes Mal leicht unzählige andere wird bilden und verstehen können. In einer die Grundwörter und die Zusammensetzungen durch einander wirrenden und sie, als wären sie gleich berechtigt, nach ihrer Reihenfolge im Abece hinter einander aufführenden Anordnung hätte die innere Vollständigkeit in den Zusammensetzungen selbst nicht auf dem Drei- und Vierfachen des Umfanges erreicht werden können.“ Hinzufügen möchte ich nur noch, dass, wenn man einmal bei der Entwerfung des Planes und Grundrisses zu einem Bau für die licht- volle Anordnung Sorge zu tragen, versäumt hat, es ein vergebliches Bemühen ist, hintennach das Licht — und sei es in Scheffelsäcken — von außen hineintragen zu wollen. In Bezug auf das nun im Grimm’schen Wörter- buch folgende „ Abendbetglocke “ könnte ich nur das Gesagte mit anderen Beispielen wiederholen und eben so bei dem darauf folgenden: ABENDBLATT, n. abends ausgegebne zeitung, schw. [= schwedisch] aftonbladet [lies: aftonblad ], dem 5* ich zunächst einfach aus der ausführlichen Behandlung des Wortes Blatt in meinem Wörterbuch folgende Stelle gegenüberstellen möchte: „Blätter, öffentliche Blätter: Zeitungen, Zeit- schriften: Die Nachricht hat in allen Blättern ge- standen. Er redigiert ein kritisches Blatt. Blätter für litterarische Unterhaltung. Wer hätte auf deutsche Blätter Acht, | Morgens, Abends und Mitternacht. G[oethe] 3, 129, und viele Zusammen- setzungen, welche Zeit des Erscheinens, Inhalt, Leserkreis, Zweck, Preis angeben, z. B.: Die Morgen-, die Abend-, die Nachmittags- und Mitternachtsblätter. Immermann M. 1, 140; Tagesblätter (Börne 2, 108); Wochenblättlein (Hebel 3, 204); Sonntags-B.; Zeit- (Immermann 12, 141), Zeitungsblatt (Freiligrath 1, 109), Amts-, Bezirks-, Kreis-, Provinzial-, Volks-, Schul-, Ergänzungs-, Unterhaltungs-, Konversations-, Mode-, Haupt-, Bei- (Auerbach Leb. 1, 105), Partei-, Pfennig-, Riesen-B. (Kohl Engl. 2, 13, von sehr großem Format) u. ä. m.“ Da aber, möchte man weiter fragen, Abendblatt im Grimm’schen Wörterbuch unter einem eigenen Stich- wort behandelt ist, warum fehlt denn z. B. Abend- zeitung und das doch wohl eine besondere Besprechung herausfordernde: Abendpost , vgl. in meinem Wörter- buch unter dem Grundworte Post , das Folgende: „.... auch als Titel von Zeitschriften, z. B. Ost- deutsche P., redigiert von Kuranda ꝛc. (s. Schnell-, Morgen-P.) … Zusammensetzungen (vgl. entsprechend die von ‚Zug‘ in Beziehung auf Eisenbahnen), z. B. nach der Zeit, beziehungsweise des Abgangs- oder der Ankunft: Die Zehnuhr-, Früh-, Morgen-, Abend-, Mittags-P . Die Montags-P ., z. B. auch als Titel von Zeitungen ꝛc.“ An diesen Bemerkungen zu den ersten vier mit Abend als Bestimmungswort gebildeten Zusammen- setzungen des Grimm’schen Wörterbuches kann ich es hier um so füglicher genug sein lassen, als sich doch noch wohl in einer späteren Plauderei von den ins Wörterbuch aufzunehmenden Zusammensetzungen zu sprechen, Anlass und Gelegenheit findet. Ich bemerke also hier nur, auf die Ordnung der gesammelten Zettel zurückkommend, dass plangemäß die mit dem Bestimmungswort Abend beginnenden Zu- sammensetzungen nicht unter Abend , sondern unter das jedesmalige Grundwort einzuordnen sind. Da- gegen finden sich in dem für Abend bestimmten Fach eine Menge Zettel zusammen, bei deren Stichwörtern Abend das Grundwort der Zusammensetzung ist. Die Verarbeitung all dieser Zettel giebt ein gutes Beispiel dafür ab, wie es durch die Zusammenordnung des Zusammengehörigen möglich wird, auf einem ver- hältnismäßig sehr geringen Raum die massenhaft vor- liegenden und nach Ähnlichkeit ins Unendliche zu ver- mehrenden Zusammensetzungen in einer das Wesent- liche möglichst erschöpfenden Weise zu behandeln. Und so lasse ich denn zum Schluss dieser zweiten Plauderei aus meinem Wörterbuch nachstehende unter Abend sich findende Stellen hier folgen und für sich sprechen: „Abend m. …: 3) Wie der Beginn der Nacht, so namentlich bei Festen oder in Verbindung mit ‚heilig‘ der Vorabend, Tag vorher. Sprichwort: Ge- winnen ist der Abend vom Verlieren. Lessing 11, 653 ꝛc. Gewöhnlich: Der heilige A., Christ-, Weihnachts-, Jo- hannis-A. ꝛc. Anm. In Zusammensetzungen bleibt Tag weg; der Thomastag ist z. B. der 21. December; Thomas- tag Abend der Abend des 21. Dec., aber: Am S. Thomasabend, den 20. Dec. Stumpf, Schweiz. Chron. 726 a; S. Katharinen-, S. Mathis-, Palm-, Fest-Abend. Eben so verschieden Sonntagabend, Ende des Sonn- tags; Sonnabend, der Tag vorher und dazu: Sonn- abend A., ähnlich wie Weihnachtsnacht ꝛc.“ In dem eigenen Absatz aber, der dann die Zu- sammensetzungen bringt, heißt es weiter, wobei die in eckigen Klammern beigefügten Zahlen auf das Voran- gegangene zurückweisen: „Zusammensetzungen mit den Namen aller Feste [3], Wochentage, Monate, Jahreszeiten: Pfingst-, Mittwoch-, December-, Frühlings- ꝛc., ferner [2] und nach der Art, wie — und dem Ort, wo man Abende zubringt ꝛc., z. B.: Ball-; Beicht-; Boston-; Erden- [auf der Erde zugebrachter] Salis 40; Erzähl-; Gebirgs-; Gewitter-; Himmels-: Erst am H. [als es am Himmel Abend wurde] Schubart 3, 54; Kneip-; Lese-; Nebel-; Schau- spiel-; Spiel-; Theater-; Thee-; Trink-; Zank-; Zauber- [zaubervoller A.] Hölderlin, Hyper. 233 u. v. a.“ Es lagen in dem für Abend und die Zusammen- setzungen dienenden Zettelfach mir noch Belegstellen für sehr viele andere, ähnliche Zusammensetzungen vor; aber es war niemals meine Absicht gewesen, die gesammelten Zettel auch sämmtlich vollständig ins Wörterbuch aufzunehmen, sondern vielmehr, aus dieser Überfülle unter Ausscheidung des Entbehrlichen eine genügende Auswahl des Nothwendigen zu treffen und also z. B. für die Zusammensetzungen bestimmte Ver- treter auszuheben, nach denen der Nachschlagende ohne Weiteres das Vorkommen und die Bedeutung von zahlreichen ähnlichen entnimmt, wie in dem vorliegen- den Falle z. B. zu Pfingst- auch Oster- ꝛc., zu Mitt- woch- auch Dinstag- ꝛc., zu December- auch Ja- nuar- ꝛc., zu Frühlings- auch Lenz-, Herbst- ꝛc., ferner zu Ball- auch Tanz- , zu Boston- auch Whist-, Skat-, Schach- ꝛc. Abend u. s. w., und bei den aus- gewählten Vertretern wurde auch nur in einzelnen wenigen Fällen, wo es der Nachschlagende vielleicht besonders wünschen zu können schien, die genaue Be- legstelle aus den Zetteln hinzugefügt. So konnte an dieser Stelle über sehr viele Zusammensetzungen mit dem Grundwort Abend , die bei einer anderen An- ordnung, wenn man auch nur annähernd eine einiger- maßen erschöpfende Vollständigkeit erreichen wollte, einen ungemein großen Raum erfordert hätten, in wenigen Zeilen das Nöthige gesagt werden. Freilich blieben, nachdem durch die zusammenfassende Be- sprechung eine große Anzahl der Zusammensetzungen von Abend erledigt war, immerhin noch einzelne zu- rück, die noch eine besondere Besprechung oder we- nigstens besondere Bemerkungen nothwendig machten, und diese noch nicht erledigten Zusammensetzungen findet man denn auch durch besonderen Druck hervor- gehoben, übersichtlich nach der Reihenfolge des Abece geordnet, in meinem Wörterbuch einzeln besprochen. Ich will mit Rücksicht auf den Raum daraus nur sehr Weniges hersetzen. Eine Bedeutung des Wortes Sommerabend ist durch das Vorangegangene bereits erledigt. Darum steht unter diesem Wort auch die Hinweisung: „s. o.“, aber mit der Hinzufügung: „auch der Punkt am Himmel, wo die Sonne beim Anfang des Sommers untergeht“, und danach genügt kurz darauf bei Winterabend der Hinweis: siehe Sommer-A., wie andrerseits (s. o.) unter Sonnabend der bloße in eckige Klammern gesetzte Hinweis aus- reicht: [3 und Anm.]. Man ersieht aus dem Gesagten, welche Vortheile die von mir gewählte Anordnungsweise, die Zusammen- setzungen unter ihrem Grundworte zu behandeln in Bezug auf Kürze und innere Vollständigkeit gewährt, aber außerdem schützt sie auch den Wörterbuchschreiber, weil er mit dem Grundworte zugleich die ganze Fülle der Zusammensetzungen überblickt, weit mehr vor der Gefahr, Sachen, welche eine Besprechung verdienen oder erheischen, zu übersehen und an der gehörigen Stelle unbesprochen zu lassen. So ist es z. B. sehr auffällig und befremdend, dass unter Abend in dem Grimm’schen Wörterbuch die Verbindung „der heilige Abend“ im Sinne von Vorabend ( la veille ) ganz unerwähnt geblieben ist, zumal doch schon Frisch, Adelung, Campe ꝛc. diese Anwendung aufgeführt haben und außerdem (s. o.) dazu Lessing noch ausdrücklich auf das Sprichwort hin- gewiesen hatte: „Gewinnen ist der Abend von Ver- lieren“. Einer solchen Auslassung würde aber Jakob Grimm viel weniger ausgesetzt gewesen sein, wenn ihm mit den Belegen für Abend zugleich auch z. B. die für Weihnachts-, Christ-, Thomas-, Andreas- , ꝛc. Abend vorgelegen hätten, wie denn z. B. im 2. Bd. des Grimm’schen Wörterbuches Spalte 620 aufgeführt ist: „CHRISTABEND, m. dies ante festum Christi na- tale proximus. Kristabend. myst. 27, 3.“ Hiermit aber will ich, um nicht durch übermäßige Länge der einzelnen Plaudereien zu ermüden und die Geduld auf eine allzuharte Probe zu stellen, diese meine zweite Plauderei schließen. Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.