Aesthetische Feldzuͤge. Dem jungen Deutschland gewidmet von L. Wienbarg. Hamburg, bei Hoffmann und Campe. 1834. Worte der Zueignung. D ir junges Deutschland widme ich diese Reden , nicht dem alten . Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von vorn herein er¬ klaͤren, welchem Deutschland er sein Buch be¬ stimmt und in wessen Haͤnde er dasselbe zu sehen wuͤnscht. Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, die den wahren Unterschied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der Liberalitaͤt ausgeruͤstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die fuͤr das alte Deutschland schreiben, sei es fuͤr das adlige, oder fuͤr das gelehrte, oder fuͤr das philistroͤse alte Deutschland, aus welchen drei Bestandtheilen dasselbe bekanntlich zusammengesetzt ist. Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklaͤrt, daß * er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche, todte Gelehrsamkeit in die Grab¬ gewoͤlbe aͤgyptischer Pyramiden verwuͤnscht, und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklaͤrt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohl¬ bekannten Nachtmuͤtze unerbittlich zu verfolgen Wil¬ lens ist. Dir junges Deutschland widme ich diese Reden , fluͤchtige Erguͤsse wechselnder Auf¬ regung, aber alle aus der Sehnsucht des Ge¬ muͤths nach einem besseren und schoͤneren Volks¬ leben entsprungen. Ich hielt sie als Vorlesungen auf einer norddeutschen Akademie, hoffe aber, sie werden den Geruch der vier Fakultaͤten nicht mit sich bringen, der bekanntlich nicht der frischeste ist. Ich war noch von der Luft da draußen angeweht und der Sommer 1833 war der erste und letzte meines Dozirens. Universitaͤtsluft, Hof¬ luft und sonstige schlechte und verdorbene Luftar¬ ten, die sich vom freien und sonnigen Voͤlkertage absondern, muß man entweder gaͤnzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit einathmen. Riechflaschen mit scharfsatirischem Essig, wie ihn z. B. Boͤrne in Paris destillirt, sind in diesem Fall nicht zu verachten. Lobenswerth ist auch die Vorsicht, die man beim Besuch der Hundsgrotte beobachtet — sonderlich wenn's in die Hofluft geht — man buͤcke sich nicht zu oft und zu tief. Abschreckend ist das Beispiel von Ministern und Hofleuten, die des Lichtes ihrer Augen und ihres Verstandes dadurch beraubt worden sind und schwer und aͤngstlich nach Luft schnappen. Dir junges Deutschland widme ich diese Reden , dem braͤunlichen wie dem blon¬ den, welches letztere mich umgab und die Muse war, die mich zweimal in der Woche begeisterte. Ja, begeisternd ist der Anblick aufstrebender Juͤng¬ linge, aber Zorn und Unmuth mischt sich in die Begeisterung, wenn man sie als Zuͤchtlinge ge¬ lehrter Werkanstalten vor sich sieht. Sclaverei ist ihr Studium, nicht Freiheit. Stricke und Bande muͤssen sie flechten fuͤr ihre eigenen Arme und Fuͤße, dazu verurtheilt sie der Staat. Die Un¬ gluͤcklichen, wie haben sie mich gesucht und ge¬ liebt, als ich ihnen die Freiheit wenigstens im Bilde zeigte. Preußen traͤgt sich mit dem Plan, die alten Universitaͤten umzuschmelzen. Immerhin, und mag das gelehrte Deutschland auch Blut uͤber den Frevel schwitzen. Ich traue freilich dem neuen Gusse nicht, weil ich nicht einsehe, woher Preu¬ ßen das rechte Metall dazu nehmen will, es waͤre denn preußisch-evangelisches Kanonen- und Glockengut. Aber auch dieses halte ich fuͤr bes¬ ser als die alte tonlose Mischung, die selbst un¬ ter Thors Hammerschlaͤgen keinen Klang mehr von sich geben wuͤrde. Zur Zeit der Reformation waren die Univer¬ sitaͤten Stuͤtzpunkte fuͤr den Hebel des nenen Um¬ schwungs. Gegenwaͤrtig bewegen sie nichts, ja sie sind Widerstaͤnde der Bewegung und muͤssen als solche aus dem Wege geraͤumt werden. Zu warnen aber sind junge Maͤnner von Kraft und Talent, sich nicht unbedacht jener ed¬ len Taͤuschung hinzugeben, als ob sich dennoch ein zeitgemaͤßer und volksthuͤmlicher Wirkungs¬ kreis fuͤr sie auf unsern Universitaͤten erschwingen lasse. Glaubt mir, ihr hebt den Fluch nicht auf, den die Zeit uͤber jene alten Gemaͤuer ausgespro¬ chen hat, ihr setzt euch hingegen der Gefahr aus, mit demselben Fluche auf euren eigenen geistigen Schwingen belastet zu werden. Zittert vor der greisen alma mater, die als Ahnfrau unserer Universitaͤten ihr faltenreiches, mottenzerfressenes Gewand auf dem Boden der Aula einherschleift, und ihre alten Liebhaber-Pedanten durch junge und frische zu rekrutiren sucht. Zittert vor ihrer duͤrren Umarmung, vor dem Kuß ihrer gespen¬ stischen grauen Lippen, denn sie saugt euch das Blut langsam aus den Adern und schrumpft die Hochgefuͤhle eurer Brust zu jenem Minimum zusammen, das etwa einem alten ausgedoͤrrten Wilhelm Traugott Krug oder Christian Daniel Beck kaum verschlaͤgt, um damit den letzten Athemzug fuͤr den Himmel zu bestreiten. Denkt daran, daß alle große Deutsche der neuern Zeit nur zu ihrem Ungluͤck deutsche Universitaͤtslehrer geworden sind, daß ein Fichte, Schelling, Nie¬ buhr, Schleiermacher, geborene Tribunen des Volks, fuͤr das Volk und ihren eigenen hoͤheren Ruhm verloren gegangen sind. Fichte's Reden an die deutsche Nation verhallten nicht blos deswe¬ gen in den Wind, weil die Nation taub war, sondern weil zwischen ihr und ihm eine Scheide¬ wand aufgerichtet war, die selbst Fichte's eherne Stimme nicht zu durchdringen vermochte. ** Nun denn, junges Deutschland, mit Gott! Wir leben ja noch einen Tag zusammen, und wer weiß, ob unser Hort und Fuͤhrer uns so lange durch die Wuͤste ziehen laͤßt, wie Moses die Israeliten. Ist aber eine Silberlocke unter deiner Schaar, ein Greis mit jugendlichem Herzen, ich kuͤsse ihm Auge und Stirn und wuͤnsche auch mir einen warmen Fruͤhling unter der Eisdecke kuͤnftiger Jahre. Erste Vorlesung. M eine Herren. Sie wollen mir die Ehre ge¬ ben, meinen Vortraͤgen uͤber Aesthetik beizuwoh¬ nen. Ich freue mich uͤber Ihre Zahl und ich bemerke mit Vergnuͤgen, aber nicht ohne Gefuͤhl meiner unzulaͤnglichen Kraͤfte und Huͤlfsmittel, die Theilnahme und Aufmerksamkeit, womit Sie der Eroͤffnung dieser in mehr als einer Hinsicht be¬ denklichen Vortraͤge entgegensehen. Es ist zwar das, was die Seele, das Prinzip der Aesthetik ausmacht, naͤmlich das Schoͤne, die Form, die Gestalt schon im Alterthum von den tiefsinnigsten Weisen behandelt worden; allein wie abstechend von dieser Behandlung ist die heutige Form einer akademischen Disziplin, in welcher die Aesthetik seit Baumgartens Zeit in Deutschland aufgetreten ist. Selbst der Name ruͤhrt aus dieser Zeit her, Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 1 er ist von Baumgartens Erfindung und war den alten Griechen und Roͤmern in diesem Sinne voͤl¬ lig unbekannt. Aesthetica betitelt Baumgarten die beiden Volumina , welche im Jahr 1750 und 1758 ans Licht traten. Den Barbarismus des Wortes will ich nicht tadeln, nur den Barbarismus, der darin lag, ein solches Werk in lateinischer Sprache zu schreiben. Barbarisch — pedantisch war der Ur¬ sprung der Aesthetik oder der vagen Wissenschaft, welche man mit diesem Namen bald allgemeiner zu bezeichnen anfing. Riedel und Sulzer machten daraus eine Theorie der schoͤnen Kuͤnste und Letz¬ terer schrieb sogar eine solche „allgemeine Theorie der schoͤnen Kuͤnste“ nach alphabetischer Ord¬ nung , zwei Quartbaͤnde unfruchtbarer Theorien, die weder dem Philosophen noch dem Kuͤnstler foͤrderlich sein konnten. In ein hoͤheres Gebiet wurde die Aesthetik aufgenommen, als Kant sei¬ nen eminenten Scharfsinn auch nach dieser Seite wandte und in „der Kritik der Urtheilskraft“ eine von seinem Standpunkt und seinen Prinzipien ausgehende Kritik des Geschmacks aufstellte. Nach ihm wurde die Aesthetik von mehreren Professoren der Philosophie bearbeitet, am Vollstaͤndigsten von Fr. Bouterwek, dessen Werk (in zwei Baͤnden) das bekannteste ist und drei Auflagen erlebt hat. Grundzuͤge aͤsthetischer Vorlesungen schrieb 1808 Heinrich Luden, die auf seine bekannte Weise geist¬ reich und gediegen sind. Bluͤhender und an wah¬ rem aͤsthetischen Gehalt reicher ist die Vorschule der Aesthetik von Jean Paul, die 1813 eine neue Auflage erlebte. Ich werde mein Urtheil uͤber diese akademi¬ schen Schriften (die Jean Paulische gehoͤrt nicht in ihren Kreis) zusammenfassen und nur vorher bemerken, daß die Aesthetik nicht immer mit den Anspruͤchen auf wissenschaftliche Form und Voll¬ staͤndigkeit in Deutschland aufgetreten, sondern daß es sehr interessante aͤsthetische Abhandlungen gibt, die sich ungebundener und freier auslassen. Dazu gehoͤren die aͤsthetischen Abhandlungen von Schil¬ ler, die ich als bekannt voraussetze, z. B. sein Aufsatz uͤber die aͤsthetische Erziehung des Men¬ schen, uͤber die nothwendigen Grenzen beim Ge¬ brauch schoͤner Formen (!), uͤber naive und senti¬ mentale Dichtung, uͤber das Erhabene, seine Ge¬ danken uͤber den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst u. s. w. Auch lassen sich viele Aufsaͤtze von Goethe in den Propylaͤen und in Kunst und Alterthum als sehr bedeutende Beitraͤge zu der Aesthetik des Goethischen Jahr¬ hunderts betrachten. Was Schiller betrifft, so behandelte er die Theorie des Schoͤnen mehr in 1* Beziehung auf dichterische Form und geselliges Leben, dagegen Goethe mehr die bildenden Kuͤnste, insbesondere die Antike ins Auge faßte. Bilden¬ der fuͤr den Geschmack sind bei weitem die Be¬ merkungen von Goethe, in sofern sie mehr aus dem einheitlichen Quell des Goethischen Lebens her¬ vordringen und die ungetruͤbtesten Anschauungen der Welt und ihrer Schoͤnheiten in Natur, Kunst und Leben enthalten, wie die saͤmmtlichen Goethi¬ schen Werke, seien sie Gedichte oder Prosa. Waͤh¬ rend Goethe's geistige Magnetnadel sich unverwandt gegen den schoͤnen Kunstpol neigte, bewegt sich Schiller's ringende Natur nach den entgegengesetz¬ testen Richtungen und strebt vergebens nach dem Schwerpunkt, der seiner geistigen Natur angemes¬ sen war. Reinhold hatte ihn in Jena in die Kan¬ tische Philosophie eingefuͤhrt, als Schiller auf dor¬ tiger Akademie historische Vorlesungen hielt. Nun gerieth er zwischen zwei Feuer, das griechische der Kunst und Poesie, das in Weimar gluͤhte, und das nordische der Philosophie, welches zu jener Zeit mit kritisch verzehrendem Feuer, von der Ostsee, aus Koͤnigsberg ausgebrochen war. Es ist gewiß, daß seine schoͤnere Natur zuletzt den Sieg davontrug, was besonders seit der Zeit merklich wird, als die Vorurtheile zwischen ihm und Goethe hinweggefallen waren und beide große Naturen durch gegenseitigen Umtausch ihrer Ge¬ danken und persoͤnlichen Umgang in Weimar wett¬ eifernd ihrer Ausbildung entgegenschritten. Allein seine erwaͤhnten aͤsthetischen Ansichten tragen noch deutlich die Spuren geistiger Entzweiung, die aus dem Studium der Kantischen Philosophie fuͤr ihn resultirte. Er ist sich selbst nicht klar und laͤßt daher auch einen sehr unklaren Eindruck auf den Leser zuruͤck. Die Bewunderung fuͤr Kant's dik¬ tatorisches und von der moralischen Seite so er¬ habenes Genie, die ihm Reinhold's Vortraͤge und Studium der Kantischen Kritiken eingefloͤßt hatte, verleitete ihn zur Annahme Kantischer Prinzipien, die, wie man sie sonst auch versteht, auslegt, bil¬ ligt oder verwirft, von Niemand so leicht als kunstfoͤrderlich oder auch nur vertraͤglich mit den Forderungen des aͤsthetischen Sinnes betrachtet wer¬ den moͤgen. Es gibt vielleicht keinen konsequenten Kantianer gegenwaͤrtig auf der Welt, damals aber war alle Welt Kantisch, es ging eine Seuche durch Deutschland, sich Kantisch auszudruͤcken und bei Dietrich in Goͤttingen erschien im Jahr 1801 so¬ gar eine Kantische Postlehre mit dem Titel: „Vor¬ laͤufige Darstellung der Begruͤndung einer allge¬ meinen Postanstalt.“ Daher findet man denn auch die meisten Handbuͤcher der Aesthetik, die aus jener Zeit stam¬ men, mehr oder weniger in die abstrakten For¬ meln der Kantischen Philosophie gebannt, z. B. die von Ben David und von Krug, welcher schon als solcher und inmitten seiner Philosophie, der leibhaftige Tod fuͤr die Aesthetik ist. An sich, meine Herren, gehoͤrt das Element der Aesthetik, das Schoͤne, ohne Zweifel in den Kreis der erhabensten Philosophie. Die Wirkun¬ gen der Schoͤnheit, die Schoͤnheit selber ist uns ein Geheimniß, ein Raͤthsel, zu dessen Aufloͤsung wir den Schluͤssel bei einer Wissenschaft suchen, von der, wie Sie wissen, wenigstens die Rede geht, daß sie den großen goldenen Schluͤssel zu allen Geheimnissen der Welt, wenn auch nicht be¬ sitzt, doch wenigstens zu schmieden beflissen sei. Dennoch, meine Herren, und wenn der Schluͤs¬ sel auch gefunden waͤre, ist aufschließen und schauen, offenbar zweierlei. Nehmen wir z. B. an, daß der ver¬ storbene Hegel, unter dessen Schriften man ebenfalls eine Aesthetik findet, die im geschlossenen Ringe seiner Philosophie ihren bestimmten Platz und Namen hat, daß Hegel den Grund und das Wesen aller Dinge nicht allein tiefer erforscht haͤtte, als alle seine Vorgaͤnger, sondern auch wirklich und wahrhaftig in diesem Grunde angelangt waͤre und von da aus im Staͤnde waͤre, die ganze Welt dem lieben Gott nachzukonstruiren und zu beweisen, warum Alles so waͤre und nicht anders sein koͤnnte, als es ist, koͤnnte er mehr thun, als uns das Warum der Schoͤnheit in abstrakter Formel auszusprechen, koͤnnte er uns mit schoͤpferischer Kraft eine Ah¬ nung der Schoͤnheit selbst ins Herz floͤßen? Muß nicht das Schoͤne auch wieder durch das Schoͤne bezeichnet werden, um sich als schoͤn fuͤhlen zu lassen, kann man durch undichterische Schoͤnheits¬ lehren uͤber die Schoͤnheit belehren, hebt nicht eine abstrakte Definizion die Schoͤnheit, die sie definiren will, und daher sich selber auf, kann man die geistigste Bluͤthe alles Erschaffenen, sei es dem unmittelbaren Quell der Natur oder den Haͤn¬ den der Kunst entsprungen, unter das anatomische Sezirmesser bringen und ist das, was unter solchen Haͤnden seufzst, todt oder lebendig zu nennen? Nicht jede Philosophie also hat, als solche, die Kraft und die Eigenschaft, das Prinzip der Schoͤnheit wuͤrdig darzustellen und noch weniger laͤßt sich erwarten von den Schriften der gelehr¬ ten Pedanterie, wie ein solches musterhaftes Bei¬ spiel oder Gegenspiel der Aesthetik in Baumgar¬ ten's lateinischen Werken vorliegt, der die auslaͤn¬ dische Form natuͤrlich noch zum geringsten Vor¬ wurfe dient. Schon der Name Aesthetik ist so unpassend als moͤglich, dieser Name, der das ver¬ diente Schicksal gehabt hat, anfangs nur unter lateinisch-deutschen Gelehrten, unter akademischen Kathedristen bekannt zu sein, bei seinem Eintritt ins große Publikum aber, so wie in gegenwaͤrti¬ ger Zeit, von den Gelehrten fast verachtet, von suͤßlichen Schoͤngeistern erniedrigt und in der Mei¬ sten Munde bespoͤttelt zu werden. Es waͤre in der That sehr zu wuͤnschen, daß der Name und die ganze Behandlung dessen, was man unter die¬ sem Namen zusammenfaßte, in Deutschland gar nicht aufgekommen waͤre. Das Gefuͤhl des Schoͤ¬ nen ist unter den Deutschen keineswegs so verbrei¬ tet, befestigt und veredelt, daß es geschuͤtzt und sicher genug waͤre vor den erkaͤltenden Einfluͤssen, womit dasselbe auf der einen Seite von dem hoͤl¬ zernen Scepter der Schulgelehrsamkeit, auf der andern von dem leichtfertigen Geckenthum des Gallizismus bedroht wird. Die Aesthetik ist als Wissenschaft, fuͤr Deutschland viel zu fruͤh gekom¬ men. Das Gefuͤhl des Schoͤnen muß sich vor Allem erst durch das Leben befruchten und bilden, wenn es in Buͤchern und Hoͤrsaͤlen wuͤrdig darge¬ stellt und ein wahrhaft integranter Theil der Phi¬ losophie werden soll. Das Schoͤne selbst aber schwebt nicht in der Luft, eben so wenig, wie die Bluͤthe und das Rosenblalt, es muß befestigt sein an einem Stamme, es muß Charakter haben und nichts fehlte zur Zeit, als Baumgarten seine Aesthe¬ tik schrieb, der deutschen Nation mehr als diese. Nationalgefuͤhl, muß dem Gefuͤhl fuͤrs Schoͤne, politische Bildung der aͤsthetischen vorausgehen. Ohne Kraft gibt es keine Gewandheit, ohne Cha¬ rakter keinen Ausdruck, ohne Ausdruck keine Schoͤn¬ heit, weder im Stil des Bildhauers, noch im Stil des Schriftstellers. Begluͤckter war das grie¬ chische Volk, als wir. Es besaß freilich keine Aesthetik, aber dafuͤr platonische Dialogen, worun¬ ter wahre Opfer an die Goͤttin der Schoͤnheit, behandelten sie auch nicht, wie sie thun, das κα¬ λον κἀγαϑον als ihren Hauptgegenstand und iden¬ tifizirte ihr Urheber auch nicht, wie er thut, das Schoͤne mit dem ewig Einen, mit Gott selber. Unsere neuere Aesthetik beschraͤnkt sich daher auch, aus Mangel an Lebensfuͤlle, gaͤnzlich auf das Schoͤne oder die Schoͤnheiten in Poesie und Kunst und sind, wie auch viele den Namen fuͤhren, bloße Theorien der sogenannten schoͤnen Kuͤnste und Wissenschaften, die zu Anfang einige vorlaͤu¬ fige Definizionen vom Schoͤnen, Erhabenen, An¬ muthigen, Witzigen u. s. w. aufstellen und dann allerlei und mancherlei aus der Geschichte und Technik der schoͤnen Kuͤnste und Wissenschaften fol¬ gen lassen. Es gibt nur eine einzige Schrift uͤber gewoͤhnliche Aesthetik, die genial und aͤsthetisch ist, die Jean Paulische, wie nur ein einziges Werk, das die Aesthetik im hoͤhern, im griechisch-plato¬ nischen Sinne auffaßt, der Erwin von Solger. Allein schon aus der allgemeinen Unkunde dieses Werks, muß sich zweierlei klar machen, daß es entweder nicht in zeitgemaͤßer Form geschrieben, oder daß sein Inhalt nicht zeitansprechend sei. Beides ist mir ausgemacht. Die Form ist dialo¬ gisch und der Inhalt eine Vergoͤtterung des Schoͤ¬ nen mit einem Anschein des Enthusiasmus, der dem Platonischen nicht allein nahe kommt, sondern ihn noch zu uͤbertreffen scheint, der aber lange nicht die Waͤrme und Kunstlosigkeit hat, als der des griechischen Meisters. Um sich davon einen Begriff zu machen, vergleiche man die so wahre als genievolle Schilderung, die Jean Paul von den Griechen gibt, mit dem Leben, das wir Deut¬ sche in Deutschland fuͤhren, so wird man einsehen, daß die Begeisterung eines platonischen Dialogs, wie des Symposions, eine natuͤrliche, Solger's aber eine gemachte war, wie mehr und weniger jede Begeisterung, die isolirt steht und ihre Quelle nicht aus der Zeit nimmt. Zweite Vorlesung. M eine Herren. Ich bitte Sie, sich aus der er¬ sten Vorlesung den Satz ins Gedaͤchtniß zuruͤckzu¬ rufen, daß der Gegenstand der Aesthetik, die Schoͤnheit und deren Erscheinung in den Gebie¬ ten des Lebens und der Kunst, weder von abstrak¬ ter Philosophie, noch von geist- und ahnungsloser Gelehrsamkeit aufgewiesen und dargestellt werden koͤnne; daß aber die deutsche Aesthetik, als akade¬ mische Wissenschaft, mit wenigen Ausnahmen eben das Schicksal gehabt habe, von solchen Maͤnnern geschrieben und gelehrt worden zu sein, denen der rechte Natursinn und die Bildung fuͤr die Schoͤn¬ heit bald voͤllig abging, bald nur in sehr geringem Grade beiwohnte. Einseitigkeit in jeder Art ist keiner Wissenschaft nachtheiliger, als der Lehre vom Schoͤnen, ja es steht eben die Einseitigkeit im graden Widerspruch mit der Schoͤnheit, welche die freie Entfaltung liebt und nur im Elemente der Freiheit sowohl gedeihen, als verstanden wer¬ den kann. Wenn in der Philosophie, in der Wissenschaft eine große einseitige Schaͤrfe des Ver¬ standes, der Abstraktion, wenn in Sachen der Ge¬ lehrsamkeit eine gewisse einseitige Staͤrke des Ge¬ daͤchtnisses, bedeutenden Leistungen nicht nur nicht hinderlich, sondern foͤrderlich scheint — eine Be¬ merkung, die sich Ihnen bei der Geschichte der Philosophie und der Gelehrsamkeit aufdringen wird — so ist dies der umgekehrte Fall bei den Lehren des Geschmacks, welche bei einseitigen Rich¬ tungen der darstellenden Individuen und ganzer Zeitalter um desto geschmackloser und den Sinn fuͤr das Schoͤne um desto weniger erregend und bildend sind, je naturwidriger und unharmonischer, das heißt, je einseitiger die Bildung ihrer Urheber war. Ich moͤchte noch immer, nach Allem, was bisher in Deutschland Aesthetisches und uͤber Aest¬ hetik geschrieben worden, so viele Goldkoͤrner Les¬ sing, Herder, Jean Paul, Schiller, selbst Bou¬ terwek auf diesen duͤrren Boden hingestreut haben, ich moͤchte noch immer dem Juͤnger des Schoͤnen und dem Freund seiner eigenen harmonischen Aus¬ bildung den Rath geben, sich seinem eigenen Ge¬ nius zu uͤberlassen und statt sich durch mehr oder minder willkuͤhrliche Raͤsonnements uͤber die Schoͤn¬ heiten in Kunst und Poesie verwirren zu lassen, sich nur an die meisterhaften Kunstprodukte der alten und neuen Zeit selbst zu halten und bei ihrer Lesung, ihrem Anschauen sich von den unausbleib¬ lichen Wirkungen der geistigen Kraft der Schoͤnheit lebendig zu erfuͤllen, wozu dem Deutschen insbe¬ sondere Goethe's Werke als musterhaft vorschweben. Doch vielleicht, meine Herren, kommt den Deutschen, als Nation, die Schoͤnheitslehre und der Schoͤnheitssinn viel zu fruͤh, und dies war der zweite Hauptsatz der ersten Vorlesung, in der ich diese Behauptung aufzustellen gewagt habe. Die Schoͤnheit, sagte ich, beruht auf Kraft und Charakter, sie beruht auf leiblicher und geistiger Gesundheit, auf Lebensfrische, auf Behaglichkeit, auf Freiheit und Harmonie; denn unter diesen Grundbedingungen kann jedes Volk des Erdbodens, nicht allein das griechische unter seinem ewigblauen Himmel und mit seiner offenen, sonnigheitern Sinnlichkeit, sondern auch der Deutsche, der Nordmann unter rauherem Himmel, den Sinn fuͤr Schoͤnheit unter sich ausbilden und aller Seg¬ nungen desselben und des doppelten und dreifachen Lebensgenusses, der aus diesem Sinn entspringt, theilhaftig werden. Aber fast mehr noch als der Grieche, der Sohn des Suͤdens, hat der Deut¬ sche, der Nordmann auf die Ausbildung seines Charakters hinzuarbeiten; unser Geist ist von Na¬ tur formloser, als der griechische; zwischen unthaͤ¬ tiger Ruhe und traͤger Beharrung und momenta¬ ner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leiden¬ schaften schwanken die Besseren und die Besten unter uns hin und her; die geistigsten Aeußerun¬ gen und die tiefsten Gemeinheiten vereinigen sich oft in einer und derselben Person. An Leuten, die vor Gelehrsamkeit strotzen und halb daruͤber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfsinn und Spitzfindigkeit bestaͤndig auf Nadeln gehen, an uͤberschwaͤnglichen Poeten, an wahnsinnigen Musicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Froͤmmlern, an Charakteren dieser Art, fehlt es allerdings nicht in Deutschland, allein ihre Fuͤlle und Anzahl bestaͤtigt eben meine Behauptung, daß man zu wenig Charakter und Ausbildung desselben unter uns antreffe. Es sind diese und aͤhnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur schlechte Kopien), lebendige Muster der charakterlosen Ein¬ seitigkeit einer zersplitterten Zeit, die sich zum wah¬ ren Charakter der Humanitaͤt in gar kein anderes Verhaͤltniß stellen lassen, als in das der Scheuch¬ bilder einer menschlichen Gestalt zur menschlichen Gestalt selber. Daß solche und aͤhnliche Charak¬ tere oder Charakterverzerrungen unfaͤhig sind, den Stempel der Schoͤnheit aufzunehmen, bedarf wohl keiner Erlaͤuterung. Eine zweite und noch zahl¬ reichere Gattung von Charakteren liefern uns die Geschaͤftsmaͤnner in allen Zweigen des Le¬ bens; die Amtleute , Juristen , Advoka¬ ten , Sachwalter ; diese Generalpaͤchter des Gesetzes und der Gerechtigkeit, die noch in so vielen Laͤndern die Barbarei eines unbekannten, undeutschen, unvolksthuͤmlichen und daher rechtlo¬ sen Rechts taͤglich verewigen und die daher seit alter Zeit eine pedantisch gelehrte Kaste bilden, welche, wie alles Kastenwesen, der freien Bil¬ dung und schoͤnen Humanitaͤt schnurstracks entge¬ genlaͤuft, — die Aerzte , welche ebenfalls ihre Wissenschaft und ihr ganzes Treiben vor den Au¬ gen der gebildeten Nation verbergen und sich in den Nimbus einer Kunst huͤllen, die an unsern eigenen Leibern experimentirt und tastet — die Schulmaͤnner , die sich noch immer nicht ent¬ schließen koͤnnen, ihre Perruͤcke abzulegen und deutsche Juͤnglinge statt Latinisten und Graͤzisisten fuͤrs Leben heranzubilden — die Theologen — kurz alle Aemter, die als sogenannte Brodstudien auf unsern Universitaͤten in eigenen abgeschlossenen Dis¬ ziplinen gelehrt werden, wie wenig entsprechen sie im Ganzen, Großen, wie im Einzelnen dem rei¬ nen Bilde der Humanitaͤt, und wie selten kann man beim Anblick des Wirkens der in diesen und durch diese Disziplinen ausgebildeten Maͤnner freudig ausrufen, hier ist ein Charakter, der rein und freudig im Geiste seines Volks und im Hoͤ¬ heren der Menschheit ruht, ein individueller Mensch, der natuͤrlich und aus dem Grunde lebt, der die Wissenschaft, die Kunst und Alles, was er treibt, nicht auf angelernte Weise handwerksmaͤßig treibt, sondern mit innerem Drang, mit eigenem Den¬ ken und nach selbstgemachten Erfahrungen, ein Geist, dessen charakterischer Zug es eben ist, die Bahn, die Art und Weise seiner Thaͤtigkeit sich weder von außen aufdringen zu lassen, noch sich selber mit Willkuͤhr zu setzen, sondern mit klarer Besonnenheit zu waͤhlen. An der Bildung eines solchen Mannes, meine Herren, mag vielleicht die letzte Feile fehlen, seiner geistigen Gestaltung, sei¬ ner leiblichen Erscheinung noch Manches abgehen, was der Grieche des Perikles, der auf jeden Zug, auf jedes Wort, auf jede Bewegung achtete, Sorg¬ falt verwandte, was der ungern vermißt haͤtte, es mag ihm noch nicht der rechte Sinn aufgegangen sein fuͤr die tiefe Bedeutsamkeit der aͤußeren schoͤ¬ nen Form, fuͤr die himmlische Bluͤthe des Gei¬ stes, fuͤr den reinen Abdruck der innern Harmo¬ nie, es mag ihm Sinn und Gemuͤth noch nicht gehoͤrig aufgeschlossen sein fuͤr die Freuden der Kunst, fuͤr den Genuß der Poesie, er mag den Apoll von Belvedere noch nicht bewundern, sich fuͤr die Goethische Iphigenie noch nicht begeistern, sich vom Zauber einer schoͤnen Gegend, einer Mo¬ zartschen Musik nicht hinreißen lassen, sich uͤber¬ haupt noch nicht uͤber den bloßen baaren Ernst des Lebens in die freiere Region erhoben haben, wo der Ernst ein Spiel und das Spiel ein Ernst ist, ich meine die Region der Kunst, der aͤstheti¬ schen Anschauungen des Lebens — aber er ist vor¬ bereitet, er ist des Besten wuͤrdig, was Gott fuͤr uns bestimmt hat, des Genusses, den nur derje¬ nige ahnt, dem er dafuͤr Empfaͤnglichkeit gegeben, und dem Welt, Erziehung und Gesellschaft dessen nicht beraubt haben. Allein, so lange noch das Leben selbst, das uns von der Wiege auf umfaͤngt, so lange noch die Schule, die Universitaͤt, diese Bildungsmittel unseres Geistes, spaͤter der Staat und das, was jetzt unter dem Namen der guten Societ é und im weitern Umfang, der buͤrgerlichen Gesellschaft be¬ steht, so lange dies Alles der eigenthuͤmlichen Bil¬ dung und Entwicklung unsers Charakters mit Haͤn¬ den und Fuͤßen entgegenarbeitet, werden solche Maͤnner immer nur zu den seltenen Erscheinungen gehoͤren und somit auch die Ausbildung des Schoͤn¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 2 heitsinnes, nach meiner innigsten Ueberzeugung, eine vergebliche, ja in vielen Faͤllen schaͤdliche sein, eine Erfahrung, die wir sowohl an jenen geschmack¬ vollen Kunstkennern machen, welche in unmaͤnnli¬ cher Sorglosigkeit und Unbekuͤmmertheit die Wis¬ senschaft ums Vaterland und die großen Interessen der Zeit, in italienischen und antiken Kunstgenuͤs¬ sen schwelgen, oder, wenn sie es nicht zur Kunst¬ kennerschaft bringen, fade Schoͤngeister werden, die sich bei den Gebildeten, und die Aesthetik mit ihrer Person beim großen Haufen laͤcherlich ma¬ chen. Vom Letzteren habe ich bisher noch gar nicht einmal gesprochen, indem ich die Unfaͤhigkeit unserer Zeit zum Genuß und zur Wuͤrdigung des Schoͤnen in dieser Einleitung beruͤhrte. Wer hat ihn, diesen großen Haufen, besser geschildert als Kant in seinem Werke uͤber das Gefuͤhl des Schoͤ¬ nen und Erhabenen, wenn er spottend sagt: wohl¬ beleibte Personen, deren Autor der Koch ist und deren Werke von feinem Geschmack im Keller lie¬ gen, werden bei gemeinen Zoten und einem plum¬ pen Scherz in eben so lebhafte Freude gerathen, als diejenige ist, worauf Personen von edler Em¬ pfindung so stolz sind. Ein bequemer Mann, der die Lektuͤre der Buͤcher liebt, weil es sich so wohl dabei einschlafen laͤßt; der Kaufmann, dem alles Vergnuͤ¬ gen laͤppisch erscheint, dasjenige ausgenommen, das ein kluger Mann genießt, wenn er seinen Hand¬ lungsvortheil uͤberschlaͤgt; der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder wilde Thiere, Alle diese haben ein Gefuͤhl, wel¬ ches sie faͤhig macht, Vergnuͤgen nach ihrer Art zu genießen, ohne daß sie andere beneiden duͤrfen, oder auch von andern sich einen Begriff machen koͤnnen — allein, ich wende fuͤr jetzt keine Auf¬ merksamkeit darauf. Es gibt noch ein Gefuͤhl von feinerer Art, und so fort, unter diesem Gefuͤhl verstand Kant das Gefuͤhl fuͤr das Schoͤne und Erhabene, das in ihm selbst, wenn auch mit Ue¬ bergewicht fuͤr das geistig und moralisch Erhabene lebendiger war, als in den meisten seiner spaͤteren Juͤnger, Fichte und Schelling ausgenommen. Ueberhaupt bin ich weit entfernt, wenn ich den Deutschen der naͤchstvergangenen und heutigen Welt das rechte Lebenselement und daher den rech¬ ten Sinn der Schoͤnheit abspreche, in dieser Be¬ hauptung den Einfluͤsterungen gewisser Schriftstel¬ ler Raum zu geben, die allzu leichtfertig uͤber un¬ sere Nation den Stab brechen. Vor dieser Ge¬ sinnung schuͤtze uns nicht eben die Stumpfheit, die man uns uͤberm Rheine vorwirft und die Gleich¬ guͤltigkeit gegen das Urtheil der Welt — denn man kann wohl sagen, daß die ganze Welt uͤber uns richtet, und daß wir nicht allein dem raschen 2 * Franzosen, sondern auch dem bedaͤchtigen Englaͤn¬ der, ja selbst dem knechtisch-feigen Italiener ein willkommner satyrischer Stoff sind — sondern der Glaube an unsere Nation, das Vertrauen auf die Zeit, die Rosen und Ketten bricht, die Kenntniß unserer Geschichte, die uns einen Spiegel vorhaͤlt, worin wir eine bessere und glaͤnzendere Vorzeit be¬ schauen. Ja, ich bin im Gegentheil so weit entfernt von Kleinmuth, daß ich der Ueberzeugung lebe, keine einzige von den großen europaͤischen Natio¬ nen sei von der Natur besser bedacht, als eben die unsrige. Das sehen wir am Mittelalter, an demselben Mittelalter, das, als es veraltet war, Luthers Hand, und der dreißigjaͤhrige Krieg, und der siebenjaͤhrige, und die Revolution und Napo¬ leon und die Befreiungskriege, Alles, was auf Deutschland losgestuͤrmt hat, nicht so weit hat zer¬ stoͤren und abbrechen koͤnnen, daß nicht noch ge¬ genwaͤrtig die alten zerbroͤckelten Saͤulen und Bo¬ gengaͤnge in Schulen und auf Universitaͤten, in Kirche und Staat vor unsern Augen dastaͤnden, und uns an eine Zeit ermahnten, deren geistiges Prinzip laͤngst untergegangen ist, deren leiblicher Schutt aber noch immer unausgekehrt, Leben und Wachsthum hemmend in der Gegenwart liegt. So großartig baute jenes granitne Mittelalter, solche Massen thuͤrmte es in die Luft, mit so fe¬ stem Kitt band es die Formen seines Lebens an einander fest und so lange Zeit muß es dauern, daß nach seinem Fall eine neue Generation sich wieder erheben und auf eigenem Grund und Bo¬ den fuͤr sich dastehen kann. Unzweifelhaft leiden wir Deutschen blos am Mittelalter — daher un¬ sere Pfaffen, daher unsere Hoͤfe, daher unsere Ritter, daher unsere lateinischen Juristen, medici‚ theologi , Promotionen und Dissertationen und das ganze Spießbuͤrgerthum unserer politischen und ge¬ lehrten Welt, woruͤber unsere Nachbarn und wir selbst im guten Humor uns so oft lustig machen. Allein, beweist nicht eben diese Zaͤhigkeit und Un¬ zerstoͤrbarkeit der mittelaltrigen Formen, die ein ganz anderer Geist beseelte, fuͤr die ungeheure auf¬ bauende Kraft jener Zeiten? Das ist aber klar, sagt Moriz Arndt, daß, wenn man diese Zeit aus ihren Werken und Schoͤ¬ pfungen erklaͤren und erkennen will, man bei ih¬ nen nicht stehen bleiben darf. Ein tapferer und hoͤherer Lebensgrund, in der fruͤhsten Zeit gewor¬ fen, eine uralte, geistreiche und seelenvolle Reli¬ gion, die aus Asien in die Waͤlder Germaniens eingewandert war, die innigste und tiefste Welt¬ anschauung und Weltdurchdringung, die sich in tausend Zeichen und Bildern in der fruͤhesten Sprache wiederspiegelt, einer Sprache, welche die Geister des Lichts erfunden haben — alles dieses muß man glauben, wenn man begreifen will, wie ein Volk, das sie im neunten Jahrhundert noch Barbaren nannten, im zwoͤlften und drei¬ zehnten Jahrhundert schon so herrlich schaffen und bilden konnte. Woher ist alles das Namenlose und Unendliche, was jene fruͤhste Zeit geboren hat? Aus welcher Brust klang zuerst das Nibe¬ lungenlied und so viele suͤße Volksgesaͤnge? Wer hat die Dome in Mailand, Ulm, Koͤln, Wien, Straßburg und Pisa gebaut? Woher entspran¬ gen die unendlichen Bilder, gleichsam aller Welt¬ kraͤfte Spiegel, die in tausend Gestalten uns wie Traͤume und Daͤmmerungen aus einer lange ver¬ gangenen oder wie Andeutungen und Weissagun¬ gen einer zukuͤnftigen Zeit zu umflattern scheinen? Wahrlich, diese Werke und Bilder sind Beides, denn diese freudigen Menschen lebten mitten in Gott und er selbst schuf aus ihnen. In der That, wenn es nach des schoͤnen Griechenlands Entartung eine Epoche in der Welt¬ geschichte gab, welche sich durch ihr reges Walten und Wirken und durch ihren Sinn fuͤr Kunst und Schoͤnheit die Auszeichnung erwarb, nicht mit Griechenland verglichen, sondern Griechenland an die Seite gestellt zu werden, so ist dieses die Epoche des deutschen Mittelalters. Von sonstiger Vergleichung zwischen beiden kann allerdings nicht die Rede sein, jede ist zu eigenthuͤmlich ausgepraͤgt und kann daher nur aus sich selbst begriffen und mit sich selbst verglichen werden. Man hat die Kunst und Poesie des Mittelalters mit dem Namen der romantischen, die Kunst und Poesie der Alten mit dem Namen der klas¬ sischen getauft, welcher Name und Gegensatz von einer deutschen Dichterschule, Tieck und den bei¬ den Schlegeln, die man selbst zur neuromantischen Klasse zaͤhlte, ausging, in Deutschland viel Streit und Gerede machte und seit einem Dezennium auch in Frankreich und Italien die groͤßten Spal¬ tungen erregte, indem die jungen franzoͤsischen und italienischen Dichter sich zu den deutschen Roman¬ tikern schlugen, und im Gegensatze zu den Nach¬ ahmern des altklassischen Stils sich mehr der brit¬ tischen und deutschen Phantasiefuͤlle und Regello¬ sigkeit hingaben, worin sie hauptsaͤchlich das We¬ sen der Romantik erblickten. Ueberhaupt hat man viel Mißbrauch mit beiderlei Namen getrieben, und man ist sich noch jetzt, weder in Deutschland, noch bei unsern Nachbarn selten klar, worin denn eigentlich das unterschiedliche Wesen der einen und der andern Art bestehe. Vielleicht druͤckt man sich daruͤber am Richtigsten aus, wenn man sagt, die Kunst der Alten, das ist, die Klassik, habe darin bestanden, daß sie jede Idee, die sie darstellen wollten, sei's mit dem Meißel, am Stoff des Marmors, sei's mit dem Griffel, am Stoff der Sprache, daß sie jede darzustellende Idee, so voll¬ kommen an diesem Stoffe ausdruͤckten, daß nichts mehr und nichts weniger, als eben die Idee selbst sinnlich vor Augen trat; dagegen die Kunst der Romantiker darin bestand und besteht, daß sie die Idee im sinnlichen Stoff keineswegs vollkommen erschoͤpften, sondern nur symbolisch an ihm dar¬ stellten, so daß man bei ihren Gebilden immer etwas mehr hinzuzudenken habe, als man vor Au¬ gen saͤhe. Die Ursache war denn die, daß die alten griechischen Kuͤnstler, nach ihren Begriffen von sinnlicher Form und Schoͤnheit, alle diejeni¬ gen Ideen zur Darstellung verschmaͤhten und von sich wiesen, welche sie nicht in feste Form voll¬ kommen einfassen konnten, die Kuͤnstler und Dich¬ ter des Mittelalters aber sich kein Bedenken dar¬ aus machten, das Hoͤchste und Tiefste, was nur die Menschenbrust fassen, aber kaum ein sterblicher Mund aussprechen konnte, symbolisch in Formen und Gestalten wenigstens anzudeuten. Daß uns eine solche Kunst der Bedeutsamkeit, eine solche Symbolik der Religion und der Liebe aus den Denkmaͤlern des Mittelalters uͤberall anweht, uns bald heimlich, bald großartig, bald abentheuerlich ergreift und etwas Unendliches, Ahnungvolles, Sehnsuͤchtiges in uns anregt, wird Jeder geste¬ hen, dem das Mittelalter bekannter geworden ist, wie aus Buͤchern der neuern Zeit uͤber dasselbe. Sollte es nun diese romantische Art der Schoͤnheit sein, die uns als Muster, als natio¬ nelles Element vorschweben muß, wenn wir uns aus dieser Zeit nach einer schoͤneren umsehen? Ehe ich mir diese Frage zu beantworten ge¬ traue, werfe ich einen kritischen Blick auf gewisse Erscheinungen des Mittelalters, die als die glaͤn¬ zendsten von den romantischen Dichtern gepriesen worden sind; bewaͤhren sich diese als echt, als fuͤr alle Zeiten echt, sind sie nicht allein dem Schooß einer gewissen Bildungsstufe, sondern dem ewigen Schooße der Natur selbst entsprungen, so wuͤrden sie fuͤr die romantische Schoͤnheit, mit welcher sie in sehr genauer Verbindung stehen, in unsern Augen ein sehr guͤnstiges Vorurtheil erwecken. Ich meine hier insbesondere die Andacht, die Ritter¬ ehre und die Frauenliebe des Mittelalters, drei 2 * * der schoͤnsten Strahlen aus dem Leben dieser wun¬ derbaren Zeit. War, frage ich mit Herder, war jene An¬ dacht des Mittelalters, ich spreche nur von der reinen und uneigennuͤtzigen, von der hohen, mysti¬ schen Andacht und nicht von der pfaͤffischen mit ihrem Klingklang und ihrer Selbstsucht, jene An¬ dacht, welche die ungeheuren Dome baute, welche sich unermeßlichen und unennbaren Gefuͤhlen hin¬ gab, war sie rein menschlich, oder lag nicht etwas Uebertriebenes, Ungestaltetes und Falsches darin? Ich glaube, ja. Das Unermeßliche, sagt Herder, hat kein Maß, das Unendliche keinen Ausdruck. Je laͤnger man an diesen Tiefen schwindelt, desto mehr verwirret sich die Zunge, Du sagst nichts, wenn Du vorhattest, etwas Unaussprechliches zu sagen. Und jene Frauenliebe, jene Galanterie der Liebe, war sie nicht ein falscher Geschmack, war es die Sprache des Herzens, der rein menschliche Erguß des Gefuͤhls und natuͤrlicher Neigungen, welche in diesen Bildern, Schwuͤren, Worten, Witzen und Wendungen der mittelaltrigen Ge¬ dichte (das Nibelungenlied ist uͤberall auszunehmen) spielt. — Ich denke ja, und dasselbe denke ich von der uͤbertriebenen Ritterwuͤrde. Alles Geklirr, sagt derselbe Herder, alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verstand, Zweck, Ebenmaß, wo Humanitaͤt fehlt, kein Klang einer himmli¬ schen Muse werden. — Daß die Raubritter des spaͤtern Mittelalters zu diesem Gemaͤlde nicht ein¬ mal gesessen haben, sehen Sie von selbst. Dritte Vorlesung. I ndem ich dem deutschen Leben von gestern und heute denjenigen Charakter absprach, der uͤberhaupt nur faͤhig waͤre, sich zur Schoͤnheit zu steigern und zu verklaͤren, wies ich zugleich die Beschuldi¬ gung von mir, als ob ich unserer Nation uͤberall Charakterbefaͤhigung und daher Schoͤnheitsbefaͤhi¬ gung abzusprechen gedaͤchte. Ich hielt Ihnen den Spiegel des deutschen Mittelalters vor, Sie sahen den nationalen Quell des deutschen Lebens eroͤff¬ net, in jugendlicher Freiheit dahin stroͤmend, ge¬ waltige und zugleich schoͤne Unternehmungen, starke und zugleich kunstreich gebildete Menschen, Kuͤnste die der Reichthum ernaͤhrt, kunstreiche Kirchen und oͤffentliche Gebaͤude, Ernst im Schaffen, Lust im Spiel, Kriegsuͤbungen, weibliche Ritter, tapfere Buͤrger, welche das Schwert zu fuͤhren verstan¬ den, keusche Weiber, die in Anmuth, Zucht und Unschuld aufbluͤhten und daher nach Allem auch eine Poesie, welche der Wiederschein dieses Lebens war und in der sich alle Strahlen sammelten, die romantische Poesie des Mittelalters. Mußte nun dies Spiegelbild viel Anziehendes fuͤr unsere Phantasie haben, die in der Gegen¬ wart aus Mangel an Nahrung zu verschmachten droht, ja lag uns die Frage nahe, ob es nicht eben diese romantische Schoͤnheit des Mittelalters sei, dessen Wiederbelebung der Zeit und dem deut¬ schen Volke Noth thue, so ließen wir uns doch nicht darauf ein, diese Frage eher zu beantworten, als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet waͤre, naͤmlich die: traͤgt die romantische Schoͤn¬ heit des Mittelalters auch in der That den Stem¬ pel der schoͤnen Humanitaͤt an sich, der uns als Ideal vorschwebt, war sie lautre Natur, frei von Kuͤnstelei und Ueberspannung, war sie dem deut¬ schen Geiste so eigenthuͤmlich, daß keine spaͤtere Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne sich in diese Form zu schmiegen, muß die neue schoͤnere Zeit, die heranzieht, die als Samenkorn in tausend und aber tausend deutschen Herzen verschlossen liegt, um an irgend einem Fruͤhlingsmorgen neuerwacht ins Leben zu bluͤhen, muß sie haben Barone, Ritter, Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienst, Minnegesang und alle jene Denk- und Lebensfor¬ men, wodurch sich das Mittelalter auszeichnete. Und da glaubten wir mit Nein antworten zu muͤssen, und ich denke, Alles was jung ist in Deutschland, steht auf unserer Seite und lebt der frohen Hoffnung, daß auch ohne Verjuͤngung mit¬ telaltriger Formen eine Wiedergebaͤrung der Na¬ tion, eine poetische Umgestaltung des Lebens, eine Ergießung des heiligen Geistes, eine freie, natuͤr¬ liche, zwanglose Entfaltung alles Goͤttlichen und Menschlichen in uns moͤglich sei. Das Mittelalter hat sich uͤberlebt, sein Geist ist ein Schatten der Geschichte, der auf verwit¬ terten Ruinen einherwandelt. Poesie mag ihn beschwoͤren, mag ihn in romantischem Mondlicht unserm Auge voruͤberfuͤhren, der helle Tag sieht und kennt ihn nicht mehr. Schon zur Zeit der Reformation gehoͤrte er zu den Abgeschiedenen, die Erfindung des Pulvers, der erste Kanonenschuß, die Entdeckung der griechischen und lateinischen Klassiker, die Entdeckung von Amerika hatten ihn in Europa, und hauptsaͤchlich in Deutschland all¬ maͤhlig geschwaͤcht und vernichtet, als Luther auf¬ trat und durch den Erfolg seiner kuͤhnen Worte und Unternehmungen darthat, daß seine aͤlteste Burg und sein festestes Prachtgebaͤude, die Kirche, nur sein eignes Mausoleum sei. Meine Herren, man hat es unserm Luther verdacht und ich kann große Maͤnner dafuͤr an¬ fuͤhren, daß er beim Werk der Reformation so wenig auf der einmal gegebenen historischen Basis fortbaute, daß er der Kirche, welche er stiftete, so wenig aus der Nachlassenschaft der alten zertruͤm¬ merten aneignete, daß er das ehrwuͤrdige Erbe der Vaͤter zu unbedenklich Preis gegeben, die Tradi¬ tion verworfen, die Zeremonien und Aeußerlichkei¬ ten verachtet habe; allein dieser Vorwurf beruht auf Mißverstaͤndniß sowohl der Reformation, als uͤberhaupt der geschichtlichen Fortbildung der Mensch¬ heit, wie sie uns eben in der Geschichte selbst zu Tage liegt, wenn wir unsere Augen nicht durch willkuͤhrliche Vorurtheile blenden. Die Reforma¬ toren waren begreiflicher Weise keine Anhaͤnger der historischen Schule, welche gerade in unserer Zeit so viele Haͤupter und Verfechter findet und deren Prinzip der allmaͤhligen, schrittweisen Entwicklung des Positiven, des Staats, des Rechts u. s. w. zu kleinlichen und engherzigen Ansichten und Irr¬ thuͤmern Veranlassung gibt. Haͤtte Luther das traditionelle Prinzip zugegeben, so haͤtte er es nicht wagen duͤrfen, auch nur einen Stein an Sankt Peter zu ruͤhren, dazu hatte das Gebaͤude der alten Kirche viel zu viel Konsequenz, als daß ein Einzelner haͤtte mit Einzelnem willkuͤhrlich schalten und walten duͤrfen. Luther, der schwach anfing, ward durch innere Nothwendigkeit auf sei¬ nem Wege immer weiter fortgetrieben und sah sich am Ziel seiner Laufbahn durch eine unuͤber¬ steigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters getrennt, nicht etwa, als haͤtte er ein positiv Le¬ bendiges dem positiv Todten gegenuͤber gestellt — denn was Luther aus der Bibel und der fruͤhsten christlichen Zeit dogmatisch Positives zum Behuf seiner Kirche aufzustellen sich veranlaßt fand, war in ihm selbst allerdings mit gewaltsamen und gro߬ artigen Zuͤgen ausgepraͤgt, zeigte sich aber bald in versteinertem Zustande der Orthodoxie und ohne jugendliche Zeugungskraft — sondern weil er ge¬ gen die Unvernunft und gegen die Historie prote¬ stirte und Papst, Religion und Kirche seinen lu¬ therischen Kopf entgegensetzte, der denn auch so fest, eisern war, daß er unbeschadet an ihrem Fels anrennen konnte. Dies Protestiren gegen die Historie, meine Herren, das ist die große Erbschaft, die Luther uns uͤbermacht hat und wollte Gott, seine Kraft und sein Geist senkte sich auf uns nieder und wir waͤren im Stande, das begonnene Werk der Re¬ formation nach allen Seiten hin wuͤrdig zu vollen¬ den. So wie aber die Reformation einseitig ste¬ hen geblieben ist, so wie dieselbe sich in aller Hast vermaͤhlt hat mit der Einseitigkeit des Ver¬ standes, mit der Prosa des Lebens, haͤngt die schoͤne Frucht leider saftlos und traurig am duͤrren Ast und sehnt sich abzufallen und einer neuen Bluͤthe Platz zu machen. Wehmuth ergreift mich, sehe ich den Lorbeerbaum von tausend Wucher¬ pflanzen umschnuͤrt, seiner besten Saͤfte und Kraͤfte durch Schmarotzer beraubt, froͤstelnd in kalter Luft, absterbend in fremdem Boden, ohne einen Fu߬ breit vaterlaͤndische Erde, im Treibhaus der Un¬ natur, statt frei und offen dazustehen in Gottes schoͤner Welt, seine Wurzel befruchtet durch die uralten Quellen der Poesie, seine Blaͤtter dem Saͤuseln der Liebe und dem Sturm der Leiden¬ schaften Preis gegeben, seine Krone dem Himmel, dem Frieden, der Sehnsucht und den Segnungen der himmlischen Sonne, Religion. Wie sich aber unser nationales Leben in Zu¬ kunft gestalten und entfalten wird, so viel scheint gewiß zu sein, daß die Hoffnung der Zukunft einerseits beruhe auf der Jugend, andererseits auf der Wahl desselben Weges, auf dem Luther den ersten Riesenschritt machte und auf dem ihm die Pygmaͤen der Folgezeit in Stich gelassen haben. Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 3 Ich meine auf dem Wege des Protestirens, des Protestirens gegen alle Unnatur und Willkuͤhr, gegen den Druck des freien Menschengeistes, gegen todtes und hohles Formelwesen, Protestiren wider die Ertoͤdtung des jugendlichen Geistes auf unsern Schulen, wider das handwerksmaͤßige Treiben der Wissenschaften auf unsern Universitaͤten, Protesti¬ ren wider den Beamtenschlendrian im Leben, wi¬ der die Duldung des Schlechten, weil es her¬ koͤmmlich und historisch begruͤndet, wider die Reste der Feudalitaͤt, wider die ganze feudal-historische Schule, die uns bei lebendigem Leibe ans Kreuz der Geschichte nageln will, und vor allen Dingen Protestiren gegen den Geist der Luͤge, der tausend Zungen spricht und sich mit tausend Redensarten und Wendungen eingeschlichen hat in alle unsere menschlichen und buͤrgerlichen Verhaͤltnisse. Es ist eben zu dieser Zeit, wo der Geist aus veralteten Formen gaͤnzlich herausgewichen ist, die Historie selber zur Luͤge geworden und die Be¬ hauptung, es muͤsse sich das Neue aus dem Al¬ ten, das todt und abgethan ist, allmaͤhlig fortent¬ wickeln, ist eben die abgeschmackteste Luͤge, womit der Anbruch des Neuen zuruͤckgehalten werden soll. Es ist wahr, es liegt im Gange der Menschheit, sich in der Dauer gewisser Epochen am Positiven weiterzubilden; allein nicht weniger wahr ist es, daß mit dem Schlusse dieser Epochen die geistige Entwicklung voͤllig aufhoͤrt — das Positive ver¬ fault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Brust der Menschheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu bluͤhen, zu wachsen, zu welken und zu vergehen. Betrachte ich die geistige und leibliche Lebendigkeit jugendlicher Voͤlker, z. B. einst der Griechen und unsers eigenen Volks und vergleiche diese mit den europaͤischen der Gegen¬ wart, so sehne ich mich unter jenen geschichtlosen Menschen zu leben, die nichts hinter sich sehen, als ihre eigenen Fußstapfen und nichts vor sich als Raum, freien Spielraum fuͤr ihre Kraft. Die Menschheit, sagen freilich die feudalen Histo¬ riker, ist nicht so uͤbel daran, immerfort bildet und beseelt sie das Alte, den Theil, der sich nicht laͤnger bilden und beseelen laͤßt, streift sie von sich ab und sie hat daher aus ihrem Wege nichts wei¬ ter zu tragen, als sich selbst. — Was nicht ist, bemerken Andere, sollte wenigstens so sein: succes¬ sive Fortentwicklung ist das Gesetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu re¬ vidiren, durch Stehenlassen und Ausmerzen Heute und Gestern mit einander zu versoͤhnen. Aber, frage ich, wer schreibt denn die Gesetze des Le¬ bens, Ihr oder die Geschichte. Seht Ihr nicht, 3 * daß den fortlaufenden Generationen sich von selbst und trotz aller Gegenmuͤhe spanische Stiefel an die Fuͤße haͤngen, daß die Ausduͤnstungen des Le¬ bens sich nach und nach am Busen der Voͤlker versteinern, sich als Krusten um ihre Brust setzen und ihnen das Athemholen schwer machen, daß es fuͤr die Voͤlker keine Wohlthat, sondern Plage ist, Tausende von Jahren hinter sich her am Schlepptau zu ziehen? Alle Ursagen der Voͤlker bestaͤtigen uns, daß selbst die fruͤheste, schoͤpfungs¬ junge Menschheit sich bald, sehr bald ausgelebt und gleichsam abgenutzt habe; bildet es doch ein Hauptstuͤck in den hebraͤischen, indischen, griechi¬ schen Sagen, daß Suͤndfluthen das fruͤh gealterte, seiner eigenen Geschichte verfallene Geschlecht der Menschen wegraffen und vom Erdboden vertilgen? Muß nicht eine neue Jugend die Erde bevoͤlkern, wenn die Elohim, die Goͤtter den Anblick der er¬ baͤrmlichen, suͤndigen und ausgearteten Soͤhne des Staubes nicht laͤnger ertragen koͤnnen? Und in der Geschichte — man werfe nur einen Blick auf die Roͤmer und Griechen zur Zeit des Heilandes: Was hatte die fruͤhere Goͤtter- und Heroenwelt, die Zeit der Aristide und der Katonen ihnen zum Erbtheil uͤberlassen? Ihren Leichengeruch. Und dieses weltverjuͤngende Christenthum, das nicht neuen Most in alte Schlaͤuche fuͤllte, dieses Chri¬ stenthum in den Tagen vor Luther? Ausgearteter, als das Judenthum je gewesen. Statt Kinder Gottes, wie die Christen sein sollten, nicht ein¬ mal Knechte Gottes, was die Juden waren, Knechte des Papstes, der Pfaffen, der Tradition, der Geschichte, die ihren Abfall und Kehricht den Menschen thurmhoch auf die Seele geschichtet hatte. Die Anwendung auf unsere Zeit uͤberlasse ich Ihnen selbst. Wir sind krank an unserer Hi¬ storie und wir werden vielleicht daruͤber hinsterben, ehe wir uns den Muth fassen, den unheilbaren Sitz unserer Krankheit einzusehen, und uns dem wunderbaren Genius anvertrauen, der verjuͤngend durch die Welt schreitet. Jedoch steht dem Truͤb¬ sinnigen, das in dieser Ansicht fuͤr uns liegt, der Spruch der Hoffnung gegenuͤber, daß ein Augen¬ blick Alles umgestalten kann, so im Schicksal des Einzelnen, als im Schicksal der Voͤlker und Na¬ tionen. Was aber der Jugend, als dem Element im Staat, das die neue Geschichte bildet, jeden¬ falls obliegt, ist der feste Vorsatz, nach Kraͤften den bezeichneten Weg einzuschlagen, ist der feste Wille, sich immer entschiedener von der Luͤge los¬ zusagen, immer deutlicher sich des Gegensatzes zwischen dem Alten und Neuen bewußt zu werden, jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fah¬ ren zu lassen und die Kunst zu ergreifen, das Unschoͤne in Wort und That an sich und Andern nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen Geistes nicht zu schließen und, weder gedankenlos und leichtfertig dahinlebend, noch schwermuͤthig bruͤtend, die Bluͤthen des Lebens und der Wissen¬ schaft mit jugendlicher Unschuld und Heiterkeit zu pfluͤcken. Es muß anders werden, das sollte das Ge¬ fuͤhl sein, das sich Aller bemaͤchtigte, wir selbst sind dazu berufen, das starke Echo dieses Gefuͤhls. Wie viel duͤrre Blaͤtter wir dazu aus dem Kranze unseres Lebens herausreißen muͤssen, wie viel Un¬ schoͤnes wir von uns abthun, wie viel gemeine Prosa wir fuͤr ewig in den Schlamm und Schlick der abgestandenen Zeit versenken muͤssen, welche neue Ansichten der Wissenschaft, der Kunst, der Poesie, der Religion, des Staats, des Lebens wir fassen und zum Eigenthum unseres Herzens machen muͤssen, dies Alles muß uns oft und leb¬ haft beschaͤftigen und das Befreundete muß sich verbinden mit dem Befreundeten, um sich gegen¬ seitig auszutauschen und zu befestigen. Jetzt, darauf komme ich zuruͤck, jetzt liegt Alles noch, Ansicht, Gefuͤhl, und gar das Leben und Treiben gar zu sehr in roher Unbildung, in Verwirrung, Uneinigkeit und Zwist, und es haͤlt schwer, wenn nicht unmoͤglich, fuͤr den Einzelnen, sich leicht und rein hinzustellen und sich aus dem truͤben unaͤsthetischen Fahrwasser gemeiner Ansich¬ ten immer gluͤcklich herauszuziehen. Schon habe ich mit wenig Worten unserer Schulen, Akademien und Brodstudien als solcher Erwaͤhnung gethan, die im schneidendsten Kontraste staͤnden mit indi¬ vidueller und volksthuͤmlicher Bildung, der Grund¬ bedingung charakteristischer Schoͤnheit und ihres Verstehens und Auffassens. Doch unterliegen nicht geringerem Tadel unsere Ansichten und Studien jener allgemeineren Wissenschaften, welche den Schlußstein unserer hoͤheren Geistesbildung aus¬ machen sollten und ich will darunter nur die der Philosophie und der Geschichte mit Namen auf¬ fuͤhren, vom Studium und der wissenschaftlichen Aneignung der Religion aber gaͤnzlich schweigen. Beginnen wir von der Geschichte. Welche unleidliche, leblose Ansicht machen wir uns uͤber dieselbe. Ueberall, wo wir zuruͤckgehen auf die fruͤhsten Zeiten eines Volkes, ist es leicht zu mer¬ ken, wie Poesie und Historie ungetrennt von einem Gemuͤth aufbewahrt und von einem begei¬ sterten Munde verkuͤndet wurde. Beide vereinigen sich darin, das Leben mit allen seinen Aeußerun¬ gen aufzufassen und darzustellen. Erst eine spaͤ¬ tere gelehrte Ansicht mußte sie trennen, welche die Historie auf kritische Wahrheit beschraͤnkt, die epi¬ sche Poesie aber dem Dichter uͤberlaͤßt. Allein die kritische Wahrheit, hat an sich gar keinen Werth, sondern erhaͤlt ihn nur in Verbindung mit poetischer; nicht irgend eine aͤußere Thatsache wol¬ len wir wissen, sondern ihren Zusammenhang mit dem Leben. Was will man von der Geschichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche sie darstellt, und muß nicht also unsere jetzige kri¬ tische Historie wieder, wenn auch auf einem an¬ dern Wege, eins werden mit der Poesie, mit dem Epos der Voͤlker? Denken Sie an das beste Ge¬ schichtswerk der neuern Zeit, an unsers Niebuhr's roͤmische Geschichte. Ist nicht eine contradictio in adjecto in diesem Titel, kann jemals durch ge¬ lehrte Forschungen etwas, was einmal nicht Ge¬ schichte war und ist, zur Geschichte erhoben wer¬ den? Lassen Sie uns doch einen Augenblick be¬ denken, was es heißt: Roms Geschichte soll vor unsern Augen entstehen, sich fortspinnen, mannig¬ fach verknuͤpfen, in immer groͤßern Radien anschie¬ ßen bis zur Vollendung des aͤußersten und zur ge¬ waltsamen Durchloͤcherung und Zerfetzung des gan¬ zen Weltspinnengewebes durch die furchtbaren Stuͤrme des Nordens. Die ersten Faͤden aller Voͤlkergeschichten ver¬ laufen sich in den Morgenhimmel des Mythus, Goͤtter spinnen sie aus ihrem Busen, sie fliegen wie verklaͤrte Genien in einem losen, lieblichen Durcheinander und man sieht es kaum, wo sie ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der Geschichte setzen. Dichter und Kuͤnstler sind dar¬ uͤber leicht zu troͤsten; allein Geschichtsforscher und Mythologen wandern verzweifelnd in der poetischen Goͤtterdaͤmmerung umher, vielfach geneckt von den raͤthselhaften verzauberten Gestalten, die nicht sel¬ ten mit schelmischer Ironie sich grade vor sie hin¬ stellen, sich geduldig entkleiden, befuͤhlen und be¬ tasten lassen, und dann auf einmal wie der Wind aus ihren Haͤnden entschluͤpfen. Doch laͤßt man sich auf die Laͤnge nicht abschrecken. Man macht sich an das Geschaͤft, die fluͤchtigen Wesen, so gut es gehen will, zu klassifiziren, die einen nennt man religioͤse, die andern naturhistorische, die drit¬ ten voͤlkerhistorische Mythen, die widerspenstigsten Schwaͤrmer laͤßt man laufen, hartnaͤckig widerstre¬ bende bringt man auf die Folter und von da zum Gestaͤndniß, oder man bindet ihnen so triftige Ar¬ gumente und eine so schwerfaͤllige Gelehrsamkeit ans Bein, daß sie sich seufzend und abgemattet in ihr Geschick begeben. Sie wissen, meine Herren, auch die roͤmische Urgeschichte verlaͤuft sich in Goͤtter- und Heroen¬ dunkel. Bewunderungswuͤrdig ist es zu sehen, mit welchem Muth, welcher Ausdauer, welcher Vor¬ und Umsicht unser Niebuhr dies dunkle Gebiet durchirrt hat, mit wie scharfen, unverwandten Blicken er die kuͤmmerlichen Spuren verfolgt hat, die vor den Stadtthoren Roms an die Ursitze der italischen Volksstaͤmme leiten, Spuren, die unauf¬ hoͤrlich kreuz und quer von Goͤttertritten und Schweinepfoten, griechischen Fluͤchtlingen und saͤu¬ genden Woͤlfinnen, Heroen und Banditen verwirrt und verwischt werden. Ohne Glauben kommt man ihm nicht nach. Seine Schuͤler schlagen ein Kreuz, fassen ihn getrost beim Rockzipfel und gehen mit ihm durch Dick und Duͤnn, was freilich am Ende nichts schadet, da die Leitung eines ausgezeichne¬ ten Mannes, selbst in die Irre, immer belehrend und fruchtreich ist. Allein wir fragen nur, ist das der Weg zur Geschichte, kann selbst in spaͤtern, sogenannten hellen und historischen Zeiten etwas zur Geschichte erhoben werden, was nicht im Ur¬ sprung Geschichte war? Duͤrfen alterthuͤmliche Forschungen, waͤren sie noch so geistreich und scharfsinnig, den großen Namen „Geschichte“ an der Stirn fuͤhren? Nein, meine Herren, das duͤrfen sie nicht. Geschichte ist nicht das Resultat gelehrter Forschungen, sie springt nackt und schoͤn wie Aphrodite aus dem Schaum der Wellen, wie Minerva in unmittelbarer Vollendung aus dem Haupte der kreisenden Zeit. Nehmen Sie an, man koͤnnte es in einer nachtraͤglichen Geschichte zu einer gewissen aͤußerlichen, ich moͤchte sagen peinlichen, dem Ver¬ hoͤr von hundert durcheinandersprechenden Zeugen abgewitzigten Wahrheit bringen, was waͤre diese? Ein todtes Residuum von Kraͤften, die, laͤngst im großen Weltenraum zerstoben und verflogen, kein Zauberspruch zuruͤckbeschwoͤrt, Muschel, kal¬ kene Schale auf den Gebirgen, die nur schwache, unsichere Spuren ehemaliger Beseelung erlugen laͤßt. Aber die Seele? die innere Wahrheit? Wahrheit, seliger Reinhold, was ist Wahr¬ heit? Ich fuͤhle es, was ich geschichtliche Wahr¬ heit nenne, hat fuͤr mich etwas Unmittelbares und Zuversichtliches, etwas, was allen kleinlichen Zwei¬ fel niederschlaͤgt, was meinen Geist mit suͤßem Verstaͤndniß in seine Kreise zieht. Ich hoͤre das Fernste aus fernen Zeiten und verstehe es sonder Muͤhe; ich sehe die wunderbarsten Gestalten und Erscheinungen an mir voruͤberziehen und bin mit ihnen vertraut, wie mit alten Bekannten und kann mir ihre Wirklichkeit nicht anders denken, als wie sie mir eben erscheint. Denn so krystallisch klar steht die That, der geschichtliche Heldenleib vor meinen Augen da, daß ich die innerste Seele, die Alles belebt und bewegt, die zartesten Adern, die feinsten Gefaͤße, den ganzen lebendigen Organis¬ mus hell und offen vor mir liegen sehe. Ist das nun, wie ich's besser fuͤhle als aussprechen kann, hervorstechender Charakterzug der Geschichte, so sind mir Homer's goͤttliche Gesaͤnge tausendmal geschichtlicher, als die assyrische, aͤgyptische, persi¬ sche Historie, ja, Homer's Achilles hat in meinen Augen mehr Fleisch und Bein, als Cyrus und der große Alexander. Alexander — welche Verkehrheit, von einer Geschichte Alexanders zu sprechen. Wis¬ sen wir nicht, daß es der einzige große Schmerz des Welteroberers war, keinen wuͤrdigen Geschicht¬ schreiber, keinen Homer zu besitzen? Dessenunge¬ achtet haben wir eine Geschichte von ihm? Was man unter Gevattern Geschichte nennt, in der That aber so wenig eine, so sehr keine, daß man heutigen Tags nicht weiß, soll man ihn einen jun¬ gen Gott oder einen wahnsinnigen Melech nen¬ nen. Wer zeichnet uns das lebendige Alexander¬ gesicht? Plutarch von Chaͤronea, Quintus Cur¬ tius, Schlosser von Heidelberg, oder die allgemeine Welthistorie, so in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten u. s. w. — o uͤber den armen großen Alexander! Geschichtliche Wahrheit ist lebendige Harmo¬ nie zwischen Leib und Seele der Geschichte, zwi¬ schen Gedanke und That. Wie in Toͤnen die Seele des Musikers athmet, so athmet die Seele des Helden in der That. Den wahren Geschicht¬ schreiber muß das Spiel der Harmonien in unmit¬ telbarer Gegenwaͤrtigkeit ergreifen, im historischen Konzertsaal, unter den schwellenden Toͤnen, den ringenden, jauchzenden Menschen, da fesselt er mit unnachahmlichem Zauber das Unsichtbare an das Sichtbare, den Geist an die Erscheinung, den Sinn an die That. Geschichtliche Wahrheit — mich uͤberfaͤllt ein Grauen, denke ich an den Tod¬ tentanz, den man Geschichte nennt — geschicht¬ liche Wahrheit, ist sie nicht das Leben, selbst ge¬ lebt und angeschaut von einem Genius, schwebend auf den Fluͤgeln seiner Zeit, in ihre Stroͤme seine Feder senkend, wie ein begeisterter Apostel nieder¬ schreibend, was der zur That gewordene, der Fleisch gewordene Geist der Zeiten ihm diktirt? Wer schrieb Geschichte, die solches Namens wuͤr¬ dig war? Sind es nicht Maͤnner, die gleich Thukydides, Macchiavelli, Seguͤr, der Zeit im Schooße saßen? Geschichte wird einmal nicht ge¬ schrieben, sie schreibt sich selber, sie waͤhlt einen ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Ver¬ zeichnung ihrer großen Thatengedanken. Wir ha¬ ben keine Geschichte Roms, Griechenlands, Ita¬ liens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeschichte im gewoͤhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume der Geschichte, die bluͤhendste Entfaltung der Voͤlkerkraft , bluͤht und duftet durch alle Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem sie an¬ gehoͤrt, laͤngst erstarrt, abgestorben, zerstreut oder ausgeartet ist. So haben wir eine Geschichte der Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Ge¬ schichte der Roͤmer waͤhrend der Karthagerkriege, eine Geschichte der lombardischen Staͤdte, als Freiheit sie begeisterte, eine Geschichte Frankreichs unter dem siegreichen Kaiser, eine Geschichte Deutschlands — welche die Zukunft geschehen las¬ sen und dann auch schreiben wird. In der Ge¬ schichte, hat man gesagt, gibt es großartige Epo¬ poͤen; allein ich kenne keine andere Geschichte, als die sich von selbst zur großartigen epischen Dich¬ tung gestaltet, Verherrlichung eines Volkes, das sich selbst verherrlicht hat. Traum und Phanta¬ sieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeschich¬ ten gehoͤren nicht ins goldene Buch des Lebens. So hat Tazitus, der uͤber die unnatuͤrlichen Kraͤm¬ pfe der roͤmischen Kaiser und die fallende Sucht ihrer Unterthanen schrieb, nur einen aͤrztlichen Bericht, aber keine Geschichte geschrieben. Das Gemaͤlde eines Pesthofes, wo das gelbe Fieber auf hundert verzerrten Gesichtern brennt, ist kein Gemaͤlde, kein Kunstwerk, — und Geschichte, sie ist Kunst, Kunst auf ihrem hoͤchsten Gipfel. Ich schließe, meine Herren. Moͤchte Ihnen diese Diatribe uͤber den wahren, aͤsthetischen Be¬ griff der Geschichte, uͤber ein so wichtiges Stu¬ dium die Augen oͤffnen. Vierte Vorlesung. G egen den Unfug Historie, gegen die schlechten Gewohnheiten, die das Leben umstricken, gegen die gemeinen Ansichten, gegen das unfreie und knechtische Formelwesen, das nur den blinden Ge¬ horsam und das todte Gedaͤchtniß in Anspruch nimmt, gegen Alles, was die Aeußerungen der schoͤnen und wahren Natur im Keim erstickt, kuͤhn und offen zu protestiren , das sei die Aufgabe der edleren Jugend, war der Inhalt und die Auf¬ forderung meiner letzten Vorlesung. Um Ihnen aber diese Aufgabe recht nahe zu legen und Sie auf den ganzen Umfang derselben aufmerksam zu machen, fuͤhrte ich Sie zum Schluß in die Hallen zweier Wissenschaften, welche sich humaniora nennen und durch dieses epitheton or¬ nans schon in der Benennung sich uͤber jene Stu¬ dien erheben, welche das Positive der drei Fakul¬ taͤten umfassen und denen der Name: Brodstudien, leider nur mit zu vollem Rechte zukommt. War¬ nen und verwahren wollte ich bei so passender Ge¬ legenheit vor dem Irrthum, als bringe das Stu¬ dium der Geschichte und Philosophie, wie es an¬ noch damit gehalten wird von den Studierenden, in jenen hoͤhern Kreis der Humanitaͤt, und als sei dasselbe in der That etwas Besseres und Edle¬ res, als z. B. das Studium des Rechts oder der Medizin oder der Diplomatik oder der Genealogie und Wappenkunde, welche letztere, wie Hegel spoͤttisch sagt, die positiveste aller Wissenschaften ist. Von dem Ungeschichtlichen, das ist Unepischen unserer Geschichte habe ich dies ausfuͤhrlicher und aus dem Begriff der Geschichte selbst zu erweisen gesucht und ich zweifle nicht daran, daß manches Wort aufgehen wird, als Samenkorn, das die schoͤnere Idee und Ansicht zur Reife bringt; bin ich mir doch selbst bewußt, daß mir von der Zeit an, als mir die Ahnung der Geschichte aufging, das ganze Leben klarer geworden ist und ich fuͤr das Theoretische und Praktische, fuͤr das Wahre und Schoͤne, das sich gemeiniglich polarisch gegen¬ uͤber zu stehen pflegt, einen Mittelpunkt gefunden habe, in dem sich beide geschwisterlich vereinigen. 4 Es bleibt mir noch, Sie auf das Studium der Philosophie aufmerksam zu machen, und auch in dieser Hinsicht der lebendigeren Ansicht, der mit der Schoͤnheit verwandteren die Thuͤr zu oͤffnen, wogegen die unaͤsthetische Ansicht breitstaͤmmig sich anlehnt. Ich habe aber absichtlich die Philosophie hinter der Geschichte genannt, um von ihr einen Uebergang zu machen zu der Philosophie jener Kunst oder Wissenschaft, welche der beabsichtigte Inhalt dieser Vorlesungen ist. In welcher Absicht studirt man auf Univer¬ sitaͤten die Philosophie? In der Regel aus kei¬ ner, oder um des Examens wegen. Aus keiner; denn welche Absicht soll einen zur Erlernung einer Wissenschaft hintreiben, deren Wesen und Zweck so unbekannt sind, wie die Philosophie den Mei¬ sten, die von der Schule auf die Universitaͤt zie¬ hen. Auch hier findet sich das klaͤgliche Mißver¬ haͤltniß zwischen den hoͤhern und niedern Bildungs¬ anstalten, das uͤberall durchbricht und nach allen Seiten eine Scheidewand zwischen den beiden gro¬ ßen Schritten zieht, welche der studirende Juͤng¬ ling zu machen gezwungen ist, dem Schritt der Schulbildung und dem Schritt der akademischen Bildung. In der That sind die beiden Prinzi¬ pien, worauf hier die Schule, dort die Akademie gegruͤndet sind, durchaus von einander verschiedene und bewegen sich in entgegengesetzten Elemen¬ ten. Die Schulbildung leitet in die alte klassische Welt, oder wenigstens macht Anstalten, bestrebt sich, gibt sich das Ansehen, dieses zu thun. Die Universitaͤtsbildung dagegen bereitet vor zum prak¬ tischen Leben, zum Staatsdienst, zur Ausfuͤllung derjenigen Aemter, welche herkoͤmmlich in diese große hoͤlzerne Maschine eingreifen, welche wir unser oͤffentliches Leben nennen. Ich wuͤßte aber nicht, welche beide Richtungen sich kontrastirender nach ganz verschiedenen Regionen verlaufen, als die Richtung auf das Leben der Alten und auf unser Le¬ ben, sie beruͤhren sich wirklich eben so nahe, als der Nordpol und der Suͤdpol am Himmel, als Hemmung und Freiheit, Kunst und Unkunst, Poe¬ sie und Prosa, Geist und Geschmacklosigkeit, freier Marktplatz und enge Stube, bewußter Genuß und dumpfe Vegetation, Maͤnnerwuͤrde und ergebenste Diener u. s. w. Doch wird es gluͤcklicher oder ungluͤcklicher Weise mit dem Studium des freien Alterthums auf unsern Schulen, nicht so gruͤnd¬ lich ernsthaft gemeint, als sollte denn nun auch im Gemuͤth der Jugend aufgehen der Strahl, der jene untergegangene Welt verklaͤrte, als sollte es in Liebe entflammen fuͤr den großen Sinn und die Großthaten einer Heldenwelt, als sollte es sich mit der ahnungsvollen frischen Begeisterung jener 4 * gluͤcklichen Jahre, die wir in den hoͤheren Klassen der gelehrten Schule zubringen, den erzgegossenen Pforten des Heiligthums naͤhern, sich unter die Schatten jener froͤhlichen Menschheit mengen, die ihn bevoͤlkern, und aus ihren Gesichtern, Bewe¬ gungen, Reden und Gesaͤngen den schoͤnen Geist studiren, der uͤber Allem thront und schimmert — so ist es denn nicht so recht eigentlich gemeint, obgleich uns gelegentlich und in Schulreden und Schulprogrammen viel Schoͤnes und Ruͤhrendes vom bildenden Studium der alten Klassiker vor, gesprochen wird und wir selbst auch selten verfeh¬ len, beim Abgang in lateinischen oder deutschen, gereimten oder ungereimten Abschiedsworten, die hohe Wichtigkeit der Freundschaft und der Vater¬ lantsliebe u. dergl. nach Mustern des Alterthums darzustellen und diesem mit dem besten Kranze unserer ersten jugendlichen Beredtsamkeit, mit den erlesensten Floskeln aus Zizero das Haupt schmuͤ¬ cken. Allein ich frage Sie selbst und die Mehr¬ zahl deutscher Studirender, ob diese festliche Be¬ geisterung, die ich so eben erwaͤhnte, der natuͤr¬ liche, aufrichtige und ungekuͤnstelte Erfolg und Er¬ guß ist aus den Studien, die wir in der Klasse getrieben, oder nicht vielmehr ein hergebrachter Ak¬ tus, bei dem wir entweder nichts fuͤhlen und den¬ ken, oder, im besseren Fall, bei dem wir mit Phantasie und einigem Gefuͤhl gleichsam wehmuͤ¬ thig das aussprechen, was uns das Alterthum haͤtte sein sollen und werden koͤnnen in der bluͤ¬ henden Zeit, als wir in Prima saßen, und uͤber der Schale nicht zum Kern gelangen konnten. Zerstreut sind wir worden und ermuͤdet vor der Zeit, ein nacktes, duͤrftiges Wissen von Vokabeln und Regeln, von Stellen und Gebraͤuchen haben wir in die Faͤcher unseres Gedaͤchtnisses eingesam¬ melt, roh und ungebildet oder frostig gelehrt und altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬ vor, und nicht duͤrfen uns beneiden jene Gespielen unserer ersten Jahre, welche nicht, wie wir, zur Fahne der Gelehrsamkeit schworen, sondern mit duͤrftigem Wissen, aber desto derberem und froͤh¬ licherem Lebensgefuͤhl sich dem Landbau oder an¬ dern buͤrgerlichen Geschaͤften widmeten. Sie ha¬ ben sich noch selbst behalten, sie sind sich noch der Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird nicht hin und her geworfen durch widersprechende Gefuͤhle und Ansichten, sie lieben die nahe Ge¬ genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, sie ruhen von ihrem Geschaͤft, spannen sich an und ab nach dem aͤltesten Gesetze der Natur, das im behagli¬ chen Wechsel zwischen Thaͤtigkeit und Ruhe be¬ steht, und wenn ihr Geist auch nicht fuͤr den Ge¬ nuß hoͤherer Freuden ausgebildet ist, so schwebt er auch nicht, wie Tantalus, durstig an der verbote¬ nen Quelle, ohne einen Tropfen der Labung er¬ haschen zu koͤnnen, so ist er auch nicht verbildet, halbgebildet, unfruchtbar gebildet und durch die verschiedenen Elemente seiner Bildung mit sich selbst in Kampf und Streit gerathen, was Alles, wie wir selbst am Besten wissen, unserer jetzigen gelehrten Schulbildung saure Frucht zu sein pflegt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es fuͤr den tuͤch¬ tigsten Schulmann eine unendlich schwere Aufgabe ist, den Dichter, den Redner, den Geschichtschrei¬ ber, den Philosophen des griechischen und roͤmi¬ schen Alterthums, bei unsern heutigen gesellschaft¬ lichen Zustaͤnden, bei der Mechanik des Staatsle¬ bens, dessen hoͤlzerne Raͤder auch in der Schul¬ stube klappern, fruchtreich in den Schulen zu er¬ klaͤren; allein eben so gewiß ist es, daß den We¬ nigsten nur einmal die Ahnung aufgegangen ist von der Bedeutung der Alten fuͤr das jetzige Le¬ ben, daß sie selbst jene großen und leuchtenden Zuͤge in den Pergamenten klassischen Alterthums, die Zuͤge der reinen Natur, des tiefen Sinnes fuͤr die Mysterien der Welt, fuͤr Wahrheit und Schoͤnheit nur selten einmal mit verwandtem Auge selbst angeschaut und sich von ihnen durchdrungen haben. Wie sollte es anders kommen. Ein Schulmann bildet den andern und die Philologie ist so weit aus dem Leben geruͤckt und das Leben selbst aͤußert sich noch so glatt, schwach, duͤrftig und widersprechend, daß es immer ein halbes Wun¬ der bleiben muß, wenn ein Voß, ein August Wolf mitten aus philologischem Wuste sich erheben und Funken poetischer Lebendigkeit ausstroͤmen, die kein Mensch vor ihnen dieser Wissenschaft zutraute. Waͤren und wuͤrden nun solche Maͤnner haͤu¬ fig und haͤufiger, entvoͤlkerten sich die Schulaͤmter nach und nach von Leuten, die mit dem Alterthum nicht blos ein Sylbenstechen halten, konjugiren und dekliniren lehrten, sondern dessen Geist zu er¬ laͤutern und Juͤnglingen einzufloͤßen verstaͤnden, so wuͤrde dies eine Reaktion auf die Universitaͤten verursachen, welche sich auf alle die humanen und inhumanen Studien erstrecken wuͤrde, die man her¬ koͤmmlich auf ihnen treibt, und es wuͤrden nicht allein die sogenannten Brodstudien davon gut haben und zu Geiststudien aufruͤcken und mit der Humanitaͤt mehr Hand in Hand gehen, sondern auch selbst die humaniora wuͤrden humaner werden und nicht so leicht einer Geschichte und Philosophie nur darum etwas studiren, weil etwas Kenntniß davon im Examen verlangt wird, sondern aus innerm Antrieb, aus reiner Bildungslust und mit der, auf Schulen bereits erzielten Vorbereitung zum wuͤrdigen Eintritt in diese hoͤhern Gebiete der Wis¬ senschaft. Denn es ist eben das Leben der Alten, wie es in den Schriften derselben erscheint, wahr¬ haft geeignet, eine solche Vorbereitung zu bewerk¬ stelligen und eine Gesinnung und Gemuͤthsstim¬ mung zu erzeugen, die auf das Ideale in jeder Kunst und Wissenschaft gerichtet ist. Und schon allein das Studium, das ist das lebendige Ergrei¬ fen der schoͤnsten platonischen Dialoge, in welchen die ewigen Ideen der Schoͤnheit wie Fixsterne fuͤr alle Zeiten leuchten, ist hinlaͤnglich, um die Weihe fuͤr ein ganzes Leben zu erhalten, hinlaͤnglich zu¬ naͤchst, um auf das Studium der Philosophie und der mit der Philosophie unmittelbar verwandten, aus ihr entsprungenen und durch sie zu befestigen¬ den Wissenschaften eingeleitet zu werden; denn wie Boͤckh richtig sagt, in dem Maß, als der Juͤngling ergriffen wird vom Geist der Alten, in demselben ist er faͤhiger zum Philosophiren. Aber man glaube nicht, daß man Philosophie studirt, wenn man sich die logische Technik zu eigen macht, wenn man Alles das lernt und weiß, was die Philosophen von Indien durch Griechenland bis nach Deutschland, von der aͤltesten Zeit bis auf die jetzige gewußt und nicht gewußt haben, wenn man ungekochte und unverdaute Meinungen uͤber Gott und Welt in sein Hirn preßt, wenn man die Sprache der Philosophen als ein Abrakadabra unverstanden und unverstaͤndlich nachbetet, oder sich auch selbst „mit Worten ein System berei¬ tet,“ weil man, um mich eines Ausdruckes von Goethe uͤber das hohle scholastische Treiben einer Gattung von Philosophie zu bedienen, weil man der Ansicht lebt: An Worte laͤßt sich trefflich glauben, Von einem Wort laͤßt sich kein Jota rauben. Philosophie ist nichts, was sich lehren und lernen laͤßt auf dem Wege historischer Mittheilung. Die Philosophie steht nicht auf dem Katheder und spricht die Zuhoͤrer zu Philosophen, der Lehrer kann sie dem Schuͤler nicht in die Hand druͤcken, wie ein Stuͤck zurechtgekauter Wissenschaft, wie ein fertiges Machwerk, die Philosophie ist eben nichts anders als das Philosophiren, als das wis¬ senschaftliche Bearbeiten seiner eigenen Begriffe, als das Selbstdenken, wenn sie sich theoretisch, das Selbstfuͤhlen und Selbstanschauen, wenn sie sich praktisch aͤußert. Das ist nun aber eben so wenig eines jeden Menschen Sache, als die Poe¬ sie, die Liebe, und was einem sonst als freies Geschenk vom Himmel faͤllt, und das man wohl durch Fleiß und Muͤhe ausbilden und veredeln, aber im Schweiße seines Angesichts sich nicht an¬ schaffen kann, wenn das Organ dafuͤr nicht an¬ geboren ist. Allerdings sind alle Menschen zum Denken, zum Selbstdenken berufen und wenn man die Menge so gedankenlos in den Tag leben sieht, so schreibe man dies eben ihrer Erziehung und dem bleiernen Druck der Verhaͤltnisse zu, der auf ihr lastet; wird dieser Druck aufgehoben, so fan¬ gen auch die Federn ihres Verstandes an zu spie¬ len und die Geburtstunde der, freilich immer rela¬ tiven, Selbststaͤndigkeit hat fuͤr sie geschlagen. Al¬ lein auch der gebildetste Mensch, geschweige denn die Masse, ist nicht immer fuͤr jene Art der Be¬ arbeitung seiner Begriffe geschaffen, welche im heutigen Sinn und unter uns Deutschen vorzugs¬ weise die philosophische heißt und die in ihrer letz¬ ten scharfen Bestimmung auch nur als Laie zu ahnen, man einigermaßen von Natur beguͤnstigt sein muß, die also mit einem gelegentlichen Wort nicht abgethan werden kann. Das Philosophiren in diesem strengen Sinn, mag es nun fuͤr den Philosophirenden ein Gluͤck, oder Ungluͤck sein, mag es ein Zustand der Gesundheit oder Krank¬ heit des Geistes genannt werden muͤssen — und daruͤber lauten bedeutende Stimmen sehr verschie¬ den — kann und darf nur als eine freie Kunst getrieben werden, zu der Niemand gezwungen ist, ja, zu der Niemand aufgefordert werden soll, noch weniger, von dessen Resultaten er zu Gluͤck stadt oder Schleswig endliche Rechenschaft zu lie¬ fern haͤtte, es muß sich freiwillig und von selbst einfinden, es muß ihm, wie jedem freien Erzeug¬ niß des Geistes allerdings nichts in den Weg ge¬ schoben werden, im Gegentheil muß er die Mit¬ tel seiner Nahrung auf den vaterlaͤndischen Bil¬ dungsanstalten antreffen und der Staat muß sei¬ nem spaͤteren Einfluß auf Gesellschaft und oͤffent¬ liches Leben ruhig entgegensehen — das sind die Bedingungen, unter welchen die hoͤhere Philoso¬ phie bei uns wachsen und gedeihen muͤßte, wenn sie Juͤnger und Enthusiasten findet, die, nach ge¬ wissenhafter Pruͤfung, ihr Leben ihr zu widmen gedaͤchten; denn darauf, auf die Widmung eines ganzen Lebens mit allen seinen Tendenzen macht sie Anspruch, denn sie will nicht etwa dann und wann, und hie und da, zu diesem oder jenem Behufe, studirt, zitirt und benutzt werden, son¬ dern rein um ihrer selbst willen, und verlangt alle die Opfer, welche eine eifersuͤchtige und gerecht¬ stolze Geliebte ihrem Liebhaber zum Gesetze macht. Ihr Bild soll er auf dem Herzen tragen, ihr Gedanke soll ihm vorschweben Tag und Nacht, nur fuͤr ihre Gespraͤche soll er ein Ohr haben, und in ihrem Umgang sich gluͤcklich fuͤhlen und gegen jedermaͤnniglich behaupten und ausfechten, daß sie die Unvergleichlichste und Schoͤnste sei un¬ ter allen ihren Schwestern auf der Welt. Ist das nun, meine Herren, dieser Urania echter und wesentlicher Charakterzug, an der sie jeder Selbstphilosophirende erkennt, an der sie ein Plato, ein Kant, ein Fichte, ein Reinhold wie¬ dererkannt haͤtten, so fuͤhlen und begreifen Sie wohl, daß Philosophie in diesem deutschen Sinn — denn Franzosen und Englaͤndern ist der Be¬ griff der Philosophie so weit, daß die ersteren eine leichte lustige Lebensansicht und die letzteren die Experimentalphysik fuͤr Philosophie und Elektrisir¬ maschinen und Luftpumpen fuͤr philosophische Instrumente ausgeben — daß Philosophie in diesem Sinn nur einer kleinen Zahl von Sterb¬ lichen angehoͤre, wozu namentlich weder ich, noch vielleicht einer von den Anwesenden sich zaͤhlen moͤchte. Und da hoͤren Sie offen und freimuͤthig ausgesprochen, was man so selten gesteht, wo¬ mit man sich unter einander ein Geheimniß macht, das aber die Waͤnde unserer Hoͤrsaͤle laͤngst ausge¬ plaudert haben, das Gestaͤndniß, Philosophie liegt de facto außer dem Kreis der groͤßten Anzahl der Menschen, ja mehr, außer dem Kreis selbst jener Auserwaͤhlteren, welche sich auf Akademien dem Studium der Wissenschaften hingeben. — Wollten die Waͤnde noch etwas hinzufuͤgen, so koͤnnten sie auch sagen: das gerade ist eine von euren vielen Luͤgen, daß ihr dutzendweise auftretet und sagt: mit der Philosophie auf vertrautem Fuß zu leben, obgleich euch diese verschleierte, edle Dame kaum dem Namen nach kennt. Sie sehen hieraus, meine Herren, daß ich nicht der Meinung bin, als muͤsse die Lesung der Alten auf Schulen und was man sonst noch auf denselben zur Vorbereitung fuͤr die Akademie zu treiben pflegt, eine vorherrschende Richtung auf die Philosophie bekommen, im Gegentheil glaube ich, daß der Schulmann sich in dieser Hinsicht darauf zu beschraͤnken hat, die geistreiche Fassung, die wunderbare Form und Schoͤnheit bemerklich zu machen, wodurch sich die philosophischen Schrif¬ ten des Alterthums so sehr zu ihrem Vortheil von den neuen Schriftstellern der Philosophie unter¬ scheiden. Und sind es nicht uͤberall vorzuͤglich diese idealen Formen des Alterthums, zu deren Anschauung und Wuͤrdigung der Schuͤler fruͤhzeitig soll hingeleitet werden und auf denen am Ende die Frucht jener muͤhseligen und zeitraubenden Studien beruht, denen sich der Schuͤler unterzie¬ hen muß, um zum Verstaͤndniß der Quellen zu gelangen? Sind es nicht diese suͤßen, wohllau¬ tenden Toͤne der Ilias, an denen sein Ohr Har¬ monie und Rhythmik erlauschen soll, ist es nicht die klare und durchsichtige Darstellung der homeri¬ dischen Welt, die seinen Geist mit gewissem Zau¬ ber befangen und ihn aufmerksam machen soll auf die dichterische Juweleneinfassung eines Stoffes, der unter andern Haͤnden, als unter Homers, von jedem andern gemeinen Stoffe vielleicht nur durch den tragischen Ausgang und die Zerstoͤrung einer bluͤ¬ henden Stadt verschieden waͤre. Und wird darum nicht Herodot, Thuzydides recht eigentlich auf Schulen gelesen, oder sollten sie nicht darum ge¬ lesen werden, um den Schuͤlern den echten epi¬ schen Stil der Geschichte fruͤhzeitig an so ausge¬ zeichneten Mustern vor Augen zu stellen und ihnen den Unterschied zwischen ihm und der modernen Geschichtsklitterung klar und augenfaͤllig zu ma¬ chen? Und Platons Symposium, Phaͤdrus nicht hauptsaͤchlich, um ihrem Geschmack attisches Salz auf die Zunge zu legen, Besonnenheit in der Be¬ geisterung, Beherrschung des Stoffes und sokrati¬ sche Ironie zu lernen? Hat denn wirklich noch außerdem der deutsche Schulmann einen hoͤhern Zweck bei Lesung der Alten vor Augen, oder darf und soll er ihn haben? Soll er vollkommne Grie¬ chen aus unsern deutschen Juͤnglingen machen, auch im besten Sinn Grlechen , und nicht blos Graͤculi? Einmal muͤßte er nothwendig in seiner Absicht scheitern, da sich der Charakter einer Na¬ tion nicht uͤberdoziren laͤßt auf eine andere, und zweitens, waͤre schon die Absicht ein Hochverrath gegen die eigene Nation, die, so schmaͤhlich sie auch zerrissen und zerruͤttet ist, doch noch immer nicht an sich selbst zu verzweifeln braucht und noch im Grunde ihres Daseins tieflaufende Adern be¬ wahrt, die neu entdeckt und ausgegraben ploͤtzlich uͤber die Wuͤste hersprudeln und dem schmachten¬ den Zustande ein Ende machen koͤnnen. Erziehung des Juͤnglings nicht zum Philosophen, nicht zum Griechen, sondern zum wackern, gebildeten Deut¬ schen, ist des deutschen Lehrers hoͤchste, zum le¬ bendigen Glied jener Kette der Nationalitaͤt, die Gottlob von Tage zu Tage mehr Glieder und Ringe in sich aufnimmt und von der Donau bis zur Ostsee mehr freudig hoffende Seelen umspannt, ist des deutschen Lehrers naͤchste Pflicht. Bildung, meine Herren, ist ein weites Wort und laͤßt sich viel darein fassen. Von theologischer, philosophischer, juristischer Bildung macht man sich leichter Begriffe, aber, wo von hoͤherer, allgemei¬ ner, von humaner Bildung die Rede ist, da schwebt der Begriff ins Unbestimmte und weder der Bildung Ziel noch Umfang tritt den Meisten recht klar vor Augen. Das kommt, wir sind, wie die Fische außer dem Wasser, und leben in keinem rechten Element, wir geben uns im Ganzen Muͤhe genug uns zu bilden und vielleicht mehr als irgend je eine Nation auf dem Erdboden; allein, obgleich wir schon behaupten koͤnnen, daß wir unendlich viel mehr wissen und lernen, als z. B. unsere Nachbarn uͤberm Rhein und selbst die Englaͤnder, so moͤchten wir uns schwerlich mit Recht, wenn wir im Leben mit ihnen zusammenstoßen, mehr Bildung beilegen duͤrfen, als ihnen. Gutmuͤthig scheinen wir den Fremden, und das ist Alles, was sie Gutes von uns sagen. Hoͤren wir dagegen unsere Philosophen, so liegt die Unvollkommenheit unserer Bildung darin, daß wir noch nicht tief genug in die Paragraphen ihrer Philosophie ein¬ gedrungen sind, und, waͤhrend der Franzose, der Englaͤnder, die aͤußere Form und Fassung an uns vermißt, vermißt ein Hegel noch die erste, noth¬ wendige philosophische Grundbildung bei den Ge¬ bildeten der Nation. Wenn wir uns nun keines¬ wegs dazu verstehen koͤnnen, in eine uns fremde oberflaͤchliche Form und Feinheit nach Franzosen¬ art Werth zu setzen; auch nicht mit Allgemein¬ heit das tiefere philosophische Beduͤrfniß fuͤhlen, so muͤssen wir doch anerkennen, daß uns selbst noch jenes schoͤne Mittel zwischen dem Allerinnersten und Aeußersten, zwischen dem mysterioͤsen Grund der Philosophie und der mit Leichtsinn und Flitter¬ gold belegten Oberflaͤche des Lebens nicht so recht inwohne, so daß wir sagen koͤnnten, wir lebten darin, wie die Voͤgel in der Luft, und wie die Fische im Wasser. Vielmehr ist es gar Vielen nicht einmal zum Bewußtsein gekommen, daß ih¬ nen der eigentliche Mittelpunkt der Bildung ab¬ gehe, daß sie, um sich zu foͤrdern und in guter Absicht rechts und links umhergreifen, um sich Elemente zur Bildung anzueignen, welche dann oft die allerheterogensten sind und eine wunderliche musivische Arbeit hervorbringen, wo rothe, blaue, gelbe und gruͤne Steine seltsam und abenteuerlich neben einander liegen. Wo die Grundwurzel die¬ ses Uebels liege, ist leicht abzusehen. Die Grie¬ chen hatten's leichter, sich zu bilden, sie wuchsen schon als Kinder in solche Bildung hinein, Reli¬ gion, Politik, Moral, der Himmel selbst beguͤn¬ stigte sie. Wir haben es dagegen schwer, oft ist uns Alles entgegen, wir werden von fruͤh auf hierhin gerissen, dorthin gerissen, sind eine Beute der widersprechendsten Neigungen und haben nir¬ gends einen breiten sichern Grund, um in Gemein¬ schaft mit Andern darauf fortzuwandeln. Es man¬ gelt uns an großen gemeinsamen Zwecken, es mangelt uns an oͤffentlichem Leben, und wenn die Schwingungen des griechischen Geistes zwischen Wissenschaft und Staat, zwischen Wahrheit und Schoͤnheit, zwischen Religion und Poesie, zwischen Himmel und Erde gleichmaͤßig hin und her gingen und sich nie aus der Bahn entfernten, so schwan¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 5 ken die unsrigen ohne rechtes Maß bald zu der einen, bald zu der andern Seite uͤber und es koͤn¬ nen in einem Hause der tiefsinnigste und abstrakteste Philosoph, der plattste Lebemensch, der wuͤthendste Demagoge und der ledernste Philister wohnen. Es fehlt uns also an gemeinsamen Mitteln der Bildung, weil es uns an Aeußerungen des gemeinsamen Lebens fehlt. Doch schon diese Ein¬ sicht, die sich in der That immer mehr verbreitet, ist schon ein halber Schritt zur Besserung und diese Einsicht, zur hoͤchsten Evidenz und Klarheit gebracht, die ein Jeder ihr zu geben im Stande ist, steht schon mitten in der Vorhalle derjenigen Wissenschaft, welche, unter Voraussetzung eines rechten und tuͤchtigen nationalen Lebens, sich den Zweck setzt, die Elemente jener hoͤhern, allgemei¬ nern Bildung darzustellen und an Werken der Kunst und Wissenschaft zu erlaͤutern, der Aesthe¬ tik, oder der Philosophie der Kunst , dies Wort im weitesten Sinn befaßt, worin auch der Mensch als ein Kunstwerk erscheint. Fuͤnfte Vorlesung. E s fehlt uns nicht an Philosophie, wenigstens nicht an Philosophen, es fehlt uns nicht an Ge¬ lehrsamkeit, es fehlt uns an einem gemeinsamen Mittelpunkt der Bildung, und Ursache dessen, es fehlt uns an gemeinsamem Leben. Was ist der Zweck der Erziehung? Der Zweck der Erziehung ist Vorbereitung auf den Zweck des Lebens. Was ist Zweck des Lebens? Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Scheint etwas einfacher zu sein, als diese Antworten auf diese Fragen? Gewiß nicht. Den¬ noch hat man den Ruf der Natur uͤberhoͤrt und die kuͤnstlichsten Systeme, Erziehungsplaͤne und Lebensansichten auf die Bahn gebracht. Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir vielmehr, um zu leben? Daß man die Natur auf den Kopf stellen kann, um das erstere zu be¬ haupten! Hat es doch in Deutschland sogar den Anschein, als ob die Menschen der Buͤcher wegen geboren wuͤrden. Klaͤglicher Irrthum, moͤnchische Verdumpfung, trauriger Rest aus den Kloster¬ zellen. Leben, was ist Leben? Kein Wort ist schwe¬ rer, oder vielmehr weniger zu definiren. Leben ist ein Hauch, ein wehender Athem, eine Seele, die Koͤrper baut, ein frisches, wonnigliches, thatkraͤfti¬ ges Prinzip, und wenn es Jemand nicht wuͤßte oder fuͤhlte, er erinnere sich einer Stunde, wo sein Herz voll aufging, wo seine Muskeln sich spannten, seine Augen glaͤnzten, und ein maͤnnli¬ cher Entschluß allen Hindernissen zum Trotz in sei¬ ner Seele aufstieg; auch schlage er nur das Buch des Lebens auf, die Geschichte, und frage nach den Griechen, nach den Roͤmern, den Roͤmern, die so viel Thatenfuͤlle auf einen kleinen Punkt der Welt, zwischen sieben armselige Huͤgel zusam¬ mendraͤngten, daß sie damit das ganze Erdenrund uͤberschnellten. Die haben gelebt, und darum sind sie auch unsterblich. Aber großartiges und ruhmvolles Leben, ob¬ wohl am wuͤrdigsten fuͤr die Traͤume der Jugend, ist oft nur Resultat der Zeit und Umstaͤnde, bei Einzelnen, wie bei ganzen Voͤlkern. Es gibt ein Leben, das dem Griffel der Geschichte keine Nah¬ rung gibt und dennoch aus der goͤttlichen Quelle entsprungen ist, aus der alles Lebendige abstammt. Sie wissen aus Herodot, wie wenig dazu gehoͤrte, einem alten Perser im Sinne seines Volkes eine solche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahr¬ heit sprechen und damit war er fertig. Sollen wir mit christlichem Mitleid auf des armen Men¬ schen Unwissenheit herabsehen? Ich denke, wir lassen es bleiben. Ein Perser auf seinem schnel¬ len Roß, hinter Tigern durchs Gebirge streifend, Pfeil und Bogen in den schlanken Haͤnden, Au¬ gen voll Feuer, trotziges Laͤcheln auf den von Luͤge unentweihten Lippen, das war ein Mensch, auf den die Sonne, die er anbetete, mit Lust und Wohlgefallen herabsah — wir wuͤrden eine schlechte Rolle an seiner Seite spielen. Das bloße Wissen, meine Herren, hat kein inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche, sein Stoff zerfließt in Zentillionentheilchen. Wie manche Wissenschaft, ja wie mancher Ast einer fruͤheren, erfordert gegenwaͤrtig eines Menschen volles Leben, taͤgliches und naͤchtliches Arbeiten und Lernen, um sich des Stoffes nur einigermaßen zu bemaͤchtigen. Nun stellen Sie sich vor, wir haͤt¬ ten eine Welthistorie nach zweitausend Jahren, die mit Begebenheiten so reich ausstaffirt waͤre, als das letzte Jahrtausend, oder imaginiren Sie sich einen Professor, der a dato nach zweitausend Jah¬ ren im Kollegio Welthistorie vorzutragen haͤtte — bedenken Sie, daß nicht blos Europa, daß auch Asien, Afrika, Amerika, die Inseln der Suͤdsee eine Geschichte haben werden, und wenn Sie auch der Ansicht leben, daß die Geschichte sich immer mehr vergeistigen und die inneren Umgestaltungen der Kuͤnste, Erfindungen, des Lebens befassen werde, bedenken Sie, welche Fluth von Erfindungen, Ver¬ aͤnderungen, Evolutionen im Staatsleben, in der Kunst, in der Wissenschaft muͤssen tausend Millio¬ nen gebildeter Menschen in tausend und aber tau¬ send Jahren bestaͤndiger Generationserneuerung hervorbringen und beurtheilen Sie darnach die Angst und Verlegenheit besagten Professors der Geschichte, wenn er das Alles in einen halbjaͤhri¬ gen oder einjaͤhrigen oder dreijaͤhrigen akademischen Kursus einzwaͤngen soll. Wie will er es nur selbst zu einem Stuͤckwerk von Gelehrsamkeit, zu einer oberflaͤchlichen Materialienkenntniß bringen in einem Fache, das so unendlich, unuͤbersehlich sein wird, wie das Weltmeer, von so unzaͤhlbaren Ein¬ zelheiten, wie Tropfen darin. Ins Unendliche theilen muͤßte man die gelehrte Arbeit, wie es in Fabriken geschieht, wo der Eine den Knopf, der Andere den Schaft, der Dritte die Spitze der Nadel fabrizirt. Der eine Professor verstaͤnde sich auf das Jahr 2000, der Andere auf das Jahr 1999, oder der eine waͤre gelehrt in der Geschichte aller großer Maͤnner, deren Name mit dem Buch¬ staben A, der andere in der Geschichte der beruͤhm¬ ten Leute, deren Name mit dem Buchstaben Z an¬ faͤngt, und wie man sich noch weiter scherzhafter¬ weise den laͤcherlichen Wirrwarr entknaͤueln mag, der aus der ungeheuerlichen Menge und Zerfallen¬ heit des Stoffes mehr und mehr entspringen wird. Also, Wissen als solches kann nicht Aufgabe und Zweck des Lebens sein, weil dasselbe maßlos mit dem Anwachsen des Stoffes sich selbst zerstoͤrt und aufhebt. Diesem maßlosen Wirken gegenuͤber steht ein Geist, dessen Kraͤfte nur zu wohl gemes¬ sen und abgewogen sind. Die Vergroͤßerung der Wissensmasse macht das menschliche Hirn nicht groͤ¬ ßer, seine Kapazitaͤt bleibt dieselbe wie vor Alters. O wie dieses gelehrte Unwesen seit Jahrhunderten die edelsten Kraͤfte Deutschlands zur unfruchtbaren Tantalusarbeit verurtheilt hat, wie wir Deutsche aus wandernden Helden Stubensitzer, aus Krie¬ gern und Jaͤgern lebenssieche, thatenscheue Magi¬ ster geworden sind! Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte, Wissende? Ich meine. Aber kein griechischer Gelehrter konnte sich dermaßen verknoͤchern, weil Welt und Studium sich die Hand boten und die Palaͤstra neben der Stoa sich befand. Die Wis¬ senschaft der Griechen war die Frucht ihres Le¬ bens, uns ist sie der traurige Rest desselben. Als jenes griechische Leben verfiel, als jenes schoͤne Herz stockte und stillstand, da ward es in der Kapsel nach Aegypten gebracht, zu Alexandrien einbalsa¬ mirt und die trockne Mumie nannte Eratosthenes Philologie . Meine Herren, als das Leben todt war, hielt die Gelehrsamkeit Leichenschau. Haͤtten wir nur das Eine von den alten Griechen gelernt, das Eine, wie wir den Orga¬ nismus unsers Geistes, die Einheit unsers Lebens uͤber Alles, alles Uebrige aber danach zu schaͤtzen wuͤßten, ob es sich unserm Organismus lebendig verassimilirt. Eine kleine Welt nennt man den Menschen und man hat Recht. Mikrokosmus koͤnnte und sollte der Mensch sein, denn eingeschlossen sind in seinem Wesen die Elemente und die Kraͤfte des Alls und er ist im buchstaͤblichen Sinn die ganze Schoͤpfung, im Auszug. Alles Geschaffene ist freilich Mikrokosmus, Stern, Thier und Blume, doch in truͤ¬ berer Gestalt und bewußtlos. So ist es und doch fuͤr uns ist der Ausdruck und die Wahrheit nur be¬ schaͤmend, wir ahnen, was wir sein sollten und fuͤhlen, was wir nicht sind. Wir repraͤsentiren nicht unsere eigene Welt, wir tragen nur eine fremde zur Schau, unsere Gebildeten, unsere Dichter und Denker begnuͤgen sich damit, die Welt in kalter Geschliffenheit wieder abzuspiegeln, unsere Gelehrten duͤnken sich eine Welt zu sein, wenn sie sich eine Welt von Gedanken, Sachen, Zahlen und Woͤrtern in den Kopf gelernt haben. Daher, klein genug sind wir, aber wo bleibt unsere Welt, die lebendig organische Ganzheit, die gesunde, vollbluͤhende Gegenwart? Die kleinste Alpenrose beschaͤmt uns. Sie hat ein pulsirendes Herz, Lebenseinheit, sie gleicht einer Welt im Kleinen. Was uns geistig zusammenhaͤlt, ist nicht innerer Hauch, nicht polarische Attraktion, sondern gemeine Kohaͤsion. Die Alpenrose mit ihren klaren, klugen Augen ist auf ihre Weise auch nicht ungelehrt, sie ist eine kleine Studentin, hoͤrt Kollegia uͤber Felserde, Wetterkunde, Thautro¬ pfen, Fruͤhlingsathem, aber sie weiß Alles besser in succum et sanguinem zu vertiren, das ist bei uns nur eine schulfuͤchsische Redensart, womit wir unser oͤdes, lateinisches Treiben selbst verspotten. Das Leben ist des Lebens hoͤchster Zweck und hoͤher kann es kein Mensch bringen, als den leben¬ 5 * * digen Organismus darzustellen. Kenntnisse und Wissenschaften sind nicht fuͤr sich, sind nur fuͤr den Geist vorhanden, dessen Trank und Speise sie sind. Der Geist ist kein Magazin, keine kalte, steinerne Zisterne, die den Regen des Wissens auffaͤngt, um sich damit bis an den Rand zu fuͤllen. Er gleicht einer Blume, die ihren Kelch den Thautropfen aufschließt und aus den Bruͤsten der Natur Leben und Nahrung saugt. Aufzubluͤhen, ins Leben hin¬ einzubluͤhen, Farben auszustrahlen, Duͤfte auszu¬ hauchen, das ist die Bestimmung der Menschen¬ blumen. Wir haben uns herausstudirt aus dem Leben, wir muͤssen uns wieder hineinleben. So gruͤnd¬ lich, wie wir studiren, so gruͤndlich sollen wir le¬ ben. Deutschland war bisher nur die Universitaͤt von Europa, das Volk ein antiquarisches, ausge¬ strichen aus der Liste der Lebendigen und geschicht¬ lich Fortstrebenden. Tausend Haͤnde ruͤhrten sich, um der Vergangenheit Geschichte zu schreiben, we¬ nige Haͤnde, um der Zukunft eine Geschichte zu hinterlassen. Deutschland hatte nur Bibliotheken, aber kein Pantheon. Die Deutschen waren nur Zuschauer im Theater der Welt, aber hatten selbst weder Buͤhne noch Spieler. Sie waͤren stolz auf ihre Unparteilichkeit, ihre vorurtheilsfreie Anerken¬ nung und Wuͤrdigung aller Lebens- und Kraft¬ aͤußerungen fremder Nationen, aber sie selbst wur¬ den nicht wieder anerkannt, denn sie hatten keinen positiven Lebensgehalt zur Ruͤckanerkennung frem¬ den Voͤlkern zu bieten. Nur die Kraft mag an¬ erkennen und sie erhoͤht ihren Werth, wenn sie es nicht unterlaͤßt — die Schwaͤche muß . Der Kraͤftige fragt den Schwaͤchling nicht, ob er ihn und seine Kraft gelten lassen will, dem Schwaͤchling bleibt keine Wahl, er muß, er sieht sich dazu gezwungen, aller Bettelstolz hilft ihm zu nichts. Der kleinste Funke einer schoͤpferischen Lebenskraft hat seinen Altar auf der Welt, seine Priester, Verehrer, aber ohne den ist Alles nichts. Bloßes Wissen, sage ich, kann nicht Zweck der Erziehung, nicht Aufgabe des Lebens sein, und ich habe unter Wissen bisher nur den Ballast historischer Positivitaͤten verstanden, womit Deutsch¬ land zum Versinken befrachtet ist. Es gibt aber ein dem historischen und dogmatischen Wissen ent¬ gegengesetztes hoͤheres, ein Wissen nicht des Ge¬ daͤchtnisses, sondern des Verstandes, ein selbstthaͤ¬ tiges, verstehendes Wissen, das man mit dem Na¬ men des philosophischen bezeichnet. Der tiefsten metaphysischen Seite desselben ist in voriger Stunde mit schuldiger Ehrerbietung Erwaͤhnung gethan, sie fuͤhrt vom Leben ab, das liegt in ihrer Natur und die Thatsache leidet keinen Zweifel; denn sie muß die Welt erst zerstoͤren, um sie aufzubauen, sie ist der Tod der Sinne und der Sinnlichkeit, und schon Plato definirte sie als ein langsames Absterben fuͤr die bunten und wechselnden Gestal¬ ten und Erscheinungen der Welt und ein Festwer¬ den in den Ideen der Ewigkeit. Auch haͤngt sie in hoͤherem Grade, als eine blos dialektische, kri¬ tische und psychologische Sekte der modernen Phi¬ losophie zugestehen mochte, mit dem religioͤsen Mystizismus eng zusammen. Neben und außer der Philosophie, die sich in der Gesellschaft gleichsam isolirt, herrscht ein weites Reich des Gedankens, das sich, gleich je¬ ner, uͤber den Zwang des Gegebenen, Historischen und Positiven erhebt, keinesweges aber mit ihr gleichsam an die aͤußersten Grenzen der erschaffe¬ nen Welt verliert, sondern in der Mitte und Fuͤlle der lebendigen Schoͤpfung stehen bleibt und sich an den organischen und gebildeten Naturen dersel¬ ben erfreut. Auch hier ist Zweck und Resultat ein Wissen und zwar ebenfalls ein solches, das sich sowohl durch die Analogie der Erscheinungen, als durch die Harmonie mit den Gesetzen unseres Denkvermoͤgens bewaͤhrte, ein Wissen, zu dem am Ende auch die abstrakte Philosophie gelangen muß, wenn sie, wie Herbart in Koͤnigsberg dies witzig und scharfsinnig ausgedruͤckt hat, wenn sie Rech¬ nungsproben zu ihren allgemeinen Saͤtzen sucht. Es hat dieses Wissen bald die Natur, bald den Staat und die Gesellschaft, bald die einzelnen Produktionen derselben, die Werke der Kunst, Be¬ redtsamkeit und Poesie im Auge. Es zerstoͤrt nicht das Gegebene, es erhebt sich nur uͤber das¬ selbe, es laͤßt sich in freie Betrachtungen ein, es untersucht, urtheilt, pruͤft und vergeistigt sich den Stoff, indem es ihn geistig bearbeitet und repro¬ ducirt. Der Naturforscher untersucht den Orga¬ nismus der Pflanzenwelt, die Metamorphosen eines Gewaͤchses, die Brechungen des Lichts, die Kry¬ stallisationen des Fluͤssigen und es ist uͤberall sein hoͤchstes Bemuͤhen, den organischen Zusammen¬ hang und die Identitaͤt des Mannigfaltigen an einem Werke, einer Erscheinung der Natur auf¬ zufassen. So untersucht und erforscht der Politi¬ ker den Organismus des Staats, der Aesthetiker den Organismus der Kunst und die Gesetze und Bedingungen, unter denen sich die Kunstschoͤnheit entfaltet. Zweck und Resultat alles dessen ist und bleibt das Wissen, so sehr es sich auch durch Frische und Individualitaͤt vom abstrakten und gar vom geistlosen historischen Wissen unterscheidet. Aber auch dieses Wissen, das Kennzeichen der Bildung, das allgemeinste Erforderniß, um auf den Namen eines denkenden und gebildeten Menschen Anspruch zu machen, habe man sich nun mehr auf die eine oder auf die andere Seite des¬ selben geworfen, ist nicht und ersetzt nicht das Leben ; wenn sie auch in naturgemaͤßem Zustande denkbar waͤre, ohne Voraussetzung des Letzteren. Denn es ist der Mensch nicht blos der Spie¬ gel, der die Schoͤpfung reflektirt und geistig wie¬ der auffaßt, er ist ja selbst eine Schoͤpfung und ihm angeboren ist das Recht und die Kraft, selbst etwas fuͤr sich zu sein und unter den Existenzen der Welt seinen Platz einzunehmen. Er soll sich dort behaupten durch selbsteigene schoͤpferische Thaͤ¬ tigkeit, er soll, da wo er geboren ist, mit den Fuͤßen Wurzel fassen in der Gegenwart und die Hand ruͤhren zu Werken, welche sein fluͤchtiges Dasein beurkunden, er soll sich freuen an mensch¬ licher That, sich hingeben menschlichem Genusse, das Spiel seiner Kraͤfte entfalten, fuͤr Recht und Wahrheit in die Schranken treten, die Unschuld lieben, die Tugend ehren, die Luͤge hassen, die Bosheit entlarven, den Frevel raͤchen, die Gefahr verachten, und wenn's noͤthig, sein Leben fuͤr die hoͤchsten Guͤter, sei's zur Erringung oder Behaup¬ tung derselben, fuͤr Freiheit und Vaterland in die Schanze zu schlagen. Wir sind nicht blos auf die Welt gesetzt, um uͤber die Welt zu raisonniren, um Philosophen, Naturforscher, Aerzte und Politiker zu sein. Die Welt geht ihren Gang ohne uns, wir sollten nur mehr unsern eigenen Gang gehen, die Sinne schaͤr¬ fen, die Kraft ausbilden und Kraft gegen Kraft abreiben. Um das Denken und die humane Bil¬ dung ist es eine schoͤne Sache, aber fehlt ihr der Mittelpunkt, fehlt ihr das Herz, das Leben, der ungebrochene starke Wille, so ist das Denken nur ein Spiel und die Bildung ohne Gehalt. Denke dir den Blitz und fuͤhle ihn, sagt ein Schwede, und das Wort ist selbst ein Blitz, das man den¬ kend fuͤhlt. Das Leben ist des Lebens hoͤchster Zweck, kein Wissen und keine Wissenschaft, keine Bil¬ dung ersetzt den Fond des Lebens, koͤnnte sie auch ohne Voraussetzung des Letzteren im naturgemaͤßen Zustande gedacht werden. Allein, meine Herren, das kann keine Wis¬ senschaft. Nur im Element des Lebens bilden sie sich naturgemaͤß, außer diesem sind es kuͤnstliche Gewaͤchse, die mehr oder minder die Flecken und Gebrechen der Willkuͤr, der Unnatur, der Ge¬ schmacklosigkeit an sich tragen. Das Leben raͤcht sich an seinen Veraͤchtern und seine Rache besteht darin, daß es die großen, einfachen Wahrheiten, die sonst Jedermann einleuchten, mit einem Nebel von Vorurtheilen verhuͤllt und sie dem Auge der Naturforscher, der Philosophen, der Politiker, der Aesthetiker entzieht. Zum schlagenden Beweise fuͤhre ich die unnatuͤrliche Geschmacklosigkeit an, die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in allen Kreisen der Kunst und Wissenschaft an der Tagesordnung war. Die Politik, diese hohe Wis¬ senschaft, die den vollkommensten aller Organismen, den Staat, analysiren soll, wie konnte sie sich zu der Hoͤhe dieser Bedeutung aufschwingen, da die europaͤischen Staaten so unendlich tief unter ihr standen und ein franzoͤsischer Koͤnig mit edler Drei¬ stigkeit zu behaupten sich unterstand: l'état c'est moi . Was konnte sie anders sein zu dieser Zeit als ein trauriges Abbild dieses hoͤfischen Ichs, das sein gepudertes Haupt aus allen Fenstern und Erkern des Staatsgebaͤudes heraussteckte, als eine Wissenschaft des Despotismus, der Intrigue, der Geheimnißkraͤmerei, als eine Satyre auf den Staat? Und die Aesthetik, die Lehre des Ge¬ schmacks, die Analyse der Schoͤnheit, konnte sie auch nur im Entferntesten der Idee entsprechen, zu einer Zeit, wo die Natuͤrlichkeit der menschli¬ chen Lebensaͤußerungen untergegangen war im steif¬ sten Zeremoniell, wo nichts sich ruͤhrte und regte, als auf den Wink pedantischer Zuchtmeister, wo man schwarze Lappen auf geschminkten Wangen Schoͤnpflaͤsterchen nannte, und die Damen ihre Huͤften mit ungeheuern Reifbaͤndern umgaben, wo das Volk sich in die Pfuͤtze warf, wenn abge¬ schmackte goldene Karossen mit betreßten und be¬ zopften Hanswuͤrsten hinterm Kutschenschlag vor¬ uͤberrasselten, wo im ausbrechenden Kriege die Ge¬ nerale und Kondottieris mit einander Schach spiel¬ ten, moderne Helden, die durch Maitressen eben so oft ihre Stelle erhielten, als verloren und noch oͤfter die Feldzugsplaͤne aus dem Schlafgemach des Koͤnigs ins Lager mitnahmen. Wie war zu die¬ ser Zeit eine schoͤne Natur moͤglich in Frankreich, oder gar in Deutschland, wo man sich der plum¬ pesten Nachahmung des franzoͤsischen Unsinnes hin¬ gab. Wie war zu dieser Zeit ein Kuͤnstler, ein Dichter moͤglich und nun gar ein Aesthetiker, der doch der Schoͤnheit, der Kunst, der Poesie, nicht gesetzgeberisch vorauf , sondern gesetzempfangend hintennach geht. Sie werden vom Abb é Bat¬ teux gehoͤrt haben. Sein unique principe des belles lettres war einmal ein europaͤisch beruͤhm¬ tes Werk der Aesthetik und Rammler hat es in vier deutsche Baͤnde gebracht. Dieser Abb é nannte die Nachahmung der Natur und zwar der schoͤnen Natur, das einzige große aͤsthetische Prinzip, das den Arbeiten des Geschmackes zu Grunde gelegt werden muͤsse. Lesen Sie das Werk eines sonst Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 6 geistreichen Mannes, das noch immer die Art von Verachtung nicht verdient‚ womit man gegenwaͤr¬ tig davon spricht, was das eigentlich mit der schoͤ¬ nen Natur und ihrer Nachahmung auf sich hatte‚ und in einer Epoche auf sich haben konnte‚ als alle wirkliche Natur aus dem Leben geschwunden war und Malerei, Bildhauerei, Musik, Poesie‚ Baukunst‚ Gartenkunst und was es sonst fuͤr Kuͤnste gibt‚ die an einem gegebenen Stoff das Schoͤne verwirklichen wollen‚ unglaublich verschro¬ ben und manierirt waren. Diderot und Rousseau hießen die beiden un¬ sterblichen Maͤnner‚ die sich aus der Unnatur ih¬ res Jahrhunderts zuerst herausrissen. Rousseau’s Emil legte den Grund zu einer neuen Erziehung der europaͤischen Jugend, sein contrat social den Grund zur franzoͤsischen Revolution‚ dem Todes¬ stoß der europaͤischen Tyrannis in Kunst‚ Sitte und Staat. Fuͤr die Deutschen ging zu gleicher Zeit Shakspeare auf und damit ein fluthendes Luftmeer von Genien und Kraͤften‚ woran die unersaͤttlichste Phantasie ewigen Stoff zur Schwelgerei findet. Lange Zeit nahm man den Genuß nur so hin, ohne uͤber die Quelle desselben nachzudenken; so wie man sich auch die franzoͤsische Revolution mit der Phantasie aneignete, ohne etwas Arges dabei zu denken und ohne aus der Schlaͤfrigkeit des buͤr¬ gerlichen Lebens zu erwachen. Dann aber kam eine Zeit und sie dauert fort, wo man sich fragt, woher stammt diese Fuͤlle von Leben und Kraft, die uns an Shakspeare entzuͤckt und seine dich¬ terischen Gebilde so lebensderb, so kuͤhn, so un¬ uͤbertrefflich macht? Und da lautete die Antwort: das hat er sich nicht auf seinem Stuͤbchen zusam¬ mengedichtet, das hat er nicht aus dem Stegreif phantasirt, das hat er gelernt und herausgeschaut aus dem wildbewegten, großartigen Leben, das seine Jugendtraͤume umflatterte und ihn spaͤter als Juͤngling und Mann in seine Mitte aufnahm. Und so kommt uns von allen Seiten die Bestaͤtigung zu, daß das Leben das Hoͤchste ist und allem Uebrigen, wenn es gedeihen soll, zu Grunde liegen muß, geschweige der Kunst, der Schoͤnheit, und der sich mit ihr beschaͤftigenden Aesthetik. Und so schließe ich diese Vorlesung mit den Schlußworten der vorigen: Es fehlt uns an einem gemeinsamen Mittel der Bildung, weil es uns an gemeinsamem Le¬ ben fehlt. Doch schon diese Einsicht, die sich immer mehr verbreitet, ist ein Schritt zur Besse¬ rung, und dieselbe zur hoͤchsten Evidenz und Klar¬ heit gebracht, die ein Jeder ihr zu geben im 6 * Stande ist, steht schon damit in der Vorhalle der¬ jenigen Wissenschaft, welche unter Voraussetzung eines rechten und tuͤchtigen Lebens, die Schoͤnheit der Bildungen in Leben und Kunst aufweiset und erlaͤutert, der Aesthetik. Sechste Vorlesung. N ach der gegebenen Einleitung, meine Herren, wird es Ihnen klar geworden sein, daß wir der Aesthetik sowohl einen weitern Umfang, als eine tiefere Bedeutung einzuraͤumen haben, als dies in den gewoͤhnlichen Aesthetiken zu geschehen pflegt. Es gibt Wissenschaften, deren Zeitraum und Pe¬ ripherie seit Alters so ziemlich gleichmaͤßig bestimmt gewesen; wie z. B. die Mathematik, die Logik. Diese stehen gleichsam uͤber der Geschichte; indem sie sich zu allen Zeiten wesentlich gleich sehen und in Anlage und Ausfuͤhrung, wenn auch nicht unver¬ aͤnderlich, dennoch nur solcher Veraͤnderungen faͤ¬ hig sind, welche als bloße Erweiterungen von in¬ nen heraus treten. Sie gedeihen in allen Zeit¬ laͤuften und auch, wenn die Zeit stille steht, das heißt, wenn das geschichtliche Leben der Voͤlker todt und abgestorben ist; daher denn auch Logik und Mathematik am Allerwenigsten den menschli¬ chen Geist in seiner Bewegung abspiegeln, und wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Stu¬ dium derselben keinen Schluß auf die Bluͤthe an¬ derer Studien zu ziehen erlaubt. Es erscheint in ihnen das Geistige nur in den allgemeinsten For¬ men, Denk- und Anschauungsgesetzen, aber man vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem Skelett zu thun. Mit vollem Recht kann man behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder Blut noch Gewissen, weder Geist noch Herz zu besitzen braucht, daß ihm Alles fremd bleiben kann, was des Menschen Busen erfuͤllt und begeistert, was ihn zum Menschen macht, daß ein Logiker und Mathematiker eben so gut auf dem Jupiter oder Uranus seine Heimath finde, daß es nur gleichsam reine Zufaͤlligkeit ist, wenn er seine Ope¬ rationen und Berechnungen auf der Erde inner¬ halb der gewoͤlbten Waͤnde eines menschlichen Ge¬ hirns anstellt. Diese Wissenschaften geben uns keine Ahnung von der Fuͤlle der Menschheit, es ist ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkba¬ ren Inhalt zu abstrahiren. Glauben Sie nicht, daß dies zur Verachtung derselben gesagt werden soll, ich verehre insbesondere die Mathematik und erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen und kuͤnftigen Einfluß auf die materielle Fortbil¬ dung der Gesellschaft. Allein es war auch nur meine Absicht, diese Wissenschaft in ihrer theoreti¬ schen Abstraktheit aufzustellen und sie zum Gegen¬ satz auf jene andern Zweige des Wissens zu lei¬ ten, welche von vorn herein sich mit irdischem Heimathsgefuͤhl zum Menschen gesellen und an den hoͤheren geistigen Evolutionen des Geschlechts in¬ nigen Antheil nehmen. Dahin zaͤhle ich die Stu¬ dien der Natur und Kunst, die gleichsam Hand in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Ge¬ schichte theilen. Dieselbe geschichtliche Natur hat die Aesthetik. Sie beruht auf dem Leben, ist mehr oder minder lebendig, tief oder oberflaͤchlich, welk oder bluͤhend, je nachdem das Herz, das in einem Zeitalter pulsirte, das Eine oder das Andere war. Man sieht sie von Zeit zu Zeit bei Plato, Plotin, Hemsterhuis, Solger in veraͤndertem Ge¬ wande hervortreten, in schoͤner Form, in Unform, als tiefsinnigste Lebensphilosophie, als Tagsgeschwaͤtz, bald unter diesem, bald unter jenem Namen. Lassen Sie sich nicht irre machen uͤber ihre Natur und Existenz! Jeder ausuͤbende Kuͤnstler, jeder handelnde und fuͤhlende Mensch traͤgt seine Aesthe¬ tik in sich, bewußt oder unbewußt faͤllen wir taͤg¬ lich Hunderte von aͤsthetischen Urtheilen, aus denen grade das Eigenthuͤmlichste unserer Gesinnungs- und Denkweise unmittelbar hervorbricht. Folgen Sie mir, meine Herren, in das Ge¬ biet der Geschichte. Es muͤßte Schuld meiner Darstellung sein, oder es wird aus den wenigen großen welthistorischen Zuͤgen, welche ich anzufuͤh¬ ren gedenke, in Ihrer Seele der Begriff der Aest¬ hetik in hoͤchster Potenz sich als der Begriff des¬ sen lebendig machen und erweitern, was man in neuerer Zeit so passend Weltanschauung genannt hat, eine Bezeichnung, die ebenfalls nur der deut¬ schen Sprache, oder vielmehr dem deutschen Ge¬ danken eigenthuͤmlich ist. Erkennen und Handeln sind die beiden Pole unseres Geistes. Das aͤsthetische Element tritt zwischen beide in die Mitte, es ist ein Denken und zugleich ein Fuͤhlen, das in jedem Moment beim Kuͤnstler ins Handeln umschlaͤgt. Alle aͤsthe¬ tischen Urtheile sind von diesem Gefuͤhl begleitet, sie sind nichts ohne dasselbe , das bald anziehend bald abstoßend, bald beifaͤllig, bald mißfaͤllig das Gemuͤth in elektrischen Stroͤmungen lebendig erhaͤlt. Was uns nur als schoͤn oder haͤßlich, als gut oder boͤse anmuthet oder wider¬ steht, ist aͤsthetischer Natur, hat seine Wurzel im sinnlich-geistigen Urgrund unseres Wesens, und er¬ kennt in dieser Unmittelbarkeit keinen hoͤheren Rich¬ ter uͤber sich. Nach Verschiedenheit der Indivi¬ dualitaͤten sind die aͤsthetischen Gefuͤhle und Ur¬ theile so verschieden, wie die menschlichen Grund¬ naturen; alle vereinigen sich wieder in gewissen Grundgefuͤhlen, Ansichten und Urtheilen, welche den besondern Charakter eines Volks, einer ge¬ schichtlichen Epoche ausmachen. Schlagen wir zunaͤchst unsere Blicke auf jene uralte indische Welt, von deren Groͤße uns nur ein armseliger Schatten uͤbrig geblieben; betrachten wir jene traͤumerischen Menschen, welche die Ufer des Ganges bevoͤlkerten und gleich menschlichen Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen bluͤhten. Große Werke der Religion, Philosophie, Poesie und Kunst haben sie uns hinterlassen, zu deren Verstaͤndniß erst die neueren Zeiten den Schluͤssel geliefert. Dennoch koͤnnen wir uͤber das Verstaͤnd¬ niß nicht so recht zum Genuß derselben durchdrin¬ gen — die aͤsthetische Grundanschauung der Inder ist zu verschieden von der unsrigen. Legen wir den Maßstab unserer Moral und Aesthetik an die Moral und Aesthetik der Inder, so offenbart sich das entschiedenste Mißverhaͤltniß, obgleich wir be¬ kennen muͤssen, es spreche sich wirkliche Natur und wirklicher menschlicher Zustand nicht weniger im Indischen, als im Europaͤischen aus. Bedenken wir uns nun jenes aͤsthetische Grundprinzip, das der indischen Weltanschauung zu Grunde liegt und das Krischnas in der Bagavadgita (Unterredung des Krischnas) mit den Worten ausspricht: nie ist der Werth einer Handlung in die Frucht gesetzt , so fuͤhlen wir schon gleich alle Konsequenzen, welche aus diesem Grund¬ satz fuͤr Leben und Kunst ohnedies herausfließen muͤßten. Nie ist der Werth des Han ¬ delns in die Frucht gesetzt : das heißt: nicht die That ist etwas, nicht der Erfolg , nur der Gedanke , die Absicht . Wilhelm Humbold, der uͤber die Bagavadgita sich in einer eigenen Schrift verbreitet hat, nennt eine solche Stimmung eine unlaͤugbar philosophische, eine an das Erhabene grenzende. Das Erstere wird man ihm leicht zugestehen, da die Philosophie als solche, oder die Metaphysik, sich nicht allein aus dem Kreise menschlicher Handlungen, sondern aus allem Stoffartigen der Natur und Menschheit zu¬ ruͤckzieht und, wie schon bemerkt, mit der entkoͤr¬ pernden Mystik in nahen Verhaͤltnissen steht. Auch die Bezeichnung des Erhabenen oder dessen, was an das Erhabene grenzt, mag man unangetastet lassen, da das Erhabene auch in unsern Augen dann hervortritt, wenn ein Mensch, ohne Aus¬ sicht auf Erfolg, sich fuͤr eine große Sache auf¬ opfert, und nur die Heiligkeit und Schoͤnheit des Gedankens, der ihn begeistert, vor Augen hat. Allein schon hierin muͤssen wir auf der Hut sein, das indische Gesetz nicht europaͤisch auszulegen und darin etwa Kant's kategorischen Imperativ zu sehen, nach dem man die Pflicht nur um ihrer selbst willen thun soll; selbst Schleiermacher's in den Monologen ausgesprochenes Prinzip, das fast woͤrtlich so lautet, wie das indische in der Bagavadgita, stimmt dem Sinne nach, wenigstens nicht in allen indischen Konsequenzen damit voͤllig uͤberein. Denn, betrachten wir nun, wie das indische Leben, ihre Philosophie und Poesie sich gestaltet hat, so sehen wir so recht deutlich, wie tiefgreifend der aͤsthetische Grundsatz durch alles dieses hindurch geht und dem ganzen Inderthum Farbe und Ge¬ praͤge gibt. Die Negation der That ist nichts anders, als die indische Geschichte, Kunst und Poesie selber. Das Handeln wird uͤberall vom Denken, Traͤumen, Phantasiren absorbirt, selbst dieses Den¬ ken und Phantasiren zieht sich immer weiter zu¬ ruͤck von der Welt der Sinne, es versenkt sich in sich selbst, es laͤßt im indischen Philosophen und Mystiker die ganze Welt hinter sich zuruͤck, um als einsames Ich uͤber seinem Ich zu bruͤten, und das goldne Ei der indischen Weltphilosophie auszuhecken, das Nichts und doch Alles in sich faßt. Nichts zu denken, war grade die hoͤchste Aufgabe der Yogalehre. In der Vertiefung der Mensch muß so vertiefen, sinnentfremdet sich, Tilgend jeder Begier Streben, von Eigenwillens Sucht erzeugt, Der Sinne Inbegriff baͤndigend mit dem Gemuͤthe ganz und gar, So strebend nach und nach ruh' er, im Geist gewinnend Staͤtigkeit, Auf sich selbst das Gemuͤth heftend und irgend etwas denkend nicht — So lauten Krischnas Worte in der Bagavad¬ gita. Weitere Vorschriften und Zuͤge stellt Wil¬ helm Humbold aus indischen Schriften zusam¬ men: der Fromme soll in einer menschenleeren reinen Gegend einen nicht zu hohen, nicht zu nie¬ drigen, mit Thierfellen bedeckten Sitz haben, Hals und Nacken unbewegt, den Koͤrper im Gleichge¬ wicht halten, den Odem hoch in das Haupt zu¬ ruͤckziehen und gleichmaͤßig durch die Nasenloͤcher aus- und einhauchen, nirgends umherblickend, seine Augen gegen die Mitte der Augenbrauen und die Spitze der Nase richten, und die beruͤhmte Sylbe Om! aussprechen. — Zu solchem unschoͤnem, unnatuͤrlichem, stumpfem und dumpfem Zustande fuͤhrte auf gradem Wege das Prinzip, das der indischen Weltanschauung zum Grunde lag. Den¬ noch haben wir es bezeichnet als ein aͤsthetisches, obwohl es in unserm und griechischem Sinne der Aesthetik gradezu als unaͤsthetisch erscheint. Allein eben so gut, wie wir die Poesie in indischen Ge¬ dichten Poesie nennen, und zur Anerkennung der¬ selben uns genoͤthigt fuͤhlen, eben so gut duͤrfen und muͤssen wir jene Grundansicht, die auch der Poesie vorschwebt, als aͤsthetisch bezeichnen, weil sie auf einem aͤsthetischen Punkt wenigstens be¬ ginnt und von ihm ausgeht: naͤmlich von einem bestimmten Grundgefuͤhl des Lebens, das ein¬ mal vorhanden war, moͤgen wir dasselbe gegenwaͤrtig theilen oder nicht. Nur kann uns keine Pietaͤt gegen die Ge¬ schichte und gegen die geistigen Aeußerungen eines der Urvoͤlker des Menschengeschlechts die Freiheit benehmen, nach unsern Ansichten und Grundge¬ fuͤhlen sowohl das Prinzip selbst, als dessen Ein¬ fluß auf Leben, Kunst und Poesie zu beurtheilen. Der in den indischen Dichtungen herrschende Ge¬ schmack ist fuͤr uns ein Ungeschmack und als sol¬ chen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreisung der modernen Inder dargestellt. Wir verlangen fuͤr Poesie und Kunst vor allen Dingen Charak¬ tere mit scharfbegrenzter Individualitaͤt, sie sollen ihren Geist auf bestimmte Zwecke richten, deren Verwirklichung fordern und anstreben und nur in dieser Eintracht des Willens mit der That sehen wir poetische Lebendigkeit und poetische Wirkung. Der indische Dichter hingegen, dem es auf die That nicht ankommt, der die Harmonie zwischen Verstand und Willen, Denken und Thun nicht als das hoͤchste Gesetz anerkennt, uͤberlaͤßt sich ganz naiv der vollen Absurditaͤt der Phantasie und der traͤumerischen Richtung der Gefuͤhle und erfuͤllt auf diese Weise das aͤsthetische Gesetz im Sinne seines Volks, wie er es, im Sinne der neueren Voͤlker uͤbertritt. Man kann sich kaum einen Be¬ griff machen von den ungeheuerlichen Schoͤpfun¬ gen, mit denen ein indisches Dichterhirn schwan¬ ger ging. Am Ausfuͤhrlichsten und Glaͤnzendsten ist in dieser Hinsicht die Episode des Ramajuna, dieses indischen Nationalgedichts, das sich der groͤßesten Beruͤhmtheit erfreut. Verfolgen Sie nur die charakteristischen Zuͤge, die den Umriß des Gedichts ausmachen: Wuschista, ein Bramin, lebt in einer Einsie¬ delei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen be¬ deckt ist, beobachtend heilige Gebraͤuche, umringt von Weisen, die dem Opfer und der Wiederho¬ lung des heiligen Namens ( Om! Om! ) ihr Leben widmen, 60,000 Weisen, entsprungen aus den Haaren und Naͤgeln Brahma's, alle so groß wie ein Daͤumling. Nun kam einmal der Koͤnig Wischwamitra zu jenem Weisen, weil er die Kuh besaß, die der Koͤnig zu erhalten wuͤnschte; zum Preise bietet er erst 100,000 Kuͤhe, dann 14,000 Elephanten mit Saͤtteln und Zeug von purem Gold und außerdem 100 goldene Wagen, jeden von vier weißen Rossen gezogen. Aber umsonst. Er nimmt sie also mit Gewalt. Durch Brahma's Huͤlfe erhaͤlt der Weise eine Armee von hundert andern Koͤnigen und diese zerstoͤren die Armee des Koͤnigs Wischwamitra; und Wischwamitra geht verzweiflungsvoll in eine Wildniß. So groß ist die Macht des Brahma. Allein in der Wildniß uͤbernimmt der Fluͤchtige die strengsten Uebungen, um Shivas oder Maha¬ devas, des boͤsen Geistes, Geist und Unterstuͤtzung zu erlangen; er steht auf den Spitzen seiner gro¬ ßen Zeh, mit aufgehobenen Haͤnden, wie eine Schlange von Luft gefuͤttert — hundert Jahre lang . Der Gott gewaͤhrt dem Koͤnige die von ihm verlangte Kunst des Bogens in ihrem ganzen zerstoͤrenden Umfang. Er gebraucht sie, um an dem betenden Brahminen Wuschista Rache zu nehmen, er verbrennt und verwuͤstet den Wald, den Schauplatz der Devotion desselben, so daß die Weisen, Thiere, Voͤgel zu Tausenden davonfliehen. Aber Wischnu's Bogen, vor dem sonst die Goͤtter und alle drei Welten in Schrecken gerathen, wird zu Schanden vor dem einfachen Stabe, den Wu¬ schista in der Hand fuͤhrt. So groß ist Brahma's Macht. Der Koͤnig sieht es, seufzt und faͤngt eine neue Laufbahn strenger Uebungen und Ab¬ straktionen an, um nur erst Brahmane zu wer¬ den. Daruͤber bringt er tausend Jahre zu. Dieses gefaͤllt Brahma und nach Verlauf der Zeit erklaͤrt er ihn fuͤr einen koͤniglichen Weisen . Wischwamitra laͤßt aber sein Haupt mit Scham haͤngen und spricht voll Verdruß: nach¬ dem ich solche Uebungen vollbracht, nur ein koͤnig¬ licher Weiser (die koͤnigliche Weisheit muß schon damals fuͤr nicht weit her gehalten sein). Ich achte mich fuͤr nichts und damit beginnt er von Neuem seine Uebungen und Abstraktionen. In¬ dessen faͤllt es einem gewissen Fuͤrsten Trichunko , einem Mann der Wahrheit, von besiegten Leiden¬ schaften, ein, ob er nicht in seinem koͤrperlichen Zustande unter die Goͤtter kommen koͤnne. Er wendet sich an Wuschista, allein dieser erklaͤrt ihm die Unmoͤglichkeit der Sache, spricht einen Fluch uͤber seinen Frevel und macht eine niedrige Krea¬ tur aus ihm. Der eifersuͤchtige Wischwamitra aber erbietet sich, durch ein Opfer den ungluͤckli¬ chen Fuͤrsten wirklich in den Himmel zu versetzen. Er ladet den Wischusta und die Goͤtter zu diesem Opfer ein, aber unwillig schlagen sie die Einla¬ dung aus. Voll Zorn ergreift nun der große Wischwamitra den geheiligten Kochloͤffel und schwoͤrt, kraft seiner geuͤbten Enthaltsamkeiten, sei¬ nen Freund und Schuͤtzling wohl von selbst in den Himmel zu bringen. Trichunko steigt wirklich in den Himmel empor; allein, angekom¬ men, wirft ihn Indra, der Gott des Himmels, wieder heraus. Wischwamitra sieht ihn fallen und nach Huͤlfe schreien; er ruft halt und auf diesen Zuruf bleibt er so zwischen Himmel und Erde hangen. Dann schafft Wischwamitra im vollen Zorn einen ganz neuen Himmel und andere Goͤt¬ ter darin und an ihrer Spitze einen neuen Indra. Die Goͤtter und Weisen, versteinert vor Er¬ staunen, wenden sich hierauf an Wischwamitra um Einhalt und bitten ihn demuͤthig, nicht auf die Versetzung eines vom Brahminen Verfluchten ohne vorhergaͤngige Reinigung zu bestehen und uͤberhaupt die alte gute Ordnung im Himmel und auf Erden zu zerstoͤren. Der Koͤnig beharrt auf dem, was er sprach, doch vereinigt er sich zuletzt auf guͤtliche Weise uͤber einen Platz nicht im Himmel, sondern am Himmel. Nach tausend Jahren vollbrachter Abstraktio¬ nen erklaͤrt Brahma den Koͤnig fuͤr einen ober¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 7 sten Weisen . Noch nicht zufrieden damit, faͤngt er einen neuen Kursus an; hier kommt aber zu seinem Ungluͤck ein schoͤnes Maͤdchen (die Mutter der Sakontula) zu ihm und nimmt so sehr seine Sinne gefangen, daß er 25 Jahr mit ihr ver¬ taͤndelt. Erwachend aus dieser Vergessenheit faͤngt er ein neues Jahrtausend strenger Buͤßungen an. Die Goͤtter gerathen schon in Bangigkeit, er werde ihnen durch seine stupende Froͤmmigkeit neues Un¬ gluͤck bereiten. Brahma gesteht ihm darauf das Prinzipat unter den obersten Weisen zu. Auf des Koͤnigs Frage, warum er noch nicht zu einem Brahma-Weisen ernannt werde, erklaͤrt Brahma: noch hast du deine Leidenschaften, Zorn, Lust und Liebe nicht unterjocht. Abermals beginnt er seine Uebungen; aber vergebens sucht ihn Indra durch das schoͤnste Maͤd¬ chen zur Liebe und durch allerhand Schelmenstreiche zum Aerger zu reizen. Nachdem der Chef der Weisen tausend Jahr lang geschwiegen, wird dem Gott Indra im Himmel bang um den Himmel. Er wendet sich an Brahma. In diesem großen Weisen, sagt er, ist nicht der kleinste Schatten einer Suͤnde mehr — wenn das Verlangen seines Geistes nicht gestillt wird, wird er mit seiner Ab¬ straktion das ganze Universum zerstoͤren. Die Ex¬ treme der Welt sind in Verwirrung, das Meer braust, die Berge stuͤrzen ein, die Erde zittert — o Brahma! So wird nun Wischwamitra von Brahma endlich zum Brahmaweisen erklaͤrt und ver¬ soͤhnt sich mit Wuschista, der weniger kuͤhn, es noch nicht so weit gebracht hat, als er. In diesem Gedicht liegt die indische Weltan¬ schauung, wie in dem Satz des Krischna die aͤsthetische Quelle derselben. Wie anders lautet das aͤsthetische Prinzip im Munde eines griechischen Gottes, und wie sehr verschieden ist das christliche von beiden. Die aͤsthetische Weltanschauung, die im Griechenthum und Christenthum sich offenbart, wird das Object der naͤchsten Vorlesung sein. 7 * Siebente Vorlesung . I m Indischen, wie wir gesehen, verwirrt sich der von der That und der Welt der Sinne sich lossagende Gedanke einerseits in das Gebiet der abstrusesten Phantasiebilder, andererseits in einen bodenlosen Abgrund der Mystik, wo er uͤberhaupt aufhoͤrt Gedanke zu sein und als ein Nichts uͤber dem Nichts in schauerlicher Oede hinbruͤtet. Die aͤsthetische Weltanschauung der Indier machte nur die Augen auf, um sie wieder zu schließen, sie ward sich der Sinne nur bewußt, als zu vernich¬ tender Widerspiele des Geistes, des Geistes nur als einer zu toͤdtenden Mannigfaltigkeit von Ge¬ danken, Gefuͤhlen und Bestrebungen, der ganzen Welt nur, als einer kriminalistischen Mummerei wechselnder Gestalten, welche aus Blumen und Thieraugen den Menschen wehmuͤthig schmerzlich ansehen und in Gemeinschaft mit ihm nach der Zeit schmachten, wo ihre Larven fallen und sie wieder in den Zustand der Seligkeit, das ist der Bewußtlosigkeit, der Vernichtung zuruͤckkehren. — Zu verwesen bei lebendigem Leibe, diese schauder¬ hafte Sehnsucht zieht sich durch die indische Welt, und erfuͤllt uns mit einem seltsamen, unheimli¬ chen Gefuͤhl, das uns durch den ganzen Orient begleitet und uns nicht eher verlaͤßt, als bis wir an den Ufern des lebensfrischen und lebensfrohen Griechenlands Athem holend angelangt sind. Wel¬ cher Himmel, welche Erde, welche Menschen, welche Goͤtter, welche Geschichte, welche Gedichte, welche Natur, welche Kunst, das Alles ist Griechenland und man muß staunen und sich verwundern, daß zwei so ungleiche Laͤnder, wie Indien und Grie¬ chenland, auf einem und demselben Planeten zusam¬ men liegen. Unaufloͤslich wuͤrde in der That das Raͤthsel sein, wie die Weltanschauung und das Leben bei Geschoͤpfen von einerlei Natur und Art, aus einerlei Teig geknetet und mit demselben gei¬ stigen Odem durchweht, so grundverschieden, ja in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬ gegengesetzt sich gestalten konnte, waͤre uns die Ur¬ geschichte des griechischen Geistes voͤllig unbekannt und koͤnnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke auf den fruͤheren Zusammenhang orientalischer und europaͤischer Bildung werfen. Die Natur, das ist unsere Ueberzeugung, kennt keine Widerspruͤche, keine schreiende Dissonanzen, sie arbeitet sich durch tausend Mittelglieder hindurch und verbindet die Enden der Welt mit einem unsichtbaren Zauber¬ bande, das im Dunkel des Mythos und der Ge¬ schichte flattert, und nur vom Auge des Geistes erkannt wird. Alle die Toͤne der Weltenlyra klin¬ gen zusammen in einen einzigen ungeheuren Ak¬ kord, in dem nichts Einzelnes mehr unterscheidbar ist und so haben alle Sprachen und Sagen aller Voͤlker, so fremd und dissonirend sie klingen, einige Grundlaute mit einander gemein, die eben den geistigen Urlaut des menschlichen Daseins bilden. Aber durch allen Sinn und Unsinn der Geschichte, durch den Wirrwarr aller Voͤlkerstimmen geht die¬ ser rein menschliche Ton, diese Stimme der Na¬ tur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die Weißen und die Olivenfarbigen und die tausend¬ jaͤhrigen Todten und die Lebendigen heutigen Tags um den einen gemeinschaftlichen Urborn des leib¬ lichen und geistigen Lebens der Menschheit ver¬ sammelt. Europaͤer sind Asiaten, das lehrt die Ge¬ schichte: Europa ist ein Stuͤck von Asien, lehrt die Geographie. Die europaͤische Bildung hat ihre Wurzeln in Asien, das deuten uns die aͤltesten Mythen und die Urelemente der Sprache, der Schrift, der Sitten und Gesetze der europaͤischen Voͤlkerschaften; auch die Bildung der Griechen hat ihre Wurzel jenseit des Hellesponts, oder vielmehr sie hat sich mit dieser Wurzel von asiatischem Bo¬ den losgerissen und sie in griechische Erde ver¬ pflanzt. Es gab eine Zeit, wo die Griechen noch nicht Griechen waren, eine Zeit, wo ihr Geist noch versenkt war in den starren Natursymbolen des Orients, wo Priesterherrschaft und Kastengeist noch die Entfaltung des oͤffentlichen Lebens hemmte, wo ihre Sinne sich noch mit einem daͤmmernden Flor umzogen und sie nur noch die ersten Ver¬ suche machten, sich aus den bleiernen Armen der asiatischen Tradition loszuringen und ihr Leben auf eigenthuͤmliche Weise zu gestalten. Nicht immer ward der griechische Olymp von Goͤttern bewohnt, wie Homer sie schildert, nicht immer war den Griechen wuͤste Phantasie und Abgeschmacktheit ein Greuel, ihre aͤltesten Goͤtterdynastien, ihre Thier- und Menschenungeheuer, Sphinxen und Centauren, ihre pelasgischen Kabiren verrathen uns nur zu deutlich eine fruͤhere Bildungsstufe, auf der sie den Aegyptern und Indiern aͤhnlicher sehen, als sich selbst in spaͤterer Zeit. Lange Zeit moͤgen sie in dieser dunkeln Naturmystik befangen gewe¬ sen sein, worin sie, wie die alten Indier noch schlaftrunken und mondsuͤchtig am Abgrund des Wesens hintaumelten und ihr Hirn schwindeln machten von den mysterioͤsen Duͤnsten, welche spaͤ¬ ter die Pythia allein einsog. Nur allmaͤhlig kam die Menschheit zur Besinnung, sie aber waren die ersten, welchen das menschliche Bewußtsein auf¬ ging, die menschliche Persoͤnlichkeit gegen die dun¬ keln Maͤchte der Natur geltend machten, die, wenn der Ausdruck nicht zu kuͤhn ist, das Nabel¬ band zerschnitten, das den Menschen bisher, wie ein Thier, mit dem Schooß der Erde verknuͤpfte und ihm das Bewußtsein eigner freier Existenz fortwaͤhrend verduͤsterte. Der Indier hatte kein Gefuͤhl von seiner Kraft, daher war auch seine Weltanschauung eine leidende und auf Vernichtung aller Persoͤnlichkeit, aller selbststaͤndigen That ab¬ zielende. Des Griechen Weltanschauung ward eine thaͤtige, und drang mit Bewußtsein auf die Harmonie des Gedankens und Willens und griff in alle Saiten der Seele und wuͤhlte Toͤne auf, die kein sterbliches Ohr bisher geahnt und setzte Gedanken ins Leben, die nicht untergehen werden, so lange die Welt steht. Suchen wir einen Na¬ men, um die besondere Art ihrer aͤsthetischen Welt¬ anschauung zu bezeichnen, so duͤrfen wir nur die Augen aufschlagen und auf ihren Werken den ein¬ gepraͤgten Stempel betrachten, die schoͤne, die freie, die plastische, die persoͤnliche, die harmoni¬ sche, die rein menschliche; Namen fuͤr eine Sache, Strahlen eines Lichts, Blumen auf einem Staͤn¬ gel; denn nur als Persoͤnlichkeit, nur als freie und schoͤne Persoͤnlichkeit ist der Mensch ein rei¬ ner Mensch, ein nach allen Kraͤften seiner Natur durchgearbeitetes Wesen, ein wachendes, handeln¬ des, freudiges Geschoͤpf, das den schoͤnen Kreis, der seine bewußte Existenz umgibt, nur dann durchbricht, wenn Schlaf, Traum oder Tod es unwillkuͤhrlich herbeifuͤhren. Dem traͤumenden In¬ dier ward das ganze Leben zum Traum und der Traum selber eine Sehnsucht nach dem Austraͤu¬ men, das heißt nicht nach dem Erwachen, son¬ dern nach Stillstand, Tod, Aufloͤsung. Vor Traum und Tod, welche die Lebendigen und Wachenden umlauern, fand der Grieche kei¬ nen Schutz, aber er traͤumte nicht, wenn er wachte und er toͤdtete sich nicht ab, um dem Tode den Sieg zu verschaffen; ja die Vorstellung des letztern suchte er sich zu verschoͤnern und zu erheitern und statt eines grinsenden Schaͤdels blickte ihn auf Grabmalen der Juͤngling mit umgekehrter Fackel an. Die Spanne zwischen Geburt und Grab; die Stunden zwischen Schlaf und Wachen, die nannte er seine Welt , seine Zeit, sein Eigen¬ thum, darin bluͤhten seine Hoffnungen, darin reif¬ ten seine Plaͤne, darin herrschte seine That; was draußen und dahinter lag, war fuͤr ihn kein Ge¬ genstand der Sehnsucht und der Aufopferungen. Nur das menschlich Gestaltete, das Organische ge¬ dieh ihm zur Lust und Freude, und daher belebte er die ganze Natur, Erde, Himmel und Meer, mit Gestalten, die ihm glichen und die zum Mit¬ gefuͤhl seiner Leiden und Freuden sich herabließen. Und nicht allein auf den Gipfeln des Olymps und des poetischen Parnassus lebte eine persoͤnliche, vielgestaltige Goͤtterwelt, sondern auch auf den Hoͤhen der Philosophie regte sich das plastische Streben des griechischen Geistes und ich sehe in der platonischen Ideenlehre nur Goͤtter, die Plato Ideen nennt und denen er die Idee der Ideen, das Eine, das Gute, als einen Ideenzeus uͤber¬ ordnet, so aber, daß jede durch Theilnahme an der Natur des Einen, eine volle und selbststaͤndige Goͤttlichkeit genießt. Wie in Philosophie, Poesie und Kunst, so insbesondere im Staate war das plastische Prin¬ zip der Griechen wirksam, welches wir als ihr oberstes aͤsthetisches Grundgesetz betrachteten. Un¬ ter den Griechen tritt die Beseelung des Staates, als eines Kunstwerks zuerst hervor, und zwar nach dem allgemeinen Gang und der Natur des Prin¬ zips durchaus demokratisch. Die erwachte Freiheit machte sich ganz und gar als Besonderheit gel¬ tend, auf sich strebte jede Persoͤnlichkeit sich zu basiren, jeder reklamirte im allgemeinen Wechsel¬ verkehr seine natuͤrlichen und angebornen Rechte. Zu gleicher Zeit fuͤgten sich alle diese Einheiten der hoͤhern Einheit des Staats, sie waren frei und beseelt, aber sie theilten ihre Seele miteinan¬ der. Es war eine strahlende Lebendigkeit in allen diesen Gestalten, ein inneres, heroisches Ungestuͤm trieb die Gemuͤther ins Leben und aus jeder haͤus¬ lich duͤrftigen Beschraͤnkung heraus, der Schwung der Gemuͤther druͤckte gegen jede Fessel und drohte sie zu zersprengen. Und doch zerfloß das Ganze nicht in Anarchie, denn die verborgene Einheit zuͤgelte wieder den Uebermuth, diese Einheit, nicht des dumpfen Zwanges der Natur oder Gewohn¬ heit, sondern des Geisterreiches, der Kraft und Zuͤgel, Bedenken und Thun sinnig vereinte, kein modernes Abstraktum, kein logischer Staatsbegriff, sondern die Einheit des Lebens, der Kunst und der Schoͤnheit, welche im Mannigfaltigen das Identische festhaͤlt. In dieser Elastizitaͤt der Wil¬ lenskraͤfte, die federnd nach außen wirkten, ver¬ bunden mit jener Sympathie der Vaterlandsliebe ging das großartige Leben des Alterthums hervor. So hatten sie ganz und gar ihren Bestand im Sinnlichen gegruͤndet, waren Autochthone, wie sie sich auch nannten und hingen mit dem verwitter¬ ten Urstamme der asiatischen Menschheit nur in so fern zusammen, als sie die nachquillenden rohen Natursaͤfte desselben zu ihrer eigenen Bluͤthe ver¬ wandten. Leider war auch diese Bluͤthe vom Schicksal bestimmt, um zu verwelken und andern Bluͤthen des menschlichen Geistes Platz zu machen. Die Roͤmer haben Griechenland nicht zerstoͤrt, sie haben nur die letzte Hand daran gelegt, sie haben die sterbende Nationalexistenz nach hoͤherem Beschluß exekutirt. Sie stehen uͤberhaupt in der Geschichte als unerbittliche Exekutoren da, die alles Leben, was nicht auf den Beinen feststeht, vor sich nie¬ derwerfen und mit eisernem Fuße auf eine unter¬ jochte und zertruͤmmerte Welt hintreten. Die Griechen waren sich selbst genug, daher machten sie keine auswaͤrtigen Eroberungen, außer geisti¬ gen. Die Roͤmer hingegen draͤngten sich, mit aller Kraft einer isolirten Richtung, aus sich heraus und wurden Eroberer und Unterjocher, weil ihnen das innere poetische Leben und der gestaltende Sinn der Kunst abging. Rom hat keine großen Dich¬ ter und Kuͤnstler erzeugt, noch viel weniger einen Philosophen, aber Roms Redner besaßen eine daͤ¬ monische Kraft, weil die Beredtsamkeit des Forums mit der Richtung ihres Geistes uͤbereinstimmte und einen thatsaͤchlichen Charakter trug; Maͤnner der That hat kein Volk in so großer Zahl und so ununterbrochener Reihe aufzuweisen. Positiv und praktisch war die Weltanschauung der Roͤmer, im graden Gegensatz zur indischen, die sich in sich zu¬ ruͤckzog, waͤhrend die griechische sich in der Har¬ monie des Geistigen und Leiblichen schwebend er¬ hielt, daher denn auch mit Recht Virgilius den Roͤmern zurief: Tu regere imperio populos, Romane, memento Hae tibi erunt artes. Der Zuruf kam freilich zu spaͤt, die Roͤmer hat¬ ten Kuͤnste und Wissenschaften bekommen, aber ihre Kraft war gebrochen und der Koloß ihrer Herrschaft ging in Faͤulniß und Gaͤhrung uͤber. Das nun hervortretende Christenthum, das sich nicht als Volks-, sondern als Voͤlkerreligion geltend zu machen suchte, wurzelte allerdings im Judenthum und in den Ideen des Orients, ward aber von einem durchaus neuen und eigenthuͤm¬ lichen Geiste beseelt, wie es auch andrerseits von den heidnischen Religionen des Occidents sich we¬ sentlich unterschied und unter den juͤngeren Gene¬ rationen, welche sich auf dem Ruin der alten occi¬ dentalischen Welt anbauten, eine von allen bishe¬ rigen Erfahrungen verschiedene Anschauungsweise hervorrief. Ueber dem alten Goͤtterhimmel woͤlbte sich ein neuer Himmel, und wenn einst der sinn¬ lich gluͤckliche Grieche sich von seinen Goͤttern selbst uͤber die irdische Seligkeit beneiden ließ, so schlug nun die Sehnsucht ihren Blick in die Hoͤhe und die himmlische Seligkeit uͤberstrahlte die irdi¬ sche, welche keine mehr war, sondern eine Pruͤ¬ fung, ein vergaͤnglicher Wandel, ein Leben im Fleisch, in dem das Boͤse wohnt und das ge¬ kreuzigt werden muß, damit das Leben im Geist beginne. Draͤngt sich uns danach die resigni¬ rende Natur der christlichen Weltanschauung auf, so gerathen wir doch nicht auf die irrthuͤmliche Verwechselung der christlichen Resignation mit der indischen Negation des Sinnlichen. Diese hob nicht allein das Sinnliche, sondern mit dem Sinn¬ lichen das verwandte Geistige auf, waͤhrend der resignirende Christ nur noch energischer und kraͤfti¬ ger die hoͤhere Welt anstrebte und die gedemuͤthigte Seele wieder erhob und zu reineren Regionen mit sich fortriß. Balsam war sie fuͤr ihre Zeit; die gesunkene Menschheit richtete sich an ihr wieder auf und die Millionen Sclaven warfen ihre Fes¬ seln hin, um mit ihren Herren vor den Altar des Herrn aller Herren zu treten. So bemaͤch¬ tigte sie sich anfangs aller Geister, die hienieden nichts zu hoffen hatten, im Fortgang der irdi¬ schen Großen, die viel zu fuͤrchten hatten, und kroͤnte ihr Werk mit Ergreifung jener jugendli¬ chen Nationen von germanischem Stamm, die wild und feurig in der Welt umherstreiften und sich noch erst Wohnplaͤtze auf der weiten Erde aufsuchten. Neues Blut und neue Kraft draͤngte sich nun auf die Buͤhne der Geschichte und nun erst bekam die neue Lehre ihre wahren Juͤnger, welche die alte abgestorbene Zeit ihr kaum bilden konnte. Das Element des Mystizismus, das in ihrem Grundcharakter urspruͤnglich lag, aber in ihrem Verkuͤndiger ganz in unmittelbar praktische Lebenssitte, Kindlichkeit und Reinheit der Gesin¬ nung eingeschleiert war, aber schon in den naͤch¬ sten Nachfolgern zum Vorschein kam, wurde nun von den nordischen Naturen, die innere Anlage diesem Ziel entgegentrieb, mit frischer, junger Kraft und Energie ausgebildet und zur romanti¬ schen Entwicklung hinangetrieben. Es war das Ferment, das mit der urspruͤnglichen Kraft des Nordens durchgaͤhrte und die ganze mittlere Ge¬ schichte, Papstthum, Kaiserthum, Ritterthum, Feu¬ dalismus, gothische Baukunst, Poesie, Malerei und Skulptur des Mittelalters bilden half. Solche Gestaltung des Lebens war nur durch die christ¬ liche Anschauungsweise moͤglich, war nur einmal da in der Welt, und wird nicht wiederkommen. Selbst die Kunst, welche das Christenthum eine Zeit lang verherrlichte, die Malerkunst des 14. und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung desselben bei; sie war bei den Griechen in die Schule gegangen und hatte die Schoͤnheiten der Form an der Antike studirt und mit griechischem Auge im Leben aufgesucht. Offne und freie Schoͤn¬ heit der Form aber ist dem Christenthume fremd, das Christenthum ist ernst, verhuͤllt und zuͤchtig, und immer ahnt es die Schlange, die hinter den Rosen versteckt liegt. Auf einer raphaelischen Ma¬ donna wuͤrde der Blick eines Paulus schwerlich mit demselben Wohlgefallen geruht haben, wie etwa der unsrige, derselbe Apostel, der der Jung¬ frau verbot ihre Haare wallen zu lassen und Kraͤnze auf ihr Haupt zu setzen, mußte auch die Absicht des Malers verrathen, bei aller Heiligkeit und Unschuld der Madonna doch hauptsaͤchlich das Bild eines schoͤnen und reizenden Wesens vor Au¬ gen zu bringen. Eben so gefaͤhrlich, als die neu erwachende Sinnlichkeit der griechischen Kunst, ward der ur¬ spruͤnglichen Anschauungsweise des Christenthums der scharfe Verstand, der unglaͤubige Witz, der scharf die Dinge scheidet, der klar und hell in die Erscheinungen blickt und der fressend, zehrend den Zauber, der ihn fangen will, durchschneidet. Und so sieht sich dasselbe von zwei Richtungen in die Mitte genommen, von der Sinnlichkeit und vom Verstande, und es gaͤhrt wieder, wie ehemals, in einem neuen geschichtlichen Prozesse und Jeder von uns fuͤhlt sich mitbegriffen, bewegt und er¬ schuͤttert im Weben der Zeit und sucht der Rich¬ tung zu folgen, welche sich am Herrschendsten in ihm geltend macht. Ohne Zweifel wird sich aus diesem Kampf eine neue aͤsthetische Anschauungs¬ weise entwickeln und damit eine Umgestaltung der Dinge, welche eine neue Kunst, eine neue Poe¬ sie, ein neues Leben herbeifuͤhren wird. Mehr in ahnenden Zuͤgen, als in wirklichen Umrissen sie darzustellen, wird meine Aufgabe fuͤr die naͤchste Vorlesung sein. Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 8 Achte Vorlesung. D ie Manifestation einer neuen Anschauungsweise, und damit eines neuen Lebens, einer neuen Kunst und Poesie ist, wie wir am Beispiel der griechi¬ schen und christlichen gesehen, kein momentaner Akt, der sich sofort aller geschichtlichen Elemente bemaͤchtigte und die Formen der fruͤheren Anschau¬ ungsweise auf einmal zertruͤmmerte, sondern ein progressiver Akt, dem nur allmaͤhlig die Ueberwaͤl¬ tigung und Ausscheidung der zuckenden, abgestor¬ benen Lebensreste gelingt. Es verharrt die Zeit so lang im Verpuppungszustande, bis ihr unter der Decke die Fluͤgel ausgewachsen sind, sie dehnt sich, lockert sich, erwartet den Augenblick — dann kostet es nur einen Sonnenstrahl, vielleicht den ersten nach schwerem Gewitter und gesprengt ist der alte Leib und die Psyche der Menschheit ath¬ met wieder die Freiheit ein. In solch verpupptem Zustande erscheint uns die Gegenwart. Sie traͤgt noch die Larve der alten Zeit, die haͤßliche, runzligte Larve und das Leben, das sich im Innern entfaltet, ist nur noch ein huͤpfender Punkt, ist noch gemischt aus Seuf¬ zern der Hoffnung und Seufzern des Schmerzes. Aber es ist ein neues Leben, so gewiß und wahr¬ haftig, als das alte todt ist und nur noch mit ge¬ spenstischer Huͤlle das junge druͤckt, verschließt und beaͤngstigt. Taͤuschen wir uns nicht, Vieles scheint noch lebendig, weil es leibhaft vor uns steht. Groß ist die Macht, die im Schein des Sichtbaren liegt, tiefgewurzelt die glaͤubige Gewohnheit hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare vorauszusetzen. Nur mehr, unendlich mehr, wir selbst sind die Traͤ¬ ger der abgestorbenen Zeit, wir selbst sind verhuͤllt von Kopf bis zu Fuͤßen, sprechen und handeln im Charakter unserer Maske, bewußtlos wie die Menge, mit Bewußtsein, wie Viele. Nur Wenige haben die Aufrichtigkeit, mit dem Finger auf ihre Maske hinzudeuten, noch Wenigere den Muth, sie sich und Andern vom Antlitz zu reißen. So steht es bei uns. Es ist eine druͤckende Zeit. Man ist unwohl in seiner eigenen Haut 8 * und doch luͤgt man sich die Haut voll. Das Herz kann man sich nicht beluͤgen. Die Zunge freilich ist ein furchtsames Glied, dem Einen ist sie der Kloͤppel der ehernen Unverschaͤmtheit, dem Andern das Laͤmmerschwaͤnzchen demuͤthiger Erge¬ benheit. Auch die Wange ist kein treuer Spiegel der Seele mehr, sie wird eher roth oder blaß, wenn die Wahrheit, als wenn die Luͤge zum Vor¬ schein kommt. Aber das Herz kann man sich nicht beluͤgen, schon das Auge nicht; taͤglich, stuͤndlich koͤnnen wir uns unsere moralischen, reli¬ gioͤsen, politischen Luͤgen aus dem Auge herausle¬ sen. Das ist der Fluch der Zeit, der auf einer Uebergangsepoche, wie der unsrigen ruht, das ist der Schmerz, der die edelsten Geister durchdringt, der in so vielen Stunden die Hoffnung uͤbertaͤubt und die Unruhe, die Zerrissenheit, den Zweifel erzeugt, Plagegeister der Menschheit, wenn sie naͤchtlich mit neuen Geburten schwanger geht. Dennoch sollte die Hoffnung groͤßer sein, als die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht hemmt, die Hoffnung befluͤgelt, weil die Furcht Zweifel erregt, die Hoffnung sie zerstreut, weil die Furcht trennt und zerruͤttet, die Hoffnung einigt und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht den Feinden Muth gibt, die Hoffnung aber ihnen denselben laͤhmt. Vergebens aber schminkt sich diese alte Zeit mit Hoffnungen, die Todtenfarbe schimmert hindurch; vergebens sucht sie sich an das junge Leben anzuklammern, jeder Pulsschlag draͤngt sie weiter zuruͤck. Unsere Zeit gleicht der Zeit des Kaisers Ju¬ lian und sie gleicht ihr in so uͤberraschenden Zuͤ¬ gen, daß wir darin eine wunderbare Fuͤgung des Schicksals erblicken muͤssen. Unserer Zeit ging vorauf die Revolution und Napoleon ihr Erbe, der Konduktor ihrer elektrischen Freiheitsschlaͤge; dann kam die heilige Allianz, der Bund der alten Maͤchte gegen die neuen und es begann der Kampf zwischen dem alten und neuen Genius, uͤberall, wo dieser aus dem webenden Dunkel hervortrat und Gestalt anzunehmen versuchte, gluͤcklich oder ungluͤcklich, bisher ohne Sieg, Niederlage und Ab¬ schluß. Auch der Zeit des Julian ging eine Re¬ volution vorher und Konstantin hieß der Kaiser, der die Klugheit hatte, sich an ihre Spitze zu stel¬ len und ihr Symbol, das Kreuz, auf die Standar¬ ten jener Legionen zu pflanzen, welche Christum gekreuzigt und Jerusalem zerstoͤrt hatten. Aber noch schwankte der Sieg, denn die Institute des Heidenthums waren zu massiv und das Christen¬ thum war nur noch ein reiner Spiritus, ein uͤber¬ irdischer Pilger, der ohne Schimmer und Prunk einherging und sein zweischneidiges Schwert unter dem Mantel der Armuth und Demuth verbarg. Julian versammelte die bisherigen Goͤtter der Welt zu einer „heiligen Allianz“ gegen den neuen Gott und sprach den Bann uͤber ihn aus. Er ließ seine Trabanten das Kreuz umstoßen, seine Philosophen das Kreuz laͤcherlich machen und ein zeitgemaͤßeres Heidenthum fabriziren; aber um¬ sonst. Die Goͤtter sahen aus todten Augen, die Speere zerbrachen wie Glas und die Philosophie sah sich genoͤthigt, ihre Ohnmacht und Unfrucht¬ barkeit zu bekennen. Die neue Weltanschauung behielt den Sieg. Drum soll die Hoffnung groͤßer sein, als die Furcht, denn unsere Zeit gleicht der Zeit des Julian. Sie gleicht ihr — bis auf einen Zug — denn nichts wiederholt sich vollkommen in der Weltgeschichte. Erklaͤre ich, was ich meine. Ueber das neue Leben, das Julian zu verdraͤngen, zu vernichten trachtete, war schon damals und gleich vom Ursprung an, die Formel der Bedeutung aus¬ gesprochen, Einer hatte es offenbart, Zwoͤlf hatten es der Welt verkuͤndigt und Tausende und Millio¬ nen schwuren auf das Wort, das Mensch geworden war. Welche Lippe hat aber das Wort ausgespro¬ chen, worin sich der neue Geist inkarniren will, wo ist der Messias, wo sind die Apostel, wo sind die gemeinsamen Symbole dieses Geistes? Es ist wahr, er weht durch die ganze Welt und wir hoͤren sein Brausen, aber wissen wir auch, woher er kommt, wohin er geht? Es ist wahr, wir rei¬ ßen uns allmaͤhlig aus der Umarmung des starr¬ gewordenen Lebens los, wir fuͤhlen uns mit Geist und Sinnen in eine neue Stroͤmung versetzt, die uns unaufhaltsam mit sich fortreißt, wir sehen neue Sterne vor unserm Blicke aufgehen, aber wissen wir auch, welchen Ufern die Welle uns zutreibt? Prophetisch ist jede Zeile, die gedruckt, jedes Wort, das gesprochen, jede That, die voll¬ fuͤhrt wird, aber messianisch keine. Sollen wir, wie die Juden, den Messias erwarten, als eine Person, oder sollen wir einer innern Ahnung Glauben schenken, die uns zufluͤstert, voruͤber sind die messianischen Zeiten, wo die Offenbarung aus¬ ging von einem Einzigen, die Zeit selbst ist fort¬ hin der gebenedeite Schooß der Jungfrau, der vom Geist befruchtet wird und das ist die Erfuͤl¬ lung der alten Weissagung von einer Zeit, wo alle Juͤnglinge und Jungfrauen sich dem Zuge der Begeisterung uͤberlassen? Wie dem auch ist, so unbezeugt hat sich die Zukunft nicht gelassen, so unsicher, verwirrt und schwach sind nicht die Aeußerungen des neuen Gei¬ stes bisher gewesen, um jeden divinatorischen Ver¬ gleich, die Elemente und Grundzuͤge der werdenden Weltanschauung ahnungsvoll aufzufassen, schon a priori zu einem nichtigen zu machen. Es ist hin¬ gegen Pflicht, sein Bewußtsein zu schaͤrfen und das Ziel ins Auge zu fassen, um nicht die Kraft, wie es so oft geschieht, in unnuͤtzen Bestrebungen zu verzehren nach einem Ziel, das uns nicht im Angesicht, sondern im Ruͤcken liegt. Sieh auf die Zeit, betrachte die naͤchste Ver¬ gangenheit, erforsche die Gegenwart und beachte, was sich im Kleinen und Großen lebendig regt und den Progressus der Geschichte bildet, beachte vor allen Dingen die Phaͤnomene deines eigenen Geistes, schwaͤrme nicht, aber sei noch weniger stumpfsinnig, reibe dir nur die Augen aus und sieh, was in dir und um dich vorgeht. Dann denke an die laͤngstvergangenen Zeiten, an die Welt vor einem Halbtausend von Jahren, an die Menschen und die Erscheinungen, welche jene Zeit hervorrief, und vergleiche sie mit den Menschen und Erscheinungen in der Gegenwart; tritt dir dann nicht der schlagendste Kontrast entgegen, magst du dann noch glauben oder hoffen, jene Zeit koͤnne sich auf eine Art, durch eine Art nur wieder er¬ neuern, so sei uͤberzeugt, du bist ein Nachtwandler unter den Lebendigen und kannst als Poet die schoͤnsten Traͤume haben und als Prediger die feu¬ rigsten Reden halten, als Politiker die feinsten Staatsplaͤne spinnen, aber du kannst es auch zum Heil der Welt eben so gut lassen, denn dein Traum entzuͤckt nicht, deine Rede bekehrt nicht, dein Ge¬ spinnst haͤlt nicht, du bist der Zeit verfallen, die Geschichte kennt dich nicht und wenn du dem Le¬ bendigen und Wachen uͤber den Weg kommst, so wirst du bei Seite geschoben. Kaum aber laͤßt sich erwarten, daß ein auf¬ richtiger und unparteilicher Zuschauer der Weltbe¬ gebenheiten, ein Pruͤfer seines eigenen Herzens die maͤchtige Scheidewand verkennen wird, die un¬ widerruflich zwischen uns und der alten Zeit nie¬ dergefallen ist. Schon vor 400 Jahren begann die Bildung der neuern Zeit und ein Deutscher war es, der den ersten Grundstein dazu legte. Die Erfindung der Buchdruckerkunst durch Faust hat die geistige Kastenordnung in der europaͤischen Welt zuerst gebrochen, und indem sie eine unbe¬ schraͤnkte Gemeinschaft der Geister einfuͤhrte, die Schranken umgestuͤrzt, welche der Despotismus des Staats und der Wissenschaft um sich erbaut. Eine unendliche Masse von Licht hat sich uͤber Europa ausgegossen und Luther Flammen aus Licht gezaubert und verzehrend die alten Heiligthuͤ¬ mer angetastet. Der Sohn dieses Lichts und die¬ ser Flamme, der Verstand, errang die Herrschaft 8 ** und hat sie von Tage zu Tage mehr ausgebreitet. Man legte Baͤnder um ihn her, aber er schluͤpfte hindurch wie eine Sylfe, man wollte ihn gewalt¬ sam greifen und halten, aber er zerrann in den Haͤnden seiner Feinde und spottete ihres nichtigen Beginnens. Er war es auch, der die Riegel weg¬ schob vor der eingekerkerten Sinnlichkeit, und nun im Verein mit der sinnlichen Kraft offen die Spitze bot und die franzoͤsische Revolution zu Stande brachte. Verstand und Sinnlichkeit habe ich schon in voriger Stunde als diejenigen Kraͤfte gedacht, welche die entschiedenste Richtung gegen die Anschauungs¬ weise der alten Zeit eingeschlagen. Unzweifelhaft sind es diese beiden Elemente, auf deren harmo¬ nischer Vereinigung die Form der neuen Anschau¬ ungsweise beruhen wird. Historisch denkreich ist es wieder, daß unser protestirendes Deutschland auch der geistige Herd war, wo der zuruͤckge¬ draͤngte Funke des sinnlichen Lebens zuerst aus der Asche der Schulweisheit aufblitzte. Nicht nur poetische, sondern historische Bedeutsamkeit hat die Sage vom Faustus, der seine Buͤcher an die Wand wirft und im Ueberdruß nichtiger Weisheit sich in das bunte Leben stuͤrzt, um sein verwelk¬ tes Herz wieder mit den Stroͤmen der Liebe und des Hasses aufzufrischen. Daß diese deutsche Volks¬ sage mit der Erfindung der Buchdruckerkunst koin¬ zidirt, ja, daß sie sogar den Erfinder uns als Faustus vorstellt, ist tief und charakteristisch. Kein Dichter hat die ganze Tiefe dieses ernsthaften Maͤhrchens so geistreich nachempfunden, als der große Goethe, der im Faust Niemand anders, als sich selbst und den Drang der neuen Zeit ge¬ schildert hat. Freilich stammt das Maͤhrchen noch aus einer Zeit, wo: das Recht des Sinnli¬ chen geltend zu machen gegen die An¬ maßungen des Spiritualismus , als ein schwarzes Verbrechen erschien, woher denn auch der Faustus nach der Sage von Gott abfaͤllt und einen Bund mit dem Boͤsen schließt — einen volksthuͤmlichen Zug, den Goethe als Dichter wie¬ der aufzunehmen nicht versaͤumte. Das hat, sagt ein bekannter Schriftsteller, das hat nun das deutsche Volk laͤngst geahnt, daß die Menschen nicht blos zu einem himmlischen, sondern auch zu einem irdischen Gluͤck berufen sind; denn das deutsche Volk ist selbst jener ge¬ lehrte Doktor Faust, der nach materiellen Genuͤs¬ sen verlangt und dem Fleische seine Rechte wieder¬ gibt — doch noch befangen in der katholischen Simbolik, wo Gott als der Repraͤsentant des Geistes und der Teufel als der Repraͤsentant des Fleisches gilt, bezeichnete man jene Rehabilitation des Fleisches als einen Abfall von Gott, als ein Buͤndniß mit dem Teufel. Jener brennende Glaube, jene Kasteiung des Fleisches, jener heroische Sinn, der sich selbst und sein Liebstes opfert, um der Liebe Gottes willen, war die Seele des Mittelalters. Glaube ist aber der kindlich unschuldige Sinn, die einfaͤltige Hin¬ gebung an die aͤußere Auktoritaͤt. Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, wie der Heroismus, wie der Glaube, daß in Gott alle Dinge leben, weben und sind. Aber eben darum, und weil noch immer in der zertruͤm¬ merten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die Wache halten, gibt es eine neue Geschichte, gibt es Maͤrtyrer der Freiheit und des Glaubens, gibt es Enthusiasten und Opfer, gibt es Hochgefuͤhle in unserer Brust, die erhabener und reiner sind als die, welche der verwitterte Glaube und die erkaltete Liebe der Vorzeit zu erregen im Stande sind. Fuͤrchtet nicht, daß der Verstand der neuen Zeit alles Heilige zum Gespoͤtte, alle Ahnung zum Kindertraum, alles Schoͤne zum Beduͤrftigen herabwuͤrdigen wird. Wohl ist der Verstand ein Handelsherr, Maschinenmeister, Konstitutionsschmie¬ der, und an sich mehr Feind als Freund des Ge¬ muͤths und des poetisch sinnlichen Lebens. Aber ihm gegenuͤber macht sich geltend ein poetischer Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der dem Verstande allerdings dankbar ist fuͤr die in der Befreiungssache geleistete Huͤlfe, keineswegs aber gesonnen, sich von ihm als einem neuen Des¬ poten unter ein neues Joch spannen zu lassen. Fuͤrchtet auch nicht, daß diese uͤppige Jugend aus ihren felsigten Ufern hervortreten und die Bluͤthen des Geistes, die sie selbst hervorgerufen und be¬ fruchtet, uͤberschwemme und zerstoͤre. Sie ist ja eben die Poesie und das Leben selber und alle edlen und großen Leidenschaften und die schoͤpfe¬ rische Kraft der Geschichte fließt aus ihrem Blut und Nervengeiste. Sie ist das bewegende Prin¬ zip und nimmt alle Keime der Bildung auf in ihrem Schooße, wie man's sieht an jenem Mit¬ telalter, an der Jugend unserer Nation, welche die schoͤnen und herrlichen Erscheinungen des Chri¬ stenthums (wie wirkte dasselbe im greisen Orient?) erst moͤglich und wirklich machte. Behauptung der Rechte des Verstandes und des sinnkraͤftigen Gemuͤths, darauf draͤngt der Geist der neuen Zeit. Ueber unserer Asche wird sich ein neues europaͤisches Griechenthum erheben, angemessen dem geistigen Fortschritt, den das Christenthum vorbereitet hat. Nur zweimal hat der Erdball die Erscheinung erlebt, daß Menschen in sinnlich-geistiger Eintracht organische Monaden bildeten und ein Leben der Frische und Gesund¬ heit fuͤhrten. Von dem Einen berichtet uns die Sage des Paradieses, von dem Andern die Ge¬ schichte Griechenlands. Indien vernichtete das Sinnliche, Palaͤstina uͤberhob das Geistige, zwi¬ schen beiden bluͤhte Griechenland wie zwischen zwei Abgruͤnden, deren bodenlose Tiefe es ahnungs¬ los mit Rosen und Lorbeeren uͤberstreute. Aber die Menschheit mußte hinuͤber und dem germani¬ schen Stamm war es vorbehalten, in die tiefste Tiefe hinabzuschauen und selig den zu preisen, „der lebt im rosigen Licht.“ Dem germanisirten Europa bleibt die dritte Entwicklungsstufe der Menschheit vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeistigter wie bei den Griechen, das Gei¬ stige durchsinnlichter wie bei den Christen zur Er¬ scheinung kommt. So gleicht das Menschenge¬ schlecht in seiner geschichtlichen Entwicklung einem wahren Organismus, einer erhabenen Pflanze, die von Zeit zu Zeit in neue Knoten anschießt, sich zusammenschließt, um sich desto kraͤftiger wieder zu entfalten. Neunte Vorlesung. W ir haben uns in die Weltanschauung der In¬ dier, der Griechen, des christkatholischen Mittel¬ alters versetzt, und gesehen, wie eine nach der andern mit Leben, Kunst und Dichtung ihren Kreis in der Zeit beschloß und einem unabaͤnder¬ lichen Schicksal anheimfiel. Dadurch bestaͤtigte sich uns die aufgestellte Ansicht, daß die Aesthetik, wenn irgend etwas eine geschichtlich geschlossene Disziplin ist, und als solche einem viel hoͤhern, aber zugleich auch beschraͤnkteren Standpunkt an¬ gehoͤrt, als man ihr gewoͤhnlich einraͤumt, naͤm¬ lich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltan¬ schauung selber. In diesem Sinne ist freilich keine Aesthetik der Indier, der Griechen, des Mittelalters vorhanden, wenn wir unter diesem Namen den ganzen heutigen Umfang aͤsthetischer Gesetze und Urtheile begreifen, allein theils ist diese Art wissenschaftlicher Vollstaͤndigkeit uͤberhaupt mehr eine Erscheinung der neueren Zeiten, wor¬ auf es das Alterthum nicht ablegte, theils besitzen wir in den Gedichten, Philosophemen und Kunst¬ werken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigste Aesthetik jener Zeiten und Voͤlker, um so lebendiger, da sie aus dem Leben selbst ge¬ schoͤpft ist. Von Geschmack und Ungeschmack kann auf diesem Standpunkt nicht die Rede sein. Die ab¬ surdesten Extravaganzen der indischen Phantasie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herab¬ faͤllt, und sich in dem wulstigen Haupthaar eines Gottes verstrickt, ein Gott mit Elephantenruͤssel u. dergl. sind fuͤr die Anschauungsweise des indi¬ schen Aesthetikers eben so musterguͤltige Bilder und Vorstellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorstellung aus dem griechischen und christkatholi¬ schen Anschauungskreise, wie z. B. die Venus Anadiomene, die sich aus dem Schaum der Wel¬ len erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Christi uͤber den Wassern des Jordan flattert. Entweder man hat den Ge¬ schmack, oder man hat ihn nicht, das ist Alles, was sich sagen laͤßt; denn dies heißt dann weiter nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Christ die Welt und ihre Erscheinungen auffaßt. So geschieht es allerdings oft, daß dem christlichen Auge mißfaͤllig und un¬ schoͤn vorkommt, was dem griechischen schoͤn und gefaͤllig, was Beiden vielleicht uͤbereinstimmend schoͤn, dem indischen Auge als das grade Gegen¬ theil, oder umgekehrt, daß, was den Indier ent¬ zuͤckt, dem Griechen und Christen ein Abscheu und Graͤuel ist. Alle diese verschiedenen Geschmacksurtheile sind keineswegs willkuͤhrlich und zufaͤllig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefaͤllt, oder aus individueller Mißbildung der Organe hervorgegan¬ gen; sondern man muß sie betrachten als direkte, gesetzmaͤßige Ausfluͤsse aus der Grundquelle aͤsthe¬ tischer Urtheile, als volksthuͤmliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanschau¬ ung ausgepraͤgt sind. Solche Gesetze und Formen mußte die Aest¬ hetik, wie schon bemerkt, nach dem wissenschaftli¬ chen Beduͤrfnisse unserer Zeit, in moͤglichster Voll¬ staͤndigkeit enthalten und dies ist eine Aufgabe, welche die Reflexion des Aesthetikers ohne Schwie¬ rigkeit zur Loͤsung bringen kann, sobald sein Leben in eine Zeit faͤllt, der eine eigenthuͤmliche, Alles durchdringende Weltauschauung zu Theil gewor¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 9 den, sobald sein Leben einer Menschheit angehoͤrt, die mit ihm und mit sich selbst sympathisirt und gleichsam aus einem Zeuge gewebt ist. Da denke ich mir den Aesthetiker, wie er zunaͤchst aus dem tausendfaͤltig Gegebenen, vermoͤge eines Akts poetisch divinirender Abstraktion, die einfache For¬ mel des aͤsthetischen Bewußtseins oder, was das¬ selbe, der zeitig lebendigen Weltanschauung auf¬ sucht. Hat sich ihm diese ahnungsvoll erschlossen, so mag er sie im Eingang seines Werkes ausspre¬ chen, als eine Definition der Schoͤnheit, womit auch die modernen Aesthetiker den Anfang zu ma¬ chen pflegen, und daß in ihrer geschichtlosen und todten Weise der Begriff der Schoͤnheit zur allge¬ meinen Abstraktion wird, waͤhrend sie bei jenem eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er sie aus den schoͤnsten Bluͤthen der Gegenwart selbst aus¬ gesogen und eingeathmet hat. So mochte z. B. der indische Aesthetiker auftreten und sagen, die Schoͤnheit, oder das, was gefaͤllt, ist der Ueber¬ oder Untergang des Wirklichen und Natuͤrlichen in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts; der Grieche, die Schoͤnheit oder das, was gefaͤllt, ist die goͤttliche Idee der Einheit im Mannigfalti¬ gen und Wirklichen, welche verklaͤrt zur Erscheinung kommt; eine Absorbtion des Geistigen durch das Sinnliche; der Christ, die Schoͤnheit oder das, was gefaͤllt, ist der Sieg des Unsichtbaren uͤber das Sichtbare, des Himmlischen uͤber das Irdi¬ sche, die Absorbtion des Sinnlichen durch das Gei¬ stige, oder, wie Jeder von diesen Supponirten das Eigenthuͤmlichste seiner aͤsthetischen Grundanschau¬ ung aussprechen mochte. Nach diesem denke ich mir den Aesthetiker, wie er den Begriff der Kunst entwickelt und zwar nach dem weitesten Umfang, in dem nicht nur die Poesie und die bekannten Kuͤnste eingehen, son¬ dern auch und vorzuͤglich, die groͤßte und erha¬ benste Kunst, die Kunst, sein innres und aͤußeres Leben als Einzelner, als Glied der Familie, als Glied des Staats, als Glied der Menschheit zu gestalten, die Kunst also, die sich unser Sittliches und Sinnliches selbst zum Stoffe auswaͤhlt, um an ihm die Schoͤnheit zu bethaͤtigen. Hierauf hat er auf eine Reihe von Kunstlehren sich einzu¬ lassen und in jeder besonderen darauf sein Haupt¬ augenmerk zu richten, daß das urspruͤngliche Ge¬ setz, die Grundanschauung seiner Zeit und seiner Aesthetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde, sondern moͤglichst klar und individuell heraustrete und seine Rechtfertigung in sich selber und im Ganzen finde. Da aber der Aesthetiker nicht eigentlich Gesetze gibt, sondern nur zuruͤckgibt, sie nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da sie zu 9 * den geschichtlichen Wissenschaften gehoͤrt, so wird ihm die kritische Betrachtung vorhandener Kunst¬ werke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtun¬ gen und uͤberhaupt der Produkte des Genies, den Beschluß jener Kunstlehren bilden, wie sie in der That auch ihren Anfang erst moͤglich machten. Dieses ist in kurzen Zuͤgen das Bild eines Aesthetikers und einer Aesthetik, wie es mir vor¬ schwebt, vorschwebt, ohne daß ich die entfernteste Moͤglichkeit saͤhe, wie es ein sterblicher Mensch heut zu Tage realisiren koͤnnte, weil Leben, Sit¬ ten, Kuͤnste, Dichtungen in einem widrigen Zwie¬ licht stehen, wie alles Charakteristische total unter¬ gegangen ist, weil noch die Zeit ihren Geist sucht, der ihr abhanden gekommen ist, wie Peter Schle¬ mihl seinen Schatten und weil das, was man vorlaͤufig Zeitgeist nennt, bisher nur mehr nega¬ tive als positive Lebensaͤußerungen von sich gege¬ ben hat. Was man bisher deutsche Aesthetik nannte, war ein unaͤsthetisches Gemengsel sogenannter aͤsthe¬ tischer Gesetze und Formen, woraus die Dichter des Ramajana und Mahabarat, wonach Firdusi und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Cal¬ deron, Shakspeare und Goethe, Jeder etwas und Alle nichts haͤtten schoͤpfen koͤnnen. So war auch die Zeit zusammengemischt aus allen moͤglichen Elementen und man moͤchte die groͤßten Dichter derselben poetische Kamaͤleons nennen, die bald im reichen orientalischen Talar, bald im spani¬ schen Mantel, bald als eiserne Ritter in Helm und Panzer, bald als Moderne im Pariser Frack auftraten und die Poesie fremder Voͤlker und Zei¬ ten auf die taͤuschendste Weise nachzuahmen ver¬ standen; dadurch ward die Poesie allerdings im¬ mer poetischer und die Zahl der Poeten in einem Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein auf der andern Seite ward das Leben immer pro¬ saischer, immer fader, immer mehr platt wirklich. Die nationale Quelle der Poesie war ver¬ trocknet und haͤtten die Poeten auch das poetische Weltmeer ausgeschoͤpft und den Strom aller himm¬ lischen und irdischen Poesien uͤber die schmachtende Gegenwart ergossen, sie waͤre darob um nichts poetischer und bluͤhender geworden, als sie war. Eben dieser Zeitraum, den wirklich geniale und große Dichter, wie Schiller und Goethe verherr¬ lichten, liefert uns den schlagendsten Beweis, daß die Poesie und alles Schoͤnste immer und ewig ein Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt und nicht geboren und aufgewachsen mit den Kin¬ dern der Heimath. Und die Poesie unserer Dich¬ ter war das Maͤdchen aus der Fremde, wovon Schiller singt, die erscheint, man weiß nicht wo¬ her, und spurlos verschwindet, wenn sie Abschied nimmt. So kam die Poesie zu den Deutschen, so lasen sie Schiller's und Goethe's Gedichte, so sahen sie den Tell auf der Buͤhne, und wenn die Poesie wieder weggegangen war, so war ihre Spur verloren und des Philisteriums breite, ausgetretene Fußstapfen wurden betreten, nach wie vor. Gegenwaͤrtig ist es freilich anders. Nicht, daß wir schoͤner lebten; doch fuͤhlen wir allmaͤhlig Sehnsucht danach und es faͤngt uns an zu daͤm¬ mern von einer Poesie des Lebens, die aller Kunst¬ poesie Mutter ist und zwar mater, filia pulchrior . Die großen Dichter sind todt und wir graͤmen uns nicht so sehr daruͤber, uͤberall sind wir mehr gleich¬ guͤltig gegen Kunst und Poesie geworden, in dem Verstand, worin beide bisher gepflegt, auch Das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieses, daß die sogenannte Prosa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetischer zu stroͤmen anfaͤngt, als bisher, wo die Prosa eben den von den Stri¬ cken der Philister gebundenen Simson vorstellte und die sogenannte gebundene Rede, die Poesie, schrankenlos umherschwaͤrmte. Unsere Dichter sind prosaischer geworden, un¬ sere Prosaiker aber poetischer, und das ist ein be¬ deutsamer Wechsel, ein Wechsel, der zu den er¬ freulichen Zeichen und Erscheinungen der Zeit ge¬ hoͤrt, weil Prosa unsere gewoͤhnliche Sprache und gleichsam unser taͤgliches Brod ist, weil unsere Landstaͤnde in Prosa sprechen, weil wir unsere Per¬ son und Rechte nachdruͤcklicher in Prosa vertheidigen koͤnnen, als in Versen. Doch ist dem Aesthetiker mit alledem nicht viel geholfen; die Stagnation des Lebens ist noch zu allgemein und vorherrschend und das gruͤne, truͤbschmutzige Wasser ist kaum trinkbar fuͤr einen Muͤlleresel, geschweige fuͤr das gefluͤgelte Roß, das seinen Durst in der klaren Fluth der Hippokrene stillen will. Also, es gibt keine Aesthetik im angegebenen Sinn, es kann keine echte Aesthetik geben, wer sie schriebe, muͤßte vorher (neue Religion, eine neue Moral) eine neue Kunst, ein neues Leben herbeischaffen. Weder in Muͤnchen, noch in Ber¬ lin wird sie ein Professor lesen, alle Gemaͤlde, Bildsaͤulen und geschnittene Steine der Koͤnige von Preußen und Baiern reichen nicht aus, um einen Paragraphen der Aesthetik zu fuͤllen, die der neuen Geschichte, ich meine, der Zukunft ange¬ hoͤrt. Ist doch selbst jene sogenannte neue Kunst- und Malerschule an beiden genannten Orten, nur die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur Wiederholung von Kunstideen und Kunstformen, die, wie Alles, ihre Zeit gehabt haben. Indem ich dies Gestaͤndniß, das ich schon in der ersten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬ dem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Ar¬ gumentation desselben gedient hat, schreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Aesthe¬ tik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬ schichtliche zu sein, durchaus nicht entsprechen kann, von Aesthetik noch bleibt. Zunaͤchst wird Jeder gleich sehen, daß uns hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle An¬ sichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aestheti¬ ker sich in den Fall versetzt findet, mit hinlaͤngli¬ cher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten belie¬ big Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die klassischen, bald mehr die romantischen zu beguͤn¬ stigen, bald mehr die Kunst, bald mehr die Poesie in sein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬ torischen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu ver¬ statten. Aus diesem Wirrwarr ist wirklich das, was wir heutiges Tags Aesthetik nennen, entsprungen. Man ist ausgegangen, sagt Herbart, von der Thatsache, daß uͤber Sachen des Geschmacks ver¬ schieden geurtheilt wird; man wuͤnscht aber zu einer sichern Entscheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Aesthetik als eine, der vorhandenen unsichern Beurtheilung des Schoͤnen in der Natur und Kunst vorgescho¬ bene und zum Dienst derselben bestimmte Wis¬ senschaft. Sehr richtig. Jeder abstrahirte nun die Gesetze des guten Geschmacks (ein Wort, das den Alten natuͤrlicherweise nicht bekannt war, da ihr Schoͤnheitssinn nicht allein guten Geschmack an Artistik und Poeterei, sondern auch am Leben bezeichnete, mit dem unser guter Geschmack gar nichts zu schaffen hat, Jeder, sage ich, abstrahirte die Gesetze des guten Geschmacks aus den ihm bekannten Poeten und Kuͤnstlern. Da nun das vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV. trug, so war man anfangs ziemlich einig uͤber die echten Muster der Poesie und Kunst, und da¬ her auch uͤber die Kunsterzeugnisse, welche bei der Abfassung jener steifzierlichen, franzoͤsisch antiken Meisterwerke zur Richtschnur dienen sollten. In Deutschland wurde solche Kritik des Ge¬ schmacks Aesthetik, und nur etwas langweiliger, gelehrter, philosophischer unter diesem Namen auf den Universitaͤten dozirt. Das durch Winckelmann wieder aufbluͤhende Studium der Antike, die Be¬ kanntschaft mit Shakspeare, mit Kalderon und andern auslaͤndischen Dichtern, mit dem romanti¬ schen Mittelalter, mit Indien und Persien zuletzt, alles dieses, was zur neuern Geschmacksbildung, das heißt, zur neuern Geschmacksverwirrung ge¬ hoͤrt, bereicherte und verwirrte auch die Aesthetik. Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die ihren Geschmack bilden wollten, die halbe Welt durchzuschmecken, woraus aber mehr Ekel, als Genuß und Bildung hervorging und wovon all¬ maͤhlig Widerwille gegen alles Aesthetische die na¬ tuͤrliche Folge war. Beantworte ich also die Frage, was uns ge¬ genwaͤrtig als Aesthetik noch bleibt, damit, daß ich sage: die alte Aesthetik fuͤr die, die ihrer noch nicht uͤberdruͤssig geworden sind, fuͤr die Andern aber, das leise aͤsthetische Gefuͤhl, das im Schooß der Zeit sich regt, das prophetische Gefuͤhl einer neu beginnenden Weltanschauung, das sich von Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die Einleitung zur kuͤnftigen Aesthetik. Als eine solche, meine Herren, moͤgen Sie auch die gegenwaͤrtigen Vorlesungen betrachten. Was uns betrifft, so koͤnnte uns schon deswegen die gewoͤhnliche Aesthetik nicht genießlich sein, da wir im Norden aller kuͤnstlerischen Bildung er¬ mangeln, da es am hiesigen Ort weder Gemaͤlde¬ sammlungen, noch Gypsabdruͤcke, noch Daktilio¬ theken gibt, da ich auch auf keine Anschauungen der Art hinweisen, noch mich auf fruͤhere berufen koͤnnte. Hoͤren Sie also den Plan, den ich in der Zukunft befolgen werde. Was den Stoff be¬ trifft, so muͤssen wir uns, einige Allgemeinheiten abgerechnet, allerdings beschraͤnken auf Poetik und Rhetorik, was den Geist und die Darstellung be¬ trifft, hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare Pedanterie fruͤherer Behandlungen, so wenig als moͤglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe sein wird, sowohl Poesie als Prosa im Zusammen¬ hang mit den Richtungen der Zeit aufzufassen und Sie das Gesetz der Schoͤnheit, das uͤber beiden gemeinschaftlich waltet, als das Gesetz der wer¬ denden Weltanschauung ahnen zu lassen. Meine Bemerkungen werden sich anreihen an die Werke einiger neuerer Schriftsteller, an Byron und Goe¬ the in poetischer, an Heinrich Heine in prosaisch stilistischer Beziehung. Die Prosa wird vor allen Dingen unser Augenmerk sein, und ich hoffe Sie selbst in den letzten Stunden zu praktischen Uebun¬ gen zu bewegen. Die Prosa ist eine Waffe jetzt und man muß sie schaͤrfen; dies allein schon waͤre ein erfreuliches Resultat unseres Zusammentreffens. Zehnte Vorlesung . H aben wir die aͤsthetische Weltanschauung als eine Offenbarung der Geschichte angesprochen, un¬ serer Zeit aber eine solche abgesprochen, so muͤssen wir dessenungeachtet das Zugestaͤndniß machen, daß das aͤsthetische Gefuͤhl auch zu unserer Zeit An¬ spruͤche mache, Urtheile faͤlle, zu Handlungen reize, Befriedigung suche. Wir schreiben uns einen Ge¬ schmack zu, um eine schoͤne That von einer haͤßli¬ chen zu unterscheiden, um eine Sudelei nicht mit einem Meisterwerk zu verwechseln; und sind wir selbst die Handelnden und die Kuͤnstler, so trach¬ ten wir bei unsern Handlungen und Produktionen sowohl nach eigenem, als nach fremdem Beifall, und suchen das Mißfallende nach Kraͤften zu ver¬ meiden. Was also unterscheidet uns und unsere Zeit von solchen Menschen und Zeiten, die sich einer gemeinsamen Weltanschauung zu ruͤhmen ha¬ ben? Nach dem Bisherigen und Ihrem eigenen Gefuͤhl ist die Antwort: der Mangel an Einheit und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit, und daher der Mangel an Wahrheit. Wir sind im Handeln eben so unsicher, wie im Genießen, im Schaffen eben so schwankend, wie im Beur¬ theilen, Kopf stoͤßt sich an Kopf, Gefuͤhl an Ge¬ fuͤhl, es ist eine Welt von Dissonanzen, die ihren Generalbaß erst von der Zukunft erwartet. Was ist schoͤn? Was nennt man heutzu¬ tage unisono eine schoͤne That? Denken Sie an den Aufstand der Polen! — Daß vor vielen Jahrhunderten die Schweizer sich von Oestreich losrissen, daß Tell den Gesler erschoß, daß Win¬ kelried der Freiheit eine Mauer war und die feind¬ lichen Lanzen in seine eigne Brust schob, das fin¬ den wir allerdings unisono schoͤn und es ist jedem Deutschen sowohl polizeilich, als aͤsthetisch erlaubt, daruͤber in gelinden Enthusiasmus zu gerathen. Allein, daß ein schaͤndlich zerstuͤcktes und unter¬ druͤcktes Volk vor unsern Augen die Eisdecke der Tyrannei in die Luft sprengt, daß es eine Nacht gab, wo wir ruhig in unsern Betten schliefen und Gott weiß, von welcher Oper traͤumten, eine Nacht, wo eine Handvoll kuͤhner Juͤnglinge den Palast zu Warschau stuͤrmten und nach der Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen einer Morgenroͤthe zujauchzten, welche die gespreng¬ ten Ketten einer großen und edelmuͤthigen Nation beleuchtete, dieses Ereigniß und alle die glaͤnzen¬ den Thaten und Opfer, die es nach sich zog — fand es so allgemeinen Anklang, riß es so allge¬ mein und wahrhaft die Gemuͤther hin, oder hoͤrte man nicht, wo Zwoͤlf zusammenstanden, den Ei¬ nen verabscheuen, den Andern bewundern und Ze¬ hen mit den Haͤnden klatschen, als wohnten sie nur im Theater der Welt der Auffuͤhrung eines schoͤnen Stuͤckes bei. Ich fuͤhre eben dieses tragische, uns so nahe liegende Beispiel an, um zu zeigen, was es fuͤr eine Bewandtniß habe mit unsern aͤsthetischen Ge¬ fuͤhlen, wenn auch die gluͤhendste Thatenschoͤnheit sich vor unsern Blicken aufthut. Hier sehen Sie eine That, von deren Schoͤnheit man durchdrun¬ gen sein muß, wenn man einen Tropfen Roͤmer¬ blut, einen Hauch aus Timoleons Seele in sich spuͤrt, wenn nicht Alles Luͤge und Schulgeschwaͤtz ist, was wir der alten Geschichte nachruͤhmen, der kontrastirendsten Beurtheilung anheim fallen, nach den Extremen der Bewunderung und des Ab¬ scheus hingetrieben und bei der Menge entweder dumpfes Staunen, stupides Ergoͤtzen, oder eine Art von kuͤnstlerischem, dramatisch-theatralischem Wohlgefallen erregend. Ein solches Schicksal, meine Herren, wird jede andere schoͤne That unter uns erleben: Viele werden sie schoͤn finden, nicht als Ereigniß der Geschichte, nicht als sittliche Hand¬ lung, nicht als wiederbegeisternde Begeisterung schoͤner Seelen, sondern als ein schoͤnes Natur- oder Kunstprodukt, dessen bequeme und ruhige Betrachtung wohl eine angenehme Waͤrme im Herzen verbreitet, aber eine Waͤrme, die fuͤr das Herz so flau und unschuldig ist, wie eine Tasse Thee fuͤr den Magen; immer nur Wenige wird es geben, denen die That auf's Herz schießt, wie ein Blitz, entzuͤndend, begeisternd, zu aͤhnlichen Thaten befluͤgelnd, kurz, auf deren Gemuͤth die geschichtliche, lebendige Schoͤnheit, wie es in ihrem urspruͤnglichen Wesen liegt, geschichtlich und leben¬ dig wirksam ist. Leichter, werden Sie sagen, vereinigt man sich uͤber die Schoͤnheiten der Kunst und Dichtung. Sie haben recht, und das ist es auch eben, was dem Kuͤnstler und Dichter nicht allen Muth nimmt in dem Maß, wie dem handelnden Menschen, das ist sogar die Ursache, weswegen der Aestheti¬ ker, wenn er auch seiner Aufgabe nicht entsprechen kann, die Aesthetik nicht ganz fahren laͤßt. Lassen Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakspeare, die Polenrevolution, den Kampf und Untergang der Freiheit, großartig poetisch in ruhiger Zeit auf die Breter bringen, „welche nicht die Welt sind, sondern die Welt bedeuten,“ wie Schiller sagt, dann werden Sie hoͤren, wie alle Urtheile sich vereinigen, wie das Parterre klatscht, wie die Faͤhndriche sich in die Brust werfen, wie die Kri¬ tiker ihre Brillen wischen, welcher Enthusiasmus sich in den Logen verbreitet und wie vielleicht selbst ein erstarrtes Amts- und Ministergesicht am Schluß des Stuͤcks und der Freiheit Thraͤnenwasser und einen Rest von Mitgefuͤhl und Wehmuth auf den Wangen hat. Woher diese Erscheinung? Hat der Dichter Begeisterung und Schmerz der That erst hinzuge¬ dichtet, oder gehoͤren sie nicht vielmehr der That an; hat der Dichter Erhabenes und Schoͤnes aus seinem Hirn geboren oder ist nicht bereits die That erhaben und schoͤn, liegt Alles, was so maͤchtig ruͤhrt, nur darin, daß es in Versen aus¬ gesprochen und in fuͤnf Akte vertheilt ist, oder hat die Poesie einen tieferen Grund, weswegen sie zum Herzen spricht? Ja, die Poesie hat einen tieferen Grund. Die dramatische Poesie waͤre gar keine ohne die Poesie der That, der Dichter ist kein Gott, der uns aus angebornem Kraftvermoͤ¬ gen neue Welten erschaffen koͤnnte, er ist auch kein Taschenspieler, der durch Reim und Klang, durch eine rhythmische Abwechselung von sechs metrischen Fuͤßen, allerhand Phantome der Lust und des Schmerzes, der Furcht und der Begeisterung in der Seele seiner Zuhoͤrer aufregen koͤnnte; der Dichter nimmt Stoff und Begeisterung aus der That und die hoͤchste Palme hat er errungen, wenn die Schoͤnheit der That aus dem Leben in eine andere Welt, in die Kunstwelt, von ihm verpflanzt, sein Gedicht durchstrahlt und wieder vom Gedicht, wie ein Juwel in der Einfassung, neuen Glanz annimmt. So durchlaͤuft die Schoͤnheit einen doppelten Kreis und bringt zweifache Wirkung her¬ vor, einmal im Leben, als sittliche, poetische, histo¬ rische, gesellschaftliche, das andere Mal in der Dichtung, als kuͤnstlerische, dramatische, epische. In beiden Faͤllen wirkt sie ein aͤsthetisches Gefuͤhl, aber im ersten mehr ein thaͤtiges, im andern mehr ein leidendes, im ersten mehr ein unmit¬ telbar, im zweiten ein mehr mittelbar ruͤckwirken¬ des. So sollte , wollte ich sagen, die Schoͤn¬ heit einen doppelten Kreis durchlaufen und sowohl auf den Willen, wie auf das Gefuͤhl ihren zau¬ bervollen Einfluß ausuͤben; allein wir gingen mit Recht davon aus, daß der Zauberstab der Schoͤn¬ heit, womit sie die Zuschauer und Hoͤrer schoͤner, großer Thaten, selbst wieder zu schoͤner und gro¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 10 ßer That bewegt, leider keine Macht uͤber uns ausuͤbt, und daß nur das Luftigere der Kunst un¬ sere Gemuͤther bewegt, und zur passiven Mitem¬ pfindung anreizt. Ueber das Schoͤne in Kunst und Dichtung findet daher eine leidliche Verstaͤndigung in der Regel Statt, auch theilen wir beim Anblick schoͤ¬ ner Gemaͤlde und Gedichte miteinander so ziem¬ lich denselben Eindruck; allein im Gebiet des Thatsaͤchlichen zerfallen die Meinungen und Ge¬ fuͤhle und hier, wo das Schoͤne unmittelbar aus der Quelle sprudelt, wo es vom goͤttlichen Athem noch gleichsam warm angehaucht ist, hier laͤßt es so Viele kalt; hier wird es von so Vielen ver¬ schmaͤht. Plato wollte keine Dichter in seine Re¬ publik aufnehmen, sondern nur handelnde Maͤnner, unsere Gesetzgeber wollen keine Maͤnner, nur Dich¬ ter im Staat, keine Thaten, nur die Schatten derselben, keine andern Schoͤnheiten, als gereimte und gemalte. Eben daher ist uns denn auch der Begriff der Schoͤnheit so zusammengeschrumpft, daß der Name: ein schoͤner Geist , eben nur einen Belle¬ tristen von Fach andeutet, der Ausdruck einer schoͤnen That uns an ein gegebenes Almosen und an Alles eher, als an eine heroische Hand¬ lung erinnert; die schoͤnen Wissenschaften und Kuͤnste aber mitsammt den Schoͤnheiten der Na¬ tur, schoͤnen Weibern, schoͤnen Blumen den gan¬ zen Inbegriff des Schoͤnen ausfuͤllen. Unsere Aesthetiker, wenn sie die Frage, was ist die Schoͤnheit, aufwerfen, haben dabei fast nur die Proportionen des Gesichts und der mensch¬ lichen Gestalt vor Augen, und wenn sie diese be¬ sondere Schoͤnheit in eine Definition gezwaͤngt ha¬ ben, so glauben sie die Weihe der Aesthetik damit ertheilt zu haben, noch dazu schlug der Gott der Schoͤnheit die Meisten mit Blindheit. Uebereinstimmung der Theile erklaͤren Viele als das Mysterium der Schoͤnheit; wobei noch dazu die klaͤglichste Verirrung zur Einseitigkeit hinzutritt; denn die Theile eines Kamschadalen stimmen eben so gut uͤberein, wie die Theile eines Antinous und uͤberhaupt ist Proportion nichts weiter, als Maaß. Man kann alle Ver¬ haͤltnisse beobachten, jede Figur in so und so viel Kopflaͤngen eintheilen, ohne doch eine schoͤne Gestalt zu Stande zu bringen. Die Schoͤnheit liegt auch da wieder in etwas, was in der Defi¬ nition nicht liegt. Andere sprachen von der An¬ gemessenheit jedes einzelnen Theils zum Zweck des Ganzen. Aber Polyphems großes Stirnauge ist eben so gut zum Sehen geschickt, als Apolls, und so zweckmaͤßig auch und harmonisch mit dem gan¬ 10 * zen Leibe die Stacheln eines Stachelschweins em¬ porstarren, so wenig schoͤn finden wir diesen An¬ blick. Der englische Maler Hogarth fand die Lineamente der Schoͤnheit in der Wellenlinie , wonach denn auch das unfoͤrmlichste Ganze, die oͤdeste Seekuͤste, mit den Spuren der Wellenlinie darin schoͤn genannt werden muͤßte. Fragt die Kroͤte, sagt Voltaire, was schoͤn ist, oder einen Schwarzen von Guinea, oder einen Philosophen, — dieser allein wird euch mit einem Gallimathias antworten. Man kann Voltaire nur beistimmen. Selbst Platon's Erklaͤrung der Schoͤn¬ heit ist nur eine schoͤne Mythe, welche bei naͤhe¬ rer Betrachtung das Wesen der Schoͤnheit eigent¬ lich aufhebt. Sie erinnern sich, wo er von dem Entzuͤcken spricht, worein Jemand gerathen wuͤrde, erschien ihm die Idee der Schoͤnheit selbst in leicht verkoͤrpertem Gewande. Allein dies Entzuͤcken wird keinem Sterblichen zu Theil werden, Platon's Idee der Schoͤnheit ist, bei Licht betrachtet, von jeder andern abstrakten Idee durch nichts unter¬ schieden, wir koͤnnen die Schoͤnheit nicht abloͤsen von den individuellen Organismen, in denen sie zur Erscheinung kommt, die schoͤne That nicht vom Charakter des Menschen, der sie ausfuͤhrt, die schoͤne Rosenknospe nicht von dem schlanken, gruͤ¬ nen Staͤngel, worauf sie waͤchst, die schoͤnen Au¬ gen, den bezaubernden Mund, die feine Nase nicht von dem Gesicht und das Gesicht nicht von dem Rumpfe des einzelnen Wesens getrennt und abgesondert denken, ohne uns uͤberhaupt den Ein¬ druck der Schoͤnheit zu zerstoͤren. Es ist nicht meine Absicht, hier alle Defini¬ tionen der Schoͤnheit zu beleuchten. Bemerke ich nur, daß grade die tiefsinnigste auf dem Grund¬ fehler beruhe, die Schoͤnheit als ein ideelles Et¬ was, als eine einzige bestimmte Ursache fuͤr alle Wirkungen des Schoͤnen zu betrachten. Allein mannigfaltig ist des Schoͤnen Natur und viele Elemente gibt es, die das Schoͤne darstellen. Doch halte ich es fuͤr wichtig, ehe ich Ihnen daruͤber meine Ideen mittheile, Sie vor der so gewoͤhnlichen Verwechselung des Schoͤnen, sei es mit dem Nuͤtzlichen und Angenehmen, sei es mit dem Interessanten, zu warnen. Ganze philoso¬ phische Sekten, wie die stoische, haben das Schoͤne mit dem Nuͤtzlichen verwechselt; alle Dialektik der Stoiker konnte den aͤsthetischen Sinn nicht ersetzen. Das Schoͤne befriedigt, wie das Nuͤtzliche und Angenehme, allein das Schoͤne befriedigt, wie es gesucht wird, um sein selbst willen, das Nuͤtzliche nur um eines Andern willen, wozu es nuͤtz ist, und, obwohl wir das Angenehme oft ohne wei¬ tere Nebenruͤcksichten begehren, und es also mit dem Gefallenden und Mißfallenden im nahen Ver¬ haͤltniß steht, so fehlt uns doch noch oͤfter der be¬ stimmte Gegenstand dafuͤr und es schwebt nur als ein dunkles Gefuͤhl in uns, ohne uns, wie das Schoͤne, als Gegenstand entgegenzutreten und sich der Beurtheilung zu unterwerfen. Das Ange¬ nehme ergoͤtzt sich mit augenblicklichen Gefuͤhlen, die, sobald man sie aufklaͤrt, in Nichts zuruͤcktre¬ ten und verschwinden, dagegen ist das Schoͤne, je laͤnger man es betrachtet, je schaͤrfer man seine Natur untersucht, desto lebendiger und nachhalti¬ ger von Wirkung auf das Gefuͤhl, so wie nur der Kenner der Kunst den vollsten Genuß vom Anschauen der Meisterwerke hat und dem Kenner der Musik tausend Fibern im Ohr beruͤhrt wer¬ den bei Anhoͤrung eines wohlexerzirten Orchesters, gegen eine Fiber im Ohr des Unkundigen. Nur das Schoͤne, wenn man den Ausdruck genau neh¬ men will, nur das Schoͤne gefaͤllt, nicht das Nuͤtz¬ liche, nicht einmal das Angenehme, obwohl dieses auf unmerklichen Wegen sich zum Schoͤnen stei¬ gern kann; besonders wenn es den Sinn des Ge¬ sichts affizirt, wie bei den Farben, als bloßen Pigmenten, oder bei einem Stuͤck blauer Luft, oder gruͤnem Rasen und dergleichen. Doch ist der Sprachgebrauch hierin ziemlich lax und obwohl Niemand sagen wird, daß ihm der Zirkel gefaͤllt, weil er rund ist, so wird Mancher schon von dem Geruch einer Hyazinthe, als etwas, das ihm ge¬ falle, sprechen koͤnnen. Das Interessante ist aber, was sich dem Schoͤnen beigesellt, ohne selbst das Schoͤne zu sein. Ein Dichter, der es darauf anlegt, unsere Aufmerksamkeit auf mehrere Stunden in Anspruch zu nehmen, erreicht diesen Zweck selten nur mit bloßer Huͤlfe des Schoͤnen, er muß unsere Auf¬ merksamkeit durch den Wechsel der Personen und Szenen, durch den Wechsel des Ernsten und Hei¬ tern, uͤberhaupt durch Abwechselung zu unterstuͤtzen suchen, er muß fuͤr unsere Unterhaltung sorgen, wenn er uns das Schoͤne zu genießen gibt. So kann z. B. ein Trauerspiel von 24 Akten sehr schoͤn sein, aber ich zweifle, daß es auch unter¬ haltend ist. Voltaire hat nicht Unrecht, wenn er von den Gattungen der Dichtkunst sagt: jedes Genre ist gut, ausgenommen das langweilige. Eilfte Vorlesung. D ie Empfindung des Schoͤnen, das Schoͤne selbst, haben wir voͤllig dem Kreis des Historisch-Sub¬ jektiven vindizirt. Allein wir duͤrfen nicht bei die¬ sem Satze stehen bleiben; auch das Gute, auch das Wahre gehoͤrt in dieses Gebiet. Wer es laͤugnet, verkennt die Geschichte und den innigen Zusammenhang des Guten, Schoͤnen und Wahren, wie er sich geschichtlich kund thut. Wir haben den Punkt zu bezeichnen gesucht, der auf den verschiedenen Kulturstufen des Voͤlker¬ lebens als der Mittelpunkt aller geistig-sinnlichen Thaͤtigkeiten erschien und in welchem alle indivi¬ duellen Anschauungen sich in eine große epochen¬ artige Weltanschauung konzentrirten. Nur eine Zeit, der gar keine gemeinsame Anschauungsweise zu Grunde liegt, konnte scheiden, was Gott ver¬ einigt hat, konnte mit duͤrren Schulbegriffen in der geheimnißvollen Werkstatt des Lebens operiren. So wenig in solcher Zeit die Theologie mit der Religion, so wenig hat die Moral mit der Sitt¬ lichkeit, mit der Anwendung auf das oͤffentliche und einzelne Leben zu schaffen. Was man Moral nennt, wird ein todtes Abstraktum von Pflichten- und Tugendlehre, die sich den Anstrich geben, ab¬ solut guͤltig zu sein und jedem Menschenkinde als apodiktische Richtschnur des Handelns zu dienen. Was man Aesthetik nennt, wird ein aͤhnliches Ab¬ straktum von Schoͤnheitslehren fuͤr alle Zeiten und Generationen, von der absoluten Natur moralischer Noͤthigungen nur dadurch unterschieden, daß diese auf einem kategorischen Imperativ beruhe, jene aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der Wahl und Willkuͤhr weiteren Spielraum oͤffnen. Unter den Haͤnden der Philosophen bekam die Aesthetik eine sehr untergeordnete Stellung, wie besonders im System des Heros der kritischen Philosophie. Waͤhrend Kant die Erhabenheit der Pflicht, die Majestaͤt des Gesetzes mit kraͤftigen und glaͤnzenden Farben schilderte, stand ihm das Bewußtsein und das Gefuͤhl des Schoͤnen ein klein wenig uͤber den thierischen Vorstellungskraͤften; das Schoͤne selbst ist ihm etwas Begriffloses, eine gewisse Form der Zweckmaͤßigkeit eines Gegenstan¬ des, welche nothwendiger Weise gefaͤllt, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes wahrgenommen wird, eine Definition, die so einseitig als falsch ist, da die Zweckmaͤßigkeit, das ist, das Treffen des Mittels zum Zweck, wie schon bemerkt, we¬ der an sich die Schoͤnheit ist, da es sehr viele zweckmaͤßig haͤßliche Erscheinungen gibt, noch uͤber¬ haupt schoͤn genannt werden kann, indem sie nur in dem Beduͤrftigen der Natur ihren Sitz hat. Betrachtet man mit physiologischen Augen das Innere des menschlichen Leibes, so erscheint uns darin Alles durch die Verhaͤltnisse von Zweck und Mittel geordnet, was aber durchaus keine aͤsthe¬ tische Betrachtungsweise zulaͤßt. Zweck und Mit¬ tel sind dort in stetigem Uebergang in einander und zwar allerdings auf die kuͤnstlichste Weise, die auch nichts von der Willkuͤhr unserer Kuͤnsteleien hat, sondern die Nothwendigkeit einer hoͤhern Kunst. Allein Alles dieses hat die Natur unsern Augen wohlthaͤtig verborgen, und wir draͤngen uns, um unsere Kenntnisse zu bereichern, in ihre in¬ nere Werkstaͤtte. Nicht den Prozeß ihrer Thaͤtig¬ keit, etwas viel Schoͤneres fuͤhrt sie uns vor Au¬ gen, das Produkt derselben, in welchem alle ihre inneren Anstalten ihr Ziel erreicht haben, vollen¬ det erscheinen, bei welchem man also gar nicht mehr von Mittel und Zweck als abgesonderten Gegenstaͤnden sprechen darf, sondern wo Mittel und Zweck in einander aufgeloͤst und verflossen sind. Niemand hat dies scharfsinniger aus einander ge¬ setzt, als Solger im Ervin. Moral und Aesthetik haben in Kant's Phi¬ losophie nichts mit einander gemein; der Geschmack am Guten und der gute Geschmack sind sich durch¬ aus fremd; es ist nicht blos gut, das Gute zu empfinden, in dem Sinn, wie es schoͤn ist, das Schoͤne zu empfinden, nein, das Gute ist ein Muß, eine Pflicht, ein moralisches Gesetz, dem sich der Wille beugen und unterwerfen muß, ohne sich an der Guͤte und Schoͤnheit der That zu er¬ freuen, ja, ein solches Wohlgefallen, das der That vorhergeht oder sie begleitet, ist verdaͤchtig, denn Lust und Liebe sind truͤbe Quellen und nur die steinernen Tafeln des Gesetzes bewahren die Welt vor dem Verfall der Sittlichkeit. Denken Sie nur an eine Menge lyrischer Gedichte und insbesondere auch an die aͤsthetischen Abhandlungen des kantisirenden Schillers. Hier sehen Sie, wie das freie Spiel der Schoͤnheit dem Ernst der mo¬ ralischen Gesetzgebung gegenuͤber gestellt, dort, wie die Lust mit der Pflicht in grausamem Kampfe dargestellt wird. So lange noch Moͤglichkeit vorhanden ist, sagt unter Andern Schiller in seiner Abhandlung uͤber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schoͤner Formen: so lange noch Moͤglichkeit vor¬ handen ist, daß Neigung und Pflicht in demselben Objekt des Begehrens zusammentreffen, so kann diese Repraͤsentation des Sittengefuͤhls durch das Schoͤnheitsgefuͤhl keinen positi¬ ven Schaden anrichten; obgleich, streng genom¬ men, fuͤr die Moralitaͤt der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall veraͤndert sich gar sehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verschiedenes Interesse haben, wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Ge¬ schmack empoͤrt, oder wenn sich dieser zu einem Objekt hingezogen fuͤhlt, das die Vernunft als moralische Richterin zu verwerfen gezwungen ist. Jetzt naͤmlich tritt auf einmal die Nothwen¬ digkeit ein, die Anspruͤche des moralischen und aͤsthetischen Sinns auseinanderzusetzen, ihre gegen¬ seitigen Befugnisse zu bestimmen und den wah¬ ren Gewalthaber im Gemuͤth zu erfahren. Aber eine so ununterbrochene Repraͤsentation hat ihn in Vergessenheit gebracht und die lange Ob¬ servanz, den Eingebungen des Geschmacks unmit¬ telbar zu gehorchen, und sich dabei wohl zu be¬ finden, muͤßte diesem unvermerkt den Schein eines Rechtes erwerben. Und nun fuͤhrt Schiller die Liebe an, die er unter allen Neigungen, die von dem Schoͤnheits¬ gefuͤhl abstammen, diejenige nennt, die sich dem moralischen Gefuͤhl, als ein veredelter Affekt vorzuͤglich empfehle und nachdem er erst eine dich¬ terische Schilderung von ihr gegeben, daß sie goͤtt¬ liche Funken aus gemeinen Seelen schlage, daß sie jede eigennuͤtzige Neigung verzehre, durch ihre allmaͤchtige Thatkraft Entschluͤsse beschleunige, welche die bloße Pflicht den schwachen Sterblichen um¬ sonst wuͤrde abgefordert haben, ruft er auf einmal aus: aber man wage es ja nicht mit diesem Fuͤh¬ rer, wenn man nicht schon vorher durch einen besseren gesichert ist, was beilaͤufig zu sagen, so viel heißt, als: man liebe nicht ohne Kant's kate¬ gorischen Imperativ. Das Beispiel, das er nun anfuͤhrt, mag uns zugleich diensam sein, die Natur des Irrthums uͤber Pflicht und Schoͤnheitssinn aufzudecken und uns auf die richtige Spur zu leiten. Der Fall soll eintreten, sagt Schiller, daß der geliebte Gegenstand ungluͤcklich ist, daß es von uns abhaͤngt, ihn durch Aufopferung einiger moralischer Bedenklichkeiten gluͤcklich zu machen. Sollen wir ihn leiden lassen, um ein reines Ge¬ wissen zu behalten. Erlaubt dieses der uneigen¬ nuͤtzige, großmuͤthige, seinem Gegenstand ganz da¬ hingegebene, Alles vergessende Affekt? Heißt das lieben , wenn man beim Schmerz der Geliebten noch an sich selbst denkt? So sophistisch, faͤhrt er fort, weiß dieser Affekt die moralische Stimme in uns veraͤchtlich zu machen und unsere sittliche Wuͤrde als ein Bestandstuͤck unserer Gluͤckseligkeit vorzustellen, das zu veraͤußern in unserer Macht steht. Der Fall ist gut gewaͤhlt, doch schuͤtzt er nicht, um den Trugschluß der ganzen Ansicht, die Willkuͤhr philosophischer Lehrsaͤtze eines Jahrhun¬ derts hinter der Willkuͤhr eigner Natur zu ver¬ stecken. Wir sehen hier einen Menschen, den die Liebe verfuͤhrt, dem, was er fuͤr Pflicht haͤlt, untreu zu werden oder vielmehr, der sich eine hoͤhere Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Mensch¬ heit zu uͤbertreten. Seine Neigung war an sich eine edle, sie war entsprungen aus dem Schoͤn¬ heitsgefuͤhl, hatte sich gesteigert zur Leidenschaft und drohte nur als solche der Sittlichkeit und dem Pflichtgefuͤhl gefaͤhrlich zu werden, sie war also in ihrem Laufe eine andere geworden, das Schoͤn¬ heitsgefuͤhl, das eine zarte Neigung erzeugte, und sich mit dieser verschmolz, war getruͤbt worden durch heftige Leidenschaft, diese aber verbindet sich bekanntlich eben so oft mit der Liebe, als mit dem Hasse, diese strebt eben so oft das Haͤßlichste, als das Schoͤnste an, diese, wie sie die Erzeugerin alles Großen in der Weltgeschichte ist, war auch die Mutter aller Gewaltthaten und Graͤuel, die nicht vom kalten Blut und der vertrockneten Bosheit diktirt wurden. Nicht allein die Liebe, die auf dem Schoͤnheitsgefuͤhl beruht, hat ihre Leidenschaf¬ ten, auch die Religion hat die ihrigen und die liebevollste unter allen, die christliche, hat sich mit den furchtbarsten gesellt und ist durch sie in die blindeste Befangenheit trauriger Irrthuͤmer gestuͤrzt. Ja noch mehr, selbst diese kalte Pflichtenlehre, welche das moralische Gesetz mit eiserner Ruthe uͤber das Gewissen ihrer Unterthanen walten laͤßt, selbst diese kann sich leidenschaftlich aͤußern, und es ist mir von einem Kantianer erzaͤhlt, der mit einer Art kaltphilosophischer Wuth alle Blumen der Lust und Poesie aus seinem Herzen riß und nach den Trommel- und Taktschlaͤgen des Kanti¬ schen Moralprinzips so eifrig, wie ein neuange¬ worbener Rekrut, auf dem Felde der Sittlichkeit sich einexerzirte. Koͤnnen wir uns nicht an der Stelle des Schillerschen Beispiels ein anderes den¬ ken, wo grade das zur hoͤchsten Einseitigkeit aus¬ gebildete sogenannte Pflichtgefuͤhl in Kollision mit den schoͤnern Gewalten der Liebe, sei's nun durch Begehen oder Unterlassen empoͤrend und abscheu¬ lich wird? Versuchen wir ein solches; denken wir uns einen aͤngstlich gewissenhaften Pflichtmenschen, der sich aͤrgert, wenn es ihm einmal widerfaͤhrt, das Gute aus Lust zu thun und das Boͤse aus Widerwillen zu unterlassen, der sich aber gluͤcklich schaͤtzt, daß er es ziemlich so weit gebracht hat, entweder seine Neigungen zu toͤdten, oder trotz seinen Neigungen (natuͤrlich auch seinen schoͤnen und edlen Neigungen) nur auf die strengen Ge¬ bote dessen zu achten, was er Pflicht nennt. Denken Sie sich also einen Mann, der es nach Schiller's obigem Ausspruch wagen kann, sich zu verlieben. Er liebt wirklich. Der Gegenstand seiner Liebe ist ein schoͤnes und edles Maͤdchen, lange geht es gluͤcklich, lange theilt er die Neigungen der Liebe mit Pflichten der Moral, bis ihn die Voraus¬ sicht eines moͤglichen, ja wahrscheinlichen Kolli¬ sionsfalles unruhig und aͤngstlich macht und die bloße Furcht, in diesem Kampfe der Liebe mehr als der Pflicht zu gehorchen, das Gebot einer Pflicht annimmt, die ihm anbefiehlt, sein hoͤchstes Gut, die Moralitaͤt, den kategorischen Imperativ, bei Zeiten in Sicherheit zu bringen und sich, wenn auch mit blutendem Herzen, von dem geliebten Gegenstand loszureißen. Mag nun auch aus den Tiefen seiner bessern und schoͤnern Natur die Stimme der Liebe, der Ehre sich empoͤren uͤber das eisige Gebot einer kuͤnstlichen, mißverstandenen Pflicht, er hoͤrt sie, uͤberhoͤrt sie, flieht, macht ein edles Wesen, sich selbst im Grunde der Seele ungluͤck¬ lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den Sieg der Pflicht uͤber die Leidenschaft, nach un¬ serm Gefuͤhl der sophistischen Unnatur uͤber die menschliche Natur, welche uns unbewußter und leiser, aber desto richtiger die Pfade des Lebens fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬ ralgesetz, als ein Goͤtzenbild unserer Philosophie. Untersuchen wir nun, worauf die Herabsetzung des Aesthetischen in dieser Ansicht beruht, so fin¬ den wir, daß eine voͤllige Verkennung sowohl des Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle ist. We¬ sen, die schoͤn denken und schoͤn handeln, ist das Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identisch. Allein, wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit nur die Kunst nachbleibt, so taucht eine Moral auf, die um so unerbittlicher den Rest schoͤner Nei¬ gungen bekaͤmpft, als diese wirklich, aus ihrem Zusammenhang mit dem Leben gerissen, nur zu oft in Gefahr stehen, dem bloßen sinnlichen Trieb anheim zu fallen und durch gemeine Beisaͤtze ent¬ adelt zu werden. Niemand hat in solcher Zeit den rechten Muth, sich seiner Natur zu uͤberlassen, als ob Jeder fuͤrchtete, sich in seiner Bloͤße zu Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 11 zeigen und die schlaffen, unreinen Sprungfedern seines innern Lebens vor den Augen der Welt aufzudecken. Aber je armseliger und nackter das Innere, desto prachtvoller ist der moralische Appa¬ rat, den man nach außen aufthuͤrmt, desto stoi¬ scher huͤllt man sich in den Mantel der Entsagung, desto scheinheiliger verdammt man die nackte Na¬ tur und desto niedriger und erbaͤrmlicher fuͤhlt man sich im Angesicht jenes selbstgeschaffenen erhabenen Pflichtprinzips, das man weder zu erfuͤllen noch zu laͤugnen die Kuͤhnheit hat. Nun traͤgt die arme Sinnlichkeit alle Schuld, nun ist die Schoͤn¬ heit selbst, die nicht lebendig mehr im Herzen lebt, die Verfuͤhrerin, das Gewissen aber der Pi¬ latus, der sich die Haͤnde in Unschuld waͤschet und alle Schuld auf die unbaͤndigen Triebe wirft und auch die Phantasie anklagt, als ob sie bestaͤndig durch den Reiz ihrer zuͤgellosen Einfaͤlle zu Uebertretun¬ gen des moralischen Gesetzes verfuͤhre. So wird unsere Seele dann vorgestellt als der Kampfplatz aller moͤglichen widerstrebenden Kraͤfte und Nei¬ gungen und uͤber dem Gewuͤhl und Wellen der ruhig ernste kategorische Imperativ, der quos ego donnert. Eine solche Vorstellung schickt sich in der That fuͤr solche Zeiten, die wir erlebt; aber sie ist Gottlob nicht die natuͤrliche und wahre, sie gehoͤrt dem Gebiete an, woraus sie stammt, dem Gebiet der Schwaͤche und der Unnatur. Schafft uns ein kraͤftiges Geschlecht, sprengt die Bande, die den Krafterguß schoͤner Neigungen und Triebe suͤndhaft gefesselt halten, befreit die Welt von den Suͤnden der Schwaͤche, und dann seht, wie viele Rudera eurer jetzigen Pflichtenlehre sich in der Umgestaltung des Lebens erhalten werden, und um wie Vieles kuͤrzer und buͤndiger das Kapitel von den Kollisionsfaͤllen zwischen Moral und Trieb aus¬ fallen wird. Aber das ist eben der Haupt- und Grundfehler unserer Moral, nur zu negiren, nur zu verbieten, nur zu vernichten, dagegen sie sich Muͤhe gibt, alles Treibende und Liebende in uns als das Unmoralische, als das zu Negirende, als das Suͤndhafte darzustellen. Sie, der es nicht gelang, auch nur ein ein¬ ziges Gebot der Liebe zu predigen, wollte es mit der Achtung und Ehrfurcht zwingen, die nach ihrer Behauptung jeder Sterbliche dem kategori¬ schen Imperativ schuldig sei. Allein, so groß auch die Zahl ihrer Verehrer war, es fehlte schon fruͤher nicht an Solchen, die den Imperativ grade zu ablehnten, die rechte Lust zur schoͤnen That empfanden, rechten Abscheu vor dem Haͤßlichen und denen das Schoͤne und Haͤßliche in Bezug 11 * auf die Persoͤnlichkeit eben in dem Begriff des Guten und Schlechten enthalten war. Eine solche kernhaft schoͤne Natur war Goethe, nie hat dieser seine Lippe oder Feder mit einem Miserere vor dem Kampf zwischen Schoͤnheit und kategori¬ schem Imperativ beschwert. Zwoͤlfte Vorlesung . N ur die deutsche Kathedermoral konnte das Ge¬ setz der Schoͤnheit so schnoͤde verkennen, um das ganze sittliche Leben in ihren duͤrren Formelkreis bannen zu wollen. Man lege jetzt ihren Kodex auf das Grab ihrer Schreiber und Urheber. Die Zeit hat sich uͤber den Werth der Moralkompen¬ dien hinlaͤnglich aufgeklaͤrt, man wuͤnscht mehr Moral im Leben und weniger auf dem Papier, und man wuͤnscht eine Moral der That, eine Mo¬ ral der Jugend, die, statt uns die Fluͤgel zu be¬ schneiden und unsere Fortschritte zu hemmen, uns befluͤgelt und zur Ausuͤbung alles Guten und Schoͤnen anleitet. Die Menschheit, das edle Roß, laͤßt sich nicht laͤnger mehr trainiren, sie ist der Reitschule mit ihren veralteten Kuͤnsteleien uͤber¬ druͤßig, sie will nicht laͤnger im Umkreis weniger Schritte, im verdeckten Kasten, auf den Wink ihres Bereiters ihre edle Kraft vergeuden, und peitscht sie nur, quaͤlt sie nur, reißt sie nur im Zuͤgel, sie hat die offene Thuͤr und das reiche, gruͤne Feld gesehen, ein Schlag, ein Satz und ihr liegt unter ihren Hufen und ein anderer Rei¬ ter schwebt mit ihr der Freiheit entgegen. Ich habe bisher nur von der philosophischen Moral dieses und des vorigen Jahrhunderts ge¬ sprochen, von dieser Antagonistin der menschlichen Kraft und Schoͤnheit, die mit der Anmaßung, eine absolute zu sein, in Deutschland auftrat. Ich darf Ihnen wohl kaum erklaͤren, daß jede philoso¬ phische Moral, erscheine sie, zu welcher Zeit sie wolle, die sich fuͤr absolut ausgibt, nur ein Mach¬ werk der Schule und keine Moral des Lebens sei, da dieses immer nur unter konkreten Bedingungen zur Erscheinung kommt. Jede geschichtliche Welt¬ anschauung hat ihr eignes moralisches Prinzip und so lange die christliche bluͤhte, gab es außer der christlichen Moral keine andere, die das Gesetz des Lebens in sich trug: Man schreibe, wenn man kann, ein Moralkompendium des 13. Jahrhunderts, eine Moral christlichen Ritterthums und Buͤrger¬ thums, da besaͤße man doch wenigstens ein ver¬ dienstvolles historisches Werk, das alle die aus dem abstrakten Begriff des Christenthums abstra¬ hirten heutigen Moralen an wissenschaftlichem Werth uͤbertreffen wuͤrde; wuͤrde man zeigen, wie die urspruͤngliche menschliche Kraft jenes Zeitalters sich durchdrang von den geschichtlich gegebenen Elementen des Christenthums und wie diese Mi¬ schung sich in den eigenthuͤmlichsten Formen kry¬ stallisirte und das Groͤßte wie das Kleinste in den sittlichen Aeußerungen so und nicht anders gestal¬ tete, wie es die Geschichte lehrt. Aber nun, nach¬ dem sich die Grundbestrebungen der Zeit außer dem fruͤheren, innigern Kontakt mit dem christli¬ chen sahen, eine Art formeller philosophischer christ¬ licher Moral der geschichtlich christlichen substituiren und nach willkuͤhrlichen Abstraktionen aus dieser das Gewissen der neuen Zeit regeln und beschwe¬ ren zu wollen, ist ein nichtiges Unternehmen, das auf die Gestaltung des Lebens keinen Einfluß ha¬ ben und finden, obwohl auf Akademien, wie Alles, sich eine Zeit lang so hinschleppen wird, bis etwas Besseres dafuͤr an die Stelle tritt. Was sollen wir mit solcher Moral anfangen, wozu sollte sie uns nuͤtzlich sein? Entweder sie geht unsern Weg und dann ist sie nicht das, wofuͤr sie sich ausgibt, dann muß sie sich bescheiden, ihr Zentrum noch nicht gefunden zu haben, oder sie geht ihn nicht und dann predigt sie tauben Ohren. Sie gibt freilich uͤberall nur einen undeutlichen Ton von sich, so daß Niemand sich leicht ihrethalben zum Kampfe ruͤstet. Was sagt sie uns von der Mo¬ ralitaͤt oder Unmoralitaͤt unserer Staatseinrichtun¬ gen, was hat sie fuͤr ein Urtheil uͤber Freiheit und Knechtschaft? ist es moralisch oder unmora¬ lisch, oder gleichguͤltig, sich in den Kampf der Zeit einzulassen, das Schwert fuͤr Recht und Frei¬ heit zu zuͤcken, das Bollwerk der Privilegien, die Mißbraͤuche des Kastenwesens anzugreifen? ist es ein moralischer oder unmoralischer Zustand, daß unser Volk kein vaterlaͤndisches, verstaͤndliches Recht hat, daß es in so vielen Laͤndern noch keine Stimme fuͤhrt, wo es ihre vornehmlichsten und heiligsten Interessen betrifft? Fragt sie uͤber diese und aͤhnliche Verhaͤltnisse und Zustaͤnde und hoͤrt, welch undeutlich zwitschernder Ton aus ihrem Munde geht, wie sie im selben Athem zugestehen und ablaͤugnen, einraͤumen und beschraͤnken, oder gar, wie sie diese Fragen, die allein gegenwaͤrtig das Rad der Zeit umdrehen, als außer ihrem Kreise liegende, außermoralische, oder außerakade¬ mische, was weiß ich, von sich ablehnen. Wirk¬ lich Letztere sind noch die Besten, man weiß doch, woran man mit ihnen ist. Es ist unsers Amts nicht, sagen sie, in der Moral uͤber das Beste¬ hende und Werdende zu diskutiren, die Haupt¬ fache ist, daß man erst moralisch wird, nach An¬ leitung unsers Kompendiums, oder vielmehr, daß man erst lernt, was Moral ist, und daß man sich die großen Schwierigkeiten zu Gemuͤth zieht, die fuͤr einen Moralkompendienschreiber nach Erschei¬ nung der Schleiermacherschen Kritik aller Mo ¬ ral auf diesem Gebiet erwachsen sind. Mit der Gegenwart, mit dem Leben hat die Moral als Moral nichts zu thun, denn die Moral ist eine akademische Wissenschaft und die Akademie ist gar kein Leben, sondern eine bloße Studienanstalt, de¬ ren Wirkungskreis sich voͤllig innerhalb der vier Waͤnde unserer Auditorien abschließt. Sehen Sie, man weiß doch, woran man sich zu halten hat, wenn man solche Stimmen hoͤrt. Man kann ihnen gleich nur erwiedern, so huͤtet euch, daß die Fenster eurer Auditorien nicht offen stehen, denn der Luftzug aus der wirklichen Welt stroͤmt herein und erinnert die junge Brust an ihre Hoffnungen, an ihren Zusammenhang mit dem Leben, an Alles, was draußen liebt und haßt, kaͤmpft und strebt, siegt und unterliegt, an die Zeit, an die Gegenwart. Es waͤre leicht zu zeigen, daß sich diese Her¬ ren versuͤndigten an der Moral wie an der Zeit, allein diese selbst hat dafuͤr gesorgt, daß Jene 11 ** Suͤnde nicht groß wird, und daß ihre eunuchische Tendenz sich selbst vernichtet. Eine maͤnnlichere und edlere Moral wird sich herbilden aus dem Schooße der Zeit, eine Moral, die dem neuen Zeitalter so innig angehoͤren wird, wie die christkatholische dem Mittelalter. Jene hab' ich im Sinn, wenn ich behaupte, die echte Moral muͤsse mitten in das Gebiet der Aesthetik verpflanzt werden. Wohin sich die heutige akade¬ mische stellt und wo sie am Ende bbleibt , kann uns gleichguͤltig sein. Mitten in der Aesthetik wird die Moral ihren Platz haben, wenn die Zeit erlaubt, die eine wie die andere in ihren lebendig geschichtlichen Zuͤgen aufzustellen; denn aus einem Grundgefuͤhl muͤssen beide entsprießen, ein Geist muß sie beide beseelen, eine That muß sie beide vereinigen. Es gibt vielerlei schoͤne Kuͤnste — die Kunst, sein eignes Leben zu gestalten und ihm eine wuͤrdige, zeitentsprechende Form zu geben, die Moral wird eine derselben und zwar die schoͤnste und edelste von allen. Man werfe mir nicht ent¬ gegen, daß der Meister der Lebekunst, der Bild¬ ner seiner eigenen Persoͤnlichkeit schon deswegen himmelweit vom Bildner einer Statue, vom Ver¬ fertiger eines Gemaͤldes verschieden sei, daß Jenem eine moralische Gottheit, ein Gewissen, das ihn lohne und strafe, im Herzen throne, waͤhrend die¬ ser ohne moralisches Gewissen zu Werke gehe: dann kennt ihr den Genius des Kuͤnstlers schlecht, wenn ihr glaubt, er arbeite gewissenlos, er fuͤhle nicht den warmen, lohnenden Kuß der Goͤttin, wenn ihm ein Meißelschlag, ein Pinselzug unter den Haͤnden gelungen, oder nicht den kalten, schneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch Leichtsinn, Unvorsichtigkeit das ganze Werk oder ein Theil desselben mißlungen ist, hat nicht jedes Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinste, sein Gewissen und die goͤttliche Kunst sollte keins ha¬ ben, sie, die nur eine so schmale, zarte Linie hat, worauf das Gesetz der Schoͤnheit ihr erlaubt, den Fuß zu setzen, sie sollte mit ihrer Gewissenhaftig¬ keit zuruͤckstehen koͤnnen, vor irgend einer andern und nun gar vor jener plumpen und weiten der gemeinen Moral, wie sie alltaͤglich im Leben aus¬ geuͤbt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom Gewissen des Dichters, des Musikers, habt ihr keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des Letztern, wenn seinem Instrument ein falscher Ton entschluͤpft, wenn der Violinspieler nur eine Linie breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider, ich sage das zu unserer Schande, leider ist im Gegentheil die Kunst gewissenhafter, als die Mo¬ ral, der Kuͤnstler gewissenhafter als der Mensch. Ach, waͤhrend in unsern Konzertsaͤlen himmlische Melodien die Luft erfuͤllen und das Reich der Toͤne in der durchgreifendsten Harmonie sich un¬ sern Ohren aufthut, schreien die stummen Disso¬ nanzen unserer Brust zum Himmel an, und, koͤnnten sie laut werden, sie wuͤrden die Musik der Engel uͤbertoͤnen und die schrillendsten Mi߬ laute am Throne der Harmonie selbst laut werden lassen. Ja, die jaͤmmerlichste Katzenmusik waͤre eine solche moralische, welche wir in guter Gesell¬ schaft auffuͤhren wuͤrden, falls durch Zauberei un¬ sere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Floͤ¬ tentoͤne wuͤrden. Und woher das? Weil unsere Moral kein so seines Gewissen hat, als unsere Musik, weil wir die Gewissenlosigkeit haben, die schaͤndlichen Disharmonien der Gesellschaft, des Staatslebens, unsers eigenen, ruhig und mit ge¬ duldig langen Ohren zu ertragen. Auch den Einwurf stelle man mir nicht ent¬ gegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunst hingegen genieße. Beide, wenn sie echt sind, thei¬ len Genuß und Entsagung und beide beruhen in Ewigkeit auf dem Grundsatz: nichts Großes kann der Mensch vollbringen, nichts Großes der Kuͤnst¬ ler gestalten, ohne seine Kraͤfte zu konzentriren, d. h. ohne Selbstentsagung, ohne Aufopferung, ohne Ausscheidung des Unwesentlichen, Stoͤrenden und Feindlichen. Und hier tritt nun derselbe Fall ein, wie bei dem vorigen Einwurf; man muß ihn leider grade auf den Kopf stellen und behaupten, daß die bisherige Moral, bei aller Rigorositaͤt ih¬ rer Prinzipien in der Anwendung eben die flaue und laue ist und nicht im Stande, einen kern¬ haften Menschen zu bilden und ihn zu zwingen, um eines Hoͤchsten willen den Genuß, den Besitz und die Guͤter der Welt fahren zu lassen; dage¬ gen die Kunst an Hunderten von Kuͤnstlern unse¬ rer Zeit das Beispiel gibt, zu welch anhaltendem Streben, zu wie viel durchwachten Naͤchten, zu welcher Menge und Groͤße der Opfer, Entsagun¬ gen und Entbehrungen sie ihre erwaͤhlten Lieb¬ linge anspornt. Und man lese das Leben der gro¬ ßen Maler und Dichter der Vergangenheit, und man lese, ob einer von ihnen groß geworden ist ohne den heiligen Entschluß, seinem Talent zu le¬ ben und zu sterben, und der Kunst alle Opfer zu bringen, welche mit ihrer großartigen, leidenschaft¬ lichen Ausuͤbung verbunden sind. Freilich jene Opfer wurden entschaͤdigt und wohl uͤberreichlich aufgewogen durch den freudigen Genuß und die Seligkeit, die sie uͤberstroͤmte. Nicht der Entsa¬ gung wegen entsagten sie, nein, des Genusses wegen, sie brannten im Feuer der Begeisterung, das alles Unreine verzehrt und selbst den Schmerz in Rauch und Asche aufloͤset. Armselige Moralisten, die auftreten und den Leichtsinn der Kunst anklagen, der in unserer Zeit immer mehr einreiße und um sich greife. Tretet beschaͤmt zuruͤck und schweigt; denn wo noch in der Gegenwart der schoͤnere Funke der Natur, der Wahrheit und der Freiheit hervorbricht, da sieht man ihn uͤberall eher im Gesang und Gedicht, als im Leben, das unter der schalen, gedankenlosen und leichtfertigen Oberflaͤche nur erst spaͤrliche Lich¬ ter durchzucken laͤßt. Nicht die Kunst ist es, die das Leben, das Leben ist es, das die Kunst ver¬ dirbt und zu allen Zeiten, zu den schlechtesten un¬ ter Nero, ist diese noch immer besser und heiliger gewesen, als jenes. Nur Wenige sind zu Kuͤnstlern geboren: Alle um Selbstkuͤnstler, Bildner ihrer eignen Persoͤn¬ lichkeit zu sein; dieses eben, die Allgemeinheit und Unerlaͤßlichkeit der Forderung ist es, was die Le¬ benskunst, die Moral, von den uͤbrigen Kuͤnsten unterscheidet, die man auch in dieser Beziehung frei nennen kann, indem es auf Talent und Lust ankommt, sich mit ihnen zu befassen, waͤhrend Jedem die Lust angemuthet, das Talent zugespro¬ chen werden muß, seine eigne moralische Bildung zu unternehmen. So sind beide nur in ihrem Umfang, aber nicht in ihrem Ursprung und in ihrer aͤsthetischen Geltung unterschieden. Beide theilen auch das¬ selbe Ziel, Organisirung der aͤsthetischen Elemente zu einem gebildeten Ganzen, das bei der groͤßten Mannigfaltigkeit seiner Theile von einer Grund¬ idee durchdrungen und zur Einheit verknuͤpft wird. Nicht die Art und Menge dieser Theile, nicht die Art und Beschaffenheit der Grundidee ist das, was dem Ganzen Werth und Wuͤrde gibt, son¬ dern einerseits die Staͤrke und Maͤchtigkeit des zu Grunde liegenden Lebens, andererseits die mehr oder weniger durchgefuͤhrte Einigung und Durch¬ dringung der zum Ganzen gehoͤrigen Theile. So bei Menschen, so bei Kunstwerken, so bei Einzel¬ nen, so bei ganzen Zeitaltern. Nicht tief genug kann man sich diese Wahrheit einpraͤgen, nicht lebhaft genug kann man es fuͤhlen und ausrufen: der Mensch ist nichts werth, der Kuͤnstler ist nichts werth, der nicht Drang und Kraft und aufsprin¬ gende Fibern im Herz und Hirn hat, Alles, was er bildet, und waͤr' es die vollkommenste Idee im feinsten Material, ist nichts werth vor Gott und Menschen. Solche Kraft ist aber ein Erbtheil der Ge¬ burt und der einzige Adel, der die Probe der Zeit besteht. Sie kann nicht, wo sie fehlt, ersetzt, kann aber, wo sie ist, geschwaͤcht, ja vertilgt wer¬ den. Welchem Geschlecht hat die Natur sie ganz versagt, welchem hat sie den Brunnen ihres Le¬ benswassers ganz verschlossen. Was waͤre die Ge¬ schichte, welche armselige Rolle haͤtte selbst das Christenthum auf der Weltbuͤhne gespielt, ohne diese aͤlteste und ewige Offenbarung und Ergießung des Lebensgeistes, welche Gabe des Himmels kaͤme einer schwindsuͤchtigen und ohnmaͤchtigen Mensch¬ heit zu gute, welche Engelszunge kann ein mat¬ tes, erstorbenes Herz in Begeistrung setzen. In jener geistig-leiblichen Urkraft ruht das Gute und Schoͤne wie im befruchtenden Schooß, ohne sie sind beide welk und unfreundlich und verdienen den Sonnenschein des Himmels nicht. Auf dieser Kraft beruht unsere Wiedergebaͤ¬ rung — wer sie in sich fuͤhlt, der wehre dem Raube, womit die Zeit sie bedroht. Dreizehnte Vorlesung. W ir haben die Moral als die Kunst eines Je¬ den, seinen Charakter zu bilden und sein Leben zu gestalten, dem Kreis der schoͤnen Kuͤnste vindizirt, indem wir die irrigen Ansichten vom Leichtsinn und der Gewissenlosigkeit der Kunst als dem Ernst und Gewissen der Moral entgegengesetzt in die ge¬ hoͤrige Beleuchtung stellten. In der That, Jeder¬ mann ist Kuͤnstler und Kunstwerk zugleich, beob¬ achten Sie nur die moralischen Aeußerungen der Menschen, mit denen Sie umgehen, mit kuͤnstle¬ rischem Auge, so werden Sie etwas von dem Eindruck empfinden, den ein Gedicht, eine Ma¬ lerei, ein Bildwerk auf Sie zu machen pflegt. Hier sehen Sie einen Menschen, der durch und durch Charakter ist, stark im Wollen, wenn auch Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 12 beschraͤnkt und einseitig, mit starken, kuͤhnen, aber wenigen Strichen gezeichnet; dort einen Menschen, der bei vielseitiger, formeller Ausbildung nur einen schwachen Nerv, zu wollen und zu handeln, ver¬ raͤth und waͤhrend der Erstere als die besonderste Individualitaͤt dasteht, von allen Seiten schroff, gebieterisch und unzugaͤnglich, dieser glatt, gefaͤllig, lenkbar und sich allen Umstaͤnden und Charakteren anschmiegend. Sie werden auch nicht lange un¬ ter Ihrer Bekanntschaft zu suchen haben, um sich einen Dritten zur Anschauung zu bringen, der von der Natur in punktirter Manier ausgearbeitet ist und allen seinen Geschaͤften, Handlungen und Re¬ den den Charakter aͤngstlicher Ausfuͤhrlichkeit und Genauigkeit verleiht, so wie einen Vierten, den die Natur nur als fluͤchtige Skizze hingeworfen hat und der daher mehr nach Einfaͤllen und Lau¬ nen die Dinge angreift, als sie auszufuͤhren und zu vollenden strebt. Und so mag sich ein Jeder unter seinen Freunden und Bekannten eine Gal¬ lerie lebendiger Portraits sammeln, die einem Bil¬ dersaal der Kunst aͤhnlich, im verschiedensten Stil gearbeitet sind. Doch — glaube ich, straͤubt sich noch immer bei Ihnen, und das mit Recht, et¬ was gegen diese Ansicht, welche die Moral in den Kreis der Kunst und des Aesthetischen zieht. — Spreche ich es richtig aus, wenn ich Sie so ver¬ stehe: allerdings muß zugegeben werden, daß das, was man gemeiniglich unter dem Namen schoͤne Kunst begreift, ihr besonderes Gewissen hat und auch nicht ohne Opfer von Seiten des Kuͤnstlers zu Stande kommt; allein damit ist es noch nicht gethan und die Moral von Kunst noch himmel¬ weit unterschieden, denn das Gewissen der Moral setzt unbedingt die Moͤglichkeit voraus, seinen An¬ forderungen Genuͤge zu leisten, da die Moral fuͤr Jedermann ist und alle ihre Gebote oder Anforde¬ rungen oder leise Winke, sowohl absolut zu erfuͤl¬ lende, als, vermoͤge der menschlichen Freiheit, auch absolut erfuͤllbare sind. Es gibt nur eine Moral und nur eine Art, wie der Mensch sie ausuͤbt, dagegen laͤßt die Kunst einen weiten Spielraum fuͤr verschiedene Bearbeitungen derselben und man spricht daher von mehreren Kunstschulen, von ita¬ lienischen, altdeutschen, hollaͤndischen Malerschulen, allein bisher ist es noch Niemand eingefallen, von einer besondern italienischen, deutschen oder fran¬ zoͤsischen Moral zu sprechen. Darauf antworte ich denn Folgendes: wenn wir uns recht verstehen und einmal abstrahiren von der absolut thuenden Kathedermoral, welche der deutsche Student in sein Heft niederschreibt und es dabei bewenden laͤßt, falls er nicht rationalistischer Prediger, oder auch wieder Professor wird; wenn wir also statt 12 * gemachter und papierner Moral die Moral des Lebens, die Moral der Geschichte unserer Betrach¬ tung wuͤrdigen, so muß es moͤglich sein, uns uͤber den beregten Punkt zu verstaͤndigen. Wir denken doch, daß es eine solche Moral im Leben und in der Geschichte gibt und daß die Moral nicht blos in den Lehrbuͤchern und auf dem Papier stehe; wir haben doch den Glauben, ich meine den leben¬ digen, daß das Goͤttliche in der Welt wirklich zur Erscheinung gekommen, daß Gott sich in der Ge¬ schichte offenbart hat, wie in der Natur, welche gleichsam nur die Vorhalle seines Offenbarungs¬ tempels ist. Es waͤre ja gottlos, daran zu zwei¬ feln, daß Gottes Eigenschaften sich irgendwo un¬ bezeugt gelassen, unverstaͤndig, ja unsinnig z. B. zu sagen, der gerechte Gott faͤnde sich nicht in der Natur und in dem, was nach christlicher Termi¬ nologie natuͤrlicher Mensch heißt, und wir muͤßten es, in Ermanglung reeller Offenbarungszeugnisse, Gott auf sein Wort blos glauben, daß er ge¬ recht sei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns, in der Natur, in der Geschichte ausgepraͤgt zu finden. Also, betrachten wir die Moral der Ge¬ schichte, sehen wir, wie die goͤttlichen Ideen sich in diesem, in jenem Volke, zu dieser und zu jener Zeit verkoͤrperten, in der Brust der Menschenkin¬ der lebten und sich zu Thaten entfalteten, so sehen wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben dieser Ideen, der Guͤte, der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewissen eigenthuͤmlichen Beschraͤnkung, so und so gefaͤrbt und ausgepraͤgt, seinen Bestand habe, was grade das Charakteristische der Zeit und des Volkes aus¬ macht und was wir die jedesmalige Weltanschau¬ ung genannt haben. Nun waͤre es ja ein Aber¬ witz, das sittliche Leben der Indier, nach dem Sittengesetz der Griechen, dieses nach der evange¬ lischen Moral des Testaments, Alle nach dem Mo¬ ralkompendium eines deutschen Professors zu beur¬ theilen und zu richten — ein Aberwitz freilich, den man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬ schichte mit all ihrer Groͤße, Erhabenheit und goͤtt¬ lichen Mannigfaltigkeit in dem Muͤhlwerk einer be¬ schraͤnkten Ansicht zerstampft und des Herrn Geist und Werke so wenig begreift, wie ein Maulwurf den Straßburger Muͤnster oder ein bigotter Heng¬ stenberg und Tholuck die griechische Iliade und den Jupiter des Phidias. Bedenken wir also den Satz, daß die Moral der Voͤlker nicht minder ein geschichtliches Produkt sei, als die Kunst und die Poesie der Voͤlker, und daher auch nicht minder verschieden und wechselnd, als diese, so muͤssen wir die Behauptung, es gaͤbe nur eine Moral, wenn sie Sinn, Verstand und Wahrheit haben soll, dahin fassen, daß wir bekennen, die goͤttli¬ chen Ideen, die Begriffe der Moral sind elemen¬ tarisch durch die ganze Welt zerstreut, und alle Menschen, wenn sie auf Moralitaͤt Anspruch ma¬ chen wollen, muͤssen den elementarischen Gott in ihrem Busen tragen, muͤssen die Keime der Liebe, der Gerechtigkeit u. s. w. sich eingepflanzt fuͤhlen; obwohl dies zum moralischen Leben keineswegs hinreicht und das Goͤttliche in der Geschichte nicht elementarisch und abstrakt sich aufweiset, sondern als gebildet uns zu den verschiedenartigsten Cha¬ rakteren verarbeitet, zur Erscheinung kommt. Der¬ selbe Fall ist es mit der Kunst. Es kann eben so wenig eine abstrakte Kunst geben, die dem ganzen menschlichen Geschlecht angehoͤrte, als eine Mo¬ ral; dagegen findet sich das Elementarische der Kunst, die aͤsthetischen Ideen in den Kunstwerken aller Zeiten und Voͤlker wieder, und nur der in¬ dividuelle Komplex derselben, der organische Zu¬ sammenhang und Alles, was zur konkreten Leben¬ digkeit gehoͤrt, macht das Unterschiedliche und Ei¬ genthuͤmliche in der Kunst der Voͤlker aus. So also unterscheiden wir zunaͤchst in der Einen Mo¬ ral und Kunst die besondere Weltanschauung, welche im Ganzen und Großen ihren Zeitcharakter bildet. Allein hierbei bleiben wir noch nicht ste¬ hen. Die eine Moral und Kunst der besondern Weltanschauung spaltet sich nun wieder tausend¬ fach in ihrem Kreise, nach dem Naturell der Voͤlker, der Individuen, welche sich mit ihrer Aus¬ uͤbung beschaͤftigen. Hier verschmilzt sich der Volks¬ charakter mit dem Charakter des Einzelnen zu einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichste und Groͤßte bleibt immer ein Kind seiner Zeit, ein Sohn seines Volkes und als solcher steht er zwischen ihm und der Menschheit und empfaͤngt die Aufgabe, seine Individualitaͤt geltend zu ma¬ chen, ohne weder dem rein Menschlichen, noch dem Volksthuͤmlichen den gerechten und nothwen¬ digen Tribut zu versagen. Welche unendliche Mo¬ difikationen erleiden nun nicht Moral und Kunst durch das Gesetz des Lebens, und welche Anwen¬ dung gestatten jene abstrakten Moralien und Kunst¬ lehren dem Menschen und Kuͤnstler, der nach in¬ dividueller tuͤchtiger Bildung strebt und Andere nur in so fern und in dem Maaß achtet, als sie im selbigen Streben begriffen sind. Haben nicht selbst die verschiedenen Lebensalter, ganz allgemein be¬ trachtet, ihre besondere Moral und wird man vom Juͤngling die Ruhe, Umsicht und Weisheit des Greises, vom Greise die Tapferkeit des Juͤnglings, vom Kinde die Bestaͤndigkeit des Mannes verlan¬ gen? Was will man also am Ende sagen mit der einen, absoluten Moral, die weder kalt noch warm macht und mit der man, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt. Ja es gibt eine Moral der verschie¬ denen Alter, der verschiedenen Staͤnde, Talente, Stellungen, Charaktere, es gibt eine Moral der verschiedenen Zeitalter und Weltanschauungen, eben so, wie es in den genannten Ruͤcksichten eine ver¬ schiedene Theorie der Kunst und Poesie gibt. Daß man nicht von spanischer, franzoͤsischer, deutscher Moral in ihren Schulen spricht , ist kein Grund, um die sprechende Thatsache zu laͤugnen. Ein Gemaͤlde vom spanischen Maler Morillo, ein Ge¬ maͤlde vom franzoͤsischen Maler David, ein ande¬ res von unserm Albrecht Duͤrer, jedes derselben kann nicht entschiedener die charakteristischen Zuͤge der Nationalitaͤt an sich tragen, als die sittliche Persoͤnlichkeit seines Malers selbst, angeschaut vom feinen und geuͤbten Auge des Menschenkenners und nicht vom todten des Gelehrten, das sich eben so wenig auf die Individualitaͤt der Kunst, als auf die der Moral versteht. Diese Andeutungen stehen leicht weiter auszufuͤh¬ ren und mit andern zu befestigen, allein, ich hoffe, sie werden genuͤgen, um die Ansicht vom Zusammenhange des Aesthetischen und Moralischen und von der Moral als einer Kunst unter den Kuͤnsten zu rechtfertigen und etwanige Gewissensskrupel, die sich dieserhalb regen moͤchten, zu beseitigen. Gingen wir nun von der Ansicht aus, daß eine allgemeine Kunstlehre eben ein solches Ding und Unding sei, als eine allgemeine Moral, so wollten wir doch damit keineswegs den allgemei¬ nen Theil einer Moral und Kunstlehre negiren, vielmehr haͤtte ich schon in fruͤhern Stunden bei der ideellen Konstruktion einer kuͤnftigen Aesthetik, dieses allgemeinen Theils, als eines solchen Er¬ waͤhnung thun sollen, der die Aufzaͤhlung der aͤsthe¬ tischen Elemente, die aller Moral und Kunst zu Grunde liegen, mit moͤglichst groͤßter Vollstaͤndig¬ keit enthalten muͤßte. Dagegen verlangt jede ein¬ zelne Kunstlehre, gehoͤre sie der Poesie oder Prosa, der Malerei oder Bildhauerei an, daß sie vom besondern Standpunkt der Zeit und des Volkes aufgefaßt und dargestellt werde. Ein Anderes hieße, in den Tag hineinzureden und einen bun¬ ten Kolibri in einem Netz mit meilenweiten Ma¬ schen fangen zu wollen. Es bleibt mir nun immer noch uͤbrig, ehe ich fuͤr diese Vorlesungen den angekuͤndigten Weg ein¬ schlage, im Allgemeinen der Art und Weise zu gedenken, wie nach Goethe's Ausdruck das gluͤck¬ lichste Ergebniß einer kunstreichen Behandlung des Stoffes, das Schoͤne zur Wirksamkeit gelangt. Ich habe der verfehlten Definition des Schoͤnen gedacht und bin nicht gesonnen, einen gleich un¬ gluͤcklichen Versuch zu machen, in drei, vier aͤrm¬ liche Worte den mysterioͤsen Grund und Reich¬ thum der Schoͤnheit einzufassen. Allein ich hoffe, sowohl mich zu verstehen, als verstanden zu wer¬ den, wenn ich mich daruͤber so ausdruͤcke: Die Schoͤnheit, oder wie man das nennen mag, was den Menschen als das Gelungenste in Natur und Kunst, kraͤftig, reizend und wohlgefaͤllig in die Augen springt, ist zunaͤchst nichts Ideelles und Abstraktes, sondern allemal etwas Konkretes und Besonderes, das an einem bestimmten Stoffe, sei's That, sei's Marmor, sei's Fleisch und Blut zur Erscheinung kommt. Eben so individuell, wie die Schoͤnheit selber, muß das Auge sein, das sich ihrer erfreut und so sehen wir es im Wesen der Schoͤnheit selbst begruͤndet, daß sie nicht Allen schoͤn ist und daß sie in verschiedenen Anschauungs¬ kreisen verschiedene Gefuͤhle erregt, verschiedene Urtheile hervorruft, wenn man auch Alles das vom Geschmack der Voͤlker und des Einzelnen ab¬ rechnet, was seiner Anschauungsweise nur zufaͤllig und außerwesentlich ist, wie dem Chinesen der Geschmack fuͤr winzig kleine Fuͤße. So erscheint uns also zunaͤchst die Schoͤnheit vom historischen Standpunkte. Allein, man ist nur zu geneigt, diesen Standpunkt zu verlassen, und sich auf einen hoͤhern stellend, zu behaupten, daß die echte Schoͤn¬ heit nur in der Harmonie zwischen unserm Auge und dem Objekte beruhe und daß andere Augen aus Ungeschmack Schoͤnheiten bemerken, welche keine waͤren. Dies erregt einen Streit, bei dem Jeder sich auf sein Gefuͤhl zu berufen pflegt, wie auf den letzten Schiedsrichter, und das mit Recht, da im Aesthetischen keine andere Appellation zu¬ laͤssig ist, als auf Gefuͤhl und Gewissen. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß das subjektive Recht auch ein objektives sei; vielmehr findet sich der Nachdenkende veranlaßt, eine groͤßere und ge¬ ringere Kapazitaͤt des Schoͤnen, ein Plus und Minus in der Bildung des Schoͤnheitssinns unter den Menschen zu statuiren. Haben wir doch selbst, von diesem Standpunkte aus, uͤber die in¬ dische Kunst den Stab gebrochen, obgleich wir sie als historische Erscheinung, in ihrer Guͤltigkeit anzuerkennen gezwungen waren. Dagegen sahen wir in der griechischen Kunst und Sitte eine Art der Schoͤnheit, welche wir unserm Geschmack bei weitem angemessener fanden, was kein Wunder, da wir wirklich das Bessere unseres Geschmacks eben den Griechen verdanken, das Bessere, Hoͤhere und Edlere aber, das wir an Geschmack und Gesin¬ nung vor den Griechen voraufhaben koͤnnten, nur erst elementarisch im Schooß der keimenden Zeit ruht und weder zur Darstellung noch zur Anschau¬ ung bisher gelangt ist. Genug also, wir leben der Ueberzeugung, daß sowohl das Schaffen als das Genießen und Beurtheilen des Schoͤnen seine Geschichte hat, seine Bildungsstufen durchlaͤuft und in dieser Ueberzeugung begruͤßen wir das Schoͤne, das wir empfinden, sowohl als wirklich und leben¬ dig, als auch als die vollkommenste Wirklichkeit, deren wir uns bewußt werden koͤnnen, ohne damit die moͤglichen Erweiterungen und Veredlungen des Schoͤnheitssinns fuͤr die Zukunft abzuweisen. Fra¬ gen wir nun, wie das Schoͤne uns wirklich wird, so geben wir, in etwas belehrt, die obige Ant¬ wort, nur im Besondern und Individuellen und damit sprechen wir aus, daß das Schoͤne jedesmal, um schoͤn zu sein, Charakter haben muß. Lange hat man sich in Deutschland daruͤber gestrit¬ ten, was der hoͤchste Grundsatz der Alten in Sa¬ chen der Kunst gewesen. Winckelmann sagte: die Schoͤnheit, Lessing die klassische Ruhe, Fernow das Idealische, Hirt das Charakteristische, bis Goethe nach langem Forschen und sinnigem Stu¬ dium alle Parteien mit der Aeußerung zur Ruhe brachte: „der hoͤchste Grundsatz der Alten war das Bedeutende, das hoͤchste Resultat aber einer gluͤck¬ lichen Behandlung das Schoͤne,“ welche Worte uns als Text dienen sollen, um in den naͤchsten Vorlesungen uns mit wohlerwogenen Schlußwor¬ ten uͤber die Natur des Schoͤnen, uͤber das Hoͤchste der Kunst und uͤber das Verhaͤltniß der Kuͤnste unter einander zu verstaͤndigen. Vierzehnte Vorlesung. „ D er hoͤchste Grundsatz der Alten war das Be¬ deutende, das hoͤchste Resultat aber einer gluͤckli¬ chen Behandlung das Schoͤne“ diese Worte Goe¬ the's moͤgen uns heute zum Text dienen, um un¬ sere Betrachtungen uͤber Natur und Kunst, und uͤber das Schoͤne als die Bluͤthe von Natur und Kunst daran fortzuspinnen. Eben so richtig haͤtte Goethe sagen koͤnnen: der hoͤchste Grundsatz der Natur ist das Bedeu¬ tende und ihr gluͤcklichstes Resultat das Schoͤne; doch leidet dieser Satz, von der Natur verstanden, eine bedeutende Einschraͤnkung, indem wir tagtaͤg¬ lich sehen, daß in der Natur das Prinzip der Erhaltung, der bloßen Lebensrettung, wo es Noth thut, mit ruͤcksichtsloser Gewalt sich geltend macht, und in diesem Fall sowohl dem Charakter als der Schoͤnheit des individuellen Naturprodukts Abbruch thut. Verstaͤndigen wir uns zunaͤchst uͤber diesen so wichtigen Akt, der die Produkte der Natur von den Produkten der Kunst charakteristisch unter¬ scheidet. Das Bedeutende in Natur und Kunst ist eben die individuelle Bestimmtheit der Natur- und Kunstprodukte, ihr Charakter, ihr Begriff. Je entschiedener sich dieser Begriff ausgespro¬ chen bei einer Pflanze, einem Thier, einem Men¬ schen, desto vollkommener ist das Produkt. So stellen wir den Schmetterling hoͤher, als die Raupe, denn, obwohl schon an der Raupe und deren Ver¬ puppung die Ringe, Fluͤgel, Einschnitte und an¬ dere Gliederungen des kuͤnftigen Schmetterlings wirklich vorhanden sind, so sind sie es doch nur der Anlage und Tendenz nach, ihre Entfaltung bleibt der hoͤhern Lebensstufe des Schmetterlings vorbehalten. Eben so uͤbertrifft die Palme an Charakter und Schoͤnheit, nicht nur an Groͤße und Dicke, den Grashalm, obgleich dieser von den Naturforschern zu den Palmenarten gezaͤhlt wird und eine noch unentwickelte Palme im Kleinen vorstellt. Durch dasselbe Prinzip berechtigt spre¬ chen wir sowohl im Pflanzenreich als im Thier¬ reich von hoͤhern und niedern Bildungen, je nach¬ dem wir Pflanzen und Thiere vollkommner oder unvollkommner gegliedert und durchgebildet sehen und so stellen wir z. B. im Animalischen die Ge¬ stalt des Menschen, als die individuellste, kunst¬ reichste, verwickeltste Organisation, als das Mei¬ sterwerk der Schoͤpfung, dem Mollusk und dem ganzen Geschlecht der Wuͤrmer, dem unentwickel¬ ten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenuͤber, den ersten Anfang der schoͤnsten Vollendung des animalischen Lebens auf der Erde. Ich sage, als die schoͤnste Vollendung. Denn im selben Grade, wie wir den Charakter einer Pflanze, eines Thieres sich deutlicher entwickeln sehen, im selbigen schreiben wir ihm auch eine groͤßere Schoͤnheit zu; und umgekehrt, je schoͤner wir die Bildungen der Natur finden, desto voll¬ kommner wird sich bei naͤherer Untersuchung ihre Charakteristik ausweisen. Wem z. B. gefaͤllt nicht das bloße gruͤne Blatt eines Rosenstrauchs, einer Weinrebe vor hundert andern Blaͤttern, wenn ihm auch die Ursache dieses Gefallens nicht klar ist, er wird aber bei genauerer Betrachtung auch diese entdecken, und die feineren Fasern, die zarteren Verzweigungen, den regelmaͤßigeren Schnitt, die gelungene Auszackung des Blattes dafuͤr halten. Wem gefaͤllt nicht die Gestalt eines Pferdes bes¬ ser, als die Gestalt einer Kuh und wer sieht nicht gleich, daß er das Pferd darum schoͤner findet, weil dasselbe schoͤn im Aeußern, schaͤrfere Sinne, schlankere Glieder aufweist und daher eine gebil¬ detere Organisation des Innern verraͤth, also einer entschiedeneren Thiercharakteristik angehoͤrt. Mit gleichem Recht halten wir daher die menschliche Gestalt, nicht allein fuͤr die entschiedenste, an Or¬ ganen feinste, an Funktionen reichste, an Bewe¬ gung freiste, sondern auch, und aus demselben Grunde fuͤr die schoͤnste, fuͤr die idealischste Ge¬ staltung der Animalisation. Wir sehen also, daß die Natur, indem sie die Leiter ihrer Bildungen hinaufsteigt, dabei den Grundsatz vor Augen hat, Schritt vor Schritt an Bedeutung, wie an Schoͤnheit zu gewinnen, bis sie bei der bedeutsamsten Gestalt, der menschlichen, anlangt und mit dieser, gleichsam als Resultat ihres Strebens, die hoͤchste Schoͤnheit vereinigt. In so fern finden wir die Natur auf dem¬ selben Wege mit der Kunst und die Kunstgeschichte gewissermaßen analog mit der Geschichte der Na¬ turreiche, indem die Anfaͤnge beider sich erst all¬ maͤhlig aus unbestimmter Charakterlosigkeit, aus roher Masse, schwachen Andeutungen der Glieder aufarbeiteten zu individuelleren Formen und Ge¬ stalten, bis das Prinzip der Schoͤnheit sich merk¬ lich machte und die hoͤchste Charakteristik mit der Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 13 hoͤchsten Anmuth zusammenfiel. Man kann sogar darauf anspielen, daß die aͤlteste Malerei und Bildhauerei von Thiersymbolen ausging und all¬ maͤhlig erst sich zur Darstellung des Menschlichen steigerte, dieses selbst aber Jahrhunderte lang noch sehr unvollkommen blieb, steife, eckige Umrisse, ge¬ schlossene Arme und Beine, kaum bemerklichen Unterschied der Geschlechter beibehielt, bis nach der Sage Daͤdalus die Bildsaͤulen wandeln ließ, das heißt getrennte Beine, fortschreitende Fuͤße, freie Arme, offene Augen, entschiedene Geschlechts¬ charakter am Marmorblocke ausfuͤhrte. So ward auch fuͤr die Kunst das Bedeu ¬ tende immer mehr Grundsatz und da die Zeich¬ nung der festen Theile, der Knochenbau als der Traͤger des Bedeutsamsten an der menschlichen Fi¬ gur anerkannt werden mußte, so gab es in der griechischen, wie in jeder andern nationalen Kunst¬ geschichte, einen Zeitraum, wo die Bildung der festen Theile, des Charakters in seinem starren Typus, in seinen stark ausgedruͤckten Grundzuͤgen, das uͤberwiegende Prinzip war und den sogenann¬ ten Stil ausmachte. Winckelmann bezeichnet die¬ sen zweiten Zeitraum als den großen und ho¬ hen Stil der griechischen Kunst, in dem Phidias, Zeitgenosse des Miltiades und Themistokles, der ausgezeichnetste Meister war. Erst im dritten Zeit¬ raum, offenbarte sich der schoͤne Stil, der mit Beibehaltung des charakteristisch Festen auch das charakteristisch Weiche und Zarte ausdruͤckte, aus welcher Behandlung eben die hohe Schoͤnheit ihrer Meisterwerke, wozu unter andern der Laokoon ge¬ hoͤrt, resultirte; eben so wie die Natur unter allen Schoͤnheiten, die sie bildet, bei der Bildung eines schoͤnen Juͤnglings oder Mannes sich gleichsam ihr aͤußerstes Ziel gesetzt hat, da in einer maͤnnlich schoͤnen Gestalt das Feste und Weiche harmonischer in einander aufgehen, als in der schoͤnsten weibli¬ chen Gestalt. Allein die Meisterin Natur hat andere Schwie¬ rigkeiten zu besiegen, als die Meister der Kunst. Keine Schoͤnheit kann freilich die ihrige uͤbertref¬ fen, wenn und so oft sie sich einer ungestoͤrten Entwicklung erfreut, die kuͤhnste Bildnerei und Malerei wird zu Schande vor ihrer nackten Ein¬ falt. Waͤhrend aber der echte Kuͤnstler bei hin¬ laͤnglich gutem Material alle Zeit im Stande ist, die Verwirklichung des aͤsthetischen Gesetzes charak¬ teristischer Schoͤnheit ungehindert und ausschließlich anzustreben, wird die Kuͤnstlerin Natur nur zu oft in ihrem Streben gehemmt und waͤhrend sie es auf das Hoͤchste anlegte, auf das blos Nothwen¬ dige der Existenz, auf die Rettung des Daseins ihrer Geschoͤpfe, auf Selbsterhaltung reduzirt. Se¬ 13 * hen Sie hier, meine Herren, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Bildungsgange der Na¬ tur und der Kunst. Die Kunst gehoͤrt dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwen¬ digkeit an, die Kunst kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schoͤnste, die Natur aber, beim besten Willen, sieht sich nicht selten genoͤ¬ thigt, durch den Schrei der nackten Existenz in¬ nerlich gezwungen, ihren auf das Schoͤne gerich¬ teten Willen zu brechen und zunaͤchst nur die aͤrm¬ lichen Forderungen des Daseins zu erfuͤllen. Die ganze Organisation ist ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und regellosen Kraͤften des Chemischen, Unorganischen, Chaotischen, das von allen Seiten auf das Orga¬ nische eindringt, tuͤckisch auf jede Bloͤße lauert, welche dasselbe darbietet und dann sogleich den nagenden, zerstoͤrenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man z. B. das ganze Verdauungssystem der Thiere als einen defensiven Akt der organischen Natur betrach¬ ten, die Speisen, die wir zu uns nehmen, und die unser Magen mit so gebieterischer Regelmaͤßig¬ keit verlangt, sind bei weitem weniger zu unserer Ernaͤhrung, als zu unserer Vertheidigung bestimmt, wir werfen die animalischen und vegetabilischen Stoffe dem Zerstoͤrer hin zur chemischen Zersetzung, damit nicht unser eigener Koͤrper ihm zur Zerse¬ tzung und Zerstoͤrung anheimfalle. Hier sehen wir also einen Erhaltungsakt, der einem regelmaͤßigen System des Koͤrpers angehoͤrt, auf dem seine ganze Existenz basirt ist; allein, nun bedenken Sie die tausend moͤglichen, unvorhergesehenen Zufaͤlle, in welchen der geschlossene Organismus durchbro¬ chen und feierlich angegriffen werden kann, das Heer der Stoͤrungen und Krankheiten, welche die Huͤlfsmittel der Natur auf einem Punkt in Anspruch nehmen und sich ihrer harmonischen Ver¬ wendung fuͤr das Ganze widersetzen, und Sie be¬ greifen, daß diese Meisterin selten in voller Kraft, und gleichsam in Ruhe und Muße fortarbeiten und die Idee, die ihr vorschwebt, zur Ausfuͤh¬ rung und Vollendung bringen kann. Licht, Luft, Erde, Wasser, Waͤrme, Kaͤlte u. s. w. bedingen unaufhoͤrlich die ideale Thaͤtigkeit der Natur, und was zu den schoͤnsten Formen berechnet war, kann der Zufall in die aͤrmlichsten und schlechtesten hin¬ abdruͤcken. Funfzehnte Vorlesung. I ch glaube annehmen zu duͤrfen, meine Herren, daß die aufgestellte Ansicht vom Verhaͤltniß der Natur zur Kunst Manchem unter Ihnen Veran¬ lassung gegeben, sein Nachdenken auf diesen wich¬ tigen Gegenstand zu richten, der Ihnen vielleicht unter neuem Gesichtspunkte erschien. Um so mehr darf ich hoffen, Ihre Aufmerksamkeit mir zu be¬ wahren, wenn ich den Faden wieder aufnehme und das Allgemeine noch einer besondern Betrach¬ tung unterwerfe. Natur und Kunst, so ließen wir uns verneh¬ men, theilen dieselbe Aufgabe, organische Einhei¬ ten zu bilden, Begriffe, Charaktere auszupraͤgen und dieselben mit der Bluͤthe der Schoͤnheit an¬ zuhauchen. Fuͤr diejenigen nun, welche gewohnt sind, die Natur als ein rein Materielles, Todtes, Be¬ griffloses zu betrachten, welche daher die Schoͤn¬ heit selber nur in der Ausdehnung und in raͤum¬ lichen Verhaͤltnissen finden, hat eine solche Ansicht wenig Empfehlendes. Sie gehen weder in der Natur noch in der Kunst von der Seele aus und unbekannt bleibt ihnen daher jene gemeinschaftliche Quelle dessen, was ihr Auge an den Produkten der Natur und Kunst in Entzuͤckung setzt. Erkennen wir jene positive geistige Kraft an, welche den zufaͤlligen und willkuͤhrlichen Stoff zur Einheit des Begriffes verbindet und die widerstre¬ benden Atome zwingt, sich um diesen zu versam¬ meln. Eine geistige Symmetrie beherrscht die koͤrperliche, der Blick des Auges, die ausstrahlende Seele wirkt der aͤußere Bau und die Wohl- oder Mißverhaͤltnisse unsers Sehorgans. Kann man daher behaupten, daß es blos koͤrperliche Schwin¬ gungen, Winkel und Linien sind, womit uns das Auge der Schoͤnheit anlaͤchelt, oder ist es nicht vielmehr das geistige Etwas, das sich durch diese Linien und Winkel symbolisch verraͤth? Ich beruͤhre hier einen Punkt, um den sich die deutsche Naturphilosophie wie um ihr Zentrum dreht. Wenn die Natur nicht eben so gut Ver¬ stand und Kunst besaͤße, als wir Menschen, wenn die Natur nicht eben so gut Begriffe enthielte, als das philosophische Hirn, wie sollte der Mensch zum Begriff und Verstaͤndniß der Natur gelangen. Bleibt es doch unumstoͤßlich wahr, daß das Fremde das Fremde nicht begreift, daß nur Gleiches von Gleichem erkannt wird, daß die Seele nichts wis¬ sen koͤnnte von den Dingen, wenn die Dinge nicht seelisch, seelischer Natur, seelischen Ursprungs waͤ¬ ren. Wodurch unterscheidet sich denn die Wirk¬ samkeit der Naturdinge von der Wirksamkeit un¬ seres Geistes? Durch das Bewußtsein, jene Sonne, die auf den niedersten Stufen der Natur sich hin¬ ter dem Horizont verbirgt und nach graduellen Daͤmmerungen leuchtend in der Seele des Men¬ schen hervortritt. Die Natur stellt keine Reflexio¬ nen an. Bei der Rose ist der Begriff zugleich die That, der Entwurf die Ausfuͤhrung. Daher ist auch sinnliche Anschauung Anfang und Ende der Naturforschung. Der Physiolog ergreift mit dem Auge den verkoͤrperten Gedanken der Natur¬ gegenstaͤnde, den Begriff, die Operationen der Na¬ tur in ihren immanenten Urtheilen und Schluͤssen; er huͤtet sich weislich, seine eigenen Begriffe, Ur¬ theile und Schluͤsse der Natur unterzuschieben. So z. B. sieht ein Goethe den generellen Pflan¬ zenbegriff im Blatt der Pflanze, die Pflanze ist ihm Wiederholung des Blattes, das sich periodisch successive entfaltet und schließt, Staͤngel, Knoten, Bluͤthe und Frucht bildet und so an sich selbst die Urtheile und Schluͤsse vornimmt, die der beob¬ achtende Physiolog nur zu wiederholen und gleich¬ sam in menschliche Sprache zu uͤbersetzen hat. Selbst die rohe Materie trachtet ja nach Einheit und Gestaltung, sie nimmt stereometrische Formen an, die dem Reich der Begriffe angehoͤren und etwas Geistiges in der verhaͤrtetsten Materie repraͤ¬ sentiren. „Den Gestirnen,“ sagt Schelling, „ist die erhabenste Zahl und Meßkunst eingeboren, die sie ohne einen Begriff derselben in ihren Bewegungen ausuͤben; deutlicher, obwohl ihnen selbst unfaßlich erscheint die lebendige Erkenntniß in Thieren, welche wir unzaͤhlige Wirkungen hervorbringen sehen, die viel herrlicher sind, als sie selbst; der Vogel, der von Musik berauscht in seelenvollen Toͤnen sich selbst uͤbertrifft, das kleine, kunstbegabte Geschoͤpf, das ohne Uebung und Unterricht leichte Werke der Architektur vollbringt, alle aber geleitet von einem uͤbermaͤchtigen Geist, der schon in einzelnen Bli¬ tzen von Erkenntniß hervorleuchtet.“ Es ist derselbe Geist, der im Menschen als Freiheit erscheint. Schon in den Naturwesen be¬ merken wir die Thaͤtigkeit, welche uͤber die Exi¬ stenz des Thieres hinausgeht, welche nicht blos im Innern Knochen baut und die aͤußere Haut mit Federn und Haaren besetzt, sondern nach Außen sich abloͤst, ein kuͤnstlerisches Residuum zuruͤcklaͤßt, einen Gesang, ein Gespinnst, ein Nest und der¬ gleichen zu Tage foͤrdert. Das ist dieselbe bildende Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte, die sich zum menschlichen Genius verklaͤrt und zu¬ gleich mit daͤmonischer Unwiderstehlichkeit, mit un¬ bewußtem Drang wie mit menschlich bewußter Freiheit Meißel und Pinsel ergreift und eine zweite hoͤhere Schoͤpfung in der Schoͤpfung hervorbringt. Nur auf den hoͤchsten Stufen der Individua¬ litaͤt wirkt die unbewußte Natur seelische Schoͤn¬ heit und Anmuth, der bewußte Mensch steht schon oder sollte schon auf dieser stehen, er findet das Gesetz der Schoͤnheit in sich, außer sich, die Wahl des Schoͤnsten steht seiner Kuͤnstlerhand offen und wenn er sich vergreift, wenn er statt Seelen nur Leiber, statt Edelm Unedles bildet, so faͤllt die Schuld einzig und allein auf sein Haupt, er hat seine Freiheit gemißbraucht, den Beruf der Kunst, sein schoͤnstes Vorrecht vor der blind und nothduͤrftig waltenden Natur, ungehin¬ derte Bildung des Schoͤnsten im Charakter des Individuellen, verkannt. Diese gluͤckliche Lage der Kunst zur Natur sollte man richtig einsehen und fleißig bedenken, will man uͤber den Werth der verschiedenen Kunst¬ leistungen ein richtiges Urtheil faͤllen. Wirkt und schafft der Kuͤnstler blind, so unterscheidet er sich durch nichts von der Natur, als durch die Un¬ vollkommenheit seines Werkes, verglichen mit dem¬ selben Werk der Natur. Will er sich aber mit Bewußtsein der Natur blos unterordnen, so wird es ihm nicht darauf ankommen, welchen Gegen¬ stand er fuͤr die Kunst bearbeitet, er wird mit knechtischer Treue diesen Gegenstand wiedergeben, verdoppeln, Abschreiber der Natur aber kein Kuͤnst¬ ler sein. Kuͤnstler ist er nur dann, wenn er Seelen erfaßt, wenn er seelische Schoͤnheit in ihrer Verkoͤrperung darstellt, wenn er alles Koͤr¬ perliche nur als Symbol des Geistigen betrachtet und solche Symbolik aus seinem Kunstwerk klaͤr¬ lich durchblicken laͤßt. Jenen im Innern der Dinge wirksamen, durch koͤrperliche Sinnbilder zum Auge sprechenden Naturgeist soll er in sich lebendig machen und erst nach lebendiger Ergrei¬ fung desselben zur Nachahmung des Naturwerkes schreiten. Dann hat er etwas Kuͤnstlerisches ge¬ schaffen, das weder Natur noch Ideal ist; denn es ist etwas Hoͤheres als die Natur, etwas Wahr¬ hafteres als Ideal, als eine Grille, die willkuͤhr¬ liche Schoͤnheiten willkuͤhrlich zusammenrafft. Es bedarf naͤmlich wohl keiner besondern Er¬ waͤhnung und Ausfuͤhrung, daß fuͤr die Kunst das Ueberschwaͤngliche, Idealische eben so unzulaͤssig sei, als das Gemeine, Sklavische, Kopirte. Die Forderung zu idealisiren, sagt Schelling sehr treffend, die Manche an den Kuͤnstler machen, scheint aus einer Denkart entsprungen zu sein, nach welcher nicht die Wahrheit, Schoͤnheit, Guͤte, son¬ dern von Allem das Gegentheil das Wirkliche ist. Waͤre das Wirkliche der Wahrheit und Schoͤnheit entgegengesetzt , so muͤßte es der Kuͤnstler nicht idealisiren , sondern vernichten , um an dessen Stelle die Schoͤnheit hinzupflanzen . Sechzehnte Vorlesung. N icht das Wirkliche als wirklich will der Kuͤnst¬ ler nachahmen, sondern dem Wirklichen eine kuͤnst¬ lerische Bedeutung geben. Der Kuͤnstler huͤtet sich wohl, die marmornen Wangen seiner Diane roth zu faͤrben. Er vermeidet selbst den Schein, als habe er mit der Natur wetteifern wollen. Er verachtet den Trug natuͤrlicher Lebendigkeit, jedes Insekt, das auf dem Boden kriecht, wuͤrde ihn beschaͤmen. Er fuͤhlt sich nicht geschmeichelt, wenn sein Gemaltes oder Gemeißeltes des Zuschauers Sinne in die Taͤuschung versetzt, als sei es ein Lebendiges und Leibhaftes. Jene griechischen Anek¬ doten von gemalten Trauben und anpickenden Voͤ¬ geln, von gemalten Pferden und anwiehernden lebendigen sind zweifelsohne reine Erdichtung; je¬ denfalls aber keine Beweise großer Kunst. Wollte man sie dafuͤr ausgeben, so waͤren Wachsfiguren die Meisterwerke der Kunst, sie kom¬ men dem Leben am Naͤchsten, stehen aber eben deswegen vom Leben am Entferntesten ab. Da¬ durch erregen sie dem natuͤrlichen Betrachter den widerlichsten Eindruck. Sie stieren uns an, als wollten sie uns weiß machen, daß sie lebten, aber uns graut vor diesem waͤchsernen Blick, vor die¬ sen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und rothen Wangen und wir verwuͤnschen die Finger¬ fertigkeit des Wachskuͤnstlers, der uns mit den Haaren zur Taͤuschung herbeiziehen will. Dage¬ gen betrachten wir mit Lust und Bewunderung die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige Wesen, Goͤtter, Helden, Frauen vor's Auge fuͤh¬ ren — ihre marmorne Haut scheint uns nicht ge¬ spenstisch, eben so wenig ihr sternloses Auge; ja, wir wuͤrden eher von dieser Empfindung beschlichen werden, wenn ein solcher Stern des Marmorau¬ ges unsern Blicken begegnete. Wir sehen, der Kuͤnstler hat uns kein qui pro quo vormachen wol¬ len, er gab uns das Leben der Kunst ohne Wett¬ eifer mit dem Leben der Natuͤrlichkeit, ohne Falsch¬ muͤnzerei, wie der Wachsbossirer. Lebendig und wahr soll also die Kunst sein wie die Natur, aber die Kunst, wie es ihr selbst, nicht wie es der Natur zukommt. Dieses Gesetz gilt in allen Kreisen der Kunst und man erkennt eben den Pfuscher in der Ma¬ lerei, den Maler, dem die Weihe der Kunst ab¬ geht, saͤhe man ihn auch im Besitz vortrefflicher Kunstgriffe und mechanischer Fertigkeiten, man erkennt ihn hauptsaͤchlich an der falschen Bestre¬ bung naturwahr statt kunstwahr zu sein, mit Fruͤchten, Figuren, Gegenstaͤnden aller Art das Auge des Beschauers gleichsam aufzufordern, sie mit natuͤrlichen in Vergleich zu stellen. In der Malerei faͤllt dies Bestreben um so mehr auf, da sie nicht freie, rings von Luft umgebene Bilder liefert, wie die Bildhauerei, son¬ dern da man ausdruͤcklich ihre Bilder als Bilder ansehen soll. Sie legt ja darum auch weniger Gewicht auf die Materie, als die Plastik, will schon mehr als Seele zur Seele sprechen, dage¬ gen die Bildhauerei, dem Material nach, ganz und gar in der Sinnenwelt ruht und ein Tastba¬ res, Irdisches darstellt. Daher stammen die ver¬ schiedenen Gesetze, die der Bildhauer und der Maler in der Darstellung befolgen. Waͤhrend je¬ ner sich in Acht nimmt, die Zuͤge der Leidenschaft seinen Figuren uͤber ein gewisses Maaß einzupraͤ¬ gen, ja waͤhrend er sich's zum Gesetze macht, das bloße Leiden, den reinen Schmerz im Stein nicht zu verewigen, ist dem Maler keine so aͤngstliche Grenze gesetzt und der hoͤchste Schmerz wie die hoͤchste Lust, Leidenschaft, Leiden, Duldung, That gelingen seinem Pinsel auf's Vollkommenste, falls er anders nicht vergißt, daß auch ihm ein gewisses Maaß der Leidens- und Thataͤußerungen von Noͤ¬ then bleibt. Aus diesem leicht bewaͤhrten Gegensatz der Malerei und der Plastik ergibt sich das Vorherr¬ schen der letzteren im Alterthum, das Vorherrschen der ersteren in der neuern Geschichte. Beide aber, Plastik und Malerei, werden fuͤr ewig in ihren bestimmten Kreisen getrennt operiren; die Plastik darf nicht ins Malerische, die Malerei nicht ins Plastische ausarten. Nicht ohne Zeitbedeutung scheint es zu sein, daß die Plastik der neuesten Zeit an Canova, besonders an Thorwaldsen so große Meister gefunden; es ist ein Sieg der That uͤber die bloße Empfindung, des Griechenthums uͤber das Mittelalter. Noch geistiger als die Malerei zeigte sich die Poesie und grade um so viel geistiger, als ihr Material, die Buchstaben, geistiger sind, als ge¬ riebene Farbenerde. Lessing druͤckte das Verhaͤlt¬ niß der Poesie zur Malerei mit den Worten aus: die Malerei schildert Koͤrper und andeutungsweise durch Koͤrper Bewegungen (Leidenschaften u. s. w.); die Poesie schildert Bewegungen und andeutungs¬ weise durch Bewegungen Koͤrper. Wie dieser Ausspruch nun das ganze Verhaͤltniß durchaus richtig angibt, so ist auch der Schluß daraus von Lessing buͤndig und richtig abgeleitet, daß die Ma¬ lerei (wie die Plastik uͤberhaupt) sich mit dem Si¬ multanen, die Poesie sich mit dem Successiven beschaͤftigen muͤsse. Die Poesie soll es also unter¬ lassen, koͤrperliche Schoͤnheiten zu schildern ; sie kann nur Zug fuͤr Zug verfahren, und waͤhrend sie bei den Fuͤßen anlangt, ist das Bild des Ko¬ pfes schon wieder verwischt. Der Malerei, die alle Schoͤnheiten auf einmal darstellt, soll sie die¬ ses uͤberlassen, die Malerei aber der Poesie die komplizirten Zuͤge einer Handlung, die bewegte Schoͤnheit darzustellen; ihr gehoͤrt das Bewegte, der Plastik das Ruhende. Sehen Sie hier, meine Herren; die Ursache, warum Naturschilderungen, selbst wenn Walter Scott's eminentes Talent sie ausfuͤhrt, je laͤnger und breiter sie hinausgezeichnet sind, desto vergeb¬ licher und unerfreulicher unsere Phantasie abmar¬ tern und keine lebhafte Anschauung hervorzubrin¬ gen im Stande sind. Die englischen Dichter sind Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 14 diesem Fehler sehr unterworfen. Walter Scott wird nicht selten aus einem Dichter Maler, Archi¬ tekt, Kleiderseller. Der echte Dichter schildert, wie Lessing sich ausdruͤckt, Bewegung, Handlung und nur andeutungsweise durch diese Koͤrper . Zwingen, wie derselbe Lessing bemerkt, den Ho¬ mer besondere Umstaͤnde, unseren Blick auf ein¬ zelne koͤrperliche Gegenstaͤnde zu lenken, so wird doch kein Gemaͤlde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen koͤnnte; Homer weiß diesen Ge¬ genstand in eine Folge von Augenblicken zu ver¬ setzen und uns auf diese Art seine Genesis vor Augen zu legen. Will er uns z. B. den Wagen der Juno sehen lassen, so muß Hebe ihn Stuͤck fuͤr Stuͤck zusammensetzen, wir sehen die Raͤder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel u. s. w. nicht sowohl, wie es beisammen ist, sondern wie es un¬ ter den Haͤnden der Hebe zusammenkommt. Will er uns zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß der Koͤnig vor unsern Augen Mantel, Stiefel, Schwert anthun und wenn er damit fer¬ tig ist, ergreift er das Zepter. So ist auch die Beschreibung des Zepters eine Geschichte des Zep¬ ters, die Beschreibung des Achilleischen Schildes eine Reihe von Geschichten. Fuͤr ein Ding hat Homer gewoͤhnlich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm das dunkle, das schnelle, wenn's hoch kommt, das wohlberuderte, dunkle Schiff. Aber wohl dient ihm das Schiffen, die Abfahrt, das Anlanden eines Schiffes zu ausfuͤhrlichen Gemaͤl¬ den, woraus der Maler jedesmal ein Halbdutzend verfertigen muͤßte, wollte er sie ganz auf die Lein¬ wand bringen. Mit gleicher Kunst behandelt er die menschlichen Schoͤnheiten. Nireus war schoͤn, Achilles noch schoͤner, Helena besaß goͤttliche Schoͤnheit; das ist Alles. Nirgends laͤßt er sich auf umstaͤndliche Schilderungen ein. Im Vorbei¬ gehen erfahren wir, daß sie weiße Arme hatte. Welchen Luxus wuͤrde ein schlechterer Dichter, als Homer mit Helena's Schoͤnheiten getrieben haben. Aber wuͤrde er uns auch, gleich Homer, durch einen einzigen Zug, die Schoͤnheit der Helena als die hoͤchstdenkbare, fuͤhlbar gemacht haben? Helena tritt ins Thor, wo die Greise Versamm¬ lung halten; da fluͤstert Einer dem Andern zu: οὐ νεμεσις Τρωας και ἐϋκνημιδας Ἀχαιους τοιη δ᾽ἀμφι γυναικι πολυν χρονον ἀλγεα πα¬ σχειν αἰνως ἀϑανατησι ϑεης εἰς ὠπα εἰοικεν, welche Worte im Munde von Graͤubaͤrten, die Blut und Thraͤnen und erschlagene Soͤhne nicht achten, um eines so goͤttlichen Weibes wegen. 14 * So viel im Allgemeinen vom Verhaͤltniß der Poesie zur Plastik, von dem der geistig¬ sten aller Kuͤnste, welche der Plastik im Kunst¬ kreise polarisch gegenuͤbersteht, der Musik in naͤch¬ ster Vorlesung. Siebzehnte Vorlesung. M an sollte denken, daß die Musik diejenige un¬ ter den Kuͤnsten waͤre, welche am wenigsten Ge¬ fahr liefe, ihr eigenthuͤmliches Gebiet zu verken¬ nen; allein die Erfahrung hat gelehrt und lehrt noch taͤglich, daß der Musiker bald den Maler, bald den Dichter zu uͤberbieten strebt und dabei die eigenthuͤmliche Wuͤrde seiner Kunst außer Au¬ gen setzt. Im Gegensatz zu einer Musik, deren Noten weder einer Empfindung noch einer Idee entsprechen, die wie meistens die italienische, ins¬ besonders die fruͤhere, ein reines, gedankenloses, schwelgerisches Tonspiel ausdruͤckten, bildete sich eine Charaktermusik, die aus lauter Andeutungen, physischen und geistigen, bestehen sollte, die Ge¬ witter, Mondscheinkuͤsse, Pferdegalopp nachahmte und alles Malerische und Dichterische ohne Aus¬ nahme in ihr unnatuͤrlich erweitertes Gebiet auf¬ nahm. Allerdings, meine Herren, ist nicht zu ver¬ kennen, daß Poesie und Musik innig verwandte Kuͤnste sind, die in ihrer Vereinigung z. B. in der Oper, im Liede, die wunderbarsten Wirkungen auf unser Gemuͤth aͤußern. Allein, man erklaͤre sich den Umstand, daß die Sprache und die Mu¬ sik so selten, ja fast nie selbststaͤndig zusammenwir¬ ken, daß bald die Sprache der Musik, bald die Musik der Sprache untergeordnet erscheint, jenes in unsern heutigen Opern, wo der Text nur so mitlaͤuft, dieses in den Schau- und Trauerspielen der Alten, wo Text die Hauptsache, Musik und Tanz nur als Begleiterinnen auftraten. Woher diese Schwierigkeit, beide Kuͤnste in ihrer Selbst¬ staͤndigkeit mit einander zu verbinden? Die Ant¬ wort gab schon Lessing. Die Musik bedient sich natuͤrlicher, die Poesie willkuͤhrlicher Zeichen, die Musik der Toͤne, die Poesie der Buchstaben. Beide Zeichen wirken allerdings in der Folge der Zeit, allein das Zeit maaß ist verschieden. Ein einziger Laut der Sprache, als willkuͤhrliches Zei¬ chen, kann in einem fluͤchtigen Augenblick so viel Gedanken und Empfindungen ausdruͤcken, als die Musik nur in einer langen Reihe von Toͤnen nach und nach hoͤrbar und fuͤhlbar machen kann. Die hieraus entspringende Regel nehmen sich auch die Dichter der Operntexte zu nutz, wenn sie darauf ausgehen, den Gedanken so wortreich als moͤglich auszuspinnen und die laͤngsten und geschmeidigsten Worte den energisch kurzen vorziehen. Man hat den Komponisten vorgeworfen, daß ihnen die schlechteste Musik die beste waͤre; aber sie ist ihnen nicht deswegen die liebste, weil sie schlecht ist, son¬ dern weil die schlechte nicht gedraͤngt und gepreßt zu sein pflegt. Sie sind oft genoͤthigt, ein Wort, eine Sylbe ein Halbdutzendmal zu wiederholen, um den entsprechenden musikalischen Eindruck zu machen. Dennoch scheint die Verbindung der Musik mit der Poesie die aͤlteste und urspruͤnglichste zu sein, die Trennung eine spaͤtere. Die Regeln des Versbaues gruͤnden sich alle auf Harmonie, alle musikalischen Abwechselungen, Pausen sind auch in der Sprache der Poesie denkbar. So waren die aͤltesten Dichter zugleich auch Saͤn¬ ger, die aͤlteste Poesie zugleich Musik. Wenn es heißt, daß Orpheus Leier den Marmor schmolz und Stroͤme in ihrem Lauf hemmte, wenn Amphion Theben baute, so wurden unter den Toͤnen der Leier nicht bloße musikalische Laute, noch bloße Worte, sondern der wunderbare Einklang von Poesie und Musik verstanden. Ueberhaupt war die Musik der Alten immer mit Poesie verbunden, selbststaͤndige Instrumental¬ musik war ihnen fremd. Die Ursache liegt nahe. Ihre Instrumente waren weder vollzaͤhlig noch vollkommen, was ließ sich mit der Harfe, Cither oder Forminx, mit der Lyra oder Laute, mit der Tibia oder Hoboe, mit der trompetenartigen Tuba und mit dem Syrinx der Hirten aufstellen? Erst in spaͤteren Zeiten, besonders unter Italienern und Deutschen bildete sich die Musik zur eigentlich dar¬ stellenden Kunst. Vorher war sie nur die Huͤlle, das Gewand der Poesie. Jetzt riß sie sich, den eigenen Kraͤften vertrauend, von ihr los, jedoch, wenigstens nicht bei den Deutschen, um sich ganz von ihr zu trennen, sondern, um sich ihr mit Freiheit wieder zu naͤhern. Selbst das Wort musikalisch ward nun selbststaͤndig gebraucht fuͤr die Kunst der Musik, fruͤher bezeichnete es den Verein von Poesie und Gesang, von Mimik und Deklamation, in dem jeder griechische Juͤngling sich ausbilden mußte; in diesem Sinne muß man immer den musikalischen Unterricht verstehen, wo¬ von Plato, Plutarch und andere griechische Schrift¬ steller so oft sprechen, als von dem wesentlichsten Bildungsmittel der Jugend, das auf Geist und Gemuͤth den unwiderstehlichsten Einfluß ausuͤbe. Die Alten sahen nur auf Melodien, ihre Choͤre wurden nur nach einander abgesungen und deklamirt. Kuͤnstliche Harmonien, Durcheinander¬ lassen der Toͤne auf verschiedenen Instrumenten, Tonversetzungen, Fugen, Aufloͤsungen kuͤnstlicher Dissonanzen, kurz Werke eines Haydn oder Mo¬ zart, ganze große, durchdachte, auf die Regeln der Harmonie gegruͤndete, mit Kraft, Geschicklichkeit, großartiger Phantasie ausgefuͤhrte musikalische Kunst¬ werke waren den Alten unerreichbar. Raͤumen wir diese Selbststaͤndigkeit der Mu¬ sik in neuerer Zeit ein, so kehrt mit verdoppeltem Nachdruck die Frage zuruͤck, welche Stelle nimmt die Musik unter den Kuͤnsten ein, welche Gren¬ zen sind ihr gesetzt, was ist ihr Reich, ihr Gebiet? Kant in seiner Kritik der Urtheilskraft sagt von der Tonkunst, daß sie unter den Kuͤnsten den groͤßten Genuß, aber fuͤr sich die wenigste Kultur gewaͤhre, indem sie mit bloßen Empfindungen spiele, welche auf unbestimmte Ideen von Affek¬ ten fuͤhrten. Die Musik stand also dem Koͤnigsberger nicht sehr hoch; auch Hegel machte sich nicht viel aus der Musik, weil sie ihm, wie er sagte, zu wenig zu denken gebe. Wie anders mußte Luthers 14** Ohr vom Zauberstabe der Musik beruͤhrt werden, wenn er ausruft: ich sage es frei heraus, daß nach der Theologie keine Kunst sei, so mit der Tonkunst kann verglichen werden, der die Floͤte und noch kunstreicher die Laute spielte, und sei¬ nen hellen maͤnnlichen Tenor jeden Abend in seinem Hause ertoͤnen ließ. Es ist nur Mangel an Tonsinn, an kindlicher Stimmung, an poetisch¬ webenden Gefuͤhlselementen, was Kant, Hegel und andere Philosophen wie Nichtphilosophen zur Herabsetzung der Musik bestimmte. Schon das Medium, der Stoff der Musik erregen fuͤr ihre aͤsthetische Wuͤrde ein guͤnstiges Vorurtheil. Sie spricht durch den Sinn des Gehoͤrs zu uns, ihr Medium, die Luft, ist unsichtbar, wie die Toͤne, welche sie hervorruft, in diesem Unsichtbaren wirkt sie selber als etwas Unsichtbares, als etwas aus fremder Welt, und zwar nicht als Todtes, Unbe¬ wegtes, Ruhendes, sondern als etwas Eilendes, Fließendes, uͤber, neben, unter uns Hinschweben¬ des. Ihre Melodien sind uns die Sinnbilder un¬ serer geistigen Regsamkeit, unsere stummen Ge¬ fuͤhle, Ahnungen, Hoffnungen, unsere Schmerzen und Freuden, Alles wird laut in unserer Brust, wir fuͤhlen doppelt stark, allein wir erheben uns uͤber den Schmerz und genießen diesen nur als Ton, der unser Ohr entzuͤckt, ohne im Herzen einen Stachel zuruͤckzulassen. Die Toͤne, sagt Heinse in seinem musikalischen Roman, greifen die Nerven und alle Theile des Gehoͤrs an und ver¬ aͤndern dadurch das innere Gefuͤhl außer allen Vorstellungen der Phantasie. Unser Gefuͤhl selbst ist nichts Anderes, als eine innere Musik, immer¬ waͤhrende Schwingung der Lebensnerven. Die Musik ruͤhrt sie so, daß es ein eigenes Spiel, eine ganz besondere Mittheilung ist, die alle Beschrei¬ bung von Worten uͤbersteigt. Sie stellt das innere Gefuͤhl von außen in der Luft dar. Das Ohr, sagt er an einer andern Stelle, ist gewiß unser wichtigster Sinn und selbst das Gefuͤhl, was man bisher fuͤr den untruͤglichsten gehalten hat, bildet sich nach ihm. Das geuͤbteste Auge eines Ma¬ lers, Meßkuͤnstlers ist gewiß nicht im Stande, uns so, wie der Musiker, die leichten Verhaͤltnisse der Haͤlften, Drittel, Fuͤnftel und Sechstel einer Linie, irgend einer Laͤnge und Groͤße in Wirklich¬ keit auf ein Haar zu treffen. Deswegen sind die Taubstummen um so Vieles ungluͤcklicher als die Blinden, weil sie den Hauptsinn des Verstandes, der die andern zur Richtigkeit gewoͤhnt, nicht ha¬ ben und so gibt die Musik unter allen Kuͤnsten der Seele den hellesten und frischesten Genuß. Ein Gluͤck, daß das Ohr des Menschen an feiner und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterschei¬ dung von Toͤnen das Ohr aller andern Thiere uͤbertrifft, obwohl ein vollkommen zartes, festes, reines und noch mehr, ausgebildetes Gehoͤr eben so selten ist, wie alle hohe Schoͤnheit und man durch schlechte Gewohnheit diesen goͤttlichen Sinn sehr verderben kann. In der That, vor der Musik muß jede Kunst, die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirk¬ samkeit uͤbertroffen werden, wie der Koͤrper vom Geiste: denn sie ist Geist, verwandt mit der Na¬ tur der in uns waltenden Kraft, der Seele, der Bewegung. Was anschaulich dem Menschen nicht werden kann, wird ihm durch Musik mittheilbar. Voruͤbergehend ist jeder Augenblick dieser Kunst, denn eben das Kuͤrzer und Laͤnger, das Staͤrker und Schwaͤcher, das Hoͤher und Tiefer ist ihre Bedeu¬ tung, ihr Eindruck. Im Kommen und Fliehen, im Werden und Gewesensein liegt die Siegskraft des Tons und der Empfindung. Dagegen jede Kunst des Anschauens, die an beschraͤnkten Ge¬ genstaͤnden und Gebaͤuden, und nun gar an Lokal¬ farben haftet, dennoch nur langsam begriffen wird, obwohl sie Alles auf einmal zeigt. Vergangenheit und Zukunft unserer Empfin¬ dungen ist das Eigenthuͤmlichste der Musik. Sie soll die Natur nicht malen , nicht dichtend darstellen, wie Maler, Bildhauer und Dichter, sondern anregen , nichts als anregen . Daher wirkt die Musik nie bestimmt , wie der Dichter, sondern unbestimmt; daher artet die Bemuͤhung, einzelne Begebenheiten und Erscheinungen der Na¬ tur in der Musik nachzuahmen z. B. das Klap¬ pern der Muͤhlen, das Schnurren der Raͤder, das Knirschen der Zaͤhne u. s. w. in laͤcherliche und unertraͤgliche Spielerei aus. Die Musik darf nie aus dem reinen Aether herabsinken und ihren Fuß auf den glatten Boden der Wirklichkeit setzen. Unsere Gefuͤhle begegnen ihr von selbst, wir tau¬ chen uns in ihrem reinen, dunkelwogenden Strom, wir trinken ihre Toͤne und stillen und reinigen uns in ihren harmonischen Fluthen. Man kann die Tonkunst unter den Kuͤnsten die freieste nennen, weil sie am Unmittelbarsten sich unserer Seele, unserer Einbildungskraft be¬ maͤchtigt und mit den musikalischen Formen der Schoͤnheit anfuͤllt, ohne durch das Verstandesge¬ biet der Begriffe und noch weniger durch die Welt der wirklichen Anschauungen hindurchzugehen. In ihr verbindet sich am Leichtesten das Individuelle mit dem Idealen, in ihr druͤckt sich am Fuͤhlbar¬ sten das Unendliche durch das Endliche aus. Daß die Toͤne, sagt Jean Paul, die in einem dunkeln Mondlicht von Kraͤften ohne Koͤrper unser Herz umfließen, die unsere Seele so verdoppeln, daß sie sich selber zuhoͤrt, und mit denen unsere tiefheraufgewuͤhlten, unendlichen exaltirten Hoff¬ nungen und Erinnerungen gleichsam im Schlafe reden, daß die Toͤne ihre Allmacht vom Sinne des Grenzenlosen empfangen, dies brauche ich nicht erst zu sagen. Die Harmonie fuͤllet uns zum Theil durch ihre arithmetischen Verhaͤltnisse; aber die Melodie, der Lebensgeist der Musik erklaͤrt sich aus nichts, als etwa aus der poetischen Nachah¬ mung der roheren Toͤne, welche unsere Schmer¬ zen und Freuden von sich geben. Die aͤußere Musik erzeugt die innere und daher geben uns alle Toͤne einen Reiz zum Singen. Wir schließen mit diesen Worten unsere Ge¬ danken uͤber den Kunstkreis der Musik. Nachdem wir bisher die eigenthuͤmliche Bahn der saͤmmtlichen Kuͤnste beschrieben, fluͤchtig durchlaufen sind, wer¬ den wir in naͤchster Vorlesung unmittelbar nach unserm Plane diejenige von den Kuͤnsten behan¬ deln, welche sich der Worte als ihrer simbolischen Zeichen bedient, der Poesie und Rhetorik. Achtzehnte Vorlesung. N ach der allgemeinen Charakteristik der Kuͤnste, welche in den Kreis der Aesthetik gehoͤren, beschraͤn¬ ken wir uns verabredetermaßen auf die Kunst der Rede, der poetischen wie der prosaischen. Diese Kunst bedient sich der Sprache, als ihres Mate¬ rials, wie der Bildhauer des Marmors, der Mu¬ siker des Tons. Nicht alle Sprachen sind gleich geeignet fuͤr die kunstreiche Bearbeitung, einige sind zu sproͤde, andere zu weich, einige zu roh, andere zu gebildet, einige zu arm, andere, man moͤchte sagen, zu reich, wie die deutsche, was zwar ein schoͤner Fehler ist, wenn uͤberall einer, was aber doch dem Dichter oder Redner bei der Wahl der Woͤrter und Ausdruͤcke nicht selten auch die Qual verursacht. Allein der wichtigste Unter¬ schied, den dieses Material, dieser Gedankenmar¬ mor, die Sprache darbietet, ist der, ob dasselbe unmittelbar und urspruͤnglich aus dem Urfels der Nationalitaͤt gebrochen und gewonnen wird, oder ob es nur ein ausgebrochenes Stuͤck Sprache ist, das vom Urfelsen getrennt, nur bedeutungslose, gesprungene und unterbrochene Adern aufweiset; ich meine, ob die Sprache eine Grundsprache oder eine abgeleitete ist. Keiner kann die Tiefe dieses Unterschiedes begreifen, als der, dessen Begriffe in einer Grundsprache wurzeln, der selbst das Gluͤck genießt, einem Volke anzugehoͤren, dessen Sprache eine ewig fortrieselnde Quelle ist, deren Ursprung sich in die Felsen und Gebuͤsche der dunkelsten Vorzeit verliert. Man disputire nicht mit einem Franzo¬ sen uͤber den Vorzug der beiderlei Sprachen, und wenn der Franzose, was jetzt haͤufig von jungen und geistreichen Parisern zum Studium Goethe's, Hoffmann's und anderer deutschen Schriftsteller geschieht, wenn er auch das Deutsche mit einiger Fertigkeit lesen und sprechen gelernt hat und den besten Willen zeigt, ohne altfranzoͤsisches Vorur¬ theil die Vergleichung beider Sprachen anzustellen, so wird er doch nie den groͤßten Vorzug des Deutschen vor dem Franzoͤsischen, die Urspruͤnglich¬ keit begreifen und mit auf die Wagschale legen. Niemand hat diesen Punkt eindringlicher und tie¬ fer eroͤrtert, als Fichte in seinen unsterblichen Re¬ den an die deutsche Nation; ich verweise Sie auf diese Stelle, wenn Sie Ihr Herz recht mit dem stolzen Gefuͤhl durchdringen wollen, wie hoch un¬ sere deutsche Muttersprache uͤber den neuen euro¬ paͤischen steht. Freilich an aͤußerem Reiz ist manche ihr uͤberlegen, heitrer, anmuthiger, gesellschaftlicher ist die franzoͤsische, grandioͤser die spanische, sang¬ reicher die italienische, allein seelenvoller und herz¬ inniger, gestaltreicher und gedankendurchsichtiger, als alle, ist und bleibt die deutsche. Die franzoͤsische und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder sind mehr rhetorischer, die deutsche und alle ur¬ spruͤnglichen Sprachen mehr poetischer Natur. In jener hat sich die Sprache abgeloͤst vom sprach¬ schaffenden, sprachbildenden Genius, vom Herzen, vom Bewußtsein der Nation, sie ist ein Aeußeres und Fremdes geworden, und wer sich ihrer be¬ dient, nimmt sie nicht aus sich, sondern aus dem Vorrath conventioneller Formeln und Redensarten, die fuͤr alle Zeiten gestempelt sind. In dieser, der urspruͤnglichen, ist Sprache und Seele eins, wer Deutsch spricht, spricht es aus seinem eignen In¬ nern heraus und bedient sich der Sprache nicht wie einer bloßen Convention, sondern als eines Naturprodukts, das in seinem eignen Lebensblute Wurzel faßt und seinen Geist vielastig mit Bluͤ¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 15 then und Fruͤchten durchwaͤchst. Goethe vergleicht daher sehr richtig die franzoͤsische Sprache mit ausgepraͤgter Scheidemuͤnze, die Jeder in der Tasche bei sich traͤgt und der er sich auf das Schnellste im Handel und Wandel bedienen kann, die deutsche aber mit einer Goldbarre, die sich ein Jeder erst muͤnzen und praͤgen muß; woher es auch ein gewoͤhnlicher Fall, daß der gemeinste Franzose rasch und fließend spricht, da er seine Woͤrter ungezaͤhlt nur so ausgibt, der Deutsche aber, selbst der gebildete, sich nur selten so rund und voll auszudruͤcken vermag, als er wohl wuͤnscht. Demselben Umstande hat die franzoͤsische Prosa ihre Vollkommenheit zu verdanken und sie, die Prosa, ist es vor allen Dingen, was den Ruhm und auch den Werth der franzoͤsischen Literatur ge¬ gruͤndet hat, obwohl daruͤber noch Manche im Unklaren sind und die franzoͤsische Poesie, die Trauerspiele eines Corneille, Racine, die gereimten Lustspiele eines Moliere, die Henriade eines Vol¬ taire u. s. w. fuͤr die einflußreichsten und am mei¬ sten klassischen Produkte der franzoͤsischen Literatur erachten. Ich weiß nicht, ob die Franzosen ein rein poetisches Produkt zu Stande gebracht haben, ich wuͤßte keins, wo nicht der Redner den Poe¬ ten uͤberwoͤge, oder wenigstens ihm den Rang ab¬ zulaufen versuchte; selbst in der neuesten roman¬ tischen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo steht, und die ohne Zweifel an poetischem Gehalt die altfranzoͤsisch klassische uͤberfluͤgelt, spielt die Rhetorik, die Floskelei, die Tiradensucht die Haupt¬ rolle. Was sind die franzoͤsischen Poeten gegen die franzoͤsischen Prosaiker, welche Sterne des Parnassus kann man einem Buͤffon, Rousseau, Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern ent¬ gegenstellen? Im Deutschen moͤchte der Fall um¬ gekehrt sein, den europaͤischen Ruhm unserer Lite¬ ratur verdanken wir unsern Dichtern und ich glaube mit Recht. Abstrahiren wir von den tief¬ sinnigen Gedanken, von den wissenschaftlichen Sy¬ stemen, welche unsere Prosa seit 50 Jahren ent¬ wickelt hat — wir wollen uns diesen Ruhm nicht schmaͤlern, aber wir wollen nur bedenken, welch ein geringer Theil der Nation von diesem Tief¬ sinn, dieser Wissenschaftlichkeit Frucht gezogen hat — was bleibt uns nach; sei es politisch oder mo¬ ralisch oder sonst was in Prosa, was wir gegen die Werke unserer Poesie, gegen nur einen einzi¬ gen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein ein¬ ziges Gedicht, wie den Faust in die Schanze schlagen moͤchten? Ich wuͤßte es nicht. Es kann aber auch nicht anders sein, als daß bisher die deutsche Poesie die Prosa hinter sich ließ. Ich glaube den Grund schon einmal angedeutet zu ha¬ 15 * ben und zwar bei der Gelegenheit, als ich meine Freude uͤber das kraͤftigere Aufbluͤhen unserer heu¬ tigen jugendlichen Prosaiker aussprach. Die deut¬ sche Prosa wird nie der franzoͤsischen gleichgeartet werden, wer es von unserer Seite auf Nachah¬ mung anlegte, wie es von Diesem und Jenem wirklich geschieht, der ahnt den Genius nicht, den er verhoͤhnt. Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus deutscher Rede, ob sie einfach-prosaisch dahinfließt, oder rythmische Echos hoͤren laͤßt; wir haben eine Natursprache, die so¬ wohl an den Gedanken als an die Empfindung sich anschmiegt, ohne der gallonirten Kleider zu beduͤrfen: Natur, Wahrheit, Herzlichkeit, das sind die drei Farben, welche dem Deutschen so wohl stehen und die keine Kunst der Rednerei, der Witzelei, der Phantasterei ersetzt. Allein, beden¬ ken wir die bisherigen Zustaͤnde der Deutschen, bedenken wir diese miserabeln buͤrgerlichen und ge¬ sellschaftlichen Zustaͤnde der Deutschen, so begreifen wir leicht, warum die deutsche Prosa, der treue Spiegel dieser Zustaͤnde, jetzt im Allgemeinen eben so miserabel aussehen mußte, als sie wirklich that und thut. Ja, nehmen wir nur die ausgezeich¬ netsten Prosaiker der neuern Zeit, die viel Muͤhe und Fleiß auf die Ausbildung ihrer Sprache ver¬ wandt haben und denen es besser wie Tausenden gegluͤckt ist, einen Fichte, Schleiermacher, Schiller, Goethe, welchen, selbst Goethe nicht ausgeschlos¬ sen, moͤchte man der Jugend als reines Muster empfehlen. Fichte's Periodengeflechte sind mehr dornigt als blumigt, Schleiermacher spinnt fast unsichtbare Gewebe und in dem Werk, was man fuͤr das Meisterstuͤck seines Sprachskelets ausgibt, in den Monologen, schreibt er Jamben, statt Prosa; Schiller uͤberbietet sich in einer glaͤnzenden, aber nur zu oft undeutschen und hohlklingenden Paradesprache, und Goethe, der weit entfernt von diesem Fehler ist, hat in seinen Prosaroma¬ nen eine solche Menge glatter, hoͤfischer Wendun¬ gen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie man mit ihm daran ist. Der Stil ist der Mensch selber, sagt Buͤffon; und Jean Paul: wie jedes Volk sich in seiner Sprache, so malt jeder Autor sich in seinem Stil. Kraͤftigen, reinen und schoͤ¬ nen Stil wird kein Schriftsteller in unkraͤftiger, unreiner und unschoͤner Zeit erwerben, fuͤge ich hinzu, denn der Schriftsteller ist im hoͤhern Grad als ein Anderer, oder vielleicht nur sichtbarer, ein Kind seiner Zeit. — Doch dieses sind Gedanken, die wir spaͤter noch weiter auszufuͤhren haben; fuͤr jetzt und zu¬ naͤchst soll es nicht die Prosa, sondern die Poesie der neuen Zeit sein, an welche wir unsere Aesthe¬ tik zu knuͤpfen gedenken. Es ist ein alter Satz, daß die Poesie aͤlter ist, als die Prosa. Bewiese es nicht die Ge¬ schichte der Menschheit, so bewiese es die Bil¬ dungsgeschichte eines jeden Kindes, dem wir die Fibel mit gereimten Spruͤchen und Sprichwoͤrtern fuͤllen. Mit Recht. Die Poesie gehoͤrt den Kin¬ dern, und was in uns kindlich geblieben ist, ge¬ hoͤrt der Poesie. Gebt mir eine frische Kinder¬ freude, eine Seligkeit um nichts, eine thaufrische Anschauung, einen von jenen lebhaften Eindruͤcken, die keine Zeit verwischt, und deren der Greis sich noch am Stabe erinnert, alles das gehoͤrt der Poesie an. Jede Empfindung gehoͤrt der Poesie an, wenn sie aus ihrem ordinairen Zustande ent¬ ruͤckt, reiner, frischer, tiefer wird, ohne zu wis¬ sen wie, so auch jeder Gedanke, dessen Mutter nicht grade das Einmaleins oder die logische For¬ mel des Widerspruchs und des exclusi tertii ist, jeder Gedanke kann einen poetischen Koͤrper an¬ nehmen und aus der abstrakten Luft in den gruͤ¬ nen Garten der Poesie herabgezogen werden. Un¬ sere Dichter treiben dergleichen Geschaͤft als Kunst, den uralten Dichtern und den Kindern und dem Volke ist es Natur, so zu denken und zu fuͤhlen. Ich will die Poesie nicht definiren, es geht ihr wie der Schoͤnheit und allem Besten, was gott¬ lob den Definitionshaͤschern zu hoch liegt, aber wenn ich sage: zieht von diesem Menschen, die¬ sem Volke, dieser Zeit das ab, was ihre Religion, ihr Katechismus, ihr besonderer geschichtlicher Cha¬ rakter, ihr positiver Gehalt, ihre spezielle Weltan¬ schauung ist, so bleibt jedem Menschen, jedem Volk eine Saite, die rein menschlich oder rein goͤttlich toͤnt, eine Saite, deren Klang und Ton alle Menschen verstehen, und staͤnden sie auch Tau¬ sende von Jahren auseinander, das ist die Poesie. Grade diesen Gedanken, diesen Begriff der Poesie wuͤnschte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung darzustellen. Die Poesie ist die Vermittlerin aller Zeiten und Voͤlker, die Vermittlerin aller Men¬ schen, die Dolmetscherin aller Gefuͤhle und Be¬ strebungen, und sie ist es dadurch, daß sie unmit¬ telbar aus dem Herzen dringt, aus jener uner¬ gruͤndlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leiden¬ schaft schlaͤft, aus jenem Kern des menschlichen Wesens, der, wenn er verwitterte, die ganze Menschheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als ob die Poesie in ihrer Aeußerung bei diesem, je¬ nem Volke, diesem, jenem Menschen keine persoͤn¬ lichen, volksthuͤmlichen, charakteristischen Elemente und Beisaͤtze enthielte — es gibt eben so wenig eine abstrakte Poesie, als uͤberhaupt etwas abstrakt Lebendiges — sondern es hat die Poesie vom Him¬ mel die Gabe empfangen, trotz ihrer beschraͤnkt geschichtlichen Aeußerung, im Tiefsten das Rein¬ menschliche, Allen Verstaͤndliche, Allen bis zu einem gewissen Grade Genießliche, fuͤr ewige Zeit aufzubewahren; eine Gunst, der sich weder Philo¬ sophie noch Religion zu ruͤhmen vermag. Wie auch der Indier, der Chinese denkt und handelt, das mag uns ungereimt, unverstaͤndlich vorkom¬ men, so daß wir uns eben so gut ein außer¬ menschliches Wesen, einen Mondbuͤrger in seiner Person imaginiren koͤnnen, aber er liebt, wie wir, er haßt, wie wir, er hofft, er verzweifelt, er jauchzt, er blutet, wie wir, und diese rein mensch¬ liche Empfindung macht sich unwiderstehlich Luft aus der Maske seines geschichtlichen Charakters und erinnert uns an die Bande der Bruͤderschaft, die alle Menschengeschlechter mit einander verknuͤ¬ pfen. Lesen Sie das indische Gedicht Naal und Damajanti — Vieles wird Ihnen fremdphanta¬ stisch und Gewaͤchs der indischen Zone scheinen — aber nicht die goͤttliche Liebe und Treue, welche sich darin verkoͤrpert. Lesen Sie den Tschi-King, das Liederbuch der Chinesen Diese Anfuͤhrung ist aus Menzel's Literaturblatt. , mit dessen Ueber¬ setzung uns Ruͤckert sein neuestes Geschenk ge¬ macht hat, und Sie werden hinter dieser wunder¬ sam geschnoͤrkelten, steifen Schale des so ganz eigenthuͤmlichen Volks den Kern des Reinmensch¬ lichen bewahrt sehen. In die Poesie fluͤchtet sich das mißhandelte Herz, hier und hier allein war es vom Priesterzwange frei, der sonst das ganze Leben und selbst den Gedanken des Volkes be¬ herrschte. Und darum hat der herrliche Ruͤckert Recht, wenn er in der poetischen Einleitung sagt: Ich fuͤhle, daß der Geist des Herrn, Der redet in verschiednen Zungen, Hat Voͤlker, Zeiten nah und fern Durchhaucht, durchleuchtet und durchsungen, Ob etwas herber oder reifer, Ob etwas reicher oder steifer — Ihr seid Gewaͤchs aus einem Kern Fuͤr meinen Liebeseifer. Nicht ist der Liebe Morgenroth Von China's Mauer ausgeschlossen, Auch dort liebt Liebe bis in Tod Und treu bleibt Liebe, auch verstoßen. Und alle starken Herzensbande Um Kinder, Eltern und Verwandte Und Vorfahr'n, aller Lebensnoth Entruͤckt zum Goͤtterstande. Der Mutter, die uns Alle trug, Der Erde pflegen sie und warten, Der Kaiser selber lenkt den Pflug, Und um ihn bluͤht des Reiches Garten. Dann Landesnoth und Kriegesjammer, Beweinte Braͤut' in oͤder Kammer, Und Unmuth, der die Saiten schlug, Heiligen Zorns Entflammer. Und den letzten Vers schließt Ruͤckert mit den tiefsinnigen Worten: Daß ihr erkennt: Weltpoesie Allein ist Weltversoͤhnung. Bleibe ich zum Schluß noch einige Augenblicke bei diesem neugewonnenen Liederschatze stehen und hebe eins derselben heraus. Der bei weitem groͤßte Theil derselben enthaͤlt Reklamationen des menschlichen Gefuͤhls, Klagen und Protestationen, gegenuͤber dem strengen Gesetz oder der willkuͤhr¬ lichen Handhabung desselben. Nur der kleinste Theil derselben ist servil und weihraͤuchert dem Kaiser, der Regierung, den Sitten — im Ge¬ gentheil sind manche sogar gradezu revolutionair. Es ist der Schmerz und Ruf der Natur unter dem Druck barbarischer Gesetzkonsequenzen und als sol¬ ches charakterisirt sich auch folgendes Lied eines Eunuchen, der seinen Fluch ausspricht uͤber den Urheber seiner Schande, einen Verlaͤumder: Der sein Zungenschwert gewetzet Und zu Tod mich hat gehetzet, Gebet ihn den scharfen Tatzen Aller Leun und Tigerkatzen. Wenn die Tiger und die Leuen Sich ihn anzugreifen scheuen, Bringet ihn hinauf nach Norden, Gebt ihn den Barbarenhorden. Wenn die nordischen Barbaren Selber ihm das Leben sparen, Gebet ihn der Hoͤlle hin Ihm zu thun nach meinem Sinn. Ich Mong-Tsee, der dies Lied gesungen, Bin ein Opfer von Verlaͤumdungen, Im Pallast des Kaisers ein Eunuch. Die ihr hoͤret meinen Spruch, Gebet ihm, dem es gelungen Mich dazu zu machen, euren Fluch. So weiß sich ein chinesischer Eunuch in poe¬ tischem Zorn Luft zu schaffen, waͤhrend die gei¬ stigen Eunuchen unserer schlaffen Zeit das Messer kuͤssen, das sie geschaͤndet hat. Neunzehnte Vorlesung. V ielerlei sind der Sprachen, Zungen und Cha¬ raktere auf der Welt, die einander nicht verstehen; die Poesie aber ist die heilige Flammenzunge, die aus Aller Herzen zu Aller Herzen spricht und je¬ den Menschen mit suͤßem Verstaͤndniß bewegt. Die Poesie ist die Natur, die urspruͤngliche Mensch¬ heit, die sich mit jeder besondern Erscheinung der Menschheit auf dem Felde der Geschichte gattet und daher, so allgemein menschlich sie in ihrer Quelle ist, doch jedesmal einer besondern Mensch¬ heit, einem gewissen Zeitalter eigenthuͤmlich an¬ gehoͤrt. Man kann daher mit Recht von einer katholischen und griechischen Poesie sprechen, von einer romantischen und klassischen, nur wird man sich huͤten, den Gegensatz unmittelbar in das Wesen der Poesie selbst zu setzen, die Poesie ist nur die eine bei allen Voͤlkern, Zeiten und Zustaͤnden, aber der Strahl dieser einen Sonne bricht sich tausendfach in der geistigen At¬ mosphaͤre und verursacht dadurch ein buntes Far¬ benspiel von Weltpoesien, deren Verstaͤndniß, nach Ruͤckert's Ausdruck, allein zur Weltversoͤhnung fuͤhrt. Die Geschichte der Poesie, diese Bluͤthe der Geschichte der Menschheit, lehrt uns, daß jene Gattung von Poesie, welche man die epische nennt, bei allen Voͤlkern die urspruͤnglichste und aͤlteste war. Fuͤr die griechische und indische Poe¬ sie ist dies außer allem Zweifel gesetzt; fuͤr die roͤmische hat Niebuhr es wahrscheinlich gemacht, indem er die ganze sogenannte aͤlteste roͤmische Geschichte, wie sie im Livius vorliegt, auf einen dichterischen Sagenursprung zuruͤckfuͤhrt und stellen¬ weise in den Buͤchern des Livius noch die alten rythmischen Klaͤnge nachweist. Auch die deutsche Poesie verraͤth ihren epischen Ursprung, mag man diesen in die aͤlteste Zeit des Augustus und der Herrmannschlachten oder in die spaͤtere der Voͤl¬ kerwanderung versetzen. Von jener aͤltesten ist uns allerdings kein einziges Denkmal uͤbrig geblieben, allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germa¬ nia uͤber die Poesie der Deutschen gibt und die Erwaͤhnung altdeutscher Heldenlieder, welche Karl der Große zu sammeln befahl, setzen es beinah außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil seine kuͤnstliche Aeneis schrieb, das geschichtliche Lied von den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgesang in den Waͤldern Germaniens wiederhallte. Noch zweifelloser ist die epische Na¬ tur der deutschen Poesie, die sich aus der Voͤlker¬ wanderung entwickelt hat und worauf sich unsere heutige poetische Sprache, als auf ihre erste er¬ sichtliche Quelle zuruͤckfuͤhrt. Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die kuͤnstlerische Ver¬ einigung aller jener epischen Mythenstrahlen, welche seit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutschen Himmel uͤberflogen, das Band der Rhapsodien, welche bis dahin, gleich den homerischen, von wandernden Saͤngern bei festlichen Gelegenheiten einzeln vorgetragen wurden. Fragen wir nach der Ursache, warum eben die aͤlteste Poesie einen epischen Charakter trug, warum ein Homer fruͤher kommen mußte, als ein Sophokles? Ich denke, wir koͤnnen uns auf fol¬ gende Weise uͤber diese Erscheinung verstaͤndigen. Je weiter man den ersten Anfaͤngen einer Volks¬ geschichte nachgeht, desto lebhafter wird man an¬ gereizt durch einen stehenden Charakterzug, der die fruͤhere Menschheit von der jetzigen unterscheidet. Man sieht die Vorfahren und Stammvaͤter eines jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und Enkel, von einem gewissen einheitlichen Gefuͤhl des Lebens durchdrungen, das sich nicht allein auf die Gegenwart erstreckt, sondern auf die Vergan¬ genheit zuruͤckwirkt und diese mit jener in unmit¬ telbare Verbindung setzt. Bei uns ist es anders. Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, sondern unterhalten eine solche mittels der Geschichte , welche uns die fruͤhern Zustaͤnde pragmatisch-kri¬ tisch vor Augen fuͤhrt. Allein es verhaͤlt sich das, was wir Geschichte nennen, zum Epos des Alter¬ thums wie ein frisch bluͤhender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wissenschaftlichen Naturforschers liegt; oder, es ver¬ haͤlt sich die Kunde, welche das Alterthum von seiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von fruͤheren Dingen nimmt, wie die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare An¬ schauung zum leblosen Bilde. Wir studiren die Geschichte aus Buͤchern, der Eine weiß viel, ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wissen davon hat, hat eben auch nur ein solches Wissen, das ihm in seiner indiffe¬ renten Objectivitaͤt unendlich fern liegt vom wirk¬ lichen Leben, von seinen eignen Gefuͤhlen, Ueber¬ zeugungen und Anschauungen. Der fruͤhere Mensch aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit, er sog die Vergangenheit ein mit der Mutter¬ milch, sie war ihm ein integrirender Theil seines Wesens und alle Erscheinungen, Thaten, Gefuͤhle derselben blieben ihm so verstaͤndlich, wie die Er¬ scheinungen, Thaten und Gefuͤhle der Gegenwart selber. Was daher ein Dichter von der Gegen¬ wart sang, das sang er im gewissen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachruͤhmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart. Warum aber der Dichter am Liebsten die Thaten der Vergangenheit darstellte, mit denen dann die Ansichten und Gefuͤhle der Gegenwart zusammen¬ schmolzen, davon lag der Grund, wie es mir scheint, in der volkseinheitlichen, unpersoͤnlichen Richtung der Poesie, welche den Dichter mit sei¬ nen individuellen Ansichten von Zeitcharakteren und Zeitereignissen ganz in den Hintergrund treten ließ und statt dessen nur den vollen, ungetheilten Strom der Volkssage in die Dichtung einleitete. Die Poesie verlangte eine gewisse Ferne, ein Laͤute¬ rungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile und Nichtigkeiten beschraͤnkter Ansichten von sich abzuscheiden, und nur die Stimme des Volkes, Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 16 Gottes Stimme walten zu lassen. Der Dichter sang nicht sich, sondern dem Volk und den Vor¬ fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬ ruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied seine jetzige Gestalt verdankt, gaͤnzlich unbekannt geblieben ist, und wie selbst Homer allem Vermuthen nach, erst in spaͤterer Zeit seinen Ruf, ja seinen Namen erhalten hat. Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des Epischen vor dem Lyrischen hinlaͤnglich motivirt, weniger aber das Zuruͤckstehen und das spaͤtere Hervortreten des Dramatischen. Warum ist wie das Lyrische, so auch das Dramatische in aͤltester Zeit nur ein Element des Epischen, ohne selbst¬ staͤndige Ausbildung, als Trauerspiel oder Lustspiel? Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in der aͤltesten Zeit die ganze ungetheilte Weltansicht vorherrscht, weil sich darin keine Kraft des Gei¬ stes isolirt, sondern Empfinden, Wissen, Handeln harmonisch zusammenwirkt. In der Lyrik ist die Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr das Leiden der Persoͤnlichkeit uͤberwiegend, im Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleich¬ sam durch den Stab des Rhapsoden um die Dich¬ tung gezogen wird. Das Drama sondert einen Helden, eine Begebenheit aus dem Kreise der Helden und Begebenheiten ab, und gibt dadurch der einzelnen Darstellung eine uͤberwiegende Wich¬ tigkeit; das Epos laͤßt den Helden, seine Leiden und Thaten nur in einer ganzen Welt von Hel¬ den und Thaten zur Erscheinung kommen. Das Epos ist seiner Natur nach unendlich, wie die Geschichte, das Drama hingegen begrenzt, wenn auch nicht mit innerer Nothwendigkeit so enge, daß eines Tages Sonne uͤber den Helden auf- und untergehen muͤßte. Es kommt hinzu, daß nach Goethe's Bemerkung das epische Gedicht vorzuͤglich den außer sich wirkenden Menschen darstellt, Schlachten, Stuͤrme, Reisen, jede Art von Unternehmungen, die eine sinnliche Breite er¬ fordern, das dramatische Gedicht aber mehr den nach Innen gefuͤhrten Menschen , daher auch dieses sich in wenig Raum und Zeit zusam¬ mendraͤngen laͤßt, ja wenn es echter Natur ist und streng in seinem Charakter gehalten wird, nur wenig Ortsveraͤnderungen und Zeitraͤume bedarf . Auch dieses lag gaͤnzlich in der Gemuͤthsart des Alterthums, es mußte den aͤußeren Bestand, das Objekt der gemeinsamen Anschauung, die That als den Vereinigungspunkt aller Meinungen uͤber¬ wiegend darstellen, und daher war eben jene alte Poesie, die epische, ein Gemeingut der ganzen 16 * Nation, im hoͤhern Grade, als es je die lyrische und dramatische werden konnte. Waͤhrend naͤm¬ lich das Drama, die Ode auf einen einzigen Dra¬ men- und Odendichter als Verfasser zuruͤckweist, hatte das Epos eine ganze Nation von Dichtern aufzuweisen, wo keiner der Vorsaͤnger so kuͤhn sein konnte, sich allein mit dem Lorbeer zu schmuͤcken, der Allen gebuͤhrte. Indem ich auf diese Weise versucht habe, den Grund dafuͤr anzugeben, warum das Epos die aͤlteste Gattung der Poesie sei, habe ich zu¬ gleich den Grund mit beruͤhrt, warum die spaͤtere Zeit nicht mehr im Stande sei, ein echtes Epos zu schaffen. Der Versuche freilich sind bis auf die neueste Zeit sehr viele, noch vor einigen Jah¬ ren hat ein Landsmann von uns, der Buͤrgermei¬ ster Lindenhan, ein großes, episches Gedicht unter dem Namen Malta in die Welt geschickt, wo es aber nicht sehr weit hingekommen zu sein scheint. Selbst ein bedeutenderes, ja das bedeu¬ tendste dichterische Talent muß nothwendig an der Aufgabe scheitern, mit der Iliade oder den Nibe¬ lungen in die Schranken zu treten. Ich erwaͤhne der Aeneide des Virgil nicht, denn sie ist eben nur einer dieser verfehlten Versuche, durch willkuͤhrlichen Entschluß und mit persoͤnlichem Talent die innere organische Nothwendigkeit einer Volksdichtung nach¬ zuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzi¬ pirt von dem und dem namhaften Verfasser, ist seinem Charakter nach das grade Widerspiel vom alten echten Epos, und die Strafe, sich an die¬ sem versuͤndigt zu haben, folgt den Verfassern ge¬ woͤhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr will¬ kuͤhrliches Machwerk keine Seele erwaͤrmt und be¬ geistert, sondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewisse Menschen bemuͤht sind, sich, zu Ehren der epischen, vaterlaͤndischen Muse, daruͤber in Selbsttaͤuschung zu erhalten. Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder patriotische Deutsche den Namen des Klopstockischen Messias schimpfshalber mit einiger Entzuͤckung aus¬ sprechen, mochte er den Messias gelesen haben oder nicht; gegenwaͤrtig, wo vielleicht kein Mensch in Deutschland lebt, der sich der vollstaͤndigen Durch¬ lesung der Messiade beruͤhmen kann, ist es er¬ laubt, bei aller Achtung fuͤr die riesenhafte Arbeit eines abstrakten Dichtergenius, sich dessen nicht zu schaͤmen und jeder Anmuthung der Art durch schla¬ gende Gruͤnde zu begegnen. Es ist ausgemacht, daß jedes epische Gedicht neuerer Zeit, je laͤnger es gerieth, desto langweiliger gerathen ist, und daß nur die besondere romantisch-katholische Natur der Comoedia divina des Ariost's und des befreiten Jerusalems von Tasso, diesen epischen Gedichten einen Kreis gebildeter Leser erhalten hat und er¬ halten wird. Das Epos aber kann die Laͤnge und Ausfuͤhrlichkeit gar nicht vermeiden, denn sie sind ihm, wie schon bemerkt, wesentlich charakteristisch, mag der Dichter sich nun durch zwoͤlf, oder gar durch vierundzwanzig Gesaͤnge hindurchschlagen. Diese Erbsuͤnde des modernen Epos: Langweilig¬ keit, entsprungen aus noͤthiger Laͤnge, hat Jean Paul sehr humoristisch dargestellt im folgenden Abschnitt, der der Mittheilung bei dieser Gelegen¬ heit vorzuͤglich werth ist. Zwanzigste Vorlesung. D ie Zeiten des Epos sind voruͤber, an die Stelle des Epikers ist der Romandichter getreten, der mit Entaͤußerung der epischen Maschinerie und des Rythmus sich im allerfreiesten Element bewegt und den in moderne Prosa, moderne Gesinnung uͤberpflanzten Epiker darstellt. Wir lassen aber die Charakteristik des Romans nicht unmittelbar auf das Epos folgen, sondern behalten uns dieselbe fuͤr die Darstellung der Prosa vor. Das Drama, dessen wir schon im Gegensatz des Epos erwaͤhnt haben, ging einst unmittelbar, wie alle echte Poesie, aus dem Schooß des Volks, des nationellen Geistes, der nationellen Sitte her¬ vor. Wie in Griechenland, so im Mittelalter ent¬ sprangen die ersten dramatischen Vorstellungen aus religioͤsen Faschings und gaben daher hier wie dort religioͤs-mythologische Handlungen zum Besten, anfangs rein mimisch, monologisch, in der Folge dialogisch, bis sich auch ihr Gegenstand und In¬ halt veraͤnderte und an die Stelle der Goͤtter oder Heiligen, Koͤnige und Helden traten. Dies ist die allgemeine aͤußere Geschichte des Drama; allein jede Nation hat ihre eigene. Das griechische be¬ wahrte viel von seinem mythologischen Charakter und ließ Goͤtter und Goͤttinnen noch in spaͤtester Zeit persoͤnlich auf der Buͤhne erscheinen; das spanische entwickelte sich durchaus religioͤs und ka¬ tholisch-phantastisch; das englische schwang sich zu¬ erst zu reinmenschlicher, politischer Hoͤhe hinauf, waͤhrend das franzoͤsische ein à la français zuge¬ schnittenes griechisches blieb und die deutsche nach¬ ahmend mit dem englischen und griechischen wett¬ eiferte. Mit Nachahmung englischer Stuͤcke machte man unter uns den Anfang, Gryphius und an¬ dere Dichter des 17. Jahrhunderts haben Vieles nur so vor der Hand uͤbersetzt, man stoͤßt in ihren Stuͤcken sehr oft auf guten englischen Humor, der den Deutschen in damaliger Zeit ganz ausgegan¬ gen zu sein schien. Das erste Drama von Be¬ deutung, das ein Jahrhundert spaͤter aus dem Studium der englischen Buͤhne, zumal aber aus der Bewunderung des Shakspeare entsprang, war Goethe's Goͤtz von Berlichingen, nach welchem einzigen Schauspiel die ungeheure Fluth der Rit¬ terromane sich erhob, wie nach Schiller's erstem Produkt, den Raͤubern, die eben so starke Litera¬ tur der Raͤuberromane Deutschland uͤberschwemmte. Goethe's, des Dramendichters Wuͤrdigung, Goe¬ the's Bedeutung fuͤr seine Zeit ist es nun beson¬ ders, was ich mir in diesem Abschnitt zur Aufgabe setze, der vom deutschen Drama handelt: nicht vom Drama uͤberhaupt, noch von Voͤlkerdramen im Allgemeinen, noch einmal vom deutschen Drama, als von einem Stuͤck und Fachwerk der schoͤnen deutschen Literatur, sondern vom deutschen Drama, das nicht mehr ist, das mit Schiller und Goethe zu den Schatten hinabgestiegen ist, das mit Schiller, vornaͤmlich aber mit Goethe einer Zeit angehoͤrt, der wir nicht mehr angehoͤren koͤn¬ nen, noch wollen. Wer klagt nicht uͤber den Tod des Schoͤnen auf der Erde, uͤber den Hin¬ gang vorleuchtender großer Koͤpfe, uͤber die Sel¬ tenheit, daß solche Verluste bald durch aͤquivalente Anlagen ersetzt werden, wer klagt nicht daruͤber, daß Deutschland keinen Schiller mehr hat, oder daß Goethe nicht ewige Jugend zu Theil wurde? Wie willig stimme ich dieser Trauer bei, die ich nur zu gerecht finde, da unsere dramatische Buͤhne heutiges Tags veroͤdet ist und ein Raupach, ein Immermann statt Schiller's und Goethe's auf dem deutschen Kothurn einherstolziren. Allein man wuͤrde diesen Verlust nicht gehoͤrig wuͤrdigen, wenn man glaubte, es sei wuͤnschenswerth oder uͤber¬ haupt nur moͤglich, daß die kreisende Zeit uns einen andern Schiller und Goethe gebaͤre. Und hatten wir auch Dichter, so groß wie diese, wir hatten damit noch keine Schiller'sche und Goethe¬ sche Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die sich naturgemaͤß aͤußern soll, gehoͤrt zweierlei, ein Raum, worauf sie wirkt, eine Feder, die sie sprin¬ gen laͤßt. Beides fehlt in Deutschland dem Dra¬ mendichter. Jener rein poetische Schwung, der die Koͤpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und sie erst bei der Befreiung Deutschlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geschichte der Poesie einzig in seiner Art, durch¬ aus ohne Beispiel, wenn man nicht ungehoͤriger Weise das Augusteische Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig schnell auf¬ wachsende Literatur aufzuweisen hat, die auf frem¬ dem griechischen Boden entsprossen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zusammenhing, die aber sich doch eines nationalen Sonnenscheins er¬ freute, indem Rom, obgleich beherrscht, Herrsche¬ rin des Erdbodens war. Deutschland hingegen fand sich in Goethe's Jugend und Mannsalter in dem aufgeloͤstestem Zustande, es war in seinem politischen Vermoͤgen nach innen und außen para¬ lysirt, ohne Anregung durch Siege oder Niederla¬ gen, die den Blick poetisch zu erweitern im Stande gewesen, in welche Kategorie gewiß der siebenjaͤhrige Krieg nicht gehoͤrt, wie man an Gleim, Ramler, Kleist, den Dichtern desselben, zur Genuͤge ersieht. Es war jene Zeit fuͤr Deutsch¬ land, in der man durchaus nichts that, nichts thun wollte, in der die Toͤchter der That, oder der Begeistrung fuͤr die That, die Dramen geboren wurden. Zu andern Zeiten und bei andern Na¬ tionen fachte der dramatische Dichter das Feuer seines Genies an durch den frischen begeisternden Athem, der durch die Gegenwart ging, das Volk spielte sein Drama erst selber auf dem Markt, ehe der Dichter es auf die Breter brachte; der Schwung der Gesinnung, die Groͤße der Ideen und Schick¬ sale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Bu¬ sen des Dichters. Allein gegen das Ende des 18. Jahrhunderts schien es in Deutschland, als ob die Poesie sich abgeloͤst haͤtte von ihrem Stamm, als ob sie ein ideelles Leben fuͤr sich beginnen wolle, ohne Gemeinschaft mit dem wirklichen. Ein Jahr¬ hundert, das von Rechtswegen aller Poesie und aller Poeten baar und ledig haͤtte sein sollen, war poesie- und poetenreich, Dichter schossen an Dich¬ tern empor und uͤberragend bluͤhten zwei maͤchtige Haͤupter mit den glaͤnzendsten Lorbeeren. Der Eine von ihnen, Schiller, hat sich sein ganzes Leben hindurch in dieser ideellen Richtung be¬ hauptet. Geht man die schimmernde Reihe seiner Trauerspiele durch, so findet man, die allerersten vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu welcher Zeit dieselben entstanden, oder vor wel¬ chem Publicum dieselben aufgefuͤhrt, es sind Kunst¬ dramen oder vielmehr es sind keine Dramen, son¬ dern die Dramatik selbst, von bald abstrakten, bald historischen Personen aufgefuͤhrt. Kann man nun wirklich behaupten, daß der Charakter der ganzen Zeit dieselbe ideelle Richtung theilte, sich in Ab¬ straktion und Historie vertiefte und die verfluͤchtigte Gegenwart und das leere fade Leben nicht daruͤber anschlug, so mag wohl Schiller eher, denn Goe¬ the, als dramatischer Repraͤsentant seiner Zeit auf¬ gestellt werden. Allein beobachten wir einen Umstand, eine Verschiedenheit in beiden Produktionen mit gehoͤ¬ riger Schaͤrfe, so sind wir, wie es scheint, nicht auf¬ gelegt, diese Meinung zu bestaͤtigen. Es gibt keine Succession in Schiller's Werken, keine andere, als die immer durchdachter und selbstbewußter wer¬ dende Kunst. Seine Dramen zeigen auf der einen Seite keinen innern Zusammenhang, keine orga¬ nische Einheit, keine durchlebte Geschichte von An¬ sichten und Gemuͤthsstimmungen, auf der andern Seite nach außen hin keinen Zusammenhang mit den Gemuͤthsstimmungen und Ansichten seiner Zeit¬ genossen. Dies ist der Fall bei Goethe und diese Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn Schiller als Repraͤsentanten seiner Zeit zu betrach¬ ten. Ziehen wir zuerst das beruͤhrte aͤußere Ver¬ haͤltniß in Erwaͤgung, so finden wir, daß Goe¬ the's dramatische Meisterwerke, eben so wie des¬ sen Romane und Gedichte, mit der Zeit im in¬ nigsten Zusammenhang standen, in so fern sie eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die sich frei¬ lich zuletzt immer ins Abstrakte oder Philisterhafte, oder Laͤcherliche verlor), poetisch, kraͤftig ausspra¬ chen und fuͤr einen gewissen Zeitraum im Publi¬ kum allgemein machten. Goethe's Berlichingen, Egmont, Faust, Meister und andere Dramen und Romane verrathen die Zeit ihrer Entstehung, und ihre Schoͤpfung diente Goethe meistens als dich¬ terisches Beduͤrfniß, sein Gemuͤth von einseitig heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die verlorne poetische Freiheit wiederzugeben. Densel¬ ben geschichtlichen Charakter findet man darum auch in persoͤnlicher Beziehung darin. Goethe's Werke und Dramen waren er selbst zu irgend einer Zeit seines Lebens, als Juͤngling, Mann, Greis, als Ritter, Weltmann, Verliebter u. s. w. Je¬ der Deutsche, darf ich ferner behaupten, konnte sich fuͤr seine einzelne Person in diesen Werken spiegeln, seine Bildung ging denselben Gang, wie die Goethesche. Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwaͤrtig in der uͤberwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheschen Werke, in dem etwas seit der Zeit, daß sie ge¬ schrieben, beschleunigten und zusammengedraͤngten Leben und Bildungslauf eines Deutschen studiren. Was am Ende des vorigen Jahrhunderts sich suc¬ cessiver in Perioden von laͤngerer Dauer auf ein¬ ander folgte, das ging nun eben so successive in Perioden von kuͤrzerer Dauer vor sich. Jener Zeit in Deutschland, als der Werther gedichtet wurde, als naͤmlich eine unbestimmte, schmach¬ tende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnsucht sich der jugendlichen Gemuͤther bemaͤch¬ tigt hatte, entsprach und entspricht der Zustand eines Schuͤlers, Primaners, der voll Sehnsucht und voll Hoffnungen steckt, ohne so recht eigent¬ lich das Objekt dieser Sehnsucht zu kennen, und ohne zu wissen, was er wuͤnscht. Jener andern Zeit, als der Goͤtz von Berlichingen die uͤbermuͤ¬ thige, ritterliche Kraftperiode der deutschen Litera¬ tur ausdruͤckte und repraͤsentirte, entsprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutschen, wo er auf Universitaͤten sich erst zurechtfand, die Sporen klingen ließ, den Flammberg schwang, etwas alterthuͤmlich und ritterlich renommirte, und wenn es ihm wohl ward, das schoͤnste Gefuͤhl in sich, die angeborne Sehnsucht auf etwas Bestimm¬ tes, auf das kuͤnftige Vaterland zu fixiren kam. Der Zeit hingegen, als Goethe jene groͤßere Zahl von dramatischen und romantischen Gedichten schrieb, wo die Liebe zu einem Maͤdchen die Hauptrolle spielt, entspricht dieselbe Periode im Leben eines Deutschen, die auf die ritterliche folgt, wo der eiserne Goͤtz in Splittern zerspringt und statt des¬ sen ein schmachtender, sanfter Liebhaber zum Vor¬ schein kommt, der uͤber sein Maͤdchen Welt und Vaterland vergißt. Was aber die groͤßte und letzte Reihe der Produkte Goethe's betrifft, diese Romane und Dramen, welche das Philisterthum, das vornehme, wie das gemeinbuͤrgerliche nicht allein ertraͤglich und behaglich, sondern auch poe¬ tisch finden, so entsprechen sie dem Deutschen, der Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel bekommen hat und der mit einer gewissen vorneh¬ men Ironie auf die Schwaͤrmereien seiner Ju¬ gend, auf Sehnsucht, Ritterthum, Vaterland, Jugendleben zuruͤckblickt, des Tags bei den Akten schwitzt, des Abends eine Partie L'hombre spielt und beim zu Bette gehen den Tag im Kalender durchstreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staats¬ buͤrger durchlebt hat. So gleichen die Goetheschen Schriften, besonders seine Dramen, ihm selbst und seiner Zeit; so wuͤrden sie jeder Zeit geglichen haben, in welche Goethe hineingeboren waͤre; selbst der groͤßten, von welcher nur die Geschichte meldet. Das aber ist das Kennzeichen des echten Dramatikers, wie jedes großen Dichters, daß er der Zeit ein Spiegel ist, worin sie sich selbst er¬ kennen mag. Wie und warum dieses nicht vom Faust gelten koͤnne, verdient eine besondere Be¬ trachtung, welche ich der naͤchsten Vorlesung auf¬ spare. Einundzwanzigste Vorlesung. W ir haben in der vorigen Stunde die mancher¬ lei Phasen des Goetheschen Geistes durchlaufen, die Erscheinung des Fausts aber als eine zu singulaire bezeichnet, um nicht aus der Reihe der uͤbrigen her¬ vorzuragen. Doch, so mannigfach und vielseitig auch das Goethesche Leben und die seinem Leben entsprechenden Dramen und Gedichte sind, so las¬ sen sich doch zwei große Partien und Abschnitte desselben unterscheiden, die den Hauptcharakter der zu ihnen gehoͤrigen dichterischen Produkte unver¬ kennlich an sich tragen, Goethe's Jugend und Goethe's Alter, die Jugend und das Alter seiner Zeitgenossen, seiner Zeit. In seiner Jugend dich¬ tete er jene unsterblichen Dramen, die wie ein Feuerguß aus seinem Genie, aus seinem Herzen Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 17 stroͤmten und die Nation mit der ganzen Frische der Genialitaͤt, mit dem Zauber der Sympathie ergriffen und in Begeistrung setzten, den lyrischen Werther, den ritterlichen Goͤtz, den Egmont, den Faust. Denken Sie sich einen Augenblick lebhaft in jene Zeit zuruͤck, als Goethe's Name sich zu¬ erst dem Klopstock'schen anreihte, als Goethe an¬ fing, der Liebling der Deutschen zu werden und Niemand noch die Bahn berechnen konnte, welche sein Geist in der Literatur beschreiben wuͤrde. Der große Fritz hatte ein kriegerisches Feuer in der Jugend angefacht, und waͤhrend er, nach Be¬ endigung des siebenjaͤhrigen Krieges, wieder ruhig seine preußischen Wachtparaden in Potsdam hielt, eroͤffnete Klopstock die Buͤhne des deutschen Ruhms in den Wesergebirgen, und fuͤhrte den Deutschen eine Zeit ins Gedaͤchtniß zuruͤck, wo die furcht¬ barste Macht der Erde an der Kraft und dem Freiheitsgefuͤhl ihrer Vorfahren zerbrochen und ge¬ scheitert war. Klopstock besang den Untergang des Varus und seiner Legionen, den Triumph der Germanen, den blut- und staubbedeckten Herrmann mit der Affektation des Enthusiasmus eines alten heidnischen Barden, der eben sein Schwert vom Blute der Schlacht gereinigt hat und nun in die Harfe greift, um zugleich ein Saͤnger und ein Held den Ruhm seiner Nation zu verkuͤnden. Daß kein Deutscher mehr von der Varusschlacht wußte, daß alle jene gefeierten Namen, Herr¬ mann, Thusnelda kein lebendiges Erbgut der Na¬ tion waren, sondern aus lateinischen Buͤchern zur Kunde der Gelehrten gelangten, das that dem neuen Barden keinen Eintrag, Herrmann war nun ein¬ mal sein Held, der Held seines Patriotismus, waͤhrend Christus, als der Held seiner Religiositaͤt, ihm friedlich und weltversoͤhnend aus dem Schooße der Gottheit hervortrat, und der blos menschlichen Kraft, dem heidnischen Heldenthum, dem Blut¬ vergießen, Freiheitsdrange, der Vaterlandsliebe, die nicht das himmlische Vaterland vor Augen hat, den Stab brach. Wie aber die Namen eines Herrmann und Christus dem Dichter Klopstock mit gleicher Begeisterung von den Lippen toͤnen konnten, begreift Niemand, der nicht die ganz besondere Art der Begeisterung erwaͤgt, welche Klopstock's und seiner Zeit Muse war. Unstreitig hatte sie viel Gemachtes und Pedantisches, aber selbst der gemachten Begeisterung liegt ein Beduͤrf¬ niß des Herzens zu Grunde, das nur nicht, aus eigner oder fremder Schuld, auf naturgemaͤßem Wege befriedigt wird. Billigerweise zwar haͤtte jene Zeit keine Spur von Begeisterung verrathen duͤrfen, denn der siebenjaͤhrige Krieg war ein Schandfleck fuͤr die Deutschen und je mehr sich 17 * ein Name, der des großen Friedrichs, durch Tha¬ ten und Siege unter den Deutschen erhoben hatte, desto tiefer druͤckte das Gewicht dieses Na¬ mens das deutsche Reich, das ganze alte Deutsch¬ land in den Staub der Veraͤchtlichkeit nieder. — Preußen, jenes slavische Preußen, jene unbedeu¬ tende, fuͤr so und so viel Silberlinge gekaufte Mark des deutschen Reiches hatte sich siegreich er¬ hoben uͤber den Kern des alten Deutschlands, das Haus Brandenburg stellte sich in politischer Be¬ deutsamkeit dem Hause Habsburg, das eben so weit außer dem Herzen Deutschlands lag und dem es schon vor Alters gegluͤckt war, die Kraft des Reiches aus seinem Zentrum, Franken, Schwa¬ ben, Sachsen, herauszudraͤngen und den Heerd unse¬ rer Freiheit Slavenhaͤnden anzuvertrauen, entgegen. Durch das Uebergewicht Preußens war Deutsch¬ land ganz verloren, denn diese zerstuͤckten Laͤnd¬ chen, die von der Donau bis zur Eider im Kern von Deutschland sich hinziehen, waren schlecht ge¬ eignet, jenen konzentrirten Maͤchten auf der Flanke, auf dem Fluͤgel, der nach den Waͤldern und Step¬ pen der Barbaren hinzieht, das gehoͤrige Gleich¬ gewicht zu halten. Und das Alles hatten die Deutschen selbst verschuldet, zu diesem Allen hat¬ ten sie freiwillig ihre Arme, ihre Waffen, ihre Talente, ja ihre Begeisterung hergegeben, und nur durch ihre eigene Mitwirkung hatte das slavische Element das freie deutsche allmaͤhlig in Fesseln gelegt, was sonst, nach der Natur beider Voͤlker¬ schaften, ein Ding der Unmoͤglichkeit war. Jener Rudolph von Habsburg, jener Burggraf von Nuͤrn¬ berg, jener Friedrich der Große waren vom deut¬ schen Blut, alle Siege und Vortheile, die sie uͤber Deutschland gewannen, wurden errungen und behauptet durch deutsche Maͤnner, die sich ihrem Dienst widmeten und denen gewiß nicht die ganze Gefahr vor Augen schwebte, die ihr Vaterland bedrohte. Dieselbe Blindheit zeigte die ganze Na¬ tion zur Zeit des siebenjaͤhrigen Krieges, sie be¬ wunderte Friedrichs Genie und in der Bewunde¬ rung seiner Person, seines Gluͤcks, dachte sie nicht daran, daß sie selbst eine große moralische Person ausmache, gegen welche die Persoͤnlichkeit eines Fuͤrsten, eines einzelnen Mannes verbleichen und verschwinden muͤsse, sie trug in ihrem Eifer ihm die Truͤmmer des kaiserlichen Zepters und des Reichsapfels entgegen, sie ließ sich schlagen, ver¬ spotten und jubelte uͤber die Schlacht von Ro߬ bach, wo der groͤßte Theil des Heeres nicht aus Franzosen, sondern aus deutschen Reichstruppen bestand. Sancta simplicitas und doch — ich be¬ greife diese Deutsche und will nicht verschwoͤren, daß Jeder von uns zu der Zeit ein Preußen ¬ gaͤnger , ein Enthusiast fuͤr Friedrichs Siege und Eroberungen gewesen, so gut, wie Vater Gleim und der Fruͤhlingssaͤnger Kleist. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat, aber es ist wahr, es liegt eine Ader in der menschlichen Natur, die muß bewun¬ dern und anbeten. Ich glaube, der Deutsche hat am meisten von dieser Art, es ist ihm von jeher ein Beduͤrfniß des Herzens gewesen, große, ent¬ schiedene, machtvolle, Resignation, Unterwuͤrfig¬ keit gebietende Persoͤnlichkeiten lebhaft zu verehren, kindlich-fromm unter die Heiligen seines Gemuͤths aufzunehmen. Wer wollte diesen Zug verdammen, gehoͤrt er doch mit zu den schoͤnen, leider nur zu sehr geschwaͤchten und entstellten Zuͤgen unseres Nationalcharakters, wie die Geschichte uns densel¬ ben vor Augen fuͤhrt. Das Thier bewundert den Menschen nicht, aber der Mensch den Engel, den Gott. In der Bewunderung eines uͤber uns er¬ habenen Wesens liegt etwas vom Stoff jener Er¬ habenheit, die wir bewundern, etwas Heroisches, was der Knechtssinn nicht ahnt, der nur mit huͤn¬ discher Natur die Macht anwedelt, deren Ueberle¬ genheit ihm Pruͤgel und Essen verschafft. Wir entaͤußern uns, nicht aus Furcht oder Interesse, sondern freiwillig unseres kleinen Ichs, um be¬ scheidentlich ein groͤßeres Ich in uns walten zu lassen, wir fuͤhlen die Naͤhe eines goͤttlichen Daͤ¬ mons, und eben darum, weil wir im Stande sind, sie zu fuͤhlen, entsagen wir dem nichtigen Kampf der Eitelkeit und verschreiben und ergeben uns ihm, um unsere Brust mit einem Gefuͤhl anzuschwellen, das uns gluͤcklicher, gewisser und staͤrker macht, als das Gefuͤhl unserer eignen Exi¬ stenz, entbloͤßt und nackt von jener Magie des fremden Willens. Dies ist wahr und gereicht uns zur Ehre, allein wir muͤssen eingestehen, daß die Rezeptivitaͤt fuͤr die Groͤße einer Persoͤnlichkeit in uns sich theils nicht immer nach der geistigen Groͤße der Person, sondern oft nur nach ihrer aͤußern, angebornen richte, theils und uͤberhaupt abhaͤngig sei von dem mehr oder minder ent ¬ schiedenen und thaͤtigen Zustand unserer Seele, so daß wir, wenn wir selbst am Entschlos¬ sensten und Thaͤtigsten sind, uns in dem Maaß am Wenigsten aufgelegt fuͤhlen, in einem blos passiven und bewundernden Zustand uͤberzugehen. Dieser Zustand der Entschlossenheit und Thaͤtigkeit der Kraft des Selbstbewußtseins mangelte aber durchaus dem Deutschland, das Klopstock's Alter und Goethe's Jugend sah. Deutschland war so lange veroͤdet gewesen an Helden und Dichtern, da erschien Friedrich und Klopstock und die Deut¬ schen gaben sich unbedingt dem Zuge ihres Her¬ zens hin, fuͤllten ihre Phantasie mit den Bildern der Groͤße, des Krieges, mit dem Heros des Ta¬ ges und der Vorzeit, mit Friedrich und Herrmann und mitten im Kriegsgetuͤmmel, im wirklichen oder nachhallenden Donner der preußischen Kanonen, und dem nur eingebildeten Schwirren der Cherus¬ ker-Lanzen und dem Gebraus der Bardenlieder horchte eine ausgewaͤhltere, stillere Schaar auf die Toͤne der Zionsharfe , welche „der suͤndigen Menschen Erloͤsung“ sang. Dies war die Zeit, in welcher Goethe auftrat, die Zeit, in welche die erste Klasse seiner Produkte fiel, die durch einen charakteristischen Grundzug von der zweiten Haͤlfte abgesondert ist. Goethe besang weder den siebenjaͤhrigen Krieg noch stimmte er in die Barditen Klopstock's ein. Er war zu poetisch gestimmt, um beiderlei Suͤjets fuͤr poetisch zu halten; aber auch noch zu voll und jugendlich stuͤrmisch, um sich, wie in spaͤte¬ rer Zeit, jedes Suͤjet fuͤr die Ausuͤbung der Dichtkunst gefallen zu lassen und die Poesie nur als die Kunst, etwas Beliebigem eine poetische Form zu geben, in Betrachtung zu ziehen. An¬ geregt durch die Groͤße des Mittelalters, seine Thaten und Bauwerke, dramatisirte er die Ge¬ schichte eines deutschen Helden, dessen Lebensge¬ schichte in den voͤlligen Abschluß des Mittelalters faͤllt, und der gleichsam zu noch guter Letzt alles Rohe und Ehrliche der deutschen Ritterlichkeit in seiner Person vereinigte. Diesen und sein Zeit¬ alter stellte er den Deutschen zur Bewunderung auf und man weiß, wie sehr es ihm gelungen ist, die deutsche Jugend in die kurze Phantasie zu versetzen, als truͤge sie noch, wie damals, eiserne Beinschienen und fuͤhlte sich, wie Goͤtz, berufen, die Welt aus geschlossenem Visir zu betrachten. Goethe ließ die Phantasie der Deutschen nicht rasten, er wußte ihnen bestaͤndig neuen Stoff aus dem Reich seiner Ideen und Gefuͤhle darzubieten. Alles dies war revolutionairer Natur, stellte sich in Kontrast mit der politischen und moralischen Ordnung, wenn auch unabsichtlich. Eigentlich kann man dasselbe behaupten von Friedrichs Ruhm und Klopstock's Bardenliedern, sie konnten nur durch Nichtachtung und Ueberdruß des damaligen Deutschlands entstehen und bluͤhen, Friedrich und Klopstock konnten Deutschland nie entzuͤcken, haͤtte es nicht thatenlose Langeweile gefuͤhlt. Goethe trug die unzufriedene Begeisterung in alle Gebiete des Geistigen und Sittlichen uͤber. Faust ist ihr Kulminationspunkt und als solchen muß man ihn auffassen, wenn man die Entstehung dieses Ge¬ dichts zu jener Zeit begreifen will, das, wie es herauskam, so wenig von der tiefen und ewigen Bedeutung desselben ahnen ließ und erst nach und 17 * * nach jenen europaͤischen Ruf erlangt hat, in wel¬ chem es gegenwaͤrtig steht. Dieser Faust ist der Wendepunkt des Goetheschen Genies‚ von dieser hoͤchsten Spitze der Begeisterung und Herzensfuͤlle stieg es ploͤtzlich wieder herunter‚ und begann die zweite Epoche seines Ruhms, die der ruhigen Plastik‚ der beschraͤnkten, gegen Stoff gleichguͤltig sich verhaltenden Kunstdarstellung‚ welche das Tiefste, Aufregendste‚ Leidenschaftlichste sorgfaͤltig vermeidet, sich mit der Gegenwart versoͤhnt und auf deren Niveau die Gestalten der Poesie auf¬ traͤgt. Doch bezeichnen und verfolgen wir diese Richtung nicht weiter, denn wir haben noch Ge¬ legenheit‚ auf sie zuruͤckzukommen. Zunaͤchst ist es uns um die geschichtliche Stelle‚ welche dem Faust zukommt‚ zu thun gewesen und da wir diese ermittelt haben, so fragt es sich‚ nach jener uͤber¬ geschichtlichen Bedeutung‚ die Jedermann gewohnt ist‚ darin zu suchen. Ich habe bereits erklaͤrt‚ daß sich diese nicht im Zusammenhang des Goe¬ theschen Lebens und aus der Zeit entwickeln laͤßt; Faust ist ein Werk‚ das weit uͤber seiner Zeit‚ ja selbst uͤber dem steht‚ dessen Feder wir es ver¬ danken. Faust war einmal ein Moment im Goe¬ theschen Geiste‚ Goethe war einmal Faust‚ naͤm¬ lich in den großen heiligen Jugendstunden‚ als der Geist dieser Dichtung uͤber ihn kam. Aber Goe¬ the's Geist verkoͤrperte sich auch in einen Wilhelm Meister, in einen Schenken Hafis und Gott weiß in welcherlei bunte Gestalten, die mit Faust's Tiefe nichts zu schaffen haben. Als Goethe den Faust empfunden und geschrieben hatte, schien es, als wuͤßte er nichts mehr von ihm, als kenne er ihn nicht mehr, als suche er ihn zu verlaͤugnen und Alles auf jugendliche Ueberspannung zu schie¬ ben. Goethe's Fortsetzung des Faust paßt auf seinen fruͤhern Faust, wie die Faust auf's Auge, und muß Einen, wenn man diesen zweiten Theil durchblaͤttert, jene unendliche Wehmuth ergreifen, die das ganz veraͤnderte und entstellte Bild einer Geliebten erregt, wenn man sie nach jahrelangem Zwischenraum wieder sieht. Faust ist der Hiob und das hohe Lied der Deutschen, er ist, wie ich diese Worte Heine's schon einmal angefuͤhrt, das deutsche Volk selbst, das geplagt und durchgemar¬ tert vom Wissen, Glauben und Entsagung an die Rechte des Fleisches appellirt, aus einem Schatten der Geschichte ein lebendiges Wesen, aus einem Traͤumer ein wachender, genießender Mensch wer¬ den will. Faust, der seine Studirstube und seine Studien historischer Pergamente verlaͤßt, um sich der Welt zu naͤhern und der Welt Lust und Schmerzen in seiner Brust zu haͤufen, er ist der Deutsche, der den Staub des Mittelalters von seinen Fuͤßen schuͤttelt, um sich im Thau der neuen Zeit zu baden. Faust ist das nach Befreiung rin¬ gende Deutschland, ja, das befreite, das sich des Siegs seiner Freiheit im Voraus bewußte Deutsch¬ land, Faust ist der erste Verkuͤnder dieses Siegs und zugleich die Buͤrgschaft dafuͤr. Zweiundzwanzigste Vorlesung. G oethe ist der erste Dramatiker der neuern Zeit, Byron der erste Lyriker. Die Erscheinungen die¬ ser beiden Dichter, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Laͤndern sind die bedeutsamsten, welche es fuͤr die aͤsthetische Anschauungsweise des neuen Europa gibt. So himmelweit entfernt der auf¬ gehende Stern Byron's vom untergehenden Goe¬ the's am Horizonte schimmert, so nah lag einst die Region ihres beiderseitigen Aufgangs. Auch Goethe erhob sich bei seinem ersten jugendlichen Aufbrausen zum Streit gegen die bestehende buͤr¬ gerliche Gesellschaft, in lyrischer Wuth schuͤttelte er die Ketten der Konvenienz von sich ab und warf sich in die Arme der Natur und der Frei¬ heit. Seine ersten Dramen haben einen durch¬ aus lyrischen Charakter, wie seine spaͤtern den epi¬ schen. Wie es nun der Lyrik eigenthuͤmlich, daß sie des Dichters innerstes Wesen herauskehrt, und die ewigen Laute der Natur vernehmen laͤßt, die sich in ihrer Unterdruͤckung durch Gesang und Toͤne Luft verschafft, so zuͤckt auch durch Goethe's jugendliche Dramen und Romane der lyrisch revo¬ lutionaire Schrei der Natur hindurch und bildet die schrillendsten Mißlaute mit den Satzungen einer abgelebten Geschichte, mit der Schwaͤche und Un¬ natur seines Zeitalters. Von Pietaͤt keine Spur, unbarmherzig und schonungslos laͤßt er seinem Spott den Zuͤgel schießen, keck und ritterlich ge¬ sinnt stellt er in Goͤtz eine derbe Persoͤnlichkeit dem aufgeloͤsten charakterlosen Wesen seiner Zeit gegenuͤber, in Faust einen genialen Denker, dem Nachbetertroß der Wagner und aller der tausend und aber tausend Gewohnheitsmenschen, die vor einem selbststaͤndigen Gedanken, vor einer frischen und freien That erschrecken und sich lieber fuͤr ihr ganzes Leben, wie Ungeziefer auf dem Kada¬ ver der Vergangenheit ernaͤhren, als den Muth fassen, die Geburtswehen einer neuen Zeit aus¬ zuhalten und diese mit ihrem Mark und Blut groß zu saͤugen. Goethe's Spott traf nicht allein die Satzungen der Moral, Theologie, Metaphysik, der aͤußern Konvenienz, sondern auch die Satzun¬ gen der Politik, des todten Mechanismus des Staats, den Unsinn der Gesetze, wie denn jene Worte sich wie Brandmarken an den bei aller Fuͤlle von Gesetzen gesetzlosen Zustand Deutschlands anheften, die Mephistopheles im Faust zum Schuͤ¬ ler spricht: Es erben sich Gesetz und Rechte Wie eine arge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte Und ruͤcken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage; Weh Dir, daß Du ein Enkel bist! Vom Rechte , das mit uns geboren ist, Von dem ist leider nie die Frage. Allein, wie Sie wissen, war es Goethe nicht vor¬ behalten, in der Politik diesen lyrisch-scharfen Charakter durchzufuͤhren. Es lag vielleicht in sei¬ ner Natur, die mehr zum Aristokratischen und Vornehmen, als zum Demokratischen sich hin¬ neigte, vielleicht in dem aͤußern Lauf seines Le¬ bens, in der guͤnstigen Aufnahme, die er am Hofe zu Weimar fand, in der Freundschaft, die er mit dem Herzog und der herzoglichen Familie pflegte, in einem geheimen zarten Liebesverhaͤltniß, worin er zu einer Prinzessin stand, in seiner spaͤtern Stellung als Minister, vielleicht in allem diesem motivirt und zum Ueberfluß in dem politischen Zustand Deutschlands, in der Unempfaͤnglichkeit der damaligen Deutschen fuͤr Politik, ihrer ewigen unfruchtbaren Listenmacherei, ihrem thatlosen Ge¬ schwaͤtz und Geschreibe, ihrer politischen Kanne¬ gießerei, daß Goethe sich mit dem politischen und gesellschaftlichen Zustande, wie er nun einmal seit Alters in Deutschland bestand, redlich versoͤhnte, und sich bis auf seinen Tod aller Revolutionsge¬ danken, aller Besserung des Staats, deren Im¬ puls von unten aufkam, entschieden abgeneigt er¬ klaͤrte. Er verlangte, seltsam genug, von der Ju¬ gend, von der neuen Generation, welche den Un¬ tergang der aͤltesten europaͤischen Monarchie und die Siege der franzoͤsischen Republik als ein wirk¬ lich Erlebtes schon hinter sich sah, Pietaͤt gegen Gesetz, Staat und Fuͤrsten, er , der in seiner Ju¬ gend die Zeiten des Faustrechts gluͤcklich gepriesen hatte gegen die Zeit des gesetzlich wuchernden Unrechts, in der er geboren und erzogen ward. In seiner letzten Zeit schrieb er ein Journal: Kunst und Alterthum betitelt — „ob er wirklich glaubte,“ fragt Heine, „daß Kunst und Alterthum im Stande waren, Natur und Jugend zuruͤckzu¬ draͤngen?“ Allein, meine Herren, welches auch der Grund war, warum Goethe sich von den aͤußern Bewe¬ gungen der Zeit zuruͤckzog und das Verdammungs¬ urtheil uͤber sie aussprach, es waͤre eine wahre und begruͤndete Impietaͤt, seiner Asche das Ver¬ dienst zu entziehen, die sterblichen Atome des groͤ߬ ten Deutschen, des geistigen Befreiers der Deutschen zu befassen. Es ist wahr, Goethe war ein Aristokrat in der Politik, ein Verehrer des Hof- und Fuͤrstenwesens, ein Panegyrist der an¬ gestammten Macht, ein Protektor der leidlichen Mißbraͤuche, bei denen es sich immer noch ziem¬ lich behaglich leben laͤßt, ein Freund des Manier¬ lichen und aͤußerlich Distinguirten, ein strenger Vertheidiger des aͤußern Unterschiedes der Staͤnde, des Herkoͤmmlichen, Anstandsvollen; aber in die¬ ser Charakteristik Goethe's liegt so wenig Charak¬ teristisches fuͤr sein Genie, daß es auf jeden Kam¬ merherrn und Hofmarschall im deutschen Reiche paßt. Derselbe politische Aristokrat, dieser Mann, der das große geschichtliche Element der Voͤlker von einem so kleinen hoͤfischen Standpunkte be¬ trachtete, uͤbersah das religioͤse, sittliche und wis¬ senschaftliche Leben mit den Blicken eines Adlers, und vom Standpunkte einer Zeit, den Gott weiß, welche Generation unserer Urenkel erst muͤhsam erklettern wird. Goethe war der Luther seines Jahrhunderts, dessen Bibel die Natur und dessen Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 18 Schuͤler und Anhaͤnger die Jahrhunderte selbst sind, die nach ihm kommen. Spreche ich also das letzte Wort uͤber ihn aus, indem ich mir seinen doppelten Charakter, als Servilen und Liberalen, als Großen und als Klei¬ nen, als Genie und als Weltmann, durch eine Grundrichtung seines Geistes in letzter Instanz zu erklaͤren suche. Goethe trug als Juͤngling die ganze neue Zeit, die kommende Weltanschauung in seiner Brust und was ihn damals im tiefsten Grund bewegte und womit er die Welt und seine Zeitgenossen uͤberraschte, das wird fruͤher oder spaͤ¬ ter die Welt bewegen und Deutschland politisch und moralisch umschaffen. Allein Goethe gehoͤrt zu denjenigen Charakteren, welchen nicht die un ¬ mittelbare Gestaltung der Außenwelt, sondern zunaͤchst die Bildung ihrer eigenen Per ¬ soͤnlichkeit von der Natur zum Grundgesetz ge¬ macht zu sein scheint; daher er sich auch bald aus der Gewitterregion, welche aus dem Innersten und Tiefsten der Leidenschaft Blitze in die Welt schleu¬ dert und deren Staͤrke einzig und allein den Lu¬ ther, den Demagogen macht, zuruͤckzog in die klarere Region eines mehr ruhigen, um die Welt scheinbar unbekuͤmmerten Selbstbewußtseins, das, nach Außen durch eine freie und wuͤrdige Stellung befriedigt, nach Innen im steten Bildungsprozeß zu immer groͤßerer Kraft und Klarheit beschaͤftigt wurde. Eine solche Persoͤnlichkeit ist ganz durch¬ aus auf sich basirt; daß Andere es eben so ma¬ chen, sich eben so unabhaͤngig in der Welt hin¬ stellen, mag und kann ihr nur recht sein, aber sie streckt die Hand nicht aus zu diesem Zweck, sie sucht nicht durch Umwaͤlzungen die sittlichen und politischen Fundamente fremder Persoͤnlichkeiten zu basiren, sie schließt sich egoistisch in ihrem Kreise ab und begruͤßt Jeden, der diesen durchbrechen will, unwillig mit elektrischen Schlaͤgen. So denke und erklaͤre ich mir den ganzen Goethe und es sagt mir ein Etwas, daß ich dieses hohe Ziel nicht zu weit verfehlt habe. Die Lyrik der neuen Zeit ist das poetische Ausstroͤmen des Revolutionairen; revolutionair war die Lyrik Goethe's, als er jung und feurig war, revolutionair war die Lyrik des großen Britten, der in Goethe's, des Juͤnglings, Fußstapfen trat und jene Leier mit neuen Saiten bezog, welche Goethe bei Seite gelegt hatte. Byron starb in Griechenland und seine letzte Ode war der Frei¬ heit der Griechen gewidmet, zu deren Miterkaͤm¬ pfung er Jahre lang Geld, Talent, Ruhe, Ver¬ gnuͤgen freudig beigesteuert hatte. Revolutionair ist die Lyrik der neuen Zeit, das behaupte ich, aber ich bitte, mich nicht dahin mißzuverstehen, 18 * als ob ich jeder neuen und neuesten Lyrik, welche diesen Charakter nicht traͤgt, den Stab brechen wollte; ich erkenne sie nur nicht fuͤr voll an, ich spreche ihr nur das Herz und den Geist der Zeit ab, ohne dem Dichter Herz und Geist a priori persoͤnlich abzusprechen. Viel Zutrauen habe ich freilich nicht zu dem poetischen Verdienst eines neuen Gedichts, oder einer neuen Gedichtsamm¬ lung, von der man mir im Voraus sagt, es seien nichts als poetische Buͤsche, Felsen, Seufzer, Rit¬ ter, Tournire, Festgesaͤnge, Reisen, Spatziergaͤnge und dergleichen zensurfreie und unschuldige Saͤchel¬ chen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf die Stimmung der Zeit haͤtten — Gott sei es geklagt, jede Leipziger Messe bringt uns einige Scheffel von diesem Klingklang- und Singsang¬ sachen deutscher Musenjuͤnglinge, die es nicht ver¬ antworten zu koͤnnen glauben, ihren Namen der Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch liebliche Gedichte der suͤddeutschen Saͤngerschule, die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, so zeit¬ los und einfach sie auch sind, mich in Momenten eben so sehr erfreuen, als z. B. auch die liebens¬ wuͤrdige Persoͤnlichkeit eines Suͤddeutschen, der unter Bergen und Reben, in der Naͤhe von alten Kloster- und Burgruinen aufgewachsen, mir hei¬ ter und unbefangen seine gluͤckliche Beschraͤnktheit entgegentraͤgt. So kann ich auch im Gegentheil Gedichte, die mit rein politischer Tendenz geschrie¬ ben sind, Zeitereignisse im Prisma der Poesie be¬ trachten und es darauf anlegen, durch die Dar¬ stellung derselben auf den politischen Sinn der Le¬ ser zu wirken, welche mir dennoch unter dem Ge¬ sichtspunkt der Poesie und der Lyrik, durchaus nicht wahr und bedeutend scheinen. Ich verstehe unter dem Ausdruck: die moderne Lyrik ist revolutionair das: jeder große Dichter, der in unserer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerruͤttung aussprechen, worin die Zeit, worin seine eigene Brust sich findet. Der Dichter muͤßte blind sein, oder kalt, oder gefuͤhl¬ los, oder heuchlerisch, oder kein großer Dichter, der mit seiner Leier uͤber den ungeheueren Riß hinweghuͤpft, welcher die Gegenwart von der Ver¬ gangenheit trennt, er muͤßte nicht der Dolmetscher der Natur und Menschheit sein, wenn er nicht das Ringen und den Schmerz dieser Menschheit verstaͤnde, fuͤhlte und in den Wogen der Poesie dahin brausen ließe. Byron war ein gro¬ ßer Dichter und daher war seine Lyrik, die er nur leicht in ein episches Kleid einhuͤllte, durch und durch revolutionair, was um so gro߬ artiger und erschuͤtternder bei ihm hervortritt, als er im Schooß des Gluͤcks geboren, Lord und kuͤnftiger Pair des Reichs, fruͤh bewundert und beneidet war. Ich will kurz sein mit seiner Geschichte, um Goethe, der den Gang seines Le¬ bens und Charakters geschildert hat, fuͤr mich re¬ den zu lassen. Es ist wunderbar, wie dasselbe Land, Griechenland, des alten Meisters Leiden¬ schaft beschwichtigte und ihn zu Kunst und Alter¬ thum fuͤhrte, was den Juͤnger erst in diese Leiden¬ schaft hineinriß, oder vielmehr die Leidenschaft, die in ihm schlummerte, ihn bewußt werden ließ. Erst als Byron kaum in den Zwanzigern die Kreidekuͤste Englands verlassen und in den griechi¬ schen Buchten und Inseln sich umhertrieb, kam jener Geist der Poesie uͤber ihn und ließ ihn in einer Zunge reden, die er fruͤher, unter den Lords und Damen der englischen Gesellschaft kaum verstan¬ den hatte. Haß gegen Aristokratie, Tyrannei, Ka¬ stengeist, Unnatur der Sitte, Pfaffenthum, dage¬ gen Liebe zur Freiheit, ungebundenes Streben, griechisch-heitre Ansicht des Lebens und der Liebe, verbunden mit den Gefuͤhlen der Ehre und Sitt¬ lichkeit, selbst mit dem Bewußtsein alten Adels und vormaligen feudalen Geschlechtsglanzes bilde¬ ten die Grundelemente seiner Poesie, worin Goe¬ the mit tiefem Blick ein Kind des Griechenthums und des Mittelalters gesehen hat. Byron war der einzige revolutionaire Dichter, den Goethe an¬ erkannte, ja er liebte ihn und trug eine gewisse vaͤterliche Besorgniß um ihn, die Byron von der Zeit an mit kindlicher Ehrfurcht erwiderte; wie dies interessante Verhaͤltniß aus Thom. Moore's Leben Byron's zu ersehen ist. Im zweiten Theil des Faust hat Goethe Byron ein Denkmal ge¬ setzt, mir wenigstens unterliegt es keinem Zweifel, daß Byron und nur Byron jenes unruhige, wag¬ halsige, himmelstuͤrmende Kind der Liebe ist, wel¬ ches die schoͤnste Episode in diesem zweiten Theile herbeiruft; wie ich mich denn nicht enthalten kann, Ihnen Folgendes daraus mitzutheilen, was dazu dient, sowohl Goethe, als Byron zu charakterisiren. Dreiundzwanzigste Vorlesung. W ie wir als allgemeines Gesetz aufgestellt haben, daß die jedesmalige Literatur einer Zeitperiode den jedesmaligen gesellschaftlichen Zustand derselben aus¬ druͤcke und abpraͤge, so sahen wir dies bisher im Felde der Dramatik und Lyrik, an Goethe und Byron in so fern bestaͤtigt, als wir Beide zu den glaͤnzenden Herolden ihrer Zeit rechnen mu߬ ten, unbeschadet ihres individuellen Charakters, der sie von der großen Menge ihrer Zeitgenossen un¬ terschied. Und auf diese Weise haben wir uns uͤberall die Repraͤsentation einer Zeit durch Dich¬ ter und Schriftsteller vorzustellen, auf die Weise naͤmlich, daß sie Zeichnung und Faͤrbung von ih¬ rer Zeit entlehnen, dennoch aber in Gemaͤlden selbststaͤndig und schoͤpferisch zu Werke gehen und einen ihnen eigenthuͤmlichen Stil an den Tag legen. So haben wir von Byron erwaͤhnt, daß seine Leier von den Schwingen der neuen Zeit angeregt gewesen, mehr wie die eines andern neuen Dich¬ ters; haben aber zugleich bemerkt, daß er in sei¬ nen Gedichten den Lord nicht vergessen und bei allem Feuer fuͤr die Rechte der Menschheit und der unterdruͤckten Voͤlker, bei allem Enthusiasmus fuͤr die Freiheit und reine Humanitaͤt des griechi¬ schen Alterthums sich mit Stolz als den Enkel eines altenglischen, feudalen Geschlechts betrachtete und kund gab. In dieser Verschmelzung des Grie¬ chischen und Mittelaltrigen sah Goethe mit Recht den Grundton seiner Poesie, wie sie auch jenen besondern, ja tiefen, charakteristischen Reiz der Byronschen Gedichte bildet, der auf des Dichters Persoͤnlichkeit ruͤckwirkend einen so interessanten Schimmer wirft. Allein so wenig sich in rein poetischer Beziehung Gedicht und Dichter trennen lassen, so erlaubt ist es, in allgemeiner aͤsthetischer den Grundton der Byronschen Gedichte in einer hoͤhern Weltbedeutung wiederzufinden und diese Mischung des Antiken und Feudalen als eine Mischung und Vereinigung des griechischen und germanischen Geistes zu betrachten, welche tropfen¬ weise in die Adern des europaͤischen Staatskoͤrpers eindringen und seine Muskeln mit frischem Blut aufschwellen wird. Griechische Luft soll und wird die truͤben Duͤnste, die grausigen Gespenster des Feudalismus verwehen, aber unverweht lassen jene herrlichen Bluͤthen germanischer Tapferkeit und Tu¬ gend, welche unsere Nation in der Heimath, wie in den durch ihr Schwert eroberten Laͤndern, in Frankreich, Spanien, England, vor allen Natio¬ nen des Erdbodens auszeichnet. Kein Geschlechts¬ adel, keine Adelskaste mit angebornen und forter¬ benden Unrechten soll forthin den freien Boden und die Freiheit aller Maͤnner beschimpfen, aber diese, das ganze Volk soll wahrhaft und ritterlich in die Schranke treten, und jeder Einzelne, wel¬ chem Stande er auch angehoͤre, soll seine Person mit der Wuͤrde schmuͤcken und umgeben, welche in fruͤherer Zeit nur das Erbtheil des Bevorrech¬ tigten war. Man wird nicht, wie die Griechen, den Handwerker zum Sklavenstande, nicht wie das Mittelalter, ihn zur dunkeln Folie des Ritters verdammen — es wird eine Zeit kommen, sagt Goethe, wo Jedermann genoͤthigt und verpflichtet sein wird, eine Kunst, ein Gewerbe zu lernen und auszuuͤben und wo es also Niemand zur buͤrger¬ lichen Zuruͤckstellung und geistigen Benachtheiligung gereicht, irgend ein Werk der Haͤnde zu verste¬ hen und seinem Nachbarn zum Beispiel einen Tisch zu drechseln, von dem er selbst die metalle¬ nen Verzierungen gegossen oder den Ueberzug ge¬ wirkt erhaͤlt. Es wird eine Zeit kommen, wo man des faulen, geistigen Luxus, des ewigen Wie¬ derkaͤuens schimmeligter theologischer und philoso¬ phischer Streitpunkte satt und uͤberdruͤssig sein wird, wo ein Jeder, reich oder arm, groß oder klein sich freuen und Gluͤck wuͤnschen wird, durch kunstreich geuͤbte Hand Unterhaltung in ein Leben zu wirken, das durch geistige Ueberladung vergan¬ gener Jahrtausende erschoͤpft und aufgerieben wor¬ den ist. Diese Aussichten, die jetzt beinahe nur als Traͤume eines Traums erscheinen, werden sich verwirklichen durch jenen allmaͤhligen, still fortwir¬ kenden Akt der Weltgeschichte, welcher die Ueber¬ treibungen, Einseitigkeiten, Vorurtheile fruͤherer Jahrhunderte pulverisirt und aus der Asche eine neue Blume entstehen laͤßt, welche die Farbe der Gesundheit und Jugend traͤgt. Byron, so groß er unter den Dichtern der neuern Zeit dasteht, war nur der Vorlaͤufer eines Genius, der ungetruͤbt durch Vorurtheile der Ge¬ burt und Erziehung, die heranbrechende Messiade der Menschheit besingen wird. Ob in Versen, oder in Prosa — das ist gleichguͤltig. Poesie ist Alles, was aus der inner¬ sten Natur der Menschheit dringt und es scheint fast, als ob Deutschland namentlich seine groͤßeren Dichter gegenwaͤrtig unter den Prosaisten zaͤhlt. Wenigstens wuͤrde der Schluß vom poetischen Ge¬ halt unserer dramatischen Dichter, unserer lyrischen und epischen Dichter auf den poetischen Gehalt unserer ganzen Literatur sehr klaͤglich ausfallen; Platen, Immermann, Raupach u. s. w. als Re¬ praͤsentanten deutscher Poesie, von dieser keinen großen Begriff zu erregen im Stande sein. Viel eher moͤchten wir Heinrich Heine als solchen be¬ gruͤßen, und auch nicht seiner Verse, verfehlten Dramen und liederlichen Lieder wegen, als um die Prosa, die er in den Reisebildern zu Tage gelegt hat. Was diesen Dichter-Prosaisten betrifft, so habe ich schon meine Absicht erklaͤrt, ihn als ein Charakterbild der neuen Prosa in aͤsthetischer Ruͤck¬ sicht eben so aufzufassen und darzustellen, wie Goethe und Byron als Charakterbilder der neueren Poesie. Man muß Heine in dieser Gesellschaft, der Zeit, wie der Ansicht nach, als den entschie¬ densten Charakterschriftsteller betrachten, indem er sich, noch staͤrker und ruͤcksichtsloser als Byron, der gewoͤhnlichen Denk- und Empfindungsmasse der fruͤheren Schriftstellerwelt entgegengesetzt hat. In offener Fehde mit allen Ansichten der Zeit, die sich ihm als verjaͤhrte und abgestandene dar¬ stellen, hat er alle diese Ansichten, und die Traͤ¬ ger derselben, ein ungeheurer Haufe, wider sich und dagegen nur eine Waffe, den Witz, waͤhrend Byron außer seinem Talent auch Reichthum und Adel bei seinen Anfeindungen ins Feld stellen konnte. Dennoch weiß er sich mit dieser einen Waffe hinlaͤngliches Ansehen zu verschaffen und wenn man es auch selten wagt, oder wuͤrdigt, ihn oͤffentlich hoch anzuschlagen, so laͤßt man ihm doch, selbst feindlich gesinnt, im Stillen die Ge¬ rechtigkeit widerfahren, daß sein Kopf in der deut¬ schen Literatur uͤber den Koͤpfen seiner Nebenbuh¬ ler hervorrage. Schoͤpfen wir, wie wir es bei Goethe und Byron gethan, aus der Geschichte seines Lebens diejenigen Andeutungen, welche uns die besondere Art und Richtung seines Talents erklaͤren helfen. Er ward in Duͤsseldorf geboren als Jude, aber von einer christlichen Mutter, war zum Handel bestimmt und handelte wirklich eine Zeitlang, stu¬ dirte dann in Goͤttingen, schrieb seine Reisebilder, fuͤhrte ein fluͤchtiges Reiseleben, war in England, Italien und seit der franzoͤsischen Juli-Revolution in Paris, wo er sich an die franzoͤsischen Revolu¬ tionaire, besonders unter den Schriftstellern, an¬ schloß und seine franzoͤsischen Zustaͤnde, wie zuletzt die skizzenhafte Uebersicht uͤber die deutsche Litera¬ tur herausgab. Stellen Sie sich nun ein poetisches Genie vor, das dem Byronschen aͤhnlich, ja demselben an Penetration des Verstandes uͤberlegen, verkoͤr¬ pert wird nicht im Palaste eines Pairs von Eng¬ land, sondern im bescheidenen Wohnhause eines rheinischen Juden, ein Genie, das nicht in die Schule von Eaton, sondern in die Synagoge von Duͤsseldorf wandert, das zum Handelsmann erzo¬ gen wird und durch Zufall oder innern Drang eine deutsche Universitaͤt, die Universitaͤt Goͤttin¬ gen besucht und dort, umgeben von Pedanterie und Rohheit, von steifem Zeremoniel der Pro¬ fessorengesellschaften und der Sittenlosigkeit des Studentenlebens, sich seines Genies inne wird — da haben Sie den Schluͤssel zum ersten Band der Reisebilder, den er noch als Student in Goͤttin¬ gen niedergeschrieben hat. Zu keiner Zeit ist ein dichterisches Werk erschienen, das mehr die frischen Spuren seiner Konzeption verrathen haͤtte, als dieses. Goͤttingen und der Harz sind einander ge¬ genuͤbergestellt als Prosa und Poesie, allen Aerger und Witz der Jugend schuͤttelt er auch uͤber ein solches Gefaͤngniß des Geistes, eine solche ver¬ schrobene, bestaubte Gelehrtenrepublik mit allem ihren Unsinn, allen ihren Abgeschmacktheiten und Rohheiten, allen Hofraͤthen, Pedellen, Kommer¬ zen, Kollegien, Grafenbaͤnken, Duellen und Pro¬ motionen durcheinander, kurz auf dieses traurige Bild einer nur zu traurigen norddeutschen Univer¬ sitaͤtsstadt, welche wieder ein Bild des noch trau¬ rigern literarisch-gesellschaftlichen und politischen Zustandes von Deutschland abgibt, dagegen wirft er alle Liebe und Poesie seines Herzens auf die Thaͤler, Berge und Fluͤsse des Harzes, die er mit unnachahmlicher Hand personifizirt und dem Leser als fluͤchtig verkoͤrperte Geister der ewigen Natur vor Augen fuͤhrt. Allein dies Herz war nie, oder war nicht mehr rein und unschuldig, war nie, oder war nicht mehr naiv und unbewußt begei¬ stert, und daher, so phantasiereich die Naturschil¬ derungen sind, stehen sie doch hinter den Sitten¬ schilderungen des Goͤttinger Lebens zuruͤck. Zur schaͤrfsten, schonungslosesten Satyre, die mit jedem Wort den rechten faulen Fleck zu treffen weiß, war Heine vom Schicksal gewissermaßen destinirt, das ihn vom Handelsjuden zum Goͤttinger Stu¬ denten und zum deutschen Schriftsteller bestimmt hatte. Kein Franzose und uͤberhaupt kein Aus¬ laͤnder kann die Narrheiten, Schwaͤchen, den Ah¬ nenstolz, die Pedanterie der Deutschen nackter in aller ihrer Bloͤße wahrnehmen und bespoͤtteln, als ein in Deutschland geborner Jude, der dem Herzen und der Geschichte des Vaterlandes eben so fremd, noch einen Stachel zur Satyre mitnimmt, der dem Auslaͤnder fehlt, ich meine den Stachel der Verachtung, worin seine Glaubensgenossen in Deutschland bisher standen, das verwundete Ge¬ fuͤhl des durch Jahrhunderte gemißhandelten Vol¬ kes, das bis auf die neueste Zeit zum Schweigen verurtheilt war, indem es zu feige und zu schwach, sich fruͤher zu aͤußern, ehe der Witz in Europa sich vor Scheiterhaufen und Armensuͤnderhemden sicher wußte. Aber Heine besaß nicht allein diesen Vortheil des Witzes, daß er als geborner Jude, gleichsam als Auslaͤnder und Feind auftrat und zugleich die deutschen Narrheiten von Jugend auf an der Quelle studiren konnte, er hatte auch von seiner deutschen Mutter diejenigen Eigenschaften geerbt, welche den Witz erst glaͤnzend machen, indem sie ihm zur Folie dienen, naͤmlich die Gabe der Phantasie, einen dunkeln Anflug von Gemuͤth, die Ahnung oder das Verstehen des poetisch Wirk¬ samen, die Behandlung des Geheimnißvollen, was im poetischen Grunde unserer Nation ruht und leider nur zu sehr mit Alltaͤglichem und Gemeinem uͤberschuͤttet ist. Daher zeigte sich Heine schon in seinem ersten Werk nicht blos als witzigen Kopf, als Voltaire, Swift, sondern als Humoristen, als einen Byron-Voltaire, der, wie er sich selbst aus¬ druͤckt, sein Schlachtopfer erst mit Blumen kraͤnzt, ehe er ihm den letzten toͤdtlichen Streich versetzt. Nachdem er sich an Goͤttingen die Sporen ver¬ dient hatte, eroͤffnete er seiner poetischen Satyre im zweiten und dritten Theil der Reisebilder ein wei¬ teres Feld; die neueste Geschichte, Napoleon, Frankreich und die Revolution, Deutschland, Ita¬ lien lieferten ihm Stoff zu einem poetischen Hu¬ mor, der, mit gutem Bewußtsein, seine eigene Person in die Mitte der Darstellung zu bringen wußte, ohne sich eben dabei den tugendhaftesten Anstrich zu geben. Endlich scheint er fuͤr sein Le¬ ben das rechte Zentrum gefunden zu haben, denn die Hauptstadt von Frankreich, wo er sich jetzt aufhaͤlt, entspricht mit ihren Bewegungen, Um¬ trieben, glaͤnzenden Gesellschaften ganz dem Cha¬ rakters eines Schriftstellers, der dem witzigsten Franzosen leicht die Spitze bietet, und außerdem alles das vor ihm voraus hat, was ich vorher unserer Nation vindizirt habe. Von den Franzo¬ sen bewundert, hat er in seiner letzten Schrift diese uͤber neue deutsche Literatur belehren wollen, was er, wenn auch einseitig und zum Nachtheil Deutschlands, durch die kuͤhnsten und geistreichsten Zuͤge unserer deutschen Koryphaͤen ausgefuͤhrt hat. Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 19 Heine's Einfluß auf die deutsche Jugend ist unberechenbar, und dennoch wuͤrde er noch groͤßer sein, wenn Heine von Grund aus Deutsch und vom ganzen Herzen, wie Jean Paul, ein Dich¬ ter und Humorist waͤre. Allein so wie er ist, muͤßte er vielleicht sein, um Aufsehen zu erregen und Wirkung zu thun. Inwiefern sein Talent die Aufmerksamkeit der deutschen Prosaisten ver¬ dient, werde ich in der naͤchsten Vorlesung be¬ ruͤhren. Vierundzwanzigste Vorlesung. H einrich Heine verdient in doppelter Hinsicht die Aufmerksamkeit der deutschen Prosaisten, sowohl wegen der Tugenden, als der Fehler seines Stils, die eben so viel Lichter und Schatten seines Ge¬ nius sind. Im Allgemeinen verdient er aber durchaus die Auszeichnung, die wir ihm vor an¬ dern großen Prosaisten zu Theil werden lassen, als Charakterbild der neuen Prosa zu gelten; we¬ der Goethe, noch Jean Paul, noch irgend ein anderer von den ausgezeichneten Geistern der juͤngst vergangenen aͤsthetischen Epoche ist geeignet, den Geist der Zeit und der neuesten Bewegungen aus der Abspiegelung ihrer Prosawerke erkennen zu las¬ sen. Es liegt eine Kluft zwischen uns und jenen Werken, die dem gewoͤhnlichen Auge unsichtbar 19 * sein mag, die aber dem schaͤrferen und geuͤbteren Blick in ihrer ganzen Breite und Tiefe nicht ent¬ geht. Dies auszufuͤhren wird meine heutige Auf¬ gabe sein. Es ist schwer, mit einigen Worten diesen Unterschied anzugeben; derselbe liegt nicht allein in der Natur der ausgesprochenen Ansichten, na¬ mentlich in der groͤßeren Freiheit der politischen, sondern im verborgenen Raͤderwerk des Geistes, im Schwung, in der Konzentration der Gedanken nach einer gewissen Richtung, in der Wahl des Ausdrucks, im Bau der Periode, selbst in schein¬ baren Kleinigkeiten, wie Absaͤtze, Punkte und Kommata sind. Dennoch bringt es unsere Auf¬ gabe mit sich, wenigstens den Versuch zu machen, uns uͤber das Charakteristische des Sonst und Jetzt in der Prosa so gut, als es geschehen kann, aufs Reine zu bringen. Gewiß, meine Herren, Sie werden sich kei¬ nen groͤßeren Unterschied in der Schreibart denken koͤnnen, als zwischen der Goethischen und der von Jean Paul, obgleich man doch Beide als Zeitgenossen zu betrachten hat; eben so auffallend wird Ihnen die Heinesche Schreibart von der des edeln Boͤrne abzustechen scheinen. Dennoch wird ein der Geschichte kundiger, geistreicher Mann, der nach hundert Jahren die fruͤhere und jetzige deutsche Literatur seiner Aufmerksamkeit wuͤrdig haͤlt, ohne Weiteres Goethe mit Jean Paul, Heine mit Boͤrne verbinden und jedem Paar seine eigenthuͤmliche Periode anweisen; so stark und durchsichtig sind die Kennzeichen, die jedes Zeit¬ alter seinen bedeutenden Organen und Schriftstel¬ lern anhaͤngt. Charakterisiren wir vorlaͤufig die vier genannten Schriftsteller und ihre Schreibart durch einige der hervorstechendsten Zuͤge, welche Jedermann bei ihrer Lesung in die Augen sprin¬ gen. Goethe schreibt in seinen besten Werken, wie ein Kuͤnstler des Alterthums meißelt, jeder Mei¬ ßelschlag von den tausenden, die leicht und zierlich vor unsern Augen angebracht werden, bringt eine neue Schoͤnheit ans Licht, zeigt uns eine neue Ader, Muskel des Apoll, der Venus, des Herku¬ les, bis die ganze kunstreich verkoͤrperte Idee Fleisch und Blut zu gewinnen scheint und mit der zarte¬ sten Haut umgeben vor uns steht. Waͤhrend nun Goethe bei allen seinen Produktionen die Idee der Kunst vor Augen schwebte und er kein Wort, keinen Gedanken niederschrieb, um außer der Reihe der uͤbrigen damit zu glaͤnzen, sondern jeden Aus¬ druck dem hoͤhern Ganzen unterordnete, hatte Jean Paul, sein Zeitgenosse, gar keine Ahnung von Kunst und kuͤnstlerischer Darstellung, das Herz voll unaussprechlicher tiefer Gefuͤhle, den Kopf schwanger von Witz und Phantasie, goß er eine Fluth von Gedanken und Gefuͤhlen aufs Papier hin, so wie er jedesmal im Moment angeregt und aufgelegt war, ohne sich eben, zum Behuf einer konzipirten Kunstidee, viel um die Stelle zu be¬ kuͤmmern, wo er sein Genie leuchten ließ. Mei¬ stens gibt er zu viel und erdruͤckt, im Laufe eines Satzes faͤllt ihm Hunderterlei ein, was als Pa¬ renthese oder zwischen Kommaten eingeschlossen wird und so gleichen seine Perioden dem Zickzack der Blitze und sind nicht selten, wie diese, taube Schlaͤge, die wohl erschuͤttern, aber nur momen¬ tan und keine Nachwirkung zuruͤcklassen. Boͤrne , an Gemuͤth ihm aͤhnlich, ist ihm hierin ganz ent¬ gegengesetzt, jeder Satz ein abgeschlossener Ge¬ danke, Schlag um Schlag eine neue Behauptung, Schritt vor Schritt ein Stuͤck Weges zuruͤckge¬ legt, Stoß um Stoß irgend eine traͤge Masse von Vorurtheilen und Dummheiten verdraͤngt. Absicht und Kunst, wie bei Goethe, sind selten an seiner Darstellung zu merken, er draͤngt und faͤhrt nur so darein und kuͤmmert sich nicht um das, was die Leute dazu sagen. Man sollte mei¬ nen, daß Heine dies auch nur so thut, allein man wuͤrde sich irren. Vergleichen Sie den Hei¬ neschen Stil mit dem Boͤrneschen, so werden Sie die Absichtlichkeit der Heineschen Darstellung als etwas ihr Eigenthuͤmliches nicht verkennen. Heine bedenkt sich, wo Boͤrne unbedenklich hinschreibt und wo Jean Paul zwei Gedanken fuͤr einen in einander mischt. Nicht, daß er um das, was er sagen will, verlegen waͤre, nicht, daß ihm irgend eine Anspielung, eine Vergleichung, eine geistreiche Wendung nicht zu Gebot staͤnde, er bedenkt sich, um den Ausdruck zu treffen, der das, was er sa¬ gen will, unvergeßlich macht, das Wort zu fin¬ den, das seinen Gedanken auf das Eigen¬ thuͤmlichste und Schlagendste wiedergibt. Haͤlt man nun diese Zuͤge der bewaͤhrtesten Schriftsteller mit einander zusammen, so moͤchte man eher Boͤrne mit Jean Paul, Heine mit Goe¬ the in Vergleichung setzen, wenn man bei Beur¬ theilung eines Stilistikers von der Idee der Kunst als tertium comparationis ausgeht. Heine und Goethe, Boͤrne und Jean Paul sind sich in der That auch in Anlagen und geistigem Vermoͤ¬ gen verwandt, was auch von ihnen selbst, ich meine von den Juͤngeren, Heine und Boͤrne, rich¬ tig gefuͤhlt und ausgesprochen ist; von Letzterem in der herrlichen Rede auf Jean Pauls Tod, das schoͤnste Denkmal, das den Manen des großen Dichters errichtet worden und das zugleich, so¬ wohl durch die Begeisterung der Sprache, als durch diese selbst dem Redner einige unverwelkliche Blaͤtter aus Jean Pauls eigenem Ehrenkranz zu¬ sichert. Von Ersterem hier und da in seinen Schriften und namentlich an zwei Stellen, den¬ selben, die ich ihrer naiven Offenheit und Wahr¬ heit wegen anzufuͤhren mich veranlaßt fuͤhle. In einer Kritik des beruͤhmten Menzel¬ schen Werkes uͤber die neuere deutsche Literatur, befindlich in den Cottaischen Annalen, deren Her¬ ausgeber Heine eine Zeitlang war, wirft er Men¬ zel die unanstaͤndige Geringschaͤtzung vor, mit wel¬ cher dieser uͤber den Koͤnig der Schriftsteller, Goe¬ the , aburtheilt und ihm nur, statt des Genies, laͤcherlicherweise ein Talent zur Schriftstellerei ein¬ raͤumt, bei welcher Gelegenheit Heine so witzig als beilaͤufig ausruft: Menzel muß wenigstens ein¬ gestehen, daß Goethe mitunter das Talent hat, ein Genie zu sein. Allein bei der Rechtfertigung Goethe's unterlaͤßt er selbst nicht, diesem einen Vorwurf daruͤber zu machen, daß er in seinen alten Tagen ganz und gar die Titanenflegeljahre seiner Jugend, den rauhen Goͤtz, den schwuͤlen Werther, die stachlichten Xenien vergesse, die jun¬ gen Schriftsteller von Talent nicht anerkennen wolle, und dagegen die liebe geistige Mittelmaͤßig¬ keit seiner Nachbeter und Schuͤler mit vornehmer Protektion beehre. Der Goethe kaͤme ihm vor, wie ein Raͤuberhauptmann, der sich vom Hand¬ werk zuruͤckgezogen und den Abend seines Lebens in einem kleinen Landstaͤdtchen unter Philistern zu¬ bringe und vor dem zufaͤlligen Anblick eines alten kalabresischen Waldgefaͤhrten unangenehm zuruͤck¬ schaudre — man sieht, daß Heine sich diese Rolle zutheilt. Der andern Stelle begegnet man in dem neuesten Heineschen Werk, Geschichte der deutschen Literatur, wo er eine unbegrenzte Ehr¬ furcht vor Goethe's Genie ausspricht und das et¬ was arrogante Eingestaͤndniß macht, nun, da Goethe todt sei, duͤrfe er wohl bekennen, daß Alles, was er fruͤher gegen ihn hatte und aͤußerte, nur Folge seiner Eifersucht gewesen. Welches Merkmal ist es also, das die Aesthe¬ tik der neuesten Literatur, die Prosa eines Heine, Boͤrne, Menzel, Laube von fruͤherer Prosa unter¬ scheidet? Ich moͤchte ein Wort dafuͤr geben und sagen, dies Merkmal ist die Behaglichkeit, die sichtbar aus der Goetheschen und Jean Paulschen Prosa spricht uud die der neuesten fehlt. Jene fruͤheren Großen unserer Literatur lebten in einer von der Welt abgeschiedenen Sphaͤre, weich und warm gebettet in einer verzauberten idealen Welt, und sterblichen Goͤttern aͤhnlich auf die Leiden und Freuden der wirklichen Welt hinabschauend und sich vom Opferduft der Gefuͤhle und Wuͤnsche des Publikums ernaͤhrend. Die neuern Schrift¬ Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 20 steller sind von dieser sichern Hoͤhe herabgestiegen, sie machen einen Theil des Publikums aus, sie stoßen sich mit der Menge herum, sie ereifern sich, freuen sich, lieben und zuͤrnen, wie jeder Andere, sie schwimmen mitten im Strom der Welt und wenn sie sich durch etwas von den Ue¬ brigen unterscheiden, so ist es, daß sie die Vor¬ schwimmer sind, und sei es nur trocken und ele¬ gant auf dem Ruͤcken eines Delphins, wie Heine, oder naß und bespritzt, wie Boͤrne, den Ge¬ staden der Zukunft entgegeneilen, welche die Zeit fuͤr „ihre hesperischen Gaͤrten gluͤcklicher Inseln“ ansieht. Behaglichkeit ist in solcher Lage und bei sol¬ chem Streben nicht wohl denkbar, die Schriftstel¬ lerei ist kein Spiel schoͤner Geister, kein unschul¬ diges Ergoͤtzen, keine leichte Beschaͤftigung der Phantasie mehr, sondern der Geist der Zeit, der unsichtbar uͤber allen Koͤpfen waltet, ergreift des Schriftstellers Hand und schreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte, die Dichter und aͤsthetischen Prosaisten stehen nicht mehr, wie vormals, allein im Dienst der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes und allen maͤchtigen Zeitbestrebungen sind sie Verbuͤndete. Ja, sie finden sich nicht selten im Streit mit jenem schoͤnen Dienst, dem ihre Vorgaͤnger hul¬ digten, sie koͤnnen die Natur nicht uͤber die Kunst vergessen machen, sie koͤnnen nicht immer so zart und aͤtherisch dahinschweben, die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrun¬ gen, und mit dieser, das ist ihre Schicksalsauf¬ gabe, mit dieser muß ihre Kraft so lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegengesetzte ist. Daher begreifen sie auch, woher diese Quelle der Behag¬ lichkeit, welche uͤber Goethe's Kunstprosa, uͤber Jean Pauls Humor so ruhig und lieblich hin¬ fließt, und der selbst diesem, so unkuͤnstlerisch er auch zu Werke geht, weit mehr die Empfindung der Ruhe und Befriedigung mittheilt, welche mit dem Anschauen klassischer Werke verknuͤpft ist, als den Heineschen Kunstprodukten. Ich wuͤrde in Verlegenheit gerathen, sollte ich im einzelsten Einzelnen an einem Satz, einer Periode das Gesagte nachweisen, nichtsdestoweni¬ ger ist eben dieser verschiedene Charakter im Gan¬ zen, Großen, allen prosaischen Werken dieser und jener Zeit aufgedruͤckt. Die neue Prosa ist von der einen Seite vulgairer geworden, sie verraͤth ihren Ursprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Leben, von der andern Seite aber kuͤhner, schaͤr¬ fer, neuer an Wendungen, sie verraͤth ihren krie¬ gerischen Charakter, ihren Kampf mit der Wirk¬ lichkeit, besonders auch ihren Umgang mit der franzoͤsischen Schwester, welcher sie außerordentlich viel zu verdanken hat. Der deutsche Prosaist ist seit der franzoͤsischen Revolution und eben durch franzoͤsische Schriften, Herr und Meister geworden uͤber das ungeheure Material der Sprache, das den fruͤhern Schriftstellern in ellenlangen Perioden nachschleppte, von Goethe aber freilich schon zu Kunstarbeiten gluͤcklich verzimmert worden war. Die groͤßte Meisterschaft hat sich Heine darin er¬ worben, der den fluͤchtigen Ruhm, Liederdichter zu sein, sehr bald mit dem groͤßeren vertauscht hat, auf dem kolossalen, alle Toͤne der Welt umfassen¬ den Instrument zu spielen, das unsere deutsche Prosa darbietet. Die Witzader ist bekanntlich die Hauptader der Heineschen Prosa, ja der ganzen Heineschen Person, der immer etwas auf den Lippen schwebt, was einem Witz aͤhnlich sieht. Der Witz ist das, was Heine's Schriften so verbreitet und wirksam macht, was aber auch zugleich die steifen Herren, die aristokratischen Herren, die pfaͤffischen Herren wider sie aufbringt. Es ist uͤberhaupt in Deutsch¬ land noch nicht lange her, daß es den Schrift¬ stellern ungestraft hinging, witzig zu sein; die meisten Schriftsteller gehoͤrten zur Klasse der Ge¬ lehrten und unter dieser saftlosen und hochmuͤthigen Klasse hatte sich eine solche Verachtung der ur¬ spruͤnglichen und angebornen geistigen Gaben und namentlich des Witzes eingenistet, daß es um den Ruf eines jungen Mannes unwiderbringlich gesche¬ hen war, wenn ihm das Malheur passirte, in seinen Schriften und Vortraͤgen eine geistreiche, bluͤhende und witzige Sprache zu fuͤhren. Die deutschen Gelehrten mieden die witzigen Leute, als waͤren sie Aussaͤtzige, und wirklich nannte der Schweizer Bodmer den Witz eine Kraͤtze des Geistes, die nicht eher Ruhe laͤßt, als bis sie sich durchjuckt. Allmaͤhlig aber sind den Deutschen die Augen, wie uͤber viele Dinge, so auch uͤber den Witz aufgegangen. Die Nothwendigkeit deutscher witziger Kultur vertheidigt Jean Paul mit folgen¬ den Worten: es gibt nicht blos Entschuldigungen der Kultur des Witzes, sondern sogar Aufforde¬ rungen dazu, welche sich auf die deutsche Natur gruͤnden. Alle Nationen bemerken an der deut¬ schen, daß unsere Ideen wand-, band-, niet- und nagelfest sind und daß mehr der deutsche Kopf und die deutschen Laͤnder zum Mobiliarvermoͤgen gehoͤren, als der Inhalt von beiden (naͤmlich die Gedanken und die Menschen). Wie Wedekind den Wasserscheuen beide Aermel aneinander naͤht und beide Struͤmpfe, um ihnen das Bewegen einigermaßen unmoͤglich zu machen, so werden von Jugend auf unsern innern Menschen alle Glieder zusammengenaͤht, damit ruhiger Nexus vorliege und der Mann sich mehr im Ganzen bewege. Aber Himmel, welche Spiele koͤnnten wir gewin¬ nen, wenn wir mit unseren einsamen Ideen ro¬ chiren koͤnnten. Zu neuen Zeiten gehoͤren durchaus freie ; zu diesen wieder gleiche ; und nur der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleichgewicht vorher¬ gibt. Er ist fuͤr den Geist, was fuͤr die Scheide¬ kunst Feuer und Wasser ist. Chemica non agunt nisi soluta , das ist, nur die Fluͤssigkeit gibt die Freiheit zu neuer Gestaltung, oder, nur entbun¬ dene Koͤrper schaffen neue. Besinnt sich ein Au¬ tor zum Beispiel bei Sommerflecken des Gesichts auf Herbst-‚ Lenz-, Winterflecken desselben, so offenbart er dadurch wenigstens ein freies Be¬ schauen, welches sich nicht in den Gegenstand ein¬ gekerkert verliert und vertieft. Uns fehlt zwar Geschmack fuͤr den Witz, aber gar nicht die Anlage zu ihm. Wir haben Phan¬ tasie; und die Phantasie kann sich leicht zum Witz einbuͤcken, wie ein Riese zum Zwerg, aber nicht dieser sich zu jenem aufrichten. In Frankreich ist die Nation witzig, bei uns die Elite. Da dem Deutschen, faͤhrt Jean Paul saty¬ risch-witzig fort, folglich zum Witz nichts fehlt, als Freiheit, so geb' er sich doch diese. Etwas glaubte er freilich fuͤr diese zu thun, daß er neue¬ rer Zeit ein und das andere rheinische Laͤnderstuͤck in Freiheit setzte, naͤmlich in franzoͤsische und wie sonst den Adel, so jetzt (dieser Aufsatz ist unter Napo¬ leons Herrschaft geschrieben) die besten Laͤnder, zur Bildung so zu sagen auf Reisen schickte zu einem Volk, das gewiß noch mehr frei ist, als groß. Hier ist nur ein alter, aber unschuldiger Weltzirkel, der uͤberall wieder vorkommt. Die Menschheit kann nie zur Freiheit gelangen ohne geistige hohe Ausbildung: Freiheit gibt Witz und Witz gibt Freiheit. Die Schuljugend uͤbe man im Witz; das spaͤtere Alter lasse sich zu dem Witz freilassen . So weit Jean Paul. Er selbst hat zur gei¬ stigen Emanzipation der Deutschen durch Humor und Witz, mehr als irgend ein anderer Schrift¬ steller seiner Zeit, beigetragen. Ihm stand mehr Witz zu Gebot, als allen deutschen Schriftstellern zusammengenommen, eine einzige Seite seiner Schriften wird selbst durch den witzigsten Franzo¬ sen und Englaͤnder kaum durch vier andere Sei¬ ten aufgewogen. Dennoch mangelte seinem Witz der Charakter der Einheit, welchen die Kunst und eine bestimmte Gemuͤths- und Lebensrichtung den Strahlen des Witzes verleiht. Der Witz an sich ist ein geistiges Quecksilber, das in tausend Kuͤgel¬ chen uͤber die Papierflaͤche rollt, ein scherzender Schmetterling, der von Blume zu Blume fliegt, ein ungewisser Strahl, der sich in Luft und Was¬ ser bricht und das reinste Krystall, wie die truͤbste Glasscheibe durchflittert und vergoldet. Der Witz an sich ist der Diener aller Herren, der Dummen ausgenommen, aber nicht der Schlechten, nicht der Servilen; denn er kehrt sich nicht an Herz und Gesinnung, sondern nur an den Verstand und ein elender Saphir, ein Mensch, den man durch Furcht dahin bringen kann, die Peitsche zu kuͤssen, die ihn gezuͤchtigt hat, kann einen Washing¬ ton, einen Lafayette an Witz besiegen und uͤber¬ fluͤgeln. Nur wenn der Witz sich mit edlerem Ver¬ moͤgen paart, wenn er phantasiereichen und ge¬ muͤthvollen Menschen zu Gebot steht, wenn er ei¬ nem Jean Paul dient, Himmel und Erde, Ver¬ gangenheit und Zukunft mit einander zu verknuͤpfen, kann er dem ernsteren Deutschen gefallen: um uns am Witze nicht zu aͤrgern, muß uns der Charak¬ ter des Witzigen nicht aͤrgerlich sein, um uns am Spiel des Witzes zu ergoͤtzen, muͤssen wir ihn uͤber der Tiefe des Ernstes schweben sehen. Das ist auch die Natur des deutschen Witzes, der an Zweideutigkeiten und Wortspielen wenig Geschmack findet; und daß seine Natur so ist, verdankt er eben seiner Verbindung mit der Phantasie, welche ihn auf ihre Schwingen nimmt und ihn vor der Gefahr schuͤtzt, ins Kleinliche oder Gemeine aus¬ zuarten. Allein auf der andern Seite hat diese Verbindung des Witzes mit der Phantasie auch ihre Nachtheile; wie aus dem Beispiel Jean Pauls erhellt; dessen Witz, bei einem geringeren Grad von Phantasie, schlagender gewesen waͤre, als bei dieser Ueberfuͤlle. Das ist der Abweg des deut¬ schen Witzes, er wird zu phantastisch, er entfernt sich zu weit von der naͤchsten graden Gedankenli¬ nie und verliert uͤber dem Haschen das endliche Ziel aus den Augen. Sie sehen wohl, wo die Quelle dieser wildgewordenen Witze, dieser ins Blaue streifenden Phantasie zu suchen ist. Den¬ ken Sie an Jean Paul. War eine Lebenseinheit in seinem Charakter, schwebte ihm ein bestimmtes Ziel vor Augen? Nein. Er strebte allem Hoͤch¬ sten nach, aber nach Art der damaligen Poeten, mehr im Traum, als im Wachen, er war ein edler, freier Mann, er kannte die Gebrechen der Zeit, er fuͤhlte die Schmach des Vaterlandes, er zuͤrnte uͤber Aristokratismus und Moͤncherei, allein sein Ringen nach einer bessern Zeit zerfloß immer Wienbarg, aͤsthet. Feldz 21 in Sentimentalitaͤt, und wenn er einmal eine starke Lanze einlegte und gegen einen bestimmten Feind zu Felde zog, so war ihm dieser eher das Nach¬ druckergesindel, und sonstige deutsche Schofel und Schofeleien, als die großen Landesfeinde und Lan¬ desuͤbel, die der Patriot aufs Korn nehmen soll. Das lag in seiner Zeit; in der unsrigen hat sich der Witz einen Kampfplatz aufgesucht, wo er mit der Freiheit vereint gegen verrostete Helme und Kaputzen zu Felde zieht und gottlob, es liegen schon Splitter und Stuͤcke genug auf dem Boden, welche seine Schaͤrfe und Kraft beurkunden. Man laͤßt den Witz nicht mehr auf seine eigne Hand und nach den Grillen der Phantasie hinlaufen, er ist nicht mehr ein ungesatteltes fluͤch¬ tiges Pferd, das ohne Bahn und Steg rechts und links ausschlaͤgt und blos mit Lust und Be¬ wunderung uͤber seine Kuͤhnheit erfuͤllt, es sitzt ihm ein Reiter auf dem Nacken, auf dessen Wink und Fuͤhrung es die verhaßten Barrieren uͤberspringt und niederreitet, welche die Dummheit und die Un¬ verschaͤmtheit vor dem Genuß der Welt aufgeschla¬ gen hat. Der Witz unserer neuen Prosa ist nicht mehr ein reiner Phantasiewitz, sondern Charakter¬ witz, er ist unserer heutigen Prosa, ich meine, unserm heutigen Buͤrgerstande, unsere buͤrgerliche Freiheit. Der Adel hat sich oft mit der Poesie des Lebens verglichen, mag er sie repraͤsentiren auf die unschaͤdliche Weise, wie es die Goldenschnitts¬ taschenbuchspoeten in Deutschland thun, er ist ihr ein unentbehrliches Werkzeug, um den vernichten¬ den Krieg zu fuͤhren, dessen Ende sich wohl bis zu kuͤnftigen Geschlechtern hinziehen wird, um das Saͤuberungsgeschaͤft im Augiasstall von Europa durchzusetzen, um reine Bahn zu machen fuͤr andre Fuͤße, als die mit Ketten und Vorurtheilen bela¬ steten. Diese Bedeutung des Witzes fuͤr unsere Zeit spricht Heine, dessen Witz eben hierin vor¬ leuchtet, mit folgenden Worten aus: Es gibt trockne Leute in der Welt, die den Witz gern proskribiren moͤchten und man kann taͤglich hoͤren, wie Pantalon sich gegen diese nie¬ drigste Seelenkraft, den Witz, zu ereifern weiß und als guter Staatsbuͤrger und Hausvater die Polizei auffordert, ihn zu verbieten. Mag immer¬ hin der Witz zu den niedrigsten Seelenkraͤften ge¬ hoͤren, so glauben wir doch, das er sein Gutes hat. Wir wenigstens moͤchten ihn nicht entbeh¬ ren. Seitdem es nicht mehr Sitte ist, einen De¬ gen an der Seite zu tragen, ist es durchaus noͤ¬ thig, daß man Witz im Kopfe habe. Und sollte man auch so uͤbellaunig sein, den Witz nicht blos als nothwendige Wehr, sondern sogar als Angriffs¬ waffe zu gebrauchen, so werdet daruͤber nicht all¬ zusehr aufgebracht, ihr edeln Pantalone des deut¬ schen Vaterlands. Jener Angriffswitz, den ihr Satyre nennt, hat seinen guten Nutzen in dieser schlechten, nichtsnutzigen Zeit. Keine Religion ist mehr im Stande, die Luͤste der Erdenherrscher zu zuͤgeln, sie verhoͤhnen euch ungestraft und ihre Rosse zertreten eure Saaten; eure Toͤchter hungern und verkaufen ihre Bluͤthen dem schmutzigen Par¬ venuͤ, alle Rosen dieser Welt werden die Beute eines windigen Geschlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien und vor dem Uebermuth des Reichthums und der Gewalt schuͤtzt euch nichts, als der Tod und die Satyre.