Die letzte Reckenburgerin. Erster Band. Neue belletristische Werke sehr beliebter deutscher Schriftsteller aus dem Verlage von Otto Janke in Berlin , welche durch jede Buchhandlung zu beziehen und in jeder guten Leihbibliothek vorräthig zu finden sind: Becker, August, Der Karfunkel. Roman. 8°. Geh. 1 Thlr. 15 Sgr. Byr, Robert, Sphinx. Roman. 3 Bde. 8°. Geh. 4 Thlr. Byr, Robert, Zwischen zwei Nationen. Roman. 3 Bde. Geh. 3 Thlr. Galen, Philipp, Der Friedensengel. Roman. 3 Bde. 8. Geh. 6 Thlr. Giese, Marie, Es ist bestimmt in Gottes Rath. Erzählung. Geh. 1 Thlr. Giese, Marie, Die Frau Meisterin und ihr Sohn. 8°. Geh. 1 Thlr. 15 Sgr. Gutzkow, Karl, Die Ritter vom Geiste. Fünfte, völlig umgearbeitete Auf¬ lage. 4 Bde. Geh. 2 Thlr. Gutzkow, Karl, Die Söhne Pestalozzi's. Roman. 3 Bände. Gr. 8°. Eleg. geh. 5 Thlr. 20 Sgr Lewald, Fanny, Nella. Eine Weihnachtsgeschichte. Gr. 8. Eleg. geh. 1 Thlr. 22½ Sgr. Ludwig, Otto, Gesammelte Werke. Neue, revidirte Ausgabe mit einer Einleitung von Gustav Freytag . 4 Bde. 8°. Geh. 2 Thlr. Die letzte Reckenburgerin. Roman von Louise von Fran ç ois. Erster Band. Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen ist vorbehalten. Berlin, 1871. Druck und Verlag von Otto Janke. Einführung. Es war etwa zwei Jahre nach der Schlacht von Waterloo, als in einem niederländischen Gränzstädtchen armen Eltern eine Tochter geboren wurde. Die kleine, fremde Stadt ist nicht der Schauplatz unserer Geschichte und die kleinen, fremden Leute sind nicht deren Helden. Das alltägliche Ereigniß aber sollte gleichsam den Angelpunkt bilden, um welchen dieselbe rückwärts und vorwärts sich bewegen wird. Denn wäre jenes Kindlein nicht geboren, oder wäre es nicht in der Fremde und in Dürftigkeit geboren worden, so würde die weite Welt von unserer wirk¬ lichen Heldin nichts erfahren und wir würden ihr nicht deren Bekenntnisse zu offenbaren haben. Der Vater des Kindes war noch jung, vielleicht kaum großjährig. Dazu ein Mann von auffälliger, sagen wir ritterlicher Kraft und Schöne der Gestalt, Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I. 1 wenngleich das sturmvolle Leben des Feldlagers in den frühverwüsteten, narbigen Zügen zu lesen stand und wenngleich der Verlust eines Armes ihn zum Krüppel machte. Er war als unbärtiger Forstlehrling der Schaar des Braunschweig-Oels in Sachsen zu¬ gelaufen, hatte die heldenmüthigen Fahrten und Thaten dieses Corps unter britischer Fahne auf der Halb¬ insel, wie später in den Niederlanden getheilt, bis er bei la Haye sainte schwer werwundet und eines Gliedes beraubt, als Wachtmeister verabschiedet wor¬ den war. „Prinz Gustel“ hatten die Kameraden der Legion den stattlichen, flotten Sachsen titulirt; er selber nannte sich bescheidentlich August Müller. Die Mutter mochte leicht ein Mandel Jahre mehr zählen als ihr Gespons, und liegt es uns zu unserer Befriedigung nicht ob, über die vergangenen Tage der „schwarzen Lisette“ gewissenhaft Buch zu führen. Genug, daß sie als Marketenderin, zuletzt bei der Legion, ge¬ dient, daß sie ihren August nach seiner Verwundung getreulich verpflegt hat, daß sie sein rechtmäßiges Weib geworden und jetzt ämsig bemüht ist, den armseligen Haushalt durch langentwöhnte Handarbeit zu fristen. Die späte Wiege schien eine unberechnete Geräth¬ schaft in ihrem Mahlschatze gewesen zu sein. Jeden¬ falls hatte die Kampfesstunde, welche einem Menschen das Leben giebt, das wetterbraune, hartgliederige Weib schwerer mitgenommen als zwanzig Kampfesjahre, in welchen sie Tausende das ihre verenden sah. Die Finger zitterten und der Schweiß tropfte von ihrer Stirn, als sie jetzt, bei eintretender Dämmerung, die feinen Lederzwickelchen noch aneinanderpaßte, die sich, sobald der Morgen graute, in zierliche Damenhandschuhe ver¬ wandeln sollten. Sie seufzte, wenn sie von Zeit zu Zeit einen schüchternen Blick auf das schwächliche Wesen fallen ließ, das seit drei Tagen, fast ohne zu erwachen, an ihrer Seite kaum merkbar athmete. Noch weit unbehaglicher indessen schien dem jungen Invaliden dieser häusliche Zustand vorzukommen. Er schritt in der halbdunklen, niedrigen Kammer auf und ab gleich einem eingefangenen Hirsch, der sich das Ge¬ weih abzustoßen fürchtet, riß dann, schwer athmend, das Fensterschößchen auf und schlug es unwirsch wieder zu, als er die Frau ängstlich das Kind gegen den Luft¬ zug bedecken sah. Endlich aber rannte er, ein Donner¬ wetter brummend, aus der Thür, durch welche wir ihn nach einer Weile, eine Weinflasche in der Hand und in gemüthlicherer Laune, zurückkehren sehen. „Leg' das Zeug bei Seite und thu' einen Zug, 1* Lisette!“ rief er der Wöchnerin entgegen. „Du bist's gewöhnt, und es thut Dir noth, armes Weib.“ Frau Lisette schüttelte bedenklich den Kopf, seufzte und frug mit tiefer, zur Zeit merkbar angegriffener Stimme: „Und die Zahlung, August? Wieder ge¬ knöchelt gestern Nacht? Wieder gekärtelt? Mann, Mann!“ „Nun, seit wann hältst Du denn Knöcheln und Kärteln für eine Sünde, altes Haus?“ entgegnete lachend der Invalid. „Trink, und schneide kein Ge¬ sicht! Kann ich Holz hacken mit meinem Stumpf? Soll ich die Orgel umhängen und vor den Thüren dudeln, he? Schmählich genug, daß Eine, die so tapfer dem Kalbsfell gefolgt, elende Ziegenfellchen zu¬ sammenstoppeln muß. Aber laß das Gestöhn! Greinen, wenn man unterm Kanonendonner gelacht! Einen Schluck und herzhaft drein geschaut wie sonst. Es kann ja nicht ewig Frieden bleiben. Wie lange wird's dauern, ist der Napoleon retour und dann — —“ Er verstand den kläglichen Blick, mit welchem die Marketenderin seine Rede unterbrach, fuhr aber nach kurzem Besinnen in munterster Laune also fort: „Man braucht nur einen Arm, um dreinzuhau'n, Lisette. Ich habe ihrer mit der Linken losfeuern sehen und mir ist die Rechte geblieben, die Mannesfaust. Nur erst den Napoleon retour, das Zelt aufgeschlagen, ein Pferd unter den Leib, und Stumpf und Kindsbett — bah! wer denkt noch an die ? Pack die Lappalien zu¬ sammen und laß uns Eins schwatzen. Sei wieder meine alte, brave, lustige Schwarze!“ „Du hast Recht, August; laß uns Eins schwatzen,“ versetzte die Frau nach einer Pause mit einem herz¬ haften Entschluß, indem sie erst ihr Nähzeug sorg¬ fältig verpackte, dann die Flasche entkorkte, einschenkte und nach einem kräftigen Zug das Glas dem In¬ validen reichte. — „Bleib' einmal bei mir heute Abend, Mann. Wir wollen uns Geschichten er¬ zählen, wie sonst im Zelt. Aber keine von den alten, keine, die wir an den Fingern ableiern können, Du, wie ich.“ Der Invalid lachte. „Curios, just von den Schnurren, die Einer von den Fingern ableiern kann, hört und schwatzt er am liebsten,“ meinte er. „Nun freilich, freilich, August, so für alle Tage. Nur heut' einmal zum Spaß ein Extrastück. Ein noch älteres , Mann. Etwas von vor unserer Fahnen¬ zeit. Ich meine, etwas von der Heimath und den Angehörigen, die wir — —“ Sie machte eine Pause, in der sie einen ihrer Kehle fremdartigen Ton hinunterpreßte. Dann, nach einem Blick auf das Kind, der etwa wie „armer, ver¬ lassener Wurm!“ auszulegen war, fuhr sie fort: „Freilich, bei mir ist's eine Weile her. Die Eltern waren todt, Geschwister hatte ich keine und die Gevattern und Muhmen, wenn sie allenfalls noch lebten, ich würde sie schwerlich wiedererkennen, oder richtiger ausgedrückt, sie würden die Lisette nicht wiedererkennen wollen, die — — Aber Du, August, Du bist ein junges Blut gegen mich. Wie lange ist es denn her? Keine zehn Jahr.“ „Anno neun, Lisette. Netto acht Jahre. Es war, wie der Herzog —“ „Ich weiß das vom Herzog, Freund. Acht Jahre! In der Zeit wird ein Mensch nicht ver¬ gessen und ein Mann wird nur mit Ehren darauf an¬ gesehen. Kehrtest Du heute heim, Deine Leute würden Dich mit Vergnügen aufnehmen, August.“ Freund August lachte aus vollem Halse. „Meine Leute?“ fragte er, „der Förster etwa, dem ich aus dem Garne gelaufen bin?“ „Nun, wenn der Förster just auch nicht, so doch die , welche Dich vor ihm in Versorgung hatten.“ „Der Waisenvater, meinst Du? Der gute Mann war alt; er wird lange todt sein, Lisette.“ „Aber Dein leiblicher Vater, Mann!“ „Ei, wie dumm, kluge Lisette! nachdem ich eben erst des Waisen vaters erwähnt. Einen leiblichen habe ich nicht gekannt.“ „Oder Deine Mutter — —“ „Ich weiß von keiner Mutter, Frau.“ „Von keiner Mutter? Aber eine Waisenanstalt ist doch kein Findelhaus. Du hattest Deine Jahre, mußt Dich auf etwas vorher besinnen können.“ „Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde.“ „Eine Muhme! Wie hieß sie, Mann?“ „Sie hieß Justine.“ „Und weiter?“ „Weiter weiß ich's nicht.“ „Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben. Was war er, wo lebte er, August?“ „Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen.“ Die Frau ließ sich durch diesen Ehrentitel nicht irre machen. „Besitzest Du denn gar nichts Schrift¬ liches?“ forschte sie nach einigem Besinnen weiter. „Nicht Deinen Taufschein, den Todtenschein der El¬ tern und dergleichen?“ „Hast Du Deine Kirchenzeugnisse eingeholt, als Du bei Nacht und Nebel Deiner Dienstherrschaft von dannen ranntest?“ gegenfragte spottend der Mann, setzte aber, da er wieder einen Seufzer zu hören glaubte, gutmüthig hinzu: „Na, nimm's nicht übel, Lisette. Etwas Schriftliches möchtest Du? Ja, da wäre allen¬ falls der Schein, mit dem mich der Probst aus dem Kloster entlassen hat.“ „Auch im Kloster bist Du gewesen? Unter Mön¬ chen, August? Wohl gar katholisch?“ „Lieber gar, altes Haus! Das ist nicht Mode im Leipziger Kreis. Die Anstalt hieß nur das Klo¬ ster und der Director der Probst von päpstlichen Zei¬ ten her. Der alte Zettel hat sich erhalten, weiß sel¬ ber kaum wie . So oft ich ihn wegwerfen wollte, sah ich den guten, blassen Mann und seine Thränen, als er mir ihn gab. Wir hatten ihn Vater genannt, und er war uns wie ein Vater gewesen. Da steckt' ich den Wisch denn immer wieder ein.“ „Zeige mir den Schein, August,“ bat die Frau, indem sie sich hastig daran machte, Feuer zu schlagen und die Lampe auf dem Tisch vor ihrem Bette anzu¬ zünden. Als sie damit zu Stande gekommen, entfal¬ tete sie das Papier, das der Invalid aus seiner Brust¬ tasche hervorgesucht hatte, und dessen pulvergeschwärzte, blutige Spuren ein beredtes Zeugniß seiner Jünglings¬ jahre waren. „Psalm 146, Vers neun.“ „Der Herr behütet die Fremdlinge und Wai¬ sen. August Müller. Eingesegnet und unserer Pflegestätte entlassen am vierten April 1807. Kloster Laurentii, Ludwig Nordheim, Kreis Leipzig. Probst und Director. Frau Lisette hatte diesen knappen Inhalt kopf¬ schüttelnd vor sich hingemurmelt. „Kein Geburtsda¬ tum,“ sagte sie nach einer nachdenklichen Pause; „nicht Name, Stand und Wohnort der Eltern! War das Kloster eines für eheliche Kinder, August?“ „Für Soldatenwaisen,“ antwortete stolz der Mann. „Nur als Lückenbüßer dann und wann ein Bürgerjunge.“ „Und Du erinnerst Dich auch entfernt keines Pflegers, oder Vormunds, keiner Ortsbehörde, die Dich in die Anstalt gebracht hätte?“ „Hingebracht? ei freilich, hingebracht hat mich Fräu¬ lein Hardine.“ Die Marketenderin zuckte neubelebt auf. „Fräulein Hardine!“ rief sie, „Mann, wer war Fräulein Hardine?“ „Ein Frauenzimmer, groß und schwarz, wie Du, Lisette,“ versetzte, von dem Eifer seiner Frau belustigt, der Invalid. „Wenn die alte Beckern recht hat, meine Frau, oder Fräulein Mama.“ „Und die alte Beckern, wer war die?“ „Die Waschfrau der Anstalt und eine Klatsche.“ „Fräulein Hardine! Ein Fräulein, keine Mam¬ sell! Eine Adlige sonach.“ „Kann sein. Ihr Vater war ein kurfürstlicher Major.“ „Sein Name —?“ „Hab' ihn niemals nennen hören; vielleicht auch vergessen. Die Tochter hieß bei Allen schlechtweg Fräulein Hardine.“ Frau Lisette saß eine Weile in stillen Gedan¬ ken, dann rückte sie hervor mit einem kriegslistigen Plan. „Gieb mir die Pfeife, daß ich sie Dir stopfe, Gustel,“ sagte sie munter; „und da noch ein Glas, das den Kopf aufräumt. Nun aber erzähle mir einmal hübsch im Zusammenhange Alles, was Du aus Deinen Kin¬ derjahren behalten hast. So wenig es sein mag, — man kann immer nicht wissen — — und von etwas muß doch einmal geplaudert sein, gelt?“ Ein trockner Text für den Liebhaber der Lager¬ geschichten, trotz Pfeife und Flasche, die ihn mundrecht machen sollten. Indessen er hatte gehört, daß man einem Weibe im Kindbett zu Willen reden müsse, und er war im Grunde ein gutmüthiger Gesell. So legte er denn Hand über's Herz, und während die Frau ihre Ziegenfellchen wieder aufnahm, erzählte er, paf¬ fend den engen Raum auf- und niederschreitend, — mit Auslassung etwelcher Kraftausdrücke, die wir einer zar¬ ten Leserin ersparen, — wörtlich wie folgt: „Wie gesagt: wenn, wo, von wem ich geboren worden, weiß ich nicht. So weit ich zurückzuschauen vermag, sehe ich eine alte Frau, die ich „Muhme“ nannte und die mich keine Noth leiden ließ. In einer Stadt oder in einem Dorfe war es nicht, denn ich habe keine Häuser weiter bemerkt, mit Ausnahme des kleinen, darin die Muhme wohnte. Spielkameraden hatte ich auch nicht, abgerechnet die Karnickel und Eich¬ katzen im Walde, der hinter dem Hause lag. Mit denen aber bin ich um die Wette gehetzt und geklet¬ tert den lieben langen Tag. Und das war mir recht. Die Muhme würde ich vielleicht wiedererkennen, viel¬ leicht auch nicht. Das Haus aber könnte ich noch malen. Es sprang aus einem Dickicht hervor; Tannen, so hoch, wie ich keine wieder gesehen, und am Giebel war aus Stein ein Hundekopf angebracht und darüber eine Krone von Gold. „Die Muhme hieß Justine. So nannte sie we¬ nigstens das Frauenzimmer, das sie wohl Tag für Tag besuchte. „Vom Schlosse her,“ wie die Muhme sagte; ich habe aber niemals ein Schloß gesehen. Die¬ ses Frauenzimmer war Fräulein Hardine. Ob sie jung oder alt gewesen ist, kann ich so eigentlich nicht sagen, auch nicht, ob sie es gut oder böse mit mir ge¬ meint. Ich glaube aber gut zu jener Zeit. Gemacht habe ich mir niemals etwas aus ihr. Gemerkt aber, zum Wiedererkennen gemerkt hätte ich sie mir, glaub' ich, schon aus jener Zeit. Es war etwas an ihr, das sich nicht vergißt. Was , das kann ich wieder einmal nicht sagen. „Eines Tages saß ich eingesperrt mit Fräulein Hardine in einem engen Kasten, der sich fortbewegte. Item in einer Kutsche. Von Anfang machte ich große Augen, da ich die Bäume am Wege so hurtig an mir vorüberrennen sah. Ich sehe sie noch rennen, Lisette. Bald aber kriegte ich das Ding satt, tobte, schrie, und würde über den Kutschenschlag gesprungen und in meinen Wald zurückgelaufen sein, wenn Fräu¬ lein Hardine mich nicht an den Ohrlappen festgehal¬ ten und so lange darein gekniffen hätte, bis ich end¬ lich vom Heulen müde ward, mich auf die Bank streckte und in Schlaf verfiel. Ich wachte wohl wie¬ der auf und erhob den vorigen Rumor. Fräulein Hardine kriegte mich aber immer wieder bei den Oh¬ ren, ich schlief immer wieder ein und kann daher nicht sagen, ob die Fahrt Stunden, Tage, Wochen lang gedauert hat, oder wie ich im Uebrigen an mein Ziel gekommen bin. „Von der Zeit ab war ich im Waisenkloster und schlecht gegangen ist es mir darin bei Leibe nicht. Der alte Probst war eine Seele von einem Mann; in Wahrheit ein Waisenvater und mir, wie es schien, ganz absonderlich zugethan. Zu essen gab's reichlich und Fuchtel lange nicht genug für uns wilde Brut. Aber ich hatte kein Sitzefleisch; mich zog's zurück in den Wald. Ein paarmal nahm ich auch Reißaus, wurde natürlich aber wieder eingefangen, und mag man aus diesem Grunde mich auch späterhin niemals, wie manche von den größeren Jungen, in die Stadt ge¬ lassen haben, wenn es daselbst eine Extrabesorgung galt.“ „Aber Fräulein Hardine!“ fiel ungeduldig die Zuhörerin ein, als hier der Erzähler eine Pause machte. „Nun Fräulein Hardine,“ fuhr dieser fort, „Fräulein Hardine, die kam denn auch wohl dann und wann auf Besuch zu unserem Probst, schnitt aber regelmäßig ein essigsaures Gesicht, so oft ich ihr vor¬ geführt ward, raisonnirte, weil ich nichts lernen wollte, und schimpfte mich einen Wildling oder dergleichen. Einmal hat sie mir in der Bosheit auch eine ganz gehörige Backpfeife applicirt.“ Frau Lisette fuhr auf wie electrisirt. — „Eine Backpfeife!“ rief sie mit dem Ausdruck höchster Be¬ friedigung; „eine Backpfeife, August — “ „Ganz gewiß nicht unverdient, Lisette!“ „Gezüchtigt mit eigener Hand! Und das soll nicht seine Mutter gewesen sein!“ „So? Du hättest also eher Deinen eigenen Wurm als einen fremden durchgewichst?“ Die arme Mutter nahm bei dieser Gewissens¬ frage ziemlich kleinlaut ihr Nähzeug wieder auf. — „Ein adeliges Fräulein und unter den Augen der geist¬ lichen Obrigkeit, sie muß doch ein Recht dazu besessen haben,“ — murmelte sie wohl noch, wurde aber nicht mehr gehört, denn ihr Gespons hatte den Faden be¬ reits wieder aufgegriffen. „So viel steht fest, Lisette,“ erklärte er, „hätte Fräulein Hardine mich lebtags mit Streichelfingerchen angefaßt, ich könnte sie vergessen haben. Nun sie sich thätlich an mir vergriffen hat, bleibt und lebt sie vor meinen Augen und würde ich hundert Jahre. „Ich war auf diese Weise ein stämmiger Bursche geworden; kopfshoch größer als sämmtliche Kameraden, und in mir rumorte anjetzo nur noch ein einziges Gelüst. Nicht mehr: „In den Wald!“ wie früherhin. Nein: „Ein Pferd unter den Leib und unter die Soldaten!“ Ich hatte in meinem Leben die ersten Truppen gesehen. Preußen und Landeskinder waren an dem Kloster vorübergezogen. Nämlich während der Mobilmachung von Anno fünf, wo sie dem Oester¬ reicher zu Hülfe wollten. Der Oesterreicher wurde in der Klemme gelassen und meine Preußen zogen wieder ab. Aber nächsten Herbst kamen sie retour. Recta¬ mente dem Napoleon auf den Pelz, der bereits auf dem Wege sei, wie es hieß. Da prickelte es mir freilich vom Kopf zur Zeh'! Ich hatte aber doch so viel Einsehen, daß sie einen halbwüchsigen, verlaufenen Waisenjungen bei der Armee nicht nehmen würden. Einstweilen spielte ich daher nur Soldat, und es war eine Lust, wie ich die Jungens zusammenwalkte. Ich war der Größte und darum von Rechtswegen unser Kurfürst, den ich mir immer nur wie einen Schlage¬ todt vorstellen konnte. Die Meisten, aber Kleinsten, waren die Franzosen und ein Knirps ihr Napoleon. Nun ich habe ihn gebläut, wie vor zwei Jahren den richtigen Napoleon der alte Marschall Vorwärts und unser iron duke .“ „Aber Fräulein Hardine?“ — fragte von Neuem die erwartungsvolle Hörerin und der Exwachtmeister antwortete: „Nur Geduld, gleich ist sie wieder da!“ „Es war am vierzehnten October, — solch ein Elendsdatum vergißt sich nicht, Lisette! — Wir stan¬ den zum Morgenbrod im Kreuzgange aufgestellt, als der Probst zu uns trat mit Hut und Stock, zitternd über den ganzen Leib und weiß wie eine Wand. „Das erste Blut ist geflossen,“ sagte er mit bebender Stimme, „theures Blut, Heldenblut! Ihr seid Sol¬ datensöhne, meine Kinder. Eilt in den Wald, pflückt das letzte Eichenlaub und bindet einen Kranz auf das Grab eines tapferen Herrn, der Allen voran, im Kampfe für das Vaterland gefallen ist.“ Darauf an mich herantretend, setzte er leise hinzu: „Es ist der Vater von Fräulein Hardinen, den man gestern als Leiche in ihr Haus gebracht hat. Dort erwarte ich Dich, August, mit dem Kranze. Die Waschfrau Becker“ — sie versah nämlich nebenbei den Boten¬ dienst nach der Stadt — „begleitet Dich und zeigt Dir das Haus.“ Damit ging er. Wir Jungen rannten in den Wald. Ich war zu oberst auf den Bäumen und warf die Zweige herab, die unten um einen Faßreif gebunden wurden. Es war ein Stück, daß eine Kuh sich daran satt hätte fressen können, Lisette. Kaum eine Stunde und ich trabte neben der alten Beckern auf dem Wege nach der Stadt.“ „Wenn die Botenfrau so wie so nach der Stadt ging,“ fiel hier Frau Lisette, höchlichst gespannt, dem Redner in's Wort, „warum mußtest Du sie begleiten, August? Du den Kranz zu Fräulein Hardinen tra¬ gen? von Allen just Du ? Mann, Mann, das war eine Finte!“ „Du kommst auf die Sprünge der alten Kloster¬ klatsche, Lisette,“ versetzte der Invalid, der allmälig Feuer und Flamme über seiner Erzählung gewor¬ den war. „Aber höre nur weiter. Auf dem Wege hatte ich meinen Heidenärger mit dem dummen Weib. Es wäre im Oberlande eine Schlacht geschlagen wor¬ Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 2 den, behauptete sie, die nämliche, in welcher Fräulein Hardinens Vater gefallen sei, und der Franzose hätte obtinirt. Das konnte und wollte ich nicht glauben. Ich schimpfte die Alte ein Schandmaul und würde sie handgreiflich zur Ruhe gebracht haben, wenn sie, na, wenn sie nicht eben ein Weib und obendrein ein altes Weib gewesen wäre. Die aber blieb baumfest bei ihrem Satz und in der Angst vor dem „grausamen Bohnebart.“ Sie zitterte wie ein dürres Laub, so oft ihr der Name über die Lippen lief. Es war nicht anders, als ob der Bohnebart expreß in's Land gekom¬ men sei, um der alten Beckern auf den Leib zu gehen. „So in Gift und Galle kamen wir in die Stadt. Ich hatte noch nie eine gesehen und mir eine Stadt weit anders vorgestellt. Nur hoch oben das große Schloß, wie es allmälig aus dem Nebel hervortrat, das gefiel mir. „Da möchte ich wohnen,“ sagte ich und die Beckern schmunzelte geheimnißvoll: „Nun wer weiß, Gustel, ob Du nicht noch eines Tages in einem Prinzenschlosse logiren thust. Der Bohnebart ist auch nur ein armer Junge gewesen, wie Du, und am Ende ein Kaiser geworden.“ — Und so ein Knirps! sagte ich verächtlich. „Bei den Worten kamen wir auf den Markt. Die Alte wies auf ein Haus und sprach: „Da woh¬ nen die Majors.“ Das Haus, wiewohl ich es nur das einemal und seitdem viele tausend andere ge¬ sehen habe, das Haus könnte ich noch malen. Es glich einem Mops, dem Einer eine Zipfelmütze auf¬ gebunden hat. Die Beckern setzte sich neben dem Thorweg auf eine Bank, allwo sie mich zurück erwar¬ ten wollte, und ich ging mit meinem Kranze hinein. „Im Thorwege kam mir auch schon der Probst entgegen, nahm mich bei der Hand und führte mich in eine Stube auf der rechten Seite. Die Fenster waren zugehängt und ich mußte mich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Ich unterschied aber doch irgend ein menschliches Wesen, das mit ausgebreiteten Armen nahe der Thür gestanden hatte und, auf einen Wink des Probstes, hastig in „die Hölle“, — so heißt bei uns zu Lande der tiefe Ofenwinkel, — huschte. Ich spitzte die Ohren. Mir war, als hätte ich Einen ächzen oder schluchzen gehört.“ „Fräulein Hardine!“ rief Frau Lisette in athem¬ loser Spannung. Der Erzähler aber entgegnete: „Behüte! Fräulein Hardine war keine von der Art, die ächzt und schluchzt. Die stand aufrecht und ernsthaft, schwarz vom Kopf zur Zeh' in der Kammer 2* vor der Leiche des Majors, zu welcher der Probst mich unverweilt führte. Es war der erste Todte, den ich zu sehen kriegte und ich kann Dir gar nicht be¬ schreiben, Lisette, wie er mir gefiel. So hatte mir noch nie ein Lebender gefallen. Er ruhte wie im Schlafe, die Rechte ingrimmig geballt; sie mochten ihr den Säbel, der neben der hohen Ungarnmütze an seiner Seite lag, mit Gewalt entrissen haben. Und dann das Ordensband, der blaue Husarenpelz mit silbernen Schnüren und dem kleinen Brandmal, durch welches die Kugel in das Herz gedrungen war. Ich betastete Stück für Stück. Ich konnte mich nicht satt sehen, bohrte mit dem Finger nach der Wunde, ob die Kugel zu spüren sei; ich drückte eine kalte Hand nach der anderen und würde nicht von der Stelle ge¬ wichen sein, wenn mich der Probst nicht mit Gewalt in die Stube zurückgezogen hätte. „Dort hielt er mir nun eine feierliche Rede, von der ich aber nichts weiter gehört oder gemerkt habe, als daß er den Mann selig pries, der als ein Held für das Vaterland gestorben sei. — Ich will auch für das Vaterland sterben! — platzte ich heraus und bei den Worten trat Fräulein Hardine, die ohne daß ich's gemerkt, am Fenster Platz genommen hatte, rasch auf mich zu und drückte mir die Hand, als ob sie sagen wollte: — brav, Junge, bleibe bei diesem Satz! — Gesprochen aber hat sie an diesem Morgen kein Sterbenswort, und ich habe auch nicht weiter auf sie Acht gegeben, sondern unverwendet nach der Hölle gestarrt. Denn während meiner Rede war von dorther ein Schrei gedrungen, der mir durch's Herz ging wie ein Brand. Ich konnte aber nichts weiter unterscheiden als eine kleine, weiße, in sich gekrümmte Gestalt, die ihren Kopf hinter einem Schnupftuche verborgen hielt. Auch trat jetzt der Probst von Un¬ gefähr zwischen mich und die Hölle, so daß ich nur noch des guten Mannes schwarzen Rock und weiße Perrücke erblickte, wenn ich hinter den Ofen zu lugen suchte. „Du bist nun fast ein Erwachsener, August,“ so setzte der Probst, zu mir gewendet, seine Ansprache fort. „Kommende Ostern wirst Du confirmirt und mußt Dich für einen Lebensberuf entscheiden. Was willst Du werden, mein Sohn?“ — Soldat! — rief ich ohne Besinnen. Und wieder drang es, aber dies¬ mal wie ein Wimmern, aus der Hölle.“ „Es wird die Mutter von Fräulein Hardinen gewesen sein,“ rief in athemloser Spannung Frau Lisette. Der Erzähler aber entgegnete: „Ob Fräulein Hardine dazumal noch eine Mutter gehabt hat, weiß ich nicht. Das aber weiß ich, daß es nicht die Stimme einer alten Frau gewesen ist, die da hinter dem Ofen jammerte. Weit eher die eines kleinen, bekümmerten Kindes. Aber höre nur weiter, Lisette. „Du bist zum Soldaten noch zu jung, August,“ sagte der Probst. „Auch muß das Schicksal unseres Vaterlandes erst entschieden sein. Möchtest Du für den Napoleon kämpfen, wie die Deutschen draußen im Reich?“ — Nein! — antwortete ich, — aber überall gegen ihn. — Und zum zweiten Male drückte mir Fräulein Hardine stumm die Hand. „Die Zeit kann kommen, mein Sohn,“ versetzte der Probst. „Für den Augenblick gilt es zu warten. Erhalten wir Frieden und bleibt alles beim Alten, darfst Du nimmer an den Soldaten denken. Du bist nicht von dem Stande, um Officier zu werden, und als Gemeiner ertrügst Du's nicht bei Deiner Sinnes¬ art. Die laufen noch Spießruthen. Möchtest Du Dich peitschen lassen, August?“ Ich ballte statt aller Antwort nur die Faust. Der Probst aber fuhr fort: „Du hast Dich immer in den Wald zurückgesehnt. Wie wär's mit einem Jägersmann, mein Sohn?“ — Nun gut, wenn nicht Soldat, so will ich Jäger wer¬ den und schießen lernen, — sagte ich. „Was der Probst noch weiter in mich hinein¬ gepredigt hat, weiß ich nicht. Ich dachte an den todten Major und blinzelte nach dem jammernden Kinde in der Hölle. Da war ich denn quasi verdutzt und wußte gar nicht wie mir geschah, als ich mich plötzlich beim Arme gefaßt und nach der Thür ge¬ schoben fühlte. Vom Probste nämlich. Schon hat er die Thür aufgeklinkt und ich stehe auf der Schwelle, da höre ich etwas hinter mir, als wenn ein Vogel flattert. Rasch wende ich mich um und sehe — ja was denn nun eigentlich? Es war ja nur ein ein¬ ziger Blick und einer aus dem hellen Flur in das halbdunkle Zimmer. Ich sehe also mit ausgespreizten Armen eine Gestalt klein und fein wie ein Kind, von schneeweißem Angesicht und hellgelbem Gelock, gegen die große, schwarze Hardine, die hinter ihr stand, sich abhebend wie am Himmel ein weißes goldgerändertes Wölkchen, wenn die Nacht schon hereingebrochen ist. Mir schwamm es vor den Augen als hätte ich einen Schwindel. Da stieß mich der Probst über die Schwelle, die Thür fiel in die Angel und ich hörte von drinnen nur noch einen schrillen Schrei. „In der nächsten Minute stand ich vor der Thür neben meiner Alten. Unter freiem Himmel legte sich der Schwindel allsobald, ich sah und hörte wieder munter wie sonst und kam schier auf den Gedanken, daß die Geschichte, — nicht die vom todten Major, aber die von dem Wolkenkinde, — nur ein Spuk ge¬ wesen sei. „Auf der Gasse war es seit der Stunde lebendig geworden. Gleich einem aufgescheuchten Bienenschwarm summte die Menschheit auf und nieder, und mein altes Weib war voll wie ein Schwamm von all' den Geschichten, die sie auf der Thürbank eingesaugt hatte. Die Geschichten waren wahr, Gott sei's geklagt. Die alliirte Armee hatte sich auf zwei Punkten überrumpeln lassen und zwei hundsföttische Schlachten wurden in den nämlichen Stunden geschlagen. Aber sie wur¬ den just erst geschlagen. Die Stadt lag drei Stun¬ den vom nächsten Kampfplatze entfernt: wie konnte das Volk den erbärmlichen Ausgang so dreist be¬ haupten? Witterung sagen sie, wie vom lieben Vieh vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung nicht? Warum hast Du , Lisette, niemals gezittert bei einem ersten Kanonenschlag? Weil Du ein Mann warst, Lisette, und jene Männer alte Weiber wie die Beckern, Memmen, die nichts besseres verdient haben als die Fuchtel des Napoleon so lange, bis am Ende auch bei ihnen die Berserkerwuth zum Ausbruch ge¬ kommen ist. „Auf Schritt und Tritt guckte mein altes Weibs¬ stück sich um, ob ihr der grausame Bohnebart nicht bereits auf den Hacken säß'? Bei aller Angst jedoch schwamm die Neugier nach dem, was ich bei den Majors erlebt, obenauf, und wir waren noch nicht aus dem Thore, da hatte sie mich ausgepreßt wie eine Citrone und zu jedem Tropfen ihren Senf gerührt. Ich wollte nur Eines wissen: wer das kleine Mäd¬ chen gewesen sei, dessen letzter Schrei mir noch immer in den Ohren gellte. Aber just dieses Eine wußte die alte Weisheit nicht. — „Eine Bekanntschaft aus der Stadt,“ — so meinte sie, denn Anverwandte hätten die Majors hier zu Lande keine. — Aber warum seufzte und weinte sie denn so jämmerlich? forschte ich weiter und brachte damit meine Alte wieder in das richtige Fahrwasser. „Wer heult und schreit denn anjetzo nicht, Gustel?“ sagte sie. — „Wer sieht im Geiste nicht Einen von den Seinigen todtgeschossen, oder zum Krüppel ge¬ hauen, oder in Gefangenschaft, oder auf der Flucht? Den Bohnebart mit seiner Kopfabschneidemaschine noch gar nicht eingerechnet. Ja, das sind wilde Zeiten wie unter dem Schwedenkönig, oder dem alten Fritz. Paß' auf, Gustel, wenn wir heimkommen, ob uns der Franzose da nicht schon entgegenrückt und das Kloster ist ein Aschenhaufen, und Lehrer und Jungen sind über alle Berge wie eine Heerde, in die der Wolf gerathen ist. Und darum Gustel, darum will ich Dir noch in dieser Stunde offenbaren, was ich in der nächsten vielleicht nicht mehr zu offenbaren im Stande bin. Etwas, auf das noch kein Mensch verfallen ist als die alte Beckern ganz allein. Wenn es aber einst¬ mals vor aller Welt an's Tageslicht gekommen sein wird, dann sollst Du denken: die alte Beckern hat mir's prophezeit und Dich hübsch dankbar erweisen an der armen, alten Frau; nämlich insofern sie vor dem grausamen Bohnebart ihr bischen elendes Leben davon getragen hat.“ — „Sie guckte sich nach dieser Rede scheu in alle vier Weltgegenden um, hob sich auf die Zehenspitzen und wisperte, ihren Mund an mein Ohr gelegt: „August, hast Du Dir niemals Gedanken darüber gemacht, was Fräulein Hardine eigentlich mit Dir zu schaffen hat?“ — Ich schüttelte lachend den Kopf. „Und Dir schwant auch gar nicht, wer der Mann gewesen ist, vor dessen Leichnam man Dich heute ge¬ führt?“ — Ein Major? sagte ich. — „Ein Major nun freilich,“ versetzte die Alte ärgerlich. — Ein Major für Seine Churfürstliche Gnaden; ich meine aber, was er für Dich , August, gewesen ist?“ — Ich schüttelte wiederum den Kopf. „Nun so vernimm es denn, August, — sagte die Beckern feierlich wie die Hexe im alten Testament: — der Mann ist Dein Großvater gewesen, denn Fräulein Hardine ist Deine Mutter.“ — „Die Wahrheit zu sagen, ich war dazumal in derlei Historien wie ein ungeschorenes Lamm. Das einsame Waisenhaus führte mit Fug seinen Kloster¬ titel; Angehörige, die wir besuchten, hatte keiner von uns und alles was eine Schürze trug, wenn es nicht lahm und grau war wie die Beckern, wurde von der Anstalt fern gehalten wie ein Zunder. Die Lehrer waren unverheirathete Anfänger, warm aus dem Se¬ minar, der Probst ein Wittmann. So merkten wir denn nichts von Küchengeträtsch und Klatsch und ich argwohnte durchaus nicht, welch ein gefährlicher Leu¬ mund über Fräulein Hardinen mir in's Ohr geträufelt ward. Ich würde mir jedoch jede Andere als sie lieber als Mutter ausgebeten haben, hätte ich mich überhaupt jemals nach Vater oder Mutter gesehnt. Ich sehnte mich aber in die Freiheit, in den Wald, oder in die Welt und weiter nach nichts. Indessen einen Großvater, der auf dem Schlachtfelde geblieben war, hätte ich mir schon gefallen lassen und ihm zu Liebe allenfalls auch die gestrenge Hardine als Fräu¬ lein Mama in den Kauf genommen. Darum spitzte ich wohl einen Augenblick die Ohren. „Aber der Major war ein vornehmer Herr und ich hieß schlechtweg Müller. Der Probst hatte mir kaum vor einer Stunde gesagt, daß ich es um meines Standes willen nur bis zum Gemeinen bringen könne. Das fiel mir zur rechten Zeit wieder ein, und ohne mich viel darum zu grämen, erklärte ich der alten Hexe, welch ein Wind es mit ihrer Prophezeiung sei. „Die aber blieb bockssteif bei ihrem Satz und wurde noch obendrein rabbiat. — „Was Du für ein blitzdummer Junge bist, Gustel,“ — eiferte sie, indem sie beide Arme in die Hüften stemmte. „Als ob ein Edelweiß nicht auch wilde Schö߬ linge treiben könne! Als ob man ein Kind, wenn man seinem Ursprunge nicht auf die Spur kommen lassen will, nicht blos als einen Müller, oder meinet¬ wegen als eine Beckern und dergleichen in das Re¬ gister einzutragen brauchte. Notabene: insoferne der Pastor mit Einem unter einer Decke steckt. Was aber, frage ich, ist unser Herr Probst? Ein alter guter Freund von Fräulein Hardinen. Wer hat Dich heimlich bei Nacht und Nebel in das Waisenkloster eingeschmuggelt, wer, frage ich? Fräulein Hardine. Bist Du ein Soldatensohn wie die Anderen? Weiß Einer überhaupt, wer Dein Vater gewesen ist? Siehst Du aus wie von gemeinem Gezücht? Wie ein Junker, August, wie ein Prinz siehst Du aus.“ — „Wahrlich, ja wahrlichen Gott, wie ein Prinz!“ unterbrach Frau Lisette den Erzähler, eine stolze Röthe über dem abgezehrten Gesicht, — „Der Prinz hießest Du, Prinz Gustel in der ganzen Legion!“ — Prinz Gustel schmunzelte nicht unempfindlich bei dieser schmeichelhaften Erinnerung, hielt aber den Faden seiner Mittheilung getreulich fest. „ Wer hat Dir eine halbe Freistelle ausge¬ wirkt?“ fragte die Alte weiter. — „Eine Mutter etwa, die Wittwe ist? ein Vormund, ein Rath, oder Amt? Gott bewahre, Fräulein Hardine. Wer bringt dem Probst netto alle sechs Monate die Unkosten für Deinen Unterhalt? Wer besucht Dich im Kloster? wer setzt Dir den Kopf zurecht? Niemand Anderes als Fräulein Hardine. Und nun noch zu guter Letzt: Was brauchte der todte Major einen Kranz aus dem Waisenkloster, wenn's nicht Einer von seinem Blute war, der ihm die letzte Ehre anthun sollen? Was brauchte der Probst Dir im Leichenhause eine Stand¬ predigt zu halten, wenn Du nicht quasi zur Familie gehörtest? Wer den Zusammenhang nicht mit Hän¬ den greift, nun, der kann sagen, er hat keinen Grips. Fräulein Hardine ist Deine Mutter, das steht so fest wie das Amen im Evangelium.“ „Die Alte machte eine Pause, weil sie doch ein¬ mal verpusten und ausspucken mußte. Ich sagte kein Wort, denn im Grunde war mir die Sache einerlei. Nach einer Weile fing die Beckern mit frischer Lunge wieder an: „Ich will mit meinem Satze nichts Un¬ reputirliches von Fräulein Hardinen behaupten, August. Aus so einer honetten Familie, und so eine Erbschaft vor Augen, beileibe nicht, beileibe nicht! Denn zur Zeit ist Fräulein Hardine freilich so arm wie eine Kirchen¬ maus; aber das alte schwarze Spukeding, ihre Muhme, kann's doch nicht ewig in ihrem Goldthurme Schätze graben. Und wenn sie sich zehnmal dem Leibhaftigen verschrieben hat, unser Herrgott hält ihm Widerpart und über hundert Jahre hat's der ärgste Geizkragen noch nicht gebracht. Dann aber giebt's keine Zweite im Churfürstenthum wie unser Fräulein Hardine. Nichts Unreputirliches, Gustelchen, um's Himmels¬ willen nichts dergleichen! Aber eine Heimlichkeit steckt dahinter; darauf nehme ich Gift. So eine Prinzen¬ heirath etwa, die der Frau nicht die Mannesehre und den Kindern nicht den Vaternamen giebt, wie die alte geizige Schloßfrau ihrer Zeit auch eine eingegangen hat; oder so etwas dergleichen, was Unsereiner nicht versteht. Warum schlägt Fräulein Hardine die schönsten Bewerbungen aus? Wird Eine freiwillig eine alte Jungfer, die an jedem Finger einen Freier haben könnte? Warum, frage ich, als weil sie in der Stille schon Einen hat, der mit ihr auf die Grafenerbschaft lauert. Laß sie aber nur erst sicher in ihrem Gold¬ thurme sitzen, dann wird der versteckte Prinz schon zum Vorschein kommen. Und dann wirst Du ein Junker, August, und ein reicher Millionair und dann denke an die alte, arme Beckern, die Dir zuerst ein Lichtchen angesteckt hat.“ Der Erzähler schwieg. — „Weiter, weiter, Mann!“ rief Frau Lisette in athemloser Spannung. „Weiter, weiter! —“ „Weiter — nichts!“ versetzte lachend der Invalid. „Die Geschichte ist aus.“ „Aus?“ „Rein aus, sage ich Dir. Wir waren unter dem Geklätsch vor der Klosterpforte angelangt. Ich drehte meiner Alten eine Nase, denn das Haus war nicht in einen Aschenhaufen umgewandelt und die Heerde nicht über alle Berge entflohen. Nun aber die Angst, als das Weibsstück sah, wie ich seine Weisheit auf¬ genommen hatte. Sie zitterte wie ein nasser Pudel¬ hund und ihre Zähne, — nein, die klapperten nicht, denn sie hatte keinen Zahn, — aber das Kinn wackelte ihr und: „Um Gottes, Jesus willen, Gustelchen, reinen Mund!“ jammerte sie, „bringe eine alte, arme Wittfrau nicht um ihr hartes Stückchen Brod.“ „Ich lachte aus vollem Halse und rannte in das Thor, hinter welchem die Kameraden sich lustig wie alle Tage tummelten. In aller Eile lieferte ich ihnen eine Schlacht von entgegengesetzter Fa ç on, wie die, welche in den nämlichen Stunden zu Ende ging. Aller Spuk und Schwatz des Morgens war wie weggeblasen. „Im nächsten Frühjahr brachte mich der Probst zu dem Förster, dem ich zwei Jahre später aus dem Garne lief, als der Herzog in unserer Nähe campirte. Fräulein Hardinen aber habe ich mit keinem Auge wieder gesehen, habe auch keine Sylbe wieder von ihr gehört und heute zum ersten Male, glaub' ich, wieder an sie gedacht.“ Die arme Marketenderin war durch diesen jähen Abschluß bitterlich enttäuscht. Sie nahm schweigend die Arbeit wieder zur Hand, die im Eifer des Zu¬ hörens in ihren Schooß gesunken war und stichelte eine lange Weile mit fieberhafter Hast, bis sie über einen neuen Plan im Klaren und des jovialen Tones wieder Herr geworden war, in dem sie ihren Eheliebsten zu einer ferneren Bereitwilligkeit zu stimmen gedachte. „Ich danke Dir, August,“ sagte sie endlich, in¬ dem sie ihm die Hand reichte. „Du verstehst zu er¬ zählen. Und ein Anhalt bliebe Deine Geschichte immer für unseren armen, kleinen Wurm, wenn ich eines Tages nicht mehr für ihn sorgen könnte: Ich meine, wenn eines Tages unversehens der Napoleon retour gekommen wäre! Und darum, Freund, laß uns das Ding gleich heute zu einem Ende bringen. Du bist ein perfecter Schreiber, hast manchen Rapport geführt und die Feder zu regieren, so gut wie den Säbel, braucht's ja nur eine Hand. Mach' also ein Schriftstück aus der Sache, warm wie sie Dir im Ge¬ Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 3 dächtniß aufgewacht ist. Das und der Waisenhaus¬ schein werden die Familienpapiere sein, die Prinz Gustel seiner Prinzessin zurück läßt, wenn's einmal schnell mit uns von dannen geht.“ Sie hatte während dieser Rede ein Paar von den Bogen, in welchen sie ihr Handschuhleder eingewickelt erhielt, sorgfältig geglättet, auch das Schreibzeug her¬ vorgekramt, das ihr zum Abfassen ihrer Rechnungen diente. Nachdem sie die Feder gespitzt und die Tinte umgerührt, begann sie die Pfeife des Mannes frisch zu stopfen, vergaß auch nicht, das Glas mit dem Reste der Flasche zu füllen. Freund August brummte und zeterte zwar sein gehörig Theil, fügte sich schließlich aber doch in die wunderliche Laune der Wöchnerin. „Was solch' ein Wurm für Scheererei macht!“ sagte er, indem er sich an dem Arbeitstisch seiner Frau niedersetzte. Bald flog die Feder in freien, kräftigen Zügen über das Papier und schwarz auf weiß bildete sich die Erzählung, die wir mit den nämlichen Worten aus seinem Munde vernommen haben. Mitternacht war vorüber, als er das letzte Blatt seiner Frau in's Bett reichte. Sie hauchte es trocken mit dem heißen Athem ihrer Brust, barg es, sammt dem Einsegnungsscheine in dem untersten Fach ihres Näh¬ kastens, und löschte die Lampe. „August,“ sagte sie darauf, während der Mann seine Kleider auszog, und sich auf die Strohschütte zu Füßen des Bettes niederwarf, „August, wir wollen unsere Kleine Hardine taufen lassen.“ „Lisette wäre mir lieber gewesen,“ erwiderte gäh¬ nend der Herr Papa. „Aber meinethalben auch Hardine.“ Und das kleine Mädchen wurde Hardine getauft. Jahre vergingen, ohne daß Fräulein Hardinens zwischen dem Invalidenpaar wieder Erwähnung ge¬ schah. Fast sechs Jahre, in welchen die kleine Na¬ mensträgerin der unbekannten Dame mühselig auf die Füßchen kam, und aus welchen ihr keine Erinnerung geblieben ist, als daß sie vielmals hungerte und oft¬ mals fror. Der Wachtmeister der Legion wartete zwar nicht mehr auf den noch immer rückkehrenden Napoleon, denn der schlief beruhigt und beruhigend in seinem Inselgrabe, aber er wartete auf irgend einen anderen respectablen Feind, gegen welchen eine brave Solda¬ tenfaust den Säbel wieder zücken dürfe. Freilich er¬ wartete er ihn selten an dem schwachlodernden häus¬ lichen Heerdfeuer, das seit dem Einrücken der Wiege 3* nicht an Behagen für ihn gewonnen hatte. Er hielt sich zu den lustigen Plätzen, die ihm das Marketen¬ derzelt in Erinnerung riefen; da wo Karten und Wür¬ fel fallen, wo der Schoppen kreist und ein frischer Soldatenschwank nicht selten die Zeche bezahlt. In der engen, dumpfen Soldatenkammer daheim aber saß seufzend und stichelnd die alternde Marketen¬ derin, ohne sich Rast zu gönnen zu einem Liebesblick in schwerer Mühe und Sorge für ihr Kind. Von Woche zu Woche wurden ihre Wangen hohler, die Finger zitternder, der Athem kürzer, aber sie seufzte und stichelte noch immer den ganzen Tag und die halbe Nacht. Endlich jedoch kam die Stunde, in welcher alles Sticheln und Seufzen ein Ende hat, und es war eine Sterbekammer, in die der sorglose Zecher aus dem Schenkhause berufen wurde. August Müller hatte in seinen jungen Tagen Tausende von Männern, aber noch nie eine Frau sterben sehen; er hatte niemals früher daran gedacht, daß der Tod ein Geschäft auch für Weiber sei, selber für so tapfere Weiber, wie seine Lisette eines gewesen war. Nun tobte und schrie er vor dem ungeahnten Bild, zerraufte sein Haar und zerschlug sich die Brust. Die brave Marketenderin aber verstand sich auf den düsteren Gesellen, den sie unter Männern kennen gelernt. Sie hatte ihn langsam heranschleichen sehen und blickte ihm unerschrocken in's Angesicht, als er jetzt hart an ihrer Seite stand. Ob es ihr wehe that, von dem Wesen zu scheiden, das die Natur erst so spät an ihr Herz gelegt? Es schien nicht so. Die Pflicht für seine Erhaltung jedoch erfüllte sie bis zum letzten Athemhauche. „Sei kein Narr, August,“ sagte sie zu dem Manne, der sich fassungslos an der Bettseite nieder¬ geworfen hatte. — „ Einmal muß doch ein Ende sein. Setz' Dich hier auf den Rand; merke auf und thu', was ich Dir sagen werde.“ Sie legte bei diesen Worten die treulich verwahr¬ ten Familienpapiere in des Mannes Hand und fuhr darauf in klarer, eindringlicher Rede also fort: „Hüte diese Blätter als das einzige Erbtheil, das Du Deinem Kinde zu hinterlassen hast. Ich habe diese sechs Jahre Tag und Nacht darüber nachgedacht, und nun sterbe ich in der Gewißheit, daß Fräulein Hardine Deine Mutter gewesen ist. Für Dich selber thu' oder lass', was Du willst. Du bist ein Mann. Aber suche sie auf und bring' ihr das Kind, das Du nicht versorgen kannst. Verkaufe meinen Hausrath; der Erlös schafft das Reisegeld. Für unser Trau¬ attest und der Kleinen Taufzeugniß habe ich gesorgt. Vergiß aber nicht meinen Todtenschein. Laß dann im Kloster Dein Einsegnungszeugniß bescheinigen; erforsche in der Stadt Fräulein Hardinens Vaternamen und was aus ihr geworden ist. Lebt sie noch, — in Reich¬ thum, oder arm wie einst, — sie muß eine alte Frau jetzt sein und wird sich der Sünde schämen, ihr Blut zu verstoßen. Ist sie gestorben, finden sich wohl An¬ gehörige. Vielleicht, daß auch der Probst noch bei Wege ist, oder der Förster. Kurzum, Du bist in Deiner Heimath und Dein Kind muß und wird einen Anhalt finden, insofern Du Deine Schuldigkeit thust. Laß es aber bald sein, Mann, denn es geht jach mit Dir abwärts auf dem Wege, den Du einge¬ schlagen. Das Kind zu Fräulein Hardinen! Gieb mir die Hand darauf, August, die Manneshand, die das Schwert geführt.“ Er reichte ihr schluchzend die Hand, die sie herz¬ haft drückte. „Mutter — Hardine!“ lallte sie noch, legte sich dann auf die Seite, zog das Kopftuch über die Augen und verschied. Der Invalid— um unserem früheren Gleichniß treu zu bleiben — der Invalid bäumte sich wie ein ange¬ schossener Hirsch. Er fühlte seine alten Wunden hef¬ tiger brennen als zu der Zeit, da die schwarze Lisette sie auf dem Schlachtfelde verbunden hatte, er wich keinen Schritt aus der dunklen Kammer, so lange die¬ selbe die Leiche barg. Nun aber deckte sie die Erde. Er hatte ihr nicht gebührendlich mit Sang und Klang die letzte Ehre er¬ weisen können, aber er war es gewohnt, einen braven Kameraden mit einem Trauermarsche zur Grube zu geleiten und mit einer lustigen Weise heimzukehren. Am Abend saß er in dem Weinhause, aus welchem man ihn vor drei Tagen in die Sterbekammer abbe¬ rufen hatte. Der Schoppen kreiste, die Würfel roll¬ ten wie sonst. Das Weib, die Mutter Lisette waren verschwunden, und bald nur die lustige Marketende¬ rin noch eine stehende Figur in den Bildern, die sich unter dem Banner des schwarzen, wie des eiser¬ nen Herzogs vor seinen Augen entrollten. Und wieder gingen Jahre dahin, aus welchen die kleine Hardine keine Erinnerung bewahrte, als daß sie oftmals hungerte und immer fror. Ein blödes, zitterndes, trübseliges Geschöpf, schlich sie am Morgen aus der kalten, immer leerer werdenden Kammer, hockte einsam und stumm vor der Thür, bis eine mit¬ leidige Nachbarin ihr einen Bissen reichte, oder sie in ihr durchwärmtes Zimmer führte. Den Vater sah sie fast nie. Wenn er spät in der Nacht heimkehrte, schlief sie schon, und wenn er früh am Morgen wie¬ der aufbrach, schlief sie noch. Es ging jach abwärts mit dem Manne, wie seine sterbende Frau es voraus¬ gesagt: aus dem Weinhause in die Branntweinskneipe, aus dem Kreise kannegießernder Bürger unter ein Pu¬ blikum roher Gesellen. Sein lockigen Haare wurden struppig, blutrothe Flecken brannten auf den gedunse¬ nen Wangen; die Adern schwollen neben den Narben der Stirn, und ein wüstes Feuer brannte aus den großen, blauen Augen, wenn er nach dem Pferde schrie, das er tummeln, nach dem Säbel, mit dem er den noch immer erwarteten Feind niederhauen wollte. Das alte Soldatenherz rumorte noch wie einst, aber Prinz Gustel war untergegangen, und das Vaterherz hatte noch niemals pulsirt. Der Handschlag, den er seinem sterbenden Weibe gegeben, war so gut wie ver¬ gessen. Zu seinem Glücke kam der Tag, wo das letzte Stück Hausrath, das letzte Kissen von Frau Lisettens Brautschatz abgepfändet waren, wo der Hauswirth die Miethe, der Schankwirth die Zeche nicht länger stun¬ den wollten, wo dem unheimischen Manne und seinem Kinde der Schub über die Landesgrenze drohte. Die Noth heischte einen Entschluß und die Noth gab auch die Kraft, ihn zu vollbringen. Es war wieder einmal eine Zeit, in welcher ein Schrei der Rache gegen einen Erbfeind den Welt¬ theil durchdrang: die Zeit der Griechenerhebung, der schon mancher tapfere Fremdling sich zum Opfer ge¬ bracht, wenngleich noch keine christliche Regierung ihr ihren Beistand geliehen hatte. Auch in dem Arme unseres Veteranen zuckte das Schwert von Vittoria und Waterloo. „Komm Hardine!“ sagte er an einem Frühlingsmorgen 1825, „ich will Dich zu Fräulein Hardinen bringen und dann wider den Türken ziehen!“ Und an der Hand sein Kind, in der Tasche dessen „Familienpapiere“, und sonst nicht viel mehr, so schritt er aus dem Thore der kleinen niederländischen Stadt. Freilich der Weg war weit aus dem Maaß- in das Elbgebiet; der Beutel war leer, Athem und Kraft nur noch gering. Die alten Nachbarn und Zechbrü¬ der schüttelten die Köpfe und meinten, daß dieser Wan¬ dersmann weder im Kampfe gegen Ali-Pascha, noch selber in der Heimath, sondern daß er auf der Land¬ straße enden werde. Auch gingen Monate dahin, be¬ vor er seinem Ziele näher rückte. Aber es war Som¬ merszeit, die Straße führte durch reiche vaterländische Gauen und das Ehrenkreuz, der pulvergeschwärzte, kugeldurchlöcherte Mantel, der verstümmelte Arm von Waterloo waren warme Fürsprecher des armen In¬ validen und seines blassen Kindes. Es fand sich so mancher Fuhrmann oder Schiffer, der die Beiden für einen Gotteslohn eine Strecke beförderte, mancher Wirth, der die Herberge nicht anrechnete, und manche Hand, die ungebeten einen Zehrpfennig oder Wander¬ bissen reichte. Mußte dann auch wohl einmal unter freiem Himmel genächtigt werden, so war das eine alte Gewohnheit für den Soldaten der Legion; die Nacht war kurz und er erwachte kräftiger als seit Jah¬ ren in der dumpfen Kammer nach einem wüsten Zech¬ gelag. Alles in Allem: die Zeit dieser Wanderung war nicht die böseste in August Müllers Leben. Er hätte länger, ja er hätte sein Lebtag wandern mögen, wenn nicht der Zug gegen den Türken ihn doch noch mäch¬ tiger gelockt. Für seine kleine Begleiterin aber, so oft sie in ihren Lumpen unter einem Regenguß zu¬ sammenschauerte, oder mit wunden Füßchen stumm, wie immer, am Wege niederhockte, für sie hatte er einen Zaubernamen gefunden, dessen Klang ihr immer wieder frische Kraft verlieh. „Fräulein Hardine!“ lautete der Name. „Vorwärts zu Fräulein Hardinen!“ oder „Bald sind wir bei Fräulein Hardinen!“ brauchte der Vater nur zu sagen und die Kleine schleppte sich weiter, bis sich eine Herberge aufgethan. „Fräulein Hardine“ war das einzige Wort, das sie während der langen Reise gemerkt oder leise nachgelallt hatte. Vielleicht, daß in dem kleinen Herzen ein Echo mütter¬ licher Seufzer und Tröstungen lebendig geworden war. Man sagt: ein brechendes Auge sieht klar; und gewiß liegt etwas Ergreifendes in der Zuversicht, die, sei's für Diesseits, sei's für Jenseits, auf einem Sterbebette verkündet wird. Auch August Müller war einen Augenblick von dem Glauben geblendet worden, in den sich seine Frau Jahre lang hineingegrübelt und dessen sie sich in ihrer letzten Sorgenstunde ge¬ tröstet hatte. Im Grunde des Herzens aber hatte er, wie früherhin, so auch jetzt, Fräulein Hardinens niemals als einer Blutsverwandten gedacht, und den Weg zur Heimath keineswegs mit dem Anspruch von Sohnesrechten angetreten. Er hoffte für sein mutter¬ loses Kind auf eine Versorgung durch die Frau, die aus irgend einem Grunde seine eigene verwaiste Kind¬ heit überwacht hatte. War sie im Laufe der Zeit zu Glanz und Fülle gelangt, — eine Vorstellung, die sich seiner heiteren Gemüthsart gar leicht einschmei¬ chelte, — und wollte sie ihn noch außerdem mit einem Pferde und einer blanken Uniform für seinen Türken¬ zug ausstatten, desto froher sein Habdank. Soviel, oder so wenig, hatte er im Sinn, wenn er seinem ermatteten Kinde zurief: „Wir gehen zu Fräulein Hardinen!“ Es war hoher Sommer geworden, als er eines Morgens in einem wohlangebauten Thale vor einem einsamen, alten Gebäude Halt machte und mit dem Freudenrufe: „das Kloster!“ durch die geöffnete Pforte rannte. Er drang in den Hof, in den Kreuzgang, in den Garten, in das Schulhaus, in die Probstei; er erkannte jeden Winkel: den Spielplatz, auf welchem die Knaben heute wie damals sich tummelten; den Brunnen, in welchem sie heute wie damals ihre Becher füllten; das Zinngeschirr, das heute wie damals die Tafeln des Cönakels bedeckte; den Holzschuppen, in welchem heute wie damals Unruhstifter seiner Gat¬ tung ihre Strafe verbüßten. Nur von den Menschen, welche, alt und jung, den aufgeregten Fremdling neu¬ gierig umringten, von den Menschen kannte er keinen. Er fragte nach Ludwig Nordheim, dem Probst und Director; er war todt und vergessen viele Jahre schon. Er fragte nach der alten Beckern. Niemand hatte je von einer alten Beckern gehört. Keiner erinnerte sich eines der ehemaligen Lehrer und Mit¬ schüler, deren Namen er zu nennen wußte. Die preußische Herrschaft, die diesen Landestheil überkom¬ men, hatte fremde, der Gegend unkundige Leute in die alten Räume geführt. Er hätte sich schämen müssen, Fräulein Hardinens nur zu erwähnen. Enttäuscht, wollte er seinen Stab weiter setzen, als ihm das Attest einfiel, dessen Beglaubigung nach¬ zusuchen er seiner Lisette gelobt hatte. Kluge Lisette! Namen, Datum, Wahlspruch und Handschrift stimmten mit dem des Schulregisters überein; der neue Director konnte getrost sein Fiat daruntersetzen und der ärm¬ liche Landstreicher hatte in dem polizeistrengen Staate immerhin eine Legitimation gewonnen, die ihm die Wanderschaft erleichterte. Nun durfte es aber auch an einer gastlichen Bewirthung nicht fehlen, da ja Narben und Ehrenkreuz des vormaligen Zöglings einem Erziehungshause für Soldatenwaisen wohl zum Ruhme gereichten. Die grauen, stillen Klostermauern hallten wieder von kühnen Streichen und lustigen Schwänken, von abenteuerlichen Zügen über Land und Meer, von dem schwarzen Herzog und der schwarzen Lisette. Die Frau Directorin tischte auf was Küche und Keller vermochten; der Herr Director sammelte unter Beamten und Lehrern zum Besten des invaliden Helden. Er¬ quickt, beschenkt, froh wie ein König schied August Müller aus den Mauern, zwischen denen er zwanzig Jahre früher so widerwillig still gesessen hatte. Er schlug nun den Weg nach der Stadt ein und die Sonne senkte sich, als er über den Häusern im Thal das Schloß im Abendgolde leuchten sah. Jetzt biegt er aus der langen, schmalen Gasse auf den Markt und sein erster Blick fällt auf das Haus, das unverändert auf niederem Gestell eine thurmhohe Dach¬ haube trägt. Der Mops mit der Zipfelmütze! „Hier, hier,“ schreit er seiner Kleinen zu, „hier wohnt Fräu¬ lein Hardine!“ Er stürmt in die Thorfahrt und in die Thür zur Rechten. Das Zimmer ist in eine Schneider¬ werkstatt umgewandelt; der tiefe Höllenwinkel — des Mannes erster Blick! — er ist mit dem riesigen Kachel¬ ofen verschwunden. Auf dem Platze in der Kammer, wo damals der Sarg des Majors gestanden, steht heute eine Wiege. Angstvolle Geberden und zornige Scheltworte begrüßen den Eindringling, den man für einen Betrunkenen oder Tollen hält. Indessen waren auch die Nachbarn, die vor den Thüren Dämmerstunde feierten, auf des Fremden seltsames Gebahren aufmerksam geworden. Der Lärm lockte spielende Kinder, Mägde vom Brunnen herbei, eine dichte Gruppe bildete sich vor dem Thor. Die Frauen näherten sich dem abgezehrten Mädchen, das sich ermattet neben demselben niedergekauert hatte. — „Wie heißt Du, Kleine?“ fragte eine Nachbarin. — „Hardine,“ lispelte das Kind mit schwacher Stimme. — „Ist der Mann Dein Vater?“ — Das Kind nickte. — „Wie heißt er?“ — Das Kind schüttelte sein Haupt. — „Was will er? Wen sucht er in diesem Hause?“ — „Fräulein Hardinen.“ „Fräulein Hardinen!“ die Nachbarn steckten bei dem Namen die Köpfe zusammen. Als aber nun auch der Vater, gefolgt von der Schneiderfamilie, von Gesellen und Lehrlingen, aus dem Hause zurückkehrte und immer den nämlichen Namen wiederholte, da ent¬ stand ein Rumor, ein Gewirr von Kreuz- und Quer¬ fragen, das endlich in der Kürze zu folgendem Ab¬ schluß führte: Die älteren unter den Bürgern des Städtchens hatten in der That ein Fräulein, das Hardine hieß, gekannt, das einzige, das jemals unter ihnen diesen Namen getragen. Fräulein Hardine war in diesem Hause geboren und erzogen; die Leiche ihres Vaters, der als Major in dem Gefecht bei Saalfeld geblieben, war auf dem städtischen Kirchhofe begraben und die Tochter hatte ihm ein Monument errichten lassen, das die Stadt zu ihren vornehmsten Sehenswürdig¬ keiten zählte. Der Name Fräulein Hardinens hatte überhaupt einen stolzen Klang in ihrer Vaterstadt. Der Magistrat ging damit um, ihr einen Ehrenbürger¬ brief zu votiren, für welche Auszeichnung man sich denn ganz unverhohlen auf ein testamentarisches Legat zu Gunsten einer städtischen Stiftung Rechnung machte, denn die vielgepriesene Dame, die reichste Grund¬ besitzerin der Provinz, ermangelte jeglichen berechtigten Erbens und stand in den Jahren, wo man sein Haus zu bestellen pflegt. Daß dahingegen Fräulein Hardine jemals ein fremdes Kind, — von einem eigenen war natürlich nicht die Rede, — in einem Waisenhause versorgt haben sollte, wollte zu den von ihr gäng und geben Erinnerungen und Vorstellungen nicht im Ent¬ ferntesten passen. Fräulein Hardine stand in dem Rufe einer großen und klugen Dame, aber nicht in dem einer Samariterin. August Müllers Erinnerungen sprachen indessen all zu deutlich für einen immerhin möglichen Fall, auch empfahlen die kriegerischen Narben und Decora¬ tionen den ehemaligen Schützling ihrer Landsmännin und so war man denn allseitig bereit, ihm eine gast¬ liche Herberge in ihrer Vaterstadt zu gewähren. Die kleine Hardine, reichlich beköstigt und reinlich aus¬ staffirt, schlief so sanft wie noch nie auf der ganzen Reise in dem Bettchen, das ihr die Schneidersfrau neben der Wiege in der Kammer aufgeschlagen hatte. Vater Müller aber dachte gar nicht an ein Bett; er durch¬ zechte die kurze Sommernacht an der Tafel des Schlo߬ kellerwirths nebenan und belohnte das freihaltende Publikum mit dem köstlichsten Humor seiner spanischen Erinnerungen und der Erwartungen seines Türken¬ zuges. Ein so tapferer Landsmann, der sich so weit in der Welt umhergetrieben hatte und noch ferner umherzutreiben gedachte, ein Krüppel, der, seinem Elend zum Trotz, so lustig zu erzählen verstand, er durfte aber nicht ohne einen anständigen Zehrpfennig Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 4 in das Gebiet der auserkorenen Ehrenbürgerin ent¬ lassen werden. Und so endete der Rasttag in Fräu¬ lein Hardinens Vaterstadt als ein Freuden- und Erntetag für den ehemaligen Waisenknaben, der ihren Schutz genossen hatte. Den Himmel voller Geigen und mit reichlich ge¬ füllter Tasche holte er am anderen Morgen sein kleines Mädchen aus dem Nachbarhause ab, drückte den vor den Thüren harrenden Bürgern zu Dank und Abschied die Hand und — besann sich erst jetzt, daß er ver¬ gessen hatte, nach Namen und Wohnort der Dame zu fragen, deren Wohlthat er genossen habe und von Neuem beanspruchen wollte! Möglich, baß er beide gestern in seinem Freudenrausche überhörte, so oder so, aber gleichviel! Er kannte den Namen „von Recken¬ burg“ nicht, er wußte kein Wort von dem Stammsitze der Familie, der reichsten Herrschaft, dem Stolze der Provinz! Wer vermöchte das verdrießliche Staunen unserer freigebigen Bürger zu beschreiben! War der Mann mit dem ehrlichen Soldatengesicht, mit seinen Orden und Narben, seinen Fahrten und Schwänken, mit der Berufung auf Fräulein Hardinen ein toll¬ köpfiger Abenteurer, ein Betrüger, der ihre Leicht¬ gläubigkeit benutzt hatte, um seinen Seckel zu füllen? Es währte Wochen, bevor unsere Bürgerschaft über den ärgerlichen Streich zur Ruhe kam; nur aber um von einem Erstaunen in das andere zu fallen und ihr Ehrendiplom vor der Hand zu sistiren. Während dessen wanderte der Wachtmeister Müller wohlgemuth seines Weges. Sie hieß das Fräulein von Reckenburg, sie wohnte kaum zwölf Meilen fern auf Schloß Reckenburg und jedes Kind wußte ihm den Weg nach Schloß Reckenburg anzugeben. Er konnte auf diesem Wege seine Zehrung bezahlen; er hatte Weile zechend zu rasten wo ihm beliebte, und ihm be¬ liebte mancher Orten zechend zu rasten. So währte es denn eine Woche, ehe er den Strom erreichte, an dessen jenseitigem Ufer das Reckenburger Gebiet be¬ ginnen sollte. Je näher er nun aber seinem Ziele rückte, um so anziehender wurde die Auskunft, die er über die Schlo߬ dame von Reckenburg erhielt. Es waren natürlich nur kleine Leute, die er in den Herbergen, oder als ge¬ legentliche Weggenossen befragen konnte: Pächter, Förster, Viehhändler und dergleichen, einmüthig aber sprachen sie von dem Fräulein mit dem tiefsten Respect. Und zwar sprachen sie von ihr nicht nur wie von einer steinreichen Frau, sondern wie von dem klügsten und 4* resolutesten Manne, dessen landwirthschaftliche Ein¬ richtungen weit und breit der Gegend zum Muster dienten. Ebenso einstimmig waren aber auch die Be¬ denklichkeiten über die Zukunft der großen Besitzung nach dem Tode der Dame. Manche bedauerten die alleinstehende Matrone, Andere beneideten zum Voraus die lachenden Erben. Unser Invalid, des Landes, wie des Landbaues unkundig, verstand natürlich nichts von den Einzeln¬ heiten dieser Mittheilungen. Aber seltsam! Je länger er von der Fülle des Reckenburg'schen Erbes reden hörte, desto tiefer schmeichelten sich Hoffnungen und Wünsche in sein Gemüth, die ihm bis dahin völlig ferngelegen hatten. In Armuth und Heimathlosigkeit wurden die Muthmaßungen erst der alten Kloster¬ klatsche, später seiner eignen Frau von ihm verlacht. Jetzt auf der Wanderung in einer friedlichen, gedeih¬ lichen Landschaft, ein Paar Thaler in der Tasche, jederzeit etwas Warmes im Magen und den Krug gefüllt für seinen Durst, kurz und gut, in einem be¬ haglichen Zustande, wie er ihn kaum jemals gekannt, jetzt überließ er sich willig dem Zweifel, ob die beiden Weiber, ob namentlich seine kluge Lisette in der Hell¬ sicht des Sterbebetts sein Verhältniß zu Fräulein Har¬ dinen doch am Ende nicht richtiger erkannt haben möchten, als einst der einfältige Knabe und später der leichtsinnige Mann. Er überlas jetzt zu wiederholten Malen seine aufgeschriebenen Erinnerungen, er ließ auch wohl Fremde einen Einblick thun, ohne zu be¬ denken, welches Keimkorn von Verdächtigungen er da¬ mit ausstreue. Allerdings glaubte er auch heute noch nicht mit Zuversicht an sein Sohnesrecht, aber er be¬ gehrte nach diesem Recht und vom Begehren bis zum Beanspruchen, man weiß es ja, ist ein Katzensprung. Die Freistatt für sein Kind und selber die Equipage für seinen Türkenzug genügten ihm schon nicht mehr; vor Allem aber genügte ihm nicht mehr, dieselben als eine Wohlthat zu erbetteln. Mit jeder zurückgelegten Meile wuchs sein luftiges Prinzenschloß in die Höhe, und wenn seine Kleine müde ward, entschlüpfte ihm mehr als einmal der Zuruf: „Bald sind wir bei Deiner Großmutter Hardine!“ Es war an einem heiteren Augustmorgen, als er den ersten Gränzpfahl mit der Aufschrift: „Flur Reckenburg“ erreichte. Die Landschaft unterschied sich in keiner Weise von der, welche er seit mehreren Tagen durchschritten hatte; auch gehörte unser erwartungs¬ voller Fremdling nichts weniger als zu den die Cultur beobachtenden Wandersleuten. Trotzdem kam es ihm vor, als wandle er in einem neuen Land. War es der Schimmer der Heimath, der ihn blendete? Oder standen die Wiesen wirklich so viel saftiger, die Felder so viel reicher und üppiger bebaut? Wuchsen die Waldbäume so viel gradstämmiger? Trugen die Obst¬ bäume so viel üppigere Frucht? Wie ebenmäßig waren alle Kreuz- und Querwege chaussirt, wie zweck¬ mäßig geführt und bezeichnet! „Auf denen stockt keine Kanone und strömte es wie bei Quatrebras!“ rief der alte Soldat. Wie mußte er des hirsch- und holz¬ gerechten Waidmannes, seines Lehrherrn gedenken, als er die stattlichen Dammböcke, das kräftige Edelwild in den uralten Tannenforsten über die Umhegungen lugen sah, während hier und dort um den Trinkquell die Thiere lagerten und die Kälber sie lustig umsprangen. „Ja hier ist gut sein!“ rief der arme Landstreicher aus. „Schau Dich doch um, dummes Kind. Alles das gehört Deiner Großmutter Hardine!“ Weniger ansprechend indessen als das Land, dünkten ihm die Leute in der Reckenburger Flur. Es war Erntezeit und ein reges Leben auf den Feldern. Da sah er denn einen Menschenschlag, nicht groß und stattlich wie Prinz Gustel in seiner Erinnerung stand, aber gesund und hartsehnig, knapp und reinlich ge¬ kleidet, scharf bei der Arbeit und karg im Genuß. Das war ein Schaffen ohne Rast; Jeder für sich und dabei doch Einer fördernd in des Anderen Hand. Dabei kein Wort, kein umschweifender Blick, kein Lachen und Schäkern zwischen Burschen und Dirnen, während die Mahden geschnitten, die Garben gebunden und verladen wurden. In einem Ameisenhaufen konnte es nicht stummer und ämsiger vor sich gehen. Selber die, welche Mittag haltend, am Straßengraben saßen, verzehrten die schwarzen Brodschnitte und leerten ihren Krug Dünnbiers schweigend und hastiger, als ander¬ wärts Bauern es pflegen. Keiner lud den wandernden Krüppel und sein müdes Kind zu Rast und Labe; kaum daß sie seinen Gruß erwiderten, als er aber gar nach Schloß Reckenburg und nach Fräulein Hardinen fragte, da starrten sie, ohne Auskunft zu geben, das armselige Paar mit verwunderten, schier verächtlichen Blicken an, als wollten sie sagen: „Was wollt Ihr faules, verlaufenes Gesindel in der fleißigen, gesegneten Reckenburger Flur und bei unserem reichen, stolzen Fräulein Hardine?“ Der „Nach Schloß Reckenburg“ bezeichnete Weg hatte die Wanderer in mannichfaltigem Wechsel stun¬ denlang durch Wald, Wiesen, Feld und endlich wieder in ein Forstrevier geführt mit noch stattlicherem Be¬ stande und mit parkartiger verschlungenen Pfaden als die früheren. Auch hier herrschte ein geschäftiges Treiben. Viel kleinere Kinder als die kleine Hardine sammelten die letzten blauen und die ersten rothen Heidelbeeren des Sommers, alte Mütterchen kamen und gingen mit Kräuter- oder Reisigbündeln, mit Körben duftender Pilze. Von der Wiege bis zum Grabe schien Alles im Reckenburg'schen zu arbeiten. Aber die Kinder arbeiteten stumm, wie vorhin die Er¬ wachsenen und die Greise ebenfalls stumm, wie neben ihnen die Kinder; auch sie starrten verblüfft dem fu߬ wandernden Paare nach, während eine gleichzeitige militairische Cavalcade und mehrere vornehme Equipa¬ gen, welche in rascher Folge an ihnen vorübersausten, ihre Aufmerksamkeit nicht im Geringsten erregten. Ver¬ geblich fragte der Invalid, was diese glänzende Auf¬ fahrt geputzter Damen und Herren zu bedeuten habe? Sie zuckten schweigend die Achseln und bückten sich, um ämsig weiter zu sammeln. „Ein curioses Völk¬ chen, meine Reckenburger!“ sagte August Müller, „aber ich werde ihm Mores lehren!“ Der tiefschattige Waldweg öffnete sich eben wieder nach dem freien Felde, als der Wanderer durch eine Gruppe uralter Weimouthskiefern gefesselt ward. Er blickte lange die schlanken Schäfte bis in die schwarz¬ grünen Wipfel hinan, die wie eine Laube in einander verwachsen waren. „Bah! Bäume sind Bäume!“ sagte er endlich, indem er sich mit Gewalt losriß und in's Freie hinaustrat. Er hatte bisher noch kein Dorf wahrgenommen, nur in der Ferne zerstreut einzelne Gehöfte, die er für Meiereien, Mühlen, oder Ziegelscheunen hielt. Ihn plagte der Durst. Irgendwo mußte doch eine Schenke zu finden sein. So hielt er denn Umschau am Aus¬ gang vor dem Waldesrande. Zur Linken desselben setzte die Straße nach dem Schlosse in einer breiten Lindenallee sich fort; geradeaus streckte sich eine Flucht von Gemüsefeldern. Jetzt wendete er sich zur Rechten und stand wie vom Blitze getroffen, als er hart vor dem Kieferndickicht ein kleines Haus von altväterischer Bauart gewahr wurde. Er starrt hinauf zu dem Giebel, an welchem ein gräflich gekrönter Doggenkopf in Steinarbeit prangt, athemlos umgeht er das Häus¬ chen nach den drei freiliegenden Seiten, schlägt sich mit der geballten Faust vor die Stirn und stürzt end¬ lich mit dem Schrei: „Muhme, Muhme Justine!“ durch die geöffnete Thür. Aber es war nicht die alte Muhme, es war eine junge Familie, die er in dem netten Zimmer zur Mittagsmahlzeit versammelt fand. Der Tisch stand blitzblank gedeckt, obgleich nur mit Buttermilch und einem Grützbrei besetzt. Herr August hätte keinen Appetit auf diese Kost verspürt, wenn man ihn zum Niedersitzen eingeladen hätte. Indessen man lud ihn nicht ein; im Gegentheil, man erhob sich und drängte ihn ganz unmerklich wieder zur Thüre hinaus. Sichtlich mit Widerwillen gab man den Bescheid, daß das vormalige gräfliche Meute¬ wärterhaus jetzt die Wohnung des Schäfereiaufsehers sei. Mit mißtrauischen Blicken wurde dann die Thür abgeschlossen und der Weg nach der Schäferei, einem neuen Anbau, von der gesammten Familie angetreten. Nur ein eisgrauer Großvater war zurückgeblieben, um im Sonnenschein auf der Bank vor der Thür die steifen Glieder zu wärmen. Bei ihm verhielt sich unser Invalid, noch einmal Aufschluß über Muhme Justinen und Fräulein Hardinen erbittend. Und sei es nun, daß zu des Alten Zeit in Reckenburg weniger gearbeitet und mehr geschwätzt worden war, sei es, nach Greisenart, daß der Aufruf einer in jungen Tagen gekannten Gestalt, des Alten Gedächtniß und seine Zunge löste, von ihm erhielt August Müller eine Mit¬ theilung, welche gleichsam den Kettenschluß seiner Er¬ innerungen und Hoffnungen bilden sollte. Frau Müller, oder vertraulicher Weise Muhme Justine, war in Begleitung des blutjungen Fräuleins Hardine, dessen Amme oder Kindsmagd sie gewesen war, nach Reckenburg gekommen und dort von der alten schwarzen Gräfin zurückgehalten worden; die Einzige, die sie jemals in ihrem Goldthurme gesehen hat. Für gewöhnlich aber hat sie in dem leerstehen¬ den „Hundehause“ gewohnt und das Geschäft einer Wehmutter im Dorfe betrieben. Als die Muhme vor vielen, vielen Jahren gestorben ist, hat das Fräulein ein Kreuz über ihr Grab setzen lassen, worauf mit goldenen Lettern die Inschrift: „der treuesten Die¬ nerin“ zu lesen steht. Ob Muhme Justine jemals ein Ziehkind gehalten habe, dessen wußte sich der alte Mann allerdings nicht zu erinnern, vielleicht daß es während seiner Soldatenzeit in der Rheincampagne geschehen war. Aber Muhme Justine hatte ein solches Kind ge¬ halten; August Müller wußte sich dessen nur allzu¬ wohl zu erinnern und das Kirchenregister mußte darüber Auskunft geben, wo, wann und von wem es geboren worden war. Mit großen Schritten, seiner Tochter halbwegs voran, eilte er nach der Pfarre. Das Pfarrhaus, neuen, stattlichen Ansehens, lag zu Füßen der Kirche, die auf leiser Anhöhe das Dorf überragte. Rückwärts, auf dem östlichen Abhange des Kirchhügels, senkte der Friedhof sich ab, während die Schule der Pfarrwohnung gegenüber am Eingang der Dorfstraße errichtet war: neu, reinlich und räumlich wie diese gesammte Anlage. Dem athemlosen Manne, der jetzt von der Waldseite daherrannte, fehlte freilich jeder theilnehmende Blick für alles, was ihm solcher¬ gestalt segenverkündend entgegentrat. Er war im Begriffe die Thür zu öffnen, als ein halbwüchsiger Knabe, im bunten Gymnasiastenkäppchen ihm aus derselben entgegenkam. Zum erstenmale auf Reckenburger Grund ein offnes, fröhliches Gesicht, das auf den ersten Blick das Herz unseres Wanderers gewann. Sein Vater, so antwortete der Schüler auf August Müllers Frage nach dem Herrn Pfarrer, be¬ finde sich auf dem Schlosse, wo heute, am dritten August, der Geburtstag des Königs von dem Fräulein durch ein Festmahl gefeiert werde. Er — der Schüler, — sei gleichfalls auf dem Wege dorthin. Nicht als Gast, — wie er lachend hinzufügte, — denn solche Ehre widerfahre ihm noch nicht, — nur um sich die schönen Wagen und Pferde der Schloßgäste ein wenig anzusehen. Habe das An¬ liegen Eile, sei er bereit, seinen Vater herbeizurufen. Der Invalide brachte nunmehr in polternder Hast das Begehren nach seinem Taufschein zu Gehör, indem er zu seiner Empfehlung sich auf das Zeugniß der beiden Klosterpröbste berief, das er schon auf dem Wege aus seiner Brieftasche genommen hatte. „Ludwig Nordheim,“ sagte der Schüler, nachdem er das Blatt überblickt hatte. — „Der Name und die Handschrift meines Großvaters!“ — „Ihres Großvaters!“ — rief August Müller auf das Angenehmste überrascht. „Junger Herr — Sie heißen — —“ „Ich heiße Ludwig Nordheim, wie er,“ antwortete treuherzig der Knabe. — „Die Nordheims sind ein ständiges Geschlecht in der Pfarre von Reckenburg. Erst mein Großvater, des Fräuleins alter Freund, dann mein Vater, auch wieder ihr Freund, und ginge es nach dessen Willen, würde ich einmal der Dritte. Mir aber,“ so plauderte er fröhlich weiter, „mir ist die Kanzel zu eng. Ich möchte Landwirth werden wie unser Fräulein Hardine. Vorher freilich, sagt sie, soll ich studiren.“ Ein Wirbel war während dieser Rede in des Invaliden Kopfe aufgestiegen. Er stand einen Augen¬ blick wie geblendet von dem Lichte dieser neuen Auf¬ klärung. „Begriff ich Sie recht,“ sagte er darauf, des Knaben Hand ergreifend und heftig drückend, „ver¬ stand ich Sie recht, junger Herr, so war Ihr Gro߬ vater, ehe er Klosterprobst ward, Pfarrer hier , hier in Reckenburg. Können Sie mir sagen, in welchen Jahren?“ „Nicht genau, wann er eingetreten ist, aber eine lange, lange Zeit, bevor er gegen Ende des Jahr¬ hunderts in das Kloster berufen wurde.“ „Jedenfalls also Anfangs der neunziger Jahre, in denen ich geboren sein muß. Er , er hat mich ohne Zweifel getauft; seine Hand meinen Namen in das Kirchenregister eingetragen. Darum , darum hat er mich vor allen Anderen lieb gehabt. Lassen Sie Ihren Vater in Frieden auf dem Schlosse, mein lie¬ ber junger Herr. Ein rascher Blick in das Kirchen¬ buch, und die Sache ist abgemacht.“ „Es thut mir leid, diesen Wunsch, selber wenn ich dürfte, nicht erfüllen zu können,“ versetzte der Gymnasiast. „Es existiren keine Register aus jener Zeit. Die Bücher sind mit abgebrannt, als anno 97, glaub' ich, der Blitz in die Sakristei geschlagen und auch die alte Kirche zum großen Theil zerstört hat. Die Sie hier oben sehen, ist neu errichtet durch Fräu¬ lein Hardinen, wie denn alles in unserem Reckenburg neu geworden ist durch sie: die Flur, das Dorf und selber das Menschengeschlecht. Das himmlische Feuer aber mußte vom Himmel fallen, sagt mein Vater, daß auch in den Registern keiner mehr an die alte, böse, zuchtlose Zeit erinnert werde. Aber wissen Sie was, guter Mann,“ fuhr er nach einigem Besinnen fort, „warten Sie, bis gegen Abend die Gäste das Schloß verlassen haben werden und fragen Sie dann nach bei Fräulein Hardinen selbst. Sie ist in den neun¬ ziger Jahren schon häufig als Gast bei der alten Gräfin gewesen, und sie, die nichts vergißt, erinnert sich gewiß noch jedes Kindes, das in dieser Zeit im Dorfe geboren worden ist, zumal wenn ihre alte Muhme dasselbe aufgezogen hat.“ Nach diesen Worten sprang der Knabe munter voran, da er eben ein elegantes Viergespann in die Dorfstraße einbiegen sah. August Müller folgte ihm mit stolzen Schritten und gehobenen Hauptes. Die Enthüllungen im Wald- und Pfarrhause hatten das, was vor einer Stunde nur noch Verlangen gewesen, zur Gewißheit gesteigert. Was bedurfte er eines Zeug¬ nisses schwarz auf weiß, wo der Zusammenhang so untrüglich mit Händen zu greifen war? In einem abgelegenen Waldhause wird ein Knabe geboren. Er wird aufgezogen von der Gemeinde¬ pflegerin, welche dieses Haus bewohnt und welche die treueste Dienerin seiner Mutter gewesen ist. Der Ortspfarrer, der Mutter vertrauter Freund, tauft den Knaben und trägt ihn unter dem Namen der Dienerin in das Kirchenregister ein. Ohne Zweifel ist er es auch gewesen, der vorher schon die Ehe der Dame heimlich eingesegnet hat, die Ehe mit irgend einem gleichviel ob zu hoch, ob zu niedrig stehenden beliebigen Quidam. Unter den Schutz dieses bewährten geist¬ lichen Freundes, der indessen an die Spitze einer an¬ ständigen Versorgungsanstalt aufgerückt ist, stellt später die Mutter ihren Knaben. Sie führt ihn persönlich ihm zu, ganz im Geheim. Noch ist sie arm und ab¬ hängig, sie darf ihn nicht öffentlich anerkennen; aber sie überwacht ihn im Stillen, sie sorgt für ihn, straft ihn, sie sucht einen tapferen Soldatensinn in ihm zu erwecken; sie bringt ihn in einem selbstgewählten Be¬ rufe unter und als sie endlich, zu Fülle und Freiheit gelangt, ihn vor der Welt anerkennen darf, — ist der Knabe spurlos verschwunden, verschollen sein Name viele, viele Jahre lang. Die Mutter aber bleibt einsam zurück, sie harrt seiner Heimkehr, sie hält ihm das Erbe offen, das ihm rechtmäßig zusteht, erweitert es zu einem fürstlichen Besitz. Und er , er ist dieser glückliche Knabe, er , der Sohn der letzten Recken¬ burgerin, er , der Erbe der reichen Reckenburg! So der Roman, welchen unser heißblütiger Kumpan sich im Fluge auferbaute. Die Daten, die etwa mit seiner Rechnung nicht stimmen mochten, die mancherlei Lücken, die Widersprüche in dem Charakter der mütterlichen Heldin, die problematische Rolle des beliebigen Quidam, mit alle dem beunruhigte er seine Phantasien nicht. Wenngleich noch nüchtern, fühlte er sich wie berauscht. Hätte er eine wohlconditionirte Uniform auf seinem Leibe gefühlt, er würde sporn¬ streichs nach dem Schlosse aufgebrochen und ohne Scheu vor Fräulein Hardinen und ihre vornehme Tafelrunde getreten sein. „Mutter!“ würde er ihr zugerufen haben, „Mutter, Dein Sohn ist heimge¬ Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 5 kehrt, und sieh, diese hier ist seine Tochter, die Dir zur Erinnerung den Namen Hardine trägt!“ Aber leider in ihrem gegenwärtigen Aufzuge konn¬ ten die Erben der Reckenburg sich nicht im Kreise ihrer künftigen Standesgenossen präsentiren. Man mußte ein Wirthshaus suchen und die abendliche Ein¬ samkeit erwarten. So nahm denn unser Freund die Kleine, die ihm ermattet nachgeschlichen kam, wieder an die Hand und schritt forschend die breite, lange Dorfstraße ent¬ lang. Aber seltsam! wie die Gehöfte ihm hüben und drüben entgegentraten, alle neu, schweigsam, sauber und so nüchtern solide, da däuchte ihm, als ob aus jeglichem Fenster die Augen der gestrengen Hardine auf ihn herniederschauten, so wie sie einst den un¬ bändigen Waisenknaben angeblickt; es summte wieder wie „Wildling!“ vor seinem Ohr und er fuhr mit der Hand nach seiner glühenden Backe, wie damals als er ihren züchtigenden Streich auf derselben gefühlt hatte. Ihn überkam eine Anwandlung zweifelnder Schwäche; ohne eine herzstärkende Labe hätte er jetzt nicht vor der handfesten Dame erscheinen mögen. Und hinwiederum seltsam! in dem langgereihten Dorfe schien nirgends eine Stätte für solche Labe aufzufin¬ den. „Haben denn die Leute unter Fräulein Har¬ dinens Regiment keinen Durst?“ fragte er verdrießlich. „Oder saufen sie nur Wasser wie das liebe Vieh?“ Endlich im allerletzten Hause, da fand er, was er suchte, wenn auch durch kein Schild oder Schen¬ kenzeichen, keine Kegelbahn, Laube oder Tanzlinde ein¬ ladend angekündigt. Nein, das war nicht der Platz, wo ein Zögling des Bivouaks das wandernde Mar¬ ketenderzelt vergißt, wo Karten und Würfel fallen und der Schoppen unter zechenden Kumpanen kreist. Noch viel weniger war es eine Herberge, die dem müden Bettler, dem irrenden Landstreicher Labsal und Ob¬ dach bot. Es war ein ruhiges, nüchternes Gehöft wie alle anderen des Dorfes, nur die untergestellten Equipagen der Schloßgäste und eine betreßte Diener¬ schaft vor dem Thor deuteten an, daß wohlbestelltes Volk und Gethier, gegen sofortige Bezahlung, hier gelegentlich eine Raststunde halten durften. So wenig anheimelnd der Platz, unser Veteran warf sich in die Brust, setzte sich auf eine Bank vor der Thür und forderte Wein. Aber die Zornesader auf seiner narbigen Stirne schwoll, als der Wirth, ohne sich von der Stelle zu rühren, ihn von Oben bis Unten mit einem nichts weniger als bewillkommnen¬ 5* den Blicke maß. Was Wunder, wenn in unserem Bruder Habenichts heute Prinz Gustels splendide Soldatennatur wieder aufgewacht war! Er wieder¬ holte barsch seine Forderung, indem er mit der Miene eines Crösus sein letztes Thalerstück auf den Tisch warf. Vergebliche Herausforderung! Ein Achselzucken des Wirths war die einzige Antwort; das goldhelle Wörtchen Wein schien ein fremdartiger Klang in der Schenke von Reckenburg. Indessen hatte die auswärtige Dienerschaft den seltsamen Wandersmann, der in Lumpen ging und mit Thalern um sich warf, auf's Korn genommen. Man näherte sich, man gab gefällig Bescheid und hatte unser Freund vor einer Stunde kaum sich dreist an die Magnatentafel des Grafenschlosses geträumt, so saß er jetzt wohlgemuth im Kreise ihres gallonirten Lakaienthums. Kümmel und Gerstensaft lösten die Zunge so gut wie der versagte Rebensaft. Er plauderte von alten kriegerischen Erinnerungen, aber er plauderte noch lebhafter von den älteren friedlichen Erinnerungen, welche die Wanderung durch die Reckenburger Flur in ihm wach gerufen hatte und er fühlte sich ermuthigt, als auch andere kluge Leute einen Vers daraus zu bilden wußten, der auf den seinen reimte. Halb im Ernst, halb im Spott wurde sein Angriffsplan unter¬ stützt; die Krüge klappten zusammen in einem Frisch¬ auf zu glücklichem Erfolg. Hin und wieder ging auch ein Einheimischer, der zu Hause Mittag gehalten hatte, an dem Schenken¬ platze vorüber; volle Erntewagen schwankten in das Dorf und kehrten leer wieder nach den Feldern zurück. So seltene Gäste die Bauern und Knechte von Recken¬ burg an diesem Platze sein mochten, die Musterung der fremden Gespanne war wohl ausnahmsweise einen Krug Dünnbiers werth, und es verbreitete sich da¬ her auch unter ihnen die wunderbare Mähr von dem Reckenburger Kinde, das plötzlich als Herrenerbe ein¬ gesprungen war. Kopfschüttelnd und schweigend, wie sie der Mähr gelauscht, entfernten sich die Einheimischen, Einer nach dem Andern, auch die betreßte Tafelrunde brach auf, um die Geschirre für die Heimfahrt zu rüsten: ehe aber der Abend sich senkte, war das lang bewahrte Geheimniß Fräulein Hardinens weit über die Recken¬ burger Flur in das Land hinausgestreut. Der sich am spätesten erhob, war der jetzt doppelt berauschte Erbe. Er bezahlte das letzte Glas mit seinem letzten Groschen, riß seine Kleine, die in einem sonnigen Winkel eingeschlummert war, in die Höhe und rief barsch: „Wach auf, Schlafmütze! Jetzt geht's zu Deiner Großmutter Hardine!“ „Zu meiner Großmutter Hardine!“ lallte das Kind wie in einem fortgesetzten Traum. So wanderten sie Hand in Hand voran. Die Füße des Invaliden schwankten und seine Brust keuchte beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche Spur hatte er häufig das Doppelte zu sich genommen. Freilich der Tag war heiß gewesen, die Wanderung weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenschein funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten Rüsternallee präsentirte sich das Schloß auf erhöhter Terrasse; zu beiden Seiten der Avenue dehnte sich bis zum Waldessaume der Garten, linealgerecht durch hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade schlän¬ gelten sich zwischen den vielgestaltigen Schnörkelbeeten, auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunstvoll dressirte Baumfiguren in die Höhe wuchsen. Weiße Marmorbilder, deren Structur sich gar nicht übel mit den Pflanzungen dieses Ziergartens vertrug, ragten längs der Heckenwände, umschichtig mit gar verwunder¬ lichen Ungeheuern, die aus weitgeöffnetem Rachen ein spindeldünnes Wasserfädchen sprühen ließen. Die kleine Hardine klammerte sich zitternd an den Vater, so oft sie eine dieser Kunstgestalten lugen sah; dem Vater aber, der in fremden Landen an mancher ver¬ wandten Anlage vorübergekommen sein mochte, ohne sie zu beachten, dem Vater schien sie hier in seiner Erbheimath schier zur Beunruhigung großartig und imponirend. Als er sich dem Schlosse näherte, sah er die reich geputzte, und uniformirte Gesellschaft die Terrasse her¬ absteigen, um sich lustwandelnd im Garten zu zer¬ streuen. Zum erstenmale schämte sich der Wachtmeister der Legion des geschwärzten, zerfetzten Mantels von Waterloo. Er bog aus der großen Allee nach den Heckenwegen ein und gelangte so unbemerkt in einen der Laubengänge von vergoldetem Gitterwerk, welche zu beiden Seiten die Terrasse hinanführten. In diesem halbdunklen Versteck wollte er warten, bis die heran¬ rollenden Equipagen die letzten Gäste entführt haben würden und dann frischen Muths vor Fräulein Har¬ dinen treten. So langsam er voranschritt, das Zittern seiner Glieder, die Beklemmung des Athems nahm zu. Es kochte etwas in seiner Brust, als ob eine der alten Wunden sich geöffnet habe. Er schlug mit der Faust gegen das hämmernde Herz und mußte eine Lehne suchen, als er jetzt am Ausgang des Berceau nach dem Schlosse blickte, dessen hohe Fenster und Spiegel¬ thüren nach der Terrasse geöffnet standen. Alte reich gallonirte Diener, noch gepudert, gingen gravitätisch hin und wieder, auf silbernen Platten den Kaffee servirend; Andere räumten das funkelnde Geräth und die leckeren Reste von der Tafel im großen Speisesaale des Parterre. Wie die Adern des armen Vagabonden schwollen, wie fieberisch seine Augen leuchteten vor diesem nie geschauten Bilde der Fülle und der Pracht! Nach und nach hatte sich die Terrasse von Gästen und Dienern geleert. Nur noch ein einziges Paar schritt langsam von der entgegengesetzten Seite her der Laube zu, in welcher der Invalid athemlos lauschte. Ein stattlicher Herr in hoher Beamtenuniform, einen Stern auf der Brust; an seiner Seite mit majestäti¬ schem Anstand eine Dame von gleicher Größe wie er selbst und auf der Brust den Orden, welcher für die Patriotinnen des Befreiungskrieges so sinnvoll gestiftet worden war. Reiches Geschmeide funkelte unter der Spitzenumhüllung des gegen die Mode der Zeit fal¬ tigen, schleppenden Gewandes und die Strahlen der sinkenden Sonne spiegelten sich in einem Diadem über dem vollen, schwarzen Haar. Der Herr sprach mit Eifer; ernst und gedankenvoll hörte die Dame zu. In der Nähe des Laubenganges stand sie still. Sie schien eine Antwort zu suchen, legte den Arm auf eine Vase; in welcher eine Aloe ein verkümmertes Ur¬ alter fristete und wendete bei dieser Bewegung das volle Gesicht dem heimlichen Lauscher zu. Alle Vorsätze der Zurückhaltung, alle beklemmende Scheu waren jählings verschwunden. „Fräulein Har¬ dine!“ schrie er auf. „Sie ist es! ja, das ist Fräulein Hardine!“ Er stürzte aus der Laube und mit ausge¬ streckter Hand der Dame entgegen. So haben wir denn das, was wir zu Anfang ein Geheimniß genannt, nebelartig aus losen Erinnerungen, so gleichsam aus dem Hauche eines Namens aufsteigen und sich in vorlauten, eigennützigen Deutungen immer dichter und dichter herandrängen sehen, bis es als eine drohende Wetterwolke über dem Haupte Fräulein Har¬ dinens hing. Ueber dem Haupte einer Frau, die wir als die Schöpferin unseres heimathlichen Wohlstandes verehrten, die in ihre mit männlicher Kraft und Aus¬ dauer gegründete, junge Colonie den Wahrspruch ihres Hauses: „In Recht und Ehren“ eingepflanzt und sie vor jeder entsittlichenden Berührung gehütet hatte, einem Spiegel gleich, den der leiseste Moderhauch trübt. Und wir Reckenburger Leute hatten sie gekannt fast noch als ein Kind; ihr Leben lag vor uns durch¬ sichtig und eben wie ein Krystall. Da war kein Schatten, keine Lücke, ja nicht einmal eine gemüthliche Regung, welche eine Heimlichkeit hätte ahnen lassen. Der Wechsel unserer beiden letzten Herrinnen, der gespensti¬ schen Urgreisin im Goldthurme, mit deren Beschwörung wohl heute noch die Mütter ihre Kinder zur Ruhe scheuchen, und der heute im fünfzigsten Jahre noch frisch und kräftig, fast wie im fünfzehnten, ausschauen¬ den und schaffenden Hardine glich dem des Tages mit der Nacht. So stand sie vor Hoch und Gering ehrenreich und ehrenrein wie keine Zweite; so stand sie im Kreise der Notabeln ihrer Gegend, an der Seite des Mannes, der für ihren einzigen Vertrauten galt, und den man neuerdings vielfach den Erkorenen für ihr freies Erbe nannte, als ein landstreichender Bettler, der erste seiner Art, der ihr Gehege zu betreten wagte, sich zu einer Bezüchtigung, zu einer Anforderung an sie erdreistete, vor welcher das niedrigste Weib in Scham und Zorn entbrannt sein würde. Die Unterredung mit dem Grafen, ihrem Be¬ gleiter schien ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen zu haben, daß sie das Nahen der beiden Fremdlinge nicht früher bemerkte, bis August Müller dicht zu ihren Füßen ihren Namen rief. In seinem verwilderten Zustande, mit allen Anzeichen des Trunken¬ bolds, war der erste Eindruck der des Widerwillens und der Entrüstung. „Fort!“ befahl sie, indem sie einen Diener herbei winkte, den Eindringling zurück zu treiben. „Fort!“ rief der Invalid, bis jetzt noch aufge¬ räumten Humors; „fort weisen Sie mich Fräulein Hardine? Sie erkennen mich wohl nicht, und ich er¬ kannte Sie doch auf den ersten Blick, wenngleich Sie vor zwanzig Jahren noch keine Krone getragen haben.“ Er war während dieser Worte die Stufen hin¬ angestiegen und faßte nun dreist nach der Dame Hand. Unwillig wehrte sie mit beiden Armen den Zudring¬ lichen ab, während mehrere Diener herbeisprangen, die Gäste aus dem Garten sich nach der Terrasse drängten und der Graf eine Bewegung machte, den wüsten Gesellen die Treppe hinabzuwerfen. War es nun in Folge des Rausches, der vorigen Schwäche, oder blos der kräftigen Abwehr der Reckenburgerin, genug, der Mann taumelte und stürzte die Stufen hinab, eine Blutspur zeigte sich am Boden, der ver¬ witterte Mantel entfiel ihm; das militairische Ehren¬ zeichen, der Stumpf des Armes wurden sichtbar; Fräulein Hardine erbleichte. Die leichte Verletzung hatte den Berauschten plötzlich entnüchtert. Er richtete sich rasch in die Höhe und stand einen Moment in drohendem Trotz, mit ge¬ ballter Faust der Dame Aug' in Auge. Dann ließ er den Arm sinken und sprach mit einem Stolz, der sich seltsam gegen die vorige Rohheit abhob: „Es ist nicht das erstemal, Fräulein Hardine, daß Sie Ihre Hand gegen mich erhoben haben; aber Gott sei mein Zeuge, es ist das letztemal. Sie werden August Müller nicht wiedersehen. Ich hätte es mir ja den¬ ken können, daß Einer, dessen Dasein in einem Wai¬ senhause verborgen worden ist, nun, da das Elend ihn treibt, für sein mutterloses Kind eine Freistatt zu suchen, von der Schwelle Ihres stolzen Hauses wie ein Verbrecher verjagt werden würde.“ Die Blicke der sprachlosen Dame fielen während dieser Schmährede auf das Kind, das hinter dem Va¬ ter drein bis dicht in ihre Nähe geschlichen, und jetzt von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gäste umringt worden war. „Wie heißt Du?“ fragte eine Dame. „Hardine,“ murmelte die Kleine. Es folgte noch eine weitere Examination, auf welche sie mit stumpf¬ sinniger Gleichgültigkeit den Kopf schüttelte. Endlich: „Was wollt Ihr, wen sucht Ihr hier?“ „Meine Großmutter Hardine,“ sagte das Kind. Auch das hörte das stolze Fräulein mit an; sie sah die verblüfften Mienen der hohen Gesellschaft und — sie schwieg. Sie schien wie erstarrt oder in ferne Erinnerungen verloren. „Schweig, Hardine!“ herrschte jetzt der Invalid seine Tochter an, indem er sie mit Gewalt aus der Gruppe zog. „Schweig und komm! Gott ist ein Va¬ ter der Waisen. Es wird anderwärts barmherzigere Seelen geben.“ Damit wendete er sich zum Gehen. Nach ein Paar Schritten aber sah man einen bleifarbenen Schatten über seine Züge fliegen. Er schauderte zu¬ sammen und klammerte sich zitternd an das Lauben¬ gitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Pre¬ diger ihm zu Hülfe; sein Sohn, der uns schon be¬ kannte Gymnasiast, sprang zwischen den Hecken her¬ vor und nahm die kleine Hardine an seine Hand. Auch der Graf folgte ihnen in merklicher Bestürzung. Sie verschwanden im Laubengang. Fräulein Hardine aber wendete sich mit verstörten Mienen, ohne ihre Gäste zu beachten, ihrem Schlosse zu. Wie möchten wir nun aber bei diesem Betragen der stets so gehaltenen, selbstbewußten Dame die Stim¬ mung der verlassenen Gesellschaft zu beschreiben wa¬ gen? Ein Theil, und sicherlich der klügste, bestieg ohne Abschied die bereits vorgefahrenen Wagen. Andere entblödeten sich nicht, in der eigenen Umhegung der Festgeberin den am Nachmittag in der Schenke ge¬ sammelten Erläuterungen ihrer Dienerschaft Gehör zu geben. Der Rest schlenderte in den Gartenwegen auf und ab, ein Wiedererscheinen der Dame, oder die Lö¬ sung des Räthsels erwartend. Nach kurzer Zeit kehrte Ludwig Nordheim athem¬ los zurück, um den Kreisphysikus, der sich unter den Gästen befand, zu dem in der Schenke plötzlich er¬ krankten Fremdling zu holen. Später kam der Pre¬ diger mit dem Grafen, der letztere mit dem Ausdruck der stärksten Empörung. „Der Säuferwahnsinn ist bei dem Vagabonden ausgebrochen,“ antwortete er auf die Fragen der ihn umringenden Bekannten. Der Prediger zuckte schweigend die Achseln. Beide bega¬ ben sich nach dem Schlosse. Wenige Minuten später eilte von dorther ein Diener nach der Schenke; bald darauf folgte ihm der Prediger. Man erfuhr, daß das Fräulein die sorg¬ fältigste Pflege für den Kranken befohlen habe, auch dessen Uebersiedelung nach dem Schlosse wünsche, falls der Arzt dieselbe für zulässig halte. Noch hatte man nicht dazu kommen können, sein Erstaunen über diese Weisung auszusprechen, als der Graf aus dem Por¬ tale trat, leichenblaß, in heftigster Aufregung an der Unterlippe nagend. Ohne ein aufklärendes Wort zu gewähren, bestieg er den bereithaltenden Wagen, und jagte von dannen. Auch den letzten Gästen schien der Aufbruch ge¬ boten. Kaum eine Stunde nach der aufregenden Be¬ gegnung war es in der Umhegung der Reckenburg so still wie alle Tage. Am anderen Morgen jedoch kehr¬ ten etliche der gestrigen Gäste — wohlzumerken der Graf nicht unter ihnen — zurück, um aus reinstem Wohlwollen, wie sich von selbst versteht, Erkundigun¬ gen über das Befinden der Dame und des räthselhaf¬ ten Fremden einzuziehen. Der letztere lag noch in der Schenke, schwer krank, aber nicht am Säuferwahn¬ sinn, sondern an einer Lungenentzündung, wie der Doctor erklärte. Fräulein Hardine war verreist. Sie, die Stetige in ihrem Revier, die man nie, außer zu einer Visite in der Nachbarschaft, und immer nur in der sagenhaften goldenen Kutsche und dem schier un¬ sterblichen Schimmelzug, zwei gepuderte Heyducken auf dem Trittbrett — sämmtlich Erbstücke der schwarzen Gräfin — sich aus der Reckenburger Flur hatte ent¬ fernen sehen, sie war diese Nacht ohne Dienerschaft im leichten Jagdwagen bis zur nächsten Station und von da mit Courierpferden weiter gefahren. Trotz der ämsigsten Nachforschungen hat Niemand erfahren kön¬ nen, wohin oder zu welchem Zweck. Als sie nach zwei Tagen auf dieselbe heimliche Weise zurückkehrte, war ihr erster Gang in die Schenke an das Kranken¬ bett August Müllers. So befremdend dieses ganze Gebahren war, es lag im Grunde noch nichts darin, was ein so makel¬ loses Ansehen, wie Fräulein Hardinens, hätte trüben dürfen. Sie gab durch dasselbe zu, daß August Mül¬ lers Erinnerungen richtig waren, aber der Schluß, den eine begehrliche Natur daraus gezogen hatte, er konnte, nein, er mußte ein irriger sein. Fräulein Hardine hatte niemals für eine Samariterin gelten wollen, und wir wissen es schon, sie galt auch nicht dafür. Aber wäre es selber für Fräulein Hardinen etwas Unnatürliches gewesen, eine hülflose Waise in einer öffentlichen Anstalt zu versorgen und zu über¬ wachen? Oder wäre, selber für Fräulein Hardinen, eine mitleidige, vielleicht vorwurfsvolle Erschütterung so schwer zu begreifen, wenn ein Schützling aus der Jugendzeit uns im Alter plötzlich als eine untergegan¬ gene Creatur gegenübertritt? Sie brauchte nur einen Namen zu nennen, nur die Herkunft des Waisenkna¬ ben zu erklären, und der Sturm im Wasserglase legte sich. Aber Fräulein Hardine nannte diesen Namen, gab diese Erklärung nicht. Die guten Freunde schmach¬ teten nach dem Labsal eines Worts, — aus reinster Sorge für den Ruf der edlen Dame, wie sich wiederum von selbst versteht, — und sie schwieg vor wie nach. Fürwahr, Fräulein Hardine war keine mitleidige Na¬ tur, nicht einmal gegen sich selbst. Weder jetzt, noch später hat sie der verhängnißvollen Begegnung am Königsfeste gegen irgend einen Menschen erwähnt. Nach vielen Jahren jedoch und für einen be¬ stimmten Zweck, richtiger, für eine bestimmte Person, hat sie ihren Lebenslauf niedergeschrieben, und darin Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 6 „ihr Geheimniß“, wie sie es selbst genannt, enthüllt. Sie hat es sichtlich mit Lust und Liebe, sogar in hei¬ terer Anordnung gethan, und möchten wir uns nicht irren, wenn wir bei Veröffentlichung dieser Bekennt¬ nisse auf den Antheil auch eines weiteren Kreises, als den ihrer einstigen Lebensgenossen zu rechnen wagen. Denn ist es auch ein etwas altväterisches Charakter- und Sittenbild, das wir vor dem Leser entrollen, aus seinen Zügen spricht eine Wahrheit, die keiner Zeit und Mode unterworfen ist: Ja, Gottes Wege sind wunderbar, auch die zu den Herzen der Menschen! Erstes Capitel. Die Rose und ihr Blatt. Die Reichthümer der Reckenburg lagen meiner Wiege so fern, wie die Goldminen von Peru, die letzten der „weißen“ freiherrlichen Linie waren nicht die begehrlichen Abenteurer, die um schnöden Mam¬ mons willen sich in das Bereich der „schwarzen“ Häuptlingin ihres Stammes gewagt haben würden. Sie hatten seit Generationen eine Zuflucht gefunden, welche die adelige Armuth ehrenvoll deckte und sich unter der Fahne wohl und zufrieden gefühlt. Keiner jedoch wohler und zufriedener als der Allerletzte in ihrer Reihe, der schon als Lieutenant ein Bäschen gefreit hatte, auch von den „Weißen,“ arm und ahnen¬ rein wie er selbst. Eberhard und Adelheid von Reckenburg waren geschwisterlich nebeneinander aufgewachsen und zweifle 6* ich, daß in irgend einem Stadium ihrer Bekanntschaft das große Wort Liebe zwischen ihnen gewechselt worden sei. Große Worte so wenig wie kleine Zärt¬ lichkeiten waren Reckenburg'scher Habitus; aus welcher Bemerkung indessen keineswegs gefolgert werden soll, daß die Leute nicht tief im Herzensgrund aneinander gehangen hätten. Ich wüßte, im Gegentheil, mir kaum einen glücklicheren Ehebund vorzustellen, als den, in welchem Eberhard und Adelheid sich länger als dreißig Jahre in einmüthigem Pulsschlag ergänzten und trugen. Er : groß, roth, robust; wie er sich selber nannte: „ein Ursachse,“ den ein neckischer Kobold unter die leichte Reiterei gewürfelt hatte. Sie : klein, fein, blaß und behende. Er : gutmüthig, sorglos, gelassen, bereit, die Dinge, sobald sie ihm zu ernsthaft wurden, mit einem Scherzworte abzufertigen. Sie : bedacht¬ sam, klug, praktisch und darum, zu allseitiger Be¬ friedigung, der Souffleur und heimliche Maschinist der häuslichen Bühne. Beide : Ehren- und Edelleute vom Scheitel zur Zeh'. Daß die Heldin und Schrei¬ berin dieser Geschichte, das einzige Kind des glücklichen Paares, körperlich nach der Structur des Vaters, geistig mehr nach der der Mutter geschlagen ist, wird aus ihrem Lebensbaue zu ersehen sein. Ich erhielt den Namen Eberhardine, wie einst der Vater schon den seinigen erhalten hatte, zu Ehren des gräflichen Familienoberhauptes. Beide Genera¬ tionen per procura und ohne daß Verleiher und Empfänger sich jemals mit Augen gesehen hätten. Da der hohen Pathin hinwiederum aber ihr Name durch die kurfürstliche Eberhardine eingebunden worden war, durch jene Brandenburgerin, welche ihrem starken August und der polnischen Königskrone zum Trotz, ihre Tugend und protestantische Treue zu behaupten wußte, so bin ich der unmaßgeblichen Meinung, daß eine Ader dieser ausländischen Zähigkeit, per procura des Taufregisters, sich auf die sächsische Pathenfolge in weiblicher Linie vererbt haben mag. Das königlich- kurfürstliche Namenserbe dahingegen wurde für einen Lieutenantshaushalt zu großartig befunden. Der Papa strich „die ungeschlachte Bestie“ am Anfang und auch die Tochter hat sich, ex officio , späterhin gern mit der Hardine begnügt, wenngleich sie der Sanction des Kalenders entbehrte. Das junge Ehepaar hatte seinen Haushalt ge¬ gründet, — notabene : in der Theuerungsnoth der siebenziger Jahre, — mit einer Monatsgage von zwölf Thalern und einem Lehnstamm, ungefähr des nämlichen Betrages. Soweit jedoch meine eigenen Erinnerungen reichen, führte der Vater die Schwadron, ein Posten, der für Manchen seines Gleichen die Revenüen eines Rittergutes abwarf und von just nicht Ehrsüchtigen den Majorsepauletten vorgezogen ward. Da der Rittmeister von Reckenburg aber ein Mann war, der nicht mit Zopfbändern zu knausern verstand und jeden Hufbeschlag für eine Gewissenssache hielt, so hütete sich seine „Hausehre“ das wirthschaftliche Budget nach Maßstab der Charge zu erhöhen. Bei aller Verwaltungsweisheit brachte sie sich indessen wenig auf einen grünen Zweig, wenn schon ein ruinirendes Zelt- und Wandervogelleben das des Soldaten in jenen kurfürstlichen Zeiten nicht genannt werden kann. Der Vater stand während seines langen Fahnen¬ dienstes bei dem nämlichen Regiment und mit dem¬ selben in der nämlichen Garnison. Wir hatten in unserem Landstädtchen heimisch Wurzel geschlagen und achteten es als Gewinn für die häusliche Gemächlich¬ keit, daß ein Nebenzweig des Kurhauses, der bisher im Orte residirt hatte, seit Kurzem erloschen war, obligatorische Standespflichten nach obenhin unseren Tageslauf sonach nicht regulirten. Dahingegen erfreuten wir uns mancher glanz¬ vollen Erinnerung an jene herzogliche Zeit. Auf der Höhe ragte, wenn auch unbewohnt, das reich aus¬ gestattete Schloß, dessen Terrassen, Weinberge und Gärten sich bis in die Bürgerhöfe hinabzogen und angenehme Erholungsplätze boten. Wir besaßen noch eine verwittwete Frau Hofmarschallin, einen pensionir¬ ten Hofjunker, einen Titular-Hofjägermeister, Hof¬ schneider, Hofprediger und eine Hofkellerei. Die letztere sogar in unmittelbarer Nachbarschaft. Ein Faßbinder, Namens Müller, hatte sie sammt der Schankgerechtig¬ keit in und außer dem Schloßpavillon erpachtet und so konnten wir uns in Haus und Garten an den Bacchanalien unserer Mitbürger ergötzen oder über sie entrüsten, je nach Stimmung und Gelegenheit. Auch das Haus, in welchem meine Eltern vom Traualtar bis zum Grabesrande geheimst haben, rühmte sich eines fürstlichen Ursprungs. Ein weiland Herzog hatte es für seinen Leibbader, vulgo Barbier, anlegen lassen, war aber des Todes verblichen, bevor es über den Unterstock hinausgelangte. Der Posten eines Leibbaders wurde von dem neuen Hofhalte und die Beletage von dem Bauplane gestrichen. Der Dachstuhl senkte sich unmittelbar auf das Erdgeschoß, wurde aber, nach Bedürfniß späterer Geschlechter, Stockwerk um Stockwerk erhöht, bis schließlich die Haube dreimal so hoch war wie das Gestell. Wie freut es mich heute, meine Freunde, Euch just in diese naturwüchsige Heimstätte einführen zu können. Denn nichts erfrischt so die Eintönigkeit des Alters, wie eine Curiosität aus unserer frühesten Zeit. „Der Mops mit der Zipfelmütze“ steht vor meinen Augen gleich einem lebendigen Geschöpf; was aber würde ich Euch aus einer glatten, residenzlichen Zim¬ merflucht zu beschreiben haben? Man nannte das Haus die Baderei oder auch die Faberei, denn es war, sammt der Kunst des Er¬ bauers, in dessen Nachkommenschaft fortgeerbt und „Faber“, so hieß jener vom Hofstaat gestrichene Leib¬ barbier, an dessen allerhöchstes Amt noch das Pfört¬ chen erinnerte, das von unserer Gartenterrasse auf das Schloßplateau führte. Dieses Haus nebst Pertinenzien war nun gegen dreißig Laubthaler Jahresmiethe der Familie von Reckenburg so gut wie ein selbstherrliches Bereich. Meister Faber, ein Wittmann, rastete wenig daheim. Seine Scheerstube, im bewohnbaren oberen Dach¬ geschoß, gränzte an das Zimmerchen, das mir von früh ab privatim eingeräumt worden war, und die drei anlockenden Messingbecken klapperten im Winde und funkelten im Sonnenschein zwischen der uns tren¬ nenden Fensterwand. In den Kammern über unseren Häuptern nächtigte Reckenburgs Dienerschaft: will sagen die Magd und der Soldatenbursche, der ein für allemal „Purzel“ hieß. Höher hinauf thürmten sich Vorraths- und Futterspeicher, Trockenboden, Rauch¬ kammer und so weiter und so weiter. Nun aber der fürstliche Grundbau im Parterre. De plain pied aus der Thorfahrt, welche die Hälfte einnahm, trat man in das geräumige, gelb getünchte Familienzimmer; aus diesem in die Schlaf- und ver¬ trauliche Rathskammer des ehelichen Consortiums. Hin¬ ter beiden lagen die Küche und das Büreau der Schwa¬ dron. Das waren die freiherrlichen Apartements! Zwischen dem Raum und seiner Füllung aber welche stylvolle Harmonie! Das hochbeinige Kanapee mit dem blaugewürfelten Leinenzeug, eigenhändig von Frau Adelheid gesponnen, die dito Gardinen, der große eichene Ausziehtisch und der lederne Ohrenstuhl, in welchem der Hausherr sein Mittagsschläfchen hielt, das mütterliche Spinnrad und die roh gezimmerte Hütsche; in der Hölle, hinter dem Ungeheuer von grünen Kacheln, der Waschtisch, an welchem die Familie nach dem Essen sich die Hände spülte, darüber, als Draperie, die selbstgesponnene, blitzblanke Quehle, — Kinder, seht sie mit Ehren an, die alten Stücke in Reckenburgs neuem Thurm: es waren gute Menschen, welche sich zwischen ihnen glücklich fühlten! Und nun das Kleinzeug der Haushaltung: das braune Kaffeegeschirr und das Tafelservice von Zinn; die Messingleuchter mit der tiefschnuppigen Unschlitt¬ kerze, die kupferne Feuerkieke, welche Ehren-Purzel seiner gnädigen Frau Sonntags auf dem Kirchgange nachtrug; — Euch, Menschen von heute, dünken diese Geräthschaften wohl wie Rudera aus einem Hünen¬ grabe; aber fragt einen ergrauten Junggesellen, eine einsame, alte Jungfer, die für kein Tändelwerk in einer Kinderstube zu sorgen, fragt sie, wie es thut, wenn solch rücklaufendes Fädchen aus dem Netze ihrer Gewohnheiten gerissen wird? Was würden jedoch diese einfachen Umgebungen bedeuten, ohne die gelassene Grandezza, mit welcher die Bewohner sich in denselben bewegten? Nichts für ungut, meine jungen Freunde, aber das Bewußtsein reinen Bluts verlieh einen sicheren Ductus, welchen die Matadore der Comtoirs und Büreaux größtentheils noch erlernen müssen und welchen die der zweiunddreißig Quartiere erst verl ernten, wenn die Manier des Höf¬ lingslebens sie beleckt hatte. Bei Eberhard und Adel¬ heid von Reckenburg mögt Ihr in die Schule gehen, wollt Ihr erhobenen Haupts und ohne Schwanken, wie jeder brave Mensch es soll, vor Hoch und Gering im Takte schreiten. Wenn die Freifrau von Reckenburg sich nach der Post begab, um ein durchreisendes Mitglied ihres Fürstenhauses zu begrüßen, in der nämlichen Robe, in welcher sie als blutjunges Fräulein demselben hohen Haupte präsentirt worden war, so schritt sie, beugte sich und redete, bei aller Ehrfurcht, selber wie eine Kurfürstin, denn sie wußte ihre Ahnenreihe so alt und rein wie die des Hauses Wettin. Wenn die Ge¬ mahlin des vielschröpfenden Herrn Amtmanns, oder die des reichsalarirten Oberforstmeisters in eigner Ca¬ rosse, Kammerdiener oder Jäger auf dem Trittbrett, zur Visite vorfuhren, so ging sie denselben in ihrer getünchten Wohnstube mit der Quehle im Ofenwinkel, eher einen Schritt weniger entgegen und machte ihre Reverenz eher eine Linie weniger tief als jene Damen es thaten, sobald sie in deren Prunkzimmern zur Ge¬ genvisite empfangen ward, denn die reiche Amtmannin war gar nicht und die Andere von neuerem Adel als die Freifrau von Reckenburg. Die Freifrau von Recken¬ burg erwiderte ohne Beschämung die genußwechselnden Gelage der Honoratiores alle Jahre nur ein einziges Mal mit einem Schälchen Kaffee, stark mit Mohr¬ rüben versetzt, und der Rittmeister von Reckenburg stängelte unbekümmert die Bohnen seines Gartenbeets, ob auch die Gäste des Nachbar Kellerwirths des häus¬ lichen Treibens Zeugen waren. Der Rittmeister von Reckenburg, die kurze Thonpfeife im Mund und vor sich den irdenen Deckelkrug selbstgefüllten Dünnbiers, wenn er an langen Winterabenden die Aepfelschnitzel auf Fäden reihte, welche „sein Frauenzimmer“ geschält hatte, ließ sich durch eine Meldung, oder einen späten Besuch so wenig beirren, als wenn er seine Husaren im Parademarsch einem Generalissimus vorführte. Thut desgleichen mit der nämlichen Manier, und die zwei¬ unddreißig oder gar vierundsechszig Quartiere der Reckenburger werden ein Sparren, oder eine Seifen¬ blase geworden sein. Zu meiner Zeit und in unserem Landstädtchen mit den Reliquien des erloschenen Herzogszweigs waren sie aber weder ein Sparren noch eine Seifenblase, sondern ein zuverlässiges Postament, auf welchem man, auch in den Bewegungen nach unten hin, heute sich wohlgemuth eine patriarchalische Mischung gestatten durfte, und morgen ohne Aergerniß eine kastische Gränze zog. Nicht dem wohlhäbigsten Kaufmann oder Gewerbtreibenden würde es eingefallen sein, sich in die adlige Societät zu drängen, welche sich Donnerstag Nachmittags in des Kellermeisters erpachtetem Schlo߬ garten versammelte. Nicht die freudenarmste und töch¬ terreichste adlige Wittib würde in der bürgerlichen Ge¬ sellschaft, die sich Montags unter den nämlichen Lauben ergötzte, eine frohe Stunde, oder gar einen Freier für ihre Fräulein gesucht haben. Die bürgerlichen Ho¬ noratioren: Beamte, Prediger, Aerzte gehörten zwar beiden Reunionen an, ohne jedoch eine Kette zwischen ihnen zu bilden, und ohne von den Donnerstäglern anders als unvermeidliche Füllung betrachtet zu werden. Geschmack und Bildung waren wesentlich die nämlichen und so konnte das Unterhaltungsmaterial Donnerstags wie Montags auch nur das nämliche sein. Die Herren kegelten, kannegießerten, spielten — meist mit deutschen — Karten, und schlürften des Kellermeisters saures Landgewächs; das schöne Geschlecht strickte, tunkte selbstgebackenes Kuchenwerk in einen dünnen Milch¬ kaffee und glossirte: die Montägler über die Donners¬ tägler und vice versa . An Winterabenden wurde von der Jugend im Pavillon Pfänder gespielt und ge¬ legentlich getanzt. Dahingegen saßen wir in der Dämmerstunde aller übrigen Tage nicht abgesondert in unseren Gärten hinter dem Haus, sondern nachbarlich bei einander auf der Bank vor der Straßenthür. Die Männer, bür¬ gerlich und adlig, Militair und Civil spazierten schmau¬ chend auf und nieder, die Frauen plauderten hinüber und herüber, riefen die Vorübergehenden an, rückten zusammen, prüften ihr gegenseitiges Gespinnst und ließen Eine die Andere von ihrem Abendbrod kosten, wobei denn nicht verhehlt werden soll, daß wir und unseres Gleichen die saftigeren Bissen gekostet haben mögen. Auch gab es keine Schlachtschüssel, kein Fest¬ gebäck, keine Wein- und Obsternte bei dem Nachbar Kellermeister hüben und dem Nachbar Tuchmacher drüben, daß die gnädige Frau Rittmeisterin nicht ho¬ noris causa ein Pröbchen zum Schmecken erhalten hätte. Die gnädige Frau Rittmeisterin bedankte sich durch einen schönen Empfehl, rühmte auch gelegentlich die wohlschmeckende Darbietung, daß sie dieselbe aber von ihrer eignen Schlachtschüssel, oder von ihrem eignen Christwecken erwidert hätte, wüßte ich nicht zu berichten. Unter derlei Anschauungen war ich in die Jahre gekommen, in welchen die Pflicht für einen standes¬ mäßigen Unterricht ernsthaft in Betracht gezogen wer¬ den mußte. Da eine Französin, will sagen Gouvernante, mit der Oekonomie des Hauses sich nicht vertragen haben würde, hatte die fürsorgliche Mama, bereits von der Wiege ab in dem Hauptstücke einer guten Education vorgebaut: Sie sprach stets nur französisch mit mir und lehrte mich in der Folge auch die Grammatik, die sie correcter inne hatte als die der Muttersprache. Für das was außerdem zu lehren übrig blieb, wurde in meinem achten Jahre ein Hofmeister engagirt, brühwarm vom Seminar und sanft und zärtlich wie sein Name: Christlieb Taube. Sieben Jahre lang hat dieser Musterjüngling sich buchstäblich aus¬ gerungen, um der ihm anvertrauten Schülerin auch nicht ein Tröpfchen des kürzlich eingesaugten, edlen Stoffes vorzuenthalten; er hat nebenbei im Büreau der Schwadron, — „zu seiner Uebung,“ — manche Correctur und manchen Rechnungsplan ausgeführt, in welchen Obliegenheiten der Rittmeister von Reckenburg sich nicht immer als ein Held ohne Fehl erwies; er hat, — „zu seiner Unterhaltung,“ — den Hausgarten in seine Pflege genommen und auf der Terrasse eine Weinhütte angelegt, auch eigenhändig die weißen Wände seines Kämmerchens zwischen dem der Magd und des Burschen Purzel mit Gewinden von Rosen und Ver¬ gißmeinnicht ausgemalt; er hat demnach Nutzen ge¬ stiftet und Schaden verhütet, wie so leicht kein Zweiter für fünfundzwanzig Laubthaler Salair. Er hat mir späterhin einen Beweis der rührendsten Freundestreue gegeben und bei alledem noch kürzlich in seinem letzten Briefe „die Schüler- mehr denn Lehrjahre in diesem humanen Edelhause als die glückseligsten in seinem glückseligen Leben“ gerühmt. Dank und Ehre daher meinem glückseligen Hofmeister, Christlieb Taube! Da die Einseligkeit in der Schulstube von der Mama nicht für schicklich und von dem Papa für allzu langweilig erklärt worden war, hatte sich die Wahl einer Studiengenossin in Nachbar Kellermeisters Dört¬ chen, schon bisher meiner ausschließlichen Spielkameradin, von selbst ergeben. Es war dies auch eine erlaubte Herablassung zu den unteren Ständen, da ja selbst an Fürstenhöfen ein „Prügelkind“ gäng und gebe ist; eine Herablassung, die in unserem Falle sich aber auch in gemüthlicher Richtung empfahl. Denn die Kleine war eine Waise von Mutterseite und der Vater Schenk¬ wirth ein arger Hüter für dieses Kind. Ja für dieses Kind! Daß ich es Euch vor die Augen zaubern könnte, warm wie es nach einem halben Jahrhundert noch vor den meinigen lebt! So wie es damals war und so wie es kaum merklich hineinwuchs in jedes folgende Stufenjahr: als Jungfrau, als Weib, als Matrone, das holdselige Kind Dorothee! Aber wer beschreibt jener Sonntagsgeschöpfe eines, deren Wiege, wie die Redeweise läuft, die Liebesgöttin sammt allen drei Huldinnen umstanden hat? Und wenn ich den Pinsel statt der Feder zu führen ver¬ stände, so sähet Ihr vielleicht die feine, wie aus Wachs bossirte Gestalt, die leise gerundete Wellenlinie der Glieder; Ihr sähet über dem Rosenknöspchen des Haupts den goldigen Flor, der wie ein Schleier bis zu den Knieen niederwallte, sähet die Grübchen in Wangen und Kinn. Aber sähet Ihr auch die Pur¬ purwoge unter der blüthenweißen, blaugeäderten Haut? Das schillernde Farbenspiel des Auges, wenn es, ein durchsichtiger Crystall, in dieser Sekunde sich lachend und forschend in die Höhe schlug, und in der nächsten, dunkel beschattet, sich demüthig zu Boden senkte? Sähet Ihr das liebliche Neigen und Biegen, den raschen Uebergang von flüchtiger Weisheit zu Scherz und Tändelei? Hörtet Ihr das silberhelle Stimmchen die Tonleiter auf und niederhüpfen, das herzige Ge¬ Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 7 lächter gleich dem Locken des Pirols am sonnigen Maientag? Doch was hilft es mir in dieser Blumensprache von Anno Dazumal fortzufahren? Ihr werdet das Reizende in unserer kleinen „Dorl“ aus seiner Wir¬ kung auf Andere verstehen lernen, die einzige Manier, in der das Reizende überhaupt geschildert und ver¬ standen werden kann. Zu allernächst in seiner Wir¬ kung auf mich selbst. In jenen Kindheitstagen, ei nun, so wie sie da dachte ich mir die Engelchen unter Gott-Vaters Baldachin und die pausbäckigen Trompetenbläser in unserer alten Postille, die dünkten mich gar grob¬ schlächtige, himmlische Gesellen neben meiner zierlichen, irdischen, kleinen Dorl. Von Jahre zu Jahre aber wuchs der Zauber, welchen die Menschenschöne allezeit über mich ausgeübt hat, — vielleicht weil ich ehrlicher Weise sie in meinem Spiegel recht gründlich vermißte. Das Mädchen wurde meine Augenweide, das Wohl¬ gefallen steigerte sich zum Wohlwollen, und ich würde Euch wahrscheinlich von einer schwesterlichen Jugend¬ freundschaft zu erzählen haben, wenn — ja wenn — — Wir hatten, fast von der Wiege ab, Stunde für Stunde mit einander gelebt; wir waren gleichen Alters, gleichmäßig gebildet, beide arm; sie war schön und ich war es nicht: — aber sie war eines Faßbinders Tochter und ich eine Freiin von Reckenburg; es lag eine Kluft zwischen uns, für welche ich das Maaß gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hatte. Ich durfte ihre Vertraulichkeit empfangen, nicht erwidern, und trotz ihres Liebreizes, oder just wegen ihres Lieb¬ reizes, der mir jeden weniger reizenden Umgang ver¬ leidete, war und blieb ich ein herzenseinsames Ding. „Die Rose und das Blatt, das sie schützend um¬ giebt,“ so hatte — wie er meinte für mich schmeichel¬ haft — der ehrliche Taube uns in einem Neujahrs¬ carmen besungen und das Stück grasgrünen Rasch's, mit welchem die Frau Mutter einen recht vortheilhaften Jahrmarktshandel gemacht hatte, da es für meine ganze Kinderzeit als Bekleidungsstoff ausreichte, ihm ohne Zweifel als Vorwurf für den zweiten Theil seiner Metapher gedient. Kehren wir denn mit derselben in die Schulstube Christlieb Taube's zurück: Die Rose und ihr Blatt. Es würde Vermessenheit sein, zu behaupten, daß es niemals eine eifrigere und aufmerksamere Schüle¬ rin gegeben habe, als Kellermeisters kleine, bewegliche Dorl. Ganz gewiß aber keine, mit welcher auch ein 7* hitzköpfigerer Informator so bereitwillig Geduld ge¬ hegt haben würde. Ohne Vermessenheit dahingegen läßt sich behaupten, daß es selten eine Schülerin ge¬ geben haben wird, so lernbegierig und beharrlich, wie die große, ruhige Hardine von Reckenburg, ebenso selten aber auch Eine, die selber ein Taubenblut dann und wann in Verzweiflung bringen konnte. „Jung¬ fer Grundtext“ nannte sie der Herr Papa, wenn er gelegentlich Zeuge ward der unermüdlichen Wie? und Wo? und Warum? mit welchen sie den ihr zu Ge¬ bote stehenden Wissensborn bis auf die Grundneige auspumpte. Lerne was, kannst Du was, heißt's! Ei nun, am Ende ihrer siebenjährigen Studienzeit konnte Schülerin Nummero Eins, in geziemender Bescheiden¬ heit sei es vermeldet, mit deutlicher Handschrift richtig deutsch schreiben, auch die vier Species ohne Fehl im Kopfe wie auf der Tafel rechnen. Sie konnte die Stammtafel des Hauses Wettin und die Reihe der deutschen Kaiser bis auf Leopold II. , seit Kurzem re¬ gierende Majestät, insonderheit aber Doctor Martin Luthers großen und kleinen Katechismus am Schnür¬ chen hersagen. Möglich, daß sie zu jener Zeit auch schon gewußt, die Erde drehe sich; wenngleich mir die¬ ser Casus eher unter diejenigen zu gehören scheint, von welchen der Informator seufzend eingestand: „Das kann man so eigentlich nicht sagen,“ und erleichtert aufathmete, wenn sein freiherrlicher Patron lachend hinzusetzte; „Ist auch sehr thöricht, danach zu fragen.“ Zum schwersten Kummer aber gereichte es unse¬ rem gewissenhaften Christlieb Taube, daß es bei alle¬ dem eine Ader und just eine Hauptader in seinem Borne gab, die er ohne erschöpfenden Erguß in sich selber verschließen mußte. Der freiherrliche Besitzstand erstreckte sich nicht auf ein Clavier, und da die Jung¬ fer Grundtext ein hartes Ohr und eine ungefüge Kehle zu beklagen hatte, eine Kunstfertigkeit ohne Talent aber keine obligatorische Forderung der damaligen Er¬ ziehungsmethode war, so mußte die edle Musica von dem Lehrplane gestrichen werden. Nur die üblichen Kirchenlieder wurden nach dem Klange der hofmei¬ sterlichen Geige eingeübt, und außer der Lection für das Lerchenstimmchen der Schülerin Nummero Zwei noch eine und die andere weltliche Weise beigefügt. Nach diesen mannichfaltigen Leistungen gab es allerdings noch ein letztes categorisches Soll und Muß einer standesmäßigen Education, für welches die Se¬ minarbildung eine Lücke ließ und die emeritirte Her¬ zogsresidenz keine zulässige Aushülfe bot. Indessen wie für das franzmännische Alpha, so für das choreo¬ graphische Omega fand sich im Schooße der Familie ein würdiger Dilettant. Hatte der Rittmeister von Reckenburg sich nicht der Ausbildung im Dresdener Cadettencorps erfreut, der edelsten Pflegestätte jener ritterlichen Kunst, welche dem ungelecktesten Bären An¬ stand, Conduite und gesellige Unwiderstehlichkeit ver¬ leiht? War er nicht als ein Musterschüler derselben gepriesen und hatte als Vortänzer der Donnerstags- Gesellschaft sie con amore practizirt, bis die zuneh¬ mende Corpulenz ihm den Ballsaal einigermaßen ver¬ leidete? In häuslicher Bequemlichkeit dahingegen, ohne pressende Montur und Escarpins, konnten die Regeln der rhytmischen Bewegung zum Segen eines aufblühenden Geschlechts noch mit Behagen entwickelt werden, und so sehen wir denn das vieldienliche Reckenburg'sche Familienzimmer endlich auch noch in einen Tempel Terpsichore's umgewandelt. Dreimal wöchentlich während dreier Winter¬ semester wurde der schwere Speisetisch in den Thor¬ weg geschoben, erklang, als Orchester, die Geige Christ¬ lieb Taube's aus der Fensternische, saß die Freifrau, als kritische Ballmutter, hinter dem Spinnrocken in dem Ofenwinkel. Der Herr Rittmeister aber in wei¬ chen Filzsocken und flanellgefüttertem Schlafrock von gelblichem Kattun, den faustdicken Zopf wie ein Per¬ pendikel im Nacken hin und wieder hüpfend, stand sei¬ ner Tochter Hardine und deren Partnerin gegenüber, um sie gewissenhaft die ganze hohe Schule seiner Lieb¬ lingskunst durchlaufen zu lassen: von Positionen und Portebras, durch alle Wendungen und Senkungen des Menuet, durch Chass é s und Entrechats der Anglaise, bis zum heiteren Rundtanz mit dem gefälligen Drei¬ schlag der Hacken. Allein Manches wird der Erinnerung zum Gold, was uns in der Gegenwart Blei gedünkt. Heute schaue ich auf jene Tanzabende zurück als auf die lustvollsten meiner Kinderzeit; damals erduldete ich sie wie ein quälendes Verhängniß. Die väterliche In¬ structorenrolle beleidigte mein Gefühl der Reckenburg¬ schen Würde, und die ererbten Reckenburg'schen Glied¬ maßen zeigten sich wenig geschickt für das gelenkige Spiel. Meine Mittänzerin dahingegen, o welche leichte Erscheinung, welche helle, unerschöpfliche Lust! Rosig überhaucht bis unter den goldigen Lockenscheitel, halb¬ geöffnet das Mündchen, so kreiselte sie sich wie in ihrem Element, lachend und jauchzend, die ächte, rechte, leibhaftige Dorl, schwebte gleich einer Libelle im Shawltanz, der Krone der Kunst, den Raum auf und nieder, jetzt den Kopf hinter dem Nesselstreifen verber¬ gend, dann plötzlich schelmisch hinter seinen Falten hervorlugend, sich hebend und neigend und biegend, eine flüssige Welle vom Scheitel zur Zeh. Der Mu¬ sikant in der Fensternische seufzte zwischen den zärtli¬ chen Weisen, die er seiner Geige entlockte; die Part¬ nerin in grünem Rasch hatte Strapaze und Ingrimm vergessen, und der Lehrmeister klatschte Beifall mit künstlerischem Entzücken. „ Die wird Furore machen!“ rief er eines Abends, als das Dreiblatt der Familie wieder allein bei ein¬ ander war. „Furore, wo?“ fragte die Kunstrichterin mit je¬ nem Ton, den ihr Eheherr die Weisheit Salomonis zu nennen pflegte. „Denkst Du sie im Corps de Ballet unterzubrin¬ gen, Eberhard?“ „Schade, Schade!“ seufzte der Papa. Frau Adelheid aber fuhr fort: „Der Ballsaal ist der Jungfer Müllerin ver¬ schlossen, und für das Publikum des Tanzbodens würde weniger gut besser sein, meine ich.“ „Schade, Schade!“ seufzte der Vater zum zwei¬ tenmal. „Davon abgesehen, Eberhard, den Geist der Me¬ nuet hat sie nicht gefaßt, konnte sie vermöge ihrer Extraction nicht fassen. Wie sie den Rock in die Höhe zieht, als wär's ein Tändelschürzchen im Schäferspiel! Heißt dieser Knix eine Reverenz? Da muß ich unsere Tochter loben. Ohne eine Muskel des Oberkörpers zu bewegen, senken sich die Kniee bis zum Boden hinab, und heben sich wieder peu à peu . Ohne sich in die Robe zu verwickeln, ohne Fehltritt schreitet sie rückwärts, würdevoll, wie sie vorwärts geschritten ist. Correctement der Anstand, mit welchem eine Recken¬ burg ihrer Souverainin Hand und Schleppe küßt!“ „Nun freilich, freilich, unsere Dine, unsere gute, brave Ehrenhardine!“ bestätigte der Papa, indem er mich herzlich auf die Backen klopfte. Dann aber seufzte er zum drittenmale: „Schade, Schade um die kleine Dorl!“ Ich hatte diese Ergießung nur so bei Wege auf¬ geschnappt, und wußte, daß ich bei derlei Angelegen¬ heiten zu schweigen hatte. Die mütterliche Weisheit aber war auf fruchtbarem Boden aufgegangen. Der armen, kleinen Dorl war das Entr é e zu jedem Platze, auf dem sie geglänzt haben würde, versagt; Eberhar¬ dinen von Reckenburg geziemte eine Empore, auf wel¬ cher sie den Höchsten der Erde ihre Huldigung darbie¬ ten durfte. Wir standen im fünfzehnten Jahre. Wir waren gebildet, die Eine ihrem Stande gemäß, die Andere weit über denselben hinaus: wir parlirten französisch und tanzten Gavotte, wir hatten unseren eigenen Hof¬ meister gehabt und wußten unseren Katechismus ohne Fehl: wir waren reif, unter die Zahl der erwachsenen Menschen und Christen aufgenommen zu werden. Und so knieten wir denn auch am Palmsonntag 1790 ne¬ beneinander vor dem Altar, zur Erneuerung unseres Taufgelübdes und zum ersten Genusse des heiligen Kelchs. Erste Abendmahlsgenossen! Ein Bekenntniß für Zwei aus einem Munde; die priesterliche Hand gleich¬ zeitig segnend auf Beider Haupt; ein gemeinsamer Wahrspruch für Beider Leben: das giebt, das gab zu meiner Zeit mindestens ein Band. Und gewiß, ich fühlte dieses Band fest und stark wie eine Pflicht. Die warmherzige Dorothee aber, die hätte in jenen Ta¬ gen freudig ihr Leben für mich hingegeben. Und wenn das Leben selbst auch nicht, so doch ein gutes Stück Füllung in Deinem Mädchenleben; das liebe Närrchen brannte, mir bei dieser feier¬ lichen Gelegenheit ein Opfer darzubringen. Sie hatte von ihrer Pathin einen schweren schwarzen Stoff als Abendmahlskleid verehrt erhalten, während für mich nur das zurecht gestutzt worden war, das schon der Mama bei ihrer Einsegnung gedient. Ich im ab¬ getragenen, angestückten Habit, sie nagelneu von Kopf zu Fuß, die Kleine verging fast vor Scham bei die¬ ser Vorstellung und ruhte nicht, bis sie einen Aus¬ gleich erklügelt hatte. Schenken durfte sie mir das werthvolle Angebinde nicht, denn wie hätte solch' ein großes Glück sich für sie geschickt! Aber sie wollte ihr altes, schwarzes Sergekleid anlegen, um mir rang¬ gemäß zur Seite zu stehen. Sie wollte es durchaus, kehrte wieder und immer wieder mit ihrer demüthigen Bitte zurück. Selbstverständlich vergebens. Ich trug eine Perlenschnur, welche die Mutter als eignes Pa¬ thengeschenk auf mich vererbte. Aber es hätte dieses Kleinods nicht bedurft. Eberhardine von Reckenburg würde sich nicht beschämt gefühlt haben, auch wenn sie selber in Zindel und Dorothee Müllerin in Bro¬ cat einhergeschritten wäre. Das rauschende Gros de Tours störte übrigens, zu meiner gerechten Entrüstung, die andächtige Samm¬ lung meiner Abendmahlsschwester, sie strich mit der Hand darüber hin und schmunzelte bei dem scharfen, knisternden Geräusch, sie stieß mich während des Lie¬ des an und blinzelte zu mir hinauf, um mir die Blicke bemerklich zu machen, welche die Versammlung auf sie richtete. Die liebe Unschuld dachte, ihr stol¬ zes Gewand für das Aufsehen, das ihre Schönheit erregte, verantwortlich machen zu müssen. Ich selber dahingegen war, jene Entrüstung abgerechnet, mit un¬ gestörter Ernsthaftigkeit bei der wichtigen Feier, und der Bibelvers, der uns als Geleitspruch für's Leben ertheilt ward, hat der Jungfer Grundtext tiefste Ge¬ danken nachhaltig angeregt. Es war einer von denen, die gar leichtverständlich klingen, und doch selten von uns Weltkindern richtig verstanden werden: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die werden Gottes Kinder heißen.“ Ja, welches war denn der Geist, der uns in das Vaterreich treiben soll? War es der, welcher über dem Wasser schwebt, der Geist des Schaffens und Förderns, des Umbildens der natürlichen Kraft, der den versunkenen Garten Eden auf Erden wieder her¬ zustellen strebt? Oder war es der, welcher auf den Gesetztafeln verzeichnet steht, der Geist der Ehrfurcht, des Rechtes und der Treue? Von beiden diesen Gei¬ stern würde ich mich willig aus dem Diesseit in das Jenseit haben treiben lassen. Allein man hatte mich auch noch von einem dritten Geiste gelehrt, von einem, der jenen beiden ersten oft schnurstracks zuwider zu treiben schien. Von dem Geiste, der die Sorge für den anderen Tag verdammt, der dem ehebrecherischen Weibe vergiebt und dem Be¬ leidiger die Wange reicht. Der Geist stimmte nicht zu meinem natürlichen Willen und das siebenfache Selig, das der Erlöser über die erneute Menschheit ausgesprochen hatte, es war meinem Herzen ein leerer Schall. Sollte, konnte dieser unverständliche Geist der Geist der Kindschaft sein? In derlei Grübeleien über den geheimnißvollen Wahrspruch ging ich nach dem Frühgottesdienst am Ostermorgen in unserem Garten auf und nieder. Ich achtete nicht des goldenen Sonnenlichtes, nicht der er¬ wachenden Vogelstimmen und schwellenden Frühlings¬ blüthen; ich fühlte nicht die Auferstehungslust um mich her. Da hörte ich hinter mir Dorotheens leichten Schritt; ich wendete mich rasch und fragte mit Ernst, welche Deutung sie unserem Einsegnungsspruche gegeben habe. Sie schlug die großen Augen verwundert zu mir auf und dann dunkelerröthend zu Boden. Sie hatte den Spruch überhört oder vergessen und nicht ein ein¬ ziges Mal auf ihrem Confirmationszeugniß nachge¬ lesen. Ich schluckte meinen Unwillen hinunter, citirte den Spruch und fragte dann: „Was nennst Du, von Gottes Geiste getrieben sein, Dorothee?“ Da sann sie denn einen einzigen Augenblick nach, erbleichte dann eben so jäh, wie sie vorhin erröthet war, hob sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir in's Ohr: „Gut sein, gut sein, Hardine!“ Im nächsten Moment aber sprang sie laut ju¬ belnd nach einem Beet, auf welchem sie die ersten Veilchen entdeckt hatte, pflückte sie, flocht ein paar grüne Sprossen dazwischen und befestigte das Sträu߬ chen an meinem Busentuch. Dann schlüpfte sie vogel¬ leicht durch eine Lücke des Zauns, der unsere Gärten trennte, warf mir noch lächelnd eine Kußhand zu und flog nach dem Haus. „Gut sein!“ hatte sie gesagt und eine innerste Stimme mir zugerufen, daß die Kindeseinfalt das Richtige getroffen habe. In Wahrheit aber war mir das alte Räthsel nur durch ein neues Räthsel gelöst. Hieß gut sein, handeln nach Gesetz und Sitte, wie ich es verstand? Oder hieß es, empfinden in jenem selig¬ sprechenden Sinne, den ich nicht verstand. Ich brachte mich endlich mit Gewalt über den zweifelhaften Spruch zur Ruhe, und es war das das erste Mal, daß ich eine Entsagung geübt habe, die ich mir im späteren Leben zum Gesetz stellte. Ich han¬ delte nach meinem natürlichen Willen, mit welchem meine Erziehung, treu dem Wahrspruch unseres Hau¬ ses in Einklang stand und ich zweifelte nicht, daß es gut war, wenn ich „in Recht und Ehren“ handelte. Spät erst, in dem Alter, wo Andere graue Haare tragen, ist jener zweite Wahrspruch für das Leben in meiner Seele wieder aufgeklungen, und durch eine un¬ scheinbare Fügung der Schall des Räthsels mir zu einem Sinn geworden. Wohl bin ich heute noch keine von denen, die der Heiland schon hinnieden selig preist. Wenn wir aber eines Tages jenseit anfangen sollten, da, wo wir diesseit aufgehört, so getröste ich mich der Hoffnung, dem Vaterreiche um eine Wegstunde näher gerückt zu sein. Zweites Capitel. Mosjö Per—s é . Unser Verhältniß änderte sich natürlich, seitdem wir nicht mehr Kinder hießen. Dorothee trat in das väterliche Schenkgeschäft; ich wurde als erwachsene Dame bei den Honoratioren von Stadt und Umge¬ gend eingeführt, empfing deren Gegenvisite, besuchte dann und wann eine Kaffeegesellschaft und regelmäßig die Donnerstagsfeste im herzoglichen Pavillon. Einen zusagenden Umgang unter gleichaltrigen Standesge¬ nossinnen fand ich nicht, vermißte ihn aber auch nicht. Dorothee betrat das Reckenburg'sche Familienzim¬ mer nur noch, wenn sie sich eine Bitte, oder einen Vorwand ausgeklügelt hatte; die Dutzkameradschaft hörte auf; — will sagen für die Dorl. Ich blieb bei dem Du und der Dorothee; sie nannte mich Sie und Fräulein wie alle anderen ihres Gleichen, nur daß ihr das „gnädige“ gnädig erlassen ward. Sie herzte und streichelte mich auch nicht mehr wie sonst, sondern machte ihren Knix und lief das Herzchen ihr über, dann küßte sie meine Hand. Völlig störten die neuen Formen den alten Um¬ gang indessen nicht und ganz und gar nicht das Ver¬ hältniß der Rose zu ihrem Blatt. Es verging kein Tag, daß die Kleine nicht einmal durch die Hecken¬ lücke geschlüpft, oder in meinem Dachstübchen einge¬ kehrt wäre. Ich blieb ihre Vertraute bei jeglicher Freude, ihre Ratherin in jeglicher Noth; ja, ich sah die letztere schärfer und fühlte sie bänglicher als die Kleine selbst. Ihr Vater hatte das nährende Handwerk an den Nagel gehängt und war auf dem herkömmlichen Schenken¬ wege hart beim Trunkenbold angelangt. Es stand übel um den Mann; die Pachtung der herzoglichen Keller wurde ihm nach abgelaufenem Termine voraus¬ sichtlich entzogen; seine Zukunft war der Spittel. Diese Verirrungen waren es indessen nicht, welche die sorglose Dorl überschaut oder gewürdigt haben sollte. Ihr täglicher Verdruß war das Schenken¬ treiben, für welches der Vater ihre Aushülfe forderte. Die schöne Kellnerin lachte die Gäste an und die Gäste wurden nicht gewählt. Da gab es denn Scherz¬ Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 8 und Nachreden, die dem natürlich feinen Sinne des Kindes und dem Tone, an den es sich in Reckenburgs Familienzimmer gewöhnt hatte, unleidlich widerstanden. Mein Vater sah seinen Liebling in drohender Gefahr. „Das Kind ist zu schön für eine Schenk¬ jungfer,“ hörte ich ihn eines Tages in der vertrau¬ lichen Raths- und Schlafkammer der Mutter klagen. „Viel zu schön und zu apart für ihren Stand. Sie weiß nicht mehr, wo aus noch ein. Adelheid, Adel¬ heid, die kleine Dorl geht uns zu Grunde!“ „Du rechnest ohne den Faber, Eberhard,“ ent¬ gegnete die Mutter sehr bestimmt. „Allerdings mü߬ ten wir uns anklagen, das Mädchen seinem natür¬ lichen Terrain entrückt zu haben, hätten wir nicht seit Jahren diesen Ausgang vorausgesetzt. Der Mensch strebt hoch und das Gelingen steht ihm an der Stirn geschrieben; er goutirt Dorotheens feinere Lebensart, er kennt ihre mißliche Lage so gut wie wir selbst und wird, verlaß Dich darauf, Eberhard, nun, da der Tod seines Vaters ihn unabhängig gemacht hat, mit der Hochzeit nicht lange zögern.“ „Gott geb's, Gott geb's!“ versetzte der Vater, indem er sich freudig die Hände rieb. Mir aber stockte während dieser Rede der Athem und jetzt beim Schlusse war mir, als ob ich gegen das hoffnungsvolle „Gott geb's!“ laut protestiren müsse. Warum eigentlich? Ich wußte, daß wir mit dem Einsegnungstage heirathsfähig geworden waren und die fünfzehnjährige Dorothee wäre nicht das erste Kind gewesen, das ich warm vom ersten Abendmahls¬ tische zum Traualtare hätte schreiten und glücklich werden sehen. Warum summte es denn vor meinen Ohren gleich Unkenruf: „Gott verhüt's!“ Wie sie so Einer nach dem Anderen in die Reihe meiner Bekenntnisse treten, die wenigen Menschen, mit welchen ich im Leben wirklich gelebt! Der Faber, der Siegmund Faber! Wenn später so oft der Name dieses Mannes mit Dank und Bewunderung vor mir genannt worden ist, neulich noch meine Freunde, als Ihr mich fragtet, ob ich mich des Mannes als meines Heimathsgenossen erinnere? Da ahntet Ihr nicht, Keiner hat es jemals geahnt, daß dieser Mann mein frühester Bekannter, mein Wandnachbar, der erste Mensch und fast der einzige gewesen ist, der mir zu denken gegeben hat und daß zwischen diesen Mann und mich sich ein Verhängniß gedrängt hatte, ein Ge¬ heimniß, das ich lange Jahre ein Verbrechen nannte. Siegmund Faber war das einzige Kind unseres 8* Hauswirths, des Barbiers und mütterlicherseits von seiner ersten Stunde ab verwaist. Da er ungefähr sechs Jahre mehr zählte als ich, hätte er zur Zeit meiner frühesten Erinnerungen noch auf der Schulbank sitzen müssen. Aber Siegmund Faber hatte längst etwas Klü¬ geres erwählt, als auf der Schulbank hin und her zu rutschen. Sobald er sich, rasch und sicher die Elemente angeeignet, hütete er sich den Cursus alljährlich mit einer Schaar von Neulingen von vorn anzufangen und der einsichtige, alte Rector war weit entfernt, ihn darob zu schelten. „Der Faber geht seinen eignen Weg,“ sagte er, „der Faber ist ein Mensch für sich.“ Vater Faber aber, der die Kunst des Scheersacks für die an¬ genehmste der Welt und es für zuverlässiger hielt, seine Sparpfennige in Feld- und Wiesenparcellen statt in Humaniora für seinen Sprößling anzulegen, Vater Faber hatte sich die Argumente des weisen Schul¬ regenten zu Nutze gemacht. Wurde er, wie oftmals geschah, angegangen, den auffälligen Knaben einer höheren Lehranstalt zu übergeben, so lautete seine Ant¬ wort unveränderlich: „Mein Munde geht seinen eignen Weg, mein Munde ist ein Mensch für sich.“ „Der Mensch für sich“ wurde demnach unter der Faber'schen Kundschaft die gäng und gebe Bezeichnung des kleinen Scheersackserben. Papa Reckenburg aber, der so leicht keinen, den er gern hatte, — einzig und allein seine „Hausehre“ ausgenommen, — ohne einen harmlosen Spitznamen entwischen ließ, er konnte sich nicht versagen, den „Menschen für sich“ ein wenig fremdländisch umzumodeln. „Mosjö Per—s é “ hieß der Haussohn innerhalb der alten Baderei. Und mit Fug und Recht. Siegmund Faber war ein Original, das heißt er war einer von jenen Sel¬ tenen, der seiner Eigenart unbeirrt eine Straße durch den Haufen bricht. Denn für eine herrschende Leiden¬ schaft rüstete ihn die Natur mit dem beherrschenden Willen und nach dem inneren Gehalte modelte sich kennzeichnend die Form. Denkt Euch ein Männchen, kaum Soldatenmaaß, wie der Rittmeister von Reckenburg versicherte. Gleich¬ wohl, curios! blickt Ihr zu ihm empor. Ihm geht's wie seinem Haus: er wächst erst über der Schulter¬ höhe. In seinem Nacken müssen wohl etliche Wirbel mehr, als die Regel ist, zu zählen sein, Drehwirbel, welche die spürende Beweglichkeit nach allen Seiten vermitteln. Noch länger als der Hals ragt der Kopf, nach hinten steil abfallend, die Stirn gewaltig und edel geformt. Unter dieser hohen, breiten Stirn streckt sich eine lange, breite Nase, die Höhlen weit geöffnet, die Flügel zitternd, und unter dieser richtigen Spür- und Schnüffelnase dehnt sich der breite, dünne Mund, festgeschlossen wie ein Gedankenstrich. An den Seiten aber ragen zwei ungeheuere Ohren, die sich — schüttelt immerhin die Köpfe! — in fortwährender Spannung wie die eines Hasen hin und her bewegen. Es ist kein Adonis, den ich Euch zeichne, gelt? Nun aber blickt in seine Augen. Eine bestimmbare Couleur werdet Ihr nicht unterscheiden, so tief liegen sie hinter den vorspringenden Stirnknochen eingesenkt und mit so rastlosem Flimmer schweifen sie von einer Richtung nach der anderen. Haben sie aber den ge¬ witterten Gegenstand aufgespürt, dann bohren sie sich ihm hartnäckig bannend bis in das Mark. Ihr wür¬ det ihrer Forschung nicht entschlüpfen und Euch ihrem Geheisch nicht widersetzen dürfen. Kurz und gut: patent ein Doctorenschädel und eine Doctorenphysiognomie! Denkt sie Euch nun von der gleichmäßigen Röthe eines gesunden Bluts und unlöschbaren Eifers durchdrungen; denkt Euch die Glieder klein wie die einer Frau, aber von einer ehernen Musculatur; die Hände durch instinctives Greifen, Dehnen, Spannen zu einem Federwerk aus¬ gebildet; denkt Euch den Mann jederzeit wie aus dem Ei geschält, kein Fältchen in dem blendenden Jabot, kein Stäubchen auf dem unveränderlich hechtgrauen Habit, kein Härchen sich sträubend aus dem mageren, schwarzgebänderten Zopf, kein Bartstoppelchen am Kinn — ob versagt von der mütterlichen Natur, oder getilgt durch die väterliche Kunst, wage ich nicht zu unterscheiden — und Ihr habt einen ungefähren Ab¬ riß unseres Menschen für sich. Er schien niemals in Eile und war immer in Bewegung. Kaum jemals habe ich ihn sitzen sehen und fünf Stunden nächtlicher Rast genügten ihm schon in der schlafbedürftigen Knabenzeit. Noch nach Mitter¬ nacht bemerkte ich den Reflex seiner Lampe auf den blanken Becken zwischen unserem Fensterstock und bei Tagesgrauen hörte ich ihn schon wieder mit leisen Katzentritten die Treppe hinunterschleichen und das Haus verlassen. Daß er Nahrung zu sich nahm, muß wohl vorausgesetzt werden; gesehen habe ich es niemals. Vielleicht im Gehen aus der Tasche, oder stehenden Fußes beim Nachbar Kellermeister, der auch seinen Vater beköstigte. Keinenfalls regelmäßig und dessen könnt Ihr versichert sein, daß „dieser Mensch für sich“ nicht ein mal in seinem Leben mit Behagen ein Mahl gehalten, oder einen Schoppen geleert haben wird. Er rauchte nicht, er schnupfte nicht wie seines Gleichen von der Ekel überwindenden Zunft; er kannte kein Spiel, keinen Tanz, kein Steckenpferd, keine jugendliche Plauderei; er hatte keinen Freund. Seine Rede war rasch, kurz, ein wenig durch die Fistel; mit möglicher Sparniß der Pronomina, hinter jedem Satze ein Punktum. „Preußisch“ nannten wir diesen unlieb¬ samen Ductus, wiewohl Mosjö Per—s é bis dahin ihn schwerlich aus eines Preußen Munde vernommen hatte. Er kam der Gegenrede zuvor und schnitt den Widerspruch harsch ab. Dennoch reizte er nicht, ver¬ letzte nicht. Sein Selbstbewußtsein imponirte, weil er nur über Gegenstände sprach, die er bemeistert hatte. Selber der Freifrau von Reckenburg kam es nicht bei, ihn „Er“ wie seinen Vater und anders als „Herr“ zu nennen, wenngleich er selber mit Titu¬ laturen geizig und merklich beflissen war, durch keiner¬ lei Zuvorkommenheit an die Manieren des Scheer¬ beckens zu erinnern. Ich habe den erwachsenen Per—s é geschildert. Aber so wie ich ihn geschildert, zeigte sich schon der kleine Bube, als er mit Vater Faber „auf Praxis“ ging, dessen Instrumententasche trug, oder beim Schröpfen und Aderlassen ihm das Becken hielt. Nebenbei aber operirte er damals schon selbstständig. Er konnte keine Warze sehen, er drehte sie ab, keine Balggeschwulst, er drückte sie ein. Die Krähenaugen verschwanden schmerzlos unter seinen Messerchen. Hatte Einer eine Blutung, auf den ersten Blick erkannte er die Stelle, wo die Ader lädirt war, und die kleinen Finger pre߬ ten sich so eisern auf die Wunde, bis dieselbe sich wieder schloß. Er zog seinen Schulkameraden die kranken Zähne aus, und erkaufte mit seinen Spar¬ pfennigen manchen, der noch heil war, zu gleicher bil¬ denden Operation. Bald hatte er den Vater in allen höheren Zweigen seiner Kunst überholt. Ein Jeder wollte lind und behende von Faber junior bedient sein, und Faber senior überließ ihm denn auch willig Lanzette und Zange, sich selber mit dem Scheermesser und der Aufsicht über seine Wiesen und Aecker be¬ gnügend. In der freien Zeit, welche dem unermüdlichen Knaben neben Büchern und Praxis noch hinreichend blieb, saß er im Laboratorium des Apothekers, oder machte Studien im Schlachthause, oder in dem des Abdeckers, der nebenbei, wie viele seines Zeichens, für einen Geheimkünstler galt. Bei keiner Leichenschau, keiner Obduction fehlte Siegmund Faber. Als er aber endlich auch dem Namen nach der Schulbank entlassen war, da blieb er häufig tage-, ja wochenlang aus dem Hause verschwunden, und hätte Vater Faber nach den Wegen eines Menschen, der seinen eigenen geht, ge¬ forscht, in den klinischen Instituten und anatomischen Kabinetten unserer beiden Nachbaruniversitäten, ja sel¬ ber in denen des ferneren Jena würde er ihn aufge¬ funden haben. Professoren und Sectoren, von dem seltsamen Eifer des jungen Autodidacten angezogen, nahmen ihn willig in ihr Gefolge auf, und gaben mancherlei Anleitung, die zu weiteren Forschungen führte. Im Gymnasiastenalter war Siegmund Faber bereits eine bekannte Persönlichkeit und hatte eine Art von Ruf meilenweit in der Runde. Es wurde daher kein Bedenken getragen, ihn als Gehülfen unseres alternden Regimentsfeldscheers ein¬ treten zu lassen. Im ärztlichen Militairdienst fragte man wenig, was Einer wußte, oder nicht wußte, sondern begnügte sich mit dem, was er konnte, oder auch allenfalls nicht konnte. Da aber Siegmund Faber ohne Zweifel etwas konnte , so galt es für ausgemacht, daß ihm der Posten des alten Feldscheers zu gesprochen werden würde, als dieser endlich zu der Ueberzeugung gelangt war, daß er nichts mehr konnte. Während dieses Interims starb Vater Faber; sein Sohn war volljährig, das heißt einundzwanzig Jahre, ein vermögender, unabhängiger Mann. Und das war der Zeitpunkt, in welchem meine Eltern die Rettung der kleinen Dorl von ihm erwarteten. Denn in solchen Widersprüchen, — oder Aus¬ gleichungen? — gefällt sich die Natur: dieser Mensch, der keinen Sinn zu haben schien, als für die leibli¬ chen Verirrungen der Creatur; kein Bedürfniß, als deren Herstellung, keine Leidenschaft, als den Ehrgeiz des Meisterwerdens in seiner Kunst, derselbe Mensch, als ob seine Organe der Erholung bedürften, fühlte sich mit einem eben so frühen, ausschließlichen Ver¬ langen einem Wesen zugetrieben, dem heilsten und schönsten, das sich in seinem Gesichtskreise erspähen ließ. Dieses Wesen war seine kleine Nachbarin Do¬ rothee. Schon als Wiegenkind soll er sie mit Entzücken betrachtet, er, der Ruhelose, oft stundenlang in ihrem Anblick verweilt haben; späterhin wurde sie nicht seine Gespielin, aber das einzige Spielwerk, das er jemals gehegt. Er brachte ihr Näschereien, Blumen, allerlei Putz und Tand; er nannte sie sein Dörtchen, sein Kind, seine Braut, sprach von ihr als von seiner ein¬ stigen Frau mit derselben Zuversicht, wie von dem großen Doctor, zu dem er es bringen werde. Und seltsam! Keiner lachte über den kleinen, ernsthaften Mann. Wieder später sahen wir ihn sich zu einem Schutz¬ herrn über die reifende Jungfrau erheben. Er hütete sie mit einer Art von Eigenthumsrecht; wie ein Blitz rachsüchtigen Grimmes zuckte es in seinen forschenden Augen bei jedem Beifallszeichen eines Fremden, die Fäuste ballten sich bei einer unziemlichen Neckerei über die hübsche Kellnerin; gewiß, er hätte den Beleidiger morden können, der ihm seine Blume entweihte. Daß dieser Mensch eine Seele habe neben dem stolzen, spe- culativen Geist, eine zärtliche, bedürftige Seele, das offenbarte sich ausschließlich in seinem Verhalten gegen das Kind, von welchem er, wie von seiner Kunst, aus eigener Machtvollkommenheit Besitz ergriffen hatte. Daß Mosjö Per—sé sein „kleines Anwesen“ (zwi¬ schen den Gänsefüßchen allemal Papa Reckenburg'scher Humor) mit Befriedigung unserem Familienkreise ein¬ gereiht sah, könnt Ihr denken. Hier war sie gebor¬ gen, hier schulte sie sich für eine gesellschaftliche Stel¬ lung, die er a priori für sich selbst in Anspruch nahm. Er, der so selten lächelte, strahlte vor Entzücken, wenn er an den geschilderten Tanzabenden den zierlichen Schmetterling auf und nieder schweben sah, oder das silberne Stimmchen fix und fertig in einer Mundart plappern hörte, die er selber nicht verstand. Das Verlangen nach seinem Augentrost führte ihn daher auch öfter, als es wohl sonst geschehen sein würde, in das Reckenburg'sche Familienzimmer und wurde er auf diese Weise Dörtchens Kameradin eine Art von Kamerad. „ Sie begreifen das, Fräulein Hardine,“ pflegte er zu sagen, wenn er mich — und mich allein — zur Vertrauten neuer Wahrnehmungen und Folgerungen in seiner jugendlichen Praxis, oder des Zweckes und Zieles seiner Ausflüge machte. Die Gedanken der Jungfer Grundtext wurden durch diese Aphorismen in Bahnen gelenkt, welche der ehrliche Christlieb Taube nicht zu eröffnen verstand. Und so war es der Sohn und Gehülfe eines Barbiers, der mir in einem ge¬ fährlichen Alter die Langeweile der Intelligenz ver¬ scheuchte, dem jugendlichen Verlangen Salz und Würze bot. Nicht ihm zu gefallen, aber ihn zu verstehen strengte ich mich an. Mosjö Per—s é war der Mensch, der mich im fünfzehnten Jahre mehr als ein späterer im Leben, wie man es nennt, interessirte. Die leiseste Andeutung seines Berufs stockte da¬ hingegen, sobald sein Dörtchen in unsere Nähe trat, und zwar nicht darum, weil er sie vielleicht einmal bei der bloßen Erwähnung von Blut und Wunden hatte erbleichen, oder sich die Ohren verstopfen sehen, sondern einfach, weil er seinen Beruf in ihrer Nähe vergaß, weil sein Pulsschlag einen anderen Takt an¬ nahm und die Strebenslast von ihm wich unter dem Behagen einer Herzensweide. Und Dorothee? werdet Ihr fragen. Ahnte das leichtblütige Kind das Bedeuten einer solchen Natur, würdigte sie den besonderen Platz, den sie in derselben eingenommen hatte? Rief sie mit dem erfahrenen Freunde: „Gott geb's!“ oder mit der unerfahrenen Freundin: „Gott verhüt's!“ Nun seht und hört sie selbst in der Stunde, welche über ihr Leben entschied. Es mochte einen oder den anderen Tag nach je¬ nem elterlichen Gespräche sein, das mich noch immer beschäftigte. Es war Anfang Juli und unser junger Wirth wohl schon eine Woche lang abwesend auf einer seiner wissenschaftlichen Excursionen. Er hatte sich seit Kurzem beritten gemacht und der sachverstän¬ dige Rittmeister gesagt: „Ein Teufelskerl, dieser Mosjö Per—s é ! Hat niemals ein Pferd, als etwa auf dem Schindanger, unter dem Leibe gehabt, aber er reitet wie ein Daus!“ Die Eltern dinirten bei einem benachbarten Guts¬ besitzer, ich war allein zu Haus und am Nachmittag im Garten beschäftigt, ein Bohnengericht für den mor¬ genden Tisch zu pflücken. Eben hatte ich in der Weinlaube auf der Terrasse das saure Werk der Schnitzelei begonnen, als Dörtchen, lachend über das ganze Gesicht, durch die Heckenlaube herbeiflatterte. „Nein, Fräulein Hardine,“ rief sie schon von Weitem, „nein, giebt es einen curioseren Kunden, als diesen Mosjö Per—s é !“ „Ist Herr Faber zurück?“ fragte ich. Die Dorl nickte. „Eben hat er sein Pferd bei uns eingestellt. Ich stehe mit dem Vater unter der Thür. Giebt er mir wohl die Hand wie sonst? Be¬ hüte. Er macht mir einen Diener, so —“ sie bückte sich rasch und tief im Hüftgelenk, als ob ein Taschen¬ messer zusammenklappt, „und schickt mich ohne Um¬ stände fort, weil er mit dem „Herrn Vater“ unter vier Augen zu sprechen habe. Dabei nennt er mich nicht etwa „Du“ und „Dörtchen“ wie bisher, son¬ dern ganz feierlich Sie und Jungfrau Dorothee.“ „Ich finde es nur schicklich, Dorothee,“ versetzte ich weise, „wenn ein junger Mann derlei Vertraulich¬ keiten aufgiebt, einem Mädchen gegenüber, das sich jeden Tag verheirathen kann.“ „Verheirathen!“ rief die Dorl seelenvergnügt. „Ja, aber mit wem denn, Fräulein Hardine?“ „Nun vielleicht eben mit dem Siegmund Faber.“ Die Kleine blickte enttäuscht. „Mit dem ?“ schmollte sie, „mit dem? Ach warum nicht gar. Der denkt an Krüppel und Leichen, aber nicht an eine Frau.“ „Meine Eltern hoffen und wünschen das Gegen¬ theil, Dorothee. Sie nennen diese Heirath Deine Ret¬ tung, Dein Glück.“ Sie wurde blaß; ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Aber ich fürchte mich vor ihm!“ lispelte sie bebend. „Hast Du die Auslegung des sechsten Gebots in unseren Abendmahlsstunden vergessen?“ fragte ich in der lehrreichen Manier, die mir meiner kleinen Dorl, und zum Glück nur dieser gegenüber, zur anderen Na¬ tur geworden war: „Ihren Gott im Himmel und ihren Mann auf Erden soll das Weib fürchten, lie¬ ben und ihm vertrauen.“ Dorothee sah mich mit ihren großen, himmelblauen Augen an, wie damals am Ostermorgen, als sie mir mit einem Worte den Sinn des Apostelspruchs er¬ klärt hatte. „ Ihn fürchten,“ sagte sie leise, „nicht, sich vor ihm fürchten. Fürchten Sie sich vor Gott, Fräulein Hardine?“ „Aber warum fürchtest Du Dich vor dem Fa¬ ber? Er ist ein außergewöhnlicher Mensch, anders als alle anderen — —“ „Eben darum,“ unterbrach sie mich lebhaft. „Ich will keinen Menschen für sich; ich will einen Mann wie alle anderen Leute; Einen wie ich selber bin, nur um vieles klüger und besser.“ Das Kind hatte wieder einmal das Rechte ge¬ troffen. Damals zwar schüttelte ich den Kopf. Zehn Jahre später war ich zu der nämlichen Weisheit ge¬ langt. Menschen für sich geben nicht Menschen zu Zweien. Ehe und Haus vertragen keine Originale. „Nein, nein, Fräulein Hardine,“ wiederholte Do¬ rothee. „Er denkt nicht an mich, und Gott sei ge¬ dankt dafür, denn mir graut vor ihm.“ Die Sache war damit abgethan und mein heim¬ Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 9 licher Protest gegen den elterlichen Plan erklärt. Dorothee liebte ihn nicht und Siegmund Faber war zu gut für eine Frau, die ihn nicht lieben konnte. Ich lud meine kleine Nachbarin ein, den Nach¬ mittag mit mir zuzubringen; wir setzten uns in die Laube und bald fielen unter den runden Fingerchen die Bohnenschnitzel flink und zierlich in die Schüssel auf ihrem Schooß. Sie plauderte und lachte über meine ungeschickten „Hünenpflocken“; der drohende Be¬ werber war vergessen. Eine Stunde mochte so vergangen sein, als ein hastiger Schritt auf der Terrassentreppe uns den un¬ gewohntesten Gartenbesucher verkündete. Im nächsten Moment stand Siegmund Faber uns gegenüber; er trug seinen Sonntagsstaat und verbeugte sich rasch und tief, so wie die Kleine ihm vorhin nachgeäfft hatte. Das lustige Lachen erstarb auf ihren Lippen, sie wurde roth bis unter das Busentuch, blickte in die Schüssel und schnitzelte mit Fieberhast. Um so gespannter blickte ich zu dem jungen Mann hinüber. Die gewaltigste Aufregung las ich auf der sonst so ruhigen Stirn; die rothe Farbe war von seinem Gesichte gewichen, das Herz hämmerte sicht¬ bar unter dem silbergestickten Gilet und die Hände krampften sich zusammen, um ein Zittern zu verber¬ gen. So mochte er ausschauen, wenn er zu einer Operation auf Leben und Tod den Entschluß gefaßt hatte. Doch zögerte er nicht, seinen Besuch zu erklären. „Die Unterredung, um welche ich bitte, geschieht im Einverständniß mit Ihrem Vater, Jungfrau Dorothee,“ stieß er hervor. Der Hauswirth war Herr in seinem Revier und Vater Kellermeister hatte das tête-à-tête mit meiner Besucherin bewilligt, so flehentlich dieselbe mich daher anblicken mochte, ich erhob mich, um die Laube zu verlassen. Faber aber trat mir in den Weg, faßte nach meiner Hand und sprach: „Sie verpflichten mich, wenn Sie bleiben, Fräulein Hardine.“ So nahm ich denn meinen Platz wieder ein und deutete für den Faber auf eine Bank uns gegenüber. Er setzte sich nicht, hob aber nach einem tiefen Athem¬ zuge, zu mir gewendet, unverweilt seine Rede an. „Sie kennen das Ziel, das ich mir gesetzt habe, Fräulein Hardine. Die Jahre herkömmlichen Stu¬ diums sind versäumt. Ich muß es auf praktischem Wege zu erreichen suchen. Und ich werde es errei¬ chen. Aber nicht in meiner kleinbürgerlichen Heimath, 9* auch nicht im Friedensstande unseres sächsischen Va¬ terlandes. Ich erfreue mich gütiger Empfehlungen. Meine Vorkehrungen sind getroffen. Ich gehe nach Preußen. In wenigen Wochen vielleicht stehe ich auf einem Felde, wo Wunden geschlagen werden und Wun¬ den geheilt werden müssen.“ Ihr wißt, wir schrieben anno neunzig, und in Preußen herrschte seit siebenundzwanzig Jahren so gut wie Friede. Allerdings hatte ich meinen Vater mit seinen Kameraden von einer „Verhedderung“ zwischen dem Kaiser und König in Sachen der Großtürken dis¬ curiren hören; Keiner aber wurde aus diesem Wirr¬ warr klug, und Keiner dachte an Ernst in einem weit¬ abgelegenen Gebiet, wo man für den Preußen nichts Verdauliches zu schlucken sah. Siegmund Faber konnte daher wohl eine verwunderte Miene bemerken, mit welcher ich seine Witterung von Blut und Leichen be¬ antwortete. „König Friedrich Wilhelm,“ so fuhr er ohne Auf¬ enthalt fort, „ist zu der Armee nach Schlesien abge¬ gangen. Dort treffe ich auch das Regiment Weimar, an dessen durchlauchtigen Chef ich von Jena aus re¬ commandirt bin. Wetter, welche sich thürmen, wie die in Ost und West, klären sich nicht. Verzöge sich's heuer, um so günstiger für mich. Ich hätte in be¬ deutender Umgebung ein Jahr der Vorbereitung ge¬ wonnen. Uebermorgen bin ich auf dem Wege nach Berlin.“ Der Redner machte eine Pause und ich hörte ein fröhliches Aufathmen an meiner Seite. Dorothee hatte das Messer fallen lassen und blinzelte schelmisch zu mir in die Höh'. Es war alles ganz anders ge¬ kommen, als ich prophezeit. Mosjö Per—s é ging in den Krieg, um ein berühmter Doctor zu werden; er dachte nicht an sein Dörtchen und an einen häus¬ lichen Herd. Aber Mosjö hatte nur wieder einmal schwer Athem geschöpft; er war noch lange nicht zu Ende. Eine Blutwoge drang ihm zu Kopf, um ebenso jach wieder zu sinken; er setzte sich, denn seine Kniee zitterten. Was mochte diese gefaßte Natur so bäng¬ lich bewegen? Er wendete sich jetzt zu meiner Nachbarin und seine Stimme vibrirte so seelenvoll, daß ich sie kaum für die seinige halten konnte. „Ich weiß nicht, Jung¬ frau Dorothee, ob auch Sie das Streben geahnt haben, das mich, neben jenem ernsten, seit Jahren er¬ füllt hat. Sie lächelten wie über ein Scherzwort, wenn ich Sie die Meine nannte. Aber es war keine Knabenlaune, Dorothee. Es ist mir heute nicht hei¬ ligerer Ernst, als in jeder früheren Stunde, seit ich mich auf mein Selbst zu besinnen weiß. Sie sind noch sehr jung, Dorothee, und ich hätte das bindende Wort verzögern mögen. Aber mich drängt die Zeit, deren Sie bedürfen. Ich habe das Ja Ihres Vaters; wollen Sie das Ihre gewähren, wollen Sie die Meine werden, Dorothee?“ Bei allem Vertrauen zu dem Mann war mir nach der kriegerischen Vorrede diese plötzliche Werbung doch ein bischen zu bunt. Heirathen, ein halbes Kind heirathen, wenn Einer im Begriffe steht, ein Schlacht¬ feld, oder als dessen Vorstudium ein chirurgisches In¬ stitut zu betreten! Ich fing an der gesunden Ver¬ nunft eines Menschen für sich zu verzweifeln an und rüstete mich, als quasi Patronin meiner kleinen Dorl, die sich zitternd wie Maienlaub an mich klammerte, zu einer herzhaften Abfertigung. Der wunderliche Heirathscandidat schnitt indessen, noch ehe ich zu Worte kam, meinen Protest mit einem hastigen Nachtrage ab. „Es liegt auf der Hand,“ fuhr er fort, „daß ich die Erfüllung meiner Wünsche nicht heute oder morgen erwarten darf. Es können, ja es müssen Jahre vergehen, Jahre harten Ringens, vielleicht ein Jahrzehnt. Haben Sie das Herz, Do¬ rothee, diese Jahre zu harren in Treuen und Ehren als meine anverlobte Braut? Sind Sie meiner, sind Sie Ihrer selber gewiß zu solchem Verspruch? Nie¬ mals sehen Sie mich wieder, sollte ich im Lauf nach dem Ziele unterliegen. Aber ich werde nicht unter¬ liegen. Und wenn ich, früh oder spät, zurückkehre, vor meinem Gewissen und vor der Welt als ein fer¬ tiger Mann, wollen Sie dann die Meine werden? Ich habe bis heute nach keinem Menschen begehrt als nach Ihnen allein, wollen Sie, daß ich auch ferner¬ hin Ihrer begehren, daß ich auch in Zukunft Sie lieben darf, Dorothee?“ Des Mannes Wallung hatte mich ergriffen. Das Wagniß seines Anerbietens entsprach recht gründlich meinem fünfzehnjährigen Temperament. Mit Triumph würde ich, — natürlich vorausgesetzt, daß ich Do¬ rothee Müllerin und nicht Hardine von Reckenburg geheißen hätte, — mit Triumph würde ich in Sieg¬ mund Faber's Hand eingeschlagen und gesagt haben: „Brich Dir einen Weg, suche Dein Ziel. Ein Mann wie Du ist es werth, daß ein Weib seiner harrt, Jahre lang, Jahrzehnte lang, wie Gott es fügt!“ Aber die wirkliche Dorothee, die keine Mutter hatte und keinen Vaterschutz, die von Verführung und Gemeinheit umgeben war, die so rathlos und hülfe¬ flehend zu mir in die Höhe blickte, unfähig Nein zu sagen und noch unfähiger Ja: aber meine schöne, frohlebige, arme, kleine Dorl? Noch einmal wollte ich in ihrem Namen das Wort ergreifen und noch einmal schnitt Siegmund Faber mir es ab. „Ich weiß, daß ich Ungewöhnliches verlange,“ fuhr er in viel sicherer Stimmung fort als zuvor, „und ich fühle, was Sie mir entgegen halten wollen, Fräulein Hardine. Aber trauen Sie mir nicht zu, daß ich die Jungfrau, die ich liebe, in ihrer halt¬ losen Lage zurückzulassen, daß ich meine Braut vom Schenktische zum Altar zu führen gewillt sein kann. Ich gehe den Weg des Mannes, den Weg der That. Mir wird es ein Leichtes sein, der Geliebten das Ge¬ fühl dieser Stunde treu bis zum Ziele zu bewahren. Sie aber, Dorothee! soll ich das Opfer ihres Jugend¬ rechtes annehmen, so muß sie dem Manne ihrer Zu¬ kunft das Recht eines Versorgers auch in der Gegen¬ wart zugestehen. Gern sähe ich sie, als Schützling einer gebildeten Familie in einer größeren Stadt ein¬ gereiht. Aber ihr Vater lebt und die Kindespflicht besteht, so lange das Weib nicht dem Manne folgt. Ueberdies würde sie in jedem fremden Kreise sich un¬ vermeidlich als Abhängige fühlen, und ich will, daß sie frei und ledig sei, schalte und walte nach Frauen¬ art. Möge sie denn ihren Vater pflegen, ihm bei¬ stehen, so weit er persönlich ihrer bedarf, ohne in das Getriebe seiner Wirthschaft einzugreifen. Ich habe seinen Handschlag, daß er keine derartige Forderung an meine Braut stellen wird. Alle Vorkehrungen sind getroffen. Sagen Sie Ja, Dorothee, so treten sie morgenden Tages durch gerichtliche Schenkung in den Besitz sämmtlicher Liegenschaften, die mein Vater mir hinterlassen hat. Sie bleiben bis zur Volljährig¬ keit deren Nutznießerin ohne jegliche Bevormundung, und da sie kürzlich in Pacht gegeben worden sind, ohne irgend welche Belästigung. Kehre ich bis dahin nicht zurück, erlangen Sie freies Verfügungsrecht. Es ist kein Opfer, das ich Ihnen bringe, es ist eine Last, von der Sie mich befreien, mein liebes Kind. Mir bleibt für den Beginn mehr als ich bedarf und bald werde ich sicher auf eignen Füßen stehen. Sie über¬ siedeln in mein Vaterhaus, statten es aus nach Ihrer zierlichen Art. Geschäftig als Herrin im eignen Re¬ vier, in dem Zimmer, wo meine Wiege gestanden hat, wo ich so lange in Hoffnung glücklich war, sehe ich Sie zum Voraus als die Meine, sehe ich Sie mit Vertrauen auch fernerhin unter den Augen der hoch¬ verehrten Familie, in der Sie aufgewachsen sind, unter Ihren Augen, Fräulein Hardine, die Sie der Verlobten Siegmund Fabers Rath und Antheil nicht versagen werden.“ Ich hatte während der letzten Erklärung nicht aufgeschaut, weil ich mich des feuchten Nebels über meinen Augen schämte. Nun, wo der Sprecher mit einem Aufruf an meine Freundschaft schloß, blickte ich in ehrlicher Zustimmung zu ihm hinüber, dann aber angstvoll gespannt auf die Kleine, die sich so plötzlich über die unerwartetste Lebenswendung entscheiden sollte. Was würde sie vorbringen, wie sich herauswinden, sie, die vor kaum einer Stunde erklärt hatte: „mir graut vor dem Mann!“ die aufathmete wie erlöst, als er von seinem Abschied, vielleicht auf Nimmerwieder¬ sehen sprach. Und nun? o, der kleinen, beweglichen Dorl! o des wunderbaren Wechsels in einem Mädchenherzen! Wie der See, der grau und trübe unter einem Nebel¬ himmel gestanden hat, wenn plötzlich ein Sonnenstrahl den Dunstkreis durchbricht, klar und himmelblau strahlte das Augenpaar; freudenroth waren die Bäckchen überhaupt. Ein Kind unter dem Lichterbaum! Braut heißen und dabei frei sein; reich sein, schalten und walten im eignen Haus, sich schmücken und tändeln dürfen, — all diese Herzenslust, — und nicht ein Fünkchen mehr , las ich mit einem Blick in diesen lächelnden Zügen. In meinem Herzen brannte es wie eine Scham. Ob Siegmund Faber diesen jachen Zauber aus tieferen Gründen gedeutet hat? Ich glaube es nicht. Er kannte sie ja als ein Kind, liebte sie als ein Kind. Er traute ja eben der frohen Unschuld einer Kinder¬ seele, dem Bande, das die Dankbarkeit webt, der Treue der Pflicht in einem unentweihten Gemüth. Und er fühlte sich der Mann, das Herz des Weibes zu er¬ obern, sobald er es als Eigenthum in Anspruch nehmen durfte. Wie dem auch sei: Siegmund Faber blickte jetzt nicht mehr beklommen, sondern so froh und getrost wie seine kleine Dorl. Er streckte die Hand zu ihr hinüber und fragte lächelnd: „Nun, liebe Dorothee?“ Sie legte ihre Rechte in die seine und neigte das Köpfchen zu einem glückseligen Ja. „Sagen Sie Amen, Fräulein Hardine, als Zeu¬ gin und Bürgin unseres Verspruchs,“ rief der junge Bräutigam, sich zu mir wendend. Ich sagte nicht Amen, aber ich drückte Siegmund Faber die Hand, und umarmte — schweren Herzens, Gott weiß! — seine strahlende Braut. Auch Siegmund Faber — daß es an keiner Ver¬ lobungsförmlichkeit fehle — hauchte einen Kuß auf Dorotheens Stirn, so zagend jedoch, als ob er sich fürchte, einen gefährlichen Sinn in dem Kinde — oder in sich selber? — zu erwecken. Dann aber, wieder ernst und feierlich wie beim Beginn der selt¬ samen Scene, streifte er zwei einfache Goldreifen von seiner Hand, steckte den einen an seinen eignen Ring¬ finger, den anderen an den seiner Braut und sprach: „Die Trauringe meiner Eltern! Wenn ich eines Tages, diesen Reif am Finger, Ihnen gegenüber treten werde, Dorothee, dann wissen Sie, ohne Wort, daß ich in Treuen und Ehren mein Ziel erreichte. Und wenn ich den anderen dann an Ihrer Hand gewahre, dann weiß ich, ohne Wort, daß ich in Treuen und Ehren mein Weib zum Altare führen darf.“ Der Wagen der Eltern fuhr in diesem Augen¬ blicke vor. Langsam schritt ich meinem Hause, rasch und fröhlich, Arm in Arm, schritten die beiden An¬ deren dem des Brautvaters zu. Ein kaum bärtiger Jüngling, ein Feldscheergehülfe, der abenteuerlich in's Blaue zieht und sein Erbtheil verschenkt, um sich damit das Herz eines unflüggen Mädchens zu erkaufen; eine Verlobung wie aus der Pistole geschossen; ein zweites halbflügges Mädchen als Zeugin und Bürgin des wunderlichen Bundes auf¬ gerufen: — meine Freunde, wie ich dieses Bild aus der Erinnerung fast eines halben Jahrhunderts her¬ vorgekramt habe, da mag es wohl recht thöricht, viel¬ leicht läppisch vor Eueren Augen stehen. Ich sage Euch aber: hättet Ihr den Siegmund Faber gekannt, Ihr würdet meine ernsthafte Bewegung nicht belächelt haben. Und nicht die unerfahrene Tochter allein, auch die erfahrenen Eltern sahen kein Kinderspiel in Sieg¬ mund Fabers rascher That. „Ein Sonntagskind, unsere kleine Dorl!“ rief gerührt der Papa. „Ein Sonntagskind, dem das Glück wie im Traume in das Schürzchen fällt. Und ein Tausendsassa, dieser Mosjö Per—s é , so sein Vö¬ gelchen an einer goldenen Kette festzulegen!“ Die bedachtsame Mama aber, die wohl schwerlich ohne einen Anflug mütterlichen Neids die kleine Schen¬ kendirne wohlhäbig und früher Braut werden sah, als ihre Hardine, sie erklärte nicht minder: „Kein Advo¬ kat hätte es schlauer auszudüfteln gewußt, als dieser junge Pfiffikus. Wohl oder übel: das Fideicommiß bis zur Volljährigkeit, das heißt bis über die gefahr¬ volle Jugend hinaus, bannt den Flatterling und am Traualtare erhält der großmüthige Verschenker sein Eigenthum zurück.“ Der gerichtliche Akt ward genau nach der An¬ gabe am anderen Tage vollzogen, und mit dem Mor¬ gengrauen des übernächsten war der wunderliche Bräu¬ tigam hoch zu Rosse auf und davon. Der letzte Hei¬ mathsgruß ward nach Fräulein Hardinens Dachfenster hinaufgewinkt und von dort aus erwidert. „Hattest Du Herrn Faber schon gestern Abend Lebewohl gesagt?“ fragte ich Dorothee, als sie bald darauf in meine Kammer trat. „Ach nein, Fräulein Hardine,“ stammelte sie ver¬ legen, „ich wollte es heute früh, aber — ich habe es verschlafen.“ So war denn selber eine Anstandszähre beim Abschied unserem glücklichen Bräutchen erspart worden. Wie flink ging es nun aber noch selbigen Ta¬ ges an ein Scharwerken und Räumen! Das Unterste wurde zu oberst gekehrt in dem Zimmer, vor dessen Fenster noch im Winter Meister Fabers Scheerbeutel geglänzt hatten; getüncht, gescheuert, das alte Mo¬ biliar blank auflackirt und frisch bezogen. Bald stand, schneeweiß verhüllt, ein zierliches Himmelbett auf der Stelle, wo Siegmund Faber sich auf hartem Stroh¬ sack eine kurze Nachtruhe gegönnt hatte. In der Ecke, die seine ungehobelten Bücherbretter gefüllt, prangte ein Schränkchen mit Puppen und Tändelwerk aus der Kinderzeit der kleinen Dorl; luftige Gardi¬ nen, Blumen, immer frisch gepflückt, schmückten den Fensterplatz; im grünberankten Käfig schnäbelte sich ein Zeisigpaar. Keine Bürgerstochter hatte ein zier¬ licheres Stübchen aufzuweisen, und wie kahl und dürf¬ tig erschien nebenan Fräulein Hardinens nüchterne Mädchenkammer! Die kleine Wirthin aber, im kurzen Röckchen und flittergestickten Hackenschuhen, flatterte fröhlich Trepp' auf, Trepp' ab. In der einen Tasche bauschte sich die Düte mit dem Candis und Zuckerbrod, welche die Näscherin niemals ausgehen ließ; in der anderen klap¬ perte das Beutelchen, aus welchem jedem Bettelkinde ein Pfennig oder Kreuzer zugeworfen ward. So ging's hinüber in die Kellerei, wo zu Nutz und Frommen der Wirthschaft eine handfeste Magd vorgesetzt wor¬ den war; durch die Heckenlücke in den Garten; hin¬ auf in die Brautlaube; ein Husch in die Nabarschaft ; ein Guck in Fräulein Hardinens Kammer; ein Knix und Handkuß in Reckenburgs Familienzimmer, lächelnd und tänzelnd und trällernd vom Morgen zur Nacht: die ächte, rechte, unermüdliche, kleine Dorl. Drittes Capitel. Die schwarze Reckenburgerin. Ich hatte übrigens nur kurze Zeit, das glückse¬ lige Treiben unserer neuen Hauswirthin zu beobach¬ ten, denn auch mein eigenes Leben sollte in jenen Som¬ merwochen einen unvorhergesehenen Wechsel erfahren. Ich habe schon zu Anfang der alten Gräfin als meines Vaters und meiner eigenen Pathin erwähnt, und hinzugefügt, daß keines von Beiden sich jemals einer zeitgemäßen Pflicht- oder Gunstbezeugung von Seiten ihrer hohen Namensverleiherin zu erfreuen, sich keiner solchen, wahrheitsgemäß, auch von ihr ver¬ sehen hatten. Anders vielleicht, wenn der letzte Sprö߬ ling des alten Stamms ein männlicher gewesen wäre. Aber ein Mädchen, die Tochter eines verarmten Sei¬ tenzweigs, wie hätte die „schwarze Häuptlingin“ in ihrer fürstlichen Hoheit sich Einer erinnern sollen, mit Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 10 welcher der Name voraussichtlich in Dunkelheit er¬ losch? Wer auch immer die Erben der wunderlichen Greisin sein mochten, der bescheidene Rittmeister von Reckenburg und sein dürftig erzogenes Fräulein, wir wußten es, waren es nicht. Groß, über allen Ausdruck groß war daher das Wunder, als im Laufe des Spätsommers ein eigen¬ händiges Schreiben der Gräfin, das erste seiner Art, die weiße Vetternsippe beehrte. Das Schreiben lau¬ tete, aus dem Französischen übersetzt: „Wenn die Freifrau und der Freiherr von Reckenburg geneigt sein sollten, ihre Tochter Eber¬ hardine der Gräfin von Reckenburg als Gast während des nächsten Winters zu überlassen, so wird die gräfliche Equipage die junge Dame — (das Datum und der Stationsort waren genau bezeichnet) — zur Beförderung nach Schloß Reckenburg erwarten.“ So wenig einladend diese Gunstbezeugung gestellt war, und so schwer den Eltern das, wenn auch nur zeitweise Ueberlassen des einzigen, kaum erwachsenen Kindes in völlig unbekannte Hand vorkommen mochte, die Möglichkeit einer Ablehnung ist gar nicht in Be¬ tracht gezogen worden. Die Gräfin war, — nun sie war eben die reiche Gräfin von Reckenburg und nahe dem achtzigsten Jahre. Das Fräulein von Recken¬ burg aber war ein blutarmes Ding, wenig begehrens¬ werth für einen Freiersmann, und verlor es den Va¬ ter, schutzlos der Welt gegenüberstehend. Mancher mütterliche Sorgenseufzer mochte in dieser Aussicht in¬ nerhalb der vertraulichen Rathskammer laut geworden sein. Eine Aussteuer, ein Legat von dem Ueberflusse der einzigen Verwandtin, die heute zum erstenmal eine Art von Antheil bekundete, konnte allen Sorgen und Seufzern ein Ende machen. Der Vater antwortete daher zustimmend, wenn auch in der würdigsten Haltung. Gunst und Vertrauen wurden erwiesen, mehr als empfangen; nicht die glän¬ zender gestellte Verwandtin, die zu einem Wunsche be¬ rechtigte Pathin war es, der man Folge leistete. Längeres Bedenken erregte die Art der Beförde¬ rung. Das blutjunge Fräulein konnte nicht allein und nicht in der gelben Postkutsche reisen; der Vater, wie er es am schicklichsten gefunden haben würde, nicht die Begleitung übernehmen, da der Termin der Einladung mit dem einer kurfürstlichen Revue zusam¬ menfiel, die Mutter aber kränkelte seit einiger Zeit, und der Arzt hatte ihr das Fahren strengstens untersagt. 10* Die Verlegenheit wurde indessen bestens gelöst, da „Muhme Justine“ sich freiwillig als Duenna und Reiseschutz erbot. Denn wenn auch hundert Meilen zurückzulegen gewesen wären, statt zwölf, und zwanzig Nachtquartiere zu halten, statt zwei, keinem Menschen auf der Welt würde die Mutter ihr Kind so zuver¬ sichtlich übergeben haben, als unserer Muhme Justine. Muhme Justine, Du Treueste der Treuen, so trittst Du denn auf dieser Reise zum erstenmale in den Rahmen meiner Geschichte, da Du doch schon beim ersten Schritt der Lebensreise gebührentlich hät¬ test Erwähnung finden müssen. Du hast mich auf Deinen Händen an das Licht getragen, hast mich ge¬ schaukelt, als die Mutterarme noch zu schwach waren für das „Hünenkind“, und niemals ist ein Pflegling mit zärtlicheren Blicken gehütet worden, als die letzte Reckenburgerin von ihrer Muhme Justine. Sie war, als Wittwe eines Wachtmeisters, in den elterlichen Dienst getreten und hatte ihn, lediglich mit Aushülfe des Soldatenburschen, verwaltet, auch da die Pflege der Neugeborenen sie zum Range einer Muhme erhob. Alle Pflichten und Künste dieser ehr¬ würdigen Zunft hatte sie geübt und keine ihrer be¬ freienden Befugnisse beansprucht. Erst als ihr „Din¬ chen“ der Zucht einer Kinderfrau entwachsen war, vertauschte sie ihr lastvolles Amt mit dem wenigstens einträglicheren einer Wickelmutter, ohne aber auch dann sich aus dem Gesichtskreise ihres Pflegekindes zu entfernen, denn sie theilte mit der neuen Magd das Kämmerchen zwischen den Gemächern des Hofmeisters und Ehren-Purzels. Sie hatte kein eigenes Kind gehabt und stand ganz allein in der weiten Welt; so wurde die kleine Hardine ihr Ein und All, und Gott verzeih's der großen Hardine, wenn die Liebe, die sie nicht in gleichem Maße erwidern konnte, sie späterhin manch¬ mal wie eine Last bedrückte. Die kleine Hardine war ihr Augapfel, ihr Lebenszweck, ihre Hoffnung, ihr Stolz. Sie sah sie prophetisch unter den Großen der Erde, sie dereinst als Englein mit dem goldenen Flügelpaar vor Gottes Thron. Der übrigen Mensch¬ heit mag sie wohl dann und wann ein wenig bissig und neidisch und haberisch vorgekommen sein; aber bissig und neidisch und haberisch nur für die Rechte und Vor¬ rechte ihres Fräulein Hardine; für ihr Fräulein Har¬ dine sann sie und spann sie, sparte und darbte sie; Fräu¬ lein Hardine ist die Erbin der paar hundert Thaler geworden, die sie kreuzerweis zusammengescharrt hatte. Muhme Justine war bibelfest; aber die göttlichen Verheißungen genügten ihr nicht, wo es das Erden¬ loos ihres Herzblatts galt. Die geheimnißvollsten Wahrnehmungen mußten für sie ausgedeutet, dunkle Orakel befragt werden, und das Schlußbild sämmt¬ licher Gesichte zeigte immer nur Glück und wieder Glück. Schon der Tauftag, der dritte des Lebens, war segenverheißend gewesen: Täuflingin hatte, wäh¬ rend ihr das Mützchen gelöst ward, dreimal kräftig geniest: item , sie war ein Weltwunder von Geist und Gaben; sie hatte unter dem Träufeln des Taufwassers unbändig gestrampelt und gebrüllt: item , ihrer harr¬ ten der Erde Schätze und Güter. Seit dieser Weihe¬ stunde stand für Muhme Justine die gräfliche Erb¬ schaft fest wie ein Evangelium und es verging selten ein Tag, daß sie für ihr Goldkind nicht irgend etwas Herrliches in ihren Träumen oder Karten ausgespäht hatte. Ein Glücksbrief war angekündigt, wochenlang bevor die Einladung der Gräfin die Insassen der Ba¬ derei so hoch überraschte. Nur in einem einzigen Punkte wollten die ge¬ heimnißvollen Orakel seltsamer Weise niemals mit den Herzenswünschen meiner alten Muhme stimmen. So oft die hochwichtige Frage nach „dem Zukünftigen“ erhoben ward, zeigte die Seherin sich kopfhängerisch und kleinlaut, an ihr Fräulein aber erging die deu¬ tungsschwere Mahnung: „sich vor Schindern und Schabern in Acht zu nehmen.“ Auf einen Obsieg des Herzkönigs schien die Muhme nach manchen leid¬ vollen Proben verzichtet zu haben; aber selber die viel¬ verheißendste Constellation des Grünkönigs wurde im letzten Augenblicke jederzeit von einem ausverschämten Schellenunter gekreuzt. Wer war nun aber dieser unvermeidliche Schellenun¬ ter, der die Nachtruhe meiner alten Muhme so grau¬ sam störte? Eine Zeitlang hatte sie ein gar böses Auge auf den wortkargen, hochfahrenden Wirthssohn gerichtet; seit dessen plötzlicher Entfernung aber, und dem veränderten Glückszustande seiner Braut waren die Gedanken in eine andere Bahn gedrängt worden. Der verhängnißvolle Schellenunter brauchte nicht noth¬ wendig eine Mannsperson zu sein; ja weit natürlicher war es ein Frauenzimmer, und dieses Frauenzimmer kein anderes, als — unsere neue Wirthin, Dorothee. Muhme Justine war zwar keine leibliche, aber doch eine Namensbase der kleinen Dorl. Beide nannten sich Müllerin; da aber Muhme Justine ein Gemüth hegte, stolzer noch als das der Reckenburgs, hatte sie die Bevorzugung der kleinen Plebejerin von Haus aus mit unholden Blicken angesehen. „Gab es denn kein adliges Kind, Dinchen, zur Gesellschaft?“ brummte sie Anfangs, und späterhin: „Mußte es denn Eine sein von einer besseren Couleur, wenn auch lange nicht so nobel und durabel, wie Fräulein Har¬ dine?“ Die Schenkung und der blinkende Verlobungs¬ ring konnten natürlich keine humane Auffassung be¬ wirken; seit sich aber gar der bedrohliche Schellen¬ unter unter dem Lärvchen der Schenkentrine enthüllte, hätte, — abgesehen von den gesteigerten Erbschafts¬ aussichten in Reckenburg, — der Muhme gar nichts Erwünschteres, als meine zeitweise Entfernung von Hause widerfahren können. Kaum hörte sie daher von den elterlichen Reise¬ sorgen, so erklärte sie, daß sie sich die Begleitung nicht nehmen und ihrem Fräulein kein Härchen auf dem Wege krümmen lassen werde. Man traf seine Abrede und unter allerlei Zurüstung gingen die Wochen im Fluge dahin. An Dorotheens Geburtstag, dem 29. Septem¬ ber, langte die erste Sendung des fernen Bräutigams an: Brief und Schächtelchen. Sie öffnete das letz¬ tere hastig und jubelte hellauf beim Anblick der kost¬ baren Granatgehänge, die ihr als Angebinde verehrt wurden. „Und was schreibt er?“ fragte ich, nachdem sie vor dem Spiegel den großen Schmuck den kleinen Ohren eingehenkelt hatte. Sie überflog den Brief und reichte ihn mir mit den Worten: „Es steht nicht viel darin.“ Und es stand allerdings nicht viel darin. Her¬ kömmliche Glückwünsche und eine ziemlich altmodische Redensart von ewiger Liebe und Treue und so wei¬ ter. Sie schien dem Schreiber nicht eben flott vom Herzen gekommen zu sein. Eine Nachschrift brachte die Notiz, daß er allsobald von Berlin zur königlichen Armee nach Schlesien dirigirt und dort, nach Wunsch, dem Regiment Weimar zugetheilt worden sei. Da die hohen Potentaten seitdem Versöhnung geschlossen, sei die kriegerische Aussicht zunächst verschoben, Schreiber aber habe in dem chirurgischen Institute zu Breslau förderliche Beschäftigung gefunden, eine Gunst, welche er nicht allein der gnädigen Verwendung seines durch¬ lauchtigen Chefs zu verdanken habe, sondern mehr noch der eines erhabenen Geistesfürsten, bei welchem eine Empfehlung von Jena ihn eingeführt, und mit dem er eine über alle Maßen interessante Unterre¬ dung über die in das chirurgische Gebiet einschlägig¬ sten Lehren gepflogen. ( Notabene : Jungfer Grundtext, welche die Stamm¬ tafel der sächsischen Fürsten am Schnürchen herzusa¬ gen wußte, von einem „Geistesfürsten“ aber noch nie eine Sylbe gehört hatte, zerbrach sich vergeblich den Kopf über Natur und Namen des Erwähnten.) Nach in Bälde bevorstehendem Rückmarsch hoffe er, wieder durch Verwendung jenes außerordentlichen Herrn, einen längeren Urlaub zu erhalten, und den¬ selben in der Universitätsstadt Göttingen, als in der Nähe seines im Harz garnisonirenden Regiments, zu verbringen. Bis das Zeitwesen sich unvermeidlich wieder kriegerisch gestaltet haben werde, erfreue Schrei¬ ber sich sonach der fördersamsten Thätigkeit. „Hast Du Herrn Faber geantwortet?“ fragte ich am Tage vor meiner Abreise Dorothee, die erröthend das Köpfchen schüttelte. „So thu' es heute noch,“ mahnte ich. „Wenn ich nur wüßte, was!“ sagte sie kläglich, setzte sich aber gehorsam nieder und begann ziemlich flink mit dem Dank für die wunderschönen Ohrge¬ hänge. Nun jedoch stockte der Fluß. Sie kaute an der Feder, seufzte und rieb sich die Stirn, auf wel¬ cher die hellen Angsttropfen perlten. „Helfen Sie mir ein Bischen, Fräulein Hardine,“ bettelte sie endlich. Das that ich nun freilich nicht. Im Gegentheil, ich entfernte mich, hoffend, daß es in der Einsamkeit besser gelingen werde. Aber der Nachmittag verlief über dem sauren Werk, und am Abend erst wurde das Blatt zur Durchsicht in meine Hand gelegt. „Fräulein Hardine sagt dies, Fräulein Hardine thut das,“ so lautete es Satz für Satz. Aus dem eigenen Herzen und Leben kein Wort. Der wunderlichste erste Liebesbrief einer Braut! Indessen die Kleine dankte Gott, daß er fertig war, siegelte rasch mit einem Sechser und trug das Schriftstück gleich noch nach der Post. Der Abschiedsmorgen brach an. Eine Reise, und wäre es nur auf zwölf Meilen, eine erste Reise zu¬ mal, galt uns Kleinstädtern anno Neunzig noch für einen halben Tod. Man schien sich so unerreichbar, wenn man sich nicht mehr mit Händen greifen konnte, man mochte gestorben und verdorben sein, ehe nur ein Hülferuf zu dem Verlassenen gedrungen war. Wir saßen bei Kerzenlicht um den Frühstücks¬ tisch; Keiner berührte einen Bissen, Keiner redete ein Wort. Mama und ich, wir schluckten unsere Thrä¬ nen tapfer hinunter, der ehrliche Vater aber ließ sie frei laufen und die kleine Dorl schluchzte laut. Der Tag begann zu dämmern, die einspännige Chaise fuhr vor; der eisenbeschlagene Seehundskoffer wurde auf¬ gebunden, Kisten und Kober mit Mundvorräthen ge¬ füllt, thürmten sich, als ging' es rund um die Welt. Vor den Thüren lugten die Nachbarn in Pantoffeln und Nachtmützen; Mägde, die Wasserbütten auf dem Rücken oder den Semmelkorb am Arm, Kinder, die den Betten im Schlafkittelchen entsprungen waren, drängten sich vor unserem Thor. Alle wollten Ritt¬ meisters Fräulein, das zu einer uralten, steinreichen Erbtante auf die Reise ging, in die Kutsche steigen sehen. Endlich erschien auch Muhme Justine mit aller Würde einer Duenna, in blendendweißer Flügelhaube und der Festschürze von grasgrünem Taft. Schon saß ich im Wagen und hatte sie den Fuß auf den Tritt gesetzt, als die Betglocke anschlug. An keinem Morgen, Mittag oder Abend hörte die Muhme die feierlichen drei Schläge, ohne zu einem Vaterunser auf die Kniee zu sinken. Nur auf der Straße be¬ gnügte sie sich dreimal mit der Verbeugung, mit wel¬ cher wir im Gotteshause dem Namen unseres Herrn und Heilands Verehrung zollten. An dem heutigen wichtigen Tage aber beugte Muhme Justine auf off¬ nem Markte ihre alten Kniee. Der Vater nahm die weiße Zipfelmütze vom Haupte und aus dem Munde die Thonpfeife, der er bis dahin krampfhafte Wolken entlockt hatte; die Mutter, Dorothee und ich falteten die Hände zu einem stummen Gebet. „Unsern Aus¬ gang segne Gott, unsern Eingang gleichermaßen!“ rief die Muhme laut, indem sie sich von den Knieen erhob. Sie kletterte in die Chaise und setzte sich ge¬ ziementlich auf den Rücksitz, ihrem Fräulein gegen¬ über. Der Vater schloß den Schlag. Noch ein „Glück¬ auf!“ und dahin rumpelten wir auf dem holprigen Pflaster in eine neue, unberechenbare Welt. Dank der resoluten Reisemarschallin ging die drei¬ tägige Fahrt ohne Hinderniß von Statten. Auf der letzten Station harrte verabredetermaßen, das „Spuke¬ ding“ von Reckenburgs goldener Kutsche, mit dem un¬ sterblichen Schimmelzug und der gleicherweise unsterb¬ lichen Lakaienschaft. Ihr habt, meine Freunde, mich vor Jahren noch in dem schweren broncirten Glaskasten dann und wann einen Ausflug machen sehen. Ich that es, wie ich manches vererbte Unbequeme that und erhielt — aus Bequemlichkeit. Es war einmal da, es ge¬ nügte mir. Ich that es aber auch mit der Absicht, das böse Ding allmälig seines gespenstischen Nimbus zu entkleiden. In diesem alten Gehäuse hatte die Gräfin ihren Einzug in Reckenburg gehalten, war in der er¬ sten Zeit ihrer Herrschaft hinter von Außen her ver¬ hüllenden Gardinen bei ihren Flurbesichtigungen ver¬ muthet worden. In ihm folgte ich, als einzige Leid¬ tragende, ihrem Leichenzuge. Daß die Schimmel und Heiducken von 1750 und 1806 nicht die nämlichen waren, sondern nur von möglichst ähnlichem Caliber und nur mit dem silberbeschlagenen Geschirr und der silberstrotzenden Livr é e ihrer sehr sterblichen Vorgän¬ ger behängt, brauche ich Euch nicht zu versichern. Und wie mit der Unsterblichkeit der Schimmel und Heiducken, wie mit der alten schwarzen Recken¬ burgerin selbst, wird es auch mit allen ihren übrigen Seltsamkeiten eine natürliche Bewandtniß haben. Der Mensch, welcher sich aus Neigung oder Fügung dem Tagestreiben entzieht, verfällt eben dem Vergessen oder dem Märchensinn seiner Lebensgenossen. Nun ja, sie hat in fast einem halben Jahrhun¬ dert ihre unzugängliche, dämmrige Klause nicht ver¬ lassen; aber das geschah, weil das Sonnenlicht ihre Augen blendete und weil ein schlecht geheilter Knochen¬ bruch ihr jede Bewegung empfindlich machte. Ja, sie hat die Nächte ohne Schlummer in ihrem Stuhle auf¬ recht gesessen, aber nur, weil asthmatische Beschwerden ihr erst am Morgen ein paar Ruhestunden gönnten. Ja, sie hat sich lange Jahre fast ausschließlich von Grützbrei und Eicheltrank genährt, aber nur, weil der Magen keine kräftigere Kost mehr duldete. Nicht un¬ erklärlicher Weise trotz ihrer Diät, sondern erklär¬ licher Weise wegen ihrer Diät hat sie sich das Da¬ sein über das gewöhnliche Menschenmaaß hinaus ge¬ fristet. Je einfacher wir, freiwillig oder gezwungen, unsere Funktionen beschränken, um so zäher wird ja das Leben. Menschen mit mangelnden Sinnen dauern gemeinhin länger als die mit allen Sinnen. Geizige, das heißt Menschen mit verknöchertem Herzen, werden fast immer uralt. Und so möge denn auch zugestanden sein, daß die seltsame Gründerin und Erhalterin der Reckenburg als solch eine verknöcherte Geizige in die Grube gefahren ist. Wie sie aber von einem reichen Eingange zu sol¬ chem armseligen Ausgang gelangen konnte, das erkläre Euch ein Blick über ihren Lebenslauf, der sich auch vor meinen Augen erst nach ihrem Tode aus einer vorgefundenen Correspondenz im Zusammenhange ent¬ hüllt hat. Eberhardine von Reckenburg hatte von ihrem Vater nichts als die Trümmer seiner Stammburg in einem sumpfigen, verrufenen Waldwinkel überkommen. Mütterlicherseits aber war sie eine Erbtochter. In der Wiege verwaist, verdreifachte sich ihr Vermögen unter einer gewissenhaften Vormundschaft, da die Kur¬ fürstin, ihre Pathin, sie innerhalb ihrer eigenen Hof¬ haltung erziehen und später als Hoffräulein in ihren Dienst treten ließ. Bei ihrer Mündigkeitserklärung sah sie sich in einem Besitzstand, der ihrer Zeit ein fürstlicher genannt ward. Klug und ehrgeizig von Natur, besaß sie den Sinn, diesen Werth nach seinem Abstande von dem großentheils verarmten Höflingsadel zu ermessen. Sie galt für schön, und sie galt sich selbst dafür; aber sie sah manche ihres Gleichen sich und Anderen mit noch größerem Rechte dafür gelten, und nach einem Carne¬ val oder zweien, verdrängt, vergessen von der Bühne verschwinden, sobald nicht eine andere Macht der Schönheit eine dauernde Unterlage gab. Daß von der Tugend als solcher Unterlage zu August des Star¬ ken Zeiten keine Rede war, braucht nicht erörtert zu werden, aber auch der Adel gewährte sie nicht, denn die reinste Ahnenprobe führte eine abgeblühte Schöne bestenfalls in ein Fräuleinstift. Nur eine Goldtonne war ein zuverlässiges Piedestal. Zwischen Fest und Spiel, inmitten der gewissenlosen Wirthschaft eines Brühl und seiner tollen Nacheiferer, gab es am Hofe von Sachsen ein junges Mädchen, das mit heimlichem Hohn die Schnüre seines Beutels fest in den Händen hielt und mit der nüchternen Berechnung eines Man¬ nes seinen Schatz zu mehren verstand. Mochten die Kartenhäuser um sie her zusammenstürzen, sie stand sicher, sie durfte steigen. Tag für Tag meldete sich ein Bewerber um die Hand der reichsten Partie des Landes. Keiner ge¬ nügte ihrem hochstrebenden Sinn. Sie war dreißig Jahre alt geworden und wählte noch immer. „Der Rechte wird kommen!“ sagte sie sich, wenn sie ihr Contobuch zugeklappt und ein beredtes Schönpfläster¬ chen auf die geschminkte Wange geheftet hatte, um ihrer Herrin — jetzt der Nachfolgerin der Brandenburg¬ schen Eberhardine — zu einem Feste des unerschöpf¬ lich erfinderischen, allgewaltigen Ministers zu folgen. Und der Rechte kam noch zur rechten Zeit, bevor Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I. 11 die letzte Jugendblüthe gewelkt war. Was wißt Ihr, meine Freunde, unter den ungezählten, länderlosen Fürstensöhnen des heiligen römischen Reichs deutscher Nation von einem Prinzen Christian? Und was braucht Ihr von ihm zu wissen, als daß er ein schöner Mann und nach den Begriffen seiner Zeit und Zone ein Genie gewesen ist — ein Genie, das heißt ein durchlauchtiger Libertin nach dem Schlage des Maréchal de Saxe — nur daß er sich auf kein Fontenoy und Rocour zu berufen hatte — daß er an den verwandten Hof von Sachsen zurückkehrte, sei es, um nach allerlei abenteuernden Fahrten sich eine Ruhepause zu gönnen, sei's, um nach erschöpftem Erbtheil sich neue Quellen aufzuschließen. Die fürst¬ liche Sippe war der wiederholten Schröpfungen über¬ drüssig; das Suchen nach einer ebenbürtigen Erbin erwies sich als verlorene Mühe. Brühl glaubte da¬ her einen Meisterzug zu thun, indem er die Blicke des unbequemen Schützlings auf das immerhin noch ansehnliche und im Ehrenpunkte untadelige Frei- und Hoffräulein von Reckenburg als eine der besten Par¬ tien in deutschen Landen lenkte. Ob das vorsichtige Fräulein dem verführerischen Coqueluche der Damenwelt widerstanden haben würde, wenn er einfach ihres Gleichen gewesen wäre, sei da¬ hingestellt. Aber er war ein Prinz, berechtigt, um eine Kaisertochter zu werben, und diesem Zauber wider¬ stand sie nicht. Ihr Kinder eines anderen Jahrhun¬ derts habt keinen Maßstab für eine Anschauung, welche auch den letzten Anhängsel eines Thrones hoch über alle menschlichen Ordnungen erhob und den Gesalbten des Herrn der Pflicht selber gegen die ewigen Gesetzes¬ tafeln entband; für eine Anschauung, welche den ver¬ irrten Tropfen königlichen Blutes höheren Adels ach¬ tete, als den, welcher in den Kreuzzügen erobert wor¬ den war. Nach einer Ertödtung ohne Gleichen wäh¬ rend der verheerenden dreißig Jahre hatte die Zeit über unserem Vaterlande gleichsam still gestanden und das Säculum der äußersten Verdumpfung des Bürger¬ thums, des tiefsten Verfalls der Ritterschaft war noch nicht abgelaufen. Erst des preußischen Friedrich Schwert und Scepter hat die Uhr für eine neue Zeitrechnung aufgezogen. Der Prinz von Geblüt hatte dem reichen und ahnenreichen Fräulein kein ebenbürtiges Bündniß an¬ zubieten; sie durfte nicht seinen Namen führen; ihre Kinder — hätte er etwas zu succediren gehabt — würden nicht successionsfähig gewesen sein. Aber die 11* Stellung einer fürstlichen Gemahlin auch nur zur lin¬ ken Hand bot der zur „Reichsgräfin von Reckenburg“ Erhobenen noch immer den ersten Rang nach den reichs¬ unmittelbaren Geschlechtern; der Ehrgeiz sah kein er¬ reichbar höheres Ziel und so wurde die ursprünglichste Leidenschaft zu einem magnetischen Strom, der eine unstillbare Gluth in dem lange kalten Herzen entzün¬ dete. Die Hände, welche ein fürstlicher Gemahl mit galanter Inbrunst küßte, wie hätten sie fortan die Schnüre des Seckels ängstlich zusammenhalten mögen? Hoffart, die Herrin, hatte ihr Ziel erreicht; Klug¬ heit, die Magd, wurde des Dienstes entlassen. Bald war die Haushaltung in der Hauptstadt mit rangentsprechendem Glanze eingerichtet. Das junge Paar zählte zu dem Anhange der regierenden Kurfürstin-Königin und mit ihr zu den Feinden des allgewaltigen Favoriten. Am Hasse entzündete sich die Rivalität, und es war vielleicht der einzige Wer¬ muth in Eberhardinens Honigzeit, daß sie ihren an¬ gebeteten Prinzen es nicht einem Emporkömmling gleich thun lassen konnte, der sich Hunderte von Lakaien und eine eigene Leibgarde hielt, der, wie Friedrich der Große sagt, in Europa die meisten Pretiosen, Spitzen, Pantoffeln u. s. w. besaß, und mit den Narretheidingen eines ver¬ schmitzten Sclaven die träge Sultanslaune seines soge¬ nannten Herrn bis an den Rand des Abgrunds gängelte. War nun der Abstich schon empfindlich während der residenzlichen Winterzeit, um wie viel mehr, wenn der Sommer kam mit seinen ländlichen Festen, der Herbst mit der einzigen königlichen Passion, der Jagd. Da verging wohl kein Jahr, daß nicht der schöpferische Minister in einem eigenen neuen, aus dem Boden ge¬ stampften Prachtbau seinem Herrn ein Feenspiel oder eine Sauhetze bereitet hätte. Der Parvenü zählte seine Lustschlösser und Jagdgebiete nach Dutzenden; der Prinz von Geblüt erfreute sich keiner Handbreit eigenen Landes und auch das Vermögen seiner Ge¬ mahlin war nicht in Grundbesitz angelegt. In dieser Verlegenheit gedachte man der alten, verwüsteten Reckenburg und da romantische Natur¬ schönheit so wenig wie fruchtbringende Bodencultur in der Berechnung lag, fand man die erwünschteste Ge¬ legenheit: in der Nähe eines schiffbaren Stromes ein Waldrevier mit einem Wildbestand, dessen die ver¬ zweifelnden Bauern trotz gewaltsamster Selbsthülfe auf ihren kargen Feldstücken sich nicht erwehren konnten. Man feierte a priori im Geiste die Gondelfahrten, Hetz- und Treibjagden, die auf diesem ältesten Recken¬ burgischen Grunde arrangirt werden sollten, sobald an Stelle der eingeäscherten Burgtrümmer ein Neubau, stolzer als alle Schöpfungen Brühls, sich erhoben ha¬ ben würde. Allerdings erforderte dieser Neubau Jahre; Jahre, deren sommerliche Hälfte in Ermangelung einer stan¬ desmäßigen Residenz auf Reisen verbracht werden mußte. Welche Verlockung nun aber, sich in den kunstfertigsten Ländern Europas mit den Erzeugnissen des Luxus und der Mode für die heimathliche Ein¬ richtung zu versehen! Endlich stand der heißersehnte Palast aufgerichtet; das letzte Marmorsims, das letzte Getäfel waren ein¬ gefügt; Stuckatur und Schnitzwerk, Gobelin und Bro¬ cat, vor allem das gräflich gekrönte fürstlich-freiherrliche Allianzwappen nicht gespart. Der junge Heckenwuchs des Lustgartens sproßte; Faunen und Amoretten spru¬ delten einen Willkommenstrahl; Keller und Speicher waren zum Uebermaaß gefüllt; eine Reihe von Festen sollte den Einzug des hohen Paares verherrlichen. Da, in der letzten Stunde, enthüllte sich der Ab¬ grund, in welchem mit der Fülle des Seckels die Treue des Geliebten versunken war. Ein Zufall lüftete den Schleier. Ob aber in Wahrheit der Taumel der Lust die scharfblickende Frau so lange verblendet hatte? Ob sie nicht freiwillig die Augen geschlossen, so lange ein Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich glaube das letztere. Sie würde mit diesem Manne, sie würde für ihn gedarbt, ja sie würde seine Untreue geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen gewesen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen die alternde Schöne den verwöhnten Lüstling gefesselt hatte, sie sah sie geschmolzen. Kein Jahr mehr dieses schrankenlose Treiben und sie war eine verlassene Bettlerin. So willigte sie denn in eine Scheidung als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz, sondern einfach ihre Existenzmittel zu retten. Der flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬ stattete, seine Wünschelruthe nach einem neuen Glücks¬ born auszuwerfen. Während er nun in Italien und Rußland, den beiden Pflegestätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer jener Zeit, das unstäte Treiben seiner Jugendjahre erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, gestaltete die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um so stätiger. Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr schön und, nach ihrem Maaßstabe, arm. Was Wun¬ der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß sie ihr verhaßt geworden war. So bezog sie denn das Erbe ihrer Väter mit dem Entschlusse, den alten Grund zu einer Fundgrube für die erschöpfte Schatzkammer umzuarbeiten. Nach Außen hin mußte der überkommene Rang behauptet, der gewohnte Glanz gehütet, die gehaßte Welt, und mehr als sie der noch immer geliebte Freund über den wirklichen Mangel getäuscht werden. Er sollte fühlen, welche Befriedigungen er so leichtfertig auf¬ gegeben hatte. Daher die Marotte, die sie in den Augen der Welt von einem soliden Harpagon unter¬ schied, allen und jeden Besitz, den sie beim Einzug in ihren Neubau vorgefunden hatte, zu erhalten und beim Verbrauch zu ergänzen, auch wenn er ihrem persön¬ lichen Leben überflüssig geworden war, und statt Zinsen zu tragen Opfer forderte. Kein Menschenauge, am wenigsten das der Gräfin, erfreute sich des weitläufigen Ziergartens rings um das Schloß, aber Hecken und Pyramiden wurden regelrecht verschnitten, Pfade und Schnörkelbeete säuberlich gepflegt, Statuen und Or¬ namente von ihren Beschädigungen durch Wetter und Zeit geheilt. Man feierte keine Festgelage, empfing keinen Gastfreund auf Reckenburg, aber die Fülle des Tafelgeräths, alle der zwecklosen Kostbarkeiten, die veräußert, in jener klammen Zeit ein nicht gering zu schätzendes, zinstragendes Kapital abgeworfen haben würden, sie blieben, nur durch periodisches Reinigen vor Rost und Staub geschützt, unverrückt an ihrer Stelle. Ja selbst die massenhaften Vorräthe in Speicher und Keller wurden schleunigst ergänzt, sobald ein Bruch¬ theil davon in Gebrauch genommen worden, gleichviel ob der Rest verhärtete, vergilbte, bei der genausten Aufsicht nicht vor Wurm und Moder zu schützen war. Daher schreibt sich die Unsterblichkeit des nie mehr benutzten Schimmelzugs; die der prunkvollen Lakaien¬ schaft. Die Rache der seltsamen Erhaltungskünstlerin hieß reich werden und reich scheinen , bis sie es ge¬ worden. Der angeborene kluge Sinn des Sammelns und Vermehrens, durch eine übermächtige Leidenschaft zeitweise verdrängt, trat wieder in seine Rechte. Es war die Arbeit eines Colonisten im Hinter¬ walde, welche ein einsames, in der Atmosphäre eines üppigen Hofes gealtertes Weib unternahm. Niemand ahnte wie erschöpft ihre Mittel und wie geboten von Anfang ihre persönlichen Einschränkungen waren. Nie¬ mand hat daher auch in vollem Umfange die Klugheit, Kraft und Ausdauer gewürdigt, mit welcher sie ihr Werk in's Leben setzte. Man freut sich heute der Cultur einer Gegend, die vor hundert Jahren ein bruchiger Waldwinkel war, und mit Scham höre ich mich häufig als deren Schöpferin gerühmt. Aber ich bin nur auf die Schul¬ tern meiner Vorarbeiterin getreten; die Grundlegung, die unsägliche Schwierigkeit der Urbarmachung ist ihr Verdienst. Sie hat die Sümpfe ausgetrocknet und die Kanäle gegraben, Forsten regulirt, bequeme Trans¬ portwege, umfängliche Wirthschaftsbauten angelegt, auf verschlemmten Aeckern neue Culturen eröffnet, sie hat den umfänglichen Deichverband hergestellt, durch welchen unsere Flur gegen die häufigen Uebertretungen des Stromes geschützt wird. Sie hatte die Müh', ich Lohn und Dank, weil sie mich sicher genug gestellt hatte, um über das eigne Gebiet hinaus zu refor¬ miren: Sie erntete Spott und Grauen, ich den Se¬ gen, welcher von der Einzelnarbeit auf die Gesammt¬ heit, von der Gesammtarbeit auf den Einzelnen zurück wirkt, jenen ersten Segen alles Schaffens, groß oder gering, der auch mir, dem einsamen Weibe, zu einem erfüllten Dasein verholfen hat. Kaum hatte die unerschrockene Pionierin sich aus dem Gröbsten herausgewunden, kaum trieben ihre Saaten die erste Frucht, als der Krieg ausbrach, welcher auf wenige Gegenden unseres Vaterlandes härter ge¬ drückt hat als auf diese. Was ich den einzigen Sommer von 1813 hindurch, das erduldete diese Frau sieben Jahre. Wo ich, aus dem Vollen schöpfen durfte, sah sie den besten Theil ihrer Anlagen zerstört und in einem Alter, wo Andere sich zur Ruhe neigen, fing sie unverdrossen ihr Werk von Neuem an. Und welchen Muth, welche Entschlossenheit hat die alleinstehende Matrone gegenüber der Ungebühr der Armeen von Freund und Feind an den Tag ge¬ legt; wie beherzt hat sie sich der Schaaren der Ma¬ rodeure und des einheimischen Raubgesindels, das noch lange nach dem Friedensschlusse sich in unseren Wäl¬ dern eingenistet hatte, zu erwehren gewußt. Es ist buchstäblich wahr, daß die schwarze Reckenburgerin, ein geladenes Pistol in jeder Hand, ihre beiden riesigen Heiducken bewaffnet hinter sich, die Schwelle ihres Hauses gegen diesen wüsten Zudrang vertheidigte. Diese Heldenthat kann als Keimsaat des abenteuer¬ lichen Spukwesens betrachtet werden, das allmälig über die wunderliche Gräfin in Schwang gerieth. Die ge¬ spenstische Gestalt wuchs, als die leibhaftige Gestalt, da wo sie bisher wenigstens gemuthmaßt worden war, — das heißt während ihrer Flurbesichtigungen in der verhüllten, goldenen Kutsche, — plötzlich verschwand. Von der Zeit ab sah sie unser Volk im spanischen Habit, Tag wie Nacht, die Schätze ihrer Klause mit Drachenaugen hüten und mit feurigen Waffen ver¬ theidigen. Unermeßliche Schätze! Je höher die Ziffer gegriffen, desto einleuchtender für das hungernde, lun¬ gernde Gesindel, das nur nach Hellern und Kreuzern zu rechnen verstand und niemals einen Heller oder Kreuzer aus der Hand der zähen Alten besehen hatte. Ob die Gräfin von diesem fabelhaften Nimbus um ihre Person jemals Kunde erhalten hat, weiß ich nicht. Ohne Zweifel aber würde er ihr, anstatt wider¬ wärtig, willkommen erschienen sein als eine sicher stellende Schicht gegen eine beschwerliche, oder bedroh¬ liche Welt. Sie hatte mit richtigem Blick den öst¬ lichen Erkerbau des Schlosses zu ihrer Schlaf- und Schatzkammer ausersehen, weil er, von Außen unzu¬ gänglich, auch von Innen die größtmöglichste Sicher¬ heit bot. Handwerker, aus weiter Ferne verschrieben, hatten in die tiefen Nischen feuerfeste Schränke, mit kunstvollen Schlössern eingefügt. Nur durch eine mas¬ kirte Schrankthür stand der „Goldthurm“ mit dem Zimmer der alten, vertrauten Kammerfrau und durch dieses mit dem Corridor in Verbindung, auf welchem die beiden, abwechselnd Wache haltenden Heiducken die Befehlsvermittler zwischen Thurm und Wirthschaft wurden, während die Gebieterin hinter Schloß und Riegel ihr Credit und Debit buchte, oder Dokumente und Baarschaften in den geheimen Eisenschränken barg. Sie kränkelte; die Arbeitskraft minderte und die Ar¬ beitslast mehrte sich. Bald war kein Fortkommen mehr von der gewichtigen Stätte; denn, wenn auch nicht in dem Wundermaaße des Volksglaubens, die wohldurchdachten Anlagen trugen nach dem Frieden hundertfältigen Gewinn. Sie hatte während des Krieges den größten Theil ihrer Juwelen in England veräußern lassen, da dieses Opfer einstigen Schimmers bei ihrer Lebensweise am wenigsten in die Augen sprang. Der Erlös davon, meine Freunde, das war der Grundstock ihrer ver¬ meintlichen Wunderschätze! Ein bescheidener Spar¬ pfennig, der aber zu einem Heckpfennig wurde, in einer Zeit, wo der Bodenwerth auf ein Minimum herabgedrückt war, wo Gemeinden und Einzelne um einen Spottpreis das Besitzthum verschleuderten, für dessen Bestellung Menschenhände und Saatkörner mangelten. Binnen eines Jahrzehnts hatte sich das Areal der Reckenburg verdoppelt, binnen eines zweiten vervierfacht. Konnte das Kapital auch nur ratenweise abgetragen werden, schon eine regelmäßige Verzinsung galt in jener geldarmen Zeit als eine vielgesuchte Gunst. Und wie auch in anderer Weise das allgemeine Elend dem Gedeihen des Einzelnen in die Hand ar¬ beitete, das zeigt unter Anderem die Hungersnoth der siebenziger Jahre, wo der Scheffel Roggen auf zwanzig Thaler stieg. Calculirt, wie da die strotzenden Speicher der Reckenburg — in Staat und Volk die Wirth¬ schaftsmaxime einer schwer beweglichen Zeit, — sich leeren und die entleerten Geldtruhen sich strotzend füllen mußten. Wo Tauben nisten, flattern Tauben zu! „Die ersten hunderttausend Thaler kosten Schweiß. Wem aber die nächsten Neunmalhunderttausend Schweiß kosten, ist ein Tropf!“ Als die Millionairin der Reckenburg in ihrem letzten Stadium, mit funkelnden Augen mir dieses Ge¬ ständniß ablegte, da war sie in Wahrheit die ver¬ knöcherte Mumie, deren Herz nur noch in der Wacht über ihre Schätze schlug. Zu der Zeit aber, als sie diese Schätze mühsam erarbeitete, und selber zu der noch, als sie mich zuerst in die Geheimnisse ihres Goldthurmes einweihte, da war sie diese herz- und geistlose Mumie nicht, denn damals schaffte, darbte, sammelte sie für einen Zweck; richtiger: sie schaffte, darbte, sammelte für eine Person. Und das ist der Grund, aus welchem ich vor Euren Augen, meine Freunde, zwischen den beiden letzten Reckenburgerinnen — längst nicht so genau wie mich verlangt — die Bilanz gezogen habe. Ihr solltet wissen, was die Frau that, die Eure Heimath urbar machte; was die Frau war, welche in keinem Menschenherzen, außer dem meinen, eine Spur, und in der zähen Vorstellung des Volkes das Bild eines goldgierigen Dämons hinterlassen hat. Ihr solltet diese Frau in einem guten Lichte sehen, und in welchem besseren hätte ich sie glücklich liebenden Menschen zeigen können, als in dem der unwandelbaren Treue gegen den treulosen Mann, in jenem heimlichen Feuer, welches der Sporn ihres Treibens und Wühlens geworden war. Sie hatte alle früheren Verbindungen harsch ab¬ gebrochen und nur mit einem alten Freunde, der an dem Hofe von Sachsen eine vertrauliche Stellung ein¬ nahm, eine Correspondenz unterhalten, um von dem Schicksale des Unstäten jederzeit in Kenntniß zu sein. Sie wußte daher, daß er schwelgte und schweifte, während sie sich keine Raststunde gönnte, im Eifer das wieder aufzurichten, was er zerstört hatte. Sie wußte, daß er ein überschuldeter Aermling geblieben, während sie zum zweiten Male die reiche Reckenburgerin ge¬ worden war. Hätte er aber, wenn auch nur als Be¬ gehrender, sich dem Hause genaht, dessen Ansehen sie so peinlich bewahrte, sie würde nach dem Triumph dieser Genugthuung, ihn mit Entzücken als Herrn willkommen geheißen, würde ihm noch einmal die Schlüssel ihrer Schatzkammer überantwortet und ihr Werk von vorn begonnen haben, um ihm, auch nach ihrem Abscheiden, eine fürstliche Herrschaft zu sichern. Viele Jahre lang hatte die Hoffnung seiner Heim¬ kehr sie bei ihrer einsamen Arbeit getragen und sie war eine runzlige Matrone geworden, ehe sich dieselbe erfüllte. Endlich wußte sie ihn im Vaterlande — und die nächste Kunde, die sie über ihn erhielt, war die seiner Vermählung mit einer Ebenbürtigen! An der Gränze des Alters folgte er, so schien es, einer Wallung wahrhaftigen Gefühls, denn die junge Prinzessin war so arm wie er selbst. Die Kraft, welche so vielen Gefahren und An¬ strengungen widerstanden hatte, brach bei diesem un¬ berechneten Schlage zusammen. Ihre Kammerfrau fand sie bewußtlos am Boden liegend, den verhängni߬ vollen Brief in der Hand. Ein Hüftenbruch, den sie sich bei diesem Falle zugezogen hatte, machte sie für den Rest des Lebens zum Krüppel. Dennoch, nach langer qualvoller Niederlage, war ihr erster klarer Gedanke wieder an den ungetreuen Mann. Ja alle ihre Hoffnungen lebten kaum nach Jahresfrist wieder auf, bei der fast gleichzeitigen Kunde von seiner Vaterschaft und Verwittwung. Nun mußte er ja kommen, seinem mutterlosen Sohne eine Hei¬ math und eine Erbstätte bei ihr aufzusuchen. Es war die letzte Hoffnung, die ihr der Geliebte täuschen sollte. Der nächste Brief brachte die Botschaft seines abermaligen Entfliehens; der übernächste die seines Todes. Unter den Fahnen Katharinens, seiner Gönnerin, war er in dem Krimfeldzug von Einundsiebenzig geblieben. Die Gräfin legte Trauerkleider an und niemals wieder ab. Sie war und blieb die Wittwe eines Fürsten. Sie schaffte, darbte und sammelte vor wie nach. Von der Flamme, die ihr Leben durchleuchtet hatte, war noch ein Abglanz zurückgeblieben: sie schaffte, darbte und sammelte für ein armes, ungekanntes, für ein verlassenes Menschenkind. Was sagt Ihr jetzt, meine Freunde, zu der ge¬ spenstischen Alten auf Reckenburg? Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 12 Viertes Capitel. Der Erbprinz Von dieser langen Liebes- und Leidensgeschichte wußte ich natürlich kein Sterbenswort, als ich mich stolz und wohlgemuth in die goldne Carosse schwang, um vor das Angesicht der hohen Repräsentantin meiner Familie, der Wittwe eines durchlauchtigen Herrn, ge¬ führt zu werden. Vor mir auf hohem Throne ragte Muhme Justinens Flügelhaube neben der Allongen¬ perrücke des uralten Rosselenkers. Der riesige Heiduck klammerte sich an die ellenlangen Gold¬ quasten über dem Trittbrett hinter mir und dahin rollte das stolze Gefährt auf der einsamen Straße von Reckenburg. Sie führte in gleichmäßiger Ebene durch dichten Nadelwald, dann und wann das Stromufer berührend. Ich war in einem Frucht- und Laubholzthale aufge¬ wachsen, zwischen dessen felsigen Abfällen ein kleiner Fluß sich anmuthig wand, und die weniger romantische Region, in welcher ich mich seit zwei Tagen bewegte, hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der goldenen Kutsche, heimelte sie mich an wie die in¬ teressanteste auf dem Erdenrund; der ruhige, breite Wasserspiegel imponirte mir und ich schlürfte mit Be¬ hagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durch¬ aus nicht gespürt hatte. Es war ja Reckenburg'scher Stammgrund, dem das Arom entströmte! Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der Lichtung, die für den neuen Herrensitz geschlagen wor¬ den war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück vom Walde verhüllt, denn ihre Armseligkeit würde mein stolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt haben. Es temperirte sich bereits, als wir, nahe dem Eingangsgitter, auf eine Gruppe zerlumpter, verküm¬ merter Gestalten stießen, die zu mir gleich einem Meer¬ wunder in die Höhe starrten. Ich hielt sie für Bettler, die ich von jeher, als Faullenzer, verachtet und mit Widerwillen gemieden hatte. Muhme Justine belehrte mich indessen anderen Tags, daß es die Bauern und Fröhner des Dorfes gewesen seien, welche das seit einem Menschenalter nicht mehr geschaute „Böse Ding“ der goldnen Kutsche herbeigelockt hatte. 12 * Der Riese sprang vom Trittbrett, das wappen¬ prangende Thor zu öffnen und allsobald wieder zu verschließen. Vor meinen Augen dehnte sich die breite Avenue inmitten des sauber gehegten, reich gefüllten Gartens. Im Hintergrunde ragte das Schloß, dessen röthliche Bekleidung die untergehende Sonne mit einem Goldschimmer übergoß. Die weißen Marmorsimse, die hohen Spiegelfenster, die mit Statuen und Vasen gezierte Terrasse, auf deren Rampe wir anhielten, die Säulen des großen Portals, alles das verfehlte seine Wirkung nicht. Ich begriff während dieser Auf¬ fahrt die Gleichgültigkeit der Eignerin dieses fürstlichen Besitzthums gegen ihre bescheidene Sippe in der Ba¬ derei. Aus welchem Begreifen indessen nicht gefolgert werden soll, daß ich etwa gedrückt oder eingeschüch¬ tert meiner vom Glücke reichlicher gesegneten Ver¬ wandtin entgegenging. Auch ich war eine Recken¬ burg und niemals, denn als geladener Gast, würde ich diese stolze Schwelle betreten haben. Von meinem Heiducken geleitet, erstieg ich die breite Marmortreppe. Jede Thür, die ich passirte, wurde sorgfältig, wie hinter einer Gefangenen ver¬ riegelt. Ich trat in den langen Vestibüle, auf welchen die Zimmerflucht mündete. Die goldgerahmten Trü¬ meaux zwischen den Fensternischen, die mythologischen Reliefs und Fresken an der gegenüberliegenden Wand — Ihr geht mit einem gnädigen Lächeln an diesen Kunstgebilden vorüber, hochweise Zöglinge eines ande¬ ren Geschmacks, die Einfalt von damals aber, glaubt nur, daß sie Augen machte! Am Ende des Ganges stand, Wache haltend, der Heiduck du jour , meinem bisherigen Begleitsmann ähnlich wie ein Zwillingsbruder. Schweigend wie jener — alles schwieg, alles war grabesstill in dem Zauberpalaste — öffnete er die letzte Thür. Ich be¬ trat ein Vorzimmer, das den einzigen Eingang zu dem vielberufenen Thurmbau bildete (der „östlichen Ro¬ tonde,“ wie es damals hieß). Zur Rechten des Vor¬ zimmers lag der Speisesaal. Diese drei Piecen, „das Apartement Ihrer Hochgräflichen Gnaden,“ waren die einzigen, welche jemals in dem weitläufigen Frontbau bewohnt worden waren. Sämmtliche Wirthschafts¬ räume befanden sich im westlichen Flügel. Der Leibwächter hatte mit dem goldenen Knopf seines Stockes dreimal laut an die Thurmthür ange¬ klopft und sich auf seinen Posten zurückgezogen. Ich war allein und nicht ängstlich, nur neugierig, was weiter über mich verfügt werden würde. Ich legte ab, setzte mich in die tiefe Fensternische und schaute über den Garten hinweg in die düstren Föhrenwipfel, zwischen welchen das Abendroth verglomm. Inmitten der wunderlichen Baum- und Steinfaxen zu meinen Füßen stiegen und schwebten die Octobernebel phan¬ tastisch auf und nieder; es war der erste und ich glaube auch letzte Märchenschauer meines Lebens, der mich im Dämmerlicht dieses dunkel boisirten, todten¬ stillen Wartezimmers überrieselte. Eine halbe Stunde mochte auf diese Weise ver¬ gangen sein, ich war des Antichambrirens und der ro¬ mantischen Schauer herzlich müde geworden; da hörte ich das Zurückschieben eines Riegels, das Dröhnen eines Krückstocks, endlich ein pfeifendes Keuchen auf der Schwelle des Thurmgemachs. Meine hohe Gast¬ freundin war eingetreten. Die Eltern, wenn sie überhaupt um die land¬ läufigen Vorstellungen über ihre einzige Verwandtin Näheres gewußt, hatten mir dieselben wohlweislich vorenthalten. Meine Instruction lautete einfach: Einer hochbetagten, daher wunderlichen, möglicherweise stolzen und ein wenig ökonomischen Würdenträgerin mit Ehrerbietung zu begegnen. Da überlief mich denn nun freilich eine Gänse¬ haut bei dem Anblick, der sich nach und nach mir gegenüber als eine Menschengestalt entwickelte. O du weiser Prediger der Vergänglichkeit, ja was ist der Mensch in seiner Herrlichkeit! Eberhardine von Recken¬ burg, einst an dem schönheitskundigsten Hofe von Deutschland als Schönheitsgöttin gefeiert und heute wie ein Sprenkel zusammengekrümmt, mühsam am Krückstocke keuchend, bebend vor innerlichem Frost wie ein Laub im Novembersturm, das kaum noch hand¬ große Gesicht in tausend kleine Fältchen eingeschrumpft, gleich einem vergilbten Pergament aus der Klosterzeit. Und dennoch! Alles was jemals unter der an¬ muthsvollen Hülle gelebt hatte, das lebte noch heute unter der runzligen Haut, und die schwarzen Augen funkelten noch heute so muthig, scharf und klug, so heimlich passionirt, wie sie in den Tagen des starken August gefunkelt haben mögen. Ein einziger Blitz dieser durchdringenden Augen und der heimlichste Win¬ kel, die verborgenste Falte in des armen Pathen¬ kindes Seele waren blosgelegt, insofern nämlich Win¬ kel und Falten in besagter Seele bloszulegen gewesen wären. Die kleine, unheimliche Gestalt war schwarz ge¬ kleidet vom Kopf zur Zeh, nach einer Fa ç on, die wir auf Maskenbällen einen Domino nennen. Ueber einem schleppenden Untergewande hing ein kurzer, fal¬ tiger Mantel, unter dem Kinn mit einer dichten Krause geschlossen. Ueber der Wittwenhaube thronte ein runder Hut mit wallendem Federschmuck. Ich habe die Gräfin späterhin, selbst in den vertraulichsten Situationen niemals ohne ihren „spanischen“ Hut und Mantel, wie auch niemals ohne Handschuhe gesehen und ihre Mode praktisch gefunden. Sie war warm und bequem und verlieh ihr in ihren eigenen Augen eine Würde, die Schlafrock und Kapuze zer¬ stört haben würde. Beim ersten Eindruck aber, im Dämmerlicht des geisterstillen Palastes, wird man mir ein gelindes Gruseln nicht übel nehmen. Indessen war ich nicht dauernd auf apprehensive Stimmungen angelegt; bevor die Gräfin sich in ihrem Lehnstuhle verschnauft, hatte ich meine natürliche Fas¬ sung wiedergewonnen. Ich schritt herzhaft auf sie zu und Handkuß wie Reverenz gelangen in dem correc¬ ten Style, der einer Reckenburgerin, fürstlichem An¬ sehen gegenüber, als Vorschrift galt. Die Gräfin hatte nach einsamer und etwas hart¬ höriger Leute Art, die Gewohnheit angenommen, Ein¬ drücke oder Einfälle vor sich selber laut werden zu lassen, und dankte ich diesen unbewußten Plaudereien in der Folge manche Enthüllung, die sie mir bewußt nicht gemacht haben würde. Bei ihren heutigen Glossen aber war es ihr jedenfalls mehr als gleich¬ gültig, ob ich sie auffing oder nicht. „Grobschlächtig, aber frisches Blut!“ sagte sie nach einem musternden Blick, mit dem Kopfe nickend. „Eine Weiße! Wir Schwarzen von jeher feiner und schön. — Leidliche Tournüre! — Wo hast Du tan¬ zen gelernt?“ fragte sie darauf, zu mir gewendet. „Bei meinem Vater, gnädige Gräfin,“ antwor¬ tete ich. Glosse der Gräfin: „Sächsischer Cadet. Gute Schule!“ Zweite Frage: „Verstehst Du französisch?“ „Meine Mutter hat immer französisch mit mir gesprochen, gnädige Gräfin.“ „Recitire ein Paar Sätze. Gleichgültig was.“ Mir fiel just nichts anderes ein, als meine letzte Gedächtnißübung; eine Fabel, den Segen schildernd, der den Nachkommen aus der Arbeit der Greise er¬ wächst. Unbekümmert um das A propos oder Mal à propos dieser Wahl deklamirte ich meinen octogé¬ naire plantant frisch von der Leber von A bis Z. „ Ingenuité absolue !“ glossirte denn auch die Gräfin mit einer Lippenbewegung, die wohl ein Lächeln bedeuten sollte. „ L'accent passablement pur !“ setzte sie darauf den Kopf neigend hinzu. „Die Mutter als Fräulein viel in Dresden zu Hof. Ver¬ ständige Erziehung! — Wir werden französisch mit einander reden, Eberhardine!“ „Wie Sie befehlen, gnädige Gräfin.“ „Du magst mich Tante nennen,“ sagte die Gräfin. Während ich, zum Dank für diese Huld, ma tante zum zweiten Male die Hand küßte, meldete der dienst¬ thuende Heiduck: „ Madame la comtesse est servie !“ „Ein zweites Couvert für meine Nichte, Jacques!“ befahl die Gräfin. Eberhard und Adelheid, o weise Erziehungsau¬ guren! Ohne den sauren Schweiß Deiner Tanzabende, mein braver Vater, ohne Deine Sprachmühen, kluge Mutter, würde die letzte Reckenburgerin Gott weiß in welchem Winkel des Stammsitzes ihrer Ahnen eine Abspeisung gefunden haben und wie höchlich durfte sie nun mit ihrem Entr é e zufrieden sein! So folgte ich denn um die Stunde, wo wir da¬ heim unser Vesper zu verzehren pflegten, meiner neuen Tante zum Souper in den Speisesaal. Seine Aus¬ stattung entsprach dem Prunke des übrigen Schlosses. Es brannte ein silberner Candelaber, dessen braun¬ gelbe Wachskerzen die fast fünfzigjährigen Vorräthe anzeigten. Das Tafelservice, wenn auch ein wenig verbraucht, bekundete den gediegenen Ursprung; dem geringsten Stücke war gleichsam der Stempel des Hauses: das Doppelwappen mit der obligaten Grafen¬ krone eingeprägt. Allerdings perlte in den venetiani¬ schen Gläsern nur reiner Reckenburger Born und das japanische Porzellan besah nichts edleres als rothe Reckenburger Grütze. Als Nachkost wurde auf silber¬ ner Platte der alten Dame eine Schale ihres Eichel¬ trankes, der jungen ein Apfel präsentirt. Keine Sorge indessen Kinder! Ich hatte während der Reise aus dem heimischen Proviantkober wacker vorgelegt und bin auch späterhin auf Reckenburg allezeit satt geworden, trotz meines damals wie heute noch kräftigen Appe¬ tits. Wenn aber, was der Himmel verhüte! der Eu¬ rige im Alter einmal schwach werden sollte, so kann ich Euch mit gutem Grund Grützbrei und Eicheltrank als brave Erhaltungsmittel empfehlen. In Parenthese sei mir an dieser Stelle noch eine zweite Bemerkung gestattet: Wenn kein Mitglied des gräflichen Haus- und Hofstaates jemals freiwillig seinen Dienst verlassen hat, wenn derselbe pünktlich und schweigsam im Sinne der Herrschaft verrichtet ward und gleich dieser die Mehrzahl ein Uralter bei demselben erreichte, so ziehe ich unserer Spinnstuben¬ romantik von einer Verhexung der Zunge und Einge¬ weide die nüchterne Auslegung vor, daß besagtem Personal durch Kost wie Lohn auskömmlich Magen und Mund gestopft worden sei. Das Souper war schweigsam verzehrt worden und in wenigen Minuten abgethan. Während ich der Gräfin in das Vorzimmer folgte, bemerkte ich, wie der Riese Jaques in gewissenhafter Eile die Kerzen des Candelabers löschte. Die Gräfin entließ mich mit den Worten: „Morgen Mittag auf Wiedersehen. Vertreibe Dir die Zeit wie Du kannst. Das Vorzim¬ mer steht Dir offen und ist immer geheizt.“ Ich küßte die dargebotene Hand und ging knixend nach der Thür. „Du bedarfst keiner Toilettenhülfe, nicht wahr?“ rief die alte Dame mir noch nach. Ich verneinte. „Halte Dich vor Schlafengehen nicht auf, verriegle die Thür und lösche das Licht allsobald.“ Damit tastete sie sich nach ihrer Klause, deren inneren Thürriegel ich noch klirren hörte. Dann ge¬ leitete mich Monsieur Jaques, nachdem er auch das Vorzimmer verschlossen hatte, den Corridor entlang bis zu Reckenburgs „neuem Thurm“, die „westliche Rotunde“ jener Zeit. Er stand durch eine Wendel¬ treppe mit den Wirthschaftsräumen in Verbindung und das mir geöffnete Zimmer war das einzige im Frontbau, das ursprünglich zu einem Domestikenraum eingerichtet schien. Denn die Wände waren nur ge¬ tüncht, der Fußboden roh gedielt, ein Ofen fehlte, und es enthielt als Ausstaffirung nichts als einen Tisch, einen Stuhl, einen Kleiderschrank, das nothdürftigste Waschgeräth und ein Bett, welches keineswegs Dau¬ nen und seidene Polster schwellten. Gegen meine hei¬ mische Dachkammer war der Abstich nicht allzugroß; aber freilich an das lachende Mädchenstübchen der klei¬ nen Dorl durfte ich nicht denken. Ich war an strengen Gehorsam gewöhnt; habe auch jederzeit, wo ich nicht befehlen durfte, gern ge¬ horcht. Ich warf also meine Kleider ab, löschte das Talglicht, das mein Führer zurückgelassen hatte, und schlief, ohne durch eine Spuk- oder auch nur Traum¬ gestalt behelligt zu werden, meine sieben Stunden so ungestört, wie ich sie mein Lebtag immer geschlafen habe und noch heute schlafe. Wer aber mit den Hühnern zu Bette geht, muß mit den Hühnern erwachen. Noch bei Sternenschein war ich munter und bei Tagesgrauen in den Klei¬ dern. Was sollte ich vornehmen? Auf meine Bitte öffnete der Leibwächter im Vestibüle mir die Thür der Seitentreppe und ich stieg hinunter in den Garten. Bald schweifte ich darüber hinaus in Wald und Flur und sah zum erstenmale unter freiem Himmel die Sonne aufgehen, klar und glanzvoll wie ein Gottes¬ auge. Methodisches Spazierengehen war weder ein Be¬ dürfniß, noch eine Modesache meiner Zeit und würde mir heute noch eine gar leidige Erholung dünken. Aber so ungebunden schweifen durch Land und Volk; beobachten die stille Arbeit der Natur, wenn auch die letzte vor der winterlichen Rast, die umbildende der Menschen, Kraft und Widerstand hier wie dort; — und das Alles auf einem altüberkommenen, heimath¬ lichen Grund; — es war ein großer Sinn, der mir an diesem ersten Morgen in der Flur von Recken¬ burg aufgegangen ist, ein ursprünglicher, starker Sinn, der mich lebenslang beglücken sollte. Da gewahrte ich denn zum erstenmal die Be¬ wirthschaftung in einem bedeutenden Dominium; sah, wie das Holz gefällt und die Flößen nach dem Strome geschleift wurden, sah Kohlenbrennen und Torfstechen, die letzten Reste des Grummets, die Spätfrüchte der Felder einheimsen. Ich sah die Aecker für die Win¬ tersaat neu bestellen, die der Stallhaft entlassenen Heerden Wiesen und Brachen abweiden, sah des Wil¬ des freies, fröhliches Treiben im umhegten Revier. Ich unterhielt mich mit Hirten, Arbeitern und Aufsehern über einschlägiges Gebiet; schloß mit dem alten, verständigen Oberförster Waldkameradschaft und machte mich auch den übrigen Beamten bekannt. Das frische, junge Blut, welches den Namen Reckenburg trug, und so urplötzlich mit seiner Neugier aus dem schweigsamen Schlosse in die Außenwelt drang, wurde mit freundlichem Vertrauen aufgenommen; und frei¬ lich nicht am ersten Tage, aber mit der Zeit schwand auch den armen Dörflern die Furcht, daß diese le¬ benskräftige Jugend unter dem Grabeshauche des ge¬ feiten Schlosses versteinern werde. Reichere Ernte hatte ich keine Stunde in Christ¬ lieb Taube's Schulstube gehalten, heimischer mich keine Stunde in der alten Baderei gefühlt, als bei dieser ersten Wanderung durch die Reckenburger Flur, und wie ich gegen Mittag nach dem Schlosse zurückkehrte, da war es gleich wieder eine gute Botschaft, mit wel¬ cher Muhme Justine mir entgegentrat. „Hochgräf¬ liche Gnaden“ waren in der Nacht von einem bösen Gebresten heimgesucht worden und da die Gliedmaßen hochdero Kammerfrau sich für die vorschriftsmäßigen Manipulationen zu steif und zitterig erwiesen, waren die der kunstfertigen Reiseduenna zu Hülfe gezogen worden. Meister Fabers Schülerin hatte denn auch im Setzen von Schröpfköpfen und anderweitigen we¬ niger schicklich auszusprechenden Ableitungen zum er¬ stenmale in einem Grafenschlosse eine glänzende Probe abgelegt; und hohe Patientin, — schneller denn je von ihrer Bedrängniß erlöst, — der Helferin den An¬ trag gestellt, gegen standesmäßiges Salair den Win¬ ter auf Reckenburg zuzubringen. — Die treue Seele opferte ohne Bedenken diesem zweifelhaften Anerbieten ihre sichere heimische Kundschaft. Ihre Augen fun¬ kelten. Sie fühlte sich als die Mittelsperson, um ihre stolzesten Traumgesichte zu verwirklichen. Denn un¬ ter solcherlei Proceduren kommt ein Mensch zur Rai¬ son und wird weich wie Wachs. So sollte es mir denn auch an einem gemüth¬ lichen Austausch nicht fehlen, und noch ein anderer wesentlicher Vortheil stellte sich bald genug heraus. Das der wichtigen Leibwärterin im Seitenbau ange¬ wiesene Zimmer grenzte an das meine; es wurde er¬ leuchtet und geheizt; ich konnte mich in demselben, nach Absperrung der gräflichen Zone, noch ein paar Stunden ad libitum beschäftigen und brauchte nicht mehr mit den Hühnern zu Bett zu gehen. Das Menü des Diners beschränkte sich keines¬ wegs auf die abendliche Grütze. Heute zum Beispiel gab es, nach einer trefflichen Brühe, ein Hühnchen, das bis auf einen geringen Brustbissen, auf meinen Antheil fiel. Zum Nachtisch Aepfel, für die Gräfin gebraten, für mich roh. Es wurde auch Wein aufge¬ stellt. Die alte Dame vertrug aber keine Spirituosen, und von der jungen setzte man voraus, daß sie sie nicht vertrug. Die Flaschen wurden daher unentkorkt ab¬ getragen, um am anderen Tage unentkorkt wieder auf¬ getragen zu werden, und ist es immerhin möglich, daß es die nämlichen gewesen sind, welche auf der ersten und letzten gräflichen Tafel ihre Rolle spielten. Auch die Zeit des Mahles wurde nicht so knapp gemessen, wie die beim Souper; vielleicht weil es keine Wachskerzen zu löschen galt. Wir saßen wohl noch ein Stündchen uns beim Eichelkaffee gegenüber und Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I. 13 ich machte mit der Schilderung meines Flurgangs einen guten Effekt. „Du hast scharfe Reckenburger Augen,“ sagte die Gräfin. „Halte sie offen und berichte mir ehrlich, was Du bemerkst.“ Mit diesen Worten war das Amt meiner Zukunft eingeleitet: Scharf zu sehen und ehrlich Bericht zu er¬ statten; dazu im Verlauf die mündliche Vermittelung der Anordnungen und Ausführungen zwischen Thurm und Flur: das ist der Inhalt meiner langen, land¬ wirthschaftlichen Lehrzeit auf Reckenburg. „Indessen,“ so fuhr die Gräfin nach einer Pause fort, „die Zeit für das Freie wird kürzer, und manche häusliche Stunde möchte Dir einsam vorkommen, Eberhardine. Tröste Dich damit, daß die Heimath Dir mindestens nichts Schicklicheres geboten haben würde. Für die Saison in Dresden sind Deine El¬ tern zu arm, und die geselligen Allüren einer kleinen Stadt würden Dich nur verstimmen. Besser, einsam sein, als falsch placirt. Im Uebrigen möchte ich Dir selber unter jener bescheidenen Societät einen Succeß nicht verbürgen, und welchen Genuß gewährt die Ge¬ sellschaft mit Ausnahme des Succeß? — Liest Du gern, Eberhardine?“ Ich bekannte, daß ich noch garnichts gelesen, mir die Freiheit zum Lesen aber längst gewünscht habe. „So benutze die Schloßbibliothek,“ versetzte die Gräfin. „Sie enthält das Lesenswerthe bis um die Mitte des Jahrhunderts. Ich selbst habe nicht den Sinn mehr für Lectüre, auch nicht die Zeit. Schone die Einbände und stelle die Bücher regelmäßig wieder an ihren Platz. Die Ordnung darf nicht gestört wer¬ den. Der Catalog macht die Auswahl leicht. Stößt Du auf Romane: Dir schaden sie nicht. Au con¬ traire ! Verlangst Du Neueres oder Deutsches, so wende Dich an den Prediger. Persönlich kenne ich ihn nicht, nach seinen Eingaben jedoch scheint er — ein wenig Phantast, — aber ein instruirter Mann. Suche ihn auf, halte Dich an ihn. In Dir ist kein Boden für philanthropische Phantasmen; zur Betrach¬ tung haben sie immerhin ihren Werth.“ So war es denn auch noch ein zweiter Lebens¬ born, der sich in Reckenburg für mich erschloß, wenn mir auch nicht die natürliche Befriedigung des ersten aus ihm entgegenquoll. In der Bibliothek fand ich, — außer genealogi¬ schen und heraldischen Sammlungen, die ich unbe¬ 13* rührt ließ, und Italienern, die ich nicht verstand, — zwar lediglich Franzosen; aber das, was eine große Nation in ihrer größten Epoche hervorgebracht hat, würde schon hingereicht haben, eine junge, durstige Seele für lange Zeit zu stillen. Und dazu trat nun noch von vornherein der Pfarrer mit seinen geliebten jungen Deutschen. Am Sonntag Morgen hörte ich ihn predigen und am Nachmittag klopfte ich an seine Thür. Ich war ein Kind an Lebenserfahrung und aus einem härteren Stoffe geformt, als er. Gleichwoh brachte ich schon aus dieser ersten Begegnung in Amt und Haus das bedrückende Vorgefühl einer verfehlten Existenz. Je länger ich ihn aber im Dienste einer leiblich und geistig verwilderten Gemeinde kennen lernte, den milden, sinnvollen Menschen und Christen, dessen Grundneigung auf ein edles Maaß und har¬ monische Bildungen gestellt war, unverstanden, unge¬ liebt, die liebenswertheste und liebevollste Natur, um so lebhafter fühlte ich in seiner Nähe buchstäblich ein körperliches Weh, und so viel ich persönlich an ihm verlor, ich fand keine Ruhe, bis ich ihn an einen Platz gestellt wußte, wo seine Lehre und sein Vorbild in empfänglicheren Gemüthern zünden durften. Und nun zählt zu des Priesters verhallendem Wort die jammervoll leere Hand des Menschenfreun¬ des. Einer, der nur geben, immer geben, unbe¬ rechnet hätte geben mögen, und der sich mit einer bettelarmen Gemeinde um magere Zinshähne und karge Beichtgroschen streiten mußte, wenn er nur das Dürf¬ tigste zu geben haben wollte. Zählt dazu endlich den Man¬ gel eines häuslichen Heerdes: die geliebte Gattin todt, den einzigen Sohn ferne auf eigenen, rauhen Wegen. Wahrlich, der Mann hätte versiechen müssen wie in der Wüste ein Quell, wenn nicht in unserer jungauf¬ strebenden Literatur sich eine Welt für seine freudige Beschaulichkeit eröffnet hätte. Mit dem Blicke des Hu¬ manisten und des Menschenfreundes folgte er auch den wildwuchernden Trieben jener Zeit, und sein Herz schlug in höchster Beseligung, wenn er etwas dauernd Edles für sein der veredelnden Schönheit so bedürf¬ tiges Volk entdeckt hatte; am reinsten aber strahlte seine Freude, sobald er sie, sei's auch nur einen schwachen Wiederstrahl erwecken sah. Er empfing daher das anklopfende Kind wie einen Sendling Gottes, denn bis zu einem gewissen Grade fand er in ihm Aufmerksamkeit und Verständ¬ niß für seine Welt. Jeden Nachmittag von diesem ersten ab, kehrte ich in seiner Klause ein; jeden Abend führte er mich zurück bis an die Schwelle jener an¬ deren Klause, in welcher eine Eremitin entgegengesetz¬ ten Schlags ihre Weisheit vernehmen ließ, und seine Hoffnung wurde nicht müde, wenn auch die Lehren des alten Weltkindes eindringlicher als die des plato¬ nischen Weltjüngers in beider Zögling hafteten. So war ich denn in doppelter Weise in die hohe Schule der Reckenburger eingeführt und wenige Stu¬ diosi werden sich rühmen dürfen, so selten ein unklu¬ ges oder verbrauchtes Wort von ihren Meistern ge¬ hört zu haben. Am lautesten und erweckendsten aber sprach mir die Dritte in dem bildenden Bunde: die Natur? — nein, mit dem stolzen Namen nenne ich sie nicht, aber meine von Tage zu Tage inniger ver¬ traute, altväterliche Flur. In ihr wußte ich mich aus¬ zufinden, in ihr kannte ich Weg und Steg, sie wurde die Welt, in der auch ich eines Tages zur Eremitin werden sollte. Die ursprüngliche Neigung meines Wesens trieb mich nicht in die Gesellschaft und nicht in den Büchersaal; sie trieb mich in einen Winkel heimischer Erde, in dem ich mir eine Werkstatt grün¬ den durfte. Indessen machte ich Fortschritte und meine kluge Tante war nicht spröde, dieselben zu verwerthen. Bald sah ich mich von der akademischen Lernfreiheit in Comtoir und Schreibstube abgelenkt. Ich sagte bereits, daß ich gleich in den ersten Tagen zum Dol¬ metscher ihrer mündlichen Befehle berufen ward. Die knappe, präcise Art, mit welcher Meldung und Ge¬ genmeldung ausgerichtet wurden, nicht minder die Schwäche, welche häufig genug die Feder aus der Hand der unermüdlichen Greisin sinken ließ, erweck¬ ten den Versuch auch im schriftlichen Gebiet. Bald vollzog ich unter ihrem Dictat die Anweisungen und Antworten an Beamte, Gerichtshalter, Behörden und so weiter; mit rascher, deutlicher Handschrift wurde in wenigen Minuten expedirt, womit die zitternden Fin¬ ger sich tagelang abgequält hätten, und nach wenigen glücklich gelösten Stylproben sah ich mich zum selbst¬ ständigen Secretair der Reckenburg aufgerückt. Noch aber lag das Heiligthum des geheimni߬ vollen Cassabuchs unenthüllt auch vor meinen Blicken und just für dieses Alpha und Omega ihres Tages¬ laufs bedurfte die glückliche Sammlerin am dringend¬ sten eines zuverlässigen Disponenten, so daß am Ende auch aus dieser Noth eine Tugend gemacht werden mußte. Ich will Euch, meine Freunde, nicht des Brei¬ teren mit meiner Reckenburger Lehrzeit beschäftigen, zumal ich in meiner Darstellung weit über die Ge¬ genwart hinausgegriffen habe. Alles in Allem: ich wurde im Laufe der Jahre die rechte Hand der Gräfin in ihrem weitläufigen Geschäftsverkehr, sie erzog sich in mir einen Verwalter. Täglich arbeitete ich einige Stunden unter ihren Augen in dem verrufenen Thurm¬ gemach und so geschah es, daß nach Innen wie Außen ich, und ich allein, den Werth eines Besitzthums ken¬ nen lernte, welches eines Tages anzutreten ich weder ein Recht, noch eine Aussicht hatte. Denn so fest ich mit der Zeit in das Vertrauen der Greisin hineinwuchs, darüber konnte ich mich nicht täuschen, daß nur ihr Verstand, nicht das Gemüth sich der Verwandtin zuneigte, die sie immer näher an sich zog. Sie half ihr arbeiten, weiter nichts. Nur eines Menschen Schicksal kümmerte sie noch auf Er¬ den, nur im Hinblick auf einen Menschen ruhte die Seele aus. Ich aber mit dem natürlich spröden Herzen, wie hätte ich mich einem Wesen anschließen sollen, das mir so wenig entgegentrug? Ich schätzte sie nach einem anderen Maaßstabe, als die Welt es that; ich bildete mich in wesentlichen Punkten an ihrer Erfah¬ rung, aber selber eine dankbare Empfindung ward nicht herausgefordert, denn ich leistete ihr mehr, als sie gewährte, und ich leistete es ohne Eigennutz. Ge¬ liebt habe ich die einzige Verwandtin so wenig, als sie mich. Zwischen dem alten Idealisten im Pfarrhause und der alten Realistin im Thurm entwickelte sich die Jungfrau als ein herzensarmes Ding, so, ja mehr noch, wie vordem das Kind in der Schulstube Christ¬ lieb Taube's, neben der kleinen reizenden Dorl. Als die vorausbestimmte Zeit meiner Heimreise heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern den Vorschlag meiner Rückkehr im nächsten Winter. Sie sprach ihn aus in weniger herablassender Form, aber doch nur als eine Gunst, keineswegs als einen Wunsch. „Wie Du einmal bist,“ sagte sie, „ist es gut für Dich, der kleinstädtischen Beschränkung Dei¬ nes Vaterhauses zeitweise entrückt zu werden und Dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu lernen.“ Verlockender war die Einladung, welche an die wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, „Madame Mül¬ lerin“, erging. Sie sollte zwar während des Som¬ mers, der guten gräflichen Saison, mich in die Hei¬ math zurückbegleiten, zum Herbst aber mit mir wie¬ derkehren und sich dauernd in Reckenburg niederlassen. Ein fixer Gehalt für den Dienst im Schlosse wurde bewilligt, und zu freierer Bewegung in ihrer Kunst — den im Dorfe erledigten Posten einer Wehmutter eingeschlossen — das Waldhäuschen eingeräumt, das ursprünglich für den fürstlichen Hundewärter errichtet worden war, da aber der Fürst mit seiner Meute ausgeblieben, nicht als unveränderliches Erhaltungs¬ inventar betrachtet zu werden brauchte. Ein Gärt¬ chen, ein Stück Ackerland, freier Holzbedarf boten nicht minder lockenden Vortheil, und so sehen wir denn im folgenden Herbst Muhme Justine zur Zufrieden¬ heit eingerichtet, und als Helferin bei jeglicher Leibes¬ noth in Schloß und Umgegend hochgeehrt. Die Tränke, welche sie aus selbstgesammelten Kräutern zu brauen verstand, halfen für Fieber und Verschlag, und hal¬ fen sie einmal nicht, so hatte der liebe Himmel es eben anders bescheert, und die des Doctors würden noch weniger geholfen haben. Mit den Apothekern der Umgegend wurde ein lebhaftes Droguengeschäft unterhalten; so fleißig die Hände sich rührten, sie lang¬ ten kaum aus, den vielseitigen Ansprüchen zu genü¬ gen. Die Alte im Grafenschloß und die Alte im „Hundehaus“ wetteiferten in jener Zeit in der Kunst des Aufsammelns und Sparens. Mir aber, dem Glückskinde, wenn mir aller Traumkunst zum Trotz, die Millionen der reichen Tante entschlüpfen sollten, die Hunderte der armen Muhme würden mir nicht entgangen sein. Als ich wenige Tage vor meiner Heimreise von meiner Morgenwanderung in das Schloß zurückkehrte — daß ich es eingestehe, beklommenen Herzens, weil ich die Saaten, die ich legen und sprießen sah, nicht auch reifen und ernten sehen sollte, — überraschte mich ein lebhaftes Treiben, ein ungewohntes Gebrodel wie von Braten und Backwerk in den Wirthschaftsräu¬ men. Ein Stückfaß wurde aus dem Keller in die Gesindestube getragen, Frauen und Kinder der Beam¬ ten gingen beladen mit Weinflaschen und Kuchenkör¬ ben nach ihren Behausungen zurück; lange Tafeln für die Tagelöhner des Gutes standen gedeckt und reich¬ lich besetzt. Ich fragte nach der Ursache dieser ver¬ wunderlichen Gastlichkeit und männiglich wurde mir geantwortet, daß heute der Festtag der Reckenburg ge¬ feiert werde. Wessen Festtag? Der Kalender nannte keinen; der Einzugstag der Gräfin fiel in den hohen Sommer; ihr Wiegenfest wurde mit Stillschweigen übergangen, da sie es nicht liebte, an ihr Alter erin¬ nert zu werden. Der gefeierte Gegenstand war ein Geheimniß, wie so vieles auf der Reckenburg. Auch die herrschaftliche Tafel ward reich servirt, Wein nicht nur aufgesetzt, sondern auch getrunken. Beide Heiducken versahen den Dienst. Die Gräfin trug einen neuen Sammetmantel und eine stolze Strau¬ ßenfeder auf ihrem spanischen Hut; ein schier verächt¬ licher Blick streifte mein tägliches Kleid, — (noch im¬ mer von dem grasgrünen, unverwüstlichen Rasch). Als der Braten gereicht ward, ließ sie ihr Glas mit Champagner füllen, stieß mit mir an, und sagte feier¬ lich; „Auf Sein Wohl!“ „Auf wessen Wohl?“ fragte ich verwundert. Ein zweiter, mehr als verächtlicher Blick wurde mir zugeschleudert. Was besagten meine Studien in der Bibliothek, wenn ich Stammbäume, genealogische Tabellen und Urkunden so wenig gewürdigt hatte, um über das wichtigste Datum der Reckenburg noch in Zweifel zu sein? „Der zwanzigste April, Prinz August's Geburts¬ tag,“ sagte sie scharf, nachdem sie ihr Glas auf einen Zug geleert hatte, und da sie aus meinen Mienen sehen mochte, daß sie das Räthsel mit einem neuen Räthsel gelöst, setzte sie hinzu: „Der Sohn meines hochseligen Gemahls und der letzte seines durchlauch¬ tigen Hauses. Gott erhalt' ihn!“ Zum erstenmale hatte die Gräfin den Namen ihres Gemahls vor mir genannt und zum erstenmale dämmerte mir die Ahnung, welchen Erben sie sich er¬ koren, vielleicht schon ernannt haben mochte. Als ich der Mutter später von dem Festtage der Reckenburg erzählte, sagte sie: „Ich habe niemals daran gezweifelt, daß die Gräfin nur zu des Prinzen Gunsten unsere Reckenburg so herrschaftlich erwei¬ tert hat.“ „Für den Mosjö Sausewind?“ versetzte lachend der Vater; „nun weiß Gott, saurer als seinem Herrn Papa wird sie ihm das Durchbringen nicht werden sehen!“ „Nicht bei ihren Lebzeiten und jedenfalls nur als Fideicommiß; deß aber sei gewiß, Eberhard, die Gräfin läßt ihre Herrschaft nur in fürstlichen Händen.“ Fünftes Capitel. Der Kehraus. Der regelmäßige Briefwechsel zwischen den Eltern und mir war nichts weniger als communicativer Na¬ tur gewesen. In herkömmlichen Redensarten wurden gute Lehren gegen Versicherungen des Gehorsams aus¬ getauscht und das gegenseitige Wohlbefinden wünschend und lobend erwähnt. Vertrauliche Plaudereien schwarz auf weiß würden gegen die Würde des Verhältnisses verstoßen haben. Da gab es denn mündlich Man¬ cherlei zu berichten und zu berichtigen, was die ersten Tage des Wiederzusammenlebens füllte. Bald aber sollte ich inne werden, wie richtig mich meine alte Reckenburgerin erkannt. Ich hatte mich in der ein¬ samen Freiheit ihres Hauses dem kleinstädtischen Wohn¬ stubentreiben der Heimath bereits entfremdet. Auch zwischen der „allerunterthänigsten Magd, Dorothee Müllerin,“ und der „treugesinnten Eber¬ hardine von Reckenburg“ war ein glückwünschender Neujahrsgruß, wie aus dem Complimentirbuche ge¬ schnitten, gewechselt worden. Jetzt fand ich meine kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchenstüb¬ chen und bräutlichen Wittwenstande unverändert wie¬ der. Man merkte kaum, daß sie in dem Halbjahre vollkommen zur Jungfrau erblüht war, so rund und kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie putzte sich zierlicher als alle Bürgerstöchter, pflegte Blumen und Vögel, stickte Flitterschuhe und Teller¬ mützendeckel, mit deren Erlös sie das Budget für ihr Tändelwerk erhöhte; sie backte wohlschmeckende Krin¬ gel und Bretzelchen, welche in der Weinstube ihres Vaters guten Absatz fanden, und hatte sich zur Aus¬ füllung der bei alledem reichlichen Zeit auf die Lec¬ türe geworfen. Mit glühenden Wangen sah ich sie die verwegenen Ritter- und süßlichen Liebesgeschichten der Leihbibliothek verschlingen, hörte auch, daß sie sich im Laufe des Winters fleißig der Musik gewidmet habe. Der zärtliche Christlieb Taube kam allsonn¬ täglich zu einer Stunde im Guitarrenspiel von seinem unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich nicht, daß diese Stunde ihm die angenehmste der Woche gewesen sei. Da zwitscherte denn die Dorl mit ihrem Lerchenstimmchen die Arien, welche der mo¬ dischen Lectüre entsprachen: „vom Kühnsten aller Räu¬ ber, den der Kuß seiner Rosa weckt,“ oder „von dem Robert, den Elise an ihr klopfendes Herz“ ruft. „Jungfer Ehrenhardine“ schüttelte gar weise den Kopf. Denn wenn auch die Kleine diese Bedenklich¬ keiten mit der kindlichsten Unschuld las und sang, ohne es zu wissen, that sie es aus Langeweile, der recht eigentlichen Mutter weiblicher Schuld. Sie bewun¬ derte meine Gelassenheit bei der Nachricht, daß ein Trauerfall in der landesherlichen Sippe laute Lustbar¬ keiten für die Donnerstagsgesellschaft während des Sommers verbiete. „Ich möchte Sie nur ein einzi¬ ges Mal tanzen sehen, Fräulein Hardine,“ sagte sie seufzend, „oder nur ein einziges Mal selber wieder tanzen wie sonst mit dem gnädigen Herrn Papa.“ Der Faber hatte zum Weihnachtsangebinde eine schöne Granatschnur geschickt und als Gegengeschenk eine Perltasche für sein Verbandzeug erhalten. „Einen Tabaksbeutel hätte ich viel lieber gestrickt,“ meinte die Dorl. „Aber er raucht ja nicht; er kennt ja kein Vergnügen, als seine gräßlichen Messer und Zangen.“ Im Uebrigen studirte und praktizirte Siegmund Fa¬ ber unverdrossen weiter, rechnete auch ebenso unver¬ drossen auf das blutige Uebungsfeld eines Operateurs. „Es wird eine Weile währen, ehe wir zu einan¬ der kommen,“ sagte lachend die Dorl, „aber ich kann's ja abwarten.“ „Das Kind hält sich musterhaft,“ versicherte mein Vater, und die Mutter konnte dem Lobe nicht wider¬ sprechen. Muhme Justine aber bemerkte kopfwiegend: „Man soll den Jungfernkranz nicht rühmen, bis man ihm die Hochzeitsmütze übergestülpt.“ Die zweite Trennung von Hause war allerseits kein halber Tod, nachdem die erste so ungefährlich abgelaufen. Auch von dem zweiten Reckenburger Auf¬ enthalt würde nichts Neues zu berichten sein. Als er sich zum Ende neigte, machte mir die Gräfin den An¬ trag, auch den Sommer hindurch und für alle Zeit bei ihr zu bleiben. Ich sagte rundweg nein. Denn wohl muthete das thätige Treiben auf Reckenburg mich freudiger an, als die stille Beschränkung des Eltern¬ hauses, nimmermehr aber würde ich mein Heimaths¬ recht und meine Heimathspflicht in demselben freiwil¬ lig aufgegeben haben. Der Gräfin dahingegen, ob¬ gleich sie mich ungern entbehrte, muß ich nachrühmen, Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 14 daß mein Freimuth sie nicht verletzte, ja daß diese rücksichtslose Ehrlichkeit es war, der ich die raschen Fortschritte in ihrem Vertrauen zu danken hatte. Ich ging schon in dieser Zeit unangemeldet bei ihr aus und ein, und der Riegel wurde nicht mehr vorgescho¬ ben, wenn sie mich im Vorzimmer wußte. Wie bedeutend diese Fortschritte waren, sollte ich jedoch erst am Vorabend meiner zweiten Heimreise, der mit dem solennen Prinzenfeste zusammenfiel, ge¬ wahr werden. Die Gräfin war den Tag über so gu¬ ter Laune, wie ich sie noch niemals gesehen hatte. Sie erhielt eine ihrer geheimnißvollen Dresdener Cor¬ respondenzen, die sie lächelnd las und wieder las. Ich bemerkte, daß sie ein Miniaturbild mit Wohlge¬ fallen betrachtete und dann sorgfältig verschloß. „Schön, — schön, — wie Er!“ hörte ich sie murmeln, und dann ein andermal: „Jung Blut hat Muth!“ Ja, als ich nach der üblichen Mittagsruhe bei ihr eintrat, kam ich auf den sträflichen Gedanken, hochgräfliche Gnaden haben sich im festlichen Champagner einen Spitz getrunken. Sie saß mit halbgeschlossenen Augen im Lehnstuhl und trällerte ganz munter ein Liebeslied¬ chen, als dessen Dichterin die schöne Aurora von Kö¬ nigsmark genannt worden ist: „Die Liebe zündet Herzen durch der Augen Kerzen, Im Anfang ist's ein Scherzen, dann folget Pein“ Der Eindruck war mir widerlich; ich machte ein Geräusch und die Alte bemerkte mich. Noch mur¬ melte sie: „Sie zwingt den Muth, sie dringt in's Blut,“ dann schlug sie das Hauptbuch auf und wir rechneten noch eine Stunde miteinander, um die laufenden Ge¬ schäfte vor der Reise abzuschließen. Nach dem Souper folgte ich ihr zum Abschied in ihr Kabinet. „Du bist siebenzehn Jahre alt, Eberhar¬ dine,“ sagte sie, „und es könnte sich auch in Deiner kleinen Stadt eine Gelegenheit finden, bei welcher eine standesmäßige Toilette geboten ist. Ich habe Dir eine solche bestimmt, die für mich angeschafft aber nicht benutzt wurde. Sie wird sich für Dich zweckent¬ sprechend arrangiren lassen. Du findest den Carton in Deinem Zimmer. Oeffne ihn erst, wenn Du heim kommst, daß der Stoff sich nicht unnöthig zer¬ drücke.“ Ich küßte ihre Hand mit aufrichtigem Dank. Immerhin war es ja ein Akt des Heroismus, sich von einem in Reckenburg eingeführten Gegenstande zu tren¬ nen. Heimlich aber mußte ich darüber lächeln, daß 14* der Anzug einer angehenden Matrone fast ein halbes Jahrhundert später für ein junges Mädchen arrangirt werden sollte, das sie um mehr als Kopfeshöhe überragte. Die Gräfin fuhr fort: „Du bist weder schön, noch passionirt genug, Eberhardine, um jugendliche Wallungen zu entzünden. Deines Herzens bin ich sicher. Hüte Dich aber vor einer vernunftmäßigen Versorgung nach dem Zuschnitt Deines elterlichen Le¬ bens. Ich sehe Höheres für Dich voraus. Deine Tournüre ist comme il faut ; Geist und Körper zei¬ gen die Kraft, welcher die Stammmütter großer Ge¬ schlechter bedürfen. Ich wiederhole es: Du bist nicht bestimmt, Neigung zu wecken und zu befriedigen, Du bist bestimmt, Achtung und Vertrauen zu fesseln, nachdem die Leidenschaft ausgeschäumt. Nicht heute oder morgen allerdings; aber Du zählst erst siebenzehn, und ich wurde dreißig Jahre, bevor ich mein Ziel er¬ reichte. Auch Du wirst es erreichen. Präge Dir die Wappen ein, die über Reckenburg vereinigt stehen und halte fest daran, daß sie sich zum zweiten Male ver¬ einigen sollen, dauernd vereinigen müssen . Halte Dich brav, Eberhardine. A revoir !“ Das also war's! Das der heimliche Plan der alten Häuptlingin, als sie die Letzte ihres Stammes zur Prüfung unter ihre Augen lud; das das Zeug¬ niß, daß sie ihre Probe bestanden hatte: das fürstlich¬ freiherrliche Wappen, mit der obligaten Grafenkrone in Permanenz über der Reckenburg! Die letzte Recken¬ burgerin und der Letzte eines erlauchten Fürstenhauses die Gründer eines neuen, reichbegüterten Geschlechts! Ei nun, es war eine Greisenschrulle, würdig der eisenfesten Erhalterin; aber eine gar anmuthende Schrulle auch für einen jugendlich Reckenburg'schen Puls. Und wenn es zuviel behauptet wäre, daß der schöne, prinz¬ liche Zukünftige ihr im Traume erschienen sei: ein Paar Stunden gewohnter Nachtruhe hat er seiner Braut in spe wahrhaftig gekostet. Mein heuriger Reisebegleiter war der Prediger, der sich durch kleine literarische Arbeiten ein Paar freie Freudentage erkauft hatte. Es galt einen Besuch bei seinem in Leipzig studirenden Sohne; es galt nebenbei einen Blick in den neusten Meßcatalog und in die antiquarischen Schätze der Metropole deutscher Bücherwelt. Mein frohmüthiger Freund hoffte, diese Meßfahrten halbjährig erneuern zu können und wir verabredeten zum Voraus die gemeinsame Rückreise im Herbst. Ohne Zweifel würde mir nun dieses zweitägige Beieinander mit dem lieben, lehrsamen Herrn die er¬ sprießlichsten Dienste geleistet haben, wenn zwischen die neuen spanischen Helden unseres Schiller und die metrischen Fehden von Lichtenberg contra Voß nicht immer von Neuem der zudringliche prinzliche Stören¬ fried gefahren wäre. Die alte Reckenburgerin hatte wohl Recht: ihre erkorene Nachfolgerin war nicht eben entzündlicher Imagination und die Warnungs¬ tafel mit dem späten, ehelichen Correctiv war auch nicht zum Ueberfluß aufgestellt; bei alledem aber war es ein feuergefährliches Spielwerk, das sie siebenzehn¬ jährigen Sinnen anvertraut hatte. So oft Dame Weisheit den Verführer aus dem Felde schlug, lispelnd und lächelnd gaukelte er sich immer wieder ein. Chassez le naturel , il retourne au galop! Ich wußte von dem jungen Herrn nichts, als daß mein Papa ihn einen Sausewind genannt hatte, und daß die Andeutungen der Gräfin diesem Epitheton nicht widersprachen. Die Begierde ein Mehreres über ihn zu erfahren, prickelte mich bis in die Zungenspitze. Ich machte endlich kurzen Proceß und platzte mit der Frage: was von dem Stiefsohne meiner Tante zu halten sei? mitten unter die idyllische Gesellschaft im ehrwürdigen Pfarrhause von Grünau. Der ehrwürdige Pfarrherr von Reckenburg stutzte. Er kannte den Prinzen natürlich nicht; er kannte ja nicht einmal die Gräfin und war weit davon entfernt, in dem Sohne des Ungetreuen seinen dermaleinstigen Patron zu vermuthen. Angeregt durch einen Zeitungs¬ artikel, hatte daher nur ein Zufall ihm vor Kurzem flüchtige Kunde über ihn zugetragen. Der junge, schöne Prinz, — einen Antinous nannte ihn das Gerücht, — leichtlebig, zu galanten Abenteuern geneigt und daher mit seinen knappen Fi¬ nanzen ärgerlich verwickelt, hatte längst schon über die methodischen Anforderungen des kurfürstlichen Hofes, dem er sich als Verwandter, Mündel und Militair unter¬ geordnet sah, Verdruß und Langeweile zur Schau ge¬ tragen, und ein Heißsporn in den Kauf, war er bei dem lässigen Ausgang der Monarchenversammlung zu Pillnitz im verflossenen Herbst in offene Empörung ausgebrochen. Er entwich heimlich von Dresden, um an dem Hoflager des Kurfürsten Klemens in Koblenz eine anregendere Kameraderie zu suchen. Hier in das frivole Treiben der Emigrirten bedenklich verwickelt, hatte er sich in eine Schuldenlast gestürzt, welche weder die Verwandtschaft von Kursachsen, noch von Kur¬ trier zu honoriren geneigt war. Vor Kurzem sollte er nun summarischen Befehl zur unverweilten Rückkehr nach Dresden erhalten haben, und hoffte man, auf diese Weise bei dem sich vorbereitenden Kreuzzuge gegen den fränkischen Jakobinismus, vor einer compromit¬ tirenden Theilnahme des fürstlichen Parteigängers sicher gestellt zu sein. „Es hat sich,“ so schloß der Prediger sein Re¬ ferat, „es hat sich nach anderthalbhundertjährigem Schlummer im deutschen Walde ein treibender Sturm erhoben. Oben in den Wipfeln rauscht's und braust's, während das Wurzelland, ein breiter, dumpfer Weide¬ platz, noch der umarbeitenden Pflugschaar harrt. In der Gelehrtenwelt, in Kunst und Poesie, allerorten sehen wir einzelne Spitzen, unverstanden, oder falsch verstanden, die Menge überragen. Auch in unseren ungezählten Dynastengeschlechtern thut sich dieses jache, ungleichartige Drängen kund. Wie viele sind ihrer nicht, die einen genialischen Sprossen getrieben haben? Sehen sich diese Sprößlinge nun als Erben eines Throns, wie Friedrich, wie Joseph, oder auf anderem Gebiete, wie der edle Weimaraner, so werfen sie sich auf zu Bahnbrechern einer neuen Ordnung, um je nach Kräften, Verhältnissen und Temperament in ihrem Streben zu siegen, oder unterzugehen, immerhin aber einen Keim zu legen, der der Zukunft Früchte tragen wird. Sind es Nebenschößlinge wie dieser, jüngere Söhne ohne Land und Macht, aber in fürst¬ licher Blendung, in fürstlicher Absonderung aufge¬ wachsen, so sehen wir sie nur allzuhäufig als taube Blüthen vom Mutterbaume ab- und dem Gesetze ver¬ fallen, welches jede Kraft, die nicht That wird, zum Wahne werden läßt. Abenteurer und Tollköpfe, Lüst¬ linge und Sonderlinge, Dilettanten und Pfuscher, Frei¬ geister und Geisterseher rütteln sie für sich selbst an den Schranken, welche Sitte und Herkommen bis heute geheiligt haben, ohne für die Freiheit und Wohl¬ fahrt der Anderen eine einzige zu durchbrechen. Höher hinauf können sie nicht; in die Breite und Tiefe wollen sie nicht, oder dürfen sie nicht. Sie bleiben eben Prinzen, das heißt Exceptionen, denen kein Feld des Ruhmes und der Thatkraft angewiesen ist, als das blutige Leichenfeld, das auch zur Stunde, und Gott weiß bis zu welcher Stunde unser kaum erwachtes Vaterland von Neuem zu erstarren droht.“ Das waren nun freilich Belehrungen, welche die Reckenburger Chimäre ihres blendenden Zaubers ent¬ kleiden durften, und als ich, von Leipzig ab allein, in meiner bescheidenen Zurückgelegenheit heimwärts ge¬ rüttelt ward, da zerstoben denn auch die bunten Sei¬ fenblasen vor dem nüchtern geschulten Blick. Würde, so fragte ich mich, der tollmüthige, ritterliche Antinous um schnödes Geld und Gut sich der Verbindung mit einem unschönen, unstandesmäßigen Fräulein, das er nicht einmal kannte, unterwerfen? Würde die alte Reckenburgerin auf diese Verbindung bestehen, dem Sohne eines Mannes gegenüber, der ihr Stolz und ihre Lust, der offen und geheim der Regulator ihres Lebens gewesen war? Endlich aber, wenn sie auf die Bedingung bestand, wenn er der Noth sich unter¬ warf, würde das unschöne, unbekannte Fräulein sich bedingungsweise einem Manne in den Kauf geben lassen, der sie mit widerwilligem Gemüthe empfing? Nein, dreimal nein! Nicht um den Besitz eines fürstlichen Antinous; nicht um den Besitz der Reckenburg und aller Herrschaften der Welt. Nimmermehr! Mit diesem herzhaften Strich durch alle gaukeln¬ den Hirngespinnste und mit dem Vorsatz, mich durch keine Andeutung der matrimonialen Schrullen auf der Reckenburg lächerlich zu machen, betrat ich mein Eltern¬ haus. Bei alledem wird mir eine rückfällige Schwach¬ heit zu verzeihen sein, als gleich nach der ersten Be¬ grüßung, der gute Papa mir mit der Frage entgegen¬ fuhr: „Wußte die alte Gnädige schon, meine Dine, daß ihr Erbprinz hiesigen Orts auf Strafcommando versetzt worden ist?“ In Wahrheit, mir schwindelte. — „Prinz August hier, — hier?“ — stammelte ich. „Noch nicht,“ versetzte die Mama, nach einem Räuspern, das allemal eine gelinde Rüge für den Herrn Gemahl bedeutete. „Noch nicht. Doch darf er jede Stunde erwartet werden. Er ist als Major dem Regimente aggregirt worden, mithin Papas un¬ mittelbarer Vorgesetzter, wie Manche wissen wollen, um seine etwas brouillirten Verhältnisse in der kleinen Garnison wiederherzustellen. Ich für mein Theil bin der Ansicht, daß man ihm ein selbständiges Commando zugedacht und daß man unseren Ort gewählt hat, weil das wohleingerichtete Schloß ein standesmäßiges Lo¬ gement gewährt.“ „Bis zum Donnerstag ist er jedenfalls einpassirt,“ setzte der Vater hinzu. „Die Gesellschaft arrangirt ihm zu Ehren ein Pickenick, einen bal champêtre .“ „Einen Empfang, Eberhard,“ verbesserte die Mutter. „Meinetwegen einen Empfang,“ fuhr der Vater heiter fort. „Auf alle Fälle werden die Damen an dem Tage seine Bekanntschaft machen und endlich ein¬ mal wird eine frohe Stunde auch für unsere arme, brave Dine gekommen sein.“ „Wir werden uns nun unverzüglich mit Deiner Toilette zu beschäftigen haben,“ hob die Mutter an, wurde aber durch die Meldung eines Damenbesuchs in der hochwichtigen Pickenickangelegenheit unter¬ brochen. Ich war noch im Reisekleid und durfte mich in mein Zimmer zurückziehen. Sollte ich denn über den verwünschten Prinzen nimmermehr zur Ruhe kommen? Kaum ist das Traum¬ bild verscheucht, steht er leibhaftig vor mir aufgepflanzt. Hatte die Gräfin um diese Begegnung gewußt, ihre Pläne darauf gegründet? War es ein Glücksfall von denen, welche die Seherin der Familie in Karten und Kaffeesatz vorausgeschaut? Waren die Reckenburg'schen Bedingungen wohl schon dem armen, bedrängten, jungen Herrn insinuirt? Nun auch mit einem leibhaftigen Störenfried läßt sich fertig werden und schneller häufig als mit einem Hirngespinnst, wenn nur das Rüstzeug des Stolzes scharf geschliffen ist. Ich war mit dem meinigen fertig, ehe noch unten die große Conferenz abgelaufen war. Ein leichter Schritt auf der Treppe brachte mich vollends in das natürliche Geleis zurück. Es war Dorothee, die mich nicht vor dem morgenden Tage erwartet hatte und von einem Ausgange zurückkehrte. Jetzt erst legte ich die Reisekleider ab, öffnete dann, meine Nachbarin zu überraschen, leise die Thür und stand eine Weile unbemerkt auf ihrer Schwelle. Die rege, behende kleine Dorl saß am Fenster, das Köpfchen in die Hand gestützt, sie, die ich immer nur lachen und plaudern gehört, sie — seufzte; sie schien mir bleicher, als da ich sie verlassen hatte, das Auge weiter, fragender geöffnet und von einem bläu¬ lichen Schatten umringt. Die Blumen auf dem Fen¬ sterbrett hingen durstig die Köpfe, die Zeisige im Bauer flatterten unruhig nach Futter. Ihre fröh¬ liche Pflegerin hatte sie versäumt. Sobald sie jedoch meiner ansichtig ward, da goß sich der gewohnte blühende Lebenshauch über die lieb¬ liche Gestalt. Sie stürzte mit einem Freudenschrei an meine Brust. „Hardine!“ jubelte sie, „Fräulein Har¬ dine, o, nun ist Alles wieder gut!“ „ Was ist gut?“ fragte ich, indem ich mich zu ihr setzte und ihre Hand faßte. „Hast Du Kummer, Dorothee?“ Sie schüttelte den Kopf. „Oder Sorge? Um den Faber etwa?“ „Um den Faber? ach, was weiß ich von dem! Der schneidet Krüppel und Leichen und bald zieht er in den Krieg. Um mich kümmert er sich nicht so viel.“ Sie schnippte lachend mit der Hand. „Schreibt er Dir denn nicht?“ „Alle Jahr zweimal, zum Geburtstag und zum heiligen Christ.“ „Und Du?“ „Was soll ich ihm schreiben? Ich erlebe ja nichts. Ich bedanke mich für sein Angebinde, schicke ihm auch eins und damit gut.“ „Aber was fehlt Dir denn, liebe Dorothee?“ „Was mir fehlt? Ich glaube nichts. Ein we¬ nig Freude vielleicht. Aber ich weiß es nicht. Sie haben ja auch keine Freude, Fräulein Hardine.“ „Du beschäftigst Dich nicht genügend, Kind,“ mahnte ich. „Mit was soll ich mich denn beschäftigen?“ ver¬ setzte sie, „ich thue, was ich kann.“ Ich mußte schweigen. In der That, was sollte sie thun in ihrer bräutlichen Freiheit und Beschrän¬ kung? Undeutlich ahnte ich auch, daß Arbeit nicht das Mittel sein würde um dieses Dasein auszufüllen. „Aber was möchtest Du denn, Liebe?“ fragte ich nach einer Pause. „Ich möchte leben!“ rief sie mit jenem unbe¬ schreiblichen Impuls, mit welchem sie damals im Gar¬ ten: „Gut sein, Hardine, heißt Gottes Kind sein!“ gerufen hatte. Und wie sie damals in rascher Wandlung sich auf die ersten Veilchen stürzte, um die Freundin mit ihnen zu schmücken, so stürzte sie sich heute auf deren Hände, drückte sie an ihr Herz und frohlockte: „O, aber nun habe ich Sie wieder, Fräulein Hardine, nun bin ich nicht mehr allein, nun bin ich vergnügt und glücklich wie sonst!“ Gleichwohl verließ ich sie mit dem Vorgefühl nahender Schmerzen. „Dörtchen sieht nicht mehr so frisch aus, wie im Herbst,“ sagte ich, als ich zu den Eltern zurückkehrte und der Vater entgegnete: „Kein Wunder! Sie langweilt sich, die arme kleine Dorl. Schön wie ein Bild, siebenzehn Jahre und immer das nämliche, freudlose Einerlei!“ „Hat unsere Tochter etwa mehr Freude von ihrer Jugend, Eberhard?“ fragte die Mutter scharf. Der Vater streichelte meine Backen und ich sah es wie einen Nebel über seine Augen fliegen. „Un¬ sere Dine, unsere brave, gute Dine!“ sagte er beküm¬ mert. „Verdammtes altes Hexennest! Ging's nach mir — —“ Er vollendete den Satz nicht, denn Frau Adelheid hatte ein warnendes Räuspern hören lassen. Nach einer Pause aber fuhr er, sich vergnügt die Hände reibend, fort: „Nun Gottlob, nächsten Don¬ nerstag kommt ja die Gelegenheit, wo Jungfer Eber¬ hardine auch einmal das Kittelchen schwenken darf, wie es ihrer Jugend gebührt!“ Am anderen Tage war unsere kleine Wirthin wieder die alte muntere Dorl und Feuer und Flamme bei der großen Toilettenangelegenheit. Der Carton der Gräfin wurde geöffnet und wir musterten mit wohlgefälligen Blicken eine Robe — kein Zweifel, daß es die für die Einzugs-Tafel in Reckenburg bestimmte gewesen ist — nun, eine Robe, die vor fünfzig Jah¬ ren vor einer glänzenden Hofgesellschaft Parade machen, die aber heute noch in unserer kleinen Exresidenz hin¬ länglich modisch und überreich erscheinen durfte. Ein meergrüner Damast mit leichten Silberfäden durch¬ woben, Aermel und Ausschnitt mit einem Spitzen¬ hauche garnirt. Die Mama wiegte den Kopf mit dem Ausdruck höchster Befriedigung. „Der Rock ist zu kurz,“ meinte sie, „kann aber durch den entbehrlichen Manteau verlängert, auch die Corsage paßlich dadurch hergestellt werden. Feinere Application sah ich nie. Ihr Kaffeegelb hebt den brü¬ netten Teint, zumal bei gepuderter Frisur und echten Perlen im Toupet. Eine fürstliche Toilette, liebe Tochter!“ Ich pflichtete dem bei. Die Dorl aber zog ein Mäulchen, wie ein schmollendes Kind. „Beileibe nicht Puder!“ Fräulein Hardine!“ raunte sie mir in's Ohr. „Keine Pariserin trägt noch Puder und Toupet. Und um Gotteswillen nicht diese standfeste Robe mit der quittengelben Garnitur! Sie nähmen sich ja aus wie Ihre Großmutter, Fräulein Hardine. Ein Kleid von weißem Nessel, rothe Schleifen und eine frische Rose — meine Stöcke blühen herrlich! — eine Rose im gekräuselten schwarzen Haar, so möchte ich Sie sehen auf Ihrem ersten Ball!“ Der Tausend, ich war auch einmal siebenzehn Jahre! Im weißen Kleide, eine Rose in den Locken auf dem ersten Ball, zum ersten Male unter den Augen von — — Kinder, das Herz zitterte mir im Leibe vor heller Lust. Aber nur einen Augenblick, denn die Mama, welche dem ungewohnten, halblauten Widerspruch mit sichtlichem Mißfallen gelauscht hatte, versetzte: „Es ist kein Ball, mindestens nicht seinem ersten Zwecke nach Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 15 Es ist ein Cercle , eine Präsentation. Mögen die Amtmannsjungfern in Schäferröckchen einen Prin¬ zen von Geblüt umtänzeln: wir sind nicht des Schlags, der den Braten von einem Compottellerchen genießt. Was aber den Puder anbelangt: haben die Jacobine¬ rinnen in Paris ihn abgelegt, der beste Grund für uns , ihn beizubehalten.“ Fahre wohl, Du leichter Nesseltraum! Noblesse oblige . Die letzte Reckenburgerin hat ihren Puder so lange wie Eine und nie in ihrem Leben Rosen getragen. Der Donnerstagsmorgen brach an und noch herrschte in der Gesellschaft die bänglichste Spannung. War der Prinz über Nacht angelangt? War er's immer noch nicht? Was sollte bei dem weichen Wet¬ ter aus Amtmanns Truthahn, was aus dem wilden Schweinskopf der Frau Oberforstmeisterin werden? Durfte die Freifrau von Reckenburg den Teig zum Spritzkuchen einrühren? Sie durfte ihn einrühren! Der Papa war es, der athemlos die frohe Botschaft brachte; der herzens¬ gute Papa, der mit Freuden den saueren Posten eines maître de plaisir und Vortänzers wieder übernom¬ men hatte, heute, wo es galt, seinem prinzlichen Com¬ mandeur einen würdigen Empfang und seiner Tochter ein erstes Jugendfest zu bereiten. Der Prinz war in der Nacht angelangt und hatte die Einladung des Co¬ mit é huldreichst acceptirt. „Ein Mann wie ein Bild!“ sagte der Vater, „sähe ihn Deine Gnädige, meine Dine, sie bezahlte mit Zuckerlecken seine Schulden.“ Nun hieß es alle Hände rühren. Schon früh um neun erschien der Friseur. Kaum war der kunst¬ volle Thurmbau mit erster Kraft und Laune vollen¬ det, stellte auch schon Dörtchen sich ein, um die Taille zu schnüren und die Points vor dem Busen festzuhef¬ ten. „O, das hat ja noch Zeit,“ sagte ich abwehrend. „Ich muß mich doch aber auch anziehen, Fräu¬ lein Hardine,“ entgegnete die Kleine, „und noch früher oben sein, als Sie.“ „Du?“ fragte ich verwundert. „Ich helfe dem Vater nur ein wenig; der arme Mann weiß nicht, wo ihm der Kopf steht, Fräulein Hardine.“ Dawider konnte nun im Grunde nichts einge¬ wendet werden. Ich ließ mich daher zur Wespe zu¬ sammenpressen und saß viele Stunden beklemmt und mit noch rötherem Angesicht denn sonst im väterlichen Lehnstuhl. Die Mama huschte zwischen Backofen und Toilettentisch hin und wieder; der Papa hatte Noth, 15* sich in die alte Galamontur zu zwängen. Zwischen Stück und Stück probirte er ein Entrechat, um die Glieder für die große Abendaufgabe gelenk zu machen. An ein Mittagbrod dachte von der gesammten Don¬ nerstagsgesellschaft heute schwerlich ein Mensch. Endlich, endlich schlug es vier. Die amtmänn¬ liche Carosse rollte vorüber und die Familie Recken¬ burg schlüpfte durch das Pförtchen des seligen Leib¬ barbiers auf die Schloßterrasse und in den Pavillon. Sie war die erste auf dem Platze. Einem Prinzen von Geblüt darf man nicht nur, man muß ihm zu¬ vorkommen. Das Wetter war sommermild; Bäume und Sträuche blühten. Man hätte Ende April keinen günstigeren Nachmittag treffen können, wenn es auf eine fête champêtre abgesehen gewesen wäre. Da es aber auf die Präsentation eines Fürstensohnes ab¬ gesehen war, hatte man sich anstandshalber für das herzogliche Lusthaus entschieden, wie Mutter Recken¬ burg für die Robe von drap d'argent . Das Lust¬ haus bestand allerdings nur aus einem einzigen Saal, war aber für den heutigen complicirten Zweck mit Hülfe einer Draperie in zwei Hälften getheilt worden. Die vordere diente zum Empfang und darauf folgen¬ dem Tanz, die hintere passirte als Speisesaal. Die vorausgesendeten Gerichte gewährten eine anlockende Decoration, wie auch, gemischt mit den vom Garten hereindringenden Frühlingsdüften, einen gar würzigen Parfüm. Unter der Draperie, zwischen beiden Ab¬ theilungen, stand Meister Müllers Büffet und seine behäbige Gestalt lehnte in der Thür, die zur Seite in Küche und Keller führte. Dorothee verhielt sich natürlich hinter der Scene. In diesem Raume, der übrigens sein fürstliches Ansehen leidlich bewahrt hatte, harrte die vollzählig versammelte Gesellschaft eine Stunde lang, zwei Stunden, noch länger auf den Ersehnten, der — nicht kam. Keiner setzte sich, keiner hatte die Geduld ein Gespräch fortzuführen. Aller Blicke hingen gespannt an der geöffneten Thür. Es war so stumm in dem ge¬ füllten Saale, daß man die Vögel draußen zwitschern hörte. Auf der Tribüne hielt die Regimentsmusik standhaft die Trompeten am Munde, um den Bewill¬ kommnungstusch nicht zu versäumen. Unter dem Ein¬ gange stand, im Prallsonnenscheine, chapeau bas , das Comit é , an seiner Spitze, mit zum Tubus gehöhl¬ ter Hand, der Rittmeister von Reckenburg. Alles lauschte, lugte, lauerte — kein Prinz kam. Absichtliche Unpünktlichkeit von Seiten eines kur¬ sächsischen Blutsverwandten konnte nicht angenommen werden; es mußte ein Mißverständniß obwalten, oder ein Unfall eingetreten sein. Nach langer Deliberation setzte sich der Chef des Comit é 's zu einer unterthä¬ nigen Anfrage in Bewegung, und hat die Familie dieses Chefs späterhin vertraulich in Erfahrung ge¬ bracht, daß es mit der unannehmbaren fürstlichen Unhöf¬ lichkeit doch nicht so ganz ohne gewesen sei. Als der Abgesandte vor dem hohen Gaste erschien, lag der¬ selbe gemächlich im Schlafrock auf der Causeuse aus¬ gestreckt, eine lange Türkenpfeife im Munde und den Hamburger Correspondenten in der Hand. „Schon?“ fragte er gähnend. „Sind die Schönen ihrer Reize so sicher, um sie bei Sonnenschein preiszugeben?“ Doch verhieß er sein Erscheinen, sobald Zeitung und Toilette vollendet sein würden. Es dämmerte bereits, als der Abgesandte mit dieser Botschaft zurückkehrte. Flugs wurden die Fen¬ sterläden geschlossen, die Kronleuchter angezündet. Die Gesellschaft rangirte sich in zwei Heckenwände, zwischen denen der erlauchte Gast seinen Durchgang nehmen sollte. Obenan die Gemahlinnen des Adels, dann die bürgerlichen; nunmehr die Fräulein, neben ihnen die Demoiselles und endlich die Herren in gleicher Rang¬ ordnung. Noch dauerte es eine gute Weile, ehe der lange gehegte Tusch und gleich darauf die vorstellende Stimme des maître de plaisir am oberen Ende erschallten. Ich hatte mich nicht umgeblickt und mein Haupt in stolzester Haltung aufgerichtet, um das schlagende Herz vor mir selber Lügen zu strafen. Erst als ich meinen Vater den Namen: „Freifräulein Eberhardine von Reckenburg,“ nennen hörte und während ich mich zu der bewährten Menuetsenkung niederließ, hob ich das Auge, so ruhig ich vermochte, zu dem Vorüberstrei¬ fenden empor. Ich war auf einen schönen Mann vorbereitet; der aber, meine Freunde, welcher meinem Blicke be¬ gegnete, es war nicht der schönste Mann, den ich bis dahin gesehen — denn das würde nicht viel bedeuten — aber es war und blieb, ich weiß keinen bezeichnen¬ deren Ausdruck, als der anmuthvollste Jüngling, den das Leben mir vorgeführt hat. Hatte er in seiner Ju¬ gend gestürmt, das Aeußere wenigstens trug von diesen Stürmen keine Spur; nicht die schlanke, geschmeidige Fi¬ gur, nicht die rosige Farbe von fast mädchenhafter Transparenz, nicht die Züge, welche vielleicht zu weich und fein erschienen sein würden ohne das große, schwarzblaue Auge, das mit kühnem Feuer das Ant¬ litz beherrschte. Dazu das lichtblonde Bärtchen über der heiter gekräuselten Oberlippe, die üppige Locken¬ welle, welche dem steifen Zopfband widerstrebte und endlich jene sichere Lässigkeit in Tracht und Haltung, die nur denen natürlich ist, deren Herablassung als Huld betrachtet wird. Mein biederer Vater in seiner Zwangsjacke und standfesten Würde spielte in meinen Augen eine ärgerlich komische Figur neben diesem Liebling der Grazien im bequemen, halbgeöffneten Collet. Es war der erste Blick, mit dem ich diesen vollen Eindruck erfaßte, und ich begriff während dieses ersten Blicks die Erinnerungslust meiner achtzigjähri¬ gen Reckenburgerin, wenn der Sohn ihres Ungetreuen seinem Vater ähnlich sah: Ja, seltsam — sollte es ein Ahnen der Zukunft gewesen sein? — während dieses ersten, kurzen Blickes, surrte es vor meinen Ohren, wie die Todtenklage des Hadrian, die mir der Prediger neulich so beweglich geschildert hatte, denn ein Schönerer als dieser Antinous konnte das kaiserliche Künstlerauge nicht erquickt haben. Als der Vater meinen Namen nannte, stutzte der Prinz, der noch eben, nachlässig mit dem Spitzentuche grüßend, an meiner Nachbarin vorübergeglitten war. Er pausirte einen Moment, ein vertrauliches Lächeln auf den Lippen, so, als ob er einem alten Bekann¬ ten begegnet sei; dann ging es weiter, vorstellend und sich neigend die Reihe entlang. Die Polonaise hob an. Der Prinz führte meine Mutter durch den Saal, bei Weitem zu kurz und kunstlos für die Mode der Zeit. Jetzt entstand eine Pause; die Großwürdenträgerinnen erwarteten gespannt eine Näherung des gefeierten Gastes und zuckten unver¬ hohlen die Achseln, als sie ihn, nachdem er bereits der verwittweten Excellenz vom Hofmarschallamt die Gat¬ tin seines Rittmeisters vorgezogen hatte, jetzt raschen Schrittes sich deren Tochter zuwenden sahen. „Sie kommen von Reckenburg, Gnädigste?“ so redete er mich mit dem vorigen, vertraulichen Lächeln an. „Wie geht es meiner Exmama? Unsterblich, so sagt man — —“ „Unentkräftet mindestens, Durchlaucht, und uner¬ müdet,“ antwortete ich. „Auch unersättlich, gelt, und unerbittlich über ihren lydischen Schätzen! Nun, auch Crösus hat ja endlich seinen Solon gefunden. Wollen Sie nicht Ihre Weisheit geltend machen, Gnädigste, um wenig¬ stens einen armen Schuldner von seiner Sclaven¬ kette zu befreien?“ Ich kann nicht sagen, daß diese kameradschaft¬ liche Einführung besonders nach meinem Geschmack gewesen wäre. Aber ich merkte kaum auf den Sinn der leichtfertigen Plauderei; ich lauschte nur dem mu¬ sikalischen Klang, der biegsamen, impulsiven Melodie der Stimme, die gleich einem Zauber das Herz um¬ spann. Das Orchester hob während der letzten Worte die Weise eines Wiener Walzers an und ich las in den neidischen Blicken meiner Mitschwestern, daß man den Prinzen für meinen Tänzer hielt. Der brave Vortänzer stürzte sich heldenmüthig auf die beleidigte Frau Amtmännin, um sie für diese neue Bevorzugung seiner Familie nach Leibeskräften zu entschädigen. Auch ich erwartete, daß mich der Prinz in die Reihe führen werde, und ich erwartete es mit zitternder Luft. Da er aber keine Miene machte, sich vom Platze zu rühren, ließ ich mich ruhig in einer Sophaecke nieder. „Sie tanzen nicht?“ sagte der Prinz, indem er sich an meine Seite setzte. „Desto besser. So plau¬ dern wir und machen unsere Glossen.“ Die Paare drehten und wiegten sich an uns vor¬ über; keines entging dem prinzlichen Spott. „Nicht eine Physiognomie! nicht eine frische Natur!“ rief er endlich verdrossen. „Und Alles das rühmt sich, nach Gott-Vaters Ebenbilde geschaffen zu sein. Wie haben Sie es fertig gebracht, Fräulein von Reckenburg, in¬ mitten dieser Larven, unter diesen platten, todten Her¬ kömmlichkeiten Sie selbst zu bleiben?“ „Ich bin zum erstenmale in Gesellschaft,“ konnte ich zu antworten mich nicht enthalten. Aber ich that es mit leidlichem Humor, denn ich saß einem Spie¬ gel gegenüber und begriff, wie viele Sommer er der meergrünen Brocatträgerin zusprechen mochte. „Oder wie werden Sie es fertig bringen?“ ver¬ besserte er sich. „Nun, auch Durchlaucht werden es ja fertig brin¬ gen müssen,“ sagte ich lächelnd. „Ich? beim Zeus, ich wahrlich nicht!“ rief er aus. „Man hat mich hier an die Kette gelegt. Aber wähnt mein würdiger Vormund von Sachsen, daß der erste Kanonenschuß am Rhein diese Kette nicht spren¬ gen wird? Endlich, endlich ist es ja so weit! O, der Schmach, daß Franz von Oesterreich nach väterlichem Exempel zögern konnte, bis sein unglückseliger Ohm unter der Tortur seiner jacobinischen Häscher, ihm seine Horden entgegentreibt! Schmach, ewige Schmach, daß dieser, unser baldiger Kaiser heute noch sich win¬ det und krümmt wie ein Aal. Aber Gottlob! König Friedlich Wilhelm ist Feuer und Flamme, jenen Häschern die Daumschrauben anzusetzen. Stelle er sich an die Spitze der Armee, rufe er sein Vorwärts und wenigstens wir, das heißt die Legion deutscher Fürsten ohne Land, werden nicht säumen, um unter Friedrichs Banner dem Erben des heiligen Ludwig seine königliche Freiheit zurückzuerobern.“ Auf diese Weise zwischen Scherz und Pathos plauderte mein junger Held unter dem Rauschen des Wiener Walzers, harmlos seine Zukunftspläne aus. Ich wußte ja, wie kriegerisch sein Sinn gestellt sei. Nur daß er damit umgehe, in preußische Dienste zu desertiren, mußte mich Wunder nehmen. Und so ent¬ blödete ich mich denn auch nicht, ihn daran zu erin¬ nern, daß eine Schwenkung just in dieses Lager wenig Anklang in sächsischen Herzen finden werde. „Habe ich eine eigene Armee in's Feld zu füh¬ ren?“ versetzte er lachend. „Oder soll ich darauf war¬ ten, bis das heilige römische Reich deutscher Nation sich auf seine Pflicht — bah! nur auf seine Nothwehr besonnen hat? Bis am Ende auch der obersächsische Kreis sein Fähnlein aufgeboten? Oh! nur die Sub¬ sidien Ihrer Reckenburg, Gnädigste,“ setzte er mit einem schelmischen Augenblinzeln hinzu, „nur die Sub¬ sidien Ihrer Reckenburg und ich lege den ersten Lor¬ beerkranz zu Ihren Füßen, den ich wie mein braver Vetter von Weimar als preußischer Soldat errungen haben werde.“ Der Tanz ging während dieser Tirade zu Ende und ich erhob mich, um mich vor den ärgerlichen Blicken der Gesellschaft unter die Flügel meiner Mut¬ ter zurückzuziehen. Der Prinz folgte mir. Das erste Menuet wurde eben angestimmt. „Sie scheinen eine Virtuosin in der Kunst, sich mit Anstand zu ennuyiren,“ sagte er, „wollen Sie mir Stümper in derselben noch diesen Tanz hindurch als guter Kamerad zur Seite stehen?“ Freilich wäre ich lieber im Rundtanz als flotte Partnerin in seinen Armen durch den Saal gewirbelt, aber auch nur, als guter Kamerad eine Viertelstunde länger ihm vis-à-vis , dünkte mich eine Herzenslust. Als wir, nach vollbrachter Tour am Ende der Co¬ lonne anlangten, seufzte mein Chapeau so herzbeweg¬ lich, daß ich die Ungalanterie mit einem Lächeln zu beantworten vermochte. Auch er lachte. „Diese feier¬ liche Strapaze nennt der Deutsche Vergnügen,“ rief er aus, „Beim Zeus! mit Wollust reichte ich meinen Herrn Jacobinern die Hand zu einer ehrlichen Car¬ magnole!“ Ich erlaubte mir zu bemerken, daß ein lustiger, deutscher Ländler vielleicht dieselben Dienste leisten werde und daß Durchlaucht ihn nur zu befehlen brauche, um sich für die Strapaze einer Anstandspflicht zu entschädigen. „Zum Lustigsein gehören mindestens Zwei,“ er¬ widerte er, indem er die Blicke spöttisch über unsere stolze Gesellschaft schweifen ließ. Jählings aber stockte er. „Himmel, wer ist das?“ rief er mit Entzücken; „wer ist das?“ Mir war als ob ich den Blitz in einer Pulver¬ mine zünden sähe, denn meine Augen waren den sei¬ nigen gefolgt. Wären sie aber auch mit Blindheit geschlagen worden, wessen Anblick hätte denn eine so jähe Bezauberung wirken können, als der meiner eignen, einzigen Schönen, als — Dorotheens? Die Tanzmusik hatte sie aus ihrem Versteck her¬ vorgelockt. Sie stand einen Schritt vor dem Büffet, mit leuchtenden Augen, verlangend wie ein Kind, das die ersehnte Frucht unerreichbar am Baume hängen sieht. Die leibhaftige Eva! Die Arme waren leise gehoben, der Körper vorgeneigt, in der Hand hielt sie ein Körbchen, mit Blumen umwunden und gefüllt mit dem Zuckerbrod, das sie so zierlich zu formen ver¬ stand. Der lichtblaue Saum des weißen Nesselrocks reichte knapp bis zum Knöchel; die Füßchen in den flitternden Kinderschuhen trippelten den Takt der Musik; das goldne Gelock wogte unter dem blauen Bande, das es lose zusammenhielt und der Rosenstrauß, den sie für mich gezogen hatte, bebte unter den raschen Schlägen des Herzens. So reizend wie in diesem Augenblicke sah ich die reizende Dorl niemals vor und niemals nach der Zeit. Als ihr Auge dem unseren begegnete, schlug sie es dunkelerröthend zu Boden und entschlüpfte durch die Seitenthür. „Wer ist diese Hebe?“ wiederholte der Prinz. „Die Tochter des Schenkwirths,“ antwortete ich, verbeugte und setzte mich neben meine Mutter. Es folgten verschiedene Tänze, die ich in den Armen dieses und jenes jugendlichen Springinsfeld abhaspelte, so seufzend wie vorhin mein Prinz die Anstandsstrapaze der Menuet. Er selber tanzte nicht wieder. Unbekümmert, wie im Wirthshaus, saß er neben dem Büffet in einem Kreise von Officieren, mit denen er tapferlich zechte. Aber nicht etwa von Meister Müllers landwüchsigem Product, auch nicht von den edelsten Sorten, welche die festgebende Gesellschaft zu liefern vermocht hatte; nein, schäumenden Cliquot, den er, „als Scherflein zum Pickenick,“ aus seinem eignen Keller holen ließ. So häufte er Beleidigung auf Beleidigung. Mit jedem springenden Pfropfen aber suchten seine Augen flammender nach der lieblichen Schenkin, die so oft eine neue Tanzweise anhob, wie von Hüons Horn ge¬ lockt, in der Thür erschien, bis unter den Vorhang schlüpfte und mit Sehnsucht die wirbelnden Paare ver¬ folgte. Daß während dieser Wanderung ihre Blicke manchesmal den suchenden am Zechtische begegneten, daß sie dem zürnenden Mienenspiel Jungfer Ehren¬ hardinens gar behende auszuweichen verstanden, das erscheint Jungfer Ehrenhardinen heute freilich verzeih¬ licher, als es ihr anno 92 erschienen ist. Endlich verkündete ein Trompetenstoß das Souper. Nun mußte das frevelhafte Intermezzo doch ein Ende nehmen! Die Gesellschaft verfügte sich in das zweite Compartiment, allwo an kleinen Tischen rings um die Mitteltafel das schöne Geschlecht von den Cavalieren bedient werden sollte. Innerhalb jeder dieser Gruppen war, mit List und Gewalt, ein Platz offen gehalten worden, in der Hoffnung, daß der gefeierte Gast ihn zu dem seinigen erkiesen werde. Aber die schon so vielfältig herausgeforderte Ent¬ rüstung schwoll zur Empörung, als der schnöde junge Herr keine der heimlich Erwartenden befriedigte und alle enttäuschte, indem er einfach inmitten seiner Zech¬ gesellschaft sitzen blieb; als er von keinem der mit so viel Kunst und Aufwand hergestellten Leckerbissen auch nur kostete, sondern sich mit einem Kringelchen begnügte, welches Hebe Dorl, auf einen Wink Meister Müllers, ihm in ihrem Blumenkörbchen präsentirte. Wie ich die Erröthende mit einer unbeschreiblichen Neigung vor ihn treten sah; wie er aufsprang, sein Glas gegen sie hob und es in einem Zuge bis auf die Nagelprobe leerte, — der Bissen im Munde stockte mir, und der Tropfen, mit dem ich ihn herunterspülen wollte, brannte mich wie Gift; aber es war ein Bild, vor welchem selber das zornsprühende Naturkind die Lust eines Künstlerauges begreifen mußte. Programmgemäß sollte das Fest mit dem Souper zu Ende gehen. Alles rüstete sich zum Aufbruch. Unser bisher so lässiger Held jedoch fuhr plötzlich in die Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 16 Höhe und forderte mit lauter Stimme den Kehraus. So stark der Unwille gewesen, die Großmuth gegen einen Gast von Geblüt war stärker. Lag doch an sich auch für die Donnerstagsgesellschaft nichts Ungebühr¬ liches in der Aufführung eines gewohnten Schlußtanzes, dessen bäurische Weise und buntscheckiger Wechsel nach dem Souper erst den rechten Humor zur Geltung brachten. Alt und Jung reihte sich zu Paaren, nur der Festordner stand noch auf der Lauer, um, nachdem sein hoher Chef sich entschieden, aus der Ueberzahl der Schönen die Würdigste als Anführerin zu erküren. Jetzt aber, da Prinz Sansfa ç on der verehelichten Gruppe gleichgültig den Rücken kehrt, schießt er auf die Frau Amtmännin zu, bietet ihr begütigend die Hand und ist im Begriffe, mit ihr an die Spitze der Colonne zu treten, als — o wehe, dreimal wehe unserer adligen Reunion! — als er den Prinzen an den Schenktisch stürzen und Kellermeisters kleine Dorl in die Reihe ziehen sieht. Ein Donnerschlag hätte nicht vernichtender zün¬ den können. Einen Augenblick stand Alles starr und stumm, dann helle Revolution! Die Frau Amtmännin kehrte mit einem kopfnickenden „bedanke mich,“ wieder um; sämmtliche Frauen und Fräulein von Adel traten aus der Reihe und eilten nach der Thür, hinter deren Säulen verborgen sie den unberechenbaren Ausgang erwarteten. „Glaubt Seine Durchlaucht zu einer Kirmeß ge¬ laden zu sein?“ hörte ich hinter mir die von dannen rauschende verwittwete Excellenz vom Hofmarschall¬ amt höhnen. Ich mit einem blutjungen Junkerchen, das ich auf dem Präsentirteller hätte schwenken können, bil¬ dete von der adligen Spitze den Uebergang zu dem bis jetzt standfesten bürgerlichen Gefolge. Dachte ich daran, dem von oben herab gegebenen Signale der Desertion zu folgen? Doch wohl nicht. Denn warum sonst vermied ich den rathgebenden mütterlichen Blick? Meine Augen hingen an dem anstößigen Paare, das jetzt in der entstandenen Lücke an meine Seite rückte. Ich sah Dorotheens flehende Angst und Lust; sah des Prinzen vertraulichen Wink, der zu sagen schien: „Du bist keine Närrin, Du bleibst.“ Kurzum ich blieb. Die Bourgeoisie folgte meinem Exempel und der Tanz hob an. Das war freilich ein anderes Treiben als die Strapaze, welche der Deutsche sonsthin Vergnügen nennt! Wie rasch und lustig die Gefüge wechselten, 16* die Paare sich verschlangen und in einander schoben! Wie die rosige Hebe im Arme ihres Götterjünglings den Saal durchkreiselte, wenn beim Schlusse jede Tour in eine Galoppade überging! Wie nun in den Wirbel der Glieder auch der der Kehlen sich mischte, der prinz¬ liche Vortänzer unter Händeklatschen und jauchzendem Chorus die alte Sangesmähr von „dem Großvater, der die Großmutter nahm,“ intonirte, und endlich nichts Altes und Neues mehr übrig blieb als — der Kuß! Zeitlich, sittlich, meine Freunde! Wir schrieben zweiundneunzig und ein Küßchen im Tanze dünkte uns damals beileibe nicht ein Raub. Manchmal wurde gleich die Polonaise damit eingeleitet; oder man ver¬ legte es in eine Tour des Englischen; keinenfalls fehlte es im biederen, vaterländischen Großvater und nicht etwa blos beim Mannschießen, oder auf der Kirmeß. Meine Mitschwestern von der Montagsgesellschaft waren es gewohnt, die Bäckchen ihrem Partner dar¬ zureichen und nach dem Partner jedem Anderen, mit dem die Verschiebung sie zusammenführte. So ein halbes Hundert Mäulchen in einer Tour, — nun es war kein berauschendes Gewürz, aber es würzte doch. Unsere vornehme Reunion, mit den Reminiscenzen des weiland Herzogshofs war allerdings zu nobel con¬ stituirt, um derlei naturalistische Ausschweifungen zu vertragen. Nun aber an ihrem stolzesten Tage einen Prinzen von Geblüt die Lippen auf einer Schenkdirne Lippen drücken zu sehen, und wie zu drücken, — so sonder Kunst und Methode! — sie hat sich von diesem schauderhaften Bilde niemals erholt; es war der To¬ desstreich, der sie getroffen. Er küßt ihren Mund, umschlingt sie, preßt sie an seine Brust und jagt mit ihr durch den Saal. Im rasenden Tempo löst sich die blaue Schleife aus ihrem Haar; er reißt sie an sich und birgt sie an seinem Herzen. Das goldene Gelock wallt und weht im Wirbel bis zu den Knieen hinab. Die Ordnung ist aufgelöst. Singend, jauchzend, athemlos stürmen alle Paare hinter dem ersten drein. Ganz zuletzt auch Jungfer Ehrenhardine nach einem züchtigen Handkuß ihres Junkerchens. Da jählings — halt! Der Festordner hat Trom¬ peten und Pauken das Schweigsignal zugewinkt. Noch sehe ich, wie Dorothee, gleich einem gescheuchten Reh, durch die Seitenthür verschwindet, wie der Prinz ein schäumendes Glas hinunterstürzt. Dann wirft mir die Mutter die eigne Saloppe über den Kopf. Wirr und jäh drängt alles nach dem Ausgang. Und so in einem bachantischen Taumel, mit einem haarsträubenden Aergerniß endet das Prinzenfest der adligen Donnerstagsgesellschaft anno 92, dem großen Jahre der Revolution. Ich habe ihm ein langes Ka¬ pitel in meiner Lebensgeschichte gewidmet: es war ja das einzigemal, daß ich beinahe Rosen getragen hätte. Sechstes Capitel. Die Brautlaube. „Ein höchst verdrießlicher Eclat!“ so unterbrach die Mutter unser allseitiges Schweigen, nachdem des Leibbaders Pförtchen sich hinter uns geschlossen hatte. „Nach Lage der Dinge aber, Eberhard, muß ich sa¬ gen, daß unsere Tochter sich taktvoll benommen hat.“ „Brav, recht brav, meine Dine!“ sagte der Va¬ ter, als ob ihm ein Stein vom Herzen fiele. „Die Kleine wurde mit Gewalt in den Tanz gezogen; sie war Dinens Gespielin, ist unsere Hauswirthin, und hat der Faber sie erst geheirathet, so gehört sie in die Gesellschaft, so gut als —“ „Deine Gründe gelten nicht, Eberhard,“ unter¬ brach ihn die Mama. „Das Mädchen hat sich auf das Unschicklichste betragen. Als Fabers Braut mußte sie zu Hause bleiben, oder als des Schenkwirths Toch¬ ter, sich in Küche und Keller halten. Der schäferli¬ chen Toilette noch gar nicht einmal zu gedenken. Un¬ sere Tochter jedoch stand einmal in der Reihe und eine Reckenburg wird auf jedem Platze ihre Haltung zu behaupten wissen, zumal wenn eine Amtmannsfrau, die aus einer Mühle stammt, ihr beim Rückzug das Prävenire spielt.“ Ich erwiderte kein Wort, küßte den Eltern die Hand und eilte in meine Kammer. Ich dachte nicht daran, mich auszukleiden und niederzulegen. Unbe¬ weglich saß ich auf dem Bettrand, ich weiß nicht, wie lange. Mir war, als wäre ich von einem hohen Thurm gefallen und krause Phantome wirbelten in dem er¬ schütterten Hirn. Ich hörte einen leisen Schritt an der Thür: ich rührte mich nicht; ich spürte einen hei¬ ßen Athem an meiner Wange, ich blickte nicht auf, aber meine Hand zuckte, die Frevlerin von mir zu sto¬ ßen, die zu meinen Füßen niederkniete und ihren Kopf in meinem Schoße barg. „Sind Sie mir böse, Fräulein Hardine?“ flüsterte sie mit ihrem kindlich¬ sten Klang. Ob ich ihr böse war! Der Athem stockte mir und das Blut siedete im Grimm gegen die treu- und schamlose Schenkendirne. Ich wendete das Gesicht von ihr ab und starrte geradeaus in den Spiegel, der auf meinem Nachttische stand. Und dieser Spiegel¬ blick löste den Bann. Denn was heißt denn gerecht sein, als richtig sehen? Ich aber sah in dem engen Rahmen das Freifräulein von Reckenburg in seinem hohen Toupet und steifen Brocat, die mannshohe Ge¬ stalt, mit dem hochgerötheten Gesicht, zu der die welt¬ kundige Greisin gesagt hatte: „Du entzündest kein jun¬ ges Herz.“ In ihrem Schoße aber lag, vom golde¬ nen Lockenschleier umhüllt, ein Kind mit allen Reizen des Weibes, mit pulsirender Gluth und auf der Stirn den Stempel: „Dir wird kein junges Herz wider¬ stehen.“ Nach langer Pause und einem tiefen Athemzuge senkte ich den Blick von dem Spiegelbilde hinab in den Schoß. „Gut sein, gut sein!“ flüsterte die Zau¬ berin und ihre Lippen brannten auf meiner Hand, heiß von dem Leben, den eines Anderen Athem dem Busen eingehaucht hatte. „Du hast Dich hinreißen lassen, Dorothee,“ sagte ich, indem ich sie in die Höhe zog und mich erhob. „Wenn es Dir aber leid ist —“ „Leid?“ rief sie, erbebend unter dem Schauer des ersten, kaum geahnten Glücks. „Leid? Nein, o nimmermehr leid! Und wenn ich darüber sterben sollte, Hardine!“ Sie floh aus der Thür. Und ich? Gelt, ich lag wie auf Rosen gebettet und schlummerte in Got¬ tes Frieden nach großmüthiger Heldinnen und schöner Seelen Art? Ich sage Euch, auf Nesseln und Dor¬ nen habe ich mich gewälzt, wie siedendes Blei hat es in meinem Herzen gewühlt, und wenn eines gebe¬ tet hat in dieser Nacht, so war es das selig fre¬ velnde, nicht das entsagende Menschenkind. Die Familie von Reckenburg konnte es allseitig nur gut heißen, daß ihre beschämte Hauswirthin sich in den nächsten Tagen ihrer Begegnung entzog, daß sie auch den lauernden Blicken und Stichelreden der Nachbarschaft aus dem Wege ging, und nur von der Gartenseite in die väterliche Wohnung schlüpfte Sel¬ ber Frau Adelheid hielt das Kind, das unter ihren Augen erwachsen war, zu hoch, um nachhaltige Wir¬ kungen einer übermüthigen Laune zu befürchten, und die kleinstädtische Klatscherei stachelte diese stolze Ge¬ ringschätzung der Gefahr. Im Uebrigen hatten wir genug zu thun, uns der eigenen Haut zu wehren; denn wenn die bürgerlichen Bolzen sich nach dem Dachstübchen richteten, vor wel¬ chem die Faber'schen Scheerbecken geglänzt hatten, die giftigen Pfeile der „Gesellschaft“ zielten auf das un¬ tere Geschoß, dessen Insassen, bethört von fürstlicher Gunst, der gerechtfertigten Empörung Trotz geboten, und erst dadurch den Scandal unheilbar gemacht hatten. Selbstverständlich, daß unter diesen Zuträge¬ reien die freiherrliche Familie ihren Nacken höher und stolzer denn jemals trug. Verhehlt aber soll nicht werden, daß eine Migraine, welche die Hausfrau eine Woche lang an das Bett fesselte, in heimlichen Gallen¬ affectionen ihren Grund gehabt haben mag. Solchergestalt wandelten Vater und Tochter am Sonntagmorgen allein zur Kirche und hier war es, wo sie die schöne Frevlerin zum erstenmale nach je¬ nem heillosen Abend wiedersahen. Sie saß unserer adligen Empore gegenüber im Schiff dicht unter der Kanzel, und schon während des Lieds konnten uns die neugierigen Blicke nicht entgehen, welche in der un¬ teren Gemeinde zwischen ihrem Platz und dem hohen Her¬ zogsstuhle, hinter dessen Gittern der Prinz, — leider mit Unrecht, — vermuthet ward, auf- und niederflogen. Wie mußte nun aber das Behagen dieser Aufre¬ gung wachsen, als jetzt der würdige Hofprediger die Kanzel bestieg und über das bekannte Thema: „Ge¬ bet Gott und Caesar,“ die Pflichten gegen Altar und Thron, die der Fügsamkeit gegen die geheiligte Ord¬ nung der Stände und das Schauerbild sündiger Frei- und Gleichmacherei seiner Gemeinde kräftiglich zu Ge¬ müthe führte. Dem einsamen, harthörigen alten Herrn war ohne Zweifel kein Wort über die große locale Tages¬ frage zu Ohren gekommen. Er hatte seine Predigt schon Anfangs der Woche ausgearbeitet, im lodern¬ den Zorn über die Rebellen in Paris, welche den frommen, unglückseligen König zur Kriegserklärung gegen das verwandte Oesterreich, seinen einzigen Hoff¬ nungsanker gezwungen hatten. Wenn das wohlstu¬ dirte Redestück durch augenblickliche Eingebung eine persönliche Schärfung erhielt, so konnte höchstens der junge Fürstensohn dafür verantwortlich gemacht wer¬ den, dessen Herz zu ergötzen es bestimmt gewesen war, und der in solch gottloser Zeit sich schnöde der Pflicht gegen des Himmels Heiligthum entzog. Des beschei¬ denen Beichtkindes zu seinen Füßen gedachte der feu¬ rige Redner in dieser Stunde nicht, vorher und nach¬ her aber mit väterlicher Liebe. Unsere solide Bürgerschaft dahingegen, wie ferne lag es ihr, einen Rückschlag von Dumouriez's Ulti¬ matum auf ihrer Kanzel vorauszusetzen! War sie eine Jakobinerhorde, die eines geistlichen Ordnungsrufs bedurfte? Gab man ohne Murren nicht Gott, was Gottes, und dem Kurfürsten, was des Kurfürsten war, vorausgesetzt, daß die Steuer sich nicht allzuhoch be¬ lief? Hatte Einer in der Gemeinde von Freiheit und Gleichheit auch nur geträumt? Ja, Eine war unter ihnen, eine Einzige, die vom Teufel der Hoffart und Eitelkeit verblendet, ihrem von Gott gesetzten Kreise den Rücken gekehrt hatte, seitdem sie über Nacht wie ein Glückspilz zur Braut und Nutznießerin eines hochfliegenden Patrons emporgeschossen war; die sich in die Reihen des Adels gedrängt, in die allerhöchste Nähe geschlichen, in leicht¬ fertigem Putz, mit anlockenden Geberden den fürst¬ lichen Sinn bethört und ein Aergerniß heraufbeschwo¬ ren hatte, dermaßen, daß eine seit Herzogs Zeiten bestehende, hochadlige Societät dadurch gesprengt und eine Rüge von der Kanzel herab zur Christenpflicht geworden war. Es fehlte nicht viel, man deutete mit Fingern auf die arme kleine Dorl, die mit nieder¬ geschlagenen Augen und Thränen auf den Wangen, jetzt roth wie Scharlach, dann kreideweiß hinter ihrem Betpulte zitterte. Als der Gottesdienst vorüber war, traf ich sie halb vernichtet an einen Pfeiler gedrückt unter dem Gedränge der Kirchenpforte. Uebereinstimmender denn jemals von ihrer Morgenandacht erregt, ständerten und plauderten die Patrizier der Emporen und die Plebejer des Schiffs vor dem Ausgange. Keiner wechselte ein Wort, einen Gruß wie sonst mit der hübschen „Jungfer Augentrost,“ keiner machte ihr Platz, man gaffte sie an, bekrittelte ihren Staat und kehrte ihr spottend den Rücken. Freundlicher als ich es ohne dieses christliche Schauspiel gethan haben würde, redete ich sie an, nahm sie unter den Arm und führte sie, — mir machte man Platz, — an der Frau Amtmännin vorüber, die eben in ihre stolze Carosse stieg. Auf dem Markte hielt die Wacht¬ parade ihren Aufzug, und der gottlose Fürstensohn, gleichmüthig flanirend, entsendete uns einen huldvollen Gruß. So schritten die Beneideten und Verlästerten der Baderei durch den Kriegsbeschluß der Nationalver¬ sammlung in Paris auf's Neue solidarisch verbunden, Arm in Arm ihrem Heimwesen zu und spazierten auch noch ein Viertelstündchen im Garten, um sich unter Gottes freiem Himmel von der angreifenden Mor¬ genandacht zu erholen: die Rose und ihr Blatt wie einst! Ich bestärkte Dorothee in dem Vorsatz, bis der Sturm sich beschwichtigt habe, sich möglichst zu¬ rückzuziehen und rieth ihr sogar statt des Hauptgottes¬ dienstes eine Zeitlang die stillen Frühmetten zu be¬ suchen. Sie dankte mir zwischen Lächeln und Thränen, küßte meine Hand und sagte: „Fräulein Hardine, Sie sind in Wahrheit eine große Dame.“ Nun, was Einer von sich selber hält, das hört er gar gern von Anderen bestätigt, wenn sie im Uebri¬ gen ihm auch nicht als Autoritäten gelten. Als wir in das Haus zurückkehrten, trat der Prinz von der Straßenseite herein. Dorothee floh dunkel erröthend die Treppe hinan; ich führte den Besucher in das Familienzimmer und verplauderte, da die Mutter krank und der Vater noch auf der Parade war, ein Stündchen mit ihm tête à tête . „Sie haben ein braves Herz,“ sagte er, indem er mir die Hand reichte, „lassen Sie uns Freunde sein, Fräulein von Reckenburg.“ Er besprach darauf, geordneter als neulich Abends, seine kriegerischen Pläne. Es war ihm Ernst mit dem preußischen Dienst und er hoffte auf baldiges Gelin¬ gen. Der Herzog von Weimar hatte die Anbahnung nach beiden Seiten übernommen, auch den Wunsch ausgesprochen, ihn seinem eigenen preußischen Re¬ gimente aggregirt zu sehen. Unter dem nächsten Be¬ fehle eines sächsischen Verwandten, so meinte er, werde die unliebsame Uniform der kurfürstlichen Tutel er¬ träglich werden, und was könnte man im Grunde auch besseres wünschen, als den unbequemen Schütz¬ ling in den Kampf ziehen zu sehen für den bedräng¬ ten königlichen Sohn einer sächsischen Fürstentochter? Völlig unbefangen sprach er auch über seine pecuniairen Verlegenheiten und hoffte deren Abwicklung durch die nämliche vermittelnde Hand. Der Prinz kehrte seit diesem Tage häufig in dem Reckenburg'schen Familienzimmer ein, ohne an der Quehle in der Hölle ein Aergerniß zu nehmen. Er begegnete uns wie Altbekannten, oder gar Verwandten, vertraute uns den Gang seiner geheimen Unterhandlungen; wir wußten um Zweck und Erfolg seiner häufigen Aus¬ flüge, wir hegten und bargen sein Schicksal wie das eines Angehörigen. Alle übrigen Kleinstädter dahin¬ gegen ließ er mit souveräner Verachtung bei Seite liegen und auf unsere schöne Hauswirthin stieß er un¬ ter unseren Augen nicht ein einziges Mal. Sie waltete still für sich in ihrem Dachgeschoß, wir selber sahen sie nur gelegentlich an uns vorüberstreifen. Die Eltern lobten diesen bescheidenen Takt und auch nach Außen hin verflüchtigte sich das Gedächtniß je¬ ner einzigen Ausschreitung rascher, als man hätte er¬ warten sollen. Des würdigen Hofpredigers Aufklä¬ rungen über die Lehre von Ursache und Wirkung sei dabei in Dank und Ehren gedacht. Wie es nun geschehen konnte, das , meine Freunde, was Ihr lange schon geahnt haben werdet, wie es in diesen Sommerwochen sich vollbracht hat, so tief verhüllt, daß nicht damals noch später ein argwöh¬ nischer Blick die Heimlichkeit ausgespürt — ich weiß es nicht. Und wenn ich es wüßte: ich habe Euch die Offenbarung meines eigenen Geheimnisses verheißen, nicht die der anderen Herzen. Mein Geheimniß in diesen Sommerwochen aber war, daß ich — ich ganz allein das der Anderen — geahnt —? nein daß ich es gewußt habe. Ich sah nichts, ich hörte nichts, ich spürte ihm nicht nach, be¬ rechnete nicht die verführerische Gunst der Gelegen¬ heit. Aber ich athmete die Wahrheit gleichsam mit der Luft; ich fühlte es fast als eine Nothwendigkeit, daß ein glückgewohnter Sinn wie der seine und ein Louise v. Fran ç ois, Die letzte Reckenburgerin. I . 17 nach Glück schmachtender wie der ihre zusammentreffen mußten, daß sie sich liebten und sich dieser Liebe freuten. Ich fühlte, ich wußte es und ich wehrte der Sünde nicht. So oft die Warnung: „Denk' an Sieg¬ mund Faber!“ oder die Mahnung: „Sie ist einem Ehrenmanne zur Treue verlobt,“ auf meinen Lippen schwebten, ich unterdrückte das Wort, denn seine Quelle war nicht rein. Es war nicht Dorotheens Pflicht, nicht die Ehre Siegmund Fabers, nicht das starke Gefühl für Recht und Sitte, es war dies alles we¬ nigstens nicht allein , sondern das eigene gekränkte Verlangen, das meinen Argwohn stachelte. Völlig unbefangen, ganz ohne Eigensucht und Eifersucht würde ich, die Unerfahrene, der Reinheit einer Schwester¬ seele vertraut haben, wie Vater und Mutter, die Er¬ fahrenen, derselben vertrauten. Ich fühlte mich nicht un schuldig, fühlte es mit Scham, und Scham und Stolz banden meine Zunge und so wurde ich mit¬ schuldig. Freilich, auch ein Posaunenschall würde die Be¬ rauschten nicht aus ihrem ersten Taumel geweckt haben. Und warum dachte Siegmund Faber nicht selbst daran. seine einsame Braut an ihre Pflicht zu mahnen? Warum schrieb er nicht? Warum kehrte er nicht, und wäre es auf eine Stunde, vor dem Aufbruch in's Feld zu ihr zurück? Warum traute er in sorglosem Wissens- und Thatendrange blindlings einem Worte, das nur Ueberraschung dem unerfahrenen Kinde abge¬ lockt hatte? einem herkömmlichen Gesetze der Treu, zu welchem das Herz nicht ja gesagt? Hatte der Mann über dem Zergliedern der Nerven und Bänder des Leibes, den Nerv und das Band der Seele zu prüfen versäumt? Oder hatte er deren Schwachheit an dem Maße seiner eigenen Schwachheit erkannt und das Wagniß der Treue von vornherein als Thorheit auf¬ gegeben? Alle diese Entschuldigungen habe ich mir jetzt und später oft genug wiederholt, und — sie ha¬ ben mich niemals entschuldigt. Indessen nicht meine apprehensive Stimmung allein, auch äußerliche Merkzeichen wurden für mich zum Verräther. Wer beschreibt den geheimnißvollen Schimmer über dem Leben und Weben eines Glück¬ lichen? Wer beschriebe ihn zumal über dem Leben und Weben einer so freudigen Natur wie Dorotheens? Ich sah den Rückstrahl ihres erfüllten Gemüths, und 17* zwar am deutlichsten daran, daß ich sie selber nur noch so selten sah. Wir waren ausgesöhnt, sie hatte keinen Grund, mich zu meiden. Sie mied mich auch nicht, aber sie suchte mich nicht, sie bedurfte meiner nicht wie sonst. Sie, die vor wenigen Wochen mir entgegenjauchzte: „Nun, da Sie da sind, ist Alles, Alles gut!“ sie hatte einen Andern, der mich verdrängte. Aus dem Kinde, der Jungfrau, war ein Weib ge¬ worden. Deutlicher aber noch sprach die heimliche Wand¬ lung aus der Stimmung des Prinzen. Seine per¬ sönlichen Angelegenheiten hatten sich über Erwarten günstig gestaltet, indem der gutherzige Friedrich August ihn zwar nicht aus seinen Diensten entlassen, aber ihm die Theilnahme am Feldzug unter preußischer Fahne bewilligt, auch seinen Gläubigern gegenüber großmüthig Bürgschaft übernommen hatte. Er, der im vorigen Jahre in das wüste Emigrantenlager desertirte, der vor Kurzem noch so zornig über das Zögern der Verbündeten aufbrauste; jetzt war er frei, warum ging er nicht? Er, der die Vernichtung des fränkischen Gesindels für ein Parademanöver, den Einzug in Paris für eine Promenade und die Her¬ stellung des souveränen Thrones für ein Kinderspiel erklärt, er hatte jetzt tausend Bedenken, welche das geflissentliche Zaudern in seinen Augen bemäntelten. Der Zwiespalt der verbündeten Kabinette, der im eigenen preußischen Lager, die Wahl des Braunschwei¬ gers statt des Königs zum Oberfeldherrn, die unfer¬ tige Rüstung, die Verspätung für einen Sommerfeld¬ zug — alles Bedenken, welche die Folgezeit nur gar zu schmerzlich gerechtfertigt hat! Diesem feurigen Jünglingsmuthe aber waren sie angekünstelt und ein¬ geklügelt, weil es eine Macht gab, die ihn zurückhielt, eben so stark, wie die, welche ihn vorwärts trieb. Ich theilte die Auffassung meiner Lebensgenossen über die Natur dieses Krieges. Ich hielt es für eine gerechte, ja heilige Sache, die Wohlfahrt, vielleicht die Existenz des eigenen Volks auf's Spiel zu setzen, um einem fremden König seine Krone zu retten. Ich zwei¬ felte auch nicht an einem raschen Sieg der sieggewohn¬ ten preußischen Armee und es war mir eine genug¬ thuende Vorstellung, die Tochter Maria Theresia's durch den Erben Friedrichs wieder in ihre Rechte ein¬ geführt zu sehen. Ich verhehlte mir überdies nicht, daß die Mannesschule für meinen jungen Freund allein das Schlachtfeld sei, und daß der Conflict, welcher uns Alle bedrohlich umspann, nur durch sein Scheiden eine Lösung fände. Ich billigte daher des Prinzen kriegerischen Entschluß, unterstützte ihn ihm gegenüber und dennoch, dennoch athmete ich auf wie erlöst, wenn er wieder einen neuen Grund des Hinhaltens und Verweilens aufgefunden hatte. Das Regiment Weimar, dem er zugetheilt war, brach auf ohne ihn. „Cunctator Braunschweig wird sich nicht übereilen,“ so hieß es, „ich erreiche den Rhein früher als er.“ Dann wieder sollte das „Ma¬ rionettenspiel“ der Kaiserkrönung in Frankfurt vorüber gelassen werden, und endlich selber, als der König nach der Begegnung mit Franz II . sich nach Mainz begab, sah er noch hinlängliche Weile, bis jener sich mit der Armee jenseits des Rheins vereint haben werde. Mein Vater schüttelte den Kopf zu dieser plötzlichen Lässig¬ keit. „Da sieht man's“ so meinte er, welch' ein eigen Ding es für einen Sachsen ist, und wäre es zum stolzesten Fluge, sich unter die preußischen Adlerfänge zu bequemen.“ Ich schwieg, denn ich verstand den Kampf zwischen Epos und Roman in diesem jungen Herzen, fühlte ihn tief im eignen. Dorothee war völlig sorglos. Ein¬ mal fragte sie mich ängstlich, ob die sächsische Armee auch mit in den Krieg ziehe? und als ich die Frage verneinte, lächelte sie seelenvergnügt. Ein Siegmund Faber, welcher der Gefahr täglich näher entgegenrückte, schien für sie nicht auf der Welt zu sein. Es war am Nachmittage des zweiten August, daß der Prinz stürmisch aufgeregt bei uns eintrat; er brachte Braunschweigs Manifest aus dem Hauptquartiere Koblenz. All seine Begeisterung war wieder ange¬ facht; er bat dem bewährten Feldherrn seine Zweifel ab. „Der Himmel sei gepriesen,“ so rief er, „des Königs ritterlicher Geist hat über die schnöde Eigen¬ sucht gesiegt. Das ist der Tenor, der die entfesselte Bestie in den Käfig zurücke treibt. Nun rasch nur geharnischte Thaten auf das geharnischte Wort und am Tage des heiligen Ludwig setzen wir seine jetzt gefähr¬ dete Krone frischerglänzend auf des Enkels Haupt.“ Er weilte nur wenige Minuten, umarmte den Vater, drückte uns Frauen die Hand und stürmte von dannen. Er hatte nicht Lebewohl gesagt, aber wir wußten, daß es ein Abschied war, — vielleicht für's Leben. — Bis tief in den Abend hinein saßen wir schwei¬ gend bei einander. Ob die Eltern ahnten, was sich in mir bewegte? ob sie heimliche Hoffnungen gehegt hatten, mehr als ich selbst? Zu wiederholten Malen begegnete ich ihren sorgenvoll auf mich gerichteten Blicken. Als ich die Treppe zu meiner Kammer hinanstieg, erinnerte ich mich Einer, welche diese Trennung un¬ vorbereiteter und niederschlagender treffen mußte als mich selbst. Ich klinkte an Dorotheens Thür, fand sie aber verschlossen. Sie pflegte früherhin niemals so spät in ihres Vaters Hause zu weilen und ent¬ fernte sich niemals am Abend zu einem anderen Be¬ such. Wo mochte sie sein? Ich war nicht ruhig genug, dieser Frage nach¬ zuhängen. Es mußte aufgeräumt werden im inneren Revier, und so saß ich denn lange, es mochten Stunden sein, unbeweglich in meiner Kammer. Monate lagen hinter mir, bei aller Entsagung die reichsten meines Lebens. Was von losen Hoff¬ nungen und Träumen nicht zu bannen gewesen war, jetzt mußte es verschwinden, verschwinden mit dem, welcher die Einbildung angefacht, verschwinden für alle Zeit. Er war ein Mann rasch zum Lieben und Wieder¬ lieben, nicht einer, der nach dem Aufbrausen der Lei¬ denschaft Ruhe erträgt und gewährt. Fort denn mit den Chimären der Reckenburg, fort auf Nimmer¬ wiederkehr. Ich wollte das, wollte es ernsthaft und ohne Erfolg war meine Anstrengung selber in diesen ernsten Stunden nicht. Ich sah ja zwei von uns, richtig ge¬ stellt wieder auf dem Platze, von dem sich ihre Wünsche einen Moment verirrt hatten: den Prinzen im Kampfe gegen die Feinde alt geheiligter Ordnung; mich in der Werkstatt von Reckenburg. Schwer war es allein, das zum Leben erwachte Kind in seiner bräutlichen Wittwen¬ kammer still wieder einzurichten. Aber wo blieb Dorothee? Hatte ich ihren leisen Schritt überhört? Ein Wort der Aufklärung und des Trostes sollte nicht bis morgen verzögert werden. Thränen rinnen am stillsten in der Nacht und Kinder schlummern sanft, nachdem sie sich ausgeweint haben. So klinkte ich denn noch einmal an der Thür und fand sie noch immer verschlossen. Sie mochte wohl früh zur Ruhe gegangen sein und von Innen ver¬ riegelt haben. Es war eine stillschwüle Hochsommernacht; der Mond schien von der Gartenseite hell durch die geöffnete Bodenluke. Ich bog mich hinaus und athmete in einem tiefen Zuge den Duft, der von den Nelkenbeeten in die Höhe stieg. Mir gegenüber ragte das Schloß; ein Nachtlicht flackerte im Zimmer des Eckthurms, in welchem mein junger Held zum letzten Male ruhte, oder sich zur Abreise rüstete. Es wurde mir schwer, mich von dem Flämmchen loszureißen, nur zögernd senkte sich der Blick hinab auf die Terrasse, welche der Mond fast mit Tagesklarheit beleuchtete. In diesem Augenblicke, — war es ein Phantom des aufgeregten Bluts, war es Wirklichkeit? — sah ich zwei Gestalten aus der Laube gleiten, aus der Brautlaube Siegmund Fabers. Sie schmiegten sich an einander; fein und hell das Weib an die Seite des Mannes, dessen dunkle Umhüllung sie halb umfing. Es war ein einziger Blick, aber nein, nicht eine Täuschung und was ich auch immer geahnt, — bis zu diesem Abgrunde hatte die Einbildung sich nicht verirrt. Mir schwindelte, ich schwankte und klammerte mich an die Brüstung der Luke. Als ich zagend den Blick wieder in die Höhe schlug, sah ich eine dunkle Gestalt durch das Pförtchen verschwinden, unten aber wurde die Hausthür leise geöffnet. Ich floh in meine Kammer, deren Schloß ich nicht mehr zuzudrücken wagte. Schon hörte ich Schritte auf der Treppe und hätte um die Welt nicht meine Nähe verrathen mögen. Aber vielleicht, daß es eine erste nächtliche Begegnung gewesen war, eine erste und letzte zum ewigen Lebewohl. Athemlos lauschte ich an der Spalte der Thür. Nein! dieser elastische, hüpfende Schritt, dieses freie, volle Hauchen der Brust, sie sprachen nicht von Schei¬ den und Meiden. So schwebt, so athmet nur der Glückliche. Sie tänzelte über Rosen und sah die Sünde nicht, die sie umrauschte, nicht den Tod, der im Hintergrunde lauerte. Und nun saß ich oben in der Laube. Fragt mich nicht, was mich hineingetrieben hatte, oder wie viel Stunden es mich dort gebannt. Ich hatte kein Maaß für die Zeit, hatte keine bewußte Vorstellung. Alles lag mir in Dumpfheit und Nebel. Der erste Schimmer dämmerte im Osten; zu meinen Füßen sah ich einen blauen Streifen. „Do¬ rotheens Haarband vom Frühlingsfeste,“ murmelte ich, hob es auf und wickelte es mechanisch um meinen Finger. Dann wieder hörte ich das Pförtchen gehen und hastige Männertritte. Ich rührte mich nicht. Sie kamen näher und näher. „Hardine!“ rief es am Eingang der Laube. Ich saß noch immer wie ge¬ lähmt. Er war im Reisekleid und schattenbleich. Doch blickte er mir fest in's Auge und nahm ruhig das Band aus meiner Hand. Hatte er das gesucht; ein erstes Andenken und ein letztes? Hatte er von Oben mich in der Laube erkannt? „Sie wissen alles,“ sagte er, „und das ist gut. Nun scheide ich ruhig. Kehre ich zurück, ich schwöre es bei Gott! wird sie die Meine. Bleibe ich, dann hat sie nur Sie , Hardine, — aber Sie ! —“ Das Rollen eines Wagens auf dem Plateau drang durch die Stille. Er warf noch einen Blick nach der Luke, an welcher ich in der Nacht gelauscht hatte. Eine Thräne glitt über seine Wange und tropfte auf meine Hand, die er in der seinen gefaßt hielt. „Schütze das arglose Kind, schütze mein Weib, mein geliebtes Weib. Schütze es für mich, um meinetwillen, Schwester Hardine!“ flüsterte er, drückte mich an seine Brust, — und ich war wieder allein. Wenige Minuten und ein Posthorn schmetterte. Der letzte Laut verlor sich nach Westen hin. Gen Morgen stieg die Sonne in die Höhe; heute nicht wie damals in Reckenburg mir ein Gottesauge: ein leuch¬ tender Ball, der über Verzweiflung und Wonne, Ver¬ rath und Liebe mechanisch dahingleitet, klar und see¬ lenlos. Auf dem Platze, wo ich saß, hatte vor Jahren ein Freund um die Gespielin meiner Kindheit geworben und mich als Bürgin für die Treue seines verlobten Weibes angerufen. Auf dem nämlichen Platze, der den Treuspruch gehört, war die Treue gebrochen wor¬ den, und hatte heute ein anderer Freund, der heimlich die Lust meiner eignen Seele war, mir das treulose Weib als Schwester an das Herz gelegt. Es giebt Verhängnisse, die gesetzmäßig aus un¬ serem Sein erwachsen und doch jeder gesetzmäßigen Lösung zu spotten scheinen. Das Rad des Schicksals rollt hinweg über unseren Stümperwillen und in der entscheidenden Stunde ist es nicht die Leuchte aller Tage, es ist ein Funken aus unerforschten Tiefen, der, — sei es zur Zerstörung, sei es zur Erfüllung, — uns die Richtung zeigt. Und einem solchen Verhängniß gegenüber wurde ich in dieser Stunde gestellt. Ende des ersten Bandes. Inhalt des ersten Bandes. Seite Einführung 1 1. Capitel. Die Rose und ihr Blatt 83 2. „ Mosjö Per—s é 112 3. „ Die schwarze Reckenburgerin 145 4. „ Der Erbprinz 178 5. „ Der Kehraus 206 6. „ Die Brautlaube 247