Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Von Conrad Fiedler . Leipzig Verlag von S. Hirzel 1887. Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Conrad Fiedler . Leipzig Verlag von S. Hirzel 1887. Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten. Vorbemerkung. U nter „künstlerischer Thätigkeit“ ist in den vorliegen¬ den Untersuchungen immer nur die Thätigkeit des bilden¬ den Künstlers gemeint. Da es nicht eine Kunst im All¬ gemeinen, sondern nur Künste giebt, so kann die Frage nach dem Ursprung des künstlerischen Vermögens auch nur auf dem Sondergebiet einer bestimmten Kunst aufgeworfen werden. Ob sich aus der Beantwortung, welche diese Frage hier für das Gebiet der bildenden Kunst gefunden hat, ein Schluß ziehen läßt auf die Beantwortung, welche dieselbe Frage auf den Gebieten anderer künstlerischer Thätigkeiten finden müßte, darauf ist in dem Folgenden keine Rücksicht genommen worden. 1. D iejenigen, welche es unternehmen, Wesen und Be¬ deutung der künstlerischen Thätigkeit darzulegen, pflegen von den Wirkungen auszugehen, welche durch die Kunst¬ werke auf den geistigen Zustand oder das Empfindungs¬ leben der Menschen hervorgebracht werden. Dieser Aus¬ gangspunkt ist offenbar falsch. Um unter den erfahrungs¬ mäßig sehr verschiedenartigen Wirkungen der Kunst diejenige bestimmen zu können, die dem Wesen der künstlerischen Thätigkeit gemäß ist, müßte man dieses Wesen zuvörderst erkannt haben. Dies aber wird nur dann möglich sein, wenn man, abgesehen von allen Wirkungen, die von den Resultaten der künstlerischen Thätigkeit ausgehen, die Ent¬ stehung dieser Thätigkeit selbst aus der menschlichen Natur zu durchschauen vermag. Gelingt es, den Punkt zu er¬ kennen, wo aus dem Reichthum geistig-körperlicher Mani¬ festationen, zu denen der menschliche Organismus werde¬ lustig emporstrebt, diejenige Thätigkeit sich abzusondern beginnt, die wir in ihrer weiteren Entwickelung als die künstlerische bezeichnen, so ist in der That der einzige Zu¬ gang gewonnen, der in die innere Welt jener Thätigkeit Fiedler , Ursprung.1 einführt. Um zu diesem Punkt zu gelangen, müssen einige Bemerkungen allgemeiner Natur vorausgeschickt werden. Diese Bemerkungen werden sich auf das Verhältniß zu beziehen haben, in dem der Mensch zu der ihn um¬ gebenden Welt steht. Denn es wird sich zeigen, daß der¬ jenige, der, unbefriedigt von allen Erklärungen, die das Wesen des künstlerischen Schaffens gefunden hat, nach einer neuen Lösung des alten Problems sucht, nur dann zum Ziel zu gelangen hoffen kann, wenn er auf das Verhält¬ niß des Menschen zur Außenwelt zurückgeht und die ihm geläufige Auffassung desselben einer erneuten Prüfung unterwirft. Die Einsicht, daß die Dinge nicht durch ihr bloßes Dasein Gegenstand der Wahrnehmung und in Folge dessen irgend einer Art geistigen Besitzes sein können, sondern daß der der Empfindung und Wahrnehmung fähige menschliche Organismus nur Wirkungen empfängt, die er zu Besitz¬ thümern des Bewußtseins gestaltet, — diese Einsicht scheint dem Menschen keineswegs immer in allen ihren Consequenzen gegenwärtig zu sein. Zwar ist die einfache Gegenüber¬ stellung des wahrnehmenden, vorstellenden, erkennenden In¬ dividuums und der Welt des Seienden — eine Gegen¬ überstellung, durch die der Standpunkt des naiven Bewußt¬ seins bezeichnet wird — mit jener Einsicht aufgehoben; aber die große Umkehr, die in der Auffassung des Ver¬ hältnisses, in welchem der Mensch zur Außenwelt steht, durch jene Einsicht gefordert wird, ist so lange nicht voll¬ endet, als der Mensch die stillschweigende Voraussetzung nicht aufzugeben vermag, daß durch die geistigen Gebilde, die er in seinem Inneren wahrnimmt, seien es Wahr¬ nehmungen, Vorstellungen, Begriffe, ein Seiendes bezeich¬ net wird, welches eben doch ein anderes als diese geistigen Gebilde, von diesen unterschieden sei. Will man einen Schritt weiter thun, um aus jenem Zweierlei eines Wahr¬ nehmenden und eines Wahrgenommenen herauszukommen, so muß man zu einer weiteren, aus jener Einsicht sich er¬ gebenden Consequenz schreiten: sofern wir von irgend einem Seienden keinerlei Kunde haben, als vermöge der Wirkungen, die wir empfangen, so kann es für uns auch keinerlei Sei¬ endes geben, welches durch irgend ein in uns bewirktes geistiges Gebilde bezeichnet würde, vielmehr kann alles Sein und alle Wirklichkeit aus keinem anderen Stoff und keinen anderen Bestandtheilen bestehen, als aus den geistigen Gebilden, in denen die Wirkungen sich darstellen, die wir empfangen. Wenn so die gesammte Wirklichkeit mit den in unserem Bewußtsein erscheinenden oder vielmehr unser Bewußtsein bildenden Wirkungen, beziehentlich den Formen zusammenfällt, zu denen sich diese Wirkungen entwickeln, so ist die Zwiespältigkeit der Welt in der That zur Ein¬ heit geworden. Indessen, wenn wir auch die Nothwendig¬ keit dieser Folgerungen nicht anfechten können, so bedarf es doch mancher Ueberlegungen, um in uns die lebendige Ueberzeugung hervorzubringen, daß all unser Besitz an Wirklichkeit nicht nur auf Vorgängen in uns beruht, son¬ dern auch mit den Formen identisch ist, in denen diese Vorgänge auftreten. 1 * Wir müssen uns zunächst vergegenwärtigen, wieso der Mensch dazu gekommen ist, die ihm auf dem naiven Stand¬ punkte so unerschütterlich erscheinende Ueberzeugung, nach der er in der Wirklichkeit dasjenige besitze, wovon seine Wahrnehmungen abhängig seien, als einen Trug zu er¬ kennen und zu begreifen, daß es vielmehr die Wahrnehmung sei, von der unser gesammter Besitz an Wirklichkeit that¬ sächlich abhängt. Diese Erkenntniß, die ihrer Natur nach berufen ist, die sämmtlichen geistigen Beziehungen zu er¬ fassen, in denen der Mensch zur Wirklichkeit steht, entspringt zunächst doch einem bestimmten Bereich dieser Beziehungen. Sie erzeugt sich auf den Höhen des abstracten Denkens. Das Sein ist dem Menschen längst zu einem reichen und complicirten System von Begriffen geworden, bevor er zu dem Zweifel gelangt, ob er berechtigt sei, dieser Welt, die er denkt und ausspricht, die er erforscht und bis in ihre letzten Geheimnisse zu durchschauen trachtet, eine Existenz zuzusprechen, die er als unabhängig von seinem Erkennt¬ nißvermögen zu denken vermöchte. Darin, daß der Zweifel an einem absoluten Sein der Dinge kein unmittelbar ge¬ gebener ist, sondern erst als das Ergebniß eines sehr ent¬ wickelten abstracten Denkens auftritt, liegt der Grund da¬ für, daß die aus diesem Zweifel entspringende Erkenntniß einer gewissen Beschränkung selbst bei denjenigen Denkern unterworfen bleibt, welche sie bis zu ihren äußersten Fol¬ gerungen zu entwickeln scheinen. Alles Sein ist ihnen ein zu Bezeichnendes; die Worte oder Zeichen, in denen sich ihre geistigen Operationen vollziehen, repräsentiren ihnen das Seiende, und indem sie das Sein, welches sie denken und denkend erkennen, auf Grund jener Einsicht sozusagen auf seinen Wirklichkeitswerth zu prüfen suchen, sind sie der Ueberzeugung, daß es eben das Sein selbst ist, welches sich ihnen auf Grund der Consequenzen, die sich mit un¬ umgänglicher Nothwendigkeit aus jener Einsicht ergeben, immer mehr in seiner wahren Gestalt und in seinem wahren Werth enthüllt. Da das Denken an die Sprache gebunden ist und auch da nicht gleichsam körperlos auftritt, wo es sich auf den letzten Höhen seiner Entwickelung des sprachlichen Aus¬ drucks begiebt, sondern auch da doch immer noch der Zeichen bedarf, um vor sich gehen zu können, so steht und fällt die Frage, ob man berechtigt sei, das denkende Erkennen als eine auf das Sein, die Wirklichkeit als ihr Object gerichtete Thätigkeit aufzufassen, mit der anderen Frage, ob die Sprache fähig sei, ein Seiendes zu bezeichnen. Besitzt der Mensch in der Sprache das Mittel, die Wirklichkeit in all ihrem Reichthum, all ihrer Mannichfaltigkeit bezeichnen, zum Ausdruck bringen zu können, so kann darüber kein Zweifel sein, daß er durch das Denken zu einer Erkenntniß des Seienden gelangt oder wenigstens zu gelangen strebt. In der Beantwortung dieser Frage unterscheidet sich derjenige, dessen Geist von der Einsicht in die Relativität alles Existirenden erleuchtet ist, nicht von demjenigen, der noch in dem naiven Glauben an das absolute Dasein der Ob¬ jekte seiner Erkenntniß verharrt. Beide stellen die Sprache dem Seienden gegenüber als das universale Mittel zur Bezeichnung, zum Ausdruck von allem und jedem, was auf das Prädicat des Seins Anspruch machen kann. Indessen gilt es auch hier, einen trügerischen Schein zu zerstören. Man kennt die bedeutenden Fortschritte, die in der Erkenntniß des Wesens der Sprache gemacht worden sind, seitdem man in der Sprache eine Form der Ausdrucks¬ bewegung, eine Lautgeberde erkannt hat; aber so sehr man dadurch in der Erklärung des Ursprungs und der Ent¬ wickelung der Sprache gefördert worden ist, so hat man doch für das Verständniß des eigentlichen Werthes, der dem sprachlichen Ausdruck innewohnt, aus jener Erkennt¬ niß nicht hinlänglichen Gewinn gezogen. Es liegt nahe, das Wesen einer Ausdrucksbewegung in dem Umstande zu finden, daß dieselbe äußerlich wahrnehmbar und einer fremden Intelligenz verständlich ist; man setzt dabei still¬ schweigend voraus, daß dasjenige, was dabei zum Aus¬ druck kommt, schon abgesehen von dem Ausdruck und vor demselben vorhanden sei, und, so wie es vorhanden sei, durch den Ausdruck zu einem Gegenstande der Mittheilung gemacht werde. Das Wort vor allem verdankt die außer¬ ordentliche Werthschätzung, deren Gegenstand es ist, der Annahme, daß in ihm alles dasjenige zum mittheilbaren Ausdruck gelangt, was in irgend einer Form zum Besitz¬ stand unserer geistigen Existenz gehöre. In dieser Auf¬ fassung scheint sich eine Nachwirkung jener alten Lehre geltend zu machen, nach der der Geist die Organe des Körpers in seinen Dienst nehme; denn nur mit dieser Lehre ist die Annahme verträglich, daß der Geist einem Inhalt, den er seiner selbstständigen und ausschließlichen Thätigkeit verdanke, vermittelst des körperlichen Apparates einen körperlich wahrnehmbaren Ausdruck zu verschaffen vermöchte. Es ist hier nicht der Ort, die hinlänglich be¬ kannten Gründe anzuführen, durch die ein besonnenes Denken genöthigt worden ist, diese Auffassung des Ver¬ hältnisses zwischen Geist und Körper aufzugeben. Lehrt die reinere Auffassung dieses Verhältnisses, zu der man sich erhoben hat, eine durchgängige Abhängigkeit geistiger Vorgänge von Vorgängen im körperlichen Organismus, so mag man zwar in der Ausdrucksbewegung einen Hin¬ weis auf einen inneren Zustand oder Vorgang erblicken; nur muß man sich vor der Annahme hüten, daß dieser innere Zustand oder Vorgang rein geistiger Natur sein könne. Vielmehr stehen wir, wenn wir den inneren Vor¬ gang bedenken, der sich in der sogenannten Ausdrucksbe¬ wegung bis zur äußerlich wahrnehmbaren Manifestation entwickelt, vor einem Vorgang, der nicht erst in diesem letzten Stadium zu einem körperlichen wird, sondern, wie alle Lebensvorgänge, von allem Anfang an in körperlichen Processen abläuft. Der Sinn der Ausdrucksbewegung kann also nicht der sein, daß sich ein Inhalt geistiger Her¬ kunft in einer Bewegung körperlicher Organe ein Zeichen seines Daseins, einen Ausdruck seiner Bedeutung verschaffte, vielmehr können wir in der Ausdrucksbewegung nur eine Entwickelungsstufe eines psychophysischen Processes aner¬ kennen, und müssen den Sinn derselben so fassen: gleich¬ wie der körperliche Vorgang, der mit der Erregung der sensibeln Nerven beginnt, in der äußerlichen, unmittelbar wahrnehmbar werdenden Bewegung zu einer vorher noch nicht erreichten Entwickelungsphase gelangt, so erfährt auch der seelische Vorgang, dessen wir uns als der gleichsam inneren Seite jenes Lebensvorganges unmittelbar bewußt werden, in der Ausdrucksbewegung eine Entwickelung, die er eben nur in ihr erfahren kann. Wir werden so, indem wir die leibliche Seite der sogenannten seelischen Vorgänge anerkennen, zugleich dem geistigen Werthe gewisser körperlicher Vorgänge gerecht, in denen wir mehr ein Symbol des geistigen Lebens als eine Erscheinung dieses Lebens selbst zu sehen gewöhnt sind. Denn wenn wir sonst den geistigen Werth der Ausdrucks¬ bewegungen in einer Bedeutung finden, die ihnen beige¬ legt werden müsse, so erkennen wir nun, daß in ihnen und durch sie ein vorher noch nicht vorhandenes geistiges Gebilde überhaupt erst zur Entstehung gelangt. Wie sollte auch ein Vergleich möglich sein, zwischen einem voraus¬ gesetzten, noch nicht in die Ausdrucksform eingegangenen psychischen Gebilde einerseits und dem Ausdruck anderer¬ seits? Und dann, bei der durchgängigen Abhängigkeit seelischer Vorgänge von leiblichen würde die Annahme, daß die Ausdrucksbewegung eben nur etwas ausdrücke, was schon vor ihrem Eintreten vorhanden sei, zu dem Widersinn führen, daß ein und derselbe psychische Vorgang an zwei verschiedene physische Vorgänge gebunden sei. Will man diesen Widerspruch vermeiden, so kann man dies nur dadurch, daß man entweder in jene alte Lehre zurück¬ fällt, welche der Seele ein selbstständiges Leben und eine den Leib bewegende Thätigkeit zuschreibt, oder aber daß man in der Ausdrucksbewegung eben nicht den Ausdruck eines psychischen Produktes, sondern die Entwickelung eines psychophysischen Vorganges erblickt. Auf Grund dieser Ausführungen kommen wir nun in Betreff des Bedeutungswerthes, den wir dem in der Sprache vorliegenden Erzeugniß unserer körperlich-geistigen Organi¬ sation zuzuschreiben berechtigt sind, zu folgendem Resultat: wollen wir daran festhalten, daß der sprachliche Ausdruck irgend ein Wirkliches, was abgesehen von der sprachlichen Form auf das Recht des Vorhandenseins Anspruch habe, zu bedeuten und somit zum Gegenstand unseres Denkens und Erkennens zu machen vermöge, so können wir das nur, wenn wir einestheils auf dem Standpunkte des naiven Realismus verharren, d. h. die Wirklichkeit als gegeben annehmen, ohne daran zu denken, daß wir sie doch erst wahrnehmen müssen, damit sie gegeben sei, anderentheils Geist und Körper als selbstständige in einem Subordina¬ tionsverhältniß zu einander stehende Bestandtheile der menschlichen Natur betrachten. Wenn wir aber Ernst machen mit der Einsicht, daß wir ein Wirkliches immer nur als Resultat eines Vorganges besitzen können, dessen Schauplatz wir selbst als empfindende, wahrnehmende, vor¬ stellende, denkende Wesen sind, und wenn wir zugleich auf Grund der Einsicht in den Parallelismus geistiger und körperlicher Vorgänge die Ueberzeugung gewonnen haben, daß ein geistiges Resultat und sein sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck nicht zweierlei sein können, sondern daß geistige Resultate überhaupt nur in sinnlichen Gebilden sich zu bestimmter Form zu entwickeln vermögen, so können wir die Sprache nur mehr als eine Form ansehen, in der ein Wirklichkeitsbesitz für uns entsteht, nicht aber als das Mittel, durch welches wir eine Wirklichkeit, die nicht Sprache, die gleichsam außerhalb des Sprachgebietes vorhanden wäre, zu bezeichnen und in unseren geistigen Besitz zu bringen vermöchten. Ist es nun ein sehr ungenauer und dem that¬ sächlichen Verhältniß nicht entsprechender Ausdruck, wenn man sagt, daß der Mensch durch die Fähigkeit des Sprechens die Wirklichkeit zu bezeichnen vermöge, so ist es ein ebenso ungenauer Ausdruck, wenn man die in dem discursiven Denken sich vollziehende Erkenntniß eine Erkenntniß der Wirklichkeit nennt. So wenig die Sprache einer Wirk¬ lichkeit gegenübersteht, so wenig steht auch die Erkenntniß einer Wirklichkeit gegenüber. Nicht die Wirklichkeit schlecht¬ hin ist es, wie wir doch gern glauben möchten, die wir durch das in der Sprache sich vollziehende Denken und Erkennen erfassen, sondern immer nur die Wirklichkeit, so¬ fern sie in der Form der Sprache überhaupt zu einem entwickelten Dasein gelangt ist. In Ansehung der unend¬ lichen Fülle von Wirklichkeit, die wir vermittelst der Sprache gleichsam vor das Bewußtsein zu rufen, durch das Denken dem Verstand zuzuführen vermögen, bedarf es freilich noch mancher Erwägungen, um das selbstverständ¬ lich erscheinen zu lassen, was zunächst befremdlich, fast paradox klingt. Die Erkenntniß, daß alles außer uns auf ein in uns hinausläuft, daß von einem Sein zu reden nur soweit einen vernünftigen Sinn hat, als ein solches in unserem Bewußtsein erscheint, — diese Erkenntniß zerstört die Täuschung, als ob wir uns einer vor uns, um uns liegen¬ den Welt mit den Organen unseres Leibes und mit den Fähigkeiten unserer Seele nur so geradehin zu bemächtigen brauchten, um sie zu besitzen; vielmehr werden wir inne, daß alle Wirklichkeit uns einzig und allein bekannt wird in den sich in uns und durch uns vollziehenden Vorgängen, deren Anfänge wir in den Sinnesempfindungen voraus¬ setzen, deren Resultate wir da erfassen, wo sie sich zu be¬ stimmten Formen entwickeln. Reißen wir uns nun los von der Annahme einer außer uns in ihrem gesammten Sein verharrenden Welt und richten wir unseren Blick dahin, wo wir das Dasein der Wirklichkeit thatsächlich constatiren können, auf unser eigenes Wirklichkeitsbewußt¬ sein, so tritt an die Stelle jenes vorausgesetzten, auf sich und in sich beruhenden Seins ein ganz anderes Bild. Der Blick in die innere Werkstatt, in der die Bestandtheile des Weltbildes erst entstehen müssen, wenn sie ein Sein für uns gewinnen sollen, läßt uns nicht einen festen Besitz an fertigen Gestalten gewahren, vielmehr enthüllt sich ihm ein rastloses Werden und Vergehen, eine Unendlichkeit von Vorgängen, in denen die Elemente alles Seins in den mannichfaltigsten Arten auf den mannichfachsten Stufen ihrer Verarbeitung erscheinen, ohne daß das flüchtige, sich immer erneuernde Material jemals zu festen, unveränder¬ lichen Formen erstarrte; es ist ein Kommen und Gehen, ein Auftauchen und Verschwinden, ein Sichbilden und Sich¬ auflösen von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, ein ununterbrochenes Spiel, nie einen Augenblick zu einem beharrenden Zustand gelangend, sondern rastlos sich bildend, sich umbildend. Wir brauchen den ewigen Fluß der Dinge nicht außer uns zu suchen, er ist in uns; es ist aber ein trüber, die Schwelle des Bewußtseins kaum bespülender Strom, der durch unser Inneres zieht; in unbestimmten Umrissen sondern sich Bildungen auf Bildungen, um im nächsten Augenblick in das Dunkel zurückzutauchen. Hat man einmal im eigenen Inneren jenes immer werdende und immer vergehende Geschehen erblickt, so wird man sich auch unmittelbar bewußt sein, daß diese eigent¬ liche, vorhandene Substanz der Welt sich in ihrer eigenen Natur, in ihrer Fülle und in ihrem Reichthum nicht zur faßbaren Form emporbilden und in dieser an das Tages¬ licht des erkennenden Bewußtseins heraufbringen läßt; kein Ausdruck steht ihr zu Gebote, durch den sie gleichsam in ihrer eigenen Sprache sich selbst erfassen und sich mit¬ theilen könnte. Der Mensch fühlt nun aber das Bedürfniß und ist sich der Fähigkeit bewußt, sich jenem ahnungsvollen Zu¬ stand zu entziehen, in dem ein unendliches Sein sich un¬ ablässig an ihn herandrängt, um ihm doch unablässig wieder zu entfliehen. Indem aber als helfend und erlösend das Wort in seinem Bewußtsein auftritt und mit ihm das große Werkzeug erscheint, mittelst dessen erst der ganze geordnete und gegliederte Aufbau der zum Lichte der Erkenntniß erhobenen Wirklichkeit möglich wird, sollte er sich darüber klar sein, daß er in dem Wort nicht einen Ausdruck, son¬ dern ein Erzeugniß seines inneren Lebens besitzt. Indem sich die unendlichen Vorgänge psychophysischer Natur, die das Empfindungs- und Gefühlsleben, die Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt des Menschen und somit sein Wirk¬ lichkeitsbewußtsein bilden, zum sprachlichen Ausdruck ent¬ wickeln, unterliegt der bisherige Inhalt seines Bewußtseins einer Verwandlung; im Wort erhält sein Bewußtsein einen neuen Inhalt. In demselben Augenblicke, in welchem der Mensch sich der Wirklichkeit, die ihm in jenen reichen aber flüchtigen unbestimmten und unvollendeten Bewußtseins¬ zuständen gegeben ist, in der sprachlichen Form zu be¬ mächtigen meint, entschwindet ihm das, was er erfassen möchte, und er sieht sich einer Wirklichkeit gegenüber, die eine ganz andere neue Form gewonnen hat. Nicht ein Ausdruck für ein Sein liegt in der Sprache vor, sondern eine Form des Seins. Wir sind gewöhnt, mit Worten umzugehen, wir haben in den Worten das bereite Mittel, uns aus dem dunkeln und wogenden Elemente unserer inneren Bewußtseinsvor¬ gänge gleichsam auf festes Land zu retten. Zugleich wissen wir, daß alle unsere sinnlich-seelischen Fähigkeiten, all unser Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen, Vorstellen betheiligt ist an der Bereitung des Wortes, der Sprache. Müssen wir nicht sagen, daß es das gesammte Sein, das Sein schlecht¬ hin ist, welches in die Form der Sprache eingeht, welches in dieser Form zu dem stolzen Bau der in dem ganzen Reichthum ihrer Erscheinungen und in der unendlichen Complication ihrer Zusammenhänge erkannten Welt ver¬ arbeitet wird? Aber wenn es auch das unmittelbare Wirk¬ lichkeitsbewußtsein ist, welches sich einer Verwandlung unterwirft, um in der sprachlichen Form eine bestimmte und faßbare Gestalt zu gewinnen, so findet diese Ver¬ wandlung doch nicht so statt, daß im Augenblick ihres Eintretens der gesammte zur Hervorbringung des Wortes erforderliche Bewußtseinsinhalt in der neuen Form ohne Rest aufginge und an seine Stelle die Bezeichnung träte. Die Entstehung der Sprache gleicht nicht einem Krystalli¬ sationsproceß, in dem die Stoffe zu einer bestimmten Form zusammentreten, um nur noch in dieser Form fortzube¬ stehen; vielmehr gleicht das Wort der Blüthe, der Frucht einer Pflanze; diese entwickelt in der Blüthe, in der Frucht etwas aus sich heraus, was sie selbst nicht mehr ist, es tritt eine Metamorphose ein, aber sie selbst geht dabei nicht zu Grunde. Alle die unendlich complicirten Vor¬ gänge unseres Gefühls- und Darstellungslebens, aus denen das Wort als festes Gebilde hervortritt, bilden nach wie vor den uns unmittelbar gegebenen und doch in keine Form zu fassenden Inhalt der Welt. Wenn wir ein Gefühl, eine Vorstellung benennen, so kommt dies dem Gefühl als solchem, der Vorstellung als solcher nicht zu gute. Fest und bestimmt am Wort ist nur das Wort selbst, und wenn wir die Aufmerksamkeit unseres Bewußtseins dem soge¬ nannten Inhalt des Wortes zuwenden, so finden wir den¬ selben nach der Benennung und trotz derselben in jenem unbeständigen, ewig werdenden Zustande, der uns wohl gestattet, seiner gewahr zu werden, und uns doch nicht die Möglichkeit giebt, ihn mit der Klarheit des Bewußtseins zu ergreifen. Im gewöhnlichen Leben, und nicht nur da, sondern auch auf zahlreichen Gebieten höherer geistiger Thätigkeit, beruhigt man sich dabei, daß gegenständlichen Bezeichnungen eben Gegenstände in der Wirklichkeit entsprechen, und daß in Folge dessen der Inhalt dieser Worte ein an sich be¬ stimmter sei. Sobald man aber den Widersinn einsieht, der darin liegt, etwas in der Außenwelt suchen zu wollen, was man nicht zunächst in sich selbst gefunden hat, begreift man zugleich, daß der sogenannte gegenständliche Inhalt eines Wortes in nichts anderem besteht und bestehen kann, als in den Empfindungs-, Wahrnehmungs-, Vorstellungs¬ vorgängen, welche der verschiedenartigen sinnlichen Em¬ pfänglichkeit entsprechen, mit welcher wir ausgestattet sind, sowie in den Gefühlszuständen, welche unser inneres Leben begleiten. Wir dürfen uns darüber nicht täuschen, daß es ganz außerhalb des Vermögens der Sprache liegt, jene sinnlichen Erscheinungen, auf denen es beruht, daß wir uns einer Wirklichkeit bewußt werden, in ihrem eigenen Stoffe zu einem deutlichen und bestimmten Bewußtseins¬ inhalt zu erheben. Man braucht, um dies einzusehen, nicht erst die complicirten psychischen Gebilde, wie Vorstellungen, in Betracht zu ziehen; bei den einfachsten Bestandtheilen des geistigen Lebens können wir uns darüber klar werden; z. B. eine Farbenempfindung hat als solche mit ihrer sprach¬ lichen Bezeichnung nicht die geringste Verwandtschaft. Be¬ nenne ich eine Empfindung, so habe ich zweierlei in meinem Bewußtsein: die Bezeichnung als das feste, geformte Ge¬ bilde, welche sich dem Stoff des Denkens und Wissens einordnet, und die thatsächliche Empfindung selbst, welche an und für sich durch die Thatsache der Bezeichnung gar nicht berührt wird. Trotzdem die Empfindung vermittelst der sprachlichen Bezeichnung zu einem Gegenstand der Er¬ kenntniß wird, so bleibt sie doch ihrem eigentlichen Stoff nach das, was sie vor aller sprachlichen Bezeichnung war. Indem man begreift, daß es die Sprache ist, welche das Denken ermöglicht und dadurch dem Menschen zur geistigen Herrschaft über das Vorhandene verhilft, während das thierische Bewußtsein an das wechselnde Spiel flüchtiger, unklarer Empfindungen und Vorstellungen hingegeben er¬ scheint, übersieht man leicht, daß auch im geistigen Leben des Menschen trotz der theoretischen Entwickelung, die es erfährt, der Stoff aller Wirklichkeit in seinem form- und haltlosen Zustand verharrt, und in demselben trotz aller Sprache und discursiven Erkenntniß verharren würde, wenn dem Menschen nicht außer der Sprache noch andere Mittel zu Gebote stünden, um zur geistigen Herrschaft über die Welt des Seienden zu gelangen. So muß sich ein auf¬ richtiges Nachdenken bekennen, daß der menschliche Geist, um zu dem zu gelangen, was er Erkenntniß der Welt nennt, sich erst Worte, sich Begriffe schaffen muß, daß er, wenn er die Welt des Seienden vor seinem erkennenden Geiste aufbaut, nicht nur den Bau ausführt, sondern auch das Baumaterial hervorbringt. Häufig genug wiederholt es sich, daß ein allzu kühner Gebrauch des Denkvermögens dazu verleitet, Worte als Werthe einzuführen, in denen gleichsam die Kennzeichen einer sinnlichen Herkunft gänzlich verwischt erscheinen. Her¬ vorragende Denker sind der irrigen Meinung zum Opfer gefallen, daß sie das, was so recht eigentlich Wirklichkeit zu nennen sei, da erfassen könnten, wo sie sich auf den Wegen der Abstraction am weitesten von dem sinnlichen Ursprung aller Wirklichkeit entfernt hatten. Ganze Ge¬ nerationen haben sich auf solchen Bahnen mit fortreißen lassen. Wenn nun dem menschlichen Geist die Besonnen¬ heit zurückkehrt, so durchschaut er wohl die Leere und Will¬ kürlichkeit dessen, was ihm für die höchste Erkenntniß ge¬ golten hatte; aber gerade darum verfällt er leicht einem anderen Irrthum. Indem das Denken, anstatt sich über die Erfahrung zu erheben, seine ganze Kraft auf die Er¬ fahrung concentrirt, indem man alle Vorsicht anwendet, um sich bei den auf immer vollständigere Erkenntniß ab¬ zielenden geistigen Operationen nicht einen Schritt von der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit zu entfernen, indem man nichts als wirklich anerkennt, was man nicht der Erfahrung unmittelbar zu verdanken sich bewußt ist, lebt man der Ueberzeugung, daß man die ganze mögliche Erfahrung und somit den gesammten thatsächlichen Bestand der Wirklichkeit, soweit er uns bekannt werden könne, in der Sprache des discursiven Denkens zum Ausdruck zu bringen vermöge. Fiedler , Ursprung. 2 Man zweifelt gar nicht daran, daß man sich von Jenen, welche ihr Weltbild aus Worten zusammensetzen, dadurch unterscheidet, daß man nicht Worte, sondern Dinge, die Bestandtheile der Wirklichkeit selbst, zu dem großen System der Erkenntniß verarbeitet. Und doch sollte schon die That¬ sache, daß wir Dinge gar nicht unmittelbar zu erfassen vermögen, daß wir der Benennung, der Bezeichnung be¬ dürfen, um überhaupt erst einen Zusammenhang herstellen zu können, der unser Erkenntnißbedürfniß befriedigt, schon diese Thatsache sollte uns davor bewahren, das Material unserer erfahrungsmäßigen Erkenntniß mit der Wirklichkeit selbst zu verwechseln. Den Stoff für ihre Thätigkeit findet auch die besonnenste Forschung nur auf demselben Gebiete, auf dem auch die Willkür ihre luftigen Gebäude errichtet. Keine Erkenntniß, die exacte so wenig wie die speculative, kann über ein anderes Wirklichkeitsmaterial verfügen, als über dasjenige, welches in der Entwickelungsform des Wortes beziehentlich des Zeichens vorliegt. Nach alledem ist der Sinn, den das Wunder der Sprache hat, nicht der, daß sie ein Sein bedeutet, sondern der, daß sie ein Sein ist. Und da das, was in der sprachlichen Form zur Entstehung gelangt, außerhalb dieser Form überhaupt nicht vorhanden ist, so kann die Sprache auch immer nur sich selbst bedeuten. Der Werth eines Wortes beruht nicht auf dem, was man für seinen In¬ halt auszugeben pflegt, auf den unseren Sinnesgebieten angehörigen Vorgängen, aus denen es sich entwickelt, und von denen es in größerer oder geringerer Lebendigkeit wohl auch associativ begleitet wird, — sein Werth beruht vielmehr darauf, daß sich das Wirklichkeitsbewußtsein, welches zunächst nur aus jenen vagen Sinnesvorgängen bestand, im Wort um ein neues Element, einen neuen Stoff bereichert, in dem überhaupt erst die überraschende Möglichkeit eines in sich zusammenhängenden und be¬ stimmten Wirklichkeitsaufbaues gegeben ist. Man wird auf Grund dieser Auffassung dem unberechenbaren Werthe der Sprache gerecht werden und doch die Grenzen nicht übersehen, die der sich in und durch die Sprache voll¬ ziehenden Entwickelung des menschlichen Geistes gesetzt sind. Diese Grenzen liegen nicht da, wo man gemeiniglich die Grenzen der Erkenntniß zu constatiren pflegt, jenseits des Gebietes einer möglichen Erkenntniß, vielmehr hat die Erkenntniß noch andere, näher liegende Grenzen, die so¬ zusagen diesseits einer möglichen Erkenntniß liegen; denn da sie an die Form der Sprache oder der Zeichen gebunden ist, kann es ihr niemals gelingen, sich jenes gesammten reichen Werdens, als welches uns die Wirklichkeit zunächst zum ahnungsvollen Bewußtsein kommt, zu bemächtigen, und es zu einem klaren und bestimmten Sein zu entwickeln. Mancherlei Betrachtungen sind hier noch anzuschließen. Wo man gewohnt war, einen Gewinn, eine Errungenschaft zu sehen, da erkennt man, daß dieser Gewinn zugleich mit einem Verlust verbunden ist, daß diese Errungenschaft zu¬ gleich einen Verzicht bedeutet. Wenn der Mensch sein geistiges Leben überschaut, wenn er sieht, wie Empfindungen zu Wahrnehmungen zusammentreten, Vorstellungen sich ge¬ 2 * stalten, Begriffe sich bilden, wie sich an der Sprache der Begriffe sein Denken entwickelt, wie dieses Denken, um zu gewissen Zielen zu gelangen, auch noch das bunte Gewand der Sprache abwirft und sich nur noch in Zeichen dar¬ stellt, so wird er sich einer Entwickelung seiner geistigen Natur bewußt, die ihn weit hinaus hebt über alle seine Mitgeschöpfe, und in der er die höhere geistige Bestimmung anzuerkennen sich berechtigt fühlt, zu der er inmitten anderer Geschöpfe berufen ist. Von diesem stolzen Bewußtsein braucht er nun zwar nicht dadurch zurückgebracht zu wer¬ den, daß er die Resultate seiner Denkthätigkeit als das betrachten lernt, was sie in Wirklichkeit sind, als Bildungen, die sich aus dem flüssigen Stoffe des gesammten sinnlich¬ seelischen Lebens in fester Gestalt aussondern und ein eigenes Reich des Seienden bilden; aber er sieht doch ein, daß er den Werth seiner Denkthätigkeit überschätzt hat, insofern dieselbe zwar einen bestimmten gleichsam aus allen Ele¬ menten der sinnlich gegebenen Wirklichkeit zubereiteten Stoff, keineswegs aber diese Wirklichkeit selbst unter die Macht des Bewußtseins giebt. Und infolgedessen begreift er, daß der neue, abgeleitete Inhalt, indem derselbe mehr und mehr von seinem Bewußtsein Besitz ergreift, jenen elementaren Bewußtseinsinhalt verdrängt, und daß so der menschliche Geist, indem er die Wirklichkeit mehr und mehr erfaßt, von dem Ursprung aller Wirklichkeit mehr und mehr ab¬ gedrängt wird. Und ferner, wo man ein Mittel sah, zur Macht und Freiheit zu gelangen, da sieht man nun, daß unter der Macht ein Zwang, unter der Freiheit eine Beschränkung verborgen ist. Wohl fühlt sich der Mensch wie unter einem Banne, wenn er den andringenden Eindrücken eine rege und allseitige Empfänglichkeit entgegenbringt, wenn die Fluth des Seienden höher und höher um ihn, in ihm steigt. Zur geistigen Freiheit glaubt er nur gelangen zu können, wenn es ihm gelingt, die Eindrücke, denen er unterliegt, seinerseits zu Objecten seiner geistigen Thätigkeit zu machen. In seiner Denkfähigkeit sieht er die geistige Macht, der sich nach und nach der gesammte Inhalt des Seienden unterwerfen muß, und durch sie meint er die Freiheit zu erlangen, die das Bedürfniß seiner geistigen Existenz ist. Sobald er aber den Vorgang durchschaut, der sich im Denken vollzieht, wird ihm jene Macht und Freiheit doch nur sehr bedingt erscheinen; denn sie beruht auf einem Zwang, der dem geistigen Drange in seinem Inneren an¬ gethan wird. Dieser Zwang besteht in der Nothwendig¬ keit, die Wärme des Gefühls, die Fülle und den Reich¬ thum des ahnenden Schauens, der sich drängenden und sich ablösenden Vorstellungen in das Wort, in den Begriff zu verwandeln, um Klarheit, Ordnung, Zusammenhang da zu schaffen, wo zwar Wärme und Reichthum, aber Dunkel und Verwirrung war. So lebendig kann das Bewußtsein von der Verwandlung werden, welcher die unmittelbare Wirklichkeit sich unterwerfen muß, um als Wort, als Be¬ griff sich darstellen zu können, daß die frühere Überschätzung der dem menschlichen Geist innewohnenden erkennenden Kraft sich leicht in eine Mißachtung verwandelt. Meinte man erst, in der Erkenntniß alles zu besitzen, so meint man nun, durch sie vielmehr alles zu verlieren. Die geistige Freiheit, zu der man sich in der Erkenntniß zu entwickeln glaubte, erscheint als eine geistige Beschränkung, da man nicht im Stande ist, das dunkle Sein, dessen mannich¬ fache Werdelust man ahnend im eigenen Inneren gewahrt, anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch, daß man es selbst aufgiebt und etwas anderes an seine Stelle setzt. Und endlich, wo man das geistige Licht sah, welches sich über die Welt und den Zusammenhang ihrer Er¬ scheinungen verbreitete, da sieht man nun eher einen Schleier, welcher die wahre Natur des Seienden verhüllt. Während man durch das in dem sprachlichen Ausdruck sich dar¬ stellende Denken das geheimste Wesen der Erscheinungen offenbar zu machen glaubte, erkennt man nun, daß alles Denken und Erkennen einer großen, aus Worten und Be¬ griffszeichen gewobenen Decke gleicht, unter der das Leben der Wirklichkeit fortpulsirt, ohne sich aus seinem dunkeln Zustande an das Tageslicht emporarbeiten zu können. Und wäre dem Einzelnen nur immer gegenwärtig, welch reiches, noch zu keinem Ausdruck entwickeltes Leben vorhanden sein müsse, damit nur überhaupt jene besondere Art der Aus¬ drucksformen entstehen könne, in der wir die Wirklichkeit denkend zu erfassen vermögen! Dies aber wird durch diese Formen selbst erschwert, verhindert. Der Einzelne gelangt ja nicht durch eigene entwickelnde, schaffende Thätigkeit in den Besitz derselben: er schafft die Welt nicht, die er durch das Denken erwirbt, er lernt sie. Indem er aber von vornherein der Wirklichkeit als einer zu erlernenden gegen¬ übergestellt wird, entgeht es ihm, daß alles, was er zu lernen und zu lehren vermag, nicht die Wirklichkeit, son¬ dern nur eine Form der Wirklichkeit sein kann. 2. Die sehr verbreitete Ueberschätzung des theoretischen Wissens und Erkennens schlägt leicht bei denen in eine Unterschätzung um, die es in seinem eigentlichen Wesen durchschaut haben. In der That hat die Erkenntniß, daß aller theoretische Wirklichkeitsbesitz ein Wortbesitz ist, etwas Entmuthigendes. Selbst da, wo man mit dem Denken der Sinnlichkeit unmittelbar nahe ist, wo man in demselben Augenblick, in welchem ein concreter Bestandtheil des Den¬ kens vor das Bewußtsein tritt, unwillkürlich den Uebergang zu einem sinnlich Gegebenen macht, wo also das sinnlich Gegebene recht eigentlich der Gegenstand selbst des Denkens zu sein scheint; selbst da sieht man sich durch die einfache Thatsache, daß man sich denkend verhält, durch eine nicht auszufüllende Kluft von dem sinnlichen Stoff der Er¬ fahrung getrennt. Das, was sich den Sinnen in seiner eigensten Naturgestalt offenbart, unterliegt, wie schon er¬ wähnt, durch die bloße Berührung des denkenden Geistes einer Verwandlung, und das, was man thatsächlich besitzt, erinnert in nichts mehr an das, was man hat ergreifen wollen. Sind nicht diejenigen im Recht, die sich allen Denkens und Wissens entschlagen und die Wirklichkeit nur in den unmittelbaren Phänomenen ihres Wahrnehmungs- und Gefühlslebens erfassen zu können glauben? Indessen während jener Ueberschätzung der Erkennt¬ niß die irrthümliche Annahme zu Grunde lag, daß dem Menschen eine Welt des Seins und Geschehens als Außen¬ welt gegeben sei, die er mit dem Licht seines erkennenden Geistes nur zu beleuchten, und, was er da sah, nur aus¬ zusprechen brauchte, so beruht die nunmehrige Unterschätzung auf einer Annahme, die auch ihrerseits der Prüfung be¬ darf. Indem der Mensch lernt, die Bestandtheile der Wirklichkeit nicht mehr außer sich, sondern zunächst im eigenen Bewußtsein zu suchen, wird er sich sagen, daß er die Wirklichkeit in seinen Sinnesvorstellungen in viel un¬ verfälschterer Gestalt besitzt, als in dem System von Worten und Begriffen, die, wenn sie auch ein Product der sinn¬ lichen Vorstellungswelt sind, doch keinerlei stoffliche Ver¬ wandtschaft mehr mit derselben haben. Wenn ich die Bezeich¬ nung irgend eines Gegenstandes nehme, wie Tisch, Baum, Berg, und meine Aufmerksamkeit auf den zwiefachen In¬ halt richte, den ich in meinem Bewußtsein wahrnehme, auf die Wortvorstellung auf der einen Seite, auf die sinn¬ liche, gegenständliche Vorstellung auf der anderen Seite, so kann mir jene wohl als das Minderwerthige erscheinen, während ich den eigentlichen Wirklichkeitswerth dieser bei¬ messen muß. Zudem beruht Möglichkeit und Werth des Wortes auf seiner Herkunft aus der sinnlichen Vorstellung, während die sinnliche Vorstellung ihren vollen Werth auch abgesehen von jeder sprachlichen Bezeichnung besitzt. Die Voraussetzung für diese Anschauung liegt darin, daß an Stelle des Glaubens an eine von aller Vorstellung unabhängige Außenwelt der andere Glaube an eine gegebene Vorstellungswelt getreten ist. Dieser Glaube beherrscht in der That die allgemeine Denkweise. Bei ihm bleibt der¬ jenige stehen, der sich aus dem Bann naiv-realistischer An¬ schauungsweise freigemacht hat. Zweifellos kann der ge¬ sammte geistige Zustand — und dieses Wunder vollzieht sich tagtäglich, heute wie immer — keine größere Um¬ wandlung erfahren, als diejenige, welche sich durch die Zerstörung der realen Gewißheit der gegebenen Wirklich¬ keit vollzieht. Die Stellung des Menschen innerhalb der Welt erscheint damit gänzlich verändert. Seine anscheinend passive Rolle hat sich in Wahrheit als eine active enthüllt; wenn er sich sonst beruhigt dem Bewußtsein überlassen konnte, daß er mit seinem Geiste außerhalb der realen Welt, ihr gegenüber stehe, so muß er sich nunmehr einge¬ stehen, daß er selbst als ein empfindendes, denkendes Wesen zum Mindesten eine Mitbedingung alles dessen ist, was ihm als Wirklichkeit erscheint. Einestheils steigt er da¬ durch von seinem erhabenen, außerweltlichen Standpunkte herab, anderentheils erscheint er in einer neuen, höheren Bedeutung. Es kann ihn mit Stolz erfüllen, daß ohne ihn diese ganze ungeheure Wirklichkeitserscheinung nicht als vorhanden gedacht werden kann, und zugleich kann ihn eine Art Grauen überkommen, wenn er sich lebhaft ver¬ gegenwärtigt, daß es sein eigenes kleines Dasein ist, auf welches das Dasein eines so Unermeßlichen gestellt ist. Bei alledem sagt er sich aber doch, daß die Welt in ihrem sinnlichen Vorhandensein nach wie vor für ihn dieselbe ist. Ob er durch seine sinnliche Empfänglichkeit etwas zu er¬ halten meint, was gerade so, wie er es erhält, auch ab¬ gesehen von seiner sinnlichen Empfänglichkeit als vorhanden gedacht werden könne, ob er begriffen hat, daß er von einem An-sich-sein der wahrgenommenen Dinge nicht reden kann, weil es doch immer nur seine eigenen Wahrnehmungen sind, deren er sich bewußt wird, so weiß er doch, daß er gleichsam nur die Thore der Sinne zu öffnen braucht, um der sich mit voller sinnlicher Gegenwart andrängenden Wirklichkeit gewiß zu werden. Mit seinem eigenen sinn¬ lichen Dasein ist ihm das sinnliche Dasein der Dinge ge¬ geben; es ist der Besitz, der ihm mühelos zufällt, der un¬ erschöpfliche Schatz, aus dem er mit seinen Sinnesorganen Erscheinung auf Erscheinung schöpft, der feste nicht wan¬ kende Boden, auf dem sich Alle zur Uebereinstimmung ge¬ zwungen sehen, die auf einen normalen Zustand ihres Organismus Anspruch machen. Der Mensch bedarf eines festen Bodens unter sich, eines Seienden, und wenn er dasselbe nicht außer sich finden kann, so sucht er es in sich. Schon die Art, in der der Satz von der Relativität des Seins formulirt zu werden pflegt, hat die Annahme zur Voraussetzung, daß es ein Sein gebe, von dem man die Relativität aussagen könne, und nirgend anders kann dieses Sein gefunden werden, als in der sinnlichen Vorstellungswelt. Wenn unter dem zersetzenden Einfluß skeptischen Sinnes alle Möglichkeit der Erkenntniß zweifelhaft wird, wenn kritisches Nachdenken lehrt, daß das, was wir Wahrheit zu nennen berechtigt sind, nirgends zu finden ist, als in den jeweiligen Resultaten, zu denen die geistige Thätigkeit des Menschen, sich immer erneuernd, sich immer entwickelnd, bildend, zer¬ störend und wieder bildend gelangt, so ist der auf un¬ mittelbarer sinnlicher Wahrnehmung beruhende Wirklich¬ keitsbesitz, wenn er auch nach seinem bloßen Erscheinungs¬ werthe anerkannt wird, der sichere Halt innerhalb einer Welt des Seienden, welche sich dem tieferen Nachdenken als ein mehr oder minder unsicherer Gedankenbesitz dar¬ stellt. Hier erscheint der Mensch in der That mehr em¬ pfangend als thätig; auch wenn er sich darüber klar ist, daß er die Vorstellung einer gegenständlichen Welt mit allen ihren sinnlichen Qualitäten der Function seiner Sinnes¬ werkzeuge verdankt, so empfängt er doch die Gewißheit dieser sinnlichen Wirklichkeit weniger als das Resultat einer sich in ihm und durch ihn vollziehenden Thätigkeit, als vielmehr als unmittelbar gegenwärtigen Eindruck, so¬ bald nur die sinnliche Empfänglichkeit vorhanden ist. Während jeder Schritt auf der Bahn des Wissens und Erkennens einen Aufwand von geistiger Energie erfordert, so fällt uns die Welt, soweit sie sinnlich wahrnehmbar ist, gleichsam als Geschenk zu, sobald wir nur ins Leben ein¬ treten. Die Natur selbst lehrt den Gebrauch der Sinne; das Denken bedarf der Unterweisung. Was Wunder, daß wir auf festem Grund zu stehen meinen, solange wir den Boden sinnlicher Wahrnehmung nicht verlassen? Zwar sehen wir alle Möglichkeit einer Entwickelung des geistigen Lebens, einer Ausbildung der den Menschen über seine Mitgeschöpfe erhebenden Fähigkeiten an die Denkthätigkeit gebunden, aber wir können uns der Einsicht nicht ver¬ schließen, daß die Welt des Denkens in allen ihren Be¬ standtheilen ein Erzeugniß menschlicher Thätigkeit sei, und durch keinerlei Autorität, die außerhalb dieser Thätigkeit, über derselben stände, gegen Irrthum, Zweifel und An¬ fechtung gesichert werden könne. In der Welt der Sinnes¬ wahrnehmungen dagegen, wenn auch ihre Möglichkeit an die Functionen der Sinnesorgane gebunden ist, erscheint doch ein Vorhandenes unmittelbar und ein für allemal gegeben. Die Welt, wie sie sich den Sinnen darstellt, ist die gegebene Welt aller Menschen und aller Zeiten, sie ist das gemeinsame Erbtheil, welches uns allen zufällt, ohne daß wir uns darum zu bemühen brauchten; sie ist der feste Grund und Boden, auf dem wir mit unseren Mitgeschöpfen stehen, von dem wir wissen, daß er derselbe war für die vergangenen, daß er derselbe sein wird für die kommenden Geschlechter; sie ist der Ausgangspunkt für den Erkenntniß suchenden Geist, und zugleich die letzte Instanz, auf die sich dieser zurückgewiesen sieht, wenn er die Zuverlässigkeit seiner Sätze gegen Zweifel und Anfechtung zu vertheidigen hat. So hat die Welt des sinnlichen Erscheinens einen unbestrittenen Vorzug vor der Welt, die sich aus geistigen Operationen aufbaut und in ihrem Sein an die Formen des Denkens gebunden ist; sie hat eine gewisse Würde, weil ihre Herkunft jenseits der Sphäre alles menschlichen Thuns und Denkens vorausgesetzt werden zu müssen scheint. Und dennoch ist der Rang, den sie in dem gesammten geistigen Sein des Menschen einnimmt, nur ein unterge¬ ordneter. Ihr ganzes Verdienst ist ihr Vorhandensein; sie wahrnehmen ist alles, was der Mensch zu thun hat, um sich ihrer zu vergewissern. Wohl unterscheiden sich die Menschen in Ansehung des Umfanges und der Klarheit ihres sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeitsbesitzes; diese Unterschiede beruhen aber doch nur auf Verschiedenheiten in den niederen Regionen sinnlich-geistiger Beanlagung; vielfach finden sie auch in den zufälligen Verschiedenheiten äußerer Umstände ihre hinreichende Erklärung. Auch der reichste und vollkommenste Sinnesbesitz läßt seinen Eigen¬ thümer nur auf einem sehr niedrigen Standpunkt erscheinen, so lange er nichts anderes bleibt, als Sinnesbesitz. Die geistige Entwickelung des Menschen beginnt erst da, wo er aufhört, sich bloß sinnlich wahrnehmend zu verhalten, wo er anfängt, die sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit als ein gegebenes Material anzusehen und gemäß den Forderungen seines Verstandes zu bearbeiten, zu verwerthen, zu verwandeln. Wie sehr das Denken von dieser Auffassung des Ver¬ hältnisses zwischen Besitz an Sinnenmaterial und geistiger Thätigkeit beherrscht wird, zeigt sich besonders deutlich in den Untersuchungen, die man über das ganze Gebiet der¬ jenigen psychischen Vorgänge anstellt, die in unmittelbarer Abhängigkeit von den Vorgängen in den Sinnesapparaten stehen. Ganz anders als die ältere Psychologie behandelt die physiologische Psychologie diese Probleme; die Einblicke, die man ihr in die Vorgänge verdankt, in denen das Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben auf den verschiedenen Sinnesgebieten besteht, sind nicht hoch genug anzuschlagen. Die Voraussetzung aber ist für die neue Methode keine andere, als sie für die alte war. Die Vorstellungen von den Dingen der Außenwelt sind gegebene Größen; indem man ihre Entstehung und Entwickelung auf dem Boden der sinnlich-geistigen Natur des Menschen zu verfolgen und aufzuhellen bemüht ist, zweifelt man nicht daran, daß man in ihnen ein bestimmtes in sich abgeschlossenes Gebiet des inneren Lebens vor sich habe. Man belehrt denjenigen, der in den Vorstellungen gleichsam nur das geistige Spiegel¬ bild eines sinnlich Vorhandenen sieht, über die unendliche Complication psychophysischer Vorgänge, auf denen die Gestaltung einer Vorstellung beruht, aber man unterscheidet sich insofern nicht von ihm, als man so gut wie er in der vorhandenen Vorstellungswelt diejenige Form des Wirk¬ lichkeitsbewußtseins sieht, welche das gegebene unveränder¬ liche Material für die höheren geistigen Operationen bildet. Es liegt hier ein Mißverständniß des wirklichen Sach¬ verhalts vor, welches nicht weniger verhängnißvoll ist, als das Mißverständniß, welches der naiv-realistischen Meinung zu Grunde liegt. Und zudem ist es schwerer, dieses zweite Mißverständniß zu zerstören, als jenes erste. Es erscheint so consequent, an die Stelle der Dinge, die uns nur in unseren Vorstellungen bekannt werden können, eben die Vorstellungen von den Dingen zu setzen, und das Object unserer geistigen Operationen nicht mehr in der Wirklich¬ keit schlechthin, sondern in der als Erscheinung, Vorstellung gegebenen Wirklichkeit zu erblicken. Man geräth da nur aus einem Dogmatismus in den anderen und bleibt zu¬ dem in dem sonderbaren Irrthum befangen, daß man geistige Thätigkeit und Objecte einer geistigen Thätigkeit sich als zweierlei Dinge gegenüberstellen könne, während geistige Thätigkeit abgesehen von einem sogenannten Object, und ein sogenanntes Object abgesehen von einer geistigen Thätig¬ keit ganz unverständliche Worte sind. In der That stehen der Annahme, daß dem ewig veränderlichen geistigen Besitz gegenüber das sinnliche Phä¬ nomen der Welt eine gegebene Größe sei, erhebliche Be¬ denken entgegen. Wenn wir sagen, daß das Denken die Vorstellungen beherrscht, sie als den ihm zu Gebote stehen¬ den, vorhandenen Stoff behandelt, sie vor das Forum des Bewußtseins citirt, um sie zu ordnen und in unablässiger Arbeit in denjenigen Zusammenhang zu bringen, in welchem sie dem erkenntnißbedürftigen Geist Genüge zu thun geeignet sind, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß wir uns nur einer bildlichen Ausdrucksweise bedienen. Sobald wir näher zusehen, müssen wir uns eingestehen, daß das Bild eher geeignet ist, den thatsächlichen Vorgang zu verhüllen, als denselben anschaulich zu machen. Denn sobald wir versuchen, das, was wir als sich gegenüberstehend betrachten, die Welt des Denkens und die Welt der sinnlichen Vor¬ stellungen zu trennen und gesondert zu betrachten, so finden wir zwar auf der Seite des Denkens die bestimmten Werthe der Begriffe, auf Seite der Vorstellung aber keinerlei be¬ stimmten Werth, sondern wechselnde, gleichsam fließende Bewußtseinszustände. Wir sind so sehr gewöhnt, uns in der Welt an dem Leitfaden des Denkens zurecht zu finden, daß wir die Hülflosigkeit gar nicht sehen, der wir preis¬ gegeben sind, wenn wir es versuchen, uns nicht denkend, sondern nur vorstellend zu verhalten. Selbst wenn wir etwas ganz Bestimmtes, Individuelles nehmen, sei es eine Person oder ein Gegenstand, was finden wir in unserem Bewußtsein vor, wenn wir unser Augenmerk auf das richten, was nun eigentlich den Inhalt, die sinnliche Substanz dessen bildet was wir durch das Wort zu bezeichnen meinen? In unendlich abgestuften Deutlichkeitsgraden wird derselbe Gegenstand immer als ein anderer in unser vorstellendes Bewußtsein treten, von der hellsten Gegenwärtigkeit bis zu nahezu verschwindender Erinnerung. Ueber dieses Leben der Vorstellungen hat keinerlei Denken irgend eine Macht. Wenn ich sage: der Baum ist grün, so berührt dies die Unendlichkeit der Vorstellungsmöglichkeiten, in denen ein grüner Baum in meinem Bewußtsein vorkommen kann, gar nicht. Und so ist es durchgehends. Auch muß es einer irrigen Meinung über die inneren Vorgänge Vor¬ schub leisten, wenn man dieselben so vorführt, daß Em¬ pfindungen zu Wahrnehmungen zusammentreten, Wahr¬ nehmungen zu Vorstellungen sich steigern, aus Vorstellungen Begriffe sich entwickeln. Man geht davon aus, daß die Entwickelung von Empfindung zu Wahrnehmung, von Wahrnehmung zu Vorstellung, von Vorstellung zu Begriff Fiedler , Ursprung. 3 diejenige sei, die stattfinden müsse, damit der Mensch zu einem klaren und umfassenden Wirklichkeitsbewußtsein ge¬ langen könne. Man setzt voraus, daß die vollständige sinnliche Aneignung eines Dinges vorhanden sein müsse, damit die Gewißheit seines Seins in die Form des Be¬ griffs eingehen und ein Gegenstand des Denkens werden könne. Aber abgesehen davon, daß im Begriff etwas ganz anderes dem Bewußtsein zugeführt wird, als das sinnliche Dasein der Dinge, muß auch jedes Bemühen, zur Voll¬ ständigkeit einer bestimmten sinnlichen Aneignung eines Gegenstandes zu gelangen, anstatt auf Bildung eines Be¬ griffs hinauslaufen zu müssen, dieselbe vielmehr ausschließen; denn in demselben Augenblick, in dem der Begriff von dem Bewußtsein Besitz ergreift, erfährt jenes sinnliche Bemühen eine Unterbrechung und vermag erst dann wieder in seine Rechte einzutreten, wenn das begriffliche Denken aus dem thätigen Bewußtsein verschwunden ist. Noch einer anderen irreführenden Anschauung ist hier zu gedenken. Man pflegt die Entwickelung des geistigen Lebens bei dem einzelnen Menschen so aufzufassen, als ob sie von sinnlicher Gebundenheit zu geistiger Freiheit führe; man nimmt an, daß das sinnlich Gegebene in einen geistigen Besitz verwandelt werde. Nichts, scheint es, kann sinn¬ licher, körperlicher sein, als das Material der Welt, das uns als etwas Bekanntes umgiebt, zu dem wir selbst mit unserer ganzen Leiblichkeit gehören. Nichts kann geistiger, sozusagen substanzloser erscheinen, als der Begriff, durch den wir die Körperwelt gleichsam beherrschen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß nichts Sinnlich-Körperliches anders gegeben sein kann, als in Empfindung, Wahr¬ nehmung, Vorstellung, Vorkommnissen, die wir doch in unsere geistige Natur verlegen. Das, was als das Aller¬ körperlichste sich erweist, z. B. der Widerstand der Materie, muß ein Geistiges sein, wenn es überhaupt vorhanden sein soll; und ebenso muß auch jedes Geistige, sei es ein Ge¬ fühltes, ein Vorgestelltes, ein Gedachtes, zugleich ein Körper¬ liches sein, da es sonst nicht wahrnehmbar, mit anderen Worten, nicht vorhanden sein könnte. Wenn wir versuchen, das, was wir als unseren vornehmsten geistigen Besitz zu betrachten gewohnt sind, den Begriff, als ein Resultat, als ein Produkt aufzufassen, so finden wir, daß sich hier keines¬ wegs ein Vorgang vollzieht, der von einem materiell, sub¬ stanziell Gegebenen zu einem ganz Körperlosen, nur geistig Vorhandenen führte: im Gegentheil, der vorausgesetzte Vorgang könnte uns eher umgekehrt erscheinen; denn seinen Ursprung müssen wir in jenen geheimnißvollen Regionen des geistigen Lebens suchen, in denen aus Em¬ pfindungszuständen zuerst das Bewußtsein eines Seienden aufdämmert; am Ende sehen wir das sinnlich feste Ge¬ bilde des Begriffszeichens, in welchem nicht der Träger des irgendwie geistig vorhandenen Begriffs, sondern dieser Begriff selbst ins Dasein tritt. Wir irren sehr, wenn wir dem Reiche des gegenständlich Vorhandenen ein Reich des Denkens gegenüberstellen, dem wir eine rein geistige Beschaffenheit zuschreiben; vielmehr steht in dem Sprach¬ material, aus dem das Reich des Denkens besteht, etwas 3* recht sinnlich Bestimmtes einer Welt von Bewußtseinszu¬ ständen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen gegenüber, die uns noch eher die Täuschung vorspiegeln könnten, als ob in ihnen etwas sogenannt rein Geistiges gegeben sei. Es ist nicht zu leugnen, daß die Verführung sehr nahe liegt, während wir uns in dem Element der Sprache, der Worte bewegen, die sinnliche Thätigkeit, die dabei statt¬ findet, zu übersehen. Gerade in der Sprache scheint der menschliche Geist zu seiner eigensten, freiesten, von aller sinnlichen Bedingtheit losgelösten Bethätigung zu ge¬ langen. Das was wir den Inhalt eines Wortes zu nennen pflegen, steht in seinem Umfange, seiner Weite ganz außer allem Verhältniß zu dem geringen sinnlichen Volumen des Lautgebildes. Dieses wird eng begrenzt, jener weit umfassend erscheinen; wir werden meinen, daß sich mit der sinnlich so unscheinbaren Thatsache eines Wortes etwas mit demselben ganz incommensurables Gei¬ stiges verbinde. Schon bei Bezeichnungen einfacher, nahe liegender Gegenstände, als etwa Tisch, Haus, Baum und dergleichen, muß dies auffallen; um wie viel mehr bei Worten, wie Sonne, Himmel, Welt, oder gar bei Aus¬ drücken wie Tugend, Unsterblichkeit, Unendlichkeit und an¬ deren ähnlichen. Muß es uns nicht so vorkommen, als ob wir gleichwie mit Tasten schlummernde Töne aus den Saiten eines Instrumentes, so mit den Sprachlauten un¬ endliche Reihen geistiger Bildungen aus dem leiblichen Organ erweckten? Es hat ja in der That etwas Geheim¬ nißvoll-Wunderbares, wie in dem Augenblick, in welchem ein Wort, etwas an sich so Unbedeutendes und Geringes, in das Bewußtsein tritt, wie dann ganz plötzlich, wie aus einem Banne erlöst, Bilder auf Bilder sich vor die Seele drängen, wie eine unendliche sinnliche Mannichfaltigkeit, nahe und entfernte geistige Beziehungen, Erinnerungen und Ahnungen, dies alles in dem kleinen, unscheinbaren Wort enthalten zu sein und sich von ihm aus über unser Be¬ wußtsein zu ergießen scheint. Es ist nur zu begreiflich, daß uns das Wort wie ein geistiger Herrscher erscheint über das ganze Reich dessen, was überhaupt als Seiendes in unser Bewußtsein treten kann. Aber wir sahen, daß der Werth der Sprache, als des Denkstoffes, gar nicht darauf beruhen kann, daß wir in ihr eine Vertretung von Dingen oder von Vorstellungen besäßen; daß wir somit nicht Dinge oder Vorstellungen, sondern immer nur Worte denken. Wir überzeugten uns, daß wir uns einer sehr uneigentlichen Ausdrucksweise be¬ dienen, wenn wir Denken und Erkennen als eine Thätig¬ keit bezeichnen, die in irgend einem Vorhandenen ihr Ob¬ ject hat; daß wir in allem Denken und Erkennen nur eine Form dessen besitzen, was wir als Sein zu bezeichnen berechtigt sind. Damit ändert sich das Verhältniß, in das wir Denken und Vorstellungen zu einander zu bringen gewöhnt sind. Es kann von keinem Verhältniß der Unter¬ ordnung mehr die Rede sein. Wir müssen uns durchaus von der Meinung frei machen, nach der für die Erfassung des Seins in unserer sinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬ stellungsfähigkeit eine Art Vorstufe gegeben sei, während es dem Denken und der Erkenntniß vorbehalten bleibe, dieses selbe Sein erst nach seinem wahren Wesen zu einem geistigen Besitz zu machen. Wenn wir nun gleichwohl ein Abhängigkeitsverhältniß zwischen Denken und Vorstellen thatsächlich beobachten, wenn wir sehen, wie sich an Be¬ griffe, an Denkvorgänge, Vorstellungsvorgänge anknüpfen, wie umgekehrt mit Vorstellungen, mögen sie auf unmittel¬ barer Wahrnehmung oder auf Reproduction beruhen, Worte, Begriffe, Denkoperationen in das Bewußtsein treten, so werden wir darin doch eben nichts anderes sehen, als eine thatsächliche Zusammengehörigkeit so verschiedener Vorgänge oder Vorkommnisse in unserem Bewußtsein. Worauf diese Zusammengehörigkeit beruht, dies zu untersuchen, ist hier nicht der Ort; jedenfalls aber müssen wir dieselbe nicht nur als eine psychische, sondern auch als eine physische Zusammengehörigkeit auffassen und zwar nicht nur in dem Sinne, daß in Folge eines durchgehenden Parallelismus zwischen geistigen und leiblichen Vorgängen, da wo ein geistiger Zusammenhang vorliege, auch auf einen Zu¬ sammenhang leiblicher Natur geschlossen werden müsse. Das Zugeständniß eines nothwendigen Parallelismus zwischen geistigen Vorgängen und Vorgängen im leiblichen Organ schließt nicht aus, daß man im Grunde doch nur an ein zeitweiliges, gezwungenes Zusammensein zweier in ihrem inneren Wesen getrennter unvereinbarer Elemente glaubt. Man spricht von dieser Zusammengehörigkeit unter der Voraussetzung, daß körperliche und geistige Vorgänge ver¬ schiedenen Sphären des Seins angehörten, von denen jede für ihren Theil eine gesonderte Betrachtung zuließe. Man giebt zu, daß jede Arbeit des Geistes sich unserer Wahr¬ nehmung zugleich als eine körperliche Leistung ankündigt, daß alles geistige Thun zugleich eine Bethätigung des leib¬ lichen Organismus sei, daß die Resultate des leiblich¬ geistigen Thuns, der Stoff, die Bestandtheile des soge¬ nannten geistigen Lebens selbst, durchaus nicht als bloße geistige Werthe, sondern in sinnlicher Form vorhanden seien. Wir mögen ja aus dem ungeheuren Bereiche des Seienden nehmen, was wir wollen, das Fernste, wie das Nächste, das Umfassendste, wie das Beschränkteste, das Allgemeinste, wie das Einzelnste, immer wird es sich heraus¬ stellen, nicht nur als ein unserem Bewußtsein unmittelbar angehöriges Geistiges, sondern zugleich als ein uns ebenso unmittelbar angehöriges Sinnlich-Körperliches. Indessen sieht man doch immer noch ein Zweierlei, wo im Grunde nur ein Einerlei vorhanden ist. Man hat da nur erst den halben Weg zurückgelegt, der von der Annahme einer dualistischen Sonderexistenz von Geist und Körper zu der Einsicht führt, daß eine Trennung dieser beiden sogenannten Bestandtheile unserer Natur, in denen wir den größten aller vorhandenen Gegensätze anerkennen zu müssen glauben, überhaupt für uns ganz unrealisirbar ist. Kein körper¬ licher Vorgang kann nur gleichsam der Träger sein eines geistigen Werthes, der von ihm verschieden wäre; es ist immer nur ein und derselbe Vorgang, ein körperlicher, weil es in der menschlichen Natur keinen geistigen Vorgang geben kann, der nicht ein körperlicher wäre, und ein geistiger, weil es keinen körperlichen Vorgang geben kann, der für uns anders als in geistiger Form vor¬ handen sein könnte. Alle Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Leiblichkeit kann für uns nur in den mannichfachen Vor¬ gängen und Formen des Empfindens, Wahrnehmens, Vor¬ stellens, Denkens vorhanden sein, während wir uns, und wenn wir auch nur den kleinsten Theil dieses sogenannten geistigen Lebens suchen und finden wollen, ganz ausschlie߬ lich auf ein in sinnlicher Form Vorhandenes angewiesen sehen. In dem ganzen weiten Reiche des Geistigen ver¬ mögen wir schlechterdings nichts zu finden, was nicht körperlich-sinnlicher Natur wäre; nichts, was wir Theile unseres geistigen Besitzes nennen, kann anders geboren werden, als in leiblicher Gestalt. Es ist ein trügerischer Schein, der uns vortäuscht, es sei überhaupt eine Trennung, auch nur eine gedachte Trennung zwischen Geistigem und Sinnlichem möglich. Das, was dem reinsten geistigen Gebiet anzugehören scheint, irgend eine von aller Möglich¬ keit sinnlicher Wahrnehmung weit abliegende Abstraction, etwas, was je nach dem philosophischen Standpunkt den Einen das höchste Sein, den Anderen gar kein Sein mehr darstellt, ein Begriff, wie etwa Unendlichkeit, was ist das anderes als das sehr sinnliche Gebilde eines Wortes? Und wenn wir das auch zugeben, aber einwenden, daß durch so ein Wort, wie durch eine Zauberformel ein Reich unabsehbaren geistigen Seins erschlossen wird, so brauchen wir nur genauer hinzusehen, um uns zu überzeugen, daß alles, was über die engen sinnlichen Schranken der Wort¬ form hinauszugehen, was dem Ausdruck die Tiefe des geistigen Inhalts, die Weite des geistigen Umfanges zu geben scheint, sich doch immer wieder als ein Sinnliches, sei es Wort, Bild, Gefühl erweisen muß. Was auch immer ein Wort vor das Forum unseres Bewußtseins ruft, mögen es Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle sein, was es auch sein mag, es kann nicht anders in der so¬ genannten geistigen Sphäre des Begriffes auftreten, als indem es sich als sinnlicher Vorgang an die sinnliche That¬ sache des Wortes anschließt. Jene sogenannte geistige Sphäre des Wortes ist thatsächlich nicht größer als seine sinnliche Sphäre. Es ist durchaus falsch, zu sagen, daß wir uns mit der physischen Leistung, an die unser psychisches Leben gebunden ist, ein geistiges Reich erschlössen, daß alle sinnlichen Vorkommnisse unseres sogenannten geistigen Lebens, wie Wort, Zeichen, Bild, Ton, Geberde nur Sym¬ bole eines Geistigen seien; es sind das Reminiscenzen veralteter Anschauungen. Jedes Vorkommniß bedeutet nur sich selbst, und der Schein, daß es eine Bedeutung besitze, die von ihm verschieden sei und es überrage, beruht darauf, daß sich auf dem Wege der Association andere Vorkomm¬ nisse mit ihm verbinden, die ebensowenig wie es selbst einem vorgeblichen, in Wahrheit ganz undenkbaren geistigen Reiche angehören, und die auch nur wiederum sich selbst bedeuten können. Haben wir eingesehen, einestheils, daß unser Bewußt¬ sein nicht als ein Ort zu betrachten ist, an welchem das Wirklichkeitsmaterial für das Denken nur so schlechthin zu finden wäre, so daß dieses jedes Einzelne nur zu bezeichnen brauchte, um das gesammte in der Vorstellung gegebene Sein in diejenige Form zu bringen, die seinen eigenen Gesetzen entspräche; anderentheils daß die in unserem Be¬ wußtsein auftretenden und mehr oder weniger die Denk¬ vorgänge begleitenden sinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬ stellungsvorgänge so wenig eine rein geistige Existenz haben können, wie das Denken selbst: so vermögen wir das, was wir das sinnliche Phänomen der Wirklichkeit nennen, un¬ befangener zu prüfen. Wir sehen, daß man verhältnißmäßig leicht zu der Einsicht in die Phänomenalität der sinnlichen Wirklichkeit gelangt, und daß man sich dabei beruhigt, an die Stelle einer an sich vorhandenen Welt eine vorgestellte Wirklich¬ keit zu setzen. Man streift damit aber keineswegs allen Trug ab, in dem man sich sozusagen naturgemäß befindet. Gleichwie man sich schwer von der Ueberzeugung losmacht, daß das Wort, der Begriff etwas vertrete, bedeute, was auch abgesehen von Wort und Begriff vorhanden sei, so bleibt im Grunde doch auch die Meinung bestehen, daß alle Wahrnehmung und Vorstellung doch nur Kunde, oft¬ mals mangelhafte und trügerische Kunde gebe von etwas, was unabhängig von allen Wahrnehmung und Vorstellung existire. Dieses ist ein Irrthum so gut wie jenes. Es giebt für uns kein sinnliches Sein, welches nicht Wahr¬ nehmung und Vorstellung wäre, und alles Verhältniß von Wahrnehmung und Vorstellung zur Wirklichkeit ist doch immer nur wieder ein Verhältniß von Wahrnehmung und Vorstellung zu Wahrnehmung und Vorstellung; darüber hinaus werden wir niemals gelangen können. Wir sind also in Betreff der gesammten sinnlichen Wirklichkeit auf das angewiesen, was wir als sogenannten psychischen Be¬ sitz in unserem wahrnehmenden beziehentlich vorstellenden Bewußtsein finden. Wir können nun nicht annehmen, daß dieser psychische Besitz nur so in der Luft schwebe und als etwas Immaterielles uns zu theil werde. Sowenig irgend eine Wahrnehmung oder Vorstellung auf anderen als sinn¬ lichen Wegen in unser Bewußtsein gelangen kann, ebenso¬ wenig kann sie in anderer Form in unserem Bewußtsein existiren, als in der Form eines sinnlichen Vorganges. Bedenken wir, daß das gesammte Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben in keiner anderen Weise vorhanden sein kann, als in Vorgängen, denen unser sinnlicher Organis¬ mus unterworfen ist, so werden wir leicht begreifen, daß unsere Vorstellungen nicht als etwas fertig Vorhandenes, in unser Bewußtsein Eintretendes und aus ihm wieder Verschwindendes angesehen werden können, sondern als etwas Werdendes, Entstehendes und Vergehendes. Wir hören nun auf, das Vorhandensein der Vorstellungen so auf Treu und Glauben hinzunehmen; wir sehen ein, daß unser ganzer Vorstellungs- und somit Wirklichkeitsbesitz sich nicht weiter erstreckt als über die Vorgänge, die im einzelnen Augenblick in uns, an uns stattfinden können; daß in jedem Augenblick die ganze Welt, die wir unser nennen können, vergeht und in jedem Augenblick wiederum neu entsteht, daß wir mit Anderen nicht in derselben Welt leben, sondern daß jeder in einer anderen Welt lebt, ja daß für den Einzelnen die Welt eines Augenblicks nicht dieselbe irgend eines anderen Augenblicks sein kann. War durch die Einsicht in den relativen Charakter alles Seins die Wirklichkeit, die uns so unabhängig gegen¬ überzustehen schien, aufgelöst worden in eine Wirklichkeit, deren Sein nur durch unsere Vorstellung möglich wurde, so erscheint nun durch die Einsicht in die Unmöglichkeit der Existenz von Vorstellungen als vorhandener geistiger Bestandtheile unseres Bewußtseins auch die Wirklichkeit als Vorstellung aufgelöst in ein unendlich mannichfaches und ewig wechselndes Geschehen, dessen Schauplatz unser sinnlicher Organismus ist. Hatten wir auf die Frage, wo nun eigentlich die Wirklichkeit sei, antworten müssen, in unseren Vorstellungen: so müssen wir auf die weitere Frage, wo nun diese Vorstellungen sind, antworten: sie sind als dauernde Gebilde überhaupt nicht nachweisbar, ihr Sein besteht in einem Entstehen und Vergehen. Es ist gewiß nicht leicht, diese Consequenz zuzugeben. Man mag sich der Einsicht fügen, daß in uns selbst eine der Bedingungen liegt, von denen das Vorhandensein alles dessen abhängt, was sich als seiend darstellt. Damit scheint an und für sich der Charakter des Seins als eines dauern¬ den Zustandes nicht aufgehoben. Aber es muß dem so¬ genannten gesunden Menschenverstande doch nahezu absurd vorkommen, angesichts der uns umgebenden Wirklichkeit, von der wir selbst nur ein so verschwindender Theil sind, die uns umgiebt und uns überdauert in ihrer materiellen Beständigkeit, in der ganzen Fülle ihrer Gestaltungen, in dem ganzen Reichthum ihrer Erscheinungsweisen, von dieser so unwiderleglich wirklichen Welt zu sagen, sie sei nicht nur in der Möglichkeit des Seins an das Vorhandensein unseres Bewußtseins gebunden, sondern ihr gesammtes Sein bestehe aus nichts anderem als aus den ewig wechselnden, entstehenden und vergehenden Formen, welche die ununter¬ brochene sinnlich-geistige Thätigkeit unseres Bewußtseins aufweise. Indessen wer sich auf den gesunden Menschen¬ verstand beruft, sollte bedenken, daß die Sphäre desselben nicht die Wahrheit, sondern das Compromiß ist. Die Ge¬ wißheit der Wirklichkeit ist keine auf Gründen ruhende Ueberzeugung, sondern ein hergebrachter Glaube. Wenn man aufgehört hat, an die absolute Realität der gegen¬ ständlichen Welt zu glauben, so glaubt man an das Vor¬ handensein einer als Vorstellung gegebenen Welt. Dieser Glaube genügt so gut wie jener vollkommen zum praktischen Leben, und sogar zu dem größten Theil der theoretischen Be¬ schäftigungen. Das skeptische Nachdenken muß aber diesen Glauben so gut zerstören wie jenen. Die verlorene Ge¬ wißheit muß auf andere Weise wieder gewonnen werden; denn es gilt, daß nur derjenige zu wahrer Gewißheit ge¬ langen kann, der auf dem Punkt gestanden hat, wo sich ihm alles Sein in Trug, alle Gewißheit in Zweifel auf¬ zulösen schien. Erst wenn wir den Glauben an eine in Wirklichkeit oder als Vorstellung gegebene Welt als einen Irrthum erkannt haben, erscheint jede dogmatische Befangenheit, in der sich das Bewußtsein in Betreff der sogenannten Wirk¬ lichkeit zu befinden pflegt, geschwunden. Wir sehen ein, daß, wenn wir eine Sache tasten, dieselbe doch nur darum auf Sein Anspruch machen kann, weil sich aus den Em¬ pfindungen des Widerstandes die Vorstellung eines festen Körpers entwickelt; und wenn eine Sache als Erinnerung in uns auftaucht, so begreifen wir, daß diese Erinnerung ebensogut eine Form des Seins dieser Sache ist, wie die allerkörperlichste Gegenwart. Und ferner, so wenig wir, wenn wir eine Sache unmittelbar mit den Sinnen wahr¬ nehmen, auf den Gedanken kommen werden, daß hier ein doppeltes Sein vorliege, eins des Gegenstandes, eins der Wahrnehmung, ebensowenig wird es für uns, wenn wir eine Sache vorstellen oder denken, noch einen Sinn haben, diesem gedachten oder vorgestellten Sein das wirkliche Sein der Sache gegenüberzustellen. Denn wir werden uns darüber klar sein, daß, da alles Sein nothwendigerweise ein wahrgenommenes, vorgestelltes, gedachtes ist, wir aber nicht gleichzeitig zweierlei Zustände in unserem Bewußtsein haben können, von dem Sein, welches die Form der un¬ mittelbaren Wahrnehmung hat, in dem Augenblick nicht mehr die Rede sein kann, wo das Sein in der Form der Vorstellung erscheint; und ebenso daß das Sein in der Form einer im Bewußtsein erscheinenden Vorstellung unter¬ geht, wenn an die, Stelle dieser die unmittelbare Wahr¬ nehmung tritt. An die Stelle des Seins tritt so ein beständiges Werden; in jedem Augenblicke stehen wir dem Nichts gegen¬ über, und in jedem Augenblick erzeugt sich das, was wir als seiend, als wirklich bezeichnen dürfen. Wollen wir uns diese Einsicht, diese Ueberzeugung lebendig und gegen¬ wärtig erhalten, so bedürfen wir unzweifelhaft nicht ge¬ ringer Kraft und Selbstständigkeit. Es ist uns jeder feste Halt genommen, den uns die Annahme einer gegebenen, sei es von uns unabhängigen, sei es von uns abhängigen Wirklichkeit bot, und wir sehen uns mit unserem ganzen Wirklichkeitsbewußtsein auf ein Geschehen angewiesen, wel¬ ches sich nicht außer uns, sondern in uns, durch uns er¬ eignet. Hieraus folgt dann auch, daß wir das Sein irgend eines Gegenstandes und somit der gesammten Wirklichkeit nicht als an einen bestimmten einheitlichen Entwickelungs¬ proceß in unserem Bewußtsein gebunden erachten können, sondern daß dieses Sein thatsächlich ein mannichfaltiges ist, und daß den verschiedenen Stoffgebieten, in die es ge¬ mäß der Verschiedenheit unserer sinnlichen Empfindungs¬ fähigkeit zerfällt, sehr verschiedene Arten des Wirklichkeits¬ bewußtseins entsprechen. Wir mögen annehmen, daß die thatsächliche Mannichfaltigkeit der sinnlichen Gestaltung des Seins ein gemeinsames und an sich gleichartiges Wirklich¬ keitsmaterial voraussetze, an dem sich die verschiedenartige sinnliche Thätigkeit vollziehe. Wir mögen dies annehmen; nachweisen können wir es nicht. Denn da wir von keinem Sein wissen können, welches nicht in irgend einer Form in unserem Bewußtsein existirte, so müßten wir eine Form nachweisen können, in der sich jenes vorausgesetzte, aller sinnlichen Specialisirung zu Grunde liegende, selbst noch nicht specialisirte Sein darstellte. Wir mögen noch so tief in die Gründe hinabzudringen suchen, aus denen sich die Mannichfaltigkeit unseres Wirklichkeitsbewußtseins wie aus einem gemeinsamen Ursprung entwickelt — was wir über¬ haupt noch wahrnehmen können, sind schon specialisirte Formen und jenseits derselben liegt überhaupt nichts Wahr¬ nehmbares mehr, sondern mit einer Verdunkelung des Be¬ wußtseins das Ende aller Wahrnehmung. Von dem Sein eines Gegenstandes in dem Sinne einer sinnlichen Einheit¬ lichkeit und Gesammtheit könnte also offenbar nur für Organismen die Rede sein, die auf einer sehr tiefen Ent¬ wickelungsstufe verharren: wo sich die ersten Anfänge sinn¬ licher Empfindung nachweisen lassen, da mag man voraus¬ setzen, daß das gesammte Sein eines Gegenstandes an ein einziges Bewußtseinsmaterial gebunden ist. Schon wo zu der Empfindung des Widerstandes die ersten Spuren der Lichtempfindung treten, fällt die Möglichkeit eines einheit¬ lichen Seins weg und es tritt eine Vervielfachung ein, die niemals wieder zu einer Einheit werden kann. Zu je höheren Formen sich die Organismen entwickeln, desto mehr differenzirt sich die sinnliche Empfindung und mit ihr das Bewußtseinsmaterial, in welchem sich das Sein darstellt. Wir könnten meinen, eine einheitliche Zusammen¬ fassung des Seins müsse wenigstens dem Menschen, als dem höchst organisirten Wesen möglich sein, da er sonst Begriffe wie Wirklichkeit, Sein gar nicht würde bilden können. Aber mit diesen Begriffen befindet man sich be¬ reits auf dem sehr speciellen Gebiet, welches sich in dem discursiven Denken darstellt, und sehr weit entfernt von anderen Wirklichkeitsgebieten, zu deren Entwickelung das Denken unfähig ist. Löst sich nun das Sein der Dinge in eine stoffliche Mannichfaltigkeit auf, insofern die Vorkommnisse, die wir thatsächlich in unserem Bewußtsein constatiren können, so¬ bald ein Seiendes in ihm auftritt, stofflich sehr verschieden sind, sich als tastbar, hörbar, sichtbar, denkbar u. s. w. kundgeben: so kommt dazu noch eine Mannichfaltigkeit der Entwickelungsstadien, insofern auf jedem einzelnen Stoff¬ gebiete dasjenige, was sich uns als seiend darstellt, in ungemein verschiedenen Abstufungen von Deutlichkeit und Lebendigkeit, Bestimmtheit und Gestaltung auftreten kann. Halten wir uns das immer gegenwärtig, so werden wir zu einem Positivismus gelangen, der ganz anderer Art ist, als derjenige, dessen sich die moderne Denkweise rühmt. Denn da alles Vorhandene sich uns als zurückgeführt ent¬ hüllt auf die Art der Vorgänge, die in uns, an uns, durch uns stattfinden, so werden wir vor allen anderen geistigen Operationen, denen wir irgend ein Vorhandenes unterwerfen, uns Rechenschaft darüber geben, an welcherlei Vorgänge unseres sinnlich-geistigen Lebens sein Dasein gebunden ist. Fiedler , Ursprung. 4 3. Die Einsicht, daß sich unser gesammter sinnlicher Wirk¬ lichkeitsbesitz auf Wahrnehmungs- und Vorstellungsvor¬ kommnisse beschränkt, die nicht einen gleichmäßig dauernden Zustand, sondern ein Kommen und Gehen, ein Entstehen und Verschwinden, ein Werden und Vergehen darstellen diese Einsicht führt uns dazu, in der Wirklichkeit nicht nur ein flüchtiges, sondern auch ein vielfach unentwickeltes oder verkümmertes Gebilde zu erkennen. In Ansehung der wunderbaren, formen- und farbenreichen Welt, in der wir leben, die unsere Sinne bald auf das Kleine und Nahe festbannt, bald in die Ferne lockt, um ihnen das Größte zugänglich zu machen, die sich bald in festester stofflicher Gegenwart aufdrängt, bald in anscheinend stofflosester Er¬ scheinung sich doch immer noch als sinnlich vorhanden er¬ weist, in Ansehung dieser Welt, die wir als etwas so un¬ begreiflich Kunstreiches und Vollendetes erkennen, mag es uns schwer werden, dies zuzugeben. Aber wir sind in Betreff des Zustandes unseres sogenannten sinnlichen Wirk¬ lichkeitsbesitzes nicht geringeren und nicht weniger ver¬ borgenen Täuschungen unterworfen, als die sind, gegen die wir auf dem Gebiete unserer sogenannten geistigen Operationen beständig auf der Hut sein müssen. Ueber manche Beschränkungen, denen unsere sinnliche Auffassungsfähigkeit unterliegt, täuschen wir uns freilich nicht. Wir wissen recht gut, daß wir das, was sich unseren Sinnen zunächst als ein zusammengesetztes und mannich¬ faltiges Ganzes darbietet, zerstören müssen, sobald wir es näher zu ergreifen trachten. Nur so lange wir unsere Aufmerksamkeit in einem gewissen Mittelstadium der Stärke erhalten, vermögen wir einen combinirten Sinneseindruck von einigem Umfange als ein Ganzes aufzufassen. Suchen wir die Intensität der sinnlichen Wahrnehmung zu steigern, so sehen wir uns gezwungen, von dem Ganzen auf seine Theile überzugehen, und je genauer wir wahrzunehmen suchen, desto mehr scheint sich der Umfang dessen zusammen¬ zuziehen, was wir noch wahrnehmen können. Auf der anderen Seite müssen wir auch den qualitativ gemischten Sinneseindruck in seine Bestandtheile auflösen, um ihm näher zu kommen; jeder Versuch, das, was sich als ein sinnlich Vielfaches in einer gewissen Entfernung zeigt, uns in seinem gesammten sinnlichen Reichthum nahe und immer näher zu bringen, muß mißlingen. Indem wir die sinn¬ liche Mannichfaltigkeit eines Eindrucks als solche zu er¬ fassen und uns anzueignen suchen, vermögen wir doch nur eine einzelne Sinnesqualität zu ergreifen. Zu Gunsten dieser einen treten die anderen zurück; ja sie werden bis zu beinahe gänzlichem Verschwinden aus der Wahrnehmung 4* vertrieben, je intensiver wir uns den Eindruck der einen Sinnesqualität zu machen vermögen. Diesen beschränkenden Bedingungen ist das Vor¬ stellungsleben in ganz gleicher Weise unterworfen, ob es auf unmittelbarer Sinneswahrnehmung oder auf Repro¬ duktion von Vorstellungen im Bewußtsein beruht. Man könnte meinen, daß diese Beschränkungen auf der Be¬ schaffenheit der Sinnesorgane selbst beruhten, wo deren Thätigkeit durch die unmittelbare Gegenwart der wahr¬ genommenen Gegenstände gefordert werde; man könnte in Folge dessen voraussetzen, daß diese Schranken nicht vor¬ handen wären, wo das Bewußtsein anscheinend der vollsten geistigen Freiheit genießt, wo es unabhängig von unmittel¬ barer Thätigkeit der Sinnesorgane, nicht bestimmt durch das Vorhandensein der Dinge selbst, über einen scheinbar unbegrenzten Reichthum von Vorstellungen verfügt. Auch hier aber kehrt der Zwang wieder, das unser vorstellendes Bewußtsein jeweilig Erfüllende seinem Umfang nach in demselben Maße zu beschränken, in dem es zur Lebendig¬ keit, Klarheit, Deutlichkeit gesteigert werden soll; auch hier vermögen wir nicht, alle sinnlichen Seiten einer Vor¬ stellung gleichzeitig in den Vordergrund unseres Bewußt¬ seins zu bringen; vielmehr sehen wir einen Wettstreit zwischen diesen sinnlichen Qualitäten eintreten, der bald von äußeren Umständen, bald auch von unserem Willen abhängt. Dies kann ja auch nicht anders sein; denn ob die Vorgänge, in denen unser Vorstellungsleben besteht, angeregt werden durch äußere Reize oder durch innere, sie selbst bleiben doch immer denselben Bedingungen unter¬ worfen. Alle diese Thatsachen sind uns, wie gesagt, hinläng¬ lich bekannt; sie kommen uns auf Schritt und Tritt zum Bewußtsein; wir werden aus ihnen aber nicht den Schluß ziehen, daß sie uns nur eine mangelhafte sinnliche Kennt¬ niß der uns umgebenden Welt gestatten. Wir wissen, daß uns das, was uns gleichzeitig zu thun versagt ist, nach einander mühelos gelingt, und daß wir so das Mittel be¬ sitzen, durch welches wir zur Vollständigkeit der sinnlichen Auffassung gelangen. Es sind viel verborgenere und nicht so mühelos zu überwindende Schranken unserer Natur, die wir im Sinn haben, wenn wir behaupten, der Mensch lasse sich, ihm selbst unbewußt, an einem sehr unvollkom¬ menen und unentwickelten Weltbild genügen. Jene Vollständigkeit der sinnlichen Auffassung, zu der wir gelangen zu können vermeinen, ist im Grunde doch nur eine scheinbare; sie ist in Wahrheit nicht vorhanden; sie stellt sich nicht als ein bestimmtes nachweisbares Ge¬ bilde dar; sie ist eine Annahme, eine Voraussetzung, die wir in unserem Bewußtsein nicht realisiren können. Ver¬ gegenwärtigen wir uns unseren eigenen Zustand, an den jene angebliche Vollständigkeit der sinnlichen Auffassung auch nur eines einzelnen Gegenstandes gebunden ist, so sehen wir uns einem Herumirren unserer Sinne an dem Gegenstand preisgegeben. Heften wir unsere Aufmerksam¬ keit auf die einzelne Sinnesqualität, so endet unser Be¬ mühen in Rathlosigkeit. Die sinnliche Sicherheit und Bestimmtheit kommt uns bei dem Versuch der Isolirung eines einzelnen Sinnes gar bald abhanden, und wir suchen Zuflucht bei den anderen Sinnen, um die volle Gewißheit des sinnlichen Vorhandenseins des wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstandes wiederzugewinnen. Suchen wir dagegen unsere Aufmerksamkeit auf die in einem Gegen¬ stand sich darbietende sinnliche Gesammtheit zu concentriren, so entschwindet uns wiederum die Gesammtheit unter den Händen, und ohne es zu wollen, erfassen wir doch immer nur einen einzelnen Theil aus dem sinnlichen Complex. Aus jener allmähligen sinnlichen Kenntnißnahme, in der wir das einzige Mittel erblickten, zu einer Vollständigkeit der sinnlichen Aneignung irgend eines Gegenstandes zu gelangen, entwickelt sich also keineswegs ein Besitz in unserem Bewußtsein, in dem sich diese sinnliche Vollstän¬ digkeit darstellte; vielmehr finden wir unser Bewußtsein in Ansehung seines sinnlichen Besitzes in einem ziemlich hülf¬ losen Zustande, insofern es sich genöthigt sieht, wenn es nur überhaupt die sinnliche Gewißheit nicht verlieren will, beständig von einem Sinnesgebiet zum anderen zu eilen, um dieses alsbald wieder zu Gunsten des nächsten zu ver¬ lassen. Da die verschiedenen Sinnesgebiete immer zu gegenseitiger Ablösung bereit sind, so unterliegen wir leicht der Täuschung, als könne uns eine sinnliche Vollständigkeit gegeben sein. Sind wir aber einmal auf jenes Sachver¬ hältniß aufmerksam geworden, so können wir uns der An¬ sicht nicht verschließen, daß das Dasein irgend eines sinn¬ lich wahrnehmbaren oder vorstellbaren Gegenstandes nicht an eine bestimmte Form gebunden ist, sondern sich in jener willkürlichen und beständig wechselnden Concurrenz seiner verschiedenen sinnlichen Qualitäten erschöpft. Wie es nun aber um die Gestaltung eines sinnlich Vorhandenen nach den einzelnen Seiten seiner sinnlichen Beschaffenheit bestellt ist, das werden wir am besten er¬ kennen, wenn wir eine bestimmte Seite dieser Beschaffen¬ heit, die Sichtbarkeit, ins Auge fassen. Wir kommen hier auf das eigentliche Thema der vorliegenden Untersuchungen. Hatte es sich in dem Vorhergehenden um das Eingeständ¬ niß gehandelt, daß wir in einer Täuschung leben, solange wir meinen, ein Sinnlich-Wirkliches als ein Sinnlich- Vollständiges in irgend einem Gebilde unseres Bewußtseins besitzen zu können: so handelt es sich nun um den Nach¬ weis, daß auch ein sichtbarer Gegenstand eben dieser seiner Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung gelangtes Gesichtsbild so ohne weiteres nicht angehören könne. Und daraus wird sich, wie wir sehen werden, die natürliche Folgerung ergeben, daß der Mensch eine Ent¬ wickelung seiner Gesichtsbilder zu höheren Graden des Vorhandenseins nur einer Thätigkeit verdanken könne, durch welche sichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden, und daß diese Thätigkeit keine andere als die künstlerische sei. Zwar wissen wir, daß im gewöhnlichen Leben und bei vielen Beschäftigungen, wo sich die Aufmerksamkeit auf das Aussehen der Dinge nach dem Bedürfniß richtet, dieses Gesichtsbild deshalb ein mangelhaftes, oberflächliches, un¬ entwickeltes bleibt, weil damit dem Bedürfniß vollständig genügt ist. Auch räumen wir ein, daß Verschiedenheiten der individuellen Anlage dem Einen die Erlangung eines genauen und lebendigen Gesichtsbildes leichter, dem Anderen schwerer erscheinen lassen. Immerhin nehmen wir von jedem normal Organisirten an, daß es in seinem Belieben liege, sich einen Gegenstand nach seiner sichtbaren Seite hin zum höchsten Grade anschaulicher Deutlichkeit und Ge¬ wißheit zu bringen. Bei gewissen geistigen Thätigkeiten betrachten wir die Vollständigkeit und höchste Genauigkeit der durch den Gesichtssinn zu erlangenden anschaulichen Kenntniß der Dinge als eine selbstverständliche Voraus¬ setzung. Dies ist bei bestimmten Gattungen der künstleri¬ schen Thätigkeit, auf bestimmten Gebieten der wissenschaft¬ lichen Forschung der Fall. Und auch da, wo sich die Aufmerksamkeit nicht um einer Thätigkeit willen auf die sichtbare Seite der Dinge richtet, sondern nur etwa aus einem sentimentalen Bedürfniß, wird ein Zweifel daran nicht zulässig erscheinen, daß die Arbeit des Sehens an den Gegenständen vollständig geleistet sei. Und wo es sich nicht um direkte Wahrnehmung handelt, sondern um Vor¬ stellungen, die vor unser Bewußtsein treten, so wissen wir, daß uns bei jeder Unsicherheit, bei jeder Lücke die Zuflucht zur direkten Wahrnehmung offen steht, und daß hier jeder Zweifel gelöst, jede Lücke ergänzt wird. Indem wir so auf einem ganz sicheren sinnlichen Boden zu stehen meinen, unterliegen wir einer ziemlich complicirten Täuschung, die daraus entspringt, daß wir den sinnlichen Besitz, den uns das Sehen liefert, nicht aus den mannichfachen andersartigen Verbindungen zu lösen gewöhnt sind, in denen er zu einem Elemente unseres geistigen Lebens wird. Denn einestheils meinen wir, ihn zurückführen zu können auf ein Wirklichkeitsvorbild, welches sein Dasein ganz anderen sinnlich-seelischen Vorgängen ver¬ dankt, anderentheils glauben wir, ihn in unserem Bewußt¬ sein zu realisiren, wenn wir ihn doch thatsächlich in einen Besitz ganz anderer Natur verwandeln. Beides bedarf näherer Erörterung. Einer sehr gebräuchlichen Ausdrucksweise zufolge können wir das Vorhandensein von etwas, was wir durch das Auge wahrnehmen, auch durch andere Sinne feststellen; können wir das nicht, so erscheint uns das, was uns das Auge zeigt, als eine trügerische Vorspiegelung. Wir sagen, daß wir das, was wir sehen, auch tasten und in Folge dessen wägen und messen, daß wir es vielleicht hören oder schmecken oder riechen können. Diese Ausdrucksweise ist deshalb irreführend, weil man das, was man sieht, jeden¬ falls durch die Thätigkeit keines anderen Sinnes wahr¬ nehmen kann, als durch die des Gesichtssinnes. Man kann mit derselben nur meinen, daß man alle diese Opera¬ tionen an einem vorausgesetzten Gegenstand vornimmt, welcher auch der Gegenstand des Gesehenwerdens ist. Denn es kann ja unmöglich das Sichtbare sein, was anderweitig wahrgenommen wird; es würde ja eben nicht das Sicht¬ bare sein, wenn außer dem Gesehenwerden noch etwas Anderes mit ihm geschehen könnte. Sprechen wir aber von einem sichtbaren Gegenstande, der eben derjenige ist, den wir auch anderweitig sinnlich wahrnehmen, so nehmen wir stillschweigend darauf keine Rücksicht, daß, wenn man die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften abzieht, ein Gegen¬ stand als Träger derselben nicht mehr übrig bleibt. Wir stehen also, wenn wir eine dem Gebiete des Gesichtssinnes angehörige Wahrnehmung oder Vorstellung auf eine Wirk¬ lichkeit zurückführen zu können meinen, vor folgendem Dilemma: entweder wir führen die Wahrnehmung oder Vorstellung auf etwas zurück, was einem ganz anderen Sinnesgebiet angehört, als dem des Gesichtssinnes, d. h. wir verdrängen das, was uns der Gesichtssinn liefert, aus unserem Bewußtsein und ersetzen es durch etwas, was wir einem ganz anderen Sinn verdanken; oder wir greifen so¬ zusagen ins Leere, indem wir uns auf eine Wirklichkeit beziehen, die zwar für den Gesichtssinn, aber doch abgesehen von den Wahrnehmungen und Vorstellungen des Gesichts¬ sinnes vorhanden wäre; denn das Vorhandensein eines Sichtbaren kann eben nur in seinem Gesehen- oder als gesehen Vorgestellt-werden bestehen. Es kann sich bei dem Sehen gar nicht darum handeln, das subjective Gesichts¬ bild einem objectiven, durch den Gesichtssinn wahrnehm¬ baren Bestand gleich zu machen. Wäre dies der Fall, so würde freilich jeder normal Organisirte zu einer voll¬ ständigen, mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Gesichts¬ vorstellung gelangen können, ja gelangen müssen. Aber sobald wir genauer prüfen, was wir eigentlich thun, wenn wir zwischen einem Richtigsehen und einem Falschsehen unterscheiden, wenn wir mit der größten Sicherheit darüber urtheilen, ob eine Gesichtswahrnehmung oder Vorstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht, so gewahren wir, daß es eben nicht die sichtbare Wirklichkeit ist, an der wir prüfen, ob unser Auge Recht hat oder im Irr¬ thum befangen ist. Wenn uns das Auge die Existenz von etwas vorspiegelt, was nicht vorhanden ist, so bezieht sich dieses Nichtvorhandensein nicht auf das, was wir sehen, denn das ist eben vorhanden, sondern auf das, was wir niemals sehen können; mit der Gesichtswahrnehmung treffen gewisse andere sinnliche Wahrnehmungen nicht zusammen, deren Concurrenz wir zu fordern pflegen, um von Wirk¬ lichkeit reden zu können. Bemerken wir, daß unser Auge uns über die Lage eines Gegenstandes im Raume täuscht, so können wir nicht meinen, daß unser Auge den Gegen¬ stand an einem anderen Orte wahrnehme, als wo er sicht¬ bar sei; denn der Gegenstand kann nur an dem Orte sicht¬ bar sein, wo er von dem Gesichtssinn wahrgenommen wird; vielmehr können wir nur sagen, daß das Auge den Gegenstand an einem anderen Orte sieht, als wo ihn z. B. der Tastsinn fühlt. Auch das Verhältniß der Form eines Gegenstandes, sofern dieselbe von dem Auge wahrgenommen oder vor¬ gestellt wird, zu der Form, die wir durch andere Mittel feststellen können, unterliegt manchen Unklarheiten und Mißverständnissen. Im gewöhnlichen Leben schwankt die Kenntniß, die wir von der Form eines Gegenstandes haben, zwischen den Nachrichten, die uns der Gesichtssinn, und denen, die uns der Tastsinn über diese Form giebt. Je genauere Kenntniß wir aber haben wollen, desto weniger ziehen wir den Gesichtssinn zu Rathe, und desto mehr ver¬ lassen wir uns auf den Tastsinn; und wenn wir im eigent¬ lichsten Sinne von der Form eines Gegenstandes reden, so ist überhaupt von einem Antheil des Gesichtssinnes nicht mehr die Rede, vielmehr meinen wir die tastbare, meßbare, berechenbare Form. Diese wird uns zum Ma߬ stab für die Richtigkeit des Sehens, und wir fragen uns, ob wir die Form so sehen, wie sie sich in ihrer tastbaren, greifbaren Wirklichkeit verhält; ist dies der Fall, so sind wir überzeugt, eine richtige und vollständige Gesichtsvor¬ stellung von der Form des Gegenstandes zu haben. Nun besteht zwischen dem Gesichtssinn und dem Tastsinn inso¬ fern eine Beziehung, als aus den Daten, die jener liefert, auf die körperliche Form, und umgekehrt aus den Daten, die dieser liefert, auf die sichtbare Gestalt geschlossen werden kann. Wenn man nun von dem, was das Auge zeigt, auf die Form schließt, die sich dem Tastsinn darbieten wird, und man findet diesen Schluß bestätigt, so bedient man sich doch eines sehr irreführenden Ausdrucks, indem man sagt, daß man richtig gesehen habe; denn die Richtigkeit, auf die man hier den Werth legt, kann man eben nicht sehen, sondern nur durch den Tastsinn wahrnehmen. Es besteht gar keine Aehnlichkeit zwischen der Formvorstellung, die in das Gebiet des Gesichtssinnes, und derjenigen, die in das Gebiet des Tastsinnes gehört; und so kann auch die eine nicht zum Vorbild oder Maßstab der anderen dienen. So sagt man ja auch, daß der Gesichtssinn zur Auffassung von Formen, namentlich complicirter Art, kein geeignetes und hinreichendes Organ sei, und unterscheidet dabei nicht hinlänglich, daß die Form, die überhaupt eine sichtbare Form ist, nur dem Gesichtssinn verdankt werden kann, daß aber die Form, deren Entstehung auf anderen Sinneswahrnehmungen beruht, mit der sichtbaren Form gar nichts zu thun hat. Es hat gar keinen Sinn, zu sagen, das Auge vermöge der Form der Dinge nicht vollständig gerecht zu werden, während man diese Form mit der höchsten Genauigkeit messen und berechnen könne. Als ob es eine Form schlechthin gäbe, und als ob die verschie¬ denen Sinnesorgane nur die mehr oder minder geeigneten Werkzeuge wären, sich diese Form anzueignen. Was kann es der Form, die durch und für das Auge entsteht, nützen, wenn eine Form festgestellt wird, die gar nicht als eine sichtbare in unser wahrnehmendes und vorstellendes Be¬ wußtsein treten kann? Es ist nicht überflüssig, hier noch einiger Mißver¬ ständnisse zu gedenken, denen man wohl begegnet. Man kann die Behauptung aufstellen hören, für die Wiedergabe sowohl der stereometrischen als auch der auf eine Fläche projicirten Form eines Körpers sei ein mechanisches Ver¬ fahren wie in jenem Falle das der Abformung, in diesem das der Photographie, das zuverlässigste Mittel. Nun ist klar, daß, wenn ich einen Gegenstand abforme, ich damit zwar einen zweiten tastbaren und auch sichtbaren Gegen¬ stand, keineswegs aber einen Ausdruck des Gesichtsbildes herstelle, welches ich von dem Gegenstand empfange. Ich habe nun eben zwei Gegenstände, die in ihrer tastbaren, meßbaren, berechenbaren Form übereinstimmen mögen, von denen beiden ich aber die Form, wie sie dem Auge er¬ scheint, eben nur dem Auge, nicht aber einer Abformung verdanken kann. Wer aber meint, daß die Photographie dieses Gesichtsbild in der untrüglichsten Weise liefere, weil wohl das Auge, nicht aber eine Maschine irren könne, der muß von der Voraussetzung ausgehen, daß der Vorgang, durch den im menschlichen Auge und Gehirn das Gesichts¬ bild entsteht, ganz dem gleiche, durch den im photographi¬ schen Apparat das photographische Product zu Stande kommt; eine Voraussetzung, die im Ernste Niemand machen kann. Im Grunde kann auf photographischem Wege doch nur etwas hergestellt werden, was eben keine Gesichtsvor¬ stellung ist, sondern wovon wir uns erst eine Gesichtsvor¬ stellung bilden müssen. Besteht zwischen einem photo¬ graphischen und einem anderweitig hergestellten Gegenstand, wie bei Schriften, Drucken, planimetrischen Figuren, Zeich¬ nungen u. s. w. und den nach ihnen angefertigten Nach¬ bildungen eine Uebereinstimmung in ihrer anderweitigen Beschaffenheit, so werden Original und Nachbildung das¬ selbe Gesichtsbild liefern. Wo aber diese Uebereinstimmung nicht vorhanden ist, da wird die Photographie kein treues Abbild des Originals sein, vielmehr wird eben das Original ganz anders aussehen als das Nachbild. Bei anderen in das Bereich der Sichtbarkeit gehörigen Qualitäten der Dinge, wie Farben, Unterschieden von hell und dunkel, Glanz u. s. w. ist ein mißverständliches Zu¬ rückführen von dem, was nur gesehen werden kann, auf etwas, was nicht gesehen werden kann, weniger leicht mög¬ lich. Auch hier freilich meinen wir, auf einem ganz sicheren Boden zu stehen, indem wir das Urtheil über die Richtig¬ keit oder Unrichtigkeit der subjectiven Sinneswahrnehmung in ein objectives Vorhandensein dessen zu verlegen pflegen, was wahrgenommen werden soll. Aber es kann doch wenigstens darüber kein Zweifel obwalten, daß es nur ein Sichtbares sein kann, an dem wir die Richtigkeit des Sehens prüfen, und da dieses Sichtbare keine andere Existenz besitzt, als sein Gesehen- und als gesehen Vorge¬ stellt-werden, so läuft jene Prüfung auf die Untersuchung der Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung — nicht zwischen Wahrnehmung und Vorstellung einerseits, einem objectiv Vorhandenen andererseits, — sondern zwischen den Wahrnehmungen und Vorstellungen der verschiedenen Indi¬ viduen hinaus. Wieweit eine solche Feststellung der Ueber¬ einstimmung oder Nichtübereinstimmung möglich ist, ge¬ hört nicht hierher. Wenn wir einer Täuschung unterliegen, indem wir für die Vollständigkeit und Richtigkeit unserer Gesichts¬ wahrnehmungen oder Vorstellungen als solcher einen Ma߬ stab an etwas zu haben meinen, was sich als gar nicht durch den Gesichtssinn wahrnehmbar oder vorstellbar er¬ weist, so verfallen wir in eine ähnliche Täuschung, indem wir Gesichtswahrnehmungen oder Vorstellungen für das Gesammtleben unseres Bewußtseins in einer Form reali¬ siren, die aus ganz anderem Stoffe besteht, als dem durch den Gesichtssinn gelieferten. Bekanntlich unterscheidet man in dem Proceß, von dem man annimmt, daß er stattfinden müsse, damit eine Wahrnehmung oder Vorstellung zu Stande kommen könne, das Stadium der Perception und das der Apperception. Der Eintritt des Bildes in den weiteren Kreis des wahrnehmenden Bewußtseins schließt eine gewisse Undeutlichkeit nicht aus; das Bild befindet sich gleichzeitig mit anderen in diesem weiteren Umkreis; dadurch aber, daß das Bild appercipirt, d. h. in den Blickpunkt des Bewußtseins, in das eigentliche Centrum der Aufmerksamkeit gehoben wird, erlangt es seine volle Klarheit und Deutlichkeit. Damit erscheint der Proceß des Wahrnehmens und Vorstellens abgeschlossen. Wir besitzen nun zwar etwas; aber es erscheint uns als ein todter, werthloser Besitz, wenn wir es nicht als Anregung zu einem mannichfaltigen Gefühlsleben oder als Stoff des Denkens und Erkennens in unserem seelischen und geistigen Dasein verwenden. Diese letzteren Vorgänge, in denen sich unser bewußtes Leben entwickelt, knüpfen sich unzweifelhaft an die Wahrnehmungen beziehentlich Vor¬ stellungen an, ja wären ohne dieselben gar nicht möglich, aber sie wären auch wiederum nicht möglich, wenn nicht in ihnen ein Verlassen jener stattfände. Es ist die Enge des Bewußtseins selbst, die es mit sich bringt, daß durch diejenigen geistigen Operationen, die in das Bewußtsein treten, um aus einer Wahrnehmung oder Vorstellung einen bestimmten Werth für unser Gefühlsleben oder für unsere Erkenntnißthätigkeit zu machen, die Wahrnehmung oder Vorstellung selbst aus dem Bewußtsein verdrängt wird. Indem wir uns darüber nicht Rechenschaft zu geben pflegen, meinen wir, die uns als Thatsache unserer Wahrnehmung und Vorstellung gleichsam von selbst zufallende Bedeutung des sogenannten sinnlichen Daseins uns in einem höheren Sinne angeeignet zu haben, während wir doch von diesem sinnlichen Dasein im Augenblick seiner vorgeblichen höheren Aneignung in unserem Bewußtsein nichts mehr vorzufinden vermögen. Beides, sowohl die Zurückführung einer sinnlichen Qualität, wie derjenigen der Sichtbarkeit, auf sinnliche Quali¬ täten, die nicht sichtbar sind, als auch der Uebergang von den Wahrnehmungen und Vorstellungen des Gesichtssinnes auf die Gebiete des Gefühlslebens und der Denkthätigkeit sind uns vollkommen geläufige, für die Entwickelung unseres Wirklichkeitsbewußtseins nach vielen Richtungen hin auch durchaus unentbehrliche Vorgänge. Da sie uns aber über die Beschaffenheit unserer Gesichtswahrnehmungen und Vor¬ stellungen in einer gewohnheitsmäßigen Täuschung erhalten, so vermögen wir diese Täuschung nur dadurch zu zerstören, daß wir unseren sichtbaren Wirklichkeitsbesitz aus jenen Verbindungen, die er beständig in unserem Bewußtsein einzugehen versucht, lösen. Erst dann haben wir es wirk¬ lich und ausschließlich mit einem sichtbaren Sein zu thun. In Betreff der Welt, sofern sie ein Gegenstand der Er¬ kenntniß ist, machen wir ja tagtäglich die Erfahrung, daß die Sicherheit, mit der wir sie zu besitzen meinen, immer von neuem dadurch erschüttert wird, daß das Mittel der Fiedler , Ursprung. 5 Erkenntniß, die Denkthätigkeit, zu erneuter Energie sich steigert; das Leben der Erkenntniß besteht in einem be¬ ständigen Suchen nach dem unerschütterlichen Boden der Wahrheit; die endgültige Beruhigung bei irgend einem Erreichten würde ihr Tod sein. Und auch den sichtbaren Besitz der Welt können wir auf keine andere Weise prüfen und uns immer von neuem erringen als durch das Sehen selbst; kein anderes sinnliches Mittel kann uns dazu ver¬ helfen, kein Tasten, kein Wägen, kein Messen, noch auch irgend ein Fühlen, Denken und Erkennen. Wenn wir es nun versuchen, die Kraft unseres Be¬ wußtseins auf den Gesichtssinn zu concentriren, wenn wir alle Energie aufwenden, um das, was wir sehen, nicht zum Object eines anderen Sinnes zu machen, uns seiner namentlich nicht, was ja sehr nahe liegt, als etwas Greif¬ baren zu versichern, ihm keinerlei Einwirkung auf unser Gefühlsleben zu gestatten, noch auch endlich es zu benennen, und als Begriff zu fassen: so werden wir zunächst gewahr werden, daß uns dieser Zustand keineswegs ein gewohnter und natürlicher ist. Ja unter allen Erscheinungen, die wir in dem Leben unseres Geistes beobachten, unter allen Anstrengungen, die wir diesem zumuthen, findet dieses ausschließliche Beharren bei der dem Gesichtssinn sich dar¬ bietenden Erscheinung der Dinge keinen Platz; wo es uns begegnen mag, da scheint es uns eher eine Hemmung, als eine Förderung des inneren Lebens zu bedeuten. So sehr sind wir gewohnt, den gesammten Wirklichkeitsstoff, den uns das Auge liefert, anstatt uns um seiner selbst willen um ihn zu bemühen, anderen Gebieten unseres seelischen und geistigen Lebens zuzuführen. Nur dann aber, wenn wir dieser Gewohnheit zu widerstehen vermögen, wenn wir die Thätigkeit des Gesichtssinnes isoliren, und mit ihr gleichsam den ganzen jeweiligen Raum unseres Bewußtseins ausfüllen, nur dann werden uns die Dinge dieser Welt als sichtbare Erscheinungen im eigentlichen Sinne entgegentreten. Wer es versucht, sich auf diesen Standpunkt zu ver¬ setzen, der wird die Erfahrung machen, daß er um die scheinbare Sicherheit gekommen ist, mit der er die sichtbare Erscheinung der Dinge zu beherrschen meinte, während er sie doch thatsächlich aufgab. An die Stelle jener Sicher¬ heit wird ein sehr deutliches Gefühl der Unsicherheit treten. Jetzt erst wird ihm die eigenthümliche und selbstständige Bedeutung des Sehens klar zu werden anfangen. Hatte ihm das Sehen nur gedient, um ihm Kunde zu geben von einem gegenständlichen Vorhandensein, welches sich auch anderweitig sinnlich constatiren lasse und so den unerschütter¬ lichen Boden des sinnlich Vorhandenen bilde, so beginnt er nun, zu begreifen, daß das Sehen überhaupt erst gleich¬ sam zu sich selbst kommen könne, wenn jede Beziehung auf eine in jenem Sinne wahrzunehmende Gegenständlich¬ keit aus ihm verschwunden sei. Er wird zum ersten Mal die Möglichkeit wahrnehmen, das Sehen um seiner selbst willen zu treiben, und indem sich dadurch eine ganz neue Bahn für die Entwickelung seines Wirklichkeitsbewußtseins vor ihm aufthut, muß er zugleich seine Kräfte prüfen, 5* wie weit dieselben ihn befähigen, auf dieser Bahn vorzu¬ dringen. Es handelt sich für ihn ja nicht mehr um das bloße Wahrnehmen eines sichtbar Vorhandenen, sondern um die Entwickelung und Bildung von Vorstellungen, in denen sich die Wirklichkeit allererst darstellt, sofern sie eine sichtbare Wirklichkeit sein kann. Er befindet sich dem gegen¬ über, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt ist, in einer sehr veränderten Stellung; alles körperlich Feste ist ihm entzogen, da es eben nichts Sichtbares ist, und der alleinige Stoff, in dem sich sein Wirklichkeitsbewußtsein gestalten kann, sind die Licht- und Farbenempfindungen, die er seinem Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der sichtbaren Welt enthüllt sich ihm nun angewiesen in seinem Bestand auf den zartesten, gleichsam unkörperlichsten Stoff, in seinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Ein¬ zelne jenen Stoff zusammenwebt. Er begreift, daß, indem er sieht oder Gesehenes vorstellt, in dem Bereiche seines Gesichtssinnes nichts anderes vorhanden ist, als die sich entwickelnde Gesichtsvorstellung, und daß es, wenn er nichts sieht oder nicht Gesehenes vorstellt, keinen Sinn hat, von einer sichtbaren Wirklichkeit als etwas Vorhandenem zu sprechen. Wird so auf der einen Seite die sichtbare Welt zu einem Gebilde, zu dem nichts, was wir sonst als stoff¬ lich bestimmt, körperlich begrenzt zu betrachten gewohnt sind, irgend etwas beiträgt, so sehen wir auf der anderen Seite ein, daß es uns, um zur Bestimmtheit und Klar¬ heit, zum Wissen dessen, was wir sehen, zu gelangen, gar nichts nützt, wenn wir von dem, was wir sehen, auf etwas schließen, was nicht mehr dem Gebiet des Gesichtssinnes angehört. Wenn wir etwas mit dem Gesichtssinn wahr¬ nehmen und wissen, welche körperliche Form es hat, wie groß es ist, aus was es besteht, was es ist, welche Wir¬ kungen von ihm ausgehen u. s. w., kurz was man nur von einem Gegenstand wissen kann, so berechtigt uns das noch nicht zu der Meinung, daß wir wüßten, wie der Gegenstand aussieht. Ja wenn wir sein Aussehen be¬ schreiben und dadurch des Gesichtseindruckes uns so recht eigentlich bewußt zu werden meinen, unterliegen wir dennoch einer Täuschung; denn in demselben Augenblicke, in dem wir das Gesehene aussprechen, ist es nicht mehr ein Ge¬ sehenes; in dem sprachlichen Ausdruck führen wir etwas in das Bewußtsein ein, was nicht aus dem Stoff besteht, der durch die Gesichtsempfindung geliefert wird, und daher, anstatt der Entwickelung des Gesichtsbildes zu Gute zu kommen, dieselbe vielmehr unmöglich macht. Auch gleicht diese Art, sich von einem Gesichtseindruck Rechenschaft zu geben, einem Nothbehelf; sie stellt sich da ein, wo das sehende Bewußtsein unfähig ist, sich über sich selbst Rechen¬ schaft zu geben; wie wenig das Resultat dem vorgeblichen Zweck entspricht, kann Jeder erfahren, wenn er den Ver¬ such macht, von einem sprachlichen Ausdruck zu der sinn¬ lichen Wirklichkeit des Gesichtsbildes zurückzukehren. Ist es also vergeblich, für das sichtbare Bild der Dinge eine gestaltende Macht von sinnlichen Fähigkeiten zu erwarten, auf denen die Wahrnehmung anderweitiger sinnlicher Beschaffenheit beruht, ist es ebenso vergeblich, zu meinen, daß man durch das Wort zu einer Beherrschung der Welt, sofern sie sichtbar ist, gelangen könne, so können wir erst dadurch, daß wir versuchen, uns mittelst des Sehens selbst über ein Gesehenes Rechenschaft zu geben, zu einer Einsicht in den Zustand gelangen, in dem sich unser sichtbares Weltbild befindet. Denn nur dieser Ver¬ such wird uns jene oben angedeuteten Schranken zum Be¬ wußtsein bringen, die der Entwickelung des Weltbildes nach seiner sichtbaren Seite hin entgegenstehen. Am deut¬ lichsten wird uns dies fühlbar, wenn unabhängig von un¬ mittelbarer sinnlicher Wahrnehmung die Vorstellung eines Gesehenen in unser Bewußtsein tritt. Die größte An¬ strengung, die wir zur Concentration unserer vorstellenden Kraft aufwenden, wird uns vielleicht dazu gelangen lassen, unser Bewußtsein, welches sich auf einer beständigen ruhe¬ losen Wanderschaft durch alle Reiche des sinnlich Wahr¬ nehmbaren befindet, auf das Gebiet des Sichtbaren fest¬ zubannen; vielleicht werden wir es vermögen, uns dem Gaukelspiel der Associationen zu entziehen, das uns mit seiner scheinbar regellosen Willkür beherrscht, und ein ein¬ zelnes Sichtbares festzuhalten, welches unserer Macht unter¬ than sei. Wie unbestimmt, unvollständig, kümmerlich dann aber der Besitz an Sichtbarkeit ist, dessen wir uns be¬ mächtigt haben, das kann Jeder an sich erfahren, der in seinem Inneren diesen Besitz nun wirklich erschauen will. Es ist ein ungeheurer Irrthum, zu meinen, daß wir von der sichtbaren Gestalt der Dinge eine mir einigermaßen reiche, zusammenhängende und entwickelte Vorstellungswelt besäßen; was wir als sichtbar in unserem sehenden Be¬ wußtsein wahrnehmen, sind unzusammenhängende Bruch¬ stücke, flüchtige, vorübergehende Erscheinungen, und wir stehen hülflos da, wenn das Bedürfniß in uns mächtig wird, uns ein zu Sehendes sichtbar zu vergegenwärtigen. Wie aber, wenn uns in einzelnen Augenblicken der wachen oder traumhaften Hallucination, ja wenn uns bei unmittel¬ barer Wahrnehmung das sichtbare Bild eines Gegenstandes in unzweifelhafter Gegenwart und voller Deutlichkeit vor das schauende Bewußtsein tritt? Kann man da von einem unentwickelten vorstellenden Bewußtsein, von Schranken reden, welche in der menschlichen Natur selbst der Ent¬ wickelung jenes schauenden Wirklichkeitsbewußtseins ent¬ gegenstehen? Und doch, wer es vermag, sich selbst mit dem, was er sieht, zu isoliren, nichts anderes in sich auf¬ kommen zu lassen, als das Phänomen des Sehens, sich in das Schauen zu versenken, wird der nicht vor dem, was sich seinem Auge als Erscheinung zeigt, gar bald wie vor einem ihm fremden, unnahbaren Räthsel stehen? Wird nicht, wenn sein Bewußtsein nicht in eine gewisse Ver¬ dumpfung verfallen soll, die eine Herabsetzung aller Fähig¬ keiten, auch der des Sehens nach sich zieht, das Verlangen in ihm rege werden, sich dieses fremde Gebild anzueignen, gleichsam erst zu sehen, wie es aussieht, sich mit seinen Augen Rechenschaft über dasselbe zu geben, es als etwas Gesehenes aus eigener erzeugender Kraft zu verwirklichen? Und wenn er sich dann eingestehen muß, daß jenem Ver¬ langen keine Fähigkeit entspricht, durch die er dasselbe be¬ friedigen könnte, daß er trotz allen Bestrebens dem sicht¬ baren Phänomen der Welt um keinen Schritt näher kommt, daß ihn dasselbe so fremd anblickt wie von allem Anfang an, daß es verschwindet, sobald er den Versuch macht, es zu ergreifen: so wird er nur zu sehr der Schranken inne werden, in die er gebannt ist, wenn er sich der sichtbaren Erscheinung der Dinge sehend bewußt werden will. Nun auch wird er begreifen, was es heißen kann, wenn gesagt wird, daß es ein unsicherer und unentwickelter Besitz sei, auf den der Mensch in Betreff seiner Vorstellungen von sichtbaren Erscheinungen angewiesen bleibt. Es liegt nahe, einen Vergleich anzustellen, worin bei irgend einem Gegenstand, den wir sowohl als einen sicht¬ baren, als auch als einen benannten besitzen, dieser zwie¬ fache Besitz besteht. Hier erscheint dieser Besitz als ein wenn nicht allgemein gültiges und endgültiges, so doch als ein bestimmtes und beharrendes Gebilde, das Wort; ein Product unserer eigenen Thätigkeit, dessen Entstehung darauf hinweist, daß Vorgänge in unserem Inneren sich bis zu äußeren Bewegungen entwickelt haben. Dort ver¬ mögen wir nichts anderes zu constatiren als Vorgänge, die in unseren inneren Organen verlaufen, ohne sich so weit zu entwickeln, daß sie in eine äußere, ein bestimmtes sinnlich-wahrnehmbares Resultat hervorbringende, der Sprachbildung analoge Thätigkeit überführen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist der Wirklichkeitsbesitz, der in der sprachlichen Form vorliegt, ein sehr weit entwickel¬ ter, während der Besitz an sichtbarer Wirklichkeit auf einer verhältnißmäßig niedrigen Stufe der Entwickelung verharrt. Und wenn wir den Umstand bedenken, daß die Vorgänge, an die eine sinnliche Wahrnehmung wie das Sehen ge¬ bunden ist, wenn auch von einem äußeren Reiz angeregt, doch in uns entstehen und vergehen, ohne gleichsam die Oberfläche unseres Körpers erreicht zu haben, so wird es begreiflich, daß wir, sobald wir die sichtbare Wirklichkeit in ihrem eigenen Wesen fassen wollen, vergebens nach einem festen, dem Worte gleichen Gefüge suchen, und nur ein loses, immer entstehendes und immer vergehendes, halt- und zusammenhangsloses Material ergreifen. 4. Was wir, dem besonderen Zwecke dieser Untersuchungen gemäß, in Betreff der Vorstellungen, die dem Gebiete des Gesichtssinnes angehören, näher ausgeführt haben, das gilt für alle Sinnesgebiete. Gerade das Dasein desjenigen, was in bestimmter, gegebener Form uns gegenüberzustehen scheint, das sinnlich Vorhandene, ist an Vorgänge in un¬ serem Bewußtsein gebunden, die weit davon entfernt sind, dieses sinnlich Vorhandene seiner sinnlich wahrnehmbaren, vorstellbaren Natur nach zu einigermaßen bestimmten For¬ men und Gestalten entwickelt darzustellen. Jeder Versuch, uns irgend eines Dinges, welches wir als Bezeichnung, als Name besitzen, nun auch seinem sinnlich wahrnehm¬ baren Sein nach, als Sinnesobject in einer nachweisbar sinnlich vorhandenen Form zu vergewissern, muß uns die Unfähigkeit zum Bewußtsein bringen, in der wir uns nach dieser Richtung hin befinden. Es muß uns daher die Ueberlegung nahe treten, ob in den Fähigkeiten der mensch¬ lichen Natur überhaupt die Möglichkeit gegeben ist, den sinnlichen Besitz aus dem mangelhaften Zustande, in dem er sich im Allgemeinen befindet, zu bestimmteren Daseins¬ formen zu entwickeln. Wir müssen nun hier die verschiedenen Sinnesgebiete trennen. Wie sehr der Mensch darauf angewiesen ist, den einzelnen Sinn zu isoliren, um nur überhaupt zu einer in¬ tensiveren Empfindung, zu einer deutlicheren Wahrnehmung zu gelangen, haben wir oben schon erwähnt. Es ist aber kein Grund zu der Annahme vorhanden, daß auf allen Sinnesgebieten analoge Entwickelungsvorgänge möglich seien, und in der That zeigt die Erfahrung, daß dies nicht der Fall ist. Eine frühere Betrachtungsweise stellte die verschiedenen Sinne als unter sich wesentlich verschieden und wesentlich gleichgestellt neben einander. Heutzutage unterscheidet man zwischen niederen und höheren Sinnen und sieht in diesen ein höheres Entwickelungsstadium jener. Indem man den Tastsinn mit Gehör und Gesicht vergleicht, faßt man das Verhältniß so auf, als ob ein im Tastsinn vor¬ handenes allgemeines sinnliches Wahrnehmungs- und An¬ schauungsvermögen in jenen höheren Sinnen differenzirt und specialisirt auftrete. Man ermißt damit aber noch nicht die ganze Tragweite der Entwickelung, die dem sinn¬ lichen Vermögen der menschlichen Natur durch jene höheren oder Specialsinne zu theil werden kann. Wir vergleichen hier nur den Tastsinn mit dem Gesichtssinn. Im Allge¬ meinen wird freilich das Wirklichkeitsmaterial, welches dem Tastsinn, und dasjenige, welches dem Gesichtssinn sein Dasein verdankt, auf gleicher Entwickelungsstufe verharren; es sind in beiden Fällen Vorgänge, die in unser Bewußt¬ sein treten, ohne zu einem bestimmten gestalteten Ausdruck ihrer selbst zu kommen und in demselben von uns festge¬ halten werden zu können. Der Unterschied besteht aber darin, daß auf dem Gebiet des Tastsinns eine Möglichkeit zu einer weiteren Entwickelung des durch denselben ge¬ gebenen Wirklichkeitsmateriales nicht vorhanden ist, während sich für das, was der Gesichtssinn liefert, wie wir sehen werden, die Aussicht eröffnet, zu einer in dem sinnlichen Stoff selbst sich darstellenden Ausdrucksform zu gelangen. Der Tastsinn liefert uns Empfindungen und Wahrneh¬ mungen, er verfügt aber über keinerlei Mittel, durch die in einem Product ein Seiendes als ein Tastbares gestaltet, eine Tastvorstellung als solche realisirt werden könnte. Wenn wir von Widerstand, von Härte, Weichheit, Glätte, Rauhheit u. s. w. sprechen, wenn wir den Tastorganen die Wahrnehmung von Formen verdanken, die wir mit eben, gebogen, kugelförmig u. s. w. bezeichnen, so meinen wir unzweifelhaft, in diesen Bezeichnungen den Ausdruck von Vorstellungen zu besitzen, die sich aus den Daten ge¬ bildet haben, die vom Tastsinn geliefert werden. Was wir aber thatsächlich in diesen Bezeichnungen besitzen, sind eben keine Tastvorstellungen, sondern Sprachvorstellungen. Gerade weil wir uns in der Unmöglichkeit befinden, aus den von dem Tastsinn gelieferten Empfindungs- und Wahr¬ nehmungsmaterial etwas zu gestalten, was, selbst wiederum nur für den Tastsinn vorhanden, eine Tastvorstellung ge¬ nannt werden könnte, gerade um dieser Unmöglichkeit willen sehen wir uns durch das Bedürfniß, uns aus dem Zu¬ stande bloßer Empfindungs- und Wahrnehmungsvorgänge zu erheben, genöthigt, das Gebiet des Tastsinnes zu ver¬ lassen und uns auf das Gebiet der Sprach- und Begriffs¬ bildung zu begeben. Es ist klar, daß durch die Bildung von Begriffen, mit denen wir ein durch den Tastsinn Wahrnehmbares bezeichnen, an den Zuständen, auf denen überhaupt unsere Wahrnehmung von Tastbarem beruht, keine Veränderung stattfindet. Sobald wir uns von dem Vorurtheil frei machen, daß es eine Vorstellung des Tast¬ sinnes sei, welche sich als Wort, als Begriff darstelle, so werden wir inne werden, daß wir auf dem eigenen Gebiet des Tastsinnes nach wie vor nichts anderes besitzen, als was eben der Tastsinn liefern kann, Empfindungen und Wahrnehmungen, aber keine Ausdrucksform, in der sich das Vorhandensein von gestalteten Tastvorstellungen nachweisen ließe. Nehmen wir irgend ein Wort, welches uns als Ausdruck von etwas dient, was uns gar nicht zum Be¬ wußtsein kommen könnte, wenn wir nicht die Fähigkeit der Tastempfindung besäßen, prüfen wir, was nun eigentlich in dem Worte, welches ja selbst kein Gegenstand des Tast¬ sinns sein kann, an dem Gebiet des Tastsinnes zugehörigem Stoff vorhanden ist, so finden wir durchaus nichts anderes als ziemlich undeutliche und schwache Reminiscenzen an Tastempfindungen und Tastwahrnehmungen, die sich mit dem Wort in wechselnder und willkürlicher Weise associiren. Wie weit man davon entfernt ist, in der sprachlichen Be¬ zeichnung eine Tastvorstellung realisiren zu können, zeigt sich darin, daß in ihr die unmittelbare sinnliche Gewi߬ heit der Tastbarkeit anstatt gesteigert und entwickelt, abge¬ chwächt und in unserem Bewußtsein zurückgedrängt er¬ scheint. Es ist schon erwähnt, daß es sich in der Regel mit dem Wirklichkeitsmaterial, welches der Gesichtssinn liefert, nicht anders verhält. Auch hier erscheint uns ein Gegen¬ stand, der in seiner sprachlichen Form unserem Bewußtsein angehört, seiner sinnlichen Natur nach nicht als das vor¬ handene feste Vorstellungsgebilde, welches durch den sprach¬ lichen Ausdruck seine Bezeichnung fände, sondern in mehr oder minder unbestimmten und flüchtigen Empfindungs- und Wahrnehmungsvorgängen, die sich neben mancherlei anderen in der Associationssphäre der sprachlichen Wirk¬ lichkeit vorfinden. Der gewaltige Unterschied aber, der zwischen dem Tastsinn und dem Gesichtssinn besteht, der ungeheure Fortschritt, den das sinnliche Vermögen macht, indem es sich von dem Tastsinn zum Gesichtssinn ent¬ wickelt, liegt darin, daß hier die Möglichkeit erscheint, den sinnlichen Wirklichkeitsstoff zu einem Ausdruck seiner selbst zu entwickeln. Es ist, als ob das sinnliche Vermögen, welches als Tastsinn gleichsam noch in den Banden der Sprachlosigkeit befangen erscheint, da, wo es in der höheren Entwickelungsform des Gesichtssinns auftritt, die Fähigkeit erhalten habe, sich selbst auszusprechen. Wie aber ist das möglich? Wenn ein neuerer Sprachforscher sagt: „Es ist möglich, ohne Sprache zu sehen, wahrzunehmen, die Dinge anzustarren, über sie zu träumen; aber ohne Worte können selbst so einfache Vorstellungen wie weiß oder schwarz nicht einen Augenblick realisirt werden“ —: so findet in diesen Worten eine ziemlich allgemein ver¬ breitete Einsicht mit einem ebenso allgemein verbreiteten Irrthum ihren deutlichen Ausdruck. Man begreift wohl, daß der gewöhnliche Gebrauch des Gesichtssinnes, wie er zu den praktischen Zwecken des Lebens, zu den theoretischen Zwecken des Erkennens geübt wird, zur Realisirung von Gesichtsvorstellungen nicht führen kann. Man täuscht sich aber darüber, daß es gar nicht in der Fähigkeit der Sprache liegt, hier aushelfend einzutreten; man übersieht, daß trotz aller Sprache, trotz aller Herrschaft, welche das in dem sprachlichen Material sich entwickelnde Bewußtsein über die Wirklichkeit erlangt, daß trotz alledem das durch den Gesichtssinn sich entwickelnde Wirklichkeitsmaterial ganz in demselben Zustande bleibt, als ob keine Sprache, kein be¬ griffliches Denken, kein erkennendes Bewußtsein vorhanden wäre. Es ist klar, daß, wenn es überhaupt möglich sein soll, die Existenz einer sichtbaren Gegenständlichkeit in Pro¬ dukten einer bewußten Thätigkeit zu realisiren, dies eben nur durch eine Thätigkeit geschehen kann, welche sich un¬ mittelbar als eine Weiterentwickelung desjenigen sinnlich thätigen Vorgangs darstellt, dem nur überhaupt die That¬ sache, daß eine Sichtbarkeit existirt, verdankt wird. Und eine solche Thätigkeit findet sich in der That unter den mannichfaltigen Lebensäußerungen, zu denen sich die mensch¬ liche Natur entwickelt. Wenn wir an uns selbst oder an Anderen Geberden wahrnehmen, die dem Auge ein Sicht¬ bares darzustellen suchen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Mensch zeichnend, malend, bildend in mehr oder minder vollkommener Weise etwas hervorbringt, was aus¬ schließlich für die Wahrnehmung durch den Gesichtssinn bestimmt ist — wie sollen wir diese sonderbare Thatsache deuten? Wohl pflegt man sich damit abzufinden, daß man diese Thätigkeit auf gewisse dem Menschen angeborene Triebe, wie Nachahmungstrieb oder Spieltrieb zurückführt; man übersieht aber dabei, daß man damit wohl eine Meinung darüber ausspricht, aus welchen Gründen und zu welchen Zwecken eine vorhandene Fähigkeit zur An¬ wendung kommen könne, daß man aber keineswegs damit erklärt, wieso es dem Menschen möglich sei, eine solche Thätigkeit überhaupt aus sich heraus zu entwickeln. Es handelt sich in der That nicht darum, wozu der Mensch die Fähigkeit anwendet, durch Geberden, durch die Mani¬ pulationen des Zeichnens und Bildens etwas nur um seiner Sichtbarkeit willen darzustellen. Das eigentliche Wunder, um das es sich handelt, besteht darin, daß der Mensch auf einem bestimmten Gebiet seiner sinnlichen Natur die Fähig¬ keit erlangt, in einem sinnlichen Material selbst zu einem Ausdruck zu gelangen. Wie wenig man den eigentlich wichtigen Punkt trifft, indem man jene darstellenden Thätigkeiten auf das Bedürf¬ niß zurückführt, einen Trieb zu befriedigen, erhellt, wenn man sich fragt, warum denn derselbe Trieb nicht auch auf anderen Sinnesgebieten sich geltend macht. Man erkennt dann sofort, daß das, was auf dem Gebiete des Gesichts¬ sinnes möglich wird, auf einem Sinnesgebiete wie dem des Tastens, nicht möglich ist, und wird dann ganz natür¬ lich auf die Frage kommen, nicht, was jene Fähigkeiten für eine Bedeutung in Betreff eines durch sie zu befrie¬ digenden allgemeinen Triebes besitzen, sondern, welchen Werth sie für das Sinnesgebiet selbst haben, auf dem sie sich zeigen. Man muß bedenken, daß man die Sinnes¬ qualität, die durch einen Sinn wie den Tastsinn vermittelt worden ist, von den Gegenständen nicht trennen kann, an denen sie erscheint; daß man hingegen durch den Gesichts¬ sinn eine Art Wirklichkeitsmaterial erhält, welches man zum Gegenstand einer selbstständigen, von den anderen Sinnes¬ qualitäten, die in einem Gegenstande zusammentreffen, un¬ abhängigen Darstellung machen kann. Vergegenwärtigen wir uns den einfachsten Gegenstand, der sowohl Object unseres Tastsinnes als auch unseres Gesichtssinnes ist: wollten wir das, was wir die Tastvorstellung an dem Gegenstand nennen, darstellen, wie vermöchten wir dies anders zu thun, als indem wir den Gegenstand selbst wiederholten, um durch die Wiederholung dieselben Tast¬ vorstellungen hervorzurufen, die wir dem ursprünglichen Gegenstand verdankten? Wir gelangen dabei nicht um einen Schritt weiter: wir besitzen gar kein Mittel, um uns einer Tastvorstellung unmittelbar zu bemächtigen; nur indirekt können wir sie wieder hervorzurufen suchen, und das, was wir dadurch erreichen, kommt im besten Falle dem gleich, was wir ursprünglich an tastbarer Wirklichkeit in unserem wahrnehmenden Bewußtsein besaßen. Das, was sich auf dem Gebiet des Tastsinnes als unmöglich erweist, Fiedler , Ursprung. 6 das erscheint nun plötzlich auf dem Gebiet des Gesichts¬ sinnes möglich. Von demselben Gegenstand, von dem wir seine Tastbarkeit nicht trennen konnten, vermögen wir seine Sichtbarkeit als etwas Selbstständiges gleichsam loszulösen. Wir bedürfen keiner indirekten Mittel, um einen Gegen¬ stand als einen sichtbaren unserem Bewußtsein vorzuführen. Indem wir auch nur einen unbeholfenen Umriß ziehen, thun wir etwas für den Gesichtssinn, was wir für den Tastsinn nie zu thun vermögen; wir schaffen etwas, was uns die Sichtbarkeit des Gegenstandes darstellt, und indem wir dies thun, bringen wir etwas Neues, etwas Anderes hervor, als was vorher den Besitz unserer Gesichtsvor¬ stellung ausmachte. Diese einfache Thatsache muß uns zum Nachdenken darüber anregen, was denn diese Fähig¬ keit zur sichtbaren Darstellung eines Sichtbaren für die Entwickelung der Vorgänge, die auf dem Sinnesgebiet des Auges stattfinden, für eine Bedeutung habe. Jene Frage nach einem dem Menschen angeborenen Bedürfniß, nach einem Trieb als dem Motiv, welches diese nun einmal als gegeben hingenommene Fähigkeit in Bewegung setze, muß uns sehr untergeordnet und unwichtig erscheinen, gegenüber der Frage, was denn überhaupt auf dem Ge¬ biet des Gesichtssinnes vorgehe, indem sich auf demselben eine Thätigkeit entwickele, für die wir auf gewissen anderen Sinnesgebieten Analoges durchaus nicht wahrnehmen können. Wohl ist ein Sinnesgebiet von dem anderen geschieden durch die besondere Art der Wirklichkeit, die es dem Bewußtsein zuführt; größer aber muß uns die Kluft erscheinen, die ein Sinnesgebiet von dem anderen trennt, wenn wir den größeren oder geringeren Reichthum an Entwickelungs¬ formen bedenken, zu denen dasjenige Wirklichkeitsmaterial gelangen kann, welches dem einen oder dem anderen Sinn entspringt; wenn wir es uns zum Bewußtsein bringen, was es heißen soll, daß auf dem einen Sinnesgebiet keinerlei Uebergang möglich ist von den inneren Vorgängen des Empfindens, Wahrnehmens, Vorstellens zu den äußeren Thätigkeiten sinnlichen Darstellens, Erfassens und Ge¬ staltens, während auf dem anderen Sinnesgebiet dieser Uebergang sich beständig vollzieht und zur Entstehung von sehr complicirten und weitgehenden Vorgängen führen kann. Dies ist der eigentliche Punkt, auf dessen Deutung und Er¬ klärung es ankommt, nicht um uns darüber zu belehren, wozu jene darstellenden Fähigkeiten verwendet werden können und sollen, sondern um uns nur überhaupt das Vorhandensein jener Fähigkeiten nicht mehr als ein un¬ begreifliches Wunder erscheinen zu lassen. Vermögen wir es, uns in den Zustand zu versetzen, wo uns Wirklichkeit einzig und allein als etwas erscheint, was gesehen werden kann, rufen wir gleichsam unser Be¬ wußtsein von allen den Punkten zurück, an denen es in ununterbrochenem Wechsel thätig zu sein Pflegt, und con¬ centriren wir seine ganze Kraft im Sehorgan, so befinden wir uns, ob wir uns nun unmittelbar wahrnehmend oder Wahrgenommenes reproducirend verhalten, einer Wirklich¬ keit von Dingen gegenüber, welche uns ihr buntes Spiel gleichsam nur von fern zeigen, ohne uns eine thätige An¬ 6* näherung zu gestatten. Es ist schon erwähnt, daß jeder Versuch, uns dieser Wirklichkeit denkend, erkennend oder auch nur fühlend zu bemächtigen, die Sichtbarkeit der¬ selben sofort vernichtet. Halten wir die Sichtbarkeit fest, so sehen wir bei der unmittelbaren Wahrnehmung unser Bewußtsein in einen Zustand dumpfer Contemplation ver¬ fallen, bei dem erinnernden, Sichtbares reproducirenden Verhalten befinden wir uns vor einem Chaos von kommen¬ den und gehenden, auftauchenden und verschwindenden Er¬ scheinungen, von Gebilden, die sich zusammenschließen, um im nächsten Augenblick in Trümmer auseinanderzufallen, von Bruchstücken, die wirr und regellos in ununter¬ brochenem, willkürlichem Wechsel sich trennen und sich ver¬ binden. Indem wir die Erfahrung machen, daß uns ein gleichsam nur aufnehmendes Verhalten unseres Sinnes¬ organes, ein passives uns Hingeben an die Association der Gesichtsbilder immer tiefer in jene Dumpfheit und Ver¬ worrenheit verstrickt, werden wir uns ganz unmittelbar bewußt, daß nur ein thätiges Verhalten zu einer weiteren Entwickelung unserer Vorstellungen von einer sichtbaren Wirklichkeit führen kann. Es muß uns nun wie eine Er¬ lösung erscheinen, wenn wir die Möglichkeit in uns ent¬ decken, auf dem Gebiete des Gesichtssinnes etwas zu thun, was uns auf anderen Sinnesgebieten versagt ist: das, was das Auge dem Bewußtsein liefert, für das Auge zu reali¬ siren. Wir betreten damit ein Gebiet äußerer Thätigkeit, welches nunmehr nicht jenen inneren Vorgängen, in denen sich das Leben des Gesichtssinnes abspielt, gegen¬ übertritt, sondern sich unmittelbar an diese Vorgänge an¬ schließt, sich als eine auf das Gebiet äußeren Thuns ver¬ legte Fortsetzung derselben darstellt. Indem wir durch irgend etwas, was der unmittelbaren Wahrnehmung des Auges oder dem vorstellenden Bewußtsein erscheint, auch nur zu einer Geberde veranlaßt werden, welche ein zu Sehendes andeuten soll, so ist es einzig und allein der Gesichtssinn, der sich hier wirksam erweist, der, wie er zunächst die Empfindungen und Wahrnehmungen eines Sichtbaren liefert, nun auch den äußeren Mechanismus des menschlichen Körpers in Bewegung setzt, um das, wozu ihm bis dahin nur innere Vorgänge zu Gebote standen, dadurch zu einer neuen und weiteren Entwickelung zu bringen, daß er nun auch die Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Natur seinen Zwecken dienstbar macht. Es ist ein und derselbe Vorgang, der, mit Empfindungen und Wahrnehmungen beginnend, sich schließlich in Ausdrucks¬ bewegungen entfaltet, und man muß sich durchaus von der Auffassung losmachen, als ob zwei verschiedene Vor¬ gänge statt hätten, der eine, der mit der Entwickelung von Gesichtsvorstellungen schlösse, der andere, der mit dem Ver¬ such, die innerlich vorhandenen Vorstellungen äußerlich nach¬ zubilden, anfinge. Es ist nicht zu leugnen, daß jene verbreitete Auffassung, die in allen Bemühungen des Menschen, Sichtbares äußer¬ lich darzustellen, nichts anderes erblickt, als relativ unvoll¬ kommene Versuche, etwas nachzubilden, was in vollkommen¬ ster Weise dem schauenden Bewußtsein mühelos zu theil wird, den Schein für sich hat. Denn wie ließe sich ein so unvollkommenes Gebilde, wie eine Geberde oder der stümperhafte Anfang einer bildlichen Darstellung, mit der sichtbaren Erscheinung eines Dinges vergleichen, wie sie sich unserem Auge oder auch nur unserer Erinnerung dar¬ bietet? Muß hier nicht vielmehr von einem Rückschritt, als von einem Fortschritt geredet werden? Man verwickelt sich dabei aber nicht weniger in einen Widerspruch, als dies diejenigen thun, die die Sprache dem Denken gegenüber¬ stellen und annehmen, daß dieses durch jene in mehr oder minder vollkommener Weise zum Ausdruck gelange; wollen sie dieses Denken nachweisen, so vermögen sie dies eben auch nur wieder durch die Sprache, und müssen sich davon überzeugen, daß von einer Uebereinstimmung oder Nicht¬ übereinstimmung zwischen Denken und Sprache als zwischen zwei von einander unabhängigen Dingen nicht die Rede sein könne, daß vielmehr in der Sprache eine Entwickelungs¬ form des Denkens selbst vorliege. Nicht anders verhält es sich hier; auch hier handelt es sich nicht um ein Vor¬ bild und ein Nachbild; denn wollte man um des Ver¬ gleiches willen das Vorbild nachweisen, so fände man sich auf die Mittel des sogenannten Nachbildens angewiesen; dieselben Mittel also, die angeblich einer Nachbildung dienen, müßten selbst erst dasjenige hervorbringen, was sie doch nachzuahmen berufen sein sollen. Der geheime Sinn dessen, was vorgeht, indem sich das innere Geschehen, welches unser Bewußtsein von sichtbaren Dingen bildet, gleichsam verbreitet auf die Ausdrucksorgane und etwas hervorbringt, was wiederum nur von dem Gesichtssinn wahrgenommen werden kann, ist ein ganz anderer, tieferer und weittragenderer, als der einer müßigen und unvoll¬ kommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenem. Selbst in der den Augenblick ihrer Entstehung nicht über¬ lebenden Geberde, in den elementarsten Versuchen einer bildnerisch darstellenden Thätigkeit thut die Hand nicht etwas, was das Auge schon gethan hätte; es entsteht viel¬ mehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterent¬ wickelung dessen, was das Auge thut, gerade an dem Punkte auf und führt sie fort, wo das Auge selbst am Ende seines Thuns angelangt ist. Wären dem Menschen jene Ausdrucks¬ mittel für das, was ihm durch den Gesichtssinn als ein Sichtbares erscheint, nicht gegeben, so würde er freilich nicht auf den Gedanken kommen können, daß an der Ent¬ wickelung der Vorstellungen des Gesichtssinnes noch andere Organe seines Körpers betheiligt sein könnten, als das Auge. Indem er aber auch nur eine Linie zieht, ja indem er nur eine Geberde macht, die etwas darstellen soll, was das Auge wahrgenommen hat, wird er, wenn er sichs recht überlegt, einsehen, daß er damit für seine Gesichts¬ vorstellung etwas thut, wozu das Auge, das spezielle Organ des Gesichtssinns, aus eigener Kraft unvermögend ist. Die Leistung der Hand mag ihm im Vergleich zu der wunder¬ baren Leistung des Auges mangelhaft erscheinen; und doch, sobald er bedenkt, daß das Auge das, was es im zartesten, vergänglichsten Empfindungsstoff jeden Augen¬ blick neu hervorzaubert, nicht zu einem realisirten Besitz des Bewußtseins zu gestalten vermag, so wird er selbst in den unbeholfensten Versuchen bildlicher Darstellung etwas anerkennen, was über die Wahrnehmung des Auges hinaus¬ geht. Wenn ihn das Auge all der Herrlichkeit gegenüber, in die es ihn mit einem Schlage versetzt, doch schlie߬ lich im Stiche läßt, wenn er auf ein stumpfes Hin¬ starren angewiesen bleibt, und das, was er durch das Auge empfängt, nur dadurch für die Entwickelung seines Be¬ wußtseins nutzbar machen kann, daß er es in ein anderes Material, das der Sprache, umsetzt: so zeigt ihm die Fähigkeit, die er in sich vorfindet, das, was er sieht, zum Gegenstand des bildenden Darstellens zu machen, den Weg, auf welchem seinem durch die Thätigkeit des Auges er¬ weckten Bewußtsein eines sichtbaren Seins eine fortschreitende Entwickelung auf der eigenen Bahn möglich ist. Auch wird er sich dessen ganz unmittelbar bewußt, daß in jenen anfänglichsten Aeußerungen der Darstellung eines Sicht¬ baren ein Vorgang, der sonst auf bestimmte Theile des menschlichen Organismus beschränkt bleibt, zum Behuf seiner eigenen Entfaltung in diesem Organismus mehr und mehr um sich greift, und schließlich zu einem äußerlich wahrnehmbaren Bewegungsvorgang wird; daß ein innerer Vorgang, um sich an das Tageslicht hervor¬ drängen zu können, sich zu einem äußerlichen Thun ent¬ wickeln muß. Irgend ein Nebengedanke von abbildender, nachahmender Thätigkeit wird in jenen ursprünglichsten Versuchen, ein Sichtbares sichtbar zur Darstellung zu bringen, durchaus nicht vorhanden sein. Diese Auffassung des Vorganges entsteht erst, wenn es, wie bei den ent¬ wickelten Producten der bildnerischen Thätigkeit, schwieriger wird, an einem complicirten Resultat den Nachweis zu führen, daß es im Grunde auf demselben Vorgang beruht, der in jenen ersten Anfängen sichtbaren Darstellens so offen zu Tage liegt. Man hilft sich dann mit einem Worte wie Nachahmung, welches doch aufhört, einen vernünftigen Sinn zu haben, sobald man dem Vorgange ernstlich nach¬ denkt, der sich vollziehen muß, damit jenes complicirte Resultat entstehen könne. Muß man sich nun auch sagen, daß das, was die Hand zu thun vermag, indem sie die Arbeit des Auges darstellend, bildend aufnimmt, unendlich mühsam, unbe¬ holfen, stümperhaft erscheint im Vergleich zu der mühelosen und doch so wunderbaren Thätigkeit des Auges, die in jedem Augenblick eine ganze Welt von Bildern vor das Bewußtsein zaubert, so muß man sich doch zugleich ein¬ gestehen, daß man mit dem schüchternsten kindlichsten Ver¬ such bildlicher Darstellung am Anfang einer Thätigkeit steht, durch die es ganz allein möglich ist, aus den Wahr¬ nehmungsbildern des Auges Vorstellungen in dem Sinne zu entwickeln, daß dieselben zu realisirten, in sinnlich nach¬ weisbarer Form vorhandenen Bestandtheilen des Bewußt¬ seins werden. Zugleich begreift man, daß man vor un¬ endlichen, nicht vor endlichen Processen steht, wenn man sich denjenigen Inhalt unseres Geisteslebens vergegenwär¬ tigt, welcher unmittelbar aus dem Vorhandensein des Ge¬ sichtssinnes entspringt; man erkennt, daß, so wie die An¬ fänge alles Wahrnehmens und Vorstellens von Sichtbarem aus dem Dunkel eines vor allem Bewußtsein liegenden Geisteslebens auftauchen, so das Ende, der Abschluß dieser vorstellenden Thätigkeit, sich in den unabsehbaren Möglich¬ keiten der darstellenden Thätigkeit verbirgt. Indessen, wenn man sich diesen Consequenzen auch nicht entziehen kann, so wird man doch leicht durch die Frage beirrt werden, wieso durch eine mechanische Thätig¬ keit das solle geleistet werden können, wozu sich ein rein geistiges Thun als unzulänglich erwiesen hat. Hier nun muß wieder und wieder daran erinnert werden, daß es auf einer groben Selbsttäuschung beruht, wenn der Mensch meint, das geistige Thun und Dasein, was er in sich wahrnimmt, mehr und mehr von der Gemeinschaft eines leiblichen Geschehens befreien zu können. Es ist bereits erwähnt worden, daß die Entwickelung einer sogenannten geistigen Thätigkeit, sofern sie auf einer Abwendung von jeder körperlichen Thätigkeit beruhen soll, gar nicht statt¬ finden könne, daß vielmehr die Entwickelung eines geistigen Thuns immer zugleich die Entwickelung eines körperlichen Thuns sein müsse. Es ist ein verhängnißvolles Mißver¬ ständniß, ein geistiges Geschehen von einem körperlichen Ge¬ schehen getrennt zu denken, und das Verhältniß zwischen bei¬ den so aufzufassen, als ob es in der Macht jenes stände, dieses in seinen Dienst zunehmen, oder auch sich seiner zu enthalten. Dann freilich wird man nicht begreifen können, wieso ein Ge¬ schehen, welches sich, wie jeder bildnerische Vorgang, zunächst als eine körperliche Manipulation darstellt, als die Weiterent¬ wickelung eines Geschehens solle angesehen werden, welches, wie alles Schauen und Vorstellen, zunächst als ein geistiger Vorgang auftritt. Erst wenn man begriffen hat, daß jene körperliche Manipulation als die unmittelbare Weiterent¬ wickelung desjenigen leiblichen Geschehens aufgefaßt werden kann, welches bei den Vorgängen des Schauens und Vor¬ stellens nachweisbar ist, oder wenigstens vorausgesetzt werden muß, wird man zu der Einsicht gelangen, daß in dieser Entwickelung des leiblichen Geschehens auch eine Entwickelung des geistigen Geschehens enthalten ist. Nicht in der Emancipation sogenannten geistigen Thuns von leiblichem kann irgend ein Fortschritt vor sich gehen, viel¬ mehr lediglich und ausschließlich durch die Entwickelung sinnlich-körperlicher Thätigkeit zu immer greifbarerem Vor¬ handensein, zu immer steigender Bestimmtheit und Deut¬ lichkeit. In der Sprache liegt dies für eine bestimmte Bethätigungsart der menschlichen Natur offen genug zu Tage; nicht anders aber kann es sich verhalten, wo es sich um die Entwickelung von Gesichtsvorstellungen handelt; nicht gleichsam außerkörperlich kann dieselbe vor sich gehen, vielmehr kann sie nur in der Entwickelung von körperlichen Bethätigungen enthalten sein. Während wir meinten, daß jene mechanische Thätigkeit des Bildens von einem geistigen Proceß des Vorstellens abhängig sei, begreifen wir nun, daß jede Möglichkeit eines Fortschrittes in der Entwickelung der Vorstellungen abhängig ist von jener mechanischen Thätigkeit. 5. Erblickt man in der bildenden, darstellenden Thätig¬ keit des Künstlers nichts anderes als die Entwickelung des Sehprocesses, so sieht man für das Wirklichkeitsbewußtsein des Menschen ein besonderes eigenthümliches Gebiet er¬ öffnet. Hier aber muß vor allem einem landläufigen Irr¬ thum entgegengetreten werden. Durch die Pflege einer so¬ genannten anschaulichen Beziehung zu den Dingen soll man, so hört man oft sagen, in das Verhältniß eingeführt wer¬ den, in das sich der Künstler zur Natur setzt. Es ist gewiß ein billiges Verlangen, daß der Mensch von seinen Augen einen ausgiebigen Gebrauch mache, umsomehr wo es gilt, die sichtbare Seite der Dinge gegenüber einer gewohnheitsmäßigen allzugeringen Werthschätzung zu Ehren zu bringen. Nur täuscht man sich über das, was man dadurch erreicht. Es tritt als Folge eines überhand¬ nehmenden Hindrängens nach Pflege der Gesichtswahr¬ nehmungen in der Regel von zwei Fällen einer ein: ent¬ weder ist es die Betheiligung des Auges an dem gesammten in so mannichfachen Aeußerungsformen sich darstellenden Leben des Individuums, die eine Steigerung erfährt, oder die um ihrer selbst willen geübte Thätigkeit des Auges gewinnt so an Intensität, daß sie alle übrigen Interessen, denen sie sonst dienstbar ist, zurückdrängt und sich wenig¬ stens vorübergehend unter allen jenen Möglichkeiten, nach denen die menschliche Natur sich ausleben kann, allein be¬ hauptet. Was jenen ersten Fall anlangt, so kann unzweifelhaft das Maß der Betheiligung, welches dem Gesichtssinn an allen den Thätigkeiten vergönnt wird, an denen er über¬ haupt theilhaben kann, ein sehr verschiedenes sein; und es ist keineswegs die mehr oder minder gute Beschaffenheit des Sehorgans, durch welche jenes Maß bestimmt wird. Es giebt genug Sehende, die nicht anders durch die Welt gehen, als ob sie mit Blindheit geschlagen wären, und gewisse Denkweisen sind nicht anders zu erklären, als daß ihre Urheber das Zeugniß der Augen nur in sehr unvoll¬ kommener und nebensächlicher Weise herangezogen haben. Daß in solchem Falle eine künstlerische Disposition nicht vorhanden ist, kann nicht Wunder nehmen. Anders ist es, wo die Forderung des Sinnenzeugnisses auf den verschie¬ denen Gebieten geistiger Thätigkeit eine ebenso allgemeine wie strenge ist, wo der Einzelne von Jugend auf ange¬ leitet wird, sich bei allem, was er denkend und erkennend sich anzueignen strebt, Rechenschaft zu geben über die Zu¬ stimmung oder den Widerspruch, der von dem Augenschein ausgehen könnte. Hier sollte man meinen, daß einem so geschulten Geist der Zugang offen stehen müßte zu dem Verständniß einer Thätigkeit, welche, wie die bildende Kunst, so ganz auf dem Gebrauch des Sehorgans beruht. Die Erfahrung spricht dagegen. Die geistige Richtung, die die Leistung der Sinne zu so hohem Ansehen gebracht hat, erweist sich nutzlos, wo es sich um das eigentliche Gebiet sinnlicher Leistung, um die Kunst, handelt. Gerade diejenige exacte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur, die es ununterbrochen mit der sichtbaren Seite der Dinge zu thun hat, pflegt den Einzelnen am unfähigsten zu machen, den besonderen Werth der Beziehung einzusehen, in der der Künstler sich zur Natur befindet. So auffallend dies scheinen mag, so ist es im Grunde nur zu erklärlich. Die wissenschaftliche Thätigkeit läuft nicht auf ein Sehen, sondern auf ein Wissen hinaus; der Gewinn, der dadurch erzielt wird, daß dem Auge eine wesentliche Mitarbeit zugetheilt wird, kommt nicht dem Sehen, sondern dem Wissen zu gute; das, was man auf Grund der Gesichts¬ wahrnehmung in seinen Besitz bringt, ist kein Gesehenes und zu Sehendes, sondern ein Gewußtes und zu Wissendes. Nun ergiebt sich aus dem früher Gesagten, daß man einer Täuschung unterliegt, indem man meint, in dem auf dem Augenschein beruhenden und durch den Augenschein zu con¬ trolirenden Wissen die Dinge ihrer gesammten Sichtbarkeit nach mit zu besitzen. So kommt es, daß das geistige Interesse von der einzigen Thätigkeit, durch die das von den Augen gelieferte Material zum Sichtbarkeitsbesitz ent¬ wickelt und gestaltet werden kann, um so mehr abgelenkt wird, in je umfassenderer Weise sich das Auge an der Entwickelung und dem Aufbau der begrifflichen Welt be¬ theiligt. Durch die in so vielen Zweigen des Wissens gesteigerte Beobachtung des sichtbaren Thatbestandes wird eine große Sicherheit in der Kenntniß der äußeren Gestalt der Dinge, und zugleich die Meinung erzeugt, man erhalte durch diese Sicherheit das Recht, über Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der sogenannten künstlerischen Wie¬ dergabe der Natur zu urtheilen. Und doch kann diese Kenntniß immer nur wieder einen Maßstab für eine Kenntniß abgeben, vermag aber nicht einen Standpunkt der Beurtheilung für eine Leistung zu begründen, bei der es sich gar nicht mehr um Kenntniß handelt. Das Kunst¬ werk wird unwillkürlich mit demselben wissenschaftlichen Interesse betrachtet, wie das Naturding; man meint ihm gerecht werden zu können, wenn man das in ihm wieder zu finden sucht, was man als sichtbar in der Natur vor¬ handen benennen und constatiren kann, und begreift nicht, daß das Sehen im Sinne des Künstlers erst da aufängt, wo alle Möglichkeit des Benennens und Constatirens im wissenschaftlichen Sinne aufhört. Betrachten wir nun aber den anderen Fall, die Steigerung der Thätigkeit des Auges zu keinem außerhalb des eigentlichen Sehgebietes liegenden Zweck, vielmehr um ihrer selbst willen, so müßte man meinen, daß hier ein unmittelbarer zur Kunst führender Weg geebnet wäre. Auch hierin täuscht man sich. Je nach individueller An¬ lage entwickelt sich diese anschauliche Beziehung zu Natur und Leben bald zu einem mehr oder minder reichen Be¬ obachtungsverhältniß, verbunden mit einer gesteigerten Em¬ pfänglichkeit für alle die Reize des Eigenthümlichen, An¬ muthigen, Schönen, die einem offenen Auge überall be¬ gegnen, bald zu einer sentimentalen Annäherung an die Natur, die in Gefühlserlebnissen und Stimmungen aus¬ läuft. Beides hat mit dem künstlerischen Interesse an der Natur noch nichts zu thun; keines von beiden führt über die Natur hinaus. Jenes oberflächliche, in der Beobachtung sich erschöpfende Bedürfniß thut sich im Grunde an dem, was ihm Natur und Leben bietet, Genüge, und vermag der Kunst gegenüber nicht über die kindische Freude an der Wiederholung dessen hinauszukommen, was ihm schon bekannt ist. Der Antheil, der an den Leistungen der Kunst genommen wird, läßt sich in sehr weitem Umfange auf dieses harmlose Vergnügen zurückführen. Unstreitig beruht die Fähigkeit, die Anschauung zu einem sentimentalen Er¬ lebniß werden zu lassen, auf reicheren und tieferen Seiten der menschlichen Natur. Hier trifft die Gewohnheit, sich in das Anschauen der Natur zu versenken, zusammen mit einer leichten Erregbarkeit des Gemüths und mit der hohen Gabe, die Schranke gleichsam niederzureißen, die den Einzelnen von allem trennt, was ein Gegenstand seiner Wahrnehmung ist. In besonders gesteigerten Augen¬ blicken tritt ein Gefühl der Naturnähe ein, durch welches wir in die allerinnigste Beziehung zu der ganzen Herrlich¬ keit der sichtbaren Welt zu treten meinen. Mit einer wunderbaren Klarheit des Schauens vereinigt sich das Ge¬ fühl, einem Unendlichen, Unergründlichen gegenüberzustehen, selbst diesem Unendlichen, Unergründlichen anzugehören. Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit scheinen wir uns gegenüber zu befinden; es ist nicht die alltägliche Welt, der Schauplatz unseres Lebens und Handelns, der Gegen¬ stand unseres Wissens und Erkennens; und doch ist es dieselbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichsam an einem Festtag gesehen. Wir befinden uns in einem traum¬ haften Zustand, und die Thatsache der sichtbaren Er¬ scheinung allein ist es, die zu unseren staunenden Sinnen spricht. Wir vergessen uns selbst, wir versenken uns in den schauenden Zustand, und indem so das erscheinende Dasein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬ gegentritt, immer unmittelbarer sich uns darbietet, unser ganzes Sein erfüllt und schließlich in sich aufzunehmen scheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬ nisses beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühsam errungene Kenntniß als ein armseliges Stückwerk erscheinen muß, und die uns um so überzeugender dünkt, als sie uns mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬ schaft fordert. Wer hätte nicht schon solche Augenblicke erlebt, in denen die Isolirung der sinnlichen Wahrnehmung mit einer besonderen Reizbarkeit des Gefühls zusammen¬ traf und jene Stimmung erzeugte, in der man sich der Natur in viel umfassenderer und eindringlicherer Weise zu bemächtigen meinte, als dies je im praktischen oder theoreti¬ schen Sinne gelungen war? Wer solchen Anschauungsge¬ nusses fähig ist, der wird, wo er ihn der Natur nur unter besonderen, seltenen Umständen verdanken kann, sich dem Reiche der Kunst zuwenden, und hier eine reiche, sich mühe¬ Fiedler , Ursprung. 7 los beständig erneuernde Befriedigung finden; er wird den geheimen Sinn aller Kunst darin zu erkennen meinen, daß sie Gestalten und Darstellungen zu schaffen vermöge, die noch viel unmittelbarer zu dem Gemüth zu sprechen, das¬ selbe in Aufregung zu versetzen geeignet seien, als dies durch die Eindrücke der Natur und des Lebens gelingen könne; er wird überzeugt sein, daß er den tiefsten Gehalt des Kunstwerks gehoben habe, wenn er in der Betrachtung desselben einer jener gefühlsmächtigen Stimmungen theil¬ haftig geworden sei. Indessen wenn er sich auch von dem, der aus der Stumpfheit und Nüchternheit seiner geistigen Verfassung durch keinen Vorgang der Natur, durch kein Werk der Kunst aufgerüttelt zu werden vermag, vortheil¬ haft dadurch unterscheidet, daß ihm Kunstwerke zu Erleb¬ nissen zu werden vermögen, so sind es darum doch noch keine künstlerischen Erlebnisse, die er an sich erfährt. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß dieselben Menschen, die im Leben und in ihrem Fache einen durch¬ aus sachlichen Ernst besitzen, alsbald in Sentimentalität verfallen, wenn sie sich der Kunst nähern; sie begreifen nicht, daß die künstlerische Thätigkeit auf einer Sachlichkeit und Klarheit beruht, die von ihren Gefühlsorgien eben¬ soweit entfernt ist, wie von der Trockenheit und Nüchtern¬ heit derer, die der Kunst mit denjenigen Hülfsmitteln bei¬ kommen zu können glauben, die ihnen eine wissenschaftliche Disciplinirung an die Hand giebt. Mit Stimmungen läßt sich nichts anfangen, wo es sich um eine Thätigkeit handelt; je intensiver jene werden, desto mehr lähmen sie das active Leben; man muß sie wie einen Traum von sich abschütteln, um zur wachen Thätigkeit zurückkehren zu können. Hatte man gemeint, sich in jenen Augenblicken erhöhter Ergriffen¬ heit die Natur in ihrer Fülle und Ursprünglichkeit zuge¬ eignet zu haben, so sieht man nun wohl, daß es sich statt um ein Besitzen, eher um ein Besessenwerden gehandelt hat. Von einem künstlerischen Erlebniß kann da nur für den¬ jenigen die Rede sein, der sich eine irgendwie klare Vor¬ stellung von dem künstlerischen Vorgange nicht zu machen vermag. Denn das, was den Künstler auszeichnet, ist, daß er sich nicht passiv der Natur hingiebt und sich den Stimmungen überläßt, die sich in ihm erzeugen, sondern daß er activ das, was sich seinen Augen darbietet, in seinen Besitz zu bringen sucht. Pflege der anschaulichen Beziehung zur Natur mit ihrem ganzen Gefolge von sogenannten anschaulichen Kennt¬ nissen, von Bereicherung des Vorstellungslebens, von Bil¬ dung des Geschmacks und Erziehung zu ästhetischem Genuß, und was dergleichen Bildungsrequisiten mehr sind, steht im Grunde Jedermann, wenn auch mit gewissen Grad¬ unterschieden, offen, noch ehe er auf die eigentlichen Wege der Kunst einzugehen braucht. So paradox es klingen mag, so fängt die Kunst doch erst da an, wo die An¬ schauung aufhört. Nicht durch eine besondere anschauliche Begabung zeichnet sich der Künstler aus, nicht dadurch, daß er mehr oder intensiver zu sehen vermöchte, daß er in seinen Augen eine besondere Gabe des Wählens, des Zusammenfassens, des Umgestaltens, des Veredelns, des 7* Verklärens besäße, so daß er in seinen Leistungen doch nur Errungenschaften seines Sehens offenbare; er unter¬ scheidet sich vielmehr dadurch, daß ihn die eigenthümliche Begabung seiner Natur in den Stand setzt, von der an¬ schaulichen Wahrnehmung unmittelbar zum anschaulichen Ausdruck überzugehen; seine Beziehung zur Natur ist keine Anschauungsbeziehung, sondern eine Ausdrucksbeziehung. Hier liegt das eigentliche Wunder der Kunst. Wir Alle können sehen; wir können uns einbilden, dasselbe in der Natur zu sehen, was der Künstler sieht; wir können meinen, die künstlerische Leistung an dem messen zu können, was unsere Augen uns lehren; so lange wir das alles thun, fühlen wir uns im Grunde mit dem Künstler auf einem und demselben Boden. Wir dünken in der Haupt¬ sache uns ihm gleich und fassen seine äußere Thätigkeit mehr als die mechanische Darstellung eines inneren Ge¬ schehens auf, von dem auch wir durch eigene innere Er¬ fahrung Kunde haben. Sobald wir aber auch nur den bescheidensten Versuch machen, von einer Wahrnehmung des Auges zum bildnerischen Ausdruck überzugehen, werden wir uns vor einem unüberwindlichen Hinderniß befinden, und erst so werden wir in der uns versagten Fähigkeit, den Vorgang der Wahrnehmung durch das Auge nach Seite des sichtbaren Ausdrucks einer selbstständigen Ent¬ wickelung zuzuführen, dasjenige erkennen, was den Künstler von uns unterscheidet und was wir aus keiner eigenen Erfahrung zu begreifen vermögen. Nur Gedankenlosigkeit kann die äußere Thätigkeit des Künstlers lediglich als eine mehr oder minder erfolgreiche Darstellung auffassen, und infolge dessen das Hauptgewicht auf den Vorgang legen, der der Darstellung voraufgeht. Wer sich den thatsäch¬ lichen Vorgang zu vergegenwärtigen vermag, der statt¬ finden muß, um von einem bloßen Vorstellungsleben zu der sogenannten darstellenden Thätigkeit überzugehen, der wird inne werden, daß in dem gesammten künstlerischen Vorgang das, bloße Schauen und Vorstellen nur einen Anfang, einen Ausgangspunkt bedeutet, während alle Ent¬ wickelung und Vollendung an die äußere bildende Thätig¬ keit gebunden ist. Wenn wir es in besonders gesteigerten Augenblicken des Wahrnehmens und Vorstellens allenfalls bis zu einer unbeholfenen darstellenden Geberde bringen, nehmen wir wahr, daß derselbe Vorgang, der bei uns in der Geberde gleichsam verkümmert, durch den Künstler sich zu einer reichen Thätigkeit entwickelt, der gegenüber alles bloße Sehen und innere Vorstellen sehr geringfügig er¬ scheinen muß. So erkennen wir das eigentlich Merkwürdige in der künstlerisch begabten Natur darin, daß in ihr ein Vorgang, den wir in gewissen Ausdrucksbewegungen ganz allgemein bei allen Menschen angedeutet finden, zu einer einseitigen und das gewöhnliche Maß weit übersteigenden Entwickelung gelangt. Wenn wir in den Wahrnehmungen, die uns das Auge bietet, gleichsam stecken bleiben, mit unserem anschau¬ lichen Vorstellungsvermögen gar bald zu Ende sind und uns nach dieser Richtung hin wie von einem undurchdring¬ lichen Dunkel gehemmt sehen, fühlt der Künstler die Fähig¬ keit in sich, jene allgemeinen und unbestimmten Vorgänge, auf die unsere gesammte Wahrnehmung einer sichtbaren Welt hinausläuft, zu immer bestimmteren und faßbareren Ausdrucksmitteln zu entwickeln. Wo wir mit allem guten Willen und mit der ganz auf das Sehen concentrirten Kraft unseres Bewußtseins doch hülflos dastehen und keinen Schritt vorwärts zu kommen vermögen, da beginnt gerade das Leben des Künstlers; mag er nach anderen Richtungen hin Hemmungen empfinden, wo uns das Fortschreiten ver¬ gönnt ist, hier fühlt er sich frei und ungehindert. Er ist in seinem Element, wenn er da, wo wir darauf angewiesen sind, im Schauen zu verharren, den Ausgangspunkt nimmt zu einer in immer gesteigertem bildnerischen Ausdruck sich vollziehenden Thätigkeit. Alle die Manipulationen, von dem Einfachsten und Ursprünglichsten bis zu dem vielfach Zusammengesetzten, bergen keinen höheren Sinn in sich, als den, das fortzusetzen, was das Auge begonnen hat. Freilich wenn man an der Trennung von geistigem und körperlichem Thun festhält, wird man auch nicht über die Ansicht hinaus zu kommen vermögen, daß der Künstler, indem er äußerlich thätig wird, nur etwas für Andere sichtbar und bleibend darstelle, was in seinem, an kein äußeres Thun gebundenen Vorstellungsvermögen bereits Gestalt gewonnen habe. Ja man wird weiter gehen und die Meinung hegen, daß der Künstler, indem er sich zur künstlerischen Thätigkeit anschicke, aus der Noth eine Tugend mache, da ja doch kein äußeres Mittel die in seinem Geiste wohnenden Gestalten in ihrer Reinheit und Vollkommenheit wiederzugeben im Stande sei. Dann freilich wird man von all den verhängnißvollen Irrthümern nicht loskommen, die sich mit Nothwendigkeit ergeben, wenn man in dem sichtbar Vorhandenen der Kunst nur ein Sym¬ bol eines Geistigen sieht, wenn man das dem Auge sich thatsächlich Darbietende gering achtet gegenüber einem un¬ sichtbaren Inhalt, der in die unvermeidlichen Beschrän¬ kungen der Form herabgestiegen sei. Um von dieser sonder¬ baren Umkehrung eines natürlichen Verhältnisses sich frei zu machen, muß man jene unberechtigte Scheidung zwischen geistigem und körperlichem Thun aufgeben, und nirgends vielleicht ist die Nothwendigkeit, dies zu thun, einleuchten¬ der, als bei der Betrachtung der künstlerischen Thätigkeit. Hier ist das Verhältniß anders als von dem gedachten oder gesprochenen zum geschriebenen Wort, wo der Schein einer Trennung zwischen geistiger und körperlicher Leistung näher liegt. Bei dem discursiven Denken vollzieht sich der weitaus größte Theil der Arbeit im Inneren des Menschen. Die körperliche Betheiligung ist nicht augen¬ fällig, und wo sie zu einer äußerlich wahrnehmbaren wird, wie bei dem Sprechen und Schreiben, scheint sie thatsäch¬ lich nur das dienend auszuführen, was ihr von einer Fähigkeit des Denkens geboten wird, die gar nicht an so schwerfällige sinnliche Vorgänge wie Sprechen und Schrei¬ ben gebunden ist. Sehr anders verhält es sich bei der künstlerischen Thätigkeit. Es giebt im Inneren des Men¬ schen gar keine Organe, die das ausführen könnten, was das Ziel des künstlerischen Strebens ist; um auch nur an den Anfang des Weges zu kommen, der jenem Ziele zu¬ führt, muß der Künstler zu einer äußeren Thätigkeit greifen, und an diese äußere körperliche Thätigkeit ist alles ge¬ bunden, was er erreichen kann. Was ist alles Schauen und Vorstellen im Vergleich zu der Entwickelung, die dieses Schauen und Vorstellen in der bildnerischen Thätigkeit findet? Wie ein Stammeln muß es uns erscheinen im Ver¬ gleich zu der entwickelten Sprachfähigkeit. Gerade der Künstler wird sich bewußt sein, daß die höhere Entwickelung seines geistig-künstlerischen Lebens erst in dem Augenblicke beginnt, in dem sein Vorstellungsdrang die äußeren Organe seines Körpers in Bewegung setzt, in dem zur Thätigkeit des Auges und des Gehirns die Thätigkeit der Hand hin¬ zutritt. Dann erst betritt er die Bahn, auf der er sich aus Dunkelheit und Beschränkung zu steigender Klarheit und Freiheit emporarbeitet. All seine Begabung, all seine Genialität entwickelt sich erst in diesem äußerlich wahr¬ nehmbaren Thun, in dem sich nicht die Darstellung, son¬ dern die Entstehung der künstlerischen Vorstellungswelt vollzieht. Indem der Künstler von allem Anfang an seine Thätigkeit nach außen zu verlegen genöthigt ist, ist diese Thätigkeit darum nicht weniger eine geistige, weil bei ihr mehr Theile des Körpers in Bewegung gesetzt werden, als nur etwa das Gehirn; und weil die künstlerische Thätig¬ keit eine geistige sein will, muß sie in ganz bestimmten, faßbaren, sinnlich nachweisbaren Leistungen bestehen. Lernen wir so die bildnerische Thätigkeit des Künstlers auffassen als eine Fortsetzung des Sehprocesses, als eine Entwickelung dessen, was in der Wahrnehmung des Auges seinen Anfang nimmt, zu bestimmten Gestaltungen, haben wir eingesehen, daß das Auge aus eigener Kraft das von ihm begonnene Werk nicht vollenden kann, sondern den ganzen Menschen in eine bestimmte Art der Thätigkeit versetzen muß, damit das von ihm gelieferte Sinnenmaterial sich zu geistigen Werthen formen könne; so werden wir auch der Einsicht zugänglich sein, daß sich in der künst¬ lerisch bildenden Thätigkeit eine bestimmte Art der Ent¬ wickelung bewußten Lebens darstellt. Man treibt mit dem Wort Bewußtsein oft genug einen sonderbaren Mißbrauch. Man setzt das Vorhandensein einer Art von Normal-Be¬ wußtsein voraus, welches gleichsam das allgemeine helle Reich des Denkens und der Thätigkeit bilde; in diesem Reich entwickelt sich das praktische zielbewußte Handeln und die theoretische Welterkenntniß. Thätigkeiten, wie die des Künstlers gehören nun freilich weder zu dem einen, noch zu dem anderen, und während die menschliche Natur ihren großen praktischen und intellektuellen Zielen mit Be¬ wußtsein und Folgerichtigkeit zustrebt, scheint sie da, wo sie sich der künstlerischen Thätigkeit hingiebt, jenes Tageslicht des Bewußtseins verlassen zu müssen, damit die geheimni߬ vollen Kräfte lebendig und wirksam werden können, als deren Resultat man das Kunstwerk so gern betrachtet. Indessen ist Bewußtsein niemals als allgemeiner Zu¬ stand, sondern immer nur als bestimmte Thätigkeit vor¬ handen; es ist in jedem einzelnen Menschen ein beständig wechselndes, sowohl in Hinsicht auf den Grad, als auch auf die Art der Thätigkeit, in der es zur Entwickelung gelangt. Wer sich zu vollständig bewußtem Denken erwacht glaubt, mag doch einem Anderen noch tief in den traum¬ haften Zuständen eines unentwickelten Bewußtseins befangen erscheinen, nur deshalb, weil das Denken dieses Anderen sich in einer regeren, weitergreifenden Bewegung befindet; ja der Einzelne kann, vorzüglich wenn er sich in einem Zustand gesteigerter Lebens- und Denkthätigkeit befindet, leicht an sich die Erfahrung machen, daß ihm jeder Fort¬ schritt der Thätigkeit wie ein Erwachen aus relativ ge¬ trübtem zu relativ hellerem Bewußtsein vorkommt. Und wenn die relative Klarheit des Bewußtseins nicht ein ge¬ gebener dauernder Zustand ist, in dem sich der Mensch be¬ finden und gewisse Thätigkeiten verrichten könne, sondern im Grunde nur ein anderer Ausdruck für die jeweilige Lebendigkeit der Denkthätigkeit, die der Mensch entwickelt, so ist das Bewußtsein auch nicht etwas sich selbst Gleich¬ bleibendes, verschiedenartige Thätigkeiten des Menschen nur Begleitendes, vielmehr stellt es sich in diesen verschieden¬ artigen Thätigkeiten selbst als ein der verschiedenartigsten Entwickelung fähiges dar. Es ist sehr sonderbar, daß man deshalb, weil man das eigene Bewußtsein an eine andere als an die künstlerische Thätigkeit gebunden fand, in dieser, die doch eine so planmäßige und überlegte ist, das Walten eines so entwickelten Bewußtseins, wie man es durch die eigene Thätigkeit erlangt hatte, nicht so recht anerkennen wollte. Freilich kann der Mensch immer nur eins auf einmal thun; je mehr sich seine Thätigkeit nach einer Seite steigert, desto mehr muß sie nach jeder anderen Seite hin abnehmen: mit der Thätigkeit schwindet aber auch dasjenige Bewußtsein, welches sich eben nur in dieser Thätigkeit entwickeln kann. Wenn sich der Künstler in sein Thun versenkt, so hört er auf, dasjenige zu denken und zu thun, worin für Andere das bewußte Leben besteht; ja je ernsthafter und bedeutender seine Leistung ist, desto mehr wird sie sich von allem entfernen, was als der wesentliche Inhalt bewußten Lebens gilt. Der Künstler erscheint dann denen, die seines Strebens und seiner Fähig¬ keit nicht theilhaftig sind, wie abwesend und wie von Mächten geleitet, deren er sich selbst unbewußt ist. Der Künstler aber weiß sehr genau, was er will und was er thut. Wenn er an seine Thätigkeit geht, so macht er keines¬ wegs einen gewaltsamen Sprung aus dem Bereiche be¬ wußter Thätigkeit in die Sphäre von Lebensäußerungen, die den Menschen als ein Vernunft- und willenloses Werk¬ zeug geheimnißvoller Eingebungen erscheinen lassen. Er entzieht sich zwar dem Bewußtsein, welches ihn mit seinen Mitmenschen so lange vereinigte, als er sich an ihrer Denk- und Beschäftigungsweise betheiligt hatte, aber er verscheucht darum nicht die gegenwärtige Kraft seiner Intelligenz und seines Willens, um das Feld frei zu machen für jene Offenbarungen. Was er thut, ist, daß er zur Ent¬ wickelung seines Bewußtseins andere der menschlichen Natur eigene Anlagen aufruft, und auch zu einem anderen Re¬ sultat kommt, als Andere, denen seine Art der Thätigkeit fern liegt. Aber innerhalb seiner Thätigkeit erweist sich dasselbe, was die Regel bildet für alle ernsthafte männ¬ liche Thätigkeit: nur die Anfänge reichen hinab in jene durch keine Vernunft zu ergründenden, durch keinen Willen zu leitenden, von keinem Bewußtsein erhellten Regionen unserer Natur; jeglicher Fortschritt führt aus diesen Dunkel¬ heiten heraus, und der Sinn der Arbeit, die der Mensch zu verrichten hat, ist, daß er sich mehr und mehr jenen Regionen entwinde, nicht daß er sich in ihnen verliere. Wenn der Künstler Anderen in einer Art von traum¬ hafter Existenz seine Thätigkeit zu vollbringen scheint, so liegt für ihn selbst in dieser Thätigkeit das eigentliche Er¬ wachen. Ihm kann die Helligkeit des Bewußtseins, zu der er gelangt, indem er auf den Wegen der Anderen wandelt, nicht genügen; denn er sieht Dunkelheiten um sich, deren Vorhandensein jenen entgeht. Er wird, wenn ihm die Wissenschaft, stolz auf ihren Fortschritt, ihr Reich zeigt und die Welt als eine erkannte oder wenigstens durch ihre Mittel zu erkennende vor ihm ausbreitet, nicht ganz an der Genugthuung theilnehmen können, die der Forscher empfindet. Denn wenn er sich auch erleuchtet findet durch das, was jener ihm zeigt, so wird er sich doch nicht davon zu überzeugen vermögen, daß es die Welt so schlechthin und so um und um sei, die sich ihm durch die Entwickelung des wissenschaftlichen Bewußtseins in immer zunehmender Klarheit und Verständlichkeit darbietet. Er wird sich in ganz unwillkürlicher Auflehnung gegen den Anspruch be¬ finden, den Jene erheben, und wird sich im Stillen sagen, daß alle Wissenschaft im Grunde ein armseliges Ding sei, da sie sich einbilde, ein vollständiges und klares Weltbe¬ wußtsein zu entwickeln, während das, was in diesem Be¬ wußtsein lebe, doch nur Worte und Gedanken, nicht aber die Dinge selbst seien. Nun wird ihm das als ein traum¬ haftes, unentwickeltes Bewußtsein vorkommen, was das einzig wahrhaft erleuchtete zu sein vorgiebt; er wird sich sagen müssen, daß inmitten all der Helligkeit, die von der Erkenntniß verbreitet wird, die Dinge, sofern sie sich uns als Vorstellungen darbieten, ein schattenhaftes, unbestimmtes Dasein führen; daß das sinnenfällige Dasein der Welt um so mehr aus dem Bewußtsein verdrängt wird, je mehr sich dieses mit den Erzeugnissen der denkenden und erkennenden Thätigkeit anfüllt. Ans diesem träumerischen Zustand, in dem er sich befangen sieht, auch wenn er sonst sich noch so großer Klarheit und Helligkeit erfreut, zu erwachen, ist das gebieterische Bedürfniß, das ihn beseelt. Dazu findet er in sich die Mittel, die allein zu diesem Zwecke führen können. Indem er anfängt zu bilden, sieht er sein Be¬ wußtsein auf die Bahn einer Entwickelung gebracht, die ihm sonst verschlossen war; die Trennung scheint aufgehoben, in der er sich von den Dingen befand, er beginnt, in ein waches Leben und Erleben der Welt einzutreten, die Trübungen, in die er sein Bewußtsein gehüllt sah, fangen an zu schwinden, das Schwanken der Erscheinungen macht einem festen Ergreifen, die Unbestimmtheit zunehmender Bestimmtheit Platz. Was der Künstler im Fortschritt seiner Arbeit erlebt, ist, daß er in sich ein Bewußtsein entstehen und sich ent¬ wickeln sieht, wie er es sonst nicht kennen lernen kann. Erscheint seine Thätigkeit denjenigen, die ihrer nicht fähig sind, als eine allseits von der bewußten Lebensthätigkeit liegende, so gestaltet sie sich für ihn als eine durchaus bewußte; sie erweitert sich, nimmt alle Kräfte des Indivi¬ duums in Anspruch, verdrängt alle anderweitige Thätig¬ keit bis an die äußerste Grenze des Bewußtseins und wird selbst zu dem bewußten Leben dessen, der die Fähigkeit in sich fühlt, sich ihr hinzugeben. Und wo der Künstler so vollständig aufgeht in dem, was er thut, wo er sich selbst, d. h. alles vergißt, was sein Bewußtsein abgesehen von seiner Thätigkeit beschäftigen kann, wo er auch nicht mehr zu trennen weiß zwischen dem, was ihm als eine geistige Thätigkeit des Wahrnehmens, Vorstellens, Erinnerns u. s. w., und dem, was ihm als eine mechanische Thätigkeit der äußeren Organe seines Körpers erscheinen könnte, wo der Vorgang, der seinen Anfang von den Wahrnehmungen des Auges nahm, sich allmählig des ganzen Menschen be¬ mächtigt und ihn in Bewegung gesetzt hat: da erfährt der Künstler in seiner Thätigkeit jene höchsten Steigerungen des Bewußtseins, in denen er allererst zum wahren Er¬ fassen der sichtbaren Erscheinung erwacht zu sein meint. Es ist klar, daß sich dieser Auffassung zu Folge die Stellung der künstlerischen Thätigkeit innerhalb des geistigen Lebens unter einem anderen Gesichtspunkt zeigt, als unter dem man sie gewöhnlich zu betrachten pflegt. Solange man die Erkenntniß der Welt ausschließlich an das wissen¬ schaftliche Denken gebunden erachtet, sieht man sich in die Nothwendigkeit versetzt, die künstlerische Thätigkeit der wissenschaftlichen gegenüberzustellen und ihr eine besondere Bedeutung zu erfinden, damit sie neben jener vornehmsten und im Grunde als allein wichtig betrachteten Aufgabe des menschlichen Geistes doch einiger Daseinsberechtigung sich erfreuen könne. Nun aber sehen wir den Künstler neben den Forscher treten. In beiden ist derselbe Trieb mächtig, der den Menschen beherrscht, sobald sich ein höheres Leben in ihm entwickelt; der Trieb, die Welt, in der er sich findet, sich anzueignen, das enge, kümmerliche, ver¬ worrene Bewußtsein des Seins, auf das er sich zunächst beschränkt sieht, thätig zur Klarheit und zum Reichthum zu entwickeln. Erkennen wir, daß das Denken seinen An¬ spruch, diese Aufgabe in ihrem ganzen Umfange lösen zu können, nicht aufrecht erhalten kann, so eröffnet sich uns zugleich die Einsicht, daß dem Menschen noch andere Fähig¬ keiten verliehen sind, durch die er in Regionen der Wirk¬ lichkeit vorzudringen vermag, die der an die Formen des Denkens gebundenen Erkenntniß von allem Anfang an unzugänglich bleiben müssen. Wir brauchen nicht nach einer Aufgabe zu suchen, die im Gegensatz zu der ernsten Aufgabe des Erkennens der Kunst gestellt wäre; vielmehr brauchen wir nur unbefangenen Auges zu sehen, was der Künstler thatsächlich thut, um zu begreifen, daß er eine Seite der Welt faßt, die nur durch seine Mittel zu fassen ist, und zu einem Bewußtsein der Wirklichkeit gelangt, das durch kein Denken jemals erreicht werden kann. So wenig sich das Denken beruhigen kann, ehe es das Wirklichkeitsmaterial, welches sich ihm als zugänglich erweist, in eine bestimmte Form gebracht hat, so wenig wird auch die bildnerische Thätigkeit an einem Ende ihrer jeweiligen Arbeit angekommen zu sein wähnen dürfen, be¬ vor sie Werthe von ganz bestimmter Form hervorgebracht hat. Das Bewußtsein, welches sich in einem bildnerischen Vorgange entwickelt, unterscheidet sich dadurch von dem gemeinen Bewußtsein, daß der Vorstellungsstoff, aus dem es besteht, in positive an feststehende Eigenschaften gebun¬ dene Gestaltungen eingegangen ist. Welcher Art diese Eigen¬ schaften sein werden, kann erst an einem späteren Orte an¬ gedeutet werden. Hier sei nur noch einiges erwähnt, was sich im Allgemeinen auf die durch den Künstler sich voll¬ ziehende Entwickelung des Wirklichkeitsbewußtseins bezieht. Hinge, wie es zunächst wohl scheinen mag, der Er¬ werb eines in Vorstellungen des Gesichtssinnes sich ent¬ wickelnden Wirklichkeitsbewußtseins nur von dem Gebrauch der Augen und einer willkürlichen Concentration der Auf¬ merksamkeit ab, so wäre es wesentlich Sache des Wollens, das Bewußtsein eines anschaulichen Weltbildes hervorzu¬ rufen. Aber wir haben gesehen, wie weit wir damit kommen. Wenn uns die Welt als ein Object der Er¬ kenntniß zunächst als ein wirres Chaos unverstandener Vorgänge erscheint, so stehen doch Jedem die Mittel der Erkenntniß zu Gebote, und es scheint von ihm abzuhängen, wie weit er von denselben Gebrauch machen wolle. Für die Entwickelung des vorstellenden Bewußtseins sind den Menschen analoge Mittel nicht so allgemein verliehen. Indem wir sehen, wie jeder Schritt vorwärts eine sich immer mehr und mehr complicirende Thätigkeit erfordert, müssen wir uns wie gelähmt vorkommen. Wir mögen wohl einsehen, daß das Auge nicht nur dazu da ist, um uns die Bilder von außer uns vorhandenen Dingen vor¬ zuführen, sondern daß mit dem Akte der Gesichtswahr¬ nehmung etwas in uns zur Entstehung kommt, was einer selbstständigen Entwickelung durch uns fähig ist; wollen wir aber die fliehende Erscheinung halten, die formlose gestalten, so versagt uns die Kraft, und kein Organ unseres Körpers gehorcht uns. Wenn wir uns dies recht überlegen, so muß es uns wie ein Wunder vorkommen, daß die Fähig¬ keit, mit den Augen wahrzunehmen und Wahrgenommenes vorzustellen, eine Fähigkeit, die auch uns innewohnt, die aber bei uns nicht weiter führt, als uns ein Sichtbares gleichsam nur zu zeigen, ohne es uns zu eigen zu geben, — daß diese Fähigkeit in einzelnen Individuen zu einer Entwickelung gelangt, die da, wo für uns nur vorüber¬ eilende, schwankende Eindrücke vorhanden sind, zur Ent¬ stehung bestimmter und dauernder Gebilde führt. Wir begreifen nun wohl, daß, wo es sich um die in der bild¬ nerischen Thätigkeit sich vollziehende Entwickelung des künst¬ lerischen Bewußtseins handelt, keinerlei Wollen maßgebend sein kann, sondern immer nur ein Können. Es ist nicht unwichtig, dies zu betonen, da nur zu oft eine äußerliche und unzulängliche Auffassung künstlerische Thätigkeit will¬ kürlich fördern und hervorrufen zu können meint; es entsteht dann ein zugleich armseliges und anspruchsvolles Surrogat, Fiedler , Ursprung. 8 während das echte Leben der Kunst ausschließlich davon abhängt, daß die menschliche Natur sich in einzelnen In¬ dividuen nach Seite jener sich an das innere Erlebniß der Gesichtswahrnehmung anschließenden äußeren Fähigkeiten und Fertigkeiten über das gewöhnliche Maß entwickelt zeigt. Wenn wir davon reden, daß wir uns der sichtbaren Welt bewußt werden, so denken wir dabei an ein Bewußt¬ sein, welches sowohl in allen normal organisirten Menschen entstehen, als auch das ganze Reich des Sichtbaren zu seinem Inhalt haben könne. Es braucht hier nicht wieder¬ holt zu werden, daß wir uns von dem, was wir das Reich des Sichtbaren nennen, deshalb einen ungenügenden Begriff machen, weil wir dabei nur an das denken, was wir durch den Gebrauch der Augen erwerben, und uns dann über das, was wir sehen oder als gesehen vorstellen in jeder möglichen Weise Rechenschaft zu geben suchen, nur nicht in derjenigen, durch die wir allein zur sehenden Gewißheit über Gesehenes kommen können. Wir haben uns überzeugt, daß wir mit dem Ausdruck „Reich des Sichtbaren“ einen sehr anderen Sinn verbinden müssen. Ist die Möglichkeit, sich dasselbe mehr und mehr zum Bewußtsein zu bringen, abhängig von Fähigkeiten, die weit über den Gebrauch der Augen hinausgehen, und mit denen die Natur verhältnißmäßig doch nur Wenige und auch diese nur selten in sehr reichlichem Maße ausstattet; so kann von einem Bewußtsein der Sichtbarkeit weder in dem Sinn die Rede sein, daß es Allen gleichmäßig zugänglich sei, noch auch in dem, daß ihm alles zugänglich sei. Denn gleichwie die Fähigkeit, in immer vordringender Thätigkeit sich zu immer helleren Zuständen des Sichtbares erleben¬ den Bewußtseins emporzuarbeiten, an eine Naturanlage gebunden ist, die kein Gemeingut, sondern ein Vorrecht Einzelner ist; so kann auch die Thätigkeit, in der sich jenes Bewußtsein entwickelt, immer nur Einzelnes erfassen; und Vieles von dem ungeheuren Material an Sichtbarem, was unsere Augen unaufhörlich an uns heranbringen, wird sich ihr überhaupt nicht unterwerfen lassen. Wer sich nur sehend verhält, der mag wohl meinen, die sichtbare Welt als ein ungeheures Ganzes voller Reich¬ thum und Mannichfaltigkeit zu besitzen; die Mühelosigkeit, mit der ihm die unerschöpfliche Menge der Gesichtsein¬ drücke zu Theil wird, die Schnelligkeit, mit der sich die Vorstellungen in seinem Inneren ablösen und in ununter¬ brochenem Wechsel, in nie abnehmender Fülle durch sein Bewußtsein ziehen, dies alles giebt ihm die Gewißheit, inmitten einer großen sichtbaren Welt zu stehen, die ihn umgiebt, auch wenn er sie sich nicht als ein Ganzes in einem und demselben Augenblicke vergegenwärtigen kann, deren er gewiß ist, auch wenn er vielleicht in seinem ganzen Leben nur eines kleinen Theiles derselben ansichtig wird. Diese große, reiche, unermeßliche Welt der sicht¬ baren Erscheinungen versinkt in dem Augenblicke, wo die künstlerische Kraft sich ihrer ernsthaft zu bemächtigen sucht. Schon der erste Versuch, aus dem dämmernden Zustande des sich der Sichtbarkeit im allgemeinen Be¬ wußtwerdens herauszutreten und zu einiger Deutlichkeit 8 * des Sehens zu gelangen, zieht den Umkreis des zu Sehen¬ den zusammen. Die künstlerische Thätigkeit kann sich nur darstellen als eine Fortsetzung jener Concentration des Bewußtseins, welche der erste nothwendige Schritt war, um auf den Weg zu gelangen, der aus der Breite sinn¬ licher Auffassung, die immer mit Undeutlichkeit verbunden ist, zu der Deutlichkeit führt, die nur in der Enge erreicht werden kann. Der Künstler sieht sich vor die Unmöglich¬ keit gestellt, seine Thätigkeit an jenem scheinbaren Ganzen zu erproben, und der Uebergang von dem bloßen Sehen und Vorstellen des Gesehenen zu dem Ausdruck des Sicht¬ baren kann sich nur im bestimmten Falle vollziehen. Jeder Thätige, Handelnde wird die Erfahrung machen; er muß am bestimmten Punkte einsetzen, damit seine Kräfte sich überhaupt entfalten können. Nun mag man dies wohl zugeben, zugleich aber der Ansicht sein, daß aus der am Einzelnen sich vollziehenden künstlerischen Thätigkeit allmählig wieder ein neues, auf höherer Entwickelungsstufe stehendes Gesammtbild hervor¬ gehen müsse; daß in der Gesammtheit der Kunstwerke ein mehr und mehr der Vollständigkeit und der Vollendung zustrebendes entwickeltes Wirklichkeitsbewußtsein, insofern ein solches auf der Gesichtswahrnehmung beruhe, zur Darstellung komme. Es liegt einer solchen Meinung die Anschauung zu Grunde, daß das Vorhandensein eines zu höheren Stufen der Entwickelung gelangten Sichtbarkeits¬ bewußtseins schon an das Vorhandensein der Kunstwerke gebunden sei, wo dann freilich in dem zunehmenden Schatz an Kunstwerken der Menschheit mühelos ein immer um¬ fassenderes entwickeltes Weltbild zu Theil werden würde. Aber nicht an das Vorhandensein der Kunstwerke ist jenes gesteigerte Wirklichkeitsbewußtsein gebunden, sondern an die Thätigkeit, in der sich die Entstehung dessen vollzieht, was wir ein Kunstwerk nennen. Die Kunstwerke sind an und für sich ein todter Besitz; sie nützen dadurch, daß sie als ein kleiner Zuwachs zu dem sichtbar Vorhandenen hin¬ zukommen, der Entwickelung des Bewußtseins gar nichts. Sie bleiben ein Gegenstand bloßer Gesichtswahrnehmungen wie alles Andere. Wenn wir aber jenen todten Besitz in der Weise zu beleben suchen, in der einzig und allein er sich beleben läßt, nicht durch irgend eine ästhetische Em¬ pfindung oder eine tiefsinnige Reflexion, sondern dadurch, daß wir es versuchen, uns in den lebendigen Vor¬ gang des künstlerischen Hervorbringens zu versetzen, so werden wir die Erfahrung machen, daß wir auf alles Bewußtsein eines Umfassenden und Allgemeinen verzichten müssen, um auch nur annäherungsweise einen jener Augen¬ blicke gesteigerten Bewußtseins an uns selbst erleben zu können, wie sie der Künstler vor der sichtbaren Erscheinung erlebt, wenn er schaffend thätig ist. Ueberdies giebt es Gebiete des Sichtbaren, so das sehr Große, das sehr Kleine, das sehr Ferne, das sehr Bewegte, die durch keine künstlerische Thätigkeit zu mehr erhoben werden können, als was sie sind, Gebiete sinn¬ licher Wahrnehmung, auf denen begriffliche Realisirungen im ausgedehntesten Maße stattfinden, während anschau¬ liche Realisirungen nicht oder nur in sehr unvollkommener Weise möglich sind. Es giebt andere Gebiete des Sicht¬ baren, wie das sehr Einfache, das sehr Unscheinbare, das sehr Ungewöhnliche, auf denen anschauliche Realisirungen zwar möglich sind und auch stattfinden, auf denen aber der Künstler der Anregung zur Thätigkeit doch nur auf die Gefahr hin nachgeben kann, selbst für sehr einfachen oder absonderlichen Geistes gehalten zu werden. So ist es nicht der Beruf derjenigen Fähigkeit, mit der wir in der künstlerischen Anlage die menschliche Natur ausgestattet sehen, das gesammte Reich sichtbarer Erscheinung allmählig auf die Bahn anschaulicher Entwickelung zu bringen. Ein sehr großer Theil des Sichtbaren bleibt als Sichtbares ein für allemal auf untergeordnete Bewußtseinszustände angewiesen und gelangt zu höherer Existenz nur im Begriff. Ein verhältnißmäßig geringer Theil wird ab und zu von der künstlerischen Thätigkeit ergriffen und erhebt sich in den Be¬ wußtseinszuständen, die in dieser Thätigkeit zur Entwickelung gelangen, zu mehr oder minder höherem Dasein. Noch eine Ueberlegung drängt sich hier auf, wo von der Entwickelung die Rede ist, die das Bewußtsein einer sichtbaren Welt in der bildenden Thätigkeit des Künstlers erfährt. Wir pflegen in Ansehung dessen, was sich unseren Augen dar¬ bietet, von einer Unendlichkeit zu reden. Unwillkürlich er¬ zeugt sich uns der Gedanke, einem Unendlichen uns gegen¬ über zu befinden, wenn wir uns schauend in die Betrachtung der Welt versenken, wenn wir im Nahen und Fernen, im Kleinen und Großen immer weiter vordringen, wenn wir die Erfahrung machen, daß über das anscheinend Kleinste, das anscheinend Fernste hinaus unserer Gesichtswahr¬ nehmung ein noch Kleineres, ein noch Ferneres zugäng¬ lich wird. Mit ahnenden Schauern stehen wir vor dem Anblick dieser Welten, hinter denen sich immer fernere und fernere Welten zu verbergen scheinen, um vielleicht dereinst einem helleren und vordringenderen Blick sich zu enthüllen. Aber diese Unendlichkeit ist eine gedachte; sie ist thatsächlich nicht für das Auge vorhanden, sondern für den denkenden Verstand. Für das Auge giebt es streng genommen keine Unendlichkeit; vielmehr sieht es sich immer nur einer Endlichkeit gegenüber. Die Welt ist für dasselbe vollständig zu Ende, wo es an die jeweiligen Grenzen seiner Tragweite gelangt ist. So lange wir uns nur sehend verhalten, kann uns die Welt nur endlich, niemals unendlich erscheinen. Und dennoch giebt es eine Unendlich¬ keit, die nichts mit dem Gebiet des Denkens zu thun hat, die sich lediglich als eine Unendlichkeit der sichtbaren Welt offenbart. Vor dieser Unendlichkeit steht nur der Künstler und wer ihm zu folgen vermag. Sie eröffnet sich nur da, wo in der Wahrnehmung des Auges jenes Streben seinen Ursprung nimmt, die empfangenen Vorstellungen zu immer höherer Klarheit und Bestimmtheit emporzubilden. Hier ist das Reich des Sichtbaren in der That ein unendliches, weil es sich in einer Thätigkeit darstellt, für die es nur ein immer sich erneuendes Streben, nicht aber eine zu lösende Aufgabe, ein zu erreichendes Ziel giebt. 6. Mit Recht bekennen wir, daß erst mit unserem eigenen Dasein das gegeben ist, was wir als vorhanden anzu¬ sprechen vermögen. Es ist aber damit, wie wir gesehen haben, noch wenig gesagt. Im bloßen Dasein des Men¬ schen mit seinen sinnlich-geistigen Anlagen liegt noch keine Bürgschaft für das Vorhandensein einer Welt, die nun dem Menschen schlechthin, allen Menschen gemeinsam an¬ gehört. Im Dasein des Menschen liegt die Bürgschaft nur für die Möglichkeit der Entstehung dessen, was wir, da wir es in den Formen besitzen, die wir selbst gebildet haben, das Vorhandene nennen. Eine Realisirung dieser Möglichkeit kann aber nur in einer Thätigkeit stattfinden, die der Mensch entwickelt. Nicht dem Menschen, sondern durch den Menschen offenbart sich alles, was wir meinen können, wenn wir von Natur, Seiendem, Wirklichkeit, Welt reden. Wir haben erwähnt, daß dem Menschen kein Mittel zu Gebote steht, durch das er den gesammten Wirklichkeits¬ gehalt eines Dinges in einen gemeinsamen Ausdruck zu fassen vermöchte, daß er vielmehr darauf angewiesen ist, auf verschiedenen Wegen zur thätigen Entwickelung eines Wirklichkeitsbesitzes vorzudringen, und daß er auf jedem dieser Wege wiederum zu unendlich verschiedenen Ent¬ wicklungsgraden gelangt. Wir haben ferner erwähnt, daß alle diese Wege unendlich sind, und, statt, wenn auch von verschiedenen Ausgangspunkten, doch einem gemeinsamen Ziele, d. h. einem vollständigen Wirklichkeitsbesitz zuzu¬ führen, sich vielmehr immer weiter von einander entfernen, und daß daher, um jeden bildlichen Ausdruck bei Seite zu lassen, jeder Wirklichkeitsbesitz, in je bestimmteren und vollendeteren Formen er sich darstellt, um so einseitiger sein muß. Die Hervorbringung und Darstellung eines solchen Wirklichkeitsbesitzes haben wir als den eigentlichen Sinn der künstlerischen Thätigkeit bezeichnet. Inwiefern aber durch diese Thätigkeit in besonderer Art und Weise an jener Wirklichkeitsrealisirung gearbeitet wird, das kann hier bis ins Einzelne nicht verfolgt werden; um so weniger, als dabei eine Menge Fragen auftauchen würden, die sich nur aus der unmittelbaren künstlerischen Erfahrung heraus beantworten lassen. Wohl aber kann einiges Allgemeine über diese Thätigkeit und über die eigenthümliche Art der Wirklichkeit gesagt werden, die durch sie entsteht. Vor allem ist es das Verhältniß, in dem die Kunst zur Natur steht, worüber man Klarheit zu erlangen suchen muß. Daß Kunst etwas Anderes sei, als Natur, bedarf keines Beweises. Die Versuche aber, Natur und Kunst sich als verschiedene Welten gegenüber zu stellen, pflegen darauf hinauszugehen, die Kunst gleichsam von der Natur abzudrängen, dasjenige ausfindig zu machen, was der Künstler zur Natur hinzuthun müsse, um sie in Kunst umzuwandeln. Es ist dabei der Gesichtspunkt maßgebend, daß die Thätigkeit des Künstlers zwecklos und überflüssig sei, sofern sie der bloßen Sichtbarkeit ihrer Leistungen nicht einen Empfindungs- oder Bedeutungswerth beizulegen wisse. Ein gesunder, wenn auch unreifer Sinn hat sich noch immer gegen die Herrschaft solcher Anschauungen aufge¬ lehnt; und um der Gefahr zu begegnen, die künstlerische Thätigkeit nach ganz entlegenen Zielen sich verirren zu sehen, hält man ihr vor, daß ihr kein höheres Ziel gesteckt sei, als die Natur. Gesund muß diese Anschauung genannt werden, weil sie der künstlerischen Thätigkeit keinen anderen Zweck unterlegt, als den, das im bildnerischen Ausdruck zu realisiren, was die Natur Sichtbares dar¬ bietet; sie ist aber zugleich unreif, insofern sie übersieht, daß die künstlerischen Gebilde in Folge ihrer Entstehung durch eine unüberbrückbare Kluft von dem getrennt sein müssen, was wir im gewöhnlichen Sinne sichtbare Natur nennen. Diese sichtbare Natur ist ja thatsächlich nichts Anderes als jenes ungeheure und bunte Gewirr von Wahr¬ nehmungen und Vorstellungen, die, auftauchend und ver¬ schwindend bald an unserem äußeren, bald an unserem inneren Auge vorüberziehen, die sich uns in unzweifelhafter Thatsächlichkeit aufdrängen und doch spurlos verschwunden sind, sobald wir meinen, sie uns in der Wärme der Em¬ pfindung oder in der Klarheit begrifflicher Erkenntniß an¬ geeignet zu haben. Sie ist jenes gewaltige Reich des Lichtes, in dem die unendliche Reihe der Dinge in unend¬ lichen Combinationen sich unserem Auge darbietet, das wir mühelos und in aller Vollständigkeit und Vollkommenheit zu besitzen meinen, und das sich uns doch bei dem be¬ scheidensten Versuche der Prüfung in seiner ganzen Un¬ sicherheit, Unbestimmtheit und Haltlosigkeit enthüllt. Diese Sichtbarkeit gleicht einem Geschenk, welches uns ohne unser Zuthun zufällt. Freilich beruht schon die kümmerlichste Wahrnehmung des Gesichtssinns auf einem sehr compli¬ cirten Geschehen; aber dieses Geschehen vollzieht sich im Inneren des Menschen, ist äußerlich nicht wahrnehmbar und eine Thätigkeit kommt uns dabei nicht zum Bewußtsein. Aus diesem allgemeinen, sich bei allen mit den Organen des Gesichtssinnes ausgestatteten Menschen in mehr oder minder gleichmäßiger Weise wiederholenden Geschehen ent¬ wickelt und erhebt sich nun aber bei jenen Einzelnen und Wenigen eine äußerlich wahrnehmbare und zum sichtbaren Ausdruck führende Thätigkeit. Es ist klar, daß die Natur als eine Welt sichtbarer Erscheinungen, deren Gestaltung auf der bloßen Thätigkeit der Augen und den an diese sich anschließenden inneren Wahrnehmungs- und Vorstel¬ lungsvorgängen beruht, für diejenigen eine andere werden muß, die mit dem Talent des künstlerischen Ausdrucks begabt noch ganz andere Fähigkeiten und Thätigkeiten in den Dienst jener Naturgestaltung zu stellen vermögen. Hier offenbart sich das ganze Geheimniß des nothwendigen Unterschiedes, der zwischen dem Reiche der Sichtbarkeit, das wir Natur nennen, und den Sichtbarkeitsgestaltungen herrscht, die uns in der künstlerischen Thätigkeit vor Augen treten. Dieser nothwendige Unterschied resultirt allein daraus, daß, wo sonst der Mensch mit seiner Beziehung zur sichtbaren Natur zu Ende ist, der Künstler sich in seiner Thätigkeit zu dieser selben Natur um ihrer Sicht¬ barkeit willen in eine neue Beziehung zu setzen vermag. Es ist ebenso unnöthig, etwas zu erfinden, was zur Natur hinzukommen müsse, um sie zur Kunst umzubilden, als es unmöglich ist, daß die Kunst etwas hervorbringt, was der Natur im gewöhnlichen Sinne des Wortes gleichkommt. Wo eins von beiden verlangt wird, da kann man mit Sicherheit annehmen, daß aus der Noth eine Tugend ge¬ macht wird; die Unfähigkeit, in höhere Regionen wahrer Kunst zu gelangen, wird verdeckt durch eine eigens gebil¬ dete Lehrmeinung, in der das als das höchste Ziel der Kunst bezeichnet wird, was die jeweilige sogenannte Kunst¬ übung leistet. Von echter Kunst wird man nichts anderes verlangen dürfen, als Natur, aber freilich nicht das kümmer¬ liche Naturbild, was uns Allen zu Gebote steht, sondern das entwickelte Naturbild, zu dessen Entstehung es jener Thätigkeit bedarf, die sich beim Künstler an die bloßen Wahrnehmungs- und Vorstellungsvorgänge des Gesichts¬ sinnes anschließt. Das, wodurch sichtbare Natur zur Kunst wird, ohne daß sie doch aufhörte, Natur zu sein, ist die Entwickelung, die sich für ihre Sichtbarkeit in der Thätig¬ keit des Künstlers vollzieht. Kunst ist nicht Natur; denn sie bedeutet eine Erhebung, eine Befreiung aus den Zu¬ ständen, an die gemeiniglich das Bewußtsein einer sicht¬ baren Welt gebunden ist; und doch ist sie Natur: denn sie ist nichts anderes als der Vorgang, in dem die sichtbare Erscheinung der Natur gebannt und zu immer klarerer und unverhüllterer Offenbarung ihrer selbst gezwungen wird. Es kann sehr gewagt erscheinen, die Ansprüche, deren Erfüllung von der künstlerischen Thätigkeit gefordert wird, als ungerechtfertigt abzuweisen und dafür etwas als die Aufgabe der Kunst zu bezeichnen, was vielleicht manchem gar nicht von besonderer Wichtigkeit zu sein scheinen mag. Aber wenn man sich fragt, um welches Erfolges willen eine Thätigkeit ausgeübt wird, so muß man in Rücksicht ziehen, welcherlei Erfolge nicht ausschließlich dieser Thätig¬ keit angehören, was hingegen ganz allein durch dieselbe erreicht werden kann. Man kann, wenn auch in etwas unbestimmter Weise, fast alle die Forderungen, die an jede Kunstübung gestellt zu werden pflegen, unter zwei Rubriken bringen: man fordert Empfindungswerthe von der Kunst und Bedeutungswerthe. Nun kann nicht geleugnet werden, daß durch die Kunst Empfindungswerthe sowohl als Bedeutungswerthe eigenthümlicher Art geschaffen werden. Aber wenn die Kunst auch unser Empfinden in besonderer Weise anzuregen, unser Denken in besonderer Weise zu beschäftigen vermag, so lernen wir doch Empfinden und Denken nicht erst durch die Kunst kennen; vielmehr giebt es auf dem weiten Gebiete des Vorhandenen nichts, was nicht als ein Empfindungswerth oder als ein Bedeutungs¬ werth sich geltend machen könnte. Verwerthen wir also die Erzeugnisse künstlerischer Thätigkeit für unser Empfinden oder unser Denken, so thun wir etwas, was wir, wie mit allem und jedem, so auch schon mit den bloßen Wahr¬ nehmungen und Vorstellungen des Gesichtssinnes thun können; es bedarf dazu nicht so complicirter Thätigkeiten, wie diejenigen sind, aus denen künstlerische Leistungen her¬ vorgehen. Wohl aber bedarf es dieser Thätigkeiten, wenn es sich um Herstellung des reinen Ausdrucks der Sicht¬ barkeit einer Erscheinung handelt. Daß dieser Ausdruck keiner geistigen Thätigkeit verdankt werden kann, der wir im Interesse des Empfindens und Denkens die sichtbare Natur unterwerfen, ist selbstverständlich; denn Empfinden und Denken vernichtet, wie wir gesehen haben, die Sicht¬ barkeit der Erscheinung und setzt eine andere Form des Seins an ihre Stelle. In der bloßen Wahrnehmung und Vorstellung des Gesichtssinns liegt aber noch keinerlei Mittel, um etwas zu gewinnen, was die Sichtbarkeit eines Dinges im selbstständigen Ausdruck darstellte. Und zwar ist es Zweierlei, was uns hindert, die Sichtbarkeit der Dinge selbstständig zu erfassen, so lange sie uns nur in unseren Wahrnehmungen und Vorstellungen nahe tritt. Einmal stellen sich die sichtbaren Dinge, die sich unserem Auge zeigen, die Gesichtsvorstellungen, die in unserem Inneren erscheinen, nicht so dar, als ob sie rein um ihrer Sichtbarkeit willen vorhanden wären. Das Auge kann nichts thun, als uns Gegenstände zeigen, in denen die Sichtbarkeit doch nur eine Seite ihrer complicirten sinn¬ lichen Beschaffenheit ist, und die zugleich ein mannichfaltiges Interesse, sei es unseres Fühlens und Wollens, sei es unseres Wissens und Erkennens, in Anspruch nehmen. Und die Bilder, die Erinnerung und Einbildungskraft uns vor¬ führen, gehören ebensowenig dem reinen Element der Sicht¬ barkeit an; sie stehen mitten in dem wechselvollen Spiel all der unzähligen Elemente unseres geistigen Lebens, die, in geheimnißvollem Zusammenhang unter einander ver¬ bunden, sich gegenseitig an die Oberfläche des Bewußtseins rufen. Es ist, als ob die Sichtbarkeit der Dinge, solange sie sich zu keiner höheren Daseinsform entwickelt, als ihr in den Wahrnehmungen des Auges, in den inneren Ge¬ bilden unserer Vorstellungskraft zukommt, nicht die Macht besäße, sich so sehr des menschlichen Bewußtseins zu be¬ mächtigen, daß sie nicht in jedem Augenblicke verdrängt werden könnte und irgend einem anderweitigen sinnlich¬ geistigen Vorgang den Platz räumen müßte. So werden wir durch die Erlebnisse des Gesichtssinnes zunächst nicht in ein ausschließliches Reich der Sichtbarkeit eingeführt, vielmehr müssen wir den Antheil an der Sichtbarkeit der Dinge theilen mit allen den Ansprüchen, deren Befriedigung nun einmal die Vielseitigkeit und Versatilität der mensch¬ lichen Natur fordert. Und dann: auch wenn es uns vorübergehend gelingt, das Interesse des Sehens, des Sichtbar-Vorstellens zur ausschließlichen Herrschaft in uns zu bringen, die sichtbare Erscheinung der Dinge gleichsam loszulösen von allem, was die Dinge sonst sind und be¬ deuten, sie als etwas uns zum Bewußtsein zu bringen, dem ein selbstständiges Dasein zukäme, so gelangen wir dadurch, wie schon oben bemerkt, nur in einen traumhaften Zustand; dadurch, daß sich uns gleichsam die ganze Sub¬ stanz des realen Daseins auf den flüchtigen Stoff der Wahrnehmungen und Vorstellungen eines einzelnen Sinnes reducirt, verlieren wir den Boden der realen Welt unter den Füßen; dadurch, daß wir selbst an einer Wirklichkeits¬ gestaltung mit keinem größeren Theil unseres Organismus betheiligt sind, als erforderlich ist, um jene Wahrneh¬ mungen und Vorstellungen entstehen zu lassen, kommen wir uns in unserem eigenen Dasein herabgesetzt und gleich¬ sam darauf beschränkt vor, der Schauplatz zu sein, auf dem gespensterhafte Bilder sichtbarer Dinge entstehen und vergehen, in bunter wechselvoller Menge ihr phantastisch¬ willkürliches Spiel treiben. Die Thatsache, daß der Künstler zu einer mechanischen Thätigkeit greift, sich der mühevollen Bearbeitung eines Stoffes unterzieht, um ein Sichtbares herzustellen, läßt sich nur erklären, wenn man eben bedenkt, wie unselbst¬ ständig und befangen die Sichtbarkeit der Natur bleibt, so lange sie sich nur in Wahrnehmungen oder in einem inneren Vorstellungsverlauf darstellt. Zunächst kann sich nur in der Thätigkeit das Interesse an der Sichtbarkeit eines Dinges so isoliren, daß die Vorstellung eines Gegen¬ standes, an dem die Sichtbarkeit erscheint, gänzlich schwindet und diese letztere zu einer selbstständigen Form des Seins wird. Der Künstler wird an sich die Erfahrung machen. Je mehr und mehr er sich nicht mehr bloß mit dem Auge oder mit der Einbildungskraft, sondern mit seiner ganzen Person, mit der Empfindungsfähigkeit seines ganzen Kör¬ pers, mit der Thätigkeit seiner Hände in den Vorgang verstrickt fühlt, der mit der Wahrnehmung des Gesichts¬ sinnes beginnt und mit der äußerlich sichtbaren Darstellung endet, desto mehr scheidet er aus allen den Beziehungen zu den Dingen aus, die vorher Macht über ihn hatten. Erst dadurch, daß er nicht mehr bloß als wahrnehmendes, vorstellendes, sondern als thätiges, äußerlich thätiges Wesen an der Sichtbarkeit der Dinge betheiligt ist, wird ihm diese voll gegenwärtig, und je mehr sie ihn mit ihrer lebendigen Gegenwart erfüllt, desto mehr wird alles von ihm hinwegtreten, was sich sonst bei der Betrachtung der Dinge in den Vordergrund seines Bewußtseins drängte und die Sichtbarkeit verdunkelte. Nur in seiner Thätig¬ keit wird der Künstler das Bewußtsein gewinnen, daß ihm eine Seite der Welt anvertraut ist, damit er sie zum selbst¬ ständigen und gestalteten Dasein bringe. Und ferner wird es auch nur vermittelst der künstlerischen Thätigkeit ge¬ lingen, jener Flucht der Vorstellungen, der wir anheim¬ gegeben sind, so lange wir uns nur sehend oder Sehbares in unserem Inneren reproducirend verhalten, Einhalt zu gebieten und uns der einzelnen Erscheinung in einem klaren und bestimmten Erzeugniß zu bemächtigen. Es kann wie ein Verzicht, wie eine Beschränkung erscheinen, wenn wir den Künstler mit einem Einzelnen, Begrenzten beschäftigt sehen, wo wir nur die Augen aufzuschlagen, nur unseren Vorstellungen den Lauf zu lassen brauchen, um mühelos ein ungeheures Reich der Sichtbarkeit zu gewinnen. Aber wenn wir es uns nahe bringen können, daß die Sichtbarkeit der Dinge, so lange sie nichts weiter Fiedler , Ursprung. 9 ist, als äußere Wahrnehmung oder Vorstellung unseres inneren Sinnes, jedem Eingehen in eine selbstständige Gestaltung, in der sie uns angehören könnte, widerstrebt, daß sie die Thätigkeit der Künstlers fordert, um sich aus der Verworrenheit und Flüchtigkeit ihres Daseins herauszuarbeiten, daß diese Thätigkeit nur im Einzelnen möglich ist, so werden wir in jener anscheinenden Beschränkung vielmehr eine Befreiung erkennen. Was die Sichtbarkeit der Dinge nicht sein kann, so lange sie noch der Natur anhaftet, so lange sie nur an etwas erscheint, was sich uns gerade dadurch als Natur zeigt, daß es ein Gegenstand der mannichfaltigsten sinnlichen Wahrnehmung ist, so lange sie verflochten bleibt in das Gewirre der un¬ aufhörlich wechselnden sinnlich-geistigen Vorgänge, in denen sich uns das Vorhandene darstellt, das wird sie durch die Thätigkeit des Künstlers. Nur in dieser Thätigkeit ringt sich das, was an einem sichtbaren Dinge dessen Sicht¬ barkeit ist, von dem Dinge los und tritt nun als freies selbstständiges Gebilde auf. Damit dies aber möglich sei, bedarf es eines Stoffes, der selbst wiederum sichtbar ist, und durch dessen Bearbeitung es möglich wird, jene Sicht¬ barkeitsgebilde thatsächlich herzustellen. Wenn wir den Künstler einestheils mit der Natur, anderentheils mit einem Material beschäftigt sehen, um ein Drittes hervorzubringen, was weder Natur im ge¬ wöhnlichen Sinne, noch bloßes Material ist, so ist der Sinn seines Thuns ein doppelter. Auf der einen Seite wird die Natur insofern ihres Wesens entkleidet, als in dem entstehenden Dritten von alledem, was wir an der Natur wahrnehmen und was uns dieselbe zur Natur macht, nichts anderes mehr vorhanden ist, als das, was dem Auffassungsgebiete des Gesichtssinnes angehört; auf der anderen Seite wird das Material dadurch zu einem geläufigen Ausdrucksmittel der Sichtbarkeit gemacht, daß in seiner Verwendung und Bearbeitung alle seine stoff¬ lichen Eigenschaften nur insoweit Berücksichtigung finden, als sich an ihnen die Veränderung, Gestaltung, allmählige Entwickelung eines Gesichtsbildes vollziehen läßt. Die Natur erfährt in diesem Vorgange eine Umwandlung, insofern mehr und mehr alles aus ihr verschwindet, was in ihrer gegenständlichen Erscheinung auf einem Zusammen¬ treffen wechselnder und in beständiger Veränderung be¬ findlicher Eindrücke verschiedenster Art beruht; der Stoff wird gleichsam zur Verleugnung seiner selbst gezwungen, insofern er nur dem Zwecke dienstbar gemacht wird, ein so stoffloses Gebilde wie die dem Gesichtssinn sich dar¬ stellende Gestalt der Dinge an sich zum Ausdruck zu bringen. Das, was an der Natur erreicht werden muß, um sie zum künstlerischen Bild zu machen, kann nur ver¬ mittelst der Thätigkeit am Stoffe erreicht werden; das, was am Stoffe geschehen muß, um aus ihm ein Kunst¬ werk zu machen, kann nur durch die Natur erreicht wer¬ den, zu deren Ausdruck der Stoff fügsam gemacht wird. Nur dadurch, daß in der künstlerischen Thätigkeit Beides einer von einem bestimmten Streben beherrschten formen¬ den Behandlung unterliegt, kann jene Welt der Kunst ent¬ 9* stehen, in der sich die Sichtbarkeit der Dinge in der Ge¬ stalt reiner Formgebilde verwirklicht. Und hier gelangen wir zu einem von der gewöhn¬ lichen Auffassung abweichenden Begriff der künstlerischen Form. Wenn man von künstlerischer Form spricht, so pflegt man davon auszugehen, daß die sichtbare Natur, die man als Grundlage aller künstlerischen Thätigkeit be¬ trachtet, ihrer sichtbaren Form nach bestimmt sei, daß aber der Künstler den Beruf habe, die natürlich gegebene Form nach bestimmten Gesichtspunkten zu einer anderen, der natürlichen mit selbstständigem Recht gegenüberstehenden Form umzubilden. Offenbar kann man in gewissem Sinne schon da, wo die Sichtbarkeit noch auf die Vor¬ gänge in den Organen der Wahrnehmung und Vorstellung beschränkt ist, von einer sichtbaren Form reden; denn sonst könnte uns überhaupt nichts als sichtbar erscheinen. Aber wir haben gesehen, daß diese sichtbare Form befangen ist in der Verworrenheit, die eben in jenen unentwickelten Gebieten des Bewußtseins herrscht, daß sie unbestimmt ist, insofern das Bewußtsein, so lange es an bloße Wahr¬ nehmungen und Vorstellungen gebunden ist, über keinerlei Mittel verfügt, durch welche jene Form zu bestimmen wäre. Der künstlerische Vorgang stellt, wie es jeder geistige Vorgang thut oder wenigstens thun sollte, einen Fortschritt dar von der Verworrenheit zur Klarheit, von der Unbestimmtheit des innerlichen Vorganges zu der Be¬ stimmtheit des äußeren Ausdrucks. Wenn es nur durch die künstlerische Thätigkeit möglich ist, die Form, in der uns die sichtbare Natur erscheint, aus der Verworrenheit zu reißen und zum klaren Ausdruck zu gestalten, so folgt daraus, daß die Form, die aus der künstlerischen Thätig¬ keit hervorgehen soll, die künstlerische Form, nicht auf einer Entfernung von der Natur beruhen darf, sondern auf möglichster Annäherung an die Natur beruhen muß. Die Einsicht, daß dem menschlichen Geist das reine und klare Gebiet der sichtbaren Form der Dinge verschlossen bleibt, so lange sich seine Auffassung des Sichtbaren nur in unmittelbaren oder reproducirten und associirten Wahr¬ nehmungen vollzieht, führt zu der anderen Einsicht, daß es der küntlerichen Thätigkeit bedarf, um der sichtbaren Form der Natur nur überhaupt nahe kommen zu können. Nicht anders ist es ja auf anderen Gebieten geistigen Er¬ fassens und Erkennens. Nur dem zum äußeren Ausdruck, zur Form entwickelten geistigen Vorgang ist es gegeben, das innerste Wesen der Natur zu ergreifen. Künstlerische Form und natürliche Form stehen sich also in keinem anderen Sinne gegenüber, als in dem, daß erst in der künstlerischen Form die natürliche Form erkannt zu werden vermag. Als gesund und echt wird sich nun die künstlerische Thätigkeit nur dann erweisen, wenn sich alle Handlungen, die der Künstler vornimmt, zurückführen lassen auf den einen Ursprung, die Wahrnehmung durch den Gesichtssinn, wenn der gesammte künstlerische Vorgang nichts anderes ist, als ein nicht mehr bloß durch die Augen, sondern durch den ganzen handelnden Menschen vollzogenes Sehen. Und es ist klar, daß die Gebilde, die sich so aus dem thätig gewordenen Sehvorgang entwickeln, so unendlich verschieden sie sich darstellen mögen, bestimmten gleichmäßigen For¬ derungen genügen müssen, welche das Bewußtsein an die Sichtbarkeit stellt. Es kann sich nicht darum handeln, der künstlerischen Thätigkeit von vornherein Gesetze vorzu¬ schreiben, die von ihr befolgt werden müßten, sofern sie den Anspruch erheben wolle, wirkliche und nicht nur schein¬ bare Kunstwerke hervorzubringen. Aber wo immer die künstlerische Thätigkeit sich treu bleibt, da wird sie nicht eher ruhen können, als bis ihre Gebilde in eine Form eingegangen sind, die thatsächlich eine gesetzmäßige ist. Und da diese Gebilde nur um ihrer Sichtbarkeit willen hervor¬ gebracht werden, so kann sich auch jene Gesetzmäßigkeit nur in denjenigen ihrer Eigenschaften offenbaren, durch die sie sich dem Gesichtssinn darstellen. Alle Forderungen, die von anderen Standpunkten aus, mögen dieselben sein, welche sie wollen, an seine Thätigkeit gestellt werden, muß der Künstler rücksichtslos zurückweisen, sofern sie ihn in seinem eigensten Streben hemmen und beeinträchtigen. Mag man es als eine Beschränkung auffassen, wenn der Kunst nur jene eine Aufgabe zugewiesen und sie eines Abfalls von sich selbst beschuldigt wird, sofern sie sich Forderungen und Gesetzen unterwirft, die im Interesse der Erfüllung anderer Aufgaben formulirt werden; wahrhaft beschränkt ist die künstlerische Thätigkeit doch nur durch alle die ihrem Wesen fremden Ansprüche, denen sie sich ausgesetzt sieht. Und was geschieht? Die geringe, schwache künstlerische Anlage wird verwirrt, geschädigt, vernichtet, oder sie macht sich den herrschenden Irrthum über das Wesen der Kunst zu Nutze, um die thatsächliche Schwäche durch einen falschen Schein von Größe zu verdecken; das kräftige, unmittelbare Talent hingegen wird jeden Zwang durchbrechen und seine selbstständigen Thaten an die Stelle fremder Forderungen setzen. Nur wenn wir uns von der Voreingenommenheit frei¬ machen, als ob die Kunst der Erfüllung von Aufgaben zu dienen habe, die anderen Gebieten des Lebens entnommen sind, werden wir ihrem inneren Leben zu folgen vermögen; erst dann wird sie uns aus allen Beschränkungen gleich¬ sam in die Freiheit der Natur entlassen scheinen. Nicht als ein nothwendiges Glied in einem ihr fremden Zu¬ sammenhange vielfacher Lebenszwecke werden wir sie mehr betrachten, sondern wie eine Erscheinung, die überall her¬ vortreten muß, wo menschliche Zustände sich entwickeln. Und für die Nothwendigkeit dieses Auftretens werden wir keinen anderen Grund beibringen, als den, daß es immer Menschen geben wird, die in der Wahrnehmung durch das Auge, die ihnen mit einem Schlag die sichtbare Welt zu enthüllen scheint, doch nur einen Hinweis, einen Zugang erblicken, zu einem Reiche der Sichtbarkeit, in welches nicht mehr das Auge, sondern nur die Sichtbares gestaltende Thätigkeit vordringen kann. Wir mögen unseren Blick wenden, wohin wir wollen, auf die ursprünglichsten Zu¬ stände menschlich-gesellschaftlichen Daseins, in die dunkelsten Zeiten der Geschichte, nach den entlegensten Culturgebieten, überall werden wir künstlerisches Bemühen erwachen und erblühen sehen; bald nur kümmerlich und bescheiden sich hervorwagend, bald gesund und kräftig sich entfaltend, bald wuchernd und verwildernd. Und wenn oft lange Zeit hindurch der unzulänglichen Begabung nur die äußeren Gebiete jenes Reiches des sichtbaren Seins zugänglich bleiben; so staunen wir mit Recht, wenn wir bei einzelnen Völkern und während eng begrenzter Zeiträume wahr¬ nehmen, daß sich plötzlich jenes Reich vor der ungewöhn¬ lichen Kraft bis in seine innersten Räume aufthut und uns einen herrlichen Reichthum vollendeter Gebilde offenbart. Das unendlich verschiedene Maß an jeweilig vor¬ handener künstlerischer Kraft ist es auch allein, welches den Gang der Kunst bestimmt. Wohl bilden sich unter all den Erzeugnissen, die bei aller Verschiedenheit ihrer Erscheinung und ihres Entwickelungsgrades doch einem gleichartigen Bedürfniß und einer gleichartigen Begabung entspringen, über zeitliche Abstände und räumliche Tren¬ nungen hinweg mancherlei Abhängigkeitsverhältnisse. Durch die thatsächlichen Anregungen, die das Spätere von dem Früheren empfängt, verbunden mit dem Neuen, was das Spätere vor dem Früheren voraus hat, wird die Annahme begünstigt, daß die künstlerische Leistungsfähigkeit der Men¬ schen sich in einem großen Entwickelungsgange von dem Niederen zum Höheren, von dem Unvollkommenen zum Vollkommneren bewege. Und doch ist die Macht, die der geschichtliche Zusammenhang auf das künstlerische Thun ausübt, unendlich geringfügig im Vergleich zu der Macht, die die Natur über dasselbe ausübt, indem sie den Men¬ schen mit mehr oder weniger gestaltender Begabung aus¬ stattet. Wir können den Künstler auf die Höhe einer Jahr¬ hunderte, Jahrtausende langen Entwickelung stellen, er wird dadurch nicht den geringsten Zuwachs an jener Kraft er¬ halten, durch die allein irgend eine künstlerische Aufgabe gelöst werden kann. Mit dieser Kraft steht der Künstler, welchem Volke, welcher Zeit er angehören mag, der Natur doch immer wieder unmittelbar gegenüber, und hat sich zu bethätigen, als ob er der Erste und auch der Letzte wäre, der der Natur das Geheimniß ihrer sichtbaren Er¬ scheinung abverlangte. Und damit hängt es endlich auch zusammen, daß die künstlerische Arbeit immer eine fragmentarische bleiben muß. Sie stellt sich dar als ein immer und überall sich wiederholender, zu den verschiedensten Graden des Ge¬ lingens führender Versuch, in das Gebiet des sichtbaren Seins vorzudringen und es in gestalteter Form dem Be¬ wußtsein anzueignen. Es kann aber nur zu Mißverständ¬ nissen führen, wenn man in ihr eine fortschreitende Be¬ wegung nach einem Ziele sucht, zu dessen Erreichung alle künstlerischen Leistungen nur als Vorstufen zu betrachten seien. Die Aufgabe der Kunst, wenn man von einer solchen reden will, bleibt immer dieselbe, im Ganzen un¬ gelöste und unlösbare, und muß immer dieselbe bleiben, so lange es Menschen giebt. Aus der Bedeutung, die der künstlerischen Thätigkeit den obigen Ausführungen nach zukommt, ergeben sich nun auch mancherlei Folgerungen für die Art und Weise, in der ein jener Bedeutung entsprechendes Verhältniß zu vor¬ handenen Kunstwerken gewonnen werden kann. Wenn sich der künstlerische Vorgang so von allen übrigen Thätigkeiten des Menschen ablösen könnte, daß er ganz ausschließlich zum Ausdruck seiner selbst würde, so könnte ein Verkennen oder ein Mißverstehen desselben nicht stattfinden. Dem ist aber zweierlei hinderlich. Einmal unterliegt die Kunst¬ übung dem Schicksal alles Menschlichen: neben ihrer reinen Erscheinung tritt sie in allerhand Trübungen und Ver¬ fälschungen auf. Es ist so leicht, sich ihr äußeres Ge¬ bahren anzueignen; ist aber das künstlerische Thun nicht beherrscht und durchdrungen von jenem ausschließlichen Streben nach thätig-gestaltender Entwickelung der Gesichts¬ vorstellungen, so ist es eben nur ein scheinbares, äußer¬ liches, und wird den allerverschiedensten Liebhabereien, Interessen, Absichten dienstbar. Und dann, selbst wo die künstlerische Leistung rein und unverfälscht auftritt, da bleibt es doch immer unmöglich, zu verhindern, daß sie den Menschen um anderer Interessen willen wichtig er¬ scheine, als um des einzigen, welches für ihre Hervor¬ bringung maßgebend war. Denn das, was der Künstler thut, vollzieht sich nicht außerhalb der Wirklichkeit, sondern als eine Modifikation dieser Wirklichkeit. Der Künstler sucht dieser Wirklichkeit denjenigen Ausdruck zu geben, der seinem Streben nach Klarheit und Verständniß entspricht; aber wer dem Sinn dieses Ausdrucks kein Verständniß entgegenbringt, der wird an dem wesentlichen Inhalt des Kunstwerkes theilnahmlos vorübergehen und in ihm nur das wiederfinden, was ihn auch sonst an der Wirklichkeit Antheil nehmen läßt. Und überdies ist es ja nur natür¬ lich, daß Jedem die Kunst um derjenigen Eigenschaften willen vorhanden zu sein scheint, die seiner Empfänglichkeit, seinem Verständniß zugänglich sind. Denn es ist leichter, eine Leistung an dem eigenen geistigen Zustand zu messen, als sich dem Zustande, in dem man zu verweilen gewohnt war, entreißen und in Gebiete emporführen zu lassen, zu denen man aus eigener Kraft nicht gelangen konnte. Es ist hier nicht der Ort, im Einzelnen auszuführen, wie in Folge dieser Umstände auf dem Gebiete des Kunst¬ verständnisses die außerordentlichste Verwirrung entstanden ist. Im Allgemeinen ist es einestheils das Empfindungs¬ leben, anderentheils die denkende und auf ein Wissen ab¬ zielende Thätigkeit des Geistes, zu denen man vorhandene Kunstwerke in Beziehung setzt, um sie sich anzueignen. Wenn in den breiten Bildungsschichten diese Versuche, künstlerische Leistungen sich nahe zu bringen, in anspruchs¬ loser Vermischung erscheinen, so treten sie in den Kreisen derer, die, über so naive Standpunkte erhaben, bis in das innerste Geheimniß der Kunst vorgedrungen zu sein glauben, getrennt auf und kleiden sich in das vornehme Gewand philosophischer Prinzipien und wissenschaftlicher Methoden. Im Grunde aber kommt man auch hier über ein theils sentimentales, theils gelehrtes Verhältniß zur Kunst nicht hinaus. Je größer aber die Macht ist, die thatsächlich durch diese scheinbaren Arten des Kunstverständnisses über den geistigen Zustand der Menschen ausgeübt wird, desto entschiedener muß man auf den Irrthum hinweisen, der in der Meinung liegt, das, was auf künstlerischem Wege entstanden sei, könne in anderer als künstlerischer Weise begriffen werden. In dem Umstande, daß der Künstler seine Aufgabe nicht erfüllen kann, ohne Werke hervorzu¬ bringen, die, wie alles Vorhandene, zu Empfindungs¬ werthen und zu Gegenständen des Interesses für den denkenden Geist werden können, liegt keinerlei Grund da¬ für, daß man diese Werke ihrem Wesen nach verstanden habe, wenn man ihnen nach diesen Seiten hin gerecht ge¬ worden sei. Wohl aber liegt in dem Umstände, daß der Künstler in seiner Leistung ein ganz anderes Interesse an der Welt bethätigt, als das des Empfindens und des Denkens, ein sehr entscheidender Grund dafür, daß es weder dem Empfinden noch dem Denken jemals gelingen kann, den künstlerischen Schatz zu heben, der in dem Kunst¬ werk verborgen ist. Ja derjenige, der den Kunstwerken gegenüber sich von dem Interesse des Empfindens und Denkens nicht frei zu machen versteht, der ist noch nicht einmal an den Punkt gelangt, von dem der Künstler seinen Ausgang nimmt, und er kann keinen Zugang zu der eigent¬ lichen Welt gewinnen, von der das künstlerische Bewußt¬ sein erfüllt ist. Wird aber der Kunst gegenüber Alles verworfen, was einem anderen Interesse als dem des Sehens entspringt, so scheint thatsächlich kein anderes Organ des Kunstver¬ ständnisses übrig zu bleiben, als das sehende Auge. Und es fehlt ja auch nicht an Solchen, die immer und immer wieder darauf zurückkommen, man dürfe in der Kunst nichts anderes suchen, als was die Natur dem Auge offen¬ bare. Sie haben das Verdienst, die Schatten zu zerstreuen, durch die alle jene sentimentalen, gelehrten, philosophischen Bemühungen das reine Bild der Kunst verdunkeln. Während aber die sichtbare Natur ihr Dasein dem sehenden Auge ver¬ dankt, verdankt die Kunst ihr Dasein eben nicht mehr nur dem Auge, und darum ist es auch mit dem bloßen Sehen der Kunst gegenüber nicht gethan. Wenn Jenen zufolge alles Urtheil über Kunstwerke, alles Verständniß derselben auf einem Vergleich zwischen dem beruht, was man in dem Kunstwerke, und dem, was man in der Natur sieht, und wenn dem Kunstwerk ein um so höherer Rang an¬ gewiesen wird, je größer seine Uebereinstimmung mit dem Naturbilde ist; so steht dem entgegen, daß der Künstler, indem er sich sehend der Natur entgegenstellt, nur am An¬ fang einer Thätigkeit steht, aus der etwas hervorgeht, was das Auge, so lange es auf sich selbst angewiesen bleibt, an der Natur nicht leisten kann, und daß daher ein Ver¬ gleich zwischen Natur und Kunst immer weniger möglich ist, je weiter der künstlerische Proceß fortschreitet und sich entwickelt. Nur dadurch, daß man den Thätigkeitsvorgang erlebt, in dem sich Natur zum Kunstgebilde gestaltet, vermag man dem Künstler auf sein eigenes Gebiet zu folgen, ihn in seiner eigenen Sprache zu verstehen. Was nützt alles Sehen, wenn man sich nicht, unbefriedigt von allem Sehen, ergriffen fühlt von jenem Drange, das Sehen zur Thätig¬ keit zu entwickeln, und in immer sich steigerndem Ausdruck Natur als ein Sichtbares sich anzueignen? Dann aber ist es doch der Künstler allein, der den Künstler begreifen kann; dann sprechen die Künstler eine Sprache, die Nie¬ mand verstehen kann außer ihnen, weil nur sie die Fähig¬ keit besitzen, sie zu sprechen! Dann ist die Kunst, an der mehr als an etwas anderem alle Menschen ihr Recht geltend machen, eine Geheimschrift, zu der nur Wenige den Schlüssel haben, während die Anderen sich mehr oder weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß man von vornherein darauf verzichten, daß Kunst etwas Allgemeinverständliches sein könne. Dieses Gebiet mensch¬ licher Leistungen, welches so offen vor Aller Blicken zu liegen scheint, ist thatsächlich einem großen Theil der Menschen vollständig verschlossen. Denn wo sich in der Zusammensetzung der individuellen Natur das Bedürfniß nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußtsein, sofern es auf den Wahrnehmungen des Gesichtssinnes beruht, zu höheren Formen zu entwickeln, da fehlt jede Möglichkeit, der künst¬ lerischen Thätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo die Natur versagt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung helfen. Ja wo es zu einem Gegenstand der Bemühung, der Belehrung gemacht wird, den Einzelnen in eine Be¬ ziehung zur Kunst zu setzen, während die natürliche Be¬ dingung zur Entstehung eines solchen Verhältnisses nicht gegeben ist, da gewinnen begreiflicherweise alle die Ver¬ suche Spielraum, der Kunst von Standpunkten aus gerecht zu werden, um die es dem Künstler gar nicht zu thun ist. Ist aber jedes Verständniß der künstlerischen Thätig¬ keit von vornherein Vielen verschlossen, so ist das höchste erschöpfende Verständniß eines Kunstwerkes dem vorbe¬ halten, der das Kunstwerk hervorbringt. Der Künstler so gut wie Jeder, in dem sich das geistige Leben nach einer bestimmten Richtung hin über das gewöhnliche Maß ent¬ wickelt zeigt, eilt den Anderen voraus, und wird somit immer nur allein da anlangen können, bis wohin es ihm überhaupt zu kommen vergönnt ist. Welcher Künstler, auch wenn er Theilnahme, Beifall, Bewunderung findet, hat das Bewußtsein, ganz verstanden zu werden? Bleibt nicht das, was er da erreicht hat, wo seine Fähigkeiten sich zur höchsten Thätigkeit entwickelten, sein ausschlie߬ liches Geheimniß? Fühlt er nicht, daß er da, alle anderen Menschen gleichsam im Dunkel hinter sich lassend, zu einer Höhe künstlerischer Erkenntniß emporgestiegen ist, deren eben nur er in seiner Thätigkeit theilhaftig werden kann? Alles Verständniß, was ihm zu Theil wird, kann immer nur darauf beruhen, daß Andere sich einigermaßen in die besondere Entwickelung seines Bewußtseins einzuleben ver¬ mögen, die sich in seiner Thätigkeit vollzieht. Es wird immer nur ein annäherndes bleiben, weil jener Entwicke¬ lungsproceß selbst sich eben nur durch das eine Individuum bis zu der erreichten Höhe vollziehen konnte. Sind es nun die Künstler, die vor allen Anderen dieses annähernden Verständnisses für die künstlerischen Leistungen Anderer fähig sind, weil sie wenigstens aus eigenem Erlebniß den bildnerischen Vorgang kennen, in dem das Streben nach Entwickelung des Bewußtseins von einer sichtbaren Welt Befriedigung sucht, so ist doch jene natürliche Anlage, die in ihrer Steigerung sich als künst¬ lerische Thätigkeit darstellt, schon in geringerem Grade bei Vielen vorhanden, und diese sind es, die in sich selbst den natürlichen und unmittelbaren Zugang zu der Welt der Kunst finden. Was bei dem Künstler als entwickelte Fähigkeit auftritt, das zeigt sich hier als ein Bedürfniß, dem doch aus eigener Kraft nicht genügt werden kann. Während so Viele gar nicht ahnen, daß es auf dem Gebiete des Gesichtssinnes mehr giebt, als das bloße Sehen und Gesehenes Vorstellen zu bestimmten, dem Gebiete des Ge¬ sichtssinnes nicht mehr angehörigen Zwecken, gewinnt hier die bloße Thatsache, daß das Bewußtsein eines sichtbaren Seins gegeben ist, einen besonderen selbstständigen Werth. Mit dem vorherrschenden Interesse, welches der Sichtbar¬ keit als solcher gewidmet wird, verbindet sich die Einsicht in den unentwickelten, verworrenen Zustand, der dieser Sichtbarkeit anhaftet, verbindet sich das Bedürfniß, die Wahrnehmungen des Auges für das Auge in einer Ge¬ staltung sich verwirklichen zu sehen. Nur wer von Natur so geartet ist, vermag das innerlich mit zu erleben, um was der Künstler unablässig bemüht ist. Er wird sich den Werken der Kunst gegenüber nicht mehr bloß sehend verhalten, in dem Sinne, wie man sich sichtbaren Dingen gegenüber überhaupt sehend verhält, vielmehr wird er sich ergriffen fühlen von der Vorstellung der Thätigkeit, aus der jene Werke hervorgegangen sind. Indem er sich diese Thätigkeit zu vergegenwärtigen, ihr zu folgen sucht, wird er unwillkürlich hinweggeführt aus allen den Gebieten des Fühlens und Denkens, in denen er sonst der Wirklichkeit gegenüber verharrt, mehr und mehr löst sich die Verwirrung, in der für sein Bewußtsein die Sichtbarkeit der Dinge verstrickt war; er sieht sich thatsächlich in die reine Welt der Kunst erhoben, in der sich die Erscheinungen der Dinge seinem verstehenden Auge zur Bestimmtheit, zur Ordnung, zur Gesetzmäßigkeit gezwungen darbieten. Hier, aber auch nur hier, wird die Kunst zur Offenbarung; sie zeigt das wirklich gethan, wohin das Bedürfniß des Geistes drängt, in ihr findet eine immer lebendige Frage, die von dem Gesichtssinn an die sichtbare Welt gestellt wird, immer erneute Beantwortung. Auf Grund einer solchen Beziehung zur Kunst wird es möglich, auf dem weiten Gebiete der Production, auf dem, wie auf allen Gebieten menschlichen Strebens, neben der Stärke die Schwäche, neben dem Gelingen die Ver¬ irrung, neben dem Ernst der Trug liegt, diejenige Orien¬ tirung zu gewinnen, die dem Wesen der Kunst entspricht. Unter welchem noch so fremdartigen Gewand, in welchen noch so seltsamen Verbindungen irgend ein echtes Zeugniß künstlerischen Strebens den verwandten Geist trifft, da erfolgt ein unmittelbares Erkennen. Alle die tausendfäl¬ tigen Verschiedenheiten, die Zeit und Ort der Entstehung, Zugehörigkeit zu den mannichfaltigsten Stoffgebieten mit Fiedler , Ursprung. 10 sich bringen, versinken, und wir fühlen uns dem, was uns aus zeitlicher und räumlicher Ferne zukommt, nicht frem¬ der, als dem, was wir neben uns entstehen sehen. Durch alle zeitlichen und räumlichen Bedingungen hindurch sehen wir den Künstler im Grunde doch immer der Natur un¬ mittelbar gegenüberstehen, und wie wir die Natur als ein beständig Gegenwärtiges aufzufassen gewohnt sind, so blicken wir in das ganze Reich der Kunst mit keinem anderen Interesse, als daß sich uns in ihm in unvergänglicher Gegenwart ein entwickeltes und erhöhtes Bewußtsein der sichtbaren Welt offenbart. Nur so auch kann bei dem Einzelnen von einer künst¬ lerischen Cultur die Rede sein. Denn diese besteht nicht darin, daß wir uns gewöhnen, unter den Dingen, mit denen wir unser Dasein ausstatten, dem äußerlichen Schein der Kunst einen hinreichenden Platz einzuräumen; sie be¬ steht vielmehr darin, daß wir an der künstlerischen Pro¬ duction den dunklen und verworrenen Drang der eigenen Natur zum klaren Schauen entwickeln und uns in das besondere Weltbewußtsein hineinleben, welches in den Werken der Künstler zum Dasein gelangt. Haben wir einmal das eigene künstlerische Bedürfniß an der Betrach¬ tung vergangener, an dem Miterleben gegenwärtiger Kunst¬ thätigkeit entzündet, so fühlen wir unser geistiges Leben von dem Zuge einer neuen Entwickelung ergriffen. Wir stellen uns mit dem Künstler der Natur unmittelbar gegen¬ über und lassen uns leiten von der Kraft, die den sicht¬ baren Stoff der Erscheinungen, der auch vor unserem Be¬ wußtsein sich darstellt, zu zusammenhängenden und im höchsten Grade wahrhaftigen Bestandtheilen des sichtbar Seienden verarbeitet; und wenn wir von dem Streben, uns immer mehr und mehr in den Reichthum und die Mannichfaltigkeit der Kunst hineinzuleben, eine Erhebung erwarten, so kann es keine andere sein, als die Erhebung aus dem Zustande geistiger Unsicherheit und Veworrenheit zu der Höhe geistiger Klarheit und Beherrschung des Seien¬ den, die das Ziel jedes ernsthaften Strebens sein muß. 10 * 7. Es erübrigt, hier noch einige Bemerkungen anzufügen einestheils über das Verhältniß, in welchem jene künst¬ lerische Thätigkeit in dem oben entwickelten Sinne des Wortes zu der thatsächlichen Kunstübung steht, in der sich ja keineswegs immer jener Sinn lebendig erweist, anderen¬ theils über die Bedeutung, welche die Kunst, sofern sie in jenem Sinne verstanden wird, für die geistige Verfassung des Menschen gewinnt. Indessen muß hier zuvörderst einem Mißverständniß begegnet werden. Auf Grund der obigen Ausführungen könnte man sich zu dem Schluß berechtigt glauben, daß jeder, sei es ausübenden, sei es betrachtenden Beschäftigung mit der Kunst, sofern ihr nicht jener ausschließliche Sinn inne¬ wohne, die Daseinsberechtigung bestritten werden müsse. Stellt man sich nun vor, wie sich ein allenthalben er¬ wachsendes, mit jeder Generation sich erneuerndes Bedürf¬ niß des Bildens und Schaffens mit den verschiedensten Zwecken verbindet, nach den verschiedensten Richtungen sich auslebt, wie mannichfaltig und fruchtbar auf der anderen Seite die Bedeutung ist, welche die Beschäftigung mit der Kunst für die Menschen gewinnt, so wird man mit Recht denjenigen der Ueberhebung zeihen, der einer so reichen Welt des thatsächlich Vorhandenen von einem einseitig formulirten Standpunkt aus richtend und regulirend gegen¬ über tritt. Hier soll nun ausdrücklich betont werden, daß ein so anmaßliches Gebahren den vorliegenden theoretischen Ueberlegungen ganz fern liegt. Der alte erbitterte Kampf, den der Thätige gegen Theorie und Kritik führt, erneuert sich ja auch nur deshalb immer wieder, weil die Einsicht der Versuchung nicht widerstehen kann, sich in eine Macht verwandeln zu wollen, der sich Leben und Thätigkeit zu unterwerfen habe. Die Einsicht macht sich damit eines groben Irrthums schuldig. Mag die Thätigkeit, die Leistung sein, welche sie wolle, das Recht zum Dasein, und zwar so zu sein wie sie ist, wohnt ihr aus Gründen inne, die gar nicht vor das Forum theoretischer Ueber¬ legung gehören. Nur im Schaffen wird das Schaffen eine ebenbürtige Macht anerkennen, die zu besiegen oder der zu unterliegen ihr bestimmt ist. Die Einsicht hat es aber immer nur wieder mit Einsicht zu thun und wird sich selbst untreu, wenn sie sich zu verwerthen strebt, um praktische Herrschaft über etwas zu gewinnen, um dessen Erkenntniß es ihr ausschließlich zu thun sein kann. Wem es Ernst ist mit dem Begreifen der Erscheinungen des menschlichen Lebens, der wird so wenig auf den Gedanken kommen, Einfluß auf dieselben zu gewinnen, als es dem¬ jenigen, der die Vorgänge der Natur zu erkennen strebt, in den Sinn kommen kann, den Lauf der Natur ändern zu wollen. Auch liegen ja alle Erfolge, die das Denken erringen kann, auf seinem eigenen Gebiet; die Bemühungen, die es macht, um eine Herrschaft auszuüben, wo ihm keine Machtbefugniß gegeben ist, bleiben im Grunde erfolglos. Vergleicht man, welche Wege die Production geht, und welche Wege ihr von jeher alle diejenigen vorzuschreiben unternommen haben, die über der Production zu stehen meinen, weil sie dieselbe zum Gegenstand ihres Nachdenkens machen, so erscheint der thatsächliche Einfluß der Theorie so außerordentlich geringfügig, die Entwickelung der Pro¬ duction so selbstständig, zumeist den Vorschriften derer, die das Ziel aller künstlerischen Thätigkeit im Voraus zu kennen vorgeben, so zuwiderlaufend, daß es zu verwundern ist, wie ein so vergebliches Bemühen nicht ein für allemal aufgegeben worden ist. Hier also soll keineswegs der An¬ spruch formulirt werden, daß die Welt besser thäte, das bunte Kleid abzustreifen, mit dem eine von so verschieden¬ artigen Tendenzen bewegte Kunstübung, eine von so ver¬ schiedenartigen Bedürfnissen eingegebene Kunstbetrachtung sie schmückt. Wenn versucht worden ist, inmitten des ver¬ wirrenden Reichthums, zu dem das bildnerische Thun sich beständig entfaltet, des eigentlichen Urphänomens künst¬ lerischer Thätigkeit habhaft zu werden, so kann daraus keine andere Consequenz gezogen werden, als daß man zu der zweiten Einsicht fortschreitet, inwieweit alles das, was sich in das äußere Gewand der Kunst kleidet, sich auf jenen reinen Ursprung des künstlerischen Strebens zurück¬ führen läßt, inwieweit es hingegen in außerkünstlerischen Bestrebungen sein zweideutiges Herkommen hat. Und an¬ dererseits kann es in Betreff der vielseitigen Beziehungen, die sich zwischen den künstlerischen Leistungen und den be¬ trachtenden Menschen herstellen, nicht der Sinn der vor¬ ausgehenden Erörterungen sein, daß es überhaupt nur eine einzige Beziehung zur Kunst geben dürfe; wohl aber wird sich an die Einsicht, auf welche Weise allein dem Kunstwerk sein eigenster Inhalt abgewonnen werden könne, die Ueberlegung anschließen, welche Bedeutung dann der Entstehung und dem Vorhandensein von Kunstwerken für den Menschen beizulegen sei. Wie auch immer die Aufgabe formulirt werden mag, die der Künstler zu erfüllen habe, so ist es doch eine Ver¬ einigung von Anschaulichem und Nichtanschaulichem in einem gemeinsamen Ausdruck, die von ihm gefordert zu werden pflegt. So groß die Gegensätze sein mögen, durch welche die Ansichten über Kunst von den Höhen philosophischer Ueberlegung bis hinab in die breiten Schichten naiven Ge¬ nusses getrennt sind, immer ist es ein Zweierlei, dessen Vereinigung durch den Künstler im Kunstwerk voraus¬ gesetzt wird. Mag es mehr die denkende oder mehr die fühlende Natur des Menschen sein, in der der Ursprung für den wesentlichen Inhalt künstlerischen Schaffens gesucht wird, immer bleibt dem Künstler der unmittelbare Aus¬ druck versagt, und er sieht sich darauf angewiesen, das, was als der eigentlich bedeutungsvolle Inhalt seines Thuns ausgegeben wird, mittelbar an etwas zum Ausdruck zu bringen, was sich zunächst weder der denkenden, noch der fühlenden Natur des Menschen, sondern nur seinem Seh¬ vermögen darstellt. In Folge dessen sieht man davon ab, daß der Künstler im eigentlichen Sinne des Wortes doch nichts anderes zum anschaulichen Ausdruck bringen kann als eben Anschauliches, und schreibt ihm gleichsam eine Sprache, ein Ausdrucksmittel zu, dem das eigenthümliche Vermögen zustehe, Nichtanschauliches und Anschauliches in einem einheitlichen, untrennbaren Gebilde zu vereinigen. Es soll hier nicht von der Täuschung die Rede sein, die der Annahme einer solchen Möglichkeit zu Grunde liegt; die Folge dieser Auffassung, in so vielen Modificationen sie sich auch darstellen mag, ist aber immer, daß als die Aufgabe der Kunst die Verschmelzung von Sichtbarem und Nichtsichtbarem angesehen wird, und daß man den Werth der künstlerischen Leistung abhängig macht von dem Grade, in dem es gelungen sei, Form und Inhalt in eine neue Einheit zu verwandeln, die dann weder nur Form, noch nur Inhalt sein soll. Ueberlegen wir, was wir im Vorhergehenden versucht haben, als innersten Sinn künstlerischer Thätigkeit darzu¬ stellen, so leuchtet ein, daß wir zu einem ganz entgegen¬ gesetzten Ergebniß kommen müssen. Das Streben des Künstlers geht nicht auf einen Ausdruck, in dem verschieden¬ artige Interessen des Empfindens und Denkens sich zu einer Einheit verbinden; diese Einheit besteht in Wahrheit nicht; es kann dann nur von einem Product die Rede sein, von welchem, nicht anders als von einem Naturproduct, die mannichfaltigsten Anregungen ausgehen. Gerade aus dieser Concurrenz der Interessen, der der Mensch in der Regel unterworfen bleibt, sahen wir den Künstler sich retten. Freilich müssen wir auch im höchsten Kunstwerk einen Empfindungsgehalt und einen dem anschaulich Gebotenen zu entnehmenden nicht anschaulichen Inhalt thatsächlich an¬ erkennen; aber wir deuten diese höchsten Leistungen künst¬ lerischer Kraft nicht so, daß es in ihnen am vollendetsten gelungen sei, in bildnerischen Hervorbringungen, die zunächst nur dem Auge geleistet erscheinen, Anregungen für die Empfindung zu geben, im anschaulichen Ausdruck einen mannichfaltigen Inhalt zu vergegenwärtigen, der den ver¬ schiedensten Gebieten des Bewußtseins angehört, kurz in dem dem Auge sich darstellenden Gebilde möglichst vielen dem ganzen Bereich des Empfindens und Denkens ange¬ hörigen Forderungen Genüge zu thun. Im Gegentheil vermögen wir die erreichte künstlerische Höhe nur darin zu finden, daß das Interesse an der Entwickelung der im bildnerischen Proceß sich realisirenden reinen Gesichtsvor¬ stellung das Interesse an einer Ausgestaltung des bild¬ nerischen Erzeugnisses nach anderen Gesichtspunkten über¬ wachsen hat. Nur dadurch kann der Künstler von der Unverfälschtheit und Stärke seiner Begabung Zeugniß ab¬ legen, daß er die Rücksichten auf allerlei Gehalt und In¬ halt, die seine bildende Thätigkeit beeinflussen könnten, zurückdrängt und sich ganz allein von dem Streben nach Entwickelung des Gesichtsbildes bestimmen läßt. Und wenn man sonst im Kunstwerk dem, was sich ausschließlich dem Gesichtssinne darbietet, eine untergeordnete Rolle zuzutheilen pflegt im Verhältniß zu dem Empfindungs- und Gedanken¬ gehalt, als dessen Träger das sichtbare Gebilde betrachtet wird, so müssen wir dieses Verhältniß umkehren und alle Wichtigkeit, die einem Kunstwerk als solchem zugeschrieben werden kann, in seine Sichtbarkeit verlegen. Die vorurtheilsfreie Betrachtung derjenigen Werke, in denen die glänzendsten Bethätigungen künstlerischer Be¬ gabung vorliegen, kann dies nur bestätigen. Freilich wer¬ den dieselben Kunstwerke von jeder Theorie, die über die Aufgaben der Kunst formulirt wird, als Beweismaterial beansprucht und benutzt; dies ist aber nur dadurch mög¬ lich, daß man nicht darnach fragt, welches Interesse für den Künstler maßgebend war, als er sein Werk gerade so bildete, wie es thatsächlich vorliegt, sondern den Werth des Werkes aus demjenigen Interesse ableitet, mit dem man selbst demselben entgegentritt. Dem unbefangenen Blick kann es gar nicht verborgen bleiben, daß gerade die höchsten künstlerischen Leistungen sich dadurch kennzeichnen, daß bei ihrer Hervorbringung das Streben, in der bil¬ denden Entwickelung der Gesichtsvorstellung immer weiter vorzudringen, jegliche Rücksicht auf Werthe anderer Art weit hinter sich gelassen hat. Wo wir den Künstler von der Leidenschaft ergriffen sehen, die der Natur von dem Auge unmittelbar entnommene Gestalt bildend zu immer gegenwärtigerem Vorhandensein zu bringen, da nehmen wir zugleich wahr, daß für ihn dasjenige allen Werth ver¬ liert, was an dem Kunstwerk nur mittelbar und nicht durch dasselbe unmittelbar sichtbar zum Ausdruck kommen kann. Sind wir einmal zu der Erkenntniß gelangt, daß das Maßgebende für die sichtbaren Werke bildender Thätigkeit nicht in einem Zusammentreffen von empfindbaren und denkbaren, aber nicht sichtbaren Werthen, sondern aus¬ schließlich in dem sichtbar Erreichten liegt, so kann unser Urtheil über künstlerische Leistungen nicht mehr dadurch getrübt werden, daß es bald durch diesen, bald durch jenen Werth bestimmt wird, den unser Empfinden und unser Denken in ihnen wahrnimmt. Die ungeheure Welt der Kunst liegt klar vor unseren Augen. Was wir unmittel¬ bar durch den Gesichtssinn auf diesem reichen, in unend¬ licher Mannichfaltigkeit der Gestaltungen sich darstellenden Gebiete wahrnehmen, das, wissen wir, ist die ganz eigene Arbeit der besonderen künstlerischen Anlage, die dem Men¬ schen innewohnt; was wir nur mittelbar als der Empfin¬ dung oder der Reflexion zu gute kommend aus dieser Welt von Gebilden uns aneignen, das, wissen wir, sind Neben¬ werthe, die zwar durch die künstlerische Arbeit mit ins Leben gerufen werden, ohne jedoch als bestimmende Mächte da angesehen werden zu können, wo die bildnerische Arbeit unverfälscht auftritt. Und nun gewinnen wir all dem gegenüber, was unter dem großen Namen der Kunst zu¬ sammengefaßt wird, einen eigenthümlich bestimmten Stand¬ punkt. Es ist ein reiches, mannichfaltiges Bild, glänzend und von vielfacher Bedeutsamkeit, welches an uns vorüber¬ zieht, wenn wir uns in den Schatz der Denkmäler ver¬ tiefen. Was wir darin zu erkennen vermögen, wird aber nicht das Bild einer Entwickelung sein, in der sich das Einzelne in einem großen, einheitlichen Zusammenhange darstellt; vielmehr ist es das Schicksal, dem eine einfache und klare Thätigkeit der menschlichen Natur in den Ver¬ wirrungen des Lebens thatsächlich verfällt, worüber uns die unbefangene Betrachtung der dem Auge sich darbieten¬ den Leistungen belehrt. Gleichgültig wird uns jene Ge¬ schichte der Kunst werden, die alles in sich aufnimmt, was sich in das äußere Gewand der Kunst kleidet, und für die alles bedeutend ist, was von irgend einem Standpunkt aus von den vorhandenen Kunstwerken ausgesagt werden kann; nichts anderes wird sich uns in der Betrachtung jenes weiten Schaffensgebietes enthüllen, als die nie ruhende Bethätigung der besonderen Beziehung, in die der Mensch durch die künstlerische Begabung zur sichtbaren Welt ge¬ setzt wird. Sondert sich so vor unserem Auge aus der bunten verwirrenden Menge künstlerischen Thuns, von der sich das Leben jeder Zeit, jedes Volkes begleitet zeigt, der echte künstlerische Gehalt, der jenem Thun innewohnt, so müssen wir uns zunächst eingestehen, daß sich oft genug unter einem anspruchsvollen und glänzenden Schein künst¬ lerischen Hervorbringens ein recht kümmerlicher Gehalt verbirgt. Freilich ist in jeder Kunstübung, auch wenn sie noch so stümperhaft, noch so willkürlich nach entlegenen Zielen abgelenkt erscheint, eine Aeußerung ursprünglichen künstlerischen Könnens und Wollens verborgen, und anderer¬ seits sehen wir in Zeiten allgemeiner Verirrung auch große und selbstständige Begabungen auftreten; in ihnen scheint die Kunst gleichsam wieder zu sich selbst gekommen zu sein; aber sie führen ein vereinzeltes und oft verborgenes Dasein; die Entwickelung wird ihnen verkümmert durch das an¬ spruchsvolle Auftreten einer Kunstübung, die ihre eigene Schwäche durch falschen Glanz zu verdecken sucht. Ab und zu aber im Leben der Völker erfährt jene besondere Fähigkeit eine erstaunliche Steigerung; ein Interesse, welches sonst nur eine untergeordnete Rolle spielt, zuweilen nahezu ganz hinter anderen Interessen zurücktritt, erscheint plötzlich im Vordergrund des Lebens; leidenschaftlich drängt es den menschlichen Geist, die Grenzen seines Daseins nach dieser einen Richtung hin zu erweitern; zahlreiche Begabungen treten in den Dienst der einen Arbeit; es ist ein Wetteifer, um auf tausend Pfaden, die alle in der gleichen Richtung laufen, vorwärts zu kommen; es ist, als ob der Mensch vornehmlich um seines Sehens, die Welt vornehmlich um ihrer Sichtbarkeit willen vorhanden wäre. In solchen Zeiten ist es, wo wir die seltene geniale Kraft, der es zu allen Zeiten vorbehalten ist, eine ausnahmsweise Ent¬ wickelung des Bewußtseins zu vollziehen, dies gerade nach dieser einen Richtung hin vollbringen sehen; es entstehen jene Werke, in denen die Sichtbarkeit des Seienden in so vollendetem, überzeugendem Ausdruck gegenwärtig wird, daß sie uns wie mit der Macht der Offenbarung ent¬ gegentritt. In diesen sogenannten guten Zeiten der Kunst ist nun jenes Streben nach bildnerischer Entwickelung einer Sichtbarkeit so mächtig, die Begabung, diesem Streben Genüge zu thun, so stark und so weit verbreitet, daß sich das ganze Gebiet der Kunstübung davon beherrscht zeigt. Nicht nur da, wo der künstlerische Genius, frei von ge¬ botener Unterordnung unter einen vorgeschriebenen Zweck, ungehindert seine eigenste Bahn verfolgen kann, nein, bis in die Sphären hinab, wo ein praktisches Bedürfniß alles Recht an die Gestaltung eines geforderten Gegenstandes in Anspruch zu nehmen scheint, zeigt sich jene Macht. Wo nur immer das Auge einen Antheil hat an dem, was durch menschliche Arbeit hervorgebracht wird, da macht sich das Bemühen geltend, eine Form zu finden, die nur aus den Forderungen des Auges entstanden zu sein scheint. Es ist nicht das Streben, im anschaulichen Gebilde Nichtanschauliches, wie Bestimmung, Zweck des Gegenstandes, zum Ausdruck zu bringen, noch viel weniger das Bedürfniß, ein Symbol zu schaffen, in dem der reflectirende Geist die Anregungen vereinigt findet, das vorliegende Werk als im Mittelpunkt mannichfaltiger Be¬ ziehungen stehend aufzufassen, auch nicht der Wunsch, durch das, was dem Auge geboten wird, einen unmittel¬ baren Reiz auf die Empfindung auszuüben; es ist viel¬ mehr das Interesse des Auges, welches allein die formende Hand leitet. Dem Naturobject gegenüber, welches wir hinnehmen müssen, so wie es uns entgegentritt, dem Product menschlicher Thätigkeit gegenüber, für welches bald diese bald jene Rücksicht maßgebend erscheint, handelt es sich hier darum, daß etwas hervorgebracht wird, was nur um seiner Sichtbarkeit willen vorhanden zu sein scheint. Das Geheimniß sogenannter Stilisirung besteht darin, daß uns auch der gewöhnlichste Gegenstand des täglichen Lebens als eine zum bestimmten Gebilde entwickelte Gesichtsvor¬ stellung gegenwärtig zu werden vermag. So wenden sich die Erzeugnisse jener bevorzugten Zeiten der Kunst, von den Werken an, die nur um der künstlerischen Bethätigung willen vorhanden sind, bis hinab in die weiten Gebiete aller der Gegenstände, die dem täg¬ lichen Leben und dem Gebrauche dienen, vornehmlich an das Auge, nicht aber, um durch den Gesichtssinn auf die Gefühls- und Ideenwelt zu wirken, sondern in dem Sinne, daß eine weitverbreitete Begabung, was sie berührt, aus der Verworrenheit, in der alles beharrt, solange es der Concurrenz der Sinne, der Herrschaft der Gefühle, der Verstrickung geistiger Beziehungen unterworfen bleibt, er¬ löst und in den unmittelbaren Ausdruckswerth eines sicht¬ baren Seins verwandelt. In nichts anderem besteht der Zauber, der auf den Werken solcher Zeiten ruht, und der dieselben für das kundige Auge wie verklärt erscheinen läßt. Wenn aber schon in jenen Zeiten großer und weit¬ verbreiteter Begabung keineswegs überall jenes Streben so rein und mächtig auftritt, daß es zu einem vollendeten Gelingen führt, so kommt, sobald jene Begabung schwindet, vielfache Verwirrung zur Herrschaft. Damals war die gesammte künstlerische Thätigkeit, welchen Bedürfnissen sie auch sonst noch genügen mochte, von dem einen Bedürfniß durchdrungen, dem alle anderen Rücksichten geopfert wur¬ den, das Sein auf seine Sichtbarkeit zu reduciren und eine Ausdrucksform zu finden, die zunächst nur Existenz für den Gesichtssinn habe. Dieses Bedürfniß hatte die gesammte künstlerische Production bei aller ihrer sonstigen Verschiedenartigkeit zusammengehalten und hatte sie als einem großen Gesetz gehorchend sich darstellen lassen. Dieses Band nun lockert sich gar bald. Jenes die gesammte Kunst¬ arbeit beherrschende und nach einem Ziel hindrängende Princip kommt abhanden, und an seiner Stelle erhalten untergeordnete Rücksichten die Herrschaft über die bild¬ nerische Gestaltung. Auch in jenen seltenen Zeiten sehen wir auf dem Gebiete der Kunst eine unerschöpflich reiche Phantasie sich entfalten; wir nehmen wahr, wie dem Be¬ dürfniß nach Schmuck, nach Verschönerung der dem Auge sich darbietenden Seite des Lebens in immer neuer Weise ge¬ nügt wird; wir bewundern, in welcher Ausdehnung und mit welchem Erfolge die bildnerischen Ausdrucksmittel geschickt gemacht werden, Vorgänge, die das Interesse der Zeit in Anspruch nehmen, darzustellen, Ideen, von denen die Zeit bewegt ist, aufzunehmen. Diese Bestrebungen sind es, in denen man häufig genug den wesentlichen Inhalt jener großen künstlerischen Epochen sehen zu müssen glaubt, und von deren Förderung man sich die Erhaltung oder die Wiederherbeiführung künstlerischer Leistungsfähigkeit ver¬ spricht. Ihnen fällt die Führung unwillkürlich zu, wenn jene höchste Kraft erlahmt, der alle Phantasie, alles Schön¬ heits- und Darstellungsbedürfniß unterthan war. Unter ihrer Herrschaft tritt unaufhaltsam der Verfall der Kunst ein. Willkürlich wuchert die Production bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, sobald sie in allen ihren Aeußerungen nicht mehr jenem obersten Princip ge¬ horcht. Die Erfahrung lehrt dies deutlich genug. Sowohl in den Jahrhunderten, die der großen Zeit griechischer Kunst folgen, als auch in denen, die sich an die moderne Blütheperiode der Kunst anschließen, Jahrhunderten, denen auch unsere eigene Zeit angehört, nehmen wir kaum einen Nachlaß in der künstlerischen Thätigkeit wahr, soweit diese von den treibenden Mächten der Einbildungskraft, des Ver¬ langens nach Schmuck des Daseins, des Darstellungsbe¬ dürfnisses abhängt. Und doch hat in beiden Fällen der Niedergang der Kunst rasche und unaufhaltsame Fort¬ schritte gemacht. Nun steht die gestaltende Hand nicht mehr ausschließlich im Dienste des zum Ausdruck sich ent¬ wickelnden Sehprocesses; vielmehr ist es ebensosehr die Lust an decorativer Verwerthung der künstlerischen Mittel, die maßgebend wird für die schaffende Thätigkeit, wie der Hang, alles und jedes zum Gegenstand bildlicher Dar¬ stellung zu machen; allerhand Nebenwerthe treten an die Stelle der eigentlich künstlerischen Ausdruckswerthe. Wohl sehen wir das Beispiel großer Zeiten oft lange nachwirken. Die gewaltige Entwickelung, die unter den bildenden Händen zahlreicher bedeutender Künstler das Vorstellungsleben, es auf dem Gesichtssinn beruht, erfährt, stellt sich in Formen dar, die nachgeahmt und verwendet werden können; es ist wie eine reiche Erbschaft, die den nachfolgenden Zeiten zufällt. Die Herrschaft, die diese Formen über die bildnerische Thätigkeit der Folge¬ Fiedler , Ursprung. 11 zeiten ausüben, begründet eine Tradition, durch die schein¬ bar eine gewisse Höhe der Kunst erhalten wird. Indessen macht es sich nur zu bald geltend, daß jene Formen nur übernommen, nicht innerlich erlebt und selbstständig ent¬ wickelt sind. Da ihre Verwendung nicht auf einer inneren Nothwendigkeit, sondern darauf beruht, daß sie als erlern¬ bar bequem zur Hand sind, so schwächt sich ihre Macht allmählig ab; der Zusammenhang, in dem sie ursprünglich standen, lockert sich, und unter der Willkür unkünstlerischer Tendenzen geht mehr und mehr ihre Reinheit verloren. Die Geschichte so vieler künstlerischer Formen ist nur so zu verstehen. Nichts anderes ist sie als eine allmählige Degeneration. Und je mehr auch jene Scheinherrschaft, welche eine große Tradition über die künstlerische Thätig¬ keit ausübt, verloren geht, desto verworrener wird das Bild, was diese bietet. Welche sonderbaren Mächte sehen wir da zur Herrschaft gelangen! Ob es die niederen Bedürfnisse nach Abwechslung, Reiz, Unterhaltung sind, denen durch die Mittel der Kunst Befriedigung geboten werden soll; ob es die idealen Bestrebungen sind, die sich das Recht zuschreiben, auch die Kunst in ihren Dienst zu zwingen: der Erfolg wird immer der gleiche sein. Was sich unseren Augen darbietet, sobald wir uns von jenen großen Zeiten weg und der Kunstübung anderer Jahrhunderte zuwenden, ist ein Bild zunehmender Verwirrung, in dem uns mehr oder minder entstellte Bruchstücke aus den Errungenschaften jener seltenen Epochen daran mahnen, daß die Kunst über¬ haupt ein eigenes Gesetz besitzt, dem sie zu gehorchen hat. Was nun die Bedeutung anlangt, die der Entstehung und dem Vorhandensein künstlerischer Hervorbringungen für den geistigen Zustand der Menschen im allgemeinen zugeschrieben werden muß, sofern die Auffassung und das Verständniß der Kunst demjenigen Inhalt entspricht, den wir für die Production selbst als allein maßgebend be¬ zeichnet haben: so ist auf eins schon im Vorhergehenden hingewiesen worden, auf die Klarheit, die derjenige auf dem weiten und anscheinend so verworrenen Gebiete der künstlerischen Thätigkeit gewinnt, der sein Auge einmal jenem ersten und letzten Geheimniß der Kunst geöffnet hat. Alles das, was man wohl sonst zu ergründen sucht, wenn man das Verständniß eines Kunstwerkes zu erweitern und zu vertiefen bestrebt ist, die formalen Eigenthümlichkeiten, von denen bestimmte unmittelbare Wirkungen auf die Em¬ pfindung ausgehen, die Beziehungen, in denen das Werk dem Gegenstande der Darstellung nach zu mannichfachen Gebieten des Lebens steht, die Bedeutung, die es gewinnt, wenn man in ihm ein Resultat geschichtlicher Mächte und zugleich selbst eine Macht erblickt, von der geschichtliche Wirkungen auf die Gesammtheit des Culturlebens aus¬ gehen, alles das wird ihm das wahre Wesen des Kunst¬ werks weniger zu offenbaren, als vielmehr zu verhüllen scheinen. Denn er wird einsehen, daß durch die beständige Vermehrung der Gesichtspunkte, von denen aus die Be¬ trachtung der Kunstwerke unternommen wird, der eine Ge¬ sichtspunkt nur verdunkelt werden kann, von dem aus allein ein Eindringen in die künstlerische Qualität möglich ist. 11 * Daß dem Kunstwerk ein Werth für unser Empfinden inne¬ wohnt, daß in ihm eine Bedeutung zum Ausdruck gelangt, die wir nur auf dem Wege des Denkens uns aneignen können, sei es, daß uns ein Vorgang dargestellt, sei es, daß uns ein Symbol gegeben wird, daß diese Bedeutung wiederum weiter wirkt auf die Gesammtheit unseres den¬ kenden Lebens, dies alles wird ihm nicht viel wichtiger erscheinen als der Umstand, daß der Künstler, indem er durch und für den Gesichtssinn arbeitet, an einen sinnlich gegebenen Stoff gebunden ist, der nicht nur für den Ge¬ sichtssinn, sondern auch noch für andere Sinnesgebiete vorhanden ist. So gut er bei der Betrachtung des Kunst¬ werks davon absehen muß, daß das, was sich seinen Augen darbietet, zugleich ein tastbarer Gegenstand ist, so gut muß er auch davon absehen, daß der Künstler bei seiner Ge¬ staltung noch in anderem Sinne an einen Stoff gebunden ist, der nicht nur für das Auge, sondern für das gesammte Fühlen und Denken vorhanden ist. Nur wenn ihm das gelingt, wird er durch alle die Hüllen, die zufolge jener doppelten stofflichen Gebundenheit das Kunstwerk umgeben, bis zu dem innersten Kern des künstlerischen Schaffens hindurchdringen. Hatte jener gewaltige bald mehr gelehrte, bald mehr philosophische Apparat, mit dem er der Kunst sich gegenüber zu stellen angeleitet worden war, seinen Blick nur getrübt, so liegt es nun klar und offen vor ihm, was der beharrende Sinn in allen den nach Zeit und Ort so tausendfach abwechslungsreichen Gestaltungen ist; in allen Metamorphosen erkennt er ihn, und nur ihn wieder; er verfolgt ihn in seinen schwächsten und verborgensten Spuren so gut wie da, wo er aus vollendeten Leistungen mächtig zu ihm spricht. Nun erst erscheint ihm die Kunst als ein eigenthümliches, in sich abgeschlossenes Gebiet menschlicher Thätigkeit; nicht mehr im Zusammenhange mit allen Seiten des geistigen Lebens stellt sie sich ihm dar, sondern diesem Zusammenhange entwunden als eine von den ursprünglichen, ein Reich für sich bildenden Bethäti¬ gungen der menschlichen Natur. Aber es ist noch eine andere, viel werthvollere Klar¬ heit, die demjenigen zu Theil wird, der die Kunst ihrem wahren Wesen nach zu verstehen trachtet. Zwar kann man sich im allgemeinen schwer von der Ansicht losmachen, daß nur derjenige eines vollen und tiefen Erfassens des Kunstwerks fähig sei, der mit allen Seiten seiner empfin¬ denden Natur, mit allen Interessen seines denkenden Geistes der formalen Beschaffenheit und der inhaltlichen Bedeutung desselben gerecht zu werden suche. Es wird dadurch ein Eindruck, ein Erlebniß erzielt, wie es allerdings nur dem Kunstwerk verdankt werden kann, da sich nur in ihm die Möglichkeiten zu so verschiedenartigen und weittragenden Wirkungen vereinigt finden. Auch ist der Erfolg eines so allseitigen Eingehens auf ein vorliegendes Werk ein ganz eigenthümlicher und mit nichts anderem vergleichbarer. Wer ihn an sich erleben will, der isolirt sich mit dem Kunstwerke, schließt sich so viel als möglich von allem ab, was abgesehen von demselben auf ihn wirken könnte; er versenkt sich in dasselbe in dem Sinne, daß alles, was in ihm vorgeht, seinen Ursprung in der Betrachtung des Werkes hat. Aus dem dauernden Anblick desselben ent¬ wickelt sich eine ganze Welt in ihm; alle Forderungen, die die Fähigkeiten seiner Natur stellen, finden hier ihre zeit¬ weilige Befriedigung. Von dem Werke geht, sich immer er¬ neuernd, das Wohlbehagen aus, welches aus dem Reiz des unmittelbaren Anblicks entspringt; aus der nächsten Deutung, die der denkende Geist dem Dargestellten giebt, entfalten sich Beziehungen auf Beziehungen, und die ursprünglich begrenzte Bedeutung erscheint ins Unendliche erweitert. Das Be¬ dürfniß, die Tiefe des Gefühls, die Kraft der Leidenschaft dem zu leihen, was vor das Bewußtsein tritt, vereinigt wie in einem homogenen Elemente alle die Anregungen, die von dem Kunstwerke ausgehen, und indem die Wirkung des Gesehenen auf das Gemüthsleben sich steigert, scheint erst der ganze unbegrenzte Gehalt, der aus dem Werke dem menschlichen Bewußtsein zufließt, seine wahre Bedeu¬ tung und seinen maßgebenden Werth für den Menschen zu erhalten. Es ist ein extensives und intensives Sich¬ aneignen, welches einer unbegrenzten Steigerung fähig er¬ scheint, und wodurch allein es möglich wird, daß ein in so engen Grenzen eingeschlossenes Ding, wie das Kunst¬ werk thatsächlich ist, seine Macht über die ganze innere Welt des Menschen ausdehnen kann. Die höchsten Bei¬ spiele solcher Wirkungen wird man immer auf dem Gebiete der religiösen Kunst finden. Hier vereinigt sich mit der sinnlichen Macht, die das sichtbar uns Entgegentretende ausübt, diejenige geistige Macht, der keine andere an Tiefe der Wirkung gleichkommt. Das religiöse Interesse, einmal erregt, verbreitet sich nicht nur über das intellectuelle Leben des Menschen, es greift an die Herzen, dringt in alle Kräfte des Gemüths, bewegt alle Leidenschaften. Es ist bezeichnend, daß schon eine sehr rohe Kunst, sobald sie mit der eindringlichen Sprache, die nur dem bildlichen Ausdruck zu Gebote steht, dem Menschen jenes Gebiet nahebringt, auf dem seine wichtigsten Güter, seine sicher¬ sten Besitzthümer, seine letzten Hoffnungen liegen, einer tiefgehenden Wirkung sicher ist. Und dazu tritt in den höheren Regionen der Kunst der ganze Zauber der Schön¬ heit und Phantasie, der sich über die Welt religiöser Vor¬ stellungen ausbreitet, die ganze Gewalt sinnenfälliger Ge¬ staltung, die uns, wo wir nur unbestimmt ahnend und glaubend uns zu verhalten wagten, eine Welt bestimmtester, unauslöschlich sich uns einprägender Bilder bietet. Es ist nicht zu verwundern, daß Viele der Ansicht sind, die Kunst vermöge nur in Verbindung mit der Religion ihre höchste Bestimmung zu erreichen, so wie ja auch ihre Anfänge von der Nothwendigkeit jener Verbindung Zeugniß ab¬ legten. So mächtig und bedeutungsvoll nun aber auch die Wirkungen sein mögen, die von der Kunst in diesem Sinne ausgehen, und von denen die Wirkungen der religiösen Kunst das recht eigentlich vorbildliche Beispiel sind, so darf man doch nicht verkennen, daß diese Wirkungen sehr zu¬ sammengesetzter und unklarer Natur sind. Ueber der Ge¬ walt der Erregung versäumt man leicht die Prüfung, welcher Art diese Erregung ist. Betrachten wir den Zu¬ stand genauer, in dem wir uns selbst befinden, sofern wir uns mit der Lebendigkeit unserer Empfindung, mit der Reichhaltigkeit unserer geistigen Interessen, mit allen Fähig¬ keiten unseres Gefühllebens rückhaltlos den Anregungen überlassen, die von einem Kunstwerk ausgehen, so werden wir finden, daß wir recht willenlos einem ununterbrochenen Wechsel verschiedenartiger innerer Zustände anheimgegeben sind. Bald bleibt das unseren Augen sich darbietende Bild mit seinen unmittelbaren Wirkungen auf die Empfindung im Vordergrunde des Bewußtseins, bald wird dieser un¬ mittelbare Eindruck verdrängt, und es gewinnen die geistigen Anregungen die Oberhand, die uns von dem, was wir sehen, hinweg in allerhand Gebiete des Wissens und Den¬ kens führen, bald drängen sich die geheimen Mächte des Gemüths hervor, und indem sich uns im Bilde unmittel¬ bar vergegenwärtigt, was uns rühren und ergreifen kann, sind wir doppelt erregt und erschüttert. Wenn wir dies alles, was in raschem Wechsel in uns vorgeht und uns nach allen Seiten unseres Wesens in Anspruch nimmt, auf den einen Mittelpunkt, das Kunstwerk beziehen, mag es uns wohl scheinen, als ob wir eines einheitlichen Ge¬ sammteindruckes theilhaft würden; bei näherer Prüfung aber werden wir der Täuschung inne und gestehen uns den verworrenen und verschwommenen Zustand ein, in den wir versetzt worden waren. Und ferner werden wir uns nicht verhehlen können, daß die Befriedigung, die Erhebung, die wir der Kunst in jenem Sinne verdanken, im Grunde doch auf eine Art Selbstgenuß hinausläuft. Es ist ein Zustand passiver Empfänglichkeit, dem wir uns hingeben, und je reicher sich in uns bei der Betrachtung eines Kunst¬ werks jenes Durcheinanderwogen von Vorgängen des Em¬ pfindens, des Denkens, des Fühlens entwickelt, desto mehr geht die aktive Energie unseres Geistes in einem allge¬ meinen Wohlbehagen unter. Hierin liegt der Grund, daß, so hoch auch die Kunst in der Meinung der Menschen stehen mag, doch immer ein bestimmter Gegensatz zwischen ihr und jenen ernsthaften Thätigkeiten festgehalten wird, von denen nicht so sehr ein Genuß, als vielmehr eine geistige Förderung erwartet wird. Auch braucht es nicht ein Zeichen von Uncultur zu sein, es kann vielmehr von Kraft und Ernst des Geistes Zeugniß ablegen, wenn der Einzelne sich von der Kunst abwendet, sobald ihm die wahre Natur des inneren Zustandes klar geworden ist, in dem sich diejenigen befinden, die sich in der hergebrachten Weise ihren Wirkungen überlassen. Ja gewisse der neuesten Zeit angehörende Bewegungen, die entweder die Kunst überhaupt von dem Programm der bevorstehenden geistigen Entwickelung streichen möchten oder von ihr die Mitarbeit , an den ernsten Aufgaben wissenschaftlicher Forschung ver¬ langen, verdienen den Vorwurf geistiger Rohheit weniger deshalb, weil sie sich gegen die Rolle auflehnen, die die Kunst im geistigen Leben zu spielen pflegt, als vielmehr deshalb, weil sie aus einem Mißverständniß über die Be¬ deutung entspringen, die der Kunst auf Grund der Ein¬ sicht in ihr innerstes Wesen gebührt. Die Wirkungen, welche der Mensch von der Kunst empfängt, sobald er sein Verständniß ihrem innersten und doch nächstliegenden Sinne öffnet, ist in der That eine jener oben geschilderten ganz entgegengesetzte. Aus allem Vorhergehenden geht hervor, daß es nur dann gelingen kann, die Kunst in ihrer eigenen Sprache zu verstehen, wenn man dem Kunstwerk gegenüber vermag, nicht nur sich aus dem Gewirr concurrirender Sinneswahrnehmungen zu erheben, sondern auch allen Ideenverbindungen zu ent¬ sagen, zu denen sich der reflectirende Geist geneigt zeigt, auf den Genuß zu verzichten, den die Ausbeutung eines Eindrucks durch das Gefühl gewährt. An die Stelle jenes verworrenen Zustandes, in den wir die Menschen im allgemeinen durch die Kunst versenkt sahen, tritt nun ein einfaches und klares Bewußtsein; wir sehen uns durch die Kunst nicht mehr in jene unentwickelten und nicht ent¬ wickelungsfähigen Zustände entrückt, in denen wir willen¬ los dem Wechsel der verschiedenartigsten Eindrücke, Ge¬ danken, Gefühle hingegeben erscheinen, vielmehr fühlen wir uns in die Sphäre einer bestimmten zu immer zu¬ nehmender Klarheit fortschreitenden Thätigkeit erhoben. Wir sehen ein, daß uns der Künstler nicht hineinführt in eine Mannichfaltigkeit der Beziehungen zu den Dingen, die als solche sich nicht zur Klarheit und Bestimmtheit entwickeln kann, sondern daß er uns im Gegentheil her¬ ausführt aus dieser Mannichfaltigkeit und in seiner Thätig¬ keit nichts anderes darstellt als die Entwickelung jener einen Beziehung, auf Grund deren sich die Vorstellung einer Welt sichtbarer Dinge in uns bildet. Es ist klar, daß damit die Bedeutung der Kunst eine ganz andere für uns wird; an die Stelle des vielseitigen Interesses, welches wir an ihren Schöpfungen nahmen, tritt ein einseitiges; anstatt aber unser Bewußtsein zu verwirren und zu ver¬ dunkeln, und uns schließlich zu einem passiven Zustande des Genießens herabzudrücken, erhebt sie sich zu einer productiven Macht in uns und lehrt uns in einer be¬ stimmten Weise das Seiende zur Klarheit und Gewißheit entwickeln. Bedenken wir nun, daß, wenn der Kunst eine Be¬ deutung für den geistigen Zustand der Menschen im all¬ gemeinen zugeschrieben wird, diese Bedeutung doch in dem Sinne verstanden zu werden pflegt, daß sie in der Ge¬ sammtheit geistigen und seelischen Lebens zur Geltung komme: so scheint der Kunst überhaupt alle und jede Be¬ deutung abgesprochen zu werden, sofern wir ihre eigent¬ liche fachgemäße Wirkung darin erblicken, daß sie den Menschen dem Zusammenhange seiner vielfältigen Inter¬ essen entreißt und ihm das Dasein in einer durchaus ein¬ seitigen Weise zum Bewußtsein bringt. Die Frage wird uns nahe treten, welchen Werth der Mensch einer Thätig¬ keit beilegen könne, durch welche die Sichtbarkeit der Dinge jene bildnerische Entwickelung findet. Es ist klar, daß der vielfache Einfluß, der von der Kunst auf das Gesammtleben der Menschen thatsächlich ausgeht, und in welchem Bestimmung, Werth und Be¬ deutung der Kunst zu erkennen, ganz selbstverständlich er¬ scheint, vernichtet werden müßte, wenn es gelänge, die Menschen ausschließlich für jene reinste und höchste Wirkung der Kunst empfänglich zu machen. Kann man sich auf der einen Seite dieser Consequenz nicht ent¬ ziehen, und will man doch auf der anderen Seite das Vorhandensein einer allgemeinen Bedeutung der Kunst nicht dadurch ganz in Frage stellen, daß man in den¬ jenigen Bedeutungen, die ihr in dem Gesammtleben des Menschen beigelegt zu werden pflegen, doch nur Folgen eines mangelhaften oder falschen Verständnisses anerkennen muß: so scheint es unumgänglich, daß man nunmehr nach demjenigen allgemeinen Werth suche, welchen die Kunst auf Grund des ungetrübten Verständnisses ihres innersten Wesens zu erlangen bestimmt sei. Es scheint dies der nothwendige Abschluß jeder Untersuchung über die Be¬ deutung des künstlerischen Schaffens sein zu müssen. Und doch soll und kann hier diese schließliche Nutzanwendung nicht gezogen werden. Im Gegentheil gelangen wir hier am Ende unserer Untersuchungen zu der Einsicht, daß wir uns gerade deshalb, weil wir in uns die Trübungen zu ver¬ scheuchen gesucht haben, durch die uns der geheime Sinn der künstlerischen Thätigkeit verhüllt blieb, nun auch von dem Vorurtheil frei machen müssen, als ob wir den Werth dieser Thätigkeit in Wirkungen zu suchen hätten, die ganz anderen Gebieten des Daseins zu gute kämen. Wir lassen es dahin gestellt, wie weit man berechtigt ist, den Werth des gesammten Lebens abhängig zu machen von jenen idealen Mächten, in denen man die Bürgschaft einer stetig fortschreitenden Entwickelung zu haben scheint, dem Vorwärtsstreben des erkennenden Geistes, dem Bildungs¬ bedürfniß der sittlichen Anlage, der Sehnsucht der ästhe¬ tischen Empfänglichkeit: der Künstler — das haben wir gesehen — erreicht seine höchsten Ziele nicht dadurch, daß er seine Kraft diesen Mächten unterthan macht, sondern dadurch, daß er ihnen widersteht und im Siege über sie sich auf seinem eigenen Gebiete behauptet. Und so müssen wir auch die volle Consequenz anerkennen, daß, sofern die Kunst im höchsten Sinne das ist, als was wir sie darge¬ stellt haben, an ihrem Dasein keiner von den Bestandtheilen des geistigen, sittlichen, ästhetischen Lebens, an die man den Fortschritt, die Veredlung, die Vervollkommnung der menschlichen Natur gebunden erachtet, irgend ein Interesse haben kann. Erst wenn wir zu dieser Unbefangenheit der Kunst gegenüber gelangt sind, können wir ihr etwas ver¬ danken, was freilich etwas ganz anderes ist, als die För¬ derung unserer wissenden, wollenden, ästhetisch empfindenden Natur. Wir folgen dem Künstler, wo dieser sich erhebt aus dem großen Getriebe der Bestrebungen, die jedes Thun nur als Mittel zu einem Zweck, jedes Dasein nur als Vorbereitung auf ein zu erwartendes Dasein erscheinen lassen; nicht als Wirkung auf einem entlegenen Lebens¬ gebiete, noch auch von einer ungewissen Zukunft werden wir das erwarten, was uns die Kunst sein kann; was sie uns leistet, das leistet sie ausschließlich in sich und in jedem Augenblicke voll und ganz. Indem sie uns empor¬ führt zu dem Grade der Vergegenwärtigung des Seins, welcher sich in ihr verwirklicht, befreit sie unseren Geist unwillkürlich von allen den bedingenden Rücksichten, unter denen sich uns das Bild des Lebens darstellt, und erzeugt in uns eine Klarheit des Wirklichkeitsbewußtseins, in der nichts anderes mehr lebt als die an keine Zeit gebundene, keinem Zusammenhange des Geschehens unterworfene Ge¬ wißheit des Seins. Es mag dies denen nur als eine geringe aus der Kunst gewonnene Ausbeute erscheinen, die das menschliche Leben unter dem Gesichtspunkt einer Gesammtarbeit be¬ trachten, in der sich das einzelne individuelle Streben nur als Glied in der großen Verkettung einer nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung sich vollziehenden Entwickelung darstelle. Diese Ansicht wird jeder Erscheinung nur einen relativen Werth beilegen und sich damit trösten, daß der unabsehbare Fortschritt schließlich doch zu absoluten Werthen führen werde. Soviel auch diese Anschauungsweise zum Verständniß menschlicher Vorgänge beitragen mag, so ver¬ mag sie allein doch nicht, den Erscheinungen des Lebens gerecht zu werden; es tritt ihr eine andere Auffassung gegenüber, die sich zwar der Thatsache nicht verschließt, daß in dem Leben des menschlichen Geschlechts jener große Zusammenhang zu erkennen sei, in dem jedes Einzelne nur als Mitwirkendes auftrete, der es aber doch nicht entgeht, daß es ganz unmöglich ist, die Erscheinungen ihrem ganzen Umfange und ihrem vollen Wesen nach in jenen Zusammen¬ hang einzuordnen. Kunstwerke mögen mit manchen ihrer Seiten und Eigenschaften mitten in jener ununterbrochenen Bewegung stehen, in der man ein unablässiges Fortschreiten der Menschen nach intellectueller, sittlicher, ästhetischer Voll¬ kommenheit voraussetzen zu dürfen meint; nicht das ist aber ihr ganzes und auch nicht ihr eigenstes Verdienst; vielmehr enthalten sie etwas, was sich nicht in jenen Zu¬ sammenhang unterbringen, nicht aus ihm erklären läßt. Wenn der Künstler, alles Streben nach jenen gemeinsamen Zielen menschlicher Entwickelung hinter sich lassend, in seiner bildnerischen Thätigkeit zu jener Verlebendigung des Bewußtseins gelangt, die sich im Kunstwerk offenbart, so ist das etwas, was keinerlei Bedeutung für den Gang jener Entwickelung besitzt und worin doch der menschliche Geist seine höchsten Augenblicke erlebt. Richten wir unser Augenmerk auf diesen Inhalt menschlicher Thätigkeit, so wird uns das Leben im allgemeinen nicht mehr nur unter dem Bilde einer Gesammtarbeit erscheinen, im Verhältniß zu der die Leistung des Einzelnen nur als ein kleiner Beitrag erscheint; vielmehr erkennen wir, wie sich der menschliche Geist da, wo er seine höchste Leistungsfähigkeit erreicht, aus den Niederungen des Strebens nach gemein¬ samen Zielen erhebt und etwas hervorbringt, was nicht mehr bloß einen relativen Werth aus seiner Bedeutung für ein Allgemeines abzuleiten hat, sondern dessen absoluter Werth darin besteht, daß in ihm das menschliche Bewußt¬ sein zu den höchsten Graden seiner Entwickelungsfähigkeit gelangt ist. Müssen wir so darauf verzichten, aus dem Inhalt der Kunst, wie er sich uns dargestellt hat, einen Werth für jene gemeinsamen Angelegenheiten der Mensch¬ heit herausdeuten zu können, so begrüßen wir dafür in ihr eine von den Thätigkeiten, in denen sich der mensch¬ liche Geist von dem Banne der Mitarbeit befreit und sich seiner immer gleichen reinen Aufgabe bewußt wird. Leipzig. Druck von Grimme \& Trömel. In demselben Verlage ist früher erschienen: Ueber die Beurtheilung von Werken der bildenden Kunst . Von Conrad Fiedler . 8. Preis: ℳ 2.—. Leipzig. Druck von Grimme \& Trömel.